Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare von Curupira ================================================================================ Kapitel 18: Kapitel 17. ----------------------- Der Partyraum ist klein, die Bühne noch kleiner und aus Holz. Es geht nicht in meinen Kopf, wie eine ganze Band auf die Bühne passen soll, wo das ganze Equipment schon kaum darauf passt. Über den Platz im Raum mache ich mir weniger Gedanken, da Boxen in anderen Räumen aufgestellt sind, damit man die Band auch dort hören kann. Jeder von uns bekommt, nachdem wir unseren Eintritt bezahlt haben, eine Flasche Bier in die Hand gedrückt und ich frage mich, ob ich Lari die Flasche wegnehmen sollte. Weil ich aber nicht als Spielverderberin dastehen will, lasse ich ihr das Bier. Wir schaffen es, uns ganz vorne an die Bühne zu stellen und beobachten von dort, wie sich der Raum immer mehr füllt. Während wir darauf warten, dass es losgeht, reden wir über belanglose Dinge. Wann immer Nina auf der Bühne auftaucht, leuchten Laris Augen und meine Neugier gewinnt die Oberhand. »Was hat Mama im Auto zu dir gesagt?« Lari spielt mit den Bändchen ihrer Kapuze und stellt die Flasche Bier am Rand der Bühne ab. »Ich soll mich nicht für meine Gefühle schämen, wenn ich sie habe und sie und Papa nicht enttäuscht von mir sind, wenn ich«, unterbricht Lari sich, schluckt und wird rot um die Nase. »Wenn ich mich, wie du, zu Mädchen hingezogen fühle. Ich schätze, ich habe in den vergangenen Wochen etwas zu sehr von Nina geschwärmt.« Ungläubig und ein wenig neidisch sehe ich meine Schwester ob der Reaktion von Mama an. Bei wir hat sie ja nicht gerade Bäume ausgerissen. Aber vielleicht hatte Mama ja etwas Zeit, darüber nachzudenken und bereut nun ihre Reaktion, mir gegenüber? »Und hat Mama recht damit?«, frage ich und mustere Lari neugierig. Meine Schwester sieht mich unsicher an und nimmt ihre Flasche Bier wieder an sich. »Vielleicht. Ich fühle mich viel zu unsicher, um genauer darüber nachzudenken.« Bevor ich meine Schwester mit einer weiteren Frage belästigen kann, beginnt die Menge zu jubeln und ich sehe, wie Nina mit dem Rest ihrer Band die Bühne betritt. Es erstaunt mich, als ich einen Blick durch den Raum werfe, dass doch so viele Menschen in diesen Raum passen. Als zackige Bässe erklingen, nippe ich erstmals an der Bierflasche und will den Schluck am liebsten wieder ausspucken. Es schmeckt schal und verdünnt. Vermutlich haben die Veranstalter das billigste Bier aus dem Discounter, für das Freigetränk besorgt. Weil ich aber Durst habe und mich nicht durch die Menge pressen will, um mir etwas anderes zu kaufen, trinke ich es notgedrungen und lausche der Musik, die so überhaupt nicht meinen Geschmack trifft. Die Menge um uns herum tobt und singt einige Texte schief mit. Juli lehnt sich irgendwann an mich und ich lege völlig automatisch einen Arm um sie. Was Juli als Einladung sieht und mich küsst, bevor sie mich ganz umarmt. Für einen Sekundenbruchteil sieht Nina mich an und ich sehe Neid in ihren Augen aufblitzen, bevor sie mich anlächelt, zu Lari sieht und den nächsten Song anstimmt. Nach drei weiteren Songs legt die Band eine Pause ein und ich nutze die Chance, mit Juli neue Getränke kaufen zu gehen. Als wir dabei an einem größeren Haufen Punks vorbeikommen, die schon sichtlich einen an der Krone haben, pfeift man uns hinterher und ich höre, wie einer der Punks einen Anderen sagt, wie heiß er Lesben findet. Mit den Augen rollend sehe ich Juli an, die mich mit einem Grinsen auf den Lippen, zu einem ziemlich sinnlichen Kuss verführt, bevor wir weiter zu unserem Platz gehen. »Sag unseren Eltern nichts davon«, raune ich meiner Schwester zu, als ich ihr einen Becher mit Colabier in die Hand drücke. Bevor Lari mir etwas entgegnen kann, grölt Nina in ihr Mikrofon und der Schlagzeuger trommelt wild. Niemand aus der Band sieht mehr ganz nüchtern aus und ich kann nur raten, was sich in Ninas Becher befindet, den sie zu ihren Füßen abstellt, nachdem sie einen mächtigen Schluck getrunken hat. Juli kuschelt sich wieder in meine Arme und je höher die Promillezahl in meinem System steigt, desto besser wird die Musik. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass die Band jetzt auch vermehrt rockige Songs spielt. In der zweiten Pause schmeißt Nina eine Runde Bier für uns, weshalb wir mittlerweile alle, durch die Bank weg, ziemlich angeheitert sind. Auch wenn es größtenteils am Alkohol liegt, war es eine gute Entscheidung, auf das Konzert zu gehen, denn ich war schon lange nicht mehr so entspannt und gelöst. Kurz vor Mitternacht spielt die Band ihren letzten Song und ich trinke Julis Bier aus, weil sie es nicht mehr will. Schwankend finden wir uns zehn Minuten nach Mitternacht auf dem Parkplatz ein, wo uns meine Mama mit einem breiten Grinsen auf den Lippen erwartet. »Na, habt ihr etwas zu tief in die Gläser geschaut?«, fragt sie und sieht Lari tadelnd an, als meine Schwester an Mama vorbei, auf einen Busch zusteuert und sich übergibt. »Wir reden morgen früh darüber, Larissa.« »Sorry«, grinst meine Schwester und schlüpft an mir vorbei, auf die Rückbank von Mamas Auto. Ich stoße Nina an, die sich neben meine Schwester in die Mitte setzt. »Vorne oder hinten?«, frage ich Juli und muss mich an ihr festhalten, um nicht umzukippen. »Vorne«, erwidert Juli und drückt mich auf die Rückbank zu Nina, bevor sie Mamas Auto umrundet und sich auf den Beifahrersitz setzt. Ich ziehe die Tür zu, schnalle mich an und muss lächeln, als ich sehe, dass Lari ihren Kopf auf Ninas Schulter abgelegt hat. Als Mama den Motor startet und die Innenbeleuchtung erstirbt, blicke ich vor zu Juli und wünsche mir plötzlich mit einer Heftigkeit, Juli all das sagen zu können, was ich in mir drin, für sie fühle, wenn ich sie ansehe. Alkohol lässt mich emotional werden, bemerke ich in meinem vernebelten Verstand und seufze lautlos. Als ich aus dem Auto aussteige und beinahe gegen Papas Motorrad stürze, stelle ich in einem klaren Moment fest, dass ich definitiv zu viel getrunken habe. Vermutlich war in Ninas Becher, den wir uns am Ende geteilt haben, Hochprozentiges. Juli hilft Lari und Nina beim Aussteigen und ich sehe Mama an, als sie die Autotür für mich zuwirft. »War dein Date mit Papa gut?« »Sehr gut, Romy«, zwinkert Mama und hilft mir zur Wohnungstür. »Schaut zu, dass ihr alle ins richtige Bett kommt.« Ich ergreife Julis Hand, als sie plötzlich neben mir steht und gemeinsam folgen wir Nina nach oben, die meine Schwester huckepack trägt. »Trägst du mich auch?«, flüstert Juli und ich grinse sie an. »Wenn du mit mir rückwärts hinabstürzen willst, dann gerne.« Oben angekommen verabschieden wir uns flüsternd von Nina und ich betrachte meine Schwester, die halb schlafend auf Ninas Rücken hängt, belustigt. In meinem Zimmer stolpert Juli zu meiner Couch und lässt sich geräuschvoll drauf nieder. Ich setze mich neben sie, nachdem ich die Tür abgeschlossen habe. »Ich habe Angst vor deinen Eltern«, murmle ich nach einer ganzen Weile, in der wir die Stille genossen haben, und erstarre. Wo kommt das denn jetzt her? Eigentlich hatte ich nicht vor, diesen Gedanken laut auszusprechen. Beschämt schließe ich meine Augen und lege meinen Kopf in den Nacken an das Polster der Couchlehne. Juli kuschelt sich an meine Seite. »Musst du nicht«, versichert sie mir und ich ergreife ihre Hand, drücke sie an meine Lippen und seufze, nachdem ich ihren Handrücken geküsst habe. »Sag, wann wusstest du, dass du das hier, mit mir, willst?« »Ich dachte schon, du fragst mich das gar nicht«, höre ich Juli sagen und ich weiß auch, ohne sie anzusehen, dass sie lächelt. »Als ich dir die Ohrfeige verpasst habe.« »Warum?«, frage ich erstaunt und kann mich noch gut an diesen Moment erinnern, als wäre es erst wenige Stunden her. »Weil du nicht zurückgeschlagen hast«, erwidert Juli schlicht und ich denke betrübt an den Moment, wo ich sie geschlagen habe. Nach einigen Momenten, in denen ich meinen Gedanken nachhänge und sie ihren, machen wir uns fürs Schlafen fertig. Am Morgen, als ich meine Augen öffne, lächle ich, weil Juli noch neben mir liegt und schläft. Im Internat ist sie immer vor mir aufgestanden und hat sich aus meinem Zimmer geschlichen, bevor ich mit Martha raus zum Laufen bin. Ich taste nach meinem Smartphone, das auf dem Boden neben meinem Bett liegt, und stelle überrascht fest, dass es schon kurz nach Acht ist. Weil ich nicht das Risiko eingehen will, beim morgendlichen Joggen Paul zu begegnen, lasse ich es ausfallen und klettere stattdessen aus dem Bett, um Duschen zu gehen, nachdem ich Juli einen sanften Kuss auf die Stirn gegeben habe. Wie das Wasser über meinen Körper rinnt, rauschen die Gedanken ziellos durch meinen Kopf und finden keinen Anker im Meer der Angst. Als mich eine Hand am Rücken berührt, zucke ich erschrocken zusammen und erstarre im nächsten Moment, als ich spüre, wie sich Juli von hinten an mich presst. Nackt. Sanft fahren ihre Hände an meinem Hals zu den Schultern und an den Armen hinab zu meinen Händen, wo ich ihre Hände ergreife und festhalte. »Du kannst mich doch nicht einfach alleine liegen lassen«, rügt Juli mich und presst ihre Lippen auf die Haut über meinem rechten Schulterblatt. »Und du kannst mich nicht einfach so erschrecken«, erwidere ich und stelle das Wasser aus, in der Hoffnung, so auch die Gedanken in meinen Kopf zu beruhigen, die so unsagbar laut sind. Ich drehe mich nicht zu Juli um, als ich tief ein und ausatme und aus der Badewanne steige. »Hattest du Freunde in dem Asylantenheim? Oder deine Eltern?«, gebe ich den Gedanken in meinem Kopf eine Stimme und ich kann Julis Enttäuschung beinahe spüren, als ich mich in ein Handtuch einwickele und ihr keinen Blick schenke, weil ich ihren Körper nicht in diesem Zusammenhang entdecken will. Ich höre wie das Wasser angeht und trete aus dem Badezimmer, um mich anzuziehen. Als Juli herauskommt, stehe ich an meinem Zimmerfenster und starre hinab in den Garten. Keiner von uns beiden spricht. Erst als Juli neben mir steht und meine Hand ergreift, wende ich meinen Blick vom Garten ab und sehe in Julis traurige Augen. »Zwei Jungen - Brüder, in meinem Alter, sie sollten am nächsten Tag mit ihren Eltern in eine Wohnung in der Stadt ziehen. Kamal und Firas. Kamal hat die Nacht nicht überlebt. Firas ist im Krankenhaus gestorben.« Ich will meine zitternde Hand aus Julis Hand ziehen und mich von ihr entfernen, doch Juli lässt das nicht zu. Lässt mich nicht los, fängt meine Tränen mit ihren Lippen auf und sieht mich ernst an. »Romy, ich habe gesehen, dass du nicht mitgemacht hast. Ich gebe dir dafür nicht die Schuld.« »Nichts hast du gesehen«, erwidere ich fest. »Ich habe Scheiben eingeworfen, damit die Anderen«, ich schlucke hektisch, weil mich ein Kloß am Weiterreden hindert und die Tränen immer mehr werden. »Ich sage nicht, dass du unschuldig bist, Romy«, flüstert Juli und küsst mich. »Aber ich weiß, dass du nicht mit deinem ganzen Herzen dabei warst und ich weiß, was ich gesehen habe, als wir uns zum ersten Mal in die Augen gesehen haben.« Juli lässt mir keine Chance, zu widersprechen. Wann immer ich dazu ansetze, verschließt sie meine Lippen mit den ihren. Seufzend gebe ich irgendwann auf und die schwermütigen, lauten Gedanken in meinem Kopf verstummen. Durch Julis Küsse und ihren geschickten Händen, die sich unter mein T-Shirt geschlichen haben, erregt, bin ich bereit, sie auszuziehen und auf mein Bett zu werfen, doch unser Timing kann schlechter nicht sein. Denn als wir vor meinem Bett stehen ich Juli gerade das T-Shirt über den Kopf ziehen will, klopft es an meiner Zimmertür. »Romy, seit ihr wach? Deine Mutter hat das Frühstück fertig«, erklingt Papas Stimme dumpf durch die Tür. »Kein Glück«, seufze ich und lehne meine Stirn gegen die von Juli, die mich schief angrinst. Als ich mich abwenden will, presst sie ihre Lippen hart auf meine und gibt mir damit das stumme Versprechen, dass wir sobald wie möglich, an dieser Stelle weitermachen werden. In der Küche treffen wir auf Mama, Nina, Lari und Papa. Uschi und Ralf sind schon ausgeflogen, habe ich mir sagen lassen. Dieses Mal sitze ich neben Juli und meine Schwester und Nina sitzen uns gegenüber. Lari sieht aus, als wäre sie in der vergangenen Nacht mehr als einmal aus dem Bett gefallen. Herzhaft gähnt sie und wirft mit finsteren Blicken um sich. Nina sieht frischer aus, auch wenn die Augenringe unter ihren Augen eine andere Sprache sprechen. »Guten Morgen. Wie habt ihr geschlafen?«, frage ich in die Runde und Lari sieht mich bitterböse an. »Hervorragend«, zischt sie und entlockt Nina damit tatsächlich ein Lächeln. »Hey, gib nicht deiner Schwester die Schuld, dass du die halbe Nacht gekotzt hast«, grinst Nina und ich gieße mir eine Tasse Kaffee ein. Juli bekommt von Mama eine Tasse Kakao gereicht. »Oh, danke schön.« »Bitte schön, Liebes«, lächelt Mama Juli an und sieht dann ernst zu meiner Schwester. »Larissa, ich habe kein Mitleid für dich. Das passiert eben, wenn man zu tief ins Glas schaut. Lass dir das eine Lehre sein.« Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich es war, die Lari das Bier gestattet hat. Meine Schwester ignoriert Mama und knabbert schweigend an einer Scheibe Brot. Ich beginne ein Gespräch mit Papa und frage ihn, ob ich wieder einmal eine Runde mit seinem Motorrad drehen darf. Papa schaut zu Mama und dann zwinkernd zu mir. »Wenn du die Schule schaffst, ohne sitzen zu bleiben, bezahle ich dir den Führerschein. Dann kannst du so oft fahren, wie du willst.« »Wirklich?«, rufe ich aus und Lari stöhnt genervt wegen meiner Lautstärke. »Nimm eine Aspirin«, grinse ich sie an und nippe an meinem Kaffee. »Habe ich schon«, knurrt Lari und beäugt Papa. »Bekomme ich später auch meinen Führerschein bezahlt?« »Dafür musst du dann aber nüchtern sein«, zwinkert Papa und entlockt Nina ein Lachen, was Lari stöhnen lässt. »Nicht lustig«, murmelt meine Schwester. »Wann brecht ihr heute auf?«, ändert Mama das Gesprächsthema und sieht mich fragend an. Weil ich es nicht weiß, sehe ich zu Juli. »Meine Eltern wollen gerne mit uns Mittagessen, also werden wir wohl kurz vor elf abgeholt.« »Na dann, benimm dich Romy, du willst doch einen guten Eindruck machen, bei deinen zukünftigen Schwiegereltern«, grinst Papa und ich trete ihn unter dem Tisch gegen das Schienbein. »Ich benehme mich immer.« Den Blick, den Papa meiner Mama zuwirft und den, den sie mir darauf schenkt, ignoriere ich geflissentlich. Meine Hände zittern, mein Herz rast, als der Moment immer näher rückt. Obwohl mir Juli versichert, dass ich nicht bei lebendigem Leibe gefressen werde, kann ich mich nicht beruhigen. Umso überraschter bin ich, als der Moment endlich da ist, dass ich Julis Vater völlig entspannt gegenübertrete. Er lehnt an seinem kleinen Polo und Juli läuft ihm direkt in die Arme und freut sich lauthals, ihren Vater wiederzusehen. Für einen kurzen Moment überlege ich, rückwärts ins Haus zu fliehen, springe dann aber über meinen Schatten und stelle mich neben Juli. »Guten Tag«, sagt der Mann und schaut mich ernst an. Er reicht mir seine Hand und spricht im astreinen Deutsch weiter. »Ich bin Adil Saadi.« »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwidere ich genauso ernst und ergreife seine Hand und habe das Gefühl, das er die Meine zerquetscht. Ich gebe mir Mühe, keine Miene zu verziehen. »Romy Schneider. Vielen Dank, dass Sie mich damals im Park aufgelesen und den Notarzt gerufen haben.« »Gern geschehen«, sagt er und lässt meine Hand los. Erleichtert atme ich aus. »Dann steigt mal ein. Nicht dass wir zu spät kommen.« Ich steige automatisch hinten ein und bin überrascht, als Juli neben mir auf die Rückbank rutscht und meine Hand ergreift. Sie lächelt mich an und drückt meine Hand, als ihr Vater den Motor startet und losfährt. Tapfer lächle ich zurück. Nur, Julis Mutter begrüßt mich herzlich und bietet mir direkt das Du an. Ich sitze trotzdem steif am Esstisch der Familie Saadi und bekomme nichts von dem Essen runter, welches Julis Mutter aufgetischt hat. Ich lausche Julis Unterhaltung mit ihren Eltern und bemerke, dass sie sehr bemüht ist, mich in das Gespräch einzubinden, indem sie das Schauspiel erwähnt. Irgendwann fragt mich Julis Mutter, wie wir uns kennengelernt haben, und lächelt mich an. »In der Schule. Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben und mich danach auf Facebook gestalkt.« Julis Bein stößt mich unter dem Tisch an und ich sehe ihren entsetzten Blick, der sich schnell zu einer neutralen Miene wandelt, als ihre Eltern sie ansehen. »Warum?, fragt Nur ihre Tochter und ich ahne, dass ich das lieber nicht erwähnt hätte und dass sie nicht wissen, was ich so angestellt habe. Verlegen fahre ich mir durch die kurzen Haare und berühre unbewusst die Narben etwas länger. »Weil zu einer Mitschülerin gemein war und etwas Dummes gesagt hat«, lügt Juli ihren Eltern ins Gesicht und ich starre auf das kaum berührte Essen auf meinem Teller. Julis Vater zieht sich eine Weile später zurück und Juli und ich helfen Nur beim Abwasch. »Komm«, lächelt Juli, fasst mich bei der Hand und zieht mich aus der Küche. »Ich zeige dir mein Zimmer. Das letzte Mal warst du ja nur kurz da.« »Warum wissen sie nichts davon?«, frage ich Juli verwundert, als die Tür hinter uns ins Schloss fällt und wir in ihrem Zimmer stehen. Juli seufzt und sieht mich nicht an, hält aber meine Hand fest. »Weil sie nachtragend sein können und ich nicht will, dass mir Papa oder Mama den Umgang mit dir verbieten, nur weil du einmal in deinem Leben einen Fehler gemacht hast.« »Einmal in meinem Leben«, flüstere ich und muss an die Ausländer denken, die ich gemeinsam mit meiner alten Clique zusammengetreten habe. »Du weißt, dass das nicht wahr ist. Hör auf, alles zu beschönigen.« Juli lässt mich genervt los und sieht mich ernst an. »Jetzt ist es wahr. Du willst dich ändern, du hast dich geändert. Das ist es doch, was zählt. Jeder Mensch verdient eine zweite Chance.« Wie schon in meinem Zimmer, überrumpelt Juli mich, bevor ich etwas Gegenteiliges sagen kann und küsst mich. Ich trete einen Schritt zurück und weiche ihren Lippen aus. »Juli«, seufze ich und will noch etwas sagen, als es klopft und der Herr des Hauses, mit neutraler Mine im Zimmer steht und uns ansieht. »Na, habt ihr Spaß? Ich wollte euch fragen, ob ihr Lust habt, nachher in eines der Auffanglager für Flüchtlinge zu fahren. Wir sammeln Spenden und bringen diese in regelmäßigen Abständen in Auffanglager, die solche Spenden benötigen.« »Ich weiß nicht«, beginnt Juli und ich sehe ihren abschätzenden Blick, mit dem sie mich bedenkt. »Warum nicht«, erwidere ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, wie ich zu Ausländern im Allgemeinen stehe, auch wenn ich nicht mehr hinter meiner politischen Gesinnung stehe. »Vielleicht können wir uns dort ja etwas nützlich machen.« Julis Vater schaut mich seltsam an, nickt dann aber und wartet auf Julis Antwort. Vielleicht weiß Adil Saadi mehr über mich, als er seine Tochter wissen lässt, überlegte ich, als ich den Mann mustere. Er ist größer als wir, doch ich habe schon beim ersten Blick erkannt, von wem Juli ihre Augen und die Haarfarbe geerbt hat, denn ihre Mutter hatte schwarze, dünne Haare und grüne Augen. »Wann willst du los?«, fragt Juli ihren Vater geschlagen. »Gleich. Juli, kann ich mir Romy einmal ausleihen?« »Wozu?«, fragt Juli irritiert. Bevor er ihr antworten kann, stehe ich neben ihm, blicke zu Juli und lächle mutig. »Bis gleich. Wohin?« »Am Ende des Gangs ist mein Büro«, sagt er, als wir Julis Zimmer verlassen haben, und geleitet mich durch den Flur, hinein in ein geräumiges Büro mit zahlreichen Bildern und Büchern. »Setz dich bitte«, sagt er neutral, deutet auf einen Ledersessel, vor einem antik aussehenden Schreibtischpult. Unter dem einzigen Fenster im Raum steht eine Chaiselongue, die sich zum hinlegen und entspannen, einlädt. Ich lasse mich auf den gut gepolsterten Sessel fallen und stecke meine Hände zwischen meinen Knien fest, damit das Zittern meiner Hände nicht zu sehr auffällt. Als er die Bürotür schließt und neben mir an einem Bücherregal stehen bleibt, halte ich automatisch die Luft für einen Moment an. Bevor ich angestrengt ausatme und gierig einatme. Er reicht mir wortlos einen Ordner und setzt sich mir gegenüber hinter seinen Schreibtisch. »Bitte, öffne den Ordner.« Ich blicke auf ein ausgebranntes Gebäude und mein ganzer Körper spannt sich an. »Blätter um«, fordert er mich mit sanfter Stimme auf. Auf der nächsten Seite blicke ich auf zwei Fotos, die ein verbranntes Zimmer dokumentieren. »Das Zimmer lag direkt neben dem von Juliet.« »Was wollen Sie mir damit sagen?«, frage ich, ohne eine weitere Seite umzublättern. »Wir haben Nachforschungen angestellt, als uns Juliet von dir erzählt hat. Komm schau den Ordner zu Ende an, danach werde ich dir sagen, was wir von dir wollen.« Ich will nicht, aber er sieht nicht so aus, als würde er das durchgehen lassen. Als ich umblättere, sehe ich Fotos von Jugendlichen, mit blauen geschwollenen Augen, aufgeplatzten Lippen. So zieht sich das durch den ganzen Ordner. Nicht alle habe ich selbst ins Krankenhaus geprügelt, aber bei den meisten war ich anwesend. »Wie hat es sich angefühlt, das alles, einmal selbst zu fühlen?« Ich schließe den Ordner und pfeffere ihn achtlos in seine Richtung. »Ich wurde lange vor diesen Aktionen von Kanaken gemobbt und am Ende zusammengeschlagen, weil ich ihnen nicht mein Smartphone geben wollte, welches sie mir abknöpfen wollten. Weil ich als einzige Deutsche in der Klasse die perfekte Zielscheibe war. Ich wusste also schon, wie sich das anfühlt. Was wollen Sie mir mit diesem Ordner wirklich sagen?« »Das du meine Tochter in Ruhe lässt«, sagt er mir ruhig. »Wir wollen nichts mit Menschen wie dir zu tun haben. Du kannst gern mit kommen, aber nach diesem Wochenende möchte ich, dass du Juliet in Ruhe lässt, oder ich werde zur Polizei gehen und eine Anzeige gegen dich erstatten.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)