Out of the Blue. von Ikeuchi_Aya (Out of the box.) ================================================================================ Kapitel 12: Haunted ------------------- Wir sahen einander einen Moment einfach nur in die Augen und schwiegen. Meine Antwort erklärte dem Doktor vermutlich rein gar nichts, aber für mich war es alles. Ich wusste, warum ich hier war. Ich wusste, was ich tun konnte. Was ich tun sollte. Glasklar lag die Lösung vor mir. Und selbst, wenn er sie nicht sehen konnte, so konnte er wohl anhand meiner Haltung, meiner Stimme und meines Gesichtsausdruckes erraten, was mir durch den Kopf ging. „Sie sind in Ihrer eigenen Vergangenheit gelandet“, sprach er langsam und bedächtig, irgendwo schon eindringlich, „Wenn Sie sich selbst hier begegnen… kann ich für nichts garantieren, was Ihr Leben betrifft.“ „Ich… will mich auch gewiss nicht sehen“, versicherte ich ihm und brach den Blickkontakt ab. „Es geht nicht nur darum, dass Sie sich selbst nicht treffen dürfen. Es betrifft auch alle Ereignisse des heutigen Tages.“ „Ja, das weiß ich. Ich mein nur … Ich weiß, warum es heute sein muss.“ „Wollen Sie mir diesen Grund dann vielleicht etwas besser erklären?“ Nun haderte ich. Ich traute mich nicht. Das ging mir etwas zu sehr ins Private. Ein bisschen zu sehr da hinein, wo ich eigentlich nicht wieder hinwollte. Da ich also nicht antwortete, entschloss sich der Doktor, mir die Entscheidung abzunehmen und nahm mich kurz und knapp an die Hand, zurück in den Keller. „Ich werde zusehen, dass wir wieder auf die richtige Zeitlinie kommen. Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie sich in den nächsten Minuten hier antreffen könnten? Oder irgendwen anderen, der Sie kennt?“ „Unwahrscheinlich. Hier sieht und hört niemand irgendwas“, antwortete ich leise und ließ mich in die TARDIS schleusen. Die Tür fiel hinter mir zu und verpasste mir einen merkwürdigen Stich in der Brust. Wie bestellt und nicht abgeholt im Eingang stehend, beobachtete den Doktor bei seinem Tun. Mein Kopf wandte sich über meine Schulter, blickte auf die feinen Streben zwischen den eingesetzten Glasscheiben in der Tür. Es juckte mir natürlich in den Fingern, nach draußen zu gehen. Es war eine Chance. Eine Möglichkeit. So sprach es in meinem Kopf und umso mehr hoffte ich gerade, dass die TARDIS einfach keinen Bock hatte, uns woanders hinzuführen. Dass wir einfach hierbleiben musste. Bitte, bitte, bitte. Versteht mich nicht falsch, ich bin kein Masochist, aber es gibt eine Sache, die mir bis heute schwer im Magen lag und mich bereuen ließ. Und dieser konnte ich nun eine Wendung geben, wenn man mich ließe. Der Doktor machte alles wie immer: Betätigte Hebel, drückte Knöpfe, das Wriiiwrooo erklang, aber nichts passierte. Kein Ruckeln. Kein Vibrieren. Kein Gefühl, dass wir uns fortbewegten. Einfach nur Stille. Er trat vom Steuerpult zurück, ging rasch an mir vorbei, steckte den Kopf raus und kam dann wieder zurück. „Immer noch hier. Was soll das?“ Er schaute auf. „Was ist los mit dir?“ Da war es: Er redete mit seiner Lady, als wäre er alleine im Raum. „Warum willst du nicht, dass wir von hier wegkommen?“ Es würde nichts passieren. Das hatte ich im Gefühl. Der Doktor drehte sich zu mir um und ich kam mir in meine Gedanken regelrecht ertappt vor, zuckte deswegen etwas zusammen. „Scheint, dass sich das Problem nicht so schnell beheben lässt. Vielleicht ist es einfach nur ein Getriebefehler. Nicht, dass Sie denken, eine TARDIS hätte einen Motor wie ein Automobil oder ein Flugzeug, damit kann man es nicht vergleichen. Die Bauweise ist eine vollkommen andere und Ihrer Technik um Jahrtausende voraus.“ Er warf mir noch weitere Erklärungen vor die Füße, aber ich hörte schon nicht mehr zu. Einzig der Fakt, dass wir hier feststeckten, war bei mir hängen geblieben. Danke. „Doktor“, sagte ich dann und überlegte mir meine nächsten Worte ganz genau, bevor ich sie aussprach, „Was ist, wenn sie gar nicht will, dass wir hier wegkommen? „Wie kommen Sie darauf?“ „Ich bin aus irgendeinem Grund doch auch in der TARDIS gelandet, oder? Warum sollte ich also nicht auch von ihr zu einem besonderen Zeitpunkt geschickt werden?“ „Das ist ausgeschlossen“, wandte der Doktor ein, „Die TARDIS hat ein Herz, ein gewisses Eigenleben, aber sie ist außerstande so etwas zu tun. Schon gar nicht, wenn Sie nur ein einfacher Mensch sind, ohne Timelord-Gene.“ „Und was mit dem Zimmer? Wie erklären Sie sich das?“ „Ich bin noch dabei.“ Ich hatte das Gefühl, er wollte einfach nicht, dass ich recht hätte. Dass es tatsächlich so sein könnte und wir hierbleiben müssten. Dennoch sagte ich dazu nichts weiter, sondern behielt es mir vor, ihn noch ein paar Minuten machen zu lassen. Meine Ungeduld war zwar schwer zu bändigen, aber ich versuchte es. Als allerdings sogar eine ganze Viertelstunde verging, hielt ich es nicht länger aus mich so zurückzunehmen. „Lassen Sie es gut sein und uns umsehen!“, bat ich ein wenig zu unwirsch und setzte ein ruhigeres „Bitte“ nach. Der Doktor war nicht gerade glücklich, dass ihm gerade die Hände gebunden waren, aber ihr wisst genauso gut wie ich, dass ein Stück seiner Neugier längst erwacht war und der Ursache auf den Grund gehen wollte, anstatt hier in der TARDIS zu versauern und zu hoffen. Er war ein Macher. „Sie kennen die Regeln“, lenkte er schließlich ein, „Unter keinen Umständen – und ich wiederhole aus gutem Grund – unter keinen Umständen dürfen Sie hier etwas an den Lauf der Dinge ändern.“ Er sah mich so eindringlich an wie einen Welpen, der nach wochenlangem Training immer noch nicht verstand, dass er nicht einfach in die Wohnung zu pinkeln hatte. Zurecht. Ich war wohl einer der schwierigsten Welpen, die man sich ins Haus holen konnte. „Es würde ein Paradoxon auslösen. Versprechen Sie mir, dass Sie nichts dergleichen vorhaben und tun werden.“ Er hatte jede einzelne Silbe des letzten Satzes mit seiner Stimme und dem Zeigefinger untermalt. Nach der letzten Misere allzu verständlich. „Ich verspreche es“, sprach ich, nachdem ich tief ein- und ausgeatmet hatte und sah ihm ernst in die Augen, „Diesmal… wirklich.“ Er nickte. Wir beide wussten, dass die menschlichen Gefühle nicht immer zu kontrollieren waren, aber ich würde mein Bestes geben, dass es nicht noch einmal zu solch einem Desaster käme. Dafür hatte ich auch keine Nerven, um ehrlich zu sein. Mir ging der Hintern zu sehr auf Glatteis. „Gut… Wo denken Sie, sollten wir anfangen? Wo ist die Wahrscheinlichkeit am geringsten, dass Sie sich selbst begegnen?“ „Überall. Ich bin an diesem Tag nicht unterwegs gewesen“, erklärte ich leise, nahm im selbigen Moment aber mein Smartphone wieder in die Hand und schaute aufs Display. 11:57 Uhr. Ich biss mir auf die Lippen. Schon. Nur noch knappe zweieinhalb Stunden. Die Stimme des Timelords holte mich aus meinen Gedanken zurück. Er hatte mich mehrfach beim Namen genannt. „W-was?“ „Das wüsste ich gerne von Ihnen?“, fragte er zurück und zog die Augenbrauen zusammen, „Sie scheinen seit vorhin in Eile.“ „Bin ich nicht“, murmelte ich wirsch. „Doch sind Sie“, widersprach er mir die Chance auf einen Einwand zu lassen, „So kurz angebunden habe ich Sie seit unserem Kennenlernen nicht erlebt.“ „Und wenn schon.“ Konnten wir nur nur bitte- „Sie sind total gereizt.“ „Können wir jetzt bitte aufhören, weiter von meinen Launen zu reden?“, rutschte es mir da heraus und ich biss mir sogleich auf die Zunge. Ups. „Wenn Sie die Muße haben, mich einzuweihen, was mit Ihnen los ist?“ Ich Timelord, du Mensch. Betreten sah ich zu Boden, „Kann ich… Ihnen das unterwegs erklären? Bitte… die Zeit drängt.“ Wir mussten nicht fliehen und wir mussten nicht wegrennen. Bis auf die Paradoxon-Geschichte gab es keinen Grund, übervorsichtig sein zu müssen. Keine Aliens, keine Bedrohung. Nur wir, hier mit der TARDIS in unserem Kellerraum. Und genau deswegen wollte ich so schnell wie möglich aufbrechen. Weil jede Sekunde so verdammt kostbar war.   * * *   „Ich verstehe nicht, wie Sie sich auf diese Busse verlassen können“, meckerte der Doktor, als wir in einem solchen gelben Fahrzeug standen und darauf warteten, aus dem Kreuzungsstau um die nächste Biege zu kommen, Richtung Bahnhof. „Man gewöhnt sich an alles“, murmelte ich zurück, war aber im Grunde nicht weniger genervt als er. Ich war schon erfreut genug, dass überhaupt ein Bus gekommen war. Normalerweise stand man sich die Beine in den Bauch. „Oh, an eure Sesshaftigkeit in festen Häusern mit Türen und Fenstern zu leben und euch freiwillig in solche Gefährte hier zu zwängen, werde ich mich nie gewöhnen.“ Wieder checkte ich die Zeit. 12:24 Uhr. Mann … „Sie sind ja eben auch kein Mensch.“ Ich konnte keinen Humor aufbringen, dafür war mir so auch überhaupt nicht zumute. Ich wollte nur fix zum Bahnhof. Und wenn ich aussteigen und die letzte Haltestelle laufen würde. Mir egal. „Aber wenn das so weitergeht, bin ich auch keiner mehr“, grummelte ich und blickte durch die Frontscheibe des Busses. Ah, da! Es ging wieder vorwärts. Mit einem Mal waren wir in Schwung und die letzten zwei Minuten fuhren wir flüssig die Hauptstraße entlang, immer parallel zum Park und schließlich mit Halt am Bahnhof. „Wir müssen uns beeilen!“, sprach ich und hastete dann schon los, „Sonst können wir gleich nochmal warten.“ Gemeinsam spurteten wir ein paar Meter und schließlich die Treppen hinauf, in denen mich der Doktor nun fast überholte, so schnell wie er zu Fuß war. Keine Sekunde zu früh, denn gemeinsam mit ein paar anderen Fahrgästen erwischten wir gerade so die S-Bahn, deren rotes Warnsignal an den Türen aufleuchtete, dass sich diese gleich schließen würden. „Kein Wunder, dass Sie so schnell sind“, sprach der Doktor schließlich, „Wenn Sie das jeden Tag machen.“ „Nicht mehr“, gestand ich verschnaufend und lehnte mich an die Seitenarmatur neben der Tür, „Die Fahrpläne sind vorverlegt worden. Keine Chance, die Bahn noch zu bekommen.“ Er nickte nur und sah mich erwartungsvoll an. Ich tat so, als würde ich es nicht merken und murmelte, dass wir eine Viertelstunde Fahrt vor uns hätten. Irgendwann musste ich aber reagieren, also warf ich geschickterweise eine Frage zurück und sah den Timelord dabei direkt in seine braunen Augen: „Sie waren anscheinend oft in London oder allgemein in Großbritannien unterwegs… aber waren Sie auch schon mal hier?“ „Zumindest nicht mit diesem Gesicht“, verzog der Doktor bei den Worten jenes, „Man kann sich auch nicht alles merken.“ „Dann sollte ich vielleicht mit Ihnen nachher eine Stadtführung machen?“ „Soll das eine Revanche sein?“ „So in etwa.“ „Sie versuchen jetzt zum wiederholten Male, meiner Frage auszuweichen. Das machen Sie nicht schlecht, aber das vergesse ich gewiss nicht“, tippte er sich an die Schläfe. Mission gescheitert. Ich atmete noch einmal tief durch und schaute dann hinaus, die vorbeiziehende Landschaft von Acker und ein paar Einzelhäusern betrachtend, die im regnerischen Grau lagen. „Ich… sagte vorhin, dass ich heute jemanden verlor… verlieren werde. Ich erhalte um 14.30 Uhr einen Anruf meiner Tante. Sie gratuliert mich und überbringt mir dann die Nachricht… dass meine Großmutter verstorben ist.“ „Deswegen überprüfen Sie auch ständig die Uhrzeit.“ „Ich … konnte mich damals nicht verabschieden“, wurde ich noch leiser und verschränkte die Arme vor der Brust, „Ich war damals selbst krank und deswegen habe ich an diesem Tag auch nicht das Haus verlassen.“ Der Doktor sog scharf die Luft ein, aber ich fuhr dazwischen, ehe er etwas erwähnen konnte, „Das… ist eine der wenigen Sachen, die ich bereue und… ich kann es ändern. Sie wird nichts mitbekommen.“ „Alexandra-“ „Sie kann nichts mitbekommen, weil sie im Koma liegt“, korrigierte ich und musste mir auf die Lippe beißen. Die Fakten auszusprechen und gleichzeitig diesen Moment noch nicht zu durchleben, war härter als ich angenommen hatte. „Das tut mir ehrlich leid“, wandte der Doktor ein. Ich wusste, dass er es ehrlich meinte. Ich erkannte es an seinem traurigen Unterton und hätte ich ihn angesehen, hätte ich wohl seinen mitfühlenden Blick erwidert. „Ihr Zustand hatte sich eine Woche vor heute stark verschlechtert. Deswegen wird sich auch nichts ändern, selbst wenn ich dort bin. Ist das Grauzone genug?“ Es gab für mich kein Nein in dieser Situation. Ich fühlte mich an die Episode mit Rose und ihren Vater erinnert. Der Schmerz über den Verlust und auch die Narbe, die ein solcher hinterließ und welche nie vollkommen verblassen würde. Narbengewebe war eben genau das: Narbengewerbe. Es war nicht wie die normale Haut, sondern konnte immer ein Problem darstellen, wenn man sich nicht richtig darum kümmerte. Ich für meinen Teil hatte erst vor zwei Jahren verstanden, dass ich das tun musste und seitdem war es mir besser gegangen. Bis dahin hätte ich nie gedacht, wie lange es brauchen könnte, mit dem Tod eines geliebten Menschen umgehen zu wissen. Nun aber, wo ich erneut in die Zeit zurückversetzt worden war, schien es mir, als hätte man die Wunde erneut brutal aufgerissen. Als hätte sich rein gar nichts geändert und als würde ich wieder am Anfang stehen.   Wir erreichten das Krankenhaus gegen 13.15 Uhr. Der Weg vom Bahnhof war nicht kompliziert, aber durchaus noch eine beträchtliche Strecke zu Fuß. Die kalte Oktoberluft brachte meinen Hals zum Kratzen und ich musste mich mehrmals räuspern. Einen Schal hatte ich nicht dabei. Daran hatte ich in der Eile nicht gedacht. Obwohl ich keine Jacke trug, fror ich allerdings nicht. Mir war innerlich verdammt heiß. Der Doktor sah sich neugierig um. Ich konnte es ihm nicht verübeln, damals hatte ich genauso interessiert drein gesehen. Ich konnte mich zwar dran erinnern, dass ich mit dem Fahrstuhl hochgefahren bin, aber ich wusste nicht mehr in welchen Stock. Ganz nach oben? Oder eine Etage drunter? „Entschuldigung“, sprach ich die Mitarbeiterin der Rezeption an, welche gerade den Telefonhörer auflegte und durch die offene Fensterscheibe zu mir aufblickte. Ich nannte mein Belang und erhielt von ihr die Anweisung, dass ich in den fünften Stock fahren sollte. Derweil würde sie auf der Station anrufen, so dass die Mitarbeiter Bescheid wüssten und mich hineinließen. Ich erklärte dem Doktor nur kurz, dass Besucher angemeldet werden mussten und betrat mit ihm schließlich den Lift. Wir waren die einzigen beiden in jenem Moment, die sich in der Aufzugkabine befanden. „Sind Sie sicher, dass Sie das machen möchten?“ „Ich bin schon hier.“ „Ich meine es ernst. Wenn Sie lieber-“ „Nein, das ist okay.“ Und selbst, wenn es das nicht wäre, müsste ich da durch. „Ich will es so. Ich… habe jetzt die Gelegenheit, die ich früher nicht hatte. Wenn ich wieder gehe, dann...“ Ich brach ab, weil ich nicht wusste, was dann wäre. Ich wusste, es würde mir nicht gut gehen, aber was hätte dies für Auswirkung auf alles andere? Ob sich die TARDIS dennoch beruhigen würde? Oder würden wir hier weiter feststecken? Ich konnte es mir nicht vorstellen und in meinem Kopf war bereits genug durcheinander, als dass ich sinnvolle Schlüsse ziehen konnte.   Als der Fahrstuhl mit einem Pling verkündete, dass wir das Ziel erreicht hatten, rutschte mir das Herz dennoch in die Hose. Meine Hände wurden schlagartig eiskalt und ich musste mich eher dazu zwingen, einen Schritt nach draußen zu machen. Von hier aus waren es wenige Meter bis zur Vorzone. An dieser müsste ich mich noch einmal über eine Sprechanlage melden. Es wirkte genauso kalt, wie ich es in meiner verblasst geglaubten Erinnerung hatte. Die zum U in einer Nische angeordneten dunklen Metallsitzbänke, der graublaue Boden und die unpassenden Zeitschriften auf dem kleinen Tisch – der Eulenspiegel, welcher Witze über den Tod machte und die Frauen- und Kinderzeitschriften. Stimmt. Das hatte mich damals schon irritiert. „Einen Moment bitte, Sie werden gleich abgeholt“, erklang die freundliche Stimme im Gegensprecher und ich entfernte mich wieder von der Anlage. Als dann schließlich ein großgewachsener Arzt in blauer Dienstkleidung in unser Sichtfeld trat, Mundschutz um den Hals hängend, wurde es ernst. „Schönen guten Tag, ich bin der behandelnde Oberarzt Steppke“, begrüßte er uns und reichte erst mir, dann dem Doktor die Hand, „Ich... bin etwas irritiert. Es wurde nur eine Person angekündigt?“ Ich hob leicht die Hand, um meine Zugehörigkeit zu melden. „Gehören Sie zur Familie?“, wandte sich der Arzt an den Timelord, welcher höflich aber bestimmt ablehnte und angab, nur ein Freund zu sein, der mich begleitete und hier warten würde. Es war derselbe Arzt wie damals, eine Woche zuvor. Welcher mir mitgeteilt hatte, dass es nicht gut stand. Dass es schlimm ausgehen könnte. Aber ich hatte ihn in guter Erinnerung behalten: ein ehrlicher und empathischer Mensch. Wie seltsam, dass er ausgerechnet auch heute Schicht hatte. „Kommen Sie bitte mit“, forderte er mich dann auf und öffnete bereits die Durchgangstür. „Soll ich mich ankleiden?“, fragte ich wie damals schon und deutete auf die Einmalkittel an einem Garderobenständer. „Nicht nötig.“ Ja, genau wie damals. Ich folgte dem Arzt, ohne noch einmal dem Doktor einen Blick zuzuwerfen.   In diesem Moment hätte ich gerne einfach den Doktor erzählen lassen, was als nächstes passierte. Ich habe sogar überlegt, ob ich dieses Kapitel nicht komplett vorenthalte, aber das würde einen Riss in der Erzählung ergeben, die für euch keinen Sinn hat. Und für mich auch nicht. Denn ich erzähle es ja nicht nur euch, sondern auch mir selbst. Um mir noch einmal alles ins Gedächtnis zu rufen, was geschah. Um es nicht zu vergessen und mich daran zu erinnern, sollte das Leben mal wieder sehr chaotisch laufen. Jetzt lief ich also dem Arzt hinterher. Er erklärte mir ein paar Dinge über den Gesundheitszustand meiner Großmutter: Sepsis, versuchen es zu kontrollieren, sehr kritisch, geben ihr nicht mehr viel Zeit. Ich konnte einfach nur nicken und stumm die Informationen aufnehmen. Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können. Ich war zu pragmatisch veranlagt. Dieses Verhalten, was mich eine Situation meistern ließ, einen Schockmoment, und mir erst im Moment der Stille danach das Zusammenbrechen erlaubte. Ganz davon abgesehen waren es keine neuen Informationen, welche er mir zukommen ließ. Ich kannte die Todesursache, ich kannte ihren Zustand, ich wusste, dass sie starb. Was hätte mich jetzt also aus der Bahn werfen sollen?   Der Gang der ITS war schmal, vor den Zimmern standen meist kleine Ablagewagen, auf denen Handschuhverpackungen, eingetütete Kittel und Desinfektionsflaschen standen. Am Ende des Ganges gab es ein Fenster, welches Licht in den Flur scheinen ließ. Wir bogen in das zweite Zimmer zur linken Seite ein. Ich wusste nicht mehr, ob sie hier auch bei meinem letzten Besuch damals gelegen hatte, aber es war auch egal. In dem großen Raum befanden sich auf der rechten Seite, abgetrennt mit einem großen verschiebbaren mittelblauen Vorhang, zwei weitere Menschen in je einem Einzelbett. Sie schliefen oder waren komatös, einer von beiden mit einem Beatmungsgerät verbunden. Auf der linken Seite ebenso zwei Betten, im vorderen lag meine Großmutter. Ich kann nicht sagen, welches Gefühl mich als erstes durchfuhr, als ich sie sah. War es Erleichterung? Ein bisschen Freude? Trauer? Schmerz? Wohl eine Mischung aus allem. Was mein Herz aber besonders umhüllte und in seine Arme wog, das war das Gefühl von Familie. Diese Geborgenheit, die dich umarmte und dich sicher fühlen ließ. Ich wurde mit ihr allein gelassen und so zog ich mir den einen zwischen den Betten aufgestellten Besucherstuhl heran und setzte mich. Ich sah auf die Gerätschaften rechts neben ihr, ein Stapel Infusiomaten und Pumpen. Epinephrin, Schmerzmittel, … Ich wandte meinen Blick ab und schließlich zu ihr. Vorsichtig nahm ich ihre Hand in meine und hielt sie erst einmal einfach nur fest.   * * * Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war. Ich vermied es auf die Uhr zu schauen. Wenn man einen Patienten vor sich hat, der offensichtlich im Koma lag, so sollte man dennoch mit ihm sprechen und ihn ganz normal behandeln. Du weißt nie, was er wirklich mitbekommt und das Ansprechen der Sinne bzw. ihn eben als Person und nicht als schlafendes Etwas zu behandeln, ist äußerst wichtig. Daran dachte ich aber nicht. Mir war einfach nur wichtig, dass ich noch einmal Gelegenheit hatte, mich mit ihr zu unterhalten. Ich begann zu erzählen, wo ich herkam, was alles passiert war. Erzählte ihr, was ich aktuell machte, erzählte ihr von meiner Mutter, die ihr immer ähnlicher wurde. Erzählte ebenso von Japan, wo ich hingeflogen war und auch von vielen anderen Dingen. Dann auch von meinem lieben Mann und so weiter. Natürlich konnte sie mir nicht antworten, aber ich konnte mir vorstellen, was sie sagen würde, könnte sie es. Ich wusste es ganz genau und das brachte mich irgendwie zum Lächeln. Schließlich wagte ich doch einen Blick auf die Monitoranzeige, welche Herzfrequenz, Atmung und Sauerstoff in Zickzack-Diagrammlinien beschrieb. Es war knapp vor halb drei. Ich schluckte schwer. Man konnte sich nicht auf den Moment einstellen, wenn ein Mensch starb. Der Tod kam selbst schleichend plötzlich. Und deswegen tat ich nur noch eine Sache: Ich erhob mich, beugte mich zu ihr herab und gab ihr einen lieben Kuss auf die Wange. Zuflüsternd, dass ich sie liebte und dass sie gehen könnte, wenn sie wollte. Sie war nicht allein. Danach erklang der verheißende anhaltende lange Ton des Überwachungsmonitors, dessen reguläres Piepen ich kaum wahrgenommen hatte. Der Ton der E-Linie hingegen stieß mir regelrecht gegen mein Trommelfell. Ich schreckte nicht zusammen, ich fuhr auch nicht auf und das Blut versackte mir nicht. Es war genau das, womit ich hatte rechnen müssen. Nicht mehr, nicht weniger. Und ich war seltsamerweise wirklich die Ruhe selbst. Nicht vorgespielt, nicht überspielt. Ich war es wirklich. Ich stand auf, war dabei, das Zimmer zu verlassen, als mit einem Mal der zuständige Arzt und zwei Pfleger hereinkamen. Sie hatten natürlich aus dem Stationszimmer mitbekommen, dass das Gerät Alarm schlug. Alles normal. Diese Normalität stellte mein Hirn allerdings in Frage, als ich mitbekam, dass sie hektisch agierten, dass der Arzt etwas von Adrenalin faselte und sie ein Defibrillator heranzogen, Paddles vorbereiteten. Moment mal… was sollte das? „Kommen Sie bitte mit nach draußen“, wurde ich von einer zusätzlichen Pflegekraft angesprochen, eine Frau mittleren Alters, welche mich behutsam an den Schultern berührt hatte und nun dabei war, mich hinauszuschieben. „M-Moment“, rief ich irritiert aus, „Was wird das?“ Ich klang hysterischer als ich wollte, aber mein Gedächtnis rief mir die richtige Szenerie vor Augen, die sich hier ereignen würde: Wiederbelebungsmaßnahme. „Kommen Sie mit“, wurde ich erneut angesprochen, diesmal etwas schroffer, damit ich verstand Folge zu leisten. Sie stemmte sich gegen mich und schob mich so ein, zwei Schritte mit sich. „Stopp“, rief ich wieder, diesmal lauter, „Was soll das? Sie wollte nicht… Sie sollte nicht…!!“ Ich konnte kaum Worte finden für das, was hier abging und genauso wenig konnte ich meine Augen davon abwenden. Ich hatte keine Chance, etwas dagegen zu unternehmen und je mehr ich mich wehrte, desto stärker wurde der Griff der Pflegekraft. Desto mehr wurde ich abgedrängt. Ich stand dann bereits auf dem Flur, konnte aber immer noch aus dem Augenwinkel zusehen, wie sie die Paddles ansetzten und den ersten Schock einleiteten. Auf einmal stand allerdings der Doktor vor mir, welcher sich wohl durch meine Stimme hatte aus dem Vorraum locken lassen. Seine Augen schätzten kurz und knapp die Situation ein. Ich konnte nichts sagen, nichts hervorbringen, aber mein eigener Blick würde Bände sprechen. Er sagte nichts, er schob mich nur bestimmt von der Szenerie weg. Mir kamen einzelne Silben über die Lippen, aber zu sehr hatte ich mit der Luft zu kämpfen, die mit einem Mal nicht mehr in meine Lungen dringen wollte. Ich schnappte immer heftiger nach Sauerstoff und doch schien es nichts zu nützen. „Atmen Sie. Langsam. Ein und aus. Ein und aus“, sprach er leise auf mich ein. Ich wehrte mich selbst dagegen, aber irgendwann drang seine Stimme nicht nur an mein Ohr, sondern auch in meinen Kopf und ich konnte seine Worte umsetzen. Einatmen. Ausatmen. Meine Lungen entspannten sich langsam wieder. Es tat immer noch weh, aber das Stechen ließ nach. Der Schwindel im Kopf nahm ab. Ich bekam Luft. Der Doktor hielt mich immer noch an seiner Seite gedrückt und ehe ich es mich versah, hatte er es geschafft, mich komplett nach draußen zu bugsieren. Wir standen wieder bei der Stuhlreihe im Vorraum. Ich bekam keine Geräusche der Umgebung mit. Nichts aus dem Raum, wo sie meine Großmutter wiederbeleben wollten. Nichts von dem Flur vor uns. Rein gar nichts. Als wäre ich mit einem Mal taub geworden. Ein stummer Hörsturz. Ich wandte meinen Kopf in die Richtung, aus der wir gekommen waren, schien neue Gedanken zu fassen, mir einen Plan zurechtzulegen, aber es schien, als hätte der Doktor meine Ideen riechen können und so legte er dieses Mal seine Hände an meine Schultern, kam mir fast bis auf die Nasenspitze nahe und sah mir intensiv in die Augen. „Alexandra, hören Sie mir zu.“ Ich schaute zu ihm, verwirrt und nicht wissend, was er von mir wollte, „Hören Sie mir ganz einfach nur zu“ Ich nickte minimal und erwiderte weiterhin einfach nur seinen Blick, „Das, was Sie gesehen haben, konnten Sie nicht beeinflussen.“ „Aber sie haben sie-“ „Hören Sie mir zu“, unterbrach er mich eindringlich, als ich etwas einwenden wollte, „Das konnten Sie nicht beeinflussen.“ Er betonte jede Silbe und mit einem Mal verstand ich, was er meinte: Natürlich hatte ich nichts dagegen tun können. Eigentlich wäre ich gar nicht hier gewesen. Ich hätte zu Hause sein müssen, nicht hier im Krankenhaus. Und genau das war es, was er mir vermitteln wollte. Ich hatte mehr gesehen als ich sollte. Diese Unabänderlichkeit, der Umstand, dass ich dieses Mal Zeugin dessen wurde, wie ein Familienmitglied starb sowie die Tatsache, dass ich sie überhaupt noch einmal hatte sehen können, ließen nun die Emotionen aufkommen. Ich konnte gar nichts dagegen tun, dass ich mit einem Mal die Tränen in den Augen spürte und sich ein breiter Kloß in meinem Hals anstaute. Es war mir unangenehm, nahezu peinlich, dass ich mir so die Blöße geben musste. Ich wandte meinen Kopf ab, versuchte mir unauffällig die Tränen wegzuwischen und wieder zu meiner ruhigen Verfassung zu finden, welche ich doch eigentlich immer aufrecht erhielt. Immer wieder wischte ich mir über die Augen, aber letzten Endes war es ein sinnloses Unterfangen. Ich musste die Lippen fest aufeinander pressen, um nicht doch noch einen schluchzenden Ton loszulassen. Der Doktor löste langsam auch seine Hände wieder von meinen Schultern. „Es... tut mir leid“, waren seine leisen Worte. Aus seiner Stimme klang Mitgefühl und Reue. Ich hatte keine Ahnung, warum er bereute, aber in diesem Moment war es mir auch gleich. Schließlich erklangen leise Schritte auf dem Gang neben uns, die sich annäherten und schließlich bei uns stehen blieben. Ich nutzte dies als Gelegenheit, straffte die Schultern und versuchte so gut es ging, wieder Haltung anzunehmen. Vergeblich. „Ich… muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Großmutter verstorben ist. Wir haben alles getan, was möglich war, aber ihr Körper hat die Anstrengung nicht mehr verkraftet.“ Ich schwieg zunächst, weil mir sonst böse Worte über die Lippen gekommen wären. Sehr böse Worte. Dann jedoch konnte ich mich dazu überwinden, etwas zu sagen: „Danke… ich weiß.“ Das war nicht das, was der Arzt erwartet hatte, das konnte ich anhand des fragenden Untertons vernehmen, welcher in seiner Stimme mitschwang: „Wenn Sie wollen… können Sie zu ihr?“ „Nein, ich denke nicht“, presste ich hervor, sah ihm allerdings ebenso wenig in die Augen. Ich wollte ihn nicht anschauen. Ich wollte nicht dem Mann in die Augen sehen, welcher versucht hatte, sie erneut ins Leben zurückzuholen. „Benachrichtigen Sie… bitte einfach nur meine Tante.“ Und das war es. Ich wandte mich ab, drehte mich auf dem Absatz um und machte einen Schritt nach dem anderen zum Ausgang. Der Doktor kam mir nach, hatte noch irgendetwas zum Arzt gesagt, der an immer noch gleicher Stelle stand und hielt schließlich hinter mir an. Ich hatte den Aufzugknopf gedrückt und hatte meinen Daumen bisher noch nicht von diesem genommen. Mein Blick blieb auf das metallene Silber des Türrahmens gehaftet und ich schwieg. Meine Beine zitterten unmerklich, aber machten es mir schwer, ohne Abstützen zu stehen. Mir tat jeder Muskel meines Körpers weh. Meine Wangen schienen mir zu meinen Augen hin geschwollen und das Atmen fiel mehr schwerer. Es war nicht fair, dass ich ein weiteres Mal dieses Schmerz durchmachen musste. Aber schlimmer als das wog hierbei die Tatsache, dass ich nun auch unsagbare Wut verspürte. Diese hatte ich damals nicht. Eine solche Wut über die Unabdingbarkeit der Situation, welche sich eben ereignet hatte, in der ich nicht hatte eingreifen können. Man hatte mich nicht gelassen. Und dies noch nicht einmal von Seiten des Doktors aus, sondern von diesen Ärzten, die alles taten, um Leben zu retten. Alles. Selbst in meiner eigenen Ausbildung und späteren Arbeit hatte ich nicht diesen Hass auf den Ehrenkodex der Mediziner verspürt, wie ich es jetzt tat. Wozu unterschrieb man Patientenverfügungen und setzte Testamente auf, wenn dem nicht nachgekommen wurde? Oder hatte so etwas überhaupt gar nicht existiert? Hatte ich einfach nur immer gedacht, dass alles geregelt worden wäre und in Wahrheit war nichts davon auffindbar? Mein Daumen rutschte von dem Knopf und fiel samt meiner Hand schlaff an meine Seite. Ich verbot mir alle Worte, die mir jetzt noch über die Lippen gekommen wären. Ich wusste nicht, ob ich geflucht hätte, ob ich geschrien hätte, ob ich Dinge gesagt hätte, die ich hinterher bereuen würde. Ob ich überhaupt etwas sagen könnte. Die Fahrstuhltüren öffneten sich mit einem leisen mechanischen Geräusch und ich ging in die Kabine, einfach nur die Taste neben dem Aufschrift EG drückend. War es hier vorhin auch schon so stickig gewesen? Die Luft kam mir unnatürlich warm und dick vor. Ich war der Meinung, einen Hauch von Parfüm wahrnehmen zu können, welches meine Nase verstopfte und meinen Magen zum Rebellieren bringen wollte. Ich lehnte mich an die Wand an und schaute in die kleine Spiegelfläche, direkt neben der Etagenliste. Leichenblass. Ich fühlte mich nicht besonders schlecht, aber genau so sah ich aus: absolut… beschissen. Der Doktor war mir gefolgt, betrachtete mich analysierend und schien abzuwägen, was als nächstes zu tun wäre. Ich nahm dies nur durch einen kurzen Seitenblick wahr, ehe ich wieder zu meinen Füßen blickte. Die Fahrt nach unten ließ meinen Gleichgewichtssinn schaukeln. Mir wurde ein bisschen schwindelig und ich stieß sauer auf. Als die Türen erneut aufsprangen, eilte ich raus, direkt schnellen Schrittes auf den Ausgang zu. Der Timelord rief mich beim Namen, aber alles, was ich jetzt wollte, war erst einmal Luft. Frische, reine Luft. Sauerstoff. Raus aus dem stickigen Mief, aus dieser Sardinenbüchse, aus diesem Korsett, das sich um mich gelegt hatte und mir drohte meine Lungen und alle anderen Organe zu zerquetschen. Erst als ich den kühlen Oktoberwind in meinem Gesicht spürte, wurde es besser. Nicht schlagartig, aber zumindest ein bisschen besser als dass ich mich nicht gleich übergeben müsste. Ich blieb einfach nur stehen, schloss die Augen und konzentrierte mich aufs Atmen. Die Übelkeit ließ nach. Vielleicht kehrte auch etwas Farbe in mein Gesicht zurück. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Die Hitze war aus meinem Körper gewichen und mir wurde emsig kalt. Ich zitterte wie Espenlaub und auch wenn ich die Arme fest an mich presste, wurde es nicht besser. Meine Lippen bebten. Gerade wünschte ich mir nichts sehnlicher, als die Arme meines Liebsten um mich zu wissen, doch das ging nicht. Und anstatt dessen, wurde mir da der Trenchcoat des Doktors zuteil, welche er mir über die Schultern legte. Ich blickte verwundert auf, brachte aber kein Wort über die Lippen. Noch nicht. Wir sollten den Rückweg antreten. Meine Beine schoben sich automatisch Schritt um Schritt vor und doch konnte ich noch nicht begreifen, was da gerade passiert war. Dass ich zum einen die Chance bekommen hatte, mich noch einmal richtig von ihr zu verabschieden, aber dass ich ebenso mitansehen musste, was mir damals erspart geblieben war. Es konnte eben nie nur eine Seite geben. Man musste immer beide ertragen, und das war so schwer. „D-Danke“, kam es mir bibbernd über die Lippen und ich wusste nicht einmal, ob er es überhaupt gehört hatte, so leise wie ich sprach. Wir gingen die ersten Meter, entfernten uns vom Krankenhaus und gelangten wieder auf den grob gepflasterten Gehweg, der zur Hauptstraße führen würde. Anders als zuvor, ging ich nun aber weiter gerade aus, als an der Ecke abzubiegen. Ich konnte noch nicht zurück und konnte auch nicht einfach zu einem weiteren neuen Planeten und auf gute Laune machen. Das ging nicht. Der Doktor war taktvoll genug, mir keine unangenehmen Fragen zu stellen und trotzdem merkte ich, dass er gerne etwas dazu gesagt hätte. Zu den Geschehnissen. Deswegen entschied ich mich, zuerst etwas zu sagen: „An diesem Tag habe ich den Anruf von meiner Tante bekommen. Sie gratulierte mir zum Geburtstag und im selben Moment hat sie dann verkündet, dass meine Großmutter verstorben sei“, sprach ich leise, „Ich war ziemlich wütend auf sie, wie man so unsensibel sein konnte.“ Mir entwich jetzt fast schon ein kleines Lächeln. Ich wusste nicht, ob ich mich für damals töricht hielt oder ob es einfach nur der Moment war, den mein damaliges Ich jetzt erleben würde und an dem ich mich zu gut erinnern konnte. Denn seitdem waren so viele Kleinigkeiten vorgefallen, dass ich zu meinen Verwandten kein Verhältnis mehr pflegte. Es gab in meinem Leben keine Familie mehr – bis auf meine Eltern. Ich hatte keinen Bedarf und es war für mich in Ordnung. Zumindest meistens. „Sie müssen sich nicht erklären“, wandte der Doktor auf meine Worte ein und brachte mich damit zum Innehalten. Ich hatte tatsächlich bereits schon wieder ansetzen wollen weiterzureden. Das war für mich ganz natürlich. Und wenn ich jetzt zum Doktor aufsah, dann befiel mich eine seltsame Art Erleichterung befiel mich. Es schoben sich zwar wieder die Tränen in meine Augen und ich hatte Mühe, diese an ihren Platz zu halten, doch das Gefühl, welches mich erfasste, war wert, es zu ertragen. Wir gingen in weiterer Stille zum unweit entfernten Bahnhof zurück. Der Timelord blieb die ganze Zeit an meiner Seite. Ich musste nicht hinsehen um zu wissen, dass er da war und ich glaube, dass es genau dieses Vertrauen war, dass seine Begleiter ihm gegenüber verspürten: Sie konnten sich auf ihn verlassen und es gab keinen Grund, warum sie zweifeln mussten, dass er sie in Stich lassen könnte. Eine Art Urvertrauen.   Es war längst Abend geworden, als wir die TARDIS wieder erreichten und noch immer hatte sich in unserer Abwesenheit nichts verändert. Der Hausflur war dunkel, der Keller war dunkel und wir mittendrin. Ich stand einfach nur angelehnt an dem Pult der blauen Box, während der Doktor erneut versuchte, uns fortzubewegen. Mein Blick war auf einem unsichtbaren Punkt gerichtet. Ich hätte jederzeit auf mein Zimmer gehen können, aber das hätte bedeutet, dass ich alleine gewesen wäre. Lieber blieb ich schweigend beim Timelord und lenkte mich ein wenig damit ab, ihm zuzusehen. „Ich nehme nicht an, dass sie Hunger haben, aber vielleicht sollten Sie etwas essen“, schlug er vor und ich guckte sogleich auf die kleine Bäckertüte, die ich in der Hand hielt. Von unterwegs mitgenommen. Wann hatte ich die gekauft? Ich nahm die Laugenbrezel aus der Tüte hervor. Vorhin war sie wohl noch warm geworden, aber jetzt ausgekühlt. Das würde nichts machen. Ich biss ein kleines Stück ab und kaute mindestens 53 Mal den Brotklumpen klein. Schwer schluckend sah ich kämpfend zum übrigen Gebäck. Ich hatte wirklich keinen Hunger, aber angesichts der Zeit sollte ich wirklich etwas zu mir nehmen. „Danke“, kam es mir da über die Lippen. „Wofür?“, fragte er mich der Doktor. Kein Gesichtsverziehen, kein seltsamer Tonfall. Es war selten, ihn so zu erleben, aber er machte es mir damit gerade ein bisschen leichter. „Für alles.“ „Ich weiß nicht, ob Sie mir dafür danken sollten.“ „Dass ich nicht alleine sein muss“, fuhr ich ihm sogleich nachdrücklicher dazwischen, „Danke.“ Er sah zu mir auf, als ich im gleichen Moment zu ihm blickte: „Gern geschehen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)