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Der Schatten in mir

von

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Rettung eines Fremden [Überarbeitet]

„Kannst du mir vielleicht mal verraten, wieso du schon abhauen möchtest?“

Chandra warf ihrem besten Freund ein schwaches Lächeln zu und zog sich ihre schwarze Wolljacke über.

Seine Frage war verständlich, da es nicht üblich für sie war, ihrer beider Stammclub schon deutlich vor Mitternacht zu verlassen. Für gewöhnlich verbrachten sie die halbe Nacht hier, eingehüllt von dem Rauch der Zigaretten und einem brennenden Alkoholgeruch, umgeben von ohrenbetäubenden Bässen viel zu lauter Musik und einem unendlichen Stimmengewirr. Sie sprachen miteinander, tranken Alkohol, tanzten ausgelassen und suchten sich neue Tanz- und Gesprächspartner, die nicht selten zu einer guten Partie für die Nacht wurden.

Heute jedoch war Chandra nicht danach. Eine latente Anspannung schnürte ihr an diesem Abend die Brust zu. Sie konnte sich das unbekannte Gefühl nicht erklären, wusste nur, dass ihr unwohl war zwischen all den Menschen, weswegen sie den Abend früh beenden wollte. Sicherlich musste sie sich keine Sorgen machen, doch es gab Tage, da sollte man sein Glück nicht herausfordern. Heute war so ein Tag.

Sie ließ Devin nichts von ihrem Gefühl wissen. Er würde sich nur wieder mal unnötig Sorgen um sie machen – und außerdem ging es ihn nichts an. „Ich bin schrecklich müde“, log sie ungeniert. Eine ihrer leichtesten Übungen – dem einzigen Menschen, dem wirklich an ihr lag, mitten ins Gesicht zu lügen. „Vielleicht machen wir morgen wieder die Nacht durch, ja?“

Er strich ihr über die Schulter und schenkte ihr ein Lächeln, das seine braunen Augen zum Leuchten brachte. Sie sah es gern, wenn er lächelte, und er war der Einzige, dessen Lächeln ihr etwas bedeutete. „Leg dich zu Hause hin“, sagte er. „Aber wir sehen uns morgen, ja? Selbe Zeit wie immer?“

Chandra bestätigte das morgige Treffen und verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung von ihm, ehe sie sich durch die Menschenmengen nach draußen schlängelte. Dort wurde sie von der kühlen Abendluft begrüßt, welche sogleich ihren Kopf und ihre Gedanken klärte.

Mit einem Seufzer der Erleichterung machte sie sich auf den Weg nach Hause, links die Straße runter. Missmutig gestattete sie sich ein paar Gedanken über Pyritus.

Es war schon immer das gewesen, was es heute war. Eine Stadt, die von Plakaten und riesigen Leuchtschildern geprägt war, die die Fassaden bedeckten. Heruntergekommen und dreckig. Voll von Gaunern, Halsabschneidern, Drogendealern und noch viel Schlimmerem. Kurzum: ein Paradies für Kriminelle. Menschen von außerhalb würde das vielleicht abschrecken, doch für jene, die tun wollten, wonach es ihnen beliebte, war diese Stadt, so schäbig sie war, der richtige Ort. Das Gesetz wurde hier weder ernstgenommen noch durchgesetzt. Pyritus‘ Polizei versagte regelmäßig dabei, ihre Arbeit zu machen – entweder aus Unfähigkeit oder weil sie alle geschmiert waren. Chandra wusste nicht viel darüber; nur, dass sie sich in einer Notlage niemals an die Polizei wenden würde. Man kriegte seinen Scheiß entweder selbst auf die Reihe oder verendete in irgendeiner Gosse, im schlimmsten Fall.

Hier galt das Gesetz des Stärkeren, der Reste fügte sich. Wurde man auf offener Straße angegriffen, ob tags oder nachts, war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass jeder wegsah.

Pyritus war eine rundum gefährliche Stadt, doch Chandra gab sich mit derlei kriminellem Gesindel nicht ab. Dass es ihr möglich war, abends im Dunkeln allein nach Hause zu laufen, ohne befürchten zu müssen, überfallen zu werden, verdankte sie der Tatsache, dass sie Teil der kriminellsten Familie Pyritus‘ war.

Chandra genoss einen besonderen Bekanntheitsstatus, was an ihrem Bruder lag, der sozusagen der Chef der Gangsterstadt war. Natürlich war er nicht der offizielle „Boss“, aber er stand in der kriminellen Hierarchie ganz oben. Jeder kannte und fast jeder respektierte ihn. Die, die Letzteres nicht taten, waren entweder Außenseiter oder strikte Gegner seiner Geschäfte. Fakt war jedoch, wer in Pyritus ein kriminelles Business anstrebte, kam früher oder später mit ihm in Kontakt. Im Positiven oder im Negativen. Viel Kontakt hatte Chandra zu ihrem Bruder nicht – im Grunde mied sie ihn nach Möglichkeit –, aber sie wusste um seine dunklen Machenschaften. Seiner besonderen Stellung war es zu verdanken, dass sie in der Stadt tun und lassen konnte, was sie wollte, ohne ernsthaft in Schwierigkeiten zu kommen. Sollte ihr jemand auf die falsche Art zu nahekommen, würde diese Person in ordentliche Schwierigkeiten geraten.

Manchmal nannte sie das ihren persönlichen Sicherheitsdienst.

Plötzlich drang ein dumpfer Schrei an ihre Ohren.

Ein Zucken durchlief ihren Körper und sie blieb stehen, spähte in die Gasse, an der sie eben vorbeigelaufen war. Gedämpfte Stimmen drangen an ihre Ohren, woraufhin sie weiter in die Gasse hineinlief, darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche zu machen. Nach einigen Schritten konnte sie um eine Ecke in einen Hinterhof schauen. In der Finsternis des Abends ließ sich nur bedingt etwas erkennen. Das spärliche Licht, welches eine Laterne am Anfang der Gasse in die Dunkelheit warf, genügte gerade noch.

Drei Männer fielen in ihren Blick. Zwei von ihnen waren älter und recht breit gebaut, der dritte hingegen nicht schmächtig, aber einfach nicht so kantig – und vor allem war er deutlich jünger.

Schnell war die Situation erfasst. Der junge Mann stand zwischen den beiden älteren und wurde von dem hinter ihm in Schach gehalten. Dieser hatte seine Arme gepackt und hielt sie in einem ungesunden Winkel hinter dessen Rücken. Der Jüngere wand sich in dem Griff, kam aber ganz offensichtlich nicht gegen die Übermacht an.

Chandra duckte sich hinter eine niedrige Mauer und weitere erschrocken die Augen, als sie das glänzende Etwas sah, das der zweite Mann dem Gefangenen nun vors Gesicht hielt. Ein langes Messer, dessen Klinge im Licht der Laterne unheilvoll aufblitzte.

Der Mann vor ihm sagte etwas, doch der Jüngere schüttelte entschieden den Kopf. Als Reaktion wurde ihm die Klinge direkt an die Kehle gehalten, woraufhin er sich zunehmend versteifte. Die Worte des Mannes mit dem Messer wurden lauter und hallten durch die Gasse, doch er sprach zu schnell und zornig, als dass Chandra ihn verstanden hätte. Sie sah, wie sich die Lippen des jungen Mannes abschätzig bewegten. Offenbar zeigte er keine Einsicht, trotz der Klinge an seinem Hals. Als ihm die Arme noch weiter nach oben gedrückt wurden, hörte Chandra ihn schmerzerfüllt stöhnen.

„Vielleicht hat er mehr Lust zu reden, wenn ich ihm eine Schulter auskugle.“

Endlich verstand Chandra etwas! Entsetzt schlug sie sich eine Hand vor den Mund und rechnete mit dem Schlimmsten.

„Hör zu, Kleiner“, sagte der Messertyp. „Wenn du uns jetzt nicht sagst, was wir wissen wollen, hören wir auf, nett zu fragen. Nach ein paar Schnittwunden oder“, er deutete mit dem Messer auf seinen Kollegen, „einer ausgekugelten Schulter bist du ja vielleicht redseliger. Danach finden wir sicher einen schönen Ort für deine Leiche. Wir könnten uns aber auch einfach nur unterhalten. Es liegt an dir.“

Chandra keuchte auf. Sie wusste nicht, wer dieser Idiot war, aber wenn nicht gleich ein Wunder geschah, würde es hässlich werden. Mit flauem Magen richtete sie sich auf.

Das Wissen, wer sie war, wer ihre Familie war, stärkte sie.

Entschlossenen Schrittes trat sie in den Hinterhof, strafte ihre Schultern und setzte eine finstere und zugleich sichere Miene auf. Es war verdammt riskant, sich nachts mit gefährlichen Typen anzulegen – gut, in Pyritus war es das auch am Tag –, doch bislang war ihr nie etwas zugestoßen.

„Hey!“

Ein kollektiver Schreck ging durch die Gruppe. Der junge Mann sah zuerst zu ihr. Chandra erkannte seine markanten Gesichtszüge im Lichtspiel der Laterne sowie, dass er nicht viel älter als sie selbst sein konnte. Sein überraschter Gesichtsausdruck verharrte auf ihr. Zwar betrachteten die älteren Männern sie ebenfalls irritiert, wenn auch auf andere Weise. Natürlich – wer würde auch erwarten, dass ausgerechnet ein Mädchen zur Hilfe kam?

Aber Chandra war ja kein normales Mädchen.

„Lasst ihn gefälligst in Ruhe!“, befahl sie, als sie vor ihnen zum Stehen kam. Sie deutete auf das Messer, doch es folgten keine Anstalten, es wegzunehmen.

„Kleine“, sagte der, der es führte, „sieh zu, dass du Land gewinnst. Was willst du bitte ausrichten?“

Ein siegessicheres Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

Insgeheim brach ihr gerade der Schweiß aus und sie wusste, wie dünn das Eis unter ihren Füßen war.

„Oh, ich will gar nichts ausrichten. Aber mein Bruder …“ Ein Blick auf die Gesichter der Gangster zeigte ihr, dass der Mann mit dem Messer ein kantiges Gesicht mit einer leicht gezackten Narbe auf der rechten Wange hatte, wohingegen der andere etwas jünger aussah, aber nicht weniger unfreundlich und gefährlich. Beide hatten sie dunkles Haar.

Letzterer zischte nun erbost: „Du bluffst doch!“

„Sicherlich nicht.“ Mit einem vor Selbstsicherheit triefenden Grinsen holte Chandra das Handy aus ihrer kleinen Handtasche. „Ich könnte ihn gleich jetzt mal anrufen, wenn ihr mir nicht glaubt.“ Sie hatte ihn direkt auf Kurzwahl gespeichert und hielt dem Narbengesicht nun ihr Display entgegen, auf dem der mehr als bekannte Name ihres Bruder angezeigt wurde. Regungslos betrachtete er den Bildschirm, offenbar hin und hergerissen, ob er ihr glauben konnte. Sicherlich, es bestand die – kleine – Wahrscheinlichkeit, dass sie log und der Handytrick nichts weiter als ein Bluff war.

Chandra verdrehte die Augen. Dann eben wie immer. „Ich glaube, ich habe Lust, seine Stimme zu hören. Ihr auch?“ Sie tippte auf das Anrufsymbol, aktivierte den Lautsprecher und wartete. Es klingelte nur kurz, dann wurde abgenommen.

„Ray hier. Was willst du, Chandra?“

Dem Narbengesicht entgleisten die Gesichtszüge, als er die Stimme ihres älteren Bruders erkannte, aber er und sein Komplize blieben still. Chandra hatte nichts anderes erwartet. Pyritus war das Pflaster der Kriminellen und Ray so etwas wie ihr Boss. Jeder Gauner, der nicht gerade erst nach Pyritus gekommen war, war schon mal irgendwie mit ihm in Kontakt getreten, und jeder Neuling war noch zu grün hinter den Ohren, als dass er es riskierte, es sich mit dem Mann zu verscherzen, von dem jeder nur Furchteinflößendes erzählte. Selbst, wenn Chandra nur bluffte.

Was sie nicht tat – am anderen Ende der Leitung war ihr verhasster Bruder.

„Hallo, Bruderherz! Ich wollte bloß deine Stimme hören. Du hast mich doch gern, oder?“

„Aber natürlich, Schwesterherz“, antwortete Ray auf dieselbe Art. In seiner Stimme lag der Ton, vor dem sie sich fürchtete, der, welcher früher die Melodie ihrer Albträume gewesen war. Er klang freundlich und schmeichelnd, aber hinter diesem Charme schlummerte eine düstere Bedrohung – er wusste, wieso sie ihn anrief.

Sie trieb das Spiel noch ein wenig weiter. „Was wäre, wenn mir etwas zustieße?“

„Dann wäre ich sehr traurig.“ Lüge. „Und sehr wütend.“ Wahrheit.

„Das wollte ich hören.“ Das genügte – dem Narbengesicht stand beinahe der Angstschweiß auf der Stirn.

Triumphal grinsend legte Chandra auf. Sie erkannte, dass sie gewonnen hatte, und steckte ihr Handy ein. „Na, was habe ich gesagt? Also los, ihr verpisst euch jetzt!“, befahl sie kühl. „Ich denke, ihr wisst, wie Ray wird, wenn er wütend ist.“

Der Mann mit dem Messer drückte dem Jüngeren mit ebenjener Klinge das Kinn nach oben, ein erbostes Funkeln in den Augen. „Noch mal Glück gehabt, Junge. Wenn wir dich das nächste Mal erwischen, wirst du jedoch keines mehr haben.“ Er entfernte das Messer und nickte seinem Partner zu, der daraufhin seinen Gefangenen freigab. Der Ältere stieß ihn grob vor die Brust und damit zu Boden. Anschließend verschwanden die beiden Kriminellen in der Dunkelheit der Gasse.

Kurz hing Chandras Blick den Schatten hinterher. Mit einem Mal fiel die Nervosität von ihr ab und ihre Beine blieben weich und zittrig zurück. Zwar war sie sich sicher gewesen, dass alles gutlaufen würde, dies bedeutete aber nicht, dass sie sich gerne in solche Gefahr begab.

Eine Stimme schreckte sie auf. „Wow, wie hast du das denn gemacht?“ Chandra hatte angenommen, der junge Mann würde vor Schreck zusammengesunken auf dem Boden sitzen, stattdessen sah er fast schon entspannt zu ihr hoch.

„Alles in Ordnung?“, überging sie seine Frage. „Was wollten die beiden von dir?“

„Nur ein paar einfache Straßengauner“, sagte er kopfschüttelnd. Mühelos erhob er sich und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, mit der er Chandra um gut einen Kopf überragte. Er ließ die Schultern kreisen und rieb sich über den Hals, an dem ein Rinnsal Blut klebte.

Chandra kam nicht umhin, ihn zu betrachten, als er sich Dreck von der Hose klopfte. Seine Haaren waren schwarz und ein wenig zerzaust und seine Augen leuchteten hell. Viel mehr erkannte sie nicht.

„Die haben dich mit einem Messer bedroht. Ich habe dich vor ihnen gerettet“, stellte Chandra klar. „Da werde ich doch wohl eine kurze Erklärung haben dürfen, oder?“

Er schenkte ihr ein lockeres Grinsen, was sie reichlich irritierte, und machte Anstalten, an ihr vorbeizugehen. „Klar, aber es war ja nichts.“

Das erzürnte sie. Diese beiden Typen hatte sicher keine sauberen Absichten gehabt und sie hatte diesen undankbaren Idioten vor ihnen gerettet – da war es wohl das Minimum, mehr als eine herablassende Lüge zu erwarten. Sie ergriff seinen Unterarm als Zeichen, dass er nicht gehen sollte.

Erstaunt sah er auf ihre Hand. „Was soll das denn jetzt werden?“

„Sag mir, was die beiden von dir wollten!“, forderte sie abermals.

„Wieso sollte ich?“

Die Frage klang nicht einmal provokant, sondern so sachlich, dass Chandra am liebsten vor Wut aufgeschrien hätte. „Vielleicht, weil ich dir geholfen habe?“

„Ich habe dich nicht um deine Hilfe gebeten.“

Die Art und Weise, wie ruhig und … amüsiert er mit ihr sprach, ließ ihren Zorn noch heftiger hochkochen. Als wäre das hier ein verdammter Witz. Sie herrschte sich innerlich zur Ruhe an und wollte gerade zu einer vernünftigen Antwort ansetzen, als ihr der Blick auffiel, mit dem er sie betrachtete. Er musterte sie von oben bis unten und das nicht gerade zurückhaltend.

Nicht, dass sie das überraschen würde. Unter ihrer kuscheligen Wolljacke trug sie ein schwarzes Top, welches auf Hüfthöhe von einem weinroten Faltenrock abgelöst wurde, der bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Schwarze Kniestrümpfe bedeckten ihre Beine bis knapp über die Knie und an den Füßen trug sie schwarze Halbstiefel. Sie war es gewohnt, dass Männer sie ansahen, aber seine Musterung ließ ihre Vorsätze, netter zu sein, verpuffen.

Also ließ sie seinen Arm los und zog sich ihre Jacke enger vor die Brust. „Hör zu! Du sagst mir jetzt, was ich wissen will, oder ich werde wirklich sauer.“

Das Lächeln, welches er ihr nun zeigte, war eher verdrießlich als amüsiert. „Und wenn nicht? Bedrohst du mich dann auch mit einem Messer?“

Ich nicht“, sagte sie, doch es waren leere Worte. Als ob sie ihrem Bruder einen Unschuldigen ausliefern würde. Auch wenn er im Moment viel eher seltsam als unschuldig auf sie wirkte.

„Du kannst mir nicht noch mehr Probleme machen, als ich bereits habe.“

„Was willst du damit sagen?“

„Glaubst du ernsthaft, ich würde dir das sagen?“

„Ja, verdammt. Denn ich kann deine Probleme noch viel größer machen“, provozierte sie. Doch erneut war es nur eine leere Drohung. Gewiss hatte sie die Möglichkeit, ihre Worte wahrzumachen, aber wenig Lust dazu. Von der Telefonhilfe einmal abgesehen, bat sie ihren Bruder nie um Hilfe – sie mied ihn, wie gesagt. Meistens genügte sein Name, um Ärger im Keime zu ersticken.

„Du drohst gerne anderen, was?“, spottete ihr Gegenüber.

Chandra verfluchte sich für ihre Unfähigkeit, etwas aus ihm herauszubekommen, und seufzte verärgert. „Na schön! Dann verschwinde halt.“

Sie erwartete, dass er ging, aber er blieb einfach stehen. Nachdenklich griff er sich ans Kinn. „Hm, nee. Ich hab’s mir doch anders überlegt.“

„Was?“

Woher kam denn jetzt dieser Sinneswandel?

„Ich will wissen, wieso du so gute Kontakte in dieser Stadt hast. Und die musst du haben, so, wie du dich verhältst.“ Nun war er ernst geworden, doch seine Augen sprachen eine andere Frage. Er war neugierig.

Sie biss sich auf die Lippe. „Selbst wenn es so wäre“, log sie, „würde ich es dir nicht sagen.“

Sein Augen blitzten auf, als er schmunzelte. „Ach ja? Du bist eine schlechte Lügnerin. Wer ist dieser Ray?“

Das hatte gesessen. Bislang war Chandra stets davon ausgegangen, recht gut lügen zu können. Devin durchschaute ihre erlogenen Worte fast nie. Nun kam dieser Typ und …

„Das geht dich nichts an. Denkst du ernsthaft, ich erzähle jedem dahergelaufenen Kerl von meinem Leben?“

„Hey, du kamst ‚dahergelaufen‘, ich war hier nur zufällig in der Gegend“, korrigierte er sie mit einem überlegenen Lächeln.

Am liebsten wäre Chandra ihm für seine Worte ins Gesicht gesprungen, doch zugleich fand sie Gefallen an seiner selbstsicheren Art. Es gab nicht viele Menschen, die den Mumm hatten, ihr zu kontern. Die meisten wichen zurück, wenn sie erfuhren, wer sie war, und gab es doch mal jemanden, dem das nichts ausmachte, wurde derjenige spätestens von ihrer abweisenden Art abgeschreckt.

Ihr fiel keine schlagfertige Antwort ein, sodass ihr Gegenüber erneut grinste. „Ich mache dir einen Vorschlag. Du möchtest etwas von mir wissen und ich etwas von dir. Wir könnten uns gegenseitig helfen. Also wie wäre es, wenn wir jetzt einfach gemeinsam irgendwohin gehen und ein bisschen reden?“

Das Angebot ließ Chandra prusten. „Ist das dein Ernst oder einfach eine verdammt schlechte Anmache? Was in aller Welt sollte mich dazu bringen, mit dir mitzugehen und ein bisschen zu reden?“ Für wen hielt sich dieser Typ?

Aber es wurde noch besser. Der Unbekannte wollte ihren Geduldsfaden wirklich einreißen.

„Na ja, vielleicht, weil du mich nett findest?“

Ein unglaubwürdiges Lachen brach aus ihr heraus. „Ähm, Moment, bitte.“ Sie hob einen Zeigefinger. „An welcher Stelle dieser völlig irrsinnigen Konversation habe ich gesagt, dass ich dich nett finde?“

„Du hast mich gerettet, mich, einen dir völlig unbekannten ‚dahergelaufenen Kerl‘, in einer Stadt, in der jede Nacht irgendwelche Verbrechen geschehen und Leute draufgehen. Aber ich denke, du würdest diese „Ich-rufe-meinen-Bruder-an“-Nummer nicht für jeden Typen bringen. Logische Schlussfolgerung: Du hast mich gesehen und fandest mich nett.“ Er grinste schief; es war kaum möglich, noch selbstsicherer zu wirken, als er sie mit seinem Blick bedachte.

Himmel, vermutlich glaubte er wirklich, was er sagte.

„Bild dir bloß nichts darauf ein“, stellte Chandra klar. „Nur weil ich in Pyritus lebe, bin ich noch lange kein Fan von Gewalt. Wenn ich ein Unrecht sehe, gehe ich dazwischen. Ich hätte jedem anderen auch geholfen.“

„Ach ja?“ Er schlug in die Hände, und sie zuckte zusammen. „Na wenn das so ist, dann versteh doch, dass ich gerne mehr über das Mädchen erfahren möchte, das nachts in einer gefährlichen Stadt durch die Straßen zieht, den Bösen einen Denkzettel verpasst und irgendwelche ‚dahergelaufenen Kerle‘ rettet. Du hast mich gerettet, da ist es doch nur normal, dass ich ein wenig über dich wissen möchte, oder?“

Eines musste Chandra ihm lassen. Er war hartnäckig und mit spielerischer Leichtigkeit hatte er es geschafft, ihre Verärgerung durch Amüsement zu ersetzen. „Benutz nicht meine Argumentation gegen mich“, warnte sie, doch an ihren Mundwinkeln zuckte ein Grinsen. „Vor fünf Minuten wolltest du mich noch hier stehen lassen, als ich dasselbe zu dir gesagt habe. Woher der plötzliche Sinneswandel?“

Nun strich er sich durchs Haar. „Ich muss mich für mein altes Ich von vor fünf Minuten entschuldigen. Deine Anwesenheit hat es nervös gemacht. Jetzt wirst du mich nicht so schnell los.“ Er wartete auf eine Antwort, doch tatsächlich war sie sprachlos. „Also, haben wir einen Deal?“, fragte er.

Hinterher wusste Chandra auch nicht mehr genau, wieso sie zugesagt hatte. Die meisten anderen hätte sie stehen gelassen, sie hätten sie nicht einmal genug interessiert, um ihre Neugier zu wecken. Doch der junge Mann vor ihr rief etwas in ihr hervor, das ihr fremd war.

Interesse. Doch woran? An ihm – an seiner Person? Interesse an dem, was er ihr erzählen könnte?

Ihr war bewusst, dass er nicht aus Pyritus kam. Weder sah er so aus – sie auch nicht unbedingt, aber ihre lose Zunge sprach Bände, was das anging – noch schien er viel über Pyritus zu wissen. Sonst würde er sich kaum um diese Zeit alleine in so einem verlassenen Viertel umhertreiben. Es sei denn … er wusste sehr wohl über Pyritus Bescheid und war ganz bewusst hier. Und genau das war der Punkt, der ihr Interesse entfachte. Er war kein dahergelaufener Trottel, der zufällig an zwei Gauner geraten war.

Nein, der Fremde hier kam nicht aus Pyritus, aber er war sehr bewusst hierhergekommen, da war sich Chandra sicher.

„Na gut, wir haben einen Deal. Du erzählst mir etwas, das ich wissen will, und ich sage dir, was du wissen willst“, stimmte sie zu.

Natürlich hatte sie nicht vor, ihm irgendetwas zu erzählen. Das Geheimnis, das sich um ihre Person rankte, war ein zu Wertvolles, um es ohne Bedacht zu teilen. Allerdings musste er das ja nicht wissen.

„Schön“, lächelte er. „Kennst du ‘nen guten Ort, an dem man ungestört reden kann?“

Erst jetzt wurde ihr wieder richtig bewusst, dass sie noch immer in dem schwach beleuchteten Hinterhof der Gasse standen, um sich nichts als die Fassaden verlassener Häuser. Sie verschränkte die Arme, als sie merkte, wie frisch es mittlerweile war.

„Ist dir nicht kalt in dem Aufzug?“, fragte ihr Gegenüber und betrachtete sie mit hochgezogener Augenbraue.

„Nein“, sagte sie schnippisch und ignorierte seine Blicke. „Und es gibt hier nicht viele Orte, um gut reden zu können. Daher schlage ich vor, dass wir zu mir nach Hause gehen. Natürlich nur, wenn du keine bösen Absichten hegst?“

Das ließ ihn lachen. „Ich und böse Absichten? Niemals!“ Seine Worte klangen einen Hauch ironisch. „Ich bin doch in dieser ganzen Sache das Opfer. Aber wenn ein schönes Mädchen mich zu sich nach Hause einlädt, sage ich nicht Nein.“

Darüber konnte Chandra nur die Augen verdrehen. Glaubte er etwa, seine Worte würden sie erweichen? „Wie gesagt, bilde dir bloß nichts darauf ein. Du solltest es nicht wagen, dir zu viel herauszunehmen. Bei mir warten zwei kampffreudige Pokémon, die schon so manchen unhöflichen Gast zur Tür rausgeprügelt haben.“

Er nickte und schenkte ihr abermals ein charmantes Lächeln.

Chandra drehte sich um, ehe sie es sich zu genau ansehen konnte, und lief los. „Na dann, auf geht’s.“ Sie hörte, wie er ihr folgte.

„Dürfte ich vielleicht noch erfahren, wie meine charmante Retterin heißt?“

Nochmals verdrehte sie die Augen, wenn auch mit dem Anflug eines Lächelns. „Ich bin Chandra.“

„Schöner Name. Ich heiße Zayn.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Überarbeitete Version vom 30.12.2023
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