Zwischen Molotowcocktails und Shakespeare von Curupira ================================================================================ Kapitel 1: Prolog ----------------- In schnellen Schritten gehen wir auf einer einsamen Straße, auf der uns in dieser Nacht noch kein Auto begegnet ist, unserem Ziel entgegen. Einzig der Mond ist unser stummer Begleiter und spendet uns ein bisschen Licht auf unserem Marsch, denn soweit außerhalb der Innenstadt, gibt es keine Straßenbeleuchtung mehr. Eine Sparmaßnahme der Stadt, um das Geld an wichtigerer Stelle einsetzen zu können. Kalter Wind pfeift mir durch die Kleidung und lässt mich erschaudern. Ich friere schon, seit wir aufgebrochen sind. Obwohl wir schon Frühling haben, fühlt sich diese Nacht für mich wie eine Winternacht an. Dazu kommt, dass ich wegen der ungewohnten Laufgeschwindigkeit schwitze, und der Schweiß meine Haut sehr schnell abkühlt. Mir warme Gedanken machend, lausche ich dem regelmäßigen Klappern, das mit jedem Schritt, den Paul tut, erklingt und ich denke daran, was mich erwartet, sobald wir unser Ziel erreicht haben. Ich umfasse die leere Bierflasche in meiner Hand etwas fester, als ein Schauer der Erregung über mich hinwegfegt. Bald, beruhige ich mich und versuche, das Zittern in meinen Händen zu kontrollieren. Immer wenn ich aufgeregt bin, beginne ich wie Espenlaub zu zittern. Meine Fersen reiben sich unangenehm an dem Leder meiner neuen Stiefel und lassen mich die Blasen, die ich nach dieser Nacht haben werde, schon jetzt fühlen. Es sind neue Stiefel, frisch aus England importiert und mit weißen Schnürsenkeln geschnürt. Hätte ich gewusst, dass Paul und die Kameraden so einen weiten Marsch geplant haben, wäre ich bei meinen alten Kampfstiefeln geblieben. Aber nein, ich musste ja unbedingt vor Paul und den Anderen, mit den teuren Tretern angeben, die ich nach dieser Nacht in die dunkelste Ecke meines Schranks verbannen werde, weil sie so unbequem sind. Es ist gut, dass Mama und Papa so viel verdienen, dass ich mir solche Dinge leisten kann ohne ein Loch in die Haushaltskasse zu reißen und es so nicht allzu weh tut, wenn ich Rotz gekauft habe. »Wie weit noch?«, jammere ich, als ein ekliger Sprühregen einsetzt. Eilig ziehe ich mir die Kapuze meines Pullovers über meine blonden Haare und schließe meine Bomberjacke, damit der Wind weniger Angriffsfläche hat. Erst der Nebel, der uns in dieser Nacht noch weniger sehen lässt, als man in der Nacht ohnehin sieht, wenn man keine Taschenlampe hat und nun kommt noch lästiger, ekliger Sprühregen dazu. Wunderbar! Ich kann unsere Kameraden lachen hören, während mein Herz wegen der ungewohnten Anstrengung schneller pumpt als normal und sehe, wie Paul neben mir grinst, als er sich eine Zigarette anzündet. Es immerhin versucht. Allerdings geht die Flamme immer aus, bevor er seine Zigarette entzünden kann. Fluchend lässt er uns anhalten und versucht es erneut. Dieses Mal klappt es und ich rieche den Rauch, der noch ekliger als der Sprühregen ist, weil ich den Rauch passiv einatme und nicht nur auf meiner Haut spüre. Vor dem Regen kann ich mich schützen, vor dem Rauch im Moment nicht. Paul setzt seinen Rucksack ab, klimpert etwas herum und reicht mir eine Flasche Bier. Ich gebe ihm meine leere Flasche, die wir zu Beginn unseres Marschs geöffnet hatten zurück, schließlich weiß ich, dass wir alle Flaschen für unser Vorhaben brauchen werden. »Trink Romy, das lenkt vom Laufen ab«, grinst Paul mich an und zieht wieder an seiner Zigarette. Er sieht so alkoholisiert aus, wie ich mich fühle, obwohl ich nur eine Flasche getrunken habe und doch läuft er, ohne zu wanken, als er den Befehl zum weiter laufen gibt. Paul ist der Älteste in unserer Gruppe und unser Anführer. Mit seinen vierundzwanzig Jahren hat er schon viel erlebt, sagt er uns immerhin ständig. Was ich weiß ist, dass die Kanaken in dem Viertel wo eins unserer Verstecke ist, schon lange nicht mehr raus auf die Straße kommen, wenn sie wissen, dass Paul mit unserer Gruppe in der Nähe ist. Sie haben da wohl einen guten Buschfunk. Eigentlich schade, in den anderen Vierteln können wir viel öfter Ausländer klatschen. »Oder sing uns ein Marschlied«, warf Ralf ein, ohne mich anzusehen. Der hatte doch nicht mehr alle Tassen im Schrank, wie offensichtlich wollte er es für Fremde noch machen uns zu entdecken? Ich trinke demonstrativ einige Schlucke Bier, verziehe angewidert mein Gesicht aber schlucke die Brühe schlussendlich. Die erste Flasche habe ich schließlich auch geschafft, also Augen zu und durch. Ralf ignoriere ich, als er zu mir zurückblickt. »Wieso kaufst du ständig dieses Pisswasser?«, frage ich um der Konversation willen. Paul lacht nur, sagt aber nichts und geht weiter. »Weil es billig ist«, höre ich Ralf flüstern. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Ralf eigentlich nicht dabei sein will, heute Nacht. Nach weiteren zwanzig Minuten Fußmarsch spüre ich meine Füße nicht mehr und der Alkohol macht sich in meinem Kopf bemerkbar. Weil vor uns ein Zaun in Sichtweite kommt, werden wir langsamer und scharen uns um Paul, der seine kleine Taschenlampe anmacht und sich eine weitere Zigarette ansteckt. »Wie wollen wir denn da drüber kommen?«, wundert sich Michael und sieht in die Runde, als Paul eine weitere Runde Pisswasser schmeißt. Gute Frage, denke ich. Ich werde definitiv nicht über einen Zaun aus Stacheldraht klettern, am Ende reiße ich mir noch an einer Stelle etwas auf, wo ich definitiv keine Schmerzen haben möchte. Mir reichen schon meine monatlichen Beschwerden. Wir trinken und sehen uns gegenseitig fragend an. »Schubi, den Bolzenschneider bitte«, grinst Paul, reicht ihn als Antwort, an Michael weiter und sieht mich eindringlich an, als ich die Letzte bin, die noch Bier in ihrer Flasche hat. »Trink etwas schneller, wir brauchen alle Flaschen.« Weil er stresst und das Bier immer noch nicht schmeckt, drehe ich die Flasche eiskalt um und kippe den restlichen Inhalt einfach auf den Boden. Die aufgeweichte Erde nimmt die zusätzliche Flüssigkeit gierig auf und verspritzt sie in alle Richtungen. Am meisten aber auf meine neuen Stiefel. »Bitte schön«, lächle ich und halte Paul die Flasche hin und ignoriere die Tatsache, dass das Leder der Stiefel später mehr als nur verklebt sein wird, da ich sie eh nie wieder anziehen werde. Die Blicke der Jungs sind es wert, von Paul leicht getreten zu werden. Ich trete grinsend zurück, bis Paul drohend seine Faust hebt. »Richtig so, Romy«, lacht Ralf leise, als Paul damit beginnt, Molotowcocktails herzustellen und sich dafür konzentrieren muss. Ich ziehe mir mit zittrigen Fingern meine Handschuhe an, die irgendwie nass geworden sind und gehe etwas auf Abstand. Ich habe nämlich keine Lust, mit drauf zu gehen, wenn Paul mit seiner Zigarette einen Flächenbrand verursacht und uns als Erstes abfackelt. Ralf folgt mir schweigend. Als der letzte Molotowcocktail gebaut ist, schneidet Michael das Loch im Zaun fertig und kommt zurück zu uns. Paul sieht in die Runde und schnippt seinen Zigarettenstummel zum Glück nicht in die Richtung der Mollis weg. Meine Aufregung steigt und nur mit Mühe kann ich meine Hände ruhig halten, in meinen Jackentaschen. »Wir schlagen die Scheiben ein, werfen die angezündeten Mollis rein und verdünnisieren uns. Sobald wir durch dieses Loch raus sind, teilen wir uns auf und treffen uns in zehn Stunden bei der Brücke wieder.« Die Aufregung unter den Jungs steigt ebenfalls und mein Magen verknotet sich unangenehm und überlegt, ob er sich übergeben soll. Ich starre zu dem Loch im Zaun. Bald werde ich mein erstes Asylantenheim abgefackelt haben, denke ich voller Stolz. Stolz weil, Paul mir diese Aktion zutraut. Stolz, weil ich fünf der Mollis gereicht bekomme und selbst werfen darf. Ich freue mich schon auf die Freudenfeier, die immer nach solchen Aktionen, in einem Versteck stattfindet. Ich bin noch nicht lange in dieser Gruppe, doch seit mich diese Kanaken in der Schule verprügelt hatten, war für mich klar, welcher Gruppierung ich mich anschließen wollte. Weshalb ich nach dem Krankenhausaufenthalt, in der großen Pause, direkt auf Hannes zu ging, von dem ich wusste, dass er Kontakte hatte. Bei einem Konzert kam ich dann mit Paul in Kontakt und wenige Tage später zusammen. So landete ich in dieser Gruppe und fand schnell Anschluss unter den Kameraden. Ich habe schon einige Freudenfeiern erlebt, aber noch nie an einer Aktion teilgenommen, die solch einer Feier zuvorkam. Premiere also. Wir klettern nacheinander durch das Loch im Zaun und dann geht alles ganz schnell. Parolen schreiend rennen wir über den Hof, schlagen Scheiben ein und die Jungs werfen einen Molli nach dem anderen in das Gebäude hinein, ich traue mich irgendwie nicht, obwohl es mir in den Fingern juckt, einen anzuzünden und zu werfen. Das Adrenalin rauscht in meinen Ohren, als bei dem Fenster, wo ich als Nächstes die Scheibe einschlagen will, das Licht angeht. Ich starre direkt in braune Augen und vergesse alles um mich herum, bis Paul neben mir auftaucht, mich anschreit und weiter zieht - ohne dass ich das Fenster einwerfe und er oder ich einen Molli hinterherschicken. Brauchen wir aber auch nicht, die Anderen haben gute Arbeit geleistet und neben unseren hastigen Schritten höre ich panische Schreie aus dem Haus und Jubelrufe von unseren Kameraden. Paul und ich sind die Letzten, die durch das Loch im Zaun den Rückzug antreten. Ich lasse die unbenutzten Mollis in Pauls Rucksack gleiten, der einen Moment später die Runde herum geht. Nur Ralf hat eine gleiche Menge an ungenutzten Mollis, vorzuzeigen. »Wir treffen uns bei der Brücke, denkt daran, in zehn Stunden, jetzt beeilt euch und geht über einen Umweg heim.« Mit diesen Worten küsst er mich, schultert den Rucksack und lässt uns stehen. Als ich den Rauch rieche und den Regen auf meiner Haut spüre, bemerke ich, dass mir meine Kapuze vom Kopf gerutscht ist. Ich denke an die braunen Augen und dass die Augen sich definitiv an meine Haarfarbe und die markante Frisur, ein Undercut, erinnern werden. Scheiße. Eilig laufe ich völlig planlos los, als ich die Letzte bin, die noch am Zaun steht und finde mich zwei Stunden später in meinem Zimmer wieder, welches ich seit meiner Geburt in dem Reihenhaus meiner Eltern bewohne. Meine drei Jahre jüngere Schwester Larissa steckt neugierig ihren Kopf in mein Zimmer. »Wo kommst du denn kurz nach drei Uhr her? Puh, hast du geraucht? Du stinkst, als wärst du in einen Aschenbecher gefallen.« »Verpiss dich, Lari«, fauche ich und drücke meine Zimmertür eilig zu. Gott, ich musste diese Klamotten loswerden. Mich bis zur Unterwäsche entkleidend, werfe ich alles in einen Plastikbeutel und reiße mein Fenster weit auf, obwohl mir noch immer arschkalt ist, in der Hoffnung den Geruch zu vertreiben. Zusätzlich sprühe ich mein ganzes Deo leer und liege wenig später mit Kopfschmerzen ob des penetranten Deogestanks auf meinem Bett und kann nur noch an die schönsten braunen Augen denken, die ich je gesehen habe und wegen denen ich meinen Einsatz verpasst hatte. Fuck, Paul wird mich lynchen. Sieben Stunden später ist unser Anschlag überall in den Medien und der Stolz, der mir in der Nacht die Brust geschwelt hat, verkriecht sich unter meinem Bett. Zwanzig der Asylanten wurden verletzt, weitere Zehn sind an den Folgen einer Rauchgasvergiftung im Krankenhaus gestorben. In meinem Magen hat sich ein dicker Knoten gebildet. Ich habe keinen Moment an die Folgen gedacht, als ich vergangene Nacht mit den Anderen mitgegangen bin und nur den Hass gespürt, der sich in mir tummelt, seit mich diese Kanaken ins Krankenhaus geprügelt haben. In mir sträubt sich alles, zur Brücke zu gehen, doch ich weiß, dass ich jetzt nicht einfach aussteigen kann, weshalb ich mir den Plastiksack mit meinen Sachen schnappe, die Klamotten in die Wäsche stecke und die Waschmaschine anwerfe, bevor ich der Gruppe an der Brücke meine Aufwartung mache. »Romy«, nickt mir Ralf zu, als ich ihm eine leere Bierdose in die Eier kicke, die auf dem Boden herumlag und ihn frech ansehe. Unter diesen Leuten muss man stark sein. Darf keinerlei Schwäche zeigen. Die Sache mit den Kanaken hing mir schon nach, ich brauche keinen weiteren Angriffspunkt, obwohl ich mir den wohl vergangene Nacht selbst erarbeitet habe, wie ich feststelle, als Paul mich wütend ansieht. »Auf der Titelseite«, begrüßte Paul mich beinahe schreiend und hält mir die Tageszeitung hin. »Deine verdammten Haare haben es in die Schlagzeile der Titelseite geschafft!« Mit diesen Worten packt Paul mich und Uschi, Schubis On/Off-Freundin holt eine Schere hervor. Eine Stunde später sitze ich mit einer glatt rasierten Glatze unter der Brücke und fühle mich schäbig, weil es keine Freudenfeier gibt und mir niemand ein Bier zuschiebt, obwohl das Asylantenheim erfolgreich gebrannt hat. Verdammte braune Augen! Meine Eltern toben, als ich zum Abendessen nach Hause komme. Besonders weil ich ein paar Tage zuvor ziemlich viel Geld beim Friseur gelassen habe für den Undercut. Kapitel 2: Kapitel 1. --------------------- Sobald der Mercedes steht, werfe ich die Autotür frustriert auf, steige aus und knalle die Tür mit purer Absicht fester zu. Sie soll meine Wut spüren, weshalb ich danach mit meinen Stiefeln, die vorne an der Spitze Stahlkappen eingearbeitet haben, mit aller Kraft, provokant gegen das Blech von Mamas Mercedes trete. Natürlich sind es meine alten Stiefel. Die Anderen habe ich, einen Tag nach der Asylanthemheim-Aktion, in die Tiefen meines Kleiderschranks versenkt, nachdem ich sie mit Mühe geputzt hatte. Klebriges Bier und Schlamm, sind nicht meine Freunde geworden. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Mama ebenfalls aussteigt und meine Wutattacke unkommentiert lässt. Als wir uns am Kofferraum treffen, sieht sie mich bittend an. »Romy, es ist nur dieses eine Jahr«, redet Mama mir gut zu und versucht, mich zu beruhigen, während sie meine Reisetaschen aus dem Kofferraum zerrt. Nein, kein Urlaub, meine herzallerliebsten Eltern, stecken ihre schwer erziehbare, missratene Tochter für ihr letztes Schuljahr, bevor der Ernst des Lebens beginnt, in ein Internat. Ein katholisches Mädcheninternat. »Fick dich, Mama«, schreie ich ihr entgegen, drehe mich um und laufe die Auffahrt, die wir eben hinauf gefahren sind, hinab. Wo ich hin will, weiß ich nicht, nur dass ich nicht hierbleiben möchte. Wie können sie mir das antun? Sie haben mich mitten im neuen Schuljahr - okay das neue Schuljahr ist gerade einmal zwei Monate alt - von meiner alten Schule abgemeldet und hier angemeldet, ohne mich auch nur nach meiner Meinung zu fragen. »Romy, bitte«, ruft Mama mir hinterher. Nach einigen Schritten bleibe ich schließlich mit hängendem Kopf stehen, weil ich weiß, dass ich meine Eltern gerade schlechter darstelle, als sie wirklich sind. Denn ich weiß ganz genau, dass sie mich ungern auf dieses Internat schicken. Beinahe bereue ich meine bösen Worte, die ich während der Autofahrt an Mamas Kopf geworfen habe, ohne auf ihre Gefühle zu achten. Die Idee mit dem Internat kam nicht aus dem Ideenfundus meiner Eltern, sondern sie ist eine Auflage des Richters und des Jugendamts, weil ich die letzten zwei Jahre in meiner alten Schule zu viel Blödsinn gemacht habe und letzten Monat mehrfach von der Polizei nach Hause gebracht wurde. Am ausschlaggebenden war eine von mir verursachte, schwere Körperverletzung, an einem Türken. Uschi und ich haben den Kerl gemeinsam so rund wie einen Buslenker geklatscht, weil er uns blöd angemacht hat und uns an Stellen berühren wollte, die für Türkenabfall tabu sind. Die Polizei und das Stück Scheiße waren nicht unserer Meinung, dass er sich die gebrochene Nase und das angeknackste Handgelenk selbst verdient hat. Hätte er uns eben nicht angraben sollen! Weil sich eine junge, engagierte Sozialhelferin eingeschalten hat, konnten wir uns aber außergerichtlich mit dem Opfer, bei einem Täter-Opfer-Ausgleich einigen. Ich drehe mich um, als Mama ein weiteres Mal meinen Namen ruft und mein Smartphone vibriert, das eine Nachricht von Paul ankündigt. ›Romy, das geht so nicht weiter. Du bist wohl doch noch zu jung für mich, mit deinen fünfzehn Lenzen. Lass uns Schluss machen.‹ Perfektes Timing, Arschloch! Vermutlich hat er von den Jungs spitz bekommen, dass ich nicht mehr täglich da sein kann. Gott, wenn ich Uschi erzähle, dass ich für Paul doch die Beine breit gemacht habe, obwohl sie mir davon abgeraten hat, wird sie mir einen Vogel zeigen. Ich wollte nicht länger warten. Ich wollte endlich verstehen, was alle so toll an Sex finden und diese Erinnerung mit mir nehmen, damit ich an ihr zerren könnte, wenn ich Paul arg missen würde, weshalb ich ihm gestern nachgegeben habe, als er mir wieder einmal mit Sex in den Ohren lag. Mit dem Wissen von heute wäre ich besser nicht darauf eingegangen. Besonders toll war es nämlich auch nicht. Es hat wehgetan und er war viel zu schnell fertig gewesen. Allerdings heißt es ja, dass das erste Mal nie schön ist. Ich fühle mich um die Zeit betrogen. Fast ein Jahr war ich mit Paul zusammen. Ein Jahr, in dem er mir vormachte, ich sei die Liebe seines Lebens. Ein Jahr, in dem ich dachte, er sei die Liebe meines Lebens ... Wütend stopfe ich mein Smartphone in meine Hosentasche und fahre mir durch meine blonden Haare, die endlich wieder länger als fünf Zentimeter sind und mir mit Haargel eine ganze Palette an neuen Frisuren eröffnen, anstatt auszusehen, wie ein Chemopatient. Fünfzehn Lenzen, pah, mittlerweile sechzehn Lenzen, lieber Paul. Mein Geburtstag ist heute im allgemeinen Durcheinander untergegangen und Paul hat sich nicht daran gestört. Vermutlich hat er ihn sowieso vergessen. »Nur das eine Jahr, bis du deinen Realschulabschluss in der Tasche hast«, beginnt Mama abermals und nimmt meine Hand. Wann war sie mir so nah gekommen, wundere ich mich, lasse mich aber widerstandslos von ihr zurück zum Auto ziehen und nehme meine beiden Reisetaschen schließlich schicksalsergeben vom Boden hoch. Mama lächelt erleichtert und geht zielstrebig die Stufen zu einem kleinen Torbogen hoch, nachdem sie sich noch einmal versichert hat, dass ich ihr folge, und drückt eine schwer aussehende Holztür nach innen. Ich folge ihr seufzend und werde direkt von einem Mädchen in meinem Alter erwartet, welches mich von Mama ablenkt, die einfach hinter einer Tür verschwindet. »Du bist Romy?«, fragt sie mich und mustert mich von Kopf bis Fuß. Ich deute ein Nicken an und umfasse meine Taschen fester. »Ich bin Marina. Ich soll dich auf dein Zimmer begleiten und dir alles zeigen, falls du dich schon umsehen willst, während deine Mutter sich mit der Direktorin um die Formalitäten kümmert.« Weil Mama weg ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dieser Marina zuzuwenden, die mich an eine graue Maus erinnert. Blass, dunkler Rock, graue Bluse und langweilige, schulterlange, schwarze Haare. Natürlich könnte ich auch einfach auf Mama warten, aber ich habe keinen Bock auf Stress, bevor nicht einmal der erste Tag überstanden ist. Marina hat mein Zögern und meine Blicke zu der Tür, hinter die Mama verschwunden ist wohl gemerkt, denn sie sagt: »Komm, sobald wir mit dem Rundgang fertig sind, sollte auch deine Mutter fertig sein. Soll ich dir eine Tasche abnehmen?« »Es geht schon«, erwidere ich und lächle Marina falsch an. »Außer wir müssen mehrere Kilometer laufen. In welche Klasse gehst du?«, frage ich sie und bete innerlich darum, dass sie nicht in meine Klasse geht. Ich mag keine Ausländer, aber beinahe genauso schlimm sind graue, Kirchenfanatiker und diese Marina sieht verdammt nach einer gläubigen Christin aus, die Sex vor der Ehe ablehnt. Über meinen Gedanken amüsiert, muss ich mir ein Lachen verkneifen und folge Marina langsam aus dem Foyer. Was sie wohl über mich denken würde, wenn ich ihr sage, dass ich meine Jungfräulichkeit gestern aus dem Fenster geworfen habe? Habe ich mich versündigt, oh graue Marina? Weil Lachen blöd rüber gekommen wäre, verkneife ich es mir. »Ich gehe in die Neunte. Die Direktorin sagte, du bist eine Zehntklässlerin?« »Ja«, nicke ich und erklimme an ihrer Seite die Treppe. Schweigend lasse ich mich durch mehrere Gänge führen, bis Marina endlich vor einer unscheinbaren, dunklen Holztür stehen bleibt. »Das hier und der Gang, der über diesem liegt, sind die Internatswohnräume für die Oberstufe. Alles unter diesem Gang, bewohnt die Unterstufe. Hier teilt man sich mit mindestens einem anderen Mädchen ein Zimmer. Weil ihr in der Oberstufe weniger Schüler seid, hast du aktuell noch keine Mitbewohnerin und bist somit allein. Kann sich aber jederzeit ändern, wenn wir einen Neuzugang bekommen.« Marina öffnet die Tür und tritt zur Seite. Es ist ein kleines Zimmer, schlicht eingerichtet und irgendwo in den Siebzigern oder Achtzigern stecken geblieben, wenn ich mir die Tapete genauer anschaue. Neben der Tür, auf rechter Hand, ein Kleiderschrank, links ein kleines Waschbecken, mit Spiegel. Unter dem einzigen Fenster steht ein Schreibtisch mit Stuhl und rechts und links davon jeweils ein Bett. »Nett«, kommentiere ich, als mein Blick auf das Kreuz über der Tür fällt und ich meine Taschen auf das rechte Bett fallen lasse. »Was ist mit einem Badezimmer?« »Insgesamt haben wir acht Stück. Auf jeder Etage findest du Zwei. Brauchst du einen Moment allein?« Ich schenke dem Kreuz einen abfälligen Blick, bevor ich meinen Kopf schüttel und wieder zu Marina auf den Flur trete. Sie reicht mir einen Schlüssel, ich schließe das Zimmer ab und lass mich von ihr durch das Internat und einen kleinen Teil der Schule führen. »Jedes zweite Wochenende dürfen wir nach Hause fahren«, erklärt Marina mir, als wir nach einer halben Stunde wieder in dem Foyer ankommen, wo mich Mama mit ihr allein gelassen hat. »Deine Mutter sollte eigentlich gleich wieder heraus kommen«, durchbricht Marina die unangenehme Stille. Ich habe einfach keine Idee, was ich mit der quatschen soll, weshalb ich meine Fresse halte. »Ich verabschiede mich dann mal von dir. Abendessen gibt es in zwei Stunden. Ich schicke dir Jemanden, der dich abholt.« Ich nicke nur und so lässt mich Marina im Foyer stehen. Als die Schritte von Marina verhallt sind, höre ich nichts mehr, außer das gelegentliche Knarzen des alten Holzes, das uns im ganzen Internat umgibt. Das Gebäude war einst ein Jagdschloss für Adlige, nach dem Krieg lange Zeit ein Kinderheim und seit einigen Jahren ein katholisches Mädcheninternat. Genervt von dem Knarzen, krame ich meine Kopfhörer aus meiner Hosentasche und stecke sie an mein Smartphone an. Mit der Musik von Sleipnir, Stahlgewitter und den Böhsen Onkelz, ist es gleich viel leichter, sich nicht zu langweilen. Wenigstens dafür bin ich Paul dankbar. Denn die zuerst genannten Bands, habe ich durch ihn, kennen und lieben gelernt. Wie kann er mir das nur antun? Warum muss er an meinem Geburtstag mit mir Schluss machen? So ein verdammtes Arschloch. Als eines unserer gemeinsamen Lieblingslieder erklingt, muss ich mich zusammenreißen, damit ich nicht anfange zu weinen. Nach einer halben Ewigkeit kommt Mama wieder durch die Tür. Natürlich genau in dem Moment, als ich an der Wand, hinab auf den Boden gerutscht bin. Sie stemmt ihre Arme in die Hüfte und schaut mich ernst an. »Romy, Liebes, sitz hier nicht herum, wie die Obdachlosen in der Stadt. Die Direktorin kommt jeden Moment raus. Steh schon auf«, herrscht sie mich an. »Los, los!« Mama bückt sich, packt mich an meinem Handgelenk und zerrt so lange daran, bis mir die Kopfhörer aus den Ohrmuscheln rutschen und ich mich genervt von ihr in den Stand ziehen lasse. »Man, lass mich doch«, knurre ich und sie sieht mich durchdringend an. »Mach diese schreckliche Musik aus, Kind.« Bevor Mama noch etwas sagen kann, geht die Tür ein weiteres Mal und die Direktorin, in einem Habit gekleidet, kommt heraus. Oh bitte, eine Nonne als Direktorin? Die Frau lächelt mich an und hält mir ihre Hand hin, die ich ignoriere und stattdessen auf meine Stiefelspitzen hinabsehe. »Du bist also Romy. Hat dir Marina alles gezeigt?« Ich stimme ihr brummend zu. »Wir freuen uns, dich in unserem Internat begrüßen zu dürfen. Ich bin Ordensschwester Norika Kramer. Du kannst mich Frau Kramer oder Schwester Norika nennen. Dann verabschiede dich schön von deiner Mutter. Danach können wir in meinem Büro besprechen, wie es für dich bei uns weiter geht. Klopfe einfach an diese Tür, wenn du bereit bist«, lächelt Schwester Norika leicht, verabschiedet sich von Mama und verschwindet wieder in ihr Büro. Als Mama und ich hinaus auf den Parkplatz gehen wollen, rempelt mich ein fremdes Mädchen mit braunen Haaren, welches förmlich durch den Torbogen ins Foyer geschossen kam, schroff an. Die Stelle an der mich ihre Reisetasche gestoßen hat, schmerzt höllisch. »Pass doch auf«, zische ich, reibe vorsichtig über die schmerzende Stelle an meinem Unterarm und für einen kurzen Moment begegnen sich unsere Blicke. Im Dämmerlicht des Foyers kann ich nicht viel erkennen, nur dass sie überrascht auf mich wirkt, als sie mich ansieht. Sie hält inne, starrt von mir zu Mama und geht statt zu den Treppen, zur Bürotür der Direktorin. Warum mir plötzlich ein eiskalter Schauer, den Rücken hinab kriecht, als das Mädchen das Büro betritt, kann ich nicht festmachen. Als ich Mama kopfschüttelnd nach draußen zu ihrem fetten Mercedes folge, habe ich das Mädchen schon vergessen und wünsche mir aus ganzem Herzen, mit Mama mitfahren zu können. Im Moment will ich überall sein, nur nicht hier, an diesem Ort, der sich mitten im Nirgendwo befindet, wo ich nun ein ganzes Jahr lang leben soll. Wie soll ich dieses Jahr überstehen? Fernab von meinen Freunden, von Paul, von unseren Demos gegen Merkels Flüchtlingspolitik. Weit entfernt von den Kameraden, mit denen ich immer gerne losgezogen bin, um Ausländer zu klatschen. Allein, ohne Mama, Papa und Lari. Mama schlingt hilflos ihre Arme um meinen Körper, als ich neben ihr anhalte und murmelt mir nichtssagende Floskeln ins Ohr. Ich spüre, wie sich mein Magen unangenehm zusammenzieht, sage aber nichts, als mich eine riesige Welle, bestehend aus Kummer, droht zu überschwemmen. Als Mama mich loslässt, zieht sie zwei Geldscheine aus ihrer Tasche und steckt sie mir in die Brusttasche meines schwarzen Hemds, berührt mich sanft an der Wange, wendet sich ab und steigt in den Mercedes. Sie lässt das Fenster hinab, beugt über den Beifahrersitz und sieht mich zwinkernd an: »Gib nicht alles auf einmal aus. Deine erste Heimfahrt ist erst in vierzehn Tagen.« Sie winkt, startet den Motor und fährt weg. Lässt mich alleine zurück. Ich kann mich nur sehr langsam dazu bewegen, zurück ins Foyer und ins Büro der Direktorin zu gehen. Viel lieber würde ich nach oben gehen, meine Taschen holen und weglaufen. Genügend Geld hätte ich ja, um mir ein Ticket nach Hause zu kaufen. Jedoch weiß ich aus ziemlich sicherer Quelle, dass mich das Jugendamt dann komplett aus meiner Familie entfernen und an einen viel schlimmeren Ort bringen würde, weshalb ich anklopfe und das Büro der Direktorin betrete. Frau Kramer blickt mich so mitfühlend an, dass ich am liebsten kotzen möchte und fordert mich auf, mich in einen der Sessel vor ihrem Schreibtisch zu setzen, als ich die Tür hinter mir ins Schloss gedrückt habe. »Also Romy«, beginnt Frau Kramer und sieht auf einen Stapel Dokumente hinab, die auf ihrem Schreibtisch liegen. »Körperverletzung, Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Beleidigungen gegen den Lehrkörper und die Ordensschwestern wollen wir hier nicht haben.« Frau Kramer blickt von ihrem Dokument auf und sieht mich ernst an. »Genauso wenig Mobbing, abfällige, rassistische Äußerungen und Angriffe gegen Schülerinnen, die einer anderen Nation angehören oder eine andere politische Einstellung haben, wollen wir hier ebenfalls nicht haben. Verstanden? Jede Zuwiderhandlung werde ich direkt an das Jugendamt und den Richter weiterleiten, der für dich zuständig ist.« Frau Kramer siebt mir ein Blatt zu und deutet mit ihren Finger darauf. »Dort stehen unsere Hausregeln und deine Rechte und Pflichten drauf. Jeglicher Verstoß dagegen wird mit einer Strafe geahndet. Je nach Verstoß kann das eine Woche Küchendienst, Hausmeisterarbeiten oder Putzdienst bedeuten. Das natürlich nur als Beispiel. Wir sind recht gut im Strafen ausdenken. Sobald du alles gelesen hast, brauche ich von dir eine Unterschrift, dass du unsere Regeln verstehst und akzeptierst. Weil du ein besonderer Fall bist«, fügt sie in einem seltsamen Ton hinzu, »habe ich ein paar Extraregeln auf die Rückseite geschrieben, die schlimmer geahndet werden, wenn du dagegen verstößt.« Mehr als skeptisch nehme ich das Blatt an mich und lehne mich zurück. Ich merke schnell, dass das Leben im Internat kein Zuckerschlecken werden wird. Besonders, als ich die Extraregeln gelesen habe. Ich habe mich schon bei ihrer Ansprache gewundert - aber was in Odins Namen? Woher weiß die von meiner politischen Einstellung? Nun gut. War ja irgendwo klar, dass man versuchen würde meine Ansichten, zu überarbeiten, damit ich wieder für den Mainstream tauglich werde. Dann darf ich halt keine rechten Parolen herum posaunen und so lange mir die Affen hier nicht krumm kommen, kann ich auch meine Fäuste im Zaum halten. Zum Glück kann niemand meine Gedanken unter Strafe stellen, denn wie heißt es so schön? Die Gedanken sind frei und an den freien Wochenenden ist genügend Zeit, Dampf abzulassen. Sie reicht mir einen Kugelschreiber, als ich sie mit einem hoffentlich nichtssagenden Blick ansehe und eine Schreibbewegung mit meiner Hand mache. Ich nehme den Stift, unterschreibe und Frau Kramer reicht mir eine exakte Kopie. »Für dich, damit du die Regeln regelmäßig nachlesen kannst.« Ein ungewolltes »Danke«, rutscht mir von den Lippen, was mir einen überraschten Blick von Frau Kramer einbringt. Was denkt die denn, dass ich eine verzogene Göre bin, die keine Höflichkeitsfloskeln beherrscht? »Gut, dann habe ich hier noch deinen Stundenplan, Essensmarken für das Mittagessen in der Schule und deine Schulbücher«, sagt Frau Kramer, wühlt unter ihrem Tisch und in einigen Schubfächern und reicht mir einen Stundenplan und die Essensmarken, bevor sie auf einen Plastikbeutel neben der Bürotür deutet, wo vermutlich die erwähnten Bücher drin sind. »Schreibzeug, Blöcke und anderes Material kannst du hier im Ort kaufen oder dir mit Hausarbeit verdienen, wenn du kein Geld dabei hast.« Na ein Glück hatte mir Mama gestern noch einen Jahresvorrat an Materialien eingepackt, denke ich und spüre einen Stich, weil sie mich allein gelassen hat. »Aufgestanden wird um 6:00 Uhr, danach folgt das Morgengebet und um 7:00 Uhr Frühstück. Danach brecht ihr geschlossen zur Schule auf, wo gegen 14:00 Uhr der Unterricht vorbei ist und ihr euch zum Nachmittagsgebet in unserer Kapelle einzufinden habt, danach folgt direkt das Vesper und die Hausaufgabenzeit. Danach habt ihr Freizeit. Gegen 19:00 Uhr findet das Abendessen statt. Um 20:00 Uhr dann das Abendgebet und spätestens um 22:00 Uhr müsst ihr alle auf euren Zimmern sein. Wann du schlafen gehst, ist uns egal, nur denke daran, dass du am Morgen wieder früh raus musst.« Darf ich bitte kotzen gehen? Wer betete denn bitte so viel? Und die Uhrzeit zu der Aufgestanden wird - ein Strick bitte für mich notorische Langschläferin. Was hat mir das Jugendamt da nur eingebrockt? »Ich weiß«, lächelt mich Frau Kramer nachsichtig an. »Für den Anfang ist das etwas viel, aber ich bin mir sicher, wenn du dich an die Regeln hältst, wirst du dich sehr schnell in unserem Haus wohlfühlen.« Klar und in einem Monat gehe ich gemeinsam mit Typen der Antifa auf eine Demo gegen Nazis und küsse Bimbos. Am liebsten würde ich laut lachen, doch ich will mich nicht schon am ersten Tag bei der Frau unbeliebt machen, wobei ich vermute, dass ich das schon geschafft habe mit meiner politischen Einstellung. »Darf ich jetzt gehen?« »Findest du deinen Weg in dein Zimmer?« Ich nicke, steh auf und greife nach der Tüte mit den Büchern. Sie wünscht mir noch einen schönen Abend, ich deute ein Kopfnicken an und gehe aus dem Büro. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke und durch die Gänge, zu meinem neuen zu Hause, für eine quälend lange Zeit, schleiche, frage ich mich, ob man mir wegen meiner politischen Einstellung ein Zimmer ohne Zimmergenossin gegeben hatte. Eine nette Vorstellung, vielleicht bin ich ja abschreckend genug, dass ich das Jahr in völliger Einsamkeit hinter mich bringen kann, auch wenn ich mich immer noch frage, woher die von meiner politischen Einstellung wissen, denn Mama weiß davon nichts und in dem Bericht vom Jugendamt sollte das auch nicht stehen. Wenn die so genau Bescheid wissen, kann es natürlich auch sein, dass ich am Ende der ersten Woche im Krankenhaus liege, weil mich wer weiß was für Kanakenweiber dahin geprügelt haben. Ich seufze leise, als ich die Büchertüte achtlos auf den Schreibtisch sausen lasse und dieser, ob des Gewichts leise ächzt. Jetzt galt es zu warten, dass man mich zum Abendessen abholte, wenn man mich denn holte, dachte ich und war froh über den Proviant, den ich mir vorausschauend eingepackt hatte, weil ich eigentlich schon längst auf der Flucht sein wollte. Der Kissenbezug, auf den ich meinen Kopf lege, riecht frisch, bemerke ich, als ich darum kämpfe, nicht in Tränen auszubrechen. Tränen, Paul würde mich dafür verachten, dass ich meiner Mutter überhaupt eine Träne hinterher weine, ist sie für ihn doch eine Hexe und verkappte Linksanhängerin. Ich weiß noch wie lustig er es fand, als herauskam, dass meine Eltern Die Linke unterstützten. Das war kurz nach der Nacht, als wir das Asylantenheim ausgeräuchert haben. An diesem Abend hat er mir jedes Bier spendiert, weil ich so gut zu seiner Belustigung beigetragen habe. Ich war nie stolzer, mich gegen die politische Ansicht meiner Eltern zu wenden, als an diesem Abend. Eine gefühlte, halbe Ewigkeit später klopft es an meiner Tür. Ich atme tief ein und verwerfe die Idee, so zu tun, als würde ich schlafen. Mit wenig Elan springe ich aus dem Bett und öffne die Tür. Am liebsten will ich sie wieder zu werfen. Vor mir steht eine Negerin, die ausschaut, als wäre sie gerade wo ganz anders. Man macht sich eindeutig lustig über mich, denke ich zerknirscht und greife nach der Türklinke, als die Negerin sich ein Herz zu fassen scheint, mich breit anlächelt und ihre Hand ausstreckt. »Naomi und du?« »Romy«, murre ich, ignoriere allerdings ihre Hand, deren Handinnenfläche bemerkenswert weiß ist und trete aus meinem Zimmer heraus. Naomi wendet sich zum gehen um, als ich meine Tür abschließe. »Nach dem Abendessen folgt direkt das Abendgebet. Weißt du, wo die Kapelle ist, oder soll ich dich hinbringen?« »Nein.« »Nein du weißt es nicht, oder nein ich soll dich nicht hinbringen?« Ich sehe, wie ein Lächeln an Naomis Lippen zupft. »Nein, ich weiß es nicht«, erwidere ich, obwohl mir Marina den Weg vage beschrieben hatte. In der Abenddämmerung sieht alles irgendwie anders aus, weshalb ich schon nach zwei Gängen nicht mehr weiß, wo wir uns befinden. Naomi verspricht mir, mich nach dem Essen zur Kapelle zu begleiten. Sieht mich allerdings nicht mehr an, als sie die Tür zum Speisesaal öffnet. »Ganz hinten, nah beim Tisch der Ordensschwestern ist noch ein freier Platz«, raunt sie mir zu, dann ist sie verschwunden. Ich ignoriere die Blicke, die mir durch den Raum folgen, als ich zu besagtem Platz gehe und seufze lautlos, als ich mich neben zwei Inderinnen, auf dem Stuhl fallen lasse und versuche, niemanden anzusehen. Man versuchte mich definitiv, zu provozieren. Nachdem ich mich gesetzt habe und die Ordensschwestern den Speisesaal betreten und sich ebenfalls gesetzt haben, folgt sehr schnell ein Tischgebet, welches an allen Tischen gemurmelt wird. Danach bricht im Saal eine allgemeine Gefräßigkeit aus, die mich mitreißt. Ich schaufle mir Tomaten, Salat und zwei Scheiben Brot auf den Teller, als ich nach der Butter greifen will, streift mich die Hand der Inderin, die wohl den selben Gedanken wie ich hatte. »Entschuldige«, höre ich sie murmeln. »Alles gut«, erwidere ich flüsternd. Ich stelle die Butter zwischen uns und hebe mit meinem Messer etwas Butter auf meinen Teller. »Ich bin Rati und meine Schwester, die neben dir sitzt heißt Uma«, flüstert Rati, von meinen wenigen Worten scheinbar angespornt. »Romy«, stelle ich mich seufzend vor, schneide meine Tomate in Scheiben und lege sie mir aufs Brot. Demonstrativ beiße ich von der belegten Brotscheibe ab und verhindere so vorerst die Fragen, die Rati sicherlich gestellt hätte. In dieser Manier geht es das ganze Abendessen lang weiter, wobei ich die Blicke der Anderen deutlich spüre, auch wenn ich niemanden zu mir schauen sehe, wenn ich von meinem Salat aufsehe. Als der Speisesaal immer leerer wird, und auch die beiden Inderinnen verschwunden sind, beende ich mein Mahl und stehe ebenfalls auf. Als ich den Ausgang anpeile, gesellt sich ein Mädchen zu mir, dass von der Hautfarbe her, erfrischend normal auf mich wirkt, wenn ich den bunten Irokesenschnitt missachte. »Romy, ja?« »Denke schon«, erwidere ich und frage mich, ob es hier keine Kleidervorschrift gibt, als ich an ihr hinab sehe. Rot-schwarzes Bandshirt, darüber eine schwarze Weste mit Stickerei, kurze Jeansshorts und darunter eine zerrissene Strumpfhose und an den Füßen alte Dr. Martens. Das ganze Outfit schreit Punk und ich ziehe fragend die Augenbrauen nach oben. Da wollte mich definitiv jemand testen. Der Buschfunk funktionierte hier scheinbar blenden. »Ich bin Klara, Naomi bat mich, dir zu zeigen, wie du zur Kapelle kommst.« Ich lache leise und lege den Kopf in den Nacken, bevor ich Klara direkt ansehe. »Bestehe ich den Test, oder bin ich schon durchgefallen? Ich habe Auflagen, sag das deinen Freunden, ich werde also nicht losgehen und dir eine aufs Maul hauen, nur weil du eine andere Gesinnung hast oder Naomi, Rati und Uma einer anderen Nationalität angehören.« »Wer sagt, dass wir deine Gesinnung gut finden und wir dir keine aufs Maul geben wollen?«, fragt Klara und ich sehe, wie sie ihre Fäuste ballt und ihre Augen funkeln. »Niemand, aber wer redet, der tut nichts«, lächle ich und gehe an Klara aus dem Speisesaal, betend, dass meine Einschätzung richtig ist. »Kommst du nun?« Als ich meine Zimmertür ins Schloss drücke, atme ich erleichtert aus und die ganze Anspannung, die ich in mir gefühlt hatte, als das Abendgebet vorbei war und ich zum wiederholten Male die Blicke gefühlt habe, fällt von mir ab, macht Platz für die Angst. Was würde das erst morgen in der Schule werden, wenn die Mädchen im Internat schon alle Bescheid wussten, was ich für eine war? Nicht das es mich stört, aber ich habe keine Lust in eine geplante Falle hineinzulaufen und dann die dumme Nazischlampe zu sein. Was war so verkehrt, sich seinem Vaterland verbunden zu fühlen? Kapitel 3: Kapitel 2. --------------------- Gerädert und mit müden Augen, sitze ich im Sekretariat, auf einem unbequemen Stuhl und sinniere darüber, ob die Stühle extra unbequem gebaut werden, damit die Leute nicht zu lange auf ihnen verweilen. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und starre zweifelnd an die Decke. Vielleicht hängen die unbequemen Stühle aber auch mit der Sekretärin zusammen, die aktuell so tut, als wäre sie sonst wie beschäftigt. Als ich das Sekretariat betreten habe, hat die Dame Solitär gespielt und genervt reagiert, als ich den Grund meiner Störung nannte. Also sind die Stühle vielleicht so unbequem, damit die Schüler sich schnell wieder verziehen und sie weiter ihre Karten klicken kann? Der Schroffheit nach, mit der sie mir ein paar Dokumente zuschob, mich auf die Wartestühle verwies und nach ihrer Vorgesetzten, der Frau Direktorin rief, lässt mich diese Variante glauben. Die Direktorin, welche dies unfreundliche Gehabe schon zu kennen schien, macht mir kurz ihre Aufwartung und erklärt mir, dass mich mein Fachlehrer gleich abholen kommt. Danach ist auch sie wieder verschwunden, lässt ihre Bürotür aber offen stehen. Damit sie mich beobachten kann? Ist das der Standard? Läuft es so ab, wenn man auf eine neue Schule wechselt? Sollte da nicht vorab ein Gespräch kommen? Ich kneife meine Augen zusammen und reiße sie wieder auf. Nur mit Mühe kann ich sie offen halten und ärgere mich, dass ich gestern Abend vergessen habe, meine Zimmertür abzuschließen. Denn heute Morgen, etwa drei Stunden nachdem ich endlich wieder eingeschlafen war, weil mich ein Albtraum aus dem Schlaf gerissen hatte, den ich immer mal wieder habe, seit der Asylantenheim-Aktion, war meine Nacht auch schon wieder vorbei, weil ich mit einem Eimer Wasser geweckt wurde. Angeblich, damit ich das Morgengebet nicht verschlafe, meinte Klara, bevor sie süffisant grinsend aus meinem Zimmer geeilt ist. Wie kam sie darauf, dass ich ihr das glauben würde, wo sie mir am Abend zuvor durch die Blumen sagte, dass es Leute hier gibt, die mir gerne eine aufs Maul geben würden? Beim Frühstück spüre ich die abfälligen Blicke wieder auf mir, die mir überall hin zu folgen scheinen. Keinen Moment bin ich mir sicher, unbeobachtet zu sein. Auch jetzt nicht, als ich mich darum bemühe, meine Müdigkeit, abzuschütteln. Da sind die Blicke der Sekretärin, die ihr Kartenspiel weiter spielen will und die flüchtigen Blicke der Direktorin, die sich vermutlich fragt, wo der Lehrer bleibt, der mich abholen soll. Als die Tür zum Sekretariat von außen aufgerissen wird, reiße ich meine Augen auf und atme erleichtert ein, als dort ein untersetzter Mann steht. Beinahe wäre ich eingeschlafen. »Kurt«, erklingt die Stimme der Sekretärin nervig hoch. »Endlich, wir dachten schon, du hast die neue Schülerin vergessen.« »Alles erledigt, oder muss sie noch mit Julia sprechen?«, fragt der Mann mit einer angenehmen Bassstimme und sieht mich lächelnd an, als die Sekretärin ihren Kopf schüttelt und sich wieder ihrem Solitärspiel zuwendet. »Du bist Romy Schneider? Ich bin dein Mathe und Klassenlehrer. Kurt Schwarz. Dann komm mal mit, die Klasse wartet schon auf dich.« Er geht aus dem Sekretariat und ich verabschiede mich mit einem Kopfnicken von der Sekretärin, was sie bestimmt nicht gesehen hat, denke ich und ziehe die Tür hinter mir ins Schloss. Schweigend führt mich Herr Schwarz durch das antik wirkende Schulgebäude. Ich versuche, mit ihm Schritt zu halten, und gähne verhalten, als wir vor einer schlichten, weißen Tür, im dritten Obergeschoss, anhalten. Zwinkernd dreht er sich zu mir. »Na, bist du bereit?« Weil ich bei ihm erkenne, dass es nur eine rhetorische Frage ist, weil er im selben Moment seine Hand auf die Türklinke legt, gebe ich ihm keine Antwort. Ich will weglaufen, den Kopf schütteln. Noch in meinem Bett liegen und mich unter meiner Decke vor der Welt verstecken. Bevor ich meine Beine jedoch dazu überreden kann, wegzulaufen, lächelt mich Herr Schwarz freundlich an und drückt die Tür auf. Im ersten Moment bin ich erstaunt, dass niemand schreiend herumrennt oder gar spricht, doch dann entsinne ich mich, dass dies keine normale, städtische Realschule ist, sondern eine katholische Schule, wo alles ein bisschen anders ist. Ich balle meine Hände zu Fäusten, damit sie nicht zittern und spüre, wie mir meine Nägel unangenehm in die Haut stechen, als ich die Blicke wieder auf mir spüre. Herr Schwarz lässt mich eintreten, schließt die Tür und stellt sich ans Lehrerpult. Wie ein braves Hündchen folge ich ihm. »Stellst du dich der Klasse kurz vor?«, fragt er mich, als ich keine Anstalten mache, etwas zu sagen und auf den Linoleumboden blicke. »Hallo. Ich heiße Romy Schneider«, beginne ich meinen Füßen zu erzählen, sehe dann aber doch flüchtig in die Klasse, bevor ich zu Herrn Schwarz sehe. »Kann ich mich setzen?« Herr Schwarz seufzt vernehmlich, notiert etwas in einem kleinen Büchlein und sieht mich abwartend an. »Ich bin sechzehn Jahre alt«, ringe ich mir noch ab, doch zufrieden sieht er noch immer nicht aus. Weil ich auch nach fünf Minuten unangenehmen Schweigens nichts gesagt habe, nickt er schließlich, sieht mich unzufrieden an und und deutet schräg nach hinten. »Dort hinten, beim Fenster kannst du dich setzen.« Ich nicke dankbar, umgreife den Tragriemen meiner Tasche mit einer Hand und gehe hoch erhobenem Hauptes durch die Bänke zu meinem Platz. Die Blicke, die mir folgen, ignoriere ich, so gut es geht. Als ich mich hingesetzt habe und die Tasche vor mir auf den Tisch liegt, strecke ich die Finger meiner Hände und hoffe, dass Niemand das Zittern sieht, welches sich nun, wo ich die Hände nicht mehr anspanne, deutlich sichtbar ist. Sobald ich meine Mathesachen hervorgeholt habe, stelle ich die Tasche neben mich auf den Boden und starre Löcher in die Luft, weil Herr Schwarz die Hausaufgaben abfragt. Vor mir sitzt ein Mädchen mit braunen, langen, lockigen Haaren und als ob sie gespürt hat, dass meine Augen auf ihren Haaren ruhen, dreht sie sich zu mir um und ich erstarre und spüre, wie das Zittern in meinen Händen schlimmer wird. Ich erinnere mich an sie. Sie hat mich gestern angerempelt, als ich Mama zum Auto begleitet habe. Sie hat unglaubliche, braune Augen. Ein Schokoladenbraun mit einem Touch Honig, denke ich und weiß, dass ich diese Augen nicht zum ersten Mal sehe. Aber wo habe ich sie schon einmal gesehen? Ich weiß nicht, wie lange ich sie - oder sie mich - anstarre und mir dabei den Kopf über das wo zermartere. Erst als jemand lautstark niest, senke ich meinen Blick und starre meinen Mathehefter an. Die tröge Stimme des Lehrers, der einer Schülerin die Hausaufgabe erklärt, lullt mich ein und bevor ich mich versehe, bin ich eingeschlafen. Ein Buch, das lautstark auf ein Pult kracht, reißt mich aus dem Schlaf und ich sehe verschlafen zum Lehrerpult, wo Herr Schwarz in meine Richtung blickt. »Vielen Dank Romy, dass Sie uns wieder Ihre Aufmerksamkeit schenken«, kommentiert er und erntet ein paar Lacher. Viel habe ich nicht verpasst, stelle ich erleichtert fest, als die letzte Aufgabe der Hausaufgaben, an der Tafel von einer mir unbekannten Mitschülerin, gelöst wird. Ich kapiere absolut nichts, von dem, was wir aktuell behandeln, obwohl ich glaube, dass Herr Schwarz seinen Stoff sehr gut rüberbringt. Dieses Unverständnis zieht sich durch alle Unterrichtsstunden. Chemie und Englisch sind die schlimmsten Fächer. Schlimmer als die Fächer sind nur die Pausen und die Blicke. Die Blicke, die immer noch auf mir liegen, obwohl ich nie einem Augenpaar begegne, wenn ich aufblicke. Die, mit den unglaublichen Augen sitzt bisher in jedem Fach vor mir. Ich muss mich richtig dazu zwingen, ihr nicht ständig in die Augen zu starren, die mich so wütend und traurig ansehen, wenn ich ihren Augen mit meinen begegne. In der Mittagspause sitze ich in der Mensa ganz alleine an einem Tisch und schlinge das Essen in mich herein, damit ich den Blicken schneller entfliehen kann. Während ich mein Schnitzel in Stücke schneide, frage ich mich, ob ich die letzten neun Jahre überhaupt eine Schule besucht habe. In meiner alten Schule klang der Unterrichtsstoff viel leichter, auch wenn meine Noten dort nicht die Besten waren. Als ich aufgegessen habe, beschließe ich, die Bibliothek der Schule aufzusuchen. Zum Einen, weil ich noch eine halbe Stunde Mittagspause irgendwie killen muss, bevor es in eine letzte Doppelstunde Deutsch geht. Zum Anderen, weil ich dringend ein paar Bücher zum Lernen brauche, wenn ich nicht noch ein weiteres Jahr in diesem katholischen Irrenhaus feststecken möchte. Meine Freunde, aus meiner alten Schule würden mir einen Vogel zeigen. Ich und freiwillig Lernen. Das hat es noch nie gegeben. Aber wie heißt es so schön? Es gibt für alles ein erstes Mal. Vermutlich, hoffe ich immerhin, hinke ich im Unterrichtsstoff ziemlich weit zurück, anders kann ich mir die Kompliziertheit nicht erklären. Aber hatten nicht alle Schulen den gleichen Lehrstoff? Sobald die Türen der Mensa hinter mir ins Schloss fallen, spüre ich, wie die Anspannung von meinen Schultern rutscht und die Blicke in meinem Rücken weniger werden. Die Sonne bricht ihr Licht in der Butzenscheibe, der Fensterverglasung und lenkt mich einen Augenblick von meiner Bibliothekssuche ab. Die Fenster in diesem Gang sind alle mit solchen Butzenscheiben versehen und lassen den Gang mystisch wirken, wenn die Sonne sich erbarmt und ihre Strahlen durch die Scheibe schickt. Als ich den Gang durchquert habe und in einen anderen Gang einbiege, in dem ich die Bibliothek vermute, nachdem ich eine kleine Karte inspiziert habe, die mir die Sekretärin am Morgen mit einem Stapel anderer Dokumente gegeben hatte, höre ich Schritte hinter mir. Automatisch halte ich für einen Moment den Atem an und stoße ihn erleichtert wieder aus, als die zwei Mädchen an mir vorbei sind und einen Moment später lachend in einen Raum verschwinden, der sich als Toilette entpuppt. Das Schild mit dem Toilettenmännchen hat mich aufgeklärt. Am Ende des Gangs entdecke ich ein Schild, wo in dicken Buchstaben Bibliothek drauf steht. Leise fluchend, trete ich gegen die Tür, weil sie verschlossen ist. Natürlich, mein Glück ist wieder einmal grenzenlos. Ich entdecke den kleinen Zettel, auf dem ein: ›Bin gleich zurück‹, geschrieben steht, als ich mich gerade abwenden will, und beschließe, einen Moment, zu warten. Den Unterrichtsraum für Deutsch werde ich sicherlich auch in weniger als zwanzig Minuten finden, hoffe ich. Ich krame mein Smartphone hervor und schreibe eine Nachricht an Uschi, die mir vergangene Nacht eine Nachricht geschickt hatte, in der sie mir mitteilte, wie sehr sie mich vermisst. Mir meinen Teil denkend, dass Uschi das ziemlich sicher im alkoholisierten Zustand geschrieben hat, denn sonst ist sie nicht so offen mit ihren Gefühlen, tippe ich ein: ›Ich vermisse dich auch‹, zurück und krame meine Kopfhörer aus meiner Hosentasche hervor, um Musik zu hören. Es dauert keine fünf Minuten, bis ich eine hochgewachsene Frau um die Ecke kommen sehe. Ich ziehe mir die Kopfhörer aus den Ohren, stelle die Musik ab und blicke gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sie mich anlächelt. »Hallo. Du musst neu sein, denn ich rühme mich, alle Schülerinnen zu kennen, die gerne lesen«, sie zwinkert mich an und schiebt einen alt aussehenden Schlüssel in das Schloss der Tür, die in die Bibliothek führt. »Ja, erster Tag heute«, bestätige ich ihre Vermutung und folge der Frau, die durch den Türrahmen in das angrenzende Zimmer gegangen ist. »Hey, keine Sorge«, grinst die Frau breit, als sie meine Reaktion auf das mickrige Zimmer sieht, was angeblich die Bibliothek sein soll. »Wir sind hier nur im Vorraum der Bibliothek. Hier steht mein Computer, wo ich alles verwalte und wo ihr mit den Büchern vorbei müsst, bevor ihr sie mitnehmen dürft. Ich heiße im übrigen Inge Schwarz und bin neben meinem Job in der Bibliothek noch für euren Sportunterricht zuständig. Also sehen wir uns bestimmt noch öfter, wenn du plötzlich beschließt, dass Bücher doch scheiße sind.« Das Lachen der Lehrerin ist ansteckend, weshalb ich mich dabei erwische, wie ich selbst leise lache und darüber das Gähnen unterdrücke, welches mir entfleuchen wollte. »Bevor du allerdings etwas ausleihen kannst, müssen wir dir eine Akte und einen Bibliotheksausweis erstellen«, erklärt mir Frau Schwarz und ich nenne ihr geduldig meine Daten, nachdem der Computer hochgefahren ist und erfahre ganz nebenbei, dass sie die Ehefrau von meinem Mathelehrer ist. Im Gegensatz zu den ganzen anderen Lehrern, die ich bis jetzt an dieser Schule erlebt habe, finde ich Frau Schwarz ziemlich erfrischend und cool. »Weißt du, von Weitem siehst du nicht wie eine Leseratte aus«, grinst Frau Schwarz, als sie mir ein kleines Kärtchen entgegenhält. »Bitte schön, dein Ausweis.« Ich nehme es dankend entgegen und erzähle ihr nach kurzem Zögern von meinen Problemen im Unterricht. »Und da dachtest du nicht erst ans Internet, sondern an die Bibliothek?« Eine berechtigte Frage. Ich hatte natürlich versucht, Informationen im Internet zu erhalten, aber für diese Flut an Informationen ist mein Smartphone viel zu klein. Das erkläre ich so auch Frau Schwarz. »Sehr löblich von dir«, lächelt Frau Schwarz mich an und tippt etwas in ihren Computer ein. »Es gibt aber auch Fördergruppen und im Internat soll es Lerngruppen geben, wenn ich noch richtig informiert bin.« »Ich will es erst einmal so versuchen«, erwidere ich knapp. »Mit dem Ausweis kannst du eigenständig Bücher ausleihen oder zurückbringen. Dafür ist der Scanner hier gedacht«, Frau Schwarz deutet auf einen Scanner, der direkt neben dem Computer steht. »Internatsbewohner haben auch am Wochenende Zugang, aber nur in Begleitung meiner Praktikantin. Wenn ich mich nicht Anwesenheitsliste ist sie sogar in deiner Klasse. Martha Weiss, klingelt da was?« Ich schüttel meinen Kopf und verlasse danach die Bibliothek, weil in nicht einmal zehn Minuten der Unterricht weitergehen würde und ich den Unterrichtsraum finden muss. Frau Schwarz hat mir den Weg grob beschrieben, weshalb ich den Raum innerhalb meines Zeitfensters finde. Trotzdem bin ich außer Atem, als ich mich an einem leeren Platz, nieder lasse und feststelle, dass dieses Mädchen mit den unglaublichen Augen auch in diesem Fach vor mir sitzt. Frau Bär, so stellt sich die Deutschlehrerin bei mir vor, nachdem sie die gesamte Klasse begrüßt hatte, ist eine noch junge Frau, die bestimmt frisch von der Universität kommt. Als sie mich anlächelt und meinen Namen auf der Anwesenheitsliste abhakt, lächle ich zurück. Woher diese Anwandlung kommt, kann ich nicht sagen. Sie ist mir einfach sympatisch. »Wie weit waren Sie in ihrer alten Schule, Romy?«, flüstert Frau Bär neben mir, nachdem sie der Klasse einige Aufgabenblätter gegeben hat, die sie lösen sollten. Ich erkläre ihr so leise wie möglich meinen Stand und bin nicht überrascht, wieder die Blicke auf mir zu spüren. Dieses Mal sind meine Hände allerdings mit einem Stift beschäftigt, weshalb ich das Zittern im Griff habe. Ich blicke beschämt auf Aufgabenblatt, als ich feststelle, dass ich nicht weiß, was ich in Deutsch als letztes gemacht habe. »Okay, das ist absolut nicht schlimm. Dann schau dir die Themen erst einmal in Ruhe an und in einer Woche oder so setzen wir uns einmal zusammen und schauen, was du brauchst, um mitzukommen, okay?« »Ja«, flüstere ich zurück und Frau Bär geht zu ihrem Schreibtisch und ich entdecke ein paar Grammatikübungen, die ich immerhin lösen kann. Wenigstens ein Fach, in dem ich nicht ganz versagt habe, heute. Meine Laune hebt das allerdings nicht. Das Läuten der Schulklingel, beendet die Doppelstunde Deutsch und ich atme erleichtert aus. Achtlos stopfe ich meine Sachen, in meine Tasche und stürze förmlich aus dem Unterrichtsraum, weil ich, bevor ich zurück in die Internatshölle gehe, noch ein paar Bücher ausleihen will, die mir hoffentlich ein paar Lösungsansätze aufzeigen, wie ich in den Fächern wieder mit komme. Frau Schwarz verlässt gerade den Vorraum der Bibliothek und will abschließen, als ich den Gang entlang eile und nach ihr rufe. »Dann aber schnell«, lächelt mich Frau Schwarz an und lässt mich rein. Dieses Mal sehe ich endlich die Bibliothek und fühle mich dezent von der Menge an Büchern erschlagen. Überfordert gehe ich rückwärts zurück in den Vorraum und sehe Frau Schwarz hilfesuchend an. »Wo drückt der Schuh denn am meisten?«, fragt sie mich leise lachend. »Mathe und Chemie«, antworte ich nach einem Moment und Frau Schwarz schiebt mich zurück in die Bibliothek. »Dann komm, ich suche dir schnell ein paar Bücher raus.« Als ich mit einem Stapel Bücher, in einer Stofftasche, die Bibliothek verlasse, lache ich sarkastisch in mich hinein. Von wegen, ein paar Bücher. Frau Schwarz meinte aber, es seien die Nützlichsten, die sie im Moment in den Regalen stehen hat. Frau Schwarz hat mich förmlich aus der Bibliothek geworfen, weil sie weiß, dass das Nachmittagsgebet bald stattfindet und sie nicht will, dass ich es gleich an meinem ersten Tag schwänze. Ich will nicht zurück. Alles in mir sträubt sich, zurück ins Internat zu gehen. Meine Füße laufen jedoch unbeirrt durchs Schulhaus und schlagen den Weg zum Internat ein. Verräter! Auf meinem Weg, den Fluss entlang, der sich neben dem Weg, am Waldrand entlang schlängelt, stelle ich fest, dass ich nicht die Letzte bin, die auf den Weg ins Internat ist, als hinter mir Schritte auf dem Kies zu hören sind und wenige Augenblicke später Marina, in Begleitung von zwei anderen Mädchen, wortlos an mir vorbei geht. Eine der Mädchen erkenne ich sofort, so lange, wie ich ihre lockigen Haare heute angestarrt und ihr blumiges Parfüm gerochen habe. Es ist das Mädchen mit den unglaublichen Augen und ich versuche erneut, mich zu erinnern, wo ich diese Augen schon einmal gesehen habe. Ich überlege so angestrengt, dass ich davon Kopfschmerzen bekomme. Kann es sein, dass ich die Augenfarbe verwechsle? Nein, diese Augenfarbe hat sich in meinen Kopf festgebrannt. Eine Verwechslung ist nicht möglich. Wo habe ich sie also schon einmal gesehen? »Hey«, holt mich eine Stimme aus meinen Gedanken und ich sehe, wie das Mädchen vor mir steht. Ich wäre beinahe in sie hineingerannt, kann mich aber noch vor einem Zusammenstoß stoppen. Ihre wütende und dennoch wunderschöne Ausstrahlung raubt mir den Atem, als ich sie ansehe. Sie schaut mir fest in die Augen und ich kann mein ›Was?‹, nur denken, so schnell wie ihre flache Hand mit meiner Wange kollidiert. Der Schmerz, der sich in meiner Wange ausbreitet, ist unbeschreiblich. Bevor ich, in meiner Überraschung, etwas sagen kann, hat sie sich schon mit wehendem Haar von mir angewandt und schließt mit schnellen Schritten zu Marina und dem anderen Mädchen auf, welche einfach weitergegangen sind. Was sollte das? Ich starre ihr hinterher, will ihr ein ›Warum?‹, hinterherschreien, aber keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Was, im Namen der alten Götter, hatte das zu bedeuten? Neuerlichen Schritte hinter mir, lassen meine Lippen fest aufeinandergepresst und bringen meine Füße dazu, sich ebenfalls wieder in Bewegung zu setzen. Ich reibe mir ein letztes Mal die schmerzende Wange, bevor ich meine Hände in meinen Hosentaschen vergrabe und zu Fäusten balle, weil ich mich so erniedrigt fühle. Ich lasse die kichernden Weiber hinter mir an mir vorbei ziehen und halte meinen Blick gesenkt. Beim Nachmittagsgebet sitze ich in der hintersten Reihe der Kapelle und streiche mir immer wieder, verwirrt, über die noch immer leicht schmerzende Wange. So sehr ich es auch versuche, ich finde keine Antwort auf die Frage nach dem Warum, außer das es an meiner politischen Gesinnung liegen könnte, von der ja, warum auch immer, alle zu wissen scheinen. Ich bin erleichtert, als wir aufstehen dürfen und verlasse so ziemlich als erste die Kapelle und stürme hinauf auf mein Zimmer. Wo ich die Tür ins Schloss werfe und tief durchatme, als die Anspannung von mir abfällt. Ich lasse meine Tasche auf das freie Bett fallen und stelle verärgert fest, dass mein Bettzeug noch immer nass ist. Ich ziehe es ab, hänge es über die Heizung, welche ich voll aufdrehe und mache mich einen Moment später auf den Weg zum Vesper. Der Speisesaal ist beinahe völlig leer und ich ahne, dass das Vesper eine freiwillige Angelegenheit ist. Nichtsdestotrotz lasse ich mich auf meinen Stuhl vom Vorabend fallen und trinke eine Tasse Kaffee, die mich leider nicht wacher macht. Ich ignoriere die Blicke, die mir folgen, als ich mich nach der Tasse Kaffee in mein Zimmer zurückziehe, wo ich mit den Hausaufgaben beginne. Nach den Hausaufgaben beginne ich, in Ermangelung einer besseren Tätigkeit, die ausgeliehenen Bücher durchzusehen, und entscheide mich, damit, meine Chemiekenntnisse aufzufrischen. Weil ich absolut keine Idee habe, wo ich anfangen soll, nehme ich mir vor, meinen Chemielehrer nach einer Liste, des bisher behandelten Schulstoffs, zu fragen, damit ich eine ungefähre Ahnung habe, wo ich anfangen kann. Eine Stunde später schreibe ich Uschi, dass ich noch eine Streberin werde und würde am liebsten das Fenster aufreißen, weil es so verdammt warm geworden ist, in meinem Zimmer. Fängt ja schon einmal gut an, zu Hause habe ich mich nicht um die Schule gekümmert und bin immer auf direktem Weg zu Paul und den Kameraden. Die Bettwäsche fühlt sich noch klamm an, weshalb ich das Fenster nicht öffnen kann und mich stattdessen aus meinem Hemd schäle. Verdammte Klara. Mein Smartphone blinkt, als ich versuche, das Periodensystem zu verinnerlichen, welches ich noch nie aus dem Effeff konnte. Neben Fotos von Uschi, die sie mit Ralf und einer Menge Bierflaschen zeigen, habe ich eine Freundschaftsanfrage bei Facebook. Schön, dass die auch ohne mich ihren Spaß haben, denke ich vergrätzt und frage mich, wo Paul bei diesem Gelage wohl ist und spüre, wie das Heimweh wieder aufwallen will. Weil ich nichts Eifersüchtiges zurückschreiben will, was ich später bereuen würde, schließe ich den Messenger und schaue, wer mich da adden will. Kein Foto, kein realer Name. Ist es nicht verboten, keinen Klarnamen zu benutzen? Ich weiß, wann soll niemanden annehmen, den man nicht kennt. Vielleicht habe ich aus Neugierde die Anfrage bestätigt, vielleicht aus Langeweile. So genau kann ich das nicht sagen, als ich Cracker knabbernd auf dem freien Bett sitze und auf den Facebooknamen starre. Dancing Cat. 17:38; Dancing Cat: ›Hallo Romy, wie geht es dir?‹ 17:45; Romy Schneider: ›Müde. Mit wem habe ich das Vergnügen?‹, tippe ich nach einem kurzen Zögern zurück. Mein Chemiebuch liegt vergessen neben mir, während ich mein Smartphone anstarre und auf eine Antwort warte. 17:58; Dancing Cat: ›Mit Dancing Cat, ist das nicht offensichtlich?‹ 18:00; Romy Schneider: ›Natürlich und ich bin die Queen persönlich.‹, schreibe ich zurück und lege mein Smartphone kopfschüttelnd zur Seite und frage mich, was ich mir davon erhofft habe, die Freundschaftsanfrage angenommen zu haben und beginne damit, die ausgeliehenen Bücher und meine Schulbücher in das Regal zu räumen, dass über meinem Bett angebracht ist. 18:05; Dancing Juliet: ›Besser?‹ 18:11; Dancing Juliet: ›Hallo, bist du noch da?‹ Genervt von mir selbst, weil ich so neugierig bin, nehme ich mein Smartphone wieder in die Hand und lese die beiden Nachrichten. Juliet also, wenn es denn der echte Name ist. 18:24; Romy Schneider: ›Was willst du von mir?‹, frage ich und beginne damit ein bisschen Musik zu hören. Als ich nicht mehr mit einer Antwort gerechnet habe, vibriert mein Smartphone. 18:40; Dancing Juliet: ›Man erzählt sich Sachen über dich, eigentlich wollte ich nur in Erfahrung bringen, ob diese Dinge stimmen.‹ Ich will nicht neugierig wirken, weshalb ich nicht antworte. 18:45; Dancing Juliet: ›Bist du freiwillig hier im Internat?‹ Überrascht starre ich auf das Display. Ich schreibe mit jemanden aus dem Internat? Ich weiß gar nicht, warum ich überrascht bin, schließlich sind wir hier nicht am Arsch der Welt und auch christliche Menschen wissen, wie man das Internet bedient und doch habe ich Vorurteile. 18:47; Romy Schneider: ›Nein‹, antworte ich und drehe die Heizung wieder runter und reiße gierig das Fenster auf. Scheiß auf die klamme Bettwäsche, mir ist warm. Die kalte Luft, die mir entgegen strömt, ist herrlich, weshalb ich auf den Schreibtisch klettere um besser aus dem Fenster zu blicken. Unter meinem Fenster ist ein kleiner Platz mit Tischtennisplatte, Volleyballplatz und anderen Spielgeräten, die nicht danach aussehen, als würden sie benutzt. Nach einigen Minuten raffe ich mich auf und beeile mich, um pünktlich zum Abendessen, im Speisesaal zu erscheinen, obwohl ich nicht hungrig bin. 18:57;Dancing Juliet: ›Hast du die Ohrfeige verdient?‹ Wow, das hat sich ja schnell herumgesprochen, denke ich und fahre mir geistesabwesend über die Wange, bevor ich die letzten Stufen zum Speiesesaal hinabsteige. Ich setze mich wieder auf meinen Platz, neben Rati und Uma, die mich überrascht ansehen, beim Vesper waren sie abwesend. »Du weißt schon, dass die Platzwahl hier nicht festgelegt ist?«, fragt mich Rati flüsternd, nachdem sie einige stumme Blicke mit ihrer Schwester ausgetauscht hat. »Du musst also nicht zwischen uns sitzen, wenn du nicht möchtest.« Es war, wie ich es mir schon gedacht habe, eine Farce und für einen kurzen Moment überlege ich wirklich, mich umzusetzen. Ich möchte damit aber niemanden in die Hände spielen, weshalb ich mich nicht rühre. »Vielen Dank, für die Information. Aber ich sitze hier ganz gut«, flüstere ich zu meinem Teller und ignoriere die Seitenblicke, die ich von Rati und Uma erhalte und lausche dem Tischgebet, bevor ich nach dem Brot greife und mir ein Glas Orangensaft einschenke. Kapitel 4: Kapitel 3. --------------------- Leise vor mich hin fluchend pfeffere ich mein Chemiebuch und das Formellbuch gemeinsam mit meinem Hefter und der Federmappe in meine Tasche. Dabei fällt mein Blick auf mein Smartphone und ich muss, wie so oft, an Dancing Juliet denken und frage mich, ob sie noch auf eine Antwort wartet. Drei Wochen sind seit ihrer Frage ins Land gezogen. Drei Wochen in denen weder ich noch sie etwas geschrieben haben. Drei Wochen, in denen ich auch nichts von meinen Freunden und Kameraden zu Hause, gehört habe. Und drei Wochen, seit der Ohrfeige. An meiner Situation im Internat und in der Schule hat sich nichts zum Guten verändert. Eher hat sich alles verschlechtert. Die Lehrer haben ihren Unterrichtsstoff angezogen und die ersten Leistungskontrollen, die ich vergeigt habe, wurden auch schon geschrieben. Dabei habe ich mein Heimwochenende extra auf das kommende Wochenende gelegt, damit ich noch einmal für Mathe lernen konnte. Geholfen hat es mir gestern allerdings nicht, weil ich am Wochenende den falschen Stoff gelernt hatte. Von den Schülerinnen und Internatsbewohnerinnen werde ich geschnitten und hinter meinem Rücken tuschelt man über mich. Weshalb ich die meiste Zeit für mich bin, mich in meinem Zimmer vergrabe, außer die Ordensschwestern, die im Internat für uns zuständig sind, zwingen mir irgendwelche Gruppenaktivitäten auf, an denen alle teilnehmen müssen. Das einzig positive an Heute ist, dass wir erst nach dem Wochenende wieder Chemie haben. Ich schultere meine Tasche und ärgere mich über meine Unfähigkeit. Als die große Schultür hinter mir ins Schloss fällt und mir die warme Luft sanft über den Rücken streicht, bin ich überrascht, als ich höre, wie jemand meinen Namen ruft. Auf dem großen Parkplatz, der uns in den Pausen als Pausenhof dient, steht ein klapprig aussehendes Auto und Uschi mit Ralf, die mir zuwinken. Mein Herz macht einen freudigen Hüpfer und ich eile zu ihnen. »Seit ihr meine Fluchthelfer?«, frage ich Uschi, als ich ihr in die Arme falle und auch Ralf kurz in die Arme nehme. »Wie habt ihr mich denn gefunden?« »Wir haben am Ende deine Eltern gefragt«, grinst Uschi mich an und Ralf spricht für sie weiter: »Erst haben wir es selbst versucht und uns um ein Auto gekümmert, aber die vom Jugendamt geben ja niemanden Auskunft.« »Und die Anderen, Paul?«, frage ich und bemerke den seltsamen Blick, den sie sich zuwerfen und ich fühle, wie meine Freude einen Dämpfer bekommt. »Seit ihr jetzt eigentlich zusammen?«, schiebe ich hinterher, als ich keine Antwort auf die erste Frage erhalte. Uschi nickt, sieht mich einen Moment verträumt an, bevor ihr Gesicht einen ernsten Ausdruck annimmt. »Du hast viel verpasst, Romy. Es ist einiges zu Hause passiert, dass nicht gut ist. Vielleicht setzen wir uns ins Auto und reden da weiter?«, schlägt Ralf zögernd vor und blickt in die Ferne zum Schulgebäude. Ich folge seinem Blick und sehe einige Schülerinnen aus meiner Klasse in unsere Richtung blicken. Ich kann nicht erkennen, um wen es sich handelt, könnte aber auch keine Namen nennen, wenn ich sie erkannt hätte, weil ich mir die Namen meiner Mitschülerin noch immer nicht eingeprägt habe. Uschi und setzen uns auf die Rückbank von Ralfs kleinen Ford und Ralf setzt sich ans Steuer, startet den Motor und fährt vom Parkplatz runter. »Es hat einige Hausdurchsuchungen gegeben«, beginnt Uschi ohne Wischiwaschi zu erzählen. Ich wende meinen Blick vom Fenster ab, schaue sie überrascht an und spüre, wie sich meine Härchen an den Armen aufstellen, als sie weiter spricht. »Die Bullen waren erst bei Schubi und Paul. Danach bei mir und Ralf und einigen Anderen. Soweit wir wissen, waren sie nicht bei dir zu Hause. Sei froh, dass du mit dieser Scheiße nicht in Verbindung gebracht wirst. Jedenfalls wurden bei Paul und Schubi unregistrierte Schusswaffen gefunden, weshalb sie seit gestern in U-Haft sitzen, wegen illegalen Waffenbesitz und weil mit einer der Waffen, vor zwei Wochen, fünf Türken erschossen wurden.« Sprachlos starre ich Uschi an und bekomme kein Wort heraus, während wir im Schritttempo über die Straße tuckern und Ralf mir über den Rückspiegel immer wieder einen besorgten Blick zuwirft. Erinnerungen flackern in Szenen durch meinen Kopf. Szenen von der Nacht beim Asylantenheim, wie Schubi und Paul schreiend die Molotowcocktails geworfen haben. Wie wir unsere Hassparolen rezitiert haben. Szenen, wie wir alle lachen und deutlich alkoholisiert, die Punker am Bahnhof oder Randomausländer in der Stadt verprügeln. Mir ist immer bewusst gewesen, dass Paul und Schubi besonders von den Türken in unserer Stadt genervt sind. »Für mich geht das zu weit«, unterbricht Uschi meine Gedanken. »Ich steige aus dieser Nummer aus. An deiner Stelle solltest du froh sein, dass du von dort weg bist, Romy.« »Aussteigen?«, frage ich tonlos und starre nach vorn, direkt in Ralfs dunkle, stahlblaue Augen. »Aus der Szene? Spinnst du, Uschi? Das ist dein Todesurteil. Hast du vergessen, was wir auf die Fahne geschworen haben? Ewige Treue bis zum Schluss, Uschi«, flüstere ich erstickt und greife nach ihrer Hand. »Es waren doch nur Türken«, sage ich und bin selbst nicht überzeugt von diesen Worten. Eigentlich wollte ich sagen, dass sie mich nicht alleine lassen soll, aber das auszusprechen, dazu bin ich zu feige. Uschi drückt meine Hand und sieht mir ernst in die Augen. »Romy, ich bin zwanzig Jahre alt und habe vor ein paar Tagen erfahren, dass ich schwanger bin. Vermutlich ist Paul der Vater. Ich möchte nicht, dass mein Kind in so einer gewalttätigen Gesellschaft aufwächst.« Schwanger von Paul? Darf ich jetzt lachen, weil wir uns bei Verstehen Sie Spaß befinden? Das ist nicht mein erster Gedanke, den ich habe, aber einer der besseren Gedanken. Die anderen Gedanken drehen sich um Verrat und Hass. Ich entreiße ihr meine Hand und spüre, wie der Hass mein Herz umhüllt und die Wut in mir hochkocht. »Du und Paul? Wie lange lief das, zwischen euch?«, presse ich zwischen meinen Lippen hervor und balle meine Fäuste in meinem Schoß. Nicht weil ich Uschi boxen will, sondern um mich von so einer Tat abzuhalten. Denn die Fingernägel, die sich in meine Haut graben, beruhigen mich, halten mich im Hier und Jetzt. »Eine Weile«, murmelt Uschi und sieht beschämt auf ihre Hände. »Tut mir Leid, Süße.« »Nach mir oder während er noch mit mir zusammen war? Weißt du eigentlich, dass ich am Tag vor meiner Abreise mit ihm geschlafen habe und er am Abreisetag mit mir Schluss gemacht hat?« Nun ist es an Uschi mich schockiert anzusehen, obwohl sie weiß, dass er sich an diesem Tag von mir getrennt hat. »Nach dir«, haucht sie und sieht mich traurig an. »Hätte ich gewusst, dass er dich so ausgenutzt hat«, beginnt sie, doch ich unterbreche sie mit einem: »Spar es dir«, und sehe zu Ralf, der mich durch den Rückspiegel ansieht und einen Moment später am Straßenrand parkt. »Und du? Willst du auch«, beginne ich und spucke das Wort förmlich aus, »Aussteigen? Deinen Treueeid brechen?« »Ich will für Uschi und das Kind da sein«, sagt Ralf mit fester Stimme und dreht sich zu mir um. »Ich bin schon länger am Zweifeln gewesen, ob ich noch hinter dem stehe, was Paul und die Anderen vertreten. Ich habe meine Eltern kontaktiert. Wir ziehen nach Bayern, Romy. Scheiß auf diesen Eid, zehn Menschen sind gestorben, bei der dämlichen Aktion im Frühling. Wer weiß, wie viele Leben Paul und Schubi noch auf dem Gewissen haben.« »Ihr seit also gekommen, um euch zu verabschieden? Das hättet ihr euch sparen können«, zische ich und öffne die Autotür. Uschi hält mich am Arm zurück. Ich reiße mich los und sehe sie an. »Das war ein lebenslänglicher Treueeid, den man nicht einfach so bricht, wenn es ein bisschen ernster wird.« »Romy, in erster Linie waren die Asylanten und ermordeten Türken Menschen. Wie du und ich, aus Fleisch und Blut. Stört es dich nicht, dass du Mittäterin bist, dass man dich zur Beihilfe anzeigen kann, dir vorwerfen kann, dass du diese Asylanten ermordet hast? Das ganze Gerede vom Nationalstolz und was wir alles verändern können in Deutschland, wenn wir Deutsche uns nur zusammenschließen, ist gut und schön, aber mit Mördern möchte ich nichts Zutun haben. Als ich das mit dem Asylantenheim erfahren habe, wollte ich schon aussteigen, aber damals hatte ich zu viel Angst. Merkst du nicht, wie gefährlich Leute wie Paul und Schubi sein können?« »Ich habe genug gehört«, schnappe ich und steige aus und werfe die Tür zu, bevor Uschi mir auch nur nachrutschen kann und starre durch die Scheibe zu ihr und sehe, wie sich mich traurig ansieht. »Romy«, erklingt Pauls Stimme neben mir und blicke zu seiner heruntergekurbelten Fensterscheibe. »Denk vielleicht einmal darüber nach. Für die Szene oder Paul im Knast zu landen oder schlimmer, dein Leben zu verlieren, das ist es nicht wert. Wir haben Angst um dich, Kleine, du hast dein ganzes Leben noch vor dir.« Ich sehe ihn abfällig an, wende mich ab und gehe am Straßenrand in die Richtung, in der ich das Internat vermute. »Wenn du uns brauchst, zögere nicht und schreibe mir oder Uschi bei Facebook, Romy. Wir sind immer deine Freunde und als solche raten wird dir, auch auszusteigen, bevor es zu spät ist«, höre ich Ralf mir hinterherrufen. Ich gehe stur weiter, und bin überrascht Tränen an meinen Wangen zu spüren. Ich hasse die Beiden. Ich hasse Ausländer. Ich hasse mich. Hasse es, dass der Zweifel in mir gesät ist. Ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen, als ich höre, wie Ralf den Motor startet und wegfährt. Ich fühle mich verlassen und einsam. Die Freude, die ich empfand, als ich Uschi und Ralf vorhin gesehen habe, liegt gefühlt, Jahre in der Vergangenheit.   Weit nach dem Nachmittagsgebet und Vesper tragen mich meine Füße auf das Internatsgelände und in das Foyer des Internats, wo Frau Kramer schon bereitsteht und auf ihr Büro deutet. Wortlos nicke ich und betrete das Büro mit gesenktem Kopf und falle unaufgefordert in den Sessel vor dem Schreibtisch. Ah, endlich Sitzen. Welch Wohltat. Seufzend strecke ich meine Beine aus und kreise meine Fußgelenke um den Füßen, die endlich aus meinen dreckigen Stiefeln raus wollen. Ich habe mich zwei Mal verlaufen, dementsprechend viel Strecke habe ich heute gemacht, obwohl ich schwören könnte, dass Ralf nur gerade aus gefahren ist. »Wie du weißt«, beginnt Frau Kramer, als sie sich mir gegenüber, hinter ihren Schreibtisch gesetzt hat. »Haben wir in unserem Haus feste Zeiten. Eigentlich dachte ich, dass du diese Zeiten mittlerweile verinnerlicht hast. Gibt es einen Grund dafür, dass du heute das Nachmittagsgebet verpasst hast?« »Ich wurde aufgehalten«, antworte ich, obwohl mir eigentlich ein klares ›Nein‹ auf den Lippen lag. Ich starre auf meinen Schoß und balle meine Hände zu Fäusten. Frau Kramer sieht mich abwartend an, als ich kurz einen Blick zu ihr riskiere, bevor ich den Kopf wieder senke. »Zwei Freunde«, setze ich an und stocke. »Zwei ehemalige Freunde, haben mich nach der Schule abgefangen und mir einige Dinge mitgeteilt, die ich nicht gut finde. Für dieses Gespräch sind wir ein Stück in der Gegend herumgefahren. Ich bin irgendwo in der Pampa ausgestiegen und habe mich auf dem Weg hierher zwei Mal verlaufen. Deshalb die Verspätung.« »Möchtest du darüber reden?« »Über Verräter gibt es nichts zu reden«, presse ich zwischen meinen Lippen hervor und sehe Frau Kramer ernst an. »Okay. Wenn du reden willst, du weißt, wo ich bin. Für das verpasste Gebet muss ich dir aber eine Strafe geben. Du wirst heute Abend nach dem Abendgebet den Speisesaal und die Kapelle wischen. Geh jetzt und kümmere dich um deine Hausaufgaben. Falls du Hilfe brauchst, Schwester Ingrid ist im Speisesaal, wo sich die meisten zum gemeinsamen Studium treffen. Schwester Ingrid teilte mir indes mit, dass du noch nie dort anzutreffen warst.« »Ich wusste nichts davon«, erwidere ich trotzig und stehe auf. Meine Füße protestieren. »Die Utensilien, findest du im Besenschrank neben dem Speisesaal«, ruft Frau Kramer mir noch hinterher, bevor ich die Tür hinter mir ins Schloss ziehe.   Als meine Zimmertür hinter mir ins Schloss fällt und ich meine Tasche achtlos von meiner Schulter rutschen lasse, sehe ich einen Zeitungsausschnitt zu meinen Füßen liegen. Ich bücke mich danach und denke, dass mir den wohl jemand unter der Zimmertür hindurchgeschoben hat. Die Schlagzeile lässt mich taumeln und um Luft ringen, weil mir ein dicker Kloß im Hals das Atmen erschwert. Fünf Tote - gezielter Anschlag von Rechts, auf eine Dönerbude. Der Zeitungsausschnitt rutscht aus meiner Hand. Mit Schnappatmung gehe ich zum Fenster und reiße es auf, in der Hoffnung, besser atmen zu können, mit etwas extra Sauerstoff. Es ist das Vibrieren meines Smartphones, dass mich beruhigt, dass mich den Anruf achtlos entgegennehmen lässt. »Süße«, erklingt es und ich erstarre beim Klang der vertrauten Stimme und muss an Uschi und Ralf denken. »Nicht auflegen, bitte. Ich habe nur ein paar Minuten Zeit.« »Was willst du?«, frage ich kratzig, weil der Kloß in meinem Hals noch nicht ganz verschwunden ist. »Ich brauche ein Alibi, Romy. Du musst für mich aussagen. Den Leuten von der Polizei sagen, dass ich an dem Tag, wo die Kerle abgeknallt wurden, bei dir war.« »Ein Alibi? Nach allem was du mir angetan hast?«, frage ich ihn ungläubig und spüre wieder diese Wut und den Hass in mir. »Du hast mich missbraucht und nachdem ich dir gegeben habe, was du wolltest, wie ein Stück heiße Kohle, fallengelassen. Vergiss es, Paul. Ruf mich nie wieder an! Sonst zeige ich dich bei der Polizei, wegen sexuellen Missbrauch an. Du vergisst, dass ich im Gegensatz zu dir, noch minderjährig bin.« »Bitte«, höre ich ihn noch flehen, dann ist alles still, weil ich aufgelegt habe und das Smartphone mit unglaublicher Wut, im Bauch, auf mein Bett schleudere. Statt auf der Matratze zu landen, kracht es gegen die Wand und ein ekliges Splittern erklingt, als es auf dem Boden aufkommt. »Scheiße«, stoße ich aus, schreie mit all meiner Wut und ramme meine Fäuste in die Kleiderschranktür, bis das Holz splittert und ein stechender Schmerz durch meine rechte Faust fährt. Ich taumle gegen das Waschbecken in meinem Rücken, drehe mich um und starre mich im Spiegel an. Sehe mich und sehe mich doch nicht. Ich erkenne mich nicht wieder. Mir steigt der metallische Geruch von Blut in die Nase und ich beobachte fasziniert, wie mein Blut, von meiner Hand, ins Waschbecken rinnt. Ich zucke erschrocken zusammen, als es an meiner Zimmertür klopft. Streife ein letztes Mal mein Spiegelbild mit Verachtung, bevor ich meinen Kopf wende, weil die Türklinke hinab gedrückt wird. Wieso vergesse ich ständig, meine Tür abzuschließen? »Romy, ist alles Okay? Martha und ich haben dich schreien gehört.« »Nichts ist okay«, entfährt es mir laut, bevor ich es verhindern kann, als ich sie erkenne und die Ohrfeige auf meiner Wange spüre, als wäre es nur Sekunden her. Ich halte mich fester als nötig am Waschbeckenrand fest und starre sie an. Sehe, wie sie lässig am Türrahmen lehnt und mit ihren Augen in die Meinen sieht. »Verpiss dich«, zische ich und atme keuchend, ob des Schmerzes, aus, weil ich aus Versehen einen Holzsplitter tiefer in meine Haut getrieben habe. Ihr Blick huscht von meinen Augen hinab zu meinen Händen, die sich noch immer ans Waschbecken klammern, obwohl ich den Splitter dabei noch tiefer in mein Fleisch drücke und zurück nach oben. Die Emotionen, die sich auf ihrem Gesicht abzeichnen sind erstaunlich und ich kann all die Ausdrücke gar nicht einordnen, nicht benennen, bin aber ziemlich überrascht, als sie einen Schritt auf mich zu macht, mich an meiner gesunden Hand greift und aus dem Zimmer zieht. »Du musst die Hand ausspülen und die Splitter ziehen, sonst entzündet sich das. Komm schnell, im Badezimmer hängt ein Erste-Hilfe-Kasten.« Ich reiße mich los und stolpere mit klopfendem Herz rückwärts in mein Zimmer. Was fällt der ein, mich anzupacken? Ich will die Tür ins Schloss werfen, habe aber nicht mit ihren schnellen Reflexen gerechnet und finde einen Moment später ihren Fuß zwischen Tür und Rahmen, der effektiv verhindert, dass ich die Tür abschließen kann. Ich ziehe die Tür wieder auf, sehe ihr Grinsen und lasse die Tür kräftiger gegen ihren Fuß prallen, doch weicht sie mit ihrem Fuß keinen Millimeter zurück. Verzieht noch nicht einmal ihre Miene dabei, wenn die Tür ihren Fuß zum wiederholten Mal quetscht.  »Hör zu«, zische ich, halte mit der Tür inne und sehe an ihr vorbei an die Wand, um diese Augen nicht noch einmal ansehen zu müssen. »Ich brauche keine Hilfe von Deinesgleichen. Ich kann mich sehr gut selbst versorgen.« Mit diesen Worten gehe ich an ihr vorbei, remple sie grob mit meiner Schulter an und stürme ohne einen Blick zurück, ins Badezimmer. Wo ich die Holzsplitter mit einer Pinzette, die ich im Erste-Hilfe-Kasten gefunden habe, unter starken Schmerzen entferne, das frische Blut von meiner Hand spüle und sie dann vorsichtig trocken tupfe. »Du musst die Hand noch desinfizieren«, erklingt hinter mir eine dunkle Stimme, die ich nicht kenne. Ich drehe mich der Stimme zu und sehe die Besitzerin flüchtig an, bevor ich mich wegdrehe. Groß, schlank und dunkelblonde Haare. Auf den ersten Eindruck wirkt sie nicht ausländisch auf mich. »Und du bist?«, knirsche ich und gehe auf den Erste-Hilfe-Kasten zu. »Martha. Juli hat mich hergeschickt.« »Aha«, entweicht es mir unintelligent, weil ich nicht weiß, von wem sie spricht und durchwühle den Kasten nach dem Desinfektionsspray, was mit einer Hand und ziemlich viel Zeug in dem Kasten, nicht so einfach ist, wie es klingt. »Du weißt schon, die, die du eben so unhöflich angezischt hast«, grinst Martha mich schwach an, als sie neben mir steht und durchwühlt den Kasten ihrerseits. Nach einigen Augenblicken reicht sie mir das Spray und sieht mich abwartend an. »Ah, die Ohrfeigen-Olle«, kommentiere ich für mich und Martha nickt. Juli also. Wie der Monat? Oder eine Kurzform? Ich schließe meine Augen und halte die Luft an, als das Desinfektionsmittel auf meiner Hand zu brennen beginnt. Scheiße, ist das unangenehm. »Bitte, kannst der berichten, dass meine Hand versorgt ist und nicht abfallen wird«, brumme ich und lasse Martha einfach im Badezimmer stehen. Sie ruft mir hinterher, dass ich das Juli selber sagen kann, weil sie in meinem Zimmer auf mich warten würde. Als ich mein Zimmer wieder betrete, ist sie tatsächlich da, sitzt auf dem freien Bett und hält den Zeitungsartikel in ihren Händen. »Freut dich so etwas?«, fragt sie leise und blickt mit einem unlesbaren Gesicht zu mir auf. Ich reiße ihr den Artikel aus der Hand und wir beobachten stumm, wie er zwischen uns auf den Boden segelt. »Raus«, sage ich und stelle mich mit dem Rücken zu ihr, an den Schreibtisch, damit sie nicht sieht, wie ich mit meinen Tränen hadere. »Und nimm diesem verdammten Artikel mit dir.« Ich höre, wie sie aufsteht und sich nach dem Zeitungsausschnitt bückt. »Geh«, zische ich, weil ich ihre Hand für eine Sekunde oder so auf meiner Schulter spüre und kämpfe darum, nicht unter meinen Emotionen einzuknicken. Als die Tür ins hinter ihr ins Schloss fällt, drehe ich mich um, stolpere zur Tür und schließe ab. Ich sacke gegen das Holz und rutsche langsam dran hinab und kann meine Tränen nicht länger zurückhalten. Heiß rollen sie an meinen Wangen hinab und fallen auf meine Beine, die ich dicht an mich gezogen habe und fest umarme.   Meine Augen sind vom Weinen geschwollen. Jeder wird also sehen können, dass ich eingeknickt bin und nicht so stark bin, wie ich vorgebe zu sein. Zynisch denke ich, dass bestimmt schon Wetten abgeschlossen wurden, wann ich denn zusammenbreche. Am liebsten will ich das Abendessen schwänzen, aber ich habe Hunger und bin nicht scharf auf eine weitere Strafe. Mit gestrafften Schultern und erhobenem Haupt gehe ich durch den Speisesaal und sinke neben Rati und Uma auf meinen Platz. Ich sehe, wie Rati mit sich kämpft und etwas sagen will, weshalb ich ihr meine Hand auf den Arm lege und sie ansehe. Ich weiß, realistisch gesehen, dass man nicht stirbt, wenn man Menschen anderer Herkunft berührt, bin aber dennoch überrascht, dass nichts passiert, wo Paul mir immer eingeredet hat, das sonst was passiert, wenn die Berührungen nicht durch Gewalt geschehen. Wenn Rati meine geschwollenen Augen und meinen Gemütszustand registriert hat, dann bestimmt auch andere. Lachen sie sich nun ins Fäustchen? »Spar dir deine Worte. Du und ich wissen, dass du sie nicht ernst meinst«, sage ich leise, lasse ihren Arm los und starre auf meinen Teller. »Woher willst du das wissen?«, flüstert Rati und klingt seltsam traurig. »Weil ich Augen im Kopf habe und sehe, dass hier alle nur darauf warten, dass ich zusammenbreche und irgendetwas Dummes tue«, erwidere ich ebenfalls flüsternd und bin wenig überrascht, dass Rati darauf nichts erwidert und fühle mich bestätigt. Nach dem Tischgebet greife ich nach meiner obligatorischen Brotscheibe und zucke zusammen, als mir Uma sanft auf den Rücken klopft und mich eindringlich ansieht, als ich ihr einen fragenden Blick zuwerfe. »Dann lass die, die darauf warten, nicht gewinnen, Romy. Zeig ihnen, dass du stärker bist. Zeig ihnen, dass du nicht so bist, wie sie dich einschätzen. Wenn es dir hilft«, flüstert Uma und tauscht einen Blick mit Rati, »dann lass mich dir sagen, dass wir hinter dir stehen. Rati und ich.« Ich denke an all die Beleidigungen, mit denen ich die Beiden in meinen Gedanken schon bedacht habe. Beschämt starre ich auf meinen Teller und umfasse mein Buttermesser fester als nötig, als ich Uma ansehe. »Danke«, hauche ich erstickt und wende meinen Blick sofort wieder meinem Teller zu. »Nicht dafür, Romy«, erwidert Uma bestimmt. »Shiva gibt allen Menschen eine zweite Chance, wenn sie denn wollen. Du musst sie nur endlich nutzen und nicht wegwerfen.« »Shiva?«, frage ich überrascht und sehe Uma an, die mich anlächelt. Ist das nicht eine hinduistische Gottheit? »Was überrascht dich daran?« »Ich dachte, wir sind hier in einem katholischen Internat?« Rati neben mir lacht leise und Uma grinst breit. »Glaubst du echt, wir wären hier, wenn Fremdgläubige unterdrückt werden?« »Aber, ihr geht doch auch zu den Gebeten«, frage ich völlig irritiert und habe mein Brot völlig vergessen, nachdem ich es mit Butter bestrichen habe. »Man toleriert uns hier, wenn wir uns der Lebensweise anpassen, so lange wir hier sind und uns gegenüber anderem Glauben offen zeigen. Toleranz heißt das Zauberwort, Romy. Vielleicht versuchst du es auch einmal damit?« Mit diesen Worten ist unser Gespräch, wenn man es denn so nennen kann, vorerst zu Ende und wir essen in Eintracht unser Essen. Ich sollte die Beiden beschimpfen, dass sie es gewagt haben, mich anzusprechen, das weiß ich. Umso irritierter bin ich, dass ich fast ein bisschen traurig bin, dass die Beiden nicht in meine Klasse gehen. Ich weiß, dass Rati und Uma eine Stufe unter mir sind und vermute, dass sie mit Marina in einer Klasse sind. Als Rati und Uma gemeinsam aufstehen und ihr Geschirr auf den Beiwagen stapeln, der neben unserem Tisch steht, sehe ich zu ihnen auf und sehe in Ratis ernstes Gesicht, mit dem sie mich mustert. »Was?«, rutscht es mir ungewollt barsch raus. Rati grinst schief und hält mir ihre Hand hin. »Freunde?« Ich überrasche mich selbst und ergreife Ratis Hand nach einem Augenblick und denke, dass ich es einmal mit Toleranz versuchen will. Muss ja von den Kameraden vorerst keiner wissen.   An diesem Abend, beim Gebet, versuche ich mich erstmals an einem inneren Zwiegespräch mit Wem auch immer, der mir dabei zuhört. Mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen bete ich, dass Uschi und Ralf nichts geschieht, nur weil sie vom rechten Weg abgekommen sind. Die restliche Zeit denke ich darüber nach, was dieser Versuch aus meiner Gesinnung macht. Lässt sich Toleranz überhaupt damit vereinbaren? Ich verlasse als eine der Letzten die Kapelle und kehre zum Speisesaal zurück, wo das Geschirr schon verschwunden ist. Den besagten Besenschrank finde ich sofort und sammle mir daraus meine Utensilien zusammen. Eimer, Wischmob, Lappen und Reinigungsmittel. Nach nicht einmal zwanzig Minuten bin ich mit dem Speisesaal fertig und finde, dass es eine milde Strafe war, schließlich hätte sie mich auch alle Gänge und die Bäder wischen lassen können. Die Kapelle dauert etwas länger, aber auch damit bin ich kurz vor Neun fertig und schleiche mit aufgedunsenen Fingern nach oben in mein Zimmer, nachdem ich alles dorthin zurückgestellt habe, wo es hingehört. Als ich den Gang betrete, auf dem mein Zimmer liegt, entdecke ich Martha, die lässig neben meiner Zimmertür an der Wand lehnt und auf mich zu warten scheint. »Hey«, grüßt sie und stößt sich von der Wand ab. »Was gibts?«, frage ich argwöhnisch und stecke den Schlüssel ins Schloss meiner Zimmertür und schließe auf. Martha hebt beschwichtigend ihre Hände. »Frau Schwarz meint, du würdest häufig Bücher ausleihen. Ich wollte gleich mit einigen rüber gehen. Lust, mitzukommen?« Nachdem ich kurz überschlagen habe, wie viele Bücher ich ausgelesen habe, nicke ich. »Gerne, gibst du mir einen Moment?«, frage ich, warte aber nicht auf ihre Reaktion und sammle die Bücher zusammen, die ich zurückgeben will. Als ich alle Bücher habe, lächelt Martha mich an und gemeinsam gehen wir nach unten und durch die schwere Holztür des Foyers nach draußen, wo die Anderen schon auf Martha warten. Auf dem Weg zur Schule ruhen meine Augen auf der Rückansicht von Juli, wie sie es in fast jeder Unterrichtsstunde taten, wenn ich versuche zu ergründen, wo ich diese Augen schon einmal gesehen habe. Ich fühle mich zwiegespalten, besonders als ich ihren Hintern anstarre und feststelle, wie gut ihre Jeans diesen betonte. Ob Juli wirklich eine Art Kurzform war? Bevor ich darüber weiter nachdenken kann und hinterfragen kann, warum ich gerade so viel Interesse an ihrem Hinterteil habe, haben wir die Bibliothek erreicht. Ich scanne die Bücher für die Rückgabe ein und lege sie danach auf einen Wagen, wo alle Bücher landen, die zurückgegeben wurden. Frau Schwarz und Martha würden sich ihrer annehmen, sobald sie Zeit zum Einsortieren fanden. Danach streife ich einige Minuten, tief in meinen Gedanken versunken durch die Gänge der Bibliothek und leihe mir erstmals auch einige Romane, neben den Lehr und Sachbüchern aus. Nach zwanzig Minuten gehen wir als Gruppe gemeinsam zurück ins Internat. Weil ich nicht reden möchte und auch nichts zu dem Weibergeschwätz über Jungs zu sagen habe, lasse ich mich nach einem Moment zurückfallen und gehe ihnen langsam hinterher.  »So, Toleranz, also?«, fragt mich Juli, kurz vor dem Internat, als ich wieder etwas zu der Gruppe aufgeschlossen habe. »Der Buschfunk funktioniert hervorragend«, kommentiere ich und wir gehen den restlichen Weg, schweigend, nebeneinanderher. Kapitel 5: Kapitel 4. --------------------- Regen. Dicke Tropfen, die unaufhörlich aus dem grauen, wolkenverhangenen Himmel brechen. Er will nicht zu meiner sonnigen Stimmung passen und ich verstehe nicht, wie es regnen kann, wo doch endlich Wochenende und der Unterricht für sagenhafte zwei Tage pausiert ist. Okay, technisch gesehen haben wir Freitag und das Wochenende beginnt erst morgen, aber wen interessiert solch Genauigkeit? Mich jedenfalls nicht, als ich beschwingt durch die Gänge der Schule eile um schnell aus dem Gebäude zu kommen. Die Blicke, die ich noch immer täglich auf mir spüre, sind mir heute egal und verschwinden, als ich das Schulhaus verlasse und prompt wieder an den Regen erinnert werde, der erbarmungslos auf mich niederprasselt. Meinen Schirm habe ich heute Morgen natürlich nicht mitgenommen, weil die Sonne geschienen hat. Mein T-Shirt ist schnell durchweicht. An meiner guten Laune kann der Regen auf meiner Haut nichts ändern, denn ich fahre heute endlich heim. Gut gelaunt gehe ich durch das Schultor und ziehe den Kopf ein, als ein dicker Tropfen in meinen Nacken fällt und langsam an meiner Haut hinab rinnt. »Hey«, erklingt Marthas Stimme hinter mir und wenige Augenblicke später wird ein Regenschirm über mich gehalten. »Ich hab nach dir gerufen, aber du hast mich nicht gehört, im Schulhaus. Gehen wir zusammen zurück?« Ich nicke und sehe sie dankbar an, als sie zu mir aufschließt. So gehen wir gemeinsam, den Regenschirm teilend, los. »Und, fährst du heute auch nach Hause?«, durchbricht Martha die Stille zwischen uns. »Ja«, erwidere ich und lächle leicht, bei dem Gedanken an zu Hause. »Eigentlich wollte ich schon am letzten Wochenende fahren, aber wir können ja nur alle vierzehn Tage heimfahren, selbst wenn man ein Wochenende ausfallen lassen hat.« Das war echt verdammt ärgerlich gewesen. Meine Eltern und ich hatten viele Pläne gemacht und dann hat mir diese Regel den Mittelfinger gezeigt und ich musste bis zu diesem Wochenende warten. »Dann fährt dieses Mal unser ganzer Jahrgang heim. Das ist selten«, lächelt Martha und sieht mich ernst an, bevor wir den eigentlichen Weg verlassen und uns auf einen matschigen Trampelpfad, durch den Wald begeben, der eine Abkürzung zum Internat darstellt. »Du hast dich in den letzten Tagen ziemlich rar gemacht. Ich dachte, es würde vorwärtsgehen, mit dir, nachdem wir uns letzte Woche Dienstag, alle ein bisschen angenähert haben.« Was soll man darauf antworten, ohne dass es blöd oder angepisst rüber kommt? Bevor ich auch nur Worte finde, spricht Martha weiter. »Mehrere Leute sind an mich herangetreten, dass ich einmal mit dir reden soll. Was ist aus deinem Vorsatz geworden?« Ich reagiere mit einem Schulterzucken und weiche Marthas Blick aus. Tatsächlich habe ich mich in den letzten Tagen zurückgezogen und wann immer Rati und Uma ein Gespräch mit mir beginnen wollten, habe ich es sehr schnell abgewürgt und bin geflohen. Als der Regenschirm über mir verschwindet, erkenne ich, dass Martha stehen geblieben ist und ich mein Tempo angezogen habe. Seufzend bleibe ich ebenfalls stehen, ohne mich nach Martha umzusehen. Ich höre ihre Schritte im Matsch des Trampelpfads. »Sprich mit mir Romy«, höre ich sie sagen und stelle mir vor, dass sie nur wenige Schritte hinter mir steht. »Und was, soll ich deiner Meinung nach sagen?«, frage ich und blicke zum Blätterdach empor und spüre, wie mir der Wind kalte Regentropfen ins Gesicht weht. Ich schließe meine Augen und atme tief ein. »Was ist es, dass du aus meinem Mund hören willst?« »Was es ist, dass dich daran hindert, es einmal zu versuchen und dich ein bisschen zu öffnen.« Ich vergrabe meine Hände tief in meinen Hosentaschen, öffne meine Augen, als ich ausatme und drehe mich zu Martha um, die wirklich nur zwei Schritte hinter mir steht. Wahnsinn wie schnell die Stimmung kippen kann, denke ich verärgert und kneife mich selbst in mein Bein, um Martha nicht den Schirm aus der Hand zu schlagen. »Du, ich versuche es, seit ich hier in dieser Hölle angekommen bin und ich finde meinen Fortschritt großartig. Zu Hause habe ich jeden, der nicht der arischen Rasse entspricht und es gewagt hat, mich schief anzusehen, gemeinsam mit meinen Freunden, die Fresse poliert. Sag mir also nicht, dass ich es nicht versuchen würde. Nur weil ich über Toleranz gesprochen habe und Ratis Angebot angenommen habe, muss ich nicht sofort allen Kanaken hier, die Füße küssen und meinen Kameraden, in den Rücken fallen«, flüstere ich gefährlich leise und drehe mich weg, bevor es sich meine Fäuste nicht noch anders entscheiden und lasse Martha einfach stehen.    Außer Atem lasse ich mich, nah am Eingang der Kapelle nieder und ärgere mich darüber, dass Martha es geschafft hat, mit ihren Fragen meine Stimmung zu verhageln. Ich versuche, mir die positiven Aspekte meiner Heimfahrt, vor Augen zu führen, und hoffe so meine, auf dem Weg verlorene, gute Laune, wiederzufinden. Vergeblich. Die betenden Ordensschwestern ignorierend, rufe ich mir in Erinnerung, dass ich zwei Tage lang keine Schule, kein Internat, keine Gebete und kein Getuschel hinter meinem Rücken ertragen muss. Zwei Tage, an denen ich mir keine Gedanken über meine schlechten Zensuren machen muss und an denen ich nicht aufpassen muss, was ich sage. Jedenfalls, wenn ich draußen bin und mich unter meinesgleichen befinde. Zu Hause muss ich mich genauso zusammenreißen wie hier. Mama und Papa mögen ausländerfeindliche Äußerungen nicht und wissen auch nicht, dass ich gegen Ausländer bin und einer rechten Gruppierung angehöre. Nichtsdestotrotz freue ich mich auf zu Hause. Auf mein Zimmer, mein Bett und ganz besonders auf meine kleine Schwester Lari. Geplant ist ein ruhiges Wochenende, das ich mit meiner Schwester und meinen Eltern verbringen möchte, auch wenn es mir in den Fingern juckt, die Kameraden durchzutelefonieren und zu fragen, ob irgendwo etwas ansteht. Allerdings weiß ich nicht einmal, ob nach der Aktion von Paul und Schubi jemand in der Stadt ist. Und wer nicht in der Stadt ist, auf den können wir verzichten. Denn Menschen ohne Rückgrat kommen im Leben nicht weit. Einer der guten Sprüche von Paul, zwischen dem ganzen Dreck, den er so von sich gegeben hat. Nach dem Gebet stürme ich eilig auf mein Zimmer und lasse das Vesper sausen. Zu Hause kann ich so viel Kaffee saufen, wie ich möchte. Ich werfe die Klamotten achtlos in meine Tasche und lege die Bücher, die ich zum Lernen mitnehmen möchte, oben drauf. Mit geschulterter Reisetasche verlasse ich mein Zimmer und zucke erschrocken zusammen, als Juli neben mir steht. »Scheiße. Schleich dich nicht so an«, zische ich und schließe meine Tür ab. Seit dem Dienstagabend, als wir gemeinsam von der Bibliothek zurückkamen, haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Juli sieht mich einen Moment entschuldigend an, bevor ihre sanften Gesichtszüge hart werden und sie mir ernst in die Augen sieht. »Mach zu Hause keinen Scheiß, okay?« »Ich versuche es«, erwidere ich und frage mich, was sie sich unter Scheiß vorstellt. Ich werde ein schönes, chilliges Wochenende mit meiner Familie verbringen, wenn ich mich dagegen entscheide, die Kameraden anzurufen. Mit Lari ein Eis essen gehen und von Papa eventuell erlaubt bekommen, eine Runde mit seiner Cross-Maschine zu drehen und ein bisschen Lernen, wenn meine Eltern nichts anderes geplant haben. Weshalb ich ein »Ich doch nicht«, nachdrücklich hinterher schiebe, bevor ich mich, nachdem ich mich beinahe wieder in ihren Augen verloren hätte, die mich so traurig ansehen, wegdrehe und langsam den Gang zu der Treppe hinab gehe. Ich kann hören, wie sie leise seufzt und hinter mir hergeht, aber ich drehe mich nicht um. »Dieses Mal hast du weniger Haare, die du dir abrasieren kannst. Lass dich also nicht erwischen, wenn du doch Scheiße baust oder du mit deinen Kumpels wieder losziehst und Asylantenheime abfackelst.« Ein eiskalter Schauer klettert meinem Rücken hinab und lässt mich mitten im Gang erstarren und meine Tasche auf den Boden fallen, als ich mich erinnere. Daran erinnere, wo ich sie das erste Mal gesehen habe. Mit einem Mal wird mir der Grund der Ohrfeige klar und, dass sie es war, die Frau Kramer und allen anderen meine politische Gesinnung nahe gelegt hat, als wir uns an meinem ersten Abend im Foyer begegnet sind. Als ich mich zu ihr umdrehe, um keine Ahnung was, zu sagen, ist sie verschwunden und der Gang, bis auf mich, leer.   Als ich auf dem Parkplatz stehe und darauf warte, dass Mama mich abholen kommt, bin ich froh, dass es nicht mehr regnet, denn mein Schirm liegt noch immer auf meinen Zimmer, stelle ich fest, als ich den wolkenverhangenen Himmel starre und an der Seite meiner Tasche nach dem Schirm taste. Mit meinen Gedanken bin ich weit weg und bemerke erst, dass Mama da ist, weil sie mich umarmt. »Hey Mama«, murmle ich in Mamas Haare und lächle gezwungen, als sie von mir ablässt und mich ansieht. Ob Juli Freunde in dem Asylantenheim hatte, die in jener Nacht starben? Wäre es so, versuche ich, mich zu beruhigen, hätte ich mir mehr als eine Ohrfeige verpasst. Plötzlich rieche ich Rauch und fühle mich zurück in die Nacht versetzt, wo ich ihre unglaublichen, braunen Augen das erste Mal gesehen habe. Erst die Kofferraumtür, die neben mir zugeworfen wird, bringt mich ins Hier und Jetzt zurück. Fahrig streiche ich mir durch meine kurzen Haare und setze mich auf den Beifahrersitz von Mamas Mercedes. »Alles klar, Romy?« »Ein bisschen müde«, zwinge ich mich, zu sagen, und sehe Martha und Juli, wie sie sich zum Abschied umarmen. Ich wende rasch meinen Blick ab und kralle meine Fingernägel in meine Oberschenkel. »Was macht die Schule?«, fragt Mama, als wir vom Internatsgelände runter fahren. »Nicht gut«, gestehe ich und starre aus dem Seitenfenster. Im Westen öffnen sich die grauen Wolken und blauer Himmel bricht hindurch. »Der Unterricht ist hart, ich weiß nicht, ob das mit dem Abschluss funktioniert, wie ihr euch das vorstellt.« »Was ist mit Nachhilfe? Ich bin mir sicher, dass dir ein bisschen Nachhilfe schon viel helfen würde. Vielleicht jemand aus dem Internat?« »Nein«, fahre ich Mama über den Mund und räuspere mich. »Ich habe mich in den letzten drei Wochen nicht gerade beliebt gemacht und keinerlei Freundschaften geschlossen. Ich denke nicht, dass mir da jemand helfen würde«, lüge ich Mama an. »Notfalls wiederhole ich das Jahr noch einmal?« Mama trommelt auf das Lenkrad, als wir hinter einem Traktor hertuckern und sieht mich aufmunternd an. »Warten wir doch auf dein Halbjahreszeugnis, bevor wir uns darüber intensiver Gedanken machen. Erst einmal kommt Weihnachten. Bis dahin kann sich noch einiges verändern, Liebes.« Häuser, Bäume, Dörfer und Städte ziehen an uns vorbei und je weiter wir uns vom Internat entfernen, umso mehr, fällt die Anspannung von mir ab. »Wird Lari zu Hause sein?« »Ja, deine Schwester und dein Vater freuen sich schon auf dich. Hast du schon Pläne, für das Wochenende?« Ich nicke und sehe Mama an, als wir an einer Ampel halten. »Ich habe ein paar Bücher zum Lernen dabei. Ansonsten muss ich mal sehen, ob meine Freunde zu erreichen sind. Vielleicht gehen wir alle ins Kino?«, frage ich und sehe Mama hoffnungsvoll an, die mir zuzwinkert, bevor sie wieder auf die Straße schaut. »Vielleicht warten zu Hause Tickets auf dich, die dich in den neusten Fast and Furious Film überreden wollen.« Nach dieser Konversation, in der ich noch meine Freude ausdrücke, lehne ich mich vor, schalte das Radio ein und wühle in Mamas Handschuhfach nach einer passenden CD. Weil ich nichts Besseres finde, werfe ich Rosenstolz in den Player und lausche der unverkennbaren Stimme von Anna und versuche, nicht an Juli zu denken. Denke dadurch automatisch an die Nacht, beim Asylantenheim und an Paul und Schubi. Rieche zum wiederholten Male den Rauch, spüre den ekligen Sprühregen auf meiner Haut. Mama ist es, die mich wieder aus den Erinnerungen holt. »Ist wirklich alles okay, Liebes?« »Ja, alles gut«, seufze ich vernehmlich und strecke meine Beine im Fußraum des Autos aus. »Ich war nur in Gedanken. Hast du etwas gesagt?« »Nein«, sagt Mama und sieht mich eindringlich an. »Aber du hast geschaut, als ginge es dir plötzlich richtig schlecht, deshalb.« Ich versichere ihr, dass es mir wirklich gut geht und starre die restliche Fahrt aus dem Seitenfenster.   »Romy!«, kreischt meine kleine Schwester, als ich aus Mamas Mercedes aussteige und stürmt mir mit einem Tempo entgegen, dass ich gerade noch meine Arme ausbreiten kann und dann liegt sie auch schon in meinen Armen und drückt sich fest an mich. Ich halte sie fest und atme ihren vertrauten Geruch tief ein. »Hey Lari, ich habe dich auch vermisst«, flüstere ich ihr zu und streiche Lari sanft über den Rücken, bis sie sich von mir löst und unsere Eltern bitterböse ansieht. »Wenn ich schon Facebook benutzen dürfte, wäre das in Kontaktbleiben viel einfacher.« Unsere Eltern tun so, als hätten sie den Vorwurf nicht gehört und gehen ins Haus, nachdem Papa meine Tasche aus dem Kofferraum gehoben hat. Im Flur schließe ich, nachdem Lari mich losgelassen hat, auch Papa fest in meine Arme, der mich entschuldigend ansieht. »Du weißt, wenn wir es hätten verhindern können, würdest du noch hier zur Schule gehen, Pfläumchen.« »Mama hat gesagt, ihr habt Kinokarten für den neuen Fast and Furious Film!«, wechsle ich das Thema, weil ich weiß, dass es nichts bringt, mich zu beschweren. Papa nickt und winkt mich ins Wohnzimmer, wo Mama schon mit Lari wartet. »Morgen Nachmittag, Pfläumchen. Für dich, Lari, Mama und mich.« »Was wollt ihr zum Abendessen?«, fragt Mama, als ich mich neben Lari auf die Couch gesetzt habe und Papa sich in seinen Lieblingssessel fallen lässt. »Pizza«, skandieren Lari und ich, wie abgesprochen, im Duett und Mama kramt einen Flyer unter dem Wohnzimmertisch hervor, bevor Papa auch nur ein Veto einlegen kann. »Vom Türken um die Ecke oder von unserem Stammitaliener?«, will Mama wissen. Bei der Erwähnung des Türken zieht sich mein Magen zusammen und das Hungergefühl verebbt. Fünf Tote - in einer Dönerbude, hier in der Stadt. »Wir könnten auch Essen fahren. Ich habe letzte Woche einen Griechen entdeckt, den ich gern ausprobieren würde«, lächelt Papa und schaut abfällig auf die Flyer und ich ahne, dass er das in erster Linie vorgeschlagen hat, weil er keine Lust auf unsere Diskussionen hat. »Pizza bekommt ihr da bestimmt auch.«   »Was meint ihr?«, fragt Mama uns und sieht Papa skeptisch an. Weil ich heute keine Lust darauf habe, ewig mit Mama und Lari zu diskutieren, schlage ich mich auf Papas Seite und bin für den Griechen. Lari schließt sich mir an und so kommt es, dass ich mich eine halbe Stunde später in Papas Auto, auf der Rückbank wiederfinde und wir als Familie über den Asphalt tuckern. Wir fahren aus der Stadt raus und kurz vor dem nächsten Dorf halten wir an einer gut besuchten Gaststätte. Ich genieße die Zeit mit meiner Familie und muss kaum an Juli und das Internat denken, wo ich am Sonntag wieder hinmuss. Wir lachen, schlagen uns die Bäuche voll und Mama gibt mir ein Gläschen Ouzo aus, was mich besonders freut, da sie mir sonst nicht einmal ein Glas Sekt zu Silvester gestattet. Als ich den Alkohol in meinen Beinen kribbeln spüre, mache ich mit meinem Smartphone ein Erinnerungsfoto von mir und meiner Familie und antworte aus einer Laune heraus, Dancing Juliet und bestätige ihr, dass ich die Ohrfeige verdient habe. Erst als wir wieder zu Hause sind und mein Kopf, mein Kopfkissen berührt, zähle ich Eins und Eins zusammen und lache über meine eigene Dummheit. Wie konnte ich nur so dämlich sein und nicht raffen, dass Juli Dancing Juliet ist? Über meine Dummheit schmunzelnd, lege ich mein Smartphone neben mich, rolle mich auf die Seite und starre an die Wand meines Zimmers.   Als ich das nächste Mal auf mein Smartphone blicke, stelle ich überrascht fest, dass ich eingeschlafen bin und es schon kurz nach Eins in der Nacht ist und Juli mir geantwortet hat. Mir die Müdigkeit aus den Augen reibend setze ich mich auf und lese die Facebooknachricht. 22:11; Dancing Juliet: ›Du überrascht mich.‹ Nicht nur dich, denke ich, trinke einen Schluck Wasser und schiebe die Bettdecke, die Mama wohl über mich gelegt hat, von meinen Beinen. 00:22; Romy Schneider: ›Nicht nur dich, ich mich selbst auch, Juli. Wie läufts zu Hause?‹ Ich ärgere mich selbst über meine dumme Frage, aber zu spät, die Nachricht ist schon abgeschickt. Dumm deshalb, weil ich nicht weiß, wo Juli nach dem Brand im Asylantenheim unterkam. 00:30; Dancing Juliet: ›Ich sehe, du machst deine Hausaufgaben, wenn auch reichlich spät. Dabei habe ich dir doch schon einen deutlichen Hinweis gegeben? Geht so.‹ Zurück in die Kissen gelehnt, starre ich mein Display so lange an, bis es aus geht und das Zimmer wieder verdunkelt. Weil ich keine Ahnung habe, was ich zurückschreiben soll, starre ich in die Dunkelheit und schließe meine Augen irgendwann, als sie der Dunkelheit müde werden. Ich ziehe mir die Decke bis unters Kinn und zucke erschrocken zusammen, als etwas gegen mein Fenster knallt. Vielleicht ein Vogel, überlege ich und spüre, wie mein Gehirn immer träger wird. Ich atme tief ein, als einige Momente später abermals etwas gegen mein Fenster knallt und daran abprallt. Mit der Decke um meinen Körper gewickelt, stolpere ich über meine Reisetasche, als ich zum Fenster gehe und es fluchend aufreiße. Genau in diesem Moment segelt ein Stein an mir vorbei und landet mit einem dumpfen Geräusch auf meinem Teppich.   »Wer ist da?«, zische ich hinab in die Dunkelheit und versuche, jemanden zu erkennen. »Komm runter«, erklingt eine vertraute Stimme und neben dem Apfelbaum in unserem Garten geht ein Smartphonedisplay an und für einen Moment, sehe ich Julis Gesicht. »Juli, bist du das?«, frage ich zischend und versuche mehr zu erkennen, als eine Silhouette in der Dunkelheit. »Was machst du hier? Warte, ich komme runter.« Ich schließe mein Fenster, werfe meine Bettdecke auf mein Bett und kralle mir eine Strickjacke aus dem Kleiderschrank, nachdem ich meine Schreibtischlampe angemacht habe, um mehr zu sehen. Leise schleiche ich durchs Haus, steige die Stufen hinab ins Erdgeschoss und schiebe im Wohnzimmer die Terrassentür auf. Entschlossen trete ich hinaus auf die Terrasse und hätte beinahe die ganze Nachbarschaft zusammen geschrien, weil Juli plötzlich hinter mir steht und ein ›Buh‹, in mein Ohr flüstert. »Scheiße«, fluche ich und drehe mich wütend zu ihr um und gehe einige Schritte auf Abstand, weil sie zu nah in meiner Komfortzone befindet. »Mach das nie wieder. Was zur Hölle machst du eigentlich hier und wo hast du die Adresse her?« Juli kichert und ich rieche Alkohol. »Bist du betrunken?« Abermals kichert sie, sagt aber nichts. Seufzend packe ich sie, nachdem ich einen Moment darüber nachgedacht habe, an ihren Arm und ziehe sie ins Haus und zu mir ins Zimmer. Schließlich kann ich sie in diesem Zustand doch nicht fortschicken, oder? Wir verursachen so viel Lärm, dass ich überrascht bin, dass meine Mutter nicht im Flur steht und mich mit ihrem mörderischen, verschlafenen Blick erdolcht. »Also?«, frage ich, als Juli auf meine Couch plumpst und ich ihr meine Wasserflasche reiche und versuche nicht daran zu denken, was Paul und die Kameraden jetzt von mir denken würden, weil ich eine so offensichtliche Ausländerin in mein Zimmer lasse. Dabei wird mir bewusst, wie dumm und abwertend dieser Gedanke ist. »Ich habe vor ein paar Tagen das Klassenbuch ins Lehrerzimmer gebracht«, erklärt sie mir nuschelnd und kichert dabei pausenlos, wenn sie nicht an der Wasserflasche nippt, sodass es schwer ist, sie zu verstehen, obwohl sie akzentfreies Deutsch spricht. »Kurz vor dem Lehrerzimmer geht es noch einmal zwei Stufen hoch, dort bin ich gestürzt und das Buch lag geöffnet auf dem Boden. Dabei habe ich zufällig die aufgelisteten Anschriften gelesen und überrascht festgestellt, dass wir in der gleichen Stadt wohnen und du auch noch nah an meinem Elternhaus, wohnst.« »Elternhaus?«, platzt es aus mir heraus und Juli kichert erneut. »Warst du nicht Anfang des Jahres noch im Asylantenheim?«   »In den Ferien, als ehrenamtliche Helferin«, nickt Juli und trinkt einen großen Schluck Wasser, bevor sie mich versucht, zu fokussieren und betrübt aussieht. »Die Nacht war fürchterlich.« Ich zwinge mich, nicht daran zu denken und ignoriere den Geruch von Rauch in meiner Nase, weil ich weiß, dass es Einbildung ist. Hier brennt nichts. Den Nasenrücken massierend, schließe ich meine Augen und sehe, wie sich die Flammen gierig durch alles brennbare fressen. »Und was willst du nun hier?«, frage ich und reiße meine Augen auf. »Meine Eltern«, beginnt Juli. »Sie streiten und ich kenne niemanden, außer dich, in dieser Stadt, weil ich den Großteil des Jahres im Internat oder bei meinen Großeltern verbringe.« »Warum bist du dann nach Hause gefahren?«, frage ich und stütze meine Ellenbogen auf das Fensterbrett und starre hinaus in die Dunkelheit der Nacht. Als das Schweigen immer länger wird, beginne ich, Juli in der Spiegelung der Fensterscheibe zu beobachten und sehe, wie sie auf ihre Füße starrt und ihre Hände, in ihrem Schoß nervös knetet. »Weil meine große Schwester heute ihre Verlobung gefeiert hat. Deshalb auch die Alkoholfahne«, bricht es aus ihr heraus, als ich nicht mehr mit einer Antwort gerechnet habe und sie sieht mich durch die Spiegelung direkt an. »Soll ich gehen?« »Was erwartest du von mir?«, frage ich leise und sehe auf das Fensterbrett hinab. »Ich bin immer noch dieselbe, die du damals im Frühling gesehen hast. Ich habe mich nicht verändert.« »Vielleicht«, stimmt Juli mir zu. »Aber du hättest mir auch nicht schreiben müssen.« Bevor sie weitersprechen oder ich auf ihre Worte reagieren kann, beginnt sie zu würgen. »Kotz mir bloß nicht auf den Teppich«, rufe ich, bin mit zwei großen Schritten neben ihr und zerre sie in den Stand. An ihrem Arm ziehe ich sie so schnell wie möglich in mein Badezimmer. Gerade noch rechtzeitig erreichen wir die Toilette. Nur eine Sekunde später und Juli hätte sich auf dem Boden übergeben. Ich halte ihr die Haare aus dem Gesicht und streiche ihr mit meiner freien Hand beruhigend über den Rücken, als sie beim Kotzen immer hysterischer wird. Gefühlte Stunden hocken wir in meinem Badezimmer. Tatsächlich sind es vielleicht zehn Minuten, die vergehen, bis sich Juli soweit beruhigt, dass sie mich nach Wasser fragen kann und ich ihr die Flasche aus meinem Zimmer hole. Bis sie sich sicher ist, sich nicht noch einmal zu übergeben, zieht weitere Zeit ins Land, in der ich schweigend meine Füße anstarre und am Rand der Badewanne sitze. »Gehts wieder?« Juli nickt und lässt sich von mir auf die Beine helfen. Gemeinsam gehen wir wieder in mein Zimmer, wo ich sie wieder auf meine Couch drücke und mit einem kurzen Blick auf sie zu meinem Schrank gehe und ein T-Shirt hervorkrame, weil ihr Oberteil nass ist. »Hier«, murre ich und werfe ihr das T-Shirt zu. Überrascht sieht sie zu mir, blickt auf ihre Bluse und nickt dann, als habe sie die Nässe erst jetzt bemerkt. Ich wende meinen Blick ab, weil sie ungeniert damit beginnt, ihre Bluse aufzuknöpfen und ich erstarre, als ich wieder zu ihr Blicke, weil sie keinen BH unter der Bluse trägt.   »Es ist mir verboten, einen zu tragen«, kichert Juli und zieht sich das T-Shirt über den Kopf und ich versuche, nicht weiter über Julis Brüste nachzudenken. Ist ja nicht so, als hätte ich keine Eigenen. Ich verkneife es mir, nach dem Warum zu fragen und hänge die Bluse über meine Heizung. Schließlich wollte ich ja auch nicht wissen, warum sie keinen trägt. Das hat sie mir ja einfach erzählt. Als ich mich wieder zu ihr umdrehe, wirft sie mir ihren Rock zu. »Der ist auch nass«, kommentiert sie, als ich auf das Stück Stoff in meinen Händen hinabsehe. »Brauchst du eine Hose?«, frage ich völlig automatisch. Ist es reines Mitleid, was mich dazu antreibt, ihr zu helfen, obwohl ich es nicht tun sollte? »Danke, dein T-Shirt ist groß genug, dass ich mich darunter verstecken kann«, nuschelt sie und deutet auf ihre Beine, die sich unter dem Stoff verstecken. »Wo hast du das denn her? So breit bist du doch nicht.« »Von meinem Ex-Freund«, stelle ich fest und frage mich, was Paul davon halten würde, wenn er wüsste, wer sein T-Shirt trägt. Ich lache leise, weil ich mir sein angewidertes Gesicht bildlich vorstellen kann und hänge den Rock neben die Bluse. »Du kannst in meinem Bett schlafen«, sage ich, nach einem Moment und deute auf mein Bett. Juli steht von der Couch auf und dabei rutscht das T-Shirt, von ihren nackten Beinen und langsam beginne ich zu glauben, dass ich krank werde, als mein Herz schneller schlägt und ich mich frage, ob sich ihre Haut so weich anfühlen würde, wie sie aussieht. »Das kann ich nicht annehmen«, haucht sie, lässt sich von mir jedoch widerstandslos zu meinem Bett führen. Bestimmt drücke ich sie an den Schultern hinab, bis sie am Bettrand sitzt und mit undefinierbarem Blick zu mir aufsieht. »Doch kannst du. Leg dich hin und nüchter dich aus.« Bevor ich einen Schritt rückwärts gehen kann, zieht sie so doof an meinem Arm, dass ich stolpere und halb auf sie falle. Überrascht fange ich mich gerade noch ab, bevor unsere Köpfe miteinander kollidiert wären. Unsere Blicke verhaken sich ohne große Anstrengung und ich spüre ihren Atem auf meiner Haut. Alles um uns herum erscheint mir unwichtig, bis es an meiner Zimmertür klopft und mich zurück in die Realität zieht. »Romy?«, erklingt Laris Stimme und ich bin, glaube ich noch nie schneller aus meinem Bett aufgestanden. Was zur Hölle war das? Mir bleibt keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn meine Schwester zieht die Zimmertür auf und schaut mich an. »Alles okay? Ich habe Lärm gehört«, fragt sie und schaut verwirrt von mir zu Juli und zurück. »Wer ist das?« »Bin Juliet«, murmelt Juli, greift nach meiner Hand und zieht mich zurück auf mein Bett, das Lattenrost knarzt, als ich auf der Matratze aufkomme. »Dann teilen wir uns dein Bett eben. Ich will nicht, dass du wegen mir auf der Couch schläfst.« Meine Schwester sieht mich fragend an, als mich Juli in die Kissen zieht. »Spontaner Besuch. Ich erkläre es dir nachher genauer. Wenn du eher wach sein solltest, meldest du sie bei unseren Eltern schonend an?«, frage ich Lari, weil ich ganz genau weiß wie unsere Eltern es finden, wenn wir Überraschungsgäste haben. Lari nickt, grinst mich blöd an, als Juli mich als Kopfkissen missbraucht und zieht sich dann zurück. »Leg deinen Kopf wo anders hin«, murmel ich und starre an meine Zimmerdecke, als Juli auch noch einen Arm über meinen Bauch legt und sich ankuschelt. »Hey, ich bin doch kein Kuscheltier«, beschwere ich mich, doch von Juli erfolgt keine Reaktion mehr. Weil ich mich nicht von ihr lösen kann, gebe ich mich geschlagen und finde in dieser Nacht nur schlecht in den Schlaf, obwohl ihr Atem an meinem Ohr eine einschläfernde Wirkung hat, wären da nur nicht meine seltsamen Gedanken, die sich nur um Juli zu drehen scheinen. So hab ich mir meinen Start ins Wochenende, irgendwie nicht vorgestellt.   Kapitel 6: Kapitel 5. --------------------- Irgendwann muss mich Julis Atemgeräusch so eingelullt haben, dass mich Morpheus doch noch mit beiden Armen in seinem Reich willkommen hieß. Denn als ich das nächste Mal am Bewusstsein kratze, höre ich leises Flüstern und Kichern, in meinem Zimmer und brauche einen Moment, um zu verstehen, mit wem sich meine Schwester unterhält. Würfel rollen über ein Spielbrett und ich sehe, als ich mit den Augen blinzelnd nachsehe, Juli neben Lari auf dem Boden sitzen. Typisch Lari, Juli direkt zu einem Gesellschaftsspiel einzuladen. Ein Klopfen an der Tür lässt mich meine Augen wieder schließen. Sekundenspäter erklingt die Stimme von Mama. »Schläft sie immer noch?« »Ich dachte, wir wecken sie, sobald Juliet und ich mit dem Spiel fertig sind«, höre ich Lari sagen und ich kann Mamas Augenrollen bildlich vor mir sehen. »Soll ich dir vielleicht ein paar Sachen aus Romys Kleiderschrank raus suchen, du musst doch frieren, Liebes?« »Lass deine Griffel von meinem Kleiderschrank, Mama«, klinke ich mich ein, als ich höre, wie Mama die Tür meines Schranks aufzieht und muss grinsen, als sie, Lari und Juli bei meinen Worten erschrocken zusammenzucken. »Dann kümmer dich besser um deinen Gast, als bis kurz nach Neun zu schlafen, Romy. In zehn Minuten gibt es Frühstück, unten in der Küche!« Mit diesen Worten rauscht Mama aus meinem Zimmer und lässt die Tür ins Schloss fallen. Seufzend setze ich mich auf und fahre mir gähnend durch die kurzen Haare. Mit einem gemurmelten »Guten Morgen«, schäle ich mich aus der Bettdecke und stolpere, die beiden Frühaufsteher ignorieren, ins Badezimmer, wo ich die Tür vernehmlich hinter mir ins Schloss werfe, meine Kleidung ablege und mich unter die Dusche stelle. Ein genießerisches Seufzen entweicht mir, als angenehmes, warmes Wasser auf meine nackte Haut trifft. Gott, wie habe ich meine eigene Dusche vermisst, auch wenn es technisch gesehen eine Badewanne ist. Selbst wenn es nur ein schlichter Bottich wäre, würde ich das im Moment nicht so eng sehen. So froh bin ich um die Privatsphäre, die man im Internat nur ganz früh und spät am Abend hat, wo das Wasser nicht mehr richtig warm wird. Ich reize die Zeit aus und seife mich gründlich ein. Soll Mama doch meckern, weil wir zu spät am Frühstückstisch erscheinen. Sie kommt selbst manchmal, mit Papa, zu spät und meine Schwester und ich beschweren uns darüber nie. Als ich mir das Shampoo aus den Haaren gespült habe, trockne ich mich ab und wickle mich in ein großes, flauschiges Badehandtuch ein, bevor ich mir die Haare mit einem kleineren Handtuch trocken reibe und meine benutzte Kleidung in den Wäschepuff werfe. »Du kannst auch Duschen gehen, wenn du möchtest. Ich sollte irgendwo noch ein paar Klamotten haben, die ich nicht mehr anziehe«, beginne ich meiner Zimmerwand zu erzählen, als ich, nachdem Zähneputzen, aus dem Badezimmer trete und auf meinen Kleiderschrank zugehe. Ich lege mir Unterwäsche, mein liebstes Gammelshirt, dass ich immer an Wochenenden trage, heraus und suche dabei nach meinen alten Klamotten, die ich mir in einer anderen Phase meines Lebens einmal gekauft hatte. Ich ziehe ein ärmelloses, weißes Top hervor und eine schwarze, schlichte, dünne Strickjacke. Aus den Tiefen meines Schrankes noch eine Jeans für sie und für mich eine Jogginghose, von denen ich denke, dass sie passen müssten. Zwischen all den Klamotten finde ich ein paar Unterhosen, die Paul wohl einmal bei mir vergessen und Mama für ihn gewaschen hat. Ich packe Juli eine davon auf den Kleiderstapel, weil ihr meine Unterwäsche nicht passen wird und die Unterhose wenigstens einen Gummizug hat. »Bitte schön«, murmel ich, als ich Juli den Wäschestapel hinhalte, ohne sie direkt anzusehen. »Handtücher findest du im großen Schrank, im Badezimmer. Gästezahnbürsten sind im Spiegelschrank.« Juli nimmt mir die Sachen ab und verschwindet ins Badezimmer. Erleichtert atme ich aus und lasse mein Handtuch fallen und beginne damit, mich anzuziehen. »Wer gewinnt?«, frage ich Lari, als ich mir mein Gammelshirt über den Kopf ziehe und mich neben ihr auf den Boden fallen lasse. »Juliet, so wie es jetzt aussieht«, erwidert Lari leise, nachdem sie das Brett gründlich studiert hat. »Wie kommt es eigentlich, dass du in meinem Zimmer bist?«, frage ich und stoße Lari mit meiner Schulter grinsend an. Lari schubst mich sanft mit ihrer Hand weg und grinst zurück. »Ich konnte nicht mehr schlafen, weshalb ich vorsichtig in dein Zimmer geschaut habe. Da sah ich Juliet am Fenster stehen und habe sie gefragt, ob wir etwas spielen wollen.« »Und?«, frage ich gedehnt und sehe Lari ernst an. »Habt ihr über mich geredet?« »Mhm, ein bisschen«, zwinkert Lari und wirft mir den Würfel zu. »Ich habe ihr erzählt, wie gemein du immer zu mir bist.« Das Wasserrauschen aus dem Badezimmer stoppt für einen kurzen Moment und als ich mir vorstellen will, wie sie sich am ganzen Körper einseift, versteife ich mich und werfe Lari den Würfel zurück. »Du bist es doch, die immer frech zu mir ist«, lache ich leise, gekünstelt und hoffe, dass Lari es nicht bemerkt. »Ich habe dich wirklich vermisst, Romy«, flüstert Lari nach einem Moment und legt ihren Kopf auf meine Schulter. »Musst du am Sonntag wirklich wieder weg?« »Ach Süße«, seufze ich, lege einen Arm um Lari und drücke sie fest an mich, ohne ihre Frage zu beantworten und starre die Badezimmertür an, als ich meinen Kopf an den von Lari lehne. »Ich habe Mama und Papa gefragt, angefleht, dass ich auch auf das Internat darf, aber sie sagen Nein, egal was ich zu sagen habe«, wimmert Lari leise und ich spüre die Tränen, die durch mein T-Shirt, auf die Haut meiner Schulter sickern. Ich streiche ihr beruhigend immer wieder über den Rücken, bis ihre Tränen versiegt sind und Lari an meiner Schulter eingeschlafen ist. Ich kann ihre Erschöpfung sehr gut nachvollziehen, weil ich weiß, wie es ist, wenn man weint und weniger Schlaf bekommt. Denn ich bin mir sicher, dass Lari sich extra einen Wecker gestellt hat, um meiner Bitte, Juli anzumelden, nachzukommen. Juli kommt bekleidet aus dem Bad, als ich Lari auf mein Bett hebe. Ich bedeute ihr, in dem ich einen Finger auf meine Lippen lege, leise zu sein und bin überrascht, wie gut ihr die Klamotten stehen. »Ist alles Okay?«, formt Juli die Frage, stumm, nur mit ihren Lippen und deutet auf den feuchten Fleck an meiner Schulter. Aus meinem Kleiderschrank hole ich ein frisches T-Shirt, weil ich nicht möchte, dass Mama und Papa beim Frühstück sehen, dass einer von uns geweint hat und schüttel an Juli gerichtet, meinen Kopf. Als ich das T-Shirt wechsle, fühle ich ihren Blick auf meiner Haut deutlich und beschert mir eine Gänsehaut. »Gehen wir Frühstücken, bevor Mama noch einmal hochkommt und mich einen Kopf kürzer macht«, seufze ich und blicke ein letztes Mal zu Lari, bevor ich meine Zimmertür öffne und Juli am Arm aus meinem Zimmer ziehe. »Wir bringen Lari etwas mit, wenn wir zu Mamas Zufriedenheit gemästet sind.« Ich lasse ihren Arm los, als ich die Zimmertür hinter uns schließe und gemeinsam gehen wir langsam die Stufen hinab. Vor der Küchentür sehe ich, wie Juli neben mir tief einatmet. Bevor sie jedoch etwas sagen kann, öffne ich die Tür und trete in die Höhle des Löwen. »Guten Morgen.« Papa schaut von seiner Zeitung auf und blickt mir mit einem neutralen Gesichtsausdruck entgegen. Ich setze mich auf meinen Stammplatz und lächle Papa an, bevor ich zurück zur Tür schaue, wo Juli unschlüssig zwischen Tür und Angel steht und zu mir schaut. »Komm rein und setz dich, meine Eltern beißen nicht«, sage ich und winke sie herein. »Wo ist deine Schwester?«, fragt Papa mich, als er meine Begrüßung mit einem Nicken zur Kenntnis genommen hat. »Und wer besucht dich hier spontan?« »Lari ist in meinem Bett noch einmal eingeschlafen. Bestimmt hat sie in der Nacht zu wenig geschlafen«, erkläre ich und klopfe auf dem Stuhl zu meiner Linken und sehe Juli dabei an, als sie zögernd auf uns zu kommt, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat. »Papa, darf ich dir Juliet vorstellen? Wir kennen uns aus dem Internat. Sie hat Stress zu Hause und brauchte einen Platz zum Schlafen.« Bevor Papa oder ich noch etwas sagen können, stellt Mama frische Brötchen auf den Küchentisch, legt Juli eine Hand auf die Schulter und sieht sie mit einem warmen Lächeln an. »Was magst du trinken, Liebes? Kakao, Kaffee, Orangensaft, Wasser?« »Kakao wäre toll«, lächelt Juli meine Mama zaghaft an, bevor sie zu Papa schaut. »Es tut mir leid, dass ich heute Nacht so unangekündigt hier aufgetaucht bin. Ich wusste nicht wohin mit mir. Ich kenne hier in der Stadt niemanden sonst und meine Eltern«, Juli unterbricht sich und sieht beschämt auf die Tischplatte. Ich widerstehe den Drang, unter dem Tisch nach ihrer Hand zu greifen und fokussiere die Brötchen. »Hey keine Panik«, lächelt Papa Juli an, legt seine Zeitung zur Seite und sieht dann zu mir. »Es ist einfach ungewohnt, dass Romy andere Mädchen zu Besuch hat.« »Uschi und Arianne waren doch auch schon hier, Papa«, werfe ich ein, weil ich nicht will, dass Juli sonst was von mir denkt. »Also Uschi ist ja wohl kein Mädchen mehr, Pfläumchen«, grinst er mich an und ich weiß, dass er den Kosenamen jetzt absichtlich benutzt hat, denn eigentlich tut er das nicht in Gesellschaft. Juli neben mir lacht leise und als ich kurz zu ihr blicke, sehe ich sie lautlos das Wort ›Pfläumchen‹ mit ihren Lippen formen. Danke Papa, jetzt hat sie etwas, womit sie mich aufziehen kann. Ich werfe Papa einen vernichtenden Blick zu und greife mir ein Brötchen, als er leise auflacht. »Und Arianne war noch im Kindergarten, Romy. Sie zählt also auch nicht. Wie geht es Uschi eigentlich? Ich habe sie länger nicht mehr gesehen.« »Ich«, setze ich an, lasse das Brötchen auf meinen Teller fallen und kralle meine Fingernägel, fest in meine Oberschenkel, als ich meine Hände wieder auf dem Schoß abgelegt habe. Es tut weh, an Uschi zu denken. An ihren und Ralfs Verrat. »Sie kam mich vor ein paar Tagen mit Ralf im Internat besuchen. Sie ist mit ihm nach Bayern angehauen. Wegen ihnen musste ich Strafarbeit leisten.« »Schade«, merkt Mama an, als sie Papa und mir Kaffee hinstellt und Juli eine Tasse Kakao. Mit einem Glas Orangensaft setzt Mama sich an die Stirnseite des Tisches, Papa gegenüber und schaut nachdenklich zu mir. »Ich mag Uschi, auch wenn ich ihre rassistische Art nicht gut finde. Wobei dein Paul in der Hinsicht schlimmer ist. Weißt du überhaupt schon, dass er im Gefängnis sitzt?« Mama hat schon immer ein Gespür für unpassende Tischgespräche. »Er ist nicht mein Paul, Mama. Nicht mehr«, knurre ich und versuche nicht an den Schmerz zu denken, den ich mir gerade zufüge, der mit jeder Sekunde stärker wird. »Ich habe dir immer gesagt, er ist nicht der Richtige für dich und schau, ich hatte recht. Ich hoffe für dich, dass du nie bei diesen ausländerfeindlichen Aktionen mitgemacht hast. Würde mich nicht einmal wundern wenn er für mehr, als die toten Türken, verantwortlich ist. Nie hätte ich gedacht, dass so ein fürchterlicher Anschlag in unserer Stadt passieren könnte.« Das Brötchen liegt unangetastet vor mir. Mir ist das Essen gründlich vergangen. Um nicht noch einen Streit vom Zaun zu brechen, warum ich nicht esse, lasse ich meine schmerzenden Oberschenkel in Frieden und schneide das Brötchen auf. Das fluffige Innenleben pulle ich ab und stopfe es mir in den Mund. Mit einem Schluck Kaffee spüle ich nach und habe mir erfolgreich die Zunge verbrannt. Wie konnte ich vergessen, wie heiß der Kaffee von Mama immer ist? »Mhm, der Kakao ist echt lecker«, wirft Juli ein, bevor Mama weiter gegen Paul wettern kann und ich spüre eine Welle der Dankbarkeit über mich rollen. Mama sieht mich mit einem Blick an, der mir sehr deutlich zu verstehen gibt, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist und wendet sich Juli zu. »Das freut mich, Liebes. Kommt, greift zu. Ich war extra beim Bäcker um die Ecke dafür.« Mit viel Kaffee schaffe ich es, eine Hälfte des Brötchens, mit etwas Butter, runterzuwürgen. Danach befülle ich meinen Teller mit Brötchen, Wurst, Käse und Butter, für Lari und stehe auf, um ihr eine Tasse Kakao zu machen. Auf der Treppe hält mich Juli am Arm zurück und ich hätte beinahe das Tablett fallen gelassen, fluchend drehe ich mich zu ihr um. »Spinnst du?« »Deine Eltern haben keine Ahnung davon?« Ich weiß sofort, worauf sie anspielt und schüttel meinen Kopf. »Nein, niemand weiß davon«, zische ich und gehe weiter die Treppen nach oben. Vor meiner Zimmertür drehe ich mich noch einmal zu Juli um. »Ich würde es gern weiter so halten. Es reicht mir, wenn ich in der Schule deswegen geschnitten werde. Danke übrigens dafür.« Juli mustert mich überrascht. »Wir schneiden dich nicht. Du bist es, die sofort auf Abstand gegangen ist.« »Glaubst du, was du da sagst?«, frage ich und sehe sie ironisch an. »Ich habe die Blicke sehr wohl gesehen und gespürt. Ich weiß, wie es aussieht, wenn eine etwas größere Gruppe über einen tuschelt.« Juli errötet unter meinem Blick und ich wende mich ab, balanciere das Tablett mit einer Hand und lege die andere auf die Türklinke. »Punkt für dich, aber wir haben nicht nur über dich, wegen der Sache geredet«, flüstert sie und hält mich am Arm zurück, als ich die Türklinke hinab drücken will. Beinahe wäre mir das Tablett auf den Boden gefallen. »Scheiße, pass doch auf«, zische ich und sehe ihr direkt in die Augen. Jeglicher Zorn in mir verpufft sofort, als ich mich in ihren Augen zu verlieren beginne. Ihre Stimme holt mich aus dem Abgrund und lässt mich hastig auf das Tablett schauen. »Du musst auf sie zugehen, Romy. Dann werden sie erkennen, dass du nicht so bist, wie es deine Tat, die sie von mir wissen, scheinen lässt.« »Wer sagt, dass ich das überhaupt will, hm?«, frage ich leise und ignoriere das leichte Zittern in meinen Händen. Um es zu kaschieren, umfasse ich das Tablett fester. »Jeder Mensch brauch Freunde.« »Ich habe«, beginne ich, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken, als ich daran denke, wie ich Uschi und Ralf abgewiesen habe. »Okay, vielleicht auch nicht«, seufze ich. »Doch, hast du. Wenn du es nicht in den Sand setzt«, lächelt Juli leicht und bevor ich reagieren kann, geht sie an mir vorbei und drückt meine Zimmertür auf. »Wen?«, frage ich überrascht. Es ist nicht mehr als ein Flüstern, doch als das Wort ›Mich‹, meine Ohren erreicht, glaube ich, keine weiteren Freunde zu brauchen, wenn ich nur sie, als Freundin haben kann. Den Kopf über diesen Gedanken schüttelnd und mich fragend, wie tief ich wohl noch sinken kann, dränge ich mich an ihr vorbei und stelle das Tablett auf meinen Schreibtisch ab. Ich ignoriere Juli, als ich zu meinem Bett gehe und meine Schwester sanft wecke. »Hey Süße, du hast das Frühstück verpasst«, flüster ich, als Lari mich mit müden Augen, anblinzelt. »Ich habe dir aber etwas mit hochgebracht. Steht auf dem Schreibtisch. Bekomme ich dafür jetzt meinen Kuss auf die Nase?« Lari lacht, weil es unsere Art ist, Dankbarkeit auszudrücken und stemmt sich zu mir hoch. Sie küsst mich sanft an der Nasenspitze und ich simuliere ein Niesen, was sie noch mehr zum Lachen bringt. »Habe ich etwas verpasst?«, fragt sie, als sie aufsteht und sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch setzt. »Nichts spektakuläres«, lächle ich und beobachte, wie sie an ihrem Kakao nippt. »Nach dem Frühstück gehst du Duschen, okay? Du weißt doch, dass wir nachher noch ein Date mit Mama und Papa haben?« »Können wir Juliet mitnehmen?«, fragt Lari, schneidet sich ein Brötchen auf und blickt zu Juli, die an meinem Zimmerfenster steht und hinab in den Garten starrt. Überrascht sehe ich von Lari zu Juli und setze mich auf mein Bett. »Worum geht es?«, fragt Juli und dreht sich zu uns, bevor ich Laris Frage verneinen kann. »Kino. Wir haben Karten für den neuen Fast and Furious Film. Ich glaube nicht, dass das geht, Süße.« Lari hält mit dem Essen inne und sieht von mir zu Juli und zurück. »Warum nicht?«, fragt sie kindlich und ich frage mich, ob ich vor drei Jahren auch noch solche Momente hatte, in denen ich völlig wertfrei, ja kindlich gehandelt habe. »Weil Papa nur für uns Karten hat, Süße.« Bevor Lari etwas erwidern kann, klopft es an meiner Zimmertür und Papa steht im Türrahmen. »Hey Pfläumchen. Mama und ich haben zufällig mitbekommen, was ihr eben gesprochen habt. Mama hat einen Anruf erhalten und muss gleich auf Arbeit fahren«, erklärt uns Papa und kratzt sich grinsend am Hinterkopf. Augenrollend schüttel ich meinen Kopf, ich glaube nicht an solche Zufälle und das Grinsen verrät ihn. »Und der Weihnachtsmann kommt nachher auch noch?«, kommentiere ich und schaffe es, ernst zu bleiben. Lari kichert, als Papa mich gespielt irritiert ansieht. »Nein, wie kommst du denn darauf, Pfläumchen. Wie dem auch sei, wir haben also eine Karte übrig. Vielleicht lädst du Juliet ein?« Mit einem Zwinkern verzieht sich Papa aus meinem Zimmer, ohne auf eine Antwort zu warten. Ich seufze schicksalsergeben und sehe Juli an. »Also, kommst du mit?« »Vielleicht solltest du nicht so grimmig gucken, wenn du Freunde im Internat finden willst«, grinst Juli und tauscht einen Blick mit Lari, den ich nicht verstehe. »Wenn ihr unbedingt wollt, dann komme ich gerne mit.« »Grimmig«, sage ich unbeeindruckt und sehe von Juli zu meiner Schwester, die es aufgegeben hat zu essen und darum kämpft nicht lauthals loszulachen. »Genau. Da hat man das Gefühl, du würdest einen gleich fressen, wenn man dich nicht in Ruhe lässt.« Nach diesen Worten ist es um meine Schwester geschehen und Lari kugelt sich vor Lachen auf dem Boden des Zimmers. »Schön, dass ich zu deiner Ermunterung beitragen konnte«, ätze ich mit verschränkten Armen und starre auf meine Füße. »Fürs Protokoll«, zische ich und sehe Juli an, die ans Fensterbrett gelehnt zu mir schaut, »Ist mir gerade erst wieder eingefallen, zählen Rati und Uma auch zu meinen Freunden.« Beinahe trotzig wirkt meine Antwort und Juli schaut mich seltsam nachdenklich an. Lari isst zu Ende und währendessen reden wir über belanglose, alltägliche Dinge. Wie das Wetter und die Musik. Ich versuche, jeglichen Blick in Julis Richtung zu vermeiden. Weil ich nicht verstehe, warum ich sie ständig ansehen will, warum ich immer wieder gegen mich selbst verliere und sie eben doch ansehe. Juli scheint sich meiner Blicke bewusst zu sein, denn immer wenn sie meinem Blick begegnet, funkeln ihre Augen verschmitzt und lassen mich eilig wegsehen und mein Herz schneller schlagen. Gesättigt reibt Lari sich den Bauch und steht auf. »Bin mal das Geschirr nach unten bringen.« Als meine Zimmertür hinter meiner Schwester ins Schloss fällt, stehe auch ich auf und greife in Ermangelung einer besseren Idee nach meinem Smartphone und schreibe Uschi über Facebook und frage, ob sie mit Ralf gut in Bayern angekommen ist, weil sie mir plötzlich fehlt, ich unsere Gespräche vermisse und mich das schlechte Gewissen plagt. Schließlich war Uschi immer für mich da gewesen, wenn es mir nicht gut ging. »Wenn es nicht okay ist, kann ich jetzt auch nach Hause gehen, meine Sachen sind trocken«, erklingt Julis Stimme zaghaft hinter mir und ich finde aus meinen Gedanken, mit denen ich bei Uschi und Ralf verweilte, zurück ins Hier und Jetzt, wo ich vor meinem Schreibtisch stehe und auf mein Smartphone starre. »Danke jedenfalls für deine Hilfe.« Ich drehe mich zu ihr um und stolpere rückwärts gegen meinen Schreibtisch, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass sie so nah hinter mir steht. Sie lächelt mich traurig an und will sich abwenden, weshalb ich sie am Handgelenk packe und festhalte. »Was«, setze ich an und will fragen, was sie mit mir macht, dass ich mich in ihrer Gegenwart so seltsam fühle und nicht sein kann, wie ich sein sollte. Doch ich unterbreche mich selbst, weil ich sicher bin, dass sich diese Worte laut noch dämlicher, seltsamer anhören, als sie in meinen Gedanken klingen. »Mama hat die Karte freigegeben. Das heißt, du musst mitkommen«, sage ich und lasse Julis Handgelenk los, als Mamas Stimme erklingt und meine Zimmertür nach innen aufschwingt. Wir blicken Beide zu meiner Zimmertür und ich sehe Mama im Türrahmen stehen. »Romy hat recht. Papa will nach dem Mittagessen mit euch losfahren. Juliet, gibt es irgendetwas, dass du nicht isst?« Ich verpasse Juliets Antwort, weil mein Smartphone vibriert und einen Anruf von Uschi ankündigt. Vermutlich isst sie kein Schweinefleisch, denke ich, als ich Mama aus dem Zimmer winke und Juli bedeute, dass sie sich mit was auch immer in meinem Zimmer beschäftigen kann. Unsicher, ob ich den Anruf wirklich entgegennehmen soll, starre ich auf mein Smartphone, atme tief ein und ziehe das grüne Hörersymbol nach links. »Uschi«, atme ich ihren Namen aus, nachdem ich die Luft angehalten und mir mein Smartphone ans Ohr gedrückt habe. »Romy«, erklingt Uschis Stimme verhalten. Juli hat es sich auf meinem Bett bequem gemacht und zappt mit der Fernbedienung durch Netflix, während ich darauf warte, dass Uschi etwas sagt. »Ist alles okay?«, frage ich leise, weil von ihrer Seite nichts zu hören ist. Ich höre Uschi ausatmen und jemanden im Hintergrund flüstern. »Ich bin nur überrascht, dass du den Anruf angenommen hast. Ralf und ich haben nicht so schnell mit einer Nachricht von dir gerechnet. Was hat deine Meinung geändert?« Ich sehe flüchtig zu Juli, die ganz gebannt auf meinen Fernseher starrt. »Eigentlich ist es keine Meinungsänderung, aber wir haben beim Frühstück über dich gesprochen und da habe ich mich gefragt, ob ihr gut angekommen seid.« »Das sind wir. Ralfs Eltern und Geschwister sind sehr nett. Aber ich vermisse es, mit dir zu schreiben und zu telefonieren, Romy.« Etwas in meiner Brust zieht sich bei diesen Worten zusammen und nimmt mir die Luft zum Atmen. Angestrengt starre ich mit meinen Augen an die Decke. Ich habe einmal irgendwo gehört, dass man schnell nach oben schauen soll, wenn man spürt, dass die Tränen kommen wollen. »Ich vermisse dich auch«, flüster ich zittrig und gehe die wenigen Schritte durch mein Zimmer und stelle mich ans geschlossene Fenster. Erst als ich mir meiner Stimme wieder sicher bin, spreche ich weiter. »Warum mussten die Beiden so eine Scheiße bauen?« »Dafür habe ich keine Antwort Romy, aber Ralf hat mir einmal erzählt, dass Paul und Schubi dieses Gedankengut quasi schon mit der Muttermilch aufgesogen haben und deshalb sehr tief in diesem braunen Sumpf drin stecken. Es ist sehr schwer bis unmöglich, solche Leute zum Umdenken zu bewegen. Für uns und auch dich ist es einfacher. Steig aus, bevor es zu spät ist, Romy.« »Was, wenn es das schon lange, der Fall ist?«, hauche ich und balle meine Hand zu einer Faust um sie vom Zittern abzuhalten. »Ich habe schon so viele schlimme Dinge getan, Uschi. Die Sache damals, wo nur Ralf dabei war, wieso seid ihr da nicht schon ausgestiegen?« Ich kann Julis Schritte hinter mir hören und atme scharf ein, als sie meine Hand ergreift. Für einen Augenblick überlege ich, mich loszureißen, doch da zieht sie mich auch schon zur Couch, wo sie sich hinsetzt und mich neben sich auf das Polster zieht. Mit einem ächzenden Geräusch nimmt die Couch meinen Aufprall auf ihr zur Kenntnis, während ich Uschis Worten lausche. Uschi erzählt mir davon, dass für sie alles, was die Jungs gemacht haben, weit weg war, weil sie die großen Aktionen nie miterlebt hat. Lediglich die kleineren Aktionen, in denen wir den Türken das Leben schwer machten, hat sie selbst erlebt. Sie erzählt mir, dass Ralf schon viel früher aussteigen wollte, es aber allein nicht geschafft hat, aus Angst vor den Anderen. Ich erinnere mich, dass Ralf damals bei der Asylantenheimaktion ebenfalls keine Molotowcocktails geworfen hat. »Die Sache fand ich im Nachhinein auch nicht mehr so toll, besonders als ich am Morgen von den Toten erfahren habe, die es gegeben hatte. Das Ausschlaggebende war allerdings, dass Paul mir meine Haare abrasiert hat, nur weil mich jemand in der Zeitung gut beschreiben konnte.« Das war eine, der vielen, schlechten Erinnerungen an Paul. Als ich mir fahrig über die Haare streichen will, bemerke ich erst, dass Juli meine Hand noch immer fest in ihrer hält. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie noch immer zum Fernseher sieht und irgendeinen komischen Film, auf Netflix schaut. Keine Sekunde lang, kommt mir der Gedanke, ihr meine Hand zu entwenden. »Was hält dich dann davon ab, auszusteigen?«, fragt Uschi mich leise und ich spüre Julis Blick auf mir, obwohl im Film gerade eine heftige Actionszene läuft und ein Kerl einem anderen Kerl, einen Headshot verpasst. »Nur weil ich nicht mit einigen Aktionen konform gehe? Ich weiß nicht, Uschi. Aktuell gibt es hier ja nicht einmal etwas, wo ich aussteigen kann. Die meisten unserer Leute haben sich abgesetzt«, sage ich, obwohl ich das nicht sicher weiß. »Beste Voraussetzungen also«, murmelt Juli neben mir, ohne mich anzusehen. »Wer war das?«, fragt Uschi. »Niemand«, wiegel ich ab und seufze erleichtert, als Uschi nicht nachhakt. »Sei mir nicht böse, aber ich muss erst einmal nachdenken. Viel Nachdenken. Ich will allerdings nicht, dass wir wieder so viele Tage keinen Kontakt haben. Das kannst du auch Ralf sagen, dafür mag ich euch Beide viel zu gerne.« Kapitel 7: Kapitel 6. --------------------- Das Smartphone in meinem Schoß rutscht auf den Teppichboden, als ich mich erleichtert gegen die Rückenlehne meiner Couch sacken lasse. Es prallt mit einem dumpfen Geräusch auf, hüpft und bleibt ein paar Zentimeter weiter, auf der schon mitgenommenen Displayseite liegen. Ich ziehe meine Beine so nah an die Couch, dass ich das Holz schmerzhaft an meinen Waden spüre. Genau dieser Schmerz ist es, denn ich gebraucht habe, der mir hilft, nicht in Tränen der Erleichterung auszubrechen. Angestrengt versuche ich, dem Film zu folgen, der gerade auf meinem Fernseher flimmert und ignoriere dabei die Frage, warum Julis Hand noch immer in meiner liegt und die Tatsache, dass sie mein Zittern so bestimmt bemerkt hat. Ich hasse dieses Zittern, weil es sichtbar zeigt, dass ich nicht so ruhig bin, wie ich es vorgebe zu sein. Der Film ist so schlecht, dass ich sehr schnell mit meinen Gedanken abschweife und darüber nachdenke, wie seltsam es eigentlich ist, mit Juli auf meiner Couch zu sitzen, Händchen zu halten und einen Film zu sehen. Mit ihrem Daumen malt Juli beruhigende Kreise auf meine Handrückseite und ich fühle mich so seltsam, dass ich am liebsten aus meinem eigenen Zimmer flüchten will. Aus Gründen, die mir nicht klar sind, bleibe ich sitzen, schaue den Film weiter, der mit jeder Sekunde schlechter wird, obwohl ich dachte, dass es nicht noch schlechter werden kann. Mein Fluchtbedürfnis wird immer größer, je mehr Zeit verstreicht. Noch nie habe ich mir so sehr gewünscht, dass meine Schwester zurückkehren würde, wie in diesem Moment. Zeit ist relativ, so lang wir hier sitzen. Erst als Juli den Film anhält und raus ins Menü von Netflix geht, frage ich mich, wie lange wir hier tatsächlich schon sitzen. Juli wählt einen anderen Film aus und ich schätze, dass maximal eine Stunde vergangen sein kann. Während das Intro läuft, spüre ich, wie sie ihre Hand sanft aus meiner zieht und mit einem Mal fühle ich mich verlassen. Meine wirren Gedanken kommen abrupt zum Stillstand, als Juli es sich bequemer macht, in dem sie ihren Kopf provokant auf meinen Schoß legt und ihre Beine hoch auf die Couch zieht. Ich will aufstehen, Abstand zwischen uns bringen, doch kann ich meinen Körper einfach nicht dazu bewegen, aufzustehen. Wie angewurzelt bleibe ich steif auf der Couch sitzen. »Netflix gucken, bis zum Mittagessen, ist doch okay?«, fragt Juli plötzlich und ich spüre, wie sie sich bewegt und auf den Rücken rollt, damit sie zu mir hochsehen kann. Fragt man das nicht, bevor man sich einen Film aussucht? »Ist okay«, sage ich kurz angebunden und sehe auf meinen Fernseher, um sie nicht ansehen zu müssen. Nach einem Moment, in dem sie ihren Kopf gedreht hat um ebenfalls zum Fernseher blicken zu können, sehe ich sie doch wieder an. »Sag mal, woher kommt deine Familie eigentlich?«, frage ich sie und überrasche mich selbst am meisten mit meinem ernsthaften Interesse. »Pakistan«, erwidert Juli und dreht ihren Kopf wieder so, damit sie mich ansehen kann. »Wir leben schon in dritter Generation hier in Deutschland«, erzählt sie mir freimütig und ich sehe, wie ihr Blick ein fragender wird: »Warum?« »Einfach so«, murmel ich achselzuckend und verkneife mir eine weitere Frage, die deutlich gemacht hätte, wie vorurteilsbehaftet ich bin. Juli fährt mit ihren Händen durch ihre braunen, lockigen Haare und schenkt mir einen nachdenklichen Blick. Bevor ich mich aufhalten kann, schiebe ich eine Strähne, die Juli ins Gesicht gefallen ist zurück, hinter ihr Ohr und fahre mit meinem Zeigefinger sanft an ihrer Halsschlagader bis zum Schlüsselbein hinab. Dabei verhaken sich unsere Blicke und es ist, als stünde die Zeit still. Es ist, so bescheuert es klingt, als verliere ich mich in ihr, als drohe ich in ihren braunen Augen zu ertrinken. Mein Panikknopf unauffindbar, spüre ich ihren stetigen Pulsschlag unter meinen Fingern und versuche zu verstehen, woher dieses Bedürfnis kommt, sie anzusehen, sie zu berühren. Scheiße, sollte es nicht anders sein? Sollte ich ihre Haut nicht in einem anderen Kontext unter meinen Fingern spüren und ihr frisches Blut riechen, statt mein Duschgel auf ihrer weichen Haut? Was hindert mich daran, meine Hand um ihren Hals zu legen und Scheiße. Ich ziehe meine Hand zurück und beinahe kann ich die Stimmen der Jungs hören, die mir sagen was für eine Pussy ich bin und wie abartig sie mich finden. Noch vor vier Wochen hätte ich Juli letzte Nacht die Fresse poliert, anstatt sie in mein Haus zu lassen und ihr beim kotzen zu helfen. Was hat sich in so kurzer Zeit verändert? Hat sich überhaupt etwas verändert? Oder habe ich mir nur selbst etwas vorgemacht, weil ich dazugehören wollte? Meine Stimme streikt, als ich versuche, etwas zu sagen und spüre, wie meine Wangen genauso warm werden, wie ihre es schon eine längere Weile sind. Der Moment vergeht, als Juli sich wieder dem Film zuwendet und ihn noch einmal von vorne startet. Ich brenne, kann mich nur schwer auf den Film konzentrieren und doch klingelt etwas in meinem Kopf bei dem Filmtitel. Brokeback Mountain. Ich spüre, dass es wichtig ist, mich zu erinnern, welche Vergangenheit der Titel in mir weckt, doch ich bin durch Juli abgelenkt und kann nicht klar denken. Fünf Minuten halte ich durch, dann ist das Feuer in mir so stark, dass ich aufspringe und so viel Abstand zwischen mich und Juli bringe, wie es mein Zimmer zulässt. Letztendlich stehe ich an meiner Zimmertür, eine Hand auf der kalten Klinke. Der Film stoppt und ich kann Julis Blick förmlich auf meinem Rücken spüren, obwohl ich es nicht mit Sicherheit sagen kann. Pauls Stimme in meinem Kopf erzählt mir von Schwuchteln und ich erinnere mich, dass ich mir einen ellenlangen Vortrag darüber anhören durfte, als ich den Film einmal in seinem Beisein gucken wollte. Einen Vortrag darüber, wie widerwärtig Homosexualität ist, Schwule und Lesben sind, dass es nicht der Norm entspricht, wie es die Bibel vorsieht, wenn Männer, Männer lieben und Frauen, Frauen lieben. Ein kurzes, vernehmliches Klopfen, an meiner Zimmertür lässt mich aus der Erinnerung schnappen und dem Holz der Tür gerade noch rechtzeitig ausweichen, als sie nach innen aufschwingt. Ich drehe mich zu Juli um, die wohl schon etwas länger versucht hat, zu mir durchzudringen, denn ich finde sie nur wenige Schritte von mir entfernt, anstatt auf der Couch. »Da bin ich wieder«, grinst Lari und sieht von mir zu Juli. »Hey, alles okay, bei euch? Wieso steht ihr direkt vor der Zimmertür?« Meine Schwester kommt ganz in das Zimmer und drückt die Tür hinter sich ins Schloss. »Was schaut ihr da?«, fragt sie, völlig ignorant gegenüber der Spannung, die in der Luft des Zimmers liegt und lässt sich mit zwei großen Schritten auf mein Bett fallen. »Hey, den Film kenne ich, denn haben Sandra und ich letztens erst gesehen, der ist gut. Das ist doch der, wo Heath Ledger einen schwulen Cowboy spielt?« Ich wechsle einen letzten Blick mit Juli, bevor ich, meine Schwester ignorierend, aus meinem Zimmer stürme, die Treppe beinahe hinabstürze und im Flur in meine Stiefel schlüpfe. »Wo willst du denn jetzt noch hin?«, höre ich Mama aus der Küche fragen. »Raus. Spazieren. Ich bin bald wieder da«, rufe ich und ziehe die Haustür auf, bevor Mama mich zurückhalten kann. Mit Pauls Stimme in meinem Kopf, die mich beschuldigt, ekelerregend zu sein, lasse ich mich von meinen Füßen einfach tragen. Achte nicht darauf, wo ich hinlaufe. Erst, als ich in jemanden hineinlaufe und sich eine kalte Flüssigkeit über mich ergießt, nehme ich meine Umgebung, wieder war. Ich bin im Türkenviertel, wo wir uns früher immer verabredet haben, wenn jemand Dampf ablassen musste. »Alter, kannst du nicht aufpassen«, kommentiert eine aufgetakelte Dönerbraut, in gebrochenem Deutsch. Ich hebe meinen Blick von meinen nassen Klamotten und starre sie an. Ich weiß nicht, was es genau ist, dass in mir den Schalter umlegt und mich in eine Art Autopilot versetzt. Was ich weiß ist, dass ich halb neben mir stehe, als ich meine Hände zu Fäusten balle und zu einem Schlag aushole. Als würde ich von oben auf mich hinabsehen, ohne eingreifen zu können. Ich streife die Tussi an der Schulter und sie sieht mich belustigt an. »Chill mal. Du bist in mich reingelaufen.« Statt zu chillen, schicke ich meine andere Faust hinterher und lande einen Volltreffer, direkt unters Kinn. Wimmernd weicht sie von mir zurück, doch in meinem Rausch sehe ich kein Ende, und dränge sie immer weiter, bis sie unter Tränen auf der Straße zusammenbricht. Ob der Euphorie, die die Gewalt in mir freisetzt, trete ich ihr mit meinem Fuß mehrmals in den Bauch. Das dämliche Grinsen habe ich ihr aus dem Gesicht geboxt. Ich bücke mich, packe sie an ihrem Haarschopf, damit sie mich ansehen muss. »Das nächste Mal, du dreckige Missgeburt, passt du lieber besser auf«, zische ich und ramme ihr mein Knie fest ins Gesicht. Als das Knacken eines Knochens erklingt, vermutlich ihre Nase, die gebrochen ist, lasse ich von ihr ab und laufe weg. Erst als ich sicher bin, das Viertel weit hinter mir gelassen zu haben, bemerke ich das verkrustete Blut an meinen Händen und auf dem grauen Stoff meiner Jogginghose. Scheiße. Langsam gehe ich durch die Straßen und überlege, wie ich ungesehen auf mein Zimmer komme und bemerke erst viel zu spät, dass ich schon wieder zu Hause bin. Wie ich es ungesehen die Stufen empor geschafft habe weiß ich nicht, da ich erst aus meinen Gedanken fahre, als ich meine Zimmertür nach innen aufschwingen lasse. Juli ist es, die ich als Erstes wahrnehme. Juli, die wieder auf meiner Couch sitzt. Juli, die wegsieht, als sie das Blut an meinen Händen und meiner Kleidung entdeckt. Mein Fernseher ist aus, stelle ich am Rande meiner Gedanken fest. Meine Schwester ist es, die mich ins Badezimmer zieht, das Wasser der Dusche aufdreht und mir aus meinen Klamotten hilft. Kommentarlos verlässt sie das Zimmer und ich stelle mich unter die heiße Dusche, in der Hoffnung die Taubheit, die von meinem Körper besitz ergriffen hat, zu tilgen. Mit einem Stapel frischer Kleidung kehrt Lari zurück und verschwindet,  von mir völlig unbemerkt, als kaltes Wasser meinen ganzen Körper zum Beben bringt. Als ich vor der Wanne stehe und mich gerade in ein Handtuch gewickelt habe, sehe ich mich Juli gegenüber. »Mittagessen ist fertig, soll ich dir ausrichten«, höre ich sie flüstern, bin aber zu sehr von der Tatsache abgelenkt, dass sie mir nicht in die Augen sieht, um zu verstehen, was die Worte bedeuten. Die Farbe weicht aus ihrem Gesicht, als sie hinab auf die dreckige, blutgetränkte Kleidung sieht. »Das ist nicht dein Blut.« »Nein«, stimme ich ihr mit überraschend fester Stimme zu und wünsche mir, sie würde mich ansehen. »Warum, was ist passiert?« »Sie war im Weg und hat Wasser über mich gekippt«, sage ich unwirsch und greife mir meine Unterwäsche. Juli sieht mich noch immer nicht an, als sie die Badezimmertür abschließt und sich mit ihrem Rücken gegen das Holz der Tür lehnt. Wütende Flammen lodern in ihren Augen, als sie mich erlöst und endlich ansieht. »Bin ich dir jetzt auch im Weg?«, fragt sie mit zittriger Stimme und die Wut in ihrem Blick weicht einer Traurigkeit, die ich nicht erwartet hätte. Ich lasse mich auf den Rand der Badewanne sinken und starre auf meine nackten Füße, unsicher, was ich sagen soll, sagen will. »Ich hätte nicht herkommen sollen und sollte wohl nach Hause gehen«, murmelt Juli einen Moment später, weil ich nicht auf ihre Frage reagiere, mehr zu sich, als dass sie mich damit anspricht. »Was hast du denn erwartet?«, bricht es aus mir hervor, als Juli ihre Hand auf die Türklinke legt und mit der anderen nach dem Schlüssel im Schloss greift. Ich lasse meine Unterwäsche fallen, als ich mit drei großen Schritten das Badezimmer durchquere und wenige Zentimeter hinter ihr, zum stehen komme. Das Duschtuch rutscht von meinem Körper, als ich meine Arme, von hinten um Julis Oberkörper schlinge und meinen Kopf an ihren Rücken lehne. Ist es mein Herzschlag, den ich höre oder ihrer, der an Fahrt aufnimmt? Ich vergesse, dass ich völlig nackt bin, als ich mich fester an Juli presse und bin irritiert, weil ich mich noch nie so schlecht gefühlt habe, wenn ich nach einer Aktion heimgekehrt bin, wie ich mich jetzt gerade fühle. »Bleib«, murmel ich gegen ihren Rücken, als sich der Schlüssel im Schloss dreht und die Badezimmertür mit einem leisen Klicken, einen Spalt weit, aufspringt. Ich kann spüren, wie sie tief ein und ausatmet und höre, wie sich ihr Herzschlag noch einen Tick schneller wird, als sie sich in meiner Umarmung zu mir umdreht. Zum keine Ahnung wievielten Male verliere ich mich in ihren Augen, während mein Gesicht von dem Ihren magisch angezogen wird und immer öfter huschen meine Augen zu ihren Lippen. Die Stimme meiner Mutter, die aus der Küche zu uns hoch schallt, lässt mich Juli loslassen und erschrocken von ihr zurückweichen. Als Juli meine Nacktheit wahrnimmt, wird sie rot und abermals  spüre ich auch in meinen Wangen diese verräterische Wärme. »Ich«, setzt Juli an und blickt an mir vorbei. »Ich gehe schon einmal vor.« Mit diesen Worten lässt sie mich allein, bevor ich auch nur reagieren kann. Ich starre die Tür an und versuche zu verstehen, was hier beinahe passiert wäre. Versuche zu verstehen, ob ich tatsächlich im Begriff war, Juli zu küssen. Kopfschüttelnd versuche ich, die wirbelnden Gedanken in meinem Kopf loszuwerden. Als Mamas Stimme erneut nach mir ruft, ziehe ich mich eilig an und beeile mich, nach unten in die Küche zu kommen. Die Treppe nach unten fliege ich beinahe hinab, weil ich Laris Handtasche übersehen habe, die sie mitten auf die Treppe gestellt hat. Kreischend finde ich gerade noch am Geländer halt und lasse mich vorsichtig auf einer Stufe nieder, weil ich nicht glaube, dass mich meine zittrigen Beine sicher nach unten bringen. Mit meiner Schreieinlage locke ich Papa aus der Küche, der mich belustigt ansieht, weil Laris Tasche noch an meinem Fuß hängt und ich gerade damit kämpfe, sie abzubekommen. »Die Treppen einfach hinabzugehen wäre zu schwierig gewesen, hm Pfläumchen?« »Alles Laris Schuld«, knurre ich und sehe Papa dankbar an, als er mir mit der Tasche hilft und mir seine Hand hinhält, damit ich die restlichen Stufen hinabgehen kann. »Deine reizende Tochter hat ihre scheiß Tasche mitten auf der Treppe liegen lassen.« Papa führt mich zu meinem Platz in der Küche. Dieses Mal sitzt Lari neben mir und Juli, die meinem Blick ausweicht, gegenüber. Lari sieht mich halb grinsend, halb entschuldigend an. Weil ich keinen Streit vom Zaun brechen will, starre ich deshalb auf meinen Teller, der ein Stück Hawaiipizza für mich bereithält. Das Lächeln, welches nun an meinen Lippen zupft, kann ich mir nicht verkneifen und sehe wieder zu Lari, die mit ihren Fingern bis drei zählt, dann skandieren wir gemeinsam, wenn ich auch nur halbherzig: »Pizza! Pizza!« Es ist selbst gemachte Pizza von Mama, die an manchen Tagen sogar besser ist, als die vom Italiener. »Ich dachte, weil wir gestern keine Pizza bekommen haben, mache ich uns heute eine eigene Pizza. Ich hoffe, sie wird euch schmecken. Guten Appetit«, kommentiert Mama und wir beginnen zu essen. Die Pizza ist lecker, wirklich Appetit habe ich keinen. Das Essen ist eine schweigsame Angelegenheit und eigentlich nicht die Norm an unserem Tisch. Jeder, bis auf ich, genießt sein Stück Pizza. Als ich mir, um Mama zu zeigen das es schmeckt, noch ein Stück nehmen will, treffen sich unsere Blicke und ich spüre ihr Bein an meinem Bein, wie es zurückweicht und wiederkehrt um zu bleiben. Um sich ganz fest an mein Bein zu pressen. Das Pizzastück fällt achtlos auf meinen Teller, als ich huste, weil ich mich der Überraschung wegen, an meinem Speichel verschluckt habe. Mama füllt mein Glas mit Wasser und reicht es mir hilfsbereit, während ich Juli ansehe, die mir dieses Mal direkt in mein Innerstes blickt. So fühlt sich ihr intensiver Blick immerhin an. Konfus von den Gefühlen in meiner Brust springe ich einen Augenblick später auf, stürme aus der Küche und verbarrikadiere mich im Gästebad, wo ich mich fahrig auf der geschlossenen Toilette niederlasse. Was geschieht hier? Was passiert mit mir? Was macht sie mit mir? Ruhelos fahre ich mir durch die Haare und springe wieder auf. Was ist es, dass mich so bescheuerte Dinge, wie Juli zu küssen, denken lässt? Erst als ich mich wieder beruhigt habe, verlasse ich das Gästebad. Anstatt zurück in die Küche zu gehen, steige ich die Treppen zu meinem Zimmer empor und bin wenig überrascht, dass auch Juli schon wieder hier ist. Sie steht am Fenster, neben ihr auf dem Fensterbrett steht ein Teller mit zwei Pizzastücken. »Deine Eltern waren nicht begeistert, dass du einfach gegangen bist.« Nein, das waren sie vermutlich nicht und es ist ziemlich wahrscheinlich, dass ich mir später noch einen Vortrag deswegen anhören darf, denke ich und drücke die Tür hinter mir ins Schloss. Das alles ist im Moment nicht wichtig. Ich gehe auf Juli zu, drehe sie grob zu mir, greife ihr in den Nacken und ziehe ihr Gesicht nah an das Meine. »Was tust du mit mir?«, hauche ich gegen ihre Lippen, die nur wenige Millimeter von meinen entfernt sind. Anstatt sie und mich zu erlösen, küsse ich ihren Hals, atme ihren Geruch ein, der sich mit dem meines Duschgels vermischt. Streiche ihr mit meiner freien Hand, die Juli nicht am Nacken festhält, über den Rücken. Platziere Küsse auf ihrer Nase und Wangen, während sich ihre Nackenhaare aufstellen und Gänsehaut über ihren Körper kriecht. Juli will ihre Arme heben, mich näher an sich ziehen, das sehe ich, doch wehre ich diese Versuche ab und küsse sie weiter, nur nicht dort, wo sie es will, es begehrt. Als meine Schwester die Stufen hinauf stampft, komme ich wieder zu Sinnen und Juli öffnet enttäuscht ihre Augen, als ich einen Schritt von ihr zurückweiche. »Ist das ein Spiel für dich?«, frage ich flüsternd und grabe meine Fingernägel tief in meine Handinnenflächen, als ich meine Hände balle. »Wie heißt es? Verwirr die braune Schlampe? Bring mich dazu, dich zu küssen?« Bevor Juli mir antworten kann, klopft es an der Tür und meine Schwester steckt im nächsten Moment ihren Kopf in mein Zimmer. »Jetzt nicht, Süße«, knurre ich. »Kannst du später wiederkommen?« Lari sieht von mir zu Juli und zurück, hebt ihre Augenbrauen fragend, nickt und zieht meine Zimmertür von außen zurück ins Schloss. Die Welt steht still, als ich Julis Körper gegen meinen krachen spüre. Meine eben gefühlte Wut, auf mich und auf Juli ist verpufft, bevor sie völlig hervorbrechen konnte. Sanft umfasst Juli mein Gesicht mit ihren Händen und zieht mein Gesicht nah an das Ihre. »Es ist kein Spiel, jedenfalls keines, dass ich gewinnen kann, sondern gerade verliere«, flüstert Juli gegen meine Lippen und küsst mich.   Kapitel 8: Kapitel 7. --------------------- Kein Feuerwerk, wie viele den ersten Kuss beschreiben und doch hat noch nie ein simpler Kuss so viel verändert. Alles was ich bisher kannte, hat dieser Kuss ausgelöscht und lässt mich mit mehr Fragen, die ich mir selbst stellen muss, als Antworten zurück. Nach Luft ringend, lehnt meine Stirn an der von Juli. Eng umschlungen stehen wir in meinem Zimmer und geben uns gegenseitig den Halt, den ich im Moment dringend nötig habe. Juli ist es, die uns irgendwann zu meinem Bett schiebt, mich sanft aber bestimmend hinab drückt und zu einem weiteren, vielversprechenden Kuss verführt. Ein Versprechen, das noch warten kann, ein Versprechen, dem ich noch skeptisch gegenüberstehe. Mein Herz pocht so schnell und so laut in mir, dass ich mir sicher bin, Juli kann es hören. »Definitiv verloren?«, frage ich in einer Atempause. »Ja«, haucht sie und raubt mir jegliche Illusion, dass dies, von ihrer Seite, nur ein Ausrutscher gewesen sein könnte. Was ist es für mich? »Macht mich das zur Gewinnerin?«, überlege ich laut und kann noch immer nicht ganz greifen, was gerade passiert. Wie ist aus einer unsicheren, eventuell beginnenden Freundschaft in wenigen Stunden so viel mehr geworden? Juli antwortet nicht verbal, sondern verführt mich zu einem weiteren Kuss. Die Emotionen, die ich in Julis wunderschönen Augen lesen kann, erschlagen mich beinahe. Ich sehe sie an und sie mich. Blicke ihr dabei tief in die Seele und sie in meine. Ich will so viele Fragen stellen, doch die Wut, die ich kurze Zeit in ihren Augen aufblitzen sehe, lässt mich schweigen. »Was macht das aus uns?«, überwinde ich mich schließlich doch, nach einem Moment, in dem wir uns nur anstarren, zu fragen, und küsse Juli meinerseits, als ich vor der eventuellen Antwort Schiss bekomme. Es klopft an meiner Tür und bevor wir uns gesittet hinsetzen können, gar unsere Lippen voneinander lösen können, steht Papa im Türrahmen und sieht mich überrascht an. Sieht von mir zu Juli und zurück. »Wir wollen gleich los, braucht ihr noch lange?«, fragt er und ich kann ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen wahrnehmen. »Fünf Minuten«, bringe ich mit erstickter Stimme hervor, weil sich ein Kloß in meinem Hals breitmacht. Was denkt er wohl jetzt? Scheiße. Ich bin nicht bereit, anzuerkennen, was es bedeutet, Juli zu küssen und es gut zu finden. Am liebsten würde ich all die kleinen Schmetterlinge mit einer Schrotflinte erschießen, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich jemals für diese seltsamen Gefühle in meinem Bauch bereit sein werde. Mit Paul gab es keine Schmetterlinge, nur Knoten und unangenehmes Magengrummeln. Ich lausche auf die Schritte, die sich von meiner Zimmertür entfernen und langsam die Treppe hinabsteigen. Kurz darauf knallt die Zimmertür meiner Schwester zu und Lari steckt den Kopf in mein Zimmer. »Kommt ihr?« »Gleich«, raspel ich, räuspere mich und winke Lari aus meinem Zimmer, bevor ich aufstehe. Juli packt mich am Handgelenk und sieht zu mir empor. »Alles, was du willst, das es ist. Gib dir, uns Zeit. Wenn es klappt, gut. Wenn nicht, mein Freundschaftsangebot steht auch dann noch.« Auch wenn sie jetzt sagt, dass das Angebot noch steht, bin ich mir sicher, dass sie genauso gut wie ich weiß, dass alles anderes sein würde, wenn das, was auch immer zwischen uns stattfindet, nicht funktioniert. »Was ist mit dem Internat und der Schule?«, werfe ich ein und bin mir sicher, dass es mit der Toleranz der Schule vorbei ist, wenn es um Homosexualität geht. Immerhin ist es ein katholisches Internat und die Katholiken sind nicht gerade bekannt dafür, Andersartigkeit zu tolerieren. »Ein Schritt nach dem anderen, Romy. Wenn es für dich einfacher ist, sieh das hier als Ausrutscher an und vergiss, was passiert ist.« Ich kann in ihren Augen lesen, wie ungern sie mir diesen Vorschlag unterbreitet. Ich löse ihre Hand von meinem Handgelenk und ziehe Juli nah an mich und umarme sie fest, bevor ich ihr einen zaghaften Kuss auf die Lippen drücke. Küssen macht irgendwie süchtig. Juli erwidert meinen Kuss heftig und ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Schwer atmend lösen wir uns voneinander, sehen uns einen Moment schweigend an, bevor Juli als erstes wegblickt und mein Zimmer verlässt. Papas Blick und das Grinsen auf seinen Lippen spricht Bände, als Juli und ich auf die Rückbank seines Autos rutschen und Juli meine Hand ergreift. Lari sagt nichts, aber ich bin mir sicher, dass Papa sie schon gelöchert hat, den der neugierige Blick, den sie mir zuwirft, als sie zu uns schaut und unsere verbundenen Hände bemerkt, sagt mir alles. Bis zum Kino ist es nicht weit. Eigentlich hätten wir das kurze Stück laufen können, wären wir nicht solche Faultiere. Mama ist in unserer Familie diejenige, die am aktivsten ist. Sie geht sogar an drei Tagen in der Woche joggen. »Also«, beginnt Papa, als wir vor seinem Auto stehen und sieht uns der Reihe nach an. »Wer holt Popcorn?« Lari hakt sich bei Juli unter und sieht Papa zwinkernd an und ich ahne, dass das abgesprochen ist. »Das können Juliet und ich machen.« Zerknirscht sehe ich von Papa, der einige Scheine abzählt und meiner Schwester hinhält, zu Lari. »Cola für mich«, rufe ich den beiden hinterher, als sie schon einige Meter von Papa und mir entfernt sind. Juli dreht sich zu mir um, reckt einen Daumen nach oben und lässt sich dann grinsend von Lari in das Kinogebäude ziehen. Papa räuspert sich und sieht mich neugierig an. Ich wünsche mir, weit weg zu sein. »So, bisexuell? Oder war Paul nur ein Ausrutscher?« »Wirklich, Papa? Willst du dieses Gespräch echt hier führen?«, frage ich und sehe ihm an, wie amüsiert er darüber ist, dass ich mich, ob des Themas, unbehaglich fühle. »Ich habe deiner Mutter noch nicht erzählt, wobei ich euch erwischt habe«, grinst Papa mich offen an. »Deshalb denke ich, dass ich wenigstens eine Antwort auf diese Frage verdient habe. Denkst du nicht auch?« Ich fühle mich unsicher, weil ich mit Papa nie über solche Themen gesprochen habe. Wann immer ich über Jungs reden wollte, habe ich das mit Mama gemacht. Wenn sich jetzt der Erdboden auftun würde, wäre ich die Erste, die in das Loch hineinspringen würde, um dem Gespräch zu entfliehen. »Ich weiß es nicht«, seufze ich schließlich und starre auf meine Füße, die sich in Bewegung setzen um es denen von Papa gleichzutun. Papa hält mir die Tür auf und sieht mich irritiert an. »Wie du weißt es nicht? Das sah ziemlich eindeutig aus, wenn du mich fragst.« »Wie ich es sage. Ich verstehe die Anziehung und generell nicht, was im Moment mit mir los ist«, gestehe ich Papa und spüre seine Hand auf meiner Schulter. Diese kleine Geste, lässt mich erleichtert aufatmen und ich bin überrascht, dass ich überhaupt mit Ablehnung, unterbewusst, gerechnet habe. »Ich verspreche dir, sobald ich weiß, was das ist, bist du der Erste, der es erfährt.« Papa brummt zufrieden, als wir Lari und Juli, vollgepackt, auf uns zukommen sehen. Juli reicht mir meine bestellte Cola und deutet auf eine große Tüte Popcorn. »Die teilen wir uns, okay?« Lari reicht Papa seinen Teil des Popcorns und lässt sich dann von ihm überreden, noch die Eintrittskarten zu holen. Als wir unsere Karten haben, geht Papa voran, hält dem Kontrolleur die Karten hin, der ein Stück davon abreißt und uns hereinwinkt. Wir sitzen ganz oben. Papa rutscht bis nach hinten durch, dann Lari, dann Juli und zum Schluss ich. Mit vier Plätzen ist die Reihe auch schon voll belegt und ich bin froh, dass niemand anderes neben mir sitzen wird. Ich lasse mich in meinen Sitz fallen, stelle mein Getränk auf der dafür vorgesehen Ablage. Als ich mich an der Popcorntüte bediene, streife ich Julis Hand und halte automatisch, für einige Sekunden meinen Atem an, bevor ich mir das Popcorn in den Mund stecke. Juli deponiert die Popcorntüte zwischen unseren Beinen und wir müssen Beide leicht mit unserem Bein gegen die Tüte drücken, damit sie nicht auf den Boden fällt. Als ich abermals in die Tüte greifen will, ergreift Juli meine Hand wie selbstverständlich und verschränkt sie ihrer, wie schon in meinem Zimmer. Ich drücke ihre Hand und wir sehen uns lächelnd an. Als ich Lari kichern höre, blicke ich weg und bin froh, dass das Licht im Saal gedimmt ist, weil ich die Wärme auf meinen Wangen spüre. Ich schaue nach vorne auf die Leinwand, bekomme aber nur wenig von den gezeigten Werbeblöcken mit, zu sehr lenkt mich Julis warme Hand in meiner ab. Als der Film beginnt, beugt Juli sich näher zu mir und raubt sich einen kurzen Kuss, der es mir unmöglich macht, mich auf den Film zu konzentrieren. Dabei habe ich mich verdammt lange auf diesen Teil gefreut. Mit jeder Minute, die verstreicht, werde ich unruhiger, weil sich meine Gedanken überschlagen. Was macht Juli für mich so besonders, dass ich sie, im Gegensatz zu der Dönerbraut in Ruhe lasse? Ob die Türkin mittlerweile medizinisch behandelt wurde? Ich entziehe Juli meine Hand, als ich damit beginn meine Taten anzuzweifeln und gehe unter dem Vorwand, auf die Toilette zu müssen, aus dem Kinosaal. Anstatt die Toilette aufzusuchen, gehe ich aus dem Kino hinaus und lehne mich an die Hausmauer. Neben mir stehen einige Raucher, die eilig eine Zigarette rauchen. Ich atme gierig die frische Luft ein, als die Raucher ins Kino verschwunden sind und kein kalter Rauch die Luft weiterhin verpestet. Nachdenklich starre ich in den wolkenverhangenen Himmel. Dabei merke ich nicht, wie die Zeit vergeht und schnappe erst aus meinen Gedanken, als Papa neben mir steht und sich schweigend eine Zigarette anzündet. »Ich zahle dir das Ticket zurück«, murmel ich und fühle mich plötzlich schlecht, weil ich den Film nicht gesehen habe, obwohl ich ihn unbedingt sehen wollte. Als ich an ihm vorbei, durch die Glastür, in den Vorraum des Kinos sehe, fällt mein Blick sofort auf meine Schwester, die gerade über etwas lacht, dass ihr wohl Juli erzählt hat, denn jemand anders steht nicht in Laris Nähe. Papa atmet den Rauch aus und lacht leise. »Mach dich deswegen nicht verrückt, Pfläumchen. Die Karten waren ein Geschenk von meinem Chef«, grinst er und zieht an seiner Zigarette. Ich beobachte mit Faszination, wie er den Rauch einfach so durch die Nase ausatmen kann, wo mir schon vom Einatmen des Rauches übel wird. »Warum bist du gegangen?« »Ich brauchte frische Luft«, hauche ich und sehe Papa ernst an. »Was, wenn ich es wäre«, beginne ich und knüpfe an unser Gespräch an, dass wir vor dem Film hatten. »Was? Bisexuell, lesbisch?« »Ja, würde es etwas für dich und Mama ändern?« »Du meinst, ob wir dich enterben? Das haben wir doch schon, als du deine erste Gerichtsverhandlung hinter dir hattest, weißt du das nicht mehr?«, scherzt Papa, schnippt seine Zigarette weg und zieht mich fest an sich. »Für deine Mutter und mich zählt nur, dass du glücklich bist. Alles andere ist unwichtig, auch wenn du deiner Mutter wohl etwas Zeit geben solltest, wenn du oder ich, es ihr erzählt haben. Sie träumt noch immer davon, dass du ihr eines Tages einen hübschen Schwiegersohn nach Hause bringst.« Ich weiß, dass ich erleichtert sein sollte. Ich bin es aber nicht. Was ich fühle, ist eine große innere Beklemmung, die stärker wird, wenn ich an Paul und die Dönerbraut von heute Vormittag denke. »Juliet schein ein gutes Mädchen zu sein?«, lächelt Papa und streicht mir sanft über den Rücken. Wegen Juli stehe ich zwischen den Stühlen. Zwischen meinen seltsamen Gefühlen, die immer stärker werden und der Szene, für die ich schon so viel Blut vergossen habe. Ob das so gut ist? »Wenn du das sagst«, hauche ich unsicher und Papa gibt mich frei, nachdem er mir einen kurzen Kuss auf die Stirn gedrückt hat. Wortlos dreht er sich um und hält mir die Tür auf, damit wir durch den Vorraum gehen und das Kino verlassen können. Weder meine Schwester, noch Juli fragen mich, wieso ich nicht zurückgekommen bin, als wir gemütlich in Papas Auto sitzen. »Ich muss gleich gehen«, eröffnet Juli mir, als wir wieder in meinem Zimmer stehen. »Mein Vater hat zwei Mal auf meine Mailbox gesprochen und einige, Nachrichten geschrieben. Ich soll so, Achtung Zitat: Meinen Arsch so schnell wie möglich nach Hause schwingen. Sehen wir uns im Internat?«, fragt sie und sieht mich seufzend an und grinst schief, weil ich einige Schritte Abstand halte. »Ich verstehe.« »Nein tust du nicht«, erwidere ich schroffer als geplant und gehe auf Juli zu, ergreife ihre Hand und drücke sie. »Nur musst du mir Zeit geben. Komm, ich bring dich hin«, schlage ich vor, weil ich trotz allem noch ein bisschen in Julis Nähe sein möchte. Im Internat werden wir genügend Abstand haben, dass ich einmal genauer über diese Sache nachdenken kann und was das aus mir und meiner politischen Einstellung macht. »Bist du sicher?«, fragt Juli und zieht sich völlig ungeniert aus und ihre eigenen Klamotten wieder an. Ich drehe mich weg, bevor ich mich abermals mit ihrer Oberweite konfrontiert sehe. »Ich sagte gestern zwar, dass mein Elternhaus nah ist, aber dennoch ist es ein gutes Stück, zu Fuß.« »Wenn du nicht willst, dass ich dich bringe, kannst du es auch einfach sagen.« »Das ist es nicht«, flüstert Juli und ich höre ihre Schritte hinter mir. Sie umarmt mich von hinten und legt ihren Kopf an meinen Rücken, zwischen meinen Schulterblättern. »Nein, ich würde lieber bleiben, als nach Hause zu gehen.« »Morgen bist du wieder im Internat. Nicht einmal mehr vierundzwanzig Stunden. Und bis dahin können wir texten oder telefonieren, wenn du willst. Willst du die Klamotten nicht mitnehmen? Mir passen die eh nicht mehr.« »Wasch und heb sie für mich auf. Dann habe ich Klamotten zum Wechseln hier«, haucht Juli. Ihr Atem, der meinen Nacken streift, lässt mich erschaudern. »Du denkst also, dass du wiederkommen darfst?« Julis Arme drücken mich fester an ihren Körper. Ich kann aus ihrer Reaktion lesen, dass sie Angst hat, nicht wiederkommen zu dürfen. »Nicht?«, haucht sie und ich spüre, wie mein Herz schneller zu schlagen beginnt, weil sie wiederkommen will, obwohl sie weiß, wer ich bin - was ich bin. Sie will mich, obwohl ich auf der falschen Seite stehe. »Doch, alles gut. Das sollte lustig sein«, erwidere ich leise. Mich in ihrer Umarmung drehend, presse ich meine Lippen gierig auf die ihren und wünsche mir, jemand anderes zu sein. Jemand, mit dem sie es leichter hätte. Meine Schwester wartet im Flur auf uns und umarmt Juli kurz. »Komm bald wieder, Juliet. Ich mag dich und meine Schwester ziemlich offensichtlich auch.« Ich schlage nach Lari, doch sie weicht meinem Hieb lachend aus. »Ich dich auch, Larissa, bis bald«, lächelt Juli und ich frage mich, ob das ein Insider zwischen den Beiden ist, sich bei ihren vollen Namen zu nennen. Hand in Hand gehen wir die Treppe hinab. Meine Eltern sitzen Wohnzimmer, als ich sie bitte, in den Flur zu kommen. »Musst du schon gehen, Liebes?«, fragt Mama und umarmt Juli ebenfalls kurz. »Leider«, lächelt Juli schwach und drückt meine Hand. Mama sieht mich neugierig an, als ihr Blick auf unsere verbundenen Hände fiel. Papa hat wohl noch nichts erzählt. »Romy bringt dich? Dann lass dich gut nach Hause bringen und pass in der Schule ein bisschen auf unsere Tochter auf. Du bist hier immer Willkommen!«, ergreift Papa das Wort und umarmt Juli ebenfalls für einen Moment. »Vielen Dank, Herr Schneider.« Papa zieht ein Gesicht, als ob er auf eine Zitrone gebissen hat. »David bitte. Du wirst ja ab jetzt öfter auf Besuch sein?« »Danke. Ich hoffe es«, erwidert Juli überrascht und lächelt Papa erfreut an. »Bevor du es bei mir auch noch einmal versuchst, Liebes, nenn mich Lisa. Ich freue mich schon darauf, dich wiederzusehen und ich wünsche dir ein schönes Rest-Wochenende.« »Vielen Dank«, lächelt Juli und ich rolle meine Augen, wegen der ganzen Süßholzraspelei. »Wartet nicht mit dem Abendessen auf mich«, murmel ich und schiebe Juli zur Haustür und atme erleichtert aus, als die Tür hinter uns ins Schloss fällt. Tief atme ich die frische Luft ein und ergreife Julis Hand wieder, die ich wohl irgendwann losgelassen habe. Ich spüre ihren überraschten Seitenblick, als wir uns Hand in Hand, immer weiter von meinem Elternhaus entfernen. Vermutlich hat sie nicht damit gerechnet, dass ich ihre Hand in aller Öffentlichkeit halten würde. Ehrlich gesagt, habe ich bis eben auch nicht damit gerechnet. Ich weiß nicht, was mich dazu geritten hat, aber es fühlt sich verdammt gut an, ihre Hand auch hier draußen zu halten. Wir gehen langsam durch die Straßen, die Rechts und Links mit Einfamilienhäusern gesäumt sind, obwohl uns die Zeit im Nacken sitzt. Drei Mal bleiben wir stehen und küssen uns mehrere Minuten lang. Mal ganz heftig und voller Verlangen, von dem ich nicht weiß, wo es her kommt und mal ganz sanft und zaghaft. Als wir durch einen Park gehen, der das Viertel mit einem anderen Stadtviertel verbindet, höre ich hinter mir eine Stimme, die ich unter tausenden wiedererkennen würde. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinab und Juli zieht ihre Hand, die mir bis eben Kraft gegeben hat, aus meiner, als sie in meinen Augen erkennt, dass ich eine der Stimmen, die hinter uns erklingen, kenne. »Na so was. Wenn das nicht meine süße Romy ist«, säuselt Pauls Stimme dicht an meinem Ohr und ich spüre seine Hand einen kurzen Moment an meinem Hintern. Langsam drehe ich mich zu ihm um. »Ich dachte, du bist im Gefängnis?«, entfährt es mir und ich stelle mich zögernd, halb vor Juli, weil mir der Blick von Pauls Kumpel, den ich nicht kenne, nicht gefällt. Paul sieht mitgenommen und ausgemergelt aus. Das Gefängnis scheint ihm übel mitgespielt zu haben. »Schubi, mein guter Freund, hat alles auf seine Kappe genommen, nachdem ich ihn, mit einem Knastkumpel freundlich darum gebeten habe.« Das Grinsen welches sich in seinem Gesicht abzeichnet, lässt mich den Paul erkennen. »Bitten?«, frage ich und sehe ihn gespielt belustigt an. »Du kannst niemanden freundlich Bitten. Ihr habt Schubi bestimmt bedroht. Er kuschte doch schon immer vor dir, wenn du nur deine Stimme erhoben hast. So ein Weichei.« »Süße, ich habe dich und deine Art echt vermisst. Dir kann ich einfach nichts vormachen«, lächelt Paul, sieht mich stolz an und sieht dann nachdenklich zu Juli, die ich halb verdecke. »Weißt du, was mit Ralf und Uschi und einigen anderen passiert ist?«, fragt er mich scharf und ich kann Juli hinter mir tief einatmen und wieder ausatmen hören, als Pauls Augen wieder auf mir liegen. »Umgezogen«, erwidere ich und stelle mich ganz vor Juli, weil ich spüre, wie es in Paul zu brodeln beginnt. »Ist das so? Weißt du auch wohin?«, fragt er, lächelt mich unschuldig an und zieht sein T-Shirt grinsend hoch. Dabei sehe ich die Waffe, die halb in seinem Hosenbund steckt und ich spüre eine Angst, die schlimmer ist, als alles, was ich bisher gefürchtet habe. »Ich hätte da nämlich ein kleines Geschenk für die Beiden.«   Kapitel 9: Kapitel 8. --------------------- Paul lässt sein T-Shirt fallen, schaut sich lässig um, ob ihn jemand gesehen hat und beugt sich nah an mein Ohr. »Für dich habe ich im Übrigen auch eine Überraschung. Hast du gleich ein bisschen Zeit für mich?« Würde ich Paul nicht mehr als ein Jahr kennen, wäre mir seine unterdrückte Wut definitiv entgangen. So starre ich ihn an und vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen, damit er das Zittern nicht wahrnimmt, welches immer schlimmer wird, mit jeder Sekunde, die verstreicht. »Ich«, setze ich an und stolpere über meine eigenen Worte wie ein verängstigtes Huhn. Genau das, was ich vermeiden wollte. Angst gegenüber Paul zu zeigen, war nie gut, besonders jetzt, ist es nicht gut. Julis nahe Präsenz ist es, die mir Kraft gibt. »Ich muss erst diese Sache erledigen, danach hätte ich Zeit. Meine Eltern haben mich gebeten, die Schulfreundin meiner Schwester zu eskortieren«, erkläre ich Paul und sehe ihn genervt an und hoffe inständig, dass meine Worte überzeugend klingen. »Mama ist ein bisschen ängstlich, seit ihr die Penner in dem Dönerladen abgeknallt habt.« »Wir begleiten euch«, lächelt Paul gönnerhaft und sieht zu seinem Kumpel. »Zwei so hübschen Frauen soll doch nichts zustoßen, oder Ben? Du hast recht, Romy, hier ist es seit einiger Zeit echt nicht mehr sicher. Willst du mir die Kleine, die du da versteckst, nicht vorstellen?« »Juliet, heiße ich«, erklingt Julis Stimme hinter mir überraschend fest mit seichter Aggression. Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter. »Ist schon okay, Romy. Ich schaffe es von hier auch alleine.« »Ja?«, fragt Paul definitiv Juli, sieht mich aber an und grinst süffisant. Allein das Grinsen lässt mich entsetzt fragen, ob er etwas weiß, dass ich nicht weiß und meine Alarmglocken läuten so laut in meinem Kopf, dass ich Kopfschmerzen davon bekomme. »Bist du dir sicher?«, frage ich Juli, ergreife ihre Hand, die noch immer auf meiner Schulter ruht und drücke sie fest, als ich mich halb zu ihr drehe und sie ansehe. »Sagst du meinen Eltern auch nicht, dass ich ihren Auftrag nicht ganz ausgeführt habe?« Juli schüttelt ihren Kopf und ich bin froh, dass sie das Schauspiel mit macht. Ihre Hand in meiner ist eiskalt, ich will sie nicht loslassen, doch leider muss ich es, als ich Pauls Blick in meinem Rücken spüre. In Julis Augen kann ich die nackte Angst sehen, auch wenn sie es gut verbergen kann. Ich erkenne die Angst nur, weil mich ihre Augen schon so lange verfolgen, dass ich beinahe alle Stimmungen in Julis Augen erkennen kann. »Wenn sie mich fragen, sage ich, dass du mich bis nach Hause gebracht hast«, verspricht Juli mir und ich sehe, dass sie mich zum Abschied in eine Umarmung ziehen will, es dann aber sein lässt und sich von mir wegdreht. Ich will nach ihr greifen, sie nah an mich ziehen und küssen. Stecke stattdessen meine Hand zurück in die Hosentasche und sehe zu, wie Juli, bevor Paul noch etwas sagen kann, an ihm und Ben vorbei geht. »Sag, Romy«, flüstert mir Paul ins Ohr und steht ganz dicht hinter mir, als ich erleichtert ausatme, weil ich Juli am Ende des Parks, über eine Straße eilen sehe. »Mit was für einem Abschaum gibst du dich dieser Tage ab?« Ein unbeschreiblicher Schmerz durchfährt mich, als Paul mir mit seiner großen Hand, grob in den Nacken packt und mich ernst ansieht. »Verkauf mich nicht noch einmal für dumm. Wir haben euch gesehen, wie ihr händchenhaltend durch die Straßen gegangen seid und euch mehr als einmal geküsst habt«, zischt er und spuckt mir vor die Füße. »Ich hab sie gehen lassen, weil ich heute meinen netten Tag habe. Lass dich nicht noch einmal mit solchem Abschaum erwischen. Jetzt komm, gehen wir und helfen deiner Erinnerung ein bisschen auf die Sprünge. Vielleicht weißt du dann wieder, was du damals auf die Fahne geschworen hast.« Paul nimmt mich grob bei der Hand, mit der ich vor wenigen Minuten noch Julis Hand gehalten habe und ich spüre, wie die Erinnerung an ihre Zärtlichkeit mehr und mehr verfliegt, je öfter er meine Hand beinahe zerquetscht. Er zerrt mich quer durch den Park und noch einige Kilometer weiter. Sein Kumpan Ben, immer hinter uns. Ich will etwas sagen, mich widersetzen, doch bevor ich genügen Courage gesammelt habe, stößt Paul mich in ein altes Lagerhaus, scheinbar ein neuer Unterschlupf, den ich noch nicht kenne. Ben verriegelt die schwere Stahltür hinter uns, von außen und steht vermutlich Schmiere, außer es gibt einen weiteren Weg in das Lagerhaus. Ich pralle gegen eine Wand, die mit rechten Graffitiparolen übersät ist. »Wo sind wir hier?«, frage ich und sehe mich in dem zwielichtigen Lagerhaus um. Es ist eine große Halle, die völlig leer steht und deren Fenster alle mit Dreck überzogen sind und kaum Licht hereinlassen. Paul ignoriert mich, geht zielstrebig in die Mitte der Halle, verschiebt einige Spanplatten, die ein Loch verdecken. Bevor ich fragen kann, was das Loch im Boden soll oder mich wundern kann, warum kein Staub aufwirbelt, packt er mich und schubst mich in das Loch. Ich stolpere eine alte, knirschende Holztreppe hinab. »Was soll das?«, frage ich Paul, der hinter mir die Treppen hinab kommt, als ich mich gefangen habe. Statt einer Antwort, finde ich mich plötzlich auf staubigem Boden wieder, um mich herum zahlreiche Beine und Füße und von oben das schwache Licht, einer einzigen, alten Glühbirne, die flackert. Ich spüre einen heftigen Schmerz an meinem Hinterkopf und ertaste eine Feuchtigkeit, die langsam meinen Nacken hinab rinnt. Es ist stickig und rieche den typischen, metallischen Geruch des Bluts, als ich auf meine Hand hinabsehe, die mit einer dunklen, klebrigen Flüssigkeit überzogen ist. Wären die Kopfschmerzen nicht so groß, würde ich versuchen zu verstehen, warum ich Blut an meiner Hand habe und nun auch Blut über meine Stirn, ins Gesicht rinnt. »Wie kannst du verraten, was unserer Großväter im Krieg verteidigt haben? Besonders nach allem, was wir für dich getan haben, Kameradin?« Pauls Stimme erklingt dröhnend laut, in einem Echo, das meinen Kopf noch stärker schmerzen und meine Synapsen in Schwingung versetzt. Mehrere Stimmen, stimmen ihm zu, verstärken das Echo und rufen: »Verrat! Verrat! Tod, allen Verrätern!« In meinem Mund hat sich Blut gesammelt, das ich ausspucke, als ich versuche, mich aufzurichten. Es bleibt bei dem Versuch, denn ein unbeschreiblicher Schwindel lässt mich den staubigen Boden schneller wieder aufsuchen, als dass ich hätte fallen können. Hat Paul mir hinterrücks etwas über den Kopf gezogen? »Ich bin mir keiner Schuld bewusst«, presse ich schwer atmend hervor und spucke eine weitere Ladung Blut auf den Boden. »Nicht? Was ist mit der Tatsache, dass du dich mit dieser Muselfrau herumtreibst? Ist das kein Verstoß, gegen unseren Eid, den du auf die Fahne geschworen hast? Wenn nicht das, was ist dann damit? Du küsst eine Frau, eine Muselfrau noch dazu, die heutzutage zum schlimmsten Abschaum zählt, den es in Deutschland gibt. Homosexualität ist wider die Natur. Habe ich dir nicht gut genug gezeigt, was du als Frau zu tun hast?« Ich will aufbegehren, sagen, dass Juli keine Muslima ist. Bevor ich jedoch etwas sagen kann, glaube ich, dass meine Lungen explodieren, als mir jemand brutal gegen den Brustkorb tritt. Ich spucke ungewollt abermals Blut und liege nun im Staub und stöhne unter Schmerzen, als weitere Füße auf mich eintreten. Mit meinen Armen versuche ich, Kopf und Bauch zu schützen, doch es hilft nicht viel, sie treten einfach an einer anderen Stelle weiter auf mich ein, bis ich Kopf und Bauch freigebe um die anderen Stellen zu schützen. »Bitte«, höre ich mich flehen, obwohl ich nicht nachgeben wollte. Doch am Rand der Ohnmacht ändern viele ihre Meinung, das habe ich selbst schon erlebt, als ich noch zu den Schlägern gehörte. »Bitte aufhören, ich bereue meine Tat. Bitte Paul, geb mir eine Chance, mich zu beweisen«, keuche ich und das Blut läuft mir aus den Mundwinkeln und am Kinn hinab, weil ich es Leid bin, ständig zu spucken. »Sie bedeutet mir nichts. Ich will genauso wie ihr, dass Deutschland wieder zu seinen Wurzeln findet.« »Stopp«, erklingt Pauls Stimme, als ob er genau weiß, dass ich eben nah an der Ohnmacht gekratzt habe. Seine Stimme hat einen amüsierten Touch. »Das ist genug. Ihr könnt euch etwas entfernen.« Die Füße weichen von mir zurück und ich atme tief die stickige, abgestandene Luft ein. Den Blutgeruch nehme ich schon lange nicht mehr wahr. Durch die Nase ziehe ich Schleim hoch und spucke Paul direkt vor die Füße, als er sich vor mich hockt und mein Kinn ergreift, damit ich ihm in die Augen sehen muss. Jetzt schon Erleichterung zu zeigen, wäre fatal, weshalb ich seinen Blick ausdruckslos erwidere und nur meine Miene verziehe, wenn der Schmerz zu viel wird. »Ich gewähre dir eine zweite Chance. Wir sind doch alle eine Familie und Kinder des alten arischen Volks. Und wie wir alle wissen, machen Kinder manchmal Fehler.« Er lässt mein Kinn los, zieht die Pistole unter seinem T-Shirt hervor, die er mir in einem anderen Leben gezeigt haben muss und legt sie vor mir auf den Boden. Meine Gedanken schweifen ab und ich frage mich, wie lange ich mich schon unterhalb des Lagerhauses befinde. Eine Ohrfeige holt mich zurück ins Diesseits. »Hey, schön fokussiert bleiben, Romy. Komm, steh auf und heb die Pistole auf, Süße.« Ich ertaste die Waffe, hebe sie auf und stehe unter großen Schmerzen, ächzend auf. Nur dank seiner schnellen Reaktion, falle ich nicht sofort wieder um. Er stellt sich hinter mich und stabilisiert mich. »Entsichere die Waffe und zieh den Schlitten zurück«, verlangt er von mir und ich tue, wie mir geheißen und erinnere mich, wie er mir das einmal gezeigt hat und weiß, dass nun eine Patrone im Lauf liegt und ich nur noch abdrücken muss. »Gut so«, haucht er mir ins Ohr. »Jetzt ziele nach rechts.« Ich hebe meine Arme, umfasse den Griff der Pistole auch mit meiner anderen Hand um mehr Stabilität zu erhalten und richte die Waffe aus. Gemeinsam mit Paul drehe ich mich nach rechts. Ohne ihn wäre ich auf meinen wackligen Beinen sicherlich schon längst zusammengeklappt. Ich ziele in eine dunkle Ecke und beginne, mich zu fragen, worauf ich ziele, als das Licht angeht. Ich blinzle gegen die plötzliche Helligkeit an und erstarre, als ich sehe, dass dort, ein paar Meter von mir entfernt, ein Mensch, mit verbundenen Augen, an einem Pfahl angebunden ist. »Nimm die Augenbinde von dem Abschaum ab, Lars«, befiehlt Paul und wir riechen es eher, als das wir sehen, dass sich der Mann eingepisst hat, als er sieht, dass jemand mit einer Waffe auf ihn zielt. Unsicher senke ich den Lauf und der Mann tut mir leid, als kurzzeitig Erleichterung in seinem Gesicht aufflackert, die vom Entsetzen weggewischt wird, als ich die Waffe wieder ausrichte und den Abzug betätige, weil Paul mich fester anpackt. Ich spüre die Tränen auf meinen Wangen, als sich der Schuss gelöst hat und verstehe im ersten Moment nicht, warum plötzlich alle lachen. Mord ist doch kein Grund, zu lachen. Wimmernd sacke ich auf den Boden zusammen, weil Paul mich losgelassen hat. »Das ist meine Romy«, dröhnt Paul hinter mir und zahlreiche Leute klopfen mir anerkennend auf die Schulter, die wie mein restlicher Körper, höllisch schmerzt. »Dein Ausrutscher, sei dir hiermit verziehen. Wäre es keine Platzpatrone gewesen, wäre der Muselmann nun ganz sicher tot«, lacht Paul und ich sehe verständnislos von ihm zu dem Mann am Pfahl, der wie ich weint und sich vor Erleichterung abermals bepisst hat. »Lass mich dich nicht noch einmal so innig mit diesem Pack erwischen«, zischt Paul mir zu und nimmt mir die Fakewaffe ab und dreht sich zu den anderen Anwesenden um, die ich nur schemenhaft wahrnehme. »Merkt euch, kein Umgang mit Abschaum und Aussteigen ist nicht. Wer geht, bezahlt mit dem Tod. Unsere ehemaligen Kameraden, Uschi und Ralf sind frei zum Abschuss. Denn unsere Ehre heißt Treue!« Mit diesen Worten und der uralten Losung, die wir nach ihm, alle raunen, lässt man mich allein. Allein mit dem Türken, der in Ohnmacht gefallen ist. Ich ziehe mein Smartphone aus meiner Hosentasche und bin überrascht, dass es noch funktioniert, nur leider habe ich in diesem Loch keinen Empfang. Als ich glaube, genügend Kraft geschöpft zu haben, schleppe ich mich unter großen Schmerzen, den Weg zurück, den ich mit Paul vor zehn Stunden gegangen bin. Also hatte ich definitiv mein Bewusstsein verloren, nachdem Paul mir, was auch immer, auf den Hinterkopf gezimmert hat. Als ich die Treppen ins Lagerhaus emporsteige, höre ich, wie der Mann erwacht und nach Hilfe schreit. Ich versuche, die Rufe zu ignorieren, weil ich ihm nicht helfen kann, helfen darf und bald schon bin ich so weit entfernt, dass ich ihn nicht mehr höre. Gierig atme ich die kalte Nachtluft ein, als ich aus dem Lagerhaus trete und stelle fest, dass Atmen wehtut. Ich vermute eine angeknackste Rippe und versuche den Schmerz so gut es geht, zu ignorieren. Mit langsamen Schritten schleppe ich mich durch die Dunkelheit und bekomme nur am Rande meines Bewusstseins mit, wie mein Smartphone vibriert. Im Park, wo ich Juli gehen gelassen habe, breche ich stöhnend zusammen und verliere den Kampf um mein Bewusstsein. »Romy«, flüstert Juli, als ich das nächste Mal meine Augen öffne und auf einem Bett liege. Juli? Überrascht schließe ich meine Augen für einen Moment und spüre, wie Juli sachte mit einem feuchten Tuch meinen Kopf abtupft, der immer noch dröhnt, als würde mich jemand mit einem Presslufthammer bearbeiten. Ein Glück, dass es ihr gut geht und sie ihr wirklich nichts angetan haben. Erleichtert atme ich aus und wäre wohl wieder in die Bewusstlosigkeit gedriftet, wenn Juli nicht an mir rütteln würde. »Hey, bleib wach, Romy«, haucht sie und ich sehe, wie sie besorgt auf mich hinabsieht, als ich meine Augen wieder öffne. »Papa hat die Polizei und den Notarzt schon alarmiert.« »Nein«, stöhne ich entsetzt, setze mich rasch auf und bereue die schnelle Bewegung sofort. Aber ich muss von hier weg. Wenn er herausfindet, dass ich mich schon wieder in ihrer Nähe befinde, dann bin ich tot, ist sie tot. Ich höre nicht, was sie sagt und ignoriere ihren Blick, mit dem sie mich bedenkt, als ich nicht auf ihre Worte reagiere. Unsanft stoße ich sie zur Seite und kämpfe mich mit Mühe in eine stehende Position. Als ich schließlich auf meinen zitternden Beinen stehe, wäre ich beinahe wieder umgefallen, doch ich kann mich an einem Schrank festhalten. Nach dieser Schrecksekunde stolpere ich mehr durch das unbekannte Zimmer, als dass ich gehe und falle halb gegen die einzige Tür, die mein Ziel darstellt. Ein unbekanntes, männliches Gesicht blickt erstaunt in das Meine. Nur an seiner Uniform erkenne ich, dass er ein Polizeibeamter ist. »Na wo wollen Sie denn so eilig hin?« Pah eilig, wenn er wüsste, wie lange ich vom Bett, bis zur Tür gebraucht habe, würde er mich das nicht fragen. Als der Mann meinen wackeligen Zustand erkennt, berührt er mich vorsichtig und schiebt mich behutsam zurück zum Bett, wo er mich mit etwas Nachdruck dazu bewegt, mich wieder zu setzen. »Ist sie vernehmbar?«, erklingt eine raue Stimme vom Flur und einen Moment später betritt ein zweiter Beamte den Raum. »Wissen Sie, Sie können mich auch gern direkt ansprechen, ich bin nicht auf den Mund gefallen«, knurre ich und stehe wieder auf, um mich von meinen Schmerzen abzulenken. »Vielen Dank für Ihre Besorgnis, aber ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich habe nichts auszusagen und möchte jetzt bitte einfach nur nach Hause gehen.« Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Juli einen Schritt auf mich zu geht und nach meiner Hand greifen will. Ich trete zur Seite und schlage ihre Hand weg. »Romy bitte«, fleht sie mich an. »Du musst aussagen. Wer einen Menschen so zurichtet, muss bestraft werden.« Stoisch starre ich auf den Teppichboden und weiche noch weiter zur Seite, als Juli einen weiteren Versuch startet, mich zu berühren. »Fass mich nicht an«, zische ich sie an. »Sprich nicht von Dingen, die du und Deinesgleichen nicht versteht und halte endlich deinen Mund. Vielleicht solltet ihr dorthin zurückgehen, wo ihr ursprünglich herkommt, denn ohne dich wäre ich jetzt nicht in dieser Lage.« Es tut mir weh, diese Worte zu sagen, weiß ich doch, dass sie hier in Deutschland geboren ist. Doch wenn ich Paul überzeugen will, dass ich keine Verräterin bin, muss ich meine Fassade, bestehend aus Lügen, so fest wie möglich erbauen und daran festhalten. Er darf keine Sekunde merken, dass alles mittlerweile nur noch eine Farce ist und ich nur mein Leben nicht verlieren will. Und um diese Fassade nicht zu gefährden, muss ich immer und überall so tun als ob, denn wer weiß schon, wo er überall seine Kontakte hat, die für ihn spionieren könnten. Aus demselben Grund, aus dem ich gehen muss, darf ich auch niemanden von dem Türken erzählen, den ich im Lagerhaus zurückgelassen habe, obwohl ich damit vermutlich seinen Tod besiegel. Ich sehe den Beamten im Türrahmen direkt an und mache einen Schritt auf ihn zu. »Ich habe nichts zu sagen und werde jetzt nach Hause gehen. Sie dürfen mich nicht gegen meinen Willen festhalten.« »Nicht so schnell, junge Dame«, setzt der andere Beamte an und hebt beschwichtigend seine Arme, als ich ihn böse ansehe. »Sie müssen gar nichts, aber in diesem Zustand können wir Sie nicht gehen lassen. Der Notarzt sollte jeden Moment eintreffen.« Die beiden Beamten sind nicht davon abzubringen und als ich versuche, einen weiteren Schritt zu machen, verrät mich mein schwacher Körper. Nur weil Juli so schnell reagiert, lande ich nicht mit meiner Nase voraus auf dem Boden. Dort wo mich ihre Hände festhalten, meine Haut berühren, jagt ein elektrisierender Schauer den Nächsten über meinen Körper und ich bin mir nicht sicher, wie viel mehr ich noch aushalte, bevor ich meine Gefühle nicht mehr mit Lügen übertünchen kann. Juli zieht mich auf das Bett und hält mich fest, bis der Arzt eintrifft und egal wie sehr und wie schlimm ich sie beleidige. Meine Worte treffen sie, gehen ihr unter die Haut. Das kann ich in Julis Augen lesen und die stummen Tränen sehen, die an ihren Wangen hinabrollen, doch ihr Griff ist eisern. Nicht von der schmerzhaften Sorte, aber fest. Ich kann mich keinen Millimeter bewegen. Als der Notarzt eintrifft, lässt sie mich los, als hätte sie sich verbrannt und stürmt an den Männern vorbei, aus dem Zimmer. Ich kann Julis Berührungen noch spüren, als ich schon längst im Krankenwagen sitze und ins Krankenhaus gekarrt werde, nachdem ich eine kurze Diskussion mit dem Notarzt verloren habe. Wahrlich ein krönender Abschluss, für mein erstes Wochenende, zu Hause. In der Notaufnahme bekomme ich in einem Behandlungszimmer, meine Haare zum zweiten Mal in einem Jahr abrasiert, weil die beiden Platzwunden, die ich habe, genäht werden müssen. Eine zieht sich quer über meinen Hinterkopf und ist die längere, die Andere sitzt über meinem rechten Ohr und reicht bis zu meiner Augenbraue. In einem Anflug von Sentimentalität, beginne ich Paul innig dafür zu hassen, was er mir angetan hat und beginne, mir zu wünschen, tot zu sein. Wünsche mir, schon damals gestorben zu sein, als ich wegen den Kanaken im Krankenhaus lag. Wäre es anders gekommen, wenn ich das stetige, psychische Mobbing der Kanaken stillschweigend ertragen hätte, anstatt aufzubegehren? Weil es mir schwerfällt, tief ein und aus zu atmen, werden Röntgenaufnahmen angefordert, die gemacht werden sollen, wenn meine beiden Wunden genäht sind. Zum Klammern sind sie leider zu groß, wie mir eine der Krankenschwestern mitteilt. Der Arzt, ein Ausländer, so wie er spricht, vermutet eine Prellung, will aber mit den Aufnahmen sicher gehen. Für mich fühlt es sich an, als wäre definitiv eine Rippe angeknackst. Als er damit beginnen will, die Platzwunde zu nähen, starre ich ihn lange an und weiche immer zurück, wenn er beginnen will. »Holen Sie mir bitte einen deutschen Arzt, ich will nicht von Ihnen behandelt werden«, zische ich und sehe ihn angewidert an. Was folgt ist ein ewiges Hin und Her, zwischen mir und ihm. Erst nach mehreren Beleidigungen, in denen ich ihn gefragt habe, ob er schwul sei oder Schweinefleisch gegessen hat, weil er sich so anstellt, stürmt er aus dem Behandlungszimmer und ich bekomme tatsächlich meinen deutschen Arzt, der mich zwar wenig erfreut ansieht, aber behandelt. Sobald ich zusammengenäht bin, karrt mich ein unfreundlicher Pfleger, der unübersehbar, ebenfalls ausländischer Abstammung ist, in einem Rollstuhl zum Röntgen und eckt dabei gefühlt, mit purer Absicht, überall an, wo es eigentlich unmöglich sein sollte, anzuecken. Nach dem Röntgen werde ich in ein Zimmer, auf einer Station, deren Nummer ich vergessen habe, gebracht und vergessen. Jedenfalls fühlt es sich so an, denn es dauert ewig, bis endlich einmal jemand nach mir sehen kommt und mir eine Karaffe Wasser bringt. Scheinbar haben sich meine rechten Äußerungen herumgesprochen, denn ich werde äußerst mies behandelt. Wenn ich volljährig wäre, würde ich mich selbst entlassen, deswegen. Weil ich es nicht bin, muss ich auf meine Eltern warten, die vor einer Stunde informiert wurden und mich damit herumschlagen, dass sie nur noch ausländische Pfleger in mein Zimmer schicken. Als sich nach einer halben Ewigkeit erneut eine Krankenschwester in mein Zimmer traut, die nicht Deutsch aussieht, werfe ich das Telefon, welches auf meinem Nachtschrank steht, nach ihr. »Verpiss dich, Abschaum«, schreie ich ihr hinterher und breche in Tränen aus, als die Krankenschwester verschwindet. Weine, weil ich weiß, dass ich ab jetzt jeden so behandeln muss, damit Paul mir meine Einstellung abkauft. Damit Paul weder meiner Familie, noch Juli oder gar ihrer Familie etwas antut. Es kommt niemand mehr nach mir sehen und nach einer Weile glaube ich meinen Worten beinahe selbst, dass diese Menschen alle Abschaum sind, als ich Hunger bekomme und die Karaffe mit dem Wasser zur Neige geht. Je mehr Zeit verstreicht, desto ungeduldiger warte ich darauf, dass meine Eltern, im Krankenhaus eintreffen. Als es endlich so weit ist, wünsche ich, sie würden wieder gehen. Mama sieht mich nicht an und Papa weicht meinen Augen aus, wenn ich ihm beim Starren erwischt habe. Als Mama mich zum ersten Mal gesehen hat, wäre sie beinahe wieder rückwärts aus dem Zimmer gestolpert, hätte Papa nicht hinter ihr gestanden. Nun weint sie immer wieder leise und nachdem ich in einen Spiegel gesehen habe, kann ich Mama ein bisschen verstehen und will mich auch nicht unbedingt ansehen. Meine blank rasierte Kopfhaut ist gerötet und überall beginnen Hämatome, in den unterschiedlichsten Farben zu erblühen. Mein linkes Auge ist beinahe ganz zugeschwollen und meine Unterlippe heftig aufgeplatzt. Das Schlimmste an meinem Aussehen sind aber definitiv die beiden genähten Platzwunden. Unverständnis lese ich in Mamas Augen und aus Papa spricht die Wut. Wut gegen die, die mir das angetan haben. »Romy, Liebes«, beginnt Mama und fummelt an ihrer blöden Handtasche herum, damit sie mich nicht ansehen muss. »Dein Arzt meint, du müsstest noch ein paar Tage zur Überwachung hierbleiben.« »An diesem, mit Abschaum verseuchten Ort bleibe ich sicherlich nicht. Ihr werdet mich hier heraus holen, oder ihr seit nicht besser, als diese stinkenden, parasitären Ausländer da draußen.« »Wie sprichst du denn mit uns?«, empört sich Mama und lässt ihre Tasche, Tasche sein, als sie mich kurz ansieht und eilig wieder wegsieht. »Man sagte uns, dass du das Personal beleidigst. Drehst du jetzt völlig durch, nachdem Papa und ich schon akzeptiert haben, dass du vielleicht homosexuell bist?« »Lisa«, donnert Papa. »So nicht! Romy kann nichts für ihre Gefühle. Damit solltest du sie nie beschuldigen, Frau. Komm, wir schauen, ob wir den Arzt erwischen und sehen, was er dazu denkt, dass Romy nach Hause möchte. Romy, haben wir dich so unmanierlich erzogen?«, richtet Papa seine letzten Worte an mich. »Nein«, grolle ich und starre auf meine Bettdecke. Wenn ich hier raus will, sollte ich wohl meine Klappe halten, aber ich habe Angst, dass Paul mich beobachten lässt, deswegen wäre es fatal, meine Rolle jetzt abzulegen. »Stellt sicher, dass diese Ausländer nicht wieder hier hereinkommen, so lange ich hier liege.« Papa schiebt Mama ohne weitere Worte aus dem Zimmer und ich kann hören, wie sie sich beginnen zu streiten, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fällt und wie Mama anfängt zu weinen. Ich weine mit und die Tränen brennen auf meiner schmerzenden Haut. Es vergehen mehrere Stunden, bis ich auf der Rückbank von Mamas Mercedes sitze und wir nach Hause fahren. Erst als Papa mit der Klinikleitung gedroht hat, wurde ich weiter behandelt und für eine Woche krankgeschrieben, obwohl meine Rippe tatsächlich nur geprellt und nicht angeknackst ist. Ich starre hinaus in die langsam erwachende Welt und ignoriere meine Eltern, die penetrant versuchen, mit mir ein Gespräch zu führen. »Ich bin Müde«, rede ich mich heraus, als wir zu Hause angekommen sind und steige unter großer Anstrengung und Schmerzen, die Treppen zu meinem Zimmer empor, bevor Mama oder Papa mich zurückhalten können. Kapitel 10: Kapitel 9. ---------------------- Sofort, als meine Zimmertür ins Schloss fällt, drehe ich den Schlüssel um, damit niemand hereinkommen kann und atme tief ein, obwohl das Atmen wehtut. Besonders das tiefe Einatmen. Aber dafür, unter anderem, habe ich ja Schmerztabletten bekommen. Gleich die Starken, die einen ziemlich neben der Spur stehen lassen, wenn man sie genommen hat. Eigentlich ist es lächerlich, doch ich denke im Moment nicht rational und muss weinen, als ich feststelle, dass das Zimmer noch ein bisschen nach Juli riecht. Juli, Juliet. Juli, Juli, Juli, Juliet. Was muss ich verdammt noch mal dafür tun, dass sie aus meinem Kopf, der auch ohne sie höllisch schmerzt, verschwindet? Ich lege die Tüte mit den Schmerztabletten, die der Kanakenarzt meinen Eltern ausgehändigt hat, auf meinen Schreibtisch und mein Smartphone dazu, nachdem ich zwanzig Nachrichten, die alle von Juli sind, nach einem Augenblick des Zögerns, ohne sie zu lesen, gelöscht habe. Es geht nicht, es darf nicht sein. Es ist, wie Paul sagt, wider die Natur. Es ist zu ihrem und meinen eigenen Schutz, denn es geht hier auch um mein Leben. Wenn ich es noch einmal verbocke, habe ich es verwirkt. Die Schmerzen, überall an und in meinem Körper, sind furchtbar, aber ich will keine Tablette nehmen, weil ich weiß, wie scheiße die Teile mich umhauen, wenn ich nichts gegessen habe. Die Tränen brennen auf meiner heilenden Haut, doch ich kann sie nicht verhindern. Weshalb ich mich frage, wie viel ein Mensch weinen kann, bevor er keine Tränen mehr übrig hat. Ich gehe langsam auf mein Bett zu und lege mich umständlich langsam, wegen der Schmerzen, darauf. Scheiße. Das Bett ist schlimmer. Es riecht noch intensiver nach ihr. Nach Juli. Gott, was muss ich tun, damit es aufhört? Nicht viel stelle ich fest. Mein Körper ist so erschöpft von der Tortur und dem vielen Weinen, dass er mich nicht sehr viel länger aushält. Ich schaffe es nicht einmal mehr, einen klaren Gedanken zu fassen, so schnell reißt mich der Erschöpfungsschlaf davon. Ich erwache erst am frühen Sonntagabend und bin völlig desorientiert, mit höllischen Schmerzen und Julis Geruch in der Nase, der zu meinem Leidwesen immer weniger wird. Leidwesen? Nicht Glück? Der Schmerz ist es, der mich schließlich aus dem Bett befördert. Leise vor mich hin fluchend, bringe ich mich dazu, aufzustehen, was eine halbe Ewigkeit dauert. Auf meinen wackeligen Beinen schleppe ich mich zu meiner Tür, schließe sie auf und bin erleichtert, nicht runter in die Küche zu müssen, weil auf meiner Türschwelle ein Tablett mit Essen und Trinken steht. Nichts geht ohne Schmerzen, ächzend kicke ich die Tür zu, nachdem ich das Tablett hochgehoben habe und setze mich damit an meinen Schreibtisch, wo ich ein gefaltetes Blatt Papier entdecke, was ich vor dem Schlafen nicht gesehen habe. Zögernd entfalte ich es und lese die kurze Nachricht mit einem traurigen Lächeln. Wann sie wohl dazu Zeit hatte? Es handelt sich um einen Gutschein von Juli, sie lädt mich zu einem Kinofilm meiner Wahl ein, wenn ich nicht wieder nach den ersten zwanzig Minuten die Flucht antrete. Ich zerknülle das Stück Papier, lasse es auf meinen Schreibtisch fallen und spüre, wie mir übel wird, als ich an sie denke. Daran denke, wie scheiße ich sie behandelt habe und weiterhin behandeln muss. Ich könnte schon wieder weinen, weshalb ich abrupt aufstehe und der eintretende Schmerz, mich einen Moment vergessen lässt, wo ich bin. Als ich mich wieder gefangen habe, lasse ich das Essen auf meinem Tisch Essen sein und schleiche aus meinem Zimmer und unter Anstrengung hinab nach unten, wo ich mir meine Jacke überwerfe und meine Schlüssel aus der Schlüsselschüssel nehme. Die Kapuze meiner Jacke ziehe ich mir tief ins Gesicht, über den Verband, der langsam zu jucken beginnt. Die Haustür fällt ins Schloss und ich achte nicht darauf, wo mich meine wackligen Beine hintragen. Hier und da bleibe ich einen Moment stehen, wenn die Schmerzen zu stark werden, sehe mich aber nicht um, sondern bin tief in meinen eigenen, dunklen Gedanken gefangen. Als ich Kies unter meinen Füßen, durch die Schuhsohlen stechen fühle und die Umrisse einer Schaukel, in der Dunkelheit der Nacht erkennen kann, schnappe ich aus meinen Gedanken und erkenne, dass ich am Rand eines Spielplatzes stehe. Unentschlossen gehe ich auf die Schaukel zu und setze mich nach einem Moment und beginne vorsichtig vor und zurückzuschwingen. Überraschenderweise schmerzt mich beim Schaukeln nichts. Ich erkenne den Spielplatz, hier war ich früher oft mit meiner Schwester, bis Lari keinen Bock mehr auf Spielplatz und mich diese Kanaken, hier in der Nähe vermöbelt hatten. Die Metallkettenglieder quietschen fröhlich vor sich hin und durch einen etwas kräftigeren Windstoß, rutscht mir meine Kapuze vom Kopf. Wenn ich den blöden Verband nur lösen könnte, die Haut darunter juckt fürchterlich. »Yo«, erklingt eine dunkle Stimme neben mir und ich zucke erschrocken zusammen, halte die Schaukel an und mein alter Freund, der Schmerz, durchfährt meinen ganzen Körper. »Scheiße«, stöhne ich des Schrecks wegen und sehe neben mich, zu der zweiten Schaukel, die nun besetzt ist. »Kannst du auch nicht pennen?«, fragt die Gestalt neben mir und eine kräftige Alkoholfahne weht mir entgegen, als die Gestalt zu schaukeln beginnt. »Nee, ich habe höllische Schmerzen«, erwidere ich und weiß nicht, was mich dazu bewegt hat, zu antworten. Doch als die Worte meinen Mund verlassen haben, ist es zu spät, sie zurückzunehmen. »Mit denen es verdammt schwer ist, zu schlafen, wenn man nicht gerade todmüde ist.« Die Gestalt neben mir hält an, sieht zu mir und hält mir eine Flasche entgegen. »Willst einen Schluck? Ist leider nur Billigfusel, aber ich teile gerne. Dir wurde ziemlich übel mitgespielt, yo?«, werde ich gefragt, als ich die Flasche entgegennehme und die Gestalt neben mir näher betrachte. Dabei stelle ich überrascht fest, dass die Person kein Kerl ist, wie ich es wegen dem Verhalten und der dunklen Stimme angenommen habe. Ich genehmige mir einen kleinen Schluck und nach dem der erste Anflug von Ekel verschwunden ist, einen weiteren. Nach dem vierten, großen Schluck, reiche ich die Flasche etwas beschämt zurück. »Dankeschön.« »Bitte. Willst du drüber reden?« Seufzend beginne ich mich wieder leicht hin und her zu schwingen und ignoriere den Schmerz in meinen Rücken für den Moment. »Nein, da gibt es nichts zu reden. Ich habe Mist gebaut und muss nun mit dem Echo leben, wenn ich nicht in einem Sarg meinen Abschluss machen möchte.« Ein Windstoß, der mich voll erwischt, weil ich ihm schaukelnd entgegenkomme, treibt mir die Tränen in die Augen und ich halte an, um sie mir mit dem Ärmel meiner Jacke wegzuwischen. »Bist du dir sicher? Mein Opa sagte immer, dass es für alles eine Lösung gibt, yo. Noch einen Schluck?« Ich nehme ihr die Flasche wortlos ab und ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten, beginnt sie immer höher zu schaukeln. Leise seufzend strecke ich vorsichtig meine Beine aus, halte mich mit einer Hand an der Kette fest und hebe die Flasche zu meinem Mund, während meine Augen den Himmel nach Sternen absuchen. Als die Schaukel neben mir langsamer wird, spüre ich den Alkohol in meinen Beinen. Sie werden angenehm schwer und der Schmerz ist nicht mehr so präsent. »Ich bin übrigens Nina. Und du?« »Romy«, erwidere ich und reiche Nina die Flasche zurück. »Wer war es, der dich so zugerichtet hat?«, fragt Nina neugierig und trinkt einen Schluck. Sie stößt ein verächtliches Geräusch aus und schwingt leicht vor und zurück. »Faschos waren das, oder?« Überrascht starre ich Nina an. Ist es so offensichtlich? »Wie kommst du darauf?« Nina trinkt einen weiteren Schluck und sieht mich schulterzuckend an. »Na die sieht man hier in der Gegend doch an jeder Ecke, yo? Wäre also keine große Überraschung. Was hast du angestellt, dass die dich so zugerichtet haben?« Nichts, will ich sagen und Nina anlügen, der Alkohol muss es sein, der meine Zunge lockerer sitzen und die Wahrheit sprechen lässt. »Ich«, stocke ich und sehe auf meine Füße. »Man hat mich gestern erwischt, wie ich mich mit unwürdigem Abschaum abgegeben habe. Dafür musste mich Paul bestrafen.« Nina schnaubt abwertend und ich bereue es sofort, ihr davon erzählt zu haben und die Angst kehrt in meine Brust zurück. Ich habe Pauls Namen erwähnt. Hoffentlich wird er nie davon erfahren. »Du gehörst also zu dem braunen Gesocks, yo? Mann, und mit so was teile ich meinen Fusel. Wie tief bin ich bloß gesunken?«, die letzten Worte spricht Nina mehr zu sich und steht auf und sieht mich an. »Du bist auf jeden Fall tief gesunken. Wenn ich so zugerichtet werden würde, würde ich meine Beine in die Hand nehmen und mir so schnell es nur geht, andere Freunde suchen.« »Und riskieren, dass meine Familie und Freunde bedroht werden?«, frage ich und kralle meine Finger fest um die Metallkette. Nina reicht mir die Flasche zurück und ich trinke den letzten Rest mit einem Mal aus. Achtlos lasse ich die leere Flasche zwischen meinen Beinen auf den Boden gleiten. Nina stellt sich direkt vor mich, hält die Metallketten meiner Schaukel fest und kickt die Flasche zu meinen Füßen, irgendwo nach hinten. »Wie ich schon sagte, es gibt für alles eine Lösung. Mehrere Lösungen, du musst dich nur für eine Lösung entscheiden und hoffen, dass du mit deiner Entscheidung Frieden schließen kannst. Du kannst die Bullen einschalten, wenn sie euch bedrohen. Wegziehen, wenn das nicht hilft. Hauptsache du kommst aus dieser negativen Beeinflussung raus. Den ersten Schritt musst du aber tun, durch den Rest, musst du nicht alleine durch. Es gibt Stellen, die extra für Aussteiger aus der rechten Szene gedacht sind.« »Scheiße«, lache ich hohl auf. »Du klingst wie eine dieser Zecken, die immer am Hauptbahnhof abhängen. Was macht euch besser als uns, hm?« Nina zuckt überrascht zurück, als ich aufspringe und wir uns nun auf Augenhöhe befinden. Eigentlich dachte ich, sie wäre kleiner. Ich strauchel gegen Nina, als mich eine Welle des Schmerzes überkommt, die gepaart mit meiner Angetrunkenheit nicht lustig ist. »Wir verprügeln niemanden so schlimm, dass es genäht werden muss«, kommentiert Nina und hält mich fest. »Komm, ich bringe dich nach Hause.« »Danke«, schnaube ich und drücke mich von ihr weg. »Ich schaffe das auch alleine. Ich muss mich nicht von einer Zecke nach Hause bringen lassen. Am Ende lande ich nur wieder im Krankenhaus.« »Doch musst du«, ertönt es über mir, als ich unsanft mit meinen Knien auf dem Boden aufpralle und ein stechender Schmerz durch meinen Oberkörper schießt. Verdammte geprellte Rippe und die Schmerzen in meinem Kopf werden auch nicht besser. Ich hätte den Alkohol nicht trinken sollen. Nina greift mir unter die Arme, zieht mich zurück in den Stand und legt dann einen meiner Arme über ihre Schultern und stabilisiert mich mit der anderen Hand, damit ich nicht nach vorne umfalle. »Sag an, in welche Richtung wir müssen, yo?« Ich kralle mich fester als nötig an Ninas Kleidung fest und hasse meinen aktuellen Gleichgewichtssinn. Weil die Schmerzen in meiner Brust nicht besser werden, schweige ich, zeige ihr mit meinem Zeigefinger den Weg und konzentriere mich ganz auf meine Atmung. Nach und nach wird es wieder angenehmer. Sehr schnell wünsche ich mir aber die Schmerzen zurück, da diese mich wenigstens davon abgehalten haben, zu viel an Juli zu denken. Sie hasst mich jetzt bestimmt. Ich hasse mich jedenfalls, besonders für meine Worte und mein Benehmen ihr gegenüber. »Erzähl mir von dem«, Nina lächelt mich zynisch an. »Abschaum, mit dem du erwischt wurdest und dir direkt so eine Abreibung verdient hast.« »Sie ist wunderschön«, murmle ich und muss stehen bleiben, weil mir alles wehtut. Ich weiß nicht, warum ich Nina von Juli erzähle. Vermutlich ist es immer noch der Alkohol. »Sie hat die schönsten Augen, in die ich jemals geblickt habe«, schwärme ich. »Und was ist sie? Türkin? Jüdin? Afrikanerin?«, holt Nina mich aus meinen Erinnerungen, als wir weitergehen. Verdammte Schmerzen. Jeder Schritt ist eine Überwindung. »Pakistan, da kommen ihre Eltern her, sie selbst ist in Deutschland geboren und aufgewachsen.« Schweigend gehen wir einige Minuten weiter, bis es Nina ist, die unter einer Laterne stehen bleibt und mich ernst ansieht. »Weißt du eigentlich, dass du immer ein Lächeln auf den Lippen hast, wenn du im Gedanken zu ihr abschweifst?« »Tue ich?«, frage ich erschrocken und versteife mich. Scheiße, wenn das stimmt, habe ich ein Problem. Ich muss versuchen eine gleichgültige Miene zu zeigen, wenn ich an sie denke. Vielleicht kann ich das die kommende Woche üben? Zu irgendetwas muss diese Krankschreibung nütze sein. Sobald ich zu Hause bin, lösche ich ihre Nummer, die sie mir gegeben hat, vernichte den Gutschein, lösche sie bei Facebook und übe vor meinem Spiegel. »Yo, die Braut geht dir ganz schön unter die Haut, hm? Wer ist sie, dass sie so einen hohen Stellenwert in deinen Gedanken einnimmt, obwohl du wegen ihr erst im Krankenhaus gelandet bist?« »Niemand«, erwidere ich mit fester Stimme und verbanne jeden Gedanken an Juli, indem ich versuche, an Paul zu denken. Als ich dann aber Nina neben mir wahrnehme und denke, dass auch sie schlechter Umgang, in Pauls Augen, ist, lasse ich es und frage mich stattdessen, wie ich von so einem bisschen Fusel, so alkoholisiert werden konnte. »Für einen Niemand beschäftigt sie dich ganz schön«, flüstert Nina und zieht mich weiter. Wir schweigen, bis wir mein zu Hause erreichen. Nina lässt mich los und ich gehe langsam auf die Haustür zu. Nach drei Schritten drehe ich mich zu ihr zurück. »Danke fürs Bringen. Dafür, dass du eine Zecke bist, bist du echt okay.« »Ich habe zu danken. Danke für die Ablenkung, soll ich später vorbei kommen und wir machen irgendetwas?«, lächelt Nina mich an. Nett ist sie ja, aber wenn mich jemand mit ihr sieht, kann ich mir meinen Sarg wirklich bestellen gehen. »Nein, ich denke eher nicht, wenn uns jemand zusammen sieht, liege ich im Leichenschauhaus.« Enttäuscht sieht mich Nina an. »Okay, schade. Ist dein Bier, aber ich dachte, ich versuche wenigstens, dir eine Möglichkeit zu zeigen, wie dir der Ausstieg leichter fallen könnte. Denn mit Freunden außerhalb der Szene brauchst du die Idioten innerhalb bestimmt nicht mehr.« Nina winkt lax, dreht sich um und geht ohne ein weiteres Wort in die Richtung, aus der wir kamen. Ich sollte rein gehen und mich die Treppen zu meinem Zimmer hoch kämpfen. »Hey«, rufe ich ihr hinterher. »Komm am Nachmittag vorbei, wenn du Bock hast.« »Yo«, ruft Nina über ihre Schulter hinweg, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Bis dann.« Ich muss lebensmüde sein, denke ich schmunzelnd, als mich die Schmerzen wieder an Paul erinnern. Vermutlich sehe ich aus wie eine Irre, als ich vor der Haustür, in meinen Jackentaschen nach dem Schlüssel krame und wie bescheuert lache. Das Öffnen der Tür wird mir abgenommen und ich trete noch immer lachend in den Flur. Papa drückt die Tür hinter mir ins Schloss und Mama steht mit verschränkten Armen vor mir und sieht mich ernst an. »Wo kommst du jetzt noch her, um diese gottlose Uhrzeit?« Ich gebe mir wirklich Mühe, nicht weiter zu lachen und habe es schon auf ein stockendes Kichern reduziert, als ich aber ihr verkniffenes, wütendes Gesicht betrachte, kann ich nicht an mich halten und verfluche den Alkohol dafür, dass er es mir so schwer macht, nicht zu lachen. Denn eigentlich sollte ich weinen, bei den Schmerzen, die ich immer noch habe. »Ich war spazieren und auf dem Spielplatz.« »Natürlich«, zickt Mama mich an. »Und ich bin des Weihnachtsmanns kleine, grüne Gehilfin. Hör auch mich für dumm zu verkaufen, Romy. Du hast die restliche Woche Hausarrest und nun ab auf dein Zimmer.« Den Hausarrest hat sie mir sicherlich nur verpasst, damit ich mich nicht mehr mit Paul treffen kann, von dem sie ja annimmt, dass ich ihn gerade gesehen habe. Also war mein Hausarrest nichts anderes als ein Umgangsverbot. Clever von Mama, das so zu vertuschen. Mit jeder Stufe, die ich erklimme, spüre ich, wie der Alkohol aus meinem Körper weicht und der Schmerz immer schlimmer wird. Ob ich es riskieren kann, eine der Schmerztabletten zu nehmen? Die letzte Stufe kämpfe ich mich ächzend hoch, als ich die Stimmen von Mama und Papa aus dem Wohnzimmer höre. Sie streiten sich lautstark, vermutlich wegen mir. Seufzend lehne ich mich gegen meine Zimmertür und drücke mit meinem Ellenbogen die Türklinke hinab. »Romy, bist du das?«, erklingt Laris verschlafene Stimme und hält mich zurück. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, flüstert sie, als unten im Wohnzimmer Ruhe einkehrt und sie mich vorsichtig umarmt hat. Weil ich zurzeit über null Gleichgewichtssinn verfüge, stolpern wir rückwärts in mein Zimmer. Nur mit Mühe kann ich verhindern, dass wir gemeinsam hinfallen, indem ich mich im letzten Moment an der Tür festhalte. »Uhh Lari«, zische ich und sehe schwarze Punkte vor meinen Augen. »Du tust mir weh.« »Sorry«, erwidert Lari, sieht mich reuevoll an, nachdem sie mich losgelassen hat. Erleichtert schleppe ich mich zu meinem Bett und lasse mich darauf nieder, während Lari die Tür zu drückt und sich dann unschlüssig zu mir zurückdreht. »Ist schon okay«, lächel ich schwach und klopfe neben mir auf das Bett. »Tut mir leid, dass ich, ohne etwas zu sagen, gegangen bin. Ich brauchte frische Luft.« »Wo warst du?«, fragt meine Schwester, kommt meiner stummen Einladung nach und rümpft ihre Nase, als sie neben mir auf dem Bett sitzt. »Du stinkst furchtbar nach Alkohol.« »Irgendwie bin ich auf dem Spielplatz gelandet, weißt du noch, der, zu dem wir früher immer regelmäßig gegangen sind?« Lari nimmt meine Hand und legt sie in ihre. »Was hast du denn da gemacht?«, fragt sie mich und drückt meine Hand kurz. »Geschaukelt«, grinse ich schwach. »Ich wollte meinen Kopf von all dem Ballast freibekommen.« »Wo passt da der Alkohol dazu?« »Nina hat ihre Flasche Billigfusel mit mir geteilt. War irgendwann einfach da. Gehört zu den Zecken, die regelmäßig am Bahnhof anhängen. Hatte wohl Bock aufs Schaukeln oder Krach zu Hause, was weiß ich. Sie war es auch, die mich unfallfrei hierher gebracht hat.« Ich sehe es an Laris ganzer Haltung, dass sie mir nicht glaubt, dazu muss ich ihr noch nicht einmal in die Augen sehen. »Hey Süße, habe ich dich jemals angelogen?« Lari schüttelt ihren Kopf und entspannt sich ein bisschen. »Siehst du. Also warum sollte ich jetzt damit anfangen?«, frage ich sie, als sie mich noch immer zweifelnd ansieht. »Ach komm schon, Lari. Aber gut, dann glaub mir halt nicht. Nina will nach der Schule vorbei kommen, dann kann sie dir bestätigen, dass wir auf dem Spielplatz waren und ihre Flasche geleert haben.« »Ist es die Nina?«, fragt Lari plötzlich und schaut mich interessiert an. »Wie, die Nina?«, frage ich irritiert zurück. »Weil du von Zecken sprichst. Auf meiner Schule gehen einige Punks und die haben eine stadtbekannte Punkrockband. Nina ist Frontsängerin dieser Band. Nennen sich Herzzivil.« »Kenn ich nicht«, murmle ich, wobei das kein Wunder ist, höre ich doch nur Rechtsrock, die Onkelz und ein paar ausgewählte englischsprachige Bands. »Lassen wir uns überraschen, die Stadt ist groß. Sicherlich gibt es mehr als eine Nina. Mach dir nicht so viele Sorgen um mich, Süße. Ich komme schon klar.« »Das sieht man ja«, entfährt es Lari ungewollt. Weil sie mich gleich darauf entschuldigend ansieht, weiß ich, dass sie das eigentlich nicht laut sagen wollte. Sie drückt meine Hand sachte und steht auf. »Ich sollte wieder schlafen gehen. Im Gegensatz zu dir, muss ich nachher wieder in die Schule. Sieh zu, dass du noch etwas isst.« »Ja Mama«, murmle ich und entlocke Lari damit ein leises Lachen, bevor sie die Zimmertür aufzieht und geht. Das schmerzhafte Pochen in meinem Kopf nervt. Ich will mich ins Bett legen, einschlafen und alles, für einen Augenblick, vergessen. Aber ich bin nicht müde und nicht liegen, wegen den Schmerzen. Wie spät es wohl ist? Ich taste nach meinem Smartphone, doch es liegt nicht an seinem eigentlichen Platz. Ich stehe stöhnend auf und schleppe mich zu meinem Schreibtisch, wo das Tablett mit dem Essen steht, die Schmerztabletten und mein Smartphone noch liegen. Ich nehme es und schaue auf die Uhrzeit. Kurz nach Mitternacht erst. Drei neue Nachrichten habe ich bekommen, seit ich die zwanzig von Juli gelöscht habe. Die jüngste Nachricht ist von Paul. 22:31; Paul Mazur: ›Meine Maulwürfe haben mir Interessantes berichtet. Romy, das ist meine letzte Warnung, lass die Finger von Abschaum, sonst muss ich mit den Jungs doch einmal ausrücken und dort wo sie wohnt, aufräumen. Ja, ich weiß, dass sie dich gefunden und erstversorgt haben. Du hättest direkt gehen sollen!‹ Ich kralle mich an meinem Schreibtisch fest, um nicht vom Stuhl zu kippen, als mich eine unbeschreibliche Angst überkommt. Also stehe ich tatsächlich unter Beobachtung? Was kann ich dafür, dass ich ausgerechnet von Juli erstversorgt wurde? Mit den zitternden Fingern meiner Hand, die das Smartphone hält, öffne ich die Nachricht von Uschi und versuche, mich zu beruhigen. 18:00; Uschi Maler: ›Danke, dass du dich gestern bei mir gemeldet hast. Das bedeutet mir wirklich viel. Wenn du uns brauchst, scheu dich nicht und melde dich!‹ So schnell, wie meine Finger reagieren, kann ich gar nicht darüber nachdenken, was ich gerade tue. Erst als ich mir das Smartphone ans Ohr drücke, kommt in meinem Hirn an, dass ich gerade Uschi anrufe. Es klingelt und klingelt. Ich will gerade auflegen, als auf der anderen Seite jemand ran geht. »Hallo?«, murmelt Uschi verschlafen. »Hey«, murmle ich unsicher und bekomme einen Krampf in der Hand, die den Tisch umklammert hält. »Wer ist da?«, fragt Uschi und ich kann es rascheln hören. Ich stelle mir vor, dass sich Uschi gerade aufgesetzt hat. »Romy«, ruft sie und klingt plötzlich hellwach. Vermutlich hat sie aufs Display geschaut und meinen Namen gelesen. »Ist etwas passiert?« »Ja«, erwidere ich und spüre, wie ich nicke, obwohl sie das nicht sehen kann und plötzlich sind überall Tränen. Schon wieder. »Ich wurde zusammengeschlagen«, schniefe ich und hasse mich für diesen Gefühlsausbruch. Dabei stelle ich aber etwas wichtiges fest. Ich weine nicht nur wegen dem, was sie mir angetan haben oder wegen meinen Schmerzen und der Platzwunden. Ich weine, weil ich ohne große Emotionen, völlig skrupellos auf den Mann gezielt und den Abzug der Waffe betätigt habe. Was macht das aus mir? Ob ich irgendwie überprüfen kann, ob sich der Mann selbst befreien konnte? Hoffentlich geht es ihm gut. »Romy, was ist passiert?« »Paul ist passiert«, hauche ich und höre Uschi auf der anderen Seite scharf einatmen. »Er ist wieder frei. Schubi hat alles auf sich genommen.« »Erklärt mir lieber, warum du zusammengeschlagen wurdest.« Ich seufze. Eigentlich will ich nicht mehr daran denken, aber wenn ich sie schon anrufe, kann ich ihr auch gleich alles erzählen. Uschi ist schließlich meine erste und längste Freundin. »Erinnerst du dich, an unser Gespräch am Samstag?« »Natürlich«, erwidert Uschi und klingt ein bisschen konfus. »Aber was hat unser Gespräch damit zu tun?« »Weißt du noch, wie du mich gefragt hast, wer das war? Als du etwas gehört hast, wo ich meinte, Niemand?« Uschi bleibt einen Moment still und ich stelle fest, dass der Krampf in meiner Hand vorbei ist. Ich strecke meine Finger, mache eine Faust und strecke die Finger wieder aus. »Ja ich erinnere mich. Ich war der Meinung, das Wort Voraussetzungen, gehört zu haben.« Ich lege meine entkrampfte Hand auf meinen Schoß. »Das war Juli«, beginne ich zu erklären. »Ihre Eltern kommen aus Pakistan und Paul hat mich gesehen, wie ich sie geküsst habe«, fasse ich das Geschehen kompakt zusammen und höre Uschi überrascht ausatmen. »Deswegen habe ich mir die beiden Platzwunden, die Rippenprellung und die zahlreichen blauen Flecken verdient. Und jetzt droht mir Paul, weil es zu meinem Pech Juli und ihr Vater waren, die Ersthilfe geleistet haben, damit, bei neuerlichem Kontakt, mit seinen Jungs auszurücken und bei ihr zu Hause einmal aufzuräumen. Uschi ich habe höllische Angst«, flüstere ich den letzten Satz und kralle meine freie Hand dieses Mal in meinen Oberschenkel. »Denkst du, dass ihr kommen könnt? Scheiße, nein vergiss es, bleibt dort, wo ihr seid. Paul hat euch zum Abschuss freigegeben.« »Wow«, beginnt Uschi nach einigen Augenblicken, in denen ich mir schon ausgemalt habe, dass sie nicht mehr mit mir spricht. »Ich bin sprachlos. Ehrlich gesagt weiß ich gerade nicht, was ich als Erstes fragen soll. Aber seit wann küsst du Mädchen? Nicht das ich Pauls Aktion gutheiße, denk das bloß nicht. Ich bin immer noch froh, das wir übers Aussteigen geredet haben und du unser Telefonat nicht ablehnend beendet hattest.« »Erinnerst du dich noch daran, wie ich dir von diesen wunderschönen Augen vorgeschwärmt habe?« »Nein«, stößt Uschi laut aus und lacht. »Die gehören nicht dieser Juli, oder? Du hast mir so oft von diesen Augen erzählt, das mir noch heute die Ohren bluten«, scherzt Uschi. »Doch genau die«, hauche ich. »Und der Kuss, die Küsse, tja, wo genau das herkam, weiß ich noch nicht so genau.« »Oh Mann. Romy du bist unglaublich. Wirklich! Nur du schaffst es und kannst unter tausend Menschen genau die Person wiederfinden, die dich der Polizei beschreiben konnte«, flüstert Uschi und kichert. Daran habe ich noch gar keinen Gedanken verschwendet. »Meinst du echt, dass Juli das war?« Das ich wegen ihrer Beschreibung meine Haare lassen musste? »Wer sonst?«, erwidert Uschi und ich kann sie mir bildlich vorstellen, wie sie breit grinst. Ja. Richtig, wer sonst. Ich weiß nicht, wer mich sonst noch gesehen hat, als mir die Kapuze vom Kopf gerutscht ist. »Paul meint, es sei wieder die Natur«, flüster ich, weil ich nicht direkt fragen will, wie Uschi darüber denkt, dass ich ein Mädchen geküsst habe. Schweigen. Eine ganze Weile sagt Uschi nichts und ich höre nur ihren Atem. »Entschuldige, ich wollte sichergehen, dass die Belustigung aus meiner Stimme ist, bevor ich dir antworte. Nicht dass du denkst, ich würde dich auslachen. Paul ist ein Arsch, Romy, und ich kann nicht sagen, dass ich überrascht bin. Weder über Pauls Verhalten noch über dich.« Das ist nicht die Antwort, mit der ich gerechnet habe. »Nicht?« »Nein. Denn ich habe schon länger geahnt, dass du ein Ding für Frauen hast. Schließlich lagen deine Augen immer auf den weiblichen Bandmitgliedern, wenn wir auf Konzerten waren und all die Typen, die dich beeindrucken wolltest und die du nicht mit dem Arsch angesehen hast. Deswegen war ich ja so überrascht, dass du mit Paul zusammengekommen bist.« Uschi lacht abermals, als ich nichts mehr sage und sie mich nur noch schniefen hört. »Pass auf, Ralf und ich kommen zu dir. Wir setzen uns gleich ins Auto und fahren los. Völlig egal, ob Paul uns zum Abschuss freigegeben hat oder nicht, du bist uns verdammt wichtig und ich habe dir ja gesagt, dass ich dir helfe, wenn du Hilfe brauchst.« »Kannst du mir noch einen Gefallen tun?«, frage ich erstickt, nachdem ich mich wieder etwas gefangen und mir die Tränen aus dem Gesicht gestrichen habe. »Alles, außer du willst, dass wir uns küssen«, höre ich sie leise lachen. »Keine Sorge«, murmle ich und räuspere mich. »Ich«, beginne ich und muss mich erneut räuspern und zum Weitersprechen zwingen. »Ich musste mich beweisen, nachdem Paul der Meinung war, ich hätte genügend Schläge und Tritte empfangen. Er«, ich stocke und Uschi macht ein ermutigendes Geräusch. »Er gab mir eine Waffe und ließ mich damit auf einen Mann zielen. Einen Türken.« Uschi atmet hörbar ein und wieder aus. »Ich habe abgedrückt, Uschi«, flüster ich beschämt. »Es waren nur Platzpatronen geladen, zum Glück, aber wir haben den Mann in dem Lagerhaus zurückgelassen. Kannst du der Polizei vielleicht einen anonymen Tipp geben? Du kennst mehr Verstecke als ich, ich weiß nur, dass sich das Lagerhaus in der Nähe des Parks befindet, wo mein Elternhaus steht.« »Mache ich«, erwidert Uschi wertfrei. »Und du hebst alle Drohnachrichten auf, die er dir eventuell schickt. Wir sehen uns bald. Versuch zu schlafen, Romy.« Kapitel 11: Kapitel 10. ----------------------- Ich starre auf das schwarze Display, nachdem wir aufgelegt haben. Ich brauche es nicht anzumachen und zu entsperren, denn ich weiß auch so, was mich da erwartet. Nämlich eine letzte, ungelesene Nachricht, die ich genauso, wie die anderen von Juli, gemeinsam mit ihrer Nummer, die sie mir gegeben hat, weil sie über Facebook schreiben doof findet, löschen sollte. Ich versuche, den Drang zu ignorieren, scheitere aber kolossal, als ich mein Smartphone entsperrt, die Nachricht im nächsten Moment geöffnet habe und meine Augen den Text lesen. 16:24; Juli: ›Romy, ich bin wieder im Internat. Melde dich bitte! Ich mache mir große Sorgen. Es ist mir scheißegal, ob du nicht mit mir reden willst. Ich werde dich nicht aufgeben! Melde dich!‹ Lange starre ich die Nachricht nach dem Lesen noch an. Es ist Erleichterung, die mich als Erstes durchfährt und eine Anspannung von mir nimmt, die mir gar nicht bewusst war. Juli ist sicher im Wohnheim. Die Nachricht kam, als ich noch geschlafen habe. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf Julis Gesicht, ihre lockigen Haare und ihre Lippen. Ihren Geruch, der sich mittlerweile mit so vielen anderen Gerüchen vermischt hat, dass ich ihn nicht mehr wahrnehme. Meine Augen schnappen auf, als mir klar wird, dass es nicht hilfreich ist, mich an sie zu erinnern. Ich lege mein Smartphone auf den Schreibtisch zurück und stehe abrupt auf. Mein Körper dankt es mir mit Schmerzen. So viel zum Thema Essen und Nummer löschen, denke ich, gehe zu meinem Fenster und lehne meine Stirn an die kalte Fensterscheibe. Weil das große Zimmerlicht an ist, sehe ich in der Fensterspiegelung, dass die Klamotten, die Juli getragen hat, noch dort liegen, wo sie, sie abgelegt hat. Ich gehe zu meiner Couch, schnappe mir das T-Shirt, drücke es fest an mich und setze mich auf die Couch, lehne mich zurück und schließe seufzend meine Augen. Da, zwischen den Weichspüler und Duschgel Duftnoten entdecke ich Julis Geruch. Gibt es einen Ausweg aus dieser Misere, ohne Verluste zu erleiden? Gibt es die Lösung, von der Nina gesprochen hat? Irgendeinen Weg muss es geben, nur ob ich den ohne Verluste gehen kann? Ich atme tief ein und keuchend wieder aus; bei all den Gedanken in meinem Kopf, habe ich vergessen, wie weh es tut, wenn ich zu tief einatme. Ein lautes Klopfen erklingt. Desorientiert öffne ich meine Augen und stöhne, als ich mich aufsetze und lege Julis T-Shirt zur Seite. Auf der Couch einzuschlafen war noch nie eine gute Idee gewesen. Heute ist es noch schlimmer. Die doofen Federn haben mir ordentlich in den Rücken gestochen und ich bin mir beinahe sicher, dass noch ein paar blaue Flecke zu den schon Vorhandenen hinzugekommen sind. Es klopft lautstark an meiner Tür. Jetzt weiß ich wenigstens, was mich geweckt hat. »Romy«, erklingt Papas Stimme ungeduldig hinter meiner Zimmertür und er bollert ein weiteres Mal gegen meine Tür. »Scheiße, nicht so laut«, stöhne ich, als sich meine Kopfschmerzen zurückmelden. »Ich bin schon wach«, rufe ich, kämpfe mich von der Couch und stolpere auf meine Zimmertür zu. Warum Papa nicht einfach aufmacht, denke ich noch, als ich meine Zimmertür aufreiße und Papa anstarre, der neutral zu mir zurücksieht. »Du hast Besuch«, sagt er zur gleichen Zeit, wie ich jemanden entsetzt, hinter Papa, keuchen höre. »Schau, eigentlich dulden wir keinen Besuch, wenn du Hausarrest hast, aber weil es Uschi und Ralf sind und sie uns versichert haben, dass sie nicht so sind wie dein Paul und dir helfen wollen, machen wir eine Ausnahme. Sie dürfen das Gästezimmer haben. Reich ihnen bitte frische Bettwäsche«, bittet mich Papa und sieht mich mahnend an und berührt mich liebevoll an der Schulter, bevor er sich umdreht und die Stufen hinabsteigt. Erst jetzt erblicke ich Uschi und Ralf. »Guten Morgen«, grinse ich schwach und trete zur Seite, damit sie in mein Zimmer treten können. »Was habt ihr gemacht, dass ihr an Mama vorbei gekommen seit?«, frage ich, schließe die Tür und sehe die Beiden ernst an. »Ihr seid wirklich gekommen.« »Natürlich und es heißt guten Tag, schließlich ist bald Mittag«, erwidert Ralf muffelig und lässt sich unaufgefordert auf die Couch fallen. »Ignoriere ihn. Der ist nur müde«, lächelt Uschi schwach und sieht mich besorgt an. »Du siehst furchtbar aus.« »Es fühlt sich auch furchtbar an«, gestehe ich und Uschi nickt verstehend. »Zu deiner Frage, ich glaube deine Mutter lässt jeden zu dir hoch, der dir aus der Szene helfen will«, erklärt mir Uschi und klingt amüsiert, als sie auf mein Zimmerfenster zugeht und es öffnet. »Hier ist ein Mief drin. Pass auf, du gehst jetzt erst einmal Duschen, dann reden wir, während du etwas frühstückst.« Mit diesen Worten kommt Uschi auf mich zu und schiebt mich ins Badezimmer, ohne auf meine Widerworte zu hören. »Ich suche dir Klamotten raus und reiche sie dir gleich herein«, lächelt Uschi mich an und geht aus dem Badezimmer. Zögernd ziehe ich mich nach einigen Minuten doch aus, nachdem ich die Badezimmertür lange genug unschlüssig angesehen habe und versuche, es zu vermeiden, in den Spiegel zu sehen. Denn mein ganzer Körper ist ein einziger, blauer Fleck, der langsam violett wird. Kein schöner Anblick. In die Dusche zu klettern, ist ein wenig wie einen Berg zu erklimmen, weil es eben eine Badewanne ist und ich meine Beine höher heben muss, als ich sie heben will - kann. Meine Anstrengung wird belohnt, als warme Wasserstrahlen auf meine geschundene Haut treffen. Dabei fällt nicht nur der Schmutz von mir ab, sondern auch eine große Last, von der ich nicht wusste, dass sie auf meinen Schultern ruhte. Ich genieße das Duschen so sehr, dass ich nicht mitbekomme, wie mir Uschi frische Sachen ins Badezimmer legt. Die Euphorie, die ich beim Duschen verspürt habe, verebbt, als ich mich abtrockne. Es wird noch Tage dauern, bis ich den blöden Verband an meinem Kopf los bin und auch meinen Kopf endlich wieder waschen kann. Tumult bricht außerhalb des Badezimmers los, als ich gerade das T-Shirt über meinen Kopf ziehe. Kleidung anzuziehen ist dieser Tage verdammt mühsam. »Was ist denn hier los?«, rufe ich, als ich die Badezimmertür öffne und hinter mir wieder zuziehe. Uschi und Nina stehen nur wenige Schritte voneinander entfernt und starren sich wütend an. »Die da ist los«, knurrt Uschi und zeigt auf Nina. »Was macht die hier?« »Dasselbe wie du und Ralf. Was ist dein Problem?«, frage ich und lasse mich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch fallen, wo noch das Tablett mit dem Essen steht. Bevor Uschi etwas erwidern kann, öffnet Lari meine Zimmertür, tritt ein und hält Nina grinsend einen Block und Stift hin. »Bekomme ich das versprochene Autogramm?« Uschi rollt ihre Augen, als Nina nach Stift und Block greift. »Na klar«, grinst Nina und zwinkert. »Wenn du schon auf mich gewartet hast.« Ich sehe zu Uschi, blicke zu Nina und fragend zurück zu Uschi, die abwinkt und mir stumm bedeutet, dass sie mir das später erzählt. Meine Schwester lächelt Nina an und nimmt dankbar den Block mit dem Autogramm entgegen und drückt ihn fest an ihre Brust. »Zuerst war ich ja unsicher, ob du es bist und ob es überhaupt stimmt, was mir Romy erzählt hat, aber ich dachte, fragen schadet ja nicht. Dankeschön!« »Nicht dafür«, erwidert Nina und reicht Lari noch den Stift zurück. Meine Schwester dreht sich zum Gehen, blickt dann wieder zu mir und schaut mich bittend an. »Darf ich hierbleiben?« Ein bisschen überfordert nehme ich die imaginären Dolche zur Kenntnis, die zwischen Uschi und Nina hin und her fliegen und bin ein bisschen irritiert, weil Nina so gut zwischen gut gelaunt und angespannt wechseln kann. »Mach es dir bequem«, seufze ich und massiere meine Schläfe. »Du auch, Nina, bevor du und Uschi euch noch an die Gurgel springt.« Ich schaue zu Ralf und muss schmunzeln, weil er aus dem Fenster starrt und sich so gar nicht für Nina oder Lari interessiert. Ich nehme mein Smartphone vom Tisch, entsperre es und werfe es Uschi zu. »Falls du seine Nachricht lesen möchtest.« »Nachricht? Was für eine Nachricht?«, fragt Nina und sieht mich neugierig an und setzt sich auf mein Bett, wo es sich meine Schwester schon bequem gemacht hat. »Von Paul. Wem sonst«, knurrt Uschi, ließt den Text und reicht das Smartphone dann an Ralf, der ebenfalls ließt und mein Smartphone dann zu Nina wirft, die es auffängt und den Text ebenfalls ließt. »Ich habe im Übrigen einen anonymen Tipp an die Polizei rausgegeben, wegen des Türken. Hoffen wir, dass die noch rechtzeitig kamen und es ihm gut geht. Paul hat echt nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Lari folgt unserem Gespräch mit großen Augen, als sie das ganze Ausmaß zu verstehen beginnt, in welches ich verstrickt bin, sagt aber nichts. Nina ist es, die vorschlägt, dass ich Paul bei der Polizei für seine Tat anzeige, nachdem ich erzählt habe, was genau mir widerfahren ist. Uschi, Ralf und Lari stimmen ihr zu, obwohl ich damit meine Familie, Freunde und Julis Familie gefährde. Als ich meine Besorgnis äußere, winkt Nina ab. »Ich schätze, wenn dieser Paul erst einmal weg vom Fenster ist, haben die Anderen keinen Anführer mehr und werden sich zerstreuen oder erst einmal einig darüber werden, wer das Steuer übernimmt. Von meinen Freunden weiß ich, dass die Rechten hier in der Stadt zwei Anführer haben. Einer davon sitzt im Knast und der Andere, wird sich wohl bald wieder dazu gesellen.« Uschi sieht mich an, Ralf ist es jedoch, der das Wort ergreift. »Perfektes Timing zum Aussteigen, wenn Paul wieder sicher verwahrt ist.« »Willst du denn, nein, wirst du denn aussteigen?«, fragt Lari leise und sieht mich neugierig an. Alle Blicke liegen nun auf mir. »Sonst wären wir nicht hier«, posaunt Nina gut gelaunt und ich schließe für einen Moment meine Augen, weil mein Kopf ihre Lautstärke nicht verträgt. Eine Anzeige soll also die Lösung sein? »Und was mache ich, so lange Paul auf freiem Fuß ist?«, frage ich, als ich meine Augen wieder öffne und sehe niemanden an. »Schauspielern? Eine reuige, treue, Ausländer hassende Kameradin spielen?« »Ja«, erklingt Ninas Stimme und die Anderen stimmen ihr murmelnd zu. Warum fragt eigentlich niemand, ob ich das überhaupt möchte? Allerdings fällt mir auf die Schnelle nichts Besseres ein. »Na ein Glück, dass ich Hausarrest habe«, murmle ich, denn nach Samstag habe ich kein gesteigertes Interesse, Paul noch einmal zu begegnen. Je länger wir in meinem Zimmer sitzen und Uschi und Nina reden, desto mehr nähern sich die Beiden an. Die letzten Minuten haben sie quasi die Gesprächsrunde allein mit Leben gefüllt. Ich würde noch immer gern wissen, was zwischen ihnen vorgefallen ist, dass sie sich zu Beginn nicht riechen konnten. Augen rollend wechsle ich ab und zu Blicke mit Ralf und Lari und muss mich irgendwann bemühen, nicht zu lachen, weil Ralf ständig irgendwelche Grimassen schneidet. Ein grobes Klopfen an meiner Zimmertür lässt mich erleichtert aufatmen. Als ich aufblicke, erkenne ich Papa, der im Türrahmen steht und uns seltsam mustert, als er Lari und Nina entdeckt. »Was soll diese Versammlung hier?« Ich erstarre bei dem Gedanken, was Papa wohl denken muss. Was meine Eltern von mir denken müssen. »Wir planen, Papa«, lächelt Lari ihn an und ich wünsche, sie würde ihre Klappe halten, als seine Augenbrauen fragend nach oben wandern. »Planen, wie Romy am besten aus dem rechten Sumpf aussteigen kann«, spricht Lari weiter und zitiert Ninas letzte Worte. Papa sieht überrascht von ihr zu mir und kommt in mein Zimmer. »Warum sprichst du nicht mit uns darüber, Romy?« Ich blicke von Papa auf meine Füße, weil ich seine traurigen Augen nicht aushalte. »Warum müssen wir uns diese Farce antun, die du da im Krankenhaus abgezogen hast, wenn du aus der Geschichte raus willst? Deine Mutter macht sich große Sorgen und hat ganz schlecht geschlafen.« »Ich«, beginne ich und hebe meinen Kopf um ihn anzusehen. »Ich wollte euch da nicht reinziehen, Papa. Die Leute sind echt gefährlich und wenn ich das wirklich durchziehe, sind alle die ich liebe in Gefahr«, flüstere ich und spüre, wie die Tränen über mein Gesicht rollen, bevor ich sie aufhalten kann. Papa zieht mich aus dem Stuhl und umarmt mich vorsichtig und lässt sich, nachdem ich mich beruhigt habe, unseren Plan erklären. Die Idee mit der Anzeige findet er so gut, dass er direkt sein Smartphone aus der Hemdtasche zieht und einen Termin bei der Polizei vereinbart. Trotz Hausarrest bekomme ich eine tägliche Wache zugeteilt. Mal sind es Uschi und Ralf, mal Lari und wenn Nina kann, dann auch sie. Wozu die Wache gut sein soll, habe ich zwar nicht verstanden, aber immerhin bin ich die Tage so nicht allein und muss mit etwas Glück nicht zu viel an Juli denken. Am meisten Schiss habe ich, wenn Mama, Papa und Lari außer Haus sind. Ich bin jedes Mal froh, wenn sie wieder zu Hause sind, obwohl ich eigentlich noch keine Angst haben müsste, da Paul ja noch nichts von meinen Ausstiegsplänen weiß. So sehr ich es nicht tun will, muss ich doch ständig an Juli denken. Ich überlege, ihr auf ihre Nachricht zu antworten, doch wenn ich dieses Schauspiel wirklich durchhalten will, darf ich das nicht tun. Generell macht mich der Gedanke fertig, wie scheiße ich mich die kommenden Wochen im Internat verhalten muss. Ich fühle mich, nachdem ich die Anzeige am Mittwoch aufgegeben habe nicht leichter, wie es mir von den Anderen versprochen wurde. Eher panischer, ängstlicher. Überall sehe ich Paul oder seine etwaigen Spione. Uschi und Ralf überreden mich, Schoppen zu gehen, nachdem sie meine Eltern belagert haben, die meinen Hausarrest tatsächlich für einen Tag aufgehoben haben. Weil ich Angst habe, fahren wir zum Schoppen nach Hamburg und verbringen dort einen wundervollen Donnerstag Nachmittag, auch wenn es die meiste Zeit regnet. Ich will gar nicht mehr nach Hause und Ralf muss mich in sein Auto tragen, damit ich mit nach Hause komme. Die Schmerzen sind auf ein erträgliches Level gefallen, auch wenn wir oft Pausen einlegen mussten, in Hamburg. Zu Hause erwarten uns, zu meiner Überraschung zwei Polizeibeamten, die mich, Uschi und Ralf mitnehmen, weil sie angeblich noch weitere Fragen an uns haben. Im Präsidium werden wir in einen großen, klinisch weißen Raum geführt, wo uns schon ein Mann erwartet. Er erklärt uns, dass er ein Beamter der Staatssicherheit ist und Paul schon länger im Visier seiner Behörde ist. Er fragt uns einige Sachen, von denen ich die Hälfte schon wieder vergessen habe, danach werden wir wieder zu mir nach Hause gefahren und sitzen bei einer Dose Pepsi, zu Dritt auf meiner Couch und lassen das Gespräch mit dem Mann Revue passieren. »Das war vielleicht seltsam«, kann ich nicht mehr länger an mich halten und nippe an meiner Pepsi. »Staatssicherheit«, murmelt Ralf nachdenklich. »Ich wusste gar nicht, dass es eine extra Abteilung für so etwas gibt«, wirft Uschi ein. »Nicht?«, verwundert sieht Ralf Uschi an. »Nach der NSU-Sache ist das doch kein Geheimnis mehr, wobei die Behörde an sich ja öffentlich ist und keine geheime Organisation.« Bevor Uschi etwas erwidern kann, klingelt mein Smartphone. Als ich lese, wer mich da anruft, werde ich panisch und spüre sofort das Zittern in meinen Händen. Hat er mich schon durchschaut oder etwas herausbekommen? »Uschi«, flüster ich und deute auf Pauls Namen auf meinem Display. »Geh ran«, drängen Uschi und Ralf mich und mit einem geflüstertem »Scheiße«, presse ich meine Daumenkuppe auf den grünen Hörer und rutsche dann zu dem Symbol, dass den Lautsprecher des Smartphones aktiviert. »Hallo meine Süße«, säuselt Pauls Stimme zuckersüß. Uschi verzieht ihr Gesicht und ich atme unruhig ein. »Wie geht es dir?« »Mir tut alles weh«, hauche ich und wir hören, wie er zufrieden mit seiner Zunge schnalzt und leise lacht. »Das war zu erwarten, Romy. Ich rufe an, weil morgen ein Treffen stattfindet und ich mich freuen würde, wenn du kommst. Hast du Zeit?« »Ich habe eine Unmenge an Zeit, nur leider Hausarrest«, seufze ich und spiele mit dem T-Shirt von Juli, welches vergessen auf der Couchlehne lag, bis ich es eben entdeckt habe. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, konnte ich mich nur noch nicht dazu durchringen, dass T-Shirt was nach ihr riecht, in die Wäsche zu stecken. »Ach komm, Süße. Schleiche dich raus, sobald alle schlafen.« Ralf schüttelt seinen Kopf und ich muss dem Drang widerstehen, das T-Shirt fest an mich zu drücken. »Sorry, mir wurden meine Schlüssel weggenommen und ich weiß nicht wie ich an die herankommen soll. Meine Eltern halten alle Türen und Fenster im Erdgeschoss verschlossen und in meinem Zustand kann ich nicht aus meinem Fenster klettern.« Ralf reckt seinen Daumen nach oben und nickt. Wir hören, wie Paul seufzt und ich lasse von dem T-Shirt ab und ergreife die Dose Pepsi, die ich mir zwischen die Beine geklemmt habe. »Hast du mich auf Lautsprecher?«, fragt er plötzlich. »Ja, sorry, es ist verdammt anstrengend, das Smartphone zu halten.« Eine schwache Ausrede, doch er scheint sie zu akzeptieren. »Wann ist dein Hausarrest vorbei? Wieso hast du ihn überhaupt erhalten?«, fragt Paul und klingt leicht angefressen, weil ich einmal nicht springe, wenn er sagt: Komm. »Im Krankenhaus«, beginne ich und versuche Wut in meiner Stimme mitschwingen zu lassen, »waren gefühlt nur Ausländer und weil ich die beleidigt habe und darauf bestand, von einem deutschen Arzt behandelt zu werden, haben mir meine Eltern Hausarrest verpasst. Die wissen jetzt von meiner Einstellung und wollen mit diesem Hausarrest sicherlich verhindern, dass ich euch treffen kann.« »Oh Mann. Tut mir leid, dass du so blöde Eltern hast, Romy. Mit denen bist du echt bestraft. Und nach der Woche Hausarrest?« »Paul das habe ich dir doch schon vor Wochen erzählt. Ich bin doch jetzt auf diesem doofen Internat«, erinnere ich Paul und wir hören ihn wiederholt seufzen. »Ich hätte dich gern getroffen, Süße.« Vermutlich, um mich flachzulegen, denke ich angewidert. Uschi bewegt ihre Hände und bedeutet mir, etwas zu sagen. »Tut mir leid«, erwidere ich und versuche traurig zu klingen. »Und die Wochenenden?«, versucht er es noch einmal. »Wir haben alle zwei Wochen ein Wochenende zu Hause«, erkläre ich und Paul stöhnt genervt auf. »Also gut, ich melde mich bei dir, Süße«, grummelt er und legt auf, bevor ich noch etwas sagen kann. »Dir auch noch einen schönen Tag«, murmle ich und schaue auf mein Smartphone hinab. »Gut gemacht«, lobt Ralf. Uschi nickt zustimmend und ich spüre, wie ich mich langsam beruhige und die Anspannung von mir abfällt. Erleichtert sacke ich gegen die Rückenlehne meiner Couch und trinke erst einmal einen großen Schluck Pepsi. »Ich denke, damit hast du dir erst einmal ein bisschen Ruhe verschafft. Im Internat wird er nicht an dich ran kommen, weil er noch nicht weiß, wo das Internat überhaupt liegt. Vielleicht solltest du dir auch überlegen, deine Heimwochenenden nicht hier zu verbringen. Wir könnten dich nach Bayern einladen.« »Eine gute Idee, Schatz«, lächelt Uschi. »Oder wir holen dich ab und fahren für zwei Tage irgendwohin«, schlägt sie vor und sieht von mir zu Ralf. »Das könnten wir ja eigentlich schon morgen machen. Quasi ein verlängertes Wochenende, bis du am Sonntag zurück ins Internat fährst. Wo würdest du hinwollen?« Gerührt von so viel Mühe, die sie sich wegen mir machen, kann ich Uschi nicht ansehen, als ich mich nicht für ihren Vorschlag erwärmen kann. »Eigentlich, würde ich mich die letzten Tage gerne mental auf meine Rolle vorbereiten, anstatt mit euch irgendwohin zu fahren. Es wird schwer, den Anderen etwas vorzuspielen, das man eigentlich nicht so meint«, erkläre ich und sehe Juli vor meinem inneren Auge. »Besonders«, beginne ich, breche aber mitten im Satz ab. »Besonders gegenüber dieser Juli wird es dir schwerfallen, deine Maske zu waren«, beendet Uschi meinen Satz wissend. Ich streite es nicht ab, weil es eine Tatsache ist, die unleugbar ist. Ich seufze vernehmlich, lege meinen Kopf in den Nacken und schließe meine Augen, sage aber nichts. »Was mache ich nur?«, frage ich nach einer Weile und erschrecke, als mir Ralf antwortet. »Das, was wir besprochen haben. Wenn sie wert auf deine Gesellschaft legt, wird sie sich um die bemühen und nicht so schnell aufgeben, nur weil du ein bisschen Scheiße bauen musst.« »Du hast ihre Nachricht gelesen«, stelle ich überrascht fest, bin ihm aber nicht böse, obwohl ich es sein sollte. »Was soll ich ihr antworten?« »Gar nichts«, erwidert er trocken. »Du machst das schon richtig so.« Frustriert öffne ich meine Augen und sehe Ralf an. »Ihr habt wenigstens euch, Ralf. Es ist furchtbar, zu wissen, dass man nicht erforschen darf, was man fühlt. Wie kannst du mir also so nüchtern sagen, dass ich widerstehen muss, wenn du weißt, dass ich noch nicht einmal weiß, was diese Gefühle in mir drin bedeuten?« Uschi ergreift meine Hand, in dem sie sich über Ralfs Schoß lehnt. »Gib nicht uns die Schuld, Romy. Gib sie Paul. Du weißt, wir wollen dir mit dem Plan nur helfen, inwieweit du ihn umsetzt, liegt an dir«, bringt Uschi die Sache erbarmungslos auf den Punkt. »Wenn der Plan scheitert, dann weil du deine Rolle zu schlecht gespielt hast oder Paul durch irgendetwas, dass wir nicht bedacht haben, Wind vom Plan bekommen hat.« »Ein ziemlicher Gefühlskiller, dieser Plan«, seufze ich schweren Herzens und starre Julis T-Shirt an. Am späten Samstagabend, nach einigen Runden Doppelkopf, die Papa uns abgerungen hat, fahren Ralf und Uschi im Schutz der Dunkelheit, zurück nach Bayern und ich erklimme allein die Treppen zu meinem Zimmer. Dort angekommen beginne ich, meine Sachen zu packen und speichere mir Ninas Handynummer ein, die sie mir dagelassen hat, als sie meine Schwester zum wiederholten Male besucht hat. Ich bin überrascht, wie gut sich die Beiden verstehen, obwohl Nina in meinem Alter ist. Aber was sind schon drei Jahre, denke ich und denke dabei an Uschi und Ralf, die ja auch älter sind. Ich lasse den Abend mit einem Bad ausklingen und bin froh, dass der Verband weg ist und die Fäden am Freitag gezogen wurden. Ich muss zwar aufpassen, dass ich vorerst nur mit klarem Wasser meine Kopfhaut wasche, aber selbst das ist besser, als dieses ständige Jucken. Meine blauen Flecken sind schön bunt und die geprellte Rippe wird jeden Tag besser. Was nicht besser wird sind die Schmerzen am Körper und im Kopf. Der Arzt, den ich am Freitag fürs Fäden ziehen gesehen habe, meint, die stetigen Kopfschmerzen würden noch von den Kopfwunden herrühren und würden mit der Zeit ebenfalls verschwinden. Ich fiebere dem Tag schon entgegen, an dem ich keine Kopfschmerzen mehr habe. Meine Schwester kommt mit zwei Tassen, heißem Kakao in mein Zimmer, als ich mich müde auf meine Couch hingelümmelt habe und lustlos durch das Fernsehprogramm zappe. Sie setzt sich neben mich und reicht mir eine Tasse und seufzt. »Morgen musst du wieder los. Wirst du wirklich von ihr Abstand halten?« »Ich muss«, erwidere ich und nippe an meinem Kakao, um nichts weiter dazu sagen zu müssen. »Danke dafür.« »Von Mama«, zwinkert Lari und grinst mich an, weil sie weiß, dass Mama und ich noch im Clinch liegen. Ich nehme es Mama übel, dass sie mich nicht ansehen kann und mich generell in der vergangenen Woche gemieden hat. Nach der Tasse Kakao schauen Lari und ich noch eine Weile fern, bis sie zu müde wird und in ihr Zimmer verschwindet. Weil ich nicht von Mama gefahren werden will, fährt mich dieses mal Papa. Als wir auf dem Parkplatz stehen, starre ich seufzend auf meine Stiefel hinab und wappne mich mental für meine Rolle. Papa drückt meine Schulter sanft. »Du schaffst das, Pfläumchen«, flüstert er mir zu, bevor er aussteigt und zum Kofferraum geht. Ich atme tief ein und steige ebenfalls aus. »Soll ich dir die Tasche auf dein Zimmer tragen?« »Danke, das geht schon«, murre ich und lasse mich von Papa umarmen. An ihn haftet der Geruch von zu Hause und am liebsten würde ich wieder einsteigen und mit ihm zurückfahren. »Halt die Ohren steif und melde dich bei uns, wenn etwas ist oder sich du weißt schon wer, hier blicken lassen hat.« Als ob sich Voldemort in ein deutsches Kaff verirrt, denke ich und muss grinsen, obwohl mir nicht danach ist. Ich sehe nicht zurück, als ich durch den großen Torbogen gehe und die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Der Motor von Papas Auto erklingt, als ich in die mitfühlenden Augen der Ordensschwester blicke, die mich schon an meinem ersten Tag begrüßt hat und mich Sekunden zuvor schockiert angesehen hat. Kapitel 12: Kapitel 11. ----------------------- »Schön, dass du wieder bei uns bist«, begrüßt mich die Ordensschwester Frau Kramer freundlich lächelnd und winkt mich in ihr Büro. Eigentlich wollte ich auf direktem Weg in mein Zimmer gehen und mich dort verbarrikadieren, bis es an der Zeit war, zum Abendessen zu gehen. Auf ein Gespräch habe ich so gar keine Lust. Ergeben nicke ich aber und schließe die Tür hinter mir. Ich lasse meine Tasche von meiner Schulter gleiten und setze mich unaufgefordert in den Sessel vor ihrem Schreibtisch. »Brauchst du irgendetwas Besonderes? Müssen wir mit etwas Rücksicht auf dich nehmen?«, fragt mich Frau Kramer und sieht mich abermals mitfühlend an, als sie sich hinter ihrem Schreibtisch setzt. Ich schüttel meinen Kopf und verschränke meine Arme vor meiner Brust. Frau Kramers Bürostuhl knarzt, als sie sich bewegt um an einen Ordner zu kommen. »Nein, danke. Alles gut, ich muss nur im Sportunterricht noch ein bisschen aufpassen, ansonsten bin ich fit.« »Ich wurde am vergangenen Freitag darum gebeten, dich darüber zu informieren, dass jeder Fachlehrer, in der kommenden Woche, mit dir ein Gespräch führen will, um mit dir gemeinsam einen Fahrplan zu erarbeiten, wie du deine Wissenslücken aufarbeiten kannst, ohne dass du das Schuljahr wiederholen musst. Für die Gespräche wurde mir eine Liste gegeben, dort steht drauf, wann sie in der Woche Zeit haben und wo du sie finden kannst. Am besten suchst du die einzelnen Lehrer so schnell wie möglich auf.« Frau Kramer reicht mir die besagte Liste und ich schaue flüchtig drüber. Überrascht stelle ich fest, dass mich sogar Frau Schwarz sprechen will. Dabei bin ich in Sport eigentlich ganz passabel. »Gibt es sonst noch etwas, dass Sie mit mir besprechen wollten?«, frage ich und lasse meine Augen noch einmal über die einzelnen Namen der Fachlehrer wandern. Frau Kramer schüttelt ihren Kopf, ordnet ein paar Dokumente und lächelt mich an. »Nein, Romy, das wäre alles. Abendessen gibt es in circa einer Stunde. Denk danach an das Abendgebet. Kommende Woche wechseln außerdem die Dienste, dein Flur war letzte Woche mit Küchendienst dran, deshalb setzt ihr diese Woche aus. Ach, bevor ich es vergesse«, murmelt Frau Kramer, lehnt sich zurück und wühl in einem Ablagefach und zieht eine dicke Mappe hervor. »Das sind die Hausaufgaben von letzter Woche. Hol sie so schnell wie möglich nach und reiche sie spätestens am Freitag bei deinen Lehrern ein.« Ich nehme die Mappe an mich und freue mich, als ich aufstehe. Zusätzliche Arbeit, die mich davon abhält, all zu viele Fehler, in meiner Rolle zu begehen. Ich hatte schon Sorge, dass ich mich aus purer Langeweile irgendwann mit den Anderen beschäftigen würde. Ich schulter meine Tasche mit einem Ächzen und verabschiede mich von Frau Kramer mit einem wortlosen Nicken. Treppensteigen geht schon viel besser, bei dieser Unmenge allerdings macht sich meine geprellte Rippe dann doch bemerkbar. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass meine Tasche blöd gegen meine Seite schwingt. Als ich auf meiner Etage angekommen bin und mich dem Gang zuwende, der mich zu meinem Zimmer führt, höre ich jemanden hinter mir, eilig die Treppe hoch poltern. »Wow, was ist dir denn passiert?«, ruft Martha schockiert, als ich mich halb zu ihr umgedreht habe und sie die beiden, genähten Platzwunden entdeckt haben muss. »Ich habe einen Denkzettel bekommen«, erwidere ich kühl, wende mich dem Gang wieder zu und gehe ihn hinab, bis zu meiner Zimmertür, wo ich meine Tasche von meiner Schulter rutschen lasse, als ich meine Hosentaschen nach meinem Schlüssel abtaste. Als Martha mich überholt hat und an ihrer eigenen Tür steht, höre ich eine Stimme, die meinen Herzschlag beschleunigt und nach Martha ruft. Mit zittrigen Fingern ziehe ich den Schlüssel hervor und stecke ihn eilig ins Schloss, schließe auf, schlüpfe in mein Zimmer, ziehe meine Tasche ins Zimmer und schließe sofort hinter mir ab. Durch die Tür höre ich, wie Julis Stimme näher kommt, Martha etwas antwortet, was ich aber nicht verstehe und Julis Stimme sich wieder entfernt und irgendwann verklingt. Erleichtert atme ich aus, lehne meine Stirn gegen das kalte Holz der Tür und frage mich, was das noch werden soll. Nach einigen Augenblicken hieve ich meine Tasche auf das Nachbarbett, werfe die Mappe mit den Hausaufgaben, in die ich auch die Lehrerliste gesteckt habe, achtlos auf den Schreibtisch und setze mich langsam auf mein Bett. Es fühlt sich seltsam an, wieder hier zu sein. Seltsam und einsam. Zehn Minuten vor dem Abendessen, als ich gerade meine Tasche ausgepackt und die Klamotten in den Kleiderschrank gepackt habe, klopft es an meiner Zimmertür und ich schrecke aus einem angenehmen Sekundentraum, der mich in mein Zimmer zu Hause entführt hat. »Wer da?«, rufe ich und mache den Kleiderschrank zu. »Martha«, erklingt es durch die Tür hindurch. »Ich dachte, wir könnten gemeinsam runter zum Essen gehen?« Vermutlich hat Juli Martha dazu angehalten, sich mir aufzudrängen. Ich seufze, checke mein Outfit und reibe einen Fleck von meinen Springerstiefeln. Es sind die, die ich damals anhatte, als ich Juli zum ersten Mal gesehen habe. Für kurze Wege dürften die Teile okay sein und definitiv zeigen, welche Weltanschauung ich vertrete. »Dann los«, nicke ich Martha zu, nachdem ich meine Zimmertür abgeschlossen habe und gebe das Tempo vor, damit sie nicht auf den Gedanken kommt, ich würde mit ihr reden wollen. »Tut es noch sehr weh?«, fragt Martha mich, als ich die Treppenstufen langsam hinabsteige und deutet auf meinen Kopf. »Nein«, erwidere ich und schüttel meinen Kopf. »Die Narben zwicken ein bisschen, wenn sich das Wetter ändert, sonst nichts, außer ein stetiger Kopfschmerz, der einfach nicht weggeht. Laut dem Arzt, der mir die Fäden gezogen hat, soll sich das aber auch irgendwann geben.« Bevor Martha mir weitere Fragen stellen kann, ziehe ich das Tempo an, sobald ich mich sicher genug fühle und so kommen wir überpünktlich im Speisesaal an. Ich warte einen Moment, bis Martha sich an ihren Tisch gesetzt hat, dann setze ich mich an einen Tisch ganz nah beim Eingang, der immer recht leer blieb. Ich setze mich mit purer Absicht nicht zu Rati und Uma, schließlich muss ich meinen Standpunkt klar machen. Ich starre auf meinen Teller vor mir und versuche meinen Blick so gut es geht, gesenkt zu halten. Wenn ich doch einmal aufsehe und den Blicken der Anderen begegne, die mich wegen meinem Aussehen anstarren, starre ich zurück, bis sie beschämt ihre Köpfe senken. Haben die noch nie jemanden gesehen, der verprügelt wurde? Nachdem Tischgebet, einer belegten Scheibe Brot, einem Apfel und einem Glas Wasser schummel ich mich aus dem Speisesaal, weil ich keinen wirklichen Hunger verspüre und suche die Kapelle auf. In der Kapelle setze ich mich auf meinen regulären Platz, lehne mich an, lege meinen Kopf in den Nacken und schließe meine Augen. Wie soll ich dieses Theater nur die nächsten Wochen überstehen, wenn es mir jetzt schon so verdammt schwerfällt? In meinen Gedanken spreche ich weder Gott an, noch bete ich richtig und doch fühlt sich das Nachdenken in der Kapelle anders an, als wenn ich in meinem Zimmer sitze. Als die Kapelle sich langsam füllt, setze ich mich wieder normal hin und stelle überrascht fest, dass ich mich besser fühle, weshalb ich nach dem Abendgebet noch eine Weile sitzen bleibe und das Kreuz anstarre. »Guten Abend, Romy«, erklingt es leise neben mir und ich zucke etwas zusammen, bevor ich mich der sanften Stimme zuwende, die Ordensschwester Ingrid gehört. »Ich habe dich schon vor dem Abendgebet hier entdeckt und gesehen, wie du gebetet hast.« »Ich habe nicht«, beginne ich, verstumme aber, bei dem Lächeln, welches mir die Ordensschwester schenkt. »Wenn du möchtest, kannst du mit uns eine Kerze entzünden und ein kleines Bittgebet sprechen.« Ich nicke, stehe auf und folge ihr. Ich entzünde meine Kerze direkt neben der von Schwester Ingrid und schaue der Flamme einen Moment lang, hypnotisiert zu. Beobachte, wie die Flamme das Wachs langsam erweicht. Ich schließe meine Augen, bitte darum, dass alles gut wird, drehe mich um, öffne meine Augen und wünsche Schwester Ingrid einen schönen Abend. Seltsam entspannt fühle ich mich, als ich aus der Kapelle trete und mich für einen kurzen Spaziergang über das internatseigene Parkgelände entscheide. Die Abendluft ist kühl, weshalb ich meine Kapuze über meinen Kopf ziehe und meine Hände in den Hosentaschen verschwinden lasse. Meine Füße tragen mich zu einem Brunnen. Ich lasse mich am Rand nieder und starre bedächtig in den Himmel, der langsam immer dunkler wird. Vereinzelt kann ich schon Sterne sehen. Das Vibrieren meines Smartphones, in meiner Hosentasche, schreckt mich aus meinen Gedanken. »Ja?«, frage ich und unterdrücke ein genervtes Seufzen, als ich den Anruf entgegennehme. »Yo. Ich dachte, ich rufe einmal an und frage dich, ob du gut angekommen bist«, höre ich Ninas Stimme. »Lari lässt dich Grüßen. Sie zwingt mich eigentlich, dich anzurufen. Nur so unter uns.« Ich kann mir Ninas Grinsen gut vorstellen und höre im Hintergrund Lari. »Hey Nina«, lächel ich und scharre mit meinen Füßen im Kies. »Was machst du bei meiner Schwester? Ich bin gut angekommen.« »Besuchen? Und läuft alles gut? Keine unerwünschten Kontakte, zu kritischen Personen?« Ich lache leise und starre abermals in den Himmel, der fast ganz dunkel ist. »Nein, noch nicht. Du kannst das aber ruhig deutlicher benennen, dich hört auf meiner Seite niemand.« »Was denkst du, wollen wir es so machen, dass ich dich jeden Abend kurz anrufe? Deine Schwester nickt.« »Sicherlich kommt die ganze Idee von ihr«, lache ich. »Aber mach nur, habe ich etwas, worauf ich mich freuen kann.« Seit Nina bei mir war, hat meine Schwester einen Narren an Nina gefressen und Nina augenscheinlich an Lari. Wir reden noch eine Weile über belanglosen Mist, während ich mich langsam zum Internat zurückbewege. Auf meinem Weg ins Zimmer begegnet mir zum Glück niemand und Nina und Lari verabschieden sich von mir, als ich sicher in meinem Zimmer angekommen bin. Ich sammle meinen Pyjama, den Kulturbeutel und ein Handtuch aus meinem Schrank. Damit bewaffnet, mache ich mich, einen Moment später, auf den Weg zur Gemeinschaftsdusche und hoffe inständig, dass die Mädels alle im anderen Bad sind, wie es eigentlich immer war. Mit meinem Ellenbogen drücke ich die Klinke hinab und kicke die Tür mit meinem Fuß auf, trete ein, lege meine Sachen ab und kicke die Tür von innen zurück ins Schloss. Als ich unter der Dusche stehe und das lauwarme Wasser über meinen Körper rinnt, seufze ich. Schön war die Zeit zu Hause, als das Wasser warm war. Ich seife mich schnell ein und spüle mich eilig ab, bevor das Wasser kalt wird. In mein Handtuch eingewickelt, stehe ich vor dem großen Spiegel und creme vorsichtig das Narbengewebe an meinem Kopf, mit einer speziellen Salbe ein. Die Tür geht auf, als ich gerade konzentriert das Narbengewebe über meinem Ohr einsalbe. Ich erstarre einen Moment, als ich Schritte höre und im Spiegel Juli sehen kann, die mich traurig ansieht und einen Meter hinter mir stehen bleibt. »Das sieht schlimm aus.« »Was machst du hier?«, frage ich und meine Stimme klingt kratzig. Ich schraube die Tube zu und vermeide es, Juli noch einmal anzusehen. »Martha meinte, dass du ins Badezimmer aufgebrochen bist. Und ich dachte«, setzt Juli zögernd und ich sehe durch den Spiegel, wie Juli die blauen Flecken auf meiner Haut betrachtet, als ich sie doch ansehen muss. »Ich dachte, wir könnten reden?« Ich packe die Tube mit der Salbe zurück in meinen Kulturbeutel, hole Zahnbürste und Zahnpasta hervor. »Nein«, sage ich leise, sehe sie nicht an und beginne damit, meine Zähne zu putzen. Sie sagt nichts, sieht mich nur an. Unsere Blicke treffen sich immer wieder im Spiegel, bis ich auch meine Zahnputzsachen zurück in den Kulturbeutel stopfe. Für einen Moment hadere ich damit, mich abzutrocknen und mich vor ihren Augen anzuziehen. Aber warum sollte ich meinen Körper verstecken? Ich kann hören, wie Juli überrascht einatmet, als sie all die heilenden blauen Flecke und Schürfwunden auf der Rückseite meines Körper sieht. Im Spiegel sehe ich, wie sie einen Schritt auf mich zugeht. »Bleib da, wo du bist«, knurre ich und streife mir mein Pyjamaoberteil über den Kopf und schlüpfe in die Hose. Danach schnappe ich mir meine Sachen und gehe an Juli vorbei, ohne sie anzusehen. Juli folgt mir, schnappt mein Handgelenk und hält mich fest. Meine Maske will fallen, als mein Körper, ob der Berührung erschaudert. Ich will aufgeben und weinend in ihren Armen zusammenbrechen. »Romy«, erklingt Julis Stimme zittrig und sie umfasst mein Handgelenk fester. Ich atme durch die Nase tief ein, reiße mich los und atme aus, als ich sie grob von mir wegstoße, sodass sie gegen eines der Waschbecken stolpert. Ich eile kommentarlos, mit meinen Sachen aus dem Badezimmer und bin froh, als meine Zimmertür, hinter mir ins Schloss kracht und ich abgeschlossen habe. Die Tränen rinnen unaufhaltsam an meinen Wangen hinab auf mein Pyjamaoberteil. Die Stelle an der mich Juli berührt hat, brennt. Unter Tränen tippe ich eine Gute-Nacht-Nachricht an Uschi und Ralf. Als ich ihre Antwort lese, beruhige ich mich langsam und bringe mich dazu, mir die Hausaufgaben anzusehen und kümmere mich um Mathe, Physik und Deutsch. Morgen, nehme ich mir vor, werde ich die alten Hausaufgaben nachholen, die ich verpasst habe und am Dienstag gesammelt abgeben. So muss ich mich die restliche Woche nur mit den neuen Hausaufgaben und meinen Wissenslücken herumschlagen. Erst weit nach Mitternacht liege ich in meinem Bett, um zu schlafen. Sofort, als mein Kopf das Kopfkissen berührt, zieht es mir die Augen zu und ich werde in Morpheus stürmische Arme gezogen. Als ich meine Augen wieder aufschlage, fühle ich mich gerädert und habe Mühe aus dem Bett zu kommen und mich fertigzumachen, doch ich schaffe es. Nachdem Duschen, eincremen und Zähneputzen, ziehe ich mir ein Outfit an, dass die Gesinnung meiner Schauspielrolle ziemlich eindeutig unterstreicht, aber noch nicht verboten ist zu tragen. Einige T-Shirts in meinem Fundus, zu Hause, sind das aber definitiv, die werde ich irgendwann, wenn das alles vorbei ist, einmal verbrennen, mit all den Dingen, die ich noch von Paul habe, mit Ausnahme des T-Shirts, welches Juli an hatte. Ich schaffe es gerade noch pünktlich zum Morgengebet und freue mich ein bisschen auf das Frühstück, obwohl ich keinen Appetit verspüre. Nur Hunger. Im Speisesaal setze ich mich wieder an den Tisch vom Abendessen, an den sich einige Augenblicke später auch Rati, Uma, Juli und Martha setzen. Ich kommentiere es nicht. Suche keinen Blickkontakt und achte nicht auf das Gespräch, das geführt wird. Ich esse schnell und verbrenne mir an meinem heißen Kaffee die Zunge, doch ich will so schnell wie möglich aus dem Saal. Ohne ein Wort verlasse ich den Tisch, als ich fertig bin und gehe auf mein Zimmer, wo ich die Schulsachen in meine Tasche stopfe. Zurück im Foyer schließe ich mich den Ersten an, die in die Schule aufbrechen. Als es zur Mittagspause schellt, habe ich mit den meisten Lehrern gesprochen und alle sind sich einig, dass ich mich einer Lerngruppe anschließen oder mir einen Nachhilfelehrer suchen soll. Frau Bär, meine Deutschlehrerin hat sogar direkt einen zur Hand. »Ich habe sie schon für dich gefragt, Romy. Sie sagt, sie würde dir auch bei den anderen Fächern helfen, wenn du möchtest. Ich würde jede Hilfe nutzen, die sich mit bietet, wenn ich an deiner Stelle wäre.« »Wer ist es denn?«, frage ich und als Julis Stimme hinter uns erklingt, bin ich nur milde überrascht. »Danke. Ich lehne ab«, sage ich zu Juli, ohne mich umzudrehen und sehe Frau Bär an. »Jeder, nur nicht sie.« »Jemanden Besseres wirst du nicht finden. Juliet ist unsere beste Schülerin. Ich traue niemanden Anderes zu, diesen Job besser zu machen.« »Ich lehne trotzdem ab«, erwidere ich und sehe Frau Bär, die verwirrt wirkt, gleichmütig an. Frau Bär nickt schließlich und entlässt mich. Auf meinem Weg aus dem Klassenraum sehe ich, wie Juli mich anstarrt. Für einen Moment begegnen sich unsere Augen und ich erkenne in ihren braunen Augen Schmerz. Ich habe sie verletzt, ihr zum wiederholten Male wehgetan. Weil ich es noch vor dem Nachmittagsunterricht erledigt haben will, suche ich nach einem schnellen Mittagessen Frau Schwarz in der Bibliothek auf. »Romy? Wie schön, dich wieder hier zu haben. Bist du wegen dem Gespräch hier?« Ich nicke, schließe die Tür hinter mir und setze mich auf den Stuhl, der neben dem Schreibtisch steht. »Es geht nicht um Sport, oder?«, frage ich und kann mir nicht vorstellen, dass sie mich im Unterricht so schlecht eingeschätzt hat. Frau Schwarz grinst kurz und sieht mich abschätzend an. »Nein geht es nicht. Aber kannst du denn voll teilnehmen?« »Ich werde bei Bällen und beim Bodenturnen noch etwas aufpassen müssen, wegen dem Kopf. Ansonsten bin ich wieder fit.« »Gut zu hören«, lächelt Frau Schwarz. »Wäre schade, wenn das nicht so wäre, denn du bist gut im Sportunterricht. Wie ich höre leider nur dort. Hast du schon mit den anderen Fachlehrern gesprochen?« »Ja«, nicke ich bestätigend, ohne weiter auszuführen, was besprochen wurde. »Und was wirst du machen? Lerngruppe oder Nachhilfe?« »Nichts. Ich werde es vorerst alleine weiter versuchen. Frau Schwarz sieht mich überrascht an. »Warum?« »Persönliche Gründe«, wehre ich eine genauere Antwort ab. »Gibt es sonst noch etwas oder kann ich gehen?«, frage ich und habe sie mit meiner Gegenfrage aus dem Konzept gebracht. Völlig zerstreut sieht sie mich an. »Ja«, beginnt sie nach einem Moment. »Ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hättest, mir mit der Bibliothek zu helfen, so wie Martha.« Jetzt bin ich es, die überrascht ist. Die Idee reizt mich, denn Frau Schwarz hier zu helfen würde bedeuten, dass ich nicht auf Martha oder Frau Schwarz angewiesen bin, wenn ich in die Bibliothek möchte. Der Nachteil ist natürlich, dass mir Freizeit flöten geht, wenn Leute rüber in die Bibliothek wollen. »Kann ich ein paar Tage darüber nachdenken?« »Klar«, zwinkert Frau Schwarz. »Aber überlege es dir bitte. Denn wenn du das machst, wäre das echt klasse und auch eine Entlastung für Martha.« Nach etwas Smalltalk verabschiede ich mich schließlich von Frau Schwarz und begebe mich in den Klassenraum, um die letzte Stunde, Deutsch bei Frau Bär, hinter mich zu bringen. Ich treffe zeitgleich mit Frau Bär ein und halte ihr zuvorkommend die Tür auf. »Oh vielen Dank, Romy«, lächelt sie mich an und ich kann in ihren Augen sehen, dass sie es mir nicht krumm nimmt, dass ich ihren Vorschlag abgelehnt habe. Ich schließe die Tür hinter uns, gehe zu meinem Platz und ignoriere dabei Juli, die mich so deutlich anstarrt, dass ich froh bin, als ich hinter ihr sitze und sie keine Augen am Hinterkopf hat. Wieso muss ich nur jede verdammte Stunde hinter ihr sitzen? Frau Bär begrüßt die Klasse und teilt nach einem Moment ein kleines Reclamheft aus. Als ich den Titel lese, wünsche ich mir, heute morgen nicht aufgestanden zu sein. Romeo und Juliet. »Heute also ein Werk von Shakespeare«, lächelt Frau Bär in die Klasse und sieht in meine Richtung. »Als kleine Erklärung für dich, Romy: Wir haben letzte Woche Kabale und Liebe von Schiller kurz besprochen. Eigentlich Stoff der Neunten, da wir aber jedes Jahr, kurz vor Weihnachten ein Schauspiel aufführen, um die Eltern und Ortsansässigen zu erfreuen, suchen wir seit letzter Woche ein passendes Schauspiel.« »Weihnachten, warum dann nicht das Krippenspiel?«, frage ich laut und sehe das Frau Bär erfreut lächelt. »Das machen schon die Grundschüler, aber ein guter Einfall, den deine Mitschülerrinnen auch schon hatten. Okay, dann lasst uns doch einmal die Rollen verteilen und einfach ein bisschen lesen. Wie wäre es Romy, du als Romeo? Passt so schön«, zwinkert Frau Bär. Von wegen, passt so schön, die will nur ihren Willen bekommen, dass ich doch mit Juli zusammenarbeite. Denn wer liest Juliet? Natürlich Juli, wer sonst, passt doch so schön. Ich hoffe inständig, während die restlichen Rollen verteilt werden, dass wir uns nicht für dieses Schauspiel entscheiden. Denn wenn doch, dann bin ich mächtig am Arsch. Fällt es mir doch so schon schwer genug, meine Rolle zu spielen, da brauche ich nicht noch ein blödes Schauspiel. Als die Schulklingel läutet, lehne ich mich erleichtert zurück. Wir haben es heute nicht bis zu dem Ball geschafft, wo sich Romeo und Juliet erstmals begegnen. Ich werfe meine Schreibsachen achtlos in meine Tasche und frage mich, warum die bei dem Schauspiel damals so seltsam poetisch gesprochen haben. Als ich das Lehrerpult passiere und ich das Reclamheft zurück zu den Anderen lege, hält mich Frau Bärs Stimme zurück. »Romy, kannst du noch einen Moment hier bleiben?« »Warum?«, frage ich argwöhnisch und sehe meinen Klassenkameradinnen neidisch hinterher. »Komm, setz dich einen Moment und lass uns warten, bis wir alleine sind.« Anstatt mich zu setzen, wie sie es vorgeschlagen hat, lehne ich mich an einen der Tische und starre auf meine Finger hinab. Als der Lärm immer mehr verfliegt, höre ich Frau Bär seufzen und beobachte sie, wie sie aufsteht und die Tür des Klassenraums schließt. »Romy«, beginnt sie und setzt sich wieder hinter dem Pult. »Ich bin nicht deine Klassenlehrerin, noch eine Vertrauenslehrerin, aber ich muss trotzdem mit dir sprechen. In der kurzen Zeit, die du nun schon unsere Schule besuchst, hast du eine bemerkenswerte Veränderung durchgemacht, auch wenn dir das nicht aufgefallen ist und du in den schulischen Dingen etwas hinterherhinkst. Deshalb bin ich verwundert, dass du nun wieder in deine alten Verhaltensmuster zurückfällst und jeden von dir stößt, der sich dir nähert.« Ich lache leise, obwohl das Thema ernst ist. Doch ich muss, den Schein waren. »Ist das ein Witz?«, frage ich Frau Bär, warte aber nicht auf eine Antwort. »Von welchen Veränderungen sprechen wir? Davon, dass ich keine rassistischen Äußerungen von mir gebe? Oder davon, dass ich nicht in diesem Aufzug in die Schule kam? Sorry, Sie enttäuschen zu müssen, die Klamotten durfte ich beim letzten Mal nicht einpacken, sonst wäre ich schon eher so in die Schule gekommen.« »Romy«, erklingt Julis Stimme hinter mir flehend und ich drehe mich abrupt zu ihr um. Daher weht also der Wind. Juli sieht mich traurig an. »So ist das also«, zische ich und balle meine Fäuste, als ich mich abwende und auf die Tür des Klassenzimmers zuhalte. Vor der Tür bleibe ich stehen, lege meine Hand auf die Klinke und ziehe eine Karte, die ich nie ausspielen wollte. Verärgert und verraten sehe ich zu Juli zurück und ignoriere Frau Bär einfach. Soll sie es doch melden, wenn es ihr nicht passt. »Reicht es dir nicht, dass man mich beinahe in den Tod geprügelt hat, weil ich mich mit dir abgegeben habe?« Kapitel 13: Kapitel 12. ----------------------- Die Stille in der Kapelle wirkt beruhigend auf mein instabiles Nervengerüst und hilft mir, mich zu entspannen. Weshalb ich mit Absicht nicht mit den Anderen mitgegangen bin, als das Nachmittagsgebet vorbei war. Niemand ist mehr in der Kapelle, weshalb ich mich ganz auf die Bank lege und die unspektakuläre Decke anstarre, während ich meine Gedanken schweifen lasse. Ich fühle mich kraftlos. Am liebsten würde ich die ganze Farce aufgeben. Die Gedanken an meine Familie und Freunde, die ich gerade effektiv von mir stoße, und der Gedanke, was Paul mit ihnen anstellen könnte, lässt mir jedoch keine große Wahl. Wütend setze ich mich auf und starre auf das Kreuz. Wenn es Gott gibt, was bezweckt er dann mit solchen Wegen, wo man das Ende nicht erahnen kann? Durch meinen, mit Absicht verlängertem Aufenthalt in der Kapelle, habe ich das Vesper knapp verpasst und ärgere mich ein bisschen über mich selbst, als ich mich in mein Zimmer verdrücke. Eine Tasse Kaffee wäre hilfreich gewesen, bei der Aufgabe, die nun vor mir liegt. Hausaufgaben. Nach einer Stunde, in der ich mich intensiv mit den Schulbüchern beschäftigt habe, um die Hausaufgaben zu lösen, pfeffere ich das Mathematikbuch von mir weg, an die Wand. Warum ist der Scheiß so kompliziert? Wer brauch so etwas überhaupt später noch? Der Reihe nach fliegen die Bücher an die Wand und ich frage mich, ob es wirklich Sinn macht, den Abschluss zu versuchen, wenn ich schon an so simplen Hausaufgaben scheitere. Irgendwann gebe ich auf, schnappe mir mein Smartphone mit meinen Kopfhörer, schlüpfe in meine Sportsachen und verlasse mein Zimmer. Uschi hat mir vorgeschlagen, meinen Frust abzubauen, indem ich Laufen gehe, als ich ihr erzählt habe, dass wir einen kleinen Sportplatz haben. Niemand begegnet mir auf meinem Weg, aus dem Gebäude. Vermutlich sind sie alle vorbildlich und lernen fleißig. Auf dem Sportplatz mache ich Musik an, stöpsel mir meine Kopfhörer ins Ohr und beginne, mich zu dehnen, wie ich es im Sportunterricht gelernt habe und wärme mich langsam auf, bevor ich mit der ersten Runde starte. Schon nach der dritten Runde schnaufe ich wie ein Deckbulle bei seinem Geschäft, mache aber trotzdem weiter, bis ich jemanden rufen höre. Ich laufe meine Runde langsam zu Ende und sehe Martha in Sportsachen bei den Zuschauerbänken stehen. Sie legt gerade ein paar Sachen ab und sieht dann wieder zu mir. »Hey Romy«, grinst Martha, als ich schwer atmend auf sie zugehe und mir den Schweiß von der Stirn wische. »Seit wann läufst du?«, fragt sie mich, als ich neben ihr anhalte. »Seit ein paar Jahren, aber eher unregelmäßig«, erwidere ich und beginne noch schlimmer zu schwitzen, weil mein Körper sich langsam entspannt. »Ich bin weg, duschen. Bis Später.« Martha nickt mir zu und beginnt ihrerseits damit, sich zu dehnen. Ich atme die Luft bewusst ein und gehe langsam zurück, dabei lässt sich die Sonne kurzzeitig blicken und ich spüre, wie sich mein Gemüt verbessert. Wenn ich gleich noch warmes Wasser habe, beim Duschen, ist mein Akku wieder aufgeladen. Auf meinem Weg ins Zimmer und als ich mit Handtuch, Duschgel und frischen Klamotten bewaffnet, das Gemeinschaftsbadezimmer aufsuche, begegne ich wieder niemanden. Es ist totenstill und ich muss, warum auch immer, an Zombies denken, als ich mich ausziehe. Lernzombies. Schmunzelnd dusche ich, mit überraschend warmen Wasser, den getrockneten Schweiß von meinem Körper. Frisch geduscht, sitze ich nun deutlich entspannter an meinem Schreibtisch und versuche mich noch einmal an den Hausaufgaben. Tatsächlich scheinen sich die Knoten in meinem Kopf gelöst zu haben, denn ich schaffe es vor dem Abendessen, alles fertig zu bekommen. Ob die Antworten alle richtig sind, steht natürlich auf einem anderen Blatt Papier. Immerhin bin ich jetzt für die neuen Hausaufgaben gewappnet, die diese Woche sicherlich noch anfallen werden. Ich ströme mit allen Anderen aus der kleinen Kapelle, als das Abendgebet beendet ist und pünktlich auf die Sekunde, vibriert mein Smartphone und kündigt mir an, dass mich Nina wieder anruft. »Romy«, erklingt Laris Stimme, als ich den Anruf entgegennehme und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, weil ich mir vorstelle, wie sie aufgeregt hin und her läuft, in ihrem Zimmer und Nina danebensteht und nicht weiß, was sie machen soll. Meine Füße tragen mich beinahe automatisch zu dem Brunnen, wo ich mich wieder am Rand niederlasse. Lari und ich reden eine Weile über dies und das und das, bis sie mir Nina gibt, die sich nach der aktuellen Lage erkundigt. Ich erzähle Nina von meinen Problemen, die ich hatte, nachdem ich mit einem Blick über die Schulter sicher gestellt habe, dass niemand sich versteckt und lauscht. »Oh, Romeo und Juliet?«, fragt Nina und ich höre wie sie und Lari lachen. »Das ist nicht witzig«, kommentiere ich und drehe mich etwas, damit mir der Wind nicht direkt ins Gesicht weht. »Oh doch«, erwidert Nina, als sie eine Atempause vom Lachen brauch. »Hätte ich gewusst, wie inspirierend du bist, Romy. Ich schreibe einen Song für dich, über deine Situation. Der wird so super!« »Welch Ehre«, murmle ich und stehe auf, weil mich der Wind nervt. »Lass mich wissen, wenn er fertig ist und du ihn mir vortragen willst, dann setze ich mich ganz spektakulär zum Nordpol ab.« »Hey«, beschwert Nina sich, als ich mich auf den Rückweg ins Internat machen. »Du kannst dir keine Meinung bilden, wenn du mich noch nie singen gehört hast.« »Dann sing etwas für mich«, fordere ich sie auf, als ich durch einen Hintereingang das Internat betrete und förmlich die Treppen nach oben schleiche, weil die Holzbohlen unangenehm knarzen, wenn man schnell geht. Man merkt ihnen an, dass sie seltener benutzt werden und deshalb weniger regelmäßig überprüft werden. Die Treppen beim Haupteingang knarzen kaum. »Was soll ich singen?«, überrascht Nina mich. Ich hätte mit ablehnenden Worten gerechnet. »Punkrock denke ich eher nicht, yo?« Ich steige die letzte Stufe hoch und gehe den Gang hinab zu meiner Zimmertür. Von dieser Seite aus ist sie weiter entfernt, als wenn ich den Gang durch die Haupttreppe betreten hätte. Im Gang stehen Martha und zu meinem Leidwesen, Juli, die sich an der Wand gelehnt, unterhalten. »Überrasche mich«, sage ich halb erstickt, sodass Nina sofort erkennt, dass etwas nicht stimmt. »Alles okay? Ist jemand bei dir?« Ich mache ein zustimmendes Geräusch, als ich nur noch einige Meter von Martha und Juli entfernt bin, die nun in meine Richtung blicken. »Wer ist es?«, fragt Nina mich und ich frage mich, ob ihr klar ist, wie dämlich diese Frage ist. »Singst du nun oder eher nicht?«, frage ich knurrend und Nina beginnt zu singen, als ich an Martha und Juli vorbei gehe. Ich spüre Julis Blick die ganze Zeit auf mir und ich weiß, als ich meine Tür aufschließe, dass sie und Martha nicht hören können, was Nina singt, aber die Tatsache, dass Nina von Liebeskummer singt, reicht für mich aus, um mich schnell in mein Zimmer zu flüchten. »Okay, hör auf«, seufze ich, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt. »Wehe das Lied, das du schreiben willst, wird ein Liebeslied.« »Und wenn doch?«, fragt Nina und lacht leise. »Dann sieh zu, dass ich nie davon erfahre«, erwidere ich ebenso leise. »Lass uns morgen wieder telefonieren, Nina«, bitte ich müde und lehne mich an das kühle Holz meins Kleiderschranks. Nina stimmt mir zu und gemeinsam verabschieden wir uns. Nina ist es, die als Erste auflegt. Es überrascht mich selbst immer wieder, wie schnell gute Laune umschwenken kann. Dieses Mal versuche ich gar nicht, meine Tränen zurückzuhalten, als das Smartphone von meinem Ohr rutscht, aus meiner Hand gleitet und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufkommt. Das alte Liebeslied, hat Nina gut gewählt. Es passt wie die Faust aufs Auge, zu meiner derzeitigen Lage. »Romy?«, erklingt Marthas Stimme nach einem Moment fragend durch die Tür. »Was willst du?«, frage ich zurück, ziehe schniefend meine Nase nach oben und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. »Kann ich kurz hereinkommen?« Ich weiß nicht warum ich mich umdrehe und die Zimmertür für Martha öffne oder zur Seite trete, damit sie hereinkommen kann. Ich bereue es jedoch sofort, als Martha sich auf das freie Bett setzt und mein Chaos, auf dem Schreibtisch, bemerkt. »Stressige Hausaufgaben?« »Ach hör auf«, seufze ich, werfe die Tür ins Schloss und setze mich Martha gegenüber, auf mein eigenes Bett. »Ich raffe absolut nichts, von dem, was wir im Unterricht aktuell machen.« »Warum lehnst du dann die Nachhilfe ab?« »Weil ich keine Lust habe, mit irgendwem, nur wegen meinen Noten, Zeit zu verbringen. Notfalls wiederhole ich eben das Schuljahr. Ist auch kein Beinbruch«, antworte ich und bin nicht im mindesten überrascht, dass Martha mir die Frage überhaupt gestellt hat. Sicherlich hat Juli alles an Martha weiter getratscht. »Und wenn du dann auch durchfällst? Ach bevor ich es vergesse, Frau Schwarz meinte, du überlegst ebenfalls, in der Bibliothek mitzuhelfen?« »Ja«, nicke ich und ignoriere die vorherige Frage einfach. »Ich bin mir aber noch nicht sicher, ob ich das wirklich machen will.« Martha nickt verstehend und wir schweigen uns eine Weile an, bis Martha sich räuspert. »Ich gehe jeden Morgen, wenn ich es nicht verschlafe, gegen halb Sechs, also eine halbe Stunde, bevor wir regulär aufstehen, Laufen. Bock, mitzukommen?« »Klar«, nicke ich, nachdem ich einen Moment darüber nachgedacht habe. Das Laufen heute, hat mir gutgetan, auch wenn ich davon morgen Muskelkater haben werde. »Klasse«, freut sich Martha ernsthaft. »Ich klopfe dann morgen früh bei dir, wenn ich losgehe.« Diese Nacht ist furchtbar. Ich kann nicht genau festmachen, wieso ich schlecht schlafe, gebe das im Bett herum wälzen kurz vor Fünf jedoch auf und bin ziemlich mies gestimmt. Als ich mir meine Laufsachen anziehe, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es klug war, Marthas Angebot anzunehmen. Bevor ich mich umentscheide, verlasse ich mein Zimmer fünf vor halb Sechs. Martha sieht mich überrascht an, weil ich schon wach und startklar bin. »Hey Morgenmuffel, was ist los, solltest du dich nicht noch einmal umdrehen?« »Ach sei still«, murre ich. »Hab schlecht geschlafen. Gehen wir los?« Martha erwidert nichts darauf, grinst mich lediglich kurz an, bevor wir gemeinsam die Haupttreppe hinabgehen und das Gebäude verlassen. Auf dem Parkplatz des Internats wärmen wir uns auf, bevor wir langsam die Auffahrt hinablaufen. Schnell merke ich, dass Martha sich zurückhält und viel besser in Schuss ist, als ich. Wir laufen ein Stück ins Dorf, biegen dann ab und kommen durch einen Waldweg auf dem Sportplatz, wo ich am Tag zuvor gelaufen bin. Dort laufen wir noch einige Runden, bevor ein schriller Ton, von Marthas Fitnessarmband, erklingt und sie mir stumm bedeutet, dass wir zurücklaufen sollten. Wir reden nicht, bis wir vor meiner Zimmertür stehen. Martha lächelt mich an. »Fürs erste Mal war das gar nicht so schlecht.« Bevor ich etwas sagen kann, winkt mir Martha und verschwindet in ihr Zimmer. Ich tue es ihr gleich, schließe meine Zimmertür auf, trete in mein Zimmer und suche mein Duschzeug zusammen. Das gemeinsame, morgendliche Laufen, wird schnell zu einer Regelmäßigkeit, wie das allabendliche Telefonat mit Nina, die beinahe jeden Abend bei meiner Schwester ist und bevor ich mich versehe, sind schon wieder fast drei Wochen vergangen. Bei den allabendlichen Telefonaten habe ich Nina einmal gefragt, wieso sie immer bei meiner Schwester rumhängt. Eine vernünftige Antwort habe ich bis heute nicht, wobei ich mir meinen Teil denken kann. Blöd nur für Nina, dass Lari nicht in diese Richtung schwingt. Am ersten Wochenende war eine Heimfahrt, weil Uschi und Ralf aber keine Zeit hatten und ich nicht unbedingt Bock hatte, nach Hause zu fahren, bin ich im Internat geblieben. So habe ich mich schon nach der ersten Woche wieder an den alltäglichen Internatstrott gewöhnt und freue mich nun umso mehr auf das kommende Wochenende, wo mich Uschi und Ralf abholen wollen. Bevor das jedoch der Fall ist, muss ich noch eine volle Schulwoche überleben. Am liebsten wäre mir, wenn jetzt schon Wochenende ist, denn der Tag heute könnte ruhig schon vorbei sein. Denn heute wird sich entscheiden, welches Stück wir spielen werden. Martha ist der felsenfesten Überzeugung, dass sich die Klasse für Romeo und Juliet entscheiden wird. Ich habe Martha nach ihren Gedanken gefragt, als wir uns gerade zum Laufen aufwärmen. »Dann hoffe ich«, murmle ich und sehe auf meine Füße. »Die Bär findet einen guten Romeo.« Martha lacht leise, stößt mich an und läuft los. »Du glaubst doch nicht, dass du dich da noch herausreden kannst? Wir haben alle gehört, dass die Bär dich als Spitzenbesetzung für den Romeo sieht, du doch auch«, ruft Martha grinsend über ihre Schulter. Genervt streife ich die Kapuze meiner Sportjacke vom Kopf und fahre mit meinen Händen über meinen Kopf, wo mittlerweile wieder Haare sind. Zwar extrem kurz, aber Haare. Kopfschüttelnd folge ich Martha und bete und bitte, als wir zum Morgengebet gehen, Gott darum, dass sie sich nicht für dieses Stück entscheiden werden. Denn wie soll ich auch das noch überstehen, wo Juli schon Tag für Tag vor mir sitzt? Wie soll ich so meine Maske festhalten? Diese Gedanken und ähnliche, tragen mich durch den Tag, bis ich schließlich in der gefürchteten Deutschstunde sitze. Die Aufregung in der Klasse ist beinahe greifbar, als Frau Bär uns bittet, abzustimmen, indem wir auf einen kleinen Zettel anonym notieren sollen, für welches Stück wir stimmen. Ich stimme für das Ideendrama Nathan der Weise von Lessing, auch wenn ich tief in mir drin weiß, dass es nichts bringen wird. Die Klassensprecherin, ich vergesse ihren Namen ständig, sammelt die Zettel ein und liest jeden Einzelnen, vorne am Lehrerpult vor. Frau Bär führt an der Tafel eine Strichliste und aktuell sieht es nicht gut aus, für Romeo und Juliet. Ich darf mich nicht zu früh freuen. Mit geballten Fäusten, die ich fest auf meinen Schoß drücke, starre ich nach vorne, wo Frau Bär Strich für Strich mein Todesurteil an die Tafel malt. Vielleicht, hoffe ich, doch der letzte zusammengefaltete Zettel bringt mir die Ernüchterung. Romeo und Juliet gewinnt mit zwei Punkten mehr, gegen Eine Weihnachtsgeschichte von Dickens. Die Klassensprecherin setzt sich und Frau Bär sieht fröhlich in die Klasse. »Rollenverteilung, haben wir Freiwillige?« Irgendjemand, ich kann die Stimme nicht zuordnen, ruft, dass wir die Besetzung nehmen sollen, die wir beim Lesen hatten und mir rutscht mein Herz in die Hose. »Einwände?«, fragt Frau Bär, als sich niemand sonst meldet. »Ja«, knurre ich und bin kurz davor, aufzustehen. »Sucht euch einen anderen Romeo. Ich habe keine Zeit für den Mist.« »Gerade für dich ist es wichtig, mitzumachen, Romy. Ihr werdet dafür benotet, deshalb akzeptiere ich von dir kein Nein. Wenn sonst niemand einen Einwand erhebt, lasst uns eine Zeit für die Proben finden. Der Rest von euch, die, die keine Rolle haben, kümmern sich gemeinsam mit der Kunstlehrerin um das Bühnenbild und die Requisiten. Kostüme werden wir uns leihen, da weiß ich schon die perfekte Adresse für. Also ihr Lieben, wann habt ihr Zeit?« Man entscheidet sich einstimmig, minus meine Stimme, für Montag- und Donnerstagnachmittag, nachdem Nachmittagsgebet. Was bedeutet, dass ich keine Galgenfrist bekomme, sondern meine erste Probe schon sehr bald stattfindet. Meine Oberschenkel schmerzen, so fest presse ich meine Fäuste dagegen. Als es zum Stundenende läutet, stürze ich aus dem Klassenraum, bevor mich jemand aufhalten kann. Ich muss ganz dringend mit jemanden sprechen. Egal wer. Ich stürme aus dem Schulhaus und wähle Uschis Nummer. Da geht genauso wie bei Ralf jedoch nur die Mailbox ran, weshalb ich es bei Nina versuche. »Romy, ist alles okay?«, höre ich Nina atemlos fragen. Im Hintergrund scheppert etwas. »Was mache ich jetzt, Nina?«, frage ich und höre, wie Nina eilig den Raum verlässt, in dem sie sich befindet und wie die Tür hinter hier zuknallt. »Wegen was?«, fragt mich Nina und ich kann Stimmengewirr hören. »Wo bist du?« »Noch in der Schule, gerade auf dem Flur, ich habe gleich Bandprobe. Also?« »Wegen dem Schauspiel«, antworte ich und ich kann mir Ninas Grinsen sehr gut vorstellen. »Du schauspielerst doch bis jetzt gut?«, fragt Nina mich und ihre Stimme klingt amüsiert. »Romy, wenn du es bis jetzt geschafft hast, schaffst du auch diese Hürde noch. Es ist ja nicht mehr für lange. Sobald sie Paul gefasst haben, kannst du mit dieser Farce aufhören.« Stimmt, Paul befindet sich seit zwei Tagen auf der Flucht, weil Schubi seine Aussage revidiert hat. Hinzu kommt, dass man ihn wegen meiner Anzeige befragen will, aber davon weiß Paul natürlich noch nichts, hoffe ich. »Aber was, wenn ich bis dahin alles kaputtgemacht habe?«, frage ich Nina und schrecke herum, als ich höre, wie die große Schultür abermals ins Schloss fällt und Schritte hinter mir erklingen. Scheiße. Wie viel hat sie gehört? »Dann ist sie den Ärger nicht wert«, erklärt mir Nina, während ich mir mit Juli ein Blickduell liefere. »Nina?«, frage ich leise und will wegsehen, kann es aber nicht. »Ich habe hier ein kleines Problem.« »Wie viel haben sie gehört?« »Vermutlich genug«, murmle ich und gehe langsam rückwärts, als sich Juli auf mich zubewegt. »Wir haben nichts besprochen, das deiner Tarnung schadet. Erzähl ihnen von einer Demo, die dieses Wochenende ist und du sollst- Mist Romy, mein Akku ist gleich leer. Du schaffst«, mehr höre ich nicht mehr von Nina und ich nehme das Smartphone von meinem Ohr. Resigniert stecke ich es in meine Hosentasche. »Was?«, frage ich Juli barsch, als ich es nicht mehr ertrage, wie sie mich ansieht. »Was machst du kaputt?« »Nichts, was dich etwas angeht«, erwidere ich und schaffe es, mich von Juli abzuwenden. Mit schnellen Schritten marschiere ich Richtung Internat. Juli hält mit mir Schritt. »Doch, wenn es mich betrifft, geht es mich etwas an«, höre ich sie nach einem Moment abgehetzt sagen. »Scheiße«, stöhne ich gespielt genervt, bleibe stehen und drehe mich zu ihr um. »Die Welt dreht sich nicht nur um dich, Püppchen. Das scheint eine Macke von Leuten wie dir zu sein. Seht euch alle als etwas Besseres. Am Wochenende ist eine große Demo geplant und ich soll ein paar Sachen dafür bauen. Bin in so etwas aber ziemlich ungeschickt«, sauge ich mir eine Erklärung aus den Fingern und werde wütend. Wütend auf die ganze Sache, wütend auf Juli, dass sie so hartnäckig sein muss. Wütend auf mich, dass ich so reden muss. Ich drehe mich von ihr weg und will weitergehen, als sie mich fest an meinem Handgelenk packt und zu sich herumzieht. Ich pralle gegen sie, weil mich ihre Stärke überrascht hat und atme ungewollt ihren Geruch ein. Sie hält mich fest und stellt sich ganz dicht vor mich. »Wenn es dir den Kick gibt, denn du brauchst, sei ruhig weiter so blöd zu mir, aber verleugne nicht, was zwischen uns ist.« Ich kann ihren warmen Atem auf meiner Haut spüren, so dicht steht sie bei mir. Es fehlen nur wenige Zentimeter zwischen unseren Lippen, doch ich reiße mich los, bevor sie auch nur die Chance hatte, die fehlenden Zentimeter zu überbrücken. »Ich schwöre dir«, zische ich und sehe sie wütend an. »Wenn du mich noch einmal anpackst, außerhalb von diesem Scheiß Schauspiel, dann werde ich deinem Gesicht ein Upgrade verpassen, sodass dich deine Kanakeneltern nicht wiedererkennen werden.« Meine gewählten Worte ekeln mich an, als ich mich umdrehe und ins Internat zum Nachmittagsgebet eile. Nach einer Tasse Kaffee trete ich, obwohl ich nicht will und sich mein ganzer Körper mit aller Macht dagegen sträubt, den Weg zur Schule an und bin heilfroh, dass Juli nicht mit uns läuft. Mit Martha und mir. Mit Martha, die an meiner Seite geht und die Rolle von Tybalt, Romeos Rivalen erwischt hat. Martha hat mich nicht auf meine Laune angesprochen, sondern spricht mit mir über den Sportunterricht. Geprobt wird da, wo das Stück später auch aufgeführt wird. In der schuleigenen Aula. Martha und ich sind die Letzten und beinahe tut es mir Leid, dass ich meine Tasse Kaffee ganz genüsslich getrunken habe. »Sehr schön«, kommentiert sie unsere Anwesenheit. »Nun sind wir vollständig. Ich freue mich, dass ihr alle da seit«, lächelt Frau Bär warm in die Runde. Ich setze mich an den Rand der Bühne und ignoriere die Blicke der Anderen, besonders die von Juli. »Ich dachte mir, wir fangen ganz langsam an. Vermutlich schaffen wir es so nicht bis zum Ball, wo sich Romy und Juliet kennenlernen, aber die, die noch keinen Auftritt haben, können ja schon einmal ihre Texte lernen.« Frau Bär verteilt wieder die Reclamhefte und lächelt. »Die Schule schenkt euch das Heft, damit ihr gut üben könnt und wir nicht so viele Kopien anfertigen müssen. Das heißt, auch dass ihr euch eure Sätze mit einem Marker anstreichen könnt.« Ich rutsche lustlos von der Bühne und setze mich abseits der Gruppe, krame meine Federmappe aus meiner Tasche und nehme mir einen pinken Marker. Sobald ich alle Sätze angestrichen habe, die Romeo zu sagen hat, schließe ich das Heft und meine Augen und hoffe, heute nicht mehr nach vorne zu müssen. Weil es noch viel zu klären gab und meine Klassenkameradinnen zu viel herumgealbert haben, endet der erste Tag mit der Gräfin Montague, die sich bei Benvolio nach ihrem Sohn Romeo erkundigt und ich atme erleichtert auf. »Okay. Das war super für den ersten Tag. Lernt die Sätze fleißig und übt eure Rolle am Besten vor einem Spiegel. Wir sehen uns an dieser Stelle am Donnerstag wieder. Romy, Juliet, bitte bleibt doch noch einen Moment, ja?« Ich lausche dem Tumult und bleibe mit geschlossenen Augen sitzen und öffne sie erst, als Frau Bär sich neben mir auf einen Stuhl fallen lässt. »Klug von dir, so zu tun, als wärst du eingeschlafen«, lächelt Frau Bär und sieht dann zu Juli, die sich langsam in unsere Richtung bewegt. »Aber glaube nicht, dass das immer zieht, dass ich zu dir komme.« Als Juli sich neben mich setzt, nickt Frau Bär. »Ich habe euch hierbehalten, weil ich euch anbieten will, mit euch zu üben, ohne die restliche Gruppe. Zum Einen, weil mir die Anspannung zwischen euch nicht erst heute aufgefallen ist und zum anderen, weil Kussszenen vorkommen. Wir sind eine katholisch geprägte Schule und euch muss deshalb bewusst sein, dass besonders gleichgeschlechtliche Dinge delikat sind. Da wir und auch das Internat uns Toleranz auf das Banner geschrieben haben, können wir so etwas offen zeigen, wenn es für euch okay ist, müssen aber dennoch vorsichtig damit umgehen. Euer Disput, wird er sich auf eure schauspielerische Leistung auswirken?« Ich stöhne genervt und Frau Bär spricht mich direkt an. »Romy, ich frage das, weil du wie bei meinem Vorschlag mit der Nachhilfe, sofort ablehnen wolltest.« Schulterzuckend sehe ich Frau Bär an und setze mich aufrecht hin. »Ich habe immer noch keinen Bock auf diesen Scheiß. Aber ich mache es und was ich mache, mache ich richtig. Ich bin kein Fan von halben Sachen.« Juli sieht mich bei diesen Worten an und ich weiß, dass sie weiß, dass ich Frau Bär gerade etwas vorlüge. »Bezüglich der Einzelübungen, Frau Bär. Wenn Sie denken, dass es uns hilft, ein gutes Schauspiel abzuliefern, dann bin ich dabei.« Juli nickt lediglich, als Frau Bär sie fragend ansieht. Mit einem lauten Seufzer entlässt Frau Bär auch uns. Draußen gehen wir einen Moment schweigend nebeneinander her. Als wir ein kleines Stück Wald durchqueren, ergreift Juli meine Hand. Ich zucke zurück und bin zu müde, um mich abermals verbal zur Wehr zu setzen, weshalb ich sie grob ins Dickicht des Waldrandes schubse. Sie stolpert über eine Wurzel und ich stoße sie ganz um, sodass sie auf dem Waldboden liegt. Ich drücke ihr meinen Fuß ins Kreuz, damit sie nicht aufstehen kann. »Erinnerst du dich an meine Worte vor dem Nachmittagsgebet?«, frage ich sie und hoffe, meiner Stimme genügend Kälte verliehen zu haben. Juli verrenkt sich halb, um mich anzusehen. In ihren Augen sehe ich für einen kurzen Moment Angst aufflackern. Ich knie mich mit meinem ganzen Gewicht auf ihren Oberkörper, packe Juli am Haarschopf und presse ihr Gesicht hart in den Waldboden. Würde ich sie so eine Weile halten, würde sie wohl an der Erde ersticken, denke ich und lasse sie abrupt los und stehe auf. Juli fährt hustend und keuchend nach oben und bevor ich mich aufhalten kann, packe ich sie am Kragen ihrer Jacke, drehe sie zu mir um und ramme ihr meine Faust frontal ins Gesicht. Juli fällt vor mir auf die Knie, hält sich ihre blutende Nase und ich weiche erschrocken von ihr zurück. Kapitel 14: Kapitel 13. ----------------------- Mein Herz beginnt zu rasen und ich spüre, wie mir übel wird. Julis Blick findet den meinen. In ihren Augen lese ich zahlreiche Emotionen, doch keine Wut oder Hass. Warum nicht? Habe ich es nicht verdient, dass sie mich nach dieser Aktion hasst? Wie weit darf ich in diesem Schauspiel gehen und was sind die Spielregeln? Wir haben nie besprochen, wie intensiv ich meine Rolle spielen soll. Habe ich die unsichtbare Grenze schon überschritten und es mehr als übertrieben? Ich stolpere weitere Schritte von Juli weg, als mein Blick auf meine Hand fällt und ich Julis Blut auf meinem Handrücken entdecke. Ich sehe zurück zu Juli, will etwas sagen, will mich vielleicht entschuldigen, als ich spüre, wie mein Smartphone zu vibrieren beginnt und der Klingelton ertönt, der mir ankündigt, dass ich angerufen werde. Sehe, wie Juli mich unergründlich ansieht und ihre Nase zuhält, aus der noch immer Blut quillt. Mit zittrigen Fingern ziehe ich mein Smartphone aus der Hosentasche, wische den grünen Hörer nach rechts und drücke mir das Gerät ans Ohr, ohne zu lesen, wer der Anrufer ist. »Ja?«, ringe ich mir mit bebender Stimme ab, weil niemand spricht. »Wo bist du?«, erklingt Ninas Stimme und weiche Julis Blicken aus und sehe zurück auf meinen blutverschmierten Handrücken. Am liebsten würde ich mich umdrehen und weglaufen, kann es aber nicht. Es ist, als ob um meine Beine Gewichte geschnallt sind, die es mir nicht ermöglichen, wegzugehen. »Draußen, auf dem Rückweg ins Internat. Warum?« »Du klingst seltsam«, merkt Nina an und ignoriert meine Frage. »Ist alles okay? Ist etwas passiert?« Ich kann hören, wie Nina atemlos nach Luft schnappt, geräuschvoll auf einem Kiesweg entlang geht und leise mit jemanden flüstert, während sie auf eine Antwort von mir wartet. Ich suche in meinem Kopf nach passenden Antworten, nach Wörtern, die nicht scheiße klingen. Finde aber nichts, was ich sagen kann und blicke wieder zu Juli, die mich immer noch anstarrt. Ihre Nase scheint nicht mehr zu bluten. Bevor ich dazu komme, Worte zu formen, die Nina auch hören kann, höre ich Ninas Stimme, die mich ruft und bevor ich mich versehe, steht Nina an meiner Seite. Ich lasse das Smartphone sinken und falle Nina förmlich in die Arme. Aus dem Augenwinkel nehme ich Martha wahr, die besorgt auf Juli zueilt. »Ich wollte das nicht«, flüster ich und Nina umarmt mich beruhigend. Obwohl ich ihr in die Arme gestürzt bin, versteife ich mich, bei ihren Berührungen. »Sie hat mich einfach nicht in Ruhe gelassen, Nina. Wir haben nie besprochen, wie weit ich gehen kann, gehen muss«, spreche ich flüsternd weiter, bevor ich nachdenklich innehalte und Nina ansehe. »Was machst du eigentlich hier?« »Weil du nicht auf meine Nachrichten reagiert hast, habe ich mir Sorgen gemacht und meine Bandprobe geschmissen. Dein Vater hat mich hergefahren, nachdem ich ihm von meiner Besorgnis am Telefon erzählt habe. Er wartet übrigens auf uns«, erklärt Nina mir, löst sich von mir und ergreift meine Hand. Bevor sie mich wegzieht, sieht sie zu Martha, die Juli auf die Beine gezogen hat. »Du kommst klar?« Weil Nina losgeht, vermute ich, dass Martha genickt hat und stolpere über meine eigenen Füße, als ich mich an Ninas Tempo anpasse. Nach einem Moment kann ich Marthas und Julis Schritte hinter uns hören und bemühe mich krampfhaft, nicht zurückzublicken und zusammenzubrechen. Was mir sehr schwerfällt, als mein Blick abermals auf meinen Handrücken fällt und ich registriere, dass Julis Blut schon eingetrocknet ist. »Komm, geh weiter«, zischt Nina mir zu und hakt sich bei mir unter, als ich meine Hände in den Hosentaschen vergrabe, nachdem ich meine Hand aus der von Nina gezogen habe. Nina zieht sanft an meinem Arm und führt mich immer weiter vorwärts, obwohl ich nicht will. Am liebsten wäre es mir, die Zeit würde stillstehen oder rückwärts verlaufen, dann könnte ich das Geschehen rückgängig machen. Martha und Juli überholen Nina und mich, als wir die Auffahrt des Internats erreichen. Ich will etwas sagen, etwas tun, will meine Hand nach Juli ausstrecken, habe sie auch schon aus der Hosentasche gezogen, als Nina mich zurückhält. »Lass sie«, flüstert Nina und sieht mich ernst an. »Aber«, beginne ich und lasse meinen Arm sinken. Es ist Nina zu verdanken, dass ich nicht hinfalle, als ich zusammenbreche. Sie stabilisiert mich, obwohl ich mich sehr gegen ihre Hände sträube. »Lass mich los, Nina. Ich kann und ich will nicht mehr.« »Du musst«, sagt Nina hart und hält mich fester und drückt ihre Lippen auf die Meinen, als sie sieht, dass sich Martha und Juli zu uns umgedreht haben. »Spiel mit«, zischt Nina gegen meine Lippen, als ich erstarre und sehen kann, wie Juli sich eilig abwendet und ohne Martha ins Gebäude eilt. Ich stoße Nina unsanft von mir und stehe wieder ohne Hilfe auf meinen Beinen. »Spinnst du? Was soll der Scheiß?«, fauche ich, eile die Auffahrt hoch und will Juli hinterher. Martha ist es, die mich an meinem Arm zurückhält und nachdenklich mustert. »Es ist besser, wenn du ihr jetzt nicht nachgehst, Romeo. Wenn es dir wichtig ist, erzähle ich Juli, wie du reagiert hast, aber halte Abstand. Sonst wird sie deine Botschaft, nie verstehen.« »Martha, ich«, setze ich an und Martha hält mich an den Schultern zurück, als ich mich an ihr vorbei drücken will. »Hör zu, Romeo. Ich weiß, dass du Juli nicht so behandeln willst und du uns nur etwas vormachst. Sie weiß es aber nicht und wenn du das so beibehalten willst, solltest du ihr jetzt keine Hoffnung machen, indem du ihr hinterhergehst.« Für einen Moment vergesse ich Juli und Nina und sehe Martha verblüfft an. »Woher?«, frage ich, ich dachte eigentlich, dass ich immer vorsichtig gewesen bin. Martha lässt mich los und streicht sich verlegen ein paar Haare aus ihrem Gesicht. »Ich bin vor einer Woche einmal am Abend joggen gegangen, weil ich etwas Dampf ablassen musste und dabei habe ich dich am Brunnen sitzen sehen. Glaub mir, ich wollte weiter laufen, aber als mein und Julis Name erklang, war ich zu neugierig. Sorry, Romy.« Ich spüre für einen kurzen Moment Panik in mir aufwallen, bevor eine ungeahnte Last von meinen Schultern fällt, weil endlich noch jemand von meinem Schauspiel weiß. »Du darfst mit niemanden darüber sprechen, Martha. Oder hast du schon mit jemanden darüber gesprochen?« »Nein«, schüttelt Martha ihren Kopf und sieht zum Internat. »Wobei ich es wirklich tun sollte, Romy. Juli leidet unter deinem Verhalten sehr und die Anderen fragen sich, was sie falsch gemacht haben, dass du ihnen die kalte Schulter zeigst.« »Bitte tu das nicht«, flehe ich Martha förmlich an. »Komm nachher zu mir und nenne mir einen plausiblen Grund für diesen Mist, dann überlege ich es mir.« Mit diesen Worten lässt sie mich stehen und eilt ihrerseits Juli hinterher. Unschlüssig drehe ich mich zu Nina um, die nicht mehr dort steht, wo ich sie stehen gelassen habe. Mein Blick fällt auf den Parkplatz, wo Papas Auto steht. An der Motorhaube sehe ich Papa lehnen und Nina steht neben ihm und scheint mit ihm über irgendetwas zu diskutieren. Als ich näher komme, verstummt Nina und sieht mich zögernd an. »Hey Papa«, murmle ich und lächle ihn schwach an. »Ärger im Paradies, hm?« »Ja, du weißt doch warum«, seufze ich und umarme Papa. »Und das verdammte Schauspiel, was wir wegen Weihnachten aufführen sollen, hilft mir nicht gerade dabei, meinen Abstand zu Juli zu wahren, wenn sie meine Schauspielpartnerin ist.« »Und genau deswegen habe ich dich geküsst«, erklärt mir Nina, als ich Papa loslasse und einen Schritt zurücktrete. »Vielleicht lässt das ihr Interesse an dir schwinden, deine Prügelattacke scheint ja nicht den gewünschten Effekt zu bringen, so wie sie dich die ganze Zeit angestarrt hat, als wir hierher gelaufen sind.« »Prügelattacke?« Papa sieht mich ernst an. »Erklär ich dir ein anderes Mal«, seufze ich und schiebe die Hand mit dem getrockneten Blut in meine Hosentasche. »Spar dir solche Aktionen das nächste Mal, Nina. Wer weiß, was sie jetzt denkt.« Papa hakt nicht nach und ich bin froh, dass er hier ist. Mama hätte nicht locker gelassen, bis ich ihr alles, bis ins kleinste Detail erzählt hätte. Wir reden noch eine Weile, hauptsächlich über Belanglosigkeiten, wie das Wetter oder was Mama diesen Abend für Abendessen breit hält. Nina isst wohl schön länger bei uns mit. »Danke, dass ihr gekommen seit«, murmel ich nach einem Moment und sehe an Papas Armbanduhr, dass ich langsam reingehen sollte. »Ich muss dann auch, gibt gleich Abendessen. Lass uns nachher wie gehabt telefonieren, Nina.« Papa nimmt mich noch einmal in den Arm, nickt mir stumm zu und steigt in sein Auto. Auch Nina umarmt mich und hält mich für meinen Geschmack, etwas zu lange im Arm, doch ich nehme es hin. In ihrer Gegenwart kann ich ohne meine Maske sein. »Lass uns erst morgen wieder telefonieren. Ich habe mein Ladekabel nicht mit und gehe ja gleich noch zu Lari.« Nina steigt auf der Beifahrerseite ein und ich winke ihnen hinterher, bis die Rücklichter nicht mehr zu sehen sind. Erst dann gehe ich ins Gebäude. Im Foyer laufe ich beinahe Frau Kramer über den Haufen. »Guten Abend, Romy. Beinahe wärst du zu spät gekommen. Ist alles okay? Ich habe deinen Vater draußen gesehen.« »Ich«, setze ich an und denke an meinen Handrücken. »Könnte ich noch schnell die Toilette aufsuchen?« Frau Kramer lächelt mich nachsichtig an. »Dann aber schnell, mein Kind, du willst dir doch keine Feine machen, weil alle mit dem Essen auf dich warten müssen.« Das Blut von den Händen waschend, starre ich in den Spiegel vor mir und prüfe mehrmals meinen finsteren Gesichtsausdruck. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und seufze tonlos, als ich mit trockenen Händen und Gesicht in den Speisesaal gehe. Es ist nicht überraschend, dass an diesem Abend Juli und Martha nicht an dem Tisch sitzen. Tatsächlich bin ich froh, noch eine Gnadenfrist zu haben, bevor ich mich wieder mit Juli auseinandersetzen muss. Hey«, zischt Rati in meine Richtung, als ich mich setze. »Ist alles okay?« Ich sehe weder sie noch Uma an, nicke aber leicht und tue mir nachdem Tischgebet wortlos mein Essen auf. Ich kann mich auf nichts konzentrieren, als ich mit den Anderen in der Kapelle sitze und den Ordensschwestern lausche. Erst als die Meisten, die Kapelle verlassen haben, gelingt es mir, für ein paar Minuten abzuschalten. Weil es sich anbietet, zünde ich wieder eine Kerze an und flüchte mich danach auf mein Zimmer. »Romy?«, erklingt es einige Sekunden später und Martha steckt ihren Kopf unaufgefordert in mein Zimmer. »Kommst du rüber oder soll ich reinkommen? Ich dachte, ich mache es dir leichter, wenn ich auf dich zukomme.« »Komm rein«, seufze ich und setze mich auf, als Martha in mein Zimmer schlüpft und sich auf das freie Bett setzt. »Also?« »Hast du dir schon selbst Gedanken gemacht, warum ich diese Rolle spiele?« »Einige, um ehrlich zu sein«, nickt Martha. »Der plausibelste Gedanke ist, dass du versuchst, uns und dich vor denen zu schützen, die dir diesen Denkzettel, wie du es genannt hast, verpasst haben.« Ich verschlucke mich überrascht, weil Martha den Nagel auf den Kopf getroffen hat und das direkt beim ersten Versuch. Hustend rutsche ich an die Bettkante und greife nach meiner Wasserflasche. »Hundert Punkte«, murmle ich, nachdem ich einige Schlucke Wasser getrunken habe und werfe Martha die Flasche zu, als sie mich wortlos darum bittet, ebenfalls etwas trinken zu dürfen. »Warum lässt du uns die Gefahr nicht selbst einschätzen?«, fragt Martha, bevor sie die Flasche ansetzt. Als sie mir die Flasche zurückreicht, beginne ich ihr zu erzählen, wie man mich zusammengeschlagen hat und erzähle ihr von dem Türken, den ich erschießen sollte und von der den mehrfachen Warnungen, die ich erhalten habe. »Ich will aussteigen, jedoch ist es mit diesem Hintergrund und der Tatsache, dass Paul auf freiem Fuß und brandgefährlich ist, nicht einfach. Ich habe eine Anzeige gegen ihn erstattet, aber so lange er nicht sicher verwahrt ist und nichts von meiner Anzeige weiß, sind alle sicherer, wenn sie und er denken, dass ich auf seiner Seite stehe.« »Wer bist du, dass du uns die Entscheidung verwehrst, Romy?«, fragt Martha mit fester Stimme und sieht mich ernst an. »Was, wenn ich dir sage, dass du es wert bist, dass wir diese Gefahr auf uns nehmen?« »Ich will nicht daran Schuld sein, wenn euch oder meiner Familie wegen mir etwas geschieht«, schnappe ich und starre auf meine Füße. Ich spüre Marthas Blick auf mir und warte darauf, dass sie etwas sagt, weil sie es nicht tut, sehe ich sie an und stelle fest, dass sie mich abwesend anstarrt und über etwas nachzudenken scheint. Ich zucke erschrocken zusammen, als ihre Stimme nach einigen Minuten wieder erklingt. »Juli geht es gut. Die Nase ist nicht gebrochen. Zu den Ordensschwestern hat sie gesagt, dass sie hingefallen und dabei blöd auf ihrer Nase gelandet ist. Versuche bitte in Zukunft, deine Gewalt zu zügeln.« »Ich fühle mich auch ohne deine Zurechtweisung schlecht deswegen«, zische ich, seufze dann, als ich erkenne, dass mir Wut gegen Martha nun auch nicht weiterhilft. »Ich konnte nicht einfach gehen, ohne etwas zu tun. Sonst hätte Juli doch geglaubt, dass meine Worte nur Schall und Rauch sind. Denn am Nachmittag habe ich ihr gedroht, dass das passiert, wenn sie mir noch einmal auf die Pelle rückt. Der Hieb auf die Nase passierte im Affekt, eigentlich wollte ich sie nur zurück ins Dickicht stoßen.« »Wie lange musst du diese Rolle noch spielen?«, fragt Martha mich und klingt ernüchtert. »Bis du alle, die sich um dich Sorgen, vergrault hast?«, schiebt sie leise hinterher. »Solange es nötig ist«, erwidere ich fest, obwohl ich noch vor einigen Stunden aufgeben wollte. Martha steht auf und läuft in meinem Zimmer hin und her. »Du hältst mich auf dem Laufenden«, fordert Martha und bleibt vor mir stehen. »Wir werden jeden Abend kurz miteinander sprechen. Dazu nimmst du die Nachhilfe an und wirst in der Bibliothek mithelfen. Du musst ja nicht mit Juli rummachen oder dich mit ihr verstehen, um gute Noten zu schreiben. Aber wegen des Typen, auf Nachhilfe zu verzichten und sitzen zu bleiben, musst du auch nicht. Wenn du dich besser fühlst, organisiere ich einen Ort, wo dich niemand mit ihr sieht.« »Ich weiß nicht, wo sie überall Spione haben. Was wenn man uns doch erwischt? Kannst du mir nicht Nachhilfe geben?« »Meine Bedingungen, oder gar nicht«, erwidert Martha und ich gebe mich geschlagen. Weil es wichtig ist, dass Martha über diese Sache ihren Mund hält. »Gut. Ich rede mit Juli und keine Sorge, ich sage ihr, dass unser Klassenlehrer dich dazu zwingt. Wenn du dich damit besser fühlst.« In dieser Nacht, die überraschend warm für eine Herbstnacht ist, träume ich das erste Mal von ihr. Von Juli. Es ist kein seichter Traum, sondern ein brutaler, gewalttätiger Traum. Ich träume von dem ganzen Blut, das schon an meinen Händen klebte. Träume von meinen Taten und den Opfern. Ein Messer liegt in meiner Hand, die vor Aufregung zittert. An der Klinge läuft zähflüssig das frische Blut herab. Als ich von der Klinge auf den Boden zu meinen Füßen blicke, sehe ich ihren starren, leblosen Körper. Ihre schreckgeweiteten Augen im Moment der Angst festgefroren. »Nein«, hauche ich, schlage schwer atmend meine Augen auf und starre in die Dunkelheit. Mein Pyjama klebt an meinem Körper so verschwitzt bin ich, als ich mich aufsetze und die Schreibtischlampe anknipse. Lange kann ich mich keinen Zentimeter bewegen oder meine Hände ansehen, aus Angst, doch noch zu träumen. Erst kurz nach vier Uhr schaffe ich es aufzustehen. Halb Fünf stehe ich unter Dusche und fühle mich auch nach zwanzig Minuten noch schmutzig. Halb Sechs klopft Martha an meine Zimmertür und holt mich zum Laufen ab. Das Duschen hätte ich mir sparen können, als wir durchgeschwitzt die Treppe zu unserem Gang erklimmen. »Gehst du gleich heute zu Frau Schwarz und teilst ihr mit, dass du den Job machst?«, fragt mich Martha, als wir, nachdem abermaligen Duschen und dem Morgengebet, gemeinsam in den Speisesaal gehen. Ich nicke lediglich und steuere meinen Tisch an. Martha geht weiter nach hinten, wo Juli schon sitzt. Ich habe sie sofort gesehen, als wir den Saal betreten haben. Erleichtert, dass sie noch am Leben ist, freue ich mich sogar, natürlich nicht nach außen sichtbar, als sich Rati und Uma auf ihre Stühle fallen lassen, an meinem Tisch. Als wir nach der vierten Stunde schon drei unangekündigte Leistungskontrollen geschrieben habe, überlege ich ernsthaft, aus dem Fenster zu springen, weil ich natürlich kaum eine Frage beantworten konnte und bin erleichtert, als es zur Mittagspause läutet. Endlich, knapp eine Stunde Pause. Nach einem schnellen Mittagessen suche ich Frau Schwarz in der Bibliothek auf und nehme ihr Angebot an. Erfreut sieht sie mich an und fragt mich, wann ich für eine Einweisung Zeit habe. »Jetzt?« Unsere Englischlehrerin ist krank, habe ich beim Mittagessen mitbekommen, weshalb die letzte Stunde vor dem Sportunterricht ausfällt. So kommt es, dass ich nach einer ziemlich interessanten Einweisung, gemeinsam mit Frau Schwarz durch das Schulhaus zur Turnhalle gehe und an meinem Schlüsselbund ein weiterer Schlüssel baumelt. Ausgepowert vom Sport gehe ich gemächlich zurück ins Internat. Martha überholt mich irgendwann nach der Hälfte des Weges und raunt mir zu, dass ich nachdem Nachmittagsgebet, zu ihr ins Zimmer kommen soll. Ich komme ihrer Bitte ohne viele Gedanken nach und wünsche mir, ich hätte es sein gelassen, als ich Juli erblicke, die in Marthas Zimmer, auf dem leeren Bett sitzt. Martha hätte ruhig noch ein paar Tage damit warten können, Juli für die Nachhilfe ins Boot zu holen, denn sofort schoss mir, ihre blutende Nase und mein Traum von letzter Nacht zurück in Erinnerung. »Auf die Schnelle habe ich nichts Besseres gefunden. Ich schließe euch ein und komme euch zehn vor Sechs zum Abendessen abholen. Hast du deine Schulsachen dabei, Romy?« Ich nicke wortlos, trete unsicher in Marthas Zimmer und bevor ich mich umentscheiden kann, knallt die Tür hinter mir zu und Martha dreht den Schlüssel im Schloss um. Ich setze mich an den Rand von Marthas Bett, nicht direkt Juli gegenüber und seufze. »Mit was erpresst sie dich?«, sind nicht die Worte, die ich erwartet habe und ich hebe irritiert meinen Kopf um Juli anzusehen. Ihre Nase wirkt leicht rötlich und geschwollen, sieht aber wirklich nicht gebrochen aus. Ich stoße ein fragendes Geräusch aus und sehe ihr für einen Sekundenbruchteil in die Augen, bevor ich an ihr vorbei, die Wand ansehe. »Weißt du, ich bin nicht von gestern. Du sträubst dich gegen alles, was mit mir zu tun hat und nun willst du plötzlich doch meine Hilfe, nachdem du mir gestern noch sehr deutlich zu verstehen gegeben hast, dass ich dich in Ruhe lassen soll? Also was ist es, dass Martha gegen dich in der Hand hat? Ich glaube ihr nämlich nicht, dass unser Klassenlehrer dich plötzlich zur Nachhilfe zwingt.« »Tut Herr Schwarz aber«, erwidere ich und versuche überzeugend zu klingen. Als sich unsere Blicke begegnen und sie überhaupt nicht überzeugt aussieht, seufze ich und entscheide mich für die halbe Wahrheit. »Martha hat ein Telefonat zwischen mir und Nina belauscht, das wir vor einiger Zeit geführt haben.« Julis Augen sehen mich wütend an, als ich Ninas Namen erwähne und ich muss ganz automatisch an Ninas Kuss denken. »Und weiter? Was war an dem Gespräch so brisant, dass du dich dafür mit mir herumschlägst?« »Nichts«, sage ich ausdruckslos und stehe auf. »Ich werde mit dir nicht darüber reden.« Mich auf Marthas Vorschlag einzulassen ist ein Fehler. Ein großer Fehler. Ich drücke probeweise die Türklinke hinab und rüttel an der Tür, obwohl ich ja weiß, dass Martha abgeschlossen hat. »Wo hast du denn überall Probleme«, fragt Juli mich geschäftsmäßig, als ich mich von der Tür abwende und für einen Moment streifen sich unsere Blicke. Ich versuche gar nicht, meine Überraschung darüber, dass sie das Thema einfach so fallen lässt und zu dem Grund des Treffens übergeht, zu verstecken. »Jedes Fach, außer Sport«, erwidere ich, stelle meine Tasche auf Marthas Bett ab und gehe an Juli vorbei, zum Fenster, öffne es und schaue hinab. Leider gibt es nichts Brauchbares, woran ich hinabklettern könnte und für ein altmodisches Bettwäscheseil gibt es zu wenig Bettwäsche in Marthas Zimmer. Gereizt knalle ich das Fenster zu. Ich bin also definitiv eine Stunde in diesem Raum gefangen. »Ich entwerfe einen Lernplan für dich und wenn Leistungskontrollen anstehen, sehen wir dann ja, was du dringender lernen musst. Wie wäre es heute mit Mathe?«, macht Juli unbeirrt weiter und ich frage mich, was sie mir hier vorspielt. Ich krame meine Unterlagen aus meiner Tasche hervor und nicke zögernd. »Und wo hapert es in Mathe?« »Bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung und bei den ganzen anderen Mist, der nach diesem Thema folgte.« Ich lege meine Sachen zur Seite und springe wieder auf. Ich kann in ihrer Nähe einfach nicht ruhig sitzen bleiben, wenn ich mich nicht verraten möchte. Ich lehne mich an Marthas Schreibtisch und lasse meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Es ist wie das Meine eingerichtet und doch wirkt es bewohnter. Als meine Augen die Tür streifen, frage ich mich, ob ich es schaffen könnte, die Tür aus der Angel zu heben. Ich lege meine Hand auf die Rückenlehne des Stuhls. Wenn ich den Stuhl zerlege, könnte ich mit den losen Teilen versuchen, Kraft zu sparen und die Tür aus der Angel hebeln. Ha, das nennt man doch Physik, oder? »Wie wahrscheinlich ist es«, beginnt Juli und ich sehe sie verwirrt an, weil meine Gedanken noch bei Physik sind. Seufzend pausiert sie und scheint ihre Worte zu überdenken. »Also, wie wahrscheinlich ist es, dass du in diesem Zimmer etwas findest, dass dir hilft, die Tür zu öffnen?« Nachdenklich sehe ich von der Tür zu Juli und zurück, als mir ein interessanter Gedanke in den Sinn kommt. »Sehr wahrscheinlich«, murmle ich und sehe Juli an. Martha würde Juli nach meinem Angriff gestern, doch nicht schutzlos in ihrem Zimmer zurücklassen und sie auch noch einschließen. »Gib mir den Schlüssel!« »Nein«, lächelt Juli mich an, als ob sie sich freut, dass ich herausgefunden habe, dass sie einen Schlüssel hat. »Außer du verrätst mir, was genau Martha bei diesem belauschten Telefonat erfahren hat, dass sie dich damit erpressen kann.« »Geht dich einen feuchten Dreck an«, zische ich und mustere Juli, die ihren Kopf gesenkt hält, weil sie sich auf ihrem Block, der auf ihrem Schoß liegt, irgendwelche Notizen macht. Wo würde ich den Schlüssel verstecken, wenn ich sie wäre? An einem Ort, wo ich schnell herankomme. In meinen Hosentaschen, aber Juli trägt einen Rock, der ihr nicht einmal über die Knie reicht. »Können wir dann anfangen?«, fragt Juli, hält mit ihrem Stift inne und schaut mich an. Unentschlossen stoße ich mich ab und eine Idee keimt in mir. Ich schnelle nach vorne, nehme ihr Stift und Block weg und werfe die Dinge achtlos auf den Boden. Juli hat keine Zeit irgendwie zu reagieren, als ich sie fest am Hals packe und zudrücke. Bei einer Bedrohung würde sie doch den Schlüssel benutzen, oder? Panisch versucht sie meine Hände von ihrem Hals wegzudrücken. Es ist der Hautkontakt, den ich nicht bedacht habe, der mich unachtsam werden lässt, wodurch es ihr gelingt, meine Hände zu lösen. Sie lässt sich rücklings auf das Bett fallen und zieht mich an meinen Handgelenken mit sich. Ich liege auf ihr unsere Gesichter so dicht beieinander, dass ich ihren Atem auf meiner Haut spüren kann. Ich spüre, wie mein Körper auf den Ihren reagiert, stemme mich mit meinen Armen ein Stück hoch, kann aber nicht ganz aufstehen, weil sie mich festhält. »Den Schlüssel«, presse ich hervor und versuche ihren braunen Augen auszuweichen, die versuchen, mich einzufangen. »Du kennst den Deal«, erwidert Juli und fährt mit ihren Händen über meinen Rücken, bis zu meinem Nacken. Ich halte den Atem an und spüre, die Gänsehaut, spüre, wie sich meine Armhärchen aufrichten, meine Brustwarzen hart werden und will nichts anderes, als sie zu küssen. Mein Körper ist ein mieser Verräter. Ich beiße auf die Innenseite meiner Wange und ich reiße mich von Juli los, als ob man mich mit einem Eimer Eiswasser übergossen hat. Die Spannung, die zwischen uns in der Luft liegt, raubt mir mehr und mehr die Fähigkeit, klar zu denken. Innerlich fluchend, drehe ich mich von ihr weg, gehe auf Marthas Waschbecken zu und klammere mich halt suchend daran fest. Ich wage es nicht, in den Spiegel zu blicken. Ich höre wie Juli sich aufsetzt und das Bettgestell leise quietscht, als sie aufsteht. Sobald sie hinter mir steht schnelle ich herum, presse Juli grob gegen die Zimmertür und drücke ihr meinen Unterarm an die Kehle. Sie schlägt um sich, zerkratzt mir meinen Unterarm, als sie immer panischer nach Luft schnappt, aber kaum noch etwas davon in ihren Lungen ankommt. »Bitte«, fleht sie mit dem letzten bisschen Luft. Ich lasse etwas lockerer und ihre Augen sehen mich einen Sekundenbruchteil dankbar an, bevor sie sich entsetzt weiten, weil ich abermals meinen Unterarm gegen ihren Hals drücke. »In meiner Rocktasche«, ringt Juli sich nach Luft schnappend ab und ich taste blind, mit meiner freien Hand, nach der besagten Tasche. Rockfalten sind alles, dass ich in meiner Hast ertaste. Keine Tasche, kein Schlüssel. In einem Moment der Unachtsamkeit, stößt Juli mich von sich und schubst mich auf Marthas Bett. Das Bettgestell ächzt vernehmlich und ich spüre den Lufthauch, als sich Juli strauchelnd auf den Weg zur Tür macht. Ich erwische Juli an ihrem Handgelenk und ziehe sie zurück. Dabei stolpert Juli über meine Füße und fällt auf mich. Presst die Luft aus meiner Lunge. Juli atmet laut ein und aus. An ihrem Hals ist ein roter Abdruck, wo mein Unterarm ihr die Luft abgedrückt hat. Ihre braunen Augen sehen traurig auf mich herab. Warum ist sie traurig? Sollte sie mich nicht hassen? Wütend auf mich sein? Scheiße, warum kommt ihr Gesicht immer näher? Ich will mich aufsetzen, Juli wegdrücken, erstarre jedoch in dem Moment, als Juli sachte an meiner Unterlippe knabbert. Das ist besser, als ich es mir all die Male, allein in meinem Bett, vorgestellt habe. Meine Arme schlingen sich um Julis Körper und ziehen sie dichter zu mir hinab. Ich erschaudere geräuschvoll, als ihre Hände vorsichtig auf Wanderschaft gehen um meinen Bauch zu entdecken, meine Seiten, an denen ich kitzlig bin. Ich küsse sie grob, gestehe ihr diesen Punkt zu, doch gewonnen hat sie noch lange nicht. Ich drehe mich zur Seite, so dass sie von mir rutscht und springe auf, bevor sie mich festhalten kann. »Bild dir nichts darauf ein«, fahre ich sie an und setze mich schwer atmend auf das andere Bett, als Juli sich aufsetzt, sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht wischt und mich unergründlich ansieht. »Diese Nina, ist das zwischen euch etwas Ernstes? Ist sie so wie du?«, fragt sie tonlos, greift in die Tasche ihres Rocks und zieht einen kleinen Schlüssel hervor. Ungläubig sehe ich Juli an und lache hohl. »Juli, wie kannst du nach alldem, was ich dir antue, eifersüchtig sein?« »Wie kann ich es nicht sein?«, fragt Juli traurig und sieht an mir vorbei. »Ist sie es, die dein Herz gefangen hält, so wie du meins mit aller Kraft an dich gerissen hast?« Kopfschüttelnd stehe ich auf, nehme den Schlüssel, den sie mir reicht. »Ich habe kein Herz. Weder Meines, noch das Deine«, murmle ich und sammel unsere Unterlagen auf. Denn kein Mensch mit Herz und Verstand würde eine Frau wie Juli, so behandeln, wie ich es schon wieder getan habe. »Also«, seufze ich, weil ich nicht gehen will. Weil ich noch einen Moment in ihrer Nähe sein will und weiß, dass ich die Nachhilfe gebrauchen kann. »Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie funktioniert die?« Kapitel 15: Kapitel 14. ----------------------- »Morgen wieder hier, selbe Zeit und bring deine Chemiesachen mit«, sind Julis Worte zum Abschied, bevor sie aus dem Zimmer rauscht, nachdem Martha es aufgeschlossen und uns interessiert gemustert hat. Zu meiner Überraschung ist Juli wirklich eine fähige Nachhilfelehrerin und ich habe in der letzten halben Stunde mehr gelernt, als in den ganzen Wochen, die ich diese Schule schon besuche und das, obwohl ich mich nicht fähig fühlte, nach diesem Kuss überhaupt lernen zu können. Martha sieht Juli einen Moment lang, nachdenklich hinterher, bevor sie ins Zimmer tritt und die Tür hinter sich zuzieht. »Ihr habt also miteinander geredet?« »Ja, über Mathe«, erwidere ich und packe zerknirscht meine Sachen zusammen. »So sieht es hier auch aus«, kommentiert Martha ironisch und sieht mich ernst an. »Sagte ich nicht, dass du deine Aggressionen zügeln sollst?« »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, sage ich und grinse obwohl mir nicht danach ist. Meine Tasche schulternd, stehe ich auf und will an Martha vorbei aus dem Raum gehen. »Ich meine das Ernst, Romy«, hält Martha mich an meinem Arm zurück, sieht mich einige Sekunden scharf an, bevor sie das Thema wechselt. »Kommst du nach dem Abendgebet mit in die Bibliothek?« »Sorry, nicht heute«, lehne ich ab und Martha lässt meinen Arm los. »Bis morgen früh«, winke ich und gehe ohne ein weiteres Wort aus Marthas Zimmer. Ich stelle meine Tasche in meinem Zimmer ab, mache mich am Waschbecken frisch und gehe langsam hinab zum Abendessen. Dabei frage ich mich unaufhörlich, wie ich den morgigen Tag überleben soll, wenn bei der Nachhilfe wieder so eine Spannung herrscht. Denn danach müssen wir noch einmal in die Schule und das blöde Schauspiel proben. Ich atme erleichtert auf, als Martha und Juli noch immer an einem anderen Tisch sitzen und verdränge vorerst jeden Gedanken an das Schauspiel und Juli. Kalte Abendluft knallt mir entgegen, als ich mit den Anderen aus der Kapelle ströme und mich zurückfallen lasse, um, wie jeden Abend, zu dem Brunnen zu gehen, wo ich immer auf Ninas Anruf warte. Beinahe auf die Minute genau, klingelt mein Smartphone. Fast könnte ich glauben, Nina beobachtet mich und weiß ganz genau, wann ich mich an den Rand des Brunnens gesetzt habe. »Yo«, brummt Nina in mein Ohr. »Die Sache gestern, du weißt schon, was ich meine, tut mir leid.« »Du meinst den Kuss? Was sollte das denn?«, frage ich und wundere mich, wieso Nina den Kuss so umständlich umschrieben hat. »Nichts. Ich wollte sehen, wie sie darauf reagiert und dachte, dass so vielleicht ihr Interesse an dir schwindet«, setzt mir Nina eine halb gare Erklärung vor, die ich, nach ihrem Ton, den sie gerade drauf hat, ohne weitere Fragen annehmen soll. »Nina«, unterbreche ich ihren Versuch, das Thema zu wechseln und zeichne nebenbei, mit meinem Zeigefinger die raue Steinmaserung des Natursteins nach, der einer unter Vielen ist, die den Brunnen seine Form geben, »was sollte das wirklich?«, hake ich vorsichtig nach. Ich habe eine vage Ahnung, will aber nicht die sein, die den schwarzen Peter ausspielt. »Vielleicht war es eine Art Test?« »Ist das eine Frage oder eine Antwort?«, grinse ich und bücke mich um einen kleinen Stein aufzuheben. »Was hat der Test ergeben?« Ich höre Nina seufzen und lasse den Stein in den Brunnen fallen. Es dauert eine ganze Weile, bis das typische Geräusch erklingt, wenn etwas Hartes die Wasseroberfläche durchbricht. »Nichts. Aber trotzdem, Romy, ich glaube, ich bin doch nicht so hetero wie ich bisher dachte«, flüstert Nina und ich bin mir sicher, dass es eigentlich um meine Schwester Lari geht. »Wer ist denn die Glückliche?«, frage ich beherrscht, ohne mein Amüsement zu zeigen. »Können wir darüber reden, wenn du wieder da bist?«, bittet Nina mich und ich kann Lari im Hintergrund hören. »Ich komme dieses Wochenende heim. Lass uns dann reden«, stimme ich grinsend zu. »Verzeihst du mir?« »Wofür?«, frage ich und kann Schritte im Kies hören, weshalb ich meinen Kopf vom Brunnen abwende und erstarre, als ich erkenne, wer sich da neben mich setzt. »Nina, es gibt absolut nichts, das ich dir verzeihen muss. Du hast nur versucht, mir zu helfen«, erkläre ich und spüre wie sich mein Pulsschlag beschleunigt, als ich Julis Oberschenkel an meinem spüre. »Hör zu, ich muss jetzt auflegen«, presse ich zwischen meinen Lippen hervor und warte nicht auf eine Antwort von Nina, als ich auflege und mein Smartphone zurück in meine Hosentasche schiebe. Anstatt Juli anzusehen, starre ich in den immer dunkler werdenden Himmel und versuche, ihre Präsenz zu ignorieren. »Wir sollten hier nicht sitzen«, murmle ich nach einigen vergeblichen Versuchen, Juli zu ignorieren und schiebe meine Hände, die mittlerweile eiskalt sind, in meine Hosentaschen. Juli neben mir atmet hörbar ein und ich stelle mir vor, wie sie sich bereit macht, etwas zu sagen, weshalb ich abrupt aufstehe, mich zu ihr drehe und an Julis ganzer Haltung erkenne, dass sie etwas weiß. Ist Martha eingeknickt und hat Juli alles erzählt? Selbst wenn, es spielt keine Rolle mehr, meine Entscheidung ist gefallen, als der Schlüssel, den ich aus meiner Hosentasche gezogen habe, zwischen Julis Füßen, in den Kies gefallen ist. »Nimm ihn und geh in mein Zimmer vor, ich komme nach. Schließ die Tür nicht ab und reagiere nicht auf eventuelles Klopfen«, zische ich ihr zu, drehe mich um und gehe in Richtung Dorf davon, bevor ich es mir wieder anders überlegen kann. Knapp vor der Ausgangssperre kehre ich ins Internat zurück und verfluche mich selbst für meine unüberlegte Aktion. Mir Ausreden zurechtlegend, steige ich die Treppen empor und lausche nach jedem Schritt, ob mir jemand folgt. Bevor ich die Türklinke hinab drücke und mein Zimmer betrete, prüfe ich, ob der Gang leer ist und auch niemand mich beobachtet. Ich schiebe die Tür nur einen Spalt weit auf und schlüpfe, sobald ich hindurch passe, durch den Spalt. Hinein in ein halbdunkles Zimmer und drücke die Tür so leise wie möglich zu, bevor ich nach dem Schlüssel taste und ihn zweimal im Schloss herumdrehe. Erleichtert atme ich aus, nur um gleich darauf tief einzuatmen. Mit verschränkten Armen drehe ich mich zu Juli um. Sie lehnt an meinem Schreibtisch, der zwischen den Betten steht und auf dem die Tischleuchte das einzige Licht abgibt. Für einen Moment bin ich versucht, das Deckenlicht anzumachen. Sie sieht mich nicht an, starrt unentwegt auf den Boden, wo sie ihren Füßen eine genaue Musterung schenkt, wenn das in diesem Zwielicht überhaupt möglich ist. Ich lehne mich mit meinem Rücken an das Holz der Zimmertür und seufze. »Hat Martha geredet?«, frage ich in die Stille hinein und fange Julis Blick sofort auf, als sie ihren Kopf hebt und mich reuig ansieht. »Gib ihr keine Schuld. Ich musste es einfach wissen«, haucht Juli und bevor ich etwas sagen oder fragen kann, liegt sie auch schon in meinen Armen und ich drücke sie fest an mich und habe nicht vor, sie alsbald wieder loszulassen, obwohl ich es sollte. »Bitte geh. Geh, so lange es noch geht«, flüstere ich und atme ihr blumiges Parfüm ein. »Wenn sie, nein er es herausfindet, dass ich wieder Kontakt zu dir habe, dann bist du und deine ganze Familie, in Gefahr«, widerspreche ich meinem Willen und ignoriere den Schmerz in meiner Brust, als ich sie wieder freigebe und meine Arme nutzlos an meinem Körper herabhängen. Ich überlasse es ihr, von mir zurückzuweichen. Denn Gefallen tut sie mir jedoch nicht und ich genieße mit geschlossenen Augen, ihre Nähe, so lange ich sie haben kann. »Wie kannst du behaupten, kein Herz zu haben?«, fragt Juli und drückt sich dichter an mich, sodass kein Luftpartikel mehr zwischen uns passt. Es kostet mich einiges an Wille, meine Arme daran zu hindern, sie wieder festzuhalten. »Wie kann ich es nicht?«, flüstere ich und schiebe meine Hände in meine Hosentaschen. »Ich tue dir weh, bin brutal zu dir und habe dir beinahe deine Nase gebrochen. Ich habe zahlreiche Menschen ins Krankenhaus befördert. Nicht allein, aber ich war immer dabei, wenn die Jungs auf die Jagd gingen. Es sind Menschen gestorben durch den Anschlag auf das Asylantenheim«, zähle ich auf und rede immer hysterischer. »An dem Tag, als wir Paul im Park getroffen haben, habe ich mit einer Waffe auf einen Mann gezielt und abgedrückt, weil er meine Loyalität prüfte. Es war zu meinem Glück nur eine Waffe mit Platzpatronen. Aber Juli, der Mann wäre nun tot, wenn die Waffe scharfe Munition geladen hätte.« Irgendwo tief in mir, wünsche ich mir, sie mit diesen Worten zu schockieren. Ich verstehe nicht, wie sie all das einfach hinnehmen kann. Anstatt sich angeekelt von mir abzuwenden, schaut sie mich sanft an und küsst mich. »Ich glaube nicht, dass du kein Herz hast, aber selbst wenn, dann hast du immer noch mein Herz und eins reicht, zum Überleben.« »Und du?«, frage ich erstickt und kann die Tränen auf meinen Wangen spüren. Juli wischt meine Tränen mit ihren Daumen weg, zieht meine Hände aus meinen Hosentaschen und ergreift sie. »Ich überlebe, wenn du mir nur eine Chance gibst, dir zu beweisen, dass du nicht so herzlos bist, wie du denkst, es zu sein.« Bevor ich darauf etwas entgegnen kann, klopft es gegen das Holz an meinem Rücken. »Romy? Ich muss dringend mit dir sprechen«, erklingt Marthas Stimme, gedämpft. Juli tritt etwas von mir weg und lässt mich los. Sie nickt, macht eine Bewegung mit der Hand, die mir bedeutet, ich solle die Tür öffnen. Zögern schließe ich auf und öffne die Tür einen Spalt breit. »Wo brennt es denn?«, frage ich, obwohl ich weiß, warum sie so spät noch vor meiner Zimmertür steht. »Kann ich hereinkommen?«, fragt Martha und sieht mich reuig an. Ich schüttle meinen Kopf und Martha seufzt. »Juli hat mir nach dem Abendgebet aufgelauert und alles aus mir herausgepresst, was ich an dem einen Abend beim Brunnen belauscht habe. Es tut mir wahnsinnig leid, Romy.« »Ich weiß, dass sie es weiß«, lächle ich schwach. »Woher?«, entfährt es Martha und sie sieht mich überrascht an. Ich öffne die Tür so weit, dass Martha Juli sehen kann. »Wenn dich jemand fragt, Juli hat bei dir gepennt. Okay?« Martha nickt und sieht mich ernst an. Ich hebe abwehrend die Hände. »Keine Angst, wir reden nur, völlig friedlich.« »Wenn etwas ist, kannst du jeder Zeit klopfen kommen«, nickt Martha und sieht Juli dabei an. »Ich bin dann in meinem Zimmer. Gute Nacht, Romy.« »Gute Nacht. Lass uns morgen ausführlich miteinander reden«, erwidere ich, winke kurz und drücke die Tür zurück ins Schloss und schließe ab. Ich höre noch, wie Martha ihre Tür aufschließt, bevor ich mich zu Juli umwende und ihr meine ganze Aufmerksamkeit schenke. »So«, beginne ich, schiebe meine Hände zurück in meine Hosentaschen und sehe Juli an, die es sich ganz dreist auf meinem Bett bequem gemacht hat. »Wie du gerade gehört hast, haben wir nun die ganze Nacht Zeit zum Reden.« »Nur zum Reden?«, fragt Juli und ich finde, sie klingt ein bisschen enttäuscht. Ich setze mich auf das freie Bett und lehne mich an die Wand, ohne die Hände aus den Taschen zu ziehen und sehe sie ernst an. »Nicht einmal das, sollten wir in Erwägung ziehen.« »Und doch bin ich hier«, sagt Juli langsam und lächelt mich an. »Willst du nicht zu mir kommen?« Ich schüttle meinen Kopf. »Ich kann nicht. Juli, du musst damit aufhören.« Juli rutscht vor an die Bettkante, beugt sich etwas vor und sieht mich ernst an. »Ich muss aufhören?«, fragt sie und lacht freudlos. »Warum? Damit du weiter gegen Leute wie mich hetzen kannst, damit du beim nächsten Mal, wenn dieser abartige Mensch etwas nicht gut findet, tot im Park liegst?« Mit jedem Wort, das Juli sagt, wird sie leiser und ich sehe ihr deutlich an, wie sehr sie sich zusammenreißen muss, nicht zu explodieren. Wütend funkelt sie mich an, als sie ihre zitternden Hände in die Matratze krallt. »Weißt du, wie schlecht es mir an diesem Abend ging, als du so zugerichtet auf meinem Bett lagst? Hör gefälligst damit auf, mir die Fähigkeit abzusprechen, eigene Entscheidungen zu treffen, nur weil du selbst Angst hast, erneut zur Zielscheibe zu werden.« »Wütend bist du noch süßer«, flüstere ich und schlagartig verpufft ihre Wut und sie sieht mich irritiert an. Ich weiß nicht, was mich dazu geritten hat, diesen Gedanken laut auszusprechen. »Ich bin nicht süß«, murmelt Juli und ich kann nicht anders, als zu grinsen. Werde aber schlagartig wieder ernst, als Juli aufspringt, sich neben mich setzt und ihren Kopf auf meine Schulter legt. Ich sollte aufstehen, auf Abstand gehen, aber irgendwas hält mich zurück. Irgendwas in mir will endlich einmal mutig sein und nicht nur feige sein. »Ich habe ihn angezeigt, weißt du«, erzähle ich nach einer Weile, in der wir schweigend die Nähe zueinander genossen haben. Juli hebt ihren Kopf und sieht mich überrascht an, sagt aber nichts, als sie ihre Hand mit der meinen verbindet. Ich erzähle ihr, was geschehen ist, nachdem mich der Notarzt ins Krankenhaus gefahren hat. Bis zu dem Punkt, wo mich Papa wieder ins Internat gebracht hat. Juli spielt mit meinen Fingern. Streckt sie, streichelt meine Handinnenfläche, drückt sie zu einer Faust zusammen und presst ihre Lippen auf meinen Handrücken. Ich hätte ihre Lippen lieber wo anders, das sage ich ihr aber nicht, als ich ihr meine Hand entziehe und aufstehe. »Es tut mir leid, dass ich dir gegenüber so brutal gewesen bin«, flüster ich ohne Juli anzusehen. Starre auf die kahle Wand, an der mein Bett steht. Als ihre Hand sich mit der Meinen verbindet, drehe ich mich um, ziehe Juli in den Stand und ganz dicht an mich. Lasse ihre Hand los und platziere meine Hände an ihrem Rücken. Ich verberge mein Gesicht an ihrer Schulter und spüre, wie mich ihre Hände festhalten. Beginnen, Kreise auf meinem Rücken malen. Wo es anfangs noch Tränen sind, die Julis Haut benetzen, gehe ich irgendwann dazu über, Juli sanft am Hals zu küssen und spüre, wie Juli erschaudert und mit den Kreisen auf meinem Rücken innehält. Sanft, aber bestimmt steuert sie mich zu dem Rand meines Bettes, wo ich mich setze und Juli auf meinen Schoß ziehe. Eine lange Zeit sehen wir uns einfach nur an. Sehen uns tief in die Augen. »Romy«, seufzt Juli irgendwann, schließt ihre Augen und unsere Lippen treffen im nächsten Moment so hart aufeinander, dass wir uns an den Zähnen stoßen. Bevor Juli etwas sagen kann, versiegle ich ihre Lippen effektiv mit meinen und spüre an meinen Lippen, wie sie kurz grinst. Kapitel 16: Kapitel 15. ----------------------- »Wolltest du nicht nur reden?«, haucht Juli gegen meine, vom Küssen wunden Lippen und ich spüre, wie mir jegliches Zeitgefühl abhandengekommen ist, als ich meinen Kopf an ihre Schulter lehne. »Mhm, später«, brumme ich gegen ihren Hals, schließe für einen Moment meine Augen und genieße schlicht ihre Nähe. Juli hält mich fest und erschaudert, als meine Hände auf Wanderschaft gehen. Ich weiß nicht warum, aber ich habe das dringende Bedürfnis ihre Haut unter meinen Fingern zu spüren, weshalb ich meine Hände unter ihr T-Shirt schiebe und mit kleinen Kreisen beginne, ihren Rücken zu erforschen. Juli hält ihren Atem an, als eine Hand von ihrem Rücken zu ihrem Bauch wandert und atmet leise lachend aus, als ich ihr in die Seite, zwischen zwei Rippen, pikse und somit die Spannung entlade. Grinsend sehe ich sie an, schubse sie sanft von meinem Schoß, sodass sie jetzt in meinem Bett liegt. Ich setze mich auf sie, bevor sie sich wieder aufsetzen kann und beginne, sie erbarmungslos zu kitzeln. »Pause«, keucht Juli nach einem Moment und hält sich grinsend den Bauch und mir kommt der Gedanke, dass in diesem Zimmer noch nie so viel gelacht wurde. Ich beuge mich zu ihr und küsse sie hart, voller verborgenem Verlangen, von dem ich bis jetzt nicht wusste, dass ich es habe und Julis Hände krallen sich in meinen Rücken, halten mich in Position, als ich mich zurückziehen will. »Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt gehen lasse«, murmelt Juli und dreht uns so, dass ich nicht länger auf ihr bin, sondern unter ihr liege. Bevor ich ihr antworten kann, liegen ihre Lippen schon wieder auf meinen und mein Herzschlag verdoppelt sich, als ihre Hände unter mein T-Shirt fahren. Ich möchte unter ihren Berührungen zerfließen und versuche gar nicht, sie aufzuhalten, als Juli mich in eine sitzende Position zieht und mir mein T-Shirt über den Kopf zieht. Juli lässt mir keine Zeit, etwas zu sagen, Zweifel zu äußern, denn sofort liegen ihre Lippen wieder auf den Meinen und verführen mich. Lassen mir keine Zeit, meine Gedanken zu sortieren, weil eine Gefühlsexplosion die Nächste jagt. Erst als sich Julis Hände auch meines Sport-BHs entledigen wollen, halte ich sie auf. Nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich es für den falschen Zeitpunkt halte. »Bist du dir sicher, dass du das jetzt tun willst?«, frage ich zwischen zwei Küssen und streiche Juli eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht, als sie innehält und mich ansieht, als sei ich verrückt geworden. »Wir haben alle Zeit der Welt dafür«, schiebe ich leise hinterher. »Haben wir das?«, fragt Juli mich überraschend sarkastisch, geht von mir herunter und setzt sich am Fußende, an den Rand meines Bettes. »Wer garantiert mir, dass du dich nachher nicht wieder umentscheidest und mich aus Allem aussperrst?« Obwohl es nicht sehr hell ist, sehe ich das Julis ganzer Körper zittert. Ich rutsche neben sie, ergreife ihre Hand und spüre ihre Tränen auf meiner Haut, als ich Juli in meine Arme ziehe und fest an mich drücke. »Romy, bitte schmeiß mich nicht raus aus deiner Welt. Lass mich diese Scheiße mit dir durchstehen. Ich glaube nicht, dass ich es noch einmal schaffe, zu sehen, wie du mir die kalte Schulter zeigst«, murmelt Juli irgendwann gegen meine Schulter, als ihre Tränen versiegt sind und drückt sich etwas von mir, um mich anzusehen. Ich seufze, ziehe Juli zurück in meine Arme und presse meine Lippen auf ihren Haarschopf. »Alles was hier zwischen uns geschieht, muss in diesem Raum bleiben. Außerhalb muss ich dieses Schauspiel fortführen. Ansonsten habe ich nicht vor, dich wieder aus meinem Leben auszuschließen.« Ich könnte es gar nicht mehr, füge ich gedanklich hinzu. Eine Weile schweigen wir und ich halte Juli fest in meinen Armen. »Und was ist mit dieser Nina?«, durchbricht Juli mit einer Frage die friedliche Stille, die mich beinahe ins Land der Träume befördert hätte. »Die steht auf meine Schwester, wenn ich das nicht falsch interpretiert habe«, erwidere ich und bin erstaunt, wie schläfrig ich mich anhöre. »Und der Kuss?«, hakt Juli skeptisch nach. »Bedeutungslos. Ein Versuch von Nina, der fehlgeschlagen ist«, erkläre ich und ziehe uns zurück in eine liegende Position. »Was für ein Versuch?«, fragt Juli und stützt ihren Kopf mit einer Hand ab, um mich besser ansehen zu können. »Dein Interesse an mir, schwinden zu lassen.« »Na das hat ja sehr gut funktioniert«, grinst Juli mich an. »Ich würde dieser Sache, die sich da zwischen uns entwickelt, gern eine echte Chance geben und dich, sobald die Sache mit Paul vorbei ist, auf ein Date einladen und wenn ich ein Herz hätte, würde ich dir jetzt sagen, dass ich glaube, dass ich mich in dich verliebt habe. Was bin ich ohne mein Herz?« Die Wörter sind einfach aus mir herausgesprudelt, ohne dass ich groß über ihre Bedeutung nachdenken konnte. »Du hast doch meins, oder hast du das schon vergessen?«, fragt Juli leise und beugt sich vor, um mich sanft zu küssen. »Was wäre ich nur, ohne dich?«, frage ich seufzend zurück und lehne meine Stirn an die Ihre. Mir geht es besser, seit ich weiß, dass Juli die Wahrheit kennt und nach jener Nacht in meinem Zimmer, kann ich Juli aus meinem Zimmer kaum noch wegdenken. Jede freie, unbeobachtete Minute verbringen wir zusammen und Martha passt auf, dass uns keiner erwischt. Leider besteht Juli aber darauf, dass wir nicht nur faul in meinem Bett liegen und kuscheln, sondern auch etwas für die Schule tun und unsere Texte für das Schauspiel lernen. Weil Juli im Internat bleibt, bin ich an keinen der beiden Wochenenden nach Hause gefahren, als ich die Gelegenheit hatte und vermutlich liegt es auch ein bisschen an meiner rosaroten Brille, dass ich es nicht gleich erfahren habe. Erst gestern habe ich, bei unserem allabendlichen Telefonat herausgefunden, dass ich die Farce einstellen kann, weil Paul von meiner Anzeige und von meiner neuerlichen Haltung Wind bekommen hat. Woher, kann mir Nina nicht sagen und auch Uschi kann nur Vermutungen anstellen, als ich sie kurz nach Ninas Anruf anrufe. »Vielleicht hat er echt ein paar Maulwürfe bei den Bullen. Wobei, wenn du zu einer Aussage vorgeladen wirst, muss dort drinstehen, weswegen sie dich verhören wollen?« Mir ist jedenfalls nicht wohl dabei, dass er jetzt Bescheid weiß. Warum kann ich nicht erleichtert sein und mich freuen, dass ich jetzt auch öffentlich mit Juli reden kann und versuchen kann, die Freundschaft von Rati und Uma zurückzugewinnen? Nicht, dass Juli und ich uns in aller Öffentlichkeit küssen können, wir sind immer noch in einer katholischen Schule, aber dennoch sollte ich mich wenigstens ein bisschen freuen, oder? Tief in mir weiß ich, dass ich mich erst freuen kann, wenn Paul in U-Haft ist. So lange er auf der Flucht vor der Staatsgewalt ist, kann er uns immer noch gefährlich werden. Nachdem Abend, an dem Nina mir das erzählt hat, sitze ich am Tag darauf in meinem Zimmer und überlege, ob ich das kommende Wochenende wieder im Internat bleibe. Nachdenklich hebe ich meinen Kopf von einem englischen Text und sehe Martha an, die mir gegenüber, auf dem leeren Bett sitzt und mir, gemeinsam mit Juli, mit Englisch hilft. »Was würdest du an meiner Stelle machen? Hierbleiben oder trotz der Gefahr, Paul zu begegnen, nach Hause fahren?« »Meine Eltern wollen dich kennenlernen«, wirft Juli ein, bevor Martha auch nur ihren Mund öffnen kann. Irritiert sehe ich zu Juli, die neben mir auf meinem Bett sitzt. »Was, du hast ihnen von mir erzählt? Von uns?« »Nicht direkt«, schüttelt Juli ihren Kopf. »Aber nachdem du schwer verletzt bei mir im Zimmer lagst, musste ich ihnen erklären, warum mich dein Zustand so mitgenommen hat.« »Also dieses Wochenende?«, frage ich zögernd und will mich im nächsten Moment dafür Ohrfeigen. Ein allzu dringendes Bedürfnis empfinde ich nämlich nicht, ihre Eltern kennenzulernen, nachdem ich das Zimmer ihrer Tochter mit meinem Blut beschmutzt habe. »Klar, wenn du Bock hast, könnten wir das dieses Wochenende machen und es so organisieren, dass meine Eltern dich bei dir zu Hause abholen und wieder hinbringen. Dann kann dir schon einmal niemand auflauern, auf dem Weg zu mir nach Hause.« Ich nicke und überlege. Uschi und Ralf wollen mich abholen kommen, wenn ich das Wochenende nach Hause fahre. »Wie kommst du nach Hause, wenn wir dieses Wochenende fahren? Können dich deine Eltern abholen?« »Vermutlich mit der Bahn«, erwidert Juli. »So kurzfristig können meine Eltern sich nicht von ihren Jobs loseisen. Warum fragst du?« »Weil wir dich doch mitnehmen können. Warte, ich teile Uschi eben mit, dass ich kommendes Wochenende heimfahre und frage gleich, ob sie dich mitnehmen können.« Ich ziehe mein Smartphone aus der Hosentasche und warte mit dem Anruf bei Uschi nicht darauf, dass Juli mir antwortet. »Hey Uschi, ich dachte daran, das kommende Wochenende heimzufahren, könnt ihr mich abholen?«, frage ich direkt, als Uschis Stimme erklingt. »Klar«, setzt Uschi an und ich höre es an ihrer Stimme, dass sie noch etwas fragen will. Weshalb ich sie eilig unterbreche. »Und können wir Juli mitnehmen? Sie muss sonst mit der Bahn fahren.« »Die Juli, die diese Unglaublichen-« »Genau die«, unterbreche ich Uschi. »Wie kommt es, dass wir noch nichts davon wissen, dass du dich wieder mit ihr abgibst?«, fragt Uschi und klingt amüsiert. »Aber ja, ich wüsste nicht, was dagegen spricht.« »Hat sich irgendwie nicht ergeben«, weiche ich einer vernünftigen Antwort aus und zwinkere Juli zu. Die vernünftige Antwort wäre nämlich, dass ich mit Knutschen beschäftigt war, während meiner Freizeit und das wäre Uschi gegenüber unfair. »Erst nachdem du erfahren hast, dass du mit dem Schauspiel aufhören kannst oder schon davor?«, fragt mich Uschi neugierig und ich kann mir ihr breites Lächeln, welches ihr Gesicht gerade bestimmt ziert, bildlich vorstellen. »Schon davor. Man hat mich beim Telefonieren belauscht«, erwidere ich und grinse in Marthas Richtung, die mich entschuldigend ansieht. »Wann werdet ihr da sein?« »Ich muss erst mit Ralf reden. Sobald ich mit ihm gesprochen habe, texte ich dir die Details, okay?« Nach dem Telefonat mit Uschi verzieht sich Martha in ihr Zimmer und Juli schließt hinter ihr die Tür ab. »Wann warst du das letzte Mal in deinem Zimmer?«, frage ich sie grinsend, als Juli sich zu mir herumdreht. »Vielleicht sollten wir Frau Kramer fragen, ob du das freie Bett haben darfst. Du bist in deinem Zimmer doch auch alleine?« »Das würde dich freuen, hm?«, fragt Juli mich lächelnd und setzt sich neben mich auf mein Bett, nachdem sie meine Englischsachen auf den Schreibtisch umgesiedelt hat. »Ja, sehr. Denn ich vermisse dich in jeder Nacht, die du nicht neben mir liegst«, sage ich, ergreife Julis Hand und küsse ihre Fingerspitzen. »Oh Romeo«, haucht Juli und ich schaue sie böse an. »Erinnere mich nicht an dieses Stück. Es reicht schon, dass wir morgen Nachmittag wieder proben müssen«, stöhne ich genervt. »Hasst du es noch immer so sehr?« Nachdenklich schüttle ich meinen Kopf. »Hass ist ein starkes Wort«, versuche ich mich an einer Erklärung und sehe sie ernst an. »Ich hasse die Typen, die mich Tag für Tag gemobbt haben und schließlich ins Krankenhaus geprügelt haben, weil ich nicht wie sie war. Weil ich mit fünf Anderen, die einzige Deutsche in der Klasse war. Ich hasse meine Schwäche, die mich dazu gebracht hat, mich den Möchtegern-Nazis anzuschließen und ich hasse das Konzert, auf dem ich Paul kennengelernt habe. Das ist Hass. Alles Andere, nur eine Abneigung.« Juli sieht mich interessiert an. Als ob sie mich etwas fragen möchte, sich aber nicht traut, es laut auszusprechen. »Besonders das Ende mag ich nicht. Mir tun die Beiden leid und ich will nicht sehen, wie du tot vor mir liegst. Auch wenn es nur geschauspielert ist«, erkläre ich und plötzlich erinnere ich mich wieder an diesen furchtbaren Traum, den ich vor einigen Wochen hatte. In dem Juli leblos unter mir lag, weil ich sie erstochen hatte. »Was hast du?«, fragt Juli mich und sieht mich besorgt an. Ich ziehe sie in eine Umarmung und drücke sie fest an mich. »Ich musste an einen Traum denken«, flüstere ich. »Es war ein unschöner Traum«, erkläre ich und zögere einige Sekunden, bevor ich ihr den Traum beschreibe. »Ich bereue jede Sekunde, in der ich dich wie Dreck behandelt habe. Ich habe dich das noch nie gefragt, aber verzeihst du mir?« »Wäre ich sonst hier?«, lächelt Juli und küsst mich. Kapitel 17: Kapitel 16. ----------------------- Mit vollgepackten Reisetaschen, sitzen Juli und ich, gemeinsam mit Martha, Rati und Uma im Schatten des Internatsgebäudes, auf einer steinernen, kleinen Mauer und warten darauf, dass unsere Taxis eintreffen. Die Geschwister haben mir sehr schnell verziehen. Haben mich angegrinst und mir erklärt, dass sie mir mein Schauspiel nie abgekauft haben. Nicht gerade eine tolle Bestätigung für mein schauspielerisches Ego und dennoch bin ich froh, dass sie es mir nicht schwerer gemacht haben. »Viel Spaß. Macht keinen Mist, zu Hause. Bis Sonntag«, verabschieden sich die Beiden von Martha, Juli und mir und verschwinden ins Gebäude, zum Vesper. Juli und ich sitzen sittsam nebeneinander und versuchen in der Öffentlichkeit nicht allzu offensichtlich zu zeigen, dass wir mehr als nur Freunde sind. Zum Einen, weil wir uns eben in einem katholischen Internat befinden und zum Anderen, weil wir kein Gerede oder Anfeindungen provozieren wollen. »Es fühlt sich an, als wäre ich erst gestern hier angekommen«, murmle ich und blicke in den bewölkten Himmel, als Martha in das Auto ihrer Familie steigt. Juli winkt und auch ich hebe meine Hand zum Abschied. »Ich war ziemlich überrascht, dich hier zu sehen«, erinnert sich Juli, als wir den Rücklichtern nachsehen, bis sie um die Ecke biegen. »Und du hast Frau Kramer gleich auf die Nase gebunden, was für Eine ich bin, hm? Wegen dir habe ich extra Benimmregeln bekommen«, erzähle ich Juli und grinse sie an. »Was? Nein, ich habe Frau Kramer nichts erzählt«, erwidert Juli und sieht mich verblüfft an. »Aber woher wusste sie dann von meiner Einstellung? Die Deppen vom Jugendamt sollten eigentlich nichts davon wissen.« »Bist du dir da sicher?«, fragt Juli und ich kann nicht hundertprozentig sagen, dass ich mir sicher bin. Aber hätte man meine Eltern dann nicht darüber informieren müssen? Denn die waren definitiv unwissend, bis sie mich im Krankenhaus abgeholt haben. »Und die anderen Schülerinnen? Ich weiß doch, wie sie mich angesehen haben und es immer noch tun.« »Das war ich. Meine Schuld«, nickt Juli und spricht flüsternd weiter: »Aber Frau Kramer oder den Lehrern habe ich nichts erzählt. Stell dir vor, ich hätte von dem Asylantenheim erzählt, meinst du nicht, man hätte schon längst die Polizei alarmiert? Die suchen nämlich noch immer die Leute, die für diesen Brand verantwortlich sind.« »Wenn nicht du«, beginne ich und der Gedanke lässt mich erschaudern, »dann gibt es hier mindestens noch eine Person, die über meine Vergangenheit Bescheid weiß, wenn es nicht doch das Jugendamt war.« Juli starrt mich an und ich sehe in ihren Augen, dass die Idee auch in ihr Unwohlsein hervorruft. »Lass uns über etwas anderes reden«, murmelt Juli und rutscht näher zu mir. Ich kann sie verstehen, mich beunruhigt der Gedanke auch, denn was, wenn diese Person Kontakt zu Paul hat oder herstellen kann? »Seit wann wissen deine Eltern eigentlich, dass du lesbisch bist, das bist du doch?«, stelle ich leise eine Frage, die mich schon länger beschäftigt, nur habe ich nie einen passenden Moment gefunden, um sie Juli zu stellen. »Und seit wann wusstest du es?«, schiebe ich hinterher, weil ich selbst nie etwas geahnt habe, bis Juli in mein Leben getreten ist. Auch wenn Uschi sagt, dass ich auf Konzerten immer nur Augen für die Frauen hatte. Juli sieht mich an, als ob sie sich nicht sicher ist, ob das Thema besser ist. »Seit ungefähr zwei Jahren. Ich war in eine ehemalige Mitschülerin unglücklich verliebt und habe meiner Mutter ganz aufgelöst davon erzählt, als mir die Mitschülerin einen Vogel gezeigt und mir erklärt hat, dass Mädchen nur mit Jungen gingen. Ich hab gar nicht daran gedacht, dass es falsch sein könnte, weshalb ich ja so aufgelöst war. Meine Mutter hat mich dann getröstet und mir gesagt, dass es völlig egal ist, ob Mädchen oder Junge, so lange ich mir sicher bin. Mein Vater hat es nicht so locker hingenommen und hofft glaube ich immer noch, dass ich irgendwann einen Schwiegersohn nach Hause bringe und alles nur eine Phase ist«, erzählt Juli in derselben, gedämpften Lautstärke und ich bin echt baff, dass Julis Eltern kein großes Fass aufgemacht haben, wenn ich daran denke, was man in den Medien über Ehrenmorde und Zwangshochzeiten hört. »Du siehst überrascht aus«, lächelt Juli und stößt mich spielerisch an. »Du darfst nicht vergessen, dass meine Familie schon lange in diesem Land lebt und um einiges angepasster ist, als andere Menschen aus meinem Land.« Wir blicken zeitgleich zur Auffahrt, als wir Motorgeräusche hören, die sich dem Internat nähern. »Sind sie das?« »Ja, endlich«, nicke ich. Ich könnte Ralfs Klapperkiste unter tausend anderen Autos wiedererkennen. Erfreut springe ich auf und winke meinen Freunden und schnappe mir Julis und meine Tasche und eile zu dem Auto, das gerade erst angehalten hat. Bevor Ralf auch nur aussteigen kann, habe ich den Kofferraum geöffnet und unsere Taschen in den Kofferraum geschmissen. Juli taucht zögernd neben mir auf, als ich die Autotür öffne und bevor sie mir widersprechen kann, scheuche ich sie auf die Rückbank und folge ihr. »Endlich seit ihr da«, begrüße ich meine beiden Freunde und sehe zu Juli und deute nach vorne.«Darf ich vorstellen, Uschi und Ralf.« Ralf dreht sich zwinkernd zu Juli um und hält ihr seine Hand hin. »Ich bin Uschi und meine Freundin ist Ralf, alles klar?« »Alles gut«, grinst Juli, ergreift seine Hand und sieht von Ralf zu Uschi und zurück. »Freut mich, euch endlich kennenzulernen, ich bin Juliet. Danke, dass ihr so einen guten Einfluss auf Romy habt.« »Juli den größten Einfluss hast du, wir sollten also dir danken«, erwidert Ralf und sieht mich ernst an, bevor er wieder nach vorne sieht und den Motor startet. Durch den Rückspiegel sieht er mich fragend an. »Direkt zu dir nach Hause?« Ich nicke lediglich und Ralf bedeutet mir, mich anzuschnallen. Julis Eltern holen uns morgen früh, bei mir zu Hause ab. »Habt ihr wieder das Gästezimmer?«, frage ich, um die Stimmung, die etwas steif ist, zu lockern. Uschi dreht sich zu mir um und grinst, als sie sieht, wie Juli meine Hand ergreift und festhält, als Ralf seinen Wagen auf die Straße bringt. »Natürlich, außer du willst, dass wir bei dir im Zimmer pennen? Nina pennt übrigens bei Lari. David meint, Nina sei mittlerweile bei euch zu Hause Stammgast, weißt du, was da läuft?« »Vielleicht«, nicke ich grinsend, gebe aber nichts weiter Preis. Weil es Ninas Sache ist und ich nicht sicher sagen kann, was Lari an Nina findet, denn so weit ich weiß, interessiert sich meine Schwester eher für Jungs. Allerdings ist es wirklich seltsam, wie schnell sich die Beiden verstanden haben, als Nina das erste Mal bei mir zu Hause war. »Paul wurde seit einigen Tagen nicht mehr in der Stadt gesehen, was ein gutes Zeichen ist, aber an eurer Stelle würde ich dennoch nicht alleine durch die Straßen ziehen«, wechselt Uschi das Thema und Ralf sieht mich durch den Rückspiegel warnend an. Als er wieder auf die Straße sieht, blicke ich zu Juli, die meine Hand festdrückt, als ob sie mir sagen will, dass wir das schon schaffen. »Hatten wir nicht vor«, erwidere ich und drücke Julis Hand meinerseits kurz. »Habt ihr irgendetwas geplant, so lange ihr in der Stadt seid?« Meine Freunde erzählen uns von ihren Plänen und ich rede ununterbrochen mit ihnen, irgendwann nur noch über Belanglosigkeiten. Juli hält sich zurück und sieht die meiste Zeit aus dem Fenster. Eigentlich habe ich sie nicht so schüchtern eingeschätzt. Weil Uschi gerade einen Monolog über Wickeltaschen hält, beuge ich mich zu Juli und küsse sie sanft auf den rechten Mundwinkel, weil ich es nicht ganz zu ihren Lippen schaffe. Julis Augen funkeln, als sie mich ansieht und am liebsten würde ich sie noch einmal küssen, als ich die Röte auf ihren Wangen entdecke. Statt Julis Lippen, küsse ich Julis Handrücken und spüre, dass sie sich langsam in der Gegenwart meiner Freunde entspannt, auch wenn sie noch immer nichts sagt. »Hey ihr Turteltauben«, grinst Ralf in den Rückspiegel und ich bemerke verspätet, dass Uschis Monolog schon lange vorüber ist. War ich so lange mit Julis Handrücken beschäftigt? Juli will ihre Hand aus meiner ziehen und sieht verlegen aus dem Fenster. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was ich getan habe und ihre Hand loslasse. »Wir sind gleich da. Wollt ihr noch irgendwo halten und etwas einkaufen?« »Ich glaube, du solltest auf direktem Weg zu Romy nach Hause fahren, sonst vernascht sie Juli noch auf deiner Rückbank«, grinst Uschi ihn an und ich spüre, wie die Hitze auch in meine Wangen fährt. »Brauchst du etwas?«, frage ich Juli tapfer und sehe, wie sie ihren Kopf schüttelt, ohne mich anzusehen. »Nein, wir brauchen nichts, Ralf. Du kannst direkt zu mir fahren, sofern ihr nichts mehr braucht.« Zehn schweigsame Minuten später, in denen ich aus dem Fenster gestarrt habe, parkt Ralf vor meinem Zuhause und ich hole Juli und meine Tasche aus dem Kofferraum. Die Haustür steht weit offen und Papa strahlt Juli entgegen. »Es ist schön, dich wieder hier zu haben«, begrüßt Papa Juli, bevor er zu mir blickt. Ich verschließe den Kofferraum und folge allen ins Haus. »Deine Mutter ist noch unterwegs. In zwei Stunden gibt es Abendessen. Richtet euch so lange gut ein, okay?« Wir gehen alle gemeinsam die Treppen hinauf und verabschieden uns mit einem Nicken von Ralf und Uschi, die sich ins Gästezimmer zurückziehen. »Und was denkst du?«, frage ich Juli, als ich meine Zimmertür hinter uns ins Schloss drücke und die Taschen achtlos neben mir auf den Boden abstelle. »Worüber?«, fragt Juli mich zerstreut und sieht mich noch immer nicht an. Warum sieht sie mich nicht an? Die Tür abschließend, was zu einer Angewohnheit geworden ist, seit Juli regelmäßig nach dem Unterricht in meinem Zimmer ist, drehe ich Juli meinen Rücken zu und frage mich, ob ich irgendetwas falsch gemacht habe. »Über Uschi und Ralf natürlich«, lächle ich und gehe auf Juli zu und ergreife ihre Hand. »Seit wann bist du so schüchtern?« Juli antwortet mir nicht verbal. Sie zieht mich in eine Umarmung und küsst mich stürmisch, drückt mich zu meinem Bett und schubst mich sanft darauf. »Frag mich das noch einmal, wenn ich sie näher kennengelernt habe«, murmelt Juli gegen meine Lippen und küsst mich, bevor ich etwas darauf erwidern kann. Küsst mich voller Verlangen. Küsst mich so, dass mein Denkapparat aussetzt und ich mich fest in Julis Rücken kralle. Bevor mehr geschehen kann, klopft es an meiner Zimmertür und Juli knurrt gegen meine Lippen. »Wenn du immer noch warten willst«, flüstert Juli, »dann mach mich nicht noch einmal so verrückt nach dir, wie im Auto.« »Es war nicht meine Absicht«, murmle ich. »Ich habe mich hinreißen lassen. Uschis Monolog war so langweilig. Allerdings habe ich nie etwas davon gesagt, dass ich warten möchte, ich hielt nur den Zeitpunkt nicht für perfekt, als wir uns ausgesprochen haben.« Erneut klopft es an meiner Zimmertür und Juli will von mir steigen, doch ich halte sie fest, ziehe sie zu mir und küsse sie heftig. Als ich den Saum ihres T-Shirts, zufassen bekomme, überlege ich nicht lange und ziehe es ihr über den Kopf. Dabei stelle ich enttäuscht fest, dass sie einen BH trägt - soviel zu verboten, grinse ich in mich hinein. »Ignoriere das Klopfen einfach«, hauche ich in ihr Ohr und drehe mich so, dass sie von mir rutscht und wir nun Beide auf der Seite liegen. »Was wird das?«, flüstert Juli, als ich ihren Bauch streichel und viele, kurze Küsse auf ihrem Hals verteile. »Wonach sieht es denn aus?«, frage ich zurück und Juli lächelt mich an, als es abermals klopft und schüttelt ihren Kopf. »Mach auf, wir haben noch genügend Zeit, das hier fortzuführen.« Bevor ich protestieren kann, hat sie ihr T-Shirt wieder angezogen und mich sanft aus dem Bett gestoßen. »Kalte Füße bekommen, hm?«, grinse ich, beuge mich zu ihr und küsse ihre Nasenspitze. Schmunzelnd schüttelt sie ihren Kopf und deutet zur Tür. Ergeben nicke ich und gehe zur Tür. »Ihr wisst, dass ihr stört?«, frage ich und blicke in die Gesichter von Lari und Nina, als ich die Tür aufgeschlossen und geöffnet habe. Nina sieht mich entschuldigend an und wird rot, als ich ihr bedeutungsschwer zuzwinkere und sie versteht, was Lari und sie gerade unterbrochen haben. »Bei was denn?, fragt Lari, sieht mich ahnungslos an und drückt sich an mir vorbei ins Zimmer, um Juli mit einer Umarmung zu begrüßen. »Schön, dass du wieder hier bist, Juli.« Kopfschüttelnd lasse ich Nina an mir vorbei und schließe die Tür grinsend, als ich Julis feindseligen Blick gegenüber Nina bemerke. »Nina, das ist Juli«, stelle ich vor und deute auf Juli, bevor ich Juli ansehe und auf Nina deute. »Nina.« »Freut mich«, grinst Nina und ich ergreife die Hand meiner Schwester und ziehe sie unter Protest in mein Badezimmer. Nina und Julis verwirrte Blicke folgen uns. »Sag, was macht Nina ständig bei dir?«, frage ich meine Schwester neugierig und setze mich an den Rand der Badewanne. »Und deswegen ziehst du mich hier rein?«, fragt Lari verwundert. »Sie ist mein Kontakt zu dir, da Mama und Papa mir noch immer kein Facebook erlauben und mein Handyguthaben schon lange leer ist.« »Sonst nichts?«, frage ich irritiert und zucke bedeutungsvoll mit meinen Augenbrauen. »Wie lange kommt sie jetzt schon täglich hier her? Fast zwei Monate? Und da gibt es keinen anderen Grund?« Lari schaut mich ungehalten an. »Wir verstehen uns eben gut. Hören viel Musik, reden und seit ein paar Tagen, bringt sie mir Gitarre spielen bei.« »Okay, vergiss, dass ich gefragt habe«, seufze ich und will wieder in mein Zimmer gehen, als Lari mich an meinem Arm zurückhält. »Warum fragst du, hat Nina etwas zu dir gesagt?« In mich hinein lächelnd, gehe ich ohne ein weiteres Wort zurück in mein Zimmer, wo Nina und Juli augenblicklich verstummen und ich werde das unangenehme Gefühl nicht los, dass ich bis eben, das Thema war. »Na, genug über mich gelästert?«, frage ich und grinse die Beiden an und bin froh, dass Juli Nina nicht erwürgt hat. Beim Abendessen hat Mama den Küchentisch ausgezogen und ich sitze zwischen Lari und Nina, während Juli zwischen Uschi und Ralf sitzt. Mama und Papa sitzen jeweils am Kopfende des Tisches. »Wie läuft es in der Schule?«, fragt Papa mich neugierig. »Geht so. Ihr bekommt zwei Wochen vor den Weihnachtsferien noch eine Einladung zu unserem Schauspiel«, erzähle ich und Mama schaut mich interessiert an. »Nina hat uns schon etwas davon erzählt. Spielst du da nicht eine Hauptrolle? Mal sehen, ob wir uns dafür freinehmen können, Liebes.« »Ihr müsste«, begehrt meine Schwester auf. »Ich will Romy und Juli unbedingt sehen, wie sie Romeo und Juliet aufführen.« Papa lacht und Mama grinst mich an, als sie den Titel des Schauspiels hören. Uschi, Ralf und Nina wollen sich das Schauspiel definitiv ansehen. »Wenn ihr euch nicht freinehmen könnt, können wir Lari ja mitnehmen«, schlägt Uschi vor, als Lari ihren Kopf hängen lässt. Als Mama den Tisch abräumt, schaut Papa mich ernst an. »Heute früh, hat jemand vom Staatsschutz angerufen. Sie wissen nicht, wo sich Paul im Moment aufhält, nur das er gefährlich ist. Ihr sollt keinen Schritt alleine tun und euch am besten immer von einem von uns fahren lassen. Die Polizei wird vermehrt Patrouille fahren in unserem Teil der Stadt, aber sie kann eben nicht überall sein. Also seit bitte vorsichtig. Ihr alle.« Als er jeden von uns ernst angesehen hat, lächelt er wieder. »Irgendwelche Pläne, für den Abend?« »Meine Band spielt heute Abend im Jugendzentrum. Habt ihr Bock, hinzugehen?«, platzt es aus Nina heraus, bevor wir etwas sagen können. Ich nicke und sehe zu Nina. »Ich würde euch gerne einmal mit Instrumenten erleben. Deine Singstimme ist ja schon toll. Allerdings kann ich nicht für uns alle entscheiden, was wir machen.« »Sorry, wir stehen nicht so auf Punkrock«, entschuldigt Uschi sich und Ralf. »Außerdem ist heute Mitternachtsschwimmen im Erlebnisbad, da wollten wir hin.« »Yo, ist nicht schlimm«, murmelt Nina und sieht zu Lari. »Was ist mit dir?« »Ich darf so spät nicht mehr weg«, erwidert Lari traurig. »Wenn ich euch bringe«, wirft Mama überraschend ein. »Und wieder abhole, wäre es okay, Larissa.« »Was ist mit dir«, frage ich Juli. »Hast du Bock?« Juli zuckt mit den Schultern. »Ich bin ein bisschen müde, aber wenn du hin willst, können wir gerne gehen. Ich hab nichts gegen ein gutes Konzert.« Ich will nicht, dass sie sich zwingt, aber will auch nicht am Tisch noch einmal fragen, ob sie sich sicher ist. »Wann musst du los, um pünktlich anzukommen?«, fragt Mama Nina und blickt auf die Uhr, bevor sie das Geschirr in die Spülmaschine räumt. »Es ist jetzt kurz nach 19 Uhr.« »Wir fangen um 21 Uhr an und spielen bis Mitternacht. Also müssten wir spätestens eine halbe Stunde vor Konzertbeginn da sein, weil ich mit meinen Bandkollegen die Instrumente checken muss und ihr euch Tickets kaufen müsst. Keine Sorge, die kosten kein Vermögen. Ich glaub einen Fünfer plus ein Freigetränk.« »Dann will ich, dass ihr viertel nach Acht im Auto sitzt«, lächelt Mama und sieht zu Papa. »Lust, auf ein Konzert?« »Und meinen Töchtern die Lust nehmen, da hinzugehen? Liebes, ich glaube nicht, dass dort Erwachsene erwünscht sind. Aber wir können, ein paar alkoholfreie Cocktails trinken gehen, bis wir die Kinder wieder aufsammeln.« Als meine Zimmertür hinter mir ins Schloss fällt, sehe ich Juli ernst an. »Wenn du keine Lust hast, können wir auch hier bleiben.« »Nein, ist schon okay«, lächelt sie mich an. »Ich bin nur ein bisschen besorgt, dass wir Bekannten von dir begegnen könnten.« »Ich glaube nicht, dass die auf ein Punkrockkonzert gehen, was auch noch vom örtlichen Jugendverein unterstützt wird.« Ich stehle mir einen Kuss und öffne meinen Kleiderschrank und krame ein paar meiner alten Klamotten hervor, als es an meiner Tür klopft. »Machst du auf?«, frage ich Juli und inspiziere meine Klamotten. Ich blicke flüchtig zur Tür und sehe wie Nina ins Zimmer kommt. »Romy, ich muss mit dir reden.« »Tust du doch schon. Wo brennt es denn?« »Können wir das nicht unter vier Augen besprechen?« Ich halte inne und sehe Nina an. »Geht es um meine Schwester?« »Erinnerst du dich, dass du mir versprochen hast zu reden? Leider bist du an dem Wochenende nicht nach Hause gefahren«, seufzt Nina leise. Ich denke kurz nach und erinnere mich schließlich, wie Nina mir von ihrer Vermutung erzählt hat. »Rede einfach mit Lari«, grinse ich und setze mich auf mein Bett. »Oder küss sie heute Abend einfach, wenn wir wieder zu Hause sind.« »Das ist nicht hilfreich«, seufzt Nina und sieht von mir zu Juli und zurück. »Woher wusstest du, dass du auf sie stehst, dass du mit ihr zusammen sein willst?« Neugierig sieht nun auch Juli zu mir und grinst mich an. »Nachdem sie mich flachgelegt hat, war mir alles klar«, sage ich und weiß, dass es eine Lüge ist, schließlich ist noch nicht geschehen. Ich kann keinen vernünftigen Moment benennen, weiß nur, dass Juli mir unter die Haut geht. »Vielleicht solltest du das mit Lari langsamer angehen«, schmunzel ich und sehe zu Juli, deren Augen mir sagen, dass ich nicht lügen soll. »Nina, sprich mit Larissa. Sie vergöttert dich und wird dir ihre Freundschaft nicht kündigen, nur weil du auf sie stehst.« »Das hast du gut gemacht«, flüstert Juli, als Nina gegangen ist und setzt sich neben mich. »Warum hast du ihr nicht die ganze Geschichte erzählt, anstatt sie zu belügen?« Ich seufze und drücke meine Stirn an ihre. »Weil ich noch immer nicht weiß, was du mit mir machst, Juli. Du gehst mir unter die Haut, ich will dich jede Sekunde, mit Haut und Haaren und doch weiß ich nicht, ob mich das lesbisch macht, oder ob ich nur auf dich stehe. Dich liebe«, hauche ich und Juli schaut mich mit großen Augen an. »Das ist neu«, lächelt sie dann aber und küsst mich sanft. »Kannst du ohne Herz lieben?« »Ich habe doch das Deine? Ich dachte das hatten wir geklärt. Wenn verlieben mit deinem Herzen geht, kann ich dich auch lieben. Und vergiss nicht, sobald das mit Paul vorbei ist, gehen wir aus und bis dahin, das schwöre ich dir, werde ich mir sicher sein, was ich will und was du mit mir machst. Jetzt küss mich bitte und halt mich fest«, flüstere ich und Juli küsst mich, drückt mich auf mein Bett und knurrt wütend, als es abermals an meiner Zimmertür klopft und Lari ihren Kopf ins Zimmer steckt. »Ups, entschuldigt die Störung«, murmelt sie und will die Tür schon wieder schließen, als ich Lari mit einem »Halt«, aufhalte. »Komm rein.« Juli setzt sich wieder auf und lächelt Lari entgegen, die ihr ein entschuldigenden Blick zuwirft. »War Nina eben hier? Sie meinte, sie wolle kurz mit dir reden und würde dann wieder kommen.« »Ist sie nicht wieder zu dir rüber?« »Würde ich sonst hier stehen?«, fragt Lari mich genervt und ich muss lachen. »Sorry. Vielleicht ist sie schon runter und wartet bei Mamas Auto?« Lari schüttelt ihren Kopf und sieht uns besorgt an. »Da war ich schon.« »Und bei Uschi und Ralf?«, frage ich, stehe auf und schaue für Lari in jedem Raum nach. Nina war tatsächlich verschwunden. Ich ziehe mein Smartphone aus der Hose und gehe langsam die Treppen hinab um das Erdgeschoss zu überprüfen. Ich wähle Ninas Nummer und drücke mir das Smartphone ans Ohr. Es klingelt und irgendwann hebt Nina schließlich ab. »Wo bist du?« »Weg«, murmelt Nina. »Ich musste meinen Kopf freibekommen, wenn ich heute wirklich ein Konzert geben will.« »Dann komm wieder, wir wollen gleich los. Wo bist du hin?« »Auf dem Spielplatz, wo wir uns kennengelernt haben. Ich komme öfter hierher, um nachzudenken.« Ich setze mich auf die Stufe vor der Haustür und atme die kühle Luft des Abends ein. Ich höre, wie Nina über den Kies läuft. »Ich glaube, ich habe mich in deine Schwester verliebt.« »Dann rede mit ihr, Nina. Sie hat sich große Sorgen gemacht, als du nicht wieder kamst.« »Nach dem Konzert«, erwidert Nina bestimmt und lacht leise. »Ich glaube, ich muss mir dazu Mut antrinken. Weißt du, meine Eltern sind echt konservativ. Sie finden schon den Punkrock scheiße, wenn ich jetzt noch damit komme, dass ich auf ein Mädchen stehe, dann enterben die mich.« Als ich das höre, bin ich dankbar dafür, dass meine Eltern das so locker hingenommen habe. Für Mama war das ja dann auch okay. Besser  eine lesbische Tochter, als eine Nazitochter. Nicht meine Worte, sondern ihre. »Lass dich nicht von deinen Eltern aufhalten, deine Gefühle zu ignorieren, wie ich mich von meiner Einstellung habe aufhalten lassen«, flüstere ich und spüre, wie die Tür hinter mir geöffnet wird und Juli mit Lari hinaus kommt. »Wo bist du jetzt?« »Gleich wieder bei eurem Haus. Ist deine Mama schon draußen?« »Nein alles gut, du hast noch Zeit«, erwidere ich und stehe auf. »Und Lari?« »Mhm, gerade herausgekommen.« Nina legt auf und wenige Momente später steht sie neben uns in der Auffahrt. »Sorry«, murmelt sie und sieht niemanden an. »Ich musste meinen Kopf freibekommen.« »Jetzt bist du ja da«, lächelt Lari sanft und hängt sich an Ninas Arm, die sich für einen kurzen Moment unter der Berührung versteift. Ich sehe, dass es nicht nur mir aufgefallen ist, denn Lari blickt für einen kurzen Moment nachdenklich in meine und Julis Richtung, bevor sie sich noch näher an Nina drückt. Ich grinse in mich hinein und frage mich, ob Lari sich bewusst ist, was sie Nina damit antut. Fünf Minuten später geht die Haustür ein weiteres Mal auf und Uschi kommt mit Ralf heraus. Wir verabschieden uns von einander und wünschen uns gegenseitig viel Spaß. Als sie in Ralfs Auto die Auffahrt hinab fahren, kommen auch Mama und Papa aus dem Haus. »Na husch, auf die Rückbank mit euch. Eine kann neben mir sitzen. Papa fährt mit seinem Motorrad.« Nina nimmt freiwillig den Platz vorn, neben meiner Mama, den Lari und ich wissend verschmähen. Denn Mama kann an manchen Tagen reden wie ein Wasserfall, doch heute scheint sie nachdenklich zu sein. Als wir auf dem Parkplatz des Jugendzentrums anhalten und aussteigen, hält Mama Lari kurz zurück. Als meine Schwester mit geröteten Wangen, aber sichtlich erleichtert aussteigt, frage ich mich, was Mama mit Lari zu besprechen hatte. Neugierig werfe ich Mama einen Blick zu, doch sie ignoriert mich und wünscht uns allen viel Spaß, bevor sie sich wieder in ihr Auto setzt und vom Parkplatz fährt. Kapitel 18: Kapitel 17. ----------------------- Der Partyraum ist klein, die Bühne noch kleiner und aus Holz. Es geht nicht in meinen Kopf, wie eine ganze Band auf die Bühne passen soll, wo das ganze Equipment schon kaum darauf passt. Über den Platz im Raum mache ich mir weniger Gedanken, da Boxen in anderen Räumen aufgestellt sind, damit man die Band auch dort hören kann. Jeder von uns bekommt, nachdem wir unseren Eintritt bezahlt haben, eine Flasche Bier in die Hand gedrückt und ich frage mich, ob ich Lari die Flasche wegnehmen sollte. Weil ich aber nicht als Spielverderberin dastehen will, lasse ich ihr das Bier. Wir schaffen es, uns ganz vorne an die Bühne zu stellen und beobachten von dort, wie sich der Raum immer mehr füllt. Während wir darauf warten, dass es losgeht, reden wir über belanglose Dinge. Wann immer Nina auf der Bühne auftaucht, leuchten Laris Augen und meine Neugier gewinnt die Oberhand. »Was hat Mama im Auto zu dir gesagt?« Lari spielt mit den Bändchen ihrer Kapuze und stellt die Flasche Bier am Rand der Bühne ab. »Ich soll mich nicht für meine Gefühle schämen, wenn ich sie habe und sie und Papa nicht enttäuscht von mir sind, wenn ich«, unterbricht Lari sich, schluckt und wird rot um die Nase. »Wenn ich mich, wie du, zu Mädchen hingezogen fühle. Ich schätze, ich habe in den vergangenen Wochen etwas zu sehr von Nina geschwärmt.« Ungläubig und ein wenig neidisch sehe ich meine Schwester ob der Reaktion von Mama an. Bei wir hat sie ja nicht gerade Bäume ausgerissen. Aber vielleicht hatte Mama ja etwas Zeit, darüber nachzudenken und bereut nun ihre Reaktion, mir gegenüber? »Und hat Mama recht damit?«, frage ich und mustere Lari neugierig. Meine Schwester sieht mich unsicher an und nimmt ihre Flasche Bier wieder an sich. »Vielleicht. Ich fühle mich viel zu unsicher, um genauer darüber nachzudenken.« Bevor ich meine Schwester mit einer weiteren Frage belästigen kann, beginnt die Menge zu jubeln und ich sehe, wie Nina mit dem Rest ihrer Band die Bühne betritt. Es erstaunt mich, als ich einen Blick durch den Raum werfe, dass doch so viele Menschen in diesen Raum passen. Als zackige Bässe erklingen, nippe ich erstmals an der Bierflasche und will den Schluck am liebsten wieder ausspucken. Es schmeckt schal und verdünnt. Vermutlich haben die Veranstalter das billigste Bier aus dem Discounter, für das Freigetränk besorgt. Weil ich aber Durst habe und mich nicht durch die Menge pressen will, um mir etwas anderes zu kaufen, trinke ich es notgedrungen und lausche der Musik, die so überhaupt nicht meinen Geschmack trifft. Die Menge um uns herum tobt und singt einige Texte schief mit. Juli lehnt sich irgendwann an mich und ich lege völlig automatisch einen Arm um sie. Was Juli als Einladung sieht und mich küsst, bevor sie mich ganz umarmt. Für einen Sekundenbruchteil sieht Nina mich an und ich sehe Neid in ihren Augen aufblitzen, bevor sie mich anlächelt, zu Lari sieht und den nächsten Song anstimmt. Nach drei weiteren Songs legt die Band eine Pause ein und ich nutze die Chance, mit Juli neue Getränke kaufen zu gehen. Als wir dabei an einem größeren Haufen Punks vorbeikommen, die schon sichtlich einen an der Krone haben, pfeift man uns hinterher und ich höre, wie einer der Punks einen Anderen sagt, wie heiß er Lesben findet. Mit den Augen rollend sehe ich Juli an, die mich mit einem Grinsen auf den Lippen, zu einem ziemlich sinnlichen Kuss verführt, bevor wir weiter zu unserem Platz gehen. »Sag unseren Eltern nichts davon«, raune ich meiner Schwester zu, als ich ihr einen Becher mit Colabier in die Hand drücke. Bevor Lari mir etwas entgegnen kann, grölt Nina in ihr Mikrofon und der Schlagzeuger trommelt wild. Niemand aus der Band sieht mehr ganz nüchtern aus und ich kann nur raten, was sich in Ninas Becher befindet, den sie zu ihren Füßen abstellt, nachdem sie einen mächtigen Schluck getrunken hat. Juli kuschelt sich wieder in meine Arme und je höher die Promillezahl in meinem System steigt, desto besser wird die Musik. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass die Band jetzt auch vermehrt rockige Songs spielt. In der zweiten Pause schmeißt Nina eine Runde Bier für uns, weshalb wir mittlerweile alle, durch die Bank weg, ziemlich angeheitert sind. Auch wenn es größtenteils am Alkohol liegt, war es eine gute Entscheidung, auf das Konzert zu gehen, denn ich war schon lange nicht mehr so entspannt und gelöst. Kurz vor Mitternacht spielt die Band ihren letzten Song und ich trinke Julis Bier aus, weil sie es nicht mehr will. Schwankend finden wir uns zehn Minuten nach Mitternacht auf dem Parkplatz ein, wo uns meine Mama mit einem breiten Grinsen auf den Lippen erwartet. »Na, habt ihr etwas zu tief in die Gläser geschaut?«, fragt sie und sieht Lari tadelnd an, als meine Schwester an Mama vorbei, auf einen Busch zusteuert und sich übergibt. »Wir reden morgen früh darüber, Larissa.« »Sorry«, grinst meine Schwester und schlüpft an mir vorbei, auf die Rückbank von Mamas Auto. Ich stoße Nina an, die sich neben meine Schwester in die Mitte setzt. »Vorne oder hinten?«, frage ich Juli und muss mich an ihr festhalten, um nicht umzukippen. »Vorne«, erwidert Juli und drückt mich auf die Rückbank zu Nina, bevor sie Mamas Auto umrundet und sich auf den Beifahrersitz setzt. Ich ziehe die Tür zu, schnalle mich an und muss lächeln, als ich sehe, dass Lari ihren Kopf auf Ninas Schulter abgelegt hat. Als Mama den Motor startet und die Innenbeleuchtung erstirbt, blicke ich vor zu Juli und wünsche mir plötzlich mit einer Heftigkeit, Juli all das sagen zu können, was ich in mir drin, für sie fühle, wenn ich sie ansehe. Alkohol lässt mich emotional werden, bemerke ich in meinem vernebelten Verstand und seufze lautlos. Als ich aus dem Auto aussteige und beinahe gegen Papas Motorrad stürze, stelle ich in einem klaren Moment fest, dass ich definitiv zu viel getrunken habe. Vermutlich war in Ninas Becher, den wir uns am Ende geteilt haben, Hochprozentiges. Juli hilft Lari und Nina beim Aussteigen und ich sehe Mama an, als sie die Autotür für mich zuwirft. »War dein Date mit Papa gut?« »Sehr gut, Romy«, zwinkert Mama und hilft mir zur Wohnungstür. »Schaut zu, dass ihr alle ins richtige Bett kommt.« Ich ergreife Julis Hand, als sie plötzlich neben mir steht und gemeinsam folgen wir Nina nach oben, die meine Schwester huckepack trägt. »Trägst du mich auch?«, flüstert Juli und ich grinse sie an. »Wenn du mit mir rückwärts hinabstürzen willst, dann gerne.« Oben angekommen verabschieden wir uns flüsternd von Nina und ich betrachte meine Schwester, die halb schlafend auf Ninas Rücken hängt, belustigt. In meinem Zimmer stolpert Juli zu meiner Couch und lässt sich geräuschvoll drauf nieder. Ich setze mich neben sie, nachdem ich die Tür abgeschlossen habe. »Ich habe Angst vor deinen Eltern«, murmle ich nach einer ganzen Weile, in der wir die Stille genossen haben, und erstarre. Wo kommt das denn jetzt her? Eigentlich hatte ich nicht vor, diesen Gedanken laut auszusprechen. Beschämt schließe ich meine Augen und lege meinen Kopf in den Nacken an das Polster der Couchlehne. Juli kuschelt sich an meine Seite. »Musst du nicht«, versichert sie mir und ich ergreife ihre Hand, drücke sie an meine Lippen und seufze, nachdem ich ihren Handrücken geküsst habe. »Sag, wann wusstest du, dass du das hier, mit mir, willst?« »Ich dachte schon, du fragst mich das gar nicht«, höre ich Juli sagen und ich weiß auch, ohne sie anzusehen, dass sie lächelt. »Als ich dir die Ohrfeige verpasst habe.« »Warum?«, frage ich erstaunt und kann mich noch gut an diesen Moment erinnern, als wäre es erst wenige Stunden her. »Weil du nicht zurückgeschlagen hast«, erwidert Juli schlicht und ich denke betrübt an den Moment, wo ich sie geschlagen habe. Nach einigen Momenten, in denen ich meinen Gedanken nachhänge und sie ihren, machen wir uns fürs Schlafen fertig. Am Morgen, als ich meine Augen öffne, lächle ich, weil Juli noch neben mir liegt und schläft. Im Internat ist sie immer vor mir aufgestanden und hat sich aus meinem Zimmer geschlichen, bevor ich mit Martha raus zum Laufen bin. Ich taste nach meinem Smartphone, das auf dem Boden neben meinem Bett liegt, und stelle überrascht fest, dass es schon kurz nach Acht ist. Weil ich nicht das Risiko eingehen will, beim morgendlichen Joggen Paul zu begegnen, lasse ich es ausfallen und klettere stattdessen aus dem Bett, um Duschen zu gehen, nachdem ich Juli einen sanften Kuss auf die Stirn gegeben habe. Wie das Wasser über meinen Körper rinnt, rauschen die Gedanken ziellos durch meinen Kopf und finden keinen Anker im Meer der Angst. Als mich eine Hand am Rücken berührt, zucke ich erschrocken zusammen und erstarre im nächsten Moment, als ich spüre, wie sich Juli von hinten an mich presst. Nackt. Sanft fahren ihre Hände an meinem Hals zu den Schultern und an den Armen hinab zu meinen Händen, wo ich ihre Hände ergreife und festhalte. »Du kannst mich doch nicht einfach alleine liegen lassen«, rügt Juli mich und presst ihre Lippen auf die Haut über meinem rechten Schulterblatt. »Und du kannst mich nicht einfach so erschrecken«, erwidere ich und stelle das Wasser aus, in der Hoffnung, so auch die Gedanken in meinen Kopf zu beruhigen, die so unsagbar laut sind. Ich drehe mich nicht zu Juli um, als ich tief ein und ausatme und aus der Badewanne steige. »Hattest du Freunde in dem Asylantenheim? Oder deine Eltern?«, gebe ich den Gedanken in meinem Kopf eine Stimme und ich kann Julis Enttäuschung beinahe spüren, als ich mich in ein Handtuch einwickele und ihr keinen Blick schenke, weil ich ihren Körper nicht in diesem Zusammenhang entdecken will. Ich höre wie das Wasser angeht und trete aus dem Badezimmer, um mich anzuziehen. Als Juli herauskommt, stehe ich an meinem Zimmerfenster und starre hinab in den Garten. Keiner von uns beiden spricht. Erst als Juli neben mir steht und meine Hand ergreift, wende ich meinen Blick vom Garten ab und sehe in Julis traurige Augen. »Zwei Jungen - Brüder, in meinem Alter, sie sollten am nächsten Tag mit ihren Eltern in eine Wohnung in der Stadt ziehen. Kamal und Firas. Kamal hat die Nacht nicht überlebt. Firas ist im Krankenhaus gestorben.« Ich will meine zitternde Hand aus Julis Hand ziehen und mich von ihr entfernen, doch Juli lässt das nicht zu. Lässt mich nicht los, fängt meine Tränen mit ihren Lippen auf und sieht mich ernst an. »Romy, ich habe gesehen, dass du nicht mitgemacht hast. Ich gebe dir dafür nicht die Schuld.« »Nichts hast du gesehen«, erwidere ich fest. »Ich habe Scheiben eingeworfen, damit die Anderen«, ich schlucke hektisch, weil mich ein Kloß am Weiterreden hindert und die Tränen immer mehr werden. »Ich sage nicht, dass du unschuldig bist, Romy«, flüstert Juli und küsst mich. »Aber ich weiß, dass du nicht mit deinem ganzen Herzen dabei warst und ich weiß, was ich gesehen habe, als wir uns zum ersten Mal in die Augen gesehen haben.« Juli lässt mir keine Chance, zu widersprechen. Wann immer ich dazu ansetze, verschließt sie meine Lippen mit den ihren. Seufzend gebe ich irgendwann auf und die schwermütigen, lauten Gedanken in meinem Kopf verstummen. Durch Julis Küsse und ihren geschickten Händen, die sich unter mein T-Shirt geschlichen haben, erregt, bin ich bereit, sie auszuziehen und auf mein Bett zu werfen, doch unser Timing kann schlechter nicht sein. Denn als wir vor meinem Bett stehen ich Juli gerade das T-Shirt über den Kopf ziehen will, klopft es an meiner Zimmertür. »Romy, seit ihr wach? Deine Mutter hat das Frühstück fertig«, erklingt Papas Stimme dumpf durch die Tür. »Kein Glück«, seufze ich und lehne meine Stirn gegen die von Juli, die mich schief angrinst. Als ich mich abwenden will, presst sie ihre Lippen hart auf meine und gibt mir damit das stumme Versprechen, dass wir sobald wie möglich, an dieser Stelle weitermachen werden. In der Küche treffen wir auf Mama, Nina, Lari und Papa. Uschi und Ralf sind schon ausgeflogen, habe ich mir sagen lassen. Dieses Mal sitze ich neben Juli und meine Schwester und Nina sitzen uns gegenüber. Lari sieht aus, als wäre sie in der vergangenen Nacht mehr als einmal aus dem Bett gefallen. Herzhaft gähnt sie und wirft mit finsteren Blicken um sich. Nina sieht frischer aus, auch wenn die Augenringe unter ihren Augen eine andere Sprache sprechen. »Guten Morgen. Wie habt ihr geschlafen?«, frage ich in die Runde und Lari sieht mich bitterböse an. »Hervorragend«, zischt sie und entlockt Nina damit tatsächlich ein Lächeln. »Hey, gib nicht deiner Schwester die Schuld, dass du die halbe Nacht gekotzt hast«, grinst Nina und ich gieße mir eine Tasse Kaffee ein. Juli bekommt von Mama eine Tasse Kakao gereicht. »Oh, danke schön.« »Bitte schön, Liebes«, lächelt Mama Juli an und sieht dann ernst zu meiner Schwester. »Larissa, ich habe kein Mitleid für dich. Das passiert eben, wenn man zu tief ins Glas schaut. Lass dir das eine Lehre sein.« Ich bekomme ein schlechtes Gewissen, weil ich es war, die Lari das Bier gestattet hat. Meine Schwester ignoriert Mama und knabbert schweigend an einer Scheibe Brot. Ich beginne ein Gespräch mit Papa und frage ihn, ob ich wieder einmal eine Runde mit seinem Motorrad drehen darf. Papa schaut zu Mama und dann zwinkernd zu mir. »Wenn du die Schule schaffst, ohne sitzen zu bleiben, bezahle ich dir den Führerschein. Dann kannst du so oft fahren, wie du willst.« »Wirklich?«, rufe ich aus und Lari stöhnt genervt wegen meiner Lautstärke. »Nimm eine Aspirin«, grinse ich sie an und nippe an meinem Kaffee. »Habe ich schon«, knurrt Lari und beäugt Papa. »Bekomme ich später auch meinen Führerschein bezahlt?« »Dafür musst du dann aber nüchtern sein«, zwinkert Papa und entlockt Nina ein Lachen, was Lari stöhnen lässt. »Nicht lustig«, murmelt meine Schwester. »Wann brecht ihr heute auf?«, ändert Mama das Gesprächsthema und sieht mich fragend an. Weil ich es nicht weiß, sehe ich zu Juli. »Meine Eltern wollen gerne mit uns Mittagessen, also werden wir wohl kurz vor elf abgeholt.« »Na dann, benimm dich Romy, du willst doch einen guten Eindruck machen, bei deinen zukünftigen Schwiegereltern«, grinst Papa und ich trete ihn unter dem Tisch gegen das Schienbein. »Ich benehme mich immer.« Den Blick, den Papa meiner Mama zuwirft und den, den sie mir darauf schenkt, ignoriere ich geflissentlich. Meine Hände zittern, mein Herz rast, als der Moment immer näher rückt. Obwohl mir Juli versichert, dass ich nicht bei lebendigem Leibe gefressen werde, kann ich mich nicht beruhigen. Umso überraschter bin ich, als der Moment endlich da ist, dass ich Julis Vater völlig entspannt gegenübertrete. Er lehnt an seinem kleinen Polo und Juli läuft ihm direkt in die Arme und freut sich lauthals, ihren Vater wiederzusehen. Für einen kurzen Moment überlege ich, rückwärts ins Haus zu fliehen, springe dann aber über meinen Schatten und stelle mich neben Juli. »Guten Tag«, sagt der Mann und schaut mich ernst an. Er reicht mir seine Hand und spricht im astreinen Deutsch weiter. »Ich bin Adil Saadi.« »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwidere ich genauso ernst und ergreife seine Hand und habe das Gefühl, das er die Meine zerquetscht. Ich gebe mir Mühe, keine Miene zu verziehen. »Romy Schneider. Vielen Dank, dass Sie mich damals im Park aufgelesen und den Notarzt gerufen haben.« »Gern geschehen«, sagt er und lässt meine Hand los. Erleichtert atme ich aus. »Dann steigt mal ein. Nicht dass wir zu spät kommen.« Ich steige automatisch hinten ein und bin überrascht, als Juli neben mir auf die Rückbank rutscht und meine Hand ergreift. Sie lächelt mich an und drückt meine Hand, als ihr Vater den Motor startet und losfährt. Tapfer lächle ich zurück. Nur, Julis Mutter begrüßt mich herzlich und bietet mir direkt das Du an. Ich sitze trotzdem steif am Esstisch der Familie Saadi und bekomme nichts von dem Essen runter, welches Julis Mutter aufgetischt hat. Ich lausche Julis Unterhaltung mit ihren Eltern und bemerke, dass sie sehr bemüht ist, mich in das Gespräch einzubinden, indem sie das Schauspiel erwähnt. Irgendwann fragt mich Julis Mutter, wie wir uns kennengelernt haben, und lächelt mich an. »In der Schule. Sie hat mir eine Ohrfeige gegeben und mich danach auf Facebook gestalkt.« Julis Bein stößt mich unter dem Tisch an und ich sehe ihren entsetzten Blick, der sich schnell zu einer neutralen Miene wandelt, als ihre Eltern sie ansehen. »Warum?, fragt Nur ihre Tochter und ich ahne, dass ich das lieber nicht erwähnt hätte und dass sie nicht wissen, was ich so angestellt habe. Verlegen fahre ich mir durch die kurzen Haare und berühre unbewusst die Narben etwas länger. »Weil zu einer Mitschülerin gemein war und etwas Dummes gesagt hat«, lügt Juli ihren Eltern ins Gesicht und ich starre auf das kaum berührte Essen auf meinem Teller. Julis Vater zieht sich eine Weile später zurück und Juli und ich helfen Nur beim Abwasch. »Komm«, lächelt Juli, fasst mich bei der Hand und zieht mich aus der Küche. »Ich zeige dir mein Zimmer. Das letzte Mal warst du ja nur kurz da.« »Warum wissen sie nichts davon?«, frage ich Juli verwundert, als die Tür hinter uns ins Schloss fällt und wir in ihrem Zimmer stehen. Juli seufzt und sieht mich nicht an, hält aber meine Hand fest. »Weil sie nachtragend sein können und ich nicht will, dass mir Papa oder Mama den Umgang mit dir verbieten, nur weil du einmal in deinem Leben einen Fehler gemacht hast.« »Einmal in meinem Leben«, flüstere ich und muss an die Ausländer denken, die ich gemeinsam mit meiner alten Clique zusammengetreten habe. »Du weißt, dass das nicht wahr ist. Hör auf, alles zu beschönigen.« Juli lässt mich genervt los und sieht mich ernst an. »Jetzt ist es wahr. Du willst dich ändern, du hast dich geändert. Das ist es doch, was zählt. Jeder Mensch verdient eine zweite Chance.« Wie schon in meinem Zimmer, überrumpelt Juli mich, bevor ich etwas Gegenteiliges sagen kann und küsst mich. Ich trete einen Schritt zurück und weiche ihren Lippen aus. »Juli«, seufze ich und will noch etwas sagen, als es klopft und der Herr des Hauses, mit neutraler Mine im Zimmer steht und uns ansieht. »Na, habt ihr Spaß? Ich wollte euch fragen, ob ihr Lust habt, nachher in eines der Auffanglager für Flüchtlinge zu fahren. Wir sammeln Spenden und bringen diese in regelmäßigen Abständen in Auffanglager, die solche Spenden benötigen.« »Ich weiß nicht«, beginnt Juli und ich sehe ihren abschätzenden Blick, mit dem sie mich bedenkt. »Warum nicht«, erwidere ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, wie ich zu Ausländern im Allgemeinen stehe, auch wenn ich nicht mehr hinter meiner politischen Gesinnung stehe. »Vielleicht können wir uns dort ja etwas nützlich machen.« Julis Vater schaut mich seltsam an, nickt dann aber und wartet auf Julis Antwort. Vielleicht weiß Adil Saadi mehr über mich, als er seine Tochter wissen lässt, überlegte ich, als ich den Mann mustere. Er ist größer als wir, doch ich habe schon beim ersten Blick erkannt, von wem Juli ihre Augen und die Haarfarbe geerbt hat, denn ihre Mutter hatte schwarze, dünne Haare und grüne Augen. »Wann willst du los?«, fragt Juli ihren Vater geschlagen. »Gleich. Juli, kann ich mir Romy einmal ausleihen?« »Wozu?«, fragt Juli irritiert. Bevor er ihr antworten kann, stehe ich neben ihm, blicke zu Juli und lächle mutig. »Bis gleich. Wohin?« »Am Ende des Gangs ist mein Büro«, sagt er, als wir Julis Zimmer verlassen haben, und geleitet mich durch den Flur, hinein in ein geräumiges Büro mit zahlreichen Bildern und Büchern. »Setz dich bitte«, sagt er neutral, deutet auf einen Ledersessel, vor einem antik aussehenden Schreibtischpult. Unter dem einzigen Fenster im Raum steht eine Chaiselongue, die sich zum hinlegen und entspannen, einlädt. Ich lasse mich auf den gut gepolsterten Sessel fallen und stecke meine Hände zwischen meinen Knien fest, damit das Zittern meiner Hände nicht zu sehr auffällt. Als er die Bürotür schließt und neben mir an einem Bücherregal stehen bleibt, halte ich automatisch die Luft für einen Moment an. Bevor ich angestrengt ausatme und gierig einatme. Er reicht mir wortlos einen Ordner und setzt sich mir gegenüber hinter seinen Schreibtisch. »Bitte, öffne den Ordner.« Ich blicke auf ein ausgebranntes Gebäude und mein ganzer Körper spannt sich an. »Blätter um«, fordert er mich mit sanfter Stimme auf. Auf der nächsten Seite blicke ich auf zwei Fotos, die ein verbranntes Zimmer dokumentieren. »Das Zimmer lag direkt neben dem von Juliet.« »Was wollen Sie mir damit sagen?«, frage ich, ohne eine weitere Seite umzublättern. »Wir haben Nachforschungen angestellt, als uns Juliet von dir erzählt hat. Komm schau den Ordner zu Ende an, danach werde ich dir sagen, was wir von dir wollen.« Ich will nicht, aber er sieht nicht so aus, als würde er das durchgehen lassen. Als ich umblättere, sehe ich Fotos von Jugendlichen, mit blauen geschwollenen Augen, aufgeplatzten Lippen. So zieht sich das durch den ganzen Ordner. Nicht alle habe ich selbst ins Krankenhaus geprügelt, aber bei den meisten war ich anwesend. »Wie hat es sich angefühlt, das alles, einmal selbst zu fühlen?« Ich schließe den Ordner und pfeffere ihn achtlos in seine Richtung. »Ich wurde lange vor diesen Aktionen von Kanaken gemobbt und am Ende zusammengeschlagen, weil ich ihnen nicht mein Smartphone geben wollte, welches sie mir abknöpfen wollten. Weil ich als einzige Deutsche in der Klasse die perfekte Zielscheibe war. Ich wusste also schon, wie sich das anfühlt. Was wollen Sie mir mit diesem Ordner wirklich sagen?« »Das du meine Tochter in Ruhe lässt«, sagt er mir ruhig. »Wir wollen nichts mit Menschen wie dir zu tun haben. Du kannst gern mit kommen, aber nach diesem Wochenende möchte ich, dass du Juliet in Ruhe lässt, oder ich werde zur Polizei gehen und eine Anzeige gegen dich erstatten.« Kapitel 19: Kapitel 18. ----------------------- Mein Pulsschlag erhöht sich, als ich spüre wie die Wut in mir, zu kochen beginnt. Es kostet mich beinahe meine ganze Willenskraft, nicht die Nerven gegenüber Julis Vater zu verlieren und ihm somit zu beweisen, dass ich genau so bin, wie es schwarz auf weiß, in seinem Ordner steht. Meine Finger krallen sich fest in meine Oberschenkel und ich atme tief ein. »Nein«, stoße ich mit meinem Atem rau aus, stehe auf und zerre mein Smartphone aus meiner Hosentasche und werfe es ihm entsperrt zu. Seine Reflexe sind gut und wider Erwarten fängt er es. Eigentlich dachte ich, das Smartphone würde an seiner Brust abprallen und in seinen Schoß fallen. »Das kann ich nicht. Rufen Sie die Bullen oder fahren Sie mich aufs Revier, damit ich mich selbst anzeigen kann.« Meine Stimme zittert, bei diesem Vorschlag so sehr, dass ich mir sicher bin, dass er es bemerkt hat. »Alles, was Sie wollen, nur verlangen Sie nicht von mir, Juli in Ruhe zu lassen, denn das kann ich nicht. Ich habe es lange genug versucht und hätte es funktioniert, würde ich jetzt nicht vor Ihnen stehen.« Ich vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen und beobachte, wie er mein Smartphone nachdenklich in seiner Hand hin und her wiegt und einen Moment mein Hintergrundbild betrachtet, welches seine Tochter, in meinen Armen zeigt. Auf meine Füße hinab starrend, um nicht sehen zu müssen, wie er die Polizei ruft, versuche ich krampfhaft, meine zitternden Hände zu beruhigen. Ich will dem Mann so viel mehr sagen, doch beiße ich mir auf die Innenseite meiner Wange und halte meine Klappe, bevor ich noch etwas sage, dass alles nur verschlimmert. Als er mein Smartphone auf den Tisch legt und es auf meine Seite schiebt, blicke ich von meinen Füßen auf und sehe, wie er mir mit einer Geste bedeutet, mich wieder zu setzen. Nur zögernd lasse ich mich wieder in den Sessel fallen. Ich ergreife mein Smartphone ohne meinen Blick von ihm abzuwenden und stecke es zurück in meine Hosentasche. Julis Vater sieht mich so ernst an, dass ich meinen Augen kaum trauen will, als er plötzlich lächelt. »Prüfung bestanden. Ich werde dich nicht anzeigen, aber du musst verstehen, dass wir nachforschen mussten. Die Informationen habe ich aus vertraulicher Hand. Auch diese Person wird dich nicht anzeigen, aber zu gegebener Zeit eventuell einen Gefallen einfordern.« »Einen Gefallen«, wiederhole ich und lasse die Worte probeweise laut über meine Lippen rollen, bevor die Blase um mich herum platzt und es in meinem Kopf so laut wird, dass ich es nicht länger in diesem Büro aushalte. Wortlos springe ich auf, stürme ich hinaus aus dem Büro und renne Juli dabei beinahe über den Haufen. »Hey, was wollte er?«, höre ich sie fragen, als ich schon an ihr vorbei bin und immer zwei Stufen mit einem Mal überbrücke. Was mache ich? Raus rennen und einmal laut schreien? Mich selbst anzeigen? Auf irgendetwas einschlagen? Ich bin nicht wütend auf Julis Vater. Ich bin wütend auf mich und meine Taten, stelle ich fest, als meine Hand auf der Türklinke ruht und ich spüre, wie die Wut in meinem Bauch brodelt. Schritte hinter mir, die eilig die Treppe hinab kommen, hindern mich daran, die Haustür zu öffnen. »Romy?«, erklingt Adil Saadis Stimme sanft. »Ich habe im Keller einen kleinen Fitnessraum, da hängt ein Boxsack, falls es hilft?« Und plötzlich fällt die Wut von mir ab. Einfach so. Ich sehe ihn nicht an, murmle eine Entschuldigung und verkrieche mich in das Badezimmer, welches mir Juli gezeigt hat, bevor wir nach dem Essen, zu ihr hoch sind. Ich schließe hinter mir ab und lasse mich auf dem geschlossenen Toilettendeckel fallen. Ich sitze lange einfach nur da und merke erst, dass ich weine, als ich mir die Tränen, mit dem Handrücken, aus dem Gesicht wische. »Romy?«, erklingt Julis Stimme abgedämpft durch die Tür, nachdem sie geklopft hat. »Papa und Mama sind ohne uns gefahren. Was ist passiert?« Ein Test, denke ich und kann es nicht fassen, dass ich darauf reingefallen bin. Ich stehe kopfschüttelnd auf, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und öffne schließlich die Badezimmertür. »Hey«, haucht Juli und sieht mich besorgt an. »Ist alles Okay? Du bist so blass, seit du aus Papas Büro kamst.« »Entschuldige, dass deine Eltern ohne uns gefahren sind«, murmle ich und lasse mich von Juli zurück in ihr Zimmer ziehen, wo sie mich auf ihr Bett drückt und mir sanft über den Rücken streicht. »Was ist passiert?«, fragt Juli mich neuerlich, diesmal drängender. »Deine Eltern wissen, dass ich bei der Aktion mit dem Asylantenheim involviert war.« Juli erstarrt und ergreift meine Hand mit der Ihren. »Wirklich?« Ich nicke und erzähle Juli, dass ihr Vater einen Ordner hat, in dem all die Aktionen stehen, denen ich beigewohnt habe. »Er bat mich, dich nach diesem Wochenende in Ruhe zu lassen.« Juli sieht mich ausdruckslos an und ich kann sehen, wie es in ihr zu arbeiten beginnt. »Nicht aufregen«, hauche ich und küsse sie sanft. »Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht kann und er mich gerne anzeigen kann. Damit wollte er mich erpressen. Ein paar Momente später, nachdem ich ihm mein Smartphone zum Anrufen der Polizei zugeworfen hatte, sagte er, ich hätte die Prüfung bestanden.« »Der spinnt wohl«, zischt Juli aufgebracht. »Ich frage mich eher, woher er all die Details hat«, überlege ich, ziehe meine Hand aus ihrer und stehe auf, um mich an Julis Fenster zu stellen. Von hier kann man fast den ganzen Park überblicken. Hat Juli mich damals dort liegen gesehen und ihren Vater alarmiert? Im Schatten eines Baumes sehe ich wie sich eine Gestalt bewegt und mich durchfährt es heiß und kalt. War das Paul? Jemand von seinen Leuten? Ich drehe mich zu Juli um. »Papa war früher mal bei der Polizei, vermutlich hat er ein paar Gefallen eingefordert«, murmelt Juli und greift nach ihrem Wecker. »Ich denke, wir brauchen mit meinen Eltern erst wieder in zwei Stunden rechnen. Was machen wir jetzt?« »Alle Türen und Fenster überprüfen«, sage ich, gehe zu ihr und ziehe Juli in den Stand. »Halt mich für paranoid, aber ich habe da draußen im Schatten eines Baumes jemanden stehen gesehen«, erkläre ich und deute mit dem Daumen hinter mich. Juli will zum Fenster gehen, weshalb ich sie am Arm festhalte und mit mir aus dem Zimmer ziehe. »Nicht gucken«, zische ich. Es wäre viel zu offensichtlich, wenn sie jetzt auch noch da hinschaut. »Wie viele Eingänge gibt es?« »Die Kellertür, Haustür und Terrassentür«, zählt Juli an ihren Fingern ab. »Ich mach die Türen und du die Fenster, okay?«, kommandiert sie und ich füge mich widerstandslos. Gemeinsam gehen wir ins Erdgeschoss und trennen uns dort schweigend, mit einem Küsschen. Systematisch gehe ich die Fenster ab. Erst die im Wohn- und Esszimmer, danach die Küchenfenster und das Fenster im Badezimmer. Zum Schluss finde ich einen Raum, der wohl das Gästezimmer beherbergt und schließe auch dort, das Fenster ab. Zurück im Wohnzimmer sehe ich, wie Juli gerade die Terrassentür überprüft, die ich mit den Fenstern verschlossen habe. Als sich Juli zu mir umdreht, sehe ich die Gestalt von vorhin wieder. Nur kurz, weil sie sich hinter einem Busch wegduckt, aber jetzt bin ich mir sicher, dass ich mir das vorhin nicht eingebildet habe. Um Juli keine Angst zu machen, erwähne ich nicht, was ich eben gesehen habe und hoffe, dass die Gestalt nicht weiß, dass ich sie gesehen habe. »Sind im Keller Fenster oder Türen?« Kopfschüttelnd zieht mich Juli aus dem Wohnzimmer und zurück in ihr Zimmer, wo sie die Zimmertür abschließt und entschlossen die schweren Gardinen zuzieht, die beinahe das ganze Licht verschlucken. Juli zeigt es mir nicht, aber ich merke es an ihrem Verhalten, dass sie Angst hat. »Schauen wir einen Film?«, fragt sie mich und ich kann an ihrer Stimme sehr deutlich hören, dass sie unter Strom steht. »Was für einen?«, frage ich und erreiche Julis Bett ganz ohne, irgendwo gegen zu stoßen. Juli fällt mit ihrer Fernbedienung und einer halb vollen Wasserflasche neben mich, macht den Fernseher an und startet Netflix. Ich ziehe sie nah an mich, als sie die Flasche weggestellt hat und hoffe, ihr mit meiner Nähe etwas Sicherheit zu geben und ihr etwas von der Angst, zu nehmen. Weil ich möchte, dass Juli etwas zur Ruhe kommt, widerspreche ich nicht, als wir beginnen Frozen zu schauen. Nach einer halben Stunde, in der ich beinahe eingeschlafen bin, sitzen wir kerzengerade in Julis Bett, als es irgendwo im Haus poltert. Vom Film bekommen wir beide nichts mehr mit, weil wir mit gespitzten Ohren lauschen und uns gegenseitig, im Zwielicht des Zimmers anstarren. Ich kann mein Herz beinahe hören, so schnell schlägt es gerade. Unisono halten wir unseren Atem an, als die Treppe knarzt und wir hören, wie jemand langsam nach oben schlurft und direkt vor Julis Zimmer anhält. Als es an Julis Zimmertür klopft, stoßen wir beide einen spitzen Schrei aus und sehen uns erleichtert an, als die Stimme von Julis Vater erklingt. »Juliet? Wieso ist deine Tür abgesperrt?« »Mann Papa«, regt sich Juli auf, als sie die Tür aufschließt. »Du kannst uns doch nicht so erschrecken. Was hat eben so gepoltert?« »Ich habe den Schirmständer umgeworfen, mal wieder«, erklärt Julis Vater und sieht an seiner Tochter vorbei, zu mir und zurück. »Warum sitzt ihr im Dunkeln?« Juli erklärt ihrem Vater, dass ich jemanden gesehen habe, draußen und wir daraufhin alles abgeschlossen haben, was abschließbar war. »Wieso seit ihr schon zurück?«, hängt Juli neugierig an ihre Erklärung an. »Weil wir auch jemanden gesehen haben, als wir losgefahren sind und mir nicht Wohl dabei war, euch so lange hier allein zu lassen«, erwidert er ernst und geht an Juli vorbei, in das Zimmer und bleibt vor dem Bett stehen. »Alles wieder im Lot, Romy? Tut mir leid, das vorhin, aber ich wusste wissen, auf welcher Seite du stehst und ob du dich wirklich verändert hast.« »Ist Okay, erwidere ich knapp und ich ergreife die Hand, die er mir reicht. »Nenn mich Adil und wir duzen uns, ja?« Ich nicke und schüttel seine Hand, als er mich loslässt, bricht ein Sturm, in Form von Juli, über ihn herein, wegen der Aktion mit dem Ordner. Er hört sich alles, was sie zu sagen hat schweigend an und entschuldigt sich danach auch noch einmal bei ihr und geht aus dem Raum. Als wir hören, wie er die Treppe zu seiner Frau hinabsteigt, schließt Juli schnaubend ihre Tür wieder und setzt sich neben mich aufs Bett. Wortlos schauen wir den restlichen Film, dicht aneinander gekuschelt zu Ende. Mit dem Wissen, dass wir nicht mehr allein im Haus sind, ist Juli wesentlich entspannter und auch ich spüre, wie die Anspannung etwas von mir abfällt. Als der Abspann des Films läuft, dreht Juli sich in meinen Armen zu mir und küsst mich begierig. Julis Hand fährt mir sanft durch die kurzen Haare und ich bin mir sicher, dass ich einschlafe, wenn sie damit weiter macht. »Was machen wir heute eigentlich noch?«, frage ich und seufze genießerisch, als ihre Hand nicht daran denkt, mit ihren Streicheleinheiten aufzuhören. »Fahren wir zurück zu mir oder bleiben wir hier?« »Wir sollten wenigstens noch zum Abendessen bleiben«, haucht Juli gegen meine Lippen. »Mama hat uns sicherlich mit eingeplant. Danach können wir uns meinetwegen von Papa zurückfahren lassen und deine Schwester und Nina ein bisschen ärgern. Ging ja alles ein bisschen schief, was meine Eltern für diesen Tag geplant hatten.« Bevor ich etwas erwidern kann, klopft es abermals an der Zimmertür und dieses Mal ist es Julis Mutter, die davor steht. Wir entscheiden, dass wir Nur in der Küche etwas zur Hand gehen könnten und folgen ihr hinab in die Küche, wo auch Julis Vater ist. »Ich habe die Polizei alarmiert«, begrüßt er uns. »Mittlerweile haben wir zwei Stalker. Einer versteckt sich in unserem Garten und der andere an einem Baum, beim Parkeingang. Ich fahre euch nach dem Abendessen zurück und dort bleibt ihr bitte im Haus und fahrt morgen zurück ins Internat. Hier in der Stadt ist es vorerst nicht mehr sicher.« Die Polizei trifft vor dem Abendessen ein und sieht sich gründlich auf dem Grundstück und in der Umgebung um. Man verspricht uns, nachdem Julis Vater ein bisschen Stress gemacht hat, eine zusätzliche Einheit durch die Straßen patrouillieren zu lassen. Die beiden Gestalten konnten nicht aufgegriffen werden. Was natürlich klar war. Die wären ja auch schön blöd, sich erwischen zu lassen. Juli und ich diskutieren gerade darüber, wer bei der nächsten Probe für die Weihnachtsaufführung seinen Text nicht können wird, als ein Stein gegen das Wohnzimmerfenster prallte und die Scheibe in tausend kleine Teile zerlegte. Sofort ziehe ich Juli hinter mich und stehe in Angriffshaltung bereit. Julis Vater bückt sich nach dem Stein, an dem ein Zettel mit einem Gummiband befestigt ist. Verräter werden von Wotans Zorn gerichtet, steht dort und das ist eine Drohung, die so eindeutig an mich gerichtet ist, dass mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinab läuft. Adil ruft die Polizei erneut an und wegen der Befragungen dauert es eine Weile, bis er uns zu mir nach Hause fahren kann. Als wir dort ankommen, steht die Polizei auch schon in der Auffahrt. »Was ist passiert?«, frage ich Papa, als er auf mich zueilt und habe eine gewisse Ahnung. »Irgendein Fatzke hat einen Stein durch unser Küchenfenster geworfen, mit einer Drohnachricht.« »Was stand drauf?« »Verräter werden von Wotans Zorn gerichtet, oder so ähnlich.« »Dasselbe, wie bei uns also«, kommentiert Adil und sieht seine Tochter eindringlich an. »Ruft mich an, wenn ihr meine Hilfe braucht. Pass gut auf dich auf Kleines und geht am besten immer zu zweit irgendwohin.« Mit diesen Worten verabschiedet Adil sich, weil er seine Frau Nur nicht so lange allein lassen will. Kann ja sein, dass sich die Idioten noch in der Nähe herumtreiben. »Was bei dir auch?«, fragte mein Papa Juli erstaunt und sieht mich dann ernst an. »Der Mann hat recht. Ihr solltet dann im Internat immer zu zweit unterwegs sein, wenn die schon so dreist sind und uns Drohnachrichten schicken.« Die Angst sitzt uns im Nacken, als wir es uns auf meiner Couch bequem machen und wir zucken zusammen, als Lari mit Nina in mein Zimmer platzt, dicht gefolgt von Uschi und Ralf. »Wir haben gehört, dass diese Idioten dieselbe Nachricht auch bei dir durchs Fenster geworfen haben«, beginnt Uschi und sieht Juli an, die meine Hand fester drückt und nickt. »Wir haben zwei Gestalten außerhalb von Julis zu Hause gesehen, die uns beobachtet haben«, berichte ich. »Das ist ja schlimmer als in jedem Thriller«, murmelt Ralf. »Am besten fahren wir euch morgen über Umwege ins Internat und ihr«, damit sieht er Lari und Nina an, »geht am besten nicht mehr allein irgendwohin.« »Hatten wir nicht vor«, stimmt Nina zu. »Wir haben schon unsere Stundenpläne verglichen und besprochen wo wir aufeinander warten, wenn jemand eher Schluss hat.« Als sich die anderen wieder in ihre Zimmer verabschieden, knurrt mein Magen lauthals und erinnert Juli und mich daran, dass das Abendessen bei ihr zu Hause ausgefallen ist. Leise gehen wir runter in die Küche, wo auf der Anrichte noch Reste vom Abendessen stehen und treffen Papa an, der versucht mit Folie, Pappe und Holz, das Loch im Fenster provisorisch zu verschließen. Ich hole zwei Teller und Tassen hervor und tue uns jeweils ein kaltes Stück Lasagne auf und gieße uns Früchtetee in die Tassen. »Hier essen, oder in meinem Zimmer?« »Erinnerst du dich noch, was wir euch über das auf dem Zimmer essen gesagt haben?«, fragt mein Papa und schmunzelt, als er sieht, wie es mir einfällt. Ich stöhne genervt und deute auf den Tisch. »Komm, wir müssen hierbleiben. Essen auf dem Zimmer ist verboten.« »Warum das denn?«, fragt Juli und schaut mich neugierig an, bevor sie sich auf einen Stuhl fallen lässt und ich ihr einen Teller zuschiebe und mich ebenfalls setze, nachdem ich Juli noch die Tasse und Besteck gegeben habe. »Seit Romys Mutter eine kleine Pilzfarm in Romys Zimmer gefunden hat, haben wir diese Regel eingeführt«, erwidert mein Papa und grinst breit, als er mein beschämtes Gesicht sieht, obwohl ihm nicht zum Grinsen zumute ist, so schnell wie sein Grinsen in sich zusammenfällt. Juli hält beim Essen inne und schaut mich angeekelt an. »Hey, das war ein Biologieprojekt«, verteidige ich mich mit einer Lüge und sehe Juli so ernst an, dass sie lachen muss. »Wenn du nicht so krampfhaft versucht hättest, ernst zu schauen, hätte ich es dir vielleicht geglaubt.« Kapitel 20: Kapitel 19. ----------------------- Mir die müden Augen reibend, stehe ich an meinem Zimmerfenster und starre hinaus in die Dunkelheit. Dabei versuche ich, die lauten Gedanken in meinem Kopf, die mich am Schlafen hindern, zum schweigen zu bringen. Doch immer wenn ich denke, dass ich es geschafft habe, taucht eine neue Frage in meinem Kopf auf. Sind wir sicher im Internat? Was wenn es wirklich einen Maulwurf gibt, der für Paul spioniert? Werden unsere Familien sicher sein, wenn wir nicht hier sind? Wer könnte der Maulwurf sein? Eine der Ordensschwestern? Eine Schülerin? Was kann ich tun, damit niemanden etwas passiert? Seufzend lehne ich meine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und atme tief ein. Als ich wieder ausatme, beschlägt die Scheibe dort, wo mein Atem auf das Glas trifft. Hinter mir kann ich Juli gleichmäßig atmen hören. Sie schläft schon seit zwei Stunden. Hatte aber auch ziemliche Schwierigkeiten, einzuschlafen. Ich sollte auch noch einmal versuchen, zu schlafen. Weshalb ich mich am Fensterbrett abstoße und langsam durch mein dunkles Zimmer, zu meinem Bett stolpere, wo ich mich an den Rand setze. Juli hat sich während meiner Abwesenheit die ganze Decke unter den Nagel gerissen und ich habe Mühe, mir einen Teil davon zurückzuerobern. Ich spüre, dass mein Körper müde ist, aber ich habe Angst davor, mich in die Arme von Morpheus zu begeben. Als ich mich neben Juli unter die Decke kuschle, spüre ich, wie sie erschaudert, weil ich so ausgekühlt bin. Sie rutscht näher zu mir und legt, ohne wach zu werden, einen Arm um mich. Mit einem Lächeln auf den Lippen schließe ich meine Augen und gewähre dem Schlaf die Chance, mich zu holen. Knapp fünf Stunden später schrecke ich hoch, weil jemand laut an meiner Zimmertür klopft und beinahe hätte ich mich dazu hinreißen lassen, zu schreien. »Fuck«, stoße ich aus und versuche mein Herz zu beruhigen, dass so schnell schlägt, als wäre ich einen Marathon gelaufen. »Ja?«, rufe ich und taste nach Juli und springe auf, weil sie nicht neben mir im Bett liegt. Meine Zimmertür geht im selben Moment auf, wie Juli aus dem Badezimmer kommt. Erleichtert atme ich aus und sehe zu Lari, die mich verschlafen ansieht. »Ich habe Geräusche gehört und dachte, ich komme fragen, ob ihr mit runter in die Küche kommt.« »Wenn du mich noch schnell duschen lässt?«, frage ich zurück, gehe zu Juli, drücke ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen und verschwinde, ohne auf eine Antwort zu warten im Badezimmer. Eine viertel Stunde später sitzen wir alle in der Küche und sehen nicht ausgeruht aus. Scheinbar habe nicht nur ich in dieser Nacht schlecht geschlafen. Mit einer Tasse Kaffee in den Händen, in Juli und Laris Fall Kakao, starren wir uns gegenseitig an und nippen ab und zu an unseren Tassen. Dabei erwische ich mich mehr als einmal dabei, wie ich zu der notdürftig geflickten Fensterscheibe blicke und erwarte, dass jeden Augenblick etwas geschieht. Vermutlich zucke ich deshalb erschrocken zusammen, als ich Julis Hand auf meinem Oberschenkel spüre. Beruhigend streichelt sie mich und ich ergreife ihre Hand, bevor sie sie wegziehen kann. Als ich ihr in die Augen sehe, spüre ich, wie mein Herz schneller zu schlagen beginnt und die berühmten Schmetterlinge in meinem Bauch Saltos fliegen. Wenn sich Verliebtheit so anfühlt, dann war ich vor ihr in niemanden auch nur ansatzweise verliebt. Denn mit jedem Tag der vergeht und den ich in ihrer Nähe verbringe, spüre ich, wie das Gefühl in mir heranwächst, ja größer wird. In meinen kühnsten Träumen hätte ich nicht gedacht, dass ich so viel in mir, für einen einzelnen Menschen fühlen kann. Ich fahre aus meinen Überlegungen, als meine Schwester einen spitzen Schrei ausstößt und Juli meine Hand festdrückt. Die provisorische Pappfensterscheibe ist abgefallen. Von ganz allein, klärt uns Papa auf, nachdem er mit einem Hammer in der einen und seiner Kaffeetasse in der anderen Hand nachgesehen hat, ob sich draußen jemand herumtreibt. Kollektives, erleichtertes Ausatmen ist die Folge davon, als Papa sich wieder auf seinen Stuhl fallen lässt und den Hammer vor sich auf den Tisch legt. Mama fragt in die Runde, ob sie jemand zum Brötchen kaufen begleiten möchte, weshalb ich meine Tasse austrinke, Julis Hand loslasse und aufstehe. »Ich wäre dabei«, erwidere ich, weil ich spüre, dass ich meinen Kopf ein bisschen freibekommen muss. Mama und ich ziehen uns, nach etwas Protest von Juli und den Anderen, die der Meinung waren, ich solle nicht rausgehen, im Flur unsere Jacken an. Statt auf ihre Sorge einzugehen, habe ich Juli vor versammelter Mannschaft einen Kuss gegeben und bin in den Flur geflohen, bevor sie noch etwas sagen konnte. »Das war nicht die feine englische Art«, grinst Mama, als sie mir die Tür aufhält und ich hinaus trete und gierig die kühle Herbstluft einatme. Schulterzuckend lächle ich und gehe schweigend neben Mama die Straße zum Bäcker runter. Dabei fallen mir mehrere unbekannte Männer auf, die uns alle zu beobachten scheinen. »Keine Sorge«, erklingt Mamas Stimme neben mir und ich sehe sie fragend an. »Die Typen sind vom Personenschutz, die haben dein Vater und der Vater deiner Freundin gestern noch angeleiert. Der Mann hat gute Kontakte.« Ich ignoriere, wie Mama das Wort Freundin betont, weil ich heute nicht darüber nachdenken möchte, wieso sie sich so schwer damit tut, zu akzeptieren, dass ich Juli mag. Besonders weil sie bei Lari nicht so ist. »Sag mal«, beginne ich und gehe locker neben Mama her und spüre, wie ein Teil der Anspannung mit dem Wissen, dass Personenschützer hier sind, von mir abfällt. Mama bleibt kurz vor der Bäckerei stehen und sieht mich neugierig an. »Wann wusstest du, dass du Papa liebst?« »Oho«, grinst Mama und sieht mich nachdenklich an. »Als es schon zu spät war, einen Rückzieher zu machen. Ich glaube so richtig bewusst ist es mir geworden, als er mir einmal im pinken Bademantel seiner Schwester die Tür geöffnet hat, welchen er sich nur übergeworfen hat, weil ich um Mitternacht weinend auf seiner Türschwelle stand und er nicht wollte, dass ich seine blauen Flecken sehe, die er sich am Tag zuvor wegen mir zugezogen hat.« »Blaue Flecken?«, erstaunt sehe ich Mama an und frage mich, was Lari und ich alles nicht wissen, über Mama und Papa. »Dein Vater und ich waren Eislaufen. Das kann er ja heute noch nicht richtig«, beginnt Mama mit einem verträumten Lächeln zu erklären. »Davon hatte er die Hämatome.« »Und warum standest du weinend auf seiner Türschwelle?« Mamas Lächeln wird schwächer als sie sich daran erinnert. »Eine gute Freundin von mir ist an diesem Tag schwer verunfallt und im Krankenhaus verstorben. Warum willst du das eigentlich wissen?«, fragt Mama mich, als sie mir die Tür zur Bäckerei aufhält. Ich schlüpfe an Mama hindurch und bin mir unsicher, was ich Mama sagen soll. Die Wahrheit? Wir stellen uns an und ich spüre Mamas Blick in meinem Rücken. »Aus Neugier«, weiche ich ihr schließlich aus, weil ich ihr nicht in einer Bäckerei von meiner Unsicherheit erzählen will. Als wir dran sind, gebe ich die Bestellung auf und Mama bezahlt. Draußen vor der Bäckerei berührt Mama mich an meinem Arm und sieht mich ernst an. »Und warum wolltest du das wirklich wissen?« Wir gehen langsam nebeneinanderher und ich atme tief ein, bevor ich Mama ansehe. »Weil ich nicht weiß, was sie ganzen wirren Gefühle hier drin«, ich deute auf meine Brust, »bedeuten. Ist es lediglich die anfängliche Verliebtheit? Oder ist es schon Liebe, so wie du Papa liebst?« Mama legt mir ihre freie Hand auf die Schulter und hält mich an. »Ach Romy«, lächelt sie. »Denke nicht so viel darüber nach was genau du fühlst, sondern genieße den Moment, so lange er andauert. Niemand kann dir sagen, ob ihr für die Ewigkeit gemacht seid. Nicht immer hält die erste Liebe, aber was du da fühlst, scheint schon über die anfängliche Verliebtheit hinauszugehen.« Mamas Worte liegen schwer in meinem Bauch, als wir ohne weitere Worte nach Hause gehen. Sind Juli und ich Material für die Ewigkeit oder werden wir uns irgendwann trennen? Jetzt kann ich mir das Null vorstellen, sie irgendwann einmal gehen zu lassen. Ich will Mama in ein paar Jahren einen Vogel zeigen können, für ihre Worte und ihr beweisen, dass auch die erste Liebe ewig halten kann. Am Nachmittag, nach einem ausgedehnten Frühstück, sodass das Mittagessen ausfiel, beladen wir Ralfs Kofferraum mit unseren Sachen. Seit dem Gespräch mit Mama bin ich still und grüble darüber nach, ob es wirklich Liebe ist und ob ich überhaupt lieben kann nach meinen Taten. Juli schaut mich schon die ganze Zeit so komisch an, weil ich so in mich gekehrt bin. »Alles Okay?«, fragt Juli und hält mich an meinem Arm fest, als wir für eine letzte Überprüfung, ob wir nichts vergessen haben, in mein Zimmer stehen und ich durch den Raum zu meinem Schreibtisch gehen will. Einem Impuls nachgebend, ziehe ich Juli nah an mich und küsse sie stürmisch. Mit meinem Fuß kicke ich die Tür ins Schloss, bevor ich uns langsam zu meiner Couch leite, wo ich Juli auf meinen Schoß ziehe. Atemlos unterbricht sie unseren Lippenkontakt und ich atme tief ein und gegen Julis freie Haut die sich über ihr Schlüsselbein spannt, aus. Urplötzlich, ohne dass Juli etwas gemacht hat, verwandeln sich die Schmetterlinge in kleine, aufgeregte Spatzen, die auf und ab hüpfen, als wollen sie zum Fliegen abheben und ich fühle mich so zittrig, dass ich mich fest an Juli klammere. Sanft streicht sie mir immer wieder über den Rücken, sieht mich fragend an, verlangt aber mit keiner Geste, dass ich ausspreche, was gerade an mir nagt. »Juli«, murmle ich ihren Namen und erschaudere, als ich spüre wie mich meine Gefühle überrollen und mein Herz so laut schlägt, dass Juli es doch hören muss. »Was tust du mit mir? Ist das Liebe? Liebe ich dich? Liebst du mich?« Juli hält mit ihrer Hand inne, schiebt mich etwas von sich, damit sie mich ansehen kann und ich sehe die stummen Tränen, die an ihren Wangen hinablaufen. »Warum weinst du?«, flüstere ich und sehe sie besorgt an. Ich spüre, wie sich mein Magen unangenehm verknotet. Habe ich etwas falsches gesagt? Ich streiche ihr die Tränen aus dem Gesicht und sehe, dass ein Lächeln an ihren Lippen zupft. »Weil du mich sehr glücklich machst«, erwidert sie und küsst mich sanft und sieht mich an. »Wenn du willst, dass es Liebe ist Romy, dann liebe mich. Wenn nicht, dann ist das auch okay. Aber sei dir sicher, dass ich dich Liebe und das tun werde, so lange ich lebe, auch wenn jeder sagt, dass wir in unserem Alter nicht von ewiger Liebe sprechen sollten.« »Ich will, dass das zwischen uns funktioniert«, hauche ich. »Ich will dich für immer. Ich will uns für immer.« Nach diesen Worten spüre ich Julis Lippen stürmisch auf den Meinen. Wir lassen uns von dem Moment und unseren Gefühlen einfangen und ich kann mir sehr gut vorstellen, was passiert wäre, wenn Ralf nicht gegen den Türrahmen lehnen und sich räuspern würde. Ich hätte die Tür abschließen sollen. »Wir wollen losfahren«, grinst Ralf mich amüsiert an und ich ziehe meine Hand unter Julis Tanktop hervor und lege sie unschuldig auf ihre Hüfte. »Und deine Schwester und Nina wollen sich auch noch von euch verabschieden.« Juli klettert von meinem Schoß und seufzt enttäuscht, verspricht mir mit ihren Augen aber, dass das hier noch nicht vorbei ist. »Wir sind bereit«, antwortet sie Ralf und zieht mich von der Couch hoch. »Haben wir alles?« Ich pralle leicht gegen sie und platziere einen Kuss unterhalb ihres Ohrs, bevor ich ihre Hand mit meiner verbinde und mich im Zimmer umsehe. »Nein, alles im Kofferraum, denke ich«, erwidere ich und ziehe Juli an Ralf vorbei, aus meinem Zimmer und hinab in den Flur, wo Papa, Mama und die Anderen schon auf uns warten. Im allgemeinem Durcheinander verabschieden wir uns alle und nach weiteren dreißig Minuten sitzen Juli und ich endlich im Auto, auf Ralfs Rückbank. Von mehreren Männern, von denen Mama meinte, es seien Personenschützer, beobachtet, fährt Ralf die Straße entlang. Ich atme erst auf, als wir die Stadt weit hinter uns gelassen haben und uns augenscheinlich niemand folgt. Kapitel 21: Kapitel 20. ----------------------- Knapp vor dem Abendessen erreichen wir das Internat und verabschieden uns flüchtig von Ralf und Uschi, die nun weiter nach Bayern fahren. Wir lassen unsere Taschen vor dem Speisesaal stehen, wo schon andere stehen und setzen uns an meinen Tisch, wo uns Rati und Uma schon erwarten. Wir sitzen noch keine zwei Minuten, da kommt auch schon Martha und komplettiert unsere illustre Runde. »Na? Ein schönes Wochenende gehabt?«, fragt Martha uns und grinst mich an, wird aber direkt ernst, als ich den Kopf schüttle. »Es ging«, erwidere ich leise und bedeute Martha mit einem Kopfschütteln, dass wir darüber nicht am Tisch sprechen sollten. Rati und Uma sehen mich nachdenklich an, sagen aber nichts dazu. »Und ihr so?«, frage ich und schaue in die Runde. »Hausaufgaben und für die kommende Arbeit in Englisch gelernt«, erzählt Rati mir. »Ein völlig unspektakuläres Wochenende also«, kommentiert Uma. »Meine Eltern haben mit mir einen Kurztrip an die Ostsee gemacht«, erzählt Martha. »War ziemlich kalt und windig, aber es hat sich dennoch gelohnt. Mein Vater hat meiner Mutter endlich einen Heiratsantrag gemacht.« Weil die Ordensschwestern vollzählig an ihrem Tisch sitzen, verstummen wir für das Tischgebet und reden danach, beim Essen leise weiter. Ich weiß nicht, ob ich alarmiert sein sollte, weil ich seltsam sicher fühle, auch wenn ich nicht sagen kann, was der Faktor ist, der mich so fühlen lässt. Vielleicht weil, als wir hier her gefahren sind, uns kein Auto aufgefallen ist, dass uns eventuell folgt. Vielleicht, liegt es aber auch an den Ordensschwestern, die so eine Besonnenheit und Ruhe ausstrahlen, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass diese Ruhe erschüttert werden könnte. Nach dem Essen und dem Abendgebet suchen wir, nachdem ich Juli überredet habe, Frau Kramer in ihrem Büro auf. »Guten Abend, welch seltener Besuch. Romy du überrascht mich. Was verschafft mir die Ehre eures Besuchs?« Wir erklären unser Anliegen sachlich und Frau Kramer nickt, schließlich, nach einigen Sekunden. »Sofern die Schule nicht darunter leidet, könnt ihr zusammen auf ein Zimmer ziehen. Romy ich freue mich, dass du endlich Freunde gefunden hast.« Wir bedanken uns, dass sie es uns gestattet und dürfen den Umzug sogar heute noch über die Bühne bringen, wenn wir es schaffen, dabei nicht allzu viel Lärm zu verursachen. Erfreut sehen wir uns gegenseitig an und wünschen Frau Kramer noch einen schönen Abend, bevor wir in mein Zimmer gehen, wo Juli schon längst die meisten ihrer Sachen gebunkert hat, da wir schon vor dem Wochenende darüber gesprochen hatten. Bevor wir uns auch nur küssen können, klopft es an der Zimmertür und Juli lässt Martha ein, die sich lächelnd auf Julis Bett setzt. »Ihr habt Frau Kramer also gefragt?« Juli nickt und setzt sich neben mich auf mein Bett. »Das ist super. Worüber wolltet ihr beim Abendessen nicht reden?« Wir erzählen Martha in wenigen Worten, was zu Hause geschehen ist und sie schaut uns besorgt an. »Hoffentlich passiert euren Leuten nichts, während ihr hier seid. Denkt ihr wirklich, dass euch niemand gefolgt ist?« »Wir wissen es nicht sicher, aber wir hoffen es«, seufzt Juli und drückt meine Hand. Ich sehe Martha ernst an. »Am besten gehen wir alle in Grüppchen heim. Ich will nicht, dass jemand aus unserem Internat wegen mir angegriffen und verletzt wird.« Martha geht kurz vor Mitternacht in ihr Zimmer und Juli und ich schlafen in unseren Klamotten, in meinem Bett, kuschelnd, ein und erwachen am nächsten Morgen von meinem Wecker, der kurz nach Fünf läutet. Juli dreht sich grummelnd noch einmal um, ich stehe auf, schlüpfe in meine Laufsachen und freue mich, wieder laufen zu gehen. Ich warte im Gang auf Martha, damit Juli noch ein bisschen schlafen kann und nicht von Marthas Klopfen gestört wird. Martha taucht kurz nach halb Sechs auf und gemeinsam laufen wir unsere übliche Runde. Kurz vor dem Ziel fasst Martha mich am Arm und hält mich zurück. »Was?«, frage ich und folge ihrer Hand, die sie stumm gehoben hat und nach vorne, zum Waldrand deutet. Ich zucke erschrocken zusammen, als ich Paul erkenne, der zwischen zwei Bäumen steht und zu uns starrt. »Scheiße«, stoße ich aus und balle meine Hände zu Fäusten. Automatisch bewegen sich meine Füße auf den Waldrand zu, Martha will mich zurückhalten, doch ich schüttle sie ab und zische ihr zu, ins Wohnheim zu eilen und Hilfe zu holen. Als ich keuchend, zwei Meter vor ihm, zum stehen komme, starren wir uns gegenseitig an. »Machst du es, oder muss ich?«, fragt er mich rau und geht einen Schritt auf mich zu. »Was machen?«, frage ich und gehe einen Schritt zurück. Er wirft mir einen kleinen Koffer zu, den ich auffange. »Verräter werden seit jeher exekutiert. Das weißt du doch.« Ja, da hat er recht. Das weiß ich. Mein Magen verkrampft sich, als ich den Koffer öffne. Darin liegt eine kleine Pistole. Ich nehme die Waffe heraus und werfe ihm den Koffer zurück. »Was hält mich auf, die auf dich abzufeuern?«, frage ich ihn und er grinst mich an. »Nichts. Mach es, wenn es das ist, was du willst. Vielleicht solltest du mir aber vorher zuhören, was ich dir zu sagen habe, hm?« Jede Möglichkeit, ihn hinzuhalten, ist mir recht. Hoffentlich rufen Martha und Juli die Polizei. Er tritt noch einen Schritt aus dem Waldrand heraus und lässt den Koffer achtlos fallen. »Solltest du mich erschießen, wirst du bald bemerken, dass man mich gerecht hat, indem man deine Familie und die Familie von dieser Schlampe getötet hat.« Ich glaube ihm kein Wort, keiner der anderen würde sich das trauen. »Ah, du denkst, dass niemand unserer Kameraden das drauf hat. Da gebe ich dir recht, aber ich kenne Leute in der Szene, die das definitiv drauf haben. Würde mich an deiner Stelle also nicht in Sicherheit wiegen.« »Du bluffst«, knurre ich, merke aber, wie unsicher ich mir bin. »Also soll ich mich selber abknallen, damit du dir deine Hände nicht noch dreckiger machen musst?« »Ganz genau. Ich wusste doch, dass du da schnell drauf kommst, Süße. Weißt du, dass ich dich echt gemocht habe? Du hattest so viel Potenzial. Wieso musstest du so vom Weg abkommen?« »Ich«, setzte ich an. »Ich habe mich verliebt. Paul, was kann ich dafür, dass ich sie liebe?«, frage ich ihn und überprüfe, wie viel Schuss geladen sind. Das hat mir Paul einmal in der Vergangenheit an derselben Waffe gezeigt. Ich zähle vier Schuss, keiner im Lauf. Eine Kugel für mich, was tut er mit den anderen drei? Was tue ich mit ihnen? »Romy, Homosexualität ist eine Krankheit. Du hättest dich in eine Therapie begeben können und regelmäßiger an unseren Treffen teilnehmen können. Wir hätten sogar Treffen hier in der Nähe abhalten können, wenn du das gewollt hättest. Aber nein, du flüchtest dich lieber in die Arme dieses Stück Scheiße und vergisst deine Kameraden, die für dich da waren, als du von Kanaken zusammengeschlagen wurdest.« »Bleib da, wo du bist«, zische ich, als er einen weiteren Schritt auf mich zugeht. Ich entsichere die Waffe und ziehe den Schlitten zurück. Eine Kugel im Lauf, drei im Magazin. Er grinst mich an und bleibt stehen, als ich auf ihn ziele. »Hast du noch eine Waffe?«, frage ich und er schüttelt seinen Kopf. »Was hast du mit den übrigen drei Schüssen vor?« »Wie kommst du darauf, dass ich damit etwas vor habe?«, fragt er süffisant zurück. Ich gehe einen weiteren Schritt zurück und straffe mich. Vielleicht würde weglaufen funktionieren? »Wenn dich erschießen, keine Option ist, was wenn ich dich hinhalte, bis die Bullen hier eintreffen?«, verwickle ich ihn in ein Gespräch und gehe einen weiteren Schritt rückwärts. Ich war in den letzten Wochen echt schnell geworden, vielleicht könnte ich es wirklich schaffen. »Da würde ich nicht drauf hoffen«, lacht Paul leise und sieht zu einem Punkt weit hinter mir. »Dreh dich ruhig um und schau was ich meine, ich tue dir nichts.« Ich blicke über meine Schulter und erstarre, als ich sehe, wie ein Typ, den ich nicht kenne, Martha fest umschlossen hält. Eine Kugel für Paul, eine für den Typen? Oder doch weglaufen und selber versuchen, Hilfe zu holen? »Eine ziemlich ausweglose Lage, hm?«, erklingt Pauls Stimme ganz nah an meinem Ohr und ich zucke erschrocken zurück. Beinahe hätte ich abgedrückt und Paul die Brust durchlöchert. »Scheiße«, fluche ich und gehe drei Schritte zurück. »Bleib, wo du bist.« Als Paul einen weiteren Schritt auf mich zugeht, ziele ich an ihn vorbei und schieße in den Wald hinein und hoffe, niemanden getroffen zu haben. Sofort ziehe ich den Schlitten wieder zurück und habe nun Kugel Nummer Zwei im Lauf. Zwei weitere im Magazin. Paul bleibt tatsächlich stehen und sieht mich seltsam stolz an. »Ich hätte nicht gedacht, dass du die Eier hättest, eine Kugel abzufeuern. Aber damals mit dem Dönermann hast du ja auch bewiesen, dass du es kannst, nicht wahr?« Paul schiebt seine Hände in die Hosentaschen und schaut an mir vorbei und nickt seinem Kumpanen zu, der mit einer geknebelten Martha auf uns zukommt und sich neben Paul stellt. »Ist er bewaffnet?« »Nein. Keine Sorge, du bist die Einzige mit einer Waffe, im Moment«, grinst er mich an. Im Moment? Ich wechsle einen stummen Blick mit Martha, die mir bedeutet zu fliehen, immerhin denke ich, dass sie das meint mit ihren raschen Augenbewegungen und dem Kopfzucken. Bevor Paul etwas sagen oder sein Kumpan reagieren kann, sprinte ich mit der Waffe in der Hand los und bete, dass mich niemand mit der Waffe sieht. Im Lauf hole ich die Patrone aus dem Lauf, ohne sie abzufeuern und stecke sie ins Magazin zurück - das hat mir Paul auch einmal gezeigt und ich bin erstaunt, dass ich es fehlerfrei hinbekommen habe. Ich verberge die Waffe an meinem Rücken, wo ich sie mir wie ein Möchtegern-Gangster in den Hosenbund schiebe. Ich erreiche in gefühlter Rekordzeit das Büro von Schwester Norika und stürme atemlos hinein. »Bitte rufen Sie die Polizei!«, schnappe ich atemlos. »Setzen Sie sich doch erst einmal«, fordert Schwester Norika mich auf, doch ich schüttel nur meinen Kopf. »Nein, keine Zeit. Bitte rufen Sie die Polizei. Martha ist ihm in die Hände gefallen.« Bevor sie noch etwas sagen kann, stürme ich wieder aus dem Büro und die Stufen zu meinem Zimmer empor. Natürlich ist Juli nicht mehr da. Scheiße! Ich durchkämme die Badezimmer und ihr altes Zimmer. Nichts. Unten beim Morgengebet finde ich sie auch nicht, weshalb ich wieder aus dem Internat eile, wo mir ein schmunzelnder Paul gegenübersteht. »Na, deine Liebste nicht gefunden?«, fragt er mich und schnippt dann mit den Fingern. Sofort tauchen hinter seinem Rücken zwei Kerle auf. Den einen kenne ich. Der hält Martha fest. Der andere ist mir völlig unbekannt und halt zu meinem Schrecken Juli fest in seinen Händen. Wie war ihnen das gelungen? »Also, wie schaut es aus, tust du es selbst, oder muss ich es übernehmen?« Ich zerre die Waffe hinter meinem Rücken hervor und ziele zittrig auf Paul, nachdem ich eine Patrone in den Lauf befördert habe. »Wie hast du das geschafft?«, frage ich Paul und nicke zu Juli und sehe dann zu Martha, die ein bisschen mitgenommen aussieht. »Meine Freunde hier«, er nickt seinen beiden Muskelpaketen zu. »Haben euch beschattet und deine Schlampe hier, kurz nachdem du mit der da«, er deutet auf Martha, »laufen gegangen bist, aus deinem Zimmer geholt. Danke, dass ihr euch entschieden habt, ein Zimmer zu teilen. Was ist, wirst du dich nun langsam entscheiden, wem du die erste Kugel in den Kopf jagst?« »Wirst du ihnen etwas tun, wenn ich tue, was du willst?«, frage ich Paul und deutete mit dem Pistolenlauf auf Martha und Juli, bevor ich ihn wieder auf Paul richte. Dieser sieht mich ernst an, bevor er abermals mit seinen Fingern schnippt und die beiden Typen Martha und Juli loslassen. »Lauft«, zischt er grinsen und deutet hinter mich auf das Internat. Martha packt Juli am Arm und zieht sie hinter sich her, obwohl sie an meiner Seite bleiben will. Plötzlich geht alles ganz schnell, einer von Pauls Begleitern zieht eine Waffe und zielt damit auf Julis Rücken und drückt ab. Bisher dachte ich immer, dass es Blödsinn ist, wenn man mir von Zeitlupe erzählt, dass es nur in Filmen vorkommt, doch als ich mich schützend vor Juli werfe und die erste Kugel auf den Schützen abfeuere und ihn durch die Schulter schieße, nachlade und Paul in den Oberkörper schieße und ein drittes Mal nachlade und auch den letzten Typen immerhin am Bein erwische, glaube ich an eine Verlangsamung der Zeit. Als ich auf dem Boden aufkomme, spüre ich einen starken Schmerz und lasse die Waffe in meiner Hand achtlos fallen, als ich mir an den Bauch greife und mich keuchend krümme. Und plötzlich ist es so, als ob jemand den Stöpsel aus der Badewanne gezogen hat und alles in doppelter Geschwindigkeit passiert. Ich höre mich schreien, das bin doch ich? Fühle den unbeschreiblichen Schmerz an meinem Bauch und sehe das Blut an meinen Händen. Durch einen Schleier des Schmerzes sehe ich, wie Paul und einer der Typen ähnlich wie ich auf dem Boden liegen. Als mein Blick auf den dritten Typen fällt, der zu der Waffe seines Kumpels robbt, spüre ich eine ungeahnte Kraft in mir, die mich über den Boden robben lässt und die Waffe vor dem Typen erreichen lässt. Ich ziehe den Schlitten zurück und feuere auf ihn, verfehle ihn aber. Ich schleudere die Waffe weit weg und starre hinauf in den wolkenlosen Himmel, höre die Polizeisirene und sehe ein letztes Mal Julis Gesicht, bevor ich meine Augen schließe. Kapitel 22: Kapitel 21. ----------------------- Ein stetiges Piepen und ein immer wiederkehrendes Flüstern zieht mich aus einer angenehmen Schwärze, von der ich nicht verstehe, wo sie herkommt. Denn ich war doch nur mit Martha Joggen? Bin ich vielleicht umgekippt, weil ich mich überanstrengt habe? Der Versuch, meine Augen zu öffnen, scheitert, weil meine Augenlider viel zu schwer sind und ich zu schwach bin, sie zu heben. Doch nach und nach beginne ich wieder, Herrin über meinen Körper zu werden, und spüre ihn auch wieder. Spüre die Schmerzen. Spüre, dass meine Hände auf beiden Seiten in einer fremden Hand und meine Beine unter einer viel zu dicken Decke liegen. Sorgen macht mir mein Bauch, wo der Schmerz am heftigsten ist. Als hätte jemand nah an meinem Ohr mit einer Nadel einen Luftballon zerstochen, platzen die Erinnerungen zurück in meinen Kopf. Ich drücke die Hände, die in meinen liegen, und reiße meine Augen weit auf. Wo ist Paul, sind Juli und Martha okay? Was ist passiert? Habe ich es geschafft, Juli zu schützen? Diese und noch abertausend weitere Fragen durchfluten meinen Kopf. Mein verschwommener Blick fällt auf eine weiße Decke mit Neonröhren. Die erkenne ich, als meine Sehkraft besser wird und ich mich an das Licht gewöhnt habe. Panik steigt in mir auf, weil ich meinen Kopf, der mit irgendetwas fixiert ist, nicht bewegen kann, und als ich versuche zu schlucken, fühle ich, dass da etwas in meinem Mund und in der Nase steckt. Das Piepen wird schneller, neben mir erklingen Stimmen und jemand spricht davon, schnell einen Arzt zu holen. Bevor ich mich auch nur dagegen wehren kann, wird mir schwarz vor Augen und ich gleite zurück in die Schwärze, aus der ich kam. Das nächste Mal, als ich meine Augen aufschlage, bin ich darauf vorbereitet, dass da etwas in Mund und Nase steckt, doch da ist nichts mehr. Stattdessen ist da ein Schlauch, der um meine Nase herumliegt und mich stetig mit frischem Sauerstoff versorgt. Das Piepen von zuvor erklingt beruhigend gleichmäßig, was mich erleichtert ausatmen lässt. Dieses Mal liegt der Raum beinahe in Dunkelheit. Die Neonröhren sind aus und nur ein kleines Nachtlicht erhellt das Zimmer. In weiter Ferne kann ich Schritte und ein geschäftiges Treiben ausmachen. Meine linke Hand wird von einer Anderen fest umschlossen gehalten und ich spüre warmen Atem, der mich an meinem Unterarm kitzelt. Dieses Mal kann ich meinen Kopf bewegen und ich bin so erleichtert darüber, dass ich ihn direkt einmal von rechts nach links drehe, wo ich einen Schemen sehe, der mit dem Kopf auf meiner Matratze liegt, leise schnarcht und ansonsten auf einem Stuhl sitzt. Mir schießt durch den Kopf, dass das ziemlich unbequem sein muss, als ich spüre, dass sich meine Kehle kratzig anfühlt und meine Lippen trocken und spröde sind. Wie lange ich wohl schon in diesem Krankenhaus liege? Mich vernehmlich räuspernd taste ich nach der Klingel, die da sein muss, wenn ich mich wirklich in einem Krankenhaus befinde, und tatsächlich, als ich gerade aufgeben will, weil es anstrengend ist den Arm zu bewegen, umfassen meine Finger die Klingel. Ich verstehe nicht, warum es so anstrengend ist, meinen Arm zu bewegen, sieht er doch völlig gesund aus. Aber vielleicht versteift der Körper, wenn er eine Weile in derselben Position herumliegt. Ich drücke den Knopf und lasse die Klingel danach einfach aus meiner Hand gleiten, weil ich nicht die Kraft habe, sie weiter festzuhalten. Die schlafende Person regt sich, legt den Kopf etwas weiter auf die Matratze und rutscht mit dem Stuhl näher ans Bett. Mehr nicht. Eine gefühlte, halbe Ewigkeit später steht die Nachtschwester schließlich in meinem Zimmer und kommt zu mir ans Bett. »Alles okay?«, fragt sie mich, als sie sieht, dass ich wach bin und sie ansehe. »Ich«, rasple ich wie ein Reibeisen und es ist schwer weiterzusprechen, weil mein Hals so trocken ist. »Kann ich Wasser haben?« »Aber natürlich, Liebes. Einen Moment«, lächelt die Krankenschwester, drückt meinen Arm sanft, als sie die Klingel wieder neben meine Hand legt und eilt aus dem Zimmer. Ein paar Minuten später ist sie mit einer Karaffe und einem Glas Wasser zurück. Die Karaffe stellt sie auf den Nachttisch, knipst eine kleine Lampe an und hält mir dann das Glas an die Lippen. »Nicht so schnell«, flüstert sie mir zu, als ich gierig versuche, die Flüssigkeit in meinen Mund zu bekommen. »Langsam. Einen Schluck nach dem Anderen, du hast eine lange Zeit nichts getrunken.« Weil ich nicht auf ihre Worte gehört habe, verschlucke ich mich nach dem dritten Schluck und verfalle in einen krampfartigen Hustenanfall, der meinen ganzen Körper schmerzen lässt. Ich spüre, wie der Kopf neben mir hochschreckt und ich erkenne meine Schwester, die mich nun panisch ansieht. Die Krankenschwester hilft mir, mich ein bisschen aufzurichten, und reibt mir beruhigend dort den Rücken, wo sie ran kommt. Nach einer gefühlten Ewigkeit fange ich mich wieder und schaffe sogar ein Grinsen in Laris Richtung. »Hey Süße«, röchel ich und sehe danach bittend zu der Krankenschwester. »Noch mehr? Kannst du versuchen, das Glas selber zu halten?« Ich nicke und sie drückt mir das Glas in die Hand. Es ist anstrengend, den Arm zu beugen und das Glas festzuhalten, aber mit genügend Konzentration geht es. »Nach einem mehrtägigen künstlichen Koma ist es völlig normal, dass sich ihre (Ihre) Muskeln erst wieder an ihre Aufgaben erinnern müssen. Keine Sorge, in ein paar Tagen ist so etwas wieder ganz alltäglich für Sie.« Künstliches Koma? Fragend schaue ich Lari an, als die Krankenschwester nach einem Routinecheck das Zimmer verlässt. Ich liege in einem Einzelzimmer, stelle ich fest, und lehne mich unter Schmerzen ins Kissen zurück. Die Krankenschwester hat mir das Kopfteil so verstellt, dass ich eine Weile im Bett sitzen kann. »Romy«, weint Lari und drückt meine Hand. »Ich bin so froh. Die Anderen werden sich freuen zu hören, dass du endlich aufgewacht bist.« »Wie lange?«, kann ich meine Stimmbänder überreden, hervorzubringen. »Eine Woche«, schnieft Lari. »Man hat dich in ein künstliches Koma versetzt und die Narkose nach und nach reduziert, aber auch als nichts mehr geflossen ist, wolltest du einfach nicht aufwachen.« Überrascht starre ich Lari an. Eine Woche Bevor ich meinen Stimmbändern eine weitere Frage abringen kann, klopft es am Türrahmen. Dort steht ein Mann in Polizeiuniform und sieht Lari an. »Ist sie vernehmbar?« »Nein«, faucht Lari und sieht ihn bitterböse an. »Sie ist eben erst aufgewacht. Setzen Sie sich wieder auf den Stuhl vor dem Zimmer und tun weiter so, als wäre meine Schwester eine Schwerverbrecherin.« »Bleiben Sie ruhig, Lady«, wehrt der Mann ab und hebt beschwichtigend seine Hände und geht rückwärts aus dem Raum. »Ich gebe nach dem Frühstück meinem Vorgesetzten Bescheid«, sagt er noch, dann drückt er die Zimmertür ins Schloss und ich höre, wie Lari wütend schnaubt. Ich drücke ihre Hand beruhigend und sehe sie hoffentlich fragend an. Ich glaube nicht, dass meine Stimmbänder noch ein Wort herausbekommen. Lari seufzt leise. »Der sitzt da draußen, damit du nicht flüchtest«, knurrt Lari. »Du bist eine wichtige Zeugin für die Eierköpfe und unter Arrest wegen versuchtem Mord, Totschlag und schwerer Körperverletzung.« »Was?«, stoße ich überrascht aus und huste leicht. Ich bedeute Lari, mir Wasser nachzuschenken. »Paul und seine beiden Kumpanen haben dich angezeigt und waren geständig, was andere Dinge angeht.« Ich trinke langsamer und nicke Lari auffordernd zu, dass sie weiter sprechen soll. »Niemand glaubt, dass du wirklich versucht hast, die Typen zu ermorden, aber die Leute vom Gericht müssen eben alles vernünftig prüfen. Weil eben Waffen im Spiel waren und du mindestens vier Schüsse aus zwei verschiedenen Waffen abgefeuert hast. Der Totschlag und die schwere Körperverletzung macht uns zu schaffen.« Lari erzählt mir, dass es den Anderen gut geht und Paul mit seinen Kumpanen, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurden, direkt in die U-Haft gewandert sind. Mir ist völlig egal, was man mir vorwirft oder was mit Paul ist, am wichtigsten ist es für mich, dass Lari mir bestätigt hat, dass es Juli und allen Anderen, die irgendwie involviert waren, gut geht.   Nach so viel Input muss ich wieder eingeschlafen sein. Denn das nächste Mal, als ich erwache, ist Lari nicht mehr bei mir und im Zimmer ist es hell, weil die Sonne durch die Fenster scheint. Bevor ich dazu komme, meine Augen, noch einmal zu schließen, kommt ein Mann mit einem Tablett herein. »Frühstück. Schonkost und eine Tasse Tee. Guten Appetit«, lächelt er mich an, stellt mir das Tablett auf den ausfahrbaren Tisch des Nachtschranks und schiebt den Nachtschrank so, dass ich mein Essen locker erreichen kann. Bevor ich etwas sagen kann, ist er auch schon wieder verschwunden. Schonkost also. Seufzend hole ich mir die Teetasse und nippe vorsichtig daran. Lari hat mir erzählt, dass die Kugel meinen Magen gestreift und den Rücken durchbohrt hat und die Ärzte lange Zeit nicht wussten, ob ich durchkomme. Jetzt habe ich einen durchbohrten Magen und muss Schonkost essen. Es könnte schlimmer sein, denke ich, und schiebe den Tisch appetitlos von mir. Die Tasse Tee behalte ich. Wärme tut meinen Stimmbändern gut. Nach einer halben Ewigkeit klopft es an der Zimmertür und eine Schar Weißkittel kommt in mein Zimmer. »Guten Morgen Frau Schneider«, begrüßt mich ein Arzt. Er erklärt seinen Untergebenen, was ich habe, und sieht mich dann ernst an, als er auf das unberührte Essen blickt. »Sie müssen essen, sonst werden Sie kaum wieder Fast Food essen können«, zwinkert er mir zu und erklärt mir noch ein paar medizinische Sachen, dich ich zwar höre, aber nicht wirklich verarbeite. »Fühlen Sie sich in der Lage, eine Aussage zu machen?«, fragt der Arzt mich, als er den Polizisten im Türrahmen stehen sieht. Ich nicke und die Weißkittel lassen mich mit dem Mann allein. Nach einer knappen Aussage schließe ich erschöpft meine Augen und drifte in die angenehme Schwärze zurück. Aus der ich gerissen werde, als man mir das Mittagessen bringt. Auch wieder Schonkost. Seufzend versuche ich mich an einigen Bissen, höre aber sofort auf, als die Schmerzen wieder präsenter werden. Irgendwann am Nachmittag bekomme ich Tee gebracht und meine Eltern kommen mich mit Lari besuchen. Ich spreche nicht, höre mir an, wie froh meine Eltern sind, dass ich wieder unter den Lebenden weile, und schicke sie nach einer halben Stunde stumm fort, weil ich ihnen meine schlechte Laune nicht antun will. Denn die, die ich wirklich sehen will, lässt sich nicht blicken, was meine Brust schmerzen lässt und mir einige Tränen entlockt, die ich wütend wegwische, als ich beim Abendessen sehe, dass man noch immer vor meinem Zimmer Wache schiebt. Vermutlich saß Juli in der Schule fest und konnte nicht einfach so her kommen, versuchte ich mich zu beruhigen, als die Sorge in meiner Brust von einer kleinen Limette zu einer großen Apfelsine anschwillt. Welcher Wochentag ist eigentlich, beginnt der rationale Teil in mir zu fragen, als ich eine Scheibe Brot esse und eine weitere Tasse Tee vernichte. Fünf Tage später, es ist Freitag, bin ich bereit, meine Bettpfanne zu schnappen und dem Polizisten vor meiner Tür damit eine überzuziehen, weil er einfach nicht verschwindet. Werde ich noch immer wegen Mordverdachts beobachtet? Lari war noch drei Mal da. Einmal mit Nina, die Laris Hand die ganze Zeit hielt. Zwar freue ich mich für die Beiden, dass sie es endlich geschafft haben, aber das Monster in meiner Brust wütet nun nur noch mehr, weil es neidisch ist. Ich zappe gerade uninteressiert durch das Nachmittagsfernsehprogramm, als es kurz an meiner Tür klopft und Juli im nächsten Augenblick auf mich zugestürzt kommt. Ich atme ihren Geruch ein und spüre, wie eine Anspannung von mir abfällt, von der ich gar nicht wusste, dass sie so schlimm war. »Da bist du ja endlich«, flüstere ich und klinge noch immer wie ein Reibeisen, weil ich meine Stimme nur selten benutze dieser Tage. »Ich wollte schon zu dir, als Lari mich Montag früh angerufen hat, aber die Schule hat mich nicht freigestellt.« Etwas besänftigt streiche ich ihr federleicht durch die Haare. »Jetzt bist du ja da, komm setz dich neben mich«, fordere ich sie auf und rutsche mühsam zur Seite. Wie lange würde mich diese Schusswunde noch quälen? Der Arzt meinte heute bei der Visite, dass mein Magen erst vernünftig ausheilen muss, bevor es nicht mehr schmerzt. Juli zieht sich ihre Jacke aus und setzt sich dann neben mich und ergreift meine Hand. Wir reden über die Schule, das Schauspiel, welches einen Ersatz-Romeo hat, über Martha, die mich auch besuchen wollen würde, wenn sie nicht am anderen Ende des Bundeslands zu Hause wäre. Erst nach zwei Stunden spricht Juli Paul und seine Kameraden an. »Ich habe für dich ausgesagt, wir glauben alle, dass sie dich für nichts dran kriegen können. Danke übrigens, dass du dich so ritterlich vor mich geworfen hast«, flüstert sie und küsst mich auf die Wange. »Jederzeit wieder«, hauche ich und drücke ihre Hand fester. Juli geht erst, als die Nachtschwester sie hinauswirft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)