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Der Schatten in mir

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liest hier eigentlich noch jemand? Gebt mal ein Lebenszeichen von euch. xD Frag mich immer, ob ich die Kapitel ins Leere hinein hochlade, zumal ich es hier eh ständig fast vergesse. xD' Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hi.
Ich traue mich ja fast gar nicht, hier etwas zu schreiben, nachdem ich mich so lange nicht mehr gemeldet habe. Im negative Rekorde aufstellen bin ich auf jeden Fall sehr gut. ^^“

Um ehrlich zu sein, was aber sicher nicht überrascht, wusste ich lange nicht, ob ich die FF noch weiterschreiben will (teils noch immer aus den genannten Gründen, die ich unter Kapitel 26 geschrieben habe). In den letzten anderthalb Jahren sind viele Dinge passiert, schöne und weniger schöne, die einfach Zeit in Anspruch genommen haben, sodass ich oft keine Zeit hatte und die FF lange Zeit fast gänzlich aus meinen Gedanken verschwunden war. Um mal zwei positive Dinge zu nennen: Letztes Jahr ist mein Freund zu mir gezogen und dieses Frühjahr wurde einer meiner Lebensträume wahr, als wir gemeinsam für zwei Wochen in San Francisco waren. Manchmal ist das reale Leben einfach wichtiger. Aber diese FF gehört auch zu meinem realen Leben, auch wenn sie rein fiktiv ist. Weswegen ich nach langer Unsicherheit doch wieder zu ihr zurückgekehrt bin.
Und um noch mal ehrlich zu sein, die Unsicherheit, ob das hier noch jemand lesen will, ist immens. Ich liebe es zu schreiben, aber ich bin auch niemand, der komplett nur für sich selbst schreiben kann – wenn ich schreibe, möchte ich, dass Leute es lesen. Deswegen ist das hier auch ein kleiner Versuch, zu schauen, ob noch jemand da ist (oder jemand Neues sich her verirrt).
Es ist aber nicht nur das. Es ist auch eine Aufgabe für mich selbst. Wie ich in meinem langen Nachwort unter Kapitel 26 schrieb, war ein Plan, die FF aufgrund einiger Unzufriedenheiten zu überarbeiten. Genau das werde ich nun tun, nach und nach. Über ein paar bisher erfolgte minimale Änderungen berichte ich ganz unten. Wie ich schon damals sagte: Wer die FF nicht von vorne anfangen will, wird nicht gezwungen sein, das zu tun. Erwähnenswerte Änderungen werde ich immer unter das aktuelle Kapitel schreiben und auch unter den geänderten alten Kapiteln wird es Hinweise geben, sollte etwas zu sagen sein. Warum das Ganze nun auch für mich eine Aufgabe ist? Na ja, ich hasse es, mir alte Texte von mir anzuschauen, die andere bereits gelesen haben. Ist verdammt „cringe“, könnte man sagen. Aber ich muss daran arbeiten. Weltbestseller wurden ja auch nicht geschrieben, indem die Autoren nach dem ersten Entwurf nie wieder in ihren Text geschaut haben, ne? ^^ Die FF kann dadurch ja nur besser werden.

Wie man sich denken kann, musste ich einiges an Motivation zusammensuchen, um wieder an einen Punkt zu kommen, an dem ich etwas posten kann. Ich kann nicht versprechen, dass alles so laufen wird, wie ich es mir vorstelle. Und ganz gewiss hängt meine Motivation zu einem gewissen Teil auch daran, ob noch jemand da ist. Damit will ich nicht(!) sagen, dass die FF definitiv zu Ende ist, sollte für dieses Kapitel kein Feedback kommen – es wird nur einfach recht demotivierend sein. Die ganze Arbeit der Überarbeitung etc. will ich nicht umsonst tun. Dann könnte ich die Zeit nämlich für andere Texte nutzen.

Dementsprechend zwinge ich niemanden, ein Review zu schreiben. Aber ich würde mich wahnsinnig freuen. Es muss nichts Inhaltliches, nichts Langes sein. Ein einfaches „Hey, ich bin noch da“ oder „Ich freue mich, weiterzulesen“ würde mir erst mal genügen.

In dem Sinne: viel Spaß! Komplett anzeigen

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Rettung eines Fremden [Überarbeitet]

„Kannst du mir vielleicht mal verraten, wieso du schon abhauen möchtest?“

Chandra warf ihrem besten Freund ein schwaches Lächeln zu und zog sich ihre schwarze Wolljacke über.

Seine Frage war verständlich, da es nicht üblich für sie war, ihrer beider Stammclub schon deutlich vor Mitternacht zu verlassen. Für gewöhnlich verbrachten sie die halbe Nacht hier, eingehüllt von dem Rauch der Zigaretten und einem brennenden Alkoholgeruch, umgeben von ohrenbetäubenden Bässen viel zu lauter Musik und einem unendlichen Stimmengewirr. Sie sprachen miteinander, tranken Alkohol, tanzten ausgelassen und suchten sich neue Tanz- und Gesprächspartner, die nicht selten zu einer guten Partie für die Nacht wurden.

Heute jedoch war Chandra nicht danach. Eine latente Anspannung schnürte ihr an diesem Abend die Brust zu. Sie konnte sich das unbekannte Gefühl nicht erklären, wusste nur, dass ihr unwohl war zwischen all den Menschen, weswegen sie den Abend früh beenden wollte. Sicherlich musste sie sich keine Sorgen machen, doch es gab Tage, da sollte man sein Glück nicht herausfordern. Heute war so ein Tag.

Sie ließ Devin nichts von ihrem Gefühl wissen. Er würde sich nur wieder mal unnötig Sorgen um sie machen – und außerdem ging es ihn nichts an. „Ich bin schrecklich müde“, log sie ungeniert. Eine ihrer leichtesten Übungen – dem einzigen Menschen, dem wirklich an ihr lag, mitten ins Gesicht zu lügen. „Vielleicht machen wir morgen wieder die Nacht durch, ja?“

Er strich ihr über die Schulter und schenkte ihr ein Lächeln, das seine braunen Augen zum Leuchten brachte. Sie sah es gern, wenn er lächelte, und er war der Einzige, dessen Lächeln ihr etwas bedeutete. „Leg dich zu Hause hin“, sagte er. „Aber wir sehen uns morgen, ja? Selbe Zeit wie immer?“

Chandra bestätigte das morgige Treffen und verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung von ihm, ehe sie sich durch die Menschenmengen nach draußen schlängelte. Dort wurde sie von der kühlen Abendluft begrüßt, welche sogleich ihren Kopf und ihre Gedanken klärte.

Mit einem Seufzer der Erleichterung machte sie sich auf den Weg nach Hause, links die Straße runter. Missmutig gestattete sie sich ein paar Gedanken über Pyritus.

Es war schon immer das gewesen, was es heute war. Eine Stadt, die von Plakaten und riesigen Leuchtschildern geprägt war, die die Fassaden bedeckten. Heruntergekommen und dreckig. Voll von Gaunern, Halsabschneidern, Drogendealern und noch viel Schlimmerem. Kurzum: ein Paradies für Kriminelle. Menschen von außerhalb würde das vielleicht abschrecken, doch für jene, die tun wollten, wonach es ihnen beliebte, war diese Stadt, so schäbig sie war, der richtige Ort. Das Gesetz wurde hier weder ernstgenommen noch durchgesetzt. Pyritus‘ Polizei versagte regelmäßig dabei, ihre Arbeit zu machen – entweder aus Unfähigkeit oder weil sie alle geschmiert waren. Chandra wusste nicht viel darüber; nur, dass sie sich in einer Notlage niemals an die Polizei wenden würde. Man kriegte seinen Scheiß entweder selbst auf die Reihe oder verendete in irgendeiner Gosse, im schlimmsten Fall.

Hier galt das Gesetz des Stärkeren, der Reste fügte sich. Wurde man auf offener Straße angegriffen, ob tags oder nachts, war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass jeder wegsah.

Pyritus war eine rundum gefährliche Stadt, doch Chandra gab sich mit derlei kriminellem Gesindel nicht ab. Dass es ihr möglich war, abends im Dunkeln allein nach Hause zu laufen, ohne befürchten zu müssen, überfallen zu werden, verdankte sie der Tatsache, dass sie Teil der kriminellsten Familie Pyritus‘ war.

Chandra genoss einen besonderen Bekanntheitsstatus, was an ihrem Bruder lag, der sozusagen der Chef der Gangsterstadt war. Natürlich war er nicht der offizielle „Boss“, aber er stand in der kriminellen Hierarchie ganz oben. Jeder kannte und fast jeder respektierte ihn. Die, die Letzteres nicht taten, waren entweder Außenseiter oder strikte Gegner seiner Geschäfte. Fakt war jedoch, wer in Pyritus ein kriminelles Business anstrebte, kam früher oder später mit ihm in Kontakt. Im Positiven oder im Negativen. Viel Kontakt hatte Chandra zu ihrem Bruder nicht – im Grunde mied sie ihn nach Möglichkeit –, aber sie wusste um seine dunklen Machenschaften. Seiner besonderen Stellung war es zu verdanken, dass sie in der Stadt tun und lassen konnte, was sie wollte, ohne ernsthaft in Schwierigkeiten zu kommen. Sollte ihr jemand auf die falsche Art zu nahekommen, würde diese Person in ordentliche Schwierigkeiten geraten.

Manchmal nannte sie das ihren persönlichen Sicherheitsdienst.

Plötzlich drang ein dumpfer Schrei an ihre Ohren.

Ein Zucken durchlief ihren Körper und sie blieb stehen, spähte in die Gasse, an der sie eben vorbeigelaufen war. Gedämpfte Stimmen drangen an ihre Ohren, woraufhin sie weiter in die Gasse hineinlief, darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche zu machen. Nach einigen Schritten konnte sie um eine Ecke in einen Hinterhof schauen. In der Finsternis des Abends ließ sich nur bedingt etwas erkennen. Das spärliche Licht, welches eine Laterne am Anfang der Gasse in die Dunkelheit warf, genügte gerade noch.

Drei Männer fielen in ihren Blick. Zwei von ihnen waren älter und recht breit gebaut, der dritte hingegen nicht schmächtig, aber einfach nicht so kantig – und vor allem war er deutlich jünger.

Schnell war die Situation erfasst. Der junge Mann stand zwischen den beiden älteren und wurde von dem hinter ihm in Schach gehalten. Dieser hatte seine Arme gepackt und hielt sie in einem ungesunden Winkel hinter dessen Rücken. Der Jüngere wand sich in dem Griff, kam aber ganz offensichtlich nicht gegen die Übermacht an.

Chandra duckte sich hinter eine niedrige Mauer und weitere erschrocken die Augen, als sie das glänzende Etwas sah, das der zweite Mann dem Gefangenen nun vors Gesicht hielt. Ein langes Messer, dessen Klinge im Licht der Laterne unheilvoll aufblitzte.

Der Mann vor ihm sagte etwas, doch der Jüngere schüttelte entschieden den Kopf. Als Reaktion wurde ihm die Klinge direkt an die Kehle gehalten, woraufhin er sich zunehmend versteifte. Die Worte des Mannes mit dem Messer wurden lauter und hallten durch die Gasse, doch er sprach zu schnell und zornig, als dass Chandra ihn verstanden hätte. Sie sah, wie sich die Lippen des jungen Mannes abschätzig bewegten. Offenbar zeigte er keine Einsicht, trotz der Klinge an seinem Hals. Als ihm die Arme noch weiter nach oben gedrückt wurden, hörte Chandra ihn schmerzerfüllt stöhnen.

„Vielleicht hat er mehr Lust zu reden, wenn ich ihm eine Schulter auskugle.“

Endlich verstand Chandra etwas! Entsetzt schlug sie sich eine Hand vor den Mund und rechnete mit dem Schlimmsten.

„Hör zu, Kleiner“, sagte der Messertyp. „Wenn du uns jetzt nicht sagst, was wir wissen wollen, hören wir auf, nett zu fragen. Nach ein paar Schnittwunden oder“, er deutete mit dem Messer auf seinen Kollegen, „einer ausgekugelten Schulter bist du ja vielleicht redseliger. Danach finden wir sicher einen schönen Ort für deine Leiche. Wir könnten uns aber auch einfach nur unterhalten. Es liegt an dir.“

Chandra keuchte auf. Sie wusste nicht, wer dieser Idiot war, aber wenn nicht gleich ein Wunder geschah, würde es hässlich werden. Mit flauem Magen richtete sie sich auf.

Das Wissen, wer sie war, wer ihre Familie war, stärkte sie.

Entschlossenen Schrittes trat sie in den Hinterhof, strafte ihre Schultern und setzte eine finstere und zugleich sichere Miene auf. Es war verdammt riskant, sich nachts mit gefährlichen Typen anzulegen – gut, in Pyritus war es das auch am Tag –, doch bislang war ihr nie etwas zugestoßen.

„Hey!“

Ein kollektiver Schreck ging durch die Gruppe. Der junge Mann sah zuerst zu ihr. Chandra erkannte seine markanten Gesichtszüge im Lichtspiel der Laterne sowie, dass er nicht viel älter als sie selbst sein konnte. Sein überraschter Gesichtsausdruck verharrte auf ihr. Zwar betrachteten die älteren Männern sie ebenfalls irritiert, wenn auch auf andere Weise. Natürlich – wer würde auch erwarten, dass ausgerechnet ein Mädchen zur Hilfe kam?

Aber Chandra war ja kein normales Mädchen.

„Lasst ihn gefälligst in Ruhe!“, befahl sie, als sie vor ihnen zum Stehen kam. Sie deutete auf das Messer, doch es folgten keine Anstalten, es wegzunehmen.

„Kleine“, sagte der, der es führte, „sieh zu, dass du Land gewinnst. Was willst du bitte ausrichten?“

Ein siegessicheres Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

Insgeheim brach ihr gerade der Schweiß aus und sie wusste, wie dünn das Eis unter ihren Füßen war.

„Oh, ich will gar nichts ausrichten. Aber mein Bruder …“ Ein Blick auf die Gesichter der Gangster zeigte ihr, dass der Mann mit dem Messer ein kantiges Gesicht mit einer leicht gezackten Narbe auf der rechten Wange hatte, wohingegen der andere etwas jünger aussah, aber nicht weniger unfreundlich und gefährlich. Beide hatten sie dunkles Haar.

Letzterer zischte nun erbost: „Du bluffst doch!“

„Sicherlich nicht.“ Mit einem vor Selbstsicherheit triefenden Grinsen holte Chandra das Handy aus ihrer kleinen Handtasche. „Ich könnte ihn gleich jetzt mal anrufen, wenn ihr mir nicht glaubt.“ Sie hatte ihn direkt auf Kurzwahl gespeichert und hielt dem Narbengesicht nun ihr Display entgegen, auf dem der mehr als bekannte Name ihres Bruder angezeigt wurde. Regungslos betrachtete er den Bildschirm, offenbar hin und hergerissen, ob er ihr glauben konnte. Sicherlich, es bestand die – kleine – Wahrscheinlichkeit, dass sie log und der Handytrick nichts weiter als ein Bluff war.

Chandra verdrehte die Augen. Dann eben wie immer. „Ich glaube, ich habe Lust, seine Stimme zu hören. Ihr auch?“ Sie tippte auf das Anrufsymbol, aktivierte den Lautsprecher und wartete. Es klingelte nur kurz, dann wurde abgenommen.

„Ray hier. Was willst du, Chandra?“

Dem Narbengesicht entgleisten die Gesichtszüge, als er die Stimme ihres älteren Bruders erkannte, aber er und sein Komplize blieben still. Chandra hatte nichts anderes erwartet. Pyritus war das Pflaster der Kriminellen und Ray so etwas wie ihr Boss. Jeder Gauner, der nicht gerade erst nach Pyritus gekommen war, war schon mal irgendwie mit ihm in Kontakt getreten, und jeder Neuling war noch zu grün hinter den Ohren, als dass er es riskierte, es sich mit dem Mann zu verscherzen, von dem jeder nur Furchteinflößendes erzählte. Selbst, wenn Chandra nur bluffte.

Was sie nicht tat – am anderen Ende der Leitung war ihr verhasster Bruder.

„Hallo, Bruderherz! Ich wollte bloß deine Stimme hören. Du hast mich doch gern, oder?“

„Aber natürlich, Schwesterherz“, antwortete Ray auf dieselbe Art. In seiner Stimme lag der Ton, vor dem sie sich fürchtete, der, welcher früher die Melodie ihrer Albträume gewesen war. Er klang freundlich und schmeichelnd, aber hinter diesem Charme schlummerte eine düstere Bedrohung – er wusste, wieso sie ihn anrief.

Sie trieb das Spiel noch ein wenig weiter. „Was wäre, wenn mir etwas zustieße?“

„Dann wäre ich sehr traurig.“ Lüge. „Und sehr wütend.“ Wahrheit.

„Das wollte ich hören.“ Das genügte – dem Narbengesicht stand beinahe der Angstschweiß auf der Stirn.

Triumphal grinsend legte Chandra auf. Sie erkannte, dass sie gewonnen hatte, und steckte ihr Handy ein. „Na, was habe ich gesagt? Also los, ihr verpisst euch jetzt!“, befahl sie kühl. „Ich denke, ihr wisst, wie Ray wird, wenn er wütend ist.“

Der Mann mit dem Messer drückte dem Jüngeren mit ebenjener Klinge das Kinn nach oben, ein erbostes Funkeln in den Augen. „Noch mal Glück gehabt, Junge. Wenn wir dich das nächste Mal erwischen, wirst du jedoch keines mehr haben.“ Er entfernte das Messer und nickte seinem Partner zu, der daraufhin seinen Gefangenen freigab. Der Ältere stieß ihn grob vor die Brust und damit zu Boden. Anschließend verschwanden die beiden Kriminellen in der Dunkelheit der Gasse.

Kurz hing Chandras Blick den Schatten hinterher. Mit einem Mal fiel die Nervosität von ihr ab und ihre Beine blieben weich und zittrig zurück. Zwar war sie sich sicher gewesen, dass alles gutlaufen würde, dies bedeutete aber nicht, dass sie sich gerne in solche Gefahr begab.

Eine Stimme schreckte sie auf. „Wow, wie hast du das denn gemacht?“ Chandra hatte angenommen, der junge Mann würde vor Schreck zusammengesunken auf dem Boden sitzen, stattdessen sah er fast schon entspannt zu ihr hoch.

„Alles in Ordnung?“, überging sie seine Frage. „Was wollten die beiden von dir?“

„Nur ein paar einfache Straßengauner“, sagte er kopfschüttelnd. Mühelos erhob er sich und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, mit der er Chandra um gut einen Kopf überragte. Er ließ die Schultern kreisen und rieb sich über den Hals, an dem ein Rinnsal Blut klebte.

Chandra kam nicht umhin, ihn zu betrachten, als er sich Dreck von der Hose klopfte. Seine Haaren waren schwarz und ein wenig zerzaust und seine Augen leuchteten hell. Viel mehr erkannte sie nicht.

„Die haben dich mit einem Messer bedroht. Ich habe dich vor ihnen gerettet“, stellte Chandra klar. „Da werde ich doch wohl eine kurze Erklärung haben dürfen, oder?“

Er schenkte ihr ein lockeres Grinsen, was sie reichlich irritierte, und machte Anstalten, an ihr vorbeizugehen. „Klar, aber es war ja nichts.“

Das erzürnte sie. Diese beiden Typen hatte sicher keine sauberen Absichten gehabt und sie hatte diesen undankbaren Idioten vor ihnen gerettet – da war es wohl das Minimum, mehr als eine herablassende Lüge zu erwarten. Sie ergriff seinen Unterarm als Zeichen, dass er nicht gehen sollte.

Erstaunt sah er auf ihre Hand. „Was soll das denn jetzt werden?“

„Sag mir, was die beiden von dir wollten!“, forderte sie abermals.

„Wieso sollte ich?“

Die Frage klang nicht einmal provokant, sondern so sachlich, dass Chandra am liebsten vor Wut aufgeschrien hätte. „Vielleicht, weil ich dir geholfen habe?“

„Ich habe dich nicht um deine Hilfe gebeten.“

Die Art und Weise, wie ruhig und … amüsiert er mit ihr sprach, ließ ihren Zorn noch heftiger hochkochen. Als wäre das hier ein verdammter Witz. Sie herrschte sich innerlich zur Ruhe an und wollte gerade zu einer vernünftigen Antwort ansetzen, als ihr der Blick auffiel, mit dem er sie betrachtete. Er musterte sie von oben bis unten und das nicht gerade zurückhaltend.

Nicht, dass sie das überraschen würde. Unter ihrer kuscheligen Wolljacke trug sie ein schwarzes Top, welches auf Hüfthöhe von einem weinroten Faltenrock abgelöst wurde, der bis zur Mitte der Oberschenkel reichte. Schwarze Kniestrümpfe bedeckten ihre Beine bis knapp über die Knie und an den Füßen trug sie schwarze Halbstiefel. Sie war es gewohnt, dass Männer sie ansahen, aber seine Musterung ließ ihre Vorsätze, netter zu sein, verpuffen.

Also ließ sie seinen Arm los und zog sich ihre Jacke enger vor die Brust. „Hör zu! Du sagst mir jetzt, was ich wissen will, oder ich werde wirklich sauer.“

Das Lächeln, welches er ihr nun zeigte, war eher verdrießlich als amüsiert. „Und wenn nicht? Bedrohst du mich dann auch mit einem Messer?“

Ich nicht“, sagte sie, doch es waren leere Worte. Als ob sie ihrem Bruder einen Unschuldigen ausliefern würde. Auch wenn er im Moment viel eher seltsam als unschuldig auf sie wirkte.

„Du kannst mir nicht noch mehr Probleme machen, als ich bereits habe.“

„Was willst du damit sagen?“

„Glaubst du ernsthaft, ich würde dir das sagen?“

„Ja, verdammt. Denn ich kann deine Probleme noch viel größer machen“, provozierte sie. Doch erneut war es nur eine leere Drohung. Gewiss hatte sie die Möglichkeit, ihre Worte wahrzumachen, aber wenig Lust dazu. Von der Telefonhilfe einmal abgesehen, bat sie ihren Bruder nie um Hilfe – sie mied ihn, wie gesagt. Meistens genügte sein Name, um Ärger im Keime zu ersticken.

„Du drohst gerne anderen, was?“, spottete ihr Gegenüber.

Chandra verfluchte sich für ihre Unfähigkeit, etwas aus ihm herauszubekommen, und seufzte verärgert. „Na schön! Dann verschwinde halt.“

Sie erwartete, dass er ging, aber er blieb einfach stehen. Nachdenklich griff er sich ans Kinn. „Hm, nee. Ich hab’s mir doch anders überlegt.“

„Was?“

Woher kam denn jetzt dieser Sinneswandel?

„Ich will wissen, wieso du so gute Kontakte in dieser Stadt hast. Und die musst du haben, so, wie du dich verhältst.“ Nun war er ernst geworden, doch seine Augen sprachen eine andere Frage. Er war neugierig.

Sie biss sich auf die Lippe. „Selbst wenn es so wäre“, log sie, „würde ich es dir nicht sagen.“

Sein Augen blitzten auf, als er schmunzelte. „Ach ja? Du bist eine schlechte Lügnerin. Wer ist dieser Ray?“

Das hatte gesessen. Bislang war Chandra stets davon ausgegangen, recht gut lügen zu können. Devin durchschaute ihre erlogenen Worte fast nie. Nun kam dieser Typ und …

„Das geht dich nichts an. Denkst du ernsthaft, ich erzähle jedem dahergelaufenen Kerl von meinem Leben?“

„Hey, du kamst ‚dahergelaufen‘, ich war hier nur zufällig in der Gegend“, korrigierte er sie mit einem überlegenen Lächeln.

Am liebsten wäre Chandra ihm für seine Worte ins Gesicht gesprungen, doch zugleich fand sie Gefallen an seiner selbstsicheren Art. Es gab nicht viele Menschen, die den Mumm hatten, ihr zu kontern. Die meisten wichen zurück, wenn sie erfuhren, wer sie war, und gab es doch mal jemanden, dem das nichts ausmachte, wurde derjenige spätestens von ihrer abweisenden Art abgeschreckt.

Ihr fiel keine schlagfertige Antwort ein, sodass ihr Gegenüber erneut grinste. „Ich mache dir einen Vorschlag. Du möchtest etwas von mir wissen und ich etwas von dir. Wir könnten uns gegenseitig helfen. Also wie wäre es, wenn wir jetzt einfach gemeinsam irgendwohin gehen und ein bisschen reden?“

Das Angebot ließ Chandra prusten. „Ist das dein Ernst oder einfach eine verdammt schlechte Anmache? Was in aller Welt sollte mich dazu bringen, mit dir mitzugehen und ein bisschen zu reden?“ Für wen hielt sich dieser Typ?

Aber es wurde noch besser. Der Unbekannte wollte ihren Geduldsfaden wirklich einreißen.

„Na ja, vielleicht, weil du mich nett findest?“

Ein unglaubwürdiges Lachen brach aus ihr heraus. „Ähm, Moment, bitte.“ Sie hob einen Zeigefinger. „An welcher Stelle dieser völlig irrsinnigen Konversation habe ich gesagt, dass ich dich nett finde?“

„Du hast mich gerettet, mich, einen dir völlig unbekannten ‚dahergelaufenen Kerl‘, in einer Stadt, in der jede Nacht irgendwelche Verbrechen geschehen und Leute draufgehen. Aber ich denke, du würdest diese „Ich-rufe-meinen-Bruder-an“-Nummer nicht für jeden Typen bringen. Logische Schlussfolgerung: Du hast mich gesehen und fandest mich nett.“ Er grinste schief; es war kaum möglich, noch selbstsicherer zu wirken, als er sie mit seinem Blick bedachte.

Himmel, vermutlich glaubte er wirklich, was er sagte.

„Bild dir bloß nichts darauf ein“, stellte Chandra klar. „Nur weil ich in Pyritus lebe, bin ich noch lange kein Fan von Gewalt. Wenn ich ein Unrecht sehe, gehe ich dazwischen. Ich hätte jedem anderen auch geholfen.“

„Ach ja?“ Er schlug in die Hände, und sie zuckte zusammen. „Na wenn das so ist, dann versteh doch, dass ich gerne mehr über das Mädchen erfahren möchte, das nachts in einer gefährlichen Stadt durch die Straßen zieht, den Bösen einen Denkzettel verpasst und irgendwelche ‚dahergelaufenen Kerle‘ rettet. Du hast mich gerettet, da ist es doch nur normal, dass ich ein wenig über dich wissen möchte, oder?“

Eines musste Chandra ihm lassen. Er war hartnäckig und mit spielerischer Leichtigkeit hatte er es geschafft, ihre Verärgerung durch Amüsement zu ersetzen. „Benutz nicht meine Argumentation gegen mich“, warnte sie, doch an ihren Mundwinkeln zuckte ein Grinsen. „Vor fünf Minuten wolltest du mich noch hier stehen lassen, als ich dasselbe zu dir gesagt habe. Woher der plötzliche Sinneswandel?“

Nun strich er sich durchs Haar. „Ich muss mich für mein altes Ich von vor fünf Minuten entschuldigen. Deine Anwesenheit hat es nervös gemacht. Jetzt wirst du mich nicht so schnell los.“ Er wartete auf eine Antwort, doch tatsächlich war sie sprachlos. „Also, haben wir einen Deal?“, fragte er.

Hinterher wusste Chandra auch nicht mehr genau, wieso sie zugesagt hatte. Die meisten anderen hätte sie stehen gelassen, sie hätten sie nicht einmal genug interessiert, um ihre Neugier zu wecken. Doch der junge Mann vor ihr rief etwas in ihr hervor, das ihr fremd war.

Interesse. Doch woran? An ihm – an seiner Person? Interesse an dem, was er ihr erzählen könnte?

Ihr war bewusst, dass er nicht aus Pyritus kam. Weder sah er so aus – sie auch nicht unbedingt, aber ihre lose Zunge sprach Bände, was das anging – noch schien er viel über Pyritus zu wissen. Sonst würde er sich kaum um diese Zeit alleine in so einem verlassenen Viertel umhertreiben. Es sei denn … er wusste sehr wohl über Pyritus Bescheid und war ganz bewusst hier. Und genau das war der Punkt, der ihr Interesse entfachte. Er war kein dahergelaufener Trottel, der zufällig an zwei Gauner geraten war.

Nein, der Fremde hier kam nicht aus Pyritus, aber er war sehr bewusst hierhergekommen, da war sich Chandra sicher.

„Na gut, wir haben einen Deal. Du erzählst mir etwas, das ich wissen will, und ich sage dir, was du wissen willst“, stimmte sie zu.

Natürlich hatte sie nicht vor, ihm irgendetwas zu erzählen. Das Geheimnis, das sich um ihre Person rankte, war ein zu Wertvolles, um es ohne Bedacht zu teilen. Allerdings musste er das ja nicht wissen.

„Schön“, lächelte er. „Kennst du ‘nen guten Ort, an dem man ungestört reden kann?“

Erst jetzt wurde ihr wieder richtig bewusst, dass sie noch immer in dem schwach beleuchteten Hinterhof der Gasse standen, um sich nichts als die Fassaden verlassener Häuser. Sie verschränkte die Arme, als sie merkte, wie frisch es mittlerweile war.

„Ist dir nicht kalt in dem Aufzug?“, fragte ihr Gegenüber und betrachtete sie mit hochgezogener Augenbraue.

„Nein“, sagte sie schnippisch und ignorierte seine Blicke. „Und es gibt hier nicht viele Orte, um gut reden zu können. Daher schlage ich vor, dass wir zu mir nach Hause gehen. Natürlich nur, wenn du keine bösen Absichten hegst?“

Das ließ ihn lachen. „Ich und böse Absichten? Niemals!“ Seine Worte klangen einen Hauch ironisch. „Ich bin doch in dieser ganzen Sache das Opfer. Aber wenn ein schönes Mädchen mich zu sich nach Hause einlädt, sage ich nicht Nein.“

Darüber konnte Chandra nur die Augen verdrehen. Glaubte er etwa, seine Worte würden sie erweichen? „Wie gesagt, bilde dir bloß nichts darauf ein. Du solltest es nicht wagen, dir zu viel herauszunehmen. Bei mir warten zwei kampffreudige Pokémon, die schon so manchen unhöflichen Gast zur Tür rausgeprügelt haben.“

Er nickte und schenkte ihr abermals ein charmantes Lächeln.

Chandra drehte sich um, ehe sie es sich zu genau ansehen konnte, und lief los. „Na dann, auf geht’s.“ Sie hörte, wie er ihr folgte.

„Dürfte ich vielleicht noch erfahren, wie meine charmante Retterin heißt?“

Nochmals verdrehte sie die Augen, wenn auch mit dem Anflug eines Lächelns. „Ich bin Chandra.“

„Schöner Name. Ich heiße Zayn.“

Ein mysteriöser Fremder

Viel geredet hatte Chandra mit dem Unbekannten namens Zayn nicht mehr auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Die meiste Zeit über beobachtete sie ihn heimlich von der Seite und fragte sich, was sie eigentlich gerade im Begriff war, zu tun. Sie hatte keine Angst davor, einen Fremden mit zu sich zu nehmen, das war schon oft genug vorgekommen, und da sich ihr zu Hause die Möglichkeit bot, herauszufinden, ob sie ihm über den Weg trauen konnte, blieb sie entspannt. Aber was erhoffte sie sich davon, ihn überhaupt mitzunehmen?

Im Moment war ihr Plan, ihn ein wenig auszuquetschen und herauszufinden, wer er war und was er hier wollte. Er schien offenbar keinen Schimmer davon zu haben, wer in Pyritus die Fäden in der Hand hatte. Erst ließ er sich von zwei zwielichtigen Typen bei irgendetwas erwischen, das wohl wichtig gewesen sein musste – zumindest reimte Chandra sich dies zusammen, denn wäre es ein normaler Überfall gewesen, hätten sie ihn auch gleich ausrauben und sich das Drumherum sparen können –, und dann verzog er nicht einmal eine Miene, als der Name ihres Bruders fiel und dieser auch noch am Telefon war. Daraus zu schlussfolgern war nur, dass er entweder ein guter Schauspieler war oder schlichtweg überhaupt keine Ahnung hatte, wer Ray war. Nicht zuletzt wusste er ebenso wenig, wer sie war, sonst würde er wahrscheinlich nicht so bereitwillig mit ihr mitgehen.

Natürlich sollte das Ganze so bleiben. Es war besser für jedermanns Gesundheit, nicht zu viel über diese versiffte Stadt zu wissen. Er war ahnungslos und das war gut so. Sie erhoffte sich, ihn schnell wieder loswerden zu können, nachdem sie erfahren haben würde, was er hier gewollt hatte. Leider war ihr bis hierhin noch nicht klar, dass Zayn nicht einmal annähernd so ahnungslos war, wie es den Anschein erweckte.

Mittlerweile waren sie in der Straße, in der ihre Wohnung lag. Chandra wohnte in einer recht ruhigen Gegend, ein wenig abgelegen vom Trubel der Stadtmitte. Schön war es hier aber auch nicht unbedingt. Die meisten Wohnblöcke konnten einen neuen Anstrich gebrauchen, da die Farben entweder verblasst oder völlig verschmutzt waren, an vielen Hausecken reihten sich überaus charmante Graffitis aneinander. Wer Angst vor Schimpfwörtern hatte, war in der gesamten Stadt schlecht aufgehoben. Hatte man in Pyritus ein Auto und stellte es an die Straße, war die Gefahr stets hoch, dass es geklaut wurde. Autos waren ein teurer Luxus, den sich der Durchschnittskriminelle natürlich nicht leisten konnte. Die Zahl der Arbeitslosen war in Pyritus so hoch wie in keiner anderen Stadt Orres, aber das verwunderte nicht sonderlich. Doch trotz aller Hässlichkeit war Chandras Viertel sogar ein wenig grün, den an den Straßen waren kleine Bäume gepflanzt und zwischen den einzelnen Wohnblöcken Grünflächen angelegt worden.

Häufig hörte man abends und nachts Leute herumschreien, die sich gegenseitig beleidigten oder einem unbestimmten Publikum ihr Leid klagen wollten. Anfangs hatte dies Chandra verschreckt, doch mittlerweile blendete sie es komplett aus. Es war normal und solange die Leute nur von ihren Balkonen schrien, ließen sie einen in Ruhe. Ansonsten war es in dieser Gegend möglich, als junge Frau abends unterwegs zu sein, ohne von zig Seiten dumm angemacht zu werden – obwohl Chandra das meistens ein wenig provozierte mit ihrem Kleidungsstil, das wusste sie –, und das machte dieses Viertel schon tausendmal besser als alle anderen.

Endlich kamen sie vor dem Haus an, in welchem ihre Wohnung war. Sie ging zur Eingangstür, kramte ihren Schlüssel aus der Tasche und schloss sie auf. Die Häuser sahen von innen nicht unbedingt besser aus als von außen. Ein neuer Anstrich an der orange-modrigen Wand war notwendig, würde aber wohl niemals erfolgen. Als sie in den Hausflur trat, bemerkte sie, dass ihre Begleitung zögernd vor der Tür stehen blieb.

„Was ist? Hast du deine Meinung geändert?“, fragte sie Zayn.

„Nein. Aber ich wollte dich noch mal fragen, ob du dir sicher bist, dass du das tun willst?“, fragte er mit unsicherem Gesichtsausdruck.

„Klar, wieso denn auch nicht?“

„Na ja, ich finde, ein Mädchen sollte nicht einfach jeden Typen mit zu sich in die Wohnung nehmen. Du kennst mich ja gar nicht, ich könnte in Wahrheit ein Psychopath sein. Ich will nur nicht, dass du es hinterher bereust.“ Zayn sah sie ernst an, seine lockerte Art von vorhin schien für den Moment verflogen.

Chandra musste grinsen und schlug kurz die Augen nieder. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Doch tatsächlich stand Zayn entschlossen vor der Türschwelle, als verbiete seine Höflichkeit es ihm, einzutreten, wenn er nicht ganz sicher war, dass es in Ordnung ging. „Gerade eben hattest du noch kein Problem damit, mitzukommen, und jetzt willst du doch nicht mehr?“

„Gerade eben wollte ich weg von dieser muffigen Gasse. Jetzt möchte ich ein schönes Mädchen nicht in Bedrängnis bringen. Wenn du sagst, dass ich gehen soll, gehe ich.“

Kann er vielleicht mal diese dezenten Anmachen lassen?, fluchte sie innerlich und hoffte, ihr Makeup würde verdecken, dass sie errötete. Idiotin, hör auf damit. Andere Kerle fragten nie nach, ob es okay war, die Wohnung einer relativ unbekannten Frau zu betreten. Sie ließen sich einfach von Chandra einladen und die meisten waren auch nett und, nun ja, keine Psychopathen, aber bislang war ihr noch niemand so Anständiges wie der junge Mann vor ihr begegnet. Er musste wohl aus gutem Hause kommen, dachte sie.

Nun straffte sie ihre Schultern, um wieder selbstbewusst zu wirken, und trat näher an ihn heran „Wenn du Angst hast, dass du ein Psychopath sein könntest, dann warte kurz hier. Wir können das gleich herausfinden“, sagte sie geheimnisvoll und lief anschließend schnurstracks die Treppe hoch und schloss die rechtsgelegene Tür auf – sie wohnte im Erdgeschoss.

In ihrer kleinen Wohnung angekommen schaltete sie Licht ein und stieß links die erste Tür im Flur auf, sodass sie im Schlafzimmer stand. „Hey, ihr zwei Süßen, es gibt Arbeit.“

Auf Kommando erhoben sich die beiden vierbeinigen, mittelgroßen Wesen, die zuvor noch schlummernd und entspannt auf dem Bett gelegen hatten. Das eine der beiden hatte hellviolettes Fell, das seinen schlanken, feingliedrigen Körper überzog. Besonders auffallend waren seine großen Ohren, deren Innenseiten dunkelblau schimmerten und unter denen violette Fellbüschel wuchsen, die gepflegt nach unten fielen. Es hatte einen dünnen, langen Schwanz, der sich zum Ende hin aufspaltete. Besonders auffällig war jedoch das, was auf seinem runden Kopf mittig über seinen blauen Augen thronte. Eine rubinrote Perle verlieh dem Pokémon ein geheimnisvolles, mystisches Aussehen. Das war Sunny, ihr Psiana.

Neben ihr saß ihr Bruder, Lunel. Sein Fell war tiefschwarz, auch sein Körper war von eleganter Statur, er war jedoch ein klein wenig muskulöser und größer als seine Schwester. Seine Ohren waren groß, zu den Seiten hin abgerundet und liefen, nachdem sie in der Mitte, welche von einem breiten gelben Streifen geschmückt wurde, breiter waren, spitz zu. Auch den buschigen, ebenso spitz endenden Schwanz des Wesens zierte solch ein Streifen. Die Außenseiten seiner vier Beine wurden von je einem ovalen Kreis geschmückte, der im gleichen geheimnisvollen Gelb leuchtete. Dieser Kreis fand sich auch auf seiner Stirn wieder. Ein unheilvolles Erscheinungsbild bekam das Wesen aber erst durch seine Augen, die tiefrot leuchteten und in dessen Mitte eine längliche, schwarze Pupille hauste.

Lunel war ein Nachtara und dementsprechend der perfekte Gegenpart zu Psiana.

Nun, da Chandra sie aufgefordert hatte, dem nachzukommen, was sie am besten konnten, sprangen sowohl Sunny als auch Lunel vom Bett und folgten ihr nach draußen in den Hausgang. Zayn stand noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Er wirkte fast ein wenig verloren vor der Tür, da er einfach nicht in diese Gegend passte. Sie beobachtete ihn kurz, während Psiana unten auf dem Treppenabsatz stehenblieb und Nachtara direkt zu Zayn stolzierte. Eigentlich sah er recht normal aus, war relativ groß, schien eine sportliche Statur zu haben. Wenn man einmal von der merkwürdigen Haarfarbe absah, wäre er in Pyritus kaum weiter aufgefallen. Aber er sah nun mal nicht aus wie jemand, der von hier kam. Seine Kleidung bestand aus einer dunkelblauen Jeans, einem schwarzen Hemd, über dem er eine schlichte, dünne, ebenfalls schwarze Jacke trug, und dunklen Sneakers. Gar nichts Besonderes, aber er machte einen gepflegten Eindruck und das war schon mehr als bei den meisten anderen.

„Wow, sind das deine?“, stellte Zayn die mehr als überflüssige Frage, als Chandras Nachtara vor ihm stand und zu ihm hochsah.

„Ja.“ Zu mehr war Chandra nicht fähig, zu sehr war sie auf das Verhalten ihrer Pokémon konzentriert.

Sunny und Lunel waren als Psycho- und Unlichtpokémon ohnehin schon besonders, doch sie hatten beide eine Gabe, die sie von anderen Pokémon ihrer Art unterschied. Seit sie sich von Evolis weiterentwickelt hatten, spürten sie, ob ein Mensch gute oder böse Absichten hegte, ob man jemandem vertrauen konnte oder sich besser von ihm fernhalten sollte. Es war eine Art übernatürlicher Sinn, den sich Chandra zwar nicht erklären konnte, der aber bis jetzt noch nie danebengelegen hatte. Jedes Mal, wenn sie Besuch hatte, ließ sie diesen kurz von ihren beiden Gefährten überprüfen. In den allermeisten Fällen geschah gar nichts. Psiana und Nachtara nutzten ihren übernatürlichen Sinn und spürten die Aura der Person – nahmen sie an dieser nichts wahr, das auffällig böse war, gab es sozusagen Entwarnung. Doch wenn sie an ihr etwas Unheilvolles spürten, wenn sie Dunkelheit und boshafte Absichten wahrnahmen, dann stellten sich ihnen alle Haare zu Berge und sie verwandelten sich in wahre Ungeheuer. Sie fauchten und knurrten, gingen in Angriffshaltung über, während Lunels Streifen im Fell grellgelb zu leuchten begangen und Sunnys rubinrote Perle warnend aufleuchtete.

Bislang war es ihnen gelungen, jeden dieser nicht erwünschten Gäste wieder aus der Wohnung zu befördern. Sunny besaß die Macht der Gedankenmanipulation. Ein Blick in ihre Augen, wenn ihre Perle aufleuchtete, versetzte die meisten Menschen in einen Trancezustand. Lunel hingegen besaß die Macht der Illusionen, mit denen er seine Gegner täuschen und hinters Licht führen konnte. Ein Blick in seine blutroten Augen versetzte einen in Angst und Schrecken. Die Kombination aus diesen beiden Pokémon sorgte dafür, dass der gewöhnliche Durchschnittsstörenfried freiwillig floh und nicht mehr wiederkam. Dementsprechend sicher fühlte sich Chandra in ihrer Wohnung.

Doch es gab auch Menschen, die immun schienen gegen die Kräfte ihrer Pokémon. Die Male, wo ihr Bruder in ihrer Wohnung war, hatten sich immer als besonders nervenaufreibend herausgestellt. Sunny und Lunel waren in regelrechte Raserei verfallen und gar nicht mehr losgekommen von ihrem Zorn und ihrer Angst – ja, selbst ihre Pokémon waren schlau genug, um Furcht zu empfinden. Lunel war sogar einmal so weit gegangen, dass er Ray angegriffen hatte, welcher – leider nur – mit ein paar blauen Flecken davongekommen war. Chandra hatte ihn damals anflehen müssen, ihr die beiden Pokémon nicht wegzunehmen. Sie waren die einzigen beiden Geschöpfe auf der Welt, bei denen sie sich wohl und beschützt fühlte, ohne sie würde sie an der Grausamkeit ihrer Familie und der Stadt zerbrechen. Ray war sehr wütend gewesen und hätte ihren Freunden am liebsten persönlich den Hals umgedreht, doch er hatte tatsächlich Gnade walten lassen. Sie sollte ab sofort „diese Biester“, wie er sie nannte, in ihre Pokébälle sperren, wenn er zugegen war, dann durfte sie sie behalten. Das war vermutlich das Netteste, was er je für seine Schwester getan hatte.

Chandra kehrte wieder in das Hier und Jetzt zurück. Sie sah, dass Lunels gelbe Streifen immer wieder in kurzen Abständen für wenige Sekunden aufleuchteten, was sie immer taten, wenn er das Wesen eines Menschen erspürte, dasselbe geschah auch mit der roten Perle auf Sunnys Stirn. Waren die Absichten eines Menschen rein, hörten sie auf zu leuchten, doch spürten sie etwas Unheilvolles, so wurde das kurze Leuchten zu einem dauerhaften. Während Sunny Zayn nur ausdruckslos beobachtete, lief Lunel um ihn herum und schnupperte sogar an seinen Beinen.

Für einen kurzen Moment sahen sich das Psiana und das Nachtara eingehend in die Augen, dann schmiegte Letzteres plötzlich seinen Kopf an Zayn. Nun sprang auch Sunny auf und tat dasselbe. Als hätte er erst jetzt die Erlaubnis dazu erhalten, ging Zayn in die Hocke und kraulte den beiden Wesen ihre Köpfe, strich ihnen über das glänzende Fell.

„Die sind echt toll. Und so selten!“, meinte er und lächelte begeistert, was zugegeben ziemlich gut aussah. „Aber was war das gerade? Was haben sie gemacht?“ Er sah hoch zu Chandra.

„Sie haben dich getestet. Herzlichen Glückwunsch, du bist kein Psychopath“, entgegnete sie und verschwand in ihrer Wohnung.

„Klasse, endlich habe ich da mal ‘ne Bestätigung“, vernahm sie seine belustigte Antwort. Kurz darauf kamen erst ihre Pokémon und anschließend Zayn in die Wohnung.

Chandra hatte so oder so vorgehabt, ihn zu testen, nur wollte sie es eigentlich nicht derart auffällig machen. Nun jedenfalls fühlte sie sich sicher. Zayn mochte vielleicht ein wenig mysteriös erscheinen, aber wenn ihre Pokémon der Ansicht waren, dass er kein böser Mensch war, dann vertraute sie ihnen.

Sie entledigte sich ihrer Schuhe, dann steuerte sie das Wohnzimmer hinten links im Flur an, welches rechts neben dem Schlafzimmer war. „Setz dich. Aber fühl dich bloß nicht wie zu Hause“, sagte sie zu Zayn und warf sich anschließend selbst in den Sessel links vom gläsernen Couchtisch. Er selbst setzte sich in den rechten Sessel.

„Schöne Wohnung“, meinte er und warf seinen Blick einmal nach allen Seiten.

„Danke.“ Eigentlich war hieran nichts besonders. Direkt gegenüber der Wohnzimmertüre lagen zwei große Fenster, die den Raum tagsüber mit Licht durchfluteten. Links fand sich eine Regal-Schrank-Wand, in deren Mitte ein Flachbildfernseher hauste. Auf der anderen Seite, hinter dem Couchtisch, stand noch ein breites Sofa, welches einen gemütlichen Charme verströmte. Links von diesem, in der Ecke, die der Fensterseite nahe war, stand ein Bücherregal. Chandra las recht gerne, um sich in die Welt ihrer Fantasie zu flüchten, daher reihten sich im Regal recht viele Bücher aneinander. An der letzten Wand, rechts von der Zimmertüre, stand schließlich noch eine schmale, längliche Kommode. Gehalten waren die Möbel in einem satten, dunklen Braunton, während die Sessel und das Sofa schwarz waren. Die Wände hingegen zierte die Farbe Weiß und auf dem Boden war, wie im Flur und Schlafzimmer auch, dunkles Parkett ausgelegt. Eine schlichte, runde Hängelampe spendete dem Wohnzimmer im Moment Licht. Chandra konnte sich hier durchaus wohlfühlen, auch wenn sie eine Wohnung vorziehen würde, die in einer anderen Stadt lag. Ein paar kleine Dekoartikel versuchten, dem Raum etwas Persönliches zu geben, doch die Wände waren allesamt leer. Was sollte Chandra auch hinhängen? Fotos? Die wenigen, die sie besaß, wollte sie nicht aufhängen, denn zu schmerzvoll war es, an vergangene, bessere Zeiten zu denken.

Nun kam Sunny ins Zimmer geschlendert und legte sich vor Chandras Sessel auf den Boden, die Augen zwar geschlossen, doch die Ohren gespitzt. Dieses Pokémon war zu neugierig. Lunel hatte sich vermutlich wieder ins Schlafzimmer verzogen.

„Woher hast du das Geld für die Wohnung und deine Ausgaben?“, fragte Zayn sie plötzlich.

„Familienkontakte.“

„Ah. Ray also?“

Innerlich nervte es Chandra, wie selbstverständlich er ständig diesen Namen sagte, als wäre nichts dabei. Wenn er wüsste. Doch statt sich ihren Unmut anmerken zu lassen, sagte sie: „Unter anderem, ja. Sag mal … Du bist nicht aus Pyritus, oder?“

„So offensichtlich?“ Nun schmückte wieder ein Grinsen Zayns Lippen.

„Nun ja, du weißt nichts über diese Stadt, das ist auffällig.“

„Na deswegen bin ich ja jetzt bei dir gelandet! Du wirst mir helfen, diese Stadt zu verstehen, stimmt’s? Immerhin bist du das Mädchen, vor dessen Bruder alle Schurken das Weite suchen.“ Er lächelte und lehnte sich nach vorne, um seine Ellenbogen auf seinen Beinen abzustützen. Neugierde funkelte in seinen Augen. Erst jetzt, im richtigen Licht, erkannte Chandra, dass sie in einem hellen, eisigen Blau leuchteten.

„Es gibt hier nicht viel zu verstehen. Pyritus ist eine Stadt der Kriminellen. Die Person mit der meisten Macht hat das Sagen und alle anderen ordnen sich unter. Ein wenig wie im Reich der Pokémon. Das Stärkste gibt den Ton an. Wenn du schwach und klein bist, gehst du einer Konfrontation mit einem stärkeren Wesen aus dem Weg, es sei denn, du bist dämlich und lebensmüde. So ist das hier auch. Die Kerle von vorhin waren nur kleine Fische, es ist nur normal, dass sie vor meinem Bruder gekuscht haben. Das erklärt aber noch nicht, was sie von dir wollten. Also?“ Nun war es an Chandra, ihren linken Ellbogen auf der Lehne des Sessels abzustützen und mit ihrer Hand wiederum ihren Kopf. Höchst interessiert sah sie ihren Gast an.

„Ich war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort. Da haben die Typen mich aufgegriffen und wollten wissen, was ich da tue. Das ist alles.“ Zayn sagte dies, als wäre es eine Normalität – vielleicht wäre es das auch gewesen, wäre Chandra sich nicht sicher, dass er den entscheidenden Punkt dieser Geschichte vor ihr geheim hielt.

„Ach, und dann haben sie dich einfach mit einem Messer bedroht?“

„Klar, immerhin ist das doch Pyritus. Da soll so was Gang und Gäbe sein, erzählt man sich“, erwiderte Zayn schulterzuckend.

„Das mag schon sein, aber normalerweise geht es um Geld, um Wertgegenstände, auch um Drogen. Nichts davon schien aber in der Situation eine Rolle gespielt zu haben. Stattdessen wollten sie, dass du ihnen etwas sagst. Und was wäre das? Die Antwort darauf, was du dort gemacht hast?“

„Ich konnte ihnen nichts sagen, da ich ja gar nichts weiß“, erwiderte Zayn, ohne mit der Wimper zu zucken. „Denn ich bin ein ahnungsloser Fremder in Pyritus, wie du ja gemerkt hast.“

Abermals ging es Chandra gewaltig gegen den Strich, wie er sich ihre Aussagen ständig so zurechtschob, wie es ihm passte, um sie dann indirekt gegen sie zu verwenden. Wenn das so weiterging, würde sie gar nicht aus ihm herausbekommen. „Wieso tust du so, als wärst du ohne Grund in diese Stadt gekommen?“

„Vermutlich aus demselben Grund, aus dem du so tust, als wüsstest du nichts Besonderes über diese Stadt.“ Nach dieser Antwort lehnte Zayn sich im Sessel wieder nach hinten und legte seine Arme in wissender Manier auf dessen Lehnen. Ein Hauch von Überlegenheit zierte sein Gesicht, als er sie ansah.

„Woher willst du wissen, dass ich –“

Sie wurde unterbrochen, da er ihr einfach mitten ins Wort fuhr. „Wie schon gesagt, du bist keine gute Lügnerin. Deine gespielte Ahnungslosigkeit kauf ich dir nicht ab.“

Eventuell war es ja etwas naiv von Chandra gewesen, anzunehmen, sie könnte ihn hierherbringen, ihn ein bisschen ausfragen und erwarten, selbst nichts preisgeben zu müssen. Ihr war bewusst, dass er misstrauisch war. Wer wäre das auch nicht nach der Aktion mit dem Anruf. Aber genauso gut hätte es sein können, dass sie einfach nur ein Mädchen in einer viel zu gefährlichen Stadt war, das einen Bruder hatte, der es beschützte. Aber nein. Dafür hatte sie schon zu viel gesagt. Zayn wusste bereits genug, um davon ausgehen zu können, dass sie ihm nicht die ganze Wahrheit sagte. Sie wollte nicht wahrhaben, dass sie wirklich so eine schlechte Lügnerin war, also ja, das musste es sein.

Trotzdem erfüllte es sie mit Ärger, dass er wie eine Wand war, durch die sie nicht hindurch kam. „Hast du ernsthaft gedacht, ich würde dir hier lang und breit alles erzählen, was meine Person wichtig macht?“, giftete sie ihn an

Sie rechnete nicht damit, doch vom einen auf den anderen Augenblick brach er in Lachen aus und warf den Kopf nach hinten.

Irritiert sah sie ihn an. „Was ist denn daran jetzt bitte so lustig?“

„Diese ganze Situation. Sie ist absurd“, grinste er und schüttelte fassungslos den Kopf. „Nein, wenn ich ehrlich bin, davon ging ich nicht aus. Und ich hatte auch nicht vor, dir irgendetwas zu sagen. Ich wollte bloß schauen, was du mir sagen kannst, und das war’s.“

Statt erneut aufbrausend zu werden, fühlte Chandra sich nun ein wenig ertappt. „Geht mir ähnlich …“

„Das ist ja das Absurde. Jetzt sitzen wir hier und keiner will dem anderen etwas erzählen.“ Er sah schmunzelnd nach oben an die Decke. Wie konnte er das Ganze so gelassen nehmen? Chandra war die ganze Lage mehr als unangenehm. Zwar hatten ihr ihre Pokémon bestätigt, dass von Zayn keine offene Gefahr ausging, doch er schien Dinge zu wissen, die er ihr nicht sagen wollte. Womöglich wusste er ja sogar Dinge über sie. Wobei … nein, so wichtig war sie dann auch wieder nicht.

„Hm … tja.“ Zu mehr war sie im Moment nicht fähig. Sie wusste nichts mit der Situation anzufangen. Dieser merkwürdige Zayn wusste nun schon mehr als jeder, mit dem sie sonst verkehrte. Mit Devin hatte sie zwar den meisten und engsten Kontakt, doch eigentlich hatte er keinen blassen Schimmer, wer sie war und das war gut so. Die meisten anderen Männer, mit denen sie mehr tauschte als nur ein paar anzügliche Blicke, erfuhren auch nicht mehr über sie als ihren Namen und verschwanden nach ein wenig Spaß wieder aus ihrem Leben.

Tatsächlich erschien es ihr nun gar nicht mehr so einfach, ihn loszuwerden, doch sie konnte sich nicht erklären, wieso dies so war. Er ist nett, flüsterte ein Gedanke in ihrem Kopf. Alle anderen Kerle sind auch immer nett, antwortete ein zweiter Gedanke. Ja, aber nur, weil sie dich ins Bett kriegen wollen. Zayn ist einfach so nett zu dir. Stimmte dies? War er einfach so nett zu ihr? Wahrscheinlich nicht. Er hatte sie genauso benutzen wollen, wie sie ihn eigentlich benutzen wollte. Doch sie beide waren damit in eine Sackgasse gelaufen.

Wann war schon mal einfach so jemand nett zu Chandra? Devin einmal ausgeschlossen.

In ihren Gedanken versunken beugte sie sich nach unten, wo immer noch ihr Psiana lag und vor sich hindöste. Sie strich ihm langsam über sein seidiges Fell, was das Pokémon mit einem Schnurren quittierte.

Die meisten Kerle sahen in ihr nicht mehr als sie in ihnen, wenn sie ehrlich war. Ein wenig unverbindlicher Sex war oft schon genug, um sich für einen kurzen Moment zumindest einreden zu können, jemandem etwas zu bedeuten. Natürlich war dies eine dumme Illusion, doch Chandra hatte sie schon etliche Male genutzt, um sich besser und bestätigt zu fühlen. Wusste dann doch mal jemand etwas mehr über sie, wollte diese Person auch nicht länger als nötig Kontakt mit ihr haben, was wohl für die Gesundheit desjenigen auch besser war. Chandra wirkte in neun von zehn Fällen abschreckend, lediglich ihr Körper ermöglichte es ihr, jemanden zumindest für ein paar Stunden an sich zu „binden“.

„Du siehst süß aus.“

Zayns Stimme riss sie völlig unvermittelt aus ihren Gedanken und beschämt schreckte sie hoch. Ihre Gedanken waren ihr peinlich; er saß ja immer noch vor ihr. Sie konnte die Röte nicht zurückhalten, die in ihre Wangen schoss. „Süß? Wieso süß?“, stammelte sie und sah wieder nach unten.

„Na ja, wie du so dein Psiana streichelst. Das sieht halt süß aus, wie liebevoll du mit ihm umgehst.“ Er beobachtete ihre Bewegungen mit einem Lächeln.

Das machte es ihr nun auch nicht einfacher, ihn wieder loszuwerden. Doch wollte sie das überhaupt noch? Sie konnte doch nicht so leicht aufgeben. Sie brennte immer noch viel zu sehr darauf, zu erfahren, wer er war.

„Sie heißt übrigens Sunny. Und Nachtara ist ihr Bruder Lunel“, sagte sie, um die komische Anspannung loszuwerden, die im Raum hing.

Sie sah ihn an und stellte fest, dass er nur weiterhin lächelte und sie ebenfalls beobachtete. Es wurde ihr ein wenig unangenehm, sie saß ja schließlich immer noch in Rock und Overknees da und er war halt trotz aller Freundlichkeit immer noch ein Typ. Normalerweise war es ihr gleichgültig, was diese von ihr dachten, doch nun fühlte sie sich unbehaglich.

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte sie zur Ablenkung.

„Zwanzig.“

Das Ablenkungsmanöver half auch nicht wirklich. Chandra sah ihn genervt, aber nervös an. „Hör auf, mich so anzugaffen.“

Zayn wirkte, als schreckte er aus seinen Gedanken auf. Nun machte er seinerseits einen beschämten Eindruck, als er fort sah. „Entschuldige bitte.“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Ich sollte allmählich gehen.“

Eine Seite in Chandra wusste, dass dies so das Beste sein würde. Sie wollte sagen: ‚Ja, geh! Geh und komm bloß nicht wieder. Komm nie wieder in diese Stadt!‘, aber zugleich konnte sie es nicht. Es ging nicht einmal in erster Linie darum, unbedingt das zu erfahren, was sie wissen wollte. Sie hatte das Gefühl, ihn jetzt nicht einfach gehen lassen zu können, nachdem sie ihm vorhin erst geholfen hatte. Es war schließlich fast Mitternacht und die Gefahr, erneut zwielichtigen Leuten über den Weg zu laufen, war bei jemandem wie Zayn wahrscheinlich recht groß.

„Wo willst du denn hin?“, fragte sie ihn.

„Ins Pokémon-Center. Oder kennst du was Besseres? Gibt’s ein 5-Sterne-Hotel in Pyritus?“

„Ich, ähm …“ Unsicher stammelte Chandra nur vor sich hin. Ach nein, das kannst du jetzt nicht tun! Aber wieso nicht, sonst gibt es ja auch kein ominöses Gewissen, das dich davon abholt, halbfremde Kerle bei dir schlafen zu lassen. Du denkst zu viel nach … „Nein. Aber das Center ist zu weit weg und jetzt wieder rauszugehen, ist zu gefährlich.“ Sie setzte sich wieder aufrechter hin, um nicht länger derart unsicher zu wirken. „Ich kann ja nicht immer in der Nähe sein, um dir deinen Arsch zu retten. Also schlage ich vor, dass du hier schläfst.“ So, nun war es ausgesprochen.

Überraschenderweise schien Zayn nicht mit dieser Wende gerechnet zu haben. „Wow, du kennst mich noch nicht einmal zwei Stunden und gestattest mir, hier zu schlafen. Machst du das öfters?“, versuchte er, sie zu ärgern.

„Wer weiß“, stichelte sie und grinste fies.

„Ist dein Bett denn groß genug für zwei?“, konterte er mühelos.

„Stell dir vor, es ist sogar groß genug für drei. Für mich und für meine beiden Pokémon. Aber für dich ist da zum Glück kein Platz mehr.“ Nach dieser schlagfertigen Aussage fühlte Chandra sich wieder ein wenig mutiger.

„Ach Mist“, seufze Zayn. „Da muss ich mich wohl noch gedulden, bis ich im Bett des wichtigsten Mädchens der ganzen Stadt schlafen kann.“

„Pass auf, was du sagst – ich könnte meine Meinung jederzeit ändern und dich draußen den Wölfen zum Fraß vorwerfen“, warnte sie ihn, doch eigentlich gefiel ihr diese lockere, offene Art, die im völligen Gegensatz zu seiner Geheimnistuerei stand.

„Oh, natürlich – niemals würde ich meine charmante Gastgeberin verärgern wollen. Was ich eigentlich hatte sagen wollen: Ich würde sehr gerne hier schlafen. Wenn das für dich okay ist.“

Ob das okay war? Chandra wusste keine Antwort darauf. Wenn sie an ihren Bruder dachte, dann war es mit Sicherheit mehr als falsch. Sie hatte sich einen mysteriösen, jungen Mann in ihre Wohnung geholt, von dem sie eigentlich nicht mehr wusste als seinen Namen und sein Alter. Gefühlt stand Chandra nur noch einen Schritt davon entfernt, viel zu viel von dem zu offenbaren, das sie geheim zuhalten geschworen hatte. Es wäre wahrscheinlich klüger gewesen, ihn wieder wegzuschicken und zu hoffen, ihn nie wiederzusehen. Doch ihre Neugier war bereits zu groß; solange Zayn ihr keine Antworten auf ihre Fragen gegeben hatte, konnte sie ihn nicht einfach wieder ziehen lassen. Zumal sie es leid war, immer das zu tun, was ihr Mistkerl von Bruder von ihr verlangte. Tu dies nicht, tu das nicht, halt deine Klappe, misch dich nicht in die Angelegenheiten von Erwachsenen ein … Und noch vieles mehr.

Was sollte schon dabei sein? Schließlich wusste er ja nicht, dass Zayn hier war und ansonsten interessierte ihn der Männerbesuch seiner Schwester auch nicht.

Zu guter Letzt konnte Chandra auch nicht leugnen, ein wenig angetan zu sein von ihrem Besuch, wenngleich sie das in diesem Moment niemals laut ausgesprochen hätte.

„Hätte ich es dir sonst angeboten?“, entgegnete sie nun auf seine Worte. Anschließend erhob sie sich, verließ das Wohnzimmer für einen Moment, um ins Schlafzimmer zu gehen. Aus ihrem Kleiderschrank holte sie ein Kopfkissen, mit welchem sie wieder in den anderen Raum schritt. Sie warf Zayn das Kissen in die Arme. „Hier, für dich. Dort“, sie deutete auf das Sofa, „liegt eine Decke, die kannst du nehmen.“ Nach kurzer Pause fügte sie noch hinzu: „Ich hoffe, dass du, als Gegenleistung dafür, dass du hier schlafen kannst, morgen etwas kooperativer bist.“

Hoffentlich hatte sie ihn nun ein wenig mehr dort, wo sie ihn haben wollte. Bereit, zu reden.

Er funkelte sie nur zögerlich an. Dann erhob er sich plötzlich und als er nun mit diesen hellen, kühlen Augen auf sie herabsah, fühlte sie sich auf einmal ganz klein. „Danke. Du bist sehr nett“, lächelte er. „Die netteste Person, die mir bislang hier begegnet ist.“

Wie lange ist er denn schon hier?, fragte sie sich. Er wurde ihr immer mysteriöser, doch sie ließ die Fragerei für heute sein.

Im Anschluss zeigte sie ihm noch, wo Bad und Küche waren, ehe sie sich gemeinsam mit Sunny ins Schlafzimmer verzog und die Tür abschloss – sicher war sicher. Als sie nachdenklich an dieser lehnte, wurden ihre Beine plötzlich ganz weich. Das merkwürdige Gefühl, das sie begleitet hatte, als sie vor wenigen Stunden noch mit Devin im Club gewesen war, hatte sich bestätigt. Doch sie hätte nie erwartet, dass es solch eine Richtung annehmen würde. Nun stand sie hier, mit einem Fremden in ihrer Wohnung, und konnte nicht sagen, ob das, was sie tat, richtig war. Aber falsch konnte es nicht sein. Es hatte sich verdammt gut angefühlt, Zayn zu helfen, und etwas, das sich so gut anfühlte, konnte doch schlicht und ergreifend nicht falsch sein. Zumindest hoffte sie das inständig.

Ein Herz aus Finsternis

Als Chandra am nächsten Morgen aufwachte, war eine ganz bestimmte Sache grundlegend falsch, und dies sorgte dafür, dass sie kerzengerade in ihrem Bett saß.

Normalerweise schliefen ihre beiden Pokémon immer mit in ihrem Bett – zumindest dann, wenn sie keinen Besuch in diesem hatte – und dementsprechend waren sie immer das Erste, was sie morgens sah, wenn sie erwachte. Doch heute Morgen war dem nicht so. Weder auf dem Kopfkissen neben sich noch auf der Decke oder unten am Bettende lagen Sunny und Lunel. Chandras Blick schweifte durch den Raum, doch nirgends war eine Spur der beiden. Ihr fiel auf, dass die Zimmertüre, links an der gegenüberliegenden Wand, einen Spalt offenstand.

Dieser Dreckskerl, er hat doch nicht …!, schoss es durch ihren Kopf, doch sie bremste sich wieder. Sie hatte ihre Türe am Abend abgeschlossen, es wäre kaum möglich gewesen, geräuschlos von außen ins Zimmer zu kommen und auch noch ihre Pokémon mitgehen zu lassen. Aber für ein Pokémon, das telekinetische Kräfte hatte, war es ein Leichtes, ein Türschloss aufzubekommen.

Nichtsdestotrotz sprang sie alarmiert aus dem Bett und stürmte in Schlafkleidung hinüber ins Wohnzimmer. Das Bild, welches sich ihr dort bot, war unerwartet, erleichternd und schockierend zugleich.

Weniger schockierend, eher erleichternd: Zayn hatte über Nacht nicht das Weite gesucht, sondern lag tatsächlich auf dem Sofa und die Wolldecke auf ihm, hochgezogen bis zur Brust. Den rechten Arm nach oben über den Kopf gestreckt und das Gesicht zur Wand gedreht, schlief er offenbar noch.

Deutlich unerwarteter und schockierender war hingegen, dass ihre Pokémon ebenfalls hier waren. Sunny lag zusammengerollt auf dem rechten Sessel und döste vor sich hin. Lunel hingegen hatte es sich oben auf der Lehne des Sofas bequem gemacht, auf Höhe von Zayns Oberkörper, und war zwar wach, schien sich aber nicht daran zu stören, dass Chandra gerade besorgt ins Zimmer gestürzt war. Ganz im Gegenteil hatte das Pokémon den Kopf auf seinen Vorderpfoten abgestützt und blickte ihr mit forschem Blick entgegen.

Irritiert trat sie näher an Sessel und Sofa heran. Sie gestikulierte mit ihren Händen, deutete erst auf Sunny, dann auf Lunel und schließlich auf Zayn, ehe sie sie fragend in die Luft warf. „Ihr kleinen Verräter, könnt ihr mir mal verraten, was ihr hier macht?“, flüsterte sie. Natürlich bekam sie keine Antwort, Psiana sah nur gespielt ahnungslos auf und Nachtara fuhr sich mit der Zunge über seine Pfoten.

Schön, dass ihr das lustig findet, dachte Chandra daraufhin und griff sich entnervt in den blonden Haarschopf. Es stand noch aus, ob sie Zayn wirklich vertrauen konnte – ihre Pokémon hatten ihn für sie abgecheckt, aber das klärte nicht sämtliche Punkte, die von Belang waren. Dass Sunny und Lunel nun offenbar über ihren Kopf hinweg entschieden hatten, gefiel ihr nicht wirklich. Normalerweise hielten die beiden sich von jedem fern, den sie nicht näher kannten. Dass sie nun nach so kurzer Zeit Zayns Nähe suchten, war seltsam und bedenklich.

Ach ja, Zayn. Chandra stand nun fast direkt vor dem Sofa und sah auf ihn hinab. Von außen war das wahrscheinlich ein seltsames Bild, wie sie hier stand und ihn beobachtete und dabei feststellte, dass er wirklich noch schlief, denn er atmete ruhig und gleichmäßig. Ihr fiel auf, dass er obenrum nur ein schwarzes T-Shirt trug und dann sah sie auf dem linken Sessel sein Hemd und seine Jeans liegen. Ein wenig erleichtert war sie nun darüber, dass er die Decke über sich liegen hatte. Peinlich berührt sah sie ihn nicht länger an, sondern fasste stattdessen das ins Auge, was auf dem Tisch lag.

Auf den ersten Blich sah das flache Gerät fast aus wie ein Smartphone, doch es war viel mehr. Ähnlich wie ein handelsübliches Smartphone trug es ein recht großes Display zur Schau, unter welchem sich eine große Taste und zwei kleine nebeneinanderreihten. Chandra kannte sich nicht allzu gut mit den Funktionen dieser Gerätschaft aus – sie wusste, dass es sich um einen PDA handelte, das stand für Pokémon Digital Assistant. Er vereinte die Funktionen eines Gerätes, das fähig war, Daten zu allen Pokémon zu sammeln und zu verarbeiten, und die eines normalen Mobiltelefons beziehungsweise Smartphones in sich und wies darüber hinaus noch jede Menge andere Fähigkeiten auf. Zumindest hatte sie davon gelesen. Einerseits ließ er sich ganz normal dafür verwenden, um ins Internet zu gehen, zu telefonieren oder zu schreiben, andererseits besaß er zum Beispiel eine spezielle Kamera, die jedes Pokémon scannen und analysieren konnte. Viel mehr wusste Chandra aber auch nicht über die zig Funktionen. PDAs waren für Menschen aus Pyritus ein kleines Vermögen wert. Sie selbst hätte sich bestimmt einen leisten können, hätte sie Ray nur lieb genug darum gebeten – allein der Gedanke sorgte bei ihr für einen Würgereiz –, allerdings waren PDAs eher für Pokémontrainer gedacht und als so einen betrachtete sie sich nicht wirklich. In Pyritus jedenfalls hatte sie bislang vielleicht höchstens zwei, drei Leute mit so einem Teil gesehen.

Dass Zayn allerdings einen besaß – und dann auch noch ein Modell, das recht hoch- und neuwertig aussah mit dem schwarzmatten Design – warf einmal mehr ein besonders interessantes Licht auf ihn. Er musste aus mehr als gutem Hause stammen, Geld jedenfalls schien keine allzu große Rolle zu spielen. Erneut verwunderte es sie, was er dann in dieser Stadt wollte.

Chandra erschrak, als der PDA plötzlich vibrierte und einen kurzen Klingelton von sich gab. Mit einem Blick auf Zayn vergewisserte sie sich, dass er nicht aufgewacht war. Sie beugte sich nach unten und sah auf das aufleuchtende Display. Ein kleines Fenster war auf dem Display, das vom Nachrichtenprogramm des Gerätes sein musste. Im Fenster selbst stand Neue Nachrichten: 1 und darunter wiederum ein Name: Alyssa. Unter dem Fenster gab es die Optionen Schließen und Öffnen.

Vor Nervosität schoss Chandra das Blut ins Gesicht. Wer war Alyssa und warum schrieb sie Zayn eine Nachricht? Viel wichtiger: Wieso interessierte Chandra das überhaupt?

Ihr Blick huschte erneut zu Zayn, dann zum PDA und wieder zurück. Die Option Öffnen lachte ihr förmlich entgegen. Fieberhaft überlegte sie, ob sie es wagen konnte. Eigentlich war das ja nicht ihre Art – herumzuschnüffeln. Aber vielleicht brachte sie diese Nachricht der Frage nach Zayns Identität ein wenig näher – oder aber es war nur eine einfache Nachricht und Chandra würde ein sinnloses Risiko eingehen.

Ach, scheiß drauf, dachte sie und tippte auf Öffnen – nur um im nächsten Moment enttäuscht zu werden. Natürlich, das Gerät war mit einem vierstelligen PIN vor genau solchen Leuten wie ihr geschützt. Es wäre auch merkwürdig gewesen, hätte Zayn ihn hier offen liegen lassen.

Sie trat wieder zwei Schritte nach hinten, als sich ihr Gast plötzlich regte. Zayn wandte den Kopf in ihre Richtung und dann sah er sie aus müden Augen an. Ein Hauch von Irritation stand in seinem Gesicht.

„Träume ich etwa?“, fragte er.

„Ähm, nein.“

Er fuhr sich über die Augen, dann sah er abermals zu ihr. Er musterte sie von oben bis unten, als könnte er nicht glauben, dass der Moment echt war. „Wow, das kann man nicht träumen“, schlussfolgerte er, nachdem er wieder weggesehen hatte.

„Wie bitte?“ Chandra war nicht weniger irritiert, als er ausgesehen hatte. Dann begriff sie, sah an sich runter und … ups. Sie war ja in ihren Schlafklamotten, bestehend aus Shorts und recht freizügigem Top, ins Zimmer gestürmt.

„Ich dachte, ich hätte einen Schlag auf den Kopf bekommen und würde träumen. Aber nein, du stehst tatsächlich vor mir“, sprach Zayn weiter.

„Was soll das denn bitte heißen?“ Eigentlich hatte Chandra tough klingen wollen, aber in der Gegenwart dieses Typens gelang ihr das einfach nicht.

Zayn setzte sich auf und fuhr sich durch die schwarzen Haare – die eindeutig lila schimmerten! –, welche ihm vereinzelt in Strähnen ins Gesicht fielen. „Ich könnte mich glatt daran gewöhnen, morgens so aufzuwachen.“ Er deutete auf sie. „Allerdings solltest du dir beim nächsten Mal noch etwas mehr Mühe geben, wenn du mich aufweckst, und nicht nur dastehen. Wobei das natürlich auch schon was hat.“

Er grinste sie frech an und verdammt, das sah zu gut aus. Chandra spürte die Hitze in ihrem Gesicht und hatte sich noch die derart entblößt vor jemandem gefühlt. Dieses Gefühl kannte sie nicht. Nervös werden, weil jemand sie attraktiv fand. Normalerweise fühlte sie sich dadurch bestätigt und selbstbewusst, doch jetzt schrie alles in ihr danach, nervös mit ihren Fingern zu spielen.

„Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, was für ein ekliger Perversling du bist?“, fuhr sie ihn an. „Meine Pokémon magst du für dich gewonnen haben, aber bei mir klappt das nicht.“ Ihrem Gefühl nach zu urteilen wie der letzte Tollpatsch, stampfte sie aus dem Raum und rief noch, ehe im Nebenzimmer die Tür zuflog: „Mach dich fertig, du hast mir noch einige Fragen zu beantworten!“
 

******
 

Eine halbe Stunde später stand Chandra wieder im Wohnzimmer. Sie hatte sich frisch gemacht, ein wenig Make-up aufgelegt und trug nun eine schwarze Röhrenjeans und ein dunkelrotes, schulterfreies Oberteil, dessen Stoff an den Armen und um den Körper herum locker nach unten fiel. So fühlte sie sich gleich wieder viel besser.

Zayn hatte sich mittlerweile auch wieder vollständig angezogen, saß auf dem Sofa und hielt seinen PDA in der Hand. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sich am ehesten als genervt bezeichnen – doch wieso? Es brannte ihr auf der Zunge, ihn nach der Nachricht zu fragen, doch sie unterließ es.

„So, dann erzähl mal. Und versuch gar nicht erst, dich wieder rauszureden“, forderte Chandra ihn auf und setzte sich in den rechten Sessel. Ihre beiden Pokémon spielten derweil auf dem Boden miteinander, indem sie sich gegenseitig in die Ohren bissen. „Wieso bist du nach Pyritus gekommen?“

„Ich habe nach ein paar Informationen gesucht“, antwortete Zayn. „Über diese Stadt und ihre Bewohner. Dort, wo ich herkomme, hört man über Pyritus ausschließlich Schlechtes. Allerdings ist kaum jemand bereit, wirklich über die Stadt zu reden. Die meisten flüchten sich in Ausreden, jeder scheint zu viel Angst zu haben, etwas zu sagen. Was aber keiner leugnen kann: Die Pokémon in dieser Stadt sind deutlich stärker als andere Pokémon der gleichen Art, die einen ähnlichen Entwicklungsstand haben. Doch nicht nur das. Sie sind rücksichtslos, brutal und kämpfen bis zur absoluten Zerstörung. Im Grunde hört man schon seit über zehn Jahren immer wieder von solchen Fällen. Doch meist waren es Einzelfälle, sodass man annehmen konnte, dass nur vereinzelt Pokémon krank und derart wahnsinnig wurden. Und meistens legten sich derartige Phänomene immer wieder nach einiger Zeit, sodass es für eine Weile ruhig blieb. Aber seit gut zwei Jahren werden die Berichte von solch aggressiven Pokémon zunehmend häufiger. Und nicht nur das. Seit einigen Monaten vergrößert sich der Bereich, in dem diese Pokémon auftauchen. Während sie die Jahre zuvor nur in Pyritus gesehen wurden, scheint nun bereits der ganze Südosten der Region von ihnen bedeckt zu sein. Bislang handelte es sich bei ihnen aber immer nur um die Pokémon von Trainern, in freier Wildbahn hat man noch nie solche aggressiven Pokémon gesehen. Das und auch die Tatsache, dass Untersuchungen des Lebensraumes dieser Pokémon nichts Auffälliges ergeben haben, lässt ausschließen, dass dieses Phänomen in der Natur begründet ist. Viel naheliegender ist es, dass die Quelle dieser Pokémon hier in Pyritus liegt.“

Chandra übte sich nach seinen Ausführungen an einem neutralen Gesichtsausdruck. Mit so viel Information hatte sie nicht gerechnet – vor allem, da Zayn einiges wusste und näher an der Quelle saß, als ihm wahrscheinlich bewusst war. „Woher weißt du das alles?“, fragte sie.

„Nachforschungen. Und die richtigen Kontakte“, erwiderte er monoton. „Du weißt ja sicher, wovon ich rede.“

„Vielleicht. Oder vielleicht bist du auch einfach nur ein armer Irrer, der sich das alles ausgedacht hat.“

Er grinste: „Ja, vielleicht. Lass es uns doch herausfinden?“

„Wie meinst du das?“, fragte Chandra.

„Lass uns rausgehen. Entweder habe ich mir das alles ausgedacht und hier findet man keine derartigen Pokémon – oder aber ich habe recht und du bist mir ein paar Antworten schuldig.“

Mist. In diese Richtung hatte das Gespräch eigentlich nicht laufen sollen. Zayn wollte sie testen und sehen, ob sie ihm immer noch ins Gesicht log, wenn sie vor der Wahrheit stand, die er ihr gerade offenbart hatte. Ablehnen wäre auffällig, noch auffälliger wäre es jedoch, mit ihm nach draußen zu gehen. „Was sollte ich dir für Antworten schuldig sein?“

„Du hast mir gestern gesagt, dass dein Bruder der gefährlichste Mann dieser Stadt ist. Nehmen wir einmal an, dass ich kein armer Irrer bin und das, was ich sage, wahr ist. Was verleiht dir bitte mehr Macht und Respekt als Pokémon, die grausam und ohne Rücksicht auf Verluste im Kampf sogar den eigenen Tod billigend in Kauf nehmen? Du hast mir ja gestern gezeigt, wie viel Einfluss dein Bruder hat.“ Er sah sie direkt an und schien sich seiner Worte sehr sicher. Dafür, dass er der Wahrheit so dicht auf den Fersen war, sah er allerdings recht entspannt aus.

„Dir ist aber bewusst, dass du, falls das stimmen sollte, gerade ziemlich leichtsinnig handelst, wenn du mir das alles so offen erzählst?“ Chandra funkelte ihn ebenfalls an. Irgendetwas gefiel ihr ausgesprochen gut an dieser riskanten Art – nichtsdestotrotz wanderte er auf gefährlichem Terrain. „Ich müsste nur mit den Fingern schnippen, um dich auffliegen zu lassen.“

„Das Risiko muss ich eingehen.“ Daraufhin erhob er sich. „Also los, lass uns nach draußen gehen.“

Am liebsten hätte Chandra Nein gesagt, denn sie wollte nicht mit der Realität konfrontiert werden. Es war schmerzhaft und allein der Gedanke daran erfüllte sie mit Panik. Allerdings war sie auch neugierig, was Zayn vorhatte und zu fürchten brauchte sie sich in der Stadt ihres Bruders nicht, was ihn anging.
 

******
 

Pyritus war bekannt für seinen großen Marktplatz, der im Zentrum der Stadt lag. Nur fanden hier schon lange keine gewöhnlichen Märkte mehr statt, sondern hauptsächlich Pokémonkämpfe sowie der Handel mit illegaler, teils auch geschmuggelter Ware und mit Pokémon. Der Mittag war für solche Geschäfte aber selbst in Pyritus die falsche Tageszeit – jetzt sah man hier tatsächlich nur Kämpfe mit eben jenen besonderen Pokémon, die dann verkauft wurden, wenn der Mond statt der Sonne am Himmel stand.

Chandra war schon klar, was Zayn hier wollte. Natürlich war er kein Narr, der sich eine Geschichte ausgedacht hatte. Auf dem Marktplatz musste man keineswegs lange suchen, um eines jener Pokémon zu finden, die schon seit Längerem Angst und Schrecken unter denjenigen verbreiteten, die ihre Herkunft nicht kannten. Allerdings versuchte Chandra zu vermeiden, solchen Pokémon zu begegnen, und nun war sie gewissermaßen dazu gezwungen.

Wie der Rest der Stadt war natürlich auch das Zentrum heruntergekommen und schmutzig. Überall ragte einem Werbung entgegen, die zur einvernehmlichen Abzocke verführen wollte, die meisten Gebäude waren schon lange nicht mehr saniert worden, sondern verströmten eine unfreundliche Atmosphäre. Die Fenster waren dreckig, die Hausfassaden beschmiert und an jeder Ecke bröckelte der Putz ab. Gefühlt jeden zweiten Block kam eine Baustelle, die niemals würde fertig werden. Hinter den Eisenzäunen sammelte sich stets der typische Baustellenschrott, freiliegende Rohre verliehen der Stadt einen rundum hässlichen Look.

Als Chandra und Zayn auf dem Markplatz angekommen waren, blickte sich Erstere verstohlen in alle Richtungen um. Hoffentlich begegneten sie niemandem, den sie kannte. Sie war heute nicht so auffällig gekleidet, also eventuell würde sie nicht auffallen. Es sei denn, sie begegneten Devin, dann würde Chandra in Erklärungsnot kommen und sie hatte keine Ahnung, wie sie Zayn erklären konnte. Mysteriöser Typ, hab ihm das Leben gerettet, nun kleben wir uns gegenseitig an den Fersen war in Pyritus wohl die falsche Erklärung.

„Pyritus ist widerlich“, sagte sie, als ihr Blick missmutig in eine Ecke schweifte, wo sich zwei Männer gerade für einen Pokémonkampf bereitmachten.

„Wieso lebst du dann hier, wenn es widerlich ist?“, fragte Zayn sie verwundert.

„Ich habe keine andere Wahl.“ Wieso hatte sie das gerade laut ausgesprochen? Es ging ihn nichts an. Aber ein Teil in ihr trieb sie ständig dazu, mehr zu sagen, als sie eigentlich sollte.

Zayn kam zum Glück zu keiner Antwort mehr, da ihrer beider Aufmerksamkeit auf den Pokémonkampf in ihrer Nähe gelenkt wurde.

Der eine der beiden Männer sah unscheinbar und etwas älter aus. Das Pokémon, das er aus seinem Ball rief, schien einerseits zu ihm zu passen und dann auch wieder nicht. Es war ein kleines, braunes Bärchen mit runden Ohren und einem vollen, runden Schwanz. Sein Kopf war fast so groß wie der Rest des Körpers, seine Stirn wurde komplett vom einem abnehmenden Sichelmond bedeckt, der ihm ein süßes, aber auch geheimnisvolles Erscheinungsbild verlieh. Das kurze Fell war im Bereich des Mundes heller gefärbt, darüber saßen auf fast gleicher Höhe eine kleine Stupsnase und zwei schwarze Knopfaugen. Die kurzen Arme und Beine waren an den Enden mit scharfen Krallen geschmückt. Das Teddiursa machte einen unsicheren Eindruck, als es sich langsam auf dem großen Platz umsah.

Nun holte der zweite Trainer – ein jüngerer Kerl mit falsch aufgesetzter Kappe und einigen Tattoos auf den dünnen Armen – sein Pokémon aus dessen Ball. Ein kleines, vierbeiniges Pokémon mit rotbraunem Fell materialisierte sich. Es besaß sechs voluminöse, orangefarbene Schweife, die sich kampfbereit aufstellten. Das orangefarbene Fell fand sich auch in dichten Locken auf dem kleinen Kopf des Pokémon wieder, zwischen seinen recht großen Ohren. Brust und Bauch des Pokémon waren von weißer Farbe.

Eigentlich sah das Vulpix ganz gewöhnlich aus – süß eben. Doch von seinem ruhigen, niedlichen Wesen war nichts mehr geblieben, dessen wurde Chandra sich bewusst, als sie das Pokémon mit traurigem Blick ansah. Es knurrte und fletschte seine scharfen Zähne, als es seine Pfoten in den Boden hieb, jederzeit bereit, sich auf seinen Gegner zu stürzen. Seine braunen Augen hatte es vor Zorn verengt, in ihnen stand nichts außer Hass und pure Kampfeslust und … mehr war da nicht. Bis auf den Drang, alles zu zerstören, waren die Spiegel seiner Seele mit Leere erfüllt.

„Eigentlich erkennt man diese Pokémon gar nicht, sie sehen ja rein äußerlich aus wie eine normale Version ihrer selbst“, sprach Zayn, als der Kampf begonnen hatte. „Aber gibt man sich die Mühe und sieht einmal genauer hin, merkt man, dass alle Emotionen, die Pokémon zu einzigartigen, fühlenden Wesen machen, aus ihnen verschwunden sind. Sie leben nur noch für den Kampf, sind rücksichtslos und aggressiv und kämpfen bis zum blutigen Ende, wenn notwendig. Sie sind sich selbst nichts mehr wert und würden jeden noch so grausigen Befehl ihrer Trainer erfüllen. Alle positiven Gefühle, alle Zuneigung und alle Hoffnung wurden aus ihren Herzen getilgt, Angst empfinden sie keine mehr und Moral existiert nicht länger. Deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass du ebenfalls siehst, was ich meine.“

Getilgt nicht. Nur mit dunkler Energie verschlüsselt und unerreichbar gemacht, entgegnete Chandra in Gedanken. Sie wusste, von was er sprach, sah es mit eigenen Augen und das gewiss nicht zum ersten Mal. Doch sie sah noch viel mehr als Zayn.

Teddiursas Kampf war vergebens. Bislang hatte nur eine einzige Kratzfurie des Teddypokémon getroffen. Diese hatte zwar dünne Furchen, aus denen Rinnsale Blut flossen, in das rötliche Fell von Vulpix geschlagen, doch es störte sich nicht daran. Bereits mehrmals war es blitzschnell in Teddiursas Reichweite gelangt, um dieses mit einem Ruckzuckhieb über das Kampffeld zu stoßen. Das Fell des Bärchens wies an mehreren Stellen Schrammen auf, doch noch hielt es sich wacker auf den Beinen. Es versuchte immer wieder, den Angriffen von Vulpix auszuweichen, gegen dessen Schnelligkeit kam es jedoch nicht an.

Chandra wollte am liebsten den Blick abwenden, denn in ihrer Brust regte sich ein grauenvolles Gefühl, das sie zu gut kannte. Doch wie gebannt sah sie dabei zu, wie das vierbeinige Pokémon aus seinem kleinen Maul einen Wirbel voll Flammen schoss, der sich zu einem Kreis um Teddiursa herum formte. Panik erfüllte dessen Bewegungen, seine Augen huschten zu allen Seiten, aber einen Ausweg gab es nicht. Die Flammen tänzelten über den Boden, kontrolliert durch Vulpix‘ reine Willenskraft, und hätten dem Bären schlimme Brandwunden zugezogen, wäre er hindurchgerannt.

Der Trainer des Vulpix rief einen Angriff, dessen Ausführung Chandra nicht sehen wollte. Bereits seit das Vulpix auf dem Kampffeld war, sah und spürte sie etwas, das Zayn mit Sicherheit nicht wahrnehmen konnte. Dunkle, schwach violett schimmernde Waben aus Schatten zogen sich um den Körper des Vulpix‘, in seinen Augen leuchtete ein ebenso violettes Glimmen. Nun verdichtete sich dieser Schatten, als das Pokémon seine Muskeln anspannte, jederzeit bereit, nach vorne zu stürmen. Der Anblick dieser manifestierten Finsternis war aber nicht einmal das Schlimmste für Chandra. Denn sie sah diese nicht nur, sie spürte sie auch. Spürte die Dunkelheit, die das Herz des Pokémon mit Schmerz und Leere erfüllte, es zu einer willenlosen Kampfmaschine formte und sein Wesen in die hinterste Ecke seiner Existenz sperrte. Sie spürte, wie sich ein kleiner Teil in Vulpix wehren wollte gegen diese selbstzerstörerische Macht, doch es blieb ein verzweifelter Versuch, der zum Scheitern verurteilt war. Das Vulpix verlor den Kampf gegen die düstere Macht, stieß nach einem Spurt frontal gegen Teddiursa, welches mehrere Meter nach hinten geschleudert wurde. Regungslos lag der kleine Körper nun auf dem Boden. Als Chandra sah, wie er von der dunklen Energie gepeinigt wurde, die Vulpix nun noch stärker einhüllte, ging sie in die Knie.

Ihre Brust war erfüllt von Schmerz. Ein Gefühl von Angst schnürte ihr die Kehle zu und brachte sie zum Zittern. Fast fühlte es sich an, als würde die Dunkelheit des Pokémon in ihr eigenes Herz kriechen und sie lähmen. Sie wollte das nicht fühlen, doch sie konnte nichts dagegen tun. Der Schmerz, den das Wesen tief in sich fühlte, fuhr ihr durch alle Glieder.

„Was ist los?“, fuhr Zayn an ihrer Seite auf, der auf einmal neben ihr kniete und sie festhielt, damit sie nicht vornüberkippte. Völlige Verwirrung stand in seinem Gesicht.

„Es tut so weh“, hauchte Chandra. Sie blickte hinab auf ihre Hände, die nun unkontrolliert zitterten. „Ich muss hier weg.“ Mit wackeligen Beinen riss sie sich von Zayn los, stand auf und flüchtete in irgendeine Richtung, Hauptsache, weg von diesem fürchterlichen Ort.

„Hey, was zur Hölle!“, fluchte Zayn hinter ihr. „Warte doch!“

Sie beachtete ihn jedoch kaum, sondern rannte einfach geradeaus und wich entgegenkommenden Leuten nur knapp aus. Zayn war ihr zwar auf den Fersen, doch er kannte sich nicht so gut aus wie sie. Sie war flink und nahm immer wieder Abkürzungen durch kleine Seitenstraßen, schlüpfte geschwind in Gassen, um so aus seinem Sichtfeld zu verschwinden. Hinterher war ihr klar geworden, wie dämlich diese Flucht war, aber im Moment wollte sie in keinerlei unmittelbare Erklärungsnot kommen.

Vom Marktplatz musste sie sich mittlerweile schon ein gutes Stück entfernt haben, denn sie war in einer unbelebten Einbahnstraße gelandet, in der ihr nichts begegnete außer ein Rattfratz, welches aufgeschreckt unter eine große Mülltonne floh. Völlig außer Puste lehnte Chandra sich gegen die nächstgelegene Hauswand. Ihr Puls raste in ihrem Körper und Übelkeit erfasste sie. Noch immer verspürte sie das Zittern und diese furchteinflößende Schwärze in sich. Der Blick vor ihren Augen verschwamm, ein schwarzes Flimmern trat vor ihre Sicht. Mit aller Macht hielt sie sich auf den Beinen, als ein Würgereiz ihren Körper schüttelte.

Warum reagierte sie nur so stark auf diese Pokémon? Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Plötzlich schreckte sie auf durch eine Hand auf ihrer linken Schulter. „Chandra?!“

In der Erwartung, Zayn gegenüber zu stehen, sah sie auf, um festzustellen, dass sie sich einem hellbraunen Haarschopf gegenübersah, der zu niemand anderem als ihrem besten Freund gehörte. Entgeistert betrachtete dieser sie. „Alles okay? Wieso bist du gerannt? Du siehst furchtbar aus!“

Das stimmte wohl. Kalkweiß war ihr Gesicht und ihre Augen rot umrandet. Dann noch die bis eben gekrümmte Körperhaltung und das Zittern ihrer Hände. Es missfiel ihr, sich diese Blöße geben zu müssen; Devin hatte sie noch nie so schwach gesehen. Was tat er überhaupt hier? Sie hatte nicht sonderlich auf den Weg geachtet, womöglich waren sie ja ganz in der Nähe seiner Wohnung. „Ich, äh …“, stammelte sie, zu mehr kam sie nicht.

Eine zweite Person kam um die Ecke gehastet. Diesmal war es wirklich Zayn, in dessen Gesicht Verwunderung und ein Hauch Sorge standen. „Wieso bist du abgehauen?“

Als er auf sie zu ging, stellte Devin sich ihm in den Weg. „Wer bist du denn?“ Seine Stimme hatte diesen Ton, den sie immer dann hatte, wenn er Chandra beschützen wollte. Nicht, dass das jemals wirklich nötig gewesen wäre und Chandra bezweifelte, dass es dies jetzt war.

Zayn maß ihn mit einem Blick, der nicht aussagte, was in ihm vorging. Tatsächlich ignorierte er Devins Frage und sah abermals zu Chandra.

Sie selbst war immer noch unfähig, sich zu artikulieren, so starrte sie nur hilflos zu den beiden. Allmählich realisierte ihr Körper, dass sie nicht mehr in der Nähe dieses unheimlichen Pokémon war und beruhigte sich zunehmend.

„Hat der Kerl dir wehgetan?“, fragte Devin sie.

„Nein …“

Devin wirkte höchst skeptisch. Eine schwache, unsichere Chandra war ihm unbekannt. Vor ihm war sie immer selbstbewusst und wusste genau, was sie wollte. Verunsichert hatte er sie vielleicht ein, zweimal erlebt.

„Habe ich etwas falsch gemacht?“ Diesmal kam die Frage von Zayn. Ähnlich wie Devin sah auch er verwirrt aus, da er die Situation nicht einzuschätzen vermochte. Chandra ihrerseits verstand nicht, wieso er sich überhaupt Sorgen darum machte. Sie wollte ihm mitteilen, dass alles gut war, doch vor Devin zu viel auszuplaudern, konnte sie nicht riskieren. Niemand sollte erahnen, was zwischen ihr und Zayn lief – wenn man das so nennen konnte.

„Bleib bloß weg von ihr“, ermahnte Devin ihn abermals, als er einen Schritt an ihm hatte vorbei machen wollen.

Chandra wollte ihm sagen, dass Zayn in Ordnung war – nun ja, so in Ordnung wie man eben sein konnte, wenn man in Pyritus viel zu viel wusste –, doch kein Wort entkam ihrem Mund.

Die Luft war vor Anspannung fast bis zum Zerreißen gespannt. Zayn wagte zwar keinen weiteren Schritt mehr in ihre Richtung, aber er betrachtete Devin mit einem abschätzigen Blick. „Vielleicht solltest du dich besser um deine Freundin kümmern, wenn es ihr schlecht geht“, sagte er und seine Stimme war mit einem Mal sehr ruhig und so scharf, dass man sich fast an ihr hätte schneiden können.

„Und du solltest dich jetzt besser verpissen, sonst kriegst du richtige Probleme in dieser Stadt“, zischte Devin.

Einen Moment lang stierte Zayn sein Gegenüber an und Chandra hoffte inständig, dass er ging. Devin schien nicht gewillt, sich eine Erklärung der Situation anhören zu wollen, und eine Auseinandersetzung zwischen den beiden war das Letzte, was Chandra nun brauchte. Zayn sah noch einmal zu ihr. Als ihre Blicke sich trafen, erklomm ein unbekanntes, wohliges Gefühl ihre Brust. Dann drehte Zayn sich um, lief um die Straßenecke und war verschwunden.

Als für Devin die Gefahr verschwunden war, wandte er sich wieder Chandra zu. Besorgt umfasste er ihre Schultern. „Alles in Ordnung bei dir?“

„Ja, geht schon“, antwortete sie, nun wieder fester. „Du … Du hättest nicht so ernst sein müssen. Zayn hat nichts gemacht.“

„Zayn also, ja?“, schnaubte er. „Ihr scheint euch ja schon sehr gut zu kennen.“

„Ich kenne ihn nicht. Und du auch nicht. Also tu nicht so, als wüsstest du, was Sache ist“, fuhr Chandra ihn an. Sie hatte keine Lust auf dieses Eifersuchtsding, zu dem sich die Szene gerade entwickelte.

„Was ist dann passiert? Sag es mir doch bitte.“ Nun wurde ihr Freund wieder versöhnlicher. „Gestern sagtest du, es gehe dir nicht gut, und jetzt treffe ich dich hier völlig aufgelöst und dann ist da dieser Typ. Wenn es dir wegen irgendetwas schlecht, möchte ich das wissen.“

Gerne hätte Chandra ihm gesagt, dass er sich keine Sorgen machen musste. Doch es wäre eine Lüge – wie immer. Sie war dabei, sich in eine verhängnisvolle Sache zu verstricken und sie schien nicht gewillt, damit aufzuhören. Sie hätte Zayn am vorherigen Abend gar nicht mitnehmen dürfen. Sie hätte sich um Himmels willen nicht darauf einlassen sollen, mit ihm nach draußen zu gehen. Er war nicht dumm und nun wusste er, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Irgendetwas, das damit zu tun hatte, wieso er in diese Stadt gekommen war. Zayn wusste schon jetzt viel mehr über die Machenschaften in dieser Stadt als ihr bester Freund. Devin war kein Krimineller, er interessierte sich wenig für die finsteren Geschäfte, die in Pyritus abgeschlossen wurden. Er lebte nur hier, um die Freiheiten der Gesetzlosigkeit zu genießen, aber das beschränkte sich auf Kleinigkeiten wie den unkomplizierten Kauf von Gras oder Alkohol. Von den Geschäften, die ihr Bruder hier abschloss, hatte er kaum eine Ahnung. Er wusste ja nicht einmal, wer ihr Bruder war. Chandra hatte es immer tunlichst vermieden, zu viel von ihm zu sprechen. So wenig Wissen wie möglich bedeutete, so sicher wie möglich zu sein. Er wusste lediglich, dass sie einen gewissen Schutz genoss, aber nicht dessen Hintergründe.

Chandra tat gut daran, diesen Zustand so beizubehalten. Nicht zuletzt deshalb, um Zayn zu schützen – irgendwie sagte ihr ihr Bauchgefühl, dass dies das Richtige war. „Es ist alles okay, wirklich. Gestern ging es mir nur nicht so gut. Und er ist nur irgendein Typ – na ja, du weißt schon.“ Sie grinste ihn an, in der Hoffnung, er würde den Wink verstehen.

Er strich ihr über die Arme. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

„Musst du nicht.“ Sie überlegte, wie sie sich aus der Situation winden konnte. „Wir sehen uns heute Abend, ja? Dann können wir reden. Jetzt muss ich noch etwas erledigen.“

Nach kurzen Überlegen nickte er. „Na gut.“

Chandra umarmte ihn einmal kurz. „Ich freue mich darauf. Bis später.“ Unglaublich froh, dass das Ganze so glimpflich ausgegangen war, lief sie los und machte sich auf den Rückweg. Sie konnte zum jetzigen Zeitenpunkt ja noch nicht ahnen, dass sie Devin nun für einen längeren Zeitraum nicht mehr wiedersehen würde.

Unterwerfung

Am Abend desselben Tages lag Chandra auf ihrer Couch und schalt sich für ihre Dummheit. Nun bereute sie es, am Mittag vor Zayn geflüchtet zu sein, denn nun war er fort und sie hatte keine Ahnung, wo er war. Sie kannte nichts als seinen Namen und das war definitiv zu wenig, um erahnen zu können, wo er sich aufhielt, falls er denn überhaupt noch in Pyritus war. Gut möglich, dass er längst abgereist war. Vielleicht hatte er ja mittlerweile genug Informationen gesammelt.

Chandra seufzte und fuhr durch das schwarze Fell von Lunel, welcher auf ihrem Bauch lag und zu ihr hochsah. Für ihren Geschmack sah der Ausdruck in seinem Gesicht ein wenig zu vorwurfsvoll aus, als wollte er sie noch in ihrem Gefühl bestätigen, etwas falsch gemacht zu haben.

„Was schaust du denn so?“

Als Antwort zuckte sein Schwanz einmal nach links und rechts – okay, Lunel war wohl schlecht drauf.

„Ach komm“, stieß Chandra empört aus. „So toll war er gar nicht.“ Nun legte das Nachtara seine Ohren ein wenig nach hinten und gab ein kehliges Geräusch von sich. „Ja, okay, du hast gewonnen. Er war schon ganz gut.“ Sie verdrehte die Augen und dann legte sie den rechten Arm über ihr Gesicht. „Oh man, warum denke ich das überhaupt? Das ist doch verrückt.“

Und vor allem war es nervig. Sie wollte es sich ungerne eingestehen, aber irgendwie vermisste sie Zayn ein klein wenig. Vielleicht nicht ihn als Person, aber doch zumindest die Umstände, die er mit sich gebracht hatte. Abwechslung, Spannung, den Hauch des Gefühls, das sich vielleicht etwas ändern könnte … wobei, nein, das war absurd. Niemals würde sich etwas an ihrer Lage ändern. Sie würde auf ewig hier in dieser Stadt gefangen sein, da sie zu besonders, zu gefährlich war, als dass Ray es wagen könnte, sie frei in der Welt herumlaufen zu lassen. Sie war wie ein Experiment, das es im Auge zu behalten galt.

Doch in dieser Stadt würde sie eines Tages umkommen. Wenn sie die Wohnung verließ, musste sie stets darauf achten, keinen dunklen Pokémon zu begegnen. Zayn hatte recht mit dem, was er sagte – seit zwei Jahren stieg die Anzahl dieser Pokémon kontinuierlich, daher wurde es auch zunehmend schwerer, ihnen auszuweichen. Tagsüber vermied sie es, Pokémonkämpfen zu begegnen, und nachts lief sie immer zügig weiter, wenn jemand mit solch einem Pokémon ihren Weg kreuzte. Aber jede Begegnung wurde schwieriger, denn die Reaktionen ihres Körpers auf die Dunkelheit der Pokémon fielen mit jedem Mal extremer aus. Anfangs war ihr nur ein wenig unwohl geworden, mittlerweile zerriss es sie beinahe von innen heraus und sie verlor fast das Bewusstsein. Davon wussten natürlich nur wenige, doch niemanden interessierte es sonderlich.

Sie wurde aus ihren Gedanken geholt, als es an der Tür klingelte. Ehe sie dies begriffen hatte, war Lunel schon aufgesprungen und in den Flur geflitzt. Nervös lief sie ihm hinterher. Wer konnte das sein? Es war neunzehn Uhr und bereits fast dunkel draußen. Viele Möglichkeiten für Besuch gab es nicht, weshalb es meistens nichts Gutes verhieß, wenn jemand an der Tür stand.

Durch die offene Türe sah sie Lunel, wie er in der Küche auf der Fensterbank saß und nach draußen spähte. Sunny hatte sich mittlerweile auch hinzugesellt und sprang exakt in diesem Moment ebenfalls nach oben. Chandra trat hinter die beiden Pokémon ans Fenster und als sie nach rechts unten sah, fiel ihr erst ein Stein vom Herzen, denn es war zum Glück nicht ihr Bruder, der draußen stand. Dann bildete sich sogleich der nächste Klos in ihrem Hals, denn Zayn war zwar vermutlich die bessere Option, aber auch kein einfacher Besuch.

Aber er war wieder da. Er stand dort unten vor der Eingangstüre und wartete darauf, dass sie ihn rein ließ. Dass er sich überhaupt gemerkt hatte, wo sie wohnte. Eigentlich sollte Chandra sich freuen, immerhin hatte sie bis eben noch schmollend auf dem Sofa gelegen, weil sie nicht wusste, ob sie ihn wiedersehen würde. Doch statt sich zu freuen, lief sie mit vor Nervosität wackeligen Beinen zur Türe. Als er erneut klingelte, grummelte sie: „Ist ja gut, du Nervensäge.“ Sie beschloss, ihm unten die Türe zu öffnen, bei einer Erdgeschosswohnung war das kein Problem.

Sie öffnete die Türe und sah Zayn, der lässig gegen den Briefkasten lehnte. „Guten Abend“, sagte er mit ernster Stimme.

„Hey …“, erwiderte Chandra.

Bevor sie mehr sagen konnte, lief Zayn unaufgefordert an ihr vorbei und nach oben. „Wir müssen reden.“

Sie lief ihm hinterher, wobei ihr auffiel, dass er einen vollen Rucksack auf den Schultern trug, der am Vortag noch nicht dagewesen war. Statt jedoch weiter darüber nachzudenken, wurde ihr auf einmal etwas anderes klar. Etwas viel Merkwürdigeres. In ihrer Wohnung angekommen, schloss sie die Türe. Zayn ließ sich derweil von Sunny und Lunel begrüßen, die um ihm herumschwänzelten.

„Sag mal, woher wusstest du, wo klingeln musst?“ Immerhin kannte er ihren Nachnamen nicht, sie hatte ihn ihm nicht gesagt.

Zayn sah sie an und auf einmal stand da dieser Hauch von Überraschung in seinen Augen. Ha, mit dieser Frage hatte sie ihn eiskalt erwischt! Für sie war das ein weiterer, kleiner Beweis, dass er mehr wissen musste, als er vorgab.

„Die Klingelschilder sind nach Stockwerken sortiert und im Erdgeschoss liegen nur zwei Wohnungen. Ich habe einfach geraten, welcher Name dein Nachname ist“, erklärte er, da er sich recht schnell wieder gefangen hatte.

Zu Chandras Unmut stimmte dies zwar, minimierte aber keineswegs ihre Vermutung, dass er nicht schon zuvor gewusst haben könnte, wie sie mit vollständigem Namen hieß. Doch fürs Erste beließ sie es dabei.

„Hey, wo hast du den Rucksack her?“, stellte sie die nächste Frage.

„Du bist ganz schön neugierig. Der war im Pokémon-Center und da wäre ich gestern auch wieder hingegangen, aber du wolltest mich ja hierbehalten“, zwinkerte er, ehe er selbstverständlich ins Wohnzimmer lief.

Er war also wahrscheinlich bereits ein paar Tage hier in der Stadt – gut, das verwunderte Chandra mittlerweile nicht mehr. Allerdings … „Du siehst nicht so aus, als hättest du vor, heute wieder dorthin zurückzugehen.“

Ertappt sah Zayn auf, nachdem er den Rucksack auf den Boden gestellt und sich aufs Sofa gesetzt hatte. „Ehrlich gesagt hat es mir hier besser gefallen.“

Unwillkürlich musste sie grinsen. „Von Fragen hast du auch noch nichts gehört, oder?“

„Na ja, ich hatte gehofft, dass wir im Laufe des Abends so weit kommen, dass du mich gerne hier hast.“

Chandra nahm die Hände vors Gesicht, mit sich ringend, ob sie verzweifelt lachen oder die Bemerkung ignorieren sollte. Dieser Kerl brachte sie noch um den Verstand. Sie entschied sich für die zweite Option und schluckte eine schlagfertige Erwiderung runter. „Möchtest du vielleicht etwas trinken? Wasser?“

„Oh ja, gerne.“

Sie ging in die Küche, füllte für sich und ihn zwei Gläser mit Wasser und stellte sie im Wohnzimmer auf den Couchtisch, dann setzte sie sich selbst.

„Danke. Also, ich würde sagen, du hast mir einiges zu erzählen. Und versuch gar nicht erst, dich wieder rauszureden“, wiederholte Zayn ihre Worte vom Morgen. „Heute Morgen habe ich dir etwas erzählt und nun bist du dran.“

Es wäre ja auch zu schön gewesen, wäre er einfach so vorbeigekommen, dachte Chandra. Natürlich wollte er sie zum Vorfall vorhin befragen, doch was konnte sie ihm erzählen, ohne zu viel zu verraten? Im Grunde war jedes Wort eines zu viel. „Was willst du wissen?“

„Was war heute Mittag mit dir los? Wieso hast du so schlimm auf das Vulpix reagiert? Denn das war es doch, oder? Ich habe schon öfters solche Pokémon gesehen und ich bin dabei noch nie fast umgekippt und habe das auch noch nie von jemandem gehört. Fandst du den Anblick so unerträglich oder woran lag es?“ Da war er wieder; dieser kleine Hauch von Sorge. Äußerst unangenehm für Chandra. Wie ging man damit um?

„Wie du ja schon weißt, haben diese Pokémon nahezu keine Gefühle mehr. Ihre Wesen wurden zusammen mit ihren guten Gefühlen, ihren Stärken und Schwächen weggesperrt in ihr tiefstes Inneres. Und dieses Innere ist für sie unerreichbar, denn es ist umgeben von dichten Schatten, von Dunkelheit. Das ist wahrscheinlich schwer zu verstehen für jemanden, der davon keine Ahnung hat. Stell dir diese Dunkelheit wie eine Art Mauer vor. Sie lässt von innen so gut wie nichts durch, verwandelt das Pokémon aber in eine eiserne, willenlose Kampfmaschine, die geleitet ist von Hass und dem grenzenlosen Verlangen nach Zerstörung. Letztendlich verleiht sie dem Pokémon ungeheure Stärke, die jedoch letztendlich auch nur in Selbstzerstörung endet. Und das einzige Gefühl, das diese Mauer durchlässt, ist das Leid, das das Pokémon tief in sich spürt, weil es gefangen ist in diesem Zustand. Es möchte kein skrupelloses Kampfobjekt sein, aber es kann nichts dagegen tun.“

Sie holte einmal tief Luft. „Und genau hier komme ich ins Spiel. Ich sehe nicht einfach nur ein Pokémon, das gefühlskalt und brutal ist. Ich sehe die Schatten, welche es peinigen, und ich spüre die Dunkelheit in seinem Herzen. Ich fühle das Leid, das solch ein Pokémon spürt, wenn es sich dagegen sträubt, und jedes Mal spüre ich, wie es den Kampf dagegen verliert, weil es nie eine Chance hatte. So war es auch vorhin. Ich fühle den Schmerz des Pokémon, als wäre er mein eigener. Mir wird schwindelig und schlecht, ich zittere am ganzen Körper und jedes Mal bin ich erfüllt von Angst, weil ich nicht weiß, was mit mir passiert und ob ich den Anfall dieses Mal noch überlebe, denn mit jedem Mal reagiere ich schlimmer darauf.“

Als sie mit ihrer Erzählung fertig war, fühlte sie sich glatt ein wenig erleichtert. Wahrscheinlich hatte sie schon viel zu viel verraten, aber nachdem Zayn miterlebt hatte, wie sie durch diese Hölle gegangen war, konnte er auch mehr darüber erfahren. Ehrlich gesagt war es Chandra in diesem Moment gleich, ob dies ihren Bruder wütend stimmen könnte – er musste es ja nie erfahren.

Zayn machte auf sie einen sprachlosen Eindruck und brauchte einen Moment, um diese neuen Informationen zu verarbeiten. „Aber wie ist so etwas möglich?“, stieß er schließlich hervor.

„Ich weiß es nicht so wirklich.“

„Oh man“, er lehnte sich nach hinten, „und ich habe dich dazu gedrängt, nach draußen und dorthin zu gehen. Du hättest mich aufhalten müssen, es mir sagen müssen.“

„Hättest du es mir denn geglaubt?“, fragte sie.

„Ich denke schon, ja. Das tut mir leid, Chandra. Ich wollte nicht, dass du leidest.“

Ihr Name in Zusammenhang damit, dass er sich für etwas entschuldigte, wofür er im Grunde nichts konnte, ließ sie ungewollt erröten. Nervös inspizierte sie den Boden. Sie war so ein Narr und viel zu anfällig für Nettigkeiten. Zayn hätte doch längst das Weite suchen sollen, aber er war immer noch hier und hielt sie nicht für verrückt.

„Schon okay“, murmelte sie, „du konntest es ja nicht wissen.“

Bevor einer von beiden das Gespräch weiterführen konnte, klingelte es zum zweiten Mal an der Tür. Chandra sah mit vor Schreck geweiteten Augen Richtung Flur. Wer ist das denn jetzt? Zayn saß hier neben ihr und Devin holte sie abends nie von zu Hause ab. Damit war die Liste der normalen Möglichkeiten abgearbeitet. Nein, bitte nicht …

Abermals eilte sie zum Küchenfenster und als sie nach draußen sah, gefror ihr das Blut in den Adern.

„Wer ist denn da?“ Zayn war hinter ihr in die Küche getreten und erhaschte einen Blick aus dem Fenster, ehe Chandra ihn schnellstmöglich außer Sichtweite zog. „Du erwartest neben mir noch mehr Männerbesuch?“, witzelte er.

„Das ist kein Männerbesuch, du Arsch“, entgegnete sie und griff sich mit Händen, die vor Nervosität zitterten, an die Stirn. „Das ist mein Bruder.“

Nun begriff auch Zayn den Ernst der Lage – zumindest auf seine ironische Art und Weise. „Oh, der nette Typ vom Telefon.“

Chandras Aufmerksamkeit wurde auf den Flur gelenkt, aus dem ein Fauchen zu hören war. Lunel kauerte mit unheilvollem Blick neben der Wohnungstüre, sein Schwanz schlug regelmäßig nach oben und immer wieder auf den Boden. Die Ringe und Streifen in seinem Fell erstrahlten in einem grellen Gelb. Sunny saß neben ihm und bot keinen weniger aufgekratzten Anblick. Auch ihr Schwanz zuckte hin und her und die Perle auf ihrer Stirn leuchtete tiefrot, doch sie versuchte, ihren Bruder zu beruhigen, indem sie ihren Kopf an den seinen schmiegte.

Oh nein. Selbst wenn Ray ihnen nicht direkt gegenüberstand, spürten Psiana und Nachtara seine unheilvolle Präsenz und gerieten in einen Zustand der inneren Unruhe.

„Er darf auf keinen Fall wissen, dass du hier bist“, wandte Chandra sich wieder an Zayn. „Wir müssen dich irgendwie verstecken.“

„Was soll denn passieren?“

„Solchen Besuch wie dich habe ich normalerweise nicht. Gestern habe ich ihn angerufen und heute steht er vor meiner Tür, was alle paar Monate mal vorkommt. Ray weiß immer mehr als ich. Wenn er dich hier sieht, fängt er an, nachzudenken. Man sieht dir auf zehn Meilen Entfernung an, dass du nicht von hier bist, und wenn er kapiert hat, dass du kein normaler Männerbesuch bist, dann hast du ein verdammtes Problem und dann werde ich dir nicht deinen Arsch retten können.“ Nach dieser Erklärung eilte Chandra ins Wohnzimmer, um sich Zayns Rucksack zu schnappen. „Also tun wir gut daran, dass er nichts von dir erfährt.“

Sie schreckte auf, als er erneut klingelte. „Los, komm mit.“ Sie zog Zayn ins Schlafzimmer und war dankbar, dass er ihr diesmal nicht wiedersprach. Sie öffnete ihren Schrank und warf den Rucksack hinein. „Rein mit dir.“

Kurz sah er sie an, als hätte sie eine Schraube locker, doch dann fügte er sich seinem Schicksal. „So weit sind wir also schon“, grummelte er und schob sich zwischen ihre Kleidung.

Im Anschluss schloss sie die Türe wieder und ging zurück in den Flur. Als nächstes galt es, ihre Pokémon in deren Bälle zu verfrachten, sonst würde die Hölle auf Erden ausbrechen, wenn Ray und die beiden ungeschützt aufeinanderträfen. Sie nahm die rotweißen Kapseln vom Schuhschränkchen, das im Flur stand, und wandte sich an Sunny und Lunel. „Es tut mir leid, aber es ist besser so.“ Rote Lichter lösten sich aus den nun geöffneten Bällen, erfassten die Pokémon und dematerialisierten sie, bis sie mitsamt dem Licht in diesen verschwunden waren.

Nachdem Chandra die Bälle wieder auf das Schränkchen gelegt und noch einmal tief Luft geholt hatte, drückte sie endlich auf den Knopf, der unten die Tür öffnete. Die Sekunden, in denen sie vernahm, wie ihr fast allzeit gehasster Bruder nach oben kam, waren wie sonst auch von einem inneren Grauen erfüllt. Gerne hätte sie ihn vor verschlossener Türe stehen gelassen, doch stattdessen öffnete sie ihm und sah sich seiner großen, einschüchternden Person gegenüber.

„Guten Abend, Schwesterherz“, begrüßte Ray sie in einem netten, tiefen Tonfall. Chandra wusste, immer wenn er nett schien, gab es irgendwo einen Haken.

Eine Begrüßung blieb ihr im Halse stecken, so ließ sie ihn hinein und schloss die Türe. Ihre Aufregung wurde gefühlt durch jede Vene ihres Körpers gepumpt, denn ihr wie wild pochendes Herz ließ sie nicht vergessen, dass Zayn nur ein paar Meter entfernt war. Ray hatte noch nie ihre Wohnung durchsucht; sie konnte nur hoffen, dass es jetzt dabeiblieb. Sie war erleichtert, dass die beiden sich nicht vor ihrer Haustüre begegnet waren – nicht auszumalen, wie das geendet hätte. Zwar hielt Ray seine wahre Identität vor Ahnungslosen geheim, doch mysteriöser Besuch bei seiner Schwester war durchaus Grund genug, sein Misstrauen zu wecken.

„Was hat so lange gedauert?“, fragte Ray.

„Meine Pokémon“, stammelte sie und zeigte auf deren Bälle.

„Ach so.“ Ray nickte und lief ins Wohnzimmer. „Sind wir allein?“

„Ja.“

Eigentlich sah er überhaupt nicht aus wie der Mistkerl, der er nun mal war. Mit dem leicht gebräunten Teint, den lässig, aber stilvoll nach hinten frisierten, kastanienbraunen Haaren und der schlanken, hochgewachsenen Statur erweckte er eher den Eindruck eines angesehenen Junggesellens. Er trug, wie fast immer, einen lockeren, schwarzen Mantel, der ihm bis fast zu den Knien reichte, darunter ein dunkelblaues Hemd und ansonsten eine schwarze Hose und glänzende, ebenfalls schwarze Schuhe. So sah kein Bruder aus, der seine kleine Schwester besuchte, weil er sie gernhatte – so sah allerhöchstens ein Arschloch aus, das einmal mehr seine Macht ausspielen wollte. Spätestens mit einem Blick in seine grauen Augen fiel Chandra zum tausendsten Mal auf, dass in ihnen keine Liebe stand, keine geschwisterliche Zuneigung, keinerlei aufrichtiges Interesse daran, ob es seiner Schwester in der kalten, düsteren Realität Pyritus‘ wirklich gut ging. Es sollte ihr gerade gut genug gehen, damit sie ihm nicht hinter seinem Rücken wegstarb, alles andere – Geld, um sich ihren Lebensstil finanzieren zu können – waren nur Extras, um sie milde zu stimmen, doch liebevolle Gefühle waren ein Privileg, in dessen Genuss Ray wahrscheinlich noch nie gekommen war.

„Kannst du bitte schnell machen? Deine Anwesenheit verpestet mir die Luft hier drinnen“, sprach sie kühl. Zwar verspürte sie Nervosität über sein Erscheinen, doch das milderte nicht den Umstand, dass jedes Mal ein Gefühl von Wut in ihrem Inneren entfacht wurde, wenn sie einem der Menschen gegenüberstand, die ihr Leben zerstört hatten.

Rays Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Grinsen. „Wieso so bissig, Chandra? Gestern klangst du viel netter.“

„Du bist auch nicht gerade ein Vorzeigebeispiel eines Bruders. An dir konnte ich ja zur Genüge lernen, wie man am besten ein Arschloch ist.“ Chandra hätte sich den Mund fusselig reden können, um Ray verbal herunterzumachen, aber erstens war dies nicht möglich und zweitens war er immer derjenige, der vernichtende Worte für sie fand.

„Kein Wunder, dass du so respektlos und verzogen bist. Schließlich treibst du es mit dem Abschaum dieser Stadt.“

Autsch, das hatte gesessen. Eigentlich störte sich Chandra nicht an ihrem offenen Lebensstil, doch wenn Ray diesen als Angriffsfläche nutzte, um sie in ihre Schranken zu verweisen, dann traf sie dies jedes Mal.

Mit starrem Blick sah sie nach unten. Ray wusste, dass er mal wieder gewonnen hatte, und kam endlich auf den Grund seines Besuches zu sprechen. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Er griff in die Innentasche seines Mantels und holte ein Fläschchen hervor, das mit kleinen Tabletten gefüllt war. „Ein Medikament, das dir hoffentlich bei deinem Problem helfen kann.“

Ihr Problem. Nein, eigentlich viel eher sein Problem. Chandra müsste nur Pyritus verlassen – am besten gleich ganz Orre – und sie wäre diese grauenvollen Pokémon los. Doch es ging ihrem Bruder nicht im Geringsten darum, ihr die Qualen zu nehmen, die sie litt, wenn sie ein gefühlsloses Pokémon sah. Es gab noch eine andere Sache, ein zweites „Problem“, das mit dem ersten in Verbindung stand, und solange dieses nicht beseitigt war, würde er sie niemals freilassen.

Argwöhnisch beäugte Chandra das Fläschchen. „Hat diese Pillen schon mal jemand vor mir genommen?“

„Kennst du noch jemanden mit deinem Problem?“

„Nein, aber … Wer weiß, was sie für Nebenwirkungen haben könnten“, fuhr sie ihn an.

Ray trat einen Schritt auf sie zu – eingeschüchtert sah sie zu ihm. „Du wirst schon nicht sterben, liebe Schwester, das verspreche ich dir. Und mein Wort ist mehr wert als deine Angst, das weißt du doch.“

„Aber …“ Es war vergebens, sie würde ihn nicht daran hindern können, ihr ein mysteriöses Medikament zu verabreichen. Zwar könnte sie ihn anlügen und nur so tun, als würde sie die Tabletten schlucken, aber er würde es früher oder später herausfinden. Notfalls ließ er sogar ihr Blut untersuchen, um den Wahrheitsgehalt ihrer Worte zu überprüfen. Alles bereits passiert.

„Chandra.“ Plötzlich stand er direkt vor ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter, wodurch sie erstarrte. „Zwei Tabletten am Tag, eine morgens, eine abends. Die Menge hier reicht für einen Monat. Du gibst mir jede Woche Bescheid, wie es dir geht und überprüfst die Wirkung aktiv – tust du das nicht, sehe ich mich gezwungen, das für dich zu übernehmen. Sollte es zu Auffälligkeiten kommen, informierst du mich auch zwischen den Wochen. Verstanden?“

Er wollte, dass sie sich regelmäßig solchen Pokémon wie dem Vulpix vom Mittag aussetzte, und wenn sie es nicht tat, würde er sie dazu zwingen. Wie könnte sie diese Grausamkeit nicht verstehen? Wenn sie wenigstens die Gewissheit hätte, dass ihr diese Tabletten helfen würden, ihre Schwächeanfälle in den Griff zu bekommen. Dem war jedoch nicht so, und Ray wollte ihr aus den falschen Gründen heraus helfen, weshalb Chandra ihn nur sprachlos ansehen konnte.

Nun nahm er ihre rechte Hand und legte das Fläschchen in diese. „Du willst mich nicht enttäuschen, Schwester. Denk daran, welcher nette Bruder immer an sein Handy geht, wenn du mal wieder Hilfe bei deinen Eskapaden brauchst. Also, hast du mich verstanden?“ Er klang wieder so ernst und dunkel, wie sie es von ihm gewohnt war, wenn er nicht den netten Bruder spielte.

Sie hatte keine Wahl. Sich seinen Anweisungen zu widersetzen, würde ihr mehr Schmerz zufügen, als es jede Nebenwirkung vermögen könnte. Also sah sie in diese stahlgrauen, kalten Augen und nickte. „Ja, ich werde tun, was du sagst.“

„Perfekt.“ Er trat wieder fort von ihr und grinste überlegen. 2:0 für ihn. „Dann möchte ich deine wertvolle Zeit nicht weiter beanspruchen.“ Nach diesen Worten liefen sie zur Wohnungstüre, wo er sich ihr noch einmal zuwandte. „Wir hören uns dann spätestens in einer Woche.“

„Okay.“ Zu mehr war Chandra nicht fähig. Ihre Brust fühlte sich schon wieder so an, als würde ihr Herz Purzelbäume schlagen und dabei ihren Hals anschwellen lassen. Ihr war danach, sich sofort weinend in ihr Bett zu verziehen.

Ray öffnete die Tür und wollte gehen, als ihm noch etwas einfiel. „Ach, und pass bei deinen Streunereien auf, dass du dir keine Krankheiten einfängst. Ich weiß nicht, wie sich das mit dem Medikament verträgt.“ Und dann lief er selbstsicheren Schrittes die Treppe hinunter, nach draußen und war fort.

3:0 zu für ihn.

Fast schon mechanisch schloss Chandra die Türe und schob das Schloss vor – eine Illusion von Sicherheit. Doch nichts konnte sie vor ihrem wahnsinnigen Bruder schützen. Sie merkte, wie ihre Hände bei der Bewegung zitterten und lehnte den Kopf gegen das kühle Holz. Stockend atmete sie ein und blinzelte nicht, obwohl ihre Augen durch die Tränen in ihnen schon brannten. In einer Hand hielt sie noch immer diese Tabletten und am liebsten hätte sie das Glas auf dem Boden zerschmettern sehen, doch beherrschte sich.

„Du hast mir gar nicht gesagt, was dein Bruder für ein Wichser ist“, sagte plötzlich eine Stimme rechts von ihr.

Sie schreckte auf und sah zum Schlafzimmer, in dessen Türe Zayn stand, der sie ernst musterte.

Am liebsten wäre Chandra einmal mehr aus der Situation geflohen. Sie wollte aus irgendeinem Grund nicht, dass er, der er ihr fast unbekannt war, sah, wie sie vor Verzweiflung fast in Tränen ausbrach. Es war ihr allerdings nicht möglich, dies zu verbergen, denn ein paar Tränen rannen über ihre geröteten Wangen. „Entschuldige bitte, dass du das miterleben musstest. Na ja, so halb“, schniefte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie lief wieder ins Wohnzimmer – die Rollläden waren heruntergelassen, also konnte niemand sie beide hier sehen.

Zayn lief ihr hinterher. „Das war auch besser. Ich habe alles gehört.“

Verdammter Mist, dachte Chandra ertappt, Ray hätte in seinen Provokationen nicht fieser sein können. Zayns Bild von mir muss endgültig zerstört sein. Sie war ein kleines Flittchen, das in zu vielen fremden Betten schlief – so sah Ray sie, und Zayn dachte nun bestimmt Ähnliches. Aber warum interessierte sie seine Meinung überhaupt?

„Ich hoffe doch, du gedenkst nicht, diese Tabletten wirklich zu nehmen?“, fragte er und deutete auf das Fläschchen.

„Ich habe keine andere Wahl, das hast du ja sicher gehört“, antwortete sie.

„Oh, ja, klar. Ein Psychopath verlangt etwas von dir und du machst das wie der letzte Narr, oder was?“

„Du verstehst das nicht!“, verteidigte sie sich in nun lauterem Tonfall. „Ray ist niemand der leeren Worte. Wenn ich nicht das tue, was er sagt, wird er mich mit Gewalt dazu bringen, die Tabletten zu nehmen. Und wenn ich nur behaupte, sie zu nehmen, wird er auch das herausfinden.“

Er schüttelte den Kopf. „Und deshalb ist es besser, irgendwelche Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen? Diese Pillen sind nicht einmal getestet, du weißt nicht, was da drinsteckt. Du könntest sterben, wenn du sie nimmst – auf seine Worte kannst du einen Scheiß geben. Wer ist er überhaupt, dass er so mit dir umgehen kann? Wenn er wirklich dein Bruder ist, sollte er sich um dich kümmern und wollen, dass es dir gut geht. Stattdessen behandelt er dich wie ein Stück Dreck.“

Betrübt senkte Chandra den Kopf. Stark sein und sich verteidigen war ihr nicht möglich, wenn es darum ging. Ray tat nichts von dem, was ein Bruder normalerweise tat. Er schützte sie nicht, weil er sie liebte, sondern weil sie einen materiellen Wert für ihn hatte – und im Grunde war es weniger ein Schutz als vielmehr Kontrolle über sie.

„Wieso bist du ihm gegenüber loyal?“ Nun war Zayn es, der unmittelbar vor ihr stand.

„Das ist keine Loyalität“, sagte sie leise, fast flüsternd. „Er ist der Erwachsene, der Macht über mich hat, und ich bin das kleine, schwache Kind, das sich dieser Macht beugen muss.“

Sie wartete auf eine Antwort von Zayn, doch als diese ausblieb, wunderte sie sich. Bis ihr plötzlich das Fläschchen aus der Hand gezogen wurde. „Hey!“, schrie sie Zayn an, der einen Satz nach hinten getreten war und es triumphierend in der Hand hielt. „Gib mir das wieder!“

„Keine Chance, ich lasse dich nicht wie eine Idiotin in dein Verderben rennen“, sagte er und streckte den Arm nach oben, als sie nach den Tabletten greifen wollte. Vergeblich streckte sie ihre Arme aus, doch erreichte seine Hand auch nicht, als sie sprang. Er hielt sie mit der anderen Hand auf Distanz und lächelte bei ihren Bemühungen. „Wenn du noch ein bisschen wächst, schaffst du’s vielleicht.“

„Idiot!“ Statt ihn weiter zu attackieren, sah sie nach links zum Couchtisch und mit einem Male rutschte ihr das Herz in die Hose. „Oh nein“, hauchte sie.

„Was ist denn jetzt?“, fragte Zayn irritiert.

Chandra hatte nicht daran gedacht, die beiden Gläser wegzuräumen, die noch immer verräterisch voll auf dem Tisch standen.

„Unsere Gläser stehen noch da.“ Vor Schock griff sie sich an den Kopf. „Er wird sie gesehen haben, er muss einfach. Dann wird er wissen, dass ich ihn angelogen habe und wir nicht alleine waren.“

Offenbar verstand Zayn nicht, denn er sagte: „Vielleicht hat er sie gar nicht gesehen.“

„Er muss sie gesehen haben! Oh nein, wie konnte ich so dumm sein. Und wenn er weiß, dass jemand hier war …“ Jemand war hier und hatte mitbekommen, wie er ihr etwas Geheimes gegeben hatte, jemand hatte gehört, dass er gar nicht der fürsorgliche Bruder war, der seine Schwester beschützen wollte. Das konnte Ray sich in seiner Position nicht erlauben. Chandra nervte ihn zwar mit ihrem Problem, doch sie war für ihn mindestens ebenso wichtig. Wenn jemand erfuhr, dass ihre Wichtigkeit nur aus einem persönlichen Nutzen heraus resultierte, war das ungünstig für ihn.

Erneut wurden ihre Knie weich, als die Angst sich in ihr ausbreitete.

„Hey, beruhig dich mal.“ Zayn legte seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr in die Augen. „Vielleicht ist es ihm gar nicht aufgefallen, er ist immerhin wieder gegangen. Und selbst wenn, was soll er denn tun? Dich etwa umbringen?“

Nein, viel eher ihn, weil er zu viel wusste. Wenn es darum ging, Leute verschwinden zu lassen, machte Ray keine halben Sachen. „Wir reden hier nicht von einem Idioten, sondern von Ray. Du kennst ihn nicht so, wie ich ihn kenne. Wenn er herausfindet, dass ich ihn angelogen habe, wird er mich bestrafen und mit dir sonst was anstellen.“ Schon wieder waren ihr Tränen in die Augen gestiegen, sodass ihre Stimme gegen Ende weinerlich geklungen hatte.

„Verdammt, wieso hast du so große Angst vor ihm?“ Eindringlich bohrten sich Zayns eisblaue Augen in Chandras dunkelgrüne. „Sag mir, was dir so viel Angst macht. Wieso musst du alles tun, was er will? Und wieso bist du gezwungen, hier in dieser Stadt zu leben?“

„Das kann ich dir nicht sagen, es würde dich in Gefahr bringen. Und ich habe mehr als nur geschworen, es niemals jemandem zu sagen.“ Chandra klang wie ein jämmerlicher Schatten des Mädchens, das sie gestern noch gewesen war.

„Dann bring mich in Gefahr, Chandra.“

Sie lächelte, da er wieder ihren Namen sagte und ihr es irgendwie gefiel. Doch dann musste sie schluchzen, da sie innerlich unentschlossen war. „Ich kenne dich doch gar nicht …“

„Ich weiß, das klingt wie aus einer schlechten Schnulze und ich kann verstehen, wenn du hier niemandem vertraust, aber mir kannst du vertrauen. Ich will dir helfen, aber du musst mit mir reden.“

„Wie soll ich das tun? Gestern wolltest du mich auch nur ausfragen und dann wieder aus meinem Leben verschwinden. Vielleicht ist es jetzt genauso …“

Zayn nickte. „Du hast recht, doch gestern kannte ich dich doch noch gar nicht. Du warst nur ein verdammt vorlautes, selbstbewusstes Mädchen und eine Möglichkeit, an Informationen zu kommen, die ich mir nicht entgehen lassen wollte. Doch dann habe ich gesehen, wie liebevoll du mit deinen Pokémon umgehst, womit du dich schon von 90 % der Bewohner Pyritus‘ unterscheidest. Und du hast mich hier schlafen lassen, obwohl du mich nicht kennst. Du bist sogar mit mir rausgegangen, um dir dieses Pokémon anzusehen. Dass du mir das Leben gerettet hast, muss ich wohl nicht extra erwähnen. Und nun habe ich miterlebt, dass dein Bruder dich so schlecht behandelt, obwohl du es mit Sicherheit viel besser verdient hättest. Was wäre ich für ein Mann, wenn ich jetzt einfach gehen und dich alleine lassen würde?“ Er strich ihr über die Wange, was unter normalen Umständen zu viel des Guten gewesen wäre, doch nun beruhigte es Chandra tatsächlich ein wenig.

Sie konnte sich nicht entsinnen, wann zuletzt jemand etwas derart Aufrichtiges und zugleich Liebes zu ihr gesagt hatte. „I-ich-“, stotterte sie und brach wieder ab.

„Wie kann ich dich nur überzeugen?“ Zayn ließ von ihr ab und schien fieberhaft zu überlegen, was er machen konnte.

Vielleicht sollte sie einfach einmal den Gedanken an Ray aus ihrem Kopf verbannen und das Richtige tun …

„Ich hab ‘ne Idee!“, stieß er aus. Fragend sah sie zu ihm. „Fragen wir deine Pokémon, was sie denken.“ Bevor sie etwas einwenden konnte, holte er ihre Bälle, kam zurück und öffnete sie selbstverständlich.

Wieder zuckten die roten Lichter aus den Kapseln und materialisierten nach nur wenigen Sekunden die beiden eleganten Pokémon. Sunny und Lunel waren nun nicht mehr so nervös wie vorhin, sondern schauten neugierig zu Chandra. Als ihnen auffiel, dass diese ziemlich mitgenommen aussah, schmiegten sie sich sofort an ihre Beine. Sie ging in die Hocke, um die beiden zu streicheln, was sich sogleich beruhigend auf ihr Befinden auswirkte.

Gegenüber von ihr kniete Zayn sich ebenfalls hin und sah sie auffordernd an.

„Ähm …“, überlegte sie. „Hey, Sunny. Lunel.“ Wie auf Kommando setzten sich Psiana und Nachtara vor sie und sahen sie aufmerksam an, während ihre Ohren leicht zuckten. „Ich muss euch eine wichtige Frage stellen. Ich möchte Zayn etwas sehr Wichtiges erzählen, aber ich weiß nicht, ob ich ihm wirklich vertrauen kann. Was denkt ihr? Kann ich ihm vertrauen?“

Ein paar Sekunden verstrichen, in denen ihre Pokémon erst sie und dann sich ansahen. Im Anschluss sprang Lunel auf und lief zu Zayn, während Sunny sich umdrehte, Chandras linke Hand mit ihrem langen Schwanz umfasste und sie leicht in Richtung Zayn zog. Lunel ging sogar noch etwas weiter, stellte sich auf die Hinterpfoten und legte die Vorderpfoten seitlich um Zayns Hals. Dieser schien kurz verdutzt, dann jedoch kraulte er dem Unlichtpokémon das Kinn.

„Ich denke, das ist eindeutig“, grinste er.

Chandra ihrerseits lächelte leicht. Es gab wahrscheinlich hunderte Gründe, weiterhin zu schweigen, doch ebenso sehr gab es hunderte Gründe dafür, dieses Schweigen endlich zu brechen, auch wenn sie versprochen hatte, dies nie zu tun. Aber wenn ihre Pokémon ihr versicherten, dass sie Zayn Vertrauen schenken konnte, dann bedeutete das verdammt viel, denn Sunny und Lunel hatten sich in ihren Einschätzungen noch nie geirrt.

Zum Teufel mit ihrer Angst. Ray war wieder weg und wie sagte man so schön? ‚Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.‘

Das Ende des Schweigens

Nach einer weiteren Schmuseeinheit mit ihren Pokémon und ein paar aufbauenden Worten von Zayn fühlte Chandra sich weitgehend gewappnet, ihm endlich einige Antworten auf seine vielen Fragen zu geben. Sie hatten sich beide auf die Couch gesetzt und Chandra hatte sich zur Hälfte in die kuschelige Wolldecke eingewickelt, mit der Zayn die Nacht zuvor noch bedeckt gewesen war, was sie aber geflissentlich ignorierte. Die Decke gab ihr das Gefühl, geschützt zu sein vor der grausigen Realität, der sie sich nun wieder bewusstwerden musste.

Sie vertraute Sunny und Lunel mehr als alles andere und wenn die beiden Zayn vertrauen, dann tat sie dies nun auch. Dies bedeutete aber natürlich nicht automatisch, dass es ihr leichtfiel, ihm von Dingen zu erzählen, die zu erzählen sie noch nie gewagt hatte. Es war, als hätte ihr Gewissen einen dubiosen Gegenpart, der ihr weismachen wollte, dass es falsch war, die Leichen ihrer Familie aus dem Keller zu holen, doch im Grunde handelte es sich dabei lediglich um ihre Angst, was Ray mit ihr anstellen könnte, wenn er davon erfuhr. Er war jedoch nicht hier und mittlerweile konnte es kaum noch schlimmer werden – dachte Chandra zumindest zum damaligen Zeitpunkt.

„Also, ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen soll, zu erzählen“, gestand sie. „Es ist ziemlich viel und nicht leicht, darüber zu reden.“

„Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Ich bleibe hier und höre dir zu“, antwortete Zayn lächelnd, womit er ihr ein wenig Mut machte.

Es war wohl eine gute Idee, eine Geschichte chronologisch und von Anfang an zu erzählen. Daher fing Chandra einfach mit dem ersten an, das ihr in den Sinn kam, denn wenn sie zu lange darüber nachdenken würde, wuchs die Gefahr, am Ende doch noch einen Rückzieher zu machen.

„Weißt du, Ray ist eigentlich nur mein Halbbruder, wir haben nicht dieselbe Mutter. Und er ist daher auch um einiges älter als ich – ich bin erst 18 und er schon 27. Vielleicht verstehst du jetzt, wieso ich mich in seiner Gegenwart wie ein kleines, dummes Kind fühle, schließlich war ich ja nie etwas anderes. Ray stammt aus einer früheren Beziehung unseres Vaters, ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was mit seiner Mutter ist, denn Ray lebte schon bei unserem Vater, als dieser meine Mutter kennenlernte. Sie waren zwei Jahre zusammen, da wurde ich geboren, und nach einem weiteren Jahr verließ mein Vater meine Mutter und mich von heute auf morgen. Er nahm Ray wieder mit sich und weg waren sie. Ich habe natürlich überhaupt keine Erinnerung an damals, dementsprechend kannte ich die beiden danach nur noch von Fotos.

Aufgewachsen bin ich in Emeritae, wo ich mit meiner Mutter alleine lebte. Emeritae ist zwar ein kleines Dorf, doch das Leben dort war angenehm, ich hatte eine schöne Kindheit. Meine Mutter war ein herzensguter Mensch, sehr fürsorglich und liebevoll und sie versuchte, mich stets glücklich zu machen, obwohl wir nicht viel Geld hatten.“ Sie sah, dass Zayn ein wenig lächelte bei ihren Worten, doch das stimmte sie nur noch trauriger – er konnte ja nicht ahnen, wie die Geschichte weiterging

„Ich ging in Emeritae sogar ein Jahr lang in eine kleine Schule“, fuhr sie fort. „Das war wohl die schönste Zeit in meinem Leben, danach ging es nämlich steil bergab. Ich habe meine Mutter öfters gefragt, was mit meinem Vater und Bruder sei, doch sie hatte mir immer nur gesagt, dass die beiden gegangen und nun weit weg seien. Ich war ein unwissendes Kind, also akzeptierte ich es so. Ich war sieben Jahre alt, als sie eines Tages zu mir kam und mir aus heiterem Himmel verkündete, dass wir meinen Vater und Ray besuchen gehen würden. Das war total unwirklich, sie nannte mir auch keinen Grund, aber ich hinterfragte es natürlich nicht. Viel eher war ich Feuer und Flamme, sie endlich richtig kennenzulernen und endlich einen Bruder zu haben. Rückblickend der bescheuertste Gedanke überhaupt, aber na ja. Ich war nie aus Emeritae rausgekommen und wusste demnach nichts über das Drecksloch Pyritus. Dort jedenfalls lernte ich dann zum ersten Mal richtig meinen Vater und meinen Bruder kennen. Und was soll ich sagen? Sie wirkten echt nett und na ja, interessiert.“

In der Tat war Ray schon als Sechzehnjähriger ein hervorragender Schauspieler gewesen, nur dass das Chandras damaliges kindliches Ich natürlich nicht hatte ahnen können. Genauso wenig, wie sie hatte wissen können, wie verdorben er bereits durch den Einfluss seines – ihres – Vaters gewesen war.

„Ich ging davon aus, dass wir vielleicht endlich eine Familie sein könnten. Meine Hoffnungen stellten sich jedoch ziemlich schnell als vergebens heraus. Nach nur einer Woche ist mein Leben in sich zusammengestürzt. An jenem grauenvollen Tag war ich unterwegs gewesen mit Ray. Ich weiß gar nicht mehr, was wir gemacht haben, aber eigentlich spielt das auch keine Rolle, er sollte mich ja bloß von der Wohnung meines Vaters fernhalten.“ Sie stockte in ihrer Erzählung, denn nun kam sie zum schwierigsten Part. Es fühlte sich an, als würde sich ihr Herz zu einem Klumpen aus Schmerz zusammenziehen. Entschlossen schlug sie die Zähne aufeinander, zwang sich, fortzufahren, bevor sie bittere Tränen weinen würde.

„Als wir abends zurück kamen zur Wohnung meines Vaters, war alles voll mit Polizei und Krankenwagen. Mein Vater hatte meine Mutter ein wenig vorher tot aufgefunden. Sie …“ Chandra richtete den Blick starr nach vorne, wollte Zayns Reaktion auf ihre Worte gar nicht sehen. „Sie hat sich die Pulsadern aufgeschlitzt, lag tot in der Badewanne in ihrem eigenen Blut. Ganz klassisch.“

Vereinzelte, heiße Tränen fanden nun doch den Weg über ihre Wangen. Sie sollte Trauer fühlen, als sie an diesen Tag zurückdachte, doch vielmehr empfand sie einen tiefen, sie schier verschlingenden Hass. Ihre Worte waren getränkt von diesem Hass, als sie weitersprach. „Natürlich ging jeder davon aus, dass sie sich umgebracht hatte. Immerhin waren an der Klinge nur ihre Fingerabdrücke und jeder hatte ein Alibi für die Zeit des Geschehens. Und wie hätte es auch anders sein sollen? So einen Suizid kann man natürlich nicht fälschen.“ Sie verdrehte die Augen. „Aber damit nicht genug. Man fand in ihren Sachen sogar einen Abschiedsbrief und Tabletten. Irgendwelche Psychopharmaka. Das Verrückte war jedoch, dass man sogar in unserem Zuhause in Emeritae solche Tabletten fand, und überall waren ihre Fingerabdrücke dran. Es soll wohl sogar einen Arzt gegeben haben, der bezeugen konnte, ihr diese Tabletten verschrieben zu haben. Der Brief sprach auch nur dafür, dass sie höchst depressiv gewesen war und sich deswegen umgebracht hatte. Sie hätte nicht länger damit leben können, mir eine schlechte Mutter zu sein und sie könnte dieses leere, triste Leben nicht mehr führen. Ich wäre besser dran bei meinem Vater. Das sollen ihre Worte gewesen sein. Doch bis heute glaube ich kein einziges Wort davon. Ich weiß immer noch nicht, wie sie es geschafft haben, alle hinters Licht zu führen, doch im Grunde sah es ja wirklich nach einem Selbstmord aus, nichts sprach für Mord. Aber das kann ich nicht glauben. Ich war zwar noch sehr jung, doch ich erinnere mich noch an sie. Sie war immer ein lebensfroher Mensch und ganz sicher hat sie nicht gedacht, dass sie mir eine schlechte Mutter sein könnte. Ich kann und will nicht glauben, dass das alles nur gefaked war, nein. Aber damals musste ich erst einmal mit diesem Wissen leben. Meine Mutter war tot und ich war alleine – na ja, bei meinem Vater und Ray. Die sich beide sehr bestürzt über ihren Tod gezeigt haben. Sie haben jedoch gelogen – genauso, wie sie es heute noch tun, wenn sie mal nett zu mir sein müssen.“

Nach diesem langen Redefluss wagte Chandra nun doch wieder den Blick zu Zayn. Sie sah mittlerweile schon wieder furchtbar aus; zumindest fühlte es sich so an. Warm war ihr Gesicht geworden und ihre Augen brannten aufgrund verschmierten Makeups.

Zayn für seinen Teil sah auch nicht gerade erheitert aus. Er sah sie mit großen Augen an, ansonsten jedoch war seine Miete starr. Ihr fiel auf, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Statt sie weiteres zum Tod ihrer Mutter zu befragen – wofür sie ihm dankbar war –, fragte er plötzlich: „Ist dein Vater immer noch hier in Pyritus?“

„Ja.“

„Aber du hast ihn zuvor noch kein einziges Mal erwähnt.“

„Er spielt gerade auch keine allzu große Rolle, frag mich nicht, warum. Hab ihn schon länger nicht mehr gesehen. Vielleicht agiert er nur noch durch Ray“, rätselte Chandra. „Aber lass mich einfach weitererzählen, vielleicht erschließt sich dann das ein oder andere.“

Er nickte, erstaunlicherweise noch sehr gefasst.

„Die Zeit nach dem Tod meiner Mutter war sehr komisch. Mein Leben hatte sich komplett verändert. Ich lebte nicht mehr im friedlichen Emeritae, sondern im wilden Pyritus. Es war merkwürdig ohne meine Mutter, schließlich kannte ich ein Leben ohne sie nicht. Ich verstand nicht, wieso sie mich verlassen hatte, musste mein neues Leben aber akzeptieren. Mein Vater und Ray waren nett zu mir und behandelten mich gut, ich konnte sogar auf eine gute Schule gehen und das bedeutet in Pyritus sehr viel. Aber wirklich wohl fühlte ich mich bei ihnen nie. Und außer, um zur Schule zu gehen, ließen sie mich auch kaum raus, behielten mich fast schon akribisch im Auge. So, als könnte ich ihnen abhandenkommen. Heute macht das Sinn, damals jedoch verstand ich es nicht.  Nun ja, es blieb dann erst mal eine Weile ruhig, drei Jahre verstrichen, in denen für mich nichts Besonderes passierte. Ich lernte, weiterzuleben – ohne meine Mutter. Ich war ein Kind, das eigentlich keines mehr hatte sein sollen. Als ich schließlich zehn Jahre alt war, hörte ich zufällig ein Gespräch meines Vaters, das wohl nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war.“

Chandras Lippen formten sich zu einer bitteren Kopie eines Lächelns, als sie daran zurückdachte. Ihr Blick verdunkelte sich bei den Erinnerungen, dann fuhr sie fort.

„Weißt du, mein Vater war früher ein Forscher. Er erforschte die Pokémon und ihr Wesen – woher sie ihre Stärke gewannen. Wahrscheinlich auch, was sie stärker machen konnte. Und na ja, seien wir mal ehrlich, die meisten Wissenschaftler haben doch, zumindest, wenn sie ihre Arbeit zu ernst nehmen, einen an der Klatsche. Das war und ist jedenfalls bei meinem Vater so. Aber egal, zurück zu dem Gespräch. Damals wusste ich natürlich nicht viel von seiner Arbeit, aber ich belauschte ein Gespräch von ihm und einem „Arbeitskollegen“. Sie sprachen davon, dass ich schon jetzt verdammt widerspenstig sei und zu misstrauisch – das stimmte wohl, immerhin wurde ich mit ihm und Ray einfach nicht richtig warm, es blieb immer komisch – und dass das zu Problemen führen könnte, wenn ich älter würde. Schließlich könnte ich anfangen, die falschen Fragen zu stellen, könnte Dinge herausfinden. Herausfinden, wie meine Mutter wirklich gestorben war.“

Sie machte eine kurze Pause und sah, dass Zayn sie höchst neugierig betrachtete, aber auch irgendwie etwas irritiert aussah. Daher spannte sie ihn nicht länger auf die Folter, sondern sprach weiter.

„Mein Vater war sich sehr sicher, dass ich ein ängstliches Kind sei, das er leicht manipulieren könne, und betrachtete diese Möglichkeit nicht als realistische Gefahr. Sein Freund hatte zu ihm gemeint, dass er mich ja auch einfach aus dem Weg schaffen könnte, so wie er es bei meiner Mutter getan hatte. Daraufhin hatte mein Vater gesagt, dass ich für ihn zu wichtig sei und er erst herausfinden müsse, ob ich nützlich für seine Pläne sein könnte – und dafür müsste ich am Leben bleiben.“ Chandra zog einmal scharf Luft ein, um einen wütenden Tränenreiz zu unterdrücken. „Du verstehst, ich sitze also nur deshalb noch hier, weil ich einen wichtigen Nutzen für ihn hatte und habe. Nicht, weil er mich liebt. Nein. Niemand hat mich jemals geliebt bis auf meine Mutter. Und die haben sie mir genommen.“

Da war es wieder, dieses destruktive Gefühl des Hasses. Sie hatte nie Liebe von ihrem Vater bekommen, also war sie auch nicht in der Lage, so ein gütiges Gefühl für ihn empfinden zu können. Hass war schlicht und ergreifend die bessere Antwort auf seine Taten.

„In jener Situation damals setzte etwas in mir aus. Ich war erst zehn, aber realisierte, was diese Worte bedeuteten. Meine Mutter war nicht gestorben, weil sie nicht mehr hatte leben wollen. Sie, diese Bastarde, haben sie umgebracht und es so aussehen lassen, als hätte sie sich umgebracht. Doch damals dachte ich nicht viel, ich fühlte einfach nur große Angst. Dann rannte ich los, aus der Wohnung nach draußen. Natürlich war ich weder leise noch unauffällig gewesen, aber ich hatte ohnehin keine Chance. Ich war ein kleines Kind und sie die Erwachsenen. Mein Vater holte mich ein und schleifte mich zurück. Es war, als hätte sich bei ihm ein Schalter umgelegt. Er gab sich keine Mühe mehr, mir den lieben Vater vorzugaukeln, und das war nicht nur bei ihm so.“

Obwohl Chandra sich nie wirklich wohl gefühlt hatte bei ihm und Ray, erschien ihr dieser Tag doch wie der größte Verrat, den man je an ihr begangen hatte. Dabei war sie niemals verraten worden – sie war lediglich ein naives Kind gewesen, das nichts gewusst hatte.

„Kurz darauf kam Ray nach Hause“, sprach sie weiter. „Ich war verzweifelt und dachte, vielleicht ist er ja genauso ahnungslos wie ich und weiß gar nicht, was unser Vater für ein schrecklicher Mensch ist. Also klammerte ich mich an ihn und flehte ihn an, mir zu helfen. Na ja …“ Erneut unterbrach sie sich und ballte die Hände zu Fäusten. Es war unmöglich, festzulegen, wem der beiden der größere Hass galt. Wahrscheinlich Ray. Er hatte eine Wahl gehabt. Musste er doch, oder? Chandra wollte nicht wahrhaben, dass er gezwungen gewesen war, zu einem Ebenbild seines Vaters zu werden, das aber noch viel grausamer und herzloser war. Nein – er hatte freiwillig diesen Weg eingeschlagen, und das war unverzeihlich.

„Ray war mit einem Male ebenso kalt wie unser Vater, hat mich von sich gestoßen und ausgelacht. Es war keine Güte in ihm, nichts davon – falls jemals so etwas in ihm existiert hatte. Sie sagten mir, dass es niemanden gab, der mir helfen könnte. Denn meine Mutter war tot und ich ganz alleine. Aber wenn ich brav sein und ihnen keinen Ärger machen würde, würden sie mir nichts tun. Also war ich brav, ich hatte ja keine Wahl.“

Zayn an ihrer Seite schüttelte den Kopf. „Bitte sag mir, dass du bald fertig bist.“

„So schlimm?“

„Ja. Also, ich meine, du war erst zehn. Was ist bitte noch alles Schreckliches passiert?“ Er beugte sich nach vorne und starrte mit ernster Miene zu Boden. Chandra selbst fand ihre eigene Geschichte gar nicht mehr so schlimm, aber für jemand Außenstehendes musste sie wohl recht schockierend sein.

„Ich habe dir gerade mal die Hälfte erzählt. Aber nun komme ich zu den wirklich interessanten Dingen“, versprach sie, woraufhin Zayn wieder aufsah.

„Diesen Pokémon?“

Sie nickte. „Da ich nun wusste, dass sie Dreck am Stecken hatten und sie dies nicht mehr vor mir verstecken konnten, zeigten sie mir ihr größtes Geheimnis und ihre größte Schandtat. Sie wollten Pokémon stärker werden lassen und waren der Meinung, dass Gefühle Pokémon nur schwach machen und behindern. Ein wahrlich starkes Pokémon sollte keine Liebe fühlen, denn Liebe ist eine Schwäche. Logisch, sie hatten sich ja auch jeglicher Liebe entsagt“, lächelte sie verbittert. „Ein Pokémon darf keine Zweifel im Kampf haben, darf keine Angst vor seinem Gegner haben, keine Scheu, ihn zu verletzen. Ein Pokémon sollte auch nicht kämpfen, weil es dies für seinen Trainer gerne macht, es sollte aus einzig allein dem Grund kämpfen, weil es dazu geschaffen wurde, zu kämpfen und zu zerstören. Pokémon sind Werkzeuge und ein Werkzeug sollte sich nicht von dummen Gefühlen behindern lassen. Schließlich kann daraus keine echte Stärke entstehen. Und ein Pokémon kann nur zu voller Stärke heranwachsen und furchteinflößend sein, wenn es all das vergessen hat, was ein normales Pokémon zu einem fühlenden, lebenden und einzigartigen Wesen macht. Und wie erzeugt man am besten den Drang nach Kampfeswille und Zerstörung? Mit den destruktivsten Gefühlen überhaupt. Mit Wut und mit Hass. Und es darf nichts geben, was diese schmälern oder ersetzen könnte, also musste der ganze andere Kram verschlossen werden, wenn man ihn schon nicht auslöschen kann. So kam es dann irgendwann zu dieser künstlichen Dunkelheit um die Herzen der Pokémon herum.

Aber so weit waren sie nicht von Anfang an, es lief viel schief bei ihren Experimenten. Damals jedenfalls zeigten sie mir zum ersten Mal einige dieser Pokémon. Es war ihnen bereits gelungen, ihnen diese Dunkelheit einzupflanzen und ihre guten Gefühle wegzusperren – und ich habe bis heute keine Ahnung, wie sie das machen –, aber es verschlang diese Pokémon bei lebendigem Leibe. Einige sind im Laufe der Zeit einfach eingegangen wie Pflanzen, die man vergessen hatte, zu gießen. Andere drehten völlig durch, haben sich entweder in Kämpfen gegenseitig schlimm verletzt oder gar umgebracht, einige haben sich selbstverletzt, bis sie gestorben sind. Etliche unschuldige Pokémon mussten ihr Leben lassen.“

Mit Tränen getränkten Augen sah Chandra hinüber zu Sunny und Lunel, die beide dicht aneinander gekuschelt auf einem der Sessel lagen und gespannt zuhörten. Nicht auszumalen, was geschähe, wenn den beiden so ein Schicksal wiederfahren würde.

„Wie sich herausstellte, hatte meine Anwesenheit eine beruhigende, fast schon heilende Wirkung auf die Pokémon. Es heilte sie nicht in dem Sinne, dass die Dunkelheit verschwand, aber sie beruhigten sich und wollten nicht mehr alles und jeden zerstören. Bereits damals konnte ich diese Finsternis an ihnen sehen und auch in ihnen spüren, aber es erzeugte in mir keine wirklichen Schmerzen. Ich wurde einfach nur sehr traurig bei ihrem Anblick und wusste, dass etwas nicht stimmte. Damals dachte ich noch, das wäre normal. Mein Vater und mein Bruder machten mir klar, dass ich niemandem von den Pokémon erzählen durfte. Da ich nicht auch tot in der Badewanne enden wollte und viel zu verängstigt war, sagte ich zu allem Ja. Und da sie nun nicht mehr nett zu mir sein mussten, wollten sie mich auch nicht länger bei sich wohnen haben. Sie steckten mich eiskalt in ein Heim hier in Pyritus. Jetzt denkst du dir vielleicht, dass das doch merkwürdig ist, schließlich wollten sie mich ja im Auge behalten, doch ich vermute, das taten sie die ganze Zeit. Mein Vater hatte ja schon damals viele Kontakte in der Stadt, wahrscheinlich hat er den Angestellten des Heims Geld gegeben dafür, dass sie mich im Auge behielten und aufpassten, dass ich keine Dummheiten machte.

Ich fühlte mich oft sehr beobachtet, konnte kaum einen Schritt gehen, ohne kontrolliert zu werden. Aber damit konnte ich leben, es war mir ehrlich gesagt egal. Wenn ich mich recht erinnere, war ich damals ein verdammt emotionsloses Kind. Ich hatte alles verloren und da ich nicht glaubte, etwas gegen meine Familie ausrichten zu können, akzeptierte ich dies und lebte vor mich hin. Ganze fünf Jahre lebte ich in diesem Heim, hatte dort Schulunterricht und wurde älter, verstand mehr. Das wirklich Schlimme an der Zeit war, dass ich anfing, mich wie ein Freak zu fühlen. Ich weiß nicht, ob die Betreuerinnen den anderen Kindern Negatives über mich erzählten, vielleicht lag es auch an meinem Nachnamen, der bekannter wurde, keine Ahnung. Man hatte mich schon zu Beginn eher gemieden, doch das wurde noch schlimmer, als ich in Anwesenheit anderer diese finsteren Pokémon sah. Mittlerweile hatten mein Vater und Bruder sogar einen Namen für sie gefunden. Cryptopokémon. Merkwürdige Bezeichnung, wenn du mich fragst, aber wohl passend. Jedenfalls, die Jahre vergingen und diese Pokémon wurden etwas häufiger. Wie früher wurde ich von tiefer Trauer erfüllt, wenn ich sie sah. Sie machten mir auch Angst, denn sie wurden immer düsterer. Aber keiner verstand meine Reaktion, jeder schien blind für diese Dunkelheit und hielt mich für verrückt, wenn ich empfindlich auf so ein Pokémon reagierte. Also wurde ich noch stärker gemieden, keiner wollte etwas mit mir zu tun haben.

Tatsächlich besuchten mich mein Vater und Ray manchmal im Heim, aber auch nur, um meinen Zustand abzufragen und herauszufinden, wie es mit meiner Kooperationsbereitschaft stand. Und in der Tat wurden über die Jahre hinweg die Besuche meines Vaters seltener, Ray kam deutlich öfters vorbei. Ich erfuhr immer mal wieder von ihren Fortschritten mit den Cryptopokémon. Sie forschten viel an ihnen, versuchten herauszufinden, wie sie die Sterberate verringern und die Pokémon weniger wahnsinnig machen konnten. Es gab viele Tests und einzelne Pokémon endeten als Versuchsobjekte, das führte aber auch nur zu mehr unnützen Toden. Es gelang ihnen zwar, die Lebensdauer zu verlängern, aber die Pokémon waren selbst nach mehreren Jahren immer noch viel zu unkontrolliert aggressiv, sind oft noch elendig dahingesiecht. Verglichen mit heute gab es vor vier Jahren noch relativ wenig Cryptopokémon, das hast du ja selbst gemerkt. Sie ließen immer nur vereinzelte Cryptopokémon nach draußen, um ihre Reaktion auf die Umwelt und gewöhnliche Pokémon zu testen. Na ja, irgendwie schienen sie nicht weiterzukommen in ihrer Arbeit. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt.“

Nach diesem langen Redeschwall stoppte Chandra erst einmal und warf einen Blick auf Zayn. Mittlerweile hatte er sich wieder zurückgelehnt und starrte stumm gerade aus. Er war ein wenig blass im Gesicht, aber das verwunderte Chandra auch nicht angesichts dieses neuen Wissens. „Mir war nicht klar, dass so viele Pokémon gestorben sind für diese kranken Versuche“, sagte er monoton.

„Es müssen hunderte gewesen sein“, erwiderte Chandra.

„Schrecklich. Erzähl weiter. Wie kam es zu diesem Zuwachs an Cryptopokémon?“

„Ich weiß es auch nicht genau. Mit 15 holten sie mich wieder aus dem Heim, vermutlich hatten sie die Befürchtung, dass ich mich nun doch verplappern könnte, immerhin begriff ich nun deutlich besser, was sie getan hatten und taten. Um dies absolut zu unterbinden, schlug Ray mir einen Deal vor. Ja, Ray, denn mein Vater war irgendwie immer seltener anwesend und Ray rückte an seine Stelle. Er war ja mittlerweile alt genug und bereits der Mistkerl, der heute hier war. Jedenfalls, der Deal wurde zu einem Vertrag. Ray erzählte mir, dass ich sehr wichtig für ihn sei und er mich deshalb nicht einfach aus dem Weg schaffen könne.“

Zayn unterbrach sie, indem er einwarf: „Auch sehr charmant, dir das einfach so ins Gesicht zu sagen.“

Sie zuckte die Schultern. „Er ist nicht seiner Nettigkeit wegen zum Boss der Stadt geworden. Er nannte mir keinen Grund für meine Wichtigkeit, sagte mir nur, dass ich relevant sei für seine Pläne. Und deswegen wollte er, dass es mir gut ging. Niemand sollte mir in Pyritus zu nahekommen, er würde mir jeglichen Schutz gewähren und dafür sorgen, dass ich in einer Stadt wie dieser das bestmöglichste Leben führen könnte. Ich würde in einer eigenen Wohnung leben, mehr als genug Geld von ihm bekommen und er würde mich nicht mehr belästigen, als es meine Gegenleistungen verlangen würden. Und Gegenleistungen gab es genügend. Erstens, ganz klar, ich müsste schwören, niemandem jemals etwas von meinem Wissen über Cryptopokémon zu erzählen, niemandem, der es nicht wissen sollte, etwas über ihn und unseren Vater zu erzählen. Natürlich war auch der Tod meiner Mutter ein absolutes Tabuthema. Zweitens, ich dürfte die Stadt nicht verlassen, bis er es mir vielleicht irgendwann einmal erlauben würde. Er testete mich nämlich bei einem neuen Cryptopokémon und irgendwie gelang es mir, die Dunkelheit von dem Pokémon zu nehmen. Ich konnte sein Herz wieder öffnen und es sozusagen heilen. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Aber für Ray war das Grund genug, mich in seiner Nähe behalten zu wollen, damit ich nicht fliehen und mich mit dieser Fähigkeit gegen ihn stellen könnte. Was dann auch der dritte Punkt wäre; mich nicht gegen ihn wenden.

Gegenleistung Nummer Vier ist dann wohl die wichtigste. Ich würde damit einverstanden sein, seinen Worten stets Folge zu leisten, das tun, was er von mir verlangt. Tja, und damit kann alles gemeint sein. Solche Banalitäten wie, ihm die Tür zu öffnen, wenn er klingelt, oder aber auch, mich regelmäßig untersuchen zu lassen, wenn er das wünscht, irgendwelche Medikamente zu nehmen …

Hatte ich eine Möglichkeit, abzulehnen? Nicht wirklich. Umbringen konnte er mich nicht, aber er hätte schon irgendwelche Mittel gefunden, um mich zur Kooperation zu zwingen, da kannst du dir sicher sein. Mir war damals schon klar, dass aus ihm ein absolutes Monster geworden war. Er sah in mir nicht seine kleine Schwester, wenn ich vor ihm saß. Ich war lediglich ein Mittel, ein Objekt, ein Werkzeug – was auch immer. Und ein notwendiges Übel, das er eben kontrollieren musste. Ich war wichtig und ich könnte gefährlich werden. Mit dem Vertrag gaukelte er mir eine Freiheit vor, indem er mir jegliche Freiheit nahm. Doch er war gnädig. Er gab mir sogar die Aussicht, eines Tages wirklich frei zu sein. Wenn er mich nicht mehr bräuchte und sich dieses Problem mit dem Heilen der Cryptopokémon erledigt hätte, könnte ich, wenn ich bis dahin zu seinem Wohlwollen gelebt hätte, die Stadt und ihn verlassen. Doch breche ich eines meiner Versprechen und würde abhauen, dann würde er seine Freundlichkeit vergessen, mich finden, wegsperren und umbringen, sobald ich meinen Nutzen erfüllt haben würde. Tja, ich stehe also schon am Abgrund, weil ich dir das erzählt habe.“

„Hey“, warf Zayn ein und sah sie bestimmt an, „es ist gut, dass du mir das erzählst. Sehr gut sogar.“

„Hm, vielleicht, keine Ahnung.“ Chandra sah auf ihre Hände, die nervös die Decke umklammerten. „Im Moment fühlt es sich nicht unbedingt gut an, eher verdammt falsch.“

„Ja, weil man dir über Jahre hinweg gesagt hat, dass es falsch sei. Aber wenn du dir so sicher wärst, dass es falsch ist, mir von diesem Unrecht zu erzählen, hättest du es mit Sicherheit nicht so schnell getan.“

Gut möglich. Bislang hatte Chandra niemals darüber nachgedacht, jemandem von ihrer Vergangenheit oder diesen Grausamkeiten zu erzählen. Sie war sich mehr als sicher gewesen, dieses Wissen mit ins Grab zu nehmen. Allerdings hatte es vor Zayn auch noch keinen gegeben, der diesbezüglich mit Nachdruck Interesse an ihr gezeigt hatte. Das Vertrauen ihrer Pokémon war der Grund, dass es ihr nun verhältnismäßig leichtgefallen war. Hätte Ray geahnt, dass sie bei der richtigen Person leicht nachgeben würde, hätte er sie wahrscheinlich gleich eingesperrt.

„Ich war noch nicht ganz fertig. Wie du dir ja denken kannst, habe ich seinem Deal zugestimmt und einen Vertrag mit diesen Inhalten unterschrieben. Das war damals die beste Möglichkeit auf ein halbwegs normales Leben für mich. Und Ray war mehr als zufrieden, mich damit an der Leine zu haben. Er besorgte mir diese Wohnung hier und überweist mir seitdem jeden Monat einen mehr als großzügigen Geldbetrag. Beschweren kann ich mich nicht. Ich bin damit zwar verdammt käuflich, aber immerhin am Leben.“

„Du wohnst alleine, seit du 15 bist? War das nicht anfangs schwer?“, fragte Zayn skeptisch.

Sie musste schmunzeln. „Na ja, es war etwas gewöhnungsbedürftig, normal ist es ja nicht, aber Ray hatte auch keine Probleme, das zu regeln. Anfangs sah er öfters mal vorbei, um sicherzustellen, dass ich klarkam, bei Problemen jeglicher Art konnte ich mich immer an ihn wenden. Also gewöhnte ich mich daran und fing an, das Beste daraus zu machen. Mit 16 lernte ich Devin kennen – du hast ihn heute Mittag getroffen. Der erste Freund, den ich in Pyritus hatte und bis heute der einzige. Damals hatte ich es satt, ein kleines Mädchen zu sein, das man herumschubsen und auslachen konnte. Ich wollte nicht länger der unbeliebte Außenseiter sein, nie wieder schwach sein. Aber in aller erster Linie wollte ich mich einfach ablenken und alles vergessen, war mir widerfahren war. Und dies wollte ich umso mehr, als sich diese Cryptopokémon auf einmal vermehrten und alles viel schlimmer wurde.“

Zayn wirkte verwundert und interessiert zugleich; jetzt kam der interessanteste Teil.

„Ich weiß nicht, was passiert ist, aber kaum hatte ich diesen Vertrag mit Ray abgeschlossen, änderte sich etwas an diesen Pokémon. Sie wurden ruhiger und kontrollierter. Sie waren genauso grausam und dunkel wie zuvor, doch sie lebten – auf ihre dunkle Weise. Sie verstarben nicht mehr und neigten auch nicht mehr dazu, sich schier blind umzubringen. Sie waren endlich perfekt, um sie unter die Masse zu mischen. Bis heute frage ich mich, ob es etwas mit mir zu tun hat. Aber ich weiß es nicht und Ray verrät mir nichts. Eigentlich war ich nie dabei, wenn sie an den Cryptopokémon gearbeitet haben. Also musste ich das alles so hinnehmen. Cryptopokémon wurden mit der Zeit immer häufiger in Pyritus, normale Menschen hatten plötzlich welche, ich sah sie in Kämpfen und hörte viel mehr von ihnen. Und parallel dazu wurde mein Bruder immer bekannter in Pyritus, er machte sich einen Namen durch das Geschäft mit diesen Pokémon, zerschlug sogar irgendwelche mittelmäßigen Verbrechergrüppchen, da er keine Konkurrenz haben wollte. Diese Pokémon verliehen ihm Macht und Ansehen, es gab hin und wieder Journalisten, die Nachforschungen angestellt haben, herausfinden wollten, woher diese Pokémon kamen, aber alle sind sie von der Bildfläche verschwunden. Wenn Ray Menschen mit Geld oder anderen Mitteln nicht zum Schweigen bringen kann, dann lässt er sie verschwinden. Aber die meisten in Pyritus juckt das nicht. Denn Pyritus war immer die Stadt, auf die in ganz Orre nur herabgesehen wurde. Schließlich leben hier nur Halunken und Tagediebe, Menschen ohne Zukunft, Menschen zweiter Klasse – kurzum, wenn du hier lebst, dann bist du bemitleidenswert. Aber die Cryptopokémon gaben den Menschen auf einmal Stärke. Sie verwandelten Pyritus in eine Stadt, vor der man sich fürchten muss. Doch am allermeisten muss man sich vor dem fürchten, der diese Pokémon an die Leute gebracht hat.

Ich stellte mit der Zeit fest, dass wildfremde Menschen mich kannten oder wenn das nicht der Fall war, dann zumindest meinen Bruder. Ich merkte, dass er sein Versprechen hielt, niemand kam mir zu nahe. Mit der Zeit entdeckte ich, dass Ray wirklich ein guter Joker war, wenn es darum ging, mir Freiheiten zu nehmen. Also ließ es sich ganz angenehm leben und ich war gewillt, das, was ich weiß, zu vergessen. Aber leider war alles nicht so einfach. Ich spürte plötzlich nicht mehr nur die Traurigkeit der Cryptopokémon. Es fing das an, was heute kaum mehr auszuhalten ist. Ich begann, dieses Leid und ihren Schmerz zu spüren, als wäre er mein eigener. Anfangs sorgte es nur für leichte Einschränkungen, die aber mit der Zeit immer schlimmer wurden. Ich wollte nicht mehr nach draußen, da ich den Pokémon nicht mehr begegnen wollte, und erzählte Ray davon. Das Ganze war natürlich kein Grund für ihn, etwas zu ändern, aber er versprach, nach einer Lösung zu suchen. Darauf warte ich nun schon seit zwei Jahren. Ich suchte mir meinen eigenen Ausweg.

Ich entdeckte das Nachtleben von Pyritus für mich und stellte fest, dass andere Menschen und Alkohol eine gute Möglichkeit waren, um mit mir, meinem Leben und diesem Schmerz, den die Pokémon an mich weitergaben, klarzukommen. Sehr armselig, dass ich also seit zwei Jahren nichts anderes tue, als mich zu betrinken und mit Männern abzulenken. Ich legte mir einen selbstbewussten, bissigen Charakter zu, um bloß nicht schwach zu wirken. Das klappte sehr gut – Devin kennt mich überhaupt nicht anders und ansonsten traut sich keiner zu nahe an mich heran. Das war die einzige Möglichkeit, seit damals hier zu überleben, denn wenn du in Pyritus nicht schnell erwachsen wirst, hast du keine Chance.“

Abermals atmete sie tief ein, ehe sie verkündete: „Geschafft. Ich glaube, das war’s. Jetzt weißt du fast alles über mich. Also wenn du jetzt doch gehen möchtest, da vorne ist die Tür.“

„Ich möchte nicht gehen“, entkräftete Zayn ihre Worte ohne Umschweife.

Sie musterte ihn und kam erneut nicht umhin, ihn dafür zu bewundern, wie hartnäckig er war. Jetzt hatte sie ihm von all den Gräueln erzählt, die ihr widerfahren waren, und statt dass er seine Sachen nahm und das Weite suchte, saß er völlig ruhig neben ihr. Entweder war er lebensmüde oder aber … Chandra war es einfach nicht gewohnt, dass jemand bei ihr blieb.

„Ich bewundere dich“, holte er sie aus ihren Gedanken. „Für deine Stärke. Du warst so jung, als dir all das zugestoßen ist und trotzdem sitzt du hier und klingst nicht wie jemand, der daran zerbrochen ist. Das könnten nur wenige von sich behaupten.“

„Ich bin nicht stark“, widersprach sie und mit einem Mal war es, als würde ein Damm in ihr brechen, den sie vorher mühsam zurückgehalten hatte. Tränen füllten ihre Augen und liefen kurz darauf über ihr Gesicht. Sie hatte Zayn alles Wissenswerte erzählt und ihre Gefühle dabei ganz gut zurückhalten können, aber innerlich hatte jedes einzelne Worte alte Wunden wieder zum Bluten gebracht. „Ich bin nur gut darin, die Starke zu spielen.“

„Blödsinn.“ Nervös registrierte sie, dass er ein Stück auf sie zu rutschte. „Niemand kann sich stark geben, ohne stark zu sein. Du stehst jeden Tag auf mit dem Wissen, was dir angetan wurde. Du hast die Stärke gefunden, mir davon zu erzählen, dabei kennst du mich kaum. Das schafft niemand auf Dauer, ohne stark zu sein.“

Seinen Worten zum Trotz schluchzte Chandra und hielt sich die Hände vor das nasse Gesicht. Gesagt zu bekommen, dass sie stark sei, verstärkte nur noch das Gefühl der Schwäche. Sie hatte nie etwas anderes getan, als wegzurennen, indem sie sich in Ablenkungen flüchtete oder die Augen vor der Realität verschloss.

Statt sich zu beruhigen, erfasste sie nun ein gewaltiger Tränenreiz. Sie beugte sich nach vorne, als ihr Körper sich bei jedem Schluchzer schüttelte und sie die Decke unter sich mit ihren Tränen tränkte. Die Couch gab rechts von ihr ein wenig nach und an ihren Beinen spürte sie eine leichte Berührung. Anscheinend hatten sich ihre Pokémon zu ihr gesellt, um sie zu trösten, doch im Moment verschaffte das nicht den gewünschten Effekt.

Allein, dass sie vor Zayn weinte – schon wieder – zeugte nur davon, dass sie verdammt schwach war, und sie schämte sich für diese Schwäche. Aber zugleich tat sie dies auch nicht. Es fiel ihr nicht schwer, diese Gefühlsregung vor ihm zu zeigen, obgleich sie ihn nicht kannte.

Sie tat das Erstbeste, was ihr nun in den Sinn kam. „Zayn?“ Trotz verschwommenen Blickes erkannte sie, dass er unsicher schien, wie er mit ihr umgehen sollte.

„Ja?“

„Kannst du mich vielleicht … in den Arm nehmen?“, fragte sie zaghaft.

Überrascht sagte er: „Wenn du das möchtest“, dann überbrückte er die letzte Distanz zu ihr, legte seine Arme um sie und zog sie an sich.

Chandra glaubte nicht, jemals in einer unangenehmeren Situation gewesen zu sein, die sich so gut angefühlt hatte. Wenngleich sie nichts mit ihren Händen anzufangen wusste, weshalb sie sie unbeholfen in sein Hemd klammerte, fühlte sie sich wohl in diesem Zustand. Im nächsten Augenblick erfasste sie wieder ein Schluchzen und sie sah mit Tränenschleiern vor den Augen über seine Schulter.

„Weißt du“, er strich ihr über den Rücken, „Stärke definiert sich nicht dadurch, dass du niemals schwach bist. Du bist stark, wenn du nach jedem Niederschlag wieder aufstehst, weitermachst und dich nicht davon bezwingen lässt.“

Sie war noch ein paar Minuten damit beschäftigt, sich auszuweinen, bevor sie meinte: „Du klingst, als hättest du Erfahrung damit.“

„Ein wenig vielleicht.“

Sie nahm sich vor, ihn zu einem späteren Zeitpunkt danach zu fragen. „Wieso hast du mich umarmt?“

„Du hast mich darum gebeten.“

„Aber du hättest es nicht tun müssen.“

Zayn zuckte mit den Schultern. „Ich kann weinenden Frauen wohl nichts abschlagen.“

Chandra zog noch einmal seinen Geruch in sich auf, dann löste sie sich von ihm. Wohlwissend, wie scheußlich sie aussehen musste, griff sie sich ein Taschentuch vom Tisch und tupfte sich das Gesicht ein wenig sauber. „Ich bin ein schrecklicher Mensch“, seufzte sie.

„Wieso denn?“

„Ich möchte mich nicht mit dem auseinandersetzen, was mir Angst macht oder mich belastet. Ich betäube mich viel lieber, indem ich mich in Annehmlichkeiten flüchte, die mich für eine Weile vergessen lassen, wer ich bin“, sprach sie. Insgeheim dachte sie, dass Ray recht hatte mit seinem Bild von ihr – sie war absolut armselig. Denn als sie Zayn ansah, verspürte sie nicht das Verlangen, mit ihm noch länger über ihre Vergangenheit zu reden. Sie wollte auch nicht alleine in ihr Schlafzimmer gehen, wo Trauer und Kummer sie überwältigen würden. Es war eine andere Art von Verlangen, das in ihr aufkam, wenn sie sich ihrer Nähe zu ihm bewusstwurde. Vermutlich war es wirklich armselig von ihr, nun an so etwas zu denken, aber wann hatte es sie jemals interessiert, wie ihr Verhalten wirkte? Niemals. Lediglich gegenüber Zayn war sie ins Zögern gekommen. Aber das war in diesem Moment auch unwichtig.

Verwirrung stand in Zayns Gesicht. „Was meinst du?“

„Es tut mir leid, aber ich muss das jetzt tun.“ Chandras Stimme klang unsicher, aber sie war es nicht. Wenn er nicht verstand, wovon sie sprach, musste sie es ihm eben zeigen, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Sie lehnte sich zu ihm und als ihre Gesichter auf einer Höhe waren, zögerte sie nicht lange und legte ihre Lippen auf seine. In den wenigen Sekunden, in denen dieser Kuss andauerte, fiel ihr auf, dass seine Lippen sich weich auf ihren anfühlten. Wenn Zayn den Kuss erwiderte, dann wahrscheinlich eher aus Überrumpelung heraus. Denn als sie sich wieder von ihm löste, sah er definitiv überrascht aus.

Okay“, meinte er, „was war das denn jetzt?“

Chandra erkannte, dass er nicht abgeneigt aussah, also war sie nicht gewillt, sich zurückzuziehen. „Ein Kuss“, hauchte sie, bevor sie ihn ein zweites Mal küsste, diesmal etwas fordernder. Zayn entwich ihrem Kuss nicht und sie fühlte einen leichten Druck ausgehend von seinen Lippen, aber wirklich überzeugt wirkte er nicht. Sie legte eine Hand seitlich um seinen Hals und küsste ihn mit mehr Nachdruck, öffnete ihren Mund leicht und zog spielerisch an seiner Unterlippe. Ein Augenblick des Wartens verstrich, ehe er sie plötzlich küsste, wodurch ihr Verlangen wie ein Feuer in ihr aufloderte. Zayn legte einen Arm um ihren Nacken und ihr anfangs harmloser Kuss gewann an Intensität. Sie spürte seine Zunge, wie sie die ihre berührte. Einen gefühlt langen Moment lösten sie sich nicht voneinander, doch als Chandra allmählich jegliche Luft aus den Lungen gewichen war, schob Zayn sie entschieden von sich.

„Chandra“, keuchte er außer Atem, und sie stellte fest, dass er errötet war. Ihn, der er bislang stets so perfekt und beherrscht erschienen war, nun mit geröteten Wangen vor sich zu sehen, verschaffte Chandra ein Gefühl des Triumphes. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“

Sie lächelte. „Wieso nicht? Weil wir uns nicht kennen? Du kennst mich ja nun – und ich muss dich dafür nicht zur Gänze kennen.“

„Wir kennen uns seit einem Tag“, blieb er standhaft.

„Und doch weißt du schon mehr über mich als jeder andere.“

„Ja, aber –“

„Nichts aber“, unterbrach sie ihn augenverdrehend. „Du bist ein Kerl, mach dich mal locker.“ Nun kam sie ihm wieder nahe. „Ich würde sagen, wenn du keine Freundin hast und mir nicht abgeneigt bist, dann hörst du jetzt auf, nachzudenken.“ Sie fuhr ihm mit einer Hand leicht über die Wange und sprach in verführerischer Stimmlage: „Du hast doch gesagt, du kannst weinenden Frauen nichts abschlagen, also …“

„Du weinst aber nicht mehr“, konterte er.

„Ich bin traurig, das ist fast dasselbe.“

„Ich …“ Offenbar gingen Zayn die Argumente aus. Diesen Moment nutzte Chandra, um ihn wieder zu küssen. Sie schlang nun beide Arme um ihn und da er ihren Annäherungsversuch nicht erneut abbrach, ging sie einen Schritt weiter, beugte sich nach hinten und zog ihn mit sich. Es war nicht notwendig, sich nach hinten zu werfen, da er sich seinerseits erhob, sie auf die Couch drückte und sich über ihr abstützte.

Chandra stellte fest, dass ihre Pokémon nicht länger hier waren, was ihr recht war. Als sie zu Zayn aufsah, dessen Gesicht direkt über ihrem war, wurde ihr ganz warm.

„Du verwendest meine Worte gegen mich, das ist nicht nett“, grinste er.

„Hast du auch schon gemacht.“

„Wohl wahr.“

„Küss mich“, hauchte sie.

Tatsächlich küsste er sie, was zwischen ihren Beinen für ein angenehmes Kribbeln sorgte, woran ihre Position einen nicht unerheblichen Anteil trug. Seine linke Hand strich ihre Taille entlang hinab zur Hüfte, während sie ihn einfach nur noch dichter an sich zog. Sie verlor sich beinahe in seinen fordernden Lippen, bis er sich von ihren trennte und eine heiße Spur von Küssen auf ihrem Hals verteilte. Genüsslich legte sie den Kopf nach hinten. Ewig hätte sie in diesem Moment des Vergessens ausharren können, doch er trennte sich erneut von ihr.

Nun funkelte Zayn sie entschlossen an. „Ich nutze deine Traurigkeit nicht aus.“

Sie erwiderte: „Es ist kein Ausnutzen, wenn ich es dir gestatte.“

„Ich möchte nicht, dass du es hinterher bereust.“

„Werde ich es nicht. Du solltest meine Zurechnungsfähigkeit nicht anzweifeln, nur weil ich vorhin ein wenig Schwäche gezeigt habe. Denn jetzt ist dieser Moment wieder vorüber und ich möchte nicht länger über diesen Mist reden oder nachdenken. Ich möchte lediglich dich – und ich kann sehr entschlossen sein, was das angeht. Und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ein Mann wie du mit so etwas nicht umgehen kann.“ Sie grinste. „Oder waren all deine netten Komplimente an mich nur heiße Luft?“

Ein paar Sekunden zögerte Zayn, dann lächelte er. „Waren sie nicht.“

„Schön. Dann wüsste ich nicht, was“, sie zog seinen Kopf zu sich nach unten und streifte seine Lippen leicht, „gegen ein bisschen Spaß spricht.“

Jedes Ende ist ein neuer Anfang

Chandra fühlte sich nicht schlecht, dass sie Zayn hatte überzeugen können, sich auf mehr als nur harmlose Küsse einzulassen. Sie gehörte nicht zu der Sorte Frau, die einem Mann erst nahe sein wollte und es hinterher dann bereute. Das war weiß Gott noch nie vorgekommen und würde es auch diesmal nicht. Also brauchte Zayn sich auch nicht schlecht oder unsicher fühlen, dass er ihrem Begehren entgegenkam. Die Erzählungen über ihre Vergangenheit hatten sie zwar etwas aus der Bahn geworfen und sie etwas unzurechnungsfähig erscheinen lassen, doch wenn es um Sex ging, war sie bei Sinnen. Und sie brauchte keine romantischen Gefühle, um sich auf etwas rein Körperliches einzulassen. Denn was auch immer sie für Zayn, der ihr ja immer noch reichlich unbekannt war, fühlte – es bestärkte sie weder in ihrem Vorhaben noch hielt es sie davon ab. Gefühle jeglicher Art standen stets auf der einen Seite und körperliche Begierde auf der anderen.

Ihr gefielen Zayns Lippen umso besser, als er sie nicht länger mit dieser nervigen Unsicherheit küsste, sondern ebenfalls erfüllt war von Verlangen. Insgeheim bestätigte sie dies auch ein wenig; es war ihr bislang gelungen, jeden Typen, den sie wollte, für sich zu gewinnen, und da war auch Zayn nunmehr keine Ausnahme. Er fand sie attraktiv, sie fand ihn attraktiv – alles war bestens.

Sie hob sich ihm auf dem Sofa entgegen, wollte ihn dicht an sich spüren. Als er mit einer Hand unter ihr Oberteil glitt und nach oben wanderte, entfuhr ihr ein wohliger Seufzer. Voll Leidenschaft presste sie ihre Lippen auf seine und legte ihre Hände um seinen Nacken, fuhr ihm durch das dichte, schwarze Haar. Chandra spürte, wie seine Finger langsam unter ihren BH glitten und begann nun ihrerseits, sein Hemd aufzuknöpfen. Doch sie hatte gerade mal drei Knöpfe öffnen können, da löste er sich von ihr, zog seine Hand zu sich und erhob sich ein wenig.

Enttäuscht sah sie zu ihm auf. Wollte er jetzt etwa doch noch einen Rückzieher machen?

„Ich will mich ja nur ungerne selbst einladen, aber würde es dir etwas ausmachen, das hier in dein Schlafzimmer zu verlegen?“, fragte Zayn sie mit rauer Stimme.

Grinsend beugte sie sich nach oben, zog ihn am Hemdkragen zu sich und sprach gegen seine Lippen: „Keineswegs.“

Gesagt, getan. Er erhob sich, zog sie mit sich und gemeinsam liefen sie zum Schlafzimmer. Neben dessen Türe allerdings drückte er sie gegen die Wand, zwang sie in einen heißen, atemlosen Kuss, aus dem sie sich nur schwer wieder lösen konnten. „Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich dir sage, dass ich daran schon gedacht habe, als ich dich das erste Mal gesehen habe?

Chandra grinste ungläubig. „Wirklich, schon beim ersten Mal? Als du fast draufgegangen wärst?“

„Na ja, es war nicht der erste Gedanke. Aber einer der ersten.“

„Ich würde sagen, du bist damit ein ziemlich normaler Kerl“, erwiderte sie, schlüpfte ins Schlafzimmer und schaltete dort die kleine Nachttischlampe an.

Das Erste, was danach geschah: Sunny und Lunel sprangen wie vom Blitz getroffen vom Bett auf und flitzten aus dem Raum. Chandra schmunzelte darüber nur; erst hatten sie sie aus dem Wohnzimmer verscheucht und nun aus dem Schlafzimmer. Aber ihre Pokémon waren blitzgescheit und wussten sehr genau, wann sie besser nicht zugegen sein wollten.

Zayn schloss die Tür hinter sich und als er nun vor Chandra stand, fühlte sie sich ein wenig klein gegenüber seiner hohen Statur. Er legte ihr eine Hand in den Nacken und küsste sie abermals, woraufhin sie sich nach hinten aufs Bett fallen ließ und ihn mit sich zog.

Von neuer Leidenschaft erfasst versank sie in diesem Kuss, setzte ihr vorheriges Vorhaben fort und knöpfte sein Hemd auf, was gar nicht so leicht war, so nah, wie sie sich waren. Doch sie schaffte es bis hinunter zum letzten Knopf. Er löste sich von ihr, erhob sich etwas und sie warf ihren Blick auf seine sonnengebräunte, definierte Haut, fuhr mit den Fingerspitzen seine Brust entlang. Anschließend zog sie ihm sein Hemd über die Schultern, woraufhin er es sich abstreifte und zu Boden warf. Chandra setzte sich ihrerseits auf, bis ihre Gesichter sich wieder so nahe waren, dass sie seinen warmen Atem auf der Haut spürte. Mit einem selbstbewussten Grinsen entledigte sie sich nun auch ihres Oberteils. Daraufhin legte Zayn seine Arme um ihren Rücken und drückte sie mit seinem Körper wieder nieder auf das Bett, bedeckte erst ihren Hals und dann ihre Schlüsselbeine mit Küssen, die ihr die Sinne vernebelten. Sie legte ihre Arme wohlig stöhnend nach oben und reckte ihm ihren Oberköper entgegen, als sie seine Lippen auf ihrer einen, dann auf der anderen Brust fühlte.

Für ein paar Sekunden verharrte sie in seinen Liebkosungen. Wenig später öffnete Zayn hinter ihrem Rücken den Verschluss ihres trägerlosen BHs. Bevor er ihr diesen vom Körper ziehen konnte, lenkte sie seine Aufmerksamkeit wieder nach oben, indem sie sein Gesicht zu sich zog. Chandra drückte ihren Mund fordernd auf seinen und schlang anschließend ihre Beine um seine Hüften. Allmählich wallte eine Hitze durch ihren Körper, der sie nachgeben wollte. Sie spürte seine Erektion, die leicht gegen ihren Unterleib drückte, und vernahm nun umso deutlicher ihre eigene Erregung. Ihre Hände fanden ihren Weg hinunter zu seinem Gürtel und mit Leichtigkeit öffnete sie erst diesen und im Anschluss seine Hose. Selbstsicher und keine Zweifel an seiner Reaktion habend, steckte sie ihre rechte Hand in Zayns Hose und glitt quälend langsam nach unten. Er hörte auf, sie zu küssen und ein leises Stöhnen drang über seine Lippen.

„Du lässt echt nichts anbrennen, oder?“ Zayns Stimme klang tief und verführerisch, woraufhin Chandra ihre Hand wieder zu sich zog und vielversprechend lächelte.

„Nein, du etwa?“

In einer fließenden Bewegung stand er vom Bett auf und zog sich endlich die Jeans aus, bis er nur noch in Unterwäsche vor ihr stand. Chandra grinste und biss sich leicht auf die Unterlippe, wobei sie ihm in die Augen sah, dann stand sie ebenso schnell auf, was ihren BH zu Boden segeln ließ.

„Ups“, flüsterte sie unschuldig, ehe sie ebenfalls ihre Hose und ihre Socken auszog.

Zayn kam nicht umhin, seine eisblauen Augen über ihren Körper wandern zu lassen, was sie mit einem zufriedenen Lächeln quittierte. Sie ergriff seine rechte Hand und zog ihn wieder mit sich aufs Bett. Haut schmiegte sich an Haut, als sie ihn küsste und die Wärme genoss, die von ihm ausging. Sie fühlte seine Finger, wie sie an ihrer Seite hinabfuhren, langsam und reizend, dann glitten sie seitlich unter ihren Slip, als wollten sie diesen herunterziehen, taten es aber nicht. Im nächsten Moment war seine Hand zwischen ihren Beinen, fuhr nach oben und strich über ihre Weiblichkeit. Parallel dazu spürte sie nun erneut seine Lippen an ihrem Hals – sie wusste nicht, ob sie sich lieber auf das Prickeln ihrer Haut oder auf das in ihrem Unterleib konzentrieren sollte. Chandras Finger wanderten über seinen Rücken nach unten, doch gerade als sie an seinen Boxershorts ankamen, hielt er plötzlich inne.

„Ähm“, er klang einen Hauch beschämt und sah in ihr Gesicht, „du hast nicht zufällig Kondome da?“

Chandra entlockten diese Worte ein breites Grinsen; das war nun wirklich ein wenig unerwartet, wenn auch nicht schlimm. „Ein Mann, der nicht allzeit vorbereitet ist. Recht ungewöhnlich“, stellte sie fest.

„Tja, mein Aufenthalt in Pyritus schloss eigentlich keinen Sex mit einer schönen Unbekannten mit ein“, lächelte Zayn.

„Oh, darf ich mich geschmeichelt fühlen?“ Sie beugte sich hinüber zu ihrem Nachtschränkchen, fischte aus dessen Schublade ein verpacktes Kondom und hielt es vor sich.

„Darfst du“, hauchte er an ihre Lippen. Das Kondom noch in der Hand, verschränkte sie die Arme hinter seinem Nacken und ließ sich zum gefühlt hundertsten Mal in einen sehnsüchtigen, heißen Kuss entführen. Als er sie und sich selbst wenig später endlich von dem restlichen, störenden Stoff befreite, bereute sie ihre Entscheidung nicht im Geringsten.

 

******

 

„Hey, sag mal …“ Chandra erhob sich aus ihrer zuvor liegenden Position, stützte sich auf ihrem linken Ellbogen ab und blickte auf Zayn hinab, der neben ihr im Bett lag.

„Hm?“ Mehr kam nicht über seine Lippen und Chandra stellte voll Belustigung fest, dass er doch recht erschöpft wirkte. Verständlich, sie fühlte sich ja selbst müde, aber befriedigt, und hätte innerhalb von ein paar Minuten einschlafen können. Alles andere wäre nach dem, was sie getan hatten, reichlich merkwürdig.

„Ich frage mich schon die ganze Zeit“, fuhr sie fort und griff ungehemmt mit ihrer Hand in seinen dichten, verstrubbelten Haarschopf, „was mit deinen Haaren los ist. Wieso schimmern sie sie Lila?“

Ein leichtes Grinsen legte sich über Zayns Lippen. „Du könntest mich jetzt so viele Dinge fragen, die ich dir beantworten würde, stattdessen fragst du mich etwas zu meinen Haaren?“

„Ich bin ein Mädchen, uns interessieren solche Dinge halt.“

„Na gut“, lachte er. „Ich habe eine Wette verloren, musste mir die Haare färben. Aber der Vorteil an schwarzen Haaren ist, dass kaum eine andere Farbe eine Chance hat. Also sind sie nun schwarz mit Lilastich. Herrlich, nicht wahr?“

„Ich finde es schön, lässt dich besonders aussehen“, meinte Chandra und besah sich noch kurz seiner Haare. Dabei störte es sie nicht, dass sie momentan noch recht dicht beieinander unter ihrer Bettdecke lagen und sich ihre nackten Körper immer wieder streiften. Doch sie würde ihm für die Nacht noch eine eigene Decke geben – Kuscheln war nicht unbedingt ihre Stärke und verkomplizierte solche Dinge wie unverbindlichen Sex unnötig. Darauf hatte sie wirklich keine Lust.

„Wenn du das sagst“, schmunzelte Zayn.

Sie legte sich wieder neben ihn und betrachte sein Profil. Mit leichtem Unmut stellte sie zum wiederholten Male fest, wie gut er doch aussah, und verlor sich im Mustern seiner hervorstechenden Wangenknochen. Hätte sie ihn nicht attraktiv gefunden, hätte sie nicht mit ihm geschlafen, allerdings trug seine Art auch einen nicht unerheblichen Anteil daran. Sie hatte sich wohl in seiner Nähe gefühlt und tat es immer noch. Er war eben der Erste, der ihr zugehört hatte.

Plötzlich wandte er den Kopf zu ihr und beschämt über ihr Starren wurde sie rot.

„Mir ist eine Frage gekommen, Chandra“, sagte er. „Du hast in deinen Erzählungen kein einziges Mal von deinen Pokémon geredet. Aber ich frage mich, woher du zwei solche besonderen Pokémon hast. Du scheinst ja keine Trainerin zu sein, was verständlich ist. In einer Stadt wie Pyritus will man seine Pokémon nicht mit anderen messen.“

Mit dieser Frage hatte Chandra nicht gerechnet, aber sie war froh, dass er ihr keine Frage zu einem unangenehmen Thema stellte. Außerdem dachte sie gerne an ihre Pokémon – an den bisher einzigen Lichtblick in ihrem düsteren Alltag.

„Die beiden sind mittlerweile schon gut drei Jahre bei mir“, fing sie an. „Ich wohnte noch nicht lange hier in dieser Wohnung, als ich eines Abends in einem Park durch Zufall ein Evoliweibchen und seine zwei Jungen fand – ein süßes, kleines weibliches Evoli und ein männliches. Ihre Mutter war verletzt und sehr schwach, weshalb sie die beiden anscheinend schon eine Weile nicht mehr ausreichend hatte versorgen können. Es ging ihnen ebenfalls sehr schlecht. Ich hatte keine richtige Erfahrung mit Pokémon, aber ich wusste, dass ich ihnen helfen musste. Also brachte ich sie zum Pokémon-Center. Pyritus ist eine scheiß Stadt, aber die Ärzte und Schwestern im Pokémon-Center sind immer bemüht, sich um kranke Pokémon zu kümmern. Heute mehr denn je. Leider schaffte es die Mutter nicht, ihre Verletzung hatte sich entzündet und dies letztlich zu einer Blutvergiftung geführt. Sie verstarb, doch ihre Kinder ließen sich schnell wieder aufpäppeln. Als es ihnen schließlich besserging, konnte ich die beiden Evolis nicht einfach wieder draußen aussetzen. Sie waren so hilfsbedürftig und alleine nach dem Tod ihrer Mutter. Sie hatten niemanden und in Pyritus hätten sie nicht lange überlebt. Gewissermaßen teilten sie mein Schicksal.

Also nahm ich sie mit zu mir und kümmerte mich fortan um sie. Sie fühlten sich schnell wohl hier und lebten sich ein, wir bauten eine Bindung zueinander auf. Doch ich sah sie nie als meine mir gehörenden Pokémon an, sie waren immer Freunde für mich. Als sie nach einigen Monaten schließlich ausgewachsenen waren, geschah das Unfassbare. Das Männchen entwickelte sich nachts bei Vollmond zu einem Nachtara und das Weibchen entwickelte sich am nächsten Tag im Sonnenschein zu Psiana. Ab diesem Moment war mir klar, wie viel Zuneigung und Vertrauen mir diese beiden Geschöpfe entgegenbringen mussten. Wie du ja wahrscheinlich weißt, vollziehen Evolis die Entwicklung in Psiana oder Nachtara in Nähe eines Menschen nur dann, wenn sie diesem viel Liebe entgegenbringen. Deswegen sind diese beide Pokémon viel seltener als jene Evoli-Entwicklungen, die sich bei Kontakt oder Nähe zu bestimmten Steinen oder Felsen entwickeln.

Ab da wuchs unsere Bindung zueinander und ich überlegte mir passende Namen für die beiden. Aber das war nicht alles. Auf einmal verfügten die beiden über diese Fähigkeit, die du ja schon kennengelernt hast. Sie können das Gute oder Böse in einem Menschen und dessen Absichten spüren und haben mich seither immer vor jeder potenziellen Gefahr gewarnt. Doch ebenso spüren sie auch die Dunkelheit der Cryptopokémon und reagieren sehr empfindlich darauf, selbst wenn sie im Pokéball sind. Das ist der Grund, wieso ich sie nie mit in die Stadt nehme, sondern meist nur mit in Parks oder kleinere Wäldchen abgelegen vom Trubel. Es ist besser so für sie, ich möchte ihnen nicht schaden.“

Bevor Chandra wieder zu tief in das leidige Thema „Cryptopokémon“ abtauchte, beendete sie ihre Erzählung lieber. Sie sah, dass Zayn sie leicht anlächelte.

„Du bist ein wundervoller Mensch, der wundervolle Dinge macht und das haben sie gespürt. Und ich bin mir sicher, du wärst auch eine tolle Trainerin. Liebe macht Pokémon stark, nicht das Entsagen jeglicher Gefühle.“ 

„Ja, wahrscheinlich“, nuschelte sie in die Decke. Sie wollte im Moment keine Komplimente hören und nicht über Cryptopokémon reden. Außerdem spürte sie mehr denn je, wie eine schwere Müdigkeit sich über ihren Geist legte, der sie allmählich zum Opfer fiel.

Zayn bemerkte dies und sagte: „Du solltest schlafen, es war ein harter Tag.“

Sie nickte und schloss die Augen. Plötzlich wandte Zayn sich ihr zu und legte einen Arm um sie, was ihr trotz aller vorherigen körperlichen Nähe eine Gänsehaut bescherte. Kommentarlos nahm sie seine Annährung hin und konzentrierte sich auf ihre Erschöpfung, bis sie allmählich einschlief.

 

******

 

Als Chandra nach einem eher leichten Schlaf das nächste Mal die Augen öffnete, fiel ihr auf, dass sie mittlerweile komplett alleine eingewickelt in ihrer Decke im Bett lag. Zayn war nicht länger neben ihr. Sie setzte sich auf und bemerkte, dass es noch immer nachts war. Es fiel kein Licht durch das Rollo ihres Fensters über dem Bett und die kleine Lampe auf ihrem Nachtschränkchen brannte noch.

Doch wo war Zayn? Sie erhob sich aus dem Bett, warf sich ihre große Decke schützend um den Körper und fühlte eine unangenehme Nervosität in ihrem Inneren. War er fort? Eigentlich war das für Chandra nichts Neues. Es war normal, dass Männer gerne mitten in der Nacht verschwanden oder spätestens am frühen Morgen. Sie wachte oft alleine auf und meist kam sie damit klar. Aber Zayn konnte nicht gegangen sein; nicht nach all dem, was am Tage und Abend passiert war.

Sie sah zu Boden, wo noch immer seine Jeans uns sein Hemd neben ihren Sachen lagen, und seufzte erleichtert. Alles war in Ordnung. Aber es ärgerte sie insgeheim, dass sie noch immer von ihm erwartete, dass er jede Sekunde Reißaus nehmen könnte. Das musste aufhören.

Als nächstes trat sie aus dem Schlafzimmer und rief zögerlich: „Zayn?“ Dann hörte sie Geräusche aus dem Badezimmer, das im länglichen Flur gegenüber der Wohnungstüre lag. Gerade als sie vor diesem ankam, öffnete sich die Tür und Zayn stand ihr gegenüber. Er trug wieder seine Boxershorts und ihr fiel auf, dass seine Haare feucht waren und ihm ein Handtuch um die Schultern lag.

„Hey …“, fing er an, „ich war duschen. Hoffe, es ist okay, dass ich mich an deinen Sachen bedient habe?“

„Ehm, klar, wenn du nach Mädchen riechen willst“, entgegnete Chandra zögerlich.

„Ich denke, damit komm ich klar.“

Chandra wusste darauf nichts zu erwidern und so kam es zu einem peinlichen Moment der Stille, in welchem sie sich nicht entscheiden konnte, wohin sie schauen sollte. Die Situation und ihr Verhalten waren ihr nun doch unangenehm.

Zum Glück erlöste Zayn sie, indem er wieder etwas sagte. „Dein Handy hat vorhin geklingelt.“

Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo ihr Handy auf dem Tisch lag.

„Ich habe natürlich keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Es ist eigentlich nicht meine Art, die Telefone anderer Leute anzurühren“, meinte er locker und sah unschuldig zur Seite, als sie ihn fixierte.

„Was willst du denn damit sagen?“

„Das weißt du ganz genau“, lachte er, doch sie war schon dabei, zu ihrem Handy zu laufen, die Decke noch um sich drapiert. Die Gefahr, dass Ray sie anrief, bestand zu jeder Zeit, jetzt wahrscheinlich mehr denn je.

Als Chandra ihr Handy in der Hand hatte, war sie erst erleichtert – es war nicht ihr Bruder – und dann ärgerte sie sich über sich selbst. Sie hatte Devin versetzt. Nun hatte sie zwei Nachrichten und einen verpassten Anruf von ihm. Es war mittlerweile kurz nach Mitternacht, die Nachrichten waren schon zwei Stunden her, der Anruf erst eine halbe Stunde. Normalerweise trafen sie sich immer so zwischen 21 und 22 Uhr und eigentlich erschien Chandra immer. Kein Wunder, dass er sich fragte, wo sie abgeblieben war und sich ein wenig Sorgen machte. Doch sie konnte ihn definitiv nicht mit der Wahrheit überrennen, also musste eine schnelle Lüge her. So schrieb sie ihm, dass sie eingeschlafen war und sich nicht wohlfühlte, er sich aber keine Sorgen machen musste – das Übliche eben. Zum Glück wusste Devin, dass Chandra es – eigentlich – hasste, mit irgendetwas bedrängt zu werden, also bestand keine Gefahr, dass er plötzlich vor ihrer Türe stand. Zum Glück.

„Und? Wer war’s?“ Zayn war hinter sie getreten und wollte über ihre Schulter blicken, doch sie drehte sich zu ihm.

„Niemand, das geht dich nichts an“, sagte sie.

„Ach ja, ist dem so?“ Er war ihr so nah, dass sie seinen Atem auf ihrer Stirn fühlte. „Dabei bist du doch selbst immer so neugierig. Ein bisschen unfair, findest du nicht auch?“

Mist, grummelte sie gedanklich, er muss doch mitgekriegt haben, wie ich an seinen PDA wollte. Sie ließ sich ihre Erkenntnis nicht anmerken, meinte stattdessen: „Soweit ich weiß, weißt du mittlerweile ziemlich viel über mich, während ich gleich gar nichts über dich weiß. Bisschen unfair, findest du nicht auch?“

Zayn grinste. „Stimmt. Über mich gibt es aber auch nicht halb so wie zu sagen wie über dich.“

Sie erwiderte nichts, sah ihn nur an und fühlte, wie ihr das Blut allmählich in die Wangen schoss. Sie konnte nicht normal mit ihm reden, während er halbnackt vor ihr stand. Das war nicht gut für ihren Puls.

„Könntest du dir vielleicht endlich wieder was anziehen?“

Chandra war im Begriff, das Wohnzimmer zu verlassen, da rief er ihr hinterher: „Hey, ich trage im Moment mehr Stoff am Körper als du.“

„Jaja.“ Im Schlafzimmer zog sie sich nun selbst wieder Unterwäsche und Schlafkleidung an, ehe kurz darauf Zayn zu ihr stieß, der sich zumindest ein T-Shirt übergezogen hatte. Sie stellte fest, dass er mit einem Male wieder erheblich ernster schien und jegliches Lächeln von seinem Gesicht verschwunden war.

„Wir müssen reden, Chandra.“

Oh nein, schon wieder?

„Worüber? Doch nicht etwa über das, was vorhin passiert ist? Bitte sag mir nicht, dass du jemand bist, der über so etwas reden muss“, brach es aus ihr heraus.

„Ich, ähm …“ Er schien verdutzt.

„Für mich gibt es da nichts zu bereden, es war nur Sex und es hatte nichts zu bedeuten, in Ordnung?“

Zayn schüttelte den Kopf. „Geht klar, nur Sex. Aber darüber wollte ich auch gar nicht reden.“

Oh. Beschämt strich sie sich blonde Haarsträhnen hinters Ohr und sah zu Boden. „Worüber dann? Kann das nicht bis morgen warten? Es ist schon so spät und …“ Sie war dabei, an ihm vorbei zum Bett zu gehen, als er unvermittelt ihr rechtes Handgelenk ergriff.

„Nein, kann es nicht“, betonte er. „Es ist wichtig und morgen könnte es zu spät sein. Wir hätten vorhin schon darüber sprechen müssen, aber dann hatten wir absolut unbedeutenden Sex, dann habe ich dich schlafen lassen und nun ist es höchste Zeit.“

„Ich habe dich nicht gezwungen, ein Gentleman zu sein“, gab sie bissig zurück, wurde aber neugierig.

„Wie auch immer. Ich habe nachgedacht und denke, dass du schleunigst aus dieser vergifteten Stadt verschwinden solltest.“

Perplex sah Chandra ihn an. Hatte sie ihn gerade richtig verstanden? Verschwinden war eigentlich nicht im Rahmen ihrer Möglichkeiten. „Hast du mir vorhin nicht zugehört? Ray killt mich, wenn ich abhaue.“

„Denkst du, er wird netter zu dir sein, wenn du hierbleibst? Er ist ein Arschloch und wahrscheinlich auch ein Lügner, der dir das sagt, was nötig ist, um dich hier zu behalten. Du wirst nichts von ihm bekommen, wenn du deinen Nutzen für ihn erfüllt hast“, entfuhr es Zayn.

„Das wissen wir nicht.“ Angst durchflutete sie bei der Vorstellung, die Stadt zu verlassen und ein Leben in Furcht führen zu müssen. Die Furcht davor, dass Ray sie finden und unsäglich leiden lassen würde.

„Jeder mit einem gesunden Menschenverstand weiß das. Du hast viel zu lange nichts getan, aber das muss dir nicht unangenehm sein. Du warst ein Kind und du warst alleine. Was dein Vater und Bruder getan haben, war falsch und schamlos. Du konntest dich nicht gegen sie wehren, aber das ist jetzt vorbei. Du bist erwachsen und kannst dich entscheiden, nicht länger nach ihrer Pfeife zu tanzen.“

„Du stellst dir das zu einfach vor“, fuhr sie ihn panisch an. „Ray wird überall nach mir suchen, da ich wichtig für ihn bin.“

„Genau das ist es ja; aus irgendeinem Grund braucht er dich. Und ich wette, es hat etwas mit den Cryptopokémon zu tun. Vermutlich hat er allen Grund dazu, dir das vorzuenthalten, denn wenn du es wüsstest, wer weiß, ob du dann noch nach seinen Regeln spielen würdest. Aber es ist höchste Zeit, damit aufzuhören. Er erwartet nicht, dass du abhaust, dafür ist er es viel zu sehr gewohnt, dass du tust, was er verlangt.“ Er pausierte kurz, dann legte er ihr die Hände auf die Schultern. „Überleg doch mal, er geht felsenfest davon aus, dass du diese Pillen nehmen wirst, weil er das sagt. Er wird aus allen Wolken fallen, wenn du weg bist. Und du musst weg. Sonst zwingt er dich, diese Pillen zu schlucken und das kannst du nicht tun.“

„Aber …“ Chandra fühlte sich innerlich überrannt von seinen Worten. Fortgehen war nie eine Option für sie gewesen. Sie war stets alleine gewesen und hätte nicht gewusst, wohin sie gehen sollte. „Ich weiß, dass du recht hast“, gestand sie. „Aber ich kann das nicht tun …“

„Du bist ja nicht alleine.“ Nun klang Zayn wieder ruhiger. „Du kommst mit mir mit.“

Jetzt war es an ihr, verdutzt zu sein. „Wohin?“ Und wieso schlug er ihr das überhaupt vor? Wieso fühlte er sich verantwortlich für sie? Das war ihr so unbekannt. Er wusste zwar viel über sie, aber eigentlich kannte er sie doch kaum. Warum um alles in der Welt stürzte sich jemand freiwillig für sie in Gefahr?

„Das kann ich dir hier nicht sagen.“

„Wieso tust du das?“

Er lächelte. „Das habe ich dir schon beantwortet. Und nach allem, was ich nun weiß, kann ich dich nicht einfach hier zurücklassen. Ich biete dir das einzig Richtige an und ich hoffe, dass du annimmst.“

Ein Teil von ihr war durchaus hin und hergerissen. Doch noch hatte die Angst sie unter ihrer Kontrolle. „Das ist keine gute Idee, ich hätte dich da gar nicht mit hineinziehen dürfen. Du solltest alleine wieder gehen und mich und alles, was du weißt, vergessen, das ist besser so. Glaub mir.“

Plötzlich erschien Zayn ihr traurig, denn ein betrübtes Lächeln erschien auf seinen Lippen und er schüttelte den Kopf. „Ich habe da schon viel zu tief dringesteckt, bevor ich dich überhaupt kannte. Glaub du mir.“

„Was meinst du?“

„Ich meine, dass meine Forderung an dich verdammt dringend ist und ich nicht mehr viel Zeit habe. Ich hätte schon längst die Stadt verlassen sollen, aber bin immer noch hier. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis dein Bruder von mir erfährt – und wenn er die Gläser wirklich gesehen hat, dann wird es noch weniger lange dauern. Ich muss hier weg und ich hoffe, dass du mitkommen willst.“

Chandra erinnerte sich wieder an den Vortag und an die Situation, aus der sie Zayn herausgeholfen hatte. „Hat es etwas mit gestern zu tun?“

„Unter anderem“, nickte er.

„Du musst mir sagen, worum es geht. Hast du irgendetwas getan? Kennt Ray dich etwa?“

„Nein.“ Zayn wirkte ein wenig überfordert mir ihren Fragen. „Stell mir keine Fragen, bitte. Ich sage dir alles, wenn wir weit genug von hier weg sind.“

„Du erwartest von mir, dass ich mal eben von hier türme, meinen kläglichen Haufen von Leben zurücklasse, ohne zu wissen, wohin ich gehe oder was überhaupt los ist. Ach, und mal ganz nebenbei breche ich den Vertrag mit Ray“, fasste sie sarkastisch zusammen.

„Den hast du schon gebrochen, indem du mir alles erzählt hast.“

Das war ein Argument, durchaus, aber … „Das muss er nie erfahren.“

Zayn trat nach hinten, griff sich mit beiden Händen an den Kopf und stöhnte genervt. „Meine Güte! Wie kann man so verdammt stur und uneinsichtig sein?“ Er schlug seitlich mit der Faust gegen die Wand und Chandra zuckte zusammen. Als er wieder zu ihr sah, wirkte er wütend. „Hör zu. Ich garantiere dir, dass Ray herausfinden wird, dass ich hier war. Selbst wenn ich jetzt abhaue, wird er eins und eins zusammenzählen und dahinterkommen, dass ich bei dir war. Und bitte frag mich nicht, woher ich das weiß. Vertrau mir einfach. Es wird dir an den Kragen gehen, wenn er es weiß und dann wird er auch alles andere erfahren. Du hast nur die Option, mit mir mitzukommen, Chandra. Nur diese eine Option.“

Sie sah ihn fassungslos an, damit hatte sie nicht gerechnet. Alles in ihr schrie danach, ihn zu fragen, woher er sich so sicher war, was er verdammt noch mal wusste, aber ihr war klar, dass sie heute keine Antwort bekommen würde. Und vielleicht hatte er recht. Sie war stur und festgefahren. Die Angst durfte sie schlichtweg nicht noch länger in ihrer Gewalt haben. Ihr Bruder durfte dies nicht länger. Es war an der Zeit, dem Mistkerl Einhalt zu gebieten.

„Und was machst du, wenn ich nicht mitkommen will?“, fragte sie.

„Wenn es nötig ist, schlag ich dich auch K.O. und entführe dich. Du solltest es dir also besser gut überlegen.“

Auf seine ernst gesprochenen Worte lachte sie unsicher. „Das würdest du nicht wirklich tun, oder?“

Schulterzuckend sagte er: „Wer weiß, vielleicht schon. Also? Wie lautet deine Entscheidung?“

Erfüllt von innerlicher Verzweiflung griff Chandra sich an die Stirn. „Ach, Zayn“, jammerte sie, „so schnell kann ich das nicht entscheiden. Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.“

„Du hast aber nicht mehr viel Zeit“, warf er ein.

Stimmte dies? Gab es für sie nur noch die Möglichkeit der Flucht oder die, hierzubleiben und in ihr Verderben zu rennen? Es fiel ihr so schwer, sich zwischen den Optionen, die ihr beide reichlich Unbehagen bereiteten, zu entscheiden, wo sie doch nichts wusste. Sie wusste noch immer gar nichts von Zayn, wusste nicht, wohin sie gehen würden. Doch was ihr von alledem am wenigsten behagte, war, dass er sich in Schweigen hütete über das, was er hier in der Stadt getan hatte. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass es etwas sein musste, das ihr auf irgendeine Art nicht gefallen würde. Konnte sie ihm denn dann überhaupt vertrauen? Im Grunde schon, sie hatte ihm den Abend über eindeutig vertraut. Aber mit einem Male ging alles so schnell. Er verlangte von ihre eine Entscheidung zu einer Sache, die niemals zur Debatte gestanden hatte.

Gestern war alles noch so normal gewesen, bis sie dieses merkwürdige Gefühl beschlichen hatte, dass irgendwo irgendetwas nicht in Ordnung war. Und sie ärgerte sich nicht wegen ihrer Entscheidung, geholfen zu haben. Doch nun sank sie immer tiefer in ein Schlamassel, das ihr beinahe mehr Angst bereitete als ihr Bruder.

„Ich habe Angst“, gab sie zu. Nun klang sie wieder unsicher, und das erzürnte sie innerlich. Es gab kein Mittelmaß von Chandra. Es gab sie nur in selbstbewusst und tough oder in schwach und ängstlich.

„Das verstehe ich.“ Zayn trat wieder zu ihr und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. „Aber du musst mir so vertrauen, wie du es vorhin getan hast.“

Seiner Worte zum Trotz sagte sie: „Aber woher soll ich wissen, dass du mich nicht unterwegs im Stich lässt?“

„Vielleicht, weil ich hier stehe und dir dieses Angebot mache? Es war bestimmt nicht mein Plan, als ich hierhergekommen bin, die Stadt nicht wieder alleine zu verlassen. Aber ich habe diesen Entschluss bestimmt nicht mal eben so gefasst, Chandra. Und wenn ich dir sage, dass ich dich nicht im Stich lassen werde, dann kannst du mir das glauben. Ich halte mein Wort.“ Nach einer bedeutungsvollen Pause fügte er an: „Im Gegensatz zu manchen anderen Leuten.“

Bevor Chandra zu einer Antwort kam, stolzierten plötzlich ihre Pokémon in den Raum, die zuvor noch im Wohnzimmer geschlafen hatten. Fast schon unauffällig schmiegten sie sich an ihre Beine und gaben zustimmende Laute von sich – wenn sie Zustimmung ausdrücken konnten. Abgeneigt sahen sie zumindest nicht aus.

Sunny und Lunel hatten Chandra schon einmal an diesem Abend geholfen, eine Entscheidung bezüglich Zayn zu treffen. Tatsächlich gab es doch viel mehr Gründe, mit ihm zu gehen, als hierzubleiben. Denn vermutlich hatte er recht – Ray besaß keinerlei Güte und Gnade war stets nur an Bedingungen geknüpft. Sie würde vermutlich niemals frei sein, bliebe sie hier.

„Wann wolltest du gehen?“

Auf ihre Worte hin erschien ein Grinsen auf seinem Gesicht. „Ich denke, wir sollten noch vor Sonnenaufgang gehen. Allerdings haben wir einen weiten Weg vor uns und brauchen noch etwas Schlaf.“

Sie wollte Zayn fragen, wie er gedachte, zu reisen, doch da er ihr ohnehin keine Antwort geben würde, ließ sie es. „Das heißt, wir schlafen noch ein paar Stunden und brechen dann auf?“

„Exakt.“

Nicht viel später gingen die beiden dann tatsächlich zu Bett. Chandra hatte Zayn noch eine eigene Decke gegeben und sie hütete sich davor, ihm im Bett zu nahe zu kommen. Das half ihr dabei, nicht darüber nachzudenken, wie angetan sie von seiner Hilfsbereitschaft war. Ausnahmsweise durften diesmal sogar Sunny und Lunel mit im Bett schlafen. Alles in allem fühlte sich die letzte Nacht in ihrem Zuhause merkwürdig für Chandra an, doch es war eine gute Art von Merkwürdigkeit. Sie empfand Angst, aber zugleich auch eine irrsinnige Vorfreude. In wenigen Stunden würde sich alles ändern und auch wenn sie keinen Schimmer hatte, wohin sie aufbrechen würden, so hatte sie sich nichtsdestotrotz dazu entschlossen, Zayn einmal mehr ihr Vertrauen zu schenken.

 

******

 

Es war noch nicht einmal fünf Uhr in der Früh, als Chandra von Zayn geweckt wurde. Viel zu müde fügte sie sich in ihr neues Schicksal und stand umgehend auf, denn viel Zeit hatten sie nicht. Die Sonne würde ungefähr um halb sieben aufgehen und bis dahin planten sie, fort zu sein. In Windeseile duschte sie und machte sich fertig, geriet aber ins Zögern, als sie sich fragte, was sie mitnehmen sollte. Sie konnte doch schlecht nur mit dem, was sie am Körper trug, in ein neues Leben aufbrechen.

Nervös stand sie vor ihrem Kleiderschrank. „Was soll ich nur tun?“, klagte sie.

„Wir haben nur begrenzt Platz für Gepäck, also nimm nur das Nötigste mit. Der meiste Kram ist sowieso ersetzbar“, warf Zayn beiläufig ein, der im Türrahmen stand und irgendwelche Daten in seinem PDA checkte.

Chandra war sich nicht sicher, ob einige ihrer wertvollsten Kleidungsstücke – natürlich alleine online bestellt, in Pyritus gab es keine guten Läden – ersetzbar waren. „Aber ich brauch doch was zum Anziehen, wenn ich umziehe“, sagte sie und stellte fest, wie seltsam der Schluss des Satzes für sie klang.

„Wir kaufen dir neue Sachen. Im Moment ist die erste Priorität, heil hier wegzukommen. Gut aussehen ist nur die zweite Priorität“, meinte Zayn.

Er hatte ja recht; es gab Wichtigeres. Und viel mitnehmen konnte Chandra nicht, sie besaß nämlich keine riesige Tasche, sondern lediglich eine etwas größere Sporttasche. Diese holte sie vom Schrank und packte in den nächsten Minuten ihre liebsten Klamotten ein – zwischendurch warf Zayn ein, dass es dort, wo sie hingehen würden, kühler sei als in Pyritus und sie daher auch etwas Wärmeres einpacken solle – und überdies alles, was ein Mädchen eben so brauchte. Zu guter Letzt flogen noch ein paar Wertsachen und emotional wichtige Sachen in die Tasche und schon war diese voll. Sie hatte selbst die Tabletten von Ray eingepackt. Nicht, um sie zu nehmen, aber sie wollte sie nicht hierlassen.

„Hast du ein bisschen Bargeld hier?“, fragte Zayn sie.

„Sogar mehr als genug.“ Dass Chandra nicht früher daran gedacht hatte! In der rechten Ecke ihres Schrankes räumte sie Klamotten zur Seite, bis ein dunkelgrauer, kleiner Tresor zum Vorschein kam.

Zayn kniete sich neben sie und wirkte ehrlich überrascht. „Du hast ‘nen Tresor in deinem Schrank versteckt?“

Statt ihm zu antworten, gab sie einen Code im Zahlenfeld des Tresors ein und drehte den Griff, bis die Tür aufschwang. Eine erhebliche Summe an Geldscheinen, ordentlich in Bündel verpackt und übereinandergestapelt, offenbarte sich.

„Wie viel ist das?“

„Keine Ahnung. Irgendwas im vierstelligen Bereich?“, überlegte sie. „Hab seit zwei Jahren gespart. Ray gab mir immer mehr als genug Geld und alles, was ich nicht für die Miete brauche, lasse ich doch nicht in Pyritus‘ schäbigen Banken vergammeln. Die werden viel zu oft überfallen und ausgeraubt. Also habe ich das meiste hier gebunkert.“ Während sie sprach, räumte sie die Bündel Geld aus dem Safe. „Du denkst dir vielleicht, dass das ja total gefährlich sei. Aber ich hatte die ultimativen Bodyguards für diese Wohnung und es würde sowieso keiner wagen, in meine Wohnung einzubrechen. Im Endeffekt würde man ja auch nicht mein Geld stehlen, sondern Rays Geld, und das will keiner.“ Sie lachte nervös bei dem Gedanken, eben jenes Geld nun für ihre Flucht zu benutzen. Insgeheim hatte sie auch immer deshalb Geld angespart, falls sich ihr eines Tages die Möglichkeit geboten hätte, abzuhauen. Und nun war es soweit.

„Na schön“, stimmte er zu. „Damit wirst du dir wohl auch genug neue Kleidung zulegen können.“

„Definitiv.“

Chandra stopfte einen Teil des Geldes in ihre Tasche, der Rest wurde in Zayns Rucksack verstaut. Als weitestgehend alles verpackt war und sie mit ihren wenigen Sachen im Flur standen, überkam Chandra ein Gefühl der Wehmut. Alles Wichtige hatte sie eingepackt und ansonsten gab es nichts mehr, was sie mitnehmen musste. Dennoch fühlte sich dieser Moment werkwürdig an.

Sunny und Lunel standen neben ihr und wussten sehr genau, was los war, ohne dass Chandra viel hatte erklären müssen. Sie waren natürlich absolut bereit für den Aufbruch.

„Ihr beide müsst jetzt in eure Bälle, ja?“, sagte sie und ging in die Hocke, kraulte die beiden hinter den buschigen Ohren. „Aber ich werde euch so bald wie möglich an die Luft lassen und dann werden wir ganz weit von diesem Ort weg sein.“ Ihr Psiana leckte ihr aufmunternd über die Hand und Nachtara stupste fordernd mit der Nase die Pokébälle an. Wenig später waren die beiden mit dem roten Licht in den Bällen verschwunden und Chandra packte diese in ihre kleine Umhängetasche.

„Hast du dein Handy?“, fragte Zayn.

„Ja, wieso?“

„Gut. Das werden wir draußen noch zerstören müssen“, sagte er selbstverständlich.

Sie stockte. „Aber …“

„Handys kann man orten. Also wenn du es nicht hierlassen willst, machen wir es kaputt. Denn ausgeschaltet nützt es dir sowieso nichts.“

Es hierlassen und zulassen, dass Ray in ihren Sachen herumschnüffeln konnte? Das klang nicht besonders toll. Sie wollte nicht länger protestieren, als sich jedoch eine unschöne Erkenntnis in ihr ausbreitete. Sie nahm ihr Handy in die Hand und starrte mit betrübtem Blick auf das Display.

Es gab nichts, was sie hier in Pyritus zurücklassen würde, das sie vermissen könnte. Zumindest nichts Materielles. Doch es gab einen Menschen, bei dem der bloße Gedanke, ihn vielleicht nicht wiedersehen zu können, Traurigkeit in ihr erzeugte. Devin. Er mochte zwar nicht viel über die wirkliche Chandra wissen, doch er war ihr in den letzten zwei Jahren ans Herz gewachsen und ihn nun ohne eine Erklärung zurückzulassen, erschien ihr falsch.

„Was ist los?“

„Devin. Ich, ähm … Wenn ich einfach verschwinde, wird er sich Sorgen machen“, murmelte sie. „Wenn ich mich wenigstens verabschieden könnte ...“

„Es ist besser so.“ Zayn lächelte leicht. „Du würdest es ihm nicht erklären können und wenn er nichts weiß, ist das besser für uns und für ihn auch.“

Chandra wusste, dass dies stimmte, aber sie konnte nicht mit derselben Pragmatik punkten. Dennoch akzeptierte sie es widerwillig und ignorierte das Gefühl der Trauer in ihrem Inneren. Sie musste daran glauben, dass sie ihn eines Tages wiedersehen würde, wenn ihr Leben nicht länger unter einem Todesstern stehen würde.

Sie packte ihr Handy und auch ihren Schlüssel in die Tasche und strafte die Schultern. „Ich bin bereit. Wir können los.“

„Wir werden nicht noch einmal nach draußen gehen“, erklärte Zayn. „Das ist zu gefährlich. Ich habe einen anderen Plan.“

„Aha? Und welchen? Wie gedenkst du überhaupt zu reisen? Zu Fuß? Und wie sollen wir aus der Stadt kommen, ohne die Wohnung zu verlassen? Sollen wir uns etwa teleportieren?“

Die letzte Frage war nicht ernst gemeint, aber als Zayn zu lachen begann, wusste sie, dass es etwas Derartiges sein musste.

„Jetzt ernsthaft?“

Als Antwort griff er in seinen Rucksack und holte einen Pokéball hervor. „Hey, Galagladi, komm raus!“ Der Ball sprang auf und gab ein schmales, elegantes Pokémon frei.

Chandra trat erschrocken einen Schritt nach hinten – damit hatte sie nicht gerechnet. Das Pokémon war in etwa so groß wie sie, sein Oberkörper war hauptsächlich dunkelgrün gefärbt, an Brust und Rücken ragten zwei nach oben spitz geformte, rote Platten aus seinem Körper. Die schmalen, grünen Oberarme endeten in langen, spitz zulaufenden, an Schwerter erinnernde Unterarme. Der große, runde Kopf war an den Seiten weiß, wies jeweils neben den Schläfen zwei Zacken auf. Der mittlere Teil seines Kopfes wurde von der Nase bis zum Hinterkopf von einer dunkelgrünen, stählernen Platte geschmückt, die zwischen den roten Augen verlief und in deren Mitte sich ein graublauer Streifen von vorne nach hinten entlang zog. Dieser blaue Teil formte sich am Hinterkopf zu einem großen, aufrechten Zacken, der an eine umgedrehte, scharfkantige Rückenflosse erinnerte. Der Unterkörper des Pokémon war weiß, der schlanke Rumpf endete in einem breiten Becken, aus dem zwei gerade Beine ragten.

Zayn stellte sein Pokémon und sie einander vor, dann erklärte er den Plan. Bei seiner Anreise hatte er Galagladi sich einen Ort merken lassen, der sich am Stadtrand vor Pyritus befand, für den Notfall, dass er schnell würde fliehen müssen. Die Aufgabe des Psycho-Kampf-Pokémon würde es nun sein, sie alle an jenen Ort zu teleportieren.

„Klingt nach einem Plan“, meinte Chandra, als Zayn selbstverständlich ihre Tasche nahm, sie sich umhängte und ihr seinen deutlich leichteren Rucksack gab. Augenverdrehend zog sie ihn auf. Als sie aufbruchbereit waren, wandte er sich an Galagladi und erinnerte ihn an den gewünschten Standort. Das Pokémon reckte seinen rechten Arm zustimmend nach oben und rief voll Vorfreude seinen Namen.

In Chandras Magen grummelte es bei der Vorstellung, sich gleich über Raum und Zeit hinwegzusetzen. Zayn bemerkte dies und sagte: „Komm her. Es wird gar nicht so schlimm.“

Sie trat zu ihm, als er sie plötzlich an sich zog und die Arme um sie legte. Dann berührte Galagladi sie beide mit seinen schwertähnlichen Armen und im nächsten Moment fühlte Chandra, wie ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Nach gefühlt wenigen Sekunden setzen sie wieder auf festem Untergrund auf, nur dass es auf einmal merklich kühler um sie herum war.

Mit verkrampfter Haltung und angespannten Schultern öffnete Chandra die Augen und sah Zayn unmittelbar vor sich. Sie hatte die Hände in seine Jacke geklammert und wich peinlich berührt von ihm fort. Als wäre nichts gewesen, sah sie sich um.

Sie waren tatsächlich nicht länger in Pyritus, sondern etwas abgelegen von der Stadtgrenze nahe dem Highway, welcher von außerhalb in die Stadt führte. Das Umland Pyritus‘ war recht trostlos und gekennzeichnet durch trockene, größtenteils unbebaute Felder. Im Sommer war das Klima der Gegend zu warm und zu trocken, um effektiv anbauen zu können, abgesehen davon bestand hier ohnehin keine große Nachfrage nach Früchten. Der Boden unter Chandra bestand aus vereinzelten Grasbüscheln, die nun, im Frühling, wieder an die Oberfläche kamen, und aus Sand.

Am Horizont zeichnete sich allmählich eine minimal rötliche Färbung ab, als Vorbote des baldigen Sonnenaufgangs. Da der Mond nicht mehr am Himmel stand, war es im Moment ziemlich finster. Die Lichter, die von der entfernten Straße herüberleuchteten, spendeten gerade genug Licht, damit Chandra Zayn und Galagladi neben ihm erkennen konnte. Wenn sie dem Highway folgte, sah sie noch immer Pyritus – hauptsächlich schwach erleuchtete Fabrikgebäude mit vereinzelt blinkenden Lichtern.

„Danke dir, Kumpel“, sagte Zayn an sein Pokémon gewandt und rief es in seinen Ball zurück, nur um daraufhin einen anderen Ball hervorzuholen.

„Wäre es nicht möglich, uns einfach mit Galagladi zu dir nach Hause zu teleportieren?“, fragte Chandra ahnungslos.

Zayn lachte daraufhin. „Mit Teleport lassen sich nur Strecken von einigen Kilometern zurücklegen – und meine Heimat ist etwas weiter weg.“

„Ach so.“ Sie nickte, als hätte sie dies bereits gewusst.

„Außerdem habe ich ein anderes Pokémon, mit dem die Reise viel mehr Spaß macht.“

Chandra bemerkte erst, dass es sich bei dem neuen Pokéball um einen schwarzgelben Hyperball handelte, als sich dieser schon öffnete und ein deutlich größeres Pokémon freigab.

Voll Respekt schob sie sich hinter Zayn und sah zu dem Drachen, der vor ihnen aufragte – oder zu dem, was sie von ihm erkannte. Schwach schimmerten im leichten Licht blaue Schuppen, die sich über den kräftigen Körper des Wesens zogen und auch die vier muskulösen Beine schmückten, an deren Enden sich scharfe Klauen in den Sandboden gruben. Der Bauch des Pokémon wirkte weiß und gehärteter als der restliche Körper. Ein langer Hals ragte in die Höhe, an dessen Unterseite die Schuppen rot gefärbt waren, selbiges erkannte man auch am langen, dicken Schweif, der sich in langsamen Bewegungen über den Boden schob und Dreck aufwirbelte. Es besaß einen beeindruckenden Kiefer, dem Chandra nicht zu nahekommen wollte, am Kopf standen je drei große Zacken zu den Seiten weg. Zwischen diesen Zacken und den kleinen, grimmigen Augen waren seine Schuppen ebenfalls in zwei nach hinten laufenden Bahnen rot schimmernd. Das Beeindruckendste an dem Drachenpokémon waren jedoch die roten, ledernden Flügel, die an Halbkreise erinnerten und imposant nach oben standen. 

„Was ist das für ein Pokémon?“, fragte Chandra zögerlich. Bevor Zayn antworten konnte, drang ein Grummeln aus dem Maul des Drachen und er neigte den Kopf zu ihnen.

Ohne Hemmungen trat Zayn auf sein Pokémon zu und streckte die Hand nach ihm aus, fuhr über die glänzenden Schuppen der Gesichtszacken, was der Drache mit einem Schnauben begrüßte. „Das ist ein Brutalanda und er wird dich schon nicht auffressen“, lachte er.

Nun ja, Chandra wollte dem … Brutalanda trotzdem nicht unnötig nahekommen. Die scharfen Zähne, die aus seinem Maul ragten, ließen Zayns Worte sehr gewagt wirken. Drachenpokémon gehörten zu den stärksten Pokémon und dieses Exemplar machte nicht gerade den Eindruck, nicht stark zu sein, ganz im Gegenteil.

„Wir werden auf Brutalandas Rücken ein gutes Stück fliegen, bis wir in einer anderen Stadt einen Zug nehmen. Von Pyritus aus ist das die einzige Möglichkeit, unauffällig zu verschwinden. Im Dunkeln sieht uns außerdem niemand“, stellte Zayn den Plan vor und Chandra weitete die Augen.

Fliegen? Auf diesem Wesen? Ja, gut, es schien groß genug zu sein, um zwei Menschen transportieren zu können – aber fliegen? In einer gewissen Höhe?

Zayn erkannte ihren panischen Blick und lächelte. „Brutalanda ist ein Meister im Fliegen und es hat mich schon oft durch die Lüfte getragen. Uns passiert nichts. Ich halte dich auch fest – oder du hältst dich an mir fest. Was dir lieber ist.“ Als wäre das Thema erledigt, senkte der Drache nun seine Flügel und ging vollständig zu Boden. Die schwarzen Augen warfen Chandra einen forschen Blick zu.

Wo bin ich da nur reingeraten?, überlegte Chandra, als sie mit Herzrasen vorsichtig auf den Drachen krabbelte und sich an den Schuppen nach vorne zog. Brutalanda wies nicht dieselbe imposante Größe auf wie die Drachen aus Mythen, aber es war doch groß genug, um sich zwischen seinen Flügeln hinsetzen zu können. Als der Boden plötzlich ein gutes Stück von ihr entfernt war, erklomm Unruhe ihre Brust.

„Sicher, dass das gut geht?“, fragte sie Zayn.

„Klar.“ Mit Leichtigkeit kletterte er auf Brutalandas Rücken und rutschte so dicht hinter Chandra, wie es mit dem Rucksack zwischen ihnen möglich war. „Gib mir dein Handy.“

Kompromisslos überreichte sie es ihm – und er warf es nach vorne über Brutalandas Kopf hinweg auf den Boden. „Einmal kaputtmachen, bitte.“

Der Drache erhob sich, ein Grollen drang aus seiner Kehle, und Chandra krallte sich ängstlich in die Schuppen. Ein kleiner Stoß an Flammen erhellte im nächsten Moment die Dunkelheit und erfasste das Telefon im Sand. Als das Feuer wieder erlosch, trat das Pokémon nach vorne und erstickte nicht nur die Glut unter seinem Fuß, sondern verarbeitete das verkohlte Plastik zu einem plattgestampften Haufen Schrott. Absolut unbrauchbar.

„Wir besorgen dir was Besseres“, meinte Zayn. Damit war es dann wohl besiegelt. Sie würden Pyritus hinter sich lassen und Chandra den größten Schritt wagen, den es je zu wagen gegolten hatte.

„Bereit?“, sprach er mit sanfter Stimme an ihr Ohr.

„Muss ja.“

Er schlang seine Arme um ihren Bauch und zog sie dicht an sich. Eigentlich war ihr der Körperkontakt nun unangenehm, doch es war besser so. Immerhin würde sie gleich das erste Mal in ihrem Leben auf einem Drachen reiten.

Zayn gab seinem Pokémon ein Signal – und die Aufforderung, möglichst leise zu sein – und schon erhob Brutalanda seine Flügel und spannte die Muskeln in seinem Körper an. Der Schweif peitschte noch einmal auf den Boden, dann fingen die Flügel an, ihr Werk zu verrichten und hoben den Drachen mitsamt Begleitern und Gepäck vom Boden, was eine kleine Wolke Staub aufwirbelte. Chandra kniff die Augen zusammen und dachte ein schnelles Gebet, als sie nach und nach die immer gleichmäßigeren Flügelschläge Brutalandas spürte.

Erst nach einigen Minuten traute Chandra sich, ihre Augen wieder zu öffnen. Was sie sah, raubte ihr den Atem. Das Schwarzblau des Nachthimmels wurde vor ihnen nach und nach in sanften Übergangen von einem dunklen Rot abgelöst und dieses Rot wiederum verwandelte sich nahe dem Horizont in ein leuchtendes Orange, das die Finsternis der vergangenen Nacht mehr und mehr schlucken und das Licht eines neuen, hoffnungsvollen Tages auf die Erde schicken würde. Als Chandra den Kopf nach hinten drehte, ließ sich Pyritus nur noch als ein Fleck in den tristen Schatten der ausklingenden Nacht ausmachen.

Sie schloss die Augen, diesmal weniger aus Angst als aus Vorfreude, und ließ sich den kühlen, aber angenehmen Wind durch die blonde Mähne wehen.

Seltsam unbeschwert

Chandra wusste nicht, wie viel ihres Weges sie mit Brutalanda zurückgelegt hatten, dafür kannte sie die Region, in der sie lebte, zu wenig. Sie und Zayn hatten sich ungefähr drei Stunden von seinem imposanten Drachenpokémon durch die Lüfte geleiten lassen – natürlich war diese Art des Transports deutlich schneller, als zu Fuß zu gehen, jedoch hatte Brutalanda sein Tempo gezügelt, um seinen Mitreisenden den Flug angenehmer zu machen. Chandra hatte sogar Gefallen daran gefunden, die Weiten der Landschaften sowie Städte und Dörfer unter sich hinwegsausen zu sehen.

Innerhalb der drei Stunden Flug hatten sie eine kleine Rast gemacht, um sich und dem Drachen eine Verschnaufpause zu gönnen. Alles in allem war der gesamte Flug angenehm verlaufen und Chandra musste feststellten, dass ihr diese Art des Reisens mehr gefiel, als sie zuvor angenommen hatte. Die kleine Stadt, die sie schließlich erreichten, kannte sie nicht. Zayn sagte ihr, dass sie nordwestlich von Pyritus war und zwar ein gutes Stück davon entfernt lag, der Weg bis zu seiner Heimat aber immer noch sehr viel weiter war. Sie ersparte sich die vergebliche Frage, wo er denn nun herkam – aus ihm war ohnehin nichts rauszubekommen.

Nachdem Brutalanda wieder in seinem Pokéball verschwunden war, folgte Chandra Zayn zum Bahnhof der Stadt, da sie nun mit dem Zug weiterfahren würden. Zwar hätten sie auch in Pyritus in einen Zug steigen können, aber das wäre selbstverständlich zu riskant gewesen. Im Bahnhof selbst besorgte Zayn ihnen Tickets für die Fahrt und als er Chandra ihres gab, warf sie einen neugieren Blick auf das Reiseziel.

Portaportus.

Diesen merkwürdigen Namen hatte sie schon einmal gehört. Aber wo lag diese Stadt? Portaportus … Sie kam einfach nicht darauf. „Wo liegt Portaportus?“

„Am Meer“, erwiderte Zayn unbeeindruckt und in ihre Augen trat bei diesen Worten ein Leuchten.

Portaportus, die große Hafenstadt Orres – richtig. Chandra war natürlich noch die dort gewesen, geschweige denn überhaupt am Meer.

„Lebst du dort?“, fragte sie.

„Nein, aber relativ in der Nähe. Von Portaportus aus müssen wir mit einem anderen Zug weiterfahren.“

Das Meer war im Südwesten der Region. Chandra wusste immer noch nicht, wo genau Zayn lebte, aber sie hatte nun zumindest eine grobe Vorstellung, wohin sie unterwegs waren.

„Unser Zug fährt erst in einer Stunde, lass uns was essen“, sagte Zayn und ihr fiel ein, dass sie seit dem frühen Abend des Vortages nichts mehr gegessen hatte und ihr Magen sich unangenehm leer anfühlte.

In der Bahnhofshalle besorgten sie sich nun also ein wenig Essen für den Moment und für die Fahrt. Ihr Zug kam pünktlich am späten Vormittag an und wenngleich diese Reise immer noch einen ungewohnten, riskanten Beigeschmack für Chandra hatte, so fiel es ihr nicht im Geringsten schwer, sich auf Zayn zu verlassen und mit ihm in den Zug zu steigen. Er würde schon wissen, was er tat – und Chandra konnte jetzt auch nicht mehr umdrehen, dafür war es zu spät.

Nichtsdestotrotz lag während der ganzen Fahrt eine unangenehme Art von Nervenkitzel auf ihr. Unangenehm, weil sie fürchtete, ihre Flucht könnte jeden Moment ein abruptes Ende finden, indem Ray im Zug vor ihr stehen und sie zurückschleifen würde. Mit Zayn sprach sie nicht darüber. Er wirkte seltsam konzentriert und nachdenklich und Chandra hatte keinen Schimmer, was ihn – von ihr mal abgesehen – so zum Grübeln bringen konnte. Also machte sie sich selbst klar, dass ihre Ängste unrealistisch waren. So rasch vermochte es selbst ihr Bruder nicht, ihre Flucht mitzukriegen, und so schnell konnte er ihnen ohne jeglichen Anhaltspunkt auch nicht folgen.

Um sich nicht länger den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, verbrachte sie den Großteil der Fahrt damit, aus dem Fenster zu starren und die Landschaften an sich vorbeiziehen zu lassen. Sie stellte dabei fest, dass die Natur, die sich dort draußen bot, immer bunter und grüner wurde, zumindest in einem Maße, das im Frühling möglich war. Atemberaubende Täler, durchzogen von Seen, dessen Oberflächen im warmen Sonnenschein wie Spiegel leuchteten, verzauberten sie regelrecht. Regelmäßig sah sie Schwärme von Flugpokémon, die anmutig in V-Formation durch die Lüfte glitten. Im Zug war ihnen sogar ein gelborangegefiedertes Pokémon, das einem Küken glich, begegnet – ein Flemmli, welches mit kleinen, glühenden Funken fast einen Vorhang in Brand gesteckt hätte, bevor seine Trainerin es vorsorglich in seinen Ball gerufen hatte. Für Zayn war das alles so normal, aber Chandras Seele erfüllte es mit Euphorie, glückliche und vor allem ganz normale Pokémon zu sehen, die in ihr keine Todesangst auslösten.

Es genügte, Orre nur von oben oder aus einem Zug zu sehen, um festzustellen, dass Pyritus wirklich das schäbigste und hässlichste Loch war, das man in dieser Region finden konnte. Selbst das Umland Pyritus‘ war stets trist, trocken und kahl – die Temperaturen waren einfach zu hoch. Im Winter fror man zwar nicht übermäßig, aber im Sommer mangelte es an Regen, worunter die Natur litt.

So strich die Fahrt dahin, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Und irgendwann, da kam dann das Meer in Sicht – zumindest, wenn man aus den linken Fenstern sah und einen Blick erhaschen konnte. Zayn erklärte ihr, dass Portaportus sich zum Meer hin absenkte, weswegen man vom Zug aus, der mittig in die Stadt fuhr, einen erhöhten Blick auf den Ozean hatte. Chandra sah die blauen, satten Weiten, auf denen die Sonne tänzelte. Wie weit mussten sie von Pyritus weg sein? Weit, so viel stand fest. In Pyritus sprach nie jemand über das Meer, denn die Entfernung war zu groß, um mal eben in einem Wochenendtrip hinzufahren.

Als sie im Zentrum von Portaportus ankamen, wurde das Meer schließlich von etlichen hohen Gebäuden verdeckt. Nach einigen Stunden Fahrt endete ein Teil ihrer Reise. Chandra verließ sich weiterhin auf Zayn und folgte ihm sichtlich neugierig, aber auch zurückhaltend. Als Nächstes ging es für sie in die Straßenbahn, mit der sie tatsächlich Richtung Meer fuhren. Während sie in der schmalen Bahn waren, analysierte Chandras Blick weiterhin das Geschehen in der Stadt. Sie bemerkte, wie sauber diese an allen Ecken war, die Gebäude waren überwiegend in Weiß, hellen Grau- und strahlenden Blautönen gehalten, ganz so, wie es zu einer Stadt am Meer passte. Die Menschen machten einen friedlichen, glücklichen Eindruck, Pokémon – zumindest nicht allzu große – spazierten völlig entspannt neben ihren Trainern und Besitzern her.

Wieder erklärte Zayn ihr, dass Portaportus und Pyritus die zwei größten Städte in Orre waren, doch während Portaportus einen hohen Lebensstandard aufwies, ein Touristenmagnet war und überdies im letzten Jahr Hoenns Hafenstadt Graphitport City im Rennen um die schönsten Hafenstädte geschlagen hatte – Chandra fiel fast vom Glauben ab; solche Wettbewerbe gab es?! –, war Pyritus das schwarze Schaf der Region.

„Portaportus hat die niedrigste Verbrechensrate in der gesamten Region, die Menschen hier sind einfach zufrieden, aber das sollte einen auch nicht wundern, wenn man das Meer direkt vor der Haustüre hat. Die sozialen Standards hier sind sehr hoch, während man in Pyritus zumeist vom Existenzminimum lebt und die Statistiken zu Gewaltverbrechen erschreckend sind. Portaportus lebt natürlich durch seinen Handel mit anderen Regionen, der für Orre essenziell ist. Pyritus hat gefühlt gar keinen Nutzen für die Region, außer dass es als Auffangbecken für jegliche Kriminelle fungiert“, sprach Zayn zu ihr, als er ebenfalls aus dem Fenster sah.

Das stimmte durchaus. In Pyritus lebte jeder nach seinen eigenen Regeln, abgetrennt vom Rest Orres. Auch wenn Chandra die Stadt zuvor elf Jahre nicht verlassen hatte, konnte sie sich doch gut vorstellen, dass sie keinen guten Ruf genoss. Gerade, weil sie diesen düsteren Ruf innehatte, traute sich niemand zu nah an diese Stadt heran, selbst polizeiliche Behörden zogen es vor, sich zurückzuhalten. Bislang hatte die Strategie „Pyritus in Ruhe lassen, dann passiert schon nichts“ ganz gut funktioniert, aber es wusste ja auch niemand, welch Schrecken in den Tiefen der Gangsterstadt lauerte.

„Niemand geht freiwillig nach Pyritus. Ach warte, niemand außer ich“, beendete Zayn seine Ausführungen mit sarkastischem Tonfall. Chandra fiel auf, dass sie nun aussteigen mussten.

„Aber ich bereue es nicht“, grinste er und zog sie mit sich nach draußen.

Vor der Strandpromenade, hinter der sich das leuchtend blaue Meer darbot, wimmelte es auf einem weiträumigen Schauplatz nur so vor kleinen, süßen Läden, Restaurants und Hotels. Sie waren nicht direkt am Hafen gelandet, denn dieser lag ein wenig links den Strand entlang und dahinter ragte ein imposanter Leuchtturm auf.

Ihr nächster Zug würde laut Zayn erst am nächsten Morgen fahren und da es mittlerweile bereits später Nachmittag war, wollten sie sich ein Zimmer für die Nacht suchen. Das günstige Pokémon-Center, welches sich zwischen den Geschäften und Hotels einreihte, war offenbar stets maßlos überfüllt, also mussten sie mit einem wesentlich teureren Hotel vorliebnehmen. Chandra hatte ohnehin keine Ahnung, also nahm sie die Dinge, wie sie waren.

Fast. In einem beliebigen Hotel angekommen und zur Rezeption gegangen, hielt die Dame dort sie für ein junges Paar und wollte ihnen ein Zimmer mit einem Doppelbett geben. Als Chandra einwerfen wollte, dass ihr das nicht recht war, stimmte Zayn an ihrer Seite lächelnd zu und ließ sich die Karte für das Zimmer geben.

„Hey, ich will mir kein Bett mit dir teilen!“, blaffte sie ihn an, als sie durch die erleuchtete Eingangshalle zum Aufzug liefen.

„Was ist so schlimm daran? Letzte Nacht haben wir auch in einem Bett geschlafen.“ Er schien sie nicht zu verstehen.

„Ich will einfach nicht.“

„Tja, zu spät, du wirst dich damit abfinden müssen“, sagte er, als sie in den Aufzug stiegen. „Oder hast du etwa Angst davor, dass meine Hände unanständige Dinge unter deiner Decke tun könnten?“

„Womöglich“, fuhr Chandra ihn wütend an.

„Das klang letzte Nacht aber noch ganz anders“, lachte Zayn.

„Idiot!“ Zu mehr war sie nicht fähig, sonst wäre sie wahrscheinlich vor lauter Dreistigkeit in die Luft gegangen. Zayn lehnte sich ganz schön weit aus dem Fenster – wann war es bitte so weit gekommen? Ach ja, richtig, sie hatte mit ihm geschlafen und sie war nicht gerade schüchtern gewesen. Da konnte so was schon mal passieren. Sie bereute die Tat ja nicht, aber normalerweise sah sie die Typen danach nie wieder. Es war jedoch erheblich schwerer, die „Es war nur Sex“-Nummer abzuziehen, wenn sie Zayn permanent vor sich sah. Und dann auch noch nebeneinander in einem Bett schlafen, als wäre alles völlig normal? Fürchterlich.

Sie kamen schließlich in ihrem Zimmer an und als Chandra durch die große, gegenüberliegende Fensterwand sah und freien Blick auf blaue Weiten Meer und Himmel hatte, vergaß sie ihren Zorn schnell.

Ein wenig später gingen sie wieder nach draußen und Zayn führte sie hinunter zum Strand. Die Luft hier war schier pausenlos vom Klang der Wingull erfüllt, die über dem Strand ihre Kreise zogen. Am Ufer tummelten sich einige Menschen mit ihren Pokémon und Chandra erkannte das ein oder andere Wasserpokémon, das verspielt in den leichten Wellen tobte. An einer anderen Stelle fand ein kleiner Pokémonkampf statt und abermals erfreute sie sich an dem Anblick gewöhnlicher Pokémon.

An einer ruhigen Stelle ließen sie und Zayn sich in den weichen Sand fallen. Die Promenade war ein wenig höher gelegen und dicht bepflanzt mit Büschen und Bäumchen, demnach genoss man am Strand mehr Ruhe, als wenn man oben entlanglief.

Chandra wollte ihre beiden Pokémon aus ihren Bällen lassen, doch dann fiel ihr auf, dass sie sie im Hotelzimmer gelassen hatte. Sie würde sich erst daran gewöhnen müssen, sie ab sofort bei sich haben zu können.

Für einige Minuten verharrten sie nur im Sand und Chandra genoss die frische Meeresluft, die ihre Haare umspielte und in ihrer Brust ein Gefühl der Freiheit und Ungezügeltheit erzeugte. Beim Anblick des schier unendlichen Meeres, dessen Horizont sich die Sonne immer mehr näherte, glaubte sie, alles schaffen zu können.

Als sie so darüber nachdachte, wie weit sie schon gekommen waren, kam ihr ein Gedanke. „Hey, Zayn, sag mal … müssen wir nicht morgen wieder zum Bahnhof in die Innenstadt? Wieso sind wir denn dann zum Strand gefahren? Das ist doch ein Umweg.“

„Schon.“ Er schmunzelte und blickte gen Meer. „Aber du warst doch noch nie am Meer, oder? Ich dachte mir, du willst sicher mal an den Strand.“

„Ja, stimmt schon“, murmelte sie verlegen.

„Außerdem hättest du mal deinen Blick sehen müssen, als du im Zug das Meer gesehen hast. Du hast dich gefreut wie ein kleines Kind“, zog er sie auf, woraufhin sie ihn gegen die Schulter stieß.

„Blödmann!“

Lachend ließ Zayn sich nach hinten in den Sand fallen und sie tat es ihm nach. „Man, wie hab ich es vermisst, hier zu sein.“

Chandra fragte nicht nach, was er meinte, sondern beobachtete nur stumm die Pokémon über ihnen und das helle Blau des Himmels, das bald schon von einem zarten Rosa abgelöst wurde.

 

******

 

Als sie wieder im Hotel waren, zog es Chandra unter die Dusche, da sie sich von der Reise ein wenig schmutzig fühlte. Außerdem hatte Zayn gemeint, dass sie später noch etwas essen gehen könnten, schließlich hatten sie seit der Zugfahrt nichts mehr zu sich genommen und das Hotelrestaurant war abends voll. Sie hatte zugestimmt und nachdem sie heute Morgen nicht gerade sehr stilbewusst aufgebrochen war, war es nun an der Zeit, das zu ändern. Denn Chandra fühlte sich am selbstsichersten, wenn sie selbstsicher aussah.

Das Badezimmer war strahlend weiß und unter der großen Duschbrause hätte sie eine Ewigkeit stehen können, aber irgendwann war es Zeit, das Wasser einzustellen. Sie öffnete die Glastür und stellte fest, dass sie ein Handtuch vergessen hatte. Die lagen nämlich im Kleiderschrank und sich eines zu holen, würde bedeuten, splitternackt das Bad zu verlassen, an Zayn vorbei zu stolzieren und sich einer peinlichen Blöße geben zu müssen. Von den offenen Fenstern einmal abgesehen.

„Verdammt“, seufzte sie und rief anschließend kläglich nach ihrem Retter in der Not – in zweierlei Hinsicht.

Zum Glück hatte sie die Badezimmertür nicht abgeschlossen. Tür offen lassen ist okay, aber nackt rausgehen und dir ein Handtuch holen, ist zu viel, aha, okay, tadelte sie sich in Gedanken, schrak jedoch auf, als sich die Tür öffnete. Sie nutzte die vom Wasserdampf beschlagenen Glaswände, um ihren Körper zu verbergen und steckte nur den Kopf aus der Dusche.

„Soll ich dir Gesellschaft leisten oder was ist los?“, fragte Zayn ahnungslos.

„Sehr witzig! Könntest du mir bitte ein Handtuch bringen?“, bat sie.

Tatsächlich kam er ihrer Bitte ohne Umschweife nach, aber als er wieder ins Bad kam und ihr das Handtuch überreichte, welches sie sogleich schützend vor sich hielt, folgte ein merkwürdiger Moment, in welchem sie sich gegenseitig in die Augen starrten.

Zayn riss sich als Erster los, räusperte sich und meinte: „Wieso so nervös? Kenn ich doch alles schon.“ Mit einem Grinsen verließ er das Bad wieder.

Chandra hingegen stand noch mindestens eine halbe Minute an ihrem Fleck und drückte das Handtuch gegen ihre Brust, in welcher sie ihren aufgeregten Herzschlag vernahm. Verflixt, warum war sie so nervös? Denn er hatte ja recht, da war nichts Unbekanntes an ihrem Körper.

Kopfschüttelnd trat sie nun aus der Dusche. Sie durfte nicht länger über so einen Nonsens nachdenken. Zwei Tage mit diesem Kerl und sie verweichlichte vollkommen – das war ja grauenvoll! Aber gut, sie wusste, wie sie das richten würde können.

Als sie nach einer Weile das Bad endlich verlassen konnte, fühlte sie sich gleich tausendmal selbstsicherer, wie eine neue alte Version ihrer selbst. Ein dunkelrotes Kleid mit einem runden Ausschnitt und halblangen Ärmeln endete locker fallend über den üblichen schwarzen Overkneestrümpfen, und da es hier wirklich etwas kühler war als in Pyritus, hatte sie sogar noch eine leichte Strumpfhose darunter angezogen. Ihre Haare fielen ihr locker auf den Rücken und ihr Gesicht wurde von der richtigen Menge Make-up betont. Ja, so fühlte sie sich gleich viel besser – selbstbewusst und sexy und doch irgendwie unnahbar.

Zayn lümmelte auf dem Bett und war damit beschäftigt, einen Pokéball immer wieder nach oben zu werfen und aufzufangen. Dann sah er zu Chandra und sie erwartete einen Kommentar von ihm, stattdessen wandte er den Blick wieder ab.

Er musste ihre beiden Pokémon aus ihren Bällen gelassen haben, denn sie lagen neben ihm auf dem Bett. Chandra ging zu ihnen und drückte Sunny und Lunel an sich, genoss das Kitzeln ihres weichen Felles, als sie sich an sie schmiegten.

„Ist die Dame endlich fertig?“, fragte Zayn und gähnte demonstrativ. „Schön, na dann los.“ Er sprang vom Bett auf.

Chandra rief Sunny und Lunel in ihre Bälle zurück und steckte jene in ihre kleine Umhängetasche, die sie noch von zu Hause mitgenommen hatte. Dann zog sie ihre Schuhe an, warf sich ihre schwarze, leichte Jacke über und kurz darauf verließen beide das Hotel wieder. Sie besorgten noch schnell im Supermarkt um die Ecke Pokémonfutter – den letzten Rest, den Zayn noch dabeigehabt hatte, hatte ein sehr hungriges Brutalanda verputzt –, ehe sie sich auf die Suche nach einer Essensmöglichkeit machten. Na ja, so halb. Zayn schlug ihr ein Restaurant oberhalb der Promenade vor und schien ziemlich entschlossen, dorthin zu wollen.

Sie hatte zugestimmt und nun saßen sie in jenem Restaurant, das mehr einer Bar glich und gut besucht war. Es war recht groß, mit hohen, hölzernen Decken, und verbreitete eine lockere, lässige Atmosphäre, in der man sich wohlfühlen konnte. Ihr Tisch lag mittig am Gang, ruhige Musik erfüllte den Raum.

Sie bestellten sich etwas zu trinken und zu essen und verbrachten den Großteil der Zeit mit Smalltalk. Zayn erzählte ihr noch ein wenig über die Stadt und Chandra hörte ihm interessiert zu, da sie das davon abhielt, über andere Dinge nachzudenken. Nach dem Essen aber kam es zu einem für sie unangenehmen Moment des Schweigens. Sie wollte nun endlich etwas mehr über ihn erfahren, aber traute sich kaum, dieses Thema anzusprechen.

„Sag mal … Kannst du mir nicht jetzt endlich etwas über dich erzählen?“, fragte sie unsicher.

„Okay, was willst du wissen?“ Er grinste. „Hobbys? Kindheitshelden? Lieblingsessen? Lieblingspokémon?“

Sie verdrehte die Augen, musste aber lächeln. „Was du in Pyritus wolltest.“

„Ach, Chandra.“ Zayn lehnte sich nach hinten, nebenbei drehte er einen Bierdeckel in seinen Händen. „Wieso bist du nur so neugierig?“

Als Antwort lehnte sie sich ebenso nach hinten. „Lass mich überlegen. Vor zwei Tagen habe ich dir geholfen, als dich zwei Typen bedroht haben. Ich habe dich bei mir schlafen lassen, einfach so. Dann habe ich dir mein Herz ausgeschüttet und habe dir praktisch alles über mich erzählt. Dann habe ich dir blindlings vertraut und mit dir Pyritus verlassen, obwohl ich überhaupt nichts über dich weiß. Ist das nicht Grund genug?“

„Du hast zwischen dem ersten und zweiten Dann vergessen, dass du mit mir geschlafen hast, obwohl du nichts über mich weißt, und das sollte Grund genug für mich sein, dir auf der Stelle alles zu erzählen – ich weiß“, ergänzte er frech.

Abermals verdrehte Chandra die Augen und verschränkte die Arme. „Ja, danke. Wie konnte ich das nur vergessen? Aber ich mein’s ernst. Ich will jetzt etwas wissen!“

Er lehnte sich wieder nach vorne. „Morgen, Chandra. Morgen sind wir bei mir und ich werde dir alles erzählen, was du wissen willst. Versprochen.“ Das Lächeln auf seinen Lippen ließ ihre Entschlossenheit dahinschmelzen wie Butter und sie sackte in sich zusammen.

„Na gut.“

„Gut!“ Plötzlich erhob er sich. „Würdest du mich kurz entschuldigen? Ich muss kurz etwas erledigen.“

Überrumpelt nickte sie und ließ ihn gehen, im Glauben, dass er nur die Toilette aufsuchen würde. Doch dann verstrich die Zeit, er kam nicht wieder und sie stellte fest, dass die Toiletten in einer anderen Richtung waren. Sie drehte sich nach hinten, wohin er verschwunden war, aber sah nur den Tresen, hinter dem die Küche lag, und nirgends war eine Spur von Zayn.

Chandra wusste nicht, ob sie nervös werden oder sauer sein sollte. Sie hatte ja nicht mal eine Uhr, um zu checken, wie lange er schon weg war, aber es mussten schon an die zwanzig Minuten sein. So verfiel sie in Grübeleien und das Gefühl des Ärgers darüber, dass sie so leicht nachgegeben hatte, breitete sich in ihr aus. Er konnte so ein Idiot sein. Verriet ihr nichts und verschwand dann schon wieder auf mysteriöse Weise, ohne ihr zu sagen, was er tat. Und jedes Mal, wenn sie versuchte, etwas aus ihm herauszubekommen, fielen ihm genau die richtigen Worte ein, um ihren Zorn über sein Schweigen zu beschwichtigen. Es war zum Verrücktwerden.

So saß sie noch eine gefühlte Ewigkeit da und starrte vor sich hin, als jemand neben ihr ihre Aufmerksamkeit verlangte.

„Hey, Kleine, bist du heute Nacht noch frei?“

Als hätte sie etwas gestochen, sprang Chandra von ihrem Stuhl auf und sah zum Besitzer der Stimme. Ein Mann stand vor ihr, der sicherlich schon ein paar Jahre älter war als sie, mit braunen Haaren und einem zotteligen, kurzen Bart. Der Blick, mit dem er sie betrachtete, war kurzum eklig, und Chandra musste dem Impuls widerstehen, ihr Kleid zurechtzuziehen.

Was denkst du, wer du bist?, wollte sie ihm an den Kopf werfen, aber alles, was aus ihrem Mund kam, war ein verunsichertes: „Äh, was?“

Sie war dumme, abfällige Anmachen ja wirklich mehr als gewohnt und zumeist gingen sie einfach an ihr vorbei. Chandra war immer sehr selbstbewusst gewesen, wenn es darum ging, ekelhafte Typen abzuweisen, und wenn jene gar zu aufdringlich geworden waren, hatte sie einfach den Namen ihres Bruders ausgespielt und damit jede Nervensäge aufs Schnellste verstrieben. Aber nun wurde sie sich der Tatsache bewusst, dass sie nicht länger in der Stadt ihres Bruders war und er ihr, so verhasst er auch sein mochte, keinen Rückhalt mehr geben konnte.

Eine lähmende Unsicherheit kroch an ihr hoch. Der Kerl vor ihr wollte sie gerade am Arm berühren, als sich eine dritte Person unvermittelt vor ihn schob.

„Ist sie nicht“, stellte Zayn vor ihr klar und schob Mr. Unhöfliche-Anmache mit der Hand auf Abstand.

Chandra fielen tausend Steine vom Herzen und sie tat so, als hätte sie Zayns Antwort überhört. Wenigstens hatte er ein legendäres Timing, um endlich wieder aufzutauchen.

„Na, wenn du ihr Freund bist, dann kommt die Kleine aber nicht auf ihre Kosten“, spottete der Unbekannte, wirkte aber doch sichtlich sauer. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, ausgebremst zu werden.

Plötzlich stieß Zayn ein Lachen aus. „Ich bin so etwas wie ihr Retter. Und du bist verdammt unverschämt. Hat dir niemand beigebracht, dass man so nicht mit einer Dame spricht? Verzieh dich, bevor du mir meine gute Laune verdirbst und mich sauer machst.“

„Ach ja? Lass uns das doch draußen klären, wie wär’s?“

„Gerne doch“, stimmte Zayn ohne Umschweife zu, und bei Chandra klingelten alle Alarmglocken.

Etwas draußen klären – war das nicht der internationale Code unter Kerlen für eine absolut sinnlose Prügelei? Sie zog an Zayns Ärmel und sah ihn schockiert an. „Bist du wahnsinnig geworden? Ich dachte, hier gibt’s keine Gewalt!“, flüsterte sie.

Als er sich zu ihr drehte, grinste er und flüsterte an ihr Ohr: „Er meint einen Pokémonkampf, du Dussel.“

Oh. Peinlich berührt strich Chandra sich eine Haarsträhne hinters Ort. Okay, sie war eindeutig infiziert von Pyritus. Zwar gab es dort auch Pokémonkämpfe, um Streitereien zu klären, aber meistens wurden jene mit Cryptopokémon ausgefochten und in neun von zehn Fällen kam es danach so oder so zur Anwendung von Gewalt. Probleme waren dort schlichtweg einfacher mit Fäusten zu lösen als mit Worten. Nun fühlte sie sich reichlich dumm, dass sie ernsthaft angenommen hatte, Zayn wäre derart primitiv.

Der ekelhafte Kerl ging voraus und Zayn erklärte, dass jener Pokéball am Gürtel trug und die Hand auf diese zu legen, bedeutete unter Trainern eine indirekte Kampfherausforderung. Wieder etwas, das Chandra nicht gewusst hatte.

„Kaum bin ich weg, bringst du dich schon in Schwierigkeiten“, schmunzelte er.

„Ich hätte das auch ohne dich geschafft!“

„Natürlich, aber vielleicht wollte ich mich einfach nur ein wenig für neulich revanchieren?“

Sie erfuhr, dass er bereits für sie beide gezahlt hatte, was sie ärgerte, dann zogen sie ihre Jacken an und verließen das Restaurant.

Auf dem Weg sagte Zayn: „Ich geb’s ja ungerne zu, aber du bist einfach zu aufreizend angezogen. Selbst in einer Stadt wie dieser ziehst du damit Idioten an.“

„Ich trage, was ich will“, erwiderte sie.

„Klar, mich stört das ja auch nicht.“

Bevor sie antworten konnte, kamen sie bei Zayns Gegner an. Es war schon eine Weile dunkel, demnach war der Promenadenplatz nun recht verlassen und bot genügend Platz für einen Kampf. Chandra entfernte sich ein wenig von den beiden und ließ sich auf einer Bank nieder. Sie hoffte, dass der Kampf schnell vorbei sein würde, aber da sie bislang bei Zayn nur starke, ausentwickelte Pokémon gesehen hatte, zweifelte sie nicht sonderlich daran.

Zayn und sein Gegner einigten sich auf einen Eins-gegen-Eins-Kampf, was Chandra sehr gelegen kam. Abends war es nun doch reichlich frisch an der Küste, nicht zuletzt wegen des Windes, der stetig wehte, und sie wollte nicht unnötig lange hier sitzen und frieren.

„Ich fange an“, verkündete der Mann und warf sogleich einen Pokéball. Die Kapsel öffnete sich am Boden und gab ein nicht allzu großes Pokémon frei, das auf zwei Beinen stand und von größtenteils hellbrauner Färbung war. Seinen runden Kopf zierte ein schmales, grünes Blatt, über den Augen und der spitzen, langen Nase war eine beige Färbung, die von der Form her einer Maske glich. Sein Oberkörper besaß zwei dünne Arme, die in großen Händen endeten. Auffällig an diesem Pokémon waren die ebenfalls beigegefärbten Beine, die an eine Eichel erinnerten und schwarze Streifen trugen. Sie endeten schließlich in breiten Füßen, auf denen das Pokémon stolz stand.

„Gut für mich“, kommentierte Zayn das Pokémon seines Gegners, während Chandra fieberhaft überlegte, was jenes überhaupt für ein Exemplar war. Sie war so ahnungslos, was Pokémon anging, kannte nur für Pyritus typische Pokémon oder solche, die ihr wegen auffällig süßen oder prägnanten Äußeren in Erinnerung geblieben waren. Es gab schlicht zu viele, um sie alle auf Anhieb zu erkennen oder sich die Namen zu merken.

Sie fasste sich beschämt an die Wangen und diese Geste musste Zayn wohl gesehen haben. „Das ist ein Blanas“, warf er ihr mit amüsierter Stimme über den Platz hinweg zu. „Ich entscheide mich für mein Riolu.“

Nun warf auch er einen Pokéball und Chandra musterte voll Begeisterung das dritte seiner Pokémon. Es stand ebenfalls auf zwei Beinen und war etwas kleiner als Blanas. Blaues Fell schmückte seinen Kopf, aus dem zwei kleine Ohren ragten. Auch bei ihm war der Bereich um Augen und Nase schwarzgefärbt und verlieh ihm ein mutiges Aussehen. Die Enden dieser Maske hingen wie dickes Fell an den Seites seines Kopfes nach unten. Der schwarze Rumpf ging über in zwei kleine, blaue Beine, aus denen kräftige, schwarze Pfoten ragten. Die langen Arme des Wesens schmückte oberhalb der Pfoten je eine weiße, stählerne Platte. Ein großer Schweif rundete den Look des Kampfpokémons ab.

Na ja, Chandra hatte vermutet, dass Riolu vom Typ Kampf war. Es war klein und irgendwie niedlich, aber es hatte die zu Fäusten geballten Pfoten vor sich getreckt, wippte lässig auf seinen Beinen und warf seinem Kontrahenten einen angriffslustigen Blick zu. Sie wusste nichts über Blanas, aber es musste wohl zumindest zum Teil ein Pflanzenpokémon sein.

Wieder nahm sich Blanas‘ Trainer das Recht heraus, anzufangen, doch Zayn schien das nicht im Geringsten zu stören. „Blanas, fang den Kampf mit Pfund an!“

Chandra hätte nicht damit gerechnet, dass die kleinen, eichelartigen Beine so schnell waren, doch sie trugen Blanas in Windeseile auf Riolu zu, die Hände hatte es dabei zu Fäusten geformt, ein Kampfschrei drang aus seiner Kehle.

„Riolu, konter‘ mit Ruckzuckhieb!“, befahl Zayn seinem Pokémon.

Als Riolu diesen Worten nachkam, wirkte die Schnelligkeit Blanas‘ dagegen lächerlich. Riolu überbrückte in kürzester Zeit die letzte Distanz zwischen ihnen und dann prallten die beiden Gegner frontal gegeneinander, Blanas mit vorausgetreckter Faust, Riolu hingegen mit vollem Körpereinsatz. Die Wucht des Ruckzuckhiebes riss das Pflanzenpokémon von den Füßen und es flog mehrere Meter nach hinten, Riolu auf sich. Als sie auf dem Boden aufprallten, wirbelten sie Dreck auf. Riolu rollte sich geschickt ab und stand als Erstes wieder. Es war lediglich eine Schramme zu erahnen an der Stelle in seinem Gesicht, an der Blanas‘ Faust es erwischt hatte. Jenes erhob sich einen Augenblick später und knurrte das Kampfpokémon an.

„Rasierblatt!“

Das Blatt auf Blanas‘ Kopf bog sich nach hinten, um sich anschließend in einer schnellen Bewegung wieder nach vorne zu drehen. Dabei erzeugte es aus dem Nichts scharfe Blätter, die es mit einem weiteren Hieb seines Kopfblattes in Richtung seines Gegners schickte.

Riolu war zu nah an ihm dran, als dass es ihm noch möglich gewesen wäre, dem Angriff auszuweichen. „Versuch, sie abzuwehren“, rief Zayn. Auf Kommando hob es seine Arme vors Gesicht und schlug die Blätter zurück. Die geringe Distanz sorgte jedoch dafür, dass die rasiermesserscharfen Blätter Riolu ungehindert in die Arme schnitten und vereinzelt auch Rumpf und Kopf trafen. Tapfer stand das kleine Kampfpokémon dem Angriff entgegen und schlug die Zähne aufeinander.

„Und jetzt Finte, Blanas!“

Sowie Rasierblatt ein Ende fand, verschwand Blanas aus Riolus Sicht, denn ein kräftiger Sprung hatte es nach oben über jenes befördert. Riolu sah mit weit aufgerissenen Augen nach oben, doch da wurde es schon von der Faust seines Gegners erwischt und nach unten geschlagen. Jaulend schlug das Kampfpokémon auf dem Boden auf.

„Komm, du bist stark, du schaffst das!“, baute Zayn sein Pokémon auf. „Setz Kraftwelle ein!“

Riolu richtete sich wieder auf und schien die Schmerzen an seinen Armen zu ignorieren. Nun war es an ihm, eine Faust zu formen, die plötzlich zu leuchten anfing. Es spannte die Beine an, holte mit dem Arm aus und preschte auf Blanas zu, welches nach seinem letzten Angriff nicht ausreichend Abstand aufgebaut hatte. Ohne Umschweife krachte nun die Faust Riolus in sein Gesicht, genau auf die spitze Nase, und das Pflanzenpokémon fiel wie ein gefällter Baum nach hinten. Es stieß einen Laut des Jammers aus und griff sich an die malträtierte Nase, die nun ein klein wenig schief schien.

Blanas‘ Trainer schien wütend über die Entwicklung des Kampfes, aber nicht gewillt, seinem Pokémon eine Verschnaufpause zu geben. Wütend donnerte seine Stimme über den Platz: „Setz Geduld ein, Blanas, damit gewinnst du gegen diesen Kampfzwerg!“

Ein Lachen kam von Zayn, er wirkte nicht beeindruckt. „Ach ja?“

Blanas rappelte sich wieder auf, um sich anschließend hinzuknieen und die Arme schützend vor den Kopf zu nehmen. Riolu schien nur darauf zu warten, angreifen zu können, und sah vorfreudig zu seinem Trainer.

„Na dann mal los, Riolu, zeig ihm deine Power. Greif Blanas immer wieder mit Kraftwelle an, solange es nichts macht!“

Riolu nickte, dann leuchteten beide Hände auf und abwechselnd hieb es mit ihnen auf Blanas ein. Dieses steckte einige Schläge ein, bis es von den Füßen gefegt wurde. Mühselig rappelte es sich wieder auf, um die nächsten Angriffe wegzustecken, wobei sich allmählich ein orangefarbenes Leuchten um seinen Körper bildete. Riolus Hiebe setzten ihm ordentlich zu, die Stellen, an denen Kraftwelle traf, färbten sich rötlich – das würde eine Menge Blutergüsse geben.

Chandra beobachtete das Geschehen mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. Sie wusste nicht, was Zayn vorhatte. Bei einer Geduldattacke musste das ausführende Pokémon eine Menge einstecken, sammelte die Stärke der Attacken seines Gegners jedoch, um anschließend mit doppelter Kraft zurückschlagen zu können. War es da wirklich so klug, ungehemmt auf Blanas einzudreschen? Sie würde die Antwort gleich erhalten.

Mit einem Mal erhob Blanas sich, den grimmigen Blick nach vorne gerichtet.

„Zurück!“, kam fast direkt danach Zayns Befehl, und Riolu tat einen großen Sprung nach hinten. Leichtfüßig landete es mehrere Meter von Blanas entfernt.

„Das wird dir auch nicht helfen“, rief sein Gegner und reckte den Arm entschlossen nach vorne. „Blanas, greif an!“

Noch immer von dem Leuchten umgeben, sprintete Blanas los, seine Wut über die Attacken seines Gegners schier gebündelt mit der Stärke, die es durch Geduld gesammelt hatte.

„Aber das wird helfen“, entgegnete Zayn. „Riolu, Konter!“

Riolus Augen begannen, blau zu leuchten, die Enden seiner Maske stellten sich auf, dann hielt es die Arme vor den Körper, wobei die Stahlplatten von ihm wegzeigten. Kurz bevor Blanas‘ Angriff es traf, leuchtete nun auch sein Körper in einem hellen, schimmernden Blauton, und anschließend prallten Orange und Blau aufeinander.

Während Riolu die starken Pfoten in den Boden gestemmt hatte und trotz des Angriffes an Ort und Stelle blieb, wurde Blanas von der Wucht der Konterattacke in hohem Bogen zurückgeschleudert. Sein kleiner Körper prallte nach einem kurzen Flug und einem begleitenden Schmerzensschrei auf dem Boden auf, überschlug sich einige Male, bis er regungslos liegenblieb. Die verdoppelte Power seiner eigenen gespeicherten Energie hatte ihm den Rest gegeben.

Sein Trainer rief es mit einem missmutigen Blick zurück in seinen Ball. „Schön, du hast gewonnen. Herzlichen Glückwunsch“, giftete er ironisch.

„Bevor du es das nächste Mal mit einem schlechten Anmachspruch versuchst, solltest du dein Pokémon heilen gehen“, erwiderte Zayn und maß ihn kaum mehr eines Blickes.

„Jaja“, war die Antwort, dann verzog sich der unangenehme Zeitgenosse, und Chandra stieß einen erleichterten Seufzer aus. In Pyritus hätte man so etwas nicht sagen können, ohne Ärger anzuzetteln, aber dieser widerwertige Kerl sah zum Glück ein, dass er verloren hatte.

Als Zayn mit seinem Riolu auf sie zu kam, erhob sie sich und klatschte ein paar Mal in die Hände. „Wow, jetzt hab ich dich auch mal in Aktion gesehen“, lächelte sie. „Du bist echt gut.“

„Ach, das war doch noch gar nichts.“ Zayn wirkte einen Hauch verlegen. „Auch wenn ich natürlich sehr stolz auf dich bin.“ Er kniete sich zu seinem Pokémon und tätschelte ihm den Kopf, woraufhin es erfreut war. „Wie geht es dir?“, fragte er und fuhr behutsam über die feinen Schnitte, die die Rasierblätter dem kleinen Wesen zugefügt hatten. Als Antwort reckte Riolu einen Arm nach oben und stieß einen kampflustigen Laut aus.

„Jaja, ich weiß, du bist noch lange nicht am Ende.“ Mit einem Lachen rief Zayn es zurück in seinen Pokéball und steckte diesen zurück an seinen Gürtel.

„Aber damit das gleich klar ist: Du hast das nicht gemacht, um mich zu verteidigen, sondern nur, um zu trainieren“, stellte Chandra lächelnd fest.

„Natürlich! Wie käme ich denn auch zu etwas anderem – völlig undenkbar.“

 

******

 

Als sie nach diesem Ereignis schließlich wieder zurück ins Hotel gegangen waren, hatte Zayn Riolus Wunden mit einem Spray behandelt. Anschließend hatten er und Chandra ihren Pokémon – genau genommen Riolu, Galagladi, Nachtara und Psiana – etwas zu fressen gegeben. Nun lagen sie beide im Bett und Chandra war sehr froh darüber, dass sie ihre eigene Matratze hatte.

Sie war müde von dem doch recht langen, ereignisreichen Tag und wollte nichts lieber, als endlich zu schlafen. Es war so viel passiert und sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie plötzlich mehrere hundert Kilometer entfernt war von Ray und von ihrem grausamen Vater und von Cryptopokémon – und von Devin.

Nein, nein, nein. Sie durfte jetzt nicht an ihn denken. Gefühlsduselei war das Letzte, was sie nun vor Zayn zeigen wollte, denn davon hatte es in den letzten Tagen bereits mehr als genug gegeben.

„Chandra?“

Dankbar für die Ablenkung sah sie zu Zayn, der sie ebenfalls ansah. Obwohl kein Licht mehr an war, erkannte sie seine Gesichtskonturen sehr gut, denn helles Mondlicht fiel durch die Fenster in das Zimmer. Seine hellblauen Augen leuchteten in diesem Licht mehr denn je.

„Ja?“, wisperte sie.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich es sehr schätze, dass du mir so viel Vertrauen entgegenbringst, obwohl ich dir immer noch nichts erzählt habe. Das bedeutet mir sehr viel, denn es ist nicht selbstverständlich, und deshalb … Danke.“

„Schon okay“, erwiderte sie schüchtern – damit hatte sie nicht gerechnet. „Mach dir keine Gedanken deswegen.“

„Gut. Ich wollte nur, dass du es weißt.“ Zayn lächelte. „Schlaf gut. Und wenn du morgen aufwachst, sind wir fast an unserem Ziel.“

„Super, ich freu mich“, murmelte sie schlaftrunken, erwiderte sein Lächeln, dann drehte sie sich auf die andere Seite.

Chandra könnte jeden Abend mit dem Blick auf das Meer einschlafen. Ruhig lag die See dort draußen vor dem Strand. Es war so still hier, sie hörte kein einziges Geräusch von draußen, keine sich anschreienden Menschen, kaum Sirenen. Sie konnte einfach hier liegen und sich sicher fühlen. Sie stellte sich das leichte Rauschen der Wellen im Meer vor, das sie allmählich in einen tiefen, entspannten Schlaf fallen ließ.

Ankunft

Es war zehn Uhr vormittags, als Chandra und Zayn am Bahnhof von Portaportus in ihren nächsten und letzten Zug stiegen. Dieses Mal war Chandra die Stadt, zu welcher der Zug fuhr, völlig unbekannt. Veralia – noch nie gehört. Auf ihre Frage, was das für eine Stadt sei, hatte Zayn nur „Das wirst du dann ja sehen“ erwidert. Diese kryptische Antwort hatte ihr ungefähr so viel geholfen wie die letzten zehn dieser Art.

Das Wetter war an diesem Tag hervorragend, die Sonne hatte ihren Platz hoch oben am Himmel bezogen und verführte mit ihren Strahlen jeden zu guter Laune, selbst wenn man gewisse Sorgen im Kopf hatte. Doch diese verdrängte Chandra, als sie die schon deutlich ergrünte Landschaft außerhalb des Zuges an ihren Augen vorbeiziehen ließ. Sie beschlich das Gefühl, je weiter man sich von Pyritus entfernte, desto lebensfroher wurde die Natur.

Die Zugfahrt nach Veralia dauerte nicht so lange wie die letzte, nach ungefähr einer Dreiviertelstunde waren sie dort. Die Stadt war deutlich kleiner als Portaportus, das erkannte Chandra sofort. Nichtsdestotrotz schien auch hier das Gebot einer sauberen, angenehmen Atmosphäre zu gelten, vielleicht sogar noch mehr als in Portaportus. Die Bahnhofshalle war klein, aber schnuckelig, vor dem Bahnhof tat sich ein weiter Platz mit hellem Pflasterstein auf, der in der Sonne ein wenig blendete. Links und rechts schmückten Cafés den Platz und überall an den Seiten waren kleine Bäume gepflanzt, deren Kronen sich allmählich in ein saftiges Grün verwandelten. Jede Sitzbank wurde von hohen Töpfen mit bunten Blumengestecken flankiert.

Sie liefen über den Platz und zur nächsten Straße, wo ein kleiner Parkplatz war. Zayn gab Chandra nun auch endlich die Erklärung, dass ein Freund von ihm sie abholen und zu ihm nach Hause fahren würde. Daraufhin fragte sie ihn, wieso sie nicht einfach wieder mit Brutalanda fliegen würden. Seine Antwort lautete: „Meine Mutter kriegt einen halben Herzinfarkt, wenn sie mich auf Brutalanda fliegen sieht. Also lassen wir sie besser glauben, dass wir das nicht tun oder getan haben. Ich zähle auf deine Unterstützung.“

Äh, Moment – hatte er gerade Mutter gesagt? Das ging Chandra auf einmal entschieden zu schnell.

Doch bevor sie nachharken konnte, kam plötzlich ein Auto ruckartig vor ihnen zum Stehen. „Unser Chauffeur“, sagte Zayn, dann begrüßte er den Fahrer, welcher auch schon ausgestiegen war.

„Wow, du weilst also noch unter den Lebenden, Respekt!“, waren die ersten Worte des Neuankömmlings. Es war ein Typ, der wohl ungefähr in Zayns Alter sein musste. Auffällig an ihm waren die vielen schwarzweißen und bunten Tattoos auf seinen Armen, von denen einige, wie Chandra bei einem flüchtigen Blick erkannte, Pokémon zeigten. Ansonsten trug er eine schwarze Kappe, unter der dunkelblondes, wirres Haar hervorstand. Davon abgesehen sah er recht gewöhnlich aus, trug eine Jeans und ein graues T-Shirt. Als er Zayn in eine kurze Umarmung zog, meinte er: „Aly wird sich freuen!“

„Klar, hast du was anderes erwartet?“, entgegnete Zayn und überging damit die zweite Aussage.

„Aber wen hast du da denn mitgebracht?“ Die Augen des Fremden fielen auf Chandra, die ein wenig unsicher an ihrer Stelle verweilte. Sie hatte irgendwie nicht damit gerechnet, doch so schnell jemand Neuen kennenzulernen. „Sieht schnuckelig aus.“

„Sei nett, Vince“, ermahnte Zayn ihn scherzhaft. „Das ist Chandra. Sie …“, er schien zu überlegen, „kommt nicht von hier.“

„Ah. Ich heiße Vincent – oder Vince. Wie es dir beliebt“, stellte sich besagter Vince vor und reichte ihr eine Hand, während er sie mit strahlend weißen Zähnen anlächelte.

„Hi.“ Mehr kam nicht übers Chandras Lippen, als sie seine Hand griff. Wie er ihr so nah war, fielen ihr die vielen Sommersprossen auf seiner Nase und den Wangen auf und auch die hellbraunen Augen. Er war nicht unbedingt ihr Typ, aber sie musste doch gestehen, dass er süß und unglaublich sympathisch aussah, auf eine etwas unbeholfene Art.

„Gib schon her“, sagte er und deutete auf den Rucksack, den sie wiedermal auf ihrem Rücken trug. Er nahm in ihr ab und verfrachtete ihn zusammen mit ihrer Reisetasche im Kofferraum des kleinen Autos. Im Anschluss öffnete er ihr galant die hintere, rechte Tür, nur um zu bemerken, dass die Rückbank mit allerlei Kram belegt war. „Ach, shit! Der Gentleman steht mir einfach nicht“, seufzte er, beugte sich ins Auto und warf den Kram wahllos von rechts nach links, wobei das Klirren von Flaschen zu hören war. Nachdem er fertig und der Platz frei war, setzte Chandra sich ins Auto. Daraufhin klopfte Vince Zayn auf die Schulter, sagte „Du hast mir einiges zu erklären, Kumpel“, ehe sie beide ebenfalls einstiegen.

Vince startete den Motor, warf noch einen Blick nach hinten zu Chandra und mit einem Grinsen meinte er: „Ich hoffe, du bist gut angeschnallt.“

Ebenso ruckartig, wie er vorher angehalten hatte, fuhr er nun los, und sie wurde förmlich in den Sitz gepresst. Während der Fahrt merkte sie sehr schnell: sein Fahrstil war katastrophal chaotisch. Geschwindigkeitsbegrenzungen hielt er, wenn überhaupt, nur mit Mühe ein, Kurven nahm er mit einer ordentlichen Portion Schwung, die Bremse wurde nicht zu früh betätigt und Ampeln, die von Grün auf Orange wechselten, waren eine Aufforderung, Gas zu geben – merkwürdigerweise schaffte er es aber gerade so über jede Ampel, bevor diese Rot wurde. In Pyritus wäre er mit dieser Art des Fahrens gut aufgehoben gewesen. Regeln wurden dort klein geschrieben oder sofort missachtet, der offensivste Fahrer war der beste Fahrer. Chandra war sich sicher, dass es weitaus ungefährlicher war, auf Brutalanda zu fliegen, als mit diesem Chaoten im Auto zu sitzen, doch sie behielt den Gedanken für sich. Sie hoffte lediglich, dass sie heil – wo auch immer – ankamen. Sie war nicht aus Pyritus abgehauen, um einen Tag später bei einem Autounfall zu verrecken.

„Hast du deiner Mutter gesagt, dass du heute zurückkommst?“, fragte Vince während der Fahrt. Sie hatten mittlerweile Veralia verlassen und fuhren auf einer Landstraße, rechts führte direkt ein Wald entlang.

„Nein.“ Zayn klang grüblerisch und starrte aus dem Fenster.

„Aber Aly doch wenigstens, oder? Mann, deine Mutter hat mir fast den Hals umgedreht, als ich nicht wusste, wo du bist. Bei Aly war sie nicht ganz so sauer.“

„Deswegen hab ich’s ja auch nur ihr gesagt.“

„Dir ist klar, dass sie nun dir den Hals umdrehen wird, wenn du wiederauftauchst, als wäre nix gewesen?“ Vince warf einen Blick in den Rückspiegel zu Chandra und verkniff sich offenbar einen Kommentar über sie. Klar, das musste wohl mehr als seltsam wirken, dass Zayn plötzlich nicht alleine wiederkam. Und Chandra besaß nicht den Hauch einer Ahnung, worüber sie sprachen. Wer war diese Aly und wieso war Zayns Mutter anscheinend sauer auf ihn?

„Ich weiß“, grummelte Zayn.

Vince lachte plötzlich auf. „Ach, na ja, Hauptsache, du bist wieder da. War öde ohne dich.“

Wenig später kam rechts eine Abzweigung, die Vince nahm. Nun fuhren sie eine schmälere Straße entlang, die zu beiden Seiten von Bäumen gesäumt wurde, doch nach einigen Metern nahm die Anzahl der Bäume ab und vor ihnen tat sich schließlich eine Art Lichtung auf.

Chandra weitete überrascht die Augen, als sie das betrachtete, was vor ihnen lag. Die Straße mündete in einen gepflasterten, großen Vorplatz, auf dem das Auto nun seitlich zum Stehen kam. Wenn Chandra aus dem Fenster sah, erblickte sie in nur wenigen Metern Abstand ein imposantes, strahlendes Gebäude vor sich. Überwältig davon stieg sie aus dem Wagen und schlug wie in Trance die Tür zu.

Das in weißer Farbe gestrichene Gebäude ließ sich in drei Teile aufteilen. Der mittige Teil des Gebäudes war in einer runden Form gebaut worden und hatte drei Stockwerke. Im unteren Stockwerk bestand die Frontseite vollständig aus Glas, welches durch die Reflektion des Sonnenlichtes keinen Blick nach innen gewehrte. In den oberen Stockwerken reihten sich hohe, doppelte Fenster aneinander, doch darüber thronte der eigentliche Hingucker des Gebäudes. Auf seiner Spitze befand sich eine gläserne, große Kugel, die ab der Mitte von einem stählernen Gerüst gestützt wurde. Ihre Fenster waren in der unteren Hälfte weiß und in der oberen Hälfte rot getönt. Ein schwarzer Balken lief zwischen dem roten und weißen Glas um die Kuppel entlang, der auf der Vorderseite in einem Kreis endete, in dessen Mitte das Fenster glasklar war. Einen Augenblick sah Chandra wie gebannt auf den überdimensionalen Pokéball. Es sah einfach zu schön aus, wie das Sonnenlicht das rote Glas zum Strahlen brachte wie eine tiefrote, glühende Sonne kurz vor dem Untergehen.

Sowohl links als auch rechts ging ein länglicher Gebäudeflügel von dem runden Hauptgebäude ab. Diese hatten zwei Stockwerke, wie unschwer an den in regelmäßigen Abständen auftauchenden Fenstern zu erkennen war. Des Weiteren fiel ihr auf, dass rechts vom Platz noch eine schmale, gepflasterte Straße am Gebäude entlang und hinter dieses führte, mehr konnte sie aber nicht erkennen. Das Gebäude lag direkt am Anfang des Waldes, in einigem Abstand wurde das Aufkommen von Bäumen wieder häufiger. Aus allen Richtungen konnte man Vogelpokémon hören, die wohl in besagten Bäumen sitzen mussten und ihre Melodien zum Besten gaben.

Genug beobachtet. Chandra riss sich von ihrer eigenen Begeisterung los und wandte sich an Zayn, der schon mit ihrer Tasche neben ihr stand und sie amüsiert anfunkelte.

„Ich habe mich jetzt lange genug geduldet“, sprach sie, um ihren ernstesten, selbstbewusstesten Tonfall bemüht. „Du wolltest mir die ganze Zeit nicht sagen, wo wir hingehen, aber nun raus mit der Sprache! Was ist das hier und wo bin ich gelandet? Und wag es nicht, mich wieder abzuwimmeln!“

„Du hast recht, du hast eine Antwort verdient“, gestand Zayn. „Das hier ist das Pokémon-Hauptlabor. Es ist das größte derartige Labor in ganz Orre und ist – wer hätte das gedacht – spezialisiert auf die Erforschung der Pokémon, um es kurz zu fassen. Einige Forscher leben hier und … einige andere Leute.“

„Und du auch?“

„Ich auch, ja.“

„Oh, okay“, meinte Chandra überrascht. Das erklärte einiges. Sogar ziemlich viel.

Bevor sie mehr hervorbringen konnte, trat Vince zwischen sie beide und legte ihnen jeweils eine Hand auf die Schulter. „Ab in die Höhle des Löwen, meine Kinder“, grinste er und ging anschließend voraus.

„Wohnt er etwa auch hier?“, fragte Chandra.

„Nein, er ist nur Dauergast und hängt an meinem Rockzipfel“, war Zayns Antwort.

Von vorne drang Vince‘ Stimme zu ihnen. „Das hab ich gehört!“

Sie beide liefen nun mit ihren Sachen ebenfalls Richtung der gläsernen Fassade und den darin eingelassenen, automatischen Schiebetüren.

„Ich muss dich noch vorwarnen, Chandra.“ Zayn stoppte plötzlich und ergriff Chandras Handgelenk. Er machte auf einmal einen nervösen Eindruck auf sie, lächelte gequält. „Du wirst gleich meine Mom kennenlernen. Sie ist eine sehr nette Frau, aber im Moment wird sie sehr wütend sein.“

Was auch immer das gerade zwischen ihnen war, es verlief ja wirklich in Extremgeschwindigkeit. Vor gerade einmal drei Tagen hatten sie sich kennengelernt, dann waren sie sich nahegekommen und nun würde sie schon seine Mutter kennenlernen?! Wo war sie hier nur gelandet? Sie spürte ihre eigene Aufregung wie einen schweren Brocken in ihrem Hals. Unsicher nickte sie.

Zayn wollte schon weiterlaufen, als ihr etwas einfiel. „Halt, Moment!“ Nun stoppte sie ihn. „Und was sagen wir ihr, wer ich bin? Ich meine, sieh mich an – ich habe eine Tasche dabei. Ich kann mich doch nicht selbst einladen“, floss es aus ihr heraus.

„Das regeln wir schon, keine Sorge.“

„Ach ja? Und wie? Was willst du zu ihr sagen? Du kannst unmöglich sagen, wer ich bin und wieso ich hier bin.“

Er seufzte. „Was ist dir lieber? Die Wahrheit oder die Wahrheit-Wahrheit?“

Sie war verdutzt. „Was ist die Wahrheit-Wahrheit?“

In einer unauffälligen Geste deutete er auf sie beide. Als sie die Anspielung verstand, wurde sie etwas lauter. „Nein, natürlich nicht! Das darf niemand hier erfahren!“ Um Gottes willen, bloß nicht. Sie musste ja nicht sofort einen schlechten Eindruck schinden.

„Keine Angst, es ist auch in meinem Interesse, dass das unter uns bleibt.“

War es bloß Einbildung oder hatte er gerade einen Hauch gekränkt geklungen? Oder war sie es, die über seine deutlichen Worte so etwas wie Kränkung verspürte? Worüber zur Hölle dachte sie hier eigentlich nach?

Die Rettung kam mal wieder von vorne. „Hallo, ihr Turteltauben, kommt ihr dann auch mal?“, rief Vince ihnen zu.

Sie rissen sich voneinander los und überwanden nun endlich die letzten Meter bis zum Eingang. Surrend öffneten sich die Türen und nun standen sie in einer weiträumigen Eingangshalle mit hohen Decken und glänzenden Marmorböden. Links und rechts führte jeweils ein Gang ab und auch vor ihnen war auf der anderen Seite eine weiße Doppeltür, deren eine Hälfte sich nun öffnete.

„Zayn!“, rief eine hohe Mädchenstimme. Das Mädchen, zu dem sie gehörte, stürmte aus der Türe und unmittelbar auf Zayn zu. Als es bei ihm ankam, flog es ihm förmlich in die Arme. Er hatte damit bereits gerechnet, die Arme ausgebreitet und fing es nun lachend auf, dann hob er es hoch und wirbelte es einmal im Kreis durch die Luft.

„Na, meine Prinzessin!“, lachte er und setzte das Mädchen wieder auf dem Boden ab.

Die Kleine strahlte ihn aus Augen an, die in dem gleichen eisigen Blau leuchteten wie seine. „Du bist wieder da“, kicherte sie. Sie war noch gut einen Kopf kleiner als Chandra, hatte dunkelbraunes, langes Haar und trug ein T-Shirt, auf dem etliche Pikachus abgebildet waren.

Chandra fiel nun das kleine Geschöpf ins Auge, das hinter dem Mädchen ebenfalls in die Halle gerannt war – oder besser gesagt: gewatschelt war. Ein gelbgefiedertes Pokémon mit einem gedrungenen Körperbau. Auf dem rundlichen Körper saß ein ovaler Kopf, der oben von drei äußerst auffälligen, schwarzen Haarsträhnen geschmückt wurde. Es hatte einen für den Kopf recht großen, langen, beigefarbenen Schnabel, an dessen Anfang zwei süße, kleine Nasenlöcher saßen. Die ovalen Augen mit den schwarzen Pupillen sahen aufgeregt zu Zayn. Seine zwei kurzen, recht dicken Arme hielt es nach oben, seine kleinen Finger berührten den Kopf. Es stand auf Füßen, die aussahen wie beigefarbene Flossen.

Chandra erkannte hinter dem Enton seinen kleinen, spitzen Schwanz, der aufgeregt hin und her zuckte. Es stand vor Zayn und quakte ihn einmal an. Er verstand diese Aufforderung offenbar, ging in die Hocke und tätschelte dem Pokémon den Kopf. „Schön, dass es dir auch gut geht, Enton“, lachte er.

Weiterhin auffällig an diesem Enton war, dass es ein ledernes Band um den Hals trug, an welchem ein ovaler, hellgrauer Stein hing. Chandra wusste allerdings nicht, was das für ein Stein war.

„Enton und ich haben dich ganz doll vermisst“, sagte das Mädchen nun und zog einen Schmollmund.

„Ach, Jill, jetzt bin ich ja wieder da. Und Enton hat doch gut auf dich aufgepasst, oder?“

Jill nickte eifrig. „Ja, natürlich!“

Zayn lächelte die Kleine so warmherzig an, dass Chandra, die mit Vince ein wenig abseitsstand, bei diesem Anblick das Herz aufging. Bevor er noch etwas sagen konnte, schreckte er jedoch hoch, als eine Tür zuknallte und sich ihnen klackernde Schritte näherten.

Eine Frau schritt auf ihn und Jill zu, ihr Blick war ernst und sehr entschieden auf Zayn gerichtet. Sie musste um die vierzig sein, trug eine dunkelblaue, schicke Hose, welche ihrer schlanken Figur schmeichelte, sowie eine weiße Bluse und einen ebenfalls blauen, offenen Blazer. Ihr dunkelbraunes Haar war in einer eleganten Weise hochgesteckt. Obwohl Zayn sich wieder aufgerichtet hatte und ein gutes Stück größer war als sie, war ihre Erscheinung vor ihm nicht klein, sondern selbstbewusst.

Sie wandte sich mit einem schwachen Lächeln an Jill. „Schätzchen, sei so lieb und nimm bitte Enton und geh mit ihm in dein Zimmer, ja? Ich muss kurz etwas mit deinem Bruder besprechen.“

„Na gut.“ Alles andere als zufrieden klingend, schnappte Jill sich Entons rechten Arm und verschwand mit ihm wieder aus der Halle.

„Möchtest du mir vielleicht verraten, was du dir dabei gedacht hast?“, fuhr die Frau fort, kaum, dass die Tür hinter Jill zugefallen war. Sie achtete nicht auf Vince oder die Unbekannte, die unbeteiligt danebenstand. Chandra konnte nicht anders, als sich völlig fehl am Platz zu fühlen. Die Frau musste Zayns Mutter sein und er hatte nicht übertrieben, als er gesagt hatte, dass diese sehr sauer sein würde. Ihre Augen sprühten förmlich Funken und ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch.

„Ich musste es tun, Mom“, entgegnete Zayn, wissend, wovon sie sprach.

„Was genau? Dich in Lebensgefahr bringen oder mir das verheimlichen?“

„Mom, ich …“

„Nichts Mom! Wie konntest du einfach, ohne ein Sterbenswörtchen an mich zu verlieren, in diese Stadt fahren? Wohlwissend, dass ich krank würde vor Sorge um dich.“ Ihre Stimme war kühl, aber messerscharf.

Auf Zayns Gesicht zeichnete sich klarer Ärger ab, aber er schien sich zu beherrschen. „Wenn ich dir gesagt hätte, was ich vorhabe, hättest du mich niemals gehen lassen.“

„Zurecht!“, stellte sie lautstark klar. „Natürlich lasse ich meinen Sohn nicht alleine in eine gefährliche Stadt hunderte von Kilometern entfernt reisen, wo es nur so wimmelt von kriminellen Menschen und gefährlichen Pokémon. Aber das war dir egal! Stattdessen war alles, was du zurückgelassen hast, eine lächerliche Notiz an Alyssa, dass du für ein paar Tage in Pyritus seist. Ich müsse mir ja keine Sorgen machen, du würdest schon aufpassen und heil wiederkommen. Und dann bist du dort und nicht zu erreichen, schreibst nach zwei Tagen nur eine knappe Nachricht. Weißt du, wie ich mich gefühlt habe?“ Sie verlor ein wenig an Ernsthaftigkeit, als sich ihre Augen mit Tränen füllten.

„Aber es ist doch alles in Ordnung, ich bin hier und es geht mir gut“, wollte Zayn sie beschwichtigen, doch der Versuch half nicht im Geringsten.

„Was wäre, wenn es anders wäre? Dann hätten wir es wahrscheinlich nie erfahren. Möchtest du das? Dass ich nur erahnen kann, was meinem Sohn zugestoßen sein könnte, nachdem er aus purer Dummheit nach Pyritus gereist ist?“

Das war ein kleiner Schlag unter die Gürtellinie und Chandra sah beschämt Richtung Eingangstüre. Ob sie es merken würden, wenn sie sich hinausschleichen würde? Dieses Familiendrama wollte sie überhaupt nicht miterleben; schon gar nicht vor dem Hintergrund, dass Zayn nicht aufrichtig war, denn immerhin wäre ihm wirklich fast etwas zugestoßen, hätte Chandra an jenem Abend nicht zufällig seinen Weg gekreuzt. Sie setzte den Punkt Zayns Mutter niemals erzählen, wie wir uns kennengelernt haben auf ihre imaginäre Checkliste.

„Du verstehst das nicht“, blieb er standhaft. „Ich bin alt genug, um selbst entscheiden zu können, wo ich hingehe. Ich brauche dich nicht um Erlaubnis zu bitten. Also hör auf, mir das vorzuwerfen.“

„Denkst du, es ginge mir darum?“ Wut sprach aus ihrer Stimme. „Darum, dich zu kontrollieren? Du kannst tun und lassen, was du willst. Ich würde dich nicht aufhalten, wenn du in eine andere Region reisen wollen würdest, ich stehe immer hinter dir. Aber erwartest du ernsthaft, dass ich es gutheiße, dass du nach Pyritus gehst – nach allem, was passiert ist?“

„Du hast keine andere Wahl, Mom. Ich werde nicht aufhören, das Richtige zu tun, nur weil du mit deiner krankhaften Angst um mich nicht zurechtkommst.“ Zayn machte keinen minder entschlossenen Eindruck als sie zuvor; er war nicht bereit, von seinem Standpunkt abzurücken. „Und genau aus diesem Grund habe ich dir nicht gesagt, dass ich dorthin gehe. Weil ich wusste, dass du wieder übertreiben würdest.“

Zayns Mutter trat noch einen Schritt auf ihn zu, bis sie unmittelbar vor ihm stand. Ihr Blick ließ sich am ehesten als eisern beschreiben. „So redest du nicht mit mir, Zayn. Ich bin immer noch deine Mutter und es ist mir egal, wie alt du bist oder was du für das Richtige hältst. Ich werde mir immer das Recht herausnehmen, es dir zu sagen, wenn du einen Fehler begehst. Denn … ich mache mir Sorgen um dich und will dich beschützen. Aber das kann ich nicht, wenn du nicht ehrlich zu mir bist.“ Ihre Stimme erstarb, sie presste die Lippen aufeinander. Eine glasige Schicht überzog ihre Augen. „Was soll ich Jill sagen, wenn du eines Tages vielleicht nicht wiederkommst? Übertreibe ich dann etwa immer noch?“

Es vergingen einige quälend lange Sekunden, in denen sie nur zu ihrem Sohn hochsah. Zayn rührte sich nicht und Chandra konnte erkennen, wie er überlegte. Doch dann gab er sich einen Ruck, schloss die Arme um seine Mutter und zog sie eng an sich.

„Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst“, sagte er entkräftet.

Seine Mutter drückte ihn dicht an sich und beruhigte sich allmählich wieder. „Mach das bitte nie wieder.“ Eine unverkennbare Trauer lag auf ihren feinen Gesichtszügen, aber als sie die Augen schloss und sie kurz darauf wieder öffnete, schien jene wie weggewischt. Ihr Blick klärte sich und dann sah sie über Zayns Schulter hinweg direkt zu Chandra. „Wen hast du denn da mitgebracht?“

Sie lösten sich voneinander und als Zayn zu Chandra sah, machte er nicht den Eindruck, als hätte seine Mutter ihn gerade wegen seiner Handlungen zusammengefaltet. Die Fähigkeit, Gefühle auf Knopfdruck verschwinden zu lassen, lag offenbar in der Familie. „Mom, das ist Chandra, sie … Ehrlich gesagt ist das ziemlich kompliziert.“

„Das glaub ich dir sofort“, ergänzte Vince ungerührt.

„Oh, Chandra, freut mich, dich kennenzulernen“, sagte Zayns Mutter und reichte ihr eine Hand. „Entschuldige bitte, dass du mich so kennenlernen musstest. Ich bin nicht immer so ein Teufel. Aber du kannst mich gerne Cara nennen.“

„Schon in Ordnung“, lächelte Chandra verlegen. Die Situation war verdammt unangenehm.

„Wo habt ihr euch kennengelernt?“

„Auch das ist kompliziert“, antwortete Zayn. „Aber sag mal … Könnte sie vielleicht für eine Weile hierbleiben? Es ist wichtig. Ich werde dir später alles in Ruhe erklären.“

Cara schien irritiert, aber nicht abgeneigt. Sie lächelte Chandra zu und sagte: „Natürlich, bleib, solange du möchtest. Es gibt hier einige freie Zimmer, du kannst dir eines aussuchen. Zayns Freunde sind hier immer willkommen.“

„Besonders Freundinnen“, korrigierte Vince.

Zayn warf ihm für den Kommentar einen tödlichen Blick zu. „Du bist gleich nicht mehr willkommen, wenn du nicht die Klappe hältst.“

„Oh nein, wie tragisch“, lachte sein Freund. „Ich muss eh wieder los, hab noch was vor. Aber glaub ja nicht, dass dich das von deiner Pflicht, mir alles zu erzählen, befreit.“ Er verabschiedete sich von ihnen und verschwand durch die Türen nach draußen.

Daraufhin sagte Zayn seiner Mutter, dass sie später reden würden, und sie meinte, dass Chandra sich ja nun ein Zimmer aussuchen könne. Chandra selbst fühlte sich wie jemand, der falsch abgebogen war und nun nicht wusste, was er tun sollte. Seit sie hier war, hatten sich so viele neue Fragen in ihr aufgetan und sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihr deren Antworten nicht gefallen würden.

Einige Minuten später waren sie zu zweit unterwegs durch den rechten Gebäudeteil. Chandra stellte fest, wie orientierungslos sie war. Jeder Gang sah irgendwie gleich aus und die Türen ließen sich auch nur schwerlich auseinanderhalten. Sie waren in den oberen Stock gegangen und kamen vor einer von mehreren Türen zum Stehen.

„Mein Zimmer ist am Ende des Ganges. Wenn dir dieses hier nicht gefällt, kannst du auch ein anderes haben, allerdings wärst du dann nicht in meiner Nähe“, erklärte Zayn. „Weiß nicht, ob du das willst.“

„Das hier wird schon okay sein“, presste sie hervor und betrat das Zimmer.

Es war nicht sonderlich groß, aber ausreichend für eine Person. Direkt rechts an der weißen Wand stand ein Bücheregal, in dem einige Bücher hausten, davor stand seitlich zur Wand ein Bett für eine Person, welches allerdings noch ohne Bettwäsche war. An der hinteren Wand war rechts ein Fenster eingelassen, vor dem weiße, seidene Gardinen flatterten, und links bezog ein Tisch inklusive Stuhl Position. Das vierte Möbelstück in dem Raum war ein Kleiderschrank mit drei Türen. Der Boden war aus hellem Parkett, die Möbel ebenfalls allesamt in einem hellen, hölzernen Ton. Vorne neben dem Schrank war noch eine weitere Tür in die Wand eingelassen und als Chandra diese öffnete, sah sie ein kleines, fensterloses Bad.

Na immerhin. Für die von Zayn erwähnte „Weile“ würde es dieses Zimmer schon tun. Was nach der „Weile“ sein würde – darüber wollte Chandra im Moment nicht nachdenken.

„Deine Mutter war ja ziemlich sauer auf dich“, sagte sie nach ihrem Rundblick.

„Sie beruhigt sich auch wieder.“ Zayn zuckte mit den Schultern.

„Möchtest du mir verraten, was sie so sauer gemacht hat?“

„Das hast du doch mitgekriegt. Es hat ihr nicht gefallen, dass ich nach Pyritus gereist bin“, erwiderte er knapp, doch Chandra durchschaute seine Worte.

„Das hat doch sicherlich einen Grund. Sie wird sich ja nicht umsonst aufregen. Und außerdem, ein bisschen recht hat sie ja schon. Für jemanden wie dich war es dort ziemlich gefährlich.“

Er stöhnte genervt: „Jetzt fang du nicht auch noch damit an. Ich bin hier und es geht mir gut. Das ‚Was wäre, wenn?‘ ist doch völlig egal.“

„Aber das ‚Was war?‘ ist es nicht“, konterte Chandra und dann stand sie auch schon unmittelbar vor ihm und sah hoch in sein Gesicht. „Du hast mir immer noch einige Fragen zu beantworten. Mittlerweile mehr denn je, immerhin habe ich dafür gesorgt, dass deine Mutter ihren Sohn wiedersehen kann.“

„Und ich habe dich mit hierher genommen. Ich denke, damit sind wir quitt“, schmunzelte er.

„Oh, nein, nein, nein, netter Versuch, aber wir sind noch nicht mal ansatzweise quitt, Zayn.“ Sie tippe ihm mit dem Finger gegen die Brust. „Dafür kann ich mich auch auf andere Weise revanchieren.“

„Ach ja? Wie denn?“

„Du kannst dir ja was aussuchen, wenn du mir meine Fragen beantwortet hast“, grinste sie, was Zayn ihr gleichtat.

„Das ist aber ein ziemlich offenes Angebot, Chandra.“

„Gut möglich, aber vielleicht motiviert es dich ja dazu, mich endlich aufzuklären.“ Dafür fuhr Chandra, wenn notwendig, auch schwerere Geschütze auf. Allmählich war sie ihre ahnungslose Rolle mehr als leid.

„Na gut, da kann ich nicht ablehnen“, gab er nach und sah in ihre Augen. „Was möchtest du wissen? Und dieses Mal meine ich die Frage ernst.“

Seinen Blick ungerührt erwidernd, sagte sie: „Als Erstes möchte ich wissen, was du an dem Abend, als ich dich gerettet habe, in Pyritus gemacht hast.“

Leider war irgendeine höhere Macht nicht auf ihrer Seite, wie es schien. Kurz nach ihren Worten klopfte es an der Zimmertüre und sie beide zuckten auf, als hätte man sie bei etwas Geheimen gestört. Mit genervter Miene schritt Chandra zur Tür ihres neuen Zimmers und als sie diese öffnete, sah sie sich einem unbekannten Mädchen ihres Alters gegenüber.

 

******

 

Er war zu spät.

Diese Erkenntnis, von der er niemals auch nur im Entferntesten gedacht hätte, sie sich einmal bewusst machen zu müssen, drang wie tausend eiskalte Stiche in sein Bewusstsein. Ihre Kälte breitete sich wie ein Gift langsam in seinem Körper aus, lähmte ihn, als legten sich klamme Finger um ihn, die ihn zu einer Eissäule erstarren ließen. Doch tief unter der gefassten, erkalteten Fassade brodelte es förmlich und den einzigen Verweis auf diesen Zorn lieferte seine rechte, zur Faust geballte Hand, die an seiner Seite unkontrolliert zitterte.

Hier stand Ray nun also, in der Wohnung seiner missratenen Schwester, wo ihm nichts als verlassene Zimmer und Leere entgegenschlugen, jedoch nicht das, was er hier vorzufinden erhofft hatte. Augenblicklich hätte er seine Faust vor lauter Wut über seine eigene Naivität in die Wand krachen lassen können. Natürlich war das kleine Biest nicht länger hier.

„Die Wohnung ist leer, Ray“, bestätigte seine rechte Hand Samuel seine Erkenntnis nach einem Rundgang. „Allerdings sind alle Fenster verschlossen und da die Tür von innen abgeschlossen war, stellt sich mir die Frage, wie Ihre Schwester abhauen konnte.“

Das war in der Tat eine Frage, der man Beachtung schenken sollte, wenngleich Ray die Antwort bereits kannte. Tatsächlich war der Metallriegel vorgeschoben gewesen, was bedeutete, dass Chandra nicht die Tür genommen haben konnte, als sie abgehauen war. Ray besaß zwar einen Ersatzschlüssel für ihre Wohnung – für Fälle wie diesen –, das extra Schloss jedoch hatte sein Hypno mittels psychokinetischer Kräfte öffnen müssen, indem es den Riegel ohne viel Mühe zur Seite geschoben hatte. Das war unauffälliger, als die Tür mit Gewalt aus ihren Angeln zu treten. Die Wohnung selbst lag in nicht mehr als zwei Metern Höhe und somit tief genug, um ohne Probleme aus dem Fenster klettern zu können. Es hätte jedoch keinen Vorteil gehabt, ein Fenster statt der Türe zu nehmen. Die Wohnung allerdings physisch gar nicht erst verlassen müssen, bot eine vielversprechendere Option zur Flucht an.

„Konnte ihr Psiana vielleicht Teleport?“, fragte Samuel, der offenbar in ähnlichen Bahnen überlegte.

„Nein. Psiana können Teleport nicht erlernen.“ Selbstverständlich war das keine Möglichkeit. Niemals hätte er Chandra dieses Pokémon gelassen, könnte es solch eine für ihn gefährliche Attacke erlernen.

„Allerdings ist das auch gar nicht nötig“, fuhr er fort.

„Inwiefern?“

„Sie war nicht alleine“, sprach Ray endlich den Gedanken aus, der das Feuer des Zornes in seinem Inneren schürte.

„Aber …“ Samuel verstand nicht, denn er war von Ray bislang noch nicht über den Grund für den heutigen Besuch in Chandras Wohnung aufgeklärt worden. Im Moment war Ray allerdings nicht gewillt, ihm die wissenswerten Einzelteile zu liefern. Stattdessen wandte er sich nun den anderen beiden Personen zu, die ebenfalls mit ihm im Flur standen.

„Wie konnte das passieren?“, forderte er mit bedrohlich ruhiger Stimme zu erfahren. Als er in die ahnungslosen Gesichter der beiden Männer sah, denen er seine Wut zu verdanken hatte, musste er an sich halten, sie nicht auf der Stelle seinen Pokémon zum Fraß vorzuwerfen.

„Ich, ähm …“, stammelte Larkin, der ältere der beiden.

Ähm drückt eure Dummheit schon ganz gut aus“, erwiderte Ray ungerührt.

„Wir konnten ja nicht wissen, dass dieser Typ –“

„Was?“, unterbrach Ray ihn. „Dass dieser Typ euch zwei Deppen einen Pokéball abnehmen konnte oder dass er gleich auch noch meine liebreizende Schwester mitnimmt?“

„Hätten wir gewusst, dass –“

Auch diesen Rechtfertigungsversuch würgte Ray ohne viel Mühe ab, indem er fassungslos auflachte. „Hätte bringt mir leider auch nichts. Aber lasst es mich noch einmal für den guten Samuel rekapitulieren. Der Abend, an dem Chandra mich das letzte Mal angerufen hatte, knapp drei Tage her. Ich denke, der Inhalt ist euch bekannt. Ihr wart unterwegs, um einem Kunden ein Cryptopokémon zu übergeben. Danach habt ihr bemerkt, wie euch jemand gefolgt ist. Er ist euch sogar bis in eine Bar gefolgt, aber offenbar habt ihr zu viel Gesöff getrunken, um zu merken, wie er Ian einen leeren Pokéball unterjubeln und sich ein Cryptopokémon mitnehmen konnte. Na immerhin wart ihr schlau genug, ihm zu folgen, denn sein baldiges Verschwinden hat euch stutzig gemacht. Leider wart ihr aber nicht schlau genug, um zu merken, dass einer eurer Pokébälle leer war. Tja, Glück für das kleine Arschloch.“

Larkin funkelte ihn mit verdrießlichem Gesichtsausdruck an. „Wie hätten wir das so schnell merken sollen? Es waren schließlich nicht unsere Pokémon.“

„In der Tat. Nun ja, immerhin konntet ihr ihn erwischen. Zu eurem Pech kam genau in diesem Augenblick meine Schwester vorbei – die ihr natürlich noch nie gesehen hattet. Leider hat sie einen ganz lästigen Beschützerinstinkt. Aber beantwortet ihr mir doch eine Frage. Ihr musstet doch geahnt haben können, dass dieser Kerl etwas über die Cryptopokémon wissen musste, sonst hätte er euch ja schließlich nicht beobachtet. Und dennoch habt ihr euch von meiner Schwester in die Flucht schlagen lassen. Könnt ihr mir das erklären?“

„Wir hatten keinen offenen Verdacht gegen ihn und wollten nicht Ihren Zorn auf uns ziehen. Dem letzten, der Ihre Schwester verärgert hat, ist’s nicht wohl bekommen“, erklärte Larkin.

Ein Grinsen spreizte Rays Lippen, aber es diente lediglich als Schleier, der seine Wut verhüllte. „Wohl wahr. Ihr seid also von dannen gezogen. Aber …“ Er fühlte, wie jene Wut nun wieder stärker in ihm aufbrodelte, als er die Geschichte zu Ende dachte. „Wie kann es sein, dass ihr zwei Idioten über zwei Tage gebraucht habt, um zu merken, dass der scheiß Pokéball leer ist?“, fragte er, wobei er ihnen das Wort „leer“ mit deutlich erhobener Stimme entgegenschleuderte.

Es war hin um seine Geduld. Der Abend vor drei Tagen – er war unglücklich verlaufen. Ray selbst war es gewohnt gewesen, dass Chandra hin und wieder seinen Status missbrauchte, um sich Probleme vom Hals zu halten. Wie hätte er auch ahnen können, dass sie zwei seiner Leute erwischt hatte? Und im Falle von Larkin und Ian war ihr Respekt vor ihm deutlich größer gewesen als der Zweifel an einem dahergelaufenen Typen.

 Nun meldete sich Ian, der jüngere, zu Worte. „Es tut mir leid, ich hätte es früher merken müssen.“

„Dann wäre es vielleicht nicht so weit gekommen“, ergänzte Ray, dann griff er in seine Manteltasche und zog jene Ballkapsel heraus, die Ian erst vor wenigen Stunden leer vorgefunden hatte. „Seht euch das an.“ Er öffnete die Kapsel, in welcher ein kleiner, zusammengefalteter Zettel lag, dessen Inhalt die beiden natürlich schon kannten. Aber wenn Ray eins half, dann, ihnen ihren Fehler noch einmal mehr als deutlich vor Augen zu halten. Er öffnete das Papier und las vor: „‚Vielen Dank, ihr Idioten.‘ Er hat offenbar mehr Humor als ihr Intelligenz und sofort erkannt, was Sache ist.“

Larkin wollte abermals ansetzen, um etwas zu ihrer Verteidigung hervorzubringen, doch Ray platzte allmählich der Kragen. „Haltet die Klappe, ich will nichts mehr hören von euch zwei Dilettanten!“, warf er ihnen lautstark an den Kopf. Im nächsten Moment, überwältigt von dem heißen Gefühl der Wut in seiner Brust, schlug er den Pokéball in seiner Hand voll Wucht gegen die Wand. Mit einem Klacken zerbrach die Kapsel und fiel in zwei Hälften zu Boden. „Eigentlich sollten das eure Köpfe sein“, knurrte er.

Die beiden starrten ihn schweigend, aber mit vor Ehrfurcht erfüllten Gesichtern an. Sie wären nicht die ersten, die Ray ersetzen ließe.

„Chandra ist weg“, donnerte seine Stimme erneut durch den Flur. „Gestern hat sie niemand mehr gesehen und an ihren üblichen Orten ist sie nicht. Das lässt den Schluss zu, dass sie bereits einen ganzen Tag Vorsprung hat. Die Region ist riesig, sie könnte mittlerweile überall sein, vor allem, wenn sie nicht alleine ist.“

Natürlich war sie nicht alleine. Niemals hätte sie den Mut gefasst, alleine aus Pyritus zu fliehen. Wie auch? Sie wäre wahrscheinlich nicht einmal bis über die Stadtgrenze hinausgekommen. Doch mit Hilfe einer zweiten Person sah das schon wieder anders aus. Jemand, der ganz bewusst ein Cryptopokémon entwendete – überhaupt so viel wissen musste, um sie zu erkennen –, war ganz sicher nicht Irgendjemand.

Doch das schlimmste an der Erkenntnis, dass er dieses Debakel nicht hatte verhindern können, war die Tatsache, dass es sehr wohl hätte verhindert werden können. Die Wut, die er für die beiden Trottel vor sich übrighatte, richtete sich in gewissem Maße auch gegen sich selbst. Vorgestern Abend erst war er hier gewesen und hatte Chandra geglaubt, dass sie alleine seien. Er war keineswegs jemand, der alles für bare Münze nahm, doch er hatte seiner Schwester vertraut. Wobei es wahrscheinlich weniger Vertrauen in sie als viel mehr in sich selbst gewesen war.

Chandra war stets handzahm ihm gegenüber gewesen, hatte es nie gewagt, sich gegen ihn aufzulehnen, zumindest nicht ernsthaft. Ray konnte sich immer an der Sicherheit laben, dass sie es nie in Betracht ziehen würde, ihrer beider Vertrag zu brechen und die Stadt zu verlassen. Sie hatte sich immer zu seinem Wohlwollen verhalten, ob sie es wusste oder nicht. Ihre Angst vor ihm war sein Trumpf.

Und jener Gewissheit, die er eigentlich ihr gegenüber hatte haben können, war es zu verdanken, dass er an diesem verhängnisvollen Abend leichtsinnig gewesen war. Chandra hatte ihm gesagt, sie seien alleine, doch auf dem Tisch hatten zwei Gläser gestanden. Zwei volle Gläser für eine Person? Möglich, aber unwahrscheinlich. Anstatt aber diesen Umstand zu hinterfragen, war Ray ihrer Lüge wie ein Narr auf den Leim gegangen. Es hätte ja auch zig Gründe geben können. Sie hätte Besuch erwarten oder zuvor Besuch gehabt haben können – Besuch, der kein Wasser mochte. Nicht von der Hand zu weisen war überdies die Tatsache, dass Chandra nun mal ein Flittchen war und es demnach nicht ungewöhnlich, dass irgendwelche Männer bei ihr ein uns ausgingen.

Es half ja alles nichts. Ray musste sich wohl oder übel eingestehen, wie lächerlich seine eigenen Rechtfertigungsversuche klangen. Seine Leichtsinnigkeit hatte ihn die Kontrolle über seine Schwester gekostet.

„Womöglich lassen sich ja in der Wohnung Hinweise auf denjenigen finden, mit dem Ihre Schwester abgehauen ist“, schlug Samuel vor.

„Meine Schwester hurt sich durch die ganze Stadt, ich will gar nicht wissen, was wir hier alles finden“, bluffte Ray ihn an.

Um sich von dieser ekelerregenden Vorstellung abzulenken, trat er ins Wohnzimmer und sah sich um. Ob hier irgendwo etwas war, das Aufschluss darüber gab, wohin sie verschwunden sein könnte? Wahrscheinlich nicht, so dumm war selbst Chandra nicht. Dennoch trat er vor die Kommode und öffnete deren oberste Schublade. Ihm fiel ein Bilderrahmen ins Auge und darin ein Bild, mit dem er nicht gerechnet hatte. Es zeigte Chandra und ihn selbst, allerdings waren sie beide deutlich jünger. Das musste acht oder neun Jahre her sein.

Ray schmunzelte, als er das kleine, blondhaarige Mädchen betrachtete. Das Bild war noch aus der Zeit, als sein Vater und er Chandra noch hatten glauben lassen, sie drei wären so etwas wie eine Familie und Chandra ihnen wichtig. Früher war diese kleine Nervensäge einfacher zu handhaben gewesen. Sie war naiv gewesen und hätte ihnen wohl alles geglaubt. Und sie war heute noch genauso naiv, wenn sie ernsthaft dachte, dass sie Ray derart leicht hintergehen und davonkommen könnte.

Im nächsten Moment schlug er den Bilderrahmen mit dem Glas voran gegen die Kante der Kommode. Mit einem unschönen Knirschen gab das Glas nach und fiel in Scherben zu Boden. Er nahm das Foto aus den Überresten des Rahmens, dann verschwand es in seiner Tasche. Vielleicht würde er es verbrennen. Oder als Ziel für seine Dartscheibe nehmen.

Er ging wieder in den Flur. Samuel verfolgte alle seine Bewegungen; er wusste, wann er Ray besser in Ruhe lassen sollte. Larkin und Ian hingegen standen steif an ihrem Fleck und waren vermutlich froh, wenn sie nicht die Zielscheibe für Rays Zorn wurden.

„Wir müssen sie finden. Auf der Stelle“, befahl Ray an Samuel gewandt.

„Das werden wir.“

„Schick noch heute Leute los, die sich auf die Suche nach Chandra machen. Ich will, dass sie jeden Fleck dieser scheiß Region absuchen, jedes noch so kleine Dorf unter die Lupe nehmen. Sie sollen jeden Stein umdrehen, wenn nötig.“ Wenn man sie in Orre nicht finden würde, ließe er sie notfalls auch überall sonst suchen. Doch er glaubte kaum, dass das nötig sein würde. Wer auch immer ihr geholfen hatte, zu fliehen, stammte vermutlich nicht aus einer anderen Region. Außerhalb von Orre interessierte sich niemand für die Ereignisse in dieser Region und schon gar nicht für Pyritus. Orre war groß, aber nicht unendlich. Früher oder später würde er sie finden. Denn sie gehörte ihm und er ließ sein wertvollstes Artefakt nicht unbeaufsichtigt in der Welt umherwandern. Nie wieder.

„Und ich will nicht nur Chandra. Den Typen will ich auch haben. Er hat es gewagt, meiner Schwester Flausen in den Kopf zu setzen, und damit wird er nicht ungestraft durchkommen.“

Samuel strich sich interessiert durch den dunklen, leicht ergrauten Bart und seine nächsten Worte klangen, als würde er lediglich von einem Objekt sprechen. „Er, tot oder lebendig?“

Ray entlockte diese Frage ein Grinsen. Er mochte den Humor seiner rechten Hand. „Ach, Sam. Lebendig natürlich, tot nutzt er mir ja nichts. Allerdings …“ Kurz überlegte er. „Mit ihm muss nicht ganz so zaghaft umgegangen werden. Hauptsache, er lebt noch, wenn ich ihn zwischen die Finger bekomme. Aber meiner Schwester wird kein Haar gekrümmt, damit das klar ist. Das übernehme ich selbst, wenn sie wieder hier ist.“

Nun wandte er sich zu Larkin und Ian. „Ihr beide solltet hoffen, dass wir Chandra nur allzu bald finden. Aber ich denke, ihr könntet dabei von Nutzen sein. Schließlich seid ihr die Einzigen, die diesen kleinen Bastard richtig gesehen haben, nicht wahr?“ Ein kühler Tonfall dominierte nun seine Stimme und sorgte dafür, dass seine Gegenüber stocksteif vor ihm standen. „Sehr schön. Und wagt es nicht, mich noch ein weiteres Mal zu enttäuschen. Sonst wird dein Gesicht bald noch eine zweite Narbe zieren, lieber Larkin, und für dich, Ian, denke ich mir gerne auch noch etwas aus.“

Ray mochte das Gefühl der Macht, das jedes Mal wie ein warmer Schauer durch seine Adern floss und ihm Stärke einverleibte. Er genoss es, Angst und Respekt in den Augen derer zu sehen, mit denen er sprach. Sie alle taten gut daran, sich zu seinem Wohlwollen zu verhalten, denn er bevorzugte keine halben Sachen bei der Durchsetzung seiner Interessen. Und er bekam immer, was er wollte. So konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er seine Schwester wieder hier in Pyritus wissen würde. Doch die Zeit der Freiheit war vorbei. Er ließ sich nur einmal zum Narren halten – und dieses eine Mal war einmal zu viel.

„Verstanden, meine Herren?“

Ein einstimmiges Nicken war die Antwort.

Ein Hauch von Zweifel

Vor Chandra in der Türe stand ein Mädchen mit brustlangen, honigblonden Haaren, von denen ein voluminöser Pony seitlich über die Stirn und dann am Gesicht entlang nach unten fiel. Ein braunes Paar Augen blickte ihr interessiert entgegen und Chandra selbst kam nicht umhin, einen begutachtenden Blick über die weiblich betonte, schlanke Figur des Mädchens zu werfen. Die schmale, zierliche Taille, einladende Hüften, die genau den richtigen Schwung hatten, und ein Dekolleté, das in Kombination mit der dunkelroten Bluse selbst Chandras Blicke magisch auf sich zog, machten aus dem Mädchen eine schöne, junge Frau – der gegenüber sich Chandra wie ein unförmiges, unattraktives Mädchen fühlte. Dabei war sie ja sonst niemand, der an seinem Aussehen allzu sehr zweifelte.

Sie merkte, dass sie zu lange gestarrt hatte, doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach die Unbekannte auch schon – aus einem Mund, der von vollen, roten Lippen geschmückt wurde. „Oh, hi. Ich hoffe, ich habe nicht gestört?“

Um ehrlich zu sein, schon, dachte Chandra, doch setzte ein freundliches Gesicht auf.

„Aly, was machst du hier? Und wie hast du uns überhaupt so schnell gefunden?“, fragte Zayn. Chandra trat zur Seite und sah, dass er zumindest auch ein wenig überrumpelt aussah.

„Das war doch nicht schwer“, zwinkerte die Angesprochene namens Aly, und in Chandras Gehirn fing es an, zu rattern.

Aly passte zu Alyssa und Alyssa war der Name auf Zayns PDA gewesen, als Chandra die Nachricht hatte lesen wollen. Ihr Name war in der vergangenen Stunde ziemlich oft gefallen und wie es aussah, war diese Alyssa die Einzige gewesen, der Zayn von seinem Fortgehen berichtet hatte. Damit war klar, dass er ihr vertraute und sie offenbar in einer nahen Beziehung zueinanderstehen mussten.

Chandra hätte sich gerne besser unter Kontrolle gehabt, doch als Alyssa Zayn umarmte und ihm sagte, wie sehr sie sich freue, ihn wohlauf wiederzusehen, musste sie dies einfach misstrauisch beobachten. Doch dann herrschte sie sich an, nicht allzu auffällig hinzustarren. Sie konnte darauf verzichten, dass man ihr ihre Gedanken ansehen konnte.

„Sorry, dass ich hier so reingeplatzt bin“, wandte Alyssa sich plötzlich mit einem Lächeln an sie. „Ich bin Alyssa und du?“

„Chandra.“

„Kommst du aus Pyritus?“, sprach Alyssa die korrekte Schlussfolgerung aus, was Chandra bejahte. „Ehrlich gesagt habe ich mir die Menschen dort immer ganz anders vorgestellt, irgendwie verschlagener. Aber das trifft wahrscheinlich nicht auf alle zu, oder? Oh je, ich glaub, ich rede totalen Blödsinn, entschuldige bitte.“ Sie griff sich beschämt an die Wangen.

„Ähm, schon okay, die meisten Leute dort sehen tatsächlich ziemlich scheiße aus“, lachte Chandra unsicher. Sie fühlte sich nicht wohl auf dem Präsentierteller.

Glücklicherweise kam Zayn ihr zur Hilfe. „Chandra wird einige Zeit hierbleiben, Aly. Sie hat einiges durchgemacht, also sei bitte so nett und löcher sie nicht mit Fragen, ja?“

Alyssa sah zu ihm und in ihrem Gesicht erschien eine ähnliche Irritation wie zuvor bei Zayns Mutter, doch auch sie begnügte sich vorerst mit seinen Worten. „Aber natürlich. Chandra, wenn du mal ein Mädchen zum Reden brauchst, mein Zimmer ist unten. Zayns Gegenwart ist manchmal etwas eintönig.“

„Ich steh übrigens immer noch neben dir“, beschwerte dieser sich.

„Na wie auch immer“, winkte sie ab. „Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass Torben mir schon die ganze Zeit damit in den Ohren gelegen hat, wann du wiederkommst. Er war nicht untätig, während du weg warst, und muss etwas Wichtiges mit dir besprechen. Vielleicht solltest du jetzt gleich zu ihm gehen.“

Zayn seufzte. „Kann das nicht warten?“

„Du weißt, dass er nicht gerne wartet. Insbesondere dann nicht, wenn es darum geht.“

Chandra entging die merkwürdige Betonung des Wortes „darum“ nicht. Sprachen hier denn etwa alle in Rätseln? Und es konnte doch nicht sein, dass sie nun schon wieder um ihre Antworten gebracht würde. Aber sie wollte sich vor Alyssa nicht in den Vordergrund drängeln und auf ihren Fragen beharren, also sah sie Zayn nur ausdruckslos an.

Er schien hin und hergerissen, für was er sich entscheiden sollte, bis Chandra ihm die Entscheidung abnahm und meinte: „Tu dir keinen Zwang an.“

„Wir reden später, ja? Wirklich!“, versicherte er ihr, und Alyssa ging schon voraus durch die Türe.

„Das möchte ich schwer für dich hoffen“, stimmte Chandra zu. Noch ein weiteres Mal würde sie sich nicht vertrösten lassen – und sicherlich nicht noch einmal wegen ungebetenen weiblichen Besuches. Aber Missmut brachte sie an dieser Stelle nicht weiter, also verabschiedete sie Zayn bis später, sodass sie alleine in ihrem neuen Quartier zurückblieb.

„Scheiße, ich bin viel zu geduldig“, sprach sie zu sich selbst und fuhr sich genervt durchs Haar. Das war sie doch sonst auch nicht – wieso jetzt auf einmal?

Um sich von ihrem Ärger abzulenken, sah sie sich ein wenig im Zimmer um. Sie öffnete das Fenster und sah nach draußen. Von ihrem Zimmer aus hatte sie Sicht auf das, was hinter dem Gebäude lag. Tatsächlich grenzte nicht unmittelbar der Wald an das Haus, sondern das Grundstück breitete sich noch ein gutes Stück nach hinten aus, ehe ein Zaun sein Ende markierte. Der vordere, rechte Bereich wurde von einem Trainingsplatz eingenommen, links befand sich ein abgedeckter Pool und vor beidem grenzte an das Haus eine Terrasse. Dahinter tat sich nur noch eine große, gepflegte Grünfläche auf, in deren Mitte ein mit Steinen umlegter Teich lag.

Vielleicht sollte sie nach draußen gehen und ihre Pokémon an die frische Luft lassen. Das wäre besser, als hier drinnen die Zeit totzuschlagen.

Doch bevor sie diesen Gedanken in die Tat umsetzte, sah sie sich weiter im Raum um. Der Kleiderschrank war leer, dafür entdeckte sie jedoch in einer der Schubladen des Tisches einen Schlüssel und stellte fest, dass er für die Zimmertüre war. Hervorragend; sie hätte sich nicht wohl damit gefühlt, das Geld, das sie von zu Hause mitgenommen hatte, ungeschützt hier herumliegen zu lassen. Sie merkte bei dem Gedanken an Pyritus, wie merkwürdig es war, den Ort, in dem ihr fast ausschließlich Schlechtes widerfahren war, als ihr Zuhause zu bezeichnen. Aber sie hatte über die Hälfte ihres Lebens nichts anderes gekannt und dort, wo sie nun war, ließ es sich mit Sicherheit schön leben und wohlfühlen, doch sie kannte kaum jemanden und fühlte sich bislang sehr fremd.

Vielleicht sollte sie das ändern. Sie war von keinem Mann abhängig und würde sicherlich nicht hier sitzen und warten, bis Zayn irgendwann wiederkommen und beschließen würde, dass er nun Zeit für sie hatte. Wenn er Wichtigeres zu tun hatte, als sich mit ihr zu beschäftigen, dann fand sie eben selbst eine Möglichkeit der Zeitvertreibung.

Chandra kramte ihre Pokébälle aus der Tasche und verließ anschließend das Zimmer. Sie schaffte es nach unten, doch dort verwirrten sie die in sanftem Gelb gestrichenen Gänge und sie schlug gefühlt dreimal den falschen Weg ein. Es war ruhig um sie herum und es begegnete ihr keine Menschenseele, der ihre Orientierungslosigkeit hätte auffallen können. Nach einer kleinen Ewigkeit fand sie den Weg zurück in die Eingangshalle. Erst jetzt fiel ihr auf, dass in der rechten, hinteren Ecke eine Rezeption war, im Moment jedoch unbesetzt. Der Bereich dahinter bestand aus Bücherregalen mit einer Menge an Büchern.

Chandra trat zu den Büchern und überflog einen Teil des Regals. Allerlei Wissenswertes zu Pokémontypen, Pokémonarten, verschiedenen Lebensräumen, richtiger Pflege, Ernährung, Erziehung … Sie staunte nicht schlecht, als sie die Buchrücken überflog. Hätte nicht gedacht, dass Pokémonzucht so komplex ist, aber gut, was weiß ich schon? Die einzigen beiden Pokémon, die ich habe, sind mir praktisch zugelaufen, dachte sie und bestaunte weiterhin die Regale.

„Hey, bist du die Freundin meines Bruders?“

Beim Klang der Stimme schreckte Chandra hoch und ihr geschwindes Umdrehen sorgte dafür, dass sie gegen das Regal stieß. Sie hatte nicht mitgekriegt, wie jemand zu ihr getreten war. Vor der Rezeption stand niemand Geringeres als Zayns kleine Schwester und neben ihr das Enton. Jill war ihr Name, das hatte sich Chandra merken können.

„Ja … Äh, nein! Ich meine Nein! Eine Freundin, nicht die Freundin!“, brach er aus ihr heraus und sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.

Jill sah sie sichtlich neugierig an und meinte schlicht: „Schade.“

„Wieso schade?“

„Du bist hübsch und ich glaube, du bist auch nett. Aber was nicht ist, kann ja noch werden“, grinste Jill.

Chandra gab ein unsicheres Lächeln zurück und erwiderte, in der Hoffnung, dieses Thema damit zu beenden: „Ja, mal sehen.“ Sie trat vor die Rezeption und beugte sich ein wenig zu Jill. „Sag mal, dein Name ist Jill, oder?“

„Eigentlich Jillian, aber da ich dich mag, darfst du mich Jill nennen“, sagte sie. „Und wie heißt du?“ Chandra stellte sich abermals vor und daraufhin zog Jill verwundert die Augenbrauchen nach oben. „Chandra – das ist irgendwie ein komischer Name.“

„Ein bisschen vielleicht“, lachte die Angesprochene.

„Aber ich mag ihn.“

„Oh, danke. Wie alt bist du, Jill?“

„Elf“, verkündete Jill stolz und schien im Anschluss kurz zu überlegen. „Was machst du hier eigentlich so alleine? Wo ist mein Bruder?“

„Ich glaube, er musste etwas Wichtiges erledigen.“

Als hätte sie mit nichts anderem gerechnet, verdrehte Jill die Augen und stöhnte auf. „Oh man, Zayn ist manchmal so doof. Er kann dich doch nicht einfach alleine lassen, immerhin bist du mit ihm gekommen.“

Diese Worte entlockten Chandra ein Grinsen. „Ich finde, du hast recht, das war wirklich nicht nett“, stimmte sie zu.

„Aber egal, dann kümmere ich mich jetzt um dich“, beschloss Jill. „Hast du Hunger?“

Da musste Chandra tatsächlich nicht lange überlegen. Bis auf einen kleinen Snack vor ihrer Abreise aus Portaportus hatte sie nichts zu sich genommen und ihr Magen glich einem maulenden Loch. Also bejahte sie die Frage, woraufhin Jill sich umdrehte und sie anwies, ihr zu folgen.

„Komm mit, Enton“, rief sie noch und das gefiederte Wasserpokémon eilte ihnen in tapsigen Schritten hinterher.

 

******

 

Sie waren einen Stock höher gegangen und Jill hatte Chandra in eine Küche geführt, wo sie sich an einem vollen Kühlschrank hatte bedienen können. Niemand außer ihnen beiden war hier und so saßen sie nun schon eine Weile an dem länglichen Tisch, der eine Hälfte des Raumes füllte. Jill war äußerst neugierig und stellte Chandra einige Fragen, doch diese musste feststellen, dass sie die meisten nicht beantworten konnte, da Jill schlichtweg noch zu jung war.

„Hast du auch Pokémon, Chandra?“, war Jills nächste Frage.

„Ja, ein Psiana und ein Nachtara. Möchtest du sie sehen?“

Jills Augen wurden groß und leuchteten wie zwei funkelnde Eiszapfen. „Oh ja, bitte!“

Umgehend kam Chandra ihrem Wunsch nach, zog die zwei kleinen Kapseln aus ihrer Hosentasche und mit ein wenig Druck vergrößerten diese sich. Wenig später erschienen die grazilen Körper ihrer Pokémon vor sich. Es war das erste Mal, dass sie sie aus ihren Bällen gelassen hatte, seit sie hier war, und tatsächlich konnte man den beiden ansahen, dass sie eine für sie ungewöhnliche lange Zeit in ihren Bällen verbracht hatten. Sunny streckte sich ausgiebig und Lunel begann sogleich, die neue Umgebung zu inspizieren. Nach einem kurzen Rundblick durch den Raum erspähte er Jills Enton, welches auf dem Tisch saß. Er trat an die Tischkante und reckte Enton schnuppernd die Nase entgegen. Enton hingegen sah unsicher aus und legte fragend den Kopf schief und als sein Schabel die Nase des Nachtaras vor ihm berührte, zuckte er zusammen.

„Oh, wow!“ Jill rutschte von ihrem Stuhl und trat zu Sunny und Lunel, von denen Erstere mittlerweile damit beschäftigt war, sich das Fell zu lecken. „Kann ich sie streicheln?“

„Klar, nur zu“, lächelte Chandra.

Behutsam legte Jill eine Hand auf Sunnys Rücken und fuhr durch das glänzende, hellviolette Fell, woraufhin diese sich gegen die Hand lehnte. Lunel trat nun auch an Jill heran und streckte ihr neugierig den Kopf entgegen. „Hey, das kitzelt!“, kicherte sie, als er ihr über die Wange leckte.

„Nicht so aufdringlich, Lunel“, ermahnte Chandra ihr Pokémon und erinnerte sich daran, dass er bei Zayn ähnlich kontaktfreudig gewesen war.

„Schon okay, sie sind echt süß!“ Jill kraulte ihn hinter den Ohren und strahlte bis über beide Ohren. „Und man kann mit ihnen kuscheln. Mit Zayns Pokémon geht das leider nicht so gut. Sie sind nicht wirklich süß, bis auf Riolu. Aber die anderen sind groß und manchmal machen sie mir Angst.“

„Ach ja? Wieso?“ Chandra kannte bislang nur drei seiner Pokémon, aber das klang, als hätte er mehr – was sie aber nicht verwunderte, wenn sie so darüber nachdachte.

„Brutalanda zum Beispiel wird oft sehr schnell wütend, aber früher war das noch viel schlimmer als heute. Es hat Zayn sogar einmal angegriffen und ihn verletzt.“

Chandra war erschrocken über diese Worte. „Inwiefern?“

„Na ja, er hatte dann einen gebrochenen Arm – und ein paar Schrammen, aber die waren nicht so schlimm.“

„Aua …“, entgegnete Chandra und griff sich unbewusst an den Arm.

Aber Jill zuckte nur mit den Schultern, sah fast schon unbeeindruckt aus. „Na ja, es war ja nur ein Arm, der heilt wieder …“ Sie lächelte nicht länger, hatte den Blick nach unten gerichtet.

„Und dann? Was ist passiert?“

„Zayn war nicht sauer auf Brutalanda, er hatte Verständnis, und Brutalanda fing an, ihn zu respektieren. Es hat ihm dann sogar richtig leidgetan, ihn verletzt zu haben. Es hat fast eine Woche nichts gefressen, bis es sich sicher war, dass Zayn nicht sauer ist.“ Plötzlich trat wieder ein Lachen auf Jills Gesicht. „Zum Glück hat es dann wieder etwas gefressen. Ich meine, es ist doch ein Drache und Drachen müssen stark sein, um fliegen zu können, sonst sind sie keine Drachen!“

„Ja, stimmt“, meinte Chandra, die sich vom Lachen Jills anstecken ließ. Sie fand, dass Brutalanda zuletzt nicht den Eindruck eines zornigen Pokémons auf sie gemacht hatte. Vermutlich zeugte das aber auch davon, wie gut Zayn und sein Pokémon mittlerweile miteinander klarkamen.

„Jedenfalls ist mein Bruder ein sehr guter Trainer, der beste hier!“, betonte Jill stolz. „Ich will auch eines Tages so gut sein. Aber ich bin noch zu jung, um Pokémon zu trainieren. Also müssen Enton und ich noch warten.“ Enton quakte zustimmend und wollte vom Tisch hüpfen. Leider fiel das Pokémon seiner Schusseligkeit zum Opfer und stürzte ungeschickt zu Boden, rappelte sich jedoch sogleich wieder auf und streckte seine Arme entschlossen nach oben.

„Oh man, du Tollpatsch“, seufzte Jill. Enton drängte sich zwischen Psiana und Nachtara hindurch, um bei ihr zu sein. Sunny schnupperte an den Härchen auf seinem Kopf, woraufhin es irritiert dreinblickte.

Chandra konnte nicht anders, als über das Enton zu lachen. Es war zu putzig und so herrlich unschuldig. Dann kam ihr ein Gedanke. „Du, sag mal, was ist das eigentlich für ein Stein, den Enton um den Hals trägt?“

„Ein Ewigstein. Wenn ein Pokémon ihn bei sich trägt, dann kann es sich nicht weiterwickeln, auch wenn es eigentlich stark genug wäre.“

„Ah, wow. Also ist Enton prinzipiell bereit für eine Entwicklung?“

„Ich hab keine Ahnung“, lachte Jill, „aber wir beide wollen nicht, dass aus Enton ein Entoron wird. Es soll für immer ein kleines, süßes Enton bleiben. Stimmt’s, Enton?“ Das Pokémon gab erneut einen zustimmenden Laut von sich.

Es verging noch ein wenig Zeit, in der Chandra mit Jill in der Küche saß und über Pokémon redete. Sie selbst konnte nicht allzu viel erzählen, doch das war nicht schlimm, denn Zayns Schwester fand immer wieder Geschichten, die sie ihr erzählen konnte. Nach einem Blick auf die Uhr fiel ihr jedoch ein, dass sie noch etwas erledigen musste. Daraufhin verabschiedete sie sich und sagte, dass Chandra ruhig Zayn suchen gehen solle, ehe dieser sie noch länger warten ließe.

„Hat sie mich jetzt wirklich hier allein gelassen? Wie soll ich jemals wieder zurückfinden?“, seufzte Chandra und rief ihre Pokémon zurück. Sie wusste nicht, wo sie war, außer, dass es der erste Stock war. Auf gut Glück lief sie los und schaffte es nach unten. Es war mittlerweile fast drei Uhr nachmittags, also wenn Zayn nicht bereits ebenfalls auf der Suche nach ihr war, ließ er sich wirklich Zeit. Chandra durchlief gerade einen Gang im Erdgeschoss, als ihr an dessen Ende eine angelehnte Tür ins Auge fiel. Sie kam näher und dann drangen Stimmen an ihr Ohr, von denen eine allzu bekannt war.

„Hast du schon nachgesehen, was für ein Pokémon in dem Ball steckt?“ Eine tiefe, unbekannte Männerstimme.

„Natürlich nicht. Ich bin doch nicht so wahnsinnig und lasse ein potenziell gefährliches Pokémon aus seinem Ball, ohne zu wissen, ob es nicht innerhalb von Sekunden alles in Schutt und Asche legen kann.“ Zayns Stimme.

Chandra schritt alarmiert näher an die Türe und spitzte die Ohren.

„Das heißt, wir sollten vorher eine Analyse des Pokéballs vornehmen, um herauszufinden, welches Pokémon in seinem Inneren haust“, schlussfolgerte der Unbekannte.

„Das würde ich auch vorschlagen. Ich geh aber ehrlich gesagt nicht davon aus, dass es ein ausentwickeltes Pokémon ist. Aus einem anderen Pokéball des Kerls, dem ich diesen hier abgenommen habe, kam ein Quaputzi.“

Pokéball? Kerl? Abgenommen? Chandra beschlich bei diesen Worten ein düsteres Gefühl und nach und nach flammte Wut in ihrem Inneren auf. Sie fuhr ihr in heißen und kalten Güssen durch die Adern und brachte ihre Beine zum Zittern. Dennoch wagte sie sich noch einen Schritt weiter vor, bis sie durch den Türspalt lugen konnte und sowohl Zayn als auch den Besitzer der zweiten Stimme ins Blickfeld bekam. Einen großen, schlanken Mann mit kurzen, braunen Haaren und einem weißen Kittel am Körper. Sie standen mit dem Rücken zu ihr und bemerkten sie nicht. Was das für ein Raum war, wusste sie nicht. An der hinteren Wand standen einige für sie völlig fremde Gerätschaften, aber im Moment gab es ohnehin Wichtigeres.

„Hat das Mädchen, das du mit hierhergebracht hat, etwas damit zu tun?“, fragte der Mann in Weiß und hob den Pokéball hoch. „Ich bezweifle, dass du sie nur mitgebracht hast, weil sie dir gefällt.“

„Natürlich nicht.“ Zayn schüttelte den Kopf. „Aber ja, sie hat ziemlich viel damit zu tun. Und sie weiß noch nicht, dass ich diesen Pokéball mitgenommen habe. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie ich es ihr schonend beibringen kann.“

„Sie weiß es noch nicht?“

„Nein. Hätte ich es ihr gesagt, hätte das vermutlich einiges verändert.“ Zayn verschränkte die Arme vor der Brust und allein aus seiner Stimme war zu hören, dass er sich in einer Zwickmühle befand. Doch Chandra konnte kein Mitgefühl aufbringen; sie wartete nur noch auf den richtigen Moment, um die Bombe hochgehen zu lassen, deren Zündstoff in ihrem Inneren hauste und kurz davor war, sich an ihrem sengenden Zorn zu entfachen. Sie konnte kaum fassen, was sie hörte.

Er fuhr fort, lachte unsicher: „Die letzten Tage waren so verrückt, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Wenn ich ihr die Wahrheit sage, wird das alles durcheinanderbringen.“

Sie hatte genug gehört. Das klang ja nicht einmal ansatzweise, als glaubte er, die Wahrheit sei das Richtige!

Chandra stieß die Türe auf und richtete die Aufmerksamkeit auf sich. „Ich kann dir also deinen Arsch retten, aber den Grund, weshalb ich das tun musste, habe ich nicht verdient?“

Beide Männer drehten sich synchron um und Zayn fiel förmlich alles aus dem Gesicht. Der Schock zeichnete seine Gesichtszüge und zeigte das Offensichtliche: Chandra hatte ihn bei etwas entlarvt, dessen Offenlegung er bislang mit größter Mühe vermieden hatte.

Nun machte alles Sinn. Seine ausweichenden Antworten, die Geheimnisse – selbst die willkommene Ablenkung namens Alyssa hatte ihm einmal mehr in den Kram gepasst, um ihren Fragen entgehen zu können. Chandra konnte nicht sagen, welche Emotion heftiger in ihr tobte. Die Wut oder doch die Furcht, als sie den vermeintlich harmlosen Pokéball sah. Er mochte gewöhnlich aussehen, doch in seinem Inneren wartete ein Monster darauf, auf die Welt losgelassen zu werden.

„Chandra, was … was machst du denn hier?“, fragte Zayn fassungslos und sprachlos zugleich. Chandra war durchaus Geistreicheres von ihm gewohnt, doch jetzt weckte er den Anschein, sich am liebsten in Luft auflösen zu wollen.

„Offenbar endlich das herausfinden, was du mir die ganze Zeit verschwiegen hast.“

„Lass es mich erklären. Es ist nicht so, wie du denkst.“

„Oh, na wenn du das sagst.“ Ein ungläubiges Lachen kam in ihr hoch, dann schritt sie zu ihm. „Diese Floskel meinst du wahrscheinlich genauso ernst wie ‚Du kannst mir vertrauen.‘ Einen Scheiß kann ich!“

Nun stand sie dicht vor ihm und fand den Blick hoch in sein Gesicht, sah, dass er nach der richtigen Antwort suchte, doch sie dachte gar nicht daran, ihn zu Wort kommen zu lassen. „Hast du sie eigentlich noch alle? Einfach ein Cryptopokémon zu klauen und es mir nicht mal zu sagen?“

„Wie hätte ich es dir denn sagen sollen, als wir noch dort waren?“, presste Zayn hervor. „Erst wusste ich nicht, wie du reagieren würdest, und als ich mir deiner Reaktion sicher war, war ich mir ebenfalls sicher, dass du es niemals akzeptiert hättest.“

„Natürlich hätte ich es nicht akzeptiert! Das da“, sie deutete vage auf den Ball, immer noch in den Händen des zweiten Mannes, welcher schweigsam ihrem Streit folgte, „ist kein normales Pokémon, wie du sie kennst. Es ist darauf programmiert, alles zu zerstören, und absolut tödlich. Und es gehört Ray. Wenn er herausfindet, dass du ihm eines seiner Pokémon gestohlen hast, wird unsere Flucht unser kleinstes Problem sein. Wie konntest du so etwas Dummes und Leichtsinniges tun? Die Typen hätten dich umgelegt, hätten sie es herausgefunden – und wäre ich nicht dort gewesen!“

„Ich hatte keine andere Wahl“, erwiderte Zayn wieder gefestigter; er hatte sich wohl von seinem Schock erholt. „Ich bin nicht in dieses Drecksloch gereist, um mit leeren Händen wiederzukommen. Und ja, wenn nötig, riskiere ich auch mein Leben, um an Informationen zu gelangen.“ Chandra irritierte diese ihres Erachtens nach hirnrissige Tatsache und schwieg, woraufhin er fortfuhr. „Weißt du, wie lange wir hier, hunderte Meilen entfernt vom Ursprung, schon versuchen, etwas über die Entstehung dieser Pokémon herauszufinden? Überhaupt etwas Brauchbares über sie in Erfahrung zu bringen? Jahre, Chandra, Jahre. Aber von hier hat man keine Ahnung, was dort drüben vor sich geht, wir können nur hier sitzen und zusehen, wie diese Bedrohung immer weiter zunimmt. Wir können nichts unternehmen, da wir nichts wissen. Eines dieser Pokémon hier zu haben, um es erforschen zu können, um ihm vielleicht helfen zu können, ist das Bestmöglichste in unserer Lage. Also ja, vielleicht bin ich leichtsinnig. Aber wenigstens bin ich kein passiver Arschkriecher wie der Großteil dieser Stadt!“

Chandra stand der Mund offen nach dieser mit Emotionen geladenen Rede. In einer normalen Situation, in welcher sie sich nicht unsäglich hintergangen gefühlt hätte, wäre sie womöglich einer Meinung gewesen mit ihm. Doch nun stand ihr Körper schlicht zu sehr unter Spannung, als dass sie einen Gang hätte runterfahren können. Sie musste nur den Blick auf die rotweiße Kapsel werfen, brauchte bloß einen Gedanken an ihren Bruder zu verschwenden – und spürte die Unkontrollierbarkeit ihres Körpers.

„Wie konntest du dieses Wesen mit zu mir nehmen?“, brach es aus ihr heraus. „Wie konntest du es immer noch bei dir haben, nachdem du wusstest, dass es mich durch seine bloße Existenz fast umbringen kann?“

„Ich musste es tun.“

„Ist das alles, was dir dazu einfällt? Du hast gesehen, wie ich auf diese Pokémon reagiere, weißt, wie viel Angst ich vor ihnen habe. Wie konntest du das entscheiden, ohne es mir zu sagen?“ Die Wut wich ihrer Pein, die bei dem Gedanken aufkam, erneut einem Cryptopokémon zu begegnen. Mit einem Mal fühlte sie sich schwach und spürte den Tränenreiz, der ihren Kiefer zittern ließ.

„Beruhige dich, Chandra“, sprach Zayn „Ich zwinge dich doch nicht, dich diesem Pokémon zu stellen. Du musst gar nicht dabei sein, wenn wir es aus dem Ball lassen. Du wirst nicht einmal merken, dass es da ist.“ Er wollte ihr über den Arm streichen, doch sie schlug seine Hand weg.

„Das ändert gar nichts, Zayn!“, warf sie ihm entgegen. „Du wolltest mir helfen, fortzukommen von diesen schrecklichen Pokémon, stattdessen hast du eines mitgenommen. Ich habe dir vertraut wie der letzte Idiot – wie dumm von mir. Und wenn du tatsächlich glaubst, du könntest ein Cryptopokémon ohne Probleme aus seinem Ball holen, dann bist du sogar noch viel dümmer!“

Kaum dass die Worte gesprochen waren, drehte sie sich um und stürmte aus dem Raum. Sie konnte und wollte nicht länger in sein Gesicht sehen und sich fühlen wie eine Närrin. Eine Närrin, weil sie auf so etwas Simples hereingefallen war: Charme. Sie empfand Wut, vielleicht sogar mehr über sich als wegen Zayns Taten und seines Schweigens.

Sie hörte hinter sich, wie er ihr folgte und rief, sie solle nicht weglaufen, doch sie blieb nicht stehen. Eine Tür später und sie war wieder in der Eingangshalle, dem Knotenpunkt für alles, wie es schien. Dann eilte sie nach draußen und ziellos in eine Richtung. Hauptsache weg und bloß nicht zeigen, wie verletzt sie war. Denn Tränen machten sie nur schwach und diese Schwäche ließ sich allzu leicht für Vertrauen missbrauchen.

„Hör auf, mir nachzulaufen!“, schrie sie nach hinten.

„Ich werde nicht aufhören, dir nachzulaufen“, stellte Zayn klar. „Du kennst dich hier ja gar nicht aus, da lasse ich dich doch nicht alleine in den Wald rennen.“

„Das kann dir doch egal sein.“

„Wow, wann haben wir denn dieses Niveau erreicht? Die Rundmail hab ich wohl verpasst.“

„Seit du dich als egoistisches Arschloch geoutet hast.“ Chandra hatte sich schon ein kleines Stück vom Grundstück entfernt, vor ihr tat sich unmittelbar der Anfang des Waldes auf, da ergriff Zayn ihr rechtes Handgelenk und wirbelte sie so schnell herum, dass sie gegen ihn stieß.

Das war wohl mehr Körperkontakt, als in einem Streit hätte erlaubt sein sollen. Zayn hielt ihre Hand zwischen ihnen und ließe er sie los, würde sie nach hinten fallen. „Deine Worte können ganz schön verletzend sein, Chandra.“

Die Nähe und seine raue Stimme schüchterten sie ein. „Deine Taten sind verletzender.“

„Es tut mir leid. Ich wollte es dir sagen, wirklich. Aber ich hatte Angst vor deiner Reaktion. Ich wollte mich nicht mit dir streiten.“

Nur mit Mühe konnte sie seinem ernsten Blick standhalten. „Ich wusste, dass irgendetwas mit dir nicht stimmt.“

„Wie bitte?“

„Du bist nett und siehst gut aus. Irgendwo musste es ja einen Haken geben.“ Ganz offensichtlich. Niemand war perfekt, selbst wenn es manchmal den Anschein hatte.

Er stutzte. „Du findest, dass ich gut aussehe?“

Ihre Mundwinkel zuckten kaum merklich. „Den Bescheidenen kauf ich dir nicht ab.“ Dann nutzte sie seine Irritation, drehte ihr Handgelenk aus seinem Griff und brachte sich in eine distanziertere Position.

„Chandra …“

„Du bist ein Narr. Ein dummer Narr“, sprach sie. „Du hättest es mir sagen müssen. Selbst nachdem ich alles von mir preisgegeben habe, hast du geschwiegen.“

„Was hätte dieses Wissen geändert? Den Pokéball hatte ich, bevor wir uns trafen. Oder wärst du nicht mehr mitgekommen, hättest du es gewusst?“

„Nein, aber …“ Entnervt schlug sie sich die Hände vors Gesicht. Vielleicht hätte sie ihn überredet, den Ball dort zu lassen, um zumindest ein Übel zu verhindern. „Das ist alles einfach schrecklich. Ich dachte anfangs, du seist einfach irgendjemand, der nur zu neugierig ist, sonst nichts. Aber du bist so schrecklich moralisch und willst unbedingt das Richtige tun und dabei legst du dich mit Leuten an, die deine Kraft weit übersteigen. Du rennst in dein Verderben und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich da nicht ganz unschuldig dran bin.“ Wahrscheinlich hatte sie ihn noch in seinem Tun bestätigt durch ihre Geschichte.

„Wenn es so falsch ist, wieso haben dann deine Pokémon nicht reagiert?“, fragte er, und sie horchte auf. „Ich trug den Pokéball mit dem Cryptopokémon bei mir und trotzdem sind sie schon am ersten Abend so zutraulich gewesen. Ich nehme mal an, dass sie die dunkle Aura eines Cryptopokémons auch spüren können, wenn jene im Ball sind?“

Das hatte Chandra nie gezielt überprüft, aber sie würde es nicht für unwahrscheinlich halten.

„Hätte ich so schlechte Absichten gehabt oder wäre mein Handeln so falsch gewesen, hätten sie sicher anders reagiert. Aber im Gegenteil.“ Ein Grinsen spreizte Zayns Lippen. „Sie waren zutraulicher, als sie es sonst bei irgendjemandem sind, von dir abgesehen.“

„Was willst du damit sagen?“, fragte Chandra zögerlich.

„Die beiden sind verdammt intelligent und du solltest ihren sechsten Sinn nicht unterschätzen. Wer weiß, vielleicht haben sie das Cryptopokémon gespürt, aber waren einfach auf meiner Seite?“

War so etwas möglich? Sie wusste, dass Sunny und Lunel ein schier übernatürliches Gespür hatten, was die Absichten eines Menschen betraf. Aber dass sie aus gegebenen Sachverhalten sogar ihre eigenen, logischen Schlüsse ziehen konnten? Wenn dies wahr war, dann begriff sie die Fähigkeiten ihrer beiden Pokémon noch immer nicht zur Gänze.

„Du bist nicht sauer auf mich, zumindest nicht allzu sehr. Du bist lediglich sauer auf dich selbst, weil du Angst hast, und du hasst es, ängstlich zu sein. Du hast Angst vor Veränderung und vor etwas Neuem, und natürlich Angst vor deinem Bruder. Das ist völlig verständlich. Aber er ist meilenweit weg und bis er überhaupt ansatzweise herausgefunden hat, wo wir sind, haben wir uns den ultimativen Plan überlegt, wie wir ihn zur Strecke bringen können.“

„Ach ja? Ray hat etliche Leute hinter sich, die ihm und seinen Idealen treu sind. Wir sind zu zweit“, sagte Chandra.

„Das ist doch eine immense Steigerung. Vorher warst du alleine.“

Sie wusste nichts zu erwidern, so ließ sie einen Teil der Ereignisse der letzten Tage in ihrem Kopf Revue passieren. Es gab immer noch vieles, das sie wissen wollte, doch einiges leuchtete ihr allmählich ein. „Nun verstehe ich auch, wieso du es auf einmal so eilig hattest, aus Pyritus zu verschwinden. Es war wohl wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis er von dem gestohlenen Pokéball erfahren hätte. Wer weiß, vielleicht weiß er es ja mittlerweile schon“, überlegte sie.

„Gut möglich.“

„Wie hast du es eigentlich geschafft, an den Pokéball zu kommen?“ Neugier keimte in ihr auf, ihre Wut legte sich wieder.

„Ich war in der Stadt unterwegs und mir sind diese beiden Typen aufgefallen. Sie haben jemandem ein Cryptopokémon gegeben und da ich sehen konnte, dass sie noch mehr bei sich hatten, bin ich ihnen gefolgt. Leider nicht sonderlich gut, wie sich herausstellte“, gestand Zayn zerknirscht. „Aber zu meinem Glück waren sie Idioten. Ich bin ihnen bis in eine Bar gefolgt und da sie nicht auf ihren Kram aufgepasst hatten, konnte in einem der beiden einen leeren Ball in die Jacke stecken und mir ein Cryptopokémon nehmen. Dann bin ich gegangen, aber sie hatten meine Anwesenheit bemerkt und sind nun mir gefolgt, was ich wiederum nicht gemerkt hatte. Den Rest der Story kennst du. Sie haben mich erwischt und wollten wissen, wieso ich ihnen gefolgt war. Hätten sie zu dem Zeitpunkt schon gemerkt, dass ich einen ihrer Bälle ausgetauscht habe – tja, ich will nicht wissen, was dann passiert wäre.“

„Du hattest Glück, dass ich an jenem Abend dort war. Das wäre ich eigentlich nicht gewesen.“

„Ach ja?“

„Ich war normalerweise fast jeden Abend mit Devin in einem Club. Aber an diesem Abend hatte ich ein merkwürdiges Gefühl und bin früher gegangen“, erläuterte Chandra erleichtert.

„Offenbar sind deine Pokémon nicht die einzigen mit einem übernatürlichen Gespür“, schmunzelte Zayn. „Also … Danke. Du hast mir das Leben gerettet und ich habe das Gefühl, dir dafür noch nicht ausreichend gedankt zu haben. Aber ich bin froh, dass du da warst.“

Sie fühlte sich geschmeichelt von seinen Worten, wenngleich ihr auch ein wenig unwohl zumute war. „Das habe ich doch gerne gemacht“, antwortete sie und merkte, wie ungeschickt das klang.

„Es hat sich also gelohnt, den Pokéball zu klauen. Sonst wäre ich dir nie begegnet.“

Und sie würde jetzt nicht hier stehen. Chandra verspüre ihrerseits das Gefühl, ihm danken zu müssen, doch etwas blockierte sie. Seine Worte wirken so aufrichtig und sein Blick drückte mehr aus als eine angemessene Dankbarkeit. Es war sicherer, eine gewisse Distanz zu wahren. „Also, ja …“, überlegte sie. „Was hast du eigentlich vorher in Pyritus gemacht? Wie lange warst du schon dort?“

„Zwei Tage. Ich habe mich umgeschaut und versucht, herauszufinden, was dort vor sich geht. Und passenderweise gab es ein paar Leute, die ich fragen konnte. Weißt du, nicht alle in der Stadt sind deinem Bruder loyal. Überall, wo jemand die Macht an sich reißt und Menschen unterdrückt, gibt es ein paar Leute, die insgeheim gegen ihn arbeiten. Selbst in Pyritus. Und ich hatte eine Anlaufstelle aus vergangenen Zeiten.“ Zayn grinste, wohlwissend, sie mit dieser Information überrascht zu haben.

„Vergangene Zeiten?“, fragte sie.

„Lange Geschichte, erzähl ich dir ein andermal. Jedenfalls habe ich ein paar Leute getroffen, die mir einiges erzählen konnten. Aber das war natürlich nichts im Vergleich zu dem, was du mir sagen konntest.“

„Ach ja? Und was wusstest du vorher schon?“

„Einiges. Ich war leider nicht irgendjemand, der nur zu neugierig ist“, griff er ihre vorherigen Worte auf. „Aber ich konnte es mir nicht erlauben, zu viel dessen, was ich weiß und wer ich bin, vor dir preiszugeben. Also tat ich so, als hätte ich keine Ahnung von dir oder deinem Bruder, während ich in Wahrheit längst wusste, wer er ist. Und von dir hatte ich durchaus auch schon gehört.“

Das hingegen überraschte Chandra nun nicht mehr sonderlich. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, was es Interessantes über sie zu wissen hätte geben können. Sie entgegnete grinsend: „Dann muss es ja ein Schock für dich gewesen, meiner Wenigkeit plötzlich gegenüberzustehen.“

Er lachte: „Es war … unerwartet. Aber irgendwie auch faszinierend. Anfangs konnte ich dich kaum einschätzen, aber du passtest nicht zu den Geschichten, die ich über deinen skrupellosen Bruder gehört hatte. Also beschloss ich, meine Chance zu nutzen und mit dir zu gehen. Und ich denke, es hat sich für uns beide gelohnt – wenn du verstehst.“

Daraufhin verdrehte sie die Augen, musste aber lachen. „Ja, natürlich.“

„Da ich nun einige deiner Fragen beantwortet habe, frage ich mich: Steht dein Angebot von vorhin noch?“

„Welches Angebot?“, grinste sie vielsagend, gab ihm jedoch keine Antwort. „Was hast du jetzt vor?“

Zayn sah mit unzufriedenem Gesicht Richtung Hauptlabor. „Ich sollte Torben wohl erklären, was los war“, seufzte er.

„Torben?“

„Ja, er ist hier der leitende Professor in Sachen Pokémonforschung und beschäftigt sich schon eine ganze Weile mit dem Phänomen der Cryptopokémon. Dass ich ihm eines mitgebracht habe, konnte er kaum fassen. Ist nur die Frage, wie wir es vor meiner Mutter geheim halten sollen.“ Er sah wieder zu ihr. „Kann ich auf deine Unterstützung zählen?“

„Ich weiß nicht, Zayn“ gestand sie. „Die Sorgen deiner Mutter sind mit Sicherheit nicht unbegründet. Du begibst dich auf dünnes Eis. Allerdings dient es letztendlich der richtigen Sache, also werde ich versuchen, mich in Schweigen zu hüllen.“ Wohl würde sich Chandra damit zwar nicht fühlen, doch das Pokémon war nun einmal hier und sie würde es nicht ändern können.

„Meine Mutter macht sich immer Sorgen.“ Er klang genervt. „Sie kriegt schon Panik, wenn ich die letzten beiden Treppenstufen überspringe.“

Chandra konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

„Ja, ich sag’s ja, sie ist absolut überfürsorglich. Aber ich werde ihnen trotzdem von dir erzählen müssen. Sie haben zwar kein Problem damit, wenn noch jemand hier ist, aber jemanden aus Pyritus mitzubringen, weckt Misstrauen.“

Nun verging ihr das Lachen und sie spürte, wie es ihr eng in der Brust wurde. „Aber … ich will nicht, dass sie alle wissen, wer ich bin. Wer würde mir denn glauben, dass man mir vertrauen kann, wenn mein Bruder derjenige ist, der Schuld an der Misshandlung unschuldiger Pokémon ist? Niemand!“

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Meine Mutter mag überfürsorglich sein, aber wenn ich ihr sage, dass du in Ordnung bist, dann glaubt sie mir das. Sie wird es Torben erzählen und er vertraut ihr. Die anderen müssen das ja gar nicht wissen“, sprach Zayn.

„Dennoch … Wer sollte mir vertrauen?“ Chandra sah zu Boden, woraufhin er ihr Kinn wieder anhob.

Ich vertraue dir.“

Entgegen ihrer Gefühle musste sie lachen. „Schon bevor du mit mir geschlafen hast, oder erst seitdem?“, stichelte sie.

Das ist jetzt wirklich unfair. Natürlich schon davor!“

„Na gut.“ Chandra spürte die Röte auf ihren Wangen. „Tu, was du nicht lassen kannst.“

„Danke. Da das alles nun geklärt ist: Ich würde mein Vergehen von vorhin gerne wiedergutmachen. Angesichts des Plans, Ray die Stirn bieten zu können, habe ich eine Idee.“

„Und die wäre?“

Zayn schenkte ihr ein vorfreudiges Lächeln. „Du hast zwei wunderbare Pokémon und bist nicht länger in Pyritus. Es wäre eine Verschwendung, euer Potenzial nicht auszuschöpfen.“

„Sagst du gerade, dass ich eine gute Pokémontrainerin abgeben würde?“, hakte sie nach.

„Natürlich. Wie gesagt: zwei wunderbare Pokémon. Und ich werde dir alles über Pokémontraining und Kämpfe beibringen, was du wissen musst.“

„Oh, na dann habe ich ja den perfekten Lehrer“, grinste sie.

„Darauf kannst du dich verlassen. Ich würde sagen, wir fangen gleich morgen an. Du hast einiges vor dir.“

Überwältig von dem Ausgang des Gespräches konnte Chandra ihm nur zustimmen. Es weckte eine neue Art der Spannung in ihr, daran zu denken, mit ihren beiden Pokémon, die ihr bislang nur als kuschelige Freunde begegnet waren, zu trainieren und sie kämpfen zu lassen – und sie so auch besser kennenzulernen. Sie und eine Trainerin? Das war ihr bislang so absurd erschienen, dass sie es nie in Betracht gezogen hatte.

Aber was nicht war, konnte ja noch werden.

Trainingsstunde

Am nächsten Tag wartete Chandra in ihrem Zimmer auf Zayn, der sie zu ihrer ersten Trainingseinheit mit ihren Pokémon abholen wollte. Nervös, wie sie war, zog sich die Zeit des Wartens wie Kaugummi, und sie starrte gebannt auf die zwei Pokébälle in ihren Händen, während sie auf dem Bett saß.

Die erste Nacht in ihrer neuen Unterkunft hatte sie gut überstanden. Am Morgen hatte Zayn sie zum Frühstück abgeholt und bei diesem war ihnen lediglich kurz seine Mutter begegnet. Chandra war dabei nicht entgangen, dass Cara sie mit einem Anflug von Bedauern angesehen hatte; zwar war ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen gelegen, doch das Mitgefühl war unverkennbar gewesen. Im Grunde konnte sie nicht einschätzen, ob es nicht vielleicht doch viel eher Mitleid an ihrer Lage war – aber sie wusste, dass sie sich in der entsprechenden Situation unwohl gefühlt hatte, wenngleich die zurückhaltende Art von Zayns Mutter ein Zeichen dafür gewesen war, dass er noch am Abend des Vortages mit dieser gesprochen hatte, wie er ihr anschließend auch bestätigt hatte.

Chandra hatte nicht nach Einzelheiten des Gespräches gefragt, denn sie wollte es gar nicht so genau wissen. Sie war sich aber sicher, dass Zayn die Wahrheit an manchen Stellen abgeändert oder ausgeschmückt hatte, um seiner Mutter keine Sorgen zu machen.

Alles in allem war sie froh, dass ihr keine unangenehmen Fragen gestellt wurden und sich niemand an ihrer Anwesenheit zu stören schien. Am Morgen war sie in den Gängen des Hauses noch einigen anderen Personen begegnet – hier arbeiteten doch mehr Menschen, als sie anfangs geglaubt hatte –, aber jeder hatte ihr lediglich freundlich gegrüßt. Auch Torben, dem führenden Professor und Leiter des Labors, hatte sie sich gestern noch vorgestellt. Nach ihrem kleinen Wutausbauch war die Situation für alle Beteiligten ein wenig unangenehm gewesen, doch Torben hatte es gelassen aufgefasst. Tatsächlich war er zu begeistert von dem Cryptopokémon.

Zayn hatte sie bereits vorgewarnt, dass Torben, wenn seine Mutter ihm von Chandra erzählt haben würde, durchaus Interesse daran haben könnte, einmal mit ihr über dieses Thema zu sprechen. Allerdings hatte Zayn ihn darum gebeten, sie erst einmal hier ankommen zu lassen, ehe er sie mit Fragen bombardierte, wofür sie ihm sehr dankbar war.

Sie schreckte auf, als es an der Tür klopfte. „Komm rein.“

Wie erwartet trat Zayn ein und schloss die Tür hinter sich. „Sorry, dass es so lange gedauert hat, ich musste noch was erledigen“, sagte er.

Chandra selbst war vom Bett aufgestanden und bereit, womit auch immer loszulegen, da kam er ihr noch einmal zuvor.

Erst jetzt fiel ihr die kleine Schachtel auf, die er dabeihatte. Er übergab sie ihr mit den Worten „Hier, den wollte ich dir noch geben.“

Verdutzt besah sie sich der Schachtel und öffnete diese, dann weitete sie die Augen, als ihr das schmale, moderne Design eines PDAs, ordentlich in ein Polster gebettet, ins Auge fiel. Vorsichtig hob sie das Gerät aus der Vertiefung und drehte es in ihrer Hand. Das stabile Gehäuse schimmerte in einem dunklen, metallischen Weinrot, an den Seiten waren einige Anschlüsse für verschiedenste Kabel und links war offenbar eine ausfahrbare, schmale Platte eingelassen. Dass es ein PDA war, war in erster Linie an dem silbernen, eckigen Schriftzug auf der Rückseite und an der doppelten Kamera zu erkennen.

„Äh … wow“, stammelte sie, „mein Geburtstag ist doch aber erst nächsten Monat.“

Zayn lachte. „Du wirst ihn brauchen.“

„Aber diese Teile sind doch verdammt teuer, das kann ich nicht einfach so annehmen“, erklärte sie schockiert. Woher hatte er den überhaupt so schnell?

„Nicht, wenn du da lebst, wo sie hergestellt werden.“

„Ja, gut, aber selbst, wenn … Warte, wie jetzt?“

„Der PDA wurde hier vor einigen Jahren von Torben und einigen Erfindern hergestellt und wird seitdem stetig erweitert. Er hat die grundlegenden Funktionen des längst überholten Pokédex aufgegriffen und massiv erweitert, zudem ist er kompatibel mit dem Internet und dem Mobilfunknetz, kann also auch verwendet werden wie ein gewöhnliches Handy, von der großen, vielfältigen Speicherkapazität ganz zu schweigen. Für einen Pokémontrainer ein Muss – natürlich wegen der ersten Hälfte an Funktionen. Nirgends könnten besser alle Daten zu deinen Pokémon gespeichert und verarbeitet werden“, erklärte Zayn und betrachtete sichtlich amüsiert ihre Verwunderung.

„Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, wo diese Dinger herkommen“, gestand sie.

„Der PDA ist die wichtigste Einnahmequelle des Labors. Er wird nicht nur hier in Orre vertrieben, sondern auch in andere Region exportiert und erfreut sich stets großer Beliebtheit bei Trainern. Also los, nimm ihn. Ich hab dir ‘ne Karte reingemacht, alle wichtigen Infos sind unten in der Schachtel. Und ich will jetzt kein „Aber“ hören, verstanden? Betrachte es als ein kleines Dankeschön. Außerdem habe ich dein Handy zerstört und war dir noch was schuldig.“ Zayn verschränkte die Arme; er war nicht bereit, das Geschenk zurückzunehmen.

Chandra seufzte, lächelte aber. „Na gut. Danke.“

„Ich war mir nicht sicher mit der Farbe. Ich hoffe, die ist okay?“

Nun musste sie lachen und verdrehte die Augen. „Es ist ein PDA – da, wo ich herkomme, sind die ein Vermögen wert. Ich würde ihn selbst in einem hässlichen Modderbraun nehmen. Natürlich ist die Farbe okay.“ Die Farbe war sogar sehr okay. Allerdings war es auch nicht schwer für ihn gewesen, ihre Lieblingsfarbe zu erraten.

„Aber Dunkelrot passt doch sehr viel besser zu dir, würde ich meinen“, gestand Zayn und lächelte.

Daraufhin entschied Chandra, sich später mit den Funktionen des PDAs vertraut zu machen und legte ihn auf den Tisch. Nun war es an der Zeit, ihrem Vorhaben nachzukommen. Zusammen mit Zayn und ihren zwei Pokébällen ging sie nach draußen, genauer gesagt hinters Haus auf den Übungsplatz, den sie von ihrem Fenster aus sehen konnte. Der helle Boden war sandig und mit feinen, kleinen Kieseln bedeckt, die unter ihren Schuhen knirschten. Das Wetter war abermals sonnig, keine Wolke trübte den Himmel und so schien der perfekte Tag für eine erste Trainingseinheit zu sein. Allerdings hatte Chandra nicht den blassesten Schimmer, was sie tun sollte. Pokémonkämpfen hatte sie ja bislang nur als stille Beobachterin beigewohnt, wenn überhaupt, und bis auf das gezielte Brüllen von Befehlen wusste sie nichts über sie.

Sie holte Sunny und Lunel aus ihren Bällen und blickte anschließend fragend zu Zayn. „Also, Herr Lehrer, womit fangen wir an?“, fragte sie unschuldig.

Er schmunzelte. „Psiana und Nachtara sind eigentlich keine typischen Pokémon für einen Anfänger. Die Effektivität und Ineffektivität ihrer Typen gegenüber anderen ist nicht ganz so offensichtlich, wie es beispielsweise bei Wasser- und Feuerpokémon der Fall ist. Aber mit der Zeit wirst du lernen, gegen welche Gegner Psiana oder Nachtara besser geeignet ist. Der PDA kann dir übrigens dabei helfen, wenn du Probleme haben solltest.“

Chandra nickte. Bislang klang alles einleuchtend.

„Im Moment kommt von meinen Pokémon maximal Riolu als Trainingspartner für euch in Frage, aber es eignet sich auch ganz gut, um ein wenig über die Typen deiner Pokémon herauszufinden. Allerdings sind die Wechselwirkungen zwischen Psycho- und Unlichtpokémon selbst auch ganz interessant. Aber dazu kommen wir später.“ Zayn nahm einen seiner Pokébälle vom Gürtel und kurz darauf erschien Riolu, welches mittlerweile, nach seinem Kampf neulich, wieder putzmunter aussah und nur so zu strotzen schien vor ungenutzter Kraft. Seine Augen funkelten, als es den Blick über das Kampffeld schweifen ließ und anschließend zu Sunny und Lunel sah. Riolu kannte die beiden schon, aber beim letzten Mal waren sie sich nicht auf einem Kampfplatz begegnet.

„Riolu ist ein Kampfpokémon. Psiana ist ihm damit als Psychopokémon vom Typ her überlegen. Eine Psychoattacke ist demnach sehr effektiv gegen Riolu, während Riolus Kampfattacken bei Psiana nicht allzu viel Schaden verursachen“, erklärte Zayn. „Haben Pokémon nur einen Typ, ist das Verhältnis der Wechselwirkungen recht einfach. Ein Pokémontyp ist gegen einen anderen Typ bzw. gegen ein anderes Pokémon entweder effektiv, ineffektiv oder neutral, hin und wieder auch wirkungslos. Schwieriger wird es, wenn ein Pokémon zwei Typen hat, aber ich denke, das würde dich für den Anfang nur verwirren. Wir belassen es erstmal bei Pokémon mit nur einem Typ.“

„Okay“, stimmte sie zu. Ein Pokémontyp konnte gegenüber einem anderen effektiv, ineffektiv oder ohne besonderen Effekt sein, manchmal auch wirkungslos. Das würde sie sich schon irgendwie merken können. Auch wenn es zig unterschiedliche Typen gab und sie sich nicht vorstellen konnte, alle auf Anhieb aufzählen zu können.

„Also, du weißt jetzt, dass Psiana gegenüber Riolu im Vorteil ist. Fällt dir eine Attacke deines Psianas ein, die effektiv wäre gegen Riolu?“

Diese Frage brachte Chandra völlig aus dem Konzept und beschämt warf sie einen Blick über ihre Pokémon, um schließlich wieder zu Zayn sehen, wohlwissend, dass ihr das Blut in die Wangen schoss. „Ähm, ich glaube, wir haben ein Problem“, gestand sie.

„Welches?“

„Ich hab keine Ahnung, welche Attacken sie können.“

Zayn lachte, und sie vermochte es nicht einzuschätzen, ob er sie auslachte oder schlichtweg belustigt war über die Situation. Nichtsdestotrotz war es ihr peinlich.

„Lach mich nicht aus“, murrte sie. „Kann ja nicht jeder so ein Profi sein wie du.“

„Da hast du auch wieder recht. Aber ich lache dich nicht aus.“ Er fing sich wieder und griff sich an den Kopf, als käme ihm eine Erkenntnis. „Es war meine Schuld. Ich bin zu Phase Zwei gesprungen, ohne Phase Eins abgeklärt zu haben.“

Diesen Worten konnte Chandra nur zustimmen. Daraufhin kniete Zayn sich zu Sunny und Lunel und es vergingen ein paar Minuten, in welchen er den beiden einige Attacken vorschlug. Wenn sie nicht mit dem Kopf schüttelten – was selten vorkam, denn offenbar wusste Zayn gut, welche Attacken im Rahmen ihrer Möglichkeiten lagen, und Chandra konnte sich einen Hauch von Bewunderung nicht verkneifen –, dann vollführten sie eine kurze Kostprobe der jeweiligen Attacken. Sunny beherrschte unter anderem Konfusion, was Chandra nun einleuchtete, denn nicht selten hatte ihr Pokémon in ihrer Wohnung Türen oder gar Schränke mit Hilfe seiner Kräfte geöffnet, stets auf der Suche nach Leckereien oder Spielzeugen.

Sunny nutzte die Konfusion, um einige Kieselsteinchen auf dem Boden kurz schweben zu lassen, wobei die rote Perle auf ihrer Stirn aufleuchtete. Zufrieden beobachtete sie im Anschluss, wie ihr Bruder Lunel in seinem weit aufgerissenen Maul eine schwarze Kugel formte, in dessen Mitte ein dunkellila Licht glomm. Im nächsten Moment flog die Kugel blitzschnell nach vorne und raste über den Boden, ehe sie in einer aufgewirbelten Sandwolke verpuffte.

„Wow, hätte nicht gedacht, dass dein Nachtara Spukball kann, aber umso besser“, kommentierte Zayn das Schauspiel.

„Ist Spukball eine Unlichtattacke?“, fragte Chandra.

„Nein, Spukball ist vom Typ Geist“, entgegnete er. „Während Psychoattacken wie Konfusion sehr effektiv gegenüber Kampfpokémon sind, sind Unlichtattacken gegenüber Kampfpokémon ineffektiv. Im Moment beherrscht Nachtara nur eine schlichte Biss-Attacke und die würde Riolu nicht allzu viel schaden. Geistattacken hingegen wirken normal gegen Kampftypen, Spukball könnte ihm also durchaus schaden und wäre eine Möglichkeit deines Nachtaras, seine Schwäche zu kompensieren. Wenn du dich aber entscheiden müsstest, solltest du dennoch zu Psiana tendieren. Wenn es noch mehr gute Psychoattacken lernt, könnte es sehr nützlich gegen Kampfpokémon sein – oder auch gegen Giftpokémon.“

Höchstkonzentriert versuchte Chandra, sich die neuen Informationen zu merken. „Noch mal zurück zu Nachtara. Also wenn Unlicht gegenüber Kampf im Nachteil ist, dann ist Kampf gegenüber Unlicht im Vorteil, oder?“

„In dem Fall ja, aber das ist nicht immer bei allen Typenkombinationen so. Beispielsweise ist der Typ Elektro effektiv gegenüber Wasserpokémon, allerdings wirken Wasserattacken einen normalen Schaden auf Elektropokémon aus. Im Grunde müsstest du also für jeden Typ einzeln seine Stärken und Schwächen kennen, um so etwas in einem Kampf genau bestimmen zu können.“

„Woher weißt du das alles aus dem Kopf? Es gibt doch so viele Typen und so viele Kombinationen“, seufzte Chandra. Und sie mochte gar nicht daran denken, was erst los war, wenn ein Pokémon zwei Typen hatte!

„Ach, irgendwann ist das mit den Pokémontypen wie mit dem ABC – du weißt es einfach und kannst das alles ohne Probleme aufzählen“, gab Zayn schulterzuckend zur Antwort. „Allerdings mache ich das auch schon seit ein paar Jährchen. Und für den Anfang musst du ja gar nicht alles wissen. Es reicht, wenn du die Stärken und Schwächen deiner Pokémon kennst.“

Da war wohl etwas dran. Chandra forderte ihn auf, ihr noch ein wenig mehr über ihre Pokémon zu erzählen. Sie erfuhr, dass Unlichtattacken effektiv waren gegenüber den Typen Psycho und Geist. Auch war der Typ Unlicht – ebenso wie Psycho – ineffektiv gegen sich selbst, aber auch an dieser Stelle räumte Zayn ein, dass nicht jeder Typ gegen sich selbst ineffektiv war. Des Weiteren hatten Psychoattacken wenig Effekt auf Stahlpokémon und auf Unlichtpokémon wie Nachtara war eine Attacke wie Konfusion gänzlich wirkungslos. Chandra konnte sich Letzteres kaum vorstellen. Daraufhin warfen sich Sunny und Lunel einen bedeutungsvollen Blick zu und kurz darauf erstrahlte abermals die Perle auf Psianas Stirn. Für einen Augenblick wurde Lunel von einem violetten Licht umhüllt, was jedoch ohne Effekt blieb. Er schüttelte sich einmal und die Psychoattacke verpuffte ohne Sunnys Zutun.

„Psiana kann dasselbe ja mal in harmloser Form bei Riolu versuchen, dann siehst du den Unterschied“, schlug Zayn vor. Sein Pokémon stimmte ihm zu und wirkte nicht einmal ansatzweise verunsichert.

„Tut ihm das nicht weh?“

„Sofern Psiana ihn nicht mit Konfusion durch den Garten schleudert, nein“, lachte Zayn.

„Na gut, Sunny, du hast ihn gehört. Konfusion, aber ganz lieb, bitte“, befahl Chandra.

Nun wurden Riolus Umrisse von dem violetten Licht umgeben und kurz darauf schwebte das Kampfpokémon hilflos in der Luft. Riolu war noch immer ruhig, wenngleich er auf seinen Füßen entspannter ausgesehen hatte. Psiana setzte ihn behutsam wieder auf dem Boden ab.

„Also, wie du siehst, sind Psychoattacken keine gute Wahl gegen ein Unlichtpokémon, können sich aber als nützlich gegenüber einem Kampfpokémon erweisen. So etwas solltest du nach Möglichkeit bedenken bei der Wahl deines Pokémons“, fasste Zayn zusammen. „Außerdem haben sowohl Psiana als auch Nachtara eine Schwäche gegenüber Käferpokémon, es wäre also vielleicht zu überlegen, ob du dir irgendwann ein Pokémon fängst, das diese Schwäche ausgleichen kann. Psianas Typschwäche gegenüber Geistattacken kannst du ja mit Nachtara ausgleichen. Ich denke aber, für den Anfang reicht das an Basiswissen über die Typen der beiden, sonst platzt dir noch der Kopf.“

„Im Moment fühlt er sich noch ganz gut, aber danke, dass du dich darum sorgst“, neckte Chandra ihn.

Lachend erwiderte er: „Gut. Außerdem lernst du am meisten über deine Pokémon, wenn du mit ihnen kämpfst.“

„Na dann los, lass uns anfangen“, forderte sie ihn auf, obwohl sie nicht wusste, ob sie wirklich bereit war.

Zayn wirkte zu ihrem Missfallen auch nicht gerade überzeugt. „Ich weiß nicht, ob ich der geeignete Gegner für euren ersten Pokémonkampf bin. Bis auf Riolu sind alle meine Pokémon zu stark, das würde einen sehr unfairen Kampf geben. Und na ja … Riolu ist ein verdammt schlechter Verlierer.“

Chandra vermochte nicht zu sagen, ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte, weil er ihr keine niederschmetternde Niederlage bescheren wollte, oder ob sie genervt sein sollte. Schließlich war sie nun einmal hier, um zu üben – und ihre Pokémon machten auch nicht unbedingt den Eindruck, als wollten sie nun wieder zurück in ihre Bälle. Aber bevor sie überlegen konnte, was es für Möglichkeiten gab, wurde sie abgelenkt.

„Mann, Junge, deine Bescheidenheit hört man wieder in ganz Orre“, stichelte die unverkennbare Stimme von Vince, die aus Richtung des Gebäudes zu ihnen herübergetragen wurde.

Sie beide wandten sich um und sahen, wie Vince auf sie zugelaufen kam. „Wie lange hast du da schon gestanden?“, rief Zayn ihm zu.

„Lange genug“, erwiderte Vince knapp und gespielt ernst. „Also, Chandra. Da dich nun der Meister unterrichtet hat, biete ich mich freiwillig als dein erster Gegner an.“

Zayn seufzte und sah zu Chandra. „Ich sag ja: Rockzipfel.“

„Mann, wieso bist du immer so gemein zu mir?“, klagte Vince und verschränkte die Arme vor der Brust. „Außerdem hänge ich, wenn überhaupt, nun an euer beider Rockzipfel. Wobei … kommt das blöd, wenn ich von deinem Rock spreche?“ Er deutete auf ihren dunkelroten Rock – den hatte sie natürlich mitnehmen müssen –, welchen sie heute wieder über einer Strumpfhose trug. „Vielleicht hänge ich doch eher an deinem Hosenzipfel – oder Hosenbein? Na ja, egal.“ Er winkte ab und richtete sich die leicht schrägsitzende Kappe auf seinem Kopf.

Chandra für ihren Teil blieb still und wartete ab.

„Also, wie wär’s, wir beide?“, grinste Vince und hatte plötzlich einen Pokéball in der Hand. „Ich hab mir ein neues Pokémon gefangen und brenne darauf, es mal kämpfen zu lassen. Zayn pulverisiert immer alles und jeden mit seinen Pokémon, er fällt also weg.“

Zayn fuhr ihm dazwischen und sprach mit vor Ironie triefender Stimme: „Ja, ganz genau.“

„Aber mit mir hast du einen fairen Kampf, versprochen. Ich werde nett zu dir sein“, fuhr Vince ungerührt fort.

Chandra hob eine Augenbraue. „Das musst du nicht.“

„Das werte ich als Ja!“ Mehr als zufrieden stolzierte Vince ans andere Ende des Kampffeldes.

„Du musst nicht gegen ihn kämpfen, wenn du nicht willst. Ich hab keine Ahnung, was er für ein Pokémon gefangen hat“, warnte Zayn sie, doch sie winkte ab. Es ging ihr nicht ums Gewinnen, sie wollte lediglich eine kleine Trainingsrunde mit ihren Pokémon und sofern Vince nicht sein stärkstes Pokémon auf sie losließe, würde das schon gutgehen, hoffte sie.

„Alles okay, ich mach das schon.“ Chandra sah zu ihrem neuen Gegner und dann rief sie: „Dann zeig mir mal dein neues Pokémon!“

„Mit dem größten Vergnügen“, entgegnete Vince und warf den Pokéball in die Luft. Zum Vorschein kam ein vierbeiniges Pokémon, das in etwa so groß war wie Psiana und Nachtara, jedoch bei Weiten nicht so grazil aussah. Ganz im Gegenteil hatte es einen kräftigen Körper mit kurzen, stämmigen Beinen und war zur Gänze von einer leicht schuppigen, lederartigen, violetten Haut überzogen, welche an einigen Stellen auch dunkler gefärbt war. Markant waren die spitzen Stacheln, die in einer Reihe aus seinem Rücken ragten. Auch seine langen Ohren wurden an ihren Enden von je zwei solcher Stacheln geschmückt. Aus seinem breiten Maul ragten zwei spitze Zähne und auf seiner Stirn prangte ein langes, spitzes Horn.

Ausnahmsweise wusste Chandra, welches Pokémon das war – ein Nidorino –, denn in Pyritus hatten sich in den Gassen immer einige Nidoran herumgetrieben, weibliche wie männliche, und ihre Ententwicklungen Nidoqueen und Nidoking hatten stets starke Cryptopokémon abgegeben. Sie erinnerte sich sogar, dass Nidorino vom Typ Gift war und da sie Zayns Erklärungen aufmerksam gefolgt war, wusste sie, welches ihrer Pokémon für diesen Kampf besser geeignet war. Ihr Glück! Aber das hieß noch lange nicht, dass ein Sieg zum Greifen nahe war. Immerhin hatte sie noch nie gekämpft und wusste gerade einmal seit einer Viertelstunde, welche Attacken ihre Pokémon überhaupt beherrschten, während Vince ihr wahrscheinlich ebenfalls um ein paar Jahre voraus war.

„Ich werde mit Psiana kämpfen“, verkündete sie und kniete sich kurz zu Lunel, dem sie den Kopf kraulte. „Du darfst dann beim nächsten Mal ran.“ Er nickte und lief hinüber zu Zayn. Chandra und Sunny bezogen daraufhin Stellung und sahen zu ihren Gegnern.

Erst jetzt vernahm Chandra das Engegefühl, das in ihrem Brustkorb hauste und ein Zeichen war für die leichte Nervosität, die in ihr aufkam. Sie war der Innbegriff eines Anfängers, ihr Gegner vermutlich deutlich erfahrener und überdies stand auch noch Zayn am Rand und würde ihr zusehen. Welch unangenehme Situation für einen ersten Kampf! Er war so gut und wusste so viel, da konnte sie sich ja fast nur blamieren. Doch sie wollte sich nicht zum Narren machen und zeigen, wie unerfahren sie war.

Bevor sie ansatzweise darüber nachdenken konnte, wie sie am besten vorgehen sollte, ergriff Vince das Wort: „Wenn das für dich klargeht, fange ich an.“ Er deutete ihr Schweigen als Zustimmung und befahl seinem Pokémon: „Na schön, Nidorino, wir fangen harmlos an. Tackle!“

Kaum, dass sein Pokémon sich vom Boden abstieß und auf seinen Kontrahenten zu rannte, ergriff Chandra eine innere Panik. Das Nidorino kam mit jedem aufgewirbelten Sandkorn näher und Sunny versteifte sich deutlich, als sie nach vorn blickte, ihr Schweif stellte sich kerzengerade auf und zuckte nur an dessen geteiltem Ende leicht.

Weichen Pokémon von selbst aus?, überlegte Chandra fieberhaft. So ein Blödsinn – es lag doch an ihr, ihrem Pokémon Befehle zu erteilen. Sie konnte nicht wie ein Narr danebenstehen und zusehen, wie Psiana getroffen wurde! Obschon nur Sekunden vergingen, in denen Nidorino über den Platz fegte, fühlten sie sich an wie ellenlange Stunden. Erst in der gefühlt letzten Sekunde erinnerte Chandra sich wieder an das, was sie zuvor gelernt hatte.

„Sunny, halt es mit deiner Konfusion auf!“, rief sie ihrem Pokémon zu und stellte fest, wie komisch es war, diesem überhaupt etwas Derartiges zuzurufen.

Der Befehl hätte kaum später kommen können. Psiana stieß einen angriffslustigen Schrei aus und im nächsten Moment erfasste das bekannte violette Leuchten Nidorinos Körper und hob diesen in die Luft, wodurch es ihn im letzten Augenblick ausbremste. Wild zappelnd schwebte Nidorino vor Psiana in der Luft und verzog das Gesicht. Ohne dass Chandra Sunny etwas zurufen musste, handelte diese, indem sie das Giftpokémon einige Meter entfernt von sich zu Boden schleuderte. Nidorino schien einen Moment lang benommen und in diesem Augenblick ratterte Chandras Gehirn schon auf Hochtouren. Welche Attacken konnte Psiana noch? Was hatte Zayn gesagt? Ruckzuckhieb – da war was! In ihrem Kopf blitzte Riolu auf, als es mit immenser Geschwindigkeit diese Attacke vollführt hatte. Das musste die richtige Attacke sein.

„Sunny, greif es mit Ruckzuckhieb an!“

Auf Kommando legte Sunny einen Sprint hin. Ihre flinken Beine trugen sie blitzschnell auf Nidorino zu – Chandra hätte nicht gedacht, dass sie so schnell sein würde – und noch bevor dieses sich gänzlich aufgerappelt hatte, prallte Sunny mit vollem Körpereinsatz in es hinein.

Ein Grollen kam seitens Nidorino, als es sich nach diesem Angriff wieder erhob. Psiana vor ihm schien durchaus auch etwas mitgenommen und brauchte einen Moment, um sich wieder zu finden. Das nutzte Vince für sich. „Angriff ist gut, aber du solltest deine Deckung nicht vernachlässigen. Nidorino, setz deinen Doppelkick ein!“

Nidorino erhob sich und ragte bedrohlich vor Psiana auf, dann hieb es mit seinen krallenbesetzten Füßen nach dem Psychopokémon. Sunny fiel unter dem Angriff zu Boden und stieß einen verzweifelten Laut aus, denn ihr Gegner stand mit einem Bein auf ihrem Schwanz. Sie zappelte und versuchte, aufzustehen, scheiterte jedoch und warf einen verzweifelten Blick hinüber zu Chandra.

Diese steckte ob der Situation in ihrer eigenen Misere und unterdrückte das Verlangen, sich aus Verzweiflung an den Kopf zu fassen. Ihr fiel nichts ein, womit sie ihrem Pokémon hätte helfen können – nicht einmal das Offensichtlichste – und so verharrte sie weiterhin.

„Giftstachel!“

Auf Vince‘ Worte hin öffnete Nidorino sein Maul und Chandra ahnte Schlimmes. Psiana hingegen schien die Gegenwehr noch nicht aufgegeben zu haben. Bevor Nidorino seine Attacke ausführte, fuhr Psiana mit einer Pfote durch den sandigen Boden und wirbelte dem Gegner eine ordentliche Portion Dreck ins Gesicht. Nidorino brüllte erschrocken und taumelte einen Schritt zurück. Mit zusammengekniffenen Augen schüttelte es wie wild mit dem Kopf.

„Wow, klasse, Sunny!“, jubelte Chandra Sunny zu, die mittlerweile wieder auf allen Vieren stand. Wieso war sie selbst nicht auf so etwas Simples gekommen?

Sie vergaß ihren Fehler und sah abermals ihre Chance gekommen, denn Nidorino kämpfte noch immer mit dem Sand in seinen Augen und ignorierte die Zurufe seines Trainers, aufzupassen.

„Greif es noch mal mit Ruckzuckhieb an!“

Zum zweiten Mal preschte Psiana nach vorne, doch dieses Mal befahl Vince seinem Pokémon, den Angriff mit Tackle zu kontern.

Kurz vor dem unvermeidlichen Zusammenstoß erhob Nidorino sich und warf sich in Psianas Ruckzuckhieb. Die beiden Pokémon stießen gegeneinander. Psiana ging zu Boden, gegen den robusten Körper seines Gegners und dessen Stacheln zog sie den Kürzeren. Mit gesenkten Ohren sah sie hoch. Erneut ragte der Körper des Giftpokémons vor ihr auf.

„Silberblick, Nidorino!“, rief Vince.

Chandra verstand gefühlt nur Bahnhof. Plötzlich leuchteten die Augen Nidorinos gleißend hell auf und drangen mit einem tiefen Blick in sein Gegenüber. Als Reaktion stellten sich Psianas Nackenhaare und auch ihr Schweif auf, ansonsten jedoch war jegliche Bewegung aus ihr gewichen.

„Zeig Psiana mal dein Horn, Nidorino!“, war Vince‘ nächste Anweisung.

Daraufhin verfolgte Chandra mit steigendem Entsetzen, wie ihr geliebtes Psiana vom spitzen Horn des Nidorinos attackiert wurde. Der zierliche Körper wurde einige Meter nach hinten geschleudert und kam unter Klagelauten zum Erliegen. Psianas rechte Seite zierte nun eine kleine Wunde, aus der langsam Blut in das violette Fell sickerte. Der Verletzung zum Trotz erhob sich Sunny abermals. Ihr geschwächter Zustand war jedoch nicht zu verkennen, sie taumelte hin und her und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.

Es zerbrach Chandra das Herz, sie so zu sehen – verletzt, schwach und womöglich auch ängstlich. Ihr war natürlich bewusst gewesen, dass Pokémonkämpfe nicht selten blutig endeten, doch während andere Trainer es gewohnt waren, ihre Pokémon hin und wieder zusammenzuflicken, war dieser Anblick gänzlich neu für sie. Ihre beiden Liebsten waren noch nie ernsthaft verletzt gewesen und sie konnte es schlicht nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, sie so weiterhin in den Kampf zu schicken.

Bevor Nidorino Sunny den Gnadenstoß versetzen konnte, rief sie mit zittriger Stimme über den Kampfplatz: „Ich möchte nicht weiterkämpfen, das ist genug. Du hast gewonnen.“

„Natürlich, das akzeptiere ich“, erwiderte Vince und rief sein Pokémon mit einem kurzen Dank zurück in dessen Pokéball.

Chandra eilte zu ihrem Pokémon, bei dem zeitgleich auch ihr Nachtara ankam. Sunny hatte sich niedergelegt und benommen den Kopf gesenkt. Lunel roch mit gespitzten Ohren an der Verletzung, Sorge erfüllte seine Augen.

„Nidorinos Horn sondert beim Eindringen in den Körper des Gegners ein Gift ab, das diesen lähmt und schwächt“, erklärte Zayn, der an Chandras Seite getreten war. „Aber du musst dir keine Sorgen machen. Wir können Nidorino eine Probe des Giftes entnehmen und Psiana das passende Gegengift geben.“

„Aber sie kann nicht sterben, oder?“, fragte Chandra panisch und kniete sich hin. Für sie war definitiv zu oft das Wort „Gift“ vorgekommen.

Zayn schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht.“ Langsam nickte sie und sah zu ihrem Pokémon.

„Hey, das tut mir leid“, kam es von Vince, der nun vor ihnen stand. „Ich wollte dein Psiana nicht ernsthaft verletzen.“

Chandra hob den Kopf und traf auf seinen besorgten Blick. Er meinte, was er sagte, und sie konnte ihm nicht böse sein, wenngleich sie in Sorge um ihr Pokémon war. „Schon in Ordnung“, gab sie matt zurück.

„Hey.“ Zayn kniete sich zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Alles wird gut.“

„Hm … Ich bin eine schlechte Trainerin, oder?“

Mit dieser Antwort schien er nicht gerechnet zu haben. „Was? Nein. Für euren ersten Kampf war das klasse. Du hast die richtigen Attacken in den passenden Momenten ausgewählt und wusstest, wann dein Pokémon genug hat. Und kleinere Fehler sind am Anfang normal.“

„Aber ich musste unseren ersten Kampf gleich abbrechen. Ich weiß nicht, ob das einen guten Trainer ausmacht“, murmelte sie.

„Ein guter Trainer weiß, wann er sein Pokémon aus dem Kampf nehmen sollte. Nur ein ignoranter Vollidiot lässt ein sichtlich angeschlagenes, verletztes Pokémon weiterkämpfen. Du hast alles richtig gemacht, Chandra. Ich bin stolz auf dich“, lächelte Zayn.

Unter seinem Blick und den Worten wurde sie rot und wollte den Blick abwenden, konnte sich aber nicht dazu anherrschen. Stattdessen klebte sie an seinen hellblauen Augen und dem leichten Lächeln, das einzig und allein ihr galt. Ihr wurde ganz warm, doch seltsamerweise fühlte sie sich in dieser Situation nicht unangenehm, sondern merkwürdig geborgen.

„Ach ja, das Wetter ist ja heute wieder herrlich, strahlendblauer Himmel und diese angenehme Brise, die die ganze Zeit weht!“, schwafelte Vince auf einmal, woraufhin Chandra aus ihrer Starre erwachte. Er sah nicht zu ihnen, sondern warf begeisterte Blicke in den Himmel.

„Du bist so ein Vollpfosten“, meinte Zayn und erhob sich.

„Und du bist mir noch ein paar Antworten schuldig.“

„Ich schulde dir gar nichts, aber träum ruhig weiter.“

Chandra hörte den beiden nur noch mit halbem Ohr zu. Sie spürte eine raue Zunge an ihrer Hand. Sunny hatte den Kopf erhoben und über ihre Hand geleckt. Sie versuchte sich an einem Lächeln und daraufhin drückte Chandra eine ihrer Pfoten.

„Komm, lass uns Sunny zur Krankenstation bringen“, sagte Zayn nach der Diskussion mit Vince und Chandra stimmte dem zu. Sie fühlte sich nun nicht mehr ganz so mies wie unmittelbar nach dem Kampf, sondern schöpfte neue Zuversicht.

Den Schatten nicht entfliehen können

Zwei Tage waren seit Chandras erstem Pokémonkampf vergangen und während es am gestrigen Tag ruhig im Labor zugegangen war – zumindest von Chandras Seite aus, denn sie hatte fast die ganze Zeit auf der Krankenstation für Pokémon verbracht –, wollten Zayn und Torben sich heute des Cryptopokémons aus Pyritus annehmen. In Chandra erweckte dieser Umstand noch immer großes Unbehagen, weswegen sie Zayns Vorschlag nachkam und den Entschluss gefasst hatte, bei diesem Unterfangen lieber nicht anwesend sein zu wollen.

Sie wussten zwar mittlerweile, welches Pokémon sich in dem Ball befand, doch das führte bei Chandra nicht zu einer anderen Entscheidung. Im Gegenteil. Ihre letzte Begegnung mit einem Cryptopokémon lag erst einige Tage zurück und geisterte noch immer überdeutlich durch ihr Gedächtnis. Es war ihr demnach gleich, ob ihr Entschluss nun egoistisch oder gar waghalsig war – immerhin vertrat sie nach wie vor den Standpunkt, dass Zayn nicht bewusst war, auf was er sich einließ –, denn alles in ihr verweigerte sich einer weiteren Begegnung mit einem dunklen, hass- und kummererfüllten Pokémon.

Da sie den Tag nicht in Unruhe auf ihrem Zimmer verbringen wollte, stets geplagt von dem Gedanken, ob alles gutginge, hatte sie beschlossen, das Labor zu verlassen und ein wenig die Umgebung zu erkunden. Anfangs war sie unsicher gewesen, ob sie Sunny alleine lassen konnte. Nach ihrem Kampf war diese medizinisch versorgt worden und mit dem entsprechenden Gegengift konnte Nidorinos Gift in ihrem Körper schnell unschädlich gemacht werden. Durch dieses Ereignis hatte Chandra erfahren, dass Zayns Mutter Cara Pokémonärztin im Labor war, denn diese hatte sich liebevoll um ihr Psiana gekümmert und Chandra versichert, dass Sunny schon in ein paar Tagen wieder fit sein würde. Bis dahin aber bekam das Pokémon strengste Bettruhe verordnet und hatte so den Vortag größtenteils schlafend verbracht, sodass seine Wunde in aller Ruhe heilen konnte. Wenngleich Chandra keinerlei Zweifel daran hegte, dass ihr Pokémon hier in guten Händen war, hatte sie Sunny nicht von der Seite weichen wollen und gemeinsam mit Lunel den Tag über bei ihr verbracht.

Fast hätte sie es nicht über sich gebracht, ihr Psiana für einige Stunden alleine zu lassen, und Nachtara ging es da vermutlich ähnlich, doch dann hatte sich glücklicherweise Jill angeboten, ein Auge auf Sunny zu werfen. Da Chandra dem Mädchen vertraute, konnte sie guten Gewissens gemeinsam mit Lunel nach draußen gehen.

Da das Labor am Anfang eines großen Waldes lag, bot dieser sich gut an für einen kleinen Spaziergang. Sie kannte sich in der Umgebung zwar noch immer nicht aus, doch sie hatte ihr Pokémon neben sich, das sicherlich einen deutlich besseren Orientierungssinn vorzuweisen hatte als seine Trainerin.

Rechts vom Labor führte ein Weg hinein in den aufblühenden Wald. Wenn sie nur auf diesem Weg bliebe, dann würde sie später auch wieder zurückfinden. So folgten sie und ihr Pokémon eine ganze Weile dem Pfad und Chandra genoss die klare, frische Luft, die sie umgab. Sie war rein, frei von Rauch, Schmutz oder Abgasen. In ihr lag der Geruch von Gräsern und Kräutern, die nach dem Winter wieder an die Oberfläche zurückkamen. Ihr Nachtara tollte neugierig durch die Gewächse und Sträucher am Wegesrand und steckte seine Nase oft in alles hinein, was interessant schien. Einmal schreckte er dabei drei kleine, pilzartige Pokémon auf, die daraufhin in Windeseile in die Tiefen des Waldes flohen, was Lunel irritiert beobachtete.

Chandra dachte während des ganzen Weges über die letzten Tage nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Die kleine Trainingseinheit mit Zayn hatte ihr durchaus Vergnügen bereitet, doch die Gewissheit, eine Gefährdung des Wohles ihrer Pokémon willentlich in Kauf zu nehmen, wenn sie diese in einen Kampf schickte, lag noch immer wie ein dunkler Schatten über der Freude, einen ersten Kampf bestritten zu haben. Sie fürchtete, dass sie sich eigentlich viel mieser fühlen müsste, und an dieser Furcht labte sich ihr schlechtes Gewissen, das sich nicht abschalten ließ. Andererseits war ihr aber auch aufgefallen, dass Sunny weder einen verstörten noch einen ängstlichen Eindruck gemacht hatte. Sie erholte sich einfach von dem Kampf. Außerdem hatte Zayn ihr versichert, dass nicht jeder Kampf blutig endete, und wenn sie so darüber sinnierte, kam sie zu dem Schluss, dass wohl stimmen musste, was sie schon oft gehört hatte.

Pokémon lag das Kämpfen im Blut, es war ein Teil ihrer Natur und sie taten es gerne für ihren Trainer, wenn sie diesem sehr nahestanden.

Nichtsdestotrotz würde es noch eine Weile dauern, bis Chandra sich an den Anblick ihrer verletzten Pokémon gewöhnt haben würde – sofern dies überhaupt möglich war.

Ihr fiel auf, dass der Weg vor ihr sich nach rechts und links aufteilte. Unmittelbar hinter der Weggabelung erstreckte sich eine Grasfläche und in einigen Metern Entfernung glitzerte die Oberfläche eines Sees. Chandra lief über das Gras und bestaunte das kleine Fleckchen Unberührtheit, das sich vor ihr auftat. Der grüne Untergrund ging nach einigen Metern in einen Boden über, der übersät war mit kleinen und größeren Kieselsteinen, zwischen denen vereinzelt noch kleine Grashalme versuchten, einen Weg an die Luft zu finden. Folgte man den Steinen Richtung Ufer, stand man irgendwann mit den Füßen im Wasser, denn der Übergang in den See verlief flach und langsam. Fasziniert kniete Chandra sich hin und streckte eine Hand in das Wasser. Es war wie erwartet kalt, aber unfassbar rein. Sie konnte noch einige Meter weit in den See schauen und ohne Probleme dessen Grund erkennen. Erst als die Reflexion des blauen Himmels sich auf die Wasserdecke legte, wurde ihr der Blick verwehrt. Das Wasser dieses Sees war sicherlich trinkbar, ohne eine mittelschwere Vergiftung befürchten zu müssen, ganz anders als dort, wo sie herkam. Derart reines Wasser hatte sie zuletzt nur in Emeritae gesehen und es war ein Wunder, dass sie sich noch daran erinnern konnte. Die Quellen dort waren genauso rein wie Wasser aus der Leitung und überdies äußerst gesund für Geist und Körper. Kein Wunder, dass viele Trinkwasserfirmen ihr Wasser aus Emeritaerquellen bezogen.

Es platschte einmal laut, als Lunel neben ihr in das Wasser rannte und den Kopf in das kühle Nass steckte. Chandra stand es nicht nach einem Bad, also setzte sie sich in einiger Entfernung auf den Boden. Ausgelassen beobachtete sie ihr Pokémon dabei, wie es seine Erkundung nun am Ufer des Sees fortsetzte. Was für Pokémon wohl in dem See lebten? Und generell im Wald? Der See war nicht riesig, das andere Ende war noch sichtbar und ein guter Schwimmer hätte sicher mühelos bis dorthin schwimmen können. Sowohl der See als auch die Lichtung waren von allen Seiten von Bäumen umgeben, die diese kleine Ruhezone im Verborgenen hielten.

Es gelang Chandra hier außerordentlich gut, ihre Gedanken zu ordnen und zu klären. Ehrlich gesagt bekam sie sogar das Gefühl, nun das erste Mal, seit sie Zayn kennengelernt und ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt hatte, wirklich wieder klar nachdenken zu können.  

Korrektur. Er hat dein Leben auf den Kopf gestellt. Du hättest das niemals selbst gewagt.

Wie wahr dieser Gedanke doch war! Chandra hätte von sich aus nie den Entschluss gefasst, Pyritus den Rücken zu kehren, sie hätte schließlich überhaupt kein Ziel gehabt. Aber nun saß sie hier im westlichen Teil der Region an einem Seeufer und alles war so anders. Gab es so etwas wie Schicksal? Und wenn ja, war ihr das Schicksal womöglich einmal gut gesinnt? Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, dann musste sie zugeben, dass sie ziemlich traurig gewesen wäre, hätte Zayn sie nach ihrer kurzen gemeinsamen Zeit nicht mitgenommen, obwohl der Gedanke schwachsinnig war. Immerhin konnte sie nichts von ihm erwarten und überdies war es dumm und fahrlässig, etwas von einem Menschen zu erwarten, ohne ihn zu kennen. Körperlicher Kontakt war auch nicht genug, um jemanden zu kennen.

Sie seufzte. Sie wusste aber auch wirklich so gut wie gar nichts über Zayn und er wusste so viel über sie, dass er die Hälfte auslassen und seiner Mutter dennoch immer noch eine lange Geschichte über sie erzählen konnte.

Da kam Chandra ein neuer Gedanke und ihr wurde klar, was er eigentlich für sie getan hatte. Obwohl er indirekt ihren Bruder bestohlen hatte und sich des damit verbundenen Risikos zumindest teilweise bewusst gewesen war, war er länger als nötig bei ihr geblieben. Und selbst als er sich sicher hatte sein können, dass der Kontakt zu ihr und auch der Entschluss, sie aufzufordern, mit ihm zu kommen, von Gefahr geprägt war, hatte er nicht einen Augenblick gezögert, das auch wirklich durchzuziehen. Dabei musste ihm doch bewusst sein, wie gefährlich es war, dass Chandra hier war – hier, bei ihm und seiner Familie. Denn sie machte sich jeden Tag, den sie länger fort war von ihrer Familie, umso mehr Gedanken darüber. Sie war eine tickende Zeitbombe und falls Zayn das auch so sah, überspielte er es gekonnt.

Und sie? Sie war nicht einmal bereit, ihm zur Seite zu stehen, wenn er plante, sich mit einem Cryptopokémon auseinanderzusetzen. Dabei wusste sie doch, wie riskant solch ein Unterfangen sein konnte. Sie war hier doch diejenige, die in den letzten Jahren mehr als genug solcher Pokémon aus nächster Nähe gesehen hatte. Wenn jemand das Verhalten eines Cryptopokémons abzuschätzen vermochte, dann ja wohl sie.

Es war wirklich mehr als egoistisch, nun so zu tun, als hätte sie mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun. Sie sollte besser …

Bevor sie den Gedanken zu Ende fassen konnte, riss sie ein Plätschern zurück in die Realität. Lunel hatte den Blick unmittelbar auf sie gerichtet – besser gesagt, auf einen Punkt direkt hinter ihr. Angespannt und mit erhobenem Schwanz rührte er sich keinen Millimeter, auch die aufgestellten Ohren zuckten nicht. Einzig und allein das schwache Aufleuchten der Ringe und Streifen in seinem Fell zeugte von seiner Unruhe. Ehe Chandra verstand, was los war, tippte sie etwas an der Schulter an.

Irritiert drehte sie sich um und sah sich einem länglichen, schwarzen Maul gegenüber, das mit mittelgroßen, scharfen Zähnen bestückt war.

Im nächsten Moment durchbrach ein gellender Schrei die Ruhe über dem See und dann stand Chandra auch schon in zwei Metern Entfernung zu dem unbekannten Etwas und griff sich an die Brust, in der ihr Herz einen erschrockenen Salto vollführte. Lunel kam an ihre Seite gesprintet, doch sie hatte den Blick nur auf den bedrohlichen Schlund gerichtet.

„Oh man, was sollte das, du Riesenmaul!“, blaffte sie diesen an und erwartete kaum eine Antwort.

Das Maul machte auf einmal einen Schritt zur Seite und zum Vorschein kam ein verhältnismäßig zierlicher Körper. Das Pokémon war Chandra gänzlich unbekannt. Es stand auf zwei kleinen, schwarzen Füßen, sein Körper schien eisern und hart, war größtenteils in einem matten Hellgelb. Sein rundlicher Kopf war an der Oberseite schwarz, ebenso hingen zwei schwarze Strähnen an diesem nach unten. Aus seinem Kopf ragte etwas nach hinten, das für Chandra aussah wie ein Pferdeschwanz und dieser verband das monströse Maul mit dem zierlichen Körper. Der Kopf mit den blutroten Augen wurde getragen von einem schlanken Hals. Die schmalen Arme des Pokémons waren am Ende schwarz gefärbt und dieser graziösen Erscheinung standen die breiten, fächerartigen Beine gegenüber.

Als Chandra mit der Begutachtung des Wesens fertig war, stellte sie fest, dass sie von diesem ausgelacht wurde. Das Pokémon hielt sich eine Hand vor den Mund und kicherte ungehemmt über ihr vorheriges Erschrecken.

Das konnte doch nicht wahr sein! Was war das für ein freches Pokémon, sie erst mit diesem gruseligen Maul zu erschrecken und sich dann über sie zu amüsieren. Und dann auch noch dieses bedrohliche Maul! Es passte nicht zu seinem niedlichen Erscheinungsbild. Aber bevor sie sich über den Neuankömmling auslassen konnte, wollte sie wissen, was für einem Pokémon sie gegenüberstand. Da sie den gestrigen Tag ebenfalls dazu genutzt hatte, sich ein wenig mit ihrem neuen PDA vertraut zu machen, holte sie diesen nun aus ihrer Tasche. Mit zweimal tippen auf die mittlere Taste unter dem Bildschirm öffnete sich der Pokémonscanner, der die größere der beiden Kameras nutzte. Das unbekannte Pokémon machte keine Anstalten, das Weite zu suchen, so dauerte es nur wenige Sekunden, bis das Gerät seine Gestalt erfasst und erkannt hatte. Anschließend stand auf dem Display, um was für ein Exemplar es sich handelte.

Flunkifer. Ein Stahl-Pokémon. Damit hätte Chandra nicht unbedingt gerechnet. Aber sie hatte ja auch keine Ahnung.

Sie warf abwechselnde Blicke auf das Flunkifer, welches gelangweilt sein Maul begutachtete, und auf den PDA. Sie scrollte durch die gebotenen Informationen und war erstaunt über die lange Liste an Resistenzen dieses Typs. Begeisterung keimte in ihr auf; so ein Pokémon könnte mit Sicherheit nützlich sein. Außerdem – da sprach das Mädchen aus ihr – sah das Flunkifer trotz allem niedlich aus und dass es sie hereingelegt hatte, kitzelte umso mehr Ehrgeiz in ihr wach. Dieses Pokémon würde schon bald ihr gehören!

Chandra steckte das Gerät wieder weg. „Na schön, wenn du spielen willst, dann lass uns spielen!“, rief sie selbstsicher und sah zu Lunel. „Bereit für deinen ersten Kampf?“ Er nickte und sie erwiderte: „Ruckzuckhieb!“

Auf Kommando preschte Nachtara nach vorne, doch bevor es zum Zusammenstoß kommen konnte, wich Flunkifer flink zur Seite aus. Es war schnell und schien hervorragende Reflexe zu haben.

„Setz Biss ein!“, rief Chandra. So langsam konnte sie sich die Attacken ihrer Pokémon merken.

Ein Sprung aus seinen kraftvollen Beinen beförderte Lunel direkt über das Flunkifer und bevor dieses etwas unternehmen konnte, klammerte er sich bereits in das lange Maul und schlug seine Zähne in dessen Spitze. Doch wie erwartet war Flunkifers Körper stahlhart und während Nachtara verdrießlich die Lefzen nach oben zog, jedoch nicht ablassen wollte, breitete sich in Flunkifers Gesicht Verärgerung aus. Mit spielerischer Leichtigkeit warf es sein Maul einmal von der einen auf die andere Seite und dann nieder auf den Boden. Lunel wurde abgeschüttelt und als er sich gerade wieder aufrichtete, schwang Flunkifer sein Maul erneut und schnappte mit diesem nach ihm. In letzter Sekunde schaffte er es auf die Beine, entging dem Maul jedoch nur zum Teil. Der Kiefer mit den im Sonnenlicht funkelnden Zähnen schnappte zu und zwischen sich eingeklemmt war Nachtaras üppiger Schweif. Das Unlichtpokémon heulte vor Schmerz auf und grub die Pfoten in den Boden.

Chandra entfuhr ein „Oh nein!“, doch bevor sie ihrem Pokémon helfen konnte, setzte das Flunkifer zum nächsten Angriff an. Ein Grinsen legte sich auf sein unschuldiges Gesicht, dann ballte es die rechte Hand zur Faust, welche nun ein gleisendes Licht ausstrahlte. Es holte mit dem Arm aus und erst als seine Faust unmittelbar vor Nachtara war, gab der Kiefer sein Opfer frei.

Lunel wurde schonungslos erwischt, einige Meter fortgeschleudert und purzelte dann über den Boden. Chandra widerstand dem Drang, zu ihm zu laufen, denn sie sah, dass er sich schon wieder auf die Beine kämpfte, ein Knurren von sich gebend. Seinem Schweif sah man deutlich die vorherige Prozedur an; Fellfetzen waren zu Boden gesegelt und das übrige Fell stand nach oben ab.

Natürlich wusste Chandra nicht, was Flunkifer für eine Attacke eingesetzt hatte, doch sie war entsetzt und begeistert zugleich. Das Pokémon war stark und im Moment damit beschäftigt, selbstgefällig sein attackiertes Maul zu begutachten – mal wieder. Das war ihre Chance.

„Lunel, wir schaffen das. Spukball!“, befahl sie ihrem Pokémon.

Wie erwartet ruhte sich Flunkifer zu sehr auf seinem Erfolg aus und wurde frontal von der dunkelvioletten Kugel erwischt und schreiend zurückgeworfen. Abermals befahl Chandra nun Ruckzuckhieb und dieses Mal traf Nachtara und warf den kleinen, zierlichen Körper direkt ins Gras, wo er regungslos liegen blieb, das Maul über sich ausgebreitet.

Ist es das etwa schon gewesen? Irritiert machte Chandra ein paar Schritte auf die Pokémon zu. Ihr Nachtara stand ebenfalls unschlüssig neben seinem Kontrahenten und wusste die Situation nicht so recht einzuschätzen. Das Stahlpokémon schien besiegt, es lag mit schmerzverzerrtem Gesicht im Gras und zeigte keine Regung mehr. Chandra glaubte an ihren Sieg und wollte schon einen leeren Pokéball hervorholen, als wieder Leben in das Wesen kam.

In einer fließenden Bewegung kam Flunkifer auf die Beine. Unfassbar schnell schwang das Maul nun einmal durch die Luft, um dann frontal von oben auf Nachtara nieder zu preschen. Tapfer ertrug Lunel den Schlag und ging nicht in die Knie. Doch schon wieder wollte der Kiefer zuschnappen und um noch auszuweichen, war es fast zu spät. Da handelte Lunel geistesgegenwärtig, öffnete sein Maul und in Sekundenschnelle formte sich ein Spukball.

Nun war es an Flunkifer, der Langsamere zu sein. Der Spukball schoss direkt in den Kiefer und die Wucht, die durch die Nähe des Angriffes entstanden war, katapultierte es in großem Bogen nach hinten. Es erhob sich zwar wieder, doch sein angeschlagener Zustand war nun unverkennbar. Es hielt sich das lange Maul und atmete angestrengt ein und aus. Seinen Körper jedoch zierte noch immer keine einzige Schramme. Sein geschwächter Zustand war auf seine schwindende Ausdauer zurückzuführen.

Nun war Chandras Moment gekommen. Der, in dem sie ihr erstes Pokémon richtig fangen würde. Tatsächlich hatte Zayn ihr ein paar leere Pokébälle gegeben, für den Fall der Fälle. Er würde Augen machen, wenn sie schon so früh mit einem neuen Pokémon wiederkommen würde. Sie holte sich einen Ball aus der Tasche, zielte und warf.

Na ja, eigentlich warf sie nur. Ihre Wurfkünste waren katastrophal – statt das Pokémon zu treffen, flog die Kapsel deutlich daneben.

Flunkifer presste sich eine Hand vor den Mund und kicherte ungehemmt und selbst Lunel sah seine Trainerin irritiert an.

„Oh nein, wie peinlich“, jammerte Chandra und schlug sich die Hand vors Gesicht. Sie war der totale Reinfall!

Da kam Bewegung in Flunkifer. Es wollte sich aus dem Staub machen und hechtete Richtung Wald.

„Hey, bleib stehen, du Mistvieh!“, schrie sie ihm hinterher. Mit einem kurzen Sprint war sie bei der Kapsel, hob sie auf und rannte dem Flüchtenden hinterher. Nun war ihr Ehrgeiz deutlich gepackt. Sie, Chandra, bekam alles, was sie wollte, und jeden, den sie haben wollte. Bislang hatte sie sich zwar nur Typen geangelt und die waren wirklich immer sehr leicht um den Finger zu wickeln gewesen, aber ihre Erfolgssträhne würde sicherlich nicht bei einem kleinem, vorlauten Pokémon aufhören! Dieses Flunkifer triezte sie unglaublich, aber zugleich wusste sie, dass es verdammt gut zu ihr passen würde.

Ungeachtet des Dickichts am Boden verfolgte sie das Pokémon mit schnellen Schritten und konnte spüren, wie Zweige des Blätterwerks immer wieder in ihre Hose piksten oder ihr die Hände zerkratzten, als sie sie unachtsam von sich drückte, um sich einen Weg zu schaffen. Flunkifer war noch immer einige Meter vor ihr auf zwölf Uhr und als Chandra endlich freie Bahn hatte, legte sie noch einen Zahn zu. Würde sie nicht langsam mal den Ball werfen, wäre das Pokémon bald zu weit entfernt.

Gerade hatte sie den Entschluss gefasst, als ihr Fuß an einer aus dem Boden ragenden, dicken Wurzel hängenblieb und sie einen weiten, äußert anmutigen Flug hinlegte. Irgendwie schaffte sie es jedoch, den Pokéball noch im Flug nach vorne auf Flunkifer zu schmeißen und gerade als sie im Dreck landete, erfasste die Kapsel das Geschöpf und dematerialisierte es gegen seinen Willen.

Da lag Chandra nun, eine Menge an Gestrüpp im Gesicht und an der Kleidung, den Blick starr nach vorne gerichtet. Der Ball zuckte und wackelte hin und her, das rote Blinken des Knopfes wurde unerträglich, je länger es andauerte. Die Zeit dehnte sich, doch dann, als Chandra fast die Hoffnung aufgegeben hatte, erstarb das Zappeln und der Ball hörte auf zu blinken.

Hieß das …? Ja, das musste es wohl! Sie hatte das Flunkifer gefangen!

Erleichtert legte sie den Kopf auf ihre Arme und starrte immer noch nach vorne. Was für ein Erlebnis – das hätte sie sich ja in ihren kühnsten Fantasien nicht ausmalen können. Überhaupt war es nie zuvor denkbar gewesen, dass sie dazu in der Lage sein könnte, sich eigenhändig ein Pokémon zu fangen. Oder mit Pokémon zu kämpfen. Oder ausgestreckt im Wald auf dem Boden zu liegen. Ihre Klamotten waren nun bestimmt hinüber und ihre Knie fühlten sich wund an, ebenso ihre Hände und Arme. Aber das war ihr in diesem Moment egal. Viel zu glücklich war sie über ihr Erfolgserlebnis. Sie hatte etwas geschafft, das stets weit von ihrem Leben entfernt gewesen war und für die meisten selbstverständlich schien, für sie jedoch nie in Reichweite gewesen war. Aber nichts war unmöglich, selbst wenn es so schien, und manchmal musste man über seinen Schatten springen und Dinge wagen, die man sich zuvor niemals zugetraut hätte.

Da fasste Chandra einen Entschluss, denn sie wollte sich nicht von ihrer Angst beherrschen lassen. Hin und wieder musste man einen Umweg gehen, um zu erkennen, was wirklich nötig war. Und sie wusste nun ganz genau, was sie zu tun hatte.

Lunel stieß sie mit dem Kopf an der Schulter an und sah besorgt aus. Sie setzte sich auf und tätschelte ihrem Pokémon den Kopf. „Das hast du super gemacht“, lobte sie ihn „Wir haben ein neues Mitglied in unserem Team. Aber nun müssen wir zurück, denn ich muss meiner Verantwortung nachkommen.“

Nachdem sie Flunkifers Pokéball eingesammelt hatten, machten sie sich auf den Rückweg. Chandra hatte nicht mehr gewusst, in welche Richtung sie gehen mussten, um zum Labor zu kommen, weder der See noch ein Weg waren nach ihrer Hetzjagd noch zu sehen gewesen. Aber ihr Pokémon vertraute schlicht auf seine Sinne und führte sie zielstrebig durch den Wald, bis sie wieder auf dem Weg waren und schließlich nach einer Weile das weiße, strahlende Gebäude in Sicht kam. Die Sonne stand nun schon tiefer, da es bereits später Nachmittag war. Sie beide mussten eine ganze Weile in der Natur gewesen sein.

Chandra war in Gedanken bei ihrer Entscheidung, als sie nichtsahnend die Eingangstüren ansteuerte, da drang das Klirren von zerbrechendem Glas an ihre Ohren. Im nächsten Augenblick sprang auch schon ein Pokémon zwischen den Glasresten des betroffenen Fensters hindurch und landete geschickt auf zwei Beinen.

Wie zu einer Steinsäule erstarrt verharrte Chandra auf einer Stelle, als die dunkle Welle negativer Cryptoenergie sie erreichte, die für andere unsichtbar war. Lunel an ihrer Seite fauchte furchteinflößend, was sie kaum beachtete.

Das Cryptopokémon war ein Waaty. Rosa leuchtete seine Haut im Licht, um den Hals und auf dem Kopf war eine dichte, weiße Wollepracht gewachsen. Aus der Wolle auf seinem Kopf ragte rechts und links je ein schwarzrosa gefärbtes, kleines Horn zur Seite hin weg. Sein für den kleinen Körper recht langer Schwanz war ebenso gemustert, nur dass er in einer blauen Kugel endete.

Bevor Chandra gänzlich realisiert hatte, was geschehen war, verdichtete sich die dunkle, lilafarbene Aura um das Wesen und es schnellte nach vorne, unmittelbar auf sie zu. Noch immer gefangen in ihrer Schockstarre, hätte das Elektropokémon sie wohl erwischt, hätte Nachtara es nicht mit aller Kraft von der Seite gerammt. Die beiden Pokémon kugelten über den Platz. Lunel biss sich in dem Fell des Waaty fest. Die Ringe und Streifen auf seinem Fell hoben sich durch ihr grelles Leuchten stark vom sonst schwarzen Fell ab – selbst seine Augen schienen röter als gewöhnlich.

Das Waaty schien wie in Rage und versuchte, ihn abzuschütteln. Nach mehrmaligem Scheitern wechselte es die Strategie und tauchte seinen Körper in eine gewaltige, grelle Ladung an Elektrizität, bei der Chandra sich die Augen zuhalten musste. Sie hörte den leidvollen Schrei ihres Pokémons, was ihr Herz in zwei Hälften brach, dann erstarb die Lichtquelle. Lunel hatte längst von dem Crypto abgelassen und kauerte gelähmt am Boden. Vereinzelte Funken Strom tanzen noch über das schwarze Fell, das an mehreren Stellen verkohlt war und zwischen dem man schwarzgefärbte Haut erkennen konnte.

Obwohl das Nachtara keine Bedrohung mehr darstellte, hatte Waaty längst nicht genug. Der Instinkt, der einem normalen Pokémon mitteilte, wann ein Gegner besiegt und womöglich sogar schwer verletzt war, war bei einem Cryptopokémon ausgelöscht. Es war erst dann befriedigt, wenn sein Gegner gänzlich aus dem Weg geräumt war und billigte auch dessen Tod, wenn nötig.

Chandra konnte nichts weiter tun, als zuzusehen, wie Waaty sich abermals in Dunkelheit hüllte, die nun auch mehr und mehr in ihr Innerstes sickerte. Das altbekannte Gefühl der Verzweiflung und des Leids kroch in ihren Leib und zwang sie in die Knie. Obwohl sie in dieser Situation nichts lieber getan hätte, als dem Pokémon eigenhändig den Hals umzudrehen, verspürte sie Mitleid, als sie wahrnahm, dass sich der tiefste Kern von Waatys Seele dagegen sträubte, ein am Boden liegendes Pokémon anzugreifen. Die Finsternis lag schwer auf Chandras Brust und erschwerte ihr das Luftholen. Vereinzelte Tränen flossen über ihre Wangen, als Waaty das gelähmte Nachtara angriff und es mehrere Meter weit wegschleuderte. Lunel gab keine Regung mehr von sich. Mit Entsetzen erkannte Chandra die feinen, finsteren Fäden, die seinen Leib peinigten.

Plötzlich wandte Waaty den Kopf zu ihr und verengte seine Augen. Die Realität vor Chandras Augen flackerte, ihr Blick verschwamm. Wenn ein Cryptopokémon sich ihr unmittelbar zuwandte, wurde sie noch stärker von dessen Zustand eingenommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie dem Leid erliegen würde … Aber so, wie das Pokémon sie anknurrte, würde es wohl schon vorher mit ihr zu Ende gehen.

Na Ray wird sich ärgern, wenn ausgerechnet eines seiner Cryptopokémon mich umlegt. Geschieht ihm recht, dachte sie und musste fast kichern wegen dieser Tatsache. Anscheinend ergriff nun auch der Wahnsinn von ihr Besitz …

„Psychoklinge, Galagladi!“

Chandra wusste gar nicht, wie ihr geschah, da stürmte plötzlich ein Galagladi auf das Cryptopokémon zu und erfasste es im Sprint mit den langen, hell leuchtenden Schwertern an seinen Armen in voller Länge. Galagladi schleuderte das aufkreischende Elektropokémon so weit über den Platz, bis es gegen einen der Baumstämme krachte und zu Boden fiel. In der Sekunde, als Chandra einen Abfall der dunklen Macht spürte, wusste sie, dass Waaty nicht länger bei Bewusstsein war.

Sie kämpfte sich auf die Beine und rannte zu ihrem Pokémon, das noch immer ebenfalls ohnmächtig war.

„Verdammter Mist!“ Ein fluchender Zayn kam bei ihnen an. „Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte er sie.

„Ja“, erwidert sie weinerlich, „aber Lunel, er …“ Sie griff in das Fell und spürte ein Knistern an ihrer Hand.

Zayn fiel auf die Knie und nahm eine der Pfoten Nachtaras zwischen die Hände. „Er hat einen Puls. Aber er braucht Hilfe, mit einer Donnerattacke ist nicht zu spaßen, schon gar nicht von einem Cryptopokémon.“

Als Chandra nickte, zerbrach der letzte Rest Beherrschung in ihr und Tränen ergossen sich wieder über ihr Gesicht. Es war alles schief gegangen! Wieso hatte sie wieder herkommen wollen? Hatte sie denn ernsthaft geglaubt, etwas ausrichten zu können? Ausgerechnet sie?

„Hey, hör auf zu weinen“, sagte Zayn in bestimmtem Tonfall. „Es wird alles wieder gut. Es war meine Schuld. Ehe ich mich versah, war das Waaty schon nach draußen gesprungen.“

Und sie war natürlich genau zum richtigen Zeitpunkt zurückgekommen. Sie hatte sich geirrt. Wenn es Schicksal gab, dann schlug es sie regelmäßig nieder.

„Bei Arceus! Was ist denn hier passiert?“, schallte eine aufgebrachte Stimme zu ihnen herüber. Torben sah schockiert von Nachtara zu Waaty und dann auf den verkohlten, schwarzen Fleck Erde, auf dem Letzteres seine Donnerattacke losgelassen hatte. Er holte das besiegte Waaty in seinen Pokéball zurück, dann kam er zu den anderen. „Wir müssen Nachtara schleunigst reinbringen, es sieht nicht gut aus.“ Er hob das Unlichtpokémon auf seine Arme und ging schon voraus ins Gebäude.

Chandra saß wie paralysiert auf dem Boden und starrte nach unten. Sie hatte geglaubt, alles würde besser werden, wenn sie nicht länger in Pyritus war, doch Fakt war: Für sie war alles schlimmer als jemals zuvor. Wo sie auch hinging, solange es diese Cryptopokémon gab, hafteten Leid und Zerstörung an ihren Fersen.

„Ich hasse ihn“, kam es fast lautlos wie von selbst über ihre Lippen.

Zayn musste nicht nachfragen. Er zog Chandra auf die Beine und legte seine Hände um ihr Gesicht. Während er ihr tief in die Augen blickte, sprach er ebenso ruhig: „Er wird dafür büßen. Das verspreche ich dir.“

Erdrückende Schuld

Ihr Innerstes fühlte sich leer an.

Das Einzige, das sie tief in sich verspürte, war die Schuld, die zentnerschwer auf ihre Brust drückte. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie sich jemals zuvor in ihrem Leben so gefühlt hatte. Hätte sich ihr die Möglichkeit geboten, die Zeit zurückzudrehen, um das vergangene Unheil gar nicht erst zustande kommen zu lassen – sie hätte sie ohne Zögern ergriffen.

„Ich hätte einfach nicht wieder herkommen dürfen“, hauchte Chandra matt gegen die Glasscheibe, vor der sie stand. Ihre Stimme klang belegt und sie hatte in den letzten zwei Stunden so viele Tränen vergossen, dass ihr Kopf ein einziges Zentrum voll Schmerz war. Aber das verhalf ihr auch dazu, nicht durchzudrehen. Schmerz und Schuld; für mehr existierte sie im Moment nicht. Die Schmerzen hatte sie sicherlich verdient und die Schuld konnte sie nicht abschütteln, solange sie ihr Pokémon in dem Raum hinter dem Glas auf dem Bett liegen sah, angeschlossen an diverse Geräte und an mehreren Stellen Verbände tragend, die die verbrannte, wunde Haut schützten.

„Was meinst du?“ Zayn stand neben ihr; auch er klang alles andere als zufrieden.

„Ich war im Wald, weil ich dieses Cryptopokémon nicht sehen wollte“, erklärte sie, „aber dann kam ich auf die dumme Idee, dass ich ja vielleicht eine Hilfe sein könnte, und ich glaubte, dass es falsch sei, mich davor zu verstecken. Also bin ich wieder zum Labor gegangen. Aber das war falsch.“

„Du hast einen ungünstigen Moment erwischt, das hätte doch jedem passieren können“, hielt er dagegen. „Außerdem kannst du nichts für das, was passiert ist. Hätte ich besser aufgepasst, wäre das Waaty nicht nach draußen gesprungen und das wäre alles nicht passiert. Du hattest recht. Ich habe die Zerstörungsgewalt eines Cryptopokémons unterschätzt. Dabei hätte ich es besser wissen müssen.“

Sie wagte einen Blick hinüber zu ihm. Er sah sauer aus und schien sich über mehr zu ärgern als die Tatsache, dass ihm das Pokémon entwischt war. Chandra konnte sich nicht daran erfreuen, dass er sich seinen Fehler eingestand. Der ihre wog doch viel schwerer. „Aber ich bin schuld daran, dass mein Pokémon verletzt wurde. Ich stand nur daneben und habe zugesehen, wie es angegriffen wurde. Es ist einzig und allein meine Schuld, dass es nun in diesem Zustand ist.“ Der Gedanke verursachte nicht einmal neuen Kummer in ihr. Dieser Umstand war ja längst klar für sie – aus keinem anderen Grund hatte sie sich vorhin die Augen aus dem Leib geheult.

„Was hättest du denn tun können?“, fuhr Zayn sie an und sie schrak zusammen. „Hätte das Waaty dich angegriffen, hättest du die Attacke womöglich nicht überlebt. Du konntest nichts tun.“ Diese Worte trafen sie hart. „Ich kann dich ja verstehen. Es ist nie leicht, seine Pokémon so zu sehen. Aber Lunels Zustand ist stabil und wenn er sich die Nacht über ein wenig erholt hat, ist er morgen sicher wieder bei Bewusstsein.“

Darauf konnte sie nichts mehr entgegnen, denn es fehlte ihr schlicht an Kraft. Sie ertrug die Spiegelung ihres eigenen Gesichts kaum in der Scheibe, so sehr wütete der Hass über ihr Versagen in ihr, ganz gleich, was er dachte. Nicht einmal Lunels Anblick konnte sie noch länger ertragen.

„Ich kann hier nicht länger bleiben. Ich geh ins Bett.“ Mit diesen Worten schlurfte sie davon. Zayn schwieg und ließ sie ziehen.

Es war noch relativ früh am Abend, zwar draußen schon dunkel, aber normalerweise nicht Chandras Schlafenszeit. Doch sie hätte auch so kein Auge zugekriegt. Sie hatte einfach nur weg gemusst von dort unten, wo Angst und Sorge wie ein schlechter Geruch in der Luft lagen und sie fast erstickten.

Sie sprang unter eine heiße Dusche, die es auch nicht schaffte, ihre Schuld und das damit verbundene Selbstmitleid abzuwaschen. Als sie etwas später im Zimmer auf dem Boden saß und ihre Reisetasche durchwühlte, auf der Suche nach Schmerztabletten, denn ihr Kopf vollführte mittlerweile ein ganzes Schmerzorchester, fielen ihr die falschen Tabletten entgegen.

Sie nahm das kleine Fläschchen in die Hände und musterte die Pillen darin. An die hatte sie ja schon gar nicht mehr gedacht. Rays angebliches Wundermittel für sie, das all ihre – seine – Probleme beseitigen sollte. Sie zu nehmen, sollte ihr laut ihm dabei helfen, nicht mehr so empfindlich auf die Cryptopokémon zu reagieren. In Wahrheit sollte es aber vermutlich dafür sorgen, dass sie deren finsteren Zustand nicht mehr heilen konnte, wie sie es bereits einmal vor vielen Jahren mehr versehentlich als bewusst getan hatte. Wie übertrieben, fand sie. Aktuell war das doch ohnehin undenkbar. Sie hielt kaum fünf Minuten in der Nähe eines dieser Pokémon aus, ohne zusammenzubrechen – wie sollte sie einem der Geschöpfe dann so nahekommen, um ihm helfen zu können? Sie war doch zu nichts zu gebrauchen. Ihrem eigenen, geliebten Pokémon hatte sie schließlich auch nicht zur Seite gestanden.

Ob das alles vielleicht anders verlaufen wäre, hätte Chandra diese Tabletten eingenommen? Womöglich hätten sie ihr ja wirklich helfen können. Vielleicht wäre ihr durch ihre Wirkung das Leid des Waatys erspart geblieben und sie hätte sich mit vollstem Bewusstsein auf die Situation konzentrieren können. Dann hätte sie Lunel helfen und verhindern können, dass er so schlimm verletzt wurde. Vielleicht …

Nein.

Daran durfte sie nicht einmal denken. Sie rief sich Rays arrogantes Grinsen ins Gedächtnis, als er sich so sicher gewesen war, sie in der Hand zu haben, und dann warf sie in einem Anflug von Zorn und Abscheu das Fläschchen quer durch den Raum, bis es gegen die Wand flog und am Boden liegen blieb.

Angewidert von sich selbst, auch nur für eine Sekunde an so etwas gedacht zu haben, warf sie sich ins Bett, nachdem sie endlich eine Schmerztablette gefunden und zu sich genommen hatte. Sie schaltete das Licht aus und erhoffte sich, Schlaf zu finden. Doch ganz gleich, wie erschöpft Geist und Körper waren, es gelang ihr eine gefühlte Ewigkeit nicht. Sie wälzte sich lediglich von einer Seite auf die andere, wach gehalten von innerer Unruhe. Bilder des Kampfes mit dem Cryptopokémon flackerten immer wieder hinter ihren Lidern auf und wenngleich sie tränenleer war, verspürte sie immer wieder einen Druck in der Kehle, als könnte jeden Moment ein Damm in ihr brechen.

Aber es kam nichts. Sie lag im Bett und starrte hoch an die Zimmerdecke, als plötzlich ein ihr unbekanntes, kurzes Geräusch im Raum ertönte, das klang wie der Nachrichtenton eines Handys. Chandra schreckte auf. Sie besaß doch gar kein Handy mehr.

Aber einen PDA. Irritiert stieg sie aus dem Bett und ging zum Tisch, wo die Tasche vorhin achtlos gelandet war. Sie zog das Gerät daraus hervor – ihren Sturz vom Mittag hatte es auf jeden Fall ohne einen einzigen Kratzer überstanden –, tippte aufs Display und sah, dass sie eine Nachricht von Zayn hatte.

Zayn? Wann hatte sie denn seine Nummer in ihrem Gerät eingespeichert?

Chandra seufzte. Das hatte er vermutlich selbst getan, bevor er ihr den PDA gegeben hatte. Mit einem Augenrollen setzte sie sich zurück aufs Bett und las seine Nachricht.

‚Hey. Bist du noch wach?‘

‚Offenbar schon. Was willst du denn?‘, tippte sie.

Fast unmittelbar danach kam seine Antwort. ‚Ich wollte dich fragen, ob wir das von neulich wiederholen wollen.‘

Für ein paar Sekunden starrte Chandra nur auf die Worte und die Botschaft dahinter. Normalerweise war sie die Direkte und sehr offen, was so etwas anging, aber jetzt wusste sie die Lage nicht so recht einzuordnen. Unsicher schrieb sie: ‚Wow, das ist ja mal gar nicht zurückhaltend.‘

‚Warst du ja letztens auch nicht.‘ Eine kurze Pause, in der sie keine Antwort wusste, dann folgte: ‚Also, kommst du rüber?‘

‚Dein Ernst!?‘

‚Wenn ich dir sage, dass es ein Scherz war, kommst du dann her?‘

Sie seufzte und rieb sich die müden Augen. Was erhoffte Zayn sich denn davon?

Da kam auch schon die nächste Nachricht. ‚Da du dich sicher gerade fragst, wieso: Es geht dir nicht gut und du warst doch viel zu lange alleine. Also komm zu mir, mein Bett ist groß genug für uns beide. Dann können wir zusammen schlecht drauf sein.‘

Oh nein, da war es wieder. Dieses komische, flattrige Gefühl in Chandras Bauch, als würde sie sich ein Achterbahngefälle hinunterstürzen. Es fühlte sich gut und erschreckend zugleich an und ehe sie sich versah, lag ein minimales Lächeln auf ihren Lippen.

Schlafen konnte sie ja ohnehin nicht, also was sprach eigentlich dagegen? Wenig später trat sie hinaus auf den dunklen, verlassenen Flur, der ab diesem Moment von einem dämmrigen, automatischen Licht erhellt wurde. Ein vorsichtiger Blick versicherte ihr, dass niemand hier war. Stille durchzog den Flur. Zayns Zimmer lag geradezu direkt links am Ende des Ganges. Sie war noch nicht dort gewesen, also klopfte sie zaghaft an, nachdem sie über den kalten Boden geschlichen war. Allzu viele Zimmer lagen hier zwar nicht und die Abstände der Türen waren recht groß zueinander, allerdings wusste sie auch nicht, welche Zimmer belegt waren und wer dahinter war, also zog sie es vor, nicht auf sich aufmerksam zu machen.

Zayn öffnete ihr die Türe und als er sie erblickte, legte sich ein Grinsen auf seine Lippen. Ohne zu zögern, schob Chandra sich durch den Spalt und fragte schnippisch: „Was?“

Er ließ die Tür wieder ins Schloss fallen und sie verfolgte mit gehobener Augenbraue, wie er sie sogar abschloss.

„Hätte nicht gedacht, dass ich dich damit wirklich hierherkriege“, gestand er.

„Tja, ich bin halt immer wieder für eine Überraschung gut.“

Chandras Blick schweifte durch das Zimmer. Es war viel größer als ihr eigenes, allerdings verströmte es durch die in mitternachtsblau gestrichenen Wände eine ruhige Stimmung, die zusätzlich betont wurde von den schwarzen Möbeln. Die Zimmertüre lag ungefähr mittig im Raum, an der rechten Wand war noch eine zweite Tür eingelassen und daneben schmückte ein großes Regal den Platz aus, in welchem einige Bücher, aber auch allerlei anderer Kram, ein paar Deko-Objekte und sogar zwei Pflanzen standen. In ihr kam die Frage auf, ob die in diesem eher dunklen Raum genug Licht bekamen, doch dann fiel ihr Blick an die linke Wand und dort erkannte sie hinter den dunklen, seidenen Vorhängen eine breite, hohe Fensterfront. Auf der linken Seite der Tür hauste ein ebenso schwarzgestrichener, großer Schrank, doch gegenüber dem Eingang lag das eigentliche Augenmerk. Zayn hatte nicht untertrieben, sein Bett war wirklich erstaunlich groß, deutlich geräumiger als das in ihrer Wohnung. Der schlichte Schreibtisch links davon in der Ecke machte dagegen einen zierlichen Eindruck. Eine Stehlampe neben dem Bett warf ein angenehmes Licht in das Zimmer.

Chandra versuchte, einen nicht ganz so unbeholfenen Eindruck zu machen, als sie zum Bett lief. Mit dem schlichten T-Shirt und der unförmigen Jogginghose – mit der noch nie Sport gemacht worden war – fühlte sie sich unfassbar anziehend. Aber Zayn trug Ähnliches, sie ergänzten sich also zumindest da.

„Du hast dich ja richtig in Schale geworfen“, kommentierte er exakt in diesem Augenblick ihr Schlafoutfit.

„Hattest du etwa noch was vor?“ Sie legte sich zaghaft in das ebenso schwarz bezogene Bett. Er gab ihr keine Antwort, stattdessen begab er sich neben sie in das Bett – so „neben“, wie es auf einer riesigen Matratze möglich war. „Weißt du, ich habe nicht so viel Auswahl bei der Wahl meiner Kleidung, da ich nicht viel mitnehmen durfte. So langsam gehen mir die Sachen aus“, erklärte sie, als wüsste er das nicht bereits.

Wieder schwieg er, woraufhin sie dachte: Na schön, dann rede halt nicht. Sie starrte nach oben an die recht hohe Zimmerdecke, an der ein kreisrunder Lampenschirm hing. Nach einer Weile wurde ihr ein wenig kalt und als Zayn dies bemerkte, warf er die Bettdecke über sie. Ohne Blickkontakt aufzunehmen, zog sie diese bis über die Brust hoch.

Als sie dann doch einen kurzen Blick riskierte, las sie in seinem Gesicht ab, wie verstrickt er in seine Gedanken war, wobei er sie nicht beachtete. Wie erwartet machte er keine Anstalten, ihr nahezukommen, was sie allerdings auch nicht erwartet hatte. Das passte schlicht nicht zu ihm, glaubte sie. Ob er wohl zu schüchtern war? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Ach, was es auch war, sie war ja sowieso nicht deswegen hergekommen. Sie hatte bloß nicht länger alleine sein wollen.

„Wie fühlst du dich?“, durchbrach seine samtweiche Stimme die Stille. Nun waren seine Augen auf sie gerichtet.

„Immer noch mies. Ich konnte nicht schlafen, da ich mich so mies fühle. Ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.“

„Dagegen kannst du nichts tun. Aber es wird wieder besser werden.“

„Was machst du, wenn deine Pokémon verletzt sind und es ihnen schlecht gut?“, fragte sie. „Ach warte, die sind bestimmt nie ernsthaft verletzt, weil ihr so gut seid.“

Er lachte leicht. „Hey, das ist gemein, wir haben auch mal klein angefangen. Na ja, ehrlich gesagt … Ich glaube einfach an sie und daran, dass sie wieder auf die Beine kommen, da ich ihnen vertraue. Aber manchmal habe ich mir auch Vorwürfe gemacht. Wenn ich das Gefühl hatte, ihnen zu viel zugemutet oder sie in einen Kampf geschickt zu haben, der von vornerein verloren war. Aber das ist schon eine ganze Weile her und mein Band zu ihnen hat sich nach jedem Rückschlag verbessert. Ich glaube immer an sie und kann einschätzen, ob ihre Siegeschancen in einem Kampf gutstehen oder nicht. Es geht natürlich nicht ums Gewinnen, aber wenn deine Pokémon dich genauso lieben, wie du sie liebst, dann sind sie bereit, alles für dich zu geben.“

Chandra fand nicht die passenden Worte, um darauf etwas zu erwidern.

„Du hast ja gesehen, dass Sunny selbst dann noch für dich weiterkämpfen wollte, als sie verletzt war, und Lunel hat dich auch, ohne zu zögern, beschützt. Du bist ihnen sehr wichtig und ich bin mir sicher, dass sie es nicht bereuen werden, das getan zu haben. Aber du musst mehr an sie glauben und aufhören, dir für etwas die Schuld zu geben, für das du nichts kannst.“

Sie konnte vielleicht nichts für das, was geschehen war, nachdem sie zurückgekommen waren, aber sie hätte gar nicht erst …

Zayn sprach wieder weiter und unterband so ihr Selbstmitleid. „Aber es tut mir dennoch leid, dass das alles so gekommen ist. Ich wollte nie, dass so etwas passiert.“ Ärger tränkte seinen Tonfall. Als sein Blick sich ihr zuwandte, wirkte er wieder ernst. „Irgendwie fühle ich mich selbst ganz mies, wenn es dir schlecht geht.“

„Musst du nicht“, erwiderte sie, stockte dann jedoch. Er lag ja auf einmal viel näher bei ihr als noch vorhin. Wann war das denn geschehen?

„Und zu allem Überfluss hat meine Mutter nun auch von dem Cryptopokémon hier erfahren“, stöhnte er frustriert. „Aber das war ja auch kaum zu vermeiden bei dieser Katastrophe.“

„Tatsächlich? Was ist denn passiert?“ Chandra hatte seine Mutter heute gar nicht zu Gesicht bekommen, vorhin hatten sich Torben und einer seiner Assistenten um ihr Nachtara gekümmert.

„Sie war den ganzen Tag nicht da, deswegen wollten wir uns ja auch heute das Pokémon anschauen. Nachdem du vorhin weg warst, kam sie wieder und der Zustand deines Nachtaras hat sie stutzig gemacht. Eine schlüssige Erklärung gab es dafür nicht und da Torben bei ihr sowieso immer viel zu schnell nachgibt, hat sie es halt rausgekriegt.“ Er verzog das Gesicht. „Na ja, dann kam das Übliche. Sie hat mich wieder zusammengefaltet, wie verantwortungslos ich doch sei, wie sei ich überhaupt auf diese dumme Idee gekommen, so ein gefährliches Pokémon mit hierherzubringen, Jill ist doch hier und ich hätte mit Absicht in Kauf genommen, dass jemand verletzt wird und wehe, sie würde noch einmal ein so verletztes Pokémon wie Nachtara sehen, dann könnte ich mich aber auf was gefasst machen.“ Beim letzten Teil hatte er seine Mutter nachgeäfft und gab dann ein Lachen von sich, welches jedoch eher verbittert als erheitert klang. „Zum Glück wollte sie nicht wissen, wie ich an das Pokémon gekommen bin. Sonst hätte sie mir wohl wirklich direkt den Kopf abgerissen.“

„Streitest du dich oft mit deiner Mutter?“

„An sich eigentlich nicht, nein. Nur bei diesem Thema geraten wir immer wieder aneinander. Wir haben einfach komplett unterschiedliche Meinungen darüber, was notwendig ist.“

„Aber ist ihr die Bedrohung durch diese Pokémon etwa nicht bewusst?“, wollte Chandra wissen.

„Doch, sehr sogar. Sie würde nichts lieber tun, als den Pokémon zu helfen. Aber sie ist nicht bereit, die richtigen Mittel zu ergreifen“, seufzte Zayn. „Ich kann sie da ja verstehen, wir hatten bislang kaum Anhaltspunkte und das Problem ist größer denn je. Aber nur hier zu sitzen und zu glauben, das Problem löse sich von alleine, ist ein gefährlicher Irrtum. Dessen bin ich mir noch sicherer, seit ich dort war.“

Seit er in Pyritus gewesen war. Das war sicherlich für jeden normalen Menschen augenöffnend.

„Und eigentlich ist Torben auf meiner Seite, aber jedes Mal, wenn meine Mutter missbilligt, was wir tun, knickt er ein wie ein Blümchen bei einem Windstoß. Er ist da einfach nicht unbefangen, schlägt sich auf ihre Seite und am Ende stehe ich da wie der egoistische Vollidiot, der es verbockt hat.“

„Ach was, so denkt deine Mutter doch nicht über dich!“, protestierte Chandra auf Zayns angesäuerte Aussage. „Sie macht sich nur Sorgen. Kannst du ihr das denn verübeln?“

„Nein, aber … etwas mehr Vertrauen wäre schön.“

 Chandra ging gedanklich das von ihm Gesagte durch. Es fehlte ein kleines Teilchen, was dafür sorgte, dass sie das Ganze nicht vollständig verstand. Ein kleines, sinnbringendes Puzzlestück.

Dass Torben nicht Zayns Vater war, war ihr bereits bei der ersten Begegnung klargewesen. Ansonsten lebten hier an Familie lediglich seine Schwester und Mutter. Überhaupt hatte er noch kein einziges Mal ein Wort über einen potenziellen Vater fallen lassen. Ob seine Eltern einfach getrennt waren? Passen würde zu dieser Theorie zumindest, dass sich Cara und Torben augenscheinlich sehr nahestanden. Sie traute sich nicht, ihn danach zu fragen. Dafür standen sie sich wiederum nicht nahe genug.

Auf einmal gab die Matratze neben ihr leicht nach und Zayn war noch näher zu ihr gekommen. Er lag nun ebenfalls unter der großen Bettdecke, direkt neben ihr. „Geht’s dir ein bisschen besser?“

Sie brachte nur ein „Ja“ zustande.

Er stützte sich mit einem Arm hoch und plötzlich war sein Gesicht so dicht vor ihrem, dass sie unbewusst die Luft anhielt. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, spürte sie seine Lippen auf ihren – zwar nur kurz, aber lange genug, damit ihr das Blut stechend heiß ins Gesicht schoss.

Statt etwas zu sagen, starrte sie ihn nur an, was ihn zum Lächeln brachte. Ihr Gehirn schien merkwürdig verlangsamt, sie realisierte erst, dass er sie erneut küsste, als sie eine Hand an ihrer rechten Wange spürte. Normalerweise sollte dies der Moment sein, in welchem der Funken auf sie übersprang und sie sich auf die Situation einließ, doch sie rührte sich nicht. Auch wenn sich nicht leugnen ließ, dass durchaus ein kleines Fünkchen in ihr aufglomm, wegen dessen sie den Kuss erwiderte, woraufhin dieser plötzlich sehr viel länger andauerte als der vorherige. Als sie sich wieder trennten, glühten Chandras Wangen förmlich – na zum Glück war der Raum so dunkel.

Warum tat sie nichts? Momentan war es ihr ungewöhnlicherweise sogar gleichgültig, wie die Szene hier zu interpretieren war, doch es mangelte ihr an Antrieb, um sich aufzurappeln.

„Du hast mir noch keine Antwort auf meine Frage gegeben“, sprach Zayn mit leiser Stimme. „Also, wenn du jetzt nichts dagegen äußerst …“ Ein Finger strich seitlich an ihrem Hals entlang und zog eine imaginäre Linie, die ihre Haut kribbeln ließ. „Dann gehe ich davon aus, dass du zustimmst.“

Dieser unerwartete Sinneswandel gefiel Chandra, sie erwiderte: „Dann mach weiter.“

Zayn kommentierte ihre Aufforderung lediglich mit einem Grinsen. Ein paar Minuten zogen von dannen, die gefüllt waren mit weiteren Küssen. Sie gab sich dem prickelnden Gefühl hin, das in ihr flatterte bei diesem Akt der Nähe, und bekam dabei kaum mit, dass er sich im Laufe des Geschehens auf sie schob. Ihr linkes Bein war jetzt zwischen seinen und nun fanden ihre Körper so viele Berührungspunkte, dass eine Wärmewelle direkt von ihren Beinen bis nach oben in ihr Gesicht drang.

Nun spürte sie seinen Mund als warme Liebkosung auf ihrem Hals und zog den Kopf in den Nacken. Dieses Prickeln auf ihrer Haut fühlte sich verdammt gut an, besser, als sie es sich eingestehen wollte. Es sandte winzige Schockwellen durch ihren Körper, bis diese sich in ihrem Unterleib entluden und sie innerlich nach mehr lechzte. Nur am Rande bekam sie mit, dass sie eine Hand in seinen Nacken legte, um ihn an sich zu drücken. Längst verriet auch ihre Atmung, dass sie Gefallen daran fand.

Eine warme Hand schob sich unter ihr T-Shirt und strich über nackte Haut. Wenig später drückte Chandra Zayn von sich fort, um sich besagtes Oberteil vom Leib zu streifen. Nach einem innigen Kuss in aufgerichteter Position tat er es ihr gleich. Dann drückte er sie wieder nieder auf die Matratze. Diesmal war Chandra überraschend passiv für ihre Verhältnisse und ließ ihn machen. Sie konnte sich ausgesprochen gut in diese Rolle fallen lassen und genoss jede einzelne Berührung. Doch wenn ihre Lippen sich trafen, dann gab sie einen Teil der Leidenschaft, die unterschwellig in ihr brodelte und nur darauf wartete, endlich gänzlich an die Oberfläche zu dringen, an ihn weiter, indem sie ihn mit mehr Hingabe küsste und fast ertrank in jenem seligen Gefühl, das der unmittelbare Kontakt ihrer erhitzten Körper in ihr erschuf.

Nach einer kleinen, gefühlten Ewigkeit entledigte Zayn sie ihrer Hose und ließ seine Augen über ihren nur noch in Unterwäsche bekleideten Körper gleiten, während er zwischen ihren Beinen kniete. Chandra bemerkte mit innerer Erleichterung, dass sie es doch tatsächlich zustande gebracht hatte, zusammenpassende Unterwäsche anzuziehen. Und obwohl er sie schon so und mit weniger gesehen hatte, wallte ein Hauch von Nervosität in ihr auf, als sie sich so ungeschützt vor ihm darbot. Mit aller Macht schob sie dieses sonderbare Gefühl von sich – das hatte sie ja sonst noch nie empfunden.

„Was hast du denn hier gemacht?“, riss Zayn sie aus ihren gedanklichen Machtspielchen.

Chandra schreckte auf und merkte erst jetzt, dass er mit den Fingern über ihre aufgeschürften Knie strich. „Äh, was?“

„Hast du dich mit einem Rattfratz geprügelt?“

„Was? Nein!“, erwiderte sie, nachdem sie verstanden hatte. Natürlich hatten ihre Hose und ihre Knie unter der Verfolgungsjagd gelitten und auch ihre Hände zierten jede Menge oberflächlicher Kratzer, aber was tat man nicht alles. „Als ich heute draußen war, habe ich ein Pokémon gefangen.“

Zayn wirkte positiv überrascht. „Was, wirklich? Was für eines?“

Sie seufzte: „Na das kann jetzt dauern. Ich glaub, ich zieh mich wieder an.“ Sie machte bereits Anstalten, sich von ihm fort zu schieben, da war er binnen einer Sekunde wieder bei ihr unten und packte ihre Handgelenke, um sie über ihrem Kopf aufs Bett zu drücken.

„Schön hiergeblieben. Ich bin noch lange nicht fertig mit dir“, grinste er.

Sie erwiderte dieses Grinsen und sprach, in möglichst verführerischer Tonlage: „Na dann leg endlich los, oder soll ich mich langweilen?“

„Wie du willst.“ Im Anschluss überbrückte er die letzte Distanz zwischen ihnen und dann fanden seine warmen Lippen abermals den Weg zu ihrem Hals und hinterließen sehr fordernde Küsse auf der vor Hitze pulsierenden Haut, während er ihre Handgelenke weiterhin festhielt, wenn auch nun mit weniger Druck. Chandra fand allerdings so oder so deutlich Gefallen an ihrer Position und verharrte in dieser. Eine unerträgliche und doch angenehme Hitze floss durch ihre Glieder und schien in der Mitte ihres Körpers ihren Ursprung zu nehmen. Für den Moment lag sie still, lediglich das leise, genüssliche Stöhnen, das zwischen ihren halb geöffneten Lippen hindurchdrang, war Zeuge ihres erregten Zustandes.

Chandra bekam nur am Rande mit, wie Zayn ihre Handgelenke losließ und anschließend eine seiner Hände über ihren fast vollständig entblößten Oberkörper nach unten wanderte und sich mit entschlossener Leichtigkeit in ihren Slip schob. Trotz einer kurzen Überraschung versank sie sogleich in einem Gefühl der Wonne, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sie dies tun sollte. So ließ sie sich zum zweiten Mal in kurzer Zeit darauf ein und bereute dies nicht – manches bedurfte nun mal einer Wiederholung.

 

******

 

Ein lautes Klopfen, das wie aus dem Nichts zu kommen schien, riss Chandra aus den schwarzen Tiefen eines sehr erholsamen Schlafes, um kaum, dass sie die Augen aufgerissen hatte, erschrak sie darüber, wie nah Zayn ihr war. Oder besser gesagt sie ihm. Dicht an seine Schulter gekuschelt lag sie neben ihm unter der schweren Decke und spürte seine Wärme an sich. Licht fiel durch die dunklen Zimmervorhänge in den Raum hinein.

Mit einem Satz war sie von ihm gewichen und saß aufrecht im Bett, tippte ihn dann eindringlich an, um ihn aufzuwecken. Es zeigte Wirkung; er schlug sichtlich irritiert die Augen auf.

„Tür, irgendjemand!“, flüsterte sie aufgebracht. Ein wiederholtes Klopfen unterstrich ihre kryptische Aussage und Zayn seufzte, ehe er sich aufrichtete.

„Zayn?“, rief eine hohe Stimme durch die geschlossene Tür. Das war unverkennbar Jill. „Bist du wach?“

In einer fließenden Bewegung schlug Chandra die Decke von sich fort und kam unbeholfen auf dem Boden zum Stehen. Das konnte sie nun gar nicht gebrauchen. Es musste ja wirklich niemand wissen, dass sie die Nacht nicht in ihrem Zimmer verbracht hatte – besser noch, wo sie sie stattdessen verbracht hatte. Jill war zwar vermutlich noch zu jung, um die Tragweite dessen zu verstehen, aber Kinder nahmen nun mal kein Blatt vor den Mund und platzten nur allzu gerne mit neuem Wissen heraus.

Sie las ihre Kleidung vom Boden auf und während sie nur in Unterwäsche bekleidet inmitten des Zimmers stand, überlegte sie fieberhaft, was sie tun sollte. Ihr Blick schweifte zur Tür des Badezimmers und dann zu Zayns Schrank. Raus konnte sie nicht, also musste sie sich irgendwo verstecken. Denn sie bezweifelte, dass Jill nachgeben würde.

Wie auf Kommando rief diese, als nach einem dritten Klopfen immer noch eine Antwort ausblieb: „Ich komme jetzt rein, ja?“

Chandra erstarrte förmlich und selbst Zayn, der sich gerade sein T-Shirt überzog, schien das alles andere als recht zu sein. Die Zimmertüre war allerdings noch vom Vorabend abgeschlossen und alles, was sie hörten, war ein verwirrtes „Hm?“ von Jill.

Nun entschied Chandra sich kurzerhand für Zayns Schrank als Versteck und sprang, ohne zu zögern, möglichst leise zusammen mit ihren Sachen hinein. Sie konnte sich geräuschlos auf den Boden setzen und harrte so aus. Danach vernahm sie, dass Zayn seiner Schwester die Tür öffnete und hörte ihre schüchterne Stimme: „Hi … wieso war deine Tür abgeschlossen? Die ist doch sonst auch nicht abgeschlossen!“

„Und du öffnest sonst auch nicht einfach ohne meine Zustimmung meine Tür“, erwiderte Zayn gelassen, aber hörbar müde.

„Tut mir leid.“

„Schon okay. Was willst du denn?“

„Ist Chandra hier bei dir?“, fragte Jill, nun wieder mit aufgeweckter Stimme.

Zayn klang ertappt und verdutzt zugleich. „Wie kommst du denn darauf? Warum sollte sie hier sein?“

Chandra im Schrank wurde zunehmend nervöser. Woher wusste – vermutete – sie das? Hatte man sie etwa hören können? Oh man, nein, wie peinlich!, stöhnte sie innerlich.

Aber dann fuhr Jill fort: „Na ja, sie ist nicht in ihrem Zimmer und da dachte ich, vielleicht ist sie ja bei dir.“

„Woher weißt du denn, dass sie nicht in ihrem Zimmer ist?“, wollte Zayn wissen.

Man konnte hören, wie seine Schwester herumdruckste, und dann seufzte er. „Jill, man geht nicht einfach in die Zimmer anderer Leute, schon gar nicht, wenn man sie kaum kennt.“

Chandra ihrerseits fiel ein, dass sie vergessen hatte, ihr Zimmer abzuschließen.

„Ich weiß, es tut mir leid“, sagte Jill betrübt, „aber ich war so neugierig. Und ist sie denn nun hier?“

„Nein, ist sie nicht. Was wolltest du überhaupt von ihr?“

„Ich soll ihr von Mom sagen, dass ihr Pokémon aufgewacht ist.“

„Ah, super. Ich werde sie suchen und es ihr sagen, ja?“, schlug Zayn vor.

„Okay. Ich werde dann jetzt wieder zu ihm gehen. Ihr könnt ja dann nachkommen, wenn du weißt, wo Chandra ist. Komm, Enton.“ Dann fiel die Tür zu und Chandra seufzte in zweierlei Hinsicht erleichtert auf. Lunel war wieder aufgewacht!

Licht fiel in den Schrank, als die Tür geöffnet wurde. „Du kannst dann wieder rauskommen“, meinte Zayn. „Mann, war das knapp. Dieses Mädchen ist zu schlau.“

„Und sehr neugierig“, fügte Chandra hinzu, nachdem sie aus dem Möbelstück gekrochen war.

„Na ja, sie mag dich halt. Wer wäre da nicht neugierig?“

„Es gibt ja gar nichts zum Neugierig-sein.“

„Ach, wie ich sehe, bist du wieder ganz die Alte“, lachte Zayn, woraufhin sie schwieg. War sie das? Sie fühlte sich deutlich verändert …

Ein wenig später waren sie dann nach unten zur Krankenstation gegangen. Chandra hoffte, dass ihr der Schreck nicht noch immer ins Gesicht geschrieben stand. In dem Raum, in welchem Lunel lag, war dieser nicht allein. Jill saß auf einem Stuhl an dem kleinen Bett, das mehr einer gepolsterten Krankenwagenliege glich, und neben Lunel saßen auf der Liege außerdem Sunny und daneben Enton.

Alle drehten sich zu den Neuankömmlingen um und Jill sagte: „Da seid ihr ja endlich!“

Chandra stürmte zu ihren Pokémon und zog zuerst Lunel in eine vorsichtige Umarmung. Er schmiegte sich an ihr Gesicht, was ihr Tränen in die Augen trieb. „Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist, ich wollte das nicht“, klagte sie. „Aber ich bin froh, dass es dir besser geht.“ Sunny schloss sich der Wiedervereinigung an, indem sie näher an Chandra heranrückte, bis diese auch einen Arm um sie legte. Dem Enton wurde das Gedränge derweil zu viel und es hüpfte auf Jills Schoß.

„Nachtaras Vitalwerte sind soweit wieder im grünen Bereich. Bis auf die äußeren Verletzungen trägt es keine Folgeschäden durch seinen Kampf davon. Es muss sich aber dennoch noch einige Tage hier ausruhen und erholen – das heißt, keine Kämpfe mit anderen Pokémon, schon gar nicht mit genmanipulierten, aggressiven Pokémon!“ Die klare Stimme gehörte zu niemand anderem als Cara, welche plötzlich in der Tür stand, heute in einem ärztlichen Weiß gekleidet, und mit ernstem Gesichtsausdruck zu Chandra sah. Ihren Sohn ignorierte sie dabei geflissentlich, aber Zayn fühlte sich vermutlich ohnehin angesprochen von ihren deutlichen Worten.

Chandra brachte nur ein Nicken zustande. Im Moment waren Kämpfe so weit von ihr fort, dass sie nicht einmal sagen konnte, ob sie in naher Zukunft wieder Lust auf solch einen Akt haben könnte. Die letzten Tage waren zur Genüge gefüllt gewesen mit derartigen Auseinandersetzungen und es stand ihr wirklich nicht danach, ihre Pokémon alle paar Tage hier abzuliefern.

Cara lächelte minimal. „Psiana kann die Krankenstation wieder verlassen – sofern sie das möchte.“ Tatsächlich machte Sunny nicht den Eindruck, als hätte sie vor, ihren Bruder hier alleinzulassen.  

Und Chandra ging es da ähnlich. Sie war nicht mehr so sehr von Schuld zerfressen wie noch am Vortag und wollte so viel Zeit wie möglich mit ihren Pokémon verbringen, um sicherzugehen, dass es diesen an nichts fehlte.

Anziehungskraft

Chandra verbrachte die darauffolgende Woche hauptsächlich bei Lunel, da sie nach wie vor besorgt um sein Wohl war. Doch seine Genesung ging gut voran, sodass er bereits nach fünf Tagen die Krankenstation verlassen durfte. Sein schwarzes Fell sah zwar immer noch mitgenommen aus, aber er war wieder fit genug, um gemeinsam mit Sunny den Garten hinter dem Labor zu erkunden.

So wie im Moment, einen weiteren Tag später, als Chandra derweil im Gras saß und ihre beiden Pokémon beobachtete, wie sie umhertollten. Es tat ihnen sichtlich wohl, endlich wieder unbesorgt beieinander sein zu können, so wie auch sie ein Gefühl der Erleichterung erfasste, die beiden wohlauf zu sehen. Doch wenngleich sie keine Anzeichen zeigten, dass die kürzlichen Kämpfe sie verschreckt oder traumatisiert hatten, konnte Chandra nicht sagen, ab wann sie sich wieder bereit für einen neuen Kampf fühlen würde.

Ihr neues, drittes Pokémon stellte dafür eine eher schwierige Aufgabe dar. Bereits am selben Tag, an dem Lunel wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte sie Flunkifer in Anwesenheit Zayns, der bis dato nicht hatte glauben können, dass sie ein Flunkifer gefangen hatte, aus dem Ball gelassen. Dabei hatte er ihr erklärt, dass er hier im Wald noch nie ein Flunkifer gesehen habe und dass diese eigentlich eher sehr zurückgezogen in höhlenartigen Gegenden lebten. Auch erfahren hatte sie, dass nach vielen Stunden Marsch durch den Wald eben jener irgendwann in ein Gebirge überging, wo Flunkifer zwar tendenziell häufiger waren als im flachen Waldgebiet, aber immer noch selten.

Tatsächlich verwunderte es Chandra aber mittlerweile kaum noch, dass sie das Flunkifer im Wald angetroffen hatte. Es verkörperte ein neugieriges, aufgewecktes Wesen, wie sie ja bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte erfahren können. Doch leider war es auch unsagbar eigensinnig, frech und stur.

Als sie es zum ersten Mal aus dem Pokéball gelassen hatte, hatte es sie strikt ignoriert, und wenn es sie doch mal beachtet hatte, dann nur, um ein beleidigtes und schnippisches Gesicht zur Schau zu stellen. Erleichternd, aber nicht besser war die Tatsache, dass Flunkifer Zayn ebenfalls nicht sonderlich zu leiden schien. Er hatte versucht, sich dem Stahlpokémon mit deutlich mehr Feingefühl zu nähern und war dabei um ein Haar von dem monströsen Maul gebissen worden. In einer Woche hatten sie nur herausfinden können, dass Flunkifer handzahm und beinahe lieb wurde, wenn man ihm rosafarbene Riegel gab, die aus sogenannten Pirsifbeeren gemacht waren – dies allerdings auch nur in Verbindung mit Jill. Denn an einem der Tage hatte sich Flunkifer einen Spaß daraus gemacht, wegzurennen, sodass Chandra und Zayn dem Wesen durch das halbe Haus nachgerannt waren. Anschließend war es mit Enton kollidiert, um diesem daraufhin einen jener Pirsifriegel abzunehmen und selbst aufzufressen. Nach einigen Tränen seitens des Wasserpokémons und einer herzlichen Rüge seitens Jill war das Stahlpokémon dann zumindest entspannt und gewillt gewesen, nicht mehr aus Spaß zu flüchten.

Nichtsdestotrotz hielt Chandra Flunkifer meistens in seinem Ball, wenn es nicht gerade Snacks verputzte, die Jill ihm zusteckte. Sie tat dies nur äußerst ungerne, aber sobald man Flunkifer für eine Sekunde aus den Augen ließ, wurde es allzu neugierig und durchsuchte Regale, sprang auf Tische und Kommoden und öffnete auch sonst alles, was nicht verschlossen war. Einige Vasen hatten bereits unter dem Pokémon leiden müssen.

Sie seufzte. Ob sich das jemals bessern würde? Zwar hatte Zayn ihr erklärt, dass es normal war, dass ein Pokémon sich nicht sofort mit seinem neuen Trainer arrangierte, immerhin war es ja nicht automatisch einer Gehirnwäsche unterzogen, sobald man es eingefangen hatte, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass Flunkifer sie einfach nicht mochte. Leider gehörte Geduld auch nicht gerade zu ihren Stärken. Aber immerhin schien es Jill zu mögen, was jedoch nicht verwunderlich war.

Wenn Chandra sich nicht gemeinsam mit Zayn mit dem Flunkifer herumgeschlagen hatte, dann hatte sie sich im Labor eher bedeckt gehalten. Das rührte daher, dass sie sich teilweile etwas fehl am Platz fühlte, gar wie eine Last, und sie kam sich vor wie ein merkwürdiger Besucher, der einfach nicht gehen wollte. Dabei signalisierte ihr niemand, dass sie unerwünscht sein könnte, doch sie wusste nicht, wie sie mit jemandem ein Gespräch anfangen sollte.

Mit Zayns Mutter war sie wegen ihrer Pokémon zwar schon mehrmals in Kontakt getreten, doch sie konnte Cara kaum in die Augen schauen, ohne furchtbar nervös und unbeholfen zu werden. Lediglich mit Jill sprach sie regelmäßig, einerseits wegen Flunkifer und weil sie mehrmals bei Lunel vorbeigesehen hatte. Zayn wollte sie allgemein nicht so häufig um sich haben, denn in seiner Gegenwart fühlte sie sich neuerdings merkwürdig, was mit Sicherheit an ihrer letzten gemeinsamen Nacht lag. Noch immer ärgerte sie sich über ihre Sentimentalität und darüber, was geschah, wenn sie emotional nicht ganz auf der Höhe war. Zweimal mit derselben Person zu schlafen, konnte kein gutes Omen sein, und nachdem sie nun ihr erstes Prinzip gebrochen hatte, blieb ihr nichts weiter übrig, als starr am zweiten festzuhalten, in welchem sie besser war: das Thema totschweigen. Zayn sah das offenbar genauso wie sie.

Doch aller Verdrängungsmechanismen zum Trotz musste sie wieder seine Nähe suchen, denn er war für sie ihr Ansprechpartner in Sachen Cryptopokémon – sozusagen ein Verbündeter, auch wenn sie die letzte Zeit nichts davon hatte wissen wollen. Aber seit es ihrem Pokémon besser ging und die Schuldgefühle damit einhergehend auch abgeflaut waren, sah sie wieder klarer, was wirklich zählte.

Wegrennen war immer einfach, aber auch bequem und in ihrem Fall sogar durchaus fatal. Ganz gleich, wie viele hunderte Kilometer sie aktuell von Ray getrennt sein mochte, der Vorfall mit Waaty hatte ihr aufgezeigt, dass sie sich nicht verkriechen und so tun konnte, als hätte sie nicht länger etwas mit dem Problem zu tun. Schließlich löste sich dieses nicht von selbst und sie war sich sicher, selbst wenn Zayn das Waaty nicht mitgenommen hätte, wäre sie früher oder später ohnehin davon eingeholt worden. Entweder in Form eines Cryptopokémons, das plötzlich irgendwo auftauchte, oder ganz klassisch durch ihren Bruder. Er setzte stets alles daran, zu bekommen, was er wollte, und so bezweifelte Chandra nicht, dass er sie früher oder später finden würde. Aber sie musste vorbereitet und ihm einen Schritt voraus sein – oder besser gleich zwei, drei oder gar vier Schritte. Sofern das möglich war. So oder so konnte sie dies aber nur sein, wenn sie aufhörte, sich zu verkriechen und ihre Gabe zu verteufeln.

Denn nichts anderes war das, zu dem sie in der Lage war. Eine Gabe, die allerdings zwei Seiten hatte, von denen eine wunderbar war, während die andere für Schrecken sorgte. Je länger Chandra jedoch darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass nur jemand in der Lage war, ein Cryptopokémon von seiner Dunkelheit zu heilen, der diese überhaupt spüren konnte.

Und hier kam sie ins Spiel. Obwohl sie keinen blassen Schimmer mehr davon hatte, wie sie dieses Wunder damals vollbracht hatte und allein der bloße Gedanke daran, sich ein zweites Mal dem Waaty gegenüberzustellen, dafür sorgte, dass sich kalte Finger der Angst um ihren Brustkorb legten, wusste sie, dass es das Richtige war.

Sie konnte nur nicht riskieren, dass ihren Pokémon wieder etwas geschah, diese durften also dabei nicht vor Ort sein. Und da Zayns und ihre eigene Sicherheit ebenfalls wichtig war, setzte sie darauf, dass er eine Möglichkeit fand, ihrem Begehren nachzukommen. Sie zweifelte aber nicht daran; er wollte dem Pokémon mindestens genauso sehr helfen wie sie.

 

******

 

„Bist du dir sicher, dass du das machen willst? Du musst das nicht tun. Wir warten einfach noch ein bisschen und vielleicht ergibt sich ja dann eine andere Möglichkeit, oder –“

„Ja, Zayn, ich bin mir sicher“, unterbrach Chandra ihn augenverdrehend. Aber ihre eigenen Worte klangen wenig überzeugend und in der Tat fühlte sie sich nicht im Geringsten überzeugt – und dennoch wusste sie, dass sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen würde, auch wenn diese Gewissheit rundum seltsam, fast schon beängstigend war.

„Na gut“, seufzte er. „Aber wenn du es dir anders überlegst, brechen wir das sofort ab.“

„Geht klar.“

Sie waren in den Keller des Labors hinabgestiegen. Dieser war zwar nicht modrig und düster, wie Keller es an sich hatten, sondern modernisiert, aber die gleißend hellen Neonröhren an der Decke, die ihr Licht an nackte, weiße Wände warfen, verliehen dem langen Gang, durch den sie liefen, einen beunruhigenden Hauch. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass Chandra nicht von Ruhe erfüllt war.

Ob sie dabei war, durchzudrehen? So hatte Zayn sie jedenfalls angesehen, nachdem sie ihm am Morgen offenbart hatte, dass sie noch einmal das Waaty sehen wollte. Und es stimmte ja. Vor ein paar Tagen hätte sie sich das selbst kaum vorstellen können. Denn obwohl sie wusste, dass sie derzeit die Einzige war, die dem armen Geschöpf eventuell helfen konnte, verspürte sie blanke Furcht bei der Vorstellung, diesem gegenüberzutreten. Aber deutlich stärker war das Drängen, das aus ihrem tiefsten Inneren kam und sie leitete, diese waghalsige Idee in die Tat umzusetzen. Auch wenn sie sich nicht logisch erklären konnte, wieso sie auf schier magische Weise von dem Cryptopokémon angezogen wurde, denn das war vorher auch noch nie so gewesen.

Plötzlich blieb Zayn vor einer breiten Tür am Ende des Ganges stehen. Sie funkelte metallisch im Licht und schien aus massivem Stahl gefertigt. Chandra konnte sich nicht vorstellen, wie dieser Koloss einer Tür aufgehen konnte, denn sie hatte keinen Griff. Aber dann tippte Zayn einen Zahlencode in ein kleines Tastenfeld neben der Türe ein, woraufhin der Stahl rechts in der Wand verschwand und ihnen den Raum dahinter offenbarte.

„Ich hoffe, das geht gut“, sagte Zayn – mehr zu sich selbst als zu ihr. „Meine Mutter hat gerade wieder angefangen, mit mir zu reden, und straft mich nicht länger mit diesem enttäuschten Blick. Wäre schön, wenn das so bleibt.“

Chandra erwiderte darauf nichts. Sie ließ nur die erdrückende Atmosphäre des fensterlosen, rechteckigen Raumes, der nun ebenfalls von grellen Neonleuchten erhellt wurde, auf sich wirken. Die linke Hälfte war an den Wänden mit einigen Monitoren ausgestattet, darunter auf der Arbeitsfläche reihten sich mehrere Tasten aneinander. Viel interessanter fand Chandra allerdings den rechten Bereich, der von einer Wand, in welcher eine Tür und eine längliche Glasscheibe eingebaut waren, vom restlichen Raum abgegrenzt wurde. Sie trat an die Scheibe und sah hindurch. Ihr Blick fiel auf eine leere Fläche, deren Wände zu allen Seiten aus kaltem Stahl bestanden. Einer Intuition folgend klopfte sie gegen das Glas vor sich, welches unter ihren Fingerknöcheln nur einen dumpfen Klang von sich gab. Panzerglas.

„Was machen wir hier? Ist ein bisschen unheimlich hier“, gestand Chandra und drehte sich zu Zayn. Dieser hatte mittlerweile wie selbstverständlich einen der Bildschirme im Raum angeschaltet und tippte zielstrebig über dessen Oberfläche.

„Du hast doch gesagt, du willst dir das Cryptopokémon noch einmal ansehen“, erwiderte er beiläufig.

Chandra sah ihn erneut eine Zahlenkombination eintippen und dann öffnete sich aus dem Nichts in der Wand zu ihrer Rechten ein Fach, welches sie zuvor nicht gesehen hatte.

Zayn entnahm aus diesem einen Pokéball. „Also bitte, hier ist es. Aber wir warten noch kurz.“

„Nicht nötig, bin schon da!“ Eine dritte Stimme gesellte sich zu ihnen, nach deren Ertönen Alyssa im Raum erschien. Mit einem Betätigen des Displays neben der Stahltüre schloss diese sich surrend wieder.

Chandra blieb eine Erwiderung im Hals stecken. Was tat Alyssa hier? Hatte sie etwas verpasst?

Tatsächlich hatte sie sich Alyssa vor zwei Tagen etwas angenähert, wenn auch eher gezwungenermaßen. Sie war nämlich von dieser gefragt worden, ob sie mit ihr nach Veralia fahren wolle – und der Grund war kein anderer als der, dass sie von Zayn darum gebeten worden war, mit Chandra gemeinsam deren Kleidungsvorrat wieder etwas aufzufrischen. Da Chandra sehr gut wusste, dass jener unter ihrem Aufbruch gelitten hatte, denn sie hatte zuletzt zumeist dasselbe tragen müssen, war sie dem Angebot wohl oder übel nachgekommen. Übel, weil es merkwürdig gewesen war, mit Alyssa alleine zu sein, wenngleich sie Zayns Aufmerksamkeit zu schätzen wusste. So hatte Chandra seit dem Ausflug zwar endlich etwas mehr in ihrem Kleiderschrank, aber Alyssa hatte sie in der kurzen Zeit nicht besser kennenlernen können. Die Gespräche der beiden waren eher oberflächlicher Natur gewesen und kaum über gewöhnlichen Smalltalk hinausgegangen. Chandra hatte schlicht keinen Schimmer gehabt, worüber sie mit Alyssa hätte reden können – obwohl diese durchaus ihre Neugier weckte. Aber vielleicht war es vielmehr Neugier darüber, was für ein Verhältnis sie zu Zayn hatte, als zu ihrer Person.

Chandra konnte und wollte nicht leugnen, dass Alyssa sehr freundlich und diskret war – zumindest verkniff sie sich die offensichtliche Frage, weshalb Chandra nicht länger in Pyritus war –, doch es blieb von ihrer Seite aus ein befremdlicher Kontakt.

„Oh, was machst du denn hier?“, rutschte es ihr ungeschickt über die Lippen.

Aber Alyssa lächelte nur und erwiderte ungerührt: „Na nach dem Desaster vom letzten Mal kann ich euch beide doch nicht einfach alleine lassen mit einem gefährlichen Pokémon.“

„Um ehrlich zu sein, hielt ich es für besser, wenn noch eine dritte Person anwesend ist, schließlich reagierst du sehr empfindlich auf das Cryptopokémon und ich würde nur ungerne alleine vor diesem Wesen stehen“, erläuterte Zayn daran anschließend. Chandra nickte; seine Antwort sagte ihr außerdem deutlich mehr zu. Aber auch wenn sie gerne mit Zayn – und dem Crypto – alleine gewesen wäre, immerhin wusste er als Einziger so wirklich um ihre eigentümliche Reaktion auf diese Pokémon, so verstand sie seine Beweggründe.

„Aber was genau wollen wir jetzt tun?“, fragte Zayn hörbar ahnungslos. „Ich weiß nicht, wie wir dem Pokémon helfen können. Wenn wir wenigstens wüssten, was mit ihm geschehen ist, dann ließe sich vielleicht eine Art Heil- oder Gegenmittel herstellen, aber alle Untersuchungen an einem Cryptopokémon zeigen überhaupt nichts. Dieses Waaty“, er wog den Pokéball in seinen Händen, „ist kerngesund und von allen Werten her wie ein normales Pokémon. Ich verstehe einfach nicht, wie es derart bösartig und zerstörerisch werden konnte.“

Chandra sog dieses Wissen in sich auf. Für einen normalen Menschen schien ein Cryptopokémon schlicht aggressiv und sehr stark, es zeichnete sich dadurch aus, dass ihm jegliche Emotionen fehlten, die ein gewöhnliches Pokémon kennzeichneten. Aber abgesehen davon erschien es oberflächlich betrachtet wie jedes andere Pokémon. Und selbst wenn man dieses Waaty in lauter Daten und Werte aufschlüsselte, hob es sich in keiner Weise von seinen Artgenossen ab.

Aber Chandra wusste es besser. Sie konnte den Unterschied sehen und fühlen und deswegen war sie sicher, dass es etwas gab, das man tun konnte, um einem Pokémon wie Waaty zu helfen.

Sie fühlte sich mittlerweile sehr seltsam. Wie sonst auch ängstlich, als sie den Ball sah, aber ebenso energiegeladen und innerlich unausgeglichen, denn sie wollte unbedingt das Waaty sehen – und das war völlig verrückt. Eigentlich sollte sie das Pokémon in die Hölle wünschen für das, was es Lunel angetan hatte, aber sie spürte noch immer tiefes Mitgefühl und neuerdings eine abstruse Verbundenheit. Seit ihr der Gedanke gekommen war, dass sie etwas unternehmen konnte, wenn sie stark sein würde, schien es, als würde das Cryptopokémon sie mittels einer unbekannten Macht zu sich rufen.

„Könnten wir Waaty aus seinem Ball lassen?“, hörte sie sich selbst fragen, mit bedrohlich klarer Stimme.

„Jetzt sofort?“ Zayn wirkte überrascht.

„Ja.“

„Aber was willst du tun? Ich denke nicht, dass wir dem Pokémon jetzt helfen können und wenn es wieder ausrastet wie beim letzten Mal, dann haben wir ein Problem“, sprach Alyssa.

„Na ja, wir sind ja nicht umsonst hier runter gegangen“, meinte Zayn. „Aber trotzdem, Chandra. Was hast du vor?“

„Erinnerst du dich noch daran, dass ich dir davon erzählt habe, wie ich einmal versehentlich eines der Cryptopokémon von meinem Bruder geheilt habe?“, fing Chandra an und bemerkte mit Genugtuung den fragenden Ausdruck auf Alyssas Gesicht. Es mochte fies sein, aber sie war erleichtert, dass Zayn ihr nichts erzählt hatte. „Manchmal sind Cryptopokémon in meiner Gegenwart etwas ruhiger geworden und damals konnte ich eines sogar anfassen. Und als ich es berührte, wurde es vollkommen ruhig. Ich erinnere mich ehrlich gesagt nicht mehr daran, was genau dann passiert ist. Ich weiß nur noch, wie man uns wieder trennte und das Pokémon plötzlich normal war. Es schien fröhlich und alles, was es dunkel und böse gemacht hatte, war verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Tja, und als mein Bruder wütend wurde, wusste ich, dass ich etwas Verbotenes getan hatte.“

„Aber du hast es danach nie wieder getan, oder? Wir können uns nicht darauf verlassen, dass das einfach so wieder funktioniert.“

„Das stimmt schon, aber … Ich wollte diesen Pokémon natürlich trotzdem nie zu nahekommen. Denn selbst wenn sie ruhiger wurden, konnte ich ja trotzdem noch fühlen, wie schlecht es ihnen geht. Deshalb habe ich Begegnungen mit ihnen immer nach Möglichkeit vermieden.“ Chandra war insgeheim ja ein wenig erstaunt, dass Zayn ihr die Information aus der Vergangenheit ohne jeglichen Zweifel glaubte. Cryptopokémon geheilt durch Berührung klang wirklich nicht sehr wissenschaftlich oder logisch. „Aber jetzt ist es anders. Ich will wissen, ob ich dem Waaty helfen kann. Denn wenn nicht, was ist meine Flucht aus Pyritus denn dann außer einer feigen Aktion? Es ist sinnlos, dass ich abgehauen bin, wenn ich nichts tun kann, um zu helfen. Um diesen Wahnsinn zu stoppen.“

Zayn schien für einen Augenblick hin und hergerissen. Aber dann schritt er zu dem Hinterzimmer und zog die schwere Türe auf.

Alyssa schnappte erschrocken nach Luft. „Was hast du vor? Willst du dieses Pokémon wirklich rauslassen?“

„Was haben wir für eine andere Wahl? Immerhin habe ich nicht mein Leben riskiert, um dieses Pokémon zu besorgen, um ihm dann nicht helfen zu können“, erwiderte Zayn entschlossen. In einer schnellen Handbewegung öffnete er den Ball in Richtung des Bereiches hinter der Stahlwand und noch ehe sich das Pokémon gänzlich materialisiert hatte, hatte er die Tür schon zugezogen und einen schweren Riegel vorgeschoben.

Chandra war an die Glasscheibe getreten. Das Adrenalin jagte nun durch ihren Körper und erhitzte gefühlt ihr Blut, als sie zum ersten Mal seit Jahren völlig bewusst ein Cryptopokémon beobachtete. Obwohl das Waaty vor einer Woche von Zayns Galagladi K.O. geschlagen worden war, hatte es sich längst wieder erholt. Cryptopokémon steckten Schmerz besser weg als normale Pokémon und genasen auch deutlich schneller. Kein Wunder allerdings – Gefühle wie Schmerz oder Angst wurden ja ebenfalls unterdrückt.

Waaty warf einen Blick um sich und Chandra sah die feinen, dunklen Fäden, die um seinen Körper waberten. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass Zayn und Alyssa diese nicht sehen konnten. Sie waren doch so präsent. Zogen sich um die Statur des Elektropokémons und verschmolzen immer wieder mit dessen Körper, als wären sie ein Teil von diesem. Doch wenn sie gedacht hatte, dass die dicke Scheibe sie vor der zermürbenden, inneren Leere des Waatys schützen konnte, lag sie falsch. Sie spürte bereits das Gefühl der Trostlosigkeit, das sich langsam an ihren Beinen hochzog, bis es ihre Brust erklommen hatte und in ihr Herz sickerte. Als Waaty den Blick auf das Glas richtete, erkannte Chandra den leeren Blick in den kleinen Augen, der sich wortwörtlich in ihre Seele bohrte. Sie konnte den Kampf des Geschöpfs fühlen, nahm die Schmerzen wahr, die es fühlte, als die Dunkelheit an seinem Inneren riss und zerrte, aber es war machtlos dagegen. Im nächsten Augenblick formte Waaty eine dunkle Kugel vor sich und schoss sie direkt auf das Fenster.

Chandra wich reflexartig nach hinten und sah, dass die Schattenkugel lediglich gegen das Glas prallte und sich dann in den dunklen Waben auflöste.

„Ist es das, was du siehst, wenn du Waaty ansiehst?“, fragte Zayn und wirkte einen Hauch erschrocken.

„Ja.“ Mehr konnte Chandra nicht über die Lippen bringen. Je länger sie hier stand, desto schwächer fühlte sie sich. Ihr war danach, sich in eine Ecke zu werfen und sich auszuweinen, bis die Schmerzen, die in ihrer Brust herrschten, nachließen.

„Hey, wenn es dir zu viel wird, brechen wir das sofort wieder ab.“ Zayn war plötzlich an ihrer Seite und berührte sie an den Schultern. Aber sie entfernte seine Hände sanft von sich und trat wieder ganz dicht an das Glas.

„Schon gut, ich krieg das hin.“

Diesmal zwang sie sich dazu, nicht wegzusehen, als sie unmittelbar in Waatys stumpfe Augen blickte. Zuerst bleckte Waaty die Zähne und knurrte offenbar, aber es folgte kein erneuter Angriff. Dann aber kehrte eine gewisse Ruhe in seine Züge und es verharrte in seiner Position. Einige Sekunden verstrichen, in denen Chandra mit pochendem Herzschlag die emotionale Ausnahmesituation von Waaty aushielt. Dann trugen ihre Füße sie wie von selbst zur Türe des Raums. „Ich muss da jetzt rein“, stellte sie klar.

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, brach es aus Zayn, der sie ansah, als hätte sie sich nun auch vom letzten Rest ihres Verstandes verabschiedet.

Hatte sie wahrscheinlich auch.

„Gerade eben hat es dich noch angreifen wollen und jetzt soll ich dich da reingehen lassen?“

„Du musst, Zayn, bitte! Hier draußen kann ich ihm nicht helfen“, beharrte Chandra. Ihre eigenen Worte klangen so fremd … als würde ein anderer Teil in ihr sprechen. Ein Teil, dem sie zuvor noch nie begegnet war.

„Nein!“, beharrte er.

„Na schön!“ Ehe er sie aufhalten konnte, riss sie den Riegel hoch und stieß die Tür auf. Zayns Fluchen hinter ihr ungeachtet, stürmte sie in den Raum und sah sich nun dem Waaty gegenüber, welches erschrocken zu ihr hochsah und einen Schritt nach hinten trat.

„Hör auf mit den Dummheiten!“, zischte Zayn hinter ihr und ergriff ihr rechtes Handgelenk.

Genau diese Handlung löste eine kleine Katastrophe aus. Waaty erwachte wieder zum Leben und machte sich kampfbereit. Ehe Zayn Chandra aus dem Raum geschleift hatte, schoss Waaty auch schon eine dunkle Kugel auf die beiden, die im letzten Augenblick auseinanderstoben. Waaty ignorierte Chandra gänzlich, dafür nahm es Zayn ins Visier. Mit einem gezielten Sprung brachte es ihn zu Fall und erhob sich danach bedrohlich auf seiner Brust. Der dunkle Schleier um seinen Körper verdichtete sich und Chandra blieb jeglicher Laut im Halse stecken, während die Furcht ihren Körper zu einer Säule erstarren ließ.

Wenn es jetzt einen Angriff starten würde, dann …

Plötzlich erschien Alyssa in ihrem Blickfeld und schwang etwas durch die Luft, das den erhobenen Körper Waatys mit vollem Schwung erfasste und von Zayn fortschleuderte. Das Schlagobjekt in Alyssas Händen war nichts Geringeres als ein silberner Baseballschläger. Wo hatte sie den auf einmal her? Wäre die Situation weniger gefährlich, hätte Chandra wahrscheinlich lauthals gelacht.

„Oh mein Gott, ist dir etwas passiert?“, wollte Alyssa voll Sorge wissen und fiel auf die Knie. Zayn war etwas blass um die Nase, aber nicht verletzt. Sein Blick wanderte zu Chandra, deren Aufmerksamkeit auf Waaty gelenkt wurde.

Ein Cryptopokémon anzugreifen war nie eine gute Idee – so auch jetzt nicht. Das Waaty war sichtlich verärgert über den unerwarteten Angriff und kämpfte sich gerade wieder auf die Beine. Chandra sah die extremen Auswirkungen seiner Rage in dem sich stärker denn je verdichtenden dunkelvioletten Schatten, der es einhüllte, und handelte wie aus einem Instinkt heraus.

„Nein, hör auf damit!“, schrie sie mehr unbewusst und war mit einem Sprung, der sie direkt wieder auf die Knie katapultierte, bei dem Pokémon. Dann breitete sie die Arme aus und umfasste Waatys Körper, drückte das Wesen eng an sich, bis sie meinte, seinen Herzschlag an ihrer Brust zu fühlen, der unmittelbar eins mit ihrem wurde.

Weit entfernt drang ein Schreckensschrei an ihre Ohren, aber er ging unter in dem unbedeutenden Brei, zu dem sich ihre Umwelt nun wandelte. Es war, als stürzte sie emotional in ein tiefes, bodenloses Loch, das mit langen, schwarzen Klauen nach ihr griff und sie mit sich riss. Ein Leid, von dem sie sich niemals hätte vorstellen können, dass ein Mensch in der Lage war, so etwas Erdrückendes, Zerstörendes zu fühlen, durchdrang sie. Gefühlt durchfloss sie in diesen Sekunden, die sich wie Stunden dehnten, jegliche negative Emotion. Sie fühlte sich hoffnungslos, trostlos, einsam, hilflos, unendlich verloren, als rannte sie durch einen pechschwarzen Tunnel, suchend nach der rettenden Erlösung, die es aber nicht gab. Und wieder keimte dieses giftige Angstgefühl in ihr auf, das ihr die Lunge zu zerquetschen schien und ihr den Hals zuschnürte, ihr auch den letzten Rest Hoffnung auf Licht nahm.

Waaty in ihren Armen war gänzlich erschlafft. Als Chandra bewusst wurde, dass sie gerade all das fühlte, was Waaty peinigte, geschah es. All die Schwärze in Waatys Herzen bündelte sich und rollte in Form einer dunklen Welle über sie hinweg. Ein Schmerzensschrei blieb ihr in der Kehle stecken, doch ihr Gesicht war deutlich gekennzeichnet von der nun physischen Qual.

Doch nach nur wenigen Sekunden ebbte die Welle ab und Chandra blieb zurück als eine ausgebrannte, leere Hülle. Ein schwarzer Schleier fiel vor sie und sie kippte zur Seite.

 

******

 

Jemand rüttelte Chandra an den Schultern und sie schlug benommen die Augen auf. Erst war das Bild nur verschwommen, aber dann klärte es sich und zeigte ein bleiches, von Schrecken beherrschtes Gesicht. Derjenige, zu dem das Gesicht gehörte, hatte eine Hand in ihren Rücken gelegt und sie an sich gezogen, während sie noch immer auf dem Boden lag. Aus ihrem Mund kam nichts als ein unverständliches Krächzen.

„Verdammt, bist du jetzt völlig durchgedreht? Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?“, fuhr die Person vor ihr sie an und sie erkannte zwischen all der Wut Zayn. Er schien sich vor seinem eigenen Tonfall zu erschrecken und wurde etwas ruhiger. „Scheiße, verdammt, was sollte das?“

Chandra wollte etwas erwidern, aber fand keine Worte, außerdem war ihre Kehle staubtrocken und schmerzte bei jedem Schlucken. So starrte sie nur stumm in Zayns Gesicht. Sämtliche Farbe war aus diesem verschwunden, was sie erschreckte. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Sein Unterkiefer zitterte und wenn sie sich nicht irrte, benetzte sogar ein glasiger Schimmer seine Augen.

„Sag doch etwas. Bitte“, bat er mit zittriger, unsicherer Stimme. „Geht es dir gut?“

Unter Anstrengungen brachte sie ein „Ja, alles okay“ hervor, was nur halb der Wahrheit entsprach. Zwar fühlte sie sich nicht länger so verloren und düster wie vor wenigen Minuten – waren es überhaupt Minuten oder wie lange war sie bewusstlos gewesen? –, doch ihr Körper blieb von dem Ereignis ausgelaugt und schwach zurück. Immer wieder drehte sich das Bild vor ihren Augen und verschwamm und ihr Bewusstsein driftete mehrmals wieder zur Hälfte in die stumme Schwärze ab. Aber sie herrschte sich an, wachzubleiben.

„Mach so etwas bitte nie wieder. Ich dachte …“ Zayn schloss unwillig die Augen, als wollte er gar nicht darüber nachdenken. „Ich dachte, du würdest sterben. Wenn nicht direkt durch das Pokémon, dann durch das, was mit dir geschehen ist.“

„Es ist alles gut“, hauchte sie.

Zayn senkte den Kopf. „Diesmal, ja.“ Er schloss erneut die Augen und atmete tief ein und wieder aus, was Chandra ebenso wenig zu deuten vermochte wie seine kryptischen Worte. Sie erschrak, denn unerwartet zog er sie zu sich und in eine Umarmung. Mit ungewohnter Intensität drückte er sie an sich, sodass sie nun seinen Atem im Nacken spüren könnte. Da sie noch deutlich benommen war, rührte sie sich kaum, fühlte sich aber wohl und geborgen in seinen starken Armen.

„Ich bin so froh, dass es dir gut geht“, flüsterte er an ihr Ohr. Eine Gänsehaut wanderte über ihren Körper.

Ein Räuspern riss sie wieder auseinander. „Ich störe euch ja nur ungerne, aber das solltet ihr euch vielleicht ansehen.“

Die Stimme kam von rechts. Erst jetzt bemerkte Chandra, dass dort Alyssa kniete und neben ihr das Waaty. Ihr war nicht klar, was sie erwartete, aber der Anblick, der sich ihr bot, erwärmte ihr Herz.

Vor ihr stand ein Pokémon. Und es wurde nicht umgeben von einem finsteren Nebel oder einer finsteren Aura. Es löste keine Pein in Chandra aus.

Seine Augen waren nicht länger zwei leere, glanzlose Spiegel seiner Seele. Tatsächlich stand in ihnen in diesem Moment ein schuldiger Ausdruck. Waaty hielt die Arme schuldbewusst aneinander und senkte den Kopf. Obwohl es nicht länger ein Cryptopokémon war, wusste Chandra, dass es sich schlecht fühlte für all das, was es getan hatte und noch hätte getan, wäre es nicht aufgehalten worden.

Moment. Es war kein Cryptopokémon mehr.

„Es wirkt auf einmal so anders. Es ist gar nicht mehr aggressiv“, sprach Zayn.

„Es ist kein Cryptopokémon mehr“, bestätigte Chandra mit Mühen.

„Aber wie ist das möglich?“ Alyssas Stimme triefte vor Erstaunen.

„Ich weiß es nicht. Aber ich sehe und spüre an ihm nichts mehr, das typisch für ein Cryptopokémon ist.“ Sie streckte eine Hand nach Waaty aus, welches seinen Kopf an sie schmiegte und ein leises Blöken von sich gab. Auch die Berührung war nun ohne negative Folgen.

„Ich verstehe das nicht.“ Zum ersten Mal, seit sie Zayn kannte, klang er vollkommen baff und überfordert. Aber er hielt sie nicht für verrückt, das beruhigte sie. „Vorhin, als du bei Waaty warst, da habe ich mich für einen Moment so gefühlt, als würde etwas über mich hinwegrollen. Es fühlte sich schmerzvoll an und in diesem Augenblick hat eine tiefe Verzweiflung von mir Besitz ergriffen. Aber so schnell, wie es da war, war es auch wieder weg. Hast du das auch gespürt?“ Die Frage richtete sich an Alyssa, welche rasch nickte.

„Das fühle ich bei jedem Cryptopokémon, nur noch hundertfach schlimmer“, gestand Chandra.

„Das hätte ich mir nie vorstellen können. Aber diesmal haben wir gesehen, was passiert, wenn diese dunkle Energie freigesetzt wird.“

„Was meinst du?“

„Sieh dich mal um.“

Chandra folgte Zayns Blick und sah, was er meinte. Die Stahlwände waren an einigen Stellen geschwärzt und stellenweise sogar verbeult und mehrere feine Risse durchzogen die Panzerglasscheibe. „Oh.“

„Hätte die Cryptoenergie mit uns dasselbe angerichtet …“ Zayn ließ das Ende unausgesprochen.

Darüber wollte Chandra gar nicht nachdenken. Sie fand selbst keine Erklärung dafür, warum diese düstere Welle einen Menschen hauptsächlich psychisch und nur in Teilen physisch durchdrang, während sie alles andere in ihrer Umgebung zu zerstören versuchte. Aber das war ihr nichts Neues. Sie hatte es schon früher erlebt – noch bevor die Cryptopokémon kontrollierbarer geworden waren –, dass diese finstere Energie vor nichts haltmachte.

Da es für sie nun keinen Grund mehr gab, noch länger hier unten zu bleiben, verließen sie das Kellerabteil und gingen wieder nach oben. Doch kaum, dass Chandra ein paar aufrechte Schritte gegangen war, hatte auf einmal eine starke Übelkeit von ihr Besitz ergriffen. Ihr war schwindelig geworden und sie wusste nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, sich nicht gleich an Ort und Stelle zu übergeben. Zum Glück für Zayn und Alyssa, dass sie es zum nächsten Bad geschafft hatte. Nun hing sie über der Kloschüssel und – es ließ sich einfach nicht schöner formulieren – kotzte sich förmlich die Seele aus dem Leib. Denn so und nicht anders fühlte sie sich; es war, als hätte ihr Magen sich einmal komplett umgestülpt und bei jedem Würgereiz flackerte es vor ihren Augen.

„Kann man dir irgendwie helfen?“, fragte Zayn hörbar verunsichert aus Richtung der Türe.

„Schau mich nicht an“, schniefte Chandra. Sie fühlte sich elend und überdies eklig. So musste er sie wirklich nicht sehen. Ihre Haare hingen störend an ihrem Kopf hinunter, mit zittrigen Händen zog sie sie zur Seite. Nach einer schmerzvollen Weile musste sie nur noch würgen, aber ihr Magen war längst leer. Sie wollte nicht, konnte es aber nicht einstellen, als versuchte ihr Körper, etwas loszuwerden, das nicht sichtbar war.

Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter und sie zuckte zusammen. Er sollte doch nicht …! Aber es war lediglich Alyssa, welche neben Chandra kniete und sie aufmunternd anlächelte.

„Hey … Wird es langsam besser?“, fragte sie mitfühlend. Sie reichte Chandra ein feuchtes Tuch.

Diese tupfte sich das Gesicht ab. „Wo ist er?“

„Ich habe ihn rausgeworfen. Aber er macht sich Sorgen um dich.“

„Ach so.“ Es klang mehr nach Oh, das hätte ich gar nicht gedacht, wofür sie sich die Zunge hätte abbeißen können.

Da Übelkeit und Würgereiz nun nachließen, erhob sie sich schwerfällig, betätigte die Klospülung, tapste zum Waschbecken und sah in den Spiegel „Oh, scheiße.“ Aber ‚scheiße‘ war noch eine Untertreibung. Sie sah aus, als wäre sie gerade von den Toten auferstanden, mit struppigen, wirren Haaren und einem leichenblassen Teint. Ihre Lippen waren bleich, fast blutlos und ein gläsernes Paar Augen in einem fahlen Grün sah ihr entgegen.

Sie sah furchtbar aus und mit Sicherheit roch sie auch nicht viel besser. Sie wusch sich grob und hätte am liebsten wie ein kleines Kind angefangen zu weinen. Wie sollte sie dieses Bad jemals wieder verlassen? Zayn würde sich bestimmt zu Tode erschrecken, wenn er sie so sehen würde, und davonlaufen. Aber was dachte sie da überhaupt?

„Ich mach deine Haare wieder ordentlich, ja?“ Alyssa hinter ihr hatte plötzlich einen Kamm in den Händen, mit dem sie durch Chandras stumpfblonde Haarpracht fuhr. „Gleich sehen sie wieder schön aus.“

Chandra blieb stumm. Die Lage war ihr unangenehm, aber sie war auch froh, dass sie nicht alleine war. Nach wenigen Minuten sagte sie: „Danke.“

Nachdem sie wieder halbwegs lebendig aussah und nicht länger wacklig auf den Beinen war, verließen sie das Bad. Zayn war gerade damit beschäftigt, grübelnd vor dessen Türe auf und ab zu gehen, ging dann aber sofort zu Chandra.

„Geht es dir besser?“, wollte er besorgt wissen.

„Hm, ja.“ Sie war müde und erschöpft, obwohl es noch nicht spät war, und wollte einfach nur in ihr Bett. Also brachte sie diesen Wunsch nach außen, verabschiedete sich dankend von Alyssa und ging mit Zayn, der darauf bestand, sie zumindest zu ihrem Zimmer zu begleiten, nach oben. Seinen Vorschlag, sich noch einmal ärztlich untersuchen zu lassen, wies sie ab. Sie wusste, dass sie in Ordnung war – oder besser gesagt: dass kein Arzt der Welt etwas finden würde, das ihren Zustand erklärte.

Die Ruhe vor dem Sturm

Es hatte noch die ganze anschließende Nacht gedauert, bis Chandra sich gänzlich von ihrer verzehrenden Konfrontation mit dem Waaty erholt hatte. Doch nun fühlte sie sich wieder fit und genoss die klare Waldluft, die noch immer eine reinigende Wirkung auf sie ausübte; zumindest kam es ihr so vor nach all den Jahren im verstaubten Pyritus.

Ohne Zweifel verspürte sie ein kleines Erfolgserlebnis, wenn sie an das dachte, was sie vollbracht hatte, aber es wurde getrübt von den Albträumen, die sie in der Nacht geplagt hatten. Dort war sie von etlichen Cryptopokémon gejagt worden, denen sie zu helfen nicht fähig gewesen war, bis sie schließlich zu Boden gestürzt und von den Pokémon eingeholt worden war. Daraufhin hatte sie sämtliche ihrer Qualen verspürt, was dem Traum ein beängstigendes Gefühl von Realität eingehaucht hatte – und als wäre all das nicht genug, war zum Schluss auch noch ihr Bruder aufgetaucht oder zumindest dessen Stimme. Ray hatte ihren Namen gerufen und ihr in unheilvoller Tonlage versprochen, dass er sie finden und sie für ihren Verrat an ihm bezahlen würde. Im Anschluss war Chandra schweißgebadet aufgewacht, mit feuchten Wangen und einem rasenden Herzen.

Aber es war nur ein Traum. Das redete sie sich immer wieder ein. Ein Hirngespinst ihrer Fantasie, ein Ergebnis innerer Paranoia. Ray konnte ihr nichts sagen, denn er war nicht hier, sondern meilenweit weg. Sie war in Sicherheit. Aber war sie das wirklich? Existierte so etwas wie Sicherheit in ihrem Leben überhaupt? Wenn sie daran dachte, wie oft Ray schon potenzielle Feinde, die ihm, wie er es nannte, das Geschäft mit den Cryptopokémon hätten vermiesen können, gefunden und beseitigt hatte – und sie wollte nicht wissen, was genau das bedeutete – dann wurde ihr schlecht.

Selbst wenn er nicht hier war, schmälerte das in keiner Weise die Bedeutung seiner in ihrem Traum zu ihr gesprochenen Worte.

„Hey, Erde an das Mädchen in den Kniestrümpfen! Bist du noch anwesend?“

Chandra schreckte aus ihren Gedanken auf. Zayn an ihrer Seite warf ihr einen fragenden, aber belustigten Blick zu.

„Äh, was denn?“, stammelte sie. Wie hatte sie nur so sehr abdriften können, dass sie ihn völlig ignoriert hatte? Sie waren zusammen in den Wald gegangen, um das schöne Wetter zu genießen und womöglich auch, um sich noch besser kennenzulernen, aber das hätte Chandra nie zugegeben.

„An was hast du gedacht? Du sahst nachdenklich aus.“

„Ach, ich hab nur noch mal an gestern gedacht“, log sie. Sie wollte nicht mit ihm über ihre Sorgen sprechen, denn was hätte es schon geändert?

„Weshalb? Weil meine Mutter und Torben uns angesehen haben, als hätten wir sie nicht mehr alle?“, fragte Zayn und nahm Bezug auf das, was geschehen war, bevor sie losgegangen waren. Sie hatten den beiden natürlich erzählt, was mit dem Waaty passiert war. Zayn hatte so zwar wieder das Risiko eingehen müssen, sich von seiner Mutter rügen zu lassen, aber ein normales Pokémon vorzuweisen, wog mehr als jede riskante Aktion. Zumal er, wie so gerne, ohnehin nicht mehr als notwendig erzählt und alle unschönen Details unter den Teppich gekehrt hatte, um seiner Mutter keine Sorgen zu bereiten. Chandra musste über diese Tatsache schmunzeln.

„Kannst du es ihnen verübeln? Also ich nicht“, sprach sie.

„Vermutlich nicht. Aber was sie nicht glauben können, fasziniert mich umso mehr.“

„Ach ja?“

„Ja! Wir suchen schon seit einigen Jahren nach einer Möglichkeit, Cryptopokémon zu heilen, aber wo soll man ansetzen, wenn man nicht weiß, was den Pokémon fehlt und wie sie zu dem wurden, was sie sind? Vor ein paar Jahren glaubten wir mal, zu wissen, wie einem Cryptopokémon zu helfen ist, aber das ist in einer Katastrophe geendet. Aber du … du hast es einfach getan, hast dem Pokémon einfach geholfen. Das ist wahrlich faszinierend. Auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie du es getan hast.“

„Ich weiß es auch nicht. Ich habe es einfach berührt und dann, ja ...“ Chandras Worte gingen unter in ihren Gedanken. Sie hing noch bei seiner Aussage fest. War Waaty etwa nicht das erste Cryptopokémon, das hier gewesen war?

„Berührt ist wirklich eine Untertreibung. Ihr habt euch innig in den Armen gelegen“, zog Zayn sie auf, wurde dann aber wieder ernster. „Aber warn mich das nächste Mal vor, wenn du wieder gedenkst, so etwas zu tun. Geht es dir denn jetzt wirklich wieder besser?“

„Ja, mit mir ist alles in Ordnung, wirklich“, beharrte sie.

„Gut.“ Nach einer kurzen Gesprächspause ergriff er wieder das Wort. „Ich würde ja zu gerne Rays Gesicht sehen, wenn er erfährt, was du getan hast. Er würde ziemlich dumm aus der Wäsche gucken, stell dir das mal vor.“

Zayn fand das sehr amüsierend, aber Chandra war überhaupt nicht nach Lachen zumute und sie wollte sich das auch nicht vorstellen. Ray wäre vielleicht im ersten Moment fassungslos, doch sein Gemüt würde sehr schnell in Zorn umschlagen.

Sie wechselte rasch das Thema: „Wahrscheinlich, aber sag mal, was machen wir jetzt eigentlich?“

„Was willst du denn machen?“ Er warf ihr von der Seite her ein verschmitztes Grinsen zu, woraufhin sie die Augen verdrehen musste.

„Netter Versuch. Beantworte mir meine Frage“, gab sie zurück und erhöhte ihr Tempo auf dem Weg, der sie durch den Wald führte, etwas.

Sie hörte Zayn hinter sich seufzen. „Wieso bist du so ernst? Du solltest gut drauf sein! Wir haben allen Grund zum Feiern. Vielleicht sollten wir das auch gleich tun. Lass uns zurückgehen und ein bisschen Spaß haben.“

„Das hättest du wohl gerne. Lass mich kurz überlegen. Hmm, … nein.“

„Ach, komm schon.“ Er schien missmutig klingen zu wollen, was ihm aber nicht gelang. „Wo ist die Chandra abgeblieben, die ich in Pyritus kennengelernt habe? Sie war aufgeschlossen und auf ihre eigene Art und Weise ziemlich verführerisch. Aber sie muss irgendwo auf dem Weg hierher verloren gegangen sein. Wo könnte das nur passiert sein?“

„Sehr witzig“, erwiderte sie und verdrehte die Augen, aber sie wusste, dass er sie nur aufziehen wollte. Sie war ja wohl immer noch dieselbe.

„Du bist ziemlich stur. Das erinnert mich irgendwie so ein bisschen an Flunkifer.“

„Was – wie bitte?“, platzte es aus Chandra und sie wandte sich, erzürnt von dieser Aussage, nach hinten. Zu ihrem Pech hatte sie nicht bemerkt, wie nah Zayn ihr war und konnte so nur mit äußerster Mühe eine Kollision ihrer Körper verhindern.

Er hingegen schob sich, als hätte er überhaupt nichts zu ihrem Verhalten beigetragen, an ihr vorbei und warf ihr noch ein charmantes Lächeln zu. „Wieso fährst du so aus der Haut? Habe ich was Falsches gesagt?“

„Idiot! Ich bin überhaupt nicht so wie dieses Pokémon!“, wetterte sie.

„Na, wenn du das sagst.“

„Es ist so“, fügte sie noch hinzu und folgte ihm anschließend stillschweigend. In den nächsten Minuten blieb es ruhig zwischen ihnen – so wie auch in der Umgebung. Sie begegneten keiner Menschenseele und waren mittlerweile so tief im Wald, dass sich dem Auge in jeglicher Richtung nur eine nimmer endende Aneinanderreihung von Bäumen bot, zwischen denen das Grün spross. Chandra wusste nicht mehr, wo sie waren. Sie hatten einen anderen Weg gewählt und konnten so nicht bei dem See herauskommen, an dem sie gewesen war.

„Du Sturkopf“, meinte Zayn vor ihr – leise genug, dass er sagen konnte, sie hätte sich verhört, aber laut genug, dass sie ihn doch sehr genau verstand.

„Sag das noch mal“, forderte sie wütend.

Doch statt einer Antwort wandte er sich nun zu ihr um. „Du bist ein Sturkopf. Aber ich mag das. Auch wenn es manchmal wirklich anstrengend und nervenaufreibend sein kann. Aber es ist auch niedlich, wie du mich vom Gegenteil überzeugen willst und es damit nur noch mehr bestätigst.“

Chandra war dicht vor Zayn und sah hoch in sein Gesicht. In solchen Augenblicken kam sie sich unsagbar klein vor, obwohl sie eigentlich im Durchschnitt lag. Ihr blieben verteidigende Worte im Hals stecken; sie schwieg und wurde rot. Die Nähe zu ihm schüchterte sie doch mehr ein, als sie angenommen hätte.

„Zu deiner Frage …“, fuhr er fort. „Ich dachte mir, du könntest ein bisschen trainieren. Vielleicht ziehst du ja auch wieder ein neues Pokémon an, das sich diesmal etwas freiwilliger in dein Team aufnehmen lassen möchte.“

Sie stutzte. „Trainieren?“

„Ja, mit Psiana und Nachtara, vielleicht auch mit Flunkifer, wenn du dir das zutraust. Ihr habt gut angefangen, aber solltet das jetzt nicht schleifen lassen und da deine Pokémon wieder fit sind, spricht ja nichts dagegen, unseren Masterplan wieder aufzunehmen.“

„Welchen Masterplan bitte?“

„Den, in welchem wir aus dir eine hervorragende Trainerin machen, die ihrem Bruder mal so richtig in den Arsch treten kann“, erklärte Zayn stolz.

„Daran glaube ich jetzt nicht unbedingt“, entkräftete Chandra seine Worte, doch ihn kümmerte das nicht sonderlich.

„Ich aber. Ich sehe einiges an Talent in dir, du musst nur über deinen Schatten springen. Also los, komm.“

Wenngleich Chandra wenig überzeugt war, ließ sie sich zumindest genügend mitreißen, um ein zustimmendes „Na gut“ zu entgegnen.

Daraufhin liefen sie noch einige Minuten den Weg entlang, bis sie zu einer Weggabelung kamen, hinter der sich eine recht große Lichtung auftat. Die Sonne ließ die dicht bewachsene Grasfläche in einem saftigen Grün leuchten. Das Gras war noch nicht allzu hochgewachsen, wie Chandra feststellte, nachdem sie auf die Lichtung getreten waren. Sie sah sich ein wenig ziellos um; noch immer lag die Natur in entspannter Ruhe vor ihnen und noch immer wusste Chandra nicht, was sie tun sollte.

„Ich … Ich weiß nicht“, gestand sie kryptisch.

„Was meinst du?“, fragte Zayn.

Sie spielte nervös mit ihren Fingern und sah zu Boden. „Ich weiß nicht, ob ich meine Pokémon wieder kämpfen lassen will – ob ich bereit dafür bin.“

„Aber wieso denkst du das?“

„Ich muss immer noch daran denken, wie Lunel verletzt wurde und wie ich nichts dagegen tun konnte.“ Ein mieses Gefühl stieg in ihr auf, dass sie dieses Thema erneut anschnitt, doch sie musste einfach sagen, was ihr auf dem Herzen brannte. „Und ich habe einfach Angst, dass es wieder zu so einer Situation kommen könnte, in der ich nur tatenlos danebenstehe, während eines meiner Pokémon schlimm verletzt wird.“

„Ach, Chandra.“ Zayn trat zu ihr, ein leichtes Lächeln im Gesicht. „Ich kann deine Sorge ja verstehen, aber du kannst die Situation mit Waaty nicht mit einem normalen Pokémonkampf vergleichen. Waaty war aggressiver als normale Pokémon. Ein gewöhnliches Pokémon würde nicht absichtlich versuchen, seinen Gegner tödlich zu verletzen, außer vielleicht, sein Trainer verlangt dies. Aber mit Trainern, denen es nur darum geht, Pokémon zu verletzten, solltest du ohnehin nicht kämpfen. Und du solltest dieses Erlebnis nicht als Maßstab für Kämpfe allgemein nehmen. Außerdem stehst du nie tatenlos daneben. Du bist ihnen eine Unterstützung, kämpfst und leidest mit ihnen. Aber du solltest dich nicht fertiger machen als notwendig. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sauer auf dich sind, also hör auf, dich schlecht zu fühlen und sieh nach vorne.“

Sie konnte nicht leugnen, dass seine Worte ihre trübe Stimmung aufhellten und ihr neue Hoffnung verliehen. Vielleicht sollte sie einfach erneut etwas wagen?

„Außerdem wirst du doch wohl einem Gentleman keinen Pokémonkampf abschlagen wollen, oder?“

Chandra ließ wie auf Kommando den Blick über die Lichtung schweifen. „Wo? Wen meinst du? Ich sehe niemanden außer uns.“

„Willst du mich etwa kränken?“ Zayn ergriff ihre linke Hand, was sie erstarren ließ. „Also – darf ich die Lady um einen kleinen Kampf bitten?“

„Ich glaube, eigentlich geht das anders“, erwiderte sie.

Völlig unvermittelt zog Zayn sie mit einem Ruck dicht zu sich. „Oh, wir können auch gerne tanzen, wenn du das möchtest“, grinste er und sie verlor sich in diesem Grinsen.

Weswegen war sie vorhin noch gleich sauer auf ihn gewesen? Ihr Kopf war überfordert, sie waren sich so nah, dass kaum mehr ein Blatt Papier zwischen sie passte. Nicht in sein Gesicht schauen!, herrschte sie sich an. Du drehst durch.

„Ähm“, stotterte sie, „tut mir leid, aber ich muss noch einen Pokémonkampf gewinnen. Vielleicht ein andermal.“ Chandra entzog sich ihm und drehte sich nervös um.

„Ist das ein Ja?“

„Ich kann es dir wohl nicht abschlagen.“ Dabei hatte sie keinerlei Ahnung, was sie tun sollte. Sie war ein blutiger Anfänger mit drei Pokémon, von denen zwei nur einmal gekämpft hatten, während das dritte noch in der Trotzphase steckte. Zayn hingegen war ihr um Meilen voraus, aber sie wusste auch, dass man sich mit Leuten messen musste, die besser waren als man selbst, um zu wachsen.

Sie entfernte sich einige Meter von ihm und holte zwei Pokébälle hervor. „Na los, wähle dein Pokémon!“, rief sie ihm zu, mit gespielter Selbstsicherheit. In Wahrheit schlotterten ihr die Knie. Sie wollte sich nicht vor ihm blamieren.

„Merkwürdig, dass du auf einmal so Feuer und Flamme bist“, kommentierte Zayn trocken, dann warf er einen Pokéball.

Riolu. Chandra hatte nichts anderes erwartet, doch sie nahm es ihm nicht übel. Sie hätte sich selbst auch nicht besser eingeschätzt. Riolu war eben Zayns einziges Pokémon, das sie und ihre Pokémon nicht nach einer Attacke vom Feld fegen würde – hoffte sie zumindest.

Obwohl sie sich daran erinnerte, dass Sunny für diesen Kampf besser geeignet sein würde, wollte sie ihre Entscheidung nicht alleine fassen. Also holte sie sowohl Sunny als auch Lunel aus ihren Bällen. Letzterer war deutlich kampflustiger als seine Schwester, so verwunderte es Chandra kaum, dass er sich auf dem Kampffeld positionierte und Sunny sich abseits ins Gras warf. Lunel war wieder fit und brannte auf ein Training, was Chandra durchaus erfreute. Sie hoffte nur, dass sie ihn und sich nicht enttäuschen würde.

„Du faszinierst mich immer mehr, Chandra“, rief Zayn ihr anerkennend zu. „Mal sehen, vielleicht lasse ich dich ja sogar gewinnen.“

„Das wird nicht nötig sein.“

„Du läufst ja richtig zur Höchstform auf. Na dann, du darfst anfangen.“

Das ließ Chandra sich nicht zweimal sagen. Sie befahl Lunel das Erstbeste, das ihr in den Sinn kam. „Ruckzuckhieb!“

Lunel grub die Pfoten in das Gras, um sich anschließend mit erschreckender Geschwindigkeit abzustoßen und sich seinem Gegner zu nähern. Riolus kleiner Körper ging in Kampfposition, es streckte seine Arme herausfordernd von sich und erweckte den Eindruck, den Angriff Nachtaras kompromisslos auf sich nehmen zu wollen. Aber dann durchdrang Zayns ruhige Stimme die aufgeladene, hitzige Atmosphäre, die sich mit einem Mal über das Kampffeld gelegt hatte.

„Ausweichen, Riolu.“

Mit Leichtigkeit vollführte Riolu zwei Schritte nach links und entging dem Ruckzuckhieb, als hätte er noch nie etwas anderes getan. Nur mit Mühen kam Nachtara wieder zum Stehen, indem es sich in den Boden krallte.

Noch bevor es sich wieder umgedreht hatte, rief Zayn: „Kraftwelle!“

Dieser Angriff war Chandra nicht unbekannt. Riolus rechte Faust leuchtete grell und mit einem Satz war es neben Lunel, hieb nach ihm und katapultierte ihn so ein gutes Stück von sich fort. Er purzelte durch das Gras, kämpfte sich aber unmittelbar danach wieder auf die Beine und schenkte Riolu ein bitterböses Knurren.

„Hey, das war ganz schön unfair“, empörte Chandra sich. Ihr Pokémon hatte ja nicht einmal Zeit gehabt, sich seinem Gegner wieder zuzuwenden.

„Das Leben ist nun mal unfair. Pokémonkämpfe manchmal auch“, entgegnete Zayn schulterzuckend. „Du musst lernen, schnell zu sein, Chancen zu erkennen und sie zu nutzen.“

Sie wusste, dass er recht hatte und sie sich überdies nicht zu lange an einem Ereignis aufhalten durfte. Also zögerte sie nicht und richtete den Blick wieder auf Nachtara, in dessen rot-schwarzen Augen ein entschlossener Ausdruck brannte. „Setz Spukball ein!“

Sogleich riss Lunel sein Maul auf und entblößte dabei scharfe Fangzähne, die Chandra sonst nur selten ins Auge fielen. Eine schwarze Kugel formte sich. Sie schluckte jegliches Licht in ihrer unmittelbaren Umgebung und wuchs so zu beachtlicher Größe heran. Als sie Kurs auf ihr Zielobjekt nahm, wirbelte sie das Gras unter sich auf.

„Riolu, abwehren mit Konter!“, rief Zayn seinem Pokémon zu.

Das Kampfpokémon hielt seine Arme vor den Körper und schaffte es in letzter Sekunde, sich in ein hellblaues Licht zu hüllen, als der Spukball es auch schon traf. Doch die Kugel fand in Riolu eine unbezwingbare Mauer und wurde stattdessen mit schier doppelter Geschwindigkeit zu ihrem Absender zurückgeschickt.

Chandra erstarrte bei dem Anblick. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie die Konterattacke Zayn und Riolu beim letzten Mal den Sieg eingebracht hatte. Sie wollte nicht nach so kurzer Zeit schon ihre Niederlage besiegeln. Doch trotz ihres Wissens um den Konterangriff, kam dieser für sie unerwartet und ihr blieb etwas Geistreiches im Halse stecken.

Umso erstaunter war sie, als Lunel sich im letzten Augenblick mit einem kräftigen Satz seiner Beine nach oben katapultierte und der zurückgeschickten Attacke so entging. Selbst Riolu schien damit nicht gerechnet zu haben, denn er schreckte auf und richtete den Blick nach oben.

Ich muss meine Chancen nutzen, dachte Chandra.

Die Erkenntnis, dass sie sich Riolus kurze Erschrockenheit zunutze machen konnte, überrumpelte sie allerdings in solch einem Maße, dass ihr keine passende Attacke mehr in den Sinn kam und sie stattdessen lediglich „Los, Lunel, greif es an!“ rief.

Es genügte. Lunel setzte direkt vor Riolu auf dem Boden auf, um sich anschließend auf den kleineren Kontrahenten zu stürzen. Er biss sich erst in dessen Fell fest und warf Riolu schließlich zu Boden.

Zayn verfolgte die Rangelei der zwei Pokémon mit ausdrucksloser Miene. „Lass dich nicht unterkriegen. Schüttle es ab!“, befahl er Riolu. Er klang ruhig, aber konzentriert, doch Chandra glaubte, einen Hauch von Anerkennung herauszuhören. Sie selbst war froh, dass sie nicht wieder zur Salzsäule erstarrt war wie beim letzten Mal.

Riolu kämpfte sich zurück auf seine schwarzen Pfoten und verpasste Nachtara einen Hieb mit der rechten. Die Stahlplatte auf dem Rücken seiner Pfote krachte in Lunels Gesicht und ließ ihn endlich gänzlich von seinem Gegner abweichen. Er schüttelte den Kopf, als hätte er eine kurzzeitige Benommenheit loszuwerden.

„Geht es dir gut?“, rief Chandra ihrem Pokémon zu, besorgt um dessen Wohl. Doch sie erhielt sogleich einen Laut der Zustimmung und die Bestätigung, dass Lunel noch lange nicht am Ende war. „Na schön, dann setz noch einmal Spukball ein!“

„Los, schick dem Spukball deine Kraftwelle entgegen!“, gab Zayn einen Gegenbefehl, gerade, als Nachtara den Spukball abschoss.

Riolu verweilte an Ort und Stelle. Anders als die Male zuvor nahm es den Arm diesmal nach hinten, um ihn anschließend mit Schwung wieder nach vorne zu führen, wo sich das Leuchten um seine Pfote in Form einer grellen Kugel schwungvoll löste, die es auf den Angriff seines Gegners lenkte. Die beiden Attacken prallten ineinander und verpufften in einer kleinen Druckwelle, die zumindest Lunel unvorbereitet erwischte und auf den Boden zwang.

„Und jetzt Ruckzuckhieb!“

Blitzschnell schoss Riolu nach vorne und erfasste Nachtara im vollen Sprint. Es überschlug sich einige Male im Gras und Chandra befürchtete bereits das Schlimmste. Riolu erhob sich triumphierend vor dem Unlichtpokémon und rechnete dabei nicht mit dem Folgenden. Lunel kämpfte sich wieder auf die Beine und überbrückte die letzte Distanz zu Riolu. Er vollführte in einem anschließenden Sprung eine halbe Drehung, erhob seinen Schweif und mit einer nicht zu verachtenden Portion Schwung schlug dieser direkt in Riolus vor Schreck verzehrtes Gesicht. Das kleine Kampfpokémon fiel mit einem Schrei nieder, kam aber mit einem Rückwärtssalto sofort wieder auf die Beine. Es warf einen irritierten und verzweifelten Blick zu seinem Trainer.

„Wow, was war das denn?“, wunderte sich Chandra und sah ebenfalls zu Zayn.

„Das sah aus wie ein versuchter Eisenschweif, würde ich sagen.“

„Aber ich wusste gar nicht, dass Lunel diese Attacke kann“, entgegnete sie, als kannte sie diesen Angriff.

„Na ja, er kann sie ja auch noch nicht. Ein richtiger Eisenschweif ist stärker, das gerade war einfach nur ein Schlag, sozusagen wie eine Ohrfeige für Riolu“, korrigierte Zayn und musste dann seufzen, als sein Pokémon eine Schnute zog. „Sieh mich bitte nicht so an, Riolu, du wirst es schon überleben. Na, wie dem auch sei. Manchmal wollen Pokémon von sich aus Attacken lernen, zum Beispiel, weil sie sie bei einem anderen Pokémon gesehen haben oder auch einfach, weil es ihrem Naturell entspricht.“

Damit hätte Chandra nicht gerechnet, aber es weckte Begeisterung in ihr, mit wie viel Engagement ihr Pokémon bei der Sache gewesen war.

„Für den ersten Versuch sah das schon gar nicht so schlecht aus. Die Bewegungsabfolge ist soweit stimmig, allerdings müsste er noch daran arbeiten, genügend Energie in seinem Schweif zu konzentrieren, um die Attacke wirklich ausführen zu können. Das solltet ihr aber in einem ruhigeren Moment trainieren.“

Chandra nickte und machte sich dazu eine geistige Notiz. Stolz wallte in ihr auf; ihr Pokémon gab sich so viel Mühe und stand schon wieder kampfbereit und mit erhobener Statur in ihrer unmittelbaren Nähe. Das fachte in ihr ein bislang unbekanntes Feuer an, das ihren Kampfgeist anheizte und sie den Kampf fortsetzen lassen wollte.

„Lass uns den Kampf fortführen!“, äußerte sie dementsprechend und auf Zayns leicht verdutzten Blick fügte sie hinzu: „Oder willst du jetzt doch kneifen?“

„Wie bitte? Niemals!“

Sie wertete dies als Zustimmung und stieg sogleich wieder in den Kampf ein. „Ruckzuckhieb!“

Lunel fegte über das Gras – es schien, als hätte er sich an Chandras Kampfgeist angesteckt. Es loderte das gleiche Feuer in ihnen und angetrieben von dieser inneren Kraft erwischte er das überraschte Riolu frontal von vorne. Das Kampfpokémon überschlug sich einmal, um sich wieder zu erheben, als auch schon Zayns Stimme zu ihm hinüberschallte und ihm eine erneute Kraftwelle befahl. Seine flinken Beine trugen es auf seinen Gegner zu, und Chandra rief das, was ihr in den Sinn kam.

„Weich aus, Lunel!“

Tatsächlich gelang es Nachtara, der glühenden Faust Riolus auszuweichen, indem es sich geschickt zur Seite rollte. Chandra nahm in jenen Sekunden etwas wahr, das sie so noch nie zuvor verspürt hatte – eine tiefe, geistige Verbindung zu ihrem Pokémon, ein Band, das sie beide zu einer Einheit verschmolz. Das musste Zayn gemeint haben, als er davon gesprochen hatte, dass ein Trainer stets mit seinem Pokémon kämpfte. Obwohl Chandra nur am Rande des Kampffeldes stand, erschien es ihr, als sei ein nicht unwesentlicher Teil von ihr ebenfalls auf dem Feld. Es erklomm sie ein Gefühl der Freude, wenn eine von Lunels Attacken ihr Ziel traf, aber noch viel euphorischer machte es sie, dass die Bedeutung ihrer Worte bei ihm ankam, denn das zeigte ihr, wie sehr er ihr sein Vertrauen schenkte. Und jedes Mal, wenn das gegnerische Pokémon sich ihm näherte, legten sich Klauen der Nervosität um sie und wenn Lunel gar getroffen wurde, verspürte sie einen nicht greifbaren, aber sehr realen Schmerz, der aber jeden Moment des Erfolges wert war. Diese innige Band hob den Kampf auf eine höhere Ebene, in der sich Chandra die richtigen Worte plötzlich viel leichter offenbarten.

„Super, und nun setz Biss ein!“

Ein Sprung beförderte Lunel hinter Riolu, wo es sich in dessen Nacken festbiss. Riolu verzog kaum eine Miene, vielmehr wirkte es sauer.

„Ihr macht Fortschritte“, merkte Zayn nüchtern an und lenkte Chandras Aufmerksamkeit somit auf sich, „aber manchmal ist es besser, nicht zu nah an seinen Gegner heranzukommen. Ich hoffe, du nimmst mir das jetzt nicht übel.“

Sie verstand ihn nicht, sollte seine Worte aber schon alsbald zu begreifen lernen.

Als wären Zayns Worte ein versteckter Befehl für sein Riolu gewesen, griffen dessen Arme hinter sich, um Lunel zu packen und ihn mit Schwung über sich hinweg zu werfen. „Riolu, Ableithieb!“, forderte Zayn sein Pokémon auf, als Nachtara auf dem Boden aufschlug.

Ein entschlossener Kampfschrei drang aus Riolus Kehle und dann erschien ein pulsierender, giftgrüner Wirbel um seine Faust, die es nur wenige Sekunden später in seinen Gegner rammte, ehe dieser sich überhaupt wieder gänzlich hatte aufrichten können. Nachtara schrie bei der Berührung mit der Attacke und sackte dann wieder in sich zusammen. Das Licht um Riolus Pfote erlosch und das Pokémon selbst schien, als hätte es an neuer Stärke gewonnen.

Chandra hatte das Geschehen sprachlos verfolgt. Sie hatte nicht mit einem unbekannten Gegenangriff gerechnet, was sie unvorsichtig hatte werden lassen. Sie glaubte ihr Pokémon bereits geschlagen und fühlte sich, als wäre sie ebenfalls von der Wucht der Attacke getroffen worden, doch dann kämpfte sich Lunel wieder auf die Beine und schenkte ihr einen Blick, der ihr wohl die Sorgen nehmen und signalisieren sollte, dass er noch weiterkämpfen konnte.

Doch ehe Chandra zu einer Handlung kam, hörte sie das Schlagen mächtiger Flügel, die die Luft zerschnitten und ihr mit dem entstehenden Luftstrom einmal kräftig die Haare um den Kopf wirbelten. Sie blickte auf und sah ein großes, gewaltiges Pokémon mit dunkelroten Schwingen über sich hinwegfliegen, das sich dem Boden näherte, eine halbe Drehung vollzog und bei der Landung einen Kreis unter sich erzeugte, denn die Wucht der Flügelschläge peitschte auch das sonst ruhige Gras auf.

Instinktiv versteifte sich Chandras Körper und sie war im Begriff, eine Verteidigungshaltung einzunehmen, als sie das Wesen als Zayns Brutalanda wiedererkannte. Zayn hingegen wirkte überhaupt nicht überrascht davon und begrüßte sein Pokémon, als wäre es völlig normal, es hier anzutreffen. Zwar hatte sie schon einige Stunden auf dem Rücken des Pokémons verbracht, doch das furchteinflößende Erscheinungsbild des Drachen und Jills Erzählungen bläuten ihr eine gehörige Portion Respekt ein.

„Ähm, wow“, schluckte sie und machte ein paar zögerliche Schritte nach vorne, „aber wieso ist Brutalanda denn nicht in seinem Pokéball?“

„Ach, Chandra.“ Zayn grinste und sie fühlte sich irgendwie von ihm geneckt. „Du kannst ein Drachenpokémon wie Brutalanda nicht die ganze Zeit in seinen Pokéball sperren. Drachenpokémon brauchen viel Freiraum und Bewegung. Brutalanda ist die meiste Zeit draußen und erkundet die Umgebung – und das ist dir ja bislang überhaupt nicht aufgefallen.“

Wohl wahr. Sie war eben ein blutiger Anfänger auf dem Gebiet, auch wenn die Erklärung natürlich einleuchtend war. „Aber hast du denn gar keine Angst, dass ein anderer Trainer Brutalanda für ein wildes Pokémon halten und versuchen könnte, es einzufangen?“, fragte sie.

Einen Augenblick schwieg Zayn nur, fasste sein Drachenpokémon ins Auge und lächelte dann leicht. „Nein. Es ist zum einen sehr schwer, ein Pokémon, das bereits einem anderen Trainer gehört, in einen Ball zu bekommen und zum anderen ist Brutalanda sehr stark und sehr schnell. Es wäre schon verschwunden, ehe jemand überhaupt einen Pokéball herausgeholt hätte.“

„Aber könnte es nicht auch sein, dass Brutalanda einfach abhaut?“, fragte sie, mehr neckend als ernst gemeint.

Riolu war mittlerweile auf Brutalandas Rücken gesprungen und faulenze dort, während Lunel und Sunny zueinander gelaufen waren und sich ausgiebig sonnten. Der Kampf war wohl für alle Beteiligten vorbei.

„Hey, ist meine Anwesenheit etwa so unerträglich?“, wollte Zayn gespielt empört wissen und setzte sich ins Gras, wobei er sich an Brutalanda lehnte, welches ein tiefes Schnauben ausstieß. „Du solltest aufpassen, was du sagst.“

„Nein, sie ist bezaubernd“, gab Chandra stocksteif wieder.

Zayn brach plötzlich in Lachen aus, was wohl ihrem verkrampften Gesichtsausdruck geschuldet war. „Mensch, Chandra, wieso bist du so versteift? Brutalanda frisst dich nicht auf. An dir ist ja auch gar nichts dran, also keine Sorge. Es ist viel netter, als es aussieht.“

„Ja, aber … Deine Schwester hatte mir erzählt, dass Brutalanda früher nicht so umgänglich war und dass es dich verletzt hat. Irgendwie macht mir der Gedanke Angst, vom eigenen Pokémon verletzt zu werden.“

„Jill redet viel, wenn der Tag lang ist“, seufzte Zayn. „Aber es stimmt. Allerdings ist das schon über zwei Jahre her. Nachdem Brutalanda sich von Draschel weiterentwickelt hatte, wurde aus einem ruhigen Pokémon mit einem Mal ein sehr aggressives, das wegen Kleinigkeiten wütend wurde. Es hat nicht mehr auf mich gehört und ist oft tagelang verschwunden. Anfangs habe ich das akzeptiert. Immerhin konnte es plötzlich fliegen und na ja, ich würde wahrscheinlich auch ‘ne Weile umherfliegen, wenn ich das plötzlich könnte. Aber ein Pokémon sollte seinen Trainer respektieren, so wie ein Trainer natürlich auch seine Pokémon mit Respekt behandeln muss. Leider sah Brutalanda das eine ganze Weile anders, es hat nicht mal im Entferntesten daran gedacht, auf mich zu hören. Jedes Training mit ihm war nervenaufreibend und so ist eben irgendwann passiert, dass es mich angegriffen hat. Aber ich machte ihm keine Vorwürfe, womöglich habe ich einfach zu viel von ihm verlangt. Danach besserte sich unsere Beziehung zueinander, es fing wieder an, mir zu vertrauen und mich zu respektieren. Heute kann ich mir mein Team gar nicht mehr ohne Brutalanda vorstellen, auch wenn meine Mutter sich wünscht, ich würde ein weniger gefährliches Pokémon trainieren. Aber solange sie glaubt, dass ich nicht auf seinem Rücken umherfliege, kommt sie damit klar.“

Chandra hatte ihm aufmerksam zugehört und sich währenddessen ebenfalls ins Gras gesetzt. Brutalanda hatte den Kopf auf den Boden gebettet und machte im Moment wirklich keinen sonderlich furchteinflößenden Eindruck.

„Ehrlich gesagt kann ich mir gar nicht vorstellen, dass du mal Probleme mit einem Pokémon hattest“, gab sie zu.

„Ach ja? Wieso nicht?“

„Na ja, weil du halt du bist.“ Mit einer wirren Bewegung ihrer Hände deutete sie auf ihn, als erklärte das die Frage. „Du wirkst so vollkommen, was Pokémon angeht, und scheinst irgendwie alles zu wissen. Wüsste ich es nicht besser, würde ich dich für einen Klugscheißer halten.“

Er grinste. „Oh, danke, das hört man doch gern.“

„Aber es stimmt. Du weißt immer, was du tun musst und wirkst einfach so erfahren.“

„Sicher, dass du noch von Pokémon sprichst und nicht doch unauffällig das Thema gewechselt hast?“

Chandra verdrehte über sein schiefes Grinsen die Augen. „Du Arsch.“

Ein leichtes Lächeln war daraufhin Zayns Antwort – es hatte etwas Nachdenkliches an sich, denn als er den Kopf in den Nacken legte und den Blick in den Himmel richtete, verschwand es. „Ach na ja … Das war nicht immer so“, sprach er und ein reumütiger Unterton begleitete seine Worte, aber Chandra sah sich einmal mehr nicht in der Position, die Bedeutung dahinter zu erfragen. So schwieg sie daraufhin.

 

******

 

Zwei Tage später verbrachten Chandra und Zayn ihre Zeit im Garten, um mit Lunel den Eisenschweif zu üben. Er gab sich dabei größte Mühe, Zayns Aufforderungen und seinen Motivationsansagen gerecht zu werden, während Chandra etwas ruhiger danebenstand und ihr Pokémon immer lobte, wenn es einen Fortschritt erzielte.

Nachtara hechtete immer wieder auf einen der Bäume zu, vollführte nach einem hohen Sprung eine seitliche Drehung und zielte dann mit seinem Schweif auf den Stamm des Baumes. Die Bewegung saß nach einigen Versuchen perfekt und im Laufe des Trainings gelang es Lunel sogar, so viel Energie in seinem Schweif zu bündeln, dass dieser in einem grellen Licht zu leuchten begann, doch jedes Mal, bevor er in Kontakt mit dem Stamm kommen kannte, erstarb das Leuchten und statt eines gestählten Schweifes schlug nur ein schwarzes Fellbüschel gegen die Rinde. Nach jedem gescheiterten Eisenschweif plumpste Nachtara auf den Boden, sprang aber sogleich wieder auf alle Viere, um einen neuen Versuch zu wagen.

So ging das eine ganze Weile und nach einiger Zeit ging Lunel dazu über, sich vor jedem Versuch in einer lauernden Haltung auf den Boden zu legen. In tiefster Konzentration beäugte er dann den Baum, als würde ihm das helfen, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Urplötzlich sprang er immer wieder nach einigen Minuten auf und versuchte sich an einem Eisenschweif, auch wenn er es nie schaffte, die Attacke so lange zu konzentrieren, bis er am Ziel war.

Chandra und Sunny beobachteten seine Bemühungen von ihren Plätzen aus und allmählich empfand Chandra Sorge um das Wohl ihres Pokémons. Schließlich sollte sich Lunel nicht verausgaben – eine neue Attacke ließ sich eben nicht an einem Nachmittag erlernen.

„Hey, Lunel, es reicht doch langsam. Du musst dir mal eine Pause gönnen“, sprach sie zu ihrem Pokémon, als dieses sich gerade für den nächsten Versuch bereitmachte.

Er warf ihr einen kurzen Blick zu, seine Ohren zuckten und für den Bruchteil einer Sekunde leuchteten die Ringe und Kreise auf seinem Körper. Das war wohl seine Art, ‚Alles gut‘ zu sagen.

Chandra seufzte. Plötzlich legte sich eine Pfote auf ihre Hand. Sunny funkelte sie aus violetten Augen an und beobachtete anschließend ihren Bruder bei seinem nächsten Versuch.

„Du meinst also, ich soll ihn weitermachen lassen?“, fragte Chandra. „Hm, na gut, wenn du das sagst.“

„Immer wieder faszinierend; dieses Band zwischen dir und deinen Pokémon“, kommentierte Zayn, der sich nun neben Sunny ins Gras setzte. Daraufhin schmiegte sich das Psiana an ihn und ließ sich von ihm den Kopf kraulen.

Auf seine Worte erwiderte Chandra nichts, stattdessen beobachtete sie mit gehobener Augenbraue, wie ihr Pokémon sich einmal mehr an Zayn kuschelte, als würde es ihn schon sein ganzes Leben lang kennen.

„Du schaust so sehnsüchtig. Soll ich dir auch den Kopf kraulen?“, fragte Zayn schmunzelnd.

Einen Augenblick sah sie ihn nur regelrecht konsterniert an, dann begriff sie seine Worte und wandte den Blick ab. „Äh, nein?“

Blödmann, dachte sie, aber in Wahrheit hätte sie niemals zugegeben, dass sie sich durchaus nach ein wenig Zärtlichkeit sehnte. Doch dies hätte sie sich auch nicht anmerken lassen, hätte er sich direkt neben sie gesetzt.

Es verging noch einige Zeit, in welcher Lunel weiter übte, aber irgendwann wurde er müde und Chandra erkannte, dass die vielen Misserfolge ihn seine Motivation kosteten, denn er ließ die Ohren hängen und trottete wieder zum Ausgangspunkt zurück. Chandra für ihren Teil sah aber keinen Grund, sich schlecht zu fühlen. Sie sprang auf und lief zu ihm.

„Hey, das hast du doch bis jetzt super gemacht“, tröstete sie ihn, aber Lunel sah nur mit hängendem Kopf zu ihr. „Sieh mal, bis vor Kurzem konntest du diese Attacke noch gar nicht und jetzt hast du es doch schon fast. Wir müssen nur noch ein bisschen mehr üben.“ Sie strich ihm durch das schwarze Fell, das sich mittlerweile wieder sehr gut erholte.

„Lass und morgen weitermachen, ja?“

Lunel nickte eifrig; die Aussicht auf den morgigen Tag hellte seine Stimmung anscheinend etwas auf.

Doch bevor sie allesamt reingehen konnten, vernahm Chandra ein nicht definierbares Geräusch und dann verspürte sie etwas auf ihrem Kopf. Ein kaum nennenswertes Gewicht und etwas, das auf ihrer Kopfhaut pikste.

„Hey, was ist das?“, quiekte sie erschrocken und griff über ihren Kopf. Sie spürte lediglich etwas Flauschiges, das sich um ihre Finger schmiegte, und hörte ein hohes, melodisches Piepen. „Mach es weg, schnell!“, bat sie Zayn, der schmunzelnd zu ihr kam.

„Aua!“ Das Etwas auf ihrem Kopf bewegte sich und hatte ihr ein Haar gekostet – unverzeihlich! Chandra quengelte, aber da griff Zayn endlich über ihren Kopf.

„Beruhig dich, du Heulsuse“, lachte er, wofür sie ihn gerne getreten hätte, aber sie wollte erst einmal den fremden Passagier loswerden. Was war da auf ihrem Kopf? Ein Pokémon? Vielleicht sogar ein ganz Furchterregendes mit einem gruseligen Äußeren?

„Hey, Kleiner, was machst du denn da oben?“, sprach Zayn zu dem unbekannten Wesen und streckte ihm eine Hand entgegen, woraufhin es erneut piepste. „Gefällt es dir auf Chandras Haaren? Na, komm erst mal runter.“

Er schaffte es, das unbekannte Geschöpf von ihrem Kopf zu heben, ohne eine mittelschwere Haarkatastrophe auszulösen. Als Chandra sah, was für ein Pokémon es sich bis eben auf ihrem Kopf gemütlich gemacht hatte, fühlte sie sich glatt ein wenig mies wegen ihrer Reaktion.

Hellblaue, glänzende Federn zogen sich über den rundlichen Körper, der kaum größer war als Chandras Kopf. Oberhalb seines Kopfes standen zwei längliche, blaue Federn ab und aus seinem Gesicht stachen zwei kleine, schwarze Augen hervor sowie ein weißer Schnabel, dessen obere Hälfte ausgeprägter war als die untere. Einen besonderen Hingucker bildeten jedoch die Flügel des Pokémons. Diese waren strahlendweiß und sahen aus wie flauschige Wolken, die sich an den Körper des Wesens schmiegten und ihm so die Gabe des Fliegens schenkten. Unter ihm ragten zwei kleine, helle Füßchen hervor und hinten endete sein Körper in langen Schwanzfedern.

„Oh, wow, was ist das für ein Pokémon?“, staunte Chandra.

„Ein Wablu.“ Zu mehr kam Zayn nicht, da bewegte sich das Geschöpf aus seiner Hand, piekte ihn einmal und hob schon wieder ab.

Chandra wedelte mit den Händen vor ihrem Gesicht herum, denn das Wablu wollte schon wieder zum Landeanflug auf ihren Kopf ansetzen. Süß hin oder her, es musste doch nicht schon wieder auf ihr sitzen! „Hey, bitte nicht, nein, hör auf!“

„Ich glaube, es mag dich“, lachte Zayn, der ihr Verhalten mal wieder wunderbar amüsant fand. „Hey, Wablu, du kannst auf meinem Kopf landen!“

Doch Wablu machte keinerlei Anstalten, dem Vorschlag nachzukommen, als Zayn sich ihm wieder etwas näherte. Stattdessen entfernte es sich von ihm, indem es sich von einer leichten Brise etwas höher tragen ließ, die schwarzen Augen noch auf Chandra geheftet. Es zwitscherte eine kleine Melodie vor sich hin, Chandra war jedoch nicht im Geringsten dazu in der Lage, das Pokémon zu verstehen.

„Hm, ich glaube, es mag mich nicht. Vielleicht ist es ja gar kein Kleiner und ist jetzt sauer, weil ich es so genannt habe?“, grübelte Zayn neben ihr.

„Ja, vielleicht“, meinte Chandra matt. Sie hatte zu wenig Erfahrung im Umgang mit Pokémon in freier Wildbahn und vermochte es nicht einzuschätzen, weshalb das Wablu zu ihr gekommen war. Vermutlich hatte es sich einfach nur gelangweilt. Jetzt jedenfalls entfernte es sich wieder von ihnen. Kräftig schlug es mit seinen wolkenartigen Flügeln, bis diese es zwischen die Bäume und in den Wald hineingetragen hatten.

Chandra drehte sich auf dem Weg ins Gebäudeinnere noch einige Male nach hinten, doch das Vogelpokémon war nicht mehr zu sehen.

 

******

 

„Immer noch keine Spur von ihnen?“

„Nein.“

Statt einen unschönen Fluch hervorzubringen, presste Ray die Lippen aufeinander und bändigte die aufkommende Wut in seinem Inneren – oder versuchte es zumindest. Allmählich hatte er es satt. Immer wieder konnte Samuel ihm nur die enttäuschende Nachricht mitteilen, dass seine Leute erneut keinen Anhaltspunkt auf den Verbleib seiner Schwester gefunden hatten. Obwohl er keinerlei Zweifel an der Gründlichkeit ihrer Arbeit hegte, erzürnte ihn der doch immer gleiche Ausgang ihrer Bemühungen. Aber er musste sich auch eingestehen, dass Orre verdammt groß war und es einiges an Zeit in Anspruch nahm, jeden Fleck, jedes Örtchen und jede Stadt unter die Lupe zu nehmen. Insbesondere dann, wenn Chandra nicht gefunden werden wollte.

Nichtsdestotrotz war es zum Verrücktwerden. Zweieinhalb Wochen war sie nun schon weg.

Das waren zweieinhalb Wochen, in denen Ray die Zeit davonlief. Zweieinhalb Wochen, in denen seine Ressourcen schwanden. Zwar hatte er immer gut vorgesorgt, doch die Tatsache, dass er Chandra nun einmal brauchte, war nicht von der Hand zu weisen. Er benötigte sie, um gewöhnliche, schwache Pokémon in eine bessere Version ihrer selbst zu verwandeln – oder, konkreter ausgedrückt, um Cryptopokémon herzustellen.

Das war grundlegend zwar auch ohne Chandra möglich, doch Ray konnte seinen Kunden keine halbfertigen Cryptopokémon andrehen, die wie eine tickende Zeitbombe waren und sich jederzeit selbst zerstören könnten. Sie erfüllte den Zweck, diese Pokémon kontrollierbar und halbwegs zähmbar zu machen, mehr Nutzen hatte sie für ihn nicht. Dennoch war er so dumm gewesen, sie frei umherstreunen zu lassen. Das bereute er zutiefst.

„Du hast die Leine zu locker gelassen, mein Lieber. Kein Wunder, dass sie abgehauen ist“, ertönte nun die Stimme seines Vaters hinter ihm und Ray wandte sich von seinem Arbeitstisch ab und ihm zu.

Allmählich gänzlich ergraute Haare bedeckten Jeromes Haupt und auch der zottelige, kurze Bart sah nicht viel besser aus. Einige Falten zeichneten das fortschreitende Alter in sein Gesicht, aus dem ein Paar stahlgrauer Augen hervorblitze, welches Ray mit einem höhnischen Blick strafte. Einst war sein Vater ein stattlicher, furchteinflößender Mann gewesen, doch mittlerweile war er in sich zusammengesunken, konnte eine kränkliche Stimme sein Eigen nennen und kämpfte sich von einem Hustenanfall in den nächsten. Wenigstens wusste er noch, wie man sich vorzeigbar kleidete und hatte das Knöpfen eines Hemdes nicht verlernt, sonst würde Ray sich hüten, gemeinsam mit ihm gesehen zu werden.

Wie sehr er doch die neunmalklugen Sprüche dieses Mannes hasste, die nur darauf abzielten, noch Salz in seine Wunden zu streuen. Ray wusste selbst am besten, was er falsch gemacht hatte, da bedurfte es nun wirklich keines alten Besserwissers, der ihm seine Fehler noch unter die Nase rieb.

„Du bist selbst schuld“, sprach Jerome und ein Schulterzucken unterstrich seine Worte, als hätte er etwas ganz Normales gesagt und gerade nicht noch einmal nachgetreten.

„Wer hat dich nach deiner Meinung gefragt, alter Mann?“, knurrte Ray mit hörbar unterdrückter Wut.

„Ich labe mich nur an deiner Verzweiflung, mein Sohn. Ich wusste, dass dies eines Tages passieren würde. Aber du wolltest ja nie auf mich hören und hast Chandra jede Menge Freiheiten eingeräumt.“

„Hätte ich dich in dieser Angelegenheit nach deiner Meinung gefragt, hätten wir die Cryptopokémon längst an den Nagel hängen können“, konterte Ray angesäuert, blieb aber ruhig. Niemand würde jemanden respektieren, der bei der kleinsten Kritik seine Contenance verlor. „Du hättest Chandra wie Dreck behandelt, sodass sie sich vermutlich längst umgebracht hätte. Ich hingegen habe ihr das gegeben, was sie wollte.“

Seinem Vater entfuhr ein Lachen. „Ja, das hast du wohl wirklich.“ Nach diesen Worten erfasste ihn ein alles andere als unbedenklich klingender Hustenanfall, bei dem er sich schüttelte und der seinem desolaten gesundheitlichen Zustand geschuldet war.

Ray betrachtete ihn nur mit einem kalten Gesichtsausdruck. Manchmal wäre alles weniger anstrengend, würde Jerome einfach an einem seiner Hustenanfälle verrecken. So könnte er ihm wenigstens keine Vorhaltungen mehr machen.

„Ach, na ja“, krächzte dieser nun, nachdem er sich wieder eingekriegt hatte, „vielleicht lässt das Bürschchen sie ja früher oder später fallen und sie kommt wieder zurück. Kein Mann will eine Schlampe.“

„Vielleicht.“ Mehr erwiderte Ray nicht, denn er glaubte nicht wirklich daran. Er wandte sich wieder Samuel zu, der noch immer vor der Arbeitsplatte aus Milchglas stand und die Diskussion der beiden stillschweigend verfolgt hatte. Kein Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

Die kühle Atmosphäre in dem Raum wog schwer. Obwohl die grauen Wände in einer recht hellen Nuance gestrichen waren, schienen sie das Zimmer in diesem Moment zu verengen und immer näher zu kommen. Ray glaubte, das Ticken der runden Uhr über der Türe an der Wand gegenüber zu hören, so still war es für einen Augenblick. In seinem Inneren aber prallten die Gedanken aufeinander, wie Wahnsinnige jagten sie einander, eine Idee folgte der nächsten, doch die meisten waren Irrsinn.

Tick, tack. Dir läuft die Zeit davon.

„Samuel.“

„Ja, Ray?“

„Ich denke, es ist an der Zeit.“ Fast monoton hatte Ray diese Aussage artikuliert, die in ihrer Bedeutung so wichtig war, dass seine rechte Hand gar nicht anders konnte, als den Inhalt seiner Worte korrekt zu verstehen.

Samuel hob fragend seine Augenbrauen, aber dann zogen sie sich zusammen und sein Blick verhärtete sich. „Sind Sie sich sicher?“

„Mehr denn je. Die Umstände verlangen diesen Schritt. Wenn Chandra nicht zurück zu den Cryptopokémon kommen möchte, dann kommen die Cryptopokémon eben zu ihr“, stellte Ray klar. „Ich bezweifle, dass sie es ignorieren wird – denn das kann sie gar nicht –, wenn plötzlich überall in der Region vermehrt Cryptopokémon auftauchen werden – ihretwegen. Und noch weniger wird ihr Retter in der Not tatenlos herumstehen, wenn dies passiert. Immerhin ist er doch extra wegen der Cryptopokémon hierhergekommen. Diese Entwicklung wird sie früher oder später beide aus ihrem Versteck locken und wenn sie erst einmal unvorsichtig werden, wird es ein Leichtes sein, zuzuschlagen.“

Sein Gegenüber nickte langsam und verstehend. „Gut … aber das wird verstärkt Aufmerksamkeit auf Pyritus lenken und damit auch auf Sie. Eigentlich hatte dieser Schritt doch noch eine Weile warten sollen.“

„Die Lage hat sich verändert und so müssen sich auch meine Pläne verändern“, erklärte Ray sachlich. Es stimmte; eigentlich hatte er noch warten wollen, bis er Cryptopokémon über Pyritus und dessen umliegende Städte hinaus verteilte, schließlich musste dieser Schritt mit Bedacht vollzogen werden, aber wenn er nun nicht handelte, hätte sich dieser Plan womöglich bald gänzlich von selbst erledigt.

„Pyritus ist meine Stadt und hier haben wir das Sagen. Niemand kann uns etwas, denn niemand außerhalb der Stadt weiß, was im Untergrund vor sich geht. Das Antlitz von Pyritus ist so schäbig und konträr zum Rest Orres, dass uns jeder unterschätzen wird, der es wagt, uns zu nahe zu kommen.“

Ein breites, wissendes Grinsen zierte Rays Gesicht. Das Wissen um die Macht, die die Stadt ihm einverleibte, stärkte ihm den Rücken und ließ ihn das überhebliche Gelächter seines Vaters ignorieren.

Erkenntnisse

Jeden der nächsten Morgen wurde Chandra von den sanften Klängen einer Melodie geweckt, deren Ursprung vor dem Fenster lag. Wie schon die Male zuvor, schritt sie auch an diesem Morgen, dem fünften in Folge, zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite und erspähte außerhalb des Glases den kleinen, himmelblauen Störenfried.

Das Wablu hatte umgehend mit dem Gesang aufgehört, als es bemerkt hatte, dass es entdeckt worden war. Regungslos hockte es auf dem Vorsprung, seine wolkenartigen Flügel bauschten sich dabei um seinen Körper und rundeten sein unschuldiges Erscheinungsbild ab.

Ein Seufzen entfuhr Chandra, doch sie kam nicht um ein Lächeln umhin. „Ach, was machst du denn schon wieder hier, hm?“, fragte sie den Vogel, nachdem sie das Fenster geöffnet hatte.

Nicht nur hier war sie dem Pokémon seit ihrer ersten Begegnung wiederholt begegnet. Sie hatte nämlich noch einige der vergangenen Tage genutzt, um mit Lunel im Garten seine neue Attacke zu üben und jedes Mal war früher oder später dieses Wablu aufgetaucht. Meist hatte es sich dann auf einen Ast der umstehenden Bäume gesetzt und aufmerksam die Bemühungen des Nachtaras verfolgt, die sich allmählich auch auszahlten. Chandra hatte sich nicht an dem Beobachter gestört, denn solange sich das Wablu nicht wieder auf ihrem Kopf niederlassen wollte, kamen sie sich ja nicht in die Quere. Sie konnte sich allerdings nicht erklären, wie das Pokémon schon nach der zweiten Begegnung herausgefunden hatte, hinter welchem der etlichen Fenster ihr Zimmer lag. Tatsächlich war es ihr noch einige Male hinterhergeflogen, doch mit hineingekommen war es nie.

Bis jetzt. Es trällerte fröhlich vor sich hin und machte sich Chandras Überraschung zunutze, als es seine Flügel öffnete und ins Zimmer flog. Es drehte eine Runde, flatterte einmal über die Köpfe von Sunny und Lunel hinweg, die neugierig am Bettende lagen, um anschließend auf dem Schreibtisch zu landen.

„Hey, du kannst doch nicht einfach hier reinfliegen“, protestierte Chandra – weniger erbost als vielmehr ergeben.

Hemmungslos stieß Wablu mit seinem Schnabel die auf dem Tisch liegenden Pokébälle von Sunny und Lunel an, woraufhin einer auf den Boden fiel.

„Was machst du denn da?“ Irritiert schritt Chandra zu dem Pokémon. Sie gedachte eigentlich, es wieder zum Fenster zu bringen, war sich aber unsicher, ob sie es einfach so anfassen konnte. Also beobachtete sie Wablu, wie es mit seinem Schnabel den verbliebenen Pokéball anstieß, genau dort, wo der Knopf zum Vergrößern und Öffnen war. Natürlich passierte nichts, der Ball war ja schon in Benutzung.

Als Chandra so langsam dahinter stieg, was das Pokémon ihr zu vermitteln versuchte, musste sie schmunzeln. Nun verstand sie auch, weshalb Wablu sie die letzten Tage immer wieder beobachtete hatte.

Sie hob den heruntergefallenen Pokéball auf und hielt diesen vor Wablu. „Wablu, möchtest du vielleicht – ähm, wie sagt man das am besten? – bei mir bleiben?“

Das kleine Geschöpf schien nur auf diese Worte gewartet zu haben. Es schlug die Flügel auf und ab und gab eine zustimmende Melodie zum Besten. Chandra kam sich ein wenig albern vor, dass sie hier in Schlafkleidung stand und mit einem Pokémon sprach, aber andererseits führte sie auch ständig Gespräche mit Sunny und Lunel und erzählte ihnen vor ihren Gedanken.

„Na schön.“ Sie holte einen unbenutzten Pokéball und hielt ihn vor das Wablu. Es zögerte keinen Augenblick, sondern stupste nun auch diesen Ball an, der sich öffnete und das Wesen in sein Inneres zog. Die Kapsel wackelte dabei nur wenige Sekunden, ehe sie sich wieder beruhigte und der eigentliche Fangprozess abgeschlossen war.

„Teammitglied Nummer Vier“, sprach Chandra an ihre beiden Gefährten gewandt und zuckte nur mit den Schultern. Manchmal konnte das Fangen von neuen Pokémon wirklich einfach sein.

 

******

 

Wenig später hatte Chandra sich hergerichtet und war auf den Flur hinausgetreten, das Wablu thronend auf ihrem Kopf wie eine besonders flauschige Kopfbedeckung. Wie es so plötzlich dazu gekommen war, konnte sie sich auch nicht genau erklären.

Wablu war ihr längst nicht mehr so fremd wie noch bei der ersten Begegnung, denn nach einer Weile hatte sie sich an die Anwesenheit des kleinen Wattebauschs gewöhnt, wenn dieser im Garten all ihre Bewegungen mit aufmerksamen Augen verfolgt hatte. Von den morgendlichen Gesangseinlagen ganz zu schweigen. Gewissermaßen schmeichelte es Chandra auch schlicht, dass Wablu ihre Nähe suchte und sich in dieser offenbar auch sehr wohl fühlte. Nachdem sie es vorhin nämlich wieder aus dem Ball gelassen hatte, war es, ergriffen von Begeisterung, durch ihr Zimmer geflogen, Saltos vollführend und fröhlich vor sich hinsingend. Der kleine Vogel war eine willkommene Abwechslung zu dem störrischen Flunkifer, mit dem sich noch immer jede Annäherung äußerst schwierig gestaltete.

Außerdem war Chandra erpicht darauf, Zayns Gesicht zu sehen, wenn sie ihm Wablu präsentierte. Er war im Garten nicht immer dabei gewesen und von Wablus morgendlichen Gesangeinlagen hatte sie ihm auch nichts erzählt. Zu diesem Zweck gestattete sie es dem Vogel also nun, es sich auf ihrem Kopf gemütlich zu machen.

„Aber wir müssen noch ein wenig daran arbeiten, dass du mich nicht piekst“, meinte sie zu Wablu und griff nach oben, um die Position des Pokémons etwas zu korrigieren, wofür sie ein Piepen zur Antwort bekam. Es erstaunte sie immer wieder, wie weich die Flügel des Wablus waren. Griff sie nur vorsichtig hinein, gaben sie samtweich nach, doch fanden sofort ihre ursprüngliche Form, wenn sie sie wieder losließ.

Nun lief sie also mit dem Vogel auf ihrem Haupt durch die Gänge des Hauses. Zayn war nicht mehr in seinem Zimmer, aber da es noch nicht Mittag war und überdies ihr eigener Magen unangenehm grummelte, vermutete sie ihn beim Frühstück. Es war Samstag und dementsprechend ruhig im Labor, denn der Großteil der Menschen, die hier arbeiteten, war am Wochenende natürlich nicht da. Chandra hatte auch erfahren, dass die meisten der Zimmer tatsächlich leer standen und nur als Schlaf- und Aufenthaltsräume genutzt wurden, wenn unter anderem Fortbildungen oder diverse Kongresse im Labor stattfanden, was immer zur Folge hatte, dass hier etliche Menschen ein und ausgingen. Umso froher war Chandra, dass sie dies bisher nicht miterlebt hatte und sie auf ihrem Weg in die Küche niemandem begegnete.

Im entsprechenden Teil des Gebäudes angekommen, drangen ihr auf dem Gang bereits einige vertraute Stimmen entgegen.

„Ach, komm schon, sei nicht wieder so ein Langweiler.“

„Was machst du überhaupt schon wieder hier? Hast du nicht irgendwie Uni, oder so?“

„Samstags ist keine Uni, du Scherzkeks.“

„Ach ja, sorry, da war was. Na ja, anders wär’s jetzt auch nicht verwunderlich gewesen“, kommentierte Zayn unbeeindruckt, an den Besitzer der ersten Stimme, Vince, gewandt.

Chandra war nah an die Glastür herangetreten, die in die Küche führte, und spähte durch den offenen Spalt. Wie erwartet saßen Zayn und Vince am Tisch und vor ihnen Alyssa, welche die Diskussion der beiden jedoch bisher schweigend verfolgt hatte.

Nun war sie sich unsicher, ob sie hinzustoßen sollte. Immerhin fühlte sie sich nach wie vor nicht zugehörig und wollte dementsprechend nur ungerne in diese Gruppe dreier Freunde platzen. Wablu auf ihrem Kopf stimmte einen fragenden Ton an, der aber in den Stimmen der anderen unterging.

„Gib dir einen Ruck, Zayn.“ Das war Alyssa. „Du kannst dich nicht die ganze Zeit nur mit den Problemen anderer befassen.“

Bei diesen Worten erwachte Chandra aus ihrer Starre. Die Probleme anderer? War damit etwa sie gemeint?

Genug gezögert. Sie war an der Reihe, sich einen Ruck zu geben, beendete somit den Moment ihres Zögerns und stieß die Tür schwungvoll genug auf, um sich sogleich die vollständige Aufmerksamkeit der Anwesenden zu holen.

„Hi“, begrüßte sie die drei so lässig, als hätte sie nicht eben noch zögernd vor der Tür geklebt.

Zayn weitete bei ihrem Anblick die Augen und schien die Diskussion mit seinem Freund augenblicklich vergessen zu haben. „Ist das …?“, sprach er überrumpelt.

Alles, was Chandra erwiderte, war: „Ja.“

„Das von neulich?“

„Ja.“

„Aber wie? Und wann?“ Zayn erhob sich, als sie zu ihm getreten war, und warf einen argwöhnischen Blick auf das Wablu, welches nun freudig mit den Flügeln schlug und vor sich hin summte.

„Vorhin. Ich habe einen herkömmlichen Pokéball genommen und ihn geöffnet. Wablu sprang sozusagen hinein und war kurz darauf gefangen“, erläuterte Chandra und kämpfte mit einem aufkommenden Grinsen.

„Ich weiß, wie man ein Pokémon fängt, danke“, knirschte Zayn verdrießlich. „Ich meinte, wie es dazu gekommen ist. Ich erinnere mich noch daran, wie du gequietscht hast und dieses Wablu schnellstmöglich von deinem Kopf entfernt haben wolltest.“

„Tja.“ Chandra zuckte unschuldig mit den Schultern. „Das wüsstest du jetzt gerne. Aber ich will mal nicht so sein.“ Also erzählte sie ihm und somit auch den anderen in einem Schnelldurchlauf von den vergangenen Begegnungen mit Wablu und wie das kleine Vögelchen sie seither jeden Morgen aus dem Schlaf gesungen hatte. Als sie geendet hatte, lag ein undefinierbarer Ausdruck in Zayns Gesicht, wohingegen sich Alyssa interessiert an Chandra wandte.

„Ich glaube, ich habe Wablu morgens auch gehört! Da war manchmal diese sanfte Melodie, aber ich konnte sie nicht zuordnen“, sagte sie und lächelte sanft ob Wablus geschmeichelten Piepens.

„Mensch, wie machst du das nur?“, fuhr Zayn auf, ehe Chandra antworten konnte. „Schon wieder hast du dir ein Pokémon gefangen, das aus dem Nichts zu dir gekommen ist, und jedes Mal fängst du sie, wenn ich nicht dabei bin. Wie machst du das?“ Er schüttelte den Kopf und ließ sich in seiner Fassungslosigkeit wieder auf seinen Stuhl stinken.

Vince neben ihm brach in Gelächter aus und musste sich den Bauch halten, als er sich zurücklehnte. „Oh man, nicht schlecht“, japste er nach dem ersten Anfall. „Mach dir nichts draus, Chandra. Zayn ist nur sauer, weil er sich fast alle seine Pokémon mühselig zusammensuchen musste und sie dir einfach zulaufen.“ Auch nach der Erläuterung rang er noch eine Weile lachend nach Luft, wofür Zayn ihn mit jeder verstrichenen Sekunde mit einem böseren Blick strafte.

„Pass lieber auf“, Vince wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und stieß Zayn an der Schulter an, „sonst macht sie dir bald noch Konkurrenz.“

 „Ha-ha-ha. Mann, bist du heute wieder witzig. Siehst du, wie ich lache?“ Zayn schenkte ihm nicht länger Aufmerksamkeit, stattdessen richtete er die Augen wieder auf Chandra. „Hör nicht auf ihn, bei ihm sind einige Schrauben locker. Es freut mich, dass Wablu bei dir bleiben wollte. Auch wenn ich gern schon eher von euch beiden erfahren hätte.“

„Entschuldige“, meinte sie und nahm die Situation gespielt gelassen hin. „Wablu ist übrigens eine Sie. Vielleicht solltest du dich noch bei ihr entschuldigen.“

„Oh. Ja, klar, sofort.“

Nach einem kleinen Austausch von Begrüßungen und einer Entschuldigung klinkte Vince sich wieder in das Geschehen ein. „Also zurück zu heute Abend. Seid ihr nun dabei?“

„Bei was?“, fragte Chandra.

„In einen Club gehen, feiern, ein bisschen Spaß haben – etwas, das Zayn nicht kennt.“

Also da hab ich ihn anders in Erinnerung, bemerkte sie in Gedanken.

„Hast du keine anderen Leute, mit denen du Spaß haben kannst? Irgendwelche Mädchen zum Beispiel?“, seufzte Zayn.

„Vielleicht nach heute Abend“, konterte Vince.

„Ha! Das will ich sehen.“

„Wirst du – wenn die Mädels ausnahmsweise mal nicht immer nur dich angraben würden, was im Übrigen verdammt ungerecht ist, du schaust ja sowieso nie eine länger als zwei Sekunden an. Fast nie. Aber gut, deine Worte nehme ich als verbindliche Zustimmung. Aly, du fährst und du, Chandra, kommst auch mit. Damit wäre das ja dann endlich geklärt.“

Chandra bekam gar nicht mehr die Gelegenheit dazu, etwas einzuwenden, da stand Vince schon auf, klopfte Zayn auf die Schulter, wobei er ihm etwas zuflüsterte, und verabschiedete sich: „Na dann, bis heute Abend, meine Freunde.“

Sie sah ihm noch kurz hinterher, wie er die Küche verlassen hatte, dann wandte sie sich wieder Zayn und Alyssa zu. Ersterer wirkte etwas genervt über das Verhalten seines Freundes und Letztere war auffällig still und starrte auf die Tischplatte.

„Na ja, warum eigentlich nicht?“, meinte Zayn schließlich und Chandra konnte daraufhin nur unsicher lächeln.

 

******

 

In Pyritus war Chandra gerne in Clubs gegangen – meistens in immer dieselben, nämlich in die, die noch am wenigsten schäbig und fast schon anständig waren, zumindest nach den Verhältnissen der Stadt, und fast immer mit Devin, selten alleine. Das hatte ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben, wenngleich sie sich ohnehin nie großartige Sorgen hatte machen müssen. Sie war immer sehr aufmerksam gewesen und dank ihrer besonderen Situation hatte sie nie ernsthaft etwas zu befürchten.

Meist war sie auch nur aus einem Grund dorthin gegangen: um sich abzulenken. Alkohol konnte durchaus ein hervorragendes Mittel sein, um die Kläglichkeit des eigenen Lebens zu vergessen, aber sie hatte dabei nie über die Stränge geschlagen, denn es hatte ihr nicht danach gestanden, schwarze Löcher in ihre Erinnerung zu reißen und sich einen Höllenkater zu bescheren. Ganz im Gegenteil war sie sich immer sehr bewusst gewesen, wie viel dieser süßen Droge notwendig war, um nicht länger über all das nachdenken zu müssen, das sie belastet hatte.

Nun aber einen Club in Veralia zu besuchen, mit gänzlich anderen Menschen, das verunsicherte sie dann doch etwas. Es stand ihr nicht danach, in Zayns Gegenwart allzu viel zu trinken; sie konnte nicht riskieren, sich zu blamieren oder am Ende sogar noch über ihre Gefühle zu sprechen. Bloß nicht. Aber was sollte sie dann tun? In Pyritus hatte sie sich nicht jedes Mal, aber doch regelmäßig einen Kerl rausgepickt, aber danach stand ihr gar nicht mehr der Sinn.

Obwohl sie nur mäßig Begeisterung über den Clubbesuch empfand, hatte sie sich dennoch schickgemacht. Ihre Wahl war auf ein figurbetontes, schwarzes Kleid gefallen, das bis zur Mitte der Oberschenkel ging und dreiviertellange Ärmel hatte. Es war recht schlicht, wies nur im Bereich der Schultern und Oberarme und auf Höhe der Taille Raffungen auf. Der V-Ausschnitt war noch das Einladenste an dem Kleid, denn darunter trug sie noch eine schwarze Strumpfhose und würde so wohl weniger Haut zeigen als die meisten. Aber nach etwas anderem stand es ihr nicht. Sie hatte keine passenden Schuhe gehabt, aber Alyssa hatte praktischerweise dieselbe Schuhgröße wie sie und ihr ein schwarzes Paar Halbstiefel mit Absatz geliehen.

Das blonde Haar fiel ihr offen über die Schultern und geschminkt war sie wie immer – sichtbar, aber nicht zu sehr.

Eigentlich hatte sie sich ganz attraktiv gefunden, doch dann hatte sie Alyssa gesehen und ihr Selbstbewusstsein war auf einen Schlag gesunken, was sie insgeheim verärgerte. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Dabei trug Alyssa doch bloß eine schwarze, hohe Röhrenjeans, ebenso schwarze Halbstiefel, und obenrum ein tiefrotes, schulterfreies Top, das schon knapp unterhalb der Rippen endete.

Chandra konnte nicht genau sagen, was sie sich unsicher fühlen ließ. Es war einfach das Gesamtbild. Neben Alyssas graziler und doch wohlgeformter Figur fühlte sie sich einmal mehr wie ein unförmiges Etwas und so gar nicht attraktiv. Selbst deren honigblondes Haar, zu einem eleganten Knoten hochgesteckt, kam ihr seidiger und prachtvoller vor und Alyssas Gesicht strahlte bereits bei einer geringen Menge Make-up. Daran trug ihr roter Lippenstift sicherlich einen nicht unwesentlichen Anteil.

Die Fahrt über hatte Chandra nur deprimiert aus dem Fenster gestarrt. Sie war nicht sauer auf Alyssa, sondern auf sich selbst. Noch nie hatte sie derartige Komplexe wegen ihres Äußeren verspürt, was nicht hieß, dass sie sonst eingebildet war. Aber wann hätte es schon mal einen Grund geben sollen, sich um das Aussehen eines anderen Mädchens zu sorgen, wenn nicht jetzt?

Als sie realisierte, was sie da gerade in Gedanken offenbart hatte, dachte sie bloß noch: Scheiße.

Sie holten Vince von zu Hause ab, fuhren zu einem von diesem ausgewählten Club und kaum, dass sie es durch die lange Schlange vor dem Club geschafft hatten, teilte sich die Vierergruppe auch schon auf. Vince zog Zayn mit sich und Chandra blieb mit Alyssa zurück.

Sie ließ sich ihre Nervosität darüber aber nicht anmerken, sondern kämpfte sich gemeinsam mit ihr durch die Masse an Menschen, die von den Auswirkungen des Alkohols und der lauten Musik bereits ausgelassen genug waren, um unter den zuckenden Lichtreflexen der Deckenbeleuchtung zu tanzen. An der Bar besorgten sie sich etwas zu trinken und suchten sich dann einen freien Tisch. An den Wänden der großen Räumlichkeit standen viele runde, kleine wie größere Tische, die die Tanzfläche umschlossen. Sie fanden schließlich einen kleinen Tisch in einer recht abgelegenen Ecke, was Chandra nur recht war. Der ohnehin gedimmte Lichtschein war hier nur mäßig vorhanden, weshalb sie und Alyssa teilweise im Schatten verschwanden, und auch die Musik war immer noch laut, aber man konnte sich unterhalten, ohne sich anzuschreien.

„Also“, setzte sie an, nahm aber erst einmal einen Schluck ihres Cocktails, „seid ihr öfters hier?“ Sie hatte sich für einen Cocktail entschieden, der hauptsächlich fruchtig schmeckte und nur wenig Alkohol enthielt. Alyssa hingegen nippte an einem alkoholfreien Cocktail; schließlich war sie von Vince zum Fahren verdonnert worden.

Sie lachte nach dieser Frage. „Na ja, Vince mit Sicherheit, Zayn und ich eher nicht. Du hast ja sicher mitbekommen, wie begeistert er über diesen Vorschlag war.“

„Oh ja, er hat Freudensprünge gemacht“, erwiderte Chandra und musste grinsen. Sie hätte sich Zayn auch nicht als Clubgänger vorstellen können.

„Und wie steht es mit dir? Bist du in Pyritus in Clubs gegangen?“

„Joa, schon.“

„Und sind die großartig anders als das hier?“ Alyssa deutete mit der Hand vage auf das Innenleben des Clubs.

„Ein bisschen. Mehr Menschen, viele davon komisch, regelmäßig Konsum von illegalen Drogen, aber das juckt in Pyritus niemanden. Mehr Haut. Ach, und wenn du die Toilette aufsuchst, kann es schon mal passieren, dass du Leute beim Vögeln erwischst.“

Alyssa blinzelte über Chandras Wortwahl, grinste beschämt und brachte lediglich ein „Oh“ hervor.

„Ja.“ Chandra zuckte mit den Schultern. Sie war eindeutig abgehärtet. „Also mein Tipp an dich, falls du mal in einem Club in Pyritus bist: Trainier dir eine Stahlblase an, such nicht die Toilette auf. Und wenn doch, dann erleichtere dich nur im Stehen.“

„Wow, gut zu wissen. Aber vielleicht wechseln wir lieber das Thema“, schlug Alyssa vor. „Ich krieg gerade ganz schreckliches Kopfkino.“

„Guter Vorschlag.“

Ein Moment verstrich, denn keine der beiden wusste so recht, was sie sagen sollte. Chandra war Alyssas Gegenwart nicht unangenehm, sie konnte bloß nicht aufhören, sie immer, wenn sie gerade nicht zu ihr sah, anzusehen und sich zu fragen, wie sie so makellos aussehen konnte.

„Weißt du, was nun aus dem Waaty wird?“, fand sie endlich ein Thema und dazu noch eines, das ihr ohnehin auf der Seele brannte.

„Nein – du willst es nicht haben, oder?“

„Eher nicht. Es ist wirklich sehr süß und ich weiß besser als jeder andere, dass es nichts kann für das, was es als Cryptopokémon getan hat, aber ich komme nicht mit dem Gedanken klar, ein Pokémon in mein Team zu lassen, das ein anderes meiner Pokémon lebensgefährlich verletzt hat“, erläuterte Chandra matt. Nichtsdestotrotz hoffte sie das Beste für das Waaty.

Alyssa nickte mitfühlend. „Verständlich. Das ginge mir genauso.“

„Gibt es denn sonst niemanden, der sich seiner annehmen möchte?“

„Bislang nicht. Aber vielleicht fühlt es sich ja im Labor auch ganz wohl. Neulich habe ich gesehen, wie es mit Jill und Enton Fangen gespielt hat. Cara ist fast das Herz in die Hose gerutscht. Sie hat Angst, dass Waaty vor Freude versehentlich einen Stromschlag loslässt. Dabei wirkt das Kleine gar nicht so unkontrolliert. Ich glaube, ihre Sorge ist unbegründet. Aber was mag das Waaty wohl für ein Leben geführt haben, bevor es zu so einem Cryptopokémon wurde?“, überlegte Alyssa.

„Schwer zu sagen. Es kann ein Wildes gewesen sein, das extra eingefangen wurde, oder es wurde seinem alten Trainer gestohlen – oder, was ich in seinem Fall aber für unwahrscheinlich halte, sein Trainer fing es als normales Pokémon und wollte, dass es zu so einer grauenvollen, verbesserten Version seiner selbst wurde.“

„Du weißt ziemlich viel darüber“, bemerkte Alyssa mit hochgezogener Augenbraue.

Chandra erstarrte. „Öhm, na ja, ich war ja direkt vor Ort, da kriegt man so einiges mit.“

„Vermutlich.“ Ihre Gesprächspartnerin betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, was bei Chandra für unangenehme Hitzewallungen sorgte, doch dann fand sie plötzlich wieder zu ihrem fröhlichen Gemüt zurück und lachte. „Ach, ich respektiere das, dass du mir nicht mehr sagen möchtest.“

„Ach ja?“ Unsicher nippte Chandra an ihrem Drink.

„Ja! Zayn hat mir gesagt, dass du nicht möchtest, dass wir wissen, weshalb du aus Pyritus hierhergekommen bist und ich kann das vollkommen verstehen. Vermutlich ist es besser so. Auch wenn ich schon ein bisschen neidisch auf ihn bin“, schmollte Alyssa plötzlich. „Ich wüsste auch gerne mehr. Das muss einer der vielen Vorteile sein, wenn man ein Mann ist.“

„Es tut mir leid“, kam es Chandra über die Lippen, ehe sie nachdenken konnte.

„Was? Das muss dir doch nicht leidtun.“

„Ich fühle mich schlecht, weil ich aus meiner Person so ein großes Geheimnis mache, als wäre ich jemand Besonderes. Dabei ist es das gar nicht. Es ist nur nicht so leicht, über all das zu reden, schon wieder …“ Sie stockte, als sie realisierte, was sie soeben gesagt hatte. Wieso hatte sie das so offen ausgesprochen – und dann auch noch vor Alyssa, mit der sie doch bislang nicht mehr als Smalltalk zustande gebracht hatte? Das musste an ihrem Cocktail liegen; womöglich enthielt dieser doch mehr Alkohol, der ihre Gedanken durcheinanderbringen konnte, als angenommen.

Selbst Alyssa konnte sie für einige Sekunden nur überrascht anblinzeln. „Das muss dir wirklich nicht leidtun – alles gut. Außerdem bewundere ich dich ein wenig. Ich würde diesen armen Pokémon auch gerne helfen können, aber ich bin da eher nutzlos. Das, was du getan ist, ist wirklich unglaublich.“

Bei so viel positivem Zuspruch wurde Chandra glatt rot im Gesicht. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand an ihrer Fähigkeit etwas Gutes sah und es ihr nicht untersagte, das jemals noch einmal zu wiederholen.

Sie konnte nicht mehr als ein verlegenes „Danke“ hervorbringen.

Noch eine Weile unterhielten sich die beiden, wobei sich Chandras Glas zunehmend leerte und der Alkohol mehr und mehr seine Wirkung entfaltete. Mittlerweile sprach sie mit Alyssa wieder über unbefangenere Themen und musste sogar feststellen, dass ihr ihre Gesprächspartnerin sympathischer war als ursprünglich gedacht.

Nach einiger Zeit jedoch verkündete diese, dass sie sich noch etwas zu trinken holen gehen und zudem mal nach Zayn sehen wollte. Chandra blieb also alleine an ihrem Tisch zurück und merkte schnell, wie unwohl sie sich fühlte.

Normalerweise war es nie ihre Art gewesen, in einem Club nur am Rand zu sitzen – sie hatte sich viel lieber unter die Menge gemischt und getanzt, doch alleine machte ihr dies keinen Spaß. Leider war ihr aber auch bewusst, dass es, wenn man als Mädchen alleine in einem Club war, nie lange gedauerte, bis jemand einen ansprach und nach Kontakt oder mehr suchte. Darauf hatte sie so gar keine Lust. Wo war Zayn nur? Wieso ließ er sie hier überhaupt alleine? Gut, im Grunde hatte Alyssa sie alleine gelassen, aber was für einen Unterschied machte das schon.

Seufzend zog sie ihren PDA aus ihrer kleinen Handtasche, in der die nötigsten Damenartikel verstaut waren, und legte ihn auf den Tisch. Sie rief das Bild eines Wablus auf und somit dessen Artikel. Zayn hatte ihr nämlich erzählt, dass Wablu eine ganz interessante Weiterentwicklung besaß und da war sie neugierig geworden.

Altaria also – der Name war mindestens so majestätisch wie das Pokémon, das ihn trug. Es schien viel größer als das zarte Vögelchen, aus dem es sich entwickeln konnte, trug einen längeren Hals mit einem runden Kopf zur Schau und sein kompletter Rumpf wurde von den wolkenartigen, dichten Flügeln umhüllt. Wirklich faszinierend. Sie merkte gar nicht, wie sie mit dem Strohhalm im Mund nur noch am leeren Boden des Glases herumsaugte, so interessiert nahm sie die Informationen auf, die ihr das kleine Gerät vermittelte. Wenn Wablu sich entwickelte, wurde es zu einem Drachenpokémon. Kaum vorzustellen. Zwar wirkte ihr Wablu durchaus kampflustig, doch Drachentypen stellte sie sich viel eher wie Zayns Brutalanda vor. Furchteinflößend und majestätisch – na gut, vielleicht hatte ein Altaria ja doch etwas von einem Drachen an sich.

Nun brannte sie förmlich darauf, mit ihrem neuen Pokémon einen ersten Übungskampf zu bestreiten, aber heute würde sich da wohl nichts mehr ergeben.

„Hey, kann man dir noch was beibringen?“, holte sie eine fremde Stimme aus ihren Überlegungen und dann setzte sich ihr ein junger Mann gegenüber, der auf den PDA deutete.

Chandra hob schweigend eine Augenbraue und musterte den Fremden. Wann hatte sie ihm den Platz angeboten?

„Nein“, erwiderte sie und packte den PDA wieder in ihr Täschchen, „ich habe schon einen sehr guten Lehrer, aber danke für dieses Angebot, das definitiv frei von Hintergedanken ist.“ Mit dieser Ansage erhob sie sich und ließ den Typen zurück, welche ohnehin zu baff war, um etwas zu erwidern.

Sie hatte es ja gewusst. Früher oder später wurde man immer als Option wahrgenommen und angesprochen. Es war wirklich an der Zeit, die anderen zu suchen, bevorzugt Zayn. Sie machte sich also daran, sich durch die vielen Menschen hindurchzuschieben und dabei Ausschau nach ihm zu halten. Tanzende Menschenmassen konnten wirklich anstrengend sein, wenn man nicht dazugehörte und mehr als einmal wäre fast ein Drink auf ihr gelandet.

Zudem gestaltete es sich als alles andere als einfach, eine explizite Person zu finden. Der Laden war doch größer als angenommen und in dem schwachen, flackernden Licht sah fast jeder zweite gleich aus. Es führte sogar noch eine Treppe in einen oberen Stock, der aber nicht abgetrennt war vom Erdgeschoss, sondern nur, abgegrenzt von einem Geländer, über der unteren Etage an den Wänden wie eine Art Balkon entlanglief. Wie es aussah, befanden sich dort oben weitere Sitzgelegenheiten.

Plötzlich erkannte sie Zayn einige Meter von sich entfernt und wollte schon in seine Richtung hechten, als sie Alyssa bei ihm sah und sich bremste. Sie war also auch erfolgreich mit ihrer Suche gewesen.

Was sie davon abhielt, zu ihnen zu gehen, war die Tatsache, dass sie sich so nahe waren. Alyssa lehnte dicht an Zayn und sagte ihm offenbar gerade etwas Amüsantes, denn ein Lachen zeichnete ihr strahlendes Gesicht und er grinste daraufhin. Chandra wollte eigentlich nicht hinsehen, doch sie konnte ihren Blick auch nicht abwenden. Im darauffolgenden Moment zog Alyssa ihn ein Stück mit sich und wollte ihn ganz augenscheinlich zum Tanzen motivieren. Dabei verlor Chandra die beiden kurz aus den Augen, aber als sie sie wiederfand, entging ihr nicht, wie die letzte Distanz zwischen ihnen schwand, denn Alyssa schob ihre Hüften sehr deutlich an seinen Körper.

Sie fühlte ein Stechen in ihrer Brust, das ihr für einen Moment das Wissen darum entriss, wie man atmete. Fassungslos harrte sie aus, ohne sich wirklich gewahr zu sein, was sie so aus der Fassung brachte.

Wenn sie solch eindeutige Bewegungen gemacht hatte, dann immer mit einem deutlichen Hintergedanken. Ihr Brustkorb schien noch weiter von einer unsichtbaren Macht zusammengepresst zu werden, als ihre Augen erfassten, wie Alyssa Zayn eine Hand in den Nacken legte und seinen Kopf zu sich zog, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern – sofern das hier überhaupt möglich war. Oder aber sie küsste ihn. Das war aus Chandras Position schwer auszumachen.

Jemand stieß plötzlich seitlich gegen sie und riss sie somit aus ihren Beobachtungen. Genervt fasste sie sich wieder, konnte Zayn und Alyssa aber bereits nicht mehr sehen. Das war vermutlich auch besser so.

Sie schob sich abermals durch die Menge, doch diesmal nicht in die Richtung, in welcher die beiden zu vermuten waren, und eilte anschließend die Treppe hoch, kein bestimmtes Ziel vor Augen. Sie wusste lediglich, dass sie sich nicht länger dort unten aufhalten wollte, wo ihre Augen Dinge erspähen konnten, die ihr Kopf so lange verdrehte, bis sie nicht mehr wusste, was sie denken sollte. Hier oben war es insgesamt etwas ruhiger und sie sah eine Tür, die zu einer beleuchteten Außenterrasse führte.

Draußen angekommen schlug ihr eine kühlere, reine Luft entgegen, die wohl der Grund war, weshalb sich hier nicht allzu viele Menschen aufhielten. Chandra kam dies nur gelegen und überdies reinigte die frische Abendbrise ihre vernebelten Gedanken und verhalf ihr dazu, sich nicht in eine innere Abwärtsspirale zu begeben. Nachdem sie die Terrasse überbrückt hatte, lehnte sie sich an das gegenüberliegende Geländer. Vor ihr breitete sich die Stadt aus, deren Konturen vor dem schwarzen Horizont kaum auszumachen waren. Es funkelten und blinkten lediglich etliche Lichter, die Veralia zu einer Stadt wie jede andere machten. Selbst Pyritus wirkte bei Nacht nicht viel anders, maß man die Stadt an dem, was man von einem erhöhten Aussichtspunkt begutachten konnte, doch dort hatte sie nie so eine klare, sorgenfreie Luft einatmen können wie hier. Ja, sorgenfrei – denn hier war das Leben anders, schien leichter, angenehmer, auch hoffnungsvoller.

Dennoch kam ein Seufzen in ihr auf. Was hatte sie da gerade gesehen? Vermutlich wollte sie es gar nicht wissen. Vielleicht spielte ihr Verstand ihr einen Streich, weil der konsumierte Alkohol sich einen Spaß daraus machte, sie sich Dinge einbilden zu lassen.

Alyssa stand also auf Zayn – zumindest, wenn ihre Augen sie nicht trogen. Aber so schmiss man sich doch an niemanden, wenn man nur freundschaftliche Gefühle hatte. Allerdings überraschte es Chandra nicht sonderlich. Nichtsdestotrotz vermochte es die neue Erkenntnis aber, sie ein wenig zu beunruhigen. Unangenehme Fragen sprudelten an die Oberfläche, solche, die sie vorher erfolgreich hatte verdrängen können.

Was für eine Art von Beziehung hatten Zayn und Alyssa zueinander und wieso hatte Chandra davon bisher nichts mitbekommen? Oder hatte sie dies und es lediglich nicht wahrhaben wollen? Die auffällig langen Umarmungen, Alyssas große Besorgnis um Zayns Wohl oder wie sie am Tag von Chandras Ankunft fast umgehend in ihrem Zimmer erschienen war, um ihn mit sich zu nehmen – und nun das. Das konnte doch kein bedeutungsloser Zufall sein. Oder sah Chandra Gespenster und überdramatisierte das Ganze vielleicht doch? Wieso zollte sie dem überhaupt so viel Aufmerksamkeit? Es sollte ihr gleichgültig sein.

Schließlich wusste sie doch kaum etwas über die beiden, hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie lange sie sich schon kannten – eventuell verhielt man sich langjährigen Freunden gegenüber anders. Woher sollte sie das schon wissen? Ihre Erfahrungen mit Freunden konnte sie an einem Finger abzählen. Allerdings war es ihr nie in den Sinn gekommen, sich derart an Devin ranzuschmeißen, also vielleicht war an ihrer ursprünglichen Überlegung ja doch etwas dran …

„Hey, was machst du denn so mutterseelenallein hier draußen? Ist dir nicht kalt?“

Die Stimme riss sie aus ihren Überlegungen und schon im nächsten Moment landete eine Jacke über ihren Schultern. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie die Tür hinter ihr sich geöffnet hatte, aber nun stand Zayn neben ihr und betrachtete sie mit einem Schmunzeln, denn ihr erschrockener Gesichtsausdruck amüsierte ihn wohl. War er nicht vor fünf Minuten noch bei Alyssa gewesen?

„Mir war’s drinnen zu voll“, erwiderte sie und inspizierte unauffällig sein Gesicht. Keine Spuren von rotem Lippenstift zu sehen und so schnell hätte er sie sich bestimmt nicht restlos wegwischen können.

„Ja, fürchterlich, oder?“, stöhnte Zayn und lehnte sich gegen das Geländer. „Dieser Depp.“

„Wer?“

„Vince – er hat seine Taktik geändert, hat gedacht, wenn er mich abfüllt, dass ich ihm dann endlich verrate, was er wissen will, aber nicht mit mir. Ich durchschaue seine Pläne schon, bevor er sie sich ausgedacht hat“, erläuterte Zayn, wobei er einige Male grinsend den Kopf schüttelte.

Chandra verstand recht wenig. „Wovon redest du?“

„Er will unbedingt wissen, wer du bist und wieso ich dich mit hierhergebracht habe. Es ist seitdem kein Tag vergangen, an dem er mich nicht damit genervt hat. Er hat mir bestimmt schon hunderte – ach, was rede ich da? – tausende Nachrichten nur darüber geschickt! Man, ich kenne niemanden, der so hartnäckig ist.“

„Wieso sagst du es ihm dann nicht einfach?“ So viel Trubel war sie gar nicht wert, fand sie.

Zayn schenkte ihr einen überraschten Blick. „Weil du nicht wolltest, dass es mehr Leute als nötig wissen. Außerdem …“, er kam ihr etwas näher. „behalte ich das mit uns gerne für mich. Ich mag dieses Geheimnis.“

Das mit uns. Eine altbekannte Röte stieg in Chandras Gesicht und nervös zog sie sich seine Jacke enger um die Schultern, wobei sie eine feine Parfumnote roch, die sie auch an ihm schon wahrgenommen hatte.

„Und du machst dir ja keine Vorstellung davon, wie neugierig dieser Junge sein kann. Wenn ich ihm irgendetwas sage, dann wird er jedes Detail wissen wollen. Jedes. Einzelne.“

Sie musste lachen, als er sie unfassbar ernst anfunkelte. „Okay, na gut, ich möchte auch, dass die Details bei uns bleiben.“

„Das wollte ich hören.“

Sie nahm einen leichten, alkoholischen Geruch an ihm wahr, was sie aber nicht überraschte. Er war ebenso wenig nüchtern wie sie.

„Was hast du? Du siehst bedrückt aus.“

„Nichts. Mir ist nur kalt“, murmelte sie.

Er legte seine Hände auf ihre Schultern und sah lächelnd in ihr Gesicht. „Chandra, ich habe es dir doch schon bei unserer ersten Begegnung gesagt. Du kannst nicht gut lügen. Zumindest nicht bei mir.“

Vermutlich hatte er recht. Sie war viel zu nervös, um sich Mühe geben zu können. Sein Gesicht schwebte so nah vor ihrem und je länger sie regungslos verharrte, desto leichter fühlten sich ihre Gedanken. Sollte sie ihn küssen? Es bot sich an, immerhin war außer ihnen niemand sonst auf der Terrasse und seine Lippen waren in küssbarer Nähe. Sie müsste sich nur auf die Zehenspitzen stellen und …

Stopp. Was dachte sie da und – noch viel schlimmer – was war sie gerade fast im Begriff gewesen, zu tun?

Möglichst unauffällig lehnte sie ihren Körper zurück in seine Ausgangsposition. Die ganze Zeit über musste sie ihn völlig idiotisch angestarrt haben. Aber als sie das dachte, realisierte sie, dass Zayns Blick ebenfalls nur auf ihr ruhte. Ob ihm Ähnliches wie ihr durch den Kopf gegangen war? Vielleicht könnte sie einfach abwarten, bis er entschied, wie es weiterging …

Doch so weit sollte es nicht kommen.

„Na, wen haben wir denn da? Ausgerechnet dich hier zu sehen, verdirbt mir den ganzen Abend.“

Chandra zuckte zusammen und merkte, wie sich Zayns Griffe auf ihren Schultern kurz verstärkten. Gleich darauf ließ er sie jedoch los und wandte sich der unbekannten Stimme zu. Erst jetzt fiel ihr auf, dass jemand Neues auf der Terrasse zu ihnen gestoßen war. Ein junger Mann, vielleicht kaum älter als sie oder Zayn, zwar mit in den Hosentaschen versteckten Händen, aber dennoch einer latent streitlustigen Ausstrahlung. Er war kaum größer als sie mit ihren erhöhten Schuhen, hatte recht breite Schultern und ein kantiges Gesicht, das von braunen Haaren umrahmt wurde. Allgemein war er aber eher unauffällig.

„Na, dann geh doch wieder rein. Dann tust du uns auch gleich ‘nen Gefallen“, warf Zayn ihm entgegen und Chandra erschrak ob der Kühle, die seine Stimme plötzlich tränkte und seinen Worten einen abfälligen Klang gab. Das war sie von ihm nicht gewöhnt. Unwillkürlich zog sie die Jacke noch dichter um ihren Oberkörper. Erst jetzt schien die abendliche Frische wieder zu ihr durchzudringen.

Der Fremde lachte spöttisch. „Tja, was soll ich sagen? Ich wollte mich einfach nur mal selbst überzeugen, ob du’s wirklich bist. Wundert mich aber. Solltest du nicht eigentlich unterwegs sein und dir drittklassige Trainer raussuchen, deren Pokémon du fertigmachen kannst? Oder gönnst du dir mal eine Pause und reißt stattdessen ein paar Weiber auf?“ Es folgte ein Kopfnicken in Richtung Chandra.

Sie selbst musterte den Typen nur schweigend. Früher hätte sie so jemandem für solche Worte eine schlagfertige Äußerung entgegengeschleudert, aber nun klebte ihr die Zunge förmlich am Gaumen. Ein erneuter Blick hoch zu Zayn zeigte ihr, dass in dessen sonst so kühlen, blauen Augen eine gehörige Portion Zorn funkelte. Aber er schwieg – oder kam zu keiner Erwiderung.

„Hab ich dich drinnen nicht gerade noch mit dieser anderen Tusse gesehen? Wie hieß sie noch gleich? Alison? Alice? Ah, nein, Alyssa war’s.“ Plötzlich grinste der Fremde, als würde er genau wissen, wovon er sprach. „Ernsthaft, schon wieder? Langsam solltest du dich mal entscheiden. Wobei die hier bestimmt auch leicht zu haben ist.“

Die Worte hätten Chandra eiskalt treffen können, aber sie hatte Zayn ja selbst bei Alyssa gesehen – oder sie bei ihm. Sie ließ sich nicht von einem dahergelaufenen Wichtigtuer verunsichern, und außerdem kannte sie solche Psychospielchen. Er versuchte, Zayn zu provozieren, aber diesen schien das nur wenig zu beeindrucken. Dennoch tat sie, was ihr als nächstes in den Sinn kam, und ergriff Zayns rechte Hand mit ihrer linken, drückte sie leicht. Eine stumme Geste, dass sie hinter ihm stand. Ferner bemühte sie sich um einen möglichst herablassenden Blick für den unerwünschten Gast.

„Du solltest aufpassen, dass du nichts sagst, was du hinterher bereust“, sprach Zayn in ruhigem Ton. Chandra spürte, dass er wütend war, aber er hatte sich besser unter Kontrolle als sie, wäre sie in seiner Haut.

„Ist das eine Drohung?“

„Nein. Ich war schon damals um Längen besser als du, und ich bin weder an deinen plumpen Provokationen interessiert noch an einem Kampf mit dir, denn der wäre schnell vorbei.“

Damit schien Zayn einen wunden Punkt getroffen zu haben. Sein Gegenüber verzog das Gesicht vor Zorn und holte endlich die Hände aus seinen Hosentaschen. Chandra ahnte schon das Schlimmste, doch da öffnete sich die Tür ins Clubinnere zum dritten Mal, für einen Moment drang die laute Musik nach draußen, die sonst nur gedämpft zu vernehmen war, und dann schlenderte Vince über die Terrasse.

„Euch kann man echt nicht alleine lassen, verdammt noch mal“, fluchte er. Bei dem Störenfried angekommen, legte er diesem ungefragt den rechten Arm um die Schultern und seufzte: „Mensch, Glenn, lang nicht gesehen. Suchst du schon wieder Stress? Bleib doch mal ‘n bisschen locker.“

Doch besagter Glenn blieb nicht locker, sondern schlug den Arm des dunkelblonden Strubbelkopfes weg. „Fass mich nicht an, du Arsch!“

Vince hob resignierend die Hände und taumelte rückwärts einige Schritte zu den anderen beiden. „Hey, keine Beleidigungen, ja? Aus dem Alter sind wir doch echt raus.“ Er hatte wohl deutlich mehr getrunken als Zayn, aber immerhin konnte er sich noch verständlich artikulieren und war nicht in die Blumentöpfe gestolpert, die dekorativ auf der Terrasse standen.

„Was mischst du dich überhaupt ein? Musst du Zayn etwa immer noch vor der großen, bösen Welt beschützen?“, spottete Glenn.

„Nö. Ich könnte dir jetzt den Begriff Freundschaft erklären, aber das würdest du nicht checken. Außerdem –“

„Lass gut sein, Vince“, bremste Zayn ihn. „Er ist es nicht wert.“

Das schien Glenns Wut nur noch mehr anzuheizen. „Ach ja? Dir ist doch nie jemand gut genug, du hältst dich immer für den Besten.“

„Muss ja was dran sein, so wie er dich damals zerstört hat“, warf Vince lässig ein.

„Und dennoch sind er und seine scheiß Pokémon letztes Jahr im Halbfinale des Colosseums rausgeflogen. Bist wohl doch nicht so gut, wie du denkst.“

„Mit einem Fakt, der mir wohlbekannt ist, kannst du mich nicht aus der Ruhe bringen, Glenn. Du hingegen knabberst nach zwei Jahren immer noch an einer Niederlage, die dir gezeigt hat, dass du nie so gut warst, wie du dachtest“, verteidigte Zayn sich und schien nur mäßig beeindruckt von der aufbrausenden Art des Konkurrenten.

Chandra verstand so gut wie gar nichts, aber es musste wohl um einen vergangenen Kampf gehen – und um ein Turnier oder ähnliches, das letztes Jahr stattgefunden hatte.

Sie schreckte auf, als Zayn nach vorne schritt und sie so an der Hand mit sich zog. Er blieb knapp vor Glenn stehen und da er ein gutes Stück größer war, hatte er den Vorteil, dass er auf ihn herabschauen konnte. „Und du solltest aufpassen, wie du die Menschen, die mir wichtig sind, nennst. Du könntest das Echo nicht vertragen; und ja, das darfst du gerne als Drohung sehen, wenn du willst.“ Er wandte sich ab und zog Chandra sanft, aber bestimmt Richtung Tür. „Wir gehen. Los, Vince.“

Chandra warf einen letzten Blick zu Glenn, in den sie all ihre Abneigung legte, dann tauchte sie mit Zayn und Vince wieder ins Innere des Clubs ein, wo dröhnende Musik und schlechte Luft sie umhüllten. Sie ließ sich von Zayn durch die Menschenmenge manövrieren, Vince ging ihnen voraus und steuerte die lange Bar an, an welcher sie schließlich Alyssa wiederfanden, die etwas einsam an einer Cola nippte. Kaum dass Chandra sie erspäht hatte, entzog sie ihre Hand Zayns Griff und mied Blickkontakt.

Allerdings schien er ohnehin anderes im Kopf zu haben. Missmutig wandte er sich an Vince, wobei er größte Mühe hatte, verstanden zu werden. „War ja echt ‘ne ganz tolle Idee von dir, hierherzukommen.“

„Konnt‘ ja nicht wissen, dass dieser Kotzbrocken ausgerechnet heute hier ist.“ Mit einem fragenden Blick von Alyssa erklärte Vince: „Glenny.“ Ein Moment des Schweigens verging, in dem er an der Bar drei Shots bestellte und sowohl Zayn als auch Chandra einen überreichte. „Hier, spült die Abartigkeit dieser Begegnung einfach runter. Sorry, Aly.“ Er deutete entschuldigend auf Alyssas nicht sehr alkoholische Cola, ehe er die leicht goldene Flüssigkeit hinunterstürzte.

Zayn sah aus, als wäre das die Antwort auf seinen Gedanken und tat es ihm nach, woraufhin auch Chandra folgte. Es war irgendein Whisky. Sie spürte das Brennen, wie es ihre Kehle und Speiseröhre hinabrann und einen wärmenden Impuls durch ihre Glieder schickte.

„Tja, hat noch irgendjemand Lust, hierzubleiben? Wahrscheinlich nicht“, sagte Vince. „Ich auch nicht.“

Da alle seine Ansicht teilten, verließen sie den Club wenig später und als Chandra einen Blick auf ihren PDA warf, stellte sie fest, dass mehr Zeit vergangen war, als sie angenommen hätte. Es war bald Mitternacht. Aber Vince hatte sich den Abend sicherlich länger vorgestellt und auch sie musste zugeben, dass das durchaus ihr merkwürdigster Clubbesuch war. Sie hatte zu viel emotionales Chaos verspürt.

Auf dem Weg zum Auto fragte sie Zayn: „Wer ist dieser Glenn?“

„Jemand, den wir von damals aus der Schule kennen.“

„Ach so.“ Mehr traute sie sich nicht, denn sie verstand zu wenig und fühlte sich ausgeschlossen. Sie wusste nicht, von was dieser Glenn gesprochen hatte, aber es stand außer Frage, dass es Zayn erzürnte, auch wenn er dies kaum zeigte. Doch sie erkannte den ernsten, beinahe versteinerten Gesichtsausdruck, den sie bisher nur einmal an ihm gesehen hatte und das war, als sie ihm von ihrer Vergangenheit erzählt hatte.

Auch im Auto war er ungewohnt still und auf Vince‘ Worte, dass er doch nichts auf Glenns Behauptungen geben sollte, antwortete er, wenn überhaupt, nur kurz angebunden. Als sie Vince schließlich bei sich abgesetzt hatten und auf dem Weg ins Labor waren, erreichte die Stimmung im Wagen einen neuen Tiefpunkt, keiner sagte ein Wort und Chandra hätte sich liebend gern in Luft aufgelöst. Die angespannte Atmosphäre gründete nicht nur in dem kürzlich Geschehenen, sondern ebenso in Chandras neuester Erkenntnis und dass Zayn ihr auf die Terrasse gefolgt und etwas später zusammen mit ihr wiedergekommen war, musste auch für Alyssa überdeutlich sein, die ebenfalls schwieg.

Chandra hätte fluchen können. Es stand ihr nicht danach, in so eine komische Situation zu geraten. Alles, was sie wollte, war … Ja, was eigentlich? Ein Seitenblick auf Zayn verriet ihr, was sie wollte.

Sie wollte ihn verstehen, mehr über ihn wissen – wissen, was ihn so bedrückte – und es ärgerte sie, dass sie nun, nach immerhin schon zweieinhalb Wochen, noch immer nur so wenig von ihm kannte. Das würde sie ändern.

Aber als sie im Labor angekommen waren, Alyssa sich im Erdgeschoss von ihnen verabschiedete und sie gemeinsam mit Zayn nach oben zu ihren Zimmern lief, klebte ihre Zunge wieder am Gaumen und die Wirkung des Whiskys verlieh ihr auch keinen neuen Mut.

Vor ihrem Zimmer wünschte Zayn ihr eine gute Nacht und schenkte ihr ein schwaches Lächeln, aber es war nicht so aufrichtig wie die, die sie sonst zu sehen bekam. Sie ließ ihre Chance verstreichen, als er zu seinem Zimmer ging. Was hätte sie auch tun sollen? Ihm hinterherstürmen und sich die Klamotten vom Leib reißen, um ihn irgendwie aufzumuntern? Sie war nicht gut im Reden. Sie kannte ihn doch kaum.

Schnell schlüpfte sie in ihr Zimmer, bevor sie auf dumme Gedanken kam. Mit schwirrendem Kopf fiel sie aufs Bett und bemerkte erst jetzt, dass sie seine Jacke noch immer trug. Sie zog den Kragen des zu großen Kleidungsstückes an ihr Gesicht und sog den vertrauten Duft auf. Mit einem zufriedenen Lächeln und einem flatternden Herzen glitt sie ungewöhnlich schnell in einen traumlosen Schlaf.

Sorglosigkeit

Die nächsten Tage vergingen und Chandra traute sich nicht mehr, Zayn wegen des Vorfalls von neulich anzusprechen, selbst dann nicht, als sich seine Stimmung längst wieder normalisiert hatte. Allgemein hatte sie die Woche über viel Zeit alleine verbracht, um ihre Gedanken, die seit dem einprägsamen Abend ziemlich wirr waren, zu ordnen. Dieses Verfahren war ihr allerdings kaum geglückt. Permanent schien ihr Innerstes nur um ein einziges, verdammtes Thema zu rotieren. Mehr um eine Person als um ein Thema.

Sie blickte aus ihrem Fenster, während sie so vor sich hin sinnierte, und entdeckte im Garten Zayn und sein Riolu, die ausgestreckt auf dem Rasen lagen und offenbar die Sonne genossen. Kurzerhand entschloss sie, zu ihnen zu gehen. Sie hatte sich mies gefühlt, dass sie ihm letztens nicht doch hinterhergegangen war, wo er sich doch auch um sie gekümmert hatte, als es ihr schlecht gegangen war. Allerdings war sie in der Nacht sofort eingeschlafen und am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen und verschmiertem Makeup sowie eingewickelt in Zayns Jacke aufgewacht. Wie unangenehm. Da konnte sie sich echt Besseres vorstellen.

Im Garten angekommen wollte Chandra sich an die beiden heranschleichen. Zayn hatte die Arme hinter seinem Kopf verschränkt und als sie keine große Distanz mehr trennte, erkannte sie seine geschlossenen Augen. Lustigerweise lag Riolu in genau der gleichen Pose da, nur dass sein linkes Ohr zuckte, als Chandra durch das Gras schlich. Seine Ohren waren viel besser als die eines Menschen, daher war es kein Wunder, wenn es sie gehört hatte. Ansonsten rührte es sich nicht. Wenn es erkannt hatte, dass es sich lediglich um Chandra handelte, verspürte es wohl nicht den Drang, seinen Trainer aufzuklären. Es hatte sich vermutlich daran gewöhnt, dass sie neuerdings oft in dessen Nähe war. Zayn hingegen wusste noch nichts von seinem Glück.

So leise wie möglich legte sie sich hinter ihm ins Gras, stützte sich mit den Armen ab, bis ihr Gesicht über seinem war. Er hatte sie tatsächlich nicht bemerkt. An was dachte er bloß? Ein Teil von ihr hätte nun gerne die Gelegenheit genutzt, um sein Gesicht, das in der warmen Sonne förmlich strahlte, unter die Lupe zu nehmen, aber sie beherrschte sich und sagte stattdessen „Na, schöner Mann“, wonach sie sich noch den Rest des Tages fragte, warum ausgerechnet das und nicht einfach „Buh“ oder etwas ähnlich Abstraktes.

Zayn riss die Augen auf und zuckte ruckartig nach oben, woraufhin seine Stirn mit ihrer kollidierte.

„Aua!“, klagte sie und kam auf die Knie, sich wehleidig den Kopf haltend.

„Verdammt, kannst du nicht aufpassen, wohin du mit deinem Dickschädel gehst?“, fuhr er sie angesäuert an, nachdem er sich aufgesetzt hatte und sich ebenfalls die Stirn rieb.

„Kannst du nicht aufpassen, wohin du deinen Dickschädel rammst?“

„Ich konnte ja nicht wissen, dass du mich aus nächster Nähe beobachtest, wenn ich es nicht merke.“

„Hab ich gar nicht, ich wollte dich nur erschrecken“, verteidigte sie sich. Das tat echt verdammt weh! Sie hatten beide Dickschädel, so viel stand fest.

Er seufzte. „Das ist dir gelungen.“

„Ja, war vielleicht nicht die beste Idee, es so zu machen … Aber Riolu hat mich bemerkt und es zugelassen, also …!“

Auf diese Worte zog Riolu, welches nach dem Zusammenstoß ebenfalls aufgesprungen war, eine Grimasse, die so viel sagte wie ‚Haltet mich bloß da raus, Menschen!‘ Das wiederum brachte Chandra und Zayn zum Lachen, was den Schmerz in ihrem Kopf etwas abschwächte.

„Wieso hast du mich nicht gehört? An was hast du gedacht?“, fragte sie neugierig.

„An dies und das. Sei nicht so neugierig“, meinte er frech.

Sie verschränkte die Arme. „Na schön, dann sag ich dir in Zukunft eben auch nur noch, was ich will.“

„Ich krieg auch so alle benötigten Informationen. Du bist leicht zu lesen, ich muss nur die richtigen Knöpfe drücken.“

„Idiot.“ Hätte sie ein Kissen zur Hand, wäre es spätestens jetzt in seinem Gesicht gelandet.

„Ich habe nur daran gedacht“, fing Zayn plötzlich an und rutschte ganz nahe an sie heran, wobei er ihr eine Hand in den Nacken legte und ihr tief in die grünen Augen sah, „wie glücklich ich bin, dass du hier bist und dass es dir gut geht.“

Diese Worte entzündeten ein kleines Feuer in ihrem Innerem, das seine Wärme durch ihren Körper schickte und ihr eine mittlerweile sehr bekannte Röte ins Gesicht trieb. Noch nie hatte jemand so etwas zu ihr gesagt. So etwas … Schönes, Aufrichtiges.

„Siehst du“, flüsterte Zayn, „und schon schmilzt du wieder dahin.“ Er schmunzelte und dann drückte er seine Lippen sanft auf ihre Stirn. „Tut es noch weh?“

„N-nein, geht schon“, stammelte sie.

Plötzlich ertönte ein lautstarkes Quaken hinter ihr, gefolgt von dem Geräusch schneller Füße, die über den Rasen rannten, und einem Kichern. Zayn entfernte sich von ihr und sah hinter sie. Kaum hatte sie sich umgewandt, tapste Enton an ihr vorbei und sprang auf Zayns Schoß. Das gelbe Wasserpokémon weitete die Arme zu einer Umarmung, aber das gestaltete sich mit den kleinen Ärmchen und dem großen Schnabel als etwas schwierig. Zayn tätschelte ihm über den runden Kopf, woraufhin es erfreut quakte. Sein kleiner Schwanz zuckte hin und her, was wohl Ausdruck seiner Freude war. Chandra strich dem Pokémon über den Rücken, woraufhin es sie für einen Moment fragend ansah, dann aber wieder ein glückliches Gesicht zeigte.

„Hey, was macht ihr hier draußen?“, fragte Jills helle Stimme. Sie war gerade bei ihnen angekommen, warf einen Rucksack auf den Boden und umarmte Zayns Riolu. „Hallo, Rio!“, strahlte sie.

„Nicht so fest, du erdrückst ihn noch“, lachte Zayn.

„Oh, ‘tschuldige!“

„Was machst du überhaupt schon hier?“

„Die letzten beiden Stunden sind ausgefallen“, erklärte Jill, offenbar sprach sie von der Schule. Es war ja gerade mal zwölf Uhr mittags, noch relativ früh also.

Zayn nickte wissend und seine Schwester holte schon wieder Luft. „Und ihr? Was macht ihr hier? Habt ihr euch etwa geküsst?“

Es war interessant zu beobachten, wenn Zayn mal für einen winzig kleinen Augenblick sprachlos war. Chandra hätte wohl darüber gelacht, wäre es nicht um ihn und sie gegangen und um eine Berührung, die sie zwar schon ein paar Mal miteinander geteilt hatten, von der aber doch niemand etwas wissen sollte.

„Wie kommst du denn auf so etwas, Jill?“

Sie grinste bis über beide Ohren. „Vince hat mir gesagt, dass ihr letztes Händchen gehalten habt und dann hat er gemeint, dass ich mal aufpassen soll, ob ihr das auch macht.“

Zayn hob eine Augenbraue. „Ach ja, das hat er dir gesagt? Wann denn?“

„Als er letztens hier war. Aber du warst nicht da und da hat er mir das erzählt.“

„Ah, hat er das, ja?“

Sie nickte. „Ja, und ich weiß, dass man nur mit jemandem Händchen hält, wenn man diese Person mag. Und wenn man jemanden küsst, dann mag man diese Person sogar richtig gerne!“

„Da hast du recht“, nickte Zayn und Chandra wusste nicht, ob sie vor Scham rot wurde oder weil sie Jills Unschuld so süß fand.

„In meiner Klasse hält ein Mädchen mit einem Jungen Händchen. Vielleicht haben die sich ja auch geküsst? Aber ich verstehe das nicht so ganz. Das ist doch irgendwie eklig.“ Sie schüttelte sich, grinste dabei aber. „Jungs sind doch doof, denen will ich meine Hand gar nicht geben. Außer du; du bist der Einzige, der in Ordnung ist. Aber alle anderen Jungs sind doof.“

„Ja, alle anderen Jungs sind doof“, stimmte Zayn ihr zu und betrachtete sie mit leichtem Lächeln. „Außerdem hast du ja Enton.“ Er hob Enton hoch und setzte ihn auf ihrem Schoß ab.

„Stimmt!“ Daraufhin gab sie dem Pokémon einen Kuss auf den Kopf.

Glücklicherweise vergaß sie nun ihre ursprüngliche Frage und fand ein neues Thema. „Chandra, wo sind denn deine Pokémon? Darf ich Flunkifer einen Riegel geben?“

Kurz war sie unsicher, ob es klug war, Flunkifer aus seinem Ball zu lassen. Allerdings mochte das Pokémon Jill fast genauso sehr wie die pinken Riegel, die es stets voll Hingabe verputzte. Da das Wetter überdies schön war, entschied sie, gleich alle ihre Pokémon herauszuholen. Sunny und Lunel waren sowieso nicht gerne im Ball und Wablu liebte es, durch die Lüfte zu flattern.

Als ihre Pokémon auftauchten, zuckte Enton zusammen und quetschte sich weiter an Jill. Besonders Flunkifer maß es mit einem argwöhnischen Blick – seit seinem unfreiwilligen Zusammenstoß mit dem Stahlpokémon war es besonders vorsichtig. Doch Flunkifer hatte nur Augen für den pinken Riegel, den Jill aus ihrem Rucksack holte. Fast schon schüchtern nahm es ein Stück davon entgegen und aß es auf. Ein Stück später war Wablu an es herangetapst und piepte einmal in Jills Richtung. Diese wollte Flunkifer gerade noch ein weiteres Stückchen des Riegels reichen, als Wablu plötzlich vorschnappte und die rosafarbene Leckerei in seinem Schnabel verschwand.

Daraufhin brach Krieg zwischen den beiden Pokémon aus. Flunkifer war mit einem Satz kampfbereit vor Wablu und äußerte sich lautstark über den Diebstahl, während der Vogel die körpereigene Watte aufbauschte und schnippisch piepsend antwortete.

„Hey, nicht streiten, es ist doch genug für euch beide da“, wollte Chandra die beiden beschwichtigen, wurde aber gekonnt ignoriert.

Wablu hob vom Boden ab, als Flunkifer nach ihm treten wollte. Dann piekte es mit seinem Schnabel nach ihm und als es das große Maul erwischte, schrie Flunkifer auf, schwang das Maul durch die Luft und traf Wablu, sodass dieses zu Boden fiel. In Sekundenschnelle war es jedoch wieder in der Luft und richtete den Blick auf Flunkifer. Ein tiefer, melodischer Gesang drang nun aus seinem Schnabel und wenn man genau hinsah, konnte man leichte Verzerrungen in der Luft erkennen – feinste Schwingungen, die Flunkifer direkt trafen. Dessen Gemeckere erstarb mit einem Mal, dann sank es zu Boden und fiel schlafend vornüber.

„Wow“, meinte Chandra baff.

„Auch eine Möglichkeit, Flunkifer ruhigzustellen“, merkte Zayn an.

„Aber Wablu, du kannst nicht einfach andere Pokémon einschlafen lassen, wann du willst“, tadelte sie ihr Wablu mit erhobenem Finger. „Und du klaust ihnen nicht einfach ihr Essen, klar?“ Flunkifer schlief zwar, aber wenn sie sich jetzt auf Wablus Seite stellte, dann würde Ersteres sie vermutlich niemals akzeptieren. Sie strich dem friedlich schlummernden Pokémon über sein kleines Köpfchen. Wablu schien bestürzt über die Rüge und bauschte seine Flügel wieder auf.

„Hey, Enton, was ist mit dir?“

Offenbar hatten die Gesangswellen auch Enton erwischt, welches hinter Flunkifer gewesen war. Es lag schnarchend an Jill gelehnt auf deren Schoß.

Zayn musste bei dem Anblick lachen. „Irgendwie wundert mich das jetzt gar nicht.“

Daraufhin lehnte Jill das schlafende Enton gegen einen nahestehenden Baum und rief nach Waaty, welches kurz darauf plötzlich aus dem Labor gestürmt kam. Als Jill schließlich außer Hörweite war, weil sie sowohl mit Waaty als auch mit dem wachen Rest von Chandras Pokémon Fangen spielte, beugte Zayn sich zu ihr.

„Lass uns heute irgendwohin fahren. Hier ist es öde“, offenbarte er.

Sie hob überrascht ihre Augenbrauen. „Wohin denn?“

„Wo willst du denn hin?“

„Meinst du das ernst?“

Er grinste. „Klar. Du hast doch Pyritus nicht verlassen, um dann jeden Tag nur dieses öde Labor zu sehen.“

„Du findest es öde? Aber du lebst doch hier.“

„Gerade deswegen finde ich es öde. Ich lebe schon mein ganzes Leben hier. Früher“, er stockte kurz und sah nach unten, „bin ich öfters mal an anderen Orten gewesen. Auch in anderen Regionen. Dann habe ich mich nur noch in Orre herumgetrieben und mittlerweile bin ich nur hier, schließlich muss ich ja auf dich aufpassen.“

Auf diese Worte schnaubte sie empört. „Musst du gar nicht!“

„Ach, gib’s doch zu, du magst es, wenn dich jemand beschützt“, erwiderte er keck. „Tu ich doch gerne. Jedenfalls, nun sag schon, wo willst du hin?“

„Ähm …“

Er schnipste plötzlich und sie zuckte zusammen. „Sag nichts, ich sehe es in deinem Blick. Du willst ans Meer. Du sehnst dich nach der Sorglosigkeit, die Menschen seit jeher verspüren, wenn sie auf die Weiten des Ozeans hinausschauen.“

Nun war es an Chandra, zu lachen. „Wow, wusste gar nicht, dass du auch Psychologe bist. Was hast du noch alles drauf? Kannst du zaubern?“

„Möglich.“

„Na gut, dann zaubere uns bitte ans Meer.“

 

******

 

Das mit dem Zaubern hatte zwar nicht so funktioniert, aber dafür brachte sie ein Bus, welcher über die Landstraße fuhr, nach Veralia, von wo aus sie den Zug nach Portaportus nahmen. Es war bereits früher Nachmittag, als sie endlich am Strand der strahlenden, tourismusträchtigen Stadt angekommen waren und diesmal, einige Wochen nach ihrem letzten Abstecher hier, war Chandra noch begeisterter. Die Promenade erblühte nun noch mehr und die Terrassen der Cafés und Restaurants waren mit bunten Blumengestecken dekoriert, die sich alle gegenseitig auszustechen versuchten.

Chandras Interesse galt aber in erster Linie der funkelnden Meeresoberfläche, die den azurblauen, sich in ihr spiegelnden Himmel in eine kräftigere Version seiner selbst abdunkelte. Voll Begeisterung entledigte sie sich ihrer Schuhe, nahm diese in die Hand und hüpfte in den feinen Sand.

Es hielten sich recht viele Menschen hier auf, was nicht verwunderte, denn es war für Ende April angenehm warm und die Brise, die stetig am Meer wehte, sorgte dafür, dass Chandras Kleid um ihre Beine flatterte. Es war ärmellos, leicht tailliert, mit schwarzem Hintergrund, auf dem sich hellrote Rosen abzeichneten – eigentlich war sie nicht unbedingt der blumige Typ, aber Alyssa hatte sie bei ihrem Shoppingtrip zu diesem Kleid überredet und nun bereute sie den Kauf keineswegs. Das schwarze, dünne Jäckchen, das sie angehabt hatte, hing nun über ihrer Umhängetasche. Das Wetter war zu gut, um keine Haut zu zeigen. Ohnehin konnte sie ein bisschen mehr Farbe gut vertragen. In Pyritus war sie ja tagsüber nicht viel draußen gewesen und selbst wenn – die Sonne dort war einfach nie so strahlend und belebend gewesen wie hier, obwohl das Klima in Pyritus allgemein wärmer und stickiger war. Meist schwitzte man nur unter einer drückenden, trockenen Luft, die zu selten von Regen befeuchtet wurde.

Chandra schob dieses Thema aus ihren Gedanken – es saß wie ein Parasit in ihrem Kopf und schlich sich ständig in ihren Fokus – und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

„Das muss echt toll sein, wenn man theoretisch jeden Tag einfach so hierher kann“, schwärmte sie, als sie mit Zayn am Meer entlanglief. Das stetige Rauschen und Schäumen der Wellen war ein beruhigender Beiklang.

„Aber meinst du nicht, dass es irgendwann langweilig wird, wenn du wirklich jeden Tag hier bist?“, fragte Zayn.

Sie sah ihn schockiert an und er überlegte, ehe er lachte. „Stimmt, wahrscheinlich nicht.“

Chandra schwieg kurz. Die Stimmung zwischen ihnen war ausgelassen und sie wollte dies keineswegs kaputtmachen, allerdings brannte sie auch noch auf die Beantwortung einiger Fragen. „Du, sag mal, was war das jetzt eigentlich letztes in dem Club?“

„Ich hätte nicht gedacht, dass du es so lange aushältst, bis du mich das fragst.“ Wenn Zayn überrascht war, zeigte er es nicht.

„Wie auch immer. Also?“

„Was willst du denn wissen?“

„Wer ist dieser Glenn? Jaja, ich weiß, jemand aus der Schule und offenbar kann er dich nicht leiden. Aber wieso?“, fragte sie.

„Er war in einem Jahrgang mit Vince und mir und dachte lange Zeit, er wäre der beste Trainer der Schule. Einige Monate vor unseren Abschlussprüfungen hat die Schule ein kleines Turnier veranstaltet, an dem wir natürlich teilnahmen. Vince ist irgendwann rausgeflogen, aber Glenn und ich gewannen jeden Kampf, also standen wir uns im Finale gegenüber. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass ich durchaus eine Gefahr für ihn sein konnte, aber mit seinem sich selbst überschätzenden Ego hat er mich nicht ernstgenommen, daher war seine daraus resultierende Niederlage umso vernichtender für ihn. Für ihn war das eine Blamage vor der ganzen Schule, da meine Pokémon seine ohne viel Mühe besiegt hatten.“

„Von ihm kam also nichts weiter als heiße Luft?“

„Könnte man so sagen. Allerdings“, Zayn lachte, „hatte ich auch nicht vor, gegen so einen Idioten zu verlieren.“

„Und dass du ihn vor zwei Jahren besiegt hast, trägt er dir nun immer noch nach? Mann, was für eine Heulsuse.“

Zayn stimmte ihr nur verhalten zu und da beschlich Chandra die Frage, ob er ihr denn die ganze Wahrheit erzählt hatte. „Und war das alles?“

„Ich denke, seine Abneigung mir gegenüber ist nicht ganz unbegründet“, gestand er nach kurzem Schweigen. „Er ist zwar ein eingebildeter Vollidiot, aber ich habe es ihm und auch anderen damals wirklich nicht schwer gemacht, mich nicht leiden zu können.“

„Ach ja? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich jemand nicht leiden kann“, warf Chandra ein.

„Und doch ist es so. Ich war früher die Art von Trainer, von der ich dir heute sage, dass du einem Kampf mit so jemandem lieber aus dem Weg gehst. Ich habe nur nach Möglichkeiten gesucht, stärker zu werden und war zwar immer gut zu meinen Pokémon, aber rücksichtslos gegenüber anderen Trainern, in der Schule und auch außerhalb. Und Glenn habe ich nie als ernste Bedrohung – wenn man das so nennen mag – angesehen. Ich wusste, dass er ein aufgeblasener Idiot war, der nicht halb so gut war, wie er es glaubte. Es war ein Leichtes, ihn zu schlagen. Er war nur ein weiterer Name in einer Liste von Leuten, die ich nacheinander besiegte, um stärker und stärker zu werden. Tja, ich war zwar der beste Trainer der Schule, dafür aber ebenfalls ein arroganter Arsch.“

Bei seinen letzten Worten klang er, als widerte ihn diese Tatsache selbst an, was Chandra zu folgender Frage brachte: „Was ist passiert, dass du das heute nicht mehr bist?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin wohl irgendwann wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen.“

„Find ich gut. Ein Bad Boy-Image steht dir auch nicht.“

„Ich nehme das jetzt einfach mal als Kompliment.“

„Ist es auch. Aber sag mal, dieser Glenn hat doch noch von einer Niederlage gesprochen – im Colosseum? Bist du dort wieder ‚auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen‘?“, wollte Chandra wissen.

Zayn schüttelte den Kopf. „Nein, das war schon vorher. Beim Turnier war ich wieder vernünftig und mir war klar, dass es dort deutlich bessere Trainer geben kann und wird, mit stärkeren Pokémon und deutlich mehr Erfahrung. Und so ist es ja dann auch gekommen. Wir haben uns wacker geschlagen, aber im Halbfinale sind wir ziemlich deutlich ausgeschieden. Aber das war okay; es gibt nun mal immer jemanden, der besser ist als man selbst. Glenn versteht das nicht und deswegen wird er auch immer zu bemitleiden sein.“

Chandra wusste darauf keine Erwiderung, aber es gefiel ihr, mehr über Zayn zu erfahren. Er sprach selten über sich und meist nur sehr verhalten – so zwar auch jetzt, aber immerhin erzählte er ihr überhaupt etwas.

„Aber ein bisschen kann ich ihn auch verstehen“, fuhr Zayn auf einmal fort. „Es ist nun mal nie schön, eine Niederlage zu erfahren, wenn man sich selbst sehr viel besser glaubte – oder wenn einem ein Sieg sehr viel bedeutet hätte.“

„Was meinst du?“

„Ich habe damals sehr viel mit meinen Pokémon trainiert, damit wir stark genug werden, um im Colosseum teilnehmen zu können. Dort kann nicht jeder einfach so antreten, du musst schon zuvor einige Tests, darunter auch Testkämpfe, bestehen, um dich als qualifiziert zu erweisen. Es war mir sehr wichtig, dort teilzunehmen – nicht, weil ich wissen wollte, wie stark ich oder besser gesagt meine Pokémon waren, aber, ja … Die Niederlage war schon ein herber Schlag, den ich verkraften musste. Aber nun ist das in Ordnung. Irgendwann werde ich es wieder versuchen und dann ja vielleicht gewinnen.“ Er lächelte leicht.

Chandra hatte sich ganz gewiss nicht den Hauch Traurigkeit in Zayns Worten eingebildet, doch so schnell er in diese eingetaucht war, zog er sich nun auch wieder zurück und ließ doch recht hoffnungsvoll klingende Worte übrig. Sie akzeptierte, dass er nicht länger darüber sprechen wollte und ihr kam das ganz recht – so gerne sie auch mehr über ihn erfuhr, so groß war auch ihre Angst, versehentlich etwas Falsches zu äußern und ihn zu verletzen. Schließlich war sie nicht dumm und merkte, dass noch mehr dahintersteckte, als er zum jetzigen Zeitpunkt offenbarte.

„Das wirst du ganz bestimmt“, sagte sie aufmunternd. „Du bist der beste Trainer, den ich kenne.“

„Na ja, du kennst ja auch nicht gerade sehr viele“, zog er sie daraufhin auf.

„Das mag stimmen, aber … Mensch, kannst du nicht einfach mal ein Kompliment annehmen?“

„Na gut“, seufzte er und lächelte anschließend. „Danke für dein Lob, es bedeutet mir sehr viel. Aber jetzt genug Trübsal geblasen. Kennst du das Colosseum? Es liegt nah am Meer. Wenn du hier immer weiter den Strand entlangläufst, kommst du irgendwann dort an.“

„Ich kenne es nur vom Hören, ich war noch nie dort, wie du dir denken kannst“, erwiderte Chandra. Um ehrlich zu sein, wusste sie nicht einmal genau, wie es aussah. In Pyritus gab es auch ein Colosseum, in welchem regelmäßig Kämpfe ausgetragen wurden, aber es war wohl deutlich kleiner als das größte Colosseum Orres, erheblich schäbiger und die Wettkämpfe, die dort stattfanden, wurden mit Sicherheit mit unlauteren Regeln ausgetragen, ganz zu schweigen von den illegalen Machenschaften, die sich um das Colosseum rankten. Von den Cryptopokémon, die dort zuhauf anzutreffen waren, ganz zu schweigen. Chandra war noch nie dort gewesen.

„Irgendwann gehen wir zusammen dorthin“, meinte Zayn und holte sie sie wieder zurück an den Strand. „Irgendwann, wenn Pyritus keine Bedrohung mehr darstellt und all das vorbei ist.“ Er musste es nicht beim Namen nennen, sie wusste auch so, was er meinte. „Dann kannst du mich anfeuern.“

Sie kam nicht umhin, etwas rot zu werden. Irgendwann. Das klang so lange hin, so weit dachte sie gar nicht. Denn was würde sein, wenn „all das“ vorbei war? Sollte es das denn je sein? Dann hätte sie doch keinen Grund mehr, hier zu sein, bei Zayn, und er hätte keinen Grund mehr, sie, wie er es nannte, beschützen zu müssen.

Im Moment wollte sie nicht an die Zukunft denken. Dann wanderten ihre Gedanken nämlich auch zu all dem, was es bis dahin noch zu überwinden galt, und das jagte ihr eine Heidenangst ein.

Aber nichtsdestotrotz lächelte Chandra unsicher und stimmte ihm zu. Wenn er glücklich schien, war sie es auch.

Sie liefen noch ein wenig am Strand entlang, wobei Chandra im seichten Wasser beinahe über ein angespültes, schlafendes Krabby gestolpert wäre, hätte Zayn sie nicht rechtzeitig zur Seite und an sich gezogen, was sie sehr nervös gemacht hatte.

„Hast du Lust auf einen kleinen Übungskampf?“, fragte Zayn sie nach einer Weile, aber er meinte nicht gegen sich, sondern gegen jemand anderen. Allerdings wusste Chandra nicht, wie sie jemanden finden sollte, der gegen eines ihrer Pokémon kämpfen wollte, wenngleich es hier genügend Menschen gab und man hin und wieder auch ein kleineres Pokémon sichtete. Es erschien ihr doch reichlich seltsam, einfach jemand Fremdes nach einem Kampf zu fragen.

Aber Zayn bewies ihr, dass es offenbar genau so ging. Er wies sie an, zu warten, woraufhin sie sich in den leicht erwärmten Sand setzte. Dann verfolgten ihre Augen mit deutlicher Neugier, wie er in der Nähe einige Leute ansprach. Sie selbst würde sich so etwas nicht trauen. Woher konnte sie denn wissen, ob die Person beispielsweise überhaupt ein Pokémon hatte? Und sie konnte doch von niemandem erwarten, ihrem Ersuchen nachzukommen.

Zayn wurden augenscheinlich drei Ablehnungen zuteil, doch dann kam er mit einem braunhaarigen Mädchen zurück, das sicherlich ein oder sogar zwei Jahre jünger war als Chandra. Sie stellte sich als Madison vor und Chandra entgingen nicht die schmachtenden Blicke, die sie Zayn zuwarf. Vielleicht fühlte sie sich ja geschmeichelt, dass er sie angesprochen hatte, doch diese Illusion konnte sie sich gleich abschminken. Zayn war es nur darum gegangen, einen Trainingspartner für Chandra zu suchen und sie würde den Teufel tun, gegen das Mädchen zu verlieren.

Dennoch war sie aber auch ein wenig aufgeregt, denn es war das erste Mal, dass sie gegen jemanden kämpfte, der ihr gänzlich fremd war. Sie suchten sich eine etwas abgelegene Stelle des Strandes, wo sie niemanden störten. Der Strand war hier recht breit und die Promenade war vor lauter Dünen längst nicht mehr zu sehen.

Chandra stellte sich Madison in einigem Abstand gegenüber und wühlte in ihrer Tasche nach ihren Pokébällen. Sie hatte sie erst kürzlich mit kleinen, runden Aufklebern verziert, um sie, oder genauer gesagt die darin enthaltenen Pokémon, besser auseinanderhalten zu können. Auf Psianas Ball klebte ein violetter Punkt, auf Nachtaras Ball ein schwarzer, Flunkifers Kapsel zierte ein grauer Punkt und bei Wablu hatte sie sich logischerweise für einen hellblauen entschieden. Eigentlich wollte sie für diesen Kampf Wablu nehmen, da das kleine Vögelchen auf ein Training brannte, doch ihre Hände waren überfordert mit der Tasche und den Bällen, sodass ihr der Pokéball mit dem grauen Punkt aus der Hand und zu Boden fiel. Und wie musste es nicht anders sein, sprang die Kapsel dabei auf und offenbarte sogleich Chandras stures Flunkifer, das einen interessierten Blick über den Strand warf.

„Dann hast du dich also für Flunkifer entschieden!“, rief Madison entschlossen und Chandra warf einen unsicheren Blick zu Zayn, der ein wenig entfernt von ihr stand.

Kämpfen – mit Flunkifer? Konnte das gut gehen?

Aber Zayn zuckte auch bloß entschuldigend mit den Schultern und sie seufzte. Wieso musste sie nur immer so verdammt schusselig sein? Flunkifer hätte sie bestimmt auch wieder ausgelacht, läge seine Aufmerksamkeit nicht auf dem Pokémon, das Madison nun aus seinem Ball gelassen hatte.

Es war klein, himmelblau gefärbt und sein ganzer Körper war eine einzige Kugel. Auch die abstehenden, großen Ohren waren kreisrund mit rotem Innenfell. Ein dünner, schwarzer, aber gezackter Schwanz hinter seinem Rücken endete in einer ebenso hellblauen Kugel. Lediglich sein Bauch, direkt unter seinem kleinen Gesicht mit den putzigen, runden Augen, hatte eine kreisrunde, weiße Färbung. Seine Arme und Beine wirkten lächerlich klein im Vergleich zum restlichen Körper des Marills.

Das sollte zu schaffen sein – selbst mit Flunkifer, hoffte Chandra. „Hey, Flunkifer … Lust auf einen kleinen Kampf?“

Ihr Pokémon wandte sich zu ihr um und zu ihrem Erstaunen nickte es sogar. Vielleicht konnte ja doch noch alles gut werden und dieses Pokémon würde auch einmal auf sie hören? Es schien immerhin nicht einmal sauer zu sein, dass es am Mittag von Wablu unfreiwillig schlafen geschickt worden war.

Als der Kampf aber anfing, musste Chandra ziemlich schnell merken, dass sie sich zu große Hoffnungen gemacht hatte.

Madison startete den Kampf, indem sie ihrem kleinen Wasserpokémon einen Angriff mit Walzer befahl. Das Marill nutzte die Kugel an seinem Schwanz, um sich abzustoßen, ehe es diesen dann schützend zur Seite ausrichtete, da die Kugel, die seinen Körper bildete, nun in rasanter Geschwindigkeit über den Sand auf Flunkifer zurollte. Die kleinen Sandkörnchen hinter ihm wurde von diesem Druck aufgewirbelt, sodass Madison sogar zur Seite weichen musste.

Chandra verspürte dasselbe Drängen, als die hellblaue Kugel sich ihr und Flunkifer näherte. Sie befahl ihrem Pokémon, auszuweichen – etwas Besseres fiel ihr schlicht nicht ein –, aber Flunkifer schien nicht einmal daran zu denken. Es positionierte sein gigantisches Maul vor seinem Körper und kurz bevor Marill es treffen konnte, schlug es diesem das Maul entgegen.

Der Walzer des Marills wurde gestoppt und das Pokémon landete in normaler Körperhaltung auf seinem Rücken. In der Attacke hatte dennoch genug Wucht gelegen, um Flunkifer von den Füßen zu fegen. In hohem Bogen war es nach hinten geschleudert worden und mit dem Gesicht nach unten im Sand gelandet. Mit missmutigem Blick rappelte sich das Pokémon wieder auf.

„Hey, Flunkifer, wieso hast du nicht auf mich gehört?“, fragte Chandra wütend, aber zugleich beschämt. Wie unangenehm, wenn das eigene Pokémon in einem Kampf nicht auf einen hörte.

Und erneut zeigte sich die kleine Diva unbeeindruckt von den Worten ihrer Trainerin und stolzierte an dieser vorbei, um den Kampf wieder aufzunehmen.

„Hey, ich rede mit dir! Wenn du nicht auf mich hörst, können wir nicht weiterkämpfen.“

Zumindest diese Worte schienen zu Flunkifer durchzudringen. Sie gab einen zustimmenden Laut zurück, der zwar nicht wohlgesinnt klang, aber allemal besser war als Ignoranz.

„Vielleicht solltest du dein Pokémon besser trainieren, ehe du mit ihm kämpfst“, meinte Madison selbstsicher, woraufhin Chandra mit den Zähnen knirschte.

„Ich bin noch nicht so lange eine Trainerin“, gestand sie.

„Merkt man.“

Was für eine liebenswürdige Person! Chandra verkniff sich einen Todesblick in Richtung Zayn. Danke. Hätte er nicht eine noch nettere Person aussuchen können?

„Weiter geht’s.“ Gegen dieses Mädchen würde sie nicht verlieren. Es besaß selbst nur eine blaue Kugel als Pokémon und dennoch spielte es sich derart auf. Hätte Chandra Lunel in den Kampf geschickt, wäre dieser mit Sicherheit schnell vorbei. Ihr Nachtara hatte in letzter Zeit nicht unwesentliche Fortschritte erzielt. „Flunkifer, setz Knirscher ein!“

Tatsächlich folgte Flunkifer diesmal ihrem Befehl und ließ sich von seinen Beinen wieder zum Gegner tragen. Vor diesem öffnete es das gigantische Maul und zeigte somit dessen Spannweite, die es ihm theoretisch auch erlaubte, den runden Körper des Marills einzuklemmen.

Marills Trainerin erkannte aber die Gefahr, die in Flunkifers spitzen Zähnen lag, und rief mit geballten Fäusten: „Halt es mit Aquaknarre auf!“

Ein dünner, aber kräftiger Wasserstrahl schoss aus Marills Mund und erwischte Flunkifer frontal, sodass es seinen Angriff abbrechen musste und von der Wucht der Attacke in den Sand gepresst wurde. Als das Wasser schließlich nachgelassen hatte, schnippte Flunkifer sich mit verdrossenem Gesichtsausdruck den Sand vom Körper. Auffällig lange war das kleine Stahlpokémon damit beschäftigt und Chandras verzweifelte Aufforderung, sich doch wieder auf den Kampf zu konzentrieren, schien es zu überhören.

Sie raufte sich verärgert die Haare. Vielleicht sollte sie den Kampf abbrechen, bevor das Ganze in einer gänzlichen Blamage endete. Sie mied den Blick hinüber zu Zayn; es stand ihr wirklich nicht danach, zu wissen, was er dachte.

Nun sah auch Madison ihre Chance auf einen unkomplizierten Sieg gekommen und rief ihrem Marill zu, Tackle einzusetzen. Das blaue Wasserpokémon beförderte sich mittels eines Sprungs zu Flunkifer, aber bevor ihre Körper sich trafen, erwachte Flunkifer ruckartig aus seiner Säuberungsaktion und trat leichtfüßig einen Schritt zur Seite und aus Marills Angriffslinie. Irritiert setzte das Pokémon auf dem Boden auf und hatte im nächsten Moment Flunkifers Maul im Gesicht. Die Finte zeigte Wirkung, denn Marill rollte getroffen einige Meter durch den Sand.

Chandra wollte bereits jubeln und den Kampf mit freudigen Zurufen wieder aufnehmen, aber für Flunkifer schien ihre Meinung nicht notwendig. Es richtete sich zu voller Größe auf und formte seine rechte Hand zur Faust, woraufhin diese in ein grelles Licht getaucht wurde. Dann sprintete es zu Marill und rammte dem sich gerade erst wieder aufrichtenden Pokémon die leuchtende Faust in den Körper. Marill überschlug sich und landete dann besiegt im Sand.

Flunkifer wandte sich daraufhin ab und gab einen Laut von sich, der einem menschlichen „Pff!“ sehr ähnlich kam.

„Wow, gnadenlos k.o. geschlagen, würde ich sagen“, kommentierte Zayn vom Rand aus und Chandra sah seinen skeptischen Gesichtsausdruck.

Madison warf ihm für diese Worte einen entsetzten Blick zu und eilte dann zu ihrem besiegten Pokémon. „Oh nein, mein armes Kleines. Geht es dir gut?“ Liebevoll strich sie dem kleinen Wesen über den geschundenen Körper und holte es in seinen Ball zurück, wo es sich ausruhen konnte. Überraschenderweise wandte sie sich im Anschluss sogar an Chandra und entschuldigte sich für ihre vorherigen überheblichen Worte – sie habe schlichtweg nicht erkannt, wie stark Flunkifer sei.

Chandra konnte daraufhin nur überrumpelt nicken und zustimmen, denn sie hatte ja selbst keinen blassen Schimmer davon, was in Flunkifer steckte. Madison verabschiedete sich von ihnen und Chandra seufzte erleichtert. Alles war gut gegangen und die Nervosität in ihr flaute allmählich ab.

„Dieses Flunkifer ist echt ziemlich stark. Dieser Power-Punch war der Wahnsinn“, meinte Zayn in seiner üblich wissenden Manier, von der Chandra wie so oft nur die Hälfte verstand.

„Power-Was?“

Er formte eine Faust, mit der er erklärend nach vorne zielte. „Flunkifers letzte Attacke. Power-Punch. Ziemlich starke Attacke. Ich frage mich, wo es die gelernt hat.“

„Vermutlich dort, wo es gelernt hat, zickig zu sein“, entgegnete Chandra und ließ entnervt die Schultern sinken.

„Nimm’s nicht so ernst. Flunkifer ist nun mal unerzogen und hat einen Dickkopf. Es muss erst noch lernen, auf dich zu hören, aber dafür muss es dich erst einmal respektieren und dafür musst du wiederum versuchen, es zu verstehen.“

„Wie soll das gehen? Wir sprechen offensichtlich nicht dieselbe Sprache“, seufzte sie.

„Das ist auch nicht notwendig. Ein Pokémon drückt viel über sein Verhalten aus und wenn du dir Mühe gibst, wirst du ja vielleicht verstehen, was Flunkifer dir sagen will, wenn es das nächste Mal „zickig“ ist.“ Er hielt plötzlich inne und sah irritiert nach rechts und links. „Wo ist es überhaupt?“

„Äh, was?“ Alarmiert schweifte Chandras Blick ebenso um sich, doch der Fleck, an dem Flunkifer eben noch gestanden hatte, war leer. Sofort erweiterte sie ihren Suchradius auf den weiteren Strand und war erleichtert, als sie die kleine, dunkle Gestalt ins Augen fassen konnte, die sicherlich an die fünfzehn Meter entfernt nahe dem Wasser entlanglief, als suchte sie etwas.

Chandra stampfte durch den Sand auf Flunkifer zu, wurde aber ruhiger, je näher sie kam. Flunkifers zierlicher Körper wurde zum größten Teil von seinem Maul verdeckt, aber seine Hände, die fleißig im Sand nach etwas zu suchen schienen, sah Chandra dennoch. Vorsichtig überbrückte sie auch den letzten Meter und erkannte, wonach Flunkifer so geschäftig suchte.

Muscheln.

Konzentriert suchte das Flunkifer-Weibchen nach besonders schönen Exemplaren jener Überreste, die immer wieder mit schäumenden Wellen an den Strand gespült wurden. Seine linke Hand durchsuchte den Sand nach den leeren Hüllen und in der rechten sammelte es die bereits gefundenen. Als es an einer Stelle fertig war, tapste es gedankenverloren einige Schritte weiter. Chandra eilte ihrem Pokémon hinterher und ging neben diesem in die Hocke.

„Hey, wie wäre es mit dieser hier?“ Fragend hielt sie eine ihres Erachtens nach recht schöne, leicht rötliche Muschel in die Höhe.

Flunkifer hob neugierig den Kopf und zum ersten Mal erkannte Chandra in ihnen keinen Trotz, sondern eher den Blick eines lebensfrohen Kindes, das sich freute, wenn es etwas Schönes erspähte. Kurz darauf nahm Flunkifer Chandra die Muschel ab und suchte weiter.

Zayn zeigte sich ebenso überrascht über Flunkifers ausgeprägtes Interesse an schönen Dingen, aber da es so zumindest keinen Unfug anstellte, beschlossen sie, es noch eine Weile an der Meeresluft zu lassen.

 

******

 

Einige Zeit später, als es ungefähr halb sechs Uhr am späten Nachmittag war, lag Chandra äußerst entspannt im feinen, leicht gewärmten Sand, ihren Kopf auf ihre Jacke gebettet, und genoss mit geschlossenen Augen die stetige, angenehme Brise des Meeres.

Nach einer Weile des Muschelsuchens – an dessen Ende Chandra ihrem Flunkifer versprechen musste, die erbeuteten Schätze in ihrer Tasche mit nach Hause zu nehmen, woraufhin sich das Pokémon sogar halbwegs versöhnlich in seinen Pokéball begeben hatte – waren sie wieder hoch zur Promenade gegangen, wo sie sich an einer der etlichen Eisdielen jeweils ein Eis gekauft hatten. Im Anschluss hatten sie sich auf eine Bank gesetzt und Chandra war begeistert gewesen über den intensiven, leckeren Geschmack des Eises. Kein Vergleich zu dem herkömmlichen Eis aus dem Supermarkt. Danach waren sie erneut runter zum Strand gegangen und hatten sich ein ruhiges Plätzchen gesucht, um sich zu entspannen. Allgemein war hier nun weniger los als bei ihrer Ankunft.

„Also ich könnte den ganzen Tag so gutes Eis essen, oh man“, seufzte Chandra zufrieden.

„Hat man gemerkt“, erwiderte Zayn, aus dessen Stimme eine gewisse Amüsiertheit sprach.

„Hm …“ Chandra hätte Ewigkeiten hier liegen und einfach nichts tun können. Je mehr Zeit sie mit Zayn verbrachte, desto mehr stellte sie fest, dass sie bisher ziemlich viel vom Leben verpasst hatte. „Aber sollten wir nicht allmählich wieder zurückfahren? Wann fährt der letzte Zug?“, fragte sie.

„Es fahren noch genügend Züge. Mit dem Bus könnte es irgendwann schwierig werden. Aber vielleicht ist es sinnvoller, hierzubleiben und erst morgen zurückzufahren? Oder willst du etwa jetzt schon gehen?“

Auf die Frage hin drehte Chandra den Kopf zu ihm und bemerkte das schiefe Lächeln in seinem Gesicht. „Eigentlich nicht, aber ich dachte, dass es nicht so spät werden sollte, immerhin braucht man ja doch relativ lange. Und wie sollten wir das machen, erst morgen zurückzufahren?“

Zayn wandte seinen Blick ab. „Wir könnten uns wie beim letzten Mal ein Hotel suchen.“

Chandra überlegte und sah dafür in den blauen Himmel über sich. Für ihre Verhältnisse brauchte sie auffällig lange, bis sie hinter die Bedeutung seiner Worte gestiegen war. Augenrollend sah sie wieder nach links. „Du hattest nie vor, heute noch zurückzufahren, hab ich recht?“

„Das hat ganz schön lange gedauert“, neckte er sie.

„Na ja …“

Er stützte sich mit dem rechten Arm ab und sah auf sie herunter. „Also? Bleiben wir hier? Es gibt hier so viele schöne Hotels und wir haben erst eines getestet.“

„Aber wir haben gar keine Sachen für eine Nacht in einem Hotel dabei.“

„Wir reden hier von Portaportus und nicht von einem schäbigen Hotel in Pyritus. In den Hotels hier gibt es so gut wie alles und was es nicht gibt, kann man im Supermarkt kaufen.“

„Ach ja?“ Sie setzte sich auf und kam ihm näher. „Und worin soll ich schlafen? Ja wohl kaum in meinem Kleid.“

Für einen Augenblick musterte er ihr Gesicht, dann entgegnete er schmunzelnd: „Ich verstehe das Problem irgendwie nicht.“

Abermals verdrehte Chandra ihre Augen und legte sich wieder auf den Rücken, war aber überrascht, als es ihr hinterherkam und sich mit einem Arm neben ihrem Kopf abstützte.

„Wieso so zurückhaltend? Hast du etwa Angst?“, fragte er mit einem Unterton in der Stimme, der sie ungemein herausforderte.

„Wovor?“

Statt einer Antwort lag sein Blick auf ihrem Gesicht, das dem seinen so nah war, dass sie ein wenig nervös zur Seite sah, um ihn nicht anschauen zu müssen.

„Du hast so schöne Augen“, merkte er an, „das fällt mir erst jetzt wirklich auf.“

Die Worte halfen nicht, Chandras Nervosität zu vermindern, aber sie verschafften ihr eine innere Wärme, wohingegen die äußerliche Brise allmählich abkühlte. Unsicher sah sie wieder zu Zayn. Er hatte natürlich nicht aufgehört, sie anzuschauen und schien auch kein Problem damit zu haben.

„So ein seltenes Grün. Solche Augen haben ich bisher noch nicht gesehen“, fuhr er, nun mit recht leiser Stimme, fort.

„Na ja“, erwiderte sie unsicher, „du hast auch nicht unbedingt eine gängige Augenfarbe. Oder Haarfarbe.“

Er grinste. „Tja, was tut man nicht alles, um individuell zu sein?“

Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande, war zu mehr nicht fähig. Am liebsten hätte sie sich zur Seite und von ihm fortgerollt, denn ihr Herz schlug dank der Aufregung wie ein Hammer gegen ihren Brustkorb. Zugleich gefiel es ihr dicht bei ihm aber auch ganz gut.

Sie zuckte unmerklich zusammen, als sie seine freie Hand an ihrer rechten Seite spürte, zwar nur durch den Stoff des Kleides, aber ausreichend, um ein Kribbeln am ganzen Körper zu verspüren. Ehe sie etwas tun konnte, küsste er sie und sie schloss wie von Zauberhand die Augen. Obwohl ein Teil in ihr unbestreitbar erschrocken war und befürchtete, etwas Falsches zu tun, hörte sie ausnahmsweise einmal auf den Teil, der das wollte – der Zayn nahe sein und ihn küssen wollte. Jetzt. Über die Konsequenzen konnte sie sich später Gedanken machen. Oder morgen. Oder gar nicht.

Er bemerkte ihre Zustimmung und intensivierte den Kuss, ebenso glitt seine Hand mit mehr Nachdruck ihre Taille entlang nach unten. Sie ihrerseits legte ihre Hände an seinen Hemdkragen. Als sie sich nach einigen Momenten wieder voneinander lösten und Chandra atemlos zu ihm aufsah, fragte er, mit nun deutlich tieferer, rauerer Stimme: „Und? Möchtest du wirklich zurückgehen?“

„Nun …“, hauchte sie. Ihre rechte Hand wanderte nach oben und ihr Zeigefinger fuhr über seine Unterlippe. „Das hier können wir auch in deinem Bett tun. Wir könnten es aber auch in einem großen, bequemen Hotelbett tun mit Aussicht auf das Meer.“

Die Lippe unter ihrem Finger verzog sich zu seinem Grinsen. „Na dann, such dir eines aus“, flüsterte er und beugte sich zu ihr, um ihre Lippen für einen kurzen Moment wieder zu vereinen. Kurz darauf sprang er plötzlich auf die Beine und zog sie mit einem Ruck ebenfalls nach oben. Erschrocken stolperte sie, wie wohl auch von ihm erhofft, in seine Arme und sah mit geröteten Wangen zu ihm auf.

Sie herrschte sich jedoch gleich danach an, sich nicht derart schüchtern und verklemmt zu benehmen und drehte sich bemüht selbstbewusst um. Ohne lange zu zögern, entschied sie sich für das Hotel hinter der Promenade, welches die meisten Stockwerke aufwies und so auch hier unten am Strand deutlich zu sehen war.

„Dieses Hotel!“ Es war strahlend weiß mit großen Fensterfronten, in regelmäßigen Abständen geziert von großzügigen Balkonen, die auch aus der Entfernung durch ihre azurblauen Wände hervorstachen.

Chandra erschrak erneut, als Zayn die Arme von hinten um sie legte und sie einen warmen Kuss an ihrem Hals spürte. „Dann lass uns gehen“, sprach er leise an ihr Ohr, wodurch eine Gänsehaut über ihren Körper fegte.

Sie nickte, fühlte sich wie benommen von dem Gefühl in ihrem Inneren, das sie aufgeregt und ungewohnt glücklich zugleich werden ließ. Kurz darauf schnappte sie sich ihre Tasche sowie Jacke vom Boden und als sie sich unbeobachtet fühlte, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht.

In diesem Moment schien irgendwie alles perfekt zu sein.

Eine andere Art von Nähe

„Ich hab Hunger. Lass uns was essen gehen“, verkündete Chandra nuschelnd gegen die weiße, voluminöse Decke, die sie gegen ihren Körper gepresst hatte. In der letzten halben Stunde war dieser ziemlich erhitzt gewesen, aber allmählich fing sie ein wenig zu frösteln an, so ganz ohne Kleidung auf ihrer Haut.

Das Kissen neben ihr raschelte, als Zayn seinen Kopf zu ihr drehte. „Ist das etwa eine Einladung?“, fragte er neugierig.

Sie rollte sich auf die linke Seite und grinste ihrerseits verschlagen. „Möchtest du etwa für deine überaus guten Dienste mit einem Essen bezahlt werden?“

Er gab einen Seufzer der Zufriedenheit von sich und sah anschließend nach oben. „Klingt nach einer guten Idee.“

Chandra murmelte eine Zustimmung und grub sich noch tiefer in ihre Decke. Sie war Zayn sehr nahe – und das nicht nur körperlich, wie sie in einem Anflug von Erschrockenheit feststellte –, aber es durchströmte sie zugleich die Erkenntnis, dass ihr das erheblich weniger ausmachte als noch vor einigen Wochen. Bei ihrem letzten gemeinsamen, wohlgemerkt notwendigen, Aufenthalt in einem Hotel hatte sie den Gedanken, mit ihm in einem Bett zu schlafen, als fürchterlich empfunden, und nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, hatte sie ihm danach auch nicht näher als nötig sein wollen. Aber jetzt fand sie vielmehr den Gedanken komisch, bewusst auf Abstand zu gehen, ganz so, als wollte sie leugnen, dass ihr Interesse zuvor ein ganz anderes gewesen war.

Das war doch albern; sie musste sich nicht für etwas schlecht fühlen, das ihr Spaß machte. Hatte sie ja sonst auch nie. Und deswegen musste sie sich auch nicht fragen, weshalb sie so häufig Zayns Nähe suchte, während sie diese vor wenigen Wochen noch nicht länger als nötig hatte dulden wollen. Die eine Tatsache bedingte nun mal unweigerlich die andere.

Aber als sie mit fast schon nervöser Inbrunst versuchte, sich dies einzureden, musste sie auch begreifen, dass sie das keinesfalls grundlos tat. Es beschlich sie nämlich allmählich eine leise Furcht davor, was sie tun sollte, wenn alles ganz anders wäre, als sie es sich einzureden versuchte. Was sollte sie tun, wenn …

„Wieso starrst du mich mit diesem ernsten Gesichtsausdruck an? Das ist fast ein bisschen unheimlich“, rissen sie Zayns irritierte Worte aus ihrem inneren Wirrwarr.

Ertappt zuckte Chandra zusammen und begriff, dass sie ja nach wie vor zu ihm sah. Dabei hatten ihre Gedanken in den letzten Minuten das Bild vor ihren Augen überschattet – sie hatte ihn nicht wirklich angestarrt, aber für ihn musste es so wirken, als könnte sie sich gar nicht von seinem, zugegebenermaßen sehr ansehnlichen, Anblick lösen. Verdammt, schon wieder so eine peinliche Aktion ihrerseits. Stumpf in der Gegend umherstarren, und zu allem Überfluss kündigte sich nun mal wieder auf verräterischste Weise eine altbekannte Röte auf ihren Wangen an.

„Ist doch egal“, murrte sie und fügte, erleichtert, dass ihr das einfiel, hinzu: „Du solltest vielleicht deiner Mutter Bescheid sagen, dass wir erst morgen wiederkommen. Das letzte Mal, als du ohne eine Erklärung gegangen und nicht wiedergekommen bist, warst du in Pyritus – ich denke nicht, dass du ihr diesen Schrecken noch mal bereiten willst.“ Sie war bereits vom Bett aufgestanden, die Decke eng um sich gezogen. Sie belegten zwar ein Zimmer in einer sehr hohen Etage und es war ausgeschlossen, dass sie durch die Fenster irgendjemand sehen würde, aber nun behagte ihr der Gedanke doch nicht mehr so, ohne Decke durch das Zimmer zu laufen.

„Hm, stimmt wohl“, meinte Zayn und ergab sich in sein Schicksal, während sie bereits mit ihren Sachen das Bad gegenüber ansteuerte. „Aber was soll ich ihr schreiben?“

Als hätte sie ihn bereits nicht mehr gehört, schob sie sich mit der Decke durch die Tür und schloss diese hinter sich.

Das war glücklicherweise nicht ihr Problem. Schließlich war das alles seine Idee gewesen – hierherzukommen, hierzubleiben.

Nachdem sie an den großen, kreisrunden Spiegel getreten war, stellte sie fest, dass sie doch etwas zerzaust und mitgenommen aussah. Positiv mitgenommen zwar, aber dennoch. Sie machte sich an die Entwirrung ihrer Haare und vermied dabei den Blick in ihre grünen Augen. Irgendwie war es ihr unangenehm, sich länger als nötig anzusehen. Ein wenig genervt über ihre neuartige Empfindlichkeit wusch sie sich – wobei sie feststellte, dass die Handtücher hier im Badezimmer gelagert waren, sehr schön – und seufzte dabei.

„Scheiß auf die Prinzipien.“

Als sie sich etwas frischgemacht und vor allem wieder angezogen hatte, wagte sie doch wieder den Blick in ihr Gesicht. Sie nahm es in die Hände und wiegte es zu allen Seiten, betrachtete sich gründlichst. Sie sah aus wie immer und doch erschien ihr ein Teil von ihr fremd, sie erkannte sich kaum wieder. So vieles hatte sich zuletzt geändert, in einem enorm schnellen Tempo. Besonders deutlich wurde das, als sie einfach, ohne sich eines Grundes bewusst zu sein, anfing zu lächeln. Wie eine Idiotin stand sie hier, lächelte ihrem Selbst entgegen und fühlte angenehme Wärme auf ihren Wangen.

Dann aber riss ein Klopfern an der Tür Chandra aus ihrer Seligkeit, und sie schreckte auf. „Hey, du meintest, du hast Hunger, also nicht wieder drei Stunden! Zufälligerweise habe ich nämlich auch Hunger“, hörte sie Zayns latent genervte Stimme durch die Tür.

Augenverdrehend schnappte sie sich ihren Kram, öffnete die Türe und drückte ihm die Decke entgegen, die sie ja mit ins Bad geschleppt hatte.

„Hey!“, protestierte er mit dumpfem Ton hinter der Decke.

„Du wolltest, dass ich rauskomme“, trällerte sie fröhlich und flog förmlich zu ihrer Handtasche.

Zayn warf die Decke auf das strahlendweiße Doppelbett, das ebenso hell war wie der Rest des Mobiliars, während die Wände und die seidenen Vorhänge vor den Fenstern in einem beruhigenden Anthrazit gehalten waren. Auf einem runden Glastisch, flankiert von zwei ebenso transparenten Stühlen und links vor dem Fenster gelegen, stand ein roséfarbenes Blumengesteck, das dem Zimmer einen unzweifelhaften Farbklecks verlieh.

Während Chandra im Bad gewesen war, hatte Zayn sich ebenfalls wieder angezogen, was ihr sehr recht war, und das nicht etwa, weil sie die Nervosität überfiel. Alles andere wäre nur einfach sehr … komisch gewesen.

„Ich meinte nicht, dass du mich ersticken sollst.“

„Mhm“, nickte Chandra und wühlte in ihrer Tasche. Draußen über dem Ozean ging bereits die Sonne unter und tauchte das Wasser in ein feuriges Farbspiel, aber mit ihr schwand auch die angenehme Wärme des Tages. Also schlüpfte sie in ein Paar hoher Kniestrümpfe, ehe sie in ihre Schuhe sprang. Sie sah Zayn ins Bad verschwinden und nahm sich das Recht heraus, ihn nachzuahmen: „Aber keine drei Stunden, ja?“

Seltsam erheitert warf sie sich auf das Bett und starrte hinauf zu dem runden Kronleuchter an der Decke. Sie vermochte nicht zu sagen, wann sie sich das letzte Mal so leicht und beflügelt gefühlt hatte. Vielleicht noch nie.

„Bist du dann so weit?“

Chandra kam in die Gegenwart zurück, in der Zayn bereits wieder vor ihr stand. „Oh ja!“ Ehe er sich versah, war sie bereits aus dem Zimmer auf den Gang getreten. „Los, ich sterbe bereits vor Hunger.“

„Himmel, seit wann hast du denn so gute Laune?“ Zayn betrachtete sie äußerst skeptisch, während er sich seine dünne Jacke überwarf und dann die Tür zuschloss.

„Hast du nach gutem Sex etwa keine gute Laune? Fände ich ziemlich merkwürdig.“

Er warf einen Blick den Gang entlang, aber da war niemand, der ihre Worte hätte hören können. „Stimmt wohl“, schmunzelte er.

Nach einigen Minuten, eine recht lange Fahrt mit dem Aufzug nach unten und die Durchquerung der Eingangshalle später, schritten sie durch die gläsernen Drehtüren nach draußen in die frische Abendluft. Der Bereich vor dem Hotel bestand aus einer kleinen Parkanlage mit einem gepflegten, grünen Rasen. Der mit hellen Pflastersteinen bedeckte Weg vor ihnen war zu beiden Seiten mit den unterschiedlichsten Blumengestecken geschmückt und nach etwa der Hälfte zierte ein runder Springbrunnen den Pfad.

Besagter Springbrunnen war Chandra bereits ins Auge gestochen, als sie vorhin beim Hotel angekommen waren – oder besser gesagt, was sich im Brunnen befand. Sie hatte nicht viel Zeit gehabt, sich die Figur genauer anzuschauen, aber so wie vorhin durchdrang sie auch jetzt ein merkwürdiges Gefühl, als sie die steinerne Skulptur ins Auge fasste, die beinahe majestätisch in die Höhe ragte. Sie war die Abbildung eines schlangenartigen, anmutigen Pokémon, aus dessen geöffneten Maul in ruhiger Gleichmäßigkeit Wasser in den Brunnen plätscherte, wo es den rötlich schimmernden Himmel spiegelte. Ein Horn zierte den schmalen Kopf des Wesens und aus dem Wasser ragte ein fächerartiger Schweif.

Nach wie vor war sich Chandra sicher, dass sie dieses Pokémon noch nie zuvor irgendwo gesehen hatte, nicht einmal in Büchern oder im Fernsehen, aber schon vorhin war ihr blitzartig die Erkenntnis gekommen, dass es sich bei dem dargestellten Geschöpf um ein Milotic handelte. Dabei hatte sie doch auch nie von diesem Namen gehört … Und doch schien es ihr seltsam vertraut, als würde sie es von irgendwoher kennen. Oder bildete sie sich ihr Wissen nur ein? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

„Du, Zayn, sag mal, welches Pokémon ist das?“ Sie blieben für einen Moment neben dem Brunnen stehen.

„Ein Milotic.“

Dann unterlag ihr Geist also keinen sonderbaren Fantasien. Erklären ließ sich ihr Wissen allerdings nicht. „Es sieht sehr schön aus“, meinte sie, als sie weitergingen.

„Milotic gilt seit jeher als das schönste aller Pokémon, es ist, beziehungsweise seine Vorentwicklung Barschwa, sehr selten und es ranken sich viele Sagen und Mythen um seine Gestalt. Man spricht ihm eine beruhigende Wirkung zu, mit der es ihm möglich sein soll, die Gemüter von Menschen und Pokémon zu besänftigen“, erklärte Zayn.

Erneut war ihr, als sei dieses Wissen nichts Neues für sie, doch sie hätte es zuvor nicht selbst benennen können.

„Du weißt ganz schön viel über Milotic, dafür, dass es so selten ist.“

Er lachte verschmitzt. „Na ja, vielleicht nicht so selten, wie du jetzt denkst. Alyssa hat ein Milotic. Wenn du also mal eines in echt sehen willst, frag sie einfach.“

Damit hatte sie wiederum nicht gerechnet. Fast wäre sie versucht gewesen, zu sagen: ‚Das schönste Pokémon für das schönste Mädchen‘, aber Zayn hätte es entweder überhaupt nicht oder aber zu gut verstanden, außerdem wollte sie die Stimmung nicht trüben, so verkniff sie sich jene Worte lieber.

„Vielleicht mache ich das ja mal.“

 

******

 

Der Abend verlief bis zu einem gewissen Punkt hin großartig. Zayn war zwar niemand, der seinen Gefühlen allzu überschwänglich Ausdruck verlieh, aber eine angemessene Menge Alkohol konnte selbst bei ihm für Erheiterung und ein Nachlassen diverser Hemmungen sorgen. Kein Wunder also, dass er bereits beim zweiten Cocktail angekommen war.

Nachdem sie das Hotel verlassen hatten, hatten sie ein kleines, aber atmosphärisch sehr angenehmes Restaurant an der Promenade gefunden, in dem sie sehr gut, wenn auch nicht gerade günstig gespeist hatten. Im Anschluss daran hatte Chandra vorgeschlagen, sie könnten doch noch in eine Bar gehen, schließlich war der Abend noch jung. Zayn hatte zugestimmt – er verbrachte sehr gerne Zeit mit Chandra und wenn es nach ihm ging, dann hätte der Abend noch eine kleine Ewigkeit lang gehen können. Zwei Straßen von der Promenade entfernt hatten sie schließlich eine schnuckelige Bar gefunden, die ideal war, um ein wenig zu trinken und sich dabei zu unterhalten, ohne einem Hörschaden zu erliegen, denn die Musik hier war in angenehmer Lautstärke gehalten. Ganz anders als in dem Club, in dem sie neulich gewesen waren.

Zayn ging nur bedingt gerne in Clubs. Meist wurde er von Vince mitgeschleppt und dieser lamentierte jedes Mal über Zayns geringe Bereitschaft, dort zu feiern, aber er fand nun mal keine Begeisterung daran, wildfremden, betrunkenen Menschen nahezukommen, die ihre Hände nicht bei sich behalten konnten. Da war es ihm doch wirklich viel lieber, hier mit Chandra zu sitzen und zu reden, schon allein deshalb, weil er so ihr Lächeln sehen konnte, das ihre Augen jedes Mal dazu brachte, im dämmrigen Licht der Deckenleuchten wie geheimnisvolle, dunkle Smaragde zu funkeln. In einer anderen Situation hätte es ihn womöglich nervös gemacht, ihr auf so eine persönliche, nicht intime Art nahe zu sein, aber der Alkohol verrichtete einen guten Dienst und legte sich in seinem Inneren wie ein wärmender Mantel um alle unangenehmen Gefühle.

„Hey, bist du noch da? Hallo?“ Chandras Hand wedelte plötzlich vor seinem Gesicht herum, und er schärfte seinen Blick wieder. Sie hatte sich über den runden, holzfarbenen Tisch gebeugt.

„Was? Ja, klar, natürlich.“ Er grinste schief und hoffte, nichts Wichtiges von dem, was sie zuletzt gesprochen hatte, überhört zu haben.

„Mensch, so viel hast du doch gar nicht getrunken, dass du hier schon wegtreten kannst“, zog sie ihn auf.

„Ich bin ja auch gar nicht weggetreten. Ich bin hier über absolut alles perfekt im Bilde. So zum Beispiel auch darüber, dass der Kellner vorhin ganz schön mit dir geflirtet hat.“ Zayn hatte das gar nicht anmerken wollen, doch nun waren ihm die Worte entwichen. Allerdings so souverän, dass Chandra unmöglich eine tiefere Bedeutung in sie hineininterpretieren konnte.

Was sie augenscheinlich auch nicht tat. Sie grinste lediglich, nahm einen Schluck ihres orangeroten Cocktails und fragte: „Ist da etwa jemand eifersüchtig?“

Er lehnte sich seinerseits zurück und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das jeden Zweifel mit sich trug. „Natürlich nicht.“

„Gut.“

Ihm kam etwas anderes in den Sinn, wie er sie so betrachtete. „Das neulich im Club tut mir leid.“

Nun hob Chandra irritiert den Kopf. „Was meinst du?“

„Dass Alyssa dich einfach allein gelassen hat. Du kanntest schließlich niemanden außer uns und ich war auch nicht da“, erklärte er.

Auf seine Worte hin machte sie einen seltsam ertappten Eindruck und zuckte mit den Schultern, wobei es ihm nicht entging, wie sie seinen Blick zu meiden versuchte. „Ach, ist schon okay …“

„Dennoch. Sie hätte das nicht tun sollen. Immerhin waren wir diejenigen, die dich mit dorthin geschleppt haben.“

Chandra schüttelte den Kopf und entgegnete: „Na ja, genaugenommen hat Vince uns alle mit dorthin geschleppt. Das ist nicht dasselbe.“

„Das stimmt allerdings.“

„Und außerdem“, fuhr Chandra mit einem gesteigerten Engagement wieder fort, als hätte sie den kurzen Anfall von Unsicherheit hinter sich gelassen. „Es ist ja nicht so, als wäre ich eine Anfängerin, was Clubs und dergleichen angeht. Ich mein, ich finde mich da schon zurecht. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich auch ohne euch Spaß haben können.“

„Aber du hast nicht gewollt? Also, ich meine, du hättest ruhig … was auch immer tun können …“ Zayn stockte, denn er wurde sich mitten in seinen Worten bewusst, dass er deren implizite Aussage gar nicht vertrat. Aber er stand ihm auch nicht danach, seinen Gedanken zu Ende auszuführen. Zumal dies ohnehin Chandra übernahm, die erneut gleichgültig mit den Schultern zuckte.

„Was? Mich betrinken und an den nächstbesten Typen ranschmeißen für eine schnelle Nummer? Ja, in Pyritus vielleicht, aber nicht hier – außerdem wär das verdammt seltsam gewesen. Du musst dir also gar keine Gedanken machen.“ Sie nahm einen raschen Schluck aus ihrem Glas und musterte im Anschluss, mit zusammengezogenen Brauen, den Tisch, während ihr Gesicht von einem nicht zu übersehenden rötlichen Schimmer heimgesucht wurde.

Zayn fühlte sich nicht weniger unbehaglich, als sie aussah. „Ich mache mir keine Gedanken“, stellte er klar, bemüht um einen lockeren Tonfall, was ihm nur mäßig gelang. Es klang vielmehr abstreitend als beschwichtigend.

Ehrlich gesagt interessierte ihn das Thema ja schon. Damals in Pyritus, als Chandra ihm von ihrer Vergangenheit erzählt hatte, hatte sie das Ganze nur knapp angeschnitten – wie sie ihre Zeit verbracht hatte, nachdem Ray ihr eine eigene Wohnung besorgt und sie von da an ein mehr oder weniger freies Leben hatte führen können. Er wusste um ihr bislang freizügiges Leben und dementsprechend wenig verwundert war er über ihre Offenheit ihm gegenüber gewesen. Allerdings hatte er seither nicht mehr viel über ihre Lebensweise nachgedacht; andere Sachen hatten schlichtweg Vorrang. Und bei ihrem damaligen Gespräch wäre es ihm falsch erschienen, sich an diesem Aspekt festzuklammern. Mal abgesehen davon, dass er zu beschäftigt gewesen war, gedanklich all die Gräuel zu verarbeiteten, von denen Chandra ihm berichtet hatte.

Sicherlich hätte er es seitdem ansprechen können, immerhin war Sex zwischen ihnen nun wirklich kein unbekanntes Thema. Aber einerseits wollte er ihr nicht das Gefühl geben, sie nur darauf zu reduzieren, und andererseits war er sich bislang selbst nicht sicher gewesen, ob er unbedingt mehr darüber wissen musste.

Zayn wollte aber gerne nach wie vor mehr von Chandra wissen. Noch viel mehr als das, was er bisher wusste, wovon ihn bereits so vieles faszinierte. Er konnte ihr stundenlang zuhören und zurzeit war es ihm unvorstellbar, dass ihn etwas derart abschrecken konnte, dass er dieses Interesse verlieren würde. „Wie war das eigentlich in Pyritus, wenn du dort in Clubs gegangen bist? Das war vermutlich anders als hier.“

Chandras ertappter Gesichtsausdruck offenbarte, dass sie nicht mit dieser Frage gerechnet hatte. „Was willst du denn wissen?“

„Egal was. Mich interessiert alles“, lächelte er.

„Hm, ich glaube, diese Ansicht wirst du noch ändern …“

„Lass es uns doch herausfinden. Was könnte es bitte an der absolut faszinierenden Chandra geben, das mich abschrecken könnte?“

Sie schlug sich die Hände vors Gesicht. „Man, du bist so bescheuert. Einiges gibt’s da, einiges!“, klagte sie. Nach einer kurzen Pause allerdings richtete sie sich wieder auf. „Natürlich war das in Pyritus anders. Weißt du, ich bin nicht fast jeden Abend in Clubs gegangen, weil ich mein Leben so toll fand und unbedingt Spaß haben wollte. Im Gegenteil. Mindestens die Hälfte der Zeit, wenn nicht sogar mehr, wollte ich einfach nur vergessen. Ich war auch nicht jedes Mal betrunken. Oft hat es gereicht, angetrunken zu sein. Das hat mich bereits den Großteil meiner Probleme vergessen lassen und den Rest hat dann meist irgendein Kerl gemacht. Gott, das klingt so billig. Ist es vermutlich auch, ich weiß.“ Sie unterbrach sich und sackte wieder etwas in sich zusammen.

„Blödsinn. Red weiter“, forderte Zayn sie auf.

„Na gut. Also, weißt du, ich bin ja nicht blöd. Es kann in Pyritus schon gefährlich sich, sich wahllos zu betrinken. Irgendwelche Ärsche, die das ausnutzen, gibt’s immer. Deswegen habe ich immer aufgepasst. Na ja, meistens. Ein paar Idioten habe ich über die Zeit schon erwischt. Aber da ist nix passiert, bis wir bei mir waren und dort haben Sunny und Lunel jeden Idioten gehörig in seine Schranken verwiesen. Und glaub mir, wer einmal Bekanntschaft mit ihrer dunklen Seite gemacht hat, der kommt nicht mehr wieder.“ Sie lachte über ihre eigenen Worte, als dachte sie an etwas zurück.

„Na ja, jedenfalls … Nach so einem Ereignis habe ich mich immer erst mal etwas komisch gefühlt und bin ins Grübeln gekommen. Aber am nächsten Tag war dann meist alles wieder vergessen. Ich wusste mir eben nicht anders zu helfen. Wenn ich mich wirklich betrunken habe, dann meist nur, wenn Devin noch da war. Wir haben immer auf einander aufgepasst.“

„Und er hat das nicht ausgenutzt?“, fragte Zayn in so normaler Tonlage, dass er sich die Gleichgültigkeit selbst abkaufte. In Wahrheit brütete bereits seit dem Tag, an dem er diesem Devin begegnet war, die Frage in ihm, was für eine merkwürdige Freundschaft das zwischen ihm und Chandra doch war. Er jedenfalls traute es sich zu, es zu bemerken, wenn jemand, der ihm nahe war, seine persönliche Hölle durchmachte.

„Natürlich nicht!“, fuhr Chandra ihn an. „Da lief nie etwas.“

„Klar, tut mir leid. Ich wollte ihm nichts unterstellen“, erwiderte Zayn besänftigend. Insgeheim war er doch ziemlich erleichtert über ihre Worte. „Und gab’s nicht auch Male, wo du des Spaßes wegen in einen Club gegangen bist?“

„Kommt drauf an, was du unter Spaß verstehst. Selbst wenn ich traurig war und vergessen wollte, kam der Spaß meist mit dem Alkohol. Außerdem hat es mir immer Freude bereitet, mit Devin zusammen zu sein. Und na ja, Sex macht auch ziemlich Spaß, ist ja nicht so, als hätte ich mich dazu zwingen müssen. Ganz im Gegenteil. Aber ich denke, das weißt du selbst.“ Sie schenkte ihm ein wissendes Grinsen.

„Wie könnte ich das vergessen?“, erwiderte er. „Du hattest also immer nur unverbindlichen Sex – ohne irgendwelche Gefühle? Nie eine Beziehung?“

„Ja zu deiner ersten Frage und nein, ich hatte noch nie eine Beziehung.“

„Ah, wow. Wie war das?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Es war vermutlich ziemlich unkompliziert. Nur Sex, keine Gefühle. Etwas, das viele Menschen nicht auseinanderhalten können. Aber wenn man gar nicht erst anfängt, in das Verhalten der anderen Person etwas Tieferes hineinzuinterpretieren, dann klappt das ziemlich gut. Und ich habe auch nie angefangen, in irgendeinem Kerl etwas zu sehen, das ohnehin nicht da war. Die wollten immer nur meinen Körper, nicht meine Persönlichkeit. Aber ist schon okay. Ich wollte ja auch nicht mehr von ihnen. Gewissermaßen habe ich sie nur benutzt, um mich zumindest kurzzeitig wichtig zu fühlen. Und nicht einsam.“ Das Lächeln, welches sie ihm nun zuwarf, schaffte es nicht ansatzweise bis zu ihren Augen. Es schien brüchig und erzwungen.

Zayn wollte etwas sagen, um sie aufzumuntern, wie er es sonst vermochte, doch er wusste schlicht und ergreifend nicht, was das Richtige war. Es war keinesfalls so, dass sich sein Bild über sie geändert hätte. Er hatte nämlich durch und durch ein sehr positives Bild von ihr, er bewunderte und faszinierte sie und immer, wenn er sie ansah, stellte er fest, was für ein Glück ihm doch zuteil geworden war, sie an jenem schicksalshaften Tag getroffen zu haben. Ständig formten sich seine Lippen ohne sein bewusstes Zutun zu einem Lächeln, wenn er bei ihr war, und er konnte jede freie Minute mit ihr verbringen, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Ihn irritierte bloß das Gefühl, das bei seinen Worten in ihm aufgekeimt war. Es ließ ihn sich unwohl fühlen, gar ein wenig unzulänglich. Etwa Eifersucht? Aber weshalb?

Ehe er dem Gefühl weiter folgen konnte, sprach Chandra wieder. „Und, hältst du mich jetzt für eine Schlampe?“

Zayn schreckte auf angesichts ihrer Worte. Sie deutete sein Schweigen völlig falsch! Ihr Tonfall war nicht länger gleichgültig. Eine Spur Traurigkeit hatte sich in ihn eingenistet – dieselbe Traurigkeit, die ihre grünen Augen tränkte.

„Was? Nein, natürlich nicht! Wieso sollte ich?“

„Na ja, weil das eigentlich fast alle denken. Das ist halt so.“ Sie spielte beim Reden sichtlich nervös mit ihren Händen.

„Und denkst du das etwa auch?“

„Weiß nicht. Manchmal schon.“ Ihr Blick senkte sich. „Zum Beispiel dann, wenn Ray mir sagt, wie wenig er von mir hält.“

Auf diese Worte hin konnte Zayn nur mit dem Kopf schütteln.

Ray. Wie er diesen Namen mittlerweile verabscheute. Es war ihm unvorstellbar, wie viel Hass man für eine Person empfinden konnte, der man noch nie persönlich gegenübergestanden hatte. Aber all das, was er bereits über Chandras Bruder erfahren hatte, ob von ihr direkt oder von anderen, war ausreichend, um sich ein Bild von ihm zu machen. Ein Bild, welches ihm verhasst war. Jedes Mal, wenn Chandra seinen Namen erwähnte, blitzte ein sorgenvolles, ängstliches Leuchten in ihren Augen auf, und bei jedem Mal schwor Zayn sich, den dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Aber sein Zorn war jetzt fehl am Platz. Er lehnte sich über den Tisch und hob Chandras Kinn mit dem Zeigefinger an, bis sich ihre Blicke trafen. Dann ergriff er ihre Hände. „Ray hat keine Ahnung. Er kennt dich nicht. Du bist nichts von dem Schlechten, das er in dir zu sehen behauptet, sondern all das Gute, das er zu sehen nicht fähig ist, weil er ein eiskaltes Arschloch ist. Aber ich sehe dieses Gute in dir. Und ich würde dich nie für eine Schlampe oder dergleichen halten, denk das bitte nicht. Wie ich schon sagte, du kannst mich nicht abschrecken. Mit absolut gar nichts.“

Mit seinen Worten erhielt ihr Gesicht wieder etwas Farbe zurück, welche es zuvor verloren hatte. „Sicher?“

„Klar! Wir könnten ein Spiel daraus machen. Du versuchst, Dinge zu finden, die mich an dir abschrecken könnten, und ich sage dir meine Meinung dazu. Aber ich garantiere, dass ich haushoch gewinnen werde, Chandra.“ Er bemerkte, wie sie bei seiner Aussage kaum merklich zusammenzuckte.

Selbst nach all den Malen reagierte Chandra noch immer so verlegen, ja fast schon erschrocken darauf, wenn er ihren Namen aussprach, als wäre sie es nicht gewöhnt, dass ihn jemand ohne düstere Hintergedanken in den Mund nahm. Vermutlich war das auch gar nicht so abwegig.

Trotz des traurigen Gedankens musste Zayn lächeln, denn er genoss es jedes Mal, sie verlegen zu sehen. Anfangs hätte er es nicht für möglich gehalten, dass jemand wie Chandra verlegen oder gar beschämt sein konnte, aber sie konnte es sehr gut und er wurde nicht müde, dabei zuzusehen.

„Vielleicht“, sagte sie. Sie entzog ihm ihre Hände, doch es wirkte nicht so, als wollte sie Abstand suchen. Sie griff lediglich nach ihrem Glas, das, wie er erst jetzt bemerkte, beinahe leer war. Mit seinem war es nicht anders. Er hatte den Cocktail zuletzt ganz vergessen, doch das war kein Wunder. Während ihres doch recht ernstes Gespräches war ihm sein Kopf recht klar erschienen, fast schon nüchtern.

Aber womöglich hätte Chandra ihm nüchtern nicht so viel Intimes über sich erzählt und er hätte nüchtern nicht den Mut gehabt, konkret nachzufragen.

„Aber genug von meinem Drama, Zayn. Wie sieht das bei dir aus? Wie viele nette Bettgeschichten hattest du denn schon? Und du kannst mir nicht erzählen, dass da keine waren – das wirkt nämlich ganz anders.“ Als hätte sie ihn nicht gerade sehr direkt nach seinen sexuellen Erfahrungen gefragt, winkte sie besagten Kellner heran, der sie schon den ganzen Abend über förmlich mit seinen Blicken auszog und welcher erstaunlich schnell an ihrem Tisch stand. Natürlich Chandra zugewandt.

Bei dem Lächeln, das Chandra dem jungen Mann zuwarf, verwunderte es Zayn nunmehr nicht im Geringsten, dass sie bislang so viel Erfolg bei seinem Geschlecht gehabt hatte. Es hatte auf jeden Fall etwas Verführerisches inne, doch vor allem strahlte es tiefe Sympathie und Liebenswürdigkeit aus. Auch wenn Chandra etwas anderes behauptete, war es für Zayn unvorstellbar, dass alle Männer, mit denen sie jemals intim war, nur an ihrem Körper interessiert gewesen waren. Da waren mit Sicherheit einige dabei gewesen, die sich mehr als Sex erhofft, sich aber schlichtweg nicht getraut hatten, dies zu zeigen, da Chandra von vorneherein ausgestrahlt hatte, dass sie sich nicht auf mehr einlassen wollte. Und wenn Chandra nicht gerade bedrückt war wegen ihres Bruders oder verlegen wegen Zayn, dann strahlte ihr Auftreten viel Selbstbewusstsein aus. Zayn schreckte dies nicht ab, vermutlich aber viele andere Männer.

Ihm war überdies nicht entgangen, mit welch verzehrendem, sorgenvollem Blick Devin Chandra bei ihrer Begegnung betrachtet und dass er in Zayn eine Bedrohung wahrgenommen hatte, als hätte dieser sich in sein Revier gewagt. Dies schien Chandra aber nicht bewusst zu sein, und wenn sie sich wirklich nie auf etwas Ernsteres hatte einlassen wollen, hatte sie vermutlich auch bezüglich Devin dichtgemacht und war so völlig blind gewesen für sein Interesse an ihr. Zayn hätte sie darauf hinweisen können, aber zum einen wollte er sie nicht vor den Kopf stoßen und zum anderen war es einfacher, wenn sie es gar nicht wusste.

Chandra hob derweil ihr Glas an und sagte: „Noch einen, bitte.“

Nach ihr wandte der Kellner seinen plötzlich missmutigen Blick ihm zu. „Und für dich?“

„Ich nehme dasselbe wie die Dame“, grinste Zayn betont freundlich. Er konnte es dem jungen Herrn ja nicht verübeln, dass Chandra ihm den Kopf verdrehte und er selbst war zu gut erzogen, um sich auf das Niveau des eifersüchtigen Kellnern herab zu begeben. Also beobachtete er nur schmunzelnd, wie dieser zurück zur Bar huschte.

„Der Arme“, kicherte Chandra.

Zayn konnte nur zustimmen, dann sah er auf sein nun leeres Glas. „Der wievielte wird das denn jetzt? Der dritte, oder?“

„Joa. Aber die zwei waren relativ schwach. Also zumindest meine.“

„Stimmt“, erwiderte er, obwohl ihm seine Cocktails gar nicht so leicht erschienen waren. Womöglich reagierte Chandra einfach langsamer auf den Alkohol darin, schließlich hatte sie in der Vergangenheit öfter und mehr getrunken als er. „Vielleicht hat er einfach Angst, ich könnte dich abfüllen und sagt dem Barkeeper immer, er soll bloß nicht zu viel reinmachen.“

Chandra lachte. „Ach ja? Und was wäre, wenn?“

„Na ja, ich könnte ziemlich unanständige Dinge mit dir anstellen, wenn du betrunken bist.“

„Zum Beispiel?“

„Ich könnte dich in das unsagbar schöne Zimmer dieses viel zu teuren Hotels führen, schon wieder, ich könnte dich aufs Bett schmeißen und ausziehen, schon wieder. Und ich könnte –“ Doch bevor er zu Ende sprechen konnte, erschien der Kellner wieder und tauschte die leeren Gläser gegen volle aus. Nachdem er fort war, grinste Zayn selbstsicher. „Aber er weiß ja nicht, dass ich all das und mehr auch ohne Alkohol vermag.“

Er hob sein Glas und sie stießen an. Die schier elektrisierende Spannung, die dabei zwischen ihren Blicken hin und herflog, war für Zayn gewiss nicht zum ersten Mal spürbar. Er vernahm sie seit dem Abend, an dem sie sich kennengelernt hatten, wenngleich sie da verhältnismäßig distanziert zueinander gewesen waren. Jedes Mal, wenn sie miteinander schliefen, entlud sie sich, nur um danach noch aufgeladener zurückzukehren. Er war sich sicher, dass Chandra sie ebenfalls wahrnahm, allerdings war es fraglich, wie sie sie interpretierte. Jede neue Information, die er über sie erhielt, stärkte das Bild, das er von ihr hatte, nur noch. Sie war stets sehr misstrauisch – nicht verwunderlich, wenn man den schändlichen Verrat bedachte, den ihre Familie an ihr begangen hatte – und war nie in der Lage gewesen, jemanden näher an sich heranzulassen als rein körperlich. Andere Menschen aus reinem Selbstschutz wegzustoßen, das kannte er zu gut.

Sie hatte ihm schon nach einem Tag mehr Vertrauen entgegengebracht als jedem anderen zuvor und er wusste um die Kostbarkeit dieses Geschenks – ihres Vertrauens. Doch obwohl sie ihn so nahe an sich heranließ, fiel es ihr sichtlich schwer, mit den Gefühlen umzugehen, die aus ihrem Beisammensein entstanden. Auch das wunderte ihn nicht; Sex war für sie stets bedeutungslos gewesen und eine Beziehung hatte sie nie geführt.

„Hey, aber jetzt nicht von meiner Frage ablenken!“, betonte Chandra. „Also, wie sieht’s aus? Gab’s bei dir ein paar nette Abenteuer oder bist du doch eher der Typ für feste Sachen? Schwer zu sagen. So oder so denke ich, dass du bestimmt schon einigen Mädels das Herz gebrochen hast, wenn auch nicht absichtlich.“

Er hob interessiert eine Augenbraue. „Ach ja? Was macht dich da so sicher?“

„Das sagt mir meine weibliche Intuition.“

„Ach so, na klar. Dumme Frage. Aber ich muss dich enttäuschen. Ich hatte bislang nur eine Beziehung und nicht ansatzweise so viele nette Bettgeschichten wie du.“

„Aber da waren welche“, schlussfolgerte Chandra. „Erzähl mir von der Beziehung. Ich bin neugierig und du erzählst ohnehin viel zu selten etwas von dir.“

„Da gibt’s auch nicht viel zu erzählen. Die Beziehung ging zwei Jahre lang, ist jetzt ungefähr anderthalb Jahre her. Viel Wissenswertes ist da nicht“, erläuterte Zayn ungezwungen. In Wahrheit war der Knackpunkt viel eher der, dass er ihr nicht mehr erzählen wollte. Für sie schien es, als wollte er nie von sich reden, doch tatsächlich gelang es ihr einfach immer wieder, sich für das zu interessieren, worüber er nur ungern sprach. Und in diesem Fall war das Thema auch noch denkbar ungeeignet für dieses Gespräch.

Das Ding war nämlich, die besagte Beziehung hatte er nicht mit irgendeinem Mädchen geführt, das danach wieder aus seinem Leben getreten war. Sondern mit Alyssa. Die er schon sein ganzes Leben lang kannte, die ebenfalls im Labor lebte und die er jeden Tag sah. Das allein war an manchen Tagen schon kompliziert genug.

Er konnte sich wirklich Besseres vorstellen, als Chandra zu sagen, dass seine Ex im selben Haus wie er und momentan auch sie lebte.

„Wer hat schlussgemacht?“, fragte Chandra.

„Ich.“

„So viel zum Thema Herzensbrecher“, grinste sie. „Und wieso, wenn ich fragen darf?“

„Ich habe irgendwann festgestellt, dass ich ihre Gefühle nicht mehr teilte … oder zumindest, dass ich sie nicht auf die Art liebte wie sie mich.“ Seine Stimme klang träge, als er sich in den wirren Erinnerungen verlor. „Wir waren zusammen, als ich diese beschissene Phase hatte. Du weißt schon, die, von der ich dir heute erzählt habe. Nur gewinnen wollen, zu jedem ein Arsch sein und so. Jedenfalls, in der Zeit kamen wir zusammen und waren dann auch die ganze Zeit zusammen. Aber nachdem mir bewusst wurde, wie falsch mein Verhalten war, fing ich endlich wieder an, nachzudenken und alles zu hinterfragen. Und na ja, so kam es dann. Mir wurde klar, dass ich sie nicht liebte.“ Er zögerte für einen Moment, Chandra beobachtete ihn mit großen Augen. „Aber das Schlimme daran ist, dass ich nicht weiß, ob ich sie jemals wirklich geliebt habe. Auf diese romantische, hingebungsvolle „Für immer“-Art. Oder doch nur freundschaftlich. Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber ich war damals nicht ich selbst. Es war, als hätte ein anderer in mir gelebt. Und dennoch, ich habe es versucht, ich wollte ihre Gefühle teilen. Aber es hat nicht funktioniert. Es war also nur fair, das Ganze zu beenden.“ Es erstaunte ihn selbst, wie viel plötzlich aus ihm herausgekommen war. Aber er hatte all das loswerden müssen.

„Oh. Hm, ich denke, du musst dich nicht schlecht fühlen. Manchmal ist es schwer, zu wissen, was man fühlt. Das richtig zu deuten.“

„Vielleicht. Vielleicht habe ich die Beziehung auch nur akzeptiert, weil sie mir irgendwie in den Kram gepasst hat. Es war angenehm, ich konnte mich nicht beschweren.“ Er zuckte mit den Schultern, ehe er seufzte und sich durch die Haare fuhr. „Aber das macht es nicht weniger falsch. Man sollte immer ehrlich sein, mit sich und mit anderen.“

Chandra stimmte ihm nur verhalten zu. Vielleicht verlor sie ja nun wieder das Interesse. Zayn wollte weder länger über seine Beziehung mit Alyssa nachdenken noch weiterhin mit Chandra darüber reden. Es war damals schon schwer genug gewesen, Aly möglichst schonend klarzumachen, dass seine Gefühle nicht mehr für eine Beziehung reichten, und er war mehr als froh, dass sie mittlerweile wieder normal miteinander umgehen konnten. Wie Freunde.

„Und sonst? Wie kamst du dazu, es auf meine Art auszuprobieren?“

„Deine Art? Ich weiß nicht, ich hab’s einfach ausprobiert. Ich dachte mir, vielleicht ist es ohne Gefühle einfacher und auf eine Beziehung hatte ich danach sowieso keine Lust mehr. Ein paar Mädels gab es und ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass es schlecht gewesen wäre – aber irgendwie war es auch nicht wirklich gut.“

„Ich wusste gar nicht, dass du so kritisch sein kannst“, neckte Chandra ihn.

„Lass es mich anders ausdrücken. Es war gut, aber es fühlte sich falsch an. Nach jedem Mal fühlte ich mich irgendwie schlecht. Also habe ich für mich beschlossen, dass ich es sein lasse. Ich kann Sex und Gefühle nicht so gut voneinander trennen, und manchmal will ich es auch einfach nicht“, schloss Zayn seine Ausführungen.

Er realisierte erst, was er zuletzt gesagt hatte, als ihm Chandras Blick auffiel. Er zeigte eine konfuse Mischung aus Irritation und Schock, sofern er ihn richtig deutete. Fieberhaft überlegte er, wie er seine Aussage noch ändern könnte, doch vergebens. Und er wollte es auch gar nicht. Er mochte Chandra, und es war ihr gerne nahe, weil er sie mochte und nicht nur des Spaßes wegen. Nicht einmal ansatzweise deswegen. Genau das hatte ihn sich immer merkwürdig fühlen lassen. Körperliches bereitete ihm weder genug Spaß noch konnte er sich vollständig fallen lassen, wenn ihm die Person auf der anderen Seite egal war.

Außerdem – irgendetwas musste man doch immer empfinden, sondern man kein emotionsloser Stein war. Selbst Chandra konnte das nicht leugnen. Zayn war sich nur noch nicht sicher, was genau er fühlte. Neben der außerordentlich starken Anziehung, die er so noch nie zuvor verspürt hatte.

„Und wie ist es mit mir? Fühlt es sich auch falsch an?“, fragte Chandra zaghaft. Sie hatte sich ganz augenscheinlich Mut angetrunken, denn in ihrem Glas fehlte plötzlich eine beachtliche Menge.

Zayn lächelte leicht. „Nein, im Gegenteil. Es fühlt sich verdammt richtig an.“

Sie nickte daraufhin nur ganz langsam, als wäre sie in einer Trance gefangen. Wenig später fuhr sie hoch. „Ich muss mal für kleine Mädchen.“ Dann war sie auch schon weg.

Daraufhin konnte Zayn nur leicht den Kopf schütteln, aber er lächelte nach wie vor. Manchmal war Chandra so einfach und dann wieder so komplex und auch kompliziert, wenn sie vor ihren eigenen Gefühlen davonrannte. Aber er verstand das, sehr gut sogar. Wie sie selbst gesagt hatte – Gefühle waren manchmal schwer zu durchschauen und noch schwerer zu verstehen.

Nach eine Weile kam Chandra wieder, sie schien sich erholt zu haben und fing ein anderes Thema an, als hätte der Moment zuvor nie stattgefunden, und Zayn ließ das Ganze unkommentiert. Immerhin wollte er sie nicht in Bedrängnis bringen.

So verging der Rest des Abends und als ihre Gläser leer waren, bezahlten sie und beschlossen, zum Hotel zurückzugehen. Chandra wollte noch einmal zur Toilette und Zayn entschied sich dazu, draußen auf sie zu warten. Mittlerweile fühlte er sich gut erheitert und die stickige Luft verhalf seinem Kopf nicht gerade, sich weniger zu drehen, als er aufstand.

Kaum dass er draußen vor den Türen der Bar angekommen war, machte sich eine deutliche Besserung in ihm breit. Die kühle Brise, erfüllt von einem leichten Hauch Meer, durchwehte ihn förmlich und ordnete seine Gedanken wieder, nachdem diese zuvor etwas ineinander verflossen waren. Er hätte noch ewig mit Chandra so weiterreden können. Nach der vorherigen, etwas unangenehmen Situation hatte sich die Stimmung wieder gebessert und er hatte sich rundum wohlgefühlt in ihrer Gegenwart.

Er vergaß den Gedanken daran, als zwei lauter werdende Stimmen zu ihm drangen. Sie gehörten zu der Frau und dem Mann, die ebenfalls draußen vor Bar standen, etwas abseits von ihm, und je eine Zigarette rauchten.

„Ja, gut, in Pyritus vielleicht, aber hier? Bei uns? Im schönen Portaportus!“, klagte die Frau hörbar besorgt.

„Was soll es sonst gewesen sein?“, erwiderte ihre Begleitung ernst. „So ein Pokémon habe ich hier noch nie zuvor gesehen. Es hat sogar den Trainer des anderen Pokémon angegriffen. Welches Pokémon macht so etwas freiwillig?“

Zayn wurde hellhörig und wandte den Blick zu ihnen. Auf einen Schlag schien sämtlicher Alkohol aus seinem Gehirn verschwunden zu sein.

„Nur diese ekligen, bösartigen Viecher“, grummelte die Frau.

„Außerdem hat man in Newina neulich auch so ein Pokémon gesehen. Ein Voltenso. Darüber wurde sogar kurz im Fernsehen berichtet. Es war unfassbar stark, nach Einschätzungen erheblich stärker als andere seiner Art.“

„Schrecklich. Wieso auf einmal hier? Können diese grausamen Pokémon nicht einfach in dieser Drecksstadt bleiben und uns in Ruhe lassen?“

„Das löst das Problem nicht im Geringsten“, murmelte Zayn, während seine rechte Faust an seiner Seite zitterte vor unterdrückter Wut.

Cryptopokémon. In Portaportus. In Newina. Vielleicht sogar bald in Veralia und dann war es nur noch ein kleiner Sprung bis zum Labor. Seit zwei Jahren hatten sich die Cryptopokémon nur in Pyritus selbst vermehrt und in den Gebieten und Städten östlich von Pyritus. In Phenac beispielsweise hatte das Erscheinen dieser Pokémon vor einem Jahr erheblich zugenommen, obwohl die Stadt eigentlich, vor allem verglichen mit Pyritus, ein Quell an Lebensfreude war. Es war schwer vorstellbar, dass sich dort auffällig viele Cryptopokémon tummelten. Doch Phenac war von Veralia aus sehr weit weg und da es hinter Pyritus lag, war es als zweitgrößte Stadt in der östlichen Hälfte der Region ohnehin ein wenig abgekapselt.

Zayn bemerkte, dass die beiden Unbekannten ihn mit großen Augen anschauten. Offenbar hatte er doch lauter gesprochen als gedacht. Er schenkte ihnen ein verlegenes Grinsen und wandte sich ab. Nicht viel später stolperte Chandra von hinten gegen ihn, während er grübelnd vor sich hin gestarrt hatte.

„Man, wieso stehst ‘n du hier wie so ein Baum rum? Und wieso hast du nicht gewartet? Ich musste dich suchen“, nuschelte sie hörbar angetrunken.

Ohne Umstände packte er sie am Handgelenk und zog sie von der Bar fort und die Straße hinunter.

„Mensch, du hast es aber eilig“, stellte sie irritiert fest.

In der Tat hatte er es eilig. Denn er wollte vermeiden, dass Chandra irgendetwas über Cryptopokémon hörte. Nicht hier, nicht in diesem Moment, nicht an diesem Tag, der so rundum gut verlaufen war und der sich so richtig angefühlt hatte in all seiner Sorglosigkeit. Sie hatte es schlicht nicht verdient, dass ein perfekter Tag zum Schluss hin doch noch von der Finsternis jener Pokémon getrübt wurde, die ihr die Hoffnung auf ein besseres Leben, die sie so mühsam aufgebaut hatte, wieder nehmen würden.

Es genügte vorerst, dass Zayn Hörer dieser höchst unheilvollen Botschaft geworden war.

Nach ein paar Minuten erreichten sie ihr Hotel und begaben sich nach oben. Chandra hatte einen müden Eindruck auf ihn gemacht und tatsächlich warf sie sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett und stöhnte erschöpft in die Decke.

„Geil. Das kann bitte immer so bleiben“, vernahm man ihre gedämpfte Stimme.

In dieser schwang so viel Glückseligkeit mit, dass Zayn schon bei dem bloßen Gedanken, ihr von dem eben Gehörten zu erzählen, einen Knoten in der Brust fühlte.

Nein. Er musste das zur Seite schieben und durfte sich nichts anmerken lassen. Erst musste er selbst diesbezüglich nachforschen. Wie schön wäre es, sollte sich herausstellen, dass die beiden Fremden lediglich etwas verwechselt hatten. Aber er bezweifelte es.

„Wir sollten schlafen“, meinte er und entledigte sich seiner Jacke.

„Oh ja.“ Chandra erhob sich und ließ ihre eigene Jacke zu Boden gleiten. „Kannst du mir mal helfen?“ Sie deutete auf ihren Rücken.

Er trat zu ihr, um ihr bei dem Reißverschlusses ihres Kleides behilflich zu sein. Sie hatte ihr Haar nach vorne geworfen und bot ihm ihren entblößten Nackten und die leicht hervorstechenden Schulterblätter da, über die sich recht helle, aber zarte Haut spannte. Er wusste selbst nicht, weshalb, aber statt unmittelbar den Reißverschluss herunterzuziehen, legte er eine Hand in ihren Nacken und fuhr mit den Fingern ihre Wirbelsäule entlang, was sie leicht erzittern ließ. Wie ihr Körper auf die empfindliche Berührung ansprang, wurde er sich seiner eigenen Nervosität bewusst.

Die Erkenntnis überrascht ihn ungemein. Mit Sicherheit war er zuvor schon mal nervös gewesen in ihrer Nähe, das sollte kaum verwunderlich sein. Doch so, dass er sich des Gefühls und seiner Bedeutung bewusst war, war es erst seit heute. Bereits ihre Gegenwart am Strand, bevor sie ins Hotel gegangen waren, hatte ihn sich innerlich reichlich flatterig fühlen lassen, doch wie so oft war es ihm gelungen, das mit lockeren Sprüche zu überspielen. Jetzt stand er einfach nur hinter ihr, fühlte ihre Wärme dicht an sich und ihr wertvoll gehütetes Vertrauen, welches sie ihm zum Geschenk gemacht hatte, war beinahe greifbar.

Endlich zog er den Reißverschluss nach unten, bis hinunter in ihr Kreuz, wenn auch langsam. Chandra drehte sich zu ihm, nachdem er fertig war. Eigentlich hätte das Kleid nun zu Boden segeln können, aber sie hielt die Arme gegen ihren Oberkörper gepresst. Das war überraschend zurückhaltend für sie.

„Wieso bist du so still?“, fragte sie.

„Ich genieße nur den Moment“, entgegnete Zayn wahrheitsgemäß.

Sie lächelte minimal. „Danke für den schönen Tag.“

„Immer wieder gern.“

Nun schien Chandra unschlüssig, was sie tun sollte. Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, nach unten, zur Seite, wieder zu ihm. Bevor er ihr die Entscheidung abnehmen konnte, entzog sie sich der Situation, indem sie ins Badezimmer flüchtete. Er vernahm überdeutlich das Geräusch des zuschließenden Türriegels und warf sich daraufhin völlig fertig aufs Bett.

 

******

 

Einige Zeit später wurde das Zimmer nur noch von dem leichten Licht des Mondes erhellt, der durch die großen Fensterscheiben fiel und insbesondere die weiße Bettwäsche hervortreten ließ. Chandra lag neben Zayn und schlief bereits, weshalb er die Gunst der Stunde nutzte, um unbemerkt seinen Durst nach Aufklärung zu stillen. Er konnte nicht bis zum nächsten Tag warten.

Er saß aufrecht im Bett, das schwache Licht seines PDAs schien ihm ins Gesicht. Wenn hier in näherer Umgebung in letzter Zeit Cryptopokémon gesichtet worden waren, dann ließ sich dazu sicherlich etwas im Internet finden. Zu seinem Bedauern brauchte er nicht lange, um fündig zu werden.

Zu dem erwähnten Voltenso in Newina fand er mehrere Meldungen, die alle von vor drei Tagen waren. So große Wellen geschlagen hatte das Auftauchen diesen Pokémons wohl deshalb, weil es von seinem Trainer in einem Kampf eingesetzt worden war, bei dem es recht viele Zuschauer gegeben hatte. Es fand sich sogar ein amateurhaftes Video des Kampfes, aufgenommen von einem Schaulustigen, das zeigte, wie das Elektropokémon seinen Gegner mit einer für Zayn unbekannten Attacke besiegte. Bei der Attacke war das Voltenso in einen finsteren, wabernden Nebel eingehüllt worden, mit dem es angegriffen hatte. Zayn wusste, dass Chandra diesen Schatten immer um die Pokémon herum sah, gewöhnliche Menschen jedoch nur dann, wenn er sich in Form von Angriffen manifestierte. Dieser Umstand tilgte aber auch jeden Zweifel; dieses Voltenso war kein normales Pokémon.

Aber mit der Dunkelheit nicht genug. Nach seinem Sieg hatte sich das in Rage geratene Pokémon sogar auf den gegnerischen Trainer gestürzt und es konnte nur aufgehalten werden, als sein eigener Trainer es panisch in seinen Ball geholt hatte. Voltensos Trainer sah absolut nicht aus wie jemand, dem man solch ein Pokémon zutrauen würde. Das war niemand, der aus Pyritus kam, da war sich Zayn sicher.

Er konnte nur mit dem Kopf schütteln bei den verschiedenen Aussagen in den Artikeln. In einem wurde hinter Voltensos merkwürdiger Attacke eine Anomalie der Natur vermutet, ein anderer sprach dem Wesen geradezu Lob aus für diese ‚respektheischende Stärke‘. Aber das Schlimmste: Nur einer von fünf Artikeln setzte überhaupt einen Bezug zu Pyritus und erwähnte, dass dort derartige Pokémon längst keine Seltenheit waren.

Zayn suchte noch ein wenig weiter. Tatsächlich fand er noch Berichte zu einigen anderen Sichtungen. In Baltum, das war eine Stadt sehr nördlich gelegen und von Veralia aus betrachtet hinter dem Duellberg und damit ziemlich weit entfernt, hatte man ebenfalls ein ungewöhnlich starkes und aggressives Pokémon gesichtet. Außerdem in Ruvera und in Emeritae. In Emeritae! Dem friedlichsten und geruhsamsten Ort von ganz Orre. Und Ruvera lag zwischen Veralia und Emeritae und damit durchaus in ernstzunehmender Nähe. Zudem fand Zayn einen allgemeinen Artikel, der von den Sichtungen berichtete – und sie sogar in einen Zusammenhang zu Pyritus setzte! – und dort wurde leider auch ein Crypto-Igelavar in Portaportus erwähnt.

Getrieben von innerer Unruhe suchte Zayn explizit danach, ob es Sichtungen in Veralia gegeben hatte, fand aber zum Glück nichts. Das musste jedoch nichts bedeuten und schmälerte das Problem auch nicht wirklich. Die Cryptopokémon waren nicht länger nur im Osten. Plötzlich tauchten sie sogar in Städten auf, in denen es sie zuvor nie gegeben hatte.

Das konnte nur eines bedeuten. Es war mittlerweile beinahe ein Monat vergangen, seit Zayn Chandra getroffen und sie mit zu sich genommen hatte. Einige Wochen waren verstrichen, in denen ihr verrückter Bruder sie nicht gefunden hatte – und auf einmal tauchten hier Cryptopokémon auf. Diese entstanden aber nicht von selbst und gehörten in allen Fällen zu Trainern. Der logische Schluss daraus war nicht zu ignorieren. Die Pokémon wurden gezielt hier und anderswo verteilt – oder verkauft; allein der Gedanke daran erzeugte Abneigung in Zayn. Viele Menschen waren allerdings zu blind, um genau hinzusehen und verbannten Pyritus gerne aus ihrem Gedächtnis. Wenn man ihnen ein überdurchschnittlich starkes Pokémon anbot, lehnten die meisten nicht ab. Fast alle Trainer strebten nun mal nach großer Stärke und manchen war es unwichtig, wie sie diese erlangten.

War das Rays Plan, um Chandra zu finden? Indem er plötzlich Cryptopokémon wie aus dem Nichts überall auftauchen ließ? Gut möglich. Dumm war der Gedanke ja nicht. Allein Zayn fiel es schwer, so etwas zu ignorieren, aber Chandra hatte ja gar nicht die Möglichkeit, sich dem zu entziehen. Sie würde in Angst verfallen, sollten immer mehr bösartige Pokémon hier anzutreffen sein, und das nicht zwangsläufig wegen der Wesen selbst. Sondern wegen desjenigen, der ihr dieses Leid überhaupt erst antat. Sich als Antwort darauf nur noch zu verstecken, war keine Lösung, aber sollte Chandra wieder das Drängen verspüren, den Cryptopokémon zu helfen, war das ebenfalls besorgniserregend. Als sie dem Waaty geholfen hatte, war ihm das Herz in die Hose gerutscht vor Angst um sie. Und wenn es immer so schien, als würde sie an der dunklen Energie beinahe sterben …

Er zuckte zusammen, als ihn etwas am Arm berührte. „Hey, wieso schläfst du nicht?“, fragte eine schläfrige Chandra, die durch halb geschlossene Lider zu ihm hochsah.

„Nicht so wichtig. Schlaf weiter.“ Zayn legte seinen PDA weg, um sich anschließend ebenfalls hinzulegen, sein Gesicht ihrem zugewandt.

„Okay …“ Kaum hatte sie das Wort genuschelt, da schlossen sich ihre Augen und sie schien sofort wieder eingeschlafen.

Im schwachen Licht konnte er ihr Gesicht betrachten. Es sah so friedlich und entspannt aus, kein Leid zeichnete die feinen Konturen. Sie lag dicht an ihm und schien sogar noch näher herangerutscht zu sein. Je länger er sie ansah, umso wohliger fühlte er sich, weil er ihre Nähe selbst so sehr genoss, aber im selben Maße wuchs auch das Gefühl der Sorge. Und Angst.

Er strich einige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht und lächelte schwach. Einem so wunderbaren Menschen durften nicht so grausame Dinge widerfahren.

Zayn würde alles in seiner Macht Stehende tun, um Chandra zu beschützen.

Aber er war sich ja bis zum jetzigen Zeitpunkt auch noch nicht bewusst, mit wem er sich eigentlich angelegt hatte.

 

******

 

Chandra wusste nicht, warum, doch Zayn war auffallend schweigsam, seit sie am Morgen aufgewacht waren. Sie hatte ihn gefragt, ob er sich nicht wohl fühle, was er verneint hatte. Er war zwar nicht anders zu ihr als sonst, aber im Allgemeinen sprach er eigentlich nur, wenn sie etwas zu ihm sagte und den Rest der Zeit versteckte er seine Gedanken und Gefühle unter einer starren, für sie nicht lesbaren Maske. Letzen Endes hatte sie es dabei belassen, allzu genau nachzufragen. Er erzählte sowieso nur dann, was in ihm vorging, wenn er das wollte. Das hatte sie mittlerweile begriffen.

Aber vielleicht beschäftigen ihn auch lediglich dieselben Gedanken wie sie, die sich allesamt um den vergangenen Abend drehten. Chandra für ihren Teil wollte da allerdings nicht so ausgiebig drüber nachdenken. Sie verschob diese Angelegenheit lieber auf einen Moment, in welchem sie allein war und peinlich berührt in ihr Kissen jammern konnte.

Nachdem sie aus dem Hotel ausgecheckt hatten, machten sie sich auf den Weg zur Straßenbahn und fuhren mit dieser zum Hauptbahnhof von Portaportus. Chandra hatte nicht damit gerechnet, dass auf dem Weg zum Bahnhof etwas Außergewöhnliches passieren würde. Schließlich war es ein sonniger Samstag in einer hellen, freundlichen Stadt, in der es zu dieser Mittagsstunde vor Touristen und allgemein Menschen, die ihren freien Tag genossen, nur so wimmelte – und natürlich erhaschte man immer mal wieder einen Blick auf ein Pokémon, das in Begleitung eines Menschen war. Auch nichts Ungewöhnliches. Eigentlich.

Sie liefen gerade über den Bahnhofsvorplatz und Chandra ließ ihre Augen ohne ein bestimmtes Ziel durch die Gegend schweifen. Dabei erfasste sie einige umherlaufende Menschen, ein paar Pokémon und für einen Sekundenbruchteil blitzte zwischen all den Körpern ein schwacher, violett schimmernder Schemen auf. Er fiel ihr auf, weil er im Kontrast stand zu all den hellen, warmen Farben, die sich in der Umgebung sammelten. Der Platz war lichtgefluchtet und ein Fleck Dunkelheit konnte ihr da nicht entgehen.

Als Chandra begriff, was sie da gesehen hatte, sah sie sogleich wieder dorthin, diesmal konzentrierter, und in dem Moment, als sie es endlich in aller Vollständigkeit verstand, setzte ihr Verstand aus und sie blieb einfach stehen – starrte bloß durch die Menschenmengen hindurch zu dem Punkt, der sicherlich an die fünfzehn Meter entfernt von ihr war.

„Was ist los?“ Das war Zayns Stimme, aber sie klang einige Meter entfernt, als hätte er erst jetzt begriffen, dass sie nicht mehr neben ihm war. Dann stand er wieder an ihrer Seite.

„Da.“ Mehr sagte sie nicht, deutete lediglich auf das Pokémon in der Ferne. Es war eher klein, stand auf zwei Beinen und sie erkannte hauptsächlich sein orangebraunes Fell. Eine Frau stand unmittelbar in seiner Nähe und schien mit ihm zu reden, was aber nur mäßig Erfolg zu haben schien. Das Pokémon stand stumpf vor ihr.

„Ein Bamelin“, entgegnete Zayn. Das ‚Und?‘ hing unausgesprochen in der Luft. Dort blieb es, denn er begriff, weshalb Chandra mit verunsichertem Ausdruck wie hypnotisiert auf das Wesen sah.

„Es ist … ein Cryptopokémon.“

Der dunkle Schatten, der an dem Bamelin haftete, waberte ein wenig über den Boden, als wartete er darauf, anzugreifen. Chandra war zu weit weg, um viel von seinen destruktiven Gefühlen einfangen zu können. Sie verspürte nur eine minimalen Kummer. Die Angst war ohnehin erheblich präsenter.

„Wenn hier so ein Pokémon ist, dann …“ Sie sprach nicht zu Ende, sie konnte nicht. Zayn neben ihr sagte auch kein Wort, allerdings sah sie sowieso nicht zu ihm und wusste nicht, wie er die Erkenntnis aufnahm.

Mit einem Mal fühlte sie sich wieder wie beim letzten Mal, als sie in Pyritus ein Cryptopokémon gesehen hatte. Auf dem Markplatz, mit Zayn. Das schien ihr eine Ewigkeit her. Wie damals erfasste sie auch in diesem Augenblick eine immense Unruhe, die sich wie ein schweres Gewicht auf ihre Schultern senkte und sie zu erdrücken versuchte. In diese Unruhe mischte sich ein Gefühl von Niedergeschlagenheit. Denn diese Begegnung erschien ihr beinahe so alltäglich wie all die unzähligen Male, in denen sie in Pyritus ein Cryptopokémon gesehen hatte und das war, trotz aller Bemühungen, es zu vermeiden, viel zu oft geschehen.

Die Pokémon waren nun mal da gewesen und sie hatte nicht das Geringste dagegen tun können, musste es immer akzeptieren. Es hatte nie in ihrer Macht gelegen, es zu ändern. Es war normal gewesen; ihr Leben, ihr krankes, armseliges Schicksal. Hoffnung darüber, dass sich eines Tages etwas ändern könnte, hatte es für sie nie gegeben.

Und jetzt stand sie hier und fühlte genau so. Als hätte sich das Ganze nur wieder bestätigt. Sie hatte diesen finsteren Pokémon achte Jahre lang nicht entfliehen können und auch jetzt vermochte sie es nicht. Sie waren wie ihr verdammter Schatten, wortwörtlich. Immer präsent und noch deutlicher, wenn sie sich dem Licht zuwenden wollte. Letzten Endes kamen sie wieder hervorgekrochen, um sie zu quälen.

Aber dann erschien für eine Millisekunde Waaty vor ihrem geistigen Auge und zeitgleich strömte die Erinnerung daran, wie sie dessen gepeinigte Seele zurück in eine lebensfrohe verwandelte hatte, in ihr Bewusstsein. Vielleicht konnte sie das wieder tun –

„Hey, was hast du vor?!“ Eine Hand schlang sich um Chandras Unterarm, so fest, dass sie sich unter anderen Umständen lautstark beschwert hätte. Zayn zog sie zurück zu sich und sie wurde sich wieder bewusst, wo sie war. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie offenbar ein paar Schritte von ihm fortgemacht hatte.

„Ich muss ihm helfen“, hörte sie ihre eigene Stimme sagen, die allerdings merkbar monoton und fremd klang.

„Bist du verrückt?“, fuhr Zayn sie an. „Wenn du hier auf einem öffentlichen Platz mal eben zu einem Cryptopokémon hin spazierst, es in den Arm nimmst, um es von seinem Zorn zu befreien und es danach völlig normal und glücklich erscheint, während du in Ohnmacht fällst, dann kannst du dich Ray genauso gut auf dem Silbertablett servieren!“

Chandra stutzte, als sie zu ihm hochsah. So viel hatte er gefühlt den ganzen Vormittag lang nicht gesagt. „Aber irgendwas muss ich doch tun“, meinte sie zappelnd.

Er ließ ihren Unterarm los, um stattdessen ihre Oberarme zu umfassen. „Jetzt kannst du nichts tun. Sieh es dir an.“

Daraufhin drehte er sie zurück in Richtung des Bamelin. Es war mittlerweile in eine leichte Rage geraten, die sich aber nur darin äußerte, dass das Pokémon wie wild Wasser aus seinem Maul auf den Boden schoss. Vielleicht ein Versuch, sich von den wirren Gefühlen in seinem Inneren abzulenken. Seine Trainern schien sichtbar verzweifelt und wollte es in seinen Ball holen, doch da attackierte das Bamelin sie mit seiner Aquaknarre und rannte daraufhin davon. Nach einem Moment der Empörung rannte die Frau ihm hinterher, anschließend verschwanden beide aus Chandras Sichtfeld.

Wie in Zeitlupe drehte sie sich wieder zu Zayn. „Warum sind die hier?“, fragte sie wie ein kleines Kind. Ihr abstruses Bedürfnis, sich in die Dunkelheit des Pokémon zu stürzen, um diesem all seinen Schmerz zu nehmen, war plötzlich verschwunden. Sie verstand das ohnehin nicht. Jetzt war sie nicht mal in unmittelbarer Nähe gewesen und dennoch war da dasselbe Drängen gewesen wie bei Waaty. Vor einem Monat noch hätte sie vor einem Cryptopokémon stehen können und hätte nicht einen Gedanken daran verschwendet, dieses zu berühren.

Zayn zögerte mit seiner Antwort. Stattdessen musterte er ihr Gesicht, über dessen Wangen genau dann einige Tränen ihren Weg fanden. „Ich weiß es nicht“, antwortete er schlicht. Ihr fiel auf, wie müde er klang. Müde und womöglich auch verzweifelt.

Sie sah nach unten. Wenn selbst er überfordert schien, dann war sie es erst recht.

„Wir sollten jetzt gehen. Wir können zu Hause überlegen, was wir tun.“ Zayn nahm ihre rechte Hand in seine und zog sie fort in Richtung Bahnhof.

Zuhause. So etwas hatte Chandra seit elf Jahren nicht mehr gehabt. Man war schließlich gerne in seinem Zuhause und fühlte sich dort wohl. Fühlte sie sich in Zayns Zuhause wohl?

Sie fühlte sich bei ihm wohl. Vielleicht war das ja dasselbe. Und das Wissen darum, dass sie nicht mehr so schrecklich allein war mit ihrer düsteren Bestimmung, gab ihr ein wenig Stärke.

Dünnes Eis

Zayn hasste es, zu warten. Vor allem hasste er es, auf Vince zu warten, weil dieser immer zu spät zu Verabredungen kam. War er dann doch mal pünktlich, grenzte dies beinahe an ein Wunder. Dieser Junge schaffte es einfach nicht, auf eine Uhr zu schauen, geschweige denn, seine Zeit etwas besser zu managen. Zayn hatte es nach all den Jahren aufgegeben, auf Besserung zu hoffen.

Also ließ er einmal mehr ungeduldig seine wertvolle Zeit verstreichen, während er auf den asphaltierten Boden zu seinen Schuhen starrte. Er saß auf einer der metallenen Bänke, die vor dem Labor unweit der Eingangstüren standen. Der Tag war noch nicht alt, die Uhr zeigte gerade mal kurz nach Zehn. Allerdings hatte er sich einiges vorgenommen und da war es besser, nicht zu spät damit anzufangen. 

Sein Blick glitt nach vorne zur Straße, die durch den kleinen Waldabschnitt zum Labor führte, als er die Motorengeräusche eines Autos vernahm. Doch leider war es nur der Wagen seiner Mutter, der über die Auffahrt rollte, und so musste er weiter auf Vince warten.

Nachdem Cara das Auto auf dem Parkplatz abgestellt hatte, kam sie Richtung Eingangstüre gelaufen. Als ihr Blick auf Zayn fiel, hob sie die Augenbrauen. „Oh, Zayn. Wartest du etwa auf jemanden?“ Unter ihrem grauen Mantel trug sie eine weiße Bluse und die riesige, prall gefühlte Tasche, die sie mit sich herumschleppte, zeugte davon, dass sie soeben von einem Hausbesuch zurückkam. Sie war eine angesehene, erfolgreiche Pokémon-Ärztin und sie arbeitete viel im Labor, wenn verletzte oder kranke Pokémon ihrer Hilfe bedurften, aber nicht alle Pokémon konnten mit ihren Trainern und Besitzern ins Labor kommen. Manchmal war ihr Zustand zu schlecht, einige waren aber auch schlichtweg zu groß. In solchen Fällen machte sie Hausbesuche und half den Pokémon vor Ort. Gemessen an der Erschöpfung, die in ihrem Gesicht stand, hatte es sich an diesem Morgen wohl um einen besonders hartnäckigen Fall gehandelt.

„Ja“, grummelte Zayn auf ihre Frage. „Ich warte mal wieder Ewigkeiten auf Vince, der einfach nicht pünktlich sein kann.“

„Nun ja“, sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, „vielleicht ist es diesmal der Uhrzeit geschuldet? Was habt ihr denn so früh schon vor?“

„Nichts.“

„Oh, interessant, nichts. Und was ist mit Chandra, während du nichts machst?“, schmunzelte sie.

„Was soll mit ihr sein? Sie ist hier im Labor und wird sicher eine Beschäftigung finden.“ Er war ja schließlich nicht ihr Aufpasser und sie konnte sich gut mit sich selbst beschäftigen, seit sie wieder mehr Interesse daran hatte, mit ihren Pokémon zu üben. Warum bedachte ihn seine Mutter dann also mit diesem wissenden Lächeln?

„Ah, ich verstehe. Was auch immer ihr vorhabt, Mädchen sind nicht erwünscht.“

„Genau.“

„Ich dachte nur, wo du sie doch zuletzt kaum aus den Augen lassen konntest. Bist sogar mit ihr nach Portaportus gefahren und das für mehr als einen Tag. Aber vielleicht ist so ein wenig Abstand ab und zu ganz gut. Man soll ja schließlich nicht zu sehr aufeinanderhängen.“

Bei diesen mit Bedacht gesprochenen Worten warf Zayn seiner Mutter einen irritierten und zugleich verlegenen Blick zu. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst, aber … hör auf damit. Das ist gruselig“, stellte er fest und wandte sich danach demonstrativ von ihr und ihren Aussagen ab.

„Wie du meinst, Zayn. Aber vergiss nicht, dass ich auch mal in deinem Alter war und weit mehr verstehe, als du denkst.“ Mit einem Grinsen auf den Lippen wandte sie sich von ihm ab und ging Richtung der Eingangstüren. „Ich werde Chandra ausrichten, dass du heute sehr beschäftigt bist. Aber komm nicht zu spät nach Hause, ja? Für heute Abend ist ein Unwetter angesagt.“

„Jaja“, erwiderte er abwesend, was seine Mutter aber wohl nicht mehr gehört hatte. Die automatischen Türen hatten sich bereits wieder hinter ihr geschlossen.

Genau das war ja das Problem. Seine Mutter verstand zu viel. Und sie war im Moment wirklich die Letzte, mit der er über Chandra reden wollte. Das alles war auch ohne eine Fragen stellende Mutter schon kompliziert genug.

Exakt in diesem Augenblick erschien Vince‘ Auto in Zayns Blickfeld und bewahrte ihn davor, weiter darüber nachzudenken.

Kaum eine Minute später schlug die Tür zur Beifahrerseite zu und Zayn ließ sich in die Polsterung des Sitzes sinken, legte den Sicherheitsgurt an – bei Vince‘ Fahrstil hätte er gerne noch einen zweiten Gurt gehabt – und warf seinem Freund eine lockere Begrüßung zu.

„Ja, hallo. Hast du mal auf die Uhr gesehen? Was bringt mich in aller Herrgottsfrühe dazu, dich durch die Gegend zu kutschieren?“, war dessen wenigere freundliche Begrüßung, zusammen mit einem genervten Seitenblick. Müdigkeit hin oder her, er hatte immerhin nicht vergessen, sich eine für ihn typische schwarze Kappe auf den Kopf zu setzen.

Zayn lachte: „Hast du gerade wirklich Herrgottsfrühe gesagt? Dann solltest du wissen, dass zehn Uhr für die meisten Menschen nicht unter ‚in aller Herrgottsfrühe‘ fällt.“

„Wie auch immer“, grummelte Vince. „Es ist zu früh und ich weiß nicht mal, warum ich so früh aufstehen musste.“

„Wann bist du heute Nacht nach Hause gekommen?“

Ein weiterer Seitenblick und ein „Spät“ waren Vince‘ Antwort darauf.

„Bist du nüchtern?“, hakte Zayn weiter nach.

„Wäre ich sonst hier?“

„Worauf wartest du dann noch? Dein Gast möchte kutschiert werden. Los.“ So grummelig Vince auch früh morgens sein konnte, Zayn wusste, dass er sich jederzeit auf seinen besten Freund verlassen konnte. Er würde auch mitten in der Nacht herfahren, wenn Zayn seine Hilfe benötigte.

Vince startete den Motor wieder und fuhr vom Parkplatz. Als sie das kleine Waldstück durchquerten, fragte er: „Also, was hast du vor? Deine Nachricht heute Nacht um zwei war nicht sehr präzise. Wieso warst du überhaupt so spät noch wach? Ach nein, warte, ich kann’s mir schon selbst denken.“

Zayn überging Vince‘ Bemerkung und sagte: „Wir müssen nach Portaportus.“

Daraufhin stieß sein Freund erstaunt die Luft aus und warf einen Blick hinters Lenkrad. „Dann … muss ich tanken.“

„Ich geb dir Geld, ja? Es ist wirklich wichtig.“

„Und ich nehme an, du verrätst mir auch gleich, warum? Du brauchst mich vermutlich nicht, um den Sonnenuntergang am Strand zu beobachten, dafür hast du ja Chandra.“ Plötzlich sah Vince skeptisch an Zayn auf und ab und warf einen Blick auf die Rückbank. „Wo ist sie überhaupt?“

„Himmel, warum fragt ihr mich das alle? Sie ist nicht hier. Ich kann sie heute nicht gebrauchen. Aber ich brauche dich“, betonte Zayn.

Nun grinste Vince. Sie waren mittlerweile auf dem Weg zur nächstgelegenen Tankstelle. „Ärger auf Wolke sieben?“

„Nein.“ Zayns ‚Nein‘ war vielleicht einen Ticken zu bestimmt. Es gab keine Probleme, im Gegenteil. Alles lief perfekt und gerade deshalb wollte er sie bei dem, was er vorhatte, nicht dabeihaben. Es würde sie nur in Gefahr bringen.

Vince sprach einfach weiter: „Ich wusste gleich, dass irgendetwas komisch ist, als ich dich gesehen habe. Man trifft dich in letzter Zeit selten alleine an.“

„Idiot“, entgegnete Zayn kopfschüttelnd und richtete seinen Blick aus dem Seitenfenster. Noch bedeckte ein sattes Blau den Himmel und lieferte keinerlei Anzeichen auf ein baldiges Unwetter. Sollte tatsächlich eines aufziehen, so hatte Zayn zumindest noch genügend Zeit, um vorher seinen Nachforschungen nachzugehen.

 

******

 

Nachdem Vince getankt und sich bei der Gelegenheit einen Kaffee genehmigt hatte, war er, als sie schließlich unterwegs nach Portaportus waren, endlich wieder mehr wie er selbst und nutzte Zayn nicht mehr als Blitzableiter für seine aus Müdigkeit resultierende Mürrischkeit.

„Also, dann erzähl mal. Was führt uns heute ins wunderschöne Portaportus?“, fragte er Zayn zum wiederholten Male, sichtlich neugierig.

Dieser zögerte nun nicht lange, die Wahrheit auszusprechen. „Dort und auch in anderen westlich gelegenen Städten tauchen seit Kurzem Cryptopokémon auf. Ich will wissen, wieso und wer sie dort verteilt. Ich meine … ich weiß, wer sie dort verteilen lässt. Aber dieser Jemand wird es ganz bestimmt nicht selbst tun. Also will ich wissen, wer es stattdessen macht.“

Es verstrichen einige Sekunden, bis Vince antwortete, nun weniger locker als zuvor. „Du siehst darin aber nicht wieder die Möglichkeit, dir so ein Pokémon zu schnappen, oder?“

„Natürlich nicht“, winkte Zayn ab.

„Ich meine es ernst. Diese Pokémon sind gefährlich und wer sie verteilt, wird es vermutlich erst recht sein.“

Wem sagst du das?, dachte Zayn, sagte aber stattdessen: „Ich meine es auch ernst. Es geht mir nicht in erster Linie darum, so ein Pokémon mitzunehmen. Ich könnte gut und gerne darauf verzichten, noch mal einem gegenüberzustehen, aber so einfach ist es nun mal nicht. Es ist ein verdammt schlechtes Zeichen, dass diese Pokémon gerade jetzt hier auftauchen. Vor einer Woche sind wir einem Cryptopokémon in Portaportus begegnet und ich konnte Chandra gerade noch davon abhalten, etwas Dummes zu tun. Und genau das ist auch der Grund, weshalb ich sie nicht dabeihaben will. Es würde sie nur wieder beunruhigen, solche Pokémon zu sehen, ganz abgesehen davon, wie sie auf sie reagiert.“ Trotz aller Sorge um ihr Wohl hatte er Chandra, nachdem sie aus Portaportus zurückgekehrt waren, von seinen Erkenntnissen zu Cryptopokémon in anderen Städten Orres erzählt. Es hatte ihn gequält, zu sehen, wie die Angst diese schönen, grünen Augen verdunkelt hatte, aber es war vonnöten gewesen – spätestens, nachdem sie das Bamelin gesehen hatte.

„Du meinst, dass sie sich …“, Vince suchte offenbar nach den richtigen Worten, „schlecht fühlt?“

Zayn lachte daraufhin humorlos auf. „Ja, so kann man es auch nennen. Sie spürt die Dunkelheit dieser Pokémon. Wie sich das für sie anfühlt … Ich glaube, wie tiefe Hoffnungslosigkeit und Furcht. Aber ich weiß es nicht genau. Ich habe nur einen kurzen Hauch davon gespürt, bevor dieses Waaty wieder normal wurde.“

„Ziemlich krass. Ich würde es nicht glauben, wärst du nicht derjenige, der es mir erzählt hat. Wie hat sie das überhaupt gemacht?“

„Keine Ahnung. Es war wie eine innige Umarmung, bei der sie alles Dunkle aus dem Pokémon herausgesogen hat. Nach all unseren Bemühungen, diesen Pokémon zu helfen, war es dann doch so unerwartet einfach.“ Beim Sprechen verlor sich Zayns Blick in der Landschaft außerhalb des Autos. Er war sich gar nicht der Trübsinnigkeit bewusst, die in seine Worte sickerte. „Obwohl es mich einerseits fasziniert, verstört es mich zugleich zutiefst, je länger ich darüber nachdenke. Nach allem, was Chandra mir erzählt hat … Es hätte auch schlimmer ausgehen können. Und ich würde es nicht ertragen, sie zu verlieren.“

Vince schwieg auf diese Aussage hin, aber Zayn erkannte im Augenwinkel immer wieder die kurzen Blicke, die sein Freund ihm zuwarf. Ihm war es nur recht, dass er seine Besorgnis für sich behielt. Er wollte nicht darüber reden.

„Nun ja“, stieß Vince plötzlich aus, wieder in seiner altgewohnten Leichtigkeit, mit der er es im Nu vermochte, die unangenehme Stille zu vertreiben, „wie wär’s, wenn du mir dann endlich mal erzählst, was da überhaupt zwischen dir und Chandra läuft?“

„Und wie wär’s, wenn du aufhörst, meiner Schwester Flausen in den Kopf zu setzen?“

„Flausen?“, prustete Vince. „So nennst du das also, ja?“

„Ja, es ist nämlich verdammt unangenehm, wenn meine, wohlgemerkt elfjährige, Schwester uns die ganze Zeit mit Argusaugen beobachtet, weil sie erwartet, jeden Moment etwas sehen zu können, das sie dir dann weitertratschen kann“, schoss Zayn zurück, jedoch nicht wirklich wütend, wohingegen sich das Grinsen seines Freundes mit jedem Wort weitete.

„Ja, das ist wirklich unangenehm – vor allem, wenn dann auch noch alles, was ich ihr erzähle, der Wahrheit entspricht. Im Ernst, Zayn. Wenn ihr nicht wollt, dass euch jeder euer Was-auch-immer schon auf zehn Meilen Entfernung ansieht, dann solltet ihr vielleicht weniger aufeinander kleben. Oder ineinander.“

„Du bist so ein Arsch“, lachte Zayn und legte den Kopf zurück. Er hätte dieses Gespräch gerne noch länger aufgeschoben – nicht, dass er ein Problem damit hatte, mit seinem besten Freund darüber zu reden. Es war nur eben komplizierter, als sich irgendjemand vorstellen konnte.

„Also hab ich recht?“

„Was wäre, wenn?“

„Dann … wow. Hier oder in Pyritus?“ Die unverhohlene Neugier tränkte Vince‘ Worte.

„Pyritus.“ Die Erinnerung daran erschien wie eine warmes Licht hinter seinen geschlossenen Augenlidern. Eigentlich hätten ihm andere Ereignisse in dieser Stadt prägnanter im Gedächtnis bleiben sollen, aber nichts vermochte es derart gut, sich gleißend hell durch den Dunst Pyritus‘ in seine Gedanken zu brennen wie die Nähe zu Chandra. Sie war aufregend und gefährlich gewesen und gerade das hatte ihn zu ihr hingezogen – und würde es jederzeit wieder.

Er wurde aus seinen Tagträumen gerissen, als Vince mal wieder sehr unsanft um eine Kurve bretterte. „Verdammt, kannst du nicht wie ein normaler Mensch fahren?“, grummelte er.

„Nö. Kannst du nicht meine Fragen beantworten?“

„Welche?“

„Wie du das gemacht hast. Wie hast du sie rumgekriegt? Ich meine, du warst wie lange dort? Vier Tage? Das müssen vier aufregende Tage gewesen sein“, mutmaßte Vince.

„Hab ich nicht“, erwiderte Zayn knapp.

„Hä?“ Vince warf ihm einen irritierten Blick zu, doch dann weiteten sich seine zuvor verengten Augen, als er verstand. „Oh, Shit. Sie hat dich …?“

Ein Nicken. „Ja.“

„Puh.“ Auf diese Nachricht öffnete Vince erst einmal sein Fester ein Stück. „Warst du nicht derjenige, der sich noch vor einem Jahr bei mir beschwert hat, dass Sex ohne Gefühle nichts für dich sei, weil es – wie sagtest du noch gleich? – sich nicht mit deinen ‚moralischen Standards‘ vereinbaren ließe?“

„Das war vor einem Jahr“, betonte Zayn und in Gedanken fügte er hinzu: Und ich weiß, wie ‚ohne Gefühle‘ ist. Das mit ihr … ist nicht so.

„Hach ja“, grinste Vince voller Zufriedenheit, „ich wusste es. Dir hat einfach nur die richtige Frau gefehlt. Und wie war’s? Gut? Das wird ja wohl nicht das einzige Mal gewesen sein, oder?“

Zayn schenkte ihm nur ein müdes Lächeln. „Ein Gentleman genießt und schweigt.“

„Ausnahmsweise akzeptiere ich dieses Argument mal.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Du magst sie wirklich, oder?“ Die Antwort war ein zustimmendes Brummen. „Aber das ist nicht der Hauptgrund, aus dem du sie mit hierher genommen hast, nehme ich an?“

„Leider nicht“, erwiderte Zayn und musste nun unweigerlich wieder an das denken, das ihm zurzeit wie ein Pistole im Nacken saß und drohte, sein Glück zu zerschmettern. „Da Chandra den Cryptopokémon helfen kann, ist sie für denjenigen, der hinter diesen Pokémon steht, sehr wichtig. Und das ist auch der Grund, weshalb ich heute nach Portaportus muss.“

 

******

 

Zayn war nicht ohne ein konkretes Ziel nach Portaportus gefahren. Er war mit einem ehemaligen Schulkameraden und guten Freund verabredet. Gregory, den aber alle nur Greg nannten, war zu Schulzeiten einer der wenigen gewesen, die Zayn nicht mit seinem unausstehlichen Verhalten vergrault hatte – genau genommen der Einzige, neben Vince natürlich. Er hatte sich zur damaligen Zeit zwar aus reinem Selbstschutz ein wenig von ihm distanziert, später jedoch Zayns Entschuldigung über dessen dummes Verhalten angenommen. Allerdings war er nach ihrem Abschluss nach Portaportus gezogen, um dort eine Ausbildung zum Koch zu absolvieren, und Zayn war bis zu seinem ersten Aufenthalt mit Chandra lange nicht mehr in Portaportus gewesen. Dementsprechend selten sahen sie sich.

Greg arbeitete in jenem Restaurant, in das Zayn Chandra damals geführt hatte. Zu seinem Bedauern hatte er sie eine ganze Weile alleine am Tisch warten lassen, doch er und sein alter Freund hatten sich einfach einige Dinge zu erzählen gehabt.

In exakt diesem großflächigen Restaurant standen Zayn und Vince nun also und warteten darauf, dass Greg durch die Tür zur Küche zu ihnen stieß. Zur Mittagsstunde war das Lokal selbstverständlich gut besucht, doch er hatte vorab versichert, dass dies kein Problem sei. Und tatsächlich erschien nach nur wenigen Minuten ein hochgewachsener, junger Mann in schwarzer Küchenkleidung mit weinroter Schürze und zurückgestrichenen, hellbrauen Haaren. Er begrüßte seine Freunde mit einem Handschlag sowie einer kurzen Umarmung und geleitete sie anschließend zu einem freien Tisch in einer ruhigeren Ecke. Dort waren das Stimmengewirr anderer Gäste und das Klirren des Geschirrs zwar nach wie vor überdeutlich zu vernehmen, doch sie drei würden kaum auffallen.

„Hast du auch wirklich Zeit? Ich will dich nicht von der Arbeit abhalten – so voll wie es hier ist“, meinte Zayn, nachdem sie sich gesetzt hatten.

„Ach, mach dir da mal keinen Kopf“, lächelte Greg, wobei sich feine Grübchen auf seiner gebräunten Haut abzeichneten. „Klar habe ich Zeit; ich nehme sie mir einfach. Mein Chef kann mich nicht rausschmeißen, ich bin zu gut. Hat er selbst gesagt.“

„Na dann, angehender Sternekoch“, grinste Zayn.

„Aber sag mal, wo hast du denn die hübsche Blonde vom letzten Mal gelassen?“

Zayn konnte über diese wiederholte Frage nur noch die Augen verdrehen, schmunzelte aber. „Sie ist bei mir zu Hause.“

„Und manchmal“, Vince legte ihm die Hände auf die Schultern, „auch in seinem Bett.“

„Junge, übertreib’s nicht.“ Lachend stieß er ihn von sich weg.

„Ernsthaft? Läuft da was?“, hakte Greg nach.

Zayn ergab sich in sein Schicksal und nickte. „Irgendwie schon, ja.“

Sein Gegenüber schüttelte leicht den Kopf und lächelte ein Lächeln voll aufrichtiger Freude. „Mensch, Zayn, das freut mich, ehrlich. Bring sie doch beim nächsten Mal wieder mit hierher. Ich zaubere euch was ganz Besonderes.“

„Ich kann’s kaum abwarten, aber …“, Zayn wurde wieder ernst, „jetzt haben erst mal andere Dinge Vorrang.“

Greg lehnte sich nach hinten. „Na klar“, seufzte er. „Ich hab mich, wie du wolltest, ein wenig umgehört. Mit Erfolg. Aber es wird dich nicht erfreuen.“

„Schieß los.“

„Ab und zu konnte ich bei anderen Leuten einige Gesprächsfetzen aufschnappen. Hier und da wurden mal auffällig aggressive Pokémon gesehen, immer zugehörig zu Trainern, diese waren aber immer mit den Pokémon überfordert. Ein Trainer wurde von seinem Groink gebissen, das Pokémon ist daraufhin abgehauen, konnte aber später von der Polizei wieder eingefangen werden. Und vergiss den Gedanken gleich wieder“, mahnte er Zayn, als er dessen erstaunten Blick sah, „die rücken das Pokémon nicht raus. Nicht, bis sie davon ausgehen können, dass es nicht wieder Menschen angreift.“

„Dann wird es Zeit, dass sich jemand genauer mit diesen Pokémon beschäftigt. Statt immer nur wegzusehen“, konterte Zayn.

„Ich sag’s ja nur. Auch ohne deine Bitte, Augen und Ohren offenzuhalten, wäre mir aufgefallen, dass sich diese komischen Pokémon häufen. Die Touris werden auch allmählich nervös; niemand will nach Portaportus kommen und dann von einem verrückten Pokémon angegriffen werden. Wenn sich das Problem verschärft, könnte das zu einem echten Problem werden. Wir alle hier leben vom Tourismus, aber es gibt genügend schöne Orte jenseits des Meeres, wo es diese Pokémon nicht gibt. Wie heißen sie nochmal?“

„Cryptopokémon.“ Zayn konnte Gregs Ausführungen verstehen, sie bewegten ihn im Moment allerdings nur mäßig. Sollten sich die Cryptopokémon weiterhin ausbreiten, dann hätten sie bald ganz andere Problem als ausbleibende Touristen.

„Ah.“ Greg schnipste plötzlich mit den Fingern. „Aber du hast Glück. Gestern hab ich eine junge Frau erwischt, wie sie sich am Telefon bei jemandem über solch ein Pokémon beschwert hat. Ich bin zu ihr und was sie mir erzählt hat, passt zu dem, was du mir gesagt hast. Aggressives, unkontrollierbares Pokémon, das sie von jemandem gekauft hat. Sie war ziemlich angepisst, aber bereit, sich mit dir zu treffen.“ Er fischte in seiner Hosentasche nach einem Zettel, den er Zayn zuschob. „Hier ist ihre Nummer. Ruf sie an und mach ein Treffen mit ihr aus. Aber sei bloß vorsichtig.“

Nachdenklich besah sich Zayn der Nummer auf dem Zettel. Das war, was er sich erhofft hatte – jemanden dazu befragen können, woher er oder sie ein Cryptopokémon hatte. Vielleicht brachte ihn das weiter. Die Informationen von seinem Freund bereiteten ihm aber auch Sorgen, wenngleich sie ihn wenig überraschten. Er hatte die letzten Tage immer wieder Ausschau gehalten nach Meldungen zu neuen Entdeckungen. Nach wie vor keine Sichtungen in Veralia. Das galt aber nicht für größere Städte.

„Und was erhoffst du dir davon?“, fragte Greg.

„Erst mal will ich wissen, wer die Pokémon verteilt.“

„Und dann? Suchst du die Typen?“ Der Argwohn in Gregs Gesicht war unverkennbar. „Ohne Scheiß, Zayn. Wenn die wirklich aus Pyritus kommen, sind sie gefährlich.“

„Das versuch ich ihm auch die ganze Zeit zu sagen“, warf Vince ein.

Mit einem genervten Stöhnen lehnte Zayn sich zurück, als er klarstellte: „Ich weiß besser als ihr beide zusammen, dass die Typen gefährlich sind, danke.“

Greg ließ nicht locker. „Meinst du nicht, dass das ‘ne Nummer zu groß für dich ist?“

„Wenn ich mich nicht darum kümmere, macht es niemand.“

„Und dennoch denke ich, dass es nicht deine Aufgabe ist, sondern die–“

„Die der Polizei? Der Regierung?“ Zayn lachte humorlos. „Die machen aber nichts. Willst du erst warten, bis wir hier völlig überschwemmt werden mit Cryptopokémon? Du kannst ja mal nach Pyritus gehen. Du bist ein anderer Mensch, wenn du wiederkommst.“

Allmählich schien Greg zu begreifen, dass Zayn sich keinen Millimeter von seinem Standpunkt wegbewegen würde. „Ach Zayn …“

„Lass gut sein.“ Zayn erhob sich und rang sich ein Lächeln ab. „Ich stecke da längst viel zu tief drin.“ Das hatte er schon zuvor und spätestens seit Chandra gab es für ihn keine Möglichkeit mehr, sich der Angelegenheit zu entziehen. Aber das musste er seinem Kumpel nicht erzählen; je weniger dieser wusste, desto besser.

„Du warst schon immer stur, wenn du etwas wolltest“, schmunzelte Greg. Er und Vince waren ebenfalls aufgestanden.

„Hat sich auch meistens ausgezahlt. Aber du solltest jetzt wieder an die Arbeit. Willst doch niemandem deine grandiosen Kochkünste vorenthalten“, grinste Zayn.

„Natürlich nicht. Und du … pass auf dich auf. Du hast ein Talent dazu, dich in Schwierigkeiten zu begeben.“ Ein leichtes Lächeln umspielte Gregs Lippen und die Sorge zeichnete sein Gesicht unverkennbar. Zayn war dieser Blick wohlvertraut. Er hatte ihn unzählige Male bei allen möglichen Leuten gesehen. Meist hatte er ihn als nervig empfunden. Jetzt bereitete er ihm ein unangenehmes Gefühl.

Womöglich deshalb, weil die Sorge der anderen dieses Mal berechtigt war.

„Ich werd’s versuchen“, versprach er.

 

******

 

Zayn hatte die Trainerin schließlich angerufen und ein Treffen mit ihr ausgemacht. Allerdings war sie nicht sofort in der Lage gewesen, zu ihnen zu kommen, also hatten er und Vince sich die Mittagsstunden bis zur vereinbarten Zeit anderweitig vertreiben müssen. Schlussendlich waren sie etwas essen gegangen – nicht bei Greg, dort war es zu voll gewesen – und Zayn hatte, während sie draußen in der angenehm warmen Meeresbrise gesessen hatten, nicht aufhören können, den Blick durch die Umgebung schweifen zu lassen. Stets auf der Suche nach einem auffälligen Pokémon und mit einem Ohr bei den Gesprächen anderer Menschen – aber Fehlanzeige. Gerade dann, wenn er vor Ort war, ergab sich nichts Auffälliges.

Nichtsdestotrotz wuchs ein wenig Unruhe in ihm heran. Es erschien ihm falsch, friedlich herumzusitzen, während womöglich im selben Moment an einer anderen Stelle in der Stadt Cryptopokémon verteilt wurden. Andererseits … würde man so etwas in der hellsten und strahlendsten Stadt Orres vermutlich eher nachts tun. Im Dunkeln.

Sein ungutes Gefühl konnte er ebenfalls nicht abschütteln, je länger sie sich in der Stadt aufhielten. Aber er schenkte dem keine Aufmerksamkeit mehr, als es endlich an der Zeit war, sich mit der unbekannten Trainerin zu treffen.

Sie waren vor dem Pokémon-Center verabredet – dies lag an einem an die Promenade angrenzenden offenen Platz und war für jeden erkennbar anhand des großen Pokéball-Symbols oberhalb der Eingangstüren. Als Zayn und Vince dort ankamen, fiel ihnen bereits eine Frau mit viel zu großer Sonnenbrille auf, die sich immer wieder suchend in alle Richtungen umsah.

„Hey, bist du Kaleigh?“, fragte Zayn die Fremde, als sie zu ihr stießen.

Sie drehte sich erstaunt um und schob fragend ihre Sonnenbrille nach oben, wobei sie ein Paar hellbrauner Augen offenbarte. „Ja. Bin ich mit euch verabredet?“

„In der Tat.“ Zayn reichte ihr zur Begrüßung die Hand und sie stellten sich ihr vor.

Kaleigh hatte ihre Sonnenbrille hoch auf ihre dunkelbraune Haarspracht geschoben, aus der ihr ein fransiger Pony auf die Stirn fiel. Ihre Haut war goldgebräunt und ließ vermuten, dass sie sich bei gutem Wetter gerne am Strand aufhielt. Das Lächeln auf ihren üppigen Lippen hatte etwas Herausforderndes an sich. Die junge Frau vor ihnen machte einen alles andere als schüchternen Eindruck; wenn sie als Trainerin nur halb so selbstbewusst war, dann fragte Zayn sich wirklich, was sie dazu gebracht hatte, ein Cryptopokémon zu … kaufen.

„Lass uns ein Stück gehen“, schlug er vor. Er wollte nicht unmittelbar vor dem Pokémon-Center darüber sprechen. Es stand ihm allerdings wenig danach, lange mit seinem Anliegen zu warten. „Du hast dir also ein besonderes Pokémon zugelegt?“, fragte er und hielt es für ratsam, erst einmal herauszufinden, wie viel sie selbst über das Pokémon wusste, ehe er ihr mehr erzählte.

Kaleigh nickte, wenig begeistert. „Habe ich. Allerdings bin ich nicht sehr zufrieden.“

„Inwiefern?“

„Erst war es stur … irgendwie fast schon ein wenig apathisch und nicht bereit, auch nur eines meiner Worte wahrzunehmen, so schien es mir. Es stand nur stumpf in der Gegend und hat Löcher in die Luft gestarrt. Gut, dachte ich mir, wir kennen uns noch nicht, vielleicht braucht es ein wenig länger. Aber als ich mich ihm in Ruhe genähert habe, ist es plötzlich zum Leben erwacht. Es hat mich zur Seite gestoßen und sein Horn voller Wucht in den Boden gerammt. Ich hatte Glück, dass es mich dabei nicht erwischt hat“, erzählte Kaleigh hörbar aufgebracht.

„Von welchem Pokémon ist die Rede?“, fragte Zayn.

„Es ist ein Galoppa. Nun ja, nach diesem Ereignis holte ich es schnellstmöglich in seinen Ball zurück. Ein wenig später habe ich es dann noch mal versucht. Aber du kannst es wirklich vergessen, dieses Galoppa ist völlig wahnsinnig! Es hat in seiner Wut einfach einen Flammenwurf auf mich losgelassen! Weißt du, wie gefährlich das ist, wenn du ein Feuerpokémon nicht unter Kontrolle hast?“ Mitten in ihren Ausführungen waren sie dann doch wieder zum Stehen gekommen, allerdings an einer etwas ruhigeren Stelle und nicht mehr direkt vor dem Center.

Zayn musste bei Kaleighs Beschreibungen an sich halten, sich nicht voll Fassungslosigkeit die Haare zu raufen. Gerne hätte er ihr gesagt, dass sich solche Dinge verhindern ließen, indem man keine Pokémon von Wildfremden kaufte, jedoch benötigte er noch weitere Infos und wollte sie nicht sogleich vergraulen.

Also sagte er in verständnisvoller Tonlage: „Allerdings. Ich habe selbst eines.“ Vince an ihrer Seite hielt sich bedeckt, aber in seinem Gesicht stand jener misstrauische Blick, den Zayn zurückhielt.

„Und wie kann das überhaupt sein? Pokémon greifen keine Menschen an. Wenn man sie bedroht, klar, aber nicht grundlos“, fuhr Kaleigh fort.

„Wie bist du überhaupt dazu gekommen, dieses Pokémon anzunehmen?“

Sie seufzte. „Ich komme eigentlich aus Sinnoh und bin nur für einen kurzen Trip nach Orre gekommen, wollte mir ein wenig die Städte und die Natur ansehen und anschließend zum Duellberg weiterziehen. Ich bin vor ein paar Tagen mit der Fähre hier angekommen und habe die Kunde von außergewöhnlich starken Pokémon aufgeschnappt. Das hat mich neugierig gemacht. Und na ja, vorgestern Abend ist mir dann zufällig jemand über den Weg gelaufen und hat mir so ein Pokémon angeboten.“

Es fiel Zayn zunehmend schwerer, seine gefasste Haltung aufrechtzuerhalten. Die Art und Weise, wie die junge Frau davon sprach, strotze nur so vor Naivität. „Ist der Handel mit Pokémon bei euch in Sinnoh legal, oder wieso bist du dem so neutral begegnet?“ Na, das funktionierte ja gut mit dem Freundlich-bleiben.

Sie verdrehte daraufhin die Augen und vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Natürlich nicht. Aber wollen wir nicht alle starke Pokémon haben? Die Versuchung, ein starkes Pokémon zu bekommen, ohne es mühselig suchen und trainieren zu müssen … die war so groß. Und na ja“, sie lächelte unschuldig, „er hat mir das Pokémon gezeigt. Es war ruhig, aber wirkte soweit normal. Woher hätte ich wissen sollen, dass es so ausrasten kann?“

Ja, woher? War doch auch eine völlig normale Situation.

„Nimm mir die Frage nicht übel, aber hat es dich nicht skeptisch gemacht, dass dir jemand ein starkes Pokémon anbietet? Die allerwenigsten trainieren erst ein Pokémon, bis es stark wird, um es dann zu verschachern. Wie gesagt, Handel mit Pokémon ist nach wie vor ein Verbrechen. Das hätte dir doch komisch erscheinen müssen.“

So langsam schienen seine unterschwelligen Vorwürfe sie doch zu erzürnen. Ihr Lächeln war längst verschwunden, stattdessen lag ein widerwilliges Funkeln in ihren Augen. „Ja, und selbst wenn? Jetzt ist es ohnehin zu spät. Aber hätte ich das gewusst, hätte ich dieses Pokémon nie angenommen. Ich wollte ein starkes, ja, aber kein … was auch immer.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du scheinst jemand zu sein, der Ahnung davon hat. Kannst du mir sagen, was mit dem Pokémon los ist? Ich habe schon gedopte Pokémon gesehen und die waren nicht so drauf wie dieses Galoppa.“

„Ich kann es dir nicht genau sagen, aber diesem Pokémon wurde etwas sehr Schlimmes angetan.“

„Ah … und du? Du interessierst dich nur dafür, weil du was tun willst? Den Pokémon helfen? Kein Eigeninteresse daran, selbst so eines zu haben?“

Zayn erwiderte ihre dreiste Frage mit einem lockeren Grinsen. „Nein. Ich habe es nicht nötig, mir ein vermeintlich starkes Pokémon zu erkaufen.“ Vince zog scharf die Luft ein und Kaleigh nickte schmunzelnd. „Und ja. Es liegt mir daran, ihnen zu helfen.“

„Na dann.“ Sie klatschte in die Hände, als wäre der ernste Teil ihres Gesprächs damit beendet. „Ich kann mit diesem Galoppa nichts anfangen, es ist mir zu riskant. Wenn du willst, kannst du es nehmen.“

„Tatsächlich? Das würde ich gern.“

Kaleigh bejahte und löste den Pokéball von ihrem Gürtel. Er wollte ihn ihr gerade abnehmen, als sie ihn wieder zurückzog. „Moment mal – nicht umsonst natürlich. Ich will nicht auf den Kosten für dieses Pokémon sitzen bleiben“, stellte sie klar.

Das hatte Zayn bereits vermutet. „Na schön“, seufzte er und holte sein Portemonnaie hervor, „wie viel hast du bezahlt? Und versuch ja nicht, dir einen Bonus obendrauf zu schlagen. Ich kenne die Preise für solche Pokémon.“

Das tat er nicht, nicht genau zumindest. Aber das wusste sie ja nicht.

Sie nannte ihm den Preis und er wäre beinahe aus allen Wolken gefallen. Doch er öffnete sein Portemonnaie – gerade wollte er einen Blick hineinwerfen, als Vince ihn am Arm zu sich zog.

„Du entschuldigst uns kurz, ja?“, wandte er sich erst an Kaleigh, danach mit gesenkter Stimme an Zayn. „Bist du jetzt völlig verrückt? Du willst ihr echt das Cryptopokémon abkaufen? Für den Preis?“

„Ja, klar. Was habe ich für eine andere Wahl?“ Natürlich schien das extrem. Aber Zayn konnte es nicht verantworten, dieses arme Pokémon seinem Schicksal zu überlassen. Kaleigh war kein Unmensch, aber auch nicht unbedingt eine einfühlsame Trainerin. Wer wusste schon, was mit dem Galoppa geschehen würde – womöglich würde es in seinem Ball versauern oder gar ausgesetzt werden. Aber ein Cryptopokémon in Freiheit war keine vertretbare Option. Diese Wesen waren eine Gefahr für die Allgemeinheit und außerdem empfand Zayn das Bedürfnis, ihm zu helfen. Seit er zum ersten Mal eines gesehen hatte, wollte er ihnen allen helfen. Leider fehlten ihm die Mittel dazu, aber solange er zumindest die Möglichkeit sah, eines von ihnen zu retten … eines war besser als keines.

Aber Vince sprach das Problem an der ganzen Sache aus. „Es geht nicht um das Geld, aber wie stellst du dir das vor? Ich muss dich ja wohl nicht daran erinnern, wie das beim letzten Mal ausgegangen ist. Deine Mutter wird dir den Kopf abreißen, wenn du noch mal mit so einem Pokémon ankommst. Und Chandra? Soll sie etwa wieder ihren Geheimtrick anwenden, um dem Pokémon zu helfen?“

Natürlich wollte er nicht, dass Chandra sich erneut in Gefahr brachte. Er wollte das nicht noch einmal miterleben müssen. „Nein“, erwiderte er angesäuert. „Es muss eine andere Möglichkeit geben. Aber ich kann nicht einfach wieder gehen und so tun, als wüsste ich von nichts. Akzeptier das bitte einfach.“

Für einen Augenblick starrte Vince ihn lediglich an, als hätte er noch etwas zu sagen, doch dann sah er nach unten. „Na gut. Du musst selbst wissen, was du tust. Ich vertraue auf dein Urteil.“

„Danke.“ Zayn wandte sich wieder Kaleigh zu, um ihr das Geld für das Pokémon zu geben – er konnte selbst nicht fassen, was er im Begriff war zu tun –, als er sah, dass er gar nicht ausreichend Bargeld bei sich hatte. Mit entschuldigendem Blick drehte er sich doch wieder zu seinem Freund. „Kannst du mir was auslegen?“

„Ey, das ist jetzt nicht dein Ernst“, stöhnte Vince fassungslos, ging aber der Bitte nach und griff nach seinem Portemonnaie. Wenngleich er mit Zayn nicht immer einer Meinung war über dessen Vorhaben, so war nichtsdestotrotz auf ihn Verlass.

Zayn kramte die benötigte Summe zusammen, als ihm seine letzte und wichtigste Frage wieder in den Sinn kam. „Sag mal, wer genau hat dir eigentlich das Pokémon verkauft?“

Kaleigh legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Das war so ein Mann, bestimmt an die zwanzig Jahre älter als ich. Dunkel gekleidet, sah ein bisschen zwielichtig aus. Ich denke, er war nicht von hier. Ich konnte nicht so viel von seinem Gesicht erkennen, war ja dunkel. Aber …  oh, genau! Ich erinnere mich. Er hatte so eine zackige, hässliche Narbe in seinem Gesicht – rechte Wange, wenn ich mich nicht irre. Die hätte ich gar nicht vergessen können, so auffällig, wie die war.“

Während ihrer Ausführungen hatte Zayn ihre Umgebung beobachtet, um auszuschließen, dass jemand hinsah, als sie, nun ja, ein Pokémon käuflich erwarben. Bei ihren letzten Worten war er allerdings nahezu erstarrt. Ein kalter Schock war durch seine Glieder gefahren und hatte alle Bewegung von ihnen genommen, sodass er es nun lediglich vermochte, Kaleigh anzustarren. Es verstrichen einige Sekunden, in denen sämtliche Umgebungsgeräusche verschwanden, als würde das Begreifen des neuerworbenen Wissens seine ganze Wahrnehmung für sich beanspruchen.

Es war sein Kiefer, der sich als Erstes lockerte, um todernst zu fragen: „Ein Narbe?“

„Ja, wie gesagt.“

„Hey, Zayn, was ist los? Alles in Ordnung?“, hakte Vince nach, hörbar beunruhigt.

Es könnte ein Zufall sein. Bedeutungslos. Zayn schüttelte langsam den Kopf. Oder es ist kein Zufall und wir sollten schnellstmöglich von hier verschwinden.

Er zwang sich zur Gleichgültigkeit und entgegnete: „Alles bestens“, dann übergab er Kaleigh möglichst unauffällig das Geld und nahm im Gegenzug den Pokéball an sich. „Ein gut gemeinter Rat. Halt dich in Zukunft von solchen Kerlen fern. Und mach bei deinem Trip durch Orre einen großen Bogen um Pyritus, wenn du keinen Ärger willst.“

„Ich, ähm, okay“, war Kaleighs Antwort. Sein plötzlich ernstes Verhalten irritierte sie offenbar.

„Dann sind wir ja fertig. Danke für deine Mithilfe.“

Sie verabschiedeten sich von Kaleigh und beschlossen, dass es an der Zeit war, zurückzufahren. Zayn hatte ein Cryptopokémon in der Tasche; das war mehr, als er sich für den Tag erhofft hatte, und nach den erworbenen Informationen stand ihm nicht länger der Sinn danach, nach weiteren Cryptopokémon Ausschau zu halten.

Er wollte in Ruhe über den nächsten Schritt nachdenken. Was er bezüglich des Pokémons machen sollte, wusste er nicht. Seine Mutter würde ihn in der Tat in zwei Hälften reißen, sollte er noch einmal ein Cryptopokémon im Labor oder auch nur in dessen Nähe aus seinem Ball lassen. Er konnte es ihr nicht verübeln. Die Risiken waren enorm und ein ausgewachsenes Galoppa nicht minder gefährlich als ein Waaty – im Gegenteil. Zu Torben brauchte er gar nicht wieder gehen, der würde im Ernstfall loyal gegenüber Zayns Mutter sein. Und Chandra … gut möglich, dass sie der Umstand, ein Cryptopokémon in ihrer Nähe zu haben, weniger verstören würde als beim ersten Mal, als Zayn heimlich eines bei sich getragen hatte, aber er sah wenig Hoffnung für die beiden. Das Flammenkleid dieses Pokémons verbrannte jeden, dem es kein Vertrauen schenkte.

Selbst wenn Chandras Einfühlungsvermögen mit diesen Pokémon derart tiefgreifend war, dass sie das zustanden bringen könnte … Es war zu gefährlich. Zayn würde sie nicht in die Nähe des Pokémons lassen. Also musste er sie einmal mehr in Unwissenheit lassen.

Aber er hasste es, ihr etwas derart Wichtiges vorenthalten zu müssen, und er wurde diese quälende Stimme nicht los, die ihm zuraunte, dass es für das Galoppa keine andere Hilfe gab. Doch es musste, verdammt. Es musste eine andere Möglichkeit geben.

„Ich kann nicht fassen, dass ich gerade Geld für ein Pokémon bezahlt habe“, meinte er, um sich davon abzulenken. Geld war erheblich unkomplizierter als seine anderen Sorgen. Auch wenn es ihm übel aufstieß, dass er so letzten Endes Ray Geld zuschob. Denn der war es doch, der von dem Ganzen profitierte. Aber immerhin konnte dieser sich nun nicht darüber beschweren, dass er ihm ein Cryptopokémon gestohlen hatte. Zayn hatte es erworben – nach Rays Maßstäben legal.

„Und ich kann nicht fassen, dass ich auch noch ein Drittel dazu beigesteuert habe“, seufzte Vince an seiner Seite. „Aber in Zukunft solltest du dir eine andere Taktik überlegen. Du kannst nicht jedem sein Cryptopokémon abkaufen.“

„Schon klar“, grummelte Zayn.

Sie waren mittlerweile ein gutes Stück von der Promenade entfernt und durchquerten ein ruhigeres Viertel von Portaportus. Hier reihten sich schicke, weißblaue Fachwerkhäuser aneinander, die häufig gemütliche Gasthöfe beinhalteten, die eine günstigere Option zu den edlen Hotels oberhalb der Promenade waren. Nicht selten fanden sich dazwischen auch mal kleine Läden mit allerlei Souvenirs oder handwerklich gefertigter Ware, in welche es Touristen nur allzu gerne verschlug.

An diesem Nachmittag war die breite, gepflasterte Straße allerdings auffallend leer. Das war vermutlich dem bevorstehenden Wetterumschwung geschuldet. Es heulte bereits ein frischer Wind durch die Gassen, der die Fensterläden der Häuser klappern ließ. Nach und nach wurde das Blau des Himmels mit dem Grau heranziehender Wolken überschattet und durch das Verschwinden der Sonne sank die Temperatur nach unten.

Vince hatte am Mittag Ewigkeiten nach einem Parkplatz gesucht, weswegen sie nun etwas länger bis zum Auto zu laufen hatten. Wenn sie es vor Regeneinbruch schafften, war Zayn das nur recht. Doch auch davon abgesehen wollte er schnellstmöglich fort.

Er vernahm plötzlich einen Vibrationston, den er von seinem eigenen PDA kannte. Dieser hier kam jedoch von Vince‘ Gerät. Zayn hatte ihn schon zuvor im Gespräch mit Kaleigh vernommen, da hatte sein Freund den Anruf aber ignoriert.

„Da muss ich diesmal rangehen, könnte wichtig sein“, seufzte Vince und nahm den Anruf entgegen.

Zayn hörte nicht zu, nahm bloß wahr, dass Vince sich beim Telefonieren ein Stück hinter ihm zurückfallen ließ. Er selbst lief weiter, gemächlichen Schrittes, aber doch stetig.

Ein Hauch von Regen lag in der Luft. Für die Touristen mochte die herabfallende Nässe störend sein, doch für die Natur war sie vonnöten. Es hatte die vergangenen Wochen viel zu selten geregnet.

Beim Schlendern kam Zayn an einem Laden vorbei, in dessen Schaufenster handgeschnitzte Figuren verschiedenster Pokémon präsentiert waren. Er erkannte ein Evoli darunter und musste an Chandra denken. Sie hätte vermutlich voll Begeisterung an der Scheibe geklebt und die Figuren bestaunt. Sie war mit wenig zu begeistern, denn sie hatte es nicht verlernt, sich an kleinen Dingen zu erfreuen. Nicht verwunderlich, angesichts ihrer Geschichte.

Mit einem leichten Lächeln zog er weiter und merkte so gar nicht, dass er und Vince sich zunehmend voneinander entfernten. Nach einer Weile drehte er sich um und sah Vince an die zwanzig Meter entfernt von ihm vor einem Laden stehen. Er blickte nicht in Zayns Richtung, sondern telefonierte nach wie vor.

Missmutig beschloss Zayn, an Ort und Stelle auf seinen Freund zu warten. Es hatte ohnehin keinen Sinn, schon vorauszugehen.

Kaum hatte er den Gedanken gedacht, legte sich eine schwere Hand auf seine linke Schulter und wandte ihn herum. In dem Gesicht, welchem er sich nun gegenübersah, zeichnete sich eine überraschte Gewissheit ab. Jene Gewissheit, die ihm förmlich den Boden unter den Füßen wegzog.

Die Narbe in diesem Gesicht hätte Zayn überall wiedererkannt.

Unerfreuliches Wiedersehen

Zayn kannte den Mann vor sich nur allzu gut. Beim letzten Mal hatte dieser ihm ein Messer an den Hals gehalten und gedroht, ihn abzustechen. Nur durch ein Wunder war er der verfänglichen Situation entkommen.

Nun nutzte sein Gegenüber das Überraschungsmoment, um Zayn, dem für einige Sekunden sämtliche Gedanken entgleist waren, am Oberarm zu packen und mit einem kräftigen Ruck mit sich in die nächstgelegene Seitengasse zu ziehen. Geistesgegenwärtig löste sich ein Laut der Empörung aus seiner Kehle, in der Hoffnung, Vince möge ihn hören und erkennen, dass Zayn nicht länger in Sichtweite war.

Zu mehr kam er gar nicht. Er war kaum in die schmale Gasse gestolpert, da schlug ihm die geballte Faust seines Gegners rücksichtslos ins Gesicht. Voller Wucht traf ihn der Schlag und unmittelbar explodierte der Schmerz in seiner linken Schläfe. Er fing sich an der Wand zu seiner Rechten ab, als ihm endlich gänzlich dämmerte, in was für eine prekäre Lage er geraten war.

Aber da ergriff die nun leicht verschwommene Gestalt vor Zayn schon seinen Kragen, zog ihn in eine aufrechte Position und stieß ihn nicht weniger grob gegen die Hauswand. Sein Hinterkopf prallte gegen den harten Putz, was zur Unschärfe des Bildes vor seinen Augen beitrug. Das Gesicht seines Angreifers stand nicht still, sondern waberte immer wieder nach rechts oder links. Zayn heftete seinen Blick auf die Narbe. Deren wulstige Zacken wurden nach und nach wieder sichtbar.

„Haben wir dich endlich gefunden, du kleiner Bastard“, raunte ihm sein Gegenüber mit vor Wut verzerrter Stimme zu. „Du bist ja auch wirklich nicht zu verwechseln mit dieser schwulen Haarfarbe.“

Allmählich sah Zayn wieder klar, was aber nicht den dröhnenden Schmerz in seinem Kopf milderte. Aber er erkannte, dass der Typ vor ihm, wie auch bei ihrer ersten Begegnung, nicht alleine, sondern in Begleitung seines Partners war. Derjenige, welchem Zayn damals das Cryptopokémon abgenommen hatte und von dem er festgehalten worden war, als das Narbengesicht ihn bedroht hatte. Er betrachtete ihn ebenfalls mit hasserfülltem Blick.

Zayn sah in die finsteren, graugrünen Augen des Mannes vor sich und verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. „Wie originell. Fällt dir nichts Besseres ein?“

„Findest du das etwa lustig? Mal sehen, wie viel du noch zu lachen hast, wenn Ray mit deiner hübschen Visage fertig ist.“

Zayn ignorierte die Drohung, denn etwas anderes verlangte seine Aufmerksamkeit. Er sah nach rechts, schräg an den Verbrechern vorbei. Vince spähte vorsichtig um die Ecke und als er Zayn sah, weiteten sich seine Augen vor Schock. Er zeigte eine Geste, die so viel bedeutete wie ‚Warte‘, und zog sich hinter die Ecke zurück.

Daraufhin richtete auch Zayn seinen Blick wieder vor sich, möglichst unauffällig, um seinen Freund nicht zu verraten.

„Also, wo ist Chandra, hm?“, wurde er gefragt.

„Offensichtlich nicht hier, oder hast du sie gesehen?“

Ein kühles Grinsen, das die Narbe nach oben zog. „Du hältst dich wohl für besonders schlau, was? Aber lass mich dir eines sagen. Du kannst das kleine Biest nicht Ewigkeiten vor Ray verstecken. Er wird sie finden und dann wird es dir an den Kragen gehen. Also mach es dir und uns doch einfach und verrate uns direkt, wo sie ist. Vielleicht stimmt es ihn ja gnädig.“

Die Konversation erinnerte Zayn an ihre erste Begegnung – da war er ebenfalls nicht bereit gewesen, auch nur ein belastendes Wort hervorzubringen. „Wenn du glaubst, dass ich dir das sage, dann bist –“

Er brach mitten im Satz ab, als ein Knurren gefolgt von einem schmerzerfüllten Schrei durch die Gasse halte. Selbst das Narbengesicht vor ihm zuckte zusammen, lockerte seinen Griff um Zayns Kragen und sah zum Auslöser der Störung.

Der Schrei war von seinem Komplizen ausgegangen, in dessen Bein sich ein mittelgroßes, vierbeiniges Pokémon festgebissen hatte, welches Zayn als Vince‘ Hundemon erkannte. Sein Opfer trat mit seinem freien Bein nach dem Pokémon, woraufhin dieses zwar von ihm abließ, aber nicht weniger wütend die Zähne fletschte, an denen eine feine Blutspur glänzte.

Zayn nutzte den einzigen Moment, den er haben würde, um sich aus der Gefahrenzone zu begeben, rammte seinem Gegenüber seinen Ellbogen hart gegen die Brust, um ihn anschließend von sich zu stoßen. Der reagierte zwar fast umgehend, doch Zayn war schnell und unterlag nicht länger dem Überraschungsmoment. In Windeseile war er zurück auf der größeren Straße und neben Vince, der ihm einen todernsten, wenn auch erleichterten Blick zuwarf.

Hundemons tiefes Knurren hallte durch die Straße, als es sich vor seinen Feinden aufbaute. Es hatte die Lefzen nach oben gezogen und zwischen den aufeinandergeschlagenen, scharfen Zähnen loderten immer wieder dunkle orangefarbene Flammen hervor. Wer sich diesem Pokémon im direkten Kampf stellte, konnte nicht besonders schlau sein.

Das war Rays Handlangern offenbar auch bewusst. Sie zückten je einen Pokéball und warfen diese vor sich, woraufhin Hundemon einen Sprung nach hinten vollführte und vor seinem Trainer landete.

Vor dem Narbengesicht materialisierte sich ein mittelgroßes Pokémon auf zwei Beinen, dessen Körper größtenteils hellbraun war. Sein Kopf war ein weißer Schädel mit zwei kleinen, nach hinten ragenden Hörnern und in der rechten Hand trug es den für seine Art typischen Knochen. Ein Knogga.

Zayn griff sich daraufhin den Pokéball des für diesen Kampf geeignetsten Pokémons von seinem Gürtel und ließ ihn seinerseits aufspringen. Daraus erschien ein schwebendes Pokémon mit einem furchteinflößenden Blick. Sein runder Körper war eingeschlossen in eine funkelnde, glatte Eisschicht, welche die eisblauen Augen, das Maul des Wesens und einige weitere Stellen freiließ. Durch diese Aussparungen ließ sich der tiefschwarze, steinerne Körper erkennen, der schräg über den Augen je ein spitzes Horn aufwies. Zayn spürte die extreme Kälte, die von seinem Firnontor ausging und die Luft um es herum in Form feinster Eissplitter sichtbar werden ließ.

Gegenüber von Vince‘ Hundemon hatte sich ein größtenteils violett gefärbtes Pokémon manifestiert, das vor allem mit seinem imposanten Unterkiefer, aus dem zwei spitze Eckzähne nach oben ragten, auf sich aufmerksam machte. Trotz ihres Äußeren waren Granbull von Natur aus scheue Pokémon, die sich auch in Trainerkämpfen gerne mal zurückzogen, wenn ihnen ihr Gegner zu einschüchternd erschien. Dieses hier jedoch ließ ein tiefes Knurren aus seiner Kehle erklingen und war kurz davor, sich auf seinen Kontrahenten zu stürzen. In Hundemon hatte es wohl den idealen Gegner gefunden. Zayn wandte den Blick wieder ab – er musste sich auf seinen eigenen Kampf konzentrieren und Vince würde das schon geregelt bekommen.

Vor Firnontor hatte sich das gegnerische Knogga aufgebaut. Ähnlich wie Granbull wirkte auch das Bodenpokémon wie eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Zayn beobachtete das nicht zum ersten Mal. Für jemanden, der es nicht besser wusste, wirkte ein Cryptopokémon zu Anfang nicht allzu auffällig. Aber kaum, dass sie sich in den Kampf stürzten, war es, als wäre ihr ganzes Inneres aufgeladen von schier unkontrollierbarer Wut, die sie mit allem, was ihnen zur Verfügung stand, auf ihre Feinde schossen. Hatte man ein wenig Ahnung, erkannte man schon zuvor, mit welch enormer Qual sich die Pokémon dazu zwangen, trotz ihrer inneren Pein zu kämpfen. Nach allem, was Chandra ihm erzählt hatte, musste es im Inneren dieser beiden Pokémon düster sein. Ein Blick in die Augen der Pokémon zeigte nichts als Trostlosigkeit.

Zayn hatte noch nie einen richtigen Pokémonkampf gegen ein Cryptopokémon ausgetragen. Zwar hatte er in Pyritus einige Zeit damit verbracht, diese Pokémon zu beobachten, sie, meist miteinander, kämpfen sehen, doch Auseinandersetzungen hatte er gemieden. Dem lag nicht zugrunde, dass er die Kämpfe fürchtete, keineswegs, aber er wollte seine Pokémon nicht dieser düsteren, verzehrenden Cryptoenergie aussetzen, wenn es nicht zwingend notwendig war.

Nun war es das allerdings.

Aber er verspürte keine Unsicherheit. Seine Gegner waren skrupellos und im Vorteil, wenn sie ihn mit einer Waffe in Schach halten konnten, doch wenn es zu einem Pokémonkampf kam, war er in seinem Element. Zayn würde nicht gegen ein Cryptopokémon verlieren – niemals konnte solch ein armes, seelisch zerstörtes Pokémon stärker sein als ein glückliches, welches bereit war, alles zu geben für seinen Trainer, der es unterstützte und doch nicht mehr verlangte als das, was möglich war. Pokémon schöpften Kraft aus dem Vertrauen ihrer Trainer, wohingegen Cryptopokémon keinen Rückhalt genossen, schließlich waren sie nichts weiter als ein Mittel zum Zweck – eine lebende Waffe.

Zayn schmunzelte, was seinen und Vince‘ Gegner nur noch mehr zu reizen schien. „Ihr wollt eine Antwort? Dann holt sie euch. Aber wenn ihr ernsthaft glaubt, uns mit diesen jämmerlichen, bemitleidenswerten Pokémon besiegen zu können, dann seid ihr Narren“, sprach er selbstsicher.

Das einzige Problem war die Umgebung. Die Straße bot nur begrenzt Platz für einen Kampf und mittlerweile waren in einigem Abstand ein paar Schaulustige hinzugekommen, angelockt durch den vorangegangenen Krawall und nun neugierig ob des Pokémonkampfes, der bevorstand. Zayn trat einige Schritte nach hinten, um seinem Pokémon mehr Platz einzuräumen.

„Deine Arroganz wird dir noch im Hals stecken bleiben“, knurrte sein Kontrahent. Aber ihm musste bewusst sein, dass er maximal die Möglichkeit eines Pokémonkampfes hatte. Jemanden tagsüber anzugreifen, ohne Aufsehen zu erregen, mochte in Pyritus funktionieren, nicht aber hier in der Öffentlichkeit.

Knoggas Trainer eröffnete den Kampf, indem er eine Kopfnuss befahl. Das Cryptopokémon hatte nur darauf gewartet; kaum waren die Worte gesprochen, da preschte es, den Schädel vorgestreckt, auf Firnontor zu.

„Weich aus, Firnontor“, befahl Zayn recht gelassen, woraufhin sein Eispokémon aus Knoggas Angriffslinie schwebte und dessen Kopfnuss so entging.

Sofort rammte das Knogga die Füße in den Boden und wandte sich dem deutlich vor ihm aufragenden Firnontor zu, welches im exakt selben Moment eine halbe Drehung vollzog und seinen furchteinflößenden Blick nach unten richtete. Zwischen den monströsen Zähnen ließ sich ein Grollen vernehmen.

„Cryptoschlag!“

Knogga hüllte seinen Körper in violetten Nebel und streckte seinen Knochen nach oben, welcher ebenfalls von der sichtbaren Finsternis ummantelt wurde, sodass er beinahe gänzlich hinter dieser verschwand. Es zögerte nicht lange, besser gesagt gar nicht, und ging zum Angriff über.

„Schutzschild!“, rief Zayn – fast schon zu spät. Gerade noch rechtzeitig erschien die schützende Kuppel aus purer Energie um Firnontor herum, ehe es von Knoggas dunklem Angriff hätte getroffen werden können Doch der grünlich pulsierende Schild erzitterte unter der Cryptoenergie und Knogga zeigte keinerlei Anstalten, den Rückzug anzutreten. Stattdessen schlug es seinen Knochen immer wieder gegen den Schild, begleitet von einem Knurren – sein Wille hätte wohl bewundernswert sein können, wäre er nicht der Dunkelheit in ihm geschuldet gewesen.

Mit steigendem Entsetzen beobachtete Zayn die Situation, ebenso wie sein Pokémon. Eigentlich sollte es ihn nicht überraschen. Er hatte Cryptopokémon schon öfter derartige Attacken einsetzen sehen und jedes Mal hatten sie die Rage der Pokémon nur verstärkt.

Firnontor würde seinen Schutzschild nicht ewig aufrechterhalten können. Ungern wollte Zayn dem gepeinigten Cryptopokémon noch mehr Schaden zufügen, allerdings sollte sein Partner auch nicht von dieser energieraubenden Dunkelheit erfasst werden. „Bring es mit Eisstrahl auf Distanz!“, befahl er Firnontor – missmutig. Ein Kampf gegen solch ein Pokémon bereitete keine Freude, im Gegenteil.

Firnontors Schlund öffnete sich und heraus schoss ein heller Strahl puren Eises. Dieser durchbrach den Energieschild und schleuderte Knogga durch die Wucht einige Meter weit weg. Als es auf dem Boden aufkam, hatte der Eisstrahl bereits nachgelassen. Ein Teil seines Körpers war mit einer Schicht der glänzenden Kälte überzogen – normalerweise hätten ihm deren tiefe Temperaturen schmerzen sollen, stattdessen stand es bereits wieder kampfbereit auf den Beinen.

Zayn sollte den Kampf lieber schnell beenden. „Eiszahn!“

Firnontor näherte sich seinem Kontrahenten in schnellem Tempo, Eis schmückte seinen Kiefer aus, bereit, alles zu zermalmen und einzufrieren, das zwischen diese käme.

„Halt es mit Cryptowelle auf!“, brüllte Knoggas Trainer.

Knogga … schien nicht diese Attacke einzusetzen, wenn Zayn das richtig beurteilte. Das Pokémon sprintete stattdessen seinerseits in den direkten Kampf, und es war schnell, verdammt schnell. Als hätten ihm die violetten Nebel einen Geschwindigkeitsschub verpasst, krachte es gegen Firnontors eisigen Kiefer und katapultierte das Eispokémon in die entgegengesetzte Richtung.

Als sich dieses wieder fing, schüttelte es sich; die dunklen Fäden waberten kurzzeitig über seinen eisernen Körper, ehe sie sich auflösten.

Normalerweise besaß Zayn im Kampf eine schnelle Auffassungsgabe, aber dieses Knogga griff nun ohne jeglichen Befehl an. Mit einem Mal flog sein Knochen über die Kampffläche. Geistesgegenwärtig wich Firnontor dem Knochmerang aus. Der sich drehende Knochen änderte den Kurs, zurück in Richtung seines Besitzers, woraufhin sich Zayn plötzlich diesem gegenübersah. Im letzten Moment duckte er sich unter dem Angriff hinweg, mit spürbar pochendem Herzen.

„Hör auf, deinen scheiß Knochen zu werfen“, zeterte das Narbengesicht, „und setz Cryptowelle ein!“

Diesmal tat Knogga, wie ihm geheißen, streckte die Arme von sich und beschwor eine Wand aus Dunkelheit. Mit einem Schrei schickte es diese auf seinen Gegner.

„Ausweichen mit Doppelteam!“, entgegnete Zayn.

Firnontor vervielfachte seinen Körper und entging der Attacke so problemlos, woraufhin sie sich in Nichts auflöste. Einige der Kopien des Eispokémons erschienen nun hinter Knogga, welches verbissen, aber wenig panisch nach dem echten Exemplar suchte.

„Gyroball!“

Alle Versionen Firnontors verschwanden augenblickblich, als sich eines der Exemplare hinter Knogga als das Original entpuppte. Es begann, sich in rasanter Geschwindigkeit zu drehen, bis sich ein gleißend heller Energiering um seinen Körper bildete, dann ging es zum Angriff über. Das Bodenpokémon sah die Attacke nicht kommen und wurde erbarmungslos getroffen.

Es war fies, von hinten anzugreifen, aber nun bot es eine gute Möglichkeit, den Kampf schnell zu gewinnen. Zayn durfte kein Mitleid mit dem Cryptopokémon haben – es war in seiner Apathie unerwartet stark und dass es zuweilen nicht einmal auf seinen „Trainer“ zu hören schien, machte es zu einer ernsten Bedrohung. Je schneller der Kampf vorbei war, desto besser.

Zayn hatte zuletzt nicht auf Vince‘ Kampf geachtet, sein eigener hatte ihn schlicht zu sehr beansprucht. Aber jetzt wandte sich seine Aufmerksamkeit nach rechts, wo Hundemon und Granbull gerade versuchten, sich gegenseitig zu zerfleischen – Vince ließ Hundemon viel näher an das Cryptopokémon heran, als Zayn es für gut hielt –, doch nun wurden die beiden Pokémon in ihrer Rauferei unterbrochen, als Knogga gegen sie krachte und sich die Pokémon auf dem Boden wiederfanden.

Granbull war als Erstes wieder auf den Beinen. Es zögerte nicht lange und schickte eine Kugel konzentrierter Cryptoenergie in Richtung Hundemon. Dieses wich im letzten Augenblick zur Seite. Dadurch hielt die Cryptokugel nun auf Vince zu, welcher geschwind ebenfalls aus ihrer Laufbahn sprang – letztlich krachte sie in die nächstbeste Hauswand hinter ihnen, brachte Putz und Gestein zum Bröckeln und hinterließ einen geschwärzten Fleck auf der weißen Fassade.

„Fuck, was soll die Scheiße!“, fluchte Vince aufgebracht.

Zayn warf einen nervösen Blick um sich, sah dann auf die Pokémon. Knogga hatte sich wieder erhoben, es war sichtlich angeschlagen, was es aber gar nicht zu kümmern schien. Mit leerem Blick stand es da, taxierte über die Fläche hinweg Firnontor. Granbull hingegen hatte sich bereits wieder auf seinen Gegner gestürzt, schickte diesem irgendeine Cryptoattacke entgegen, woraufhin Hundemon mit Flammenwurf antwortete.

Sie mussten hier fertig werden. Es wurden immer mehr Schaulustige, die sich in einigem Sicherheitsabstand um sie herum versammelten – weitaus mehr Menschen als Zayn in dieser Situation, konfrontiert mit Ganoven aus Pyritus, um sich haben wollte, ganz zu schweigen davon, dass das die Kampfmöglichkeiten erheblich einschränkte. Er hätte den Kampf längst gewonnen haben können, allerdings eignete sich eine starke Attacke wie beispielsweise Blizzard nun mal nicht für begrenzten Raum.

Zu allem Überfluss grummelte es genau in diesem Augenblick in den dunklen Wolken über ihnen, ehe diese einen kühlen Regnen auf die Erde herabsandten.

„Vince.“

„Hm?“ Sein Freund warf ihm nur einen kurzen Blick zu.

„Geh du schon vor. Ich beende das hier alleine.“

„Was?“, hakte Vince irritiert nach. „Bist du sicher?“

„Ja, wir müssen schnell aufbrechen können, wenn ich hier fertig bin. Ich komme nach“, versprach Zayn und lächelte verschmitzt. Auch wenn ihm nicht nach Lächeln zumute war.

„Na gut.“ Vince nickte und rief seinem Hundemon zu, in seinen Ball zurückzukommen. Das Feuerpokémon jaulte auf, als gefiele ihm diese Nachricht nicht, entfernte sich aber von Granbull. Vince rief es zurück und nach einem „Zeig’s den Losern!“ rannte er die Straße hinunter und verschwand nach kurzer Zeit außer Sichtweite.

„Firnontor, wir beenden das jetzt“, wandte Zayn sich nun seinem Pokémon zu.

„Glaub bloß nicht, dass du uns so einfach davonkommst“, zischte der Typ mit der Narbe erbost.

Zayn sparte sich eine Erwiderung. Er war zu beschäftigt damit, sich zu überlegen, wie er beide gegnerischen Pokémon effektiv mit einem Schlag außer Gefecht setzen konnte, ohne dabei allzu großen Einfluss auf die Umgebung zu nehmen.

Knogga und Granbull griffen nun auf Befehl mit unterschiedlichen Cryptoattacken an. Während Ersteres erneut eine Cryptowelle heraufbeschwor, ging Letzteres zum direkten Angriff über. Zayn erkannte nicht unbedenkliche Brandwunden auf dessen violetten Fell, aber das schien das Wesen nicht zu kümmern.

„Wehr sie mit Gyroball ab!“, rief Zayn seinem Firnontor zu, woraufhin dieses sich abermals in eine rotierende Kugel verwandelte, mit deren Schnelligkeit es nicht nur die Cryptoenergie zurückdrängte, sondern sich zugleich auch das tollwütige Granbull vom Leib hielt, welches versucht hatte, auf es einzudreschen.

Wie erwartet erzürnte die Abwehrattacke die beiden Pokémon – statt vorerst auf Abstand zu bleiben, näherten sie sich Firnontor wieder und ignorierten dabei auch die Rufe ihrer Trainer, dies nicht zu tun. Zayn bedachte die Pokémon nur mit einem kühlen Blick und befahl seinem eigenen keine weitere Attacke. Nur Sekunden später stürzten sich Knogga und Granbull als dunkelschimmernde Gestalten auf Firnontor. Ihr Kampfgebrüll war zu einem animalischen Gekreische geworden, in welchem sich Wahnsinn und Blutlust förmlich überschlugen; es klang wie die Hintergrundmelodie eines Albtraums. Gut, dass diese gleich ersterben würde.

Zayn ließ die Cryptopokémon so nah wie möglich herankommen, ehe er Firnontor mit einem einzigen Wort dazu anwies, auszuweichen. Den Cryptopokémon dürstete es nach dem Leid ihrer Opfer, aber sie waren keine klugen, vorrausschauenden Kämpfer – die Leichtigkeit, mit welcher Firnontor aus ihrer Angriffslinie schwebte, würde sie jedes Mal wieder überraschen.

Dieses Manöver brachte mit sich, dass die Cryptopokémon dem Eispokémon ganz nahe waren und in jenem Augenblick, in dem sie sich diesem verdutzt zuwandten, legte Zayn eine Hand auf einen anderen Pokéball an seinem Gürtel und sprach zugleich an sein Firnontor gewandt: „Eiseskälte.“

Firnontors Schlund teilte sich und sandte einen dichten, nebelartigen Hauch purer Kälte auf seine Gegner. Unmittelbar wurde nicht nur das Eis-, sondern auch die Cryptopokémon in eine glitzernde Wolke gehüllt, als die Feuchtigkeit in der Luft sowie die vom Himmel herabfallenden Wassertropfen ihren ursprünglichen Aggregatzustand aufgaben und zu feinen Eiskristallen wurden. Das dürftige Licht, das noch durch die Gewitterwolken drang, brach sich in der eisigen Kälte und ließ diese erstrahlen.

Selbst Zayn, der einige Meter entfernt stand, spürte, wie ihm die Kälte über die Haut kroch. Die Cryptopokémon seiner Gegenspieler gaben keinen Laut mehr von sich, waren aber noch verborgen in Firnontors bitterkaltem Überfall.

Den Moment, in welchem dem Narbengesicht und dessen Partner ihre Niederlage bewusstwurde, nutzte Zayn, um den gegriffenen Pokéball zu öffnen. Neben ihm erschien ein Pokémon, stehend auf vier kräftigen Beinen, in einer für seine Art beachtlichen Größe. Das Fell, welches seinen Rumpf überspannte, glänzte in einem satten Goldgelb, überzogen von vereinzelt gezackten, schwarzen Streifen. Um den Kopf- und Brustbereich bauschte sich eine beeindruckende, helle, cremefarbene Mähne, welche nur die Augen und spitzen Ohren des Wesens freiließ. Das gleiche dichte Fell schmückte auch einen Teil seiner Beine und bildete den voluminösen Schweif.

Das Arkani beugte sich herab, sodass Zayn auf dessen Rücken klettern konnte.

Nun lichtete sich Firnontors Eiseskälte und gab den Blick frei auf zwei vollkommen erstarrte Pokémon. Schock entstellte ihre Gesichter, aus denen jegliche Farbe gewichen war.

Gut – war das endlich erledigt. Und außer, dass der Boden um die Pokémon herum ebenfalls von einer Eisschicht bedeckt war, hatte die Attacke keine Auswirkungen auf die Umgebung genommen.

Da kam Zayn ein Idee.

„Aus dem Weg!“, befahl er den Schaulustigen unwirsch, als sich Arkani der Fluchtrichtung zuwandte, wobei es den Menschen ein, die Worte seines Trainers unterstreichendes Knurren schenkte. „Firnontor, wir hauen ab!“

„Das würde dir Pisser so passen!“, brüllte ihm das Narbengesicht über die Kampffläche hinweg zu.

Zayn verkniff sich eine angebrachte Erwiderung, sprach stattdessen wieder zu seinem Eispokémon: „Los, überzieh den Weg hinter uns mit Eisstrahl!“ Kaum waren die Worte gesprochen, gab er Arkani das Zeichen, die Flucht anzutreten. Er fühlte, wie sich die Muskeln des Feuerpokémon unter ihm anspannten, als es sich in Bewegung setzte.

Nun warf Zayn seinen Blick hinter sich. Rays Handlanger hatten ihre besiegten Pokémon zurückgerufen und wollten sich gerade an die Verfolgung machen, als ihnen Firnontors Eisstrahl vor die Füße krachte, den Boden mit der glänzenden Kälte überzog und sie offenbar Respekt lehrte. Im Weg stehende Menschen flüchteten sich in angrenzende Gassen oder sprangen zur Seite, als Firnontor, während es sich nach und nach von der Menge entfernte, das konzentrierte Eis über die Straße verteilte, bis eine Fläche von gut zehn Metern bedeckt war.

Seine Verfolger standen unschlüssig vor der Eisfläche – sie zu überqueren, würde sich als zeitaufwendig gestalten, ebenso, wie einen Alternativweg zu nehmen.

Doch trotzdem sollte Zayn sein Glück nicht herausfordern. Mit einem Pfiff holte er Firnontor zu sich und rief es in seinen Ball. Die Gasse beschrieb einen Bogen, sodass er nicht mehr in Sichtweite war. Kalter Wind und Regen schlugen ihm ins Gesicht und durchtränkten Haare und Kleidung zunehmend.

Während er sich an Arkanis weichem Fell festhielt, dämmerte ihm so langsam, was geschehen war.

 

******

 

„Mach schon, fahr los!“, warf Zayn seinem Freund lautstark entgegen, als er sich auf den Sitz fallen ließ und die Autotür hinter sich zuknallte.

Vince zeigte sich erschrocken, kam der Aufforderung aber umgehend nach und schlängelte sich, nicht gerade sehr rücksichtsvoll, in den Verkehr. „Okay, was zur Hölle war das?“

Zayn warf einen Blick nach hinten aus dem Auto. Außer anderen Verkehrsteilnehmern und gewöhnlichen Menschen konnte er nichts Auffälliges erspähen, Rays Leute waren nicht in Sichtweite. Dennoch spürte er, wie sich, nun, da er sich nicht länger in der Gefahrensituation befand, allmählich ein Gefühl der Unruhe in ihm breitmachte. Stück für Stück erklomm eine leise Panik sein Inneres, ließ ihn sich erschöpft gegen die Sitzpolsterung lehnen.

Sie waren hier und kannten sein Gesicht. Sie hatten ihn gefunden und könnten es jederzeit wieder tun. Beim nächsten Mal vielleicht nicht in Portaportus, sondern dort, wo Chandra weniger weit entfernt war.

Chandra.

Arceus sei Dank war sie nicht dabei gewesen.

„Fahr einfach, verdammt!“, fuhr Zayn Vince alles andere als freundlich an.

„Sie sind gar nicht zu sehen. Und was sollen sie denn tun? Uns in einer halsbrecherischen Jagd verfolgen und auf uns schießen?“

Dem Blick nach zu urteilen, den Zayn auf diese Frage folgen ließ, hielt er das für gar nicht so unwahrscheinlich. Hörbar nervös erwiderte er: „Das sind keine gewöhnlichen Kleinkriminellen. Diese Typen sind scheißgefährlich und wenn sie mich erwischen …“

„Dann …?“

„Spielt das denn eine Rolle?“, knurrte Zayn. „Verdammt noch mal, sieh einfach, dass wir hier wegkommen. Einmal erlaube ich dir, Gas zu geben und auf die Verkehrsregeln zu scheißen, also mach es gefälligst auch!“ Er hasste es, derart aus der Haut zu fahren, aber im Moment war ihm jeglicher vernünftige Gedanke, der ihn hätte zügeln können, fern.

„Ist ja gut“, erwiderte Vince kleinlaut und trat spürbar aufs Gaspedal. „Aber vielleicht solltest du dich besser anschnallen.“

„Was?“ Irritiert sah Zayn auf sich hinunter. Tatsächlich.

Als er der Aufforderung nachkam, meinte sein Freund: „Ich mein ja nur. Du beschwerst dich ja sonst immer, dass du eines Tages noch durch die Windschutzscheibe fliegen würdest.“

„Du fährst ja auch wie ein Irrer …“

„Wie dem auch sei.“ Auf einmal hatte sich Vince‘ Tonfall verändert; der Ernst der Lage verdunkelte seine Worte förmlich. „Verrätst du mir jetzt, was das war? Warum hast du so Schiss vor diesen Kerlen?“

„Kannst du dir das nicht denken? Die waren aus Pyritus und ich habe sie verärgert. Deswegen sind sie hier.“

„Nur verärgert?“, harkte Vince skeptisch nach. „Mag ja sein, dass ich nicht viel Ahnung vom kriminellen Pflaster in Pyritus habe, aber wenn diese Kerle dir bis hierher gefolgt sind, dann ist ‚verärgert‘ ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. Also? Was hast du angestellt? Und nein, Zayn“, er schüttelte entschieden den Kopf, als er Zayns Augenrollen sah, „komm mir jetzt nicht wieder so. Ich habe es satt, immer nur die halbe Wahrheit zu erfahren. Ich war gut genug, um dich hierher zu kutschieren, damit du deinen scheiß Nachforschungen nachgehen konntest, also habe ich ja wohl auch ein Recht darauf, zu erfahren, wieso ich dir gerade deinen Arsch retten musste.“

Nach dieser Ansprache fielen selbst Zayn keine Worte mehr ein, um die Neugier seines Freundes abzuwehren und sich selbst um eine Erklärung zu bringen. Letzten Endes hatte Vince ja auch recht. Ihm missfiel es nur einfach, andere allzu sehr in seine Probleme mithineinzuziehen, da er diese lieber alleine regelte. Es war einfacher, sich nur um sich selbst sorgen zu müssen, und außerdem schuldete er anderen immer Rechenschaft darüber, was er zu tun gedachte. Er war der Reaktionen auf seine Vorhaben wirklich überdrüssig, denn sie waren immer gleich: Das ist viel zu gefährlich. Bist du sicher? Du solltest das nicht tun. Du bist wohl lebensmüde.

So ging das dann immer weiter. Aus genau diesem Grund hatte er auch kaum jemandem Bescheid gesagt, als er nach Pyritus gereist war. Allerdings schien das niemand begreifen zu können. Keiner verstand, dass er, wenn es um die Cryptopokémon ging, nun mal das tat, was er tun musste.

„Also, erzählst du dann langsam mal? Und zwar die ganze Geschichte, klar? Sonst kann ich auch einfach wieder anhalten und wir warten, bis diese Bastarde uns gefunden haben.“

Zayn richtete den Blick wieder auf Vince. Er meinte das nicht ernst, nicht wirklich zumindest. Aber sein Blick … der war es. Starr sah er nach vorne und verzog keine Miene. Man sah Vince selten mit einem derart eingefrorenen Gesichtsausdruck. Meist sprudelte er vor Optimismus und Leichtigkeit, doch wenn er das ablegte, dann nur aufgrund einer wahrlich besorgniserregenden Situation.

„Wir haben ja auch genügend Zeit. Wird ‘ne lange Fahrt“, ergänzte Vince.

Wohl war – der Regen ergoss sich mittlerweile in Strömen auf das Auto und schränkte die Sicht erheblich ein. Selbst jemand wie Vince fuhr bei solchem Wetter langsamer. Aber es erschwerte das Heimkommen zusätzlich – einzig beruhigend war, dass sie die Stadtgrenze gleich erreichen würden.

„Na gut“, seufzte Zayn, ergeben in sein Schicksal.

 

******

 

Schließlich hatte Zayn alles erzählt, was ihm eingefallen war, und das war gar nicht so wenig. Am Ende wusste Vince fast alles von seinem Aufenthalt in Pyritus, von den bekannten Unbekannten, die ihm bis hierher gefolgt waren, von Ray, von … Chandra. Es missfiel Zayn, jemandem hinter ihrem Rücken von ihrer Vergangenheit zu erzählen, aber um darzulegen, wie krank ihr Bruder und Vater waren, musste man diesen Teil zumindest knapp anschneiden.

Als er zum Ende kam, waren sie längst nicht mehr in Portaportus, aber der Regen hatte nicht nachgelassen. In düsterem Grau präsentierten sich die Wolken, über die gelegentlich ein Blitz hinwegzuckte.

„Fuck“, stellte Vince fest, hörbar erschlagen von den neuen Informationen. „Nur damit ich das richtig verstehe: Chandras Bruder ist der Typ, der die Cryptopokémon verkauft und obendrein hat er gemeinsam mit ihrem Vater, dem sie im Übrigen auch völlig egal ist, ihre Mutter umgebracht. Und genau dieser Psycho ist jetzt hinter dir her, weil du Chandra einfach kurzerhand mitgenommen hast, er sie aber irgendwie für seine Cryptopokémon braucht. Also schickt er dir diese Wichser von vorhin hinterher, die dich bei eurer letzten Begegnung übrigens auch fast umgelegt hätten. Ist das richtig so?“

„Das fasst es ganz gut zusammen“, erwiderte Zayn matt und sah ohne ein bestimmtes Ziel nach draußen.

„Ich fass es nicht.“ Vince schüttelte den Kopf und Zayn sah, wie sein Freund das Lenkrad so fest umklammerte, bis seine Knöchel sich unter der Haut weiß abzeichneten. „Wie zur Hölle hast du es bitte wieder geschafft, deinen Arsch in diese verfickte Scheiße zu manövrieren?“

„Das habe ich dir doch gerade erzählt.“

„Ja, hab ich vernommen. Und ich verstehe es nicht. Es ist, als würdest du jedes Mal Anlauf nehmen, wenn sich dir eine Möglichkeit bietet, dir Stress einzuhandeln.“

Wenngleich Zayn müde war, das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Eine dumpfe Wut kämpfte sich durch den Schleier der Erschöpfung, der bereits die ganze Fahrt auf ihm lag. „Ach ja? Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Chandra einfach dort bei diesen Freaks lassen? Nach allem, was war.“ Den letzten Teil sagte er mehr zu sich selbst.

Vince schenkte ihm einen knappen Blick und ein genervtes Augenrollen. Er hätte ihm sicher noch mehr solcher Blicke zugeworfen, aber seine Aufmerksamkeit galt der Straße und dem Wetter. „Natürlich nicht! Ich meine nur, dass du ein verdammtes Talent dafür hast, dich in Schwierigkeiten zu bringen und das nicht mal zu merken. Und diesmal bist du entschieden zu weit gegangen.“

Nur mühsam gelang es Zayn, seiner Wut bei diesen Worten nicht lautstark Luft zu machen. Genau das war der Grund, warum er anderen so ungerne von seinen Vorhaben erzählte. Er war es leid, sich von aller Welt anhören zu müssen, wie leichtsinnig sein Verhalten doch war.

Er hatte Chandra mitnehmen müssen. Die Konsequenzen dessen waren unschön und gefährlich, aber er bereute es nicht. Er würde jederzeit wieder so entscheiden.

„Nur damit das klar ist: Du hast überhaupt kein Recht, jetzt wütend auf mich zu sein“, entgegnete er in alles andere als freundlichem Ton.

Vince‘ Antwort war ein Lachen, dem jeglicher Humor fehlte. „Wütend?“, wiederholte er. „Ich bin nicht wütend, Zayn, ich bin … besorgt. Wieso geht das nicht in deinen Kopf rein?“

Zayn verschränkte die Arme vor der Brust. „Du musst nicht besorgt sein. Das Ganze ist immerhin meine Angelegenheit, nicht deine.“

Ach so“, sein Freund löste die Hände für einen Augenblick vom Lenkrad, nur um sie dann geräuschvoll wieder dagegen zu schlagen, „na dann. Wenn das so ist, dann muss ich dir ja in Zukunft in so einer Situation wie heute auch nicht mehr helfen. Ist mir dann auch egal, ob die Kerle dir beim nächsten Mal eine Knarre an den Kopf halten, denn: Es ist ja schließlich nicht meine Angelegenheit.“ Seine Stimme war so kühl wie nur selten. „Ich hoffe, du merkst das selbst.“

Zayn nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen. Wann war das Gespräch nur in diese Richtung abgedriftet? „Wenn du es nicht verstehen kannst, dann sag nichts mehr dazu. Ich tue, was getan werden muss.“

„Laut wem?“ Zayn blieb Vince eine Antwort schuldig, so fuhr dieser fort: „Oh, ich verstehe es sehr gut, Zayn. Du bist ein dummer Sturkopf. Dein Verhalten wird dich noch umbringen. Aber vielleicht willst du das ja auch.“

Zayn glaubte, sich verhört zu haben. Mit einem Mal hatte er die Augen wieder geöffnet und sah hinüber zu seinem Freund. Wenn dieser den fassungslosen Blick, der auf ihm ruhte, zur Kenntnis nahm, dann ignorierte er ihn geflissentlich. Seine eigenen Augen waren starr nach draußen gerichtet.

Nach einer geschlagenen Minute schaffte Zayn es, fortzusehen. Aber er fixierte nicht länger einen bestimmten Punkt, starrte stattdessen ins Leere.

Erst war ihm heiß geworden, als hätte sein Blut auf die Worte Vince‘ hin angefangen, vor Zorn zu kochen. Aber nun floss ein kalter Schauer durch seine Venen, wusch jegliche Erregung fort, bis nichts übrigblieb als die Fassungslosigkeit, in welcher sich die Worte zu wiederholen schienen.

Er ließ keine Antwort folgen und da auch Vince sich nicht mehr zu einer Aussage herabließ, breitete sich zwischen ihnen eine Stille der unangenehmen Sorte aus. Den Rest des Weges zum Labor, ungefähr eine halbe Stunde, war die Anspannung im Auto so immens, dass man sie mit einem Messer hätte zerschneiden können. Zayn hatte die ganze Zeit über aus seinem eigenen Fenster geschaut und nicht einmal nach links gesehen.

Es regnete noch immer in Strömen, als Vince schließlich auf den Vorplatz des Labors fuhr. Womöglich hatte das Unwetter einfach denselben Weg gehabt wie sie.

Zayn fackelte nicht lange, als der Wagen zum Stehen kam. Sofort hatte er die Hand am Türgriff, doch kaum, dass die Tür offenstand, spürte er eine Hand auf seinem linken Unterarm.

„Zayn, warte“, bat Vince entschlossen. Zayn warf einen Blick auf dessen Hand – das war ungewohnt forsch für seinen Freund – und dann in sein Gesicht. „Bitte.“

Er schloss die Tür wieder und hob die Augenbrauen.

Vince zog seine Hand zurück. „Ich hätte das nicht sagen dürfen, es tut mir leid.“ Er brauchte das nicht zu konkretisieren, Zayn wusste auch so, worauf er sich bezog. „Es war gemein und unfair dir gegenüber. Bitte entschuldige.“

 Es verstrichen einige Sekunden, dann nickte Zayn. Er war zu erschöpft, um sauer zu sein, und Vince‘ Worte waren aufrichtig. Er hatte ihn nicht verletzen wollen. „Ist schon gut. Aber … sag so etwas nie wieder.“

Ein schmales Lächeln lag auf Vince‘ Lippen, als er nickte.

„Na dann.“ Abermals öffnete Zayn seine Türe und stieg aus. Eigentlich wollte er schnellstmöglich ins Innere des Labors, aber da wurde er einmal mehr von seinem Freund aufgehalten.

„Zayn.“

Er beugte sich hinab und spürte bereits, wie der Regen seine Kleidung durchnässte.

„Erzähl Chandra, was passiert ist, ja? Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren, und das weißt du auch. Diese Kerle sind in erster Linie wegen ihr hier, nicht wegen dir.“ Nun war es an Zayn, zu nicken. Mehr fiel ihm schlicht nicht ein und er wollte raus aus dem Regen. „Gut.“

Er hatte die Hand an der Autotür, bereit, sie zuzuschlagen, als ihm noch etwas einfiel. Es erschien ihm angesichts ihrer Diskussion angebracht. „Danke … für deine Hilfe heute.“

„Immer. Das weißt du.“

Daraufhin verabschiedeten sie sich und wenig später verschwand Vince‘ Auto im Regen des frühen Abends, während Zayn ins Labor rannte. Doch es nützte nichts, er war bereits vollkommen durchnässt. Die Nässe lieferte einen hervorragenden Nährboden für die Kälte, die sich auf seine Haut stahl. Er sollte lieber schnell raus aus den durchtränkten Sachen.

Und vor allem sollte er unauffällig in sein Zimmer gelangen. Während der Rückfahrt hatte er einen Blick in den Spiegel gewagt. In seiner linken Schläfe pochte ein leiser Schmerz und unter der Haut zeichnete sich bereits ein rötlich-violetter Bluterguss ab, genau dort, wo die Faust des Narbengesichts in sein Gesicht gekracht war. Die Farbintensität würde noch zunehmen und wenn seine Mutter das sehen sollte …

Glücklicherweise schaffte er es ohne Zwischenfälle nach oben. Es war Freitag und die meisten Angestellten des Labors waren zu dieser Zeit schon fort, seine Mutter womöglich bei Torben und Jill hatte sich sicherlich mit Enton unter die Decke verkrümelt, um das Wasserpokémon vor dem Unwetter zu beschützen. Blieb nur offen, wo Chandra sich aufhielt.

Er kam an ihrem Zimmer vorbei und als auf sein Klopfen keine Reaktion folgte, drückte er die Klinke nach unten, nur um festzustellen, dass die Türe abgeschlossen war. Wenn sie hier nicht war, dann würde er sich erst umziehen und trocknen gehen, ehe er sie suchte.

In seinem eigenen Zimmer angekommen wollte er auf direktem Wege ins Bad, doch er kam nicht weiter als bis vor dessen Türe, denn diese zeigte sich ebenfalls verschlossen. „Was … Hallo?“, rief er klopfend.

„Oh, hey, Zayn.“ Das war Chandras Stimme.

„Was machst du in meinem Bad?“

„Baden. Dein Bad ist viel größer als das in meinem Zimmer, voll unfair. Und du hast eine Badewanne, wie toll ist das denn?“ Wie zur Unterstützung ihrer Aussage hörte er das Gluckern des Wassers.

„Ja, wunderbar.“ Er hatte diese Faszination noch nie teilen können. Duschen waren erheblich unkomplizierter als Badewannen.

„Na ja, und deine Mutter hat gesagt, ich kann die Badewanne benutzen. Dass du sicher nichts dagegen hast. Also bin ich hier.“

Zayn verdrehte die Augen, schmunzelte aber, während er die Stirn an die Tür legte. Sie klang so fröhlich, so ausgelassen. Er wollte ihr diese Leichtigkeit nicht nehmen. Aber … er hatte keine Wahl. „Wie auch immer. Du musst jetzt rauskommen. Wir müssen reden.“

„Aber …“ Er hörte, wie sich Missmut in ihre Stimme schlich, verursacht durch den in seinen eigenen Worten. „Na gut. Aber ich muss erst meine Kur auswaschen.“

Er murmelte eine Zustimmung und wollte gerade die Tür verlassen, als ihm noch etwas einfiel. „Hast du diesmal an ein Handtuch gedacht?“

„Ich muss dich enttäuschen – ja, habe ich“, kam die neckische Antwort.

Daraufhin trat er endgültig fort vom Bad. Er hörte das Wasser darin rauschen und hatte selbst noch genügend Zeit, sich aus seiner nassen Kleidung zu befreien und sich etwas Trockenes anzuziehen. Danach fühlte sich seine Haut zwar immer noch feucht an, ganz zu schweigen von seinen wild in alle Richtungen abstehenden Haaren, aber immerhin fror er nicht länger.

Als er fertig war, warf er sich aufs Bett und wartete. Mittlerweile waren ihm auch Chandras Klamotten auf seiner Matratze aufgefallen.

Schließlich trat sie gemeinsam mit einer Wolke dichten Dampfes in sein Zimmer, nur eingewickelt in ein weißes Handtuch, während ihr die nassen Haare auf den Rücken fielen.

„Da bist du ja endlich.“ Zayn sah demonstrativ an die Decke.

„Hast du mich etwa vermisst?“

Er gab lediglich einen zustimmenden Laut von sich, doch sie vergaß ihre Frage ohnehin, als sie zur großen Fensterfront auf der anderen Zimmerseite sah. Die Vorhänge waren zur Hälfte zugezogen, was aber noch immer reichlich Blick auf den Garten und die bescheidenen Wetterverhältnisse ermöglichte.

„Oh nein, es regnet ja immer noch“, seufzte Chandra, ehe sie zum ihm sah. „Und du hast offenbar auch eine Dusche genommen. Wo bist du den ganzen Tag gewesen?“

„Zieh dich an, dann erzähle ich es dir.“

Sie war ans Bett herangetreten und damit überrollte Zayn eine Welle der fruchtigsten und blumigsten Düfte, die jemals in seinem Zimmer gewesen waren. Er erkannte ein paar Wasserperlen auf ihren Schultern und sah fort, als er sich dessen bewusstwurde.

„Sicher, dass du das willst?“ Sie kramte in ihren Sachen auf dem Bett.

Kurz zögerte er, dann entgegnete er monoton: „Ja … sicher.“

„Wow, was ist denn mit dir passiert?“, lachte sie. „Na wenn das das Resultat daraus ist, dass du mit Vince unterwegs bist, dann lass ich dich in Zukunft lieber nicht mehr weg.“

„Himmel, Chandra, kannst du dich bitte einfach anziehen?“, platzte es mit einem Male aus Zayn und er schenkte ihr einen entnervten Blick. Noch immer tänzelte sie hier halbnackt vor seiner Nase herum und schien partout nicht begreifen zu wollen, dass er dafür gerade absolut keinen Kopf hatte. Nicht, dass er nicht gewollt hätte, aber ihm war klar, dass er, wenn er sich jetzt mit Chandra vergnügt hätte, hinterher vermutlich einen Rückzieher machen und ihr eben nicht die ganze Wahrheit über die Ereignisse in Portaportus erzählen würde. Denn dann würde ihm noch deutlicher vor Augen geführt, wie zerbrechlich ihr Glück war und dass er nicht derjenige sein wollte, der es in tausend kleine Einzelteile zerschlagen musste.

Aber er musste nun mal dieser Jemand sein.

„Okay, okay, ist ja schon gut“, erwiderte sie erschrocken und verdrehte die Augen. „Wenn du es unbedingt willst, na gut.“ Das Handtuch fiel daraufhin zu Boden und sie griff in den Stapel ihrer Kleidung.

Mehr sah Zayn dann auch nicht mehr, da er nach einem knappen Blick auf ihren im schummrigen Licht blass leuchtenden Körper endgültig fort sah – und sich seufzend eines der Kissen übers Gesicht legte.

„Ich verstehe wirklich nicht, was du hast. Bist du heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden oder wer hat dir so die Laune vermiest?“, mutmaßte Chandra. „Wie dem auch sei. Glaub bloß nicht, dass ich das auf mir sitzen lasse; du wirst noch sehen, was du davon hast.“

„Jaja“, ertönte dumpf Zayns Stimme unter dem Kissen. „Du machst mich noch wahnsinnig.“

„Genau das ist mein Ziel.“

Als ihm allmählich die Luft ausging, hob er das Kissen an und stellte erleichtert fest, dass sie soeben fertiggeworden war. Sie vollständig bekleidet zu sehen, war für seinen Blutdruck eindeutig besser.

Er erhob sich vom Bett und als er vor ihr aufragte, meinte er unsicher: „Ich …“

„Du hast gesagt, du musst mit mir reden.“ Traurigkeit mischte sich in Chandras Stimme, als hätte sie sich nun selbst wieder daran erinnert. „Worum geht’s?“

Nun war es zu spät, noch einen Rückzieher zu machen. Letztlich verdankte er es den eindringlichen Worten seines besten Freundes, dass er überhaupt direkt dazu bereit war. Andererseits hätte er das Für und Wider so lange abgewägt, bis er sich dafür entschieden hätte, sein Wissen für sich zu behalten. Aber das war falsch – das wusste er.

„Es ist etwas passiert, heute. Vince und ich … wir waren in Portaportus. Nachdem wir neulich dieses Bamelin gesehen haben, hat mir das keine Ruhe gelassen und ich wollte unbedingt mehr dazu erfahren, wer diese Pokémon dort verteilt. Ich kenne jemanden, der dort für mich ein wenig Ausschau gehalten hat. Er hat eine Person gefunden, die ein Cryptopokémon gekauft hat …“

„Und konnte dir diese Person weiterhelfen?“

Er nickte. „Ich weiß jetzt, wer diese Pokémon in Portaportus verteilt hat. Und es ist keine erfreuliche Nachricht.“

Chandra hauchte: „Wer?“

Bei seinen Worten umfasste Zayn sanft ihre Oberarme. „Es waren diese Typen, vor denen du mich damals gerettet hast.“

Für einen Moment konnte er beobachten, wie dieses Wissen in sie floss und alle Leichtigkeit, alle Freude, die sie zuvor noch von innen heraus hatten strahlen lassen, im Keim erstickte. Wie ein dunkler Schleier fiel die Erkenntnis über sie, der das Grün ihrer Augen um einige Nuancen abdunkelte und die Konturen in ihrem Gesicht verhärtete. Ihre Unterlippe zitterte, als sie sprach: „Du hast sie gesehen. Aber haben sie dich auch gesehen?“

Zayn nahm einen tiefen Atemzug, schloss kurzzeitig die Augen. Dann drehte er seinen Kopf nach rechts und offenbarte ihr die allmählich aufblühende Prellung. „Sie haben mich gesehen, standen mir gegenüber. Und wenn Vince nicht gewesen wäre … nun ja.“

In den nächsten Minuten wünschte er sich bereits, er hätte das Wissen für sich behalten.

Sie ließ sich sichtlich erschüttert auf das Bett sinken und fuhr sich mit zitternden Händen übers Gesicht. „Nein, das kann nicht sein. Wie kann das sein? Wie können sie dort sein – hier sein?“ Ihrer Stimme nach zu urteilen war sie kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Er setzte sich neben sie. „Uns war doch klar, dass er alles dafür tun würde, herauszufinden, wo du bist. Er hat diese Cryptopokémon in die Region gestreut, um zu bezwecken, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.“ Vielleicht hätte Zayn nicht so voreilig sein und länger mit seinen Nachforschungen warten sollen. Letztlich hatte er ihm nur in die Hände gespielt. Nun konnte Ray seinen Suchradius erheblich eingrenzen, und Zayn tat gut daran, Portaportus für eine ganze Weile zu meiden.

„Und … es war nur eine Frage der Zeit, bis sie hier in der Nähe auftauchen würden. Und ein verdammt schlechter Zufall.“

„Sind sie euch gefolgt?“, fuhr Chandra plötzlich auf.

„Nein.“ Er ergriff ihre Hände. „Niemand ist uns gefolgt. Nicht bei diesem Wetter.“

„Gut … Aber was, wenn sie herausfinden, dass wir hier sind? Wenn Ray herausfindet, wo ich bin?“ Als spielte sich dieser Gedanke als reale Vorstellung hinter ihren Augen ab, füllten sich diese augenblicklich mit Tränen, die ihr gleich darauf über dir geröteten Wangen rannen. „Er wird mich wieder nach Pyritus schleifen und mich bestrafen.“

„Hey, nein“, sprach Zayn sanft. „Sag so etwas nicht – denk nicht einmal daran. Er wird das nicht tun. Ich werde es nicht zulassen, hörst du?“

„Ach, das sagst du doch jetzt nur so“, schniefte sie. „Was willst du denn auch tun?“

„Das … weiß ich noch nicht“, gestand er. „Aber ich werde mir eine Lösung einfallen lassen. Ich werde ihn das nicht tun lassen.“

Und Zayn meinte diese Worte so ernst wie nur selten etwas. Nach all diesen Wochen, die ihm wie eine kleine Ewigkeit erschienen waren, war Chandra ihm so wichtig geworden, dass er sie sich nur noch schwer wegdenken konnte. Er hatte viel Zeit gehabt, sich über sie Gedanken zu machen, über ihre Persönlichkeit – und vor allem darüber, wie wunderschön diese doch trotz aller überstandenen Gräuel war. Oder vielleicht gerade deshalb.

Niemals würde er sie zurück in die Hände desjenigen geben, der nur danach strebte, alles Schöne und Zauberhafte in ihr zu zerstören, um es mit Kummer und Leid zu ersetzen. Irgendjemand musste ihren wahnsinnigen Bruder aufhalten und wenn nötig, würde er sich dieser Aufgabe annehmen.

„Sicher?“ Sie sah mit geröteten Augen zu ihm auf.

Allein dieser Anblick war wie ein Stich in seine Brust. „Ganz sicher.“ Er zog sie an sich, woraufhin sie ihr Gesicht gegen seine Brust drückte. Als Antwort auf ihre bebenden Schultern strich er ihr mit einer Hand über den Rücken. „Ich habe es dir doch schon einmal gesagt. Ich passe auf dich auf, Chandra.“

Für einige stille Minuten saßen sie so beieinander und Zayn konnte spüren, wie Chandra sich langsam wieder beruhigte. Sie mochte verängstigt sein, aber sie war nicht mehr so aufgelöst wie zuvor. Die ganze Zeit über hatte er hinter ihr ins Leere gestarrt, während es im Zimmer allmählich dunkler geworden war, und wiederholt an seinen Entschluss gedacht.

Er würde Chandra beschützen und Ray in seine Schranken weisen.

Eine gute Nachricht

„Ich hoffe, ihr habt gute Nachrichten für mich, sonst wüsste ich nicht, warum ihr es so spät noch wagen solltet, mich zu stören.“

„Haben wir“, erklang Larkins Stimme durch den Lautsprecher von Rays Handy, welches vor ihm auf der gläsernen Tischplatte lag. Er selbst saß auf seinem Drehstuhl und lehnte an dessen Polsterung, während er mit den Fingern der rechten Hand ungeduldig auf den Tisch trommelte.

Wenn sie das hörten – gut. Sie sollten ruhig wissen, dass Rays Geduld sich allmählich ihrem Ende näherte. Ehrlich gesagt konnte er eine weitere schlechte Nachricht kaum mehr ertragen; zu viele hatten die vergangenen Wochen geprägt. Er war es leid, von keinem Verbleib seiner Schwester zu erfahren, stets von Samuel nur mit den Worten vertröstet zu werden, dass sie suchten – suchten, suchten und immer noch suchten. Wie schwer konnte es sein, seine missratene Schwester ausfindig zu machen? Offenbar sehr schwer, schließlich war davon auszugehen, dass sie die Hilfe eines verfluchten Ritters in schimmernder Rüstung genoss.

Ray würde Chandra noch mit Freuden zeigen, dass der Held ihres Märchens ihr auch nicht zu einem Happy End verhelfen konnte.

„Habt ihr meine Schwester gefunden?“, fragte Ray, bevor Larkin oder auch Ian etwas äußerten.

„N-nein“, folgte Larkins Antwort, deren unsicherer Unterton Ray nicht entging.

„Inwiefern könntet ihr dann gute Nachrichten für mich haben?“

Er hörte das Luftholen, ehe die Antwort folgte: „Wir sind ihm begegnet.“

Ray kam nicht umhin, zumindest überrascht die Augenbrauen zu heben. Nicht dass seine Gesprächspartner das hätten sehen können. „Ihm? Wissen wir mittlerweile, wie unser Freund heißt?“

„Nun ja … nein.“

„Daraus und aus dem Wort ‚begegnet‘ schließe ich, dass ihr ihn wieder aus den Augen verloren habt, nachdem ihr in gesehen habt, und er nun nicht bei euch ist. Nun, Larkin, sagtest du nicht, ihr hättet gute Nachrichten für mich?“ Rays Stimme schien ruhig, aber verborgen in dieser Ruhe schlummerte eine Bedrohung, die seinen Gesprächspartnern auch durch das Telefon und über hunderte Kilometer entfernt nicht entgehen konnte.

In dem Moment, als Ray dazu ansetzte, fortzufahren, öffnete sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Arbeitszimmers und sein Vater trat hindurch. Unbeirrt sprach er weiter: „Diesem Bastard ohne meine Schwester zu begegnen ist ja nicht mal unbedingt schlecht. Hättet ihr ihn in eure Gewalt gebracht, hättet ihr ja wenigstens aus ihm herausprügeln können, wo er meine liebe Schwester versteckt hat. Aber nein, das ist euch wohl zu einfach erschienen.“ Mit wachsamem Blick verfolgte er, wie Jerome sich dem Tisch näherte, um dann an die Wand gelehnt zu verweilen.

Warum auch immer er schon wieder hier war – vermutlich hatte er direkt gewittert, dass es Neuigkeiten gab. Jedoch keine zufriedenstellenden, also konnte er nach Rays Erachten direkt wieder abzischen.

„Es … tut uns leid“, ertönte Larkins Stimme wieder aus dem Telefon, „aber er war nicht allein und die Situation hat es nicht hergegeben, jemanden zu entführen, ohne Aufsehen zu erregen.“

„Natürlich nicht“, erwiderte Ray kopfschüttelnd – als wäre es völlig absurd, etwas anderes anzunehmen. „Wo seid ihr ihm begegnet?“ Er hatte so viele Leute darauf angesetzt, entweder Chandra zu finden oder aber Cryptopokémon zu verteilen, dass er nicht im Blick hatte, wo sich Larkin und Ian aufhielten. Aber es war in der Tat ein amüsanter Zufall, dass ausgerechnet sie es waren, in dessen Arme Chandras kühner Ritter gerannt war. Ray musste sich zwar ständig mit negativen Nachrichten vertrösten lassen, doch immerhin schien auch diesem Mistkerl das Glück nicht gerade hold. Das erfreute Ray zumindest ein wenig, wenngleich es ihn nicht milde stimmte.

Diese Trottel hatten Glück, dass sie gerade nicht vor ihm standen.

„In Portaportus. Er war wie gesagt nicht alleine dort, aber Ihre Schwester war nicht bei ihm.“

Portaportus … Selbstverständlich ein Ort, an dem Ray Cryptopokémon haben wollte. Schließlich war Portaportus nicht nur die größte Stadt Orres, sondern zugleich die strahlendste und ein widerwärtiger Quell an Lebensfreude, in welchem düstere Pokémon zweifellos direkt auffielen. Vor zwei Wochen hatte er den Befehl gegeben, diese verteilen zu lassen und dabei gehofft, so Chandra und ihren Retter aus deren Versteck locken zu können. Dass man nun zumindest Letzteren gesehen hatte, war also keine durch und durch schlechte Nachricht. Vielmehr schien dieser ihm bislang Unbekannte genau so zu handeln, wie Ray es vermutet hatte. Die Cryptopokémon boten eine herrliche Möglichkeit, ihn hervorzulocken. Sentimentalität und Empathie waren schon immer die Schwächen der Schwachen gewesen.

Eine durch und durch positive Nachricht war es aber auch nicht. Nun war dieser verfluchte Bastard fort und zukünftig mit Sicherheit vorsichtiger.

„Wie ist er euch entkommen?“, verlangte Ray zu erfahren.

„Er hatte starke Pokémon. Sehr starke.“

Das überraschte Ray nicht. Wer als Außenstehender nach Pyritus kam, der war kein Anfänger, was Pokémon betraf. „Und ihr hattet ihm nichts entgegenzusetzen, nehme ich an? Ich habe euch wohl die falschen Cryptopokémon gegeben.“ Ehe Larkin wieder in Rechtfertigungsversuche verfallen konnte, wie er es nur allzu gerne tat, schlug Ray geräuschvoll die Hände auf die Armlehnen seines Stuhls, um sich anschließend zu erheben. „Nun gut. Immerhin können wir nun abschätzen, in welcher Gegend der Region er sich aufhält und die Suche dort intensivieren.“

Er trat an die Wand zu seiner Linken und vor die dort hängende Karte von Orre. Viel zu oft hatte sein Blick in den vergangenen Wochen auf ihr gelegen, immer überlegend, wo zur Hölle Chandra sein könnte.

Sein Blick schweifte zur linken Hälfte. „Portaportus also. Ich hätte mir ja eigentlich denken können, dass dieses Arschloch aus Westorre stammen muss.“ Aber weshalb interessierte er sich so sehr für Cryptopokémon, dass er den weiten Weg auf sich nahm, nur um eines zu stehlen? Doch nicht nur aus Nächstenliebe – da musste mehr dahinterstecken.

Selbst mit dem neugewonnenen Wissen war Ray ratlos. Portaportus war im Westen ein Knotenpunkt. Es war also nicht weiter verwunderlich, dass er ausgerechnet dort gesehen worden war – möglich, dass er selbst dort lebte, aber genauso gut konnte es tatsächlich so sein, dass er lediglich wegen der Cryptopokémon dort gewesen war, und in dem Fall konnte er aus einer umliegenden, aber auch aus einer weiter entfernten Stadt kommen. Im Westen gab es ein paar mittelgroße Städte und unzählige kleine, unbedeutende. Portaportus bot einfach eine gute Anlaufstelle für Neuigkeiten.

„Nun bist du nach all der Zeit immer noch ahnungslos.“ Jerome trat hinter ihn, in seiner heute nicht ganz so kratzigen Stimme lag leiser Spott. „Vielleicht sehen wir sie nie wieder.“

Rays Blick lag weiterhin starr auf der Karte, aber sein Körper spannte sich an, als er den kühlen Atem seines Vaters im Nacken spürte. „Vielleicht solltest du dich da raushalten, wenn du auch nicht weißt, wo sie ist.“

„Nun ja, es ist ja auch nicht meine Aufgabe, das zu wissen. Sondern deine, mein Sohn.“

Dieser Mann genoss es zu sehr, in seiner Wunde herumzustochern. Ray würde ihm nicht die Genugtuung einer weiteren Antwort geben.

„Du solltest sie lieber anketten und wegsperren, falls du sie jemals wiederfindest. Bevor sie dir wieder ohne große Mühen davonrennt.“

Mit einem Satz wandte Ray sich dann doch seinem Vater zu und begegnete dessen starrem Blick. Die stahlgrauen Augen machten ihrer Farbe alle Ehre; sie schienen, als könnten sie ihr Gegenüber jeden Moment erdolchen, so sehr stand die Verachtung in ihnen.

Doch Ray waren diese kalten Augen wohlvertraut und sie konnten ihm schon lange keine Angst mehr machen. „Wenn es so weit ist, werde ich das entscheiden. Nicht du“, stellte er klar.

„Dann entscheide diesmal weise.“

Ray fühlte die Temperatur im Raum noch um einige Grad sinken. Dass Jerome es überhaupt wagte, so mit ihm zu sprechen, während noch weitere Ohren seine Worte hören konnten! Immer wieder untergrub er Rays Autorität, doch er tat dies nicht mit dem Ziel, dessen Position zu schwächen. Er wollte einzig und allein sehen, wie sein Sohn reagierte, wie er sich gegen die Sticheleien zur Wehr setzte. Es musste ihm wohl eine perverse Freude bereiten.

An diesem Abend stand es Ray danach, die Situation schnellstmöglich aufzulösen. Der Zorn über seine Lage brodelte ohnehin stetig in ihm und Jerome würde diesen heute nicht zum Überlaufen bringen.

Er trat wieder an den Arbeitstisch und stützte die Hände auf dessen Platte ab. „Habt ihr mir sonst noch etwas Nennenswertes mitzuteilen, oder ist euer Quell an ‚positiven Nachrichten‘ für heute erschöpft?“, wandte er sich an sein Handy.

Am anderen Ende war ein Räuspern zu vernehmen. Natürlich hatten die beiden trotz der Gesprächspause nicht aufgelegt – das taten sie erst, wenn Ray das Gespräch für beendet erklärte.

„Nein …“, sagte Larkin.

„Es – es gäbe da vielleicht noch eine Sache“, warf Ian ein.

Ray spitzte die Ohren. Ian war von beiden immer der ruhigere; wo Larkin nach vorne preschte und seine Meinung gerne ungefragt kundtat, hielt er sich lieber bedeckt. Gut möglich, dass er, wenn er dann mal sprach, etwas von Bedeutung äußern wollte.

„Ja …?“

„Er … dieser Typ … er hatte ein auffälliges Pokémon bei sich.“

„Inwiefern?“

„Er hatte ein Arkani, doch sein Fell war nicht orange, sondern vielmehr gelb, nahezu … golden. Und es war verdammt groß, größer als andere seiner Art, würde ich meinen.“

Schweigend verinnerlichte Ray die neue Information. Ein großes, gelbgefärbtes Arkani – ein interessanter Fakt, aber wie vermochte diese Tatsache ihm zu helfen? Pokémon, die sich farblich von ihren Artgenossen unterschieden, fielen natürlich auf. Er könnte seine Leute zukünftig auch nach diesem Pokémon Ausschau halten lassen, aber ein derart großes Pokémon war keines, das ein Trainer permanent neben sich führte. Dieser Fakt half ihm nur bedingt.

Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als neben ihm das Lachen seines Vaters erklang. Es schien aus tiefster Kehle zu kommen und aufrichtig zu sein, nicht bloß Spott, aber es verursachte auch einen trockenen Hustenanfall. Als Jerome sich wieder gefangen hatte, meinte er: „Wer hätte das gedacht … was für ein Zufall.“

„Wovon sprichst du?“

Jerome verschränkte die Arme vor der Brust, sein Blick glitt nach unten ins Leere. Ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen, passend zu dem Funkeln in seinen Augen. Was auch immer er dachte, es erfüllte ihn offenbar mit Vergnügen. „Das goldene Arkani …“

Plötzlich öffnete er seine Arme wieder und legte eine Hand auf Rays Schulter, dem bei diesem Kontakt ein Schauer über den Körper jagte.

„Ich glaube, ich weiß, nach wem du suchst, mein Sohn.“

Wie ein Kartenhaus

Chandra hatte Zayn versprochen, das rotviolette Farbspiel auf seiner Schläfe mit Make-up zu verhüllen, sonst müsste er sich für einige Tage in seinem Zimmer verstecken, denn seiner Mutter die Ursache für den Bluterguss zu verraten, war natürlich keine Option. Letzten Endes stellte sich diese Operation dann doch als etwas schwieriger heraus, denn ein Blick in ihre Kosmetiktasche offenbarte Chandra, dass sie keinerlei zu seinem Hauttypen passende Produkte besaß. Sie war recht blass, wohingegen sein Teint von Natur aus leicht gebräunt war. Ein heller Fleck im Gesicht schrie allerdings förmlich danach, dass etwas darunter verborgen lag.

Schließlich verschwand Chandra dann für gut zehn Minuten, ehe sie anschließend mit neuen Hilfsmitteln von Alyssa zurück in sein Zimmer kam. Zayn konnte ihren anschließenden Missmut nicht verstehen, aber er schob es zur Seite, um sich auf ihre Bemühungen, sein Gesicht wieder vorzeigbar zu gestalten, zu konzentrieren.

Eigentlich hatte er keine Ahnung, was sie tat, er beobachtete sie bloß dabei, wie sie zwei unterschiedlich helle beziehungsweise dunkle Flüssigkeiten miteinander vermischte – die Foundation, wie sie ihm erläutert hatte –, dessen Ergebnis sie auf die zu verhüllende Stelle auftrug. Etliche Puderwolken und einige Spritzer Setting Spray – was es nicht alles gab – später und sie beschrieb sein Gesicht als ‚wieder ausgehtauglich‘.

„Wow, ich sehe es selbst nicht mehr“, bemerkte Chandra anerkennend.

„Was, wirklich? Und das hält den ganzen Tag?“ Wie von selbst wollte er an die abgedeckte Stelle fassen, aber Chandra fing sein Handgelenk auf halber Strecke ab.

„Griffel weg! Nur, wenn du es nicht den ganzen Tag anfasst.“ Sie gab ihm einen kleinen Handspiegel. „Es ist gut fixiert, aber immer noch keine Spachtelmasse.“

Nun war es an Zayn, anerkennend zu nicken. Er hätte rein optisch nicht mehr sagen können, an welcher Stelle ihn die Faust getroffen hatte.

„Wenn ich doch nur beim Abdecken meiner eigenen Pickel auch so gut wäre“, murrte Chandra.

„Als ob man jeden Makel immer abdecken müsste.“

„Du hast leicht reden, du hattest vermutlich noch nie in deinem Leben einen Pickel.“

„Vielleicht liegt es daran, dass ich mir nicht jeden Tag zentimeterdick Make-up ins Gesicht schmiere“, meinte Zayn schulterzuckend.

„Das ist ein dummer Irrglaube, dass Make-up automatisch schlechte Haut macht. Sieh dir Alyssa an. Sie trägt jeden Tag welches und ihre Haut ist wie die einer Puppe; zart, ebenmäßig und makellos.“

Zayn entging Chandras schnippischer Tonfall nicht – irgendwie war es ja niedlich, doch der Inhalt irritierte ihn. „Nun, gut zu wissen, aber ich verbringe nicht halb so viel Zeit damit, ihr Gesicht zu betrachten, wie du. Und wenn sie immer geschminkt ist, woher sollte ich wissen, wie sie ungeschminkt aussieht? Ich bin schließlich nicht nachts bei ihr.“

Gefährliches Gebiet. Das war ihm so herausgerutscht.

Chandras Wangen wurden rot und sie entgegnete bloß: „Gut zu wissen.“

Er verdrehte die Augen, legte den Spiegel zur Seite und nutzte ihre Überraschung, um sie auf seinem Bett nach unten zu drücken, bis er über ihr war. „Ich bin nämlich viel lieber bei dir.“

„Nun … ebenfalls gut zu wissen.“

„Hast du heute Abend um Acht schon was vor? Ich würde dir gerne etwas zeigen.“

„Ähm, nein? Was sollte ich vorhaben?“, fragte sie, sichtlich nervös.

„Ich weiß nicht.“ Zayn fuhr mit seinen Lippen sanft über ihre. „Vielleicht gibt es jemanden, mit dem du deine Zeit lieber verbringst …“

„Niemals.“

„Du sagst immer genau die Dinge, die ich hören will“, schmunzelte Zayn und hinterließ eine sanfte Spur von Küssen auf ihrem Hals. Ein leichtes Zittern glitt über ihre warme Haut hinweg.

„Ich habe das Gefühl, du versuchst abzulenken“, stieß sie hervor.

Vielleicht. Aber Chandra war wohl die letzte, die eine gute Ablenkung ausschlagen würde. „Und ich habe das Gefühl, du lässt dich gerne ablenken.“ Er neigte ihren Kopf zur Seite und küsste sie unterhalb des Ohres, wodurch sie die Hände um seine Oberarme klammerte, als müsste sie sich festhalten.

„Du kannst mich gut ablenken“, hauchte sie.

„Ich weiß.“ Zayn drehte ihr Gesicht wieder vor seines und vereinte ihre Lippen zu einem Kuss, wobei er den Griff um ihr Kinn nicht löste. Ihr entfuhr ein Stöhnen angesichts seines Gewichts über ihr und der Intensität, mit der ihre Münder miteinanderverschmolzen. Er ließ sich vollends in die Situation fallen, als sie in stillem Entgegenkommen ihre Lippen für ihn teilte.

Zayn übte sich nicht in Zurückhaltung, während er Chandra küsste und seinen Körper gegen ihren presste. Dafür genoss er ihre Nähe viel zu sehr; er hätte den ganzen Tag damit verbringen können, ihr nahe zu sein. Er spürte ihre Hände unter seinem T-Shirt, wie sie seinen Rücken hinaufstrichen und ihm einen angenehmen Schauer bescherten. Für die nächsten Augenblicke verfing sich seine Aufmerksamkeit gänzlich darin, den Kontakt zwischen seinen und ihren Lippen nicht zu verlieren, wobei ihm die Luft mit der Zeit knapp wurde. So drang es kaum bis zu seiner Wahrnehmung vor, wie Chandras Hände seinen Rücken verließen und sich stattdessen eine davon unter den Stoff seiner Hose schob, nachdem sie diese geöffnet hatte.

Es wäre auch eine sanfte Berührung ausreichend gewesen, um seinen Fokus zu ihrer Hand zu lenken, aber Chandras Vorgehen ließ sich nicht als schüchtern beschreiben, als sie ihre Finger bewegte. Zayn biss leicht in ihre Unterlippe, als sich das Gefühl von Hitze in seiner Mitte intensivierte, dann löste er sich schwer atmend von ihr. Hinter seinem geistigen Auge flackerte ein Bild ihres ersten Mals miteinander auf – das war typisch Chandra. Wenn sie wusste, was sie wollte, dann war sie sehr fordernd. Und er fand eindeutig Gefallen daran.

„Scheint so, als bräuchtest du die Ablenkung mindestens genauso dringend wie ich“, schmunzelte sie mit geröteten Wangen.

„Das kann ich nicht leugnen.“ Er senkte seine Lippen wieder hinab und küsste sie unterhalb des Kinns. Die Bewegungen ihrer Hand brachten ihn dazu, selbst gegen ihre erhitzte Haut zu stöhnen, als er ihr Laute des Wohlwollens entlockte.

Doch das erregende Gefühl, das ihre Finger auslösten, verblasste, als sie plötzlich ihre Hand aus seiner Hose nahm. „Hm, vielleicht sollte ich dich heute genauso eiskalt abblitzen lassen wie du mich gestern.“

Die Worte brachten Zayn dazu, in ihr Gesicht zu sehen. Ihre grünen Augen funkelten amüsiert und … fies. Als schiene sie sich sicher, ihn in der Hand zu haben – wenn auch nur noch im übertragenen Sinne.

Tja – allerdings war Chandra nicht die Einzige, die wusste, was sie wollte. „Das wirst du nicht tun.“

„Ach ja? Und wieso nicht?“

„Nun … erstens …, weil …“, er ergriff ihre bislang freie Hand und drückte sie neben ihrem Kopf aufs Bett, danach legte er seine verbliebene Hand um ihren Hals; sanft, aber bestimmend, „ich dich nicht gehen lasse. Zweitens …“ Ein kurzer, inniger Kuss. „Weil du das hier viel zu sehr willst.“

Ein paar Sekunden lang sahen sie sich nur an, bis Chandra grinste. „Du hast recht.“

„Ich weiß. Ich kenne dich eben.“

„Ich dich auch, Zayn.“

Die Erwähnung seines Namens verbunden mit der Tatsache, dass ihre Hand den Weg zurück in seine Hose fand, brachte ihn schier um den Verstand. Abermals drückte er seine Lippen fordernd auf ihre und ihr blieb nicht viel anderes übrig, als dies zu erwidern. Nun verlor er sich endgültig in den Empfindungen seines Körpers und je intensiver diese wurden, desto schwerer fiel es ihm, sich auf Chandras leicht geschwollene Lippen zu konzentrieren. Seine Kusse wurden zunehmend langsamer, verloren aber nicht an Leidenschaft.

Bis Chandra plötzlich den Kopf wegdrehte, und er die Augen öffnete. „Hat es gerade geklopft?“

„Was? Das hast du dir eingebildet“, meinte er mit rauer Stimme. „Hör nicht auf.“

„Nein, ich bin mir sicher –“

Diesmal hörte er es auch. Ein dreimaliges, lautes Klopfen. Ein bekanntes obendrein. Und dann die Stimme der Person, die er jetzt mitunter am wenigsten hören wollte. „Zayn, ich weiß, dass du da bist. Mach bitte die Tür auf. Ich muss mit dir reden“, sprach seine Mutter in kühler Tonlage.

Chandra hatte ihre Hand wieder zu sich gezogen und Zayn war damit beschäftigt, in die Bettwäsche neben ihren Kopf zu atmen. „Fuck“, stöhnte er leise. „Wieso ausgerechnet jetzt?“

Er kannte diesen Ton. Er hasste ihn.

Es war der „Mein Sohn hat mich so unfassbar enttäuscht und jetzt muss ich ihn in der Luft zerreißen“-Ton.

„Ich warte.“ Ungeduldig war sie also auch. Noch besser ging es ja gar nicht!

Zayn rollte sich von Chandra und sah für einen Moment hoch zur Decke, tief ein und ausatmend. Allmählich näherte sich sein Puls wieder dem Normalwert. „Gleich“, rief er genervt.

Chandra stand derweil auf, richtete Kleidung und Haar und räumte das verräterische Make-up zurück in ihren Kosmetikbeutel. Ihr Gesichtsausdruck war der Inbegriff von Unbehagen und alles an ihr schrie: Erwischt! Er konnte nur hoffen, dass er nicht genauso aussah. Gern hätte er sich eiskaltes Wasser ins Gesicht geklatscht, aber er befürchtete, seine Mutter könnte jeden Moment die Tür eintreten, sollte er sie noch länger warten lassen. Also erhob er sich.

„Wo …“, stammelte Chandra und sah sich unsicher um.

Zayn zuckte nur mit den Schultern, schloss dabei seine Hose. „Sie ahnt es eh schon.“ Außerdem wollte er sie nur ungern dabeihaben, wenn seine Mutter ihn zusammenfaltete.

Endlich schritt er zur Tür, um diese aufzuschließen und zu öffnen. Wie erwartet stand dort seine Mutter mit verschränkten Armen und ernstem Gesichtsausdruck. Sie betrachtete Chandra mit einem lediglich leicht überraschten Blick.

„Entschuldigt, dass ich euch störe. Aber ich muss mit Zayn reden. Würdest du uns bitte allein lassen?“ Ihr Ton war höflich, aber distanziert.

„Entschuldigung“, murmelte Chandra und stürmte davon. Nicht in ihr Zimmer, sondern einfach den Gang entlang und außer Sichtweise. So weit weg wie möglich.

Das würde er jetzt auch gerne.

Zayn trat zur Seite und ließ seine Mutter herein. Wortlos schloss sie die Tür hinter sich. Obwohl sie gut einen Kopf kleiner war als er und recht zierlich, nahm ihre Präsenz sofort den ganzen Raum ein – sie hatte immer diesen Effekt.

„Setz dich“, forderte sie, während sie durch den Raum lief und auf seinen Schreibtisch deutete. Erst jetzt bemerkte er das Tablet, das sie mit sich trug.

Innerlich stöhnte er. Er hatte absolut keine Lust, sich von ihr abermals wie ein Kind behandeln zu lassen, aber es stand ihm wenig danach, noch mehr Zorn auf sich zu ziehen, indem er das jetzt mit ihr ausdiskutierte. Also kam er ihrer Aufforderung nach.

Zayn ahnte bereits das Schlimmste, als er sie über das Tablet wischen sah – und war doch nicht auf das Kommende vorbereitet. „Kannst du mir das erklären?“, fragte sie und legte das Gerät vor ihn auf den Tisch. Dort war ein Video auf einer Nachrichtenseite, der Portaportus Times, geöffnet, welches sie nun mit einer Berührung startete.

Wenn noch irgendein flaues Gefühl als Überbleibsel seines Beisammenseins mit Chandra in ihm gewesen war, dann verflüchtigte es sich spätestens jetzt. Kälte erklomm sein Inneres, als er die Aufnahme seines gestrigen Kampfes gegen Rays Leute sah. Es war nicht der ganze Pokémonkampf, zum Glück. Die leicht wacklige, von erstaunten Äußerungen untermalte Aufnahme fing erst an, als das gegnerische Knogga in das Granbull gekracht war. Kurz darauf hatte Zayn Vince vorgeschickt und den Kampf für sich entschieden, ehe er geflohen war.

Aber es war genug. Das Video zeigte die Cryptopokémon, das ihm eindeutig nicht gut gesinnte kriminelle Pack … und ihn selbst.

Mit wachsendem Schock überflog er den daran anschließenden knappen Artikel. Das Video war für die breite Masse bloß eine weitere Sichtung merkwürdiger Pokémon. Mit dem Unterschied, dass diese Pokémon diesmal besiegt worden waren, aber Zayn empfand keine Freude über das im Text ausgesprochene Lob. Er sah nur, dass man ihn in diesem Video erkennen konnte und dass es im Internet war, also für jeden, auch Ray, sichtbar. Seine Lage war nach der Begegnung gestern ohnehin schon schlimm genug.

„Oh fuck“, kam es Zayn über die Lippen, als sein Blick noch immer an dem Tablet klebte.

Seine Mutter neben ihm hatte er kaum mehr wahrgenommen, bis ihre scharfe Stimme wieder neben ihm erklang. „Benutz nicht solche Worte vor mir!“, fuhr sie ihn an.

Er sah zu ihr auf. Nun, da er die Ursache ihres Zornes kannte, fiel ihm dieser erst gänzlich auf. Sie war verdammt sauer und wenn er ihr nicht umgehend eine Erklärung lieferte … Doch welche sollte das sein? Die Wahrheit lag hier vor ihm und ließ sich nicht länger verbiegen.

„Okay …“ Er stand auf. „Ich verstehe, dass du sauer bist.“

„Ach ja? Tust du das? Daran habe ich so meine Zweifel. Wer waren diese Männer? Und was wollten sie von dir?“

„Nun, ich muss dir wohl nicht sagen, dass sie Cryptopokémon bei sich hatten“, erwiderte Zayn, ruhig, aber auf der Hut.

„Schwer zu übersehen, aber das beantwortet nicht meine Fragen. Diese … Herrschaften sahen nicht aus wie Einheimische und auch nicht wie Touristen im herkömmlichen Sinne, denen einfach nur ein starkes Pokémon ausgehändigt wurde. Ich weiß, dass du denkst, ich würde vor allem die Augen verschließen, aber ich habe sehr wohl mitbekommen, dass in der Umgebung vermehrt Cryptopokémon gesichtet werden. Und ich gehe stark davon aus, dass du deswegen gestern nach Portaportus gefahren bist – und nicht, weil die Stadt so schön ist.“

Seine Mutter sprach ruhig, aber jedes Wort trug Zayn ihre unterschwellige Wut entgegen. Das erschwerte es ihm, nicht selbst sauer zu werden. „Wenn du sowieso schon alles weißt, wieso fragst du dann überhaupt?“

„Vielleicht, weil ich einmal die Wahrheit von meinem Sohn selbst hören möchte.“

Er seufzte und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Tisch. „Schön. Die Typen waren aus Pyritus. Wir sind uns schon einmal begegnet.“

Als Zayn seiner Mutter vor einigen Wochen von Chandra erzählt hatte, hatte er die Ursache für ihre erste Begegnung nicht erwähnt – aus gutem Grund. Sie wäre die Decke hochgegangen und das würde sie auch jetzt noch. Also tat er weiterhin gut daran, Details zu verschweigen. Aber wenn sie unbedingt mehr wissen wollte, gut. Doch Freude würde es ihr keine bereiten.

„Als du dort warst“, schlussfolgerte sie. „Und nun sind sie hier. Doch warum, frage ich mich. Also?“

Zayn widerstrebte es, eine Antwort zu geben. Das schien jedoch ohnehin nicht nötig.

„Es hat mit Chandra zu tun, nicht wahr?“

„Und wenn es so ist?“

„Dann möchte ich jetzt endlich von dir wissen, was los ist, statt immer nur hingehalten zu werden.“

„Ich habe es dir erzählt. In Pyritus ging es ihr nicht gut und sie wurde sehr schlecht von ihrem Bruder behandelt. Die Stadt war Gift für sie, im wahrsten Sinne des Wortes“, sagte Zayn mit angesäuertem Unterton.

Sie nickte ungeduldig. „Ja, ich weiß. Und weißt du, was? Ich kann eins und eins zusammenzählen. Chandra hat auf irgendeine Weise, die wir nicht verstehen können, das Waaty, das du einfach mit hierhergebracht hast, geheilt. Dein Glück, Zayn. Sie fühlt das Leid dieser Pokémon und wie du mir erzählt hast, hat ihr Bruder mit ihnen zu tun. Und nun tauchen überall Cryptopokémon auf. Weißt du, was das bedeutetet?“ Ein erwartungsvoller Blick.

Zayn seufzte genervt. „Wie gesagt, wenn du sowieso schon alles weißt …“ Eine Wiederholung seiner Worte mochte trotzig sein, aber ihm fiel schlicht nichts Passenderes ein. Er wusste, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde …

„Mach mich nicht sauer, Zayn!“, betonte sie mit erhobener Stimme, die ihn zusammenzucken ließ. „Wenn sie wirklich dazu in der Lage ist, diesen Pokémon zu helfen, dann wird sie für ihren Bruder ein Dorn im Auge sein und er heißt es sicherlich nicht gut, dass sie außerhalb seiner Reichweite ist. Nach allem, was du mir von ihm erzählt hast.“ Sie machte eine kurze Pause, in der sie bloß sein angespanntes Gesicht betrachtete. „Diese Männer waren wegen ihr dort, nicht wahr? Das erklärt, was sie von dir wollten. Sie wissen, dass du hinter Chandras Verschwinden steckst. So und nicht anders ist es doch, oder?“

Er sah zur Seite. „Ja.“

„Mensch, Zayn.“ Sie griff sich an die Stirn, kopfschüttelnd und fassungslos. „Wieso tust du das immer wieder?“

„Was denn?“

„Dich in Schwierigkeiten bringen. Nicht aufpassen.“

„Nun, ich lebe noch, wie du siehst. Und ich habe kein Interesse, mich jetzt zum tausendsten Mal vor dir rechtfertigen zu müssen“, wandte er ein.

„Wie bitte?“ Sie überbrückte den letzten Schritt, sodass sie direkt vor ihm stand. „Denkst du, ich stehe zum Spaß hier? Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, in was für Schwierigkeiten du dich gebracht hast. Du denkst, du wüsstest mit deinen zwanzig Jahren darüber Bescheid, wie die Welt funktioniert, aber soll ich dir etwas sagen? Du kannst nicht einfach in das kriminellste Loch von ganz Orre gehen, dort alles durcheinanderbringen und dann erwarten, dass schon nichts passiert. Hast du denn gar nichts gelernt?“

Allmählich kochte Zayns Wut wieder hoch. Er mochte an sich ein ruhiges Gemüt haben, aber seine Mutter vollbrachte es immer wieder, ihn an dessen Grenzen zu bringen. „Ich habe nie gedacht, dass nichts passiert. Im Gegensatz zu dir sehe ich die Probleme nämlich und verschließe mich nicht vor ihnen. Und im Übrigen: Ich habe dir alles Wesentliche zu Chandra erzählt und du hattest nichts dagegen, dass sie hier ist.“

Sie seufzte. „Ja, richtig, ich habe gesagt, dass sie hierbleiben kann. Aber es ist gefährlich, dass sie hier ist. Es ist mir klargeworden, als ich sah, wie du dich einmal mehr in Gefahr bringst.“

„Willst du damit etwa andeuten, dass sie besser nicht hier sein sollte …?“, fragte Zayn auffallend ruhig.

„Natürlich nicht! Aber es ist keine Dauerlösung. Du musst –“

„Also doch.“ Er stieß sich vom Tisch ab, sodass sie einen Schritt zurücktrat. „Du willst Chandra nicht länger hierhaben. Weil du Angst hast. Wie immer.“

„Zayn“, entgegnete sie scharf. „Pass auf, was du sagst. Dreh mir nicht die Worte im Mund herum. Was willst du tun, wenn diese Männer eines Tages vor unserer Tür stehen? Vertreibst du sie dann auch einfach mit einem Pokémonkampf? Diese Möglichkeit bringt jeden hier in Gefahr, ist dir das bewusst?“ Mit jedem Wort redete sie sich mehr in Rage. „Willst du, dass am Ende noch jemand verletzt wird? Jill zum Beispiel.“

Er hasste ihr Repertoire an rhetorischen Fragen, die immer auf seine Vernunft abzielen sollten. Noch mehr aber hasste er es, sich mit seiner Mutter zu streiten, immer wegen desselben leidigen Themas. „Du weißt genau, dass ich das nicht will. Nichts liegt mir ferner, als jemanden zu verletzen.“

„Wieso bist du dann immer so stur? Ich mache mir Sorgen um dich – und du … du stößt mich immer nur von dir.“

„Weil du mich nicht verstehst, Mom. Ich habe das Gefühl, es ist dir egal, weshalb ich das alles tue … Als hättest du den Grund dafür vergessen.“ Ein harter Ausdruck legte sich auf Zayns Gesicht, als er fühlte, wie sich das Innere seiner Brust mit den Worten schmerzhaft zusammenzog.

Seine Mutter sah aus, als hätte er sie geschlagen. Mit großen, glitzernden Augen und zitternden Lippen griff sie nach ihm, streifte seinen Arm, doch er trat zur Seite. „Zayn, bitte. Sag so etwas nicht. Ich habe doch einfach nur Angst um dich.“

„Wie immer! Und ich habe es satt, mich nach deiner übertriebenen Sorge zu richten. Du weißt selbst keine Lösung für das Problem, aber du erwartest von mir, dass ich eine parat habe. Was soll ich deiner Meinung nach tun? Zu Chandra sagen: ‚Sorry, aber du musst jetzt leider gehen‘? Wo sollte sie hin? Sie hat niemanden. Ihre Mutter ist tot, ihr Vater interessiert sich einen Scheiß für sie und ihr Bruder ist ein kranker Mistkerl. Wenn du eine Lösung hast – bitte, sag sie mir, ich brenne darauf, sie zu hören!“

„Nein, Zayn“, erwiderte sie. Ihre rechte, zur Faust geballte Hand zitterte vor ihrer Brust. „Ich bitte dich einfach, die Situation etwas rationaler zu betrachten … Natürlich möchte ich nicht, dass du sie einfach so fortschickst. Aber vielleicht ist es an der Zeit, über eine andere Lösung nachzudenken. Deine Gefühle für sie machen dich blind.“

„Bitte?“ Zayn hob die Augenbrauen. Offenbar glaubte seine Mutter, über alles besser Bescheid zu wissen. Unter normalen Umständen hätte er ihr ja womöglich zugestimmt, aber nun war ihre Aussage nur ein erneuter Zündstoff für seinen Zorn.

„Denkst du, ich sehe nicht, wie du sie ansiehst, dich um sie kümmerst? Ich habe es dir schon gestern gesagt. Ich mag deine Mutter sein, aber ich bin nicht steinalt und schon gar nicht blöd. Ihr seid ständig zusammen. Und jetzt gerade war sie wieder bei dir – warum wohl, hm?“ Wo sie vor wenigen Minuten noch vor Entrüstung förmlich Funken gesprüht hatte, sah sie nunmehr erschöpft aus.

Zayn spürte die Hitze, die ihm angesichts ihrer Frage ins Gesicht stieg. „Das geht dich überhaupt nichts an …“ Er wich ihrem Blick aus.

„Nein, das tut es nicht. Aber ich habe recht. Und ich freue mich für dich, wirklich. Ich will doch nichts, als dass du glücklich bist. Aber …“ Sie näherte sich ihm wieder. „Die Situation kann nicht so bleiben, Zayn. Bitte denk darüber nach.“

„Darüber muss ich nicht nachdenken“, wehrte er ihre Bitte ab. „Wenn du verlangst, dass sie geht, dann verlierst du mich auch noch, Mom.“ Er griff sich die dünne Jacke, die über dem Stuhl hing, sowie den Gürtel mit seinen Pokébällen und marschierte Richtung Zimmertür.

„Das … das kannst du nicht sagen, Zayn“, brachte seine Mutter hinter ihm fassungslos hervor. „Wenn das dein –“

Abrupt hatte er sich umgedreht. „Wag es nicht, diesen Satz zu Ende zu sprechen! Er würde hinter mir stehen – im Gegensatz zu dir. Und er würde …“ Für einen Moment sah er zu Boden. Es war ein dumpfer Schmerz in ihm aufgestiegen, als hätten sich die Worte – gerade auch die ungesagten – mit spitzen Krallen in seiner Seele verhakt, um ihn zu quälen. „Ach, vergiss es. Es ist dir sowieso egal.“

Er wandte sich endgültig von seiner Mutter ab und wagte keinen Blick zurück in ihr Gesicht – zweifellos würde er dort in ihren eisblauen, seinen so sehr ähnelnden Augen den Kummer erkennen, den er ihr mit seiner Wortwahl zugefügt hatte. Aber es war ihm gleich. Zumindest für den Augenblick.

„Zayn … warte! Wo willst du hin?“, rief sie ihm erschüttert hinterher, als er bereits durch die Tür getreten war.

„Raus. Ich brauch frische Luft.“

Ungeachtet der Tatsache, dass er sie gerade in seinem Zimmer stehen ließ, lief er den Gang entlang und hörte nicht mehr auf ihre Bitte, zurückzukommen.

 

******

 

Zayn hatte kaum das Labor verlassen und war im Wald angekommen, als er seine Worte auch schon bereute. Was er gesagt hatte, war ungerecht gewesen und völlig fehl am Platz. Es war ihm nicht über die Lippen gekommen, weil er es für wahr hielt – er hatte lediglich seine Wut sprechen lassen.

Dieselbe Wut war es, die ihn auch jetzt, seiner Einsicht zum Trotz, vorantrieb. Hauptsache außer Sichtweise des Labors und damit im übertragenen Sinne auch so weit weg von seiner Mutter, wie es ihm für den Moment möglich war.

Sie verstand ihn nicht, stellte sich das alles viel zu leicht vor. Insgeheim verwunderte ihn das nicht – sie schien ja auch zu glauben, dass sich das Problem mit den Cryptopokémon in Luft auflöste, wenn man nur lange genug wegsah.

Aber Zayn konnte nun einmal nicht so blind sein. Genauso wenig, wie er sich der närrischen Illusion hingeben konnte, dass es eine andere Lösung für Chandra gab, als hier zu sein. Vielleicht wäre er dann weniger aus der Haut gefahren. Aber so musste er sich fragen, was seine Mutter von ihm erwartete. Dass er Chandra an einen fremden Ort schickte, völlig  auf sich allein gestellt? Das würde er niemals tun. Aber wenn seine Mutter das auf Biegen und Brechen von ihm verlangen würde, dann … würde er Chandra begleiten. Immerhin hatte er ihr versprochen, auf sie aufzupassen.

Er folgte dem Weg eine ganze Weile, bis sich die Bäume lichteten und er an dem See ankam, der im Wald verborgen lag. Das Wasser glitzerte in der Sonne und reflektierte den heute wieder strahlendblauen Himmel. Zayn näherte sich nicht dem Ufer, sondern ließ sich an einen Baum gelehnt ins Gras sinken. Der Boden war immer noch ein wenig feucht vom gestrigen Regenguss, aber es gab gerade kaum etwas, das ihn weniger störte.

Regungslos saß er da, den Blick gen Himmel gewandt, und spürte die leicht frische Brise, die an seiner Kleidung zog und zugleich einen Teil des Zorns und Unfrieden von ihm nahm. Er hatte kein Zeitgefühl, doch irgendwann vibrierte es in seiner Hosentasche und als er seinen PDA hervorholte, verriet ihm ein Blick auf dessen Uhr, dass er bereits eine Weile dort verharrt hatte.

Mit ausdrucksloser Miene las er Vince‘ Nachricht: ‚Hast du‘s schon gesehen?‘

‚Ja.‘ Mehr gab es nicht zu sagen. Natürlich hatte er die schlechte Nachricht, die seine Mutter überhaupt erst zu ihm getrieben hatte, nicht vergessen.

‚Du hast dir dich selbst im Fernsehen vermutlich anders vorgestellt. Als strahlender Pokémon-Champ. Und nicht als Schlächter der Cryptopokémon.‘

Zayn verdrehte die Augen und schrieb: ‚Haha. Vielleicht könnte ich über deine schlechten Witze lachen, wenn meine Mutter das Ganze nur halb so lustig gefunden hätte wie du.‘

 ‚Sorry.‘ Nach einer kurzen Pause folgte: ‚Sie macht sich nur Sorgen um dich.‘

‚Ich weiß.‘

Was es Zayn nicht einfacher machte. Wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, seine riskante Aktion rückgängig zu machen – er würde sie ergreifen. Er war zwar im Besitz eines weiteren Cryptopokémons, aber dafür kannte nun auch jeder von Rays Leuten sein Gesicht. Er wusste nicht, ob es das wert gewesen war.

Und wenn er so darüber nachdachte … dann konnte er die Sorge seiner Mutter durchaus verstehen.

‚Und hast du es Chandra vorher erzählt?‘

‚Ja, und bevor du fragst: Sie hat es nicht so gut aufgenommen‘, antwortete Zayn.

‚Na ja, du wusstest bestimmt, wie du sie trösten kannst.‘

Zayn schmunzelte und war plötzlich froh, noch mehr als zuvor, dass er Vince‘ Ratschlag ernstgenommen hatte. Chandra hätte sich bloß hintergangen gefühlt, wenn er mit der Geschichte erst herausgerückt wäre, wenn sie es ohnehin schon gewusst hätte.

‚Was machen wir jetzt?‘, schrieb Vince wieder.

‚Wir‘ … Zayn sollte das einfach so hinnehmen. Auch wenn es ihm noch immer missfiel, andere in seine Probleme zu verwickeln.

‚Keine Ahnung. Abwarten.‘

‚Okay. Schreib mir, wenn was los ist.‘

Zayn nickte, mehr für sich selbst, denn sein Freund konnte das ja nicht sehen. Aber er entschied, dass es keiner Antwort mehr bedurfte und schob den PDA wieder in seine Hosentasche. Im Anschluss legte er den Kopf nach hinten und schloss die Augen.

Das alles wäre erheblich einfacher, wenn er den Streit mit seiner Mutter einfach damit abtun könnte, dass sie übertrieb. Sicherlich hätte er das vor dem gestrigen Ereignis gesagt. Aber nun musste auch er sich der Tatsache stellen, dass Chandras Bruder nicht so schnell aufgab – nicht, dass er das erwartet hatte. Nach allem, was er von Ray wusste, erschien ihm dieser nicht wie jemand, der es akzeptierte, wenn man ihm etwas nahm, auf das er einen Besitzanspruch zu haben glaubte. Aber Zayn war auch niemand, der vor einer Herausforderung zurückschreckte.

Wenn er nur wüsste, was er tun sollte … Er konnte doch nicht abwarten, bis Ray seinem Ziel einen weiteren Schritt näher kam …

 

******

 

Als Zayn später wieder zum Labor zurückkehrte, war einige Zeit vergangen. Er hatte noch eine Weile dort gesessen und über alles nachgedacht – ohne in den Genuss einer Lösung zu gelangen. Es gab nun mal keine.

Nachdem er des stumpfen Nachdenkens überdrüssig geworden war, hatte er Riolu aus dessen Ball geholt und mit dem Kampfpokémon ein kleines Wettrennen um den See herum veranstaltet. Natürlich hatte er dabei haushoch verloren. Er war zwar durchaus sportlich und ausdauernd, da er allgemein gerne an der Seite Riolus durch den Wald joggte, aber gegen die Ausdauer und Schnelligkeit seines unausgelasteten Pokémons war chancenlos.

Riolu fehlten, genau wie dem Rest von Zayns Pokémon, die Kämpfe und die Möglichkeit, seine Kraft und Entschlossenheit zur Schau zu stellen. Eigentlich waren sie von ihrem Trainer anderes gewohnt.

Seit Zayn Chandra kennengelernt hatte, kam er viel seltener zu der Möglichkeit eines Pokémonkampfes. Hauptsächlich deshalb, da er viel mehr Zeit zu Hause verbrachte als früher. Er konnte ihr schließlich nicht mal eben eröffnen, dass er für einige Tage oder gar Wochen an einen anderen Ort verreiste, um nach neuen Herausforderungen Ausschau zu halten. Chandra einfach überallhin mitzunehmen, war auch keine Option, wenn ihr Bruder nach ihr suchen ließ – jetzt erst recht nicht mehr. Zayn selbst brauchte für die nächsten Wochen nicht davon auszugehen, das Labor weiter als bis nach Veralia verlassen zu können – und vielleicht war sogar das schon zu viel. Portaportus war schließlich nicht mehr als ungefähr eine Stunde mit dem Auto entfernt. Beim nächsten Mal, dass er Rays Leuten begegnete, würde er vielleicht nicht so viel Glück haben. Pokémon hin oder her. Gerade, weil diese Typen sich nicht auf ihre Pokémon verließen, wie ihre allererste Begegnung gezeigt hatte.

Also was zählte im Moment schon ausbleibendes Training für seine Pokémon? Sie waren stark und würden die aktuelle Pause nur als die Ruhe vor dem Sturm betrachten. Er wusste, wenn er sie brauchte, konnte er sich auf sie verlassen. Aber zurzeit … hatte er ganz andere Probleme. Seine wütende Mutter war noch das kleinste davon.

Nach der sportlichen Aktivität hatten Riolu und er hat noch einige Steinchen über den See gejagt, wobei Zayn sich etwas besser gegen sein Pokémon hatte behaupten können. Es hatte ihn ausreichend erheitert, um wieder den Rückweg zum Labor anzutreten.

Als sie schließlich dort ankamen und gerade den Parkplatz überquerten, blieb Riolu plötzlich wie angewurzelt stehen und wandte sich nach links. Sein Blick glitt in eine andere Richtung als in die, aus der sie gekommen waren, aber ebenfalls zwischen einige Bäume und Büsche.

„Was ist los? Ist da was?“, fragte Zayn verwirrt, als er das Knurren seines Freundes hörte. Weder konnte er etwas erkennen noch hörte er etwas Verdächtiges.

Aber Riolu spannte seinen kleinen Körper an und starrte weiterhin ins Gebüsch.

„Ach komm, da –“

„Zayn?“

Zayn drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Torben stand in den Eingangstüren des Labors und winkte ihn zu sich. „Komm mal bitte her, ich möchte mit dir reden.“ Es klang nicht unbedingt wie ein Befehl, aber ernst genug, dass Zayn ihn doch ungern warten lasse wollte. Auch wenn er seufzen musste; er wusste, worum es ging.

Riolu verharrte noch immer stocksteif.

„Da ist nichts, Riolu. Komm jetzt mit“, befahl Zayn und wandte sich zum Eingang.

Daraufhin raschelte es zwischen den aufblühenden Blättern eines Baumes, ehe aus dem Grün etwas Blaues hervorkam und flatternd davonflog.

„Siehst du, nur ein Pokémon“, seufzte Zayn. „Du wirst jetzt kein armes Schwalbini verdreschen.“ Als Riolu immer noch keine Anstalten machte, auf seinen Trainer zu hören, holte dieser es kurzerhand in seinen Pokéball zurück. Nach einem letzten gründlichen Blick zwischen die Bäume, wo sich alles ruhig und friedlich präsentierte, ging Zayn zu Torben und folgte ihm durch die Türen in die ruhige Eingangshalle.

„Ach Zayn“, seufzte Torben. „Musste das sein?“

„Musste was sein?“

Torben hob eine Augenbraue. Er schien nicht wirklich wütend. Zayn hatte ihn eigentlich noch nie wirklich wütend erlebt. Manchmal verzweifelt, enttäuscht oder fassungslos. Im Moment bot sich ihm eine Mischung aus Resignation und Verzweiflung. „Du weißt genau, was ich meine. Also?“

„Wir waren eben unterschiedlicher Meinung“, verteidigte sich Zayn schulterzuckend.

„Meinst du nicht, dass du etwas zu streng warst? Sie meint es nur gut. Sie macht –“

„– sich nur Sorgen, ich weiß. Und ich mache mir Sorgen um Chandra. Da haben wir dann wohl verschiedene Prioritäten. Kommt vor.“ Erneut über das Gespräch vom Vormittag nachzudenken, stimmte Zayn zornig.

Torben funkelte ihn an. „Das gibt dir nicht das Recht, ungerecht zu sein. Wie würde es dir gefallen, wenn wir deine Sorge um Chandra nicht ernstnehmen würden?“

„Ich nehme sie ja ernst. Ich finde sie nur etwas übertrieben.“

„Würdest du sie wirklich ernstnehmen, hättest du dich deiner Mutter gegenüber weniger verletzend verhalten. Ich kann ja verstehen, dass dich das alles mitnimmt –“

Zayn unterbrach Torbens Ansprache wenig höflich: „Nein, kannst du nicht. Und ich wüsste ehrlich gesagt nicht, was dich das angeht.“ Er wollte gehen und dieses Gespräch für beendet erklären, aber sein Gegenüber trat ihm geschwind in den Weg.

„Wenn deine Mutter zu dir geht, um mit dir zu reden, und sie dann völlig aufgelöst und fassungslos zurückkommt, dann geht mich das sehr wohl etwas an“, stellte Torben klar, eine ganze Spur deutlicher als zuvor.

Zayn erwiderte dessen harten Gesichtsausdruck mühelos. In Blickduellen war er anderen immer überlegen; es hatte seine Vorteile, eisige Augen zu haben. „Gut, du hast deinen Standpunkt klargemacht. Aber falls du es vergessen hast: Du bist nicht mein Vater. Ich lasse mir von dir keine Ansage machen.“

Torben trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme und seine Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Grinsen. „Danke, dass du mich erinnerst. Ich neige dazu, das zu vergessen. Bedauerlicherweise muss ich dir aber sagen, Zayn, dass ich dich schon dein ganzes Leben lang kenne und das für mich reicht, um dir zu sagen, wenn du dich in meinen Augen falsch verhältst.“

„Leider ist dein Blick nicht objektiv, wenn es um Mom geht – und jetzt entschuldige mich.“ Diesmal schaffte Zayn es an ihm vorbei, im Begriff, der Eingangshalle und dieser unleidlichen Konversation zu entfliehen.

Hinter ihm lachte Torben auf. „Mag sein. Aber dein Blick ist es ebenso wenig, wenn es um eine gewisse Dame geht, mein Lieber. Denk mal drüber nach.“ Er klopfte ihm auf die Schulter und verschwand durch eine der Türen, ehe Zayn noch etwas hätte erwidern können.

Feigling.

 

******

 

Wenn Chandra mit Zayn zusammen war, dann konnte sie ihre Sorgen für kurze Zeit vergessen. Es gelang ihr, die quälende Stimme in ihrem Kopf, die ihr ihre größte Angst zuraunte, zu verdrängen, um sich der sonnigen Seite ihres Lebens zuzuwenden. Doch früher oder später schoben sich Furcht und Unruhe dann doch wieder wie dunkle Wolken vor ihre Lichtquelle und drohten, ihr diese zu entreißen.

Und sie hasste sich für diese Gefühle.

Ray hatte, selbst wenn er weit weg war, viel zu viel Einfluss auf sie. Er war wie Gift, das schon vor Ewigkeiten in ihr Innerstes geflossen war und einfach nicht davon abließ, sie zu quälen.

Sie wollte ihn nie wiedersehen. Oder – vielleicht – einmal noch, um ihm das Gesicht zu zerkratzen. Womöglich würde seine Haut nicht von blutroten Schlieren gezeichnet, sondern von der Dunkelheit, die sein Herz bereits vor Ewigkeiten in Stein verwandelt hatte und die wie eine zähe Flüssigkeit aus ihm herausfließen würde.

Wie sah diese Finsternis aus? Violett, wie der Albtraum, der Pokémon zu Monstern formte? Gut möglich.

Er war schlimmer als diese Pokémon. Beidem konnte sie nicht entkommen.

Nach dem Verlassen von Zayns Zimmer war sie etwas frühstücken gegangen, auch wenn sie kaum etwas herunterbekommen hatte. Im Anschluss hatte es sie umgehend in ihr Zimmer verschlagen – von Zayn oder seiner Mutter keine Spur – und dort lag sie seitdem im Bett. Nun war es später Nachmittag und vor nicht allzu langer Zeit war sie aus einem unruhigen Mittagsschlaf mit feuchten Augen aufgeschreckt.

Natürlich hatte sich dieser Mistkerl wieder in ihre Träume geschlichen.

Chandra fühlte sich verraten von ihrem Körper. Es war, als würde er ihr prophezeien, was ihr bevorstand. Im Grunde hatte sie daran keinerlei Zweifel. Nicht, seit sie neulich dieses Bamelin in Portaportus gesehen hatte.

Ray würde sie finden. Er bekam immer, was er wollte – weil er nie aufgab. So auch diesmal. Was würde er mit ihr anstellen? Er hatte bestimmt dutzende Möglichkeiten, sie leiden zu lassen, und Leute, die ihr schlimme Dinge antun konnten – oder vielleicht würde er das selbst tun? Normalerweise machte er sich nie selbst die Hände schmutzig, aber bei seiner kleinen, missratenen Schwester … da würde er eventuell eine Ausnahme machen.

Allein der Gedanke daran trieb ihr wieder Tränen in die Augen.

Begleitet vom Rascheln der Bettdecke spürte sie den warmen Körper, der sich hinter ihr regte, und dann einen warmen Atem im Nacken. Nachdem sie aus ihrem Albtraum aufgeschreckt war, hatte sie Sunny und Lunel aus ihren Pokébällen und mit zu sich unter die Bettdecke gelassen. Ihre Pokémon hatten direkt gespürt, dass es ihr nicht gut ging, ohne dass es großer Erklärungen bedurft hätte. Das Band, das sie mit Psiana und Nachtara verband, war das Einzige, das ihr in den vergangenen Jahren wirklich nachhaltig Kraft gegeben hatte.

Sunny lag vor ihr, den Kopf auf Brusthöhe, und gab ein beruhigendes Schnurren von sich, während Chandra eine Hand in ihrem violetten Fell vergraben hatte. Lunel hingegen hatte sich an ihren Rücken gekuschelt und eine Pfote, wie in einer beruhigenden Geste, auf ihrer Schulter liegen. Doch nun hatte er sich etwas erhoben und sie fühlte seine Zunge über ihre Wange lecken.

„Das kitzelt“, schniefte sie zwischen den Tränen, musste aber doch ein wenig lachen und nutzte die freie Hand, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Danach legte er den Kopf in die Kule zwischen ihrem Hals und der Schulter und sie spürte, wie Sunny noch näher an sie heranrückte.

Die Wärme und Fürsorge ihrer Pokémon gab ihr so viel Kraft. Ein klein wenig beruhigter schloss sie die Augen und driftete abermals in einen leichten Schlaf ab. Sie war so erschöpft, obwohl sie kaum etwas getan hatte.

Irgendwann schreckte sie aus der traumlosen Schwärze auf, da ihr PDA ein Nachrichtensignal von sich gab. Mit steifen Knochen räkelte sie sich und nahm das Gerät vom Nachtschränkchen.

Zayn hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Aufzug. 1. Stock.

Sie seufzte. Er hatte sie ja heute Mittag gefragt, ob sie am Abend Zeit hätte. Nun war es bereits zwanzig Uhr und sie lag seit Stunden im Bett.

„Aufstehen, ihr Süßen. Wir haben ein Date“, meinte sie zu Sunny und Lunel und erhob sich, als die beiden sich streckten und vom Bett sprangen. Draußen war es noch hell, aber nicht mehr lange.

In Windeseile, um Zayn nicht warten zu lassen, klatschte Chandra sich kaltes Wasser ins Gesicht und machte sich frisch. Nach nur fünf Minuten war sie wach genug, um gemeinsam mit ihren Pokémon das Zimmer zu verlassen. Sie spürte ihre Sorgen noch immer an ihr zerren, aber die Aussicht, Zayn zu sehen, erhellte ihr Gemüt.

Sunny und Lunel flitzten vor ihr zum Aufzug, welcher im hinteren Mittelteil des Gebäudes zwischen dessen Flügeln lag. Als sie um die Ecke bog, sah sie Zayn, der in die Hocke gegangen war, um ihre Pokémon zu begrüßen. Er schenkte ihr dieses strahlendes Lächeln, das ihre Knie aufweichte und ihr einen großen Teil der inneren Schwere nahm.

Es verblasste, als er ihr Gesicht näher betrachtete. „Hast du geweint?“

„Nein. Hab geschlafen. Da tränen meine Augen schnell.“

Er nickte, und sie sah, dass er ihr das nicht abkaufte. Aber er beließ es dabei und wies sie an, ihm in den großzügigen Aufzug zu folgen.

„Wieso der Aufzug und nicht die Treppe?“, fragte sie irritiert.

„Du kennst gerne draußen die Feuertreppe nehmen, aber der Aufzug ist bequemer und schneller“, grinste er.

„Hä?“

Zayn tippte einen Code in das Zahlenfeld des Aufzugs ein und dann auf eine Taste, der sie noch nie große Beachtung geschenkt hatte. Aber die Türen schlossen sich und der Aufzug fuhr in die dritte Etage. Verwirrung zeichnete ihre Züge. Es gab keine dritte Etage. Ihre Zimmer lagen im ersten Stock, einen zweites Stockwerk gab es nur im Mittelteil des Gebäudes, dort waren zwei Zimmer, unter anderem das von Cara.

Darüber war … die Glaskuppel in Form eines Pokéballs.

Mit einem Ping verschwanden die Türen in der Wand und Chandras Welt wurde in ein sanftes Rot getaucht.

„Wow, ist es das, was ich denke?“, rief sie, als sie aus dem Aufzug getreten war.

„Ich weiß nicht, ob es so im Inneren eines Pokéballs aussieht, vermutlich nicht, aber wir sind hier in der oberen Hälfte eines gigantischen Pokéballs, ja.“

Chandra hatte ihm kaum zugehört. Sie war an das rote Glas getreten und starrte über den Garten des Labors hinweg auf den Horizont. Sie waren höher als die Baumkronen des Waldes und das ermöglichte ihr eine Sicht, die sie schemenhaft das Gebirge erkennen lassen konnte, das weit hinter dem Wald lag.

„Warum hast du mir das erst jetzt gezeigt?“, forderte sie zu wissen und lief an den Glasscheiben entlang. Hier oben zu sein, verdeutlichte ihr die Größe der Glaskuppel. Der runde Raum und seine zur oberen Mitte hin zusammenlaufende Decke faszinierten sie. Niemals wäre sie darauf gekommen, dass der Pokéball einen weiteren Raum versteckte. Von unten hatte sie das nicht erkennen können. Es hatte nur immer wieder wie magisch ihren Blick angezogen, wenn sich die Abendsonne in diesem roten Glas gespiegelt hatte.

„Ich habe auf den richtigen Moment gewartet“, erwiderte Zayn.

„Du Idiot, dafür gibt es keinen falschen Moment.“

Chandra und ihre Pokémon liefen um die Säule mit dem Aufzug herum, bis sie zum vorderen Teil kamen. Dem Glas zugewandt stand eine große, bequem aussehende Couch, dessen dunkler Bezug von einigen Kissen und einer Decke geschmückt wurde. Ansonsten standen hier oben lediglich ein paar größere Pflanzen und an einer Seite war eine Tür im Glas, die über die Feuertreppe auf das Dach des rechten Seitenflügels führte.

„Möchte ich wissen, wie ihr diese Couch hier reinbekommen habt?“, fragte Chandra und trat an das kleine, runde Fenster auf Kopfhöhe. Sie öffnete es und zog die frische Abendluft ein. Von unten hatte sie immer gedacht, die Nachbildung des Öffnungsknopfes, welchen jeder Pokéball in der Mitte hatte, sei ein Fenster. Dort nämlich war das Glas farblos. Nun erkannte sie, dass um den oberen Halbkreis am Boden herum das Glas zwar schwarz gefärbt war, es sich aber nicht öffnen ließ.

Das Fenster, durch welches sie jetzt spähte, hatte sie von unten nie erkannt.

„Ich schätze, nicht“, lachte Zayn und trat hinter sie.

Chandra erkannte, warum er sie erst abends hier hochführen hatte wollen. Die Sonne ging bald unter. Noch stand der glühende Feuerball oberhalb der Baumkronen am rötlichpinken Himmel, aber er sank minütlich und verwandelte die Kuppel noch stärker in ein Inferno, als dies tagsüber der Fall war.

Zayn zog sie mit sich auf die Couch, während Sunny und Lunel es sich schon auf einem anderen Plätzchen gemütlich gemacht hatten. Er schlug die Decke über sie und Chandra realisierte, als sie sich seitlich an seine Brust schmiegte, dass es ihr mittlerweile viel weniger ausmachte, ihm einfach so nahe zu sein. Falls ihr diese Erkenntnis die Röte ins Gesicht trieb, dann war das immerhin nicht zu erkennen, so rot wie hier alles war.

„Wie geht es dir?“

Diese Frage brachte sie ganz aus dem Konzept. Wahrheit oder Lüge?

„Geht so.“ Er durchschaute es ohnehin immer, wenn sie log.

Er schwieg, und sie sah, wie sein kühler und dennoch warmer Blick über sie wanderte. Sie konnte sich schon denken, woran er dachte. Auch sie hatte heute zu viele Gedanken daran verschwendet.

Ihre Sorgen und Ängste waren nicht verschwunden, aber in Momenten wie diesem tat sie gerne so, als könnte sie sie dauerhaft unterdrücken. Ray hatte schon zu viel von diesem Tag bekommen. Er würde nicht auch noch diesen Moment an sich reißen. Es war noch genug Sonnenlicht übrig, um die Dunkelheit zu vertreiben.

„Aber lass uns nicht darüber reden“, forderte sie. „Wie geht es dir?“

Zayn zögerte, und sie fragte sich, ob er wohl ehrlich sein würde. „Ich glaube, ich war heute ein egoistisches Arschloch.“

Damit hatte Chandra nicht gerechnet. „Was? Wieso das? Weder das eine noch das andere lässt sich in einen inhaltlich korrekten Zusammenhang mit dir bringen.“

Lächelnd senkte er den Blick. „Da musst du mich noch besser kennenlernen. Ich war schon sehr oft in meinem Leben so.“

„Ja, gut, vielleicht damals mit den übertriebenen Pokémonkämpfen. Aber das ist doch Vergangenheit.“

„Das schon. Aber …“ Er sah nach draußen und das Sonnenlicht ließ seine eisblauen Augen warm erstrahlen. „Wenn ich mich von anderen in die Enge gedrängt fühle, dann schlage ich schnell um mich und sage Dinge, die ich nicht so meine. Die andere aber verletzen und sie so wieder von mir wegstoßen.“

„Macht das nicht jeder mal?“ Chandra hatte das bestimmt schon eine Million Mal getan, denn darin, andere wegzustoßen, war sie hervorragend. Manchmal … gelang ihr aber auch nicht.

Zayns Worten war anzuhören, wie sehr es ihn bedrückte. „Vielleicht. Das macht es nicht weniger falsch.“

„Was ist denn überhaupt passiert? In dem Gespräch mit deiner Mutter?“ Sie legte den Kopf an seine Schulter.

„Sie … Die Begegnung gestern ist, wie viele Sichtungen der Cryptopokémon, an die Presse gelangt. Es gibt ein Video, in dem ich zu erkennen bin. Sie war außer sich.“

Letzteres überraschte Chandra nicht. Nachrichten allerdings hatte sie heute noch keine gesehen. Das neue Wissen war beunruhigend und nun verstand sie Zayns Laune etwas besser.

„Für sie … ist das bestimmt auch nicht leicht. Aber ich bin mir sicher, sie weiß, dass du es nicht so gemeint hast“, versuchte sie sich an einer Aufmunterung. Nicht, dass sie wüsste, was er gesagt hatte.

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich habe sehr ungerechte, gemeine Dinge gesagt. Und nicht nur zu ihr.“

„Ja, aber“, Chandra drehte sich gänzlich zu ihm, bis sie ihm ins Gesicht sehen konnte, „es tut dir leid und wenn du dich entschuldigst, dann wird sie das verstehen und dir nicht übelnehmen.“

Er lächelte ob ihrer forschen Art. „Meinst du?“

„Na klar. Außerdem kann man dir gar nicht lange böse sein. Du bist eben einfach so, wie du bist. Du stürzt dich mit vollem Einsatz in die Dinge, die du für richtig hältst, ganz gleich, was passieren könnte. Das ist zwar manchmal riskant, aber ich finde es auch verdammt attraktiv. Und heiß.“ Sie war ihm so nah gekommen, dass sein Atem auf ihrer Haut prickelte.

„Ich hoffe, meine Mutter bezeichnet mein Verhalten mit einem anderen Wort“, grinste er.

„Gott, jetzt halt doch mal die Klappe!“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Du hast mich doch nicht hier hochgeholt, um dann nur davon zu reden. Genug von ihr!“

„Du hast recht.“ Zayn legte eine Hand an ihre Wange. „Der Moment ist zu schön, um ihn ungenutzt verstreichen zu lassen.“ Als sie einander in die Augen sahen, fühlte Chandra sich für einen Moment wie erstarrt. All ihr Selbstbewusstsein war schlagartig verschwunden, ersetzt durch ein flattriges Gefühl. Sie konnte nur erahnen, dass die Sonne mittlerweile hinter den Bäumen verschwunden war.

„Danke für die aufmunternden Worte, Chandra“, sagte Zayn, ehe er sie küsste und sie nach hinten gegen die Lehne der Couch drückte. Sie ließ sich in das weiche Polster fallen, wie sie sich in den Kuss ergab, als dieser intensiver wurde. Kurzzeitig vergaß sie alles Schwere in ihrer Brust, jeder sorgendurchzogene Knoten löste sich durch das Rauschen, das durch ihre Adern jagte.

Ewig lang hätte sie sich diesem süchtig machenden Gefühl hingeben können – doch dann spürte sie etwas Weiches von unten gegen ihr Kinn drücken, sodass sie sich schweratmend von Zayn löste. Lunel hatte sich zwischen die beiden gedrängt und wandte sich erhobenen Hauptes Chandra zu, wobei sein Schweif gegen Zayns Kopf schlug.

„Ich glaube, du hast gerade Konkurrenz bekommen“, lachte Chandra und streichelte Nachtara.

Er schien unbeeindruckt und legte einen Arm um ihre Schultern. „Damit kann ich leben, wenn es nur bei deinen Pokémon bleibt.“

Lunel rollte sich auf ihrem Schoß zusammen und auch Sunny quetschte sich noch in die Lücke zwischen Chandra und Zayn.

„Sie brauchen deine Nähe eben genauso sehr wie ich. Außerdem ist die Nacht ja noch jung“, lächelte er.

Ihm zustimmend hoffte sie, er möge die Röte in ihrem Gesicht nicht erkennen. „Du, Zayn?“

„Hm?“

„Lass uns in Zukunft jeden Sonnenuntergang hier oben beobachten, ja?“

„Wenn du das möchtest.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Und du redest mit deiner Mutter!“

„Versprochen. Was immer du willst, Chandra.“

Drache gegen Drache

Gegen Mittag des nächsten Tages war Zayn auf dem Weg zu seiner Mutter, um das an Chandra gegebene Versprechen einzuhalten. Er würde zwar nicht von seiner Bereitschaft abweichen, das zu tun, was er für richtig hielt, aber ihm war nach viel Grübelei gedämmert, dass er den Sorgen anderer Menschen nicht unbedingt mit den härtesten Vorwürfen und Abweisungen begegnen sollte.

Als er sie nicht in der Küche fand und auf das Klopfen an ihrem Apartment im zweiten Stock auch keine Reaktion folgte, begab er sich nach unten. Arbeitete sie etwa? Nicht ausgeschlossen, am Wochenende aber auch nicht der Regelfall.

Auf halber Strecke zur Krankenstation kam ihm aus Richtung des vorderen Gebäudeteils Jill entgegen, gefolgt von Enton – und Vince.

„Du hast Besuch!“, rief seine Schwester und blieb mit verschränkten Armen vor ihm stehen. Ihr Blick hätte wohl einschüchternd gewirkt, wäre sie ihm nicht nur bis zur Brust gereicht. „Ich kann nicht immer deine Freunde reinlassen, nur weil du zu faul bist.“

Freunde ist ja wohl übertrieben, es ist immer Vince, der hier unangemeldet auftaucht“, meinte Zayn irritiert und warf seinem Freund einen Blick zu.

„Hey, ich hab dir geschrieben, dass ich gleich da bin“, verteidigte dieser sich.

„Hast du?“ Zayn warf einen Blick auf die ungelesene Nachricht in seinem PDA, dann zuckte er die Schultern. „Hm, das muss ich wohl übersehen haben.“ Unter der Woche, wenn die Rezeption in der Eingangshalle besetzt war, war das Labor frei zugänglich für Menschen, die hier arbeiteten oder einen Termin hatten und jene, die mit ihren Pokémon in die Praxis seiner Mutter wollten, aber übers Wochenende kehrte immer Ruhe ein und wenn Vince mal herkam, ließ Zayn ihn für gewöhnlich über einen Seiteneingang herein. Manchmal, so wie heute, geschah es aber auch, dass Jill, deren Zimmer nach vorne ausgerichtet war, ihn zuerst sah und zur Tür flitzte. So schlimm konnte sie es gar nicht finden, immerhin hatte Zayn nicht vergessen, wie gerne seine Schwester anscheinend mit Vince über Chandra und ihn tratschte.

„Ich hab jetzt gerade aber überhaupt keine Zeit“, meinte Zayn und wollte schon weitergehen. „Ich muss zu Mom.“

„Die ist nicht da“, erwiderte Jill ungerührt. „Irgendein dringender Notfall.“

Zayn seufzte. Wie er es sich gedacht hatte.

„Und das heißt“, setzte sie sichtlich aufgeregt an, „dass du Zeit hast!“

„Wofür?“

„Für Enton und mich.“ Zur Bestätigung ihrer Worte quakte das gefiederte Pokémon einmal zustimmend. „Ich fände es so cool, wenn Enton ein paar Attacken lernen würde. Zum Beispiel Konfusion! Ich habe gelesen, dass Entons das lernen können, obwohl sie ja keine Psychopokémon sind.“

Ein wenig überrumpelt von der Bitte seiner Schwester schwieg Zayn zunächst. Jill hatte bislang nie den Wunsch geäußert, Enton irgendwelche Attacken beibringen zu wollen. Das Wasserpokémon war für sie seit jeher ein Kuschel- und Spielpartner und ihr bester Freund. Genaugenommen hatte sie Attacken immer mit Kämpfen in Verbindung gebracht und fand schon allein die Vorstellung, Enton könnte sich versehentlich an einer Möbelkante stoßen, schrecklich. „Seit wann willst du, dass Enton Attacken einsetzen kann? Du wolltest doch nie, dass Enton kämpft“, sprach er seinen Gedanken aus.

Jill begegnete diesem mit einem Seufzen. „Es geht auch gar nicht ums Kämpfen! Du denkst auch immer nur daran. Ich will, dass Enton Konfusion lernt, weil das richtig praktisch wäre. Dann muss ich nicht mehr extra aufstehen, wenn wir im Bett liegen und ich Enton noch einen Pirsifriegel geben will, die aber immer genau dann woanders liegen. Oder wenn meine Schultasche mal wieder zu schwer ist, dann könnte Enton sie einfach hinter mir herschweben lassen. Das würde so viele Probleme lösen!“ Jill plapperte so lange, bis ihr die Luft ausging und ihre Wangen vor Aufregung rot wurden.

Zayn verschränkte die Arme. „Aber Jill, Enton ist weder dein Packesel noch dein Pokémon für alles …“

„Aber Enton will das alles auch tun! Siehst du!“ Sie deutete auf Enton zu ihren Füßen, welches freudig die Ärmchen nach oben hob und bereit schien, es mit allen liegengelassenen oder zu schweren Objekten dieser Welt aufzunehmen. Der Anblick erwärmte Zayns Inneres und ließ ihn seine Sorgen für den Moment vergessen.

„Ich weiß nicht“, blieb er dennoch unentschlossen. „Mom würde das bestimmt nicht gutheißen. Du weißt, wie sie ist. Es hat damals einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, dass du Enton behalten durftest. Wenn es jetzt Attacken lernt … sie wird das Schlimmste befürchten.“

Zayn war älter gewesen als Jill jetzt, als er sein erstes Pokémon bekommen hatte und selbst damals war seine Mutter nervös deshalb gewesen. Sie würde Jill frühestens in drei Jahren erlauben, mit einem Pokémon zu kämpfen.

„Ach, das wird sie nie erfahren“, versicherte Jill. „Sie ist ja nicht da.“

Zayn hatte zuletzt nicht unbedingt die besten Erfahrung damit gemacht, dass sie irgendetwas schon nicht erfahren werde … „Wenn sie erfährt, dass ich dir geholfen habe … Ich habe in letzter Zeit echt viele Minuspunkte bei ihr gesammelt. Sie wird mir den Kopf abreißen.“

„Ach komm schon! Bitte!“ Jill warf sich ihm an die Seite und umklammerte seinen rechten Arm. „Bitte, Zayn. Bitte, bitte, bitteeeee.“ Sie sah aus großen, hellblauen Augen zu ihm hoch. „Du kannst doch nicht Nein zu diesem süßen Wesen sagen.“

Natürlich meinte sie Enton, auf welches sie nun zeigte. Enton gelang die Imitation ihres Blickes perfekt – die Arme an seinen Kopf gelegt und diesen etwas gesenkt, sah es zu ihm hinauf und direkt in seine Seele. Abgerundet wurde die Darbietung durch ein leises Quaken. Nur ein kaltherziger Mensch hätte ihm seinen Wunsch abschlagen können …

„Na gut“, gab Zayn sich geschlagen. „Wir können das jetzt machen. Aber wenn Enton Konfusion nicht gleich heute perfekt beherrscht, wirst du mir nicht den ganzen Tag in den Ohren liegen, klar?“

Er hatte Jill noch nie viel abschlagen können. Zudem hatte er sie in den letzten Wochen tatsächlich ein wenig vernachlässigt, weil er entweder mit Chandra zusammen gewesen war oder schlichtweg nicht den Kopf für ihre kindliche Leichtigkeit gehabt hatte. Dabei tat es gut, die Welt hin und wieder auf ein unbeschwerte Art zu betrachten.

„Ja, versprochen!“

Als Enton vor ihn trat und die Arme nach oben streckte, ging er in die Knie, um es hochzuheben – es liebte es, die Welt von einen höheren Perspektive aus zu sehen. „Wow, Jill, vielleicht solltest du Enton ein paar Pirsifriegel weniger geben. Es ist ganz schön schwer geworden.“ Enton warf einen Blick durch den Flur und hinunter auf Jill, als es oben angekommen war.

„Siehst du, noch ein Grund, ein bisschen mit Enton zu trainieren. Da kann es gleich abspecken“, strahlte Jill und tätschelte ihr Pokémon.

„Ich seh schon, du hast dir Argumente zurechtgelegt“, sagte Zayn trocken. „Heb sie dir für Mom auf, falls sie doch davon erfährt.“

Kurz darauf setzte er Enton wieder auf dem Boden ab, sodass es gemeinsam mit Jill vorauslief. Er wandte sich Vince zu, welcher die Diskussion der beiden Geschwister nur amüsiert schweigend verfolgt hatte.

„Schwer beschäftigt, wie immer“, grinste er.

„Irgendeiner von uns muss ja was zu tun haben, wenn du schon immer nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen weißt, als hierherzukommen“, kontere Zayn. Mit halbem Ohr hörte er, wie Jill Enton vorschlug, dass es nach Konfusion ja vielleicht auch Aquaknarre erlernen könnte.

„Ach, insgeheim wartest du doch nur darauf, dass ich vorbeikomme und dich aus deinem Elend befreie“, sagte Vince.

„Welches Elend?“

„Dass du total auf Chandra stehst, ihr das aber nicht in aller Fülle sagen kannst, weil du befürchtest, dass sie in dir eher nur den Freund mit gewissen Vorzügen sieht.“

Zayn blickte vor zu Jill, doch die schien davon nichts mitbekommen zu haben, da sie nach wie vor mit Enton sprach. „Na du musst es ja wissen. Apropos – ich hoffe für dich, dass du deine neuesten Erkenntnisse über mein Privatleben nicht direkt mit meiner Schwester geteilt hast“, sprach er mit gesenkter Stimme.

„Natürlich nicht, was denkst du von mir?“, fragte Vince daraufhin mit einem derart unschuldigem Blick, als könnte er kein Wässerchen trüben.

„Einiges“, seufzte Zayn.

„Na vielen Dank auch.“

Kurz nach Jill kamen sie im Eingangsbereich des Labors an, gegenüber der gläsernen Fassade, in deren Mitte die Türen lagen. Das strahlende Licht der Sonne fiel auf die Scheiben und tauchte das Gebäudeinnere in eines warmes Licht.

„Geh du mit Enton schon mal nach draußen, ich komme gleich nach“, sagte Zayn zu Jill.

„Aber lass uns nicht zu lange warten“, antwortete sie und eilte fröhlichen Gemüts mit Enton nach draußen durch die Türen, welche sich von innen automatisch öffneten.

Als er mit Vince allein war, lehnte Zayn sich gegen die Wand in seinem Rücken und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es ist einfach alles zum Haareraufen. Meine Mutter ist stinksauer und will von dem ganzen Thema am liebsten gar nichts mehr hören. Chandra hat panische Angst davor, dass ihr Bruder sie findet und zurück nach Pyritus schleift. Sie versucht, es nicht zu zeigen, aber ich sehe es ja. Und ich klebe jetzt mehr denn je in diesem verdammten Labor fest und weiß nicht, was ich tun soll. Nicht mal diesem verdammten Gallopa kann ich helfen.“

„Na ja“, Vince vor ihm räusperte sich, als habe er nicht ganz mit diesem Ausbruch gerechnet, „vielleicht ist es ja nicht verkehrt, wenn du jetzt erst mal abwartest, statt dich direkt in den nächsten Kampf zu stürzen und ihnen somit wieder in die Arme zu laufen.“

„Aber ich kann doch nicht einfach nichts tuend hier herumsitzen und warten!“

„Dann betrachte es als Zeit, in der wir uns einen Plan überlegen können. Du kannst dich nicht immer nur auf dein Glück verlassen. Das hat jetzt zweimal funktioniert, aber beim nächsten Mal geht das Ganze vielleicht nicht so gut für dich aus. Und so sehr du mir manchmal auf die Eier gehst, es wäre ziemlich langweilig ohne dich alten Klugscheißer.“

„Danke, ich versteh schon, du bist ungemein aufmunternd“, schmunzelte Zayn, woraufhin er seinem Freund eine Hand auf die Schulter legte. „Nein, mal ernsthaft. Danke. Auch wenn ich nicht weiß, womit ich deine Unterstützung verdient habe. So oft wie ich schon ein totaler Arsch war.“

„Du warst mindestens genauso oft nur ein halber Arsch, passt also“, erwiderte Vince leichthin. „Außerdem muss ich ja noch dafür sorgen, dass das mit Chandra und dir was wird. Kann ja keiner auf Dauer mit ansehen, wie du dich quälst. Du wirst mich also nicht los in nächster Zeit, egal wie sehr du es versuchst.“

„Gut zu wissen.“ Zayn kannte Vince sein halbes Leben lang und sie waren schon durch einige schwere Zeiten gegangen, weshalb die Erkenntnis nichts Neues, aber dennoch nicht weniger wichtig war: Ein wahrer Freund war tausendmal mehr wert als ein Dutzend oberflächlicher Freundschaften.

„Ach übrigens, ich bin gestern Theo begegnet. Der –“

„Lass mich raten. Er hängt immer noch mit Glenn rum?“

Vince zuckte die Schultern. „Ja, kein Plan, was ihn bei dem Vollpfosten hält. Vielleicht schnorrt er ja immer noch Gras. Jedenfalls hat er erzählt, dass Glenn meinte, du müsstest dich ja immer wichtigmachen.“

Zayns Blick schweifte leicht abwesend an Vince vorbei und gerade als er etwas auf dessen Worte entgegnen wollte, verschwand einfach jedweder Gedanke aus seinem Kopf, gelöscht wie auf Knopfdruck. Blankes Entsetzen verankerte sich mit eisigem Griff in seiner Brust und ließ ihn erstarren.

„Nein, nein, nein, nein, nein“, kam es ihm tonlos über die Lippen.

„Ja, das hab ich auch gesagt … Zayn? Was ist los?“ Irritiert bemerkte Vince‘ die Fassungslosigkeit in Zayns Gesicht.

Aber der hatte sein Gegenüber vollkommen ausgeblendet. Er realisierte nicht einmal, wie er Vince mit der Schulter anstieß, als er an diesem vorbei und in Richtung der Türen eilte, kaum dass der Schock seinen Körper wieder freigegeben hatte.

Die automatischen Türen teilten sich im letzten Moment, ehe es zur Kollision gekommen wäre. Und nun, mit klarer Sicht, die nicht länger durch das Spiegeln der Sonnenstrahlen an den Glasscheiben getrübt werden konnte, löste sich auch das letzte Bisschen festgehaltenen Zweifels in Nichts auf.

Ray.

Jeder Muskel in Zayns Körper spannte sich an, als er Jill vor ihm stehen sah. Ihr Blick glitt nach oben und er hörte sie etwas sagen, doch im selben Augenblick brachte Zayn sich mit großen Schritten hinter sie.

„Jill!“ Seine Worte hallten laut und deutlich über den Platz. „Ich will, dass du reingehst.“

Verwirrt blickte sie sich zu ihm um. „Aber Zayn, ich –“

„Geh rein, sofort!“

Eingeschüchtert von seinem harschen Ton senkte sie den Kopf und trottete gemeinsam mit Enton zurück. Im Eingang wartete Vince und schob die beiden hinter sich und außer Sichtweite. Das befreite Zayn nicht von seiner Anspannung, aber immerhin stand seine Schwester nicht länger zwischen ihm und …

„Du bist also Zayn.“

Zayn wandte sich der kühlen Stimme zu. Rein äußerlich wirkte er beherrscht. Nahezu ruhig. Er hatte die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, um ihr Zittern zu unterdrücken. Es war keine Furcht, die sie zum Zittern brachte – es war heiße Wut, welche das eisige Entsetzen in ihm geschmolzen hatte. Sie hätte ihn nur allzu gerne dazu verleitet, sich hier und jetzt auf ihren Auslöser zu stürzen, allerdings wusste er um die Torheit dieser Aktion. Nur weil Ray hier allein vor ihm stand, hieß das noch lange nicht, dass er es auch war. Wenngleich Zayn niemanden sonst sehen konnte, sollte er lieber kein Risiko eingehen.

Aber es fiel ihm schwer, beim Anblick von Chandras Bruder nicht aus der Haut zu fahren. Bis auf das eine Mal vor ihrer Haustüre hatte er ihn nur auf Bildern gesehen. Schon damals hatte Ray ein starkes Gefühl von Antipathie in ihm erzeugt, welches sich mittlerweile um das Zehnfache verstärkt haben musste.

Wie er ihn so musterte, begann er zu verstehen, weshalb Chandra sich – neben allen anderen Gräueln – so sehr von Ray einschüchtern ließ. Zayn selbst war alles andere als klein, aber Ray überragte ihn doch noch um ein paar Zentimeter Höhe. Er schien nicht auffallend breit gebaut, aber seine ganze Statur strahlte ungeheure Selbstsicherheit aus. Statt einer angespannten Körperhaltung präsentierte er sich entspannt; die Hände steckten sichtbar locker in den Taschen seines schwarzen Mantels, was neben der allgemeinen Vorsicht ein weiterer Grund für Zayn war, Distanz zu wahren.

Aber es war wohl der Ausdruck in diesen stahlgrauen Augen, die bar jeglicher Wärme waren – und auf völlig andere Art kalt, als Zayn das je bei sich selbst beobachtet hatte –, der Verunsicherung hervorrief.

Wie konnte dieser Mensch es wagen, hier mit so viel Selbstgefälligkeit zu stehen, als wäre das völlig normal?

Und – was noch viel wichtiger war, aber für Zayn nicht weniger rätselhaft – wie um alles in der Welt hatte Ray ihn finden können? Er hatte das Risiko darin gesehen, dass er in Portaportus und anschließend in dem Video gewesen war, aber das allein hätte niemals ausgereicht, um ihn binnen zwei Tagen ausfindig zu machen. Ebenso unwahrscheinlich erschien ihm ein Schuss ins Blaue seitens Ray. Dessen Selbstsicherheit räumte jede Möglichkeit, er könnte nicht mit hundertprozentiger Sicherheit davon überzeugt gewesen sein, hier richtig zu sein, aus.

Zayn unterdrückte das Gefühl der Unruhe und sagte das Erste, das ihm einfiel: „Was willst du hier?“ Es war offensichtlich, aber er wollte es von Ray selbst hören.

Dieser ließ sich zu einem knappen Lächeln hinreißen. „Da du so höflich bist, muss ich mich wohl nicht vorstellen.“ Selbst sein Ton war entspannt, nahezu plaudernd. Als keine Antwort kam, fuhr er fort: „Du weißt, was ich will. Du hast etwas, das mir gehört.“

„Etwas, das dir gehört?“, echote Zayn. „Deine Schwester ist kein Gegenstand. Sie ist nicht dein Besitz.“

Rays Schulterzucken fegte die Worte beiseite, als wären sie bedeutungslos. „Du solltest nicht von Dingen reden, die du nicht verstehst. Aber wie dem auch sei. Es freut mich, dass wir uns endlich mal kennenlernen. All die letzten Wochen habe ich mich gefragt, wer derjenige ist, der es gewagt hat, meine Schwester zu entführen.“

„Da verwechselst du etwas. Jemanden zu entführen, heißt, die Person gegen ihren Willen mitzunehmen. Chandra aber war mehr als gewillt, dir den Rücken zuzukehren.“

„Bedauerlicherweise“, seufzte Ray. „Was hast du ihr versprochen, hm? Oder sollte ich besser fragen, was du ihr gegeben hast? Ach nein, sag nichts.“ Sein scheinheiliges Lächeln bekam eine höhnische Nuance. „Es ist immer dasselbe mit ihr. Falls du glaubst, etwas Besonderes zu sein, dann muss ich dich leider enttäuschen. Du bist nur einer in einer langen Reihe an Typen, die sie rangelassen hat. Aber mach dir nichts draus, das hätte jedem passieren können.“

Zayns eigenes Gesicht fühlte sich an wie versteinert, als er den Spott über sich ergehen ließ. In den letzten Jahren hatte er eine Mauer um sich herum errichtet, an der abfällige Äußerungen anderer abprallten; es war ihm gleich, was jene sagten, die ihn nicht kannten. Aber Rays Worte richteten sich auch gegen Chandra und es fiel ihm schwer, dessen Spott nicht auf die verdiente Art zu begegnen, zugleich wollte er aber auch nichts sagen, das Ray als Bestätigung auslegen könnte.

„Das alles spricht nicht gerade für dich als Bruder. Solltest du sie nicht eigentlich beschützen? Gerade in einer Stadt wie Pyritus.“

„Oh, ich habe sie immer beschützt. Vielleicht sogar ein bisschen zu sehr, sonst hättest du nie zu einem Problem werden können“, erwiderte Ray kalt.

„Ich habe getan, was notwendig war, und ich würde es jederzeit wieder tun.“ Zayn stellte weiterhin eine gefasste Miene zur Schau, aber ihm saß die Gewissheit im Nacken, dass Chandra irgendwo im Labor war, und er hatte keinen Schimmer, was passieren würde, wenn sie herausfand, dass ihre größte Angst sich bewahrheitet hatte. Das durfte nicht geschehen. Er musste alsbald eine Lösung finden, Ray von hier fort zu bekommen. Nur wie? Nach allem, was Chandra ihm erzählt hatte, war ihm überdeutlich bewusst, dass er diesen Mann besser nicht unterschätzte.

Ray begegnete Zayns Worten mit einem Lachen. „Der tragische Held.“

„Wie hast du uns überhaupt finden können?“

Sein Gegenüber nahm die Hände aus den Manteltaschen, nur um die Arme zu verschränken. Als er sprach, wandte er sich ein wenig von Zayn ab und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. „Ehrlich gesagt hast du mich etwas enttäuscht. Da hast du es geschafft, mir ein Cryptopokémon und meine Schwester zu stehlen, ohne dass ich wusste, wie mir geschah. Wochenlang hatte ich keinen einzigen Anhaltspunkt auf euren Verbleib. Ich habe diese ganze verdammte Region auf den Kopf stellen lassen – nichts.“ Ein scharfer Unterton unterwanderte seine Stimme. „Konnte ja keiner wissen, dass du ausgerechnet vom Pokémon-Hauptlabor kommst. Ein schönes Fleckchen. Passt zu der kleinen, feigen Ratte, die ich mir unter dir vorgestellt habe. Aber irgendwann macht selbst jemand wie du einen Fehler.“ Seine Augen fanden wieder Zayn und ein herablassendes Grinsen schmückte seine Lippen. „Du willst wissen, woher ich plötzlich wusste, wo du bist? Na ja, du solltest vielleicht aufpassen, welche Pokémon du im Kampf einsetzt.“

Zayn verstand nicht ganz und diese Irritation musste Ray ihm im Gesicht abgelesen haben. „Es war dein Arkani, welches mich zu dir geführt hat.“

„Wie?“ Sicher, es hatte eine besondere Fellfärbung, aber Arkani war längst kein für sich sprechendes Erkennungszeichen von Zayn.

Oder lag es etwa …

Bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, fuhr Ray fort. „Die Einzelheiten brauchen dich nicht zu interessieren. Was zählt, ist, dass du mich direkt hierhergeführt hast. Natürlich musste ich mich erstmal überzeugen, dass meine Spur richtig war. Doch auch das hast du nicht bemerkt. Pech für dich.“

Eine Erwiderung blieb Zayn im Hals stecken. Er war schuld daran, dass Ray nun hier war?

„Aber genug geplaudert“, stellte Ray mit nunmehr dunkler Stimme klar.

Er kannte diese Tonlage. Gehört hatte er sie das letzte Mal, als er in Chandras Kleiderschrank gesessen hatte und dem Gespräch zwischen ihr und Ray gefolgt war. Damals hatte es ihn erzürnt, dass jemand so mit der eigenen Schwester sprach.

Jetzt aber … sandte sie ihm einen nervösen Schauer über den Rücken.

„Ich bin wegen Chandra gekommen und ich werde nicht ohne sie gehen.“

„Dann wirst du eine Enttäuschung erleben.“

Ray löste die Arme voneinander und trat einen Schritt vor, während Zayn sich anherrschte, an seinem Platz zu verharren. „Wer entscheidet das? Du?“

„Wenn du glaubst, dass ich dir Chandra einfach so übergebe, dann hast du dich geschnitten.“

„Einfach so vielleicht nicht, aber lass dir eines gesagt sein, Zayn“, meinte Ray mit kühler Überzeugung. „Auf die ein oder andere Art kriege ich immer, was ich will. Du entscheidest maximal, wie anstrengend du es dir machen willst.“

Zayn schüttelte leicht den Kopf. „Du widerst mich an.“

„Gut so. Schließlich bin ich nicht hier, um dir zu gefallen. Also? Wo ist Chandra?“ Zayn blieb ihm eine Antwort schuldig. „Soll ich selbst suchen gehen?“

Er machte Anstalten, das in die Tat umzusetzen, doch Zayn stellte sich ihm konsequent entgegen. In seinen Worten lag tiefe Verachtung. „Wag es ja nicht, sonst –“

„Sonst? Spiel nicht den Helden, wenn du es nicht verkraften könntest, deinen Einsatz zu verlieren.“

„Wovon sprichst du?“

Rays Blick war todernst. „Ich sage dir jetzt, wie es hier läuft. Gib mir Chandra und ich bin nachsichtig. Mach es uns beiden schwer und lebe mit den Konsequenzen. Möchtest du wirklich riskieren, dass irgendjemandem hier etwas zustößt, nur weil du einen Narren an meiner verzogenen Schwester gefressen hast? Was sollte mich daran hindern, deiner Schwester etwas anzutun?“

Gefühle, Moral, Menschlichkeit?, dachte Zayn. Alles Dinge, von denen Ray vermutlich noch nie gehört hatte.

„Du bedrohst ein Kind?“, stieß er entsetzt hervor.

„Das liegt ganz bei dir.“

„Das ist selbst für dich erbärmlich.“ Zayn spürte seine Hände schwitzig werden. Er gab es ungern zu, doch er fühlte sich in die Enge getrieben, einer Lösung fern. Es war nicht abzuschätzen, ob hinter Rays Worten ein Bluff lag oder ob er wirklich Gewalt anzuwenden bereit war. Worin er sich hingegen sicher war: Ray war nicht allein. Unweit von hier, wenn auch nicht sichtbar, musste er Verstärkung haben; er war schlicht zu selbstsicher. Und Zayn konnte kein Risiko eingehen. Er sah nicht hinter sich, da er ebenso wenig riskieren konnte, sein Gegenüber aus den Augen zu lassen, aber er wusste, dass er darauf vertrauen konnte, dass Vince auf Jill auspasste.

Er griff möglichst unauffällig zu seinen Pokébällen, aber Ray bemerkte die Bewegung; etwas blitzte in seinen Augen auf.

„Ich bin nicht der Unmensch, für den du mich hältst. Ich möchte lediglich Chandra zurück und es liegt nicht in meinem Sinne, unnötiges Leid zu verursachen. Es liegt bei dir, ob du mich dazu zwingst. Aber ich bin entgegenkommend und mache dir ein Angebot.“

Mit jedem gesprochenen Wort nahm der Hass in Zayn zu, schwellte zu einem schmerzenden Knoten in seinem Inneren an, der ihn zweifeln ließ, wie lange er sich seine erzwungene Selbstbeherrschung noch würde bewahren können. Mühsam kam ihm ein „Ach ja?“ über die Lippen.

Unerwarteterweise wandte Ray sich von ihm ab, als er antwortete: „Nach dem, was ich so von dir gehört habe, sollst du ein guter Trainer sein. Davon würde ich mich gerne einmal selbst überzeugen.“ Er hatte sich einige Meter von Zayn entfernt, ehe er sich wieder umdrehte. „Also, folgender Deal: Besiege mich in einem einzelnen Kampf. Wenn du gewinnst, werde ich ohne Chandra gehen und du wirst nie wieder etwas von mir hören.“

Diese Wendung kam unerwartet für Zayn. Natürlich erschien es ihm nur logisch, dass derjenige, der hinter der Entstehung der Cryptopokémon stand, auch selbst welche besaß. Zumindest schloss er aus, dass Ray mit normalen Pokémon kämpfen würde. Aber er traute diesem scheinheiligen Vorschlag keine Sekunde lang … Zwar kannte er nicht den exakten Grund, aber Chandra war für ihren Bruder viel zu wichtig, als dass er sein Geschäft von einem einzelnen Kampf abhängig machte.

„Und wenn du gewinnst?“

„Dann gibst du mir Chandra ohne Wenn und Aber, vergisst deine jämmerliche Schwärmerei und hältst dich in Zukunft aus meinen Angelegenheiten raus“, stellte Ray klar. „Ist das nicht fair? Niemandem muss etwas passieren und du kannst mir hinterher nicht vorwerfen, dich nicht gewarnt zu haben.“

Zayns erster Impuls war es, diesen wahnwitzigen Vorschlag abzulehnen und dessen Überbringer so etwas wie ‚Das kannst du vergessen!‘ entgegenzuschleudern, doch er zügelte sich. Er lag für ihn auf der Hand, dass Ray hier bloß ein perfides Spielchen mit ihm trieb – niemals würde er ohne Chandra gehen. Seinem Angebot lagen nur zwei Gedanken zugrunde.

Erstens wollte er diese Auseinandersetzung zu seinem Vorteil drehen. Zayn sollte glauben, dass er über das weitere Geschehen entschied und im Falle von Verletzten der Schuldige wäre. Zweitens musste Ray so sehr von seinem Sieg überzeugt sein, dass es für ihn einer unwesentlichen Kleinigkeit gleichkam, Zayn diesen Deal vorzuschlagen.

Nichtsdestotrotz, Zayn würde nicht darauf hereinfallen. Vermutlich würde Ray letztlich so oder so auf Gewalt zurückgreifen, auch wenn Zayn keine Ahnung hatte, wie diese aussehen würde. Es stand ihm nicht danach, das herauszufinden, daher gab es nur eine Möglichkeit.

Er musste diesen Kampf gewinnen.

Er griff sich einen Pokéball vom Gürtel und lief auf den leeren Platz vor dem Labor, in einiger Entfernung zu Ray. „Du kannst dein Glück versuchen, aber ich werde dich selbst im Falle einer Niederlage nicht mit Chandra gehen lassen!“, rief er ihm laut und deutlich entgegen.

Ray lächelte, als hätte er nichts anderes erwartet, und holte etwas aus der Innentasche seines Mantels. „Du wirst nach diesem Kampf nicht mehr in der Lage sein, das zu verhindern.“

Die Drohung ignorierend, sah Zayn, wie sein Gegner den hervorgeholten Pokéball vor sich hielt und dieser sich ohne Weiteres öffnete, um ein großes Pokémon freizugeben.

Es besaß einen überwiegend hellgrünen, schlanken Körper, der in einen langen Schweif auslief, an dessen Ende ein kleiner rotgrüner Fächer saß. Aus seinem Rücken ragten große flache Flügel, deren Ränder rot leuchteten, und der schmale Kopf besaß zwei nach hinten gerichtete Fühler beachtlicher Länge mit spitzen Enden. Die Augen wurden von stechend roten Lidern geschützt. Es stand auf zwei kräftigen Beinen, wohingegen seine Arme kurz, jedoch an den Enden klauenbesetzt waren.

Zayn zeigte sich möglichst unbeeindruckt angesichts des Libelldras, auch wenn es eine nicht zu verachtende Größe aufwies. Pokémon seiner Art waren hier selten, da sie ein trockenes, eher wüstenartiges Klima bevorzugten. Wenn überhaupt, würde man sie eher in der Gegend rund um Pyritus anfinden – es war also nicht allzu verwunderlich, sich nun einem gegenüberzusehen.

Ungewohnt war hingegen eine andere Sache. Obwohl Zayn davon überzeugt war, dass es sich bei dem Libelldra um ein Cryptopokémon handelte, wirkte dieses anders als die, die ihm bisher begegnet waren. Während man dem Granbull und dem Knogga von neulich deutlich von Anfang an eine gewisse Unruhe hatte ansehen können, zeigte sich dieses drachenartige Pokémon ruhig und beherrscht. Ein Blick in seine Augen verriet zwar eine tiefe Kampfeslust, aber es erweckte keineswegs den Eindruck, als würde es sich ohne eine klare Anweisung auf einen Kontrahenten stürzen. Zayn vermochte nicht zu sagen, ob er das gut oder unheimlich fand. Er kannte die Cryptopokémon als impulsive, kaum zu kontrollierende Kampfmaschinen – was musste man diesen armen Wesen denn noch antun, um ihnen diese Unkontrollierbarkeit wieder auszutreiben?

Gefasst ließ er den hervorgeholten Pokéball aufspringen, sodass sich sein eigenes Drachenpokémon materialisierte. Er hatte schon davor beschlossen, für diesen Kampf auf Nummer Sicher zu gehen und sein stärkstes Pokémon zu wählen und nach Rays Wahl sah er sich darin bestätigt, dass Brutalanda hier am geeignetsten war. Er durfte Chandras Bruder nicht unterschätzen.

Der zeigte sich angesichts Zayns Pokémon äußert zufrieden. „Du machst es mir aber auch zu einfach“, höhnte er und näherte sich seinem Libelldra.

Zayn hatte allmählich genug von diesen Kommentaren. „Ich werde niemals gegen ein Cryptopokémon verlieren!“ Und schon gar nicht gegen dich. Wie gut konnte Ray als ‚Trainer‘ schon sein? Er sah in Pokémon nichts weiter als eine Möglichkeit, Kontrolle durch Machtdemonstration zu erlangen, aber die Gefühle dieser Geschöpfe waren ihm so egal, dass er abstoßende Experimente an ihnen vornahm, nur um sie – scheinbar – zu optimieren.

Ray lachte ob dieser Aussage nur in sich hinein. „Es gibt immer ein erstes Mal.“ Im nächsten Moment senkte das Libelldra seinen Körper Richtung Boden, legte die Flügel flach nieder und ließ seinen Trainer auf seinen Rücken klettern. Als es sich wieder leicht erhob, mit zum Abflug bereiten, angespannten Flügeln, sah Ray von der erhöhten Position auf Zayn herab. „Wenn du so gut bist, wie du denkst, dann hast du ja sicher kein Problem damit, diesen Kampf etwas spannender zu gestalten.“

Für einen Moment zögerte Zayn – damit hatte er nicht gerechnet.

Mit schneidender Stimme fügte Ray hinzu: „Und komm besser gar nicht auf die Idee, dem nicht zuzustimmen. Wenn nötig, lasse ich Libelldra auch das Labor angreifen, und na ja, mal sehen, wie widerstandsfähig das gute Stück ist.“

Die Worte entfachten einen Zorn in Zayn, der ihn gar nicht darüber nachdenken ließ, dass Ray bei so einem Manöver auch Chandra gefährden würde. Er war schlichtweg erzürnt wegen dieser schamlosen Drohung und mit abermals vor Wut zitternden Fäusten sah er zu Brutalanda, welches ihm einen nicht minder entschlossenen Blick zuwarf und ein kehliges Grollen ausstieß.

Brutalandas letzter richtiger Kampf lag schon eine Weile zurück. Seither brannte es darauf, seine angestaute Energie an einem Pokémon herauszulassen, das eine größere Herausforderung war als die, auf die es normalerweise Jagd machte. Wenn es in Libelldra die Chance sah, seinen Druck abzubauen, würde Zayn dem nicht im Wege stehen.

Nicht, dass er eine Wahl gehabt hätte.

Brutalanda senkte seinen Körper nach unten und Zayn zog sich an der schuppigen Haut nach oben auf seinen Rücken. Er hatte schon oft zur Fortbewegung auf Brutalandas Rücken gesessen, aber noch nie zu einem Kampf. Ihm war bewusst, dass das eine ganz andere Art von Risiko war, aber er musste Vertrauen darin haben, dass sein Pokémon und er auch in dieser Lage eine Einheit bildeten. Solange er Brutalanda nicht mit vollem Körpereinsatz angreifen ließ, sondern auf distanzbasierte Attacken setzte, sollte es machbar sein.

Wie er allerdings gegen das Libelldra gewinnen sollte, ohne Pokémon und Reiter dabei vom Himmel zu holen … Na ja, da würde ihm schon noch etwas einfallen. Wenn Ray nicht völlig wahnsinnig war, würde er seinem Pokémon befehlen, zu landen, sobald dieses sich dem Ende seiner Kräfte näherte.

Zayn musste einfach darauf und auf sich vertrauen. Weder konnte er verlieren noch wollte er unbeabsichtigt zum Mörder werden. Sosehr er Ray auch verabscheute.

Brutalandas Muskeln bewegten sich unter Zayn, als es die Flügel hob und zum Abheben ansetzte. Seine Mutter würde bei diesem Anblick vermutlich einen Herzinfarkt erleiden – gut, dass sie nicht hier war.

Ohne ein weiteres Wort an Ray zu richten – der Ausdruck in seinem Gesicht sagte mehr als genug –, befahl er Brutalanda, sich in die Lüfte zu erheben. Libelldra tat es ihm gleich und nur wenige Sekunden später befanden sich beide Pokémon weit genug oben, um sowohl den angrenzenden Wald als auch die Glaskuppel des Labors problemlos überblicken zu können.

Zayn richtete den Blick nach vorne. Am ruhigsten saß er auf dem Rücken seines Drachens, wenn er dem Horizont entgegensah und nicht allzu viele Gedanken an den Boden weit unter ihm verschwendete. Die Luft hier oben war etwas kühler als unten, doch es fröstelte ihn nicht, dafür jagte viel zu viel Adrenalin durch seinen Körper. Sein schnell schlagendes Herz nahm er kaum wahr; alle seine Sinne waren darauf fokussiert, sich der Situation und seiner Umgebung bewusst zu sein, um keinen fatalen Fehler zu begehen.

Denn er wusste: Ein Fehler oder eine Unachtsamkeit – und es würde keine zweite Chance geben.

Er wies Brutalanda an, über den Wald zu fliegen, sodass sie nicht länger in der Nähe des Labors waren. Das Drachenpokémon preschte nach vorne und durchschnitt die Luft, seinen Kontrahenten hinter sich lassend. Die entstehenden Winde peitschten Zayn entgegen, doch er fand sicheren Halt an den zackigen Schuppen. Als er den Kopf wandte, sah er Libelldra tatsächlich in einiger Entfernung hinter sich. Es schien langsamer zu sein.

Brutalanda flog einen weiten Kreis, um seinen Gegner wieder in den Blick zu bekommen. Nun erstreckten sich unter ihnen die grünen Weiten der Baumwipfel und gerade als Zayn sich fragte, ob er als Erster einen Angriff wagen sollte, schoss Libelldra nach vorne und überwand die Distanz erschreckend schnell. Ein helles Leuchten glomm in dem aufgerissenen Maul des Pokémons, fast so hell wie die vom Himmel herabbrennende Sonne.

„Runter!“, schrie Zayn und Brutalanda stob steil nach unten, um dem Hyperstrahl zu entgehen, als dessen Stärke strahlenförmig durch die Luft schoss. Es flog einen weiten Bogen hinter Libelldra, ehe es wieder an Höhe zunahm und seinerseits einen Hyperstrahl abfeuerte. Der Rückstoß der Attacke ließ einen Ruck durch den Körper des Drachenpokémon fahren, den auch Zayn allzu deutlich spürte – er war jedoch nichts gegen die Druckwelle, die entfacht wurde, als Libelldra, welches sich längst umgedreht hatte, mit einem weiteren Hyperstrahl antwortete und beide Attacken aufeinanderprallten. Die gebündelte Energie der Angriffe verpuffte in einem blendenden Gleißen und während Brutalanda um einige Meter nach hinten gedrückt wurde, keuchte Zayn, als die stürmische Böe ihm die Luft aus den Lungen presste.

Kaum dass sich der Raum zwischen den Pokémon gelichtet hatte, nahm Brutalanda seinen Flug wieder auf. Das Schlagen seiner weiten Schwingen scholl in kräftigen Wellen durch die Luft, während Libelldras Flügelschlag eher wie ein rasiermesserscharfes Sirren klang, dem man besser nicht zu nah kommen sollte.

„Versuch, es nicht frontal zu treffen. Wir wollen es nur schwächen, nicht direkt besiegen“, wies Zayn sein Pokémon an, während der Schweiß auf seiner Stirn in der Sonne funkelte. „Und triff um Himmels willen nicht diesen Vollidioten!“ Libelldra hielt seinen Körper beim Fliegen etwas gehobener als Brutalanda, weshalb Ray größtenteils hinter dessen Hals verschwand. Dennoch würde Zayn ihn keine Sekunde vergessen. „Flammenwurf!“

Grollend flog das Pokémon seinem Gegner wieder entgegen und entfachte einen Strahl puren Feuers in seinem Maul, dessen Hitze selbst einige Meter weiter hinten deutlich zu spüren wahr.

Libelldra wich geschwind aus, doch Brutalanda ließ nicht locker und nahm für wenige Meter die Verfolgung auf, bis es ihm gelang, den Fächer an Libelldras Schwanz zu versengen. Ein Kreischen durchschnitt die Luft. Kaum hatte Zayns Drache sein Feuer eingestellt, da hatte Libelldra sich schon zu ihnen gewandt und kam ihnen wie ein violett leuchtender Blitz entgegengeschossen.

„Fuck, weich aus!“, entwich es Zayn atemlos, als sich Furcht wie eine Faust schmerzhaft um sein Herz wand und zudrückte. Nur einen Wimpernschlag später machte sein Magen einen Satz, als Brutalanda sich seitlich nach unten fallen ließ, um der Rammattacke haarscharf zu entgehen. Mit aller Kraft presste er die Glieder an die Schuppen seines Pokémons, als er den scharfen Windzug spürte, den Libelldra erzeugte, als es geschossartig über ihnen hinwegpreschte. Mit sich trug es einen Schleier aus tiefer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit – dieser und der Luftzug pressten ihm den Sauerstoff aus den Lungen, sodass er wie ein nutzloser Sack auf Brutalandas Rücken lag, verzweifelt darauf bedacht, bloß nicht abzurutschen. ofHf

Sein Pokémon befand sich bereits wieder in vollem Flug und vergrößerte mit schweren Flügelschlägen die Distanz zwischen sich und dem Cryptopokémon. Es flog schneller, als es das Zayn unter normalen Umständen zugemutet hätte, aber dies hier waren keine normalen Umstände.

Dieser Kampf war todernst und wer ihn verlor, würde sein Ende unterhalb der Baumkronen finden.

Zayn erhob sich allmählich wieder, während ihm die Winde um den Kopf peitschten. Mit eiserner Entschlossenheit verweigerte er einen Blick nach unten und genoss jeden Atemzug der hier oben dünneren Luft, solange es ihm möglich war.

Was nicht lange sein sollte. Das Sirren der dünnen Flügel Libelldras wurde zunehmend lauter. Brutalanda flog gerade einen Halbkreis, als ein dunkler Strahl durch die Leere zwischen ihnen schoss. Mit Leichtigkeit gelang es ihm diesmal, der Attacke zu entgehen, doch das Cryptopokémon ließ nicht locker. Geschwind nahm es die Verfolgung auf und feuerte einen finsteren Strahl nach dem anderen ab. Zwar konnte Brutalanda jedem ausweichen, doch das verbrauchte Zeit, in welcher sein Gegner immer näherkam. So nahe, dass es plötzlich direkt neben ihnen war, hinter sich einen gleißend hellen Schweif, der auf Brutalandas linke Seite zielte. Das Drachenpokémon war im Begriff, sich mit den Flügeln von seinem Angreifer fortzustoßen, doch es war zu spät, um dem Eisenschweif gänzlich zu entgehen. Das Ende von Libelldras Schweif schlug mit einem dumpfen Laut gegen die schuppige Haut.

Zayn vernahm das Brüllen seines Pokémons nur mit halbem Ohr, viel zu beschäftigt war er damit, sich abermals festzuklammern. Der Schlag hatte Brutalanda für einen kurzen Moment in eine Schieflage versetzt, die ganz schnell sein Ende bedeuten konnte, wenn er nicht aufpasste.

Er schlug die Zähne aufeinander und hielt sich mit verbissener Inbrunst fest. Er würde nicht verlieren.

Brutalanda unter ihm fing sich wieder, und plötzlich wurde es unfassbar heiß. So heiß, dass er es nicht wagte, sein Gesicht der Hitzequelle zuzuwenden. Er vernahm ein schrilles Kreischen von Libelldra und wie sich das Sirren einige Meter zu entfernen schien. Dann verschwand das Brennen aus der Luft und kühler Wind trat an seine Stelle, als Brutalanda wieder nach vorne zog.

Zayn wagte es, den Kopf zu heben. Er erkannte Libelldras nun von rötlichen Brandwunden gezeichneten Schweif – die Spuren des Feuerodems.

Ein tiefes Brüllen vorausschickend, stürzte sich Brutalanda in Richtung seines Feindes. Zayn befürchtete schon eine frontale Attacke, doch dann spürte er den Rückstoß des Hyperstrahls, der sich seinen Weg nach vorne bahnte. Libelldra wich nach unten hin aus, tauchte unter Brutalanda hinweg, nur um seinerseits mit einem Hyperstrahl zu antworten. Dieses Mal entging Brutalanda dem Angriff nur um Haaresbreite.

Die Ursache des warmen Leuchtens vor Brutalanda erkannte Zayn erst, als es bereits zu spät war. „Nein, nicht!“, wollte er seinem Pokémon dennoch zurufen, doch der Wind riss ihm die Worte von den Lippen.

Das Leuchten schoss in Form einer grellen Kugel in Richtung ihrer Gegner und mit einem Knall zerbarst der soeben erschaffene Meteor und schickte einen Hagel aus glühenden Gesteinsbrocken auf diese nieder. Zayn wagte kaum hinzusehen, doch das Entsetzen fesselte seine Aufmerksamkeit – so lange, bis Brutalanda wieder Kurs auf Libelldra nahm, welches geschwind den herabstürzenden Überresten des Meteors auswich.

Noch ein letztes Mal versuchte Zayn, seinem Drachen etwas zuzubrüllen, doch es war so oder so vergebens. Brutalanda war zu sehr in Rage, als dass es auf einen Befehl zum Rückzug gehört hätte. Geschickt flog es zwischen den letzten Resten des Draco Meteors hindurch und attackierte Libelldra mit mehreren Hyperstrahlen.

Und dann ging plötzlich alles so schnell, dass Zayn kaum mehr hinterherkam. Obwohl Brutalanda durch seine höhere Position einen Vorteil hatte, gelang es Rays Pokémon, allen Angriffen auszuweichen. Als Draco Meteor endlich erstarb, wurde es so schnell, dass jeder Hyperstrahl chancenlos war. Libelldra schoss durch die Luft und nur das Sirren seiner Flügel verriet, wo es sich aufhielt – und aus welcher Richtung es angeschossen kam.

Brutalanda stellte seine Angriffe ein und stieß sich gerade mit den Schwingen nach vorne hin ab, als Zayn den Kopf schräg nach links unten wandte. Doch sie beide waren zu langsam; die Erkenntnis kam zu spät.

Während ein Hyperstrahl leuchtend hell war, war der Cryptostrahl Libelldras das genaue Gegenteil. So schwarz, als verschlucke er das Licht in unmittelbarer Umgebung, aber mit Sicherheit nicht weniger zerstörerisch. Es blieb gar nicht die Zeit, Entsetzen angesichts der sich rasant vergrößernden Schwärze zu empfinden.

Doch Zayn sollte nicht das Ziel des Angriffes sein.

Der Schrei Brutalandas schnitt durch die Luft – so wie der dunkle Strahl durch die lederne Haut seines linken Flügels.

Für einen grotesken Moment lang schien die Zeit still zu stehen. Zayn starrte einfach nur auf das Loch im Flügel seines Drachenpokémons, schien mit äußerster Präzision die zerfetzten Ränder wahrzunehmen. Brutalandas Schrei schien wie auf Dauerschleife im Hintergrund zu hängen.

Aber dann holte die Realität ihn wieder ein, und in dieser Realität konnte Brutalanda sich nicht länger in der Luft halten.

Zwar versuchte es noch immer, mit dem verletzten Flügel zu schlagen, was es zumindest nicht pfeilgerade in die Tiefe fallen ließ, doch das genügte nicht. Wie in einem steilen, schnellen und vor allem unkontrollierten Sinkflug stürzte Brutalanda nach unten.

Zayn vergaß in diesen Sekunden alles. Ray spielte keine Rolle mehr. Er könnte sie endgültig von hinten erledigen – sie hätten dem nichts entgegenzusetzen.

Mit aller Mühe hielt er sich am Rücken seines Pokémons fest und schnappte immer wieder nach Luft. Unmöglich, die Augen zu öffnen, presste er sein Gesicht gegen die harten Schuppen. Sein Kopf schien leer und zugleich war er brechend voll. Die Gesichter all der Menschen, an denen ihm etwas lag, zischten hinter seinen Lidern vorbei, keines davon wirklich greifbar. Schier tausend Möglichkeiten, was er hätte anders machen können, rasten durch seinen Kopf – doch es war zu spät.

Er hoffte, dass seine Mutter und Jill über einen weiteren Verlust hinwegkommen würden.

Dass Chandra nicht an ihrem Bruder zerbrechen würde.

Dass sie es ihm verzeihen würden, dass er versagt hatte.

Zayn spürte die starken Bewegungen von Brutalandas Schwingen und seinen Muskeln unter sich. Im nächsten Moment versank die Welt in einem Orchester aus brechendem Geäst und raschelnden Blätterwerk. Mit letzter Kraft hielt er sich auf Brutalanda, als sie durch die Baumkronen fielen. Er spürte jeden Ruck, der durch den Körper des Drachenpokémons lief, als wäre es sein eigener.

Es krachte, Brutalanda stürzte nach vorne und die Kraft des Aufpralls schleuderte Zayn über dessen Kopf hinweg.

Dann wurde alles schwarz.

Keine Wahl

Chandra hatte gewusst, dass der Tag kommen würde, an dem ihr altes Leben sie einholte, aber als es dann so weit war, war sie dennoch nicht darauf vorbereitet.

Dabei hatte der Morgen so harmlos angefangen.

Nach dem Aufwachen hatte sie, wie fast jedes Mal, Zayns Zimmer verlassen, als er noch geschlafen hatte. Sie verbrachten mittlerweile eigentlich jede Nacht miteinander, aber morgens wollte sie immer schnellstmöglich gehen. Meist glückte das auch, denn Zayn schlief so gut wie immer länger als sie und sowieso wie ein Stein. Er hatte ihr frühmorgendliches Verschwinden noch nie angesprochen, aber sie hatte ihm schon ansehen können, dass es ihm missfiel, zwar zusammen einzuschlafen, jedoch nur selten gemeinsam aufzuwachen. Aber sie konnte das nicht, etwas in ihr sträubte sich dagegen. Sie waren kein Paar, und er sollte nicht anfangen, das zu glauben, wenn er morgens aufwachte und sie eng an sich gekuschelt vorfand.

Doch nach einer Dusche und einem schnellen Frühstück hatte sie zurückkommen müssen, um erneut Make-up auf sein Gesicht zu zaubern. Immerhin hatte er ihr versprochen, mit seiner Mutter zu sprechen, und es erleichterte sie, dass er das so schnell im Angriff nehmen wollte. Am Vorabend war er so bedrückt gewesen wegen ihres Streits. Es war ihr zwar gelungen, ihn wieder aufzumuntern, aber sie sah ihn ungern niedergeschlagen. Er hatte es nicht verdient, sich schlecht zu fühlen – nicht bei allem, was er für sie tat. Aber die Situation, in der sie sich befanden, gestattete es ihnen nicht unbedingt, frei über ihre Gefühle zu entscheiden.

Danach hatten sie sich wieder getrennt. Chandra hatte anschließend ihre Pokémon versorgt, wonach sie sich diesmal entschieden hatte, Sunny und Lunel draußen zu lassen. Ihr Plan war, in den Garten hinter dem Labor zu gehen und ihren Pokémon ein wenig Auslauf zu ermöglichen und vielleicht auch etwas Training. Nachdem sie den gestrigen Tag größtenteils nur im Bett verbracht hatte, erschien es ihr falsch, sich erneut ihrer Angst hinzugeben. Nicht dass die plötzlich verschwunden war – ganz im Gegenteil –, aber vom Nichtstun wurde es schließlich auch nicht besser.

Wenn sie doch nur gewusst hätte, dass es dafür längst zu spät war.

Gemeinsam mit ihren beiden Pokémon trat sie durch einen der unzähligen gemütlich eingerichteten Aufenthaltsräume des Labors hinaus auf die große Terrasse, an die der Garten anschloss. Sie legte die noch verschlossenen Pokébälle von Wablu und Flunkifer auf einen Tisch und überlegte.

Die Frage, welches der beiden sie in ein Training mit Sunny oder Lunel schicken sollte, war keine leichte. Seit Wablu dem Stahlpokémon einmal einen Pirsifriegel gestohlen hatte, waren die beiden auf Kriegsfuß, und wenn sie mit Wablu trainieren würde, bestand die Gefahr, sollte sie Flunkifer ebenfalls aus seinem Ball lassen, dass es Wablu abzulenken oder zu sabotieren versuchte. Andererseits wollte sie Flunkifer aber auch nicht in seinem Pokéball lassen – es war einfach zu oft dort drinnen, auch wenn es sich das meist selbst zuzuschreiben hatte.

Wenn sie jedoch mit Flunkifer trainierte, wäre dieses zu abgelenkt, um Wablu zu ärgern, und das Vogelpokémon wiederum war zu vernarrt in Chandra, als dass es riskieren würde, sie abermals zu verärgern. Also lief es wohl auf Flunkifer hinaus. Vielleicht würde es sich Chandra etwas mehr annähern, wenn es bemerkte, dass diese es, trotz all seiner Schwierigkeiten, nicht links liegen ließ. Entschlossen ergriff sie dessen Pokéball.

„Chandra!“

Sie schreckte auf und ließ die Kapsel gleich darauf wieder fallen. Schwungvoll drehte sie sich um. „Mensch, du hast mich total –“

Erschreckt. Das Wort blieb ihr im Hals stecken, als sie den entgeisterten Blick auf Vince‘ Gesicht sah. Das allein hätte im Grunde schon genügt, um ihr klar zu machen, dass etwas nicht stimmte, aber als sie sah, wer hinter ihm im Türrahmen stand, wurde ihr endgültig eiskalt. Jill stand neben Vince‘ Hundemon, in den Augen und auf den geröteten Wangen glänzten Tränen.

„Es ist …“ Vince rang sichtbar nach den passenden Worten, schloss den Mund, öffnete ihn wieder und fügte schließlich „… etwas passiert“ hinzu.

Chandra wurde aus ihrer Starre gerissen, als sie ein Fauchen neben sich wahrnahm. Sunny und Lunel kauerten mit gesträubtem Fell an ihrer Seite. Es war ein ungewohntes Bild, da sie es schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, aber kein fremdes: Sunnys Perle leuchtete in einem hellen Rubinrot und Lunels gelbe Streifen und Ringe hatten sich in eine deutlich grellere Farbnuance verwandelt.

Ihr war bereits, nachdem sie die beiden aus ihren Pokébällen geholt hatte, aufgefallen, dass sie heute nervöser schienen als sonst. Sie hatten keinen sonderlich großen Appetit gehabt. Aber Chandra hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Ihre Pokémon waren nun einmal sehr empathisch, daher war es nicht ungewöhnlich, dass sich Chandras allgemein eher angespannte Stimmung auf sie hätte übertragen können.

Sie war naiv geworden – und unvorsichtig, gerade weil es seit Wochen keinen Anlass mehr gegeben hatte, die Fähigkeiten ihrer Pokémon zu benutzen. Sunny und Lunel hatten ebenfalls keinen Grund gehabt, Misstrauen zu verspüren. Sie waren hier nur von netten Menschen umgeben gewesen.

Aber jetzt versetzte eine für Chandra noch unsichtbare Bedrohung ihre Körper in Nervosität und Rage. Und es gab nur eine Person, bei der ihre Reaktion so extrem ausfiel …

Derjenige musste gar nicht unmittelbar vor Ort sein. Vince‘ Blick sprach Bände, und vielleicht konnten Sunny und Lunel auch einfach Gedanken lesen – wer wusste das schon? Chandra würde es nicht ausschließen.

Sie presste Luft in ihre enger gewordene Brust und brachte ein einziges Wort hervor, kaum mehr als ein Hauch. „Ray?“

Es genügte. Vince nickte und fügte hinzu: „Du solltest lieber mitkommen.“

Mit ihm mitkommen – nicht mitgehen mit Ray. Aber es machte keinen Unterschied.

Er hatte sie gefunden. Es war egal, wie. Ihr Albtraum hatte sich bewahrheitet.

Sie kannte Ray. Er würde um nichts in der Welt ohne sie gehen, würde sie notfalls auch von hier fortschleifen.

Der Fluchtinstinkt kochte in ihr hoch. Sie wollte sich verstecken, so, wie sie das auch immer hatte tun wollen, wenn er sie zu Hause besucht hatte. Aber das war ihr jetzt genauso wenig vergönnt wie damals. Er würde sie überall finden.

Und schlimmer noch – sie hatte ihn direkt hierhergeführt, hatte alle in Gefahr gebracht. Wenn jemandem etwas zustoßen würde, war das ihre Schuld.

Das war gewiss keine neue Erkenntnis, doch sie war nun mal feige gewesen. Es war einfach gewesen, für ein paar Wochen so zu tun, als könnte sie ein anderes Leben führen – als hätte sie diese Freiheit verdient.

Nun hatte ihr altes Leben sie wieder eingeholt. In diesem Leben gab es nur die Freiheit, die Ray ihr zugestand. Ab sofort vermutlich keine mehr.

Sie zwängte die nächsten Worte an dem Schmerz in ihrer Kehle vorbei und unterdrückte mit aller Macht den Tränenreiz, als sie Vince ansah. Wenn er hier war, dann … „Wo ist Zayn?“

„Ich weiß es nicht.“

Kurz stand die Zeit still, dann schob sie sich durch die Tür und lief los. Sie hörte Vince hinter sich.

Als sie durch das Labor nach vorne eilten – wobei Chandras Bauch vor Angst schmerzte –, setzte er sie über die kürzlichen Geschehnisse in Kenntnis.

„Und dann … sind sie einfach fortgeflogen?“, hakte sie nach.

„Ich hätte versucht, ihn aufzuhalten, wenn es mir möglich gewesen wäre, aber du kennst ja Zayn. Er macht immer, was er will, und ich konnte Jill nicht aus den Augen lassen“, erwiderte Vince.

„Schon gut.“ Sie machte ihm keinen Vorwurf – das konnte sie auch gar nicht. „Was hatten sie vor? Konntest du das hören?“

„Nicht alles, aber er … wollte einen Pokémonkampf. Wenn er verliert, würde er gehen. Hat er zumindest behauptet.“

Diese Worte lösten unwillkürlich ein Prusten in Chandra aus. Na klar, Ray und gehen, um nicht zu sagen: verzichten. Als ob! Er hatte doch nicht den weiten Weg bis hierher auf sich genommen, um sich dann so leicht wieder vertreiben zu lassen. Zayn musste das mit Sicherheit klar gewesen sein. Allerdings unterschätzte er Ray, hatte es von Anfang an getan und tat es noch immer. Nach heute vielleicht nicht mehr. Womöglich niemals mehr.

„So tickt Ray nicht. Wenn ihm etwas im Weg ist, beseitigt er es. Oder denjenigen.“

Sie spürte Vince‘ Unbehagen, als sie gemeinsam draußen ankamen. Eine nahezu unheimliche Stille bedeckte den leeren Vorplatz, und in Verbindung mit dem azurblauen Himmel schien es, als könnte nichts diesen Tag trüben. Doch es war zu ruhig, zu schön.

Was sollte sie tun? Zayn war irgendwo da draußen und riskierte sein Leben für sie. Sie konnte nicht tatenlos hier herumstehen. Aber sie besaß kein Pokémon, auf dem sie die Verfolgung hätte aufnehmen können. Blindlings in den Wald zu rennen war ebenfalls keine gute Idee. Sie würde sich verlaufen oder Ray direkt in die Arme. Womöglich würde es ohnehin darauf hinauslaufen. Zwar zweifelte sie nicht an Zayns Fähigkeiten als Trainer, auch nicht an seinem Talent und seiner Hingabe, und in einem anderen Moment hätte es ihr sicher einmal mehr geschmeichelt, was er für sie tat, aber noch weniger Zweifel empfand sie bezüglich der Skrupellosigkeit ihres Bruders. Die Liste seiner Schandtaten war gefühlt unendlich und Zayn kannte vielleicht gerade mal eine Handvoll davon.

„Was ist hier los? Hey, alles in Ordnung?“

Chandra schreckte auf aus ihrem Gedankenkarussell. Hinter ihnen war Alyssa aus dem Labor gekommen. Ihre Worten waren an Jill gerichtet gewesen, doch die biss sich nur auf die Unterlippe und unterdrückte erneute Tränen. Wie viel sie auch mitbekommen hatte, sie wusste zumindest, dass hier etwas absolut nicht in Ordnung war.

Alyssas Blick fiel auf Vince. „Was geht hier vor sich?“, fragte sie argwöhnisch.

Doch statt ihr zu antworten, wandte er das Gesicht nur gen Himmel, Sorge erfüllte das tiefe Braun seiner Augen.

„Mein Bruder ist hier“, antwortete Chandra. Sie hatte einfach gesprochen, ohne groß darüber nachzudenken. Nun war es ohnehin egal. Er war hier – und mit diesen Worten wurde sie sich dieses Umstandes erst so richtig bewusst, das Grauen dessen sickerte tief in ihr Bewusstsein. Sie starrte ohne bestimmtes Ziel vor sich hin.

„Dein Bruder? Zayn meinte mal, du hättest ein schlechtes Verhältnis zu deiner Familie.“

„Da hat er aber gut untertrieben.“ Tränen sammelten sich in ihren Augen. Mit verschwommenen Blick sah sie hinab zu ihren Pokémon, die ihr gefolgt waren und sich nun nervös an ihre Beine pressten. Ray war nicht in unmittelbarer Nähe und dennoch spürten sie den Sturm, bevor sie ihn sah.

Psiana und Nachtara würden sich für sie in den Kampf stürzen, aber es käme einem Selbstmordkommando gleich, die beiden zwischen Chandra und Rays Cryptopokémon zu schicken, also griff sie wie ferngesteuert nach ihren Pokébällen. Sie schenkte den überraschten Reaktionen der beiden keine Beachtung und rief sie zurück. Es mochte ein Eingeständnis ihrer Niederlage sein, aber manchmal war es einfach sinnlos, zu kämpfen.

„Es tut mir leid. Meine Anwesenheit hier hat euch alle in Gefahr gebracht“, brachte sie hervor. „Das wollte ich nicht. Wenn Zayn etwas zustößt, ist das meine Schuld …“

Bevor Vince etwas sagen konnte, kam Alyssa ihm zuvor. „Was ist mit Zayn? Wo ist er überhaupt?“, verlangte sie zu wissen.

„Ich weiß es nicht.“

„Was heißt das – du weißt es nicht? Bei Arceus, was ist passiert, während ich gelernt habe? Und warum sieht Jill aus, als hätte sie einen Geist gesehen?“ Leichte Hysterie unterwanderte Alyssas Stimme, und sie trat dichter an Chandra. „Wo ist er?“

„Wir wissen es nicht, okay?“ Vince schob Alyssa auf Abstand, als er den betroffenen Ausdruck in Chandras Gesicht sah. Das Letzte, was sie nun gebrauchen konnte, war eine aufgebrachte Alyssa, die sie noch darin bestätigte, dass sie an allem schuld war. Auch wenn es die Wahrheit war. „Zayn mag es dir nicht erzählt haben, aber Chandras Bruder ist nicht gerade jemand von der umgänglichen Sorte. Die beiden sind über den Wald geflogen und seitdem weiß ich genauso viel wie ihr.“

Alyssa legte bestürzt die Hände auf die Brust. „Oh mein Gott. Und …“ Sie sah zu Chandra. „Und ist dein Bruder wirklich so schlimm?“

„Sagen wir einfach, er ist sehr von sich überzeugt und nicht gerade zimperlich.“ Mehr brachte Chandra nicht heraus, zu stark wog die Angst vor dem Kommenden.

„Himmel, hoffentlich ist ihm nichts passiert. Wieso muss er auch immer den Helden spielen …“ Alyssa sprach mehr zu sich selbst und sah betroffen auf den Boden.

Dass sie anderen die Sorge um Zayn aufbürdete, Menschen, die ihn viel länger und besser kannten und für die sein Verlust vermutlich tausendmal schlimmer wäre, verstärkte das Gefühl der Schuld in Chandra. Er wäre egoistisch, ihre eigenen Ängste um ihn in den Mittelpunkt zu stellen, immerhin war sie es doch, die das alles zu verantworten hatte!

„Hey, gib dir nicht die Schuld daran“, sprach Vince, als hätte er ihre Gedanken gelesen, während es in Wahrheit wohl nur ihr Gesichtsausdruck gewesen war. Er legte ihr die Hände auf die Schultern, sein eigener Blick so ernst wie nur selten. „Du kannst nichts dafür, klar? Du kannst nichts für den kranken Scheiß, den dein kranker Bruder verzapft, und Zayn kann man sowieso nicht aufhalten, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Außerdem ist er ein verdammt guter Trainer, vielleicht kommt er gleich zurück und gibt mal wieder damit an, wie gut er ist.“

„Ja, vielleicht.“ Mehr brachte Chandra nicht an dem Klos in ihrem Hals vorbei. Sie konnte es nun nicht gebrauchen, sich an Vince‘ Schulter auszuheulen.

Dessen Worte hatten immerhin einen winzigen Funken Hoffnung in ihr entfacht. Eventuell bestand ja doch die Möglichkeit, dass Zayn gleich unversehrt vor ihr stehen und ihr versichern würde, dass der Albtraum vorbei war.

Also taten sie das einzig Mögliche für den Moment. Sie warteten. Alyssa tröstete Jill oder versuchte es zumindest. Jill selbst sagte überhaupt nichts, aber ihre Augen sprachen Bände. Sie schien mehr in Sorge zu sein als die anderen drei zusammen, und dabei kannte sie zum Glück nicht einmal das Ausmaß des Problems. Vince‘ Hundemon hatte sich die ganze Zeit über an ihrer Seite gehalten, ruhig, aber bereit, sich auf jeden zu stürzen, der Böses im Sinn hatte.

Chandras zartes Pflänzchen der Hoffnung erstarb bald daraufhin. Sie vermochte nicht auszumachen, wie lange sie dort gestanden hatten, aber alle ihre Muskeln spannten sich plötzlich an, als sie ein feines Sirren hörte, das durch die Luft zu ihren getragen und immer lauter wurde.

Ein ihr unbekanntes großes Pokémon tauchte über den Baumkronen auf und flog über den Platz. Sie kannte nicht alle von Rays Pokémon, aber das musste dann wohl das Libelldra aus Vince‘ Erzählung sein. Es wirkte normal, aber Chandra ließ sich nicht täuschen. Mit seinem Auftauchen verspürte sie umgehend einen Hauch von Verzweiflung und Dunkelheit.

„Vince, du musst mir etwas versprechen“, sagte sie, solange sie noch auf Abstand waren.

„Was?“

„Mach keine Dummheiten, ja? Begeh nicht den gleichen Fehler wie Zayn. Mach ihn nicht wütend und versuch nicht, das hier zu verhindern. Es bringt nichts.“

„Aber …“

„Nein, nichts aber. Du musst es mir versprechen. Sei am besten einfach still, bitte. Versprich es mir!“, forderte sie nachdrücklich.

„Okay“, erwiderte er zerknirscht, „ich verspreche es dir.“

Als sie wieder nach vorne sah, verkrampfte sich ihr Magen. Das Libelldra war auf dem Boden aufgesetzt und Ray von seinem Rücken gerutscht.

Er sah aus wie immer, das konnte sie sagen, obwohl sie noch mehrere Meter trennten. Seine Frisur saß perfekt und erweckte nicht den Eindruck, als käme er gerade aus einem Kampf in luftigen Höhen zurück.

Während er seinen Mantel glattstrich, glitt sein Blick zu Chandra. „Schwesterherz“, rief er ihr zu und seine laute Stimme überbrückte die Distanz mühelos.

Und sandte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. So nannte er sie nur, wenn er seine wahren Absichten hinter einen Mantel aus Nettigkeit verschleiern wollte.

Nettigkeit war bei Ray schon immer am schlimmsten gewesen. Man wusste nie, woran man bei ihm war. Ob er einem die Wange tätscheln oder zuschlagen würde – übertragen gesprochen, denn er hatte sie nie angerührt. Allerdings hatte sie es auch stets vermieden, ihn wirklich sauer zu machen.

Bis jetzt.

Es war ihr unmöglich, ihn einzuschätzen. Er hatte nun allen Grund, wütend zu sein …

Ihr war nicht entgangen, dass von Zayn weit und breit nichts zu sehen war. Es verlangte ihr einiges ab, angesichts dieser Tatsache nicht in Panik auszubrechen – doch es würde ihr nicht helfen und Ray womöglich noch mit Genugtuung erfüllen.

Also grub sie bloß die Fingernägel in die Handflächen und verharrte so, als Ray sich ihr langsam näherte. Libelldra blieb auf Abstand, worum sie heilfroh war. Im Moment vernahm sie seine Cryptoenergie nur unterschwellig, zu stark wiegte ihre Furcht, aber das konnte sich schnell ändern.

„Schön, dass du bereits hier bist. Das erspart mir die Mühe, dich erst suchen zu müssen“, sagte Ray und zeigte ein falsches Lächeln.

„Wo ist Zayn?“

„Nicht hier, wie du siehst.“

Eine dunkle Vorahnung beschlich sie. „Was hast du getan …?“

„Er ist nicht tot, falls du das wissen willst.“

Das beruhigte sie, wenngleich ‚nicht tot‘ nicht direkt ‚wohlauf‘ bedeutete. Und woher wusste er das so genau?

„Also, Chandra, wirst du ohne großes Aufsehen mitkommen, oder willst du es uns beiden schwer machen?“, fragte er freiheraus.

Was hatte sie für eine Wahl? Ray hatte Zayn mal eben aus dem Weg geräumt – schon mit ihm als Schutz hatte sie nie daran gezweifelt, dass sie eines Tages wieder zu ihrem Bruder zurückkehren würde, doch nun … Sie war auf sich allein gestellt, und sie konnte niemanden mehr mit hineinziehen. Zum Glück hielt sich Vince an ihrer Seite tatsächlich bedeckt, auch wenn sie seine Anspannung spürte.

„Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Was habe ich dir getan?“, fragte sie.

Ray hob die Augenbrauen. „Du bist abgehauen. Aber das meintest du vermutlich nicht. Ehrlich gesagt … gar nichts. Aber wir kleben nun mal aneinander, ob wir wollen oder nicht. Und es würde unserer Beziehung wirklich helfen, wenn du jetzt einfach mitkommen würdest. Ich will dir ungern wehtun müssen, und vielleicht stimmt es mich milde, wenn du mir keine unnötigen Scherereien machst. Nicht mehr als ohnehin schon.“

Es würde sich nie etwas ändern …

„Du tust niemandem hier etwas, wenn ich mit dir gehe, ja? Sie können nichts dafür.“

„Versprochen, Chandra.“ Ein Grinsen legte sich auf seine Lippen, das Grinsen eines Siegers. „Du hast die Möglichkeit, ohne großes Theater mitzugehen, und niemandem muss etwas passieren. Vorausgesetzt, hier hat nicht noch jemand einen Hang zu selbstzerstörerischem Heldenmut.“ Die letzten Worte waren nicht an sie gerichtet. Rays graue Augen fielen auf Vince. „Wäre doch schade um dieses schöne Labor.“

Geistesgegenwärtig griff sie nach Vince‘ Handgelenk, als er im Begriff war, einen Schritt nach vorne zu tun. Sie konnte es ihm nicht verübeln, aber sie durften nichts riskieren. „Nein, nicht. Lass gut sein“, bat sie, bevor er etwas sagen oder tun konnte, das er hinterher bereuen würde. „Es ist okay.“

Er wandte sich zu ihr. „Das kannst du nicht tun. Zayn wird-“

Sie zog ihn ein Stück von Ray fort und bemerkte dabei, dass Alyssa, Jill und Hundemon wohl ins Innere des Labors verschwunden sein mussten. „Zayn ist nicht hier. Und er konnte das hier ebenso wenig verhindern, wie du es könntest. Es ist okay, ja? Aber du musst Zayn finden und dafür sorgen, dass er nichts Dummes macht.“ Und er sollte ihn besser schnell finden, denn wer wusste schon, in was für einem Zustand er war … „Versprich mir das. Pass auf ihn auf. Und ich … ich komme schon irgendwie klar.“

Vince sah aus, als verlangte sie das Unmögliche von ihm, und vermutlich war es auch so. Sie wussten beide sehr gut, dass Zayn sich nur sehr schwer etwas sagen ließ, aber sie musste jetzt darauf vertrauen, dass Vince sich um ihn kümmerte. Sonst hätte sie ihn nicht zurücklassen können, ohne innerlich verrückt zu werden.

„Na gut.“ Anschließend überrumpelte Vince sie damit, dass er sie in eine schnelle, aber feste Umarmung zog. „Ich kümmere mich um Zayn, und du passt auf dich auf. Halte durch.“

Sie gestattete es sich nur für einen kurzen Moment, die Umarmung zu erwidern, ehe sie sich von ihm löste und ein knappes Nicken zustande brachte. „Danke“, hauchte sie. Mit einem schwachen Lächeln wandte sie sich ab und ging zu Ray.

Als Chandra bei ihm ankam, stählte sie sich innerlich für das Kommende. Er wusste, dass er gewonnen hatte, und darum machte er kein Geheimnis, als er auf sie herabsah. „Scheint wohl doch noch ein bisschen Vernunft in deinem hübschen Köpfchen zu sein“, spottete er, nachdem er sich umgedreht hatte und mit ihr zu Libelldra lief. Er war so nett, es in seinen Ball zurückzurufen, und Chandra merkte erst, wie viel das Pokémon zu ihrer Anspannung beigetragen hatte, als es fort war.

Auf seine Worte sagte sie nichts. Im Moment war er, wie er sagte, milde gestimmt, und sie wollte das nicht ändern. Nicht jetzt.

Ray griff in seinen Mantel und zog sein Handy heraus. Wenig später hielt er es sich ans Ohr und als offensichtlich jemand am anderen Ende etwas sagte, meinte er nur: „Ja. Du kannst kommen.“

Chandra grub die Hände in die Taschen ihrer Jacke und warf einen letzten Blick hinüber zu Vince. Er würde Zayn finden. Zayn würde es gutgehen. Vince würde ihn daran hindern, sich wie ein Narr direkt an ihre Fersen zu heften. Und sie …

Sie würde zurück nach Pyritus gehen.

Mit den Nerven am Ende

Als Zayn erwachte, spürte er etwas in seinem Gesicht. Ein feuchtes Etwas, das ihm über die Wange fuhr, gefolgt von einem Winseln. Er vernahm ein raues Stöhnen und begriff mit zunehmender Sinnesschärfe, dass es von ihm selbst ausging. Der Boden unter war ihm hart und als er die Hände bewegte, spürte er Laub und Dreck.

Jetzt war das nasse Etwas eindringlicher. Es fühlte sich an wie eine Zunge, die ihm über die Wange schleckte. Als sie ihm über die noch geschlossen Augenlider fuhr, verzog er angewidert das Gesicht und hörte sich abermals stöhnen.

Das hieß zumindest, dass er noch lebte. Die Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein Blitz.

Andererseits bestand die Möglichkeit, dass das ihn ableckende Etwas ihn für seine nächste Mahlzeit hielt. Das wäre schlecht.

Während der Rest seines Körpers noch von einer steifen Erschöpfung ergriffen war, öffnete er allmählich die Augen. Vor ihm war nichts als graues Fell und eine rosafarbene Zunge.

„Hey, was soll das?“, fragte er mit belegter Stimme und leiser als erwartet.

Die Zunge ließ von seiner Wange ab, stattdessen ertönte ein Jaulen. Das Pokémon vor Zayn trat nach hinten und offenbarte sein ganzes Erscheinungsbild. Zayn sah an dem grauen Fell nach oben, erkannte eine rote Nase sowie die rotgelben, glänzenden Augen. Tatsächlich war das Pokémon vor ihm recht klein – aber auch niedlich, trotz der zwei spitzen Fangzähne, die ihm zu beiden Seiten von unten aus dem Maul ragten.

Das Fiffyen bellte und stupste mit den Vorderpfoten gegen seine Schulter. Vor Schmerz verzog er das Gesicht, dann zog er den passenden Arm zu sich, um das Fiffyen ein wenig auf Abstand zu halten. Dabei stellte er mit Erleichterung fest, dass der Arm nicht gebrochen war, und auch der andere war noch an einem Stück.

„Danke, dass du mich geweckt hast, Kleiner“, meinte er zu dem fremden Pokémon. Es strahlte ihn noch immer mit seinen großen Augen an, während der buschige hellgraue Schwanz hinter ihm eifrig hin und her wedelte.

 Zayn ließ seinen Blick umherschweifen. Er war wie erwartet im Wald, fern eines Weges, irgendwo zwischen Bäumen, Gestrüpp und einer Menge herabgebrochener Äste. Bei dem Anblick drehte sich ihm fast der Magen um. Er hätte genauso gut von irgendeinem Ast aufgespießt werden oder sich das Genick brechen können …

Aber das war nicht geschehen – und mit einem Mal kehrte die Erinnerung daran zurück, was vor dem Absturz gewesen war.

Er schob die Arme unter seinen Körper und hievte sich auf die Knie. Gerade war er erleichtert, dass er sich wohl wirklich nichts gebrochen hatte, als ein stechender Schmerz im linken Rippenbogen explodierte, der ihn keuchen ließ. Mehr brachte er nicht zustande. Er wollte einatmen, aber es war nicht möglich, ohne das Feuer zwischen seinen Rippen noch weiter anzufachen. Eine Hand fuhr über seine Seite, ertastete Rippe für Rippe. Sie fühlten sich normal an, aber das hatte womöglich nichts zu bedeuten.

Reglos harrte er aus, starrte auf das Laub unter sich, während unsagbare Hitze in ihm loderte. Allmählich verebbte der Schmerz und seine Lungen gestatteten ihm wieder, Sauerstoff aufzunehmen.

Das Fiffyen zu seiner Seite jaulte laut auf und stupste ihn mit seinem Kopf an.

„Alles gut, keine Sorge“, stieß er hervor. Dann holte er tief Luft, biss die Zähne zusammen und schaffte es auf die Beine, trotz des stechenden Schmerzen in seiner Rippengegend.

Wenngleich die Bäume Schatten warfen, war alles unfassbar hell. Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, Schmerz pochte hinter seinen Schleifen. Abwesend griff er sich an die Stirn, wo es sich feucht anfühlte. Als es schmerzte, zuckte er zusammen und zog die Hand fort. An seinen Fingern glänzte Blut; ein kontrastreiches Dunkelrot auf der hellen Haut.

Er ließ den Arm sinken und stand für einen Moment an Ort und Stelle.

Wie es aussah, war er glimpflich davongekommen. Er lebte, war noch an einem Stück – um alles andere konnte er sich später kümmern. Erst einmal musste er zurück zum Labor und …

Das Labor. Zayn wusste, wo das Labor lag, wenn er wusste, wo er sich befand. Aber nun hatte er keinen blassen Schimmer.

Er hörte ein Schnauben irgendwo hinter sich und wandte sich um. Erleichterung durchströmte ihn, als nur wenige Meter entfernt von ihm sein Brutalanda lag, in einem Bett aus niedergeregneten Ästen. Verletzt zwar, aber am Leben. Nicht ganz so schnell wie gewollt überbrückte er die Distanz zu ihm, wobei sein Körper bei jedem Schritt protestierte.

Der Anblick seines Pokémons brach ihm beinahe das Herz.

Zayn konnte auf den ersten Blick nicht ausmachen, ob Brutalanda von dem Sturz schlimmere Verletzungen davongetragen hatte. Einige Stellen seines Körpers wurden von Schrammen und Schnittwunden bedeckt, dunkles Blut glänzte auf tiefblauen Schuppen, aber besagte Schuppen schienen Schlimmeres verhindert zu haben. Die meisten Drachenpokémon besaßen eine robuste Haut und auch allgemein eine hohe Widerstandskraft.

Doch der Flügel … Die rote Schwinge lag leblos und ohne jede Spannung neben dem großen Rumpf. Die lederne Haut war ungefähr in der Mitte durchbohrt worden, weit genug vom Rumpf entfernt, um den Flügel vielleicht nicht irreparabel beschädigt zu haben, aber nah genug, um die Flugfähigkeit massiv einzuschränken. So wie es nun aussah, ließ er sich kaum mehr bewegen, ohne Schmerz auszulösen.

Brutalanda gab ein kehliges Knurren von sich und versuchte, den Flügel anzuheben, aber Zayn legte ihm sogleich eine Hand auf den Kopf. „Nein, nicht bewegen.“

Er spürte, wie seine Augen brannten, als er einige Sekunden wie gebannt auf die Verletzung starrte. Seine Mutter war eine gute Ärztin, aber er hatte keine Ahnung, ob sich so etwas wieder heilen ließe. Würden die vermutlich gebrochenen Knochen wieder richtig zusammenwachsen, so wie es normalerweise der Fall war? Darüber nachzudenken, war grausam.

Sollte Brutalanda nie wieder fliegen können, würde er sich das nie verzeihen können …

„Es tut mir so leid“, sagte er tonlos. „So unfassbar leid. Aber wir werden das wieder in Ordnung bringen.“ Der Anblick seines verletzten Pokémons war zusätzlicher Schmerz zu den sichtbaren Wunden. Zayn hätte ihm am liebsten direkt geholfen. „Jetzt musst du erst mal in deinen Pokéball. Ruh dich aus.“

Er griff an seinen Gürtel und erlebte den nächsten Schock.

Er hatte sechs Pokémon – sechs Pokébälle, aber im Moment hing nur ein einziger am Gürtel.

Panisch tastete er seinen ganzen Gürtel ab, nicht nur die Halterungen, ja sogar seine Jeans. Aber nichts. Keine Spur von den übrigen Pokébällen. Er lief zurück zu der Stelle, an der er erwacht war – und stolperte dabei fast über das Fiffyen, welches zwischen seinen Beinen hin und her lief –, aber auch da waren keine rotweißen Kapseln.

Zayn benötigte erheblich länger als sonst, bis ihm die Realität dämmerte. Er wusste, dass er die Pokébälle während des Kampfes noch gehabt hatte, natürlich, und nun waren sie fort. Konnte er sie beim Sturz verloren haben? Möglich, aber er entdeckte sie auch in näherer Umgebung nicht. Zumal Brutalandas leerer Pokéball noch da war, statt ebenfalls fort zu sein.

Sie mussten fehlen, weil … sie jemand entwendet hatte.

Die Erkenntnis erfüllte ihn mit einem namenlosen Grauen.

Und dieses Grauen warf ihn endgültig mit aller Gewalt ins Hier und Jetzt.

Er vertrödelte hier seine Zeit, während Ray … Gott, wer weiß, wie lange er überhaupt bewusstlos gewesen war! Ray könnte längst über alle Berge sein – mit Chandra. Er könnte sich dazu entschieden haben, das Labor einfach zum Spaß doch anzugreifen. Nach heute traute Zayn ihm alles zu. Er hatte es in Kauf genommen, Zayn bei ihrem Kampf umzubringen, anders konnte man das nicht nennen. Tatsächlich hatte er seinem Libelldra mutmaßlich sogar den Befehl gegeben, Brutalanda mitsamt Reiter vom Himmel zu holen. Wer tat so etwas? Zayn selbst war das Herz in die Hose gerutscht, als er befürchtet hatte, Draco Meteor könnte Libelldra so schlimm verletzen, dass es sich nicht länger in der Luft halten konnte. Dabei hatte er allen Grund, Ray zu hassen. Abgrundtief.

Und nun … hatte Ray sich sogar Zayns Pokémon bemächtigt.

In der Realität dieses kranken Spinners war das vermutlich sogar in Ordnung. Zayn hatte ihm ein Cryptopokémon entwendet und nun drehte Ray den Spieß einfach um. Völlig unerheblich, ob Zayn dabei bewusstlos am Boden lag.

Am liebsten hätte er laut aufgeschrien. Doch sein Kopf dröhnte und allein bei dem Gedanken zog es wieder zwischen seinen Rippen.

Also nutzte er den verbliebenen Pokéball und rief Brutalanda, welches zutiefst schuldig aussah, zurück. Könnte er mit seinem Pokémon sprechen, hätte es ihm sicherlich sagen können, was passiert war.

Er sah sich zu allen Seiten um. Nichts als Bäume, viele Bäume. Er war beim Kampf ein gutes Stück vom Labor fortgeflogen. Selbst wenn er wüsste, in welche Richtung er gehen müsste … Doch das war vergeblich, alles sah gleich aus.

Verärgert, dass ihm der Gedanke nicht früher gekommen war, holte er seinen PDA aus der Hosentasche, nur um gleich darauf das Gesicht zu verziehen. Das Display war völlig zersprungen und schwarz. Keine Reaktion. „Danke für nichts.“ Er steckte das Gerät wieder ein.

Das Fiffyen trottete an seine Seite, während er sich hoffnungslos im Kreis drehte. „Hast du keine Familie? Oder ein Rudel, oder irgendwas?“, fragte Zayn verwirrt. Das Pokémon klebte an ihm wie sein Schatten.

Es war auffallend klein für seine Art, wirkte aber nicht wie ein nicht ausgewachsenes Pokémon. Auf die Frage reagierte es, indem es sich an Zayns Beine schmiegte. Das war dann wohl Antwort genug.

„Na gut“, er seufzte, „also ich bin Zayn. Ich hab keine Ahnung, wo genau ich gelandet bin. Ich muss zurück zum Labor. Kennst du zufällig den Weg?“ Fiffyen legte den Kopf schief. „Nein? Dachte ich mir.“

Mit dem Pochen seines Kopfes als stetiger Begleiter und dem Unlichtpokémon an seiner Seite machte er sich in eine willkürlich gewählte Richtung auf. Willkürlich insoweit, als dass er dachte, sein Bauchgefühl wisse vielleicht eher den richtigen Weg. Gut möglich, dass er sich dabei noch weiter vom Labor entfernte.

Der Wald hinter diesem war riesig und erstreckte sich in die Breite. Von der Rückseite des Labors aus betrachtet erreichte man irgendwann Gebirge, aber selbst dorthin war man zu Fuß lange unterwegs. Lief man jedoch in eine der anderen beiden falschen Richtungen … man würde laufen und laufen und gegebenenfalls würde man Orre irgendwann verlassen. Vermutlich würde dann selbst Zayn mit seiner nun fehlenden Orientierung merken, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte. Er und Brutalanda waren zwar nicht kilometerweit über den Wald geflogen, aber durch das Himmelsgefecht hatte er nicht nur seinen Orientierungssinn, sondern auch das Gefühl für Distanz eingebüßt.

Er musste darauf hoffen, dass er richtig entschieden hatte.

Aber während seine Füße durch das Laub streiften und er abgeknickten Ästen und Gebüsch auswich, spürte er, dass seine fehlende Orientierung möglicherweise sein kleinstes Problem war und er selbst mit dem richtigen Weg vielleicht nie am Labor ankommen würde.

Immer wieder musste er Halt an Baumstämmen finden, wenn der Wald sich drehte und die Farben der Blätter in einem unscharfen Bild ineinanderliefen. Er durfte sich nicht zu schnell bewegen, sonst wurde das Karussell in seinem Kopf besonders aggressiv. Ganz zu schweigen von dem Ziehen zwischen seinen Rippen, das ihn daran erinnerte, dass es noch viel schlimmer hätte ausgehen können.

Durch die regelmäßigen gezwungenen Stopps und Verschnaufpausen dauerte der Marsch gefühlt ewig. Fiffyen blieb dennoch in seiner Nähe, rannte hin und wieder ein wenig vor, als erhoffte es sich, einen Hinweis zu finden, kam jedoch immer wieder bellend zurückgerannt, wenn es merkte, dass Zayn nicht Schritt halten konnte. Dann sprang es an seine Beine und schenkte ihm einen motivierenden Blick, der ihn weiterziehen ließ.

Der Schwindel wurde nicht besser, je länger sie unterwegs waren, aber er ließ sich aushalten, solange Zayn nach vorne sah. Auch nach einer Weile erkannte er nichts als Bäume. Man sagte nicht grundlos, dass man die Wege im Wald nicht verlassen sollte. Wer sich einmal tief im Wald verirrt hatte, fand nur schwer wieder heraus. Und in seinem Zustand …

Würden ihn die Kopfschmerzen und der Schwindel nicht so sehr vereinnahmen, wäre sein schlechtes Gewissen noch zehnmal größer gewesen. Er schob die etlichen Horrorszenarien, was am Labor und mit Chandra passiert sein könnte, möglichst zur Seite, um bei Verstand bleiben zu können. Er war nicht dort – er war verletzt und kam unsäglich langsam voran, und wenn er sich nun verrückt machte, würde ihm das auch nicht weiterhelfen. Aber ohne das Messer zwischen seinen Rippen hätte er seinem Zorn sicherlich lautstark Luft gemacht.

Er hatte kein Zeitgefühl, als er durch den Wald lief. Die Sonne wanderte ein wenig, aber sie stand noch immer hoch am Himmel. Sie begegneten keinen wilden Pokémon, Vogelpokémon über ihnen in den Baumkronen einmal ausgenommen, aber die würden ihm auch nicht einfach so helfen. Er verstand ja nicht einmal, weshalb das Fiffyen nicht wieder verschwand. Vielleicht war ihm langweilig.

Irgendwann – er pausierte gerade wieder und griff unbedacht an seinen schmerzenden Kopf und das getrocknete Blut – schreckte er auf, als ein tiefes Bellen zwischen den Bäumen widerhallte. Fiffyen sah in alle Richtungen.

Wie aus dem Nichts tauchte ein Hundemon von irgendwoher auf und Zayn fiel vor Erleichterung beinahe auf die Knie. Er kannte dieses Pokémon!

Es kam einige Meter entfernt zum Stehen, woraufhin sich Fiffyen vor Hundemon aufbaute, das Fell gesträubt und den Körper angespannt, bereit zum Sprung. Aus Hundemons Kehle drang ein Knurren, aber es war mehr neugierig als angriffslustig. Der Anblick war ja auch zu ulkig. Fiffyens Kopf reichte Hundemon gerade einmal bis zu dessen Rumpf und das größere Pokémon sah eindeutig furchteinflößender aus, auch ohne eine Angriffshaltung.

„Hey, ist gut, Fiffyen. Hundemon ist auf unserer Seite“, beschwichtigte Zayn das Kleine.

„Zayn! Hab ich dich endlich gefunden!“ Plötzlich tauchte Vince an seiner Seite auf, völlig außer Puste. Er war sportlich und ausdauernd, aber jetzt stützte er die Hände auf die Oberschenkel und verschnaufte. „Kannst du mir mal sagen, wo du hinwolltest? Zum Labor anscheinend ja nicht. Zum Glück konnte Hundemon deine Spur aufnehmen. Wir mussten dir nur noch hinterherlaufen, ehe du weggelaufen wärst.“

Also hatte er doch falsch entschieden. „Wo lang bin ich gegangen?“

„Bei dem Kurs wärst du wahrscheinlich irgendwann vor Veralia gelandet. Oder dran vorbeigelaufen.“ Nach einem letzten tiefen Atemzug richtete Vince sich auf und schlang unerwartet die Arme um Zayns Schultern. „Zum Glück geht’s dir gut! Ich hab das Schlimmste befürchtet.“

Zayn erwiderte die Umarmung nicht, weil exakt in dem Moment seine Rippen wieder protestierten. Als er zischend die Luft einzog, löste sein Freund die Umarmung und Sorge stand in dessen braunen Augen.

„Was hast du? Du blutest ja!“

Zayn nickte. „Ja, aber geht schon. Ist nicht tief, glaube ich. Ich bin wohl eine Weile bewusstlos gewesen. Ich erinnere mich nicht daran, wann und wie ich auf den Boden geklatscht bin. Ich weiß nur noch, dass Brutalanda von diesem Cryptostrahl getroffen wurde, dann ging es ziemlich schnell nach unten.“

So wie Vince ihn ansah, hätte er die Information wohl besser für sich behalten. „Du weißt gar nicht, wie froh ich bin, dich an einem Stück vorzufinden.“

„Was ist am Labor passiert, nachdem ich weg war?“, wollte Zayn wissen. Ebenso plötzlich, wie mit der Frage auch die Wiedersehensfreude aus dem Gesicht seines Freundes verschwand.

„Ich …“

„Was? Was ist passiert, verdammt? Sag mir nicht, dass wir erst zurückgehen sollten. Ich will es jetzt wissen!“, forderte er, während ihm die Angst vor Vince‘ Antwort wie ein schwerer Klumpen im Magen lag.

„Na schön. Es wird dir nicht gefallen.“ Sein Gegenüber spannte die Schultern an. „Nachdem ihr weg wart, bin ich Chandra suchen gegangen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und ich fand, sie sollte Bescheid wissen, bevor Schlimmeres passiert und er plötzlich einfach vor ihr steht. Sie hat erstaunlich gefasst reagiert.“

Kein Wunder, sie hatte ja auch seit Tag Eins ihres Aufenthaltes im Labor damit gerechnet, dachte Zayn.

„Wir gingen wieder raus und haben eine Weile gewartet, aber nichts geschah. Irgendwann kam nur Ray wieder zurück. Wir gingen vom Schlimmsten aus, aber er meinte, du wärst nicht tot. Woher wusste er das überhaupt so genau?“

„Ist gerade nicht so wichtig. Weiter?“

„Er hat sie vor die Wahl gestellt, mit ihm zu gehen oder zu riskieren, dass jemand verletzt wird. Sie –“

„– hat da natürlich nicht lange überlegt“, unterbrach Zayn Vince‘ Satz. Wären seine Kopfschmerzen nicht so allumfassend gewesen, hätte er sicher noch größeres Entsetzen verspürt, aber es war ihm, als verlangte das Dröhnen hinter seiner Stirn einfach schon genug Kapazitäten.

Der Wind strich kühl über seine Haut, als er Vince‘ Aussage verdaute. „Es ist also niemandem etwas passiert? Geht es meiner Schwester gut?“

Vince nickte nachdrücklich. „Ja, nichts passiert. Es geht ihr den Umständen entsprechend. Aber …“

Danach hörte Zayn gar nicht mehr zu, fokussierte stattdessen irgendeinen Punkt hinter Vince. Mit Mühe versuchte er, sich von dem düsteren Wissen um seine Niederlage nicht vereinnahmen zu lassen. Rays Worte geisterten ihm durch den Kopf; er zweifelte keine Sekunde daran, dass dieser seine Drohungen wahrgemacht hätte, wenn Chandra sich geweigert hätte. Ob es für sie besser war, dass sie einfach mitgegangen war? Wer keine Skrupel hatte, ein Kind zu bedrohen oder unschuldige Menschen anzugreifen, dem war es womöglich auch gleichgültig, ob es die eigene Schwester war, die man verletzte. Zayn erinnerte sich nur zu gut an Chandras Angst vor einer Bestrafung, woran auch immer sie da gedacht hatte …

Den Blick wieder vor sich gerichtet, fragte er: „Wie konntest du das zulassen?“

Sein Freund schreckte auf angesichts seiner ernsten Tonlage. „Was meinst du?“

Zayn trat einen Schritt näher, sodass Vince seinerseits zurückging. „Ich meine, wie du es einfach zulassen konntest, dass dieser Wahnsinnige Chandra mitnimmt, was denn auch sonst? Oder gibt es etwa noch mehr Dinge, die du verbockt hast?“

„Wow, okay.“ Vince riss überrascht die Augen auf. „Zayn, das Arschloch, feiert sein Comeback. Du weißt ganz genau–“ Er stolperte beinahe über das Fiffyen, welches zwischen ihren Beinen herumwuselte, als er nach hinten auf Distanz ging. „Du weißt ganz genau, dass ich es nicht einfach zugelassen habe. Meine Fresse, unterstell mir nicht so eine Scheiße!“

„Dann hast du wohl nicht genug getan. Ich habe mich auf dich verlassen!“ Irgendwo hinter dem Schmerz in seinem Kopf kauerte ein kleiner Teil, der wusste, dass er gerade schrecklich unfair war – mal wieder –, aber er kam nicht gegen die übermächtige Wut an, die Zayn verspürte. Er ignorierte dem Umstand, dass Vince‘ Gestalt scheinbar ein wenig hin und herschwankte.

„Dann wurden wir wohl beide mal wieder enttäuscht“, schoss sein Gegenüber zurück. „Ich verlasse mich auch ständig auf deinen gesunden Menschenverstand und jedes Mal werde ich enttäuscht, weil du deinen Arsch doch wieder in die Scheiße reitest, und dann passiert so was wie das hier!“ Eine ausschweifende Bewegung seiner Arme schloss den ganzen Wald ein.

„Wenigstens tue ich überhaupt etwas, im Gegensatz zu dir oder allen anderen!“

Vince starrte Zayn lediglich an, als dessen Stimme zwischen den Bäumen widerhallte. Danach war es für einen Moment so totenstill, als hätte auf seine Worte hin alles Leben um sie herum für einen Moment aufgehört zu existieren. Hundemon betrachtete seinen Trainer mit aufmerksamem Blick und das Fiffyen stand mit eingezogenem Schwanz hinter Zayn.

„Du hast Glück, dass du heute schon auf die Fresse bekommen hast, Zayn, sonst würde ich das jetzt übernehmen. Aber du siehst schon beschissen genug aus.“

„Mach doch!“ Zu schnell für Vince, um zu reagieren, trat Zayn nach vorne und stieß ihn gegen den Baumstamm, der knapp hinter ihm war. Er krallte die Hände in den Kragen seines Freundes und lehnte sich aufgrund der Drehung seines Inneren stärker gegen ihn als beabsichtigt. „Was habe ich noch zu verlieren? Chandra ist weg und ihr wird wer weiß was passieren. Wie konntest du sie nur gehen lassen? Du hättest sie aufhalten müssen! Du hättest verdammt noch mal irgendwas tun müssen!“

Reglos hatte Vince Zayns Worte über sich ergehen lassen, hatte kaum eine Miene verzogen, als er mit dem Rücken gegen den Baum gekracht war. Lediglich im hellen, sonst sanften Braun seiner Augen zeigte sich sein Zorn.

Im nächsten Moment überraschte er Zayn, indem er dessen Hände mit einem kräftigen Ruck von sich riss und ihn nun seinerseits fortstieß. „Was hätte ich verdammt noch mal tun sollen? Sag es mir!“, fuhr er ihn lautstark an.

Zayn jedoch taumelte nach hinten. Eine unsichtbare Kraft schien ihn gleichzeitig in alle Richtungen zu ziehen, und sein Körper schwankte, obwohl er ruhig stehen bleiben wollte. Seine Beine gaben unter ihm nach und als er auf die Knie fiel, schaffte er es gerade noch, sich mit den Händen abzustützen.

„Zayn? Scheiße, was ist los? Oh Gott, es tut mir leid!“

Zayn bekam kein Wort über die Lippen – mit jedem Versuch, Luft zu holen, schoss ein stechender Schmerz zwischen seinen Rippen hindurch. Wie durch Watte drangen weitere Worte zu ihm vor, aber er fand keinen Sinn in ihnen, als er das Stechen aushielt.

Nach einer kleinen Ewigkeit presste er einige Worte über seine Lippen: „Dreht sich alles. Und schlecht ist mir auch.“

Zwei Hände legten sich auf seine Schultern, um ihn am Umfallen zu hindern. „Du siehst echt nicht gut aus, du bist verdammt blass. Wir müssen schleunigst zurück zum Labor, damit dich ein Arzt anschaut. Streiten können wir auch später.“

„Tut mir leid.“ Das Laub vor seinen Augen waberte noch immer zuckend über den Boden. „Was ich gesagt hab.“

Nach einigen Sekunden der Stille erwiderte Vince: „Ich habe versucht, sie aufzuhalten. Ich hätte es weiter versucht, aber sie wollte das nicht. Sie hat mich davor gewarnt, irgendetwas zu tun, weil sie genau weiß, wie ihr Bruder drauf ist. Er hätte noch alles in Schutt und Asche gelegt. Und was hätte ich bitte ausrichten können, nachdem nicht einmal du etwas tun konntest? Er hätte mit mir den Boden aufgewischt und dann wäre auch niemandem geholfen gewesen.“

Zayn atmete tief ein und aus, versuchte, die Übelkeit zu vertreiben. „Ja … Nicht einmal ich … Ich hab auf ganzer Linie versagt. Am Ende waren meine Worte nichts als heiße Luft.“

„Jetzt übertreibst du aber.“

Ungeachtet der Hände an seinen Schultern hievte Zayn sich auf die Beine, nachdem der Schwindel wieder erträglich geworden und das Stechen seiner linken Seite abgeebbt war. Er stützte sich am Baum ab und spürte abermals, wie frischer Zorn seinen Hals zuschnürte, aber diesmal nicht wegen seines besten Freundes, sondern seiner selbst wegen. „Ich hab’s verkackt. Wenn er ihr was antut, ist das meine Schuld.“

„Nein, ist es nicht“, widersprach Vince. „Lass diese Selbstmitleidstour! Die hat dir ja noch nie gestanden. Du hast getan, was du konntest.“

„Vielleicht hätte ich ihn doch vom Himmel schießen sollen, als ich die Chance dazu hatte.“ Falls es die gegeben hatte. Die Niederlage nagte ohnehin an ihm – er wollte nicht auch noch glauben, dass er völlig chancenlos gegen die Übermacht von Rays Cryptopokémon gewesen war.

„Das hättest du dir nie verziehen. Du konntest nicht mehr tun, Zayn. Dein Gegner hat einfach unfair gespielt.“

„Wo du es erwähnst …“ Zayn lehnte sich gegen den Baum und schloss die Augen. Mit erzwungen ruhiger Stimme sagte er: „Dieser verdammte Hurensohn hat es tatsächlich gewagt, meine Pokémon mitgehen zu lassen. Als hätte es nicht gereicht, dass er Chandra wie sein Eigentum behandelt.“

„Nicht dein Ernst!“

„Als ich aufgewacht bin, war nur noch der leere Pokéball von Brutalanda da, die anderen waren weg. Ausgeschlossen, dass ich bloß den einen behalten und die anderen verloren habe.“ Wenn er so darüber nachdachte, war es überraschend, dass Ray Brutalanda nicht auch noch mit seinem Ball eingesackt hatte.

„Es entsetzt mich eher, wenn es mich auch nicht überrascht, dass er dich einfach verletzt hat liegen lassen. Aber das erklärt, wieso er wusste, dass du noch lebst und wieso er mir genau sagen konnte, in welcher Richtung du warst.“

Zayn entfuhr ein freudloses Lachen. „Das war wohl seine Form von Hilfsbereitschaft.“ Er spürte Vince wieder neben sich und öffnete die müden Augen.

„Wir müssen jetzt echt zurück zum Labor, bevor du wirklich umkippst. Die anderen sind sicher schon ganz krank vor Sorge. Kannst du gehen?“ Auch Vince‘ Worten war seine Sorge deutlich anzuhören.

„Ja, geht schon. Es ist nicht so schlimm.“ Zayn stieß sich vom Baum ab und zeigte, dass er durchaus dazu in der Lage war, vorwärtszulaufen, sofern der Schwindel ihn nicht übermannte, aber Vince ließ sich nicht davon abbringen, zur Stütze trotzdem einen von Zayns Armen um seine Schultern zu legen, nur für den Fall, „dass er doch aus den Latschen kippte.“

Das Hundemon seines Freundes lief voraus, um ihnen den Weg zu weisen, und sie folgten ihm, wenn auch nicht gerade schnell. Am Rande bekam er mit, dass das Fiffyen ihnen hinterherlief, doch er hatte im Moment keinen Kopf dafür.

Vor Vince hatte er es zwar gut sein lassen, aber neben den Schmerzen wurde sein Kopf nach wie vor von dem Gedanken geplagt, dass er allein die Schuld an der Situation trug – und Rays Worte bestätigten ihn nur darin.

„Was zählt, ist, dass du mich direkt hierhergeführt hast.“

Und neben der Sorge um Chandra musste er sich nun auch noch darum Gedanken machen, was Ray mit seinen Pokémon anstellen würde. Zwar hatte er sie sicher in erster Linie mitgenommen, einfach weil Zayn außerstande war, es zu verhindern, aber bei jemandem wie ihm musste er mit dem Schlimmsten rechnen …

Er hatte keinen blassen Schimmer, wie lange sie unterwegs waren, bis sie wieder am Labor ankamen. Sie hatten unterwegs seinetwegen noch einige kurze Pausen einlegen müssen, entweder weil der Schwindel erneut gedroht hatte, ihn zu übermannen, oder weil er dachte, seinen Mageninhalt loswerden zu müssen. Hin und wieder hatte er auch einfach nur verharren müssen, weil das Brennen zwischen seinen Rippen zu stark war, um weiterzugehen. Vince hatte viel Geduld gezeigt, aber Zayn waren dessen sorgengetränkte Blicke nicht entgangen, sobald er gedacht hatte, es bliebe unbemerkt.

Der Platz vor dem Labor präsentierte sich zunächst wieder als verlassen. Nichts deutete auf die kürzliche Auseinandersetzung hin oder darauf, dass Chandra in einen Helikopter nach Pyritus gestiegen war. Alles war auf geradezu höhnische Weise friedlich.

Bis die beiden sich den Eingangstüren näherten, die plötzlich aufschwangen und den Blick auf Zayns Mutter freigaben. Cara stürmte nach draußen und auf sie zu, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet.

Hatte sie natürlich auch. Zayn unterdrückte ein Seufzen. Das letzte Gespräch mit seiner Mutter war nicht gut ausgegangen und nun war genau das eingetreten, was unter anderem Gegenstand ihres Streits gewesen war.

„Um Himmels willen, Zayn! Wie siehst du aus!“, entfuhr es ihr. Aus ihrer Stimme waren deutlich Sorge und Hysterie zu hören.

Tatsächlich sah er doch ziemlich ‚beschissen‘ aus, wie Vince gesagt hatte. Die Klamotten dreckig und sein T-Shirt war sogar ein wenig eingerissen. Aber das meinte seine Mutter wohl kaum. Er streifte den Arm seines Freundes von seiner Schulter und stählte sich innerlich für das nun Kommende.

Hinter Cara war auch Torben nach draußen gekommen. Es wirkte nicht so aufgewühlt wie sie, sah aber doch auch besorgt aus, als er Zayn musterte.

Dieser hätte sich unter den sorgenvollen Blicken am liebsten direkt wieder in Luft ausgelöst. Er hasste das so sehr!

„Du bist ja verletzt und du hast geblutet! Du meine Güte! Und bist du gerade etwa gehumpelt?“, schoss es aus seiner Mutter, die ihre Hände fest verschlossen vor ihre Brust hielt, als würde sie das davor bewahren, auseinander zu fallen. Die Sorge in ihren hellen Augen war schier erdrückend.

Er würde nicht sagen, dass er humpelte – mit den Schmerzen zwischen seinen Rippen war es nur einfach schwer, aufrecht zu gehen. „Es geht mir gut, es ist nur ein Kratzer“, schob er ihre Sorge beiseite. Er konnte sich jetzt einfach keine Zeit hierfür nehmen. Je mehr er nämlich vertrödelte, desto länger müsste Chandra bei Ray sein und umso größer war die Gefahr, dass er ihr etwas antun konnte. Er musste akzeptieren, dass sie fort war, aber er konnte nicht akzeptieren, dass er nichts tat, um das zu ändern.

Insgeheim ging es ihm allerdings alles andere als gut. Er spürte den altbekannten Schwindel und mit ihm auch ein Gefühl von Schwäche, das er jedoch, so gut es ging, zu unterdrücken versuchte.

„Ich sehe, wie gut es dir geht! Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen! Mein Gott, wie konntest du nur schon wieder so rücksichtslos sein? Einfach auf Brutalanda wegzufliegen und dann auch noch für einen Kampf! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du weißt genau, dass ich nicht will, dass du überhaupt auf ihm fliegst, aber das ist dir total egal!“, redete sich seine Mutter in Rage.

„Cara, das ist doch jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um wieder darauf zu sprechen zu kommen …“, versuchte Torben, sie zu beschwichtigen, und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Zayn seinerseits hatte genug gehört. Er konnte sich zwar kaum auf den Beinen halten, aber die vorwurfsvollen Worte seiner Mutter hatten all die Wut ihres Gesprächs vom Vortag wieder hochgeholt. Vergessen war, dass er sich bei ihr hatte entschuldigen wollen.

„Rücksichtslos? Du nennst mich rücksichtslos? Ich bin lieber rücksichtslos als ignorant! Bist du denn jetzt wenigstens zufrieden?“

„Wie bitte?“, harkte Cara irritiert nach.

„Bist du jetzt zufrieden, dass Chandra weg ist? Das war doch genau das, was du wolltest!“ Er merkte kaum, dass seine Stimme lauter und seine Körperhaltung angespannter geworden war. Alles war schiefgegangen und er fühlte sich schrecklich erschöpft. „‚Sorg dafür, dass Chandra weg ist, denn sie macht nur Probleme.‘ Nicht exakt deine Worte, aber deine Meinung. Herzlichen Glückwunsch, sie ist weg!“

Seine Mutter war völlig von der Rolle. Seine Worte mussten sie sprachlos gemacht haben, denn mehr als den Mund öffnen und wieder schließen konnte sie nicht.

„Zayn, rede nicht so mit deiner Mutter!“, wies Torben ihn mit Nachdruck zurecht.

„Du hast mir gar nichts zu sagen! Tu nicht schon wieder so, als wärst du mein Vater!“, schoss Zayn zurück, als der Vulkan in seinem Inneren ein neues Ziel fand.

Nachher konnte er gar nicht sagen, wieso er in jenem Moment so geladen war. Seine Nerven lagen blank und es war ihm, als entlüde sich all die Anspannung der letzten Tage mit einem Mal. Nur leider traf es die falschen Menschen.

„Dad wäre auf meiner Seite, aber ihr … ihr seid immer gegen alles, was ich tue“, stieß er hervor, ehe die unsichtbare Kraft abermals an ihm zog und es sich anfühlte, als fiele er langsam in ein Meer aus Watte.

„Es gibt keine Seiten, Zayn. Du solltest dich jetzt wirklich nicht so aufregen …“

Die Worte schienen irgendwo rechts von ihm herzukommen, aber er verstand den Rest gar nicht mehr. Ein wilder Strudel riss ihn nach hinten, zumindest glaubte er das. Vom Gefühl her hätte er auch in alle Richtungen gleichzeitig fallen können. Irgendjemand rief seinen Namen und dann waren da zwei Arme in seinem Rücken. Im nächsten Moment verschwand das grelle Licht vor seinen Augen und wurde wieder abgelöst von dieser tiefen, leeren Schwärze.

Aussichtslosigkeit

Seit Chandra in das Innere des Helikopters gestiegen war, hatte sie fast durchgehend aus dem Fenster zu ihrer Rechten gestarrt. Im Innenraum des Fluggefährts lagen sich zwei mit dunklem Leder überzogene Sitzreihen gegenüber, von denen sie sich diejenige in Flugrichtung ausgesucht hatte. Ihr Platz am Fenster war so weit wie möglich von der Tür entfernt, aber, viel wichtiger, auch so weit wie möglich von Ray, welcher am anderen Ende der gegenüberliegenden Reihe Platz genommen hatte.

Nach dem Einsteigen hatte sie nur halb vernommen – denn sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, nicht einfach zusammenzubrechen –, wie er zu ihr gesagt hatte, sie solle sich ruhig verhalten und ihm nicht auf die Nerven gehen, sonst sehe er sich gezwungen, sie ruhigzustellen, was auch immer das bedeutete. Sie wollte nicht riskieren, das herauszufinden, und fand, dass es klüger wäre, ihn nicht unnötig zu reizen, solange sie auf so engem Raum beieinander waren. Es fiel ihr nach wie vor schwer, ihn einzuschätzen. Sie hatte erwartet, dass er vor Wut toben würde, wenn er sie wiedersah, doch im Moment war das Gegenteil der Fall. Er war so ruhig, es war nahezu unheimlich.

Sie waren erst wenige Minuten in der Luft gewesen, als Ray sich ihr noch einmal zugewandt hatte. Er wollte, dass sie ihm ihre Pokémon gab, natürlich.

Kommentarlos hatte sie die verkleinerten Kapseln hervorgeholt und ebenfalls – da sie unnötige Konflikte vermeiden wollte – ihren PDA. Beim Blick auf die vier statt zwei Pokébälle war für eine Sekunde ein überraschter Ausdruck über sein Gesicht gehuscht, ehe er sie ebenso schweigsam eingesteckt und anschließend ihren PDA ausgeschaltet hatte. Damit war sie dann vollkommen auf sich allein gestellt.

Chandra wusste nicht, wie schnell ein Helikopter flog, aber die grünen Weiten und Ortschaften zogen unter ihnen nur so dahin, dass es auch egal war. Sie wusste, dass sie in wenigen Stunden wieder in Pyritus sein würde, und das allein zählte.

Neben Ray und ihr waren nur noch zwei weitere Personen anwesend. Der Pilot im Cockpit, dessen Stimme sie zu Beginn kurz vernommen hatte, war ihr nicht bekannt. Den Mann, der am anderen Ende ihrer Sitzreihe saß, kannte sie hingegen. Er war ungefähr im Alter ihres Vaters und hieß Samuel. Er fungierte als Rays rechte Hand, aber wenn sie sich nicht irrte, hatte er zuvor auch schon für ihren Vater gearbeitet – zumindest meinte sie, ihn das erste Mal als kleines Kind gesehen zu haben. Samuel übernahm die Aufgaben, für die Ray sich zu fein war oder auf die er keine Lust hatte, und sicherlich fiel noch viel mehr in seinen Aufgabenbereich, aber das wollte sie lieber gar nicht so genau wissen.

Das letzte Mal, das Chandra ihn gesehen hatte, musste ungefähr ein dreiviertel Jahr zurückliegen. Damals hatte sie ein wenig Stress mit zwei jungen Männern gehabt, die in einem der Clubs, in denen sie regelmäßig unterwegs gewesen war, auf sie aufmerksam geworden waren. Da Chandra eben nicht so leicht zu haben war und mit jedem mitging, wie die beiden dachten, waren deren Anmachen an ihr abgeprallt.

Vielleicht war sie tatsächlich leicht zu haben, aber was sprach schon dagegen, wenn beide Parteien Lust hatten? Zumal die meisten Männer ebenso leicht zu haben waren, wenn es nach ihr ging. Doch diese beiden Typen waren einfach nur widerlich und selbst Chandra hatte Ansprüche. Und ihr hatte damals nicht der Sinn danach gestanden, mit ihnen zusammen ‚Spaß zu haben‘.

Leider kamen sie mit ihrer Abfuhr nicht gut zurecht. Die nächsten beiden Abende bedrängten sie Chandra mehrmals und versuchten, sie umzustimmen. Zum Glück folgten sie ihr nicht nach Hause, doch abends hatte Chandra draußen sogar ihre Pokémon mit sich geführt, um sich sicherer zu fühlen. Niemand wurde gern von einem knurrenden Nachtara oder den telekinetischen Kräften eines Psiana angegriffen.

Am dritten Abend war Chandra dann der Kragen geplatzt – und ehrlich gesagt war ihr auch unwohl zumute gewesen.

Sie war ja nicht naiv. Sie wusste, dass ihre Aufmachung manche Männer nahezu provozierte und dass sie, im Falle eines Übergriffs, als Frau wohl eher den Kürzeren ziehen würde. Aber sie hatte nicht eingesehen, etwas an ihrem Verhalten zu ändern, schließlich war nicht sie das Problem – und da sie auch Devin nicht in die Sache mit hineinziehen hatte wollen, denn dieser hätte sowieso nicht wirklich etwas ausrichten können, war ihr Griff einmal mehr zu ihrem Handy und zu Rays Nummer gegangen.

Ray würde zwar nicht Bester Bruder des Jahres werden, aber eine Sache hatte sie damals sehr geschätzt: Es hatte nicht viel mehr als der Info bedurft, dass zwei Typen sie belästigten und nicht lockerließen, um seine Unterstützung zu bekommen. Natürlich wusste sie damals wie heute, dass er ihr nicht half, weil er seine brüderliche Nächstenliebe in einer Schublade wiedergefunden hatte. Sein Handeln war nur der Tatsache geschuldet, dass er sie brauchte. Gerade weil sie das wusste, fiel es ihr leicht, ihn ohne schlechtes Gewissen immer wieder in ähnlichen Situationen zu behelligen.

Jedenfalls hatte er an dem besagten Abend keine Zeit gehabt, selbst zu kommen – das tat er überhaupt nur sehr selten, wenn er sicher war, dass es sein Image nicht gefährdete –, aber dafür hatte er Samuel geschickt. Mit einer Selbstsicherheit, die nur die rechte Hand des mächtigsten Mannes der Stadt haben konnte, war er mit den zwei Störenfrieden in ein Hinterzimmer des Clubs verschwunden. Als sie zehn Minuten später wieder herausgekommen waren, sahen die Mistkerle aus, als hätten sie einen Geist gesehen – oder Schlimmeres. Sie verschwanden, ohne noch einen Blick auf Chandra zu werfen, aus dem Laden, ohne je zurückzukehren.

Sie wusste nicht, was Samuel zu ihnen gesagt hatte, aber sie vermutete, dass es nicht sonderlich nett gewesen war. Die meisten gewöhnlichen Leute, die nach Pyritus kamen, taten das nur, weil sie von der Gesetzlosigkeit profitieren wollten; man hatte in Pyritus einfach wenig zu befürchten, wenn man auf Regeln pfeifen wollte. Aber die meisten dieser Menschen knickten eben auch schnell ein, sobald sie die Unterwelt Pyritus‘ auch nur streiften.

Die beiden jungen Männer hatten Glück gehabt, dass Ray an dem Abend anderweitig beschäftigt gewesen war, sonst hätte er sich der Sache vielleicht mehr zugewandt. So waren sie mit dem Schrecken davongekommen.

Chandra hatten die Details nicht gekümmert, sie war nur froh gewesen, dass das erledigt war. Samuel hatte noch zu ihr gemeint „Sie werden dich nicht mehr belästigen“, dann war er gegangen. Sie wusste, dass ihre Hilfe vor kriminellen Menschen aus anderen schlimmeren Kriminellen bestand, aber sie war damit klargekommen, solange Ray ihr in diesem Rahmen weiterhin die Freiheiten ihres ‚Lebens‘ gelassen hatte.

Sie hatte einfach das Beste daraus gemacht.

Die Erinnerung an jenen Abend schien nun Jahre entfernt. Damals war ihr Leben zugleich sicherer und schrecklicher gewesen. Sie hatte nicht fürchten müssen, Ray außerordentlich sauer zu machen, und konnte sich kleine Scherze auf seine Kosten erlauben, die er toleriert hatte, weil er wusste, dass er am längeren Hebel saß. Nun waren die Karten neu gemischt, aber Chandra bereute es nicht, Zayn kennengelernt zu haben.

Zayn.

Danach hatte Chandra nur noch aus dem Fenster gestarrt, hatte die Landschaft unter sich vorbeiziehen sehen. Sie war so farbenfroh, wie sie das im Frühling sein konnte, und Chandra wusste, je mehr die Farbe verblasste, desto näher kämen sie Pyritus.

All die Anspannung, die sie draußen vor dem Labor so mühselig aufrechterhalten hatte, um nicht panisch zusammenzubrechen, fiel im Helikopter von ihr ab, und sie blieb wie ein nasser Sack zurück. Wie ein Häufchen Elend saß sie in ihrer Ecke und krallte die Hände in ihren Rock.

Sie machte sich für den Moment weniger Sorgen um sich als um Zayn. Ihre Kehle brannte, sie versuchte nach bestem Bestreben, ihre Tränen zurückzuhalten, aber es misslang ihr. Heiß rannen sie über ihre Haut und mit jedem Schluchzen fiel ihr das Atmen schwerer, weil ihre Nase verstopfte, doch wenn sie den Mund geöffnet und eingeatmet hätte, wäre das in einem Heulkrampf geendet und diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Also weinte sie so still wie möglich vor sich hin, während sie sich tausend Schreckensszenarien ausmalte.

Ray hatte gemeint, Zayn sei nicht tot, und das glaubte sie ihm sogar, schließlich hatte sie noch mitbekommen, wie er sich erbarmt hatte, Vince vor dem Abflug zuzurufen, in welcher Richtung Zayn sich befand. Das konnte aber auch bedeuten, dass Zayn schlichtweg in so einem miserablen Zustand war, dass er lieber schnell gefunden werden sollte … Jeder Gedanke an ihn grub sich schmerzhaft tief in ihre Brust.

Er war bereit gewesen, sein Leben für sie zu riskieren. Sie hatte doch von Anfang an gewusst, dass er im Ernstfall keine Chance gegen ihren Bruder haben würde. Wieso also hatte sie das zugelassen?

„Chandra, hör auf zu weinen“, forderte Ray in seiner emotionslosesten Stimme.

Sie wagte nur einen kurzen Blick in sein Gesicht, dann sah sie wieder nach draußen.

Natürlich. Kein ‚Hey, was hast du?‘, ‚Alles in Ordnung?‘ oder ‚Kann ich dir helfen?‘ von ihm. Lediglich ein kühles ‚Hör auf zu weinen.‘ Er konnte ihr sowieso nicht helfen, er war ja die Ursache ihres Leids. Aber …

Nein. Es war doch wirklich naiv, von Ray eine brüderliche Zuwendung zu erwarten.

Diese Tatsache ließ sie ungewollt noch heftiger schluchzen. Sie war alleine. Niemand scherrte sich darum, wie es ihr ging. Ray war auch nichts weiter als genervt von ihren Schluchzern und dem Geräusch, wenn sie ihre Nase hochzog.

Sie igelte sich noch weiter in ihre Ecke und ignorierte alles um sich herum, bis etwas sie am Arm berührte. Sie drehte den Kopf nach links und sah Samuel, der ihr eine Packung Taschentücher und eine kleine Wasserflasche hinhielt. Er schwieg, und sie sah misstrauisch hinüber zu Ray, welcher jedoch desinteressiert an die Decke starrte.

Wortlos nahm sie die Sachen entgegen und besah sich der Flasche. Der Verschluss sah nicht aus, als wäre er zuvor schon einmal offen gewesen, vermutlich war der Inhalt sicher. Und Ray brauchte sie auch nicht zu linken, wenn er ihr ein Betäubungsmittel unterjubeln wollte, das vermochte er auch so – schließlich konnte sie nicht fliehen.

Sie putzte sich die Nase, trocknete ihr Gesicht und nahm anschließend einen großen Schluck des Wassers, bis ihr Tränenreiz nachgelassen hatte. Besser ging es ihr danach zwar nicht, aber sie riss sich zusammen, während sie sich an die Flasche und die Taschentücher klammerte.

So verging die Zeit, wobei sie nicht wusste, wie lange sie schon unterwegs waren. Der Blick aus dem Fenster gab auch keinen Aufschluss darüber, wo sie gerade waren. Mit der Zeit begann sie zu frieren und zog sich ihre dünne Jeansjacke enger um den Oberkörper. Es half nicht wirklich, stattdessen kauerte sie mit verschränkten Armen auf ihrem Platz.

„Hier“, kam es von Samuel neben ihr.

Er reichte ihr eine kleine Decke, von der sie nicht wusste, wo er sie hervorgeholt hatte. Doch sie nahm sie an sich, auch wenn sie hinter diesen vielen Nettigkeiten einen Haken vermutete. Nachdem sie sich zugedeckt hatte, blieb es jedoch ruhig, daher gestattete sie es sich, die Augen zu schließen und sich wieder gegen das Fenster zu lehnen.

 Der Flug und das Weinen hatten sie ausgelaugt und obwohl sie es nicht für möglich gehalten hätte, spürte sie, dass ihr Körper allmählich von Müdigkeit ergriffen wurde. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig und viel hätte nicht mehr gefehlt, doch Rays Stimme zerschnitt die Stille in dem Innenraum und ließ sie unauffällig aufhorchen.

„War das wirklich notwendig?“, fragte er monoton.

„Nein.“

Dachten sie etwa, dass sie schon schlafen würde?

„Aber Ihre Schwester sollte fit sein, wenn sie wieder in Pyritus ist, und nicht riskieren, sich eine Erkältung einzufangen, weil sie den Flug über gefroren hat“, erläuterte Samuel. Es klang entschlossen, aber sachlich.

„Nun, da ist wohl etwas dran. Immerhin haben wir ein bisschen was nachzuholen.“

„Eben.“

Es verstrich eine kurze Pause, in der Chandra sich bemühte, weiterhin so zu wirken, als würde sie schlafen. Es irritierte sie zwar, dass Ray zu denken schien, sie wäre wirklich eingeschlafen, aber sie wollte ihn auch nicht erzürnen, falls er merkte, dass dem nicht so war.

Samuel durchbrach diesmal die Stille. „Hatten Sie nicht eigentlich auch ein Interesse an diesem Jungen? Aber er ist nicht hier.“

Es klang, als würde Ray auf diese Worte ein Lachen unterdrücken. „Findest du das etwa schade? Keine Sorge, er wird früh genug zu uns kommen, und dann … nun ja, ich denke, einige Leute haben noch eine Rechnung mit ihm offen. Einschließlich mir, aber ich bin so großzügig, den anderen erst mal den Vortritt zu lassen.“ Abermals folgte eine kleine Pause. „Sicher, wir hätten ihn mitnehmen können. Er war bewusstlos. Niemand hätte es gemerkt, wenn ich ihn einfach zum Helikopter gebracht hätte. Früher oder später wäre es jedoch aufgefallen und mein Interesse, dass seine Familie mir die Polizei auf den Hals hetzt, hält sich in Grenzen.“

Chandra war bei seinen Worten zusammengezuckt und hoffte, dass er dies nicht bemerkt hatte.

„Meine Schwester ist das eine, aber jemanden aus dem Pokémon-Hauptlabor entführen? Schwierig. Die Lage hat sich verändert, seit ich weiß, wer er ist. Es gibt nicht nur zu viele Menschen, die ihn vermissen, wenn er plötzlich verschwinden würde, er ist für unsere Sache tatsächlich ein größerer Risikofaktor, als ich bislang dachte. Das Ganze sollte als besser wohl überlegt sein.“

„Und Sie sind sich sicher, dass er kommen wird?“

„Sehr sicher“, entgegnete Ray, in dessen Stimme Chandra sein selbstherrliches Grinsen erkannte, ohne hinsehen zu müssen. „Wenn er seine geliebten Pokémon wiederhaben will, wird er so bald wie möglich nach Pyritus kommen.“

Er stoppte erneut, und Chandra kostete es jegliche Selbstbeherrschung, nicht aufzuspringen. Er hatte Zayns Pokémon? Er hatte es wirklich gewagt, seine Pokémon zu stehlen? Zayn hatte das vermutlich nicht verhindern können, wenn er bewusstlos und verletzt war. Aber das ließ Ray kalt.

Seine Pokémon … sie waren doch sein Ein und Alles. Er liebte sie; das hatte sie gleich zu Beginn erkannt und auch danach jedes Mal anhand des Leuchtens, das in seine Augen trat, wenn er von ihnen sprach, sich um sie kümmerte. Der Pokémonkampf mochte seine Leidenschaft sein, er wollte der Beste sein, aber bei allem Bestreben stand das Wohl seiner Pokémon immer an oberster Stelle.

Sie ihm wegzunehmen, war … grausam. Unmenschlich.

Es passte so gut zu Ray, dass sie gleichzeitig heulen und schreien hätte können.

Chandra wollte sich nicht ausmalen, wie es Zayn ergehen musste, wenn er es bemerkte.

„Natürlich wäre das gar nicht nötig gewesen, ich weiß“, fuhr Ray fort. „Er wäre auch so nach Pyritus gekommen. Er ist verrückt nach meiner kleinen Schwester, was ich zwar beim besten Willen nicht verstehe, aber er ist ja nicht der erste Kerl, dem sie den Kopf verdreht hat. Ich helfe nur gerne dabei, dass er etwas schneller zu uns kommt, und außerdem hat er es verdient, von der Frage gequält zu werden, was mit seinen Pokémon geschieht, wenn er sich zu viel Zeit lässt. Werden sie leiden? Werden sie in ihren Bällen dahinsiechen? Werden sie zu Cryptopokémon? Letzteres wird ihn genug motivieren, sich zu beeilen, wenn er das nicht ohnehin tut. Und ich lehne mich zurück und überlege mir in der Zwischenzeit, was ich denn Hübsches mit seinen Pokémon anstellen könnte.“

Bei den Worten konnte Chandra nicht verhindern, dass ihr eine Träne aus dem Augenwinkel rann. Ray hatte kein Herz. Er konnte einfach keines besitzen, das war die einzig logische Erklärung. Ihr eigenes schlug schmerzhaft wie eine Faust gegen ihren Brustkorb bei dem Gedanken an Zayn.

„Die stärksten Cryptopokémon entstehen aus Pokémon, die einst eine Bindung zu einem Menschen hatten. Je mehr positive Emotionen verschluckt werden, umso stärker sind das Leid und die daraus resultierende dunkle Energie. Das ergibt das perfekte Cryptopokémon“, schlussfolgerte Samuel. Er klang so sachlich wie zu Beginn. Vermutlich war er über die lange Zeit, in der er bereits mit den Cryptopokémon zu tun hatte, einfach abgestumpft.

Grausam. Pokémon waren Lebewesen, doch sie behandelten sie wie Ware.

„Exakt, und seine Pokémon sind darüber hinaus sehr stark, davon konnte ich mich selbst überzeugen. Er hätte mich mit seinem Brutalanda besiegen können, hätte er es richtig kämpfen lassen. Stattdessen hatte er Skrupel, mich dabei versehentlich umzubringen.“ Ray klang, als wäre das das Absurdeste, was er seit Langem gesagt hatte. „Ist das nicht ironisch? Ich habe den Hass in seinen Augen gesehen, als er vor mir stand. Diese tiefe Verachtung … die ist nicht erst einige Wochen alt. Dieser Hass muss seit Jahren in ihm schwelen. Und als ich vor ihm stand, da fand dieser abgrundtiefe Hass endlich ein Ziel. Aber er hat das hintenangestellt, um seine Familie und Chandra zu schützen. Er war gewillt, Chandra mit allen Mitteln zu beschützen, doch als er die Chance hatte, das alles auf einen Schlag zu beenden, hat er sich dagegen entschieden. Und warum? Weil er lieber den ehrenvollen Helden spielt, dem Moral über alles geht. Aber damit wird er in Pyritus nicht weit kommen.“

Chandra konnte und wollte nicht länger zuhören. Ray hörte sich ihres Erachtens unglaublich gerne selbst reden und womöglich wusste er, dass sie wach war und fand es schlichtweg lustig, Zayn schlechtzureden und ihr zu verdeutlichen, dass er ihr nicht helfen konnte. Es war ihr gleich, ob es Ray erheiterte, dass er nun wieder die Kontrolle hatte, denn sie hatte sich ohnehin nie große Chancen auf ein freies Leben ausgemalt.

Es erfüllte sie allerdings mit tiefer Abscheu, wie sehr es ihn das Wissen freute, dass er Zayn in der Hand hatte, solange er im Besitz von dessen Pokémon war. Und was sollte Zayn auch tun? Er würde keine Sekunde zögern, nach Pyritus zu kommen, und während Ray wartete, genoss er das Wissen um Zayns Sorge, ob dieser seine Pokémon überhaupt noch wiedererkennen würde, wenn er sie wieder hatte.

Was sollte er ohne sie ausrichten? Es war ohnehin ausgeschlossen, dass Ray sie ihm wohlwollend zurückgeben würde. Sein Ziel war es, Zayn zu sich locken, um seine Rache an ihm zu bekommen, woraus auch immer diesen bestehen würde.

Chandra kannte ihren Bruder – er würde nicht locker lassen, bis er bekam, was er wollte.

Unter anderen Umständen, wenn er die Pokémon nicht mit hineingezogen hätte, hätte sie gehofft, dass Zayn nicht kam. Denn so wäre es besser. Er hatte ohnehin keine Chance gegen Rays Übermacht, niemand hatte die. Es erzeugte nichts als Leid, sich mit Ray anzulegen.

Und wenn es nur um sie gehen würde … Sie war es nicht wert, dass Zayn sein Leben und das anderer gefährdete. Er täte gut daran, sie zu vergessen und sein Leben weiterzuleben.

Sie war sich natürlich im Klaren darüber, dass er das nicht tun würde. Er war stur und entschlossen, wenn es um seine Pläne ging.

Also war sie dazu verdammt, zu warten und zu hoffen, dass Ray ein Fünkchen Gnade in sich fand, Zayn seine Pokémon gab und ihn gehen ließ. Sie würde es nicht ertragen, sollte ihm ein ernsthaftes Leid geschehen …

Statt Ray den Gefallen zu tun, eine Reaktion auf seine herablassenden Aussagen zu zeigen, verharrte sie weiterhin reglos unter ihrer Decke. Das Gespräch verlor sich irgendwann in einem anderen irrelevanten Thema und Chandra spürte, wie die Müdigkeit sie wieder übermannte. Sie hieß sie willkommen, denn Schlaf bedeutete, zumindest für den Moment befreit zu sein von Rays Wahnsinn. Sie wünschte sich, einfach für immer in diesem schwarzen Nichts zu schweben, bis alles Finstere aus ihrem Leben verschwunden sein würde.

Sorge

Das Dunkel lichtete sich und wurde sogleich von einem dumpfen pochenden Schmerz hinter seinen Schläfen abgelöst.

Zayn schlug die Augen auf und starrte an die Zimmerdecke. Der dunkle Lampenschirm dort kam ihm bekannt war. Lag er etwa in seinem Bett?

Unbedacht griff seine Hand an seinen Kopf, wo es zwar nicht stark, aber penetrant schmerzte, als drückte jemand von außen zu beiden Seiten dagegen. Er zuckte zusammen, als seine Finger über etwas Weiches strichen, wie ein Pflaster oder einen Verband.

Richtig, er hatte sich den Kopf angeschlagen. Irgendwann. Vorhin? Gestern?

Es war hell im Zimmer, aber er hatte kein Zeitgefühl. Wie lang war er weggewesen? Seine letzte Erinnerung bestand aus dem Streit mit seiner Mutter vor dem Labor. Danach war alles schwarz gewesen.

Er stützte sich in eine aufrechte Position und bemerkte erst da das Gewicht auf seinen Beinen, welches sich plötzlich bewegte. Zayn erkannte das Fiffyen, da war es auch schon aufgesprungen und tapste über die Decke auf sein Gesicht zu. Das Drücken der kleinen Pfoten auf seinem Oberkörper ließ ihn zischend einatmen und nur mit Mühe gelang es ihm, das Pokémon nicht versehentlich von sich zu stoßen.

Mit dem Ziehen zwischen seinen Rippen, welches durch das ruckartige Einatmen noch verstärkt wurde, kehrte auch diese Erinnerung zurück. Ihm war schwindelig gewesen, speiübel und seine Rippen hatten sich angefühlt, als hätte man mit einem Hammer zugeschlagen – aber er lag jetzt bloß in seinem Bett, also anscheinend …

Das Fiffyen forderte wieder seine Aufmerksamkeit, als es die Vorderpfoten auf seine Schultern stellte und ihm übers Gesicht lecken wollte. Sein Schwänzchen wedelte hinter ihm wild hin und her und es stieß ein paar freudige Laute aus, wobei Zayn seine Mühen hatte, es ein wenig auf Abstand zu halten. Es stand ihm jetzt wirklich nicht danach, von dem Fiffyen abgeknutscht zu werden, auch wenn ihn dessen Reaktion schmeichelte.

„Hey Fiffyen, alles gut“, stieß er hervor, dann fuhr die raue Zunge ein paar Mal über seine Wange. „Würdest du bitte …“ Zwecklos. Fiffyen freute sich nur umso mehr.

„Ach, sehr schön, du bist endlich aufgewacht. Wachgeküsst wie die Prinzessin im Märchen, wie ich sehe.“

Zayn war so verdutzt davon, Vince zu sehen, der gerade die Balkontür hinter sich zuzog, dass ihm keine passende Antwort einfiel. „Was zur Hölle machst du in meinem Zimmer?“, fragte er stattdessen.

„Genau genommen war ich bis eben auf deinem Balkon. Hab gewartet, dass du aufwachst.“

Zayn war gerade wieder damit beschäftigt, Fiffyen zu bändigen, und brachte zwischen zwei Schlabberangriffen hervor: „Und was macht das Fiffyen hier?“

„Es scheint verrückt nach dir, so wie alle Mädchen.“ Vince zuckte mit den Schultern.

„Eine ernste Antwort, bitte, ja?“

„Das ist ernst! Es hat mich gebissen, als ich versucht habe, es von dir fernzuhalten, damit man dich untersuchen konnte.“ Er hob den linken Arm, an dem ein Pflaster klebte. „Na ja, keine Ahnung. Ist jedenfalls nicht von deiner Seite gewichen, seit du ohnmächtig wurdest.“

„Aha, okay …“ Er hob das Pokémon von sich herunter und streichelte es. Er erinnerte sich, dass Fiffyen auch im Wald nicht von seiner Seite gewichen war, obwohl sie sich praktisch nicht kannten. Das kam selten vor, war aber nicht unmöglich. Pokémon ähnelten Menschen mehr, als man erwarten würde. Manche waren zutraulicher als andere.

„Gut … Was ist passiert? Wie lange habe ich geschlafen? Wie viel Uhr ist es überhaupt?“

„Kurz nach 12. Du warst seit gestern Nachmittag weg, bist gestern Abend kurz aufgewacht, aber gleich wieder eingeschlafen. Erinnerst du dich nicht?“, hakte Vince vorsichtig nach.

Nein … Nein, das tat er nicht. Und seit gestern Nachmittag? Er hatte knapp 18 Stunden geschlafen? Oder war bewusstlos gewesen, was auch immer. Das machte doch alles keinen Unterschied. Es war längst ein neuer Tag. Seit gestern war so viel Zeit vergangen.

„Ich erinnere mich nicht. Seit gestern … war alles schwarz. Wie konnte ich so lange schlafen? Wieso hat mich denn keiner geweckt?“, fragte Zayn, in dessen Stimme sich ein leiser Vorwurf schlich.

„Du musstest dich ausruhen. Du hättest nicht so lange geschlafen, wenn dein Körper das nicht gebraucht hätte.“

Darauf schwieg Zayn. Er schob das Fiffyen von sich, welches sich zwar noch immer freute, aber etwas ruhiger geworden war, dann schlug er die Decke beiseite und setzte sich an die Bettkante. Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und durch die zerzausten Haare, ehe er seufzte. Tatsächlich fühlte er sich besser als gestern. Wacher, wenn auch noch nicht ganz fit, schließlich schmerzte sein Kopf noch immer ein wenig. Aber immerhin war ihm aktuell nicht mehr schlecht.

„Wie geht es dir?“, fragte Vince, der näher an das Bett herangetreten war.

„Na ja, ich lebe, wie du siehst.“

Gleich darauf fühlte Zayn sich schlecht, als er den zerknirschten Gesichtsausdrucks seines Freundes sah. Gut, seine Antwort war wohl ein wenig zynisch herausgekommen.

Erst jetzt fielen ihm die Schatten unter Vince‘ Augen auf und dass er dieselben Klamotten trug wie am Vortag.

„Sorry, ich meinte: Es geht mir ganz gut. Körperlich“, sagte er. „Davon abgesehen … bescheiden.“

Gleich darauf erhob er sich und verzeichnete erleichtert, dass er nun vom Schwindel verschont blieb. Lediglich etwas steif fühlte er sich, aber er verzichtete darauf, sich zu strecken, denn das Ziehen zwischen seinen Rippen lauerte immer noch auf die nächste unbedachte Bewegung seinerseits.

„Habe ich irgendetwas verpasst?“, fragte er und durchquerte den Raum.

„Außer, dass alle fast umgekommen sind vor Sorge? Was tust du da?“

Zayn hatte derweil seinen Kleiderschrank geöffnet und griff wahllos die erstbesten Klamotten heraus. „Wonach sieht es denn aus? Ich such mir was zum Anziehen.“ Er ging zurück zum Bett und warf den ergatterten Kleiderhaufen darauf.

„Und was soll das bitte werden?“

„Ich werde jetzt bestimmt nicht weiter nichts tuend im Bett liegen, falls du das denkst.“ Nun, da er wach und wieder bei Sinnen war, hatte er den starken Drang, etwas zu tun. Er musste etwas tun.

Vince starrte ihn für einen Moment mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann stieß er den zuvor angehaltenen Atem aus und sagte: „Mach mal halblang, Zayn. Du lagst nicht ‚nichts tuend‘ im Bett, du lagst im Bett, um dich von gestern zu erholen. Erholung, ja? Kennst du diesen Begriff? Du kannst dich glücklich schätzen, dass du nicht im Krankenhaus aufgewacht bist. Und dort wärst du gelandet, wenn du nur etwas weniger Glück gehabt hättest oder nicht zufällig hier im Labor leben würdest, wo es medizinische Ausstattung gibt, weshalb deine Mutter darauf bestanden hat, dass du hier bleibst, als klar war, dass du mal wieder mehr Glück als Verstand hattest. Sie hatte die Befürchtung, dass du direkt aus dem Krankenhaus abhaust, wenn du aufwachst.“

Zayn unterdrückte das „Ja“, das bei diesen Worten in ihm hochkam. Natürlich wäre er direkt gegangen.

„Wenn ich nicht mal im Krankenhaus bin, kann es ja nicht so schlimm sein“, erwiderte er schulterzuckend. „Also, Herr Doktor, wie lautet die Diagnose?“

„Gehirnerschütterung, ein paar geprellte Rippen und vielleicht bleibt da“, Vince zeigte auf Zayns Stirn, „eine Narbe zurück, die gut zu deinem leichtsinnigen Verhalten passen würde.“

„Damit kann ich leben.“ Er griff sich den Stapel Kleidung und wandte sich Richtung Badezimmer.

„Genau, damit kannst du lebenweil du noch lebst!“

„Hast du gut erkannt.“

„Wow, Zayn, halt. Wag es nicht, mich hier jetzt einfach stehen zu lassen, sonst schwör ich dir, hau ich dir eine rein, und dann ist es mir scheißegal, wie es dir geht.“

Zayn blieb tatsächlich stehen und drehte sich wieder um. Er hatte seinen Freund die letzten Tage öfter zornig erlebt, aber das war nichts verglichen mit jetzt. Vince‘ Blick offenbarte, dass dessen Geduldsfaden soeben gerissen war – in seinen Augen loderte die Wut wie Lava in einem Vulkan kochte, der jeden Moment ausbrechen würde.

Gerade wollte Zayn den Mund öffnen, um etwas Beschwichtigendes zu sagen, aber es war zu spät. Vince riss ihm einfach die Klamotten aus den Händen und warf sie unachtsam aufs Bett zurück.

„Ich bin es leid“, knurrte er. „Auf deine Mutter hörst du nicht und Alyssa nickt alles ab, was du sagst und tust, also werde ich dir jetzt sagen, was du hören musst. Du benimmst dich gerade wie das größte Arschloch, das mir je untergekommen ist, und das muss was heißen. Du bist gestern erst mit Brutalanda abgestürzt und jetzt stehst du hier und willst am liebsten direkt wieder los, als wäre nichts gewesen. Aber weißt du, was?“ Vince trat näher an Zayn und schnappte nach Luft. „Du könntest verdammt noch mal tot sein. Tot!“ Er stieß Zayn gegen die Schulter, welcher das schweigend hinnahm. „Und du Mistkerl führst dich auf, als wärst du unantastbar, absolut unsterblich, oder was auch immer in deinem vernebelten Kopf vor sich geht.“

Zayn setzte gerade an, um etwas zu seiner Verteidigung hervorzubringen, doch Vince überging ihn einfach.

„Schnauze, ich bin noch nicht fertig! Du denkst nicht mal für eine Sekunde darüber nach, was dein Verhalten in anderen auslöst. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich gestern gefühlt habe, als Chandras Bruder alleine wiederkam? Als ich mich auf die Suche nach dir machen musste? Ich wusste nicht, in was für einem Zustand du sein würdest, wenn ich dich finde. Ray meinte, du wärst nicht tot, aber wer vertraut schon einem Verrückten. Du hättest ja trotzdem halbtot und mit gebrochenen Knochen irgendwo liegen können! Du hättest tot sein können und ich hätte das dann deiner Mutter mitteilen müssen, ich hätte ihr erklären müssen, wieso ich dich nicht aufgehalten habe, als du – mal wieder – dein Leben leichtfertig aufs Spiel gesetzt hast.“

Auf die Worte folgte Stille, in der man nichts hörte außer Vince‘ lauten Atem.

„Und das machst du immer“, fuhr er etwas ruhiger fort. „Du gibst einen Scheiß darauf, wie es anderen mit deinen Aktionen geht. Es interessiert dich nicht mal, ob sie davon wissen. Du suchst dir immer den Weg des geringsten Widerstands. Als du nach Pyritus gegangen bist, hast du nur Aly Bescheid gesagt, weil du wusstest, dass sie nicht versuchen würde, dich aufzuhalten. Hinterher hast du deiner Mutter gerade das Allernötigste gesagt, damit sie sich nicht aufregt. Mir hast du wochenlang nur das Allernötigste gesagt. Als würde es uns nichts angehen, was mit dir ist.“ Vince schüttelte lachend den Kopf, dann sah er wieder auf, wurde erneut etwas lauter. „Das ist es doch, oder? Du glaubst, es ginge uns nichts an. Tja, Überraschung, das tut es aber, wenn du so lebensmüde bist! Rate mal, wer deiner Mutter gestern alles erzählen musste. Richtig – ich! Ich musste ihr sagen, was dein scheiß Arsch in Pyritus gemacht hat. Ich musste das tun, obwohl es eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre! Und so ist es immer. Wen hat sie zur Sau gemacht, als du dort warst? Richtig – mich! Mit mir kann man es ja machen. Du baust die Scheiße und ich darf hinter dir aufräumen. Und ich bin es leid, mir den Mund fusselig zu reden, weil bei dir nichts ankommt. Ich bin es leid, befürchten zu müssen, dich irgendwann wirklich nur noch tot vorzufinden, weil die Typen, mit denen du dich angelegt hast, es ernst gemeint haben.“

Vince‘ zu Fäusten geballte Hände zitterten an seiner Seite, als er endete. Er starrte Zayn einfach nur an und Zayn wiederum kam nicht umhin, sich betreten zu räuspern. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht … damit.

„Wow“, stieß er hervor. „Das letzte Mal, als du mich so angeschissen hast –“

„Das letzte Mal, als ich dich so angeschissen habe, warst du dasselbe verfickte Arschloch wie jetzt. Du warst genauso egoistisch und hast einen Scheiß auf die Gefühle anderer gegeben. Du hast jeden von dir gestoßen und allen Menschen um dir herum wehgetan. Du hast damals deinen Schmerz über den aller anderen gestellt und heute sprichst du jedem die Sorge um dich ab, indem du dich so rücksichtslos gegenüber den Menschen verhältst, die dich lieben.“ Mittlerweile war Vince‘ Zorn verraucht, nichts zurücklassend als Resignation. „Schau in den Spiegel und frag dich, ob dein Vater das gutheißen würde.“

Stille.

Einfach nur Stille.

Es war so still, dass Zayn meinte, seinen viel zu schnellen Herzschlag hören zu können.

Seine Augen brannten, und ehe er sich versah, wandte er sich um, stürzte ins Badezimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Er drehte den Wasserhahn auf und ließ sich das eiskalte Wasser über Hände und Arme laufen, schöpfte es sich ins Gesicht, darauf achtend, das Pflaster an seiner Stirn nicht nass zu machen.

Er schaffte es nicht, aufzusehen, konnte seinem Blick nicht im Spiegel begegnen. Stattdessen starrte er nur dem fließenden Wasser nach, als er sich mit zitternden Händen am Waschbecken abstützte. Der Schmerz in seiner Seite war als dumpfes Pochen zurückgekehrt. Für den Moment half er ihm dabei, sich zu besinnen.

Tatsächlich war Zayn bereit gewesen, sich etwas anzuziehen, eine Tasche zu packen und direkt loszuziehen. Nun wurde ihm bewusst, wie närrisch er gewesen war. Vince hatte ja recht. Nicht einen Gedanken hatte er an seine Mutter verschwendet. Nicht einmal seinem besten Freund hatte er mehr Aufmerksamkeit als eine grobe Beachtung geschenkt.

Es war ihm um Chandra gegangen, das war klar, aber auch um sein eigenes schlechtes Gewissen. Letzteres hatte sich nun schier verdreifacht.

Zayn verharrte noch kurz am Waschbecken, nachdem er das Wasser abgestellt hatte. Noch immer konnte er sich nicht dazu anherrschen, aufzuschauen. Er schlug lediglich die Zähne aufeinander und wartete, bis das Brennen in seinen Augen nachließ. Im Anschluss trocknete er sich das Gesicht und ging zurück in sein Zimmer.

Er erspähte Vince draußen auf dem Balkon, mit dem Rücken zu ihm lehnte er am Geländer. Er wandte sich um, als Zayn hinter ihm an die Fenster trat. Sein Gesichtsausdruck war nach wie vor ernst und betrübt.

„Du hattest recht“, sagte Zayn monoton.

„Ich weiß.“ Vince‘ Worte klangen mindestens genauso schlicht, kein bisschen überheblich. Nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Ich meinte übrigens nicht, dass du direkt losrennen und in den Spiegel schauen sollst. Das war eher metaphorisch gemeint.“

Zayn zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich hab’s eh nicht geschafft, reinzuschauen.“

„Oh.“ Kaum merklich verzogen sich die Lippen seines Gegenüber zu einem Schmunzeln. „Vermutlich besser so. Du siehst echt scheiße aus.“

Daraufhin ging Zayn wieder zum Bett und ließ sich mit einem tiefen Seufzen darauf nieder. Er stützte das Gesicht in die Hände und verharrte kurz so, bis er das warme Fell des Fiffyens an seiner Seite spürte. Dessen Schnauze stupste ihn an, sodass er einen Arm hob und sich das Pokémon darunter an ihn drückte.

„Ich habe es einfach verbockt, weißt du? Alles, was hätte schieflaufen können, ist schiefgelaufen.“ Er wusste nicht, ob er das zu dem Fiffyen oder zu Vince sagte, aber Letzterer kam wieder zurück ins Zimmer und das Unlichtpokémon war nur damit beschäftigt, Zayns Nähe zu genießen.

„Nicht alles. Niemandem hier, außer dir, ist etwas passiert. Das hätte auch ganz anders ausgehen können“, sagte Vince.

„Es hätte aber gar nicht erst so weit kommen müssen! Es ist meine Schuld. Wenn ich besser aufgepasst hätte …“

„Wovon redest du?“

„Ich bin wie ein Narr in jede Falle getappt, die Ray mir gestellt hat“, stieß Zayn hervor und erhob sich wieder vom Bett. Fiffyen jaulte erschrocken auf, doch er hatte im Moment keinen Kopf dafür. „Ich wusste, dass diese verdammten Cryptopokémon nicht grundlos überall auftauchen – und was mach ich? Ich geh erst mal nach Portaportus und laufe direkt Rays … keine Ahnung … Schlägern in die Arme. Gott, wie konnte ich so dumm sein!“ Jetzt packte ihn die Unruhe wieder und er lief ungehalten im Zimmer auf und ab. „Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug gewesen …“, er raufte sich die zerzausten Haare, „bin ich dann auch noch so dumm und benutze mein Arkani zur Flucht. Verstehst du, was ich meine? Diese eine Entscheidung hat alles kaputtgemacht!“

„Ich komme gerade nicht mehr ganz mit. Was hat das denn bitte damit zu tun, dass sie wussten, wo du bist?“

„Irgendjemand muss Arkani wiedererkannt haben. Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist, aber ich hätte es einfach bedenken müssen. Mein Vater war so oft in Pyritus, irgendjemand hat Arkani irgendwann mal gesehen und wiedererkannt. Ist ja auch kein Wunder!“ Zayns Wut richtete sich nicht länger nach außen, jetzt war er einfach nur wütend auf sich selbst. Er hätte mit der Faust die Wand einschlagen können, wenn ihm das mehr als eine gebrochene Hand eingebracht hätte. „Ganz Orre konnte Arkani und mich in den Nachrichten sehen. Ich hätte es Ray nur noch einfacher gemacht, wenn ich ihm Bescheid gesagt hätte.“

„So ein Schwachsinn! Du konntest doch nicht wissen, dass ausgerechnet jemand-“, versuchte Vince, ihn zu beschwichtigen, aber Zayn hörte gar nicht richtig hin.

„Ich hätte es aber wissen müssen! Verstehst du das, Vince? Ich!“ Mehrmals deutete er beim Sprechen auf sich selbst, um seine Worten Ausdruck verleihen. „Es ist einzig allein meine Schuld, dass Ray Chandra mitnehmen konnte. Ich habe ihr die ganze Zeit gesagt, dass das nicht passieren wird, und nun habe ich zu verschulden, dass sie wieder in den Händen dieses kranken Spinners ist!“

Das entlockte Vince ein entnervtes Stöhnen und Kopfschütteln. „Also entschuldige mal, aber du kannst wirklich nicht alle Eventualitäten bedenken. Wie hättest du denn ahnen können, dass jemand Arkani wiedererkennt? Und das nach so langer Zeit. Dein Vater war doch vor Jahren das letzte Mal dort.“

Das brachte Zayn auf einen Gedanken. „Wenn das schon so lange her ist und Ray trotzdem innerhalb von so kurzer Zeit wusste, dass ich hier bin … Er war sich so sicher …“ Er hatte sich regelrecht daran ergötzt, dass Zayn von seinem Auftauchen überrumpelt gewesen war. „Ich glaube nicht, dass er Arkani kannte. Aber die Person, die es ihm gesagt hat, die wusste ganz genau, dass Arkani zu mir gehört.“ Oder zu seinem Vater. „Derjenige wusste, wer ich bin, weil er Dad kannte.“

Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens sagte sein Freund: „Diese Entwicklung gefällt mir nicht.“

„Was soll’s. Mein einziger Vorteil ist futsch. Es lief alles schief.“

„Ja, das kannst du jetzt noch ein paar Mal sagen, aber das ändert auch nichts mehr. Wir brauchen einen neuen Plan.“

Zayn setzte sich wieder aufs Bett und raufte sich die Haare, als er antwortete: „Ich habe aber keinen Plan. Ich habe auch keine Pokémon mehr.“

Das war das nächste, worum er sich sorgen musste. Er wusste, dass Ray Chandra lebend benötigte, also würde er ihr vielleicht als Strafe für ihre Flucht wehtun, aber sie zumindest nicht umbringen. Für Zayns Pokémon galt das wohl weniger. Er konnte sie töten, wenn er es wollte, oder er konnte … Über die Alternative wollte Zayn gar nicht allzu sehr nachdenken.

Zu einem Cryptopokémon zu werden, musste schlimmer sein als der Tod.

Er merkte, dass er auf den Boden gestarrt und Vince‘ Antwort gar nicht wahrgenommen hatte. Nun sah er auf, als dessen Hand auf seiner Schulter ruhte.

„Wie geht es Brutalanda?“ Es löste ein schlechtes Gewissen in ihm aus, dass er nicht früher an sein verletztes Pokémon gedacht hatte. Das einzige, das ihm noch geblieben war.

„Ganz gut. Deine Mutter hat sich um es gekümmert. Aber es wird eine ganze Weile nicht fliegen können“, erwiderte Vince einfühlsam. Zayn erkannte das Mitgefühl in seinem Blick, was ihn sich noch mieser fühlen ließ.

Er war wirklich zu bemitleiden.

Es verging ein kurzer Moment des Schweigens, in dem Zayn das Fiffyen, welches mittlerweile auf seinen Schoß saß, kraulte. Schließlich atmete er tief ein und sagte: „Ich muss nach Pyritus, egal, was du sagst.“

Ob Ray gedacht hatte, er würde ihm einen zusätzlichen Anreiz geben müssen, indem er seine Pokémon entführte? Möglich. Aber Zayns Intention wäre keine andere, wenn er sie noch hätte. Er würde Chandra nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Ray war es nur zu verdanken, dass er sich nun noch elender und machtloser fühlte und sich obendrein nicht nur um Chandra sorgen musste. Vielleicht war das seine Absicht gewesen.

Es war ihm gelungen.

„Ich weiß“, entgegnete Vince zu Zayns Überraschung.

Fiffyen sprang von seinem Schoß, als er aufstand. „Und ich habe keine Zeit zu verlieren, sonst passiert wer weiß was …“ Er bemühte sich, seine Worte ruhig klingen zu lassen, um nicht den nächsten Streit vom Zaun zu brechen.

In Vince‘ Gesicht war nichtsdestotrotz umgehend der vorherige Ernst zu erkennen. „Was willst du tun? Nach Pyritus stampfen und diesen Typen bitten, dir deine Pokémon wiederzugeben und obendrein bitte auch Chandra? Er wird dich auslachen.“

„Tja, von hier aus kann ich wohl kaum etwas tun, oder was meinst du?“

„Du kannst nicht einfach planlos losstürmen wie sonst auch. Du hast keine Pokémon mehr. Du hast nichts gegen ihn in der Hand“, betonte sein Gegenüber.

„Denkst du, das wüsste ich nicht?“, platzte es aus Zayn heraus. „Danke für die Erinnerung! Und trotzdem kann ich nicht einfach hierbleiben und zulassen, dass er Chandra und meinen Pokémon sonst was antut. Du wirst mich nicht aufhalten können.“

„Ich weiß. Deshalb werde ich mitkommen.“

„Bitte was?“

„Ja, du hast recht.“ Vince zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Du würdest sowieso gehen, sobald kurz niemand hinschaut. Würdest dich rausschleichen, ohne Tschüss zu sagen. Oder Lebwohl. Also werde ich mitkommen.“

Zayn machte eine abwehrende Handbewegung, als hielte er diesen Vorschlag für unfassbar absurd. „Ach was, du kannst nicht–“

„Natürlich kann ich.“ Sein Freund trat näher an ihn heran, sodass er den Impuls hatte, zurückzuweichen. „Du hast kein Auto und mit dem Zug bist du im Notfall nicht flexibel. Und ich werde dich nicht noch mal alleine nach Pyritus gehen lassen, diesmal sogar ohne Pokémon. Also, das ist deine einzige Option. Ich begleite dich.“

Zayn erkannte, dass es Vince ernst damit war und er sich nicht umstimmen lassen würde, daher gab er ohne großes Murren nach. „Na gut. Wann fahren wir los?“

„Morgen.“

„Was? Morgen? Chandra ist doch schon längst in Pyritus. Bis morgen könnte ihr sonst was passieren und Ray könnte meine Pokémon in Cryptopokémon verwandelt haben und …“

„Wenn er das wirklich vorhat, wird er damit sicher nicht lange warten.“

Der Gedanke daran bereitete Zayn Bauchschmerzen. „Das kannst du nicht wissen.“

„Morgen, Zayn“, betonte Vince todernst. „Schau dich doch mal an. Du musst dich noch einen Tag ausruhen. Außerdem solltest du mit deiner Mutter reden und ihr schonend beibringen, dass du wieder gehen wirst. Die arme Frau kriegt noch einen Herzinfarkt, weil du dich immer einfach in Lebensgefahr begibst.“

Zayn stand es erneut im Sinne, zu protestieren, doch er schluckte den Protest hinunter, als Vince ihn böse anfunkelte. „Ich mein’s ernst. Wag es nicht, ohne mich gehen, sonst bin ich die längste Zeit dein Freund gewesen. Klar?“

Zwar zweifelte Zayn den Wahrheitsgehalt der Drohung an, aber er entschied, dass es diesmal klüger war, nachzugeben. „Ist gut … Dann morgen.“

„Gut. Außerdem muss ich nach Hause und vorher ein paar Sachen erledigen. Wie du vielleicht gemerkt hast, war ich die ganze verdammte Nacht hier“, sagte Vince und deutete auf seine knittrige Kleidung.

„Man kann’s riechen“, neckte Zayn ihn.

Sein Freund grinste und ging an ihm vorbei. „Fick dich, Zayn. Ich werde jetzt gehen. Ich hab kaum ein Auge zugetan. Ich brauch Schlaf, bevor ich mich den halben Tag ins Auto setze.“ An der Tür wandte er sich noch einmal um. „Morgen früh um Neun komme ich wieder.“

„Keine Minute später!“

„Niemals.“ Vince riss die Zimmertür auf und stolperte fast, als er nach draußen wollte. „Was machst du denn hier?“

„Ähh …“

Zayn sah von seiner Position aus nicht, wer dort stand, aber die nervöse Stimme seiner Schwester war unverkennbar. Er trat näher und sah Jill am Boden vor der Türschwelle knien, Enton neben sich.

„Ich hab Stimmen gehört und wollte schauen, wie es dir geht. Dann hab ich mich aber nicht getraut, zu klopfen“, erklärte sie kleinlaut und sah zu ihnen auf.

Auf die Worte hin seufzte Zayn. Er dachte lieber gar nicht darüber nach, wie lange sie schon vor der Tür war und was sie alles gehört hatte.

„Ich bin dann mal weg.“ Vince schob sich an Jill vorbei und verschwand den Gang hinunter – er würde alleine nach draußen finden.

„Jetzt komm schon rein“, forderte Zayn.

Kaum dass Jill mit Enton ins Zimmer getrottet war, schlang sie die Arme um Zayn und drückte ihn an sich. Überrumpelt schloss er ebenfalls die Arme um sie. Sie reichte ihm mittlerweile bis zur Brust und hatte einiges an Kraft, wie er merkte, als seine geprellten Rippen unter der heftigen Umarmung protestierten. Aber er biss die Zähne zusammen und hielt den Schmerz aus, da er spürte, wie Jills Schultern zitterten.

Als er hörte, wie sie schniefte, strich er ihr über den Kopf. „Hey, was hast du denn?“ Alle vorherige Anspannung war mit einem Mal verschwunden.

Jill hob den Kopf – auf ihren Wangen glänzten Tränen, die nun auch sein T-Shirt befeuchteten. „Ich bin so froh, dass es dir gut geht“, schluchzte sie. „Ich hatte Angst um dich.“ Bei den Worten schüttelte sie ein weiterer Weinkrampf.

„Ach, Jill.“ Er zog sie wieder an sich und fuhr ihr beruhigend über den Rücken, als sie weinte. Nach einer kleinen Weile fügte er hinzu. „Es geht mir doch gut. Es ist gar nichts passiert, siehst du?“

Sie holte zitternd Luft, und er spürte, wie nass sein T-Shirt war. „Aber … aber …“ Sie brach mehrmals unter heftigen Schluchzern ab. „Aber Mom hat gesagt … Also ich hab gehört, wie sie sagte …“ Was immer sie auch sagen wollte, es ließ sie noch heftiger erzittern und weinen.

Es schmerzte ihn, sie so zu sehen. „Hey, ist ja schon gut. Alles gut.“

Jill zog abermals tief Luft ein, bevor sie wieder zu sprechen fähig war. „Sie hat gesagt, wenn du nicht aufpasst, dann … dann wirst du so enden wie Dad.“ Das Ende war kaum mehr verständlich gewesen, aber er hatte es dennoch ohne viel Mühe verstehen können.

Ihre Worte trafen so tief in ihm etwas, dass nun Zayns Augen brannten und er sich beherrschen musste, es seiner Schwester nicht gleichzutun. Das konnte er sich jetzt nicht erlauben.

„Ach Mensch. Jill.“ Er blinzelte die Tränen weg und mit ihnen auch den Schmerz, welcher in ihm hervorgekrochen war. Im Anschluss löste er Jills Arme um sich und ging in die Hocke, sodass er nun zu ihr aufsah. Mit geröteten Augen und Wangen sah sie zu ihm herab; ihr verletzter Blick bohrte sich direkt in sein Herz.

„Das wird nicht passieren“, sprach er ruhig.

„Wieso nicht? Bist du dir da sicher?“

Zayn legte ihr die Hände um die Oberarme. „Ich passe auf. Mom hat nur ein wenig … übertrieben. Weil sie besorgt war. Aber es ist alles gut. Mir geht es gut, siehst du?“ Er lächelte.

„Ganz sicher?“

„Ganz sicher.“ Er sah zur Seite und schmunzelte. „Schau mal, wer jetzt auch ganz traurig ist.“

Es handelte sich um niemand anderen als Enton, welches mindestens ebenso besorgt dreinblickte wie Jill. Tränen standen ihm – so sehr das eben möglich war – in den Augen, die vor Sorge so groß waren wie Untertassen. Es hatte schon immer besonders empathisch auf Jills Gefühlslage reagiert.

„Tut mir leid, Enton“, sagte Jill und strich dem Pokémon über den gefiederten Kopf. Dann setzte sie sich einfach daneben auf den Boden.

Zayn reichte ihr eine Packung Taschentücher und wartete, bis sie fertig war. Fiffyen schlich derweil zu ihnen und schloss zaghaft Bekanntschaft mit Enton.

„Dieser Mann von gestern“, setzte Jill an, als sie fertig mit Naseputzen war. „Ist er der Grund, warum Chandra nicht mehr hier ist?“

„Ja.“

„Ist er ihr Bruder?“

„Ja, ist er.“

„Aber … sie wollte doch gar nicht gehen. Wieso ist sie dann gegangen?“, fragte sie verwirrt.

„Manchmal …“ Wie sollte er ihr das sagen? Es war nicht alles für das Gehör einer Elfjährigen bestimmt, aber er kannte Jill. Sie lauschte nicht an Türen, weil sie ihn ärgern wollte, sie tat es, weil sie genau wusste, dass die Erwachsenen ihr nicht alles erzählen würden. „Manchmal muss man Dinge tun, die man nicht will, weil sie für den Moment die beste Wahl sind.“

Jill sah ihn ernst und hochkonzentriert an. „Hat er Chandra gezwungen?“

„Jill …“

„Du kannst es mir sagen! Ich bin keine fünf mehr“, beharrte sie.

Er lachte leicht. „Nein, du bist fast erwachsen. Mein Fehler.“

„Also?“

„Sie hatte keine andere Wahl, als mitzugehen, ja.“ Sie hätte sich weigern können, aber vermutlich zu einem schrecklichen Preis. Er wusste nicht, ob er in dem Moment die Stärke gehabt hätte, sich so leicht seinem Albtraum zu stellen, aber Chandra war abgehärtet nach all den Jahren in Pyritus.

„Ich verstehe das nicht! Warum macht er so etwas?“ Jill zog Enton zu sich und drückte es leicht.

„Was meinst du?“

„Er ist doch ihr Bruder, also wieso zwingt er sie zu etwas, das sie gar nicht will? Er sollte das nicht tun.“

Wenn es doch nur so einfach wäre. „Ich weiß, Jill. Ich weiß.“

„Wirst du sie wieder zurückbringen?“ Sie sah hoffnungsvoll zu ihm. „Ich habe gehört, was ihr vorhin gesagt habt. Dass ihr morgen gehen wollt. Mom wird das nicht gefallen. Aber … aber wenn du gehst, dann musst du mir versprechen, dass du wiederkommst und Chandra mitbringst.“

„Das werde ich“, versicherte er ihr und klang dabei zuversichtlicher, als er sich in Wahrheit fühlte.

„Gut, sie gehört nämlich zu dir.“

Zayn musste auf ihre Worte lachen, da sie es wie einen unumstößlichen Fakt klingen ließ. „Und wenn wir wieder da sind, werden wir Enton ein paar Attacken beibringen, ja?“

Ihre eisblauen Augen strahlten. „Ja!“ Sie zog Enton in eine Umarmung und streichelte auch Fiffyen, welches sich an sie schmiegte.

Zayn betrachtete die drei mit einem Gefühl von Wehmut. Er würde Jill alles versprechen, damit sie nicht länger weinte, aber er vermochte nicht zu sagen, ob seine Worte der Wahrheit entsprechen würden.

Beim letzten Mal war er nur nach Pyritus gegangen, um sich umzuschauen und Informationen zu sammeln. Damals war Ray lediglich jemand gewesen, von dem er über Dritte gehört hatte, und Zayn selbst ein vermeintlich Unbekannter. Nun stand er auf Rays persönlicher Abschussliste sicherlich ganz oben und er hatte seine Pokémon mitgenommen, um sicher zu gehen, dass sie sich wiedersahen …

Wenn Zayn keine Vorsicht walten ließ, würde er Jill noch viel mehr Grund zum Weinen geben.

Im Haus des Feindes

„Tja, Chandra, was mache ich jetzt mit dir?“

Chandra brachte kein Wort über ihre ausgetrockneten Lippen, beobachtete nur mit erzwungener Fassung, wie Ray einen ihrer Pokébälle in der Hand wog und langsam drehte. Das kühle Licht der Deckenbeleuchtung spiegelte sich in der roten Hälfte der Kapsel.

Ihre eigenen Hände lagen kalt und klamm in ihrem Schoß.

Ray saß ihr am Tisch gegenüber, zurückgelehnt und die langen Beine überschlagen. Vor ihm auf der gläsernen Tischplatte lagen ihre restlichen drei Pokébälle, klein und in greifbarer Nähe.

Sie hatte bereits darüber nachgedacht, ob sie es wagen sollte. Ein närrischer Gedanke, der aus einem noch viel lächerlicheren Überbleibsel von Hoffnung entstanden sein musste. Vielleicht würde sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite haben und schneller als er sein. Sie würde sich den erstbesten Pokéball schnappen, idealerweise Psiana oder Nachtara, und ihr Pokémon sofort herauslassen. Lunel hatte sich bereits in der Vergangenheit auf Ray gestürzt und Sunny war mit ihren telekinetischen Kräften jedem Menschen weit überlegen.

Doch sie hatte den Gedanken sogleich wieder begraben. Zwar war sie für den Moment alleine mit Ray in dessen Büro, doch das mochte kaum für das ganze Haus gelten. Außerdem hatte er seine eigenen Pokémon, die stärker waren als ihre, viel stärker. Selbst wenn sie vielleicht zu groß waren, um sie hier aus ihren Bällen zu rufen, so wurde Chandras vage Überlegung von zu vielen unbekannten Faktoren beherrscht, von zu viel Risiko.

Sie kannte sich hier nicht aus. Sie wusste nicht, wie Ray reagieren würde. Er könnte aus der nächstbesten Schublade eine Waffe hervorholen.

Chandra war nicht dumm. Sie würde ihn nicht unnötig reizen.

Er wusste das, ebenso wie er wusste, dass sie keine Chance hatte, sonst würde er ihre Pokébälle dort gar nicht erst liegen lassen.

„Ich habe nachgedacht“, sagte er, woraufhin sie aufschreckte. „Bedauerlicherweise brauche ich dich noch, also kann ich mich deiner nicht entledigen. Aber du weißt bestimmt selbst, dass du gegen unsere Vereinbarung verstoßen hast. Dass du einen eigenen Willen in dir entdecken würdest, erschien mir ehrlich gesagt immer so absurd, dass ich mir nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht habe, was zu tun sei, sollte dieser Fall eintreffen. Wie bricht man diesen Willen nun am besten wieder?“

Er sah zu ihr, als würde er eine Antwort erwarten. Als sie schwieg, lächelte er leicht und legte den Pokéball aus seiner Hand neben die übrigen drei.

„Du gingst mit zwei Pokémon und kamst mit vier zurück. Was für dich wohl der Ausdruck für die Hoffnung auf ein anderes Leben war, bedeutet für mich letztlich bloß mehr Cryptopokémon.“

„Nein!“, platzte es aus Chandra, als ihr die Bedeutung seiner Worte dämmerte. „Das kannst du nicht tun!“

Ray nahm die Pokébälle und verfrachtete sie in eine Schublade des Tisches. Sie vernahm das Drehen eines Schlüssels. „Ach nein? Wer sollte mich daran hindern? Du etwa?“

Er stand auf und ging um den Tisch herum. Seine hohe, vor ihr aufragende Gestalt schüchterte sie ein, und es wurde nicht besser, als er ihren Stuhl mitsamt ihr zu sich drehte, eine Hand auf dem Tisch abstützte und die andere auf der Rückenlehne ihres Stuhls, sodass sie zwischen ihm und dem Glastisch gefangen war.

„Oder etwa Zayn?“ Er ließ den Namen wie eine Krankheit klingen. „Du bist auf dich allein gestellt, Chandra. Dein Retter ist nicht hier. Und wenn er es ist, wird er ganz andere Sorgen haben als dich, das verspreche ich dir.“

Die Stuhllehne bohrte sich hart in ihren Rücken, als sie unter seinem kalten und zugleich selbstherrlichen Blick zurückweichen wollte. „Was hast du vor?“

„Muss ich mir noch überlegen. Es soll ja nicht zu schnell wieder vorbei sein.“

Chandra rümpfte die Nase; der spitze Duft seines Parfums stieg ihr in die Nase. „Du musst das nicht tun“, meinte sie wie eine Idiotin. Ray konnte tun, was er wollte, und er würde es auch.

Er beugte sich weiter zu ihr runter. „Ich will deine Pokémon nicht und ich brauche sie auch nicht. Alles, was mit ihnen passiert, ist allein deine Schuld. Wenn ich also beschließe, sie zu Cryptopokémon zu machen, dann trägst du dafür die Verantwortung. Und da ich dich leider möglichst unversehrt brauche, sind deine Pokémon nun mal der beste Weg, um dich für dein Vergehen zu bestrafen.“

In einem Anflug von plötzlicher Panik versuchte sie, ihn von sich zu stoßen, doch er sah ihren lächerlichen Angriff kommen und stieß sie zurück auf den Stuhl, kaum dass sie sich erhoben hatte. „Du bist doch völlig krank!“, brachte sie hervor, wobei sich ihre Stimme überschlug.

Im nächsten Moment klatschte es laut und ein Brennen entfachte sich auf ihrer linken Wange, begleitet von einem dumpfen Piepen in ihrem Ohr.

Kurz war es unheimlich still, bis auf das penetrante Piepen. Chandra starrte auf den Boden und wollte erst gar nicht wahrhaben, was passiert war. Ihr Körper war schneller als ihr Verstand – heiße Tränen brannten in ihren Augen, dann begriff sie.

Er hatte sie geschlagen. Ray … hatte sie geschlagen.

Das hatte er noch nie getan.

Er hatte nie Hand an sie gelegt. Nicht einmal, als sie zum ersten Mal versehentlich ein Cryptopokémon geheilt hatte – und das hatte ihn damals wirklich zur Weißglut getrieben – und auch sonst nicht, wenn er wütend gewesen war.

Er holte sie aus ihrem Schockzustand, als er mit grobem Griff ihr Kinn packte und sie zwang, ihn anzusehen. Die Tränen rollten über ihre Wangen.

„Mein einziges Problem ist, dass ich ein kleines vorlautes Miststück als Schwester habe, das vergessen hat, wo seine Grenzen sind“, zischte er. „Aber das können wir ändern.“

Seine Finger drückten schmerzhaft in ihren Kiefer. „Du tust mir weh“, presste sie hervor.

„Denkst du, das interessiert mich?“, entgegnete er kalt. „Heb dir deine Tränen für später auf, du wirst sie noch brauchen. Deine Pokémon werden zu Cryptopokémon. Wenn ich will, siehst du auch dabei zu sein und kannst ihre Qualen sehen und fühlen. Und du wirst rein gar nichts dagegen tun können – wenn nötig, fessle ich dich auch an einen Stuhl, damit du jeden herrlichen Moment davon mitkriegst.“

Alle Farbe wich vor Entsetzen aus Chandras Gesicht. Sie erkannte in dem seinen, dass er die Worte völlig ernst meinte, als ihn ihre Fassungslosigkeit zum Schmunzeln brachte.

Kalte Angst ergriff ihr Herz bei der Vorstellung an das Gesagte …

Als Ray die Hand von ihrem Gesicht nahm, nur um sie wieder zu heben, zuckte sie zusammen. Sie kniff die Augen zu, in Erwartung der nächsten Ohrfeige, doch bevor der Schlag sie traf, saß sie plötzlich aufrecht und mit pochendem Herzen im Bett, Dunkelheit umfing sie wie ein Mantel.

Chandra brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo sie war – vor allem, wo sie nicht war. Heftig atmete sie ein und aus und auf ihren Wangen spürte sie die Tränenschlieren. Ihr Blick streifte ziellos durch den Raum, doch außer ein wenig Licht am Fenster war es finster.

Ihre Finger fuhren abwesend über ihre Wange, aber da war kein Schmerz, nur Nässe.

Sie hatte bloß geträumt.

Im ersten Augenblick jagte ihr die Erleichterung neue Tränen in die Augen, im zweiten erinnerte sie sich, dass sie nicht länger in der Sicherheit des Labors bei Zayn war, sondern … bei Ray.

Das Geschehene war nur ein Albtraum gewesen, einer, der sich äußerst echt angefühlt hatte, aber die Wahrscheinlichkeit, dass aus dem Traum Realität werden könnte, erschien ihr groß.

Zittrig sank sie wieder in ihr Kissen und zog die Decke bis unters Kinn.

Es gab keinen Grund, sich sicher zu fühlen, wenngleich ein warmes Bett mit einer dicken Decke gerne das Gegenteil suggerierte. Nichts konnte sie vor Rays Willkür schützen und niemand würde ihn aufhalten, wenn er tatsächlich Gefallen an dem Gedanken fand, ihre Pokémon in Monster zu verwandeln.

Der Gedanke daran jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken und erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Chandra wollte so gerne stark sein, aber sie schaffte es nicht, ihrem Schicksal mit erhobenem Haupt entgegenzutreten, nicht diesmal. Alles, was sie fühlte, war ein Schmerz in ihrer Brust, der sie von innen heraus zu versengen schien. Sie glaubte nicht, dass sie es würde ertragen können, bei ihren eigenen Pokémon, die sie über alles liebte, sehen und fühlen zu müssen, wie ihnen diese Qual angetan wurde, diese seelische Folter.

Wenn das passierte, dann würde sie … einfach aufgeben. Dann hatte Ray endgültig gewonnen.

 

******

 

Nach einer nahezu schlaflosen und tränenreichen Nacht brach der nächste Morgen an. Als Chandra sich aus dem Bett quälte, merkte sie, dass die vielen Weinkrämpfe ihren Tribut forderten. Neben schrecklichen Kopfschmerzen fühlte sich auch der Rest ihres Körpers erschöpft an. Sie spürte schon, bevor sie vor den Spiegel im Badezimmer trat, wie geschwollen ihre Augen von dem vielen Weinen waren, doch als sie sich schließlich sah, erschrak sie dennoch.

Dunkle Ringe unter geröteten Augen zeigten überdeutlich, dass eine fürchterliche Nacht hinter Chandra lag. Umgehend drehte sie den Hahn auf und schöpfte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

So konnte sie doch nicht vor Ray treten. Das würde ihn nur amüsieren. Sie war ja überhaupt nur aus dem Bett gekrochen, damit sie sich nicht die Blöße geben musste, dass er womöglich auf einmal in der Tür stand und sie so … verletzlich vorfand.

Grauenvolle Vorstellung.

Letztlich wusste sie nicht, wie realistisch es war, dass Ray überhaupt hier, in diesem Zimmer, auftauchte. Als sie am vorherigen Abend in Pyritus angekommen waren, hatte sie erkannt, dass sie zu seinem privaten Anwesen geflogen waren. Das Haus dort ließ sich eher als kleine Villa bezeichnen und wollte mit dem gepflegten Äußeren nicht so ganz zu Pyritus passen. Zwar war die Gegend, in der es sich befand, etwas abgelegener und nicht so schäbig wie andere Bezirke, aber es blieb ein ungewohntes Bild. Viel hatte Chandra jedoch nicht erkennen können, da war der Helikopter bereits auf dem Landeplatz hinter dem Haus zum Stehen gekommen.

 Sie war noch nie hier gewesen. Natürlich hatte sie um die Existenz seines Privathauses gewusst, aber ihm gehörte auch ein Bürogebäude, das zentraler in Pyritus lag und von außen absolut unscheinbar aussah. Geschäftliches regelte er sicher dort, zumindest war sie einige wenige Male da gewesen, wenn es etwas zu klären gegeben hatte. Dass er sie jetzt zu seinem privaten Anwesen gebracht hatte, zeigte einerseits, wie ernst es ihm damit war, sie zukünftig näher bei sich zu wissen, andererseits war sie sich aber auch sicher, dass ihm dieser Umstand gleichermaßen lästig sein musste. Ray wollte sie sicherlich nicht nah bei sich haben.

Vielleicht war die Unterbringung hier lediglich von kurzer Dauer und der Tatsache geschuldet, dass ihre Strafe für ihre Flucht noch ausstand. Danach wartete womöglich schon ein anderer Ort, an den er sie verfrachten konnte. Dieses schicke Haus hatte bestimmt ein weniger schönes Kellergewölbe, gar einen Kerker.

Die Vorstellung ließ Chandra schaudern, als sie wieder aus dem Bad trat. Das Zimmer, in das man sie gesteckt hatte, war penibel sauber und recht groß. Bett sowie sonstiges Mobiliar waren in dunklen Farben gehalten und der graue Teppichboden dämpfte jegliche Schritte.

Lediglich das Fenster war eher klein – und bot ihr absolut keine Fluchtmöglichkeit, selbst wenn das Stockwerk tiefer gewesen wäre. Es ließ sich zwar kippen, aber draußen vor dem Fenster waren Eisenstäbe abgebracht. Ohne Hilfsmittel würde man ohnehin nicht unversehrt unten ankommen, aber die Stäbe überraschten Chandra auch nicht. Ray fürchtete wohl, dass sie sich etwas antun würde, wenn sie unbeobachtet war. Ihr Zimmer war nicht nur penibel sauber, es war nahezu steril. Es gab hier nichts, das im Ansatz spitz oder scharfkantig war, ja nicht einmal ein Wasserglas. Sie hatte bloß einen Kunststoffbecher gefunden, den sie im Bad mit Wasser gefüllt hatte. Auch das Fensterglas erschien ihr so dick und massiv, dass sie das niemals würde zerschlagen können.

Nicht dass sie vorgehabt hätte, sich zu verletzten oder gar umzubringen. Aber es zeigte ihr, dass sie für Ray nach wie vor wichtig sein musste. Sehr wichtig. Und diese Tatsache verschaffte ihr für den Moment ein wenig Ruhe. Noch war ihr Leben sicher – halbwegs.

Sie trat ans Fenster und sah nach draußen. Es war eine kleine Gartenanlage zu erkennen, ein Teil einer Straße und in etwas weiterer Ferne Pyritus‘ Zentrum, so hässlich wie immer. Sie kippte das Fenster und versuchte, durch die Lücke nach unten zu schauen. Vergeblich.

Sie war gefangen. Nachdem man sie gestern Abend in dieses Zimmer gebracht hatte, war sie sich selbst überlassen worden. Zwar gab es schlimmere Räume, in die man jemanden einsperren konnte – sie hatte ja sogar ein sauberes Badezimmer –, aber neben den Möbeln war hier fast nichts. Der Kleiderschrank und die Kommode gegenüber des Bettes waren leer, kein einziges Bild schmückte die Wände.

Hier war sie gnadenlos ihren Gedanken überlassen. Sie war nicht im Besitz einer Uhr, aber sie schätzte die Zeit auf zehn oder elf Uhr. Seit dem gestrigen Morgen hatte sie nichts mehr gegessen, was ihr ihr Körper zwar in Form eines leichten Schwächegefühls mitteilte, aber Hunger empfand sie keinen.

Es war die Furcht, die an ihren Magen zog und ihn in einen schmerzenden Klumpen verwandelte.

Wie sie so aus dem Fenster starrte, fragte sie sich, ob Zayn sie hier überhaupt jemals finden würde. Sie wollte nicht wie eine Jungfrau in Nöten darauf hoffen, dass er sie – schon wieder – retten kam, doch seine Pokémon waren schließlich auch irgendwo hier und die würde er sicher nicht aufgeben. Sie war hin und her gerissen zwischen dem egoistischen Wunsch, dass er sie ebenso retten möge, und dem selbstlosen Gedanken, dass es besser für ihn wäre, sie ein für alle Mal zu vergessen.

Chandra hatte vorher nicht gewusst, wo Rays Privatgrundstück sich befand, und sie ging davon aus, dass die meisten den Ort aus Sicherheitsgründen nicht kannten. Ihr war schleierhaft, wie Zayn das herausfinden sollte. Niemand würde ihm den Ort aus reiner Großzügigkeit verraten. Am Ende lief er bloß ihretwegen in eine Falle und dann … wer wusste schon, was Ray mit ihm machen würde.

Bevor Chandras Gedanken dieser Abwärtsspirale weiterhin folgen konnten, klopfte es an der Zimmertür. Sie drehte sich umgehend um und als sie schwieg, hörte sie, wie die Tür aufgeschlossen wurde.

Ray würde sicher nicht anklopfen, so überraschte es sie nicht, dass Samuel ins Zimmer trat. „Ray möchte dich sprechen“, sagte er.

Sie presste ein „Okay“ an der Angst vorbei, die ihr augenblicklich wieder die Kehle zuschnürte, und trat mit ihm aus dem Zimmer. Während er die Tür schloss, wagte sie einen Blick hoch in sein Gesicht.

Der Mann, der seit jeher für Ray und ihren Vater zu arbeiten schien, war mindestens einen Kopf größer als sie, aber er war noch nie durch eine auffällig breite Statur aufgefallen. Dass sie sich in seiner Gegenwart meist eingeschüchtert fühlte, war mehr dem fast schon stoischem Ausdruck zu verdanken, der neben einigen Falten sein Gesicht zierte.

Samuel würde sicher einen hervorragenden Pokerspieler abgeben, denn sein Gesicht verriet nichts. Störte es ihn, Chandra zu Ray zu bringen? Nervte es ihn, sich mit Aufgaben herumzuschlagen, auf die Ray keine Lust hatte?

Chandra konnte es nicht einschätzen. Aber als sie zusammen durch den Flur gingen, war sie dankbar dafür, dass sie frei neben ihm laufen konnte und er nicht mit einem albernen Fluchtversuch ihrerseits rechnete. Was sie auch nicht vorhatte. Er musste im Alter ihres Vaters sein, aber wenn sie einen Fluchtversuch wagen würde, zweifelte sie nicht daran, dass er sie problemlos einfangen und notfalls gröber sein würde. Sie war einfach froh, dass man sie für den Moment nicht noch mehr wie eine Gefangene behandelte.

Sie gingen ein Stockwerk tiefer und Chandra versuchte unauffällig, sich den Weg einzuprägen. Sie schätzte, dass die Treppen mittig im Haus lagen, aber sie hatte keine Chance, einen Blick nach unten zu werfen, denn obwohl Samuel sie nicht anfasste, behielt er sie im Blick.

Je weiter sie liefen, desto enger wurde es in Chandras Brust. Ihre Hände waren kalt und schwitzig zugleich. Schließlich kamen sie vor einer Tür zum Stehen und in den wenigen Sekunden, in denen Samuel anklopfte, raste die Möglichkeit durch ihren Kopf, es einfach doch zu wagen. In die entgegengesetzte Richtung zu rennen, so schnell sie konnte, und zu hoffen, dass sie auf eine unverschlossene Tür oder ein Fenster traf. Sie mussten jetzt im ersten Stock sein und mit der richtigen Abrolltechnik würde es ihr sicher gelingen, halbwegs unverletzt unten anzukommen, wenn sie sprang.

Aber die Überlegung verpuffte direkt wieder. Chandra war einmal aus Pyritus geflohen und nun wollte Ray sie in seiner Nähe haben. Wenn sie nun, bei der erstbesten Gelegenheit, zu fliehen versuchte, würde er sie vielleicht nicht mal mehr in ein sauberes Zimmer stecken, sondern Schlimmeres mit ihr machen.

Sie musste verdammt noch mal Ruhe bewahren.

Doch kaum war die Tür offen und Samuel bedeutete ihr, den Raum zu betreten, da verabschiedete sich die Ruhe auch schon.

Als sie ihren Bruder sah, kehrte mit einem Schlag die Erinnerung an den schrecklichen Albtraum vergangener Nacht wieder.

Ihr Körper gefror, kaum dass sie mit beiden Beinen im Zimmer stand. Hektisch wanderten ihre Augen über alles, ohne wirklich etwas anderes zu sehen als Ray. Er lehnte an einem Esstisch und betrachtete sie abschätzend.

Samuel schloss die Tür hinter ihr und war weg.

Nur sie und Ray.

Die Situation konnte sich in Nullkommanichts in ein Abbild ihres Traums verwandeln. Ein falsche Bewegung oder ein falsches Wort und er konnte … er würde …

Chandra atmete zittrig ein und senkte den Blick, den sie unter dem seinen nicht länger aufrecht halten konnte. Es fehlte nicht viel und sie würde zu Boden sinken, so weich waren ihre Beine plötzlich. So musste sich ein in die Enge getriebenes Pokémon fühlen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und wäre die Tür nicht unmittelbar hinter ihr gewesen, wäre sie nach hinten gegangen.

„Hast du deine Stimme verloren?“

Sie zuckte zusammen, als Rays Worte sie wie ein Peitschenhieb trafen. Ihre einzige Antwort war ein zurückhaltendes Verschränken ihrer Arme.

„Na gut, soll mir recht sein“, fügte er gleichgültig hinzu. „Setz dich.“ Er deutete mit dem Kopf auf den rechten Bereich des Zimmer und die dort stehende schwarze Ledercouch.

Chandra leistete den Worten umgehend Folge. Wenn sie ihn nicht wütend machte, gab sie ihm keinen Grund, ihr wehzutun. So hoffte sie.

Er ließ sich ebenfalls auf der Couch nieder, schräg gegenüber von ihr, und stützte die Ellbogen auf den Beinen ab. Nachdem er sie einer Musterung unterzogen hatte, sagte er: „Du siehst scheiße aus, Chandra. Harte Nacht gehabt?“

„Wenigstens habe ich eine Entschuldigung dafür“, entwich es ihr, bevor sie sich zusammenreißen konnte. Früher war sie seinen Spitzen meist mit ebenso herablassenden Äußerungen begegnet, aber früher hatte sie auch nicht seine Regeln gebrochen. Sie hätte sich auf die Zunge beißen können für diese unbedachte, dumme Aussage. Stattdessen bohrte sie die Nägel in die Handflächen und beobachte Ray. Sie musste bereit sein, wenn er zornig wurde.

Sein Lachen irritierte sie. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass deine Aufmüpfigkeit verloren gegangen ist.“

Die Worten machten sie sprachlos.

Das … das war falsch. Er sollte nicht lachen. Er sollte ihr sagen, wie schrecklich sie ihn enttäuscht hatte und dass sie für den Rest ihres Lebens keine eigenen Entscheidungen mehr treffen würde.

Andererseits hatte er über einen Monat gebraucht, um sie zu finden, und nun, wo sie zweifellos in seiner Gewalt war, stimmte ihn das womöglich kurzweilig milde. Eine Art Hoch, bevor ihm wieder klarwurde, wie sehr er sie hasste.

„Was-“, sie räusperte sich, „was willst du? Wieso sollte ich herkommen?“

Er lehnte sich zurück. „Wärst du lieber noch länger in dem Zimmer geblieben? Keine Sorge, du gehst bald wieder dorthin zurück.“

Sie schluckte die Angst hinunter. „Bleibe ich jetzt für immer da?“

„Immer ist eine sehr lange Zeit, aber mal sehen. Für den Moment schon.“

„Aber …“ Chandra sprach nicht weiter. Was sollte sie auch sagen?

Mehr war ihr ohnehin nicht vergönnt, den Ray fuhr fort. „Mach mich nicht wütend. Dieser Tag ist anstrengend genug, auch ohne, dass du mich nervst.“

Erst mit diesen Worten nahm sie in näher in Augenschein. Auf den ersten Blick sah er so perfekt aus wie immer, wie jemand, der alle Fäden in der Hand hielt und stets genau wusste, was er tat. Kein einziges Staubkorn wagte es, sich auf seiner dunklen, viel zu teuren Kleidung niederzulassen, und selbst die wenigen kastanienbraunen Haarsträhnen, die ihm in die Stirn fielen, wirkten so, als hätten sie exakt die ihnen zugedachte Position. Ray war schon immer ein Abbild der Exklusivität gewesen in einer Stadt, die wenig Ansehnliches zu bieten hatte.

Natürlich interessierte Chandra selbst das nicht sonderlich. Sollte es jedoch Menschen geben, die schlicht aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes seinen Versprechungen von Macht und Einfluss anheimfielen, so wunderte sie das nicht im Geringsten. Attraktivität blendete seit jeher den Verstand.

Was jedoch ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, war der leicht angespannte Blick aus seinen grauen Augen. Unter normalen Umständen wäre ihr dieser vielleicht gar nicht aufgefallen, aber sie hatte Ray unzählige Male mit einer überheblichen Attitüde gesehen – eigentlich so gut wie immer – und gerade jetzt sollte er doch vor Freude platzen, dass sie wieder hier war. Vielleicht tat er das innerlich, aber nach außen hin überschattete etwas anderes seine Stimmung.

„Wieso sollte ich hierherkommen?“, fragte sie erneut.

„Jemand will dich sehen.“

Diese vier Worte genügten, um ihr endgültig das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

Jemand wollte sie sehen? Es gab nicht viele Personen, die Ray kannten, die bei ihm zu Hause zugegen sein und sie sehen wollen würden.

Nur eine, um genau zu sein.

Ray musste Chandra das Entsetzen an der Nasespitze abgelesen haben, denn er grinste – erheitert und gequält gleichermaßen. „Ja, genau meine Reaktion.“ Er lehnte sich zurück, überschlug die Beine und legte einen Arm auf die Rückenlehne der Couch.

Ihr Blick schweifte zu Boden und färbte sich an den Rändern schwarz. Sie realisierte erst, dass sie für einen Moment aufgehört hatte zu atmen, als ihre Brust eng wurde. Dann sah sie wieder auf und blinzelte.

Der Tränenschleier vor ihren Augen lichtete sich und sie erkannte, dass Ray mittlerweile sein Smartphone in der Hand hielt. Er tippte etwas und warf im Anschluss einen kurzen Blick auf sie. „Tja. Man kann sich seine Familie eben nicht aussuchen.“

Sein Telefon verschwand wieder in seiner Hosentasche. Daraufhin wurde es unangenehm still zwischen ihnen. Chandras Puls erklang pochend in ihren Ohren und sie sah sich unruhig im Raum um, ohne irgendetwas richtig wahrzunehmen. Das Wissen genügte, dass es kein Entkommen gab vor … vor diesem schrecklichen Menschen.

Sie hatte ihren Vater – sie hasste es, ihn so zu nennen, aber das war er nun mal – seit mittlerweile ein paar Jahren nicht mehr gesehen und ehrlicherweise die naive Hoffnung gehegt, ihn vielleicht allerhöchstens noch irgendwann im Sarg liegend auf seiner Beerdigung sehen zu müssen. Nicht, dass sie dort freiwillig hingegangen wäre …

Die Zimmertür wurde mit einem Ruck geöffnet, woraufhin Chandra zusammenschreckte.

Als ihr Vater in den Raum trat und sein Blick fast unmittelbar auf sie fiel, konnte sie nicht viel mehr tun, als die Hände in das Sofa zu krallen, bis ihre Knöchel wehtaten. Der Fluchtinstinkt schlug auf sie ein wie auf ein verängstigtes Pokémon. Mühsam zwang sie sich, ruhig zu atmen.

Er würde ihr nichts tun. Richtig? Er konnte gar nicht. Schließlich war er hier in Rays Haus und Ray hatte schon lange das Sagen, das wusste sie. Ihr Vater war nur mehr ein Statist in ihrem gemeinsamen Geschäft. Und außerdem … was ihr erst jetzt auffiel …

Alt war er geworden. Nicht nur das – er sah auch verdammt scheiße aus.

Chandra hatte ihn so lange nicht mehr gesehen, dass ihr die Veränderung in seinem Gesicht und an seinem Körper regelrecht ins Auge stach. Natürlich hatte sie mitgekriegt, wenn Ray Bemerkungen gemacht hatte, dass ihr Vater mittlerweile kränklich und, wie er gerne sagte, „erbärmlich“ geworden war, aber nun erhaschte sie zum ersten Mal selbst einen Blick darauf. Er war blasser, ergrauter und sein Gesicht wies erheblich mehr Falten auf als früher. Der Zahn der Zeit war nicht gerade gnädig zu ihrem Erzeuger gewesen.

Aber aller Erkenntnis zum Trotz wirkte er doch keinen Deut weniger furchteinflößend.

Ganz im Gegenteil. Voller Abscheu und Missbilligung sah er sie an. „Sieh mal einer an. Wer hat denn da wieder nach Hause gefunden?“

Chandra schluckte hart. „Nicht freiwillig“, würgte sie an dem Klos in ihrem Hals vorbei.

Das entlockte ihrem Vater ein spöttisches Lachen. „Ja, das kann ich mir denken.“

„Und das hier ist nicht mein Zuhause.“ Der Zusatz war wagemutig, aber sie wollte klarstellen, dass sie nicht hierhin gehörte.

Nicht zu dieser Stadt und schon gar nicht zu diesen Menschen, die sich ihre Familie schimpften. Nicht mehr.

„Ach ja? Wo sollte sonst dein Zuhause sein? Etwa bei diesem kleinen Bastard mit Helfersyndrom? Ich bitte dich, mach dir nichts vor“, sagte ihr Vater. „Du warst ein Zeitvertreib.“

„Nenn ihn nicht so!“, fuhr sie auf.

Sie sah nach links zu Ray, aber er wirkte nicht an dem Gespräch interessiert, sondern starrte auf irgendeinen Punkt vor sich.

Ihren Vater zuckte mit den Schultern. „Was du denkst, ist mir ziemlich egal.“

„Deine Meinung ist mir auch egal, und zwar scheißegal. Was weißt du schon, du alter Sack?“ Die Worte waren ihr entflohen, bevor Chandra sich hatte beherrschen können. Ihr war nicht klar gewesen, wie viel Groll auf diesen Mann sie doch tatsächlich in sich trug. Dass sie ihn so lange nicht zu Gesicht bekommen hatte, hatte all die Wut, Scham und Verletzungen aus der Vergangenheit überschattet, aber unter der Oberfläche war die Glut nie ganz erloschen.

„Du freche Göre“, erwiderte ihr Vater und machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu.

Ohne nachzudenken, rutschte sie nach links und somit beinahe neben Ray. Aber ihr Bruder erschien ihr im Moment absurderweise als die kleinere Bedrohung.

„Fass mich ja nicht an!“, spie sie ihrem alten Herrn entgegen. Das unausgesprochene ‚Sonst …‘ hing in der Luft zwischen ihnen. Chandra wusste nur, dass sie nicht von ihrem Vater berührt werden wollte – nicht mit diesen Händen, die irgendwie mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hatten. Wenn er es wagte, würde sie um sich schlagen, kämpfen, schreien.

Sie atmete vor Nervosität heftig ein und aus, in Erwartung einer noch schlimmeren Reaktion.

Doch bevor diese kam, erhob Ray sich, gerade als das Gesicht ihres Vaters sich vor Zorn verdunkelte.

„Das reicht jetzt!“ Rays Stimme war ruhig und zugleich laut und entschieden. Aber die Worte galten nicht ihr.

Sie sah zu ihm auf und erkannte etwas in seinem Gesicht, das ihr vertraut war.

Abneigung. So klar und deutlich, dass sie auch ihrem Vater unverkennbar sein musste. Im Grunde war ‚Abneigung‘ ein noch zu schwaches Wort, um den harten Blick aus Rays Augen treffend zu beschreiben.

Hass war angebrachter, und fast umgehend fiel die gefühlte Temperatur im Raum noch um einige Grad, als nicht nur sie zu dieser Erkenntnis kam.

„Wegen was bist du hier? Bring es hinter dich und stör mich nicht länger, Vater.“

Chandra entspannte sich unmerklich. Sie hatte ihren Albtraum nicht vergessen, aber im Augenblick schien es, als hätte sie in Ray einen Verbündeten gefunden. Sobald ihr Vater weg war, konnte sie sich wieder auf die Bedrohung konzentrieren, die von ihrem Bruder ausging. Eins nach dem anderen.

„Wir sind im Rückstand wegen dieses gottverdammen Monats. Wir brauchen neuen Stoff“, sagte ihr Vater und ignorierte sie dabei gänzlich.

„Es ist nicht so, als unterlägen wir bereits einem Engpass“, erwiderte Ray kühl. „Ich habe das im Blick, keine Sorge. Ich werde nicht länger als nötig warten.“

„Ach ja? Und wann gedenkst du –“

„Morgen. Ich werde nicht riskieren, dass die Qualität …“, Ray sah zu Chandra, als überlegte er, wie viel er vor ihr sagen wollte, „dass die Qualität beeinträchtigt ist, nur weil sie nicht auf der Höhe ist.“

Chandra schnaubte innerlich. Im Helikopter noch hätte er sie am liebsten heulend und frierend in der Ecke liegen gelassen. Anscheinend hatte er Samuels Worte ernstgenommen.

Aber was meinten sie mit Stoff? Eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Klar war, dass sie von ihr sprachen, doch sie konnte sich keinen Reim daraus machen.

„Nun, ich vertraue darauf, dass du weißt, was du tust.“ Es hätte ein nette Aussage sein können, wenn nicht …. „Wie die letzten Wochen“, fügte ihr Vater hinzu.

Ray schenkte dem nicht mehr Beachtung als ein minimales Zucken seines rechten Auges, was Chandra beeindruckte. Das war ganz klar der Versuch einer Provokation gewesen.

Als ihr Vater merkte, dass er keine Antwort bekommen würde, seufzte er und schob die Hände in die Hosentaschen. Nun wandte er sich wieder ihr zu. „Weißt du, Chandra …“

Augenblicklich versteifte sie sich.

„Ich kann mir sehr gut vorstellen, was für eine Art Mensch dein Held ist, dieser …“ Er schien zu überlegen. „Wie war noch gleich sein Name?“

„Zayn“, antwortete Ray.

„Ach ja, genau. Nun, ich bin mit dieser Art Mensch gut vertraut. Dieser Zayn ist sehr berechenbar. Man weiß, was er als Nächstes tun wird, bevor er es selbst weiß. Denn das ist das Problem mit Helden, nicht wahr?“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause. „Sie stürzen sich, ohne nachzudenken, in die Schlacht, und das alles nur, um anderen zu helfen – weil sie es als ihre Aufgabe ansehen, ihre Pflicht.“ Die letzten Worte spie er mehr, als dass er sprach, und wurde prompt mit einem trockenen Hustenanfall bestraft.

Chandra wagte keine Erwiderung; sie wusste nicht, worauf er hinauswollte. In ihrem Magen formte sich ein Klos.

„Du fragst dich sicher, wieso ich mir da so sicher bin. Die Antwort ist einfach: Ich kannte seinen Vater. Wir waren mal Kollegen. Und er war genauso. Hat sich früher in alles eingemischt und konnte seine Meinung nie für sich behalten. Er dachte doch ernsthaft, er könnte mich überzeugen, meine Forschung mit den Cryptopokémon aufzugeben. Als er eingesehen hat, dass seine Bemühungen vergebens sind, hat er versucht, mich aufzuhalten. Ebenfalls nicht sehr erfolgreich, wie du sicher weißt. Denn auch das ist das Problem an Helden. Sie stecken ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen, mischen sich so lange ein, bis sie es nicht mehr tun, weil sie es nicht länger können. Und es scheint so, als falle der Apfel hier nicht weit vom Stamm. Dieser Zayn ist ein berechenbarer Idiot – der Tod seines Vaters war ihm wohl keine Lektion.“

Er sah sie an, als erwartete er Überraschung angesichts der Offenbarung, Zayns Vater gekannt zu haben. Überraschung konnte er haben, aber dies war nicht der Grund dafür, dass Chandra vor Schreck der Mund offenstand und sie unsicher zu beiden Seiten blinzelte.

Der Klos in ihrem Magen wurde zu einem Krampf.

Das konnte nicht sein, wollte sie sagen. Ihr herzloser Vater sollte aufhören, solch grausame Dinge zu sagen.

Aber dann schluckte sie und die Tränen brannten in ihren Augen.

Natürlich. Es musste so ein.

Und sie war so unfassbar naiv gewesen. Egoistisch in ihrem Leid – und ignorant. Gerade sie hätte es doch besser wissen müssen. Hätte es sehen müssen.

Zayn, der nie über seinen Vater sprach, ihn nicht mal beiläufig erwähnte. Der kein einziges Familienfoto in seinem Zimmer hatte. Seine Mutter, die immer ein wenig zu sehr um ihn besorgt war.

Wie hatte sie so blind sein können?

Chandra schreckte auf, als ihr Vater wieder etwas sagte. „Wieso bist du so schockiert?“ Nicht lange, und der Groschen fiel. „Hat er dir etwas nicht gesagt, dass sein Vater tot ist?“

Ihre Unterlippe bebte, als sie die Tränen mit aller Macht zurückhielt. Weinen konnte sie später. Die Demütigung war auch so schlimm genug, als auf dem Gesicht vor ihr ein hämischer Ausdruck auftauchte.

„Oh, tja. Da sitzt die Trauer wohl noch tief“, stellte er fest. „Und das Interesse, es dir zu sagen, war nicht da. Zu bemitleiden.“

Chandra schaffte es nicht, Worte in ihrer Kehle zu formen. Jeglicher Laut wäre umgehend vom brechenden Damm ihrer Tränen hinfort gerissen worden.

„Ich bin ja schon sehr gespannt, diesen Jungen kennenzulernen. Als Vater ist es schließlich meine Aufgabe, mir den Kerl anzuschauen, der mir meine Tochter wegnehmen will, nicht wahr?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Überarbeitete Version vom 30.12.2023
- Kleinere Änderungen am Text
- Kleinere Änderungen im Dialog Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kleine Anmerkung: Da in dieser FF die Pokémon ab Gen 5 nicht existieren, gibt es auch den Feentyp nicht. Flunkifer ist also nur ein Stahl-Pokémon. ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich entschuldige mich vielmals für die lange Wartezeit! Einfach 'ne komische Zeit aktuell. Aber das nächste Kapitel ist schon fertig, also dauert's diesmal nicht ganz so lange. ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Achtung, es folgt ein langes Nachwort. o.o

Ich habe viel überlegt, wie es mit dieser FF weitergehen soll. Mit vielen Sachen bin ich nicht zufrieden, manche Dinge würde ich heute, in einer neuen Version, anders schreiben. Der weitere Verlauf ist auch nicht so gut durchgeplant, als dass ich mich einfach hinsetzen und es runterschreiben könnte. Oft stehe ich vor Momenten, wo ich erst mal überlegen muss, wie genau eine Sache nun ablaufen soll, was passieren wird. Das ist der Logik sicher nicht immer zuträglich und manches Mal entdecke ich selbst Logiklücken.
Eigentlich war diese Story aber auch nie anders geplant. Es sollte immer eine Geschichte sein, bei der ich mir eben nicht tausend Gedanken um alles Mögliche mache und alles bis in letzte Detail plane, sondern die ich einfach entspannt nebenbei schreibe (keine Sorge, ein paar Gedanken mache ich mir schon). Denn normalerweise will ich immer sehr detailliert planen und über alles Bescheid wissen. Da lockerer ranzugehen, hat also seine Vor- und Nachteile. Ich gehöre leider zu den Menschen, die immer mehr auf die negativen Seiten schauen und das Positive vernachlässigen. An 9 von 10 Tagen bin ich mit der FF gar nicht zufrieden. Da kommen dann natürliche mögliche Optionen in den Kopf:
1. FF abbrechen, aus und vorbei. Das Problem hierbei: Ich mag die FF und ihre Figuren zu sehr und ich will selbst wissen, wie es ausgeht lol.
2. FF löschen, überarbeiten, neu schreiben, neu hochladen. Ehhh ja. Ist eine Möglichkeit, aber nachdem ich euch immer so lange warten lasse, wäre es irgendwie auch mies, das Ganze jetzt erst mal auf Eis zu legen. Zumal ich doch eigentlich nie wollte, dass das eine perfekt ausgearbeitete FF wird, das wäre als nicht das, was ich einst wollte.
3. FF online lassen, ältere Kapitel im Kleinen überarbeiten, aber nur so, dass spätere Kapitel nicht im Sinne der Logik beeinflusst werden. Wer dann von vorne lesen will, kann das tun, wäre aber kein Muss.

Wahrscheinlich wird es am Ende (maximal) auf Nummer 3 hinauslaufen, da mir 1 und 2 beide nicht zusagen.
Ich habe auch darüber nachgedacht, wie traurig (und ein bisschen wütend) es mich macht, wie viele gute FFs ich in den letzten zehn Jahren gelesen habe und wie viele davon abgebrochen wurden. Ich werde nie erfahren, wie diese Geschichten ausgehen! Das kennt ihr sicher. Das ist ein scheiß Gefühl. Über einen bestimmten Verlust bin ich nach zehn Jahren immer noch nicht hinweg ... na ja, ich schweife ab.
Jedenfalls würde ich etwas, das ich selbst so mies finde, doch anderen eigentlich nicht "antun" wollen. Und wie oft wurden diese FFs gerade an den spannendsten Stellen abgebrochen ...! Und ich bin fast dabei, das auch zu tun, argh. Fürchterlich.

Aber nein. Das wird nicht passieren. Selbst wenn ich mich am Ende auf allen Vieren zur Zielgeraden ziehen muss, ich werde hier am Ball bleiben und weiterschreiben. Weiter und weiter und weiter.
So, und das klang jetzt alles viel negativer als es ist. Ich habe immer noch sehr viel Spaß an der FF und ihren Figuren. Es sind immer noch so viele gute Dinge geplant, die geschrieben werden müssen! ^^
Ich bin bloß einfach sehr kritisch.

Es kann jedoch gut sein, dass sich die Art des Schreibens ändern wird. Kapitel werden wohl öfters mal kürzer sein, aber dadurch kann ich hoffentlich häufiger hochladen. Manchmal wird nicht so viel Handlung drin sein, andere Male wieder mehr.
Auch Kapitel 26 sollte nicht so enden und länger sein, aber betrachtet das Kapitel jetzt einfach als Investition in die zwischenmenschlichen Beziehungen der Charaktere haha. Zumindest das ist mir immer wichtig. Eine Geschichte lebt von ihren Figuren.

So, nachdem dieses Nachwort gefühlt fast länger war als das Kapitel: bis dann, ich freue mich wie immer über Feedback! <3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wie gesagt, über eine kleine Rückmeldung würde ich mich sehr freuen! :)

Bisher durchgeführte allgemeine Überarbeitungen / Änderungen:

- Pokémon ALLER Generationen können vorkommen – der Schwerpunkt wird weiterhin auf Gen 1-4 liegen, doch während mein Vergangenheits-Ich wenig mit den Pokémon ab Gen 5 anfangen konnte (und wollte), konnte ich mich mittlerweile für aktuellere Spiele und Pokémon erwärmen. Es werden aber keine schon bestehenden Pokémon der Trainer geändert, heißt: Chandra, Zayn und Co. werden in erster Linie Pokémon von Gen 1-4 haben.
- Typ Fee existiert nun in der FF – dies bedeutet konkret: Chandras Flunkifer wird nun nicht mehr nur Typ Stahl sein, sondern Typ Stahl / Fee. Die Kapitel, in denen Flunkifer auftaucht, wurden oder werden von mir dementsprechend angepasst.
Fun Fact an der Stelle: 2017 konnte ich weder mit Typ Fee noch mit Evolis letzter Entwicklungsstufe Feelinara viel anfangen – mittlerweile liebe ich Feelinara und stelle mir daher die Frage: Ob die FF eine Protagonistin akzeptieren könnte, die drei Eeveelutions hat? <.< Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (13)
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Von:  True710
2024-01-23T21:19:09+00:00 23.01.2024 22:19
Ich hab nur dein Vor- und Nachwort gelesen.
Das Kapitel selbst werd ich wohl morgen angehen.

Lustigerweise habe ich Ende November nachgesehen, ob es hier etwas Neues gibt. Das war leider nicht der Fall und so kam es, dass ich erst jetzt wieder hier reinschaue und siehe da, es gibt tatsächlich was Neues. :)

Mach weiter :)
Von:  True710
2021-03-22T10:09:57+00:00 22.03.2021 11:09
Dein treuer Leser hat sich sehr über die zwei neuen Kapitel gefreut! :> :D

Ich bin weiterhin gespannt dabei und bin in grausamer Erwartung, was Ray wohl nun mit Chandra anstellen wird D:
Aber irgendwie freu ich mich auch wieder auf Pyritus, ich liebe diese Stadt einfach! :D

Deshalb hier ein extra Schub Motivation für dich, um diese tolle Geschichte fortzuführen! :) *Motivation geb*


Antwort von:  Lucinia
13.04.2021 22:48
Vielen Dank für die lieben Worte! :)
Manchmal würde ich doch gerne in die Köpfe meiner Leser schauen, um zu wissen, was sie erwarten, das passieren wird haha.
Ich freue mich auch seeehr auf Pyritus, da hat man doch etwas mehr Möglichkeiten als beim Labor, das wir jetzt lang genug hatten. :D

Meine Motivation ist gerade leider echt nicht so groß, daher nehm ich die gereichte Motivation gerne an und hoffe, dass das nächste Kapitel nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt! :o
Von:  True710
2020-08-11T20:54:17+00:00 11.08.2020 22:54
Episch! Der Cliffhänger ist nahezu zerreisend, weshalb ich auf eine schnelle Fortsetzung hoffe. Ich bin über jedes Kapitel dieser Story froh, ich hoffe ich muss nicht zu lange warten. :)
Somit lädst du auf keinen Fall ins Leere hoch!
Antwort von:  Lucinia
15.08.2020 01:04
Vielen Dank für das Lebenszeichen und die lieben Worte. ^.^ Ich hoffe, es dauert dieses Mal nicht ganz so lange (da der Cliffhanger wirklich fies ist, gebe ich zu) und entschuldige mich an dieser Stelle auch mal für die langen Wartezeiten. xD'
Von:  True710
2018-07-10T00:05:22+00:00 10.07.2018 02:05
Sehr schönes Kapitel! Hatte nicht jeder schon mal eine ähnliche Situation in seinem Leben? Ich kann mich da irgendwie gut hineinversetzen in diesen Terrassen-Augenblick. Sehr schön beschrieben, auch Vince, wie er dazukommt, die Story von damals kennt und seinen Freund durch ein paar lockere Sprüche, die auf den Störenfried abzielen, zur Seite springt find ich wie aus dem Leben geschnitten. :D
Natürlich auch schön, dass du die Kolossen mit einbaust, die auch zum Charme der gesamten Region Orre beitragen. Da bin ich auch schon gespannt drauf, wie es in dieser Hinsicht weitergeht! :)
Antwort von:  Lucinia
11.07.2018 22:01
Vielen lieben Dank. ^.^
Ja, das kennt wohl jeder, da will man einfach nicht gestört werden und dann kommt doch wieder irgendeine Nervensäge dazwischen. "Schön", wenn du dich da gut hineinversetzen konntest. XD
Ich hatte, was die Kolosseen (gibt's dafür überhaupt 'nen Plural? :D) angeht, tatsächlich 'ne Weile lang ein Brett vorm Kopf. Ich wusste, dass Zayn mal in der Vergangenheit an einem Turnier o.Ä. teilgenommen hat und habe überlegt, wo das gewesen sein könnte, in welcher anderen Region, welche Stadt, welches Turnier ... argh, und ich bin echt schlecht darin, mir so etwas auszudenken. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass Orre doch die Region der Kolosseen ist, also die ideale Voraussetzung. :D Ich bin selbst ganz gespannt, was ich da noch so rausholen werden (besonders bezüglich Pyritus, da gab es ja auch ein sehr "angenehmes" Kolosseum XD (das wiederum hab ich nicht vergessen!)). Das nächste Kapitel wird leider noch ein bisschen auf sich warten müssen, da ich derzeit nicht zum Schreiben komme, aber dafür sind wir ab Kapitel 16 endlich wieder im Plot - es geht voran. ^_^
Von:  True710
2018-04-18T14:49:36+00:00 18.04.2018 16:49
Um quasi auf deine Antwort vom letzten Kapitel zu antworten:
Nein, sollte keine Kritik an seinem Charakter sein =) wollte damit nur sagen, dass es in einer gewissen Weise lustig ist, gerade weil Zayn die Einfachheit, die Chandra in gewissen Bereichen besitzt, nur zu gut für sich auszunutzen weiß ;D

Um natürlich auch noch etwas zu diesem Kapitel beizutragen, so muss ich sagen, dass ich schon sehr gespannt bin, weshalb Chandra diese Fähigkeit besitzt und besonders, weshalb bereits eine Berührung/Umarmung ausreicht, um Crypto-Pokémon von ihrem Leid zu befreien. Wahrscheinlich wird es nicht direkt in den nächsten Kapiteln aufgelöst werden, aber das ist ja auch gut so ;P Freue mich schon auf mehr :)
Antwort von:  Lucinia
18.04.2018 21:56
Ah, vielen Dank für die Erklärung. ^^ "Ausnutzen" ist aber auch schon ein wenig negativ konnotiert, so ist das alles gar nicht! XD Oder vielleicht doch... *hust*

Du hast es erfasst, das wird noch eine ganze Weile dauern, bis man mehr dazu erfährt (ich weiß aber auch nicht genau, wie viele Kapitel; so detailliert plane ich nicht xD). Bis dahin bleibt es - hoffentlich - spannend. ;)
Von:  True710
2018-04-13T23:03:22+00:00 14.04.2018 01:03
Ich konnte tatsächlich heute erst dieses Kapitel lesen ':-(
Aber es ist mal wieder klasse! Vor allem die ausführliche Gemütslage von Chandra kommt sehr authentisch rüber. Da macht man sich fast selbst Vorwürfe ;D
Natürlich ist mir auch die kleine Anekdote mit dem PDA nicht verborgen geblieben ;P
Zayn wird mir etwas unheimlich, so gut, wie er Chandra lesen kann :D Er scheint wohl immer an den richtigen Hebeln anzusetzen. Bin gespannt, ob er das noch etwas öfter "ausnutzen" wird x)
Das nächste Kapitel werd ich auf jeden Fall schneller lesen können! Hoffe, es geht bald weiter :)
Antwort von:  Lucinia
14.04.2018 18:50
Ja, wenn man keine Zeit findet, das kenn ich selbst zu gut... ^^''
Das freut mich doch sehr, wenn es authentisch rüberkommt. ^.^
Haha tja, was soll ich dazu noch sagen. xD
Unheimlich? Hmmm, ich hoffe, das ist keine Kritik an seinem Charakter xD Vielleicht muss ich mal ein wenig darauf achten, dass er auch mal weniger Durchblick hat lol. Aber man muss auch zugeben, Chandra ist in mancherlei Hinsicht wirklich nicht sehr kompliziert. XD
Da darfst du dich freuen, das nächste Kapitel kommt bald. Eigentlich würde ich es gerne morgen hochladen, aber ich bin noch nicht ganz fertig und im Moment steht so viel an, argh v.v Na ja, es kommt auf jeden Fall und ist hoffentlich spannend. xD
Von:  True710
2018-02-27T00:10:09+00:00 27.02.2018 01:10
Ich schaffs auch mal wieder ein Kommi dazulassen ;P
Der Kampf ist dir sehr gut gelungen. Ich merke es immer wieder selbst, dass es sehr knifflig sein kann, diverse Szenen eines Kampfes treffen zu beschreiben und gut rüber zu bringen.
Nachdem Zayn am Ende des letzten Kapitels wieder alles gerade rücken konnte, merkt Chandra wohl immer mehr, dass sich da etwas anbahnt ... so oft wie sie rot wird ;D Würde mich nicht wundern, wenn Zayn seine Nummer bereits in ihrem PDA eingespeichert hat, würde zu ihm passen xD
Freu mich jedenfalls schon aufs nächste Kapitel und bin sehr gespannt, wann Chandra ihre Kampfkünste das erste Mal gebrauchen wird =)
Antwort von:  Lucinia
27.02.2018 22:48
Vielen Dank. ^.^
Vor allem, wenn man, wie ich, nicht unbedingt Erfahrung darin hat, Pokémonkämpfe zu (be)schreiben. Hab's das letzte Mal vor bestimmt acht Jahren oder so getan bis zu dieser FF, dementsprechend nervös bin ich immer vor solchen Szenen. xD
Hmm, na mal sehen, wie sich das so entwickelt ... ich als Autorin will da eigentlich nichts überstürzen, aber ich bin andererseits auch immer so anfällig für süße Szenen, gerade auch als Auflockerung zwischen einer sonst ernsten Handlung ... :'D Auf den Gedanken mit Zayn und der Nummer bin ich übrigens nicht gekommen, aber ich find's klasse, also danke für die Idee! ;D
Und Chandras "Kampfkünste" werden schon im nächsten oder spätestens übernächsten Kapitel wieder in Szene treten, und in dem Sinne: bis dann. :)
Von:  True710
2018-01-22T21:15:57+00:00 22.01.2018 22:15
Die Atmosphäre kommt hier mal wieder sehr gut rüber! :)
Zayn stellt sich ungemein geschickt an im Umgang mit Chandra xD Diese sexuellen Anspielungen, sein Timing ;D einfach überragend geschrieben =)
Ich freu mich schon auf Zayn's Heimat und das nächste Kapitel! :)
Antwort von:  Lucinia
24.01.2018 00:04
Tjajaja, so kann man das natürlich auch nennen. XD
Ich bin schon fleißig am Schreiben des nächsten Kapitels. ^^
Von:  True710
2018-01-18T22:27:51+00:00 18.01.2018 23:27
Auch in mir breitet sich eine gewisse Vorfreude aus c:
Ich frage mich, woher du all die Worte nimmst. Ich fühle mich wie eine Art Kameramann, der alles sieht und mitbekommt, kann dir dafür nur nochmal ein großes Kompliment machen! :)

Das Verhalten der Beides ist absolut authentisch wie ich finde. Und Zayns Undurchschaubarkeit macht das Ganze noch interessanter. Ich hoffe, deine Kreativität sprudelt weiter und ich darf so schnell wie möglich das nächste Kapitel lesen! :)
Bin sehr gespannt, wohin das kleine Flittchen gebracht wird ;P xD
Antwort von:  Lucinia
19.01.2018 19:59
Dankesehr. :) Ach, die Worte fließen einfach so aus mir heraus und die Ideen entspringen meiner kranken Fantasie und et voilà, da haben wir 'ne FF. ^^ Na ja, ganz so einfach ist es dann auch wieder nicht. xD

Ey, nur ich darf das Flittchen Flittchen nennen. XD Nach dem nächsten Kapitel hast du vielleicht 'ne grobe Ahnung, wohin. ;)
Von:  True710
2018-01-16T15:21:52+00:00 16.01.2018 16:21
Ich musste mich gestern Abend zwischen meinem Bett oder deinem Kapitel entscheiden ... die Entscheidung fiel mir leicht und ich wurde von deinem Kapitel auch nicht enttäuscht. ;P

Wie Chandra erzählt ist einfach überragend. Und wie Zayn zuhört ebenso. Ich bin ja sowieso schon voll am mitfiebern, doch jetzt beginnt es wirklich interessant zu werden. Ich kanns kaum erwarten wie es weitergeht! :)
Ich hoffe, deine Schreibmotivation wird für diese Geschichte nicht so schnell verebben, dafür ist die Idee, der Aufbau und einfach alles andere viel zu gut dafür!
Antwort von:  Lucinia
16.01.2018 20:54
Oh, welch eine Ehre, bei mir würde der Schlaf, wenn es um heiß ersehnte Kapitel geht, auch immer zu kurz kommen. ^_^

>Und wie Zayn zuhört ebenso.< Das klingt so übelst nach "Für einen Kerl defintiv bemerkenswert, die haben ja damit sonst ihre Schwierigkeiten." XD
Neeeein, niemals! Dafür häng ich viel zu sehr an der Idee (*dezent selbstverliebt*hust*) und bin selbst viel zu gespannt, was noch draus wird. x)
Danke für deine lieben Worte. c:


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