Zum Inhalt der Seite




Dokumentarisches Theater: Punk DDR, Dokumentarisches Theater

Autor:  halfJack

Vorführung im Museum zum Thema Scham und Stasi
Endversion:

Eine unaufgeräumte Wohnung, Blätter liegen auf dem Boden. A sitzt auf einem Tisch, neben ihm ein Kassettenspieler. Laute Punkmusik ist zu hören.

B kommt herein.

Musik aus.

A: „Hast du schon gehört? Die Bullen suchen nach dir.“

B: „Waren sie hier? Haben sie die Wohnung durchsucht?“

A: „Nein, sie haben ein paar unserer Leute auf der Straße befragt. Aber sie werden sicher bald hier aufkreuzen.“

B: „Dann wäre es besser, wenn sie die Texte nicht finden.“ B greift aufgeregt nach den Blättern am Boden, auf denen die Zitate des Dialogs stehen, und heftet sie an die Wand.

A: „Du hast Angst, das ist klar. Angst davor, dass die Bullen vor deiner Tür stehen und probieren mit deinen Texten ein Ding zu drehen.“

B: „Für die ist das nur konspiratives Gedankengut, das vernichtet gehört. Wenn es weg ist, ist es weg. Das sehe ich nie wieder, höchstens in Untersuchungshaft, als Beweisobjekt bei einer Befragung.“ B hebt ein weiteres Blatt auf, wendet sich von A ab und dem Publikum zu, spricht leise, aber deutlich, wobei er das Blatt weiter mustert. „Denen ist es egal, ob mir das wehtut. Die kennen kein Mitleid und keine Scham. Wenn sie das vernichten, zerstören sie ein Stück von mir selbst.“

Musik an.

B (schreiend über die Musik): Ich habe die Geschichte nicht gemacht
Und bin doch abgegrenzt und scharf bewacht
Sie sprechen vom Arbeiter- und Bauerstaat
Und vernichten ihre eigene Saat
Ich weiß nicht, hätte Marx geweint oder gelacht,
könnte er sehen, was ihr mit uns macht
Wir sind neugeboren in Trauer.“

Musik aus. A steht auf, geht zu B.

B: „Wir sind die Fehlgeburten der Mauer.“

A nimmt B den Zettel ab, hält ihn warnend hoch.

A: „Das kann dir eine Menge Ärger einbringen.“

A behält den Zettel den Rest der Szene bei sich.

B: „Ärger habe ich auch so. Überall kontrollieren sie dich, nehmen dir den Ausweis, rauben dir die Identität. Wo sollen wir denn hin? Sind wir eine Gefahr? Ich glaube, das ist reine Schikane, weil wir nicht ins Bild passen. Wir provozieren, klar, aber wir wollen doch bloß tun, worauf wir Lust haben. Wenn du nur mal zu einem Konzert willst, hält die Transportpolizei dich so lange fest, bis der Zug abgefahren ist. Ich habe Verbote für öffentliche Plätze und ganze Stadtviertel, nur weil ich mich dort mal mit meinen Freunden treffe. Ich darf praktisch nur noch die Strecke zwischen meiner Arbeitsstelle und der Wohnung benutzen. Sogar willkürliche Festnahmen sind eine Alltäglichkeit geworden.“

A (ironisch militaristisch): „Die Bezeichnungen sind nicht korrekt, Genosse. Im Neusprech des Staatsapparats nennt man das anders. Ansammlungen von mehr als drei Personen sind eine 'Zusammenrottung' und Festnahme heißt offiziell 'Zuführung'.“

B: „Da hast du Recht, man kann ohne weiteres bis zu 24 Stunden lang auf irgendeiner Polizeistation zugeführt sein.“

A: „'Zur Feststellung eines Sachverhaltes'.“

B: „Sobald ich mich mit ein paar von unseren Leuten gleichzeitig an einem Ort befinde, sind wir keine Freunde mehr, sondern...“

A: „...eine ‚antikommunistische Gruppierung’.“

B: „Dabei klingt das wie ein Widerspruch in sich. Kommunismus sollte doch von Gemeinschaft leben. Stattdessen wird jeder zwischen den Mauern isoliert und bloßgestellt. Ich frage mich, wo ich die nächste Nacht verbringen werde.“ B geht auf die Knie und nimmt die Hände auf den Rücken. „Wieder im Hof eines Polizeireviers, festgeknotet an einem Fahnenmast?“ Während A spricht, heftet B nun nach und nach weitere Zettel an die Wand.

A: „Letztens wurde ich für zwölf Stunden in Polizeigewahrsam genommen, weil ich die Straße diagonal überquert habe. Die Polizisten haben mich mal wieder in eine Diskussion über mein 'unsozialistisches und dekadentes Aussehen' verwickelt, das aus schwarz gefärbten Haaren und Schnürstiefeln besteht. Ich habe aus der DDR-Verfassung zitiert, dass jeder aussehen darf, wie er will und es nicht auf das Aussehen ankommt, dann wies ich darauf hin, dass Margot Honecker, unsere Volksbildungsministerin und die Frau des Staatsratsvorsitzenden, sogar blau gefärbte Haare hat. Als ich die Genossen in Widersprüche verstrickte, kam der überzeugende Satz: 'Nun werden se nich noch frech!'“

B (lachend): „Den Satz müssen sie wohl in der Ausbildung wieder und wieder üben. Ich kann es mir richtig vorstellen. Eine Reihe von Beamten und Obermeister Meier sagt: ‚Sprechen sie mir nach!‘ Und alle: ‚Nun werden se nich noch frech!‘“

B will weitere Zettel vom Boden aufheben, hält aber im Folgenden inne und hört A zu.

A: „Wir fuhren auf irgendein Polizeirevier und ich musste mich dort ausziehen, damit meine Sachen genau überprüft werden konnten. Die haben jeden Zettel gründlich studiert und jede Kassette abgehört, während ich mehr oder weniger nackt daneben stand.“

B (sich abwendend und leise): „Hast du dich da nicht geschämt?“

Musik an.

A sitzt wieder auf dem Tisch und B hängt nun allmählich die letzten Zettel an die Wand.

B (nach einer Pause laut): „Man traut sich kaum, die Wohnung zu verlassen. Aber vielleicht ist es sogar hier nicht sicher.“

Musik aus.

A: „Meinst du nicht, du übertreibst?“

B: „Die haben uns doch von Anfang an umsorgt und umlagert. Kannst du dich nicht erinnern? Unser erstes Konzert hatten wir mitgeschnitten, und die Aufnahmen wurden sofort geklaut. Oder wenn sie dir ganz detailliert Sachen erzählen, von denen kaum einer was weiß. Das ist doch alles merkwürdig.“

A (ironisch unheilvoll): „Und beim Nachhausekommen meinst du wohl, du spürst, dass jemand in der Wohnung war. Vorhänge im Nebenhaus scheinen sich zu bewegen. Ach, hör doch auf. Wenn wir reden wollen, sollten wir sonst vielleicht besser auf die Straße gehen.“

B: „Das Schlimmste bei solchen Ängsten ist doch gerade die Frage: Ist das wahr oder träumst du das bloß?“ B hängt den letzten Zettel an die Wand, der Boden ist nun leer. „Der ganze Bullenstress und die ständige Überwachung nerven auf die Dauer zwar ganz schön, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.“ Wendet sich wieder von A ab, dem Zuschauer zu und spricht leise, wie für sich. „Kann man sich an so etwas gewöhnen und nichts mehr dabei fühlen? Wenn ich mich auf mein Gefühl verlasse, dann ist die Paranoia real. Man muss sich damit auseinandersetzen und darauf achten, mit wem man wie spricht. Darum bin ich froh, mich auf meine Freunde verlassen zu können.“ Während B abgewandt ist, faltet A langsam das Blatt vom Anfang zusammen und schiebt es schließlich in seine Hosentasche, wo es ein Stück hervorlugt.

Stimme aus dem Publikum: „Das eigentlich Überraschende für uns war im Nachhinein, dass die Stasi direkt unter uns gewirkt hat, also aktive Macher in der Szene hatte. Wir hatten geglaubt, dass sich die peripheren Mantelträger um uns kümmern. Wir haben nicht gewusst, dass da Freunde und Kollegen involviert sind.“

A: „Unsere Aufmüpfigkeit war altersgemäße, pubertäre Unzufriedenheit.“

B: „Ob uns das nicht peinlich war? Mit zerrissenen Hosen und wilden Haaren, während die Leute dich anstarren und murmeln: Dass die sich nicht schämen.“

A: „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt.“

B: „Bei dem einen Mal, da hatte ich irgendsoein Top an und da knallte mir die linke Brust raus. Na ja, ich steck die doch nicht wieder rein, ich lass die doch draußen. Die haben auch alle gedacht, das gehört dazu. Vorher war ich im Grunde genommen beschämt, katholisch und romantisch. Und da stieg ich auf die Bühne und ja, ist mir doch wurscht, ob der Busen rausguckt oder nicht. Da hat sich schon viel in mir verändert. Was bringt es denn auch? Du kannst dir nicht die ganze Zeit Gedanken machen, was andere über dich denken. Dir selbst ist das viel wichtiger als den anderen.“

Publikum: „Dass die sich nicht schämen.“

B: „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt.“

A: „Irgendwann merkst du, dass es egal ist. Weil du dem Apparat egal bist. Also muss man machen, dass es wirklich keine Rolle mehr spielt. Dann können sie dich auch nicht mehr bloßstellen.“

Publikum: „Dass die sich nicht schämen“

A: „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt.“

B: „Punk war unser Ausdrucksmittel. ‚Anarchie’ war nur ein Symbol dafür, dass wir uns nicht unterordnen wollten. Eigentlich ganz normaler Teeniekram: Musik, Radau und Provokation. Wir wollten mit lustigen Aktionen schocken. Randale war immer nur Pose. Das haben aber leider nicht alle kapiert.“

Publikum: „Dass die sich nicht schämen.“

B: „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt.“

A: „Wenn möglich will der Staat dieses ganze feindliche Potential einbuchten oder wegschicken. Etliche von unseren Leuten wurden in den Westen abgeschoben und das nicht einmal freiwillig. Vor die Alternative gestellt ‚Westen oder Knast’, wählten sie doch lieber den Weg durch die Mauer.“

B: „Einen Weg, den viele von ihnen von sich aus nicht gesucht hätten.“

Publikum (mehrfach wiederholt und überlagernd): „Dass die sich nicht schämen.“ usw.

B (unterbricht das Stimmengewirr laut): „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt!“

A: „Doch was ist, wenn man keine Alternative hat? Welchen Weg wählt man dann? Die erste Generation von ‚staatsfeindlichen Subjekten‘ in der DDR wurde binnen kürzester Zeit nahezu gänzlich ‚zersetzt‘. Bald stellte sich der Osten trostloser dar als zuvor, zahlreiche Freunde sind nahezu spurlos verschwunden.“

B: „Die Punkszene war zerschlagen. Ich hatte Verfolgungswahn, richtig heftig. Ich habe viel Alkohol getrunken und Tabletten genommen in der Hoffnung, zu sterben. Ich bin besoffen auf die Straße, völlig heulend. Und das war für mich am schlimmsten, weil mir bewusst wurde, dass mir niemand helfen kann.“

A: „Wie krank muss ein System sein, damit es sich vor seiner Jugend fürchtet?“

B: „Wir wollten anders sein, auffallen, herausfallen. Wir wollten uns von den Normalos abgrenzen, doch wollten wir auch selbst abgegrenzt und ausgegrenzt sein?“

A und B (gleichzeitig): „Wir sind allein.“

Dokumentarisches Theater: Punk DDR, Dokumentarisches Theater

Autor:  halfJack

Vorführung im Museum zum Thema Scham und Stasi
3. Version:

Eine unaufgeräumte Wohnung, Blätter liegen auf dem Boden. Eine Tafel zum Aufklappen symbolisiert einen Schrank, an ihr können Zettel mit Magneten befestigt werden; wenn man sie zuklappt, ist davon nichts mehr zu sehen. A sitzt an einem Tisch, neben ihm ein Kassettenspieler. B kommt herein.

A: „Hast du schon gehört? Die Bullen suchen nach dir.“

B: „Waren sie hier? Haben sie die Wohnung durchsucht?“

A: „Nein, sie haben ein paar unserer Leute auf der Straße befragt. Doch sie werden sicher bald hier aufkreuzen.“

B: „Dann wäre es besser, wenn sie die Texte nicht finden.“ B greift nach einem Blatt am Boden und betrachtet es. „Wo soll ich das verstecken? An der Rückseite des Schranks vielleicht?“ B klappt die Tafel auf und heftet den aufgehobenen Zettel daran. Darauf steht das Zitat, das A kurz darauf spricht.

A: „Du hast Angst, das ist klar. Angst davor, dass die Bullen vor deiner Tür stehen und probieren mit deinen Texten ein Ding zu drehen.“

B: „Für die ist das nur konspiratives Gedankengut, das vernichtet gehört. Wenn es weg ist, ist es weg. Das sehe ich nie wieder, höchstens in Untersuchungshaft, als Beweisobjekt bei einer Befragung.“ B hebt ein weiteres Blatt auf, wendet sich von A ab und dem Publikum zu, spricht leise, aber deutlich, wobei er das Blatt weiter mustert. „Denen ist es egal, ob mir das wehtut. Die kennen kein Mitleid und keine Scham. Wenn sie das vernichten, zerstören sie ein Stück von mir selbst.“ Währenddessen ist auch A von B abgewandt und dreht die Musik (oder statisches Rauschen) bei dem Kassettenspieler etwas lauter, um womöglich B nicht zu hören. Sehr laut, fast schreiend liest B den Liedtext auf einem der Zettel vor. (Alternativ wird nicht vorgelesen, sondern ein entsprechendes Lied abgespielt.)

B: Ich habe die Geschichte nicht gemacht
Und bin doch abgegrenzt und scharf bewacht
Sie sprechen vom Arbeiter- und Bauerstaat
Und vernichten ihre eigene Saat
Ich weiß nicht, hätte Marx geweint oder gelacht,
könnte er sehen, was ihr mit uns macht
Wir sind neugeboren in Trauer
Wir sind die Fehlgeburten der Mauer.1

A dreht die Musik leiser und nimmt B den Zettel ab.

A: „Das kann dir eine Menge Ärger einbringen.“

A heftet das Papier an die Tafel, worauf der vorgelesene Liedtext steht.

B: „Ärger habe ich auch so. Überall kontrollieren sie dich, nehmen dir den Ausweis, rauben dir die Identität. Wo sollen wir denn hin? Sind wir eine Gefahr? Ich glaube, das ist reine Schikane, weil wir nicht ins Bild passen. Wir provozieren, klar, aber wir wollen doch bloß tun, worauf wir Lust haben. Wenn du nur mal zu einem Konzert willst, hält die Transportpolizei dich so lange fest, bis der Zug abgefahren ist. Ich habe Verbote für öffentliche Plätze und ganze Stadtviertel, nur weil ich mich dort mal mit meinen Freunden treffe. Ich darf praktisch nur noch die Strecke zwischen meiner Arbeitsstelle und der Wohnung benutzen. Sogar willkürliche Festnahmen sind eine Alltäglichkeit geworden.“

A (ironisch): „Die Bezeichnungen sind nicht korrekt, Genosse. Im Neusprech des Staatsapparats nennt man das anders. Ansammlungen von mehr als drei Personen sind eine 'Zusammenrottung' und Festnahme heißt offiziell 'Zuführung'.“

B (monoton): „Da hast du Recht, man kann ohne weiteres bis zu 24 Stunden lang auf irgendeiner Polizeistation zugeführt sein.“

A: „'Zur Feststellung eines Sachverhaltes'.“

B: „Sobald ich mich mit ein paar von unseren Leuten gleichzeitig an einem Ort befinde, sind wir keine Freunde mehr, sondern...“

A: „...eine ‚antikommunistische Gruppierung’.“

B: „Dabei klingt das wie ein Widerspruch in sich. Kommunismus sollte doch von Gemeinschaft leben. Stattdessen wird jeder zwischen den Mauern isoliert und bloßgestellt. Wer weiß, wo ich die nächste Nacht verbringen werde. Wieder im Hof eines Polizeireviers, festgeknotet an einem Fahnenmast?“

A: „Letztens wurde ich für zwölf Stunden in Polizeigewahrsam genommen, weil ich die Straße diagonal überquert habe. Die Polizisten haben mich mal wieder in eine Diskussion über mein 'unsozialistisches und dekadentes Aussehen' verwickelt, das aus schwarz gefärbten Haaren und Schnürstiefeln besteht. Ich habe aus der DDR-Verfassung zitiert, dass jeder aussehen darf, wie er will und es nicht auf das Aussehen ankommt, dann wies ich darauf hin, dass Margot Honecker, unsere Volksbildungsministerin und die Frau des Staatsratsvorsitzenden, sogar blau gefärbte Haare hat. Als ich die Genossen in Widersprüche verstrickte, kam der überzeugende Satz: 'Nun werden se nich noch frech!'“

B: „Den Satz müssen sie wohl in der Ausbildung wieder und wieder üben.“

A: „Wir fuhren auf irgendein Polizeirevier und ich musste mich dort ausziehen, damit meine Sachen genau überprüft werden konnten. Die haben jeden Zettel gründlich studiert und jede Kassette abgehört, während ich mehr oder weniger nackt daneben stand.“

B (nach einer Pause von A abgewandt, als würde er die Frage nicht an A stellen): „Hast du dich geschämt?“ Statt zu antworten, dreht A die Musik lauter.

B: „Man traut sich kaum, die Wohnung zu verlassen. Aber vielleicht ist es sogar hier nicht sicher.“

A (dreht die Musik leiser): „Meinst du nicht, du übertreibst?“

B: „Die haben uns doch von Anfang an umsorgt und umlagert. Kannst du dich nicht erinnern? Unser erstes Konzert hatten wir mitgeschnitten, und die Aufnahmen wurden sofort geklaut. Oder wenn sie dir ganz detailliert Sachen erzählen, von denen kaum einer was weiß. Das ist doch alles merkwürdig.“

A (ironisch unheilvoll): „Und beim Nachhausekommen meinst du wohl, du spürst, dass jemand in der Wohnung war. Vorhänge im Nebenhaus scheinen sich zu bewegen. Ach, hör doch auf. Wenn wir reden wollen, sollten wir sonst vielleicht besser auf die Straße gehen.“

B: „Das Schlimmste bei solchen Ängsten ist doch gerade die Frage: Ist das wahr oder träumst du das bloß? Der ganze Bullenstress und die ständige Überwachung nerven auf die Dauer zwar ganz schön, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.“ Wendet sich wieder von A ab, dem Zuschauer zu und spricht leise, wie für sich. „Kann man sich an so etwas gewöhnen und nichts mehr dabei fühlen? Wenn ich mich auf mein Gefühl verlasse, dann ist die Paranoia real. Man muss sich damit auseinandersetzen und darauf achten, mit wem man wie spricht. Darum bin ich froh, mich auf meine Freunde verlassen zu können.“ Während B von A abgewandt ist, faltet A langsam ein letztes Blatt zusammen, das er in der Hand hält und schließlich in seine Hosentasche schiebt. Dabei/danach eine Stimme aus dem Publikum oder vom Tonband:

Publikum: „Das eigentlich Überraschende für uns war im Nachhinein, dass die Stasi direkt unter uns gewirkt hat, also aktive Macher in der Szene hatte. Wir hatten geglaubt, dass sich die peripheren Mantelträger um uns kümmern. Wir haben nicht gewusst, dass da Freunde und Kollegen involviert sind.“

Während der folgenden Aussagen entfernen sich A und B schrittweise voneinander zur jeweils vorderen Ecke rechts und links.

A: „Unsere Aufmüpfigkeit war altersgemäße, pubertäre Unzufriedenheit.“

B: „Ob uns das nicht peinlich war? Mit zerrissenen Hosen und wilden Haaren, während die Leute dich anstarren und murmeln: Dass die sich nicht schämen.“

A: „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt.“

B: „Punk war unser Ausdrucksmittel. ‚Anarchie’ war nur ein Symbol dafür, dass wir uns nicht unterordnen wollten. Eigentlich ganz normaler Teeniekram: Musik, Radau und Provokation.“

A: „Dass die sich nicht schämen.“

B: „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt.“

A: „Irgendwann merkst du, dass es egal ist. Weil du dem Apparat egal bist. Also muss man machen, dass es wirklich keine Rolle mehr spielt. Dann können sie dich auch nicht mehr bloßstellen.“

Publikum: „Dass die sich nicht schämen“

A: „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt.“

B: „Wir wollten mit lustigen Aktionen schocken. Randale war immer nur Pose. Das haben aber leider nicht alle kapiert.“

Publikum: „Dass die sich nicht schämen.“

B: „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt.“

A: „Wenn möglich will der Staat dieses ganze feindliche Potential einbuchten oder wegschicken. Etliche von unseren Leuten wurden in den Westen abgeschoben und das nicht einmal freiwillig. Vor die Alternative gestellt ‚Westen oder Knast’, wählten sie doch lieber den Weg durch die Mauer.“

B: „Einen Weg, den viele von ihnen von sich aus nicht gesucht hätten.“

Aus unterschiedlichen Stellen im Publikum werden die ein oder zwei Sätze abwechselnd, überlagernd, lauter werdend wiederholt, möglicherweise auch von A und B mit Widerrede des zweiten Satzes begleitet.

Publikum: „Dass die sich nicht schämen.“ usw.

Publikum oder A/B: „Das Problem ist doch, dass der Staatsapparat dir deine Scham abgewöhnt.“

B unterbricht das Stimmengewirr mit einem lauten Ausruf („Ruhe!“, „Hey!“ o.ä.).

A: „Doch was ist, wenn man keine Alternative hat? Welchen Weg wählt man dann?“

B: „Die Punkszene war zerschlagen. Ich hatte Verfolgungswahn, richtig heftig. Ich habe viel Alkohol getrunken und Tabletten genommen in der Hoffnung, zu sterben. Ich bin besoffen auf die Straße, völlig heulend. Da war eine Situation, ich stehe an so einer Lichtlampe und heule und eine Frau fragt, ob sie mir helfen kann. Und das war für mich noch schlimmer, weil mir bewusst wurde, dass mir niemand helfen kann.“

A: „Wie krank muss ein System sein, damit es sich vor seiner Jugend fürchtet?“

B: „Wir wollten anders sein, auffallen, herausfallen. Wir wollten uns von den Normalos abgrenzen, doch wollten wir auch selbst abgegrenzt und ausgegrenzt sein?“

A: „Die erste Generation von ‚staatsfeindlichen Subjekten‘ in der DDR wurde binnen kürzester Zeit nahezu gänzlich ‚zersetzt‘. Bald stellte sich der Osten trostloser dar als zuvor, zahlreiche Freunde sind nahezu spurlos verschwunden.“

A und B (nacheinander oder gleichzeitig): „Wir sind allein.“

__________

1 Liedausschnitt von The Leistungsleichen

Nächste Bearbeitung für Endversion:
1. Vereinfachung der Aktion um den Kassettenrekorder, musikalische Unterbrechungen und szenische Gestaltung spezifizieren
2. Tafel weglassen, stattdessen Klebezettel o.ä. (welche Requisite?)
3. Ein paar Kürzungen und Umstellungen des Textes

4. Im Hintergrund Originalaufnahmen ohne Ton, Fotografien und/oder Zitate?

Dokumentarisches Theater: Punk DDR, Dokumentarisches Theater

Autor:  halfJack

Derzeit arbeite ich an einem Projekt fürs Museum, bei dem die Staatssicherheit der DDR unter dem Aspekt von Emotionen dargestellt werden soll: Angst, Scham und Ohnmacht. Inszeniert wird das ganze mit dokumentarischem Theater. In der Gruppe "Künstler" beschäftigen sich folgende Szenen mit dem Bereich Musik und Punk.

2. Version:

1.      Szene

A befindet sich in einer unaufgeräumten Wohnung, ein Regal mit Büchern steht dort, Blätter liegen auf dem Boden. B kommt herein.

A: „Hast du schon gehört? Die Bullen suchen nach dir.“

B: „Waren sie hier? Haben sie die Wohnung durchsucht?“

A: „Nein, sie haben ein paar unserer Leute auf der Straße befragt. Doch sie werden sicher bald hier aufkreuzen.“

B: „Dann wäre es besser, wenn sie die Texte nicht finden.“ B greift nach einem Blatt am Boden und betrachtet es. Währenddessen spricht jemand aus dem Publikum:

Du hast Angst, das ist klar. Angst davor, dass die Bullen vor deiner Tür stehen und probieren mit deinen Texten ein Ding zu drehen.

B: „Für die ist das nur konspiratives Gedankengut, das vernichtet gehört. Wenn es weg ist, ist es weg. Das sehe ich nie wieder, höchstens in Untersuchungshaft, als Beweisobjekt bei einer Befragung.“ Stimme aus dem Publikum:

Durch das permanente Agieren der Staatssicherheit fühlten wir uns von Anfang an umsorgt und umlagert. Unser erstes Konzert hatten wir mitgeschnitten, und die Aufnahmen wurden uns sofort geklaut. Heute weiß ich, wer es war, die wurden von einem Freund bei der Stasi abgeliefert. Wir waren fast umstellt. Wir haben versucht, das zu machen, woran wir Spaß hatten, und mit Texten nach unserem Gestus umzugehen. Und hinterher musste man schauen, was passierte, und notfalls seinen Arsch retten.

B wendet sich von A ab und dem Publikum zu, spricht leise, aber deutlich, wobei er das Blatt weiter mustert. „Denen ist es egal, ob mir das wehtut. Die kennen kein Mitleid und keine Scham. Wenn sie das vernichten, zerstören sie ein Stück von mir selbst.“

A und B sammeln zusammen ein paar Blätter Papier vom Fußboden. A hält inne und schaut sich eines der Blätter länger an, währenddessen wird per Tonband etwas eingespielt oder jemand aus dem Publikum spricht:

Ich habe die Geschichte nicht gemacht
Und bin doch abgegrenzt und scharf bewacht
Sie sprechen vom Arbeiter- und Bauerstaat
Und vernichten ihre eigene Saat
Ich weiß nicht, hätte Marx geweint oder gelacht,
könnte er sehen, was ihr mit uns macht
Wir sind neugeboren in Trauer

Wir sind die Fehlgeburten der Mauer.1

A: „Das kann dir eine Menge Ärger einbringen.“

B faltet die Blätter zusammen und schiebt sie hinter die Bücher im Regal.

B: „Ärger habe ich auch so. Überall kontrollieren sie dich, rauben dir den Ausweis und damit die Identität. Die Transportpolizei hält dich so lange fest, bis der Zug abgefahren ist. Ich habe Verbote für öffentliche Plätze und ganze Stadtviertel, nur weil ich mich dort mal mit meinen Freunden treffe. Sogar willkürliche Festnahmen sind eine Alltäglichkeit geworden.“

A: „Die Bezeichnungen sind nicht korrekt, Genosse. Im Neusprech des Staatsapparats nennt man das anders. Ansammlungen von mehr als drei Personen sind eine 'Zusammenrottung' und Festnahme heißt offiziell 'Zuführung'.“

B: „Da hast du Recht, man kann ohne weiteres bis zu 24 Stunden lang auf irgendeiner Polizeistation 'zur Feststellung eines Sachverhaltes' zugeführt sein.“ Stimme aus dem Publikum:

Wo würde er die nächste Nacht verbringen? Wieder im Hof eines Polizeireviers, festgeknotet an einem Fahnenmast?

B: „Ich darf praktisch nur noch die Strecke zwischen meiner Arbeitsstelle und der Wohnung benutzen. Sobald ich mich mit ein paar von unseren Leuten gleichzeitig an einem Ort befinde, sind wir keine Freunde mehr, sondern eine antikommunistische Gruppierung. Dabei klingt das wie ein Widerspruch in sich. Kommunismus sollte doch von Gemeinschaft leben. Stattdessen wird jeder zwischen den Mauern isoliert und bloßgestellt.“ Stimme aus dem Publikum:

Beim Nachhausekommen spürten sie es, dass jemand in der Wohnung gewesen war. Vorhänge im Nebenhaus schienen sich zu bewegen. Wenn sie reden wollten, gingen sie auf die Straße. Das Schlimmste bei solchen Ängsten ist immer die Frage: Ist das wahr oder träumst du das bloß?

B: „Der ganze Bullenstress und die ständige Überwachung nerven auf die Dauer zwar ganz schön, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.“ Wendet sich wieder von A ab, dem Zuschauer zu und spricht leise, wie für sich. „Kann man sich an so etwas gewöhnen und nichts mehr dabei fühlen? Wenn ich mich auf mein Gefühl verlasse, dann ist die Paranoia real. Man muss sich damit auseinandersetzen und darauf achten, mit wem man wie spricht. Darum bin ich froh, mich auf meine Freunde verlassen zu können.“ Während B von A abgewandt spricht, faltet A langsam ein letztes Blatt zusammen, das er in der Hand hält und schließlich in seine Hosentasche schiebt. Dabei eine Stimme aus dem Publikum:

Das eigentlich Überraschende für uns war im Nachhinein, dass die Stasi direkt unter uns gewirkt hat, also aktive Macher in der Szene hatte. Wir hatten geglaubt, dass sich die peripheren Mantelträger um uns kümmern. Wir haben nicht gewusst, dass da Freunde und Kollegen involviert sind.

A: „Wenn möglich will der Staat dieses ganze feindliche Potential einbuchten oder wegschicken. Etliche von unseren Leuten wurden bereits in den Westen abgeschoben und das nicht einmal freiwillig.“

Vor die Alternative gestellt ‚Westen oder Knast’, wählten sie dann doch lieber den Weg durch die Mauer. Einen Weg, den viele von ihnen von sich aus nicht gesucht hätten.

A: „Doch was ist, wenn man keine Alternative hat? Welchen Weg wählt man dann?“

B: „Wir wollten anders sein, auffallen, herausfallen. Wir wollten uns von den Normalos abgrenzen, doch wollten wir auch selbst abgegrenzt und ausgegrenzt sein?“

A: „Die erste Generation von ‚staatsfeindlichen Subjekten‘ in der DDR wurde binnen kürzester Zeit nahezu gänzlich ‚zersetzt‘. Bald stellte sich der Osten trostloser dar als zuvor, zahlreiche Freunde sind nahezu spurlos verschwunden.“

A und B gleichzeitig: „Wir sind allein.“

Unsere Aufmüpfigkeit war altersgemäße, pubertäre Unzufriedenheit. Punk war unser Ausdrucksmittel. ‚Anarchie’ war nur ein Symbol dafür, dass wir uns nicht unterordnen wollten. Eigentlich ganz normaler Teeniekram: Musik, Radau und Provokation. Wir wollten mit lustigen Aktionen schocken. Randale war immer nur Pose. Das haben aber leider nicht alle kapiert. Wie krank muss ein System sein, damit es sich vor seiner Jugend fürchtet?

__________

1 Liedausschnitt von The Leistungsleichen

Nächste Bearbeitung für verschiedene Varianten:
1. Zitate wieder ins Gespräch integrieren, aber deutlich abgrenzen (mit Text auf Leinwand hervorgehoben)
2. Metaphorische Gestaltung mit stummer Aktion auf der Bühne und zugeordneten Aussagen aus dem Publikum
3. Straßensituation mit Polizist probeweise wieder einbauen oder zu eigener Szene gestalten

Dokumentarisches Theater: Aktenöffnung DDR, Dokumentarisches Theater

Autor:  halfJack

Derzeit arbeite ich an einem Projekt fürs Museum, bei dem die Staatssicherheit der DDR unter dem Aspekt von Emotionen dargestellt werden soll: Angst, Scham und Ohnmacht. Inszeniert wird das ganze mit dokumentarischem Theater. In der Gruppe "Aufarbeitung" beschäftigt sich folgende Szenen mit der Aktenöffnung.

1. Version:

1.      Szene:

A: „Die verbrennen Akten!“

B: „Ja, natürlich vernichten wir die Akten, das ist ein Befehl vom Minister. Wir müssen alle Akten vernichten, die sind ja illegal!“

A: „Wieso sind sie jetzt plötzlich illegal? Der Staat hat sie doch jahrelang rechtens geführt.“

B: „Ich weiß von nichts. Was wollt ihr eigentlich von mir?“

A: „Ich erstatte Anzeige gegen den Leiter der Kreisdienststelle, den Leiter der Bezirksverwaltung und gegen den Minister."

Stimme aus dem Publikum: Und das war eigentlich doch ein erhebendes Gefühl. Der Staatsanwalt musste die Anzeige zur Kenntnis nehmen, und ein Polizist musste das auch noch tippen. Man hat wirklich gemerkt, wie schwer es ihm fiel – ihm fiel ja das Tippen ohnehin schon schwer, aber so etwas noch zu schreiben, das war also ganz bitter gewesen.

B: „Sie können die Räume versiegeln, ich kann Ihnen auch eine Betriebsbesichtigung anbieten. Doch in ihrem Interesse wäre es besser, wenn niemand mehr Zugriff darauf hat.“

KD-Chef/B greift in ein Regal, zieht eine Akte heraus und blättert während des Erzählens darin herum.

A: „Können wir da auch mal hineinsehen?“

B: „Nein, das unterliegt dem Datenschutz.“

A: „Wieso können Sie noch hineinschauen und wir nicht? Das sind doch unsere Akten.“

B: „Wenn Sie da nicht reinschauen können, dann kann es wenigstens auch niemand sonst.“

A: „Aber sie schauen doch hinein.“

B: „Ich weiß nicht, was sie von mir wollen. Was ist, wenn die deutsche Einheit kommt? Dann hat auf Ihre Akten der Verfassungsschutz Zugriff und die westdeutsche Wirtschaft, das wird wieder zu Ihrem Nachteil ausgenutzt. Über Weihnachten sollten wir das alles vernichten. Während der Feiertage fällt es nicht auf. Dazu müssen sie jetzt den Mut beweisen, das muss endlich fort, das Zeug.“

Stimme aus dem Publikum: Ich hatte immer Angst, dass im Bürgerkomitee einmal irgendwie ein Beschluss aus dem Affekt heraus gefasst und der Vernichtung zugestimmt wird. Dabei war natürlich auch die Sorge, wenn das in einem Bezirk gemacht wird, dann klappt das auch in anderen Bezirken.

Viel später fanden wir einen Schrank im Keller, randvoll mit Akten. Neugierig schauten wir uns die Sache natürlich an. Zufällig war da ein alter Mann dabei, der fand da eine Akte über seine Zwangsaussiedelung aus dem Grenzgebiet. Und als ich die Reaktion dieses Mannes erlebte, da wurde mir klar: Es war richtig, die Akten aufzubewahren und im Nachhinein zugänglich zu machen für eine Aufarbeitung, bei allen Schwierigkeiten, die damit immer noch bestehen.

Nächste Bearbeitung:
1. Gesprächsstituation natürlicher gestalten, Dialog ausbauen
2. Emotionen einbinden

Dokumentarisches Theater: Punk DDR, Dokumentarisches Theater

Autor:  halfJack

Derzeit arbeite ich an einem Projekt fürs Museum, bei dem die Staatssicherheit der DDR unter dem Aspekt von Emotionen dargestellt werden soll: Angst, Scham und Ohnmacht. Inszeniert wird das ganze mit dokumentarischem Theater. In der Gruppe "Künstler" beschäftigen sich folgende Szenen mit dem Bereich Musik und Punk.

1. Version:

1.      Szene

A sitzt in einer unaufgeräumten Wohnung. B kommt herein.

A: „Die Bullen waren da und haben dich gesucht. Sie wollten wissen, wo du bist. Als wir gesagt haben, wissen wir nicht, sind sie wieder abgehauen.”

B: „Haben sie die Wohnung durchsucht?“

A: „Nein, aber die werden sicher wiederkommen.“

B: „Spätestens, sobald sie mich gegriffen haben. Dann ist es besser, sie werden die Texte nicht finden. Ich habe nicht genügend Durchschläge davon.“

A und B sammeln ein paar Blätter Papier vom Fussboden, A liest eines vor.

A: „‚Ich habe die Geschichte nicht gemacht
Und bin doch abgegrenzt und scharf bewacht
Sie sprechen vom Arbeiter- und Bauerstaat
Und vernichten ihre eigene Saat
Ich weiß nicht, hätte Marx geweint oder gelacht,
könnte er sehen, was ihr mit uns macht
Wir sind neugeboren in Trauer
Wir sind die Fehlgeburten der Mauer.‘1

...Das kann dir eine Menge Ärger einbringen.“

B faltet die Blätter zusammen und schiebt sie hinter die Bücher im Regal.

B: „Ärger habe ich auch so. Andauernd werden wir auf der Straße kontrolliert, werden von der Transportpolizei auf einem Bahnhof so lange festgehalten, bis unser Zug abgefahren ist, oder bekommen ein Verbot für öffentliche Plätze und ganze Stadtviertel ausgesprochen, wenn wir uns dort nur mit Freunden treffen. Ich darf praktisch nur noch die Strecke zwischen meiner Arbeitsstelle und meiner Wohnung benutzen. Willkürliche Festnahmen sind eine Alltäglichkeit, und obwohl der ständige Bullenstress auf die Dauer nervt, habe ich mich mittlerweile daran gewöhnt.“

A: „Die Bezeichnungen sind nicht korrekt, Genosse. Im Neusprech des Staatsapparats nennt man das anders. Ansammlungen von mehr als drei Personen können als 'Zusammenrottung' geahndet werden und die offizielle Form der Festnahme heißt 'Zuführung'.“

B: „Man kann ohne weiteres bis zu 24 Stunden lang auf irgendeiner Polizeistation 'zur Feststellung eines Sachverhaltes' zugeführt sein. Ich frage mich, wo ich die nächste Nacht wohl verbringen werde. Wieder im Hof eines Polizeireviers, festgeknotet an einem Fahnenmast?“

A: „Letztens wurde ich für zwölf Stunden in Polizeigewahrsam genommen, weil ich die Straße diagonal überquert habe. Die Polizisten haben mich mal wieder in eine Diskussion über mein 'unsozialistisches und dekadentes Aussehen' verwickelt, das aus schwarz gefärbten Haaren und Schnürstiefeln besteht. Ich habe aus der DDR-Verfassung zitiert, dass jeder aussehen darf, wie er will und es nicht auf das Aussehen ankommt, dann wies ich darauf hin, dass Margot Honecker, unsere Volksbildungsministerin und die Frau des Staatsratsvorsitzenden, sogar blau gefärbte Haare hat. Als ich die Genossen in Widersprüche verstrickte, kam der überzeugende Satz: 'Nun werden se nich noch frech!'“

B: „Den Satz müssen sie wohl in der Ausbildung wieder und wieder üben.“

A: „Wir fuhren auf irgendein Polizeirevier und ich musste mich dort ausziehen, damit meine Sachen genau überprüft werden konnten. Die haben jeden Zettel gründlich studiert und jede Kassette abgehört, während ich mehr oder weniger nackt daneben stand.“

B: „Wie krank muss ein System sein, damit es sich vor seiner Jugend fürchtet?“

 

2.      Szene

Zwei Personen sitzen Rücken an Rücken in einem leeren Raum. (Andere Version: Mehrere Personen sitzen durcheinander in einem leeren Raum, schauen einander nicht an.)

A: „Durch das permanente Agieren der Staatssicherheit fühlten wird uns von Anfang an umsorgt und umlagert. Unser erstes Konzert hatten wir mitgeschnitten, und die Aufnahmen wurden uns sofort geklaut. Heute weiß ich, wer es war, die wurden von einem Freund bei der Stasi abgeliefert. Wir waren fast umstellt. Wir haben versucht, das zu machen, woran wir Spaß hatten, und mit Texten nach unserem Gestus umzugehen. Und hinterher musste man schauen, was passierte, und notfalls seinen Arsch retten.“

B: „Das eigentlich Überraschende für uns war im Nachhinein, dass die Stasi direkt unter uns gewirkt hat, also aktive Macher in der Szene hatte. Wir hatten geglaubt, dass sich die peripheren Mantelträger um uns kümmern. Wir haben nicht gewusst, dass da Freunde und Kollegen involviert sind.“

A: „Einmal hatte ich ein Aha-Erlebnis, als die Stasi mir ganz detailliert Sachen erzählte, die kaum einer wusste. Aber ich war zu naiv zu erkennen, dass die eventuell von einem Freund kommen könnten. Ich dachte einfach nicht, dass die uns so nah stehende Leute haben.“

B: „Ich hab mich immer auf mein Gefühl verlassen. Die Paranoia war real und man musste sich irgendwie damit auseinandersetzen und darauf achten, mit wem man wie spricht.“

A: „Bei öffentlichen Konzerten war das eine richtig blöde Atmosphäre. Du hast gemerkt, die Stasi ist da und lauert nur darauf, die ganze Veranstaltung abzubrechen, bloß weil jemand auf die Bühne geht und da irgendwas von sich gibt, vielleicht sogar noch ein Instrument in die Hand nimmt. Du siehst von denen nichts, aber du spürst, dass du beobachtet wirst und dass da was läuft, hinter den Kulissen.“

B: „Warum hat man manche so sehr gefürchtet? Das Problem war der ‚Multiplikationsfaktor‘. Bei der einen Inszenierungen kommen, wenn immer ausverkauft ist, pro Jahr höchstens soundso viele Leute hin. Falls ein Gedichtband die Runde macht und weiterverschenkt wird, lesen das maximal soundso viele Leute. Das ist alles abschätzbar. Doch bei einer Szene, die irgendwo in einer Kneipe auftritt oder an einer Straßenecke oder beim Picknick im Wald, da kennen wir den Multiplikationsfaktor nicht.”

A: „Wenn möglich wollte der Staat dieses Potenzial einbuchten oder wegschicken. Unsere Leute wurden in den Westen abgeschoben, viele von ihnen nicht ganz freiwillig. Vor die Alternative gestellt, ‚Westen oder Knast‘, wählten sie lieber den Weg durch die Mauer. Einen Weg, den viele von ihnen von sich aus nicht gesucht hätten. Die erste Generation von ‚staatsfeindlichen Subjekten‘ in der DDR wurde so binnen kürzester Zeit nahezu gänzlich ‚zersetzt‘. Als ich nach meinem ‚Dienst an der Waffe‘ zurück durfte, stellte sich der Osten trostloser dar als zuvor. Zwei Drittel meines Freundeskreises waren nahezu spurlos verschwunden. Ich war allein.“

__________

1 Liedausschnitt von The Leistungsleichen

Nächste Bearbeitung:
1. Erzählte Situation mit Polizisten ausgliedern, zu eigener Szene schreiben
2. Emotionen klarer herausstellen, womöglich Kommentator eingliedern
3. Szene freier und mit weniger Text gestalten, Zeitzeugenaussagen einfügen und deutlich abgrenzen

25 Jahre Mauerfall: Von Treuhand zu Langfinger DDR

Autor:  halfJack

Warum der Osten nach dem Mauerfall keinen wirtschaftlichen Überschuss, sondern milliardenschwere Zuschüsse erforderte.

Hier geht es zu den zwei vorigen Beiträgen:
Teil 1: Vorurteile, Solidaritätszuschlag, Renten, Reparationsleistungen
Teil 2: Humankapital, Verschuldung pro Kopf

Teil 3: Eine Kriminalgeschichte der Treuhandanstalt

Nun kommt der dritte und letzte Beitrag zum Thema Mauerfall (zumindest werden maximal noch zwei Berichte zu passenden Sehenswürdigkeiten in Berlin folgen). Ich habe bereits von Vorurteilen zwischen "Wessis" und "Ossis" erzählt, vom Soli und den Renten, von der Wanderung des Humankapitals und davon, dass der Osten trotz niedrigeren Lebensstandards tatsächlich weniger verschuldet war als der Westen. Warum also sprechen einige noch immer von einer "Ost-Pleite" und warum hat der wirtschaftliche Aufbau Ost so viele Gelder verschlungen? Diesmal werde ich anhand einiger Beispiele zeigen, dass enorme Summen, die irgendwo im Osten versickert sein sollen, in Wirklichkeit häufig einen Weg in die Taschen der westlichen Verwalter fanden, der sogenannten Treuhand.

 

5.      Privatisierung: Ausnutzung statt Unterstützung

Der letzte Punkt ist ein Prozess der erst nach dem Mauerfall einsetzte und teils Erschrecken hervorruft. Nachdem die DDR als altersschwaches, krankes Tier interpretiert und in ein neues Gehege geschickt wurde, sollte die Treuhandanstalt dafür Sorge tragen, dass die schlechten und schwachen Betriebe des Ostens monetäre Unterstützung erhielten und privatisiert in die Hände westdeutscher Unternehmen gegeben wurden. Der Wille war da, aber die Theorie blieb derart unzureichend und ausnutzbar, dass in der Praxis die Fördergelder des Staates oftmals in die Taschen von Privatpersonen flossen. Dies berücksichtigend muss man das bereits erwähnte Verlustgeschäft der wirtschaftlichen Eingliederung der DDR nochmals in einem ganz anderen Licht betrachten. Die Liste der Beispiele ist lang; tatsächlich füllt Siegfried Wenzel in seiner Abhandlung über die Rolle der Treuhand mehrere dutzend Seiten mit Beispielen und erfasst damit nur die Spitze des Eisbergs.

Mein erstes Beispiel ist mir persönlich aus meiner Kindheit präsent. Im Jahre 1994 erhielten der ehemalige Chef des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall und sein Bruder die Rackwitzer Aluminium GmbH und das Folienwerk Merseburg. Dafür wurde eine "Anlaufhilfe" von weit über 150 Mio. DM für die Errichtung eines Alufolienwerkes gewährt. Zu jener Zeit arbeitete meine Mutter im Folienwerk Merseburg. Entgegen einiger Meinungen, dass die Produktionen im Osten aufgrund eines geringeren technischen Niveaus schlechter gewesen seien als im Westen, stellte dieses Werk Folien her, die sich durch eine sehr gute Qualität auszeichneten und deshalb weltweit exportiert wurden. Natürlich besaß man in ähnlichen Werken im Westen die Möglichkeit, billiger und schneller zu produzieren, um sich auf dem Markt im Schnitt besser zu behaupten, solange es nur um einfache Frischhaltefolien ging, die es im Supermarkt zu kaufen gab. Dazu sollte man wissen, dass Alufolien mikroskopische Risse und Löcher aufweisen je nach Reinheit des verwendeten Materials. Die Werke im Osten konnten vielleicht nicht so effektiv Massenware herstellen, machten ihr Defizit allerdings durch den höheren Reinheitsgehalt wett, sodass diese Folien zwar teurer, aber in Bereichen anspruchsvoller Industrieproduktion durchaus gefragt waren. Nach der Übernahme wurde diese Zielsetzung hinfällig. Ende 1996 musste Gottschol für die Stammgesellschaft in Ennepetal/Westfalen und Rackwitz Konkurs beantragen. Rackwitz ging Ende 1997 – verbunden mit einer wesentlichen Reduzierung der Beschäftigungszahl (von noch 390 auf 130; zu DDR-Zeiten waren es 2100) – an den norwegischen Konzern Norsk Hydro.

"Privatisierungshilfen" in jeweils dreistelliger Millionenhöhe wurden auch für die Übernahme der Heckert Werkzeugmaschinenbau GmbH Chemnitz durch die Schwäbische Traub AG sowie der Niles Werkzeugmaschinen GmbH Berlin-Weißensee durch die Rothenberg AG-Tochter Fritz Werner Werkzeugmaschinen AG in Berlin-Marienfelde gewährt. In beiden Fällen sind die westdeutschen "Mütter" inzwischen in Konkurs gegangen. Die ostdeutschen Unternehmen gingen nach erneut drastischer Reduzierung der Arbeitsplätze an die Startag AG aus Rohrschaden/Schweiz bzw. an die Coburger Kapp GmbH.

Ein Paradebeispiel machte über Jahre Furore und deckte immer neue, in einem zivilisierten Land nicht für möglich gehaltene Seiten krimineller Energie und beamtenmäßiger Vertuschung auf: 1992 bzw. 1993 übernahm die Bremer Vulkan Verbund AG die MTW Meerestechnik Schiffswerft Wismar, die Volkswerft Stralsund, die Neptun Industrie Technik Rostock und das Dieselmotorenwerk Rostock. Dafür flossen Zahlungen der Treuhandanstalt in Höhe von insgesamt 3 472,8 Mio. DM an den Verbund. Inzwischen ist der Verbund in Konkurs gegangen. Im Rahmen des sogenannten "zentralen Cash-Managements" waren 854 Mio. DM aus den für die ostdeutschen Werften bestimmten Beihilfen in den westdeutschen Teil der Vulkan geflossen. Dieses Geld ist mangels Konkursmasse unwiderruflich verloren. Seit wann wussten THA/BvS von dem Beihilfemissbrauch und warum reagierten sie nicht rechtzeitig? Die Europäische Kommission hat die Bundesregierung beschuldigt, zumindest fahrlässig Subventionsmissbrauch zugelassen zu haben. Inzwischen sind die Werften in Stralsund und Wismar sowie die Neptun Industrie Rostock – verbunden mit erneuten Arbeitsplatzverlusten – wieder an ausländische bzw. westdeutsche Investoren privatisiert. BvS und das Land Mecklenburg-Vorpommern mussten noch einmal knapp 1,2 Mrd. DM "nachschießen".

Das Dieselmotorenwerk Rostock wurde von der Ostseebeteiligungsgesellschaft (51% BvS, 49% Land) übernommen; eine erneute Privatisierung ist bisher nicht gelungen. Die Rückforderung von 118,35 Mio. DM unzulässiger ("wettbewerbsverzerrender") Beihilfen durch die EU-Kommission im April 1999 bedroht die Existenz des DMR mit seinen mehr als 300 Beschäftigten in Rostock und Bremen. Für September 1999 war ein Prozess vor dem Bremer Landgericht gegen den ehemaligen Vulkan-Vorstandsvorsitzenden Hennemann und drei ehemalige Vorstandsmitglieder angekündigt. Die Bremer Staatsanwaltschaft ermittelt in diesem Zusammenhang auch gegen leitende Mitarbeiter der Treuhandanstalt und deren Nachfolgerin BvS, schrieb die Berliner Zeitung vom 15. 6. 1999.

Im Jahre 1993 übernahm die BASF-Tochter Kali & Salz AG die Mehrheitsbeteiligung (51%) und die Geschäftsführung der Mitteldeutschen Kali AG (MDK); die BvS behielt 49% der Anteile. Verbunden war dies mit der Stilllegung ostdeutscher Produktionsstätten, darunter Bischofferode in Thüringen. Die THA leistete eine Bareinlage von 1044 Mio. DM für Investitionen, Reparaturen und Planverluste der Jahre 1993 – 1997. Weitere 270 Mio. DM wurden für die "Bereinigung der Bilanz der MDK" gezahlt ("Altlasten"-Entschuldung). Die EU hatte 1993 insgesamt Beihilfen der THA in Höhe von 1,5 Mrd. DM genehmigt. 1996 wurden Verhandlungen über den Verkauf des BASF-Anteils an die Kanadische Potash Corporation (PCS) bekannt, die wegen Wettbewerbsbeschränkung 1997 vom Bundeskartellamt und später auch vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Rexrodt untersagt wurden. (Der Vertrag in Höhe von 250 Mio. DM war bereits unterschrieben!) Danach verkaufte BASF 25% seiner Anteile an K+S an "eine Reihe von Finanzinvestoren", sodass der BASF-Anteil an der börsennotierten Holding Kali- und Salz-Beteiligungs-AG Kassel auf knapp unter 50% sank, der durch weitere Verkäufe noch gesenkt werden soll. Die K+S erwarb im Juli 1998 den 49%-Anteil der BvS rückwirkend zum 1. 1. 1998 für 250 Mio. DM. Bereits 1997 war die Gewinnschwelle erreicht. Erstmals seit 1984 zahlte die K+S ihren Aktionären wieder eine Dividende – die Ergebnissteigerung sei maßgeblich auf den Wegfall der Gewinnanteile der BvS als bisherige Mitgesellschafterin zurückzuführen, schreibt die FAZ vom 12. 3. 1999. Schon früher war bekannt geworden, dass die K+S einen erheblichen Teil der Bareinlagen der BvS nicht für Investitionen in ostdeutschen Betriebsstätten, sondern für zinsgünstige Geldgeschäfte am Kapitalmarkt nutzt. Allein für 1995 wurden Zinseinnahmen von knapp 20 Mio. DM genannt. Von den 15.000 ostdeutschen Beschäftigten vor der Fusion sind noch 3.000 übriggeblieben. Anfang 1999 hat die EU-Kommission ein Verfahren gegen die BvS eröffnet, ob der o.g. Verkaufspreis von 250 Mio. DM dem Marktwert entspricht, da das Finanzhaus Goldman Sachs einen Preis von 400 Mio. DM ermittelt habe.

Zum Teil wurden für die Sanierung ostdeutscher Unternehmen vorgesehene Beihilfen und Fördermittel von den neuen Eigentümern in die westdeutschen Mütterhäuser umgeleitet bzw. in den Sand gesetzt. In solchen Fällen besteht der begründete Verdacht, dass der Erwerb der ostdeutschen Unternehmen nur mit dem Ziel erfolgte, Fördermittel zu erhalten und zugleich unliebsame Konkurrenz auszuschalten bzw. verlängerte Werkbankkapazitäten zu besitzen, mit denen man – je nach Konjunktur – "arbeiten" kann; bis zur Schließung im Osten, aber bei Erhalt der Produktionsstätten in den alten Bundesländern.

Ein weiterer Fall – der "Spiegel" spricht von einem "offenbar generalstabsmäßig geplanten Wirtschaftskrimi" – ist die Werkstoff-Union GmbH Lippendorf bei Leipzig. Das Unternehmen wurde 1991 auf dem Gelände des abgewickelten Treuhandbetriebes Ferrolegierungswerk Lippendorf von dem Schweizer Kaufmann Gerhard Fischer und seiner Firma Intercept mit dem Ziel gegründet, Europas modernstes Metallverarbeitungswerk zu errichten. Im März 1996 wurde Antrag auf Gesamtvollstreckung gestellt. Inzwischen waren 225 Mio. DM staatliche Beihilfen in Form von Fördermitteln und Bürgschaften geflossen. Der "Spiegel" spricht von 336 Mio. DM, die die Staatsanwaltschaft Leipzig sucht, wobei sie davon ausgeht, dass der Investor niemals vorgehabt habe, die Werkstoff-Union überhaupt in Betrieb zu nehmen.

Auch im Handel war die Privatisierung in einem offenbar breiten Umfang mit persönlicher Bereicherung verbunden. Im Mai 1995 berichteten die Medien über einen "Millionen-Betrug" bei der HO-Abwicklung. Insgesamt 6 Führungskräfte der Treuhandanstalt standen im Verdacht, 2,4 Mio. DM veruntreut zu haben. Verhaftet seien Wolf-Rüdiger Fink – im September 1991 zum Geschäftsführer der Exho-Immobilien-Verwaltungsgesellschaft mbH berufen, die mit der Vermarktung von rd. 4.300 HO-Immobilien beauftragt war, und bis zu seiner fristlosen Entlassung Mitte März 1995 Leiter der Rechtsabteilung der Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG) – sowie Werner Simianer – ehemaliger  Ministerialdirigent im Bonner Ministerium für Familie und Senioren, dann ab September 1991 Geschäftsführer der FREHO-Immobilien-Verwaltungsgesellschaft mbH, die rd. 1.400 nicht betriebsnotwendige HO-Grundstücke zu verkaufen hatte, und schließlich Controler in der Privatisierungsbehörde. Im Januar berichteten die Medien erneut – diesmal ohne die Nennung von Namen: Die Berliner Staatsanwaltschaft habe gegen beide Anklage wegen Millionen-Untreue zum Nachteil der Treuhandanstalt erhoben. Bei einem Monatsgehalt von 17.000 DM habe der frühere Ministerialdirigent (also Simianer) veranlasst, dass ihm 790.000 Mark an überhöhten Geldern gezahlt wurden. "Bei Fink geht es um 771.000 Mark. Den 'Rest' teilten sich vier weitere Mitglieder der Unternehmensleitung." Im Juni 1998 fand vor dem Berliner Landgericht der Prozess statt. Die Staatsanwaltschaft forderte Haftstrafen von jeweils 4 Jahren wegen Untreue in Millionenhöhe. Das Gericht sprach jedoch beide vom Vorwurf der Untreue frei. Nach Überzeugung der Richter hatten beide Anspruch auf ihre selbstgenehmigten Honorare.

Nebenbei bemerkt: Es ist wohl ein einmaliger Vorgang, dass ein Liquidator eines solchen "Unternehmens" wie der Wirtschaft der DDR – vor allem, wenn er sich Treuhänder nennt – ständig die Waren, die er zu akzeptablen Konditionen verkaufen soll, lautstark mit Begriffen wie "marode", "veraltet", "am Markt nicht gefragt", "unkalkulierbare Altlasten" herunter redet.

Die von ihren bisherigen Leitern – man könnte nach westdeutschem Sprachgebrauch auch sagen: der Elite, die man verteufelte, verdächtigte, auswechselte – entblößten Wirtschaftsunternehmen wurden den mächtigen, erfahrenen und nur den Gesetzen des Profits folgenden Konkurrenten praktisch zum Fraß vorgeworfen. Hier galten weder das Brüder- und Schwestern-Gerede noch irgendwelche "patriotischen Erwägungen". Die Motorradsparte von BMW fusionierte mit Motorradproduzenten in Österreich und Italien, während die MZ-Werke in Sachsen versuchten, Käufer in Südostasien zu finden und heute praktisch nicht mehr existieren. Der potente Kühlschrankproduzent in Scharfenstein (Sachsen), der nach der Wende den ersten FCKW-freien Kühlschrank entwickelte und vor der Wende bedeutende Lieferungen an Quelle durchgeführt hatte, wurde durch raffinierte Kniffe ins Abseits manövriert und als Konkurrent ausgeschaltet. Frau Breuel fuhr zu Werbeveranstaltungen nach New York, eröffnete in Tokyo ein Büro und unternahm weltweite Reisen, um Betriebe der ehemaligen DDR irgendwie an den Mann zu bringen.

Aber hier in diesem nun angeschlossenen Land das Wüten der blinden Gesetze des Marktes wenn schon nicht auszuschalten, so doch zu kanalisieren und damit die aufgrund der Blindheit der Marktgesetze unvermeidbaren Fehlentwicklungen zu verhindern, dazu wurde wenig oder fast nichts getan. Dazu hätte es einer durchdachten, längerfristig angelegten Strategie bedurft. Das ist die eigentliche Ursache des "Schuldenberges" der Treuhandanstalt. Das sprunghafte Ansteigen der Verschuldung des Staates kam nicht in erster Linie dem notwendigen Aufbau Ost, sondern den westdeutschen Vermögenden und der westdeutschen Wirtschaft zugute. Der damalige Wirtschaftsminister und spätere Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, Harald Ringstorff, hatte bereits Anfang April 1996 festgestellt, dass die Förderung der ostdeutschen Wirtschaft zu 80 % an Unternehmen und Unternehmer im Westen zurückfließt. Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Henning Voscherau sagte es am Jahresende 1996 so: "In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat."

25 Jahre Mauerfall: Humankapital und Schuldenlast DDR

Autor:  halfJack

Widerspruch zwischen Arbeitsplatzkonkurrenz und Haushaltslast sowie die Frage nach der Verschuldung von Ost und West.

Hier geht es zum ersten Beitrag:
Teil 1: Vorurteile, Solidaritätszuschlag, Renten, Reparationsleistungen

Teil 2: Humankapital, Verschuldung pro Kopf

Im zweiten Beitrag zum Thema des Mauerfall-Jubiläums geht es zuerst um die bereits in einem Kommentar zum ersten Teil angesprochene Wanderung des Humankapitals, die einen wesentlichen Teil der unterproportionalen kommunalen Finanzkraft der neuen Bundesländer ausmacht. Desweiteren komme ich darauf zu sprechen, inwiefern die DDR tatsächlich verschuldet war.

 

3.      Verlagerung des Humankapitals: Arbeitskraft vor und nach der Wende

Zum Osten gehörten nicht allein löchrige Straßen, Trabanten und Kühlschränke, auf die man zehn Jahre warten musste: auch die Bevölkerung des Ostens ist ein entscheidender Faktor, um die Finanzstärke eines (Bundes-)Landes zu errechnen. Es geht diesmal um das Vorurteil, die "Ossis" wären nach der Wende in Strömen in die BRD gekommen und nähmen dort die Arbeitsplätze weg, und um die zweite, dazu im Widerspruch stehende Meinung, die Arbeitslosen aus dem Osten belasteten den Staat.

Wenn man sich im Westen darüber beschwert, wie hoch die Arbeitslosigkeit in manchen neuen Bundesländern (z. B. Sachsen-Anhalt) ist und dass die Ostdeutschen mit ihrer Arbeit demnach nicht so viel für den Staat beitragen, wird außer Acht gelassen, dass bereits vor dem Mauerfall zahlreiche Flüchtlinge aus dem Osten in den Westen zogen, deren Beitrag sich lediglich von einem Gebiet auf das andere verlagerte. Auf dem Arbeitsmarkt gewinnt der Beste. Ist es nicht ein Armutszeugnis, beschwert man sich darüber, dass "Ossis" – Ausländer oder wer auch immer, denn die Sündenböcke variieren gern – einem den Arbeitsplatz stehlen? Noch dazu ist jeder Arbeitende ein wirtschaftlicher Antrieb. Er bezahlt Steuern und unterstützt somit durch die daraus finanzierte Sozialhilfe jenen Arbeitslosen, der sich vielleicht darüber aufregt, dass er wegen eines Platzdiebstahls durch eine Minorität keine Anstellung bekam.
Wirklich kritisieren sollte man daher nicht wahllos Gegenden und Menschen, sondern eine Regierung, vielmehr ein Regime, das für die Fluchtbewegungen und die Schwächung der jeweiligen unterdrückten Gebiete verantwortlich war. Nebenbei bemerkt ist es zudem nicht förderlich, dass in den neuen Bundesländern die Gehälter niedriger ausfallen. Das macht es für einen Arbeitssuchenden nicht attraktiv, in den Osten zu ziehen oder dort zu bleiben. Unter diesen Bedingungen vollzieht sich eine wirtschaftliche Stärkung nur schleppend und umso länger wird die Angleichung dauern.

Aber zurück zur Wanderung des Humankapitals. Der Osteuropaforscher der Freien Universität Berlin, Leptin, schrieb 1980, dass in der Zeit von 1950 bis 1961 jährlich zwischen 144.000 (1959) und 330.000 (1953) Personen aus der DDR in die BRD übersiedelten. Und er fährt fort: "Unter den Flüchtigen war der Anteil der Jugendlichen bis 25 Jahre sehr hoch, meistens um 50 Prozent. Das hatte zur Folge, dass unter den Zurückbleibenden der Anteil der älteren Jahrgänge rasch anstieg. Im Jahre 1970 waren in der Bundesrepublik 61,2 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter, in der DDR 58 Prozent." Und weiter: "Wenn man berücksichtigt, dass jeder arbeitsfähige Flüchtling beim innerdeutschen Wirtschaftsvergleich einen Arbeitskräfteunterschied von 2 Personen ausmacht (im Osten -1, im Westen +1), dann wird die wachstumspolitische Bedeutung der Fluchtbewegung besonders deutlich."[1]

Der Umfang dieses Ost-West-Transfers von "Humankapital", lange bevor es einen DM-Transfer West-Ost gibt, bedarf der gesonderten Bewertung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Verlassen der DDR oftmals durch die Unzufriedenheit mit den ökonomischen und politischen Verhältnissen, mangelnde Demokratie und politische Indoktrinierung hervorgerufen wurde. Bekanntlich hat der Wirtschaftswissenschaftler F. Baade vom Kieler Weltwirtschaftsinstitut bereits Ende der 50er Jahre die Verluste der DDR aus Reparationen und der Abwanderung ausgebildeter, leistungsfähiger Arbeitskräfte zum damaligen Zeitpunkt mit 100 Mrd. DM berechnet, was zum heutigen Kaufkraftniveau sowie unter der Berücksichtigung der möglichen Verzinsung das Fünf- bis Sechsfache ausmachen dürfte.

Für die BRD ist dieser Zufluss des "Humankapitals" in Größenordnungen von über 2 Mio. Personen ein einmaliger Aktivposten, der überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Man muss berücksichtigen, dass es sich bei den Übersiedlern aus der DDR in die BRD zu einem großen Teil um gut ausgebildete Facharbeiter sowie um akademisch Ausgebildete wie Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte gehandelt hat, deren Ausbildung oftmals vom anderen Staat, d.h. der gesamten Gesellschaft in der DDR, finanziert worden war. Es gibt viele, die ihre Einstellungsverträge von westlichen Firmen bereits während des Studiums erhielten, als sie noch Wohnung, Stipendium und zum Teil die soziale Sicherung in der DDR in Anspruch nahmen. Das trifft vor allem auf die Zeit vor 1961 zu.

Die Wirkung der Eingliederung dieses personellen Zuwachses für die Wirtschaftskraft der BRD war natürlich eine ganz andere, als die bis dahin relativ kleine Zahl von etwa 0,5 Mio. ausländischen Gastarbeitern, die bis 1961 aus Spanien, Portugal, der Türkei und Italien in die BRD gekommen waren. Die Übersiedler aus der DDR sprachen die gleiche Sprache, waren oft in einem mehr oder weniger adäquaten Bildungssystem zu hochqualifizierten Fachkräften ausgebildet und entstammten dem gleichen Kulturkreis. Trotz zeitweiliger Arbeitslosigkeit in der BRD ist die grundlegend verschiedene, ja diametral entgegengesetzte Lage hinsichtlich der Verfügbarkeit über zusätzliche Arbeitskräfte, deren Ausbildung ein anderer Staat bezahlt hatte, und später von ausländischen Arbeitskräften in volkswirtschaftlichen Dimensionen, neben dem Marshall-Plan offensichtlich einer der Hauptfaktoren für die Produktivitäts- und Effektivitätsunterschiede zwischen BRD und DDR.

 

4.      Schuldenlast: Ein Päckchen, das der Osten vom Westen übernehmen musste

Der Osten sei hochverschuldet vom Westen angenommen worden und müsse nun ausgehalten werden: noch ein oft gehörtes Vorurteil. Für Industrienationen ist eine Verschuldung pro Kopf nichts Ungewöhnliches. Das kennen wir heute und vor dreißig Jahren war es nicht anders. Die Stärke eines Staates errechnet sich nicht daraus, wie viel Geld die Regierung selbst in der Hand hat, sondern wie finanzstark der Bürger im Durchschnitt ist, denn daraus ergibt sich die Wirtschaftskraft seines Landes. Schaut man sich die Verschuldung des Staates gerechnet auf den einzelnen Bürger an, stellt sich die Meinung über eine totale Verschuldung der DDR als hinterfragbar heraus. Dass das Lebensniveau nicht dem Niveau Westdeutschlands entsprach, wird nicht bezweifelt, aber vom Standpunkt der eigenen Tragbarkeit aus gesehen war die DDR dennoch in der Lage, die eigenen Bürger zu ernähren, sich wirtschaftlich auf Kurs zu halten und sogar zu entwickeln. Gemessen am Standard Osteuropas befand sich die DDR sogar auf einem hohen Niveau. Wie stand es nun um die oftmals angeprangerte Schuldenlast?

Selbst wenn man die in der Verlautbarung der Bundesregierung zur Währungsunion aufgeführten Positionen "28. Mrd. DM Restausgleichsposten aus der Währungsumstellung", deren Inhalt jedoch nicht öffentlich dokumentiert wurde, noch hinzuzieht, ergibt sich eine Schuldensumme in Höhe von 112,7 Mrd. DM.
Das sind pro Kopf der Bevölkerung 7.050 DM.
Damit betrugen die Schulden pro Kopf, die die DDR-Bürger in die Vereinigung eingebracht haben, nicht einmal 50% derjenigen, die auf jedem Bürger der alten Bundesländer lasten. Juristisch stehen aber die DDR-Bürger für das Abtragen dieser Schuldenlast der "Westbürger" mit in der Pflicht.

Es sollte natürlich vermerkt werden, dass solche pauschalen Vergleiche problematisch sind. Aber zunächst ergeben sie sich aus der Gegenüberstellung der Angaben, die die Treuhand hinterlassen hat. Der ehemalige Bundesfinanzminister T. Waigel stellte am 22. 5. 1990 in einer Sitzung des Bundesrates fest: "Die entstehenden Finanzdefizite sollen zu rund einem Drittel von der DDR selbst finanziert werden. Diese Selbstbeteiligung ist zumutbar, weil die DDR mit 40 Mrd. DM – rund 13% des Bruttosozialproduktes – eine vergleichsweise geringe Ausgangsverschuldung aufweist."[2]
Das waren die richtigen Fakten und eine richtige Bewertung dazu. Gleichzeitig wird damit in einer anderen, viel diskutierten Frage offiziell Position bezogen: nämlich zur Höhe des Bruttosozialproduktes der DDR in D-Mark zum Zeitpunkt der Wende. Die Angaben des Bundesfinanzministers führen zu einem Bruttosozialprodukt der DDR im Jahre 1989 in Höhe von 313 Mrd. DM. Das ist etwa die Größe, von der auch das Wirtschaftskomitee der Regierung Modrow in Abstimmung mit Experten des ökonomischen Forschungsinstituts nach der Wende unter Berücksichtigung bestimmter Korrekturen ausging.
Es ist in diesem Zusammenhang sicher von beträchtlichem Gewicht, wenn der Chefredakteur des führenden Wirtschaftsmagazins der Bundesrepublik, "Wirtschaftswoche", Engels, immerhin fast fünf Jahre nach der Währungsunion und Vereinigung – also nach genügend langer Zeit der Prüfung und Analyse – feststellt: "Die alte DDR war zumindest in einer Beziehung ein grundsolider Staat: das Staatsvermögen machte ein Mehrfaches der Staatsverschuldung aus." Und er fährt dann fort, und man spürt seine in Ironie gekleidete Ungläubigkeit: "Dieses ganze Vermögen hat die Bundesrepublik mit dem Beitritt geerbt – fast die ganze Industrie, beträchtliche Teile des Wohnungsvermögens, der land- und forstwirtschaftlichen Flächen. Die Verwertung dieses Vermögens hat allerdings keinen Überschuss gebracht, sondern weit über eine viertel Billion Zuschuss erfordert. Das sei eben alles Schrott gewesen, wird heute behauptet."[3]

Warum das so war, kommt fast einer Kriminalgeschichte gleich, die einen dunklen Schatten darauf wirft, wie mit diesem "Vermögen" nach der Wende umgegangen wurde, alles unter dem Deckmantel der sogenannten Eingliederung und Unterstützung. Darüber berichte ich in meinem nächsten und letzten Beitrag über die Privatisierungsversuche der Treuhandanstalt und ihr klägliches Scheitern.

Hier geht es zum nächsten Beitrag:
Teil 3: Eine Kriminalgeschichte der Treuhandanstalt

 

[1] Leptin: Deutsche Wirtschaft nach 1945, Opladen 1980, S. 58.

[2] Waigel, T. / Schell, M.: Tage, die Deutschland und die Welt veränderten, 1994, S. 184.

[3] Engels, W. in "Wirtschaftswoche" Nr. 9 vom 23. 2. 1995, S. 174.

25 Jahre Mauerfall: Vorurteile zwischen Ost und West DDR, Umfrage

Autor:  halfJack

Was wir voneinander denken und was manche über den Osten nicht wissen.

Teil 1: Vorurteile, Solidaritätszuschlag, Renten, Reparationsleistungen

25 Jahre nach dem Mauerfall ist Deutschland nach einer jahrzehntelangen Trennung zusammengewachsen und dennoch gibt es nach wie vor Unterschiede, Benachteiligungen und Vorurteile auf beiden Seiten.
Zu diesem Thema habe ich kürzlich eine Umfrage gestartet. Ich würde mich freuen, wenn noch ein paar weitere Stimmen dazukommen, obwohl mir im Nachhinein auffiel, dass leider nicht diejenigen berücksichtigt wurden, die aus dem Ausland kommen. Die Umfrage richtet sich demnach speziell an Deutsche. Bislang lautet das Fazit nüchtern zusammengefasst, dass die abstimmenden Westdeutschen prozentual weniger Vorurteile gegen Ostdeutsche haben als umgekehrt. So zumindest ergibt es sich anhand der Stimmen. Einige haben darauf hingewiesen, dass Vorurteile nicht unbedingt negativ gemeint sein müssen, einiges bewahrheitet sich allein schon durch die Sozialisation. Zudem hat sich herauskristallisiert, dass mitunter ein Lokalpatriotismus vorherrscht. Das bedeutet, es handelt sich nicht zwangsläufig um Vorurteile zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd, Großstadtbewohner gegen Kleinstadtbürger oder auch Bayern gegen den Rest Deutschlands (falls man Bayern denn zu Deutschland zählt). Das klingt scherzhaft und so ist es auch gemeint, da regionale Unterschiede und die damit einhergehenden Stellungnahmen völlig normal sind und sich in den meisten anderen Ländern ebenfalls wiederfinden.

 

25 Jahre Mauerfall: Vorurteile zwischen Ost und West
Seit 25 Jahren nun schon sind der Osten und Westen Deutschlands wieder vereint. Lange Zeit sprach und spricht man von „Ossis“ und „Wessis“, doch wie sieht es mittlerweile mit den Vorurteilen aus? Es wäre natürlich gut, zusätzlich das Alter in diese Umfrage zu integrieren, um zu sehen, inwiefern sich die Meinungen unterscheiden, wenn man vor oder nach 1989 geboren wurde, aber das lässt sich schwer verwirklichen. Aussagen hierzu können gern als Kommentar hinterlassen werden.
Reklamieren Angelegt von:  halfJack
Anonymität: Die Teilnahme ist anonym.
Maximal 3 Auswahlen

Um teilzunehmen, musst du dich einloggen.

 

Vorurteile von Ost über West oder von West über Ost, das ist eigentlich ein überholtes Thema, möchte man meinen. In meiner frühen Kindheit wusste ich nur, dass es Konflikte zwischen "Ossis" und "Wessis" gab, wobei mir jedoch nicht klar war, zu welcher von beiden Gattungen ich überhaupt gehörte. Heutzutage, gerade durch die mediale Vernetzung und Kommunikation, sind Abneigungen längst hinfällig, so nahm ich an. In meiner Jugend zumindest existierten schlichtweg keine Abwertungen gegenüber den "Wessis". Die ersten Erfahrungen dazu habe ich erst gemacht, als ich von 2007 bis 2009 im Ruhrgebiet bzw. Sauerland lebte. Das ist schon ein Weilchen her, darum sind einige Dinge, die ich dort zu hören bekam, mittlerweile vielleicht schon gar nicht mehr der Rede wert.
Ich persönlich mag die Vielfältigkeit Deutschlands, und die Wiedervereinigung halte ich historisch gesehen für vorbildhaft und einzigartig auf der Welt. Warum schreibe ich dann nun eine solche Stellungnahme? Weil ich leider häufig Aussagen dieser Art hören musste: Der Osten sei eine wirtschaftliche Belastung für den Westen, es wäre besser, wäre die Mauer nie gefallen, oder noch besser, sie sollte gleich wieder aufgebaut werden etc. Zum Teil ist einiges hier in diesem Beitrag deshalb ein bisschen drastisch formuliert, um diesem Tenor entgegenzuwirken. Bei der Argumentation orientiere ich mich an dem Buch Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben? Versuch einer Abschlussbilanz von Siegfried Wenzel, der einst stellvertretender Vorsitzender der Plankommission war. Seine Positionen und Schlussfolgerungen basieren größtenteils auf westdeutschen Quellen, sind distanziert, differenziert und sachlich. An dieser Stelle möchte ich also einerseits eine kleine Empfehlung für das besagte Buch aussprechen, das den wirtschaftlichen Stand vor ungefähr zehn Jahren darstellt – zu einer Zeit, als noch stark in der Öffentlichkeit von der "DDR-Pleite" die Rede war. Andererseits möchte ich über Trugschlüsse aufklären und ein paar Informationen liefern, die das Bild einer ganzdeutschen  Belastung durch den Mauerfall in einem neuen Licht betrachten lassen.
Die Weblogeinträge zu diesem Thema werde ich in mehreren Teilen liefern, sonst wird das ein bisschen viel auf einmal. Ich bemühe mich um verständliche Erklärungen, dennoch könnten manche wirtschaftlichen, ökonomischen Themen etwas schwierig zu verstehen sein. Über aufmerksame Leser würde ich mich daher sehr freuen, da es wirklich interessant werden könnte. Noch ein Hinweis: ich bin nicht unfehlbar und falls hier einige Experten herumgeistern, denen verkehrte Darstellungen, Ergänzungen oder aktuelle Informationen einfallen, wäre ich über entsprechende Kommentare sehr erfreut.

 

1.    Solidaritätszuschlag: Ein Päckchen, das wir alle tragen

Allererster Trugschluss, der mir sehr häufig unterkam: der Solidaritätszuschlag. Als ich noch in NRW wohnte, gab es viele Leute, die alle mit voller Inbrunst davon überzeugt waren, allein die westlichen Bundesländer müssten den Soli bezahlen, was selbstverständlich nicht stimmt. Der Solidaritätszuschlag wird und wurde seit jeher von ganz Deutschland bezahlt, von den Bürgern der alten wie der neuen Bundesländer. Hierbei muss man ebenfalls bedenken, dass bis heute, über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, die Gehälter sowie Renten der ehemaligen DDR noch immer nicht an die Westgehälter angeglichen wurden, trotz gleicher Steuern, gleicher Beiträge, sodass man im Osten weniger von seinem Geld hat, obwohl man genauso viel in den Staat investiert.
Angela Merkel verkündete erst kürzlich, dass man sich derzeit weiter bemühen werde, die Renten zwischen Ost und West einander anzugleichen – dies würde nun nur noch wenige Jahre in Anspruch nehmen. Alte Menschen, die in der ehemaligen DDR ein Leben lang gearbeitet haben, profitieren davon kaum, weil eine Rentenabsicherung damals nur ab einem bestimmten Gehalt gewährleistet wurde. Unter diesem festgelegten Satz war man in der DDR einem erzwungenen Freibetrag ausgesetzt. Kurz gesagt heißt das, wer zu wenig verdiente, konnte keine Rücklagen für die Rente einzahlen und später auch nichts geltend machen, hatte also trotz Arbeit quasi niemals eingezahlt. Betrachtet man das vielfach geringere Gehalt und den Wertverfall dessen, wovon man sich damals noch einiges leisten konnte, sind durch die Inflationsrate die letzten fünf bis zehn Jahre vor der Rente am entscheidendsten. Wer früher in Rente gehen musste, weil ihm nach dem Mauerfall beispielsweise die Arbeitsbefugnis oder der Abschluss in der Ausbildung bzw. dem Studium aberkannt wurde, erhält lediglich den am vormals geringen Gehalt – zumindest nach heutigem Maß – errechneten Rentenbetrag, der nicht selten unter 1000 Euro liegt, trotz jahrzehntelanger Arbeit. Zugegebenermaßen hilft das nicht über die allgemein geringen Renten hinweg, die ebenso im Westen besonders Frauen im hohen Alter erhalten, weil sie häufiger als Frauen im Osten keiner Arbeit nachgingen und keine Sozialleistungen in Anspruch nahmen, aber das gehört zu einem anderen Thema.
Fakt ist jedenfalls, um zum Soli zurückzukommen, dass seit einigen Jahren laut Umfragen sowohl im Osten als auch im Westen die Bürger der Meinung sind, man könne den Solidaritätszuschlag abschaffen. Wie in Deutschland, dem Spitzenreiter im Erheben von Steuern, nicht anders zu erwarten, stellt sich in erster Linie die Regierung quer, die nicht gern Geld wieder hergibt, das sie einmal rechtlich erwirtschaften kann. Die Lösung hierzu lautet, dass man den Soli unabhängig von der Region überall nach Notwendigkeit einsetzt, da ihn ohnehin alle bezahlen und mittlerweile die Infrastruktur in weiten Teilen Deutschlands auf gleiches Niveau gebracht wurde und es im Westen genauso wie im Osten Verbesserungsbedarf gibt.

Kleiner Nachtrag aufgrund einer Kommentaranmerkung von  Azamir:
Nicht verwechseln sollte man den Solidaritätszuschlag mit dem Solidarpakt, der wiederum nicht von den einzelnen Bürgern, sondern vom Bund getragen wird. Diese Unterstützungen kommen zu großen Teilen, aber nicht ausschließlich den neuen Bundesländern nach Bedarf zugute. Anfangs bis 2004 geplant laufen die Unterstützungsleistungen nun noch voraussichtlich bis 2019. Wie nötig und sinnvoll das ist, kann offenbar nicht einmal der Bund genau sagen, da die Länder und Einrichtungen das ihnen zur Verfügung gestellte Geld nicht immer den Anforderungen entsprechend einsetzen. Ähnlich wie bei der Treuhand, auf die ich in meinem dritten und letzten Beitrag eingehen werde, scheitert das Unternehmen an Bürokratie und privater Befugnis, wobei das Ausmaß der Veruntreuung bei der Treuhandanstalt natürlich um ein Vielfaches beträchtlicher war.

 

2.    Reparationsleistungen: Ein Päckchen, das der Osten fast allein trug

Nächstes Standardargument, weshalb die DDR angeblich nicht viel beizusteuern und von der BRD quasi wieder aufgepäppelt werden musste, ist die Demontage der Schwerindustrie und zahlreicher technischer Geräte. Durch die Demontagen boten sich, um das kurz anzumerken, auch Vorteile. Alles musste neu aufgebaut und modernisiert werden. Bestandenes wurde nicht ausgebessert, sondern komplett ausgetauscht. Wenn man sich häufig die Frage stellt, warum in den alten Bundesländern vieles noch tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes "alt" ist, liegt das daran, dass es instandgehalten werden konnte und nicht ersetzt werden musste. Dahinter stehen allerdings noch ein paar weitere Tatsachen. Die Reparationsforderungen der UdSSR wurden von der DDR allein getragen, ohne Beteiligung der BRD. Wären die Regionen nicht aufgeteilt worden, hätte ganz Deutschland diese Reparationsleistungen tragen müssen. Das ist demzufolge ein – lediglich an den Forderungen der UdSSR gemessen mehr oder weniger gerechter – Verlust, den beide Teile Deutschlands zu tragen haben. Für den Wiederaufbau mussten Investitionen vorgenommen werden; in der BRD geschah dies direkt nach dem Krieg. Durch die Teilung wurden indes keine Gelder für die DDR ausgegeben, die erst nach der Wiedervereinigung flossen. Das entspricht einer Aufschiebung, keiner Belastung, die ohnehin angefallen wäre, hätte Russland nicht für eine Isolierung gesorgt.

99,1 Mrd. DM (1953) Reparationen der DDR stehen 2,1 Mrd. DM der Bundesrepublik Deutschland gegenüber. Die DDR trug also 97 – 98 % der Reparationslast Gesamtdeutschlands. Damit entfielen auf jeden Einwohner vom Kind bis zum Greis in der DDR 5.500 DM Reparationen, in der Bundesrepublik hingegen 440 DM (zum Wert 1953) – in der DDR also pro Einwohner mehr als das Dreizehnfache.
Diese Angaben finden sich wieder in einem Aufruf an die Regierung der Bundesrepublik zur Zahlung ihrer Reparations-Ausgleichs-Schuld an die Menschen der ehemaligen DDR, datiert mit der Jahreswende 1989/90, initiiert von dem Bremer Wissenschaftler Prof. A. Peters und unterschrieben von zwölf Wissenschaftlern und Politikern der alten Bundesländer. Daraus wird abgeleitet: Wenn die Reparationsleistungen gleichmäßig auf die Bürger ganz Deutschlands verteilt worden wären, ergäbe sich folgendes: Unter Berücksichtigung einer Verzinsung von 6 ⅝ Prozent (wie sie die DDR für den ihr vom Bundesfinanzministerium über deutsche Großbanken 1983 – 1988 gewährten Kredit zu zahlen hatte) ergibt sich eine Ausgleichszahlung der BRD an die Bürger der DDR in Höhe von 727,1 Mrd. DM zum Wert von 1989 als ein objektiv völlig gerechtfertigter Lastenausgleich.
Interessanterweise ist das etwa die gleiche Summe, die das Wirtschaftskomitee der Regierung Modrow errechnet hatte, um auf die Grundlage eines damals noch favorisierten Stufenplanes der Wiedervereinigung die Arbeitsproduktivität, die materielle Produktionsbasis und die Infrastruktur der DDR bis 1995 auf etwa 80 – 90 Prozent des BRD-Niveaus von 1989/90 heranzuführen.
Auf einer Pressekonferenz zur Vorstellung seines Memorandums am 28. 11. 1989 in Bonn sagte Prof. A. Peters: "Mir geht es darum, deutlich zu machen, dass wir, wenn wir jetzt der DDR Ressourcen zur Verfügung stellen, das nicht unter der Überschrift 'Hilfe' oder gar 'altruistische Hilfe' subsumieren können." Die BRD müsse sich als Treuhänder ansehen "für die Bevölkerung der DDR in Bezug auf ein gewissermaßen gespartes Kapital, mit dem wir ja arbeiten konnten. Und dieses Treugut muss man natürlich zurückgeben."
Klaus v. Dohnanyi, Ex-Bürgermeister von Hamburg und einer der Hauptberater der Treuhandanstalt, sagte dies auf einem Kongress führender Manager im Dezember 1992 in Leipzig noch drastischer: "Es geht nicht, dass der östliche Teil Deutschlands, der den Krieg bezahlt hat, auch noch den Frieden bezahlen muss."
Wie hellsichtig klingt in der sprüchereichen Zeit der deutschen Wiedervereinigung dazu der Ausspruch des Altbundespräsidenten Richard v. Weizsäcker, fast wie ein Menetekel: "Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden."

Hier geht es zu den nächsten zwei Beiträgen:
Teil 2: Humankapital, Verschuldung pro Kopf
Teil 3: Eine Kriminalgeschichte der Treuhandanstalt