Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare von Curupira ================================================================================ Kapitel 3: Kapitel 2. --------------------- Gerädert und mit müden Augen, sitze ich im Sekretariat, auf einem unbequemen Stuhl und sinniere darüber, ob die Stühle extra unbequem gebaut werden, damit die Leute nicht zu lange auf ihnen verweilen. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und starre zweifelnd an die Decke. Vielleicht hängen die unbequemen Stühle aber auch mit der Sekretärin zusammen, die aktuell so tut, als wäre sie sonst wie beschäftigt. Als ich das Sekretariat betreten habe, hat die Dame Solitär gespielt und genervt reagiert, als ich den Grund meiner Störung nannte. Also sind die Stühle vielleicht so unbequem, damit die Schüler sich schnell wieder verziehen und sie weiter ihre Karten klicken kann? Der Schroffheit nach, mit der sie mir ein paar Dokumente zuschob, mich auf die Wartestühle verwies und nach ihrer Vorgesetzten, der Frau Direktorin rief, lässt mich diese Variante glauben. Die Direktorin, welche dies unfreundliche Gehabe schon zu kennen schien, macht mir kurz ihre Aufwartung und erklärt mir, dass mich mein Fachlehrer gleich abholen kommt. Danach ist auch sie wieder verschwunden, lässt ihre Bürotür aber offen stehen. Damit sie mich beobachten kann? Ist das der Standard? Läuft es so ab, wenn man auf eine neue Schule wechselt? Sollte da nicht vorab ein Gespräch kommen? Ich kneife meine Augen zusammen und reiße sie wieder auf. Nur mit Mühe kann ich sie offen halten und ärgere mich, dass ich gestern Abend vergessen habe, meine Zimmertür abzuschließen. Denn heute Morgen, etwa drei Stunden nachdem ich endlich wieder eingeschlafen war, weil mich ein Albtraum aus dem Schlaf gerissen hatte, den ich immer mal wieder habe, seit der Asylantenheim-Aktion, war meine Nacht auch schon wieder vorbei, weil ich mit einem Eimer Wasser geweckt wurde. Angeblich, damit ich das Morgengebet nicht verschlafe, meinte Klara, bevor sie süffisant grinsend aus meinem Zimmer geeilt ist. Wie kam sie darauf, dass ich ihr das glauben würde, wo sie mir am Abend zuvor durch die Blumen sagte, dass es Leute hier gibt, die mir gerne eine aufs Maul geben würden? Beim Frühstück spüre ich die abfälligen Blicke wieder auf mir, die mir überall hin zu folgen scheinen. Keinen Moment bin ich mir sicher, unbeobachtet zu sein. Auch jetzt nicht, als ich mich darum bemühe, meine Müdigkeit, abzuschütteln. Da sind die Blicke der Sekretärin, die ihr Kartenspiel weiter spielen will und die flüchtigen Blicke der Direktorin, die sich vermutlich fragt, wo der Lehrer bleibt, der mich abholen soll. Als die Tür zum Sekretariat von außen aufgerissen wird, reiße ich meine Augen auf und atme erleichtert ein, als dort ein untersetzter Mann steht. Beinahe wäre ich eingeschlafen. »Kurt«, erklingt die Stimme der Sekretärin nervig hoch. »Endlich, wir dachten schon, du hast die neue Schülerin vergessen.« »Alles erledigt, oder muss sie noch mit Julia sprechen?«, fragt der Mann mit einer angenehmen Bassstimme und sieht mich lächelnd an, als die Sekretärin ihren Kopf schüttelt und sich wieder ihrem Solitärspiel zuwendet. »Du bist Romy Schneider? Ich bin dein Mathe und Klassenlehrer. Kurt Schwarz. Dann komm mal mit, die Klasse wartet schon auf dich.« Er geht aus dem Sekretariat und ich verabschiede mich mit einem Kopfnicken von der Sekretärin, was sie bestimmt nicht gesehen hat, denke ich und ziehe die Tür hinter mir ins Schloss. Schweigend führt mich Herr Schwarz durch das antik wirkende Schulgebäude. Ich versuche, mit ihm Schritt zu halten, und gähne verhalten, als wir vor einer schlichten, weißen Tür, im dritten Obergeschoss, anhalten. Zwinkernd dreht er sich zu mir. »Na, bist du bereit?« Weil ich bei ihm erkenne, dass es nur eine rhetorische Frage ist, weil er im selben Moment seine Hand auf die Türklinke legt, gebe ich ihm keine Antwort. Ich will weglaufen, den Kopf schütteln. Noch in meinem Bett liegen und mich unter meiner Decke vor der Welt verstecken. Bevor ich meine Beine jedoch dazu überreden kann, wegzulaufen, lächelt mich Herr Schwarz freundlich an und drückt die Tür auf. Im ersten Moment bin ich erstaunt, dass niemand schreiend herumrennt oder gar spricht, doch dann entsinne ich mich, dass dies keine normale, städtische Realschule ist, sondern eine katholische Schule, wo alles ein bisschen anders ist. Ich balle meine Hände zu Fäusten, damit sie nicht zittern und spüre, wie mir meine Nägel unangenehm in die Haut stechen, als ich die Blicke wieder auf mir spüre. Herr Schwarz lässt mich eintreten, schließt die Tür und stellt sich ans Lehrerpult. Wie ein braves Hündchen folge ich ihm. »Stellst du dich der Klasse kurz vor?«, fragt er mich, als ich keine Anstalten mache, etwas zu sagen und auf den Linoleumboden blicke. »Hallo. Ich heiße Romy Schneider«, beginne ich meinen Füßen zu erzählen, sehe dann aber doch flüchtig in die Klasse, bevor ich zu Herrn Schwarz sehe. »Kann ich mich setzen?« Herr Schwarz seufzt vernehmlich, notiert etwas in einem kleinen Büchlein und sieht mich abwartend an. »Ich bin sechzehn Jahre alt«, ringe ich mir noch ab, doch zufrieden sieht er noch immer nicht aus. Weil ich auch nach fünf Minuten unangenehmen Schweigens nichts gesagt habe, nickt er schließlich, sieht mich unzufrieden an und und deutet schräg nach hinten. »Dort hinten, beim Fenster kannst du dich setzen.« Ich nicke dankbar, umgreife den Tragriemen meiner Tasche mit einer Hand und gehe hoch erhobenem Hauptes durch die Bänke zu meinem Platz. Die Blicke, die mir folgen, ignoriere ich, so gut es geht. Als ich mich hingesetzt habe und die Tasche vor mir auf den Tisch liegt, strecke ich die Finger meiner Hände und hoffe, dass Niemand das Zittern sieht, welches sich nun, wo ich die Hände nicht mehr anspanne, deutlich sichtbar ist. Sobald ich meine Mathesachen hervorgeholt habe, stelle ich die Tasche neben mich auf den Boden und starre Löcher in die Luft, weil Herr Schwarz die Hausaufgaben abfragt. Vor mir sitzt ein Mädchen mit braunen, langen, lockigen Haaren und als ob sie gespürt hat, dass meine Augen auf ihren Haaren ruhen, dreht sie sich zu mir um und ich erstarre und spüre, wie das Zittern in meinen Händen schlimmer wird. Ich erinnere mich an sie. Sie hat mich gestern angerempelt, als ich Mama zum Auto begleitet habe. Sie hat unglaubliche, braune Augen. Ein Schokoladenbraun mit einem Touch Honig, denke ich und weiß, dass ich diese Augen nicht zum ersten Mal sehe. Aber wo habe ich sie schon einmal gesehen? Ich weiß nicht, wie lange ich sie - oder sie mich - anstarre und mir dabei den Kopf über das wo zermartere. Erst als jemand lautstark niest, senke ich meinen Blick und starre meinen Mathehefter an. Die tröge Stimme des Lehrers, der einer Schülerin die Hausaufgabe erklärt, lullt mich ein und bevor ich mich versehe, bin ich eingeschlafen. Ein Buch, das lautstark auf ein Pult kracht, reißt mich aus dem Schlaf und ich sehe verschlafen zum Lehrerpult, wo Herr Schwarz in meine Richtung blickt. »Vielen Dank Romy, dass Sie uns wieder Ihre Aufmerksamkeit schenken«, kommentiert er und erntet ein paar Lacher. Viel habe ich nicht verpasst, stelle ich erleichtert fest, als die letzte Aufgabe der Hausaufgaben, an der Tafel von einer mir unbekannten Mitschülerin, gelöst wird. Ich kapiere absolut nichts, von dem, was wir aktuell behandeln, obwohl ich glaube, dass Herr Schwarz seinen Stoff sehr gut rüberbringt. Dieses Unverständnis zieht sich durch alle Unterrichtsstunden. Chemie und Englisch sind die schlimmsten Fächer. Schlimmer als die Fächer sind nur die Pausen und die Blicke. Die Blicke, die immer noch auf mir liegen, obwohl ich nie einem Augenpaar begegne, wenn ich aufblicke. Die, mit den unglaublichen Augen sitzt bisher in jedem Fach vor mir. Ich muss mich richtig dazu zwingen, ihr nicht ständig in die Augen zu starren, die mich so wütend und traurig ansehen, wenn ich ihren Augen mit meinen begegne. In der Mittagspause sitze ich in der Mensa ganz alleine an einem Tisch und schlinge das Essen in mich herein, damit ich den Blicken schneller entfliehen kann. Während ich mein Schnitzel in Stücke schneide, frage ich mich, ob ich die letzten neun Jahre überhaupt eine Schule besucht habe. In meiner alten Schule klang der Unterrichtsstoff viel leichter, auch wenn meine Noten dort nicht die Besten waren. Als ich aufgegessen habe, beschließe ich, die Bibliothek der Schule aufzusuchen. Zum Einen, weil ich noch eine halbe Stunde Mittagspause irgendwie killen muss, bevor es in eine letzte Doppelstunde Deutsch geht. Zum Anderen, weil ich dringend ein paar Bücher zum Lernen brauche, wenn ich nicht noch ein weiteres Jahr in diesem katholischen Irrenhaus feststecken möchte. Meine Freunde, aus meiner alten Schule würden mir einen Vogel zeigen. Ich und freiwillig Lernen. Das hat es noch nie gegeben. Aber wie heißt es so schön? Es gibt für alles ein erstes Mal. Vermutlich, hoffe ich immerhin, hinke ich im Unterrichtsstoff ziemlich weit zurück, anders kann ich mir die Kompliziertheit nicht erklären. Aber hatten nicht alle Schulen den gleichen Lehrstoff? Sobald die Türen der Mensa hinter mir ins Schloss fallen, spüre ich, wie die Anspannung von meinen Schultern rutscht und die Blicke in meinem Rücken weniger werden. Die Sonne bricht ihr Licht in der Butzenscheibe, der Fensterverglasung und lenkt mich einen Augenblick von meiner Bibliothekssuche ab. Die Fenster in diesem Gang sind alle mit solchen Butzenscheiben versehen und lassen den Gang mystisch wirken, wenn die Sonne sich erbarmt und ihre Strahlen durch die Scheibe schickt. Als ich den Gang durchquert habe und in einen anderen Gang einbiege, in dem ich die Bibliothek vermute, nachdem ich eine kleine Karte inspiziert habe, die mir die Sekretärin am Morgen mit einem Stapel anderer Dokumente gegeben hatte, höre ich Schritte hinter mir. Automatisch halte ich für einen Moment den Atem an und stoße ihn erleichtert wieder aus, als die zwei Mädchen an mir vorbei sind und einen Moment später lachend in einen Raum verschwinden, der sich als Toilette entpuppt. Das Schild mit dem Toilettenmännchen hat mich aufgeklärt. Am Ende des Gangs entdecke ich ein Schild, wo in dicken Buchstaben Bibliothek drauf steht. Leise fluchend, trete ich gegen die Tür, weil sie verschlossen ist. Natürlich, mein Glück ist wieder einmal grenzenlos. Ich entdecke den kleinen Zettel, auf dem ein: ›Bin gleich zurück‹, geschrieben steht, als ich mich gerade abwenden will, und beschließe, einen Moment, zu warten. Den Unterrichtsraum für Deutsch werde ich sicherlich auch in weniger als zwanzig Minuten finden, hoffe ich. Ich krame mein Smartphone hervor und schreibe eine Nachricht an Uschi, die mir vergangene Nacht eine Nachricht geschickt hatte, in der sie mir mitteilte, wie sehr sie mich vermisst. Mir meinen Teil denkend, dass Uschi das ziemlich sicher im alkoholisierten Zustand geschrieben hat, denn sonst ist sie nicht so offen mit ihren Gefühlen, tippe ich ein: ›Ich vermisse dich auch‹, zurück und krame meine Kopfhörer aus meiner Hosentasche hervor, um Musik zu hören. Es dauert keine fünf Minuten, bis ich eine hochgewachsene Frau um die Ecke kommen sehe. Ich ziehe mir die Kopfhörer aus den Ohren, stelle die Musik ab und blicke gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sie mich anlächelt. »Hallo. Du musst neu sein, denn ich rühme mich, alle Schülerinnen zu kennen, die gerne lesen«, sie zwinkert mich an und schiebt einen alt aussehenden Schlüssel in das Schloss der Tür, die in die Bibliothek führt. »Ja, erster Tag heute«, bestätige ich ihre Vermutung und folge der Frau, die durch den Türrahmen in das angrenzende Zimmer gegangen ist. »Hey, keine Sorge«, grinst die Frau breit, als sie meine Reaktion auf das mickrige Zimmer sieht, was angeblich die Bibliothek sein soll. »Wir sind hier nur im Vorraum der Bibliothek. Hier steht mein Computer, wo ich alles verwalte und wo ihr mit den Büchern vorbei müsst, bevor ihr sie mitnehmen dürft. Ich heiße im übrigen Inge Schwarz und bin neben meinem Job in der Bibliothek noch für euren Sportunterricht zuständig. Also sehen wir uns bestimmt noch öfter, wenn du plötzlich beschließt, dass Bücher doch scheiße sind.« Das Lachen der Lehrerin ist ansteckend, weshalb ich mich dabei erwische, wie ich selbst leise lache und darüber das Gähnen unterdrücke, welches mir entfleuchen wollte. »Bevor du allerdings etwas ausleihen kannst, müssen wir dir eine Akte und einen Bibliotheksausweis erstellen«, erklärt mir Frau Schwarz und ich nenne ihr geduldig meine Daten, nachdem der Computer hochgefahren ist und erfahre ganz nebenbei, dass sie die Ehefrau von meinem Mathelehrer ist. Im Gegensatz zu den ganzen anderen Lehrern, die ich bis jetzt an dieser Schule erlebt habe, finde ich Frau Schwarz ziemlich erfrischend und cool. »Weißt du, von Weitem siehst du nicht wie eine Leseratte aus«, grinst Frau Schwarz, als sie mir ein kleines Kärtchen entgegenhält. »Bitte schön, dein Ausweis.« Ich nehme es dankend entgegen und erzähle ihr nach kurzem Zögern von meinen Problemen im Unterricht. »Und da dachtest du nicht erst ans Internet, sondern an die Bibliothek?« Eine berechtigte Frage. Ich hatte natürlich versucht, Informationen im Internet zu erhalten, aber für diese Flut an Informationen ist mein Smartphone viel zu klein. Das erkläre ich so auch Frau Schwarz. »Sehr löblich von dir«, lächelt Frau Schwarz mich an und tippt etwas in ihren Computer ein. »Es gibt aber auch Fördergruppen und im Internat soll es Lerngruppen geben, wenn ich noch richtig informiert bin.« »Ich will es erst einmal so versuchen«, erwidere ich knapp. »Mit dem Ausweis kannst du eigenständig Bücher ausleihen oder zurückbringen. Dafür ist der Scanner hier gedacht«, Frau Schwarz deutet auf einen Scanner, der direkt neben dem Computer steht. »Internatsbewohner haben auch am Wochenende Zugang, aber nur in Begleitung meiner Praktikantin. Wenn ich mich nicht Anwesenheitsliste ist sie sogar in deiner Klasse. Martha Weiss, klingelt da was?« Ich schüttel meinen Kopf und verlasse danach die Bibliothek, weil in nicht einmal zehn Minuten der Unterricht weitergehen würde und ich den Unterrichtsraum finden muss. Frau Schwarz hat mir den Weg grob beschrieben, weshalb ich den Raum innerhalb meines Zeitfensters finde. Trotzdem bin ich außer Atem, als ich mich an einem leeren Platz, nieder lasse und feststelle, dass dieses Mädchen mit den unglaublichen Augen auch in diesem Fach vor mir sitzt. Frau Bär, so stellt sich die Deutschlehrerin bei mir vor, nachdem sie die gesamte Klasse begrüßt hatte, ist eine noch junge Frau, die bestimmt frisch von der Universität kommt. Als sie mich anlächelt und meinen Namen auf der Anwesenheitsliste abhakt, lächle ich zurück. Woher diese Anwandlung kommt, kann ich nicht sagen. Sie ist mir einfach sympatisch. »Wie weit waren Sie in ihrer alten Schule, Romy?«, flüstert Frau Bär neben mir, nachdem sie der Klasse einige Aufgabenblätter gegeben hat, die sie lösen sollten. Ich erkläre ihr so leise wie möglich meinen Stand und bin nicht überrascht, wieder die Blicke auf mir zu spüren. Dieses Mal sind meine Hände allerdings mit einem Stift beschäftigt, weshalb ich das Zittern im Griff habe. Ich blicke beschämt auf Aufgabenblatt, als ich feststelle, dass ich nicht weiß, was ich in Deutsch als letztes gemacht habe. »Okay, das ist absolut nicht schlimm. Dann schau dir die Themen erst einmal in Ruhe an und in einer Woche oder so setzen wir uns einmal zusammen und schauen, was du brauchst, um mitzukommen, okay?« »Ja«, flüstere ich zurück und Frau Bär geht zu ihrem Schreibtisch und ich entdecke ein paar Grammatikübungen, die ich immerhin lösen kann. Wenigstens ein Fach, in dem ich nicht ganz versagt habe, heute. Meine Laune hebt das allerdings nicht. Das Läuten der Schulklingel, beendet die Doppelstunde Deutsch und ich atme erleichtert aus. Achtlos stopfe ich meine Sachen, in meine Tasche und stürze förmlich aus dem Unterrichtsraum, weil ich, bevor ich zurück in die Internatshölle gehe, noch ein paar Bücher ausleihen will, die mir hoffentlich ein paar Lösungsansätze aufzeigen, wie ich in den Fächern wieder mit komme. Frau Schwarz verlässt gerade den Vorraum der Bibliothek und will abschließen, als ich den Gang entlang eile und nach ihr rufe. »Dann aber schnell«, lächelt mich Frau Schwarz an und lässt mich rein. Dieses Mal sehe ich endlich die Bibliothek und fühle mich dezent von der Menge an Büchern erschlagen. Überfordert gehe ich rückwärts zurück in den Vorraum und sehe Frau Schwarz hilfesuchend an. »Wo drückt der Schuh denn am meisten?«, fragt sie mich leise lachend. »Mathe und Chemie«, antworte ich nach einem Moment und Frau Schwarz schiebt mich zurück in die Bibliothek. »Dann komm, ich suche dir schnell ein paar Bücher raus.« Als ich mit einem Stapel Bücher, in einer Stofftasche, die Bibliothek verlasse, lache ich sarkastisch in mich hinein. Von wegen, ein paar Bücher. Frau Schwarz meinte aber, es seien die Nützlichsten, die sie im Moment in den Regalen stehen hat. Frau Schwarz hat mich förmlich aus der Bibliothek geworfen, weil sie weiß, dass das Nachmittagsgebet bald stattfindet und sie nicht will, dass ich es gleich an meinem ersten Tag schwänze. Ich will nicht zurück. Alles in mir sträubt sich, zurück ins Internat zu gehen. Meine Füße laufen jedoch unbeirrt durchs Schulhaus und schlagen den Weg zum Internat ein. Verräter! Auf meinem Weg, den Fluss entlang, der sich neben dem Weg, am Waldrand entlang schlängelt, stelle ich fest, dass ich nicht die Letzte bin, die auf den Weg ins Internat ist, als hinter mir Schritte auf dem Kies zu hören sind und wenige Augenblicke später Marina, in Begleitung von zwei anderen Mädchen, wortlos an mir vorbei geht. Eine der Mädchen erkenne ich sofort, so lange, wie ich ihre lockigen Haare heute angestarrt und ihr blumiges Parfüm gerochen habe. Es ist das Mädchen mit den unglaublichen Augen und ich versuche erneut, mich zu erinnern, wo ich diese Augen schon einmal gesehen habe. Ich überlege so angestrengt, dass ich davon Kopfschmerzen bekomme. Kann es sein, dass ich die Augenfarbe verwechsle? Nein, diese Augenfarbe hat sich in meinen Kopf festgebrannt. Eine Verwechslung ist nicht möglich. Wo habe ich sie also schon einmal gesehen? »Hey«, holt mich eine Stimme aus meinen Gedanken und ich sehe, wie das Mädchen vor mir steht. Ich wäre beinahe in sie hineingerannt, kann mich aber noch vor einem Zusammenstoß stoppen. Ihre wütende und dennoch wunderschöne Ausstrahlung raubt mir den Atem, als ich sie ansehe. Sie schaut mir fest in die Augen und ich kann mein ›Was?‹, nur denken, so schnell wie ihre flache Hand mit meiner Wange kollidiert. Der Schmerz, der sich in meiner Wange ausbreitet, ist unbeschreiblich. Bevor ich, in meiner Überraschung, etwas sagen kann, hat sie sich schon mit wehendem Haar von mir angewandt und schließt mit schnellen Schritten zu Marina und dem anderen Mädchen auf, welche einfach weitergegangen sind. Was sollte das? Ich starre ihr hinterher, will ihr ein ›Warum?‹, hinterherschreien, aber keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Was, im Namen der alten Götter, hatte das zu bedeuten? Neuerlichen Schritte hinter mir, lassen meine Lippen fest aufeinandergepresst und bringen meine Füße dazu, sich ebenfalls wieder in Bewegung zu setzen. Ich reibe mir ein letztes Mal die schmerzende Wange, bevor ich meine Hände in meinen Hosentaschen vergrabe und zu Fäusten balle, weil ich mich so erniedrigt fühle. Ich lasse die kichernden Weiber hinter mir an mir vorbei ziehen und halte meinen Blick gesenkt. Beim Nachmittagsgebet sitze ich in der hintersten Reihe der Kapelle und streiche mir immer wieder, verwirrt, über die noch immer leicht schmerzende Wange. So sehr ich es auch versuche, ich finde keine Antwort auf die Frage nach dem Warum, außer das es an meiner politischen Gesinnung liegen könnte, von der ja, warum auch immer, alle zu wissen scheinen. Ich bin erleichtert, als wir aufstehen dürfen und verlasse so ziemlich als erste die Kapelle und stürme hinauf auf mein Zimmer. Wo ich die Tür ins Schloss werfe und tief durchatme, als die Anspannung von mir abfällt. Ich lasse meine Tasche auf das freie Bett fallen und stelle verärgert fest, dass mein Bettzeug noch immer nass ist. Ich ziehe es ab, hänge es über die Heizung, welche ich voll aufdrehe und mache mich einen Moment später auf den Weg zum Vesper. Der Speisesaal ist beinahe völlig leer und ich ahne, dass das Vesper eine freiwillige Angelegenheit ist. Nichtsdestotrotz lasse ich mich auf meinen Stuhl vom Vorabend fallen und trinke eine Tasse Kaffee, die mich leider nicht wacher macht. Ich ignoriere die Blicke, die mir folgen, als ich mich nach der Tasse Kaffee in mein Zimmer zurückziehe, wo ich mit den Hausaufgaben beginne. Nach den Hausaufgaben beginne ich, in Ermangelung einer besseren Tätigkeit, die ausgeliehenen Bücher durchzusehen, und entscheide mich, damit, meine Chemiekenntnisse aufzufrischen. Weil ich absolut keine Idee habe, wo ich anfangen soll, nehme ich mir vor, meinen Chemielehrer nach einer Liste, des bisher behandelten Schulstoffs, zu fragen, damit ich eine ungefähre Ahnung habe, wo ich anfangen kann. Eine Stunde später schreibe ich Uschi, dass ich noch eine Streberin werde und würde am liebsten das Fenster aufreißen, weil es so verdammt warm geworden ist, in meinem Zimmer. Fängt ja schon einmal gut an, zu Hause habe ich mich nicht um die Schule gekümmert und bin immer auf direktem Weg zu Paul und den Kameraden. Die Bettwäsche fühlt sich noch klamm an, weshalb ich das Fenster nicht öffnen kann und mich stattdessen aus meinem Hemd schäle. Verdammte Klara. Mein Smartphone blinkt, als ich versuche, das Periodensystem zu verinnerlichen, welches ich noch nie aus dem Effeff konnte. Neben Fotos von Uschi, die sie mit Ralf und einer Menge Bierflaschen zeigen, habe ich eine Freundschaftsanfrage bei Facebook. Schön, dass die auch ohne mich ihren Spaß haben, denke ich vergrätzt und frage mich, wo Paul bei diesem Gelage wohl ist und spüre, wie das Heimweh wieder aufwallen will. Weil ich nichts Eifersüchtiges zurückschreiben will, was ich später bereuen würde, schließe ich den Messenger und schaue, wer mich da adden will. Kein Foto, kein realer Name. Ist es nicht verboten, keinen Klarnamen zu benutzen? Ich weiß, wann soll niemanden annehmen, den man nicht kennt. Vielleicht habe ich aus Neugierde die Anfrage bestätigt, vielleicht aus Langeweile. So genau kann ich das nicht sagen, als ich Cracker knabbernd auf dem freien Bett sitze und auf den Facebooknamen starre. Dancing Cat. 17:38; Dancing Cat: ›Hallo Romy, wie geht es dir?‹ 17:45; Romy Schneider: ›Müde. Mit wem habe ich das Vergnügen?‹, tippe ich nach einem kurzen Zögern zurück. Mein Chemiebuch liegt vergessen neben mir, während ich mein Smartphone anstarre und auf eine Antwort warte. 17:58; Dancing Cat: ›Mit Dancing Cat, ist das nicht offensichtlich?‹ 18:00; Romy Schneider: ›Natürlich und ich bin die Queen persönlich.‹, schreibe ich zurück und lege mein Smartphone kopfschüttelnd zur Seite und frage mich, was ich mir davon erhofft habe, die Freundschaftsanfrage angenommen zu haben und beginne damit, die ausgeliehenen Bücher und meine Schulbücher in das Regal zu räumen, dass über meinem Bett angebracht ist. 18:05; Dancing Juliet: ›Besser?‹ 18:11; Dancing Juliet: ›Hallo, bist du noch da?‹ Genervt von mir selbst, weil ich so neugierig bin, nehme ich mein Smartphone wieder in die Hand und lese die beiden Nachrichten. Juliet also, wenn es denn der echte Name ist. 18:24; Romy Schneider: ›Was willst du von mir?‹, frage ich und beginne damit ein bisschen Musik zu hören. Als ich nicht mehr mit einer Antwort gerechnet habe, vibriert mein Smartphone. 18:40; Dancing Juliet: ›Man erzählt sich Sachen über dich, eigentlich wollte ich nur in Erfahrung bringen, ob diese Dinge stimmen.‹ Ich will nicht neugierig wirken, weshalb ich nicht antworte. 18:45; Dancing Juliet: ›Bist du freiwillig hier im Internat?‹ Überrascht starre ich auf das Display. Ich schreibe mit jemanden aus dem Internat? Ich weiß gar nicht, warum ich überrascht bin, schließlich sind wir hier nicht am Arsch der Welt und auch christliche Menschen wissen, wie man das Internet bedient und doch habe ich Vorurteile. 18:47; Romy Schneider: ›Nein‹, antworte ich und drehe die Heizung wieder runter und reiße gierig das Fenster auf. Scheiß auf die klamme Bettwäsche, mir ist warm. Die kalte Luft, die mir entgegen strömt, ist herrlich, weshalb ich auf den Schreibtisch klettere um besser aus dem Fenster zu blicken. Unter meinem Fenster ist ein kleiner Platz mit Tischtennisplatte, Volleyballplatz und anderen Spielgeräten, die nicht danach aussehen, als würden sie benutzt. Nach einigen Minuten raffe ich mich auf und beeile mich, um pünktlich zum Abendessen, im Speisesaal zu erscheinen, obwohl ich nicht hungrig bin. 18:57;Dancing Juliet: ›Hast du die Ohrfeige verdient?‹ Wow, das hat sich ja schnell herumgesprochen, denke ich und fahre mir geistesabwesend über die Wange, bevor ich die letzten Stufen zum Speiesesaal hinabsteige. Ich setze mich wieder auf meinen Platz, neben Rati und Uma, die mich überrascht ansehen, beim Vesper waren sie abwesend. »Du weißt schon, dass die Platzwahl hier nicht festgelegt ist?«, fragt mich Rati flüsternd, nachdem sie einige stumme Blicke mit ihrer Schwester ausgetauscht hat. »Du musst also nicht zwischen uns sitzen, wenn du nicht möchtest.« Es war, wie ich es mir schon gedacht habe, eine Farce und für einen kurzen Moment überlege ich wirklich, mich umzusetzen. Ich möchte damit aber niemanden in die Hände spielen, weshalb ich mich nicht rühre. »Vielen Dank, für die Information. Aber ich sitze hier ganz gut«, flüstere ich zu meinem Teller und ignoriere die Seitenblicke, die ich von Rati und Uma erhalte und lausche dem Tischgebet, bevor ich nach dem Brot greife und mir ein Glas Orangensaft einschenke. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)