Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare von Curupira ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 1. --------------------- Sobald der Mercedes steht, werfe ich die Autotür frustriert auf, steige aus und knalle die Tür mit purer Absicht fester zu. Sie soll meine Wut spüren, weshalb ich danach mit meinen Stiefeln, die vorne an der Spitze Stahlkappen eingearbeitet haben, mit aller Kraft, provokant gegen das Blech von Mamas Mercedes trete. Natürlich sind es meine alten Stiefel. Die Anderen habe ich, einen Tag nach der Asylanthemheim-Aktion, in die Tiefen meines Kleiderschranks versenkt, nachdem ich sie mit Mühe geputzt hatte. Klebriges Bier und Schlamm, sind nicht meine Freunde geworden. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Mama ebenfalls aussteigt und meine Wutattacke unkommentiert lässt. Als wir uns am Kofferraum treffen, sieht sie mich bittend an. »Romy, es ist nur dieses eine Jahr«, redet Mama mir gut zu und versucht, mich zu beruhigen, während sie meine Reisetaschen aus dem Kofferraum zerrt. Nein, kein Urlaub, meine herzallerliebsten Eltern, stecken ihre schwer erziehbare, missratene Tochter für ihr letztes Schuljahr, bevor der Ernst des Lebens beginnt, in ein Internat. Ein katholisches Mädcheninternat. »Fick dich, Mama«, schreie ich ihr entgegen, drehe mich um und laufe die Auffahrt, die wir eben hinauf gefahren sind, hinab. Wo ich hin will, weiß ich nicht, nur dass ich nicht hierbleiben möchte. Wie können sie mir das antun? Sie haben mich mitten im neuen Schuljahr - okay das neue Schuljahr ist gerade einmal zwei Monate alt - von meiner alten Schule abgemeldet und hier angemeldet, ohne mich auch nur nach meiner Meinung zu fragen. »Romy, bitte«, ruft Mama mir hinterher. Nach einigen Schritten bleibe ich schließlich mit hängendem Kopf stehen, weil ich weiß, dass ich meine Eltern gerade schlechter darstelle, als sie wirklich sind. Denn ich weiß ganz genau, dass sie mich ungern auf dieses Internat schicken. Beinahe bereue ich meine bösen Worte, die ich während der Autofahrt an Mamas Kopf geworfen habe, ohne auf ihre Gefühle zu achten. Die Idee mit dem Internat kam nicht aus dem Ideenfundus meiner Eltern, sondern sie ist eine Auflage des Richters und des Jugendamts, weil ich die letzten zwei Jahre in meiner alten Schule zu viel Blödsinn gemacht habe und letzten Monat mehrfach von der Polizei nach Hause gebracht wurde. Am ausschlaggebenden war eine von mir verursachte, schwere Körperverletzung, an einem Türken. Uschi und ich haben den Kerl gemeinsam so rund wie einen Buslenker geklatscht, weil er uns blöd angemacht hat und uns an Stellen berühren wollte, die für Türkenabfall tabu sind. Die Polizei und das Stück Scheiße waren nicht unserer Meinung, dass er sich die gebrochene Nase und das angeknackste Handgelenk selbst verdient hat. Hätte er uns eben nicht angraben sollen! Weil sich eine junge, engagierte Sozialhelferin eingeschalten hat, konnten wir uns aber außergerichtlich mit dem Opfer, bei einem Täter-Opfer-Ausgleich einigen. Ich drehe mich um, als Mama ein weiteres Mal meinen Namen ruft und mein Smartphone vibriert, das eine Nachricht von Paul ankündigt. ›Romy, das geht so nicht weiter. Du bist wohl doch noch zu jung für mich, mit deinen fünfzehn Lenzen. Lass uns Schluss machen.‹ Perfektes Timing, Arschloch! Vermutlich hat er von den Jungs spitz bekommen, dass ich nicht mehr täglich da sein kann. Gott, wenn ich Uschi erzähle, dass ich für Paul doch die Beine breit gemacht habe, obwohl sie mir davon abgeraten hat, wird sie mir einen Vogel zeigen. Ich wollte nicht länger warten. Ich wollte endlich verstehen, was alle so toll an Sex finden und diese Erinnerung mit mir nehmen, damit ich an ihr zerren könnte, wenn ich Paul arg missen würde, weshalb ich ihm gestern nachgegeben habe, als er mir wieder einmal mit Sex in den Ohren lag. Mit dem Wissen von heute wäre ich besser nicht darauf eingegangen. Besonders toll war es nämlich auch nicht. Es hat wehgetan und er war viel zu schnell fertig gewesen. Allerdings heißt es ja, dass das erste Mal nie schön ist. Ich fühle mich um die Zeit betrogen. Fast ein Jahr war ich mit Paul zusammen. Ein Jahr, in dem er mir vormachte, ich sei die Liebe seines Lebens. Ein Jahr, in dem ich dachte, er sei die Liebe meines Lebens ... Wütend stopfe ich mein Smartphone in meine Hosentasche und fahre mir durch meine blonden Haare, die endlich wieder länger als fünf Zentimeter sind und mir mit Haargel eine ganze Palette an neuen Frisuren eröffnen, anstatt auszusehen, wie ein Chemopatient. Fünfzehn Lenzen, pah, mittlerweile sechzehn Lenzen, lieber Paul. Mein Geburtstag ist heute im allgemeinen Durcheinander untergegangen und Paul hat sich nicht daran gestört. Vermutlich hat er ihn sowieso vergessen. »Nur das eine Jahr, bis du deinen Realschulabschluss in der Tasche hast«, beginnt Mama abermals und nimmt meine Hand. Wann war sie mir so nah gekommen, wundere ich mich, lasse mich aber widerstandslos von ihr zurück zum Auto ziehen und nehme meine beiden Reisetaschen schließlich schicksalsergeben vom Boden hoch. Mama lächelt erleichtert und geht zielstrebig die Stufen zu einem kleinen Torbogen hoch, nachdem sie sich noch einmal versichert hat, dass ich ihr folge, und drückt eine schwer aussehende Holztür nach innen. Ich folge ihr seufzend und werde direkt von einem Mädchen in meinem Alter erwartet, welches mich von Mama ablenkt, die einfach hinter einer Tür verschwindet. »Du bist Romy?«, fragt sie mich und mustert mich von Kopf bis Fuß. Ich deute ein Nicken an und umfasse meine Taschen fester. »Ich bin Marina. Ich soll dich auf dein Zimmer begleiten und dir alles zeigen, falls du dich schon umsehen willst, während deine Mutter sich mit der Direktorin um die Formalitäten kümmert.« Weil Mama weg ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dieser Marina zuzuwenden, die mich an eine graue Maus erinnert. Blass, dunkler Rock, graue Bluse und langweilige, schulterlange, schwarze Haare. Natürlich könnte ich auch einfach auf Mama warten, aber ich habe keinen Bock auf Stress, bevor nicht einmal der erste Tag überstanden ist. Marina hat mein Zögern und meine Blicke zu der Tür, hinter die Mama verschwunden ist wohl gemerkt, denn sie sagt: »Komm, sobald wir mit dem Rundgang fertig sind, sollte auch deine Mutter fertig sein. Soll ich dir eine Tasche abnehmen?« »Es geht schon«, erwidere ich und lächle Marina falsch an. »Außer wir müssen mehrere Kilometer laufen. In welche Klasse gehst du?«, frage ich sie und bete innerlich darum, dass sie nicht in meine Klasse geht. Ich mag keine Ausländer, aber beinahe genauso schlimm sind graue, Kirchenfanatiker und diese Marina sieht verdammt nach einer gläubigen Christin aus, die Sex vor der Ehe ablehnt. Über meinen Gedanken amüsiert, muss ich mir ein Lachen verkneifen und folge Marina langsam aus dem Foyer. Was sie wohl über mich denken würde, wenn ich ihr sage, dass ich meine Jungfräulichkeit gestern aus dem Fenster geworfen habe? Habe ich mich versündigt, oh graue Marina? Weil Lachen blöd rüber gekommen wäre, verkneife ich es mir. »Ich gehe in die Neunte. Die Direktorin sagte, du bist eine Zehntklässlerin?« »Ja«, nicke ich und erklimme an ihrer Seite die Treppe. Schweigend lasse ich mich durch mehrere Gänge führen, bis Marina endlich vor einer unscheinbaren, dunklen Holztür stehen bleibt. »Das hier und der Gang, der über diesem liegt, sind die Internatswohnräume für die Oberstufe. Alles unter diesem Gang, bewohnt die Unterstufe. Hier teilt man sich mit mindestens einem anderen Mädchen ein Zimmer. Weil ihr in der Oberstufe weniger Schüler seid, hast du aktuell noch keine Mitbewohnerin und bist somit allein. Kann sich aber jederzeit ändern, wenn wir einen Neuzugang bekommen.« Marina öffnet die Tür und tritt zur Seite. Es ist ein kleines Zimmer, schlicht eingerichtet und irgendwo in den Siebzigern oder Achtzigern stecken geblieben, wenn ich mir die Tapete genauer anschaue. Neben der Tür, auf rechter Hand, ein Kleiderschrank, links ein kleines Waschbecken, mit Spiegel. Unter dem einzigen Fenster steht ein Schreibtisch mit Stuhl und rechts und links davon jeweils ein Bett. »Nett«, kommentiere ich, als mein Blick auf das Kreuz über der Tür fällt und ich meine Taschen auf das rechte Bett fallen lasse. »Was ist mit einem Badezimmer?« »Insgesamt haben wir acht Stück. Auf jeder Etage findest du Zwei. Brauchst du einen Moment allein?« Ich schenke dem Kreuz einen abfälligen Blick, bevor ich meinen Kopf schüttel und wieder zu Marina auf den Flur trete. Sie reicht mir einen Schlüssel, ich schließe das Zimmer ab und lass mich von ihr durch das Internat und einen kleinen Teil der Schule führen. »Jedes zweite Wochenende dürfen wir nach Hause fahren«, erklärt Marina mir, als wir nach einer halben Stunde wieder in dem Foyer ankommen, wo mich Mama mit ihr allein gelassen hat. »Deine Mutter sollte eigentlich gleich wieder heraus kommen«, durchbricht Marina die unangenehme Stille. Ich habe einfach keine Idee, was ich mit der quatschen soll, weshalb ich meine Fresse halte. »Ich verabschiede mich dann mal von dir. Abendessen gibt es in zwei Stunden. Ich schicke dir Jemanden, der dich abholt.« Ich nicke nur und so lässt mich Marina im Foyer stehen. Als die Schritte von Marina verhallt sind, höre ich nichts mehr, außer das gelegentliche Knarzen des alten Holzes, das uns im ganzen Internat umgibt. Das Gebäude war einst ein Jagdschloss für Adlige, nach dem Krieg lange Zeit ein Kinderheim und seit einigen Jahren ein katholisches Mädcheninternat. Genervt von dem Knarzen, krame ich meine Kopfhörer aus meiner Hosentasche und stecke sie an mein Smartphone an. Mit der Musik von Sleipnir, Stahlgewitter und den Böhsen Onkelz, ist es gleich viel leichter, sich nicht zu langweilen. Wenigstens dafür bin ich Paul dankbar. Denn die zuerst genannten Bands, habe ich durch ihn, kennen und lieben gelernt. Wie kann er mir das nur antun? Warum muss er an meinem Geburtstag mit mir Schluss machen? So ein verdammtes Arschloch. Als eines unserer gemeinsamen Lieblingslieder erklingt, muss ich mich zusammenreißen, damit ich nicht anfange zu weinen. Nach einer halben Ewigkeit kommt Mama wieder durch die Tür. Natürlich genau in dem Moment, als ich an der Wand, hinab auf den Boden gerutscht bin. Sie stemmt ihre Arme in die Hüfte und schaut mich ernst an. »Romy, Liebes, sitz hier nicht herum, wie die Obdachlosen in der Stadt. Die Direktorin kommt jeden Moment raus. Steh schon auf«, herrscht sie mich an. »Los, los!« Mama bückt sich, packt mich an meinem Handgelenk und zerrt so lange daran, bis mir die Kopfhörer aus den Ohrmuscheln rutschen und ich mich genervt von ihr in den Stand ziehen lasse. »Man, lass mich doch«, knurre ich und sie sieht mich durchdringend an. »Mach diese schreckliche Musik aus, Kind.« Bevor Mama noch etwas sagen kann, geht die Tür ein weiteres Mal und die Direktorin, in einem Habit gekleidet, kommt heraus. Oh bitte, eine Nonne als Direktorin? Die Frau lächelt mich an und hält mir ihre Hand hin, die ich ignoriere und stattdessen auf meine Stiefelspitzen hinabsehe. »Du bist also Romy. Hat dir Marina alles gezeigt?« Ich stimme ihr brummend zu. »Wir freuen uns, dich in unserem Internat begrüßen zu dürfen. Ich bin Ordensschwester Norika Kramer. Du kannst mich Frau Kramer oder Schwester Norika nennen. Dann verabschiede dich schön von deiner Mutter. Danach können wir in meinem Büro besprechen, wie es für dich bei uns weiter geht. Klopfe einfach an diese Tür, wenn du bereit bist«, lächelt Schwester Norika leicht, verabschiedet sich von Mama und verschwindet wieder in ihr Büro. Als Mama und ich hinaus auf den Parkplatz gehen wollen, rempelt mich ein fremdes Mädchen mit braunen Haaren, welches förmlich durch den Torbogen ins Foyer geschossen kam, schroff an. Die Stelle an der mich ihre Reisetasche gestoßen hat, schmerzt höllisch. »Pass doch auf«, zische ich, reibe vorsichtig über die schmerzende Stelle an meinem Unterarm und für einen kurzen Moment begegnen sich unsere Blicke. Im Dämmerlicht des Foyers kann ich nicht viel erkennen, nur dass sie überrascht auf mich wirkt, als sie mich ansieht. Sie hält inne, starrt von mir zu Mama und geht statt zu den Treppen, zur Bürotür der Direktorin. Warum mir plötzlich ein eiskalter Schauer, den Rücken hinab kriecht, als das Mädchen das Büro betritt, kann ich nicht festmachen. Als ich Mama kopfschüttelnd nach draußen zu ihrem fetten Mercedes folge, habe ich das Mädchen schon vergessen und wünsche mir aus ganzem Herzen, mit Mama mitfahren zu können. Im Moment will ich überall sein, nur nicht hier, an diesem Ort, der sich mitten im Nirgendwo befindet, wo ich nun ein ganzes Jahr lang leben soll. Wie soll ich dieses Jahr überstehen? Fernab von meinen Freunden, von Paul, von unseren Demos gegen Merkels Flüchtlingspolitik. Weit entfernt von den Kameraden, mit denen ich immer gerne losgezogen bin, um Ausländer zu klatschen. Allein, ohne Mama, Papa und Lari. Mama schlingt hilflos ihre Arme um meinen Körper, als ich neben ihr anhalte und murmelt mir nichtssagende Floskeln ins Ohr. Ich spüre, wie sich mein Magen unangenehm zusammenzieht, sage aber nichts, als mich eine riesige Welle, bestehend aus Kummer, droht zu überschwemmen. Als Mama mich loslässt, zieht sie zwei Geldscheine aus ihrer Tasche und steckt sie mir in die Brusttasche meines schwarzen Hemds, berührt mich sanft an der Wange, wendet sich ab und steigt in den Mercedes. Sie lässt das Fenster hinab, beugt über den Beifahrersitz und sieht mich zwinkernd an: »Gib nicht alles auf einmal aus. Deine erste Heimfahrt ist erst in vierzehn Tagen.« Sie winkt, startet den Motor und fährt weg. Lässt mich alleine zurück. Ich kann mich nur sehr langsam dazu bewegen, zurück ins Foyer und ins Büro der Direktorin zu gehen. Viel lieber würde ich nach oben gehen, meine Taschen holen und weglaufen. Genügend Geld hätte ich ja, um mir ein Ticket nach Hause zu kaufen. Jedoch weiß ich aus ziemlich sicherer Quelle, dass mich das Jugendamt dann komplett aus meiner Familie entfernen und an einen viel schlimmeren Ort bringen würde, weshalb ich anklopfe und das Büro der Direktorin betrete. Frau Kramer blickt mich so mitfühlend an, dass ich am liebsten kotzen möchte und fordert mich auf, mich in einen der Sessel vor ihrem Schreibtisch zu setzen, als ich die Tür hinter mir ins Schloss gedrückt habe. »Also Romy«, beginnt Frau Kramer und sieht auf einen Stapel Dokumente hinab, die auf ihrem Schreibtisch liegen. »Körperverletzung, Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Beleidigungen gegen den Lehrkörper und die Ordensschwestern wollen wir hier nicht haben.« Frau Kramer blickt von ihrem Dokument auf und sieht mich ernst an. »Genauso wenig Mobbing, abfällige, rassistische Äußerungen und Angriffe gegen Schülerinnen, die einer anderen Nation angehören oder eine andere politische Einstellung haben, wollen wir hier ebenfalls nicht haben. Verstanden? Jede Zuwiderhandlung werde ich direkt an das Jugendamt und den Richter weiterleiten, der für dich zuständig ist.« Frau Kramer siebt mir ein Blatt zu und deutet mit ihren Finger darauf. »Dort stehen unsere Hausregeln und deine Rechte und Pflichten drauf. Jeglicher Verstoß dagegen wird mit einer Strafe geahndet. Je nach Verstoß kann das eine Woche Küchendienst, Hausmeisterarbeiten oder Putzdienst bedeuten. Das natürlich nur als Beispiel. Wir sind recht gut im Strafen ausdenken. Sobald du alles gelesen hast, brauche ich von dir eine Unterschrift, dass du unsere Regeln verstehst und akzeptierst. Weil du ein besonderer Fall bist«, fügt sie in einem seltsamen Ton hinzu, »habe ich ein paar Extraregeln auf die Rückseite geschrieben, die schlimmer geahndet werden, wenn du dagegen verstößt.« Mehr als skeptisch nehme ich das Blatt an mich und lehne mich zurück. Ich merke schnell, dass das Leben im Internat kein Zuckerschlecken werden wird. Besonders, als ich die Extraregeln gelesen habe. Ich habe mich schon bei ihrer Ansprache gewundert - aber was in Odins Namen? Woher weiß die von meiner politischen Einstellung? Nun gut. War ja irgendwo klar, dass man versuchen würde meine Ansichten, zu überarbeiten, damit ich wieder für den Mainstream tauglich werde. Dann darf ich halt keine rechten Parolen herum posaunen und so lange mir die Affen hier nicht krumm kommen, kann ich auch meine Fäuste im Zaum halten. Zum Glück kann niemand meine Gedanken unter Strafe stellen, denn wie heißt es so schön? Die Gedanken sind frei und an den freien Wochenenden ist genügend Zeit, Dampf abzulassen. Sie reicht mir einen Kugelschreiber, als ich sie mit einem hoffentlich nichtssagenden Blick ansehe und eine Schreibbewegung mit meiner Hand mache. Ich nehme den Stift, unterschreibe und Frau Kramer reicht mir eine exakte Kopie. »Für dich, damit du die Regeln regelmäßig nachlesen kannst.« Ein ungewolltes »Danke«, rutscht mir von den Lippen, was mir einen überraschten Blick von Frau Kramer einbringt. Was denkt die denn, dass ich eine verzogene Göre bin, die keine Höflichkeitsfloskeln beherrscht? »Gut, dann habe ich hier noch deinen Stundenplan, Essensmarken für das Mittagessen in der Schule und deine Schulbücher«, sagt Frau Kramer, wühlt unter ihrem Tisch und in einigen Schubfächern und reicht mir einen Stundenplan und die Essensmarken, bevor sie auf einen Plastikbeutel neben der Bürotür deutet, wo vermutlich die erwähnten Bücher drin sind. »Schreibzeug, Blöcke und anderes Material kannst du hier im Ort kaufen oder dir mit Hausarbeit verdienen, wenn du kein Geld dabei hast.« Na ein Glück hatte mir Mama gestern noch einen Jahresvorrat an Materialien eingepackt, denke ich und spüre einen Stich, weil sie mich allein gelassen hat. »Aufgestanden wird um 6:00 Uhr, danach folgt das Morgengebet und um 7:00 Uhr Frühstück. Danach brecht ihr geschlossen zur Schule auf, wo gegen 14:00 Uhr der Unterricht vorbei ist und ihr euch zum Nachmittagsgebet in unserer Kapelle einzufinden habt, danach folgt direkt das Vesper und die Hausaufgabenzeit. Danach habt ihr Freizeit. Gegen 19:00 Uhr findet das Abendessen statt. Um 20:00 Uhr dann das Abendgebet und spätestens um 22:00 Uhr müsst ihr alle auf euren Zimmern sein. Wann du schlafen gehst, ist uns egal, nur denke daran, dass du am Morgen wieder früh raus musst.« Darf ich bitte kotzen gehen? Wer betete denn bitte so viel? Und die Uhrzeit zu der Aufgestanden wird - ein Strick bitte für mich notorische Langschläferin. Was hat mir das Jugendamt da nur eingebrockt? »Ich weiß«, lächelt mich Frau Kramer nachsichtig an. »Für den Anfang ist das etwas viel, aber ich bin mir sicher, wenn du dich an die Regeln hältst, wirst du dich sehr schnell in unserem Haus wohlfühlen.« Klar und in einem Monat gehe ich gemeinsam mit Typen der Antifa auf eine Demo gegen Nazis und küsse Bimbos. Am liebsten würde ich laut lachen, doch ich will mich nicht schon am ersten Tag bei der Frau unbeliebt machen, wobei ich vermute, dass ich das schon geschafft habe mit meiner politischen Einstellung. »Darf ich jetzt gehen?« »Findest du deinen Weg in dein Zimmer?« Ich nicke, steh auf und greife nach der Tüte mit den Büchern. Sie wünscht mir noch einen schönen Abend, ich deute ein Kopfnicken an und gehe aus dem Büro. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke und durch die Gänge, zu meinem neuen zu Hause, für eine quälend lange Zeit, schleiche, frage ich mich, ob man mir wegen meiner politischen Einstellung ein Zimmer ohne Zimmergenossin gegeben hatte. Eine nette Vorstellung, vielleicht bin ich ja abschreckend genug, dass ich das Jahr in völliger Einsamkeit hinter mich bringen kann, auch wenn ich mich immer noch frage, woher die von meiner politischen Einstellung wissen, denn Mama weiß davon nichts und in dem Bericht vom Jugendamt sollte das auch nicht stehen. Wenn die so genau Bescheid wissen, kann es natürlich auch sein, dass ich am Ende der ersten Woche im Krankenhaus liege, weil mich wer weiß was für Kanakenweiber dahin geprügelt haben. Ich seufze leise, als ich die Büchertüte achtlos auf den Schreibtisch sausen lasse und dieser, ob des Gewichts leise ächzt. Jetzt galt es zu warten, dass man mich zum Abendessen abholte, wenn man mich denn holte, dachte ich und war froh über den Proviant, den ich mir vorausschauend eingepackt hatte, weil ich eigentlich schon längst auf der Flucht sein wollte. Der Kissenbezug, auf den ich meinen Kopf lege, riecht frisch, bemerke ich, als ich darum kämpfe, nicht in Tränen auszubrechen. Tränen, Paul würde mich dafür verachten, dass ich meiner Mutter überhaupt eine Träne hinterher weine, ist sie für ihn doch eine Hexe und verkappte Linksanhängerin. Ich weiß noch wie lustig er es fand, als herauskam, dass meine Eltern Die Linke unterstützten. Das war kurz nach der Nacht, als wir das Asylantenheim ausgeräuchert haben. An diesem Abend hat er mir jedes Bier spendiert, weil ich so gut zu seiner Belustigung beigetragen habe. Ich war nie stolzer, mich gegen die politische Ansicht meiner Eltern zu wenden, als an diesem Abend. Eine gefühlte, halbe Ewigkeit später klopft es an meiner Tür. Ich atme tief ein und verwerfe die Idee, so zu tun, als würde ich schlafen. Mit wenig Elan springe ich aus dem Bett und öffne die Tür. Am liebsten will ich sie wieder zu werfen. Vor mir steht eine Negerin, die ausschaut, als wäre sie gerade wo ganz anders. Man macht sich eindeutig lustig über mich, denke ich zerknirscht und greife nach der Türklinke, als die Negerin sich ein Herz zu fassen scheint, mich breit anlächelt und ihre Hand ausstreckt. »Naomi und du?« »Romy«, murre ich, ignoriere allerdings ihre Hand, deren Handinnenfläche bemerkenswert weiß ist und trete aus meinem Zimmer heraus. Naomi wendet sich zum gehen um, als ich meine Tür abschließe. »Nach dem Abendessen folgt direkt das Abendgebet. Weißt du, wo die Kapelle ist, oder soll ich dich hinbringen?« »Nein.« »Nein du weißt es nicht, oder nein ich soll dich nicht hinbringen?« Ich sehe, wie ein Lächeln an Naomis Lippen zupft. »Nein, ich weiß es nicht«, erwidere ich, obwohl mir Marina den Weg vage beschrieben hatte. In der Abenddämmerung sieht alles irgendwie anders aus, weshalb ich schon nach zwei Gängen nicht mehr weiß, wo wir uns befinden. Naomi verspricht mir, mich nach dem Essen zur Kapelle zu begleiten. Sieht mich allerdings nicht mehr an, als sie die Tür zum Speisesaal öffnet. »Ganz hinten, nah beim Tisch der Ordensschwestern ist noch ein freier Platz«, raunt sie mir zu, dann ist sie verschwunden. Ich ignoriere die Blicke, die mir durch den Raum folgen, als ich zu besagtem Platz gehe und seufze lautlos, als ich mich neben zwei Inderinnen, auf dem Stuhl fallen lasse und versuche, niemanden anzusehen. Man versuchte mich definitiv, zu provozieren. Nachdem ich mich gesetzt habe und die Ordensschwestern den Speisesaal betreten und sich ebenfalls gesetzt haben, folgt sehr schnell ein Tischgebet, welches an allen Tischen gemurmelt wird. Danach bricht im Saal eine allgemeine Gefräßigkeit aus, die mich mitreißt. Ich schaufle mir Tomaten, Salat und zwei Scheiben Brot auf den Teller, als ich nach der Butter greifen will, streift mich die Hand der Inderin, die wohl den selben Gedanken wie ich hatte. »Entschuldige«, höre ich sie murmeln. »Alles gut«, erwidere ich flüsternd. Ich stelle die Butter zwischen uns und hebe mit meinem Messer etwas Butter auf meinen Teller. »Ich bin Rati und meine Schwester, die neben dir sitzt heißt Uma«, flüstert Rati, von meinen wenigen Worten scheinbar angespornt. »Romy«, stelle ich mich seufzend vor, schneide meine Tomate in Scheiben und lege sie mir aufs Brot. Demonstrativ beiße ich von der belegten Brotscheibe ab und verhindere so vorerst die Fragen, die Rati sicherlich gestellt hätte. In dieser Manier geht es das ganze Abendessen lang weiter, wobei ich die Blicke der Anderen deutlich spüre, auch wenn ich niemanden zu mir schauen sehe, wenn ich von meinem Salat aufsehe. Als der Speisesaal immer leerer wird, und auch die beiden Inderinnen verschwunden sind, beende ich mein Mahl und stehe ebenfalls auf. Als ich den Ausgang anpeile, gesellt sich ein Mädchen zu mir, dass von der Hautfarbe her, erfrischend normal auf mich wirkt, wenn ich den bunten Irokesenschnitt missachte. »Romy, ja?« »Denke schon«, erwidere ich und frage mich, ob es hier keine Kleidervorschrift gibt, als ich an ihr hinab sehe. Rot-schwarzes Bandshirt, darüber eine schwarze Weste mit Stickerei, kurze Jeansshorts und darunter eine zerrissene Strumpfhose und an den Füßen alte Dr. Martens. Das ganze Outfit schreit Punk und ich ziehe fragend die Augenbrauen nach oben. Da wollte mich definitiv jemand testen. Der Buschfunk funktionierte hier scheinbar blenden. »Ich bin Klara, Naomi bat mich, dir zu zeigen, wie du zur Kapelle kommst.« Ich lache leise und lege den Kopf in den Nacken, bevor ich Klara direkt ansehe. »Bestehe ich den Test, oder bin ich schon durchgefallen? Ich habe Auflagen, sag das deinen Freunden, ich werde also nicht losgehen und dir eine aufs Maul hauen, nur weil du eine andere Gesinnung hast oder Naomi, Rati und Uma einer anderen Nationalität angehören.« »Wer sagt, dass wir deine Gesinnung gut finden und wir dir keine aufs Maul geben wollen?«, fragt Klara und ich sehe, wie sie ihre Fäuste ballt und ihre Augen funkeln. »Niemand, aber wer redet, der tut nichts«, lächle ich und gehe an Klara aus dem Speisesaal, betend, dass meine Einschätzung richtig ist. »Kommst du nun?« Als ich meine Zimmertür ins Schloss drücke, atme ich erleichtert aus und die ganze Anspannung, die ich in mir gefühlt hatte, als das Abendgebet vorbei war und ich zum wiederholten Male die Blicke gefühlt habe, fällt von mir ab, macht Platz für die Angst. Was würde das erst morgen in der Schule werden, wenn die Mädchen im Internat schon alle Bescheid wussten, was ich für eine war? Nicht das es mich stört, aber ich habe keine Lust in eine geplante Falle hineinzulaufen und dann die dumme Nazischlampe zu sein. Was war so verkehrt, sich seinem Vaterland verbunden zu fühlen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)