Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare von Curupira ================================================================================ Kapitel 14: Kapitel 13. ----------------------- Mein Herz beginnt zu rasen und ich spüre, wie mir übel wird. Julis Blick findet den meinen. In ihren Augen lese ich zahlreiche Emotionen, doch keine Wut oder Hass. Warum nicht? Habe ich es nicht verdient, dass sie mich nach dieser Aktion hasst? Wie weit darf ich in diesem Schauspiel gehen und was sind die Spielregeln? Wir haben nie besprochen, wie intensiv ich meine Rolle spielen soll. Habe ich die unsichtbare Grenze schon überschritten und es mehr als übertrieben? Ich stolpere weitere Schritte von Juli weg, als mein Blick auf meine Hand fällt und ich Julis Blut auf meinem Handrücken entdecke. Ich sehe zurück zu Juli, will etwas sagen, will mich vielleicht entschuldigen, als ich spüre, wie mein Smartphone zu vibrieren beginnt und der Klingelton ertönt, der mir ankündigt, dass ich angerufen werde. Sehe, wie Juli mich unergründlich ansieht und ihre Nase zuhält, aus der noch immer Blut quillt. Mit zittrigen Fingern ziehe ich mein Smartphone aus der Hosentasche, wische den grünen Hörer nach rechts und drücke mir das Gerät ans Ohr, ohne zu lesen, wer der Anrufer ist. »Ja?«, ringe ich mir mit bebender Stimme ab, weil niemand spricht. »Wo bist du?«, erklingt Ninas Stimme und weiche Julis Blicken aus und sehe zurück auf meinen blutverschmierten Handrücken. Am liebsten würde ich mich umdrehen und weglaufen, kann es aber nicht. Es ist, als ob um meine Beine Gewichte geschnallt sind, die es mir nicht ermöglichen, wegzugehen. »Draußen, auf dem Rückweg ins Internat. Warum?« »Du klingst seltsam«, merkt Nina an und ignoriert meine Frage. »Ist alles okay? Ist etwas passiert?« Ich kann hören, wie Nina atemlos nach Luft schnappt, geräuschvoll auf einem Kiesweg entlang geht und leise mit jemanden flüstert, während sie auf eine Antwort von mir wartet. Ich suche in meinem Kopf nach passenden Antworten, nach Wörtern, die nicht scheiße klingen. Finde aber nichts, was ich sagen kann und blicke wieder zu Juli, die mich immer noch anstarrt. Ihre Nase scheint nicht mehr zu bluten. Bevor ich dazu komme, Worte zu formen, die Nina auch hören kann, höre ich Ninas Stimme, die mich ruft und bevor ich mich versehe, steht Nina an meiner Seite. Ich lasse das Smartphone sinken und falle Nina förmlich in die Arme. Aus dem Augenwinkel nehme ich Martha wahr, die besorgt auf Juli zueilt. »Ich wollte das nicht«, flüster ich und Nina umarmt mich beruhigend. Obwohl ich ihr in die Arme gestürzt bin, versteife ich mich, bei ihren Berührungen. »Sie hat mich einfach nicht in Ruhe gelassen, Nina. Wir haben nie besprochen, wie weit ich gehen kann, gehen muss«, spreche ich flüsternd weiter, bevor ich nachdenklich innehalte und Nina ansehe. »Was machst du eigentlich hier?« »Weil du nicht auf meine Nachrichten reagiert hast, habe ich mir Sorgen gemacht und meine Bandprobe geschmissen. Dein Vater hat mich hergefahren, nachdem ich ihm von meiner Besorgnis am Telefon erzählt habe. Er wartet übrigens auf uns«, erklärt Nina mir, löst sich von mir und ergreift meine Hand. Bevor sie mich wegzieht, sieht sie zu Martha, die Juli auf die Beine gezogen hat. »Du kommst klar?« Weil Nina losgeht, vermute ich, dass Martha genickt hat und stolpere über meine eigenen Füße, als ich mich an Ninas Tempo anpasse. Nach einem Moment kann ich Marthas und Julis Schritte hinter uns hören und bemühe mich krampfhaft, nicht zurückzublicken und zusammenzubrechen. Was mir sehr schwerfällt, als mein Blick abermals auf meinen Handrücken fällt und ich registriere, dass Julis Blut schon eingetrocknet ist. »Komm, geh weiter«, zischt Nina mir zu und hakt sich bei mir unter, als ich meine Hände in den Hosentaschen vergrabe, nachdem ich meine Hand aus der von Nina gezogen habe. Nina zieht sanft an meinem Arm und führt mich immer weiter vorwärts, obwohl ich nicht will. Am liebsten wäre es mir, die Zeit würde stillstehen oder rückwärts verlaufen, dann könnte ich das Geschehen rückgängig machen. Martha und Juli überholen Nina und mich, als wir die Auffahrt des Internats erreichen. Ich will etwas sagen, etwas tun, will meine Hand nach Juli ausstrecken, habe sie auch schon aus der Hosentasche gezogen, als Nina mich zurückhält. »Lass sie«, flüstert Nina und sieht mich ernst an. »Aber«, beginne ich und lasse meinen Arm sinken. Es ist Nina zu verdanken, dass ich nicht hinfalle, als ich zusammenbreche. Sie stabilisiert mich, obwohl ich mich sehr gegen ihre Hände sträube. »Lass mich los, Nina. Ich kann und ich will nicht mehr.« »Du musst«, sagt Nina hart und hält mich fester und drückt ihre Lippen auf die Meinen, als sie sieht, dass sich Martha und Juli zu uns umgedreht haben. »Spiel mit«, zischt Nina gegen meine Lippen, als ich erstarre und sehen kann, wie Juli sich eilig abwendet und ohne Martha ins Gebäude eilt. Ich stoße Nina unsanft von mir und stehe wieder ohne Hilfe auf meinen Beinen. »Spinnst du? Was soll der Scheiß?«, fauche ich, eile die Auffahrt hoch und will Juli hinterher. Martha ist es, die mich an meinem Arm zurückhält und nachdenklich mustert. »Es ist besser, wenn du ihr jetzt nicht nachgehst, Romeo. Wenn es dir wichtig ist, erzähle ich Juli, wie du reagiert hast, aber halte Abstand. Sonst wird sie deine Botschaft, nie verstehen.« »Martha, ich«, setze ich an und Martha hält mich an den Schultern zurück, als ich mich an ihr vorbei drücken will. »Hör zu, Romeo. Ich weiß, dass du Juli nicht so behandeln willst und du uns nur etwas vormachst. Sie weiß es aber nicht und wenn du das so beibehalten willst, solltest du ihr jetzt keine Hoffnung machen, indem du ihr hinterhergehst.« Für einen Moment vergesse ich Juli und Nina und sehe Martha verblüfft an. »Woher?«, frage ich, ich dachte eigentlich, dass ich immer vorsichtig gewesen bin. Martha lässt mich los und streicht sich verlegen ein paar Haare aus ihrem Gesicht. »Ich bin vor einer Woche einmal am Abend joggen gegangen, weil ich etwas Dampf ablassen musste und dabei habe ich dich am Brunnen sitzen sehen. Glaub mir, ich wollte weiter laufen, aber als mein und Julis Name erklang, war ich zu neugierig. Sorry, Romy.« Ich spüre für einen kurzen Moment Panik in mir aufwallen, bevor eine ungeahnte Last von meinen Schultern fällt, weil endlich noch jemand von meinem Schauspiel weiß. »Du darfst mit niemanden darüber sprechen, Martha. Oder hast du schon mit jemanden darüber gesprochen?« »Nein«, schüttelt Martha ihren Kopf und sieht zum Internat. »Wobei ich es wirklich tun sollte, Romy. Juli leidet unter deinem Verhalten sehr und die Anderen fragen sich, was sie falsch gemacht haben, dass du ihnen die kalte Schulter zeigst.« »Bitte tu das nicht«, flehe ich Martha förmlich an. »Komm nachher zu mir und nenne mir einen plausiblen Grund für diesen Mist, dann überlege ich es mir.« Mit diesen Worten lässt sie mich stehen und eilt ihrerseits Juli hinterher. Unschlüssig drehe ich mich zu Nina um, die nicht mehr dort steht, wo ich sie stehen gelassen habe. Mein Blick fällt auf den Parkplatz, wo Papas Auto steht. An der Motorhaube sehe ich Papa lehnen und Nina steht neben ihm und scheint mit ihm über irgendetwas zu diskutieren. Als ich näher komme, verstummt Nina und sieht mich zögernd an. »Hey Papa«, murmle ich und lächle ihn schwach an. »Ärger im Paradies, hm?« »Ja, du weißt doch warum«, seufze ich und umarme Papa. »Und das verdammte Schauspiel, was wir wegen Weihnachten aufführen sollen, hilft mir nicht gerade dabei, meinen Abstand zu Juli zu wahren, wenn sie meine Schauspielpartnerin ist.« »Und genau deswegen habe ich dich geküsst«, erklärt mir Nina, als ich Papa loslasse und einen Schritt zurücktrete. »Vielleicht lässt das ihr Interesse an dir schwinden, deine Prügelattacke scheint ja nicht den gewünschten Effekt zu bringen, so wie sie dich die ganze Zeit angestarrt hat, als wir hierher gelaufen sind.« »Prügelattacke?« Papa sieht mich ernst an. »Erklär ich dir ein anderes Mal«, seufze ich und schiebe die Hand mit dem getrockneten Blut in meine Hosentasche. »Spar dir solche Aktionen das nächste Mal, Nina. Wer weiß, was sie jetzt denkt.« Papa hakt nicht nach und ich bin froh, dass er hier ist. Mama hätte nicht locker gelassen, bis ich ihr alles, bis ins kleinste Detail erzählt hätte. Wir reden noch eine Weile, hauptsächlich über Belanglosigkeiten, wie das Wetter oder was Mama diesen Abend für Abendessen breit hält. Nina isst wohl schön länger bei uns mit. »Danke, dass ihr gekommen seit«, murmel ich nach einem Moment und sehe an Papas Armbanduhr, dass ich langsam reingehen sollte. »Ich muss dann auch, gibt gleich Abendessen. Lass uns nachher wie gehabt telefonieren, Nina.« Papa nimmt mich noch einmal in den Arm, nickt mir stumm zu und steigt in sein Auto. Auch Nina umarmt mich und hält mich für meinen Geschmack, etwas zu lange im Arm, doch ich nehme es hin. In ihrer Gegenwart kann ich ohne meine Maske sein. »Lass uns erst morgen wieder telefonieren. Ich habe mein Ladekabel nicht mit und gehe ja gleich noch zu Lari.« Nina steigt auf der Beifahrerseite ein und ich winke ihnen hinterher, bis die Rücklichter nicht mehr zu sehen sind. Erst dann gehe ich ins Gebäude. Im Foyer laufe ich beinahe Frau Kramer über den Haufen. »Guten Abend, Romy. Beinahe wärst du zu spät gekommen. Ist alles okay? Ich habe deinen Vater draußen gesehen.« »Ich«, setze ich an und denke an meinen Handrücken. »Könnte ich noch schnell die Toilette aufsuchen?« Frau Kramer lächelt mich nachsichtig an. »Dann aber schnell, mein Kind, du willst dir doch keine Feine machen, weil alle mit dem Essen auf dich warten müssen.« Das Blut von den Händen waschend, starre ich in den Spiegel vor mir und prüfe mehrmals meinen finsteren Gesichtsausdruck. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und seufze tonlos, als ich mit trockenen Händen und Gesicht in den Speisesaal gehe. Es ist nicht überraschend, dass an diesem Abend Juli und Martha nicht an dem Tisch sitzen. Tatsächlich bin ich froh, noch eine Gnadenfrist zu haben, bevor ich mich wieder mit Juli auseinandersetzen muss. Hey«, zischt Rati in meine Richtung, als ich mich setze. »Ist alles okay?« Ich sehe weder sie noch Uma an, nicke aber leicht und tue mir nachdem Tischgebet wortlos mein Essen auf. Ich kann mich auf nichts konzentrieren, als ich mit den Anderen in der Kapelle sitze und den Ordensschwestern lausche. Erst als die Meisten, die Kapelle verlassen haben, gelingt es mir, für ein paar Minuten abzuschalten. Weil es sich anbietet, zünde ich wieder eine Kerze an und flüchte mich danach auf mein Zimmer. »Romy?«, erklingt es einige Sekunden später und Martha steckt ihren Kopf unaufgefordert in mein Zimmer. »Kommst du rüber oder soll ich reinkommen? Ich dachte, ich mache es dir leichter, wenn ich auf dich zukomme.« »Komm rein«, seufze ich und setze mich auf, als Martha in mein Zimmer schlüpft und sich auf das freie Bett setzt. »Also?« »Hast du dir schon selbst Gedanken gemacht, warum ich diese Rolle spiele?« »Einige, um ehrlich zu sein«, nickt Martha. »Der plausibelste Gedanke ist, dass du versuchst, uns und dich vor denen zu schützen, die dir diesen Denkzettel, wie du es genannt hast, verpasst haben.« Ich verschlucke mich überrascht, weil Martha den Nagel auf den Kopf getroffen hat und das direkt beim ersten Versuch. Hustend rutsche ich an die Bettkante und greife nach meiner Wasserflasche. »Hundert Punkte«, murmle ich, nachdem ich einige Schlucke Wasser getrunken habe und werfe Martha die Flasche zu, als sie mich wortlos darum bittet, ebenfalls etwas trinken zu dürfen. »Warum lässt du uns die Gefahr nicht selbst einschätzen?«, fragt Martha, bevor sie die Flasche ansetzt. Als sie mir die Flasche zurückreicht, beginne ich ihr zu erzählen, wie man mich zusammengeschlagen hat und erzähle ihr von dem Türken, den ich erschießen sollte und von der den mehrfachen Warnungen, die ich erhalten habe. »Ich will aussteigen, jedoch ist es mit diesem Hintergrund und der Tatsache, dass Paul auf freiem Fuß und brandgefährlich ist, nicht einfach. Ich habe eine Anzeige gegen ihn erstattet, aber so lange er nicht sicher verwahrt ist und nichts von meiner Anzeige weiß, sind alle sicherer, wenn sie und er denken, dass ich auf seiner Seite stehe.« »Wer bist du, dass du uns die Entscheidung verwehrst, Romy?«, fragt Martha mit fester Stimme und sieht mich ernst an. »Was, wenn ich dir sage, dass du es wert bist, dass wir diese Gefahr auf uns nehmen?« »Ich will nicht daran Schuld sein, wenn euch oder meiner Familie wegen mir etwas geschieht«, schnappe ich und starre auf meine Füße. Ich spüre Marthas Blick auf mir und warte darauf, dass sie etwas sagt, weil sie es nicht tut, sehe ich sie an und stelle fest, dass sie mich abwesend anstarrt und über etwas nachzudenken scheint. Ich zucke erschrocken zusammen, als ihre Stimme nach einigen Minuten wieder erklingt. »Juli geht es gut. Die Nase ist nicht gebrochen. Zu den Ordensschwestern hat sie gesagt, dass sie hingefallen und dabei blöd auf ihrer Nase gelandet ist. Versuche bitte in Zukunft, deine Gewalt zu zügeln.« »Ich fühle mich auch ohne deine Zurechtweisung schlecht deswegen«, zische ich, seufze dann, als ich erkenne, dass mir Wut gegen Martha nun auch nicht weiterhilft. »Ich konnte nicht einfach gehen, ohne etwas zu tun. Sonst hätte Juli doch geglaubt, dass meine Worte nur Schall und Rauch sind. Denn am Nachmittag habe ich ihr gedroht, dass das passiert, wenn sie mir noch einmal auf die Pelle rückt. Der Hieb auf die Nase passierte im Affekt, eigentlich wollte ich sie nur zurück ins Dickicht stoßen.« »Wie lange musst du diese Rolle noch spielen?«, fragt Martha mich und klingt ernüchtert. »Bis du alle, die sich um dich Sorgen, vergrault hast?«, schiebt sie leise hinterher. »Solange es nötig ist«, erwidere ich fest, obwohl ich noch vor einigen Stunden aufgeben wollte. Martha steht auf und läuft in meinem Zimmer hin und her. »Du hältst mich auf dem Laufenden«, fordert Martha und bleibt vor mir stehen. »Wir werden jeden Abend kurz miteinander sprechen. Dazu nimmst du die Nachhilfe an und wirst in der Bibliothek mithelfen. Du musst ja nicht mit Juli rummachen oder dich mit ihr verstehen, um gute Noten zu schreiben. Aber wegen des Typen, auf Nachhilfe zu verzichten und sitzen zu bleiben, musst du auch nicht. Wenn du dich besser fühlst, organisiere ich einen Ort, wo dich niemand mit ihr sieht.« »Ich weiß nicht, wo sie überall Spione haben. Was wenn man uns doch erwischt? Kannst du mir nicht Nachhilfe geben?« »Meine Bedingungen, oder gar nicht«, erwidert Martha und ich gebe mich geschlagen. Weil es wichtig ist, dass Martha über diese Sache ihren Mund hält. »Gut. Ich rede mit Juli und keine Sorge, ich sage ihr, dass unser Klassenlehrer dich dazu zwingt. Wenn du dich damit besser fühlst.« In dieser Nacht, die überraschend warm für eine Herbstnacht ist, träume ich das erste Mal von ihr. Von Juli. Es ist kein seichter Traum, sondern ein brutaler, gewalttätiger Traum. Ich träume von dem ganzen Blut, das schon an meinen Händen klebte. Träume von meinen Taten und den Opfern. Ein Messer liegt in meiner Hand, die vor Aufregung zittert. An der Klinge läuft zähflüssig das frische Blut herab. Als ich von der Klinge auf den Boden zu meinen Füßen blicke, sehe ich ihren starren, leblosen Körper. Ihre schreckgeweiteten Augen im Moment der Angst festgefroren. »Nein«, hauche ich, schlage schwer atmend meine Augen auf und starre in die Dunkelheit. Mein Pyjama klebt an meinem Körper so verschwitzt bin ich, als ich mich aufsetze und die Schreibtischlampe anknipse. Lange kann ich mich keinen Zentimeter bewegen oder meine Hände ansehen, aus Angst, doch noch zu träumen. Erst kurz nach vier Uhr schaffe ich es aufzustehen. Halb Fünf stehe ich unter Dusche und fühle mich auch nach zwanzig Minuten noch schmutzig. Halb Sechs klopft Martha an meine Zimmertür und holt mich zum Laufen ab. Das Duschen hätte ich mir sparen können, als wir durchgeschwitzt die Treppe zu unserem Gang erklimmen. »Gehst du gleich heute zu Frau Schwarz und teilst ihr mit, dass du den Job machst?«, fragt mich Martha, als wir, nachdem abermaligen Duschen und dem Morgengebet, gemeinsam in den Speisesaal gehen. Ich nicke lediglich und steuere meinen Tisch an. Martha geht weiter nach hinten, wo Juli schon sitzt. Ich habe sie sofort gesehen, als wir den Saal betreten haben. Erleichtert, dass sie noch am Leben ist, freue ich mich sogar, natürlich nicht nach außen sichtbar, als sich Rati und Uma auf ihre Stühle fallen lassen, an meinem Tisch. Als wir nach der vierten Stunde schon drei unangekündigte Leistungskontrollen geschrieben habe, überlege ich ernsthaft, aus dem Fenster zu springen, weil ich natürlich kaum eine Frage beantworten konnte und bin erleichtert, als es zur Mittagspause läutet. Endlich, knapp eine Stunde Pause. Nach einem schnellen Mittagessen suche ich Frau Schwarz in der Bibliothek auf und nehme ihr Angebot an. Erfreut sieht sie mich an und fragt mich, wann ich für eine Einweisung Zeit habe. »Jetzt?« Unsere Englischlehrerin ist krank, habe ich beim Mittagessen mitbekommen, weshalb die letzte Stunde vor dem Sportunterricht ausfällt. So kommt es, dass ich nach einer ziemlich interessanten Einweisung, gemeinsam mit Frau Schwarz durch das Schulhaus zur Turnhalle gehe und an meinem Schlüsselbund ein weiterer Schlüssel baumelt. Ausgepowert vom Sport gehe ich gemächlich zurück ins Internat. Martha überholt mich irgendwann nach der Hälfte des Weges und raunt mir zu, dass ich nachdem Nachmittagsgebet, zu ihr ins Zimmer kommen soll. Ich komme ihrer Bitte ohne viele Gedanken nach und wünsche mir, ich hätte es sein gelassen, als ich Juli erblicke, die in Marthas Zimmer, auf dem leeren Bett sitzt. Martha hätte ruhig noch ein paar Tage damit warten können, Juli für die Nachhilfe ins Boot zu holen, denn sofort schoss mir, ihre blutende Nase und mein Traum von letzter Nacht zurück in Erinnerung. »Auf die Schnelle habe ich nichts Besseres gefunden. Ich schließe euch ein und komme euch zehn vor Sechs zum Abendessen abholen. Hast du deine Schulsachen dabei, Romy?« Ich nicke wortlos, trete unsicher in Marthas Zimmer und bevor ich mich umentscheiden kann, knallt die Tür hinter mir zu und Martha dreht den Schlüssel im Schloss um. Ich setze mich an den Rand von Marthas Bett, nicht direkt Juli gegenüber und seufze. »Mit was erpresst sie dich?«, sind nicht die Worte, die ich erwartet habe und ich hebe irritiert meinen Kopf um Juli anzusehen. Ihre Nase wirkt leicht rötlich und geschwollen, sieht aber wirklich nicht gebrochen aus. Ich stoße ein fragendes Geräusch aus und sehe ihr für einen Sekundenbruchteil in die Augen, bevor ich an ihr vorbei, die Wand ansehe. »Weißt du, ich bin nicht von gestern. Du sträubst dich gegen alles, was mit mir zu tun hat und nun willst du plötzlich doch meine Hilfe, nachdem du mir gestern noch sehr deutlich zu verstehen gegeben hast, dass ich dich in Ruhe lassen soll? Also was ist es, dass Martha gegen dich in der Hand hat? Ich glaube ihr nämlich nicht, dass unser Klassenlehrer dich plötzlich zur Nachhilfe zwingt.« »Tut Herr Schwarz aber«, erwidere ich und versuche überzeugend zu klingen. Als sich unsere Blicke begegnen und sie überhaupt nicht überzeugt aussieht, seufze ich und entscheide mich für die halbe Wahrheit. »Martha hat ein Telefonat zwischen mir und Nina belauscht, das wir vor einiger Zeit geführt haben.« Julis Augen sehen mich wütend an, als ich Ninas Namen erwähne und ich muss ganz automatisch an Ninas Kuss denken. »Und weiter? Was war an dem Gespräch so brisant, dass du dich dafür mit mir herumschlägst?« »Nichts«, sage ich ausdruckslos und stehe auf. »Ich werde mit dir nicht darüber reden.« Mich auf Marthas Vorschlag einzulassen ist ein Fehler. Ein großer Fehler. Ich drücke probeweise die Türklinke hinab und rüttel an der Tür, obwohl ich ja weiß, dass Martha abgeschlossen hat. »Wo hast du denn überall Probleme«, fragt Juli mich geschäftsmäßig, als ich mich von der Tür abwende und für einen Moment streifen sich unsere Blicke. Ich versuche gar nicht, meine Überraschung darüber, dass sie das Thema einfach so fallen lässt und zu dem Grund des Treffens übergeht, zu verstecken. »Jedes Fach, außer Sport«, erwidere ich, stelle meine Tasche auf Marthas Bett ab und gehe an Juli vorbei, zum Fenster, öffne es und schaue hinab. Leider gibt es nichts Brauchbares, woran ich hinabklettern könnte und für ein altmodisches Bettwäscheseil gibt es zu wenig Bettwäsche in Marthas Zimmer. Gereizt knalle ich das Fenster zu. Ich bin also definitiv eine Stunde in diesem Raum gefangen. »Ich entwerfe einen Lernplan für dich und wenn Leistungskontrollen anstehen, sehen wir dann ja, was du dringender lernen musst. Wie wäre es heute mit Mathe?«, macht Juli unbeirrt weiter und ich frage mich, was sie mir hier vorspielt. Ich krame meine Unterlagen aus meiner Tasche hervor und nicke zögernd. »Und wo hapert es in Mathe?« »Bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung und bei den ganzen anderen Mist, der nach diesem Thema folgte.« Ich lege meine Sachen zur Seite und springe wieder auf. Ich kann in ihrer Nähe einfach nicht ruhig sitzen bleiben, wenn ich mich nicht verraten möchte. Ich lehne mich an Marthas Schreibtisch und lasse meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Es ist wie das Meine eingerichtet und doch wirkt es bewohnter. Als meine Augen die Tür streifen, frage ich mich, ob ich es schaffen könnte, die Tür aus der Angel zu heben. Ich lege meine Hand auf die Rückenlehne des Stuhls. Wenn ich den Stuhl zerlege, könnte ich mit den losen Teilen versuchen, Kraft zu sparen und die Tür aus der Angel hebeln. Ha, das nennt man doch Physik, oder? »Wie wahrscheinlich ist es«, beginnt Juli und ich sehe sie verwirrt an, weil meine Gedanken noch bei Physik sind. Seufzend pausiert sie und scheint ihre Worte zu überdenken. »Also, wie wahrscheinlich ist es, dass du in diesem Zimmer etwas findest, dass dir hilft, die Tür zu öffnen?« Nachdenklich sehe ich von der Tür zu Juli und zurück, als mir ein interessanter Gedanke in den Sinn kommt. »Sehr wahrscheinlich«, murmle ich und sehe Juli an. Martha würde Juli nach meinem Angriff gestern, doch nicht schutzlos in ihrem Zimmer zurücklassen und sie auch noch einschließen. »Gib mir den Schlüssel!« »Nein«, lächelt Juli mich an, als ob sie sich freut, dass ich herausgefunden habe, dass sie einen Schlüssel hat. »Außer du verrätst mir, was genau Martha bei diesem belauschten Telefonat erfahren hat, dass sie dich damit erpressen kann.« »Geht dich einen feuchten Dreck an«, zische ich und mustere Juli, die ihren Kopf gesenkt hält, weil sie sich auf ihrem Block, der auf ihrem Schoß liegt, irgendwelche Notizen macht. Wo würde ich den Schlüssel verstecken, wenn ich sie wäre? An einem Ort, wo ich schnell herankomme. In meinen Hosentaschen, aber Juli trägt einen Rock, der ihr nicht einmal über die Knie reicht. »Können wir dann anfangen?«, fragt Juli, hält mit ihrem Stift inne und schaut mich an. Unentschlossen stoße ich mich ab und eine Idee keimt in mir. Ich schnelle nach vorne, nehme ihr Stift und Block weg und werfe die Dinge achtlos auf den Boden. Juli hat keine Zeit irgendwie zu reagieren, als ich sie fest am Hals packe und zudrücke. Bei einer Bedrohung würde sie doch den Schlüssel benutzen, oder? Panisch versucht sie meine Hände von ihrem Hals wegzudrücken. Es ist der Hautkontakt, den ich nicht bedacht habe, der mich unachtsam werden lässt, wodurch es ihr gelingt, meine Hände zu lösen. Sie lässt sich rücklings auf das Bett fallen und zieht mich an meinen Handgelenken mit sich. Ich liege auf ihr unsere Gesichter so dicht beieinander, dass ich ihren Atem auf meiner Haut spüren kann. Ich spüre, wie mein Körper auf den Ihren reagiert, stemme mich mit meinen Armen ein Stück hoch, kann aber nicht ganz aufstehen, weil sie mich festhält. »Den Schlüssel«, presse ich hervor und versuche ihren braunen Augen auszuweichen, die versuchen, mich einzufangen. »Du kennst den Deal«, erwidert Juli und fährt mit ihren Händen über meinen Rücken, bis zu meinem Nacken. Ich halte den Atem an und spüre, die Gänsehaut, spüre, wie sich meine Armhärchen aufrichten, meine Brustwarzen hart werden und will nichts anderes, als sie zu küssen. Mein Körper ist ein mieser Verräter. Ich beiße auf die Innenseite meiner Wange und ich reiße mich von Juli los, als ob man mich mit einem Eimer Eiswasser übergossen hat. Die Spannung, die zwischen uns in der Luft liegt, raubt mir mehr und mehr die Fähigkeit, klar zu denken. Innerlich fluchend, drehe ich mich von ihr weg, gehe auf Marthas Waschbecken zu und klammere mich halt suchend daran fest. Ich wage es nicht, in den Spiegel zu blicken. Ich höre wie Juli sich aufsetzt und das Bettgestell leise quietscht, als sie aufsteht. Sobald sie hinter mir steht schnelle ich herum, presse Juli grob gegen die Zimmertür und drücke ihr meinen Unterarm an die Kehle. Sie schlägt um sich, zerkratzt mir meinen Unterarm, als sie immer panischer nach Luft schnappt, aber kaum noch etwas davon in ihren Lungen ankommt. »Bitte«, fleht sie mit dem letzten bisschen Luft. Ich lasse etwas lockerer und ihre Augen sehen mich einen Sekundenbruchteil dankbar an, bevor sie sich entsetzt weiten, weil ich abermals meinen Unterarm gegen ihren Hals drücke. »In meiner Rocktasche«, ringt Juli sich nach Luft schnappend ab und ich taste blind, mit meiner freien Hand, nach der besagten Tasche. Rockfalten sind alles, dass ich in meiner Hast ertaste. Keine Tasche, kein Schlüssel. In einem Moment der Unachtsamkeit, stößt Juli mich von sich und schubst mich auf Marthas Bett. Das Bettgestell ächzt vernehmlich und ich spüre den Lufthauch, als sich Juli strauchelnd auf den Weg zur Tür macht. Ich erwische Juli an ihrem Handgelenk und ziehe sie zurück. Dabei stolpert Juli über meine Füße und fällt auf mich. Presst die Luft aus meiner Lunge. Juli atmet laut ein und aus. An ihrem Hals ist ein roter Abdruck, wo mein Unterarm ihr die Luft abgedrückt hat. Ihre braunen Augen sehen traurig auf mich herab. Warum ist sie traurig? Sollte sie mich nicht hassen? Wütend auf mich sein? Scheiße, warum kommt ihr Gesicht immer näher? Ich will mich aufsetzen, Juli wegdrücken, erstarre jedoch in dem Moment, als Juli sachte an meiner Unterlippe knabbert. Das ist besser, als ich es mir all die Male, allein in meinem Bett, vorgestellt habe. Meine Arme schlingen sich um Julis Körper und ziehen sie dichter zu mir hinab. Ich erschaudere geräuschvoll, als ihre Hände vorsichtig auf Wanderschaft gehen um meinen Bauch zu entdecken, meine Seiten, an denen ich kitzlig bin. Ich küsse sie grob, gestehe ihr diesen Punkt zu, doch gewonnen hat sie noch lange nicht. Ich drehe mich zur Seite, so dass sie von mir rutscht und springe auf, bevor sie mich festhalten kann. »Bild dir nichts darauf ein«, fahre ich sie an und setze mich schwer atmend auf das andere Bett, als Juli sich aufsetzt, sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht wischt und mich unergründlich ansieht. »Diese Nina, ist das zwischen euch etwas Ernstes? Ist sie so wie du?«, fragt sie tonlos, greift in die Tasche ihres Rocks und zieht einen kleinen Schlüssel hervor. Ungläubig sehe ich Juli an und lache hohl. »Juli, wie kannst du nach alldem, was ich dir antue, eifersüchtig sein?« »Wie kann ich es nicht sein?«, fragt Juli traurig und sieht an mir vorbei. »Ist sie es, die dein Herz gefangen hält, so wie du meins mit aller Kraft an dich gerissen hast?« Kopfschüttelnd stehe ich auf, nehme den Schlüssel, den sie mir reicht. »Ich habe kein Herz. Weder Meines, noch das Deine«, murmle ich und sammel unsere Unterlagen auf. Denn kein Mensch mit Herz und Verstand würde eine Frau wie Juli, so behandeln, wie ich es schon wieder getan habe. »Also«, seufze ich, weil ich nicht gehen will. Weil ich noch einen Moment in ihrer Nähe sein will und weiß, dass ich die Nachhilfe gebrauchen kann. »Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie funktioniert die?« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)