Psycho-Pass | Ω von Rigel (Wrath of the Wraith) ================================================================================ Kapitel 4: Ghosts of the Past - Teil 2 -------------------------------------- Akane saß an ihrem Schreibtisch, brütend über Bergen von Papieren, Berichten und Akten zu Graffitis, Gehirnen und grinsenden Geistern. Bereits die vierte Zigarette steckte in den Aussparungen ihres Aschenbechers und ließ ihre blauen Schwaden über den Glutherden aufsteigen, sich mit den anderen mischen und vereinen wie tanzende Gespenster. “Akane, Akane, das ist aber gar nicht gesund”, ermahnte Candy, ihre holografische Haushälterin, “Und so gefährliche Leute in deine Wohnung zu lassen, kann auch nicht gesund sein.“ Akane runzelte die Stirn. Sie wollte gerade fragen, was Candy damit gemeint hatte, als sich zwei Arme um ihre Schultern legten und ein Mann sein Kinn auf ihren Scheitel stützte. “Sie hat recht”, bestätigte eine tiefe und wohl vertraute Stimme. Akane konnte den beleidigten Zug um ihre Mundwinkel nicht abwehren. “Auf welcher Seite stehen Sie eigentlich, Kogami-san?” “Schwierigkeiten mit dem Fall”, fragte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. “Ich komme nicht weiter. Es liegt alles vor mir. Im Grunde müssten wir nur noch zugreifen, die Drahtzieher einsperren und es wäre getan, aber-” “Aber das würde dir nicht reichen. Du willst nicht nur den Täter schnappen, sondern auch verstehen, was er vor hatte. Wissen, was er am Ende erreichen wollte”, vervollständigte Kogami ihre Gedanken. “Mhm.” Kogami richtete sich auf und tätschelte ihr den Kopf wie er es früher getan hatte. “Du bist ein guter Bulle geworden.” Sie wandte sich ihm zu und lächelte dankbar. Kogami wandte seinen Blick den Zigaretten in ihrem Aschenbecher zu. “Wenn du mich fragst, ist das reine Verschwendung”, sagte er und schnappte sich eine mit zwei Fingern. Was von ihr übrig war, erledigte er mit einem Zug und drückte den Stummel in den Becher. “So macht man das”, kommentierte er mit einem überheblichen Lächeln, “Nimm das jetzt aber nicht als Ermunterung.“ “Genauso hat es sich aber angehört.” “Du fragst dich also, worauf sie hiermit abzielen”, stellte Kogami fest und hielt die Flasche mit den griechischen Buchstaben hoch. “Die Frage ‘Was willst du, Sibyl’ muss ein Zitat aus der Literatur sein. Aus ziemlich alter Literatur sogar”, überlegte Akane laut, während ihre Zähne an ihrer Unterlippe nagten. “Hattest du die Informationen von einem Computerarchiv suchen lassen”, fragte Kogami, der nun mit dem Rücken an ihrem Schreibtisch lehnte. “Ich habe die Befürchtung, dass ein Archiv diese Zitate nicht kennen wird.” “Nicht kennen oder nicht erlauben wäre eine interessante Frage.” “Was?” “Nicht so wichtig”, wiegelte er ab, “Wusstest du übrigens, dass Professor Saiga - bevor er sich der Psychologie zuwandte - Geschichte gelehrt hatte?” Akane fuhr dabei aus ihrem Grübeln hoch. “Nein, woher?“ “Hm, dachte, ich hätte es mal erwähnt. Allerdings” - Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und stellte sie auf den Tisch zurück - “solltest du dich jetzt ausruhen. Wenn du nicht entspannt bist, wirst du nicht gut ermitteln können.” Wie um seinem Vorschlag nachzukommen, straffte Akane den Rücken und rollte mit den Schultern, um die Verspannungen zu lösen. “Sie haben immer sehr gut ermittelt, dafür, dass Ihre Entspannungstechniken daraus bestanden, entweder zu rauchen oder Sparringsdrohnen zu verprügeln”, gestand sie offen, nicht ohne ironisches Lächeln. Mit enerviertem Schnauben stieß er sich vom Schreibtisch ab, positionierte sich hinter ihr und legte beide Hände auf ihre Schultern, um in langsamen, genüsslichen Zügen seine Finger durch die verspannte Muskulatur zu kneten. Auch wenn sie die Augen geschlossen hatte, fiel Akane auf wie groß sich seine Hände auf ihren Schultern anfühlten. “So hast du mich also immer gesehen”, fragte er und ging damit auf ihren vorherigen Kommentar ein. Als er das nächste Mal sprach, war es so dicht an ihrem Ohr, dass ihr Gänsehaut über Nacken und Rücken fuhr. “Also, ich kenne da noch andere Arten, Stress abzubauen”, flüsterte er gedehnt, wobei seine rechte Hand einen nach dem anderen Knopf ihrer Bluse öffnete, “Viel angenehmer als gegen Drohnen kämpfen und viel gesünder als rauchen.“ Akanes Atemzüge hatten inzwischen erschreckende Ähnlichkeit mit der Herzfrequenz eines Kolibris angenommen. Sie krallte die Finger um die Armlehnen ihres Stuhls, als ein überraschend kühler Daumen endlich den gewonnenen Spielraum der offenen Knöpfe nutzte, um in ihr Dekolleté vorzudringen. Plötzlich stieß Candy einen äußerst schrillen Alarmton aus, der sie an die Blendgranate von Wraith erinnerte. Akane riss den Kopf von ihrem Bett hoch und blinzelte verwirrt in den dunklen Raum. Erst als eine wütende Faust auf die schwebende, schwach leuchtende Kugel niedergegangen war und sie damit zum Schweigen gebracht hatte, kehrten vernünftige, zusammenhängende Erinnerungen und Erkenntnisse zu ihr zurück. Das erste Mal in dieser Nacht war sie von dem Piepen des Autopiloten geweckt worden, der ihr ebenso monoton wie energisch mitteilte: “Sie haben Ihr Ziel erreicht.” Sie hatte es danach gerade so geschafft ihre Haustür mit dem Communicator an ihrem Handgelenk zu entriegeln, Schuhe, Rock, Blazer und Bluse auszuziehen und sich so wie sie war auf ihr Bett fallen zu lassen. Natürlich war sie längst nicht mehr in ihrer alten Wohnung, Kogami konnte natürlich nicht hier sein und auch ihre Haushälterin Candy hatte sie nicht mehr. Derart unsanft geweckt worden zu sein und das - mit einem Blick auf den Wecker - zudem um 6:00, verdankte sie dem Umstand, dass Ginoza sie - vor einer Woche schon - dazu gedrängt hatte, diesen Samstag frei zu nehmen. Dabei hatte er weniger wie ein untergebener Vollstrecker als vielmehr wie ein Drillsergeant geklungen. Bei dem Versuch, aus der frühen Zeit etwas Positives zu ziehen, wanderten Akanes Gedanken zu dem Traum zurück. Sie brauchte einen Moment, um ihren Kopf von den späteren Szenen des Traumes abzulenken und sich der Information zuzuwenden, die ihr der Traum geboten hatte. Kogami-san hatte gesagt, dass Professor Saiga Geschichte unterrichtet hatte. Er muss es mir irgendwann einmal erzählt haben und ich habe es wieder vergessen. Alles andere wäre auch absurd. Akane entledigte sich ihrer restlichen Kleidung und war nach einer kalten Dusche bereit, sich wieder anzuziehen und aus dem Haus zu marschieren, nicht ohne vorher im Vorbeigehen ihren Communicator vom Tisch zu schnappen. Sie war zwar nicht im Dienst, für das, was sie vorhatte, würde sie ihn jedoch brauchen. Joji Saiga hatte noch nie viel geschlafen. Er hielt es mit Thomas Alpha Edison, dem man nachsagte, er habe nur zwei Stunden Schlaf benötigt. Daher war es auch nicht überraschend, dass er - seit er sich selbst in die mentale Korrektureinrichtung eingewiesen hatte - noch nie den Drohnenweckdienst um 7:00 Uhr in Anspruch nehmen musste. Er stand also bereits an der gepanzerten Tür zu seinem Domizil, als die Kontrolldrohne vorbei schwebte und auf Höhe des Sichtfensters hielt. “Guten Morgen, Saiga Joji. Ihr Kriminalkoeffizient an diesem Morgen beträgt 127. Das ist eine Verbesserung von zwei Punkten zu vorheriger Woche. Ihr Farbton ist hellgrün…” Saiga ließ die Drohne schwafeln. Gleich würde sie wieder mit den Worten ‘Sie haben keine Termine’ einen weiteren ereignislosen Tag ankündigen. “Sie haben…einen...Termin.” Saigas Kopf fuhr dabei wieder hoch. “Was? Wiederhole.” “Sie haben einen Termin. Zeit: 8:00 Uhr. Treffen mit: Tsunemori Akane, Chefinspektorin Einheit 1, Amt für öffentliche Sicherheit. Dieser Termin kann nicht abgelehnt werden.” Ein Lächeln zeigte sich auf den Mundwinkeln des ehemaligen Professors. “Da ist aber jemand früh.” An die Sicherheitsschleuse vor dem Eingang hatte sich Akane inzwischen gewöhnt - so sehr, dass sie die zuständige Scandrohne ungeniert angähnte und sich am Kopf kratzte, während diese ihre Arbeit tat. “Guten Morgen, Inspektorin Tsunemori. Scan abgeschlossen. Kriminalkoeffizient 21, Farbton Puderblau. Bitte passieren Sie die Sicherheitsschleuse.” Was ihr beim Betreten von Joji Saigas Domizil entgegen kam, war der belebende Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee… gefolgt von Joji Saiga selbst. “Ich hatte nicht vor nächster Woche mit einem Besuch gerechnet, Inspektorin. Ist etwas passiert?” “Bitte, nennen Sie mich Akane, Saiga-sensei.” Saiga senkte die Augenbrauen. “Dann nenne Du mich nicht Sensei.” Akane streckte ihm mit verlegenem Lächeln ihre Hand hin. “Deal”, sagte sie. Nachdem sie Platz genommen hatte und sich die von der Novemberluft kalten Hände an der dampfenden Kaffeetasse wärmte, holte Akane tief Luft. Es war kein einfaches Anliegen, das sie an Kogamis ehemaligen Lehrer hatte. “Saiga-s… ich meine: Es gibt da einige Dinge in Bezug auf Wraith, die ich noch nicht ganz verstehe. Sie haben die Akte gelesen?” “Dank deiner Autorisierung, ja. Also, oberflächlich betrachtet wirken die Drahtzieher wie einfache Aufwiegler. Menschen, die durch gezielt orchestrierte Aufstände Panik verbreiten und die Menschen am Urteil des Sibyl Systems zweifeln lassen, da keines der teilnehmenden Mitglieder einen Kriminalkoeffizienten hat, der hoch genug für eine Vollstreckung wäre. Sie handeln, wenn man so will, also mit Sibyls Zustimmung.” Er hielt kurz inne für einen Schluck Kaffee. “Aber! Der Diebstahl dieser EMP-Granaten deutet doch darauf hin, dass noch mehr hinter diesen Aktionen stecken könnte.” “Es deutet darauf hin, dass sie etwas Größeres planen. Etwas entscheidend Größeres”, pflichtete Akane bei, “Und ich rätsele immer noch über die Bedeutung dieser Flasche, die sie mir zugesandt hatten.” “Wie lautete dieser griechische Satz auf der Flasche noch gleich”, fragte Saiga. “Σίβυλλα τί θέλεις (Sibylla ti theleis). Was willst du, Sibyl.” Als Akane den Blick hob bemerkte sie, dass Saiga angestrengt nachdachte - so, als habe er diesen Satz schon einmal gehört. “Stimmt es, dass Sie einmal Geschichte gelehrt hatten, ehe Sie sich der klinischen Psychologie zuwandten”, wollte sie nun in Anspielung auf ihren Traum wissen. Das riss Saiga erfolgreich aus seinem Grübeln. “Das schon, aber nicht offiziell gelehrt. Ich war Tutor und habe anderen Studenten in alter Geschichte geholfen.” “Dann wissen Sie etwas mit der Frage anzufangen”, fragte Akane begierig. “Jedenfalls weiß ich, dass sie alt ist. Sehr alt. Das erkennt man schon allein daran, dass es sich dabei um Altgriechisch handelt, eine Form des Griechischen, die heute gar nicht mehr gebraucht wird. Eine tote Sprache.” Akane fiel dabei ihre Begegnung mit dem maskierten Geist wieder ein. “Wissen Sie, einer der Drahtzieher von Wraith hat mir in Bezug auf diese Flasche etwas Seltsames gesagt.” “Sie geben dir Tipps, interessant. So als wollten sie, dass du das Rätsel löst. Sie haben die Flasche dir zukommen lassen. Dir allein, nicht dem Amt für öffentliche Sicherheit. Das legt doch den Schluss nahe, dass sie nur dich für fähig halten, ihr Geheimnis zu lüften.” Akane war wieder einmal dankbar dafür, dass sie auf Saigas Hilfe zählen konnte, denn diese Überlegungen hatte sie bisher noch nicht angestellt. Wissen Wraith vielleicht, dass auch ich die Wahrheit über das Sibyl System kenne? “Aber ich schweife vom Thema ab”, entschuldigte sich Saiga, “Was hat dir der Mann von Wraith gesagt?” “Er sagte, es zähle allein das, was Trimalchio sprach. Und dann fügte er noch etwas von Kapitel 26-78 hinzu.” “26 bis 79”, korrigierte Saiga ohne eine Sekunde des Zögerns. Akane hielt es nicht mehr auf ihrer Couch. “Sie wissen, worauf er sich bezogen hat?!“ Saiga nickte mit geschlossenen Augen. “Auf das Satyricon, ein Buch des römischen Senators Titus Petronius, das vor mehr als 1500 Jahren geschrieben wurde. Die Kapitel 26 bis 79 umfassen die sogenannte “Cena Trimalchionis”, das Gastmahl des Trimalchio. Darin geht es um einen freigelassenen und zu großem Wohlstand gekommenen Sklaven, der ein Festmahl für seine Gäste gibt. Ich bin ziemlich sicher, diesen griechischen Satz, der auf der Flasche steht, aus eben diesem Buch zu kennen.” “Wissen Sie auch wie man an dieses Buch herankommen kann, Saiga-san?“ Saiga seufzte und nahm sich die Brille von der Nase, um sie zu putzen. “Ich fürchte, gar nicht. Das Satyricon ist ein nur fragmentarisch überliefertes Buch. Große Teile davon existieren schon lange nicht mehr. Und selbst wenn es das Gastmahl des Trimalchio noch als Auszug gibt, steht es unter Garantie auf Sibyls schwarzer Liste. Das heißt, alle bekannten Ausgaben wurden vernichtet und das Werk wurde aus den Archiven gelöscht.” Saiga hatte eine Ahnung, wer so eine Ausgabe besessen haben könnte, aber er ließ das Gesagte zunächst so stehen. Akane war von der wenig aussichtsreichen Antwort auch weniger entmutigt als sie gedacht hatte. Stattdessen tigerte sie im Raum umher, unbewusst am Fingernagel kauend und ging alle möglichen und unmöglichen Optionen durch, als ihr aus dem Augenwinkel Saigas Bücherschrank auffiel. “Äh… darf ich”, wandte sie sich fragend an Saiga. Der stimmte mit einem Nicken zu, ohne wirklich zugehört zu haben. Eben weil er gerade im Zwiespalt war, ob er versuchen sollte Akane weitere Nachforschungen zu diesem Thema aus Sorge um ihren Farbton auszureden. Er ahnte bereits, dass es bei dem Versuch bleiben würde. Akane bekam das nicht mit, da sie - noch immer in ihren eigenen Gedanken - mit dem Zeigefinger an den Buchrücken entlangfuhr und schließlich bei einem roten Band stehen blieb. “T.S. Eliot - collected poems” las sie vom Buchrücken. Vielleicht hilft es mir beim Denken, dachte Akane und schlug das Buch auf. Im Inhalt entdeckte sie ein Gedicht, das ihr bekannt vorkam. “The Wasteland” lautete der Titel. Sie erinnerte sich an einen grauen verregneten Montagmorgen im April, damals, als Kogami, Kagari und Masaoka noch bei Einheit 1 gewesen waren. Sie hatte an den Ringen unter Kogamis Augen gesehen, dass er genauso unausgeschlafen war wie sie selbst und hatte die Stimmung lockern wollen… “Schlägt Ihnen das Wetter auch aufs Gemüt, Kogami-san”, hatte sie gefragt. “April is the cruellest month”, war seine Antwort gewesen. Sie hatte verwirrt die Stirn gerunzelt, bis er ihr erklärte, dass dies die ersten Wörter des Gedichtes “The Wasteland” von T.S. Eliot seien. Ein nostalgisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie diese ersten Wörter las. Dann hob sie den Blick zu dem kleinen Text über dem Beginn des Gedichtes. Joji Saiga wäre beinahe von seinem Sessel aufgesprungen, als er Akane Aufkeuchen hörte und gleichzeitig mit dumpfem Aufprall das Buch den Boden traf. “Was ist passiert, hast du dich am Papier geschnitten?“ Akane schnappte das Buch vom Boden und warf es beinahe vor Saiga auf den Tisch. “Können Sie mir das übersetzen, Saiga-san?” Er sah auf den Text, auf den sie deutete. “Eureka”, entfuhr es ihm. “Was?“ Saiga wiegelte mit der Hand ab. “Ach, das ist ein Ausruf von Archimedes. Er bedeutet wörtlich: ‘Ich habe es gefunden’. Dieser Text ist genau das, was Trimalchio sprach. Es ist ein Zitat aus dem Satyricon.” Er las den Text vor. “Nam Sibyllam quidem Cumis ego ipse oculis meis vidi in ampulla pendere, et cum illi pueri dicerent: Σίβνλλα τί ϴέλεις; respondebat illa: άπο ϴανεΐν ϴέλω. Das bedeutet: ‘Denn ich sah einst mit eigenen Augen die Sibylle in Cumae in ihrer Flasche hängen. Und wenn die Jungen sie fragten: ‘Sibylle, was willst du?‘ antwortete sie: ‘Sterben will ich.’” Akanes Gedanken schnellten zurück zu der Puppe in der Flasche. Sibylle in der Flasche. Die Puppe ist also Sibyl selbst. Was bedeutet das Andere. Cumae war doch eine alte italienische Stadt, nicht wahr? Und als Letztes die Antwort auf die Frage, was Sibyl will. ‘Sterben will ich’. Was will Wraith damit sagen? “Akane.“ Dass sie Sibyl töten wollen? Nein, zu banal. “Akane.” Dass Sibyl selbst sterben will. Aber wieso? Und wieso hängt sie in einer Flasche? Das ergibt keinen Sinn. “Inspektorin Tsunemori!” Akanes Kopf fuhr schlagartig hoch. “Jawohl!” Saiga konnte das Lachen nicht verhindern. “Da habe ich ja etwas angerichtet. Nicht dass sich durch das viele Grübeln dein Farbton trübt.” “Wissen Sie vielleicht, ob diese Aussage von Trimalchio von etwas Anderem herrührt”, fragte sie, ohne auf Saigas Warnung zu reagieren. “Ja, ich bin sicher, dass es das tut. Es gibt viele Legenden zu den Sibyllen, insbesondere der Sibylle von Cumae. Trimalchios Aussage muss Bezug nehmen auf eine davon. Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, auf welche.” “Saiga-san. Darf ich Sie um einen Gefallen bitten?” Saiga ahnte Übles, aber er nickte dennoch. “Ich würde mir gern die Bücher ansehen, die Ihnen Kogami-san vor seinem Fortgehen hinterlassen hat.” Ist das alles, fragte sich Saiga. Er hob den Gedichtband von T.S. Eliot. “Das ist eines davon. Die anderen stehen dort ganz oben im Bücherschrank.“ Akane lächelte schuldbewusst. “Nein, ich meine eher die anderen Bücher, die Ihnen Kogami-san hinterlassen hat.” Saiga seufzte in sich hinein. Es musste ja einen Haken geben. “Das sind… verbotene Bücher, Akane. Gefährliche Bücher. Kogami hatte sie mir nur symbolisch vermacht, sie sind aber nicht hier.” “Das dachte ich auch nicht”, sagte Akane, während sie mit den Knöpfen ihres Blazers spielte, “Ich dachte eher daran, dass Sie mir sagen können, wo ich sie finde.” “Akane, Akane.” “Bitte, Saiga-san”, flehte Akane, “Das könnte der einzige Weg sein zu verstehen, was Wraith von mir will.“ “Und warum ist das so wichtig? Glaubst du, dass - wenn sie etwas Größeres vorhaben - sie dir auch nur eine kleine Chance lassen es herauszufinden und ihnen zuvor zu kommen?” “Ich weiß, dass ich nicht weiß”, erwiderte Akane. “Nun zitiere nicht Sokrates.” Saiga nahm ein Kärtchen für eine Opernübertragung aus seiner Hemdstasche und schrieb etwas auf die Rückseite. “Wenn Kogami noch lebt, wird er kommen und mich dafür umbringen, dass ich dir das gebe. Und wenn er nicht mehr lebt, wird er mich heimsuchen.” Er reichte Akane das Kärtchen. “Darauf steht eine Adresse und ein Code. Es ist ein Safe House am äußersten Rand der Stadt. Dort gibt es keine Scanner und Drohnen. Wenn der Code nicht geändert wurde, kommst du mit ihm in das Gebäude. Darin findest du eine Kommode in der linken Ecke des Raumes. Zieh sie weg und hebe die Holzbretter unter ihr an. Was du suchst, befindet sich in einer grünen metallenen Kiste.” Akane hatte gerade den Mund geöffnet, um sich überschwänglich zu bedanken, als ihr Saiga mit der Hand zu schweigen gebot. “Danke mir nicht. Du könntest mir danken, wenn ich es geschafft hätte, dich davon abzubringen. Wenn du wieder zurückkommst und dein Psycho-Pass hat keinen Schaden genommen, können wir von Glück reden.” Akane runzelte die Stirn. “Wenn ich wieder zurückkomme?” “Lass es mich so sagen”, erklärte Saiga, “Vielleicht solltest du die Möglichkeit erwägen, dass Wraith dir gar nicht helfen will. Wie gesagt: Dort draußen gibt es keine Scanner und Drohnen. Wenn dich jemand auf dem Präsentierteller haben wollte, wäre das der ideale Ort.” Akane ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen. “Ich werde nicht allein sein”, antwortete sie dann. Saiga bemitleidete denjenigen aus Einheit 1 bereits, der diesmal zu der waghalsigen Reise mitgeschleift werden sollte… und verpasste beinahe, als Akane sich für alles bedankte. “Mir ist in den Berichten noch etwas aufgefallen”, hielt er sie auf, “Dieser Mann mit der Maske hat eine ungewöhnliche Reaktion des Dominators ausgelöst, nicht wahr?“ “Ja. Der Dominator zeigte seltsamerweise eine Fehlermeldung an: dass das Objekt ungültig sei.” Saiga nickte. “Ich nehme an, du hast Shion bereits darauf angesetzt.“ “Noch nicht”, erwiderte sie, “Ich hatte das vor, wenn ich wieder im Büro sein werde.” “Wenn du möchtest, kann ich mich darum kümmern. Die Tage hier sind nicht gerade sehr ereignisreich.” Ein herzliches Lächeln trat auf Akanes Gesicht. “Das wäre wirklich sehr nett von ihnen, Saiga-sensei.” Sie griff sich mit der Hand an den Mund, als sie ihren Fehler bemerkte. Saiga schüttelte nur den Kopf und schob sich die Brille hoch. “Der alte Titel wird mich wohl noch eine Weile verfolgen.” Es schneite nicht - obwohl Schnee vorhergesagt worden war. Ginoza musste schmunzeln, als er aus dem Fenster des Büros sah. Sibyl konnte prophezeien, welcher Mensch in Zukunft ein Verbrechen begehen wird, aber das Wetter konnte das System so wenig vorhersagen wie die Menschen vorher. Zumindest ein paar Unwägbarkeiten bleiben noch. Er brauchte diese Ungewissheiten, sonst würde alles sinnlos festgeschrieben wirken. Ebenso wie aus dem Sohn wurde, was der Vater gefürchtet hatte. Du bist heute unverhältnismäßig sentimental, schalt er sich. Morgen würde er das Grab seines alten Herrn besuchen, vielleicht lag es daran. Morgen am 8. November. ‘08.02.2113’, tippte er in das Suchfeld des Computers. Niemand außerhalb dieser Abteilung wusste, was dies für ein Datum war, Niemanden interessierte es. Wider besseres Wissen bestätigte er die Suchanfrage. Zunächst glaubte er an einen Fehler des Systems. Dann an einen Scherz. Dann breitete sich heißkalte Wut in seiner Magengrube aus. Das CommuField hatte auf die Eingabe des Datums reagiert. Dort war auf dem Portal “L. Coholic’s Whistleblow” ein Artikel veröffentlicht worden. “Tomomi Masaoka Obituary”, las er halblaut, dann konnte er sich nicht mehr beherrschen, “Was fällt denen ein?!” Mika, die gerade auf dem Weg zu ihrem Platz gewesen war, horchte dabei auf. “Wer sind die? Woher haben die solche Informationen und wieso werfen sie sie der Öffentlichkeit zum Fraß vor”, lamentierte er wie zu sich selbst. “Hm?” Er musste plötzlich mit seinem Stuhl zur Seite rücken, weil Mika sich vorgebeugt hatte, um den Artikel zu überfliegen. Dabei kam ihr Gesicht seinem so nahe, dass er einen Duft von Jasmin in der Nase hatte, der wohl von ihren Haaren ausging. Er war so verblüfft darüber, dass sie einem Vollstrecker freiwillig so nahe kam, dass es seinen ganzen Ärger völlig verpuffen ließ. Hatte das etwas mit Tsunemoris Standpauke von neulich zu tun? Ihre Augen zuckten zeilenweise über den Bildschirm und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Das ist doch ein Ereignisbericht von Shougo Makishimas Anschlag auf die Hyper Oats Fabrik im Jahr 2113. Die Frage stellt sich wirklich. Wie sind sie an die Informationen gekommen? Als Inspektorin hatte Mika Zugriff zu den Akten über Makishimas Tod gehabt. Aber wer sollte sonst davon wissen? Sie las den letzten Abschnitt des Artikels und schluckte... “Tomomi Masaoka starb, weil er sein Leben gab. Nicht sein Leben als Vollstrecker. Nicht sein Leben als latenter Verbrecher, sondern sein Leben als Vater - aus Liebe zu seinem Sohn. Und nun frage ich euch alle dort draußen: welche Farbe hatte er?” Unter dem Artikel hatten bereits Kommentarschreiber begonnen ihre Meinung zu äußern. Wiz-Key: “Dass man davon nichts gehört hat. Gab es denn kein offizielles Begräbnis?“ What-Ka: “Du weißt doch wie Sibyl mit seinen Jagdhunden umgeht. Wenn sie sterben, dann ist es eben so. Man verscharrt sie im Dreck und fertig.” Gin of the Lamp: “Daran sehen wir wieder, dass man die Ehre eines Mannes nicht an seinem Kriminalkoeffizienten erkennt.“ What-Ka: “Das glaubte Sibyl nur leider nicht.“ Sherry Blossom: »snorting« “Sibyl glaubte auch, dass es heute schneien würde.” Mika musste darüber den Kopf schütteln. “Es ist ja nicht so”, äußerte sie, “dass sie nun schlecht über ihn gesprochen hätten.” “Ich weiß.“ Ginoza ließ die Schultern hängen. “Ich weiß das. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass sie etwas nehmen, das sie nichts angeht und sich das Maul darüber zerreißen. Etwas, das-” Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. “Etwas, von dem ich wollte, dass es nur mir allein gehört.” “Ich verstehe”, antwortete Mika. Ginoza wartete… auf einen herablassenden Kommentar, eine Beleidigung oder eine bissige Anmerkung. Aber sie sagte nichts weiter darauf. Er hatte auch keinen Sarkasmus in ihrer Aussage hören können - so als konnte sie es wirklich verstehen. “Meiner Meinung nach”, erklärte sie, “gibt es nur drei Möglichkeiten wie sie an dieses Wissen gekommen sein können: Die Erste und Wahrscheinlichste ist, dass sie sich Zugang zu den Aufzeichnungen der Kameras in der Hyper Oats Fabrik verschafft haben. Die Zweite und weniger Wahrscheinliche ist, dass sie Zugriff auf die Polizeiakten hatten. Die Dritte und Unwahrscheinlichste ist, dass einer von ihnen damals dabei gewesen war.” “Glaubst du, dass die Betreiber dieser Plattform zu Wraith gehören”, fragte Ginoza. “Das werden wir wohl erst dann wissen, wenn wir uns in das CommuField begeben haben.“ Ginoza nickte. “Tsunemori wird sich im CommuField umsehen, sobald ihr neuer Avatar fertig ist.” “Nein, das dauert zu lange”, widersprach Mika, “Ich gehe mit meinem Avatar hinein, der ist weniger bekannt und fällt nicht gleich auf.“ “Was”, zischte sie verärgert, als sie bemerkte, dass Ginoza sie anstarrte, “Du glaubst nicht, dass ich einen Avatar im CommuField habe? Nun, im Gegensatz zu dir habe ich noch ein Leben außerhalb der Arbeit, Vollstrecker!” Sie hatte den Vollstrecker am Ende bewusst betont, mit den Fäusten in den Hüften und roten Wangen. Dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz um und stampfte an ihren Platz. Ginoza konnte nur den Kopf schütteln über das, was sich da eben ereignet hatte. Nach Ginozas Entdeckung ging Abteilung 1 auf die Jagd nach Spuren zu L. Coholic, dem Urheber des Portals. Akane beteiligte sich daran und suchte, die Augen an den Bildschirm geheftet, nach verwertbaren Hinweisen. Nachdem sie den Artikel über den alten Masaoka gelesen hatte, war sie noch viel begieriger darauf, einen Verantwortlichen zu überführen. Sie überflog gerade einen Artikel aus dem Portal, der sich mit möglichen Sicherheitslecks in den Leitsystemen von Militärdrohnen befasste, als ihr gleich drei Dinge gleichzeitig auffielen. ‘Japan auch im Jahr 2117 größter Exporteur von Militärdrohnen’, las sie den Titel eines Artikels. ‘Sibyl-Experte bestätigt: Anti-Dominator-Drohnen kein Mythos!’, lautete der Titel des Zweiten. Dazu gesellte sich die Erinnerung an das, was Shoichi Yakuda im Verhör gesagt hatte. Im CommuField sprach mich jemand an, der sich Spectre nannte, hatte er erklärt. “An alle”, rief sie in den Raum, “sucht bitte im CommuField nach einem User, der sich Spectre nennt. Er hat keinen Avatar, nur ein Logo auf dem ‘voice only’ steht.” “Natürlich” Nun traf auch Ginoza die Erkenntnis, “Das war dieses Wraith-Mitglied, von dem Yakuda gesprochen hatte.” “Bin schon auf der Suche danach”, bestätigte Yayoi die Anweisung ihrer Inspektorin. Akane wandte sich daraufhin den Artikeln zu deren Titel sie stutzig gemacht hatten. “Japan der größte Exporteur von Drohnen”, murmelte sie zu sich selbst, “Das ist doch Unsinn. Sibyl hat alle Im- und Exporte abgebrochen, als es offiziell für ganz Japan ans Netz ging.” Unser guter Freund und Forschungsgenosse, What-Ka, hat sich einmal im Darknet umgesehen und herausgefunden, dass 60 % aller militärischen Drohnen, die im jahr 2117 in Umlauf gingen, von ein und demselben Unternehmen vertrieben wurden. Der Name dieses Unternehmens lautet Equiretra, ein auf K.I. spezialisierter Konzern mit 12 bekannten Niederlassungen auf der Welt. Unsere Recherchen in Vietnam, Korea, China, Indien und Taiwan aber ergaben, dass es sich bei 11 der 12 Unternehmen um Fake-Firmen handelt. Die Fabriken, in denen gefertigt werden soll, stehen schon seit Jahren leer. Nur eine einzige Fabrik ist tatsächlich in Betrieb. Diese befindet sich - wen wundert es - auf koreanischem Boden und steht offiziell unter der Leitung der SEAUn. Inoffiziell ist diese Fabrik jedoch schwer bewacht und wird augenscheinlich nur von Maschinen betrieben. Die Scans, die zur Kontrolle der ein- und ausgehenden Drohnen erfolgen, ähneln sehr stark den kymatischen Scans des Sibyl-Systems. Das wäre zunächst nicht weiter bedenklich, wissen wir doch alle, dass sich die SEAUn inzwischen unter Sibyls Kontrolle befindet. Bedenklich daran ist nur, dass von diesem Unternehmen aus Drohnen, die eben solche Scans durchführen können, über die ganze Welt verteilt werden. Und wie weit ist es schon von einer Militärdrohne bis zu einem Computersystem, mit dem man das Sibyl-System selbst über die ganze Welt verteilen könnte? Unsere weiteren Forschungen, liebe Leser, widmen sich der Suche nach einer Antwort. Akane hatte gar nicht bemerkt, wie sie an ihrem Daumennagel kaute, während sie las. “Was soll das sein? Das Geschwätz von Verschwörungstheoretikern? Wenn das wahr wäre, dann-“ Sie wurde von Mika unterbrochen. “Tsunemori-Senpai, finden Sie es nicht etwas… unreif mit sich selbst zu sprechen”, fragte sie in respektvollem Ton, der nicht ganz ernst gemeint klang. “Herbert George Wells hat gesagt: Interessante Selbstgespräche setzen einen klugen Partner voraus”, schoss Akane zurück und wandte sich gleich wieder ihren Überlegungen zu, ohne zu bemerken, dass Mikas Ohren wutrot geworden waren. Stattdessen hatte sie bereits den zweiten Artikel aufgerufen. Lange schon gab es Spekulationen um militärische Superdrohnen. Solche, die dem Urteil des Dominators trotzen und damit dessen tödlichste Version, den Destroy Decomposer, nutzlos machen können. Wir traten in Kontakt mit Senju Midari, einem der führenden Programmierer des ursprünglichen Sibyl Systems, der heute als Exilant in Singapur lebt und baten ihn um eine Einschätzung. Nach seinen Informationen hatte es einmal eine geheime Operation des Militärs in Zusammenarbeit mit dem Sibyl System gegeben, bei der Drohnen ein Chip eingebaut wurde, der den Scan durch den Dominator blockierte und eine Fehlermeldung auslöste. Somit bliebe der Auslöser gesperrt und der Dominator wäre unbrauchbar. Nach Midaris Aussage wurden diese Drohnen für den Fall hergestellt, dass Dominator gehackt werden oder Fehlfunktionen aufweisen könnten. Seitdem aber das System absolut überzeugt von der Unfehlbarkeit seiner Scans ist, wurde die Herstellung solcher Chips gestoppt und die bereits gefertigten Drohnen wurden stillgelegt. Genauso wie bei der Entsorgung radioaktiver Brennelemente bleibt aber das Unbehagen. Es stellt sich die Frage: Was wäre, wenn solche Drohnen plötzlich wieder auftauchen? Sind die Menschen sich dieser Gefahr bewusst oder noch viel wichtiger: Ist sich Sibyl dieser Gefahr bewusst? Möglicherweise müssen wir alle bald erkennen, dass das Vertrauen in ein unfehlbares System unser größter Fehler sein könnte. Statt ihres Daumens war es nun wieder ihre Unterlippe, die zwischen ihre Zähne geriet. Ein Chip, der einen Fehler auslöst. Ob der maskierte Wraith so einen Chip getragen hat? Das würde erklären, warum der Dominator ihn nicht scannen konnte. Und hatte Wraith beim Überfall auf den Materialtransport nicht Antriebseinheiten von Drohnen gestohlen? Sie werden doch nicht vorhaben- Wieder wurden ihre Gedanken unterbrochen, diesmal von Yayoi. “Unglaublich wie dreist diese Leute sind.” “Was ist denn”, wollte Teppei wissen. “33 registrierte Besuche gab es auf einen User namens Spectre allein in diesem Monat. Ganze 20 davon auf dem Portal von L. Coholic. Die machen sich nicht einmal die Mühe ihre Spuren zu verwischen.” “Dann ist es offiziell. Ich gehe ins CommuField, sobald Karanomori-san-” “Nein”, unterbrach Mika, “Ich meine: ich wollte vorschlagen, dass ich mich mit meinem Avatar auf das Portal begebe und dort nachforsche, weil das schneller geht und weniger auffällt.” Akane blinzelte wegen des energischen Ausbruchs ihrer Stellvertreterin. “Ähm… ja sicher. Wenn Sie meinen, übernehmen Sie die Aufgabe, Shimotsuki-san”, stimmte sie zu. Mika nickte lediglich zum Dank für die Erlaubnis. “Ich überlasse dann alles weitere Ihnen. Ginoza-san” Er wandte ihr den Kopf zu, “Kommen Sie dann?” Er runzelte die Stirn. “Und wohin genau?” “Ich dachte einfach”, erklärte Akane, “es könnte gut sein, wenn wir heute etwas früher gehen. Natürlich nur, wenn das für die anderen in Ordnung geht.” Yayoi hatte den Gesichtsausdruck, den Akane dabei hatte, richtig interpretiert. “Ich denke, das ist eine gute Idee. Und das denken die Anderen sicher auch”, sagte sie beipflichtend. Teppei zuckte die Schultern, Sho schwieg und Mika schnaubte wohl leise vor sich hin, sagte aber nichts, da sie wohl froh war, die Führung übernehmen zu können. “Sagst du mir jetzt, wohin die Reise geht”, drängte Ginoza, als er versuchte mit Akanes Schritt mitzuhalten, als sie zum Parkdeck eilte. “Vielleicht sollten wir Masaoka-san heute bereits besuchen. Sie sollten von all dem hier den Kopf frei bekommen. Sonst könnte sich - wie Sie immer sagen - Ihr Farbton trüben.“ Dabei zwinkerte sie ihm neckisch zu. “Darauf kommt es bei mir ja wohl nicht mehr an”, erwiderte er und hielt zum Beweis das Armband des Vollstreckers hoch. “Nun spielen Sie nicht den harten Vollstrecker, Ginoza-san. Ich habe gemerkt, dass Ihnen dieser Artikel zu schaffen gemacht hat. Deshalb kommen Sie jetzt mit und vergessen das alles.“ “Ist das ein Befehl, Inspektorin Tsunemori”, fragte er amüsiert. “Nun, ich möchte es nicht so formulieren, aber wenn Sie mir keine Wahl lassen... “ Sie schwiegen während der Fahrt, was Akane Zeit gab den vielen losen Fäden zu folgen, die sich um Wraith, exportierte Drohnen und die Frage nach einem möglichen Endspiel wanden. Eine Schachpartie bestand aus der Eröffnung, dem Mittel- und dem Endspiel. Wenn alle vorherigen Aktionen nur kleine Spielereien gewesen waren, dann war die wahre Eröffnung von Wraith der Überfall auf den Materialtransport gewesen. Und dieser verriet mehr über Wraith als Akane zunächst bemerkt hatte. Ein Ablenkungsmanöver für uns, rekapitulierte sie in Gedanken, um das Gleisnetz der Yamanote-Linie zu hacken und Material zu stehlen. Das erfordert sorgfältige Planung, Vorbereitung und ein hohes strategisches Verständnis. Die Drahtzieher von Wraith können also nicht alle aus Japan stammen. In einer Gesellschaft wie der, die Sibyl geschaffen hat, besteht keine Notwendigkeit für irgendjemand, Militärstrategien zu kennen. Wer also sollte die Kenntnisse darüber haben, wenn nicht jemand, der aus dem Ausland kommt oder jemand, der im Ausland war. Ihr Herz sank, als sie an ihren Traum dachte und ihre Lippen wollten gerade den Namen formen. “Hey.” Akane fuhr zusammen, als sie Ginozas Stimme hörte. “Dieses Gesicht kenne ich. Du fügst gerade Puzzleteile zusammen.” “Wie kommen Sie denn darauf, Ginoza-san?“ Es war eine schäbige Taktik sich dumm zu stellen, aber etwas Besseres war ihr nicht eingefallen. “Kogami hat früher das gleiche Gesicht gemacht, wenn er Ordnung in seine Gedanken bringen wollte. Man konnte die Zahnräder in seinem Kopf praktisch sehen.“ “Bin ich ihm so ähnlich geworden”, fragte sie mit schuldhaftem Lächeln. “Nein”, schnaubte Ginoza energisch, “und das ist auch gut so.” Nach einer Pause, die sich für sie länger anfühlte als sie war, fragte er: “Verrätst du mir, was du gedacht hast?” Akane nickte. “Wenn wir da sind.” Das Grab von Tomomi Masaoka war so friedlich und unbesucht wie immer. Es war bewusst außerhalb des flirrenden Tumultes der Stadt angelegt worden. Fort von dem Lärm der modernen Welt und hingewandt zu der Stille der Alten. Akane hatte im Wagen warten wollen wie üblich, doch Ginoza hatte darauf bestanden, dass sie mitkommt. So stand sie sowohl berührt als auch verlegen vor dem grauen Stein, auf dem ein einzelnes Grablicht stand und eine halbvolle Flasche “Highland Park” Whisky. Der Whisky von den Orkney-Inseln war immer Masaokas Lieblingssorte gewesen. “Haben Sie die Flasche dorthin gestellt, Ginoza-san?” “Immer wenn ich den alten Mann besuche, trinke ich einen Schluck auf ihn”, erklärte er nickend, während sein Blick ins Leere, vermutlich in die Vergangenheit, gerichtet war. “Und heute nicht”, fragte sie mit einem Blick auf die Flasche. Er wandte den Kopf ab und sie konnte schwören, dass er errötete. “Ihnen ist es peinlich vor einer Frau zu trinken?” Ginoza räusperte sich, um das Aufkeuchen des Ertappten zu vertuschen. “Vor einer Vorgesetzten, Tsunemori.” “Halten Sie sich meinetwegen nicht zurück. Sie erinnern sich vielleicht, dass ich mit Shuusei Kagari in einer Abteilung war.“ Ginoza musste lachen und entkorkte die Flasche. “Ich will nicht, dass es herablassend klingt, aber… alle beide wären sehr stolz auf dich.” Akane biss sich auf die Unterlippe und nickte nur, während sie den feuchten Schleier vor den Augen weg blinzelte. Schließlich schaffte sie es mit einiger Anstrengung auch zu einem Lächeln. “Masaoka-san hätte mir wahrscheinlich einen Klaps auf den Rücken gegeben und gesagt: ‘Lass es dir nicht zu Kopf steigen, Missy.‘“ Sie ließ einen Moment lang Stille einkehren. Dann tat sie etwas, das Ginoza noch immer nicht glaubte, als er längst wieder im Auto saß. Sie schnappte ihm die Whisky-Flasche aus der Hand, setzte sie an und nahm einen kräftigen Schluck. Sie verzog das Gesicht, als der Alkohol ihr den Rachen versengte, brach aber gleich darauf in glockenhelles Lachen aus, als sie sah, dass Ginoza sie angaffte wie ein Koboldmaki. “Jetzt weiß ich, woher ihr Vater seine kratzige Stimme hatte”, scherzte sie, als sie ihm die Flasche zurück gab. “Du hast mir noch nicht gesagt” - Ginoza pausierte als sie einstieg und die Tür zuschlug - “zu welchem Schluss du vorhin gekommen warst.” “Wer in diesem Land kennt sich wohl mit Kriegs- und Militärstrategien aus?” Ginoza blickte sie mit gerunzelter Stirn an. “Ich verstehe nicht-” “Überlegen Sie, Ginoza-san. Die Aktion von Wraith den Materialtransport zu überfallen. Wenn Wraith seine Mitglieder immer kurz vor der eigentlichen Aktion anwirbt, um ihren Farbton zu schonen, müssen diese Leute ein umfassendes Briefing bekommen haben. Sie müssen jemanden gehabt haben, der das Streckennetz geprüft hat, um zu wissen, wann der Zug eintrifft. Sie brauchten einen Hacker, der das Gleisnetz unter Kontrolle bringt, eine Einheit, die den Zugriff auf den Transporter erledigt, eine weitere Einheit, die zur Deckung da war und sie brauchten einen Plan für einen schnellen Rückzug. Unter dem Sibyl-System gibt es nur wenig Verbrechen in diesem Land. Die Kenntnis von Taktiken oder Strategien dieser Art ist damit obsolet.” “Also haben sie entweder Verbindungen zu jemand Älterem, der noch die Zeit vor Sibyl kannte oder es befindet sich jemand in ihren Reihen, der nicht von hier stammt”, schlussfolgerte Ginoza. “Oder jemanden, der sich im Ausland die Kenntnisse angeeignet hatte und nun zurück gekommen ist.” Ginoza brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verarbeiten, dann schoss der Kopf, den er in Gedanken gesenkt hatte, wieder hoch. “Kogami?! Du glaubst, Kogami könnte ein Mitglied von Wraith sein?” “Es wäre eine Möglichkeit. Natürlich brauchen wir mehr Informationen, um darüber Gewissheit zu haben.” Ginoza verschränkte die Arme vor der Brust. “Er ist besser nicht Mitglied von Wraith. Sollte ich herausfinden, dass er zu denen gehört, mache ich einen richtigen Geist aus ihm.” Zufrieden mit diesem Aktionsplan entspannte er sich wieder. “Da wir wieder bei Wraith sind: Konnte dir Saiga beim Enträtseln der Flasche helfen?” “Was das betrifft, möchte ich Sie um einen Gefallen bitten, Ginoza-san; nämlich, ob wir vor unserem Rückweg noch einen kleinen Umweg einschlagen können. Saiga-san hatte mir da eine sehr interessante Adresse genannt.” “Deswegen also wolltest du das Grab schon heute besuchen.“ Er klang dabei gekränkter als er beabsichtigt hatte. “Das war nicht der vorherrschende Grund”, wehrte sie sich, “Ich habe das spontan entschieden.” “Ich habe da nicht mitzureden”, gestand Ginoza ehrlich, “Du bist meine Vorgesetzte und ich darf ohne deine Begleitung ohnehin nirgendwo hin.” Akane seufzte resignierend. “Die Vollstrecker-Karte spielen Sie immer nur dann, wenn Sie sich um eine Antwort drücken wollen, Ginoza-san.” “Gut, ich antworte ehrlich: Ich bin dagegen, diese Adresse aufzusuchen. Aber das wusstest du vorher schon, sonst hättest du mir eher davon erzählt. Warum mich also jetzt nach meiner Meinung fragen?” Akane versuchte sich mit einem Lächeln zu entschuldigen. Schließlich gab sich Ginoza geschlagen. “Dann fahr schon los. Wenn ich mich weigere, bringst du mich nur zurück und fährst dann allein dorthin. Da komme ich doch besser mit.” Der holografische Navigator in Akanes Auto hatte sie zuverlässig immer weiter nach Westen geführt - bis an die Grenze der Stadt, die von einem mit zwei Drohnen bestückten Außenposten gesichert war. Dahinter begann das Niemandsland mit weitläufigen Feldern, auf denen die Gräser so lang wuchsen, dass sie im Wind hin und her wogten. Bald würde auch diese Fläche der sich immer weiter ausbreitenden Stadt zum Opfer fallen. Bis dahin aber existierten hier keine Scanner, Drohnen oder Kameras und auch der Navigator wusste hier nicht weiter. Akane zog den Zettel Saigas hervor. Das darauf Geschriebene war eher eine Wegbeschreibung als eine Adresse. “Nach vierzehn Kilometern soll hier ein Hügel in Sicht kommen. Oben soll sich ein Endlager für Militärbauteile befinden. Das Safe House befindet sich zwischen den Containern. Die Kennung lautet 31-00-S2.” “Und Saiga hat dich noch davor gewarnt herzukommen. Ein Ort, an dem Sibyl dich nicht schützen kann, an dem du eine ideale Zielscheibe für Wraith abgibst und an dem sich Bücher befinden, die nachweislich deinen Farbton trüben können… Was kann er nur dagegen gehabt haben?“ Akane verzog den Mund. “Seien Sie bitte nicht sarkastisch, Ginoza-san.” Saigas Safe House war schnell gefunden, da es das einzige Gebäude inmitten einer Spalier aus schweren Gütercontainern war. Akane tippte den von Saiga notierten Code in das Bedienfeld neben der Tür ein, die Leuchte sprang auf Grün und mit einem Klicken sprang die Tür aus der Verriegelung. “Ich bleibe hier draußen und halte die Umgebung im Auge”, informierte Ginoza und zog seinen Dominator, “Versuche nicht länger zu bleiben als irgend nötig.“ “Geht klar.“ Akane schloss die Tür hinter sich. Das Haus bestand bloß aus einem wie ein Wohnzimmer eingerichteten Raum. Einige Schränke, ein Holzstuhl, ein grüner Teppich und eine Staubschicht, so dick, dass Akane nicht wagte, wie eine gute Japanerin die Schuhe auszuziehen. Zu ihrer Rechten führte ein kurzer Gang zu noch einem weiteren kleinen Raum, doch das war vergessen, als sie die von Saiga beschriebene Kommode in der Ecke des Raumes sah. Seiner Anweisung versuchte sie zu folgen. In den Jahren als Inspektorin hatte sie wohl gelernt, sich selbst zu verteidigen, doch über enorme Körperkraft verfügte sie nicht. So musste sie sich erheblich anstrengen und die Kommode von der Stelle mehr zerren als ziehen, die Holzplatten darunter mehr aufhebeln als anheben und die besagte grüne Metallkiste mehr aus ihrem Versteck hieven als heben. Ihr erster Blick in die Kiste fiel auf ein altes zerknittertes Buch mit dem Titel “Ovid - Metamorphosen”. “Jedenfalls ist es alt”, rechtfertigte Akane ihre Wahl und nahm es zur Hand. Nach einigem Suchen durch viele griechische Legenden fand sie es. Ihre Herzfrequenz verdoppelte sich, als sie las. “Die Sibylle von Cumae”, las sie sich selbst vor. Plötzlich war es so als entfaltete sich die ganze Wahrheit vor ihr wie ein mittelalterlicher Wandteppich und sie verstand, weshalb Wraith nur ihr die Flasche anvertrauen konnte. Weil nur sie Sibyls Geheimnis kannte und deshalb den Wert der Legende, die da vor ihr stand, verstehen konnte. Gleichzeitig umfing sie ein Gefühl immenser Einsamkeit, weil sie die gewonnenen Erkenntnisse mit niemandem würde teilen können. Weil niemand außer ihr die Wahrheit kannte und kennenlernen sollte, war sie verdammt, das alles mit sich selbst auszumachen. Sie war so auf das Lesen konzentriert, dass sie ganz ihr detektivisches Gespür für Gefahr vergaß und nicht bemerkte, dass sie nicht mehr allein in dem Raum war. Nicht mehr, weil sie versäumt hatte, den kleinen Gang und den am Ende liegenden Raum zu prüfen. Es war erst die lautlose Bewegung der Holzbretter unter ihr, die ihr verriet, dass jemand hinter ihr stand. Ginoza müsste seine Anwesenheit nicht verbergen. Ihr Dominator befand sich immer noch im Holster an ihrer Hüfte. Ihn zu ziehen war es bereits zu spät, wenn die andere Person bereits eine Waffe auf sie gerichtet haben sollte. Was sie aber anstelle einer Kugel oder eines Schlages als Erstes traf, kam völlig unvorbereitet, als sie durch die Nase einatmete: Der Geruch von Gras, von Leder und - darüber dominierend - absolut zweifellos der Geruch von Spinel-Zigaretten. “Sieh an, eine Inspektorin, die ihre Deckung vernachlässigt”, stellte eine amüsierte Stimme fest. Das tiefe, warme Timbre der Stimme weckte für Akane die Geister der Vergangenheit. “Kogami-san.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)