Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 64: Adventskalender --------------------------- Victor schnappte sich die Tüte vom Rücksitz, die Alans ‚Geschenk‘ beinhaltete und drehte sich zur kombinierten Ein- und Ausfahrt der Tiefgarage um. „Lass uns außen herum gehen“, sagte er zu Yūri und hielt ihm seine Hand hin. Sein Herz machte einen Satz vor Freude, als Yūri seine Hand ausstreckte und seine Finger mit Victors verschränkte. „Warum?“, fragte er, auch wenn sie bereits auf dem Weg aus der Tiefgarage waren. Victor hielt die braune, unscheinbare Papiertüte hoch. „Ich möchte das Ding noch gerne entsorgen, bevor es mein Bruder sieht“, erklärte Victor. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass Yūri stehen blieb und den Kopf schief legte. Notgedrungen, da Yūri seine Hand festhielt, blieb auch Victor stehen und wandte sich ein wenig zu Yūri um, der einen knappen Schritt hinter ihm angehalten hatte. „Was?“, fragte Victor mit zusammengezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn. „Ich meine ja nur…“, begann Yūri und Victor hatte den Eindruck, dass er alles ansah, nur ihn nicht. Auch wurde Yūris Gesicht langsam aber sicher immer röter. „… Nun ja… Es wäre ja schade drum… und vielleicht sind auch Sachen drin, die wir brauchen können?“, Yūris Gemurmel klang am Ende mehr wie eine Frage, als ein Vorschlag und Victor hatte wirklich genau hinhören müssen, um alle Worte zu verstehen. Und Alan hatte gedacht, Yūri wäre prüde, lachte Victor in Gedanken. „Du schlägst also vor, den Adventskalender zu nutzen?“, fragte er mit einem schiefen Grinsen und hob eine Augenbraue. Doch Yūri weigerte sich immer noch, ihn anzuschauen. Oder konnte es schlichtweg einfach nicht, weil es ihm zu peinlich war, vermutete Victor. Doch er selbst ließ seinen Partner keine Sekunde aus den Augen, so blieb ihm auch das kleine Nicken nicht verborgen. Victor machte ein Schritt nach vorne und zog gleichzeitig an Yūris Hand, die seine immer noch umschlossen hatte, sodass Yūri gegen seinen Körper stolperte. Er schlang seinen freien Arm um Yūri und drückte ihn ein wenig an sich, die Tüte mit dem Adventskalender lag dabei unangenehm in seiner Hand und er hoffte, dass sie Yūri nicht in den Rücken pikste. Kurz genoss er, Yūris heißen Atem durch sein Hemd zu spüren, dann beugte er sich ein wenig zu seinem Ohr hinunter und sagte leise: „Du weißt aber schon, dass Alan mir den Kalender nur geschenkt hat, um mich zu ärgern.“ Er spürte, wie Yūri gegen seine Brust nickte. „Das habe ich auch schon gemerkt. Alleine an dem amüsierten Grinsen, als er dir die Tüte überreicht hat. Er scheint es zu mögen, dich zu ärgern“, Victor meinte, etwas Belustigung in Yūris Stimme zu hören. Doch Yūri hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. „Ja, das macht er wirklich gerne. Manchmal befürchte ich, dass er seinen Frust bei mir auslässt, wenn seine Frau ihn mal wieder auf dem Sofa schlafen lässt, weil er irgendeinen Mist gebaut hat“, seufzte Victor theatralisch in Yūris Haare. „Ist das wirklich so?“, fragte Yūri verwundert. „Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Das ist nur eine Vermutung und vielleicht so etwas wie eine Wunschvorstellung. Es erleichtert mein Leid, wenn ich mir vorstelle, dass auch er in einer Weise leiden muss“, lachte Victor und freute sich, Yūri leise kichern zu hören. Sie blieben einen Moment so stehen und Victor genoss es, Yūri in seinem Arm zu spüren. Am liebsten hätte er ihn noch enger an sich gezogen, aber Yūri hatte seine Hand immer noch nicht losgelassen. Yūris andere Hand ruhte an seiner Hüfte. „Also gut. Wir behalten den Kalender. Aber du musst mir eins versprechen, hörst du, Любимый?“, er löste sich widerwillig von Yūri, aber Victor musste einfach in seine Augen sehen, damit er sich sicher war, dass Yūri seine Antwort auch so meinte. Erleichtert stellte er fest, dass Yūri ihn nun auch von sich aus ansah. Zufrieden fuhr Victor fort: „Ich habe keine Ahnung, was da drin ist. Aber wenn dir irgendwas nicht zusagt oder vielleicht sogar Unbehagen bereitet: Sag es mir. Dann kommt es in den Mülleimer. Da wäre es ja ohnehin gelandet, wenn du mich eben nicht überredet hättest, es auszuprobieren. Versprich es mir bitte, Любимый.“ Yūri nickte, doch das reichte Victor nicht. „Bitte sag es, Yūri“, beharrte er und sah ihn durchdringend an. Ein kleines, schelmisches Grinsen legte sich auf Yūris Lippen und seine Augen funkelten vor Vergnügen. Dann nahm er seine Unterlippe zwischen die Zähne und schaute ihn scheinbar unschuldig an. „Ja, Daddy“, sagte er dann, doch konnte dabei das Schmunzeln nicht ganz unterdrücken. Victor schaute ihn fassungslos an. War das wirklich der gleiche Yūri, der ihn eben noch ganz verschämt angesehen hatte, als er ihn gebeten hatte, den Kalender nicht wegzuwerfen? Er kneife sich in den Nasenansatz zwischen den Augen und seufzte. „Yūri… Das willst du nicht wirklich. Sonst muss ich dich über das Knie legen, weil du frech bist“, seufzte er theatralisch. Yūri ließ seine Hand los und ging ein paar Schritte. Dann drehte er sich und zwinkerte ihm zu. „Vielleicht stehe ich drauf“, lachte er dann. „Yūri Katsuki! Irgendwann bist du wirklich noch mein Tod!“ Dann setzte sich Victor in Bewegung und verfolgte Yūri bis zum Hauseingang. Amüsiert fragte er sich, wann er das letzte Mal tatsächlich Fangen gespielt hatte. Yūri musste immer noch vor sich her grinsen, als er auf dem Weg nach Hause war. Er hatte keine Ahnung, warum er auf einmal mit so etwas angefangen hatte. Vielleicht war es der Alkohol gewesen, denn der ‚Absacker‘ dem er zum Schluss dann doch noch zugestimmt hatte, war überraschend stark gewesen. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass er sich bei Victor immer geborgen fühlte. Victor versicherte sich immer, dass nichts ohne Yūris Einverständnis passierte. Er überrumpelte ihn nicht und wenn doch, ließ er ihm genug Zeit und Raum, mit der Situation umzugehen. Wenn Yūri so darüber nachdachte, war das sicherlich einer der Gründe, warum er sich auch sicher genug fühlte, Scherze über so etwas zu machen. Yūri hatte nicht wirklich einen Daddy-Kink, auch wenn es ihm vermutlich nicht viel ausmachen würde, wenn Victor auf so etwas stand. Auch, wenn Victor in diesem besonderen Fall bereits angedeutet hatte, dass er es nicht sonderlich erregend fand, ‚Daddy‘ genannt zu werden. Yūri vermutete, dass es damit zusammenhing, dass Victor scheinbar nicht ganz so gut auf das Altern an sich anzusprechen war. Er erinnerte sich noch lebhaft daran, als er sich Sorgen gemacht hatte, dass sein Haar dünner werden würde. Das war vor dem Bücherladen gewesen, kurz nach dem Unfall. Ein schicksalhaftes Zusammentreffen für sie beide. Normalerweise war ein Autounfall nie eine gute Sache. Für sie beide war es jedoch offenbar ein Glücksfall gewesen. Der Gedanke amüsierte Yūri, denn was war bei ihnen beiden schon normal? Er war gespannt, was alles in dem Kalender zu finden war. Tatsächlich war er ziemlich neugierig. Er wünschte sich sogar ein wenig, einen Blick darauf hätte erhaschen zu können, um zu sehen, ob er etwas im Internet dazu fand. Aber im ersten Augenblick war er einfach zu überrascht gewesen. Erst nachdem er die Flucht zur Toilette angetreten war, war ihm klar geworden, dass man eventuell auch etwas daraus machen konnte. In so einem Adventskalender war sicherlich nicht nur Mist drin, sondern auch Dinge, die man gut verwenden konnte. Immerhin musste der Hersteller damit eine breite Masse abdecken und sie konnten so vielleicht auch etwas entdecken. Nicht, dass es Yūri bereits langweilig mit Victor wurde, aber Gelegenheiten sollte man beim Schopf packen. Nicht wahr? Als er seine Wohnung betrat und das Licht anschaltete, überkam ihn eine altbekannte Schwermut. In letzter Zeit hatte er das oft, wenn er nach Hause kam und die Wohnung so vorfand: Leer, dunkel, unbewohnt. Kein Post-It an der Tür, die ihm erklärte, dass Phichit noch einmal in die Klinik musste oder Spätschicht hatte. Kein Phichit, der ihn mit irgendeinem dummen Spruch begrüßte oder ignorierte, weil er gerade mitten in einem Kampf irgendeines Online-Spiels war. Stattdessen fütterte er die Hamster, deren Käfig mittlerweile ins Wohnzimmer umgezogen war und warf sich auf die Couch. Er blickte zu den beiden Büchern, die Alan ihm geschenkt hatte und überlegte für einen Moment, ob er lesen sollte, verwarf diese Idee aber schnell wieder. Kurzentschlossen nahm er sein Handy heraus und startete einen Videoanruf mit seinem besten Freund. Es klingelte nicht lange, bis das Gesicht von Phichit auf dem kleinen Display erschien. Er schien müde, doch hocherfreut über Yūris Anruf. „Yūri! Wie geht es dir? Wie war deine Geburtstagsfete?“, lachte er. Er war ein wenig mürrisch gewesen, an Yūris Geburtstag nicht da gewesen zu sein. Daher hatten sie im Freundeskreis beschlossen, dass sobald Phichit wieder in der Stadt war, Yūris Geburtstagsfeier nachgeholt werden musste. Außerdem müsse er dann Victor mitbringen. Zwar hatte Yūri dies Victor noch nicht gestanden, aber Yūri war sich sicher, dass Victor mitkommen würde. „Das Essen war gut und Alan hat mir sogar ein Geschenk gemacht“, mit der freien Hand angelte er nach den beiden Büchern, die auf dem Couchtisch lagen und zeigte sie ihm. „Der erste Band zur Loch-Leven-Saga ist eines der ersten 10 gedruckten Exemplare und von ihm signiert“, erklärte er dabei noch. Phichit pfiff durch die Zähne. „Das ist sicher irgendwann ein Vermögen wert. Aber sag mir lieber, wo ihr essen wart“, lachte Phichit. „Wir waren im Grey Ghost“, sagte Yūri und musste sich ein kleines Grinsen verkneifen, weil er wusste, dass Phichit fast vor Neid platzen würde. „Das ist nicht dein Ernst! Du hast doch gesagt, das war kurzfristig? Wie konnte er noch einen Platz dort bekommen?“, fragte Phichit, seine Stimme war eine Mischung aus Entsetzen und Fassungslosigkeit. „Ich habe keine Ahnung“, gestand Yūri und zuckte dabei mit den Schultern. „Yūri, bist du sicher, dass Victor tatsächlich nur Redakteur ist? Vielleicht ist er eigentlich bei der Mafia oder so?“, Yūri war sich nicht sicher, wie ernst Phichit diese Behauptung meinte. Doch Yūri musste dennoch lachen. „Ich glaube nicht, Phichit. Victor trägt keinen Hut und ich habe schon ein paar Mal in seinen Kofferraum gesehen, da war nie ein großer Müllsack oder ähnliches drin. Außerdem, ist der Kofferraum von so einem Tesla nicht eigentlich viel zu klein für solche Dinge? Müsste er dann nicht eher einen Kombi fahren?“, lachte er. Phichit nickte ernst und rieb sich überlegend das Kinn. „Du hast natürlich vollkommen recht, Yūri. Außerdem wart ihr nicht italienisch essen“, bemerkte er dazu. „Richtig. Und ich habe keine Ahnung, in welche Restaurants die russische Mafia geht. Haben wir überhaupt ein russisches Restaurant in der Nähe? Ich war zumindest in keinem solchen Restaurant mit ihm. Mafia scheidet also eher aus. Sonst kenne ich mich allerdings nicht so im Untergrund aus. Gibt es vielleicht noch irgendeine andere Organisation?“, fragte Yūri grinsend. „Ich fasse es nicht, Yūri! Bis vor kurzem hättest du Victor noch mit Zähnen und Klauen vor diesen Sprüchen bewahrt und jetzt machst du fleißig mit. Kriselt es etwa schon im Paradies?“, lachte Phichit und streckte Yūri die Zunge raus. „Wer weiß? Vielleicht bin ich ja auch nur Agent der japanischen Regierung und auf der Spur eines russischen Spions?“, Yūri hob vielsagend die Augenbrauen. „Ok, das klingt jetzt nach einem Drehbuch deiner heißgeliebten Schrottfilme. Ich bin raus!“, Phichit hob lachend eine Hand, als würde er kapitulieren. „Ich bin enttäuschend, Phichit. Nach all der Zeit mit mir als deinen Mitbewohner hast du immer noch nicht die verborgene Kunst der Trash-Filme erkannt“, Yūri seufzte und schüttelte traurig den Kopf. „Die Kunst ist wirklich total verborgen. Da muss man schon graben, um da was künstlerisch Wertvolles zu finden“, lachte Phichit schnaubend. „Wie geht es dir eigentlich, Phichit? Wie läuft es? Wann kann ich dich zurückerwarten? Sowohl zum Besuch als auch wieder fest. Langsam wird es einsam hier ohne dich und deine Hamster vermissen dich auch“, dabei drehte Yūri sein Handy, damit die Kamera den Käfig der Hamster erfasste. Allerdings glänzten diese nach ihrem kurzen Abendessen wieder durch Abwesenheit. Phichit seufzte. „Ich habe keine Ahnung. Es läuft alles gut und in der Forschungs- und Entwicklungsgruppe macht das Arbeiten ziemlich viel Spaß. Das Krankenhaus hängt uns auch schon in den Ohren, weil schon so viele so lange weg sind, daher werden zwei Kollegen nächste Woche vorerst wieder zurückreisen. Die beiden haben sich freiwillig gemeldet, da sie Familie haben. Aber wir werden wohl noch nicht einmal zu Weihnachten oder zwischen den Jahren zurückkommen. Vielleicht Mitte Januar für einige Tage. Aber sonst geht es mir eigentlich gut, es ist super spannend und eine echt tolle Erfahrung. Wenn auch manchmal ein wenig ermüdend“, Phichit lachte, doch Yūri erkannte mit Erleichterung das Funkeln in dessen Augen und die Begeisterung in seinem Gesicht. „Das klingt toll, aber auch nicht so, als würdest du bald zurückkommen. Man könnte den Eindruck bekommen, dass du dort bleiben willst“, seufzte Yūri und wagte sich dabei, einen Gedanken auszusprechen, den er in letzter Zeit öfters hatte. Und vor deren Antwort er sich ein wenig fürchtete. „Puh, das ist eine gute Frage. Ich würde lügen, wenn ich mir das nicht vorstellen könnte, Yūri. Da bin ich ehrlich mit dir. Aber zurzeit sieht es nicht danach aus und du wärst der Erste, der davon erfahren würde! Und falls das passiert, komme ich natürlich noch meine Hamster abholen?“, zwinkerte er Yūri zu. „Hey, das ist aber gemein. Die Hamster nimmst du mit und was ist mit mir?“, vielleicht war in dem gespielten Schmollen ein Hauch von Wahrheit. „Tut mir leid, Yūri. Du passt eben nicht in einen Hamsterkäfig. Doch auch selbst wenn, hätte sicher Victor was dagegen und ich lege mich nicht mit dem russischen Geheimdienst an“, lachte Phichit. „Gute Nacht, Phichit. Du solltest dringend mal eine Mütze voll Schlaf bekommen. Du hast schon Augenränder bis zum Nasenflügel“, schnaubte Yūri belustigt. „Schlaf du auch gut, Yūri. Langsam kommst du in das Alter, in dem du früher schlafen gehen solltest. Du willst doch nicht deine Gesundheit aufs Spiel setzen“, zwinkerte Phichit, winkte in die Handykamera und beendete das Gespräch lachend, bevor Yūri kontern konnte. So oder so ähnlich endeten in letzter Zeit alle ihre Telefonate. Sie zogen sich auf und einer beendete schnell das Gespräch, bevor es noch vollkommen eskalieren und sie sich nicht ernstgemeinte Gemeinheiten an den Kopf werfen konnten und damit die Nacht zum Tag machten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)