Seelenkrank von MarryDeLioncourt ================================================================================ Kapitel 20: Trauer PART 1 -------------------------             Ich lag auf meinem Bett und starrte an die Decke. Ich wusste nicht, ob ich zur Bandprobe gehen sollte oder nicht. Ich hatte zwar keinen Bock, ging dann aber doch. Dort redete ich so gut wie mit niemandem und wenn dann nur das nötigste. Nici war wahrscheinlich etwas beleidigt und Tim auch. Jedoch wussten beide auch, was mich grämte und ich hoffte sie ließen mich in Ruhe und machte nicht einen auf Mitleid. Nachdem wir ein bisschen geprobt hatten ging ich raus und setzte mich auf eine der Bänke, holte mein Bier und meine Zigaretten noch aus dem Proberaum und rauchte eine nach der anderen, wie immer. Nach einer Weile kam Tim. Ich ignorierte ihn. „Willst nicht wieder mit rein kommen? Hier draußen ist es doch arschkalt.“ Ich schüttelte mit dem Kopf. „Lukas was soll das jetzt eigentlich!“ Ich gab ihm keine Antwort. „Verdammt ich rede mit dir. Würdest du mir freundlicherweise mal sagen, was du mit uns für ein Problem hast?“ Noch immer gab ich keine Antwort und wusste auch, dass ich Tim damit immer mehr provozierte. „Meinst du, ich finde es toll, dich hier so zu sehen. Ich würde dir gern helfen, doch wenn ich nicht weiß, was dein scheiß Problem is, kann ich das auch nicht tun. Was zur Hölle willst du damit erreichen willst, wenn du den ganzen Abend nur so vor dich hin schweigst, aber weißt du was? Das ist verdammt lästig und wenn du eh nich mit uns redest, bleib doch daheim und komme erst wieder, wenn du wieder besser drauf bist!“ „Ihr sollt mich einfach nur in Ruhe lassen. Ich bin hierhergekommen, um Ablenkung zu bekommen, stattdessen werde ich von dir angepöbelt.“ Tim sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. „Ich bin nicht der Einzige, dem aufgefallen ist, wie scheiße du drauf bist. Falls ich dich dran erinnern soll, du hast da drin noch eine Freundin, die sich grad voll verarscht vorkommt. Nici und ich sind die einzigen, die wissen was mit dir is. Kannst du deshalb nich normal den anderen gegenüber sein?“ „Nein ich kann nich normal sein!“, schrie ich ihn jetzt an. „Auch, wenn es bei dir oft den Eindruck erweckt hat, dass ich meine Mum nich leiden konnte. Aber ich habe sie sehr gemocht und finde es verdammt scheiße, dass das passiert is. Aber jemand wie du, der sein halbes Leben als Junkie in den Dreckecken der Stadt gehaust hat, kann das nich nachvollziehen. Mir is vollkommen klar, dass du das nich verstehst. Und was soll ich den deiner Meinung nach sonst machen, soll ich zu Hause vergammeln, mich einschließen und krepieren? Ja, das willst du wahrscheinlich und ich mach das auch. Dann seid ihr mich alle los. Und was Nici angeht, ich weiß, dass sie drin ist. Außerdem habe ich heute den ganzen Nachmittag schon mit ihr verbracht.“ Tim war wahrscheinlich sprachlos. Ich trank einen Schluck von meinem Bier. „Na und, da war ich halt’n Junkie, doch das is jetzt vorbei. Du bist doch eh nur mit Nici zusammen, damit du jemanden zum ficken hast. Ansonsten würde dich doch keine andere nehmen.“ Das war zu viel. „So was darf ich mir von dir anhören? Erinnerst du dich, wer dich aus deinem scheiß Junkieleben herausgeholt hat? Weißt du noch, wer dich mit Mühe und Not aus der U- Bahnstation gezerrt hat? Wenn ich dir nich geholfen hätte, wärst du jetzt wahrscheinlich verreckt. Erbärmlich zu Grunde gegangen wärst du oder glaubst du etwa, dass du den Absprung allein geschafft hättest? Weißt du was Tim, du kannst mich mal!“ In mir war rasende Wut aufgestiegen, ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich mich mit Tim so streiten konnte. „Ach ich kann dich mal? Wenn du meinst. Soll ich dir mal was sagen, du kleiner Hurensohn? Du mich auch.“ Hatte ich da richtig gehört? Hatte mein Freund gerade Hurensohn zu mir gesagt? Ich fasse es nicht. Das musste ich mir wirklich nicht bieten lassen. „Wenn du nich gewesen wärst, hätte ich niemals angefangen Drogen zu nehmen. Alles nur wegen dir! Es wäre wahrscheinlich am besten gewesen, wenn wir uns niemals kennen gelernt hätten.“ Das war ja wohl das Letzte. Und ich dachte immer, Tim sei mein Freund. Was sollte ich denn seiner Meinung nach tun? Sicher hätte das Verhältnis zu meiner Mum besser sein können, doch ich hatte mich immer noch besser verstanden, als er sich mit seinen Eltern. Tim wurde regelrecht von ihnen verstoßen und sie wollten auch nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er stand immer noch vor mir und starrte mich an. „Is das jetzt dein ernst?“ Ich dachte lange nach, bevor ich antwortete. Eigentlich hatte ich das nur gesagt, weil er mich gereizt hatte und doch war es die Wahrheit. Was wäre gewesen, wenn ich Tim nie kennengelernt hätte? Wäre ich da auch in die Versuchung gekommen Drogen zu nehmen? Wenn ich mich recht erinnerte, haben meine Probleme angefangen, als Tim und ich uns kennenlernten. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto wütender wurde ich auf ihn. Wenn alles anders gewesen wäre, hätte meine Mum nicht mit dem Flugzeug nach Schottland fliegen müssen, weil wir uns nicht immer gestritten hätten. Und vielleicht, wenn ich mich besser mit ihr verstanden hätte, würde sie jetzt noch am Leben sein. Ich hasste Tim, weil er mich zu dem gemacht hatte, was ich jetzt war. „Ja isses. Ich will dich zwar nich für alles verantwortlich machen, aber du trägst auch Schuld daran, dass ich so geworden bin.“ Tim schüttelte mit dem Kopf. „Ach ja? Bin ich das? Wer is denn immer zu mir gekommen und wollte, dass ich ihn tröste?“ „Weil ich immer fest davon überzeugt war, dass du mein Freund bist. Du bist ein verdammtes Arschloch!“ Tim ging auf und ab. „Ja, ich dachte auch immer, dass wir Freunde sind. Aber jetzt hast du ja diesen Juka, Basti, Flo und was weiß ich, wen noch.“ „Isses denn verboten mehrere Freunde zu haben? Ich interessiere dich doch gar nich mehr oder? Außerdem haben mir gerade diese Leute, die du eben so liebevoll aufgezählt hast, in letzter Zeit mehr Beistand geleistet, als du! Weißt du, ich brauche momentan weder Mitleid noch sonst was von dir. Hauptsache du verpisst dich jetzt.“ Tim sah mich mit einem niederträchtigen Blick an und ließ mich alleine. Eigentlich hatte mich mein Vater gebeten, ihm bei dem Umzug zu helfen, jedoch hielt ich eine Konfrontation mit ihm momentan nicht für gut. Ich hatte keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen, ohne zu wissen, was für ein grausamer Mensch er war. Jojo hatte ich nichts von dem Tagebuch meiner Mum erzählt, nicht mal Nici wusste es. Ich hütete es wie einen Schatz, ein Geheimnis, was nur meine Mum und ich kannten. So sollte es auch bleiben. Um zu vermeiden, dass ich meinem Vater über den Weg lief, war ich so wenig wie möglich zu Hause und verbrachte viel Zeit mit Nici, jedoch reizte sie mich in den letzten Wochen immer weniger und der Sex zwischen uns lief auch mehr schlecht als recht. Ich konnte einfach nicht, weil mich hunderte von anderen Dingen beschäftigten. Und wie immer fühlte ich mich mit allem alleingelassen. Aber irgendwie war sie doch ein Teil meines Lebens. Ich klingelte an ihrer Haustür und sie öffnete. Ihr kartierter Minirock sah unter den Springerstiefeln echt süß aus. Sie trug ihre schwarze Lederjacke und darunter einen Pullover. Ihre langen schwarzen Haare hingen ihr über die Schultern. Sie war einfach wunderschön anzusehen, für jemanden, der sich für ein Mädchen wie Nici interessierte, nicht aber für mich. Ich musterte sie gerade jetzt haargenau. Ihre Fingernägel waren schwarz lackiert und sie trug sechs Ringe, an jeder Hand drei. Ihre Augen schauten mich durchdringlich an. Wir beschlossen doch noch in den Club zu gehen. Ich fasste nach Nicis Hand und so spazierten wir durch die Stadt. Es begann zu nieseln und wir verschwanden schnell in dem angenehm warmen Raum. Als ich Flo und Malen in der Ecke erblickte wurde mir etwas leichter ums Herz. Jessica hockte auf Chris Schoß und knutschte mit ihm, als sie mich kommen sah. Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln. Malen stürmte auf mich zu und fiel mir in die Arme. „Mensch, dass man dich noch mal sieht!“ Nici und Malen umarmten sich ebenfalls zur Begrüßung. Im Radio sang gerade irgendeine komisch Tussi und ich ging hin, um den Sender zu verstellen, wobei ich böse Blicke von Jessica und Yvonne erntete. Das war mir jedoch völlig egal und ich tat es trotzdem. Dann fand ich zufällig noch eine Kassette in meiner Manteltasche, worauf Metal, Gothic Rock und alles so was drauf war. Da die Stereoanlage auch einen Kassettenrekorder enthielt, ließ ich die Kassette laufen. Vielleicht würden sich diese Kinder ja dann verpissen. Ich setzte mich in den großen Sessel an der Stirnseite, gegenüber von Jessica und Chris. „Sag mal, wo warst du jetzt die zwei Tage eigentlich Lukas?“, fragte Malen nach einer Weile. „Ach in den letzten Tagen sind einige Dinge vorgefallen, über die ich hier nicht so offen reden will.“ Dabei richtete ich meinen Blick gen Jessica und sie funkelte mich an. Ich stand auf um auf Toilette zu gehen. Die Tür vom Männerklo war offen. Ich blieb noch kurz vor dem Spiegel stehen und schaute mein Spiegelbild an. In dem Moment öffnete sich die andere Tür, die wieder zum Clubraum führte. Ich drehte mich zur Seite, weil ich wissen wollte, wer gekommen war und sah Chris. Der fehlte mir jetzt gerade noch. Wahrscheinlich wollte er mir ein paar aufs Maul hauen, weil ich seine schöne Freundin Jessica beleidigt hatte. Ich ignorierte ihn erst und zündete mir eine Zigarette an. Dann begann er zu reden. Jedoch hatte ich das ungute Gefühl, dass dies mit einer Schlägerei enden würde. Ich beschloss erst mal Ruhe zu bewahren. „Sag mal, du denkst doch auch, du bist der King oder?“ Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich auf das kleine Sofa. „Warum fühle ich mich als King, wenn ich einfach so mit meiner Freundin in den Club komme? Er ist ja schließlich für alle da. Und wenn du das von eben meinst tut es mir leid. Es gibt halt auch gewisse Angelegenheiten, die nur meine Freunde was angehen und euch zähle ich da schon lange nich mehr mit dazu.“ „Das verstehe ich ja. Aber deine dummen Sprüche gegenüber Jessica und Yvonne? Was soll das denn? Was haben sie dir getan?“ Meine Miene verdunkelte sich etwas. „Mich nervt es nur tierisch, dass sie immer den Kumpeltyp raushängen lassen müssen. Auch in der Schule. Was wollen die denn von mir? Sie sind mir einfach zu kindisch.“ „Oh ja, du bist ja so cool Lukas. Du könntest ja einfach mal über deinen Schatten springen und dich mit Leuten außerhalb der Gothicszene abgeben.“ Ich lachte bitter. „Darum geht es doch gar nich. Ich habe genug Freunde, die keine Gothics sind. Das Problem bei Jessica is, dass sie mir immer imponieren will, falls dir das noch nich aufgefallen is und vor Allem erzählt sie immer, wie gut wir doch befreundet sind. Dabei kennt sie mich nich im Geringsten. Wenn sie anders zu mir wäre, wäre ich auch anders zu ihr.“ Chris grinste mich hämisch an. Mein Blick blieb eiskalt. Ich drückte die aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher neben der Couch und zündete mir gleich noch eine an. „Weißt du Lukas, früher war ich gern mit dir zusammen, aber jetzt seit dem du vor allem mit Tim rumhängst, hast du dir das selbst versaut. Okay, Jessy mag manchmal ein bisschen nervig sein, aber sie will auch nichts mehr mit dir zu tun haben. Früher habe ich mal zu deinen engeren Freunden gehört, auch wegen der Band und so, aber jetzt? Eigentlich will ich dich auch gar nicht mehr kennen.“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass eine Niederlage nach der anderen kam und ich befand mich gerade auf dem besten Weg nicht nur meine Freunde zu verlieren, sonder auch meine Band. „Ach ja, da ist noch was. Ich habe mich in letzter Zeit oft mit Nadja unterhalten und wir fragen uns echt, wie Nici mit dir zusammen sein kann. Immerhin ist sie hübsch und intelligent.“ Das traf mich echt tief und ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. „Das ist doch ihre Entscheidung oder? Sie wird schon wissen, was sie an mir findet.“ Doch selbst das wusste ich nicht. Chris grinste mich herablassend an. „Sag bloß, jetzt hat es dir die Sprache verschlagen? So habe ich dich schon lange nicht mehr gesehen.“ Er machte mich echt wütend, aber ich hatte nicht die Kraft gegen ihn anzukämpfen und diese Schwachstelle nutzte er schamlos aus. Ich lächelte schwach und sah ihn an. „Tja, auch ich habe meine wunden Punkte. Außerdem nerven mich diese Kinderspielchen. Ja, vielleicht war ich mal anders, aber man entwickelt sich ja auch im Laufe der Zeit.“ Er ließ noch immer nicht locker und wahrscheinlich wollte er sich an mir rächen. „Dann hast du dich wohl zu nem arroganten Arsch entwickelt, was. Jemand, der über Leichen geht, nur um das zu bekommen, was er will.“ Seine schneidenden Worte waren wie Bakterien in einer Wunde und dann machte ich etwas, das ich sonst in einer anderen Verfassung nie gemacht hätte. „Chris…bitte hör auf! Ich ertrage das gerade nich. Ich bin die letzten Tage durch die Hölle gegangen und das hat nichts mit Drogen oder Familienproblemen zu tun, wie vielleicht deine erste Vermutung is…es is was passiert, was mich gerade echt fertig macht. Meinetwegen kannst du mich an einem anderen Tag demütigen, wenn ich mich dagegen wehren kann.“ Das Erstaunen war ihm ins Gesicht geschrieben und er schien sogar etwas Mitleid mit mir zu haben. „Ach ja, da is noch was…ich habe selbst schon festgestellt, dass Tim nich gut für mich ist.“ Chris räusperte sich. „Ähm, ich wollte nicht zu grob zu dir zu sein und falls ich dir zu nahe getreten bin, tut es mir leid…mich hat nur dein Auftreten eben genervt.“ „Das is nur ein Schutzmechanismus, um alles zu überspielen. Muss nich jeder wissen, wie scheiße ich mich gerade fühle.“ Lange schaute er mich an und schwieg. Dann kehrten wir wieder in den Clubraum zurück. Nici hatte meinen Sessel eingenommen und unterhielt sich mit Basti und Malen. Ich stellte mich vor den Sessel und blickte zu ihr hinunter. Sie schaute auf und lächelte. „Das findest du wohl lustig was?“ „Ich weiß nicht, was du meinst“, gab sie etwas spöttisch zur Antwort. „Kannst du nich auf meinen Schoß kommen oder so?“ „Warum? Weggegangen, Platz gefangen.“ „Gut, wie my Lady wünscht.“ Ich nahm Nici auf den Arm und setzte sie dann auf meinen Schoß. „Toll Lukas.“ Ich grinste. Dann beschloss ich wiedermal eine zu rauchen. Chris wich meinen Blicken aus, was mir auch ganz recht war. Dann meldete sich Basti zu Wort. „Also Lukas, ich will ja nichts sagen, aber hier ist es voll langweilig. Es gibt keinen Alkohol. Eigentlich könnten wir doch in den Proberaum gehen, was meinst du?“ „Ja, wir müssen aber noch auf Flo warten. Oder du gehst mit Malen schon vor und wir kommen nach. Schlüssel haste ja.“ „Ja, ist okay. Ich muss dir dann mal was erzählen, das glaubst du nie im Leben, vor allem nicht bei Flo.“ Ich zog die Augenbrauen hoch und Malen lächelte ganz verliebt. Sie und Flo waren echt ein süßes Paar. Endlich aus dem doofen Club raus. Ich ging mit Nici in Richtung Flo und Basti ging mit Malen zum Proberaum. „Und was ist mit Tim?“ Ich sah Nici an. Eigentlich wollte ich nicht darüber reden, wie über so vieles andere auch. „Das weiß ich leider auch nich. Wir haben uns vor ein paar Tagen echt krasse Sachen an den Kopf geknallt.“ „Wie soll ich das denn jetzt verstehen?“ „Wir haben uns gestritten und die Fetzen sind nur so geflogen. Ich weiß nich, ob das wieder wird.“ Sie kuschelte sich an mich, doch irgendwie war mir das gerade zu viel. „Das hört sich aber nicht gut an.“ „Langsam glaube ich echt, dass ich was Furchtbares verbrochen haben muss. Die Pechsträhne wir immer länger.“ „Das tut mir leid, aber…“ Ich fiel ihr ins Wort. „Und hör auf alles zu entschuldigen okay?“ Mich nervte es langsam echt, dass Nici mich nicht einfach mal machen lassen konnte und ständig den Kontrollfreak spielte. Was wollte sie schon machen, wenn ich Lust hatte zu kiffen, tat ich das, egal, was sie sagen würde. „Wie würde dir eigentlich eine Piercing in der Brustwarze bei mir gefallen?“ Ich blieb stehen. Gleich platzte mir der Kragen, mich plagten gerade andere Dinge und sie fing tatsächlich mit sowas an? „Keine Ahnung, vielleicht würde es mir gefallen.“ Nici schmollte ein bisschen. „Du bist ein Idiot. Ich hätte mir eine freudigere Reaktion deinerseits erwartet.“ „Verdammt Nici, ich hab im Moment echt keinen Nerv für sowas. Wenn es dir gefällt, mach es doch.“ „Okay, okay. Du scheinst ja heute überempfindlich zu sein.“ „Ich weiß nicht, wie du dich verhalten würdest, wenn deine Mum gestorben wäre, sicher wärst du voll happy.“ „Tut mir leid, ich weiß nur nicht richtig, wie ich gerade mit dir umgehen soll.“ „Und schon wieder entschuldigst du dich, wofür verdammt? Sei einfach ganz normal und fang nich immer mit solchen überspitzten Gesprächen an.“ „Ich werde es versuchen, trotzdem könntest du ein bisschen freundlicher zu mir sein.“ „Ich kann freundlich sein zu wem ich will.“ „Klar!“ Nici umarmte mich und glitt mit ihren kalten Händen unter meinen Pullover. Ich zog meinen Bauch ein. „Bist du verrückt. Du bist verdammt kalt.“ „Sorry, das wollte ich nicht. Ich versuche nur dich ein bisschen aufzumuntern, kannst das nicht verstehen?“ Ich schob ihre Hände weg und hielt sie in meinen. „Das ist gerade alles zu viel Nici. Ich glaub ich will gerade nicht zu viel Nähe.“ „Schon okay“, murrte meine Freundin. „Du Lukas.“ „Was denn?“ „Hast du eigentlich schon mal über Kinder nachgedacht?“ Das kam jetzt sehr ungelegen und ich war auch irgendwie total überrumpelt. Das war gerade ein Hammer nach dem anderen. „Naja nich wirklich. Meinst du nich auch, dass es jetzt noch ein bisschen zu früh dafür is?“ Sie schwieg eine Weile und kuschelte sich an meinen Arm. „Ja ich weiß. War auch nur so eine Frage.“ Was sollte diese komischen Gesprächsthemen auch gerade. „Ich weiß nich mal, ob ich überhaupt Kinder will. Momentan reicht mir meine Schwester.“ Bis jetzt war ihr Gesicht ernst geblieben doch was hatte sie auch für eine Antwort erwartet. „Ich wollte dich auch nur mal fragen, wie du dazu stehst.“ „Jetzt weißt du‘s. Lass uns erst mal in den Proberaum gehen. Wir müssen ja nich lange bleiben.“ Der Weg zum Proberaum war nicht mehr weit, nur noch um die Ecke und dann konnte man auch schon die große, breite Stahltür sehen. Drinnen herrschte schon lustiges Treiben. Basti und Malen hatte den Kasten Bier vom Keller geholt und eine halbleere Flasche Whiskey stand auch noch offen auf dem Tisch. Die Tür öffnete sich kurz nach uns noch einmal und Flo kam herein. Er winkte Nici und mir. Dann ging er zu seiner reizenden Freundin und gab ihr einen Kuss. Ich platzierte mich auf die kleine Couch rechts oben vom Tisch und Nici setzte sich neben mich. Flo hielt mir den Joint hin, den ich nach diesen Gesprächen echt bitter nötig hatte. Was war nur los mit mir? Trotz netter, liebenswerter Gesellschaft fühlte ich mich allein. Dann versuchte ich doch relativ normal zu Nici zu sein, denn meine mürrische Laune hatte sie nicht verdient. Dennoch nervte es mich tierisch, wie sie mich die ganze Zeit tätschelte, deshalb schnappte ich mir meine Whiskyflasche und ging frische Luft schnappen. Wenige Sekunden später stand sie hinter mir. Aus dem Proberaum erklang Trent Reznors Stimme I focus on my pain The only thing that‘s real. Wie passend. „Hab ich was falsch gemacht?“, fragte sie unsicher. „Nein, ich bin nur gerade nicht in Kuschellaune.“ Ich trank einen großen Schluck und dieses Gefühl der Einsamkeit war nun fast unerträglich. Ich wollte jetzt nicht mit Nici über unsere Probleme diskutieren, nur eine Person wünschte ich mir jetzt sehnlichst herbei. „Stattdessen musst du dich wieder besaufen, ja? Toll ist das Lukas echt.“ „Ohhhh, passt dir das etwa nich kleine Prinzessin? Aber ich kann meine Gefühle gerade nich abschalten und so sein, wie du mich gern hättest. Weißt du Nici, das geht mir tierisch auf die Nerven, dass man immer so sein muss, wie andere wollen. Doch willkommen in meiner Welt, ich kann halt auch ein Arschloch sein.“ „Oh ja, das kannst du!!“, flüsterte sie mehr zu sich als zu mir. An diesem Abend gingen wir getrennte Wege und ich war nicht böse drum.   Es war niemand da. Ich ging hinauf in mein Zimmer und zündete mir eine Zigarette an. Ich musste gerade jetzt wieder an meine Mum denken. Jetzt, wo ich wieder allein war, kommt mir das alles so real und wirklich vor. Ich hatte jetzt keinen Bock, hier herumzusitzen und schnappte meinen Rucksack, zog meine Lederjacke wieder an und ging hinaus in die Natur. Mein Ziel war die kleine Laube. Sie Sonne schien hell und warm, doch davon wurde meine Laune kein Stück besser. Als ich zur Laube kam, kletterte ich aufs Dach. Neben mir glitzerte in der Sonne ein kleines Stück Glas. Ich nahm es in die Hand und betrachtete es eine Weile. Es war sehr scharfkantig und sehr gut geeignet zum Pulsadern aufschneiden. Ich schaute auf meinen Arm herab, der noch immer nicht komplett verheilt war. Da würde es auf die eine mehr oder weniger auch nicht mehr ankommen. Ich setzte die Spitze unterhalb der Pulsader an und zog einen Strich bis zu den Venen. Ich zog das spitze Glas quer über meinen rechten Arm. Das Blut tropfte schon auf das Dach der Laube. Der Schmerz fuhr durch meinen Körper und mir entfuhr ein gequälter Laut. Ich legte mich auf den Rücken und schloss meine Augen, doch der Schmerz wurde nur noch schlimmer. Aus meiner Schachtel fingerte ich eine Kippe raus und schob sie mir zwischen die Lippen. Dann holte ich den kleinen Block und den etwas zerkauten Bleistift, den ich immer bei mir trug, hervor und erstellte eine Pro und Contra Liste. Denn endlich sollte ich mir klar werden, was ich eigentlich wollte. Nici schrieb ich auf eine Seit des Blattes und Juka auf die andere Seite. Dann kritzelte ich mit zittriger Hand Wörter auf das leicht blutverschmierte Papier. Liebenswert, charmant, verständnisvoll, bringt mich zum Lachen, liebt mich? – all das stand in Jukas Spalte und ich vermisste ihn so schrecklich. Hier hatte ich es schwarz auf weiß- Nici konnte nie und nimmer mit ihm mithalten. Ich rauchte eine nach der anderen. Hatte ich jetzt erreicht, was ich wollte? Das wollte ich doch gar nicht. Die Zeit, als wir uns gestritten haben, war für uns beide nicht leicht und doch hatte ich zu meiner Mum immer ein besseres Verhältnis als zu meinem Dad. Sie hat versucht mir jeden Wunsch zu erfüllen und ich habe ihr das Leben so zur Hölle gemacht. Konnte ich das nicht einfach rückgängig machen? Jetzt war alles zu spät. Nichts konnte ich noch tun. Ach verdammt! Sollte ich jetzt mein ganzes Leben bei meinem Dad verbringen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich zog das Foto aus meiner Jackentasche, welches ich seit ihrem Tod stets bei mir trug. Wie hübsch sie doch war. Eigentlich ist mein Dad nie fair zu ihr gewesen. Hat sie oft allein gelassen und dann waren da noch Johanna und ich, um die sie sich kümmern musste. Sie hat alles für mich getan und ich habe ihr das nie anerkannt, sondern habe ihr immer nur ein Schuldgefühl gegeben, weil ich bin wie ich bin. Aber kann überhaupt jemand was dazu, wenn er ist, wie er ist? Der Schmerz saß tief und ich fraß alles Leid in mich hinein. Wollte mit niemandem reden und konnte nicht einmal heulen. Bald würde ehe eine Todesanzeige in der Zeitung stehen und dann würde es die ganze Welt wissen. Doch würde sie auch wissen, wie sehr es ihrem Sohn leid tut? Wahrscheinlich nicht. War auch egal. Es ist erstaunlich, wie sich die Charaktere des Menschen von einen auf den anderen Tag verwandeln können. Ich beschloss mal in den Proberaum zu schauen. Dort traf ich die üblichen Leute an. Unter anderem auch Nici, Basti, Flo und Malen. Zu meiner Erleichterung. Ich setzte mich hin und schwieg vor mich hin. In mir baute sich dieses unschöne Gefühl, welches mich mittlerweile wie ein dunkler Schatten begleitete. Leere. Einsamkeit. Verzweiflung. Selbsthass. Die besorgten Blicke meiner Freunde entgingen mir nicht, doch was sollte ich dagegen tun? Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, sprang auf und hastete zu den Toiletten. Mein Herz raste und meine Hände zitterten. Als ich mir ein bisschen Wasser ins Gesicht spritzte, verschaffte das dieser Unruhe eine dezente Linderung. Ich zuckte heftig zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Erschrocken drehte ich mich um. Flo. „Alles okay Süßer?“ „Sicher…muss nur wieder klar kommen…“ „Das war gerade heftig…und eher unnormal für dich…“ „Flo! Es geht mir gut, okay!“, bluffte ich ihn jetzt an und erschrocken wich er einen Schritt zurück. „Sicher…“, antwortete er und folgte mir wieder in den Proberaum. Basti, Malen und Nici wirkten noch verunsicherter und das ging mir heftig gegen den Strich. Ich war kein beschissenes Kleinkind, auf das man aufpassen musste. „Was guckt ihr denn alle so? Isses etwa verboten, dass ich auch mal miese Laune hab? Meine Freunde musterten mich mit ernsten Blicken, die ich jedoch nicht erwiderte. Es kam noch dazu, dass ich die letzte ganze Woche kaum geschlafen hatte und so sah ich wahrscheinlich auch aus. Es wagte keiner mit mir zu reden. Einmal trafen sich jedoch Bastis und mein Blick. Er zog die Augenbraune hoch und schaute mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern. „Lukas, du siehst nicht gut aus…vielleicht solltest du dich ein bisschen schlafen legen“, bemerkte Basti und meinte es eigentlich nur gut. „Und wohin? Zu meinem beschissenen Vater? Denn eine Mutter hab ich ja leider nich mehr!“, fuhr ich ihn an. Und so langsam schien ein Schalter nach dem anderen in meinem Gehirn durchzubrennen. Diese Wut vereinnahmte mich und ich wusste kaum wohin mit diesen Emotionen. Ich trank den letzten Schluck meines Bieres und schmiss die leere Flasche mit voller Wucht gegen die Wand. Das Stimmengewirr um mich herum verschmolz zu einem merkwürdigem Kauderwelsch und erst, als ich meine Hände kaum noch spürte, weil ich mit den Fäusten gegen die Wand schlug, näherte sich mir jemand und legte seine Arme um mich. Aus verheulten Augen schaute ich Nici an, die sogar versuchte zu lächeln. Doch noch tiefer fiel ich in dieses Loch. Verzweiflung. Ich stieß sie unsanft von mir. „Lass mich!“, fuhr ich sie recht laut an. „Ich will dir doch nur helfen!“, konterte sie. „Und wie oft soll ich dir noch antworten, dass ich keine Hilfe will!“, schrie ich jetzt zurück. „Aber ich bin deine Freundin Lukas! Ich will für dich da sein!“ „Ich brauch keinen, der für mich da is…kann eh keiner verstehen, wie es mir geht“, bluffte ich sie an und merkte, wie ich kurz davor war völlig durch zu drehen. Auch Basti und Flo schienen das zu merken. „Nici verflucht, hör einfach auf!“, mischte sich Flo deshalb ein und ich war ihm sehr dankbar dafür. „Weißt du wie beschissen sich das anfühlt Flo? Dauernd zurückgewiesen zu werden? Lukas bitte, lass uns zu mir gehen oder woanders hin…wir können uns einen schönen Abend machen“, versuchte es Nici. Mir traten die Tränen in die Augen und ich klammerte mich an der Wodkaflasche fest, die mir Flo so eben reichte. Dann sank ich kraftlos zu Boden und schüttelte nur mit dem Kopf. „Geh wenn du willst…ich bleib hier…“, erwiderte ich und blieb einfach dort hocken. Mein Kapuzenhoodie hatte sich irgendwie selbstständig gemacht und der Stoff war über meine Arme gerutscht. Nur meine Hände steckten noch in den Ärmeln. Nici entfernte sich, nahm meinen Platz auf dem Sessel ein, ließ mich jedoch nicht aus den Augen. Flo und Basti tuschelten miteinander. Ich bekam irgendwas von helfen und später schnappte ich das Wort Physikarbeit auf. Verdammt dafür musste ich ja auch noch lernen. Wie sollte ich den Mist jetzt auch noch in meinen Kopf hineinbekommen. Ich machte mir nicht mehr die Mühe meine aufgeritzten Arme zu verstecken. Flo tippte auf seinem Handy herum und schien mit irgendwem zu schreiben. Hin und wieder warf er mir einen besorgten Blick zu, doch ich versuchte diesen zu ignorieren. Wieder stiegen mir diese verfluchten Tränen in die Augen und mit leerem Blick starrte ich vor mich hin. Kaputt und nutzlos. Nicht einmal meine Freunde trauten sich in meine Nähe. Dann kam Nici doch wieder zu mir, hauchte mir einen Kuss auf die Wange und griff nach meiner Hand. Ich zuckte heftig zusammen. Ihr Blick richtete sich nun auf meine Arme. Dieses blanke Entsetzen in ihrem Blick traf mich und augenblicklich fühlte ich mich noch schwächer und ungewollter. „Lukas…was…wolltest du dich umbringen?“, wisperte Nici. Ich schüttelte nur mit dem Kopf und biss mir heftig auf die Unterlippe, wollte endlich betrunken sein und setzte die Flasche an. Nici versuchte mir diese aus der Hand zu nehmen, doch ich klammerte mich mit aller Kraft daran fest. „Bist du nicht auch langsam der Meinung, dass du Hilfe brauchst?“ „Und von wem? Von dir oder was?“, krächzte ich. „Nein…aber mein Papa…“, setzte sie an und das reichte, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Ich sprang auf und funkelte sie wütend an. „Ich brauch und will keinen beschissenen Psychologen! Und schon gar nicht dein Vater!“, fauchte ich sie an. „Dann mach so weiter Lukas, besauf dich, verstümmel dich und was weiß ich noch! Nur erwarte dann nicht mehr von mir, dass ich dich verstehe!“, heulte Nici. Heiße Tränen benetzten auch meine Wangen erneut und mein Verlangen tatsächlich zu sterben wuchs. Ich wollte nicht mehr ungewollt sein. Schluchzend brach ich zusammen. Im Augenwinkel sah ich, wie sich jemand näherte. Dieser Jemand blieb vor mir stehen und hockte sich vor mich. Neben Nici. Er schaute mich an und sein Blick sprach Bände. Schmerzhaft zog sich Jukas Herz zusammen, als er Lukas wieder mal am Boden sah. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und wer sonst, wenn nicht Nici kauerte vor ihm und versuchte ihn zu betüteln. Wie er dieses Mädchen einfach nicht mochte. Sie erzählte ihm irgendwas von ihrem Vater, der scheinbar Psychologe war oder sowas ähnliches. Flo hatte ihm geschrieben und ihn vorgewarnt. Ohne Lukas Freundin auch nur ein Fünkchen Beachtung zu schenken, kniete er sich vor seinen Liebling und versuchte seinen Blick einzufangen. Diese leeren großen Augen. Juka schluckte heftig und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie lange er das noch mitmachen musste. „Ich mag dich nicht so sehen.“ Lukas zuckte fast wie erwartet mit den Schultern und diese Geste untermalte seine Gleichgültigkeit nur noch mehr. „Kommst du auch, um mich zu retten?“, fragte er leicht überspitzt. Juka ergriff seine Hand und zog seinen liebsten Lukas hoch, sodass dieser direkt in seinen Armen landete. Dann führte er ihn zum Sessel und er nahm schon fast freiwillig auf seinem Schoß platz. Nici stand wie ein Dummerchen neben ihnen und guckte blöd. Lukis Kopf sank gegen Jukas Brust und allmählich verebbte sein Schluchzen. Dankend nahm er die Zigarette an, die sein Japaner ihm anbot. „Sag mir doch erst mal, was mit dir los ist Süßer.“ „Ich bin betrunken…deprimiert, völlig kaputt und Nici hasst mich dafür“, nickte er in ihre Richtung. Auch ihre Augen füllten sich jetzt mit Tränen. Juka nahm ihm die Wodkaflasche weg und Luks wollte schon protestieren, da wurden seine Lippen von einem Kuss verschlossen, wenn auch nur ganz kurz. Das überrumpelte ihn sichtlich und Juka hatte schon angst,  überrieben zu haben. Da Nici ja noch immer neben ihnen stand, tat auch sie ihren Missmut kund. „Ach von ihm lässt du dir helfen oder was? Ganz ehrlich Lukas, ich kapier es nicht!“ Lukas ließ seinen Kopf erneut gegen Jukas Schulter sinken und auf einmal fühlte sich dieser tonnenschwer an. „Das ist dein Problem Nici, du kapierst es nicht! Du wirst es niemals verstehen, schon gar nicht das zwischen Lukas und mir…“ „Ach spielst du jetzt den heiligen Samariter?“ Jukas eiskalter Blick traf den des Mädchens. „Ich tue nur das richtige und das solltest auch du langsam tun Nici“   Ich spürte Jukas lachen und wünschte mir, er würde ihr von uns erzählen, doch ich kannte meinen Juka auch gut genug, um zu wissen, dass er das nie ohne meine Einwilligung tun würde. Mir wurde das alles zu viel und ich beschloss so, etwas zu tun. Warf Nici noch einen letzten Blick zu. „Wenn du es genau wissen willst, meine Affäre is keine sie sondern nen er. Liegt an dir, eins und eins zusammenzuzählen und jetzt lass mich bitte in Ruhe…“ Heulend rannte Nici weg. „Und du…wage es ja nich mich jetzt zu beschimpfen…“, murrte ich Juka an. Er zog meine Hand aus dem Ärmel meines Hoodies, kramte in seiner Tasche und holte Verbandszeug raus. Es brannte ein bisschen, als er die Wunde desinfizierte und doch fühlte es sich sehr intim an. Statt mich von sich zu stoßen, tat er genau das Gegenteil. „Willst du jetzt reden?“ „Keine Ahnung…ich würde mich gern erschießen…reden is verdammt anstrengend und kompliziert“, antwortete ich. Er zog mich weiter auf seinen Schoß und schloss mich in die Arme. „Warum tust du das immer wieder Juka?“, flüsterte ich kaum hörbar und blendete aus, dass wir nicht allein waren. „Was denn?“ „Mich retten?“ „Weil ich dich sehr lieb habe“, hauchte er mir zu und schon küsste er mich wieder. Langsam schob sich seine Zunge zwischen meine Lippen und die vertraute Wärme umfing mich. Ich vertraute ihm schließlich die ganze Geschichte an und er legte den Arm um meine Schulter. „Es tut mir echt so wahnsinnig leid, mein Luki.“ Juka tat das wirklich leid, dass wusste ich und es war gut zu wissen, dass er so dachte. „Was sollen wir jetzt machen?“, fragte er mich. „Keine Ahnung. Warum nur immer ich? Ich meine, ich wünsche sowas keinem anderen, aber habe ich in meinem kurzen Leben nich schon genug durchgemacht.“ Juka schwieg eine Weile. „Willst du heute bei mir schlafen? Da bist du nicht so alleine.“ Nach allem, was die letzten Wochen passiert war, schien das das Sinnvollste zu sein. „Nichts lieber als das.“ „Außerdem gefällst du mir gerade gar nicht.“ Ich war wirklich nicht abgeneigt von der Idee und nickte. Mit einem flüchtigen Gruß in die Runde folgte ich Juka.   Juka verwöhnte mich in seiner Wohnung. Während er mir etwas zum Essen kochte, versuchte ich noch ein wenig Physik zu lernen, aber irgendwie fanden diese vielen Formeln und  Merksätze gerade kein Platz in meinem Kopf. Also gab ich es auf. Juka hatte mir sogar ein Dreigänge Menü gezaubert. Echt unglaublich der Mann. „So viel Liebe hab ich doch gar nicht verdient.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass Jukas Haare erheblich an Länge gewonnen hatten. Und auch fiel mir auf, wie wunderschön ich diesen Mann fand. „Doch, hast du. Und wenn es eins ist, was ich richtig gut kann, dann ist es mit Menschen umgehen. Und außerdem müsstest du doch langsam wissen, wie lieb ich dich habe.“ Aus der Küche kam ein köstlicher Geruch, der mir das Wasser in dem Mund zusammenlaufen ließ. Als Vorspeise gab es eine Möhrenschaumsuppe. Dann folgte Currytofu mit Reis und zum krönenden Abschluss Mousse o Chocolat. Dann zogen wir ins Wohnzimmer um, hörten Musik und tranken Tee. „Woher wusstest du eigentlich, dass ich im Club bin?“ Er warf mir ein geheimnisvolles Lächeln zu. „Tja, ich hab da so meine Quellen gehabt.“ „Flo oder?“ „Wow, du bist ja richtig gut. Eigentlich wollte ich euch beide Mal wiedersehen. Und dann hast du gleich wieder meine Aufmerksamkeit auf dich gelenkt. Ich hatte sowieso gerade Feierabend.“ Seine Worte trieben mir die Tränen in die Augen. Dann nahm Juka meine Hand und zog mich auf seinen Schoß. Ich vergrub meinen Kopf in seinen Haaren und schluchzte. Mein Körper gab mir jetzt zu verstehen, dass alles zu viel wurde. Erst der dauerhafte Stress und dann starb meine Mum einfach so. Das war einfach zu heftig. „Juka…ich kann nich mehr“, wisperte ich. „Doch weil du jetzt hier bist…du suchst einen Ausweg. Luki, wir schaffen das irgendwie, versprochen.“ „Aber was macht dich da so sicher…ich hab das Gefühl ich bin so weit unten und komm nich mehr hoch…“ „Ich kann‘s nicht genau sagen, aber allein der Aspekt, dass du gerade bei mir bist Luki und nicht irgendwo völlig breit und deinen Trost suchst.“ „Und doch würde ich das jetzt vorziehen…diese Gefühle erdrücken mich und ich kann es nich steuern…mein Körper sehnt sich nach Ruhe…ich will nichts mehr denken müssen.“ „Dir steht es noch immer frei zu gehen…dann flüchte in deine Drogenwelt…ich kann dich nicht davon abhalten.“ Er war so anders als alle Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte. Jeder hätte jetzt versucht mich von meinen Plänen abzuhalten und Juka ließ mich gehen? Verwirr rutschte ich von ihm weg weil ich nicht genau wusste, was er damit bezwecken wollte. „Aber warum nich?“, flüsterte ich. „Weil ich dich nicht kontrollieren kann. Du bist selbst alt genug und weißt, was gut und schlecht für dich ist. Eigentlich.“ „Manchmal vergesse ich das aber auch…und manchmal isses schön, wenn jemand da is, der einem sagt, was gut oder schlecht is.“ Juka seufzte und sah auf einmal sehr mitgenommen aus. „Vielleicht hast du Recht, aber wenn ich jetzt versuchen würde dich davon abzuhalten, würdest du auf jeden Fall gehen…indem ich dich bestärke, hab ich eventuell ne geringe Chance, dass du bleibst.“ Jetzt war ich echt verwirrt. „Mhh…aber wie funktioniert das?“ „Ganz einfach, du fühlst dich von mir in dem Moment wahrgenommen…hast das Gefühl ich versteh dich und denkst drüber nach hier zu bleiben, weil dir bewusst wird, dass meine Gesellschaft nicht die schlechteste ist. Umgekehrte Psychologie eben.“ „Darf ich wieder auf deinen Schoß kommen?“ „Klar, komm her.“ Mein schöner Japaner schloss seine Arme um mich und auf einmal umfing mich Wärme und Geborgenheit. Ich vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge und versuchte zu vergessen. „Du bist toll“, flüsterte ich ihm zu. Jukas warme Hände kraulten meinen Nacken und ich ließ ein bisschen los. Ich fühlte mich auf einmal besser. Früher wäre ich in solchen Situationen wohl eher zu Tim gegangen. Aber auf den konnte ich wohl jetzt auch nicht mehr zählen. Juka sprach nicht ein einziges Mal über meine Mum und bemitleidete mich auch nicht, sondern bereitete mir einfach nur einen schönen Abend. „Sag mal, findest du es eigentlich seltsam mit mir in einem Bett zu schlafen? Wenn du das nicht möchtest, schlage ich dir auch noch ein Nachtlager hier im Wohnzimmer auf.“ Ich lächelte und zog an meiner Zigarette. „Hab doch neulich schon mit dir in einem Bett gepennt.“ Juka erwiderte mein Lächeln und auf einmal war er wieder dieser liebevolle Freund, ich wurde nicht schlau aus ihm. Und ich versuchte nicht daran zu denken, wie er nackt aussah. „Ach Süßer…Kann ich dich etwas fragen?“ „Sicher.“ „Vermisst du deine Mum sehr?“ „Ja, mehr als ich dachte. Ich mache mir auch ständig Vorwürfe, weil ich es vielleicht hätte verhindern können.“ Er strich mir über die Wange. „Aber nicht doch. Vorwürfe sollte man sich nie machen. Da zerfrisst es einem nur die Seele.“ „Ja…aber ich hab mal so nachgedacht. Und, wenn Tim nich gewesen wäre…dann wäre ich nich in diese Kreise gekommen.“ Juka nahm mich jetzt in die Arme. „Mag sein. Dazu kann ich wenig sagen, aber bitte hör auf dir Vorwürfe zu machen. Komm, wir gehen jetzt schlafen. Schließlich musst du ja ausgeruht sein, wenn du deinen Test morgen schreibst.“ Ich ließ mich ins Bett sinken. „Ich bin echt froh, dass ich dich hab.“ Er grinste mich an und deckte uns mit einer großen Decke, die wahrscheinlich extra für ein großes Bett gedacht war, zu. „Schläfst du eigentlich oft einfach so mit Männern in einem Bett?“ „Naja meistens kommen die nicht mal bis ins Bett, denn hier nehme ich nur ganz besondere Männer mit hin.“ Sollte das heißen, dass Juka mich als etwas Besonderes sah? Irgendwie fühlte ich mich geehrt. „Naja und wenn man einer in meinem Bett landet, dann auch nicht einfach so.“ Die Bettwäsche roch nach frischem Weichspüler. Diesen Geruch liebte ich so, doch an Schlaf war jetzt mal so gar nicht zu denken. „Juka…damals beim Zelten, was da passiert is…ich wünschte wir könnten das öfters tun.“ Ohne etwas zu sagen knipste Juka die Lichterkette an, die das Bett umgab. „Manchmal glaub ich du bist der Teufel persönlich, einerseits so lieb und verletzlich und dann sagst du sowas…was ist wenn ich beschlossen habe, dass ich das nicht widerholen will“, sagte er, doch ich wusste, dass er es nicht so meinte. „Dann könnte ich dafür sorgen, dass es auch ein zweites Mal passiert oder ein drittes oder viertes…“ Elegant kickte er seine Unterhose weg und lag jetzt nackt unter der Bettdecke. Ich zog sie ihm weg. Was für ein göttlicher Anblick. Ich umschloss seinen Penis mit meinem Mund und tat das, was ich schon so oft in meinen Vorstellungen getan hatte und Juka schien es auch zu gefallen. Jedoch stoppte er mich irgendwann und schaute mich ernst an. „Willst du das wirklich?“ „Ja, unbedingt“, raunte ich und augenblicklich hatte mein Freund wieder die Oberhand. Er küsste mich und knabberte erst leicht, dann intensiver an meiner Unterlippe. Ich ließ ihn gewähren und seine Zunge spielte geschickt mit meiner. Ein lustvoller Laut entfuhr mir und ich reckte mich ihm entgegen. Durch den dünnen Stoff meiner Unterhose spürte ich Jukas Erektion und schon allein dieses Gefühl machte mich unglaublich geil. Er löste sich von meinen Lippen und griff neben sich unters Bett. Ich grinste. „Hast du da dein Spielzeug versteckt?“, fragte ich amüsiert und schon begann mein Herz wild zu hämmern. „Wer weiß…“, entgegnete er und zog eine Tube mit Gleitgel sowie Kondome hervor. Juka befreite mich von meiner Unterhose und seine Finger wanderten geschickt zu meiner Öffnung. Ich zuckte zusammen, als er weiter vor Drang. Fragend schaute er mich an, doch ich gab ihm zu verstehen, dass er keinesfalls aufhören sollte. Es fühlte sich anders und verdammt gut zugleich an. Mein Körper bäumte sich auf und mein Herz raste, jedoch wusste ich nicht, wo mir der Kopf stand und denken war schier unmöglich. „Willst du mehr mein Süßer?“ Bei diesen Worten drohte mein Herz zu explodieren und ich brachte nur ein Nicken zustande. Ich spreizte meine Beine und schaute Juka erwartungsvoll an. Er tastete sich zuerst langsam voran, doch schon das ließ mich aufstöhnen. Sein Gesicht schien vor meinen Augen zu verschwimmen und er drang tiefer in mich ein. Meine Finger krallten sich an den Lacken fest. Jukas Stöße wurden schneller. Mit seiner freien Hand ergriff er meinen Schwanz und ich keuchte, weil mich diese Gefühlswelle aus der Realität katapultierte. Die Lust übermannte mich und zu meinem Bedauern kam ich viel zu schnell. Auch Juka entspannte sein Gesicht und ergab sich seinem Orgasmus. Dann sank er neben mir in die Kissen. „Heilige scheiße…das war der beste Sex, den ich jemals hatte.“ „Mh, dann hab ich wohl mein Ziel erfüllt“, freute sich Juka und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich glaub mein Gehirn is grad eher ne puddingartige Masse…“ Mein Freund lachte. „Luki, wir sollten schlafen.“ Ich setzte mich auf und sah ihn an. „Is das dein scheiß ernst? Als ob ich jetzt schlafen könnte…vielleicht sollte ich noch kurz duschen.“ Mit wackligen Beinen bewegte ich mich Richtung Bad und stand eine halbe Ewigkeit unter der Dusche. Was zum Henker hatte ich getan? Das konnte unmöglich gut ausgehen und dann war da noch Nici. Shit! Wie sollte ich jemals wieder Sex mit ihr haben, ohne an diesen heißen Japaner zu denken? Juka lag noch immer wach und stellte noch den Wecker. „Freunde mit gewissen Vorzügen was?“ Etwas verdutzt sah ich ihn an. „Bitte was? Ich war gerade in Gedanken…“ „Ich bin dein erster Kerl oder?“ „Ähm…ja wieso? War’s so schlecht?“ „Nein nein, keinesfalls…ich könnt mich dran gewöhnen…fragt sich nur, wie du dazu stehst?“ „Ich glaub ich bin ein bisschen verwirrt…“ Juka zog mich wieder zu sich und strich vorsichtig über meinen verletzten Arm. Ihn schien es nicht zu stören und doch bildete sich eine kleine Sorgenfalte zwischen seinen Augen. „Luki…denk einfach drüber nach und lass mich wissen, wenn du zu einem Entschluss gekommen bist.“ Ich seufzte und jetzt übermannte mich doch die Müdigkeit. „Lass uns wann anders reden Juka…ich brauch noch ein bisschen Schlaf.“ „Wie du magst. Dann Gute Nacht.“ Am nächsten Morgen bekam ich ein tolles Frühstück serviert. Mit Croissant, Marmelade und Kaffee. Dann begleitete ich Juka noch ein Stück des Weges und verabschiedete mich von ihm. „Danke für alles mein Jukaschatz.“ „Oh mein Gott, du hast mich heut zum ersten Mal Schatz genannt. Das mach ich doch gerne und das weißt du auch. Viel Glück bei deinem Test und meld dich bei mir.“ Juka verabschiedete mich mit einem Kuss auf die Wange. Da der Weg länger war, als von mir aus, blieb mir Zeit, zwei Zigaretten zu rauchen.       „Hy Lukas“, begrüßte mich Flo, der schon auf mich wartete. „Hy“, sagte ich kurz und knapp. „Ich hab Jojo mitgebracht. Sie hat mich gefragt, wo du die Nacht gewesen bist.“ Ich lächelte, zumindest versuchte ich es. „Hab bei Juka gepennt. Wo is sie jetzt?“ „Schon im Schulgebäude. Siehst sie ja bestimmt in der Pause. Bei Juka oder mit Juka?“ Ich nickte und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Mhh beides…ich glaub ich bin ihm verfallen. Wo is Basti?“ „Keine Ahnung. Wollte eigentlich schon hier sein. Kannst du Physik?“ „Mhh geht so, gerade hab ich noch andere Dinge in meinem Kopf. Du?“ „Ja, hab um zehn noch gelernt. Du siehst echt voll fit aus!“ „Ich wurde gestern auch schön verwöhnt, wundert mich, dass ich fit aussehe.“ Flo schüttelte nur mit dem Kopf. „Was wird jetzt mit Nici…nach gestern und so?“ „Keine Ahnung.“ „Naja solange Juka es schafft dich aufzubauen, mach mit ihm was du willst.“ „Ich darf nich dran denken, sonst werde ich verrückt.“ Ich kaute auf meiner Unterlippe umher. Wir gingen schweigend  zum Klassenraum. Nach dem Deutschunterricht bat mich Herr Stoldt vor zu sich. „Lukas, es tut mir leid für dich.“ Ich sah ihn etwas verdutzt an. „Weswegen?“ „Naja, die Sache mit deiner Mutter.“ „Wollen sie jetzt einen auf Mitleid spielen? Is doch nicht ihr Problem. Ich musste schon mit so vielen Problemen klarkommen. Da werd ich das ja wohl auch schaffen.“ „Ich weiß, wie du dich fühlst...“ Ich unterbrach ihn, bevor er zu Ende reden konnte. „Gar nichts verstehen Sie. Sie sind nicht mein bester Freund, also haben sie sich gefälligst aus der Sache herauszuhalten. Oder sind sie der Meinung, ich rede mit jedem über meine Probleme?“ Ich war etwas zornig, kehrte meinem Klassenlehrer den Rücken und verschwand. Jetzt Physik schreiben. Werd es schon irgendwie schaffen. So schwer, wie erwartet verlief die Arbeit gar nicht. Ich strengte mich an, so gut es ging und war mir am Ende der Stunde ziemlich sicher, dass ich ganz gut abgeschnitten hatte. Flo, Basti und ich gingen rauchen. Jojo kam mir auf dem Schulhof entgegengerannt. Ich nahm sie auf den Arm, was bestimmt viele der anderen Schüler hier verwunderte. So ein schwarzer, böser Grufti und so ein kleines süßes Mädchen. Aber das war im Moment auch egal. „Wo warst du denn heut Nacht? Ich hab mir solche Sorgen gemacht.“ Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Hab bei einem guten Freund geschlafen. Aber heute Nacht bin ich zu Hause, versprochen.“ Meine kleine Schwester schaute mich etwas skeptisch an. „Du siehst echt voll fertig aus. Wann hast du das letzte Mal richtig geschlafen? Ich mach mir doch nur so große Sorgen um dich. Ich hab dich so lieb.“ „Mir geht es gut. Jojo, wir müssen jetzt tapfer sein ohne Mutti. Ich hab dich auch lieb.“ Ich drückte die kleine fest an mich und hätte sie am liebsten gar nicht wieder losgelassen. Sie lächelte schwach und ging dann zu ihren Freundinnen und ich ging zu Basti und Flo in unsere Raucherecke. Chris, Yvonne und Jessica standen jetzt auch mit dort, was mich ein bisschen ankotzte, ließ  mir aber nichts anmerken. Ich zündete mir eine Zigarette an und setzte mich neben Flo auf die Bank. Mein Blick blieb starr am Boden haften und ich nahm kaum wahr, was um mich herum geschah. Ob die anderen lachten war mir auch egal. Dann redete Flo mit mir. „Was wollte Herr Stoldt eigentlich von dir?“ „Hat mir nur die Todesanzeige meiner Mum unter die Nase gehalten und wollte, dass ich mit ihm darüber rede. Was soll der Scheiß, muss ich jetzt mit jedem darüber reden?“ „Ey, das ist echt voll scheiße Mann. Was sagt Jojo dazu?“ „Hat es halbwegs verkraftet. Hat sie aber auch ganz schön hart getroffen. Ich hab einfach keinen Bock mehr. Ich glaub, ich schwänz heute Sport.“ „Das is doch eigentlich dein Lieblingsfach!“, sagte Flo etwas entsetzt. „Ja schon, aber ich will den Kontakt mit Herrn Stoldt meiden. Das is das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, einer der mich bemitleiden muss.“ „Ja verstehe. Soll ich ihm sagen, dass du nach Hause gegangen bist, weil es dir nicht so gut ging?“ Ich nickte und war Flo echt dankbar dafür. Er konnte auch ein richtig guter Freund sein und er war einer der wenigen neben Basti und Juka, die mich verstehen konnten. Sie waren keine von denen, die ständig einen auf Mitleid spielen mussten und das tat manchmal gut, nicht immer für alles bedauert zu werden. Jessica und Yvonne hätten wahrscheinlich gern gewusst, was mit mir los war, denn ihre Blicke wanderten immer zu mir herüber. Als die sechste Stunde nahte, war ich ziemlich froh, weil es für heute meine letzte sein würde. Und doch war es einer der schlimmsten Stunden an diesem Tag. Geschichte. Wie ich dieses Fach verabscheute, aber eigentlich eher wegen der Lehrerin. Schon als diese furchtbare Frau hinter dem Lehrerpult in der Klasse umherspähte, hätte ich sie verfluchen können. Ihr Blick traf sich mit dem meinen und ich starrte sie voller Hass an. Ich war ja mal gespannt, wen sie heute zur mündlichen Leistungskontrolle nach vorn holen würde. Wahrscheinlich wiedermal mich. Das sie langsam nicht mal kapierte, dass ich schon allein aus Provokation für ihr dämliches lernte, weil ich genau wusste, dass sie auf den Tag wartete, an dem ich eine sechs bekommen würde. Doch diesen Tag würde es nie geben. Und tatsächlich, als es zum Unterricht geläutet hatte, sagte sie: „So mal sehen, wen wir heute zur mündlichen Leistungskontrolle nach vorne holen?“ Sie blickte wie ein Wiesel durch die Klasse und ihr Blick blieb an mir haften. Ich schmaler Mund verzog sich zu einem erbärmlichen Lächeln. „Na Lukas, dann komm doch bitte mal nach vorne.“ Plötzlich meldete sie Flo neben mir. Sie schaute etwas verwundert drein. „Ja Florian, was hast du zu sagen?“ „Ich wollte nur mal sagen, dass es langsam langweilig wird, wenn sie immer dieselben zur Leistungskontrolle dran nehmen. Falls es ihnen noch nicht aufgefallen ist, Lukas bekommt bei ihnen nur Einser. Ich weiß nicht, wann sie endlich mal verstehen, dass er immer für ihren Unterricht lernt. Es wäre auch nicht schlecht, wenn andere Schüler mal die Chance bekommen, eine gute Note in ihrem langweiligen Fach zu bekommen.“ Frau Neumann hatte aufmerksam zugehört und ihr dämliches Grinsen erstarb, dafür lief ihr Gesicht knallrot an. Sie stützte sich mit den Armen auf das Pult. „Dieses langweilig möchte ich ja jetzt wohl überhört haben. Und außerdem kann ich bestimmen, wer hier eine Leistungskontrolle durchführt. Außerdem..“ Und dabei schaute sie mich wieder mit ihrem dämlichen Grinsen an. „...Sieht der gute Lukas heut nicht so aus, als ob er gelernt hätte. Bitte trete jetzt nach vorne! Wir haben schon genug Zeit verschwendet.“ Ich schlurfte lustlos und mit ausdrucksloser Miene zur Tafel. Sie stellte mir ungefähr sechs fragen, die ich ziemlich gut beantworten konnte und am Ende eine zwei bekam. „Na nochmal Glück gehabt was?“ Ich scherte mich nicht darum, etwas zu erwidern. Ich wollte einfach nicht. Ich hatte auch keine Kraft dazu. Endlich, es klingelte. Flo und ich waren zuerst aus dem Klassenzimmer verschwunden. Ich verabschiedete mich von ihm und verließ die Schule. Ich schlenderte den Weg zu Nicis Schule langsam vor mich hin. Nach unserem Streit neulich hatten wir uns wieder halbwegs vertragen. Doch rief ich mir wieder ins Gedächtnis, dass ich Sex mit Juka hatte. Shit. Ich hatte schon Mal einen Versuch gestartet ihr das zu erklären und ich würde es wohl ein zweites Mal versuchen müssen. Ich wusste, dass sie noch Unterricht hatte. Also setzte ich mich auf die Wiese und wartete vor dem Gebäude. Noch fünf Zigaretten, verdammt. Müsste mal wieder arbeiten gehen, um ein bisschen Kohle zu verdienen. Das, was ich im Moment noch hatte, reichte hinten und vorne nicht. Die Zigarette tat gut. Die Sonne schien warm auf mein Gesicht und ich schloss die Augen, um mich ein wenig zu entspannen. Nach ungefähr einer viertel Stunde konnte ich ein Klingeln aus dem Gebäude hören und kurz darauf kam ein Strom von Schülern aus der Schule heraus. Ich beobachtete sie aufmerksam, weil Nici dabei sein müsste und ich musste tatsächlich nicht lange warten, bis ich sie erblickte. Sie war von drei anderen Mädchen umringt, die ich nicht kannte. Als sie mich erblickte, rannte sie in meine Arme und küsste mich. Die anderen Mädchen schauten etwas eifersüchtig drein und auch einige der Jungen blickte neidisch zu mir herüber. „Was machst du denn hier? Ich denke du hast noch Schule?“ „Hab Sport geschwänzt.“ „Wir müssen reden, findest du nich?“ „Vielleicht.“ Sie lächelte etwas verhalten. „Komm erst mal mit zu mir okay?“ Ich nickte und nahm ihre Hand. „Hast du mal drei Euro? Bin grad voll blank und hab nur noch drei Zigaretten. Mit denen komm ich heut bestimmt nicht über die Runden.“ Sie kramte in ihrer Tasche und reichte mir das Geld. Ich gab ihr einen Kuss und holte mir an dem nächsten Automaten eine Schachtel. Nici schloss die Tür auf und wir gingen in ihr Zimmer hinauf. Ich legte mich auf das Bett und blickte Nici traurig an. Ich biss mir auf die Unterlippe. Nici setzte sich neben mich und strich meine Haare aus der Stirn. „Meinst du nicht, dass ein bisschen Schlaf dir mal gut tun würde?“ „Ich weiß auch nicht, was mir im Moment gut tut und was nicht.“ Doch du weißt, was dir gut tut und Nici kann es dir unmöglich geben, plagte mich mein Unterbewusstsein. Ich setzte mich jetzt auch hin und Nici kroch auf meinen Schoß. Ich lehnte meinen Kopf an ihren Bauch. Sie kraulte mich mit ihren Fingernägeln im Nacken. „Was ist mit deinem Dad und Sonja? Versteht ihr euch wieder?“ „Nein. Mein Dad ist jetzt auch total gegen mich. Von wegen wie ich doch herumlaufe und so. Die alte Leier halt. Nur weil Sonja ihn dazu angestiftet hat und Jenny damit angefangen hat. Solche wie ich könnten ja gefährlich für diese eh schon verdorbene Gesellschaft sein. Die einzige aus meiner Familie, mit der ich noch normal reden kann, is Jojo. Und das wird auch immer so bleiben.“ „Wenn du willst, kannst du auch mit Jojo hierher ziehen. Meine Oma hat bestimmt nichts dagegen. Sie mag euch beide ja auch total gern.“ Ich schaute zu ihr auf. „Weiß nich ob das so eine gute Idee is.“ „Lukas ich bitte dich. Ich meine vielleicht bringt dich das auf andere Gedanken.“ Ich lächelte schwach. „Meinst du drei Häuser weiter bekomm ich Ablenkung, wenn ich diesen Bastard trotzdem jeden Tag sehe? Nici…das gestern, mein Ausraster, gibt dir das denn gar nicht zu denken?“ „Naja…das war schon heftig…aber jetzt bist du ja hier oder nicht.“ „Ich weiß nich, ob das mit uns noch Sinn macht“, bemerkte ich beinahe kraftlos, weil ich es einfach nicht übers Herz brachte mit ihr Schluss zu machen. So ganz endgültig. Ich lehnte mich wieder an Nici. Jojo sollte nicht bei dieser Familie bleiben, die ohnehin schon zerbrochen war und im Moment war mein Vater für mich nur noch mein Erzeuger. Ich musste wieder an das Tagebuch denken, in dem ich erfahren hatte, dass mein Vater meine Mum oft misshandelt und geschlagen hatte, wenn sie alleine zu Hause gewesen sind. Er hat sie gezwungen immer die perfekte Liebhaberin zu spielen, wobei er sich mit anderen vergnügt hat. Sie musste auch immer seine Hausfrau spielen und wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand dann...dann hat er sie später bestraft. So, wie sie es angeblich verdient hat. Meine Mum hat nie darüber geredet und ich habe das all die Jahre nicht mitbekommen. Warum bloß? Ich hätte etwas dagegen unternehmen können. Hätte ihr helfen können und für sie da sein können. Doch was hatte ich getan? Ich hab ihr das Leben auch zur Hölle gemacht. Was hatte meine Mum von ihrem Leben? Ich hatte das Tagebuch bei mir im Zimmer versteckt und keiner würde es je zu lesen bekommen, außer mir. Und was sie darin niedergeschrieben hatte, würde ebenfalls kein Mensch erfahren. Das war das einzige, was uns innerlich immer noch miteinander verband. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)