Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 14: Die Ruhe vor dem Sturm ---------------------------------- Es hatte noch die ganze anschließende Nacht gedauert, bis Chandra sich gänzlich von ihrer verzehrenden Konfrontation mit dem Waaty erholt hatte. Doch nun fühlte sie sich wieder fit und genoss die klare Waldluft, die noch immer eine reinigende Wirkung auf sie ausübte; zumindest kam es ihr so vor nach all den Jahren im verstaubten Pyritus. Ohne Zweifel verspürte sie ein kleines Erfolgserlebnis, wenn sie an das dachte, was sie vollbracht hatte, aber es wurde getrübt von den Albträumen, die sie in der Nacht geplagt hatten. Dort war sie von etlichen Cryptopokémon gejagt worden, denen sie zu helfen nicht fähig gewesen war, bis sie schließlich zu Boden gestürzt und von den Pokémon eingeholt worden war. Daraufhin hatte sie sämtliche ihrer Qualen verspürt, was dem Traum ein beängstigendes Gefühl von Realität eingehaucht hatte – und als wäre all das nicht genug, war zum Schluss auch noch ihr Bruder aufgetaucht oder zumindest dessen Stimme. Ray hatte ihren Namen gerufen und ihr in unheilvoller Tonlage versprochen, dass er sie finden und sie für ihren Verrat an ihm bezahlen würde. Im Anschluss war Chandra schweißgebadet aufgewacht, mit feuchten Wangen und einem rasenden Herzen. Aber es war nur ein Traum. Das redete sie sich immer wieder ein. Ein Hirngespinst ihrer Fantasie, ein Ergebnis innerer Paranoia. Ray konnte ihr nichts sagen, denn er war nicht hier, sondern meilenweit weg. Sie war in Sicherheit. Aber war sie das wirklich? Existierte so etwas wie Sicherheit in ihrem Leben überhaupt? Wenn sie daran dachte, wie oft Ray schon potenzielle Feinde, die ihm, wie er es nannte, das Geschäft mit den Cryptopokémon hätten vermiesen können, gefunden und beseitigt hatte – und sie wollte nicht wissen, was genau das bedeutete – dann wurde ihr schlecht. Selbst wenn er nicht hier war, schmälerte das in keiner Weise die Bedeutung seiner in ihrem Traum zu ihr gesprochenen Worte. „Hey, Erde an das Mädchen in den Kniestrümpfen! Bist du noch anwesend?“ Chandra schreckte aus ihren Gedanken auf. Zayn an ihrer Seite warf ihr einen fragenden, aber belustigten Blick zu. „Äh, was denn?“, stammelte sie. Wie hatte sie nur so sehr abdriften können, dass sie ihn völlig ignoriert hatte? Sie waren zusammen in den Wald gegangen, um das schöne Wetter zu genießen und womöglich auch, um sich noch besser kennenzulernen, aber das hätte Chandra nie zugegeben. „An was hast du gedacht? Du sahst nachdenklich aus.“ „Ach, ich hab nur noch mal an gestern gedacht“, log sie. Sie wollte nicht mit ihm über ihre Sorgen sprechen, denn was hätte es schon geändert? „Weshalb? Weil meine Mutter und Torben uns angesehen haben, als hätten wir sie nicht mehr alle?“, fragte Zayn und nahm Bezug auf das, was geschehen war, bevor sie losgegangen waren. Sie hatten den beiden natürlich erzählt, was mit dem Waaty passiert war. Zayn hatte so zwar wieder das Risiko eingehen müssen, sich von seiner Mutter rügen zu lassen, aber ein normales Pokémon vorzuweisen, wog mehr als jede riskante Aktion. Zumal er, wie so gerne, ohnehin nicht mehr als notwendig erzählt und alle unschönen Details unter den Teppich gekehrt hatte, um seiner Mutter keine Sorgen zu bereiten. Chandra musste über diese Tatsache schmunzeln. „Kannst du es ihnen verübeln? Also ich nicht“, sprach sie. „Vermutlich nicht. Aber was sie nicht glauben können, fasziniert mich umso mehr.“ „Ach ja?“ „Ja! Wir suchen schon seit einigen Jahren nach einer Möglichkeit, Cryptopokémon zu heilen, aber wo soll man ansetzen, wenn man nicht weiß, was den Pokémon fehlt und wie sie zu dem wurden, was sie sind? Vor ein paar Jahren glaubten wir mal, zu wissen, wie einem Cryptopokémon zu helfen ist, aber das ist in einer Katastrophe geendet. Aber du … du hast es einfach getan, hast dem Pokémon einfach geholfen. Das ist wahrlich faszinierend. Auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie du es getan hast.“ „Ich weiß es auch nicht. Ich habe es einfach berührt und dann, ja ...“ Chandras Worte gingen unter in ihren Gedanken. Sie hing noch bei seiner Aussage fest. War Waaty etwa nicht das erste Cryptopokémon, das hier gewesen war? „Berührt ist wirklich eine Untertreibung. Ihr habt euch innig in den Armen gelegen“, zog Zayn sie auf, wurde dann aber wieder ernster. „Aber warn mich das nächste Mal vor, wenn du wieder gedenkst, so etwas zu tun. Geht es dir denn jetzt wirklich wieder besser?“ „Ja, mit mir ist alles in Ordnung, wirklich“, beharrte sie. „Gut.“ Nach einer kurzen Gesprächspause ergriff er wieder das Wort. „Ich würde ja zu gerne Rays Gesicht sehen, wenn er erfährt, was du getan hast. Er würde ziemlich dumm aus der Wäsche gucken, stell dir das mal vor.“ Zayn fand das sehr amüsierend, aber Chandra war überhaupt nicht nach Lachen zumute und sie wollte sich das auch nicht vorstellen. Ray wäre vielleicht im ersten Moment fassungslos, doch sein Gemüt würde sehr schnell in Zorn umschlagen. Sie wechselte rasch das Thema: „Wahrscheinlich, aber sag mal, was machen wir jetzt eigentlich?“ „Was willst du denn machen?“ Er warf ihr von der Seite her ein verschmitztes Grinsen zu, woraufhin sie die Augen verdrehen musste. „Netter Versuch. Beantworte mir meine Frage“, gab sie zurück und erhöhte ihr Tempo auf dem Weg, der sie durch den Wald führte, etwas. Sie hörte Zayn hinter sich seufzen. „Wieso bist du so ernst? Du solltest gut drauf sein! Wir haben allen Grund zum Feiern. Vielleicht sollten wir das auch gleich tun. Lass uns zurückgehen und ein bisschen Spaß haben.“ „Das hättest du wohl gerne. Lass mich kurz überlegen. Hmm, … nein.“ „Ach, komm schon.“ Er schien missmutig klingen zu wollen, was ihm aber nicht gelang. „Wo ist die Chandra abgeblieben, die ich in Pyritus kennengelernt habe? Sie war aufgeschlossen und auf ihre eigene Art und Weise ziemlich verführerisch. Aber sie muss irgendwo auf dem Weg hierher verloren gegangen sein. Wo könnte das nur passiert sein?“ „Sehr witzig“, erwiderte sie und verdrehte die Augen, aber sie wusste, dass er sie nur aufziehen wollte. Sie war ja wohl immer noch dieselbe. „Du bist ziemlich stur. Das erinnert mich irgendwie so ein bisschen an Flunkifer.“ „Was – wie bitte?“, platzte es aus Chandra und sie wandte sich, erzürnt von dieser Aussage, nach hinten. Zu ihrem Pech hatte sie nicht bemerkt, wie nah Zayn ihr war und konnte so nur mit äußerster Mühe eine Kollision ihrer Körper verhindern. Er hingegen schob sich, als hätte er überhaupt nichts zu ihrem Verhalten beigetragen, an ihr vorbei und warf ihr noch ein charmantes Lächeln zu. „Wieso fährst du so aus der Haut? Habe ich was Falsches gesagt?“ „Idiot! Ich bin überhaupt nicht so wie dieses Pokémon!“, wetterte sie. „Na, wenn du das sagst.“ „Es ist so“, fügte sie noch hinzu und folgte ihm anschließend stillschweigend. In den nächsten Minuten blieb es ruhig zwischen ihnen – so wie auch in der Umgebung. Sie begegneten keiner Menschenseele und waren mittlerweile so tief im Wald, dass sich dem Auge in jeglicher Richtung nur eine nimmer endende Aneinanderreihung von Bäumen bot, zwischen denen das Grün spross. Chandra wusste nicht mehr, wo sie waren. Sie hatten einen anderen Weg gewählt und konnten so nicht bei dem See herauskommen, an dem sie gewesen war. „Du Sturkopf“, meinte Zayn vor ihr – leise genug, dass er sagen konnte, sie hätte sich verhört, aber laut genug, dass sie ihn doch sehr genau verstand. „Sag das noch mal“, forderte sie wütend. Doch statt einer Antwort wandte er sich nun zu ihr um. „Du bist ein Sturkopf. Aber ich mag das. Auch wenn es manchmal wirklich anstrengend und nervenaufreibend sein kann. Aber es ist auch niedlich, wie du mich vom Gegenteil überzeugen willst und es damit nur noch mehr bestätigst.“ Chandra war dicht vor Zayn und sah hoch in sein Gesicht. In solchen Augenblicken kam sie sich unsagbar klein vor, obwohl sie eigentlich im Durchschnitt lag. Ihr blieben verteidigende Worte im Hals stecken; sie schwieg und wurde rot. Die Nähe zu ihm schüchterte sie doch mehr ein, als sie angenommen hätte. „Zu deiner Frage …“, fuhr er fort. „Ich dachte mir, du könntest ein bisschen trainieren. Vielleicht ziehst du ja auch wieder ein neues Pokémon an, das sich diesmal etwas freiwilliger in dein Team aufnehmen lassen möchte.“ Sie stutzte. „Trainieren?“ „Ja, mit Psiana und Nachtara, vielleicht auch mit Flunkifer, wenn du dir das zutraust. Ihr habt gut angefangen, aber solltet das jetzt nicht schleifen lassen und da deine Pokémon wieder fit sind, spricht ja nichts dagegen, unseren Masterplan wieder aufzunehmen.“ „Welchen Masterplan bitte?“ „Den, in welchem wir aus dir eine hervorragende Trainerin machen, die ihrem Bruder mal so richtig in den Arsch treten kann“, erklärte Zayn stolz. „Daran glaube ich jetzt nicht unbedingt“, entkräftete Chandra seine Worte, doch ihn kümmerte das nicht sonderlich. „Ich aber. Ich sehe einiges an Talent in dir, du musst nur über deinen Schatten springen. Also los, komm.“ Wenngleich Chandra wenig überzeugt war, ließ sie sich zumindest genügend mitreißen, um ein zustimmendes „Na gut“ zu entgegnen. Daraufhin liefen sie noch einige Minuten den Weg entlang, bis sie zu einer Weggabelung kamen, hinter der sich eine recht große Lichtung auftat. Die Sonne ließ die dicht bewachsene Grasfläche in einem saftigen Grün leuchten. Das Gras war noch nicht allzu hochgewachsen, wie Chandra feststellte, nachdem sie auf die Lichtung getreten waren. Sie sah sich ein wenig ziellos um; noch immer lag die Natur in entspannter Ruhe vor ihnen und noch immer wusste Chandra nicht, was sie tun sollte. „Ich … Ich weiß nicht“, gestand sie kryptisch. „Was meinst du?“, fragte Zayn. Sie spielte nervös mit ihren Fingern und sah zu Boden. „Ich weiß nicht, ob ich meine Pokémon wieder kämpfen lassen will – ob ich bereit dafür bin.“ „Aber wieso denkst du das?“ „Ich muss immer noch daran denken, wie Lunel verletzt wurde und wie ich nichts dagegen tun konnte.“ Ein mieses Gefühl stieg in ihr auf, dass sie dieses Thema erneut anschnitt, doch sie musste einfach sagen, was ihr auf dem Herzen brannte. „Und ich habe einfach Angst, dass es wieder zu so einer Situation kommen könnte, in der ich nur tatenlos danebenstehe, während eines meiner Pokémon schlimm verletzt wird.“ „Ach, Chandra.“ Zayn trat zu ihr, ein leichtes Lächeln im Gesicht. „Ich kann deine Sorge ja verstehen, aber du kannst die Situation mit Waaty nicht mit einem normalen Pokémonkampf vergleichen. Waaty war aggressiver als normale Pokémon. Ein gewöhnliches Pokémon würde nicht absichtlich versuchen, seinen Gegner tödlich zu verletzen, außer vielleicht, sein Trainer verlangt dies. Aber mit Trainern, denen es nur darum geht, Pokémon zu verletzten, solltest du ohnehin nicht kämpfen. Und du solltest dieses Erlebnis nicht als Maßstab für Kämpfe allgemein nehmen. Außerdem stehst du nie tatenlos daneben. Du bist ihnen eine Unterstützung, kämpfst und leidest mit ihnen. Aber du solltest dich nicht fertiger machen als notwendig. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sauer auf dich sind, also hör auf, dich schlecht zu fühlen und sieh nach vorne.“ Sie konnte nicht leugnen, dass seine Worte ihre trübe Stimmung aufhellten und ihr neue Hoffnung verliehen. Vielleicht sollte sie einfach erneut etwas wagen? „Außerdem wirst du doch wohl einem Gentleman keinen Pokémonkampf abschlagen wollen, oder?“ Chandra ließ wie auf Kommando den Blick über die Lichtung schweifen. „Wo? Wen meinst du? Ich sehe niemanden außer uns.“ „Willst du mich etwa kränken?“ Zayn ergriff ihre linke Hand, was sie erstarren ließ. „Also – darf ich die Lady um einen kleinen Kampf bitten?“ „Ich glaube, eigentlich geht das anders“, erwiderte sie. Völlig unvermittelt zog Zayn sie mit einem Ruck dicht zu sich. „Oh, wir können auch gerne tanzen, wenn du das möchtest“, grinste er und sie verlor sich in diesem Grinsen. Weswegen war sie vorhin noch gleich sauer auf ihn gewesen? Ihr Kopf war überfordert, sie waren sich so nah, dass kaum mehr ein Blatt Papier zwischen sie passte. Nicht in sein Gesicht schauen!, herrschte sie sich an. Du drehst durch. „Ähm“, stotterte sie, „tut mir leid, aber ich muss noch einen Pokémonkampf gewinnen. Vielleicht ein andermal.“ Chandra entzog sich ihm und drehte sich nervös um. „Ist das ein Ja?“ „Ich kann es dir wohl nicht abschlagen.“ Dabei hatte sie keinerlei Ahnung, was sie tun sollte. Sie war ein blutiger Anfänger mit drei Pokémon, von denen zwei nur einmal gekämpft hatten, während das dritte noch in der Trotzphase steckte. Zayn hingegen war ihr um Meilen voraus, aber sie wusste auch, dass man sich mit Leuten messen musste, die besser waren als man selbst, um zu wachsen. Sie entfernte sich einige Meter von ihm und holte zwei Pokébälle hervor. „Na los, wähle dein Pokémon!“, rief sie ihm zu, mit gespielter Selbstsicherheit. In Wahrheit schlotterten ihr die Knie. Sie wollte sich nicht vor ihm blamieren. „Merkwürdig, dass du auf einmal so Feuer und Flamme bist“, kommentierte Zayn trocken, dann warf er einen Pokéball. Riolu. Chandra hatte nichts anderes erwartet, doch sie nahm es ihm nicht übel. Sie hätte sich selbst auch nicht besser eingeschätzt. Riolu war eben Zayns einziges Pokémon, das sie und ihre Pokémon nicht nach einer Attacke vom Feld fegen würde – hoffte sie zumindest. Obwohl sie sich daran erinnerte, dass Sunny für diesen Kampf besser geeignet sein würde, wollte sie ihre Entscheidung nicht alleine fassen. Also holte sie sowohl Sunny als auch Lunel aus ihren Bällen. Letzterer war deutlich kampflustiger als seine Schwester, so verwunderte es Chandra kaum, dass er sich auf dem Kampffeld positionierte und Sunny sich abseits ins Gras warf. Lunel war wieder fit und brannte auf ein Training, was Chandra durchaus erfreute. Sie hoffte nur, dass sie ihn und sich nicht enttäuschen würde. „Du faszinierst mich immer mehr, Chandra“, rief Zayn ihr anerkennend zu. „Mal sehen, vielleicht lasse ich dich ja sogar gewinnen.“ „Das wird nicht nötig sein.“ „Du läufst ja richtig zur Höchstform auf. Na dann, du darfst anfangen.“ Das ließ Chandra sich nicht zweimal sagen. Sie befahl Lunel das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam. „Ruckzuckhieb!“ Lunel grub die Pfoten in das Gras, um sich anschließend mit erschreckender Geschwindigkeit abzustoßen und sich seinem Gegner zu nähern. Riolus kleiner Körper ging in Kampfposition, es streckte seine Arme herausfordernd von sich und erweckte den Eindruck, den Angriff Nachtaras kompromisslos auf sich nehmen zu wollen. Aber dann durchdrang Zayns ruhige Stimme die aufgeladene, hitzige Atmosphäre, die sich mit einem Mal über das Kampffeld gelegt hatte. „Ausweichen, Riolu.“ Mit Leichtigkeit vollführte Riolu zwei Schritte nach links und entging dem Ruckzuckhieb, als hätte er noch nie etwas anderes getan. Nur mit Mühen kam Nachtara wieder zum Stehen, indem es sich in den Boden krallte. Noch bevor es sich wieder umgedreht hatte, rief Zayn: „Kraftwelle!“ Dieser Angriff war Chandra nicht unbekannt. Riolus rechte Faust leuchtete grell und mit einem Satz war es neben Lunel, hieb nach ihm und katapultierte ihn so ein gutes Stück von sich fort. Er purzelte durch das Gras, kämpfte sich aber unmittelbar danach wieder auf die Beine und schenkte Riolu ein bitterböses Knurren. „Hey, das war ganz schön unfair“, empörte Chandra sich. Ihr Pokémon hatte ja nicht einmal Zeit gehabt, sich seinem Gegner wieder zuzuwenden. „Das Leben ist nun mal unfair. Pokémonkämpfe manchmal auch“, entgegnete Zayn schulterzuckend. „Du musst lernen, schnell zu sein, Chancen zu erkennen und sie zu nutzen.“ Sie wusste, dass er recht hatte und sie sich überdies nicht zu lange an einem Ereignis aufhalten durfte. Also zögerte sie nicht und richtete den Blick wieder auf Nachtara, in dessen rot-schwarzen Augen ein entschlossener Ausdruck brannte. „Setz Spukball ein!“ Sogleich riss Lunel sein Maul auf und entblößte dabei scharfe Fangzähne, die Chandra sonst nur selten ins Auge fielen. Eine schwarze Kugel formte sich. Sie schluckte jegliches Licht in ihrer unmittelbaren Umgebung und wuchs so zu beachtlicher Größe heran. Als sie Kurs auf ihr Zielobjekt nahm, wirbelte sie das Gras unter sich auf. „Riolu, abwehren mit Konter!“, rief Zayn seinem Pokémon zu. Das Kampfpokémon hielt seine Arme vor den Körper und schaffte es in letzter Sekunde, sich in ein hellblaues Licht zu hüllen, als der Spukball es auch schon traf. Doch die Kugel fand in Riolu eine unbezwingbare Mauer und wurde stattdessen mit schier doppelter Geschwindigkeit zu ihrem Absender zurückgeschickt. Chandra erstarrte bei dem Anblick. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie die Konterattacke Zayn und Riolu beim letzten Mal den Sieg eingebracht hatte. Sie wollte nicht nach so kurzer Zeit schon ihre Niederlage besiegeln. Doch trotz ihres Wissens um den Konterangriff, kam dieser für sie unerwartet und ihr blieb etwas Geistreiches im Halse stecken. Umso erstaunter war sie, als Lunel sich im letzten Augenblick mit einem kräftigen Satz seiner Beine nach oben katapultierte und der zurückgeschickten Attacke so entging. Selbst Riolu schien damit nicht gerechnet zu haben, denn er schreckte auf und richtete den Blick nach oben. Ich muss meine Chancen nutzen, dachte Chandra. Die Erkenntnis, dass sie sich Riolus kurze Erschrockenheit zunutze machen konnte, überrumpelte sie allerdings in solch einem Maße, dass ihr keine passende Attacke mehr in den Sinn kam und sie stattdessen lediglich „Los, Lunel, greif es an!“ rief. Es genügte. Lunel setzte direkt vor Riolu auf dem Boden auf, um sich anschließend auf den kleineren Kontrahenten zu stürzen. Er biss sich erst in dessen Fell fest und warf Riolu schließlich zu Boden. Zayn verfolgte die Rangelei der zwei Pokémon mit ausdrucksloser Miene. „Lass dich nicht unterkriegen. Schüttle es ab!“, befahl er Riolu. Er klang ruhig, aber konzentriert, doch Chandra glaubte, einen Hauch von Anerkennung herauszuhören. Sie selbst war froh, dass sie nicht wieder zur Salzsäule erstarrt war wie beim letzten Mal. Riolu kämpfte sich zurück auf seine schwarzen Pfoten und verpasste Nachtara einen Hieb mit der rechten. Die Stahlplatte auf dem Rücken seiner Pfote krachte in Lunels Gesicht und ließ ihn endlich gänzlich von seinem Gegner abweichen. Er schüttelte den Kopf, als hätte er eine kurzzeitige Benommenheit loszuwerden. „Geht es dir gut?“, rief Chandra ihrem Pokémon zu, besorgt um dessen Wohl. Doch sie erhielt sogleich einen Laut der Zustimmung und die Bestätigung, dass Lunel noch lange nicht am Ende war. „Na schön, dann setz noch einmal Spukball ein!“ „Los, schick dem Spukball deine Kraftwelle entgegen!“, gab Zayn einen Gegenbefehl, gerade, als Nachtara den Spukball abschoss. Riolu verweilte an Ort und Stelle. Anders als die Male zuvor nahm es den Arm diesmal nach hinten, um ihn anschließend mit Schwung wieder nach vorne zu führen, wo sich das Leuchten um seine Pfote in Form einer grellen Kugel schwungvoll löste, die es auf den Angriff seines Gegners lenkte. Die beiden Attacken prallten ineinander und verpufften in einer kleinen Druckwelle, die zumindest Lunel unvorbereitet erwischte und auf den Boden zwang. „Und jetzt Ruckzuckhieb!“ Blitzschnell schoss Riolu nach vorne und erfasste Nachtara im vollen Sprint. Es überschlug sich einige Male im Gras und Chandra befürchtete bereits das Schlimmste. Riolu erhob sich triumphierend vor dem Unlichtpokémon und rechnete dabei nicht mit dem Folgenden. Lunel kämpfte sich wieder auf die Beine und überbrückte die letzte Distanz zu Riolu. Er vollführte in einem anschließenden Sprung eine halbe Drehung, erhob seinen Schweif und mit einer nicht zu verachtenden Portion Schwung schlug dieser direkt in Riolus vor Schreck verzehrtes Gesicht. Das kleine Kampfpokémon fiel mit einem Schrei nieder, kam aber mit einem Rückwärtssalto sofort wieder auf die Beine. Es warf einen irritierten und verzweifelten Blick zu seinem Trainer. „Wow, was war das denn?“, wunderte sich Chandra und sah ebenfalls zu Zayn. „Das sah aus wie ein versuchter Eisenschweif, würde ich sagen.“ „Aber ich wusste gar nicht, dass Lunel diese Attacke kann“, entgegnete sie, als kannte sie diesen Angriff. „Na ja, er kann sie ja auch noch nicht. Ein richtiger Eisenschweif ist stärker, das gerade war einfach nur ein Schlag, sozusagen wie eine Ohrfeige für Riolu“, korrigierte Zayn und musste dann seufzen, als sein Pokémon eine Schnute zog. „Sieh mich bitte nicht so an, Riolu, du wirst es schon überleben. Na, wie dem auch sei. Manchmal wollen Pokémon von sich aus Attacken lernen, zum Beispiel, weil sie sie bei einem anderen Pokémon gesehen haben oder auch einfach, weil es ihrem Naturell entspricht.“ Damit hätte Chandra nicht gerechnet, aber es weckte Begeisterung in ihr, mit wie viel Engagement ihr Pokémon bei der Sache gewesen war. „Für den ersten Versuch sah das schon gar nicht so schlecht aus. Die Bewegungsabfolge ist soweit stimmig, allerdings müsste er noch daran arbeiten, genügend Energie in seinem Schweif zu konzentrieren, um die Attacke wirklich ausführen zu können. Das solltet ihr aber in einem ruhigeren Moment trainieren.“ Chandra nickte und machte sich dazu eine geistige Notiz. Stolz wallte in ihr auf; ihr Pokémon gab sich so viel Mühe und stand schon wieder kampfbereit und mit erhobener Statur in ihrer unmittelbaren Nähe. Das fachte in ihr ein bislang unbekanntes Feuer an, das ihren Kampfgeist anheizte und sie den Kampf fortsetzen lassen wollte. „Lass uns den Kampf fortführen!“, äußerte sie dementsprechend und auf Zayns leicht verdutzten Blick fügte sie hinzu: „Oder willst du jetzt doch kneifen?“ „Wie bitte? Niemals!“ Sie wertete dies als Zustimmung und stieg sogleich wieder in den Kampf ein. „Ruckzuckhieb!“ Lunel fegte über das Gras – es schien, als hätte er sich an Chandras Kampfgeist angesteckt. Es loderte das gleiche Feuer in ihnen und angetrieben von dieser inneren Kraft erwischte er das überraschte Riolu frontal von vorne. Das Kampfpokémon überschlug sich einmal, um sich wieder zu erheben, als auch schon Zayns Stimme zu ihm hinüberschallte und ihm eine erneute Kraftwelle befahl. Seine flinken Beine trugen es auf seinen Gegner zu, und Chandra rief das, was ihr in den Sinn kam. „Weich aus, Lunel!“ Tatsächlich gelang es Nachtara, der glühenden Faust Riolus auszuweichen, indem es sich geschickt zur Seite rollte. Chandra nahm in jenen Sekunden etwas wahr, das sie so noch nie zuvor verspürt hatte – eine tiefe, geistige Verbindung zu ihrem Pokémon, ein Band, das sie beide zu einer Einheit verschmolz. Das musste Zayn gemeint haben, als er davon gesprochen hatte, dass ein Trainer stets mit seinem Pokémon kämpfte. Obwohl Chandra nur am Rande des Kampffeldes stand, erschien es ihr, als sei ein nicht unwesentlicher Teil von ihr ebenfalls auf dem Feld. Es erklomm sie ein Gefühl der Freude, wenn eine von Lunels Attacken ihr Ziel traf, aber noch viel euphorischer machte es sie, dass die Bedeutung ihrer Worte bei ihm ankam, denn das zeigte ihr, wie sehr er ihr sein Vertrauen schenkte. Und jedes Mal, wenn das gegnerische Pokémon sich ihm näherte, legten sich Klauen der Nervosität um sie und wenn Lunel gar getroffen wurde, verspürte sie einen nicht greifbaren, aber sehr realen Schmerz, der aber jeden Moment des Erfolges wert war. Diese innige Band hob den Kampf auf eine höhere Ebene, in der sich Chandra die richtigen Worte plötzlich viel leichter offenbarten. „Super, und nun setz Biss ein!“ Ein Sprung beförderte Lunel hinter Riolu, wo es sich in dessen Nacken festbiss. Riolu verzog kaum eine Miene, vielmehr wirkte es sauer. „Ihr macht Fortschritte“, merkte Zayn nüchtern an und lenkte Chandras Aufmerksamkeit somit auf sich, „aber manchmal ist es besser, nicht zu nah an seinen Gegner heranzukommen. Ich hoffe, du nimmst mir das jetzt nicht übel.“ Sie verstand ihn nicht, sollte seine Worte aber schon alsbald zu begreifen lernen. Als wären Zayns Worte ein versteckter Befehl für sein Riolu gewesen, griffen dessen Arme hinter sich, um Lunel zu packen und ihn mit Schwung über sich hinweg zu werfen. „Riolu, Ableithieb!“, forderte Zayn sein Pokémon auf, als Nachtara auf dem Boden aufschlug. Ein entschlossener Kampfschrei drang aus Riolus Kehle und dann erschien ein pulsierender, giftgrüner Wirbel um seine Faust, die es nur wenige Sekunden später in seinen Gegner rammte, ehe dieser sich überhaupt wieder gänzlich hatte aufrichten können. Nachtara schrie bei der Berührung mit der Attacke und sackte dann wieder in sich zusammen. Das Licht um Riolus Pfote erlosch und das Pokémon selbst schien, als hätte es an neuer Stärke gewonnen. Chandra hatte das Geschehen sprachlos verfolgt. Sie hatte nicht mit einem unbekannten Gegenangriff gerechnet, was sie unvorsichtig hatte werden lassen. Sie glaubte ihr Pokémon bereits geschlagen und fühlte sich, als wäre sie ebenfalls von der Wucht der Attacke getroffen worden, doch dann kämpfte sich Lunel wieder auf die Beine und schenkte ihr einen Blick, der ihr wohl die Sorgen nehmen und signalisieren sollte, dass er noch weiterkämpfen konnte. Doch ehe Chandra zu einer Handlung kam, hörte sie das Schlagen mächtiger Flügel, die die Luft zerschnitten und ihr mit dem entstehenden Luftstrom einmal kräftig die Haare um den Kopf wirbelten. Sie blickte auf und sah ein großes, gewaltiges Pokémon mit dunkelroten Schwingen über sich hinwegfliegen, das sich dem Boden näherte, eine halbe Drehung vollzog und bei der Landung einen Kreis unter sich erzeugte, denn die Wucht der Flügelschläge peitschte auch das sonst ruhige Gras auf. Instinktiv versteifte sich Chandras Körper und sie war im Begriff, eine Verteidigungshaltung einzunehmen, als sie das Wesen als Zayns Brutalanda wiedererkannte. Zayn hingegen wirkte überhaupt nicht überrascht davon und begrüßte sein Pokémon, als wäre es völlig normal, es hier anzutreffen. Zwar hatte sie schon einige Stunden auf dem Rücken des Pokémons verbracht, doch das furchteinflößende Erscheinungsbild des Drachen und Jills Erzählungen bläuten ihr eine gehörige Portion Respekt ein. „Ähm, wow“, schluckte sie und machte ein paar zögerliche Schritte nach vorne, „aber wieso ist Brutalanda denn nicht in seinem Pokéball?“ „Ach, Chandra.“ Zayn grinste und sie fühlte sich irgendwie von ihm geneckt. „Du kannst ein Drachenpokémon wie Brutalanda nicht die ganze Zeit in seinen Pokéball sperren. Drachenpokémon brauchen viel Freiraum und Bewegung. Brutalanda ist die meiste Zeit draußen und erkundet die Umgebung – und das ist dir ja bislang überhaupt nicht aufgefallen.“ Wohl wahr. Sie war eben ein blutiger Anfänger auf dem Gebiet, auch wenn die Erklärung natürlich einleuchtend war. „Aber hast du denn gar keine Angst, dass ein anderer Trainer Brutalanda für ein wildes Pokémon halten und versuchen könnte, es einzufangen?“, fragte sie. Einen Augenblick schwieg Zayn nur, fasste sein Drachenpokémon ins Auge und lächelte dann leicht. „Nein. Es ist zum einen sehr schwer, ein Pokémon, das bereits einem anderen Trainer gehört, in einen Ball zu bekommen und zum anderen ist Brutalanda sehr stark und sehr schnell. Es wäre schon verschwunden, ehe jemand überhaupt einen Pokéball herausgeholt hätte.“ „Aber könnte es nicht auch sein, dass Brutalanda einfach abhaut?“, fragte sie, mehr neckend als ernst gemeint. Riolu war mittlerweile auf Brutalandas Rücken gesprungen und faulenze dort, während Lunel und Sunny zueinander gelaufen waren und sich ausgiebig sonnten. Der Kampf war wohl für alle Beteiligten vorbei. „Hey, ist meine Anwesenheit etwa so unerträglich?“, wollte Zayn gespielt empört wissen und setzte sich ins Gras, wobei er sich an Brutalanda lehnte, welches ein tiefes Schnauben ausstieß. „Du solltest aufpassen, was du sagst.“ „Nein, sie ist bezaubernd“, gab Chandra stocksteif wieder. Zayn brach plötzlich in Lachen aus, was wohl ihrem verkrampften Gesichtsausdruck geschuldet war. „Mensch, Chandra, wieso bist du so versteift? Brutalanda frisst dich nicht auf. An dir ist ja auch gar nichts dran, also keine Sorge. Es ist viel netter, als es aussieht.“ „Ja, aber … Deine Schwester hatte mir erzählt, dass Brutalanda früher nicht so umgänglich war und dass es dich verletzt hat. Irgendwie macht mir der Gedanke Angst, vom eigenen Pokémon verletzt zu werden.“ „Jill redet viel, wenn der Tag lang ist“, seufzte Zayn. „Aber es stimmt. Allerdings ist das schon über zwei Jahre her. Nachdem Brutalanda sich von Draschel weiterentwickelt hatte, wurde aus einem ruhigen Pokémon mit einem Mal ein sehr aggressives, das wegen Kleinigkeiten wütend wurde. Es hat nicht mehr auf mich gehört und ist oft tagelang verschwunden. Anfangs habe ich das akzeptiert. Immerhin konnte es plötzlich fliegen und na ja, ich würde wahrscheinlich auch ‘ne Weile umherfliegen, wenn ich das plötzlich könnte. Aber ein Pokémon sollte seinen Trainer respektieren, so wie ein Trainer natürlich auch seine Pokémon mit Respekt behandeln muss. Leider sah Brutalanda das eine ganze Weile anders, es hat nicht mal im Entferntesten daran gedacht, auf mich zu hören. Jedes Training mit ihm war nervenaufreibend und so ist eben irgendwann passiert, dass es mich angegriffen hat. Aber ich machte ihm keine Vorwürfe, womöglich habe ich einfach zu viel von ihm verlangt. Danach besserte sich unsere Beziehung zueinander, es fing wieder an, mir zu vertrauen und mich zu respektieren. Heute kann ich mir mein Team gar nicht mehr ohne Brutalanda vorstellen, auch wenn meine Mutter sich wünscht, ich würde ein weniger gefährliches Pokémon trainieren. Aber solange sie glaubt, dass ich nicht auf seinem Rücken umherfliege, kommt sie damit klar.“ Chandra hatte ihm aufmerksam zugehört und sich währenddessen ebenfalls ins Gras gesetzt. Brutalanda hatte den Kopf auf den Boden gebettet und machte im Moment wirklich keinen sonderlich furchteinflößenden Eindruck. „Ehrlich gesagt kann ich mir gar nicht vorstellen, dass du mal Probleme mit einem Pokémon hattest“, gab sie zu. „Ach ja? Wieso nicht?“ „Na ja, weil du halt du bist.“ Mit einer wirren Bewegung ihrer Hände deutete sie auf ihn, als erklärte das die Frage. „Du wirkst so vollkommen, was Pokémon angeht, und scheinst irgendwie alles zu wissen. Wüsste ich es nicht besser, würde ich dich für einen Klugscheißer halten.“ Er grinste. „Oh, danke, das hört man doch gern.“ „Aber es stimmt. Du weißt immer, was du tun musst und wirkst einfach so erfahren.“ „Sicher, dass du noch von Pokémon sprichst und nicht doch unauffällig das Thema gewechselt hast?“ Chandra verdrehte über sein schiefes Grinsen die Augen. „Du Arsch.“ Ein leichtes Lächeln war daraufhin Zayns Antwort – es hatte etwas Nachdenkliches an sich, denn als er den Kopf in den Nacken legte und den Blick in den Himmel richtete, verschwand es. „Ach na ja … Das war nicht immer so“, sprach er und ein reumütiger Unterton begleitete seine Worte, aber Chandra sah sich einmal mehr nicht in der Position, die Bedeutung dahinter zu erfragen. So schwieg sie daraufhin.   ******   Zwei Tage später verbrachten Chandra und Zayn ihre Zeit im Garten, um mit Lunel den Eisenschweif zu üben. Er gab sich dabei größte Mühe, Zayns Aufforderungen und seinen Motivationsansagen gerecht zu werden, während Chandra etwas ruhiger danebenstand und ihr Pokémon immer lobte, wenn es einen Fortschritt erzielte. Nachtara hechtete immer wieder auf einen der Bäume zu, vollführte nach einem hohen Sprung eine seitliche Drehung und zielte dann mit seinem Schweif auf den Stamm des Baumes. Die Bewegung saß nach einigen Versuchen perfekt und im Laufe des Trainings gelang es Lunel sogar, so viel Energie in seinem Schweif zu bündeln, dass dieser in einem grellen Licht zu leuchten begann, doch jedes Mal, bevor er in Kontakt mit dem Stamm kommen kannte, erstarb das Leuchten und statt eines gestählten Schweifes schlug nur ein schwarzes Fellbüschel gegen die Rinde. Nach jedem gescheiterten Eisenschweif plumpste Nachtara auf den Boden, sprang aber sogleich wieder auf alle Viere, um einen neuen Versuch zu wagen. So ging das eine ganze Weile und nach einiger Zeit ging Lunel dazu über, sich vor jedem Versuch in einer lauernden Haltung auf den Boden zu legen. In tiefster Konzentration beäugte er dann den Baum, als würde ihm das helfen, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Urplötzlich sprang er immer wieder nach einigen Minuten auf und versuchte sich an einem Eisenschweif, auch wenn er es nie schaffte, die Attacke so lange zu konzentrieren, bis er am Ziel war. Chandra und Sunny beobachteten seine Bemühungen von ihren Plätzen aus und allmählich empfand Chandra Sorge um das Wohl ihres Pokémons. Schließlich sollte sich Lunel nicht verausgaben – eine neue Attacke ließ sich eben nicht an einem Nachmittag erlernen. „Hey, Lunel, es reicht doch langsam. Du musst dir mal eine Pause gönnen“, sprach sie zu ihrem Pokémon, als dieses sich gerade für den nächsten Versuch bereitmachte. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, seine Ohren zuckten und für den Bruchteil einer Sekunde leuchteten die Ringe und Kreise auf seinem Körper. Das war wohl seine Art, ‚Alles gut‘ zu sagen. Chandra seufzte. Plötzlich legte sich eine Pfote auf ihre Hand. Sunny funkelte sie aus violetten Augen an und beobachtete anschließend ihren Bruder bei seinem nächsten Versuch. „Du meinst also, ich soll ihn weitermachen lassen?“, fragte Chandra. „Hm, na gut, wenn du das sagst.“ „Immer wieder faszinierend; dieses Band zwischen dir und deinen Pokémon“, kommentierte Zayn, der sich nun neben Sunny ins Gras setzte. Daraufhin schmiegte sich das Psiana an ihn und ließ sich von ihm den Kopf kraulen. Auf seine Worte erwiderte Chandra nichts, stattdessen beobachtete sie mit gehobener Augenbraue, wie ihr Pokémon sich einmal mehr an Zayn kuschelte, als würde es ihn schon sein ganzes Leben lang kennen. „Du schaust so sehnsüchtig. Soll ich dir auch den Kopf kraulen?“, fragte Zayn schmunzelnd. Einen Augenblick sah sie ihn nur regelrecht konsterniert an, dann begriff sie seine Worte und wandte den Blick ab. „Äh, nein?“ Blödmann, dachte sie, aber in Wahrheit hätte sie niemals zugegeben, dass sie sich durchaus nach ein wenig Zärtlichkeit sehnte. Doch dies hätte sie sich auch nicht anmerken lassen, hätte er sich direkt neben sie gesetzt. Es verging noch einige Zeit, in welcher Lunel weiter übte, aber irgendwann wurde er müde und Chandra erkannte, dass die vielen Misserfolge ihn seine Motivation kosteten, denn er ließ die Ohren hängen und trottete wieder zum Ausgangspunkt zurück. Chandra für ihren Teil sah aber keinen Grund, sich schlecht zu fühlen. Sie sprang auf und lief zu ihm. „Hey, das hast du doch bis jetzt super gemacht“, tröstete sie ihn, aber Lunel sah nur mit hängendem Kopf zu ihr. „Sieh mal, bis vor Kurzem konntest du diese Attacke noch gar nicht und jetzt hast du es doch schon fast. Wir müssen nur noch ein bisschen mehr üben.“ Sie strich ihm durch das schwarze Fell, das sich mittlerweile wieder sehr gut erholte. „Lass und morgen weitermachen, ja?“ Lunel nickte eifrig; die Aussicht auf den morgigen Tag hellte seine Stimmung anscheinend etwas auf. Doch bevor sie allesamt reingehen konnten, vernahm Chandra ein nicht definierbares Geräusch und dann verspürte sie etwas auf ihrem Kopf. Ein kaum nennenswertes Gewicht und etwas, das auf ihrer Kopfhaut pikste. „Hey, was ist das?“, quiekte sie erschrocken und griff über ihren Kopf. Sie spürte lediglich etwas Flauschiges, das sich um ihre Finger schmiegte, und hörte ein hohes, melodisches Piepen. „Mach es weg, schnell!“, bat sie Zayn, der schmunzelnd zu ihr kam. „Aua!“ Das Etwas auf ihrem Kopf bewegte sich und hatte ihr ein Haar gekostet – unverzeihlich! Chandra quengelte, aber da griff Zayn endlich über ihren Kopf. „Beruhig dich, du Heulsuse“, lachte er, wofür sie ihn gerne getreten hätte, aber sie wollte erst einmal den fremden Passagier loswerden. Was war da auf ihrem Kopf? Ein Pokémon? Vielleicht sogar ein ganz Furchterregendes mit einem gruseligen Äußeren? „Hey, Kleiner, was machst du denn da oben?“, sprach Zayn zu dem unbekannten Wesen und streckte ihm eine Hand entgegen, woraufhin es erneut piepste. „Gefällt es dir auf Chandras Haaren? Na, komm erst mal runter.“ Er schaffte es, das unbekannte Geschöpf von ihrem Kopf zu heben, ohne eine mittelschwere Haarkatastrophe auszulösen. Als Chandra sah, was für ein Pokémon es sich bis eben auf ihrem Kopf gemütlich gemacht hatte, fühlte sie sich glatt ein wenig mies wegen ihrer Reaktion. Hellblaue, glänzende Federn zogen sich über den rundlichen Körper, der kaum größer war als Chandras Kopf. Oberhalb seines Kopfes standen zwei längliche, blaue Federn ab und aus seinem Gesicht stachen zwei kleine, schwarze Augen hervor sowie ein weißer Schnabel, dessen obere Hälfte ausgeprägter war als die untere. Einen besonderen Hingucker bildeten jedoch die Flügel des Pokémons. Diese waren strahlendweiß und sahen aus wie flauschige Wolken, die sich an den Körper des Wesens schmiegten und ihm so die Gabe des Fliegens schenkten. Unter ihm ragten zwei kleine, helle Füßchen hervor und hinten endete sein Körper in langen Schwanzfedern. „Oh, wow, was ist das für ein Pokémon?“, staunte Chandra. „Ein Wablu.“ Zu mehr kam Zayn nicht, da bewegte sich das Geschöpf aus seiner Hand, piekte ihn einmal und hob schon wieder ab. Chandra wedelte mit den Händen vor ihrem Gesicht herum, denn das Wablu wollte schon wieder zum Landeanflug auf ihren Kopf ansetzen. Süß hin oder her, es musste doch nicht schon wieder auf ihr sitzen! „Hey, bitte nicht, nein, hör auf!“ „Ich glaube, es mag dich“, lachte Zayn, der ihr Verhalten mal wieder wunderbar amüsant fand. „Hey, Wablu, du kannst auf meinem Kopf landen!“ Doch Wablu machte keinerlei Anstalten, dem Vorschlag nachzukommen, als Zayn sich ihm wieder etwas näherte. Stattdessen entfernte es sich von ihm, indem es sich von einer leichten Brise etwas höher tragen ließ, die schwarzen Augen noch auf Chandra geheftet. Es zwitscherte eine kleine Melodie vor sich hin, Chandra war jedoch nicht im Geringsten dazu in der Lage, das Pokémon zu verstehen. „Hm, ich glaube, es mag mich nicht. Vielleicht ist es ja gar kein Kleiner und ist jetzt sauer, weil ich es so genannt habe?“, grübelte Zayn neben ihr. „Ja, vielleicht“, meinte Chandra matt. Sie hatte zu wenig Erfahrung im Umgang mit Pokémon in freier Wildbahn und vermochte es nicht einzuschätzen, weshalb das Wablu zu ihr gekommen war. Vermutlich hatte es sich einfach nur gelangweilt. Jetzt jedenfalls entfernte es sich wieder von ihnen. Kräftig schlug es mit seinen wolkenartigen Flügeln, bis diese es zwischen die Bäume und in den Wald hineingetragen hatten. Chandra drehte sich auf dem Weg ins Gebäudeinnere noch einige Male nach hinten, doch das Vogelpokémon war nicht mehr zu sehen.   ******   „Immer noch keine Spur von ihnen?“ „Nein.“ Statt einen unschönen Fluch hervorzubringen, presste Ray die Lippen aufeinander und bändigte die aufkommende Wut in seinem Inneren – oder versuchte es zumindest. Allmählich hatte er es satt. Immer wieder konnte Samuel ihm nur die enttäuschende Nachricht mitteilen, dass seine Leute erneut keinen Anhaltspunkt auf den Verbleib seiner Schwester gefunden hatten. Obwohl er keinerlei Zweifel an der Gründlichkeit ihrer Arbeit hegte, erzürnte ihn der doch immer gleiche Ausgang ihrer Bemühungen. Aber er musste sich auch eingestehen, dass Orre verdammt groß war und es einiges an Zeit in Anspruch nahm, jeden Fleck, jedes Örtchen und jede Stadt unter die Lupe zu nehmen. Insbesondere dann, wenn Chandra nicht gefunden werden wollte. Nichtsdestotrotz war es zum Verrücktwerden. Zweieinhalb Wochen war sie nun schon weg. Das waren zweieinhalb Wochen, in denen Ray die Zeit davonlief. Zweieinhalb Wochen, in denen seine Ressourcen schwanden. Zwar hatte er immer gut vorgesorgt, doch die Tatsache, dass er Chandra nun einmal brauchte, war nicht von der Hand zu weisen. Er benötigte sie, um gewöhnliche, schwache Pokémon in eine bessere Version ihrer selbst zu verwandeln – oder, konkreter ausgedrückt, um Cryptopokémon herzustellen. Das war grundlegend zwar auch ohne Chandra möglich, doch Ray konnte seinen Kunden keine halbfertigen Cryptopokémon andrehen, die wie eine tickende Zeitbombe waren und sich jederzeit selbst zerstören könnten. Sie erfüllte den Zweck, diese Pokémon kontrollierbar und halbwegs zähmbar zu machen, mehr Nutzen hatte sie für ihn nicht. Dennoch war er so dumm gewesen, sie frei umherstreunen zu lassen. Das bereute er zutiefst. „Du hast die Leine zu locker gelassen, mein Lieber. Kein Wunder, dass sie abgehauen ist“, ertönte nun die Stimme seines Vaters hinter ihm und Ray wandte sich von seinem Arbeitstisch ab und ihm zu. Allmählich gänzlich ergraute Haare bedeckten Jeromes Haupt und auch der zottelige, kurze Bart sah nicht viel besser aus. Einige Falten zeichneten das fortschreitende Alter in sein Gesicht, aus dem ein Paar stahlgrauer Augen hervorblitze, welches Ray mit einem höhnischen Blick strafte. Einst war sein Vater ein stattlicher, furchteinflößender Mann gewesen, doch mittlerweile war er in sich zusammengesunken, konnte eine kränkliche Stimme sein Eigen nennen und kämpfte sich von einem Hustenanfall in den nächsten. Wenigstens wusste er noch, wie man sich vorzeigbar kleidete und hatte das Knöpfen eines Hemdes nicht verlernt, sonst würde Ray sich hüten, gemeinsam mit ihm gesehen zu werden. Wie sehr er doch die neunmalklugen Sprüche dieses Mannes hasste, die nur darauf abzielten, noch Salz in seine Wunden zu streuen. Ray wusste selbst am besten, was er falsch gemacht hatte, da bedurfte es nun wirklich keines alten Besserwissers, der ihm seine Fehler noch unter die Nase rieb. „Du bist selbst schuld“, sprach Jerome und ein Schulterzucken unterstrich seine Worte, als hätte er etwas ganz Normales gesagt und gerade nicht noch einmal nachgetreten. „Wer hat dich nach deiner Meinung gefragt, alter Mann?“, knurrte Ray mit hörbar unterdrückter Wut. „Ich labe mich nur an deiner Verzweiflung, mein Sohn. Ich wusste, dass dies eines Tages passieren würde. Aber du wolltest ja nie auf mich hören und hast Chandra jede Menge Freiheiten eingeräumt.“ „Hätte ich dich in dieser Angelegenheit nach deiner Meinung gefragt, hätten wir die Cryptopokémon längst an den Nagel hängen können“, konterte Ray angesäuert, blieb aber ruhig. Niemand würde jemanden respektieren, der bei der kleinsten Kritik seine Contenance verlor. „Du hättest Chandra wie Dreck behandelt, sodass sie sich vermutlich längst umgebracht hätte. Ich hingegen habe ihr das gegeben, was sie wollte.“ Seinem Vater entfuhr ein Lachen. „Ja, das hast du wohl wirklich.“ Nach diesen Worten erfasste ihn ein alles andere als unbedenklich klingender Hustenanfall, bei dem er sich schüttelte und der seinem desolaten gesundheitlichen Zustand geschuldet war. Ray betrachtete ihn nur mit einem kalten Gesichtsausdruck. Manchmal wäre alles weniger anstrengend, würde Jerome einfach an einem seiner Hustenanfälle verrecken. So könnte er ihm wenigstens keine Vorhaltungen mehr machen. „Ach, na ja“, krächzte dieser nun, nachdem er sich wieder eingekriegt hatte, „vielleicht lässt das Bürschchen sie ja früher oder später fallen und sie kommt wieder zurück. Kein Mann will eine Schlampe.“ „Vielleicht.“ Mehr erwiderte Ray nicht, denn er glaubte nicht wirklich daran. Er wandte sich wieder Samuel zu, der noch immer vor der Arbeitsplatte aus Milchglas stand und die Diskussion der beiden stillschweigend verfolgt hatte. Kein Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Die kühle Atmosphäre in dem Raum wog schwer. Obwohl die grauen Wände in einer recht hellen Nuance gestrichen waren, schienen sie das Zimmer in diesem Moment zu verengen und immer näher zu kommen. Ray glaubte, das Ticken der runden Uhr über der Türe an der Wand gegenüber zu hören, so still war es für einen Augenblick. In seinem Inneren aber prallten die Gedanken aufeinander, wie Wahnsinnige jagten sie einander, eine Idee folgte der nächsten, doch die meisten waren Irrsinn. Tick, tack. Dir läuft die Zeit davon. „Samuel.“ „Ja, Ray?“ „Ich denke, es ist an der Zeit.“ Fast monoton hatte Ray diese Aussage artikuliert, die in ihrer Bedeutung so wichtig war, dass seine rechte Hand gar nicht anders konnte, als den Inhalt seiner Worte korrekt zu verstehen. Samuel hob fragend seine Augenbrauen, aber dann zogen sie sich zusammen und sein Blick verhärtete sich. „Sind Sie sich sicher?“ „Mehr denn je. Die Umstände verlangen diesen Schritt. Wenn Chandra nicht zurück zu den Cryptopokémon kommen möchte, dann kommen die Cryptopokémon eben zu ihr“, stellte Ray klar. „Ich bezweifle, dass sie es ignorieren wird – denn das kann sie gar nicht –, wenn plötzlich überall in der Region vermehrt Cryptopokémon auftauchen werden – ihretwegen. Und noch weniger wird ihr Retter in der Not tatenlos herumstehen, wenn dies passiert. Immerhin ist er doch extra wegen der Cryptopokémon hierhergekommen. Diese Entwicklung wird sie früher oder später beide aus ihrem Versteck locken und wenn sie erst einmal unvorsichtig werden, wird es ein Leichtes sein, zuzuschlagen.“ Sein Gegenüber nickte langsam und verstehend. „Gut … aber das wird verstärkt Aufmerksamkeit auf Pyritus lenken und damit auch auf Sie. Eigentlich hatte dieser Schritt doch noch eine Weile warten sollen.“ „Die Lage hat sich verändert und so müssen sich auch meine Pläne verändern“, erklärte Ray sachlich. Es stimmte; eigentlich hatte er noch warten wollen, bis er Cryptopokémon über Pyritus und dessen umliegende Städte hinaus verteilte, schließlich musste dieser Schritt mit Bedacht vollzogen werden, aber wenn er nun nicht handelte, hätte sich dieser Plan womöglich bald gänzlich von selbst erledigt. „Pyritus ist meine Stadt und hier haben wir das Sagen. Niemand kann uns etwas, denn niemand außerhalb der Stadt weiß, was im Untergrund vor sich geht. Das Antlitz von Pyritus ist so schäbig und konträr zum Rest Orres, dass uns jeder unterschätzen wird, der es wagt, uns zu nahe zu kommen.“ Ein breites, wissendes Grinsen zierte Rays Gesicht. Das Wissen um die Macht, die die Stadt ihm einverleibte, stärkte ihm den Rücken und ließ ihn das überhebliche Gelächter seines Vaters ignorieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)