Zum Inhalt der Seite

Der Schatten in mir

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Anziehungskraft

Chandra verbrachte die darauffolgende Woche hauptsächlich bei Lunel, da sie nach wie vor besorgt um sein Wohl war. Doch seine Genesung ging gut voran, sodass er bereits nach fünf Tagen die Krankenstation verlassen durfte. Sein schwarzes Fell sah zwar immer noch mitgenommen aus, aber er war wieder fit genug, um gemeinsam mit Sunny den Garten hinter dem Labor zu erkunden.

So wie im Moment, einen weiteren Tag später, als Chandra derweil im Gras saß und ihre beiden Pokémon beobachtete, wie sie umhertollten. Es tat ihnen sichtlich wohl, endlich wieder unbesorgt beieinander sein zu können, so wie auch sie ein Gefühl der Erleichterung erfasste, die beiden wohlauf zu sehen. Doch wenngleich sie keine Anzeichen zeigten, dass die kürzlichen Kämpfe sie verschreckt oder traumatisiert hatten, konnte Chandra nicht sagen, ab wann sie sich wieder bereit für einen neuen Kampf fühlen würde.

Ihr neues, drittes Pokémon stellte dafür eine eher schwierige Aufgabe dar. Bereits am selben Tag, an dem Lunel wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte sie Flunkifer in Anwesenheit Zayns, der bis dato nicht hatte glauben können, dass sie ein Flunkifer gefangen hatte, aus dem Ball gelassen. Dabei hatte er ihr erklärt, dass er hier im Wald noch nie ein Flunkifer gesehen habe und dass diese eigentlich eher sehr zurückgezogen in höhlenartigen Gegenden lebten. Auch erfahren hatte sie, dass nach vielen Stunden Marsch durch den Wald eben jener irgendwann in ein Gebirge überging, wo Flunkifer zwar tendenziell häufiger waren als im flachen Waldgebiet, aber immer noch selten.

Tatsächlich verwunderte es Chandra aber mittlerweile kaum noch, dass sie das Flunkifer im Wald angetroffen hatte. Es verkörperte ein neugieriges, aufgewecktes Wesen, wie sie ja bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte erfahren können. Doch leider war es auch unsagbar eigensinnig, frech und stur.

Als sie es zum ersten Mal aus dem Pokéball gelassen hatte, hatte es sie strikt ignoriert, und wenn es sie doch mal beachtet hatte, dann nur, um ein beleidigtes und schnippisches Gesicht zur Schau zu stellen. Erleichternd, aber nicht besser war die Tatsache, dass Flunkifer Zayn ebenfalls nicht sonderlich zu leiden schien. Er hatte versucht, sich dem Stahlpokémon mit deutlich mehr Feingefühl zu nähern und war dabei um ein Haar von dem monströsen Maul gebissen worden. In einer Woche hatten sie nur herausfinden können, dass Flunkifer handzahm und beinahe lieb wurde, wenn man ihm rosafarbene Riegel gab, die aus sogenannten Pirsifbeeren gemacht waren – dies allerdings auch nur in Verbindung mit Jill. Denn an einem der Tage hatte sich Flunkifer einen Spaß daraus gemacht, wegzurennen, sodass Chandra und Zayn dem Wesen durch das halbe Haus nachgerannt waren. Anschließend war es mit Enton kollidiert, um diesem daraufhin einen jener Pirsifriegel abzunehmen und selbst aufzufressen. Nach einigen Tränen seitens des Wasserpokémons und einer herzlichen Rüge seitens Jill war das Stahlpokémon dann zumindest entspannt und gewillt gewesen, nicht mehr aus Spaß zu flüchten.

Nichtsdestotrotz hielt Chandra Flunkifer meistens in seinem Ball, wenn es nicht gerade Snacks verputzte, die Jill ihm zusteckte. Sie tat dies nur äußerst ungerne, aber sobald man Flunkifer für eine Sekunde aus den Augen ließ, wurde es allzu neugierig und durchsuchte Regale, sprang auf Tische und Kommoden und öffnete auch sonst alles, was nicht verschlossen war. Einige Vasen hatten bereits unter dem Pokémon leiden müssen.

Sie seufzte. Ob sich das jemals bessern würde? Zwar hatte Zayn ihr erklärt, dass es normal war, dass ein Pokémon sich nicht sofort mit seinem neuen Trainer arrangierte, immerhin war es ja nicht automatisch einer Gehirnwäsche unterzogen, sobald man es eingefangen hatte, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass Flunkifer sie einfach nicht mochte. Leider gehörte Geduld auch nicht gerade zu ihren Stärken. Aber immerhin schien es Jill zu mögen, was jedoch nicht verwunderlich war.

Wenn Chandra sich nicht gemeinsam mit Zayn mit dem Flunkifer herumgeschlagen hatte, dann hatte sie sich im Labor eher bedeckt gehalten. Das rührte daher, dass sie sich teilweile etwas fehl am Platz fühlte, gar wie eine Last, und sie kam sich vor wie ein merkwürdiger Besucher, der einfach nicht gehen wollte. Dabei signalisierte ihr niemand, dass sie unerwünscht sein könnte, doch sie wusste nicht, wie sie mit jemandem ein Gespräch anfangen sollte.

Mit Zayns Mutter war sie wegen ihrer Pokémon zwar schon mehrmals in Kontakt getreten, doch sie konnte Cara kaum in die Augen schauen, ohne furchtbar nervös und unbeholfen zu werden. Lediglich mit Jill sprach sie regelmäßig, einerseits wegen Flunkifer und weil sie mehrmals bei Lunel vorbeigesehen hatte. Zayn wollte sie allgemein nicht so häufig um sich haben, denn in seiner Gegenwart fühlte sie sich neuerdings merkwürdig, was mit Sicherheit an ihrer letzten gemeinsamen Nacht lag. Noch immer ärgerte sie sich über ihre Sentimentalität und darüber, was geschah, wenn sie emotional nicht ganz auf der Höhe war. Zweimal mit derselben Person zu schlafen, konnte kein gutes Omen sein, und nachdem sie nun ihr erstes Prinzip gebrochen hatte, blieb ihr nichts weiter übrig, als starr am zweiten festzuhalten, in welchem sie besser war: das Thema totschweigen. Zayn sah das offenbar genauso wie sie.

Doch aller Verdrängungsmechanismen zum Trotz musste sie wieder seine Nähe suchen, denn er war für sie ihr Ansprechpartner in Sachen Cryptopokémon – sozusagen ein Verbündeter, auch wenn sie die letzte Zeit nichts davon hatte wissen wollen. Aber seit es ihrem Pokémon besser ging und die Schuldgefühle damit einhergehend auch abgeflaut waren, sah sie wieder klarer, was wirklich zählte.

Wegrennen war immer einfach, aber auch bequem und in ihrem Fall sogar durchaus fatal. Ganz gleich, wie viele hunderte Kilometer sie aktuell von Ray getrennt sein mochte, der Vorfall mit Waaty hatte ihr aufgezeigt, dass sie sich nicht verkriechen und so tun konnte, als hätte sie nicht länger etwas mit dem Problem zu tun. Schließlich löste sich dieses nicht von selbst und sie war sich sicher, selbst wenn Zayn das Waaty nicht mitgenommen hätte, wäre sie früher oder später ohnehin davon eingeholt worden. Entweder in Form eines Cryptopokémons, das plötzlich irgendwo auftauchte, oder ganz klassisch durch ihren Bruder. Er setzte stets alles daran, zu bekommen, was er wollte, und so bezweifelte Chandra nicht, dass er sie früher oder später finden würde. Aber sie musste vorbereitet und ihm einen Schritt voraus sein – oder besser gleich zwei, drei oder gar vier Schritte. Sofern das möglich war. So oder so konnte sie dies aber nur sein, wenn sie aufhörte, sich zu verkriechen und ihre Gabe zu verteufeln.

Denn nichts anderes war das, zu dem sie in der Lage war. Eine Gabe, die allerdings zwei Seiten hatte, von denen eine wunderbar war, während die andere für Schrecken sorgte. Je länger Chandra jedoch darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass nur jemand in der Lage war, ein Cryptopokémon von seiner Dunkelheit zu heilen, der diese überhaupt spüren konnte.

Und hier kam sie ins Spiel. Obwohl sie keinen blassen Schimmer mehr davon hatte, wie sie dieses Wunder damals vollbracht hatte und allein der bloße Gedanke daran, sich ein zweites Mal dem Waaty gegenüberzustellen, dafür sorgte, dass sich kalte Finger der Angst um ihren Brustkorb legten, wusste sie, dass es das Richtige war.

Sie konnte nur nicht riskieren, dass ihren Pokémon wieder etwas geschah, diese durften also dabei nicht vor Ort sein. Und da Zayns und ihre eigene Sicherheit ebenfalls wichtig war, setzte sie darauf, dass er eine Möglichkeit fand, ihrem Begehren nachzukommen. Sie zweifelte aber nicht daran; er wollte dem Pokémon mindestens genauso sehr helfen wie sie.

 

******

 

„Bist du dir sicher, dass du das machen willst? Du musst das nicht tun. Wir warten einfach noch ein bisschen und vielleicht ergibt sich ja dann eine andere Möglichkeit, oder –“

„Ja, Zayn, ich bin mir sicher“, unterbrach Chandra ihn augenverdrehend. Aber ihre eigenen Worte klangen wenig überzeugend und in der Tat fühlte sie sich nicht im Geringsten überzeugt – und dennoch wusste sie, dass sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen würde, auch wenn diese Gewissheit rundum seltsam, fast schon beängstigend war.

„Na gut“, seufzte er. „Aber wenn du es dir anders überlegst, brechen wir das sofort ab.“

„Geht klar.“

Sie waren in den Keller des Labors hinabgestiegen. Dieser war zwar nicht modrig und düster, wie Keller es an sich hatten, sondern modernisiert, aber die gleißend hellen Neonröhren an der Decke, die ihr Licht an nackte, weiße Wände warfen, verliehen dem langen Gang, durch den sie liefen, einen beunruhigenden Hauch. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass Chandra nicht von Ruhe erfüllt war.

Ob sie dabei war, durchzudrehen? So hatte Zayn sie jedenfalls angesehen, nachdem sie ihm am Morgen offenbart hatte, dass sie noch einmal das Waaty sehen wollte. Und es stimmte ja. Vor ein paar Tagen hätte sie sich das selbst kaum vorstellen können. Denn obwohl sie wusste, dass sie derzeit die Einzige war, die dem armen Geschöpf eventuell helfen konnte, verspürte sie blanke Furcht bei der Vorstellung, diesem gegenüberzutreten. Aber deutlich stärker war das Drängen, das aus ihrem tiefsten Inneren kam und sie leitete, diese waghalsige Idee in die Tat umzusetzen. Auch wenn sie sich nicht logisch erklären konnte, wieso sie auf schier magische Weise von dem Cryptopokémon angezogen wurde, denn das war vorher auch noch nie so gewesen.

Plötzlich blieb Zayn vor einer breiten Tür am Ende des Ganges stehen. Sie funkelte metallisch im Licht und schien aus massivem Stahl gefertigt. Chandra konnte sich nicht vorstellen, wie dieser Koloss einer Tür aufgehen konnte, denn sie hatte keinen Griff. Aber dann tippte Zayn einen Zahlencode in ein kleines Tastenfeld neben der Türe ein, woraufhin der Stahl rechts in der Wand verschwand und ihnen den Raum dahinter offenbarte.

„Ich hoffe, das geht gut“, sagte Zayn – mehr zu sich selbst als zu ihr. „Meine Mutter hat gerade wieder angefangen, mit mir zu reden, und straft mich nicht länger mit diesem enttäuschten Blick. Wäre schön, wenn das so bleibt.“

Chandra erwiderte darauf nichts. Sie ließ nur die erdrückende Atmosphäre des fensterlosen, rechteckigen Raumes, der nun ebenfalls von grellen Neonleuchten erhellt wurde, auf sich wirken. Die linke Hälfte war an den Wänden mit einigen Monitoren ausgestattet, darunter auf der Arbeitsfläche reihten sich mehrere Tasten aneinander. Viel interessanter fand Chandra allerdings den rechten Bereich, der von einer Wand, in welcher eine Tür und eine längliche Glasscheibe eingebaut waren, vom restlichen Raum abgegrenzt wurde. Sie trat an die Scheibe und sah hindurch. Ihr Blick fiel auf eine leere Fläche, deren Wände zu allen Seiten aus kaltem Stahl bestanden. Einer Intuition folgend klopfte sie gegen das Glas vor sich, welches unter ihren Fingerknöcheln nur einen dumpfen Klang von sich gab. Panzerglas.

„Was machen wir hier? Ist ein bisschen unheimlich hier“, gestand Chandra und drehte sich zu Zayn. Dieser hatte mittlerweile wie selbstverständlich einen der Bildschirme im Raum angeschaltet und tippte zielstrebig über dessen Oberfläche.

„Du hast doch gesagt, du willst dir das Cryptopokémon noch einmal ansehen“, erwiderte er beiläufig.

Chandra sah ihn erneut eine Zahlenkombination eintippen und dann öffnete sich aus dem Nichts in der Wand zu ihrer Rechten ein Fach, welches sie zuvor nicht gesehen hatte.

Zayn entnahm aus diesem einen Pokéball. „Also bitte, hier ist es. Aber wir warten noch kurz.“

„Nicht nötig, bin schon da!“ Eine dritte Stimme gesellte sich zu ihnen, nach deren Ertönen Alyssa im Raum erschien. Mit einem Betätigen des Displays neben der Stahltüre schloss diese sich surrend wieder.

Chandra blieb eine Erwiderung im Hals stecken. Was tat Alyssa hier? Hatte sie etwas verpasst?

Tatsächlich hatte sie sich Alyssa vor zwei Tagen etwas angenähert, wenn auch eher gezwungenermaßen. Sie war nämlich von dieser gefragt worden, ob sie mit ihr nach Veralia fahren wolle – und der Grund war kein anderer als der, dass sie von Zayn darum gebeten worden war, mit Chandra gemeinsam deren Kleidungsvorrat wieder etwas aufzufrischen. Da Chandra sehr gut wusste, dass jener unter ihrem Aufbruch gelitten hatte, denn sie hatte zuletzt zumeist dasselbe tragen müssen, war sie dem Angebot wohl oder übel nachgekommen. Übel, weil es merkwürdig gewesen war, mit Alyssa alleine zu sein, wenngleich sie Zayns Aufmerksamkeit zu schätzen wusste. So hatte Chandra seit dem Ausflug zwar endlich etwas mehr in ihrem Kleiderschrank, aber Alyssa hatte sie in der kurzen Zeit nicht besser kennenlernen können. Die Gespräche der beiden waren eher oberflächlicher Natur gewesen und kaum über gewöhnlichen Smalltalk hinausgegangen. Chandra hatte schlicht keinen Schimmer gehabt, worüber sie mit Alyssa hätte reden können – obwohl diese durchaus ihre Neugier weckte. Aber vielleicht war es vielmehr Neugier darüber, was für ein Verhältnis sie zu Zayn hatte, als zu ihrer Person.

Chandra konnte und wollte nicht leugnen, dass Alyssa sehr freundlich und diskret war – zumindest verkniff sie sich die offensichtliche Frage, weshalb Chandra nicht länger in Pyritus war –, doch es blieb von ihrer Seite aus ein befremdlicher Kontakt.

„Oh, was machst du denn hier?“, rutschte es ihr ungeschickt über die Lippen.

Aber Alyssa lächelte nur und erwiderte ungerührt: „Na nach dem Desaster vom letzten Mal kann ich euch beide doch nicht einfach alleine lassen mit einem gefährlichen Pokémon.“

„Um ehrlich zu sein, hielt ich es für besser, wenn noch eine dritte Person anwesend ist, schließlich reagierst du sehr empfindlich auf das Cryptopokémon und ich würde nur ungerne alleine vor diesem Wesen stehen“, erläuterte Zayn daran anschließend. Chandra nickte; seine Antwort sagte ihr außerdem deutlich mehr zu. Aber auch wenn sie gerne mit Zayn – und dem Crypto – alleine gewesen wäre, immerhin wusste er als Einziger so wirklich um ihre eigentümliche Reaktion auf diese Pokémon, so verstand sie seine Beweggründe.

„Aber was genau wollen wir jetzt tun?“, fragte Zayn hörbar ahnungslos. „Ich weiß nicht, wie wir dem Pokémon helfen können. Wenn wir wenigstens wüssten, was mit ihm geschehen ist, dann ließe sich vielleicht eine Art Heil- oder Gegenmittel herstellen, aber alle Untersuchungen an einem Cryptopokémon zeigen überhaupt nichts. Dieses Waaty“, er wog den Pokéball in seinen Händen, „ist kerngesund und von allen Werten her wie ein normales Pokémon. Ich verstehe einfach nicht, wie es derart bösartig und zerstörerisch werden konnte.“

Chandra sog dieses Wissen in sich auf. Für einen normalen Menschen schien ein Cryptopokémon schlicht aggressiv und sehr stark, es zeichnete sich dadurch aus, dass ihm jegliche Emotionen fehlten, die ein gewöhnliches Pokémon kennzeichneten. Aber abgesehen davon erschien es oberflächlich betrachtet wie jedes andere Pokémon. Und selbst wenn man dieses Waaty in lauter Daten und Werte aufschlüsselte, hob es sich in keiner Weise von seinen Artgenossen ab.

Aber Chandra wusste es besser. Sie konnte den Unterschied sehen und fühlen und deswegen war sie sicher, dass es etwas gab, das man tun konnte, um einem Pokémon wie Waaty zu helfen.

Sie fühlte sich mittlerweile sehr seltsam. Wie sonst auch ängstlich, als sie den Ball sah, aber ebenso energiegeladen und innerlich unausgeglichen, denn sie wollte unbedingt das Waaty sehen – und das war völlig verrückt. Eigentlich sollte sie das Pokémon in die Hölle wünschen für das, was es Lunel angetan hatte, aber sie spürte noch immer tiefes Mitgefühl und neuerdings eine abstruse Verbundenheit. Seit ihr der Gedanke gekommen war, dass sie etwas unternehmen konnte, wenn sie stark sein würde, schien es, als würde das Cryptopokémon sie mittels einer unbekannten Macht zu sich rufen.

„Könnten wir Waaty aus seinem Ball lassen?“, hörte sie sich selbst fragen, mit bedrohlich klarer Stimme.

„Jetzt sofort?“ Zayn wirkte überrascht.

„Ja.“

„Aber was willst du tun? Ich denke nicht, dass wir dem Pokémon jetzt helfen können und wenn es wieder ausrastet wie beim letzten Mal, dann haben wir ein Problem“, sprach Alyssa.

„Na ja, wir sind ja nicht umsonst hier runter gegangen“, meinte Zayn. „Aber trotzdem, Chandra. Was hast du vor?“

„Erinnerst du dich noch daran, dass ich dir davon erzählt habe, wie ich einmal versehentlich eines der Cryptopokémon von meinem Bruder geheilt habe?“, fing Chandra an und bemerkte mit Genugtuung den fragenden Ausdruck auf Alyssas Gesicht. Es mochte fies sein, aber sie war erleichtert, dass Zayn ihr nichts erzählt hatte. „Manchmal sind Cryptopokémon in meiner Gegenwart etwas ruhiger geworden und damals konnte ich eines sogar anfassen. Und als ich es berührte, wurde es vollkommen ruhig. Ich erinnere mich ehrlich gesagt nicht mehr daran, was genau dann passiert ist. Ich weiß nur noch, wie man uns wieder trennte und das Pokémon plötzlich normal war. Es schien fröhlich und alles, was es dunkel und böse gemacht hatte, war verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Tja, und als mein Bruder wütend wurde, wusste ich, dass ich etwas Verbotenes getan hatte.“

„Aber du hast es danach nie wieder getan, oder? Wir können uns nicht darauf verlassen, dass das einfach so wieder funktioniert.“

„Das stimmt schon, aber … Ich wollte diesen Pokémon natürlich trotzdem nie zu nahekommen. Denn selbst wenn sie ruhiger wurden, konnte ich ja trotzdem noch fühlen, wie schlecht es ihnen geht. Deshalb habe ich Begegnungen mit ihnen immer nach Möglichkeit vermieden.“ Chandra war insgeheim ja ein wenig erstaunt, dass Zayn ihr die Information aus der Vergangenheit ohne jeglichen Zweifel glaubte. Cryptopokémon geheilt durch Berührung klang wirklich nicht sehr wissenschaftlich oder logisch. „Aber jetzt ist es anders. Ich will wissen, ob ich dem Waaty helfen kann. Denn wenn nicht, was ist meine Flucht aus Pyritus denn dann außer einer feigen Aktion? Es ist sinnlos, dass ich abgehauen bin, wenn ich nichts tun kann, um zu helfen. Um diesen Wahnsinn zu stoppen.“

Zayn schien für einen Augenblick hin und hergerissen. Aber dann schritt er zu dem Hinterzimmer und zog die schwere Türe auf.

Alyssa schnappte erschrocken nach Luft. „Was hast du vor? Willst du dieses Pokémon wirklich rauslassen?“

„Was haben wir für eine andere Wahl? Immerhin habe ich nicht mein Leben riskiert, um dieses Pokémon zu besorgen, um ihm dann nicht helfen zu können“, erwiderte Zayn entschlossen. In einer schnellen Handbewegung öffnete er den Ball in Richtung des Bereiches hinter der Stahlwand und noch ehe sich das Pokémon gänzlich materialisiert hatte, hatte er die Tür schon zugezogen und einen schweren Riegel vorgeschoben.

Chandra war an die Glasscheibe getreten. Das Adrenalin jagte nun durch ihren Körper und erhitzte gefühlt ihr Blut, als sie zum ersten Mal seit Jahren völlig bewusst ein Cryptopokémon beobachtete. Obwohl das Waaty vor einer Woche von Zayns Galagladi K.O. geschlagen worden war, hatte es sich längst wieder erholt. Cryptopokémon steckten Schmerz besser weg als normale Pokémon und genasen auch deutlich schneller. Kein Wunder allerdings – Gefühle wie Schmerz oder Angst wurden ja ebenfalls unterdrückt.

Waaty warf einen Blick um sich und Chandra sah die feinen, dunklen Fäden, die um seinen Körper waberten. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Zayn und Alyssa diese nicht sehen konnten. Sie waren doch so präsent. Zogen sich um die Statur des Elektropokémons und verschmolzen immer wieder mit dessen Körper, als wären sie ein Teil von diesem. Doch wenn sie gedacht hatte, dass die dicke Scheibe sie vor der zermürbenden, inneren Leere des Waatys schützen konnte, lag sie falsch. Sie spürte bereits das Gefühl der Trostlosigkeit, das sich langsam an ihren Beinen hochzog, bis es ihre Brust erklommen hatte und in ihr Herz sickerte. Als Waaty den Blick auf das Glas richtete, erkannte Chandra den leeren Blick in den kleinen Augen, der sich wortwörtlich in ihre Seele bohrte. Sie konnte den Kampf des Geschöpfs fühlen, nahm die Schmerzen wahr, die es fühlte, als die Dunkelheit an seinem Inneren riss und zerrte, aber es war machtlos dagegen. Im nächsten Augenblick formte Waaty eine dunkle Kugel vor sich und schoss sie direkt auf das Fenster.

Chandra wich reflexartig nach hinten und sah, dass die Schattenkugel lediglich gegen das Glas prallte und sich dann in den dunklen Waben auflöste.

„Ist es das, was du siehst, wenn du Waaty ansiehst?“, fragte Zayn und wirkte einen Hauch erschrocken.

„Ja.“ Mehr konnte Chandra nicht über die Lippen bringen. Je länger sie hier stand, desto schwächer fühlte sie sich. Ihr war danach, sich in eine Ecke zu werfen und sich auszuweinen, bis die Schmerzen, die in ihrer Brust herrschten, nachließen.

„Hey, wenn es dir zu viel wird, brechen wir das sofort wieder ab.“ Zayn war plötzlich an ihrer Seite und berührte sie an den Schultern. Aber sie entfernte seine Hände sanft von sich und trat wieder ganz dicht an das Glas.

„Schon gut, ich krieg das hin.“

Diesmal zwang sie sich dazu, nicht wegzusehen, als sie unmittelbar in Waatys stumpfe Augen blickte. Zuerst bleckte Waaty die Zähne und knurrte offenbar, aber es folgte kein erneuter Angriff. Dann aber kehrte eine gewisse Ruhe in seine Züge und es verharrte in seiner Position. Einige Sekunden verstrichen, in denen Chandra mit pochendem Herzschlag die emotionale Ausnahmesituation von Waaty aushielt. Dann trugen ihre Füße sie wie von selbst zur Türe des Raums. „Ich muss da jetzt rein“, stellte sie klar.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, brach es aus Zayn, der sie ansah, als hätte sie sich nun auch vom letzten Rest ihres Verstandes verabschiedet.

Hatte sie wahrscheinlich auch.

„Gerade eben hat es dich noch angreifen wollen und jetzt soll ich dich da reingehen lassen?“

„Du musst, Zayn, bitte! Hier draußen kann ich ihm nicht helfen“, beharrte Chandra. Ihre eigenen Worte klangen so fremd … als würde ein anderer Teil in ihr sprechen. Ein Teil, dem sie zuvor noch nie begegnet war.

„Nein!“, beharrte er.

„Na schön!“ Ehe er sie aufhalten konnte, riss sie den Riegel hoch und stieß die Tür auf. Zayns Fluchen hinter ihr ungeachtet, stürmte sie in den Raum und sah sich nun dem Waaty gegenüber, welches erschrocken zu ihr hochsah und einen Schritt nach hinten trat.

„Hör auf mit den Dummheiten!“, zischte Zayn hinter ihr und ergriff ihr rechtes Handgelenk.

Genau diese Handlung löste eine kleine Katastrophe aus. Waaty erwachte wieder zum Leben und machte sich kampfbereit. Ehe Zayn Chandra aus dem Raum geschleift hatte, schoss Waaty auch schon eine dunkle Kugel auf die beiden, die im letzten Augenblick auseinanderstoben. Waaty ignorierte Chandra gänzlich, dafür nahm es Zayn ins Visier. Mit einem gezielten Sprung brachte es ihn zu Fall und erhob sich danach bedrohlich auf seiner Brust. Der dunkle Schleier um seinen Körper verdichtete sich und Chandra blieb jeglicher Laut im Halse stecken, während die Furcht ihren Körper zu einer Säule erstarren ließ.

Wenn es jetzt einen Angriff starten würde, dann …

Plötzlich erschien Alyssa in ihrem Blickfeld und schwang etwas durch die Luft, das den erhobenen Körper Waatys mit vollem Schwung erfasste und von Zayn fortschleuderte. Das Schlagobjekt in Alyssas Händen war nichts Geringeres als ein silberner Baseballschläger. Wo hatte sie den auf einmal her? Wäre die Situation weniger gefährlich, hätte Chandra wahrscheinlich lauthals gelacht.

„Oh mein Gott, ist dir etwas passiert?“, wollte Alyssa voll Sorge wissen und fiel auf die Knie. Zayn war etwas blass um die Nase, aber nicht verletzt. Sein Blick wanderte zu Chandra, deren Aufmerksamkeit auf Waaty gelenkt wurde.

Ein Cryptopokémon anzugreifen war nie eine gute Idee – so auch jetzt nicht. Das Waaty war sichtlich verärgert über den unerwarteten Angriff und kämpfte sich gerade wieder auf die Beine. Chandra sah die extremen Auswirkungen seiner Rage in dem sich stärker denn je verdichtenden dunkelvioletten Schatten, der es einhüllte, und handelte wie aus einem Instinkt heraus.

„Nein, hör auf damit!“, schrie sie mehr unbewusst und war mit einem Sprung, der sie direkt wieder auf die Knie katapultierte, bei dem Pokémon. Dann breitete sie die Arme aus und umfasste Waatys Körper, drückte das Wesen eng an sich, bis sie meinte, seinen Herzschlag an ihrer Brust zu fühlen, der unmittelbar eins mit ihrem wurde.

Weit entfernt drang ein Schreckensschrei an ihre Ohren, aber er ging unter in dem unbedeutenden Brei, zu dem sich ihre Umwelt nun wandelte. Es war, als stürzte sie emotional in ein tiefes, bodenloses Loch, das mit langen, schwarzen Klauen nach ihr griff und sie mit sich riss. Ein Leid, von dem sie sich niemals hätte vorstellen können, dass ein Mensch in der Lage war, so etwas Erdrückendes, Zerstörendes zu fühlen, durchdrang sie. Gefühlt durchfloss sie in diesen Sekunden, die sich wie Stunden dehnten, jegliche negative Emotion. Sie fühlte sich hoffnungslos, trostlos, einsam, hilflos, unendlich verloren, als rannte sie durch einen pechschwarzen Tunnel, suchend nach der rettenden Erlösung, die es aber nicht gab. Und wieder keimte dieses giftige Angstgefühl in ihr auf, das ihr die Lunge zu zerquetschen schien und ihr den Hals zuschnürte, ihr auch den letzten Rest Hoffnung auf Licht nahm.

Waaty in ihren Armen war gänzlich erschlafft. Als Chandra bewusst wurde, dass sie gerade all das fühlte, was Waaty peinigte, geschah es. All die Schwärze in Waatys Herzen bündelte sich und rollte in Form einer dunklen Welle über sie hinweg. Ein Schmerzensschrei blieb ihr in der Kehle stecken, doch ihr Gesicht war deutlich gekennzeichnet von der nun physischen Qual.

Doch nach nur wenigen Sekunden ebbte die Welle ab und Chandra blieb zurück als eine ausgebrannte, leere Hülle. Ein schwarzer Schleier fiel vor sie und sie kippte zur Seite.

 

******

 

Jemand rüttelte Chandra an den Schultern und sie schlug benommen die Augen auf. Erst war das Bild nur verschwommen, aber dann klärte es sich und zeigte ein bleiches, von Schrecken beherrschtes Gesicht. Derjenige, zu dem das Gesicht gehörte, hatte eine Hand in ihren Rücken gelegt und sie an sich gezogen, während sie noch immer auf dem Boden lag. Aus ihrem Mund kam nichts als ein unverständliches Krächzen.

„Verdammt, bist du jetzt völlig durchgedreht? Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?“, fuhr die Person vor ihr sie an und sie erkannte zwischen all der Wut Zayn. Er schien sich vor seinem eigenen Tonfall zu erschrecken und wurde etwas ruhiger. „Scheiße, verdammt, was sollte das?“

Chandra wollte etwas erwidern, aber fand keine Worte, außerdem war ihre Kehle staubtrocken und schmerzte bei jedem Schlucken. So starrte sie nur stumm in Zayns Gesicht. Sämtliche Farbe war aus diesem verschwunden, was sie erschreckte. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Sein Unterkiefer zitterte und wenn sie sich nicht irrte, benetzte sogar ein glasiger Schimmer seine Augen.

„Sag doch etwas. Bitte“, bat er mit zittriger, unsicherer Stimme. „Geht es dir gut?“

Unter Anstrengungen brachte sie ein „Ja, alles okay“ hervor, was nur halb der Wahrheit entsprach. Zwar fühlte sie sich nicht länger so verloren und düster wie vor wenigen Minuten – waren es überhaupt Minuten oder wie lange war sie bewusstlos gewesen? –, doch ihr Körper blieb von dem Ereignis ausgelaugt und schwach zurück. Immer wieder drehte sich das Bild vor ihren Augen und verschwamm und ihr Bewusstsein driftete mehrmals wieder zur Hälfte in die stumme Schwärze ab. Aber sie herrschte sich an, wachzubleiben.

„Mach so etwas bitte nie wieder. Ich dachte …“ Zayn schloss unwillig die Augen, als wollte er gar nicht darüber nachdenken. „Ich dachte, du würdest sterben. Wenn nicht direkt durch das Pokémon, dann durch das, was mit dir geschehen ist.“

„Es ist alles gut“, hauchte sie.

Zayn senkte den Kopf. „Diesmal, ja.“ Er schloss erneut die Augen und atmete tief ein und wieder aus, was Chandra ebenso wenig zu deuten vermochte wie seine kryptischen Worte. Sie erschrak, denn unerwartet zog er sie zu sich und in eine Umarmung. Mit ungewohnter Intensität drückte er sie an sich, sodass sie nun seinen Atem im Nacken spüren könnte. Da sie noch deutlich benommen war, rührte sie sich kaum, fühlte sich aber wohl und geborgen in seinen starken Armen.

„Ich bin so froh, dass es dir gut geht“, flüsterte er an ihr Ohr. Eine Gänsehaut wanderte über ihren Körper.

Ein Räuspern riss sie wieder auseinander. „Ich störe euch ja nur ungerne, aber das solltet ihr euch vielleicht ansehen.“

Die Stimme kam von rechts. Erst jetzt bemerkte Chandra, dass dort Alyssa kniete und neben ihr das Waaty. Ihr war nicht klar, was sie erwartete, aber der Anblick, der sich ihr bot, erwärmte ihr Herz.

Vor ihr stand ein Pokémon. Und es wurde nicht umgeben von einem finsteren Nebel oder einer finsteren Aura. Es löste keine Pein in Chandra aus.

Seine Augen waren nicht länger zwei leere, glanzlose Spiegel seiner Seele. Tatsächlich stand in ihnen in diesem Moment ein schuldiger Ausdruck. Waaty hielt die Arme schuldbewusst aneinander und senkte den Kopf. Obwohl es nicht länger ein Cryptopokémon war, wusste Chandra, dass es sich schlecht fühlte für all das, was es getan hatte und noch hätte getan, wäre es nicht aufgehalten worden.

Moment. Es war kein Cryptopokémon mehr.

„Es wirkt auf einmal so anders. Es ist gar nicht mehr aggressiv“, sprach Zayn.

„Es ist kein Cryptopokémon mehr“, bestätigte Chandra mit Mühen.

„Aber wie ist das möglich?“ Alyssas Stimme triefte vor Erstaunen.

„Ich weiß es nicht. Aber ich sehe und spüre an ihm nichts mehr, das typisch für ein Cryptopokémon ist.“ Sie streckte eine Hand nach Waaty aus, welches seinen Kopf an sie schmiegte und ein leises Blöken von sich gab. Auch die Berührung war nun ohne negative Folgen.

„Ich verstehe das nicht.“ Zum ersten Mal, seit sie Zayn kannte, klang er vollkommen baff und überfordert. Aber er hielt sie nicht für verrückt, das beruhigte sie. „Vorhin, als du bei Waaty warst, da habe ich mich für einen Moment so gefühlt, als würde etwas über mich hinwegrollen. Es fühlte sich schmerzvoll an und in diesem Augenblick hat eine tiefe Verzweiflung von mir Besitz ergriffen. Aber so schnell, wie es da war, war es auch wieder weg. Hast du das auch gespürt?“ Die Frage richtete sich an Alyssa, welche rasch nickte.

„Das fühle ich bei jedem Cryptopokémon, nur noch hundertfach schlimmer“, gestand Chandra.

„Das hätte ich mir nie vorstellen können. Aber diesmal haben wir gesehen, was passiert, wenn diese dunkle Energie freigesetzt wird.“

„Was meinst du?“

„Sieh dich mal um.“

Chandra folgte Zayns Blick und sah, was er meinte. Die Stahlwände waren an einigen Stellen geschwärzt und stellenweise sogar verbeult und mehrere feine Risse durchzogen die Panzerglasscheibe. „Oh.“

„Hätte die Cryptoenergie mit uns dasselbe angerichtet …“ Zayn ließ das Ende unausgesprochen.

Darüber wollte Chandra gar nicht nachdenken. Sie fand selbst keine Erklärung dafür, warum diese düstere Welle einen Menschen hauptsächlich psychisch und nur in Teilen physisch durchdrang, während sie alles andere in ihrer Umgebung zu zerstören versuchte. Aber das war ihr nichts Neues. Sie hatte es schon früher erlebt – noch bevor die Cryptopokémon kontrollierbarer geworden waren –, dass diese finstere Energie vor nichts haltmachte.

Da es für sie nun keinen Grund mehr gab, noch länger hier unten zu bleiben, verließen sie das Kellerabteil und gingen wieder nach oben. Doch kaum, dass Chandra ein paar aufrechte Schritte gegangen war, hatte auf einmal eine starke Übelkeit von ihr Besitz ergriffen. Ihr war schwindelig geworden und sie wusste nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, sich nicht gleich an Ort und Stelle zu übergeben. Zum Glück für Zayn und Alyssa, dass sie es zum nächsten Bad geschafft hatte. Nun hing sie über der Kloschüssel und – es ließ sich einfach nicht schöner formulieren – kotzte sich förmlich die Seele aus dem Leib. Denn so und nicht anders fühlte sie sich; es war, als hätte ihr Magen sich einmal komplett umgestülpt und bei jedem Würgereiz flackerte es vor ihren Augen.

„Kann man dir irgendwie helfen?“, fragte Zayn hörbar verunsichert aus Richtung der Türe.

„Schau mich nicht an“, schniefte Chandra. Sie fühlte sich elend und überdies eklig. So musste er sie wirklich nicht sehen. Ihre Haare hingen störend an ihrem Kopf hinunter, mit zittrigen Händen zog sie sie zur Seite. Nach einer schmerzvollen Weile musste sie nur noch würgen, aber ihr Magen war längst leer. Sie wollte nicht, konnte es aber nicht einstellen, als versuchte ihr Körper, etwas loszuwerden, das nicht sichtbar war.

Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter und sie zuckte zusammen. Er sollte doch nicht …! Aber es war lediglich Alyssa, welche neben Chandra kniete und sie aufmunternd anlächelte.

„Hey … Wird es langsam besser?“, fragte sie mitfühlend. Sie reichte Chandra ein feuchtes Tuch.

Diese tupfte sich das Gesicht ab. „Wo ist er?“

„Ich habe ihn rausgeworfen. Aber er macht sich Sorgen um dich.“

„Ach so.“ Es klang mehr nach Oh, das hätte ich gar nicht gedacht, wofür sie sich die Zunge hätte abbeißen können.

Da Übelkeit und Würgereiz nun nachließen, erhob sie sich schwerfällig, betätigte die Klospülung, tapste zum Waschbecken und sah in den Spiegel „Oh, scheiße.“ Aber ‚scheiße‘ war noch eine Untertreibung. Sie sah aus, als wäre sie gerade von den Toten auferstanden, mit struppigen, wirren Haaren und einem leichenblassen Teint. Ihre Lippen waren bleich, fast blutlos und ein gläsernes Paar Augen in einem fahlen Grün sah ihr entgegen.

Sie sah furchtbar aus und mit Sicherheit roch sie auch nicht viel besser. Sie wusch sich grob und hätte am liebsten wie ein kleines Kind angefangen zu weinen. Wie sollte sie dieses Bad jemals wieder verlassen? Zayn würde sich bestimmt zu Tode erschrecken, wenn er sie so sehen würde, und davonlaufen. Aber was dachte sie da überhaupt?

„Ich mach deine Haare wieder ordentlich, ja?“ Alyssa hinter ihr hatte plötzlich einen Kamm in den Händen, mit dem sie durch Chandras stumpfblonde Haarpracht fuhr. „Gleich sehen sie wieder schön aus.“

Chandra blieb stumm. Die Lage war ihr unangenehm, aber sie war auch froh, dass sie nicht alleine war. Nach wenigen Minuten sagte sie: „Danke.“

Nachdem sie wieder halbwegs lebendig aussah und nicht länger wacklig auf den Beinen war, verließen sie das Bad. Zayn war gerade damit beschäftigt, grübelnd vor dessen Türe auf und ab zu gehen, ging dann aber sofort zu Chandra.

„Geht es dir besser?“, wollte er besorgt wissen.

„Hm, ja.“ Sie war müde und erschöpft, obwohl es noch nicht spät war, und wollte einfach nur in ihr Bett. Also brachte sie diesen Wunsch nach außen, verabschiedete sich dankend von Alyssa und ging mit Zayn, der darauf bestand, sie zumindest zu ihrem Zimmer zu begleiten, nach oben. Seinen Vorschlag, sich noch einmal ärztlich untersuchen zu lassen, wies sie ab. Sie wusste, dass sie in Ordnung war – oder besser gesagt: dass kein Arzt der Welt etwas finden würde, das ihren Zustand erklärte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  True710
2018-04-18T14:49:36+00:00 18.04.2018 16:49
Um quasi auf deine Antwort vom letzten Kapitel zu antworten:
Nein, sollte keine Kritik an seinem Charakter sein =) wollte damit nur sagen, dass es in einer gewissen Weise lustig ist, gerade weil Zayn die Einfachheit, die Chandra in gewissen Bereichen besitzt, nur zu gut für sich auszunutzen weiß ;D

Um natürlich auch noch etwas zu diesem Kapitel beizutragen, so muss ich sagen, dass ich schon sehr gespannt bin, weshalb Chandra diese Fähigkeit besitzt und besonders, weshalb bereits eine Berührung/Umarmung ausreicht, um Crypto-Pokémon von ihrem Leid zu befreien. Wahrscheinlich wird es nicht direkt in den nächsten Kapiteln aufgelöst werden, aber das ist ja auch gut so ;P Freue mich schon auf mehr :)
Antwort von:  Lucinia
18.04.2018 21:56
Ah, vielen Dank für die Erklärung. ^^ "Ausnutzen" ist aber auch schon ein wenig negativ konnotiert, so ist das alles gar nicht! XD Oder vielleicht doch... *hust*

Du hast es erfasst, das wird noch eine ganze Weile dauern, bis man mehr dazu erfährt (ich weiß aber auch nicht genau, wie viele Kapitel; so detailliert plane ich nicht xD). Bis dahin bleibt es - hoffentlich - spannend. ;)


Zurück