Die Burg von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Burg Nun stand er hier mitten in dieser riesigen Halle. Im Zentrum eines verwinkelten Schlosses. Und er empfand die Kälte, die an diesem Ort so unverfälschlich zu spüren war. Und doch war ihm so, als wäre er nicht das erste Mal hier gewesen. Er fühlte etwas Vertrautes, aber er konnte sich nicht daran erinnern. Noch nicht. Als er durch die Halle schlenderte, hörte man das Echo seiner Schritte. Es wäre für ihn unbedeutend gewesen, wenn da nicht dieser eigenartiger Nachhall gewesen wäre. Er hörte diesen verzerrten Ton und er blickte sich immer wieder um, in der Hoffnung bloß ein vertrautes Gesicht zu entdecken. Aber er war vollkommen allein in diesem Raum, weder Geräusche irgendwelcher Maschinen noch das Zwitschern naher Vögel waren zu erfassen. Es war Tag, es musste Tag gewesen sein, es schien ja helles Licht durch die hohen Fenster. Es gab nur zwei Türen in dieser Halle, eine aus der er kam und eine die noch vor ihm lag. Er fragte sich, was sich wohl dahinter verbergen mochte. Ein weiterer Raum? Ein Wesen? Die Freiheit? Je mehr er zögerte dort hindurch zu gehen, um so mehr fühlte er sich an diesem Ort unwohl. Er wollte weg, weit, weit weg. Zurück in sein Dorf, in sein Zuhause. Jedoch wusste er, dass er diesen Weg zurück nicht mehr beschreiten konnte. Zuviel Schlimmes war ihm dort widerfahren, soviel, dass er es nicht mehr aushalten konnte. Er dachte, dass es Zeit war, seinen eigenen Weg zu gehen. Aber insgeheim wusste er, dass es bloß eine Flucht war, eine Flucht vor den anderen Dorfbewohnern. Endlich packte ihn der Mut. Er schritt nun quer durch diese Halle und richtete seinen Blick stur auf die noch vor ihm liegende Tür. Wenn das sein Ende sein sollte, würde es ihn jetzt auch nicht mehr weiter stören. Schließlich hatte er jetzt nichts mehr. So dachte er und griff mit der linken Hand an die Türklinke. Sie war kühl, die metallische Oberfläche wohlgeformt. Stillschweigend stand er hier nun mit der Hand auf der Klinke. Die Zweifel tauchten wieder auf. Die Angst überkam ihn wieder. Wäre das alles bloß nie passiert, sagte er sich flüsternd, obwohl ihn doch keiner belauschen konnte. Er drückte sie nun langsam herunter. Plötzlich ein Schrei. Er taumelte zurück vor Schreck, ließ die Hand von der Türklinke rutschen und rannte zurück in die Mitte der Halle. Der Schrei verstummte. Er war wohl doch nicht allein. Er wollte sich beruhigen, aber er konnte es nicht. Langsam, sehr langsam fasste er wieder Mut und ging zurück zur Tür. Er horchte. Nichts geschah. Lange stand er vor der Tür, so kam es ihm zumindest vor, denn in dieser Halle konnte man die Zeit nicht mehr messen. Durch nichts. Schließlich holte er tief Luft und griff mit der Hand an die Klinke. Nichts passierte. Er drückte sie ganz langsam herunter. Plötzlich ein Schrei. Wieder. Mit Entsetzen rannte er zurück. Zurück in die Mitte der Halle. Er kniete sich hin, auf die kalten Fliesen des Bodens. Und er fing an zu weinen. Tropfen um Tropfen flossen durch seine Augen, die Wangen hinunter. Er schmeckte den salzigen Geschmack auf der Zunge. Er wünschte sich, dass dies alles bloß ein Traum wäre, doch er wusste genau, dass dies die Realität war. Die schmerzhafte Realität. So kniete er noch dort eine Weile auf dem Boden, obwohl er schon lange aufgehört hatte zu weinen. Er fragte sich was er nun bloß tun sollte, denn je länger er über diesen Schrei nachdachte, um so mehr glaubte er, dass dies mit der Türklinke zusammenhing. Eine Art Mechanismus. Vielleicht eine Warnung. Vielleicht wird dadurch jemandem weh getan, sagte er sich. Ja, mir, dachte er sich. Schließlich hatte er eine Idee. Wenn er nun die Tür gewaltsam öffnen würde, ohne die Klinke zu berühren, würde wahrscheinlich nichts passieren. Hoffentlich. Damit stand er auf, ohne sich dabei mit den Händen abzustützen. Er wurde wieder selbstbewusster. Zielstrebig rannte er auf die Tür zu. Mit einem Mal rammte er mit der linken Schulter gegen die hölzerne Tür. Die Augen zusammengekniffen. Mit der Vorbereitung auf einen Schrei und sich diesmal dennoch durchzusetzen. Sein Herz hämmert im Takt seiner Schritte. Im Takt des Zusammenstoßes. Die Tür brach zusammen unter seiner Gewalt. Sie wurde auf den Boden geschmettert und zerbrach in Einzelteile. Er landete liegend auf ihr. Nichts geschah. Kein Schrei. Langsam blickte er sich um, während er noch bäuchlings auf der zerstörten Tür lag. Ein weiterer Raum. Größer, majestätischer als der letzte. Die Wände waren aufwändig mit kunstvoll bemaltem Marmor verziert, die Fenster waren ebenso hoch angebracht wie im alten Raum, viel größer. Auch sie waren mit vielen Farben verziert, wie die Marmorplatten. Sie reichten hinauf bis zur Decke, die gut dreißig Meter vom Boden entfernt war. Und in der Mitte hing ein Mädchen. Mit den Händen an einem Seil aufgehängt. Sie war schön, lange blonde Haare, ein liebes, aber auch trauriges Gesicht. An den Händen und am Hals waren Elektroden befestigt. Kabel führten davon bis zur zerstörten Türklinke sowie zu einer Art Generator. Sie bekam Stromstöße, jedesmal wenn jemand versucht hatte durch die mittlerweile zerstörte Tür hereinzukommen. Aber jetzt geschah nichts mehr. Er hatte den Mechanismus unterbrochen. Sie sah ihn an. Ängstlich, aber auch zufrieden, erstmals von den Schmerzen befreit zu sein. Tränen liefen an ihren Wangen hinunter, Tränen der Freude und der Angst. Der Angst, dass auch er ihr was antun könnte. Langsam stand er auf. Er klopfte den Staub von seiner Kleidung ab und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von seiner Stirn. Dann ging er zu ihr. Er blickte sie an, und plötzlich, ohne ein Wort gesagt zu haben, entknotete er ihre Fesseln. Vorsichtig hielt er sie daraufhin fest, damit sie nicht runterfiel. Dabei sah er ihr ganz fest in ihre Augen. Nachdem sie dann auf dem Boden stand, mit ihren nackten Füßen, und ihr graues Kleid säuberte, schwiegen beide für eine recht lange Weile. So kam es ihm zumindest vor. Schließlich fragte sie ihn mit einer ruhigen Stimme: „Wie heißt du?“ „Simon. Und du? Wie heißt du?“ „Ich habe keinen Namen.“ Simon war erstaunt. Er meinte zu ihr: „Aber jeder hat doch einen Namen. Wieso hast du keinen Namen? Sogar Hunde haben einen Namen.“ Doch als er diesen letzten Satz gesagt hatte, bereute er ihn auch schon wieder. Er hatte sie damit nicht kränken wollen. Verlegen senkte er den Kopf und druckste vor sich hin: „’Tschuldige... entschuldige, ich... ich wollte dir damit nicht weh tun. Es tut mir wirklich Leid, es ist mir nur so...‘rausgerutscht.“ Aber sie kicherte nur, und Simon schaute verwundert auf. Er erblickte ein naives Lächeln und das Mädchen sagte kichernd: „Es ist nicht schlimm. Es ist wirklich nicht schlimm. Wahrscheinlich hatte ich auch mal einen Namen.“ Sie zuckte jedoch nur unbekümmert davon mit ihren Achseln und erzählte Simon, warum sie hier sei und was geschehen war. Anscheinend hatte sie lange nicht mehr einen Zuhörer gehabt, der ihr so aufmerksam und freudig lauschte: „Erwachsene haben mich hierhergebracht und hier aufgehängt, als ich noch ganz klein war, so mit fünf oder sechs muss das gewesen sein. Wie alt ich jetzt bin, weiss ich nicht. Vielleicht so alt wie du. Das Schloß ist daran schuld.“ „Stimmt. Seit ich hier bin, habe ich das Gefühl für die Zeit völlig verloren.“ „Das Licht, die grauen Wände und die Stille hier verursachen das. Irgendwann ist es dann einem egal, man will nur noch fort. Die Erwachsenen mögen diesen Ort scheinbar auch nicht, denn sie bringen mir nur etwas zu essen und zu trinken und verschwinden dann schnellstmöglich wieder. Aber das ist auch gut so! Sie tun mir weh und schreien mich an. Dabei... dabei habe ich denen doch gar nichts getan!“ Sie fing an zu weinen, Simon wollte sie tröstend umarmen, aber sie wich zurück. Um sie zu beruhigen, erzählte er seine Geschichte: „Ich bin vor den anderen Dorfbewohnern geflüchtet. Wahrscheinlich sind das die gleichen Erwachsenen, die dich hierhergebracht haben.“ Grimmig fuhr er fort: „Sie haben mich in die Burg gejagt. Sie wussten bestimmt, dass es schwierig ist, hier jemals wieder heil herauszukommen. Dabei hatte auch ich nichts getan. Es gab ein Erdbeben, brennende Steine fielen herunter. Aber ich war es nicht. Wirklich nicht!“ Das Mädchen nickte. „Und dann habe ich mich in der Burg verlaufen. —“ „Aber warum haben sie dich beschuldigt?“ „Ich bin... ich bin nicht so wie die anderen. Ich hab... habe ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das ich verstecke.“ „Sagst du es mir? Dann sage ich dir auch mein Geheimnis. Ja?“ Simon schwieg. Er hatte am Todesbett seiner Mutter versprochen, niemals jemandem sein Geheimnis zu zeigen. Denn seine Mutter erzählte ihm nämlich, dass viele es nicht verstehen können, und dass er deswegen stets in Gefahr sein wird. Und sie behielt Recht. In all den Jahren nach ihrem Tod mieden die Erwachsenen seine Nähe, Kinder wurden von den Eltern zu sich geholt, jedesmal wenn er vorbei kam. Er fühlte sich gekränkt, er war traurig, aber trotz all der Schmerzen, die die Dorfbewohner bei ihm verursacht hatten, ging er nicht von dort fort. Er wusste nicht wohin und deswegen blieb er. Bis zu dem Tage, an dem er flüchten musste. Und jetzt stand er vor diesem Mädchen, das vor kurzem ihn noch ängstlich angesehen hatte und ihn nun mit dem schönsten Gesicht der Welt anlächelte. Ein Lächeln huschte auch über seine Lippen. Dann ballte er die Fäuste und er strengte sich so an, dass sich sein Gesicht verspannte. Aus seinem Rücken schien etwas hervorzukommen. Es erschienen Flügel. Langsam breiteten sie sich aus, bis sie vollkommen zu sehen waren. Er sah aus wie ein kleiner Engel. Das Mädchen sah ihn erfreut, aber gleich daraufhin mitleidig an: „Oh! Aber... aber was ist mit dem rechten Flügel? Er... er ist ganz zerrissen!“ Mit nervöser Stimme erwiderte er schnell: „Ich wollte wegfliegen, aber sie haben mit Pfeil und Bogen auf mich geschossen. Und wie du siehst, sie haben mich getroffen, und dann wäre ich fast abgestürzt, und ich bin dann weggelaufen, und—“ „Ich verstehe schon. Aber schau mal!“ Auch sie besaß Flügel. Flügel so schön wie seine. Aber sie waren nicht weiss, sie waren feuerrot. Feuerrote Federn, einige mit schwarzen Streifen durchzogen. „Sie sind nicht so schön wie deine weißen Flügel, anscheinend sind auch wir unterschiedlich, aber jetzt weißt du auch mein Geheimnis, nicht wahr. “ Simon sah sie erfreut an: „Aber das ist doch normal, also ich... meine damit nicht, dass deine Flügel nicht schön sind. Ich... ich finde sie wundervoll. Aber es ist normal, dass deine rot sind. Die von meiner Mutter waren auch rot.“ „Ich kenne meine Eltern nicht.“ „Oh, das wusste ich nicht“, antwortete er traurig. „Warum bist du deswegen traurig?“ „Weil es traurig ist, seine Eltern nicht zu kennen. Einen Vater und eine Mutter zu haben, war für mich das Schönste auf der Welt.“ „Oh, das tut mir Leid.“ „Braucht es nicht. Weil ich jetzt jemanden habe, der viel, viel schöner und lieber ist!“ Verlegen lächelte er sie an, und das Mädchen schaute verlegen, mit hochrotem Kopf, auf den Boden. Eine ganze Weile standen sie so da, wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Er sah sich nochmals genauer in diesem Raum um. Es gab hier insgesamt drei Türen. Eine, durch die er gekommen war, eine etwas kleinere, hölzerne mit einem einfachen Metallknauf und eine riesengroße Tür, die beinahe schon die Größe eines Tores besaß. Diese bestand aus Metall und sah recht schwer aus. An ihr fand man auch keine Türklinken. Daraufhin fragte er das Mädchen: „Weißt du, wohin diese Tür führt?“ Er deutete dabei auf die große Tür. „Die Erwachsenen kommen immer da durch. Aber wir können nicht da durch. Sie ist von außen abgeschlossen.“ „Bist du dir da ganz sicher?“ Sie nickte, aber gleichzeitig zuckte sie mit den Achseln. Simon ging auf die Tür zu und versuchte sie aufzukriegen. Ohne Erfolg. Er ging zu dem Mädchen zurück. „Hast Recht. Aber was ist mit der anderen?“ „Ich weiß nicht. Aber hoffentlich geht sie auf. Ich will nicht hierbleiben!“ Er wollte das auch nicht. Zu groß war die Angst von den Erwachsenen erwischt zu werden, zu groß die Angst des Mädchens, wieder aufgehängt zu werden. Simon nahm sie bei der Hand. Erfreut sah sie ihn an. Dann gingen sie zur Tür. Schweigend standen sie davor. Gibt es hier möglicherweise auch die ersehnte Freiheit? Oder nur wieder ein weiterer Raum? Ein weiterer Gefangener? Langsam nahm Simon die freie Hand hoch und legte sie auf den Metallknauf. Sie war kühl, die metallische Oberfläche wohlgeformt. Er drehte den Knauf zurück. Kein Schrei. Er sah das Mädchen an. Sie sah ihn an und nickte. Mit zittriger Hand öffnete er die Tür. Dann gingen sie hindurch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)