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Rezitatorenwettstreit 2003 Lyrik, Rezitation, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Das Thema lautete "Alter-nativ".



Die Spitze

I
 
Menschlichkeit: Namen schwankender Besitze,
noch unbestätigter Bestand von Glück:
ist das unmenschlich, daß zu dieser Spitze,
zu diesem kleinen dichten Spitzenstück
zwei Augen wurden? - Willst du sie zurück?
 
Du Langvergangene und schließlich Blinde,
ist deine Seligkeit in diesem Ding,
zu welcher hin, wie zwischen Stamm und Rinde,
dein großes Fühlen, kleinverwandelt, ging?
 
Durch einen Riß im Schicksal, eine Lücke
entzogst du deine Seele deiner Zeit;
und sie ist so in diesem lichten Stücke,
daß es mich lächeln macht vor Nützlichkeit.
 
 
II
 
Und wenn uns eines Tages dieses Tun
und was an uns geschieht gering erschiene
und uns so fremd, als ob es nicht verdiene,
daß wir so mühsam aus den Kinderschuhn
um seinetwillen wachsen -: Ob die Bahn
vergilbter Spitze, diese dichtgefügte
blumige Spitzenbahn, dann nicht genügte,
uns hier zu halten? Sieh: sie ward getan.
 
Ein Leben ward vielleicht verschmäht, wer weiß?
Ein Glück war da und wurde hingegeben,
und endlich wurde doch, um jeden Preis,
dies Ding daraus, nicht leichter als das Leben
und doch vollendet und so schön als sei's
nicht mehr zu früh, zu lächeln und zu schweben. 

Rainer Maria Rilke

Rezitatorenwettstreit 2006 Lyrik, Rezitation, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Der Wettstreit im Jahre 2006 fand zum ersten Mal nicht in unserer Schulaula statt, sondern im Goethetheater in Bad Lauchstädt. Das Thema lautete "Glotzt nicht so romantisch!" und basierte auf einer Aussage von Brecht. Dazu habe ich mir das Gedicht von einem deutschen Autoren herausgesucht, der heftige und sarkastische Texte beim Ubooksverlag veröffentlicht, die sehr viel Gesellschaftskritik, aber auch auf eine skurile Art und Weise Schönheit beinhalten.

 

Flieg, Gedanke

Man fand Oleandra
Nackt auf dem Bett
Dieses Billighotels
Auf blutgetränktem Laken
Eine geleerte Flasche Whiskey
Ca. 10 Schachtel Zigaretten
Halten einzig und allein
Die Totenwachen
Und sind gleichzeitig
Zeugen eines Schrittes
Richtung Ausgang

Ihr Hirn klebt am Spiegel
Das waren ihre Gedanken
Die sie beizeiten um ein Projektil wickelte
Und außerhalb ihres schönen Kopfes verbreiten wollte

Jetzt sind ihre Gedanken
Ein undefinierbarer Haufen
Toter Zellen
Vermengt mit Blut
Für Sekunden
Zwischen ihrem Schädel
Und dem Spiegel
Durch luftleeren Raum
Freundlich tänzelnd

Universen, die außerhalb ihres Kopfes
Ihre verwundeten Runden zogen
Mit ihren Gedanken aufzuspalten

So ihr Wille
So diese Tat
Tatsächlich

Ihr Gesicht liegt neben ihrem Kopf
Und lacht über sie
Sie ist aber schon lange weg
Richtung Ausgang

Niemand konnte in ihren Kopf sehen
Jetzt schon
Aber verstehen
Kann man sie trotzdem nicht
Mehr ...

Dirk Bernemann

Rezitatorenwettstreit 2007 Lyrik, Rezitation, Zitatsammlung

Autor:  halfJack
Dies ist das Gedicht, das ich auf meinem letzten Rezitatorenwettstreit zum Thema "Leonardo DaVinci" vorgetragen habe. Es stammt aus den "Blumen des Bösen" von Charles Baudelaire.



Die Leuchttürme


Rubens, du Strom Vergessens, Garten lässiger Lüste
Und Pfühl von Fleisch, drauf Liebe nicht gedeiht; doch her
Das Leben strömt und ewig wogt; so bebt die Wüste,
So schwingt die Luft im Blau und schwillt im Meer das Meer.

Lenardo Vinci, unvermessner dunkler Spiegel,
Drin Engel ohne Harm mit süßem Lächelmund,
Den noch verschlossen hält geheimen Wissens Siegel,
In Gletscherschatten ruhn und in Zypressengrund.

Rembrandt, Siechenhaus, wo trübes Raunen lauert
Und dessen Dunkel nur ein Crucifixus schmückt,
Wo weinendes Gebet aus Unrathaufen schauert,
Die winterlich Geleucht in jähem Strahl durchzückt.

O Michelangelo, du Land, wo Urweltrecken
Den Heilanden gesellt sind und im Dämmerlicht
Gespenster schwer von Kraft sich hoch wie Säulen strecken
Und starrer Finger Krampf der Laken Fessel bricht.

So schamlos wie der Faun, verbissen wie die Ringer,
Du, der des Packes Schönheit auf vom Boden las,
Puget, du Herz voll Stolz, du Fahler und Geringer,
Ein Rudersklavenfürst, der nie vom Schmerz genas.

Watteau, du Mummenschanz, Wo viel erlauchte Herzen
Den Schmetterlingen gleich sich wiegen im Geloh,
Gebrächlich Ziergebräu, verklärt durch Flimmerkerzen,
Aus den der Taumel in des Reigens Wirbel floh.

Goja, du Albdruck schwer von ungewussten Dingen,
Von Frühgeburten gargekocht beim Hexenfest,
Von Spiegelalten und von Mädchen zart, die Schlingen
Selbst Teufeln legen, zerrn sie nackt die Strümpfe fest.

Delacroix, du Blutsee heimgesucht von Mahren,
Verschattet von des Tanns unsäglich grünem Blick,
Wo unter bleichen Himmeln seltsame Fanfaren
Verwehn wie leise Seufzer Weberscher Musik.

O ihr Verwünschungen, ihr Flüche, Tränen, Lallen,
Verzückte Schreie, Lobgesänge laut und stumm,
Seid Echos, die aus tausend Labyrinthen hallen!
Ihr seid dem Herz, das stirbt, ein göttlich Opium!

Und das ist gut, denn sieh: wir können, Herr und Walter,
Kein besser Zeugnis geben unsrer Würdigkeit
Als dies Geschluchz von Glut, das Alter wälzt zu Alter
Und sterben geht am Grenzwall deiner Ewigkeit!


Charles Baudelaire



Es ist interessant, zu sehen, wie unterschiedlich ein und dasselbe Gedicht übersetzt werden kann. Hier ist eine andere deutsche Version.



Die Leuchttürme


Rubens, der Trägheit Garten, des Vergessens Bronnen,
Ein Lager blüh'nden Fleisches, der Liebe leer,
Doch so von Leben und von Glut durchronnen
Wie von der Luft das All, das Meer vom Meer.

Leonard da Vinci, Spiegel tief und dunkel,
Wo Engel lächeln süss und rätselschwer
Aus Fichtenschatten, grünem Eisgefunkel
Von ihrer Heimat Gletschergipfeln her.

Rembrandt, das Haus der Traurigen und Kranken,
Von einem hohen Kruzifix erhellt,
Gebete, Seufzer überm Unrat schwanken,
Ein kalter Schimmer jäh ins Dunkel fällt.

Buonarroti, fern, wo Riesenschatten schweben,
Wo Herkules mit Christus sich verband,
Gespenster steil aus ihrer Gruft sich heben,
Mit starrem Finger fetzend ihr Gewand.

Der in des Pöbels Wut, des Fauns Erfrechen,
Der Schönheit fand selbst in der Schurken Reich,
Puget, du grosses Herz voll Stolz und Schwächen,
Der Sklaven König, kummervoll und bleich.

Watteau, ein Fest, wo Herzen leuchtend irren,
Den Schmetterlingen gleich, ein Faschingsball,
Lieblicher Zierat, Glanz und Lichter schwirren
Und Tollheit wirbelnd durch den Karneval.

Goya, ein Nachtmahr, ferner wirrer Schrecken,
Leichengeruch vom Hexensabbat weht,
Wo, lüsterner Dämonen Gier zu wecken,
Die nackte Kinderschar sich biegt und dreht.

Und Delacroix, Blutsee, wo Geister hausen.
Im Schatten tief, der Himmel schwer wie Blei,
Wo durch die trübe Luft Fanfaren brausen
Seltsamen Klangs, wie ein erstickter Schrei.

Dies alles, Fluch und Lästerung und Sünden,
Verzückungsschrei, Gebet und Todesschmerz
Ist Widerhall aus tausend dunklen Gründen,
Berauschend Gift für unser sterblich Herz.

Ein Schrei ist's, der da gellt in tausend Stürmen,
Die Losung, die von tausend Lippen schallt,
Leuchtfeuer, das da flammt von tausend Türmen,
Des Jägers Ruf, der durch die Wildnis hallt.

Ein Zeichen, Gott, das wir dir bringen wollen,
Vor deinen Herrlichkeiten zu bestehn,
Glühende Tränen, die durchs Weltall rollen
Und an der Ewigkeiten Rand vergehn.


Charles Baudelaire

Rezitatorenwettstreit 2005 Bericht, Rezitation

Autor:  halfJack

Frühling, Sommer, Herz und Kinder

Ihr sitzt auf einem der vielen Stühle im Saal der Aula. Aus den unteren Klassen haben die ersten Rezitatoren des Wettstreites an dieser Schule schon vorgetragen. Die Theatergruppe und der Chor sind ebenfalls mit ihren Auftritten fertig. Nun ist die Pause vorbei und Ruhe kehrt langsam in den Saal ein.
Auf der Erhebung vor den im Saal Sitzenden steht ein Stuhl. Auf ihm sitzt eine Schülerin, klein, kurzen Haars. Sie trägt einen bordeauxfarbenen Rock, ansonsten schwarz. Ihr Gesicht ist betreten gesenkt. Sie ist die Mutter.
Neben ihr liegt eine weitere Schülerin, groß, gekleidet in ein schwarzes Kleid, barfüßig. Ihre Augen sind verschlossen.
„Ich weiß nicht, was passiert ist“, sagt die Mutter und wendet sich damit ernst an die Zuschauer, an euch, „Was soll denn auch passiert sein?“ Ihre Stimme wird fast trotzig. Sie beschimpft euch.
„Sollten Sie mir das nicht sagen?“
Was meint ihr? Seid ihr dafür verantwortlich, der Mutter zu sagen, was passiert ist? Sollte sie das nicht selbst wissen?
„Ich weiß es nicht.“ Das ist ihre Antwort. Sie glaubt, sie weiß es nicht.
„Sie war doch meine Tochter“, ruft sie euch verzweifelt zu, „Wie konnte das geschehen?“ Die Frage verhallt leise im Saal. Verstört nimmt die Mutter die Hände vor das Gesicht. Sie sieht nicht, dass das Kind, welches neben ihr liegt, die Augen öffnet und sich langsam erhebt.
Sitzend schaut es zur Mutter und fragt leise, naiv:
„Mama?“
Die Mutter schreckt hoch, steht vom Stuhl auf. Der Schreck weicht jedoch schnell. Sie schaut ihr Kind überfreundlich an, geht ein paar Schritte auf es zu und spricht:
„Na, was ist mit dir?“
„Mama?“, lächelt das Kind eindringlich zurück.
„Ich weiß“, sagt die Mutter liebevoll und wendet sich halb von ihrem Kind ab, „dass dir nie…“
„Mama?“, fragt das Kind ungeduldig hinein.
„Dass dir nie etwas passiert ist, denn…“, fährt sie unbeirrt fort.
„Mama?“ Es hört der Mutter nicht zu, fällt ihr ins Wort.
„Denn ich bin…“
„Mama?“
„…ja immer bei dir.“
„Mama?“
„Sei still!“
Sie ist wütend, verständlicherweise, oder? Ihr Kind schweigt erschrocken.
Nun ist sie wieder freundlich.
„So ist es brav“ In ihrer Stimme schwingt ein herrischer Ton, der sich nun in lächerliche Hebammensprache wandelt:
„Mami will doch nicht, dass dir etwas zustößt.“ Ihr Blick wird glasig, sie schaut über das Publikum und redet plötzlich in Gedanken versunken:
„Nein… das will sie nicht.“
Das Kind, noch immer sitzend, beobachtet die Mutter, wie sie langsam zu dem Stuhl zurückweicht, sich darauf niedersinken lässt und den Blick euch zuwendet. Sie scheint die Fassung wiederzugewinnen.
„Sie hätten ihr helfen müssen!“ Das ist allerdings eine harte Beschuldigung. Lasst euch das durch den Kopf gehen. Es lag an euch. Warum habt ihr nicht geholfen?
„Ich will wissen, wer der Schuldige ist!“ Das will man immer wissen. Bei wem liegt die Schuld? Wer ist schuldig?
„Wer hat das meiner Tochter angetan?“ Sie spricht langsam, sehr ernst und schaut nun über die Menge. Ihre Augen bleiben an manchem Gesicht hängen, auch an eurem. Die Mutter blickt euch in die Augen. Sie hat euch erkannt. Ihre Miene spiegelt Verzweiflung wider, während sie euch anschaut. Das Kind erhebt sich aus seiner sitzenden Lage und betrachtet kniend seine Mutter.
„Ich habe sie doch geliebt“, sagt sie. Hört ihr das? Es sollte euch wehtun, daran zu denken. „Ich habe meine Tochter geliebt.“
Neugierig fragt ihr Kind erneut:
„Mama?“
„Halt den Mund!“ Mit wutverzerrtem Gesicht ist sie aufgesprungen.
„Mama?“, entgegnet das Kind ängstlich.
Seine Mutter dreht sich um, legt die Hände auf die Ohren und spricht apathisch flüsternd immer wieder die Worte:
„Halt den Mund. Halt den Mund…“
„Mama?“ Das Kind fragt verstörter, flehend, „Mama?“
„Halt den Mund“, redet sie beschwörend zu sich selbst.
„Mama!“, schreit das Kind nun endlich.
Sie hält inne, wendet den Blick verwirrt zum Kind, schweigt. Dieses schaut sie beschuldigend an und ruft dann fordernd:
“Lutscher!“
Erneut kehrt die Mutter zu ihrer Hebammensprache zurück und antwortet:
„Aber nein, mein Kleines. Das ist nicht gut für dich. Das ist schlecht. Ich will doch nicht, dass dir etwas zustößt“, ihre Stimme wird leiser, „Ich muss…“
Sie weicht wieder zurück.
„… doch schließlich auf dich aufpassen.“
Scheinbar erschöpft lässt sie sich auf den Stuhl fallen und wendet sich wieder dem Publikum zu. Das Kind kniet weiterhin, während es seine Mutter fragend betrachtet. Diese ruft nun aufgebracht in die Menge:
„Sie wollen mir die Schuld in die Schuhe schieben? Ich will wissen, wer meine Tochter umgebracht hat und sie beschuldigen mich!? Ich liebe meine Tochter...“
Von ihr unbemerkt erhebt sich das Kind langsam und steht bald darauf aufrecht. Seine Mutter fährt fort:
„Ich würde ihr das niemals antun. Halten sie den Mund!“ Den letzten Satz schreit sie fast.
„Mutter?“, fragt das Kind erwachsen und ernst.
Erschrocken dreht sie sich zu ihm um, bleibt jedoch sitzen und spricht verwirrt und ängstlich, als sei ihr Kind das Unheil selbst:
„Was willst du hier?“
Freundlich lächelt das Kind und geht auf seine Mutter zu. Noch immer bleibt sie sitzen, als ihre Tochter sie zu umkreisen beginnt und fröhlich singt:
„Sie geht um den Kreis, sodass niemand es weiß. Wer sich umdreht oder lacht…“
Das Kind bleibt stehen und lacht. Die Mutter wendet den Blick ab und schaut vor sich auf den Boden. Gedankenversunken redet sie vor sich hin, man kann nicht sagen, mit wem sie spricht:
„Ich wollte nicht, dass das geschieht. Ich habe doch immer auf sie Acht gegeben. Es war nicht meine Schuld. Ich würde so etwas niemals tun. Ich liebe meine Tochter.“
Für den Zuschauer avanciert das Gerede fast du einem Brabbeln. Das Kind steht neben dem Stuhl und betrachtet seine Mutter, bevor es sich dem Publikum zuwendet und in überzeugtem Ton sagt:
„Meine Mutter liebt mich.“
Apathisch beginnt diese den Satz:
„Ich liebe sie wirklich…“
„…Wirklich“, beginnt das Kind zur selben Zeit, „Sie liebt mich.“
„Ich wollte nicht, dass das geschieht“, sagt euch die auf dem Stuhl Sitzende verzweifelt.
„Sie wollte nie, dass das geschieht“, pflichtet ihr das Kind bei, doch unterdrückte Verachtung mischt sich in seine Stimme, „Sie hat immer auf mich Acht gegeben. Es war nicht ihre Schuld.“
„Es war nicht meine Schuld“, sagt die Mutter leise.
„Sie würde so etwas niemals tun“, erklärt euch ihre Tochter weiter, „Sie würde mich niemals schlagen, weder mit dem Kochlöffel noch mit dem Kleiderbügel.“
„Das würde ich niemals tun“, beschwört die Mutter lauter.
„Sie würde mich nicht auf dem Balkon schlafen lassen, damit ich sie nicht mehr störte.“
„Das würde ich niemals tun.“
„Sie würde nicht meine Hände auf die Herdplatte drücken, wenn sie wütend ist.“
„Das würde ich niemals tun.“
„Sie würde mir nicht die Hände um den Hals legen und zudrücken, damit sie endlich ihre Ruhe vor mir hätte.“
„Das würde ich niemals tun.“
„Sie…“, das Kind zögert und fährt nur sehr langsam fort, „…hätte mich niemals umgebracht.“
Die Mutter öffnet den Mund, als wolle sie etwas sagen, schaut über das Publikum und schweigt. Betreten schaut sie zu Boden und senkt immer weiter den Blick.
Das Kind läuft hinter dem Stuhl der Mutter entlang auf die andere Seite, scheinbar tief in Gedanken versunken. Schließlich bleibt es stehen, schenkt den Zuschauern ein Lächeln und sagt:
„Das hätte sie niemals getan.“