Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 9: Ein Hauch von Zweifel -------------------------------- Vor Chandra in der Türe stand ein Mädchen mit brustlangen, honigblonden Haaren, von denen ein voluminöser Pony seitlich über die Stirn und dann am Gesicht entlang nach unten fiel. Ein braunes Paar Augen blickte ihr interessiert entgegen und Chandra selbst kam nicht umhin, einen begutachtenden Blick über die weiblich betonte, schlanke Figur des Mädchens zu werfen. Die schmale, zierliche Taille, einladende Hüften, die genau den richtigen Schwung hatten, und ein Dekolleté, das in Kombination mit der dunkelroten Bluse selbst Chandras Blicke magisch auf sich zog, machten aus dem Mädchen eine schöne, junge Frau – der gegenüber sich Chandra wie ein unförmiges, unattraktives Mädchen fühlte. Dabei war sie ja sonst niemand, der an seinem Aussehen allzu sehr zweifelte. Sie merkte, dass sie zu lange gestarrt hatte, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach die Unbekannte auch schon – aus einem Mund, der von vollen, roten Lippen geschmückt wurde. „Oh, hi. Ich hoffe, ich habe nicht gestört?“ Um ehrlich zu sein, schon, dachte Chandra, doch setzte ein freundliches Gesicht auf. „Aly, was machst du hier? Und wie hast du uns überhaupt so schnell gefunden?“, fragte Zayn. Chandra trat zur Seite und sah, dass er zumindest auch ein wenig überrumpelt aussah. „Das war doch nicht schwer“, zwinkerte die Angesprochene namens Aly, und in Chandras Gehirn fing es an, zu rattern. Aly passte zu Alyssa und Alyssa war der Name auf Zayns PDA gewesen, als Chandra die Nachricht hatte lesen wollen. Ihr Name war in der vergangenen Stunde ziemlich oft gefallen und wie es aussah, war diese Alyssa die Einzige gewesen, der Zayn von seinem Fortgehen berichtet hatte. Damit war klar, dass er ihr vertraute und sie offenbar in einer nahen Beziehung zueinanderstehen mussten. Chandra hätte sich gerne besser unter Kontrolle gehabt, doch als Alyssa Zayn umarmte und ihm sagte, wie sehr sie sich freue, ihn wohlauf wiederzusehen, musste sie dies einfach misstrauisch beobachten. Doch dann herrschte sie sich an, nicht allzu auffällig hinzustarren. Sie konnte darauf verzichten, dass man ihr ihre Gedanken ansehen konnte. „Sorry, dass ich hier so reingeplatzt bin“, wandte Alyssa sich plötzlich mit einem Lächeln an sie. „Ich bin Alyssa und du?“ „Chandra.“ „Kommst du aus Pyritus?“, sprach Alyssa die korrekte Schlussfolgerung aus, was Chandra bejahte. „Ehrlich gesagt habe ich mir die Menschen dort immer ganz anders vorgestellt, irgendwie verschlagener. Aber das trifft wahrscheinlich nicht auf alle zu, oder? Oh je, ich glaub, ich rede totalen Blödsinn, entschuldige bitte.“ Sie griff sich beschämt an die Wangen. „Ähm, schon okay, die meisten Leute dort sehen tatsächlich ziemlich scheiße aus“, lachte Chandra unsicher. Sie fühlte sich nicht wohl auf dem Präsentierteller. Glücklicherweise kam Zayn ihr zur Hilfe. „Chandra wird einige Zeit hierbleiben, Aly. Sie hat einiges durchgemacht, also sei bitte so nett und löcher sie nicht mit Fragen, ja?“ Alyssa sah zu ihm und in ihrem Gesicht erschien eine ähnliche Irritation wie zuvor bei Zayns Mutter, doch auch sie begnügte sich vorerst mit seinen Worten. „Aber natürlich. Chandra, wenn du mal ein Mädchen zum Reden brauchst, mein Zimmer ist unten. Zayns Gegenwart ist manchmal etwas eintönig.“ „Ich steh übrigens immer noch neben dir“, beschwerte dieser sich. „Na wie auch immer“, winkte sie ab. „Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass Torben mir schon die ganze Zeit damit in den Ohren gelegen hat, wann du wiederkommst. Er war nicht untätig, während du weg warst, und muss etwas Wichtiges mit dir besprechen. Vielleicht solltest du jetzt gleich zu ihm gehen.“ Zayn seufzte. „Kann das nicht warten?“ „Du weißt, dass er nicht gerne wartet. Insbesondere dann nicht, wenn es darum geht.“ Chandra entging die merkwürdige Betonung des Wortes „darum“ nicht. Sprachen hier denn etwa alle in Rätseln? Und es konnte doch nicht sein, dass sie nun schon wieder um ihre Antworten gebracht würde. Aber sie wollte sich vor Alyssa nicht in den Vordergrund drängeln und auf ihren Fragen beharren, also sah sie Zayn nur ausdruckslos an. Er schien hin und hergerissen, für was er sich entscheiden sollte, bis Chandra ihm die Entscheidung abnahm und meinte: „Tu dir keinen Zwang an.“ „Wir reden später, ja? Wirklich!“, versicherte er ihr, und Alyssa ging schon voraus durch die Türe. „Das möchte ich schwer für dich hoffen“, stimmte Chandra zu. Noch ein weiteres Mal würde sie sich nicht vertrösten lassen – und sicherlich nicht noch einmal wegen ungebetenen weiblichen Besuches. Aber Missmut brachte sie an dieser Stelle nicht weiter, also verabschiedete sie Zayn bis später, sodass sie alleine in ihrem neuen Quartier zurückblieb. „Scheiße, ich bin viel zu geduldig“, sprach sie zu sich selbst und fuhr sich genervt durchs Haar. Das war sie doch sonst auch nicht – wieso jetzt auf einmal? Um sich von ihrem Ärger abzulenken, sah sie sich ein wenig im Zimmer um. Sie öffnete das Fenster und sah nach draußen. Von ihrem Zimmer aus hatte sie Sicht auf das, was hinter dem Gebäude lag. Tatsächlich grenzte nicht unmittelbar der Wald an das Haus, sondern das Grundstück breitete sich noch ein gutes Stück nach hinten aus, ehe ein Zaun sein Ende markierte. Der vordere, rechte Bereich wurde von einem Trainingsplatz eingenommen, links befand sich ein abgedeckter Pool und vor beidem grenzte an das Haus eine Terrasse. Dahinter tat sich nur noch eine große, gepflegte Grünfläche auf, in deren Mitte ein mit Steinen umlegter Teich lag. Vielleicht sollte sie nach draußen gehen und ihre Pokémon an die frische Luft lassen. Das wäre besser, als hier drinnen die Zeit totzuschlagen. Doch bevor sie diesen Gedanken in die Tat umsetzte, sah sie sich weiter im Raum um. Der Kleiderschrank war leer, dafür entdeckte sie jedoch in einer der Schubladen des Tisches einen Schlüssel und stellte fest, dass er für die Zimmertüre war. Hervorragend; sie hätte sich nicht wohl damit gefühlt, das Geld, das sie von zu Hause mitgenommen hatte, ungeschützt hier herumliegen zu lassen. Sie merkte bei dem Gedanken an Pyritus, wie merkwürdig es war, den Ort, in dem ihr fast ausschließlich Schlechtes widerfahren war, als ihr Zuhause zu bezeichnen. Aber sie hatte über die Hälfte ihres Lebens nichts anderes gekannt und dort, wo sie nun war, ließ es sich mit Sicherheit schön leben und wohlfühlen, doch sie kannte kaum jemanden und fühlte sich bislang sehr fremd. Vielleicht sollte sie das ändern. Sie war von keinem Mann abhängig und würde sicherlich nicht hier sitzen und warten, bis Zayn irgendwann wiederkommen und beschließen würde, dass er nun Zeit für sie hatte. Wenn er Wichtigeres zu tun hatte, als sich mit ihr zu beschäftigen, dann fand sie eben selbst eine Möglichkeit der Zeitvertreibung. Chandra kramte ihre Pokébälle aus der Tasche und verließ anschließend das Zimmer. Sie schaffte es nach unten, doch dort verwirrten sie die in sanftem Gelb gestrichenen Gänge und sie schlug gefühlt dreimal den falschen Weg ein. Es war ruhig um sie herum und es begegnete ihr keine Menschenseele, der ihre Orientierungslosigkeit hätte auffallen können. Nach einer kleinen Ewigkeit fand sie den Weg zurück in die Eingangshalle. Erst jetzt fiel ihr auf, dass in der rechten, hinteren Ecke eine Rezeption war, im Moment jedoch unbesetzt. Der Bereich dahinter bestand aus Bücherregalen mit einer Menge an Büchern. Chandra trat zu den Büchern und überflog einen Teil des Regals. Allerlei Wissenswertes zu Pokémontypen, Pokémonarten, verschiedenen Lebensräumen, richtiger Pflege, Ernährung, Erziehung … Sie staunte nicht schlecht, als sie die Buchrücken überflog. Hätte nicht gedacht, dass Pokémonzucht so komplex ist, aber gut, was weiß ich schon? Die einzigen beiden Pokémon, die ich habe, sind mir praktisch zugelaufen, dachte sie und bestaunte weiterhin die Regale. „Hey, bist du die Freundin meines Bruders?“ Beim Klang der Stimme schreckte Chandra hoch und ihr geschwindes Umdrehen sorgte dafür, dass sie gegen das Regal stieß. Sie hatte nicht mitgekriegt, wie jemand zu ihr getreten war. Vor der Rezeption stand niemand Geringeres als Zayns kleine Schwester und neben ihr das Enton. Jill war ihr Name, das hatte sich Chandra merken können. „Ja … Äh, nein! Ich meine Nein! Eine Freundin, nicht die Freundin!“, brach er aus ihr heraus und sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Jill sah sie sichtlich neugierig an und meinte schlicht: „Schade.“ „Wieso schade?“ „Du bist hübsch und ich glaube, du bist auch nett. Aber was nicht ist, kann ja noch werden“, grinste Jill. Chandra gab ein unsicheres Lächeln zurück und erwiderte, in der Hoffnung, dieses Thema damit zu beenden: „Ja, mal sehen.“ Sie trat vor die Rezeption und beugte sich ein wenig zu Jill. „Sag mal, dein Name ist Jill, oder?“ „Eigentlich Jillian, aber da ich dich mag, darfst du mich Jill nennen“, sagte sie. „Und wie heißt du?“ Chandra stellte sich abermals vor und daraufhin zog Jill verwundert die Augenbrauchen nach oben. „Chandra – das ist irgendwie ein komischer Name.“ „Ein bisschen vielleicht“, lachte die Angesprochene. „Aber ich mag ihn.“ „Oh, danke. Wie alt bist du, Jill?“ „Elf“, verkündete Jill stolz und schien im Anschluss kurz zu überlegen. „Was machst du hier eigentlich so alleine? Wo ist mein Bruder?“ „Ich glaube, er musste etwas Wichtiges erledigen.“ Als hätte sie mit nichts anderem gerechnet, verdrehte Jill die Augen und stöhnte auf. „Oh man, Zayn ist manchmal so doof. Er kann dich doch nicht einfach alleine lassen, immerhin bist du mit ihm gekommen.“ Diese Worte entlockten Chandra ein Grinsen. „Ich finde, du hast recht, das war wirklich nicht nett“, stimmte sie zu. „Aber egal, dann kümmere ich mich jetzt um dich“, beschloss Jill. „Hast du Hunger?“ Da musste Chandra tatsächlich nicht lange überlegen. Bis auf einen kleinen Snack vor ihrer Abreise aus Portaportus hatte sie nichts zu sich genommen und ihr Magen glich einem maulenden Loch. Also bejahte sie die Frage, woraufhin Jill sich umdrehte und sie anwies, ihr zu folgen. „Komm mit, Enton“, rief sie noch und das gefiederte Wasserpokémon eilte ihnen in tapsigen Schritten hinterher.   ******   Sie waren einen Stock höher gegangen und Jill hatte Chandra in eine Küche geführt, wo sie sich an einem vollen Kühlschrank hatte bedienen können. Niemand außer ihnen beiden war hier und so saßen sie nun schon eine Weile an dem länglichen Tisch, der eine Hälfte des Raumes füllte. Jill war äußerst neugierig und stellte Chandra einige Fragen, doch diese musste feststellen, dass sie die meisten nicht beantworten konnte, da Jill schlichtweg noch zu jung war. „Hast du auch Pokémon, Chandra?“, war Jills nächste Frage. „Ja, ein Psiana und ein Nachtara. Möchtest du sie sehen?“ Jills Augen wurden groß und leuchteten wie zwei funkelnde Eiszapfen. „Oh ja, bitte!“ Umgehend kam Chandra ihrem Wunsch nach, zog die zwei kleinen Kapseln aus ihrer Hosentasche und mit ein wenig Druck vergrößerten diese sich. Wenig später erschienen die grazilen Körper ihrer Pokémon vor sich. Es war das erste Mal, dass sie sie aus ihren Bällen gelassen hatte, seit sie hier war, und tatsächlich konnte man den beiden ansahen, dass sie eine für sie ungewöhnliche lange Zeit in ihren Bällen verbracht hatten. Sunny streckte sich ausgiebig und Lunel begann sogleich, die neue Umgebung zu inspizieren. Nach einem kurzen Rundblick durch den Raum erspähte er Jills Enton, welches auf dem Tisch saß. Er trat an die Tischkante und reckte Enton schnuppernd die Nase entgegen. Enton hingegen sah unsicher aus und legte fragend den Kopf schief und als sein Schabel die Nase des Nachtaras vor ihm berührte, zuckte er zusammen. „Oh, wow!“ Jill rutschte von ihrem Stuhl und trat zu Sunny und Lunel, von denen Erstere mittlerweile damit beschäftigt war, sich das Fell zu lecken. „Kann ich sie streicheln?“ „Klar, nur zu“, lächelte Chandra. Behutsam legte Jill eine Hand auf Sunnys Rücken und fuhr durch das glänzende, hellviolette Fell, woraufhin diese sich gegen die Hand lehnte. Lunel trat nun auch an Jill heran und streckte ihr neugierig den Kopf entgegen. „Hey, das kitzelt!“, kicherte sie, als er ihr über die Wange leckte. „Nicht so aufdringlich, Lunel“, ermahnte Chandra ihr Pokémon und erinnerte sich daran, dass er bei Zayn ähnlich kontaktfreudig gewesen war. „Schon okay, sie sind echt süß!“ Jill kraulte ihn hinter den Ohren und strahlte bis über beide Ohren. „Und man kann mit ihnen kuscheln. Mit Zayns Pokémon geht das leider nicht so gut. Sie sind nicht wirklich süß, bis auf Riolu. Aber die anderen sind groß und manchmal machen sie mir Angst.“ „Ach ja? Wieso?“ Chandra kannte bislang nur drei seiner Pokémon, aber das klang, als hätte er mehr – was sie aber nicht verwunderte, wenn sie so darüber nachdachte. „Brutalanda zum Beispiel wird oft sehr schnell wütend, aber früher war das noch viel schlimmer als heute. Es hat Zayn sogar einmal angegriffen und ihn verletzt.“ Chandra war erschrocken über diese Worte. „Inwiefern?“ „Na ja, er hatte dann einen gebrochenen Arm – und ein paar Schrammen, aber die waren nicht so schlimm.“ „Aua …“, entgegnete Chandra und griff sich unbewusst an den Arm. Aber Jill zuckte nur mit den Schultern, sah fast schon unbeeindruckt aus. „Na ja, es war ja nur ein Arm, der heilt wieder …“ Sie lächelte nicht länger, hatte den Blick nach unten gerichtet. „Und dann? Was ist passiert?“ „Zayn war nicht sauer auf Brutalanda, er hatte Verständnis, und Brutalanda fing an, ihn zu respektieren. Es hat ihm dann sogar richtig leidgetan, ihn verletzt zu haben. Es hat fast eine Woche nichts gefressen, bis es sich sicher war, dass Zayn nicht sauer ist.“ Plötzlich trat wieder ein Lachen auf Jills Gesicht. „Zum Glück hat es dann wieder etwas gefressen. Ich meine, es ist doch ein Drache und Drachen müssen stark sein, um fliegen zu können, sonst sind sie keine Drachen!“ „Ja, stimmt“, meinte Chandra, die sich vom Lachen Jills anstecken ließ. Sie fand, dass Brutalanda zuletzt nicht den Eindruck eines zornigen Pokémons auf sie gemacht hatte. Vermutlich zeugte das aber auch davon, wie gut Zayn und sein Pokémon mittlerweile miteinander klarkamen. „Jedenfalls ist mein Bruder ein sehr guter Trainer, der beste hier!“, betonte Jill stolz. „Ich will auch eines Tages so gut sein. Aber ich bin noch zu jung, um Pokémon zu trainieren. Also müssen Enton und ich noch warten.“ Enton quakte zustimmend und wollte vom Tisch hüpfen. Leider fiel das Pokémon seiner Schusseligkeit zum Opfer und stürzte ungeschickt zu Boden, rappelte sich jedoch sogleich wieder auf und streckte seine Arme entschlossen nach oben. „Oh man, du Tollpatsch“, seufzte Jill. Enton drängte sich zwischen Psiana und Nachtara hindurch, um bei ihr zu sein. Sunny schnupperte an den Härchen auf seinem Kopf, woraufhin es irritiert dreinblickte. Chandra konnte nicht anders, als über das Enton zu lachen. Es war zu putzig und so herrlich unschuldig. Dann kam ihr ein Gedanke. „Du, sag mal, was ist das eigentlich für ein Stein, den Enton um den Hals trägt?“ „Ein Ewigstein. Wenn ein Pokémon ihn bei sich trägt, dann kann es sich nicht weiterwickeln, auch wenn es eigentlich stark genug wäre.“ „Ah, wow. Also ist Enton prinzipiell bereit für eine Entwicklung?“ „Ich hab keine Ahnung“, lachte Jill, „aber wir beide wollen nicht, dass aus Enton ein Entoron wird. Es soll für immer ein kleines, süßes Enton bleiben. Stimmt’s, Enton?“ Das Pokémon gab erneut einen zustimmenden Laut von sich. Es verging noch ein wenig Zeit, in der Chandra mit Jill in der Küche saß und über Pokémon redete. Sie selbst konnte nicht allzu viel erzählen, doch das war nicht schlimm, denn Zayns Schwester fand immer wieder Geschichten, die sie ihr erzählen konnte. Nach einem Blick auf die Uhr fiel ihr jedoch ein, dass sie noch etwas erledigen musste. Daraufhin verabschiedete sie sich und sagte, dass Chandra ruhig Zayn suchen gehen solle, ehe dieser sie noch länger warten ließe. „Hat sie mich jetzt wirklich hier allein gelassen? Wie soll ich jemals wieder zurückfinden?“, seufzte Chandra und rief ihre Pokémon zurück. Sie wusste nicht, wo sie war, außer, dass es der erste Stock war. Auf gut Glück lief sie los und schaffte es nach unten. Es war mittlerweile fast drei Uhr nachmittags, also wenn Zayn nicht bereits ebenfalls auf der Suche nach ihr war, ließ er sich wirklich Zeit. Chandra durchlief gerade einen Gang im Erdgeschoss, als ihr an dessen Ende eine angelehnte Tür ins Auge fiel. Sie kam näher und dann drangen Stimmen an ihr Ohr, von denen eine allzu bekannt war. „Hast du schon nachgesehen, was für ein Pokémon in dem Ball steckt?“ Eine tiefe, unbekannte Männerstimme. „Natürlich nicht. Ich bin doch nicht so wahnsinnig und lasse ein potenziell gefährliches Pokémon aus seinem Ball, ohne zu wissen, ob es nicht innerhalb von Sekunden alles in Schutt und Asche legen kann.“ Zayns Stimme. Chandra schritt alarmiert näher an die Türe und spitzte die Ohren. „Das heißt, wir sollten vorher eine Analyse des Pokéballs vornehmen, um herauszufinden, welches Pokémon in seinem Inneren haust“, schlussfolgerte der Unbekannte. „Das würde ich auch vorschlagen. Ich geh aber ehrlich gesagt nicht davon aus, dass es ein ausentwickeltes Pokémon ist. Aus einem anderen Pokéball des Kerls, dem ich diesen hier abgenommen habe, kam ein Quaputzi.“ Pokéball? Kerl? Abgenommen? Chandra beschlich bei diesen Worten ein düsteres Gefühl und nach und nach flammte Wut in ihrem Inneren auf. Sie fuhr ihr in heißen und kalten Güssen durch die Adern und brachte ihre Beine zum Zittern. Dennoch wagte sie sich noch einen Schritt weiter vor, bis sie durch den Türspalt lugen konnte und sowohl Zayn als auch den Besitzer der zweiten Stimme ins Blickfeld bekam. Einen großen, schlanken Mann mit kurzen, braunen Haaren und einem weißen Kittel am Körper. Sie standen mit dem Rücken zu ihr und bemerkten sie nicht. Was das für ein Raum war, wusste sie nicht. An der hinteren Wand standen einige für sie völlig fremde Gerätschaften, aber im Moment gab es ohnehin Wichtigeres. „Hat das Mädchen, das du mit hierhergebracht hat, etwas damit zu tun?“, fragte der Mann in Weiß und hob den Pokéball hoch. „Ich bezweifle, dass du sie nur mitgebracht hast, weil sie dir gefällt.“ „Natürlich nicht.“ Zayn schüttelte den Kopf. „Aber ja, sie hat ziemlich viel damit zu tun. Und sie weiß noch nicht, dass ich diesen Pokéball mitgenommen habe. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie ich es ihr schonend beibringen kann.“ „Sie weiß es noch nicht?“ „Nein. Hätte ich es ihr gesagt, hätte das vermutlich einiges verändert.“ Zayn verschränkte die Arme vor der Brust und allein aus seiner Stimme war zu hören, dass er sich in einer Zwickmühle befand. Doch Chandra konnte kein Mitgefühl aufbringen; sie wartete nur noch auf den richtigen Moment, um die Bombe hochgehen zu lassen, deren Zündstoff in ihrem Inneren hauste und kurz davor war, sich an ihrem sengenden Zorn zu entfachen. Sie konnte kaum fassen, was sie hörte. Er fuhr fort, lachte unsicher: „Die letzten Tage waren so verrückt, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wenn ich ihr die Wahrheit sage, wird das alles durcheinanderbringen.“ Sie hatte genug gehört. Das klang ja nicht einmal ansatzweise, als glaubte er, die Wahrheit sei das Richtige! Chandra stieß die Türe auf und richtete die Aufmerksamkeit auf sich. „Ich kann dir also deinen Arsch retten, aber den Grund, weshalb ich das tun musste, habe ich nicht verdient?“ Beide Männer drehten sich synchron um und Zayn fiel förmlich alles aus dem Gesicht. Der Schock zeichnete seine Gesichtszüge und zeigte das Offensichtliche: Chandra hatte ihn bei etwas entlarvt, dessen Offenlegung er bislang mit größter Mühe vermieden hatte. Nun machte alles Sinn. Seine ausweichenden Antworten, die Geheimnisse – selbst die willkommene Ablenkung namens Alyssa hatte ihm einmal mehr in den Kram gepasst, um ihren Fragen entgehen zu können. Chandra konnte nicht sagen, welche Emotion heftiger in ihr tobte. Die Wut oder doch die Furcht, als sie den vermeintlich harmlosen Pokéball sah. Er mochte gewöhnlich aussehen, doch in seinem Inneren wartete ein Monster darauf, auf die Welt losgelassen zu werden. „Chandra, was … was machst du denn hier?“, fragte Zayn fassungslos und sprachlos zugleich. Chandra war durchaus Geistreicheres von ihm gewohnt, doch jetzt weckte er den Anschein, sich am liebsten in Luft auflösen zu wollen. „Offenbar endlich das herausfinden, was du mir die ganze Zeit verschwiegen hast.“ „Lass es mich erklären. Es ist nicht so, wie du denkst.“ „Oh, na wenn du das sagst.“ Ein ungläubiges Lachen kam in ihr hoch, dann schritt sie zu ihm. „Diese Floskel meinst du wahrscheinlich genauso ernst wie ‚Du kannst mir vertrauen.‘ Einen Scheiß kann ich!“ Nun stand sie dicht vor ihm und fand den Blick hoch in sein Gesicht, sah, dass er nach der richtigen Antwort suchte, doch sie dachte gar nicht daran, ihn zu Wort kommen zu lassen. „Hast du sie eigentlich noch alle? Einfach ein Cryptopokémon zu klauen und es mir nicht mal zu sagen?“ „Wie hätte ich es dir denn sagen sollen, als wir noch dort waren?“, presste Zayn hervor. „Erst wusste ich nicht, wie du reagieren würdest, und als ich mir deiner Reaktion sicher war, war ich mir ebenfalls sicher, dass du es niemals akzeptiert hättest.“ „Natürlich hätte ich es nicht akzeptiert! Das da“, sie deutete vage auf den Ball, immer noch in den Händen des zweiten Mannes, welcher schweigsam ihrem Streit folgte, „ist kein normales Pokémon, wie du sie kennst. Es ist darauf programmiert, alles zu zerstören, und absolut tödlich. Und es gehört Ray. Wenn er herausfindet, dass du ihm eines seiner Pokémon gestohlen hast, wird unsere Flucht unser kleinstes Problem sein. Wie konntest du so etwas Dummes und Leichtsinniges tun? Die Typen hätten dich umgelegt, hätten sie es herausgefunden – und wäre ich nicht dort gewesen!“ „Ich hatte keine andere Wahl“, erwiderte Zayn wieder gefestigter; er hatte sich wohl von seinem Schock erholt. „Ich bin nicht in dieses Drecksloch gereist, um mit leeren Händen wiederzukommen. Und ja, wenn nötig, riskiere ich auch mein Leben, um an Informationen zu gelangen.“ Chandra irritierte diese ihres Erachtens nach hirnrissige Tatsache und schwieg, woraufhin er fortfuhr. „Weißt du, wie lange wir hier, hunderte Meilen entfernt vom Ursprung, schon versuchen, etwas über die Entstehung dieser Pokémon herauszufinden? Überhaupt etwas Brauchbares über sie in Erfahrung zu bringen? Jahre, Chandra, Jahre. Aber von hier hat man keine Ahnung, was dort drüben vor sich geht, wir können nur hier sitzen und zusehen, wie diese Bedrohung immer weiter zunimmt. Wir können nichts unternehmen, da wir nichts wissen. Eines dieser Pokémon hier zu haben, um es erforschen zu können, um ihm vielleicht helfen zu können, ist das Bestmöglichste in unserer Lage. Also ja, vielleicht bin ich leichtsinnig. Aber wenigstens bin ich kein passiver Arschkriecher wie der Großteil dieser Stadt!“ Chandra stand der Mund offen nach dieser mit Emotionen geladenen Rede. In einer normalen Situation, in welcher sie sich nicht unsäglich hintergangen gefühlt hätte, wäre sie womöglich einer Meinung gewesen mit ihm. Doch nun stand ihr Körper schlicht zu sehr unter Spannung, als dass sie einen Gang hätte runterfahren können. Sie musste nur den Blick auf die rotweiße Kapsel werfen, brauchte bloß einen Gedanken an ihren Bruder zu verschwenden – und spürte die Unkontrollierbarkeit ihres Körpers. „Wie konntest du dieses Wesen mit zu mir nehmen?“, brach es aus ihr heraus. „Wie konntest du es immer noch bei dir haben, nachdem du wusstest, dass es mich durch seine bloße Existenz fast umbringen kann?“ „Ich musste es tun.“ „Ist das alles, was dir dazu einfällt? Du hast gesehen, wie ich auf diese Pokémon reagiere, weißt, wie viel Angst ich vor ihnen habe. Wie konntest du das entscheiden, ohne es mir zu sagen?“ Die Wut wich ihrer Pein, die bei dem Gedanken aufkam, erneut einem Cryptopokémon zu begegnen. Mit einem Mal fühlte sie sich schwach und spürte den Tränenreiz, der ihren Kiefer zittern ließ. „Beruhige dich, Chandra“, sprach Zayn „Ich zwinge dich doch nicht, dich diesem Pokémon zu stellen. Du musst gar nicht dabei sein, wenn wir es aus dem Ball lassen. Du wirst nicht einmal merken, dass es da ist.“ Er wollte ihr über den Arm streichen, doch sie schlug seine Hand weg. „Das ändert gar nichts, Zayn!“, warf sie ihm entgegen. „Du wolltest mir helfen, fortzukommen von diesen schrecklichen Pokémon, stattdessen hast du eines mitgenommen. Ich habe dir vertraut wie der letzte Idiot – wie dumm von mir. Und wenn du tatsächlich glaubst, du könntest ein Cryptopokémon ohne Probleme aus seinem Ball holen, dann bist du sogar noch viel dümmer!“ Kaum dass die Worte gesprochen waren, drehte sie sich um und stürmte aus dem Raum. Sie konnte und wollte nicht länger in sein Gesicht sehen und sich fühlen wie eine Närrin. Eine Närrin, weil sie auf so etwas Simples hereingefallen war: Charme. Sie empfand Wut, vielleicht sogar mehr über sich als wegen Zayns Taten und seines Schweigens. Sie hörte hinter sich, wie er ihr folgte und rief, sie solle nicht weglaufen, doch sie blieb nicht stehen. Eine Tür später und sie war wieder in der Eingangshalle, dem Knotenpunkt für alles, wie es schien. Dann eilte sie nach draußen und ziellos in eine Richtung. Hauptsache weg und bloß nicht zeigen, wie verletzt sie war. Denn Tränen machten sie nur schwach und diese Schwäche ließ sich allzu leicht für Vertrauen missbrauchen. „Hör auf, mir nachzulaufen!“, schrie sie nach hinten. „Ich werde nicht aufhören, dir nachzulaufen“, stellte Zayn klar. „Du kennst dich hier ja gar nicht aus, da lasse ich dich doch nicht alleine in den Wald rennen.“ „Das kann dir doch egal sein.“ „Wow, wann haben wir denn dieses Niveau erreicht? Die Rundmail hab ich wohl verpasst.“ „Seit du dich als egoistisches Arschloch geoutet hast.“ Chandra hatte sich schon ein kleines Stück vom Grundstück entfernt, vor ihr tat sich unmittelbar der Anfang des Waldes auf, da ergriff Zayn ihr rechtes Handgelenk und wirbelte sie so schnell herum, dass sie gegen ihn stieß. Das war wohl mehr Körperkontakt, als in einem Streit hätte erlaubt sein sollen. Zayn hielt ihre Hand zwischen ihnen und ließe er sie los, würde sie nach hinten fallen. „Deine Worte können ganz schön verletzend sein, Chandra.“ Die Nähe und seine raue Stimme schüchterten sie ein. „Deine Taten sind verletzender.“ „Es tut mir leid. Ich wollte es dir sagen, wirklich. Aber ich hatte Angst vor deiner Reaktion. Ich wollte mich nicht mit dir streiten.“ Nur mit Mühe konnte sie seinem ernsten Blick standhalten. „Ich wusste, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt.“ „Wie bitte?“ „Du bist nett und siehst gut aus. Irgendwo musste es ja einen Haken geben.“ Ganz offensichtlich. Niemand war perfekt, selbst wenn es manchmal den Anschein hatte. Er stutzte. „Du findest, dass ich gut aussehe?“ Ihre Mundwinkel zuckten kaum merklich. „Den Bescheidenen kauf ich dir nicht ab.“ Dann nutzte sie seine Irritation, drehte ihr Handgelenk aus seinem Griff und brachte sich in eine distanziertere Position. „Chandra …“ „Du bist ein Narr. Ein dummer Narr“, sprach sie. „Du hättest es mir sagen müssen. Selbst nachdem ich alles von mir preisgegeben habe, hast du geschwiegen.“ „Was hätte dieses Wissen geändert? Den Pokéball hatte ich, bevor wir uns trafen. Oder wärst du nicht mehr mitgekommen, hättest du es gewusst?“ „Nein, aber …“ Entnervt schlug sie sich die Hände vors Gesicht. Vielleicht hätte sie ihn überredet, den Ball dort zu lassen, um zumindest ein Übel zu verhindern. „Das ist alles einfach schrecklich. Ich dachte anfangs, du seist einfach irgendjemand, der nur zu neugierig ist, sonst nichts. Aber du bist so schrecklich moralisch und willst unbedingt das Richtige tun und dabei legst du dich mit Leuten an, die deine Kraft weit übersteigen. Du rennst in dein Verderben und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich da nicht ganz unschuldig dran bin.“ Wahrscheinlich hatte sie ihn noch in seinem Tun bestätigt durch ihre Geschichte. „Wenn es so falsch ist, wieso haben dann deine Pokémon nicht reagiert?“, fragte er, und sie horchte auf. „Ich trug den Pokéball mit dem Cryptopokémon bei mir und trotzdem sind sie schon am ersten Abend so zutraulich gewesen. Ich nehme mal an, dass sie die dunkle Aura eines Cryptopokémons auch spüren können, wenn jene im Ball sind?“ Das hatte Chandra nie gezielt überprüft, aber sie würde es nicht für unwahrscheinlich halten. „Hätte ich so schlechte Absichten gehabt oder wäre mein Handeln so falsch gewesen, hätten sie sicher anders reagiert. Aber im Gegenteil.“ Ein Grinsen spreizte Zayns Lippen. „Sie waren zutraulicher, als sie es sonst bei irgendjemandem sind, von dir abgesehen.“ „Was willst du damit sagen?“, fragte Chandra zögerlich. „Die beiden sind verdammt intelligent und du solltest ihren sechsten Sinn nicht unterschätzen. Wer weiß, vielleicht haben sie das Cryptopokémon gespürt, aber waren einfach auf meiner Seite?“ War so etwas möglich? Sie wusste, dass Sunny und Lunel ein schier übernatürliches Gespür hatten, was die Absichten eines Menschen betraf. Aber dass sie aus gegebenen Sachverhalten sogar ihre eigenen, logischen Schlüsse ziehen konnten? Wenn dies wahr war, dann begriff sie die Fähigkeiten ihrer beiden Pokémon noch immer nicht zur Gänze. „Du bist nicht sauer auf mich, zumindest nicht allzu sehr. Du bist lediglich sauer auf dich selbst, weil du Angst hast, und du hasst es, ängstlich zu sein. Du hast Angst vor Veränderung und vor etwas Neuem, und natürlich Angst vor deinem Bruder. Das ist völlig verständlich. Aber er ist meilenweit weg und bis er überhaupt ansatzweise herausgefunden hat, wo wir sind, haben wir uns den ultimativen Plan überlegt, wie wir ihn zur Strecke bringen können.“ „Ach ja? Ray hat etliche Leute hinter sich, die ihm und seinen Idealen treu sind. Wir sind zu zweit“, sagte Chandra. „Das ist doch eine immense Steigerung. Vorher warst du alleine.“ Sie wusste nichts zu erwidern, so ließ sie einen Teil der Ereignisse der letzten Tage in ihrem Kopf Revue passieren. Es gab immer noch vieles, das sie wissen wollte, doch einiges leuchtete ihr allmählich ein. „Nun verstehe ich auch, wieso du es auf einmal so eilig hattest, aus Pyritus zu verschwinden. Es war wohl wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis er von dem gestohlenen Pokéball erfahren hätte. Wer weiß, vielleicht weiß er es ja mittlerweile schon“, überlegte sie. „Gut möglich.“ „Wie hast du es eigentlich geschafft, an den Pokéball zu kommen?“ Neugier keimte in ihr auf, ihre Wut legte sich wieder. „Ich war in der Stadt unterwegs und mir sind diese beiden Typen aufgefallen. Sie haben jemandem ein Cryptopokémon gegeben und da ich sehen konnte, dass sie noch mehr bei sich hatten, bin ich ihnen gefolgt. Leider nicht sonderlich gut, wie sich herausstellte“, gestand Zayn zerknirscht. „Aber zu meinem Glück waren sie Idioten. Ich bin ihnen bis in eine Bar gefolgt und da sie nicht auf ihren Kram aufgepasst hatten, konnte in einem der beiden einen leeren Ball in die Jacke stecken und mir ein Cryptopokémon nehmen. Dann bin ich gegangen, aber sie hatten meine Anwesenheit bemerkt und sind nun mir gefolgt, was ich wiederum nicht gemerkt hatte. Den Rest der Story kennst du. Sie haben mich erwischt und wollten wissen, wieso ich ihnen gefolgt war. Hätten sie zu dem Zeitpunkt schon gemerkt, dass ich einen ihrer Bälle ausgetauscht habe – tja, ich will nicht wissen, was dann passiert wäre.“ „Du hattest Glück, dass ich an jenem Abend dort war. Das wäre ich eigentlich nicht gewesen.“ „Ach ja?“ „Ich war normalerweise fast jeden Abend mit Devin in einem Club. Aber an diesem Abend hatte ich ein merkwürdiges Gefühl und bin früher gegangen“, erläuterte Chandra erleichtert. „Offenbar sind deine Pokémon nicht die einzigen mit einem übernatürlichen Gespür“, schmunzelte Zayn. „Also … Danke. Du hast mir das Leben gerettet und ich habe das Gefühl, dir dafür noch nicht ausreichend gedankt zu haben. Aber ich bin froh, dass du da warst.“ Sie fühlte sich geschmeichelt von seinen Worten, wenngleich ihr auch ein wenig unwohl zumute war. „Das habe ich doch gerne gemacht“, antwortete sie und merkte, wie ungeschickt das klang. „Es hat sich also gelohnt, den Pokéball zu klauen. Sonst wäre ich dir nie begegnet.“ Und sie würde jetzt nicht hier stehen. Chandra verspüre ihrerseits das Gefühl, ihm danken zu müssen, doch etwas blockierte sie. Seine Worte wirken so aufrichtig und sein Blick drückte mehr aus als eine angemessene Dankbarkeit. Es war sicherer, eine gewisse Distanz zu wahren. „Also, ja …“, überlegte sie. „Was hast du eigentlich vorher in Pyritus gemacht? Wie lange warst du schon dort?“ „Zwei Tage. Ich habe mich umgeschaut und versucht, herauszufinden, was dort vor sich geht. Und passenderweise gab es ein paar Leute, die ich fragen konnte. Weißt du, nicht alle in der Stadt sind deinem Bruder loyal. Überall, wo jemand die Macht an sich reißt und Menschen unterdrückt, gibt es ein paar Leute, die insgeheim gegen ihn arbeiten. Selbst in Pyritus. Und ich hatte eine Anlaufstelle aus vergangenen Zeiten.“ Zayn grinste, wohlwissend, sie mit dieser Information überrascht zu haben. „Vergangene Zeiten?“, fragte sie. „Lange Geschichte, erzähl ich dir ein andermal. Jedenfalls habe ich ein paar Leute getroffen, die mir einiges erzählen konnten. Aber das war natürlich nichts im Vergleich zu dem, was du mir sagen konntest.“ „Ach ja? Und was wusstest du vorher schon?“ „Einiges. Ich war leider nicht irgendjemand, der nur zu neugierig ist“, griff er ihre vorherigen Worte auf. „Aber ich konnte es mir nicht erlauben, zu viel dessen, was ich weiß und wer ich bin, vor dir preiszugeben. Also tat ich so, als hätte ich keine Ahnung von dir oder deinem Bruder, während ich in Wahrheit längst wusste, wer er ist. Und von dir hatte ich durchaus auch schon gehört.“ Das hingegen überraschte Chandra nun nicht mehr sonderlich. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, was es Interessantes über sie zu wissen hätte geben können. Sie entgegnete grinsend: „Dann muss es ja ein Schock für dich gewesen, meiner Wenigkeit plötzlich gegenüberzustehen.“ Er lachte: „Es war … unerwartet. Aber irgendwie auch faszinierend. Anfangs konnte ich dich kaum einschätzen, aber du passtest nicht zu den Geschichten, die ich über deinen skrupellosen Bruder gehört hatte. Also beschloss ich, meine Chance zu nutzen und mit dir zu gehen. Und ich denke, es hat sich für uns beide gelohnt – wenn du verstehst.“ Daraufhin verdrehte sie die Augen, musste aber lachen. „Ja, natürlich.“ „Da ich nun einige deiner Fragen beantwortet habe, frage ich mich: Steht dein Angebot von vorhin noch?“ „Welches Angebot?“, grinste sie vielsagend, gab ihm jedoch keine Antwort. „Was hast du jetzt vor?“ Zayn sah mit unzufriedenem Gesicht Richtung Hauptlabor. „Ich sollte Torben wohl erklären, was los war“, seufzte er. „Torben?“ „Ja, er ist hier der leitende Professor in Sachen Pokémonforschung und beschäftigt sich schon eine ganze Weile mit dem Phänomen der Cryptopokémon. Dass ich ihm eines mitgebracht habe, konnte er kaum fassen. Ist nur die Frage, wie wir es vor meiner Mutter geheim halten sollen.“ Er sah wieder zu ihr. „Kann ich auf deine Unterstützung zählen?“ „Ich weiß nicht, Zayn“ gestand sie. „Die Sorgen deiner Mutter sind mit Sicherheit nicht unbegründet. Du begibst dich auf dünnes Eis. Allerdings dient es letztendlich der richtigen Sache, also werde ich versuchen, mich in Schweigen zu hüllen.“ Wohl würde sich Chandra damit zwar nicht fühlen, doch das Pokémon war nun einmal hier und sie würde es nicht ändern können. „Meine Mutter macht sich immer Sorgen.“ Er klang genervt. „Sie kriegt schon Panik, wenn ich die letzten beiden Treppenstufen überspringe.“ Chandra konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Ja, ich sag’s ja, sie ist absolut überfürsorglich. Aber ich werde ihnen trotzdem von dir erzählen müssen. Sie haben zwar kein Problem damit, wenn noch jemand hier ist, aber jemanden aus Pyritus mitzubringen, weckt Misstrauen.“ Nun verging ihr das Lachen und sie spürte, wie es ihr eng in der Brust wurde. „Aber … ich will nicht, dass sie alle wissen, wer ich bin. Wer würde mir denn glauben, dass man mir vertrauen kann, wenn mein Bruder derjenige ist, der Schuld an der Misshandlung unschuldiger Pokémon ist? Niemand!“ „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Meine Mutter mag überfürsorglich sein, aber wenn ich ihr sage, dass du in Ordnung bist, dann glaubt sie mir das. Sie wird es Torben erzählen und er vertraut ihr. Die anderen müssen das ja gar nicht wissen“, sprach Zayn. „Dennoch … Wer sollte mir vertrauen?“ Chandra sah zu Boden, woraufhin er ihr Kinn wieder anhob. „Ich vertraue dir.“ Entgegen ihrer Gefühle musste sie lachen. „Schon bevor du mit mir geschlafen hast, oder erst seitdem?“, stichelte sie. „Das ist jetzt wirklich unfair. Natürlich schon davor!“ „Na gut.“ Chandra spürte die Röte auf ihren Wangen. „Tu, was du nicht lassen kannst.“ „Danke. Da das alles nun geklärt ist: Ich würde mein Vergehen von vorhin gerne wiedergutmachen. Angesichts des Plans, Ray die Stirn bieten zu können, habe ich eine Idee.“ „Und die wäre?“ Zayn schenkte ihr ein vorfreudiges Lächeln. „Du hast zwei wunderbare Pokémon und bist nicht länger in Pyritus. Es wäre eine Verschwendung, euer Potenzial nicht auszuschöpfen.“ „Sagst du gerade, dass ich eine gute Pokémontrainerin abgeben würde?“, hakte sie nach. „Natürlich. Wie gesagt: zwei wunderbare Pokémon. Und ich werde dir alles über Pokémontraining und Kämpfe beibringen, was du wissen musst.“ „Oh, na dann habe ich ja den perfekten Lehrer“, grinste sie. „Darauf kannst du dich verlassen. Ich würde sagen, wir fangen gleich morgen an. Du hast einiges vor dir.“ Überwältig von dem Ausgang des Gespräches konnte Chandra ihm nur zustimmen. Es weckte eine neue Art der Spannung in ihr, daran zu denken, mit ihren beiden Pokémon, die ihr bislang nur als kuschelige Freunde begegnet waren, zu trainieren und sie kämpfen zu lassen – und sie so auch besser kennenzulernen. Sie und eine Trainerin? Das war ihr bislang so absurd erschienen, dass sie es nie in Betracht gezogen hatte. Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)