Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 7: Seltsam unbeschwert ------------------------------ Chandra wusste nicht, wie viel ihres Weges sie mit Brutalanda zurückgelegt hatten, dafür kannte sie die Region, in der sie lebte, zu wenig. Sie und Zayn hatten sich ungefähr drei Stunden von seinem imposanten Drachenpokémon durch die Lüfte geleiten lassen – natürlich war diese Art des Transports deutlich schneller, als zu Fuß zu gehen, jedoch hatte Brutalanda sein Tempo gezügelt, um seinen Mitreisenden den Flug angenehmer zu machen. Chandra hatte sogar Gefallen daran gefunden, die Weiten der Landschaften sowie Städte und Dörfer unter sich hinwegsausen zu sehen. Innerhalb der drei Stunden Flug hatten sie eine kleine Rast gemacht, um sich und dem Drachen eine Verschnaufpause zu gönnen. Alles in allem war der gesamte Flug angenehm verlaufen und Chandra musste feststellten, dass ihr diese Art des Reisens mehr gefiel, als sie zuvor angenommen hatte. Die kleine Stadt, die sie schließlich erreichten, kannte sie nicht. Zayn sagte ihr, dass sie nordwestlich von Pyritus war und zwar ein gutes Stück davon entfernt lag, der Weg bis zu seiner Heimat aber immer noch sehr viel weiter war. Sie ersparte sich die vergebliche Frage, wo er denn nun herkam – aus ihm war ohnehin nichts rauszubekommen. Nachdem Brutalanda wieder in seinem Pokéball verschwunden war, folgte Chandra Zayn zum Bahnhof der Stadt, da sie nun mit dem Zug weiterfahren würden. Zwar hätten sie auch in Pyritus in einen Zug steigen können, aber das wäre selbstverständlich zu riskant gewesen. Im Bahnhof selbst besorgte Zayn ihnen Tickets für die Fahrt und als er Chandra ihres gab, warf sie einen neugieren Blick auf das Reiseziel. Portaportus. Diesen merkwürdigen Namen hatte sie schon einmal gehört. Aber wo lag diese Stadt? Portaportus … Sie kam einfach nicht darauf. „Wo liegt Portaportus?“ „Am Meer“, erwiderte Zayn unbeeindruckt und in ihre Augen trat bei diesen Worten ein Leuchten. Portaportus, die große Hafenstadt Orres – richtig. Chandra war natürlich noch die dort gewesen, geschweige denn überhaupt am Meer. „Lebst du dort?“, fragte sie. „Nein, aber relativ in der Nähe. Von Portaportus aus müssen wir mit einem anderen Zug weiterfahren.“ Das Meer war im Südwesten der Region. Chandra wusste immer noch nicht, wo genau Zayn lebte, aber sie hatte nun zumindest eine grobe Vorstellung, wohin sie unterwegs waren. „Unser Zug fährt erst in einer Stunde, lass uns was essen“, sagte Zayn und ihr fiel ein, dass sie seit dem frühen Abend des Vortages nichts mehr gegessen hatte und ihr Magen sich unangenehm leer anfühlte. In der Bahnhofshalle besorgten sie sich nun also ein wenig Essen für den Moment und für die Fahrt. Ihr Zug kam pünktlich am späten Vormittag an und wenngleich diese Reise immer noch einen ungewohnten, riskanten Beigeschmack für Chandra hatte, so fiel es ihr nicht im Geringsten schwer, sich auf Zayn zu verlassen und mit ihm in den Zug zu steigen. Er würde schon wissen, was er tat – und Chandra konnte jetzt auch nicht mehr umdrehen, dafür war es zu spät. Nichtsdestotrotz lag während der ganzen Fahrt eine unangenehme Art von Nervenkitzel auf ihr. Unangenehm, weil sie fürchtete, ihre Flucht könnte jeden Moment ein abruptes Ende finden, indem Ray im Zug vor ihr stehen und sie zurückschleifen würde. Mit Zayn sprach sie nicht darüber. Er wirkte seltsam konzentriert und nachdenklich und Chandra hatte keinen Schimmer, was ihn – von ihr mal abgesehen – so zum Grübeln bringen konnte. Also machte sie sich selbst klar, dass ihre Ängste unrealistisch waren. So rasch vermochte es selbst ihr Bruder nicht, ihre Flucht mitzukriegen, und so schnell konnte er ihnen ohne jeglichen Anhaltspunkt auch nicht folgen. Um sich nicht länger den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, verbrachte sie den Großteil der Fahrt damit, aus dem Fenster zu starren und die Landschaften an sich vorbeiziehen zu lassen. Sie stellte dabei fest, dass die Natur, die sich dort draußen bot, immer bunter und grüner wurde, zumindest in einem Maße, das im Frühling möglich war. Atemberaubende Täler, durchzogen von Seen, dessen Oberflächen im warmen Sonnenschein wie Spiegel leuchteten, verzauberten sie regelrecht. Regelmäßig sah sie Schwärme von Flugpokémon, die anmutig in V-Formation durch die Lüfte glitten. Im Zug war ihnen sogar ein gelborangegefiedertes Pokémon, das einem Küken glich, begegnet – ein Flemmli, welches mit kleinen, glühenden Funken fast einen Vorhang in Brand gesteckt hätte, bevor seine Trainerin es vorsorglich in seinen Ball gerufen hatte. Für Zayn war das alles so normal, aber Chandras Seele erfüllte es mit Euphorie, glückliche und vor allem ganz normale Pokémon zu sehen, die in ihr keine Todesangst auslösten. Es genügte, Orre nur von oben oder aus einem Zug zu sehen, um festzustellen, dass Pyritus wirklich das schäbigste und hässlichste Loch war, das man in dieser Region finden konnte. Selbst das Umland Pyritus‘ war stets trist, trocken und kahl – die Temperaturen waren einfach zu hoch. Im Winter fror man zwar nicht übermäßig, aber im Sommer mangelte es an Regen, worunter die Natur litt. So strich die Fahrt dahin, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Und irgendwann, da kam dann das Meer in Sicht – zumindest, wenn man aus den linken Fenstern sah und einen Blick erhaschen konnte. Zayn erklärte ihr, dass Portaportus sich zum Meer hin absenkte, weswegen man vom Zug aus, der mittig in die Stadt fuhr, einen erhöhten Blick auf den Ozean hatte. Chandra sah die blauen, satten Weiten, auf denen die Sonne tänzelte. Wie weit mussten sie von Pyritus weg sein? Weit, so viel stand fest. In Pyritus sprach nie jemand über das Meer, denn die Entfernung war zu groß, um mal eben in einem Wochenendtrip hinzufahren. Als sie im Zentrum von Portaportus ankamen, wurde das Meer schließlich von etlichen hohen Gebäuden verdeckt. Nach einigen Stunden Fahrt endete ein Teil ihrer Reise. Chandra verließ sich weiterhin auf Zayn und folgte ihm sichtlich neugierig, aber auch zurückhaltend. Als Nächstes ging es für sie in die Straßenbahn, mit der sie tatsächlich Richtung Meer fuhren. Während sie in der schmalen Bahn waren, analysierte Chandras Blick weiterhin das Geschehen in der Stadt. Sie bemerkte, wie sauber diese an allen Ecken war, die Gebäude waren überwiegend in Weiß, hellen Grau- und strahlenden Blautönen gehalten, ganz so, wie es zu einer Stadt am Meer passte. Die Menschen machten einen friedlichen, glücklichen Eindruck, Pokémon – zumindest nicht allzu große – spazierten völlig entspannt neben ihren Trainern und Besitzern her. Wieder erklärte Zayn ihr, dass Portaportus und Pyritus die zwei größten Städte in Orre waren, doch während Portaportus einen hohen Lebensstandard aufwies, ein Touristenmagnet war und überdies im letzten Jahr Hoenns Hafenstadt Graphitport City im Rennen um die schönsten Hafenstädte geschlagen hatte – Chandra fiel fast vom Glauben ab; solche Wettbewerbe gab es?! –, war Pyritus das schwarze Schaf der Region. „Portaportus hat die niedrigste Verbrechensrate in der gesamten Region, die Menschen hier sind einfach zufrieden, aber das sollte einen auch nicht wundern, wenn man das Meer direkt vor der Haustüre hat. Die sozialen Standards hier sind sehr hoch, während man in Pyritus zumeist vom Existenzminimum lebt und die Statistiken zu Gewaltverbrechen erschreckend sind. Portaportus lebt natürlich durch seinen Handel mit anderen Regionen, der für Orre essenziell ist. Pyritus hat gefühlt gar keinen Nutzen für die Region, außer dass es als Auffangbecken für jegliche Kriminelle fungiert“, sprach Zayn zu ihr, als er ebenfalls aus dem Fenster sah. Das stimmte durchaus. In Pyritus lebte jeder nach seinen eigenen Regeln, abgetrennt vom Rest Orres. Auch wenn Chandra die Stadt zuvor elf Jahre nicht verlassen hatte, konnte sie sich doch gut vorstellen, dass sie keinen guten Ruf genoss. Gerade, weil sie diesen düsteren Ruf innehatte, traute sich niemand zu nah an diese Stadt heran, selbst polizeiliche Behörden zogen es vor, sich zurückzuhalten. Bislang hatte die Strategie „Pyritus in Ruhe lassen, dann passiert schon nichts“ ganz gut funktioniert, aber es wusste ja auch niemand, welch Schrecken in den Tiefen der Gangsterstadt lauerte. „Niemand geht freiwillig nach Pyritus. Ach warte, niemand außer ich“, beendete Zayn seine Ausführungen mit sarkastischem Tonfall. Chandra fiel auf, dass sie nun aussteigen mussten. „Aber ich bereue es nicht“, grinste er und zog sie mit sich nach draußen. Vor der Strandpromenade, hinter der sich das leuchtend blaue Meer darbot, wimmelte es auf einem weiträumigen Schauplatz nur so vor kleinen, süßen Läden, Restaurants und Hotels. Sie waren nicht direkt am Hafen gelandet, denn dieser lag ein wenig links den Strand entlang und dahinter ragte ein imposanter Leuchtturm auf. Ihr nächster Zug würde laut Zayn erst am nächsten Morgen fahren und da es mittlerweile bereits später Nachmittag war, wollten sie sich ein Zimmer für die Nacht suchen. Das günstige Pokémon-Center, welches sich zwischen den Geschäften und Hotels einreihte, war offenbar stets maßlos überfüllt, also mussten sie mit einem wesentlich teureren Hotel vorliebnehmen. Chandra hatte ohnehin keine Ahnung, also nahm sie die Dinge, wie sie waren. Fast. In einem beliebigen Hotel angekommen und zur Rezeption gegangen, hielt die Dame dort sie für ein junges Paar und wollte ihnen ein Zimmer mit einem Doppelbett geben. Als Chandra einwerfen wollte, dass ihr das nicht recht war, stimmte Zayn an ihrer Seite lächelnd zu und ließ sich die Karte für das Zimmer geben. „Hey, ich will mir kein Bett mit dir teilen!“, blaffte sie ihn an, als sie durch die erleuchtete Eingangshalle zum Aufzug liefen. „Was ist so schlimm daran? Letzte Nacht haben wir auch in einem Bett geschlafen.“ Er schien sie nicht zu verstehen. „Ich will einfach nicht.“ „Tja, zu spät, du wirst dich damit abfinden müssen“, sagte er, als sie in den Aufzug stiegen. „Oder hast du etwa Angst davor, dass meine Hände unanständige Dinge unter deiner Decke tun könnten?“ „Womöglich“, fuhr Chandra ihn wütend an. „Das klang letzte Nacht aber noch ganz anders“, lachte Zayn. „Idiot!“ Zu mehr war sie nicht fähig, sonst wäre sie wahrscheinlich vor lauter Dreistigkeit in die Luft gegangen. Zayn lehnte sich ganz schön weit aus dem Fenster – wann war es bitte so weit gekommen? Ach ja, richtig, sie hatte mit ihm geschlafen und sie war nicht gerade schüchtern gewesen. Da konnte so was schon mal passieren. Sie bereute die Tat ja nicht, aber normalerweise sah sie die Typen danach nie wieder. Es war jedoch erheblich schwerer, die „Es war nur Sex“-Nummer abzuziehen, wenn sie Zayn permanent vor sich sah. Und dann auch noch nebeneinander in einem Bett schlafen, als wäre alles völlig normal? Fürchterlich. Sie kamen schließlich in ihrem Zimmer an und als Chandra durch die große, gegenüberliegende Fensterwand sah und freien Blick auf blaue Weiten Meer und Himmel hatte, vergaß sie ihren Zorn schnell. Ein wenig später gingen sie wieder nach draußen und Zayn führte sie hinunter zum Strand. Die Luft hier war schier pausenlos vom Klang der Wingull erfüllt, die über dem Strand ihre Kreise zogen. Am Ufer tummelten sich einige Menschen mit ihren Pokémon und Chandra erkannte das ein oder andere Wasserpokémon, das verspielt in den leichten Wellen tobte. An einer anderen Stelle fand ein kleiner Pokémonkampf statt und abermals erfreute sie sich an dem Anblick gewöhnlicher Pokémon. An einer ruhigen Stelle ließen sie und Zayn sich in den weichen Sand fallen. Die Promenade war ein wenig höher gelegen und dicht bepflanzt mit Büschen und Bäumchen, demnach genoss man am Strand mehr Ruhe, als wenn man oben entlanglief. Chandra wollte ihre beiden Pokémon aus ihren Bällen lassen, doch dann fiel ihr auf, dass sie sie im Hotelzimmer gelassen hatte. Sie würde sich erst daran gewöhnen müssen, sie ab sofort bei sich haben zu können. Für einige Minuten verharrten sie nur im Sand und Chandra genoss die frische Meeresluft, die ihre Haare umspielte und in ihrer Brust ein Gefühl der Freiheit und Ungezügeltheit erzeugte. Beim Anblick des schier unendlichen Meeres, dessen Horizont sich die Sonne immer mehr näherte, glaubte sie, alles schaffen zu können. Als sie so darüber nachdachte, wie weit sie schon gekommen waren, kam ihr ein Gedanke. „Hey, Zayn, sag mal … müssen wir nicht morgen wieder zum Bahnhof in die Innenstadt? Wieso sind wir denn dann zum Strand gefahren? Das ist doch ein Umweg.“ „Schon.“ Er schmunzelte und blickte gen Meer. „Aber du warst doch noch nie am Meer, oder? Ich dachte mir, du willst sicher mal an den Strand.“ „Ja, stimmt schon“, murmelte sie verlegen. „Außerdem hättest du mal deinen Blick sehen müssen, als du im Zug das Meer gesehen hast. Du hast dich gefreut wie ein kleines Kind“, zog er sie auf, woraufhin sie ihn gegen die Schulter stieß. „Blödmann!“ Lachend ließ Zayn sich nach hinten in den Sand fallen und sie tat es ihm nach. „Man, wie hab ich es vermisst, hier zu sein.“ Chandra fragte nicht nach, was er meinte, sondern beobachtete nur stumm die Pokémon über ihnen und das helle Blau des Himmels, das bald schon von einem zarten Rosa abgelöst wurde.   ******   Als sie wieder im Hotel waren, zog es Chandra unter die Dusche, da sie sich von der Reise ein wenig schmutzig fühlte. Außerdem hatte Zayn gemeint, dass sie später noch etwas essen gehen könnten, schließlich hatten sie seit der Zugfahrt nichts mehr zu sich genommen und das Hotelrestaurant war abends voll. Sie hatte zugestimmt und nachdem sie heute Morgen nicht gerade sehr stilbewusst aufgebrochen war, war es nun an der Zeit, das zu ändern. Denn Chandra fühlte sich am selbstsichersten, wenn sie selbstsicher aussah. Das Badezimmer war strahlend weiß und unter der großen Duschbrause hätte sie eine Ewigkeit stehen können, aber irgendwann war es Zeit, das Wasser einzustellen. Sie öffnete die Glastür und stellte fest, dass sie ein Handtuch vergessen hatte. Die lagen nämlich im Kleiderschrank und sich eines zu holen, würde bedeuten, splitternackt das Bad zu verlassen, an Zayn vorbei zu stolzieren und sich einer peinlichen Blöße geben zu müssen. Von den offenen Fenstern einmal abgesehen. „Verdammt“, seufzte sie und rief anschließend kläglich nach ihrem Retter in der Not – in zweierlei Hinsicht. Zum Glück hatte sie die Badezimmertür nicht abgeschlossen. Tür offen lassen ist okay, aber nackt rausgehen und dir ein Handtuch holen, ist zu viel, aha, okay, tadelte sie sich in Gedanken, schrak jedoch auf, als sich die Tür öffnete. Sie nutzte die vom Wasserdampf beschlagenen Glaswände, um ihren Körper zu verbergen und steckte nur den Kopf aus der Dusche. „Soll ich dir Gesellschaft leisten oder was ist los?“, fragte Zayn ahnungslos. „Sehr witzig! Könntest du mir bitte ein Handtuch bringen?“, bat sie. Tatsächlich kam er ihrer Bitte ohne Umschweife nach, aber als er wieder ins Bad kam und ihr das Handtuch überreichte, welches sie sogleich schützend vor sich hielt, folgte ein merkwürdiger Moment, in welchem sie sich gegenseitig in die Augen starrten. Zayn riss sich als Erster los, räusperte sich und meinte: „Wieso so nervös? Kenn ich doch alles schon.“ Mit einem Grinsen verließ er das Bad wieder. Chandra hingegen stand noch mindestens eine halbe Minute an ihrem Fleck und drückte das Handtuch gegen ihre Brust, in welcher sie ihren aufgeregten Herzschlag vernahm. Verflixt, warum war sie so nervös? Denn er hatte ja recht, da war nichts Unbekanntes an ihrem Körper. Kopfschüttelnd trat sie nun aus der Dusche. Sie durfte nicht länger über so einen Nonsens nachdenken. Zwei Tage mit diesem Kerl und sie verweichlichte vollkommen – das war ja grauenvoll! Aber gut, sie wusste, wie sie das richten würde können. Als sie nach einer Weile das Bad endlich verlassen konnte, fühlte sie sich gleich tausendmal selbstsicherer, wie eine neue alte Version ihrer selbst. Ein dunkelrotes Kleid mit einem runden Ausschnitt und halblangen Ärmeln endete locker fallend über den üblichen schwarzen Overkneestrümpfen, und da es hier wirklich etwas kühler war als in Pyritus, hatte sie sogar noch eine leichte Strumpfhose darunter angezogen. Ihre Haare fielen ihr locker auf den Rücken und ihr Gesicht wurde von der richtigen Menge Make-up betont. Ja, so fühlte sie sich gleich viel besser – selbstbewusst und sexy und doch irgendwie unnahbar. Zayn lümmelte auf dem Bett und war damit beschäftigt, einen Pokéball immer wieder nach oben zu werfen und aufzufangen. Dann sah er zu Chandra und sie erwartete einen Kommentar von ihm, stattdessen wandte er den Blick wieder ab. Er musste ihre beiden Pokémon aus ihren Bällen gelassen haben, denn sie lagen neben ihm auf dem Bett. Chandra ging zu ihnen und drückte Sunny und Lunel an sich, genoss das Kitzeln ihres weichen Felles, als sie sich an sie schmiegten. „Ist die Dame endlich fertig?“, fragte Zayn und gähnte demonstrativ. „Schön, na dann los.“ Er sprang vom Bett auf. Chandra rief Sunny und Lunel in ihre Bälle zurück und steckte jene in ihre kleine Umhängetasche, die sie noch von zu Hause mitgenommen hatte. Dann zog sie ihre Schuhe an, warf sich ihre schwarze, leichte Jacke über und kurz darauf verließen beide das Hotel wieder. Sie besorgten noch schnell im Supermarkt um die Ecke Pokémonfutter – den letzten Rest, den Zayn noch dabeigehabt hatte, hatte ein sehr hungriges Brutalanda verputzt –, ehe sie sich auf die Suche nach einer Essensmöglichkeit machten. Na ja, so halb. Zayn schlug ihr ein Restaurant oberhalb der Promenade vor und schien ziemlich entschlossen, dorthin zu wollen. Sie hatte zugestimmt und nun saßen sie in jenem Restaurant, das mehr einer Bar glich und gut besucht war. Es war recht groß, mit hohen, hölzernen Decken, und verbreitete eine lockere, lässige Atmosphäre, in der man sich wohlfühlen konnte. Ihr Tisch lag mittig am Gang, ruhige Musik erfüllte den Raum. Sie bestellten sich etwas zu trinken und zu essen und verbrachten den Großteil der Zeit mit Smalltalk. Zayn erzählte ihr noch ein wenig über die Stadt und Chandra hörte ihm interessiert zu, da sie das davon abhielt, über andere Dinge nachzudenken. Nach dem Essen aber kam es zu einem für sie unangenehmen Moment des Schweigens. Sie wollte nun endlich etwas mehr über ihn erfahren, aber traute sich kaum, dieses Thema anzusprechen. „Sag mal … Kannst du mir nicht jetzt endlich etwas über dich erzählen?“, fragte sie unsicher. „Okay, was willst du wissen?“ Er grinste. „Hobbys? Kindheitshelden? Lieblingsessen? Lieblingspokémon?“ Sie verdrehte die Augen, musste aber lächeln. „Was du in Pyritus wolltest.“ „Ach, Chandra.“ Zayn lehnte sich nach hinten, nebenbei drehte er einen Bierdeckel in seinen Händen. „Wieso bist du nur so neugierig?“ Als Antwort lehnte sie sich ebenso nach hinten. „Lass mich überlegen. Vor zwei Tagen habe ich dir geholfen, als dich zwei Typen bedroht haben. Ich habe dich bei mir schlafen lassen, einfach so. Dann habe ich dir mein Herz ausgeschüttet und habe dir praktisch alles über mich erzählt. Dann habe ich dir blindlings vertraut und mit dir Pyritus verlassen, obwohl ich überhaupt nichts über dich weiß. Ist das nicht Grund genug?“ „Du hast zwischen dem ersten und zweiten Dann vergessen, dass du mit mir geschlafen hast, obwohl du nichts über mich weißt, und das sollte Grund genug für mich sein, dir auf der Stelle alles zu erzählen – ich weiß“, ergänzte er frech. Abermals verdrehte Chandra die Augen und verschränkte die Arme. „Ja, danke. Wie konnte ich das nur vergessen? Aber ich mein’s ernst. Ich will jetzt etwas wissen!“ Er lehnte sich wieder nach vorne. „Morgen, Chandra. Morgen sind wir bei mir und ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst. Versprochen.“ Das Lächeln auf seinen Lippen ließ ihre Entschlossenheit dahinschmelzen wie Butter und sie sackte in sich zusammen. „Na gut.“ „Gut!“ Plötzlich erhob er sich. „Würdest du mich kurz entschuldigen? Ich muss kurz etwas erledigen.“ Überrumpelt nickte sie und ließ ihn gehen, im Glauben, dass er nur die Toilette aufsuchen würde. Doch dann verstrich die Zeit, er kam nicht wieder und sie stellte fest, dass die Toiletten in einer anderen Richtung waren. Sie drehte sich nach hinten, wohin er verschwunden war, aber sah nur den Tresen, hinter dem die Küche lag, und nirgends war eine Spur von Zayn. Chandra wusste nicht, ob sie nervös werden oder sauer sein sollte. Sie hatte ja nicht mal eine Uhr, um zu checken, wie lange er schon weg war, aber es mussten schon an die zwanzig Minuten sein. So verfiel sie in Grübeleien und das Gefühl des Ärgers darüber, dass sie so leicht nachgegeben hatte, breitete sich in ihr aus. Er konnte so ein Idiot sein. Verriet ihr nichts und verschwand dann schon wieder auf mysteriöse Weise, ohne ihr zu sagen, was er tat. Und jedes Mal, wenn sie versuchte, etwas aus ihm herauszubekommen, fielen ihm genau die richtigen Worte ein, um ihren Zorn über sein Schweigen zu beschwichtigen. Es war zum Verrücktwerden. So saß sie noch eine gefühlte Ewigkeit da und starrte vor sich hin, als jemand neben ihr ihre Aufmerksamkeit verlangte. „Hey, Kleine, bist du heute Nacht noch frei?“ Als hätte sie etwas gestochen, sprang Chandra von ihrem Stuhl auf und sah zum Besitzer der Stimme. Ein Mann stand vor ihr, der sicherlich schon ein paar Jahre älter war als sie, mit braunen Haaren und einem zotteligen, kurzen Bart. Der Blick, mit dem er sie betrachtete, war kurzum eklig, und Chandra musste dem Impuls widerstehen, ihr Kleid zurechtzuziehen. Was denkst du, wer du bist?, wollte sie ihm an den Kopf werfen, aber alles, was aus ihrem Mund kam, war ein verunsichertes: „Äh, was?“ Sie war dumme, abfällige Anmachen ja wirklich mehr als gewohnt und zumeist gingen sie einfach an ihr vorbei. Chandra war immer sehr selbstbewusst gewesen, wenn es darum ging, ekelhafte Typen abzuweisen, und wenn jene gar zu aufdringlich geworden waren, hatte sie einfach den Namen ihres Bruders ausgespielt und damit jede Nervensäge aufs Schnellste verstrieben. Aber nun wurde sie sich der Tatsache bewusst, dass sie nicht länger in der Stadt ihres Bruders war und er ihr, so verhasst er auch sein mochte, keinen Rückhalt mehr geben konnte. Eine lähmende Unsicherheit kroch an ihr hoch. Der Kerl vor ihr wollte sie gerade am Arm berühren, als sich eine dritte Person unvermittelt vor ihn schob. „Ist sie nicht“, stellte Zayn vor ihr klar und schob Mr. Unhöfliche-Anmache mit der Hand auf Abstand. Chandra fielen tausend Steine vom Herzen und sie tat so, als hätte sie Zayns Antwort überhört. Wenigstens hatte er ein legendäres Timing, um endlich wieder aufzutauchen. „Na, wenn du ihr Freund bist, dann kommt die Kleine aber nicht auf ihre Kosten“, spottete der Unbekannte, wirkte aber doch sichtlich sauer. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, ausgebremst zu werden. Plötzlich stieß Zayn ein Lachen aus. „Ich bin so etwas wie ihr Retter. Und du bist verdammt unverschämt. Hat dir niemand beigebracht, dass man so nicht mit einer Dame spricht? Verzieh dich, bevor du mir meine gute Laune verdirbst und mich sauer machst.“ „Ach ja? Lass uns das doch draußen klären, wie wär’s?“ „Gerne doch“, stimmte Zayn ohne Umschweife zu, und bei Chandra klingelten alle Alarmglocken. Etwas draußen klären – war das nicht der internationale Code unter Kerlen für eine absolut sinnlose Prügelei? Sie zog an Zayns Ärmel und sah ihn schockiert an. „Bist du wahnsinnig geworden? Ich dachte, hier gibt’s keine Gewalt!“, flüsterte sie. Als er sich zu ihr drehte, grinste er und flüsterte an ihr Ohr: „Er meint einen Pokémonkampf, du Dussel.“ Oh. Peinlich berührt strich Chandra sich eine Haarsträhne hinters Ort. Okay, sie war eindeutig infiziert von Pyritus. Zwar gab es dort auch Pokémonkämpfe, um Streitereien zu klären, aber meistens wurden jene mit Cryptopokémon ausgefochten und in neun von zehn Fällen kam es danach so oder so zur Anwendung von Gewalt. Probleme waren dort schlichtweg einfacher mit Fäusten zu lösen als mit Worten. Nun fühlte sie sich reichlich dumm, dass sie ernsthaft angenommen hatte, Zayn wäre derart primitiv. Der ekelhafte Kerl ging voraus und Zayn erklärte, dass jener Pokéball am Gürtel trug und die Hand auf diese zu legen, bedeutete unter Trainern eine indirekte Kampfherausforderung. Wieder etwas, das Chandra nicht gewusst hatte. „Kaum bin ich weg, bringst du dich schon in Schwierigkeiten“, schmunzelte er. „Ich hätte das auch ohne dich geschafft!“ „Natürlich, aber vielleicht wollte ich mich einfach nur ein wenig für neulich revanchieren?“ Sie erfuhr, dass er bereits für sie beide gezahlt hatte, was sie ärgerte, dann zogen sie ihre Jacken an und verließen das Restaurant. Auf dem Weg sagte Zayn: „Ich geb’s ja ungerne zu, aber du bist einfach zu aufreizend angezogen. Selbst in einer Stadt wie dieser ziehst du damit Idioten an.“ „Ich trage, was ich will“, erwiderte sie. „Klar, mich stört das ja auch nicht.“ Bevor sie antworten konnte, kamen sie bei Zayns Gegner an. Es war schon eine Weile dunkel, demnach war der Promenadenplatz nun recht verlassen und bot genügend Platz für einen Kampf. Chandra entfernte sich ein wenig von den beiden und ließ sich auf einer Bank nieder. Sie hoffte, dass der Kampf schnell vorbei sein würde, aber da sie bislang bei Zayn nur starke, ausentwickelte Pokémon gesehen hatte, zweifelte sie nicht sonderlich daran. Zayn und sein Gegner einigten sich auf einen Eins-gegen-Eins-Kampf, was Chandra sehr gelegen kam. Abends war es nun doch reichlich frisch an der Küste, nicht zuletzt wegen des Windes, der stetig wehte, und sie wollte nicht unnötig lange hier sitzen und frieren. „Ich fange an“, verkündete der Mann und warf sogleich einen Pokéball. Die Kapsel öffnete sich am Boden und gab ein nicht allzu großes Pokémon frei, das auf zwei Beinen stand und von größtenteils hellbrauner Färbung war. Seinen runden Kopf zierte ein schmales, grünes Blatt, über den Augen und der spitzen, langen Nase war eine beige Färbung, die von der Form her einer Maske glich. Sein Oberkörper besaß zwei dünne Arme, die in großen Händen endeten. Auffällig an diesem Pokémon waren die ebenfalls beigegefärbten Beine, die an eine Eichel erinnerten und schwarze Streifen trugen. Sie endeten schließlich in breiten Füßen, auf denen das Pokémon stolz stand. „Gut für mich“, kommentierte Zayn das Pokémon seines Gegners, während Chandra fieberhaft überlegte, was jenes überhaupt für ein Exemplar war. Sie war so ahnungslos, was Pokémon anging, kannte nur für Pyritus typische Pokémon oder solche, die ihr wegen auffällig süßen oder prägnanten Äußeren in Erinnerung geblieben waren. Es gab schlicht zu viele, um sie alle auf Anhieb zu erkennen oder sich die Namen zu merken. Sie fasste sich beschämt an die Wangen und diese Geste musste Zayn wohl gesehen haben. „Das ist ein Blanas“, warf er ihr mit amüsierter Stimme über den Platz hinweg zu. „Ich entscheide mich für mein Riolu.“ Nun warf auch er einen Pokéball und Chandra musterte voll Begeisterung das dritte seiner Pokémon. Es stand ebenfalls auf zwei Beinen und war etwas kleiner als Blanas. Blaues Fell schmückte seinen Kopf, aus dem zwei kleine Ohren ragten. Auch bei ihm war der Bereich um Augen und Nase schwarzgefärbt und verlieh ihm ein mutiges Aussehen. Die Enden dieser Maske hingen wie dickes Fell an den Seites seines Kopfes nach unten. Der schwarze Rumpf ging über in zwei kleine, blaue Beine, aus denen kräftige, schwarze Pfoten ragten. Die langen Arme des Wesens schmückte oberhalb der Pfoten je eine weiße, stählerne Platte. Ein großer Schweif rundete den Look des Kampfpokémons ab. Na ja, Chandra hatte vermutet, dass Riolu vom Typ Kampf war. Es war klein und irgendwie niedlich, aber es hatte die zu Fäusten geballten Pfoten vor sich getreckt, wippte lässig auf seinen Beinen und warf seinem Kontrahenten einen angriffslustigen Blick zu. Sie wusste nichts über Blanas, aber es musste wohl zumindest zum Teil ein Pflanzenpokémon sein. Wieder nahm sich Blanas‘ Trainer das Recht heraus, anzufangen, doch Zayn schien das nicht im Geringsten zu stören. „Blanas, fang den Kampf mit Pfund an!“ Chandra hätte nicht damit gerechnet, dass die kleinen, eichelartigen Beine so schnell waren, doch sie trugen Blanas in Windeseile auf Riolu zu, die Hände hatte es dabei zu Fäusten geformt, ein Kampfschrei drang aus seiner Kehle. „Riolu, konter‘ mit Ruckzuckhieb!“, befahl Zayn seinem Pokémon. Als Riolu diesen Worten nachkam, wirkte die Schnelligkeit Blanas‘ dagegen lächerlich. Riolu überbrückte in kürzester Zeit die letzte Distanz zwischen ihnen und dann prallten die beiden Gegner frontal gegeneinander, Blanas mit vorausgetreckter Faust, Riolu hingegen mit vollem Körpereinsatz. Die Wucht des Ruckzuckhiebes riss das Pflanzenpokémon von den Füßen und es flog mehrere Meter nach hinten, Riolu auf sich. Als sie auf dem Boden aufprallten, wirbelten sie Dreck auf. Riolu rollte sich geschickt ab und stand als Erstes wieder. Es war lediglich eine Schramme zu erahnen an der Stelle in seinem Gesicht, an der Blanas‘ Faust es erwischt hatte. Jenes erhob sich einen Augenblick später und knurrte das Kampfpokémon an. „Rasierblatt!“ Das Blatt auf Blanas‘ Kopf bog sich nach hinten, um sich anschließend in einer schnellen Bewegung wieder nach vorne zu drehen. Dabei erzeugte es aus dem Nichts scharfe Blätter, die es mit einem weiteren Hieb seines Kopfblattes in Richtung seines Gegners schickte. Riolu war zu nah an ihm dran, als dass es ihm noch möglich gewesen wäre, dem Angriff auszuweichen. „Versuch, sie abzuwehren“, rief Zayn. Auf Kommando hob es seine Arme vors Gesicht und schlug die Blätter zurück. Die geringe Distanz sorgte jedoch dafür, dass die rasiermesserscharfen Blätter Riolu ungehindert in die Arme schnitten und vereinzelt auch Rumpf und Kopf trafen. Tapfer stand das kleine Kampfpokémon dem Angriff entgegen und schlug die Zähne aufeinander. „Und jetzt Finte, Blanas!“ Sowie Rasierblatt ein Ende fand, verschwand Blanas aus Riolus Sicht, denn ein kräftiger Sprung hatte es nach oben über jenes befördert. Riolu sah mit weit aufgerissenen Augen nach oben, doch da wurde es schon von der Faust seines Gegners erwischt und nach unten geschlagen. Jaulend schlug das Kampfpokémon auf dem Boden auf. „Komm, du bist stark, du schaffst das!“, baute Zayn sein Pokémon auf. „Setz Kraftwelle ein!“ Riolu richtete sich wieder auf und schien die Schmerzen an seinen Armen zu ignorieren. Nun war es an ihm, eine Faust zu formen, die plötzlich zu leuchten anfing. Es spannte die Beine an, holte mit dem Arm aus und preschte auf Blanas zu, welches nach seinem letzten Angriff nicht ausreichend Abstand aufgebaut hatte. Ohne Umschweife krachte nun die Faust Riolus in sein Gesicht, genau auf die spitze Nase, und das Pflanzenpokémon fiel wie ein gefällter Baum nach hinten. Es stieß einen Laut des Jammers aus und griff sich an die malträtierte Nase, die nun ein klein wenig schief schien. Blanas‘ Trainer schien wütend über die Entwicklung des Kampfes, aber nicht gewillt, seinem Pokémon eine Verschnaufpause zu geben. Wütend donnerte seine Stimme über den Platz: „Setz Geduld ein, Blanas, damit gewinnst du gegen diesen Kampfzwerg!“ Ein Lachen kam von Zayn, er wirkte nicht beeindruckt. „Ach ja?“ Blanas rappelte sich wieder auf, um sich anschließend hinzuknieen und die Arme schützend vor den Kopf zu nehmen. Riolu schien nur darauf zu warten, angreifen zu können, und sah vorfreudig zu seinem Trainer. „Na dann mal los, Riolu, zeig ihm deine Power. Greif Blanas immer wieder mit Kraftwelle an, solange es nichts macht!“ Riolu nickte, dann leuchteten beide Hände auf und abwechselnd hieb es mit ihnen auf Blanas ein. Dieses steckte einige Schläge ein, bis es von den Füßen gefegt wurde. Mühselig rappelte es sich wieder auf, um die nächsten Angriffe wegzustecken, wobei sich allmählich ein orangefarbenes Leuchten um seinen Körper bildete. Riolus Hiebe setzten ihm ordentlich zu, die Stellen, an denen Kraftwelle traf, färbten sich rötlich – das würde eine Menge Blutergüsse geben. Chandra beobachtete das Geschehen mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. Sie wusste nicht, was Zayn vorhatte. Bei einer Geduldattacke musste das ausführende Pokémon eine Menge einstecken, sammelte die Stärke der Attacken seines Gegners jedoch, um anschließend mit doppelter Kraft zurückschlagen zu können. War es da wirklich so klug, ungehemmt auf Blanas einzudreschen? Sie würde die Antwort gleich erhalten. Mit einem Mal erhob Blanas sich, den grimmigen Blick nach vorne gerichtet. „Zurück!“, kam fast direkt danach Zayns Befehl, und Riolu tat einen großen Sprung nach hinten. Leichtfüßig landete es mehrere Meter von Blanas entfernt. „Das wird dir auch nicht helfen“, rief sein Gegner und reckte den Arm entschlossen nach vorne. „Blanas, greif an!“ Noch immer von dem Leuchten umgeben, sprintete Blanas los, seine Wut über die Attacken seines Gegners schier gebündelt mit der Stärke, die es durch Geduld gesammelt hatte. „Aber das wird helfen“, entgegnete Zayn. „Riolu, Konter!“ Riolus Augen begannen, blau zu leuchten, die Enden seiner Maske stellten sich auf, dann hielt es die Arme vor den Körper, wobei die Stahlplatten von ihm wegzeigten. Kurz bevor Blanas‘ Angriff es traf, leuchtete nun auch sein Körper in einem hellen, schimmernden Blauton, und anschließend prallten Orange und Blau aufeinander. Während Riolu die starken Pfoten in den Boden gestemmt hatte und trotz des Angriffes an Ort und Stelle blieb, wurde Blanas von der Wucht der Konterattacke in hohem Bogen zurückgeschleudert. Sein kleiner Körper prallte nach einem kurzen Flug und einem begleitenden Schmerzensschrei auf dem Boden auf, überschlug sich einige Male, bis er regungslos liegenblieb. Die verdoppelte Power seiner eigenen gespeicherten Energie hatte ihm den Rest gegeben. Sein Trainer rief es mit einem missmutigen Blick zurück in seinen Ball. „Schön, du hast gewonnen. Herzlichen Glückwunsch“, giftete er ironisch. „Bevor du es das nächste Mal mit einem schlechten Anmachspruch versuchst, solltest du dein Pokémon heilen gehen“, erwiderte Zayn und maß ihn kaum mehr eines Blickes. „Jaja“, war die Antwort, dann verzog sich der unangenehme Zeitgenosse, und Chandra stieß einen erleichterten Seufzer aus. In Pyritus hätte man so etwas nicht sagen können, ohne Ärger anzuzetteln, aber dieser widerwertige Kerl sah zum Glück ein, dass er verloren hatte. Als Zayn mit seinem Riolu auf sie zu kam, erhob sie sich und klatschte ein paar Mal in die Hände. „Wow, jetzt hab ich dich auch mal in Aktion gesehen“, lächelte sie. „Du bist echt gut.“ „Ach, das war doch noch gar nichts.“ Zayn wirkte einen Hauch verlegen. „Auch wenn ich natürlich sehr stolz auf dich bin.“ Er kniete sich zu seinem Pokémon und tätschelte ihm den Kopf, woraufhin es erfreut war. „Wie geht es dir?“, fragte er und fuhr behutsam über die feinen Schnitte, die die Rasierblätter dem kleinen Wesen zugefügt hatten. Als Antwort reckte Riolu einen Arm nach oben und stieß einen kampflustigen Laut aus. „Jaja, ich weiß, du bist noch lange nicht am Ende.“ Mit einem Lachen rief Zayn es zurück in seinen Pokéball und steckte diesen zurück an seinen Gürtel. „Aber damit das gleich klar ist: Du hast das nicht gemacht, um mich zu verteidigen, sondern nur, um zu trainieren“, stellte Chandra lächelnd fest. „Natürlich! Wie käme ich denn auch zu etwas anderem – völlig undenkbar.“   ******   Als sie nach diesem Ereignis schließlich wieder zurück ins Hotel gegangen waren, hatte Zayn Riolus Wunden mit einem Spray behandelt. Anschließend hatten er und Chandra ihren Pokémon – genau genommen Riolu, Galagladi, Nachtara und Psiana – etwas zu fressen gegeben. Nun lagen sie beide im Bett und Chandra war sehr froh darüber, dass sie ihre eigene Matratze hatte. Sie war müde von dem doch recht langen, ereignisreichen Tag und wollte nichts lieber, als endlich zu schlafen. Es war so viel passiert und sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie plötzlich mehrere hundert Kilometer entfernt war von Ray und von ihrem grausamen Vater und von Cryptopokémon – und von Devin. Nein, nein, nein. Sie durfte jetzt nicht an ihn denken. Gefühlsduselei war das Letzte, was sie nun vor Zayn zeigen wollte, denn davon hatte es in den letzten Tagen bereits mehr als genug gegeben. „Chandra?“ Dankbar für die Ablenkung sah sie zu Zayn, der sie ebenfalls ansah. Obwohl kein Licht mehr an war, erkannte sie seine Gesichtskonturen sehr gut, denn helles Mondlicht fiel durch die Fenster in das Zimmer. Seine hellblauen Augen leuchteten in diesem Licht mehr denn je. „Ja?“, wisperte sie. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich es sehr schätze, dass du mir so viel Vertrauen entgegenbringst, obwohl ich dir immer noch nichts erzählt habe. Das bedeutet mir sehr viel, denn es ist nicht selbstverständlich, und deshalb … Danke.“ „Schon okay“, erwiderte sie schüchtern – damit hatte sie nicht gerechnet. „Mach dir keine Gedanken deswegen.“ „Gut. Ich wollte nur, dass du es weißt.“ Zayn lächelte. „Schlaf gut. Und wenn du morgen aufwachst, sind wir fast an unserem Ziel.“ „Super, ich freu mich“, murmelte sie schlaftrunken, erwiderte sein Lächeln, dann drehte sie sich auf die andere Seite. Chandra könnte jeden Abend mit dem Blick auf das Meer einschlafen. Ruhig lag die See dort draußen vor dem Strand. Es war so still hier, sie hörte kein einziges Geräusch von draußen, keine sich anschreienden Menschen, kaum Sirenen. Sie konnte einfach hier liegen und sich sicher fühlen. Sie stellte sich das leichte Rauschen der Wellen im Meer vor, das sie allmählich in einen tiefen, entspannten Schlaf fallen ließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)