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Der Schatten in mir

von

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Das Ende des Schweigens

Nach einer weiteren Schmuseeinheit mit ihren Pokémon und ein paar aufbauenden Worten von Zayn fühlte Chandra sich weitgehend gewappnet, ihm endlich einige Antworten auf seine vielen Fragen zu geben. Sie hatten sich beide auf die Couch gesetzt und Chandra hatte sich zur Hälfte in die kuschelige Wolldecke eingewickelt, mit der Zayn die Nacht zuvor noch bedeckt gewesen war, was sie aber geflissentlich ignorierte. Die Decke gab ihr das Gefühl, geschützt zu sein vor der grausigen Realität, der sie sich nun wieder bewusstwerden musste.

Sie vertraute Sunny und Lunel mehr als alles andere und wenn die beiden Zayn vertrauen, dann tat sie dies nun auch. Dies bedeutete aber natürlich nicht automatisch, dass es ihr leichtfiel, ihm von Dingen zu erzählen, die zu erzählen sie noch nie gewagt hatte. Es war, als hätte ihr Gewissen einen dubiosen Gegenpart, der ihr weismachen wollte, dass es falsch war, die Leichen ihrer Familie aus dem Keller zu holen, doch im Grunde handelte es sich dabei lediglich um ihre Angst, was Ray mit ihr anstellen könnte, wenn er davon erfuhr. Er war jedoch nicht hier und mittlerweile konnte es kaum noch schlimmer werden – dachte Chandra zumindest zum damaligen Zeitpunkt.

„Also, ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen soll, zu erzählen“, gestand sie. „Es ist ziemlich viel und nicht leicht, darüber zu reden.“

„Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Ich bleibe hier und höre dir zu“, antwortete Zayn lächelnd, womit er ihr ein wenig Mut machte.

Es war wohl eine gute Idee, eine Geschichte chronologisch und von Anfang an zu erzählen. Daher fing Chandra einfach mit dem ersten an, das ihr in den Sinn kam, denn wenn sie zu lange darüber nachdenken würde, wuchs die Gefahr, am Ende doch noch einen Rückzieher zu machen.

„Weißt du, Ray ist eigentlich nur mein Halbbruder, wir haben nicht dieselbe Mutter. Und er ist daher auch um einiges älter als ich – ich bin erst 18 und er schon 27. Vielleicht verstehst du jetzt, wieso ich mich in seiner Gegenwart wie ein kleines, dummes Kind fühle, schließlich war ich ja nie etwas anderes. Ray stammt aus einer früheren Beziehung unseres Vaters, ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was mit seiner Mutter ist, denn Ray lebte schon bei unserem Vater, als dieser meine Mutter kennenlernte. Sie waren zwei Jahre zusammen, da wurde ich geboren, und nach einem weiteren Jahr verließ mein Vater meine Mutter und mich von heute auf morgen. Er nahm Ray wieder mit sich und weg waren sie. Ich habe natürlich überhaupt keine Erinnerung an damals, dementsprechend kannte ich die beiden danach nur noch von Fotos.

Aufgewachsen bin ich in Emeritae, wo ich mit meiner Mutter alleine lebte. Emeritae ist zwar ein kleines Dorf, doch das Leben dort war angenehm, ich hatte eine schöne Kindheit. Meine Mutter war ein herzensguter Mensch, sehr fürsorglich und liebevoll und sie versuchte, mich stets glücklich zu machen, obwohl wir nicht viel Geld hatten.“ Sie sah, dass Zayn ein wenig lächelte bei ihren Worten, doch das stimmte sie nur noch trauriger – er konnte ja nicht ahnen, wie die Geschichte weiterging

„Ich ging in Emeritae sogar ein Jahr lang in eine kleine Schule“, fuhr sie fort. „Das war wohl die schönste Zeit in meinem Leben, danach ging es nämlich steil bergab. Ich habe meine Mutter öfters gefragt, was mit meinem Vater und Bruder sei, doch sie hatte mir immer nur gesagt, dass die beiden gegangen und nun weit weg seien. Ich war ein unwissendes Kind, also akzeptierte ich es so. Ich war sieben Jahre alt, als sie eines Tages zu mir kam und mir aus heiterem Himmel verkündete, dass wir meinen Vater und Ray besuchen gehen würden. Das war total unwirklich, sie nannte mir auch keinen Grund, aber ich hinterfragte es natürlich nicht. Viel eher war ich Feuer und Flamme, sie endlich richtig kennenzulernen und endlich einen Bruder zu haben. Rückblickend der bescheuertste Gedanke überhaupt, aber na ja. Ich war nie aus Emeritae rausgekommen und wusste demnach nichts über das Drecksloch Pyritus. Dort jedenfalls lernte ich dann zum ersten Mal richtig meinen Vater und meinen Bruder kennen. Und was soll ich sagen? Sie wirkten echt nett und na ja, interessiert.“

In der Tat war Ray schon als Sechzehnjähriger ein hervorragender Schauspieler gewesen, nur dass das Chandras damaliges kindliches Ich natürlich nicht hatte ahnen können. Genauso wenig, wie sie hatte wissen können, wie verdorben er bereits durch den Einfluss seines – ihres – Vaters gewesen war.

„Ich ging davon aus, dass wir vielleicht endlich eine Familie sein könnten. Meine Hoffnungen stellten sich jedoch ziemlich schnell als vergebens heraus. Nach nur einer Woche ist mein Leben in sich zusammengestürzt. An jenem grauenvollen Tag war ich unterwegs gewesen mit Ray. Ich weiß gar nicht mehr, was wir gemacht haben, aber eigentlich spielt das auch keine Rolle, er sollte mich ja bloß von der Wohnung meines Vaters fernhalten.“ Sie stockte in ihrer Erzählung, denn nun kam sie zum schwierigsten Part. Es fühlte sich an, als würde sich ihr Herz zu einem Klumpen aus Schmerz zusammenziehen. Entschlossen schlug sie die Zähne aufeinander, zwang sich, fortzufahren, bevor sie bittere Tränen weinen würde.

„Als wir abends zurück kamen zur Wohnung meines Vaters, war alles voll mit Polizei und Krankenwagen. Mein Vater hatte meine Mutter ein wenig vorher tot aufgefunden. Sie …“ Chandra richtete den Blick starr nach vorne, wollte Zayns Reaktion auf ihre Worte gar nicht sehen. „Sie hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt, lag tot in der Badewanne in ihrem eigenen Blut. Ganz klassisch.“

Vereinzelte, heiße Tränen fanden nun doch den Weg über ihre Wangen. Sie sollte Trauer fühlen, als sie an diesen Tag zurückdachte, doch vielmehr empfand sie einen tiefen, sie schier verschlingenden Hass. Ihre Worte waren getränkt von diesem Hass, als sie weitersprach. „Natürlich ging jeder davon aus, dass sie sich umgebracht hatte. Immerhin waren an der Klinge nur ihre Fingerabdrücke und jeder hatte ein Alibi für die Zeit des Geschehens. Und wie hätte es auch anders sein sollen? So einen Suizid kann man natürlich nicht fälschen.“ Sie verdrehte die Augen. „Aber damit nicht genug. Man fand in ihren Sachen sogar einen Abschiedsbrief und Tabletten. Irgendwelche Psychopharmaka. Das Verrückte war jedoch, dass man sogar in unserem Zuhause in Emeritae solche Tabletten fand, und überall waren ihre Fingerabdrücke dran. Es soll wohl sogar einen Arzt gegeben haben, der bezeugen konnte, ihr diese Tabletten verschrieben zu haben. Der Brief sprach auch nur dafür, dass sie höchst depressiv gewesen war und sich deswegen umgebracht hatte. Sie hätte nicht länger damit leben können, mir eine schlechte Mutter zu sein und sie könnte dieses leere, triste Leben nicht mehr führen. Ich wäre besser dran bei meinem Vater. Das sollen ihre Worte gewesen sein. Doch bis heute glaube ich kein einziges Wort davon. Ich weiß immer noch nicht, wie sie es geschafft haben, alle hinters Licht zu führen, doch im Grunde sah es ja wirklich nach einem Selbstmord aus, nichts sprach für Mord. Aber das kann ich nicht glauben. Ich war zwar noch sehr jung, doch ich erinnere mich noch an sie. Sie war immer ein lebensfroher Mensch und ganz sicher hat sie nicht gedacht, dass sie mir eine schlechte Mutter sein könnte. Ich kann und will nicht glauben, dass das alles nur gefaked war, nein. Aber damals musste ich erst einmal mit diesem Wissen leben. Meine Mutter war tot und ich war alleine – na ja, bei meinem Vater und Ray. Die sich beide sehr bestürzt über ihren Tod gezeigt haben. Sie haben jedoch gelogen – genauso, wie sie es heute noch tun, wenn sie mal nett zu mir sein müssen.“

Nach diesem langen Redefluss wagte Chandra nun doch wieder den Blick zu Zayn. Sie sah mittlerweile schon wieder furchtbar aus; zumindest fühlte es sich so an. Warm war ihr Gesicht geworden und ihre Augen brannten aufgrund verschmierten Makeups.

Zayn für seinen Teil sah auch nicht gerade erheitert aus. Er sah sie mit großen Augen an, ansonsten jedoch war seine Miete starr. Ihr fiel auf, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Statt sie weiteres zum Tod ihrer Mutter zu befragen – wofür sie ihm dankbar war –, fragte er plötzlich: „Ist dein Vater immer noch hier in Pyritus?“

„Ja.“

„Aber du hast ihn zuvor noch kein einziges Mal erwähnt.“

„Er spielt gerade auch keine allzu große Rolle, frag mich nicht, warum. Hab ihn schon länger nicht mehr gesehen. Vielleicht agiert er nur noch durch Ray“, rätselte Chandra. „Aber lass mich einfach weitererzählen, vielleicht erschließt sich dann das ein oder andere.“

Er nickte, erstaunlicherweise noch sehr gefasst.

„Die Zeit nach dem Tod meiner Mutter war sehr komisch. Mein Leben hatte sich komplett verändert. Ich lebte nicht mehr im friedlichen Emeritae, sondern im wilden Pyritus. Es war merkwürdig ohne meine Mutter, schließlich kannte ich ein Leben ohne sie nicht. Ich verstand nicht, wieso sie mich verlassen hatte, musste mein neues Leben aber akzeptieren. Mein Vater und Ray waren nett zu mir und behandelten mich gut, ich konnte sogar auf eine gute Schule gehen und das bedeutet in Pyritus sehr viel. Aber wirklich wohl fühlte ich mich bei ihnen nie. Und außer, um zur Schule zu gehen, ließen sie mich auch kaum raus, behielten mich fast schon akribisch im Auge. So, als könnte ich ihnen abhandenkommen. Heute macht das Sinn, damals jedoch verstand ich es nicht.  Nun ja, es blieb dann erst mal eine Weile ruhig, drei Jahre verstrichen, in denen für mich nichts Besonderes passierte. Ich lernte, weiterzuleben – ohne meine Mutter. Ich war ein Kind, das eigentlich keines mehr hatte sein sollen. Als ich schließlich zehn Jahre alt war, hörte ich zufällig ein Gespräch meines Vaters, das wohl nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war.“

Chandras Lippen formten sich zu einer bitteren Kopie eines Lächelns, als sie daran zurückdachte. Ihr Blick verdunkelte sich bei den Erinnerungen, dann fuhr sie fort.

„Weißt du, mein Vater war früher ein Forscher. Er erforschte die Pokémon und ihr Wesen – woher sie ihre Stärke gewannen. Wahrscheinlich auch, was sie stärker machen konnte. Und na ja, seien wir mal ehrlich, die meisten Wissenschaftler haben doch, zumindest, wenn sie ihre Arbeit zu ernst nehmen, einen an der Klatsche. Das war und ist jedenfalls bei meinem Vater so. Aber egal, zurück zu dem Gespräch. Damals wusste ich natürlich nicht viel von seiner Arbeit, aber ich belauschte ein Gespräch von ihm und einem „Arbeitskollegen“. Sie sprachen davon, dass ich schon jetzt verdammt widerspenstig sei und zu misstrauisch – das stimmte wohl, immerhin wurde ich mit ihm und Ray einfach nicht richtig warm, es blieb immer komisch – und dass das zu Problemen führen könnte, wenn ich älter würde. Schließlich könnte ich anfangen, die falschen Fragen zu stellen, könnte Dinge herausfinden. Herausfinden, wie meine Mutter wirklich gestorben war.“

Sie machte eine kurze Pause und sah, dass Zayn sie höchst neugierig betrachtete, aber auch irgendwie etwas irritiert aussah. Daher spannte sie ihn nicht länger auf die Folter, sondern sprach weiter.

„Mein Vater war sich sehr sicher, dass ich ein ängstliches Kind sei, das er leicht manipulieren könne, und betrachtete diese Möglichkeit nicht als realistische Gefahr. Sein Freund hatte zu ihm gemeint, dass er mich ja auch einfach aus dem Weg schaffen könnte, so wie er es bei meiner Mutter getan hatte. Daraufhin hatte mein Vater gesagt, dass ich für ihn zu wichtig sei und er erst herausfinden müsse, ob ich nützlich für seine Pläne sein könnte – und dafür müsste ich am Leben bleiben.“ Chandra zog einmal scharf Luft ein, um einen wütenden Tränenreiz zu unterdrücken. „Du verstehst, ich sitze also nur deshalb noch hier, weil ich einen wichtigen Nutzen für ihn hatte und habe. Nicht, weil er mich liebt. Nein. Niemand hat mich jemals geliebt bis auf meine Mutter. Und die haben sie mir genommen.“

Da war es wieder, dieses destruktive Gefühl des Hasses. Sie hatte nie Liebe von ihrem Vater bekommen, also war sie auch nicht in der Lage, so ein gütiges Gefühl für ihn empfinden zu können. Hass war schlicht und ergreifend die bessere Antwort auf seine Taten.

„In jener Situation damals setzte etwas in mir aus. Ich war erst zehn, aber realisierte, was diese Worte bedeuteten. Meine Mutter war nicht gestorben, weil sie nicht mehr hatte leben wollen. Sie, diese Bastarde, haben sie umgebracht und es so aussehen lassen, als hätte sie sich umgebracht. Doch damals dachte ich nicht viel, ich fühlte einfach nur große Angst. Dann rannte ich los, aus der Wohnung nach draußen. Natürlich war ich weder leise noch unauffällig gewesen, aber ich hatte ohnehin keine Chance. Ich war ein kleines Kind und sie die Erwachsenen. Mein Vater holte mich ein und schleifte mich zurück. Es war, als hätte sich bei ihm ein Schalter umgelegt. Er gab sich keine Mühe mehr, mir den lieben Vater vorzugaukeln, und das war nicht nur bei ihm so.“

Obwohl Chandra sich nie wirklich wohl gefühlt hatte bei ihm und Ray, erschien ihr dieser Tag doch wie der größte Verrat, den man je an ihr begangen hatte. Dabei war sie niemals verraten worden – sie war lediglich ein naives Kind gewesen, das nichts gewusst hatte.

„Kurz darauf kam Ray nach Hause“, sprach sie weiter. „Ich war verzweifelt und dachte, vielleicht ist er ja genauso ahnungslos wie ich und weiß gar nicht, was unser Vater für ein schrecklicher Mensch ist. Also klammerte ich mich an ihn und flehte ihn an, mir zu helfen. Na ja …“ Erneut unterbrach sie sich und ballte die Hände zu Fäusten. Es war unmöglich, festzulegen, wem der beiden der größere Hass galt. Wahrscheinlich Ray. Er hatte eine Wahl gehabt. Musste er doch, oder? Chandra wollte nicht wahrhaben, dass er gezwungen gewesen war, zu einem Ebenbild seines Vaters zu werden, das aber noch viel grausamer und herzloser war. Nein – er hatte freiwillig diesen Weg eingeschlagen, und das war unverzeihlich.

„Ray war mit einem Male ebenso kalt wie unser Vater, hat mich von sich gestoßen und ausgelacht. Es war keine Güte in ihm, nichts davon – falls jemals so etwas in ihm existiert hatte. Sie sagten mir, dass es niemanden gab, der mir helfen könnte. Denn meine Mutter war tot und ich ganz alleine. Aber wenn ich brav sein und ihnen keinen Ärger machen würde, würden sie mir nichts tun. Also war ich brav, ich hatte ja keine Wahl.“

Zayn an ihrer Seite schüttelte den Kopf. „Bitte sag mir, dass du bald fertig bist.“

„So schlimm?“

„Ja. Also, ich meine, du war erst zehn. Was ist bitte noch alles Schreckliches passiert?“ Er beugte sich nach vorne und starrte mit ernster Miene zu Boden. Chandra selbst fand ihre eigene Geschichte gar nicht mehr so schlimm, aber für jemand Außenstehendes musste sie wohl recht schockierend sein.

„Ich habe dir gerade mal die Hälfte erzählt. Aber nun komme ich zu den wirklich interessanten Dingen“, versprach sie, woraufhin Zayn wieder aufsah.

„Diesen Pokémon?“

Sie nickte. „Da ich nun wusste, dass sie Dreck am Stecken hatten und sie dies nicht mehr vor mir verstecken konnten, zeigten sie mir ihr größtes Geheimnis und ihre größte Schandtat. Sie wollten Pokémon stärker werden lassen und waren der Meinung, dass Gefühle Pokémon nur schwach machen und behindern. Ein wahrlich starkes Pokémon sollte keine Liebe fühlen, denn Liebe ist eine Schwäche. Logisch, sie hatten sich ja auch jeglicher Liebe entsagt“, lächelte sie verbittert. „Ein Pokémon darf keine Zweifel im Kampf haben, darf keine Angst vor seinem Gegner haben, keine Scheu, ihn zu verletzen. Ein Pokémon sollte auch nicht kämpfen, weil es dies für seinen Trainer gerne macht, es sollte aus einzig allein dem Grund kämpfen, weil es dazu geschaffen wurde, zu kämpfen und zu zerstören. Pokémon sind Werkzeuge und ein Werkzeug sollte sich nicht von dummen Gefühlen behindern lassen. Schließlich kann daraus keine echte Stärke entstehen. Und ein Pokémon kann nur zu voller Stärke heranwachsen und furchteinflößend sein, wenn es all das vergessen hat, was ein normales Pokémon zu einem fühlenden, lebenden und einzigartigen Wesen macht. Und wie erzeugt man am besten den Drang nach Kampfeswille und Zerstörung? Mit den destruktivsten Gefühlen überhaupt. Mit Wut und mit Hass. Und es darf nichts geben, was diese schmälern oder ersetzen könnte, also musste der ganze andere Kram verschlossen werden, wenn man ihn schon nicht auslöschen kann. So kam es dann irgendwann zu dieser künstlichen Dunkelheit um die Herzen der Pokémon herum.

Aber so weit waren sie nicht von Anfang an, es lief viel schief bei ihren Experimenten. Damals jedenfalls zeigten sie mir zum ersten Mal einige dieser Pokémon. Es war ihnen bereits gelungen, ihnen diese Dunkelheit einzupflanzen und ihre guten Gefühle wegzusperren – und ich habe bis heute keine Ahnung, wie sie das machen –, aber es verschlang diese Pokémon bei lebendigem Leibe. Einige sind im Laufe der Zeit einfach eingegangen wie Pflanzen, die man vergessen hatte, zu gießen. Andere drehten völlig durch, haben sich entweder in Kämpfen gegenseitig schlimm verletzt oder gar umgebracht, einige haben sich selbstverletzt, bis sie gestorben sind. Etliche unschuldige Pokémon mussten ihr Leben lassen.“

Mit Tränen getränkten Augen sah Chandra hinüber zu Sunny und Lunel, die beide dicht aneinander gekuschelt auf einem der Sessel lagen und gespannt zuhörten. Nicht auszumalen, was geschähe, wenn den beiden so ein Schicksal wiederfahren würde.

„Wie sich herausstellte, hatte meine Anwesenheit eine beruhigende, fast schon heilende Wirkung auf die Pokémon. Es heilte sie nicht in dem Sinne, dass die Dunkelheit verschwand, aber sie beruhigten sich und wollten nicht mehr alles und jeden zerstören. Bereits damals konnte ich diese Finsternis an ihnen sehen und auch in ihnen spüren, aber es erzeugte in mir keine wirklichen Schmerzen. Ich wurde einfach nur sehr traurig bei ihrem Anblick und wusste, dass etwas nicht stimmte. Damals dachte ich noch, das wäre normal. Mein Vater und mein Bruder machten mir klar, dass ich niemandem von den Pokémon erzählen durfte. Da ich nicht auch tot in der Badewanne enden wollte und viel zu verängstigt war, sagte ich zu allem Ja. Und da sie nun nicht mehr nett zu mir sein mussten, wollten sie mich auch nicht länger bei sich wohnen haben. Sie steckten mich eiskalt in ein Heim hier in Pyritus. Jetzt denkst du dir vielleicht, dass das doch merkwürdig ist, schließlich wollten sie mich ja im Auge behalten, doch ich vermute, das taten sie die ganze Zeit. Mein Vater hatte ja schon damals viele Kontakte in der Stadt, wahrscheinlich hat er den Angestellten des Heims Geld gegeben dafür, dass sie mich im Auge behielten und aufpassten, dass ich keine Dummheiten machte.

Ich fühlte mich oft sehr beobachtet, konnte kaum einen Schritt gehen, ohne kontrolliert zu werden. Aber damit konnte ich leben, es war mir ehrlich gesagt egal. Wenn ich mich recht erinnere, war ich damals ein verdammt emotionsloses Kind. Ich hatte alles verloren und da ich nicht glaubte, etwas gegen meine Familie ausrichten zu können, akzeptierte ich dies und lebte vor mich hin. Ganze fünf Jahre lebte ich in diesem Heim, hatte dort Schulunterricht und wurde älter, verstand mehr. Das wirklich Schlimme an der Zeit war, dass ich anfing, mich wie ein Freak zu fühlen. Ich weiß nicht, ob die Betreuerinnen den anderen Kindern Negatives über mich erzählten, vielleicht lag es auch an meinem Nachnamen, der bekannter wurde, keine Ahnung. Man hatte mich schon zu Beginn eher gemieden, doch das wurde noch schlimmer, als ich in Anwesenheit anderer diese finsteren Pokémon sah. Mittlerweile hatten mein Vater und Bruder sogar einen Namen für sie gefunden. Cryptopokémon. Merkwürdige Bezeichnung, wenn du mich fragst, aber wohl passend. Jedenfalls, die Jahre vergingen und diese Pokémon wurden etwas häufiger. Wie früher wurde ich von tiefer Trauer erfüllt, wenn ich sie sah. Sie machten mir auch Angst, denn sie wurden immer düsterer. Aber keiner verstand meine Reaktion, jeder schien blind für diese Dunkelheit und hielt mich für verrückt, wenn ich empfindlich auf so ein Pokémon reagierte. Also wurde ich noch stärker gemieden, keiner wollte etwas mit mir zu tun haben.

Tatsächlich besuchten mich mein Vater und Ray manchmal im Heim, aber auch nur, um meinen Zustand abzufragen und herauszufinden, wie es mit meiner Kooperationsbereitschaft stand. Und in der Tat wurden über die Jahre hinweg die Besuche meines Vaters seltener, Ray kam deutlich öfters vorbei. Ich erfuhr immer mal wieder von ihren Fortschritten mit den Cryptopokémon. Sie forschten viel an ihnen, versuchten herauszufinden, wie sie die Sterberate verringern und die Pokémon weniger wahnsinnig machen konnten. Es gab viele Tests und einzelne Pokémon endeten als Versuchsobjekte, das führte aber auch nur zu mehr unnützen Toden. Es gelang ihnen zwar, die Lebensdauer zu verlängern, aber die Pokémon waren selbst nach mehreren Jahren immer noch viel zu unkontrolliert aggressiv, sind oft noch elendig dahingesiecht. Verglichen mit heute gab es vor vier Jahren noch relativ wenig Cryptopokémon, das hast du ja selbst gemerkt. Sie ließen immer nur vereinzelte Cryptopokémon nach draußen, um ihre Reaktion auf die Umwelt und gewöhnliche Pokémon zu testen. Na ja, irgendwie schienen sie nicht weiterzukommen in ihrer Arbeit. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt.“

Nach diesem langen Redeschwall stoppte Chandra erst einmal und warf einen Blick auf Zayn. Mittlerweile hatte er sich wieder zurückgelehnt und starrte stumm gerade aus. Er war ein wenig blass im Gesicht, aber das verwunderte Chandra auch nicht angesichts dieses neuen Wissens. „Mir war nicht klar, dass so viele Pokémon gestorben sind für diese kranken Versuche“, sagte er monoton.

„Es müssen hunderte gewesen sein“, erwiderte Chandra.

„Schrecklich. Erzähl weiter. Wie kam es zu diesem Zuwachs an Cryptopokémon?“

„Ich weiß es auch nicht genau. Mit 15 holten sie mich wieder aus dem Heim, vermutlich hatten sie die Befürchtung, dass ich mich nun doch verplappern könnte, immerhin begriff ich nun deutlich besser, was sie getan hatten und taten. Um dies absolut zu unterbinden, schlug Ray mir einen Deal vor. Ja, Ray, denn mein Vater war irgendwie immer seltener anwesend und Ray rückte an seine Stelle. Er war ja mittlerweile alt genug und bereits der Mistkerl, der heute hier war. Jedenfalls, der Deal wurde zu einem Vertrag. Ray erzählte mir, dass ich sehr wichtig für ihn sei und er mich deshalb nicht einfach aus dem Weg schaffen könne.“

Zayn unterbrach sie, indem er einwarf: „Auch sehr charmant, dir das einfach so ins Gesicht zu sagen.“

Sie zuckte die Schultern. „Er ist nicht seiner Nettigkeit wegen zum Boss der Stadt geworden. Er nannte mir keinen Grund für meine Wichtigkeit, sagte mir nur, dass ich relevant sei für seine Pläne. Und deswegen wollte er, dass es mir gut ging. Niemand sollte mir in Pyritus zu nahekommen, er würde mir jeglichen Schutz gewähren und dafür sorgen, dass ich in einer Stadt wie dieser das bestmöglichste Leben führen könnte. Ich würde in einer eigenen Wohnung leben, mehr als genug Geld von ihm bekommen und er würde mich nicht mehr belästigen, als es meine Gegenleistungen verlangen würden. Und Gegenleistungen gab es genügend. Erstens, ganz klar, ich müsste schwören, niemandem jemals etwas von meinem Wissen über Cryptopokémon zu erzählen, niemandem, der es nicht wissen sollte, etwas über ihn und unseren Vater zu erzählen. Natürlich war auch der Tod meiner Mutter ein absolutes Tabuthema. Zweitens, ich dürfte die Stadt nicht verlassen, bis er es mir vielleicht irgendwann einmal erlauben würde. Er testete mich nämlich bei einem neuen Cryptopokémon und irgendwie gelang es mir, die Dunkelheit von dem Pokémon zu nehmen. Ich konnte sein Herz wieder öffnen und es sozusagen heilen. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Aber für Ray war das Grund genug, mich in seiner Nähe behalten zu wollen, damit ich nicht fliehen und mich mit dieser Fähigkeit gegen ihn stellen könnte. Was dann auch der dritte Punkt wäre; mich nicht gegen ihn wenden.

Gegenleistung Nummer Vier ist dann wohl die wichtigste. Ich würde damit einverstanden sein, seinen Worten stets Folge zu leisten, das tun, was er von mir verlangt. Tja, und damit kann alles gemeint sein. Solche Banalitäten wie, ihm die Tür zu öffnen, wenn er klingelt, oder aber auch, mich regelmäßig untersuchen zu lassen, wenn er das wünscht, irgendwelche Medikamente zu nehmen …

Hatte ich eine Möglichkeit, abzulehnen? Nicht wirklich. Umbringen konnte er mich nicht, aber er hätte schon irgendwelche Mittel gefunden, um mich zur Kooperation zu zwingen, da kannst du dir sicher sein. Mir war damals schon klar, dass aus ihm ein absolutes Monster geworden war. Er sah in mir nicht seine kleine Schwester, wenn ich vor ihm saß. Ich war lediglich ein Mittel, ein Objekt, ein Werkzeug – was auch immer. Und ein notwendiges Übel, das er eben kontrollieren musste. Ich war wichtig und ich könnte gefährlich werden. Mit dem Vertrag gaukelte er mir eine Freiheit vor, indem er mir jegliche Freiheit nahm. Doch er war gnädig. Er gab mir sogar die Aussicht, eines Tages wirklich frei zu sein. Wenn er mich nicht mehr bräuchte und sich dieses Problem mit dem Heilen der Cryptopokémon erledigt hätte, könnte ich, wenn ich bis dahin zu seinem Wohlwollen gelebt hätte, die Stadt und ihn verlassen. Doch breche ich eines meiner Versprechen und würde abhauen, dann würde er seine Freundlichkeit vergessen, mich finden, wegsperren und umbringen, sobald ich meinen Nutzen erfüllt haben würde. Tja, ich stehe also schon am Abgrund, weil ich dir das erzählt habe.“

„Hey“, warf Zayn ein und sah sie bestimmt an, „es ist gut, dass du mir das erzählst. Sehr gut sogar.“

„Hm, vielleicht, keine Ahnung.“ Chandra sah auf ihre Hände, die nervös die Decke umklammerten. „Im Moment fühlt es sich nicht unbedingt gut an, eher verdammt falsch.“

„Ja, weil man dir über Jahre hinweg gesagt hat, dass es falsch sei. Aber wenn du dir so sicher wärst, dass es falsch ist, mir von diesem Unrecht zu erzählen, hättest du es mit Sicherheit nicht so schnell getan.“

Gut möglich. Bislang hatte Chandra niemals darüber nachgedacht, jemandem von ihrer Vergangenheit oder diesen Grausamkeiten zu erzählen. Sie war sich mehr als sicher gewesen, dieses Wissen mit ins Grab zu nehmen. Allerdings hatte es vor Zayn auch noch keinen gegeben, der diesbezüglich mit Nachdruck Interesse an ihr gezeigt hatte. Das Vertrauen ihrer Pokémon war der Grund, dass es ihr nun verhältnismäßig leichtgefallen war. Hätte Ray geahnt, dass sie bei der richtigen Person leicht nachgeben würde, hätte er sie wahrscheinlich gleich eingesperrt.

„Ich war noch nicht ganz fertig. Wie du dir ja denken kannst, habe ich seinem Deal zugestimmt und einen Vertrag mit diesen Inhalten unterschrieben. Das war damals die beste Möglichkeit auf ein halbwegs normales Leben für mich. Und Ray war mehr als zufrieden, mich damit an der Leine zu haben. Er besorgte mir diese Wohnung hier und überweist mir seitdem jeden Monat einen mehr als großzügigen Geldbetrag. Beschweren kann ich mich nicht. Ich bin damit zwar verdammt käuflich, aber immerhin am Leben.“

„Du wohnst alleine, seit du 15 bist? War das nicht anfangs schwer?“, fragte Zayn skeptisch.

Sie musste schmunzeln. „Na ja, es war etwas gewöhnungsbedürftig, normal ist es ja nicht, aber Ray hatte auch keine Probleme, das zu regeln. Anfangs sah er öfters mal vorbei, um sicherzustellen, dass ich klarkam, bei Problemen jeglicher Art konnte ich mich immer an ihn wenden. Also gewöhnte ich mich daran und fing an, das Beste daraus zu machen. Mit 16 lernte ich Devin kennen – du hast ihn heute Mittag getroffen. Der erste Freund, den ich in Pyritus hatte und bis heute der einzige. Damals hatte ich es satt, ein kleines Mädchen zu sein, das man herumschubsen und auslachen konnte. Ich wollte nicht länger der unbeliebte Außenseiter sein, nie wieder schwach sein. Aber in aller erster Linie wollte ich mich einfach ablenken und alles vergessen, war mir widerfahren war. Und dies wollte ich umso mehr, als sich diese Cryptopokémon auf einmal vermehrten und alles viel schlimmer wurde.“

Zayn wirkte verwundert und interessiert zugleich; jetzt kam der interessanteste Teil.

„Ich weiß nicht, was passiert ist, aber kaum hatte ich diesen Vertrag mit Ray abgeschlossen, änderte sich etwas an diesen Pokémon. Sie wurden ruhiger und kontrollierter. Sie waren genauso grausam und dunkel wie zuvor, doch sie lebten – auf ihre dunkle Weise. Sie verstarben nicht mehr und neigten auch nicht mehr dazu, sich schier blind umzubringen. Sie waren endlich perfekt, um sie unter die Masse zu mischen. Bis heute frage ich mich, ob es etwas mit mir zu tun hat. Aber ich weiß es nicht und Ray verrät mir nichts. Eigentlich war ich nie dabei, wenn sie an den Cryptopokémon gearbeitet haben. Also musste ich das alles so hinnehmen. Cryptopokémon wurden mit der Zeit immer häufiger in Pyritus, normale Menschen hatten plötzlich welche, ich sah sie in Kämpfen und hörte viel mehr von ihnen. Und parallel dazu wurde mein Bruder immer bekannter in Pyritus, er machte sich einen Namen durch das Geschäft mit diesen Pokémon, zerschlug sogar irgendwelche mittelmäßigen Verbrechergrüppchen, da er keine Konkurrenz haben wollte. Diese Pokémon verliehen ihm Macht und Ansehen, es gab hin und wieder Journalisten, die Nachforschungen angestellt haben, herausfinden wollten, woher diese Pokémon kamen, aber alle sind sie von der Bildfläche verschwunden. Wenn Ray Menschen mit Geld oder anderen Mitteln nicht zum Schweigen bringen kann, dann lässt er sie verschwinden. Aber die meisten in Pyritus juckt das nicht. Denn Pyritus war immer die Stadt, auf die in ganz Orre nur herabgesehen wurde. Schließlich leben hier nur Halunken und Tagediebe, Menschen ohne Zukunft, Menschen zweiter Klasse – kurzum, wenn du hier lebst, dann bist du bemitleidenswert. Aber die Cryptopokémon gaben den Menschen auf einmal Stärke. Sie verwandelten Pyritus in eine Stadt, vor der man sich fürchten muss. Doch am allermeisten muss man sich vor dem fürchten, der diese Pokémon an die Leute gebracht hat.

Ich stellte mit der Zeit fest, dass wildfremde Menschen mich kannten oder wenn das nicht der Fall war, dann zumindest meinen Bruder. Ich merkte, dass er sein Versprechen hielt, niemand kam mir zu nahe. Mit der Zeit entdeckte ich, dass Ray wirklich ein guter Joker war, wenn es darum ging, mir Freiheiten zu nehmen. Also ließ es sich ganz angenehm leben und ich war gewillt, das, was ich weiß, zu vergessen. Aber leider war alles nicht so einfach. Ich spürte plötzlich nicht mehr nur die Traurigkeit der Cryptopokémon. Es fing das an, was heute kaum mehr auszuhalten ist. Ich begann, dieses Leid und ihren Schmerz zu spüren, als wäre er mein eigener. Anfangs sorgte es nur für leichte Einschränkungen, die aber mit der Zeit immer schlimmer wurden. Ich wollte nicht mehr nach draußen, da ich den Pokémon nicht mehr begegnen wollte, und erzählte Ray davon. Das Ganze war natürlich kein Grund für ihn, etwas zu ändern, aber er versprach, nach einer Lösung zu suchen. Darauf warte ich nun schon seit zwei Jahren. Ich suchte mir meinen eigenen Ausweg.

Ich entdeckte das Nachtleben von Pyritus für mich und stellte fest, dass andere Menschen und Alkohol eine gute Möglichkeit waren, um mit mir, meinem Leben und diesem Schmerz, den die Pokémon an mich weitergaben, klarzukommen. Sehr armselig, dass ich also seit zwei Jahren nichts anderes tue, als mich zu betrinken und mit Männern abzulenken. Ich legte mir einen selbstbewussten, bissigen Charakter zu, um bloß nicht schwach zu wirken. Das klappte sehr gut – Devin kennt mich überhaupt nicht anders und ansonsten traut sich keiner zu nahe an mich heran. Das war die einzige Möglichkeit, seit damals hier zu überleben, denn wenn du in Pyritus nicht schnell erwachsen wirst, hast du keine Chance.“

Abermals atmete sie tief ein, ehe sie verkündete: „Geschafft. Ich glaube, das war’s. Jetzt weißt du fast alles über mich. Also wenn du jetzt doch gehen möchtest, da vorne ist die Tür.“

„Ich möchte nicht gehen“, entkräftete Zayn ihre Worte ohne Umschweife.

Sie musterte ihn und kam erneut nicht umhin, ihn dafür zu bewundern, wie hartnäckig er war. Jetzt hatte sie ihm von all den Gräueln erzählt, die ihr widerfahren waren, und statt dass er seine Sachen nahm und das Weite suchte, saß er völlig ruhig neben ihr. Entweder war er lebensmüde oder aber … Chandra war es einfach nicht gewohnt, dass jemand bei ihr blieb.

„Ich bewundere dich“, holte er sie aus ihren Gedanken. „Für deine Stärke. Du warst so jung, als dir all das zugestoßen ist und trotzdem sitzt du hier und klingst nicht wie jemand, der daran zerbrochen ist. Das könnten nur wenige von sich behaupten.“

„Ich bin nicht stark“, widersprach sie und mit einem Mal war es, als würde ein Damm in ihr brechen, den sie vorher mühsam zurückgehalten hatte. Tränen füllten ihre Augen und liefen kurz darauf über ihr Gesicht. Sie hatte Zayn alles Wissenswerte erzählt und ihre Gefühle dabei ganz gut zurückhalten können, aber innerlich hatte jedes einzelne Worte alte Wunden wieder zum Bluten gebracht. „Ich bin nur gut darin, die Starke zu spielen.“

„Blödsinn.“ Nervös registrierte sie, dass er ein Stück auf sie zu rutschte. „Niemand kann sich stark geben, ohne stark zu sein. Du stehst jeden Tag auf mit dem Wissen, was dir angetan wurde. Du hast die Stärke gefunden, mir davon zu erzählen, dabei kennst du mich kaum. Das schafft niemand auf Dauer, ohne stark zu sein.“

Seinen Worten zum Trotz schluchzte Chandra und hielt sich die Hände vor das nasse Gesicht. Gesagt zu bekommen, dass sie stark sei, verstärkte nur noch das Gefühl der Schwäche. Sie hatte nie etwas anderes getan, als wegzurennen, indem sie sich in Ablenkungen flüchtete oder die Augen vor der Realität verschloss.

Statt sich zu beruhigen, erfasste sie nun ein gewaltiger Tränenreiz. Sie beugte sich nach vorne, als ihr Körper sich bei jedem Schluchzer schüttelte und sie die Decke unter sich mit ihren Tränen tränkte. Die Couch gab rechts von ihr ein wenig nach und an ihren Beinen spürte sie eine leichte Berührung. Anscheinend hatten sich ihre Pokémon zu ihr gesellt, um sie zu trösten, doch im Moment verschaffte das nicht den gewünschten Effekt.

Allein, dass sie vor Zayn weinte – schon wieder – zeugte nur davon, dass sie verdammt schwach war, und sie schämte sich für diese Schwäche. Aber zugleich tat sie dies auch nicht. Es fiel ihr nicht schwer, diese Gefühlsregung vor ihm zu zeigen, obgleich sie ihn nicht kannte.

Sie tat das Erstbeste, was ihr nun in den Sinn kam. „Zayn?“ Trotz verschwommenen Blickes erkannte sie, dass er unsicher schien, wie er mit ihr umgehen sollte.

„Ja?“

„Kannst du mich vielleicht … in den Arm nehmen?“, fragte sie zaghaft.

Überrascht sagte er: „Wenn du das möchtest“, dann überbrückte er die letzte Distanz zu ihr, legte seine Arme um sie und zog sie an sich.

Chandra glaubte nicht, jemals in einer unangenehmeren Situation gewesen zu sein, die sich so gut angefühlt hatte. Wenngleich sie nichts mit ihren Händen anzufangen wusste, weshalb sie sie unbeholfen in sein Hemd klammerte, fühlte sie sich wohl in diesem Zustand. Im nächsten Augenblick erfasste sie wieder ein Schluchzen und sie sah mit Tränenschleiern vor den Augen über seine Schulter.

„Weißt du“, er strich ihr über den Rücken, „Stärke definiert sich nicht dadurch, dass du niemals schwach bist. Du bist stark, wenn du nach jedem Niederschlag wieder aufstehst, weitermachst und dich nicht davon bezwingen lässt.“

Sie war noch ein paar Minuten damit beschäftigt, sich auszuweinen, bevor sie meinte: „Du klingst, als hättest du Erfahrung damit.“

„Ein wenig vielleicht.“

Sie nahm sich vor, ihn zu einem späteren Zeitpunkt danach zu fragen. „Wieso hast du mich umarmt?“

„Du hast mich darum gebeten.“

„Aber du hättest es nicht tun müssen.“

Zayn zuckte mit den Schultern. „Ich kann weinenden Frauen wohl nichts abschlagen.“

Chandra zog noch einmal seinen Geruch in sich auf, dann löste sie sich von ihm. Wohlwissend, wie scheußlich sie aussehen musste, griff sie sich ein Taschentuch vom Tisch und tupfte sich das Gesicht ein wenig sauber. „Ich bin ein schrecklicher Mensch“, seufzte sie.

„Wieso denn?“

„Ich möchte mich nicht mit dem auseinandersetzen, was mir Angst macht oder mich belastet. Ich betäube mich viel lieber, indem ich mich in Annehmlichkeiten flüchte, die mich für eine Weile vergessen lassen, wer ich bin“, sprach sie. Insgeheim dachte sie, dass Ray recht hatte mit seinem Bild von ihr – sie war absolut armselig. Denn als sie Zayn ansah, verspürte sie nicht das Verlangen, mit ihm noch länger über ihre Vergangenheit zu reden. Sie wollte auch nicht alleine in ihr Schlafzimmer gehen, wo Trauer und Kummer sie überwältigen würden. Es war eine andere Art von Verlangen, das in ihr aufkam, wenn sie sich ihrer Nähe zu ihm bewusstwurde. Vermutlich war es wirklich armselig von ihr, nun an so etwas zu denken, aber wann hatte es sie jemals interessiert, wie ihr Verhalten wirkte? Niemals. Lediglich gegenüber Zayn war sie ins Zögern gekommen. Aber das war in diesem Moment auch unwichtig.

Verwirrung stand in Zayns Gesicht. „Was meinst du?“

„Es tut mir leid, aber ich muss das jetzt tun.“ Chandras Stimme klang unsicher, aber sie war es nicht. Wenn er nicht verstand, wovon sie sprach, musste sie es ihm eben zeigen, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Sie lehnte sich zu ihm und als ihre Gesichter auf einer Höhe waren, zögerte sie nicht lange und legte ihre Lippen auf seine. In den wenigen Sekunden, in denen dieser Kuss andauerte, fiel ihr auf, dass seine Lippen sich weich auf ihren anfühlten. Wenn Zayn den Kuss erwiderte, dann wahrscheinlich eher aus Überrumpelung heraus. Denn als sie sich wieder von ihm löste, sah er definitiv überrascht aus.

Okay“, meinte er, „was war das denn jetzt?“

Chandra erkannte, dass er nicht abgeneigt aussah, also war sie nicht gewillt, sich zurückzuziehen. „Ein Kuss“, hauchte sie, bevor sie ihn ein zweites Mal küsste, diesmal etwas fordernder. Zayn entwich ihrem Kuss nicht und sie fühlte einen leichten Druck ausgehend von seinen Lippen, aber wirklich überzeugt wirkte er nicht. Sie legte eine Hand seitlich um seinen Hals und küsste ihn mit mehr Nachdruck, öffnete ihren Mund leicht und zog spielerisch an seiner Unterlippe. Ein Augenblick des Wartens verstrich, ehe er sie plötzlich küsste, wodurch ihr Verlangen wie ein Feuer in ihr aufloderte. Zayn legte einen Arm um ihren Nacken und ihr anfangs harmloser Kuss gewann an Intensität. Sie spürte seine Zunge, wie sie die ihre berührte. Einen gefühlt langen Moment lösten sie sich nicht voneinander, doch als Chandra allmählich jegliche Luft aus den Lungen gewichen war, schob Zayn sie entschieden von sich.

„Chandra“, keuchte er außer Atem, und sie stellte fest, dass er errötet war. Ihn, der er bislang stets so perfekt und beherrscht erschienen war, nun mit geröteten Wangen vor sich zu sehen, verschaffte Chandra ein Gefühl des Triumphes. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“

Sie lächelte. „Wieso nicht? Weil wir uns nicht kennen? Du kennst mich ja nun – und ich muss dich dafür nicht zur Gänze kennen.“

„Wir kennen uns seit einem Tag“, blieb er standhaft.

„Und doch weißt du schon mehr über mich als jeder andere.“

„Ja, aber –“

„Nichts aber“, unterbrach sie ihn augenverdrehend. „Du bist ein Kerl, mach dich mal locker.“ Nun kam sie ihm wieder nahe. „Ich würde sagen, wenn du keine Freundin hast und mir nicht abgeneigt bist, dann hörst du jetzt auf, nachzudenken.“ Sie fuhr ihm mit einer Hand leicht über die Wange und sprach in verführerischer Stimmlage: „Du hast doch gesagt, du kannst weinenden Frauen nichts abschlagen, also …“

„Du weinst aber nicht mehr“, konterte er.

„Ich bin traurig, das ist fast dasselbe.“

„Ich …“ Offenbar gingen Zayn die Argumente aus. Diesen Moment nutzte Chandra, um ihn wieder zu küssen. Sie schlang nun beide Arme um ihn und da er ihren Annäherungsversuch nicht erneut abbrach, ging sie einen Schritt weiter, beugte sich nach hinten und zog ihn mit sich. Es war nicht notwendig, sich nach hinten zu werfen, da er sich seinerseits erhob, sie auf die Couch drückte und sich über ihr abstützte.

Chandra stellte fest, dass ihre Pokémon nicht länger hier waren, was ihr recht war. Als sie zu Zayn aufsah, dessen Gesicht direkt über ihrem war, wurde ihr ganz warm.

„Du verwendest meine Worte gegen mich, das ist nicht nett“, grinste er.

„Hast du auch schon gemacht.“

„Wohl wahr.“

„Küss mich“, hauchte sie.

Tatsächlich küsste er sie, was zwischen ihren Beinen für ein angenehmes Kribbeln sorgte, woran ihre Position einen nicht unerheblichen Anteil trug. Seine linke Hand strich ihre Taille entlang hinab zur Hüfte, während sie ihn einfach nur noch dichter an sich zog. Sie verlor sich beinahe in seinen fordernden Lippen, bis er sich von ihren trennte und eine heiße Spur von Küssen auf ihrem Hals verteilte. Genüsslich legte sie den Kopf nach hinten. Ewig hätte sie in diesem Moment des Vergessens ausharren können, doch er trennte sich erneut von ihr.

Nun funkelte Zayn sie entschlossen an. „Ich nutze deine Traurigkeit nicht aus.“

Sie erwiderte: „Es ist kein Ausnutzen, wenn ich es dir gestatte.“

„Ich möchte nicht, dass du es hinterher bereust.“

„Werde ich es nicht. Du solltest meine Zurechnungsfähigkeit nicht anzweifeln, nur weil ich vorhin ein wenig Schwäche gezeigt habe. Denn jetzt ist dieser Moment wieder vorüber und ich möchte nicht länger über diesen Mist reden oder nachdenken. Ich möchte lediglich dich – und ich kann sehr entschlossen sein, was das angeht. Und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ein Mann wie du mit so etwas nicht umgehen kann.“ Sie grinste. „Oder waren all deine netten Komplimente an mich nur heiße Luft?“

Ein paar Sekunden zögerte Zayn, dann lächelte er. „Waren sie nicht.“

„Schön. Dann wüsste ich nicht, was“, sie zog seinen Kopf zu sich nach unten und streifte seine Lippen leicht, „gegen ein bisschen Spaß spricht.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  True710
2018-01-16T15:21:52+00:00 16.01.2018 16:21
Ich musste mich gestern Abend zwischen meinem Bett oder deinem Kapitel entscheiden ... die Entscheidung fiel mir leicht und ich wurde von deinem Kapitel auch nicht enttäuscht. ;P

Wie Chandra erzählt ist einfach überragend. Und wie Zayn zuhört ebenso. Ich bin ja sowieso schon voll am mitfiebern, doch jetzt beginnt es wirklich interessant zu werden. Ich kanns kaum erwarten wie es weitergeht! :)
Ich hoffe, deine Schreibmotivation wird für diese Geschichte nicht so schnell verebben, dafür ist die Idee, der Aufbau und einfach alles andere viel zu gut dafür!
Antwort von:  Lucinia
16.01.2018 20:54
Oh, welch eine Ehre, bei mir würde der Schlaf, wenn es um heiß ersehnte Kapitel geht, auch immer zu kurz kommen. ^_^

>Und wie Zayn zuhört ebenso.< Das klingt so übelst nach "Für einen Kerl defintiv bemerkenswert, die haben ja damit sonst ihre Schwierigkeiten." XD
Neeeein, niemals! Dafür häng ich viel zu sehr an der Idee (*dezent selbstverliebt*hust*) und bin selbst viel zu gespannt, was noch draus wird. x)
Danke für deine lieben Worte. c:


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