Seelenkrank von MarryDeLioncourt ================================================================================ Kapitel 71: Danke ----------------- Ich beschoss am nächsten Tag eine persönliche Unterredung mit meinem Chef zu führen, um ihm zu erklären, warum ich meinen Sonderurlaub beanspruchen wollte. Auch machte ich mir an diesem Morgen nicht viel aus meiner arbeitsgerechten Kleidung und zog das an, was ich auch sonst in meiner Freizeit trug. Meine liebenswerten Kolleginnen freuten sich schon, als ich aus der Fahrstuhltür trat, doch dann gefror ihr Lachen ganz schnell. Ich versuchte sie trotzdem so wie immer zu begrüßen und klopfte bei meinem Chef. Er bat mich sogleich herein und musterte mich einen Augenblick. Ich versuchte mich zusammenzureißen. „Hallo Herr Wolf…ich wollte nicht einfach anrufen…am Wochenende gab es einen Todesfall in meinem Freundeskreis…und ich würde gern Sonderurlaub beantragen.“ Der ältere Mann mit den grauen Haaren warf mir einen mitfühlenden Blick zu. „Oh, mein Beileid. Das sind ja keine sehr guten Nachrichten. Selbstverständlich lasse ich Sie beurlauben. Nehmen Sie sich Zeit und lassen mich wissen, wenn es Ihnen besser geht.“ Ich nickte und verabschiedete mich. Dann klärte ich noch ein paar Dinge mit den Mädels und ging. Wie seltsam es sich doch anfühlte, wenn derselbe Alltag, den man sonst so mühelos bewältigen konnte, auf einmal richtig kompliziert wurde. Die Welt drehte sich einfach weiter, doch leider ohne Flo. Das erschien mir irgendwie trostlos. Zu Hause drehte sich das Rad auch weiter und meine Schwester wartete schon auf mich. Warum auch immer schien sie mit irgendetwas unzufrieden sein. Das fehlte mir gerade noch. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu. „Lukas, ich weiß dir geht es gerade nicht so gut, aber kannst mir trotzdem versprechen, dass es nicht so wie damals bei Juka wird? Davor hab ich nämlich echt Angst.“ Mein ohnehin schon zart besaitetes Gemüt schien durch diese paar Worte noch mehr strapaziert zu werden. Den ganzen Vormittag hatte ich gut gemeistert und jetzt kam meine tolle einfühlsame Schwester. „Jojo, ich hab dich echt lieb, aber du hast darüber verdammt noch mal nich zu entscheiden! Hab ich dir jemals vorgeschrieben, wie du dich verhalten sollst, als Naoki dich im Stich gelassen hat? Also untersteh dich mir vorzuschreiben, was ich zu tun habe.“ Das schien auch schon auszureichen, um sie zum Schweigen zu bringen. Dann drehte sie sich doch um. „Kannst du Alice später vom Kindi abholen?“ Ich nickte gedankenverloren und fragte mich, was ich ihr gerade getan hatte. Schade, da musste ich meinen Plan wohl verwerfen. Denn zu gerne hätte ich mich jetzt tatsächlich betrunken. Doch nicht, wenn ich meine kleine Nichte später noch um mich hatte. Aber vielleicht war es auch genau das, was ich jetzt brauchte. Dieses kleine Nervenbündel. Ich rief im Kindergarten an und hatte glücklicherweise Nici am anderen Ende. Ich fragte sie, ob es möglich wäre, dass ich Alice um zwölf abhole, sodass sie dann zu Hause Mittagsschlaf machen kann. Meine Ex hatte nichts dagegen. In der Zeit die mir noch blieb, kochte ich etwas zum Essen. Denn Juka hatte Recht, ich musste auch ab und zu Nahrung zu mir nehmen. Das Klingeln an der Tür lenkte mich dann jedoch davon ab. Als ich öffnete stand ich einer Frau gegenüber, die ungefähr in den Fünfzigern war und ich wusste, dass ich sie irgendwo schon Mal gesehen hatte. Ihr dunkelblondes Haar war zu einem Knoten zusammengebunden und das moosgrüne Kleid passte ihr perfekt, als wäre es eine Maaßanfertigung. Darüber trug sie einen cremefarbenen Blazer und schwarze Highheels. Ihr Blick wirkte sehr kühl und es erweckte fast den Eindruck, als koste sie der Besuch große Überwindung. „Du bist doch Lukas oder?“ Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Ja Frau May, der bin ich. Wir hatten ja nicht allzu oft das Vergnügen…was kann ich für Sie tun?“ Auch ich war jetzt mehr als Begeistert von meinem Besuch, bat sie dennoch herein und bot ihr sogar einen Kaffee an. „Wie du dir sicher denken kannst geht es um Florian. Willst du dich an der Beerdigung beteiligen? Wir standen uns nicht sonderlich nahe und ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen. Es ist alles schon soweit beantragt und die Annonce war heute in der Zeitung. Die Bestattung wird Freitag sein, also falls du noch irgendwas dazu beitragen willst, sag Bescheid.“ Sie kritzelte ihre Nummer auf einen Zettel und überreichte mir diesen. Ich war wie vom Donner gerührt und schüttelte fast mechanisch mit dem Kopf. Flos Mutter sah mich fragend an. „Alles klar…dann wünsche ich Ihnen noch einen wunderschönen Tag.“ All die Worte, die mir durch den Kopf schossen konnten nicht im Geringsten meinen Hass auf diese Frau ausdrücken, die da gerade vor mir stand. Doch immerhin gelang es mir diesen einen Satz vor Sarkasmus nur so triefen zu lassen. „Dann Tschüss.“ Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo ich mich wirklich ganz dringend betrinken musste. Da gab es nur ein Problem, Alice. Verdammt. Also machte ich völlig benommen auf den Weg zum Kindergarten. Ich war nicht der einzige, der eines der Kinder abholen wollte. Aber ich war der einzige, dem verstohlene Blicke zugeworfen wurden und mir entging auch nicht, dass die anderen Eltern über mich redeten. Deshalb zog ich meine Kapuze noch tiefer ins Gesicht und wartete darauf, dass Nici meine Nichte endlich raus brachte. Kurz nach zwölf kamen die Kleinen dann mit noch drei Erzieherinnen aus dem Gebäude. Alice erblickte mich und kam auch schon angerannt. Auch meine wundervolle Exfreundin schien noch etwas mit mir besprechen zu wollen. „Hey…wie geht’s dir? Ich hab‘s heute Morgen in der Zeitung gelesen…es tut mir so leid.“ Ach stimmt, die Annonce. Ich bemühte mich nicht ein Lächeln herauszuquälen. „Wie soll‘s mir schon gehen Nici? War bei der Kleinen alles okay?“ Sie merkte, dass sie das Thema besser ließ. „Ja, sie hat noch einen kleinen Snack bekommen. Aber sonst war alles gut.“ „Gut, dann mach‘s gut.“ Ich nahm Alice an der Hand und wir liefen nach Hause, wo ich das Mittagessen fertig zubereitete. Da sie schon fast am Tisch einschlief, brachte ich sie anschließend ins Bett. Allerdings wollte sie bei mir oben schlafen und nicht in ihrem eigenen Zimmer, das wunderte mich ein bisschen. Zum Glück schlief sie schnell ein und ich konnte nicht anders. Auch wenn sowas unverantwortlich war, ich baute mir einen Joint. Dann fragte ich mich, wie Eltern das bewältigten. Ich schaffte es ja nicht Mal vor meiner kleinen Nichte mich zu beherrschen. Doch ging es nicht auch darum vor seinen Kindern Schwäche zu zeigen? Und war Alice nur meine Nichte? Oder sah sie in mir tatsächlich sowas wie eine Vaterfigur. Ich konnte das nicht einschätzen. Dem Babyfon nach zu urteilen schlief mein kleiner Schatz tief und fest. Und irgendwie schien der Tag heute nicht besser zu werden, denn völlig entnervt kam meine Schwester aus ihrer Wohnung gestolpert. „Hast du Alice abgeholt?“ Ich nickte Richtung Babyfon und zündete meinen Joint an. „Nee, hab‘s vergessen“, entgegnete ich genervt. „Und wo ist sie dann? Ich dachte du legst sie schlafen.“ „Jojo…deine kleine Tochter liegt wohl behütet in meinem Schlafzimmer. Sieh nach wenn du mir nich glaubst.“ „Achso gut.“ „Und übrigens, ich weiß nich, was ich dir gerade getan hab, aber lass deine Laune an jemand anderem aus. Ich hab grad echt keinen Nerv für sowas.“ Meine Schwester antwortete eine Weile nicht, doch dann schien sie sich endlich ein bisschen zu entspannen. „Tut mir leid…ich bin nur gerade nicht sicher, wie ich mich dir gegenüber verhalten soll. Es fühlt sich für mich an, als wäre Flo in Tokio oder so…“ Jetzt holte ich Eiswürfel und Whiskey, egal was Jojo dazu sagte. „Isser aber leider nich…“ „Lukas…es tut mir so leid…kann ich irgendwas für dich tun?“ „Vielleicht mal aufhören dich wie eine Idiotin zu verhalten…ich meine was erwartest du von mir Jojo? Ich reiß mich ja schon zusammen, aber ganz im Ernst…lass so ne Scheiße wie heute einfach bleiben.“ Mit diesen Worten verzog ich mich in den Proberaum und kam Flos Wunsch nach. Es zerriss mich fast, als ich den Song zum ersten Mal auf der Gitarre spielte, doch ich rief mir immer wieder ins Gedächtnis, dass es für meinen besten Freund war. Irgendwann konnte ich sogar den Text singen ohne dass meine Stimme dabei zitterte oder abbrach. Ich wagte eine erste Aufnahme und schickte sie Basti. Irgendwann kam Juka mit Pizza und Bier in den Proberaum. Ich spielte ihm mein Tageswerk vor. „Wow, das klingt sehr schön und verdammt emotional.“ „Naja zumindest ist mir das geglückt.“ „Willst du noch ein bisschen allein sein?“ Ich schüttelte den Kopf und brach mir ein Stück der Vier-Käse-Pizza raus. „Juka…da Flo ja jetzt nich mehr da is…brauch ich nen neuen Gitarristen. Aber ich kann nich son beschissenes Casting machen und will die Stelle auch nich ausschreiben. Flo kann niemand ersetzen…aber du wärst ein würdiger Nachfolger.“ Juka lächelte mich liebevoll an und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Meinst du das funktioniert? Du und ich zusammen auf der Bühne…“ Da war auf einmal wieder diese Leidenschaft in mir. „Klar tut es das…ich will keinen anderen haben…ich hab mich noch gar nich bei dir bedankt.“ „Wofür denn“, fragte er etwas irritiert. „Dafür, dass du so verständnisvoll bist und mich auch mal in Ruhe lässt. Doch gerade brauch ich zwar Ruhe, aber nich vor dir…“ Ich beugte mich zu ihm herab und küsste ihn so sehnsuchterfüllt, denn seine körperliche Nähe fehlte mir wahrhaftig und ich wollte, dass er das spürte. Seine warmen Hände auf meiner nackten Haut erregten mich ungemein und ich riss ihm die Klamotten vom Leib. Ich nahm ihn hart und begierig. Meine Fingernägel hinterließen leichte Kratzspuren auf seinem Rücken und auch mein Körper war übersehen von roten Striemen. „Baby…das war verdammt heiß…“, flüsterte mir Juka zu und ich zündete mir eine Zigarette an. „Und längst überfällig…Süßer…ich hatte letzte Nacht nen komischen Traum.“ „Was denn für einen?“ Ich öffnete die Bierflaschen und zog die Kuscheldecke über uns. „Naja…wir haben ein Konzert gegeben…Flo zu ehren und so…war auch alles super nur danach hab ich mich wieder echt übel rausgeschossen. Hab mit Fabi auch Extasy geschmissen und so…dann hab ich mir Flos Namen in den Arm geritzt. Als du das gesehn hast, bist du voll ausgeflippt und hast mich nach Hause gebracht.“ Ich hielt Inne und trank einen Schluck. „Naja…“, setzte Juka an, doch ich gab ihm zu verstehen, dass es noch weiter ging. „Wir haben uns heftig gestritten…irgendwann später und du bist gegangen…da is mir was klar geworden. Klar isses echt beschissen seinen besten Freund zu verlieren, aber es is nich damit zu vergleichen dich verlieren Juka.“ Seine Gesichtszüge wurden weicher und er küsste mich auf die Stirn. „Oh Luki…es wäre auch okay gewesen, wenn du den Verlust von Flo mit dem meinen gleichsetzt. Ich weiß doch wie nahe ihr euch standet…bitte zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Selbst wenn es so wäre, müsste ich damit leben und wäre es vollkommen in Ordnung.“ „Vielleicht wäre es das…aber ohne dich war mein Leben die Hölle und ohne Flo isses zwar auch schlimm, aber du machst es erträglicher…der Traum hat mich deshalb schockiert, weil ich das früher mit Sicherheit tatsächlich getan hätte. Aber ich hab ja dich und du bist um einiges besser als jede Droge.“ Mein Liebster lächelte mich an. „Ich fühle mich wahrhaftig geehrt Süßer…und ich bin verdammt stolz auf dich. Ich meine, ich würde dir nicht verbieten dich so abzuschießen, aber dennoch bin ich froh, dass du es nicht tust…ich finde es schön, dass du es meinetwegen nicht tust.“ Ich schenkte Juka ein liebevolles Lächeln. „Du bist Schuld, dass ich doch irgendwie erwachsen und spießig werde.“ Juka gluckste. „Ähm…erwachsen vielleicht, spießig auf keinen Fall…das verbiete ich dir…aber manchmal ein bisschen vernünftig sein schadet nicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)