Der Schatten in mir von Lucinia ================================================================================ Kapitel 16: Sorglosigkeit ------------------------- Die nächsten Tage vergingen und Chandra traute sich nicht mehr, Zayn wegen des Vorfalls von neulich anzusprechen, selbst dann nicht, als sich seine Stimmung längst wieder normalisiert hatte. Allgemein hatte sie die Woche über viel Zeit alleine verbracht, um ihre Gedanken, die seit dem einprägsamen Abend ziemlich wirr waren, zu ordnen. Dieses Verfahren war ihr allerdings kaum geglückt. Permanent schien ihr Innerstes nur um ein einziges, verdammtes Thema zu rotieren. Mehr um eine Person als um ein Thema. Sie blickte aus ihrem Fenster, während sie so vor sich hin sinnierte, und entdeckte im Garten Zayn und sein Riolu, die ausgestreckt auf dem Rasen lagen und offenbar die Sonne genossen. Kurzerhand entschloss sie, zu ihnen zu gehen. Sie hatte sich mies gefühlt, dass sie ihm letztens nicht doch hinterhergegangen war, wo er sich doch auch um sie gekümmert hatte, als es ihr schlecht gegangen war. Allerdings war sie in der Nacht sofort eingeschlafen und am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen und verschmiertem Makeup sowie eingewickelt in Zayns Jacke aufgewacht. Wie unangenehm. Da konnte sie sich echt Besseres vorstellen. Im Garten angekommen wollte Chandra sich an die beiden heranschleichen. Zayn hatte die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und als sie keine große Distanz mehr trennte, erkannte sie seine geschlossenen Augen. Lustigerweise lag Riolu in genau der gleichen Pose da, nur dass sein linkes Ohr zuckte, als Chandra durch das Gras schlich. Seine Ohren waren viel besser als die eines Menschen, daher war es kein Wunder, wenn es sie gehört hatte. Ansonsten rührte es sich nicht. Wenn es erkannt hatte, dass es sich lediglich um Chandra handelte, verspürte es wohl nicht den Drang, seinen Trainer aufzuklären. Es hatte sich vermutlich daran gewöhnt, dass sie neuerdings oft in dessen Nähe war. Zayn hingegen wusste noch nichts von seinem Glück. So leise wie möglich legte sie sich hinter ihm ins Gras, stützte sich mit den Armen ab, bis ihr Gesicht über seinem war. Er hatte sie tatsächlich nicht bemerkt. An was dachte er bloß? Ein Teil von ihr hätte nun gerne die Gelegenheit genutzt, um sein Gesicht, das in der warmen Sonne förmlich strahlte, unter die Lupe zu nehmen, aber sie beherrschte sich und sagte stattdessen „Na, schöner Mann“, wonach sie sich noch den Rest des Tages fragte, warum ausgerechnet das und nicht einfach „Buh“ oder etwas ähnlich Abstraktes. Zayn riss die Augen auf und zuckte ruckartig nach oben, woraufhin seine Stirn mit ihrer kollidierte. „Aua!“, klagte sie und kam auf die Knie, sich wehleidig den Kopf haltend. „Verdammt, kannst du nicht aufpassen, wohin du mit deinem Dickschädel gehst?“, fuhr er sie angesäuert an, nachdem er sich aufgesetzt hatte und sich ebenfalls die Stirn rieb. „Kannst du nicht aufpassen, wohin du deinen Dickschädel rammst?“ „Ich konnte ja nicht wissen, dass du mich aus nächster Nähe beobachtest, wenn ich es nicht merke.“ „Hab ich gar nicht, ich wollte dich nur erschrecken“, verteidigte sie sich. Das tat echt verdammt weh! Sie hatten beide Dickschädel, so viel stand fest. Er seufzte. „Das ist dir gelungen.“ „Ja, war vielleicht nicht die beste Idee, es so zu machen … Aber Riolu hat mich bemerkt und es zugelassen, also …!“ Auf diese Worte zog Riolu, welches nach dem Zusammenstoß ebenfalls aufgesprungen war, eine Grimasse, die so viel sagte wie ‚Haltet mich bloß da raus, Menschen!‘ Das wiederum brachte Chandra und Zayn zum Lachen, was den Schmerz in ihrem Kopf etwas abschwächte. „Wieso hast du mich nicht gehört? An was hast du gedacht?“, fragte sie neugierig. „An dies und das. Sei nicht so neugierig“, meinte er frech. Sie verschränkte die Arme. „Na schön, dann sag ich dir in Zukunft eben auch nur noch, was ich will.“ „Ich krieg auch so alle benötigten Informationen. Du bist leicht zu lesen, ich muss nur die richtigen Knöpfe drücken.“ „Idiot.“ Hätte sie ein Kissen zur Hand, wäre es spätestens jetzt in seinem Gesicht gelandet. „Ich habe nur daran gedacht“, fing Zayn plötzlich an und rutschte ganz nahe an sie heran, wobei er ihr eine Hand in den Nacken legte und ihr tief in die grünen Augen sah, „wie glücklich ich bin, dass du hier bist und dass es dir gut geht.“ Diese Worte entzündeten ein kleines Feuer in ihrem Innerem, das seine Wärme durch ihren Körper schickte und ihr eine mittlerweile sehr bekannte Röte ins Gesicht trieb. Noch nie hatte jemand so etwas zu ihr gesagt. So etwas … Schönes, Aufrichtiges. „Siehst du“, flüsterte Zayn, „und schon schmilzt du wieder dahin.“ Er schmunzelte und dann drückte er seine Lippen sanft auf ihre Stirn. „Tut es noch weh?“ „N-nein, geht schon“, stammelte sie. Plötzlich ertönte ein lautstarkes Quaken hinter ihr, gefolgt von dem Geräusch schneller Füße, die über den Rasen rannten, und einem Kichern. Zayn entfernte sich von ihr und sah hinter sie. Kaum hatte sie sich umgewandt, tapste Enton an ihr vorbei und sprang auf Zayns Schoß. Das gelbe Wasserpokémon weitete die Arme zu einer Umarmung, aber das gestaltete sich mit den kleinen Ärmchen und dem großen Schnabel als etwas schwierig. Zayn tätschelte ihm über den runden Kopf, woraufhin es erfreut quakte. Sein kleiner Schwanz zuckte hin und her, was wohl Ausdruck seiner Freude war. Chandra strich dem Pokémon über den Rücken, woraufhin es sie für einen Moment fragend ansah, dann aber wieder ein glückliches Gesicht zeigte. „Hey, was macht ihr hier draußen?“, fragte Jills helle Stimme. Sie war gerade bei ihnen angekommen, warf einen Rucksack auf den Boden und umarmte Zayns Riolu. „Hallo, Rio!“, strahlte sie. „Nicht so fest, du erdrückst ihn noch“, lachte Zayn. „Oh, ‘tschuldige!“ „Was machst du überhaupt schon hier?“ „Die letzten beiden Stunden sind ausgefallen“, erklärte Jill, offenbar sprach sie von der Schule. Es war ja gerade mal zwölf Uhr mittags, noch relativ früh also. Zayn nickte wissend und seine Schwester holte schon wieder Luft. „Und ihr? Was macht ihr hier? Habt ihr euch etwa geküsst?“ Es war interessant zu beobachten, wenn Zayn mal für einen winzig kleinen Augenblick sprachlos war. Chandra hätte wohl darüber gelacht, wäre es nicht um ihn und sie gegangen und um eine Berührung, die sie zwar schon ein paar Mal miteinander geteilt hatten, von der aber doch niemand etwas wissen sollte. „Wie kommst du denn auf so etwas, Jill?“ Sie grinste bis über beide Ohren. „Vince hat mir gesagt, dass ihr letztes Händchen gehalten habt und dann hat er gemeint, dass ich mal aufpassen soll, ob ihr das auch macht.“ Zayn hob eine Augenbraue. „Ach ja, das hat er dir gesagt? Wann denn?“ „Als er letztens hier war. Aber du warst nicht da und da hat er mir das erzählt.“ „Ah, hat er das, ja?“ Sie nickte. „Ja, und ich weiß, dass man nur mit jemandem Händchen hält, wenn man diese Person mag. Und wenn man jemanden küsst, dann mag man diese Person sogar richtig gerne!“ „Da hast du recht“, nickte Zayn und Chandra wusste nicht, ob sie vor Scham rot wurde oder weil sie Jills Unschuld so süß fand. „In meiner Klasse hält ein Mädchen mit einem Jungen Händchen. Vielleicht haben die sich ja auch geküsst? Aber ich verstehe das nicht so ganz. Das ist doch irgendwie eklig.“ Sie schüttelte sich, grinste dabei aber. „Jungs sind doch doof, denen will ich meine Hand gar nicht geben. Außer du; du bist der Einzige, der in Ordnung ist. Aber alle anderen Jungs sind doof.“ „Ja, alle anderen Jungs sind doof“, stimmte Zayn ihr zu und betrachtete sie mit leichtem Lächeln. „Außerdem hast du ja Enton.“ Er hob Enton hoch und setzte ihn auf ihrem Schoß ab. „Stimmt!“ Daraufhin gab sie dem Pokémon einen Kuss auf den Kopf. Glücklicherweise vergaß sie nun ihre ursprüngliche Frage und fand ein neues Thema. „Chandra, wo sind denn deine Pokémon? Darf ich Flunkifer einen Riegel geben?“ Kurz war sie unsicher, ob es klug war, Flunkifer aus seinem Ball zu lassen. Allerdings mochte das Pokémon Jill fast genauso sehr wie die pinken Riegel, die es stets voll Hingabe verputzte. Da das Wetter überdies schön war, entschied sie, gleich alle ihre Pokémon herauszuholen. Sunny und Lunel waren sowieso nicht gerne im Ball und Wablu liebte es, durch die Lüfte zu flattern. Als ihre Pokémon auftauchten, zuckte Enton zusammen und quetschte sich weiter an Jill. Besonders Flunkifer maß es mit einem argwöhnischen Blick – seit seinem unfreiwilligen Zusammenstoß mit dem Stahlpokémon war es besonders vorsichtig. Doch Flunkifer hatte nur Augen für den pinken Riegel, den Jill aus ihrem Rucksack holte. Fast schon schüchtern nahm es ein Stück davon entgegen und aß es auf. Ein Stück später war Wablu an es herangetapst und piepte einmal in Jills Richtung. Diese wollte Flunkifer gerade noch ein weiteres Stückchen des Riegels reichen, als Wablu plötzlich vorschnappte und die rosafarbene Leckerei in seinem Schnabel verschwand. Daraufhin brach Krieg zwischen den beiden Pokémon aus. Flunkifer war mit einem Satz kampfbereit vor Wablu und äußerte sich lautstark über den Diebstahl, während der Vogel die körpereigene Watte aufbauschte und schnippisch piepsend antwortete. „Hey, nicht streiten, es ist doch genug für euch beide da“, wollte Chandra die beiden beschwichtigen, wurde aber gekonnt ignoriert. Wablu hob vom Boden ab, als Flunkifer nach ihm treten wollte. Dann piekte es mit seinem Schnabel nach ihm und als es das große Maul erwischte, schrie Flunkifer auf, schwang das Maul durch die Luft und traf Wablu, sodass dieses zu Boden fiel. In Sekundenschnelle war es jedoch wieder in der Luft und richtete den Blick auf Flunkifer. Ein tiefer, melodischer Gesang drang nun aus seinem Schnabel und wenn man genau hinsah, konnte man leichte Verzerrungen in der Luft erkennen – feinste Schwingungen, die Flunkifer direkt trafen. Dessen Gemeckere erstarb mit einem Mal, dann sank es zu Boden und fiel schlafend vornüber. „Wow“, meinte Chandra baff. „Auch eine Möglichkeit, Flunkifer ruhigzustellen“, merkte Zayn an. „Aber Wablu, du kannst nicht einfach andere Pokémon einschlafen lassen, wann du willst“, tadelte sie ihr Wablu mit erhobenem Finger. „Und du klaust ihnen nicht einfach ihr Essen, klar?“ Flunkifer schlief zwar, aber wenn sie sich jetzt auf Wablus Seite stellte, dann würde Ersteres sie vermutlich niemals akzeptieren. Sie strich dem friedlich schlummernden Pokémon über sein kleines Köpfchen. Wablu schien bestürzt über die Rüge und bauschte seine Flügel wieder auf. „Hey, Enton, was ist mit dir?“ Offenbar hatten die Gesangswellen auch Enton erwischt, welches hinter Flunkifer gewesen war. Es lag schnarchend an Jill gelehnt auf deren Schoß. Zayn musste bei dem Anblick lachen. „Irgendwie wundert mich das jetzt gar nicht.“ Daraufhin lehnte Jill das schlafende Enton gegen einen nahestehenden Baum und rief nach Waaty, welches kurz darauf plötzlich aus dem Labor gestürmt kam. Als Jill schließlich außer Hörweite war, weil sie sowohl mit Waaty als auch mit dem wachen Rest von Chandras Pokémon Fangen spielte, beugte Zayn sich zu ihr. „Lass uns heute irgendwohin fahren. Hier ist es öde“, offenbarte er. Sie hob überrascht ihre Augenbrauen. „Wohin denn?“ „Wo willst du denn hin?“ „Meinst du das ernst?“ Er grinste. „Klar. Du hast doch Pyritus nicht verlassen, um dann jeden Tag nur dieses öde Labor zu sehen.“ „Du findest es öde? Aber du lebst doch hier.“ „Gerade deswegen finde ich es öde. Ich lebe schon mein ganzes Leben hier. Früher“, er stockte kurz und sah nach unten, „bin ich öfters mal an anderen Orten gewesen. Auch in anderen Regionen. Dann habe ich mich nur noch in Orre herumgetrieben und mittlerweile bin ich nur hier, schließlich muss ich ja auf dich aufpassen.“ Auf diese Worte schnaubte sie empört. „Musst du gar nicht!“ „Ach, gib’s doch zu, du magst es, wenn dich jemand beschützt“, erwiderte er keck. „Tu ich doch gerne. Jedenfalls, nun sag schon, wo willst du hin?“ „Ähm …“ Er schnipste plötzlich und sie zuckte zusammen. „Sag nichts, ich sehe es in deinem Blick. Du willst ans Meer. Du sehnst dich nach der Sorglosigkeit, die Menschen seit jeher verspüren, wenn sie auf die Weiten des Ozeans hinausschauen.“ Nun war es an Chandra, zu lachen. „Wow, wusste gar nicht, dass du auch Psychologe bist. Was hast du noch alles drauf? Kannst du zaubern?“ „Möglich.“ „Na gut, dann zaubere uns bitte ans Meer.“   ******   Das mit dem Zaubern hatte zwar nicht so funktioniert, aber dafür brachte sie ein Bus, welcher über die Landstraße fuhr, nach Veralia, von wo aus sie den Zug nach Portaportus nahmen. Es war bereits früher Nachmittag, als sie endlich am Strand der strahlenden, tourismusträchtigen Stadt angekommen waren und diesmal, einige Wochen nach ihrem letzten Abstecher hier, war Chandra noch begeisterter. Die Promenade erblühte nun noch mehr und die Terrassen der Cafés und Restaurants waren mit bunten Blumengestecken dekoriert, die sich alle gegenseitig auszustechen versuchten. Chandras Interesse galt aber in erster Linie der funkelnden Meeresoberfläche, die den azurblauen, sich in ihr spiegelnden Himmel in eine kräftigere Version seiner selbst abdunkelte. Voll Begeisterung entledigte sie sich ihrer Schuhe, nahm diese in die Hand und hüpfte in den feinen Sand. Es hielten sich recht viele Menschen hier auf, was nicht verwunderte, denn es war für Ende April angenehm warm und die Brise, die stetig am Meer wehte, sorgte dafür, dass Chandras Kleid um ihre Beine flatterte. Es war ärmellos, leicht tailliert, mit schwarzem Hintergrund, auf dem sich hellrote Rosen abzeichneten – eigentlich war sie nicht unbedingt der blumige Typ, aber Alyssa hatte sie bei ihrem Shoppingtrip zu diesem Kleid überredet und nun bereute sie den Kauf keineswegs. Das schwarze, dünne Jäckchen, das sie angehabt hatte, hing nun über ihrer Umhängetasche. Das Wetter war zu gut, um keine Haut zu zeigen. Ohnehin konnte sie ein bisschen mehr Farbe gut vertragen. In Pyritus war sie ja tagsüber nicht viel draußen gewesen und selbst wenn – die Sonne dort war einfach nie so strahlend und belebend gewesen wie hier, obwohl das Klima in Pyritus allgemein wärmer und stickiger war. Meist schwitzte man nur unter einer drückenden, trockenen Luft, die zu selten von Regen befeuchtet wurde. Chandra schob dieses Thema aus ihren Gedanken – es saß wie ein Parasit in ihrem Kopf und schlich sich ständig in ihren Fokus – und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. „Das muss echt toll sein, wenn man theoretisch jeden Tag einfach so hierher kann“, schwärmte sie, als sie mit Zayn am Meer entlanglief. Das stetige Rauschen und Schäumen der Wellen war ein beruhigender Beiklang. „Aber meinst du nicht, dass es irgendwann langweilig wird, wenn du wirklich jeden Tag hier bist?“, fragte Zayn. Sie sah ihn schockiert an und er überlegte, ehe er lachte. „Stimmt, wahrscheinlich nicht.“ Chandra schwieg kurz. Die Stimmung zwischen ihnen war ausgelassen und sie wollte dies keineswegs kaputtmachen, allerdings brannte sie auch noch auf die Beantwortung einiger Fragen. „Du, sag mal, was war das jetzt eigentlich letztes in dem Club?“ „Ich hätte nicht gedacht, dass du es so lange aushältst, bis du mich das fragst.“ Wenn Zayn überrascht war, zeigte er es nicht. „Wie auch immer. Also?“ „Was willst du denn wissen?“ „Wer ist dieser Glenn? Jaja, ich weiß, jemand aus der Schule und offenbar kann er dich nicht leiden. Aber wieso?“, fragte sie. „Er war in einem Jahrgang mit Vince und mir und dachte lange Zeit, er wäre der beste Trainer der Schule. Einige Monate vor unseren Abschlussprüfungen hat die Schule ein kleines Turnier veranstaltet, an dem wir natürlich teilnahmen. Vince ist irgendwann rausgeflogen, aber Glenn und ich gewannen jeden Kampf, also standen wir uns im Finale gegenüber. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass ich durchaus eine Gefahr für ihn sein konnte, aber mit seinem sich selbst überschätzenden Ego hat er mich nicht ernstgenommen, daher war seine daraus resultierende Niederlage umso vernichtender für ihn. Für ihn war das eine Blamage vor der ganzen Schule, da meine Pokémon seine ohne viel Mühe besiegt hatten.“ „Von ihm kam also nichts weiter als heiße Luft?“ „Könnte man so sagen. Allerdings“, Zayn lachte, „hatte ich auch nicht vor, gegen so einen Idioten zu verlieren.“ „Und dass du ihn vor zwei Jahren besiegt hast, trägt er dir nun immer noch nach? Mann, was für eine Heulsuse.“ Zayn stimmte ihr nur verhalten zu und da beschlich Chandra die Frage, ob er ihr denn die ganze Wahrheit erzählt hatte. „Und war das alles?“ „Ich denke, seine Abneigung mir gegenüber ist nicht ganz unbegründet“, gestand er nach kurzem Schweigen. „Er ist zwar ein eingebildeter Vollidiot, aber ich habe es ihm und auch anderen damals wirklich nicht schwer gemacht, mich nicht leiden zu können.“ „Ach ja? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich jemand nicht leiden kann“, warf Chandra ein. „Und doch ist es so. Ich war früher die Art von Trainer, von der ich dir heute sage, dass du einem Kampf mit so jemandem lieber aus dem Weg gehst. Ich habe nur nach Möglichkeiten gesucht, stärker zu werden und war zwar immer gut zu meinen Pokémon, aber rücksichtslos gegenüber anderen Trainern, in der Schule und auch außerhalb. Und Glenn habe ich nie als ernste Bedrohung – wenn man das so nennen mag – angesehen. Ich wusste, dass er ein aufgeblasener Idiot war, der nicht halb so gut war, wie er es glaubte. Es war ein Leichtes, ihn zu schlagen. Er war nur ein weiterer Name in einer Liste von Leuten, die ich nacheinander besiegte, um stärker und stärker zu werden. Tja, ich war zwar der beste Trainer der Schule, dafür aber ebenfalls ein arroganter Arsch.“ Bei seinen letzten Worten klang er, als widerte ihn diese Tatsache selbst an, was Chandra zu folgender Frage brachte: „Was ist passiert, dass du das heute nicht mehr bist?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin wohl irgendwann wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen.“ „Find ich gut. Ein Bad Boy-Image steht dir auch nicht.“ „Ich nehme das jetzt einfach mal als Kompliment.“ „Ist es auch. Aber sag mal, dieser Glenn hat doch noch von einer Niederlage gesprochen – im Colosseum? Bist du dort wieder ‚auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen‘?“, wollte Chandra wissen. Zayn schüttelte den Kopf. „Nein, das war schon vorher. Beim Turnier war ich wieder vernünftig und mir war klar, dass es dort deutlich bessere Trainer geben kann und wird, mit stärkeren Pokémon und deutlich mehr Erfahrung. Und so ist es ja dann auch gekommen. Wir haben uns wacker geschlagen, aber im Halbfinale sind wir ziemlich deutlich ausgeschieden. Aber das war okay; es gibt nun mal immer jemanden, der besser ist als man selbst. Glenn versteht das nicht und deswegen wird er auch immer zu bemitleiden sein.“ Chandra wusste darauf keine Erwiderung, aber es gefiel ihr, mehr über Zayn zu erfahren. Er sprach selten über sich und meist nur sehr verhalten – so zwar auch jetzt, aber immerhin erzählte er ihr überhaupt etwas. „Aber ein bisschen kann ich ihn auch verstehen“, fuhr Zayn auf einmal fort. „Es ist nun mal nie schön, eine Niederlage zu erfahren, wenn man sich selbst sehr viel besser glaubte – oder wenn einem ein Sieg sehr viel bedeutet hätte.“ „Was meinst du?“ „Ich habe damals sehr viel mit meinen Pokémon trainiert, damit wir stark genug werden, um im Colosseum teilnehmen zu können. Dort kann nicht jeder einfach so antreten, du musst schon zuvor einige Tests, darunter auch Testkämpfe, bestehen, um dich als qualifiziert zu erweisen. Es war mir sehr wichtig, dort teilzunehmen – nicht, weil ich wissen wollte, wie stark ich oder besser gesagt meine Pokémon waren, aber, ja … Die Niederlage war schon ein herber Schlag, den ich verkraften musste. Aber nun ist das in Ordnung. Irgendwann werde ich es wieder versuchen und dann ja vielleicht gewinnen.“ Er lächelte leicht. Chandra hatte sich ganz gewiss nicht den Hauch Traurigkeit in Zayns Worten eingebildet, doch so schnell er in diese eingetaucht war, zog er sich nun auch wieder zurück und ließ doch recht hoffnungsvoll klingende Worte übrig. Sie akzeptierte, dass er nicht länger darüber sprechen wollte und ihr kam das ganz recht – so gerne sie auch mehr über ihn erfuhr, so groß war auch ihre Angst, versehentlich etwas Falsches zu äußern und ihn zu verletzen. Schließlich war sie nicht dumm und merkte, dass noch mehr dahintersteckte, als er zum jetzigen Zeitpunkt offenbarte. „Das wirst du ganz bestimmt“, sagte sie aufmunternd. „Du bist der beste Trainer, den ich kenne.“ „Na ja, du kennst ja auch nicht gerade sehr viele“, zog er sie daraufhin auf. „Das mag stimmen, aber … Mensch, kannst du nicht einfach mal ein Kompliment annehmen?“ „Na gut“, seufzte er und lächelte anschließend. „Danke für dein Lob, es bedeutet mir sehr viel. Aber jetzt genug Trübsal geblasen. Kennst du das Colosseum? Es liegt nah am Meer. Wenn du hier immer weiter den Strand entlangläufst, kommst du irgendwann dort an.“ „Ich kenne es nur vom Hören, ich war noch nie dort, wie du dir denken kannst“, erwiderte Chandra. Um ehrlich zu sein, wusste sie nicht einmal genau, wie es aussah. In Pyritus gab es auch ein Colosseum, in welchem regelmäßig Kämpfe ausgetragen wurden, aber es war wohl deutlich kleiner als das größte Colosseum Orres, erheblich schäbiger und die Wettkämpfe, die dort stattfanden, wurden mit Sicherheit mit unlauteren Regeln ausgetragen, ganz zu schweigen von den illegalen Machenschaften, die sich um das Colosseum rankten. Von den Cryptopokémon, die dort zuhauf anzutreffen waren, ganz zu schweigen. Chandra war noch nie dort gewesen. „Irgendwann gehen wir zusammen dorthin“, meinte Zayn und holte sie sie wieder zurück an den Strand. „Irgendwann, wenn Pyritus keine Bedrohung mehr darstellt und all das vorbei ist.“ Er musste es nicht beim Namen nennen, sie wusste auch so, was er meinte. „Dann kannst du mich anfeuern.“ Sie kam nicht umhin, etwas rot zu werden. Irgendwann. Das klang so lange hin, so weit dachte sie gar nicht. Denn was würde sein, wenn „all das“ vorbei war? Sollte es das denn je sein? Dann hätte sie doch keinen Grund mehr, hier zu sein, bei Zayn, und er hätte keinen Grund mehr, sie, wie er es nannte, beschützen zu müssen. Im Moment wollte sie nicht an die Zukunft denken. Dann wanderten ihre Gedanken nämlich auch zu all dem, was es bis dahin noch zu überwinden galt, und das jagte ihr eine Heidenangst ein. Aber nichtsdestotrotz lächelte Chandra unsicher und stimmte ihm zu. Wenn er glücklich schien, war sie es auch. Sie liefen noch ein wenig am Strand entlang, wobei Chandra im seichten Wasser beinahe über ein angespültes, schlafendes Krabby gestolpert wäre, hätte Zayn sie nicht rechtzeitig zur Seite und an sich gezogen, was sie sehr nervös gemacht hatte. „Hast du Lust auf einen kleinen Übungskampf?“, fragte Zayn sie nach einer Weile, aber er meinte nicht gegen sich, sondern gegen jemand anderen. Allerdings wusste Chandra nicht, wie sie jemanden finden sollte, der gegen eines ihrer Pokémon kämpfen wollte, wenngleich es hier genügend Menschen gab und man hin und wieder auch ein kleineres Pokémon sichtete. Es erschien ihr doch reichlich seltsam, einfach jemand Fremdes nach einem Kampf zu fragen. Aber Zayn bewies ihr, dass es offenbar genau so ging. Er wies sie an, zu warten, woraufhin sie sich in den leicht erwärmten Sand setzte. Dann verfolgten ihre Augen mit deutlicher Neugier, wie er in der Nähe einige Leute ansprach. Sie selbst würde sich so etwas nicht trauen. Woher konnte sie denn wissen, ob die Person beispielsweise überhaupt ein Pokémon hatte? Und sie konnte doch von niemandem erwarten, ihrem Ersuchen nachzukommen. Zayn wurden augenscheinlich drei Ablehnungen zuteil, doch dann kam er mit einem braunhaarigen Mädchen zurück, das sicherlich ein oder sogar zwei Jahre jünger war als Chandra. Sie stellte sich als Madison vor und Chandra entgingen nicht die schmachtenden Blicke, die sie Zayn zuwarf. Vielleicht fühlte sie sich ja geschmeichelt, dass er sie angesprochen hatte, doch diese Illusion konnte sie sich gleich abschminken. Zayn war es nur darum gegangen, einen Trainingspartner für Chandra zu suchen und sie würde den Teufel tun, gegen das Mädchen zu verlieren. Dennoch war sie aber auch ein wenig aufgeregt, denn es war das erste Mal, dass sie gegen jemanden kämpfte, der ihr gänzlich fremd war. Sie suchten sich eine etwas abgelegene Stelle des Strandes, wo sie niemanden störten. Der Strand war hier recht breit und die Promenade war vor lauter Dünen längst nicht mehr zu sehen. Chandra stellte sich Madison in einigem Abstand gegenüber und wühlte in ihrer Tasche nach ihren Pokébällen. Sie hatte sie erst kürzlich mit kleinen, runden Aufklebern verziert, um sie, oder genauer gesagt die darin enthaltenen Pokémon, besser auseinanderhalten zu können. Auf Psianas Ball klebte ein violetter Punkt, auf Nachtaras Ball ein schwarzer, Flunkifers Kapsel zierte ein grauer Punkt und bei Wablu hatte sie sich logischerweise für einen hellblauen entschieden. Eigentlich wollte sie für diesen Kampf Wablu nehmen, da das kleine Vögelchen auf ein Training brannte, doch ihre Hände waren überfordert mit der Tasche und den Bällen, sodass ihr der Pokéball mit dem grauen Punkt aus der Hand und zu Boden fiel. Und wie musste es nicht anders sein, sprang die Kapsel dabei auf und offenbarte sogleich Chandras stures Flunkifer, das einen interessierten Blick über den Strand warf. „Dann hast du dich also für Flunkifer entschieden!“, rief Madison entschlossen und Chandra warf einen unsicheren Blick zu Zayn, der ein wenig entfernt von ihr stand. Kämpfen – mit Flunkifer? Konnte das gut gehen? Aber Zayn zuckte auch bloß entschuldigend mit den Schultern und sie seufzte. Wieso musste sie nur immer so verdammt schusselig sein? Flunkifer hätte sie bestimmt auch wieder ausgelacht, läge seine Aufmerksamkeit nicht auf dem Pokémon, das Madison nun aus seinem Ball gelassen hatte. Es war klein, himmelblau gefärbt und sein ganzer Körper war eine einzige Kugel. Auch die abstehenden, großen Ohren waren kreisrund mit rotem Innenfell. Ein dünner, schwarzer, aber gezackter Schwanz hinter seinem Rücken endete in einer ebenso hellblauen Kugel. Lediglich sein Bauch, direkt unter seinem kleinen Gesicht mit den putzigen, runden Augen, hatte eine kreisrunde, weiße Färbung. Seine Arme und Beine wirkten lächerlich klein im Vergleich zum restlichen Körper des Marills. Das sollte zu schaffen sein – selbst mit Flunkifer, hoffte Chandra. „Hey, Flunkifer … Lust auf einen kleinen Kampf?“ Ihr Pokémon wandte sich zu ihr um und zu ihrem Erstaunen nickte es sogar. Vielleicht konnte ja doch noch alles gut werden und dieses Pokémon würde auch einmal auf sie hören? Es schien immerhin nicht einmal sauer zu sein, dass es am Mittag von Wablu unfreiwillig schlafen geschickt worden war. Als der Kampf aber anfing, musste Chandra ziemlich schnell merken, dass sie sich zu große Hoffnungen gemacht hatte. Madison startete den Kampf, indem sie ihrem kleinen Wasserpokémon einen Angriff mit Walzer befahl. Das Marill nutzte die Kugel an seinem Schwanz, um sich abzustoßen, ehe es diesen dann schützend zur Seite ausrichtete, da die Kugel, die seinen Körper bildete, nun in rasanter Geschwindigkeit über den Sand auf Flunkifer zurollte. Die kleinen Sandkörnchen hinter ihm wurde von diesem Druck aufgewirbelt, sodass Madison sogar zur Seite weichen musste. Chandra verspürte dasselbe Drängen, als die hellblaue Kugel sich ihr und Flunkifer näherte. Sie befahl ihrem Pokémon, auszuweichen – etwas Besseres fiel ihr schlicht nicht ein –, aber Flunkifer schien nicht einmal daran zu denken. Es positionierte sein gigantisches Maul vor seinem Körper und kurz bevor Marill es treffen konnte, schlug es diesem das Maul entgegen. Der Walzer des Marills wurde gestoppt und das Pokémon landete in normaler Körperhaltung auf seinem Rücken. In der Attacke hatte dennoch genug Wucht gelegen, um Flunkifer von den Füßen zu fegen. In hohem Bogen war es nach hinten geschleudert worden und mit dem Gesicht nach unten im Sand gelandet. Mit missmutigem Blick rappelte sich das Pokémon wieder auf. „Hey, Flunkifer, wieso hast du nicht auf mich gehört?“, fragte Chandra wütend, aber zugleich beschämt. Wie unangenehm, wenn das eigene Pokémon in einem Kampf nicht auf einen hörte. Und erneut zeigte sich die kleine Diva unbeeindruckt von den Worten ihrer Trainerin und stolzierte an dieser vorbei, um den Kampf wieder aufzunehmen. „Hey, ich rede mit dir! Wenn du nicht auf mich hörst, können wir nicht weiterkämpfen.“ Zumindest diese Worte schienen zu Flunkifer durchzudringen. Sie gab einen zustimmenden Laut zurück, der zwar nicht wohlgesinnt klang, aber allemal besser war als Ignoranz. „Vielleicht solltest du dein Pokémon besser trainieren, ehe du mit ihm kämpfst“, meinte Madison selbstsicher, woraufhin Chandra mit den Zähnen knirschte. „Ich bin noch nicht so lange eine Trainerin“, gestand sie. „Merkt man.“ Was für eine liebenswürdige Person! Chandra verkniff sich einen Todesblick in Richtung Zayn. Danke. Hätte er nicht eine noch nettere Person aussuchen können? „Weiter geht’s.“ Gegen dieses Mädchen würde sie nicht verlieren. Es besaß selbst nur eine blaue Kugel als Pokémon und dennoch spielte es sich derart auf. Hätte Chandra Lunel in den Kampf geschickt, wäre dieser mit Sicherheit schnell vorbei. Ihr Nachtara hatte in letzter Zeit nicht unwesentliche Fortschritte erzielt. „Flunkifer, setz Knirscher ein!“ Tatsächlich folgte Flunkifer diesmal ihrem Befehl und ließ sich von seinen Beinen wieder zum Gegner tragen. Vor diesem öffnete es das gigantische Maul und zeigte somit dessen Spannweite, die es ihm theoretisch auch erlaubte, den runden Körper des Marills einzuklemmen. Marills Trainerin erkannte aber die Gefahr, die in Flunkifers spitzen Zähnen lag, und rief mit geballten Fäusten: „Halt es mit Aquaknarre auf!“ Ein dünner, aber kräftiger Wasserstrahl schoss aus Marills Mund und erwischte Flunkifer frontal, sodass es seinen Angriff abbrechen musste und von der Wucht der Attacke in den Sand gepresst wurde. Als das Wasser schließlich nachgelassen hatte, schnippte Flunkifer sich mit verdrossenem Gesichtsausdruck den Sand vom Körper. Auffällig lange war das kleine Stahlpokémon damit beschäftigt und Chandras verzweifelte Aufforderung, sich doch wieder auf den Kampf zu konzentrieren, schien es zu überhören. Sie raufte sich verärgert die Haare. Vielleicht sollte sie den Kampf abbrechen, bevor das Ganze in einer gänzlichen Blamage endete. Sie mied den Blick hinüber zu Zayn; es stand ihr wirklich nicht danach, zu wissen, was er dachte. Nun sah auch Madison ihre Chance auf einen unkomplizierten Sieg gekommen und rief ihrem Marill zu, Tackle einzusetzen. Das blaue Wasserpokémon beförderte sich mittels eines Sprungs zu Flunkifer, aber bevor ihre Körper sich trafen, erwachte Flunkifer ruckartig aus seiner Säuberungsaktion und trat leichtfüßig einen Schritt zur Seite und aus Marills Angriffslinie. Irritiert setzte das Pokémon auf dem Boden auf und hatte im nächsten Moment Flunkifers Maul im Gesicht. Die Finte zeigte Wirkung, denn Marill rollte getroffen einige Meter durch den Sand. Chandra wollte bereits jubeln und den Kampf mit freudigen Zurufen wieder aufnehmen, aber für Flunkifer schien ihre Meinung nicht notwendig. Es richtete sich zu voller Größe auf und formte seine rechte Hand zur Faust, woraufhin diese in ein grelles Licht getaucht wurde. Dann sprintete es zu Marill und rammte dem sich gerade erst wieder aufrichtenden Pokémon die leuchtende Faust in den Körper. Marill überschlug sich und landete dann besiegt im Sand. Flunkifer wandte sich daraufhin ab und gab einen Laut von sich, der einem menschlichen „Pff!“ sehr ähnlich kam. „Wow, gnadenlos k.o. geschlagen, würde ich sagen“, kommentierte Zayn vom Rand aus und Chandra sah seinen skeptischen Gesichtsausdruck. Madison warf ihm für diese Worte einen entsetzten Blick zu und eilte dann zu ihrem besiegten Pokémon. „Oh nein, mein armes Kleines. Geht es dir gut?“ Liebevoll strich sie dem kleinen Wesen über den geschundenen Körper und holte es in seinen Ball zurück, wo es sich ausruhen konnte. Überraschenderweise wandte sie sich im Anschluss sogar an Chandra und entschuldigte sich für ihre vorherigen überheblichen Worte – sie habe schlichtweg nicht erkannt, wie stark Flunkifer sei. Chandra konnte daraufhin nur überrumpelt nicken und zustimmen, denn sie hatte ja selbst keinen blassen Schimmer davon, was in Flunkifer steckte. Madison verabschiedete sich von ihnen und Chandra seufzte erleichtert. Alles war gut gegangen und die Nervosität in ihr flaute allmählich ab. „Dieses Flunkifer ist echt ziemlich stark. Dieser Power-Punch war der Wahnsinn“, meinte Zayn in seiner üblich wissenden Manier, von der Chandra wie so oft nur die Hälfte verstand. „Power-Was?“ Er formte eine Faust, mit der er erklärend nach vorne zielte. „Flunkifers letzte Attacke. Power-Punch. Ziemlich starke Attacke. Ich frage mich, wo es die gelernt hat.“ „Vermutlich dort, wo es gelernt hat, zickig zu sein“, entgegnete Chandra und ließ entnervt die Schultern sinken. „Nimm’s nicht so ernst. Flunkifer ist nun mal unerzogen und hat einen Dickkopf. Es muss erst noch lernen, auf dich zu hören, aber dafür muss es dich erst einmal respektieren und dafür musst du wiederum versuchen, es zu verstehen.“ „Wie soll das gehen? Wir sprechen offensichtlich nicht dieselbe Sprache“, seufzte sie. „Das ist auch nicht notwendig. Ein Pokémon drückt viel über sein Verhalten aus und wenn du dir Mühe gibst, wirst du ja vielleicht verstehen, was Flunkifer dir sagen will, wenn es das nächste Mal „zickig“ ist.“ Er hielt plötzlich inne und sah irritiert nach rechts und links. „Wo ist es überhaupt?“ „Äh, was?“ Alarmiert schweifte Chandras Blick ebenso um sich, doch der Fleck, an dem Flunkifer eben noch gestanden hatte, war leer. Sofort erweiterte sie ihren Suchradius auf den weiteren Strand und war erleichtert, als sie die kleine, dunkle Gestalt ins Augen fassen konnte, die sicherlich an die fünfzehn Meter entfernt nahe dem Wasser entlanglief, als suchte sie etwas. Chandra stampfte durch den Sand auf Flunkifer zu, wurde aber ruhiger, je näher sie kam. Flunkifers zierlicher Körper wurde zum größten Teil von seinem Maul verdeckt, aber seine Hände, die fleißig im Sand nach etwas zu suchen schienen, sah Chandra dennoch. Vorsichtig überbrückte sie auch den letzten Meter und erkannte, wonach Flunkifer so geschäftig suchte. Muscheln. Konzentriert suchte das Flunkifer-Weibchen nach besonders schönen Exemplaren jener Überreste, die immer wieder mit schäumenden Wellen an den Strand gespült wurden. Seine linke Hand durchsuchte den Sand nach den leeren Hüllen und in der rechten sammelte es die bereits gefundenen. Als es an einer Stelle fertig war, tapste es gedankenverloren einige Schritte weiter. Chandra eilte ihrem Pokémon hinterher und ging neben diesem in die Hocke. „Hey, wie wäre es mit dieser hier?“ Fragend hielt sie eine ihres Erachtens nach recht schöne, leicht rötliche Muschel in die Höhe. Flunkifer hob neugierig den Kopf und zum ersten Mal erkannte Chandra in ihnen keinen Trotz, sondern eher den Blick eines lebensfrohen Kindes, das sich freute, wenn es etwas Schönes erspähte. Kurz darauf nahm Flunkifer Chandra die Muschel ab und suchte weiter. Zayn zeigte sich ebenso überrascht über Flunkifers ausgeprägtes Interesse an schönen Dingen, aber da es so zumindest keinen Unfug anstellte, beschlossen sie, es noch eine Weile an der Meeresluft zu lassen.   ******   Einige Zeit später, als es ungefähr halb sechs Uhr am späten Nachmittag war, lag Chandra äußerst entspannt im feinen, leicht gewärmten Sand, ihren Kopf auf ihre Jacke gebettet, und genoss mit geschlossenen Augen die stetige, angenehme Brise des Meeres. Nach einer Weile des Muschelsuchens – an dessen Ende Chandra ihrem Flunkifer versprechen musste, die erbeuteten Schätze in ihrer Tasche mit nach Hause zu nehmen, woraufhin sich das Pokémon sogar halbwegs versöhnlich in seinen Pokéball begeben hatte – waren sie wieder hoch zur Promenade gegangen, wo sie sich an einer der etlichen Eisdielen jeweils ein Eis gekauft hatten. Im Anschluss hatten sie sich auf eine Bank gesetzt und Chandra war begeistert gewesen über den intensiven, leckeren Geschmack des Eises. Kein Vergleich zu dem herkömmlichen Eis aus dem Supermarkt. Danach waren sie erneut runter zum Strand gegangen und hatten sich ein ruhiges Plätzchen gesucht, um sich zu entspannen. Allgemein war hier nun weniger los als bei ihrer Ankunft. „Also ich könnte den ganzen Tag so gutes Eis essen, oh man“, seufzte Chandra zufrieden. „Hat man gemerkt“, erwiderte Zayn, aus dessen Stimme eine gewisse Amüsiertheit sprach. „Hm …“ Chandra hätte Ewigkeiten hier liegen und einfach nichts tun können. Je mehr Zeit sie mit Zayn verbrachte, desto mehr stellte sie fest, dass sie bisher ziemlich viel vom Leben verpasst hatte. „Aber sollten wir nicht allmählich wieder zurückfahren? Wann fährt der letzte Zug?“, fragte sie. „Es fahren noch genügend Züge. Mit dem Bus könnte es irgendwann schwierig werden. Aber vielleicht ist es sinnvoller, hierzubleiben und erst morgen zurückzufahren? Oder willst du etwa jetzt schon gehen?“ Auf die Frage hin drehte Chandra den Kopf zu ihm und bemerkte das schiefe Lächeln in seinem Gesicht. „Eigentlich nicht, aber ich dachte, dass es nicht so spät werden sollte, immerhin braucht man ja doch relativ lange. Und wie sollten wir das machen, erst morgen zurückzufahren?“ Zayn wandte seinen Blick ab. „Wir könnten uns wie beim letzten Mal ein Hotel suchen.“ Chandra überlegte und sah dafür in den blauen Himmel über sich. Für ihre Verhältnisse brauchte sie auffällig lange, bis sie hinter die Bedeutung seiner Worte gestiegen war. Augenrollend sah sie wieder nach links. „Du hattest nie vor, heute noch zurückzufahren, hab ich recht?“ „Das hat ganz schön lange gedauert“, neckte er sie. „Na ja …“ Er stützte sich mit dem rechten Arm ab und sah auf sie herunter. „Also? Bleiben wir hier? Es gibt hier so viele schöne Hotels und wir haben erst eines getestet.“ „Aber wir haben gar keine Sachen für eine Nacht in einem Hotel dabei.“ „Wir reden hier von Portaportus und nicht von einem schäbigen Hotel in Pyritus. In den Hotels hier gibt es so gut wie alles und was es nicht gibt, kann man im Supermarkt kaufen.“ „Ach ja?“ Sie setzte sich auf und kam ihm näher. „Und worin soll ich schlafen? Ja wohl kaum in meinem Kleid.“ Für einen Augenblick musterte er ihr Gesicht, dann entgegnete er schmunzelnd: „Ich verstehe das Problem irgendwie nicht.“ Abermals verdrehte Chandra ihre Augen und legte sich wieder auf den Rücken, war aber überrascht, als es ihr hinterherkam und sich mit einem Arm neben ihrem Kopf abstützte. „Wieso so zurückhaltend? Hast du etwa Angst?“, fragte er mit einem Unterton in der Stimme, der sie ungemein herausforderte. „Wovor?“ Statt einer Antwort lag sein Blick auf ihrem Gesicht, das dem seinen so nah war, dass sie ein wenig nervös zur Seite sah, um ihn nicht anschauen zu müssen. „Du hast so schöne Augen“, merkte er an, „das fällt mir erst jetzt wirklich auf.“ Die Worte halfen nicht, Chandras Nervosität zu vermindern, aber sie verschafften ihr eine innere Wärme, wohingegen die äußerliche Brise allmählich abkühlte. Unsicher sah sie wieder zu Zayn. Er hatte natürlich nicht aufgehört, sie anzuschauen und schien auch kein Problem damit zu haben. „So ein seltenes Grün. Solche Augen haben ich bisher noch nicht gesehen“, fuhr er, nun mit recht leiser Stimme, fort. „Na ja“, erwiderte sie unsicher, „du hast auch nicht unbedingt eine gängige Augenfarbe. Oder Haarfarbe.“ Er grinste. „Tja, was tut man nicht alles, um individuell zu sein?“ Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande, war zu mehr nicht fähig. Am liebsten hätte sie sich zur Seite und von ihm fortgerollt, denn ihr Herz schlug dank der Aufregung wie ein Hammer gegen ihren Brustkorb. Zugleich gefiel es ihr dicht bei ihm aber auch ganz gut. Sie zuckte unmerklich zusammen, als sie seine freie Hand an ihrer rechten Seite spürte, zwar nur durch den Stoff des Kleides, aber ausreichend, um ein Kribbeln am ganzen Körper zu verspüren. Ehe sie etwas tun konnte, küsste er sie und sie schloss wie von Zauberhand die Augen. Obwohl ein Teil in ihr unbestreitbar erschrocken war und befürchtete, etwas Falsches zu tun, hörte sie ausnahmsweise einmal auf den Teil, der das wollte – der Zayn nahe sein und ihn küssen wollte. Jetzt. Über die Konsequenzen konnte sie sich später Gedanken machen. Oder morgen. Oder gar nicht. Er bemerkte ihre Zustimmung und intensivierte den Kuss, ebenso glitt seine Hand mit mehr Nachdruck ihre Taille entlang nach unten. Sie ihrerseits legte ihre Hände an seinen Hemdkragen. Als sie sich nach einigen Momenten wieder voneinander lösten und Chandra atemlos zu ihm aufsah, fragte er, mit nun deutlich tieferer, rauerer Stimme: „Und? Möchtest du wirklich zurückgehen?“ „Nun …“, hauchte sie. Ihre rechte Hand wanderte nach oben und ihr Zeigefinger fuhr über seine Unterlippe. „Das hier können wir auch in deinem Bett tun. Wir könnten es aber auch in einem großen, bequemen Hotelbett tun mit Aussicht auf das Meer.“ Die Lippe unter ihrem Finger verzog sich zu seinem Grinsen. „Na dann, such dir eines aus“, flüsterte er und beugte sich zu ihr, um ihre Lippen für einen kurzen Moment wieder zu vereinen. Kurz darauf sprang er plötzlich auf die Beine und zog sie mit einem Ruck ebenfalls nach oben. Erschrocken stolperte sie, wie wohl auch von ihm erhofft, in seine Arme und sah mit geröteten Wangen zu ihm auf. Sie herrschte sich jedoch gleich danach an, sich nicht derart schüchtern und verklemmt zu benehmen und drehte sich bemüht selbstbewusst um. Ohne lange zu zögern, entschied sie sich für das Hotel hinter der Promenade, welches die meisten Stockwerke aufwies und so auch hier unten am Strand deutlich zu sehen war. „Dieses Hotel!“ Es war strahlend weiß mit großen Fensterfronten, in regelmäßigen Abständen geziert von großzügigen Balkonen, die auch aus der Entfernung durch ihre azurblauen Wände hervorstachen. Chandra erschrak erneut, als Zayn die Arme von hinten um sie legte und sie einen warmen Kuss an ihrem Hals spürte. „Dann lass uns gehen“, sprach er leise an ihr Ohr, wodurch eine Gänsehaut über ihren Körper fegte. Sie nickte, fühlte sich wie benommen von dem Gefühl in ihrem Inneren, das sie aufgeregt und ungewohnt glücklich zugleich werden ließ. Kurz darauf schnappte sie sich ihre Tasche sowie Jacke vom Boden und als sie sich unbeobachtet fühlte, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. In diesem Moment schien irgendwie alles perfekt zu sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)