Pleasant Dreams von Flordelis ================================================================================ Dead Lovers in a Forgotten World -------------------------------- Lilith öffnete die Augen. Es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit, seit sie das zuletzt getan hatte. Entgegen ihrer Erwartungen fand sie sich nicht in der Hölle, jenseits des Kokytus wieder – es sei denn, dort existierte plötzlich ein blauer Himmel jenseits eines Zaunes. Wenige Wolken zogen ihre Bahnen über ihr. Ein genauerer Blick enthüllte ihr, dass sie sich auf dem Schuldach befand. Aber wie war sie hierher gekommen? Gerade eben war sie doch noch … »Du bist ja schon wieder wach.« Lilith warf einen Blick über die Schulter. Ihr Herz übersprang einen Schlag und geriet ins Stolpern. Setsuna kam direkt auf sie zu – und er lächelte dabei sogar. Als er neben ihr stehenblieb, überreichte er ihr eine silberne Dose. Dankend nahm sie diese entgegen und schauderte ein wenig, als sie das kühle Kondenswasser berührte. Er setzte sich neben sie und nahm einen ersten Schluck aus seiner eigenen Dose. Dabei konnte sie einen kurzen genauen Blick auf ihn werfen. Er wirkte unversehrt. In seinem Gesicht war nichts von den Strapazen seines Lebens zu bemerken. Eigenartig. Nachdem er die Dose abgesetzt hatte, sah er sie fragend an. »Stimmt was nicht?« Seine Stimme klang wie Balsam, war angenehm weich und ebenfalls frei von allen Anstrengungen. Bei dieser Erkenntnis fühlte sie sich seltsam zufrieden. Sie nahm selbst einen Schluck. Das Getränk war wohltuend kühl, erfrischte ihre Kehle, als wäre sie schon seit einer Ewigkeit trocken gewesen. »Nein, alles okay. Ich habe gerade nur überlegt, wie lange wir schon hier sind.« Er hob eine Augenbraue. »Du meinst die letzten zwei Jahre?« Dann kam er aber wohl zu dem Ergebnis, dass es wirklich eine lange Zeit war. »Die sind wie im Flug vergangen, da hast du recht.« »Zwei Jahre?« Sie streckte den Arm aus und tippte ihm gegen die Stirn. »Wovon redest du bitte? Ich meinte unsere Zeit hier in Pandora.« Dort hatte es keine Zeit mehr gegeben, deswegen war sie sich nicht sicher, wie lange sie dort gewesen waren. Aber das war auch unwichtig. Die Erinnerungen waren dieselben, auch ohne jeden möglichen Zeitstempel. Er runzelte seine Stirn. »Pandora? Was stimmt mit dir nicht?« Ehe sie noch etwas sagte, sah sie wieder in Richtung des Zauns. Jenseits von diesem erstreckte sich nicht eine Unendlichkeit von Nichts, sondern eine ganze Stadt. Von diesem Anblick irritiert, erhob sie sich von der Bank. Doch auch als sie am Zaun stand, änderte sich nichts daran. Vor sich sah sie zahlreiche Gebäude, blanke Hochhäuser, Plakate, die Waren feilboten, unzählige Menschen – und Autos. Warum war ihr der Verkehrslärm, der bis zu ihnen nach oben brandete, bislang nicht aufgefallen? Sie starrte weiter durch den Zaun auf die Stadt hinab. Setsuna trat neben sie. Allerdings sah er sie an, statt ihrem Blick zu folgen. Sie spürte seine Besorgnis auf ihrer Haut brennen. »Sind wir … in Tokyo?« Sie hatte die Stadt nie gesehen, als alles noch in Ordnung gewesen war. Immerhin hatte die echte Lilith sie erst geschaffen, als die Göttliche Katastrophe bereits geschehen war. »Natürlich sind wir das. Wo sollten wir sonst sein?« Ein Windstoß zerzauste ihr Haar und ließ die Bäume, die rund um das Schulgelände standen, rascheln. Es hörte sich anders an als in Babel. Fühlte sich anders an. »Wie sind wir hierher gekommen?« Plötzlich spürte sie seine Hand auf ihrer Stirn. »Fieber scheinst du keines zu haben. Ich habe trotzdem keine Ahnung, was du da redest.« Sie schüttelte mit dem Kopf, er nahm seine Hand wieder herunter. »Schon gut. Wahrscheinlich habe ich nur irgendetwas Seltsames geträumt.« Ohne ihm eine weitere Antwort zu liefern, fuhr sie herum und kehrte zur Bank zurück. Dort setzte sie sich wieder, er nahm direkt neben ihr Platz. Während sie noch einen Schluck nahm, spürte sie seinen besorgten Blick auf sich. Sie setzte die Dose wieder ab. »Tut mir leid. Du musst dir wirklich keine Gedanken machen, ich bin einfach nur durcheinander.« »Du musst etwas ziemlich Verwirrendes geträumt haben.« »Schon ein wenig, ja.« Sie rieb sich die rechte Schläfe mit den Handballen. »Aber das ist ja jetzt vorbei« Derart zufrieden über diese Klärung verfielen sie beide ins Schweigen. Lilith genoss den Wind, der sie umwehte und der ihr frischer erschien als jemals zuvor. »Setsuna … hast du das Gefühl, dass dir irgendetwas entgeht?« »Was für eine seltsame Frage. Hängt das immer noch mit deinem Traum zusammen?« »Vielleicht.« Er legte den Kopf in den Nacken. »Aber ich habe nicht das Gefühl, irgendetwas zu verpassen. Wir besuchen gemeinsam die Schule, gehen shoppen, spielen Videospiele … nein, ich vermisse nichts.« War das hier wirklich ihr Leben? War das normal? Füllte das sie beide aus? »Irgendwann«, fuhr er fort, »werden wir mal arbeiten, Familien gründen ...« Meinte er etwa miteinander? Sie wandte den Blick ab, als ihr Gesicht sich erhitzte. Es wäre ungut, könnte er erfahren, was sie gerade dachte, und so fühlte sie sich wie ein offenes Buch für ihn. »Wünschst du dir nicht ein aufregenderes Leben?«, fragte sie weiter. »Mit Kämpfen, in denen du der Stärkste bist, und Feinden, die Welten zu vernichten drohen?« Immer noch nach oben sehend, neigte er den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein solches Leben besser wäre als das, was wir jetzt haben. Oder was meinst du?« Der alte Setsuna hätte so etwas niemals gesagt. Selbst wenn er es tief im Inneren gedacht hätte, wären ihm diese Worte nie über die Lippen gekommen. Vielleicht waren das tatsächlich seine Gefühle gewesen, unerreichbar für jeden, selbst für ihn verschlossen. Lilith rückte näher und schmiegte sich an ihn. »Ich bin glücklich, dass du so denkst. Ich finde dieses Leben nämlich geradezu perfekt.« Es war die Ruhe, die Normalität, nach der sie sich auch immer gesehnt hatte. Aber es zu erreichen war ihr stets unmöglich gewesen. Dafür hatte schon die kurze Zeitspanne gesorgt, die ihr Leben hätte andauern sollen. Aber nun war das alles weit entfernt und bedeutungslos. »Gut, dann machen wir einfach immer so weiter. Damit kann ich leben.« Sie schloss die Augen und stieß ein leises Seufzen aus. »Das ist wirklich gut. Danke, Setsuna.« Er legte eine seiner Hände auf ihre. »Nichts zu danken. Ich werde immer auf deiner Seite sein.« Das wusste sie. Es war schon immer so gewesen. Selbst als er behauptet hatte, seine Loyalität gehöre Sorami und Raziel, war er noch auf ihrer Seite gewesen. Er war zurück zu ihr gekommen, ohne seine Fähigkeit zu sprechen, hatte sie wie einen richtigen Feind bekämpft und sich dann gemeinsam mit ihr auf den Thron gesetzt. Und dort saßen sie immer noch, das wusste sie. Das alles war einfach zu perfekt. Deswegen war ihr klar, dass es … »Gute Nacht, Lilith«, hörte sie Setsunas Stimme, wie aus weiter Ferne, durch Watte hindurch. »Mögest du angenehme Träume haben.« Sie seufzte noch einmal, als eine Träne über ihre kalte Wange lief. Es sollte die erste und gleichzeitig die letzte Träne sein, die sie – Tiamat-Lilith – jemals weinte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)