Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 8: Ankunft ------------------ Es war zehn Uhr vormittags, als Chandra und Zayn am Bahnhof von Portaportus in ihren nächsten und letzten Zug stiegen. Dieses Mal war Chandra die Stadt, zu welcher der Zug fuhr, völlig unbekannt. Veralia – noch nie gehört. Auf ihre Frage, was das für eine Stadt sei, hatte Zayn nur „Das wirst du dann ja sehen“ erwidert. Diese kryptische Antwort hatte ihr ungefähr so viel geholfen wie die letzten zehn dieser Art. Das Wetter war an diesem Tag hervorragend, die Sonne hatte ihren Platz hoch oben am Himmel bezogen und verführte mit ihren Strahlen jeden zu guter Laune, selbst wenn man gewisse Sorgen im Kopf hatte. Doch diese verdrängte Chandra, als sie die schon deutlich ergrünte Landschaft außerhalb des Zuges an ihren Augen vorbeiziehen ließ. Sie beschlich das Gefühl, je weiter man sich von Pyritus entfernte, desto lebensfroher wurde die Natur. Die Zugfahrt nach Veralia dauerte nicht so lange wie die letzte, nach ungefähr einer Dreiviertelstunde waren sie dort. Die Stadt war deutlich kleiner als Portaportus, das erkannte Chandra sofort. Nichtsdestotrotz schien auch hier das Gebot einer sauberen, angenehmen Atmosphäre zu gelten, vielleicht sogar noch mehr als in Portaportus. Die Bahnhofshalle war klein, aber schnuckelig, vor dem Bahnhof tat sich ein weiter Platz mit hellem Pflasterstein auf, der in der Sonne ein wenig blendete. Links und rechts schmückten Cafés den Platz und überall an den Seiten waren kleine Bäume gepflanzt, deren Kronen sich allmählich in ein saftiges Grün verwandelten. Jede Sitzbank wurde von hohen Töpfen mit bunten Blumengestecken flankiert. Sie liefen über den Platz und zur nächsten Straße, wo ein kleiner Parkplatz war. Zayn gab Chandra nun auch endlich die Erklärung, dass ein Freund von ihm sie abholen und zu ihm nach Hause fahren würde. Daraufhin fragte sie ihn, wieso sie nicht einfach wieder mit Brutalanda fliegen würden. Seine Antwort lautete: „Meine Mutter kriegt einen halben Herzinfarkt, wenn sie mich auf Brutalanda fliegen sieht. Also lassen wir sie besser glauben, dass wir das nicht tun oder getan haben. Ich zähle auf deine Unterstützung.“ Äh, Moment – hatte er gerade Mutter gesagt? Das ging Chandra auf einmal entschieden zu schnell. Doch bevor sie nachharken konnte, kam plötzlich ein Auto ruckartig vor ihnen zum Stehen. „Unser Chauffeur“, sagte Zayn, dann begrüßte er den Fahrer, welcher auch schon ausgestiegen war. „Wow, du weilst also noch unter den Lebenden, Respekt!“, waren die ersten Worte des Neuankömmlings. Es war ein Typ, der wohl ungefähr in Zayns Alter sein musste. Auffällig an ihm waren die vielen schwarzweißen und bunten Tattoos auf seinen Armen, von denen einige, wie Chandra bei einem flüchtigen Blick erkannte, Pokémon zeigten. Ansonsten trug er eine schwarze Kappe, unter der dunkelblondes, wirres Haar hervorstand. Davon abgesehen sah er recht gewöhnlich aus, trug eine Jeans und ein graues T-Shirt. Als er Zayn in eine kurze Umarmung zog, meinte er: „Aly wird sich freuen!“ „Klar, hast du was anderes erwartet?“, entgegnete Zayn und überging damit die zweite Aussage. „Aber wen hast du da denn mitgebracht?“ Die Augen des Fremden fielen auf Chandra, die ein wenig unsicher an ihrer Stelle verweilte. Sie hatte irgendwie nicht damit gerechnet, doch so schnell jemand Neuen kennenzulernen. „Sieht schnuckelig aus.“ „Sei nett, Vince“, ermahnte Zayn ihn scherzhaft. „Das ist Chandra. Sie …“, er schien zu überlegen, „kommt nicht von hier.“ „Ah. Ich heiße Vincent – oder Vince. Wie es dir beliebt“, stellte sich besagter Vince vor und reichte ihr eine Hand, während er sie mit strahlend weißen Zähnen anlächelte. „Hi.“ Mehr kam nicht übers Chandras Lippen, als sie seine Hand griff. Wie er ihr so nah war, fielen ihr die vielen Sommersprossen auf seiner Nase und den Wangen auf und auch die hellbraunen Augen. Er war nicht unbedingt ihr Typ, aber sie musste doch gestehen, dass er süß und unglaublich sympathisch aussah, auf eine etwas unbeholfene Art. „Gib schon her“, sagte er und deutete auf den Rucksack, den sie wiedermal auf ihrem Rücken trug. Er nahm in ihr ab und verfrachtete ihn zusammen mit ihrer Reisetasche im Kofferraum des kleinen Autos. Im Anschluss öffnete er ihr galant die hintere, rechte Tür, nur um zu bemerken, dass die Rückbank mit allerlei Kram belegt war. „Ach, shit! Der Gentleman steht mir einfach nicht“, seufzte er, beugte sich ins Auto und warf den Kram wahllos von rechts nach links, wobei das Klirren von Flaschen zu hören war. Nachdem er fertig und der Platz frei war, setzte Chandra sich ins Auto. Daraufhin klopfte Vince Zayn auf die Schulter, sagte „Du hast mir einiges zu erklären, Kumpel“, ehe sie beide ebenfalls einstiegen. Vince startete den Motor, warf noch einen Blick nach hinten zu Chandra und mit einem Grinsen meinte er: „Ich hoffe, du bist gut angeschnallt.“ Ebenso ruckartig, wie er vorher angehalten hatte, fuhr er nun los, und sie wurde förmlich in den Sitz gepresst. Während der Fahrt merkte sie sehr schnell: sein Fahrstil war katastrophal chaotisch. Geschwindigkeitsbegrenzungen hielt er, wenn überhaupt, nur mit Mühe ein, Kurven nahm er mit einer ordentlichen Portion Schwung, die Bremse wurde nicht zu früh betätigt und Ampeln, die von Grün auf Orange wechselten, waren eine Aufforderung, Gas zu geben – merkwürdigerweise schaffte er es aber gerade so über jede Ampel, bevor diese Rot wurde. In Pyritus wäre er mit dieser Art des Fahrens gut aufgehoben gewesen. Regeln wurden dort klein geschrieben oder sofort missachtet, der offensivste Fahrer war der beste Fahrer. Chandra war sich sicher, dass es weitaus ungefährlicher war, auf Brutalanda zu fliegen, als mit diesem Chaoten im Auto zu sitzen, doch sie behielt den Gedanken für sich. Sie hoffte lediglich, dass sie heil – wo auch immer – ankamen. Sie war nicht aus Pyritus abgehauen, um einen Tag später bei einem Autounfall zu verrecken. „Hast du deiner Mutter gesagt, dass du heute zurückkommst?“, fragte Vince während der Fahrt. Sie hatten mittlerweile Veralia verlassen und fuhren auf einer Landstraße, rechts führte direkt ein Wald entlang. „Nein.“ Zayn klang grüblerisch und starrte aus dem Fenster. „Aber Aly doch wenigstens, oder? Mann, deine Mutter hat mir fast den Hals umgedreht, als ich nicht wusste, wo du bist. Bei Aly war sie nicht ganz so sauer.“ „Deswegen hab ich’s ja auch nur ihr gesagt.“ „Dir ist klar, dass sie nun dir den Hals umdrehen wird, wenn du wiederauftauchst, als wäre nix gewesen?“ Vince warf einen Blick in den Rückspiegel zu Chandra und verkniff sich offenbar einen Kommentar über sie. Klar, das musste wohl mehr als seltsam wirken, dass Zayn plötzlich nicht alleine wiederkam. Und Chandra besaß nicht den Hauch einer Ahnung, worüber sie sprachen. Wer war diese Aly und wieso war Zayns Mutter anscheinend sauer auf ihn? „Ich weiß“, grummelte Zayn. Vince lachte plötzlich auf. „Ach, na ja, Hauptsache, du bist wieder da. War öde ohne dich.“ Wenig später kam rechts eine Abzweigung, die Vince nahm. Nun fuhren sie eine schmälere Straße entlang, die zu beiden Seiten von Bäumen gesäumt wurde, doch nach einigen Metern nahm die Anzahl der Bäume ab und vor ihnen tat sich schließlich eine Art Lichtung auf. Chandra weitete überrascht die Augen, als sie das betrachtete, was vor ihnen lag. Die Straße mündete in einen gepflasterten, großen Vorplatz, auf dem das Auto nun seitlich zum Stehen kam. Wenn Chandra aus dem Fenster sah, erblickte sie in nur wenigen Metern Abstand ein imposantes, strahlendes Gebäude vor sich. Überwältig davon stieg sie aus dem Wagen und schlug wie in Trance die Tür zu. Das in weißer Farbe gestrichene Gebäude ließ sich in drei Teile aufteilen. Der mittige Teil des Gebäudes war in einer runden Form gebaut worden und hatte drei Stockwerke. Im unteren Stockwerk bestand die Frontseite vollständig aus Glas, welches durch die Reflektion des Sonnenlichtes keinen Blick nach innen gewehrte. In den oberen Stockwerken reihten sich hohe, doppelte Fenster aneinander, doch darüber thronte der eigentliche Hingucker des Gebäudes. Auf seiner Spitze befand sich eine gläserne, große Kugel, die ab der Mitte von einem stählernen Gerüst gestützt wurde. Ihre Fenster waren in der unteren Hälfte weiß und in der oberen Hälfte rot getönt. Ein schwarzer Balken lief zwischen dem roten und weißen Glas um die Kuppel entlang, der auf der Vorderseite in einem Kreis endete, in dessen Mitte das Fenster glasklar war. Einen Augenblick sah Chandra wie gebannt auf den überdimensionalen Pokéball. Es sah einfach zu schön aus, wie das Sonnenlicht das rote Glas zum Strahlen brachte wie eine tiefrote, glühende Sonne kurz vor dem Untergehen. Sowohl links als auch rechts ging ein länglicher Gebäudeflügel von dem runden Hauptgebäude ab. Diese hatten zwei Stockwerke, wie unschwer an den in regelmäßigen Abständen auftauchenden Fenstern zu erkennen war. Des Weiteren fiel ihr auf, dass rechts vom Platz noch eine schmale, gepflasterte Straße am Gebäude entlang und hinter dieses führte, mehr konnte sie aber nicht erkennen. Das Gebäude lag direkt am Anfang des Waldes, in einigem Abstand wurde das Aufkommen von Bäumen wieder häufiger. Aus allen Richtungen konnte man Vogelpokémon hören, die wohl in besagten Bäumen sitzen mussten und ihre Melodien zum Besten gaben. Genug beobachtet. Chandra riss sich von ihrer eigenen Begeisterung los und wandte sich an Zayn, der schon mit ihrer Tasche neben ihr stand und sie amüsiert anfunkelte. „Ich habe mich jetzt lange genug geduldet“, sprach sie, um ihren ernstesten, selbstbewusstesten Tonfall bemüht. „Du wolltest mir die ganze Zeit nicht sagen, wo wir hingehen, aber nun raus mit der Sprache! Was ist das hier und wo bin ich gelandet? Und wag es nicht, mich wieder abzuwimmeln!“ „Du hast recht, du hast eine Antwort verdient“, gestand Zayn. „Das hier ist das Pokémon-Hauptlabor. Es ist das größte derartige Labor in ganz Orre und ist – wer hätte das gedacht – spezialisiert auf die Erforschung der Pokémon, um es kurz zu fassen. Einige Forscher leben hier und … einige andere Leute.“ „Und du auch?“ „Ich auch, ja.“ „Oh, okay“, meinte Chandra überrascht. Das erklärte einiges. Sogar ziemlich viel. Bevor sie mehr hervorbringen konnte, trat Vince zwischen sie beide und legte ihnen jeweils eine Hand auf die Schulter. „Ab in die Höhle des Löwen, meine Kinder“, grinste er und ging anschließend voraus. „Wohnt er etwa auch hier?“, fragte Chandra. „Nein, er ist nur Dauergast und hängt an meinem Rockzipfel“, war Zayns Antwort. Von vorne drang Vince‘ Stimme zu ihnen. „Das hab ich gehört!“ Sie beide liefen nun mit ihren Sachen ebenfalls Richtung der gläsernen Fassade und den darin eingelassenen, automatischen Schiebetüren. „Ich muss dich noch vorwarnen, Chandra.“ Zayn stoppte plötzlich und ergriff Chandras Handgelenk. Er machte auf einmal einen nervösen Eindruck auf sie, lächelte gequält. „Du wirst gleich meine Mom kennenlernen. Sie ist eine sehr nette Frau, aber im Moment wird sie sehr wütend sein.“ Was auch immer das gerade zwischen ihnen war, es verlief ja wirklich in Extremgeschwindigkeit. Vor gerade einmal drei Tagen hatten sie sich kennengelernt, dann waren sie sich nahegekommen und nun würde sie schon seine Mutter kennenlernen?! Wo war sie hier nur gelandet? Sie spürte ihre eigene Aufregung wie einen schweren Brocken in ihrem Hals. Unsicher nickte sie. Zayn wollte schon weiterlaufen, als ihr etwas einfiel. „Halt, Moment!“ Nun stoppte sie ihn. „Und was sagen wir ihr, wer ich bin? Ich meine, sieh mich an – ich habe eine Tasche dabei. Ich kann mich doch nicht selbst einladen“, floss es aus ihr heraus. „Das regeln wir schon, keine Sorge.“ „Ach ja? Und wie? Was willst du zu ihr sagen? Du kannst unmöglich sagen, wer ich bin und wieso ich hier bin.“ Er seufzte. „Was ist dir lieber? Die Wahrheit oder die Wahrheit-Wahrheit?“ Sie war verdutzt. „Was ist die Wahrheit-Wahrheit?“ In einer unauffälligen Geste deutete er auf sie beide. Als sie die Anspielung verstand, wurde sie etwas lauter. „Nein, natürlich nicht! Das darf niemand hier erfahren!“ Um Gottes willen, bloß nicht. Sie musste ja nicht sofort einen schlechten Eindruck schinden. „Keine Angst, es ist auch in meinem Interesse, dass das unter uns bleibt.“ War es bloß Einbildung oder hatte er gerade einen Hauch gekränkt geklungen? Oder war sie es, die über seine deutlichen Worte so etwas wie Kränkung verspürte? Worüber zur Hölle dachte sie hier eigentlich nach? Die Rettung kam mal wieder von vorne. „Hallo, ihr Turteltauben, kommt ihr dann auch mal?“, rief Vince ihnen zu. Sie rissen sich voneinander los und überwanden nun endlich die letzten Meter bis zum Eingang. Surrend öffneten sich die Türen und nun standen sie in einer weiträumigen Eingangshalle mit hohen Decken und glänzenden Marmorböden. Links und rechts führte jeweils ein Gang ab und auch vor ihnen war auf der anderen Seite eine weiße Doppeltür, deren eine Hälfte sich nun öffnete. „Zayn!“, rief eine hohe Mädchenstimme. Das Mädchen, zu dem sie gehörte, stürmte aus der Türe und unmittelbar auf Zayn zu. Als es bei ihm ankam, flog es ihm förmlich in die Arme. Er hatte damit bereits gerechnet, die Arme ausgebreitet und fing es nun lachend auf, dann hob er es hoch und wirbelte es einmal im Kreis durch die Luft. „Na, meine Prinzessin!“, lachte er und setzte das Mädchen wieder auf dem Boden ab. Die Kleine strahlte ihn aus Augen an, die in dem gleichen eisigen Blau leuchteten wie seine. „Du bist wieder da“, kicherte sie. Sie war noch gut einen Kopf kleiner als Chandra, hatte dunkelbraunes, langes Haar und trug ein T-Shirt, auf dem etliche Pikachus abgebildet waren. Chandra fiel nun das kleine Geschöpf ins Auge, das hinter dem Mädchen ebenfalls in die Halle gerannt war – oder besser gesagt: gewatschelt war. Ein gelbgefiedertes Pokémon mit einem gedrungenen Körperbau. Auf dem rundlichen Körper saß ein ovaler Kopf, der oben von drei äußerst auffälligen, schwarzen Haarsträhnen geschmückt wurde. Es hatte einen für den Kopf recht großen, langen, beigefarbenen Schnabel, an dessen Anfang zwei süße, kleine Nasenlöcher saßen. Die ovalen Augen mit den schwarzen Pupillen sahen aufgeregt zu Zayn. Seine zwei kurzen, recht dicken Arme hielt es nach oben, seine kleinen Finger berührten den Kopf. Es stand auf Füßen, die aussahen wie beigefarbene Flossen. Chandra erkannte hinter dem Enton seinen kleinen, spitzen Schwanz, der aufgeregt hin und her zuckte. Es stand vor Zayn und quakte ihn einmal an. Er verstand diese Aufforderung offenbar, ging in die Hocke und tätschelte dem Pokémon den Kopf. „Schön, dass es dir auch gut geht, Enton“, lachte er. Weiterhin auffällig an diesem Enton war, dass es ein ledernes Band um den Hals trug, an welchem ein ovaler, hellgrauer Stein hing. Chandra wusste allerdings nicht, was das für ein Stein war. „Enton und ich haben dich ganz doll vermisst“, sagte das Mädchen nun und zog einen Schmollmund. „Ach, Jill, jetzt bin ich ja wieder da. Und Enton hat doch gut auf dich aufgepasst, oder?“ Jill nickte eifrig. „Ja, natürlich!“ Zayn lächelte die Kleine so warmherzig an, dass Chandra, die mit Vince ein wenig abseitsstand, bei diesem Anblick das Herz aufging. Bevor er noch etwas sagen konnte, schreckte er jedoch hoch, als eine Tür zuknallte und sich ihnen klackernde Schritte näherten. Eine Frau schritt auf ihn und Jill zu, ihr Blick war ernst und sehr entschieden auf Zayn gerichtet. Sie musste um die vierzig sein, trug eine dunkelblaue, schicke Hose, welche ihrer schlanken Figur schmeichelte, sowie eine weiße Bluse und einen ebenfalls blauen, offenen Blazer. Ihr dunkelbraunes Haar war in einer eleganten Weise hochgesteckt. Obwohl Zayn sich wieder aufgerichtet hatte und ein gutes Stück größer war als sie, war ihre Erscheinung vor ihm nicht klein, sondern selbstbewusst. Sie wandte sich mit einem schwachen Lächeln an Jill. „Schätzchen, sei so lieb und nimm bitte Enton und geh mit ihm in dein Zimmer, ja? Ich muss kurz etwas mit deinem Bruder besprechen.“ „Na gut.“ Alles andere als zufrieden klingend, schnappte Jill sich Entons rechten Arm und verschwand mit ihm wieder aus der Halle. „Möchtest du mir vielleicht verraten, was du dir dabei gedacht hast?“, fuhr die Frau fort, kaum, dass die Tür hinter Jill zugefallen war. Sie achtete nicht auf Vince oder die Unbekannte, die unbeteiligt danebenstand. Chandra konnte nicht anders, als sich völlig fehl am Platz zu fühlen. Die Frau musste Zayns Mutter sein und er hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, dass diese sehr sauer sein würde. Ihre Augen sprühten förmlich Funken und ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch. „Ich musste es tun, Mom“, entgegnete Zayn, wissend, wovon sie sprach. „Was genau? Dich in Lebensgefahr bringen oder mir das verheimlichen?“ „Mom, ich …“ „Nichts Mom! Wie konntest du einfach, ohne ein Sterbenswörtchen an mich zu verlieren, in diese Stadt fahren? Wohlwissend, dass ich krank würde vor Sorge um dich.“ Ihre Stimme war kühl, aber messerscharf. Auf Zayns Gesicht zeichnete sich klarer Ärger ab, aber er schien sich zu beherrschen. „Wenn ich dir gesagt hätte, was ich vorhabe, hättest du mich niemals gehen lassen.“ „Zurecht!“, stellte sie lautstark klar. „Natürlich lasse ich meinen Sohn nicht alleine in eine gefährliche Stadt hunderte von Kilometern entfernt reisen, wo es nur so wimmelt von kriminellen Menschen und gefährlichen Pokémon. Aber das war dir egal! Stattdessen war alles, was du zurückgelassen hast, eine lächerliche Notiz an Alyssa, dass du für ein paar Tage in Pyritus seist. Ich müsse mir ja keine Sorgen machen, du würdest schon aufpassen und heil wiederkommen. Und dann bist du dort und nicht zu erreichen, schreibst nach zwei Tagen nur eine knappe Nachricht. Weißt du, wie ich mich gefühlt habe?“ Sie verlor ein wenig an Ernsthaftigkeit, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. „Aber es ist doch alles in Ordnung, ich bin hier und es geht mir gut“, wollte Zayn sie beschwichtigen, doch der Versuch half nicht im Geringsten. „Was wäre, wenn es anders wäre? Dann hätten wir es wahrscheinlich nie erfahren. Möchtest du das? Dass ich nur erahnen kann, was meinem Sohn zugestoßen sein könnte, nachdem er aus purer Dummheit nach Pyritus gereist ist?“ Das war ein kleiner Schlag unter die Gürtellinie und Chandra sah beschämt Richtung Eingangstüre. Ob sie es merken würden, wenn sie sich hinausschleichen würde? Dieses Familiendrama wollte sie überhaupt nicht miterleben; schon gar nicht vor dem Hintergrund, dass Zayn nicht aufrichtig war, denn immerhin wäre ihm wirklich fast etwas zugestoßen, hätte Chandra an jenem Abend nicht zufällig seinen Weg gekreuzt. Sie setzte den Punkt Zayns Mutter niemals erzählen, wie wir uns kennengelernt haben auf ihre imaginäre Checkliste. „Du verstehst das nicht“, blieb er standhaft. „Ich bin alt genug, um selbst entscheiden zu können, wo ich hingehe. Ich brauche dich nicht um Erlaubnis zu bitten. Also hör auf, mir das vorzuwerfen.“ „Denkst du, es ginge mir darum?“ Wut sprach aus ihrer Stimme. „Darum, dich zu kontrollieren? Du kannst tun und lassen, was du willst. Ich würde dich nicht aufhalten, wenn du in eine andere Region reisen wollen würdest, ich stehe immer hinter dir. Aber erwartest du ernsthaft, dass ich es gutheiße, dass du nach Pyritus gehst – nach allem, was passiert ist?“ „Du hast keine andere Wahl, Mom. Ich werde nicht aufhören, das Richtige zu tun, nur weil du mit deiner krankhaften Angst um mich nicht zurechtkommst.“ Zayn machte keinen minder entschlossenen Eindruck als sie zuvor; er war nicht bereit, von seinem Standpunkt abzurücken. „Und genau aus diesem Grund habe ich dir nicht gesagt, dass ich dorthin gehe. Weil ich wusste, dass du wieder übertreiben würdest.“ Zayns Mutter trat noch einen Schritt auf ihn zu, bis sie unmittelbar vor ihm stand. Ihr Blick ließ sich am ehesten als eisern beschreiben. „So redest du nicht mit mir, Zayn. Ich bin immer noch deine Mutter und es ist mir egal, wie alt du bist oder was du für das Richtige hältst. Ich werde mir immer das Recht herausnehmen, es dir zu sagen, wenn du einen Fehler begehst. Denn … ich mache mir Sorgen um dich und will dich beschützen. Aber das kann ich nicht, wenn du nicht ehrlich zu mir bist.“ Ihre Stimme erstarb, sie presste die Lippen aufeinander. Eine glasige Schicht überzog ihre Augen. „Was soll ich Jill sagen, wenn du eines Tages vielleicht nicht wiederkommst? Übertreibe ich dann etwa immer noch?“ Es vergingen einige quälend lange Sekunden, in denen sie nur zu ihrem Sohn hochsah. Zayn rührte sich nicht und Chandra konnte erkennen, wie er überlegte. Doch dann gab er sich einen Ruck, schloss die Arme um seine Mutter und zog sie eng an sich. „Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst“, sagte er entkräftet. Seine Mutter drückte ihn dicht an sich und beruhigte sich allmählich wieder. „Mach das bitte nie wieder.“ Eine unverkennbare Trauer lag auf ihren feinen Gesichtszügen, aber als sie die Augen schloss und sie kurz darauf wieder öffnete, schien jene wie weggewischt. Ihr Blick klärte sich und dann sah sie über Zayns Schulter hinweg direkt zu Chandra. „Wen hast du denn da mitgebracht?“ Sie lösten sich voneinander und als Zayn zu Chandra sah, machte er nicht den Eindruck, als hätte seine Mutter ihn gerade wegen seiner Handlungen zusammengefaltet. Die Fähigkeit, Gefühle auf Knopfdruck verschwinden zu lassen, lag offenbar in der Familie. „Mom, das ist Chandra, sie … Ehrlich gesagt ist das ziemlich kompliziert.“ „Das glaub ich dir sofort“, ergänzte Vince ungerührt. „Oh, Chandra, freut mich, dich kennenzulernen“, sagte Zayns Mutter und reichte ihr eine Hand. „Entschuldige bitte, dass du mich so kennenlernen musstest. Ich bin nicht immer so ein Teufel. Aber du kannst mich gerne Cara nennen.“ „Schon in Ordnung“, lächelte Chandra verlegen. Die Situation war verdammt unangenehm. „Wo habt ihr euch kennengelernt?“ „Auch das ist kompliziert“, antwortete Zayn. „Aber sag mal … Könnte sie vielleicht für eine Weile hierbleiben? Es ist wichtig. Ich werde dir später alles in Ruhe erklären.“ Cara schien irritiert, aber nicht abgeneigt. Sie lächelte Chandra zu und sagte: „Natürlich, bleib, solange du möchtest. Es gibt hier einige freie Zimmer, du kannst dir eines aussuchen. Zayns Freunde sind hier immer willkommen.“ „Besonders Freundinnen“, korrigierte Vince. Zayn warf ihm für den Kommentar einen tödlichen Blick zu. „Du bist gleich nicht mehr willkommen, wenn du nicht die Klappe hältst.“ „Oh nein, wie tragisch“, lachte sein Freund. „Ich muss eh wieder los, hab noch was vor. Aber glaub ja nicht, dass dich das von deiner Pflicht, mir alles zu erzählen, befreit.“ Er verabschiedete sich von ihnen und verschwand durch die Türen nach draußen. Daraufhin sagte Zayn seiner Mutter, dass sie später reden würden, und sie meinte, dass Chandra sich ja nun ein Zimmer aussuchen könne. Chandra selbst fühlte sich wie jemand, der falsch abgebogen war und nun nicht wusste, was er tun sollte. Seit sie hier war, hatten sich so viele neue Fragen in ihr aufgetan und sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihr deren Antworten nicht gefallen würden. Einige Minuten später waren sie zu zweit unterwegs durch den rechten Gebäudeteil. Chandra stellte fest, wie orientierungslos sie war. Jeder Gang sah irgendwie gleich aus und die Türen ließen sich auch nur schwerlich auseinanderhalten. Sie waren in den oberen Stock gegangen und kamen vor einer von mehreren Türen zum Stehen. „Mein Zimmer ist am Ende des Ganges. Wenn dir dieses hier nicht gefällt, kannst du auch ein anderes haben, allerdings wärst du dann nicht in meiner Nähe“, erklärte Zayn. „Weiß nicht, ob du das willst.“ „Das hier wird schon okay sein“, presste sie hervor und betrat das Zimmer. Es war nicht sonderlich groß, aber ausreichend für eine Person. Direkt rechts an der weißen Wand stand ein Bücheregal, in dem einige Bücher hausten, davor stand seitlich zur Wand ein Bett für eine Person, welches allerdings noch ohne Bettwäsche war. An der hinteren Wand war rechts ein Fenster eingelassen, vor dem weiße, seidene Gardinen flatterten, und links bezog ein Tisch inklusive Stuhl Position. Das vierte Möbelstück in dem Raum war ein Kleiderschrank mit drei Türen. Der Boden war aus hellem Parkett, die Möbel ebenfalls allesamt in einem hellen, hölzernen Ton. Vorne neben dem Schrank war noch eine weitere Tür in die Wand eingelassen und als Chandra diese öffnete, sah sie ein kleines, fensterloses Bad. Na immerhin. Für die von Zayn erwähnte „Weile“ würde es dieses Zimmer schon tun. Was nach der „Weile“ sein würde – darüber wollte Chandra im Moment nicht nachdenken. „Deine Mutter war ja ziemlich sauer auf dich“, sagte sie nach ihrem Rundblick. „Sie beruhigt sich auch wieder.“ Zayn zuckte mit den Schultern. „Möchtest du mir verraten, was sie so sauer gemacht hat?“ „Das hast du doch mitgekriegt. Es hat ihr nicht gefallen, dass ich nach Pyritus gereist bin“, erwiderte er knapp, doch Chandra durchschaute seine Worte. „Das hat doch sicherlich einen Grund. Sie wird sich ja nicht umsonst aufregen. Und außerdem, ein bisschen recht hat sie ja schon. Für jemanden wie dich war es dort ziemlich gefährlich.“ Er stöhnte genervt: „Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Ich bin hier und es geht mir gut. Das ‚Was wäre, wenn?‘ ist doch völlig egal.“ „Aber das ‚Was war?‘ ist es nicht“, konterte Chandra und dann stand sie auch schon unmittelbar vor ihm und sah hoch in sein Gesicht. „Du hast mir immer noch einige Fragen zu beantworten. Mittlerweile mehr denn je, immerhin habe ich dafür gesorgt, dass deine Mutter ihren Sohn wiedersehen kann.“ „Und ich habe dich mit hierher genommen. Ich denke, damit sind wir quitt“, schmunzelte er. „Oh, nein, nein, nein, netter Versuch, aber wir sind noch nicht mal ansatzweise quitt, Zayn.“ Sie tippe ihm mit dem Finger gegen die Brust. „Dafür kann ich mich auch auf andere Weise revanchieren.“ „Ach ja? Wie denn?“ „Du kannst dir ja was aussuchen, wenn du mir meine Fragen beantwortet hast“, grinste sie, was Zayn ihr gleichtat. „Das ist aber ein ziemlich offenes Angebot, Chandra.“ „Gut möglich, aber vielleicht motiviert es dich ja dazu, mich endlich aufzuklären.“ Dafür fuhr Chandra, wenn notwendig, auch schwerere Geschütze auf. Allmählich war sie ihre ahnungslose Rolle mehr als leid. „Na gut, da kann ich nicht ablehnen“, gab er nach und sah in ihre Augen. „Was möchtest du wissen? Und dieses Mal meine ich die Frage ernst.“ Seinen Blick ungerührt erwidernd, sagte sie: „Als Erstes möchte ich wissen, was du an dem Abend, als ich dich gerettet habe, in Pyritus gemacht hast.“ Leider war irgendeine höhere Macht nicht auf ihrer Seite, wie es schien. Kurz nach ihren Worten klopfte es an der Zimmertüre und sie beide zuckten auf, als hätte man sie bei etwas Geheimen gestört. Mit genervter Miene schritt Chandra zur Tür ihres neuen Zimmers und als sie diese öffnete, sah sie sich einem unbekannten Mädchen ihres Alters gegenüber.   ******   Er war zu spät. Diese Erkenntnis, von der er niemals auch nur im Entferntesten gedacht hätte, sie sich einmal bewusst machen zu müssen, drang wie tausend eiskalte Stiche in sein Bewusstsein. Ihre Kälte breitete sich wie ein Gift langsam in seinem Körper aus, lähmte ihn, als legten sich klamme Finger um ihn, die ihn zu einer Eissäule erstarren ließen. Doch tief unter der gefassten, erkalteten Fassade brodelte es förmlich und den einzigen Verweis auf diesen Zorn lieferte seine rechte, zur Faust geballte Hand, die an seiner Seite unkontrolliert zitterte. Hier stand Ray nun also, in der Wohnung seiner missratenen Schwester, wo ihm nichts als verlassene Zimmer und Leere entgegenschlugen, jedoch nicht das, was er hier vorzufinden erhofft hatte. Augenblicklich hätte er seine Faust vor lauter Wut über seine eigene Naivität in die Wand krachen lassen können. Natürlich war das kleine Biest nicht länger hier. „Die Wohnung ist leer, Ray“, bestätigte seine rechte Hand Samuel seine Erkenntnis nach einem Rundgang. „Allerdings sind alle Fenster verschlossen und da die Tür von innen abgeschlossen war, stellt sich mir die Frage, wie Ihre Schwester abhauen konnte.“ Das war in der Tat eine Frage, der man Beachtung schenken sollte, wenngleich Ray die Antwort bereits kannte. Tatsächlich war der Metallriegel vorgeschoben gewesen, was bedeutete, dass Chandra nicht die Tür genommen haben konnte, als sie abgehauen war. Ray besaß zwar einen Ersatzschlüssel für ihre Wohnung – für Fälle wie diesen –, das extra Schloss jedoch hatte sein Hypno mittels psychokinetischer Kräfte öffnen müssen, indem es den Riegel ohne viel Mühe zur Seite geschoben hatte. Das war unauffälliger, als die Tür mit Gewalt aus ihren Angeln zu treten. Die Wohnung selbst lag in nicht mehr als zwei Metern Höhe und somit tief genug, um ohne Probleme aus dem Fenster klettern zu können. Es hätte jedoch keinen Vorteil gehabt, ein Fenster statt der Türe zu nehmen. Die Wohnung allerdings physisch gar nicht erst verlassen müssen, bot eine vielversprechendere Option zur Flucht an. „Konnte ihr Psiana vielleicht Teleport?“, fragte Samuel, der offenbar in ähnlichen Bahnen überlegte. „Nein. Psiana können Teleport nicht erlernen.“ Selbstverständlich war das keine Möglichkeit. Niemals hätte er Chandra dieses Pokémon gelassen, könnte es solch eine für ihn gefährliche Attacke erlernen. „Allerdings ist das auch gar nicht nötig“, fuhr er fort. „Inwiefern?“ „Sie war nicht alleine“, sprach Ray endlich den Gedanken aus, der das Feuer des Zornes in seinem Inneren schürte. „Aber …“ Samuel verstand nicht, denn er war von Ray bislang noch nicht über den Grund für den heutigen Besuch in Chandras Wohnung aufgeklärt worden. Im Moment war Ray allerdings nicht gewillt, ihm die wissenswerten Einzelteile zu liefern. Stattdessen wandte er sich nun den anderen beiden Personen zu, die ebenfalls mit ihm im Flur standen. „Wie konnte das passieren?“, forderte er mit bedrohlich ruhiger Stimme zu erfahren. Als er in die ahnungslosen Gesichter der beiden Männer sah, denen er seine Wut zu verdanken hatte, musste er an sich halten, sie nicht auf der Stelle seinen Pokémon zum Fraß vorzuwerfen. „Ich, ähm …“, stammelte Larkin, der ältere der beiden. „Ähm drückt eure Dummheit schon ganz gut aus“, erwiderte Ray ungerührt. „Wir konnten ja nicht wissen, dass dieser Typ –“ „Was?“, unterbrach Ray ihn. „Dass dieser Typ euch zwei Deppen einen Pokéball abnehmen konnte oder dass er gleich auch noch meine liebreizende Schwester mitnimmt?“ „Hätten wir gewusst, dass –“ Auch diesen Rechtfertigungsversuch würgte Ray ohne viel Mühe ab, indem er fassungslos auflachte. „Hätte bringt mir leider auch nichts. Aber lasst es mich noch einmal für den guten Samuel rekapitulieren. Der Abend, an dem Chandra mich das letzte Mal angerufen hatte, knapp drei Tage her. Ich denke, der Inhalt ist euch bekannt. Ihr wart unterwegs, um einem Kunden ein Cryptopokémon zu übergeben. Danach habt ihr bemerkt, wie euch jemand gefolgt ist. Er ist euch sogar bis in eine Bar gefolgt, aber offenbar habt ihr zu viel Gesöff getrunken, um zu merken, wie er Ian einen leeren Pokéball unterjubeln und sich ein Cryptopokémon mitnehmen konnte. Na immerhin wart ihr schlau genug, ihm zu folgen, denn sein baldiges Verschwinden hat euch stutzig gemacht. Leider wart ihr aber nicht schlau genug, um zu merken, dass einer eurer Pokébälle leer war. Tja, Glück für das kleine Arschloch.“ Larkin funkelte ihn mit verdrießlichem Gesichtsausdruck an. „Wie hätten wir das so schnell merken sollen? Es waren schließlich nicht unsere Pokémon.“ „In der Tat. Nun ja, immerhin konntet ihr ihn erwischen. Zu eurem Pech kam genau in diesem Augenblick meine Schwester vorbei – die ihr natürlich noch nie gesehen hattet. Leider hat sie einen ganz lästigen Beschützerinstinkt. Aber beantwortet ihr mir doch eine Frage. Ihr musstet doch geahnt haben können, dass dieser Kerl etwas über die Cryptopokémon wissen musste, sonst hätte er euch ja schließlich nicht beobachtet. Und dennoch habt ihr euch von meiner Schwester in die Flucht schlagen lassen. Könnt ihr mir das erklären?“ „Wir hatten keinen offenen Verdacht gegen ihn und wollten nicht Ihren Zorn auf uns ziehen. Dem letzten, der Ihre Schwester verärgert hat, ist’s nicht wohl bekommen“, erklärte Larkin. Ein Grinsen spreizte Rays Lippen, aber es diente lediglich als Schleier, der seine Wut verhüllte. „Wohl wahr. Ihr seid also von dannen gezogen. Aber …“ Er fühlte, wie jene Wut nun wieder stärker in ihm aufbrodelte, als er die Geschichte zu Ende dachte. „Wie kann es sein, dass ihr zwei Idioten über zwei Tage gebraucht habt, um zu merken, dass der scheiß Pokéball leer ist?“, fragte er, wobei er ihnen das Wort „leer“ mit deutlich erhobener Stimme entgegenschleuderte. Es war hin um seine Geduld. Der Abend vor drei Tagen – er war unglücklich verlaufen. Ray selbst war es gewohnt gewesen, dass Chandra hin und wieder seinen Status missbrauchte, um sich Probleme vom Hals zu halten. Wie hätte er auch ahnen können, dass sie zwei seiner Leute erwischt hatte? Und im Falle von Larkin und Ian war ihr Respekt vor ihm deutlich größer gewesen als der Zweifel an einem dahergelaufenen Typen.  Nun meldete sich Ian, der jüngere, zu Worte. „Es tut mir leid, ich hätte es früher merken müssen.“ „Dann wäre es vielleicht nicht so weit gekommen“, ergänzte Ray, dann griff er in seine Manteltasche und zog jene Ballkapsel heraus, die Ian erst vor wenigen Stunden leer vorgefunden hatte. „Seht euch das an.“ Er öffnete die Kapsel, in welcher ein kleiner, zusammengefalteter Zettel lag, dessen Inhalt die beiden natürlich schon kannten. Aber wenn Ray eins half, dann, ihnen ihren Fehler noch einmal mehr als deutlich vor Augen zu halten. Er öffnete das Papier und las vor: „‚Vielen Dank, ihr Idioten.‘ Er hat offenbar mehr Humor als ihr Intelligenz und sofort erkannt, was Sache ist.“ Larkin wollte abermals ansetzen, um etwas zu ihrer Verteidigung hervorzubringen, doch Ray platzte allmählich der Kragen. „Haltet die Klappe, ich will nichts mehr hören von euch zwei Dilettanten!“, warf er ihnen lautstark an den Kopf. Im nächsten Moment, überwältigt von dem heißen Gefühl der Wut in seiner Brust, schlug er den Pokéball in seiner Hand voll Wucht gegen die Wand. Mit einem Klacken zerbrach die Kapsel und fiel in zwei Hälften zu Boden. „Eigentlich sollten das eure Köpfe sein“, knurrte er. Die beiden starrten ihn schweigend, aber mit vor Ehrfurcht erfüllten Gesichtern an. Sie wären nicht die ersten, die Ray ersetzen ließe. „Chandra ist weg“, donnerte seine Stimme erneut durch den Flur. „Gestern hat sie niemand mehr gesehen und an ihren üblichen Orten ist sie nicht. Das lässt den Schluss zu, dass sie bereits einen ganzen Tag Vorsprung hat. Die Region ist riesig, sie könnte mittlerweile überall sein, vor allem, wenn sie nicht alleine ist.“ Natürlich war sie nicht alleine. Niemals hätte sie den Mut gefasst, alleine aus Pyritus zu fliehen. Wie auch? Sie wäre wahrscheinlich nicht einmal bis über die Stadtgrenze hinausgekommen. Doch mit Hilfe einer zweiten Person sah das schon wieder anders aus. Jemand, der ganz bewusst ein Cryptopokémon entwendete – überhaupt so viel wissen musste, um sie zu erkennen –, war ganz sicher nicht Irgendjemand. Doch das schlimmste an der Erkenntnis, dass er dieses Debakel nicht hatte verhindern können, war die Tatsache, dass es sehr wohl hätte verhindert werden können. Die Wut, die er für die beiden Trottel vor sich übrighatte, richtete sich in gewissem Maße auch gegen sich selbst. Vorgestern Abend erst war er hier gewesen und hatte Chandra geglaubt, dass sie alleine seien. Er war keineswegs jemand, der alles für bare Münze nahm, doch er hatte seiner Schwester vertraut. Wobei es wahrscheinlich weniger Vertrauen in sie als viel mehr in sich selbst gewesen war. Chandra war stets handzahm ihm gegenüber gewesen, hatte es nie gewagt, sich gegen ihn aufzulehnen, zumindest nicht ernsthaft. Ray konnte sich immer an der Sicherheit laben, dass sie es nie in Betracht ziehen würde, ihrer beider Vertrag zu brechen und die Stadt zu verlassen. Sie hatte sich immer zu seinem Wohlwollen verhalten, ob sie es wusste oder nicht. Ihre Angst vor ihm war sein Trumpf. Und jener Gewissheit, die er eigentlich ihr gegenüber hatte haben können, war es zu verdanken, dass er an diesem verhängnisvollen Abend leichtsinnig gewesen war. Chandra hatte ihm gesagt, sie seien alleine, doch auf dem Tisch hatten zwei Gläser gestanden. Zwei volle Gläser für eine Person? Möglich, aber unwahrscheinlich. Anstatt aber diesen Umstand zu hinterfragen, war Ray ihrer Lüge wie ein Narr auf den Leim gegangen. Es hätte ja auch zig Gründe geben können. Sie hätte Besuch erwarten oder zuvor Besuch gehabt haben können – Besuch, der kein Wasser mochte. Nicht von der Hand zu weisen war überdies die Tatsache, dass Chandra nun mal ein Flittchen war und es demnach nicht ungewöhnlich, dass irgendwelche Männer bei ihr ein uns ausgingen. Es half ja alles nichts. Ray musste sich wohl oder übel eingestehen, wie lächerlich seine eigenen Rechtfertigungsversuche klangen. Seine Leichtsinnigkeit hatte ihn die Kontrolle über seine Schwester gekostet. „Womöglich lassen sich ja in der Wohnung Hinweise auf denjenigen finden, mit dem Ihre Schwester abgehauen ist“, schlug Samuel vor. „Meine Schwester hurt sich durch die ganze Stadt, ich will gar nicht wissen, was wir hier alles finden“, bluffte Ray ihn an. Um sich von dieser ekelerregenden Vorstellung abzulenken, trat er ins Wohnzimmer und sah sich um. Ob hier irgendwo etwas war, das Aufschluss darüber gab, wohin sie verschwunden sein könnte? Wahrscheinlich nicht, so dumm war selbst Chandra nicht. Dennoch trat er vor die Kommode und öffnete deren oberste Schublade. Ihm fiel ein Bilderrahmen ins Auge und darin ein Bild, mit dem er nicht gerechnet hatte. Es zeigte Chandra und ihn selbst, allerdings waren sie beide deutlich jünger. Das musste acht oder neun Jahre her sein. Ray schmunzelte, als er das kleine, blondhaarige Mädchen betrachtete. Das Bild war noch aus der Zeit, als sein Vater und er Chandra noch hatten glauben lassen, sie drei wären so etwas wie eine Familie und Chandra ihnen wichtig. Früher war diese kleine Nervensäge einfacher zu handhaben gewesen. Sie war naiv gewesen und hätte ihnen wohl alles geglaubt. Und sie war heute noch genauso naiv, wenn sie ernsthaft dachte, dass sie Ray derart leicht hintergehen und davonkommen könnte. Im nächsten Moment schlug er den Bilderrahmen mit dem Glas voran gegen die Kante der Kommode. Mit einem unschönen Knirschen gab das Glas nach und fiel in Scherben zu Boden. Er nahm das Foto aus den Überresten des Rahmens, dann verschwand es in seiner Tasche. Vielleicht würde er es verbrennen. Oder als Ziel für seine Dartscheibe nehmen. Er ging wieder in den Flur. Samuel verfolgte alle seine Bewegungen; er wusste, wann er Ray besser in Ruhe lassen sollte. Larkin und Ian hingegen standen steif an ihrem Fleck und waren vermutlich froh, wenn sie nicht die Zielscheibe für Rays Zorn wurden. „Wir müssen sie finden. Auf der Stelle“, befahl Ray an Samuel gewandt. „Das werden wir.“ „Schick noch heute Leute los, die sich auf die Suche nach Chandra machen. Ich will, dass sie jeden Fleck dieser scheiß Region absuchen, jedes noch so kleine Dorf unter die Lupe nehmen. Sie sollen jeden Stein umdrehen, wenn nötig.“ Wenn man sie in Orre nicht finden würde, ließe er sie notfalls auch überall sonst suchen. Doch er glaubte kaum, dass das nötig sein würde. Wer auch immer ihr geholfen hatte, zu fliehen, stammte vermutlich nicht aus einer anderen Region. Außerhalb von Orre interessierte sich niemand für die Ereignisse in dieser Region und schon gar nicht für Pyritus. Orre war groß, aber nicht unendlich. Früher oder später würde er sie finden. Denn sie gehörte ihm und er ließ sein wertvollstes Artefakt nicht unbeaufsichtigt in der Welt umherwandern. Nie wieder. „Und ich will nicht nur Chandra. Den Typen will ich auch haben. Er hat es gewagt, meiner Schwester Flausen in den Kopf zu setzen, und damit wird er nicht ungestraft durchkommen.“ Samuel strich sich interessiert durch den dunklen, leicht ergrauten Bart und seine nächsten Worte klangen, als würde er lediglich von einem Objekt sprechen. „Er, tot oder lebendig?“ Ray entlockte diese Frage ein Grinsen. Er mochte den Humor seiner rechten Hand. „Ach, Sam. Lebendig natürlich, tot nutzt er mir ja nichts. Allerdings …“ Kurz überlegte er. „Mit ihm muss nicht ganz so zaghaft umgegangen werden. Hauptsache, er lebt noch, wenn ich ihn zwischen die Finger bekomme. Aber meiner Schwester wird kein Haar gekrümmt, damit das klar ist. Das übernehme ich selbst, wenn sie wieder hier ist.“ Nun wandte er sich zu Larkin und Ian. „Ihr beide solltet hoffen, dass wir Chandra nur allzu bald finden. Aber ich denke, ihr könntet dabei von Nutzen sein. Schließlich seid ihr die Einzigen, die diesen kleinen Bastard richtig gesehen haben, nicht wahr?“ Ein kühler Tonfall dominierte nun seine Stimme und sorgte dafür, dass seine Gegenüber stocksteif vor ihm standen. „Sehr schön. Und wagt es nicht, mich noch ein weiteres Mal zu enttäuschen. Sonst wird dein Gesicht bald noch eine zweite Narbe zieren, lieber Larkin, und für dich, Ian, denke ich mir gerne auch noch etwas aus.“ Ray mochte das Gefühl der Macht, das jedes Mal wie ein warmer Schauer durch seine Adern floss und ihm Stärke einverleibte. Er genoss es, Angst und Respekt in den Augen derer zu sehen, mit denen er sprach. Sie alle taten gut daran, sich zu seinem Wohlwollen zu verhalten, denn er bevorzugte keine halben Sachen bei der Durchsetzung seiner Interessen. Und er bekam immer, was er wollte. So konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er seine Schwester wieder hier in Pyritus wissen würde. Doch die Zeit der Freiheit war vorbei. Er ließ sich nur einmal zum Narren halten – und dieses eine Mal war einmal zu viel. „Verstanden, meine Herren?“ Ein einstimmiges Nicken war die Antwort. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)