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Huysmans: Gegen den Strich Buchvorstellung

Autor:  halfJack

Normal sein kann jeder, Exzentrik will gelernt sein: Jean Floressas des Esseintes, französischer Adliger und dekadenter Ästhet, hat genug vom banalen Alltagsleben. Er zieht sich in sein Landhaus zurück und erschafft sich eine Fantasiewelt voller Schwelgereien, Exzesse und Abstürze. Als dieser Roman 1884 erschien, liebten ihn einige Leser so sehr wie er andere abstieß. "Gegen den Strich" ist ein Meisterwerk der Dekadenzliteratur und eine Entdeckung für alle, die Charles Baudelaire und Oscar Wilde bereits hinter sich haben.

Joris-Karl Huysmans
Gegen den Strich

Ein Vergleich mit Baudelaire und Oscar Wilde im Klappentext, zwei meiner Lieblingsautoren, das ist schon mutig. Huymans gehört zwar zur Weltliteratur, aber danach gegriffen habe ich eigentlich nur, weil Paul Valéry Gegen den Strich fünfmal gelesen haben soll und es als sein Lieblingsbuch, ja sogar seine Bibel bezeichnete.
Nach einem Viertel des Buches ist mir klar, dass ich mir den Inhalt ohne Lesetagebuch nicht werde merken können.

Lesetagebuch

Einleitung:
Jean wird vorgestellt. Er stammt aus einer gut betuchten, aber degenerierten Adelsfamilie, ist von schwacher Konstitution. Seine Mutter stirbt an Entkräftung, sein Vater an einer Krankheit. Bis zu seiner Volljährigkeit wird Jean von Jesuiten unterrichtet, danach kann er frei als Herzog über sein Vermögen verfügen. Er besucht verschiedene Gesellschaften, gibt sich Ausschweifungen hin, hört sich das Geschwafel von Literatenkreisen an usw. Dabei wächst beständig seine Menschenverachtung und gleichzeitig wird seine Gesundheit angegriffen. Bald entsagt er diesem Leben, verkauft das Schloss seiner Eltern und zieht in ein kleines Landhaus, um dort zurückgezogen zu leben.

Erstes Kapitel:
Rückblick auf seine Ausschweifungen; wie er sein Boudoir einrichtete und dort Frauen empfing; wie er sich daheim einem päpstlichen Vertreter gleich auf einer Kanzel in Szene setzte und ein Schauspiel aufführte, auch wenn nur die Lieferanten kamen; wie er bei winzigen Verlusten ganze Trauerveranstaltungen abhielt. All diesen Extravaganzen entsagt er nun. Der Rest des Kapitels besteht aus Überlegungen zur Wahl seiner Wandfarbe, fünf Seiten bloß über die Wandfarbe.

Zweites Kapitel:
Herzog Jean lässt sich Diener kommen, die sich so wenig wie möglich bemerkbar machen sollen. Er lässt sein Esszimmer so umgestalten, dass es aussieht wie eine Schiffskajüte. Mal stellt er sich vor, er sei im Kloster, mal auf dem Meer. Ein paar Gedanken darüber, dass der Mensch nichts in Wirklichkeit erleben muss, sondern sich alles mit etwas Hilfe einbilden kann.

Drittes Kapitel:
Was sich in seinem Bücherregal befindet. Jedenfalls keine Klassiker wie Ovid oder Virgil, Cicero oder Caesar, sondern eher Lucan und danach französische Literatur. Viele ausschweifende Gedanken über all die Autoren, die er nicht leiden kann.

Viertes Kapitel:
Herzog Jean will seinen Teppich in Szene setzen, dafür kauft er eine Schildkröte. Die unterstreicht die Farbe des Teppichs aber nicht gut, darum stattet er sie mit einem goldenen Schild aus. Das reicht ihm nicht, darum überlegt er sich einen Edelsteinbesatz für den Goldpanzer. Lange Ausführungen über die Wahl der Edelsteine. Zufrieden setzt er die Schildkröte auf dem Teppich aus, aber sie bewegt sich nicht.
Schnee fällt, es scheint Winter zu sein. Jean hat sich eine "Orgel" aus Alkoholsorten zusammengestellt; verschiedene Schläuche mit Alkohol, die er miteinander kombiniert, ja komponiert.
Er bekommt jämmerliche Zahnschmerzen und lässt sich einen Zahn rausreißen.
Am Ende des Kapitels bewegt sich die Schildkröte noch immer nicht. Jean befühlt sie und hält sie für tot.
"Sie war an eine ruhige Existenz, an ein demütiges Leben, das sie unter ihrer ärmlichen Schale zubrachte, gewöhnt; sie hatte den glänzenden Luxus, den man ihr aufdrang, den goldglänzenden Überzug, mit dem man sie bekleidet, die Edelsteine, mit denen man ihr den Rücken gepflastert, nicht vertragen können."
- Ja, möglich. Andererseits denke ich mir, Schildkröten überwintern. Wird sie denn richtig gehalten? Hat sie jemals etwas zu Fressen bekommen?

Fünftes Kapitel:
Die Bilder, die in Herzog Jeans Haus hängen, werden beschrieben, welche Künstler er mag und welche nicht. Dann richtet er sein Schlafzimmer wie eine Mönchsklause ein, natürlich sehr kostspielig und mit dem Komfort eines warmen, bequemen Zimmers. Soll ja nur so aussehen als ob.

Sechstes Kapitel:
Herzog Jean sitzt vorm Kamin und erinnert sich an sein früheres Leben. Er ermutigte damals einen Freund zur Heirat, weil er wusste, dass dieses zukünftige Ehepaar aneinandergeraten würde; sie kauften sich eine runde Wohnung und legten sich einen Haufen unpraktischer runder Möbel zu, bis der Frau der Sinn nach lauter rechteckigen Möbeln stand, wofür sie aber kein Geld hatten. Jean erfreute sich an den Streits.
Dann erinnert er sich an einen Jungen, den er mit ins Bordell schleppte, damit dieser seine ersten Erfahrungen machen konnte. Jean bezahlte mehrere Wochen im Voraus, sodass der Junge so oft ins Bordell gehen konnte, wie er wollte, bis die Zahlung nicht mehr genügen würde und der Junge hoffentlich, nach der Vorstellung des Herzogs, kriminell und schließlich zum Mörder werden würde. Ob sein Plan aufging, weiß Jean nicht, denn es stand nie etwas darüber in der Zeitung, aber einen anderen Werdegang des Jungen hält er für unmöglich.

Siebtes Kapitel:
Erinnerungen an die Zeit bei den Jesuiten. Jegliche Lektüre wird Herzog Jean zuwider. Er hält Diät und will sich Pflanzen zulegen.

Achtes Kapitel:
Pflanzen. Er legt sich Pflanzen zu und beschreibt sie. Seit Robinson Crusoe liebe ich es, über Pflanzen zu lesen...
Gegen Ende träumt Jean, er wandere neben einer Frau mit Bulldoggengesicht, dann kommt die Lustseuche zu Pferde, sie laufen zu zweit vor ihr weg, die Frau mit Bulldoggengesicht verliert unterwegs all ihr Zähne, sie kramt ein paar Tonpfeifen hervor, zerbricht sie und rammt sich die Rohrstücken in die Löcher ihres Zahnfleisches, dabei zetert sie herum, Jean hat Angst gehört zu werden, er würgt sie, zerrt sie mit sich, irgendwann kommt er zu einem Haus und glaubt sich drinnen gerettet, der Reiter ist hinter ihm, doch im Haus ist eine Lichtung im Mondschein und dort springen Pierrots herum und Jean hat Angst zertreten zu werden, denn die Pierrots werden immer größer und größer, und dann taucht eine weitere Frau auf und wird von Amorphophallen angegriffen und ihre Körpermitte klafft auf wie die Wunde einer Pflanze und aaaah.

Neuntes Kapitel:
Die Träume verfolgen Herzog Jean, er kommt nicht zur Ruhe. Seine Pflanzen verwelken.
Von aufputschenden Bonbons unterstützt verliert er sich in Erinnerungen. Da gab es einmal eine Frau, eine Akrobatin, die sein Interesse weckte, als Jean zunehmend impotent wurde. Er stellte sich in ihrer Rolle vor, entwickelte die Liebe eines Mädchens und hoffte, die Akrobatin würde für ihn die Rolle eines Mannes einnehmen. Das Stelldichein mit ihr desillusionierte ihn jedoch. Später traf er durch Zufall einen jungen Mann auf der Straße, der ihn flüchtig berührte. Danach begannen sie ein Liebesverhältnis, das über mehrere Monate ging. Der Herzog denkt in seiner Einsamkeit mit Schaudern daran zurück.

Zehntes Kapitel:
Parfum. Langweilige Ausführungen über Parfum, die an Süskind erinnern. Oder umgekehrt, vielleicht hat sich Süskind davon inspirieren lassen. Bei Herzog Jean hat das Nervenleiden eine Störung seines Geruchssinns ausgelöst und er versucht es durch die "Wissenschaft des Riechens" zu kurieren. Er möchte einen Duft kreieren, fällt aber immer in Erinnerungen zurück und scheitert.

Elftes Kapitel:
Dem Herzog geht es so schlecht, dass die Diener einen Arzt rufen lassen, der völlig ratlos ist. Er verschreibt ihm Ruhe, doch Herzog Jean erholt sich von allein. Nachdem er zu viel Dickens gelesen hat, will Jean nach London. Er fährt nach Paris, um von dort überzusetzen. Vorher kauft er sich einen Stadtführer, sucht Orte auf, wo Engländer sind, um sich in seiner Fantasie bereits in London zu wähnen. Hier vermute ich schon, dass er am selben Abend zurück nach Hause fahren wird ... Und siehe da: genauso passiert es. Noch am gleichen Tag kommt er wieder zu Hause an und ist so erschöpft von den Eindrücken seines erdachten Londons, als käme er von langer Reise.

Zwölftes Kapitel:
Jean ordnet seine Bücher. Sein Zustand bessert sich, er denkt über das Papier nach, aus dem er seine Bücher anfertigen ließ, und über die Autoren, die er mag.

Dreizehntes Kapitel:
Das Wetter macht Jean zu schaffen. Es ist heiß, er geht nach draußen, sieht ein paar Jungen, die sich um ein Butterbrot streiten. Seine Diener sollen ihm selbst eines bringen, aber er lässt es aus Abscheu an die Jungen weiterreichen. Dann ist er wieder daheim, betrachtet seine Besitztümer und verliert sich in Tagträumen.

Vierzehntes Kapitel:
Es geht dem Herzog schlecht, er schafft es nicht mehr allein, seine Bücher fertig zu ordnen. Darum lässt er einen Diener das übernehmen. Währenddessen denkt er über Poe, Baudelaire, Verlaine usw. nach.

Fünfzehntes Kapitel:
Die Leiden des Herzogs werden nicht besser, seine Gedanken schweifen nun zur Musik ab, er sinniert über religiöse Orchester und Choräle. Ein bisschen erinnert er an Molières eingebildeten Kranken. Ist Herzog Jean wirklich krank oder steigert er sich nur hinein? Hat er sich durch seine Fastenkuren selbst geschwächt, durch seine Zurückgezogenheit selbst in ein Nervenleiden getrieben, will er überhaupt gesund werden? Als der Arzt erscheint, hielt ich ihn erst für einen Purgon oder Diafoirus - also jene Ärzte, die dem eingebildeten Kranken unsinnige Rezepte verschrieben, um an ihm bloß Geld zu verdienen - aber Jeans Arzt verschreibt ihm ein Klistier mit Lebertran und Kraftbrühe. Er päppelt ihn sozusagen auf. Jeans Zustand bessert sich, er überdenkt schon wieder seine Wandfarbe. Damit schließt sich der Kreis, möchte man meinen, aber der Arzt fordert ihn dazu auf, endlich diese exzentrische Zurückgezogenheit aufzugeben und unter normale Leute zu kommen.

Sechzehntes Kapitel:
Die Ärzte, die Huysman beschreibt, sind offenbar keine Quacksalber, denn sämtliche anderen Meinungen, die sich Herzog Jean einholt, enthalten gleichfalls den Rat, nach Paris zu gehen und sich mit freudigen Dingen zu zerstreuen. Damit sieht sich Jean versetzt an den Beginn seiner Krankheit, die ihn seiner Ansicht nach erst durch die Ausschweifungen ereilte. Während er sich in Kontemplation über christliche Hilfe begibt, räumen die Packleute sein Haus leer. 


Mein Fazit

Es ist immer schwierig, wenn ein Werk keine richtige Handlung hat. Ich würde sie so zusammenfassen: Herzog Jean entsagt der Welt und allen Lastern, denn er ist ihrer überdrüssig. Statt wirklich das Gegenteil zu tun, lebt er nach wie vor ausschweifend und exzentrisch, bis er ganz zum Schluss vermutlich in sein altes Leben zurückkehrt.
Manchmal macht Gegen den Strich den Eindruck, als habe der Autor nur seine Gedanken über Literatur und Kunst o. ä. zum Besten geben wollen und es in den Rahmen eines nach wie vor dekadenten Lebens eingebunden. Ich glaube sogar, dass man einige Kapitel in beliebiger Reihenfolge neu ordnen könnte, ohne dass es auffiele.
Da ich solche Bücher, ähnlich wie Empfehlungen, ohne Vorkenntnisse anfange, suche ich manchmal nach dem roten Faden. Mir war deshalb nicht klar, was die fünf Seiten Wandfarbe am Anfang sollen. Wenn es dann mit der Aufzählung der Bücher und Gemälde, der Stoffe und Möbel, des Essens und Trinkens, der Edelsteine, Pflanzen und Parfums etc. weitergeht, ist das Konzept natürlich eindeutig. Da kann man schwerlich kritisieren, dass der Autor so lange braucht, um zu erklären, weshalb sich Jean für Orange und Blau an seinen Wänden entscheidet. Das Übermaß dieser Ausführungen verfolgt eine ähnliche Zielsetzung wie die Aufzählung der Pflegemittel in American Psycho von Bret Easton Ellis. Dazwischen werden ein paar Geschehnisse eingebunden, Erinnerungen an vergangene Missetaten oder ein besonders brutal erscheinender Besuch beim Zahnarzt oder abfällige Gedanken über große Literaten, Künstler, Religion. Ob das Effekthascherei ist, weiß ich nicht.
Manchmal wirkt dieses Buch einfach bloß wie die Geschichte einer Inneneinrichtung. Es ist nicht schlecht, aber auch nicht übermäßig gut. Doch das Kapitel mit der Schildkröte gefiel mir, auch wenn mir die Schildkröte leid tat.

Die letzten ihrer Art [Teil 3] Buchvorstellung, Umweltschutz

Autor:  halfJack

Douglas Adams und Mark Cawardine
Die letzten ihrer Art
Eine Reise zu den aussterbenden Tieren unserer Erde

Ursprünglich wollte ich zu diesem Buch nur einen einzigen, möglichst kurzen Blogeintrag verfassen, doch am Ende ist das hier ganz schön ausgeartet. Nach dem ersten und zweiten Teil folgt nun der dritte und wirklich letzte Part einer Rezension, die schon lange keine mehr ist.
 


Quelle

Eine abschließende unglaubliche und glücklicherweise positive Geschichte, von der Adams erzählt, betrifft kein Tier, sondern eine Pflanze: den Ramosmania rodriguesi oder auch Café Marron. Diesen Strauch hielt man für ausgestorben, bis ein Junge auf Rodriques zufällig einen Zweig davon in die Schule brachte. Er stammte von dem einzigen verbliebenen Exemplar dieser Pflanze.
Mit aussterbenden Pflanzenarten könnte man gleichermaßen mehrere Bücher füllen, doch obwohl es Adams und Cawardine nur um Fauna, nicht um Flora ging, so finde ich die Erwähnung des Ramosmania rodriguesi sehr bezeichnend. Diese Kaffeepflanze fristete unter recht schlechten Bedingungen irgendwo in der Wildnis ein einsames Dasein, war über die Jahre jedoch unbehelligt geblieben. Nach ihrer Entdeckung zog man um den kleinen Baum einen Stacheldrahtzaun, um ihn vor Ziegen u. ä. zu schützen. Das war vielleicht ein Fehler, denn seit dieser Maßnahme war der Café Marron tatsächlich ernsthaft bedroht. Was auf solche Weise gehütet wurde, musste wertvoll sein, das schienen die Leute zu glauben. Als letzter seiner Art war der Baum für die Wissenschaft durchaus bedeutsam. Doch wurden ihm nach seinem Bekanntwerden von den Bewohnern der Insel auch zahlreiche heilende Fähigkeiten angedichtet. Immer mehr Leute interessierten sich für den Baum und schnitten Äste davon ab, was ihn beinahe getötet hätte. Man errichtete einen weiteren Stacheldrahtzaun und noch einen und noch einen, dann setzte man einen Wächter davor.
Heute ist der Baum noch immer vom Aussterben bedroht, aber bei einem Ableger in London gelang es, die Pflanze zu befruchten, damit sie vermehrt werden kann und sich nicht mehr nur selbst reproduziert. So weit ein Happy End. Bemerkenswert, und das nicht in guter Hinsicht, ist aber der Umstand, dass der Ramosmania rodriguesi erst wirklich bedroht war, als man sich um seinen Schutz bemühte.

Das liegt nun im Bereich meiner Spekulation, aber ich glaube, die Einzigartigkeit der Pflanze und dieser Zaun zum Schutz haben den Baum zu etwas Begehrenswertem gemacht.

Ein ähnliches Problem sehe ich bei Nashörnern und anderen Tieren, die wegen irgendeines Körperteils gejagt werden, um daraus Schmuck oder eine absurde chinesische Medizin zu machen. Soweit ich weiß, werden beschlagnahmte Stoßzähne und ähnliches zerstört oder eingelagert. 2016 wurden in Kenia über 100 Tonnen Elfenbein verbrannt, um ein Zeichen zu setzen. Ich halte dieses Vorgehen für falsch. Damals hätte ich noch gesagt, man solle das Zeug für einen Spottpreis auf den Markt werfen, damit sich jeder Trottel so etwas kaufen kann. 100 Tonnen, das ist eine ganze Menge. Indem man es verbrennt, steigt es nur in seinem Wert, und genau das finde ich daran verkehrt.
Solch eine Ansicht ist allerdings nicht neu, sie wird von einigen Tierschützern vertreten, kann aber heute nicht mehr so einfach als Antwort herhalten. In den 80er Jahren haben in Afrika vor allem Milizen die Tiere gewildert, um den Bürgerkrieg zu finanzieren. Danach erholte sich der Bestand. In Südafrika errichtete der Millionär John Hume sogar eine Nashornfarm, um das Horn zu "ernten" und auf den Markt zu bringen. Er war der Ansicht, ein regulierter Markt müsse das Problem lösen, ähnlich wie bei Drogen eine Regulation mehr Erfolg bringt als ein Verbot. John Humes Farm ist mittlerweile pleite. Er konnte aufgrund von Restriktionen offenbar kein einziges Horn verkaufen. So gut die Idee auch wäre, so sehr scheitert sie doch an einer Realität, in der sich jeglicher Handel in der Hand des organisierten Verbrechens befindet. Ohnehin war vielen Tierschutzorganisationen seine Farm ein Dorn im Auge. Sie befürchteten, er würde den Markt erst recht befeuern, anstatt ihn einzudämmen. Damit Hume sein Horn überhaupt verkaufen durfte, mussten Sonderregelungen eingeführt werden, die einen Handel mit Rhinohorn, welches nicht aus Wilderei stammte, zuließen. Eine solche Unterscheidung lässt sich in der Praxis aber kaum vornehmen und würde letztlich auch den Wilderern in die Hände spielen. Doch selbst wenn es möglich wäre, stellt das schon lange keine Lösung mehr dar. Die Nachfrage heutzutage geht größtenteils von einer sich entwickelnden reichen Mittel- und Oberschicht in China und Vietnam aus; zum Beispiel Rhinohorn als Potenzmittel, Pangolinschuppen als Medizin oder Elfenbein als Schmuck und allgemeine Kapitalanlage. Mit wachsendem Wohlstand können sich das immer mehr Leute leisten. Kein Bestand auf einem wie auch immer regulierten Markt könnte dieser Nachfrage gerecht werden.
Warum bedenkt der Markt nicht, dass seine Quelle irgendwann versiegt sein könnte, sobald die Tiere aussterben? Einerseits lässt sich das mit kapitalistischem Egoismus und Ignoranz erklären. Im afrikanischen Wildschutz ist Korruption ein großes Problem. Zudem leidet das Volk vielerorts unter Hunger und Armut. Wer um seine Existenz fürchtet, kümmert sich nicht um Arterhaltung. Das lässt sich schwer ändern, solange das tote Tier mehr wert ist als das lebendige. Andererseits ist die Ausrottung einer Tierart für den Konsumenten nicht zwangsläufig schädlich, zumindest nicht für jene, die darin eine Kapitalanlage sehen. Anders formuliert: Man legt sein Geld in Elfenbein an und spekuliert auf das Aussterben der Elefanten. Aufklärung nützt wenig, wenn auf Seiten des Abnehmers ein solches Kalkül dahintersteckt oder es für die traditionelle Medizin keine Rolle spielt, ob man statt der Einnahme von Pulver aus Rhinohorn oder Pangolinschuppen auch einfach an seinen Fingernägeln kauen könnte.

Angesichts dieser Situation ist es für Tierschutzorganisationen schwer, überhaupt etwas zu unternehmen; als wollte man ein brennendes Haus mit einem Fingerhut voll Wasser löschen. Nicht immer sind Entscheidungen, die dabei getroffen werden, richtig. Tiere zum Schutz in Gefangenschaft zu halten und ihnen die Hörner zu stutzen, wird als Vorgehen schnell in Frage gestellt. Manchmal gelingt eine Rettung einzig durch Umsiedlung oder Isolierung. Bei den im vorigen Beitrag erwähnten Vaquitas, den kalifornischen Schweinswalen, endete der Versuch des Einfangens katastrophal. Das erste Tier musste aufgrund seiner Panik sofort wieder freigelassen werden, das zweite verendete am Stress. Dem kleinen Wal kann vermutlich nicht mehr geholfen werden. Die Ursachen sind in vielen Fällen ähnlich: Umweltverschmutzung, Verlust des Habitats, Eindringen exotischer Arten. Das sind durch den Menschen indirekt verursachte Gründe. Hinzu kommt übermäßige Bejagung oder Beifang als direkte Ursache. Tierschutz kann hier noch immer greifen, aber er scheitert fast vollständig, wenn er auf eine stets wiederkehrende Kombination an Faktoren stößt: nämlich erstens dann, wenn es um ein lukratives Lebewesen geht, und zweitens in einem Land mit armer Bevölkerung und versagenden staatlichen Einrichtungen. Wenn sich hier politisch nichts ändert, womit auch Restriktionen im Abnehmerland gemeint sind, dann bleibt Tierschützern nichts weiter übrig, als einzeln illegale Netze zu entfernen usw., also den Brand mit einem Fingerhut zu löschen. Teilweise kann das Eingreifen solcher Organisationen sogar kontraproduktiv sein, wenn etwa öffentliche Anklagen die Bevölkerung treffen und außer Acht lassen, dass ihnen manchmal keine andere Wahl bleibt. So verhärten sich die Fronten. Schuld ist irgendwie jeder und niemand. Das Zusammenspiel der Ursachen gestaltet sich stets sehr komplex, wie das Beispiel der Vaquitas deutlich zeigt.

Die amerikanische Biologin Rachel Carson schrieb 1962 das Buch "Der stumme Frühling", worin sie auf die Auswirkungen des Pestizids DDT aufmerksam machte, durch das nicht nur Schädlinge umgekommen waren, sondern auch zahlreiche Singvögel. Es ist nicht erst ein Thema seit gestern. Auf verschiedene Weise nimmt der Mensch immer Einfluss auf die Natur, er kann Tierarten ausrotten, er kann sie retten und schützen und einigen verhilft er sogar zur Existenz. Etliche domestizierte Arten würden sonst heute nicht existieren. Es gibt Tiere, die sich an das Stadtleben anpassen, neue Arten, die dadurch entstehen; Tiere, die mit dem Menschen reisen, am bekanntesten hierfür sind Spatz und Taube. Tierschutzorganisationen sind ständig dazu genötigt, darüber zu entscheiden, welche Art gerettet werden sollte und welche nicht. Woran macht man das fest? Am Nutzen, den diese Tiere vermeintlich haben, zum Beispiel Wildbienen und andere Bestäuberinsekten für unsere Landwirtschaft? Oder das Axolotl für unsere Forschung? Oder das Aye-Aye, weil es so viele besondere Eigenschaften hat? Oder den Café Marron, weil es der letzte ist? Oder den Kakapo, weil er so ein ulkiger Vogel ist?
Die Liste der mittlerweile vermutlich ausgestorbenen Tiere scheint endlos. Das Breitmaulnashorn und der Jangtse-Delfin, die im Bericht von Douglas Adams vorkommen, sind praktisch ausgestorben. Vom Pyrenäensteinbock starb das letzte Exemplar 2000; zwar wurde dieser Steinbock 2009 als erstes Tier durch Klonen zurückgebracht, starb jedoch nach wenigen Minuten. Die Hawaiikrähe oder der Spix-Ara sind in freier Wildbahn ausgelöscht. Von den 15 Unterarten der Galapagos-Riesenschildkröte sind 5 bereits ausgerottet, die anderen stehen unter Artenschutz. Als ausgestorben gelten die Goldkröte, der Java-Tiger, der Delacour-Zwergtaucher, der Tecopa-Kärpfling, der Sansibar-Leopard, die Karibische Mönchsrobbe, der Elfenbeinspecht, der Weißwangen-Kleidervogel, der Madeira-Kohlweißling ... Es ist völliger Quatsch, hier so eine Liste anzufangen, um das Massensterben von Tierarten deutlich zu machen. Es sollen jährlich mindestens 20 000 Arten sterben. Manche Schätzungen gehen von 60 000 aus.

Nun lautet die Frage, die sich wahrscheinlich nicht viele, aber doch einige stellen: Wozu soll man sich darum kümmern? Was wäre so schlimm daran, wenn ein ulkiger Papagei ausstirbt? Denn - so lautet das einfache Argument - es sterben mittlerweile schlicht so viele Arten aus, weil es nun mal so extrem viele, spezialisierte Arten gibt.
Ich kann es nicht mehr genau rekonstruieren; bei irgendeiner Show oder einem Programm äußerte sich vor ein paar Jahren Dieter Nuhr über Umwelt- und Klimaschutz mit der Ansicht, es ginge nicht darum, dass man die Natur schützen müsse. Sinngemäß sagte er: "Der Natur ist das scheißegal. Die tauscht ein paar tausend Arten aus und macht weiter." Schädlich sei das alles nur für den Menschen.
Andererseits ziehen einige Leute sogar diesen vermeintlichen Schaden für die Menschheit in Zweifel und argumentieren, dass man zum Beispiel in nördlichen Regionen anbauen könnte, wenn es auf der Welt wärmer werde usw. usw. Kommt man gegen solche Argumente an? Tangieren uns überhaupt die paar Vögel und Wale und sonstige Arten, die aussterben und an deren Stelle eben andere Lebewesen treten; neue, besser angepasste, weltweit verbreitete Tier- und Pflanzenarten?
Hierauf kann ich nur mit meiner eigenen Meinung antworten. Ich glaube, Inseln wie Mauritius zeigen uns, wie leicht ein Ökosystem im Kleinen zusammenbrechen kann. Vieles hängt miteinander zusammen. Daher können wir gar nicht abschätzen, welche Auswirkungen das Verschwinden einer Art hat, die womöglich viele andere mit sich nimmt, weil das Gleichgewicht gestört ist. Insektizide töten Pflanzenschädlinge, aber gleichzeitig auch Bestäuberinsekten, die für ertragreiche Ernten ebenso wichtig sind wie ein intelligenter Pflanzenschutz. Die meisten Menschen, möchte ich behaupten, ernähren sich heutzutage im Gegensatz zu unseren Vorfahren nur noch von einer Handvoll Lebensmitteln. Einiges davon gab es früher im europäischen Raum gar nicht, zum Beispiel die Kartoffel. Stattdessen aßen wir diverses Wurzelwerk und Kräuter, von denen wir heute kaum mehr wissen. In der Neuzeit wurden von Großkonzernen wie Monsanto ein paar Arten hochgezüchtet und verbreitet, bis sie alles andere fast völlig verdrängten. 94 % des einstigen Saatgutes sind in den letzten 100 Jahren verschwunden. Es gibt zwar einen Trend zurück zu den Wurzeln im wahrsten Sinne des Wortes, aber die meisten werden bei ihren Nudeln und Kartoffeln bleiben. Monokulturen sind anfällig für Krankheiten und Schädlingsbefall, auf dem Feld genauso wie in unseren angelegten Wäldern. Massentierhaltung ist das Äquivalent zu diesem einseitigen Anbau. Ich glaube nicht, dass wir unsere Welt so weit reduzieren können, auf ein paar Basisbausteine aus Nutztieren und Kulturpflanzen, dass am Ende trotzdem noch alles funktioniert. Sümpfe, Mangrovenwälder, reiche Ökosysteme in Steppen und Wüsten sind nicht einfach ungenutztes Land, das man kultivieren müsste. Insekten oder Wildtiere sind keine Plagen, die einer Urbarmachung im Weg stehen. Sogar Fledermäuse, die oftmals als unheilvoll empfunden und gejagt werden, tragen mancherorts zur Bestäubung von Pflanzen bei. All diese Wechselbeziehungen von komplexen Ökosystemen werden oft außer Acht gelassen. Das Gleichgewicht unserer Erde hängt meines Erachtens von der Vielfalt ab.

Laut den letzten Berichten des IPBES ist die Biodiversität weltweit in einem schlechteren Zustand als erwartet. 6,6 Millionen Quadratkilometer in Afrika sind abgebaut oder stark beeinträchtigt, das ist nach meiner Berechnung ein Fünftel der Gesamtfläche. Ähnlich beeinträchtigt sind 65% der Fläche in Amerika. 8 der 10 am stärksten verschmutzten Flüsse liegen in Asien. Durch die Globalisierung bleiben die Probleme nicht innerhalb der Landesgrenzen, sondern hängen miteinander zusammen.

Von Spiegel Online zusammengefasst
Die wichtigsten Erkenntnisse des Berichts über den weltweiten Zustand der Natur:

  • 85 Prozent der Feuchtgebiete sind bereits zerstört
  • Seit dem späten 19. Jahrhundert sind rund die Hälfte aller Korallenriffe verschwunden
  • Neun Prozent aller Nutztierrassen sind ausgestorben
  • Zwischen 1980 und dem Jahr 2000 wurden 100 Millionen Hektar tropischer Regenwald abgeholzt - weitere 32 Millionen Hektar allein zwischen 2010 und 2015
  • 23 Prozent der Landfläche des Planeten gelten als ökologisch heruntergewirtschaftet und können nicht mehr genutzt werden
  • Der Verlust von Bestäuberinsekten bedroht Nahrungsmittelproduktion im Wert von 235 bis 577 Milliarden Dollar pro Jahr
  • Durch die Zerstörung von Küstengebieten wie Mangrovenwäldern ist die Lebensgrundlage von bis zu 300 Millionen Menschen gefährdet

Die letzten ihrer Art [Teil 2] Buchvorstellung, Umweltschutz

Autor:  halfJack

Douglas Adams und Mark Cawardine
Die letzten ihrer Art
Eine Reise zu den aussterbenden Tieren unserer Erde

Beim letzten Mal haben wir erfahren, dass es Drachen wirklich gibt, warum das Weiße Rhinozeros nicht heller ist als seine Artgenossen und was Spechte damit zu tun haben, dass die Finger der Aye-Ayes so lang sind.

Beschäftigt man sich mit aussterbenden Tierarten, von denen viele einzig in bestimmten Regionen und vor allem auf Inseln vorkommen, wird man früher oder später mit den Begriffen "endemisch" und "exotisch" konfrontiert. Endemische Arten oder Endemiten sind Lebewesen, die nur in einer bestimmten Region vorkommen und sich dort natürlich entwickelt haben. Exoten hingegen sind solche, die dort ursprünglich nicht heimisch waren, sondern in den meisten Fällen vom Menschen irgendwann angesiedelt wurden. Zu diesen exotischen Arten zählen insbesondere Ratten, Katzen, Hunde oder Hasen. Das ist deshalb so entscheidend, weil vor allem Inseln fragile Systeme sind, auf denen weit weniger Arten ums Überleben kämpfen als auf dem großen Festland. Diese endemischen Arten haben sich unterschiedlich differenziert und angepasst. Insofern sie nicht durch Verlust des Habitats oder Jagd bedroht sind, können sie allein durch das Eindringen von Exoten massiv gefährdet sein, zumindest solchen Arten, die fast überall auf der Welt existieren und sich schneller an Umgebungen anpassen, da sie aggressiver sind und eine höhere Fertilitätsrate aufweisen. Diese Exoten haben oftmals keine natürlichen Feinde in der neuen Umgebung. Sie werden selbst zu Fressfeinden zum Beispiel für die heimischen Vögel oder treten in Konkurrenz bei der Nahrungssuche.
Ist man in Neuseeland im Dschungel oder den Wäldern unterwegs, muss man sich nicht die Frage stellen, was zu tun ist, sollte man einem Bären oder Wolf begegnen. Solche Raubtiere gibt es auf Neuseeland nicht. Aus diesem Grund konnte sich die dortige Vogelwelt auf einzigartige Weise entwickeln.
 


Quelle

Der Kakapo oder Eulenpapagei auf Neuseeland war der Auslöser dafür, dass ich mir das Buch von Douglas Adams überhaupt komplett angehört habe. Seine Geschichte ist die wohl witzigste, absurdeste und positivste im ganzen Buch. Dieser große, flugunfähige Papagei galt zwischenzeitlich als ausgestorben und tatsächlich ist er das auf den beiden Hauptinsel von Neuseeland auch, da mit dem Menschen neue Feinde wie Opossums oder Ratten auf die Inseln kamen. Der Kakapo war nie mit Raubtieren am Boden konfrontiert und besitzt daher keinen Fluchtinstinkt. Wenn etwas auf ihn zuschleicht, bleibt er einfach sitzen. Diese Erstarrung wäre bei Gefahr aus der Luft nicht die schlechteste Strategie, aber am Boden ... Kein Wunder also, dass er nahezu ausstarb.
In den 70er Jahren wurden ein paar Kakapos entdeckt. Sie leben heute lediglich auf wenigen Inseln vor Neuseeland und gehören zu den am besten überwachten Tieren der Welt. Ihre Population war leider zu Beginn des Schutzprogramms so klein, dass die fehlende Vielfalt des genetischen Materials zu einer schlechten Fruchtbarkeit führte. Abgesehen davon, dass der Kakapo eher einer schwerfälligen Henne als einem Papageien ähnelt, hat er noch dazu sehr ungünstige Paarungsgewohnheiten.
Er ist ein Einzelgänger und begegnet bloß äußerst selten seinen Artgenossen, erst recht jenen des anderen Geschlechts. Das Männchen trifft jedes Jahr ab Oktober alle Vorbereitungen, um ein Weibchen anzulocken. Er putzt aufs Penibelste eine Stelle und den umliegenden Weg dorthin. Dann fängt der Kakapo mit seinem Balzgesang an.

Dieser Gesang ist ... ziemlich vielfältig und merkwürdig.

Er besteht aus Pfeiftönen (zu denen auch einige andere Papageien fähig sind) und einer Art Zwitschern (dem "chinging"); dann ein stockendes Brummen, Knattern, Grunzen, Keuchen und Kreischen, was stellenweise klingt wie ein Esel oder eine extrem langgezogen und laut quietschende Schaukel aus einem alten Horrorstreifen (Antwortschreie); und zuletzt noch das für den Kakapo charakteristische kurze Brummen oder Summen (sogenanntes "booming", das sich durch seine tiefe Frequenz anfühlt wie ein Herzschlag). Was auch immer diese ganzen Geräusche sein sollen, wie ein Vogel klingt es jedenfalls oft nicht.

Der Ruf, besonders das "booming", ist kilometerweit zu hören, einer der weitreichendsten überhaupt im Vogelreich. Doch leider ist er auch in einer so tiefen Tonlage, dass er sich schwer orten lässt. Das Weibchen kann diesen Gesang demnach wahrnehmen, aber dummerweise nicht lokalisieren. Außerdem hat sie meistens kein Interesse daran. Dass sich das Weibchen nämlich zur Paarung bereit erklärt, hängt davon ab, ob die neuseeländischen Rimu-Bäume Früchte tragen, was nur aller zwei bis vier Jahre der Fall ist. Während das Kakapo-Männchen also an seinem schick gemachten Platz sitzt und komisch singt, läuft das Kakapo-Weibchen, insofern sie das Werben nicht komplett ignoriert, oft tagelang herum und sucht nach ihm. Bis zu 20 Kilometer kann sie dabei zurücklegen. Und wenn sie ihn dann gefunden hat, heißt das noch nicht, dass sie sich darauf einlässt. Entspricht das Männchen nicht ihren Vorstellungen, zieht sie wieder von dannen. Der dicke Papageienmann hat demnach oft umsonst bei seinem wochenlangen absurden Gesang die Hälfte seines Gewichts eingebüßt. Er frisst sich ein paar Pfunde an und versucht es nächstes Jahr erneut.
Was hat sich die Natur bloß dabei gedacht? Andererseits geschieht auch nichts in der Natur ohne Grund. Der Kakapo mag groß und schwerfällig wirken, doch da er einfach nicht mehr auf das Fliegen angewiesen war, wurde diese Fähigkeit zugunsten seiner Reserven aufgegeben. Er ist robust und langlebig, seine Lebenserwartung übersteigt 60 Jahre, angeblich soll er sogar 100 Jahre alt werden können, womit er einer der ältesten Vögel der Welt ist. Die Population auf Inseln darf nicht überhand nehmen, damit sich eine Art nicht aus Nahrungsmangel selbst auslöscht. Das Fehlen von natürlichen Feinden würde sonst zu einer rapiden Vermehrung führen. All dies stellt den Kakapo als ideal angepasst heraus. Bis eben zu dem Moment, an dem das Gleichgewicht gestört wird.
Ohne die Hilfe des Menschen wäre der Kakapo bereits ausgestorben. Heute hat sich die Population von dem Tiefststand von unter 50 Vögeln auf über 200 erholt.
 


Quelle

Der Jangtse-Delfin, auch Chinesischer Flussdelfin oder Baiji, hatte nicht so viel Glück wie der Kakapo. Wie sein Name schon sagt, lebt er im Jangtsekiang, dem längsten Fluss Chinas. Dieser Fluss ist eine wichtige Schifffahrtsstraße für sämtlichen Güter- und Personenverkehr, er ist mit Stauseen und Hebewerken versehen, mit Turbinen und Generatoren zur Stromerzeugung, es werden Schadstoffe und Abwässer in ihn hineingeleitet und er spült von allen Flüssen auf der Welt das meiste Plastik ins Meer. Der ökologische Zustand des Jangtse macht es den endemischen Arten sehr schwer, unter anderem dem Baiji.
Ein auffälliges körperliches Merkmal des Baiji sind seine weit oben stehenden, verkümmerten Augen. Er ist fast blind und orientiert sich per Echo, ähnlich wie Fledermäuse. Abgesehen von den Schadstoffen im Jangtse, die den Baiji gesundheitlich angreifen, so macht ihm die starke Schifffahrt und Lärmverschmutzung zu schaffen. Er verlor oftmals die Orientierung und geriet beim Auftauchen in Schiffsschrauben oder versuchte sich am Rand des Flusses zu halten und verfing sich dabei in Fischernetzen.
Als Adams und Cawardine sich nach dem Delfin auf die Suche machten, war die Bedrohung des Baiji längst erkannt. Er wurde von der Volksrepublik China unter Schutz gestellt, die Jagd auf ihn verboten, es sollte ein Reservat für ihn am Jangtse eingerichtet werden und er sollte sogar als Touristenattraktion vermarktet werden. Sämtliche Bemühungen waren umsonst. Der Baiji gilt heute mit hoher Wahrscheinlichkeit als ausgestorben. Alle Sichtungen ab 2007 sind vermutlich Verwechslungen mit Finnenlosen Schweinswalen. Damit wäre der Baiji die erste in historischer Zeit ausgestorbene Walart.
Ein ähnliches Schicksal ist vielleicht auch dem Vaquita bzw. Kalifornischen Schweinswal beschieden, dem kleinsten Wal der Welt, der mit seiner ungewöhnlichen Gesichtsmusterung an einen Panda oder Clown erinnert. Er ist massiv durch die eigentlich verbotenen Stellnetze zum Fischfang von Totoabas bedroht, da er sich unbeabsichtigt darin verfängt und ertrinkt. In diesem Jahr sollen noch knapp 20 Vaquitas gesichtet worden sein.
 


Quelle

Der Rodrigues-Flughund auf Mauritius war die letzte Station von Adams und Cawardine, obwohl sie sich mit ihm weit weniger beschäftigten als mit der einheimischen Vogelwelt. Denn diesem Flughund geht es von den hier genannten Arten noch am besten. Es gibt einige hundert Exemplare, die auf Rodrigues, einer Insel vor Mauritius, endemisch sind. Sie sind bedroht durch Verlust ihres Habitats und durch Bejagung. Anders als die in Deutschland lebenden knapp 25 Arten Fledermäuse, die ausschließlich von erjagten Insekten leben, so ernähren sich die weit größeren Flughunde meist von Früchten. Der Rodrigues-Flughund erreicht eine Flügelspannweite von fast einem Meter.

Sehr viel bekannter ist jedoch ein anderes Tier, das auf Mauritius lebte und in der ganzen Thematik eine Sonderstellung einnimmt: der Dodo. Dieser flugunfähige Vogel hatte mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie der Kakapo. Er war den eingeschleppten Raubtieren schutzlos ausgeliefert. Seine Eier wurden, da er am Boden nistete, zur leichten Beute. Zudem fingen Seefahrer ihn oftmals ein, um ihn als Proviant auf Schiffen zu halten, auch wenn er nicht besonders gut schmeckte. Keine 100 Jahre nach seiner Entdeckung wurde der letzte Dodo vermutlich von Menschen totgeschlagen, ohne dass diese sich groß Gedanken darüber machten. Es existierte kein richtiges Verständnis dafür, dass eine Art nicht für immer da sein würde, dass sie auch einfach aussterben konnte. Flora und Fauna wurden als von Gott geschaffen und unveränderlich wahrgenommen. Darwin lag noch in der Zukunft. Es brauchte wiederum zwei Jahrhunderte, bis der Dodo durch Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" traurige Berühmtheit erlangte. Heute ist er zum Symbol für das Artensterben an sich geworden.

Zumindest mit den Tieren, die im Buch von Adams und Cawardine behandelt werden, sind wir damit am Ende angelangt. Ich schließe dem noch einen dritten Teil mit Ergänzungen an, die sich nicht mehr so sehr auf das Buch beziehen.

Die letzten ihrer Art [Teil 1] Buchvorstellung, Umweltschutz

Autor:  halfJack

Douglas Adams und Mark Cawardine
Die letzten ihrer Art
Eine Reise zu den aussterbenden Tieren unserer Erde

Man muss nicht per Anhalter durch die Galaxis reisen, um auf ungewöhnliche Lebewesen zu stoßen. Unsere Erde beheimatet schier unendlich viele davon, von denen wir jeden Tag aufs Neue überrascht werden. Uns stehen mittlerweile Möglichkeiten zur Verfügung, auf dem eigenen Planeten fremde Welten zu entdecken und unbekannte Lebensformen. Dabei dringen wir an Orte vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.
... Okay, Schluss mit dem Star-Trek-Monolog. Worauf wir wirklich stoßen, ist ein drohendes Massensterben.

In den 80er Jahren trat der WWF an Douglas Adams heran mit der Frage, ob er nicht mit dem Zoologen Mark Cawardine um die Welt reisen und über aussterbende Tierarten berichten wolle. Warum übertrug man eine solche Aufgabe wohl dem Autor von humoristischen SciFi-Geschichten? Einerseits sicherlich wegen seiner Bekanntheit. Allein sein Name sollte Werbung für ein Unterfangen sein, das internationale Aufmerksamkeit und Unterstützung brauchte. Andererseits fand man in Douglas Adams jemanden, der durch absolute Unkenntnis glänzte und ohne viel Fachsimpelei von all diesen Reisen erzählen konnte.
Daraus wurde eine Radiosendung und ein begleitendes Buch, das als ungekürztes Hörbuch bei Spotify verfügbar ist. Ich selbst kam über den Vorleser Stefan Kaminski darauf, den ich bereits bei Gaimans American Gods schätzen gelernt hatte.

Nun ja, tatsächlich habe ich zuerst mit der Geschichte des Kakapo angefangen. Ein witziger Einstieg, der auch für sich allein stehen kann (ab Kapitel 66 bei Spotify, "Herzklopfen in der Nacht", falls man mal reinhören möchte).
Douglas Adams hat eine sehr charmante und ehrliche Art des Erzählens, was mit dem Sprechertalent von Kaminski perfekt harmoniert. Als Beauftragte und nicht bloß als zum Urlaub Eingereiste fühlen sich die beiden Entdecker Adams und Cawardine manches Mal privilegiert. Sie erwarten abgelegene Orte, Dschungel und Wildnis. Doch ab und zu treffen sie ihre gesuchten Tiere nicht in menschenleerer Natur, sondern in einer Touristenattraktion. Douglas Adams macht keinen Hehl daraus, zu schildern, wie es wirklich war. Und manchmal wurde daraus kein Abenteuer, sondern nur eine Farce.
Auf der anderen Seite waren manche Naturschutzgebiete für sie wegen der strengen Kontrollen kaum zu erreichen. Als Zuhörer begleitet man Adams und Cawardine nach Madagaskar, Komodo (Sundainseln), Zaire (Kongo), Neuseeland, China und Mauritius. Da es sich um die ungekürzte Fassung handelt, sind recht viele Anekdoten und Ausführungen enthalten, die sich mit der Mentalität des jeweiligen Landes und den Einreiseschwierigkeiten befassen. Die Informationsdichte ist daher nicht besonders hoch, aber meines Erachtens in einem recht guten Maß gehalten für jenen Adressaten, der genauso Laie ist wie Douglas Adams selbst und der von einigen Tieren noch nie etwas gehört hat.
 


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Das Aye-Aye oder Fingertier ist lediglich auf Madagaskar beheimatet. Inseln sind eine Zuflucht für viele Arten, die auf dem Festland nicht überlebt hätten. Lemuren beispielsweise hätten im Kampf um Nahrung gegen die stärkeren Affenarten wahrscheinlich den Kürzeren gezogen. Dem Aye-Aye kommt zugute, dass es auf Madagaskar keine Spechte gibt, sodass Insekten unter der Baumrinde als ideale Nahrung dienen, ebenso Früchte oder Pilze. Hierfür entwickelte das Aye-Aye die (im Deutschen namensgebenden) langen Finger, von denen der dritte sehr dünn ist. Es geht dabei genauso vor wie ein Specht, klopft den Baum auf Hohlräume ab, entfernt die obere Rinde und bohrt den dritten Finger in schmale Spalten, um Insekten rauszuholen. Es hat ein gutes Gehör, um diese Unterschiede wahrzunehmen. Als nachtaktive Primatenart sind zudem Geruchs- und Tastsinn gut ausgebildet. Einzigartig unter Primaten sind seine nachwachsenden Zähne, außerdem hat es Krallen statt Nägeln, was sonst nur beim Krallenaffen vorkommt. Die Zitzen liegen in der Leistengegend, auch das ist untypisch. Neben den ganzen einzigartigen Eigenschaften sind Aye-Ayes optisch so eine Mischung aus total niedlich und merkwürdig gruselig.
In den vergangenen 25 Jahren ist die Population um die Hälfte gesunken und soll sich in den nächsten zehn Jahren nochmal halbieren. Aye-Ayes sind die einzig übrigen Vertreter ihrer Familie. Vor tausend Jahren gab es noch einen weiteren Verwandten, das Riesenfingertier, das mittlerweile ausgestorben ist. Bedrohung geht einerseits davon aus, dass Madagaskar zunehmend erschlossen wird und sich der Lebensraum verkleinert, andererseits werden Aye-Ayes gejagt, weil sie auf Plantagen einfallen und manchmal auch wegen ihres Fleisches. Es gibt einen Aberglauben unter der Bevölkerung, dass man stirbt, wenn man ein Aye-Aye erblickt, darum werden manche auch deswegen getötet.

 


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Wer Btooom! gelesen oder gesehen hat, kennt sie: die Drachen oder Komodowarane, die auf den Sundainseln zwischen Asien und Australien beheimatet sind. Sie sind vermutlich Vorbild für einige Drachenlegenden, auch wenn sie kein Feuer spucken. Als Fleischfresser jagen sie ihre Beute, indem sie in Gliedmaßen beißen und warten, bis das Tier nach zwei, drei Tagen verendet. Im Bericht von Adams und Cawardine wird dies noch auf die Infektion zurückgeführt, doch tatsächlich fand man heraus, dass die Komodowarane ein Gift absondern. Auf die Weise können sie Ziegen, Hirsche und manchmal sogar Wasserbüffel erjagen. Und natürlich auch Menschen, zumindest Kinder. Das Volk auf Komodo baut daher Häuser auf Stelzen, obwohl ein Angriff nur selten passiert. Die Drachen kommen nahezu täglich ins Dorf, werden aber recht einfach vertrieben. Komodowarane besitzen eine hohe Ausdauer und können ihre gebissene Beute über Kilometer hinweg riechen. Eine Mahlzeit brauchen sie nur etwa aller zwei Wochen. Sie verschlingen ihre Beute komplett mitsamt Knochen und scheiden nur Haare, Nägel und Kalzium wieder aus. Es gibt auf Komodo keine Säugetierraubtiere, was dazu führte, dass die Drachen überleben und ein für Echsen ungewöhnlich leistungsfähiges Kreislaufsystem entwickeln konnten. In Australien gab es einen Verwandten, den Megalania, der sechs oder gar sieben Meter lang wurde, im Gegensatz zum kleineren Komodowaran mit "nur" drei Metern. Diese Riesenechsen starben nach dem Pleistozän aus. Auch hier zeigt sich wieder die Besonderheit von Inseln für das Überleben und die Spezialisierung einzelner Arten.
An dieser Stelle ist die Erzählung von Adams sehr desillusioniert. Sie trafen auf Komodo eine Gruppe von abgeklärten Touristen und wurden von ein paar Rangern zu einer Art Raubtierfütterung gebracht, wobei die zur Speise bestimmte Ziege gleich mitgeführt wurde. Die Warane lagen schon um die Futterstelle bereit, sie waren fett und faul geworden, manche von ihnen verließen den Platz gar nicht mehr. Das alles wurde nur als Show für die Touristen abgezogen. Offenbar wird das heute wohl nicht mehr so gemacht, die Bevölkerung verdient dennoch gut an den Waranen durch den Verkauf von Schnitzereien zum Beispiel.
Bedroht ist der Komodowaran vor allem durch Verringerung von Lebensraum und Nahrungsquellen sowie durch die ungleiche Geschlechtsverteilung, da es sehr viel mehr Männchen gibt als Weibchen.
 


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Das Nördliche Weiße Rhinozeros oder Breitmaulnashorn sieht nicht viel heller aus als seine Verwandten, was Douglas Adams erstmal enttäuschte. Der Name geht aber offenbar auf einen Übersetzungsfehler zurück und hatte nichts mit der helleren Färbung der Tiere zu tun, sondern bezog sich auf ihr breiteres Maul, also das afrikanische Wort "wyd" als "wide" statt "white". Daher auch die mittlerweile geläufigere Bezeichnung als Breitmaulnashorn. Sie sind die größten Vertreter der Nashörner. Zur Zeit des Berichts von Adams gab es noch 22 Tiere in einem streng geschützten Gebiet in Afrika.
Dass die Tiere massiv durch Wilderei und Handel mit ihrem Horn bedroht sind, ist eine bekannte Tatsache. Obwohl die Hörner nur aus Keratin bestehen und damit nicht wertvoller sind als unsere Fingernägel, würde man ihnen in der chinesischen Medizin angeblich besondere Wirkung zusprechen. Sie gelten als Aphrodisiakum, doch Douglas Adams bezeichnet diesen Aberglauben wiederum als Aberglauben. In der chinesischen Medizin war Rhinozeroshorn nie ein Aphrodisiakum, aber weil viele glaubten, dass es andere glaubten, hielt sich dieser Mythos hartnäckig. Weit wichtiger sei laut Adams, dass Dolchgriffe aus Rhinohorn im Jemen als Männlichkeitssymbol gelten. Nach seiner Darstellung hat das Horn in dieser Form am Ende einen Wert von mehreren Tausend US-Dollar. Der Wilderer jedoch bekommt dafür nur zwischen 10 und 15 Dollar. Die Idee, den Wilderern dann eben 25 Dollar zu zahlen, damit sie die Tiere nicht töteten, würde wohl nur in dem Schluss münden, dass man so an einem einzigen Tieren gleich 35 bis 40 Dollar verdienen könne. Der Schutz des Nashorns könne also nur dadurch gewährleistet werden, indem man ihn für das Volk selbst profitabel machte.
Nachdem ich mit dem Buch fertig war, habe ich bei allen erwähnten Tieren geschaut, wie es ihnen mittlerweile geht. Von dieser Nashornart leben heute nur noch zwei Weibchen. Das letzte Männchen, das in Kenya gehalten wurde, verstarb letztes Jahr. Insofern nicht durch genetische Forschung und Befruchtung, woran derzeit gearbeitet wird, noch irgendwas gerettet werden kann, ist die Art damit praktisch ausgestorben.
Es bleibt das südliche Breitmaulnashorn, das ursprünglich für ausgerottet galt, bis man ein paar Exemplare entdeckte. Von diesen wenigen Exemplaren stammen alle heute noch existierenden südlichen Nashörner ab. Ihre Zahl erhöhte sich auf an die 20 000 Tiere. Sie werden noch immer gejagt und gelten als potenziell gefährdet.

Damit bin ich bei der Hälfte der Kapitel angelangt und mache vorerst einen Schnitt. Dieser Eintrag ist schon viel zu lang.
Beim nächsten Blog soll es darum gehen, wieso Katzen und Hasen exotische Tiere sind, wie der Kakapo eine Menge Quatsch macht und ihn das Weibchen nicht versteht und außerdem erzähle ich vom bekanntesten ausgestorbenen Tier und seiner Bedeutung. Im dritten und letzten Teil gehe ich darauf ein, was ein einsamer Kaffeebaum über unser Umweltproblem aussagt.

Buchvorstellung: Atomphysik in Japan Atompolitik, Buchvorstellung, Japan

Autor:  halfJack

Morris Low
Science and the Building of a New Japan

"Die Entwicklung der Atomphysik in Japan anhand des biografischen Profils ihrer Macher zur Zeit des Pazifikkrieges und danach" - so oder so ähnlich sollte der Untertitel dieser Abhandlung lauten. Denn der Titel ist etwas irreführend und somit das eigentliche Problem dieses Werkes. Es geht nicht in erster Linie um den Aufbau der japanischen Wissenschaft im Allgemeinen, nicht einmal um Naturwissenschaft, sondern vor allem um nukleare Energiegewinnung angesichts der Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki. Stellt man sich die Frage, warum sich Japan dem Slogan "Atoms for Peace" derart unkritisch anschloss und Proteste vor allem gegen Atomwaffen, nicht gegen zivile Kernenergienutzung gerichtet waren, findet man in diesem Buch ein paar Antworten darauf.

Nach der Meiji-Restauration war Japan gezwungen, sich der Welt zu öffnen und sich auch wissenschaftlich von den westlichen Nationen in das neue Jahrhundert führen zu lassen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Nicht wenige japanische Wissenschaftler hatten Erfahrungen in Übersee gesammelt und Bekanntschaften mit internationalen Kollegen geschlossen. Diese Einflüsse waren im Zweiten Weltkrieg nicht plötzlich verschwunden. In Morris Lows Abhandlung wird herausgearbeitet, wie einzelne Wissenschaftler in ihrer Forschung auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagierten, zum Beispiel Yoshio Nishina oder die beiden Nobelpreisträger Shinichiro Tomonaga und Hideki Yukawa. Deren Lebensläufe und persönlichen Ansichten werden sehr genau in den Blick genommen.

Stellenweise sind die Biografien zu ausführlich und auch die Darstellung der wissenschaftlichen Entwicklung anhand von diversen Institutionen etc. geht sehr ins Detail und verkommt manchmal zu einer Aufzählung von Daten und Fakten. Die Grundlagen und Zusammenhänge etwa durch die Zaibatsu oder die politische Situation hätten stärker herausgearbeitet werden können.
Insgesamt ist Science and the Building of a New Japan jedoch ein sehr informatives Werk und dient vor allem dazu, vorhandene Kenntnisse zu vertiefen, um daraus eigene Schlüsse zu ziehen.

Antonia S. Byatt: Kurzgeschichten Buchvorstellung, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Antonia S. Byatt
Stern- und Geisterstunden

Das war ein Zufallskauf unter Mängelexemplaren. Eine Sammlung von Kurzgeschichten.
Diesmal mache ich es anders. Eine Minimalbuchvorstellung. Ich fasse die jeweilige Handlung in einem Satz zusammen, dann wähle ich aus der Geschichte einen Satz als Zitat aus und anschließend noch irgendein Wort.

Der Juligeist
Inhalt: Jemand begegnet dem Geist eines Jungen, dessen Mutter ihn nicht sehen kann.
Zitat: "Der Junge, der in dem Baum saß, schien nicht nach einem Ball zu suchen."
Wort: Dauphinisierung

Der Tag an dem E. M. Forster starb
Inhalt: Eine Schriftstellerin entschließt sich, all ihre Romanideen in einem einzigen Werk zusammenzufassen, und begegnet einem paranoiden Mann.
Zitat: "Indem sein Werk nunmehr wahrhaftig in die Vergangenheit eingegangen war, konnte sie in gewissem Sinne darüber verfügen, stand es ihr zur Verfügung als etwas, wovon sie lernen konnte, war es offiziell beendet."
Wort: Motette

In der Luft
Inhalt: Eine dicke, paranoide Frau mit Hund begegnet beim Spaziergang einer blinden, mutigen Frau mit Hund.
Zitat: "Sie sah, wie sie unbeirrt weiterschritt, auf dem schmalen Grat zwischen Stürmen und unsichtbaren Abgründen unendlich schlimmerer Ängste, als es die ihren waren."
Wort: Paspel

Das Ding im Wald
Inhalt: Zwei kleine Mädchen treffen nach der Kriegsevakuierung im Wald auf ein Ding.
Zitat: "Schier endlos kam das Ding gekrochen, beugte und brach alles, was ihm in den Weg kam, samt den Büschen, doch den kräftigen Bäumen wich es aus und wand sich schwerfällig zwischen ihnen hindurch."
Wort: Zentifolien

Körperkunst
Inhalt: Die Geburtenstation einer Klinik soll verschönert und eine alte Sammlung archiviert werden, während eine dürre Kunststudentin kein Zuhause und der leitende Arzt kein Mitleid hat.
Zitat: "Es ist nicht schwer, menschlich zu sein, solange man sich dazu anhalten kann."
Wort: Bakelit

Frau aus Stein
Inhalt: Eine Frau wird allmählich zu Stein und folgt einem Bildhauer nach Island, um mit den Trollen zu tanzen.
Zitat: "Die menschliche Welt der Steine ist in organischen Metaphern gefangen wie die Fliege im Bernstein."
Wort: Luffagurke

Rohstoff
Inhalt: Jedes Jahr hält er einen Kurs für dilettantische Hobbyautoren ab, doch diesmal ist jemand dabei, der es versteht, darüber zu schreiben, wie man früher den Herd mit Ofenschwärze gereinigt hat.
Zitat: "Er hatte es aufgegeben, ihnen zu erklären, dass kreatives Schreiben nicht eine Form von Psychotherapie sei."
Wort: Kolportage

Das rosafarbene Band
Inhalt: Ein alter Mann kümmert sich um seine Frau, die ihn nicht mehr erkennt, bis eines Abends eine junge Dame im roten Kleid vor seiner Tür steht.
Zitat: "Und sie küssten sich, mit Ruß auf der Zunge und mit der brennenden Stadt in ihren Lungen."
Wort: Amnion

American Gods American Gods, Buchvorstellung

Autor:  halfJack

Das ist eines jener Bücher, das einfach nur auf meiner Liste stand, weil es mir von Dornentanz empfohlen wurde. Ich würde behaupten, ich fing es ohne Vorkenntnisse an. So ganz stimmt das zwar nicht, weil ich schon mal von der Fernsehserie gehört hatte, dennoch versuche ich mich, wenn mir eine Empfehlung ausgesprochen wird, vorher absolut nicht mit einem Buch zu beschäftigen, sondern fange unvoreingenommen und uninformiert zu lesen an.
Meine Erwartungen beschränkten sich deshalb darauf, dass ich mit personifizierten Göttern in unserer heutigen Gesellschaft rechnete. Normalerweise würde ich einen Bogen um so etwas machen, weil ich meine Schwierigkeiten mit Fantasy in der Neuzeit und mit diesen modernen Serien oder Superheldengeschichten habe. Ich mochte Harry Potter oder Pullmans His Dark Materials, daher kann ich das nicht pauschalisieren. Es ist nur eine Tendenz. Ich finde durchaus Gefallen daran, Mythologie und Religion unter modernen Aspekten zu betrachten.
Ansonsten bezog sich meine einzige Vorkenntnis auf den Autor Neil Gaiman, von dem ich bislang nur Coraline gelesen und gesehen hatte, was mir ganz gut gefiel. Außerdem noch MirrorMask, worin viele Dinge aufgegriffen wurden, die ich mag: Zirkus, Surrealismus, der Alice-im-Wunderland-Charme usw. Wenngleich all dies in den letzten zehn bis zwanzig Jahren reichlich ausgelatscht ist, hege ich noch immer eine gewisse Sympathie dafür. Zumindest diese Motive waren in American Gods jedoch nicht zu finden. Gaimans Handschrift hingegen schon.

Neil Gaiman
American Gods

Shadow erhält nach ein paar Jahren im Knast unter seltsamen Umständen eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte und muss draußen feststellen, dass sein bisheriges Leben in Trümmern liegt. Ein unbekannter Kerl, der sich Wednesday nennt, sammelt ihn auf und stellt ihn als Bodyguard und Fahrer ein. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg durch Amerika. Das Ziel dieser Reise kristallisiert sich nur langsam heraus: Ragnarök. Ein Krieg zwischen den alten und den neuen Göttern.

Ein Autor, der gleich am Anfang eines Buches seine im Gefängnis sitzenden Protagonisten über Herodot reden lässt, hat bei mir sofort gute Karten. Ich habe eine Schwäche für antike Klassiker. Leider haben diese Autoren in unserer heutigen Zeit ein großes Problem: Jeder kennt sie, keiner liest sie. Von Aristoteles, Cicero, Homer, Vergil oder Ovid hat jeder schon mal etwas gehört, aber kaum einer hat die Ilias oder die Aeneis gelesen. Stellen wir uns heute die Frage, ob es zum Beispiel Troja wirklich gab, was glauben wir dann zu wissen? Zwischen Wahrheit oder Fiktion, Geschichte oder Mythologie gab es in der Antike keinen großen Unterschied. Durch Lieder wurden vermeintliche Großereignisse weitergetragen und blieben im kollektiven Gedächtnis haften. Homers Werk ist im Grunde eine Sammlung dieser Lieder, vielleicht aufgezeichnet von verschiedenen, nicht bloß von einem Menschen. Der Liedcharakter mit seinen Wiederholungen führte manchmal dazu, dass sich Ereignisse in den Darstellungen von Historikern verdoppelten, weil man den Refrain missverstand. Das klingt amüsant, aber auch heute noch hat der Mensch manchmal Schwierigkeiten zu erkennen, was der Wahrheit entspricht. Und manchmal ist es in seiner Vortstellungswelt nicht einmal relevant.
Es ist ein kluger Schachzug, ein Buch wie American Gods mit Herodot zu beginnen. Er gilt als der Vater der Geschichte, wenngleich seine Methoden noch nicht so ausgereift waren wie meines Erachtens bei Thukydides. Doch er bemühte sich, aus vielen Erzählungen den Mythos von der Wahrheit zu unterscheiden. Und oftmals findet der Mythos Eingang in das Verständnis unserer Vergangenheit. Es ist eine andere, eine religiös fundierte Art der menschlichen Geschichte, die deshalb nicht unbedingt weniger wahr ist. Denn auch diese erdachte Vergangenheit gestaltet das Bewusstsein, ohne tatsächlich passiert sein zu müssen. Bei Charles Baudelaire heißt es: "Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, nicht einmal nötig hat zu existieren."
Real wird all das erst durch den menschlichen Verstand, durch den menschlichen Glauben.

Das ist eine der Grundlagen von American Gods und das ist jener Aspekt, der mich sehr stark an Noragami oder In/Spectre erinnert. Auch Noragami handelt von den Göttern in unserer Zeit, allerdings nehmen sie nicht an der Gesellschaft teil, sondern werden von den Menschen wie ein blinder Fleck wahrgenommen. Sollte jemand in Noragami auf ein übernatürliches Geschöpf treffen, wird es binnen kurzer Zeit wieder aus dem Gedächtnis gelöscht. Bei Noragami offensiv, bei In/Spectre nur als mögliche Annahme werden Götter und mystische Wesen durch den Verstand der Menschen geschaffen. Psychische Belastung kann Ungeheuer entstehen lassen. Durch Hoffnung oder die Suche nach Erklärungen entstehen Götter. Da es sich bei diesen beiden Beispielen um Manga handelt, geht es wie zu erwarten um Kami. Deren Unterschied zwischen Gott und Geist ist oftmals nicht eindeutig. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie verschwinden, wenn die Menschen nicht mehr an sie glauben, sie nicht mehr ehren, ihnen nicht mehr opfern oder ihnen keine Schreine, Monumente und sonstige religiöse Stätten errichten.
Bei American Gods wird diese Idee noch weiter gesponnen und auf die Götzen unserer heutigen Gesellschaft angewendet: Kapitalismus, Medienübersättigung, Fernsehen, Internet, Drogen usw. Selbst die Automobilindustrie erfährt eine Interpretation als Götter, deren Chromzähne verschmiert sind vom Blut menschlicher Opfergaben, die bis dato an noch keinem anderen Altar in diesem Ausmaß dargebracht wurden. Dieses Bild spricht schon von einer Menge Zynismus und schwarzem Humor.

Über das Funktionieren dieser Welt werden wir nicht in einer Art Einführungsveranstaltung aufgeklärt. Wir folgen der Hauptfigur Shadow, der am Anfang genauso wenig von der Existenz dieser Welt weiß wie der Leser, und reimen uns daraus Schritt für Schritt das Gefüge zusammen. Das halte ich für die ideale Vorgehensweise. Es ist jedenfalls besser als Frontalunterricht. Gaiman verzichtet darauf, dem Leser alle Verbindungen haarklein unter die Nase zu reiben und streut lieber Hinweise.
Als Shadow zum Beispiel auf Wednesday trifft, wirkt dessen Name noch recht willkürlich. Nachdem Wednesday jedoch von den ersten Eingeweihten als Allvater oder höchster Gott behandelt wird, fallen die religiösen Verbindungen unserer Wochentage auf. Sonntag für die Sonne, Montag für den Mond. Dienstag für Tyr, Donnerstag für Donar und Freitag für Freya. Bei Mittwoch ist die Verbindung verloren gegangen, aber in "Wednesday" besteht sie noch immer und verweist auf Wodan oder Odin, den Allvater. Ich mag solche Spielereien, von denen es in diesem Buch einige gibt.
Neben der Haupthandlung werden in American Gods immer wieder kleine, eigentlich in sich abgeschlossene Geschichten eingebunden, die über die Entstehung bestimmter Gottheiten aufklären. Hierbei spielt religiöse Annexion eine große Rolle, wofür ich mich persönlich sowieso schon interessiere. Besonders die christliche Annexion von Opfermotiven wie bei Jesus Christus oder uminterpretierte Feiertage wie Ostern und Weihnachten finde ich spannend.
Mir gefällt die Offenheit, mit der Gaiman jeder Figur als Mensch, nicht als Schablone, Raum gibt, unabhängig von Herkunft, religiöser Zugehörigkeit oder Sexualität. Er schildert in einer alten Stammesgeschichte einen Transmann, meines Erachtens als augenzwinkernde Antwort auf das Motiv jener angeblich "seit Tausenden von Jahren existierenden Rollenbilder", auf die sich manche Leute so gern beziehen. Genauso glaubhaft und einfühlsam schildert er die Verzweiflung eines arabischen Geschäftsmannes, der nach einer Liebesnacht mit einem Ifrit dessen Job als Taxifahrer übernimmt und glücklich damit ist. American Gods ist manchmal wie eine Kurzgeschichtensammlung mit eingestreuten kleinen Essays. Ich mochte die Gedanken über Las Vegas und die menschliche Spielsucht. Ich mochte, was die Tramperin Sam in einem langen Monolog erzählt, woran sie alles glauben würde. Auch wenn es Hummeln nach aerodynamischen Gesetzen nicht unmöglich ist zu fliegen. Und auch wenn ein Frosch es natürlich merkt, wenn das Wasser zu heiß wird, und er nicht warten würde, bis er gekocht wurde. Lustigerweise habe ich dieselbe Story mit dem Frosch erst kürzlich in Stephen Kings Revival gelesen. Es scheint ein beliebtes Bild zu sein, so wenig es auch wahr ist. Das zeigt aber am besten, wie leicht Menschen (und Götter) einer Geschichte Glauben schenken können, wenn sie nur gut erzählt wurde. Und Gaimans Geschichte von der Götterdämmerung in Amerika ist sehr gut erzählt.

Mein letzter Absatz ist dem Umstand gewidmet, dass ich genau genommen dieses Buch nicht las, sondern anhörte. Ich habe mir das Hörbuch auf Spotify vorgenommen, gelesen von Stefan Kaminski. Und das hat mich echt überrascht.
Hätte ich American Gods bereits gelesen und würde es mögen, dann wäre es dennoch lohnenswert, sich das nochmal als Hörbuch zu Gemüte zu führen. Ich dachte anfangs, das wäre ein Hörspiel, kein Hörbuch, weil Stefan Kaminski seine Stimme so krass verstellen kann, dass man oftmals gar nicht glaubt, dass hier ein und dieselbe Person spricht. Das macht die einzelnen Charaktere sehr gut voneinander unterscheidbar. Nur zum Vergleich: als Synchronsprecher reichen seine bekanntesten Rollen vom Joker aus Suicide Squad bis hin zu Kermit dem Frosch. Das macht ziemlich gut deutlich, was für ein enormes Spektrum dieser Mann hat. Selbst die Frauen im Buch, bei denen man natürlich hört, dass sie von einem Mann gesprochen werden, wirken dennoch glaubhaft. Kaminski scheut sich nicht, auch bei Sexszenen alles zu geben und sich nicht zu genieren. Sämtliche Dialoge wirken lebhaft, leidenschaftlich und professionell, auch bei der späteren Sexszene zwischen zwei Männern. Wer die deutsche Synchronisation von Kizuna kennt, weiß, dass sich männliche Sprecher als Negativbeispiel auch ziemlich kindisch und unprofessionell anstellen können. Ich ziehe hier ehrlich meinen Hut vor Stefan Kaminski. Dass ich American Gods sehr genossen habe, liegt auch an seiner hervorragenden Leistung. Ich werde in Zukunft noch nach einigen anderen Hörbüchern von ihm Ausschau halten.

American Gods American Gods, Buchvorstellung

Autor:  halfJack

Das ist eines jener Bücher, das einfach nur auf meiner Liste stand, weil es mir von Dornentanz empfohlen wurde. Ich würde behaupten, ich fing es ohne Vorkenntnisse an. So ganz stimmt das zwar nicht, weil ich schon mal von der Fernsehserie gehört hatte, dennoch versuche ich mich, wenn mir eine Empfehlung ausgesprochen wird, vorher absolut nicht mit einem Buch zu beschäftigen, sondern fange unvoreingenommen und uninformiert zu lesen an.
Meine Erwartungen beschränkten sich deshalb darauf, dass ich mit personifizierten Göttern in unserer heutigen Gesellschaft rechnete. Normalerweise würde ich einen Bogen um so etwas machen, weil ich meine Schwierigkeiten mit Fantasy in der Neuzeit und mit diesen modernen Serien oder Superheldengeschichten habe. Ich mochte Harry Potter oder Pullmans His Dark Materials, daher kann ich das nicht pauschalisieren. Es ist nur eine Tendenz. Ich finde durchaus Gefallen daran, Mythologie und Religion unter modernen Aspekten zu betrachten.
Ansonsten bezog sich meine einzige Vorkenntnis auf den Autor Neil Gaiman, von dem ich bislang nur Coraline gelesen und gesehen hatte, was mir ganz gut gefiel. Außerdem noch MirrorMask, worin viele Dinge aufgegriffen wurden, die ich mag: Zirkus, Surrealismus, der Alice-im-Wunderland-Charme usw. Wenngleich all dies in den letzten zehn bis zwanzig Jahren reichlich ausgelatscht ist, hege ich noch immer eine gewisse Sympathie dafür. Zumindest diese Motive waren in American Gods jedoch nicht zu finden. Gaimans Handschrift hingegen schon.

Neil Gaiman
American Gods

Shadow erhält nach ein paar Jahren im Knast unter seltsamen Umständen eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte und muss draußen feststellen, dass sein bisheriges Leben in Trümmern liegt. Ein unbekannter Kerl, der sich Wednesday nennt, sammelt ihn auf und stellt ihn als Bodyguard und Fahrer ein. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg durch Amerika. Das Ziel dieser Reise kristallisiert sich nur langsam heraus: Ragnarök. Ein Krieg zwischen den alten und den neuen Göttern.

Ein Autor, der gleich am Anfang eines Buches seine im Gefängnis sitzenden Protagonisten über Herodot reden lässt, hat bei mir sofort gute Karten. Ich habe eine Schwäche für antike Klassiker. Leider haben diese Autoren in unserer heutigen Zeit ein großes Problem: Jeder kennt sie, keiner liest sie. Von Aristoteles, Cicero, Homer, Vergil oder Ovid hat jeder schon mal etwas gehört, aber kaum einer hat die Ilias oder die Aeneis gelesen. Stellen wir uns heute die Frage, ob es zum Beispiel Troja wirklich gab, was glauben wir dann zu wissen? Zwischen Wahrheit oder Fiktion, Geschichte oder Mythologie gab es in der Antike keinen großen Unterschied. Durch Lieder wurden vermeintliche Großereignisse weitergetragen und blieben im kollektiven Gedächtnis haften. Homers Werk ist im Grunde eine Sammlung dieser Lieder, vielleicht aufgezeichnet von verschiedenen, nicht bloß von einem Menschen. Der Liedcharakter mit seinen Wiederholungen führte manchmal dazu, dass sich Ereignisse in den Darstellungen von Historikern verdoppelten, weil man den Refrain missverstand. Das klingt amüsant, aber auch heute noch hat der Mensch manchmal Schwierigkeiten zu erkennen, was der Wahrheit entspricht. Und manchmal ist es in seiner Vortstellungswelt nicht einmal relevant.
Es ist ein kluger Schachzug, ein Buch wie American Gods mit Herodot zu beginnen. Er gilt als der Vater der Geschichte, wenngleich seine Methoden noch nicht so ausgereift waren wie meines Erachtens bei Thukydides. Doch er bemühte sich, aus vielen Erzählungen den Mythos von der Wahrheit zu unterscheiden. Und oftmals findet der Mythos Eingang in das Verständnis unserer Vergangenheit. Es ist eine andere, eine religiös fundierte Art der menschlichen Geschichte, die deshalb nicht unbedingt weniger wahr ist. Denn auch diese erdachte Vergangenheit gestaltet das Bewusstsein, ohne tatsächlich passiert sein zu müssen. Bei Charles Baudelaire heißt es: "Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, nicht einmal nötig hat zu existieren."
Real wird all das erst durch den menschlichen Verstand, durch den menschlichen Glauben.

Das ist eine der Grundlagen von American Gods und das ist jener Aspekt, der mich sehr stark an Noragami oder In/Spectre erinnert. Auch Noragami handelt von den Göttern in unserer Zeit, allerdings nehmen sie nicht an der Gesellschaft teil, sondern werden von den Menschen wie ein blinder Fleck wahrgenommen. Sollte jemand in Noragami auf ein übernatürliches Geschöpf treffen, wird es binnen kurzer Zeit wieder aus dem Gedächtnis gelöscht. Bei Noragami offensiv, bei In/Spectre nur als mögliche Annahme werden Götter und mystische Wesen durch den Verstand der Menschen geschaffen. Psychische Belastung kann Ungeheuer entstehen lassen. Durch Hoffnung oder die Suche nach Erklärungen entstehen Götter. Da es sich bei diesen beiden Beispielen um Manga handelt, geht es wie zu erwarten um Kami. Deren Unterschied zwischen Gott und Geist ist oftmals nicht eindeutig. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie verschwinden, wenn die Menschen nicht mehr an sie glauben, sie nicht mehr ehren, ihnen nicht mehr opfern oder ihnen keine Schreine, Monumente und sonstige religiöse Stätten errichten.
Bei American Gods wird diese Idee noch weiter gesponnen und auf die Götzen unserer heutigen Gesellschaft angewendet: Kapitalismus, Medienübersättigung, Fernsehen, Internet, Drogen usw. Selbst die Automobilindustrie erfährt eine Interpretation als Götter, deren Chromzähne verschmiert sind vom Blut menschlicher Opfergaben, die bis dato an noch keinem anderen Altar in diesem Ausmaß dargebracht wurden. Dieses Bild spricht schon von einer Menge Zynismus und schwarzem Humor.

Über das Funktionieren dieser Welt werden wir nicht in einer Art Einführungsveranstaltung aufgeklärt. Wir folgen der Hauptfigur Shadow, der am Anfang genauso wenig von der Existenz dieser Welt weiß wie der Leser, und reimen uns daraus Schritt für Schritt das Gefüge zusammen. Das halte ich für die ideale Vorgehensweise. Es ist jedenfalls besser als Frontalunterricht. Gaiman verzichtet darauf, dem Leser alle Verbindungen haarklein unter die Nase zu reiben und streut lieber Hinweise.
Als Shadow zum Beispiel auf Wednesday trifft, wirkt dessen Name noch recht willkürlich. Nachdem Wednesday jedoch von den ersten Eingeweihten als Allvater oder höchster Gott behandelt wird, fallen die religiösen Verbindungen unserer Wochentage auf. Sonntag für die Sonne, Montag für den Mond. Dienstag für Tyr, Donnerstag für Donar und Freitag für Freya. Bei Mittwoch ist die Verbindung verloren gegangen, aber in "Wednesday" besteht sie noch immer und verweist auf Wodan oder Odin, den Allvater. Ich mag solche Spielereien, von denen es in diesem Buch einige gibt.
Neben der Haupthandlung werden in American Gods immer wieder kleine, eigentlich in sich abgeschlossene Geschichten eingebunden, die über die Entstehung bestimmter Gottheiten aufklären. Hierbei spielt religiöse Annexion eine große Rolle, wofür ich mich persönlich sowieso schon interessiere. Besonders die christliche Annexion von Opfermotiven wie bei Jesus Christus oder uminterpretierte Feiertage wie Ostern und Weihnachten finde ich spannend.
Mir gefällt die Offenheit, mit der Gaiman jeder Figur als Mensch, nicht als Schablone, Raum gibt, unabhängig von Herkunft, religiöser Zugehörigkeit oder Sexualität. Er schildert in einer alten Stammesgeschichte einen Transmann, meines Erachtens als augenzwinkernde Antwort auf das Motiv jener angeblich "seit Tausenden von Jahren existierenden Rollenbilder", auf die sich manche Leute so gern beziehen. Genauso glaubhaft und einfühlsam schildert er die Verzweiflung eines arabischen Geschäftsmannes, der nach einer Liebesnacht mit einem Ifrit dessen Job als Taxifahrer übernimmt und glücklich damit ist. American Gods ist manchmal wie eine Kurzgeschichtensammlung mit eingestreuten kleinen Essays. Ich mochte die Gedanken über Las Vegas und die menschliche Spielsucht. Ich mochte, was die Tramperin Sam in einem langen Monolog erzählt, woran sie alles glauben würde. Auch wenn es Hummeln nach aerodynamischen Gesetzen nicht unmöglich ist zu fliegen. Und auch wenn ein Frosch es natürlich merkt, wenn das Wasser zu heiß wird, und er nicht warten würde, bis er gekocht wurde. Lustigerweise habe ich dieselbe Story mit dem Frosch erst kürzlich in Stephen Kings Revival gelesen. Es scheint ein beliebtes Bild zu sein, so wenig es auch wahr ist. Das zeigt aber am besten, wie leicht Menschen (und Götter) einer Geschichte Glauben schenken können, wenn sie nur gut erzählt wurde. Und Gaimans Geschichte von der Götterdämmerung in Amerika ist sehr gut erzählt.

Mein letzter Absatz ist dem Umstand gewidmet, dass ich genau genommen dieses Buch nicht las, sondern anhörte. Ich habe mir das Hörbuch auf Spotify vorgenommen, gelesen von Stefan Kaminski. Und das hat mich echt überrascht.
Hätte ich American Gods bereits gelesen und würde es mögen, dann wäre es dennoch lohnenswert, sich das nochmal als Hörbuch zu Gemüte zu führen. Ich dachte anfangs, das wäre ein Hörspiel, kein Hörbuch, weil Stefan Kaminski seine Stimme so krass verstellen kann, dass man oftmals gar nicht glaubt, dass hier ein und dieselbe Person spricht. Das macht die einzelnen Charaktere sehr gut voneinander unterscheidbar. Nur zum Vergleich: als Synchronsprecher reichen seine bekanntesten Rollen vom Joker aus Suicide Squad bis hin zu Kermit dem Frosch. Das macht ziemlich gut deutlich, was für ein enormes Spektrum dieser Mann hat. Selbst die Frauen im Buch, bei denen man natürlich hört, dass sie von einem Mann gesprochen werden, wirken dennoch glaubhaft. Kaminski scheut sich nicht, auch bei Sexszenen alles zu geben und sich nicht zu genieren. Sämtliche Dialoge wirken lebhaft, leidenschaftlich und professionell, auch bei der späteren Sexszene zwischen zwei Männern. Wer die deutsche Synchronisation von Kizuna kennt, weiß, dass sich männliche Sprecher als Negativbeispiel auch ziemlich kindisch und unprofessionell anstellen können. Ich ziehe hier ehrlich meinen Hut vor Stefan Kaminski. Dass ich American Gods sehr genossen habe, liegt auch an seiner hervorragenden Leistung. Ich werde in Zukunft noch nach einigen anderen Hörbüchern von ihm Ausschau halten.

Das letzte Einhorn Buchvorstellung, Zitatsammlung

Autor:  halfJack

Ein Geschöpf von ursprünglicher Anmut verlässt seinen in ewigem Frühling blühenden Fliederwald, begibt sich auf die Landstraße, dringt in die Zeit, um das Schicksal seiner entschwundenen Artgenossen zu erkunden. Auf der abenteuerlichen Expedition wird es begleitet von Schmendrick, einem drittklassigen Zauberer, und von Molly Grue, der ehemaligen Lagergefährtin eines verhinderten Edelräubers. Das seltsame Trio muss bald erkennen, dass die Erkundungsfahrt nicht ohne Kampf und äußerste Gefahr beendet werden kann. Es gilt, dem Roten Stier zu begegnen, der unter König Haggards verfluchtem Schloss haust.

Peter S. Beagle
Das letzte Einhorn

Die Handlung dieser Geschichte werde ich kaum jemals vergessen, da ich den Trickfilm dazu oft genug in meiner Kindheit sah. Doch das Buch hat einiges mehr zu bieten. Das ist nichts Ungewöhnliches, möchte man meinen. Bei Harry Potter etwa ist es allein die Masse an Informationen, die man nicht alle in den Filmen unterbringen könnte. Dazu gibt es noch kleine Veränderungen wie die Augenfarbe von Harry, die Augenfarbe seiner Mutter, die je nach Schauspielerin wechselt, oder andere Kleinigkeiten wie die unsinnige Reihenfolge beim Aufruf des Sprechenden Hutes im ersten Teil. Dennoch kann man zusammenfassen, dass es hier an Handlung und Darstellung mangelt, nicht am Stil, denn der Stil von Rowling ist eher einfach; sie glänzt vielmehr durch ihre Ideen, insofern sie sich nicht in ihnen verstrickt. Hier hat die Filmreihe nahezu alles richtig gemacht. Es gibt andere Beispiele, bei denen ein Film noch viel mehr aus der Vorlage herausholt, wie etwa bei Twilight: Grenzt die Geschichte zwar häufig an Lächerlichkeit, so muss man der Filmumsetzung dennoch Respekt zollen, kennt man die unfassbar schlechte Vorlage.
Zurück zu Das letzte Einhorn: Während des Lesens schwebten mir unentwegt die Bilder des Trickfilmes vor, das stimmt. Vor allem hatte ich die Synchronisation bei nahezu jeder Aussage im Ohr. Die Dialoge gleichen einander sehr, sind oftmals identisch, wovon ich wirklich angetan bin. Mit einer gewissen Wehmut hinterließen diese innerlich gehörten Stimmen bei mir sogar eine stärkere melancholische Wirkung beim Lesen als damals beim Sehen. Ein Unterschied im Film besteht in einer Vereinfachung der Handlung, also wiederum darin, dass nicht alle Informationen vermittelt werden. Zum Zweiten allerdings, was viel wichtiger ist und dem Film einige Minuspunkte einbringt: Man erahnt nicht den sehr lyrischen Stil und die starke Metaphorik der Buchvorlage.

Dass die Ereignisse im Film vereinfacht wurden, stellt für mich kein Problem dar. Schmendrick wird dort beispielsweise von Banditen entführt, als man ihn in seinem Versteck entdeckt; er führt nicht die Bürger eines Dorfes an der Nase herum wie im Buch, sodass seine Entführung ein Resultat seiner Handlung ist. Aber ich hätte mir gewünscht zu erfahren, dass er durch einen Bann seines Meisters gar nicht altern kann, bis er seine wahre Kraft gefunden hat. Das ist ein wichtiger Teil seiner Charakterisierung. Im Film will er einfach nur ein echter Zauberer werden. Das Buch hat sich hier für ihn viel mehr ausgedacht.
Das merkt man auch an einer seiner ersten Aussagen zum Einhorn, als dieses noch bei Mommy Fortuna gefangen gehalten wird und sich abfällig über ihn äußert; da entgegnet er:

"Selten der Mann, den man für das hält, was er wirklich ist. Die Welt steckt voller Fehlurteile. Ich aber habe auf den ersten Blick erkannt, dass du ein Einhorn bist, und ich bin mir gewiss, dein Freund zu sein. Und dennoch hältst du mich für einen Clown, einen Hanswurst, einen Verräter, und wenn du mich so siehst, muss ich auch einer sein. Der Bann, der auf dir liegt, ist nur ein Truggespinst und wird sich in Nichts auflösen, sobald du wieder frei bist, die Larve aber, die du mir aus Vorurteil aufgesetzt hast, die muss ich in deinen Augen für alle Zeiten tragen. Wir sind nicht immer, was wir scheinen, und selten nur, was wir erträumen. Aber irgendwo habe ich gehört und gelesen, dass vor langer, langer Zeit Einhörner wohl zu unterscheiden wussten zwischen lachendem Mund und Herzeleid, Hirngespinst und Wirklichkeit."

In filmischen Umsetzungen begegnet es mir immer wieder, dass auf sämtliche Metaphorik fast gänzlich verzichtet wird, als handelte es sich nur um nutzlosen Anhang; Ballast, den man abwerfen darf. Behindert es die Handlung denn zu sehr, eine solche längere Aussage einzubinden? Für mich jedenfalls ist gerade so etwas ein kleines Highlight.
Später im Wald lässt Schmendrick seiner Magie zum ersten Mal freien Lauf und beschwört eine Illusion von Robin Hood und seinen Gefährten herauf, die den Räubern den Kopf verdreht. Captain Cully spricht zu Molly Grue:

"Robin Hood ist eine Mythe, ein klassisches Beispiel der Heldengestalt im Volkslied, die sich aus zwingenden Gründen gebildet hat. Die Menschen brauchen Helden, die sie aus ihren Nöten befreien oder sie diese vergessen lassen. Um ein Korn von Wahrheit herum bildet sich eine Legende, wie bei einer Perle."

Sie antwortet ihm:

"Nein, du siehst alles verkehrt. Du, ich, wir alle, uns gibt es gar nicht. Robin und Marian sind Wirklichkeit, und wir sind die Legende!"

Meine liebste Aussage stammt gegen Ende von dem Schädel, der auf Haggards Befehl den Eingang zur Höhle des Roten Stiers bewacht. Um dorthin zu gelangen, muss man durch die kaputte Uhr gehen, sobald sie die richtige Zeit anzeigt. Allerdings gibt es diese richtige Zeit nicht, die Uhr schlägt die Stunden, wie sie will. Der Schädel erklärt dem Zauberer hierzu:

"Ruf dir ins Gedächtnis, was ich über Zeit gesagt habe. Als ich noch lebte, glaube ich - so wie du jetzt -, Zeit sei zumindest so fest und real wie ich selbst, womöglich noch mehr. Ich sagte 'ein Uhr', als ob ich es sehen, und 'Montag', als ob ich es auf einer Landkarte finden könnte. Ich ließ mich jagen, von Minute zu Minute, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr ließ ich mich jagen, so als bewegte ich mich von einem Ort an einen anderen. Wie alle Menschen lebte ich in einem Haus, das aus Sekunden und Minuten, aus Wochenenden und Neujahrstagen erbaut war, und ich traute mich nie hinaus, bis ich starb; denn eine andere Tür gab es für mich nicht. Heute weiß ich, dass ich durch die Mauern hätte gehen können. [...]
Die Uhr wird nie die richtige Stunde schlagen. Haggard hat ihr Werk vor langer Zeit ruiniert, als er eines Tages versuchte, die Zeit festzuhalten, als sie vorüberschwang. Doch das Wichtigste, was es zu verstehen gilt, ist: Es kommt nicht darauf an, ob die Uhr demnächst zehnmal schlägt, oder sieben, oder fünfzehn Uhr. Man kann seine eigene Zeit schlagen und mit dem Zählen anfangen, wo man will. Wenn man das verstanden hat, dann ist jede Stunde für dich die richtige."

Moderne Märchen und Fantasy sind nicht unbedingt mein Wunschthema, wenn sie auf dieser Ebene bleiben. Das letzte Einhorn reiht sich für mich jedoch bei Lindgrens Mio, mein Mio ein oder Michael Endes Momo, da es von einer ähnlichen Atmosphäre geprägt ist und nicht auf dieser oberen Ebene der bloßen Fantasieerzählung bleibt. Wenn der Stil selbst einen tieferen Sinn vermittelt und jede Handlung, jede Figur von einer Metaphorik begleitet ist, dann wird es für mich zu einem kleinen literarischen Kunstwerk.

André Gide: Der Immoralist Buchvorstellung

Autor:  halfJack

"Der Immoralist", André Gides erstes größeres Werk, 1902 in Frankreich erschienen, löste bei seinen Zeitgenossen eine Welle der Empörung aus. Den jungen Autor traf diese vehemente Ablehnung nicht unerwartet, hatte er doch mit jener Erzählung in herausfordernder Weise die Grundfesten bürgerlicher Existenz in Frage gestellt.
Michel, aus begütertem Hause, weltfremd und in puritanisch-strengem Geist erzogen, hat mit fünfundzwanzig Jahren "fast nichts gesehen außer Ruinen und wusste nichts vom Leben". Eine gefährliche Krankheit, die ihn während der Hochzeitsreise in Nordafrika befällt, bewirkt indessen einen tiefgreifenden Wandel in ihm: In dem Maße, wie er sich erholt, spürt er, zunächst unbewusst, dann immer heftiger, das Erwachen seiner unterdrückten Sinne, ein unbändiges Verlangen, die religiösen, geistigen und moralischen Fesseln der Vergangenheit abzustreifen und sich dem Dasein ganz hinzugeben. Er wirft alles ab, was dieser Befreiung im Wege steht: Erziehung, Bildung, Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung, menschliche Bindungen. Erst der Tod seiner Frau gebietet dem hemmungslosen Drang nach Selbstverwirklichung Einhalt. "Sich befreien ist nichts, frei sein können ist das Schwierige", ist das Fazit, das Michel am Ende zieht.

André Gide
Der Immoralist

Michel ist Gelehrter, von Kindesbeinen an beschäftigte er sich mit Büchern, Sprachen, theoretischen Fragen. Die Natur und ihre Laster sind ihm fremd. Seine Frau Marceline heiratet er nur aus Pflichtgefühl gegenüber seinem sterbendem Vater. Die Ehe wird geschlossen, bevor Michel und Marceline einander kennen. Sie begeben sich auf eine Reise in den Süden, nach Italien und Afrika, zu den historischen Stätten, die Michel aufgrund seiner Studien interessieren. Doch die Schonung, die er bislang erfuhr, stattete ihn mit schwacher Gesundheit aus, die sich nicht gegen die Lungenschwindsucht erwehren kann. Tuberkulose war zu jener Zeit des Fin de Siècle keine Seltenheit. Man versuchte sie meist durch milderes Klima zu lindern. Doch der Arzt macht ihnen keine großen Hoffnungen. Michel hustet Blut und kann nicht mehr weiter, muss lange Zeit das Bett hüten, nichts scheint ihn zu kurieren. Marceline kümmert sich aufopferungsvoll um ihn, ohne dass sich sein Zustand bessert.
Eines Tages bringt sie einen kleinen Jungen mit in ihre zeitweilige Unterkunft in Biskra, Algerien. Unbedarft und rücksichtslos fordert der Junge Michel zum Spielen auf. Animiert von der Jugend und Gesundheit rafft er sich auf und tut fortan aktiv alles dafür, um zu gesunden. Er glaubt nicht mehr an die fürsorgliche Behandlung und Schonung durch seine Frau, auch nicht an ihre Gebete; nur er selbst kann sich retten. Darum ordnet er reichliche Mahlzeiten an; er steht auf und bemüht sich um Bewegung; er tritt hinaus ins Sonnenlicht. Tag für Tag gewinnt er an Kraft. Seine Studien und Bücher werden ihm uninteressant, stattdessen möchte er die Kinder und das gemeine Volk beobachten. Er lädt sie zu sich ein, beschenkt sie reichlich. Und dann geschieht jener Moment, in dem Michel im Spiegel mitbekommt, wie eines der Kinder eine Schere einsteckt. Er sagt nichts, er klagt das Kind nicht an. Ganz im Gegenteil spürt er in sich eine Faszination und Aufregung keimen. Der Knabe, Moktir, ist ihm seither am liebsten, und er ist dankbar für die Vollkommenheit seiner glücklichen Tage.

"Nichts behindert das Glück so sehr wie die Erinnerung an das Glück."

"Die schönsten Werke der Menschheit sind unausweichlich voll des Leids. Wie ließe sich das Glück erzählen? Nur was es vorbereitet und was es zerstört, lässt sich berichten."

Seine Genesung gelingt. Da er sich die Reise zutrauen kann und Marceline des Lebens in der Ferne müde ist, machen sie sich auf den Heimweg. Die Krankheit jedoch veränderte Michel. Dass er dem Tod nur knapp entging, flößt ihm einen neuen Blick auf das Leben ein. Der Diebstahl der Schere, die kleinen Lügen der Kinder, das müßige Verstreichen der Tage: etwas unausprechlich Anziehendes liegt für ihn darin.
Noch widmet er sich seinen Verpflichtungen. Er kümmert sich um die Güter, die ihm seine Mutter in der Normandie hinterließ. Dort lernt er Charles, den Sohn eines seiner Pächter, kennen. Wieder ein junger Mann, der ihn in seinen Bann schlägt. Als Marceline schwanger wird, ist Michel zwar voller Zuneigung und Hochgefühl, doch trifft er sich lieber mit Charles.
Im Kolleg wartet eine Arbeit auf ihn, er soll Vorlesungen halten und seine Studien in einem Buch festhalten, daher wohnen sie zwischenzeitlich in Paris. Hatten ihn sonst die Treffen und Gespräche mit seinen Bekannten angestrengt und gelangweilt, werden sie ihm nun zunehmend lästig. Diese Zusammenkünfte schienen ihm früher erschöpfend und sinnlos, sodass er das Gefühl hatte, am Tag nichts geschafft zu haben; nun jedoch erschaffen sie ihm zu viel, widmen sich der Bereicherung des eigenen Selbst und allen sonstigen sinnstiftenden Tätigkeiten. Das alles hat für Michel keinen Wert mehr. Wenn er seine Gedanken zu formulieren versucht, möchte ihm kaum jemand zustimmen, und diejenigen, die ihm zustimmen, haben ihn am wenigsten verstanden. Nur einer unter diesen Intellektuellen, Ménalque, der von den anderen ob seiner Arroganz und Amoral argwöhnisch betrachtet und gemieden wird, scheint ihn zu erkennen und mittlerweile interessanter zu finden als vorher. Ähnlich wie bei der Begegnung mit den Kindern schwingt ein Hauch von Anrüchigkeit in Michels Annäherung mit. Als Ménalque ihn darauf anspricht, dass sich Michel für die jungen Knaben in Algerien mehr begeisterte als für seine Frau, errötet dieser sogar. Womit Michel noch weniger gerechnet hat, ist die Rückkehr der gestohlenen Schere. Ménalque führte in Algerien ein Gespräch mit dem Jungen, der die Schere damals entwendet hat. Tatsächlich hatte dieser Junge gleichfalls gesehen, dass man ihn bei der Tat beobachtete. Diese Tatsache weckte Ménalques Interesse. Er gibt Michel einen Rat: Der Mensch täte gut daran, mit jeglichem Besitz genauso zu verfahren. Je weniger man sich an solche Dinge bindet, desto freier ist man, desto weniger muss man fürchten. Ebenso soll man der Vergangenheit entsagen, denn sie stünde der Zukunft im Weg.
Die letzte Nacht vor seiner Abreise möchte Ménalque gemeinsam mit Michel verbringen. Obwohl es dessen Frau zu dieser Zeit sehr schlecht geht, willigt Michel voller Spannung ein. Kurz darauf hat seine Frau eine Fehlgeburt.

Entsagung und Laster, Überdruss an sinnvollen Beschäftigungen, das Glück in den amoralischen Zügen des Lebens; nach und nach lebt Michel dieses Prinzip. Er legt sich ein paar brachliegende Felder zu, die wenig Ertrag versprechen, und beginnt darauf persönlich zu wildern, zu seinem eigenen Schaden. Er schließt sich lasterhaften jungen Männern an, knüpft neue Bekanntschaften, lässt seine kranke Frau daheim und beachtet sie nur, wenn ihn zeitweilig eine stürmische Zuneigung überkommt. Er lebt verschwenderisch, stattet seine Unterkünfte mit dem teuersten Inventar aus, selbst wenn er schnell weiterzieht. Er gibt Leuten Geld, die gerade nichts tun, denn sie kosten in seinen Augen das Leben aus. Der Gedanke ist ihm unerträglich, dass Menschen zum Leben einer Arbeit nachgehen müssen, die ihnen kein Vergnügen bereitet. Das sei für ihn nichts anderes als Sklaverei. Solche Arbeit könne nur langweilen und ohne Muße entstünden weder Laster noch große Kunst. In jeder Person sieht Michel einen unterdrückten immoralischen Geist.
Marceline nimmt alles duldsam hin und weist ihn nur zurecht: "Verstehst du nicht, dass wir den Menschen zu dem machen, was er nach unserer Meinung ist."

Michel ist nicht zu besänftigen. Seine Güter verkommen, Freunde wenden sich von ihm ab, der Gesundheitszustand seiner Frau wird immer schlimmer, da sie nun ebenso an Schwindsucht erkrankt ist. Für Michel besteht die Lösung darin, seinen Weg in die Vergangenheit zurückzufinden, zum Anfang ihres Glückes, auf den Spuren ihrer ersten Reise. Damit sich Marceline erholen kann, fahren sie zuerst in die Berge, was ihr tatsächlich hilft. Doch kaum ist sie ein wenig kräftiger, treibt Michel die Unternehmung weiter. Im unwirtlichen Winter reisen sie durch Italien. Die Orte ihrer damaligen Erlebnisse sind ein Schatten seiner Erinnerungen. Was er als bezaubernd schön empfand, wirkt auf ihn nun grau und plump. Doch er hört nicht auf, die schönsten Apartments und Häuser zu suchen, sie reichlich auszustaffieren, Geld in Unmengen zum Fenster herauszuwerfen und nach kurzer Zeit doch weiterzureisen. Marceline macht es mit, obwohl sie immer schwächer wird. In den Nächten lässt Michel sie allein, treibt sich stundenlang herum.
Endlich erreichen sie Biskra, wo die größte Niederlage seines einstigen Glückes auf ihn wartet: Die Kinder sind erwachsen geworden. Sie gefallen sich nicht mehr im vergnüglichen Nichtstun. Der eine ist Spüljunge geworden, der andere klopft mühsam Steine, der nächste hat ein Auge verloren, ein anderer säuft, wieder ein anderer ist jetzt Metzger und wird fett, hässlich und reich. Nur Moktir, der Scherendieb, ist sich treu geblieben. Er war im Gefängnis; davor beschäftigte er sich mit dem Nichtstun. Michel findet ihn am schönsten von allen.

An diesem Punkt ist es ihm nicht genug, Michel möchte weiter, angeblich zum Wohle seiner Frau. Es ist, als wollte er Marceline in den Tod treiben. Und dieser Tod ereilt sie schließlich in einer fürchterlichen Unterkunft mitten in der Wüste.
Damit hat Michels Reise ein Ende und er kehrt zurück, in die Arme der nächsten Prostituierten, des nächsten jungen Mannes, der nächsten Suche nach dem Glück.


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