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Der Schatten in mir

von

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Den Schatten nicht entfliehen können

Zwei Tage waren seit Chandras erstem Pokémonkampf vergangen und während es am gestrigen Tag ruhig im Labor zugegangen war – zumindest von Chandras Seite aus, denn sie hatte fast die ganze Zeit auf der Krankenstation für Pokémon verbracht –, wollten Zayn und Torben sich heute des Cryptopokémons aus Pyritus annehmen. In Chandra erweckte dieser Umstand noch immer großes Unbehagen, weswegen sie Zayns Vorschlag nachkam und den Entschluss gefasst hatte, bei diesem Unterfangen lieber nicht anwesend sein zu wollen.

Sie wussten zwar mittlerweile, welches Pokémon sich in dem Ball befand, doch das führte bei Chandra nicht zu einer anderen Entscheidung. Im Gegenteil. Ihre letzte Begegnung mit einem Cryptopokémon lag erst einige Tage zurück und geisterte noch immer überdeutlich durch ihr Gedächtnis. Es war ihr demnach gleich, ob ihr Entschluss nun egoistisch oder gar waghalsig war – immerhin vertrat sie nach wie vor den Standpunkt, dass Zayn nicht bewusst war, auf was er sich einließ –, denn alles in ihr verweigerte sich einer weiteren Begegnung mit einem dunklen, hass- und kummererfüllten Pokémon.

Da sie den Tag nicht in Unruhe auf ihrem Zimmer verbringen wollte, stets geplagt von dem Gedanken, ob alles gutginge, hatte sie beschlossen, das Labor zu verlassen und ein wenig die Umgebung zu erkunden. Anfangs war sie unsicher gewesen, ob sie Sunny alleine lassen konnte. Nach ihrem Kampf war diese medizinisch versorgt worden und mit dem entsprechenden Gegengift konnte Nidorinos Gift in ihrem Körper schnell unschädlich gemacht werden. Durch dieses Ereignis hatte Chandra erfahren, dass Zayns Mutter Cara Pokémonärztin im Labor war, denn diese hatte sich liebevoll um ihr Psiana gekümmert und Chandra versichert, dass Sunny schon in ein paar Tagen wieder fit sein würde. Bis dahin aber bekam das Pokémon strengste Bettruhe verordnet und hatte so den Vortag größtenteils schlafend verbracht, sodass seine Wunde in aller Ruhe heilen konnte. Wenngleich Chandra keinerlei Zweifel daran hegte, dass ihr Pokémon hier in guten Händen war, hatte sie Sunny nicht von der Seite weichen wollen und gemeinsam mit Lunel den Tag über bei ihr verbracht.

Fast hätte sie es nicht über sich gebracht, ihr Psiana für einige Stunden alleine zu lassen, und Nachtara ging es da vermutlich ähnlich, doch dann hatte sich glücklicherweise Jill angeboten, ein Auge auf Sunny zu werfen. Da Chandra dem Mädchen vertraute, konnte sie guten Gewissens gemeinsam mit Lunel nach draußen gehen.

Da das Labor am Anfang eines großen Waldes lag, bot dieser sich gut an für einen kleinen Spaziergang. Sie kannte sich in der Umgebung zwar noch immer nicht aus, doch sie hatte ihr Pokémon neben sich, das sicherlich einen deutlich besseren Orientierungssinn vorzuweisen hatte als seine Trainerin.

Rechts vom Labor führte ein Weg hinein in den aufblühenden Wald. Wenn sie nur auf diesem Weg bliebe, dann würde sie später auch wieder zurückfinden. So folgten sie und ihr Pokémon eine ganze Weile dem Pfad und Chandra genoss die klare, frische Luft, die sie umgab. Sie war rein, frei von Rauch, Schmutz oder Abgasen. In ihr lag der Geruch von Gräsern und Kräutern, die nach dem Winter wieder an die Oberfläche zurückkamen. Ihr Nachtara tollte neugierig durch die Gewächse und Sträucher am Wegesrand und steckte seine Nase oft in alles hinein, was interessant schien. Einmal schreckte er dabei drei kleine, pilzartige Pokémon auf, die daraufhin in Windeseile in die Tiefen des Waldes flohen, was Lunel irritiert beobachtete.

Chandra dachte während des ganzen Weges über die letzten Tage nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Die kleine Trainingseinheit mit Zayn hatte ihr durchaus Vergnügen bereitet, doch die Gewissheit, eine Gefährdung des Wohles ihrer Pokémon willentlich in Kauf zu nehmen, wenn sie diese in einen Kampf schickte, lag noch immer wie ein dunkler Schatten über der Freude, einen ersten Kampf bestritten zu haben. Sie fürchtete, dass sie sich eigentlich viel mieser fühlen müsste, und an dieser Furcht labte sich ihr schlechtes Gewissen, das sich nicht abschalten ließ. Andererseits war ihr aber auch aufgefallen, dass Sunny weder einen verstörten noch einen ängstlichen Eindruck gemacht hatte. Sie erholte sich einfach von dem Kampf. Außerdem hatte Zayn ihr versichert, dass nicht jeder Kampf blutig endete, und wenn sie so darüber sinnierte, kam sie zu dem Schluss, dass wohl stimmen musste, was sie schon oft gehört hatte.

Pokémon lag das Kämpfen im Blut, es war ein Teil ihrer Natur und sie taten es gerne für ihren Trainer, wenn sie diesem sehr nahestanden.

Nichtsdestotrotz würde es noch eine Weile dauern, bis Chandra sich an den Anblick ihrer verletzten Pokémon gewöhnt haben würde – sofern dies überhaupt möglich war.

Ihr fiel auf, dass der Weg vor ihr sich nach rechts und links aufteilte. Unmittelbar hinter der Weggabelung erstreckte sich eine Grasfläche und in einigen Metern Entfernung glitzerte die Oberfläche eines Sees. Chandra lief über das Gras und bestaunte das kleine Fleckchen Unberührtheit, das sich vor ihr auftat. Der grüne Untergrund ging nach einigen Metern in einen Boden über, der übersät war mit kleinen und größeren Kieselsteinen, zwischen denen vereinzelt noch kleine Grashalme versuchten, einen Weg an die Luft zu finden. Folgte man den Steinen Richtung Ufer, stand man irgendwann mit den Füßen im Wasser, denn der Übergang in den See verlief flach und langsam. Fasziniert kniete Chandra sich hin und streckte eine Hand in das Wasser. Es war wie erwartet kalt, aber unfassbar rein. Sie konnte noch einige Meter weit in den See schauen und ohne Probleme dessen Grund erkennen. Erst als die Reflexion des blauen Himmels sich auf die Wasserdecke legte, wurde ihr der Blick verwehrt. Das Wasser dieses Sees war sicherlich trinkbar, ohne eine mittelschwere Vergiftung befürchten zu müssen, ganz anders als dort, wo sie herkam. Derart reines Wasser hatte sie zuletzt nur in Emeritae gesehen und es war ein Wunder, dass sie sich noch daran erinnern konnte. Die Quellen dort waren genauso rein wie Wasser aus der Leitung und überdies äußerst gesund für Geist und Körper. Kein Wunder, dass viele Trinkwasserfirmen ihr Wasser aus Emeritaerquellen bezogen.

Es platschte einmal laut, als Lunel neben ihr in das Wasser rannte und den Kopf in das kühle Nass steckte. Chandra stand es nicht nach einem Bad, also setzte sie sich in einiger Entfernung auf den Boden. Ausgelassen beobachtete sie ihr Pokémon dabei, wie es seine Erkundung nun am Ufer des Sees fortsetzte. Was für Pokémon wohl in dem See lebten? Und generell im Wald? Der See war nicht riesig, das andere Ende war noch sichtbar und ein guter Schwimmer hätte sicher mühelos bis dorthin schwimmen können. Sowohl der See als auch die Lichtung waren von allen Seiten von Bäumen umgeben, die diese kleine Ruhezone im Verborgenen hielten.

Es gelang Chandra hier außerordentlich gut, ihre Gedanken zu ordnen und zu klären. Ehrlich gesagt bekam sie sogar das Gefühl, nun das erste Mal, seit sie Zayn kennengelernt und ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte, wirklich wieder klar nachdenken zu können.  

Korrektur. Er hat dein Leben auf den Kopf gestellt. Du hättest das niemals selbst gewagt.

Wie wahr dieser Gedanke doch war! Chandra hätte von sich aus nie den Entschluss gefasst, Pyritus den Rücken zu kehren, sie hätte schließlich überhaupt kein Ziel gehabt. Aber nun saß sie hier im westlichen Teil der Region an einem Seeufer und alles war so anders. Gab es so etwas wie Schicksal? Und wenn ja, war ihr das Schicksal womöglich einmal gut gesinnt? Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, dann musste sie zugeben, dass sie ziemlich traurig gewesen wäre, hätte Zayn sie nach ihrer kurzen gemeinsamen Zeit nicht mitgenommen, obwohl der Gedanke schwachsinnig war. Immerhin konnte sie nichts von ihm erwarten und überdies war es dumm und fahrlässig, etwas von einem Menschen zu erwarten, ohne ihn zu kennen. Körperlicher Kontakt war auch nicht genug, um jemanden zu kennen.

Sie seufzte. Sie wusste aber auch wirklich so gut wie gar nichts über Zayn und er wusste so viel über sie, dass er die Hälfte auslassen und seiner Mutter dennoch immer noch eine lange Geschichte über sie erzählen konnte.

Da kam Chandra ein neuer Gedanke und ihr wurde klar, was er eigentlich für sie getan hatte. Obwohl er indirekt ihren Bruder bestohlen hatte und sich des damit verbundenen Risikos zumindest teilweise bewusst gewesen war, war er länger als nötig bei ihr geblieben. Und selbst als er sich sicher hatte sein können, dass der Kontakt zu ihr und auch der Entschluss, sie aufzufordern, mit ihm zu kommen, von Gefahr geprägt war, hatte er nicht einen Augenblick gezögert, das auch wirklich durchzuziehen. Dabei musste ihm doch bewusst sein, wie gefährlich es war, dass Chandra hier war – hier, bei ihm und seiner Familie. Denn sie machte sich jeden Tag, den sie länger fort war von ihrer Familie, umso mehr Gedanken darüber. Sie war eine tickende Zeitbombe und falls Zayn das auch so sah, überspielte er es gekonnt.

Und sie? Sie war nicht einmal bereit, ihm zur Seite zu stehen, wenn er plante, sich mit einem Cryptopokémon auseinanderzusetzen. Dabei wusste sie doch, wie riskant solch ein Unterfangen sein konnte. Sie war hier doch diejenige, die in den letzten Jahren mehr als genug solcher Pokémon aus nächster Nähe gesehen hatte. Wenn jemand das Verhalten eines Cryptopokémons abzuschätzen vermochte, dann ja wohl sie.

Es war wirklich mehr als egoistisch, nun so zu tun, als hätte sie mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun. Sie sollte besser …

Bevor sie den Gedanken zu Ende fassen konnte, riss sie ein Plätschern zurück in die Realität. Lunel hatte den Blick unmittelbar auf sie gerichtet – besser gesagt, auf einen Punkt direkt hinter ihr. Angespannt und mit erhobenem Schwanz rührte er sich keinen Millimeter, auch die aufgestellten Ohren zuckten nicht. Einzig und allein das schwache Aufleuchten der Ringe und Streifen in seinem Fell zeugte von seiner Unruhe. Ehe Chandra verstand, was los war, tippte sie etwas an der Schulter an.

Irritiert drehte sie sich um und sah sich einem länglichen, schwarzen Maul gegenüber, das mit mittelgroßen, scharfen Zähnen bestückt war.

Im nächsten Moment durchbrach ein gellender Schrei die Ruhe über dem See und dann stand Chandra auch schon in zwei Metern Entfernung zu dem unbekannten Etwas und griff sich an die Brust, in der ihr Herz einen erschrockenen Salto vollführte. Lunel kam an ihre Seite gesprintet, doch sie hatte den Blick nur auf den bedrohlichen Schlund gerichtet.

„Oh man, was sollte das, du Riesenmaul!“, blaffte sie diesen an und erwartete kaum eine Antwort.

Das Maul machte auf einmal einen Schritt zur Seite und zum Vorschein kam ein verhältnismäßig zierlicher Körper. Das Pokémon war Chandra gänzlich unbekannt. Es stand auf zwei kleinen, schwarzen Füßen, sein Körper schien eisern und hart, war größtenteils in einem matten Hellgelb. Sein rundlicher Kopf war an der Oberseite schwarz, ebenso hingen zwei schwarze Strähnen an diesem nach unten. Aus seinem Kopf ragte etwas nach hinten, das für Chandra aussah wie ein Pferdeschwanz und dieser verband das monströse Maul mit dem zierlichen Körper. Der Kopf mit den blutroten Augen wurde getragen von einem schlanken Hals. Die schmalen Arme des Pokémons waren am Ende schwarz gefärbt und dieser graziösen Erscheinung standen die breiten, fächerartigen Beine gegenüber.

Als Chandra mit der Begutachtung des Wesens fertig war, stellte sie fest, dass sie von diesem ausgelacht wurde. Das Pokémon hielt sich eine Hand vor den Mund und kicherte ungehemmt über ihr vorheriges Erschrecken.

Das konnte doch nicht wahr sein! Was war das für ein freches Pokémon, sie erst mit diesem gruseligen Maul zu erschrecken und sich dann über sie zu amüsieren. Und dann auch noch dieses bedrohliche Maul! Es passte nicht zu seinem niedlichen Erscheinungsbild. Aber bevor sie sich über den Neuankömmling auslassen konnte, wollte sie wissen, was für einem Pokémon sie gegenüberstand. Da sie den gestrigen Tag ebenfalls dazu genutzt hatte, sich ein wenig mit ihrem neuen PDA vertraut zu machen, holte sie diesen nun aus ihrer Tasche. Mit zweimal tippen auf die mittlere Taste unter dem Bildschirm öffnete sich der Pokémonscanner, der die größere der beiden Kameras nutzte. Das unbekannte Pokémon machte keine Anstalten, das Weite zu suchen, so dauerte es nur wenige Sekunden, bis das Gerät seine Gestalt erfasst und erkannt hatte. Anschließend stand auf dem Display, um was für ein Exemplar es sich handelte.

Flunkifer. Ein Stahl-Pokémon. Damit hätte Chandra nicht unbedingt gerechnet. Aber sie hatte ja auch keine Ahnung.

Sie warf abwechselnde Blicke auf das Flunkifer, welches gelangweilt sein Maul begutachtete, und auf den PDA. Sie scrollte durch die gebotenen Informationen und war erstaunt über die lange Liste an Resistenzen dieses Typs. Begeisterung keimte in ihr auf; so ein Pokémon könnte mit Sicherheit nützlich sein. Außerdem – da sprach das Mädchen aus ihr – sah das Flunkifer trotz allem niedlich aus und dass es sie hereingelegt hatte, kitzelte umso mehr Ehrgeiz in ihr wach. Dieses Pokémon würde schon bald ihr gehören!

Chandra steckte das Gerät wieder weg. „Na schön, wenn du spielen willst, dann lass uns spielen!“, rief sie selbstsicher und sah zu Lunel. „Bereit für deinen ersten Kampf?“ Er nickte und sie erwiderte: „Ruckzuckhieb!“

Auf Kommando preschte Nachtara nach vorne, doch bevor es zum Zusammenstoß kommen konnte, wich Flunkifer flink zur Seite aus. Es war schnell und schien hervorragende Reflexe zu haben.

„Setz Biss ein!“, rief Chandra. So langsam konnte sie sich die Attacken ihrer Pokémon merken.

Ein Sprung aus seinen kraftvollen Beinen beförderte Lunel direkt über das Flunkifer und bevor dieses etwas unternehmen konnte, klammerte er sich bereits in das lange Maul und schlug seine Zähne in dessen Spitze. Doch wie erwartet war Flunkifers Körper stahlhart und während Nachtara verdrießlich die Lefzen nach oben zog, jedoch nicht ablassen wollte, breitete sich in Flunkifers Gesicht Verärgerung aus. Mit spielerischer Leichtigkeit warf es sein Maul einmal von der einen auf die andere Seite und dann nieder auf den Boden. Lunel wurde abgeschüttelt und als er sich gerade wieder aufrichtete, schwang Flunkifer sein Maul erneut und schnappte mit diesem nach ihm. In letzter Sekunde schaffte er es auf die Beine, entging dem Maul jedoch nur zum Teil. Der Kiefer mit den im Sonnenlicht funkelnden Zähnen schnappte zu und zwischen sich eingeklemmt war Nachtaras üppiger Schweif. Das Unlichtpokémon heulte vor Schmerz auf und grub die Pfoten in den Boden.

Chandra entfuhr ein „Oh nein!“, doch bevor sie ihrem Pokémon helfen konnte, setzte das Flunkifer zum nächsten Angriff an. Ein Grinsen legte sich auf sein unschuldiges Gesicht, dann ballte es die rechte Hand zur Faust, welche nun ein gleisendes Licht ausstrahlte. Es holte mit dem Arm aus und erst als seine Faust unmittelbar vor Nachtara war, gab der Kiefer sein Opfer frei.

Lunel wurde schonungslos erwischt, einige Meter fortgeschleudert und purzelte dann über den Boden. Chandra widerstand dem Drang, zu ihm zu laufen, denn sie sah, dass er sich schon wieder auf die Beine kämpfte, ein Knurren von sich gebend. Seinem Schweif sah man deutlich die vorherige Prozedur an; Fellfetzen waren zu Boden gesegelt und das übrige Fell stand nach oben ab.

Natürlich wusste Chandra nicht, was Flunkifer für eine Attacke eingesetzt hatte, doch sie war entsetzt und begeistert zugleich. Das Pokémon war stark und im Moment damit beschäftigt, selbstgefällig sein attackiertes Maul zu begutachten – mal wieder. Das war ihre Chance.

„Lunel, wir schaffen das. Spukball!“, befahl sie ihrem Pokémon.

Wie erwartet ruhte sich Flunkifer zu sehr auf seinem Erfolg aus und wurde frontal von der dunkelvioletten Kugel erwischt und schreiend zurückgeworfen. Abermals befahl Chandra nun Ruckzuckhieb und dieses Mal traf Nachtara und warf den kleinen, zierlichen Körper direkt ins Gras, wo er regungslos liegen blieb, das Maul über sich ausgebreitet.

Ist es das etwa schon gewesen? Irritiert machte Chandra ein paar Schritte auf die Pokémon zu. Ihr Nachtara stand ebenfalls unschlüssig neben seinem Kontrahenten und wusste die Situation nicht so recht einzuschätzen. Das Stahlpokémon schien besiegt, es lag mit schmerzverzerrtem Gesicht im Gras und zeigte keine Regung mehr. Chandra glaubte an ihren Sieg und wollte schon einen leeren Pokéball hervorholen, als wieder Leben in das Wesen kam.

In einer fließenden Bewegung kam Flunkifer auf die Beine. Unfassbar schnell schwang das Maul nun einmal durch die Luft, um dann frontal von oben auf Nachtara nieder zu preschen. Tapfer ertrug Lunel den Schlag und ging nicht in die Knie. Doch schon wieder wollte der Kiefer zuschnappen und um noch auszuweichen, war es fast zu spät. Da handelte Lunel geistesgegenwärtig, öffnete sein Maul und in Sekundenschnelle formte sich ein Spukball.

Nun war es an Flunkifer, der Langsamere zu sein. Der Spukball schoss direkt in den Kiefer und die Wucht, die durch die Nähe des Angriffes entstanden war, katapultierte es in großem Bogen nach hinten. Es erhob sich zwar wieder, doch sein angeschlagener Zustand war nun unverkennbar. Es hielt sich das lange Maul und atmete angestrengt ein und aus. Seinen Körper jedoch zierte noch immer keine einzige Schramme. Sein geschwächter Zustand war auf seine schwindende Ausdauer zurückzuführen.

Nun war Chandras Moment gekommen. Der, in dem sie ihr erstes Pokémon richtig fangen würde. Tatsächlich hatte Zayn ihr ein paar leere Pokébälle gegeben, für den Fall der Fälle. Er würde Augen machen, wenn sie schon so früh mit einem neuen Pokémon wiederkommen würde. Sie holte sich einen Ball aus der Tasche, zielte und warf.

Na ja, eigentlich warf sie nur. Ihre Wurfkünste waren katastrophal – statt das Pokémon zu treffen, flog die Kapsel deutlich daneben.

Flunkifer presste sich eine Hand vor den Mund und kicherte ungehemmt und selbst Lunel sah seine Trainerin irritiert an.

„Oh nein, wie peinlich“, jammerte Chandra und schlug sich die Hand vors Gesicht. Sie war der totale Reinfall!

Da kam Bewegung in Flunkifer. Es wollte sich aus dem Staub machen und hechtete Richtung Wald.

„Hey, bleib stehen, du Mistvieh!“, schrie sie ihm hinterher. Mit einem kurzen Sprint war sie bei der Kapsel, hob sie auf und rannte dem Flüchtenden hinterher. Nun war ihr Ehrgeiz deutlich gepackt. Sie, Chandra, bekam alles, was sie wollte, und jeden, den sie haben wollte. Bislang hatte sie sich zwar nur Typen geangelt und die waren wirklich immer sehr leicht um den Finger zu wickeln gewesen, aber ihre Erfolgssträhne würde sicherlich nicht bei einem kleinem, vorlauten Pokémon aufhören! Dieses Flunkifer triezte sie unglaublich, aber zugleich wusste sie, dass es verdammt gut zu ihr passen würde.

Ungeachtet des Dickichts am Boden verfolgte sie das Pokémon mit schnellen Schritten und konnte spüren, wie Zweige des Blätterwerks immer wieder in ihre Hose piksten oder ihr die Hände zerkratzten, als sie sie unachtsam von sich drückte, um sich einen Weg zu schaffen. Flunkifer war noch immer einige Meter vor ihr auf zwölf Uhr und als Chandra endlich freie Bahn hatte, legte sie noch einen Zahn zu. Würde sie nicht langsam mal den Ball werfen, wäre das Pokémon bald zu weit entfernt.

Gerade hatte sie den Entschluss gefasst, als ihr Fuß an einer aus dem Boden ragenden, dicken Wurzel hängenblieb und sie einen weiten, äußert anmutigen Flug hinlegte. Irgendwie schaffte sie es jedoch, den Pokéball noch im Flug nach vorne auf Flunkifer zu schmeißen und gerade als sie im Dreck landete, erfasste die Kapsel das Geschöpf und dematerialisierte es gegen seinen Willen.

Da lag Chandra nun, eine Menge an Gestrüpp im Gesicht und an der Kleidung, den Blick starr nach vorne gerichtet. Der Ball zuckte und wackelte hin und her, das rote Blinken des Knopfes wurde unerträglich, je länger es andauerte. Die Zeit dehnte sich, doch dann, als Chandra fast die Hoffnung aufgegeben hatte, erstarb das Zappeln und der Ball hörte auf zu blinken.

Hieß das …? Ja, das musste es wohl! Sie hatte das Flunkifer gefangen!

Erleichtert legte sie den Kopf auf ihre Arme und starrte immer noch nach vorne. Was für ein Erlebnis – das hätte sie sich ja in ihren kühnsten Fantasien nicht ausmalen können. Überhaupt war es nie zuvor denkbar gewesen, dass sie dazu in der Lage sein könnte, sich eigenhändig ein Pokémon zu fangen. Oder mit Pokémon zu kämpfen. Oder ausgestreckt im Wald auf dem Boden zu liegen. Ihre Klamotten waren nun bestimmt hinüber und ihre Knie fühlten sich wund an, ebenso ihre Hände und Arme. Aber das war ihr in diesem Moment egal. Viel zu glücklich war sie über ihr Erfolgserlebnis. Sie hatte etwas geschafft, das stets weit von ihrem Leben entfernt gewesen war und für die meisten selbstverständlich schien, für sie jedoch nie in Reichweite gewesen war. Aber nichts war unmöglich, selbst wenn es so schien, und manchmal musste man über seinen Schatten springen und Dinge wagen, die man sich zuvor niemals zugetraut hätte.

Da fasste Chandra einen Entschluss, denn sie wollte sich nicht von ihrer Angst beherrschen lassen. Hin und wieder musste man einen Umweg gehen, um zu erkennen, was wirklich nötig war. Und sie wusste nun ganz genau, was sie zu tun hatte.

Lunel stieß sie mit dem Kopf an der Schulter an und sah besorgt aus. Sie setzte sich auf und tätschelte ihrem Pokémon den Kopf. „Das hast du super gemacht“, lobte sie ihn „Wir haben ein neues Mitglied in unserem Team. Aber nun müssen wir zurück, denn ich muss meiner Verantwortung nachkommen.“

Nachdem sie Flunkifers Pokéball eingesammelt hatten, machten sie sich auf den Rückweg. Chandra hatte nicht mehr gewusst, in welche Richtung sie gehen mussten, um zum Labor zu kommen, weder der See noch ein Weg waren nach ihrer Hetzjagd noch zu sehen gewesen. Aber ihr Pokémon vertraute schlicht auf seine Sinne und führte sie zielstrebig durch den Wald, bis sie wieder auf dem Weg waren und schließlich nach einer Weile das weiße, strahlende Gebäude in Sicht kam. Die Sonne stand nun schon tiefer, da es bereits später Nachmittag war. Sie beide mussten eine ganze Weile in der Natur gewesen sein.

Chandra war in Gedanken bei ihrer Entscheidung, als sie nichtsahnend die Eingangstüren ansteuerte, da drang das Klirren von zerbrechendem Glas an ihre Ohren. Im nächsten Augenblick sprang auch schon ein Pokémon zwischen den Glasresten des betroffenen Fensters hindurch und landete geschickt auf zwei Beinen.

Wie zu einer Steinsäule erstarrt verharrte Chandra auf einer Stelle, als die dunkle Welle negativer Cryptoenergie sie erreichte, die für andere unsichtbar war. Lunel an ihrer Seite fauchte furchteinflößend, was sie kaum beachtete.

Das Cryptopokémon war ein Waaty. Rosa leuchtete seine Haut im Licht, um den Hals und auf dem Kopf war eine dichte, weiße Wollepracht gewachsen. Aus der Wolle auf seinem Kopf ragte rechts und links je ein schwarzrosa gefärbtes, kleines Horn zur Seite hin weg. Sein für den kleinen Körper recht langer Schwanz war ebenso gemustert, nur dass er in einer blauen Kugel endete.

Bevor Chandra gänzlich realisiert hatte, was geschehen war, verdichtete sich die dunkle, lilafarbene Aura um das Wesen und es schnellte nach vorne, unmittelbar auf sie zu. Noch immer gefangen in ihrer Schockstarre, hätte das Elektropokémon sie wohl erwischt, hätte Nachtara es nicht mit aller Kraft von der Seite gerammt. Die beiden Pokémon kugelten über den Platz. Lunel biss sich in dem Fell des Waaty fest. Die Ringe und Streifen auf seinem Fell hoben sich durch ihr grelles Leuchten stark vom sonst schwarzen Fell ab – selbst seine Augen schienen röter als gewöhnlich.

Das Waaty schien wie in Rage und versuchte, ihn abzuschütteln. Nach mehrmaligem Scheitern wechselte es die Strategie und tauchte seinen Körper in eine gewaltige, grelle Ladung an Elektrizität, bei der Chandra sich die Augen zuhalten musste. Sie hörte den leidvollen Schrei ihres Pokémons, was ihr Herz in zwei Hälften brach, dann erstarb die Lichtquelle. Lunel hatte längst von dem Crypto abgelassen und kauerte gelähmt am Boden. Vereinzelte Funken Strom tanzen noch über das schwarze Fell, das an mehreren Stellen verkohlt war und zwischen dem man schwarzgefärbte Haut erkennen konnte.

Obwohl das Nachtara keine Bedrohung mehr darstellte, hatte Waaty längst nicht genug. Der Instinkt, der einem normalen Pokémon mitteilte, wann ein Gegner besiegt und womöglich sogar schwer verletzt war, war bei einem Cryptopokémon ausgelöscht. Es war erst dann befriedigt, wenn sein Gegner gänzlich aus dem Weg geräumt war und billigte auch dessen Tod, wenn nötig.

Chandra konnte nichts weiter tun, als zuzusehen, wie Waaty sich abermals in Dunkelheit hüllte, die nun auch mehr und mehr in ihr Innerstes sickerte. Das altbekannte Gefühl der Verzweiflung und des Leids kroch in ihren Leib und zwang sie in die Knie. Obwohl sie in dieser Situation nichts lieber getan hätte, als dem Pokémon eigenhändig den Hals umzudrehen, verspürte sie Mitleid, als sie wahrnahm, dass sich der tiefste Kern von Waatys Seele dagegen sträubte, ein am Boden liegendes Pokémon anzugreifen. Die Finsternis lag schwer auf Chandras Brust und erschwerte ihr das Luftholen. Vereinzelte Tränen flossen über ihre Wangen, als Waaty das gelähmte Nachtara angriff und es mehrere Meter weit wegschleuderte. Lunel gab keine Regung mehr von sich. Mit Entsetzen erkannte Chandra die feinen, finsteren Fäden, die seinen Leib peinigten.

Plötzlich wandte Waaty den Kopf zu ihr und verengte seine Augen. Die Realität vor Chandras Augen flackerte, ihr Blick verschwamm. Wenn ein Cryptopokémon sich ihr unmittelbar zuwandte, wurde sie noch stärker von dessen Zustand eingenommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie dem Leid erliegen würde … Aber so, wie das Pokémon sie anknurrte, würde es wohl schon vorher mit ihr zu Ende gehen.

Na Ray wird sich ärgern, wenn ausgerechnet eines seiner Cryptopokémon mich umlegt. Geschieht ihm recht, dachte sie und musste fast kichern wegen dieser Tatsache. Anscheinend ergriff nun auch der Wahnsinn von ihr Besitz …

„Psychoklinge, Galagladi!“

Chandra wusste gar nicht, wie ihr geschah, da stürmte plötzlich ein Galagladi auf das Cryptopokémon zu und erfasste es im Sprint mit den langen, hell leuchtenden Schwertern an seinen Armen in voller Länge. Galagladi schleuderte das aufkreischende Elektropokémon so weit über den Platz, bis es gegen einen der Baumstämme krachte und zu Boden fiel. In der Sekunde, als Chandra einen Abfall der dunklen Macht spürte, wusste sie, dass Waaty nicht länger bei Bewusstsein war.

Sie kämpfte sich auf die Beine und rannte zu ihrem Pokémon, das noch immer ebenfalls ohnmächtig war.

„Verdammter Mist!“ Ein fluchender Zayn kam bei ihnen an. „Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte er sie.

„Ja“, erwidert sie weinerlich, „aber Lunel, er …“ Sie griff in das Fell und spürte ein Knistern an ihrer Hand.

Zayn fiel auf die Knie und nahm eine der Pfoten Nachtaras zwischen die Hände. „Er hat einen Puls. Aber er braucht Hilfe, mit einer Donnerattacke ist nicht zu spaßen, schon gar nicht von einem Cryptopokémon.“

Als Chandra nickte, zerbrach der letzte Rest Beherrschung in ihr und Tränen ergossen sich wieder über ihr Gesicht. Es war alles schief gegangen! Wieso hatte sie wieder herkommen wollen? Hatte sie denn ernsthaft geglaubt, etwas ausrichten zu können? Ausgerechnet sie?

„Hey, hör auf zu weinen“, sagte Zayn in bestimmtem Tonfall. „Es wird alles wieder gut. Es war meine Schuld. Ehe ich mich versah, war das Waaty schon nach draußen gesprungen.“

Und sie war natürlich genau zum richtigen Zeitpunkt zurückgekommen. Sie hatte sich geirrt. Wenn es Schicksal gab, dann schlug es sie regelmäßig nieder.

„Bei Arceus! Was ist denn hier passiert?“, schallte eine aufgebrachte Stimme zu ihnen herüber. Torben sah schockiert von Nachtara zu Waaty und dann auf den verkohlten, schwarzen Fleck Erde, auf dem Letzteres seine Donnerattacke losgelassen hatte. Er holte das besiegte Waaty in seinen Pokéball zurück, dann kam er zu den anderen. „Wir müssen Nachtara schleunigst reinbringen, es sieht nicht gut aus.“ Er hob das Unlichtpokémon auf seine Arme und ging schon voraus ins Gebäude.

Chandra saß wie paralysiert auf dem Boden und starrte nach unten. Sie hatte geglaubt, alles würde besser werden, wenn sie nicht länger in Pyritus war, doch Fakt war: Für sie war alles schlimmer als jemals zuvor. Wo sie auch hinging, solange es diese Cryptopokémon gab, hafteten Leid und Zerstörung an ihren Fersen.

„Ich hasse ihn“, kam es fast lautlos wie von selbst über ihre Lippen.

Zayn musste nicht nachfragen. Er zog Chandra auf die Beine und legte seine Hände um ihr Gesicht. Während er ihr tief in die Augen blickte, sprach er ebenso ruhig: „Er wird dafür büßen. Das verspreche ich dir.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Kleine Anmerkung: Da in dieser FF die Pokémon ab Gen 5 nicht existieren, gibt es auch den Feentyp nicht. Flunkifer ist also nur ein Stahl-Pokémon. ;) Komplett anzeigen

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