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Der Glasgarten

von

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Irrsinn

Eine ganz wichtige Notiz zu Anfang: Unsere Gadreel ist NICHT diejenige, die hier schon existiert, sondern diejenige, die im Yaoi.de-Archiv ihre Geschichte 'Blut und Seele - The sign of the black cross' bereits 2002 veröffentlicht hat. Das möchten wir noch einmal ausdrücklich betonen, damit es zu keinerlei Verwechselungen kommt!
 


 

Titel: Der Glasgarten

Teil: 1 / ?

Autoren: Gadreel und Coco

Email: Gadreel.Coco@gmx.net

Fanfiction: Weiß Kreuz

Rating: PG-16

Warnungen: angst, Gewalt, Lemon, Sm/BD, Sap,

Pairing: Schuldig x Aya, im Laufe der Geschichte noch einige nette andere Pairings, verlasst euch drauf! ^_~

Disclaimer: Die Charaktere gehören ihren Zeichnern und den Menschen, die in Japan für die Serie Weiß Kreuz verantwortlich sind. Wir wollen hiermit kein Geld machen.
 

Kommentar: Die leisen Töne...auf die sollte man manchmal hören und wie der Titel schon sagt, geht es hier um zerbrechliche Blüten in einem großen Garten.

Die Geschichte ist als Autorenzusammenarbeit entstanden mit RPG Charakter. Das heißt alle Rollen, die wir beide - Coco und meine Wenigkeit - schreiben, werden strikt vom jeweiligen Autor eingehalten. Auch wenn dabei längere Textpassagen von Nöten sind.
 

Weiterhin wären bestimmte Gegebenheiten zur Geschichte an sich zu bemerken. Aya hat langes Haar, die Geschichte steht jedoch in keinem Zusammenhang zu den bekannten Serien.

Wir wurden von einem Bild inspiriert, dass von Anfang an in unseren Köpfen Pate für diese Geschichte gestanden hatte. Vielleicht kennen es einige von euch schon, da P.L. Nunn im Bereich der Yaoi-Zeichner keine Unbekannte ist. Das Bild an sich findet ihr unter www.bishonenworks.com im Adultbereich unter dem klangvollen Titel ,chapscaptive'.
 

Nun, wünschen wir viel Vergnügen bei eurer Reise durch den Glasgarten.
 

Gadreel und Coco
 


 


 


 

~ Irrsinn ~
 


 

Geschlossene Abteilung der Psychiatrie
 

22.00
 


 

Die Front des Gebäudes mit den hohen, abweisenden Mauern lag im Dunkeln; nur gelegentlich durchbrach der Schein der automatischen Lichtanlage die mondlose Nacht und warf ihr kaltes Licht auf die Psychiatrie.Feine Fäden aus Schnee und Regen waren dann in den Lichtkegeln zu sehen. Der unangenehme Winter hielt das Land im Griff, doch die Patienten interessierten sich kaum für die Wetterverhältnisse. Hatte doch keiner die Erlaubnis die Anstalt zu verlassen... .
 

Während im obersten Männertrakt, auf dem langen Flur, das Licht anging, umstrich das gespenstische Rauschen der Bäume im Wind die Stille. Es war nasskalt draußen, unangenehmes Wetter. Durch die vergitterten, hohen Fenster war ein Mann zu sehen, der seine abendliche Kontrollrunde drehte, dabei durch die Sichtfenster mit seiner Stablampe leuchtete und die Insassen jeder Zelle beäugte... .
 

"Hey Sal, vergiss nicht den Neuling zu ,bedienen'."
 

"Ja, keine Sorge, der kommt noch dran, hab ihn hier auf meiner Liste, bekommt die doppelte Dosis als die übliche."
 

Ein verhaltenes Lachen antwortete ihm, als er seinen Rundgang fortsetzte. Der Trakt, in dem er seine Nachtschicht diese Woche absolvierte, war der mit den Neulingen. Sehr heikel, sehr schwierig - sehr gefährlich. Die Untersuchungen und die psychiatrischen Gutachten liefen zum Teil noch und so waren der Umgang und die - nur - kalkulierten statt berechneten Dosierungen der Medikamente oft schwierig. Sal war müde, er hatte seine sechste Nacht und noch zwei vor sich. Hinzu kam noch, dass er untertags schlecht schlafen konnte..., hoffentlich ging diese Nacht schnell vorüber, aber es war erst..., sein Blick wanderte zum wiederholten Male zur Armbanduhr....es war erst 22.10 Uhr.
 

Er kam zum vorletzten Zimmer und klopfte zunächst an bevor er mit einem Schlüssel die Zelle öffnete. Der Patient konnte durch die gepanzerte Glastür kaum etwas verborgenes in dem Zimmer machen, da die Zellen so gebaut waren, dass die Tür in einer Zimmerflucht angebracht war und der Raum im Halbrund aus Sicht der Tür gebaut war. Es gab keine verborgenen Ecken und Winkel in den Räumen. Aufsichtskameras gaben allerdings bereits die Aufschlüsse über etwaige abnorme oder gar bedrohliche Verhaltensweisen. Was nicht selten vorkam.
 

Der Gast jedoch, der sich hinter dieser Tür aufhielt, war gestern erst eingetroffen und Sal fragte sich warum er hier war.
 

Er war noch nicht dazu gekommen, die ausführliche Anamnese zu studieren. Schizophrenie, hatte er auf den ersten Blick gesehen, aber wie weit oder ob es andere Psychosen waren, die noch mit hineinspielten, hatte er noch nicht ergründet.
 

Es fiel ihm oft schwer, sich in der Nacht mit dem Lesen der Akten zu beschäftigen, auch wenn es wichtig in seinem Job war. Oft auch überlebenswichtig. Sein Kollege saß zwar - so hoffte er - an der Monitorzentrale, doch wie es der Zufall wollte, waren die Insassen oft schneller als sein Kollege mit dem Notruf. Er konnte sich zwar wehren, aber dennoch... .
 

Einen Fixiernotruf hatte er in seiner Laufbahn schon desöfteren mitgemacht. Sobald der Notruf gesetzt war, liefen von jeder Station in der Anstalt ein bis zwei Mann los um zum Ort des Geschehens zu laufen. Wurde der Ruf nicht binnen einer bestimmten Zeit gelöscht, kam die Polizei ins Haus.
 

Sal war groß und breit und sein massiger Körper füllte den Türrahmen, als er hindurch trat und sich den fixierten Mann auf der Liege betrachtete, der augenscheinlich für ihn schlief.
 

"Wachen Sie auf, Herr...", er sah auf seine Liste, "Schuldig. Sie bekommen Ihre Injektion. Eine Notwendigkeit, wie Ihnen sicher Ihr beurteilender Psychologe mitgeteilt hat." Er hatte bemerkt wie sich der Mann ihm träge zugewandt hatte. Ihm ein verschlafen wirkendes Lächeln schenkte und ihn aus nur halbgeöffneten Lidern entgegenblickte, als er mit der bereits im Stationszimmer aufgezogenen Spritze auf ihn zukam.
 

Sal sah nicht, dass die Augen hinter den nachlässig geöffneten Lidern hellwach waren, der Mann ein glänzender Schauspieler war und ihm das Bild gab, das er sich in seiner Müdigkeit von einem gehorsamen Patienten erhoffte. Schnell seine Arbeit erledigen und schnell wieder an den Stationsstützpunkt um sich einen frischen Kaffee zu kochen.
 

"Ich habe Kopfschmerzen und Durst", krächzte der Mann und die Stimme hörte sich noch verschlafen an. Dies kam sicherlich von den Medikamenten, die er alle paar Stunden verabreicht bekam, mutmaßte Sal.
 

Er stellte sein Tablett am Fußende ab. "Die Gutachten laufen noch, solange kann ich Ihnen keine gesonderten Freiheiten einräumen. Hausvorschrift. Ich habe meine Weisungen erhalten. Sie kennen Ihre Erkrankung besser als ich, wissen besser wie Sie sich in einem derartigen Schub verhalten und Sie sind eine Gefahr für ihre Mitmenschen, Herr Schuldig. Sie verstehen also, dass ich mich nicht in diese Gefahr begeben möchte und Ihnen Freiheiten einräume, die mich selbst gefährden können."
 

Der Mann lächelte etwas verträumt, war wohl noch sehr müde. "Sicher weiß ich das", sagte er sanft. Er schloss die Augen und Sal beobachtete während er sein Tablett näher heranzog wie sich die Zunge des Mannes hervorstahl und die trockenen Lippen benetzte. Er stöhnte unterdrückt und Sal erstarrte einen Moment in seiner Bewegung. Es hörte sich fast an, als wäre der Andere sexuell erregt. Hör auf Sal, mahnte er sich und konzentrierte sich wieder auf seine Spritze. Es war still im Haus zu dieser Zeit, keiner schrie wie sonst umher, denn die Zellen und Zimmer waren geschlossen und schützten vor Lärm.
 

Noch während er die Spritze ansetzte und langsam injizierte, kleine Pausen machte um das Medikament nicht zu schnell zu verabreichen, kreisten seine Gedanken in ungewohnter Weise immer wieder zu dem Mann. Er sah verdammt gut aus, der halbgeöffnete Mund, die gerade Nase, die langen Haare, der muskulöse Körperbau, sportlich, trainiert. Ja, das war es worauf er stand: eindeutig männlich. Und er war gefesselt, er könnte ihn hier und jetzt nehmen. Diese Fixierung mit den breiten Lederbändern würde er kaum aufbekommen.... . Diese und ähnliche Gedanken hatte Sal während er das Medikament injizierte. Er konnte seine Gelüste gut unter Kontrolle halten, lebte sie nur bei seiner ,Herrin' einmal die Woche aus, weshalb verspürte er jetzt diesen Drang? Woher kam diese plötzliche Lust?
 

Es hörte erst auf, als er die laszive Stimme des Mannes an sein Ohr dringen hörte.
 

"Ich wette, du besorgst es dir später heimlich auf der Toilette", wisperte die Stimme in intimer Vertrautheit, als spräche sie zu jemand Bekanntem, nicht zu einem Fremden. Irritiert blickte Sal auf und runzelte die Stirn. "Hat deine Herrin dir nicht verboten, diese schmutzigen, kleinen Dinge zu machen?" Ein tadelndes Seufzen entkam den trockenen Lippen und die Zunge benetzte erneut die aufgesprungene Haut.
 

"Dabei könnte ich es doch mit meinen Lippen weitaus besser, als du mit deinen rauen großen Händen. Meine Lippen, sieh sie dir an, so sanft... und meine Zunge erst, ich kann dich besser, viel besser verwöhnen, mein Großer", flüsterte die Stimme jetzt heiser. Es war als spräche der Kerl zu seinem Inneren und filtere genau das heraus, was er momentan gerne wünschte.
 

Der Kopf des Mannes lag immer noch auf der Seite, er hatte sich kaum geregt, wenn diese verdammte Stimme nicht wäre, die wie eine Schlange in seinen Kopf kroch, zumindest hatte er das Gefühl, sie dort zu fühlen. Die Lider des Mannes waren noch immer halb geschlossen.
 

Sal musste raus hier, diese Stimmung, diese drückende Hitze in diesem Raum und dieser Mann in seiner dahingegossenen Wehrlosigkeit machten ihn ganz wirr. Einen Moment starrte er auf die Gestalt, als ihm ein glasklarer Gedanke durch den Kopf schoss: Der Mann war ganz und gar nicht wehrlos. Raus hier.
 

Sal erledigte schnell seine Arbeit und stand dann hastig auf. Mit einem letzten Blick auf den Mund des Mannes drehte er sich um und verließ fluchtartig den Raum. Er glaubte noch ein gehässiges Lachen zu vernehmen, als die Tür ins Schloss fiel und er tief durchatmete. Wann hatte er das letzte Mal derartige Angst verspürt? Wann? Er konnte sich nicht erinnern.
 

Was hatte der Typ überhaupt zu ihm gesagt? Die Erinnerung verblasste schon... . Er musste weiter arbeiten, war sein nächster Gedanke und er widmete sich wieder den verbliebenen Spritzen und den Namensetiketten auf dem Tablett. Er hatte bereits vergessen, was er in diesem Zimmer erlebt hatte und wer dort lag... .
 

Die Nacht verlief ruhig.
 

o~
 

Das Lachen, welches von den Wänden größtenteils geschluckt wurde, verebbte nur nach und nach und Schuldig kaute gelangweilt auf seiner Unterlippe herum. Das Medikament würde sicher bald seine Wirkung zeigen. Manche Psychopharmaka hatten die dumme Angewohnheit nicht sofort ihre Wirkung zu entfalten, sondern erst einige Minuten nach der Verabreichung.
 

Und das alles nur deshalb, weil er einen Auftrag verbockt hatte ...oder nein! - weil Crawford zu wissen glaubte, dass er ihn verbockt hatte und er ihn nun zur ,Genesung' in diese Anstalt gesteckt hatte. Für ganze sechs Tage! Seine Strafe also. Dem fiel doch wirklich noch was Neues ein um ihm das Leben madig zu machen. Schuldig sollte hier über sein Verhalten nachdenken und sich überlegen wie er das wieder gut machen wollte.
 

Wie er für den verpatzten Auftrag und die damit verlorenen 100 000 $ für Brad Crawford auf irgendeine Art ersetzen wollte. Zeit sollte er genügend hier haben. Umgeben von lauter Psychopathen, gefesselt und nur von Pflegern und Psychologen umgeben, sollte ihm hier die Zeit gegeben sein um über sein Versagen nachzudenken.

Schuldig setzte an, tief Luft zu holen, wurde aber durch den engen Brustgurt der Fesselung daran gehindert. Eine Zwangsjacke hatten sie ihm bisher nicht gegeben, da er sich nicht selbst verletzte. Na, wäre ja noch schöner gewesen!
 

Der Pfleger eben hatte ihm etwas Abwechslung geboten, doch nur kurz und eigentlich hatte er nicht vor außer einer vorgespielten Schizophrenie noch mehr hier zum Besten zu geben.
 

o~
 

Es war doch reichlich kühl in dem Raum geworden, schoss es Aya durch den Kopf, als er nur nebenbei zuhörte, was ihnen die rothaarige Perseragentin gerade über ihren neuesten Job offenbarte. Sie sollten also eine Irrenanstalt heimsuchen. Wie nett. Der Grund dafür war allerdings weniger nett...mehr befriedigend, wie Aya für sich befand.

Anscheinend sollten sie den Teamtelepathen von Schwarz aus eben diesem Etablissement befreien. Befreien. Gefangen nehmen, wie sich Manx ausgedrückt hatte. Ihn für Kritiker einfangen. Sie brauchten ihn, um diverse Tests durchzuführen und dafür zu sorgen, dass sie eine wirksame Waffe im Kampf gegen Schwarz hatten.
 

Irgendwie zweifelte Aya den Erfolg dieser Mission an, aber gut. Es lag nicht an ihm, zu widersprechen. Es lag an ihm, Befehlen zu gehorchen, damit er weiterhin für seine Schwester sorgen konnte.
 

"Habt ihr verstanden? Die Akten liegen im Stationszimmer, genau dort", stahl sie sich ein weiteres Mal seine Aufmerksamkeit, ließ seinen Blick unwillkürlich auf die vor ihnen ausgebreiteten Fotos fallen. "Dort findet ihr, was für Medikamente er verabreicht bekommen hat und was ihr ihm spritzen könnt, ohne seine Gesundheit ernsthaft zu beeinträchtigen. Denkt daran, wir brauchen ihn unversehrt."
 

Jaja. Als wenn das so einfach wäre. Du hast doch gar keine Ahnung....von gar nichts, erwiderte er der rothaarigen Frau und warf mit einem bösen Stirnrunzeln seine Haare zurück. ZU lang. ZU schwer. ZU hinderlich. Übermorgen hatte er einen Frisörtermin. Und dann ab damit.

Sie sprachen die Mission durch. Ihre einzelnen Aufgaben. Bombay zuständig für die technischen Dinge, Balinese, Siberian und er selbst für das Grobe. Auch wenn sie in diesem Fall ein Blutbad weitgehenst vermeiden würden.
 

"Nehmt ihr an?"
 

Was hatten sie auch für eine andere Wahl?
 

o~
 

"In Ordnung, ich habe die Zusammensetzung...wir können das hier nehmen... ."
 

Omi fischte eine der kleinen Ampullen aus dem Sicherheitsschrank, den er zuvor geknackt hatte und griff in der gleichen Bewegung nach einer Kanüle. Damit machten sie sich auf den Weg in das letzte Zimmer auf dem dunklen Flur, der, reichte die allgemeine, klaustrophobische Atmosphäre dieser...Anstalt nicht schon, in dunklen Tönen ausgekleidet war.
 

Aya schauderte angesichts des beklemmenden Gefühls und wünschte sich, niemals...niemals einer solchen Umgebung länger als nötig ausgesetzt zu sein. Ihm reichte schon das Krankenhaus, in dem Aya lag. Doch hier... . Er würde froh sein, wenn sie den Telepathen in ihrem Gewahrsam hätten.
 

Lautlos bewegte er sich den Flur hinunter, erreichte die letzte, massive Tür. Gitterstäbe und massive Glasverkleidungen, wo er nur hinsah. Grässlich. Beängstigend. Er betrat das stille Zimmer, brauchte einen Moment, um die auf dem Bett liegende, ruhige Gestalt des Schwarz als den teuflisch-mörderischen Telepathen zu erkennen. Blass, dürr und hilflos lag er vor ihm. Bereit getötet zu werden, wenn es ihnen nicht verboten worden wäre.
 

Aber nein. Sie mussten ihn ja mitnehmen.
 

Ohne zu zögern trat Bombay an ihm vorbei und prüfte die Pupillen des Deutschen. Einzig eine träge Reaktion zeugte davon, dass der Schwarz nicht schon längst über den Jordan getreten war. Trotzdem war Schuldig hinüber, anscheinend unschädlich gemacht durch die Drogen, die sie ihm gespritzt hatten. Alleine deren Namen hatten sich schon grausam angehört...

Der Kleine setzte schweigsam das Betäubungsmittel an und leerte die Ampulle Stück für Stück. Ließ sich Zeit.
 

Aya sah aus dem vergitterten Fenster. Er wollte hier weg. Diese Umgebung machte ihm Angst.
 

o~
 

Sein ausgetrockneter Körper wirkte in der dämmrigen Schwerelosigkeit des medikamentös bedingten Schlafes, als wüsste er nicht, wohin er sollte. Endlich aufwachen, oder doch weiterdriften in die Tiefe eines erholsamen Schlafes. Doch dazu reichte es nicht, etwas hielt ihn zurück. Worte, wie Nebelschwaden, die durch ihn hindurch streiften, ihn berührten, ihn jedoch nicht belangten. Seine Fähigkeiten waren leider abhängig von seinem Bewusstseinsgrad und dieser war in einer Ebene angekommen, in der er unfähig war, Entscheidungen in seinem Bewusstsein zu treffen. Unbewusst entkam Schuldig ein trockenes Seufzen, sein Körper lechzte nach ausreichend Flüssigkeit, die ihm schon seit einem Tag verwehrt geblieben war.
 

o~
 

Das war alles zu einfach gewesen. Würden Schwarz ihren Telepathen wirklich einfach so in einer Irrenanstalt lassen? Ohne Bewachung? Aya glaubte es nicht, als sie nun zu dem versteckten, etwas außerhalb gelegenen Lagerhaus fuhren. Wo sie Schuldig die erste Nacht unterbringen sollten.
 

Aya hielt das für eine gefährliche Idee, waren sie doch so mehr angreifbar als sonst für das feindliche Team. Oder bildete er es sich nur ein? Er wusste nicht...Ohne jeglichen weiteren Gedanken ließ er seinen Blick nun über die dunkle Straße gleiten, auf der sie fuhren. Balinese fuhr, Bombay und Siberian waren hinten bei ihrem Opfer. Hinten in dem ausgepolsterten Van. Falls es dem Schwarz doch noch gelingen sollte, seinen Drogen zu entfliehen, was Aya schwer bezweifelte.
 

Wenn er es genau nahm, war es komisch. Sie, die anscheinend immer unfähigen Weiß hatten den mächtigen Telepathen. Aya lächelte bitter. Ein minimaler Triumph, wenn auch keiner, den er genießen konnte.
 

Sie waren da, stiegen aus auf sandigem Grund, während ihnen der Wind die Haare um die ernsten, schweigsamen Gesichter wehen ließ. Wiederum verfluchte er seine Haare, die sich strähnenweise aus dem mittlerweile gelockerten Zopf lösten. Nein...sie würden ab kommen. Ab. Kurz. Auch wenn er sich geschworen hatte, sie solange wachsen zu lassen, bis seine Schwester wieder aufwachte.
 

Aya hievte zusammen mit Youji den schweren, halb bewusstlosen, halb benommenen Mann aus dem Van und trug ihn mit sich in die Halle. Den Keller, um genau zu sein. Dort, wo in einem durch Neonlicht erhellten, mit einem einzigen Eisenbett bekleideten Raum das nächste Quartier auf den Telepathen wartete. Massiver Stahl in Kombination mit noch massiveren Ketten würde den Deutschen daran hindern zu fliehen. Zur Not käme dann zusätzlich noch ein Knebel in Gebrauch, falls der Mann zu sehr toben würde.
 

Der rothaarige Weiß lächelte. Es würde ihm eine Freude sein, genau das zu tun, sollte Schuldig es darauf anlegen, auch wenn er nicht wirklich scharf darauf war, den anderen Mann zu quälen. Töten, auf dem Feld, ja. Das konnte er mit Freude. Doch das, was Kritiker nun mit ihm vorhatte...

Es wäre nicht sein Weg, dennoch legte er dagegen keinen Widerspruch ein. Er führte nur Befehle aus. Legte den Deutschen nun in materielle, schwere Ketten, befestigte sowohl Hand- als auch Fußgelenke an den massiven Bettpfosten. Kein Entkommen. Es war unmöglich zu fliehen.
 

Dennoch war er froh, nun die erste Wache zu haben und aufzupassen, dass nichts geschah. Wenn es denn der Fall wäre.
 

o~
 

Schuldig war plötzlich hellwach. Zunächst blieb er ruhig liegen, versuchte seinen schnellen Herzschlag zu beruhigen. Wie er diese Medikamente hasste. Diese schnelle Aufwachphase war ihm ein Gräuel. Wie in einem Albtraum wurde man von der Schlafphase in die Wachphase gerissen.
 

Er wälzte sich unruhig auf seiner Lagerstatt hin und her, fand keine bequeme Liegeposition. Die Temperatur im Raum hatte sich verändert, oder er hatte sich die Decke, die der Pfleger ihm gegeben hatte heruntergestrampelt. Seine Lider hoben sich blinzelnd und er versuchte sich im Raum zu orientieren. Er räusperte sich und musste aufgrund der Trockenheit in seiner Kehle zunächst husten. Sein Gesicht vor Schmerz ob dieser Reizung kurz verziehend wurde er sich erst jetzt voll bewusst, dass er erstens nicht mehr in der Psychiatrie und zweitens an Händen und Füßen in einer sehr unangenehmen Lage gefesselt war.
 

Die klebrige Feuchte auf seiner Haut unter seiner weißen, dünnen Anstaltskleidung fühlte sich unangenehm an. Sie kam von dem Medikament, wie er wusste aus früherer Erfahrung. Doch ihm war immer noch heiß, viel zu heiß. Unruhig bog er seinen Rücken durch, hob seinen Unterkörper minimal an um sich den rauen Kasack im Rücken und am Bauch nach oben zu streifen. Er hatte das Gefühl zu verglühen. Seine Fersen drückten sich in das harte Bettgestell, jedoch hatte er erst nach einigem Ausprobieren das grobe Kleidungsstück ein wenig nach oben geschoben. Ermattet blieb er liegen, hatte noch kein wirkliches Auge für seine Umwelt übrig.
 

Schweigend wie auch äußerst vorsichtig beobachtete Aya, dass der andere Mann für ihn überraschend abrupt zu sich kam, anscheinend Qualen erlitt, die mit den Nachwirkungen der Drogen zusammen hingen.
 

Durst, Fieber, Orientierungslosigkeit, meldete ihm sein Hirn, schlug ihm gleichzeitig vor, wenigstens eines dieser drei Leiden zu beenden, war doch das trockene, reibende Husten wie ätzende Säure in seinen Ohren. Und sich das die nächsten Stunden anzuhören....darauf hatte er nicht wirklich Lust.

Schweigend stand er auf und griff in der gleichen Bewegung nach der Wasserflasche samt Pappbecher. Nichts, das Schuldig als Waffe dienen konnte. Nichts...nicht einmal seine Telepathie, die an Aya abprallen würde. An seiner tiefen Schicht von verhüllten Emotionen. Er schauderte. Kalt war es hier...viel kälter als erwartet, doch anscheinend schwitzte der rothaarige Telepath. Nein, augenscheinlich sogar.
 

Aya hätte gar nicht seine Hand nun unter die schweißnassen Strähnen des Deutschen legen müssen, um das heraus zu finden. Auch nicht seinen Kopf anheben müssen. Er hätte ihn einfach so liegen lassen können. Doch dann hätte das Wasser nie das Glas und schließlich die Lippen erreicht. Dann hätte Aya nie einen Blick in die glasigen, weiß unterlaufenen grünen Augen werfen können.
 

"Trink."
 

Augenblicke vergingen, in denen Schuldigs Orientierung zurückkehrte. Seine außersinnliche Wahrnehmung sagte ihm, dass er nicht alleine war, dass er aber auch diese Person mit seinen Fähigkeiten nicht erfassen konnte. Als schützte sich diese Person bewusst vor ihm. Das bedeutete Gefahr. Fakt war, dass er nicht mehr im ,Schutz' der Psychiatrie weilte. Das Licht war nicht angenehm gedimmt, stattdessen prasselte Neonlicht auf seine Gestalt nieder. Kettenglieder rasselten, wenn er sich in einem Hustenanfall regte. Das alles nahm er wahr, dies alles und auch die unwillkommene Nähe desjenigen, der ihn hier festhielt. Jemand kam näher zu ihm, fasste ihn an.

Schuldig sah rot. In seinem Kopf brandete Wut an die Grenzen seines Geistes und schwemmte mit einem Schub Adrenalin durch seine Adern. Niemand fasste ihn an. Nicht ihn. Sein Körper schnellte nach oben, als sein Kopf angehoben wurde, preschte vor, wie ein gespannter Bogen, und aus seiner Stimme entlud sich ein Fauchen, dass einer Raubkatze würdig gewesen wäre. Er wollte demjenigen, der ihn gefangen hielt, mit einem Schrei auf Abstand halten, aber herauskam nur ein rauer Laut, der eher einem Fauchen glich.
 

Mit der gleichen Wucht wurden seine Gelenke zurückgerissen und er krachte wieder auf das Bett zurück, den Schmerz in seinen Gliedern nicht registrieren wollend. Wild sah er sich nach dem um, der es gewagt hatte sich ihm zu nähern. Wasser hatte sich über sein Gesicht ergossen und er fühlte erst jetzt die willkommene Abkühlung, seine Haarsträhnen klebten an seiner Wange und seinem Hals.
 

Als er sich halb seitlich drehte, verdeckte die Hälfte sein grimmig blickendes Gesicht, mit dem er auf den Mann blickte, der vor ihm stand.

Schuldig ließ sich seine Überraschung zwar nicht anmerken, spürte aber wie er seine Hände um die Eisenmanschetten verkrampfte. Er hätte sie am Liebsten zu Fäusten geballt. Weiß ausgeliefert zu sein, war genau das, was ihm nach der Psychiatrie gefehlt hatte.
 


 


 

Fortsetzung folgt... .

Danke fürs Lesen.

Coco & Gadreel

Krieger und Poet

~ Krieger und Poet ~
 


 

Aya hatte mit eiserner Geduld zugelassen, dass der nun völlig erwachte und wie es sich herausstellte, ebenso verstörte Schwarz ihm den Pappbecher aus der Hand schlug und kleine Perlen des herum stäubenden Wassers in seine Haarsträhnen jagte.

Doch auch wenn Aya zurückgezuckt war, verhießen seine Augen nichts Gutes, als sie den anderen Mann wie ein Insekt fixierten. Er war nicht hier um Angst zu haben vor Schuldig.

Er war hier, um dem anderen Mann zu zeigen, wie hilflos dieser im Moment ihm gegenüber war.
 

Betont ruhig stellte er das Wasser ab und umfasste das Kinn des Telepathen. Versetzte diesem nach einigen, schweigsamen Momenten eine schallende Ohrfeige. Das einzige Mittel der Beruhigung, das er in diesem Moment für seinen schwachen, benebelten Feind kannte. Nicht, dass er überhaupt zu etwas anderem bereit gewesen wäre.
 

"Bist du jetzt fertig?", hallte es durch den großen, kalten Raum, ließ Aya sich für einen Moment unangenehm klein fühlen. Er gab nichts auf den Widerstand des Telepathen...nichts Wirkliches.

Auch wenn er sah, wie sich dessen Hände um die eisernen Fesseln krampften, anscheinend gar nicht geneigt waren, ihr Schicksal zu akzeptieren. Nun...er an Schuldigs Stelle wäre das auch nicht gewesen...ganz gewiss nicht.
 

"Du verletzt dich nur selbst mit den Versuchen, dich zu befreien", merkte er an, als wäre das nicht schon allgemein bekanntes Wissen. Bückte sich, um ein zweites Mal nach dem Pappbecher zu greifen, der unter das Bett gerollt war.

Einmal würde er es noch versuchen, aus einem Anflug von Gnade, derer er sich im Moment selbst nicht wirklich bewusst war. Einmal noch.
 

"Soll ich oder willst du weiter vor dich hin röcheln?", fragte er in die grünen, widerspenstigen Augen und hob beides. Pappbecher und Wasserflasche. Schuldig sagte besser nicht nein.
 

o~
 

Es war tatsächlich Fujimiya.

Schuldig zog sich so weit es die Ketten zu ließen nach oben und lehnte seinen Kopf an das eiserne Bettgestell. Die Verstrebung drückte schmerzend in seinen Hinterkopf, ließ ihn eine willkommene Ablenkung von seinem größer werdenden Durst zukommen.

Er sah dem anderen zu wie er den Pappbecher aufhob, den er in seinem Zorn kaum wahrgenommen hatte. Die Finger, die nach seinem Kiefer gegriffen hatten, kühl und schmalgliedrig, hart und gebieterisch, wie der Mann der ihm nun mit dem Entzug von erlösendem Wasser drohen wollte.
 

Schuldig antwortete nicht, ließ seine Augen über die Ketten an seinen Fußgelenken huschen, und registrierte ihre fachmännische Anbringung. Er tat, als hätte er die Worte nicht gehört, erkundete mit den Augen seine Umgebung und tastete sich mit seinen Fähigkeit weiter vor.

Fujimiya war ein weißer Fleck in bildlicher Umschreibung in seiner telepathischen Wahrnehmung. Schuldig konnte ihn nur deshalb telepathisch registrieren, weil er ihn eben nicht registrierte. Er ging weiter und erkundete die Umgebung.

Niemand schien in unmittelbarer Nähe. Schön dumm, dachte er stirnrunzelnd. Telepathie kannte keine Entfernung, wussten das die Weißagenten nicht?

Etwas erstaunt kniff er dennoch einen Augenblick später die Augen misstrauisch zusammen. Seine grünen Iriden sprühten Funken. Der Durst rückte in den Hintergrund.
 

"Was wollt ihr von mir, Fujimiya? Ich bin doch nicht zu deinem Privatvergnügen hier?!" Er brachte ein finsteres Grinsen zustande, stemmte sich jedoch wieder etwas in die Fesseln.

"Oder hast du einen lukrativen Nebenjob als Schlepper angenommen? Zutrauen könnte man es einer Bande von Heuchlern durchaus, wenn du mich mit der Drohung, mich verdursten zu lassen ruhig bekommen willst, wo doch sowieso keiner in der Nähe wäre um meine Schreie zu hören." Er verstummte gepeinigt, spürte wie seine Kehle bei jedem Wort schmerzte. Doch er ließ es sich nicht nehmen, den Anführer der Weiß Agenten ausführlich zu mustern.
 

Es war wichtig, dass er sich nicht unnötig von dem Telepathen reizen ließ. Alleine dieser Satz schwebte bestimmt ein dutzend Mal in Ayas Gedanken, bevor er sich mit ruhigem, immer noch unlesbarem Gesichtsausdruck zu Schuldig auf das Bett setzte.

Der andere Mann meinte, ihn zermürben zu können durch seine gewohnt gehässige Art? Da wusste er doch gleich besser zu kontern.
 

Zunächst den rothaarigen Telepathen völlig ignorierend, klemmte er sich den Becher zwischen die Knie und füllte ihn mit einer neuen Fuhre Wasser. Setzte schließlich langsam die Flasche ab und das Glas an seine zu einem leichten Lächeln verzogenen Lippen. Trank ebenso bedächtig, dass es Schuldig auch gut und genau sehen konnte, Schluck für Schluck aus dem Becher.
 

Setzte ihn schließlich ab. "Schlepper? Ich?", erwiderte er schließlich und lachte leise, ließ seinen Blick in die Ferne streifen, ganz so, als würde nun nicht ein gefährlicher und starker Gegner neben ihm sitzen. "Nein...da kommt die Sache mit dem Privatvergnügen der Wahrheit doch viel näher..." Ja...zum Privatvergnügen von Kritiker. Schuldig wäre sicherlich kein schönes Ende beschert. Nicht, dass es ihn zu interessieren hatte, was sie mit ihm anstellten. Er war nur hier, um diesen Auftrag zu erfüllen.
 

"Hm?", hob er fragend noch einmal den Becher an. Noch eine Chance gab er dem Deutschen nicht...konnte er sich doch glücklich schätzen, dass er überhaupt an solch eine Gnade dachte. Auf einer Mission hätte er eine solche Situation mit Freude ausgenutzt. Sein Schwert genommen und den anderen Mann niedergestreckt. Doch nein...hier war er nun für die nächsten Stunden gefangen mit diesem Mann...
 

Schuldig fixierte die violetten Augen des Anderen mit verächtlichem Blick. Die Muskeln seines Kiefers arbeiteten, als in seinen Gedanken die Möglichkeiten einer erneuten Verweigerung erwogen wurden. Er ließ Fujimiya nicht aus seinem Blick. Die reglosen Gesichtszüge, die er in Kämpfen zu einer Regung bewegen konnte, der stolze Ausdruck in den Augen, den er nur im Kampf verändern konnte, wie wäre es wohl andere Emotionen in sie zu legen?
 

Er hörte die Worte des Rothaarigen, als dieser sich zu ihm setzte als hielten sie einen Plausch. Doch was er mehr wahrnahm, war die eindeutig sadistische Ader, die Schuldig von Aya nun kennen lernte. Innerlich stürzte sich etwas auf diese Erkenntnis und vermerkte es. In dem korrekten, kalten Killer von Weiß steckte also ein verborgener Sadist?

Unwillig verzog er die Lippen und lächelte spöttisch.

"Lass mich raten? Unter Privatvergnügen verstehst du eine Folter um aus mir die Informationen herausprügeln zu wollen, damit dein Boss dir brav den Haarschopf tätschelt", sagte er mit rauer Stimme und wischte sich mit einer Kopfbewegung die Haare aus dem Gesicht. Er veränderte leicht seine Lage und ließ seinen Oberschenkel unbeabsichtigt am Becken von Fujimiya liegen.

"Was willst du wissen, Heuchler? Sag schon, damit wir's hinter uns bringen können." Er sah Aya wieder fest in die Augen, doch sein Blick schweifte ab auf das Wasser, weiter auf die Kehle, seines Wärters.
 

Als der fragende Blick ihn wiederholt traf, blähte Schuldig leicht die Nasenflügel, angewidert von diesem für ihn verhöhnenden Angebot. Er nickte nur mit dem Kopf auf den Becher und verzog die rissigen Lippen leicht, weil sie bereits spannten.

"Ich dachte, ihr wärt so ehrenhaft? Aber selbst auf diese Tatsache kann man sich als Gefangener kaum mehr verlassen. Ihr seid nichts Besseres als wir."

Bitter lächelnd schloss er die Augen und legte den Kopf leicht an seinen Oberarm.
 

Aya starrte auf seine Hüfte, an der nun der bekleidete Oberschenkel des Telepathen ruhte. Er fragte sich, wie Menschen zu derart ungezwungenem Hautkontakt neigen konnten. Besonders dann, wenn sie so hilflos waren, wie der Telepath nun.

"Habe ich je behauptet, besseres zu sein?", lächelte er und legte den Kopf für einen Moment schief. Verdammte. Haare. Sie kamen ihm schon wieder in den Weg. Aber nein...das hatte er nicht. Er hatte nie behauptet rein zu sein von der Schuld, die er mit jedem Mord auf sich lud. Er war kein Heuchler.
 

"Ich will nichts von dir wissen...ich will nur, dass du trinkst", fuhr er schließlich fort und schob seine Hand ein zweites Mal unter die schweißnassen Haare. Schuldig stank. Nicht sein Problem, wenn er den Schwarz endlich los war.

Er füllte den Becher ein drittes Mal und hob ihn an die Lippen des rothaarigen Deutschen. Anscheinend war ihm schon länger jegliche Art von Flüssigkeit versagt geblieben. Die Lippen waren so rissig...es schmerzte schon beinahe, da überhaupt noch zuzusehen.

Aya ließ seinen Rücken durchknacksen. Er war verspannt und hatte Schmerzen in den Muskeln...und alles nur wegen diesem Mann....wie unnütz.
 

,Nichts von mir wissen...', überlegte Schuldig, nun doch etwas unsicher werdend, in Gedanken.

Irritiert beobachtete er das dunkelrote, schwere Haar, wie es dem anderen wiederholt zum Teil die Sicht nahm. Er dachte fieberhaft darüber nach, was sie von ihm wollen könnten.

Sein Blick verlor sich auf dem Rot des Haares, auf seiner Seidigkeit, die im Licht facettenreich schimmerte, während sein Verstand arbeitete.

Trink, meldete dieser auch gleich. Die Kühle der Hand auf seiner Stirn fühlend schloss er erneut die Augen und ließ sich in die Ketten sinken, ließ die Spannung aus seinem Körper gänzlich weichen.
 

Den Becher fühlte Schuldig kaum an seinen trockenen Lippen; erst als das Wasser seine Zunge netzte, begann er automatisch zu schlucken. Und wie konnte es anders sein, trotz der Konzentration, die er aufbrachte um diesen Vorgang zu meistern, verbot ihm die Haltung, dass er es ohne sich zu verschlucken schaffte. Er wandte den Kopf ruckartig zur Seite und hustete in seinen Oberarm, der mit den Kettengliedern neben seinem Kopf gebunden war. Er verschloss seinen Blick, seine Gestalt vor dem Anführer der anderen Killer, er musste überlegen. Dringend.
 

Wenn sie ihn nicht dafür wollten um ihn zu befragen, weshalb dann? Warum war der Weiß so ruhig? So verdammt gelassen?

"Was habt ihr für mich vorbereitet? Eine nette kleine Spielerei, die mir vermutlich die Ohren von meinen eigenen Schmerzenschreien ertauben lässt?", leise kamen seine Worte, da er noch immer Durst hatte, sich jedoch nach innen zurückzog um seine Fähigkeiten gezielt einzusetzen. Er musste sich jetzt konzentrieren um Brad zu erreichen. Er durfte keine Zeit mit small talk verlieren.
 

Aya musste anhand dieser Dramatik nun doch lächeln. Er konnte verstehen, wie unsicher sich der sonst so kontrolliert-überhebliche Deutsche fühlen musste, doch gleich den GAU zu erwarten...

Er wartete ab, bis der Hustenanfall seines Gegenübers vorbei war, füllte für einen weiteren, kostbaren Moment den Becher und setzte ihn ein zweites Mal an, bevor er nachsichtig den Kopf schüttelte. "Weiß hat gar nichts vorbereitet", gab er nur soviel preis, wie er zu sagen können glaubte. Kritiker ließ er dabei außen vor. Das musste der Telepath nicht wissen.
 

Allerdings bezweifelte er, dass ihre Auftraggeber, sollten sie Schuldig erst einmal habhaft geworden sein, diesen in irgendeiner Weise sanft behandeln würden. Doch das war nicht sein Problem...nein. Seine Haare waren es. Diese nervenden, hinterhältigen, ungehorsamen Haare. Frustriert kämmte er sich durch die langen, heraus getrennten Strähnen.

Vielleicht sollte er den Termin vorverlegen...auf morgen.
 

Genaugenommen war Aya froh, dass der andere Mann nicht mehr schrie und sich nicht mehr gegen die Ketten wehrte, hätte er dann doch zu Betäubungsmittel und Knebel greifen müssen und das wollte er nicht. Er wollte eigentlich gar keinen Ärger...genauso wenig, wie er diese Mission gewollt hatte.
 

Das hier war kein fairer Kampf, wahrlich nicht.
 

"Weil ,Weiß' ja hier das Sagen hat, nicht wahr?", ätzte Schuldig verhöhnend und krampfte seine Hände wieder um die Manschetten. Das kühle Metall half ihm etwas seine Unsicherheit zu dämpfen. Der Anführer war definitiv zu ruhig. Wo war sein allgegenwärtiger Hass gegen ihn, gegen seinen Feind geblieben? Hatte Schuldig etwas verpasst?

Gut, sie waren sich in den letzten Kämpfen nicht mehr sehr häufig begegnet, der Zufall mochte es wohl so gewollt haben. Ein glücklicher Zufall, wie Schwarz fand - oder Brad vorausgesehen hatte, je nachdem wie man es sehen wollte. Aber wo war Fujimiyas Feuer geblieben?

Hatte das ständige Töten für die vermeintliche Gerechtigkeit, die erzwungene Tätigkeit um seine Schwester versorgen zu können, den Tribut eingefordert, den dieser Job meist verlangte? Das Feuer, die Leidenschaft? War Aya abgestumpft?
 

Schuldig starrte den jüngeren Mann in plötzlicher Erkenntnis an. War es wirklich so? Er konnte es sich kaum vorstellen. Aber wo blieben die tödlichen Blicke, die sonst auf ihn gerichtet waren? Alles weg, nur weil er hier in Fesseln lag?

Schuldig konnte es nicht glauben.

Aya wirkte dagegen eher müde, sehr müde. Als wäre ihm das alles zuviel, gar lästig.

Das Feuer, welches in diesen Augen gelodert hatte, es war nunmehr in dem "herrlichen Haar" gefangen. Er stutzte leicht, hatte er das eben laut gesagt?

In seiner Hand zuckte es, als er wieder das rote Haar betrachtete, dem Blick der auf ihn gerichtet war, auswich. Er konnte noch nicht einmal in Fujimiyas Gedanken lesen, was ihm noch blühte. Er musste endlich Crawford unterrichten. Nur wo blieb seine Konzentration?

Unwirsch wandte sich sein Blick auf das Wasser und er leckte sich über die Lippen. Wie er es hasste, hier so zu liegen. Falls er jemals davonkam, würde er den Weiß spüren lassen was es hieß, in Ketten zu liegen. Das schwor er sich.
 

Aya ahnte nicht wirklich etwas von den inneren Zwiegesprächen des anderen Mannes, als er Schuldig überrascht anstarrte. Herrliches Haar? Ein ironisches Lächeln umtanzte seine starren Lippen. "Das herrliche Haar wird bald der herrlichen Schere zum Opfer fallen", erwiderte er mit nicht geringer Genugtuung, die sich in diesem Moment ausschließlich an seine lange Mähne richtete.
 

Doch was tat er hier? Seine Aufgabe war es nicht, den Schwarz zu unterhalten, sondern ihn zu bewachen. Mehr nicht.

Aya fröstelte, nachdem er sich ruckartig erhoben hatte. Irgendwie war es hier kälter geworden oder bildete er sich das nur so ein? Anscheinend schon, denn der Telepath schien der sie umgebenden Luft nicht wirklich abgeneigt zu sein, so freizügig, wie er hier lag und immer noch versucht hatte, sein Oberteil hochzuschieben.
 

"Brauchst du noch etwas?", brachte Aya sich und den Telepathen wieder auf eine Ebene feindlicher Gesinnung, während er sich ein paar Strähnen hinter die Ohren klemmte. Morgen würde Schuldig bei Kritiker im Forschungslabor landen und übermorgen wären seine Haare ab. Alles also beim Alten...kein Grund, sich aufzuregen. Nur ein Auftrag. Einer, der ihm wirklich auf die Nerven ging, hatte er doch heute Abend eigentlich bei Aya vorbeischauen wollen um sich von den letzten Tagen etwas zu beruhigen.
 

Shit, er hatte es wahrhaftig ausgesprochen. "Schade drum, wirklich. Mal abgesehen, dass es an dir verschwendet ist", sagte Schuldig boshaft und der irrlichternde Schalk blitzte in seinen grünen Augen kurz auf. "Du lässt es mich nicht zufällig anfassen?" Seine Stimme wurde eine Nuance dunkler und weicher, so fern es seine raue Kehle zuließ und nur sein Blick verriet seine wahre Absicht.

Nämlich Aya vielleicht zu überwältigen.
 

"Ich wüsste da einige Einsatzmöglichkeiten...", sagte er leiser werdend vom Becher Wasser abgelenkt. Er glaubte nicht wirklich dass der Andere auf seinen Vorschlag einging.

"Wenn du schon so nett fragst, ich habe immer noch Durst. Habt ihr mir noch mehr von dem Zeug reingejagt, oder weshalb ist es hier drin so heiß, verdammt?" Nun wurde er langsam ungehalten und diese Kleidung half dabei auch nicht wirklich ihm die Sache erträglicher zu machen.
 

Violette Augen richteten sich mit plötzlicher Intensität auf den gegnerischen Telepathen. An ihm verschwendet? Ja, da hatte der andere Mann Recht. Er brauchte diese Zotteln nicht. Doch anfassen lassen würde er sich von dem Schwarz deswegen noch lange nicht. Schon gar nicht, wenn er dessen allzu deutliche Absichten wie zähflüssiges Gift aus den feindlichen Worten hinaustriefen hörte. Gift, Gift und nochmals Gift. Nichts anderes.

Er schüttelte sich innerlich und stand auf. Tat ein paar Schritte zurück bis zu seinem unbequemen Stuhl.
 

"Du hast genug getrunken...Soviel haben wir dir auch nicht gespritzt, dass du verdursten wirst", erwiderte er kalt mit dunkel zusammengezogenen Augenbrauen und ließ sich auf das hölzerne Möbelstück nieder. Wenn er daran dachte, dass er so noch die nächsten Stunden verbringen musste, nur mit einem Buch und seinem Schwert bewaffnet. Wie sagte man so schön....die Feder war mächtiger als das Schwert? Na vielleicht konnte er den Schwarz mit ein paar Zeilen Gaarders zum Schweigen bringen. Oder ihm wahlweise das Buch in den vorlauten Mund stopfen.
 

Beides durchaus Alternativen, denen er momentan wirklich zugeneigt war.
 

"Was ist das? Ein Folterinstrument aus dem Mittelalter?" Schuldig deutete mit einer Hand nachlässig zu dem Stuhl hin, der ihm aussah als würde man sich schon vom Hinsehen Hämorrhoiden holen. Obwohl er nicht sicher war, ob diese von harten unangenehmen Stühlen kamen.

"Und was willst du mit dem Buch? Mich zu Tode lesen? Fällt euch wohl langsam nichts mehr ein, was?" Er lachte gehässig, kam jedoch nicht umhin, seine bereits schmerzenden Handgelenke zu bemerken. Kleine Risse hatten sich in die Haut gezogen, als er sich so heftig gegen die Bänder gestemmt hatte und nun brannten die oberflächlichen Verletzungen leicht.
 

Kein Grund zur Klage, doch er wollte sich amüsieren - wenn er schon sonst nichts geboten bekam in diesem heruntergekommenen Keller.

"Wo sind wir hier? Und wie lange muss ich hier bleiben? Wollt ihr mich zu Tode langweilen?"
 

So sehr es Aya auch störte, so wenig reagierte er nun auf die deutlichen Provokationen des Schwarz. Natürlich wusste er, dass der Stuhl ein mittelalterliches Folterinstrument war, er SAß schließlich auf ihm, ganz im Gegensatz zu Schuldig, der das im Vergleich doch besser abschneidende Bett beanspruchte.

Demonstrativ schlug er die Beine übereinander und bettete das Buch auf seinen Oberschenkel, schlug seine zuletzt angefangene Seite auf und konzentrierte sich mit aller Macht auf die vor ihm tanzenden Schriftzeichen. Als wenn er so freundlich wäre und dem anderen Mann seine Fragen beantworten würde....Schuldig musste schließlich noch nicht wissen, dass er als Versuchskaninchen für Kritiker enden würde...
 

Schuldig seufzte theatralisch und fing an, mit seiner linken angeketteten Hand gegen das Bett zu schlagen. Schön monoton und in seinen Gedanken bemerkte er nicht, wie er diese - vielleicht für andere nervende und geräuschvolle Tätigkeit in gleichmäßigen Abständen wiederholte. Wieder entließ er ein langanhaltendes leidendes Seufzen und fixierte Fujimiya mit einem bettelnden Blick.

Er machte es sich gemütlich auf dem Bett, räkelte sich leicht, so dass die Hose etwas mehr Haut zur Abkühlung frei werden ließ und beobachtete Aya beim Lesen. Jede Winzigkeit wurde von ihm in Augenschein genommen. Sein Blick strich über die Hände, die das Buch hielten, die schlanken Beine, die lässig übereinandergeschlagen waren, über die schlanke Figur und das lange kräftige Haar, welches sie weich umschmeichelte.
 

Seine Hand noch immer gegen das Gestell schlagend, hatte er seinen Kopf angelehnt und ließ Aya keine Sekunde aus seinem inquisitorischen Blick.
 

Anscheinend ließ es sich Ayas Körper nicht nehmen, im Gleichklang mit dem metallisch ätzenden Geräusch zu reagieren, als nicht nur ein Muskel unter seiner linken Augenbraue verdächtig zuckte und ihm das Lesen um ein Vielfaches erschwerte. Nein, er würde nicht darauf reagieren...so sehr es ihn auch störte. Nein....er würde Schuldig nicht anfahren, dass er aufhören sollte, seine Hand gegen das Gitter zu schlagen.

Und nein, er würde dem anderen Mann nicht sagen, dass er gefälligst überall anders nur nicht zu ihm schauen sollte.
 

Er würde gelassen bleiben, ruhig weiterlesen...den gerade angefangenen Satz noch ein zweites Mal lesen. Aber sich nicht aus der Ruhe bringen lassen....das wäre doch gelacht. Auch wenn er sich durch die Gegenwart eines fremden Menschen so direkt bei ihm nicht wohl fühlte...gar nicht wohl.
 

Schuldig nahm das Unwohlsein des Anderen genau wahr, sagte nichts, sondern lächelte nur. Die Haut auf seiner Lippe war inzwischen aufgeplatzt und er spürte jetzt wie ihm daraus ein wenig Blut in den Mundwinkel lief. Er senkte die Lider etwas und fühlte wie nebenbei dass die Hitze, die ihn erfasst hatte, wieder abzunehmen schien. Sein Körper regulierte sich selbst wieder und die Wirkung ließ etwas nach. Er lauerte auf den Weiß, auf eine Regung die er damit erzwingen wollte, dass er sein monotones Schlagen nicht aufgab. Es machte ihm nichts aus, seine Handgelenke weiter aufzuscheuern. Nicht das Geringste. Er würde warten.
 

`Brad`

Er wartete einige Wimpernschläge.

`Ja. Ist dir schon eine Idee gekommen, wie du mir den Verlust ersetzen willst?`, kam auch sogleich die Antwort.

`Nein, bin gerade dabei, Fujimiya in einem abgewrackten Keller Gesellschaft beim Lesen zu leisten. Was soll die Scheiße, Crawford?! Sag nicht, dass du wusstest, was diese Möchtegern-Bösewicht-Jäger für mich geplant hatten!` Er war zornig bis ins Mark, und dies sah man nur in seinen Augen, die jedoch halb verborgen hinter den Lidern waren.

`Ich habe das nicht vorausgesehen. Mich beschäftigten im Moment andere Dinge. Wo bist du?`

`Witzbold. Wenn ich das wüsste! Es ist niemand in der Nähe, den ich dazu benutzen könnte, es herauszufinden und dieser Rotschopf ist bestenfalls dazu geeignet um ihn mal kräftig ranzunehmen - nicht um ihn telepathisch zu durchleuchten. Ich kann ihn nicht erfassen.`
 

Während er mit Brad kommunizierte ließ er seine Hand weiter das fortführen, was in seinen Augen zu einer günstigen Lageveränderung seiner selbst beitragen konnte.
 

Diverse Muskeln in Ayas Hand reagierten nun zu allem Unglück AUCH noch auf das monotone, eiserne Geräusch. Klack. Klack. Klack. Immer wieder. Eisern eintönig. Klack. Klack. Klack. Er hatte den Satz, den er gerade gelesen hatte, nicht wirklich verstanden...auch nicht beim zweiten Durchlesen. Klack. Klack. Klack.
 

Aya schloss in aller Ruhe das Buch, sah schließlich auf. Der Schwarz machte das extra...um ihn aus der Reserve zu locken. GUT, das konnte er haben. Mit Vergnügen sogar. Stumm wie er war, stand er auf und schlenderte lässig auf den rothaarigen Telepathen zu, griff sich die Wasserflasche. Wie war das...Schuldig hatte Durst gehabt?
 

Ohne mit der Wimper zu zucken öffnete er die Flasche und stellte sie auf den Kopf, schüttete dem Schwarz den gesamten Inhalt ins Gesicht. So. Wollten sie doch mal sehen, wie weit sie damit kamen.
 

Schuldig hatte es durch seine halbgeschlossenen Lider kommen sehen und leckte sich nurmehr das herabperlende Wasser von den rauen Lippen. "Bekomme ich noch mehr? Wenn ich nett bitte sage?", spöttelte er, gab jedoch zu keiner Zeit seine Tätigkeit auf. Herausforderung lag in seinem frechen Blick, den er Aya zuwarf.

"Was willst du tun? Mich damit ertränken?"
 

`Hey Brad, bemüh dich mal ein Bisschen, wird doch nicht so schwer sein herauszufinden wo die mich hier untergebracht haben.`

`Sobald ich mich um meine Geschäfte gekümmert habe. Und jetzt stör mich nicht weiter`, wurde er abgewürgt und wusste auch gleich, dass es nichts brachte, dem Amerikaner weiter auf die Eier zu gehen. Nein, ganz im Gegenteil, der würde ihn hier wirklich noch versauern lassen, wenn er ihm dumm kam.

Aber derjenige, der hier vor ihm stand, der war schon ein ganz anderes Kaliber. Es würde sich definitiv lohnen, den anderen Mann außer Fassung betrachten zu können. Und zwar ohne dass dieser ihm etwas antat dabei. Wie weit würde sich Aya vorwagen? Würde er ihn verletzen?

Durfte der Weiß das überhaupt? Bisher hatte er eher den Eindruck gewonnen, dass dies nicht der Fall war.
 

Nun völlig wütend über den herablassenden Spott des anderen Mannes ließ Aya die Glasflasche an der steinernen Wand neben Schuldigs Kopf zerschellen. Einige der umherfliegenden Glassplitter verletzten seine Haut oberflächlich, doch das war im Moment Nebensache. Hier galt es, den Deutschen endlich zum Schweigen zu bringen. Endlich Ruhe zu haben.
 

"Wenn du nett BITTE sagst, lasse ich mich vielleicht überreden, dir hiermit nicht das Gesicht zu entstellen", erwiderte Aya in trügerischer Ruhe und ließ den gezackten Stumpf der Flasche an der Wange des Telepathen ruhen. Fuhr schließlich leicht hinab. Er meinte es ernst...todernst. Mit ihm war nicht zu spaßen. Was nicht alleine durch seine Augen deutlich wurde, die abgrundtief böse schimmerten. Seine schmalen, starren Lippen. Seine verkrampfte, raubtierartige Haltung. Und ja, er würde den Telepathen zerfleischen, sollte dieser ihm noch einmal dumm kommen.
 

Schuldig erlaubte sich ein minimales Lächeln, bevor er sich näher in die Scherbe lehnte, den Blick in diese Augen, die ihn zerreißen wollten, bannend. Er spürte den Schnitt, wie er süß brennend in seine Haut fuhr, er hieß ihn willkommen, genoss den Anblick des leidenschaftlichen Mannes vor ihm, der seine gewohnte Kühle bei ihm nicht lange aufrecht erhalten hatte können.

"Bitte", hauchte Schuldig und öffnete dabei leicht den Mund. Es waren kleine Bewegungen, nicht groß genug um die Scherbe tiefer dringen zu lassen, doch tief genug um Blut hervorperlen zu lassen. Seine Lider senkten sich lasziv, bevor er erneut "Bitte", flüsterte und sich etwas räkelte.

Dieses Bitte, das er dem Anderen sagte, hatte nichts mit ihrer jetzigen Situation zu tun, das war nur zu deutlich. Schuldig bat hier um etwas ganz Anderes und der Rotschopf sollte das spüren - er ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Schmerz war nichts neues für ihn. Falls Brad ihn nicht befreite, wäre dies hier noch das Harmloseste, was ihm angedeihen würde - dessen war er sich sicher.
 

Aya verfolgte mit gierigem Blick das Blut, welches der Telepath nun selbst hervorbrachte. Nicht er, Schuldig. Er hielt nur das Werkzeug, auch wenn er es dem anderen Mann liebend gerne abgenommen hätte. Die grobschlächtigen Kanten in die weiße Haut des Schwarz zu treiben...aber nein. Soweit würde er sich nicht herablassen. Nicht, wenn sein Auftrag Ruhe war. Er sollte Schuldig nicht verletzen, sie wollten ihn lebend und funktionstüchtig.
 

"Du bist es nicht wert", erwiderte er daher schlicht, fand so plötzlich, wie die Wut gekommen war, wieder zu seiner Ruhe zurück. "Du bist es einfach nicht wert." Er ließ schon beinahe angeekelt den Flaschenhals fallen und trat zurück, die schmalen Brauen zusammengezogen. Nein...Schuldig war es nicht wert, auch nur irgendein Gefühl in ihm zu erzeugen, wenn selbst sein Team das oft nicht schaffte.
 

Die Worte hörten sich in seinen Ohren schon fast wie ein Mantra an.

"Was bin ich nicht wert? Einen Schluck Wasser zu bekommen?" Das Blut lief ihm warm die Wange hinab, kitzelte ihn leicht.

"Ich frage mich ernsthaft, warum du glaubst, ich wäre so eitel, Angst vor einem Kratzer in meinem Gesicht zu haben. Schließe nicht von dir auf andere, Weiß!" Wieder Spott in der Stimme, die noch immer rau war. Nur kurz war in diesen Augen, die vor Emotionen Funken sprühten, der Wunsch ihn zu töten aufgeflackert. Doch er erlosch und Schuldig hatte auf diese Selbstkontrolle des Anderen gebaut.

"Du kannst mich nicht töten, nicht wahr? Deine Chefs hätten etwas dagegen", schloss er bitter und lachte abfällig. "Wie dumm ihr doch seid. Ihr glaubt doch nicht tatsächlich, ich würde etwas ausplaudern."
 

Er? Er und eitel? Aya verspürte den überwältigenden Wunsch, den Anderen dafür zu würgen. Er hatte all seine Eitelkeit zurückgesteckt um für seine Schwester zu sorgen. Er hatte ihr sein Leben geopfert. Ihr alles gegeben, damit sie eines Tages wieder aufwachen würde. Und Schuldig sprach da von Eitelkeit?
 

Doch er würde dem Schwarz nicht Recht geben in dessen Bestreben, ihn aus der Reserve zu locken. Niemals. Diesen Kampf würde er gewinnen..."Es geht nicht ums Ausplaudern", lächelte er nach einigen, schweigenden Momenten leicht. "Das ist uns völlig egal...vermutlich werden sie sogar genau das als erstes zerstören..." Was für eine Genugtuung es wäre, den Schwarz so leiden zu sehen. Tief einatmend wandte er sich wieder seinem Untersatz zu. Lächelte abermals für einen Moment ruhig. Er mochte dieses Buch. Es war das dritte Mal, dass er es las.
 

"Der Codename ,grausame Schönheit' würde besser zu dir passen, Abyssinian", lächelte Schuldig müde. "Ich hätte ehrlich nicht gedacht, dass ihr zu solchen Mitteln greifen würdet. Erbärmlich." Allerdings war er dies ganz und gar nicht. Er war hellwach, hatte die Worte genau verstanden. Die Drohung, nein die Prophezeiung, ihm die Zunge herauszuschneiden.

Schuldig schwieg. Er verhielt sich ruhig und senkte die Lider. Seinen Kopf wandte er zur anderen Seite und sein Haar verdeckte etwas die Schnittwunde.
 

"Vielen Dank für das Kompliment", lächelte Aya ebenso freudlos, hob jedoch seinen Blick nicht. Ob er nun das 'grausame Schönheit' oder 'erbärmlich' meinte...Aya suchte es sich selbst aus. Natürlich war er erbärmlich, so wie er sich für eine Gruppe von Weltverbesserern prostituierte. Das war nichts neues...auch nicht aus dem Mund seines Feindes.

Er widmete sich in aller Ruhe wieder den Spalten, die nun nicht mehr vor seinem Auge tanzten...ganz im Gegenteil. Sie stützten ihn und ließen ihn in ihre Welt hinein, in der Schuldig ihm nicht zu nahe kommen konnte. Neben sich sein Katana, vor sich das Buch. Krieger und Poet, hatte Youji in einem Anflug von Galgenhumor gesagt und Aya hatte darüber gelacht. Wirklich herzlich. Er war weder das Eine noch das Andere.
 

Die Zeit verging und Schuldig hielt es immer noch mit Schweigen.

Etwas Neues spukte in seinem Kopf herum und er freute sich schon darauf. Aber das hatte noch Zeit, vielmehr hatte er Zeit.

Die Grenzen des Rothaarigen hatte er ausgelotet, das reichte ihm für eine Weile.

Durst war etwas Schreckliches, Rückenschmerzen und Nackensteife, genauso wie Kälte. Doch er schwieg, bemerkte lediglich die Gänsehaut auf seinem Bauch, doch er konnte sich vor der Kälte nicht schützen und eine Decke sah er auch nicht. Es war egal, er war schließlich der Gefangene des hochwürdigen Abyssinians, ätzte er bitter in Gedanken. Sie hatten ihre Gefangenen bisher immer anständiger behandelt - sie machten nämlich keine.

Über seine Gedanken driftete er schließlich in einen unangenehmen Halbschlaf, da die Kälte ihn nicht in den tieferen Schlaf entließ.
 

o~
 

Und noch einmal brauchte es seine guten drei Stunden, bis Aya wieder aufsah.

Es war ruhig gewesen in der Zeit, was vornehmlich daran lag, dass der Schwarz eingeschlafen war. Eine beachtliche Tatsache. Er hätte in Anwesenheit des Feindes nicht geschlafen. Aber anscheinend war sich Schuldig seiner wirklich sicher...

Aya seufzte unterdrückt und stand auf, ließ seine Wirbel einen nach dem anderen wieder zurück in die richtige Position gleiten. Dieser Stuhl WAR Folter, da hatte Schuldig schon Recht...doch wofür er bestraft werden musste, war Aya schleierhaft.
 

Lautlos verließ er nun das Zimmer und schloss es von außen ab, begab sich in die kleine, schnell gebaute sanitäre Einrichtung, die weder als Toilette noch als Dusche bezeichnet werden konnte. Auch er war so menschlich, dass er derartigen Bedürfnissen wie eines Klogangs unterordnen musste.

Nachsichtig wie er war, dachte Aya daran, eine neue Flasche Wasser mitzunehmen, als er in das Zimmer zurückkehrte.

Auch wenn er sich nicht gezwungen sah, den anderen Mann zuvorkommend zu behandeln, so war es doch notwendig, dass dieser ausreichend Flüssigkeit zu sich nahm. Das sah er alleine schon an den aufgesprungenen, rissigen Lippen.

Ohne sich dieses Mal mit dem Pappbecher aufzuhalten, nahm er vorsichtig den Kopf des Schwarz hoch und lehnte ihn gegen seine Hüfte, während er ihm vorsichtig die Flasche an die Lippen setzte.
 

"Trink."
 

Wie kam es, dass er immer die gleichen Worte benutzte, wenn es um diesen Befehl ging? Natürlich...rein pragmatisch war es das Ökonomischste, was sich ihm anbot. Was sollte ihm auch anderes einfallen, um den Schwarz aus seinem deliriumsähnlichen Schlaf aufzuwecken?
 

In seiner Müdigkeit, bemerkte Schuldig, wie sein Kopf angehoben wurde, ihn jemand stützte und "Trink" sagte. Ja, das brauchte er. Flüssigkeit. Automatisch öffnete er die Lippen, das kühle Nass ersehnend. Seine Haut spannte und die Feuchte brannte in den rissigen Lippen.
 

Aya war froh, dass ihm kein Widerstand geleistet wurde, als er vorsichtig, nach und nach das Wasser dem Stoffwechsel des Telepathen übergab. Lebenswichtige Flüssigkeit. Aya war erstaunt, wie schnell die Flasche leerer wurde. Wie gierig anscheinend der Körper des Schwarz danach verlangte. "Brauchst du noch etwas?", fragte er betont ruhig. Er würde sich nicht noch einmal dazu herablassen, sich provozieren zu lassen. Nicht noch einmal. Ein Schnitt genügte.
 

Das Nass rann ihm in den Mund und in gierigen Zügen trank er, was ihm angeboten wurde. Seltsamerweise war es anstrengend und kraftraubend in dieser Haltung zu trinken und doch tat sein Körper es automatisch. "Spürst du nicht...", sagte er leise, langsam erwachten in ihm die Lebensgeister wieder. Die Kühle des Wassers half dabei, "...wie kalt es hier ist?" Seine tauben Hände berührten den Rücken von Fujimiya, hielten sich während des Trinkens an ihm fest. Schlank, fiel ihm dazu ein. "Später...müsste ich auf die Toilette." Er atmete tief ein, hatte das Gefühl sein Magen würde sich gleich wieder entleeren von soviel Flüssigkeit.
 

Aya merkte sehr wohl, wie sich der andere Mann an ihn klammerte, als er trank. Das war...ungewöhnlich zu spüren, geschah es doch nicht oft. Die Einzige, die es bisher gewagt hatte, war Aya selbst.

Aber gut. Dies war wohl eine Ausnahmesituation. Der sich ebenso wie er selbst, auch Schuldig angepasst hatte. Aya erstaunte die Offenheit und Nachgiebigkeit des Telepathen, mit der dieser ihm ehrlich auf seine Frage antwortete.
 

Das verdiente, belohnt zu werden. Nachdem Aya die Flasche weit entfernt hinter sie beide abgesetzt hatte, fischte er einen kleinen Schlüssel aus seiner Hosentasche und löste nach und nach die Fesselung des Deutschen.

Bevor er sich nachher noch die Mühe machen musste, schaffte er ihn lieber jetzt in die Nasszelle. Auch wenn das sicherlich gewisse Risiken barg...dennoch.
 

"Steh auf." Innerlich lachte Aya. genau...Schuldig sah auch noch so aus, als könne er zwei Meter weit laufen. Ja...genau.
 

Schuldig verfolgte die Handlung mit sichtlichem Erstaunen und einem Stirnrunzeln. Irgendwie hatte er das nun ganz und gar nicht erwartet, dass ihm die Fesseln abgenommen wurden.

Etwas zu vertrauensselig, das Blumenkind, amüsierte sich der Feuerschopf in Gedanken, während er sich etwas bewegte, langsam um keinen Verdacht eines Fluchtversuches bei dem Anderen zu hegen. Seine Hand fuhr zu seinem Gesicht rieb sich kurz über die unversehrte Wange, nur um gleich danach die Handgelenke zu begutachten.

Seine Wirbel knackten unangenehm laut in seinen Ohren als er sich in die Sitzende begab und nach wenigen Momenten die langen Beine von der Liegestatt schwang. Sein Hintern tat bereits weh vom dauernden, ungewohnten Liegen.
 

Aya entfernte sich währenddessen von dem anderen Mann und griff sein Katana. Ganz so unbewaffnet wollte er dem Schwarz nun auch gegenüber treten, vor allen Dingen nicht dann, wenn ein solch kleiner und dummer Fehler zu Lasten seines ganzen Teams gehen würde. Besser penible Vorsicht, als nachher Stress und tödliche Probleme mit Kritiker.

Er tat einen Schritt zur Seite, beobachtete stumm und unbewegt, wie Schuldig eine Bestandsaufnahme seines Körpers machte. Auch wenn sich manches davon gar nicht gut anhörte...wirklich nicht gut.
 

Was nicht seine Sache war. Seine Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass Schuldig morgen unversehrt an Kritiker übergeben wurde. Mit einer leider Gottes geplatzten Blase durchaus schwierig...also musste er in den sauren Apfel beißen.
 

Schuldig stand mit Bedacht auf und schraubte sich in die Höhe, ja stehen ging ganz gut. Anfänglicher Schwindel verflüchtigte sich nach wenigen Sekunden und er sah auf die noch geschlossene Tür.

"Gibt's da ein Waschbecken?" , fragte er Fujimiya, der sich just mit seiner Klinge bewaffnete. Das Haar fiel ihm über die Schulter als er sich sein Schwert griff.

Warum hatte Schuldig früher nicht darauf geachtet wie attraktiv er war? Stirnrunzelnd und innerlich mit den Schultern zuckend strebte er die Tür an
 

Aya hielt es nicht für nötig, dem Telepathen zu antworten. Schließlich würde er noch früh genug sehen, dass er sogar duschen konnte, um den Gestank loszuwerden, was Aya in diesem Moment doch sehr begrüßte. Stirnrunzelnd rümpfte er die Nase und schnaubte leise, ließ Schuldig vorgehen und folgte ihm mit wachsam bereiten Schwert.
 

Auch wenn er es nicht zugeben würde...die erhöhte Gefahr puschte sein Adrenalin in ein Maß, das ihn innerlich lächeln ließ. Wenn sie kämpften, fühlte er das Gleiche...das Risiko, die schwierige Balance, immer das Richtige zu tun oder Falsches auszugleichen. Ein kleiner Hype, wie er schon lange zugegeben hatte. Er brauchte die Gefahr...nicht alleine dazu, um sich lebendig zu fühlen.
 

"Nach links." Eine Warnung, eben diesem Befehl nicht zu gehorchen.
 

Schuldig verhielt kurz, bemerkte nach einem Blick in das Gesicht des Anderen, dass er leicht angewidert die Nase kraus zog.

"Gib nicht mir die Schuld daran, dass du mich nicht riechen kannst, Weiß." Er öffnete die Tür und trat hindurch, wandte sich nach links.

"Ihr habt mich entführt und ich weiß selbst, dass ich nicht nach Blumen rieche. Aber das würdest du auch nicht, an meiner Stelle." Wieder ein Lächeln, das seine Worte begleitete. Ein verächtliches und seine Augen bohrten sich einen Moment, in dem er sich bedächtig umgewandt hatte, in die violetten Iriden, die sein Tun verfolgten.
 

Er hätte dem Weiß Killer gerne gezeigt, wie sehr es ihn anzog, dass dieser sich vor seinem Körpergeruch abgestoßen fühlte. Gerne würde er ihn auch fühlen lassen wie sich Schmutz anfühlte, wie er roch. Aber die Schärfe der Klinge blitzte im Dämmerlicht des Ganges und er verzichtete darauf, ihr und demjenigen der sie führte, näher zu kommen. "Ich dachte, du wolltest mich nicht töten?", er lachte spöttisch, jedoch leise und wandte sich wieder dem Weg zu. Kopfschüttelnd und irgendwie amüsiert - er wusste nur nicht was ihn genau an dieser Situation belustigte - schmunzelte er vor sich hin, seinen Bewacher im Rücken wissend.
 

"Vielleicht...vielleicht auch nicht. Das überlege ich mir dann noch", erwiderte Aya mit einem abwesenden Lächeln. Er würde sich von Schuldig nicht mehr provozieren lassen. In keinster Weise.

Er führte den Deutschen bis hin zur Nasszelle und öffnete die Tür, stellte einen Fuß davor, damit sie aufgrund der minimalen Schräglage der Halle nicht wieder zuglitt. Nickte in Richtung des fensterlosen, beengend kleinen Raumes.
 

"Handtücher sind drin, Duschgel auch. Und die Tür bleibt auf", merkte er einsilbig an. Warum unnötig viele Worte für etwas verschwenden, das alltäglich war...nun. Wenigstens würde er dann nicht mehr in solch einer belästigenden Weise mit dem säuerlichen, abstoßen Geruch des Telepathen konfrontiert. Hatten sie in diesem...Etablissement gar nichts getan? Wie widerlich. War das Personal dort schon so abgestumpft?
 

Schuldig stand in dem fensterlosen, kleinen Raum, sah die schimmligen Fugenränder, die feuchten Wände und das gitterbewehrte Abzugsloch, welches eindeutig eine Säuberung vertragen hätte. Hier lebte für gewöhnlich niemand. Es wurde scheinbar nur gelegentlich genutzt.

`Na lecker`, kommentierte er innerlich, machte sich aber daran sich erst zu erleichtern, bevor er das Duschgel suchte und sich seines Oberteils entledigte.

"Muss ich das Teil wieder überziehen?", fragte er mehr zum Boden, als zu dem Mann, der in der Tür stand.
 

Mit unbewegt stoischer Miene ließ Aya seinen Blick in die Ferne schweifen. Er verspürte keine Lust, dem Anderen bei seinen Tätigkeiten zu beobachten, auch wenn es die Aufmerksamkeit verlangte, dass er anwesend war und dem Deutschen keine Privatsphäre ließ. Was ihn innerlich schaudern ließ. Er hätte diese Situation gehasst...
 

Angesichts der Frage Schuldigs, ließ er seine Augen nun doch wieder auf der halbnackten Form des Schwarz ruhen. "Wenn du nicht nackt herumlaufen willst, ja", erwiderte er desinteressiert, zuckte mit den Schultern. "Ich habe nichts anderes, was du anziehen könntest."

Na wo war das denn hergekommen? Aya wusste es nicht und war für einen Moment ehrlich verwirrt. Die erste Antwort hätte auch gereicht...warum also noch der Nachschub? Gnade...einfach Gnade. Er hätte auch nicht gewollt, so abgespeist zu werden.
 

Schuldig lachte kurz spöttisch auf. "Dann wasche ich mich jetzt und schlüpfe dann in dieses nach `Blumen' duftende Oberteil. Ich frage mich, wozu ich mich dann wasche?" Kopfschüttelnd warf er Aya das Oberteil zu, weil er keine Ablage sah und auf den Boden würde er es nicht legen. Er war nicht penibel, aber gewisse hygienische Bedingungen fand er schon angenehm. Und Schuldig ahnte, dass sein Verhalten, sein Spott den Anführer von Weiß ärgerte.

Es war ihm klar, dass er als Gefangener im Prinzip keinen Luxus erwarten durfte, aber sich zu beschweren war ihm nicht verboten- und das würde er sich erst durch Gewalt verbieten lassen. Und selbst da musste schon viel passieren...

Er nestelte an den Knöpfen der weiten Stoffhose, schlüpfte aus ihr heraus und warf sie ebenso in Ayas Richtung. Ob sie von Fujimiya aufgefangen wurde, war ihm gleich. Sie stank ohnehin, ob die Kleidung nun den Boden küsste oder nicht, was machte das schon?
 

Zuerst war Aya versucht gewesen, der auf ihn zufliegenden Kleidung mit einem angeekelten Laut auszuweichen. Schuldig hatte Recht...es war unsinnig. Er würde immer noch stinken. Ein reflexartiges Grollen antwortete ihm, als nun auch die Hose ihren Weg in seine Richtung fand und Schuldigs nackter Arsch vor seiner Nase auf und ab tanzte. Eine wirklich köstliche Aussicht, schoss es ihm zynisch durch den Kopf, auch wenn er sich im nächsten Moment wünschte, gerade das eben nicht gedacht zu haben, da er nun einen wunderbaren Blick auf das Profil des Schwarz werfen konnte.
 

Mehr als er je hatte sehen wollen. Viel mehr. Aya rollte genervt mit den Augen. Wenigstens war Schuldigs Hintern nicht so rot wie seine Haare... "Mach endlich", herrschte er den deutschen Mann an, missbrauchte das mehr als Ablenkung für sich.
 

Der Befehl klang ein wenig, als wäre Aya ungehalten und Schuldig lächelte ihn süffisant an. "Weshalb der Stress? Gefällt dir nicht was du siehst?" Er wartete nicht auf eine Antwort, trat in die Dusche und griff sich das Duschgel. Billigmarke stellte er wenig überrascht fest.

Während er das Wasser aufdrehte und die Temperatur regulierte, ließ er sich das angenehme Nass über den Körper laufen. Lehnte sich mit den Händen an der Wand an und ließ sich das Wasser über den Kopf und die Haare rinnen. Das tat gut, verdammt gut.

Er vergaß für Momente Aya, widmete sich seinem Körper. Die verspannten Muskeln erfuhren eine Linderung durch das von ihm eingestellte warme Wasser, welches zwar noch nicht heiß war, aber dem schon nahe kam. Er streckte den Rücken leicht durch, legte den Kopf in den Nacken, lockerte die Muskeln.
 

Ayas Blick wiederum schweifte gedankenschwer ab. Er wollte nicht sehen, wie der andere Mann duschte. Er wollte seine Ruhe. Vor allen Dingen vor seinen grausigen Haaren, die er mit einer unwirschen Bewegung auf den Rücken schleuderte.

Wie gut, dass er daran gedacht hatte, sie zu flechten. Wie gut, dass sie so schwer waren, dass sich die Strähnen eine nach der anderen widerborstig aus dem Haargummi lösten.
 

Was ihn momentan jedoch mehr anwiderte als seine Mähne, waren die verschwitzten und schmutzigen Kleider in seiner Hand. Warum er auch für einen minimalen Augenblick mit dem Gedanken spielte, sich ganz einfach zu weigern, sie wieder herauszugeben. Doch das würde bedeuten, dass Schuldig die nächsten Stunden über nackt bleiben müsste und was das implizierte, konnte er sich gut und gerne vorstellen.
 

Es war nicht so, dass Aya prüde war...nein. Verständlicherweise war ihm die männliche Anatomie nicht fremd und das nicht nur aus einem Grund. Aber es gab Grenzen im Kampf Schwarz gegen Weiß und dies war eine, die er nicht hatte überschreiten wollen. Und, zur Hölle, es gefiel ihm nicht!
 

Das Duschgel genießend mit dem Wasser auf seinem Körper verteilend, ließ Schuldig die Stelle an seiner Wange aus, die verletzt war. Es genügte schon, dass Wasser hinein gelaufen war. Er konnte nur hoffen, dass sich die Wunde nicht entzündete, durch Keime im Wasser. Dann würde wohl wie von Aya gewünscht, tatsächlich eine hässliche Narbe zurückbleiben.

Hässliche Dinge mochte der Rotschopf wie es schien nicht. Doch Schuldig vertrieb diese Gedanken, verteilte das Duschgel auf seinem Körper, vor allem den Duftzonen, wusch sich den alten Schweiß vom Körper.
 

Ihm war es egal, dass Aya dort stand und ihm zusah, oder es sein ließ. Er hatte solche Situationen schon öfter erlebt, musste sich in weit unangenehmerer Gesellschaft ausziehen. Ein weiterer Griff zum Duschgel förderte eine erneute Portion des klaren Gels auf seine Handfläche die er sich auf seinem Haar verteilte. Es war kein Haarwaschmittel, aber es würde säubern, das reichte.

Die offenen Hautstellen brannten, als die Waschsubstanz hineinlief, doch er ignorierte es, versuchte sich so gut es ging zu säubern.
 

Aya schnupperte unbewusst, als sich der Duft des Duschgels ausbreitete. Nicht so gut wie sein eigenes....aber zweckmäßig.

Er lehnte sich leicht an die Tür, ließ seinen Blick zum kleinen Luftschacht gleiten. Überall hin, nur nicht auf Schuldigs Gestalt. Er hoffte, dass der andere Mann bald fertig wurde, verspürte er doch keine Lust, noch weiter hier herum zu stehen. Aber gut...er hatte schließlich noch die ganze Nacht Zeit, um zu warten. Die ganze...bevor dann am nächsten Morgen die Ablöse kam. Und das nur, weil der Rest seines Teams noch mit einer anderen Aufgabe betreut war, die sie davon abhielten, ihm hier Gesellschaft zu leisten.

Ungeduldig tappte er mit dem Fuß auf den steinernen Boden, warf dabei einen Blick auf sein leicht gesenktes Katana. Geschliffen und poliert...eine tödliche Waffe in seinen Händen.
 

Unterdessen stellte Schuldig das Wasser ab, hätte es aber gerne noch etwas länger genossen. Der verspannte Nacken und Schulterbereich hatte ihm die kleine Massage gedankt. Er trat aus der Dusche, griff sich ein Handtuch und trocknete sich ab. Seine langen Haare wickelte er in ein kleineres Handtuch ein und mit einem unwilligen Geräusch registrierte er die kurzen Bartstoppeln. Nicht mal ein, zwei Tage und schon sprießte das Kraut wieder. Lästig.
 

Während er seine Haare leicht abtrocknete, sie mit den Fingern kurz durchkämmte, stand er ungeniert da, blickte Aya mit dem üblichen spöttischen Grinsen an. Im Innern jedoch fand er den Anblick des Mannes, der überall nur nicht zu ihm in seiner Nacktheit sah, belustigend. Fujimiya wirkte dadurch menschlich, weniger abgehoben. Als würde er sich mit Dreck wie Schuldig nicht abgeben können, so hatte er bisher auf ihn gewirkt. Zu fein, um etwas wie ihn länger als nötig zu ertragen. Schuldig machte solches Denken rasend. Wie er sie verabscheute, diejenigen die sich als etwas Besseres sahen. Und das tat der Mann vor ihm, sein Blick verriet es, alles verriet es. Und Schuldig war geneigt, es ihm austreiben zu wollen.

Er wickelte sich das Tuch um die Hüfte und trat dann zu Aya.
 

Eben dieser wich darauf unwillkürlich einen Schritt zurück, war der Deutsche doch in einen Radius getreten, der in Ayas Augen durchaus gefährlich nah war. Auch wenn der rothaarige Weiß durchaus erleichtert war, dass er nun nicht mehr mit einem Telepathen wie Gott oder wer auch immer ihn geschaffen hatte, konfrontiert war.
 

Schweigend warf er ihm die im Gegensatz zu Schuldig nun stinkenden Kleidungsstücke wieder zu, überließ es dem Schwarz, sie sich anzuziehen oder gleich so mitzukommen.

Was sein nächstes Problem darstellte. Aber er musste sich selbst ja in diese pikante und allzu gefährliche Situation bringen, indem er Schuldig frei und ohne Fesseln herumlaufen ließ.
 

Die Frage, wie er ihn nun wieder fixierte, ohne dass dieser die Chance nutzte um zu fliehen, schwebte schwer in seinen Gedanken, als er nun einen weiteren Schritt zurücktat und besagtem Mann Raum gab, an ihm vorbei zu treten.
 

Mit wenig Elan fing Schuldig die Klamotten auf und lächelte kühl.

Da er noch immer keine Schuhe hatte tapste er barfüßig an Aya vorbei, sich seiner halbbedeckten Blöße wohl bewusst und die Auswirkungen dieser auf den Mann mit der gefährlichen Klinge. Mit einer schwungvollen Geste beförderte er seine Haare nach hinten auf seinen Rücken, spritzte dabei Aya etwas Wasser entgegen und tat so als habe er es nicht bemerkt. Es machte ihm aber sichtlich Spaß, musste er zugeben.

Er wollte so lange wie möglich ohne diese Kleidung zubringen müssen, er würde sie erst wieder anziehen, wenn er im Zimmer war.
 

Aya schnaubte innerlich, als er mit wenig Erfolg versuchte, dem nun mehr eiskalten Wasser aus Schuldigs Haaren auszuweichen. Weniger aus Ekel denn aus Reflex zischte er missbilligend und folgte dem Schwarz bis hinein in den anderen Raum. Konnte der Telepath sich nicht endlich wieder anziehen? Nein...das konnte er nicht, sah er sich wahrscheinlich nicht dazu veranlasst, eben NUR, um ihn zu provozieren.
 

Doch was erwartete er auch anderes?
 

"Zieh dich an." So. Da hatte er es ausgesprochen. Unnötigerweise, wie er selbst befand. Er würde sich so etwas nicht sagen lassen. Er würde es allerdings auch nicht für nötig erachten, seinen Feind zu provozieren. Nun...vielleicht.
 

Schuldig lächelte und drehte sich erst von dem anderen weg, hatte immer noch das Handtuch für seine Haare in der Hand, die weiten Kleidungsstücke und bald das Badetuch, wie ihm gerade auffiel. Sehr viel Stoff, wenn man es genau bedachte. Wenn er es geschickt anstellte....
 

Er drehte sich etwas seitlich tat so als müsse er sich noch einmal abtrocknen und fasste die Tücher und Stoffe möglichst großflächig. Ohne viel Aufhebens wandte er sich dann Aya zu, täuschte vor, die Kleidungsstücke auf dem Bett abzulegen und zog sich das große Badetuch von den Hüften. Er verließ sich darauf, dass der Andere wie zuvor schon den Blick gerade in dem Moment woanders hinwenden würde...

Noch während er dies tat, warf er das durch Wasser etwas schwerer gewordene Tuch auf das Schwert zu, schickte die restlichen Tücher in Richtung Ayas Gesicht hinterher und sich selbst noch dazu. Es geschah so schnell, dass er selbst keine Zeit für weitere Überlegungen hatte.

An Flucht dachte er nicht, dazu hatte diese kleine Einlage nicht gereicht, er würde nicht weit kommen. Aber er hatte Aya an die Wand gepinnt.
 

o~
 


 

Fortsetzung folgt...

Danke fürs Mitlesen.

Coco & Gadreel

Pakt mit dem Teufel

~ Pakt mit dem Teufel ~
 


 

Aya hatte keine Zeit gehabt, sich über das erste Tuch zu wundern, das auf seinem Katana gelandet war, als ihm auch schon seine Sicht genommen wurde. Kostbare Sicht, wie sich nun herausstellte, nachdem einen Moment später Schuldig eben diese Schwäche ausnutzte und ihn festsetzte...ohne Aya eine Chance zu lassen, sich zu wehren.

Das Schwert schmerzhaft bewegungslos an seine Seite gepresst, sein Körper durch den anderen, nackten, warm-feuchten des Telepathen an die Wand gedrückt, musste er hilflos mitansehen, wie die verräterischen Tücher sich schließlich um seinen Hals betteten. Ein schweres, nasses Gewicht, das einige seiner langen Haarsträhnen mit sich gezogen hatte, die ihm nun hinderlich kitzelnd im Gesicht hingen.
 

Unwichtig, im Gegensatz zu dem, was er nun herausgefordert hatte. Durch seine eigene Dummheit hatte er sich in diese Lage manövriert. Hatte zugelassen, dass er den Auftrag gefährdete, obwohl er vorher genau gewusst hatte, wo die Risiken lagen. Aber nein...er und sein verdammtes Adrenalin, das nun weniger puschend als schmerzhaft beengend in seinen Ohren pochte, während er Schuldig wütend anfunkelte. Wer hier die Kontrolle hatte, wusste er. Dazu hätte er sich jetzt nicht auch noch aufbäumen müssen, in einem nutzlosen Versuch, seinem Häscher zu entkommen.
 

Schuldigs Atem floh etwas schneller von seinen Lippen, als er versuchte, den Mann weiter fest in seinem Griff zu halten. Seine Muskeln angespannt, hart und ohne die Tendenz einer Schwankung in der Entscheidung.

Er hatte Fujimiya, das konnte er selbst in dessen Augen ablesen. Selbst das demonstrative Aufbäumen, lediglich eine Formsache. Sein Körper war massiger, doch er wusste auch um die Stärke von Aya.

Er duldete keinen Spielraum und so presste er den anderen mit seinem Körper an die Wand. Das kurze Aufpeitschen seiner Hormone die noch immer durch den Schnellstart durch seinen Körper rasten zeigte sich in dem bösartigen Glitzern in dem Grün seiner Augen und in dem feinen Lächeln, das er sich nun gönnte. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von Fujimiya entfernt. Er konnte dessen Geruch wahrnehmen.

"Dumm gelaufen, was?", raunte er dunkel und roch an der verführerischen Haut unterhalb der Schläfe. Er berührte ihn nicht, doch er war nah, sehr nah.
 

Ja...dumm gelaufen. Schuldig sagte es. Aya unterdrückte mit aller Gewalt seine immense Wut auf sich selbst und seine Dummheit. Er wünschte sich den Telepathen weit weit von sich, war ihm doch dessen Nähe in diesem Moment zuwider wie nichts, auch wenn er in gewisser Weise dankbar war, dass dieser wenigstens vorher geduscht hatte.
 

Dass aber nun dessen Atem über seine Haut... sein Gesicht strich... ihn in besonderer Weise bedrohte, ließ Ayas Herz schneller schlagen. Vor Wut, ja. Vor Wissen, dass er versagt hatte. Vor Wissen, dass Schuldig ihm genau das verdeutlichen würde.

Alleine schon der Ton des Deutschen verhieß nichts Gutes...
 

"Du kommst hier nicht raus. Es hat keinen Sinn zu fliehen."

Das war das Einzige, was ihm dazu einfiel? Aya schlug innerlich die Hände über dem Kopf zusammen. Und dabei war es noch eine so große Lüge....
 

Schuldigs Oberschenkel rutschte in den Schritt des Anderen, schleichend aber er erreichte sein vorbestimmtes Ziel. Dort verhielt er und lächelte wieder etwas, als er den schnellen Puls unter seinen Händen fühlte. In jeder Faser dieses Körpers konnte er das schnell schlagende aufgescheuchte Herz spüren.

"Hmmm", raunte er kehlig

"Wer sagte denn etwas von `fliehen`?"

Sacht stellte er den Hautkontakt her, den diese köstliche Haut geradezu herausforderte und strich zart mit seinen Lippen darüber. Feine Härchen spürte er, eine Reizung lediglich, mehr nicht.

Ein Spiel. Ja...ein Spiel, wie er es gerne spielte.
 

Hatte Ayas Herz bis gerade eben noch rasend schnell geschlagen, so schien es nun, als würde es für ein paar Takte aussetzen. Einbildung nur, und dennoch ließ es Aya schmerzhaft nach Luft schnappen. Besonders, als der Oberschenkel des Deutschen....

Das hatte er nun von seiner Unvorsichtigkeit! Die Strafe folgte nun und Schuldig ließ keinen Zweifel daran, wieviel Spaß es ihm machte. Dennoch...in Panik auszubrechen nutzte ihm gar nichts...wenn er aus dieser Situation entkommen wollte, musste er ruhig bleiben.
 

Mühsam sich selbst dazu zwingend, entspannte er seine Haltung, wehrte sich nicht gegen den ungefragten Kontakt, auch wenn ihm übel davon war. Er konnte sich nachher übergeben... das musste nicht jetzt sein. Er konnte sie ignorieren, die Lippen, die seine Schläfe hinab fuhren, in falscher, ätzender Leichtigkeit. Nichts Liebevolles. Niemals.
 

"So...was dann?", erwiderte er schließlich ohne jegliche Regung in der Stimme. Keine Wut, keinen Hass, keine Angst. Nichts außer Mut. Nichts außer Ruhe.

Obwohl seine Strähnen ihn zunehmend quälender kitzelten, ihm die ausdruckslose Mimik zunichte zu machen drohten.
 

Er hörte die Worte und schloss für einen Moment des Genusses die Augen. Wie sehr diese Haare dufteten. Nicht nach künstlichen Stoffen, sondern nach dem Mann, den er gerade in seinen Händen hatte. Der sich in seinen Fäden verfangen hatte, wie die Fliege in einem Spinnennetz. Und dieses Mal hatte er nicht einmal seine Fähigkeiten im Einsatz.

Mit seinen Lippen streifte er durch die federnen Strähnen bis zur grazilen Ohrmuschel und noch während er den nächsten Satz sagte, erhöhte er leicht den Druck seines Oberschenkels, ohne womöglich eine Überreizung zu verursachen.
 

"Sag du es mir..., sag mir was ich als Gegenleistung bekomme, wenn ich dich freilasse, sag mir...was könnte ich mir im Moment wünschen?", flüsterte er und lachte dunkel und amüsiert. Er konnte sich schon denken, dass die Antwort für ihn kaum zufriedenstellend ausfallen würde, aber es war dennoch befriedigend mit anzusehen, wie viele unterschiedliche Gefühle plötzlich in dem Gesicht - und vor allem in den Augen - abzulesen waren. Konzentration, Beherrschung, Widerwillen, Entsetzen...
 

Aya stieß langsam, beinahe seufzend Luft aus, auch wenn sein Körper ihm wieder und wieder Impulse der widerwilligen Übelkeit schickte. Er verabscheute Nähe, was noch gesteigert wurde durch die Tatsache, dass dieser Mann vor ihm sein Feind war. Er verabscheute nicht von ihm initiierte, sexuelle Nähe, so wie sie ihm der Telepath momentan aufzwang.
 

Was er bereit war zu geben, dass dieser von ihm abließ?

Nichts. Nichts war ihm das wert. Er würde sich nicht erpressen lassen.

Schon gar nicht, wenn der dunkle Ton des Deutschen seinen Hörnerv verätzte. Für Schuldig war das alles nur ein Spiel. Er scherte sich um nichts. Nicht um Gedanken und Gefühle anderer. Er würde ihm nichts geben.

Nicht einmal die Befriedigung, ihn schwach zu sehen.
 

Ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, erwiderte er den Blick des Schwarz mit verinnerlichter Ruhe. Keine Regung in seinem Gesicht. Nur Ruhe. Nichts, was den anderen Mann auch nur in Ansätzen befriedigen würde. Auch wenn diese verdammten Strähnen immer noch kitzelten!
 

Aya drehte ihm das Gesicht zu, mit einer stoischen Bewegung, für die Schuldig insgeheim Bewunderung dem Mann entgegenbrachte. Stolz in der Gefangenschaft seiner Arme und nicht im Mindesten von ihm beeindruckt. Weder von seiner Überlegenheit noch von seinen Worten.

Doch der Puls verriet den Rothaarigen, denn Schuldig sah das Pochen an der Ader, sah die schnellen Schläge, auch wenn ihm etwas anderes präsentiert zu werden glaubte. Das Violett der Iriden spiegelte jedoch diese innere Seite, diese hormongesteuerte Seite nicht wider, sondern lediglich einen ruhigen Geist. Faszinierend, beschloss Schuldig.

Hauchfeine Strähnen strichen über das Gesicht, lagen so sanft auf der Haut, dass sie nur hin und wieder störten.
 

Schuldig drehte den Kopf leicht und vor allen Dingen ruhig, streifte mit seinen Lippen, die noch immer ihre raue Oberfläche besaßen, über die Stirn des Anderen, wischten die lästigen Strähnen etwas beiseite. Eine flüchtige Geste, kaum getan, schon wieder vergessen, sah er wieder in die violetten Augen, bannte diesen Blick. "Ich wüsste da etwas...", sagte er und der Schalk blitzte in seinen Augen.
 

Für Schuldig vergessen, brannte sich diese Geste doch mannigfaltig in Ayas Gedanken. Dankbarkeit, dass ihn die Strähnen nicht mehr kitzelten. Ekel, dass es Schuldigs raue, ihn verspottende Lippen waren, die das taten. Ruhe, die sich nach und nach wirklich auf seinen gesamten Körper ausdehnte. Es brachte nichts mehr, sich darüber aufzuregen. Zu versuchen, von Schuldig wegzukommen.
 

Nach und nach beruhigte sich sein Puls, als er sich Zeit ließ, dem anderen Mann auf seine Frage zu antworten. Sich Zeit ließ, den Hass zu verdrängen, der minimal in ihm loderte. Der größer werden würde, unternähme er nichts dagegen. Doch Hass brachte ihn nirgendwo hin... er behinderte nur.
 

"Und was?", fragte er in blau-grüne Augen, die mehr und mehr Spaß daran fanden, ihn zu quälen. Und genau das war, was Weiß besser als Schwarz machte. Sie quälten nicht... sie achteten das Leben. Er hätte keinen Spaß daran empfunden, diesem Mann so etwas aufzuzwingen.
 

Nur für wenige Augenblicke war Schuldig versucht seinen Entschluss zu ändern. Der Körper, den er gefesselt an sich hielt, fühlte sich gut an, die angespannten Muskeln die ihm Widerstand geleistet hatten und nun zur Ruhe gekommen waren.

Für einen Moment brandete in ihm etwas anderes auf. Gier und Lust auf diesen Mann, auf diesen Körper. Aber er wollte die Augen, den Blick in diesen Geist erringen, nicht nur den Körper. Und mehr würde er durch Gewalt nicht bekommen.
 

"Ein Geschäft", sagte er stattdessen, kam wieder zu seiner eigentlichen Idee zurück. Einer spontanen Eingabe, die nichts mit ihrer Feindschaft zu tun hatte. Es war eher etwas, das in Schuldigs Natur lag. Er wollte Spaß, er wollte Fujimiya necken, mehr konnte er jetzt nicht tun. Nein - mehr wollte er nicht tun.

Noch bevor ein Einwand erhoben werden konnte fuhr Schuldig fort: "Für mich die Ketten und für dich ein Versprechen, bei deiner Ehre", sagte er und Herausforderung lag in seinem Blick.
 

Aya hatte die Gier gesehen. Er hatte sie in den Augen des Schwarz lesen können, sodass er nun mehr als misstrauisch dessen Worte zur Kenntnis nahm. Er wusste, worum es dem Deutschen ging, hatte dieser doch nur allzu deutlich gemacht, was er von ihm wollte.

Aber er war neugierig zu erfahren, was der gegnerische Mann wollte.
 

"Was für ein Versprechen?" Nachher konnte er immer noch nein sagen. Oder sie standen die ganze Nacht so. Aya erschauerte innerlich.

Er wollte sie loswerden, diese Nähe, diesen Geruch des Duschgels. Die Berührungen falscher Zärtlichkeit, die alles andere als ungefährlich waren. Den Atem, der über seine Haut strich und ihn schier überwältigte mit seiner Nähe. Es war zuviel für ihn... viel zu viel dafür, dass noch nicht einmal sein Team den Großteil ihrer Zeit ihm so nahe kamen.

Bei seiner Ehre...dass er nicht lachte. Egal was es für ein Versprechen war, er war sich durchaus bewusst, dass Schuldig sich an seinen Teil dessen nicht halten würde, ganz der Schwarz, der er doch war.
 

Misstrauen wog in den lauernden Worten mit. Schuldigs Vorfreude wuchs; was würde er in diesen Augen lesen können, hätte er die Gelegenheit, etwas Anderes außer dem Widerwillen, der Wut oder gar dem Misstrauen zu sehen? Das Kind in ihm wollte es herausfordern. Hatte es doch sonst kaum Gelegenheit harmlose Spiele zu spielen...

"Es betrifft weder Schwarz, noch Weiß", sagte er betont langsam, "noch uns beide in diesem Raum. Willige ein, es in Erwägung zu ziehen", forderte er und sah Aya auffordernd an. Dieser würde ins Blaue einwilligen, etwas versprechen, wovon er nicht wusste was es war.

Das würde Schuldig ihm schon noch sagen, jedoch erst wenn er sicher war, dass Aya nicht verneinte, sich das Angebot anzuhören.

Während er Aya Zeit einräumte, wischte er erneut eine der dunkelroten Strähne weg, die ihrem Besitzer gleich die Sicht nehmen würden.
 

Nun entzog sich Aya doch den Lippen des größeren Mannes, unwillig, diese Geste noch weiter billigen. Auch wenn er nicht genug Raum hatte, sich Schuldig völlig zu entziehen, hielt dieser ihn in immer noch eisernen Griff gefangen. Er sollte einwilligen, sich den Vorschlag anzuhören? Aya war versucht, nein zu sagen. Sich gegen Schuldig zu wehren und mit Gewalt zu versuchen, den Telepathen wieder in Ketten zu legen.
 

"Ich werde es mir anhören", antwortete er schließlich ruhig und ließ seinen Blick zurückstreifen. Auch wenn er nicht wusste, was er hier tat. Das war Irrsinn, darauf durfte er sich nicht einlassen. Schuldig legte es doch genau darauf an...ihn zu schwächen. Um frei zu kommen. Was er ihm nicht verdenken konnte.

Aber die Mittel, mit denen er es erreichen wollte...nein. Doch Aya blieb still, wartete auf den immer noch im dunkel liegenden Vorschlag.
 

"Ich werde mich wieder in Ketten legen lassen, wenn du mir versprichst dir deine Haare nicht zu schneiden, oder sie schneiden zu lassen. Ich will diese Aufgabe übernehmen, sofern ich es wünsche." Schuldig sog noch einmal den Duft des Corpus delitcti ein, wartete auf die Reaktion.

"Falls ich überlebe natürlich. Wenn nicht, dann erlischt das Versprechen und du bist davon befreit." Er lachte kurz trocken auf. "Grund genug um mir den Tod zu wünschen, nicht?"
 

Oh ja. Den Tod und noch viel mehr. Doch das sagte Aya nicht.

"Meine...Haare?", hakte er beinahe schon ungläubig nach. "Ich dachte, sie seien verschwendet an mir." Das hatte der Schwarz gesagt und nichts Anderes.

Oder wollte er eben diese letzte Eitelkeit auch tilgen... als Beweis zum Sieg über Weiß? Über ihn selbst? War es für Schuldig eine Trophäe, ihm die Haare zu schneiden?
 

Für Aya war es das nicht. Es war ihm egal, was mit diesen Zotteln passierte, Hauptsache, sie kamen ab. "Du weißt nicht, wogegen du das eintauschst", fuhr er schließlich fort, musste unwillkürlich daran denken, was Kritiker wahrscheinlich mit dem Telepathen geplant hatten. Aber wenn der Schwarz bereit war, diesen Handel einzugehen, so würde er zustimmen. So konnte er wenigstens dieser Nähe entkommen...
 

Schuldig ging nicht auf den zweiten Satz ein, lächelte nur und freute sich diebisch. "Ja deine Haare. Nichts weiter. Falls ich es wünsche, dann obliegt es mir sie zu schneiden, ansonsten rührt sie keiner an. Der Handel erlischt, sobald ich sterbe oder ich die Vereinbarung löse. Bei deiner Ehre. Wenn du zustimmst, ziehe ich mir die Kleidung an und dir steht es frei mich zu fesseln."
 

Für Schuldig war klar, dass es Vertrauen kostete sich die Haare von einem Feind schneiden zu lassen. Wie leicht konnte da der Dolch ausrutschen...

Er machte sich momentan keine großen Gedanken, dass er es nicht überlebte, wer wusste schon, was morgen war. Die Dinge veränderten sich in ihren Gefilden in jeder Minute.
 

Auch Aya wurde nun bewusst, was Schuldig damit implizierte. Schneiden. Mit einem spitzen Gegenstand. Seine Augenbraue hob sich fragend, als er mit einem ruhigen Zug um die Mundwinkel herum erwiderte: "Ich stimme unter der Bedingung zu, dass dir ebenso eine Auflage obliegt. Dass du mich nicht eher mit dem Dolch töten wirst, bis meine Schwester tot ist. Und wenn sie nicht stirbt, begnügst du dich damit, die Haare zu schneiden."
 

Das war sein Teil des Handels, vertraute er Schuldig doch nicht im Geringsten. Irgendeinen Grund musste es ja haben, dass dieser so besessen war, die Haare zu schneiden. Wenn er überhaupt dazu käme...wenn...was Aya in diesem Moment bezweifelte.
 

Schuldig hörte diese so gleichgültig ausgesprochenen Worte und seine innerliche Freude wurde davon getrübt, dass der Rotschopf tatsächlich nichts Anderes im Kopf hatte, als sich nach dem Tod seiner Schwester bereitwillig in seine Klinge zu stürzen. "Gut, ich werde dich nicht mit dem Dolch töten, solange deine Schwester lebt und wenn sie lebt, begnüge ich mich mit deinen Haaren", er wiederholte den Wortlaut, denn den würde er sich genauestens merken.

"Ich gehe auf den Handel ein. Ich verspreche es bei meiner Ehre", sagte er und wartete auf das Versprechen des Anderen.

Das Wort `Ehre´ kam ihm mit einem belustigten Grinsen über die Lippen, sodass Fujimiya fast gezwungen sein musste diese anzuzweifeln, aber er würde sein Versprechen halten. Es war ein Spiel. Er war kein Spielverderber... ganz gewiss nicht. Es war ja auch sein Spiel!
 

Aya wusste, warum Schuldig lachte. Dennoch verunsicherte es ihn. Auch wenn er einwilligte. Gab mit einem wortlosen Nicken sein Einverständnis. Ja... er würde den Handel akzeptieren... bei seiner Ehre. Innerlich lächelte er. Bei seiner Ehre als Mörder.

Sein Kopf lehnte schwer gegen die steinerne Wand. Also wurde es wohl nichts mit dem übermorgigen Frisörtermin. Oder vielleicht doch. Aber er würde warten. Bis er die Nachricht bekam, dass Schuldig tot war. Dann erst würde er sie sich kürzen. Dann erst.

Jetzt allerdings hoffte er, dass Schuldig sich endlich etwas anziehen würde.
 

"Ich nehme dein Nicken als Einwilligung in das Versprechen an", sagte Schuldig nochmals, ließ es sich nicht nehmen dem Mann einen sanften Kuss auf die Schläfe zu platzieren, bevor er sich bewusst löste und langsam zurücktrat. Er stand noch immer nackt da, jetzt wieder der Gefangene und wartete auf die Erlaubnis, sich die Kleidung anziehen zu können.

Ein kleines Intermezzo, das ihn durchaus amüsiert hatte und durchaus lohnend seinen Ausgang gefunden hatte.
 

Schuldig schien sein Versprechen tatsächlich einzuhalten, auch wenn Ayas Haut unangenehm prickelte. Zufälligerweise genau an der Stelle, an der Schuldig es sich nicht hatte verkneifen können, ihn wiederholt zu berühren. Anscheinend ging es nicht ohne. Aber dafür hatte er jetzt endlich seine Ruhe...hoffte Aya.
 

"Ich würde es begrüßen, wenn du dich wieder anziehst", veräußerte Aya mit mühsam ruhig gehaltener Stimme, als er sich zum wiederholten Male gezwungen sah, seinen Blick überall hinzuwenden nur nicht auf sein direktes Gegenüber.

Ohne dass er es merkte, ruhte sein Katana gesenkt neben ihm. Vertraute auf das Versprechen. Äußerst dumm.....
 

Spott tanzte in Schuldigs Augen, als er den Unwillen aufgrund seiner Berührung bei dem anderen Mann sah.

Auch wenn Aya es scheinbar nicht oder noch nicht registriert hatte, Schuldig hatte ihn in der Hand. Er hatte ihm sogar sein Leben in die Hände gelegt. Denn wenn er den Gedanken zu Ende führte... er brauchte nur die Schwester des Killers töten und dann...

Ein finsteres Lächeln verzog die Lippen des Telepathen, als er dieses... sein Spiel zu Ende dachte. Interessant das Ganze.

Es wurde wahrlich Zeit, dass Brad seinen Hintern hierher bewegte und ihn rausholte.
 

Schuldig tat wie ihm geheißen und zog sich an. Als er fertig war, setzte er sich auf das Bett und zog seine Haare aus dem Hemd heraus, legte sie sich nach vorne und lehnte sich wieder an das Bettgestell, breitet die Arme und Beine folgsam aus und sah den Anderen abwartend an.
 

o~
 

Jesus lag dort vor ihm. Für einen Moment glaubte Aya das wirklich. Mit ausgebreiteten Armen, bereit, gekreuzigt zu werden. Das Leiden der Menschheit... im wahrsten Sinne des Wortes. Die Geißel der Menschheit... das waren sie doch, oder? Das war Schwarz. Sie quälten, töteten, vernichteten.

Er würde das verhindern...mit allen Mitteln. Dafür wurde er bezahlt.

Aya erwiderte den leicht spöttischen Blick des anderen Mannes mit einem sanften Lächeln. Es gab da noch etwas, was er zu sagen hatte. Langsam kam er dem Deutschen näher, ließ sein Katana weit hinter sich. Unvorsichtig? Nein. Er kannte seine Stärke.

Eine Hand griff sacht nach dem blassen, teilweise geröteten Handgelenk des Schwarz, zog es mit sich zu den schier grob scheinenden Fesseln.
 

"Da gibt es noch etwas...", begann er immer noch lächelnd, beruhigend, als würde er mit einem panischen Kind sprechen.

"Solltest du überleben und auch nur daran denken, meine Schwester zu töten, um mein Versprechen zu beschleunigen... solltest du sie auch nur anfassen, werde ich dich nach und nach zerfleischen... als Erlösung für das, was ich dir vorher antun werde..."

Aya strich Schuldig hauchzart über dessen Handgelenk, seine Lippen in einem liebevollen, freundlichen Lächeln. Seine Augen voller blutdurstigem Wahnsinn und unmenschlichem Hass.
 

Schon als der Mann näher kam, spürte Schuldig die Welle des Hasses, welche ihm von Aya entgegenschwappte. Er kannte dies gut, konnte nachvollziehen wie sich seine bereitwillige Auslieferung auf den Anderen auswirkte. Wie ein Katalysator puschte es den Teil in Aya auf, der Schuldig am Liebsten auf der Stelle der Folterung und der Tötung unterzogen hätte.
 

Nun war Aya wieder frei, hatte wieder Macht über ihn, kostete sie aus um wieder gutzumachen, was er vorhin falsch gemacht hatte. Vor sich selbst.

Schuldig verspürte die Lust sich diesen Mann zu nehmen, ihn jetzt unter sich zu bringen und ihn in einen Kampf zu verstricken.

Das Handgelenk welches von Aya in die Eisenmanschette gelegt wurde, zuvor sanft berührt, machte genau diese Tätigkeit fast schon zu einem erotischen Akt. Nur passte da dieses Lächeln in Kombination mit dem was Schuldig in den violetten Augen erblickte, nicht. Realitätsferner Wahnsinn.

"Du könntest Farfarello Konkurrenz machen", sagte er und hob die Augenbrauen etwas. Er hatte es doch etwas weit getrieben...

Nun hatte das Blumenkind aber definitiv seine Beherrschung verloren. Triumph sprach aus seinen Augen, als er dem Blick standhielt. "Und, wir sollten noch festlegen, was geschieht, wenn einer von uns beiden sein Versprechen nicht hält."
 

Aya lachte leise. "Farfarello? Konkurrenz? Wie mir scheint, unterschätzt du mich...er wird wie ein Waisenknabe gegen mich aussehen, wenn ich mit dir fertig bin", hauchte er mit einem immer noch blutrünstigen Glimmen in seinen Augen, das nur nach und nach abebbte. Schuldig hatte seine Drohung vernommen und der Mann tat gut daran, sie ernst zu nehmen. Wenn nicht... er kannte die Konsequenzen.

Dennoch hatte Schuldig Recht mit dem, was er sagte.

"Ich halte mein Versprechen... ich brauche keine Drohung, um es wahr zu machen", erwiderte er und legte nun auch die andere Hand in eiserne Schellen, beugte sich dabei notgedrungen über den Deutschen. Wie sehr er das doch hasste. "Aber wie steht es mit dir...?"
 

Schuldig konnte sich ein gelöstes Lachen nicht verbeißen. "Ja, Farfarello ohne seine Medikamente wäre nicht steuerbar. Selbst auf einer Mission - glaub mir - bekommt ihr nur die Lightversion zu sehen."

Er stellte sein Lachen jedoch ein, als sich Aya über ihn beugte. Nur leicht neigte er den Kopf strich mit ihm provozierend über den Rollkragenpullover vor ihm, roch daran.

"Ich habe meinen Teil der Abmachung bereits eingelöst und mich in die Fesseln begeben", sagte er leise in den Pullover hinein. Wie angenehm warm dieser doch war. Schuldig spürte erst jetzt die Kälte, die seinen Körper befallen hatte. Er hatte in der Anstalt keine Schuhe oder Socken angehabt und nach der Dusche kühlte nun sein Körper wieder rascher aus.
 

"Dann spielen wir ohne Einsatz und... vertrauen." Aya lächelte zynisch. Genau. Sie vertrauten. Aufeinander. Ebenso, wie ER darauf vertrauen konnte, dass der verdammte Telepath keine Gelegenheit ausließ, um ihn zu reizen. Dieses Mal war sein Oberteil das Opfer des Deutschen. Aber nicht mit ihm.

Gelassen richtete sich Aya auf und entzog sich dem Schwarz, hielt es nicht mehr für nötig, dessen Fußgelenke auch noch zu fixieren. Er würde hier bleiben und zur Not einen Fluchtversuch vereiteln.

Seine Gedanken schweiften zu der Frage des Telepathen. Ob er nicht spürte, wie kalt es hier war. Nein...ihm war warm. Schuldig in dem dünnen Hemd aber nicht. Und, dass er den Schwarz mit einer Lungenentzündung abliefern könnte, stand nicht zur Diskussion. Er beugte sich hinab, zog unter dem Bett eine der dicken Decken hervor.

Legte sie Schuldig über den nun schon sichtbar frierenden Körper.
 

"Wer sagt, dass ich dir vertraue?" Ein feines Lächeln lag auf seinen Lippen, als er wieder aufblickte. "Aber nun ist es zu spät für etwaige Erweiterungen des Geschäfts. Ich habe nichts, was ich mehr einsetzen könnte." Bedauernd ließ er die Mundwinkel hängen. Er sah dem Andern zu, wie dieser unter dem Bett eine Decke holte und ihm über den ausgekühlten Körper breitete.

"Wow, das Blumenkind kann sogar nett sein", entschlüpfte es ihm. Das hatte er jetzt nicht sagen wollen... vor allem die Sache mit dem... Blumenkind.

Ohohoh, das würde wieder Ärger geben. Er konnte den Spruch schon hören... oder ihm wurde die Decke wieder entzogen... unbewusst schlang er die Beine um dieses wertvolle Gut und richtete seinen Blick auf selbiges. Er tat einfach so als hätte er nichts gesagt...
 

Ayas Blick ruckte überrascht zu Schuldig. Blumenkind?

Für ein paar Momente wusste er nicht wirklich, was er darauf antworten sollte und war tatsächlich versucht, dem Deutschen die Decke einfach wieder zu entziehen. Was sich allerdings als schwer herausstellen würde, da dieser seine neuerliche Beinfreiheit dazu genutzt hatte, eben diesen Luxus für sich zu beanspruchen. Und es würde ein Heidenkampf werden, ihm eben diese Decke wieder abzunehmen.
 

"Ich kann auch sehr nett sein und dir die Decke wieder abnehmen...", erwiderte er trotzdem mit einem diabolischen Zug um die Lippen. Könnte er. Irgendwie. Irgendwann. Nur nicht jetzt.

Aber Schuldig hatte Recht... er hatte nichts mehr, was er einsetzen konnte... also würde er nun an der Reihe sein? "Und was schwebt dir da vor?", hakte Aya nach, wusste, dass seine Antwort auf alles, was der Deutsche vorschlagen würde, schon rein prophylaktisch 'nein' sein würde.
 

Schuldig, der noch immer den Blick auf die wärmespendende Decke gerichtet hielt, tat so als müsse er angestrengt nachdenken. Seine Stirn zog sich kraus und seine Lippen pressten sich leicht aufeinander.

"Nuuun, überlegen wir mal, was haben wir da...", fing er seine Zusammenfassung an, ganz so, als wäre er nicht dem Feind ausgeliefert und in schweren Ketten, sondern als grübelte er darüber nach ein Problem zu lösen, das nun anstand.
 

"Du darfst dir also die Haare nicht schneiden, oder schneiden lassen, solange ich lebe und die Entscheidung darüber, also über deine Haarpracht, liegt bei mir. Das heißt, sie gehören mir im Klartext. Ich dagegen habe bereits mein Versprechen eingelöst und werde mich daran halten, dir dein Leben nicht mit einem Dolch zu nehmen, solange deine Schwester lebt. Das heißt also ich könnte dich erschießen... wäre ja nicht mit einem Dolch."

Wieder grübelte er vor sich hin. "Na, ich finde, falls du jemanden außer mir an die Haare lässt, dann gehörst du ganz mir!", platzte er heraus, freudestrahlend und mit einem Leuchten in den Augen. Es war vermutlich genauso größenwahnsinnig, dies vorzuschlagen wie alles andere, was von ihm manchmal in begeisterten Momenten kam. Er würde warten.
 

Das war es also. Hatte Aya die Idee mit der Pistole schon beunruhigt, so ließ ihn der letzte Vorschlag des Telepathen den Rückzug antreten. All das, was vorher seine Ruhe gestört hatte, verschwand mit einem Male. Hinterließ nur wohltuend beruhigende Leere zurück.

Das war, was der Schwarz wollte. Ihn fertig machen. Sich an ihm vergehen. Natürlich... als ob er es nicht vorher gewusst hätte.

Schweigend betrachtete er Schuldig, stand schließlich auf. Wandte sich ab. Was hatte er erwartet? Dass er den Anderen zum Kaffeetrinken einladen sollte? Wohl kaum... doch sich selbst aufzugeben nur für diesen Sadisten, dazu war er nicht bereit.

"Nein." Bestimmend, kurz, endgültig. Darauf würde er sich nicht einlassen.

Aya ging wieder hinüber zum Stuhl und setzte sich darauf, griff nach seinem Buch. Nein... das würde er nicht zulassen.
 

"Ahh, dann würdest du also dein Versprechen brechen wollen? Was ist dir in meinen Augen wichtig genug, dass du es als Einsatz bringen würdest, falls du das Versprechen brichst?" Schuldig war etwas enttäuscht, er hatte tatsächlich gehofft, Fujimiya würde darauf eingehen. Geglaubt nicht, aber die leise, teuflische Hoffnung war da gewesen. Damit konnte man sich auch die Zeit vertreiben, wirklich.
 

`Brad`

`Was ist?`

`Ich möchte dich nicht stören, aber hast du schon in Erwägung gezogen, dass es vielleicht an der Zeit sein könnte, sich Gedanken um meine Befreiung zu machen?`

`Ja wir sind dabei. Du störst nicht. Die Sitzung ist zu Ende.`

`Ach was bin ich erleichtert. Ich dachte schon, ich hätte wieder einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt`

`Verarsch mich nicht, Schuldig`

`Jajaja, schon gut. Beeil dich gefälligst`
 

Den Blick auf sein Buch gesenkt, entging Aya der leicht abwesende Blick des Deutschen. Ja... was war ihm wichtig. Außer seiner Schwester nichts. Doch Aya würde er mit diesem Spiel nicht beschmutzen. Sonst war ihm nichts wichtig. Wirklich nicht.
 

"Ich werde es nicht brechen", erwiderte er, ließ alleine schon anhand seines Tones keinen Zweifel an seiner Aussage. Wiederholte sich damit. Im Gegensatz zu dem Telepathen hielt er etwas darauf, seine Versprechen zu halten.

Auch wenn es ein derart Irrsinniges wie dieses war. Er hätte sich niemals... niemals darauf einlassen sollen.

Mit einem unterdrückten Seufzen vergrub er sich erneut in seiner Lektüre. Hoffentlich ging diese Nacht bald herum.
 

Schuldig fuhr etwas auf und richtete seinen Blick sofort wieder auf Aya. Stimmt, er durfte nicht zu sehr oder zu oft mittels Telepathie Kontakt zu Crawford aufnehmen. Der Anführer von Weiß wusste zwar, dass er Telepath war, aber scheinbar nicht, wie diese genau funktionierte.

Er stoppte kurz seinen Gedankengang.
 

Ahh, DAS wollten sie? Konnte es sein? Herausfinden, wie er es machte?

Ungläubig und nun doch etwas Angst bekommend zog er die Beine etwas an. Er wurde unruhig von einer inneren Vorsicht getrieben.

Sein Blick irrte zu Aya und nahm einen gehetzten Ausdruck an, ohne es selbst zu merken. Böses Misstrauen keimte in ihm auf und der Spaß verlor seinen Reiz. Das war etwas, das er immer befürchtet hatte. Menschenversuche.

Genau, das würden sie mit ihm machen. Eine Laborratte. War er das nicht schon zu oft gewesen, verdammt?
 

`Crawford, hol mich hier raus, verdammt, verdammt, verdammt`

Er starrte vor sich hin, seinen Kopf nach vorne gebeugt, dass der Andere sein Gesicht nicht sehen konnte. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht? Warum nicht? Er hatte sich schon wieder ablenken lassen.
 

Aya unterdrückte den Drang, sich seine Schläfen zu reiben. Er hatte Kopfschmerzen und ihm war immer noch leicht übel von ihrem kleinen Intermezzo. Aber wenigstens war Schuldig jetzt still und belästigte ihn nicht weiter... was für eine Gnade.

Sich der Angst des Deutschen nicht bewusst las er weiter. Fing wieder von vorne an. Er hätte sich noch ein zweites Buch mitnehmen sollen.

Die Schriftzeichen tanzten vor seinen Augen und er warf das Buch endgültig zur Seite. Stand auf und verließ schließlich den Raum. Er brauchte einen Moment Einsamkeit. Ruhe vor dem Telepathen und dessen Anwesenheit.
 

Schuldig schreckte erneut auf, als er das dumpfe Geräusch hörte. Seine Augen waren aufgerissen, doch er verbarg den Blick schnell wieder bis er das Geräusch der zufallenden Tür hörte.
 

`Was ist los?`, wollte Crawford nun wissen.

`Die Schweine wollen mich in ein Labor stecken, bestimmt, klar, deshalb haben sie mich auch noch nicht kaltgemacht. Scheiße hol mich hier raus, schnell.'

Er riss an den Ketten, versuchte verzweifelt die Handgelenke zu befreien, als wäre er jetzt erst aufgewacht von seinem Traum und in die harte Realität gefallen. Nichts erschreckte ihn so sehr wie Laboratorien, wie Versuche an ihm. Nichtmal der Tod konnte so erschreckend sein. Es war für ihn ein Trauma aus vergangener Zeit, er wollte es nicht wieder nicht schon wieder.

Und Crawford hatte ihn dort in diese Klinik gesteckt um ihn teils zu bestrafen und ihn teils zur Ruhe zu bringen. Dort wäre ihm nichts geschehen, das hatte er auch gewusst, aber nun? Nun war dieser Bastard von Weiß hier und würde ihn eiskalt an diese Schweine ausliefern, die in seinem Gehirn nach etwas suchten, was nicht vorhanden war. Nicht organisch jedenfalls.
 

Aya atmete tief wieder ein, beruhigte sich innerlich. Nur noch ein paar Stunden, dann war er ihn los. Dann war er menschliche Gesellschaft los. Dann konnte er wieder alleine für sich sein und niemand würde in seinen persönlichen Radius eingreifen.
 

Er legte seine Hand erneut auf die Klinke und öffnete die Tür. Nur um zu sehen, dass der andere Mann wie panisch an seinen Fesseln zerrte, Angst deutlich in seinem Gesicht geschrieben.

Was zum Teufel...? Wovor hatte Schuldig denn jetzt so plötzlich Panik?

Geräuschvoll schloss er die Tür hinter sich, starrte den Schwarz durchdringend an.
 

Und wieder schreckte er auf, sein Kopf ruckte zur Tür und seine Hände verkrampften sich um die Ketten, die er versuchte zu greifen. Auch wenn es unsinnig war, auch wenn er wusste, dass er sie nicht wegreißen konnte, er würde es dennoch versuchen. Er musste es versuchen und wenn er sich dabei eine Hand abschneiden würde, er... er...

Wieder holte ihn die Panik ein, doch er konnte sich nicht schützen, nicht vor der Angst, die von innen kam, denn Gefahr war der Weiß nur in zweitrangiger Hinsicht. Er schüttelte den Kopf, sah den Anderen ungläubig an.

"Du... du...", fing er an verstummte jedoch.

"Und du willst mir erzählen, du bist kein Heuchler? Du verlogenes Stück Dreck! Wie... warum tut ihr jemandem so etwas an? Warum?" Er dachte nicht nach, was er sprach, hörte nicht wie sehr seine Stimme zitterte, brach.
 

Aya erstarrte. Er wusste nicht genau, mit was er gerechnet hatte. Doch DAS gehörte sicherlich nicht dazu. Was in aller Welt...?

Wenn er ehrlich war, fehlten ihm angesichts dieser Szene die Worte. Statt dessen breitete sich eine schleichende Gänsehaut auf seinen Unterarmen aus. Anscheinend... hatte Schuldig endlich herausgefunden, warum er hier war... wofür. Verlogenes Stück Dreck? Das schmerzte. Stimmte aber.

Doch die nächste Frage tat weitaus mehr weh.

Ja...warum sie jemanden so etwas antaten..."Ich weiß es nicht...", gab er leise zu, wusste, dass er in diesem Moment besser den Mund gehalten hätte. "Ich führe nur...ihre Befehle aus. Nichts weiter." Was war das doch für eine wundervolle Erklärung für den in Panik geratenen Mann.
 

Schuldig atmete schnell, er runzelte die Stirn, suchte nach einem Ausweg, ließ dabei den Anderen nicht aus seinem verzweifelten, misstrauischen Blick. Es war beinahe so, als würde er daran ersticken, dass diese Folter auf ihn wartete.

Oh bitte jemand, bitte, ich will das nicht, nicht schon wieder, flohen seine Gedanken und in seiner inneren haltlosen Panik schlug er mental um sich. Er zerfetzte alles, was um ihn herum war, jeden Geist griff er an so weit seine Kräfte reichten.

Für einen Augenblick ließ er sich auf dieser Welle der Wut tragen, schwebte aus seinem Körper, nur um gleich wieder zurückgerissen zu werden, von einer Stimme die er nur zu gut kannte.

`Schuldig, reiß dich zusammen`, hörte er Crawford.

`Ich halt das nicht aus, die werden mich wach aufschneiden, du weißt, du weißt, wie sie damals... bitte, ich halt das nicht aus`

`Wir holen dich, aber bleib in deinem Körper, verlier dich nicht verdammt, Schuldig!`
 

Schuldig konnte sich nicht verlieren...hatte er doch in diesem Moment einen Anker in die Realität. Einen Anker, der sich neben ihm gesetzt hatte. Der seinen Kopf hochgezogen und an eine warme Brust gebettet hatte. Ein Anker, der nun eindringlich mit ihm sprach.
 

Aya hatte gesehen, wie schnell und vor allem nachdrücklich der Deutsche in absolute Panik verfiel. Das Einzige, was er dagegen kannte, war Gewalt. Doch die würde ihn hier auch nicht weiter bringen, das wusste Aya instinktiv. Zumal seine Kopfschmerzen sich mit einem Male intensivierten... um ein Vielfaches. Wahrscheinlich ausgelöst durch aus mentalen Fesseln befreite Telepathie.

Er zog den anderen Mann an sich, schüttelte dessen Gestalt leicht, strich dem panischen Deutschen über die schweißnasse Stirn.
 

´Ich kann nicht, ich will... weg, ich kann nicht, ich will das nicht fühlen, nicht wieder`, schickte er zu Crawford zurück wurde sich aber merklich seiner Realität wieder bewusster nach seinem fluchtartigen Ausflug in die treibende Gedankenwelt. Noch immer ging sein Atem schnell, noch immer war sein Körper vorgebeugt, seine Hände an die Pfosten gefesselt, saß er wie ein Märtyrer ans Kreuz gefesselt da, der er ganz bestimmt nicht war.

Und dann umhüllte sein Gesicht Wärme. Bekannter Geruch. Durch sein schnelles Atmen der von etwas zurückgeworfen wurde, bemerkte er, dass er seinen Kopf an etwas anlehnte, etwas weiches. Sein Körper bekam wieder Form, nahm wieder deutliche Umrisse für ihn an, als er Hände spürte, die ihm diese Form gaben, Druck, Gefühl. Sein Blick klärte sich.
 

Die abrupten, panischen Atemzüge beruhigten sich, ebenso wie das Zittern, das die Gestalt des Deutschen durchlief. Aya war froh darüber... wirklich froh und merkte es noch nicht einmal, dass er mittlerweile dazu übergegangen war, den Telepathen sanft hin und her zu wiegen... dabei leise, beruhigende Laute von sich zu geben. Wie er Aya damals immer beruhigt hatte... in ihrer Angst vor Gewitter.
 

Nun aber stellte er ganz bewusst Hautkontakt zu einer fremden Person her. Zu seinem Feind, der augenscheinlich nur durch ihn aus seiner Panik zurückgekehrt war. Das alles war ihm bewusst und gleichzeitig auch nicht. Er reagierte einfach... ließ seinen Körper das Denken übernehmen. Strich Schuldig ein weiteres Mal über dessen angstzerfurchte Stirn.
 

Es war warm, entsann sich Schuldig auf die Nähe, die ihn durchflutete. Seine Stirn erfuhr eine warme, menschliche Berührung, die so gar nichts mit seiner Situation zu tun hatte. Er war angekettet und wurde umarmt. Sein Herzschlag war noch immer schnell und pochte in seinen Ohren nach und durch den Kontakt zu Aya hatte er das Gefühl, er hörte nicht nur seinen eigenen Puls. Der andere war so ruhig.

Die Hand ruhte auf seiner Stirn und er atmete tief ein, um einen aufkommenden Schauer zu unterdrücken, doch er schaffte es nicht, er rollte über ihn hinweg und er schloss die Augen. Verdammte Angst. Er hatte doch gedacht, er hätte sie vergessen gehabt.

Zu schön wäre es gewesen.

Ruhig gesprochene Worte drangen an sein Ohr und er hob den Kopf ein wenig. Stumm blickte er den anderen an, mit dem stillen Vorwurf im Blick. Aber er sagte nichts. Es war tatsächlich so, dass sie ihn in ein Labor stecken wollten und er dagegen nichts tun konnte, gar nichts.
 

Aya erwiderte den anklagenden Blick mit schuldbewusster Ruhe. "Ich kann ebenso wenig dagegen tun wie du auch... das weißt du", flüsterte er besänftigend, war sich aber in dem Moment fast sicher, dass es sich zu einer Katastrophe entwickeln würde. Er war nur der Wächter, derjenige, der dafür sorgte, dass die Aufträge ausgeführt wurden.
 

Nicht der, der sie befahl. Dennoch tat er nun das, was er sich in solch einer Situation ebenso sehr gewünscht hatte. Er versuchte, den anderen Mann zu beruhigen. Ihm das zu erleichtern, was er noch beeinflussen konnte. Aya strich dem rothaarigen Deutschen noch ein paar der Strähnen aus der Stirn, bevor er seine Hand an dessen Seite ruhen ließ, sich ihm jedoch nicht entzog... ganz im Gegenteil. Er stützte den Anderen weiter. Hoffte, dass dieser sich schließlich gänzlich beruhigte.
 

"Sieh mich bloß nicht so an, als würde es dir etwas ausmachen, mich als Laborratte zu sehen", zischte er mit vor Abscheu schwankender Stimme.

Er verharrte in der Umarmung, ließ es weiter zu, suchte sogar die Nähe, doch völlig gegensätzlich zu seinen Worten, die eigentlich ein Entfernen vermutet hätten. Zumindest den Versuch. Aber er blieb.

"Du hast ja keine Ahnung, was es heißt, wenn sie deinen Schädel aufbohren um dir Sonden hineinzustecken. Dir ist es doch lediglich lästig, solange ich noch hier sitze. Wenn ich aber bei ihnen bin, bist du froh wenn sie mich aufschneiden, wenn ich schreie, wenn sie mir keine Betäubung geben, weil sie sehen wollen wie und wann ich reagiere, weil sie sehen wollen ab wann ich nicht mehr reagiere, wann ich nur noch zucke weil ich es nicht mehr aushalte..."

Er redete und redete, spulte wiederholt das Gleiche ab ohne auf den Anderen zu achten.

"Jetzt tust du so als wolltest du nicht, aber wenn ich bei ihnen bin...", wieder das Gleiche. Er bemerkte es nicht mehr, rettete sich in eine Endlosschleife.
 

Aya wollte sich die Hände auf die Ohren pressen, wollte nicht zuhören, wollte nicht damit konfrontiert werden, was dem anderen Mann bevorstehen würde. Dennoch ließ er es stumm über sich ergehen, kämpfte weder gegen die Übelkeit noch den Ekel an. Schuldig wusste, wovon er sprach. Das hörte er aus jeder, immer wieder neu und doch gleich erzählten Silbe.
 

Er hatte es schon einmal erlebt. Wie grausam. Und er ließ es zu. Er führte Befehle aus. Auch er hatte Leben zu retten. Er hatte schon so viele Menschenleben für Aya geopfert. Warum dann nicht noch eines? Was würde ein weiteres ausmachen? Etwa, dass er ihm nicht den schnellen Todesstoß versetzte, sondern ihn leiden ließ? Dafür verantwortlich war, was sie ihm antun würden? War es das?
 

Aber was es auch war, er konnte es nicht ändern. Er hatte nicht die Macht dazu. So konnte er nur weiterhin zuhören. Mitleid empfinden. Ekel... Wut. Nur das. Nichts anderes.
 

Die Rufe, die Schuldig mental erreichen sollten, verblassten, noch bevor er sie wahrnehmen konnte. Er wollte nicht, er redete viel lieber. Reden tat gut. Ja. Jetzt konnte er es noch, jetzt noch.

Lächelnd und froh darüber, dass er noch reden konnte, teilte er dies auch gleich Aya mit, sagte ihm, dass er morgen sicher nicht mehr sprechen konnte und dies heute nutzen musste. Seine Augen hetzten umher, konnten nichts wirklich mit dem Blick fixieren, waren unstet auf alles gerichtet und auf nichts.
 

Selbst die Geräusche vor der Tür prallten an ihm ab und auch der gewaltige Bruch der Tür, der sie fast in Splitter riss.

Er lächelte.
 

o~
 

Aya zweifelte innerlich nun wirklich an dem Verstand des Telepathen, als dieser ihm fröhlich und ausgelassen erzählte, dass er heute ja noch reden konnte. Es jagte Aya Schauer des Entsetzens über den Rücken, auch wenn ihm eine leise Stimme sagte, dass es vielleicht nur Taktik des Schwarz war. Um ihn soweit zu bringen, dass er ihn schließlich gehen ließ. Die Stimme wurde lauter, ließ ihn unruhig werden. Schlug schließlich deutlich Alarm, doch da war es auch schon zu spät.
 

Da zersplitterte auch schon die Tür, ließ ihn schützend den Arm vor sein Gesicht reißen. Ließ ihn dann sehen, was er nicht hatte sehen wollen.
 

Nagi ging durch die Tür voran. Er sandte aus reiner Vorsicht und Vorbeugung gegen den unwahrscheinlichen Fall eines Gegenangriffes eine kurze Druckwelle durch den Raum, den sie einzunehmen im Begriff waren und fixierte den einzig anwesenden Wächter sogleich mit seinen Fähigkeiten.
 

Farfarello setzte nach und Brad selbst trat als Letzter ein. Hier war nicht viel zu machen. Es genügte, wenn er hier als Koordinator fungierte.

Ein kurzer Blick durch die karge Räumlichkeit genügte ihm, dann trat er auf das Bett zu in welchem Schuldig saß.

Brad kümmerte sich nicht um den Rest, sie hatten ihre Anweisungen und würden dementsprechend danach handeln. Ihm machte etwas anderes Sorgen. Nämlich das viel zu abwesende Lächeln von Schuldig und der lauernde Blick in den grünen Augen. "Schuldig. Sie sagen du wirst entlassen. Die Papiere sind hier. Wir können gehen."
 

Aya keuchte schmerzerfüllt auf, als er im Bruchteil von Sekunden gegen die steinharte Wand gepresst wurde. Nicht atmen konnte... nichts mehr. Nicht sprechen, nicht atmen... Panik schnellte in ihm hoch, ließ ihn glauben, dass es Absicht des kleinen Telekineten war, ihn so zu töten. Dass sie ihm keinen gnädigen Tod gönnten, denn daran hegte Aya nicht den geringsten Zweifel. Leben lassen würden sie ihn unter Garantie nicht.
 

Wie hatte er sich nur dazu hinreißen lassen können, so unvorsichtig zu werden? Seine Deckung so zu vernachlässigen? Er hatte sie nicht kommen hören... bis es dann zu spät war. Und das nur, weil Schuldig ihn abgelenkt hatte. Ein minimaler Verdacht keimte in ihm auf, gewann innerhalb von Augenblicken an fester Substanz. Es war von Anfang an Schuldigs Plan gewesen. Von Anfang an. Natürlich... was hatte er auch anderes erwarten können?

Etwa, dass die Panik, die der Deutsche ihm so wundervoll vorgespielt hatte, ernst gemeint war? Oh wie dumm war er gewesen...
 

Und genau diese Dummheit wurde nun bestraft, wie er mit schmerzlich schnellem Herzschlag feststellte. Er wollte nicht sterben... noch nicht.
 

Brad beobachtete wie der Kopf von Schuldig sich zu ihm drehte und ein Nicken erfolgte. Soweit so gut. Immerhin, er hatte er nun dessen Aufmerksamkeit errungen. Vorerst genügte dies. Ohne den Blick von Schuldig abzuwenden, hob er kurz die Hand, das Zeichen für Nagi die Intensität seiner Attacke etwas herabzusetzen.

"Wo sind die Schlüssel?", fragte er neutral an Ayas Adresse, untersuchte jedoch währenddessen die Verletzung von Schuldig an seiner Wange. Er hatte den Weiß noch keines Blickes gewürdigt.
 

Aya schwieg. Auch wenn er erleichtert war, dass er wenigstens frei atmen konnte, so brachte er nun doch kein Wort über seine Lippen. Sie wollten die Schlüssel? Die konnten sie suchen. Als wenn er es Schwarz so leicht machen würde...nachdem es Schuldig gelungen war, ihn so zu überrumpeln.
 

Sein Blick glitt zur Seite, zur mittlerweile wieder gefassten Gestalt des Deutschen. Und dabei hatte er für einen Moment wirklich geglaubt, ihm helfen zu müssen... welch Schande. Wie ihm nun bewusst wurde.
 

"Ich wiederhole mich ungern," sagte Brad und als wäre dies das Stichwort gewesen, verstärkte Nagi wieder den Druck auf den Anführer von Weiß, presste ihn an die Wand und ließ sicher keinen Zweifel von der Dringlichkeit der Antwort, die Brad erwartete.
 

Schuldigs Blick wandte sich zur Seite auf die Szene zu, wirkte eher so, als folge er eher den Geräuschen, als dem, wirklich etwas zu sehen.

Sein Gesicht war ohne Ausdruck, das Lächeln verblasst. So kannte Brad ihn nur von Videos, welche von Schuldig im Kindesalter gemacht wurden. Zu Studienzwecken, wie es hieß. Brad hatte sie noch immer - sicher verwahrt.
 

Ayas Augen richteten sich ruhig auf die Gestalt des ältesten Schwarz, während er schließlich lächelte, jedoch davon abgehalten wurde, als der bisher lockere Druck seiner Fesselung zunahm, ihm wieder Luft und Raum zum Atmen nahm. Er hatte das Gefühl, sein Brustkorb würde zerdrückt, dass wirklich eine Rippe nach der anderen schließlich nachgeben würde. Dennoch... wenn sie ihn sowieso schon töteten, brauchte er ihnen auch keinen Gefallen zu erweisen.

Die vor Schmerz dunklen, zusammengezogenen Augen immer noch auf das Orakel gerichtet, schwieg er weiter. Wollte Schuldig nicht mehr sehen... das nun sicherlich schadenfrohe Gesicht...
 

Brad stand auf und sah zum ersten Mal zu dem Weiß, gab Farfarello einen Wink, der sich zu dem Gefangenem gesellte und nur auf Nagis Zeichen wartete.

"Jetzt", gab dieser die Weisung und ließ den Druck kurz verschwinden, danach sofort wieder mit gleicher Intensität wiedererwachen, sodass der Rotfuchs kurz gegen die Wand gestoßen wurde.

Danach stellte er sein Tun ein und der Weiß rutschte die Wand hinab und wurde dort von Farfarello in Empfang genommen, der diesem beide Arme auf den Rücken drehte und ihn zu Crawford, der schräg vor dem Bett stand und wie ein Herr auf seinen Sklaven hinabsah. Er griff in die Haare des Knieenden und legte dessen Kopf mit einer harschen aber kontrollierten Bewegung in den Nacken.

"Soll ich suchen oder sollen wir dich ausziehen? Farfarello ist dir gerne behilflich dabei." Eiskalte und ruhige Worte.
 

Aya war schwindelig wie auch übel von dem anhaltenden Druck auf seinen Körper. Vor seinen Augen tanzten für einen Moment bunte Sterne, als er sich auch schon in einer Position wiederfand, die einzig und allein dazu gedacht war, ihn zu demütigen. Ihm Schmerz zuzufügen, wie es ihm seine Arme verzweifelt meldeten. Seine Kopfhaut, die der Amerikaner so ruppig wie nur eben möglich behandelte.

Er missachtete den pochenden, brachialen Schmerz so gut er konnte, ließ ihn durch sich hindurchfließen... kämpfte nicht dagegen an. Soweit er es vermochte entspannte er sich im Griff des verrückten Iren. Sah stolz hoch zu dem Amerikaner. Er ließ sich nicht gefügig machen. Von niemandem.
 

Niemand vermochte das. Er schwieg weiter, gab nichts auf die Worte des Schwarz. Sollten sie das tun, was sie wollten. Sein Blick glitt zu Schuldig, fand schließlich doch keinen Hohn in den Augen des Deutschen.

Er fand... nichts. Da war nichts. Das war nicht gespielt. Ein kurzes Stirnrunzeln entstellte sein ruhiges Gesicht. War es dennoch möglich, dass...?
 

Ein kleines Lächeln und schon hatte der Ire verstanden, führte Brads Befehl mit Freuden aus. Kurz blitzte die Klinge auf, bis sie Farfarello in den Pullover gleiten ließ. Eine schnelle Bewegung später war die Kleidung soweit zerfetzt, dass sie mit bloßer Hand an den Nähten herabgerissen werden konnte. Dabei schienen dem Iren die Haare des Weiß im Weg zu sein und er setzte das Messer an der roten Pracht an.

Crawford sah dies mit Genugtuung.
 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt...
 


 

Coco&Gadreel

Sahne mit Kirsche

~ Sahne mit Kirsche ~
 


 

Schuldig sah die Szene mit einer Ruhe, als wäre er im Schock, was er jedoch nur teilweise war. Er war Telepath, bei ihm standen die Verhältnisse oft etwas anders als bei anderen Menschen.

Doch etwas störte ihn an dieser Szene. Etwas war da nicht in Ordnung. Die Klinge und das Haar. Sie durften nicht zueinander geführt werden.

"Hör auf", sagte er noch immer etwas rau, doch sein Blick ruhte nun auf Farfarello und seine Gedanken weilten ebenso in dessen Geist.

,Nicht', gab er den Befehl, sah dann wieder langsam auf Aya.
 

Aya lächelte leicht. Anscheinend war er seine Haare doch eher los, als gedacht. Es amüsierte ihn, dass Schwarz der Meinung war, es würde ihm etwas ausmachen, sollte er diese nutzlosen Zotteln verlieren. Doch dann...

Sein Blick ruckte zu Schuldig angesichts dessen Befehl. Na anscheinend meinte der andere Mann es ernst... Aya konnte sich ein innerliches Grollen nicht verkneifen. Erwiderte mit hochgezogener Augenbraue den Blick des Telepathen.

"Mach weiter", war das Einzige, was er mit einem Lächeln verlauten ließ.
 

Schuldig legte den Kopf fragend schief, wusste nicht, was er mit diesen Worten jetzt anfangen sollte. Sie waren doch nur für ihn bestimmt. Dieses Rot war nur für ihn bestimmt...

Farfarello würde doch nie etwas gegen seinen Willen tun. Und schon gleich nicht, wenn das ....ja das... Blumenkind... etwas von ihm wollte... Blumenkind.

Sein Blick festigte sich wieder etwas, doch er blieb in seiner Haltung, die Iriden nahmen wieder ihre lebendige Tiefe an.

"Brad, die Haare bleiben dran, wir haben einen Deal", sagte er mit einer neuen Festigkeit und ließ den Rotschopf keinen Moment aus den Augen. Sein Blick hatte sich unter dem herausfordernden Ausdruck in den violetten Augen geklärt und er verspürte wieder etwas mehr Kontrolle. Und auch Sicherheit, denn die Gefahr schien etwas gebannt.
 

Aya rollte mit den Augen. Er hätte es ahnen sollen... der Deutsche bestand auf ihren Deal. Mit kaum verhohlenem Amüsement richtete sich sein Blick wieder auf den vor ihm stehenden Anführer von Schwarz.

Himmel... sein Nacken schmerzte und er wünschte sich, dass der Amerikaner endlich seine Haare loslassen würde. Aber anscheinend gefiel dem Orakel sein Spiel... und er war momentan in keiner Lage, Protest dagegen einzulegen.
 

Nun wurde es Crawford doch etwas zu bunt. Was lief denn hier zwischen den Beiden? Sehr interessant, wie er fand. Doch nun zurück zum Wesentlichen.

"Nagi geh nach draußen, sieh zu, dass wir keinen störenden Besuch bekommen." Der Junge verließ das Zimmer.
 

Crawford erlöste den Rotschopf aus seiner Haltung und wies Farfarello an, ihn auf die Beine zu stellen. Ein Griff in den Bund der Hose um sie zu glätten und um besser in die Taschen der Lederhose zu kommen, ruckte er den Weiß Killer etwas näher zu sich.
 

Aya empfand es als angenehm, wieder stehen zu können, weniger jedoch, dass der Amerikaner nun meinte, ihn so quälen zu können. Sein Blick verwob sich stark und aufrecht mit dem des Orakels, als dieser seine Taschen durchsuchte. Seine Hose im Schritt dabei unangenehm straffte. Schließlich Hände auf seiner Haut, unter dem Bund der Hose. Kalt waren sie.

Natürlich würden sie den Schlüssel finden. Daran bestand kein Zweifel.

Aber ob Crawford dann aufhören würde... Aya glaubte es nicht. Schließlich waren es Schwarz, mit denen er es hier zu tun hatte.

Seine Augen ruhten weiter in denen des Amerikaners, verbargen kaum den seichten Spott, welcher in ihnen lag.
 

Crawford fand den Schlüssel bei seiner Untersuchung und beachtete den Weiß nicht weiter, richtete noch nicht einmal mehr den Blick auf ihn. Nach seiner erfolgreichen Suche entzog er den Gegenstand dem Weiß und überreichte ihn wieder Farfarello, der ihn mit einem Ruck auf den Boden zurückdrängte. Er wandte sich zu Schuldig um, dessen Zustand sich langsam wieder zu normalisieren schien. Er öffnete die Manschette.

"Farfarello, du kannst ihn haben, warte bis wir draußen sind damit. Ich gebe dir 20 Minuten, keine Sekunde länger", sagte er, damit beschäftigt, sich über Schuldig zu beugen und die zweite Fessel zu öffnen
 

Aya unterdrückte kaum sein wütendes Grollen, als er erneut auf den Boden zurückgepresst wurde. Wunderbar...

Auch wenn nun langfristig tief in seinem Inneren Angst aufkeimte. Der verrückte Ire würde also sein Henker sein... ein schmerzhafter Tod.

Nichts, das ihm Gnade zeigte. Einer, der minimal 20 Minuten dauerte.

Doch er würde das nicht wehrlos und stumm über sich ergehen lassen, darauf konnten Schwarz Gift nehmen. Auch wenn seine Chancen momentan durchaus ungünstig standen.
 

In aller Ruhe ließ er seine Augen zu denen des Deutschen gleiten, fixierte diesen stumm.

Sowas... wurde es wohl nichts damit, dass Schuldig ihn tötete. Oder sich noch weiter an seinen Haaren erfreuen konnte. Diesen Triumph gönnte er sich, auch wenn er wusste, dass es keiner war. Dennoch zog er jedes kleinste Gefühl der Schadenfreude in sich auf, begierig wie ein Ertrinkender. Nur, damit ihm das wahrscheinliche Abfinden mit seinem Tode etwas leichter fiel.
 

Schuldig wurde durch Crawford die freie Sicht genommen, doch als dieser sie wieder auf Aya freigab und er dessen Blick sah, den er nur ebenso stumm erwidern konnte wurde er...

Er wusste nicht was dieses Gefühl in ihm war, das ihn nun befiel. Ja es war etwas, was in ihm schmerzte. Jetzt, da er gerettet war, da saß er nun und die Rollen waren vertauscht. Merkwürdig, dass es so schnell gehen konnte. Dass seine Augen mit dem Ausdruck der Trauer behaftet waren sah nur ein Außenstehender, er selbst konnte es nicht benennen, wie dieses Gefühl hieß. Es gab bisher nichts, um was er trauern würde. Mit noch immer unbeweglichem Blick hob er die Hand zu Brad, der sich von ihm aufrichtete und krallte die Hand in sein Jackett.

"Ich will ihn. Gib ihn mir, nicht Farfarello", sagte er tonlos.
 

Brad hob die Augenbraue. Er drehte sich um, warf einen Blick auf den Iren, dann auf Aya. Der ihm nun erst wirklich bewusst wurde. Und ihm wurde auch bewusst, dass Schuldig ihn nicht beseitigen würde. Jedenfalls nicht sofort. Das würde ein Problem geben.
 

Wachsende Wut schäumte in Aya angesichts dieser Worte hoch. Geben? War er ein Gegenstand? "Ich gehöre niemandem", veräußerte er den ersten, wirklich langen, dennoch völlig ruhig ausgesprochenen Satz, der nichts, aber auch wirklich gar nichts von der Wut sehen ließ, die sich an Schwarz richtete. "Bring mich um oder lass es sein, aber ich gehöre dir nicht." Direkt an Schuldig gerichtet.

Nein... an dessen traurige Augen, die ihn verwirrten.

Wieso zeigte der Deutsche so offen seine Gefühle? Wieso fehlte das omnipräsente, spöttische Lächeln in den Zügen des Telepathen? Wieso hatte Schuldig die Worte in völliger Tonlosigkeit ausgesprochen und nicht in Häme, wie es Aya erwartete?

Wieso war es Hoffnung, die nun in ihm hochkeimte. Er hatte sich noch nicht mit dem Tod abgefunden, aber würde Schuldig da besser sein?

Er glaubte es nicht.
 

Probleme... ja Probleme würde es machen...sie bahnten sich bereits an... wie Brad feststellte, als er auf das entschlossene Gesicht des Gefangenen blickte. So nah war er einem der gegnerischen Vereinigung noch nicht gekommen. Er kannte ihre Gegner nur partiär, das Wichtigste und das reichte.

"Du sprichst wenn ich es dir sage", sagte er und ließ eine Ohrfeige folgen. Keine, um den Mann zu zeigen, dass er der Boss war, sondern eine um Schuldigs Reaktion darauf zu sehen.

Einen Augenblick später zeigte sich durch seine Fähigkeiten die nahe Zukunft und ließ ihn lächeln.

"Wir sind hier nicht auf dem Basar und wer hier wem gehört, entscheide momentan ich", sagte er und an Schuldig gewandt. "Was willst du mit ihm? Er wird nur Probleme machen, dir und uns."
 

Ayas Kopf ruckte unter der Wucht des Schlages zur Seite. Seine Wange brannte, ebenso wie sein Zorn. Der Amerikaner wollte ihm den Mund verbieten? Dass er nicht lachte. Dem würde er sich widersetzen.

Sein Kiefer bewegte sich probeweise, als er den Kopf erneut zurückdrehte und das Orakel ruhig fixierte. "Das hast du recht, Crawford. Wir sind nicht auf einem Basar. Ich entscheide über mich, nicht du."

So... wollte er doch mal sehen, wie wenig er sich von dem Schwarz seinen Mund verbieten ließ. Er war kein Mitglied des gegnerischen Teams und würde den Teufel tun auf die Befehle des Anderen hören.
 

Schuldig suchte den Blick von Crawford. Und als er dessen Aufmerksamkeit auf sich gerichtet vorfand schüttelte er den Kopf, als hätte er den Anderen nicht verstanden oder wollte er den Anderen nicht verstehen. "Ich will ihn. Er steht mir zu, keinem anderen."

Das genügte aus seiner Sicht heraus. Seine Hand umklammerte noch immer das Stück Stoff des Anzuges, sein eindringlicher ernster Blick, der langsam eine Härte annahm, die von ihm selten gekannt war bisher.
 

Brad sah nur kurz zu Aya, als wären die Worte ein lästiges, momentan unerwünschtes Geräusch und richtete sich wieder an Schuldig. "Genau das meine ich mit Problem. Es geht schon los."

Er sah lange auf Schuldig, sah in den entschlossenen grünen Augen wie der selten an den Tag tretende Ernst einer klaren Entscheidung in ihnen stand. Denn oft war Schuldig dazu nicht fähig. Es jemanden sehen zu lassen, wie er wahrhaft fühlte. Er kehrte nach außen hin oft ins Gegenteil um.
 

Ayas Lippen pressten sich für einen Moment zu einer starren Linie zusammen, bevor er sich ein weiteres Mal bewusst entspannte. Er stand Schuldig zu? Nie im Leben. Dieser Mann würde ihn nicht besitzen... niemand würde das. Genau darüber wurde er wütend... darüber, dass sie seinen Willen so offensichtlich übergingen... .ihn als nicht menschlich einstuften.

Wie auf einem Basar... ein Gegenstand, ohne freie Entscheidungskraft.
 

Es kostete ihn all seine Kraft, die gelassenen, ruhigen Gesichtszüge beizubehalten, als ihm zunächst leise, dann jedoch immer eindringlicher etwas bewusst wurde. Vielleicht sollte er den anderen Mann einfach machen lassen...

Schuldig war ein Faktor, der ihm schon bekannt war....auf ihn konnte er sich einstellen, um den Deutschen zu töten.
 

,Gib ihn mir Brad', forderte Schuldig nun, begann ein Gespräch mit Brad welches nur für sie beide bestimmt war.

,Er ist eine Gefahr, Schuldig. Nicht nur sein Team wird Probleme machen, für die wir keine Zeit haben, auch er selbst wird für dich zum Risiko. Denk nach, du weißt selbst um deine Probleme, du kannst dir dieses Risiko nicht zusätzlich...'

,Das weiß ich... oder besser, mir ist es egal, verstehst du?! Es ist mir scheißegal ob sein Team anrückt'

,Und dann? Was dann? Was willst du mit ihm?'

,Darum geht es nicht'

,Um was dann?'

,Ich weiß es nicht, aber ich will ihn nicht tot sehen... ihn aber jetzt auch nicht einfach so weglassen, ich will ihn irgendwie... ich weiß auch nicht, berühren dürfen, seinen Geist studieren, ich... er hat mich eben abgelenkt weil ich ihn interessant fand.'

Das war nun nicht gerade eine Erklärung dafür, dass er ihn jetzt nicht tot sehen wollte, aber etwas Besseres hatte er nicht zu bieten.
 

,Kannst du keinen anderen ficken?'

Einen Moment wurde Brads Blick zornig, doch dann wieder milder, aber diese Milde war nur für Schuldig sichtbar und würde auch nur für ihn sichtbar werden.
 

,Zur Hölle, Schuldig, das ist derjenige, der dich hier bewacht hat, er ist kein Schoßkätzchen, das du streicheln kannst und das schnurrt. Er ist ein Killer wie du auch.

Wie wir, und er fühlt nichts aber auch gar nichts für dich. Was ist los mit dir? Sind es die Medikamente?', fragte er in ernsthafter Besorgnis um den Telepathen.

,Nein. Ach keine Ahnung. Ich will heim', schloss Schuldig wenig freudig das Gespräch ab.

Ja was war mit ihm los? Er war müde.

So war es, wenn er zuviel Energie verbraucht hatte... zuviel Schwankungen in seiner Gefühlswelt nach außen dringen ließ. Vielleicht hatte auch die Wirkung der Medikamente einen Einfluss auf seine Stimmung. Doch die war im Keller und er erhob sich nun langsam von dem Bett.
 

Brad ließ innerlich das Thema fallen. Er konnte Schuldigs Beweggründe dafür nicht verstehen. Er sah lediglich die Gefahr, die mit der Entführung des Anderen einherging. Aber er würde sich später damit beschäftigen. Jetzt war etwas Anderes wichtig. Seine Fähigkeiten konnten ihn bei einer Gefahr rechtzeitig warnen, würden ihm sagen, wann er die Notbremse ziehen musste und der Weiß entweder zu töten war, oder anderweitig untergebracht wurde.

Zurück zu seinem Team konnte man ihn nicht mehr lassen, das würde ihnen einen Racheakt bescheren und dass bei ihren Aufträgen die Weiß Jungs ihre Arbeit belästigten, würde ihrem momentanen Auftraggeber nicht behagen.

Brad ließ sich von Farfarello ein Messer geben, schnitt aus dem Leintuch des Bettes einen Stofffetzen heraus und hielt es dem Gefangenen an die Lippen, wollte es am Hinterkopf verknoten. "Aufmachen", befahl er ruhig.
 

Widerstand kehrte in Ayas Züge zurück, als er nun mit fest aufeinander gepressten Lippen den Kopf zurückdrückte und ihn zur Seite wandte. Er würde sich nicht knebeln lassen. So weit ließ er sich nicht demütigen. Wiederum kehrte Schuldig in sein Blickfeld zurück. Schuldig, der anscheinend in der stummen Diskussion gesiegt hatte. Auch wenn Aya nicht wissen wollte, mit was er seinen Anführer überzeugt hatte.
 

Er fühlte sich beengt durch die beiden Männer... der Ire an seinem Rücken, Crawford wie ein bedrohlicher Schatten vor ihm. Seine Arme taub von der schmerzhaften Haltung. Er würde sich nicht bezwingen lassen. Mit nichts.
 

Brad wurde langsam wirklich wütend. Das dauerte nun schon viel zu lange. Sie waren längst hinter dem vorgesehenen Zeitplan. Weder hatte ihm eine Vision gezeigt, welcher Ausgang dieser Mission beschert gewesen war, noch hatte ihn sein Gespür davor gewarnt, wie derart unberechenbar Schuldig manchmal war. Diese Wut forderte nicht nur diese Tatsache heraus, sondern auch das trotzige Verhalten des Rotfuchses, der dem Ganzen noch die Krone aufsetzte. "Erspar dir deinen Trotz, dafür ist hier kein Platz", sagte er deshalb kalt und griff mit den Fingern in das Kiefergelenk hinein, drückte schmerzhaft zu und zwang es so fast von alleine auf. Schuldig band den Stoff herum und Farfarello kümmerte sich um die Fesselung des Weiß.
 

"Kein Blut", sagte Schuldig zu Farfarello, der etwas enttäuscht die Mundwinkel hängen ließ, als er den Draht, den er zur Fesselung benutzte, festzog.

Danach schickte Brad die zwei nach oben. Schuldig folgte ihnen und Brad betrachtete sich das Schwert, welches noch im Zimmer lag. Dolche waren in Schuldigs Wohnung keine Seltenheit, er konnte nur hoffen, dass dem Rotfuchs die Flucht nicht gelingen würde, sonst konnte sich ein Blutbad aus Sicht des Weiß kaum vermeiden lassen.

Seinen zynischen Gedanken weiter nachhängend ging auch er, verließ den kalten Keller.
 

Für einen Moment hatte Aya wirklich Panik überfallen. Schuldig, der ihn knebelte, die beiden anderen Schwarz, die sich daran machten, ihn zu fesseln... zuviel körperliche Nähe, zu große Demütigung... das ertrug er nicht... das...

Er zwang sich mit eisernem Willen zur Beruhigung, auch, als sie ihn nun in den Kofferraum sperrten. Ihn alleine ließen mit dem feurigem, stechenden Schmerz, der seine Arme bestimmte. Die Hände, gebundenen von Drähten... von Drähten.

Aya würgte den Ekel hinunter, der ihn überkam, wusste, dass er qualvoll an seinem Erbrochenem ersticken würde, sollte er sich wirklich übergeben. Er zwang sich zur vollkommener Ruhe.
 

Er fror. Erbärmlich. Es war Winter, sie hatten ihm - zuvorkommender Weise - sein Oberteil abgenommen und die laute, kalte Einsamkeit war nicht wirklich dazu geeignet, in irgendeiner Weise versuchen zu können, darüber hinweg zu sehen. Vielmehr zitterte er unkontrolliert, kam gegen die Kältekompensation seiner Muskeln nicht mehr an. Wartete auf das Ende der Fahrt... falls es überhaupt kommen würde. Falls er jemals diesem stockdüsteren, nach Benzin stinkendem Raum entkommen würde.
 

Die Türen des Wagens fielen zu und Schuldig war auf dem Beifahrersitz sichtlich bemüht darum, sich die Kälte nicht anmerken zu lassen, die seinen Körper befallen hatte. Seine nackten Füße mussten ein gutes Stück des Weges, wo sie ihren Wagen geparkt hatten, zurücklegen. Er hatte abgelehnt, dass sie vor die Tür fahren sollten, er wollte weg von hier, so schnell es ging. Und weder Farfarello noch Nagi würden an die Schlüssel von Brads Wagen kommen. Zumindest sofern dieser noch am Leben war.

Ein altbekanntes, belustigtes Lächeln legte sich auf seine Züge und wenig später wuchs es zu einem Grinsen aus und er dachte an ihre köstlichen Streitereien, wenn es darum ging, welchen Wagen sie für Einsätze nehmen durften. Brads Wagen mit Sicherheit nicht.

"Scheiße ist mir kalt", stöhnte er und zog die Beine auf den Sitz, saß wie ein Kleinkind da und rieb sich die blauen Füße.

"Was bist du auch so verrückt und läufst die Schritte bis zum Wagen", murrte Nagi über seine Beschwerden.

"Na meinst du etwa ich hatte Lust mit dir Keifzange und dem Irren da allein `rumzustehen?" Wieder ein Grinsen, der spöttische Ausdruck in seinen Augen. Wieder der Alte.
 

Brad sagte nichts. Er war zu beschäftigt an den Mann im Kofferraum zu denken, an die Folgen dieser Tat. Die Schuldig bereits vergessen zu haben schien. Und genau DAS war es, was Brad Sorgen machte.

"Was ist mit dem Weiß im Kofferraum, Schuldig?" versuchte er dem Anderen wieder den Faden in die Hand zu geben.
 

Schuldig zuckte zusammen, sogar sichtbar, als hätte man ihm einen Peitschenhieb verpasst. Im Kofferraum...

Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Er überspielte es indem er grinste und nur mit der Hand wedelte, abfällig winkte.

"Was soll schon mit ihm sein? Der langweilt sich bestimmt." Lachend sah er zum Fenster hinaus. Die vorbeiziehenden Häuser und Wohnbezirke, im Dunkel der Nacht kaum zur Ruhe kommend. In dieser Stadt gab es keine Ruhe, keinen Stillstand. Er hatte das Blumenkind tatsächlich vergessen. Ebenso wie er zu Anfang nicht mehr daran gedacht hatte weiterzudenken um herauszufinden was sie mit ihm eigentlich vorhatten. Und dann... dann hatte er sich wieder darauf besonnen nachzudenken, nicht zu spielen, nicht mit seinem Leben zu spielen, sondern den Ernst des Lebens zu sehen, zu erkennen.

Der Ernst des Lebens... ja... wie fremd er ihm doch war.
 

Eine Weile verging und die Stille im Wagen tat Schuldig gut. Sie fuhren gut eine dreiviertel Stunde, bis sie sein Apartment erreichten. Der Wagen hielt und er stieg aus, seine Füße berührten den eisigen Boden.
 

Es kam Aya wie eine Ewigkeit vor. Kälte. Schmerz. Panik. Ungewissheit, was nun passieren würde. Umbringen würden sie ihn nicht, das wusste er mit Sicherheit. Noch nicht. Noch gebrauchte der Telepath ihn für sein persönliches Vergnügen, was Aya ohne Knebel ein bitteres Lächeln abgerungen hätte.

Dabei hatte Schuldig ihn noch gefragt, warum sie in der Lage waren, so zu quälen. Das konnte er nun nur allzu berechtigt zurückgeben.
 

Der Wagen hielt und Ayas Sinne sprangen von Null auf Hundert auf höchste Alarmbereitschaft. Keinen Moment zu früh, wie es sich herausstellte, als sich nun die Kofferraumklappe öffnete und den Amerikaner preisgab. Und so sehr er auch versucht war, seinen Blick abzuwenden um nicht in dem dunklen Augenpaar zu sehen, wie sehr dem Orakel seine momentane Position zusagte, so stark war er nun und erwiderte den Blick. Immer noch stolz, ganz so, als wäre nicht er derjenige, der gefesselt und geknebelt entführt wurde.
 

Innerlich seufzend öffnete Brad den Kofferraum, zog aus einem Nebenfach des metallenen Verbandkastens ein Tuch und faltete es behände, hielt den Kopf des im Wagen Liegenden schnell und verband diesem die Augen. Es war ein Verbandstuch und es würde seinen Zweck erfüllen, nämlich dem Weiß keinen Blick auf die Umgebung zu gewähren.
 

Aya versuchte erst gar nicht, sich dagegen zu wehren, als ihm nun auch noch die Sicht genommen wurde. Vollkommen hilflos. In einer derartigen Weise das erste Mal in seinem Leben. Es machte ihn unsicher in diesem Moment. Auch in den folgenden. Es ließ Wut in ihm aufbrodeln. Wie konnten sie es wagen, so mit ihm umzugehen? Wie konnten sie sich so über seinen Willen hinwegsetzen?

Aya schwor sich in dem Moment, dass keiner von Schwarz überleben würde. Keiner. Er würde sie alle abschlachten und das mit Vergnügen. Er würde sich nicht mit einem einfachen Stich ins Herz zufrieden geben. Nein.
 

Schuldig dagegen stand daneben, die Arme verschränkt, die Schulter eingezogen um die Restwärme in seinem Körper zu halten und hastete herbei um den Weiß aus dem Kofferraum zu holen. Es war etwas mühevoll, da der Kofferraum tief lag doch sie griffen dem Weiß einmal unter dem Arm und Schuldig legte die Hand in dessen Nacken, damit er sich nicht den Kopf anstoßen konnte.

Sie stellten ihn auf die Beine und Brad wies Nagi und Farfarello an, im Wagen auf ihn zu warten, während Schuldig es Brad überließ Aya zu führen. Er registrierte erst jetzt, da ihm wieder die Kälte in die Knochen gefahren war, dass der Andere mit bloßem Oberkörper bei diesen niederen Temperaturen ausharren musste. Die Lippen waren bereits bläulich und der bloße, freiliegende Oberkörper mit einer Gänsehaut überzogen.

Immerhin hatte er seine Stiefel noch und eine Lederhose, im Gegensatz zu Schuldig, der weder Schuhe hatte noch sonst robuste Kleidung. Seine Kleidung bestand aus dem dünnen Stoff aus dem Krankenhausnachthemden gemacht wurden. Er hätte ebenso nackt herumlaufen können.
 

Sie hatten den Weg zum Hintereingang bewältigt und waren nun am Notausgang angekommen. Schuldig öffnete die Tür und ging voran. Alles war still im Haus, das Licht wurde von ihm bewusst nicht angemacht und sie gingen zu den Aufzügen.
 

Wohin auch immer sie gingen... Aya hasste es. Aus vollstem Herzen. Blind wie er war, musste er vertrauen. Darauf, dass sein Führer ihn nicht fallen ließ, dass er es gut mit ihm meinte.

Aya lächelte innerlich vor bitterer Ironie. Keiner dieser Punkte traf auf ihn zu, so verwandte er seine völlige Konzentration dazu, wenigstens noch zwei seiner Sinne gebrauchen zu können. Auch wenn ihn das vor Hindernissen nicht schützte, welche die Hand an seinem Oberarm mit einem schmerzhaften Ruck kenntlich machte.

Nach zwei Stolperversuchen verstand er dann auch, was er zu tun hatte.

Doch das milderte die Panik nicht. Panik vor dem endlosen Fall nach unten. Vor dem unbekannten Untergrund. Es hätte Wasser sein können... sie hätten ihn eine Treppe hinunter stoßen können... alles. Und er hätte nichts dagegen tun können.
 

Nichts. Er musste mitstolpern, konnte nur Angst haben. Nichts weiter.

Keine Kontrolle über sich und seinen Körper.
 

Auf dem Weg ins oberste Stockwerk fing Schuldig erneut ein Gespräch mit Brad an, als er einer dessen Gedanken las, die der Andere offensichtlich an ihn gerichtet hatte. Er las nicht oft Brads Gedanken, zum Einen war der Amerikaner gut trainiert um ihn zu blockieren, zum Anderen beherrschte sich Brad oft viel zu sehr und die wirklich interessanten Dinge verbargen sich weit in der Tiefe bei dem Amerikaner. Es sei denn Crawford wollte, dass Schuldig einen Gedanken las, dann legte er sie bewusst an die Oberfläche wo Schuldig sie gewiss in seiner Neugier finden würde.

,Ich komme mit ihm schon klar.'

,Das glaube ich nicht, Schuldig.'

,Und trotzdem lässt du ihn bei mir?', neckte er.

,Entweder tot oder lebendig und lebendig heißt bei dir Schuldig. Das ist alles.'

,Ja, das weiß ich', grinste er in alter Manier und trat aus dem Aufzug als sie angekommen waren.
 

Brad zog aus seiner Hosentasche Schuldigs Wohnungsschlüssel und öffnete die Tür.

Schuldig war froh endlich wieder zu Hause zu sein. Er war schon seit ein paar Tagen nicht mehr hier gewesen. Die Luft roch etwas abgestanden und er ging sogleich zu den großen Fenstern, um sie zu öffnen. Er hörte wie hinter ihm die Tür geschlossen wurde und drehte sich um. Brad dirigierte den gefesselten Mann in den großen Wohnraum, der als Loft angelegt war.

Die gesamte Etage war ohne Trennwände, es gab ein großes Bad mit freistehender Badewanne und einen separaten Raum, der schallgeschützt war, wo er seine Ruhe vor der Außenwelt hatte und er seine Meditationsübungen machen konnte. Wo er versuchen konnte, die Außenwelt auszusperren.
 

o~
 

Aya war für einen Moment angewidert von der abgegriffenen Luft, die ihm entgegenschlug und schluckte mühsam. Dann jedoch begrüßte er voll kranker Dankbarkeit, dass es hier wärmer war als draußen. Auch wenn seine Muskeln infolge des Temperaturausgleichs noch mehr zitterten als zuvor.
 

Er hatte keinen Moment Zeit, seinen Körper unter seinen Befehl zu zwingen, als er auch schon niedergedrückt wurde. Auf eine weiche Unterlage, die ihn im ersten Moment zurückzucken ließ. Er wusste nicht, was es war und was für Gefahren ihm drohten... am Liebsten wäre er wieder aufgesprungen. Am Liebsten hätte er die getötet, die dafür verantwortlich waren. Doch nichts war ihm vergönnt. Nichts außer warten. Warten warten warten. Die Demütigung kompensieren und warten.
 

"Wo willst du ihn haben?" Brad sah sich um, Schuldig hatte diese Wohnung als Rückzugsmöglichkeit vor einem Jahr erstanden, für den Fall, dass er wieder in eine seiner Psychosen zu verfallen drohte, bedingt durch die Telepathie. Er war ruhiger geworden, seit es einen Ort gab, der ihm Ruhe schenkte. Aber ob dies jetzt noch so war nachdem er diesen Weiß hier hatte, bezweifelte Brad.
 

"Ich werde ihn später in den "Stillen Raum" bringen und mich dann etwas ausruhen." Brad nickte und ließ den Rotfuchs - wie er ihn selbst schon nannte - los. Das lange Haar war zerzaust von ihrer Aktion und sonst wirkte die Gestalt des Weiß ganz und gar nicht mehr aufmüpfig. Es war eher, als befürchte er einen Schlag, eine plötzliche Attacke.
 

"In zwei Tagen, bei mir, die selbe Zeit wie immer. Komm pünktlich. Ansonsten... du weißt wie du mich erreichst", sagte Brad und verließ die Wohnung. Er beeilte sich nach unten zu gelangen. Nagi musste morgen eine Facharbeit abgeben, der Junge sollte ins Bett, auch wenn er diesem kaum Vorschriften machen konnte, da er viel zu erwachsen für sein Alter war. Und er selbst hatte morgen einen harten Tag angefüllt mit Terminen. Inklusive eines Auftrages, den es galt in die Wege zu leiten.
 

o~
 

Wo er ihn haben wollte? Stiller Raum?

Worte, die Ayas überintakten Hörnerv verätzten. Was hatten sie mit ihm vor? Gut... er glaubte zu wissen, was es war. Und dennoch...Seine Kiefer krampften sich unwillkürlich aufeinander, als er überdeutlich fühlte, wie er losgelassen wurde, wie die beiden anderen Männer sich verabredeten. Freiheiten, die er nicht hatte.
 

Noch nicht. Er würde sie sich nehmen, denn das war sein Leben. Wenn Schuldig dachte, dass er ihn hier gefangen halten konnte, dann hatte er sich getäuscht. Doch dazu musste er Geduld haben... ein überstürzter Fluchtversuch würde gar nichts bringen.

Zumal... Weiß würde nach ihm suchen und wie er Bombay kannte, konnte dieser ihn früher oder später lokalisieren. Wohl eher später als früher.

Immer noch völlig still wartete er, was nun geschah.
 

Währenddessen erkundigte sich Brad ob Nagi sorgfältig auf die Verwischung ihrer Spuren geachtet hatte und lehnte sich dann auf der Heimfahrt entspannt im warmen Leder des Wagens zurück. "Warum durfte ich nichts machen heute?", quengelte Farfarello etwas in seinen Ohren, obwohl die Stimme nüchtern, tonlos und dunkel wie immer war.

"Frag Schuldig das nächste Mal", erwiderte er dem Iren.

"Der Junge hat Schuldig traurig gemacht", sagte dieser darauf. Ihn schien das Thema zu beschäftigen, er hatte wohl das gefühlt, was Brad in den Augen des Telepathen nicht verborgen geblieben war.

"Ja das hat er Jei, das hat er... ich frage mich nur wie..." ließ er die Frage offen.
 

Schuldig dagegen betrachtete sich zunächst Aya, genoss den Anblick des gefesselten Mannes. "So ändern sich die Dinge... von einer Sekunde... auf die nächste", leise und sanfte Worte mit einer Prise Spott gewürzt, als er vom Fenster trat und sich dem Mann näherte.
 

Ja... sie änderten sich. Hatten sich geändert. Zu seinen Ungunsten. Aber was erwartete Schuldig? Dass er um Gnade bettelte? Dass er ihn anschrie, ihn gehen zu lassen?

Nichts dergleichen würde erfolgen. Schuldig würde keinen Spaß daran haben, ihn hier festzuhalten. Und wenn er Befriedigung daraus zog, ihn zu verspotten... Aya ließ dem Deutschen sein armseliges Vergnügen.
 

Er regte sich nicht, entspannte aber willentlich seine gesamte Gestalt, als er hörte, wie Schritte auf ihn zukamen. Sah sie nicht, hörte sie nur.

Schritte... Schuldig, der sich ihm näherte. Leise Schritte, anscheinend durch Teppiche gedämpft.
 

Doch Schuldig griff sich im Gehen noch die Fernbedienung seiner Musikanlage und schaltete die darauf gespeicherten Titel, wählte Stücke aus, die ihm oft Entspannung brachten und gab die Reihenfolge des Abspielens in die Anlage ein. Simples Meeresrauschen, und in einer halben Stunde würde sanftes Blätterrauschen im Wind zu hören sein.

Er dimmte das Licht mit einer anderen Fernbedienung, schaltete unterschiedliche Lampen ein um ein warmes Gefühl in dem hohen und weiten Raum zu erzeugen. Das grelle Licht in diesem Keller hatte ihn fast krank gemacht.

Dann warf er das Gerät, nachdem er die Türverriegelung mittels eines Codes eingetippt hatte, auf die Couch neben Aya.

"Ich nehm dir das ab", sagte er und stützte sich mit einem Knie auf die Couch neben Aya und nahm ihm den Knebel ab, die Augenbinde ließ er jedoch vorerst, wo sie war. Er verließ seinen Platz danach und ließ den Mann sitzen um ins Badezimmer zu gehen.

"Sag wenn du etwas möchtest. Auch wenn ich bezweifle, dass du das wirst, ich bin in der Nähe, falls es der Fall ist", sagte er und zog sich aus. Er wollte sich ein Bad einlassen um seinen Körper wieder aufzuwärmen.
 

Aya schwieg. Auch jetzt noch, nachdem der andere Mann ihm gnädigerweise seine Sprachfähigkeit wiedergegeben hatte. Nachdem er sich endlich seine Lippen befeuchten konnte. Endlich schlucken konnte. Doch er schwieg, lauschte für einen Moment dem Meeresrauschen. Es widerte ihn an. Ebenso wie ihn das Einlassen des Badewassers anwiderte. Immer noch rührte er sich nicht von der Stelle, sondern schloss die Augen hinter der Binde.

Ertrug alles mit stoischer Ruhe. Jede. Einzelne. Qual.
 

Was war das hier? Rache? Dafür, dass er nur seinen Auftrag ausgeführt hatte? Oder doch etwa purer Sadismus. Nun... er konnte es sich schon fast denken.
 

Schuldig kam wieder aus dem Badezimmer, hatte sich in der Zwischenzeit einen Bademantel übergeworfen und ging wieder zu Aya. Die Lippen waren bläulich und die Haltung wirkte als wäre ihm immer noch kalt.

"Soll ich die Heizung weiter aufdrehen?", fragte er während er dem Anderen die Augenbinde abnahm.
 

Was für ein äußerst zuvorkommendes Angebot, schoss es Aya zynisch durch den Kopf. Er blinzelte langsam, gewöhnte sich allmählich an das Gott sei Dank gedimmte Licht.

Schuldig war näher als gedacht und nur mit einem Bademantel bekleidet, was in Aya neuerlichen, inneren Hass auslöste.
 

So...der andere Mann hatte sich also schon vorbereitet... das war ja schön.

Aya wandte den Blick ab, ließ ihn über den Teil des Raumes schweifen, der nicht durch Schuldig verdeckt war. Ein Loft. Das hatte er nicht erwartet. Groß, geräumig, warme Beleuchtung. Anscheinend hielt der andere Mann nichts davon, ihn im Keller gefangen zu halten, was Aya ein bitteres Lächeln abrang. Als wenn es das besser machen würde.
 

Sein Blick kehrte wieder zurück, glitt hoch an der vor ihm stehenden Gestalt. Seine Stimme war rau, kratzend in seinem Hals, als er mit einer spöttisch hochgezogenen Augenbraue erwiderte: "Vielleicht solltest du mir einen Pullover geben?"

Er würde den Teufel tun und den Deutschen um irgendetwas bitten. Das hatte sich Schuldig so gedacht... herabsetzen konnte er ihn nicht.

Auch wenn Spott im Vorschlag des Deutschen fehlte. Doch das musste noch lange nichts heißen.
 

Seine Handgelenke schmerzten, hatte sich der Draht durch ungeschickte Gewichtsverteilung und Gewalt in seine Haut geschnitten. Und auch wenn der Schmerz ihm willkommene Ablenkung bot, so wollte er seine Arme endlich wieder frei bewegen können, bevor seine Hände ganz abstarben. Denn da waren sie auf dem besten Weg hin.
 

Schuldig hatte noch immer das Verbandstuch in der Hand, sah den anderen etwas unverständig an.

"Willst du dich nicht eher in der Badewanne aufwärmen? Ich hab gerade Wasser einlaufen lassen....", er verstummte, runzelte die Stirn. Warum machte er diesen Vorschlag? Wollte er nicht selbst baden? Oder war es die kalte Haut, die er unter seinen Fingern gefühlt hatte, die diese Worte herausgefordert hat?

Er verzog unwillig den Mund, der ganz im Gegensatz zur augenblicklichen Situation oft ein Grinsen präsentierte. Die Lippen, die sonst so frech dem Ausdruck auf dem hellen Gesicht ihre charakteristische Note gaben, schienen fast ein wenig zu schmollen, als er sich nun neben Aya setzte und an der Fesselung hantierte.

Warum machte ihm sein Verstand ständig irgendwelche dummen Vorschläge? Und er plapperte sie auch noch aus. Verrat!

Dass sich seine Gedanken auf seinem Gesicht widerspiegelten war ihm nicht bewusst.
 

Hatte Aya vieles erwartet, was Schuldig ihm darauf entgegnen würde, so war DAS etwas, das nicht dazu gehörte. Da war immer noch kein Spott, der ihm indizierte, dass der andere Mann ihn quälen wollte. Da war das Stirnrunzeln, der unwillige Zug um die sonst so zynisch-schmalen Lippen. Als wenn sich der Schwarz selbst nicht sicher war, was er da vorschlug. Als wenn es ihm unbegreiflich war.
 

Aya schwieg, verharrte stumm, während Schuldig die Drähte löste, ihm die Möglichkeit gab, seine Arme schmerzvoll langsam nach vorne zu nehmen. Er wusste nicht, wie lange genau er gefesselt gewesen war.

Seine Arme waren taub, seine Schultergelenke schmerzten, von seinen Handgelenken ganz zu schweigen. Feuerrote, quälende Stellen entstellten die blasse Haut, ließen ihn die Augenbrauen zusammenziehen, als er nun versuchte die Arme zu bewegen.
 

Verdammt, es tat weh! Seine Stirn zog sich in schmerzverzogene Falten, als er sich durch die Bewegungen quälte und mit Gewalt Blut in seine abgestorbenen Gelenke brachte. Sein Blick fiel auf Schuldig, auf dessen bewegtes Gesicht. Ob er baden WOLLTE? Er fragte nach seinem Willen? Der Großteil in Aya lachte darüber.

Ein anderer fragte sich, was dieser damit bezweckte.
 

Schuldig richtete sich wieder auf, sah Aya einen Moment unentschlossen zu, wie diesem die vermehrte Blutzirkulation in seinen Extremitäten zu schaffen machte. Er sollte sich endlich etwas anziehen, wandte er sich abrupt ab, ging zum noch offenen Fenster, welches etwas weiter im Bereich der Küche lag und schloss es.

"Das Badezimmer ist hinter dir. Handtücher sind drin, Duschgel auch. Und die Tür bleibt auf", sagte er jetzt mit einem verächtlichen Grinsen, den genauen Wortlaut des Weiß vor ein, zwei Stunden wiedergebend.
 

Einige Minuten sah er aus dem Fenster, genoss die eisige Luft der Höhe und schloss es dann, verriegelte das Spezialschloss mit der Codenummer, von Aya unbemerkt. Das war zwar einmal eher dazu gedacht gewesen, ihn im Falle einer schweren Psychose vor dem Selbstmord zu hindern doch nun schien es auch noch anderweitig nützlich zu sein.
 

Aya hatte es wohl gehört, das verächtliche Lächeln. Natürlich... er konnte sich denken, woher das kam, kannte er die Worte doch nur allzu gut.

Er hatte sie selbst gesagt... darum beschwerte er sich jetzt auch nicht. Was jedoch nicht hieß, dass er dem 'Vorschlag' des anderen Mannes Folge leistete.
 

Er blieb stumm auf der Couch sitzen, während Schuldig ebenso reglos aus dem Fenster starrte. Fühlte sich der andere Mann so sicher? So sicher, dass er ihm den Rücken zudrehte? Aya lächelte. Irgendwann würde das Schuldig zum Verhängnis werden.. .irgendwann schon.
 

Langsam kämpfte er sich in die Höhe, drehte sich um, unterwarf die Wohnung gleichzeitig einem genaueren Blick. Nicht gerade der Stil, den er von Schuldig erwartet hatte, aber dennoch nett. Und alleine das durch Bambushölzer abgetrennte Bad. Edel edel.

Schweigend betrat er eben dieses und erblickte auch gleich die Quelle des Wasserplätscherns. Er sollte baden? Aya lächelte.
 

Da wäre ihm die Dusche doch wesentlich lieber... schon alleine, um dem anderen Mann etwas von seiner Demütigung heimzuzahlen. Sein Blick wanderte zur Kabine hinüber, ruhte für einen Moment darauf. Kam wieder zurück zur Wanne.

Aya nahm sich das Duschgel, schnupperte daran. Augenscheinlich Schuldigs momentanes Duschgel. Angewidert stellte er die Plastikflasche wieder weg. Nahm die Badeessenz hoch. Besser. Roch viel besser. Roch anders als Schuldig.
 

Mit dem Rücken zur Tür setzte er sich auf die grobgefertigte Holzbank vor der Wanne, entledigte sich seiner Sachen. Mischte schließlich die Essenz unter das Wasser und schäumte sie auf.

Wenn er schon vor dem anderen Mann baden musste, würde er es diesen mit dem Spannen nicht allzu leicht machen.

Kopfschüttelnd entließ er seine langen Zotteln aus ihrer Fesselung und kämmte die langen Strähnen auseinander, stieg schließlich in die Wanne. Wenn Schuldig glaubte, dass er diese in der nächsten Stunde auch nur ansatzweise verlassen würde, hatte sich der Schwarz getäuscht.
 

Während er Aya aus dem Augenwinkel beobachtete wie dieser ins Badezimmer ging, machte sich Schuldig nun daran nach etwas Essbarem zu fahnden.

Schlussendlich musste er wenig begeistert feststellen, dass weder im geräumigen Kühlschrank, im Eisfach oder in den Schränken sich etwas finden ließ. Die Küche war wirklich großflächig angelegt.

Der dunkle Marmor, die großzügigen Arbeitsflächen aus gleichem Material... eigentlich eine Schande, dass er hier kaum kochte. Nichts.

Er hatte wohl vergessen einkaufen zu gehen. Nun in Anbetracht, dass Brad ihn in diese Klinik gesteckt hatte, war es auch kein großes Drama gewesen, dass er hier nichts hatte. Trotzdem sollte er morgen einkaufen gehen.
 

Ohne einen Blick ins Badezimmer zu riskieren, da seine Gedanken bereits zu anderen Dingen huschten, durchquerte er die Wohnung um in den Schlafbereich zu wechseln. Die Kleiderstangen auf dem seine Mäntel angeordnet waren ließ er außer Acht, als er daneben den großen Schrank nach bequemer Kleidung durchwühlte.
 

Nach einigem Hin und Her fand er eine seiner Lieblingshosen, die er jedoch schon seit langem nicht mehr getragen hatte. Er zog sie nur an, wenn er sich länger hier aufhielt, wenn es ihm nicht sonderlich gut ging und der Stoff des feinen schwarzen Cord ihn umhüllte. Danach griff er sich noch eines seiner schwarzen "Mickey Mouse" Shirts, Unterwäsche und einen warmen Kapuzenpulli seiner Baseballlieblingsmannschaft.

So ausgestattet und noch immer in Gedanken, was er alles einkaufen musste, ging er Richtung Bad und trat dann ein. Der Duft nach Vanille lag in der Luft und Schuldig stand einfach nur da, die Kleidung in der Hand und ein winziges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er badete tatsächlich.

Etwas wärmte sein Herz.

Was es war, wusste er nicht, aber er umkrampfte seine Finger in den Baseballpullover und starrte Aya an, der von einer Schaumburg umgeben dasaß wie ein Berg von Sahne mit einer Kirsche oben drauf.

Ein Traum in Sahne mit Kirsche.
 

Aya öffnete unwillig seine Augen, als er den anderen Mann das Bad betreten hörte. Natürlich... er hätte es sich denken können.

Als wenn sich Schuldig so eine Gelegenheit entgehen lassen würde. Er drehte den Kopf in Richtung des Deutschen und erwiderte dessen Lächeln mit einem ausdruckslosen Blick. Schwieg immer noch. Tauchte nun lieber gänzlich unter, damit seine Haare auch etwas von dem wohlriechenden Wasser hatten. Blieb dort für ein paar lange Momente, bevor er nach Luft schnappend wieder auftauchte.
 

Eines seiner Lieblingsspiele. Die Stille unter Wasser genießen... solange, bis er keine Luft mehr bekam. Es beruhigte ihn... immer.
 

Und schwupp war die Kirsche unter die Sahnehaube getaucht, verfolgte Schuldig den schnellen Abgang des Mannes in dem Schaumberg mit. Als er wieder auftauchte war Schuldig gerade dabei die Kleidung auf dem Sideboard abzulegen.

"Ich hab dir hier was bequemes zum anziehen, für später."

Er wandte sich zu dem Anderen um und sah in das offene Gesicht Ayas. Die nassen Haare lagen auf der weißen Haut, die teilweise zwischen dem Schaum hindurchspitzte. Das Gesicht nass und die Wimpern noch mit Tropfen behaftet, die gerade weggeblinzelt wurden.

"Soll ich das rote Fell der getauften Katze waschen? Ich würde mich anbieten, wäre auch völlig ohne Kosten", grinste er belustigt und lehnte sich mit verschränkten Armen an das Sideboard an. Dieses Bild war wirklich zu köstlich.

Es brannte sich in sein Gedächtnis ein, in einem Bereich in dem es kein Vergessen gab.
 

Aya strich sich seine im Gesicht hängenden Haare zurück. Sein Blick wanderte zu den Kleidungsstücken und blieb an einem schwarzen... Mickeymouse-Shirt hängen.

Wie gut... wie gut, dass der Deutsche ihm noch einen Pullover mit dazu gelegt hatte. Und wenn Schuldig glaubte, er würde sich auch nur einmal mit nur dem Shirt und ohne Pullover sehen lassen...aber gut.

Vermutlich durfte er dankbar dafür sein, dass Schuldig überhaupt daran dachte, ihm Kleidung zu besorgen. Hatte er doch anderes erwartet.
 

"Ohne Kosten?", fragte er spöttisch lächelnd nach, dachte nicht daran, sich durch die Belustigung des Deutschen beschämt zu fühlen.

"Nichts ist umsonst... nur der Tod. Also... was willst du für diese... Hilfe?"

Das letzte Wort verließ beißend zynisch seine Lippen. Was dachte sich der Deutsche? Hier mit ihm herumshakern zu können? Seine Macht auf ihn zu projizieren und so tun, als ob er nichts anderes wäre als ein interessanter Zeitvertreib?
 

Schuldigs Lächeln perlte ab und ein verächtliches Blitzen huschte über die grünen Iriden. Er wurde zornig. Warum hatte der Weiß das jetzt gesagt?

Seine Kiefermuskeln arbeiteten und er machte ein verächtliches Geräusch bevor er sich näherte, sich auf dem Rand der Badewanne abstützte und sich etwas näher beugte.

"Was glaubst du dass ich will?", fragte er zischend. Oh und wie wütend er war. Dieses Balg glaubte doch tatsächlich ihn zu kennen. Glaubte zu wissen wie einer wie "Er" war.

Er näherte sich noch weiter.

"Dir deinen arroganten Verstand ´rausficken?" Die Worte kamen dunkel aus seiner Kehle, doch seine Augen zeigten, was er von Ayas ständigem Misstrauen hielt. Dass es gerechtfertigt oder gar verständlich war aus Ayas Sicht, ließ er beiseite.

"Bilde dir nicht zuviel auf dich und deinen Körper ein", schickte er Aya verächtlich nach und wich mit einem geringschätzigen Blick abrupt zurück. Verließ wütend bis ins Mark das Bad.
 

"Wie angenehm", zischte Aya zu sich selbst, als er Schuldig davonrauschen sah. So... der andere Mann hielt also nichts von seinem Körper? Wie beruhigend das doch war, ätzte er in seinen Gedanken und schnippte einen Schaumberg weg.

"Und wofür bin ich dann hier, wenn nicht für dein Privatvergnügen?", fragte er laut genug, dass Schuldig es auch außerhalb des Bades hören musste. Ja.... aus welchem Grund hatte er ihn der andere Mann sonst mitgenommen?
 

So gut er auch Intentionen abschätzen konnte, soviel Mühe hatte sein Verstand nun nachträglich, die Verletztheit in den Zügen des Mannes zu identifizieren. Das war nicht gespielt, soviel konnte er sagen. Was allerdings nicht hieß, dass er wusste, warum. Was sollte er schon annehmen, nachdem Schuldig ihn ja SO höflich in seine Wohnung eingeladen hatte?
 

"Was weißt du schon", flüsterte Schuldig kaum hörbar, schüttelte den Kopf wie um die lästigen Gedanken zu beseitigen, die ihn weiter in den Zorn treiben wollten. Gezielt ging er auf einen großen Metalltisch zu, dessen schwere Tischplatte an der Oberfläche angehoben werden konnte. Darunter befanden sich zum Einen seine Schusswaffen, Dolche und zum Anderen unterhaltsames Spielzeug, das nicht zum Töten gedacht war... ganz im Gegenteil...

Er entnahm zwei Edelstahlmanschetten für die Handgelenke und eine kurze Ankerkette. Schnell verschloss er den Tisch wieder, ließ die Platte wieder hinabgleiten und der verborgene Sicherheitsmechanismus verschloss sie wieder.
 

Langsam wurde Schuldig müde und auch seine Geduld näherte sich dem Ende. Warum hatte er das alles gemacht? Warum hatte er ihn nicht abserviert?

Er warf die Manschetten auf das Bett und setzte sich daneben, einen Moment die Stirn in die Handflächen legend, dabei die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt. Kurz flackerte Panik in ihm auf. Was sollte er jetzt mit ihm machen? Er musste sich um ihn kümmern, ihn ständig bewachen.

Tief luftholend, die aufkommende Angst niederzwingend ging er zur Küche und holte ein Glas aus dem Schrank, wollte es gerade mit Wasser füllen und hielt mitten in der Bewegung inne. Kurz darauf holte er nochmals ein Glas hervor und stellte es daneben. Augenblicke stand er lediglich da und sah das Paar an. Er musst jetzt für zwei denken.

Seine Lippen pressten sich aufeinander.
 

Wenn er es gleich beendete, dann würde es nicht weitergehen, nicht? Dann würde er dieses Glas wieder in den Schrank stellen können.
 

Mit einer rüden Bemerkung beendete Aya das Bad und stieg aus der Wanne, schnappte sich wütend ein Handtuch und rubbelte ebenso rabiat seine Haut trocken. Wickelte es schließlich um seine Haare und widmete sich seinen niederen Bedürfnissen. Zog sich ebenso zornig an und entließ seine Haare aus dem stofflichen Tuch, kämmte sie masochistisch schmerzhaft durch und band sie schließlich zu einem lockeren, nachlässigem Dutt. Er hatte keine Antwort erhalten und das machte ihn offen gestanden wütend. Er war ein Gefangener hier und wusste noch nicht einmal wofür.

Laut Schuldig schied ja die Möglichkeit aus, die ihm als erstes in den Sinn gekommen wäre. Also... was blieb übrig?
 

Mit einem grimmigen Grollen in den Zügen verließ er das Bad und steuerte direkt auf Schuldig zu. Sah, wie dieser auf die Anrichte starrte. Vielmehr auf zwei Gläser. Zwei.

Soweit er zählen konnte, waren sie nur zu zweit. Für ihn war das zweite Glas. Warum für ihn?

Auch wenn das seine Wut nicht verschwinden ließ, so milderte es sie für einen kleinen, wichtigen Moment.

"Warum bin ich hier?", wiederholte er noch einmal, nicht mehr mit dem vollen Zorn, der sich noch vor Augenblicken auf den Deutschen projiziert hatte.
 

Von den Worten aus seinen Gedanken aufgestört, blickte er einen Moment mit offener Miene zu dem anderen, bis er sich dessen Anwesenheit völlig bewusst war und einen verächtlichen Ausdruck auf seinem Gesicht präsentierte.

"Ist dir schon die Idee gekommen, dass du längst Futter für die Würmer wärst, und nicht im Vanilleschaumbad hättest liegen können, wenn ich dich nicht hierher gebracht hätte?"

Er ließ den Blick kurz über die zusammen gewürfelte Kleidung des Anderen schweifen und ein warmer Ausdruck huschte wie ein Schatten über sein Gesicht.

"Ihr hättet die Finger von mir lassen sollen. Es war dein Risiko mich zu bewachen und nun trägst du die Folgen. Dankbarkeit kennst du nicht, oder?"

Warum redete er überhaupt so viel? Er griff sich das Glas füllte es mit Wasser und trank einen Schluck.

"Wir machen keine Gefangenen", fügte er leise an und ließ das Glas und Aya stehen, begab sich in das nun frei gewordene Bad.
 

Auch wenn das nun schon weit mehr war, als er hatte wissen wollen, so beantwortete das Ayas elementare Frage noch nicht wirklich. Schuldig gab vor, ihn gerettet zu haben? Wütend schob Aya diese Möglichkeit beiseite, auch wenn bereits ein Teil von ihm wusste, dass Schuldig nicht wirklich Grund hatte, ihn anzulügen.

Dennoch begnügte er sich nicht damit, als er nun dem Schwarz zurück ins Bad folgte. Dachte Schuldig, er ließ sich so abspeisen? Sein Blick heftete sich auf den Rücken des Telepathen.

"Und warum bin ich dann einer?"
 

Schuldig stand im Bad, besah sich im Spiegel und beschloss sich schnell zu duschen, den Schmutz von seinen Füßen zu waschen und sich die Zähne noch zu putzen, danach wollte er nur noch ins Bett.

Doch noch ehe er seinen Beschluss wirklich zu Ende denken, oder gar in die Tat umsetzen konnte, stand auch schon Aya hinter ihm und stellte ihm diese Frage. Diese gottverdammte nervende Frage, die er sich selbst nicht beantworten konnte.

"Du weißt doch sonst immer aus welchen Beweggründen ,Schwarz' etwas macht, such dir was aus, da fallen dir bestimmt einige passende Gründe ein"

Er wich aus, mit seinen zynischen Worten und löste die Schlaufe des Stoffgürtels seines Bademantels und zog ihn aus. Er hatte das Gefühl, dass nun die Müdigkeit der letzten Tage ihn einzuholen schien.
 

"MEINE Gründe hast du vor ein paar Minuten mit deinem ach so charmanten 'Bild dir nichts ein' zunichte gemacht. Jetzt will ich deine hören", gab Aya zurück, ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Entspannen... er musste ruhig werden... er durfte sich nicht gehen lassen.

Aya lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Bambusrahmen und weigerte sich, auch nur einen Funken Rücksicht auf die Nacktheit des Deutschen zu nehmen. Sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

Momentan gab es andere Dinge, die weitaus wichtiger waren. Der Zynismus, mit dem Schuldig der Frage auswich, die doch so einfach war. Zum Beispiel.
 

Schuldig lächelte maliziös und drehte sich langsam zu Aya um, als wäre er nicht hundmüde und wollte ins Bett, sondern als würde ihm die Situation geradezu boshaftes Vergnügen bereiten.

Was sie nicht tat.

Sie löste eine Unruhe in ihm aus, die er nicht mochte. Sie ließ ihn unkontrolliert werden und reizte ihn soweit, dass er sich zu unnötigen Taten hinreißen ließ.

Wie zum Beispiel jetzt, als er auf den Weiß zuging, vor ihm stehen blieb und die Hand langsam hob, sie an den Haarschopf führte und in das Haar griff.

"Vielleicht ist das hier ja der Grund", sagte er und die Unruhe wuchs mit jeder Minute, die der Andere hier herumstand und ihm diese Frage stellte. Er sollte ruhig sein, etwas Anderes fragen, aber nicht warum er Aya hier hergeholt hatte. Das wusste er im Prinzip nämlich selbst nicht.
 

Ich wollte ihn nicht tot sehen... dieser Gedanke kam ihm wieder und er schnaubte leicht. DAS wäre ein Grund, den Aya sicher verspotten würde. Und genau deshalb konnte er ihn nicht sagen. Er hatte zum ersten Mal so etwas... wahrlich Verrücktes getan, verrückt für ihn.

Es war nicht seine Art. Und dafür auch noch den Spott zu ernten? Nein danke.
 

Auch wenn Ayas erster Gedanke gewesen war, den anderen Mann mit Gewalt von sich zu stoßen und ihn zu schlagen, so kehrte nun die lang ersehnte Ruhe in ihm ein. Ließ ihn ohne mit der Wimper zu zucken zulassen, dass Schuldig schmerzhaft an seinen Haaren zog.

"Das ist Unsinn", intonierte Aya völlig ruhig und erwiderte den teuflischen Blick der grün-blauen Augen aufrecht, ohne Wut, ohne Spott. Einfach nur wissend.

Es ging hier nicht um seine verdammten Haare. "Wenn du meine Haare haben willst, nimm sie dir. Dafür brauchst du mich nicht und das wissen wir beide."
 

Schuldig fühlte sich in die Enge getrieben, von diesen bohrenden Fragen, von diesen inquisitorischen violetten Augen die ihn zwingen wollten etwas zu sagen, was ihn der Lächerlichkeit preisgeben würde.

Sein Körper arbeitete, versuchte sich im Zaum zu halten. Egal, was er sagen würde, egal, was er erfinden würde, welche Antwort er dem Weiß bieten würde, er würde ihm außer der Wahrheit nichts glauben.

Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor in der er einen inneren Kampf ausfocht, doch es waren lediglich Augenblicke, bis er den Anderen losließ und den Blick mit einem leisen "Vielleicht wollte ich dich auch nicht tot sehen", abwandte und in die Dusche stieg. Das Wasser stellte er beinahe mit blindem Blick ein, da seine Augen fast nichts sahen. Wie im Nebel hatte sich ein Film darüber gelegt um sich vor dem Blick des anderen Mannes abzuschotten.
 

Nun war es an Aya, jegliche andere Frage in der Richtung zu vermeiden. Er hatte das schreckliche Gefühl, dass dies nun wirklich die Wahrheit war. Eine Wahrheit, die sein Verstand nicht verarbeiten konnte.

So zog er sich nun auch ohne noch etwas zu erwidern aus dem Bad zurück. Nahm die Tür in Augenschein. Wer weiß...vielleicht war Schuldig unvorsichtig genug gewesen, um sie nicht abzuschließen. Keinen Blick zurück werfend war er an besagter Barriere und stellte fest, dass der andere Mann anscheinend schon vorgesorgt hatte. Abgeschlossen. Gesichert mit Zahlencode. Wäre ja auch zu schön gewesen. Aya versetzte der Tür einen Tritt. Schlenderte schließlich nachdenklich zum Fenster.

Er hatte keine Ahnung, wo sie hier waren, effektiv verhindert durch den Amerikaner. Doch das würde sich ändern... zu gegebener Zeit. Wortlos hievte er sich auf den Fenstersims und lehnte sich an das Fenster, wartete auf... nichts.

Er wartete ganz einfach... ohne Ziel. Schmiegte sich in den warmen Pullover. Es wurde langsam besser, das Zittern, hörte schließlich gänzlich auf. Gott sei Dank.
 

o~
 

Schuldig löschte das Licht im Badbereich und trat mit abwesender Miene in den Wohnraum ein. "Ich", sagte er und sah sich nach Aya um. Er fand ihn an eines der Fenster gelehnt, wirkte als wäre es angenehm dort zu sitzen. Was sollte er sagen? Ihm fehlten die Worte.

Sonst war er doch auch nie um einen Spruch verlegen. Doch jetzt, nachdem er das gesagt hatte, kam es ihm vor, als hätte er etwas verraten. Ein Geheimnis verraten.

"Ich bin müde. Würdest du mitkommen", versuchte er sich zu erklären.

"Ist mir zu unsicher, wenn du frei durch die Wohnung streifst", murmelte er noch hinzufügend. Als müsste er den Anderen erst noch überzeugen. Und dabei hatte er das Wort ,fesseln' nicht benutzt. Er hatte jetzt keine Kraft dafür es zu verwenden, oder lange Diskussionen zu führen. Er war müde, hatte eine Berg- und Talfahrt der Gefühle hinter sich und diese hatte - wie sie es immer tat - sehr an seinen Kräften gezehrt.
 

Aya sah in die müden Augen des Telepathen, ignorierte innerlich seine Wut auf dessen Frage. 'Würde'? Als wenn er um irgendetwas gebeten wurde... denn sich zu weigern hätte schlicht keinen Sinn. Schuldig würde ihn zwingen mit sich zu kommen, sollte er nein sagen... und genau diese Verlogenheit machte ihn zornig.

"Wie lange wirst du mich hier gefangen halten?", fragte er mühsam ruhig, wollte wenigstens einen ungefähren Zeitraum, den er hier verbringen würde. Bevor er sich schließlich wieder von Schuldig fesseln lassen musste, denn das würde ihm mit Sicherheit bevorstehen...
 

"Was erwartest du jetzt zu hören?"

Schuldig rieb sich mit der Rechten über die Stirn. Müde schloss er die Lider für einen Moment, als seine geistige Kontrolle kurz nachließ und seinen Geist eine kurze Welle ferner Gedanken umfloss. Sie waren nur schemenhaft da, völlig chaotisch, aber dies war ein Zeichen, dass er Ruhe brauchte, dass sein Verstand kurz vor dem totalen Zusammenbruch stand.

Die letzten Tage waren zu viel gewesen. Er hatte zu viel aufnehmen müssen und dies oft mit seiner Telepathie getan, hatte sein Gehirn mit allerlei angefüllt und nun drohte eine Überladung. Ruhe und Schlaf. Genau das war es, was er jetzt brauchte. Dringend. Brad hatte das gewusst, hatte geahnt, dass Schuldig jetzt nicht zusätzlichen Ballast gebrauchen konnte, sondern dringend abschalten musste. Doch das konnte er jetzt nicht.

"Ich weiß nicht wie lange", er kämmte sich die Haare mit den Fingern hinters Ohr und drehte sich Richtung Schlafbereich.
 

Die Wahrheit hatte Aya erwartet, und bekam sie nun. Schuldig WUSSTE es nicht? Mit einem nun deutlichen Zischen sprang er von der Fensterbank. Allein dieser Satz konnte alles beinhalten. Tage. Wochen. Monate. JAHRE.

Er setzte Schuldig hinterher, riss diesen an seiner Schulter herum. "Was soll das heißen?", zischte er ungehalten. "Du weißt es nicht?" Den Teufel würde er tun und darauf warten, dass er irgendwann einmal freigelassen wurde... das konnte Aya jetzt schon sagen.

Seine Augen kochten über vor Wut. Er war zum Vergnügen des Deutschen hier und dieser konnte nicht sagen, für wie lange? Als wäre es egal, was er davon hielt...

Nein, falsch. Es WAR egal, was er selbst davon hielt.
 

Er hatte es kommen sehen. Schon als er die Hand an seiner Schulter spürte hatte er gewusst, dass er seine Beherrschung verlieren würde. Dass er den Charakterzug an die Front schicken würde, der ihm immer half. Die Bosheit.

Noch während er von Aya aufgehalten wurde, griff er ihm zielstrebig an den schlanken Hals, umschloss ihn mit den Fingern. Er übte keinen schmerzenden oder beeinträchtigenden Druck aus, denn er wollte lediglich warnen. Warnen vor sich selbst. Denn wenn Aya nicht still sein würde, konnte er für nichts mehr garantieren.

Dann würde er die Kontrolle über seinen Verstand verlieren und jede Ratio ausschalten, denn sie war die letzte Instanz, die vor dem Wahn stand. Und der lauerte nur darauf endlich seinen Hunger stillen zu dürfen.

Wie er es schon immer in Situationen getan hatte in denen er mit dem Rücken zur Wand stand, in denen er mit seinen Gefühlen nicht mehr umgehen konnte, oder seine Gedanken im völligen Chaos durch die Telepathie in seinem Kopf umherschwirrten. Wie Bienenschwärme.

"Sei still", knurrte er bissig lächelnd. Seine Augen hatten nichts Müdes mehr an sich, denn die Irrnis wollte sich in ihnen zeigen, wollte heraus, doch noch stand die Ratio als schützende Mauer vor ihr. Noch hielt der Wall.

"Du weißt nichts über mich. Rein gar nichts. Du weißt nicht wie nah du dran bist...", er biss die Zähne zusammen, bohrte den Blick eindringlich in die Wut des Anderen. "...mit deinen Fragen das herauszufordern, was mich kennzeichnet. Lass mich schlafen."

Er legte den Kopf leicht schräg, als kämpfe er mit sich selbst, als lausche er auf etwas in ihm, doch sein Blick hatte sich nicht verändert, er starrte immer noch Aya an.

"Ich will das nicht", sagte er.
 

Hatte Schuldig in einem Moment noch die Hand des gegnerischen Mannes an seinem Hals, so löste Aya sie mit einem ebenso eisernen Griff. Er sah, in welcher Gefahr er sich befand, war aber dennoch nicht geneigt, sich dem zu fügen.

"Ach... Fragen, die nur natürlich sind", grollte er. "Verzeih mir, wenn ich sie stelle... es geht ja nur um mich", spottete Aya schließlich, drückte die Hand des Telepathen schmerzhaft.

Er stand so kurz davor, Schuldig seine Faust in die boshaften Züge zu treiben... so kurz, dass sich seine Hand schon halb zum Schlage erhoben hatte. Es fehlte nicht viel und auch er würde viel zu viel wagen.

"Ich will auch nicht hierbleiben... wie schön. Dann sind wir uns wohl einig im Nichtwollen...", schloss Aya zischend.
 

Schuldigs Blick fiel wie in Zeitlupe auf seine Hand, registrierte den Schmerz darin schon nicht mehr. In seinen Ohren begann es zu rauschen, während der Rest seiner Wahrnehmung völlig in den Hintergrund rutschte. Er wollte dieses Rauschen nicht. Er hörte nicht mehr, was der Fremde sagte, starrte auf die Hand die sich zum Schlag erheben wollte, ihn bedrohte, die ihm zu nahe kam. Gefahr.

Sein Auge sah die Gestalt vor sich klar, doch sein Gehirn verwischte dieses Bild, zeigte nur Fremde, nur Gefahr.

Los, töte ihn, er will dir etwas tun. Lass es nicht zu. Mach schon, trieb es ihn an. Dieses Etwas keimte in dem Grün seiner Augen auf, legte blaue, dunkle Kälte in sie, riss den Wall entzwei und bewirkte, dass sich ein eiskaltes Lächeln auf die Lippen legte, sich sein Kopf etwas senkte, wie ein Raubtier den Anderen beäugte. Er sprach nicht mehr. Für Worte war es zu spät.
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt.

Danke für's Mitlesen.

Bis zum nächsten Mal.
 

Gadreel & Coco

Hungrige Gier

~ Hungrige Gier ~
 


 

Auch wenn er wütend war, entging Aya nun nicht, dass schleichender Wahnsinn in Schuldigs

Augen kroch und dass er mit einem Male in höchster Lebensgefahr war. Schuldig war darauf

aus zu töten. IHN zu töten.

Die Hand, mit der er die des anderen Mannes gerade eben noch umklammert hatte, verlor

langsam an ihrer Strenge, entließ den Deutschen aus seinem Griff. Ayas gesamte Gestalt

spannte sich, machte sich für einen unausweichlichen Kampf bereit, der möglicherweise zu

seinen Ungunsten ausgehen konnte.

Möglicherweise? Aya schnaubte innerlich. Mit großer Wahrscheinlichkeit sogar.

Vermutlich würde er sogar den Kürzeren ziehen und wie es im Moment aussah, schreckte

Schuldig der Mord an ihm nicht wirklich ab. Im Gegensatz zu seinem Versprechen ...
 

Das Versprechen ...

Aya runzelte die Stirn. Es war eine Möglichkeit ... eine Unbekannte.

Er konnte nicht abschätzen, wie sich sein jetziges Verhalten auswirken würde, dennoch

sprach er ihm eine größere Möglichkeit zu als zu versuchen, gegen den Deutschen zu

kämpfen.

"Das wirst du nicht tun." Ruhig intoniert, so als wäre es das selbstverständlichste der Welt.

Vor einem Raubtier durfte man nicht fliehen. Man musste Mut zeigen.

"Denk an unseren Deal. Du wirst mich nicht umbringen, hörst du?" Immer wieder...in

ruhigen, getragenen Worten.

Aya wusste nicht, ob er das Richtige tat, dennoch zog er unweigerliche Parallelen, ging das

bisher größte Risiko ein. Legte dem anderen Mann seine Hand auf die Stirn, strich sie hinab

zur Schläfe.
 

Du hast mir nichts zu sagen, schrie etwas in Schuldig, dass die Worte gehört hatte, ja sie sogar

verstanden hatte. Doch es war zu schwach um sich gegen die einnehmende, alles unter ihre

herrschsüchtige Knechtschaft zwingende Irrnis, zu wehren.

Worte, er hatte ruhige Worte gehört, die das Rauschen zurückdrängten, die die Wut des anderen

übertönen wollten.

Doch nun ging das Rauschen zurück um die Worte verstehen zu können. Denn sein Gehör wollte

seine Aufgabe wahrnehmen und `hören`. Es trennte sich vom Wahnsinn ab, kehrte zur Vernunft

zurück.
 

Ebenso wie sein Tastsinn, der die Wärme der Hand fühlen konnte. Zwei Abtrünnige des Wahnsinns,

die ihn mit der Besinnung an ihre Aufgaben hinter die Linie zurückzogen. Mit der einzigen Waffe, die

sie ihm entgegensetzen konnten um ihn durch die Vernunft in Ketten legen zu lassen: Gefühl.

Schuldig fühlte, dass der Mann vor ihm diese guten Gefühle von Normalität, von ... menschlicher

Nähe in ihm auslösten, die er begrüßte. Denn der Wahnsinn machte ihn einsam, trieb ihn in die

Einsamkeit, der Welt der grausamen Gedanken.

Langsam hob er die Hand, der Blick fiel etwas in sich zusammen, als zerbreche eine Maske.
 

Für einen minimalen, schrecklichen Augenblick schien es, als wäre Ayas Idee genau die

Falsche gewesen, doch dann zeigten sich erste Veränderungen in dem feindlichen

Telepathen. Die Ruhe, die einkehrte. Ein wenig rationelles Denken ... Sicherheit ... für ihn.

Auch wenn Aya die auf ihn zukommende Hand mit Misstrauen zur Kenntnis nahm, bewegte

er sich nicht, sondern ließ es geschehen.

Egal, wo sie hinwandern würde, jede Verweigerung würde unwillkürlich das zerbrechen

lassen, was er sich gerade so mühsam aufgebaut hatte. Stattdessen fuhr er immer noch fort,

die Schläfe des Telepathen entgegen zu streichen, diese Geste ein Andenken an die Zeit im

Keller. Auch wenn er sich mittlerweile ernsthaft fragte, was für gefährliche Charakterzüge

des Deutschen ihn noch erwarten würden ...
 

Schuldigs Hand näherte sich dem Gesicht vor ihm. Um es als wahrhaft erkennen zu können wollte er

es berühren, wollte fühlen ob daher die Wärme kam.

Seine Fingerspitzen tasteten sich näher, trafen auf die Oberfläche der Haut und fuhren bei dieser

Berührung sofort wieder zurück. Kamen wieder und verhielten kurz an der Schläfe, krochen zart in

den Haaransatz. Er folgte ihnen mit seinem Blick. Grün polierter Smaragd fiel in die schmeichelnde

kostbare Flut von roter Seide.

Aya.
 

Irritiert zog Schuldig die Stirn kraus, riss sich vom Anblick des roten Haares los und suchte die Augen

seines Gegenübers. Suchte ... die Ruhe, die darin lag.

Es war, als könne er nicht mehr aufrecht stehen, als ihn dieser Blick traf. Das Misstrauen darin in

seiner vollkommenen Gegensätzlichkeit zu der warmen Hand an seiner Haut. Die Erkenntnis über

das, was er beinahe getan hätte überkam ihn und er ließ die Hand sinken, löste sich aus der

Berührung und ging mit hölzernen Schritten zu seinem Bett.

Er ließ sich darauf nieder, sein heißes Gesicht in die Hände gelegt, die Fingerspitzen in die Stirn und

Schläfen gekrallt stützte er die Ellbogen auf die Oberschenkel. Tief durchatmend, schwieg er.

Würde er es je loswerden? Dieses `Etwas` in ihm?
 

Er hatte keine Kraft mehr, er war so verdammt müde, auch wenn sein Körper noch in Aufruhr war; er

konnte nicht mehr.
 

Ayas Haut prickelte unangenehm, wo Schuldig mit seiner Hand über die überreizten Zellen

gestrichen war. Wo er seinen Haaransatz berührt hatte.

Er sah unbewegt zu, wie dieser sich auf das Bett setzte und ihm zunächst keine Beachtung

schenkte. Ihn seiner nun einsetzenden Angst überließ, von der Aya noch nicht einmal

gewusst hatte, dass er sie überhaupt gefühlt hatte. Er zitterte leicht vor Anspannung, vor

Wissen, dass es auch gut und gerne anders hätte ausgehen können.

Er bewegte sich auf einem Drahtseil über einem tiefen Abgrund. Und wenn er nur einmal das

Falsche tat, würde er bei dem Versuch, eben dieses auszubügeln, sterben. Das wusste er. Und

wodurch war er in diese Situation gebracht worden? Durch Schuldig.

Sie hätten ihn nicht entführen müssen. Sie hätten ihn da lassen können. Das hätte es IHM

erspart, nun mit solch einer gefährlichen Situation umgehen zu müssen. Ausgerechnet ihm,

der von Zwischenmenschlichkeit nun gar nichts hielt. Zumindest nicht viel.
 

Schuldigs Augen wurden feucht, fingen an zu brennen. Brennen wie die Wut auf sich selbst, die

verzweifelte Wut die ihre Tränen vergießen wollte, wie so oft wenn er am Ende seiner Kräfte war und

die Gedanken kamen. Seine Gedanken mit der murmelnden Hintergrunduntermalung der vielen

anderen Gedanken, die er dann nicht mehr abstellen konnte.

"Leg dich hin", sagte er müde mit belegter Stimme.
 

Aya wusste in diesem Moment, dass es ihm überhaupt nichts brachte sich zu wehren. Es

würde zum vollkommenen Armageddon führen, ja. Doch das würde die Dinge

verständlicherweise nur verschlimmern. Er hörte sie, die tränengetränkten Silben und wusste

gleichsam, wie instabil der Telepath war.

Aya kam zum Bett, setzte sich wortlos darauf nieder. Sah die Edelstahlmanschetten.

Seine Lippen verzogen sich zu einer starren Linie, die Hände zu eisernen Fäusten geballt. Er

wollte das nicht. Dennoch sank er nun zurück, auf den Rücken, die Augen starr an die Decke

gerichtet.
 

Schuldig hörte wie der Mann sich näherte, auch wenn die nackten Fußsohlen keinen Laut

verursachten, so tat es doch die Kleidung, das minimale Geräusch und das Niedersetzen auf dem

Bett, welches ihn aufstehen ließen. Er verbarg alles, was er momentan fühlte hinter einer Maske aus

Müdigkeit und Leere. Weit dahinter im Niemandsland seines Geistes tobte das Chaos der Gedanken,

ließ seine Handlungen automatisch erfolgen. Die schmalen abgerundeten Kanten der Manschetten

lagen kühl unter seinen Fingern als er sie aufnahm. Aya lag vor ihm.

"Nimm die Hände zusammen", sagte er ebenso leise wie zuvor.
 

Die Reaktion, die erfolgen sollte, blieb jedoch aus. Schuldig wartete nicht lange, stützte sein Knie auf

das Bett, legte die Manschette um das linke Handgelenk, ließ sie mit einem hauchfeinen Klicken

ineinander schnappen, ließ das Rechte folgen und führte die schlaffen Arme dann über den Kopf des

Weiß bis sie auf dem Bett aufkamen.

Das Bett war groß, hatte keine Befestigungsmöglichkeit, da keine Bettpfosten oder selbiges

vorhanden war. Es war lediglich eine große Spielwiese.

Er musste den Weiß also am Bettfuß fesseln. Die Kette lag nicht unweit und er zog die feinen Glieder

durch die Ösen der Manschetten hindurch, schlang die Kette um den Bettpfosten, welcher am Boden

in einem Guss mit der metallenen Platte überging, die unter dem Bett lag. Eher eine optische

Spielerei denn als Nutzen gedacht.

Er ließ die Kette so locker wie möglich, sodass Aya die Möglichkeit hatte, seine Arme vor das Gesicht

zu legen, weiter jedoch nicht. Das Schloss schnappte ein und er stand wieder auf.
 

Stumm betrachtete er sich die Gestalt einen Augenblick. Die Kette und die Edelstahlmanschetten,

waren eher Schmuck, denn dazu gedacht gewesen jemanden wirklich festzuhalten. Ein teurer

Schmuck.
 

Er entfernte sich vom Bett, löschte die Lichter nach und nach, ging wieder in die Küche und holte sich

ein Glas Wasser, wühlte in seinem Medikamentenfach nach seinen Schlaftabletten. Er drückte sich

eine aus der Packung und schluckte sie hinunter. In einer halben Stunde hätte er Ruhe. Auf diese

Voraussage konnte er sich verlassen. Zu oft hatte er sie schon benötigt um schlafen zu können
 

Aya ließ es mit starr zusammengepressten Kiefern über sich ergehen. Er hatte das Gefühl,

dass er sich das Gelenk selbst brechen würde, unter der Wucht, mit der er es zusammenbiss.

Übelkeit wellte abrupt in ihm hoch. Kalter Stahl.

Seine Arme weit über seinem Kopf ausgestreckt. Hilflos. Ausgerechnet er. Hilflos. Hass

überschwemmte ihn, brandete sich an seiner Seele und tränkte sie in rote, schäumende

Brandung. Dem Wunsch, nein, der Gier nach Blut.
 

Er wandte sich ab, drehte sich zur Seite. Weg von Schuldig. Er wollte ihn nicht mehr sehen.

Sein Körper stand unter Hochspannung und nur eine minimale Berührung hätte die stumme

Beherrschung zerrissen wie nichts. Eine, minimale Berührung und er konnte seine Wut, seine

Frustration, seinen Hass nicht mehr zurückhalten. Draußen ... im Kampf wäre das kein

Problem gewesen, doch hier, gefesselt und wehrlos wie er war, würde er schier zerbrechen

unter der Wucht seiner Gefühle.
 

Der Rest würde dann unschön für ihn werden.
 

Aya bettete seine Arme vor das Gesicht, legte sie so übereinander, dass sich der Stahl nicht in

seine Haut schnitt, auch wenn die Fesseln jetzt schon schmerzten ... dank dem Draht.

Doch das war nicht das, was Aya wirklich beherrschte. Seine Gedanken waren es, die sich

spiralförmig immer weiter nach unten drehten ... immer tiefer hinab in die Verachtung für

den Schwarz und dessen Handeln.
 

Schuldig nahm die Fernbedienung, steuerte das Herablassen der Jalousien um sie beide der

Dunkelheit zu übergeben und löschte die letzten Lampen im Vorbeigehen. Neben dem Bett blieb er

im Dunkeln stehen, nahm die Decke die am Fußende lag und breitete sie flüchtig über Aya aus, wo er

ihn vermutete, zog seinen Bademantel aus und legte sich nieder. Die Zeitschaltuhr würde gegen

Mittag die Rollladen wieder heben und sie wecken.
 

o~
 

Aya hatte sich stundenlang dagegen gesträubt, einzuschlafen. Er hatte wachgelegen, den

Atemzügen des anderen Mannes gelauscht und seine hilflose Wut in Ruhe umzuwandeln

versucht. Ob ihm das gelungen war ... er glaubte es nicht. Wenn er für sich alleine dort

gelegen und nicht daran gedacht hätte, dass er gefesselt und hilflos neben seinem Feind lag,

wäre der Versuch vermutlich von Erfolg gekrönt gewesen.
 

Nur war dem leider nicht so. Das raubte ihm Schlaf und auch Kraft, ließ ihn schließlich vor

Erschöpfung doch leicht einschlummern, jedoch immer wieder hochfahren. Seine hellwachen

Instinkte zeigten ihm wieder und wieder Gefahr auf, hielten ihn schlussendlich doch wach.

Wie lange das war, bis endlich diese verdammten Jalousien hochgehen würden ... das wusste

er nicht.
 

Schuldig schlief dank der Wirkung der Tablette ohne Durchschlafschwierigkeiten und wachte nach

einigen Stunden langsam auf, die Ruhe in seinem Kopf genießend.

Er stützte sich auf einen Ellbogen, rieb sich die Augen und hangelte nach dem kleinen Wecker, den

er unter dem Bett positioniert hatte. Kurz vor zehn Uhr, zeigte ihm der Zeitmesser mit den

Leuchtziffern. Er stellte ihn wieder ab und ließ sich mit einem kleinen Seufzer wieder nach hinten

fallen.

Wie ausgeruht er sich doch fühlte, zwar mit einem Riesendurst, aber er hatte keine Lust aufzustehen,

er würde noch liegen bleiben und die Stille auf sich wirken lassen. Er zog die dünne Decke, die um

seine Hüften lag etwas weiter hinauf und legte seinen Arm unter den Kopf.
 

Aya hörte, dass der andere Mann wieder zu sich kam, sich neben ihm regte. Alles in ihm

verspannte sich vor neuem und altem Hass. Vor Übelkeit, die ihn unerwartet überkam, die er

aber nach und nach niederkämpfte. Er sagte nichts, verhielt sich völlig still, zerschnitt jedoch

die Luft vor sich mit einem eisigen Blick.

Warum hatte er gestern noch einmal gleich soviel Wert darauf gelegt, Schuldig zu beruhigen?

Warum hatte er es nicht einfach darauf angelegt und wäre das Risiko eingegangen und hätte

den anderen Mann getötet? Auch wenn er selbst dabei hätte draufgehen können? Jetzt, heute,

war ihm das unverständlich.
 

Schuldig starrte in das Dunkel, wobei es nicht völlig finster war, denn durch eines der großen Fenster

durchschnitt die Sonne in gebündeltem Licht die absolute Finsternis. Er hatte die Jalousie nicht

vollständig herabgelassen. Scheinbar wurde es ein sonniger, aber vermutlich kalter Tag werden. Er

wollte sich auf die Seite drehen und erstarrte für einen Moment in der Bewegung, als sein Kopf

bereits den Lagewechsel einleiten wollte. Wer?

Und dann schlug die Erinnerung zu. Überrannte ihn und spulte ihm die Ereignisse des letzten Tages

vor. Die Schulter des anderen Mannes, der von ihm abgewandt lag, zeichnete sich dunkel vor ihm ab.
 

Wie auch gerade schon vernahm Aya genau, wie sich der andere Mann bewegte, sich ihm

nun zudrehte. Stockte, wie er mit nun fast schmerzhaftem Herzklopfen feststellte. Egal, was

Schuldig nun tun würde, Aya wusste, dass er sich nicht genug unter Kontrolle hatte.

Diese Situation zerrte an seinen Nerven, alleine die Manschetten taten das, die er

wohlweißlich mit seinen Blicken mied. Sie dennoch spürte durch den feingliedrigen

Schmerz, der sich von den Drahtspuren darum zog.
 

Mit aller Gewalt konzentrierte er sich auf seinen Körper. Auf dessen Beschwerden, die er nun

nach und nach auflistete, sich damit Ablenkung verschaffte. Spürte er doch instinktiv den

Blick des Telepathen auf sich und konnte sich durchaus vorstellen, wie dieser auf ihm ruhte.
 

Schuldig ließ sich zurück auf den Rücken gleiten und starrte an die Decke. Diese Tabletten hatten

ihm doch tatsächlich einen erholsamen Schlaf beschert und sogleich das ausgelöscht, was ihm

dieses Schlafbedürfnis ausgelöst hatte: Seine Entführung, sein Aufenthalt in diesem Keller, Aya und

dessen Anwesenheit in seinem Apartment. Dass dieser Mann ihn gestern bis aufs Blut gereizt hatte

und er diese Reizung fast mit dem kompletten Verlust seiner Kontrolle über das Chaos in ihm

beantwortet hätte ließ sich leider nicht verdrängen. Ganz im Gegenteil.
 

Es war zu präsent in ihm. Schuldigs instabile Lage gestern war eine der extremen

Ausnahmesituationen gewesen, die sonst höchstens eines seiner Opfer oder gar Brad vorher erlebt

hatten. Scham und Wut über sich selbst, dafür, dass Aya dies gesehen hatte. Seine Schwäche

gesehen hatte.

"Ich hoffe, du hast ebenso gut geschlafen." Sagte er mit einem gehässigen Unterton. Jaa, das tat gut.

Das war besser als Tränen.
 

Aya erwiderte nichts, auch wenn es ihn der beißende Ton des Telepathen wie eiskaltes

Wasser durchzog. Natürlich ... Schuldig machte es Spaß. Wie hätte er auch anhand der

gestrigen Kommentare etwas Anderes annehmen können?

Wie war das nochmal mit der Dankbarkeit gewesen, die er doch hatte empfinden sollen?

Wem gegenüber? Schuldig?

Dafür, dass dieser sich daran aufgeilte, ihn so zu sehen?
 

Innerlich lachte er darüber. Äußerlich zwang er sich mit schmerzendem Willen zur Ruhe.

Schuldig war Schuldig und genoss dieses Spiel. Das würde er bereuen, soviel konnte Aya

jetzt schon sagen. Doch bis es soweit war ... würde er einfach warten müssen ... einfach

warten.

Er entspannte seine gesamte Gestalt, übersah alles, was ihm Unwohlsein bescherte. Weg mit

der Übelkeit in seiner Magengegend, weg mit den verspannten, schmerzenden Muskeln, dem

quälenden Durst ...
 

Schuldig hatte keine Antwort erwartet, aber das Schweigen reichte ihm. Es war Balsam für ihn.

Keine Widerworte, kein nervendes Gefrage um das große Thema: Warum das Ganze. Herrlich.

Schnell überprüfte er die Umgebung mittelsTelepathie, ließ Brad wissen, dass es ihm besser ging,

dass er alles unter Kontrolle hatte. Was den Anführers ihres Teams jedoch nur im kleinen Maße

beruhigte wie es schien.
 

Er grinste in sich hinein und beschloss aufzustehen. Gut gelaunt streifte er die Decke weg und ließ

seinem Entschluss Taten folgen, ging nackt wie er war in Richtung Badezimmer um sich seiner

Körperpflege zu widmen. Aya hatte die Möglichkeit ihm zu sagen, wenn er etwas benötigte, er

dagegen hatte nun das dringende Bedürfnis ausgiebig zu duschen und sich einer Gesichtsrasur zu

unterziehen.
 

Aya lauschte dem Rauschen der Dusche, ließ es wie trügerisch falschen Balsam seine Seele

einlullen. Es würde ihm gar nichts bringen, wenn er voller Hass und Wut darauf wartete, dass

Schuldig seinen nächsten Aussetzer bekam und ihm damit die Möglichkeit gab, den anderen

Mann zu beseitigen. Er musste warten ... warten auf irgendeine Schwachstelle des Deutschen,

egal, was ihn das kostete.

Auch wenn ihm das schwer fiel wie nichts, doch er war nie der Mensch gewesen, der sich

Herausforderungen nicht stellte. Und das hier war eine. Ein Test an seine Selbstbeherrschung.

Aya lächelte. Als wenn er jemals versagt hätte.
 

Schuldig verließ das Badezimmer nach einer Stunde, schaltete das Radio ein, und ließ die Jalousien

zur Hälfte hochfahren. Danach ging er wieder in den Schlafbereich, der sich durch zwei Stufen vom

übrigen Wohnraum optisch abgrenzte und suchte sich Kleidung, die ihn jetzt ansprach, aus.

Schwarz wäre jetzt eine gute Farbe, beschloss er schlüpfte in eine schwarze Lederhose und ein

leuchtgrünes T-Shirt, welches eng anlag. Seine Haare band er nur flüchtig zusammen. Ohne ein

weiteres Wort zu verlieren ging er um das Bett herum und besah sich die liegende Gestalt. In seine

Beobachtungen vertieft bückte er sich und nestelte an der Kette, überlegte jedoch noch einen

Moment und blickte Aya grinsend an.
 

Was für ein Gegensatz zum gestrigen Tag, schoss es Aya durch den Kopf, als ihn der

amüsierte Blick des Deutschen traf.

Anscheinend hatte sich der gestern so handzahme Telepath wieder gefangen und kostete

seine Überlegenheit nun in vollen Zügen aus. Eine Überlegenheit, die Aya ihm gestattet

hatte, wie ihm mit einem Male bewusst war.

Er hatte sich gestern freiwillig hingelegt.

Nun ... den Umständen entsprechend freiwillig.
 

Doch das waren Details ... zumal ihn der gesamte Umstand leise lächeln ließ. Er würde sich

schon darum bemühen, Schuldig das Leben madig zu machen.

Mit deutlichem Amüsement in der Stimme erwiderte er den Blick mit einem rauen "Wie...so

ganz ohne Panik heute, Schwarz?"

Herrlich, die Schwachpunkte des Anderen auszuloten.
 

Ah, daher wehte also der Wind, stellte Schuldig gedanklich fest, sein Amüsement keineswegs

dadurch trüben lassend.

"Nein, dank deiner Hilfe geht's mir heute wieder prima. Ich strotze nur so vor Unternehmungslust und

Energie", grinste er und seine gute Laune zeigte sich auch in seinen Augen. Er öffnete die

Edelstahlmanschetten und zog die Kette aus den Ösen heraus, verschloss sie jedoch wieder, nicht

das Aya auf die Idee kam und ihm noch sein zartes Hälschen damit zuzog.
 

Was genau das war, das Aya in diesem Moment am Liebsten getan hätte.

"Das freut mich natürlich ... habe ich doch gestern noch gedacht, dich tatsächlich zum

Weinen gebracht zu haben", entgegnete er stattdessen mit freudigem Spott, während er sich

aufrichtete und seine Knochen knacken ließ. Besonders seinem Rücken Aufmerksamkeit

schenkte, als sich ein Wirbel nach dem anderen in seine korrekte Position zurückfallen ließ.

Ah ... das tat gut.

Mit einem festen Blick in die amüsierten, nun gar nicht mehr müden, grünen Augen, fischte

er das Haargummi aus seinen teils noch feuchten Zotteln und schüttelte sie. Machte sich

schließlich daran, sie zu flechten.
 

Schuldig zog die Augenbrauchen überrascht Richtung Haaransatz und grinste

belustigt, bis seine Lippen sich teilten, er lauthals zum Lachen begann,

und dabei aufstand.
 

Er glaubte es nicht, Aya begab sich doch tatsächlich auf sein Terrain.

Verständnislos schüttelte er den Kopf und wandte sich um, um Richtung

Sitzecke zu gehen, da dort das Telefon lag.

"Dieses spöttische Lächeln steht dir nicht, Fujimiya", sagte er noch immer

in sich hinein lächelnd und lehnte sich über die Couch um sich das Telefon

zu greifen.

"Im übrigen habe ich nicht wegen dir geheult", sagte er beiläufig, warf dem

Mann einen ruhigen, ausgeglichenen Blick zu, als mache es ihm nichts aus

über das Thema zu sprechen. Als ginge es um den heutigen Einkauf, eine

belanglose Sache. Aber es war nicht so, ihn belastete der gestrige Tag im

Hinterkopf noch immer, doch Aya war niemand, der sich mit ihm auf dieser

Ebene messen konnte. Das konnte fast niemand.
 

"Warum bildest du dir auf deine Rolle gestern so viel ein?" fragte er als

er sich verbinden ließ und wartete. "Es hätte jeder x beliebige sein

können, du warst gerade zufällig da. Es ging mir nicht um Weiß, um die

Entführung, um dich. Ich wollte lediglich meine Ruhe, die du mir nicht

gegönnt hast. Das ist alles. Du warst in dem Moment völlig nebensächlich,

du warst jemand, der mich in meiner Lage gereizt hat, mehr nicht."
 

Wieder lächelte er, seiner selbst völlig sicher.

"Meinst du, alles würde sich um dich drehen? Ganz bestimmt nicht. Ich habe

gestern nur an mich gedacht, kein Stück weit an dich. Warum sollte ich also

wegen dir ...," sagte er, wurde jedoch vom Gesprächsteilnehmer, der ihn

begrüßte, unterbrochen.
 

Er wandte sich von Aya ab und ließ sich auf die Couch fallen, beachtete

seinen unfreiwilligen Gast augenscheinlich nicht mehr. Doch sein Verstand

behielt die Gefahr im Auge.
 

Aya flocht in Ruhe seine Haare zuende und hörte dem anderen Mann kommentarlos zu,

konnte sich seinerseits ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Soso ... nicht wegen ihm ...

und es hätte also jeder x beliebige sein können ...

Na dass er nicht lachte. Schuldig hatte nur an sich gedacht? Aya schüttelte spöttisch den

Kopf, stand langsam auf.
 

"Stimmt, da waren ja gestern zwei Gläser Wasser, nicht nur eines ... wie konnte ich es

vergessen", erwiderte er dem Rücken des Schwarz und begab sich schließlich kommentarlos

in das Bad, zog hinter sich die Tür zu.

Es war ihm egal, was Schuldig dazu sagen würde ... er WUSSTE, dass er triumphiert hatte.

Dass er nur warten musste, bis der andere Mann wieder einen seiner Schwachpunkte

offenbarte. Nur um dann zuzuschlagen.
 

Aya lächelte seinem Spiegelbild entgegen, sah sich, wie spöttisch es aussah. Was sollte er

sagen ... Schuldig hatte Recht. Es stand ihm nicht. Es machte ihn ebenso widerwärtig wie den

Deutschen auch.
 

Und dennoch lernte er von Schuldig. Bekämpfte ihn mit gleichen Mitteln.

Das Lächeln verschwand und er drehte den Wasserhahn auf. Schöpfte mit seinen Händen

etwas des kühlen, wertvollen Nass und trank es gierig. Gott, was hatte er für einen Durst

gehabt ...

Schließlich entledigte er sich der Kleidung, stieg innerlich summend unter die Dusche,

erfrischt und gleichwohl auch befriedigt von dem kleinen Austausch zwischen ihm und

Schuldig. Ob der andere Mann wohl wusste, dass er den Sieg davongetragen hatte? Er wagte

es zu bezweifeln ... doch das war auch nicht so wichtig ...
 

"Ja ... nein geht schon in Ordnung, ja ..., bis dann", verabschiedete sich

Schuldig und hatte mit einem Freund ein Treffen vereinbart. Während Aya im

Badezimmer war hatte er einige Telefonate geführt.

Er hörte Aya im Badezimmer als er auflegte und lehnte sich entspannt auf

der Couch zurück.
 

Schuldig hatte zwar die Worte gehört, aber sie belangten ihn nicht

wirklich. Scheinbar hatte Aya seine Worte auf seine gesamte Anwesenheit

bezogen, er jedoch hatte lediglich die Situation seiner geistigen

Instabilität gemeint. Denn in dieser hatte Aya keine auf ihn bezogene Rolle

gespielt. Nun gut, er würde abwarten.
 

Erst einmal musste er einkaufen gehen, ihren Vorrat ... seinen Vorrat

aufstocken und danach würde er sich einen schönen Abend machen und erst in

der Nacht wieder zurückkommen. Konnte Aya zusehen, wie er sich hier die

Zeit vertrieb.
 

Aya griff sich den Rasierer und fuhr sich in schnellen Bewegungen über die

kurzen Stoppeln. Er hasste diese Prozedur jeden Morgen wieder ... heute ganz

besonders. Wie er alles hasste. Die Stimme des Deutschen ... dessen

überhebliches Gehabe, diese ganze, gottverdammte Situation!
 

Wütend beendete er seinen morgendlichen Rundgang im Bad und zog sich in

abgehackten, zornigen Bewegungen an. Wie war das, warum hatte er sich

gleich noch einmal freiwillig fesseln lassen?

Wahrscheinlich waren sie nur gespielt gewesen, die Tränen in den Augen des

Deutschen. Gespielt wie alles an diesem Mann.
 

Hass stahl sich in seine Züge, umfasste wie ein eiserner Griff sein Herz.

Wie einfach es doch war, sich in ihm gehen zu lassen ... zwischen absoluter

Gelassenheit und Wahnsinn zu stehen. Er brauchte nur einen Schritt zu tun,

und er wäre da, wo er alles hinter sich lassen konnte. Nur einen.
 

Doch davor schreckte er wie immer zurück. Ging er sogar soweit, dass er nun

wieder die Bambustür öffnete und ins Wohnzimmer kam, seine Züge gewaltvoll

entspannt und ruhig. Mal sehen, was der andere Mann noch für ihn geplant

hatte.
 

Schuldig hörte wie sich die Tür öffnete und stand auf, legte das Telefon auf dem niedrigen Tisch

ab und verschränkte die Arme, ließ seinen Blick über den Mann vor sich gleiten.

"Soll ich dir was mitbringen? Ich geh was einkaufen, hast ja sicher auch Hunger?!"
 

Aya hob erstaunt eine Augenbraue. Er wurde gefragt, was er wollte. Na das war ja mal

zuvorkommend ... wie äußerst gnädig. Er und Hunger? Nie. Nicht im Leben. Nichts lag dem

ferner als das, wie sich sein Magen nun beschwerte. Er hatte seit dem gestrigen Tag nichts

mehr gegessen. Wie sollte er da auch Hunger haben ...

Und so begann er mit einem diabolischem Lächeln Schuldig all das aufzuzählen, worauf er

gerade Lust hatte. Mal sehen, was davon ihn schließlich erreichte.
 

Schuldig hört bei den ersten Dingen wie Sushi und Yaketori noch relativ

aufmerksam zu, doch bei Tee, Schokolade, Schokolade im Keksmantel und

Keksen im Schokomantel und nicht nur die einfachen sondern exquisiten,

machte sich schon Unruhe in ihm breit, doch er hielt auch tapfer das

Grünteeshampoo und das Rose-Orchidee-Duschgel aus, genauso wie die

Jazzpants in neutralen Farben und die warmen Socken.

Allerdings erstaunte ihn die Frauen Reizwäsche in sündigem Rot. Und wie er

das Matchaeis her schaffen sollte wusste er nun auch nicht so genau

momentan.
 

Weiter wollte er noch eine Schmusedecke, wie er sagte und etwas zum Lesen.

So ging es noch einige Aufzählungen weiter, bis Aya schließlich mit dem

Wort "Bonsai" endete.
 

Schuldig schaute ungläubig.
 

"Wie Bonsai?" Wollte er sich hier häuslich niederlassen und deshalb gleich

einmal die Inneneinrichtung auf Fordermann bringen? Schuldig runzelte die

Stirn.
 

Naja, momentan lebte er ja hier, für wie lange ... das konnte er nicht

beantworten. Also Bonsai, vertagte er das Problem und beugte sich den

Wünschen.
 

Aya verfolgte mit innerlicher Genugtuung, wie Schuldig ihm an den Lippen hing. Wenn er

wirklich den Bonsai da stehen hatte ... dann.

Dann würde er sich wahrlich ernstliche Sorgen machen.

Er lehnte sich gegen das Sofa, hielt wohlweißlich Abstand zu Schuldig. Er konnte sich

denken, was jetzt kam und nutzte die kurz aufgekommene Heiterkeit, um sich darauf

vorzubereiten ... auch wenn es ihm schwer fiel, das zu akzeptieren.

Aber wenn Schuldig dachte, dass er es ihm dieses Mal so einfach machen würde, hatte er sich

getäuscht ...
 

"Na schon fertig?" fragte Schuldig

"Wenn ich Glück hab, krieg ich das alles in den Wagen rein", sagte er im ironischen Tonfall und

innerlich amüsierte ihn diese Unterhaltung. "Ich fahr jetzt los und bin dann wieder da, wenn ich

all deine ,Wünsche' erfüllt habe."

Schuldig ging an Aya vorbei und durchquerte den Raum in Richtung Schlafbereich, er stieg die

beiden Stufen hinauf und ging zum Bett, den Schlüssel für die Fesseln herausziehend, der eine

Spezialanfertigung war.
 

Auch wenn Aya durch den Tonfall des Deutschen von seinem Widerwillen, gefesselt zu

werden, abgelenkt worden war, so kam eben dieses Würgegefühl mit einem Male um ein

Vielfaches zurück, nur um gleich darauf von ihm niedergekämpft und in falscher Fröhlichkeit

ertränkt zu werden. Er würde es dem Telepathen nicht einfach machen ... nein.

Ein kleines Spiel würde auch er sich gönnen ...
 

Aya veränderte seine Position, brachte die Couch zwischen sie beide. Bevor Schuldig ihn ...

an die Leine legen konnte, würde er ihn einfangen müssen.

Ein amüsiertes Funkeln brach sich in seinen Augen.
 

Schuldig nahm die Kette mit den Eisenmanschetten und entfernte eine davon, ließ sie auf dem

Bett liegen und kam mit beiden Instrumenten der Fesselung wieder zu Aya zurück, der einen

kleinen, aber feinen Standortwechsel vollzogen hatte.

Die Couch stand zwischen ihnen ... nicht nur das, auch ein belustigtes Aufblitzen in dem Violett,

das ihn unverwandt herausfordernd anblickte, war eine Zeitverzögerung. Er hatte Hunger.

Innerlich mit den Augen rollend neigte er leicht den Kopf. "Und was wird das nun wenn es

fertig ist?" fragte er etwas gelangweilt.

"Ein kleines ,Hasch mich' -Spielchen?"
 

Ayas Mundwinkel zogen sich zu einem spöttischen Grinsen nach oben. "Meinst du, du

bekommst alles umsonst? So einfach wie gestern Abend mache ich es dir nicht ... also ...

streng dich an." Wollten sie doch mal sehen, wer schneller von ihnen beiden war.

Aya veränderte seinen inneren Moment, balancierte seinen Körper vorsichtiger als zuvor aus.

War bereit, überall hin auszuweichen, sollte der andere Mann angreifen. Lenkte sich somit

von der Tatsache ab, dass er wieder gefesselt werden würde. Er ... gefesselt.

Ayas Augen funkelten dunkel amüsiert.
 

Schuldig ließ die Kette herunterfallen sodass das andere Ende rasselnd auf dem Boden fiel, hielt

die Manschette jedoch noch in der Hand und lächelte sehr fein, den Kopf neigend.

Er ließ es etwas hin und herstreifen und kam sich deshalb auch wie ein Dompteur, der seine

Raubkatze wieder einfangen wollte, vor.

Nun gut, er würde es schon schaffen, diese Katze zu besiegen und ihr zeigen, wer hier wen

dressierte. Mit einem angetäuschten Rechtsausfall sprang er kurzerhand über die Couch und ließ

die Kette fallen um die Hatz zu beginnen.
 

Oh ja ... Schuldig gefiel dieses Spiel ... das sah Aya nur zu deutlich. Ihm auch ... merkte er

doch nur zu genau, dass der andere Mann nur angetäuscht hatte und nun auf dem direkten

Weg zu ihm war. Ihn nach links ausweichen ließ. Wie gut, dass er sich mit Schuldigs

Schnelligkeit durchaus messen konnte, wenn es um den Nahkampf ging.

Wenn auch nicht mit dessen Muskelmasse ... das stimmte. Aber das war im Moment auch

nicht wirklich verlangt.
 

Leichtfüßig wie eine Raubkatze und ebenso tödlich setzte er nach links, war in Momenten

wieder auf der anderen Seite des Möbelstücks. Hob die Hand und krümmte die Finger in

einer einladenden Bewegung.

"Du wirst langsam....", spottete er mit hochgezogener Augenbraue.
 

Schuldig ließ sich nicht lange ,bitten' und setzte nach. Wie konnte der andere nur so reserviert

und im nächsten Moment so voller Lockung sein? Denn das tat der andere. Er lockte ihn und es

schien Schuldig, als wäre die bevorstehende Fixierung mit der Kette lediglich ein Vorwand für

Aya um ihn herauszufordern. Aber zu was? Wusste der andere nicht, dass Schuldig das

anmachte?

Ein kleiner Adrenalinschub gab ihm die nötige Energie für den nächsten schnellen Jagdeinsatz

hinter dem Blumenkind her, das vor ihm in geschmeidigen Bewegungen flüchtete und da die

Wohnung weitläufig war, konnten sie dieses Spiel sehr lange treiben. Fragte sich nur mit

welchem Sinn, würde Schuldig so oder so der Gewinner sein.
 

Aya lächelte, als er mit einem weiteren Satz dem Zugriff des Telepathen entwischte. Es war

ja schließlich nicht so, als konnte er nur mit seinem Schwert umgehen.

Nein ... ganz im Gegenteil. Sie alle trugen ihre Codenamen nicht umsonst.

Er wich eine weitere Runde um das Sofa zurück, lockte den Deutschen hinter sich her, genoss

den momentanen Kampf. Auch wenn er schließlich dort landen würde, wo Schuldig ihn

haben wollte, so hatte er doch Widerstand geleistet. Das Einzige, zu dem er momentan in der

Lage war. Doch Schuldigs jetzige Bewegungen zu beobachten, hieß auch sich auf den

Schwarz einzustellen ... eine wichtige Erkenntnis, wenn er schließlich ernst machte.
 

Jetzt aber spaßte er ... auch wenn er das gierige Glimmen in den grünen Augen durchaus

bemerkte. Schuldig liebte es, ihn zu jagen ... aber wenn er dachte, dass er seine Beute schon

eingefangen hatte ...

Aya pustete sich einige der gelösten Strähnen aus der Stirn, strich sie sich betont langsam aus

dem Gesicht. "Wenn du nicht schneller wirst, kommst du heute gar nicht mehr zum

Einkaufen", lachte er und verengte seine Augen spöttisch.
 

Schuldig sah das Lachen und hetzte Aya vor sich her, immer weiter in den hinteren Bereich der

Wohnung, der mit gemütlichen Teppichen ausgelegt war, doch zunächst tummelte sich Aya auf

der anderen Seite des Bettes, siegessicher und vor ihm momentan in Sicherheit.
 

"Wenn ich nicht zum Einkaufen komme, bekommst du auch deinen Bonsai nicht!" grinste

Schuldig. "Und vor mir aus können wir dieses Spiel eine zeitlang machen, hab genügend Energie

um dich früher oder später einzufangen. Und eines garantiere ich dir: Den nächsten Freigang

bekommst du nicht mehr so leicht", lächelte er böse. Doch seine Augen drückten eher den Spaß

in ihm aus, als die wirkliche Boshaftigkeit der Worte.
 

"So?", spottete Aya, zischte ebenso boshaft wie Schuldigs Worte. Natürlich ... Dennoch wusste

er in dem Moment, dass Schuldig es nicht ernst meinte. Sah es in den Augen des Telepathen ...

auch wenn er sich nicht wirklich sicher war, ob der Schwarz seine Drohung nicht doch wahr

machte.
 

"Dann werde ich ihn mir eben erkämpfen ..." Leichthin gesagt, meinte er es vollkommen ernst.

Schuldig würde ihn nicht niederzwingen ... mit gar nichts.

Aya wich zurück vom sicheren Bett, brach zur Seite aus, stellte siegessicher nach hinten. Er hatte

gerade einen Blick auf die Umgebung geworfen und die nächste Pflanze ....
 

"HUARGH!"
 

... war gerade in seinen Weg geraten. Verschätzt ... er hatte sich verschätzt und fiel nun

armerudernd nach hinten auf den Teppich, der ihn überraschend weich, trotz allem jedoch

höchst schmerzhaft abfederte.
 

Schuldig, der dicht hinter dem Flüchtenden war, sah das Unausweichliche in Form einer ...

freundlich gesonnenen Pflanze kommen, sagte jedoch nichts und schoss Aya hinterher, der

gerade unelegant einen Abflug machte. Jaa, Schuldig hatte seine Helfer überall und schließlich

war die Flora seiner Wohnung von ihm abhängig und sollte sich mit ihm gut stellen.
 

"Hab dich", stellte Schuldig lächelnd an Ayas Seite lehnend, leicht über ihn gebeugt fest. Die

Arme neben dessen Kopf abstützend, die Flanke an Ayas Bauch legend um ihn im Notfall mit

seinem Körpergewicht an Ort und Stelle halten zu können. So halb auf ihm liegend besah er sich

seine Beute und malte sich bereits aus, was er mit ihr anstellen hätte können.

"Und was mache ich jetzt mit dir?" schnurrte er, die Augen wie ein Kind strahlend, dass eine

Belohnung erwartete.
 

Ah ... es tat weh! Sein Rücken, sein nicht gepolstertes Hinterteil ... sein Hinterkopf, alles hatte

unter dem unfreiwilligen Fall gelitten, machte sich nun mit einem wütenden Pochen bemerkbar,

während er den allzu erwartungsvollen Blick des Schwarz mit hochgezogenen Augenbrauen

erwiderte.

Ihm schwante nichts Gutes ...

Nicht, wie ihn der andere Mann fixierte, als sei er ein begehrtes, exotisches Insekt, mit dem er

Versuche anstellen, ihm ein Bein oder auch zwei ausreißen konnte ...

Der rothaarige Weiß würgte sich selbst ab, nicht bereit, diese allzu verräterischen Gedanken

weiter zu verfolgen.

Er war sich dessen Nähe wohl bewusst, jedoch gleichzeitig auch der Tatsache, dass Schuldig

immer noch minimalen Abstand hielt ... Abstand, für den er dankbar war. Aya verzichtete auf

eine unnötige Verteidigung seiner Intimsphäre und blieb bewegungslos liegen.
 

"Nichts, was mir nicht auch gefällt?", schlug er spöttisch lächelnd vor.
 

"Mhh was könnte es da geben?" raunte Schuldig in spielerischem Tonfall, als denke er wirklich

angestrengt nach. Sein Blick verband sich mit den violetten Augen, studierte jede Einzelheit und

verlor sich darin. Sein Zopf fiel seitlich nach vorne als er sich dem Gesicht näherte, tiefer in

diesen Augen ertrinken wollte.

"Mir würde da schon etwas einfallen ... eine Kleinigkeit, wenn man es genau sieht ...", sagte er

und näherte sich weiter, war nun dicht über Aya, spürte den Atem.

Sein Blick huschte über die Lippen, die Haut und blieb wieder an den Augen hängen. Einen

Moment gönnte er sich diese Betrachtung und die Ruhe.
 

"... doch für dich wohl eher eine Absurdität, nicht wahr?" sagte er zynisch. Er löste sich von Aya

nach diesen Worten und setzte sich zurück.

"Ich begnüge mich damit, dass du dich in die Fesseln begibst, bis ich wieder da bin", sagte er

nicht mehr so freudig, denn die Stimmung in ihm war etwas niedergedrückt seit seinen letzten

Worten.
 

Aya kämpfte sich auf seine Ellenbogen hoch, fixierte den anderen Mann wortlos. In Anbetracht

der Tatsache, dass seine Chance zu fliehen momentan wirklich gegen Null ging, akzeptierte er

den ... 'Vorschlag', richtete sich langsam auf, erhob sich ohne jegliche, hektische Bewegung.

Verzog keine Miene, als sein Hintern sich schmerzhaft bemerkbar machte.
 

"Was wäre denn die andere Alternative gewesen?", fragte er ruhig, war einfach zu neugierig, um

den angefangenen Vorschlag des Schwarz in den Wind zu schlagen ... auch wenn er das Gefühl

hatte, dass ihm die Antwort darauf nicht gefallen würde, hatte er doch gesehen, wie dieser ihn

für ein paar Moment stumm bemessen hatte. Wie schließlich dessen Gesichtszüge auf zynisch

wechselten. Das machte ihn stutzig ... auch wenn er nicht glaubte, dadurch den Ketten

entfliehen zu können. Noch nicht.
 

Schuldig war ebenfalls aufgestanden und bereits zu den Fesseln vorgegangen. Er hatte Hunger

und das machte ihn mitunter unausstehlich, wenn sich dieses leere Gefühl im Magen weiter

verschlimmerte. Er nahm die Fessel und kam Aya etwas entgegen, zog eine Augenbraue hoch

und hielt die Manschette samt Kette in der Hand.
 

"Ein Kuss natürlich", ein zynisches Lächeln folgte auf die belanglos dahingesagten Worte und er

wartete bis Aya näher kam um das schmale Handgelenk in die Manschette zu legen, die er eben

öffnete. "Was dachtest du denn? Einmal Blumengießen?", fragte er um seine doch sehr ehrlichen

Worte mit etwas lächerlichem zu kaschieren.
 

"Ja natürlich", gab Aya mit mühevoll aufrecht erhaltener Ruhe zurück. Einen Kuss? Was dachte

der andere Mann, wer er war? Dachte er, dass er sich seiner Rolle hier nicht bewusst war. Dass er

darüber hinweg sah, nur ein Gefangener zu sein? Angesichts der allzu präsenten Zeichen, die vor

ihm in der Hand des Deutschen lagen.

Er hatte gedacht, diese kleine Ablenkung hätte ihm helfen können, von dem Kommenden

abzusehen ... es als nicht so schlimm einzustufen. Doch all das, was er zu unterdrücken versucht

hatte, war wieder da. Hass ... Wut ... Ekel vor diesen Fesseln. Vor der Bedeutung dessen.
 

Aya trat näher, hob jedoch nicht den Arm. Er hatte sich gestern schon nicht gewehrt ... dann

sollte Schuldig heute seinen Teil dazu tun ...

Er lächelte leicht, als ihm schlussendlich ein Gedanke kam ... ob Schuldig darauf eingehen

würde?

"Den bekommst du, wenn ich frei bin", erwiderte er ebenso zynisch und sah auf ... in grüne,

spöttisch funkelnde Augen.
 

"Einen Kuss und ein Schwert zwischen die Rippen? Am Besten gleichzeitig, das macht die Sache

etwas dramatischer, nicht?" Schuldig nahm die Worte von Aya, wie sie waren: nur dahingesagt,

nicht ernst zu nehmen - zumindest für ihn nicht. Er hatte gesehen, wie der Mann seine Nähe

verabscheute, sie geradezu hasste. Ein Kuss wäre ein zu hoher Preis für Aya, den er niemals

bezahlen würde.
 

Aya machte keine Anstalten die Hand in die wartende Manschette zu legen, sodass Schuldig das

Handgelenk des anderen nahm und die Manschette darum legte, sie einschnappen ließ.

Er nahm die lange Kette und zog sie durch einen Ring am Boden, welcher früher einmal zu

einem Kunstwerk gehört hatte. Die quadratische Säule, die die Küche optisch etwas vom übrigen

Raum trennte, hatte früher wie der Ring im Boden zu einem Kunstwerk des Vormieters gehört.

Schuldig hatte das scheußliche Ding wegschaffen lassen, die Säule und der Ring waren jedoch

geblieben.

Aya hatte genügend Spielraum um auf die Toilette zu kommen, jedoch keinen um sich frei zu

bewegen und womöglich das Telefon zu erreichen.
 

Frustriert sah Aya zu, wie der andere Mann ihn erneut ankettete. Er hasste ... nein, er wollte sich

nicht wiederholen. Er wollte es wirklich nicht. Lieber starrte er Schuldig auf den roten, von ihm

weg gebeugten Haarschopf. War sich mit einem Male bewusst, was ihm vorher entgangen war.

Wenn Schuldig so sehr auf ... Körperkontakt bestand, wieso hatte er ihn sich nicht einfach

genommen? Er wurde nicht schlau aus dem anderen Mann. Absolut nicht.
 

"Ein Schwert?", fragte er schließlich mit einem leichten Lächeln nach.

"Keine schlechte Idee ..."

Oh ja ... zu seinem Schwert würde er wirklich greifen, wenn er hier rauskam. Und dann konnte

Schwarz etwas erleben ... insbesondere Schuldig. So sehr er sich auch dieser Situation in diesem

Moment anpassen musste, so sehr würde er schließlich auf den Kopf des anderen Mannes aus

sein. Dass er ihn bekam ... stand außer Frage.

"Ist das der Grund, warum ich hier bin? Weil du Angst hast, dass ich dich abschlachte ...?

Denkst du, du kannst mich ... läutern?"
 

Schuldig sah auf und konnte sich ein Lachen nicht verbeißen.

"Abschlachten? Es würde reichen, denke ich, wenn du das Herz triffst. Außer du stehst da drauf,

in meinem dreckigen Blut zu baden, dann würde ,abschlachten' schon passen. Aber da du dir ja

an mir kaum die Hände schmutzig machen willst, ist das eh hinfällig. Es reicht, wenn du mich

tötest. Abschlachten hat immer so einen theatralischen Beigeschmack finde ich", sagte er das

Thema etwas sarkastisch ausführend.

Er stand auf ging zur Couch und nahm das Telefon auf, blickte Aya dabei in das Gesicht,

registrierte das feine Lächeln, das um die Lippen spielte. Wie falsch es ihm doch vorkam. Aya

war kein Mensch, dem ein derartig unechtes und zynisches Lächeln stand.
 

"Du scheinst zu vergessen, dass weder wir euch noch ihr uns bisher töten konntet. Wie kommst

du auf die Idee, dass es jetzt anders sein würde?"

Und dann wurde er etwas ernster, man ahnte es jedoch nur in seinen Augen und in der Stimme,

seine Lippen zierte jedoch ein winziges abfälliges Lächeln. "Läutern ... dich? Wozu?"

Er wandte sich ab und blickte einen Moment hinaus zum weißen wolkenverhangenen Himmel.

Ja wozu? Warum wollte es ihm keine Antwort geben auf diese Frage: Warum das alles?
 

"Bisher sind wir auch eine derartige ... skurrile Bindung nicht eingegangen." Ja das stimmte.

Bisher hatten sie sich nur auf dem Feld bekriegt, dass es nun auf eine solche Ebene

übertragen wurde ...

"Bisher mussten wir nicht zu solch ... hinterhältigen Maßnahmen wie Entführung greifen."

Das Lächeln, gerade noch so präsent, schwand von Sekunde zu Sekunde. Reagierte damit

unbewusst auf den Stimmungsumschwung des anderen Mannes. Ja ... wozu läutern. DAS

fragte er sich auch. Wieder und wieder.
 

"Und wozu mich hier festhalten?", gab er zurück, verschränkte die Arme so gut es ging vor

seiner Brust. Das war ebenso die gleiche Frage ... eine ungelöste Unbekannte, die ihn

verwirrte ... die ihn wütend machte.

Er wollte, dass Schuldig ihm eine Antwort darauf gab, eine ehrliche. Eine, die er für sich

verwerten konnte ... auch wenn er wusste, dass die Chancen darauf verschwindend gering

waren.
 

Schuldig erfasste ein Schauer als er daran zurückdachte, an das, was sie mit ihm vorgehabt

hatten. Unbewusst verschränkte er schützend die Arme. Ihm war plötzlich kalt.

"Was wolltet ihr mit mir? Wir haben euch in Ruhe gelassen, uns auf andere Gebiete beschränkt,

andere Tätigkeitsfelder. Warum musstet ihr gerade jetzt auf diese Idee kommen?"

Einen leisen Vorwurf barg er in seiner Stimme und wandte sich Aya zu, die Arme immer noch

verschränkt als müsse er sich vor dem Mann schützen, als wäre Aya nicht gefesselt und er noch

in Gefahr. Doch es waren die Gedanken, die ihn ängstigten.

Die Gedanken, die Weiß als Gruppierung hegten, die sie dazu veranlasst haben mussten, ihn

dieser Meute auszuliefern.

"Ich würde den Tod durch ein Schwert dem Leben einer Laborratte vorziehen", sagte er tonlos

den Blick in das Violett vor sich richtend.
 

"Wir haben unsere Regeln, Ran", sagte er ruhig, nannte den Weiß Killer zum ersten Mal mit

seinem Namen, war sich dieses Punktes jedoch nicht bewusst, war zu sehr in Gedanken

versunken.

"Ich habe sie verletzt ... indem ich Crawford gesagt habe, dass ich mich um dich kümmern

würde. Wenn ich dich freilasse ist klar, dass du es auf mich abgesehen hast. Dass ihr mich wieder

jagen würdet. Nicht weil ich euer Gegner bin, sondern weil ihr mich in einen Käfig stecken wollt

um in meinem Gehirn herumzustochern. Das werde ich nicht zulassen. Und wenn ich sie daran

hindern kann, indem ich dich hier festhalte, dann werde ich das.

Das ist im Moment der einzige logische Grund der mir dazu einfällt. Der andere ... nun, den

kenne ich selbst noch nicht genau, aber ich weiß, dass es nicht der einzige Grund ist und er

hängt damit zusammen, dass ich deinen Tod nicht wünsche. Ganz im Gegensatz zu dir. Ich

weiß, dass du mich hasst. Schön und gut. Aber ich lasse es nicht zu, dass ich wieder ...", er

verstummte. "Dass deine Leute ihre Finger in meinen Kopf stecken und darin herumwühlen. Sie

würden sowieso nichts finden."
 

Wie auch schon am Tag zuvor verstörte Aya die schutzbedürftige, so ängstlich erscheinende

Haltung des anderen mehr als das, was er ihm offenbarte. Doch dass der Telepath ihn bei

seinem richtigen Namen nannte ... wie sollte er mit Wut darauf reagieren?

So wie er es bei seinem Team, Manx oder Birman tat? Wie sollte er dieser Verzweiflung mit

Wut begegnen können? Wie sollte er diesem ehrlichen Blick mit etwas anderem als

quälender Ratlosigkeit begegnen?
 

"Ich habe nicht die geringste Ahnung, was unsere Auftraggeber letztendlich von dir wollten

... wir führen nur ihre Befehle aus ... du weißt selbst, dass wir uns nicht weigern können, es

sei denn, wir riskieren unser eigenes Leben ... wir können uns nicht weigern, egal, wie

abscheulich wir ihre Praktiken auch finden mögen", erwiderte er leise. Kopfschüttelnd.

Ehrlich. "Und sie werden sich nicht davon abhalten lassen, dass ich fehle ... jeder ist

ersetzbar. Sie werden Weiß schicken, und wenn das nicht reicht, andere Teams. Stärkere

Teams ... es hilft dir gar nichts, wenn du mich hier festhältst ..."

Aya stockte nun seinerseits, ließ die Wortes des anderen Mannes auf sich wirken. Erkannte

schlussendlich die Bedeutung hinter ihnen.
 

"Du wirst mich nicht freilassen ... oder?", fragte er beinahe unhörbar, für einen Moment

deutliches Entsetzen in seinem Blick. Nur für einen, minimalen Moment. "Das hattest du von

Anfang an nicht geplant ..." Für einen kleinen ... langen Moment. Ayas gefesseltes

Handgelenk verkrampfte sich, zog unwillkürlich an seiner Fesselung. Das, was er befürchtet

hatte, hatte Schuldig ihm nun bestätigt ... hatte ihm den Zeitraum definiert. Für immer. Falls

es ihm nicht gelingen sollte zu fliehen. Für immer. Gott ...
 

Schuldig lächelte etwas hilflos und wandte sich wieder ab, ging um die

Couch herum.
 

"Du hast Recht. Geplant habe ich wirklich nichts. Überhaupt nichts. Weder,

dass du nun hier bist, noch, dass ich dich für immer hier behalte, dich

töte oder gar freilasse. Ich kann nichts planen. Meine Entscheidungen

treffe ich größtenteils spontan, über die Konsequenzen denke ich selten

nach, dazu habe ich keine Lust, keine Zeit, was auch immer ..."

Er machte eine wegwerfende Handbewegung und zuckte mit den Schultern.
 

"Wer weiß, vielleicht kannst du ja fliehen, irgendwann, wenn ich nicht

aufpasse, oder du hängst deine Hoffnungen an den seidenen Faden, mich in

einen unbedachten Moment hinterrücks zu töten. Die Frage ist, ob du es

kannst. Ob du mich ermorden kannst." Ruhige Worte, die nicht seine wahren

Gefühle offenbarten. Aber er selbst hatte sie in diese vertrackte Lage

gebracht, um Ayas Leben zu bewahren. War es nicht so?

Er selbst setzte sich der Gefahr aus, hatte seinen Feind sehr nahe bei

sich, weil er ihn geschont hatte?

Jeder, der dies hörte, würde ihn für verrückt erklären. Nun, vielleicht

hatten sie Recht. Normal war er bestimmt nicht ...
 

Für einen Moment war es, als wallte Schmerz in Aya hoch. So gewaltig und erdrückend, dass er

sich nicht unter Kontrolle hatte. Dass man ihm eben diese Verletztheit genau ansah. Er wusste,

wenn es ihm nicht gelänge, dem anderen Mann zu entkommen, dass dieser es von seinen Launen

abhängig machen würde, ihn freizulassen oder hier festzuhalten ... wie es ihm passte, worauf er

gerade Lust hatte.
 

Aya wartete auf die Wut, die ihn von dem Schmerz erlösen würde ... die es ihm erleichtern

würde, sich dem Deutschen zu stellen und dennoch ... wollte sie sich nicht einstellen. Er schaffte

es nach ein paar Momenten, seine Gesichtszüge wieder unter seine Kontrolle zu bringen, ja.

Doch das löschte die Panik angesichts der Worte des Telepathen nicht aus.
 

"Und was denkst du, macht dich besser als diejenigen, die dir das Hirn aufgeschnitten haben?",

fragte er leise, mit mühsam unterdrücktem Zittern. "Was denkst du, erlaubt dir, GOTT zu

spielen? Was denkst du, ist mehr Gnade ... Leben zu vernichten oder einzusperren? Ich wäre

lieber GESTORBEN, als hier den Rest meines Lebens zu verbringen!"
 

Schuldig wirbelte herum, die Augen spiegelten Wut, Unverständnis und auch

Verletztheit aus, über das verbohrte Verhalten, welches ihm hier

entgegenschlug.

"Hätte ich dich denn verrecken lassen sollen?", platzte er heraus und seine

Augenbrauen zogen sich gewittrig zusammen.

"Dein großkotziges Gehabe ist ja nicht auszuhalten! Du wärst also lieber

gestorben! Ja? Und was ist mit deiner Schwester dann? Kannst du mir das

erklären? Du hättest sie also wegen deines Stolzes und deiner Verbohrtheit

im Stich gelassen? Den Rest deines Lebens? In diesem Job kann das verdammt

kurz sein, was bist du? Ein Anfänger?"

Ihm war momentan egal ob er den anderen damit verletzte oder noch weiter

gegen sich aufbrachte, er verstand das Verhalten und die Wut, aber er

verstand nicht, wie man sich lieber den Tod wünschte konnte, als eine

relativ faire Behandlung und die Aussicht auf eine Möglichkeit zur Flucht.
 

"Du hast deine Schwester, verdammt!" wütend funkelte er den Anderen an.

"Deine Ansichten sind dermaßen egoistisch ... , " er verstummte und ging

zur Tür.

"Und was Gott angeht, ich glaube da können wir uns beide einig darüber

werden, dass wir BEIDE oft genug GOTT spielen. Nur weil es dich jetzt

getroffen hat, brauchst du jetzt nicht anfangen dein Recht einzufordern.

Ich bin ein Killer. Du bist das Opfer.
 

Dummerweise hat es nun dich erwischt. Ich an deiner Stelle wäre froh, wenn

ich noch leben würde, so könnte ich mir einen Plan überlegen, wie ich hier

rauskommen könnte um zu meiner Schwester zu gelangen. Aber nein, DU und

dein Stolz und dein Hass lassen dich sie vergessen." Er öffnete die Tür und

ging. Er war so wütend.
 

Aya hatte seine Schwester. Er würde weiß Gott was für jemanden geben, der

auf ihn wartete, auf ihn angewiesen wäre, aber nein, dieser egoistische

Bastard heulte hier herum, anstatt sich auszuruhen und die Gunst der Stunde

zu nutzen. Einfach so gehen lassen konnte er ihn nicht, aber er hätte es so

arrangieren können, dass Aya mehr aus Zufall fliehen hätte können. Aber

noch war es nicht so weit, noch war es zu früh.
 

Innerlich vor Wut bebend machte er sich auf nach unten um seinen Wagen zu

holen, er musst sich jetzt ablenken, bevor er noch jemanden platt machte.
 

Ayas Zorn machte dem des Telepathen durchaus Konkurrenz, als er mit einem Wutschrei an der

Kette riss, sein gefangenes Handgelenk zornig nach vorne ruckte. Er wollte dem anderen Mann

die Kehle herausreißen für das, was er gesagt hatte ... er wollte ihn töten dafür, dass er es wagte ...
 

... ihm die Wahrheit zu sagen. Doch wie so oft auch tat die Wahrheit weh. Sie schmerzte.

Natürlich war sich Aya bewusst, dass er seine Schwester hatte ... natürlich wollte er sie wieder

sehen ... natürlich wollte er miterleben, dass sie wieder aufwachte, aber NICHT zu diesen

Konditionen ...

Was ihn jedoch auch das hören ließ, was Schuldig nicht sagte. In Anbetracht der Tatsache, dass

er sein Leben hier verbringen sollte, hatte sich der Schwarz doch sehr dafür ausgesprochen, dass

er auch für sie sorgte. Wie sollte er das denn tun, wenn er hier festsaß?
 

Oder hatte Schuldig durchaus Recht mit dem gehabt, was er ihm so wütend an den Kopf

geworfen hatte? Dass er ... anstelle rumzuheulen ... lieber die Gelegenheit nutzen sollte, um zu

fliehen? Um seine Flucht vorzubereiten? Als wenn man ihm das sagen musste! Als wenn Aya

sich dessen nicht bewusst war, verdammt!
 

Der rothaarige Mann grollte frustriert, riss ein weiteres Mal an den Fesseln, ließ die Kette

anspannen und erbost klirren. Wie wäre es, wenn er jetzt schon anfing damit, sich einen Plan

auszudenken ... zumindest zu versuchen, die Ketten aus der Verankerung zu lösen ...
 

Doch Aya wusste selbst, wie sinnlos das war. Sie saßen fest, ebenso wie er auch. Und er musste

sich zusätzlich noch seinen quälenden Gedanken stellen. Hatte er sie wirklich vergessen? Die, für

die er all das geopfert hatte? Hatte er sie hinter sich gelassen im Namen der Rache? Oder hatte er

es einmal gewagt, nur an sich zu denken, nur um daran erinnert zu werden, dass sein Leben eben

nicht ihm, sondern Aya galt? Der Reinen ... seinem Gegenpart?
 

Hatte Schuldig Recht? Aya wusste es nicht. Er WEIGERTE sich schlicht, darüber

nachzudenken. Lieber verschränkte er zitternd vor Zorn und Hass seine Arme, starrte hinaus auf

den mittlerweile dunklen Himmel. Das würde Regen geben ... und Gewitter.
 

Mochte Schuldig doch vom Blitz getroffen werden!
 

o~
 

Die Wut verrauchte mit den Minuten die verstrichen. Ließ Aya wieder ruhiger

werden, auch wenn sein Blick immer noch frustriert auf der Manschette ruhte.

Auf dem eisernen Ring an seinem Handgelenk ... aber wenigstens war Schuldig

so ... freundlich gewesen und hatte ihm Spielraum gelassen ... an die lange

Leine gelegt.

Aya tigerte unruhig auf und ab. Maß akribisch genau die Länge ab. Acht große

Schritte, zwanzig kleine, vierunddreißig noch kleinere ...
 

Er ging zur Säule und starrte das hässliche, unförmige Ding in Grund und Boden.

Schlang sich die Kette um eine Hand und stemmte sich gegen das Eisengestänge.

Brachte seine ganze Kraft auf nur um zu scheitern, um wie bei der Tür feststellen

zu müssen, dass Schuldig alles gut durchdacht hatte und ihm natürlich nicht die

Chance ließ, sich hiervon zu befreien. Aya fluchte ungehalten. Wenn Schuldig

wiederkam ... Aya ließ das Thema abrupt fallen, wandte sich dem Fenster zu.
 

Das aufziehende Gewitter machte ihn nervös, auch wenn er nicht genau wusste,

warum. Ließ ihn sich schließlich frustriert auf den Boden setzen, aus

Ermangelung einer nahen Sitzgelegenheit. Wenn er wollte, konnte er zum Waschbecken.

Na sowas. Aber sitzen ... das ging ja nicht. Das wäre ja zu großer Luxus gewesen.
 

Seine Hand spielte unbewusst mit der Kette, mit den rasselnden Geräuschen,

die sie erzeugte, als er seine Hand gelangweilt gegen die nahe gelegene

Säulen schlagen ließ. Einfach nur, um die Stille zu vertreiben. Die

windreiche, komplette Stille, die ihn umgab.
 

Sonst Balsam für seine Seele ließ sie ihn nun gereizt werden ... gereizt und

frustriert, dass Schuldig es wagte, ihn zu entführen ... ihn wie ein Haustier zu

behandeln. Nein ... schlimmer als das.
 

Ausdruckslos starrte er auf die hastig vorbeiwallenden Wolken, verlor sich

für ein paar lange und doch zu kurze Momente in ihnen, bis er nicht mehr hinsehen

konnte. Bis er keine Lust mehr hatte zu starren. Er zog die Beine an, legte seinen

Arm auf die Knie. Wippte mit der Kette. Den kompakten, stabilen Gliedern. Sein

Gesicht verzog sich vor Ekel.
 

Sollte Schuldig ihm auch nur die Gelegenheit zur Flucht lassen ... er würde

sie ergreifen und nicht nur das. Niemand demütigte ihn auf diese Art und

Weise. Niemand.

Auch wenn es jetzt einer gewagt hatte.
 

Ayas Blick schweifte ab, bevor er schließlich seine Augen schloss. Alles

aussperren ... nur ausblenden, was geschehen würde. Ausblenden, dass er -

zugegeben - wartete. Darauf wartete, dass er von diesem verdammten Ring

wieder loskam.
 


 

o~
 


 

Nackte, feuchte Haut, die sich in schmeichelndem Licht seiner hingab. Er spielte

auf diesem Körper wie auf einem Instrument, entlockte ihm die feinsten Töne.
 

Seine Hand hielt ihre Hüfte, während die andere ihr Bein anhob.
 

Ihr Körper bog sich ihm entgegen, gespannt wie eine Saite, erwartete ihn mit zur

Schau gestellter Ungeduld - einem Zittern.
 

Ihre Gedanken pur, rein, roh stachelten ihn noch mehr auf, als es ihr Körper

ohnehin schon tat.
 

Doch wenige Sekunden darauf verwischte alles Denken und er drang in sie ein.
 

,Sie hat ihn vermisst' las er in den Gedanken ihres Mannes, der ihren Kopf in

seinem Schoß hielt, ihr Haar welches über seine Erregung strich.
 


 

o~
 


 

Es war dunkel. Das sagte sich Aya wieder und wieder. Schuldig war im Hellen

gegangen und nun war es dunkel. Immer noch gewittrig, aber dunkel. Und er

wusste nicht, wie spät es war, fand er doch keine Uhr, die es ihm hätte

sagen können. Nichts ... nur das Rauschen der Bäume und sein Schlagen. Die

Geräusche, mit denen er sich seine Langeweile vertrieb ... denn ... mittlerweile

hatte er wirklich Langeweile. Quälende, ätzende, ihn wütend machende

Langeweile.
 

Er war hier zum Nichtstun verdammt, nur weil Schuldig meinte ... aber nein. Er

würde nicht schon wieder damit anfangen, hatte er das Thema in den letzten

Stunden doch noch genug durchgekaut. Wieder und wieder und wieder. Schuldig.

Schuld. Langeweile. Wut. Immer wieder.
 

Aya ließ seinen Kopf gegen die Säule zurückfallen. Ihm war schlecht, solchen Hunger

hatte er. Hunger und Durst, auch wenn er zu faul war, sich zum Waschbecken zu

kämpfen und zu trinken. Als wenn Schuldig ihm Mineralwasser hier gelassen

hätte ... nein, das wäre ja zu gnädig gewesen.
 

Sein Magen grollte erbost, als ihn eine weitere Welle des Hungers durchfuhr.

Er konnte wetten, dass Schuldig das extra machte. Ihn quälen ... sehen, wie

lange er wegbleiben konnte ... das machte er wirklich mit Absicht.
 

Was die Ruhe in Aya völlig zerstört hatte. Er hasste wirklich. Beißender,

greller Hass auf den anderen Mann. Der ihn sogar zittern ließ ... oder war es

die Kälte, die sich nun im Loft ausgebreitet hatte? Denn das war es hier.

Kalt.
 

War die Heizung nicht an? Er wagte es zu bezweifeln. Was hätte Schuldig auch für

einen Grund gehabt, die Heizung anzustellen? Kostenverschwendung, ja, das wäre es

gewesen. Es war ja schließlich nur er, der fror.
 


 

o~
 


 

Hitze durchströmte ihn wie ein zäher Lavastrom, und er ergab sich ihr, bis grelles

Licht hinter seinen Augen explodierte, und er erschöpft auf dem Mann niedersank. Er

in den Streicheleinheiten des Pärchens wieder ertrank, wie er es schon einige Male

zuvor getan hatte.
 

Zeit war hier kein Maßstab. Hier zählte nur Lust und Gier. Das Verlangen diese Gier

zu stillen, nie genug davon zu bekommen.
 


 

o~
 


 

Aya lehnte seinen Kopf an den kalten Boden. Auch wenn er sich aufgesetzt

hätte ... es hätte nichts gebracht. Er fror. Ihm war übel und er hatte

Magenkrämpfe vor Hunger. Er lag zwar schon im Badezimmer ... hatte schließlich auch

Wasser getrunken, doch das half nichts gegen die Schmerzen, derer er nicht Herr

wurde. Schuldig war gestern nicht mehr zurück gekommen.
 

Schuldig war auch in der Nacht nicht wiedergekommen. Schuldig war auch jetzt

noch nicht da und es war schon Mittag. Zumindest glaubte er das. Er hatte

sich verloren in Zeit und Unwohlsein.
 

Er wusste ... Schuldig tat das mit Absicht. Er wusste es ganz einfach. Der

andere Mann wollte ihn quälen. Wie war das ... er sollte leben? Er sollte froh

sein, dass Schuldig ihn 'gerettet' hatte? Wozu? Damit der andere Mann ihn

selbst vernichten konnte? Verhungern, verdursten oder erfrieren lassen? Eines davon

konnte er sich aussuchen und ein morbider Teil in Aya schloss Wetten ab, was es

denn sein würde.
 

Hätte Aya es noch gekonnt, so hätte er gelacht, lauthals. Doch so ... tat er

gar nichts. Er hatte resigniert. Nach Stunden der Suche nach einer

Fluchtmöglichkeit. Nach Stunden der nochmaligen Untersuchung der Manschette ... die

ihm nur wieder aufgezeigt hat, wie hilflos er war. Dazu hätte er nicht versuchen

müssen, den Ring aus dem Boden zu reißen. Das hätte er nachher auch so

gewusst.
 

Auch so. Ohne neuerlichen Schmerz. Ohne Blut. Auch so.
 

Auch so wusste er nun, dass er warten würde ... bis er verhungert war. Bis

Schuldig zurückkam und sich daran aufgeilte, was er getan hatte. War der

andere Mann stolz auf sich? Seinen Gegner so zu schwächen? Anscheinend

schon ...

Aya krümmte sich unter einer neuerlichen Welle des Schmerzes zusammen und presste

die Lider aufeinander. Stöhnte schmerzvoll auf und presste seine Hände gegen den

Bauch. Ich verfluche dich, Schuldig, tönte es hohl in ihm. Verfluche dich auf den

Tod.
 

o~
 

Ermattet lag er zwischen den Leibern, genoss noch immer ihre geistige Verbindung,

ihre sanften, klaren Gedanken, die ihn umflossen wie ihre Leiber.
 

Er schloss die Augen und ein genießendes Lächeln breitete sich auf den befreiten

Zügen aus. Er hatte diese Auszeit schon lange nicht mehr genommen, doch es war

wieder nötig gewesen. Sein Körper hatte es ihm gesagt und nicht nur seine Gedanken,

die er hiermit nun zum Schweigen gebracht hatte. Ruhe und Ausgeglichenheit

herrschten in ihm vor. Seine Hände gingen wieder auf zärtliche Wanderschaft, kosten

feste Muskeln, weiche Rundungen, sanftes Lächeln und seidiges Haar.
 

o~
 

Es ging nicht mehr. Er hatte keine Kraft mehr. Keine Kraft, um noch gegen

sich selbst zu kämpfen. Sein Körper hatte das Regiment übernommen. Ihm

gezeigt, dass er nichts weiter als der Sklave seines Fleisches war,

verhungernd, verdurstend. Nicht mehr im Stande, sich zu erheben. Er

zitterte ... ihm war kalt. Er hätte sich übergeben können ... mehrmals sogar. Wenn

er noch die Kraft dazu gehabt hätte. Doch selbst das blieb ihm versagt.
 

Aya fühlte sich widerlich ... schmutzig. Verschwitzt und dennoch eiskalt. Es

war so kalt ... so kalt ...
 

Er schloss die Augen. Was für ein Ende ... er lächelte bitter. Und da sagte

noch jemand, er solle doch um sein Leben kämpfen. Aber manchmal war das

Leben eines Killers wirklich kurz ... da hatte Schuldig Recht gehabt.
 

Ihm wurde bewusst, dass er selbst mit offenen Augen nichts mehr sehen konnte. Alles

war schwarz um ihn herum ... nichts war mehr positiv ... alles war Schwäche,

Schmerz ...
 

Es war das Ende.
 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt ...

Vielen Dank fürs Mitlesen!

Coco&Gadreel

Erinnerung

~ Erinnerung ~
 


 


 

Bradley Crawford, als großes Orakel genutzt und auch danach in einer angemessenen Art und Weise dafür bezahlt, stimmte dem Auftrag ihres momentanen Arbeitgebers zu und besah sich das Dokument welches er in seiner Linken hielt und mit der Rechten umblätterte. Er saß in seinem großen, bequemen Ledersessel, mit einem Head set ausgerüstet, das für die bequeme Kommunikation garantierte und drehte nach einer Frage seines Gesprächspartners mit einer lässigen Bewegung zu dem Laptop um. Dieser übermittelte ihm, während er noch mit dem Auftraggeber sprach, die Daten des Auftrages.
 

"Wir werden die Störquelle beseitigen, natürlich. Es dürfte keine Schwierigkeiten geben, das Team ist jederzeit einsatzbereit, wie stets", versicherte er souverän und scrollte das Bild um sich die überspielten Daten kurz anzusehen.

"Morgen. Ja die Abwicklung wird wie gewohnt mit der nötigen Diskretion vonstatten gehen. Ich melde mich wieder", beendete er das Gespräch und kappte die Verbindung.
 

Er drückte den Knopf der Sprechanlage.

"Kommt rein, wir haben die Daten", sagte er und kurz danach ging die Tür auf und drei mehr oder weniger gut gelaunte Männer betraten den Besprechungsraum, der mit einem großen Flachbildmonitor ausgestattet war.

Sofort fiel Brads Blick auf Schuldig, der wie immer sein Grinsen präsentierte und sich in einen der Sessel fallen ließ, die um den Tisch aus Mahagoni herum standen. "Keine schwere Sache, aber gut bezahlt, soviel gleich einmal als Einstieg."
 

Er erklärte in kurzen, prägnanten Sätzen den Auftrag, unterstützte seine Anweisungen mit Bildern der Anlage, die sie wegen eines Serums unterwandern sollten und beendete seine Ausführung mit der Angabe der Summe die sie nach erfolgreichem Ausgang des Einsatzes erhalten würden. "Das Risiko wird wie immer zu gleichen Teilen tragen, deshalb gleicher Anteil für alle. Noch Fragen?"
 

Schuldig grinste spöttisch "Wozu soll ich denn da rein? Da bin ich doch völlig unterfordert", sagte er und rollte mit den Augen.

"In diesem Fall steht es dir frei mitzumachen. Wir benötigen nicht das gesamte Team, dein Anteil fällt uns anderen in diesem Fall zu, soviel ist klar", sagte Brad und lächelte den Deutschen eiskalt an.

Schuldig verzog die Lippen, wie ein Kind, das eine unliebsame Medizin schlucken musste und brummte etwas, das sich wie "Na vor mir aus, dann mach ich eben mit ...", anhörte.
 

"Gut dann hätten wir das auch erklärt, morgen geht's los, seid zwei Stunden vor Einsatzzeit hier vor Ort", wies er sie an und erklärte die Sitzung für beendet.

"Nagi, dich brauch ich später noch wegen der Planung, bearbeite die Daten, die wir erhalten haben, ich komme später nach und sehe mir das an." Der Junge nickte und zusammen mit Farfarello verließ er den Raum. Schuldig folgte ihnen und Brad hob die linke Braue als ein Bild vor seinem geistigen Auge vorbeihuschte, als wäre es ein unstetes Flackern, in der Zeit gefangen, als würde sich diese Zukunft erst im Moment formen.
 

"Schuldig. Warte einen Augenblick."
 

Der Deutsche wandte sich um, die Hände bereits lässig in seinen Hosentaschen vergraben, ein dreistes Grinsen aufgelegt mit Schalk in den grünen Augen gewürzt, kam er wieder zurück zum Besprechungstisch, lehnte sich an. "Irgendwelche Spezialaufträge? Hatte in den letzten Tagen richtig Sehnsucht nach einem gepflegten nächtlichen Einsatz gespürt."
 

Crawford stützte die Ellbogen auf die Armlehnen, nachdem er das Mikrophon und den Kopfhörer abgenommen hatte und legte die Fingerspitzen aneinander. "Du warst in den letzten Tagen also nicht sonderlich ausgelastet?" fragte er scheinbar neugierig, doch in ihm bahnte sich bereits eine ungute Vorahnung auf, eine Art Aura, als spürte er zusammen mit der latenten Visualisierung der nahen Zukunft, dass es bald Probleme geben würde. Und zwar hingen diese Probleme eher mit dem grinsenden, von sich selbst mehr als nur überzeugten Deutschen ab, der sich für den Größten zu halten schien im Moment. Zeit, ihm wieder etwas dem Boden unter den Füßen wegzuziehen.
 

"Nö, ausgelastet war ich, hatte einiges zu erledigen, war richtig entspannend", sagte Schuldig und zuckte mit den Schultern.

"Ah", nickte Brad und lächelte wieder sein emotionsloses Lächeln. "Und wie kommst du mit dem Rotfuchs zurecht?" fragte er wie nebenbei und stand auf, ging an Schuldig vorbei Richtung Tür.
 

"Rot...fuchs?" Hörte er die unsichere noch von Lachen durchtränkte Stimme.

"Ja, der Mann, der Weiß, der in deiner Wohnung liegt, aus welchen Gründen auch immer. Du wollest dich um ihn kümmern, schon ,vergessen'?"

Dieser Satz hätte unter normalen Umständen eine Erinnerung an eine unliebsame Hausarbeit sein können, sowie Crawford sie aussprach, etwas spöttisch, etwas scherzend. Doch es war bitterer Ernst. Und das sah er nun in den grünen Iriden, als er sich umdrehte und den entsetzten Blick des anderen einfing. Wie die Erkenntnis in die Augen trat, der Ausdruck sich veränderte, als wäre es ein anderer Mensch. Der Mensch hinter der Schuld.
 

"Wir fahren", sagte Brad.
 

Sie sprachen kein Wort während der Fahrt. Schuldig saß neben ihm, sah mit starrem Blick nach draußen, konnte jedoch das Zittern in der zur Faust geballten Hand nicht vor Brads Augen verbergen. Er verweigerte den Einblick in seine Augen, wich jedem Kontakt dahingehend rigoros aus.
 

Der Schlüssel öffnete die Tür und Brad trat ein, dicht gefolgt von Schuldig, der seine Wohnung wie ein Fremder zu betreten schien, etwas scheu, etwas ängstlich und vor allem zögernd. Brad sagte nichts, ging zielstrebig in das Badezimmer, die Einrichtung so markant aus seiner kurzen, verschwommenen Vision erkennend. Er sah die Kette, die sich auf dem Boden von der Säule und dem Ring im Boden, in Richtung Badezimmer spannte. Sie stand leicht unter Zug.

Ohne sich um Schuldig zu kümmern trat er ins Badezimmer ein und fand den darin liegenden Körper des Mannes, an der Wand liegend. Sein Körper zusammengekauert, das Gesicht dem Holzboden zugewandt. Die Gegenwart, die ihm seine Vision offenbart hatte.

Der Weiß lag still.
 

Brad ließ sich auf ein Knie hinab, drehte den Mann auf den Rücken, ließ seinen Blick über die Gestalt wandern. Trockene, fahle Haut, rissige Lippen, ein Zittern, das er unter seinen Händen spürte, die sich noch immer um den Oberarm gelegt hatten und den anderen festhielten. Die Lippen waren leicht geöffnet, der Atem hörte sich schwerfällig an. Die Lider flatterten nur leicht, als er den Mann ansprach.
 

Aus dem Augenwinkel erkannte er Schuldig, der zögernd in der Tür stand, wohl nicht wusste was er tun sollte. "Die Schlüssel", befahl er und streckte die Hand bereits verlangend danach aus.
 

`Der Schlüssel`, wiederholte Schuldig in Gedanken für sich, als müsste er noch über den genauen Sinn dieses Gegenstandes nachdenken. Seine Augen konnten sich nicht von dem liegenden Mann losreißen.

"Lebt er?", fragte er mit emotionsloser Stimme, die sonst gar nicht ein Teil seines Wesens war. Seine Arme hingen an ihm herab, nutzlos und unfähig sich zu bewegen. Er stand da und sah zu, wie Brad das regelte, wie er immer alles regelte.

Sein Blick verlor sich auf dem Rot der Haare, die sich auf den Boden wie eine Blutlache ergossen hatten.

Wieder war es geschehen. Warum gerade bei ihm?
 

Brad ließ den Weiß los, stand auf und trat zu Schuldig heran um ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen. "Der Schlüssel, Schuldig", sagte er ruhig und konnte sehen wie Schuldig es völlig kommentarlos hinnahm, den Schlüssel wie in Trance aus seiner Tasche zog, den Blick weiterhin als hätte er ihn nicht geschlagen auf den Mann am Boden geheftet.

Zurück tastete er nach dem schnellen Puls des Mannes, griff sich das Handgelenk und öffnete die Edelstahlmanschette mit flinken Bewegungen, ließ sie samt Kette klirrend auf den Boden fallen. Er hob den Mann auf und trug ihn aus dem Raum hinaus.
 

o~
 

Aya hörte sie nicht, die Geräusche, die um ihn herum an Intensität erlangten. Er hörte gar nichts. Sah nichts ... fühlte alles ...

Die Beschwerden seines Körpers vereinnahmten ihn mehr denn je, ließen ihn sich den Tod wünschen. Er wollte, dass es endlich vorbei war. Vielleicht ... wenn er es endlich geschafft und das Zeitliche gesegnet hatte, würde Schuldig wieder kommen ... vor Freude tanzen, dass er es geschafft hatte, ihn umzubringen. Ihn leiden zu lassen.

Und ja ... das konnte Aya dem anderen Mann zusprechen. Er hatte gelitten. Er wusste nicht wie lange. Dennoch hatte er gelitten.
 

Es war, als würde er schweben. Als würde endlich Bewegung in seine Gestalt kommen ... doch das war sicherlich nur eine Halluzination. Er flog ... aus seinem Körper hinaus ... aber nein. Das war Schwachsinn. Die Seele trennte sich nicht vom Körper, wenn man starb ... oder?

Aya wollte sehen. Wollte wissen, ob es wirklich so war. So verbrauchte er einen großen Teil seiner noch verbliebenen Kraft, um die Augen zu öffnen ... es zu versuchen. Nicht zu scheitern. Doch er sah nichts ... nur dunkel. Nur verschwommen ...

Allerdings war es weich ... so weich.
 

Den Mann auf das bequeme Bett ablegend um ihm eine weichere Unterlage als den Boden zukommen zu lassen, richtete sich Brad wieder auf und er suchte Schuldigs Blick. "Du willst immer noch, dass er lebt?"

Schuldigs Kopf ruckte von der stillen Betrachtung des halbwachen Mannes hoch und ein flehender Ausdruck trat in die Augen. Verwirrung, Schuld, Scham und Angst. Wie schillernd diese Augen doch waren. Wie ausdrucksstark.

Brad wandte den Blick ab. "Ich verstehe. Dann mach dich nützlich. Hol ein Glas Wasser. Und danach ...", Crawford überlegte einen Moment. Was tat man in so einem Fall?
 

"Tee, mach einen Tee, etwas gut verträgliches, geh in die Apotheke, lass dir etwas geben, für jemanden, der lange nichts gegessen hat", schloss er.

Schuldig machte sich sofort auf den Weg, hastig warf er die Tür ins Schloss, wenig später wurde sie jedoch wieder aufgeschlossen und der Telepath hetzte in die Küche, füllte schnell ein Glas mit Wasser und brachte es Brad ans Bett, stellte es ab und verschwand ohne ein Wort wieder aus der Wohnung.

Ob es gut war ihn jetzt gehen zu lassen, konnte Brad nicht sagen, aber wenn er beschäftigt war, dann würde er weniger nachdenken.
 

Unterdessen entledigte sich Crawford seiner Anzugsjacke, warf sie achtlos auf die andere Seite des Bettes und setzte sich neben den Weiß. Wie hieß er gleich wieder...

"Fujimiya, wach auf, los komm," versuchte er es in gutmütigem, aber strengem Ton, der ihm etwas ungewohnt schien. Mit einer ruhigen Handbewegung wischte er dem Weiß die wirren Haarsträhnen aus der Stirn, drehte den Kopf in seine Richtung. Eine unnatürliche Blässe, die von Krankheit, von einem Mangel an Nahrung erzählte, lag auf dem Gesicht. Er tauchte die Finger in das Glas Wasser, führte sie an die Lippen des Mannes und befeuchtete sie, hoffte, dass dies der erste Schritt in eine wachere Phase sein würde. "Es ist alles gut, Rotfuchs, wach auf ... hier ... trink etwas", leise Worte, die er zu dem Liegenden wehen ließ.
 

Da waren Stimmen ... eine Stimme. Sprach sie mit ihm? Über ihn? Aya wusste es nicht ... es interessierte ihn auch nicht. Bestimmt war es Schuldig, der durch seine tosenden Kopfschmerzen über ihn spottete. Aya zitterte, hatte das Gefühl, sein gesamter Körper wäre nur noch ein einziger, monotoner Schmerzball. Er hatte gar nicht gewusst, dass es so schmerzvoll sein konnte zu verhungern ... zu verdursten.
 

Doch. War das... Wasser? Fühlte er es richtig oder war es auch nur wieder eine Fatamorgana? Wirklich Wasser? Er versuchte zu schlucken, scheiterte an dem Schmirgelpapier, das seine Kehle reizte. An seiner Zunge, die nur noch ein lebloser, fleischiger, nutzloser Klumpen zu sein schien. Ihn dennoch die Lippen öffnen ließ ... spröde, ausgetrocknet ... schmerzend wie sie waren. War das sein Magen, der so schmerzte? Sein Unterleib? Seine Blase? Alles zusammen? Ayas Stirn zog sich in gequälte Falten, ließ ihn noch einmal vorsichtig versuchen, seine Augen zu öffnen. Doch da war Licht ... zuviel Licht. Es schmerzte. Wie alles. Es schien, als würde nichts mehr angenehm sein ... doch wie konnte er das auch jetzt noch erwarten?
 

Wie um sich selbst zu quälen, versuchte er es nun ein zweites Mal ... versuchte, seine Augen zu öffnen ... sich auf die Wärmequelle neben sich zu konzentrieren ... war er etwa nicht mehr alleine ... wenn doch nicht nur alles so verschwommen wäre. Wenn er doch nur seine Augen gebrauchen könnte.
 

Aber wenigstens hatte er seine Lippen geöffnet. Wartete auf das erlösende Wasser. Das wahrscheinlich nicht kommen würde, wie ihm eine kleine, todgeweihte Stimme zuflüsterte.
 

Der Amerikaner benetzte wieder die Lippen mit dem Nass, welches er mittels seiner Finger auf die rissige Haut auftropfen ließ. Er wagte es noch nicht, dem Mann das Glas an die Lippen zu setzen, noch war er nicht wach genug. Er tätschelte leicht die fahle Wange, befand die kommende Reaktion jedoch nicht für ausreichend genug. Doch er wusste, dass Fujimiya etwas trinken musste, schnellstmöglich und wenn es nur ein Schluck war. Aber im Liegen, wie sollte er das hinbekommen, ohne dass sich der Andere verschluckte?
 

Seine Knöpfe an den Hemdärmeln öffnend, krempelte er die Ärmel hoch, setzte sich neben den Kopf des Mannes und richtete ihn auf um den Oberkörper an seinen anzulehnen, den Kopf vor sich an seine Brust zu legen. So hatte er sowohl Kinn im Griff als auch die Hand für das Glas Wasser frei. Er saß leicht schräg um den Anderen zu stützen, hatte er einen Arm um ihn geschlungen. So setzte er nun das Glas an, ließ einen kleinen Schluck in den Mund fließen. "Wasser ...Rotfuchs", sagte er ruhig. "Du musst nur schlucken, dann wird es besser."
 

Ayas Körper wie auch er selbst protestierten aufstöhnend, als er in die Höhe gezogen wurde. Zu stark wurden die Krämpfe in vereinzelten Muskelpartien. Zu schwindelig wurde ihm alleine schon von dieser simplen, schlichten Bewegung. Und auch wenn er gleich darauf ruhte ... an etwas warmen - wärmeren als ihm selbst - so begrüßte er den Kontakt nicht.

Wohl aber das Wasser. Kühlendes Nass in der Wüste seines Halses. Ein Schluck nur ... dennoch Lockmittel zu mehr. Zu viel mehr ...
 

Er schluckte. Schmerzhaft vorsichtig. Es tat weh ... alleine schon das Auf und Abhüpfen seines Kehlkopfes verursachte ihm Qualen ... dennoch schluckte er. Wollte mehr. Dringend benötigtes Wasser ... mehr davon.

Seine Augen versuchten, nach der Quelle dieser Wohltat zu suchen, doch sie fanden nichts, nur bestialische Kopfschmerzen ... sie sahen nichts und wenn doch, dann nur verschwommen. Doch eines, ein einziges Detail verschaffte ihm Erleichterung. Er war nicht mehr alleine, es war jemand da. Er musste nicht mehr passiv darauf warten, dass er verhungerte ... jemand kümmerte sich um ihn.
 

Crawford hatte Erfolg gehabt, in dieser Lage konnte der Rotfuchs gut trinken ohne sich zu verschlucken. Seine Hand stützte den Kopf unter dem Kinn und hatte sich etwas an den Halsansatz gelegt, konnte so fühlen, auch wenn er nicht sah, wie das Schlucken dem anderen Mann schwer fiel. Winzige Schlucke rannen in die Kehle hinab und so dauerte es zwar, bis die Menge aus dem Glas ihren Weg in den Körper fand, aber er hatte keine Eile. Nur hin und wieder verlor sich ein Rinnsal am Mundwinkel und lief über den Kiefer hinab.
 

"Du brauchst das Wasser, innen wie außen", sagte Brad und kam sich für einen kurzen Moment seltsam vor, wenn er die Situation etwas distanzierter betrachtete. Er saß hier mit Fujimiya Ran, der einer derer Organisationen angehörte, die ständig ihre Aufträge gefährdeten und sich einmischten. Und das nur weil Schuldig nicht fähig war, auf sein Haustier Acht zu geben.
 

Warum hatte er diesen Mann auch hier bei Schuldig gelassen? Vielleicht weil es eine gute Gelegenheit war, diesem so etwas wie ,Verantwortungsbewusstsein' beizubringen?
 

Brad verzog den Mund unwillig. Dass Schuldig etwas an dem Mann lag, war ihm bereits als Idee in den Sinn gekommen. Aber warum Schuldig sich nun dieser dauerhaften Gefahr aussetzte war ihm nicht klar.
 

Aya versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, die nun klar und deutlich an sein Ohr drangen. Auch wenn er völlig neben sich war, so funktionierte sein Geruchssinn. Sagte ihm, dass das nicht Schuldig war. Ließ ihn vermuten, dass es jemand anderes war ... doch wer ...
 

Das verloren gegangene Wasser kitzelte sein Kinn, doch er war zu schwach, um dem Abhilfe zu schaffen. Zu schwach, sich auch nur minimalst um sich selbst zu kümmern ... um klar zu denken. Alles, was er wusste war, dass er lebenspendendes Wasser bekommen hatte ... endlich. Dass jemand bei ihm war ... doch hieß das, dass er gerettet war? Dass er nun nicht sterben würde? Er wusste es nicht.
 

"Mehr ..." Ein minimales Flüstern ... eher ein simples Bewegen der Lippen. Das Flehen nach Wasser. Auch wenn es schmerzte, wenn die aufgerissenen und spröden Lippen Feuer an seine Nervenzellen meldeten.
 

Brad folgte dem Wunsch nach mehr und setzte erst ab, als das Glas keinen Tropfen Wasser mehr beinhaltete. Er stellte es auf dem Boden ab, behielt jedoch die Position des Mannes an seinen Körper gelehnt bei, zog die Decke heran und legte sie um den ausgekühlten Mann. "Du bekommst gleich mehr. Verträgst du das Wasser? Ist dir schlecht?", fragte er, als er einen Schlüssel im Türschloss hörte und Schuldig mit einer Papiertüte herein trat.
 

Aya entging dieses Geräusch völlig. Er konzentrierte sich mit Gewalt auf die nahe zu ihm getragenen Worte. War sich bewusst, dass etwas auf seinem Körper landete. Schwer ... warm ... eine Decke? Sollte sie ihn wärmen?

Er glaubte nicht an den Erfolg dessen. Befasste sich lieber mit dessen nächsten Worten. Ob ihm schlecht war?

"So ... viel ... Schmerz ...", brachte er wispernd wie auch krächzend hervor, antwortete auf die ihm gestellte Frage, ohne sich wirklich darüber bewusst zu sein, mit wem er sprach. Doch es war einfach so schwer, die Übelkeit von den anderen Beschwerden abzugrenzen.

" ... und ... übel ..." Ja ... das war es wirklich. Irgendwie ... irgendwo zwischen den Magenkrämpfen.
 

Durch das Näherkommen von Schuldig abgelenkt, hörte Brad nur das Wort ,Schmerz' aus den mühevoll hervorgebrachten Wispern heraus. "Der Schmerz wird nachlassen", sagte er nüchtern. "Je mehr du trinkst desto besser wird es", versicherte er.
 

Schuldig stand vor ihm, die nachdenklich blickenden Augen auf Fujimiya und ihn gerichtet. "Wird er wieder?", fragte er zaghaft und räusperte sich daraufhin "Ich mach den Tee ... oder?" Schuldig war derart unsicher, dass Brad nur nickte. "Mach das."
 

Brad bezweifelte, dass es außer ihm selbst noch jemand je in diesem Gesicht gesehen hatte: Unsicherheit, Zweifel, Angst, Verletzlichkeit oder gar Reue.
 

Er war wie ausgewechselt wenn er in Situationen geriet, mit denen er nicht umgehen konnte und die ihn selbst in dem Maße betrafen, dass es um jemanden ging, an dem ihm etwas lag. Und dann ausgerechnet noch unter diesen Umständen. Schuldig war in der letzten Zeit sehr labil gewesen. Ständige Stimmungsschwankungen, Unkonzentriertheit, eine Gereiztheit, die Brad oft nur mit Gewalt stoppen hatte können.
 

"In ein paar Tagen ist er wieder der Alte", schickte Brad dem Deutschen hinterher, der sich bereits zur Küche begeben hatte um den Tee zuzubereiten. Schuldig wandte den Kopf etwas und nickte stumm.
 

"Kommst du mit ihm zurecht? Ich müsste noch einige Besorgungen machen ... die Einkäufe ... von vor ... ich meine ... sie sind kaputt ... ich sollte etwas neues kaufen", stotterte Schuldig, schien den Faden zu verlieren, starrte vor sich hin, mit seinen Gedanken vermutlich weit weg.

"Ja tu das, aber sei vorsichtig, kein unnötiges Risiko", wies Brad ihn scharf an und verlangte nach einem weiteren Glas Wasser.
 

Der Rotfuchs in seinem Arm war noch immer sehr schlapp.
 

Aya lauschte stumm dem Auf- und Abbewegen des Brustkorbs an seiner Seite, während der Andere sprach. Er wusste nicht, mit wem, auch nicht, warum der gerade noch so weiche Ton in eine Härte abglitt, die sein fließender Geist als vage bekannt deklarierte.
 

Ebenso wie die zweite Stimme. Wenn sich seine Gedanken doch in eine Richtung lenken ließen ... aber wie der Rest seines Körpers schienen sie dem allgegenwärtigen Delirium zum Opfer gefallen zu sein. Ließen ihn erschöpft und müde zurück. Er wollte schlafen ... wollte trinken. Wollte nichts.

Den verschwommenen, in seinen Ohren gedämpften Lauten lauschend, bettete er seine Stirn hilflos auf den warmen Untergrund, merkte nur nebenbei, wie die Decke trotz aller Bedenken ihre Aufgabe erfüllte. Ihm doch tatsächlich etwas Wärme schenkte. Seine Augen schlossen sich. Schlafen konnte er nicht. Nein ... daran war nicht zu denken.

Aber ruhen.
 

Noch ein Glas Tee wollte er dem Rotfuchs geben, danach wäre es sinnvoller, ihm eine kleine Ruhepause zu gönnen. Schuldig brachte es ihm auch gleich und drückte es ihm in die Hand. Brad verkniff sich eine Bemerkung und stellte das Glas vorerst ab.

"Zu heiß, gib mir das Wasser", forderte er und richtete den Oberkörper der an ihn lehnte, wieder etwas auf, rollte den Kopf mit einer Hand an die Stirn von Aya gelegt etwas mittiger, sodass er mit seinem Kinn die Haare des Mannes tasten konnte. "Aufwachen Rotfuchs, trink noch etwas", sagte er ruhig.

Wieder half er beim Trinken und Schuldig saß daneben und sah ihnen dabei fasziniert und mit schlechtem Gewissen zu.
 

Unwillig stöhnte Aya auf, wurde jedoch gleich durch das angenehm feuchte Wasser besänftigt, das sanft seine Kehle hinunterfloss. Seine Finger bewegten sich, ertasteten die weiche Decke, fanden jedoch nicht genug Kraft, sich zu erheben und das Glas selbst zu halten ...

Im Moment wollte er sich auch lieber gehen lassen ... fließen lassen. Den Schmerz vergessen, der, so kam es ihm vor, nie enden würde.

Ihm war nicht bewusst, dass Schuldig neben ihnen saß. Auch nicht, dass Crawford ihn hielt. Er schwebte in seiner Luftblase aus Isolation ... aus Einsamkeit. Machte sich keine Gedanken um menschliche Nähe.
 

Brad kam sich wie ein Puppendoktor vor, der für Schuldig das kaputte Spielzeug wieder ganz machte. So einfach war es zwar nicht, denn Schuldig wusste genau, dass der Weiß kein Spielzeug war, sondern echt, doch das änderte an dem Fakt nichts, dass er nicht wusste wie man mit einem Menschen umging. Wie auch?

Er hatte es nie gelernt, hatte sich ein eigenes Schema zurechtgelegt wie man den Umgang bewerkstelligen könnte und zwar indem man sie benutzt. Brad pflegte dies ebenso zu handhaben, aber er kannte den Unterschied im Gegensatz zu Schuldig.
 

Nachdem dieses Glas ebenfalls von dem Mann geleert worden war, erhob sich Schuldig und ging wieder in die Küche, nahm sich die Autoschlüssel und verließ die Wohnung wieder. Es schien als könne er die Situation nicht aushalten. Brads Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln. Mal sehen, wie er dem entgegenwirken konnte.

Wenige Zeit später kam Schuldig zurück und hatte einige Tüten in der Hand, stellte sie auf der Ablage in der Küche ab. "Ich geh nochmal und kauf ein paar Sachen ein ...", murmelte er als er zu Crawford kam "Ich glaub Sushi mag er jetzt nicht ... oder?"

Brad hob die Augenbrauen "Nein, Gemüse wäre jetzt gut, Hühnchen. Besorg das Zeug und reiß dich etwas zusammen Schuldig, du gehst nicht zum ersten Mal einkaufen."
 

Durch eben diese Blase drang nun ein Wort. Sushi. Essen. Aya gab einen unwilligen Laut von sich. Kein Essen ... er hatte keinen Hunger. Er wollte einfach nur, dass diese Krämpfe aufhörten ... kein Essen.

"Nein ...", murmelte er angestrengt, pausierte für einen Moment. Versuchte, seinen allzu schnellen Puls unter Kontrolle zu bekommen. Was ihm verständlicherweise nicht wirklich gelang. Seine Augen öffneten sich wieder, erwarteten schon beinahe, einen Teller voller Essen vor sich zu sehen. Doch zu verschwommen war alles, als dass er genau hätte erkennen können, was sich vor ihm abspielte. Zu schwindelig war ihm noch immer.
 

"Keinen ... Hunger ..." Gott, er brauchte all seine neu erworbene Kraft für diese beiden Worte. Dennoch war es ihm das wert, verspürte er doch eine tiefe Abneigung dagegen, Nahrung zu sich zu nehmen.
 

Brad sagte nichts dazu. Der Mann würde etwas essen, aber dazu musste erst einmal die Suppe her. Als nächstes öffnete sich die Tür erneut und Schuldig trug einen kleinen Bonsai herein, ging damit zielstrebig zu einer breiten Fensterbank und stellte ihn darauf ab.

"Wo hast du die Sachen aus der Apotheke?" fragte er Schuldig, bevor der wieder verschwinden konnte und starrte noch immer auf den Bonsai. Was zur Hölle ... wollte Schuldig damit?

"Ja, der Tee beruhigt den Magen und es ist noch einer dabei, der den Appetit anregen soll. Aber nicht zuviel sonst kommt dir alles wieder entgegen", sagte Schuldig nachdenklich und verlor sich wieder in dem Anblick den Brad und Fujimiya boten.

"Gut, geh ich mach den Rest hier, aber beeil dich, ich hab heute nicht den ganzen Tag Zeit."
 

o~
 

Aya versuchte unwillkürlich, seine Decke nach oben zu ziehen. Es war wieder kälter geworden hier im Raum. Er öffnete langsam seine Augen, stellte fest, dass sie sich nach Momenten der Ruhe scheinbar wieder besser gebrauchen ließen, als zuvor.

Zumindest sah er schärfer als zuvor ... lauschte den geschäftigen Geräuschen, die scheinbar aus weiter Ferne an sein Ohr drangen.

Was auch immer es war ... es wurde übertönt durch den beißenden Geruch von Essen, der die Übelkeit in ihm um einiges stiegen ließ. Essen ... wie widerwärtig. Er wollte nicht. Er wollte bloß, dass diese Qualen aufhörten ...
 

Er hatte gedöst. Wie lange das war, seitdem er auf das Bett niedergelegt wurde, wusste er nicht. Es war auch nicht wichtig. Nicht, wenn er sich wie jetzt den Umständen entsprechend wacher fühlte.

Nein ... verbundener mit der Realität ... nicht mehr ganz so fern. Nicht mehr ganz so isoliert ... aber wenn nur dieser ekelerregende Geruch nicht wäre ...
 

Schuldig saß am Tresen in der Küche und beäugte die fertige Suppe die Brad gezaubert hatte. Er hatte ja selbst schon Hunger aber in Anbetracht der Umstände wollte er nichts essen, keinen Bissen konnte er hinunterwürgen. Nicht um viel.

Er kam sich verdammt schlecht vor. So hatte er sich ... naja wenn er sich schon einmal so gefühlt hatte, dann wusste er nicht mehr, wann das war. Brad füllte in eine Schale klare Suppe ohne eine Einlage hinein, stellte sie zusammen mit einer Serviette auf ein Tablett. Dazu stellte er noch ein Glas des Tees, welcher den Appetit anregen sollte.

"Erst der Tee, dann die Suppe", ordnete der Amerikaner an und sah Schuldig auffordernd an.

"Wie?" fragte Schuldig und richtete sich mit größerer werdenden Augen auf.

"Ich?"
 

Brad nickte mit eisigem Lächeln. "Ja, du!"

Er griff sich das Tablett und ging zu dem Schlafenden, der noch immer genau in der selben Haltung im Bett lag, wie Brad ihn abgelegt hatte.

"Los, ab ins Bett", wies er Schuldig an, der mit zweifelnder Miene dem Befehl Folge leistete. Er setzte sich ins Bett und blickte schon fast ängstlich auf den Rotfuchs.
 

Eben dieser ekelhafte Geruch wurde intensiver, als er hörte, wie sich ihm Schritte näherten. Wie sich jemand ins Bett setzte. Aya konnte nicht sehen, wer es war, dennoch zog sich seine Stirn in misstrauische Falten. Er kannte diesen Geruch. Er wusste, dass er Abneigung gegen diesen Geruch hegte. Er wusste, gegen wen er Abneigung hegte.

Schuldig ..., hallte es zunächst unwirksam hohl durch seine Gedanken. Formte sich dann zu einem Bild.

Auch wenn er den anderen Mann äußerlich immer noch nicht erkannte, so erinnerte er sich. An dessen Tat. Er hatte ihn hier gelassen. Zum Verhungern. Er hatte ihn entführt ...

Hass wellte noch von ihm unerkannt hoch.
 

Brad sah Schuldigs ängstlichen Blick und seufzte innerlich. So konnte das nie klappen. Aya würde ihm höchstens das Essen wieder entgegenspucken, falls er mitbekam, wer es ihm ,verkaufen' wollte.

"Setz dich an die Kante, ich mach das", sagte er und konnte im gleichen Augenblick sehen, wie erleichtert Schuldig war.

Das würde schwierig werden ...

Er verschob seine Bedenken und widmete sich dem Rotfuchs.

"Trink noch etwas", sagte er wieder mit ruhiger Stimme, ohne eine Forderung mitklingen zu lassen. "Kannst du dich aufsetzen?"
 

Da war sie wieder ... die Stimme. Wasser. Es würde Wasser bedeuten ... neues, frisches Wasser. Doch dazu musste er sich aufsetzen ...

Aya schauderte innerlich vor der Anstrengung, die damit unweigerlich folgen würde. Den Schmerzen in seinen Muskeln. Er fürchtete, dass die Muskelkrämpfe, in den letzten Augenblicken vereinzelt und nicht mehr so stark wie auf dem kalten Steinboden, nun wieder an Intensität zunehmen würden ... und dennoch leistete er Folge. Spannte seine Oberarmmuskeln an, stemmte sich versuchsweise in die Höhe. Zitterte unter der Anstrengung. Drohte wieder einzuknicken.

Es war zuviel gewesen ... durch die plötzliche Bewegung wurde ihm schwindelig. Schwindelig und schlecht, wie ihm sein Magen meldete.
 

Diesen Versuch unterstützend, half Brad Fujimiya wieder und nahm die Position im Rücken des Rotfuchses wieder ein. Schuldig saß noch immer an der Bettkante und sah ihm dabei zu. Das Gesicht zu einer ausdruckslosen Maske geworden. Die Augen blanke Spiegel, die nichts von der Aufruhr im Inneren des Mannes verrieten.

Mit einer geübten Handbewegung angelte er sich sowohl Serviette als auch das Glas Tee. Er legte die Serviette neben sich, das Glas Tee setzte er an die zitternden Lippen an. "Ist dir übel?" fragte er. "Es wird besser wenn dein Magen voller ist."
 

Aya antwortete nicht, hielt er doch nichts von dem Vorschlag. Trinken ... ja. Aber essen wollte er nicht. Die Übelkeit würde irgendwann schon verschwinden, dazu musste er nichts essen. Eher im Gegenteil. Er war sich sicher, dass er sich übergeben würde, nähme er auch nur einen Bissen zu sich. Oder wahlweise irgendetwas dieser schrecklich riechenden Substanz.
 

Lieber ließ er sich nun gegen die weiche Unterlage gleiten, öffnete seine Lippen, als er Glas an ihnen spürte. Es war kein Wasser, soviel konnte er alleine schon durch den Geruch sagen. Doch es war auch nichts festes. Kein Stück, dass er kauen musste ... dass sich widerwärtig in seinem Mund anfühlen würde...nur reine, erlösende Flüssigkeit.
 

Brad setzte nach einer Weile die vergangen war das Glas wieder ab und ließ sich die klare Brühe geben. Die ebenfalls in ein Glas gefüllt war.

"Versuch mal das, ist gut und kräftigt dich etwas. Du brauchst das Rotfuchs."

Der Amerikaner ließ bewusst den Namen des Mannes weg, wollte ihn nicht aus seiner Konzentration reißen, indem sich der Mann vielleicht selbst besann, sein Trotz oder womöglich sein Stolz zurückkehrten und ihm verbaten, die flüssige Kost anzunehmen.
 

Was weder Crawford noch Aya wussten, war, dass das Orakel den Namen des Weiß gar nicht erst hätten nennen müssen. Denn Aya roch nun, was er vorher als widerlich befunden hatte, in seiner Nähe, wusste, dass sie ihn zum Essen bringen wollten ...

Dieser ekelhafte Geruch ... kam genau hiervon. Er presste seine Lippen zusammen, schloss vor Abscheu die Augen, wandte den Kopf zur anderen Seite.

Nein... er wollte nicht. Ihm war schlecht von diesem Geruch ... richtig übel. Der Tee war in Ordnung gewesen ... doch das?

Nein ... um nichts in der Welt würde er das hinunterwürgen.
 

Für einen Augenblick wusste Brad nicht, wie er auf diese Weigerung reagieren sollte. Er saß da und sah zu, wie der Kopf sich unwillig wegdrehte. Und genau in dieser Sekunde als Aya den Kopf wegdrehte kam er sich wie ein Vater vor, der seinem Kind eine grausig schmeckende Medizin verabreichen musste. Ein Lachen vibrierte in ihm heran und er konnte es nicht mehr aufhalten.

"Der kleine Weiß Leader hat also keine Lust, die Suppe zu essen?", lachte er leise. Er hielt Aya mit einem Arm leicht fest, unterstützte ihn lediglich damit dieser sich in der Position halten konnte.

Dabei entging ihm der erstaunte Ausdruck der auf Schuldigs Gesicht lag.

"Gut ... dann machen wir einen Deal." Noch immer war ihm, als müsste er lachen und ein dunkler Rest dieses Gefühls schwang in seiner Stimme mit

"Du trinkst das halbe Glas aus und dafür bekommst du ein ganzes Glas mit dem angenehmeren Tee. Wie wär's?"
 

Aya öffnete seine Augen, als er fühlte, wie seine bisher ruhige Stütze gutmütig lachte. Er vernahm die Worte, das Versprechen auf Tee. Das Amüsement in der Stimme.

Vielleicht ... vielleicht wäre es wirklich besser, wenn er dem Vorschlag folgte. Zumindest hätte er dann etwas von dem Tee, der, wenn er Glück hatte, den ekelhaften Geschmack der Substanz überdecken würde.
 

Anscheinend übernahm nun auch noch sein Körper das Regiment, als sich sein Kopf zurückdrehte, sich wieder an die vor ihm liegende Brust bettete.

Zeichen dafür, dass er dem ... Deal zustimmte. Dass er den verdächtigen Namen Weiß gehört hatte, fiel ihm erst jetzt auf. Erregte jedoch nicht das Misstrauen in ihm, das es normalerweise herbeiführen sollte.

Es war ihm egal ... wie alles. Alles außer dem Durst.
 

Brad ließ diese Einwilligung unkommentiert und half beim Trinken der Suppe. Irgendwie brachte ihm diese Aufgabe so etwas wie Ruhe mit sich. Sein Terminkalender sagte ihm zwar, dass er keinerlei Zeit dafür haben dürfte, hier zu sitzen und Schuldigs Rotfuchs wieder heil zu machen, doch seine Vision dagegen belohnte ihn damit, dass er in weiterer Zukunft den Lohn ernten würde: Die Ruhe.

Schuldig würde ihn nicht mehr nerven, würde ausgeglichener sein, die telepathischen Nebenwirkungen würden sich minimieren. Warum es ausgerechnet mit dieser Situation zusammenhing, wusste Brad nicht. In seiner Vision hatte er Aya nicht mehr hier in diesen Räumen gesehen.

Erneut setzte er die Suppe ab, ließ den Mann schlucken und hielt sich genau an die Vorgabe, nur ein halbes Glas der Suppe.
 

Aya schauderte nicht nur innerlich. Die Brühe schmeckte noch scheußlicher, als sie roch. So war er auch äußerst dankbar, als seine Stütze sie schließlich wieder absetzte. Ihn vor dem schrecklichen Geruch bewahrte.

Er öffnete erneut seine Augen, ließ sie umherschweifen, sein Gesicht immer noch vor Ekel verzogen. War das widerlich gewesen ...

"Tee ..." Er musste diesen beängstigenden Geschmack loswerden ... ganz schnell, auch wenn - was er aber nicht der Suppe zuschreiben wollte - seine Augen von Mal zu Mal wieder klarer sahen. Nicht mehr ganz so verschwommen. Wie gut.

Seine Hand ruhte auf dem festen Stoff einer Hose, strich tastend über die strenge Oberfläche. Suchte Bewegung. Suchte Ablenkung.
 

`Es schmeckt ihm nicht`, gab Schuldig die Reaktion auf Ayas Gesicht Brad wieder. Brad sah auf und sah, wie Schuldig minimal lächelte.

`Wenn du später auch so ein Gesicht ziehst, dann kill ich dich, meine Suppen werden gefälligst gegessen`, schickte er in Gedanken gleich zu dem Deutschen zurück und lächelte eisig über Ayas Kopf hinweg.

In der Zwischenzeit nahm er den Tee auf, registrierte die umtriebige Hand auf seinem Oberschenkel. Er entließ den Mann etwas aus seiner Unterstützung und legte seine Hand über die Andere, brachte sie so zum Ruhen. Um seine Idee in die Tat umzusetzen musste er einmal umgreifen und gab Aya so das Glas selbst in die unruhige Hand. "Versuch es selbst", sagte er und hob die Hand mit dem Glas etwas.
 

Für einen minimalen Moment hatte Aya ernstliche Probleme, dem Vorschlag zu folgen. Seine Glieder zitterten, er war schwach. Dennoch würde er sich nicht der Niederlage hingeben und alleine daran scheitern. Er hob das Glas zusammen mit der fremden Hand an seine Lippen. Kippte es vorsichtig und trank. Langsam und genüsslich. Solange, bis ihm sein Magen empört meldete, dass er nicht mehr konnte.

Aber wenigstens war nun dieser ... schreckliche Geschmack weg. Wenigstens das.

Jetzt konnte er wieder dösen ... angesichts des Schlafmangels der letzten Tage ein tiefer Wunsch in seinem Inneren. Über die Schmerzen hinwegsehen zu können und zu schlafen. Ungeachtet seiner Umgebung.
 

Brad nahm dem Mann das - bis auf einen kleinen Rest - leere Glas wieder fort und entließ ihn aus seiner Gegenwart, half ihm sich hinzulegen. Schuldig war bereits aufgestanden und folgte Brad in die Küche um den Mann schlafen zu lassen.

Auch wenn Ran die Suppe nicht schmeckte, Schuldig fand sie nach einem drohenden Blick von Brad einfach nur köstlich. Obwohl er den Blick gar nicht gebraucht hätte, Brad konnte ausgezeichnet kochen. Schuldig kam nur viel zu selten in den Genuss. Wiederholt erwischte er sich selbst, wie er zum Bett hinüber sah, in dem das Blumenkind schlief.
 

`Ich wollte das nicht`, sprach er in Brads Gedanken.

`Lass uns später darüber sprechen, ich muss nochmal zurück, den Plan mit Nagi besprechen, damit er die Daten ausarbeiten kann `, antwortete dieser ihm und sah zu Schuldig, der ihm dabei zusah, wie er das Geschirr in den Spüler einräumte. Er saß auf der Ablage und hatte die Arme missmutig verschränkt. `Und was ist, wenn er aufwacht und du bist nicht da?`

Ungläubig blickte Brad in das unsichere Blaugrün, welches ihm etwas verzweifelt entgegensah.

`Du hättest die Chance gehabt ihn töten zu können. Du hast sie ausgeschlagen, wiederholt. Jetzt ist es zu spät. Trag die Konsequenz und jammer nicht herum', war alles was er dazu sagte.

"Ich bin in drei Stunden wieder da."
 

o~
 

Aya döste unruhig. Auch wenn die Magenkrämpfe nicht mehr ganz so brachial waren wie noch vor Stunden ... oder waren es Minuten, er wusste es nicht, so konnte er doch nicht richtig ruhen. Immer wieder kam er zu sich, wurde abrupt in die Welt der Wachen geschleudert.

Er versuchte wieder und wieder, dem zu entgehen. Sich zum Ruhen zu zwingen, scheiterte jedoch schließlich an der Halsstarrigkeit seines Körpers, die ihn schlussendlich wach und erschöpft zurückließ.
 

Er öffnete frustriert seine Augen, sah, was ihm vorher nicht vergönnt war. Seine Umgebung. In relativ klaren und sich nicht bewegenden Umrissen.

Mal sehen, ob das auch so blieb, wenn er sich nun in eine sitzende Position quälte. Ihm war nicht mehr nach Liegen ...

Auch wenn es verdammt wehtat. Ihn leise aufstöhnen ließ.
 

Schuldigs Kopf fuhr alarmiert herum, als er aus dem Bad wieder herauskam und das leise Stöhnen vernahm. Unschlüssig stand er da und wusste nicht was er tun sollte, außer wie angewurzelt in der Gegend herumzustehen und dem Bemühen des anderen zuzusehen, wie er versuchte sich aufzusetzen. Sollte er hingehen? Was sollte er sagen? Wie geht's dir?

Ja klar, was auch sonst? Wie geht's dir, nachdem ich dich beinahe verhungern hätte lassen? Gute Idee, klasse Sache. So machst du es.

Und am Besten nimmst du dir sofort eine Schaufel für dein Grab mit, dann erledigst du die Vorarbeit besser gleich selber noch mit, dann geht dein Abschlachten auch noch schneller....`, ätzte er in Gedanken vor sich hin. Trotzdem trugen ihn seine Beine während dieser Gedanken zum Bett, in dem Ran lag.
 

Wie Brad gesagt hatte, töten konnte er ihn nicht, wollte er nicht, wollte noch nicht einmal daran denken und nun hatte er das Problem.

"Willst du nochmal etwas zu trinken? ... ich meine ..." verstummte er schlussendlich als er näher getreten war, jedoch noch ordentlich Abstand hielt. Seine Miene war unleserlich.
 

Ayas Blick fuhr herum zu der allzu bekannten Stimme. Schuldig. Wut schäumte in ihm hoch. Wut. Hass. Unglauben. Sein Kiefer presste sich eisern aufeinander. Was wagte der Andere ihn zu fragen? Ob er etwas trinken wollte? Fehlte nur noch, dass Schuldig sich nach seinem Befinden erkundigte. DAS wäre wirklich noch die Krönung gewesen.
 

Er ignorierte den Mann für einen Moment, als er sich vollends in eine sitzende Position hochkämpfte, sich mit beiden Armen abstützen musste. Was schon beinahe zuviel für seinen vernachlässigten Körper war.

Erst jetzt wieder konzentrierte er sich auf den Mann vor sich. Bedachte ihn mit einem Blick aus Wut ... Hass. Was auch immer noch in ihm tobte.

"Warum willst du das wissen?", brachte er stockend hervor. Leise. Erschöpft. Gnadenlos verurteilend. "Damit du dich daran ergötzen kannst?"
 

"Nein, damit ich dir etwas holen kann", sagte Schuldig ruhig. Er versuchte seine Schuldgefühle außen vorzulassen, wich jedoch dem direkten Blickkontakt aus, sah stattdessen an Ayas Haarschopf vorbei. "Ist ja nicht mehr viel da, das Glas ist bald leer ... ich könnte noch einmal nen frischen Tee machen."

Er sagte sonst weiter nichts, stand mit hängenden Armen da und verlor sich wieder in dem Anblick des satten Rottons von Ayas Haaren.
 

Aya lachte leise ... ließ das Geräusch jedoch sehr schnell verebben, als ihm bewusst wurde, wie sehr es schmerzte. "Welch Fürsorge ... nach zwei Tagen gar nichts. Wie schade, dass dein kleines Experiment misslungen ist und ich noch lebe", ätzte er weiter.

Er wollte verletzen ... wollte dem anderen Mann Schmerz zufügen. Gerade weil er dessen Haltung sah ... dessen abgewandten Blick. Was dachte Schuldig sich? Dass er mit ihm umspringen konnte, wie mit einem Haustier? Schlimmer noch?
 

Schuldigs Muskeln spannten sich als er seine Faust ballte, die Nägel in die Handinnenfläche bohrte und das Gefühl der Schuld zu betäuben. "Willst du nun etwas?" fragte er müde.
 

Experiment?
 

Ja, das stimmte wohl, doch nicht Ran war eins, sondern er selbst. Wie konnte er dem Anderen erklären, warum er heute erst zurückgekommen war? Er konnte es nicht. Oder vielmehr durfte er es nicht. Es war zu gefährlich, es Ran, dem Anführer von Weiß, zu sagen. Brad würde ihm dafür eine Kugel durch den Kopf jagen.
 

Er musste den Mund halten, wie sollte er sich sonst rechtfertigen? Am besten den Mann in dem Glauben lassen, er wäre das Arschloch, dass Ran in ihm sah.
 

Warum sollte er es abstreiten? Es war im Prinzip nicht wichtig, was Ran in ihm sah....
 

Die Gedanken spulten sich weiter in ihm ab, versuchten so, den Schmerz im Inneren abzutöten, doch wie schon immer waren seine Augen die Verräter seiner Gedanken.
 

Er wandte sich ab und ging in zur Küche.
 

Ob er nun etwas wollte? Aya spuckte innerlich auf die Frage. Stimmt ... es war ja nicht wichtig, was er sagte. Es war ja nicht wichtig, was er hiervon hielt. Schuldig hatte seinen Spaß gehabt, zu warten, bis er ihn soweit geschwächt hatte, dass er noch nicht einmal mehr alleine aufstehen konnte, wie er es jetzt versuchte und scheiterte.

Sein Körper zitterte. Vor Anstrengung, vor Wut. Vor Hass. Wie ein Mantra wiederholten sich seine Gefühle, drehten sich abwärts in einer nie endenden Spirale.
 

Außer sich vor Zorn griff er blind nach dem Glas, schleuderte es in Richtung Küche, sah, wie es auf dem Boden zerschellte. Hatte er doch nicht mehr genug Kraft um es dorthin zu bekommen, wo er es haben wollte. Keine Kraft mehr, sich aufrecht zu erhalten. Seine Arme knickten ein und er fiel auf das Bett zurück, keuchte erschöpft.
 

Seine Kehle brannte. Gereizt durch die unnötigen Anstrengungen, ließ sie ihn trocken raspeln. Schmerzen, die er gerade vergessen glaubte, erschwerten ihm nun wieder das Atmen. Doch gerade durch seinen eigenen Schmerz wurde ihm der in den Augen des Telepathen bewusst. Was schmerzte den Schwarz denn? Etwa, ihn so zu sehen. Dass er nicht lachte! Was auch immer es war, es verdiente seine Verachtung.
 

Schuldig erschrak sich etwas und hielt kurz inne, als er das Geräusch und die Ursache dafür registrierte. Er drehte sich jedoch nicht danach um, ging weiter und setzte neues Teewasser auf. Er musste sich ablenken, sich auf die Aufgabe konzentrieren ... aber nicht zu sehr, mahnte er sich und blickte von seiner Tätigkeit auf um mit Ayas auf dem Bett zusammengesunkenen Gestalt konfrontiert zu werden. Unwillig verzog er das Gesicht. Brad hatte gesagt, dass er schon wieder werden würde. Und was dann?

Er musste ihn schlussendlich gehen lassen, was sollte er auch mit ihm hier? Warum hatte er ihn überhaupt hierher gebracht? Völliger Schwachsinn war das von ihm gewesen.
 

Mit einem kleinen Sprung setzte er sich auf die Ablage und wartete auf das fertig gekochte Teewasser.
 

Aber wenn er ihn gehen lassen würde ... dann würden sich ihre Konfrontationen verschärfen und vielleicht war er sogar gezwungen, Ran zu töten. Oder ihn wieder festzuhalten. Wie sollten sie aus diesem Kreis herauskommen?

Er musste mit Brad reden.
 

Aya wartete.

Darauf, dass der Schmerz nachließ.

Darauf, dass er wieder normal atmen konnte.

Darauf, dass der Durst verschwand.

Doch das würde er nicht tun ... hatte es auch in den zwei Tagen nicht getan. Sein Körper lechzte nach Flüssigkeit und das letzte Erreichbare hatte er gerade nutzlos verschwendet. Wie dumm er doch war ... wie dumm.
 

Der rothaarige Weiß konnte sich nicht bewegen, nicht einmal, wenn ihm jemand Tod angedroht hätte. Dann schon gar nicht. Nein ... dann hätte er sich freiwillig erschießen lassen. Sein Körper zitterte vor Anstrengung, vor Zorn. Vor erzwungener Hilflosigkeit. Was auch immer das andere Mann damit bezweckte, ihn so dermaßen zu schwächen.
 

Schuldig fragte sich gerade wie er die Zeit bis Brad wieder da war überbrücken sollte ...

Nach einem erneuten Blick in Richtung Bett ließ er sich von der Ablage gleiten und machte sich daran den Tee für Aya zuzubereiten. Seine Bewegungen waren langsam und bedächtig, als zögere er die erneute Annäherung an den anderen Mann hinaus.
 

o~
 

Es brachte ihm wohl ganz und gar nichts, hier hasserfüllte Löcher in die Luft zu starren. Nichts außer weiteren, bitteren Frust. Vielleicht konnte er seinen Durst ignorieren, wenn er die Augen schließen würde. Wenn er versuchte zu schlafen.

Er lachte innerlich. Schlafen. Ja genau. Da konnte er auch gleich sterben.

Dennoch folgte Aya dem Vorschlag seines Verstandes und tauchte sich selbst in unruhige Schwärze. Ließ die Geräusche im Hintergrund Geräusche sein. Was konnte Schuldig schon noch mehr tun, als er es jetzt schon getan hatte? Er brauchte nicht misstrauisch zu sein ...

Er atmete ruhig und gleichmäßig, döste trotz Übelkeit und Schmerz vor sich hin ... glitt immer wieder in leichten Schlaf.
 

Die Schale mit dem Tee in der Hand ging Schuldig in die Hocke und stellte das Warmgetränk auf das Tablett, welches neben dem Bett stand, ab. Aya schien eingeschlafen zu sein, stellte Schuldig gerade fest, als er sich vor das Bett setzte und den gelösten Ausdruck in dem blassen Gesicht registrierte. Hin und wieder bewegten sich jedoch die trockenen Lippen etwas, benetzte die Zunge sie unbewusst. "Du schläfst wohl doch nicht so tief, was?", wisperte Schuldig mehr zu sich selbst als zu Aya.
 

Er wusste nicht mehr wie lange er dagesessen und den schlafenden Mann dabei beobachtet hatte, wie er sich manchmal regte, ein- und ausatmete oder leise Geräusche von sich gab. Die roten Haare lagen wirr über dem Rücken und einige der Strähnen hatten sich über die Wange gelegt. Schuldig war schon versucht, die Strähnen zu berühren sie dem Schlafenden aus dem Gesicht zu streichen, doch er hielt in der Bewegung inne. Besser nicht. Bei seinem Glück würde Aya bei dieser Aktion aufwachen und den zornigen Blick wollte er jetzt nicht ertragen. Er würde wieder nicht wissen, was er diesen hassenden Augen entgegensetzen sollte.
 

Hass?
 

Nach einer Weile ließ er den Kopf seitlich auf das Bett sinken und schloss die Augen.
 

Aya lag nur wenig entfernt von ihm und er hoffte, dass dieser nicht so bald aufwachen würde. Er genoss diese Ruhe.
 

So saß er im Schneidersitz vor dem Bett, seine Wange in Brusthöhe Ayas auf die Matratze gebettet und hing seinen Gedanken nach.
 

Nicht mehr lange und Brad wäre wieder da und der konnte augenscheinlich wesentlich besser mit dem Mann umgehen.
 

o~
 

Durst.
 

Das Erste, was er wahrnahm, als er aufwachte, war schrecklicher, quälender Durst. Der untermalt wurde von dem leisen Klacken der Tür. Anscheinend war Schuldig wieder gegangen ... etwas, das Aya offen gestanden Angst einjagte. Wollte der andere Mann ihn nun komplett verdursten lassen?

Er öffnete seine Augen, schauderte unwillkürlich. Dann musste er eben aufstehen ...
 

Doch noch bevor Aya sein irrwitziges Vorhaben wirklich in die Tat umsetzen konnte, fiel sein Blick auf die frisch aufgefüllte Teeschale vor dem Bett. Wie sie dort hingekommen war ... Aya konnte es sich denken, auch wenn ein Teil über diese Erkenntnis spottete. Was seinen Durst nicht im Geringsten störte.

Mühsam beugte er sich hinunter, nahm die die Schüssel auf und trank. Setzte erst ab, als er sie völlig geleert hatte. Es tat ... gut. Sehr gut sogar.
 

Die Schüssel neben sich auf das Bett stellend, ließ er sich rücklings zurückfallen, starrte schweigend an die hohe Decke. Weigerte sich, auch nur irgendeinen Gedanken zuzulassen.
 

Schuldig saß auf der Couch, weit weg vom Bett. Als er bemerkt hatte, wie Aya wach wurde, hatte er es vorgezogen sich einen anderen Platz zu suchen.

Er hörte, wie Aya die Schale aufnahm und hoffte insgeheim, dass diese nicht den selben Weg wie das Glas nehmen würde, sondern leer getrunken wurde.

Doch er hörte nicht das Zerschellen auf dem Boden, sondern nach einigen Minuten der Stille einen Schlüssel in der Tür, der das Ankommen von Brad ankündigte.
 

`Endlich`, schickte er in die Gedanken von Crawford.

`Und wie lief es?`, fragte dieser auch gleich.

`Frag nicht. Ich dachte schon ich müsste neues Geschirr kaufen`, grinste Schuldig etwas und drehte sich auf der Couch um den Amerikaner ins Gesicht zu sehen. Doch dieses war ausdruckslos und bot wenig Erkenntnisse was die Stimmungslage des Mannes anbetraf.

`Hat er etwas getrunken?`

`Ja, hat er ... gerade eben. Wie lief es bei euch?`

`Alles geklärt. Wir brauchen dich aber trotzdem, da es trotz des vorhergehenden Berichtes keine größere Bewachung geben sollte, jedoch eine vorhanden ist. Und zwar seit vorgestern. Es scheint als hätte jemand Wind davon bekommen.`

`Oh shit`

`Das heißt, du musst mit.`

Schuldig ließ sich zurückgleiten und nickte.

`Klar.`
 

Aya zählte insgeheim die Kerben in der weißen Decke. Verzählte sich bei der zehnten. Seine Augen hatten immer noch nicht ihre alte Schärfe zurück, doch was erwartete er? Er konnte froh sein, wieder zu sich gekommen zu sein ... froh sein, dass der Durst sich verringert hatte.

Seine Finger fuhren rastlos über den stofflichen Untergrund. Beschrieben kleine Kreise. Auch wenn Aya das Gefühl hatte, dass nun zwei Personen anwesend waren, scherte er sich nicht darum ... wer sollte auch schon da sein?
 

Was sollte das auch schon für Gefahren für ihn beherbergen? Er schloss müde seine Augen, drehte sich auf die Seite. Weg vom Raum.

Schuldig konnte etwas erleben, wenn er wieder bei Kräften war. Er würde dem anderen Mann das Leben zur Hölle machen. Darauf konnte der Schwarz Gift nehmen.

Und wenn es sein musste, würde Aya darauf schwören.
 

`Schläft er wieder?`, fragte Brad Schuldig und trat näher, legte die Schlüssel seines Wagens auf den niedrigen Tisch und blickte fragend auf ihn hinab.
 

`Vermutlich, frag mich nicht. Ich geh so schnell nicht mehr in seine Nähe.`
 

"Hast du Angst vor ihm?" fragte Brad interessiert mit einem herausfordernden Blitzen in den Augen, das sowohl Amüsement als auch Erstaunen aussagte.
 

Schuldig kommentierte diese Frage mit einem empörten Schnauben und zog die Beine auf die Couch. Trotz preschte in ihm heran. "Red keinen Scheiß, Bradley", gab er hinterhältig grinsend zurück, wusste er doch, wie wenig Gefallen Brad an der vollen Aussprache seines Namens fand. Vor allem wenn man die erste und letzte Silbe extrem in die Länge zog, wie Schuldig es gerne tat, wenn Brad ihm auf die Nerven fiel.
 

"Und warum meidest du seine Gegenwart dann?", ließ der Andere nicht locker. Er lehnte sich an die Fensterbank an und verschränkte die Arme. Schuldig blickte in die wissenden Augen und hasste Brad in diesem Moment.
 

Warum sollte er es jetzt laut aussprechen? Brad wusste doch genau um seine Probleme.
 

"Willst du, dass er es mitbekommt, oder was soll das jetzt?", gab er missgelaunt zurück.
 

"Ich frage mich ... ob nicht du willst, dass er es `mitbekommt`", wiederholte Brad in etwa den Wortlaut von Schuldig.
 

"Was interessiert dich das?", knurrte Schuldig und warf Brad einen finsteren Blick zu.
 

Der Amerikaner ließ sich dadurch nicht beirren, antwortete eisig: "Komm mir nicht auf die Tour, Schuldig!"
 

Brad löste sich aus seiner Haltung und ging zum Küchenbereich hinüber. Schuldig hörte, wie er sich etwas zu trinken einschenkte. Währenddessen wurde Schuldig klar, dass es langsam Abend wurde, es dämmerte bereits.
 

"Er wird mir nicht glauben ... und wenn schon, was macht es für einen Unterschied? Gar keinen", sagte er verhalten in Richtung Küche. "Außerdem ... geht es im Prinzip nicht um ihn."
 

Brad kam wieder, zwei Gläser auf dem Tisch abstellend und eine Flasche Weißwein in der Hand. "Nein, geht es nicht. Aber du hast dir das Vögelchen ins Nest geholt und nun musst du sehen wie du es groß bekommst."
 

"Netter Vergleich", murrte Schuldig und sah Brad dabei zu wie er den Wein kostete.
 

"Nur leider wird das Vögelchen nie fliegen können, weil ich ihm die Flügelchen stutzen werde ... willst du diesen Vergleich in diese Richtung weiterführen?" fragte er leicht gehässig.
 

"Mach mich nicht dafür verantwortlich, dass er noch lebt. Das ist allein deine Schuld."
 

o~
 

Der Wein gluckerte aus der Flasche in die Gläser und Brad reichte ihm ein Glas. Sie schwiegen eine Weile.
 

"Warum ist es gerade jetzt passiert?" wollte Brad wissen, als er sich seines Jacketts entledigt hatte, sich ihm gegenübersetzte. Schuldig zuckte nur mit den Schultern.
 

"Es war alles etwas viel in den letzten Tagen, hast mich ja nicht umsonst in diesen Laden zum ,Urlaub' machen gesteckt ... danke auch schön", ätzte er.
 

"Und dann trieb mich dieser Weiß auch noch ständig von einem Hoch ins nächste Tief. Er hat einfach nicht locker gelassen und dabei war das alles so unwichtig. Ich wollte einfach nur schlafen, mich ausruhen, damit ich wieder etwas runterkommen konnte", sagte er vertieft in seine Gedanken.
 

"Ich wäre beinah ausgetickt, Brad. Es hat nicht mehr viel gefehlt. Frag mich nicht, wieso ich die Kontrolle wiedererlangt habe. Sie war auf jeden Fall wieder da. Ich brauchte einfach Ruhe. Und der Auslöser für den ganzen Stress ..."
 

"...den hast du verdrängt", beendete Brad den Satz für Schuldig.
 

"Ja. Ich bin aufgestanden, wollte etwas einkaufen, hab ihn auch gefragt, was er haben wollte und bin dann losgefahren. Aber vorher haben wir uns wieder gezofft und ich war zwar fit, aber trotzdem ... irgendwie durchs Einkaufen, dann noch ne Verabredung ... ja und ich war dann noch zwei Tage bei Freunden ... naja die nächsten zwei Tage war ich nicht mehr hier. Kommt ja nicht so selten vor", schloss er.
 

"Hast du alles eingekauft? Die Einkäufe hätten dich daran erinnern müssen."
 

Schuldig nahm einen Schluck von seinem Wein. "Nein haben sie nicht, ich war zunächst so extrem wütend auf ihn, dass ich noch während dem Einkaufen ständig über seine Ansichten über seine Worte nachgedacht habe, aber nicht über ihn als Person. Mir ist entfallen, wer er ist, wo er ist und warum er dort ist. Du kennst das ja ... ich hab die Gedanken auf mich einströmen lassen, während ich unterwegs war und das hat so gut getan.

Ich habe in den Köpfen der Leute gewühlt.

Es hat mich abgelenkt und sie fordern immer sehr viel Platz ein und ich wollte ihn aus meinem Kopf haben. Ihn und seine Denkweise, deshalb ist er in Vergessenheit geraten." Schuldig nahm noch einen Schluck und spülte damit die letzte Worte hinunter.
 

Wie oft hatte er das schon erlebt? Zu oft.
 

"Er bringt dich ins Schleudern." sagte Brad ruhig.
 

"Ja, er putscht mich auf und beruhigt mich gleichzeitig."
 

o~
 

Da hatte er die Erklärung auf seine Fragen. Schuldig hatte sich zwei Tage nicht blicken lassen, weil er ihn vergessen hatte. Aya betrachtete in aller Ruhe seine mit der Decke spielenden Finger. Vergessen. Was für eine beschissene Ausrede. Nein ... was für ein beschissener Grund, denn anscheinend war das die Wahrheit.
 

Die Wut, die er gerade wieder kontrollieren konnte, hatte ihn nun um ein Vielfaches überschwemmt. Er war also ein Vögelchen, dem man die Flügel stutzen würde? Dass er nicht lachte. Das hatte sich Schuldig wohl so gedacht ... ihn so vom ihm abhängig zu machen. Er mochte wetten, dass der Deutschen das in vollen Zügen genoss. Ihn hier zu sehen ... abhängig. Schwach. Aber gebrochen? Nein.
 

Insgeheim beglückwünschte Aya Schuldig zu seiner weisen Entscheidung, sich nicht in seiner Nähe sehen zu lassen ... besonders nicht, nachdem er nun Wort für Wort der Unterhaltung zwischen Crawford und dem rothaarigen Mann lauschen konnte. Machten sie das extra? Sollte er zuhören? Oder dachten sie, dass er schlief ... nun ja. Da würden sie sich täuschen. Auch wenn er nicht vorhatte, die beiden Männer über diesen Umstand aufzuklären. Sollten sie nur weiterreden. Sollten sie es ihm nur immer leichter machen, Hass zu empfinden.
 

Wenngleich er sich nun aber zur Ruhe zwang. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.

Er ließ die blutigen Gewaltfantasien passieren, die in seinen Geist einströmten, es ihm schmackhaft machten, dafür zu sorgen, dass er wieder auf die Beine kam ... möglichst SCHNELL dafür zu sorgen. Dem Deutschen zu zeigen, dass er sich kein Vögelchen ins Haus geholt hatte. Dass er es sich nicht so einfach vorstellen konnte, ihn hier gefangen zu halten und auszublenden, sobald es ihm unangenehm wurde.
 

Er war kein Gegenstand, so sehr sich Schuldig das auch zu wünschen schien.
 

o~
 

Keiner der Beiden interessierte sich momentan für den geschwächten Japaner. Trotzdem er mit zum Thema gehörte, umgingen Crawford und Schuldig die Tatsache, dass der Mann anwesend war und ihnen vielleicht zuhören konnte.
 

"Wenn man es genau bedenkt, hat er es noch gut getroffen", sagte Brad nach einer Weile.
 

"In seinen Augen nicht", grinste Schuldig etwas schräg.
 

"Er ist überheblich und arrogant. Und er weiß nicht zu schätzen, wie gut es ihm hier geht, im Vergleich zur Gesellschaft von Farfarello, dem Tod, oder einem Verkauf in die gehobenen Bordelle. Ein Punkt, der immer noch als Option aussteht wie du weißt", bot Brad ihm nachdenklich an und ihre Blicke trafen sich.
 


 


 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt ...

Vielen Dank fürs Mitlesen!

Coco&Gadreel

Loverboy

~ Loverboy ~
 

Schuldig amüsierte dieses Angebot. "Danke für deine Hilfsbereitschaft", lachte Schuldig. "Ich würde ihn eher selbst töten als in eines der Bordelle zu vermitteln. Das würde ihn zerstören..." Er verstummte starrte wieder zum dunkler werdenden Abendhimmel hinaus.
 

"... was wäre das Problem dabei? Er ist ein Weiß, auch noch der Führer der nervenden Gruppe. Was auch noch zu berücksichtigen ist", gab Brad zu bedenken. "Kritiker haben sich an dir vergriffen, hatten nicht einmal mit der Wimper gezuckt um dich diesen Haien auszuliefern. Meinst du einer von ihnen hätte das Mitleid gezeigt, was du nun mit dem Weiß hier zeigst?" Er ließ die Frage im Raum stehen.

"Erklär mir, warum du dich so erweichen hast lassen? Waren es seine schönen Augen, oder was?" Brad war verärgert und Schuldig stand auf, ging zum einige Schritte entfernten Fenster und blickte hinaus. "Nein, das war es nicht." Er zögerte kurz.
 

"Sie werden erpresst", sagte er schließlich.
 

"Das weiß ich auch! Das ist kein neues Schema bei Kritiker. Aber sie hatten trotz allem eine Wahl, sie haben die beste Entscheidung für sich getroffen, als sie in die Gruppe eingestiegen sind. Es ist nicht wie bei uns, Schuldig. Habe nicht Mitleid mit ihm, weil du dich an dich selbst erinnert fühlst. Bei ihnen ist es durchaus noch etwas anderes."
 

Schuldig setzte sich auf die Fensterbank und nahm den Wein entgegen, der ihm von Brad gereicht wurde. Brad hatte die linke Hand in der Hosentasche vergraben, mit der Rechten hielt er das Glas und sah durch die klare, große Scheibe nach draußen, wo die Lichter der Stadt eine prächtige Kulisse boten.
 

"Ich hab's in ihren Gedanken gelesen. Im Großen und Ganzen ist es wie bei uns damals. Nur ist es eine psychische Abhängigkeit, die hinzu kommt. Sie denken, dass sie nichts mehr können oder haben, als uns ständig ins Handwerk zu pfuschen. Es ist zur Obsession für sie geworden. Sie sehen es nicht als Job an und Kritiker ist es egal, wie lange sie das durchhalten. Früher oder später verlieren sie sich in ihrem Hass und gehen dabei drauf."
 

"Weshalb sollte uns das kümmern?"
 

"Ich hab sie einige Zeit studiert ... ihre Gedanken. Außer bei dem Roten", er wies mit einer nachlässigen Handbewegungen auf das Bett.

"Bei ihm komm ich nicht rein. Aber er ist genau wie die Anderen. Sie werden es nicht mehr lange machen, ohne wahnsinnig zu werden. Ich frage mich ernsthaft, wie lange sie diese Scheinwelt, die sie sich aufgebaut haben, noch aufrecht erhalten können? Es wird alles zusammenbrechen, wie es bei uns auch war. Bei ihm sieht man es schon. Er hat den gleichen Blick, wie ... ", wieder verstummte er.
 

"Wie du damals?"
 

Schuldig nickte lediglich.
 

"Wolltest du ihn davor bewahren? Oder wolltest du ihm eine Auszeit geben?"
 

"Vielleicht beides. Wieder eine meiner spontanen Entscheidungen", lächelte er etwas wehmütig, ließ das Lächeln aber lediglich den Nachthimmel sehen, als er sich abwandte.
 

"Der Gedanke kam mir sofort, als ich ihn dort knien sah, von Farfarello festgehalten. Ich wollte ihn aus seiner Fessel herausreißen, die ihm Kritiker angelegt hatten, damit er nicht mehr gezwungen wäre, jemanden - und sei es ,nur' mich - in ein Versuchslabor zu stecken. Seine Entscheidungsfreiheit wollte ich ihm zurückgeben, aber ich bin wohl nicht der geeignete Mann dafür", lachte er leise.
 

"Bei ihm ist es schon zu spät. Er kann nicht mehr frei eine Entscheidung treffen. Viel zu viele Ketten zerren ihn in eine Position, die er wahren muss, da er sonst untergeht. Mit samt seinem Wenigen, was ihm noch geblieben ist."
 

"Mehr als ich habe", sagte Schuldig schnell auf Crawfords Worte.
 

Brad blitzte ihn eisig an. "Ein Familienmitglied, das im Koma liegt, ist sicherlich kein erstrebenswerter Zustand. Schon allein durch die Tatsache, dass er dadurch erpressbar wird. Ich hätte sie an seiner Stelle bereits aus dieser Welt befreit."
 

Schuldig schwieg.
 

"Könntest du Nagi töten, wenn er dort liegen würde?" fragte er dann doch.
 

Brad antwortete ihm nicht.
 

"Ich wollte ihm die Freiheit geben, Entscheidungen zu treffen, die nichts mit seinem Leben dort draußen zu tun haben, nicht ständig daran denken zu müssen, was für seine Schwester das Richtige wäre, wie viele er noch umbringen müsste um ihren Krankenhausaufenthalt zahlen zu müssen. Diese Doppelmoral kotzt mich an. Dieser Egoismus kotzt mich an. Sie halten sich für die Rechtschaffenen, für die Richter, die über uns ihr Urteil fällen und wenden die gleichen Mittel an. Sie zahlen mit dem Blutgeld die Rechnung für ihr anderes Leben, für ihr sauberes, heiliges Leben. Diese Heuchelei widert mich an."
 

"Wir finanzieren auch unser Leben mit dem `Blutgeld`", Schuldig hörte nur die Worte, nicht den Spott darin. "Ja, aber wir halten uns nicht für ...", Schuldig blickte zornig auf und sah, dass Brad genau wusste was er meinte, ihn lediglich herausgefordert hatte. "...etwas Besseres und spielen uns nicht als heilige Engel auf, wir wissen wo unser Platz ist", endete er etwas leiser, versöhnlicher.
 

"Ich weiß, dass ich kein Heiliger bin. Ich bin schuldig und werde es in den Augen Gottes auch nie anders sein. Aber sie spielen sich auf, als täten sie es im Namen von ihm. Als richteten sie uns, als hätten sie das göttliche Recht dazu. Und das bezweifle ich."
 

Brad hob die Brauen. "Ich wusste gar nicht, dass du so gläubig bist."
 

Schuldig zögerte mit der Antwort. "Es ist nicht wirklich der Glaube, eher eine Ahnung davon. Ich bin teils so erzogen, teils aber auch durch die vielen Gedanken, die mich durchströmen auf die Idee gekommen, dass es durchaus Sinn macht, an Gott zu glauben. In seinen Augen bin ich sicher schuldig ... für vieles.
 

Ich will mich von dieser Schuld auch nicht reinwaschen. Doch es macht mich wütend zu sehen, wie es Weiß immer noch glauben. Wie sie glauben, sie seien unschuldig, immer noch, auch nachdem so viel Blut an ihren Händen haftet. Selbst der Name täuscht es noch vor. Als würde Kritiker ihnen das ins Gehirn waschen, dass sie etwas Reines täten. Sie morden wie wir, wo ist da der Unterschied? Außer, dass sie sich selbst dabei zerstören? Ist das Gottes Wille? Ist das das Ziel ...wieder einmal? Wieder einmal in heroischer schmalztriefender Aktion Märtyrer züchten um sie dann zu verheizen?" Schuldig wurde zynisch und seine Lippen pressten sich aufeinander.
 

"Nicht mit mir. Ich halte es nicht für sinnvoll, das ,Weiß' zu verheizen um das ,Schwarz' aufzuhalten. Es gibt nämlich noch mehr Farben dazwischen. Das sollte Gott auch mal berücksichtigen."
 

"Schon mal mit Farfarello geredet?" scherzte Brad und Schuldig lachte.
 

"Bei diesem Thema wäre eine Unterhaltung gefährlich, fürchte ich. Ich habe meine eigene Art von Glaube, Brad, der nichts mit dem üblichen der Menschen zu tun hat."
 

"Du bist auch nicht der ,übliche' Mensch."
 

Nein ... das war Schuldig nicht. Kein üblicher Mensch. Der Verdacht drängte sich Aya nun mehr denn je auf. Gab ihm zu denken. Ja ... das tat es. Und Aya schämte sich noch nicht einmal dafür.
 

Das, was die beiden dort sagten ...worüber sie sich unterhielten, verursachte ihm dennoch Übelkeit, war es doch genau das, was ihm auch schon lange klar war. Sie alle standen an der Kante des Wahnsinns. Der Eine mehr, der Andere weniger. Youji vielleicht mehr als sie alle zusammen. Und wenn er Omi fragte...

Sie alle waren sich bewusst, dass sie nichts als Marionetten waren, dazu gedrillt zu töten und Befehle auszuführen. Sie alle wussten, dass sie mordeten. Im Gegensatz zu manch anderen stumpften sie nicht ab ... was ihr Verhängnis war. Jeder von ihnen bekämpfte den aufsteigenden Wahnsinn, wie Schuldig es so treffend betitelt hatte, auf seine Art und Weise.

Er ... er selbst zwang sich zur Ruhe. Niemand sollte ihn aus seinem Trott bringen, aus seinem gewohnten Arbeitsalltag.
 

Niemand, außer Schuldig. Hatte er gedacht, er sei für das Vergnügen des Deutschen da, so wurde er nun anscheinend eines Besseren belehrt. Schuldig wollte ihm eine Auszeit gönnen? Vom Töten? Wollte ihn von den Zwängen Kritikers befreien, indem er ihn entführte und hier gefangenhielt? Aya musste ehrlich zugeben, dass ihm die Logik dessen ein wenig versagt blieb. Und doch war er bereit, das als Erklärung des Ganzen in Erwägung zu ziehen. Auch wenn er gleichzeitig wusste, dass er dieses ,großzügige' Angebot ausschlagen musste. Er konnte seine Schwester nicht im Stich lassen, da hatte Schuldig schon Recht. Sie war das Einzige, was ihm noch geblieben war. Und er würde alles tun, damit sie aufwachte.
 

Was eben das war, was Crawford gesagt hatte. Für ihn war es bereits zu spät. Er konnte nicht mehr erlöst werden. Im Gegensatz zu Omi, Youji und Ken. Sie hatten nichts, was sie an Kritiker und das Geld band. An die exzellente, medizinische Versorgung. Sie konnten frei sein. Er war da der falsche Ansprechpartner.
 

Hielt er sich für etwas Besseres? Aya lächelte leicht. Ja. Besser als Crawford. Reiner als Crawford. Waren sie beschmutzte Engel Gottes ... so war der Amerikaner der Teufel. Ihn an ein Bordell zu verkaufen? Immer noch eine Option ... war das die Endlösung, sollte er zu langweilig für Schuldig werden? Auch wenn der Deutsche sich dagegen ausgesprochen hatte ... war das etwas, das Aya einen weiteren Schauer über den Rücken jagte. Er hatte Crawfords Worte durchaus gehört ... das, was er nicht allzu subtil angedeutet hatte. Ein Bordell. Wie gut es doch in das Bild passte, das er von dem Orakel hatte. Seine Feinde ins Bordell zu stecken.
 

Aya presste eisern seine Kiefer zusammen, starrte vor sich an die nächste Wand.

Gleich ... noch ein paar Augenblicke und er würde den Beiden zeigen, wieviel er von dem mitbekommen hatte, was ganz sicher nicht für seine Ohren bestimmt war.
 


 

Schuldig zuckte mit den Schultern, stand dann von seinem Platz am Fenster auf. "Was kann ich dafür, dass ich diese Fähigkeiten habe ... und sie zu nutzen weiß. Bisher hat mich das Leben nicht gerade begünstigt. Warum sollte ich mir nicht eine bessere Welt - für mich schaffen wollen?", brummte er etwas niedergeschlagen. Das Gespräch ging ihm langsam auf den Zeiger.

Das brauchte er Brad alles nicht zu erzählen, dem Amerikaner war es sicher ähnlich ergangen, bis sie sich getroffen hatten.
 

Seine Füße trugen ihn zu dem Weiß, der sich noch immer nicht regte und als er näher kam, sah Schuldig, dass er auf der Seite lag. Er peilte die Schale neben dem Bett an, richtete den Blick darauf um zu sehen, ob sie leer war. Ahh tatsächlich, der Mann hatte alles ausgetrunken. Er bückte sich, hob die Schale auf und als er sich umdrehen wollte streifte sein Blick zufällig die Gestalt des anderen ... und stockte mitten in der Bewegung als er bei seiner Betrachtung an den wachen Augen hängenblieb. Aya war wach. Hellwach.

Er hatte die Unterhaltung mitangehört?
 

Aya sah, wie der andere Mann sich zu ihm herumdrehte, wie die Erkenntnis in den Augen des Telepathen Gestalt annahm. Das Wissen, dass er alles gehört hatte. Alles.

Er erwiderte den Blick der grünen, stummen Augen ebenso schweigend, jedoch völlig reglos. Ließ sich nochmal alles durch den Kopf gehen. Er wusste. Das projizierte er mit all seiner Kraft nach außen. Er wusste, was Sache war. Er hatte gelauscht. Aya blinzelte nicht, starrte Schuldig weiterhin in die Augen. Wie angenehm weich sich doch die Decke unter seinen Fingern anfühlte.
 

"So." Aya war sich selbst nicht sicher, wie es klang. Rau...leise...oder doch bestimmt. Vielleicht auch alles davon?
 

Schnell spulte Schuldig ihre Unterhaltung im Kopf ab. Was hatte er alles gehört? Seine Gedanken, seine Absichten?

Für einen Moment stand er unbeweglich da, in der Zeit eingefroren und mit diesem wissenden Blick konfrontiert. Einem Ausdruck in den violetten Augen, der ihm sagen sollte, dass nichts vor dem Geist dahinter verborgen geblieben war. Er selbst hatte diesen Geist mit Gedanken gefüttert.
 

"Ja...so...und nicht anders", sagte er bewusst ruhig und drehte sich um, die Schale fest im Griff, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Seine Gedanken rasten. Wie würde Aya dieses Wissen gegen ihn einsetzen? Machte es jetzt noch Sinn, ihn nicht zu töten?

Abwesend drückte er Brad die Schale in die Hand, der sie ihm zögernd abnahm. Schuldig schüttelte jedoch die Frage nach dem ,Warum' mit einer harschen Kopfbewegung ab.
 

Er wollte jetzt nicht reden.
 

Brad nahm die Schale und füllte in der Küche frischen Tee auf. Damit ging er zum Bett zurück, überwand die zwei Stufen hinauf und trat näher.

Einen Augenblick darüber nachsinnend, ob es förderlich für das Klima wäre, wenn er sich hinsetzte, verwarf er diesen Gedanken jedoch schnell und setzte sich neben den liegenden Weiß. "Hast du schon etwas Appetit?", fragte er sachlich und mit Ruhe.

"Oder willst du vorerst bei Tee bleiben?"
 

Aya maß den Amerikaner ebenso ausdruckslos. Ließ seinen Blick hinauf gleiten. Die Oberschenkel des anderen Mannes...dessen breiter Oberkörper. Dessen...Geruch. Aya stockte in seiner Bewegung. Er kannte diesen Geruch, empfand ihn als äußerst angenehm...verband er ihn doch mit Wasser. Lebensrettendem, köstlichen Wasser. Mit einer ruhigen Stimme, die ihm sagte, dass er mehr zu sich nehmen sollte...dass er es brauchte.
 

Das war es also gewesen. Der Amerikaner. Warum, das war Aya ein Rätsel...nein. SO stimmte das nicht. Er wusste warum. Um Schuldigs Willen? Oder etwa aus anderen Motiven? Aya lachte innerlich. Er konnte es sich schon vorstellen.
 

"Tee." Kurz angebunden. Was sollte er auch große Worte verschwenden? Mühsam versuchte er sich in die Höhe zu stemmen, sich hinzusetzen.
 

Brad bemerkte den abschätzenden Blick. Er stellte die Schale kurz ab, als er die Antwort auf seine Frage hörte und wie sich der Rotfuchs aufzurichten versuchte.

Wortlos legte er die Hand auf den Rücken, gab dem Mann so die Stabilität um sich selbst in die Höhe zu bringen, dann folgte seine Hand den Bemühungen und glitt auf den Arm, hielt sich dort unterstützend bereit um einzugreifen, falls das Aufsitzen misslingen sollte.
 

Ayas Blick ruhte auf der ihn berührenden Hand. Er lächelte, sah schließlich wieder hoch, begegnete dem Blick des Amerikaners mit arroganter Abscheu, während ihm immer noch der Geruch des angenehmen Aftershaves in der Nase schwebte. Ja...es hatte ihn beruhigt. Ja...er war dankbar für das Wasser gewesen.
 

Seine eigenen Finger griffen nach dem Handgelenk des älteren Mannes und lösten es bestimmt von seinem Körper...bevor es ihn noch mehr beschmutzen konnte. Wie ein ekliges Insekt ließen sie sie schließlich fallen.

"Ich schätze es nicht, von einem Zuhälter angefasst zu werden, der sich daran aufgeilt, seine Feinde ins Bordell zu stecken...", ätzte er lächelnd und schnippte sich den imaginären Schmutz von den Fingern, als wäre Crawford es noch nicht einmal wert, dass man ihn anfasste. Nein...falsch. Er WAR es nicht wert...und Aya wollte diese Art von Schmutz nicht auf sich laden...so besudelt er auch schon war, auf diese Stufe stellte er sich nicht.
 

"Primitive Instinkte können also noch nicht einmal durch Armanianzüge unterdrückt werden...na sowas", schloss er mit hochmütiger Ruhe und strich sich die aus dem Zopf geflohenen Haare aus dem Gesicht. Sah ein weiteres Mal in die ebenso ruhigen, braunen Augen.
 

Brads Blick verdunkelte sich.

Deshalb war Schuldig zu ihm zurückgekehrt. Der Rotfuchs hatte ihr Gespräch mitverfolgt. Nun, was sollte es schon? Sie hatten es geradezu herausgefordert und seine Visionen hatten ihm kein bedrohlichen Ausgang einer derartigen Preisgabe an den Feind aufgezeigt.

Er beugte sich hinunter um die Schale mit Tee aufzuheben. "Das ist eine Möglichkeit gewesen, die ich Schuldig aufgezeigt habe. Hier geilt sich niemand an dir auf...keine Sorge." Beiläufig führte er die Schale an die Lippen und nippte daran.
 

"Du bist der Gute und wir sind die Bösen...warum sollten wir dann nicht dementsprechend handeln? Was regst du dich denn überhaupt über diese Überlegung auf? Sie passt doch mit Sicherheit in dein Bild von uns, das du dir zurechtgelegt hast. Wo ist das Problem?", fragte er ruhig, ohne auf seine Tätigkeit einzugehen. Ohne zu viel Aufhebens darum zu machen, dass er von der Schale getrunken hatte.
 

Er bot die Schale dem anderen an. Wartete darauf, dass er sie annahm und bezweifelte es im selben Augenblick. Doch er war neugierig, wie Aya die Situation handhaben würde.

"Auch ich muss etwas trinken um zu leben. Genau wie du. Siehst du da einen Unterschied? Irgendetwas, was dich besser als mich macht?"
 

"Was mich besser macht...?", lächelte Aya immer noch stolz. Er würde hier nicht kuschen, vor niemandem Auch nicht vor den Worten des Amerikaners. "Nichts. Was mich von dir unterscheidet...dass ich weiß, wo der Wert eines Menschenlebens liegt. Denn soweit habe ich gelernt, dich einzuschätzen, DU weißt es nicht oder ignorierst es schlicht und ergreifend...und Bilder mache ich mir erst, wenn ich genügend Informationen habe. Nicht, wie es mir gerade passt. Nicht, wie ich gerade mit Menschen umgehen will. Nicht, wie ich sie gerade vergessen habe oder mir wieder ins Gedächtnis rufen will."
 

Ein kurzer Blick zu Schuldig, dann nahm Aya schweigend die Teeschale entgegen. Ließ den Tee darin schwenken. Crawford hatte diesen Tee verseucht. Crawford...der Teufel. Aya lächelte ruhig. Ja...Crawford war der Teufel.

Aya setzte sie an. Trank ebenso wie der Amerikaner einen kleinen, wohlschmeckenden Schluck. Richtete seinen Blick schließlich auf Schuldig und streckte ihm die Hand mit der Schale entgegen. Sollte der Dritte im Bunde trinken.
 

"Wir sind alle verdorben...nur Weiß genießt das nicht. DAS ist der Unterschied, der uns humaner macht. Besser", sagte er leise, den Blick fest mit Schuldig verwoben.
 

Dieser hatte den Worten zugehört. Aber er hatte den Blick erst bei dem Wort "vergessen" zu Aya gewandt, sich mit dem Blick auseinandergesetzt. Noch immer stand er an der Stelle wo Brad zuvor gestanden hatte. In einiger Entfernung hatte er den Worten gelauscht, soweit er sie verstanden hatte.

Es versetzte ihm einen Stich, dass Aya erwähnte, dass er ihn vergessen hatte, als wäre dies bewusst geschehen.

In ihm zog sich etwas schmerzhaft zusammen.
 

Wie hypnotisiert starrte er mit verletztem Blick auf die dargebotene Schale. Nur für einen Moment erwägte er den Gang zu dem Gefäß, doch dieser Moment ging vorbei, als er den Blick in das Gesicht des Anderen hob.

"Danke. Der Tee ist für dich. Ich möchte dir nichts wegtrinken", schloss er leise und drehte sich mit verschlossenem Gesicht weg.

Die symbolische Geste war ihm nicht verborgen geblieben, aber er wollte sie nicht anerkennen, er wollte die Worte des Weiß nicht anerkennen.

Er strebte seinen Raum der Stille an um sich einige Minuten zurückziehen zu können. Jetzt wollte er vergessen. Schnell.

Doch es würde ihm nicht gelingen. Denn es war kein bewusster Vorgang, den er einleiten konnte wie es ihm beliebte.
 

Aya hatte den Schmerz in dem ruhigen Gesicht gesehen. Deutlich und klar wie reines, seichtes Wasser. Ein Teil von ihm hatte ihn sich gewünscht. Ein anderer jedoch erkannte das an, was er sah. Erkannte die Worte des anderen Mannes an, als dieser sich zurückzog.
 

Auch wenn er es nicht für möglich gehalten hatte, so war Aya ruhiger geworden. Durch das Gespräch, was er belauscht hatte. Durch das, was gerade passiert war. Durch die kleinen, unscheinbaren und dennoch gewichtigen Gesten. Es brodelte immer noch in ihm. Natürlich. Dennoch würde er sich nicht voller Hass in die Rache für dieses ,Vergessen' Stürzen. Er würde nicht dem Wahnsinn des Abschlachtens verfallen, nur um seine Rachgier zu befriedigen. Nein. Er würde verwerten. Die Informationen für sich gebrauchen und analysieren. Versuchen, aus ihnen das Beste zu machen.
 

Aya ließ seinen Arm wieder sinken, zog ihn zu sich heran. Setzte die Teeschale an und trank. Bis auf den letzten Tropfen. Um schließlich seinen Blick zu dem Mann zurückgleiten zu lassen, der immer noch neben ihm saß.
 

Brad hatte es kommen sehen, dass Schuldig ablehnte. Er hob die Hand, damit Aya ihm die Schale geben konnte.

"Er hat dich nicht bewusst vergessen, wie er sich auch nicht bewusst an dich erinnert hat. Ich habe dich ihm wieder ins Gedächtnis gerufen, als ich bemerkte, dass er dich nicht erwähnt hat. Wenn du ihn verletzen willst, dann erwähne es noch einige Male", sagte Brad, als gäbe er ihm einen väterlichen Rat. Wenn der Weiß das war, für das er sich selbst hielt, würde er es nicht mehr ansprechen, bis zu dem Augenblick, in dem Schuldig sich über ihre Regeln hinwegsetzte und selbst von dem Problem erzählte. Sie hatten bereits durch ihr Gespräch viel von sich preisgegeben, doch es stellte sich bei ihm keine Vision ein, von drohender Gefahr. Entweder starb der Weiß, bevor er gefährlich werden konnte oder etwas anderes würde ihn daran hindern diese Informationen an Kritiker weiterzugeben.
 

So. Crawford war also derjenige gewesen, der ihm das Leben gerettet hatte. In mehr als einer Hinsicht. Es ließ Aya kopfschüttelnd lächeln. Das war doch bittere Ironie...er. Ausgerechnet von dem Mann, auf dessen Kopf er aus war. Und andersherum ebenso. Sie waren Feinde. Und retteten einander.
 

Nein. ER wurde gerettet. Was er bitter nötig gehabt hatte, wie Aya säuerlich feststellte. "Messe mich nicht mit deinen Maßstäben, Orakel. Ich sehe es nicht als notwendig an, Menschen zu quälen", erwiderte er schließlich und reichte diesem die Schale, kämpfte sich dann an den Rand des Bettes. Er wollte ins Bad. Ein weiter Weg. Dennoch wollte er aus diesem verdammten Bett heraus.
 

Aya hob zweifelnd seine Augenbrauen. Hätte es eine normale Wohnung nicht auch getan? Nein. Es musste ein gottverdammtes Loft sein...mit dem Bad beinahe am Horizont.
 

Brad stand auf, lächelte etwas kühl "Nun, auf das vertraue ich. Ich sehe Schuldig ungern leiden...es sei denn ich bin dafür verantwortlich," schickte er noch hinterher, als er zur Küche ging. Den Weiß sitzen ließ.

Schuldig hatte sich scheinbar aus dem Staub gemacht, wieder einmal die Augen vor dem Problem verschlossen.
 

Aya schnaubte. Crawford vertraute ihm? Alleine die Tatsache war es schon wert, dass er sein Versprechen brach. Doch zu welchem Sinn? Er stellte sich wirklich nicht auf die Stufe des Abschaums, der sich in der Unterwelt herumtrieb. Wie auch schon sein Versprechen seiner....äußerst lästigen Haare, würde er dies halten. Insofern Schuldig es für genehm hielt, IHN nicht zu reizen.
 

Doch das war momentan nicht sein Problem...schön wäre es gewesen. Er musste erst einmal den Weg ins Bad bewältigen. Aya schauderte innerlich. Er musste duschen...da ging kein Weg dran vorbei. Er fühlte sich widerlich...seine Haare stanken...alles in allem ekelte er, nun da seine Gedanken wieder auf sich selbst gerichtet waren, sich vor sich selbst.
 

Aya seufzte. Auf ging's. Er stieß sich vom weichen Bett ab. Auch das noch. Stufen. Die nach zwei Tagen immer noch nicht verschwunden waren. Aber gut. Mehr schwankend als alles andere bewältigte er sie, ging dann weiter. Wenn man es gehen nennen konnte. Er strauchelte, spürte, wie seine Beine unter ihm zitterten. Wie sich die Ränder seines Sehfeldes langsam aber sicher in schwarz tunkten. Ein paar Schritte noch, dann...das Rauschen in seinen Ohren nahm zu, ließ ihn sich fragen, ob er überhaupt noch etwas hören konnte.
 

Nein...ebensowenig, wie er sich aufrecht halten konnte. Auf den Boden, bevor du aufschlägst, fuhr er sich selbst an, ließ sich auf seine Knie sinken, stützte sich mit seinen Händen auf dem kalten Holz ab. Das war besser....viel besser...von hier unten konnte er den Schwindel besser in Schach halten...wenn er denn irgendwann aufhörte...
 

Brad hatte die Aktion von der Küche aus beobachtet, hatte gewettet, dass der Mann schon an der Treppe gescheitert wäre. Zäher Bursche.

Mit einem Seufzen ging er um die Küchenzeile herum und durchquerte den weitläufigen Raum, bis er bei dem Rotfuchs angekommen war. Das rote, lange Haar, hing ihm über die Schulter seitlich herunter, während er versuchte krampfhaft den Schwindel zu bekämpfen. Die Gestalt schwankte bedrohlich und Brad beugte ein Knie, legte den Unterarm darüber und betrachtete sich den verbissenen Mann.

"Wohin des Weges?", fragte er mit leichter Belustigung in der Stimme.
 

Er HÄTTE es sich fast denken können, dass der andere Mann das amüsant fand. Natürlich...anscheinend hatte er die Bosheit mit der Muttermilch aufgesogen.

Aya weigerte sich strikt, sich durch diesen Kommentar auch nur in Ansätzen gedemütigt zu fühlen. Er würde es noch einmal versuchen...entgegen diesen spöttischen Worten. Doch zunächst musste er hochsehen...diesen verdammten Augen begegnen.
 

"Zum Bowling...wohin sonst?", entgegnete er ungerührt und schloss ein weiteres Mal seine Augen. Kämpfte gegen den Schwindel an. Er konnte es schaffen. Er hatte es bis hierhin geschafft und er würde auch noch bis in dieses Bad kommen!

Ohne einen weiteren Blick auf den Amerikaner zu werfen, erhob er sich, öffnete dabei seine Augen. Hätte sie zulassen sollen, denn seine Umgebung schwankte und drehte sich, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Mit einem frustrierten Seufzen taumelte er. Schon wieder.
 

Brad lachte leise und eine Spur Anerkennung war daraus zu hören, als er sich ebenfalls erhob, fast zeitgleich mit dem Japaner.

Nur um ihn aufzufangen, als dieser bei seinem Kraftakt in die Höhe stemmte. Er hielt den Mann an sich mit der Schulter an seine Brust.

"Ich nehme an du willst zur Toilette?" fragte er und hob den Mann kurzerhand auf die Arme und durchquerte den Raum. Das würde sonst ewig dauern bis sie am Ziel waren. Der halb weggetretene Rotfuchs würde das mit Sicherheit sowieso kaum mitbekommen, so wie er in den Armen hing.
 

Eben jener halb weggetretene Rotschopf war nun nicht wirklich so weggetreten wie Crawford glaubte. Ihm war einfach nur schwindelig...und er wollte duschen. Die Toilette war ihm - noch - herzlich egal.

"Nein...duschen. Ich will duschen", gab er dieser von seiner momentan bequemeren Position zurück, die gut einen Meter über dem Boden schwebte. Crawford...trug ihn. Er TRUG ihn. Aya konnte es nicht fassen. Was sollte das werden? Die Hochzeitsnacht?

Da wäre es ihm lieber gewesen, selbst zu laufen. Er HÄTTE es geschafft...da war er sich sicher. Irgendwann...aber er hätte es geschafft. Ohne wie eine Braut über die Schwelle getragen zu werden.
 

Der Amerikaner blieb unvermittelt stehen, ließ mit einem plötzlichen Lösen seiner rechten Hand die Beine des Rotfuchses hinabfallen, hielt ihn jedoch unter dem Arm fest.

"Was? Deshalb der Ausflug?" Er sah auf den Anderen hinab, hatte eine Augenbraue fragend erhoben.

"Hat das nicht Zeit, bis es dir besser geht?"

Eine überflüssige Frage, wie er schnell feststellte, als ihm eine Voraussicht zeigte, dass Aya auf seinem Wunsch weiterhin beharrte.
 

Hätte er gewusst, dass das die Lösung sein würde, damit der andere Mann ihn runterließ, hätte Aya es schon viel früher versucht...doch nun einfach so wieder in die Senkrechte gestellt zu werden, war seinem Kreislauf nicht gerade zuträglich. Durch das Rauschen in seinen Ohren, schüttelte Aya mit dem Kopf.

"Nein. Hat es nicht." Er wollte keine Sekunde länger in diesen Sachen verbringen. Keine. Einzige. Sekunde. Und er würde den Teufel tun und sich daran hindern lassen. "Ich kann das auch alleine..." Ja...sicher. Ganz alleine.
 

Sich genau diese Situation überlegend und sie gedanklich durchspielend, rechnete er die Höhe der Wahrscheinlichkeit aus, mit der der Rotfuchs seine Duscherei meistern würde. Kein gutes Ergebnis. Seine Voraussicht sagte ihm...

"Du schaffst es nicht. Du schlägst dir den Kopf bei deinem Sturz an der Wand an. Die Dusche bietet genügend Platz, damit du hinschlagen kannst", sagte er etwas abwesend, als er seine Vision beschrieb. "Kommt also nicht in Frage. Das Geschrei von Schuldig kann ich jetzt schon in den Ohren hören", sagte er etwas leidend.
 

Diese Gabe war...äußerst lästig für seine Wünsche. Und da er momentan derjenige war, dessen Körper streikte, musste er sich wohl darauf verlassen, dass dem anderen Mann ENTWEDER etwas anderes einfiel oder dass er seinen Kopf durchsetzte.

"Das bist du selbst in Schuld...das ist mir egal", murmelte Aya. "Ich will duschen...oder baden...oder was auch immer." Er presste die Hand auf seine Augen, versuchte mit einem weiteren Versuch, den Schwindel zu bekämpfen. Das musste doch irgendwie gehen...er würde zumindest nicht zum Bett zurückkehren, darauf konnte das Orakel Gift nehmen.
 

Nun gut, nicht nur darauf. Sondern allgemein auf alles.
 

Brad lächelte etwas gemein, freute sich innerlich auf das Gesicht das nun folgen würde.

"Gut, wenn du so vehement darauf bestehst, dann kannst du duschen oder baden, wie auch immer", lenkte er ein.
 

"Wie nett, dass ich das darf", erwiderte Aya mit knirschenden Zähnen, war sich in dem Moment jedoch bewusst, wie sehr ihn das schnelle Einlenken misstrauisch machte. Der Amerikaner führte doch irgendetwas im Schilde. Irgendetwas...auch wenn Aya sich nicht sicher war, was genau es war.

Was auch immer...er wandte sich um, wollte den ersten Schritt Richtung Bad tun.
 

"Aber natürlich nur, wenn ich dabei bin. Denk an die Vision. Ich habe keine Lust, dein Hirn von den Fliesen zu kratzen. Entweder mit mir oder gar nicht", verkündete er seine Absicht in den Rücken des Rotfuchses. "Du kannst kaum zwei Schritte laufen, ohne dass deine Muskeln zu zittern beginnen. Wie ist das erst unter warmem Wasser? Ich glaube, die Badewanne wäre da fast geeigneter als die Dusche", sagte er jetzt sachlich überlegend. Da hätte er aber Schwierigkeiten den Mann herauszuheben. Das musste dann Schuldig übernehmen.

Innerlich den Kopf schüttelnd sah er auf Aya. Wie war das nur zu dieser idiotischen Konstellation gekommen? Wie konnte es nur so dermaßen kompliziert werden...nur durch das Treffen einer Entscheidung.
 

Schon der erste Satz hatte Aya den Rest gegeben. Ihn sich umdrehen lassen. MIT dem Amerikaner baden? ODER duschen? Aya sah langsam hoch und starrte Crawford fassungslos an. SO hatte er sich das nicht gedacht. Nein...ganz und gar nicht.

Seine Augenbrauen zogen sich sturmgeweiht zusammen, als er begriff, dass er keine andere Wahl hatte. Entweder mit dem Orakel oder gar nicht. Was war ihm lieber? Aya verspürte große Lust, dem Amerikaner dafür einen ordentlichen Kinnhaken zu verpassen. Nicht nur einen...gleich mehrere.

"Badewanne", knurrte er schließlich. In Anbetracht der Umstände die...bessere Wahl, so würde der Amerikaner wenigstens nicht hinter ihm stehen...damit er sein Hirn nicht auf die Fliesen verteilte... "Zuhälter..." Als hätte er sich diesen Zusatz verkneifen können. Als hätte er es sich nehmen lassen, es dem Amerikaner noch einmal vor Augen zu halten.
 

Irgendwie erstaunte Brad jetzt doch, dass der Mann zustimmte. Er ließ sich aber nichts anmerken, sondern öffnete nur zuvorkommend die Tür. "Na dann hinein ins Vergnügen, mein kleiner lover boy", lächelte er kalt und lehnte sich an die Tür, wies auf die Badewanne und die Bank davor.
 

Er hatte es ja herausgefordert. Jedoch ein solches Wort, wenn es denn überhaupt eins war, aus dem Mund des Amerikaners zu hören...ließ Aya nun äußerlich völlig unbeeindruckt, innerlich jedoch kochend vor Widerwillen den kurzen Weg bis hin zur Bank zurücklegen, sich glücklich darauf niederlassen, während er den Wasserkran der Wanne aufdrehte. Heiß, wie er es schön mochte. Und dem Badezusatz, den er nun verschäumte, während er stumm auf das Wasser starrte.
 

Sich schließlich bewusst wurde, dass der andere Mann immer noch in der Tür stand. Anscheinend Gefallen daran fand. "Ich werde mich schon nicht ersäufen, du kannst jetzt gehen", merkte Aya ruhig an, wartete darauf, dass Crawford endlich das Bad verließ. Er würde den Teufel tun und sich vor dem Amerikaner ausziehen...und ihm seine private Peepshow bieten.
 

Brad nickte, interessierte sich keineswegs für die Nacktheit des Anderen. Er hatte im Moment anderweitige Interessen als Ayas Körper. Zum Beispiel, was Schuldig in diesem Raum trieb. Denn dieser Mann und dieser Körper waren ihm ganz und gar nicht gleichgültig. Er beschloss nach Schuldig zu sehen.

Brad hatte schon vor einiger Zeit bemerkt, dass seine ständige Sorge um den Telepathen nicht von ungefähr kam. Er hatte jedoch geschwiegen, in keinster Weise eine Andeutung gemacht oder den Mann gar begünstigt. Nein, da gab es für ihn klare Linien.

Aber Sorgen machen konnte er sich trotz allem.

"Ich komme gleich wieder", sagte er und verließ den Raum.
 

Wenn es nach ihm ginge, könnte der andere Mann dort bleiben, wo er jetzt auch immer hingehen wollte. Aya schüttelte schweigend den Kopf und entledigte sich des Pullovers...ebenso wie dieses...Shirts. Mickey Mouse...mal sehen, was Schuldig noch für ihn in petto hielt.

Schließlich völlig unbekleidet ließ er sich in das wohlig heiße Wasser gleiten, verteilte den Schaum um sich herum, dass nur noch sein Kopf aus der Wanne ragte.
 

Er ließ seine Haare zunächst aus der Wanne hängen, zog sie dann nach kurzen Überlegungen wieder mit sich in das herrliche Wasser, das ihn leicht dösig machte. Vielleicht sollte er doch etwas essen...

Gedankenverloren spielte Aya mit dem Schaum, pustete einzelne Flocken in die Luft vor sich, türmte kleine Berge auf dem Wasser. So schnell würde niemand ihn aus der Wanne bekommen. Darauf konnte er schwören. Dafür gefiel es ihm nach zwei Tagen viel zu gut, sich zu reinigen. Endlich diesen ekelhaften Geruch loszuwerden.
 


 

o~
 

Er lehnte die Tür an und strebte den schallgeschützten Raum an. Unterwegs schaltete er die angenehm warme Beleuchtung ein.

Die Tür war nur angelehnt, wie Brad bemerkte und auch begrüßte. Schuldig zu überraschen hatte er nicht vor. Er öffnete und das warme Licht flutete in den Raum, hüllte Schuldigs kauernde Gestalt sanft ein.

"Hi", hörte er leise.

"Hi", erwiderte er und lehnte sich an den Türstock an, die Hände in die Hosentaschen verborgen.

"Kommst du klar?"

"Geht so", kam es wenig enthusiastisch zurück.

"Hast du Lust später mit mir noch etwas zu essen?"

"Suppe?"

"Ist noch was übrig"

"Okay. Was ist mit dem Blumenkind?"

Brad zog unwillig die Brauen bei dem Namen zusammen.

"Du meinst den Rotfuchs?"

Schuldig lachte leise zunächst, dann richtig befreiend.

"Ja...ich glaube er heißt anders, aber genau den meinen wir beide", lachte er.

"Er will unbedingt baden...in seinem Zustand... sehr verbohrt der Junge. Hast du eine Jeans für mich, damit ich ihm Gesellschaft leisten kann, bevor er uns wie eine junge Katze da drin ersäuft?"

Schuldig horchte auf.

"Ich glaub's nicht...du darfst mit ihm baden? Mich wollte er noch nicht mal anfassen!", sagte er amüsiert.

"Ja klar, nimm dir aus dem mittleren Fach die alte Dunkle raus, die hat zwar schon ein paar Risse, aber was soll's.

"Ich zähl auf dich, wenn er wieder aus dem Wasser raus muss und halb benommen ist", grinste Brad hinterhältig und Schuldig erwiderte den Blick in gleicher Intensität. Seine Laune hatte sich etwas verbessert.
 

Brad löste sich von der Tür, froh Schuldig aus seinem Tief etwas herausgeholt zu haben und holte sich die Jeans aus dem Schrank, zog sich um und befreite sich von jeglicher Kleidung außer der Jeans. So ging er Richtung Bad, nahm noch ein zusätzliches Handtuch und einen Bademantel mit, den er im Schrank fand.
 

Aya lächelte für einen Moment selig. Ja...so konnte er noch etwas länger liegen bleiben...ganz in Ruhe und vollkommener Stille. Keine fremde Präsenz bei ihm. So wäre es ihm im Moment am Liebsten...ohne das Chaos, das um ihn herum herrschte.

Völlige Stille. Völlige Stille unter Wasser, die er sich jetzt gönnte, indem er sich langsam, bedächtig hinabrutschen ließ in das heiße Nass. Indem er die Augen verschloss...nur alleine mit sich und seinen Gedanken...dem Gluckern des Wassers...sonst nichts.
 

Kaum durch die Tür getreten suchten seine Augen den übersichtlichen Raum nach dem Weiß ab, fanden ihn jedoch nicht. Selbst hinter der Tür wurde nachgesehen, bis sein Blick erneut auf den leicht wackelnden Schaumberg fiel. "Du Idiot!", rief er wütend und durchmaß den Raum mit schnellen Schritt, griff mit beiden Händen ins Wasser und zog den Mann abrupt nach oben, wischte das Wasser und die Haarsträhnen aus dem blassen Gesicht.

"Wie kann man nur so dämlich sein?"
 

Aya schreckte abrupt zusammen, als Hände nach ihm griffen, ihn aus dem Wasser, aus seiner Ruhe zogen, ihn an die Luft setzten. Seine Augen flogen auf, sahen den Amerikaner, der ihn wütend anstarrte. Was zum...?

"Was soll das, verdammt?", zischte er ebenso zornig, während er versuchte, sich dem schmerzenden Griff des Orakels zu entziehen. WAS hatte der andere Mann gerade gesagt? Dämlich? "Irgendein Problem? Hätte ich vielleicht auf dich warten sollen?" Gerade noch ausgeglichen ruhig, war es nun an Aya, sich aufzuregen. Den Kiefer aufeinander zu pressen und dem Älteren erbost ins Gesicht zu starren.
 

"Ja verdammt, du hättest warten sollen! Du säufst hier in einer Seelenruhe ab ...", zornig stachen seine hellbraunen Augen in die von Aya.

"Außerdem ist das Wasser viel zu warm, dein Kreislauf hat jetzt schon schlapp gemacht", fügte Brad hinzu, den anderen Mann immer noch mit seinen Händen an den Oberarmen festhaltend.

Das nasse Haar sehr dunkel durch die Nässe auf der hellen Haut bildete einen schönen Kontrast, doch die violetten Augen blitzten aufmüpfig.

"Halt dich am Rand fest und rutsch etwas vor, dann kletter ich hinter dich und halte dich aufrecht, sonst kriege ich dich sobald nicht hier raus...vor allem nicht ohne Wasser in deiner Lunge."
 

Aya starrte den älteren Mann immer noch fassungslos wütend an. "Wie bitte? Ich bin nur untergetaucht! Ich bin nicht abgesoffen!", zischte er. Für wie inkompetent hielt ihn der andere Mann? Ah...nein. Die Frage musste er sich nicht stellen...

Die...Fürsorge des Schwarz in allen Ehren, aber auch er kannte Grenzen. Und mit ihm in die Wanne zu steigen war eine davon.
 

"Davon träumst du...ich werde nicht mit dir diese Wanne teilen." Sein Kopf ruckte in sturer Geste nach oben, zu seinem Gegenüber. Ein Fehler, wie es sich herausstellte, denn das, was Crawford gerade angedeutet hatte, traf nun zu. Ließ ihn die Augen schließen. Sein Kreislauf...spielte schon wieder verrückt. Auch wenn er ihn nach ein paar Augenblicken wieder unter Kontrolle bekam. Aber er konnte sich schon die Reaktionen seines...Wächters vorstellen. Aya schlug innerlich die Hände über dem Kopf zusammen.
 

"Du durftest baden unter der Bedingung, dass ich mitkomme", sagte Brad. Seinem Blick war der kleine Schwindel, der den Mann befallen hatte, nicht verborgen geblieben.

"Wie willst du in dem Wasser nicht ersaufen, wenn du kaum deinen Kopf heben kannst ohne das es dich dreht?"

Brad nahm die Brille ab legte sie auf die Ablage des Sideboards.

"Entweder du rutscht nach vorne und ich geselle mich zu dir, oder ich hebe dich aus deinem Planschvergnügen wieder heraus. Das ist mir sonst zu gefährlich. Ständig aufpassen zu müssen, dass du nicht wieder einen Abgang machst. Deine Leiche dürfte sich schwerer entsorgen lassen", ein amüsiertes Blitzen trat in die Augen, als er Handtücher bereitlegte.
 

Aya hatte schon wirklich Übles geschwant, als er den ersten Satz des Mannes gehört hatte. Doch dass dieser ihn dazu erpresste, ihn entweder in die Wanne zu lassen oder ihn herauszuheben...was war ihm lieber? Aya presste nach mühsamer Ruhe suchend die Kiefer aufeinander. Er würde sich dafür rächen...und seine Rache würde grausam sein. Oh ja. "Der...ABGANG war...geplant und freiwillig", stieß er hervor, auch wenn er sich schwor, das nie wieder zu machen. Nie wieder in Gegenwart eines Schwarz...eines Schwarz, der zu ihm in die Wanne steigen würde. Zuhälter.
 

Ayas Hände umklammerten den Rand, zogen sich schließlich nach vorne. Er war noch nicht fertig und würde den TEUFEL tun und sich von Crawford nackt aus der Wanne heben lassen.

Nein...wenn er bis dahin soweit wieder hergestellt war, würde er das alleine bewältigen.
 

"Erzähl das jemand anderem", sagte Brad beiläufig, während er etwas Wasser aus der Wanne ließ, damit sie nicht das gesamte Bad unter Wasser setzten.

Die Jeans anbehaltend kletterte er hinter den schlankeren Mann und ließ sich ins warme Wasser gleiten. Konnte sich jedoch ein minimales Lächeln nicht verkneifen. Zum wiederholten Male fragte er sich, wie er dazu kam mit dem Anführer von Weiß in einer Badewanne zu sitzen...

Ein unerklärliches Phänomen, mehr konnte er dazu nicht sagen. Oder es war Schuldigs Verdienst, dass er nun hier saß? Ja das traf auch noch zu.

Die Wanne bot genügend Platz für sie. Es war zwar unbequem mit einer Jeans darin zu sitzen, aber nackt wäre indiskutabel gewesen.
 

Ruhe, oh Ruhe. Wo war seine schöne, angenehme Ruhe geblieben? Völlig angespannt und dankbar für seine langen Haare lehnte Aya an Crawford, ignorierte dessen Anwesenheit und Kommentar für lange, schweigsame Momente völlig. Momente, die ihm das bestätigten, was Crawford so schön dargelegt hatte: Ihm wurde warm...unangenehm warm. Unangenehm diesig...
 

Ermattet schloss er seine Augen. Er war mehr und mehr zu müde, um sich noch zu bewegen. Zu müde, um sich noch Gedanken darüber zu machen, wer dort hinter ihm saß. Sein Kopf ruhte...wo auch immer, als seine Hände ziellos über das Wasser strichen. Sein Puls pochte unangenehm laut in seinen Ohren, ebenso in seiner Brust. Aber gut...jetzt konnte er nicht mehr zur Seite rutschen...
 

Brad fühlte sich etwas seltsam. Da lag der Anführer von Weiß, an seine Brust, nein an seinen Körper gelehnt, mit dem Kopf an seiner Schulter und wurde immer träger. Hatte er es nicht gesagt? Ja hatte er! Aber dieser Sturkopf wollte natürlich nicht hören. Genau wie im Kampf. Völlig verbissen.
 

Aya rutschte immer weiter runter und Brad sah sich gezwungen, einen Arm unter Ayas Oberarm durchzuführen und um seinen Oberkörper zu legen. "Bleib wach, wasch dich, damit wir hier wieder rauskommen", sagte er ruhig in das Ohr des Anderen. Der Körperkontakt machte ihm nicht sonderlich viel aus, es war für ihn eine Notwendigkeit, aber der Rotfuchs schien damit größere Probleme zu haben. Doch je müder er wurde, desto weniger schien er davon mitzubekommen, dass er zwischen den Beinen von Brad lag.
 

Aya blinzelte träge. Waschen...ach ja. Da war etwas. Benommen blinzelte er die Schweißtropfen weg, die sich in seine Augen stahlen, fuhr sich fahrig mit einer Hand über die Oberarme. Bemerkte wie nebenbei den Arm, der sich um seinen Brustkorb gewunden hatte. Das war doch nicht sein eigener...

Er ließ seinen Kopf zurückfallen, öffnete die Lippen. Schloss schließlich seine Lider...wieso war ihm so schummrig? Er wollte doch selbst...was hatte er gleich noch mal selbst gewollt? Es schien nicht mehr wichtig, als Aya den leicht kühlenden Hauch aufnahm, der von der Tür her zu ihm herüberwehte. Einfach nur ruhen...nichts weiter.
 

Schuldig hatte inzwischen den Raum betreten, verhielt sich aber still an das Sideboard gelehnt und betrachtete die beiden Männer in dem warmen Wasser.

`Hübsch, hübsch`, konnte er sich einen Kommentar nicht entgegen lassen.

Brad quittierte dies mit schlichter Nichtbeachtung.
 

Er war viel mehr damit beschäftigt seine aufkommende Erregung einzudämmen, die er trotz anfänglicher eiserner Beherrschung nun langsam verspürte, je mehr der andere sich in seine Arme fallen ließ, sich vertrauensvoll und unschuldig an ihn lehnte, als wäre es ihm egal, wer hinter ihm lag. Diese Unschuld schürte Brads Fantasie. Die geöffneten Lippen und die vertrauensvoll entblößte Kehle halfen auch nicht unbedingt dies einzustellen. Da kam ihm eine Idee, die ihn vielleicht von seinen aufkommenden Gefühlen ablenken konnte.
 

`Wie wäre es jetzt ein Bildchen von ihm zu machen?`, stellte er seine harmlose Frage an Schuldig, der darauf hin ihm einen ernsten Blick zuwarf.

`Wozu soll das gut sein?`

`Du wirst ihn sicher früher oder später gehen lassen, wie ich dich kenne. Da hätte er dann eine bleibende Erinnerung, falls er zu redselig wird.` Brad hatte die andere Hand auf dem Rand liegen und machte eine ausschweifende Handbewegung. `Du kannst ihm ja nicht in den Kopf sehen, wie willst du dich sonst absichern, wenn nicht durch diese Methode?`
 

Schuldig verschränkte die Arme abweisend. `Ich finde das scheiße`

`Du wirst weich`, antwortete Brad neckend, seine Augen blitzten tadelnd.

`Er wird schon nichts sagen, dazu ist er zu stolz. Seine Ehre macht ihn berechenbar`, erklärte Schuldig sich.

`Wer sagt denn, dass er freiwillig etwas sagen wird? Aber die Methoden von Kritiker stehen unseren in nichts nach. Glaubst du wirklich, sie werden ihn nicht auseinander nehmen wenn er wieder bei ihnen aufkreuzt? Nur allein um ihn für sein Versagen zu bestrafen? Von dem Punkt einmal abgesehen, dass sie immer noch hinter unseren Fähigkeiten her sind, oder besser gesagt, deren Ursprüngen.`

`Theoretisch müssten sie eher ihn untersuchen, als mich. Schließlich ist er dazu fähig mich zu blocken aus welchen Gründen auch immer, das so ist`
 

Brad zog die Brauen zusammen. `Ja, durchaus ein interessanter Gedanke, nicht nur für Kritiker`, teilte er Schuldig mit und ein dunkles Lächeln legte sich auf seine Lippen.

`Denk nicht mal dran, Crawford`, schickte er zu Brad mit einer kleinen Warnung.

`Ich hab nur laut gedacht`

`Haha, ja schon klar, wir machen kein Foto`, beschloss er.

`Gut.` Brad nickte ernst. Wie konnte er es ihm abschlagen?

`Du solltest dich trotzdem nicht zu emotional an ihn binden, Schuldig. Werde dir darüber klar, dass sie ihn, wenn du ihn gehen lässt, befragen werden.`

`Ja, verdammt! Sie werden ihn ebenso erpressen mit seiner Schwester, das weiß ich auch, deshalb will ich ja nicht, dass wir das genauso machen. Er wird dazwischen aufgerieben und schlussendlich jagt er sich noch selbst ne Kugel durch den Kopf. Vergiss es.`

`Könnte sein. Und warum stört dich das?` Eine lauernde Frage, wo er doch die Antwort schon wusste. Schuldig empfand mehr für den Weiß Killer.

`Sieh ihn dir doch an, Brad.`, Schuldig sah ihn ernst an. `Das ist der wahre Mensch hinter dem Schwert, hinter dem Hass auf uns. Er ist verletzlich und unschuldig`

`Das liegt daran, dass er zu wenig Flüssigkeit im Körper hat, natürlich sieht er verletzlich aus. Es ist nur ein malerisches Bild, das du jetzt siehst, Schuldig. Eine Momentaufnahme, nichts weiter.` Brad ganz der Pragmatiker, der Realist.
 

Schuldig schnaubte und fuhr sich eine Strähne aus der Sicht. `Tu nicht so abgeklärt, du weißt genau was ich meine`, schickte er im Zorn zu Brad, der ihn lediglich verarschte, das konnte er an dem spöttischen Zug um die Mundwinkel sehen. Sie kannten sich schon zu lange, als dass er sich täuschen ließ.

`Ich kann nicht in seine Gedankenwelt dringen, aber ich lese anders in ihm. Ich sehe seine Körperhaltung, seine Gesten, die Worte die er sagt, oder den Blick, mit dem er mich töten will, das ist alles nur aufgesetzt, eine Maske und das, was du nun in deinem Arm liegen hast, ist das was übrig bleibt, wenn du ihm die Maske runterreißt`. Verzweifelt versuchte er Brad das zu erklären, was ihn bewegte, sich für den anderen Mann einzusetzen.

`Es ist nicht mehr viel da, wenn die Maske fehlt... meinst du das?`

Schuldig nickte und sein Blick wanderte zu der dahin gegossenen Gestalt. Mühsam schluckend wandte er sich ab. `Wie hältst du das nur aus, so nah bei ihm?`, würgte er hervor.

`Beherrschung ist alles`, lachte Brad leise.
 

"Hey Rotfuchs, fertig mit baden?", fragte Brad.
 

"Hmmm..." Ein sachtes Surren...nicht ganz zufrieden, nicht ganz bewusst, entkam Ayas Kehle. Er ließ sich treiben im warmen Wasser, treiben an seiner warmen Stütze. Seine Arme ruhten gelassen an seiner Seite. Gelassen, vertraut. Ebenso wie seine Lider sich immer noch der Außenwelt aussperrten.

Er war viel zu müde, um sie zu öffnen...um sich auch nur mit dem Gedanken der bewussten Denkweise anzufreunden. Das wollte er zur Zeit nicht, nicht, wenn er floss.

Es schien ihm, als wäre er eins mit dem Wasser...mit dem feinen, wohlriechenden Dunst um sich herum.
 

Auch wenn er sich unangenehm schwach fühlte, wie ihm nun bewusst wurde. Zu schwach, um noch irgendetwas zu tun...wozu er momentan wirklich keine Lust gehabt hätte. Er wollte einfach nur seine Ruhe...von all dem, was ihm sein Körper als nicht normal funktionierend meldete.
 

"Scheint, als wäre das Baden vorbei", meinte Brad als keine Reaktion von der schlaffen Gestalt in seinem Arm kam, die nur noch von ihm gehalten wurde und ansonsten wohl längst ins Wasser getaucht wäre.
 

"Ja...vorbei und er hinüber", lachte Schuldig leise, griff sich ein Handtuch und überlegte, wie er Aya am Besten heraushob. "Ich glaube, das Handtuch spar ich mir besser", sagte er dann und legte es auf die Bank. Brad ließ das Wasser an dem runden Regler an der Wand aus der großen Wanne und Schuldig stützte sich auf ein zusammengelegtes Handtuch mit dem Knie auf dem Rand ab. Er beugte sich hinab zu Aya, schob seine Arme unter die leicht angewinkelten Knie und unterstützt von Brad unter den Oberkörper. "Nimm mal das Handtuch und leg es ihm um den Oberkörper, sonst rutscht er mir durch die Hand, so viel Badezeug, was er da reingekippt hat", brummte Schuldig etwas.
 

Brad tat wie ihm geheißen und Schuldig hob Aya aus der Wanne, das schwere nasse Haar unter dem Handtuch verborgen. Der Kopf überstreckte sich und der Nacken ruhte in seiner Armbeuge. Er trat einen Schritt zurück, ließ sich auf die Knie herunter und setzte Aya gleichzeitig auf der Bank ab. "Ich glaub das Abtrocknen schafft er nicht so ganz", grinste Schuldig.
 

Brad erhob sich mitsamt seiner triefendnassen Jeans aus dem Rest Wasser, der noch in der Wanne war und trat aus der Wanne, warf einen Bademantel neben Schuldig auf die Bank. "Am Besten, du machst das und dann ins Bett mit dem Sturkopf."

Schuldig hielt Aya immer noch fest im Arm, huschte kurz mit dem Handtuch über einige Stellen und legte dann den Bademantel über Ayas nackten Körper. Besser er brachte ihn gleich ins Bett, die Haare konnten sie später in etwas einschlagen, beschloss er und hob Aya erneut hoch.
 

Vermittelte diesem das Gefühl, so langsam wieder zu sich kommen. Nicht mehr zu fließen, sondern zu fühlen. Kälte...Nässe... Nicht wirklich vollkommen, allerdings verweilte er auch nicht in den dunklen Sphären seiner Bewusstlosigkeit. Träge blinzelnd bemerkte er schließlich die leichten Schwankungen, die seinen Körper fortbewegten, als er merkte, dass er getragen wurde.
 

Schon wieder getragen...er konnte sich schon denken von wem...
 

Er senkte seine Lider, bis sie nur noch einen Spalt des ihn schmerzenden Lichtes hineinließen. Er hatte Kopfschmerzen, hatte das Gefühl, dass alleine sich umzusehen ihm starke Übelkeit verursacht hätte. Ja, da ließ er sich wirklich lieber zurücktragen, wusste er doch, dass er alleine nicht hätte laufen können. Auch wenn er diese Art von Schwäche in Zukunft meiden würde. Wenn das Kritiker oder Weiß wüssten...getragen vom Feind. Eine Erinnerung, die niemand außer ihm kennen würde.
 


 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt...

Danke fürs Mitlesen, für die Kritik und die Kommentare!

Coco & Gadreel

Kristallsplitter

~ Kristallsplitter ~
 


 


 

Während Brad sich im Bad gleich richtig duschte, trug Schuldig Aya zum Bett. Noch immer keine wesentlich zu erkennende Wachheit des Mannes registrierend, legte er ihn auf dem Bett ab und setzte sich daneben.

Er grübelte noch über das Problem nach, was er ihm zum Anziehen geben konnte, als er die offenen Augen bemerkte. "Du bist im Bad abgeklappt", sagte er und stand auch schon auf um zum Schrank zu gehen.

"Ich leg dir was zum Anziehen her und zwei Handtücher."
 

Aya versuchte sich aufzurichten, als er die Worte des anderen Mannes hörte und ihn immer noch mit nicht ganz wachen Augen verfolgte, zusah, wie dieser ihm Kleidung aussuchte. Zusammengeklappt...ja, das war er anscheinend...wusste er doch nicht wirklich, wie er aus der Wanne gekommen war.

Er warf einen Blick auf seine zitternde Hand, seinen instabilen Arm und ließ sich langsam wieder zurücksinken. Gleich...gleich hatte er sich soweit, dass er alleine für sich sorgen konnte. Gleich...jetzt aber noch nicht.

Gleich. Mantra und Beschwörung zugleich. Eine Phrase, mit der er versuchte, sich selbst Mut zu machen.

Ayas Augen bohrten sich stumm in den Rücken des Telepathen, ließen noch einmal alles Revue passieren, was geschehen war und gesagt wurde. Vergessen. Ein scheußliches Wort. Doch er war nicht so dumm und hasste den anderen Mann dafür. Er war wütend, ja. Wütend, dass Schuldig nicht daran gedacht hatte, welche Verantwortung er sich auferladen hatte mit seiner Entführung.
 

Blinden Hass rechtfertigte das aber noch lange nicht. Nicht wie solchen, den er gegen Takatori empfunden hatte.
 

Auch wenn sich dieser Hass eben nun wieder regte unter der eisernen Schale seiner Beherrschung, als sein Blick auf die einsam am Bettpfosten baumelnde Manschette richtete. Ohne Frage, was Schuldig gleich wieder tun würde...Aya schauderte angeekelt. Nein...das würde er nicht zulassen. Konnte er nicht! Und was war, wenn er zu schwach dazu war?
 

Ha! Da ist er, dachte Schuldig und zog triumphierend einen seiner Schlafkimonos heraus. Da er für gewöhnlich alleine in seiner Wohnung war, hatte er es selten für nötig empfunden zum Schlafen etwas anzuziehen. Jetzt hatte er allerdings jemanden hier....und trotz der letzten Nacht, in der er hier nackt geschlafen hatte, würde sich das so schnell nicht wiederholen. Er hatte nicht vor sein Bett für Aya zu räumen.

Wie er diese Dinger liebte. Ein breites Grinsen zierte die Lippen und haftete in einem übriggebliebenen Lächeln, als er zu Aya zurückkehrte. Dieser starrte mit stoischem Blick auf die Manschette, seine Arme allerdings regten sich nicht, als wären sie auf dem Bett festgewachsen.

"Willst du es alleine versuchen, oder lässt du dir von mir helfen?", fragte er, die Handtücher neben Aya legend, den Kimono oben auf.
 

Ayas Blick ruckte zu Schuldig, konnte dessen Lächeln für einen minimalen Moment nur mit Hass in den Augen erwidern, bevor Ruhe einkehrte. Bevor er den Anblick der Manschette und der damit verbundenen Hilflosigkeit aus seinen Gedanken verbannen konnte...vorerst.

Ein anderes Problem stellte sich ihm hier. Schuldig sah auf ihn herab...war ihm zu nah dafür, dass er hier lag. Auch wenn Aya es nicht wirklich wollte, kam er sich unterlegen vor. Bedroht. Ausgeliefert.
 

Er versuchte sich aufzurichten, sich in die Höhe zu stemmen und siehe da. Es gelang ihm. Auch wenn er dringend etwas brauchte, an das er sich anlehnen konnte. Er war selbst zu schwach zum Sitzen...wie erbärmlich war das denn?
 

"Von einer Kopfstütze hältst du anscheinend nichts", richtete er an den anderen Mann, sah ihm jedoch nicht in die Augen, viel zu beschäftigt, sich auf das Sitzenbleiben zu konzentrieren.
 

"Ich habe so etwas bisher nicht gebraucht", gab Schuldig zu und setzte sich neben Aya ans Kopfende.

"Wenn du willst stütze ich dich ab", sagte er etwas unsicher. Warum konnte Brad sich eigentlich nicht beeilen, brummte er innerlich und warf der geschlossenen Badtür einen bösen Blick zu. "Du könntest dich an mich anlehnen...an meine Schulter und ...dich dann abtrocknen...was Besseres fällt mir nicht ein...oder du ziehst dich gleich an."
 

Letzten Endes war es die Unsicherheit in der Stimme des Telepathen, die Aya seine Distanz aufgeben ließ. Auch wenn er davon regelrecht abgestoßen wurde, dass er sich so schwach an die dargebotene Schulter lehnte und nach dem Handtuch griff, sich mit festen, schummrig-präzisen Bewegungen abtrocknete. Dem anderen Mann immer noch nicht in die Augen sah. Er wollte seine Ruhe wiederfinden. Er wollte keinen Hass. Nicht jetzt. Nicht, wo er ihn nicht gebrauchen konnte...so wehrlos und ohne die Möglichkeit, mit seiner Waffe zu töten.
 

Hier musste er Ruhe bewahren...als wenn das so einfach sein würde.
 

Das Handtuch längs um seine Haare schlingend, griff er nach dem Schlafkimono. Ein schönes Stück...wirklich schön. Sehr weicher Stoff...nur wie sollte er ihn sich alleine anziehen?
 

Von den Bewegungen abgelenkt ließ Schuldig den Blick zu den Händen Ayas gleiten, als dieser den Schlafkimono berührte und etwas ratlos dreinblickte.

"Ich denke, an der Bettkante und dann mit kurzem Hinstellen kriegst du das hin, meinst du nicht?", sagte Schuldig und lächelte unwillkürlich, jedoch wegen der Situation an sich. Dieses Lächeln war frei von Spott oder gar Gemeinheit.

Er wartete auf Ayas Einverständnis und betrachtete sich die helle Hand auf dem dunklen Farbton des Schlafkimonos.
 

Aya wusste, dass dieser momentane Zustand der Gelassenheit, dieses Lächeln so gänzlich ehrlich, nicht lang anhalten würde. Vielleicht nur bis zum nächsten Morgen...wenn er Glück hatte. War das Reue...Verlegenheit...etwa Angst, die er hören konnte? Die er nun auch sehen konnte, als er seinen Blick endlich auf die Augen des Deutschen richtete. Ihn schweigend maß, wie dieser seine Hand betrachtete, die den Kimono umfasst hielt.
 

Urlaub von Kritiker. Als wenn das möglich wäre...
 

Aya fröstelte. Ihm war kalt so gänzlich unbekleidet. Vielleicht, wenn sie aufgewacht war. Vielleicht würde er dann versuchen, sich von ihnen loszusagen. Vielleicht auch nicht...vielleicht blieb er auch ewig erpressbar, wie es Schuldig so treffend formuliert hatte.
 

Ohne es wirklich zu bemerken, verkrampfte sich seine Hand im weichen Stoff. Hatte er denn damals eine andere Wahl gehabt, als die exzellente medizinische Versorgung mit Blutgeld zu bezahlen? Welcher Job hätte ihm denn so viel Geld eingebracht? Er tötete doch nicht, weil es ihm Spaß machte...
 

"Ich denke, es wird gehen", riss er sich und Schuldig aus der Stille und löste sich von dessen Nähe. Kämpfte sich kaum bedeckt wie er war an die Bettkante, wo ihn auch schon das nächste Problem erwartete. Wie sollte er sich hinstellen ohne Hilfe?
 

Aya seufzte frustriert. Also musste er noch einmal darauf vertrauen, dass Schuldig ihm half...und, dass er das laute, fordernde Grollen seines Magens überhörte, welches seinen Worten wie ein Donnerschlag folgte.
 

Schuldig hörte das niedergeschlagene Seufzen und dieser leise Laut bescherte ihm ein warmes Gefühl, weil es so vertraut wirkte. Auch wenn es nichts Positives war, so erweckte es plötzlich so etwas wie Zuneigung in ihm, die er hinter einer normalen Handlung verbarg, indem er aufstand und den Schlafkimono in die Hand nahm ihn Aya reichte. "Hier, schlüpf oben ´rum rein, der Rest entfaltet sich dann, wenn du stehst", bot er ihm den Schutz von Ayas Intimsphäre durch den Schlafkimono an.
 

Es hatte schon gereicht Aya nackt in den Armen zu tragen, er musste nicht schon wieder diese appetitliche Kehrseite vor Augen haben...denn eine sichtbare Erregung wäre für die weitere Annäherung an Aya mit Sicherheit hinderlich. Diesen schlanken Mann berühren zu dürfen und sei es nur um ihn von der Badewanne zum Bett zu tragen, war bereits eine Herausforderung an seine Beherrschung gewesen, aber ihm jetzt näher zu kommen zu dürfen und ein wenig Akzeptanz und nicht nur Ablehnung zu spüren, war zuviel des Guten.

Das Grummeln des aufmerksamkeitsheischenden Magens ignorierte er und verschob es auf später.
 

Aya folgte dem Vorschlag schweigend, stülpte sich den Kimono über und stieß sich dann von der Bettkante ab, ließ den Rest des Kleidungsstücks an seinem Körper hinuntergleiten. Wie weich er doch war...wie bequem.

Auch wenn sich Aya unwohl fühlte, so gänzlich unbekleidet...momentan, besonders jetzt zum Ruhen, reichte es. War es sogar den Umständen entsprechend angenehm.

Er zog den Gürtel enger um sich, spürte dabei jedoch schon, dass er erneut in sich zusammensacken drohte. Dass seine Beine nicht mehr das wollten, was er sich vorgenommen hatte.

Elende Schwäche. Er hasste sie.
 

Die Lippen zu einer starren Linie zusammengepresst, versuchte Aya seinen Körper zu bezwingen, einen Sieg über die allgegenwärtige Benommenheit zu erringen und dennoch...wo sonst eiserne Selbstbeherrschung regierten, musste er nun klein beigeben. Vor Schuldigs Augen...nein, besser an dessen Seite.
 

Er wollte nicht wieder zurück auf das Bett. Wollte nicht, dass der Deutsche über ihm stand.
 

Ayas Hand ergriff Schuldig instinktiv, als sie nach Halt suchend in seine Richtung fuhr und er die nötige Stütze anbot, indem er unter dem Arm fasste und ihn aufrecht hielt. Schuldig drehte sich zu Aya um und sah ihm ins aschfahle Gesicht, die blassen Lippen gänzlich ohne die sonstige frische Farbe. Und er hatte Schuld daran.

Schnell und ohne sich groß um etwas Anderes zu Sorgen setzte er den Mann wieder ins Bett und half den kraftlosen Beinen nach. Er hatte immer noch zu wenig Flüssigkeit in sich um lange stehen zu können, ohne, dass Ayas Kreislauf einbrach.
 

Eben dieser seufzte erleichtert, als er sich wieder in der Waagerechten befand. So konnte ihm der Schwindel wenigstens nicht so viel zusetzen, wie er es gerade getan hatte.

Er schloss müde die Augen, legte den Kopf zur Seite. Wenn es nach ihm ginge, hätte er sofort schlafen können. Was ihm, ohne den quälenden Durst und dem vor wenigen Stunden noch brachialen Schmerz vielleicht auch endlich gelingen würde.

Aya rollte sich leicht auf die Seite, fand so eine angenehmere Position zum Ruhen.
 

Schuldig stand vor dem Bett und blickte auf die abweisende Gestalt von Aya. Tief einatmend klaubte er die feuchten Handtücher zusammen, immer wieder die Augen zu Aya lenkend.

"Willst du nicht doch etwas von der Suppe? Die schmeckt echt nicht schlecht...", fügte er murmelnd an.

"Ich komm gleich wieder." Die Antwort nicht abwartend brachte er erst einmal die Handtücher ins Bad um sie in den Wäschekorb zu befördern.
 

Mühsam drehte sich Aya zurück und beobachtete den Telepathen dabei, wie er zum Bad ging. Suppe? Er hatte das ungewisse Gefühl, dass er diesen Begriff schon einmal gehört hatte. Und, dass er ihn mit nichts Gutem verband. Suppe bedeutete essen und das wollte er nicht. Noch etwas trinken, ja. Aber essen? Schon alleine beim Gedanken an feste Nahrung, die er kauen und hinunterschlucken musste, wurde ihm übel.

Doch anscheinend hatte Schuldig keinen Wert auf seine Antwort gelegt...so schnell, wie er wieder verschwunden war.
 


 

Nach einigen Minuten kam Schuldig mit einem Glas Tee in der Hand wieder und stand unschlüssig mit dem Getränk da. "Hast du es dir überlegt...mit der Suppe?", fing er wieder an, wollte unbedingt, dass der Andere endlich etwas zu sich nahm. "Ich hab dir etwas Tee geholt. Ich kenn mich da ja nicht so aus, aber der Apotheker meinte, du solltest wenigstens etwas Suppe heute zu dir nehmen, damit dein Magen nicht mehr so schmerzt und du nicht Probleme mit...naja mit der Verdauung bekommst. Iss lieber was...", wurde er bei dem letzten Satz immer leiser und verstummte schließlich. Verdammt noch mal! Konnte das nicht Brad machen...immer musste er die unangenehmen Dinge erledigen...war ja fast wie bei der Arbeit, schimpfte er nach Herzenslust, während er abwartend dastand, die eine Hand mit dem Saum seines übergroßen blauen Pullover spielend. Einige Stellen waren unangenehm kühl, weil die Nässe, die er durch Ayas Transport zum Bett abbekommen hatte noch immer in dem Gewebe haftete.
 

Es war ja schön, dass sich der Deutsche Sorgen um seine...Verdauung machte, doch diese Sorge kam genau zwei Tage zu spät, ätzte Aya in Gedanken, sagte jedoch nichts. Er war darauf aus zu verletzen, ja. Innerlich. Innerlich akzeptierte er das Wissen nicht, welches ihm zuteil geworden war. Innerlich war er wütend auf den Telepathen, ihn einfach aktiv beiseite zu drängen. Die Erinnerung an ihn selbst.

"Ich...", setzte er kalt an, sah dann jedoch, wie der andere Mann an seinem Pullover spielte. Wie seine Finger denen eines Kindes ähnlich vor Nervosität nicht stillhalten konnten. Ein Versöhnungsangebot? Die Bitte um Nachsicht? Das Glas Tee eine Entschuldigung für das, was geschehen war? Seine Stimme wurde weicher, leiser als ursprünglich geplant, als er nun ein weiteres Mal ansetzte. "...verstehe nicht, wie man einfach so vergessen kann. Dazu noch etwas so wichtiges."

Ohne offene Wut. Nur Unverständnis.
 

Schuldig suchte die Konfrontation mit den violetten Augen. "...einfach", wiederholte er tonlos und sein Blick verlor sich. "..nein, einfach ist das nicht", sagte er ruhig.

"Das war es noch nie." Still stand er da und sah in das Gesicht des Anderen, der Ausdruck voller Unverständnis. Und wie sollte er von Aya das Gegenteil bekommen?

"Dir zu sagen warum es passiert ist, ist mindestens genauso gefährlich für mich...als wenn ich direkt zu Kritiker gehen und mit auf den Seziertisch legen würde." Er hielt den Kontakt für einen Moment, wich dann aus und setzte sich mit dem Rücken zu Aya auf das Bett, die Unterarme oberhalb der Knie abgestützt. "Es ist nicht zum ersten Mal geschehen und es wird nicht das letzte Mal sein. Ich wollte das nicht und...und .... es tut mir leid", sagte er.

"Bisher hatte es keine solchen Konsequenzen...weil bisher niemand so nahe bei mir war."

Er verstummte und spürte den Drang, auf und davon zu laufen. Er wollte schreien.

Warum hatte er das gesagt? Seine Augen wurden größer und er starrte vor sich hin, fast so, als würde er sich selbst über diese Worte erschrecken.
 

Aya sah aus seiner liegenden Position den Rücken des anderen Mannes entlang hinauf auf dessen gesenkten Kopf. Schuldig hatte sich entschuldigt. Welch Wortspiel...er lächelte innerlich bitter darüber. Er hatte das getan, was Aya glaubte, hören zu wollen. Glaubte. Denn nun, wo er die Worte vernommen hatte, fragte er sich, ob es wirklich das Richtige war. Ob es ihm genügte, oder ob er nach mehr verlangte...doch was konnte er schon mehr erwarten? War Reue denn nicht genug?

"Und was ist, wenn es wieder passiert? Wenn es dann eine Woche ist?", fragte er, immer noch ruhig. Getragen. Wie dachte Schuldig, dieses Problem zu lösen? Indem er auf gut Glück darauf vertraute, dass es nicht wieder vorkam? Aya rang sich nun auch ein äußeres, herbes Lächeln ab. Er besaß dieses Vertrauen nicht.
 

Wütend aber mehr noch - verzweifelt - fuhr Schuldig auf und drehte sich zu Aya herum, sah auf ihn hinab, kam sich aber eher klein und verletzlich vor, als wäre nicht er es, der stünde und Aya derjenige, der lag. "Verstehst du das nicht? Wie zur Hölle soll ich's dir denn noch deutlicher sagen? Solange ich diese verfickten Fähigkeiten habe sind das nun mal die Nebenwirkungen! Ich kann nicht alles aufnehmen, zuviel Stress ohne Ruhe befördert den Stressfaktor zugunsten meiner Fähigkeiten aus meinem Kopf. Legt ihn an einen gut geschützten Bereich, an den ich nicht komme, verdammt!" Sich seiner eigenen Gefühlslage bewusst, wandte er sich wieder kurz ab, fuhr sich über die Stirn um sich für einen Augenblick sammeln zu können.
 

"Ich habe nicht daran gedacht, dass die Rettung von dir zu Lasten deiner Gesundheit gehen würde. Es war eine spontane Entscheidung...wie oft soll ich dir das noch sagen, bis du mir glaubst? Spontane Entscheidungen werden nun Mal gefällt, ohne dass man an die Konsequenzen denkt! Ich dachte in dem Moment, wo ich dich gesehen habe, es wäre richtig! Richtig für mich oder dich war mir egal, ich wusste nur, dass es für den Augenblick so war." Er registrierte wie er sich langsam in seinen Begründungen und Ansichten verlor, verstummte schließlich, weil alles durcheinander kam, als würde er überquellen. Am Besten er hielt die Klappe, hatte er doch schon zu viel gesagt.
 

Aya musste all seine Kraft in Anspruch nehmen, damit er nicht zurückwich. Schuldig thronte über ihm, viel zu bedrohlich, wie ihm seine Instinkte zuflüsterten. Er würde angreifen und Aya könnte sich nicht dagegen verteidigen....Doch das war Unsinn. Er hätte sich momentan so oder so nicht verteidigen können, egal, welche Position er eingenommen hatte.
 

"Danach habe ich dich nicht gefragt", erwiderte er schließlich und begegnete den aufgebrachten, grünen Augen mit kälter werdender Ruhe, auch wenn ein Teil in ihm sich bereits fragte, wie Schuldig seinen Aufenthalt hier als Rettung ansehen konnte. Ob er nicht doch Recht hatte mit dem, was er sagte. "Ich habe gefragt, wie du es dir vorstellst. Willst du das nächste Mal die Kette bis hin zur Küche verlängern? Nur für den Notfall?" Aya verstummte. Wusste, dass wenn er weiter gesprochen hätte, nur Vorwürfe seine Lippen verlassen hätten.
 

Er atmete tief ein, bevor er sich besann. "Mir ist durchaus bewusst, dass du es nicht...steuern kannst. Ich glaube dir das, was du sagst. Ich glaube daran, dass du mir...Urlaub gönnen wolltest..." Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen. "...dennoch schützt es mich nicht, wenn sich deine Kraft wieder überlädt."
 

Schuldig erstarrte, blickte wieder unverwandt auf Aya, jedoch nur kurz, bevor er dem Inneren Drängen nachgab und dicht machte. Er zog sich zurück, wollte nicht antworten, fühlte sich in die Enge getrieben. Zuviel, was er nicht beantworten konnte. "Lass mich in Ruhe", sagte er monoton und wandte sich ab. Dieser Satz war völlig aus der Luft gegriffen, gänzlich fehl am Platz
 

"Ich wiederhole mich nur ständig. Wieso hätte ich dich nicht anketten sollen? Wie hätte ich merken sollen, dass ich dich vergesse? Es ist niemand da, der mir widerspiegelt, wie ich bin, wie ich reagiere. Ich bin allein, mit meinen Gedanken und mit den Gedanken vieler anderer. Sie unterhalten sich nicht mit mir. Jeder für sich ist allein.

Ich werde dich nicht mehr anketten, falls dir das Sorgen bereitet." Resignation begleitete die Worte.

.

Er ging. "Wie könntest du mich so akzeptieren?", flüstere er rau in seine Gedanken versunken, bereits im Weggehen begriffen und den Blick auf seine Schritte gelenkt.

Würde Aya verstehen, was er meinte? Würde er selbst es denn akzeptieren können, was er damit sagen wollte? Dass er wollte, dass Aya ihn annahm, ihn so annahm wie er war? Wie sollte er denn verhindern, dass so etwas noch einmal geschehen würde? Hatte er es nicht früher schon versucht?
 

Aya hielt sich an das ,Lass mich in Ruhe' und drehte sich weg. Weg von Schuldig, weg von dem weitläufigen Raum. Weg von dessen Nicht-Antwort. Er sagte keinen Ton. Die Wut in seinem Inneren tat weh. Die Worte des anderen Mannes taten weh. Die Einsamkeit des Telepathen, die er dadurch schier fühlen konnte, tat es. In einer Menschenmenge zu stehen und trotzdem einsam zu sein. In einem Ozean von fremden Gedanken zu waten und alleine zu sein...er verstand, was der Telepath ihm damit sagen wollte. Er verstand es und genau das tat weh.
 

Die immer noch schwachen Hände zu schmerzhaften Fäusten geballt, versuchte er zu kompensieren. Zu verstehen, warum er verstand. War Wut da nicht wesentlich besser? Wut...und Hass? Weniger schmerzhaft...
 

Aya verspürte große Lust, sich in einem kindischen Impuls die Decke über den Kopf zu ziehen und nichts mehr zu hören, geschweige denn sehen. Doch das wäre feige. Das wäre Flucht.
 


 

Brad kam gerade aus dem Bad, mitten hinein in die Worte, die Schuldig über seine Einsamkeit sagte. Mit eiskaltem Zorn beobachtend wie Schuldig litt, unter seinen eigenen Worten litt, näherte er sich, trat dem Telepathen entgegen.

Natürlich hatte er darum gewusst und wie selbstverständlich hatte er nie gefragt. Schuldig war einsam, gerade weil so viel Treibgut durch seine Gedankenwelt floss. Er konnte sie aussperren, aber es ihn belastete dennoch.
 

Brads Miene war wie versteinert. In Stein gemeißelter Hass, der diese einsame, trübe Gestalt die nun auf ihn zukam, nicht wollte. Sie nicht tolerieren konnte.

Nicht wollte, dass Schuldig sich vor dem Weiß so demütigte, sein Innerstes dem Weiß vor die Füße warf, der dieses Geschenk nicht würdigen würde. Schuldigs Seele war zerbrechlich wie Kristall, ließ man sie fallen, zersprengte sie in viele Teilchen.
 

Und Brad war gerade dabei, diese Teilchen wieder zusammenzuführen und er war nicht bereit, sie sich von dem Rotfuchs abnehmen zu lassen, der gar nicht wusste, woher die Splitter stammten.
 

Er trat Schuldig in den Weg und landete einen Magenschwinger, der den unvorbereiteten Telepathen in die Knie zwang. Ein Stöhnen, kurz darauf ein unterdrücktes Keuchen folgte, als Schuldig versuchte wieder Luft zu bekommen. "Mach das nochmal und ich schlag zurück, Großkotz", blitzte Schuldig zwischen seinen Haaren nach oben zu Brad, der ihn kalt anlächelte.

"Tu dir keinen Zwang an. Aber hör auf, ihm was vorzujammern, er kapiert's vermutlich sowieso nicht."
 

Entgegen seines vorherigen Verhaltens fuhr Aya herum, als er dieses allzu bekannte Geräusch hörte und schließlich sah, was ihm Unverständnis abrang. Wieso tat Crawford das?

"Schließ nicht von dir auf andere, Orakel", erwiderte er eiskalt und stemmte sich so gut es ging in die Höhe.

Der Amerikaner meinte also, er würde nicht verstehen, was Schuldig ihm zu sagen versuchte? Für wie dumm hielt er ihn? Für wie arrogant und menschenverachtend? Aya wusste selbst, dass es ihn nicht stören sollte. Letzten Endes tat es das wahrscheinlich auch nicht. Nicht, wenn er wieder bei seinem Team war und gegen Schwarz kämpfen musste.

Doch nun begriff er, was Sache war. Ayas Hände krampften sich wütend ins Laken. Ärgerlich strich er seine Haare nach hinten.
 

Brad ließ Schuldig zurück und ging mit schnellen, bedrohlichen Schritten zum Bett, beugte sich hinab und zog Aya an dem Kimono in Brusthöhe leicht zu sich. Es war keine Drohung, eher ein Ausdruck von Brads Wut über die Situation.

"Was weißt du schon davon? Auf ihn wartet niemand, er kann auf niemanden warten, es wird niemand kommen. Und trotzdem durchströmen ihn die Gedanken derjenigen, die nicht allein sind. Sag mir, wie würdest du damit zurechtkommen, wenn du hörst, wie schön es ist mit jemand anderem zusammen zu sein? Würdest du es gerne hören? Oder würdest du beginnen zu hassen? Alles zu hassen? Alles zu zerstören?"
 

Brads Inneres kochte. Er hatte das Gefühl, er müsste Schuldigs Weichheit, die er vor Aya gezeigt hatte, mit seiner Wut wieder wettmachen. Er wollte sein Schutzschild wiederherstellen, was sich Schuldig selbst heruntergerissen hatte. Wie hatte er sich nur so offen geben können? Das durfte nicht sein, es machte sie schwach, angreifbar. Sie?
 

Der Amerikaner hielt kurz inne, ließ Aya sachte wieder los. War es so?

War er angreifbar durch Schuldig? War es auch er, den Schuldig mit Schwäche behaftete, indem er seine Einsamkeit zugab? Das Leid, das er unter dieser Einsamkeit erfuhr?

Oder war es vielmehr, dass er nicht wollte, dass Schuldig schwach war?

"Hier geht es nicht um Weiß oder Schwarz. Es ist kein Vergnügen für uns. Wir sind, wie wir sind, aus Gründen, die nur wir kennen. Ich bezweifle, dass du sie alle verstehen kannst...nicht weil du es nicht willst, aber vielleicht weil du nicht wie wir bist", schloss er, blickte von Aya zu dem herannahenden Schuldig, der nun langsamer wurde, als er gesehen hatte, dass Brad Aya losgelassen hatte.
 

"Wir sollten alle mal wieder etwas runter kommen, findest du nicht, Brad?", sagte Schuldig mit angedeutetem Grinsen, welches mit dem Hauch von Galgenhumor behaftet war. Was sollte er sonst machen? Die Emotionen schienen selbst bei Brad hochzukochen, der sonst so eiskalt blieb.

"...und das alles durch ihn...," murmelte er und sah dann zu Aya.
 

Eben dieser hatte unbewegt schweigend und wachsam mitangehört, was Crawford ihn scheinbar zu sagen hatte. Mehr als er je über seine Feinde hatte wissen wollen. Ayas Kiefer pressten sich eisern aufeinander, er selbst ignorierte Schuldig für einen Moment, als er sich ausschließlich auf den Amerikaner fixierte. "Für niemanden von uns ist es ein Vergnügen, das zu tun, was wir tun. Willkommen im Club", grollte er. "Auch auf mich wartet niemand, auch ich sehe täglich, wie es ist, unbeschwert und verliebt zu sein. Aber ich hasse dafür nicht. Ich helfe, wenigstens ein kleines Bisschen dieser Unbeschwertheit zu erhalten. Und ich bin nicht böse darum."
 

Nein? War er das nicht, in den einsamen Stunden, die er an Ayas Bett verbrachte, wütend und zornig, dass ausgerechnet sie nicht zu ihm hielt und nicht mehr aufwachte? Überwiegte das nicht manchmal den Sinn, gegen das Dunkel der Welt zu kämpfen?
 

Aya blinzelte. Ihm war schwindelig...nicht alleine herbeigeführt durch das Hochziehen Crawfords. Er war langsam am Ende seiner mentalen und körperlichen Kraft. Er wollte auch nicht mehr. Brauchte Zeit, all das für sich zu verarbeiten. Es war zu schwer für ihn, zu schnell...er musste darüber nachdenken. Was mit Kopfschmerzen enden würde, das wusste er jetzt schon.
 

"Ich bin schuld?", wandte er sich ohne einen weiteren Blick zu Crawford an Schuldig, fixierte diesen mit erhobener Augenbraue. Wünschte sich wie nichts, dass er noch genug Kraft übrig hätte, die Köpfe der beiden Schwarz ordentlich zusammen zu donnern. Doch bevor er zu solch Gewaltakten in der Lage war, musste er sich erst einmal wieder ausruhen...Was ihm sein Körper nun auch mit aller Macht befahl, als er ihn wieder zurück auf das Bett schickte, mit schnell schlagendem Puls und leuchtenden Punkten vor seinen Augen.
 

Schuldig wollte noch etwas sagen, aber er sah nur zu wie Aya vor Erschöpfung in sich zusammenfiel. Schulterzuckend überwand er die freie Strecke zum Bett, Brad mit einem schrägen Lächeln bedenkend.

Er nahm die Decke auf, legte sie über Aya, der mit seiner Schwäche zu kämpfen schien. "Ich bin ,schuldig' sonst niemand", lachte er leise und fuhr Aya sanft übers Haar, bevor er Brad mit einem Wink bedeutete etwas zu trinken zu holen. Das Licht war immer noch im Bereich des Bettes abgedunkelt. "Wir stellen dir etwas zu trinken neben das Bett."
 

Auch wenn er durchaus dankbar für das Wasser, oder was auch immer sie ihm ans Bett stellen würden, war, so quittierte Aya das über seine Haare streichen mit einem leisen, verschwommenen Grollen. Er verstand diese Faszination für seine Haare nicht. Für den Drang, sie und ihn selbst anzufassen.

Die Decke noch etwas höher ziehend rollte er sich zur Seite direkt in die Mitte des Bettes, weg von den beiden Männern. Hatte nun einen Punkt erreicht, an dem ihm selbst die Gegenwart beider Schwarz egal war. An dem er einschlafen konnte, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was er da tat.
 

Aya schloss seine Augen. Ließ sich hinunterziehen von Erschöpfung und endlich gegebener Schlafmöglichkeit.
 

`Er ist kein Schoßtier`, giftete Brad in seine Gedanken, als er einen kleinen Besuch wagte. Er erhob sich und ging in Richtung Küche, quer durch die Wohnung, den Amerikaner im Schlepptau wissend.

`Keif hier nicht wie ein Waschweib herum, Crawford. Mir platzt gleich der Schädel. Warum hast du dich eigentlich so aufgeführt, erklär mir das?`

`Es ging ums Prinzip`

`Um WAS? Seit wann denn das? Ist das eine neue Leitlinie bei uns?`, spottete Schuldig, das Offensichtliche an der ganzen Sache nicht erwähnend. Nämlich, dass Brad viel von seinen Beweggründen, von den Folgen seiner Fähigkeiten wusste, obwohl sie selten oder gar nie darüber gesprochen hatten.

Brad wandte sich ab zum Fenster, starrte in das Lichtermeer der Stadt.

Schuldig ließ ihn, holte etwas zu trinken und deponierte es neben dem Bett, ließ Aya dabei aber in Ruhe.
 

Nachdenklich kam er zu Brad zurück. Es war schon später Abend.

`Willst du hierbleiben?`, fragte er vorsichtig.

`Nein, ich bin noch nie hier geblieben`, kam es frostig zurück.

`Na und?`

`Es geht nicht.`

`Wie du willst.`
 

Schuldig blickte eine Weile in die selbe Richtung wie Brad.

`Sag mir, warum ....', fing Schuldig an, doch Crawford wandte sich bereits um.

"Das Thema ist beendet", blockte er ab und ging zur Couch, wo sein Jackett lag. Während er hineinschlüpfte und nach seinen Schlüsseln griff, hatte sich die übliche Kälte auf dem Gesicht ausgebreitet. Als wäre er zu dem Ausbruch von Gefühlen, und sei es nur die leidenschaftliche Wut, die er vorhin gezeigt hatte. Und das für Schuldig.

Nachdenklich nickte Schuldig Brad zu, als dieser sich damit verabschiedete, dass er ihn daran erinnerte, morgen pünktlich im Hauptquartier zu sein.
 

Die Tür fiel ins Schloss und die Stille legte sich über den Raum, hüllte ihn ein und ließ ihn automatisch in Richtung Bett gehen. Er zog sich um, diesmal wählte er ebenfalls einen Schlafkimono und löschte die Lichter.

Der matte Schein der Himmelskörper spendete etwas Licht als er sich ins Bett legte, Aya neben sich ahnte, der weit in der Mitte lag. Schuldig dachte aber nicht im Traum daran, sein Bett vollkommen dem Anderen zu überlassen. Er knüllte sein Kissen zurecht und rollte sich etwas zusammen, hoffte auf einen ruhigen Schlaf.
 

o~
 

Ganz so tief, wie Aya es gerne gehabt hätte, hatte der rothaarige Mann dann doch nicht geschlafen. Durst weckte ihn mitten in der Nacht, ließ ihn sich hochquälen und mit Erleichterung das Glas Wasser sehen, das neben ihm am Bettrand platziert war. Er leerte es mit gierigen, hastigen Schlucken und ließ sich wieder zurückfallen. Auf die weiche Matratze, die ihn in weniger als ein paar Augenblicken erneut in erholsamen Schlaf schickte.
 

Später jedoch weckte ihn ein ganz anderes Problem...das einer aufwendigeren Behebung bedurfte. Wofür er aufstehen musste. Ins Bad gehen. Aya seufzte schläfrig, benommen noch, kämpfte sich dann aber mühsam in die Höhe und bemerkte, dass es keinesfalls so dunkel war, wie er zunächst angenommen hatte. Matte Helligkeit fiel durch die Fenster in das Loft, kündete vom nahen Sonnenaufgang. Ließ ihn wissen, dass er immer noch nicht genug geschlafen hatte...
 

Ayas Blick fiel nach links, dorthin, wo er dem weichen Lager entkommen wollte. Fand jedoch nicht ganz die Leere, die er geglaubt hatte zu entdecken. Schuldig lag dort...auf dem Bauch ausgestreckt, alle Viere von sich gestreckt. Ihm wie selbstverständlich nahe. Die Haare natürlich wild und zerzaust um sich herum, das friedliche, entspannte Gesicht ihm zugewandt. Wie vertrauensvoll, schoss es Aya durch den Kopf. Machte sich der Telepath denn keine Sorgen, dass er ihn im Schlaf umbringen konnte? Er musste einfach die Decke nehmen und sich mit vollem Körpergewicht auf den ungeschützten Kopf des Schwarz legen...ein kleiner Todeskampf...Minuten, dann wäre es vorbei. Schuldig würde qualvoll ersticken und er wäre womöglich frei.
 

Aya schüttelte den Kopf. War das Unvorsichtigkeit? Vertrauen? Arroganz? Was auch immer es war...es hielt seine Blase nicht im Geringsten davon ab, Druck zu machen und ihm nun die Entscheidung, ob er Schuldig tötete oder ob ER von seinen niederen Bedürfnissen getötet wurde, leicht machte.
 

Schweigend und so gut es ging lautlos kämpfte er sich hoch, stellte mit Freude fest, dass er sich zwar immer noch schummrig fühlte, dass aber das überwältigende Schwindelgefühl etwas nachgelassen hatte und ihm nun seinen Weg erleichterte. Was nicht hieß, dass er nicht doch sehr lange dafür brauchte.
 

Nur um sich schließlich vor einem Problem zu sehen, das sich ihm gerade nicht aufgetan hatte. Schuldig lag im Bett. Das war schön und gut. Aber freiwillig würde er sich nicht mehr dazu legen. Nicht, wenn er sich schon der Tatsache bewusst war, dass der andere Mann sich einfach dazu gelegt hatte. Dafür legte er viel zu viel Wert auf seine Privatsphäre, in jeglicher Hinsicht.

Mit einem Naserümpfen entzog er dem Bett vorsichtig eine der beiden Decken und legte sich schließlich auf die Couch. Die nicht halb so bequem war wie das Bett...ihm aber dennoch noch Schlaf schenkte...wie er mit Erleichtern feststellte.
 


 

Unwillig öffnete Schuldig die Augen einen Spalt breit und stellte zu seinem Missvergnügen fest, dass es noch früh war und trotzdem der anbrechende Tag die Dreistigkeit besaß ihn zu wecken. Grummelnd drehte er den Kopf von der Fensterseite weg und ignorierte die Helligkeit.
 

Schlussendlich stand er doch nach einiger Zeit des Dösens auf und ging ins Bad. Dabei fiel ihm Aya auf, der scheinbar die Couch seiner Nähe vorzog.
 

Eben dieser war durch die Geräusche des anderen Mannes wach geworden und hörte nun aufmerksam wie Schuldig aufstand und an ihm vorbeiging. Was auch ihn unwillig seufzen ließ, da er, in seinem wacheren Zustand, es als äußerst...unangenehm empfand, in der Gegenwart des Telepathen zu schlafen. Vor allen Dingen, da er ihm den Rücken zudrehte.

Ein Umstand, der er nun änderte, indem er sich dem Raum präsentierte...die hoch aufgeflauschte Decke eng um seinen Körper geschlungen...wenigstens war ihm so mollig warm, ganz im Gegensatz zu diesen unseligen Tagen. Nein...er wollte nicht mehr frieren.
 

Gut gelaunt kam Schuldig aus dem Badezimmer wieder heraus, freute sich auf ein ausgiebiges Frühstück. Er ging an der Couch vorbei - Ayas neu erwählter Schlafplatz - und grinste leicht in sich hinein, als er die hochgezogene Decke sah. Bis unters Kinn, als wäre das der geeignete Schutz vor dem bösen Schuldig.

Ein schneller Griff zur Fernbedienung und das Radio spulte sein Morgenprogramm ab, während Schuldig in die Küche schritt. "Und, hast du schlafen können?"
 

Ayas Blick folgte dem Deutschen in die Küche hinein. Die gleiche Frage wie vor drei Tagen, nur mit anderer Intonation...mit anderem Hintergrund. Schuldig tat fast zu nonchalant...dafür, was gestern und vorgestern passiert war. Was Aya misstrauisch machte. Hatte Schuldig vergessen? Oder war er in sein altes Schema aus Spott und Hohn zurückgefallen? Oder hatte er einfach zuviel gekifft gerade?

"Besser als gestern ", erwiderte er mit einem ruhigen Blick auf die aufgedrehte Gestalt des Deutschen, dachte jedoch nicht im Traum daran, sich der Decke zu entledigen...vor allen Dingen, da ihm wirklich übel war. Sein Magen zog sich zusammen, verlangte nach Nahrung...nach Essen.
 

Schuldig werkelte bereits daran etwas Essbares zu zaubern als er von seiner Arbeit aufblickte und Aya ansah.

"Du hast nicht zufällig etwas Hunger?", fragte er fast schon beiläufig. Aya sollte nur nicht auf die Idee kommen, dass Schuldig nun stündlich darum betteln würde, dass er endlich etwas zu sich nahm. Dennoch machte er sich zunächst einen Kaffee, setzte Teewasser auf.

Ist immerhin schon ein Anfang, dachte er und stöberte in den Schränken. Wo hatte er zuletzt den Kaffee hingeräumt...
 

Aya kämpfte sich nun doch in die Höhe. Setzte sich auf die Couch und ließ seine Beine hinausbaumeln, stellte sie probeweise auf den kalten Untergrund. Sie war schon abartig, diese gute Laune. Er stemmte sich versuchsweise in die Höhe, wollte zu Schuldig in der Küche. Wenn der Boden nicht so kalt wäre!

Schweigend ließ er sich schließlich auf einen der Barhocker nieder und sah Schuldig für einen Moment bei dessen Tätigkeit zu, bevor er seinen Blick nach draußen schickte...über die vor ihm liegende Stadt.
 

Die Gemüsesuppe war nach wenigen Minuten fertig und Schuldig füllte sie in zwei Schalen um eine davon Aya zu reichen. Angefüllt mit Gemüse und einigen Tofuwürfeln, war sie für Ayas erste feste Mahlzeit sicherlich gut geeignet.

Schuldig wirbelte zur Kaffeemaschine, grübelte einen Augenblick und entschied sich, besser nachzufragen. "Willst du den Tee trinken, den ich dir gekauft habe?", fragte er bereits die Schranktür öffnend.
 

Ayas Blick hatte wirklich Mühe, der momentanen Position des Deutschen zu folgen, ohne dass ihm allzu schwindelig wurde. Er machte es sich etwas bequemer auf dem hohen Barhocker und strich den Kimono glatt, ihn etwas enger um seinen Körper schlingend. Ihm war kalt...immer noch.

"Tee....", brachte er hervor, während er vorsichtig an der Gemüsesuppe roch. Was ihm Übelkeit verursachte...und dennoch. Sein Magen verlangte nach Nahrung. Nach Arbeit. Vorsichtig setzte er die Suppenschale aus Ermanglung von Stäbchen an und trank einen Schluck. Schauderte. Es schmeckte ihm nicht...war aber wichtig. Langsam kaute er auf einem Bambusstück, schluckte es schließlich hinunter. Konnte förmlich die Dankbarkeit seines Magens hören, als dieser endlich etwas zu tun erhielt.
 

"Okay, ich...", setzte Schuldig an und wandte sich kurz um, sah, dass er die Essstäbchen vergessen hatte, als Aya von der Suppe kostete.

Er rollte innerlich mit den Augen über sich selbst. Wie dämlich war er eigentlich? Still nahm der Japaner Schuldigs Dämlichkeit hin, was Schuldig etwas verlegen machte und daher wurde er auch wieder etwas ruhiger. Warum war er heute nur so überdreht?

Er holte Essstäbchen für sie beide und legte Aya sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht beim Essen zu stören die Stäbchen hin und wuselte wieder in die Küchenzeile um den Tee abzugießen.
 

Für einen Moment hatte Aya geglaubt, dass der andere Mann ihm umwerfen würde, nur um ihm die Stäbchen, die er doch noch erhielt, hinzulegen. Dann jedoch...was den rothaarigen Weiß wunderte, wurde dieser ruhiger, näherte sich ihm als müsste Schuldig befürchten, dass er jederzeit in die Luft ging, wenn er nur eine falsche Bewegung machte.

Aya...amüsierte das irgendwie. Es ließ ihn in die Schale lächeln, besonders jetzt, da Schuldig, sobald wieder aus seiner Reichweite, weiterwuselte.

Er seufzte beinahe lautlos. Viel zu viel Action am frühen Morgen.
 

Schuldig brachte den Tee zu Aya, stellte ihn ab und holte sich selbst einen Kaffee. Er hatte den Tee, den Aya sich vor zwei Tagen gewünscht hatte...oder waren es bereits drei Tage her...seit er...

Er stockte, ließ sich dann Aya gegenüber auf dem Barhocker nieder. Am Besten, er dachte jetzt nicht daran. Und das Thema wollte er vorläufig vom Tisch haben. Zumindest jetzt von diesem Tisch. Vorsichtig umfasste er die heiße Tasse und nippte an dem schwarzen Gebräu. Was für eine Wohltat es doch war.
 

Aya stellte vorsichtig die Suppenschale ab und nahm sich den Tee. Ganz einfach, um den schlechten Geschmack des Gebräus hinunter zu spülen...und war schließlich angenehm überrascht, dass es einer derjenigen war, die er auch wirklich gerne trank. Er schmeckte ausgezeichnet...wirklich wundervoll.

Es dauerte lange, bis er den Tee wieder senkte und den anderen Mann in Augenschein nahm. Einen Hauch dessen Duschgels roch...er musste auch duschen. Dringend. Der gestrige Versuch war...eine Katastrophe gewesen. Eine richtige Katastrophe. Die sich nicht wiederholen würde. Garantiert nicht.
 

Stumm nahm Aya den Geruch von Kaffee wahr, schwelgte einen Moment darin. Neidete Schuldig sein schwarzes Lebenselixier, das ihm sicherlich noch einige Magenkrämpfe mehr beschert hätte. Ein weiteres Mal griff er zu den Stäbchen und fischte sich einen Tofuwürfel aus der Flüssigkeit.
 

Das Schweigen machte Schuldig irgendwie nervös, obwohl es ihm äußerlich nicht so sehr anzumerken war, warf er in einigen Abständen einen unbedeutenden Blick zu Aya um zu sehen ob er auch brav seine Suppe aufaß. In Wirklichkeit hatte er das Gefühl sich der Gegenwart des anderen zu versichern, sich bewusst zu machen, dass Aya hier im trauten Beisammensein sein Frühstück ihm gegenüber einnahm. Sie keiften sich nicht an, aßen in Ruhe, wobei er sich noch an den Kaffee hielt und die Musik im Radio dudelte im Hintergrund, während der Tag vollends erwachte.

Es kam ihm vor, als wäre er im falschen Film. Er runzelte die Stirn und nippte wieder an seinem Kaffee.
 

Tief in Zuckerbrot und Peitsche in Form von Tee und Suppe versunken, machte sich Aya nichts aus der Stille. Hieß sie im Gegenteil durchaus willkommen. Bis sein Blick auf einen halbverdursteten, schon beinahe um den Gnadenschuss bettelenden Bonsai fiel, der in einer versteckten Ecke der Küche vor sich hin vegetierte. Ein mitleidserregender Anblick, wie Aya fand.

"Bevor du mir einen Bonsai mitbringst, solltest du vielleicht DEINEM etwas Gutes tun", meinte er völlig überraschend in die Stille hinein.

Zog abwartend eine Augenbraue in die Höhe, während eine kleine, verräterische Stimme in seinem Inneren bereits schadenfrohe Vergleiche zwischen ihm selbst und diesem kümmerlichen Gewächs zog.
 

Seinen Gesichtsaudruck entzog sich nach diesem Satz etwas außer Schuldigs Kontrolle, als er von seiner Suppe aufsah, über die er sich hergemacht hatte und Ayas Blick folgte. "Bonsai?", fragte er und hatte das Gefühl etwas minderbemittelt drein zu blicken, deshalb räusperte er sich und runzelte die Stirn. "Ich hab so etwas nicht. Das Kraut braucht Pflege, ich bin kaum hier, der würde eingehen...", sagte er leiser werdend. Und schon wieder zog er eine Parallele zwischen einem Resultat aus seinem Verhalten und Ayas jetzigen Zustand...

"Du wolltest doch einen...sieht jetzt halt nicht mehr so frisch aus", murmelte er und sah in seine Schale um ein Tofustückchen herauszufischen.
 

Auch Ayas innerer Hohn lachte über den Vergleich...ja. Eingehen würde er. Weil er als Kraut Pflege brauchte.

Doch nun war es an dem rothaarigen Weiß selbst, den anderen Mann wortlos anzustarren. Das war...seiner? Vielmehr der, den er sich ,gewünscht' hatte? Die Stäbchen ruhten bewegungslos in seiner Hand, während er versuchte, die Bedeutung hinter diesen Worten zu erkunden.

Schuldig hatte ihm tatsächlich einen Bonsai mitgebracht? Nur...

"Dann muss ich ihn also hochpäppeln?", fragte Aya scheinbar ungerührt und runzelte nachdenklich die Stirn. Da schlug doch gleich sein Floristenherz höher...
 

"Ja", sagte Schuldig. "Ich hab ihm Wasser gegeben, als ich ihn aus dem Auto geholt habe. War wohl gerade noch rechtzeitig gewesen", murmelte er, blickte kurz auf das kleine Bäumchen und widmete sich danach wieder seinem Frühstück.

"Kriegst ihn sicher wieder hin", lächelte er leicht, bevor er die leere Schale vom Tisch nahm um sie erneut zu füllen. Er stand auf und ging zur Kochzeile.

"Willst du noch etwas Tee, oder hast du noch?"
 

Tee. Aya schaute auf seine Teeschale, war sich mit einem Male bewusst, was Schuldig vorhin gesagt hatte. ,Der Tee, den ich dir gekauft habe.' Der Tee, den du dir gewünscht hast. Ayas Augen weiteten sich noch ein kleines Stückchen mehr. Nicht nur der Bonsai. Nein, Tee auch....

"Schokoladenkekse?", fragte er ungläubig, versuchte sich mittlerweile angestrengt an all das zu erinnern, was er sich noch gewünscht hatte.
 

Sein Blick fiel bedächtig auf Schuldig, fixierte diesen fest. "Aber keine rote Reizwäsche. Oder?"
 

Schuldig füllte gerade seine Schale mit Suppe auf. "Ich hab mich zwar etwas gewundert über ...deine Vorlieben..., aber naja...", schulterzuckend deckte er die Suppe wieder ab und durchquerte den kleinen Raum, der durch verschiedene Ablagemöglichkeiten und eine Theke als Küche vom übrigen Wohnraum separiert war. Die Kekse hatte er in den Süßigkeitenschrank gepackt, grinste er etwas und holte sie hervor. "....siehst sicher heiß aus in der Reizwäsche. Hab mich beraten lassen", grinste er unverschämt mit den Keksen auf Aya zusteuernd und die Packung bereits öffnend.

"Ich hab das gleich als erstes gekauft und dann den Bonsai, bevor ich nach und nach das andere zusammengesucht habe...", sagte er grübelnd. Ja und als er den Rest gekauft hatte und es im Auto verstaut war ... war es genauso vergessen wie Aya...
 

Aya starrte auf die Kekse. Auf Schuldig. Sah vermutlich reichlich dämlich aus mit seinem ratlosen Gesichtsausdruck. "Beraten...?" Was hatte er sich dabei nur gedacht? Was hatte er sich damit eingebrockt? Seine Augen folgten dem anderen Mann, wie er zu ihm kam, völlig gebannt von dessen Worten. "Vorlieben...?"

Aber...das war doch nur...Aya schluckte mühsam. In ihm keimte ein schrecklicher Verdacht hoch. Etwas wirklich grausames....
 

Diesen unbezahlbaren Gesichtsausdruck genießend ließ sich Schuldig Zeit die Kekspackung sorgfältig zu öffnen und sie Aya neben seinen Tee zu stellen. Innerlich amüsierten Schuldig Ayas Fragen, die dieser einem helleren Ton als für ihn normal war, gestellt hatte. Ein zuvorkommendes Lächeln präsentierend wandte er sich ab, holte einen kleinen Teller und seine Suppe, stellte beides ab, immer noch das amüsierte Blitzen in den Augen.

"Natürlich beraten. Ich kaufe Reizwäsche eher selten. Obwohl wenn ich mich genau erinnere hatte ich das früher öfters getan. Aber naja in deinem Fall brauchte ich doch etwas Beratung. Hat auch etwas gedauert, bis ich mich für etwas entscheiden konnte. Muss ja schließlich auch zu den Haaren passen...und dann auch noch rot... Ton in Ton, ist wirklich nicht leicht...aber schlussendlich ...", laberte er und genoss die geweiteten Augen des anderen. Das Violett, das ihn in seiner Milde anstatt in seiner sonstigen Schärfe anblickte. "....ja und keine Sorge, hab natürlich nicht verraten für wen ich es gekauft habe. Die richtige Größe war da schon etwas schwierig, aber die Verkäuferin verstand ihr Handwerk und im Nu hat sie die richtige Größe herausgesucht", schloss er und legte einige verpackte Kekse auf den Teller, schob die Schachtel etwas beiseite und den Teller wieder zu Aya.
 

Ton in Ton? Handwerk?

Aya klappte mit Gewalt seinen Kiefer zu, starrte Schuldig jedoch weiterhin an, als hätte der andere Mann ihm gerade den Weltfrieden verkündet. "Das ist...ja schön, dass du dermaßen...diskret warst...", presste er zwischen den Zähnen hervor, konnte jedoch immer noch nicht umhin, die Horrorvisionen, die ihm sein Verstand einflößte, zu bewundern.

Schuldig hatte ihm nur...solche Wäsche gekauft...und wie er den anderen Mann kannte...

Nein. Er hoffte anderes. Besseres. Weniger weibliches...

Schuldig verarschte ihn...oder? Das meinte der andere Mann nicht ernst, KONNTE es nicht. Vor allen Dingen da... "Die RICHTIGE Größe?"
 

"Ja, sicher, die richtige Größe. Du willst es ja schließlich anziehen, da sollte es schon passen", begründete er seine sorgfältige Auswahl.
 

"Ich bin extra in einen Nobelladen gegangen", meinte er beflissen. "Die hatten wirklich hübsche Teile da, aber du wolltest ja unbedingt etwas in Rot", war ein kleiner enttäuschter Vorwurf heraus zu hören.
 

Schuldig trieb das Spielchen gerne weiter. Denn Aya schien es gar nicht fassen zu können, blickte ihn ungläubig an, als käme er vom Mars und hätte deshalb rote Haare.
 

Das amüsierte Lächeln konnte er kaum von seinem Gesicht wischen, es war einfach da und die Freude, die ihm dieses Gespräch, überhaupt dieses so anders geartete Zusammensitzen boten zeigte sich in seinen Augen.
 

"Wenns nicht passt, kann ich ja Brad losschicken, der kann dir sicher eine andere Größe kaufen", sagte er wie beiläufig.
 


 


 


 

Vielen Dank für's Lesen!

Hass mich

~ Hass mich ~
 


 

Ayas innere Ungläubigkeit nahm mit einem Mal völlig neue Dimensionen an. Schuldig wollte Crawford...

Er griff sich frustriert einen Keks, biss vorsichtig hinein. Was kam als nächstes?

Aber wenigstens schmeckte das Gebäck...kein Wunder, hatte er es sich doch gewünscht. Ebenso wie die Reizwäsche...

"Danke nein", erwiderte er säuerlich und verzog leidend das Gesicht. Er würde nie...niemals diese Wäsche anziehen, auch wenn er durchaus neugierig war, was Schuldig gekauft hatte.

Doch die Vorstellung, wie Schuldig für ihn Unterwäsche kaufte...

...ließ Aya nun doch leicht lächeln. Verzweifelt lächeln. "Und du hast nur die Reizwäsche gekauft?" Ein kleiner Hoffnungsschimmer noch...
 

Schuldig zuckte nur mit den Schultern, witterte langsam das Problem, das sein Gegenüber scheinbar zu ahnen begann.

"Nein, natürlich nicht, ich glaube eine Decke, das Shampoo, das Duschgel und...lass mich mal überlegen....eine Decke....ja und ich glaube Socken wolltest du noch, oder? Tja und sonst...?", ließ er die Frage offen und grübelte in bester Schauspielermanier vor sich hin.

"Ach ich hab's. Schokolade! Die wolltest du auch noch. Der Rest war leider nicht mehr so taufrisch, hab's gleich entsorgt alles."
 

Aya schauderte. Dann würde er also in roter Reizwäsche und Socken auftreten. Er hatte keinen Hunger mehr. Wirklich nicht. Stumm legte er den angebissenen Keks zur Seite und griff sich den Tee. Trank ein, zwei beruhigende Schlucke.

Schuldig hatte wirklich alles gekauft. Auch wenn Aya sich dagegen sträubte, brachte das dem Telepathen selbst einige Überraschungspunkte ein. Bonuspunkte, hatte er doch gedacht, dass...

Aber nein. Darüber würde er jetzt nicht nachdenken.
 

Wie gut, dass die Anschaffung der Unterwäsche all diese Bonuspunkte mit einem großen Minus wieder wettmachte. Seine Augen wanderten über den Rand der Schale zu Schuldigs, fixierten diesen stumm. Wehe, der andere Mann hatte nicht auch normale Kleidung für ihn, solange er noch gezwungen war, hier zu bleiben...bis er es schaffte, zu fliehen.
 

"Magst du den Keks nicht mehr?", fragte Schuldig lächelnd. Er stand auf und ging an Aya vorbei um sich nochmals einen Kaffee nachzuschenken. "Hmm...da fällt mir ein, die Jazzpants habe ich dir schon aufgeräumt, liegen neben der Reizwäsche im zweiten Fach im großen Schrank", sagte er nebenbei und grinste breit während er das dunkle Gebräu in seine Tasse füllte.
 

Aya weigerte sich STRIKT, sich in irgendeiner Art und Weise dankbar zu fühlen. Ganz. Normale. Unterwäsche. Das war gut zu hören, beruhigend. So beruhigend, dass er doch schließlich auf das Spiel des Deutschen einging, ihm die Stirn bot.

"Und was bekomme ich dafür, wenn ich die Reizwäsche anziehe?", fragte Aya mit einem Blick, der alles hätte sein können. Ernst, Spaß, Mordlust...alles. Als wenn er jemals diese Reizwäschen anziehen würde...egal zu welchem Preis...egal, was der Telepath ihm anbot.

Demonstrativ griff er sich den Keks und ließ den Rest in den Tiefen seines Mundes und schließlich seines Magens verschwinden. Und ob er das Gebäck noch wollte. Auch wenn sein Magen nun Geschlossenheit wegen Überfüllung anmeldete.
 

Schuldig nahm einen Schluck von seinem Kaffee und lehnte sich an die Küchenablage an. Er lächelte in bester Laune und verschränkte seinen Blick mit Ayas.

"Wenn du sie anziehst...müsste ich sie ja fast wieder ausziehen...denn weshalb sollte `frau` sonst so etwas anziehen wollen? Wenn nicht um einen Mann heiß zu machen." Sein Blick wurde eine Nuance dunkler. "Sag du mir was ich dir für diesen gewagten Anblick geben könnte", raunte er und nahm wieder einen Schluck.
 

Aya lächelte von Schuldig ungesehen bitter. Er hatte sich wieder zum Fenster hin gewandt und starrte hinaus. Was ER wollte? Nichts. Rein. Gar nichts. Weil er sich einer solchen Herabsetzung nicht unterziehen würde. Natürlich musste Schuldig das auf die sexuelle Ebene ziehen. Natürlich. Doch hätte es auch anders sein können?

Alle Spielfreude, die er gerade noch empfunden hatte, machte in diesem Moment Platz für den Ernst der Lage. Für das Bewusstsein, warum sie hier waren. Aya wusste, dass er es provoziert hatte, doch er konnte den sexlastigen Ton in der Stimme des Telepathen nicht mehr hören.

"Du wirst mir nichts dafür geben, weil du in den Genuss dieses Anblicks nie kommen wirst."
 

Schuldig stieß sich ab, mit einer Hand lässig in der Hosentasche vergraben, in der anderen die Tasse haltend kam er auf Aya zu, warf einen schnellen Blick zur Suppenschale und dann auf den abgewandten Mann. Das Profil zeigte ein bitteres Lächeln und Schuldig konnte es sich nicht verkneifen und wuschelte kurz durch das rote Haar. "Erst das Spielchen anfangen und dann kneifen? Wo gibt's denn so etwas?", lachte er leise.

"Ich hab mich schon gewundert warum du das Zeug wolltest, der Gedanke, dass du mir eins reinwürgen wolltest, kam mir auch kurz. Trotzdem hab ich's dir brav mitgebracht, nur um dein Gesicht zu sehen wenn du es auspackst."

Er grinste etwas schräg, wurde jedoch ernster als Aya ihm das Gesicht zudrehte. "Wer will schon einen Mann wie dich in Frauen-Reizwäsche sehen?"

Nach einem kurzen Moment zuckte er mit den Schultern und lächelte weich. "Ich nicht, Aya."
 

Ayas Kopf war angesichts der unwillkommenen Berührung herumgefahren und zeigte Schuldig nun offene Missbilligung für diese Tat, bevor er wieder zur Ruhe kam, besänftigt durch die Worte des anderen Mannes. "Ich auch nicht", erwiderte er schließlich und begegnete den ehrlichen, grünen Augen mit Anerkennung der Wahrheit. Mit Anerkennung für den Ernst der Lage.

Er seufzte, nahm einen weiteren Schluck des Tees. Einfach köstlich...immer noch.

"Das andere habe ich durchaus ernst gemeint...", gestand er schließlich ein, wusste nicht, mit was er sonst die entstandene Stille füllen sollte. "Bis auf...den Bonsai vielleicht." Seine Augen streiften den Keksteller. Wie schade, dass er satt war. Dabei waren sie doch so lecker.
 

"Bekomm ich auch einen, davon?" fragte Schuldig, als er bemerkte wie Aya bedauernd auf die Kekse sah. Aya schien es langsam besser zu gehen und das freute Schuldig. Und auch, dass er den Anführer von Weiß etwas näher ins Auge fassen konnte, seit ihrer Zwangskontaktaufnahme in diesem Keller. Wie Aya sich verändert hatte, oder besser ausgedrückt, wie Schuldig doch die andere Seite des düsteren, rachsüchtigen Killers gefiel.

"Bist du satt, kann ich das aufräumen?" fragte er und deutete auf die Schale. "Die Kekse stell ich in den Süßigkeitenschrank", grinste er und deutete auf den betreffenden Schrank.
 

Aya hob die Schale und streckte sie Schuldig entgegen. Bot ihm stumm Plätzchen an...auch wenn es ihn wunderte, dass der andere Mann danach fragte.

Auch wenn er sich...beschaut fühlte. Wie ein exotisches Tier im Zoo. So kam ihm Schuldigs Blick vor.

"Ich räume das selbst weg", fügte er schließlich hinzu, wunderte sich im gleichen Moment, wie er dazu kam, sich im Haushalt des Mannes zu betätigen, der...ihm Urlaub gönnen wollte. Urlaub. Nun, wenn man bei Kritiker arbeitete, stimmte das vielleicht sogar. In dieser verqueren Welt lief so einiges nicht richtig, warum also sollte ein Urlaub auch schon normal und Pauschaltourismus sein? Abenteuerurlaub, DAS war das hier.

Was ihn aber mehr verwunderte, war die Tatsache, dass Schuldig einen Süßigkeitenschrank pflegte.
 

Wie...menschlich.
 

Mit einem "Danke." nahm eben dieser sich einen Keks und setzte sich wieder auf seinen Platz, Aya gegenüber.

"Von Süßem kann ich kaum genug bekommen", murmelte er und schob sich den kleinen Keks in den Mund.

"Rauchst du eigentlich?", fragte er geradeheraus, zu einem Lied aus dem Radio mit dem Fuß wippend. Er glaubte es nicht, aber es war interessant und würde ihm wieder ein weiteres Detail in dem Puzzle offenbaren, welches sich Aya nannte.
 

Schuldig war es sich vermutlich nicht bewusst, doch Aya pickte sich ebenso Informationen über Schuldig aus dem allgegenwärtigen Wirrwarr. Dass er Süßes liebte. Dass er einen Schrank dafür hatte. Dass er Stunden im Bad verbrachte. Dass er vergaß. Alles Informationen, die er nicht brauchte. Die sich ihm aufdrängten und sein Gehirn wie selbstverständlich abspeicherte. Eben weil er neugierig war.

Aber was noch fast wichtiger war...der andere Mann versuchte, Konversation zu betreiben...etwas über ihn zu erfahren. Als ginge es darum, das Gegenüber kennen zu lernen. Wollte Aya das? Wollte er mehr erfahren?
 

Schon um der Langeweile wegen...
 

"Nein", erwiderte er mit hochgezogener Augenbraue. "Du etwa?" Als wenn er sich die Antwort nicht denken konnte...der Deutsche schrie praktisch danach. Ayas Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Was kam als nächstes? Die Lieblingsfarbe?

"Allerdings ist eine Zigarre hin und wieder nicht zu verachten."
 

"Stimmt", pflichtete Schuldig grinsend bei. "Doch, ich rauche schon, aber nur gelegentlich. Kommt drauf an, wie gestresst ich bin", gab er zu.
 

Schuldigs Augenmerk wanderte zur Uhr. "Ich muss gegen Nachmittag schon los und komme erst spät zurück. Gestern hab ich noch eine Kleinigkeit zusätzlich eingekauft, als ich in der Apotheke war."
 

Schuldig fiel gerade auf, wie sehr sein Gegenüber abgenommen hatte. Erst heute trat diese Tatsache - bei Licht und in Ruhe betrachtet - für ihn ins Bewusstsein. Nicht, dass es zu deutlich ins Auge fiel, aber einem aufmerksamen Beobachter entging es nicht.
 

Aya wirkte durch seine Blässe, durch den starken Kontrast der roten Haare und durch seine momentane abweisende, in sich verschlossene Haltung, vielleicht auch durch den dunklen Schlafkimono den er trug, wie jemand, der beschützt werden musste. Der Vergleich mit feinem Porzellan kam dem Deutschen in den Sinn.
 

Teils wurde Schuldigs dunkle Seite davon angezogen, von diesem Bild eines Mannes, der durch ihn in diese verletzlichen Pracht gewandet hier vor ihm saß, andererseits drängte seine helle Seite auf diesen Mann zu um ihn einzuhüllen, ihn zu umsorgen und es wieder gutzumachen.
 

Und diese helle Seite vertraute auf die Stärke des Mannes. Dass sie die dunkle Seite überwinden oder akzeptieren würde, zugunsten der hellen. Denn diese sehnte sich nach jemanden wie Aya.
 

Sein Beschützerinstinkt war nur bei bestimmten Personen ausgeprägt, bei Aya....wusste er nicht...vermutlich begann er sich gerade sehr für diesen Menschen zu interessieren, ihn bewahren zu wollen. Aber für wen? Für sich selbst? War er so besitzergreifend? Ja. Nein.
 

Er haderte mit sich selbst. Letztendlich kam er doch zu einem ,ja' als Antwort. Doch bisher hatte es niemanden oder etwas gegeben, was er gerne in seinen Besitz ziehen wollte. Und genau Aya für diese Rolle zu erwählen war nicht so günstig. Alles was Aya unter Zwang machen musste, würde ihn nur weiter weg treiben. Diese Schlussfolgerung ließ Schuldig ruhiger werden, ihn unbewusst lächeln. Seine dunkle Seite meldete sich kurz zu Wort bei diesen Gedanken, fügte ein `du kannst Menschen auch mit Worten manipulieren, nicht nur mit deinen Gedanken` ein.
 

Doch Schuldig ignorierte sie. Natürlich konnte er es, aber warum sollte er?

Würde Schuldig seinen Beschützerinstinkt auf Aya ausweiten, würde sogar seine dunkle Seite mitziehen. Und wenn dies zutreffen sollte, wäre Aya nirgends sicherer als bei ihm. Wenn selbst seine Gier, seine Lust, der Hass und der Neid sich für das Licht entscheiden würden um es zu bewahren...würde er dann....das Dunkle in ihm überwinden oder beherrschen können?
 

Stirnrunzelnd über seine eigenen Gedanken und in diese vertieft, suchten seine Augen, die von Aya.
 

"Wie geht's dir jetzt", fragte er ruhig, den Kopf leicht schiefgelegt, die Hände mit der Kaffeetasse spielend, fuhr der Finger der rechten Hand ein Stück des Randes hin und her.
 

"Ich meine, wenn du Lust hast, kannst du dir ja was kochen, was besser schmeckt als Brads Suppe", lächelte er leise.
 

Ayas Augen hefteten sich auf den Rand von Schuldigs Kaffeetasse, verfolgten dessen Bewegungen. Sahen überrascht wieder hoch. Er erinnerte sich. Die Suppe. Dieses...widerlich...riechende...

"Ach....er hat dieses ungenießbare Gebräu gekocht?", spottete er sacht mit hochgezogener Augenbraue, erschauerte aber innerlich. Schuldig wollte weg? Schon wieder? Ungewollte Erinnerungen wellten hoch. Er, nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren, nicht in der Lage, sich von der Kette zu befreien, immer in der Hoffnung, dass Schuldig zurückkam...nein. Dass irgendwer kam. Dass er doch nicht verhungerte, dass ihm jemand die Kälte nahm, dass sich das Apartment mit Lauten füllte. Würde es heute wieder passieren? Unwillkürliche Angst ließ Ayas Herz höher schlagen. Höher und schneller. Machtvoller.
 

"Mir geht es...besser", nickte er schließlich um sich aus seinen düsteren Gedanken zu lösen. Er wusste, dass das sogar der Wahrheit entsprach. Sein Magen war glücklich gefüllt, ebenso glücklich und lautstark am Arbeiten. Die Übelkeit hatte sich verringert, ebenso wie die Magenkrämpfe und der Schwindel. Alles in allem kein Vergleich zu gestern.
 

Auch wenn er keine Lust hatte, sich etwas zu kochen...dazu war er zu antriebslos und erschöpft, zu müde noch vom andauernden Schlafentzug. Er würde sich hinlegen und schlafen. Einfach weiterschlafen...oder vielleicht etwas lesen, je nachdem, was er fand. Auch wenn er keine großen Hoffnungen hegte, dass Schuldig etwas hatte, was ihm auch gefiel.
 

Doch wie sagte man so schön? In der Not fraß der Teufel fliegen. Und solange er noch in keiner Lage war zu fliehen, musste er sich mit den gegebenen Umständen arrangieren. Wie hatte es ihm der Amerikaner so schön ätzend verdeutlicht? Es hätte ihn auch weitaus schlimmer treffen können...ein Bordell.
 

Aya durchlief ein inneres Zittern. Viel schlimmer. Er hätte auch tot sein können.
 

Schuldig schmunzelte. "Lass ihn das nur nicht hören", grinste er nun.

"Er kocht eigentlich ganz gut. Aber für einen verwöhnten Gourmet wie dich, wird er nur ein lausiger Koch sein, da hast du vermutlich Recht", sagte er und verbarg die sanfte Spitze hinter seinen Worten mit einem Lächeln.

"Soll ich dir helfen beim Kochen? Ich bin zwar nicht der Meister in solchen Sachen, aber Aufträge kann ich immer noch ausführen. Allerdings wäre mein Risiko ziemlich hoch...angesichts der Reichweite der scharfen Messerchen", grinste er verschlagen.
 

Verwöhnter Gourmet? Aya schnaubte. "Ich bin nicht verwöhnt. Deine Suppe habe ich schließlich auch gegessen", erwiderte er mit hochgezogener Augenbraue, verschränkte spielerisch die Arme, ließ sich das Angebot des anderen Mannes durch den Kopf gehen.

"Aber nicht doch...ich bin völlig unfähig, mit Messern umzugehen", lächelte er schließlich hintergründig. "Wie du sicherlich weißt..." Als wenn Schuldig ihm das abnehmen würde. Als wenn er das ernst gemeint hätte.
 

Schuldig zog eine Braue Richtung Haaransatz. "Das heißt du hast ,meine Suppe' trotzdem gegessen, auch wenn sie dir zuwider war? Eben weil du kein Gourmet bist und selbst ,solche ungenießbaren Speisen' in dich hineinzwingst?" Er grinste ein Weilchen, bis er lauthals lachte und sich winzige Tränchen in seinem Lid sammelten. Das war zu gut! Herrlich!
 

Er lachte Aya an und wurde erst nach einigen Minuten ruhiger. "Ich kenne deine ,Unfähigkeit' mit ,Messern' umzugehen, Aya. Ich hab auch ein paar Souvenirs von deinem Messerchen, falls dir die beim Duschen nicht aufgefallen sind", sagte er immer noch lächelnd. Es machte ihm Spaß mit Aya zu sprechen, als wären sie gute Freunde.

Und wieder lachte er aus tiefstem Herzen.
 

Schuldig lachte ihn doch allen Ernstes aus! Aber Aya freute sich ja, dass er dem Amüsement des anderen Mannes dienen konnte, wie er sich spöttelnd versicherte. Auch wenn er wusste, dass das Lachen nicht böse gemeint war...

"Nein ist es nicht...", lächelte er. "Ich habe auf andere Dinge geachtet." Auch wenn es ihn freute, dass nicht nur er hatte einstecken müssen, was ja wohl oft genug der Fall gewesen war. Besonders der Kleine des Teams hatte ihm mit Freuden zugesetzt. Ein Junge von nicht einmal 16 Jahren mit einer Kraft, die eine Menschenmasse umbringen könnte. Es war beängstigend, wenn er darüber nachdachte.
 

"Ach...das war nur Glück...ich hab das Schwert einfach mal geschwungen...da steckt kein Können hinter." Nein...nur nicht. Auch Aya verzog die Lippen auch nun zu einem breiteren Grinsen.
 

"Ach, ja? Auf was? Die Farbe und Struktur der Fliesen im Bad? Ich wette du hast keinen Zentimeter Haut von mir gesehen. Ich konnte dich ja nur deshalb mit den Handtüchern überraschen, weil du den Blick, auf mich konsequent vermieden hast, und das jedes Mal, wenn ich mich ausgezogen habe", grinste er und der Schalk blitzte Aya an.

Schuldig beruhigte sich wieder etwas. "Glück nennst du das?" Er legte den Kopf schief. "Ich nenne das anders. Ich habe bisher nicht den Fehler gemacht, die Kunst, mit der du dein Schwert führst, zu unterschätzen, Aya. Ich mag es dir zuzusehen....aber bitte aus der Ferne", lachte er wieder leise.
 

"Ja natürlich auf die Farbe der Fliesen", empörte sich Aya halb spielerisch, halb ernst. "Worauf denn sonst? Oder gab es da etwas Interessanteres zu sehen?" Er lächelte kopfschüttelnd, griff sich mit seinen Augen den Blick des Telepathen, hielt ihn unlesbar fest. Lehnte sich leicht zurück. Irgendwie war es kalt geworden...was größtenteils auch an dem nicht allzu warmen Kimono lag, den er trug. Den, und nichts anderes, wie eine kleine, allzu höhnische Stimme ihn erinnerte.

"Aber es steht dir natürlich frei, dich ins Bad zu begeben, während ich in der Küche hantiere...da dürftest du in ausreichender Ferne sein."
 

Wieder funkelten sie sich an und Schuldig genoss diese Situation. Überhaupt schien es als könnte dieses Lächeln, welches Aya ihm schenkte, einen dunklen Bereich in ihm erhellen. Etwas in ihm blühte im wahrsten Sinne auf und dies ließ einen anderen Teil wiederum schmerzvoll aufschreien.

"Nein, ich bleibe schon in deiner Nähe, sonst würde ich mir doch deine Fingerfertigkeit und dein kulinarisches Geschick entgehen lassen. Dafür setzte ich mich gern dem Risiko einer Spritzblutung aus", grinste er wölfisch.

Doch er sah auch, wie der andere wiederholt fröstelte, gab ihr Spiel etwas auf. "Du kannst im übrigen gerne ins Bad, damit du dir etwas anderes anziehen kannst. Siehst aus, als wäre der Schlafkimono nicht so das Richtige für dich, oder?" meinte er leicht nachdenklich. "Kannst auch was Wärmeres haben, ich dachte nur, wäre am Praktischsten für ...naja...für gestern halt", sagte er leiser werdend.
 

Als hätte sich Aya vom Nicht-Einverständnis des anderen Mannes aufhalten lassen, wenn er irgendwo hingewollt hätte...innerhalb der Wohnung.

"Es ist ein schönes Stück", gab er nachdenklich zu und strich bewundernd über den weichen, angenehm zu tragenden Stoff. Dennoch etwas wärmeres? Das wäre...von Vorteil. Eine Hose zum Beispiel. Einen Pullover. Unterwäsche. "Gut...dann wärme ich mich jetzt auf und...zeige dir dann mein Ungeschick mit Messern?" Oh wie sehr würde er sich freuen, eben dieses Ungeschick zu widerlegen...was Schuldig natürlich schon längst wusste. Wie er auch...

Aya lächelte herausfordernd.
 

Schuldig tat als überlege er kurz, doch das amüsierte Blitzen in seinen grünen Augen strafte seine Mimik Lügen. "Na da bin ich schon Mal gespannt darauf. Obwohl, sicherlich wäre es eher lehrreich für mich, wenn ich das Messer führe und du die Anweisungen als gewitzter Koch gibst", sagte er, als hätte er die zündende Idee. "Ich koche nämlich so gut wie nie und vielleicht können wir ja gemeinsam Brads Suppe toppen, die dir ja ein Graus war", sagte er wieder etwas grinsend und deutete auf Ayas Schale.
 

"Zur Not hab ich noch Fertigsuppen da, falls wir nichts zu Stande bringen, aber da wende ich mich vertrauensvoll an dich."

Aya wollte bereits aufstehen, war Schuldig aber noch zugewandt. "Ach und bevor ich's vergesse, im mittleren Schrank findest du Klamotten. Such dir was aus, sind eher die gemütlichen Sachen", offerierte er Aya und lächelte wieder. Er fühlte sich gut. Sehr gut sogar. Mal sehen wie lange das noch so blieb. Doch momentan hatte er das Gefühl ohne Schatten zu sein.
 

"Aber nein...", lächelte Aya zurück. "Du verletzt dich sicherlich mit dem Messer...scharfe Dinge können sehr gefährlich sein...ich glaube, es wäre besser, wenn ich es halte." Den Teufel würde er tun und daneben stehen und Anweisungen geben...oder auch nur zuschauen, wie er innerlich grollend feststellte. Den Kimono glatt ziehend, stand er schließlich auf, stellte mit Überraschung fest, dass der Fußboden mittlerweile wirklich warm war.
 

"Glaube mir...ich kann kochen...", erwiderte er mit hochgezogener Augenbraue, wurde sich dann erst bewusst, worauf Schuldig anspielte. Oh. Das war also die Suppe des Amerikaners gewesen. Die ihm nicht geschmeckt hatte. Oh. "Ich habe ja gesagt...ich bin nicht wählerisch und das Gemüse hat einiges wett gemacht", ertrug er das Fettnäpfchen mit Würde.
 

"Oh, ich bin mir sicher, dass ich den Umgang damit vorzüglich beherrsche, Farfarello lobt meine Wurftechniken und meine Art wie ich die Dolche einsetze regelmäßig. Der kennt sich aus, glaub mir", lachte er leise und amüsiert. Dass seine Waffen neben der Telepathie, den Handfeuerwaffen auch seine geliebten Dolche waren, hatten Weiß nur selten zu spüren bekommen. Er kämpfte gerne damit, bevorzugte in einem körpernahen Kampf die Dolche.

Schuldig verfolgte das Aufstehen des Anderen mit genauem Blick, um eine etwaige Schwäche zu erkennen, doch Aya stand sicher. Schien sich wirklich kuriert zu haben.
 

"Brad hat gestern wohl das Gemüse außen vor gelassen, damit dein Magen nicht zu sehr gereizt wird, er kennt sich damit aus. Nagi...", wollte er sagen, verstummte aber dann und zog ein zerknirschtes Gesicht. "Vergiss es, interessiert dich sicher nicht", lenkte er schnell ab und stand ebenfalls auf. "Sicher kannst du kochen, du legst Wert auf gutes Essen", zwinkerte Schuldig, als er an Aya vorbeiging um die Spülmaschine einzuräumen, dabei nahm er auch Ayas Schale mit.
 

Unter normalen Umständen hätte es Aya in der Tat nicht interessiert, doch nun trieb ihn seine angeborene Neugier soweit an, für einen Moment von seinem Weg ins Bad abzusehen. Dem anderen Mann bei seiner Tätigkeit zuzusehen und stirnrunzelnd zu fragen:

"Was ist mit ihm? Mit dem Kleinen meine ich..."

Es interessierte ihn zu wissen, was hinter dieser ausdruckslosen Maske des kleinen Japaners steckte. Ob der Junge überhaupt menschlich war...wahrscheinlich ebenso menschlich wie Omi auch...Omi, der von Kritiker aufgezogen wurde.

Unwillkürlich lauschte er auf die darauf folgende Stille, ließ das Radio im Hintergrund schallen.
 

Schuldig schwieg zunächst, erstarrte für einen Augenblick. Was hatte er da angerichtet? Hatte er sich derart in Sicherheit empfunden, dass er munter darauf los plapperte? Das war ein Weiß, den er vor sich hatte und der seine Fühler gerade nach solchen Schwachpunkten ausstreckte. Was war er nur für ein Trottel, ein wandelndes Sicherheitsrisiko...da hatte Brad schon Recht.

Etwas stach in ihn, zerrte ein ungutes Gefühl an die Oberfläche, seiner guten Laune. Den Blick abwendend, da zu viel Gefühl darin schwamm, sagte er leicht dahin: "Ich glaube, es wäre besser den Mund zu halten, ich habe mich schon genug gesagt. Es reicht, wenn ich mich dir ausliefere, Aya. Betrachte es nicht als Abweisung. Wir haben alle unser Los zu tragen, ihr wie wir. Die einen mehr, die anderen weniger. Belassen wir es dabei", sagte er milde und fühlte sich mies, da er Aya angedeutet hatte, dass Nagi Probleme hatte.

Wie hatte er den Kleinen nur so ausliefern können? Eine Hand zur Faust geballt, verdammte er sich selbst dafür und steigerte sich in seine Selbstvorwürfe hinein, äußerlich ein schräges Lächeln präsentierend.
 

o~
 

Da wich Aya einmal von seinem Kodex ab, nur um von Schuldig wieder genau darauf gestoßen zu werden. Dass sie sich beide unprofessionell verhielten. Natürlich...das musste man ihm nicht sagen...

"Wir sollten nicht allzu viel übereinander wissen, da hast du Recht", pflichtete er Schuldig zu und nickte, jegliche Art von Gelöstheit aus seinen Zügen verschwunden. Wenn wahrscheinlich auch unwissentlich hatte ihn der Deutsche auf etwas gebracht, dass er unvorsichtigerweise hatte geschehen lassen. Sich einlullen zu lassen...von Freundlichkeit. Das war unter Feinden nicht erwünscht.

Er drehte sich um, verließ schweigend den Küchenbereich. Auch er musste vorsichtiger sein mit dem, was er sagte...wollte er doch sein Team nicht gefährden. Wollte er sich selbst nicht noch mehr schwächen, als er es ohnehin schon tat...durch Worte und Wissen, das ihm hier offenbart wurde und seine Menschlichkeit ansprach. Sie ans Licht zerrte.
 

Erschöpft begab sich Aya ins Bad und schloss die Tür hinter sich.
 

Der leise Abgang war sein Verschulden gewesen. Ebenso wie die Änderung der Atmosphäre zwischen ihnen. Aber nötig, wie Schuldig jetzt fand - wenn auch bedauernd.

Seufzend machte er sich daran, das Geschirr in den Spüler zu verräumen, die Ablagen zu säubern.

Scheinbar hatten sie es beide genossen, nicht nur er.

Sie näherten sich an, vergaßen ihre Masken, ihren Schutz, ihren Job. Gefährlich. Und er hatte sich diese Gefahr in seine Nähe geholt. Schön blöd, dachte er und grinste zynisch.
 

Aya stand vor dem mittleren Fach und stellte sich schlichte, bequeme Kleidung zusammen. Schlicht war sie. Jeans, zwei Nummern zu groß für ihn und einen schwarzen, dicken Pullover, der sich äußerst charmant um seine fröstelnde Gestalt rankte. Er hatte weiß Gott wie lange geduscht und seine Haare von den Überresten des Badezusatzes befreit, hatte die Stille wirklich genossen. Hatte sie gebraucht, um wieder zu sich zu kommen, sich seine eigene Situation vor Augen zu führen.
 

Durch die momentane Ruhe des Telepathen hatte er sich dazu verleiten lassen, auch sich selbst eine kleine Auszeit von seiner Wachsamkeit zu geben...ein fataler Fehler. Aber das war jetzt vorbei. Mit den Kleidungsstücken ging er zurück ins Bad und zog sich an, genoss die Wärme von richtiger Kleidung auf seiner Haut. Ihm war durch und durch wohlig warm...und er war müde.
 

Was ihn nun auch zurück zum Bett führte. Er wollte schlafen...nur noch schlafen...
 

Schuldig hatte die Kleiderauswahl beobachtet, die Aya getroffen hatte, von seinem Platz auf der Fensterbank aus. Es war nach Mittag und er rauchte in Küchennähe eine Zigarette.

Aya legte sich gerade hin um zu schlafen und Schuldig hätte ihn am Liebsten wieder aufgerüttelt.

Er kannte das, wenn der Mann jetzt schlief, konnte er des Nachts kaum schlafen. Aber er ließ ihn und rauchte gemütlich weiter.
 

Seine Gedanken schweiften zum heutigen Einsatz ab und sein Blick wanderte über die Stadt. Es würde mit Sicherheit spät werden. Wer weiß, ob Aya überhaupt aufwachte, bis er los musste. Dann würde Aya doch alleine kochen.

Ein melancholisches Lächeln trat auf seine Züge.

Es war so normal ..dieses Gespräch, das sie geführt hatten. Und dann hatte er den Zauber zerstören müssen, mit nur einer dummen Bemerkung. Typisch für ihn. Er zerstörte so vieles. Täglich.
 

o~
 

Er hatte schlafen wollen...wirklich. Dösen, sich ausruhen, einfach abschalten. Hatte es dennoch nicht geschafft, mehr als ein paar Minuten einzunicken...maximal eine Stunde. Er hatte einfach immer im Hinterkopf das Gefühl, beobachtet zu werden. Wahrscheinlich nicht nur das Gefühl, konnte er doch schon förmlich die Blicke des Telepathen auf seiner Gestalt fühlen.

Den leichten Zigarettengeruch riechen, der zu ihm hinüberwehte.

Aya schlug frustriert die Augen auf, fühlte sich schließlich so unwohl in dem Bett, dass er sich aufrichtete, genervt seufzte. Sich die Haare zurückstrich.

Gut...das war dann wohl nichts mit schlafen und vergessen. Schwamm drüber. Das konnte er nachholen, wenn Schuldig nicht da war. Wenn er sich weiß Gott wo rumtrieb...
 

Besagter Schlafstörer jedoch hatte sich dieses Rumgewälze in seinem Bett nicht lange angesehen und hatte es sich auf der Couch mit Kopfhörern und seinen Lieblingscds gemütlich gemacht. Er wollte sich vor dem Einsatz noch etwas entspannen. So lag er nun auf der Couch, den Arm unter den Kopf gelegt und die Augen geschlossen. Die Musik war eine gute Ablenkung, während er mit Brad kommunizierte, das Neueste vom ,Alltag mit dem Blumenkind' zu erzählen wusste und auch eine kleine Stippvisite zu ihrem Einsatzort wagte.

Er konnte somit zumindest schon einmal sagen, wie viele Security Einheiten sich ihnen in den Weg stellen würden. Diese Information leitete er an Brad weiter. Es würde keine größeren Probleme geben, sofern Weiß nicht auftauchten. Wäre interessant herauszufinden, ob sie noch operierten, da ihr viertes Mitglied und ihr Anführer zur Zeit nicht vor Ort war.
 

Mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen sah Aya, dass die Quelle seiner Unruhe es sich in aller Ruhe auf dem Sofa bequem gemacht hatte und nun fern von ihm in seiner Gedankenwelt verweilte.

Das Lächeln wurde gemeiner, kälter. Viel kälter, als er sah, wie wenig Schuldig sich darum scherte, sich seinem Feind auszuliefern. Ayas Blick glitt in die Küche, konnte nur den dort stehenden Messerblock erahnen. Jetzt wäre die perfekte Gelegenheit. Er hätte die Möglichkeit, es zu schaffen. Das Wissen, an welche Stelle und wie tief er das Messer treiben musste, um den anderen Mann umzubringen. Zwei, maximal drei Stiche, dann wäre es vorbei.
 

Automatisch setzte er sich in Bewegung, strebte die Küche an. So als schienen Reflexe und antrainierte Mordlust seinen Körper übernehmen und nicht auf die kleine Stimme hören, die sich in ihm regte. Die mit jedem Schritt lauter wurde und ihm zornig an den Kopf warf, dass er niemals in seinem Leben zu unehrenhaft gewesen war und warum er nun damit anfing. Das war kein fairer Kampf, das war nicht der Dank für die Motive des Deutschen, ihn hier festzuhalten. Schuldig dann, wenn er hilflos war, das Messer in die Brust zu stoßen...konnte er das vor sich verantworten? Nicht um des Telepathen Willen, nein. Um die Stille und Ruhe in seinem Inneren, die er so verzweifelt zu bewahren versuchte.
 

Ayas Schritte verlangsamten sich, kamen schließlich ganz zum Stehen. Seine Hände zu starren Fäusten geballt stand er nun dort und verlor den Kampf gegen seine Ehre. Gegen sein Menschsein. Er wusste, dass er es bereuen würde, er wusste, dass ihm das nur weitere Tage hier einbringen würde, die an seinem Nervenkostüm zerrten und die Sehnsucht nach seinem Team und seiner Schwester beinahe ins Unermessliche steigern würden. Und doch...er war von je her Sklave seiner japanischen Erziehung gewesen und hatte es auch bei Weiß nicht aufgegeben, diese Maßstäbe so gut er konnte einzuhalten.
 

Jetzt, in diesem Moment verfluchte er sie. Sein Blick fiel auf einen kleinen, unscheinbaren Gegenstand an seiner Rechten. Schuldig hatte unverschämtes Glück, dennoch würde er ihm eine kleine Lektion in Sachen Vertrauen beibringen. Wie hatte der Deutsche selbst gesagt? Sie waren Feinde...und Feinden vertraute man nicht. Man lieferte sich ihnen schon gar nicht so aus, wie es Schuldig hier tat.

Aya bückte sich und griff den Henkel, umfasste ihn mit starr zusammen gepressten Fingern. Ging lautlos zurück zu Schuldig, beugte sich über die reglose Gestalt und kippte den Winkel der Gießkanne in seiner Hand, ließ mit grimmigen Lächeln auf den Lippen und in den Augen das Wasser direkt auf das Gesicht des Telepathen fallen.
 

o~
 

Er verweilte gerade in den Gedanken des Wachhabenden der jetzigen Schicht in dem Gebäude um den Zeitpunkt der Ablöse zu erfahren, als ihn etwas abrupt zurückriss. Mit aller Macht seine mentale Aufmerksamkeit einforderte. Panik wallte zunächst in ihm auf. Dieses ruckartige, fast gewaltsame Zurückreißen brachte alles in Aufruhr. Sein Puls raste, die Musik, die er hörte und die ihn zunächst verschreckte, riss er sich weg. Nässe und Kälte ....auf seinem Gesicht. Was...wer? Verwirrt drehte er sich zur Seite und landete etwas tiefer auf dem Boden, blieb zunächst einen Moment liegen, bis er sich aufsetzte und mit geweiteten Pupillen und momentan fast nichts sehend zur Ursache für sein Herzrasen umblickte.
 

Die Lippen leicht geöffnet, da sich auch seine Atmung beschleunigt hatte und die Augen weit aufgerissen blickte er durch die zerzausten Haare erschreckt zu Aya auf. Mit einem Stöhnen griff er sich dann an den Kopf, als er registrierte, dass sein Körper in Sicherheit war, dass keine Katastrophe ins ,Haus' stand. Er konnte Aya nur schemenhaft sehen und wandte den Blick zunächst nach innen, um sich wieder in seinem Körper zu festigen. Für Momente saß er nur da, die Nässe kaum bemerkend und versuchte sich zu sammeln.

Bis sich ein leises Kichern aus seiner Kehle löste.
 

Nun doch verwundert, aber zum großen Teil mit zynischer Befriedigung, hatte Aya den abrupten Abgang des Deutschen verfolgt. Oh ja....und wie es ihm gelungen war, den anderen Mann aus seiner entspannten Meditation zu reißen. Aus seiner sträflichen Abwesenheit.

Aya konnte es immer noch nicht glauben. Schenkte ihm der andere Mann soviel Vertrauen, dass er tatsächlich so nachlässig wurde und nicht darauf achtete, was um ihn herum geschah? Dass er ihn selbst nicht für gefährlich genug hielt? Eben weil er sich zuhause befand?

Aya lehnte sich mit einem Ellenbogen auf der Couch zurück, strich sich mit stillem Lächeln die Haare zurück.

"Na...wieder wach, Dornröschen?", fragte er von oben herab auf den Boden, beugte sich dabei leicht vor.
 

Schuldig hielt sich die Stirn immer noch und kicherte etwas, wischte sich dann langsam das Wasser vom Gesicht. "Das hab ich wohl verdient, was? Hätte wohl auch eines der Küchenmesser sein können", sagte er zynisch, auf sich selbst gerichtet. Er blickte Aya immer noch nicht an, hockte da und seine Haare verdeckten den Blick in sein Gesicht, welches nach unten gerichtet war.

"Ich verlass mich zu sehr auf meine Intuition bei dir. Dumm was? Da glaub ich doch tatsächlich, ich wäre sicher." Ein kleines Zittern durchlief ihn, welches gepaart mit dem kühlen Wasser eher aus seinem Innern kam. Er wandte langsam den Blick, lächelte etwas über die wirren Haare, die Aya umrahmten. Konnte jedoch nicht umhin auch den fragenden, unverständigen Gesichtsaudruck zu bemerken.
 

"...weil ich wohl das Gefühl habe, dich zu kennen. Wir begegnen uns schon seit Jahren und du hast oft die gleichen Verhaltensweisen gezeigt, das gleiche Muster. Dadurch vertraue ich dir jetzt. Ich war wehrlos ....und ich schätze dich nicht so ein, als würdest du einen Wehrlosen töten...," murmelte er als hätte er das Gefühl die Gedanken des Anderen gelesen zu haben. Was er nicht hatte, aber die Fragen standen Aya ins Gesicht geschrieben. "Was soll's?", machte er eine belanglose Handbewegung. "Ich habe nicht vor, dich wieder anzuketten, also war ich mir wohl sicher, du würdest das nicht ausnutzen", führte er weiter aus, starrte den heruntergefallenen Kopfhörer an. "Ich war gar nicht in meinem Körper...echt blöd...es hätte alles passieren können. Ich hätte gerade noch mitbekommen wie ich ausblute...was bin ich für ein Trottel", haderte er mit sich selbst.
 

Aya ließ seinen Blick für ein paar schweigsame Momente auf der Gestalt und den Worten des Telepathen ruhen, bevor er sich ruhig umwandte und die Gießkanne auf ihren angestammten Platz zurückstellte. Nicht wieder anketten...nicht wieder anketten...
 

"Du dachtest, du kennst mich?", fragte er beinahe schon ungläubig nach. "Ich habe bei Aufträgen das gleiche Verhaltensmuster gezeigt. Aufträge. Kämpfen. Das hier ist etwas anderes. Das brauche ich dir wohl nicht zu erklären, oder?" Er schüttelte verständnislos den Kopf, ließ sich auf die Couchlehne nieder. Doch eben der Teil, der sich Ehre nannte, nickte Schuldigs Gesagtem bereits innerlich zu. Hatte er ihn doch richtig eingeschätzt... "Es hätte dich weit schlimmer treffen können, da hast du Recht. Hat es aber nicht. Mach dir darum Gedanken, nicht, warum ich nicht anstelle dessen zum Küchenmesser gegriffen habe. Wenn du mit all deinen Feinden so nachlässig umgehst, wundert es mich, dass du bis heute überlebt hast."
 

"Hast du denn jemals erlebt, dass ich mit einem Feind nachlässig umgegangen bin? Und mit euch sind wir nicht zimperlich verfahren. Obwohl ihr eigentlich nur Störenfriede, keine Zielpersonen - als solche ausgesucht - wart", sagte er und kam vom Boden hoch um sich auf die Couch zu setzen, sich anzulehnen.

"Zwischen ,Vertrauen' und ,Nachlässigkeit' besteht ein Unterschied. Ich mache meinen Job nicht, weil mich jemand dazu zwingt, Aya. Sondern weil es mir in manchen Augenblicken eine gewisse Befriedigung und Genuss bringt", sein Blick wurde dunkler, doch von seinen Haaren verborgen, die ihm ins Gesicht hingen. "Ich bin weit davon entfernt, normal zu sein", sagte er rau. "Du hast doch gesehen, wie ich bin, wenn es keine Kontrolle mehr gibt, warum glaubst du dann, ich würde nachlässig mit Feinden umgehen?"
 

Schuldig fühlte wie er sich in sich zurückzog...nein er verkroch sich. Er kreierte ein hässliches Bild von sich, wollte das Lächeln, das Lachen in den Augen des Anderen vertreiben, indem er ihm seine eigene Perversität, seine Andersartigkeit auf den Tisch ausbreitete. Es schmerzte ihn selbst davon zu reden, aber er kannte sich zu gut um diese hässliche, dunkle Seite zu verdrängen, sie zu leugnen oder zu beschönigen. Sie gehörte schon lange zu ihm.

...vielleicht schon zu lange...
 

"Es mag sein, dass du mehr Spaß daran hast, Menschen zu töten als ich...dennoch bist du nachlässig...eben weil du vertraust. Du vertraust MIR. Nachlässig. Denn wir sind Feinde." Als wäre das nicht offensichtlich.

Ayas Lächeln wich langsam aus seinem Gesicht. Das, was als harmlose Bestrafung gedacht war, zeigte ihm etwas, dessen er sich bisher verschlossen hatte. Vertrauen? Schuldig brachte ihm Vertrauen entgegen? Das hielt er für falsch, zerrte es sie doch auf eine persönlich Ebene. Eben die, die er nicht einzugehen bereit war. Er hatte dem Telepathen nichts entgegen zu bringen. Keine Gefühle. Er durfte es nicht. Es würde ihn nur unnötig behindern auf Missionen.
 

"Außerdem sagst du es selbst...du tötest, weil es dir Genuss verschafft. Kritiker hat uns ausgebildet, eben diese Lust am Töten auszulöschen...indem wir die Killer töten. Ich kann von dieser Doktrin nicht abweichen. Und du wirst von deiner ebenso wenig weggehen."

Mit schmal zusammen gepressten Lippen stand Aya auf, ging zum Fenster. Drehte dem anderen Mann seinen Rücken zu. Starrte hinaus in die Gegend...auf die vor ihnen liegende Stadt. Auf seine Freiheit, die er gerade eben geopfert hatte.
 

"Die, die ihr jagt, machen dies, weil sie mehr Geld in ihre Taschen stecken wollen, sie bekommen nie genug davon. Takatori war einer davon und es gibt viele mehr, die da draußen herumkriechen. Sie sind nicht wie wir", sagte er tonlos.

"Nenn mich überheblich...aber sie töten wahllos, verkaufen Drogen, rauben Organe, machen Genexperimente, oder züchten ihre eigenen Zombies. Das hat nichts mit uns zu tun. Brad, Nagi, Farfarello und ich...wir haben keine Doktrin. Wir lassen uns weder von Takatori noch von sonst jemandem auf der Nase herumtanzen. Auch wenn wir noch so viel einstecken müssen, Aufträge ausführen, die uns zuwider sind, schlussendlich sind sie es, die uns unterlegen sind. Wir haben Regeln, ja. Aber diese gelten nur für uns. Mit diesen Fähigkeiten...wer könnte uns aufhalten...wenn nicht wir selbst?"

Er schwieg wieder.
 

Wie konnte er Aya nur begreiflich machen, dass es für ihn keine Grenzen gab? Dass er selbst seine Kontrolle üben musste. Wie oft hatten sie in einer Art grenzenlosem Wahn, danach gestrebt ihre Auftraggeber zu hintergehen, sie auszutricksen und dafür geduldig auch Bestrafungen auszusitzen? Was würde geschehen wenn es ihre eigene Grenze nicht mehr gab?

Sie hatten nichts außer sich selbst. Niemanden der ihnen etwas bedeutete, für wen sollten sie Grenzen aufbauen? Für wen sollten sie Einhalt gebieten?

"Du sagst, ich bin zu vertrauensselig und das mit einem Feind....und gleichzeitig hasst du diese Ketten so sehr, dass ich diesen Hass und auch die Angst davor förmlich schmecken kann. Wie sonst...wenn nicht mit Vertrauen soll ich sie dir erlassen?", fragte er sanft, aber auch etwas resignierend.
 

Ayas Hände krallten sich unbemerkt von Schuldig in die Fensterbank. Hasste er...ja. Hatte er Angst...ja. Angst davor, dieses Mal wirklich zu verhungern und zu verdursten. Hass davor, so bezwungen zu werden. Seiner Selbstbestimmung beraubt darauf warten zu müssen, dass Schuldig sich erbarmte, ihn...

Mit fest zusammen gepressten Lippen erduldete er die Erinnerungen der ersten Nacht, des Morgens darauf. Und wie er es hasste.

"Dieses Vertrauen wäre nicht nötig, wäre ich nicht hier...dann würdest du dich nicht der Gefahr aussetzen, dass ich eben dieses hintergehen würde", erwiderte er bitter, wagte es nicht, sich umzudrehen. Das alte Thema. Wenn..., dann...

Aber Schuldig hatte Recht. Wenn er ihm nicht vertrauen würde, hätte er nicht diese...den Umständen entsprechende... Bewegungsfreiheit.

Er schüttelte leicht den Kopf.

"Ihr tötet, weil es euch Spaß macht. Ihr tötet, weil ihr euch selbst keinen Einhalt bietet. Wir töten, weil wir es müssen. Oder denkst du, dass auch nur einer von uns diesen Weg freiwillig gewählt hätte? Aus Lust?"
 

"Ich erinnere dich gerne daran, dass -IHR - MICH - entführt habt. Nicht umgekehrt. Wir hatten das Thema glaube ich schon desöfteren. Eure Chefs verheizen euch um mich zu entführen. Sie ...ihr habt uns unterschätzt. Genau betrachtet habt ihr den Stein ins Rollen gebracht. Das heißt ohne eure Startaktion wäre nachfolgendes nicht geschehen."

Schuldig war es leid. Er hatte keine Lust mehr, vielleicht auch keine Energie mehr um Aya ums wiederholte Mal das Gleiche zu erzählen.
 

"Wie dem auch sei", lenkte er um. "Niemand sucht sich sein Leben aus. Wir sind was wir sind", zuckte er mit den Schultern.

"Wir töten weil wir es müssen...", wiederholte er die Worte von Aya mit einer Spur Gehässigkeit und stand auf. "Du hättest den Tod deiner Eltern hinnehmen können, du hättest deine Schwester nicht rächen müssen. Kein einziger wäre durch deine Hand gestorben. Wie Brad so schön sagt: Eine einzige Entscheidung und wir schlagen den Weg ein, den wir gehen werden, ohne zurückzublicken. Wir merken nicht einmal, wann wir die Entscheidung treffen. Du hattest eine Wahl! Und du hast sie getroffen, also beschwer dich nicht."

Genau dieses Gewäsch hasste er, dieses ...wir hatten keine Wahl. ...wir müssen töten...
 

Aya drehte sich langsam um. Begegnete der Gestalt des anderen Mannes mit unverhohlener Wut. Ballte beide Hände zu Fäusten.

"Ich hatte eine Wahl? Ich hätte nicht töten müssen? Dann sag mir...oh weiser Mann, was ich hätte tun sollen, ohne Geld. Mit einer Schwester, deren Behandlung weit mehr Geld verschlingt, als ich in dem Alter je hätte verdienen können. Sag mir...wenn jemand auf mich zukommt und mich fragt, ob ich meine Schwester aufgeben will...oder ob ich sie irgendwann wieder lachen sehen möchte und mir Geld anbietet...Geld, das ich sonst nicht zusammen bekommen hätte, sag mir, wo da die Wahl lag. Sag mir, wo Omis Wahl war, als er entführt wurde. Als sein Onkel sich geweigert hat, das Lösegeld zu zahlen...als ihn sein Vater zu sich genommen hat. Sag mir, wo ein kleines Kind wählen kann, ob es zum Killer ausgebildet wird oder nicht. Na?"
 

"Was andere auch tun, ohne Geld! Oder meinst du jeder Vater der seine Tochter im Krankenhaus liegen hat, nimmt ein Schwert zur Hand?! Und auch wenn er es könnte, meinst du er könnte töten? Er hätte das Zeug dazu? Dazu ist man fähig oder nicht! Omi...und auch vielleicht wir...gerade Nagi...sind zu jung zu dem geworden was wir noch heute darstellen. Wir haben es gelernt.

Wann hast du dich dazu entschlossen für das Leben deiner Schwester zu morden? Wann, frage ich dich?! Und genau das war die Entscheidung, die Wahl die du getroffen hast. Genauso gut, hättest du eine weniger teuere Behandlung in Kauf nehmen können, einen Arbeitsplatz finden und dafür hart arbeiten müssen. Du hättest Schwielen von Arbeiten an deinen Händen, nicht vom Führen eines rachsüchtigen Schwertes."
 

Schuldig machte einen Schritt auf Aya zu. "Du redest ständig von keine Wahl und schwätzt großkotzig und heuchlerisch auf. Du mordest genauso, nur gibst du edlere Ziele an, andere Beweggründe. Was ist denn euer heiliger, weißer Kreuzzug schon? Was verbessert er? Nichts! Rein gar nichts! Du jagst Schatten hinterher. Ein kleiner Junge, der Schatten fangen spielt."

Schuldig trieb es weiter, dachte kaum mehr nach was er sagte.

"Du hast es dir wirklich einfach gemacht, nicht wahr? Ein Schwert genommen und gedacht, ach räche ich mich einfach mal. An wem oder was kann denn der Vater, dessen Tochter da liegt, schon rächen? An nichts. Er muss es aushalten, muss aushalten wie sie daliegt und er muss seinen Hass auf alles, auf die Ungerechtigkeit, warum es seine reine, unschuldige Tochter erwischt hat, aushalten, aber DU, du erliegst deinem Hass, du nimmst ein Schwert und belügst dich selbst, in dem du dir einreden lässt die Welt wird durch deine Morde besser und dabei rettest du auch noch das Leben deiner Schwester! Wie lächerlich und kleingeistig."

Seine Lippen verzogen sich verächtlich.

"Du kannst die Dunkelheit nicht mit ihren Mitteln bekämpfen, das hat noch nie funktioniert und wird es auch nie. Was du tust, ist lediglich noch mehr Böses produzieren, noch mehr Negatives."
 

Aya lachte bitter. Seine Augen spiegelten maliziöses Vergnügen wieder, das seine Lippen jedoch nicht im Geringsten erreichten.

"Für was hältst du mich? Für dumm? Meinst du nicht, ich wüsste, dass wir nicht anders sind, als der Abschaum, den wir töten? Mord bleibt Mord...egal, wer ihn ausführt und aus welchem Grunde...das weiß jedes Kind!" Er stockte für einen Moment, versuchte, seine Wut in Schach zu halten...sie wegzustecken, in Ruhe umzuwandeln, doch das wollte ihm dieses Mal nicht gelingen...dieses eine Mal nicht. Wie konnte er diesen Worten auch etwas anderes als Zorn entgegensetzen?
 

"Oh ja...so mittellos, wie ich war, hätte ich mir eine Arbeit suchen sollen! Ohne Ausbildung, ohne gar nichts...vielleicht hätte ich ja tatsächlich ins Bordell gehen sollen, ja? Meinst du, ich könnte mich da vertrauensvoll an Crawford wenden? Nur um mit dem Töten aufzuhören? Hätte ich eine weniger teure Behandlung in Kauf genommen...hätte ich sie einem normalen Krankenhaus übergeben, hätte sie kaum über diese Chancen verfügt zu überleben! Das, was mir angeboten wurde, war nun mal das Beste...mit meiner finanziellen Lage. Aber ich kann von jemandem wie dir wohl kaum erwarten, dass du verstehst, was familiäre Bindungen bedeuten, oder? Besonders, wenn sie das Letzte ist, was mir geblieben ist! Das verstehst du einfach nicht!"
 

Aya fürchtete sich selbst vor dem Hass, der seine Stimme durchzog. Der sie mit Schlieren feinsten Schwarzes durchtränkte und ihr ein hässliches Antlitz gab. Zischend...kränkend...boshaft. Fast nicht mehr menschlich.
 

"Das verstehe ich nicht?" fragte Schuldig lauernd. Zorn und auch Verletztheit sprachen aus ihm, was den Hass und die Bosheit auf den Plan rief um das zu schützen, was geschunden in ihm lag.
 

"Oh, natürlich verstehe ich das nicht. So etwas wie ich kann gar keine Bindungen zu jemanden entwickeln, so jemand wie ich, wird ja auch nicht geboren, sondern gezüchtet, in irgendeinem Labor. Und von jemandem wie mir kannst du wirklich nicht erwarten, dass ich verstehe, was es heißt verlassen zu werden und allein zu sein. Da hast du ganz Recht", fügte er zischend an.
 

Er erkannte den Hass in Aya, konnte fast sehen wie dessen Sinne davon eingenommen, umnebelt wurden.
 

Doch nicht er selbst, sondern ebenfalls der Hass in ihm griff nach Ayas Hass, riss sich daran aus der Finsternis ans Licht und nährte sich aus dessen Gefühlen. Wie ein Schmarotzer, der nur dann Nahrung fand, wenn er sich von anderen nährte.
 

Ein durch und durch böses Glitzern trat in Schuldigs Augen. Unbemerkt von ihm labte er sich an Ayas Hass auf ihn, gierte danach, den wütenden Mann weiter zu treiben. Es war ein altes, bewehrtes Verhaltensmuster, welches ihm in schutzlosen Zeiten ein positives Gefühl gegeben hatte. Er zog aus dem Hass etwas Positives für sich. Eine positive Verstärkung, die er sich über viele Jahr hinweg antrainiert hatte. Unbewusst, doch es war so. Er gewann an Kraft für sich und auch an Macht über sein Gegenüber, je weiter er ihn trieb, in den Strudel der Verwirrung, der Selbstvorwürfe, des Hasses und der niederen Gelüste.
 

"Ja, in ein Bordell. Du hättest es lange gemacht. Jeden Tag Schwänze lutschen und sich durchficken lassen, die abartigen Spielchen der ,edlen Herrschaften' mit einem unschuldigen oder unterwürfigen Blick bejahen!"
 

Er grinste bösartig. "Es ist scheinbar schon besser, andere zu töten, als selbst benutzt zu werden, nicht?" Ein Szenerie tauchte plötzlich aus seiner Erinnerung auf, nur ein kurzes Aufblitzen und er hatte schon geglaubt es wäre eine telepathische Übertragung gewesen, da war es wieder weg.
 

"Sieh dich doch an! Damals...", in seinem Zorn stockend, doch nur für Sekunden.. " Damals...", fing er erneut an und konnte das Bild kaum fassen, welche ihm fast vor Augen stand. Eine Erinnerung wie es schien... aber....welche...er konnte dieses Bild nicht einsortieren...
 

Er wischte es als unwichtig weg und grinste Aya dreckig an. "Du hättest das Geld nicht aufbringen können, aber sicher doch deine Schwester, das magere Etwas, ihre Beine hätte sie sicher noch breit machen können. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich sie in den Armen gehalten habe...."
 

Die Ruhe, die Aya gerade noch so verzweifelt gesucht hatte, entfloh angesichts dieser...dieser völligen Horrorvorstellung, was Schuldig damit implizierte. Er hatte die Beleidigungen des anderen Mannes ertragen, auch wenn sie ihn zornig gemacht hatten. Er hatte versucht, das alles hinunterzuschlucken. Er hatte versucht, sich nicht provozieren zu lassen.
 

Aus und vorbei damit. Hass überschwemmte ihn. Purer, reiner, schmutziger Hass, aus Verzweiflung und Horror geboren. Er gab Schuldig das, was er wollte, ohne es selbst zu wissen. Seine Gesicht verzog sich vor Abscheu, wurde zur hässlichen Fratze der Wut, die brachial und qualvoll aus ihm herauswuchtete. Es war ihm egal, ob Schuldig stärker als er war. Es war ihm egal, wie schwach er selbst sich noch fühlte.
 

Es war ihm egal, dass er hasserfüllt auf den andere Mann losging, ihm seine Faust ins spottende Gesicht trieb. Nein, egal war es ihm nicht. Er wollte es! Er wollte den anderen Mann verletzen für das, was er getan...gesagt hatte. Seine Schwester...AYA. Er hatte sich...Oh....GOTT.
 

Aya erstickte schier an negativen, unmenschlichen Gefühlen, die in seinem ausgezehrten Körper tobten. Wie KONNTE Schuldig es wagen, so über seine Schwester zu sprechen? Wie konnte er es wagen, so etwas vorzuschlagen? Wie konnte er es wagen, zu implizieren...

Wie konnte er es wagen, ihm so etwas zu sagen? Wie konnte er es wagen, Aya so etwas anzutun? Er wurde sich bewusst, was Schuldig damit andeutete. In den Armen gehalten...als sie sie entführt hatten...wahrscheinlich auch noch andere Dinge getan hatte...
 

Erkenntnis dämmerte in Aya. Schuldig hatte...
 

Die Augen weit aufgerissen starrte er den anderen Mann für einen Moment lang fassungslos an. War sich kaum bewusst, wie er Schuldig vor die Brust stieß, wie er ihm nachsetzte. Wie er verletzen wollte. Schuldig hatte ein kleines...wehrloses Mädchen...
 

"Du Schwein...was hast du ihr ANGETAN?", schrie er, packte den anderen Mann an der Vorderseite dessen Shirts. Gewährte Schuldig einen exquisiten Blick in die wütenden, fassungslosen Augen, auf die aufsteigenden Tränen, die sich in ihnen zu sammeln drohten vor lauter Unverständnis, dass jemand bereit war, so weit zu gehen, nur um seine Bedürfnisse zu befriedigen...
 


 

Genugtuung über diesen lohnenden Ausblick auf den in Bewegung kommenden Mann, ließ sich Schuldig kaum von dem Schlag beirren, sondern grinste überheblich. Er erntete seinen Lohn für die Mühen, für die hässlichen Worte, den Hass den er geschürt hatte.

Schuldig fuhr zurück in Richtung der Fensterfront als Aya ihm nachkam, sein Gesicht traf und nicht von ihm abließ.
 

Ahh... und wie er es genoss, diesen Ausdruck der Wut in diesen Augen, Speerspitzen schossen auf Schuldig, so derartig aufgebracht hatten Aya seine Worte. Und dabei war es nur die bloße Provokation gewesen, nichts weiter. Denn seine Andeutung hatte nichts mit der Realität zu tun und doch glaubte Aya ihm dies, so weit hatte er ihn getrieben.

Oder war es nur wieder dieses perfekte Puzzleteilchen, welches Aya gefehlt hatte um das gewünschte Bild eines Sadisten vor seinem geistigen Auge auferstehen zu lassen?
 

Nein, er selbst hatte diese Vorlage Aya in die Hände gegeben, damit dieser ihn hasste, damit Schuldig den Hass in Aya vor Augen hatte. Aber wollte er wirklich von diesem Mann gehasst werden? Irgendetwas war hier in eine völlig falsche Richtung gelaufen. Und das sah er nicht nur in Ayas Augen, in denen die unterschiedlichsten Emotionen schillerten. Das nicht zuletzt deshalb, weil es tatsächlich Tränen waren, die in einem feinen Film über dem aufgewühlten Violett schwammen.
 

Stille.
 

Sie war ohrenbetäubend und sie ließ das bösartige Lächeln, welches noch schwach in seinen Augen gestanden hatte, die perfide Freude an Ayas Zorn, an seiner Hilflosigkeit, abperlen. Er sah nur noch die Augen, das Unverständnis darin, den vor Wut verzogenen Mund, spürte weder die Finger, die Zug auf sein T-Shirt ausübten, noch die Wand in seinem Rücken. Seine Hände hatten sich schon als Aya ihn angegriffen hatte auf die Oberarme des Anderen gelegt, doch nun krallten sich seine Finger in Ayas Kleidung, in den Mann, um Halt zu bekommen. Er wollte diesen Halt nicht von der Wand, sondern von Aya, von dem Mann, den er mit seinen Worten gerade noch in den Hass getrieben hatte - in den Hass auf ihn.

Er ließ sich fallen, zog Aya mit sich hinunter auf den Boden und umklammerte ihn schon fast, ihm so keine Chance zur Flucht oder zur Gegenwehr zu ermöglichen. Er sah ihn nicht an, hatte den Kopf auf Ayas Schulter gestützt, die Stirn abgelegt und war damit beschäftigt genügend Kraft aufzubringen um eine Flucht zu verhindern. "Nichts. Gar nichts habe ich ihr angetan. Ich habe sie nur getragen", sagte er beruhigend, ohne seine Stimme zu stark zu heben, doch die Anstrengung Aya an Ort und Stelle zu halten hörte man dennoch heraus.
 

"LÜGNER!", schrie Aya, war sich mit Horror bewusst, dass Schuldig ihn hinunterzog. Dass er auf dem anderen Mann landete. Dass dieser ihn daran hinderte, sich loszureißen, indem er ihn starr und fest umklammerte. Ihn berührte. Ekel überschäumte ihn. Wie KONNTE Schuldig es wagen...wie konnte er es wagen, ihn anzufassen!
 

"LASS MICH LOS!" Hasserfüllt und zornig wand er sich in den ihn gefangen haltenden Armen, wollte sich losreißen, dem anderen Mann Schmerz zufügen, ihn verletzen und töten. Er nahm den Geruch des Schwarz wahr, dessen Körperwärme, all das, was er nie hatte erfahren wollen. Schon gar nicht von dem Menschen, der so ungeheuerliche Dinge über Aya sagte, die Person, die ihm so nahe stand.
 

"Wie kannst du so etwas über sie sagen? Wie kannst du das? Wie kannst du ihr so etwas antun?", hallte es laut und hysterisch durch das stille Loft. Hasserfüllt und wütend. Für keinerlei rationale Argumente mehr zugänglich. Aya war weit darüber hinaus, auch nur einen Deut darauf zu geben, was der andere Mann zu ihm sagte. Viel zu sehr verätzten dessen Berührungen, dessen verfluchte Nähe sein Denken.
 

Aya stemmte sich gegen seinen Häscher, wand sich in dessen Armen, wandte rohe Gewalt an, nur um sich von ihnen zu lösen. Wie konnte es der andere Mann wagen? Wie? Er schlug um sich. Er wollte verletzen. Er wollte sich losreißen...wollte in die Küche. Wollte sich eines der Messer greifen und es Schuldig wieder und wieder in den verdammten Leib treiben. Wollte ihn vor Schmerzen schreien hören.
 

Schuldig schwieg, den Mund zu einem schmalen Strich verzogen.

Er kniff die Augen zusammen, konzentrierte sich allein darauf, Aya festzuhalten. Die Schläge hielt er aus, zuckte nicht zurück, sondern verharrte in Ruhe. Ayas Worte drangen laut an sein Ohr, wollten sich bis in seine Gedanken hineinfressen.
 

Ein unterdrücktes Stöhnen verbiss er sich, als Aya ihm am Brustkorb einen Schlag verpasste und eine empfindliche Stelle traf. Er hatte das verdient, so sah er diese ineinander verschlungene Lage an. Und er wollte es, er wollte jetzt Schmerzen fühlen, damit er wusste, dass er Aya weh getan hatte, damit er selbst litt.

Oh Gott, wie verrückt war er eigentlich? Nicht einmal mehr zu bemerken, wenn er in einem schlichten Gespräch, gut einem Streitgespräch...dazu überging den Hass auf sich zu lenken?
 

Darauf wartend, dass Ayas Kräfte nachließen, lagen Schuldigs Arme eisern um ihn, krallten sich seine Finger in die Kleidung. Er sagte nichts, hielt aus, auch wenn er gerne etwas gesagt hätte, aber Aya war viel zu weit von der Vernunft entfernt, um Schuldigs Worte anzunehmen, zuzulassen, dass er sie hören wollte.
 

o~
 

Aya wusste nicht, wie lange und wie wild er sich gebärdet hatte, wie lange er noch um sich geschlagen hatte. Wie lange er nicht hatte einsehen wollten, dass er keine Chance gegen den Deutschen hatte...nicht in seiner momentanen Verfassung und ihrer Position, die alles andere als angenehm war.
 

Er war übergeschäumt vor Zorn auf den Mann, der seiner Schwester so etwas antun konnte. Der es wagte, Dinge über sie zu sagen, die Aya tief erschütterten. Er trat das, was er über Jahre versucht hatte zu bewahren, mit Füßen. Er erniedrigte sie, geilte sich daran auf, erst sie, dann ihn selbst entführt zu haben und für sein Amüsement zu missbrauchen.
 

Zitternd vor Abscheu gab es Aya schließlich auf, sich gegen den anderen Mann zu wehren, ertrug mit völliger, körperlicher Anspannung steif dessen Nähe. Auch wenn ihm übel war. Auch wenn er sich übergeben wollte...

Sein Blick glitt zur Seite, verbiss sich hasserfüllt in einer der dort stehenden Pflanzen.
 

Seinen Griff nicht lockernd, doch die Finger etwas entspannend, registrierte Schuldig, wie Aya ruhiger wurde. Er selbst öffnete die Augen wieder, starrte blind für seine Umgebung vor sich hin.

"Wie ...wie ist es dazu gekommen? Hass macht uns hässlich", sagte er zusammenhanglos, mit leiser Stimme ohne sich dessen bewusst zu sein.

"Ich habe nichts mit ihr gemacht, Aya", sagte er versöhnlich. Er atmete tief durch, runzelte die Stirn, Ausdruck von Konzentration. "Es war nur...ich wollte dich verletzen, dich ärgern. ...ich habe es weiter getrieben, ohne es zu bemerken, ohne zurück zu können."
 

Er versuchte selbst, den Verlauf noch einmal zurückzuverfolgen. "Wir haben diskutiert, dann gestritten...ich habe keine Grenze mehr gespürt, keinen Halt und etwas in mir wollte dich hassen sehen. Als wollte ich, dass du mich hasst." Tonlos waren seine Worte, doch sein Gesicht drückte angefangen bei den Augen Verzweiflung aus. "Deiner Schwester habe ich nichts getan, meine Worte nichts weiter, als ...es war ...weil ich den Hass in dir weiter schüren wollte", sagte er stockend.
 

"Das hast du geschafft, Gratulation", ätzte Aya mit immer noch abgewandtem Blick. Er verschloss sich vor der evidenten Verzweiflung, vor dem leisen Ton. Hörte nur die Worte, ließ das in sich aufwellen, was er einst so mühsam hatte versucht zu unterdrücken. So...Schuldig hatte also gelogen...hatte ihn nur provozieren wollen?
 

Wie erbärmlich. Als wenn ihn das besänftigen würde. Als wenn es darüber hinwegtäuschen könnte, dass er immer noch direktem Körperkontakt ausgesetzt war. Ein Teil in ihm verabscheute den Telepathen schon alleine deswegen.
 

"Kann ich jetzt gehen?" Er würde nicht zuhören...keiner der falschen Entschuldigungen des Deutschen glauben, die dieser ihm auftischen wollte. Anscheinend war es für Schuldig ein Spiel...ihn reizen. Ihn dann zu besänftigen und wieder zu reizen...aber nicht mit ihm.
 

Schuldig wollte ihn nicht gehen lassen, er klammerte sich an ihn als müsse er sich an ihm festhalten um nicht zu ertrinken.

"Ich wollte nicht, dass es soweit kommt. Es ist wie ..", fing er an, und verstummte dann. Er wollte sagen, dass es wie bei einem Opfer war, wie bei einem Einsatz, wenn er jemandes Gedanken verdrehte, seine ureigensten Gefühle schürte, seine Gedanken lenkte, sie herumwirbelte wie bei einem Tanz. Doch er sagte diesbezüglich nichts mehr.

Er ließ die Arme um Aya gelegt. "Deine Worte haben mich an einer Stelle erwischt, die schmerzte, vermutlich habe ich mich deshalb auf deine Schwester gestürzt um dir damit genauso wehzutun", schloss er leise. Sein abwesender Blick hatte sich wieder etwas gefestigt, aber er sah immer noch auf den Boden.
 

Aya musste es akzeptieren, dass der andere Mann ihn weiterhin festhielt. Dass er ihm Worte aufzwang, die Aya nicht hören wollte. Er wollte nicht hören, dass er dem anderen Mann Schmerz zugefügt hatte. Nicht jetzt. Nie. Nicht, wenn sich das rote, grausame Ungeheuer namens Hass seine Venen entlangfraß und jede seiner Zellen besetzte. Dass er Gefühle in ihm hervorgerufen hatte, die Aya liebend gerne unterdrückte. Er wollte doch nicht von diesem Ungeheuer aufgefressen werden...und war nun der Gefahr ausgesetzt, nur weil Schuldig ihn zum Spaß provoziert hatte...
 

"Das hast du geschafft", gab er nicht nur zu sich selbst grausam ehrlich zu. "Du benutzt sie und mich dazu, dass du dich besser fühlst...und anstelle mich anzugreifen, missbrauchst du sie...das ist erbärmlich." Seine Hände ballten sich zu starren Fäusten. Er war nun nicht mehr bereit, die Wut gehen zu lassen. Jetzt, wo sie da war und er sich nicht mehr gegen sie wehren konnte.

"Du wolltest sehen, wie ich den Kampf gegen meinen Hass verliere? Ich hoffe, du bist zufrieden."
 

Schuldig schwieg zunächst, versuchte sich innerlich wieder zu fangen, einen Halt zu finden.

Doch es war nichts da. Denn er hatte nichts, woran er sich festhalten konnte. Nicht in seinen

Erinnerungen, nichts was ihm emotional eine Stütze bot.

So ertrug er still die Worte, sagte nichts von seiner eigenen Verletztheit, von der Einsamkeit, die er bisher stets von Anfang an seines Daseins zu spüren bekommen hatte.

"Nicht du hast den Kampf verloren, sondern ich", sagte er fast unhörbar
 

"Blödsinn!", fauchte Aya erbost, sah dem anderen Mann nun doch in die Augen. Erkannte darin ebenso viele Emotionen wie in sich selbst. Auch wenn der Krieger in ihm nicht zuließ, dass er sie verwertete. Dass er sich bewusst wurde, wie sehr der andere Mann litt.

"Sage mir, welchen Kampf DU verloren hast! Was DICH verletzt hat! Oder besser noch...gebe ehrlich zu, dass du es einfach aus Spaß gemacht hat!"

Ein Teil in Aya bedauerte die Haltlosigkeit, die Wut und Hass in ihm auslöste. Ein Teil wünschte sich die Ruhe zurück, die ihn nicht so dermaßen zerrissen zurücklassen würde. Doch dieser Teil wurde kleiner und kleiner...immer verzweifelter.
 

Verloren, so fühlte Schuldig sich. Seinem Hass ausgeliefert, dem was danach folgte, der unsagbaren Leere. Ein Schauder überzog seine Haut und ließ ihn frösteln. Ergebend nahm er dieses Gefühl der Kälte in sich auf, war es doch eine Reaktion auf seine momentane Gefühlslage. Er hob den Kopf etwas an, blickte Aya nun offen an, die Atmung nur mühsam kontrollierend, da sie stockte. Sein Blick drückte das aus, was er fühlte, die einsame Trauer, die er nicht benennen wollte. Er wollte kein Mitleid und würde auch keines zu erwarten haben, also warum es nicht wie immer handhaben?

"Ja, ich habe es aus Spaß gemacht", sagte er schlicht. Ohne Ausschmückung wiederholte er nur die Worte von Aya, hatte keine Energie um sie in eigene Worte zu kleiden. Doch die Worte...waren so falsch, sie standen im grotesken Gegensatz zu seinem müden, aufgebenden Blick. Er erwartete einen Schlag, denn seine Arme lagen nur noch locker um Aya.
 


 


 


 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Anmerkung:
 

Vielleicht hat sich der eine oder andere von euch darüber gewundert, warum Aya nach zwei Tagen Abwesenheit von Schuldig bereits so geschwächt war.

Im Gesamten hat er mehr als 3 ½ Tage nichts gegessen! Am Tag des Auftrages nur wenig, schließlich wollte er sich nicht den Bauch vollschlagen, und dann hat er nichts mehr zu sich genommen. Die Situation, wie wir sie dargestellt haben, sprich Ayas Wahrnehmung, seine Müdigkeit, sein erloschener Wille ... all dies sind Erfahrungen. Es sind also keine Erfindungen.

Sie können auch medizinisch belegt werden, falls der eine oder andere es nicht glauben mag.

Nach einer gewissen Zeit ekelt es einen an, etwas zu sich zu nehmen, egal ob flüssig oder fest, der Körper wird schwächer und müder, da die Flüssigkeit fehlt.

Nur gut, dass Schuldig rechtzeitig gekommen ist! Denn hätte Aya noch länger ausharren müssen wäre ein Krankenhausaufenthalt zum Aufpäppeln von Nöten gewesen *zwinker*

Wir haben die Szene bewusst so angelegt, Ayas Essverhalten spielt natürlich auch eine Rolle. Er isst häufiger, dafür weniger. Und wer würde beim Feind gleich nach Essen schreien? Zumal keines vorhanden war.
 

Fortsetzung folgt.

Gadreel & Coco

Honigfalle

~ Honigfalle ~
 


 

Aya nutzte eben diese Geste der Nachlässigkeit um sich aus dem Griff des Telepathen zu befreien, um aufzustehen. Taumelnd rückwärts zu stolpern. Weg von diesem Mann! Nur weg...

Den Blick voller Abscheu, voller Hass auf Schuldig gerichtet tat er einen Schritt. Zwei. Drei. Er wollte nicht mit dem schrecklich ruhigen Blick konfrontiert sein. Mit der Trauer. Mit all den anderen Emotionen...er hatte genug damit zu tun, dem Hass nicht die Vormachtstellung zu geben.
 

Schritt um Schritt wich Aya zurück. Zum Bad, dem einzigen Raum, der den Blicken des Deutschen verborgen war. Der einzige Raum, in dem er genügend Abstand finden konnte, um vielleicht wieder zu sich zu kommen, auch wenn Aya dem keine große Hoffnung zumaß. Zu groß war das Chaos, was Schuldig in ihm angerichtet hatte...zu groß der Schmerz...die Wut über das, was dieser gesagt hatte.
 

Aya öffnete ruckartig die Tür, taumelte hinein in den stillen Raum und warf sie wieder hinter sich zu. Wasser....er brauchte kaltes Wasser...

Stumm strebte er das Waschbecken an, stockte, als sein Blick in den Spiegel fiel. Ein Mann, violette Augen, rote Haare. Blasse Haut. Ein Mann, hässlich entstellt durch Hass und Wut. Durch Zorn. Nicht mehr menschlich...eine Teufelsfratze, die ihm dort entgegenstarrte. Die all seine Bemühungen der letzten Monate, zur Ruhe zu kommen, in diesem Moment zunichte gemacht sah. Die wieder voller eisigem Feuer danach brannte, sich zu rächen. All das, was Weiß nach Takatoris Tod langsam gemäßigt hatten...nun fort. Hinweg gespült durch unbedachte, verletzende Worte.
 

Der Teufel in ihm verspottete ihn. So schwach war er also...so schwach. Wurde bei jeder Gelegenheit wieder rückfällig...konnte nicht davon ablassen...von dieser hässlichen Maske. Von diesem Monster dort im Spiegel. Ja....alle Menschen sind schlecht...du bist...deine Schwester ist es. Du hasst sie noch mehr als alle anderen...auch wenn du vorgibst, es nicht zu tun...du hasst...hasst hasst hasst. Erinnere dich an das Verlangen, sie aus Zorn zu erwürgen, erinnere dich an die Abscheu. Na los, erinnere dich! Das bist du, nichts anderes! Siehst du? Schwach....so schwach...du hast versagt, du-
 

Die Stimme verstummte augenblicklich, als Aya seine Faust in das Antlitz vor sich trieb, als er sein Spiegelbild zerstörte, es laut scheppernd zu Boden schickte. Aufkeuchte, als Schmerz in seiner Hand explodierte...als Blut hervorquoll. Sein Blut...durch ihn hervorgebracht. Nötiges Blut...mit dem die Stimme, diese hässliche, wahre Stimme seinen Körper verließ und hinausfloss.
 

Aya starrte die Wunden an, klammerte sich mit der unverletzten Hand an das Becken, bemerkte nur nebenbei, wie sich feine Scherben auch dort in seine Haut schnitten. Er war...nicht schwach. Nicht so hässlich...keine solche Kreatur...oder?
 

o~
 

Durch das laute Splittern von seinem blicklosen Starren aufgeschreckt, richtete Schuldig sein Augenmerk zunächst in die Richtung, in die Aya ihn verlassen hatte. Es war klar gewesen, dass auf Schuldigs Antwort entweder eine Welle der Gewalt oder eine Flucht wegen Abscheu erfolgen würde. Und letzteres ist eingetreten. Er zog die Beine an, seine Kleidung raschelte etwas und er verschränkte die Arme, hockte noch einige Augenblicke da und lauschte auf kleine, nichtige Geräusche, wie seine Atmung. Tief einatmend, fuhr er sich dann mit der Hand übers Gesicht, rieb einmal über seine Augen, um sie zu klären.

Fast schon mühsam und ungelenk stand er auf und ging zum Badezimmer, verharrte jedoch vor der geschlossenen Tür.

Es hatte sich angehört, als hätte Aya den Spiegel zerschlagen, überlegte er. Aber was würde Aya jetzt, nach dieser Szene davon halten, dass Schuldig ihm nachging. Ihn in seiner Wut - und sicherlich war auch eine Spur Verzweiflung im Spiel - sah und dies wirkte mit Sicherheit wieder bedrohlich auf den Anderen. Er überlegte eine Minute, bevor er die Tür öffnete, sie langsam aufschob und abwartend im Türrahmen stehen blieb.

Das Bild, welches sich ihm bot, bestätigte seine Vermutungen. Aya stand mit Blut an den Händen, das vermutlich von Schnitten aus dem Spiegelglas stammte, da und starrte darauf.
 

Das ist das Ergebnis deiner Treibjagd auf Ayas verletzliche Seele, das ist das Resultat deiner Gier danach, das Leid in ihm zu sehen. Das ist das Ende nach der Hasswelle, das Gesicht des Hasses, wenn er geht und zurück nur die Verzweiflung und die Selbstanklage, der Selbsthass bleiben. Dein Werk, Schuldig. Er schämte sich dafür, dies hervorgebracht zu haben, diesen Mann derart weit in die dunkelsten Winkel seines Selbst getrieben zu haben.

Schweigend ging er zu einem großen Metallkoffer, der auf dem Boden neben dem Sideboard stand und hob ihn auf die Ablage, öffnete die Verschlüsse bedächtig und suchte nach den Dingen, die er für die Säuberung und die Anlage eines Verbandes benötigte.
 


 

Für den ersten, kostbaren Moment bemerkte Aya nicht, dass Schuldig sich zu ihm ins Bad geschoben hatte, war er doch viel zu sehr in inneren Verwünschungen und Kämpfen mit sich selbst beschäftigt. Zu sehr gefangen in dem Monstrum, das Schuldig mit Freuden in ihm hervorgerufen hatte. Das er nieder zu ringen versuchte mit eiserner Selbstbeherrschung. Eine einfache Technik...einatmen, Ruhe finden. Sich abschotten...
 

Er starrte auf seine Hand, beobachtete, wie ebensoviel Schmerz wie Blut hervorquoll. Fühlte, wie das Leben in ihm pulste. Ihm dennoch keine Beruhigung schenkte...der Pulsschlag, viel zu schnell, zu heftig. Zu brachial in seinen Ohren. Er schauderte, akzeptierte den feinen, stechenden Schmerz als das, was er war. Befreiung für all das Negative, das ihn durchfloss.
 

Doch erst das Klicken des Koffers neben ihm entriss ihn seiner Starre. Sein unfokussierter, abwesender Blick ruckte zu Schuldig. Der ihn auch hier nicht in Ruhe lassen konnte. Was wollte der andere Mann noch? Er hatte doch schon bekommen, wonach er gierte. Stumm und völlig unbewegt starrte Aya auf sein Gegenüber, krallte seine Hände in das Becken. Lauter Scherben...laute Bruchstücke...die ihm nicht mehr zeigen konnten, wie hässlich er war. Wie verkommen er in seinem Hass darauf lauerte, zu verachten...das Leben als solches zu verachten.
 

Schuldig nahm den kleinen Kanister mit Desinfektionsmittel und schraubte die Kappe ab, stellte es auf die Ablage und holte einige Kompressen und große weiße Dreieckstücher hervor. Er hatte immer einen Vorrat bestimmter Verbandsutensilien in seiner Wohnung.
 

Ohne Worte, sondern nur mit ruhigen, gezielten Bewegungen näherte er sich Aya, damit er die stärker blutende Hand genauer in Augenschein nehmen konnte. Er hielt den Blick von Aya fest und berührte mit seiner Hand die von Aya an den Fingern, umfasste sie zart. "Du blutest", sagte er und wartete auf eine Reaktion. Auf eine Weigerung, dass Schuldig ihm helfen durfte, oder dass Aya ihn erneut anschrie, oder vielleicht auch, dass Aya ihm erlaubte, die Wunden zu reinigen und einen sauberen Verband anzulegen.
 

Aya schrie nicht. Aya weigerte sich auch nicht. Blieb einfach nur dort stehen, wo er war, mit dem Gefühl von Schuldigs Fingern auf seiner Haut. Er blutete? Na das war ja etwas neues, ätzte eine Stimme tief in seinem Inneren, ließ ihn den Blick abwenden. Starr geradeaus in die kümmerlichen Reste der Halterung des Spiegels sehen. Kein Bild mehr...kein Selbstporträt, das seine verspottende Stimme gegen ihn erheben konnte. Nein...das brauchte er nicht mehr. Schuldig stand ja direkt neben ihm um diese Aufgabe zu übernehmen.
 

Die Wunden taten weh, brannten. Brannten wie sein Inneres vor Schmerz. Bluteten. Aya blieb still, wehrte sich nicht. Er hatte wohl gesehen, was der andere Mann plante. Sollte er. Vielleicht war es sogar besser so. Ihm selbst fehlte momentan die Geduld. Die Ruhe, um nicht wieder von dem Hass überschwemmt zu werden, der immer noch in ihm lauerte. Den er bekämpfen musste.
 

Als keine Reaktion kam, nahm Schuldig dies als Einverständnis hin und begann mit seiner Arbeit. Er nahm das Desinfektionsmittel und schüttete es in einem dünnen Rinnsal über die Wunden, so dass sie ausgewaschen und kleine Splitter mit herausgeschwemmt wurden. Die feinen Haarrisse waren nicht sehr tief, sodass es unwahrscheinlich war, dass größere Splitter in der Tiefe lagen.
 

Das Desinfektionsmittel brannte nicht in der Wunde, war deshalb auch teurer, aber dafür eine große Erleichterung. Er besah sich die Hand genau, tastete mit seinen Fingern neben den Schnitten ab, ob weitere Verletzungen zu spüren waren, doch es schien bis auf die oberflächlichen Schnitte und mit Sicherheit später auftretenden Blutergüssen keine größeren Beeinträchtigungen zu geben. Nach einer erneuten Inspektion, ob auch alle Splitter ausgeschwemmt waren, stellte er den kleinen Kanister ab, zog eine netzartige, in Aluminiumfolie verpackte Wundauflage heran, öffnete sie und legte ihren Inhalt, ein Gittergeflecht aus Fasern auf die Verletzungen.
 

Danach legte er einen Verband an und wickelte zusätzlich eines der Tücher um die Hand.
 

Mit der anderen Hand verfuhr er ebenso, doch da sie eher in der Handinnenfläche verletzt war, beließ er es bei der Mullbinde und Kompressen.
 

Schweigend, begann er seine Utensilien zu verräumen, schloss danach den Koffer wieder und drehte sich danach etwas zu Aya. "Egal, was ich jetzt sage, es...", fing er an, beschloss aber dann, es sein zu lassen, denn Aya blickte stoisch auf die Stelle wo der Spiegel zuvor hing. "Wenn...", begann er erneut und wandte sich wieder ab, begann damit größere Teile der Spiegelscherben aufzuheben. Als er so seitlich hinter Aya stand, mit einer der größeren Scherben in der Hand fiel sein Blick darauf und er erkannte, dass sich sein Gesicht zur Hälfte darin widerspiegelte.
 

"Es ist nur eine Hälfte von mir, ein Teil", sagte er ohne eine bestimmte Adresse. "Wenn du deine Gefühle in dir begräbst, finden sie auf die eine oder andere Weise ihren Weg nach draußen. Du kennst dich selbst am Besten", sagte er und legte die Scherbe auf die Seite, bückte sich wieder und sammelte die nächste Große ein. Den Rest würde er mit dem Staubsauger entfernen
 

Aya brauchte einen Moment, um aus den ruhigen, medizinisch versorgenden Berührungen des anderen Mannes wieder aufzutauchen. Sich bewusst zu werden, dass dieser mit ihm sprach. Dass dieser seine Hände versorgt und verbunden hatte. Wie schrecklich es aussah. Als wäre er ungeschickt...

Sein Blick fiel auf den gebückten Schwarz, der die Scherben aufsammelte. Seine Scherben. Die Scherben seiner Ruhe. Schuldig war schuld. Hatte sie zerstört in einem Anflug vom spielerischer Grausamkeit. Fehlte nur noch, dass er sie jetzt zusammensetzte...

Wie er es jetzt schon tat. Was hatte Schuldig gesagt? Dass er sämtlichen Emotionen in seinem Inneren freien Lauf lassen sollte?
 

Aya lauschte dem inneren, hysterischen Lachen. Natürlich würde er das tun...damit der Deutsche noch mehr hatte, das er zerreißen konnte. Dass er gegen ihn verwenden konnte.

Seine Hände hingen bewegungslos an seiner Seite hinab, schwebten nahe der ihm zugewandten, feurigen Mähne. Wenn er seine linke Hand ausstrecken würde...könnte er sie berühren, diese Haare. Sehen, was Schuldig daran fand.

Seine Lippen pressten sich zusammen. Nein.
 

"Da hast du wohl recht. Ich weiß, was für mich gut ist", erwiderte er ausdruckslos und trat einen Schritt zurück. Wieder einen. Weg von Schuldig. Ohne ein Wort des Dankes. Warum auch, Schuldig hatte nur etwas gut gemacht. Aya runzelte die Stirn. Er hatte ihm ein Stück Ruhe zurückgegeben mit seinem Tun. Vielleicht die Basis in eine stabilere Lage.
 

Er verließ das Bad, streunte zur Fensterbank. Ließ sich schließlich darauf nieder und warf einen Blick auf die gewaltige Stadt vor sich. Auf die pulsierende, nie stillstehende, schmutzige Stadt. So viel Böses...so viel dunkel. Und er saß hier und zog Ruhe aus diesem trügerisch friedlichen Ausblick. Egoismus in seiner Reinform, doch in genau diesem Moment war ihm nichts mehr egal als das.
 

Schuldig nickte einmal auf Ayas Worte und beseitigte die Überreste des Spiegels, beschloss nicht weiter darüber nachzudenken, wie es nun dazu gekommen war, warum er Aya gerne quälte, warum es ihm danach gegiert hatte, dem Anderen seine Mauer vor dem Tor zum Hass einzureißen.

Nachdem er fertig war, ging er wieder zum Schlafbereich, öffnete eines der Terrassenfenster und besah sich seine Kleidung im Schrank, wählte daraus seine heutigen für den Auftrag aus, zog sie jedoch noch nicht an, denn er hatte noch Zeit bis er los musste. Nach einer halben Stunde hatte er sowohl seine Waffen ausgewählt, als auch seine Kleidung geordnet.
 

Etwas befangen, doch nicht unsicher durchquerte er danach den Raum und ging zu Aya. "Wann willst du mit dem Kochen anfangen?", fragte er ruhig. "Wenn du mir sagst was ich machen soll, übernehme ich das", wies er so auf einem Umweg auf die verletzten Hände hin.
 

"Gar nicht."
 

Aya löste seinen Blick nicht von der Stadt vor sich, auch wenn er wusste, dass Schuldig direkt hinter ihm stand. Wenn seine Instinkte unangenehm prickelten und ihn warnten. Auch wenn sein Hass auf die Nähe des Schwarz reagierte und wie ein Barometer ausschlug.

Das Intermezzo und der darauf folgende Schmerz hatten seinen Hunger und die Lust, sich auch nur in die Nähe zu etwas Essbarem zu begeben, gründlich gestillt.
 

Mit Mühe konnte er sich davon abhalten, seine Stirn an die angenehm kalte Scheibe zu betten und seine Augen zu schließen. Er war erschöpft. Müde. Ausgebrannt. Er wollte Ruhe. Wollte weg von hier.
 

"Mir ist der Appetit vergangen."
 

Gut, das war klar, dachte Schuldig innerlich nickend.
 

"Ich verstehe", sagte er sarkastisch. "Ich bin wohl jetzt der Letzte, von dem du hören willst, dass du etwas Essen sollst, also lasse ich es besser", murmelte er und wollte schon gehen, als ihm etwas einfiel. "Du weißt ja wo die Kekse sind, falls du später Hunger bekommst, im Kühlschrank ist auch noch genügend."

Es war ein Versöhnungs-...oder ein Entschuldigungsangebot gewesen, zumindest konnte Schuldig es auf diese Art ausdrücken. Sich in die Nähe Ayas zu begeben, ihn anzusprechen, war für ihn als würde er sich damit entschuldigen wollen.

Aya hatte das Angebot jedoch nicht angenommen.
 

Schuldig wandte sich nach einem Moment des Betrachtens ab und ging in die Küche, machte sich erneut einen starken Kaffee. Das musste reichen, wenn Aya nichts aß, machte er sich eben eine der schnelleren Sachen, vielleicht etwas Süßes?, grübelte er und machte sich daran sich etwas zu Essen zuzubereiten.
 

Aya wandte sich schließlich von den unzähligen Lichtern ab. Es brachte nichts, sich hier hinaus zu wünschen. In seiner momentanen Verfassung würde er nicht einmal bis vor die Tür kommen, ohne dass Schuldig ihn mit einem spöttischen Grinsen wieder in das Loft zurückziehen würde. Ohne dass er sich adäquat wehren konnte, wohlgemerkt.

Er seufzte, ließ seinen Blick auf besagten Mann fallen, nur um ihn gleich wieder abwenden zu wollen. Wollen, es aber letztendlich nicht zu tun.

Da, wo er geglaubt hatte, neuerlichem Hass ausgesetzt zu sein, wenn er den rotflammigen Schwarz mit nur ein wenig Aufmerksamkeit bedachte, kehrte nun Ruhe in dessen Betrachtung ein.
 

Es verschaffte ihm Ruhe, der Gestalt des anderen Mannes dabei zuzusehen, wie sie sich etwas zu essen machen wollte. Vertraut verhasste Züge. Das Wissen um Beständigkeit, aus der er seine Ausgeglichenheit ziehen konnte. Und obwohl Schuldig für seine Disbalance verantwortlich war, löste sich Aya nicht von der Betrachtung dessen, was sich ihm nun darbot. Lehnte gegen die Fensterbank, die Arme sorgsam verschränkt, die Hände versteckt. Der Blick wie Efeu an dem anderen Mann festgewachsen. Ein Schmarotzer...

Ayas Lippen umhuschte ein bitterer Zug. Als wenn Schuldig das nicht verdiente...
 

Schuldig beachtete Aya nicht mehr, diesen weißen Fleck in seiner telepathischen Wahrnehmung. Vielleicht war es deshalb auch für ihn so schwer, sich ständig dessen Anwesenheit bewusst zu sein, vorsichtig zu sein.
 

Aus einer Schublade holte er sich eine schlichte lange dunkle Schürze, wie sie in Bars oft getragen wurde, band sie sich um die Hüfte und legte los...
 

In sein Tun vertieft, werkelte er an seiner Süßspeise und nippte ab und an an seinem Kaffee. Als es daran ging die kleinen süßen Teigbällchen anzubraten, band er sich die Haare nachlässig zusammen um sie nicht gleich mitanzubraten. Er war in der Küche ein seltener Tollpatsch und daher sehr darauf bedacht, nicht zusätzliche Fallen aufzustellen.
 

Leise summend gab er die Teigbällchen in die Pfanne, wendete sie rasch.
 

Aya konnte schon beinahe deutlich sehen, wie der andere Mann ihn mehr und mehr ausblendete und sich seinen Tätigkeiten widmete. Die im Moment just darin bestanden, dass er Teigbällchen zubereitete, deren Geruch wie eine sanfte Lockung zu Aya hinüber wehten. Versuchte Schuldig genau das? Oder war es, dass der andere Mann ihn wieder ausgeblendet hatte...soweit, dass er ihn vergaß. Soweit, dass er das vergessen hatte, was gerade geschehen war.
 

Ein leichter Ausweg. Ayas Lippen verzogen sich zu einer schmalen, bitteren Linie, untermalt von einem lockeren, gelösten Summen. Untermalt von Mandel- und Honiggeruch. Es erzürnte Aya. Ebenso wie der Zorn ihn beruhigte. Zorn machte stark, Zorn konnte er durch sich hindurchfließen lassen...

Immer noch verweilte sein Blick stumm auf den Händen, die so emsig ihre Arbeit machen.
 

Zunächst hatte Schuldig die Rohmasse der Teigbällchen zubereitet und bei dieser Prozedur schon gegrübelt, wie viel er machen sollte und hatte sich zur doppelten Menge entschlossen. Nun, als er sie in Honig und Mandeln karmelisierte und sie in der Pfanne hin und herrollte, blickte er kurz zu Aya auf. Vielleicht würde Aya seine Lieblingsnachspeise doch gerne probieren wollen. Aber er machte sie nicht für Aya sondern für sich selbst, versicherte er sich.

"Willst du nicht doch wenigstens eine Kleinigkeit probieren?"
 

Anscheinend war er doch nicht so in Vergessenheit geraten, wie er es gedacht hatte...

Aya behielt seinen Blick auf dem anderen Mann. Da war keine Bosheit in den Zügen des Telepathen...nicht so wie vorher. Kein Wille, ihn zu verletzen. Ein Versöhnungsangebot...und nicht das Erste seiner Art. Ein Teil in Aya verachtete das. Ein anderer wurde neugierig.
 

Aber wie sagte man so schön? Neugier war der Katze Tod.
 

Aya erhob sich von seiner momentanen Position und näherte sich dem Telepathen, kam schließlich ebenso in die Küchenzeile. Auch wenn er immer noch Abstand zu Schuldig hielt, war er doch nah genug, um einen schweigenden Blick in die Pfanne werfen zu können. Auch wenn das Essen mit verschränkten und schmerzenden Armen eine Sache für sich war.
 

"Was ist das?"
 

Schuldig schaltete den Abzug aus und blickte zu Aya, der neben ihm stand, die verletzten Hände unter die Arme geschoben.

Mit den Schultern zuckend und wieder auf seine Klößchen schauend, runzelte Schuldig die Stirn.

"Keine Ahnung, wie die Dinger heißen, ich hab das ursprüngliche Rezept etwas verändert. Etwas Mehl, Zucker, Kokosfett und Kokosmilch, ein paar Raspel dazu, das Ganze danach dann mit Honig und Mandeln bearbeitet, frittiert. Süß, sind sie", lächelte er die Pfanne an und freute sich schon darauf die Bällchen zu vernaschen.
 

Ja...das roch Aya. Vorsichtig schnupperte er ein weiteres Mal nach dem beinahe schon weihnachtlichen Geruch. Weihnacht und Karibik...in einem vereint. Und auch wenn er keinen Hunger hatte, so lohnte es sich doch sicherlich, wenn er ein wenig davon probierte, oder? Schon alleine, um Schuldig zu zeigen, dass er doch kein verwöhnter Gourmet war.

Er trat zurück, ging zu seinem vorherigen Platz am Bartresen, beobachtete Schuldig schweigend. Es war gerade mal Nachmittag und er wollte sich am Liebsten in sein Bett verkriechen und schlafen...das war doch nicht normal, aber angesichts des noch vor wenigen Momenten erlebten in gewisser Weise verständlich.
 

Um das Ganze noch etwas frischer zu gestalten, holte Schuldig noch eine Dose mit Mangos und eine mit Ananas hervor, zerkleinerte zwei, drei Scheiben und richtete sie in einer Glasschüssel an, die er dann auf den Tresen stellte, zusammen mit zwei Schalen, zwei Paar Essstäbchen und den süßen Bällchen.

Währendessen warf er hin und wieder einen beobachtenden Blick zu Aya, der etwas zusammengesunken auf seinem Barhocker saß und ihm dabei zusah, wie er alles arrangierte.

Er wirkt müde, stellte Schuldig fest, als er sich die Schürze losband, das Licht des Abzuges ausschaltete und zu Aya kam. Kein Wunder, nach ihrem Streit... .
 

"Wie viele magst du, für den Anfang?", fragte er, als er sich neben Aya setzte. Er lächelte geheimnisvoll und wusste genau um den hohen Suchtfaktor seiner Kreation. Zusammen mit den Früchten, waren diese Spezialbällchen sehr lecker. Zumindest für ihn. Natürlich hätte er auch frische Früchte kaufen und sie dementsprechend zubereiten können, aber da es eine spontane Idee war und er nichts anderes zu Hause hatte, gab er sich auch gerne damit zufrieden.
 

Früchte? Fehlte nur noch die Sahne...Ayas Blick hielt sich an den dargebrachten Speisen fest, versuchte sich schon im Voraus auszumalen, wie es schmecken würde. Süß und fruchtig...sicherlich...

"Eins", gab er immer noch in seinem ausdruckslosen Ich zurück. Wer weiß...vielleicht täuschte das Bouquet...die gute Aufmachung und er würde es bitter bereuen. Auch wenn er sich nicht sicher war, wie er sie essen sollte. Mit Stäbchen. Gut. Das würde wehtun, dank seiner Unbeherrschtheit, dank allem, was dazu geführt hatte. Er betrachtete unbemerkt seine Hände. Wie Klumpen...zu nichts nütze...so stumpf.

Na er musste es ja versuchen...

Sein Blick ruhte auf der vor ihm dampfenden Süßspeise. Wie sie schimmerte, die goldgelbe Kruste. Zumindest seinem Magen gefiel das, wie er an dessen innerlichen Regungen festmachen konnte.
 

Kommt Zeit, kommt Rat..., dachte sich Schuldig und gab eines der runden Köstlichkeiten in Ayas Schälchen, legte ein paar Essstäbchen darauf. Dazu gab er sowohl Ananas als auch einige Streifen der Mango. Bei sich war er da schon großzügiger.

Schuldig war der Blick, den Aya auf seine Hände geworfen hatte, nicht entgangen und so verzog er den Mund etwas, als er nachdenklich auf Ayas Schale blickte. Na dann half er eben, was sollte es schon groß machen? Sie standen sich sowieso kaum nahe und Aya hasste ihn, also würde das sicher nicht als Anmache gewertet werden, da brauchte er sich keine Sorgen machen.

Für ihn war es etwas Besonderes jemand Anderem das Essen in kleinen Häppchen zu geben, es war für ihn etwas Erotisches, deshalb überlegte er es sich genau, was er hier vorhatte. Doch tatsächlich nahm er die Stäbchen von Aya in die Hand, hob das Schälchen etwas an und nahm die süße Nachspeise auf um sie Aya zu reichen. "Achtung, hier kommt etwas leckeres", grinste er und fühlte sich in die Vergangenheit versetzt, als er noch kleiner war.
 

Aya sah mit Argwohn, dass Schuldig ihm seine Stäbchen nahm, als er sich plötzlich gewahr wurde, warum dem so war. In leichten Ansätzen fassungslos starrte er zunächst den anderen Mann, dann das vor ihm schwebende Bällchen...das leckere Ding...wie Gift an. Presste unwillig seine Lippen aufeinander...in einer kindischen Verweigerung.

Er konnte sich schon vorstellen, wie das aussah...wann war er denn das letzte Mal gefüttert worden? Aya wusste es nicht mehr...wusste nur noch, dass es seine Mutter gewesen war, die diese Aufgabe übernommen hatte.

Und nun...nun nahm Schuldig genau ihre Position ein...sagte das, was sie auch gesagt hatte. Schien scheinbar größte Freude dabei zu verspüren, ihn zu...füttern. Sein Feind. Sein Feind hielt es für eine gute Idee, ihn zu füttern, nachdem sie noch nicht einmal eine halbe Stunde vorher...
 

Doch vielleicht war es genau das richtige, auf eben dieses Spiel einzugehen. Vielleicht bewahrte ihn das vor dem Wahnsinn, Schuldig in die Augen zu sehen und wieder und wieder den Mann in ihnen zu erkennen, der ihn verletzen konnte. Vielleicht war Verdrängung ein gutes Mittel.

Nein, nicht nur vielleicht. Es war so.
 

Innerlich zu einer Übereinkunft gekommen, setzte Aya diesem Auflockerungsversuch nichts mehr entgegen. Wenn er probieren wollte, konnte er die unförmigen Klumpen seiner Hände nicht gebrauchen. So reckte er sich nun leicht und entblößte seine Zähne, biss ein winzig kleines Stück von dem warmen Teigbällchen ab. Kaute langsam. Sah Schuldig in die grünen, amüsierten Augen. Vom Feind gebadet und gefüttert...was würden Kritiker wohl dazu sagen?
 

"Man kann es essen...", erwiderte er schließlich mit zögerlich hochgezogener Augenbraue. Mochte das Spiel beginnen...
 

Schuldig verzog den Mundwinkel spielerisch nach unten. "Schmeckt es Eurer Hoheit etwa nicht? Natürlich wäre ein angemesseneres Mahl für einen Meisterkoch wie Euch wünschenswert gewesen, aber ....in so kurzer Zeit...", suchte er mit entschuldigendem Gesichtsausdruck nach Ausflüchten, imitierte einen unterwürfigen Diener.

Dann lächelte er etwas, als er das angebissene Bällchen ablegte und eine Mango aufnahm, sie Aya darbot.

"Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass du so hochnäsig bist", schmunzelte er und der Schalk blitzte in den grünen Augen. Vermutlich hatte er es sich wieder verscherzt, aber warum sollte er bei Aya ein Blatt vor den Mund nehmen? Der Andere mochte ihn sowieso nicht. Wozu also seine Worte verschönern?
 

Hochnäsig? Ayas Lippen umspielte ein kleines, gemeines Lächeln, wurde jedoch durch die Mango verdeckt, die sich ihm gerade so bereitwillig darbot. Eure Hoheit? Schuldig hielt ihn also für einen eingebildeten Fatzken, der andere herumkommandieren musste um sich gut zu fühlen?

Das konnte er haben. Dieses Spiel konnte er spielen.
 

Genüsslich labte er sich an dem Stück Frucht, blieb dem anderen Mann für einige lange Augenblicke eine adäquate Antwort schuldig, bevor er seine Augen über dessen sitzende Gestalt schweifen ließ. Eine arrogante Augenbraue lupfte. Ohne auf die in Humor verpackte Beleidigung des Telepathen zu antworten, lehnte er sich leicht zurück. Mimte den perfekten Pascha.

"Es ist meiner so gerade eben würdig...und nun... Den Rest des Bällchens....Sklave."

Und wie arrogant herrisch Ayas Augen funkeln konnten, als er seine Lider auf Halbmast senkte.
 

"Hättest du wohl gerne...", raunte Schuldig, ließ Aya nicht aus dem Blick, nur als er den ,Befehl' seines ,Gebieters' ausführte und das gewünschte Häppchen mit den Essstäbchen fasste. "Sehr wohl, mein Gebieter, Euer Wohl ist mein Gesetz", sagte er mit samtweicher Stimme, den Kopf leicht geneigt, einen unschuldigen Blick präsentierend, die Lippen leicht geöffnet. Er konnte sich Aya sehr gut als herumkommandierenden Herrscher vorstellen... vor allem im Bett. Schuldig überlegte gerade in Gedanken, ob er sich von diesem arroganten Blumenkind Befehle erteilen lassen würde, während er ihren Blickkontakt aufrecht erhielt.

...ohja...und wie er würde...
 

Ayas Lippen zierte ein stummes, alles verbergendes Lächeln, ließ sich den warmen, knusprigen und angenehm duftenden Teig auf der Zunge zergehen. Nun...so schlecht, wie er es kurz befürchtet hatte, war es dann wohl doch nicht. Wohl eher ganz im Gegenteil.

Soso...sein Wohl war Schuldigs Gesetz? Da konnte er doch noch etwas rausschlagen...aber später. Später...nicht jetzt.

"Hätte ich gerne? Aber natürlich...wer hätte nicht gerne jemanden, der einem das Putzen und Kochen, Spülen und Aufräumen abnimmt. Und die Blumen natürlich auch...Fensterputzen...schrecklich. Staubwischen?" Das Lächeln verbreiterte sich ein klein wenig. "Ach ja...und das Bad...das könntest du dann auch sauber machen."
 

Seine Mundwinkel zuckten, als er mit Mühe, den gefordert hochnäsigen Blick beibehielt. Er hatte wohl verstanden, was Schuldig so lasziv sanft ausdrücken wollte. Doch er würde den Teufel tun, sich auf dieser Ebene mit dem anderen Mann zu unterhalten. Nicht nachdem, was geschehen war.
 

Unbemerkt von Aya wanderte ein weiteres Bällchen aus der Schüssel in dessen Schale und wartete dort harmlos in illustrer Gesellschaft von Mango und Ananas auf seinen kalorienhaltigen Einsatz.

"Nun, es ist meine Wohnung, selbstverständlich werde ich diese Aufgaben übernehmen, aber sie dienen doch sicherlich nicht Eurem Wohl, wenn es Aufgaben sind, die ich ohnehin schon erledige. Ihr vertraut mir also euren Bonsai an? Der nur durch Eure Hand gepflegt werden sollte?" Ein minimales warmes Lächeln legte sich auf die Lippen, als er Aya die Früchte anreichte. "Gibt es nichts Anderes, was ich Euch ,an'-tun könnte um es Euch angenehm zu gestalten?" Wieder ein charmantes Lächeln, das Spiel zwischen ihnen sichtlich genießend, die Ruhe die sich in ihm ausgebreitet hatte. Keinerlei Gedanken flossen durch ihn hindurch, nichts störte Schuldigs Aufmerksamkeit.
 

"Oh...ich meinte natürlich in meinen Räumlichkeiten...wozu sollte es sonst gut sein?", näselte Aya und stolperte im nächsten Moment über das ,antun'.

Er hob eine Augenbraue. Antun...ja, was könnte Schuldig ihm noch antun? Leise lächelnd schüttelte Aya amüsiert seinen Kopf. Gar nichts mehr. Es war schon alles geschehen, was geschehen konnte.
 

"Du könntest...", begann er, stockte dann. "...könntest....", noch einmal. Immer noch ohne wirkliches Ziel. Das, was er wollte, würde ihr Spiel zerstören. Würde ihnen beiden den Ernst der Lage wie einen Spiegel vorhalten. Die neu aufgekommene Ruhe durch Frustration und Hass eintauschen.

Lieber griff er sich das nächste Stück frischen, köstlichen Obstes, schwelgte in dessen frischen Geschmack.
 

"Ahh, ihr ladet mich also in Eure Gemächer ein? In Euer Domizil? Ein Beweis Eures Vertrauens, dessen ich - nur ein Sklave - nicht würdig bin."

Schuldig bemerkte das Stocken, hatte er dieses kleine Spiel scheinbar gewonnen ohne dass er es beabsichtigt hatte. Viel lieber hätte er es weiter gespielt, ohne dass einer von ihnen gewann. Sein Blick verirrte sich kurz auf den von Fruchtsaft feuchten Lippen Ayas.

"Wie wäre es mit etwas Zerstreuung, während Euer Sklave selbstverständlich nur für wenige Stunden ohne Eure großmütige Anwesenheit auskommen muss? Einige der Bücher, könnten Euch die gewünschte Ablenkung schenken, mein Gebieter", bot er Aya an.
 

Bücher? Das hörte sich wirklich fantastisch an. Auch wenn... "Und was, wenn ich meinem...Sklaven", oh wie sehr schauderte er innerlich, dieses Wort zu gebrauchen, "...verbiete, dieses Domizil zu verlassen?"

Eine Herausforderung an den anderen Mann. Mal sehen, was dieser sich als Ausrede ausdenken würde. Auch wenn die Aussicht darauf, alleine zu sein, gewisse Vorteile bot, wie sich Aya nun eingestehen musste. Er konnte versuchen zu fliehen. Insofern er die Codes der Verriegelungen knackte natürlich. Oder einen anderen Weg fand.

Auf jeden Fall ein sinnvoller Zeitvertreib. Ebenso, wie nun seicht seine Hände zu bewegen, festzustellen, dass der Schmerz zu einem nicht ignorierbarem Pochen geworden war.
 

"Dann müsste ich dieses Gebot missachten, doch wie immer erwarte ich bei meiner Rückkehr Eure Strafe für diesen Ungehorsam in ergebener Demut", lächelte Schuldig treu und bot Aya während er sprach ein Kokosbällchen an. Und wieder hatte er ein Bild vor Augen, welches mit dieser Situation nichts zu tun hatte, nichts mit ihm zu tun hatte, wie er wusste. Vielleicht wieder fremde Gedanken eines anderen Menschen, von ihm nur durch Zufall unbewusst aufgenommen? Er tat es innerlich schulterzuckend ab, doch seine Aufmerksamkeit war für wenige Sekunden von Aya abgewichen. Nun wieder den alten amüsierten Glanz in den Augen, richtete er sie wieder auf Aya, auf ihr Spiel.
 

Aya war nicht entgangen, dass ihm die Aufmerksamkeit des Telepathen für einen Moment entflohen war. Dass dieser sich an etwas festzuhalten schien, was er letztendlich wieder verlor...nichts wirklich wichtiges also.

Er belohnte das treue Lächeln mit einem vorsichtigen, weiteren Biss und dann noch einem. Aß die Süßspeise gänzlich auf, um sich schließlich wohl gerundet und völlig aufnahmeunfähig zurückzulehnen.

"Dann werde ich mir etwas Entsprechendes ausdenken...", nickte er und leckte sich nachhaltig die süße Substanz von den Lippen.
 

Nun, da Aya satt erschien und sich zurücklehnte, stellte Schuldig die Schale beiseite und aß selbst die kleinen Köstlichkeiten, freute sich, eines der süßen Bällchen in seinem Mund verschwinden lassen zu können und grinste leicht vor sich hin. Mit Süßem war er leicht zu ködern.
 

Genüsslich begann er die Früchte samt Bällchen zu vertilgen.
 

o~
 

Immer noch völlig satt und noch zusätzlich faul vor Langeweile warf Aya einen müßigen Blick in Richtung des Telepathen. Der sich gemächlich vor seinen Augen umgezogen hatte und dies immer noch tat...seinem Outfit den letzten Schliff gab. Er musste schon sagen...der andere Mann sah durchaus bereit aus, sich in ein nächtliches Abenteuer zu stürzen...was ja auch letztendlich dessen Sache war. Dass er selbst allerdings hier bleiben und auf Schuldig warten musste, dass dieser von seinem One Night Stand zurückkam...

Alleine war, wie sein Verstand ihm mit unnötiger Grausamkeit hämisch zuflüsterte. Nein...dieses Mal würde Schuldig ihn nicht vergessen. Oder? Oder würde er aufgrund ihres Disputs seine Existenz ein weiteres Mal verschwinden lassen und ihn...
 

Stumm verfolgten Ayas Augen, wie nun auch noch das I-Tüpfelchen den anderen Mann umschmiegte. Ein langer, schwarzer Gehrock, passend zum Rollkragenpullover und Lederhose. Die seiner doch recht ähnlich sah. Alles in allem...passend. Gefährlich gefährlich..., spottete er innerlich und bettete sein Kinn auf die Couchlehne und heftete seinen Blick auf den Deutschen. Vielmehr auf dessen Hose.
 

Es war schon interessant, wie gleich ihr Geschmack in manchen Dingen war. Alleine schon die Naht dieser Hose war seiner überaus ähnlich, soweit er das aus dieser Entfernung erkennen konnte. Was gar nicht so leicht war, schließlich trug er seine Brille nicht umsonst. Kurzsichtigkeit, auch wenn sie nur leicht ausgeprägt war, war manchmal ein wirklicher Fluch. Aya blinzelte. Die waren noch mehr Gemeinsamkeiten...schon alleine diese kleine, verwaschene Stelle am linken Hosenbein.
 

"Ist das MEINE Hose?", fragte er lauernd.
 

Schuldig sah erst Aya an, dann wanderte sein Blick nach unten, fixierte das Leder und zog die Augenbrauen Richtung Haaransatz. "Keine Ahnung, steht dein Name drauf?", fragte er rotzfrech und mit der Dreistigkeit, auch noch ein unschuldiges Gesicht zu ziehen. "Wer´s findet, dem gehört's", zwinkerte er. Die Lederhose saß zwar nicht wie seine eigenen, aber es hatte schon den gewissen Kick, sich unverschämterweise in Ayas Eigentum zu kleiden und diesen damit gehörig zu ärgern...
 

Sich nicht stören lassend in seinem Tun warf er noch einen letzten Blick in den Spiegel, bevor er zum Tisch mit den Waffen ging, den Code flink eingab und die Platte des Tisches geöffnet werden konnte.
 

Er nahm seine Dolche heraus und seine automatische Handfeuerwaffe, verstaute sie in der Halterung unter seinem Gehrock.
 

Ah...so war das also. Sie spielten ,Wie du mir, so ich dir'...nur auf eine sehr spezielle Art und Weise. Als wenn Aya eine andere Wahl gehabt hätte, als die Sachen des Deutschen anzunehmen, nachdem sein Pullover so unschuldig Opfer des Dolches geworden war...

Aber gut. Was Schuldig konnte, konnte er auch. Sein Kinn immer noch störrisch auf der Lehne, funkelte er den anderen Mann scheinbar amüsiert an.

"Du solltest abnehmen...dein Arsch ist zu breit für meine Größe", ließ er klar und deutlich durch des Raum schallen. Runzelte dann aber die Stirn.
 

Schuldig war nicht auf ein Date aus. Die Waffen sprachen da eine andere Sprache. Auf töten. Morden...kämpfen. Ein scharfer Stich von Wut wie auch Eifersucht durchfuhr Aya. Das war auch seine Aufgabe...eine Aufgabe, der er momentan nicht nachgehen...konnte. Er musste zusehen, wie sein Team ohne ihn klar kam, wenn sie heute auf Schwarz treffen würden. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, ließ ihn trotz allem nicht los.
 

"Ich warne dich...wehe, die Hose hat auch nur einen Kratzer...oder Blutflecken", veräußerte er anstelle dessen schließlich. "Oder du lässt etwa die Naht reißen...so eng, wie sie sitzt, sicherlich wahrscheinlich..."
 

Schuldig verschloss seine ,besondere Waffenkammer' und drehte sich lachend um. "Ah...von wegen! Das sind alles nur Muskeln, was sollte ich da schon abnehmen?", fragte er schmunzelnd. "Ich finde, sie sitzt recht gut, anders als meine eigene, aber gut. Und was die Flecken angeht...werde ich mich selbstverständlich bemühen. Wobei ich selbst in weißer Kleidung - wie du weißt, eher selten Probleme mit Flecken habe", grinste er und kam zu Aya.
 

"Muskeln...alles klar", lächelte Aya mit leicht spöttischem Hauch und winkte gönnerhaft ab. Setzte sich schließlich auf und drehte sich Schuldig nun völlig zu, als dieser auf ihn zukam. Bewaffnet und gefährlich. Huh....er hatte Angst.

Ja...die hatte er wirklich. Um sein Team. Um Weiß, die, so vermutete er es bitter, ohne ihn nicht klar kommen, ja gar versagen würden.

"Wie gesagt...nur ein Blutfleck und du wirst es bereuen...", nickte er hoheitsvoll, wurde dann jedoch ernst. "Ebenso, wenn meinem Team etwas geschieht. Aber ich denke, das brauche ich nicht extra zu erwähnen, oder?" Lauernde Gefahr aus undurchsichtigen, violetten Seen. Ernst mit der Warnung, nicht zu spaßen...in keinster Weise.
 

Die Drohung in den Augen deutlich sehend, winkte Schuldig jedoch lediglich ab und griff sich seine Autoschlüssel.

"Berufsrisiko nennt man das!", sagte er gut gelaunt.

"Mach dir keine Sorgen Schatz, bin bald wieder da, musst nicht aufbleiben und auf mich warten", flötete er, jedoch das belustigte Blitzen in den Augen kaum verbergend, als er zur Tür ging.
 

Aya wusste für einen Moment nicht, über was er mehr erzürnt sein sollte. Dass der andere Mann ihn nicht ernst nahm, noch über ihn lachte, oder dass er ihn mit Kosenamen betitelte. Augenblicklich war es das Erste, das ihn die Lippen aufeinander pressen ließ. Natürlich...das passte ja. Er war aus dem Weg geräumt, während Schwarz sich mit seinem Team vergnügen konnte...zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, was wollte Crawford mehr?
 

Er erhob sich ruckartig, steuerte auf das Fenster zu. Dunkle, kochende Lava brodelte wieder gefährlich in ihm hoch. Hass auf Schuldig und dessen Handeln...dessen Freiheit, während er hier gefangensaß.

Seine verbundenen Hände pressten sich auf das Fensterbrett, suchten nach Schmerz, nach Ablenkung, nur um nicht wieder in sinnlosen Verwünschungen zu versinken.

Dennoch...er wusste, dass er diesen Kampf mit großer Wahrscheinlichkeit verlieren würde.
 

Schuldig verdrehte die Augen genervt und zuckte mit den Schultern. Was sollte er sich ständig um die Laune dieses Kerls kümmern?, verwies er sein schlechtes Gewissen auf seinen Platz in den hintersten Reihen, bevor er es nachher sowieso in die Versenkung schicken würde.

Doch wie er so dastand und die Gestalt am Fenster stehen und in die vermeintliche Freiheit starren sah, öffnete er den Mund, schloss ihn jedoch ohne einen Laut hervorgebracht zu haben wieder.

"Soll ich mich jedes Mal wenn ich versuche die Stimmung aufzulockern, gleich eine Entschuldigung dransetzen?", murrte er kindisch vor sich hin.

Unschlüssig stand er da, näherte sich aber dennoch Aya, bis er neben ihm am Fenster stand und hinaus blickte, Aya dabei scheinbar außer Acht lassend.
 

"Was willst du hören?", fragte er ernst, völlig gegensätzlich zu dem Spaßvogel von vorhin. "Dass wir sie verschonen, wenn sie uns in die Quere kommen? Glaubst du, das könnte ich dir versprechen? Dass wir euch bisher aus dem Weg gegangen sind, hatte seinen Grund, aber wenn sie nun hartnäckiger sind und uns stören, dann werden wir nicht tatenlos herumstehen und uns töten lassen. Hättet ihr mein Team verschont, während ich bei dir in dem Keller war? Wohl kaum. Warum erwartest du es dann von mir?" Schuldig sah mit Unverständnis im Blick kurz zu Aya hinüber.
 

Und Ayas ruckte zu Schuldig, fixierte den anderen Mann erbost. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, es wirklich zu versuchen, den Telepathen zu überwältigen und dessen Waffe an sich zu nehmen. Einen Moment sicherlich...doch dann war dieser Plan auch schon Geschichte. Es war die Anstrengung nicht wert...wirklich nicht. Zumal die Aussichten auf Erfolg so dermaßen gering waren, dass es Wahnsinn war, etwas derartiges zu versuchen.
 

"Verschonen...? Wir? Euch? Natürlich...als wenn wir euch jemals überlegen wären, richtig? Das Einzige, was ICH möchte ist, dass ihr euch den Umstand, dass sie ohne mich sind, nicht zu Nütze macht. Denkst du nicht, dass du mir wenigstens DEN Gefallen schuldig bist?"
 

Aya verstummte, verharrte völlig angespannt neben dem Deutschen, starrte diesen weiterhin unverwandt an. "Mir ist es egal, wenn du versuchst, die Stimmung aufzulockern...dafür brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Aber die Tatsache, dass du mich auslachst..." Er presste seine Lippen aufeinander. Kein. Weiteres. Wort. Kein einziges. Er würde nicht noch mehr von der Schwäche preisgeben, die scheinbar in ihm köchelte.
 

Mit einem ironischen Lächeln wandte der Telepath sich einen Moment der Stadtansicht zu, nur um im nächsten Satz wieder die violetten Augen mit seinen grünen zu konfrontieren.

"Was willst du damit sagen? Dass ihr bisher halbherzig gekämpft habt, mit Null - Erfolgschancen uns zu töten? Willst du das damit sagen?" Ärger zog in ihm auf, aber er war eher ungehalten und unverständig diesen Worten von Aya gegenüber. "Das nehme ich dir nicht ab, dass ihr nie geglaubt habt, dass ihr uns erledigen könntet. Dazu wart ihr zu gut, als dass ihr das nur vorgetäuscht hättet. Ich konnte...kann es jetzt in deinen Augen lesen, wie sehr du davon überzeugt warst und noch immer bist, dass du mich töten kannst, sobald du fit bist und deine Waffe in Reichweite ist." Er presste die Kiefer zusammen, besann sich wieder und lockerte die Muskulatur etwas.
 

"Falls du dich nicht erinnerst. Wir haben euch nie angegriffen, das war euer Job. Ihr habt uns bei unserer Arbeit gestört. Solange die drei uns in Ruhe lassen und nicht zu lästig werden - was ich nicht glaube - werden wir sie nicht tangieren. Aber falls sie zu gefährlich werden, sehe ich keinen Grund, warum ich sie schonen sollte. Wenn sie unterbesetzt sind, weil sie zuvor einen Fehler gemacht haben, ist das, dass verschulden ihrer Gruppe."
 

Verächtlich verzog er den Mund leicht. "Du willst es nicht kapieren, was?", sagte er ließ jedoch offen was er damit meinte. "Ich frage mich nur, was für einen Gefallen ich zu erwarten gehabt hätte bei Kritiker...", murmelte er als er sich abwandte, die Augen blanke grüne Seen ohne Blick.
 

"Natürlich haben sie keine Chancen, dich und Schwarz zu töten...bei mir mag das anders sein. ICH kann dich blocken, wie du ja sicherlich weißt..." Ein dünnes Lächeln huschte über Ayas Lippen, doch es war weit davon entfernt, auch nur einen Funken an Freude zu enthalten. "Die Frage ist, wer hier was nicht verstehen will...DIR ist es doch egal, was ich davon halte, wenn ich hier brav...als dein SCHATZ auf dich warten muss, dass du zurückkommst und mir freudestrahlend berichtest, dass mein Team nicht mehr existiert. Sie können euch nicht gefährlich werden...aber ihr könnt sie aus Spaß abschlachten. DAS verstehst du nicht..."
 

...wie sehr ich mich um sie sorge, beendete Aya den Satz in seinen Gedanken, veräußerte jedoch keinen Ton. Seufzte nur erschöpft. Er war schier krank vor Sorge um das Wohlergehen von Weiß. Dass sie ohne ihn nicht zurechtkamen. Alleine der Kleine des gegnerischen Teams konnte sie zerschmettern, wenn er es wollte. Was er nie getan hatte. Nein, da hatte Schuldig recht.
 

"Kritiker...hat dich nicht. Das ist der Unterschied. Sie haben dich nicht." Er schüttelte stumm den Kopf, wandte sich ab, erschöpft bis in die letzte Faser seines Körpers. Er konnte nichts tun...wieso sah er das nicht endlich ein? Wieso versuchte er immer noch zu kämpfen...für all das, was ihm lieb war? Wieso konnte er nicht mitansehen, dass Menschen, die er gern hatte, vielleicht starben? Das musste er doch langsam gewohnt sein.
 

"Mach was du willst...aber wenn sie sterben, kannst du mich gleich hinterherschicken." Ohne den anderen Mann auch nur noch eines Blickes zu würdigen, strebte er auf das Bett zu, ließ sich darauf nieder. Mit dem Rücken zu Schuldig. Starrte auf den Boden. Alleine schon die Vorstellung, dass er nicht dabei sein würde, um seinen Team beizustehen...
 

"Na, da hab ich doch richtig viel Glück gehabt, dass ich jetzt nicht schon aus dem Mund sabbere und mein Hirn Brei ist," ätzte Schuldig und dachte nicht daran, auf die Worte näher einzugehen. Er nahm das tragbare Telefon an sich und nahm es kurzerhand mit sich. Die Tür fiel ins Schloss und der Code verriegelte die Wohnung.
 

Es war kein Dauerzustand, das wusste er auch, aber was sollte er machen? Momentan konnte er Aya nicht frei lassen.
 

o~
 

Wie gerne hätte er Schuldig etwas hinter geworfen, als dieser die Wohnung verlassen hatte. Wie gerne hätte er es gesehen, wenn dieses Etwas auch getroffen hätte. Schuldigs Hirn zu Brei zermanscht hätte. Er wollte seine Hände um den Hals des anderen Mannes legen und zudrücken. Immer wieder. Nur um dessen Bosheit nicht mehr ertragen zu müssen. Anscheinend war der andere Mann der Meinung, dass er sich als Gefangener seiner Situation mehr bewusst sein sollte. Keine Forderungen stellen sollte...weil es ihm nicht zustand.
 

Aya lachte darüber. Gerade eben weil er sich in einer solchen Situation befand, war es sein gutes Recht, etwas zu fordern im Austausch dagegen, dass Schuldig ihn beinahe ins Jenseits geschickt hätte...im Austausch dagegen, dass er gewisser Dinge beraubt hier auf etwas warten musste, von dem er auch nicht genau wusste, was es war. Von dem wahrscheinlich noch nicht einmal Schuldig wusste, worum es sich handelte...
 

Was nicht davon ablenkte, dass er sein Team in großer Gefahr sah und erst wieder zur Ruhe kommen würde, wenn er bei ihnen war und wusste, dass ihnen nichts passiert war. Verflucht war Schuldig! Aya grollte innerlich und kämpfte sich in die Senkrechte hoch, wollte nicht mehr auf dem Bett sitzen. Er fand ja so oder so keinen Schlaf mehr. Da konnte er sich auch genauso gut mit der Wohnung vertraut machen. Noch einmal in aller Ruhe versuchen, die Codes zu knacken.
 

Versuchen, eine Lösung zur Flucht zu finden. Kopfschüttelnd erhob er sich, streckte seine müden, immer noch schmerzenden Glieder vorsichtig durch. Sah sich zum ersten Mal richtig um. Intensiv. So, dass er Informationen aufnehmen und verwerten konnte. Informationen, die ihm nichts nützten. Sowohl Tür als auch Fenster waren verriegelt, ließen sich nicht öffnen...wie sollte es auch anders sein? Aya probierte es, wirklich. Minuten...eine halbe Stunde. Eine Stunde. Nichts. Absolut gar nichts. Selbst Gewalt half nicht weiter. Selbst Wasser nicht! Verfluchte, moderne Technik!
 

Aussichtslos. Da konnte er nichts mit machen. Dann vielleicht anders...mehr aus Neugier, als auch wirklichem Trieb, noch heute Abend fliehen zu können, begann er, die ganze Wohnung zu durchsuchen...angefangen mit der Küche, dem Bad, bis hin ins Wohnzimmer. Oh...er hatte viel zu sehen...wirklich viel. Verspürte nicht die geringste Scham darüber, dass er in den privaten Sachen des Deutschen herumwühlte. Schuldig hatte es so gewollt, als er ihn zu sich geholt hatte.
 

Er begutachtete noch einmal den Messerblock, ein durchaus wichtiges Utensil in seiner Planung. Schuldig hielt ihn in der Tat also für ungefährlich genug, dass er ihm hier Mordwaffen präsentierte. Aya schnaubte. Wenn der andere Mann meinte...
 

Seufzend und zum größten Teil frustriert ließ er sich schließlich auf die Couch sinken, starrte das Bücherregal vor sich mit vernichtendem Blick an. Das Einzige, was er noch nicht durchsucht hatte, war das Monstrum dort. Lauter deutsche Bücher...Aya grauste es. Auch wenn er diese Sprache in Ansätzen beherrschte, so war das doch noch nicht genug, um ein ganzes Buch flüssig lesen zu können. Aber womit sollte er sich sonst die Zeit vertreiben? Außer mit Kochen vielleicht, doch das würde später kommen...
 

Er hasste Schuldig. Das wurde ihm mehr denn je bewusst. Hasste den anderen Mann für dessen Ego, für seine Vorstellungen, für das, was er tat. Fand nichts Gutes an dem Telepathen. Kein Stück. Doch er durfte sich nicht zu sehr darauf versteifen, das wurde Aya mit einem Schlag klar. Denn sonst schwappte eben dieser Hass in ihm über, ließ ihn unbalanciert und fertig zurück. Das würde er nicht zulassen....er würde seine Ruhe behalten. Eisern dafür sorgen, dass niemand Zugang zu seinem Inneren erlangte...dass er selbst mit sich im Einklang war. Und wie konnte er das besser erreichen?
 

Richtig. Wie sehr lachte ihn doch dieses violett eingebundene Buch im Regal an? Lesen lesen lesen. Ruhe. Lesen. In Ruhe lesen.
 

Aya seufzte, erhob sich und schlenderte zum Regal, riss es wütend aus seiner Halterung. "Dann wollen wir mal sehen", sagte er zu sich und schlug den Buchdeckel auf. Wie primitiv...ein Alphabet. Buchstaben...und nur sechsundzwanzig davon. Wie wahrlich primitiv.
 

o~
 

Dunkel lag der Korridor vor ihnen und ihre gelassenen Schritte halten in dem Verbindungsgang wider. Sie hatten noch etwas Zeit und drangen nach und nach in den anderen Komplex ein, der mit einem kleineren Lagergebäude verbunden war.
 

"Schuldig, du und Nagi ihr geht rein", wies Crawford die beiden Schwarz-Agenten an. "Achtet auf die zweite Wache, die euch im Untergeschoss begegnet, er hat eine zusätzliche Waffe, schaltet ihn sofort aus, nachdem ihr in den Raum tretet. Keine Spielchen, Schuldig."
 

Schuldig nickte und sie machten sich auf den Weg.
 

Nagi öffnete die Tür mittels seiner Fähigkeiten, hob sie aus den Angeln und schleuderte sie mit Wucht durch den angrenzenden ersten Raum, erwischte somit gleich eine der Wachen und schaltete ihn aus.
 

Schuldig setzte nach, erledigte die zweite Wache im Kontrollraum des Untergeschosses noch während sie zum Monitor hastete um über die Sprechanlage Hilfe zu holen. Zwei aufeinander folgende Schüsse in den Kopf und das Problem war behoben.

Das Blut verteilte sich mit einer organischen weißen Substanz über die Überwachungsmonitore und der Körper fiel kraftlos auf das Steuerpult.
 

Crawford zog nur die Augenbraue in die Höhe und Schuldig grinste diabolisch, verfolgte den Fluss des Blutes und der weißen Masse über den Monitor. "Los weiter, nächstes Mal etwas sauberer, wenn's geht", murrte Brad eisig.
 


 

Eben dieses Alphabet machte ihm in seiner zusammengewürfelten Form nun doch Probleme. Aya wusste nicht, was er sich da herausgegriffen hatte, doch die Hälfte der Wörter war ihm völlig unbekannt. Völlig. Innerlich wie äußerlich fluchend suchte er nach einem Wörterbuch, war nicht gewillt, diese Herausforderung verstreichen zu lassen.
 

Wie gut, dass er in der hinterletzten Eckes des Regals eins fand. Immer noch in wütender Ruhe platzierte sich Aya schließlich auf die Couch, setzte sich mit unterschlagenen Beinen auf den weichen, bequemen Untergrund. Begann zu lesen...nachzuschlagen...las weiter...schlug wieder nach. Eine zeitaufreibende Tätigkeit, die ihn für eben diese Momente vergessen ließ, dass er das nicht freiwillig tat. Viel lieber kämpfte er sich durch die Seiten, bis hin zu einem, anscheinend achtlos in das Buch geschobene Foto. Schon vergilbt und augenscheinlich schwarzweiß starrten ihn mit einem Male ein Dutzend ernste wie auch fröhliche, aber zum größten Teil doch traurige Kindergesichter an.
 

Aya runzelte die Stirn, nahm das Bild genauer in Betracht, versuchte, das Schild zu lesen. Deutsch. Natürlich...ein Kindergarten in Deutschland? Nein...ein - Aya musste das Wort nachschlagen - Waisenhaus. Eine Einrichtung für elternlose Kinder. Sowas. War das aus Schuldigs Kindheit? War das eine Erinnerung an Schuldig selbst?
 

Auch wenn er sich dessen nicht aktiv bewusst war, machte das Aya doch neugierig und er besah sich die Kindergesichter ein wenig genauer. Vielleicht fand er ja auch den Telepathen unter ihnen.

Und anscheinend hatte er auch Glück. Ein Junge in der Mitte...größer als die anderen, mit überheblichem Grinsen im Gesicht. Die Arme verschränkt. Die Gesichtszüge denen des heutigen Telepathen durchaus ähnlich.
 

Aya taten die anderen Kinder leid. Besonders der Kleinste in der Gruppe...ein schmächtiger, beinahe schon dürrer Junge mit einem Teddybären in seinem Arm. Den Blick so hilflos und ängstlich. Und wie Aya sich vorstellen konnte, was Schuldig diesem armen Jungen angetan hatte...wie er seine Position als Stärkster in der Gruppe ausgenutzt hatte.
 

Er schnaubte abfällig. "Immer schon der Schwarz gewesen", teilte er dem arrogant lächelndem Waisenkind mit und schob das Foto zurück, klappte das Buch zu, plötzlich keine Lust mehr verspürend, sich dadurch zu quälen. An diesem neuerlichen Beweis von Schuldigs Grausamkeit. Nachlässig warf er es zum anderen Ende des Sofas und verschränkte die Arme. Und nun?
 


 

Die Aufzugtüren öffneten sich mit einem leisen Geräusch und Schuldig trat heraus, ging gelassenen, ruhigen Schrittes durch die Korridore, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, hatte er das gesamte Stockwerk unter seiner mentalen Kontrolle. Crawford koordinierte den Einsatz, Nagi kümmerte sich um das grobe Beiwerk und Farfarello...nun Schuldig vermutete, der Ire machte es wie Schuldig: Zog den größtmöglichsten Unterhaltungswert aus der Sache.
 

Schuldig schlenderte an den Büros vorbei, die im Dunkeln lagen um sich umzusehen, als er eine Berührung von außen an seinem Kontrollfeld spürte. Scheinbar bekamen sie Besuch.

Er durchquerte etwas zügiger die Etage, bis er zu einem Aktenschrank kam, den Brad ihm beschrieben hatte. Schnell zog er aus seiner Tasche eine dünne Akte um sie mit einer anderen auszutauschen.

`Nagi, bist du soweit?`, fragte er den Jungen.

`Ja, der Virus breitet sich bereits aus, die Daten dürften verloren sein. Hast du die Sicherungskopien?`

`Noch nicht, aber hoffentlich gleich. Pass auf Kleiner, wir kriegen Besuch.`

`Crawford sagte es schon.`

`Na klar, was auch sonst`, grinste Schuldig und schloss den Aktenschrank.
 

Es dauerte noch etwas, bis er die Sicherungskopien in seinen Fingern hielt. Selbstverständlich nicht ohne die Safenummer einzugeben, die er zuvor einem Angestellten buchstäblich aus seinem Verstand gestohlen hatte.

`Hab die Kopien und die neuen Daten sind ebenfalls platziert`, gab er Brad zu verstehen.

`Komm runter, wir haben Gäste`, antwortete dieser kurz angebunden.
 

Schuldig tastete kurz ihre Gäste ab während er über den Expressaufzug seinen Weg nach unten antrat.
 


 

Das Beste war, er würde sich einfach schlafen legen. Ruhen. Wie es sein Körper verlangte. Aya seufzte. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis er zu seinen alten Kraftreserven zurückgefunden hatte? Er mochte es sich nicht ausdenken. Ebensowenig wie er sich ausmachen wollte, wann Schuldig sich dazu herabließ, ihn freizulassen, sollte es ihm nicht gelingen zu fliehen.
 

Worauf die Chancen verschwinden gering waren, hatte er doch gerade gesehen, wie gut hier alles abgesichert war. Zahlencodes...wäre er Omi, wüsste er, welchen Bestandteil dieser Technik er außer Kraft setzen müsste, damit er den Mechanismus störte. Doch über diese Kenntnisse verfügte er leider nicht. So musste er sich darauf verlassen, dass Schuldig irgendwann einmal einen Fehler beging, den er ausnutzen konnte.
 

Aya stemmte sich seufzend hoch. Natürlich. Als wenn das geschehen würde.
 

Er schlenderte zum Schlafbereich herüber, hatte plötzlich eine andere Idee. Ein anderes Thema, das seine Neugier erregte. Die Reizwäsche. So sehr er sie auch verabscheute, so neugierig war er auch darauf, sie zu sehen. Zu sehen, was ihm angedacht worden war.

So begann er nun eine Schublade nach der anderen zu durchsuchen, trotz allem auf der Suche nach nichts Bestimmten. Bis er sie schließlich fand.
 

Aya rollte mit den Augen. Rote Spitze. Sündhaft. Entblößend. Ein Graus. Nacheinander zog er die guten Stücke aus der Schublade, betrachtete sie mit zusammengepressten Zähnen. Vielleicht hätte er sie sogar als hübsch bezeichnet...wäre sie nicht für ihn gewesen. Und die Strapse...das Hochzeitsband...nein. Er stopfte den Gegenstand seines Unmutes zurück in die Schublade, blieb dabei an etwas hängen. Anscheinend etwas flauschiges...Unterwäsche war es jedenfalls nicht.
 

Aya kräuselte die Stirn, zog und zupfte an dem Gegenstand, bis er ihn vor sich hatte, gebettet auf der leidenschaftlich roten Reizwäsche. Ein Teddy. Wie niedlich. Schuldig hatte einen Teddy bei sich. Ein zerfleddertes, altes, schmutziges Ding...anscheinend ein Überbleibsel aus Kindheitstagen. Ayas Augen weiteten sich ungläubig. Dieses kleine, zerzauste Ding kam ihm bekannt vor...und er wusste auch genau woher. Brauchte noch nicht einmal nachzuschauen.
 

Dennoch ging er nun zur Couch zurück und öffnete ein weiteres Mal das Buch. Besah sich das Foto noch einmal. Intensiver dieses Mal. Der Teddy...der Junge, der ihn trug. Das war nicht Schuldig, oder? Dieser kleine, schmächtige Junge war NICHT Schuldig. Er schüttelte verneinend den Kopf, auch wenn er bereits zweifelte. Nein nein...dieser große Junge war der Telepath. Hatte dem Kleinen wahrscheinlich sogar den Teddy geklaut.
 

Allem zum Trotz nahm er nun jedoch den Bären mit zum Bett, platzierte ihn neben sich auf die Matratze und ging ins Bad, streifte sich dort den Schlafkimono über. Legte die warmen, sicheren Sachen ab. Machte sich soweit bettfertig, dass er schließlich unter die warme Decke schlüpfen und das Licht bis hin zur Dunkelheit dämmen konnte. Ja...er war müde.
 

Vorwurfsvoll starrte er den zerzausten, sitzenden Bären vor sich an. "Na...hat er dich einfach gestohlen? Deinem Besitzer?", lächelte er kopfschüttelnd. "Was für ein gemeiner Kerl." Sein Daumen und Zeigefinger legten sich um eine der breiten Tatzen und drückten spielerisch zu...beinahe schon tröstend. Als wenn der arme, alte Bär wirklich des Trosts bedurfte...aber wer wusste das schon?
 

Aya seufzte leise. Hatte er erst noch geplant, den Bären wieder zurückzusetzen, behielt er nun aber seine Finger auf der Tatze. Machte es sich gemütlich und schloss die Augen. Schlafen...ja. Das wollte er. Brauchte er. Um stark zu werden...genau. Wie der kleine Junge auf dem Bild. Der NICHT Schuldig war! Mit diesem Gedanken driftete Aya langsam in die sanfte Schwärze hinab, die ihm Ruhe versprach. Ihn ruhig und ebenmäßig atmen ließ.
 

o~
 

Es war wie eine Droge, ein Stoff den er brauchte, der ihm Kraft gab und er saugte ihn in sich auf. Das hysterische Kreischen war wundervoll in seinen Ohren, als er den Mann telepathisch anwies, die Waffe zu senken und sich ins rechte Bein zu schießen.

Der Mann zitterte, doch er hatte den Befehl bekommen stehen zu bleiben und auch wenn die Schmerzen größer werden würden, er würde stehen bleiben. "Nana, auf einem Bein kann man nicht stehen, heißt es nicht so?", witzelte Schuldig mit einem grausamen Lächeln und der Mann schoss sich ins andere Bein.

"Ahh, wir zwei verstehen uns," lächelte er und ließ den Mann die Waffe an die Schläfe halten. Er umrundete den panischen, winselnden Mann und trat ihn in die Kniekehlen sodass er auf seine Knie krachte. Und selbst da hielt er die Waffe noch ohne zu zögern. Was mentale Kontrolle doch alles bewirken konnte.

Gierig blickte Schuldig den knieenden Mann vor sich an, der ihm ausgeliefert war, ohne Rettung.
 

"Schuldig, die Katzenkinder rücken an", versuchte Brad zu dem Mann durchzudringen, doch der irre Ausdruck auf dem Gesicht sprach Bände.

Und tatsächlich, Schuldig schien gehört zu haben, mit einem schleifenden Geräusch zog er seine Waffe aus dem Holster, richtete sie auf den Hinterkopf des Knienden und drückte kalt und mit einem genießenden Blick ab.
 

Er blickte auf und gab dem Körper einen Schubser, als er daran vorbeiging.

"Was stehst du dann noch hier herum, Crawford?", grinste Schuldig, die irrlichternden grünen Iriden in die braunen bohrend.
 

"Hast du die Sicherungskopien?" fragte Brad überflüssigerweise und Schuldig drückte sie ihm in die Hand.

Gut, den Rest konnten sie erledigen, wenn sie draußen angekommen waren. Sie konnten Weiß locker umgehen, mussten nicht zwangsläufig gegen sie antreten.

Sie hatten, was sie wollten und die lästigen Weiß Killer waren nicht gerade, was er einem Schuldig, der auch ohne Drogen manchmal wirkte, als wäre er auf einem Trip, zumuten würde. Die würden Schuldig nur noch mehr aufheizen, lächelte Crawford wölfisch und war schon auf den ,Neuen' von Weiß gespannt, den Kritiker als Vertretung für Fujimiya eingesetzt hatten.
 

Sie stießen die Tür auf und Farfarello und Nagi waren schon dabei sich Respekt unter den vier Weißkillern zu verschaffen. Als sie auftauchten, zogen sich die beiden wieder etwas zurück, gestalteten den Radius auf dem Tiefgaragenplatz etwas größer.

Der Geruch von Autoabgasen lag in der kühlen Luft.

"Jetzt sieh dir einer diese treulosen Tomaten an", wisperte Schuldig auf Deutsch, den Blick auf den neuen Mann im Bund der vier Weiß-Killer richtend.

Eiskalte Wut peitschte durch seinen Körper und explodierte in seinem Kopf, als er unbeherrscht auf diesen Killer zu lief, seine Dolche zückte.
 

o~
 

Youji hasste. Ganz einfach. Er war wütend, frustriert und gereizt. Seit fünf Tagen war Aya verschwunden! Seit zwei Tagen hatten sie Ersatz für den Rotschopf bekommen...was ihm überhaupt nicht schmeckte. Aya war noch am Leben, dessen war er sich sicher gewesen, schon als er den zerfetzten Pullover des jüngeren Mannes in seinen Händen gehalten hatte. Schwarz hatte Aya. Und taten ihm weiß Gott was an.
 

Und dennoch konnten sie ihn nicht finden, suchten wieder und wieder nach neuen Ansätzen, fanden keine. Vergeblich...Schwarz hatten sich zu gut abgesichert und waren nun hier. Hier...damit er sie richten konnte...auch wenn ihm das nicht Aya zurückbrachte. Er musste wissen, was passiert war! Dass Aya noch lebte!
 

"Schwarz." Das Zischen einer Schlange, begleitet vom Surren seines Drahtes, den er nun zog. Zeit zu kämpfen...zu morden. Mit einem Wutschrei stürmte er auf den Telepathen los, kümmerte sich nicht um ihren Neuling. Er würde schon alleine fertig werden...war er doch so gut ausgebildet!
 

"Hoppla!" Mit diesem Wort wich Schuldig gerade mal knapp dem Draht aus, rollte rückwärts, von seinem eigentlichen Ziel - dem neuen Mitglied weg. "Heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, Balinese?" säuselte Schuldig und versuchte sich einen telepathischen Zugang zu dem Neuen zu verschaffen. Doch Balinese wollte ihn nicht in Ruhe lassen. "Nicht so hastig, Blondschopf", wich er erneut einem Angriff aus.
 

Youji lachte teuflisch. "Angst, Schwarz?", zischte er und ließ den Draht ein weiteres Mal zuschnappen...in Richtung des Monsters fliegen. Keine Frage...er war auf Blut aus und das würde er auch bekommen. Von Schuldig...der...

Youjis Augen verengten sich gefährlich. Die Hose kannte er. Er kannte sie wirklich. Das war....
 

"Was hast du mit Aya gemacht?", schrie er völlig außer sich, blendete nun alles aus. Verfiel dem Wunsch nach Schlachtung. Nach Blut. Nach Tod.
 

Der Draht schnitt sich durch den Zug schmerzhaft in sein Fleisch, doch im Augenblick viel mehr immer noch auf sein Ziel aus, vergaß er sogar diesen Umstand, verpasste lediglich allen Umstehenden in einer großflächig angelegten Attacke Kopfschmerzen. Da er sich nicht konzentrieren konnte, mussten eben alle dran glauben, damit Yohji den Draht lockerer ließ. Wie auf Speed wandte sich Schuldig aus dem Draht, griff mit seinen Handschuhen um das Metall und zog daran, intensivierte die Kopfschmerzen für einen Augenblick, bis er sicher war, dass Yohji nicht mehr anziehen würde und ihm dabei dummerweise noch wirklich ankratzte.

Seine Waffe zog er noch während er aufstand und sich des Drahtes entledigte, bevor er die Attacke beendete, den Ersatz für Aya ohne mit der Wimper zu zucken erschoss.
 


 

Youji krümmte sich für einen Moment schmerzerfüllt zusammen, nur um im nächsten gewahr zu werden, dass Schuldig den...nein...er. Ayas Ersatz lag mit einer kleinen Einschusswunde am Kopf neben ihm, hatte noch nicht einmal die Chance gehabt, sich zu verteidigen...oder anzugreifen, bevor Schuldig ihn erwischt hatte. Der Telepath hatte ihn EINFACH so niedergeschossen!
 

Der blonde Weiß keuchte. Ohne Frage auch Einwirkung des Deutschen. Der Kopfschmerz ging einfach nicht weg...es ging einfach nicht...und dennoch griff er nun an. Kämpfte sich in die Höhe. Ließ seinen Draht ein weiteres Mal fliegen, erwischte Schuldig am Hosenbein. Ayas Hose...wo war ihr Anführer...was hatten sie mit ihm gemacht?
 

"Ich werde dich umbringen, du Schwein!", schrie er, taumelte Schritt um Schritt auf Schuldig zu, zog die Schlinge zu.
 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Bis zum nächsten Teil.
 

Coco & Gadreel

Miez, Miez

~ Miez, Miez ~
 


 

Schuldig lachte leise, seine Augen funkelten belustigt über die Mordlust des Anderen, über die verzweifelte Wut in den grünen Augen seines Gegenübers, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Gekonnt überbrückte er den Abstand zwischen ihnen, warf sich auf Yohji und pinnte den Mann unter sich fest, ein diabolisches Lächeln präsentierend. "Hör mal zu ‚Weiß'", zischte er das letzte Wort unheilvoll. "Niemand ersetzt Aya so schnell, was würde der Rotschopf nur dazu sagen, wenn er das wüsste, hmmm?", fragte er spöttisch lächelnd.
 

Youji gebärdete sich wie wild, bäumte sich unter dem anderen Mann auf. „Sagt mir WER? Was hast du mit Aya gemacht? Was hast du ihm angetan?“, zischte er hasserfüllt, ohne jegliche Angst in seinem Blick. Alles, was ihm wichtig war, war, dass Aya noch lebte. Dass er nicht von Schwarz…

Erst jetzt sickerten die Worte des anderen Mannes richtig durch seine wild laufenden Gedanken. Ersetzen? Was Aya dazu sagen würde? Was sollte das?
 

Ein vielsagendes Grinsen begleitete Schuldigs abrupten Rückzug und er entfernte sich einige Schritte.

‚Können wir Crawford?’

‚Wir haben nur auf dich gewartet. Du hast unnötige Zeit verschwendet, Schuldig, das zieh ich dir von deinem Sold ab‘, las er in Brads Gedanken und verzog nur das Gesicht zu einer Grimasse. Geld war ihm momentan sowas von unwichtig. Viel lohnenswerter war das Gesicht des Weiß gewesen.

Sie verschwanden, gesichert durch die schmerzhaften Nachwirkungen von Schuldigs Attacke.

‚Wer konnte denn schon ahnen, dass die einen ‚Neuen’ haben... den musste ich doch gleich einmal einweihen.‘

‚Außerdem stell ich dir die Kopfschmerzen ebenfalls in Rechnung.‘

Schuldig hob die Augenbraue, während sie durch die Nacht liefen, um zu ihrem Wagen zu gelangen. Brad schien bereits die Kasse zu machen.
 

o~
 

Schuldig stieg aus dem Wagen und ging einige Schritte zu seinem eigenen hinüber. Sie hatten einen kleinen Zwischenstopp auf dem einsamen Parkplatz eingelegt, wo Schuldig seinen Sportwagen abgestellt hatte. Der schwarze Gehrock wischte über die blutende Wunde des sauberen Schnittes an seinem Oberschenkel.

"Ruf mich an, falls es was Neues gibt. Du weißt ja, auf welches Konto, abzüglich des Schmerzensgeldes natürlich", grinste er immer noch zu aufgeputscht, um die Schmerzen wirklich zu registrieren.

"Schuldig, versorg dein Bein, wenn du zuhause bist und...", wollte Brad Schuldig daran erinnern, dass dieser einen Gast hatte, bereits wieder in die Befürchtung fallend, dass er Aya vergessen hatte.
 

"Keinen Stress, den kleinen Kratzer von der Mieze krieg ich schon verarztet und wenn nicht, hab ich ja eine zuhause, die mir meine Wunden lecken kann", grinste er dreckig und schwang sich in seinen Wagen, um gleich danach abzurauschen.
 

Er fuhr mit lauter Musik und dementsprechendem Fahrstil nach Hause, den Fuß wie ein Irrer auf dem Gas, bis er seinen Wagen in die Tiefgarage eingeparkt hatte und nach oben fuhr.

Auf dem Weg zur Wohnung zog er seine Waffe aus dem Holster, öffnete nachlässig die Tür, ließ sie wieder ins Schloss fallen und ging bereits dazu über, sie in Sicherheitsverwahrung zu geben. Seine Schritte automatisch zum Schlafbereich richtend, stockte er für einen Moment.

Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Gier danach, Schmerzenschreie zu hören, die Lust darauf, die Angst in den Augen eines Anderen zu sehen, seine Gedanken voller Panik, voller Todesangst durch ihn strömen zu lassen.
 

Der Gedanke der Macht, die er über Andere ausüben konnte überrollte ihn und das Leder der behandschuhten Rechten, mit der er die Waffe hielt, knirschte in der Stille des Raumes, als er die Waffe fester umfasste.
 

Bilder zuckten in seinem Kopf vorbei, spiegelten ihm die Realität wieder, vermischt mit dem was in ihm lauerte, was er befriedigen wollte. Wie klebriger Sirup setzte es sich in seinem Geist fest, diese Gier, die sich nicht einfach abschütteln ließ...

Die klare Nacht und ihre Himmelskörper reichten ihm, um der Gestalt auf dem Bett Form zu geben, reichten ihm um die andere Seite des Bettes anzustreben, lauernd, wie ein Jäger, der seine Beute gesichtet hatte.

Wieder zuckten nur Teile des Gesamtwerks durch seine Gehirnzellen. Das zerzauste Haar, die geschlossenen Augen, die Blässe der Haut im Schein des Mondes, der klaren und kalten Nacht, der ausgestreckte Arm, die Finger, die etwas umfassten... .

Sein Augenmerk galt wieder dem Gesicht, der schmalen Figur des Mannes.

Die Hand mit der Waffe streckte sich. Das Metall strich behutsam über den Kopf des Schlafenden, bis hinunter in den Nacken, weiter die Länge der Haare nach, über die Flanke, bis Schuldig sie wieder zurückzog. Wie hypnotisiert starrte er auf die Waffe, während sie sich über den Mann bewegte. Völlige Stille hatte sich in ihm ausgebreitet. Ruhe. Klebrige, zähe Stille.
 

o~
 

Gerade noch in tiefem, ihm endlich Erholung schenkenden Schlaf entzog sich Aya leise murrend dem kitzelnden Gefühl, das nun seine Sinne störte. Den ruhigen, schwarzfließenden Strängen, die seinen Schlaf darstellten. Etwas störte ihn, machte ihn unruhig, ließ ihn sich schließlich auf die andere Seite drehen. Unwissentlich weg von Schuldig. Weg von der Gefahr, die immer noch wie feiner Nebel über ihm waberte. Die seine Instinkte beeinflusste.
 

Genau die Instinkte, die er zum Überleben brauchte. Ein wissender Teil in ihm selbst zerrte ihn erbost aus seinem Schlaf, ließ ihn abrupt die Augen öffnen. Es war dunkel…Nacht noch. Sein Herz klopfte schmerzhaft schnell, wie nach einem langen Alptraum, an den er sich jedoch nicht einmal in Bruchstücken erinnerte. Aya seufzte leise. Nichts passiert…es war alles in Ordnung. Bis auf ein minimales Gefühl der Beunruhigung, das ihm etwas zuflüsterte.
 

Du bist nicht allein hier, wisperte es.

Hauchte in seinen ohnehin schon schnellen, fliegenden Herzschlag…Nein, da konnte nichts sein…da war nichts. Er vertat sich…doch was, wenn es wirklich so war? Wenn - wie in Kindertagen – ein Monster hinter seinem Rücken lauerte…bereit, seine Klauen nach ihm auszustrecken?
 

Aya war hellwach. Atmete flach. Was, wenn DOCH? Nein…das war kindisch, das war….
 

Jeglicher Gedanke brach abrupt ab, als er sich ruckartig herumwarf, im gleichen Moment brachial zurückschreckte. Zusammenfuhr. Schwarz…ein Schatten…ein großer, bedrohlicher Schatten mit…GOTT…die Umrisse eines Mannes…einer Waffe…Gefahr!

Gefahr für ihn, eine Bedrohung! Keuchend griff er in die weichen Laken, zog sich mit Gewalt nach hinten. Weg von diesem Mann!
 

Die Waffe nun ruhig in seiner Hand haltend, blickte er auf Aya hinab, die weit aufgerissenen Augen, das Weiß der Bindehaut merkwürdig hell in der trügerischen Dunkelheit des Zimmers.

Er beobachtete nur, ließ seinen Gedanken keinen Raum für Spekulationen oder gar die Möglichkeit, Befehle zu geben. Schuldig hatte den Kopf im wahrsten Sinne zu voll um nun vernünftig zu reagieren. Er wollte nicht denken, also handelte er...
 

Aya war wie gelähmt vor momentaner Angst, die jeglichen Gedanken an Flucht unterband. Blut…Blut und Blei lagen in der Luft. Männlicher Schweißgeruch. Ummantelte ihn, ließ einen Einblick auf die vor ihm stehende Bedrohung zu, die er mit Mühe als den deutschen Telepathen erkannte. Lange, strähnig abstehende Haare, die Gestalt, die Größe….das Gesicht, das er nur mäßig sah.

Mäßig…gar nicht, stand der andere Mann doch so, dass er von schwachen, hereinfallenden Licht verschont wurde.

Seine immer noch erschrockenen Augen starrten den Schwarz stumm an. Beinahe schon anklagend. Ganz sicher noch ängstlich. Wieso…in welcher Absicht…?
 

Dumpf fiel die Waffe auf das Bett, blieb achtlos liegen, ebenso achtlos, wie Schuldig nun sich seines teuren Gehrockes entledigte, ihn auf den Boden gleiten ließ. Der dünne Rollkragenpullover gesellte sich zu dem vorangegangen Kleidungsstück und er ließ die Hände wieder sinken. Wie jemand, der im Schockzustand war, wirkten seine eigenen Handlungen auf ihn selbst hölzern.

Den Blick noch immer auf den im Bett sitzenden Mann gerichtet, hob er schleppend seine rechte Hand, öffnete mit bedächtigen Bewegungen die obersten Knöpfe der Lederhose.
 

Aya überlegte für einen Moment, ob er sich nicht auf die Waffe stürzen sollte. Doch das verwarf er. Er war zu weit weg…bis er dort war, hatte Schuldig sie schon längst aufgehoben…

Er musste sich ihren Abstand zunutze machen, ihn vergrößern, sich bereit machen nach hinten auszubrechen und zu fliehen. Weg von Schuldig…von dessen Absichten.
 

Sein Herz schlug bis in seinen Hals, weit darüber hinaus, während er noch mehr zurückstreckte. Seinen Körper anspannte. Schuldig nie…niemals aus den Augen ließ. Völlig entsetzt zusah, wie dieser seine Kleidungsstücke löste, die Hose aufknöpfte…SEINE Hose…nur um ihn…?
 

Wer ist das?, drang die Frage zu ihm durch und sofort weiteten sich Schuldigs Augen. Stopp.

Er festigte den Blick auf die angespannte Gestalt, deren Augen ihn angstvoll anblickten; durch die Lichtverhältnisse verstärkte sich der Eindruck, doch Schuldig wies die Frage in seinem Kopf brüsk zurück.

Ich weiß wer das ist!, antwortete er kalt und beherrscht, ließ von seiner Tätigkeit ab und drehte sich abrupt um, setzte sich auf das Bett neben die Waffe, die nun links neben ihm lag. Sowieso nutzlos, da mit leerem Magazin.

Für einen Augenblick saß er nur da, verengte die Augen, runzelte die Stirn, wusste, dass er langsamer reagierte, dass er vielleicht aber auch reflexartiger reagieren könnte. Insgeheim darauf hoffend, dass Aya nichts tat, was seine Schutzmechanismen auf den Plan rief. Erst einmal musste er alles was den Einsatz betraf verarbeiten, sich zurückziehen.
 

Doch Aya dachte nicht daran, den anderen Mann anzugreifen. Er wusste nicht, was er daraus machen sollte…wie sich der andere Mann nun neben ihm auf die Matratze fallen ließ. Ihm seinen Rücken zudrehte. Ihn nicht mehr beachtete. Es ließ Aya ruckartig das Bett verlassen, zurückstolpern. Beinahe die Stufen hinabstürzen. Abstand gewinnen. Notwendigen Abstand. Sicheren Abstand. Was war in den Deutschen gefahren? Was dachte er sich?
 

Aya atmete zitternd ein, verspürte erst jetzt den Schock, der sich wie Gift in seinen Venen ausbreitete. Er stand ein paar Meter entfernt von dem Schwarz, der immer noch nichts sagte. Ihn scheinbar ignorierte.
 

Er wollte Licht! Nicht im Dunkeln bleiben…nicht nach dem Schreck der letzten Minuten, nach der immer noch anhaltenden Anspannung und Ungewissheit, was Schuldig nun letztendlich tun würde. Leise ging er zur Couch, nahm sich dort die Fernbedienung und tauchte den Raum mit vibrierenden, unsicheren Fingern in gedämpftes Licht. Besser als gar nichts…auch wenn er sich nun zur Küchenzeile begab. Sich in der Nähe des Messerblocks aufhielt. Sich langsam wieder beruhigte, den Blick jedoch immer noch nicht von Schuldig nahm.
 

Mit bedächtigen Bewegungen öffnete Schuldig die schweren Stiefel, schlüpfte aus ihnen heraus, ließ das Schuhwerk stehen, zog die Socken aus. Danach erhob er sich hölzern, bewegte sich Richtung Badezimmer, nebenbei bemerkend, dass Aya nicht mehr in der Nähe war.

Die Badezimmertür hinter sich schließend, holte er in exakten Bewegungen den Verbandskoffer, zog die Lederhose vorsichtig aus und legte einen wasserdichten Verband an. Der saubere Schnitt, der durch die Lederhose gegangen war, wurde von ihm mit kleinen, sterilen Klebestreifen versorgt.

Er stellte das Wasser in der Dusche an, dimmte das Licht und stellte sich unter den warmen, tröstenden Wasserstrahl.

Wie schon viele Male zuvor begann er, die Bilder und Eindrücke, vor allem aber die Gedanken der letzten Nacht zu verarbeiten, sie soweit zu verbannen, dass sie nicht mehr wiederkommen konnten.

Und dabei hatte er gelernt, dass es sinnvoll war auch einmal etwas zu vergessen, doch nicht alles. Nicht alles durfte vergessen werden...

Nach einiger Zeit sank er auf den Boden der Dusche, die Augen halbgeschlossen, den Blick nach innen gerichtet.
 

Aya ertrug die Tatenlosigkeit in dem Moment nicht mehr, in dem Schuldig im Bad verschwand und ihm so signalisierte, dass er außer Gefahr war…vorerst. Der andere Mann duschte, lange…sehr lange, vielleicht vierzig Minuten, vielleicht auch eine Stunde, bevor Aya begann, mit mühsam vorgehaltener Ruhe Kaffee aufzusetzen. Irgendetwas zu tun, das ihn davon ablenkte, so aufgeweckt zu werden. Eine große, starke Kanne Kaffee. Um ruhiger zu werden…gelassener. Auch wenn er sich nie weit von seinen neu erwählten Begleitern entfernte.
 

Nur um ganz sicher zu sein, war er sich doch nicht vollkommen sicher, was nun geschah. Auf welche Ideen der Schwarz nun noch kam. Vielleicht war es auch einfach nur diese…andere Seite an ihm gewesen. Die verrückte, gefährliche Seite. Die nun verschwunden war?
 

o~
 

Die Haare hingen ihm nass und schwer vor dem Gesicht als er blinzelnd die Augen öffnete, nun sicher, dass er die Gedanken, der Hassenden, die Gedanken der Manipulierten und die Gedanken der Sterbenden aus seinem Gedächtnis verbannt hatte, sie so geformt hatte, dass sie nicht mehr diese rohe, reine Kraft hatten ihn zu vereinnahmen, ihn zu bezwingen. Sie waren da und doch wieder nicht. Wie ein Hintergrundgeräusch, wie Straßenlärm den man nach einiger Zeit nicht mehr bewusst wahrnahm.
 

Er streckte sich und wurde sich seines verspannten Rückens gewahr. Die Haltung auf dem harten Boden war nicht gerade förderlich um sich zu entspannen. Sich darauf konzentrierend, dass er sich sicher erhob, begann er damit sich zu waschen.
 


 

Kaffee, Milch und Zucker. Für Aya eine gern gesehene Kombination. Schwarz konnte er ihn nicht trinken, keinen einzigen Schluck hinunterwürgen. Kein Wunder also, dass er sich auf die zeitaufreibende Suche begab, schließlich alles zusammen und immer noch nicht gegessen hatte. Doch das machte ihm nichts aus. Er hatte einfach keinen Hunger…nicht mehr, seitdem sein Magen derart abrupt erfahren hatte, dass man auch ohne Nahrung überleben konnte…zu welchem Preis. Das war egal.

Er nahm sich eine Tasse aus dem Schrank, füllte sie mit starkem, schwarzem Tod.
 

Fertig und seine Haare kurz abtrocknend, mit einer alten Jeans und einem ebenso alten Shirt bekleidet ging Schuldig mit nassen Haaren in die Küche als Aya sich gerade eine Tasse Kaffee einschenkte.

Er sagte nichts, setzte sich auf einen der Barhocker und sah Aya dabei zu. Was sollte er sagen?

Dass er sich wie ein Junkie auf Droge gefühlt hatte, als er von dem Auftrag zurück gekommen war? Und eine Droge war es...die Droge nach der unerfüllten Gier nach mehr und mehr Macht.

Sein Gesicht verbarg nicht die Müdigkeit, die ungeschminkte und offene Wahrheit über sein ursprüngliches Wesen. Ohne es zu wissen, wirkte er im Moment sehr jung, wie er dort saß, die Beine vom Stuhl hängen lassend, den Blick seitlich abgewandt, den Kopf leicht zur Seite gelegt und das Kinn auf die Rechte gestützt.
 

Instinkte hatten Aya fast erschlagen mit ihrer Wucht, als er sich der Gegenwart des nun geduschten und nicht mehr nach Blut riechendem Mann ausgesetzt sah. Hörte, wie dieser sich hinter ihm niederließ. Alarmbereitschaft ließ ihn sich umdrehen.

Ein weiteres Mal zusammenfahren. Das war nicht der Schuldig vom Bett. Nein. Dieser war viel, viel harmloser, wie er da saß. Beinahe schon ZU harmlos.
 

Den Blick immer noch fest auf seine Helferlein gerichtet, nahm er sich die Tasse und setzte sich Schuldig gegenüber. Eine Mutprobe. Er war nicht ängstlich. Er klammerte sich innerlich an die feste Überzeugung, dass es nicht die dunkle Seite des Deutschen war, die er vor sich hatte. Nein…das war der Mann, der genauso hilflos war, wie er selbst es manchmal sein konnte. Er wollte Antworten auf seine Fragen. Antworten, ob Schuldig Weiß begegnet war. Ob sie überlebt hatten.
 

Die Kaffeetasse erhoben, den Blick fest auf die zusammengesunkene, anscheinend um Jahre jüngere Gestalt gerichtet, starrte er diesen durchdringend an. Trank noch nicht. Starrte nur. Antworten. Er wartete auf Antworten.
 

Obwohl die Blickrichtung eine andere war, wurde er sich der penetranten Aufmerksamkeit bewusst und seine Augen wanderten zu Ayas. Die ihn schier durchbohren wollten.

Lag etwas Bestimmtes an? Hatte er etwas ...nun ja.... sollte er sich an etwas Bestimmtes erinnern?, grübelte er nach und seine Augen wanderten wieder zu dem Bonsai, den er zuvor schon bewundert hatte. Nun ja, eher eines gelangweilten Blickes gewürdigt, würde es eher treffen.

Aber das Starren nervte schon gehörig.
 

Allen Zweifeln zum Trotz vokalisierte Aya sich nicht, sondern behielt es bei seinem Blick. Forderte das, was Schuldig ihm bis jetzt noch verweigerte. Er würde den anderen Mann schon dazu bekommen, mit ihm zu reden. Ganz sicher. Und wenn er ihn zermürben musste.

Langsam kippte er die Tasse gen Lippen, schlürfte in der bisher vollkommenen Stille der Wohnung durchdringend laut seinen ersten Schluck Kaffee.
 

Schluckte.
 

Kam es nur ihm so vor, oder war es wirklich so laut, als würde es noch dutzendfach nachhallen? Als würde es donnern? Bildete er sich das nur ein? Nein.
 

Ausdruckslos starrte Schuldig momentan die Tasse an. Dann Ayas Augen. Dann wieder die Tasse.

Okaaaay, zog er in Gedanken das Wort etwas länger und wandte seinen gelangweilten Blick vollständig Aya zu. Verzog die Lippen zu einem leicht kindlichen Schmollen, als hätte er die Pokerrunde verloren.

"Wa-as? Willst du mir damit etwas sagen? Oder gibt es etwas was du wissen möchtest?", fragte er möglichst bissig, konnte jedoch die belustigte Note darin nicht verhehlen.
 

Was für ein Unterschied zu dem Mann, der sich gerade noch so bereitwillig vor ihm ausgezogen hatte. Was für ein großer Unterschied, der ihn jedoch nicht im Geringsten aus seiner Ruhe brachte. Schuldig wusste ganz genau, was er wollte.

Ohne einen Ton zu sagen, kippte Aya die Tasse ein weiteres Mal. Schlürfte beinahe unanständig laut. Schluckte noch lauter. Ließ den feuchtkehligen Laut in der auf die Frage des anderen Mannes folgenden Stille verhallen. Starrte weiter. Ungerührt. Starrte einfach nur. Verzog weder Lippen noch Augenbrauen. Blinzelte nicht. Starrte.
 

Das laute Geräusch kratzte in Schuldigs Ohren, schraubte sich in seinen empfindlichen nach Ruhe schreienden Verstand. Sowas hasste er. Dieses Starren... .
 

Schuldig runzelte die Stirn. Irgendwas entging ihm gerade. Scheinbar wollte Aya etwas von ihm wissen...

Kurz erhellte sich sein gedankenumwölktes Gesicht nur um danach wieder die gelangweilte Maske zu präsentieren.
 

"Sie waren da....konnten es scheinbar nicht lassen", murmelte er. "Sind alle ‚drei' noch putzmunter", sagte er als ginge es um das Gießen der Blumen. Dabei betonte er die Anzahl, sich sicher, dass Aya dies jedoch auf sein Fehlen in dem vierblättrigen Kleeblatt beziehen würde.

"Zufrieden?", maulte Schuldig und zog eine beleidigte Schnute, hoffend dass Aya dieses penetrante Starren nun einstellen würde.

"Is noch Kaffee da?", grummelte er.
 

Das war beruhigend zu hören...wirklich. Es war ihnen also nichts passiert, wenn er Schuldig Glauben schenkten sollte. Was er tat. Der andere Mann hatte keinen Grund, ihn anzulügen. Überhaupt keinen. „Zufrieden“, stimmte er schließlich mit Nicken ein und setzte seine Tasse ab, rollte mit den Augen, um sich gleich darauf auf ein anderes Ziel zu richten…
 

Dem Bären samt Foto. Und danach…seine Hose.

„Es gibt keinen Kaffee mehr. Alles Einbildung. Geh ins Bett.“ Aber nicht bevor er noch ein kleines Wörtchen mit dem Deutschen gesprochen hatte…Schweigend zog er nun ein drittes und vermutlich auch letztes Mal das Bild hervor, suchte sich den Teddy und ging damit zurück in die Küche. Platzierte die Fotographie sauber genau vor dem Telepathen, behielt den Bären aber erst noch hinter seinem Rücken, außer Sichtweite des anderen Mannes.
 

„Nettes Bild.“
 

"Einbildung?", wiederholte Schuldig und schärfte seinen müden Blick auf die Tasse, ging auf das harmlose Spiel ein und genoss es. "Ich seh ihn aber...", murmelte er und wurde kurz danach von dem Bild aus seiner Betrachtung gerissen. Verzog unwirsch die Lippen und stutzte. "Hmm", machte er nur, sah zu Aya auf, die Augen kreisrund.
 

„Du hast was mit den Augen.“ Als wenn er ihm nicht einreden könnte, dass es keinen Kaffee gab. „Es gibt keinen mehr…“, wiederholte er schon beinahe geduldig und starrte in die großen, fragenden Augen. „Lass mich raten…du warst der da?“ Er zeigte auf den großen Jungen…auf das arrogante Lächeln. Na komm….bestätige mir schon meinen Verdacht, feuerte er den Telepathen in Gedanken an, WUSSTE, dass dieser ihm zustimmen würde.
 

Schuldig folgte dem Fingerzeig und verzog das Gesicht leidend, bevor er etwas trotzig das Bild ansah, in Erinnerungen verfiel.

"Schön wär’s gewesen", sagte er, die Kinder nacheinander musternd. "Der Kerl war echt die Pest, hat nur Mist gebaut und ständig uns Jüngere genervt", erinnerte er sich und schürzte leicht die Lippen.

"Ich bin der mit dem Bär, wollte nicht mit aufs Foto und hatte glaub ich ordentlich Radau gemacht, bis mir jemand den Bär in die Hand gedrückt und mich in die Gruppe geschoben hat. Mein erstes Kuschelviech", sagte er mit seltsamem Unterton, weich, etwas belegt. Seine Stimme leise.
 

So. Hatte Aya also gewusst, dass der Andere ihm zustimmen würde? Wie gebannt und vor allen Dingen wieder einmal völlig überrumpelt und geschockt starrte er auf das Bild. Hörte er auf die Stimmlage des Schwarz. Es war wirklich der Kleine. ER war es. Schuldig…der Kleinste in der Gruppe, hatte Ayas Menschenkenntnis mit einem Dackelblick über den Haufen geworfen.
 

Aya schüttelte beinahe lächelnd den Kopf, stellte dem Sitzenden den kleinen Bären auf den Tresen. „Dann solltest du besser auf ihn aufpassen und ihn nicht deinem Feind überlassen…wer weiß. Vielleicht hätte ich ihn in die Waschmaschine gesteckt.“
 

Schuldig verengte die Augen zu Schlitzen. "Jaaa", sagte er gedehnt, als hätte er den übelsten Verbrecher vor Augen, den das Universum je gesehen hatte. "…das traue ich dir auf jeden Fall zu. Ihr Weiß wascht ja gern alles porentief sauber", sagte er nuschelnd und schmunzelte den Bär an. Das alte Ding. "Hat er dich also ausgegraben..", grinste er etwas müde. "Wolltest dir wohl die Reizwäsche ansehen, was?", lächelte er und sah möglichst unschuldig zu Aya auf.

Es gelang ihm nicht ganz.

Er fühlte sich so wohl im Augenblick und das spiegelten auch seine Augen wider. Gelöst saß er da und sein Blick wärmte sich an dem anderen Mann, der vor ihm stand. Aya, der Dinge zutage förderte, die er längst in Vergessenheit gewähnt hatte.
 

Ertappt… und das, obwohl Schuldig seine Gedanken nicht lesen konnte. Aya funkelte sein Gegenüber beinahe böse an, stupste dem Teddy leicht vor die Nase, ließ ihn zufrieden auf den Rücken plumpsen. „Ich wasch gleich wen anders porentief rein…oder wahlweise die Flausen aus dem Kopf“, gab er zurück und griff demonstrativ zu seinem Kaffee, nahm ein paar tiefe, wohlige Schlucke.

Wie entspannt der andere Mann doch war. Nach der…Katastrophe von zuvor, ein erstaunlicher, Aya aber nicht mehr wirklich überraschender Wendepunkt. Anscheinend eine stark ausgeprägte Charaktereigenschaft des Telepathen.

Wahnsinn und Sorglosigkeit. Herrje. Was für eine gefährliche Mischung.
 

"Hast du dir was gekocht?" fragte Schuldig und stützte seine Arme verschränkt auf den Tresen.

"Und was getrunken?"

Seine Stimme hatte etwas Bohrendes an sich, so wie er Aya inquisitorisch ansah, die Lippen

etwas gespitzt.

"Da trinkst du Kaffee und wehe du hast nichts anderes getrunken, außer dem Zeug", oberlehrmeisterte er und verstummte dann.

Er wusste um die Anzeichen von Müdigkeit bei ihm: Er wurde launisch und dann redefaul.
 

Aya starrte in den ihn schier durchbohrenden Blick. Stellte die Tasse langsam ab und verschränkte schließlich die Arme. „Nein…ich habe noch nichts gegessen“, erwiderte er entgegen besseren Wissens und hob warnend eine Augenbraue. Auch wenn das ganze Bild durch den ihn etwas schmal aussehen lassenden Schlafkimono zunichte gemacht wurde, der sich allem Übel nun auch noch an seinem Brustkorb soweit gelöst hatte, dass ein großer Teil an blasser Haut zum Vorschein kam.
 

Er verzichtete darauf, sich ihn nun zusammenzuzupfen, wusste er doch, wie lächerlich das ausgesehen hätte. „Aber wenigstens getrunken habe ich was…zufrieden, Papa?“
 

"Und wie geht's denen da?", wies Schuldig auf die bandagierten Hände mit einer energiesparenden Deutung seines Kinns in die Richtung Ayas, den Blick akribisch darauf gerichtet.

"Ich mach uns ne Miso Suppe", sagte er nach einigem Überlegen und ließ sich vom Hocker gleiten, seinen Entschluss in die Tat umsetzend.

"Is zwar etwas früh für dich und etwas spät für mich, aber ich hab Hunger und du noch nichts gefrühstückt, passt hervorragend."
 

„Lass mich das machen“, gab Aya zurück und war in der gleiche Bewegung vorgetreten, hatte sich an Schuldig vorbei zur Arbeitsplatte gedrängt und nach einem Messer gegriffen, das er nun ungelenk in einer bandagierten, durchaus immobilen Hand hielt. Schuldig ansah. Er würde den Teufel tun und Schuldig noch einmal etwas kochen lassen, was auch er essen sollte.
 

Dazu war er viel zu verwöhnt, was seinen Geschmack anging. Er sah auf seine Hände hinunter. Ja…als wenn er sich mit diesen unversöhnlichen Klumpen einen derartigen Luxus erlauben konnte. Und dass er die Verbände jetzt schon abnahm…auch wenn es nicht mehr so schmerzte wie zuvor? Nein…das war nicht ratsam.
 

Schuldig seufzte genervt und fuhr sich durch die nassen Haare.

"Musst du alles selber machen? So schlecht schmeckt es nun auch wieder nicht, wenn ich das mache."

Jetzt wirklich ungehalten, aber eher zu müde für Diskussionen.

"Was ist schon dabei? Das Bisschen Fleisch und Gemüse kann ich auch in eine Suppe verwandeln. Und deine Hände sind auch noch nicht in Ordnung."

Die Brauen zusammengezogen stand er vor Aya, der noch immer das Messer in der Hand hielt, welches er momentan nicht als Bedrohung ansah. Überhaupt war Aya seltsamerweise und auch gefährlicherweise, nie eine Gefahr in seiner Wahrnehmung gewesen.
 

Aya verstummte, klappte nutzlos seinen Mund zu. Starrte schließlich auf das Messer in seiner Hand. „Es ist viel dabei…vor allen Dingen viel, das man falsch machen kann“, sagte er mehr zu sich als zu seinem Gegenüber und sah hoch, entschlossen in die Augen des anderen Mannes. Dennoch legte er nun das Messer nieder. Drehte sich weg…auch weg von der Genervtheit des Schwarz. Eine Szene wie gerade vor dem Bett brauchte er nicht noch einmal. Nicht heute Abend.
 

„Es ist deine Küche…mach, was du willst“, erwiderte er schließlich und setzte sich erschöpft langsam in Bewegung. Nein…das wollte er wahrlich nicht. Für heute wollte er Ruhe.
 

Schuldig knurrte weich und berührte Aya sanft am Arm, als dieser an ihm vorbei wollte.

"Heey", meinte er leise, hatte untrüglich gespürt, dass Aya eine Eskalation befürchtete, wenn er weiterhin darauf beharrte, selbst kochen zu wollen.

"Ich musste nur den Auftrag verdauen, deshalb war ich vorhin etwas Frankensteinmäßig drauf. Du kannst sicher und ohne Frage besser kochen und...", suchte er nach Worten um zu erklären, warum er genervt reagiert hatte.

"Ich bin einfach nur müde, Aya", sagte er schließlich und durchwühlte sich selbst die Haare, eine Geste der temporären Hilflosigkeit, in deren Anschluss er die Hand wieder sinken ließ und die Schulter zuckte.
 

„Das weiß ich…ich bin es auch“, gab der rothaarige Weiß zurück und drehte sich noch einmal um, aufgeschreckt durch das leise Knurren und vielmehr durch die minimale Berührung. Ein schwaches Lächeln huschte über seine Züge. „Frankenstein? Nein…das war Dracula… höchstpersönlich“, scherzte er, auch wenn ihm wirklich nicht dafür zumute war, saß ihm doch immer noch der Schrecken von vor ein paar langen Minuten, oder war es mittlerweile eine Stunde?, in den Knochen.
 

Doch etwas anderes erhaschte in diesem Moment seine müden Gedanken. Verdauen…Schuldig musste den Auftrag genauso verdauen, wie sie es auch müssten. Ruhe danach…verschiedene Stadien der Wut, die sie alle kannten. Also doch nicht der emotionslose, freudige Killer, für den er den anderen Mann gehalten hatte.
 

„Koch du…ich bin sowieso nicht in der Lage, das Messer zu halten…“
 

Damit löste er sich aus der ungefragten Berührung und schlich zum Schlafbereich, nahm sich dort eine der beiden Decken und zog sich auf die breite Couch zurück. Versuchte, ein weiteres Mal etwas Ruhe zu bekommen.
 

"Darf ich dich dann auch mal anbeißen?", nuschelte Schuldig leicht grinsend, sich jedoch

seiner bevorstehenden Aufgabe widmend.

Er werkelte nicht länger als zwanzig Minuten und füllte die Suppe in zwei Schalen.

"Willst du sie drüben essen oder besser hier?", fragte er zu Aya hinüber, als wohnten sie

schon lange zusammen, als wäre es Normalität.
 

Aya, gerade eben durch die geschäftigen Geräusche des Telepathen weggedöst, wurde nun wieder aus seinem hart erkämpften Schlummer gerissen, was er, nach den letzten Tagen Schlaflosigkeit, nicht wirklich zu schätzen wusste. Eigentlich überhaupt nicht, schon gar nicht, wenn es um so eine Lappalie wie das Essen ging.

Und genau das teilte er Schuldig auch mit einem gedämpften, verschwommen-rüden Fluch mit.
 

Sich schließlich zur Lehne drehend und sich die Decke über den Kopf ziehend, drückte er mit seiner gesamten Gestalt ein ‚Lass mich in Ruhe’ aus. Wenn doch endlich dieses verdammte Licht aus wäre…ganz zu schweigen von dem Essengeruch, den er momentan wirklich nicht haben konnte. Er hörte seinen Magen schon förmlich dagegen protestieren und rebellieren.
 

Schuldig wandte sich um, den Mundwinkel kurz verziehend und damit seinen Unmut ausdrückend.

"Nun komm schon, du solltest etwas essen." Unschlüssig stand er da, zuckte dann mit den Schultern und holte noch Essstäbchen die er neben die Schüsseln platzierte. Erst will er selbst kochen, und dann nichts mehr essen, grübelte Schuldig vor sich hin.
 

Grollend drehte sich Aya erneut dem Raum zu, bedachte Schuldig mit einem säuerlichen Blick. Wie gut der andere Mann es doch schaffte, ihn wieder und wieder aus seinem Schlaf zu reißen und ihn zurückzuholen…und das, obwohl er nicht wirklich großen Hunger hatte.

Eine scharfe Replik lag ihm auf der Zunge, die er jedoch in dem Moment abmilderte, als sie drohte, seine Lippen zu verlassen.

„Morgen ist auch noch ein Tag“, erwiderte er nicht wirklich freundlich, aber auch nicht aggressiv. Drehte sich wieder weg und zählte insgeheim die Sekunden, bis Schuldig ihn ein weiteres Mal stören würde.
 

Die Stäbchen sorgfältig ablegend, hielt seine Hand inne in ihrem Tun, nur um die Stirn zu runzeln, als er die Worte hörte und sich in die Lippe zu beißen, kaute er ein Weilchen auf dem inneren Fleisch herum, um sich etwas abzulenken von seinen gekränkten Gefühlen. So stand er da und starrte auf die beiden dampfenden Schüsseln, innerlich einen Kampf führend.

Er wollte nun nicht zu Aya sehen.

Gut, er konnte nicht so gut kochen, aber er hatte sich Mühe gegeben. Hilflos stand er vor den Schüsseln, seine Hände betrachtend. Scheinbar nicht wert um etwas für Aya zu essen zu machen, zuviel Blut dran, was?, keimte kurz sein Schutzwall aus Zynismus in ihm auf, der jedoch der Müdigkeit zum Opfer fiel und verklang. Müde wie er war, der Situation nicht ganz gewachsen, ließ er alles wie es war, schaltete das Licht aus und ging an der Sitzgruppe vorbei.

Es tat weh.

Dieser Moment schmerzte so sehr, wie schon seit Jahren nicht mehr.

Schon sehr lange hatte er das nicht mehr gefühlt. Etwas in seiner Brust hatte sich zusammengezogen bei diesen Worten und schmerzte. Das lag alles nur daran das er müde war, angreifbarer.

Er ging zu seinem Bett und zog sich rasch aus, legte sich gewohnheitsmäßig auf die Seite, die Aya zuvor belegt hatte, und wurde sogleich mit dessen Geruch, der noch immer im Kissen haftete konfrontiert.

Während seine Augen ins Dunkel blickten, nahm er eine Haltung ein die er schon lange nicht mehr eingenommen hatte. Er lag auf der Seite, die Hände vor sich, die Beine leicht angewinkelt.
 

o~
 

Er hatte nicht gut geschlafen.
 

Auch wenn es durchaus besser war, als letzte Nacht, war es immer noch nicht das, was Aya brauchte um wirklich wieder zu genesen. Ganz zu schweigen von der Abstinenz der Nahrung, die er in der letzten Zeit entweder nicht bekommen oder wie gestern, nicht gewollt hatte.
 

Aya kämpfte sich, die Haare vom Schlaf zu Berge stehend, vom Sofa und wankte in den Küchenbereich. Schuldig war die Nacht ausgesprochen ruhig gewesen…hatte ihn nicht mehr belästigt und das wollte Aya belohnen, auch wenn es ihm innerlich davor grauste, die Suppe zu probieren. Anlässlich der schlechten Erfahrung während der nicht ganz wachen Zeit kein Wunder.
 

Auch wenn er nun stockte, als er die beiden Schüsseln sah. Fein säuberlich gefüllt, die Stäbchen daneben. Beide gefüllt und nicht angerührt. Schuldig hatte also auch nichts gegessen? Nur weil er sich geweigert hatte? Dummer Mann…wirklich dumm. Der Teddy, der wirklich traurig auf dem Rücken lag. Na sowas…hatte ihn Schuldig doch nicht wieder aufgestellt…sowas gemeines.

Diese Aufgabe übernahm nun Aya, als er das kleine Plüschtier auf den Allerwertesten setzte und seinen Blick ein weiteres Mal auf das Bild richtete. Der kleine, verloren schauende Junge war also Schuldig. Was für ein Vergleich zur heutigen Person…
 

Aya schüttelte den Kopf, stellte schweigend den Herd an. Ebenso wie das Radio, das ihm im Moment wirklich bessere Gesellschaft zu leisten schien, als die Stille. Als seine Gedanken, die sich in zu aufmerksamen Kreisen um das Verhalten des Telepathen drehten. Verflucht war Schuldig, dass er ihn zwang, die persönliche Seite von Mastermind kennen zu lernen! Ohne dass er die dargebotenen Schwächen adäquat ausnutzen konnte. Denn das verbot ihm alleine sein Stolz.
 

Tief in der Musik versunken, machte er sich daran, der gar nicht mal so schlechten Suppe noch den letzten Schliff zu verleihen. Sich somit die Zeit zu vertreiben…
 

o~
 

Die teuren Schuhe überquerten den Flur in gelassenen Schritten, hallten auf dem Marmor verhalten wider.

Blieben stehen, öffneten die Tür, mit einer Schlüsselkarte und traten, als das Öffnen der Tür getätigt werden konnte, in die Wohnung ein.

Brad verschaffte sich einen schnellen Überblick, sein Augenmerk sofort auf die Schlafstatt rechts werfend, die etwas entfernt lag, jedoch der feuerrote Haarschopf gut zu erkennen. Schuldig schlief also noch.

Er hatte sich heute frei genommen, die Übergabe der Sicherungskopien bereits getätigt. Er trug den maßgeschneiderten Anzug, die Jacke über dem Arm, Hemd und Weste, da er gerade von der Transaktion kam.

"Ah, die Mieze kocht", sagte er beiläufig, für sich selbst feststellend, als er vor der Küchenzeile ankam. Aya schien gerade erst aufgestanden zu sein, bot einen zugegebenermaßen verlockenden Ausblick.

Schuldig nach dem Schlafen zu erblicken, hätte jedoch einen Reiz für sich, den Brad vorzöge.
 

Völlig unerwartet wurde Aya aus seiner Konzentration gerissen. Das war nicht Schuldigs Stimme, soviel konnte er auf Anhieb sagen. Auch ohne nun zur Quelle der unwillkommenen Störung herumzufahren.

Crawford. Schon wieder. Hatte der andere Mann keine eigene Wohnung? Auch wenn er es nicht zugab, war das Orakel ein Faktor in seinem vorsichtigen Tanz mit Schwarz, den er nicht berechnen konnte. Böse reichte in diesem Fall als Beschreibung alleine nicht aus. Leider nicht.
 

Sein Blick glitt wie schon am vorgestrigen Tage abschätzend über die ihm gegenüber stehende Gestalt. Teurer Anzug, noch exquisitere Schuhe…alles in allem ein Vermögen wert. Fehlten nur noch die diamantenen Manschettenknöpfe. Die Taschenuhr an der Weste… „Na…schon so früh wach? Deine Jungs gerade abkassiert…waren sie auch ordentlich anschaffen diese Nacht?“, lächelte er freundlich, mit zynischem Amüsement in seiner Stimme, war sich nur am Rande bewusst, dass er in genau diesem Moment wie eben einer dieser Männer aussehen musste. Der Kimono im Brustbereich halb offen, die Haare wie nach einer wilden Nacht völlig zerzaust. Am Herd…sich ein Süppchen kochend.
 

Brad verzog keine Miene, lediglich die braunen Augen, erschienen einen Tick heller, als das amüsierte, spöttische Funkeln darin auftrat.

"Soll ich bei dir auch abkassieren? Sieht nach einer kräftezehrenden Nacht aus, Schuldig schläft noch", stellte er fest und blickte wieder in die Richtung wo der Telepath schlief.

"Ich hoffe, er war nicht zu sanft zu dir, hat dir dein loses Mundwerk gestopft, mein kleiner Loverboy", ließ er die Worte ebenso freundlich zu Aya wehen, als ginge es um das Wetter, ein netter Plausch am Morgen.

Er legte die Jacke ab, ging in die Küchenzeile um sich eine Tasse Kaffee zu machen, beachtete Aya nicht, mit den Gedanken bei anderen Dingen. Für ihn war es ein Spiel, Aya keine wirklich interessante, lohnende Beute.
 

„Vielleicht solltest du bei Schuldig abkassieren…ER schläft schließlich noch. Nicht ich“, gab Aya zurück und drehte sich, entgegen der Präsenz des anderen Mannes in der Küche, wieder zum Herd und kostete vorsichtig die nun heiße Suppe. Ja…so schmeckte sie besser. Viel besser. Er dachte nicht im Teufel daran, auf den allzu scharfen Spott des älteren Schwarz einzugehen, sondern nahm sich seine alte Schüssel, füllte sie wieder auf und griff sich die Essstäbchen.

„Vielleicht sollte dir mal jemand dein Mundwerk stopfen…schon ausprobiert?“, endete er schließlich fröhlich und fischte sich das erste Gemüsestückchen aus der Suppe, lehnte sich gegen die Anrichte.
 

Als hätte Aya nichts gesagt, überging er die Worte, hakte sie als unwichtig ab. Der Rotfuchs hatte damit begonnen, ihn zu provozieren, also was sollte dieses Geschwätz nun?

Die Tasse mit dem schwarzen Gold füllend und sich bereits auf den ersten Schluck freuend, ging er zum Tresen, stellte die Tasse langsam ab, als er die Photographie erblickte, sie mit den schlanken Fingern berührte. Den Teddy in die Hand nehmend.

In der Betrachtung der Kinder vertieft, erkannte er den Bär auf dem Foto wieder. Ließ das Bild auf den Tresen zurückfallen als hätte er sich verbrannt, als ginge von dieser Aufnahme ein schleichender Tod aus.
 

Aya runzelte stumm die Stirn, als er sah, dass der ältere Mann das Bild zu Gesicht bekam. Konnte aber sein Erstaunen nicht bemerken, als dieser es fallen ließ. Als Teamführer müsste er doch über die Vergangenheit seiner Untergebenen Bescheid wissen...oder etwa nicht?

Aya schüttelte verständnislos den Kopf. Lebten Schwarz wirklich so aneinander vorbei, dass sie solche Dinge nicht interessierten? Wenn er ehrlich war, wollte er die Antwort auf diese Frage gar nicht haben.
 

Auch wenn seine bloßen Füße ihn nun zu eben diesem Mann trugen, sich neben Crawford stellten. Er war kleiner als der Schwarz…ein ganzes Stück. Aber das hieß noch lange nichts. Die Augen fest auf den Teddy gerichtet, strich er diesem mit einem Lächeln über die ausgefransten Öhrchen, hob seinen Blick schließlich in die Augen des Amerikaners.
 

„Netter Teddy…passt zu seinem Besitzer“, ließ er schon beinahe sanft durch den Raum hallen, ohne jeglichen Spott, nur wie zuvor schon wissend. Und die Bedeutung dessen wurde auch ihm nun deutlich klar. Wenn es wirklich stimmte, dass Crawford vorher nichts von diesem Bild gewusst hatte…
 

Den Blick mit der von ihm so bekannten Kälte darin und einem geradezu frostigen Lächeln auf Aya richtend, fixierte er den anderen Mann für Sekunden, stellte das Stofftier, ein tröstendes Relikt aus vergangen Tagen, auf den Tisch ab. Die Augen wie blank polierte Spiegel, die keinen Einblick boten.

Er wandte sich von der Fotographie ab, ging zur Fensterfront und blickte mit maskenhaften Gesichtszügen hinaus.

Dort hatte er ihn gesehen, den Mann, den er auch noch hinter dem Wahnsinn erkannt hatte. Eine Bestätigung dessen was er mit Sicherheit sagen konnte...das Schuldig im Inneren wie dieser Junge mit seinem Stofftier aussah. Und Aya hatte es ebenso erkannt. Schneller als er, leichter als er. Brad hatte keine Photographie gehabt, er hatte sich dies durch jahrelange kollegiale und vielleicht auch zaghafte freundschaftliche Bindung zu dem Telepathen erarbeitet. Und nun... kam dieser Weiß und überholte ihn einfach.
 

Gelassen stand Brad da, blickte unergründlich in die Stadtlandschaft.

"Dieses Stofftier ist ein Relikt aus Tagen, die längst vergessen sind", antwortete er etwas verspätet, die Stimme pures, Eis, welches dunkel unter der Oberfläche dahin glitt.
 

Schuldig hatte das nicht vergessen, sondern der Schuldig auf dem Bild war zu tief in dem Chaos das diesen Mann nun beherrschte verborgen. Er selbst konnte nur Teile davon in Ordnung halten.
 

Aya lächelte ungesehen für den anderen Mann. Längst vergessen? Es gefiel ihm selbst nicht, doch er glaubte nicht daran, dass diese Tage vergangen waren. Nicht im Geringsten, hatte er selbst noch gestern erfahren, dass der Telepath auch ganz anders konnte. Neben seinem dämonischen Ich auch noch eine andere Seite besaß, die Aya wieder und wieder kennen lernte.
 

Auch wenn er das verdammt nochmal nicht wollte!
 

Er drehte sich um, nahm sich erneut seine Schüssel auf, ebenso wie die Stäbchen und eine Flasche Saft mit Glas aus dem großen Kühlschrank. Begab sich damit in den Wohnbereich und setzte sich auf das noch warme Sofa. Besah sich nicht zum ersten Mal seine Verbände. Sie mussten ab! Jetzt! Leise seufzend löste Aya sie, legte die darunter geschundene Haut frei und stellte fest, dass die Schnitte bereits mit farbenfrohen Hämatomen unterlegt waren. Bis das verheilt war…
 

Die Geräusche im Hintergrund wahrnehmend, jedoch interesselos an sich vorbeiziehen lassend, stand Brad weiterhin am Fenster, die Hände lässig in den Hosentaschen verborgen.

Sein Handy klingelte und er wandte sich um, ging zu seinem Jackett und zog es heraus.

"Ja", meldete er sich.

"Ist alles glatt über die Bühne gegangen?" fragte Nagi, die Stimme so monoton wie immer.

"Ohne Probleme, wie vorausgesehen.“

"Wo bist du?"

Brad wandte sich wieder ab, warf einen kurzen Blick zu Aya der sich die Verbände von den Händen schälte.

Er ging wieder zur Fensterfront.

"Bei Schuldig."

"Es ist eine zusätzliche Belastung für ihn, wenn dieser Weiß bei ihm ist", stellte Nagi fest.

"Ja...ich bin mir da teils nicht mehr so sicher."

"Hast du heute noch Termine?"

"Nein, ich komme in Kürze wieder", sagte er etwas milder, als die Worte die er an Aya gerichtet hatte.

"Gut", antwortete Nagi und legte auf.
 

Für einen Moment konnte Aya das seltsame Geräusch nicht identifizieren, das aus dem abgelegten Jackett des anderen Mannes drang. Doch dann dämmerte ihm, was es war und er sah interessiert, wenn nicht sogar mit einem unterdrückten Grollen zu, wie Crawford telefonierte. Mit wem auch immer…
 

Doch Aya wusste, dass es nichts brachte, sich darüber aufzuregen. Er musste selbst zusehen, wie er von hier entkommen konnte, sein Team würde er garantiert nicht mit hineinziehen. Nur nebenbei lauschte er dem für ihn unschlüssigen Gespräch und griff zur Suppe, fischte sich nach und nach kleine Gemüsestückchen heraus, trank die nun besser schmeckende Flüssigkeit. Lehnte sich zurück und starrte nachdenklichen Blickes in die Küchenzeile. Aber Gott sei Dank war der Amerikaner bald wieder verschwunden. Wenigstens ein Lichtblick.
 

Brad kümmerte sich nicht weiter um Aya, nahm seine Jacke auf und trank seine Tasse leer, stellte sie in die Spüle.

Nur um danach wortlos die Wohnung zu verlassen.
 

Die Augenbraue zweifelnd erhoben starrte Aya dem älteren Schwarz ebenso schweigend hinterher. Da war er wieder weg, der gute Mann. Nicht, dass es ihn nicht erleichterte.

Kopfschüttelnd zog Aya seine Beine mit auf die Couch, schlug sich die Decke über seine Gestalt und lauschte gedankenlos dem Radio. Nahm sich hin und wieder einen Schluck Suppe oder Saft und versucht nicht darüber zu sinnieren, welche Bedeutung dieser Bär wohl noch hatte.
 

o~
 

Die Nase kurz kraus ziehend und sich gegen das Wachwerden sträubend drehte sich Schuldig auf die lichtabgewandte Seite, doch schlussendlich musste er einsehen dass er nun mal wach war und die Wirkung der Ladung Schlafsand in seinen Augen nachgelassen hatte.

Die Rollläden waren glücklicherweise fast ganz geschlossen, dennoch reichte es aus um ihn in seinem anschließenden Gedöse zu stören.

Mit einem Gähnen und einem Haareraufen stand er schließlich auf, sich in das dünne Leintuch wickelnd in das Bad gehend.
 

Und da wurde der nächste Schwarz munter. Aya seufzte leise. Dafür, dass er es normalerweise pflegte, jeglichen Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit anderen aus dem Weg zu gehen, indem er ganz einfach menschlichen Kontakt mied, hatte er für diesen Morgen bereits schon sein Pensum an zwischenfeindlichen Kontakt auf. Bei weitem.
 

Und dass er nun auch noch wunderbar sehen konnte, wie der andere Mann in seiner vollen Nacktheit aus dem Bett stieg, bevor er so gütig war, sich ein dünnes, nicht wirklich bedeckendes Laken um die Hüften zu schwingen. Aya schüttelte innerlich seufzend den Kopf. War insgeheim froh, auf der Couch geschlafen zu haben. Es genügte ihm schon, wenn Youji morgens in aller naturalen Pracht zum Bad sprang…das musste nicht auch noch…
 

Mit striktem Abschluss des Themas wandte sich Aya wieder seiner Suppe zu und nahm einen weiteren, tiefen Schluck.
 

Ohne wirkliche Kleidung, trottete Schuldig wieder aus dem Bad sich streckend und ging zur Fensterfront, ein "Guten Morgen", murmelnd. Das Wetter war ja nicht gerade aufbauend, bemerkte er für sich, als er einen Blick hinauswarf, Aya den Rücken zugedreht.
 

Schulterzuckend wandte er sich um.
 

"War Brad schon da?", fragte er unumwunden, in die Küche gehend.
 

Konnte…sich der Telepath nicht etwas Vernünftiges anziehen? Bedeutsam die Augenbraue in Richtung Himmel erhoben, verfolgte Aya dessen Weg zum Fenster und zurück in die Küche, sah nicht ein, warum er seinen Blick abwenden sollte. Das Tuch machte Schuldig blass. Aber das war ja nicht sein Problem.
 

„Ja, war er“, ließ Aya anstelle dessen verlauten, erstaunt über die Frage des Anderen. Woher wusste Schuldig vom Besuch seines Teamführers? „Er hat geguckt, ob ich dich im Schlaf abgemurkst habe und ist wieder gegangen. Macht er das immer so?“ Wenn er ehrlich war, fand er den Gedanken an Crawford als umsorgendes Hausmütterchen, das all seine Schäfchen im Trockenen haben wollte, durchaus amüsant. Innerlich wie äußerlich, was sich als nicht allzu verborgenes Lächeln äußerte.
 

Schuldig kramte in den Schränken, machte sich nach seinem allmorgendlichen Ritual einen frischen Kaffee.

"...nach bestimmten Einsätzen macht er das", sagte er beiläufig, während er den gemahlenen Kaffee in die Maschine füllte.

"Er hatte nicht die Sorge, dass DU mich abmurkst...", erklärte er nüchtern und ruhig. Er fühlte sich gut, ausgeschlafen, im Gleichgewicht.
 

Aya zuckte nur mit den Schultern und nippte ein weiteres Mal an seinem Saft, beschäftigte sich momentan mit der Frage nach der Kategorisierung. Nach welchen Einsätzen? Auch wenn er sich die Antwort schon fast denken konnte.

„Sondern? Dass DU etwas anderes im Sinn hast?“, versuchte er den Satz zu beenden, mochte sich jedoch nicht vorstellen, was das wirklich implizierte. Wie weit Schuldig gestern wirklich gegangen wäre, wäre ihm nicht irgendetwas dazwischen gekommen. Was auch immer es war, Aya dankte ihm.
 

Die Kaffeekanne mit heißem Wasser ausspülend, blickte Schuldig kurz auf, fing den Blick des anderen ruhig ein.

"Könnte sein, dass er das dachte", sagte er vage.

"Bei Crawford ist das schwierig zu sagen. Er macht Dinge...die wir...die ich nicht verstehe und dann wieder wenn ich ein Muster glaube zu erkennen, reagiert er wieder komplett anders."

Er stellte die Kaffeemaschine an, gab dem Teddy, der neben dem Foto saß, einen Schubs und sammelte die Tassen vom Vortag ein um sie in die Spülmaschine zu verräumen.
 

Das war auch wieder eines der Dinge, die er eigentlich nicht hören wollte. Überhaupt nicht. Information, die nur Weiß, seine Schwester und ihn selbst gefährdeten, da er sie nicht preisgeben würde. Natürlich…besäße er keine Ehre, würde er das sicherlich tun. Ohne zu zögern. Doch angesichts der Tatsache, dass auch Schwarz nie ihren persönlichen Lebensraum angegriffen hatten, musste er eben diese Dinge wohl oder übel verschweigen.
 

Vorausgesetzt, er entkam eines Tages.
 

Vielmehr in den nächsten Tagen. Denn je länger er wegblieb, desto mehr gefährdete er seine Schwester. Kritiker würden nicht zögern, sie umzubringen, wenn er nicht mehr auftauchte. Wenn er nicht rechtzeitig genug zurückkam. Ein weiterer Faktor in seiner verzweifelten Planung nach Flucht.
 

Ein harter Zug schlich sich von ihm selbst unerkannt um seine Lippen. Er durfte Aya nicht vergessen…sie war seine Hauptantriebsquelle. Er musste dafür sorgen, dass es ihr gut ging…nur wie sollte er das tun, wenn er hier festsaß? Und Schuldig fragen, ob sie noch lebte? Nein…das ging nicht. Was, wenn Schwarz dadurch dann wusste, wo sie sich befand? Dass sie dadurch noch ein Mittel mehr hatten, um ihn zu erpressen?
 

Schuldig bemerkte das fauchende Geräusch, welches ihm signalisierte, dass sein Kaffee bald fertig war, mit zufriedener Miene und ging um sich etwas anzuziehen. Die bequeme, leichte Hose und das enge Langarmshirt, schmiegten sich weich an seinen Körper, gaben einen schönen Kontrast zu den noch immer zerzausten wilden feurigen Haarsträhnen, als er das Fenster im Schlafbereich öffnete, das Bett kurz aufschüttelte, wieder zur Küche ging und sich den Kaffee einschenkte. Zu Aya kam und sich ans Fenster setzte, ins trübe Nass des Tages blickend.
 

Aya merkte erst, dass das Fenster hinter ihm offen war, als frische, kühle Winterluft zu ihm herüberzog. Ihn sich herumdrehen ließ. Endlich. Eines der Fenster war offen.

Ohne sich um jeglichen Kommentar von Seiten des Telepathen zu kümmern, strebte er diese Erlösung zielsicher an.
 

Trat hinaus in die kalte, beinahe schon klirrende Kälte und atmete tief durch. Frischluft. Gnädige Frischluft. Wobei ihm egal ab, ob seine Füße abfroren. Dass er zitterte. Einfach nur raus. Den Wind fühlen, den Regen in sein Gesicht wehen lassen. Ein kurzer Schein von Freiheit, wie er sich bewusst war, als er ans Geländer trat, die Hände um die schmalen Metallstreben schlang. Seine Augen schloss und einfach genoss, was sich ihm bot. Kälte, Winter, Gerüche der Hauses, der Stadt. Laute, die ihm bisher verborgen geblieben waren. Atemzug um Atemzug tat er, um sich zu stärken, um in sich selbst den Wunsch nach Freiheit zu schüren.
 

Sich nur kurz umwendend um dem raschen Aufbruch in Richtung Fenster nachzublicken, wandte sich Schuldig wieder seinem Getränk zu.

Erst nach einigen Minuten der Ruhe stand er auf, griff von dem kleinen Tischchen ein Päckchen Zigaretten und klopfte sich eine heraus, ging gemächlichen Schrittes zum Schlafbereich in dem er die Terrassentür und ein kleineres Fenster geöffnet hatte. Er blieb in der Tür stehen, lehnte sich lässig an den Rahmen, die nackten Füße auf dem beheizten Wohnungsboden und zündete sich die Zigarette an, den Blick auf die einsame Gestalt vor ihm gerichtet.

Schuldig zog die Brauen zusammen, als ihn dieser Vergleich auf Aya bezogen in den Sinn kam.

Hatten sie nicht schon von Einsamkeit gesprochen? Und nun...jetzt sah er sie, wie sie um die schmale Gestalt des Mannes lag.
 

Aya öffnete langsam seine Augen, als er merkte, dass Schuldig hinter ihm stand. Doch er sah sich nicht genötigt, sich umzudrehen oder irgendeine Konversation zu beginnen. Er wollte einfach noch genießen, was sich ihm hier bot.
 

Schade, dass es nicht schon angefangen hatte zu schneien, dass die ganze Stadt in dichte, stumme Flocken gebettet war, die sämtliche Geräusche zu dämpfen schienen. Die Weiß und ihm wieder und wieder Spaß machten. Besonders dann, wenn sie Schnee schippen durften. Wie sehr sie sich doch um Schichten am frühen Morgen rissen, die um sechs Uhr in der Früh raus und schaufeln bedeuteten.
 

Sein Blick glitt über die Stadt, während er, entgegen seiner bisherigen Stärke, nun einen Fuß auf den anderen stellte. Damit es nicht ganz so kalt wurde. Auch wenn es nicht viel half, waren sie doch beide schon eisig.
 

„Haben sie sich gestern gut geschlagen?“, fragte er leise in die Stadt hinaus, als erwartete er von den Millionen, die dort unterwegs waren, eine Antwort auf das, was ihm wichtig war. Welch Ironie doch, wo ihm nur ein Mensch die Wahrheit geben konnte.
 

Der Boden schien genauso eisig zu sein, wie die Luft, die messerscharf in dem nun sacht aufkommenden Wind durch sein Gesicht fuhr, bemerkte Schuldig, wie Aya die bereits bläulich für ihn aussehenden Füße vor dem Boden schützen wollte.

Ein schräges Lächeln erhellte die nachdenklichen Gesichtzüge, welches die Augen erreichte, den Blick auf Aya weich werden ließ. Und dies in der Stimme zum Tragen kam.

"Haben sie. Balinese hat sich auf und in meinem Oberschenkel verewigt", wollte er sanft aufmuntern, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch in die Morgenluft hinaus.

"Willst du nicht wieder reinkommen? Du frierst."
 

Von Wollen konnte wohl keine Rede sein, fiel Schuldig etwas traurig ein. Gerade jetzt war es ihm so, als sollte er ihn gehen lassen. Alles sprach dafür. Nur seine Ruhe, die er empfand, sprach dagegen.

Wieder nahm er einen Zug.
 

Ein leichtes Lächeln huschte über Ayas Züge. Youji…natürlich. Er konnte es sich denken. Seine Arme nun doch um den Oberkörper schlingend drehte er sich schließlich wieder zum Telepathen. Ja….reinkommen war eine gute Idee. Sagten ihm seine Füße. Auch wenn er liebend gerne länger hier stehen geblieben wäre.
 

An Schuldig vorbeihuschend, labte er sich schließlich an dem warmen Boden und als das nicht genügte, an den Heizkörpern, gegen die er seine Füße einen nach dem anderen stellte und sie zum feurigen Brennen brachte. Erst, als ihm nicht mehr GANZ so kalt war, zog er seine Augenbrauen in die Höhe. „Auf deinem Oberschenkel? Auf MEINER Hose?“, fragte er ruhig, freundlich. Beinahe schon zu freundlich. „Du hast es tatsächlich gewagt, dich in meiner Hose verletzen zu lassen?“ Ein fröhliches Lächeln legte sich zum zweiten Mal auf seine Lippen. Blitzte gefährlich.
 

Schuldig grinste leicht in sich hinein, drückte die Zigarette aus und schnippte sie rebellisch über das Terrassengeländer.

"Hätte ich mich ausziehen sollen, bevor ich Balinese an meinen Körper lasse?", grinste er zweideutig, wandte sich um und trat etwas mehr in den Raum, die Tür schließend.
 

„Ja natürlich!“, erwiderte Aya, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Dann wäre wenigstens meine arme Hose verschont geblieben!“ Wenn Schuldig sich die zweideutige Ebene wünschte, dann konnte er sie haben. Aya war in der richtigen, gelösten Stimmung um auf die Neckerei des anderen Mannes einzugehen.

„Also ICH habe sie bisher immer gut aufgepasst…und hatte NIE einen Kratzer an ihr!“ Er wechselte schnell den Fuß, bevor es ihm an dem einen zu heiß wurde, während er den Deutschen VÖLLIG empört anfunkelte.
 

Nachdem er das Fenster auch noch geschlossen hatte, kehrte er Aya den Rücken zu und ging Richtung Küche, mit den Worten: "Na, ICH habe auch auf sie aufgepasst, solange DU sie getragen hast", die in samtenes Dunkel gekleidet waren, wandte sich jedoch nicht um.
 

Langsam hatte er Hunger und er erwägte die Suppe zu kosten. Zumindest als Vorspeise zu einem ausgedehnten Frühstück.
 

Aya schüttelte leise lachend den Kopf. Soso…einen Schutzengel hatte er also gehabt? Als wenn er selbigen mit seinen neun Leben brauchte…

Innerlich wie äußerlich schaudernd beschloss er, dass er am Besten duschte, bevor er gänzlich erfror. In dem Zuge konnte er sich dann auch ganz anziehen.
 

Mit einem leicht spöttisch angehauchten „Guten Appetit“, als er sah, dass Schuldig die Suppe in Augenschein nahm, verschwand er im Bad und schloss die Tür hinter sich, entledigte sich seiner Sachen.
 

Genoss die momentane Ruhe, die ihn schon seit dem Aufwachen befallen hatte. Ruhe, die nicht hätte sein müssen, wie ihn Crawfords Worte unnütz an andere Möglichkeiten seines Hierseins erinnerten. Ruhe, die sein ‚Urlaub’ hier mit sich brachte, wie Aya es sich zähneknirschend eingestand.
 

Sich seine knöchellange schwarze Schürze umbindend und die Haare lose mit einem dünnen Haargummi auf den Rücken verbannend, deckte Schuldig sich in der Zwischenzeit einen reichlichen Frühstückstisch, mit diesmal eher westlichen Zutaten. Die Musikanlage lauter stellend, hantierte er entspannt in der Küche herum, richtete sich einen bunt gemischten Start in den Tag zusammen. Weder fehlten Früchte, noch aufgebackene Brötchen oder verschiedene Beläge und Marmelade oder Erdnussbutter.
 

Sein Blick fiel dabei auf die traurige Gestalt des Bonsais und er verzog den Mundwinkel zweifelnd. "Na, ob du noch mal was wirst, Kleiner?", murmelte er dem kleinen Bäumchen damit nicht unbedingt Mut zusprechend.
 

Eher unbewusst wippte Aya im Takt der Musik unter der Dusche mit, während er das heiße, wohltuend entspannende Wasser über seine geschundenen Muskeln prasseln ließ. Seine Haare und seinen Körper schließlich mit dem eigens für ihn gekauften Duschgel einseifte. Nun…jetzt konnte er wenigstens nicht mehr behaupten, dass er nicht duschen konnte, nur weil ihm das Duschgel des Telepathen nicht zusagte.
 

Welch trauriges Ereignis.
 

Vorsichtig darauf Acht gebend, dass seine Hände nicht in zuviel Kontakt mit der beißenden Substanz kamen, säuberte er sich schließlich gänzlich und stieg aus der dampfenden Dusche, wollte automatisch einen Blick in den Spiegel werfen.
 

Den er gestern zertrümmert hatte.
 

Aya fluchte stumm. Hätte sich im Nachhinein für diesen Ausbruch ohrfeigen können. Ausgerechnet vor Schwarz so die Beherrschung zu verlieren, würde ihm nie wieder passieren. Nie wieder. Auch wenn es ihn schon erstaunte, wie schnell und effektiv er den Hass hatte verbannen können, obwohl er einen leisen Verdacht hatte, dass es nicht nur an seiner inneren Stärke, sondern auch an dem atypischen Verhalten des Deutschen lag, dass Schuldig bestimmte Denkweisen in seinem Hirn einfach durch kleine Gesten oder Mimiken beruhigen konnte.
 

Kopfschüttelnd ließ er seinen Blick an sich hinuntergleiten, hatte das Gefühl, doch dünner geworden zu sein, als er es ohnehin schon war. Zumindest zog sich sein Bauch unangenehm nach innen, schien sich leicht auszuhöhlen. Zeichen, dass er nicht genug aß, doch was sollte er machen, wenn er einfach keinen Hunger hatte?

Schicksal eines verwöhnten Mannes eben, wie es sich Aya lächelnd eingestand, während er beschloss, in die Sachen des gestrigen Tages zu schlüpfen, es sich jedoch nicht nehmen zu lassen, zunächst nur im Badehandtuch zum Schlafbereich zu gehen und sich dort frische Wäsche zu nehmen. Jedoch nicht das rote Tuch, was sich allzu charmant vor seinen Augen drapierte. Ganz normale Wäsche. Und dicke, warme Socken.
 

Ebenso schnell verschwand er wieder auch im Bad, schnupperte jedoch aus Interesse, was Schuldig in der Zwischenzeit alles vorbereitet hatte. So wie es roch, alles nur leckere Sachen…
 

Aya zog die Tür ein weiteres Mal hinter sich zu und machte sich winterfertig. Hose, Pullover, Wäsche, Socken, die allesamt die Wärme des Duschens einfingen und ihn selbst angenehm temperiert hielten. Mit feindlichem Blick auf seine Haare nahm Aya sich schließlich einer der daliegenden Bürsten und ließ sich auf die Couch fallen. Fuhr sich in gewohnt brutaler Manier durch die lange Mähne. Die VIEL zu lange Mähne. Wäre…da nicht etwas dazwischen gekommen, wäre sie jetzt schon ab!
 

Mit zusammengebissenen Zähnen fuhr er sich durch die verfilzten Strähnen, rupfte sie auseinander. „Ich hätte nie auf diesen Handel mit den Haaren eingehen sollen“, grollte er laut genug in Richtung Küche. „Dann wären sie jetzt schon längst ab! Kurz!“ Die letzte Eitelkeit…beseitigt.
 

Schuldig schloss gerade den Toaster ans Stromnetz an, als Aya wiederkam. Unauffällig huschten seine Blicke zu Aya hinüber wie dieser sich die langen Haare ruppig bürstete. Einige Minuten sah er zu, bis ihm der Geduldsfaden langsam ausfranste und er die Schürze ablegte, zu Aya hinüberging.

"Ist gut...", sagte er leicht genervt. "Ich weiß du magst sie nicht, aufgrund des Versprechens, aber sie dir deshalb ausreißen, wird die Sache auch nicht ändern." murmelte er leise und streckte die Hand wortlos nach der Bürste aus. "Außerdem könnten wir das besser im Bad machen und da du die Haare aufgrund meiner Forderung nicht schneiden kannst, habe ich auch nichts dagegen dir bei dieser unliebsamen Notwendigkeit zu helfen", lächelte er neckend.
 


 


 

Danke für's Lesen.

Fortsetzung folgt!
 

Gadreel & Coco

Drachenhorst

~ Drachenhorst ~
 


 


 

Erst bot ihm der andere Mann an, die Haare zu waschen und nun, sie zu kämmen? Anscheinend eine wirkliche Obsession mit diesen dicken, langen Zotteln!

„Gib’s zu, das hast du von Anfang bis Ende so geplant!“, funkelte er und fuchtelte mit der behaarten Bürste vor Schuldigs Hand herum. Nicht im Geringsten böse, nein. Dafür war er trotz der widerspenstigen Vogelnester auf seinem Kopf zu ruhig, zu entspannt.

Kopfschüttelnd warf er dem anderen Mann die Bürste zu und stand auf, knüllte das Handtuch zusammen, das ihm bisher als Unterlage gedient hatte. Ging vor in das immer noch etwas diesig-feuchte Bad.
 

"Ja na logisch", antwortet Schuldig augenrollend und sparsam blickend, den Mund dabei leicht verziehend.

"Seit meiner Geburt habe ich geplant, einmal einen Mann einzufangen um ihm die langen Haare bürsten zu dürfen", griente er neckend und folgte Aya, wartete bis dieser sich auf den Badewannenrand oder auf die Bank gesetzt hatte um damit zu beginnend erst die Spitzen auszubürsten.
 

Aya schüttelte ebenso amüsiert den Kopf und entschied sich für die Bank. Seine Haare waren im Gegensatz zu seinem Körper der Teil von ihm, den Schuldig berühren konnte…durfte. Weil ihre Vereinbarung es so verlangte. Sollte der Deutsche allerdings meinen, dies wäre eine Einladung…konnte er sich auf was gefasst machen.

„Was habe ich gesagt…durchgeplant…und das über Jahre hinweg“, spottete er sacht. „Und was tust du nun, da du am Ende deiner Ränken angekommen bist?“
 

"Haare bürsten?" lachte Schuldig gelöst und entspannt, werkte konzentriert.

Hielt die langen Haare mit der Hand fest um Aya nicht zu grob an der Kopfhaut zu ziehen, arbeitete so die Flechten heraus, griff zu seiner Haarkur und nahm einen Kamm, arbeitete die Kur in die Spitzen ein.

"Die sehen aber echt fertig aus...die letzten Tage waren nicht so günstig", murmelte er.

"Machst du nichts mit deinen Haaren, was Pflege betrifft?", hakte er nach, in seine Aufgabe vertieft. Er hatte immer auf seine Haare geachtet, da sie von Farbe und auch von der Fülle eher selten waren.
 

Aya schnupperte zweifelnd, als sich ein unmissverständlich frischer Mandelduft hinter ihm ausbreitete. Den er mit einem leichten Herumdrehen seines Kopfes als Produkt einer Haarkur identifizierte. Aya hob misstrauisch seine Augenbraue. Vielleicht hätte er dem anderen Mann doch nicht seinen Rücken zudrehen sollen. Aber wie hatte er auch schon ahnen können, dass dieser die Rolle seines Privatcoiffeurs übernehmen würde?
 

„Es sind nur Haare…wenn sie kaputt sind, kommen sie eben ab“, erklärte er kopfschüttelnd, hielt jedoch inne, als diese Bewegung an seinen Haarwurzeln zog. „Da braucht man nichts pflegen…und wie du schon gesagt hast, stehen sie mir sowieso nicht.“ Er lachte leise. Verschwendung waren sie an ihm, hatte Schuldig ihm charmant vor ein paar Tagen unterbreitet. Und dass eben diese Verschwendung durch die Mangelernährung der letzten Tage gelitten hatte. Nun…das wussten sie beide. Da brauchte er dem Telepathen nicht zustimmen.
 

Schuldig verzog unmutig den Mund und stupste Aya leicht auf den Kopf.

"Das sagte ich, weil ich dich ärgern wollte", gab er zu.

"Die Haare würden einem anderen nicht so gut stehen wie dir, was will man schon mit solchem Haar, wenn der Typ dazu unmöglich ist...das...", murmelte er verdrossen, wollte noch etwas hinzufügen, beließ es aber dabei.
 

Aya zuckte mehr vor Überraschung als vor Schmerz zusammen und bedachte den Telepathen mit einem bösen Blick. Er hätte ihm DEFINITIV nicht den Rücken zudrehen sollen. Er seufzte schwer, hatte er wohl gehört, dass dieser Satz nicht beendet war…dass da noch etwas hingehörte. Was natürlich – wie konnte es auch anders sein – Neugier in ihm weckte. „Das…..?“, hakte er fragend nach, lauschte wie nebenher dem leichten, gar nicht mal so schmerzhaften Zug an seinen Haaren. Eigentlich ein sehr angenehmes Gefühl…zumindest angenehmer als das, was er sich hatte angedeihen lassen.
 

Schuldig grübelte einige Wimpernschläge vor sich hin, wie er nun seinen Satz beenden sollte, entschied sich für das Naheliegendste.

"...dass deine Haare zu dir passen und ...naja...", druckste er herum, fühlte sich mit einem Mal seltsam.

"Du siehst .... eben gut aus", grummelte er beinahe unwillig, dies zugegeben zu haben. Warum denn plötzlich?

Hatte er nicht schon vorher gezeigt, dass Aya ihn nicht kalt ließ?
 

Ähnliches durchzog auch Ayas Gedanken. Natürlich war er sich bewusst, dass der andere Mann sich nicht von ihm abgestoßen fühlte. Leider, wie eine kleine, gemeine Stimme in seinem Unterbewusstsein zum Besten gab. Dennoch fühlte er sich in keinster Art und Weise davon beeinträchtigt. Auch nicht in seinem Umgang mit dem Telepathen.

„War schwer, das zuzugeben, oder?“, lächelte er gutmütig und schüttelte amüsiert den Kopf. Löste den letzten Rest Anspannung aus seinen Zügen. Wartete einfach, bis der andere Mann mit seiner Beute, sprich, den roten Zotteln, fertig wurde.
 

Schuldig stutzte etwas, lachte aber dann warm.

"Naja, schwer eher, es nicht zu schmachtend auszudrücken", durchzog sein warmes leises Lachen das Badezimmer. Mit einem glatten Kamm durchkämmte Schuldig wiederum die langen leicht durchkämmbaren Strähnen, legte sie locker über den Rücken, er widerstand dem Drang an ihnen zu riechen, legte den Kamm, zur Seite nachdem er die Haare die sich darin verfangen hatten, entfernte.

Er wandte sich um, schloss die Haarkur und verräumte sie.
 

Aya verharrte für ein paar Momente still, nahm Kenntnis davon, was der Telepath tat, registrierte das aber nicht wirklich. Sein Fokus lag auf den gerade eben ergangenen Worten. Nicht schmachtend…eine Bewunderung für Schönheit. Schönheit, die er nicht besaß. Welch charmant gelogenes Kompliment.

Aya gab nichts um Schönheit…um die musischen Dinge des Lebens. Sie war nicht wichtig in seinem Beruf. Denn Schönheit bedeutete meist Begehrt sein…und das wiederum Bindungen jeglicher Art. Das konnten sie sich nicht erlauben. Nicht, wenn sie am nächsten Tag schon unter der Erde liegen konnten, kalt, Fraß für die Würmer.
 

Ein bitteres Lächeln stahl sich auf seine Lippen, bevor er es mit Gewalt wieder tilgte. Das war nichts, worüber er nachdenken wollte. Er hätte ein normales Leben führen können, da hatte Schuldig recht gehabt. Und er hatte ausgeschlagen.

„Schönheit ist nichts, das in unsere Welt gehört“, veräußerte er schließlich leise und schüttelte den Kopf. Sah auf die emsige Gestalt des anderen Mannes.
 

Innehaltend und den Kopf nachdenklich zu Aya drehend zog Schuldig die Brauen zusammen.

"Wer sagt, dass du in ‚unsere’ Welt gehörst?", fragte er leicht dahin, als wäre für ihn völlig klar, dass Aya diese Schönheit war und als hätte Aya die ganze Zeit von sich selbst gesprochen.

Diese so präzisen und gut gewählten Worte ließen jedoch erahnen, dass sich viel mehr hinter dieser locker dahin gesagten, aber leisen Frage verbarg.

Seine Augen fixierten Aya ruhig und mit einer Gelassenheit die er sonst selten an den Tag legte.
 

Aya lächelte beinahe schon traurig. Vielleicht hätte es ihn irgendwann geehrt, so etwas zu hören. Irgendwann einmal vor ein paar Jahren, doch nun prallte es an genau der Schicht ab, die ihn befähigte zu töten. Wie Wasser an einem schmierigen Ölfilm, der nichts hindurchließ.

Er gehörte nicht in die Welt der dunklen Gestalten? Dass er nicht lachte.

„Natürlich gehöre ich dazu“, sagte er Schuldigs ruhigen Augen, dem Blick, der ihn trotz seiner inneren wie äußeren Schutzwälle zu durchdringen schien. „Oder habe ich hiermit nicht getötet?“ Langsam hob er seine Hände, streckte Schuldig leicht die Handflächen entgegen. Ausgebreitet wie ein Messias bei der Verkündigung. Nur dass er keiner war.
 

"Darum geht es nicht", schüttelte Schuldig den Kopf und wiegelte ab. "Schönheit ...ist vorhanden, dort wo Hässlichkeit zu finden ist, es sind Gegenpole, die ohne einander nicht vorhanden wären, ihre Definition hängt vom jeweils anderen ab", sagte er sanft, seine eigenen Ansichten wiedergebend.

Er überlegte einen Moment "Willst du beim Frühstück weiter reden?"
 

„Natürlich sind es Gegenpole…aber in unserer Welt überwiegt das Negative. Oder kannst du am Rot des Blutes etwas Schönes finden?“
 

Aya erhob sich, schüttelte seine Haare leicht nach hinten, band sie schließlich wieder zu einem nachlässigen Dutt zusammen, damit die nassen Strähnen ihm nicht zusätzliche Kälte bereiteten. Er folgte dem Vorschlag des anderen Mannes, auch wenn er nicht wirklich Hunger hatte. Doch es roch gut…es roch gesund. Und was sollte er denn hier bleiben? Er hatte ja sowieso nichts zu tun. Vermutlich war er deswegen innerlich so unruhig.
 

Langsam trat er an Schuldig vorbei zurück in den Wohnbereich, warf einen langen Blick zur Küche, wo ihn ein reichlich gedeckter Frühstückstisch erwartete. Beinahe schon fürstlich. Ein schwach belustigtes Lächeln huschte über seine Züge. Nein, ganz sicherlich fürstlich. Sein Blick glitt durch den Raum, blieb an einer halb offenen Tür hängen. Die er bisher noch nicht wahrgenommen hatte.
 

„Was ist dahinter?“, fragte er neugierig und sah zurück, fokussierte sich wieder auf Schuldig.
 

Den Blick Ayas folgen lassend, wandte er sich ab als er erkannte was dieser mit seiner Frage meinte und schenkte sich Kaffee ein, während er antwortete.

"Ein Raum, der schalldicht ist um mich zu entspannen. Wenn ich schon nicht die Gedanken ausschließen kann, dann - so dachte ich mir - wenigstens die Geräusche. Es kommt aber eher selten vor, dass ich die Gedanken der anderen nicht aussperren kann", zuckte er mit den Schultern, nahm einen Schluck des heißen Getränks und sah Aya an. Nun es stimmte nicht ganz, was er Aya erzählte, aber besser eine Halbwahrheit als eine Lüge. Die Gedanken verblassten zu einem Hintergrundgeräusch, welches er nicht mehr wahrnahm, doch er konnte nicht sagen, dass er sie komplett aussperrte. Dies wäre falsch. Aber das ging Aya nichts an...
 

Der momentan völlig fasziniert auf eben diesen Raum zustrebte. Schalldicht? Ohne Geräusche? Nur man selbst...ohne die Umwelt. Schuldig diente er als Entspannung. Ein guter Zweck, wie Aya befand.

Ein Teil von ihm fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, bis oben hin gefüllt mit den Gedanken anderer zu sein, nicht mehr zu wissen, was zu einem selbst und zu den Menschen gehörte, die die Welt barg. War es das, was Schuldig mit vergessen meinte? Dass es manchmal besser war zu vergessen, bevor man verrückt wurde?
 

Stumm betrat er den Raum, vollkommen in sich gekehrt und zog die Tür hinter sich. Tauchte hinein ins Dunkel der Stille. Schwarze, taube Stille. Da war nichts. Nicht einmal ein Rauschen, nicht einmal ein Flimmern. Nur er als Mittelpunkt seines Denkens.
 

Etwas erstaunt über Ayas Interesse setzte sich Schuldig an den Tresen und begann mit dem Frühstück, Aya würde schon wieder rauskommen, falls es ihm zu viel der ‚Ruhe’ wurde.

Auf manche Menschen konnte diese Art Raum einen seltsamen Einfluss aber auch körperliche Auswirkungen haben. Er konnte damit umgehen, schließlich hatte sein Leben eine Zeitlang aus dem Tingeln durch verschiedene psychiatrische Anstalten bestanden, als er noch Kind war.

Aber das gehörte nicht mehr hierher, beschloss er.
 

Aya schloss seine Augen, ließ die Stille wohltuend auf sich einwirken, ihn sich beruhigen. Ohne fremde Gedanken…ohne störende Geräusche, die ihn aus der Bahn brachten…gar nichts. Und dennoch…

Seine Finger tasteten sich langsam voran , als wollten sie ihre Umgebung genauestens erkunden, umschmeichelten sanft die Türklinke und drückten sie hinunter, ließen Licht und Lärm hinein, wie ihm plötzlich bewusst wurde. Das Radio im Hintergrund, die minimal zu hörende Lüftung. Er trat hinaus, öffnete langsam seine Augen. Sah den anderen Mann beim Frühstück…dem reichhaltig dargebotenen.
 

„Nett“, nickte er anerkennend und ließ sich gegenüber vom Telepathen auf einen der Hocker nieder, zog dabei ein Bein an sich und starrte hinaus auf die Stadt.
 

"Du solltest dich vielleicht um dein kleines Gewächs dort drüben kümmern, sonst müssen wir

ihn notwässern!", grinste Schuldig und wies auf den Bonsai, mitten in die eingetretene Stille zwischen ihnen hinein. Obwohl sie nicht unangenehm war.

Das Radio lief, murmelte vor sich hin und untermalte ihr Beisammensein, als würden sie dies öfter tun. Was nicht der Fall war - und vermutlich nicht mehr oft so sein würde. Es gaukelte ihm vor, es wäre alles in bester Ordnung.
 

Der Blick des rothaarigen Mannes kehrte zurück zu seinem momentanen Pendant, von ihm schließlich auf das kümmerliche, schier weinende Gewächs, das seine noch verbleibenden Blätter verzweifelt gesenkt hatte und um Gnade bat. Aya lächelte. Eine Herausforderung für jeden Floristen.

Er studierte den Fukientee aufmerksam, entschied in Gedanken, was für ihn das Richtige wäre und nickte schließlich bedächtig. „Sollte ich…aber erst nach dem Frühstück“, erwiderte er mit hochgezogenen Augenbrauen und griff ruhig zur Kaffeekanne, schenkte sich eine halbe Tasse ein.
 

Tat es unvorsichtiger Weise, denn obgleich er sich schon besser fühlte, viel ausgeruhter, überkamen ihn von Zeit zu Zeit doch noch leichte bis mittelstarke Magenkrämpfe. Wenn auch nicht so intensiv wie zuvor. Doch er brauchte den Kaffee, das war seine Droge. Kaffee und Tee.

Genüsslich tat er den ersten Schluck und sah Schuldig unverwandt in die Augen, studierte dessen auch nicht wirklich ausgeruhtes Gesicht und ließ seinen Blick schließlich über den Tisch gleiten. Es war kein traditionelles, japanisches Frühstück, aber was machte das schon? Er war neugierig, wenn auch nicht hungrig genug, um einiges davon zu probieren. Wie in einem Hotel. Hotel Schwarz. Bester Service, freundliche Bedienung, gute Aussicht. Aya schnaubte amüsiert anhand der Vorstellung und schüttelte den Kopf. Und wer war der Concierge? Etwa Farfarello?
 

Stumm erwiderte Schuldig den Blick für die Momente, die er hielt, bis das amüsierte Schnauben ein Grinsen auf sein Gesicht legte und er sich seinem Toast widmete.
 

"Waaas?", fragte er gedehnt, bevor er in das getoastete Weißbrot biss.
 

Er wollte schon wissen, was Aya amüsierte...
 

Da hatte er den Salat. Jetzt durfte er seine Gedanken auch noch laut erklären, wusste Aya doch genau, dass Schuldig sich mit einem ‚Nichts’ nicht zufrieden geben würde. Ein Lachen wellte in ihm hoch, sprudelte aber nur teilweise an die Oberfläche seiner Stimmbänder, als er sich ein weiteres Mal in seine Kaffeetasse tauchte.
 

„Vielleicht…solltet ihr euren Job aufgeben und ein Hotel groß ziehen. Pension Schwarz, oder etwas Ähnliches. Schöne Aussicht, kompetente Bedienung, ausgiebiges Frühstück. Unser Concierge wird Sie sicherlich gerne beraten“, wiederholte er seine Gedanken und zuckte amüsiert mit den Schultern, begegnete dem inquisitorischen ‚Waaas?’ mit einem Schmunzeln.
 

In seinem Kauen innehaltend, wurden Schuldigs Augen größer und er schluckte hastig hinunter bevor sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete, dass die grünen Augen nur so strahlen ließ.

"Haustiere ebenfalls willkommen. Ihre Hunde und ‚Katzen’ sind hier in besten Händen", lachte er und gluckste vor sich hin. "Und Nagi kümmert sich um das Gepäck, ich um die Wünsche der Gäste und Crawford kümmert sich um das Finanzielle", grinste Schuldig.
 

„Und Farfarello nimmt die Gäste in Empfang….samt…Katzen…und Hunden“, vollendete Aya den Vorschlag und schüttelte sichtbar amüsiert den Kopf. Sowas. Eine nette Vorstellung, wirklich nett. Wie gruselig.

Dass er momentan in eben diesem Gruselkabinett verweilte...nun gut. Als Katze wohlgemerkt, hatte er doch genau die Intonation des anderen Mannes herausgehört. „Wir haben uns diese Codenamen nicht ausgesucht“, erwiderte er mit einem indignierten Naserümpfen, griff sich einen der noch warmen Toasts und brach sich ein trockenes Stück davon ab. Kaute bedächtig langsam und erwiderte den grünen Blick mit einem herausfordernden Funkeln.
 

"Ja vermutlich und aufgrund dessen würden die weiteren Gäste wohl ausbleiben", mutmaßte Schuldig, zu dem Vorschlag Farfarello an den Empfang zu stellen, mit einem bösen Lächeln.

"Ahh, aber diese Namen passen schon zu euch, es macht Spaß, euch damit aufzuziehen, wer will von euch schon Kätzchen genannt werden? Dumm gelaufen, was?"
 

Eine rotbraune Augenbraue hob sich in eleganten Schwung. Sie passten schon zu ihnen? Na das war ja etwas ganz Neues…

„Ja…sehr dumm gelaufen. Aber Gott sei Dank sind wir nicht die Einzigen mit völlig absurden Codenamen…nicht wahr, Mastermind?“, erwiderte Aya und verzog den englischen Namen in bestem japanischen Akzent. Natürlich wusste er, wie es ausgesprochen wurde, und dennoch konnte er es sich nicht verkneifen.
 

Schuldig verzog seinen Mund in gespielter Leidensmiene, in Wirklichkeit belangte es ihn nicht sonderlich, wie sein Deckname ausgesprochen wurde.

"Nun, es kommt lediglich auf die Bedeutung drauf an!", wies er grinsend darauf hin.

"Mastermind klingt genauso bescheiden wie Abyssinian, wenn du mich fragst, aber dahinter steht vielmehr als diese Namen ihrem Klang nach sind, meinst du nicht?", fragte er mit einem lauernden Unterton, ein gefährliches Lächeln präsentierend, schien es fast so, als wolle er Aya zu irgendetwas verleiten.
 

Aya lächelte leicht, ließ sich bewusst zu mehr verleiten. Der Ausdruck in seinen Augen änderte sich, reagierte auf den provokanten Ton des anderen Mannes mit dunklem Amüsement in der Stimme, als er in aller Ruhe ein weiteres Stück Toast abbrach und dann erst zu den Augen des Telepathen zurückkehrte.

„Natürlich sind sie das…wie soll ich sagen. Manche Katzen lieben es, mit den Mäusen zu spielen, die sie fangen, bevor sie sie dann fressen…oder meinst du nicht auch?“, erwiderte er, die Stimme angenehm weich, die Lippen zu einem hintergründigen Lächeln verzogen.
 

Und Schuldig lief es bei dieser Stimme in Kombination mit diesem waffenscheinverdächtigen Lächeln heiß und kalt den Rücken hinunter, wahrte jedoch sein dreistes Lächeln, obwohl er viel lieber trocken geschluckt hätte.

"Lass mich raten, die Maus wäre dann wohl ....wer?", fragte er harmlos und spitzte die Lippen, die Brauen nachdenklich zusammengezogen.
 

„Du natürlich“, erwiderte Aya ganz und gar nicht harmlos und spiegelte das Lächeln des Telepathen, gab ihm jedoch eine noch gefährlichere Note. Eine raubtierähnlich fixierende Note. Ohne zu überlegen, hatte er auf die Frage des anderen Mannes geantwortet und riss ein weiteres Stück Toast aus der Scheibe, schob es sich langsam zwischen die Lippen und kaute genüsslich. Sah offen in die grünen Augen. Eine Katze spielte mit ihrer Beute, bevor sie sie fraß.
 

"Der Gedanke drängte sich mir auch kurz auf", schmälerte Schuldig seinen Blick aus den grünen Augen leicht, zog ein schmollendes Gesicht.

"Und du wärest wohl welche Sorte..? Die, die ihre Beute nach dem Spielen zu ihrem Herrchen bringen um sie stolz zu präsentieren, oder die, die ihre Beute für sich behält und verzehrt?", hatte er den Ansatz eines spöttischen Lächelns, den Blick in die violetten Iriden versenkend.
 

Aya hatte die Anspielung wohl verstanden. Wohin brachte er seine Beute. Tja…

„Das kommt ganz auf die Art der Beute drauf an“, lächelte er beinahe schon charmant. „Wenn es sich für mich lohnt, behalte ich sie solange in meinen Fängen, bis ich Hunger bekomme.“ Ein weiteres Stück, ein Schluck aus der Kaffeetasse. Ein undurchdringlicher Blick. Antwort auf die allzu herausfordernde Frage des Telepathen.
 

Schuldig belegte sich ein weiteres Toastbrot. "Dann warte lieber nicht zulange, nicht, dass sie dir dann noch ausbüxt, vor lauter Warten, bei deinem mangelnden Appetit kann es schon sein, dass du dann mit leeren Samtpfoten dasitzt und in die Röhre guckst", grinste er wieder und kaute genüsslich auf seinem Toast herum.
 

Aya lächelte leicht und nahm sich demonstrativ ein Stück des frischen Obstes, biss genüsslich hinein. „Aber vielleicht ist genau das die Absicht der Katze. Alles Illusion…Illusion für die Maus, dass sie erst frei ist. Doch letztendlich hat die Katze ihren Geruch aufgenommen und wird sie jagen…im Stillen, unbemerkt von der Maus. Und wenn sie DANN Lust hat, wird sie sie sich fangen und fressen, wie es ihr Plan gewesen ist.“

Sein Blick ruhte immer noch auf den Zügen des Telepathen, während seine Stimme immer leiser geworden war. Sein Blick etwas von der Beharrlichkeit verriet, von der er gerade gesprochen hatte. Oh ja…Schuldigs Geruch hatte er schon lange aufgenommen.
 

Ohne aufzusehen, widmete sich Schuldig seinem Frühstück.

"Ein psychologisches Gutachten über das Jagdverhalten der Katze?", fragte er in sich hineinlächelnd.

"Die Katze sollte sich lieber um die Beweggründe der Maus Gedanken machen. Und sie vor allem nicht unterschätzen."

Seine Worte waren ebenso leise, fast schon beiläufig ließ er sie wirken. Durch die Sanftheit darin konnten sie jedoch durch die Thematik des Gespräches eher als eine kleine Warnung verstanden werden. Aber immer noch im Rahmen ihres Gespräches und nicht weiter hinaus gehend.
 

„Vielleicht ist die Katze sich dieser Beweggründe sehr wohl bewusst, weiß sie aber in ihre eigenen Pläne mit einzuflechten, ohne dass die Maus es merkt. Wer weiß…vielleicht ist das auch nur ein Spiel der Katze. Um der Maus scheinbare Freiheit zu gewähren.“

Aya ließ seinen Blick hinausschweifen in die kalte Landschaft und nahm sich derweil ein Glas Fruchtsaft. Lächelte schließlich, hatte er wohl schon verstanden, was Schuldig damit ausdrücken wollte. Die Warnung ihm gegenüber. Auch wenn er ihrer nicht bedurfte. Kritiker hatten Schwarz einmal unterschätzt…den Telepathen unterschätzt. Das würde er nicht machen. Aus Fehlern lernte man. Zumal er wusste, mit welchen Faktoren er zu spielen hatte.

„Vergiss nicht. Die Katze ist der natürliche Feind der Maus….und die Maus ihre Beute.“
 

"Oh, das ‚vergesse’ ich mit Sicherheit nicht", lächelte er hintergründig, Aya immer noch nicht ansehend.

"Ich weiß aber auch, dass der Spieltrieb der Katze ihr Verhängnis werden kann und ihre Schwäche ist, ebenso wie ihr... Stolz." Er griff zur Kaffeekanne. "Möchtest du noch?", sah er auf, die Augen etwas dunkler als sonst, da er sich Gedanken darum machte, wie er weiter verfahren sollte. Sollte er Aya weiter hier behalten?

Mit welchem Ziel, welcher Absicht?

Ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen sah er Aya an.
 

Dass sein Blick, das Lächeln in Kombination mit den Worten eher wehmütig oder gar traurig erschienen, obwohl der Ton eher neutral war, war ihm nicht bewusst.
 

Schuldig nicht, Aya in diesem Moment schon. Vielleicht gerade deswegen, weil er es so selten erlebt hatte, stach eben diese Traurigkeit wie ein leuchtender Pfeil aus dem üblichen Verhalten des Telepathen hinaus.

„Danke nein“, erwiderte Aya mit ruhigem Samt in der Stimme und schob seine Tasse zu sich. „Auch wenn es ihr zum Verhängnis wird, so hatte sie doch wenigstens ein gutes Leben gehabt. Das ist doch schon mal was…nicht jeder stirbt an Spieltrieb…und an Stolz schon gar nicht. Zumindest hat sie dann ihre Würde bewahrt, meinst du nicht auch?“
 

Warum Schuldig jedoch diese offene Niedergeschlagenheit zeigte, war Aya ein Rätsel. Er wusste es nicht. Doch wollte er sich Gedanken darüber machen? Er war sich nicht sicher, ob das wirklich gut war.
 

"Damit kann sie aber nicht weiterwachsen, aus ihren Fehlern nicht lernen und stärker werden, wenn sie zu sehr ihren Idealen verhaftet ist. Aber gut, Instinkte kann man nicht einstellen, Katzen sind nunmal so", zuckte er mit den Schultern, bewusst den ersten Satz noch auf Aya bezogen, den zweiten wieder auf die samtpfötigen Jäger.

Er füllte sich seine Tasse erneut auf, nahm einen Schluck und beendete sein Frühstück.
 

o~
 

Aya seufzte innerlich. Seitdem er sich nun nach dem Frühstück auf eines der beiden Sofas zurückgezogen und darauf gehofft hatte, noch etwas Ruhe zu finden…Schlaf inbegriffen, war genau diese Traumvorstellung wie eine Seifenblase zerplatzt. War ihrer Nadel in Form des Telepathen begegnet, der sich auf dem anderen Möbelstück breit gemacht und sich durch die nachmittäglichen Sendungen zappte. Immer bei dem stehen blieb, das Aya schon lange als nicht ausstrahlungswürdig befunden hatte.
 

Doch zum Lesen hatte er jetzt keine Lust, dazu war er innerlich viel zu träge. Also blieb nur das stumme Zuschauen und Gedanken schweifen lassen…oder sich, wie er es nun machte, eine Tasse Kaffee zu holen, der noch frisch gebrüht auf der Wärmeplatte stand. Das und einen Apfel, da sich sein Magen doch recht penetrant meldete. Nach Inhalt verlangte. Schon beinahe schmerzte.
 

Langsam schlich sich Aya zurück, verzog unwillkürlich das Gesicht, als ihm eine quietschige, piepsende Frauenstimme die neusten Süßigkeiten anpries. Zucker pur…das neumoderne Japan, wie es poppiger nicht mehr ging. Ohne Rücksicht auf alte Traditionen….Seufzend biss er in den Apfel, ließ sich auf seine Ruhestätte nieder. Vertilgte langsam sowohl Kaffee als auch Obst.
 

Auch wenn das seine Beinahemagenschmerzen nicht tilgte, ganz im Gegenteil. Aya fühlte deutlich, dass sie schlimmer wurden. Deutlicher. Ziehender.

Unwillkürlich zog er die Beine zu sich auf das Polster, versuchte sich somit etwas Erleichterung zu verschaffen.
 

Es kam wirklich nichts Interessantes auf den aktuellen Sendern und Schuldig ließ frustriert die Fernbedienung neben sich fallen, machte es sich auf der Couch bequem und ließ seinen Blick zu Aya hinübergleiten.

"Willst du etwas trinken? Saft, Wasser?" fragte er müßig, den verbissenen Gesichtsausdruck des anderen bemerkend.

"Geht's dir nicht gut? Du siehst aus als hättest du Bauchschmerzen...", murmelte er, ließ Aya nicht aus dem taxierenden Blick, selbst noch immer gemütlich eingerollt, den Kopf auf der Lehne abgelegt.
 

Aya schüttelte stumm den Kopf. Nein…trinken wollte er jetzt nichts mehr. Höchstens einen Tee gegen Magenschmerzen. Und eine Wärmflasche. Aber das würde er dem anderen Mann nicht auf die Nase binden.

„Alles in Ordnung“, log er glatt und ließ seinen Blick wieder auf den Bildschirm gleiten. Weg von Schuldigs fragendem Blick. Verdammter Kaffee. Verdammte Fruchtsäure. Alles zuviel. Er hätte es sich eigentlich denken können. Verdammter Hungermarathon.
 

Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, weiter zu versuchen, den immanenten Schmerz zu ignorieren, doch dann stieß ihn sein Magen auf ein ganz anderes Vorhaben. Er brauchte diese Wärmflasche…irgendetwas, dass das Gefühl minderte, das sich nun in ihm breit machte.

Ein weiteres Mal den Kopf schüttelnd begab er sich in den Küchenbereich und suchte nach einer Wärmflasche. Bisher allerdings erfolglos.
 

Mit den Schultern zuckend täuschte Schuldig vor sich wieder auf die uninteressante Sendung zu konzentrieren, doch die Unruhe in dem anderen Mann blieb ihm nicht verborgen.

Er blickte Aya nach wie dieser scheinbar auf der Suche nach etwas durch die Küche streifte.

"Ich kann dir nicht irgendwie helfen?", fragte er von seiner Position. "Die Wohnung ist wirklich groß, wenn du mir sagst was du willst, könnte ich dir’s bringen?!", überlegte er laut, sich keineswegs rührend und Aya weiter in aller Seelenruhe zusehend.
 

Eine Weile suchte Aya noch schweigend weiter, bis er zu dem Ergebnis kam, dass er sie nie finden würde…nicht mit seinem planlosen Suchen. Für einen Moment starr vor Unwohlsein lehnte er sich an die Anrichte und sah zu Schuldig hinüber. Wie dieser sich keinen Millimeter von der Couch bewegt hatte. Faultier.
 

Er gab auf.
 

„Eine Wärmflasche“, brachte er schließlich ausdruckslos hervor, wollte dem anderen Mann nicht eingestehen, dass ihm nicht gut war und er regelrecht Schmerzen hatte. Wie gut, dass er den Tee schon gefunden hatte und nicht auch noch deswegen fragen musste…

Schweigend drehte er sich wieder weg und setzte Wasser auf.
 

Schuldig schüttelte innerlich den Kopf über soviel Verbohrtheit. Warum konnte Aya das nicht sagen? Warum nicht zugeben, dass es ihm nicht gut ging, obwohl man es ihm ansehen konnte. Die Schultern, die leicht nach vorne gezogen waren, der ganze Körper nur minimal gekrümmt und der verbissene Gesichtsaudruck, wiesen darauf hin, dass es Aya nicht gut ging. Aber nein, Herr Ich-bin-so-stark-und-ein-Indianer-kennt-keinen-Schmerz, kann ja nicht zugeben, wenn’ s ihm nicht gut geht, grummelte Schuldig innerlich, während er sich seufzend erhob und zielstrebig ins Badezimmer ging, in den Schränken nach der Wärmflasche suchte. Im obersten Fach fand er dann das grüne Plüschtier, das als Innenleben eine Wärmflasche hatte. Ein grüner Drache mit hellgrünen Zacken auf seinem Rücken und einem frechen Blick lag in seinen Händen als er damit in die Küche ging, kurzerhand das heiße Wasser - welches sich Aya scheinbar schon vorbereitet hatte nahm und durch das Maul des Drachen in die Wärmflasche einfüllte. Fluchs war der Deckel zugeschraubt und der flauschige Drache an Ayas Bauch gedrückt.
 

So stand Schuldig da und grinste etwas schräg. "Hier", schob er den Drachen Aya in die Hände. "Warm, weich und flauschig, was will man mehr? Und...der passt auch auf grummelige, kranke Patienten auf, damit sie schnell wieder gesund werden", fügte er besserwisserisch an, bevor er seinen Platz auf der Couch wieder aufsuchte und sich dem Programm widmete.
 

Aya grummelte wirklich. Empfänger war jedoch anstelle des Deutschen der zu ihm hoch blinzelnde Drache. Ein Viech, schon wieder eins. Für grummelige Patienten. Er war nicht grummelig! Aya verspürte große Lust, dem Telepathen einen gehörigen Tritt in den Hintern zu verpassen, überdeckte dies jedoch mit dem warmen Wohlgefühl, das sich auf seinem Bauch ausbreitete. Ihm jedoch noch keine Erlösung schenkte. Noch nicht.
 

Sich den Tee greifend, folgte er dem anderen Mann in den gemütlichen Sitzbereich der Wohnung, nahm erneut Patz auf der Couch. Ließ es sich dieses Mal jedoch nicht nehmen, sich hinzulegen und die Decke bis zum Kinn hochzuziehen. Den freundlichen Drachen zu verstecken, der so angenehm auf seinem Bauch lag.

Aya kuschelte seinen Kopf auf das Kissen. Schwor sich, nie wieder soviel Kaffee zu sich zu nehmen. Nie wieder.

„Danke“, fauchte er mit einiger Verspätung und warf einen grollenden Blick in Richtung des Telepathen.
 

"Aber bitteschön", lächelte Schuldig allerliebst und grinste dann. "Du machst deinem Schoßtierchen alle Ehre, fauchen kannst du, das muss man dir lassen!", gab er anerkennend zu und grinste eine Spur breiter, den Kopf auf die Hand aufgestützt und seitlich auf der Couch liegend. "Hoffentlich speist du nicht auch gleich noch Feuer...obwohl deinem Magen nach... vermutlich muss ich mich doch noch in Acht nehmen, nicht, dass mich hier eine Feuersalve trifft", schmunzelte er, doch sein Blick lag weich auf der eingerollten Gestalt Ayas, den er lediglich necken wollte.
 

„Vermutlich ist aber optimistisch ausgedrückt“, grollte Aya zurück, machte jedoch keine Anstalten, seiner Drohung nachzukommen oder gar, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, ruhig ein und aus zu atmen. In den Schmerz zu atmen…ihn aus seinem Körper zu bekommen. Auch wenn er sich dazu schließlich auf den Rücken drehen musste, aber nicht ohne vorher Schuldig noch einen nicht wirklich bösen Blick zuzuwerfen.

Dennoch endete er schließlich damit, wie blind an die Decke zu starren und einfach nur zu atmen…seinen Kopf zu leeren und zu atmen.
 

Schuldig runzelte die Stirn und sah das Drama auf der anderen Couch mit an, die Lippen nachdenklich verziehend. "Nun stirb mir hier ja nicht weg!", sagte er etwas lahm und stand dann doch auf, ins Badezimmer gehend um nach Tabletten zu suchen.

"Und das will ein Killer sein", murmelte er etwas abfällig im Bad unhörbar für Aya und mit einem grinsenden Kopfschütteln. Er wollte nicht zu sehr zeigen, wie besorgt er war, oder dass er sich gerne mehr um den Anderen kümmern würde. Also mimte er den gelangweilten und genervten Typen.
 

Ungesehen von Schuldig…oder vielleicht auch nicht, erhob sich nun langsam ein Arm und ragte als einsamer Ast empor, entblößte aber eindrucksvoll einen starken, männlichen Mittelfinger. Aya war nicht nach Worten, jetzt schon gar nicht, also ließ er Gesten sprechen. Schuldig konnte ihn…aber gehörig. Sterben…er. Es tat trotzdem weh und er hatte es sich nicht ausgesucht!

Er schloss seine Augen.
 

Wo waren sie denn...,wühlte Schuldig in Gedanken vertieft und darin nach dem Aufenthaltsort seiner Magentabletten forschend in dem kleinen Koffer herum, in dem er diverse Medikamente aufbewahrte. Das kleine Glasfläschchen fiel ihm dann auch prompt in die Hände und er ging in die Küche um Aya ein Glas Wasser zu füllen, kam wieder zu dem Leidenden und setzte sich neben den sterbenden Schwan auf den Boden und blickte Aya aus forschenden Augen an, als wäre dieser ein Versuchsobjekt in einem Schaukasten. "Ich hab hier was für dich...", hielt er die Tabletten in die Höhe und wackelte auffordernd mit den Augenbrauen.

„Garantierter Lebensretter für alle sterbenden Schwäne!", sagte er ernst, doch die grünen Augen glitzerten frech, als er Aya betrachtete. Schwan passte wirklich gut, die Hautfarbe und der schlanke Hals fügten sich gut in dieses Bild ein.
 

Das Kissen, welches gerade noch so bereitwillig als Unterlage für seinen gemarterten, sterbenden Schädel gewesen war, fand seinen Weg in Schuldigs allzu zuvorkommend lächelndes Gesicht. „Der SCHWAN braucht keine Tabletten“, grollte er indigniert…er war doch nicht sterbenskrank. Und schon gar kein…wie konnte Schuldig es wagen, ihn mit dieser…

„Ich habe NUR Magenschmerzen…kein Grund..!“ Und nun versagte ihm auch noch äußerlich die Stimme vor lauter Entrüstung, seine Arme verschränkend.
 

"Doch der SCHWAN braucht wohl `ne Tablette!", nuschelte Schuldig, das Kissen immer noch vor dem Gesicht, jetzt aber langsam herabziehend und wie ein Kleinkind, welches zu Streichen aufgelegt war, linste er über den Rand des Kissens. "Was heißt hier ‚nur' Magenschmerzen? Ich dachte wirklich, du gehst drauf!", ereiferte er sich und klimperte mit den Wimpern.
 

„Nein, der SCHWAN braucht einen Tee und Wärme…und….“, erwiderte Aya, verstummte jedoch angesichts des Anblicks, der sich ihm bot. Des zwinkernden und albernden Telepathen, der für einen Moment das erreichte, was Aya bisher nicht gelungen war. Er ließ die Magenschmerzen in den Hintergrund treten und machte Platz für ein überraschtes Schnauben, das nur allzu bald in ein amüsiertes Lachen brandete.
 

Hinter dem Kissen breitete sich ein Grinsen aus, als Schuldig das Lachen hörte und es förmlich durch seinen Körper perlte. Wow. Dass er dies doch noch erleben durfte! Aya lachte. Und das auch noch wegen ihm! Starke Leistung, Schuldig, lobte er sich innerlich und sein Blick wurde warm, lag auf Aya als er das Kissen fortnahm.

Und er sonnte sich in diesem Lachen, weil es durch ihn ausgelöst wurde. Seltsam, dass es ihm gut tat, dachte er momentan etwas stirnrunzelnd und piekste dann auf der Wärmflasche herum, hörte das gluckern des Wassers im Inneren des Drachen, um sein Wohlgefühl aufgrund der guten Laune von Aya zu überspielen.

"Na, da gluckerts aber ordentlich im Bauch des Schwans, scheint als hätte der schon einen warmen Teebauch!"
 

Aya sah förmlich, wie Schuldig angesichts seines Lachens erblühte und ihn anstrahlte, als hätte er gerade etwas besonders schönes gesagt. Blinzelte ungläubig, als der Drache auf seinem Bauch in Bewegung kam, zielsicher zum Sprechen gebracht durch Schuldig.

„Na sowas“, lächelte Aya, sah sich im Moment außer Stande ernst zu sein. „Wo ich doch noch gar nichts getrunken habe!“ Drehte sich leicht zur Seite, zu Schuldig hin. Piekste selbst noch mal auf den glucksenden Drachen.
 

"Ha!" ereiferte er sich und machte gespielt große Augen. "Das hast du alles gebunkert! Und ich mach mir da Sorgen...", verstummte er leiser werdend, sich bewusst, dass er gerade etwas verraten hatte, was er nicht so direkt hatte sagen wollen.

Verlegen wandte er sich wieder dem abgestellten und in halbe Vergessenheit geratenen Glas voller Wasser zu. "Willst du noch, oder meinst du es geht wirklich ohne?" Wieder etwas ernster, aber dafür verlegener, mied er momentan den Blick, den er sonst so offen suchte.
 

„Sorgen?“, fragte Aya ungläubig nach, verstummte aber ebenso wie Schuldig und blinzelte verwirrt. Besah sich den ungewöhnlich ausweichenden Mann vor sich. Er hatte durchaus eine Idee davon, was Schuldig so zu schaffen machte, auch wenn er erst davon überzeugt gewesen war, dass der Telepath solche Dinge nur im Scherz sagte.

Niemand brauchte sich Sorgen um ihn zu machen, ein Mitglied des gegnerischen Teams schon gar nicht. Sorgen erschwerten das Leben nur und hielten unnötig davon ab, seine Aufgaben zu verrichten.

„Es geht ohne“, erwiderte er schließlich ruhig, beinahe schon beruhigend. Spürte wirklich schon Besserung. Lachen wirkte anscheinend Wunder. „Der sterbende Schwan ist noch einmal mit seinem Leben davongekommen….“
 

"Ach war nur Spaß", kam es wenig glaubhaft zurück und Schuldig stand auf, setzte sich auf die Couch, die Fernbedienung und sein Dauerzappen wieder aufnehmend. Wie Indiana Jones auf der Suche nach dem heiligen Gral, so machte er sich auf die Suche nach einer interessanten Sendung!

Er machte sich doch nicht wirklich sorgen, zumindest wollte er das Aya weismachen. "Is gut“, sagte er etwas verspätet zu Aya gerichtet, sah ihn aber nicht an. "Willst du später etwas mit mir essen? Darfst auch kochen", spielte er den Gönner und zog die Beine an sich, die Arme lässig darauf abgelegt.
 

Aya tat für ein paar lange Momente so, als müsste er überlegen, ob er überhaupt für Schuldig kochen konnte. Als müsste er abwägen, welche Risiken das barg. Er legte den Kopf schief, schob sich das auf dem Tisch liegende Kissen wieder zurück unter seinen Schädel und fixierte den zappenden Telepathen schweigend.

„Das willst du dir wirklich antun? Dass ich koche? Bist du dir sicher?“, spöttelte Aya und zog sich die Decke wieder ein Stückchen höher, warf einen Blick auf den immer noch niederprasselnden Regen, der so sanft geräuschvoll an die Scheiben wehte. Spaß? Nein…das war es nicht gewesen. Kein Spaß. Das wusste Aya ganz genau, wie auch Schuldig.
 

"Klar", antwortete Schuldig unumwunden. "Bin wagemutig und blicke dem Grauen immer offen ins Gesicht!", witzelte er mit einem Grinsen.

"Aber mal im Ernst. Deinen Händen geht's besser, nicht? Also ...du wolltest doch gestern kochen, warum nicht heute?", schlug er vor und zuckte mit den Schultern, als wäre alles kein Problem.
 

„Ah….nichts ist umsonst“, lächelte Aya frech. „Was bekomme ich denn dafür, wenn ich dich mit der Kunst des Grauens beehre?“

Unbewusst sah er auf seine Hände hinab, nahm die wütend roten Spuren in seinem Gedächtnis auf. Besser ging es ihnen…ja. Auch wenn es noch ein kleines Weilchen dauern würde, bis sie wirklich verheilt waren…doch dass ihn das am Kochen hindern würde…nein.
 

Schuldig wandte den Kopf blickte Aya für einen Augenblick nachdenklich an, tat so als müsse er schwer überlegen. "Ich lasse mir etwas einfallen! Es wird sich aber wirklich lohnen, dass kann ich dir schon einmal versprechen!", lächelte er nun breit und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Wenn du was leckeres kochst, gewinnst du damit den Hauptpreis."
 

„Ach?“, hakte Aya nun wirklich neugierig nach. „Den Hauptpreis…der da wäre?“ Neugier war der Katze Tod…er merkte es immer und immer wieder. Er war einfach viel zu neugierig, als dass es gut für ihn sein könnte. Und was war der Hauptpreis? Ein weiterer Urlaub? Dieses Mal auf den Malediven? Spanien? Afrika? Usbekistan? Aya schauderte unwillkürlich.
 

Mit dem Finger wedelnd sah Schuldig Aya listig an. "Wird nicht verraten, sonst ist die ganze Spannung dahin", grinste er und blickte wieder zum Fernseher. Für ihn war das Thema somit erledigt, auch wenn ihn innerlich eine leise Wehmut beschlich.
 

o~
 

Neugier war der Katze Tod, wie wahr, wie wahr. Doch bevor Aya schließlich an Neugier starb, weil Schuldig sich lange Zeit nichts anderem als dem Fernsehen widmete, goss er lieber den Bonsai.

Seufzend erhob sich Aya und streifte in die Küche. Nahm den armen Fukientee in Augenschein. Verkümmertes, armes Gewächs…ab unter die Dusche mit dir, sprach er in Gedanken mit dem Bonsai, schüttelte lächelnd den Kopf und trug das Pflänzchen ins Bad, wo er es erst einmal richtig mit Wasser versorgte. Damit sein Namensvetter endlich wieder auf die Beine kam und nicht verdurstete.
 

Den Nachmittag verbrachte Schuldig in trauter Einsamkeit mit sich und dem Zepter der Macht, sich der ungeteilten Herrschaft über die Fernbedienung sicher, ärgerte sich über dumme Kommentare der Moderatoren in diversen Shows. Oder er ekelte sich in farbenfroher und grimassierender Ausdrucksweise über die Aufgaben, die Kandidaten in Mutprobeshows bewältigen mussten.

Aya geisterte unterdessen irgendwo in der Wohnung herum, von Schuldig geflissentlich außen vor gelassen, entschlossen seinem erwachten Interesse für Aya und die damit verbundene Sorge mit einer Verdrängungstaktik beizukommen. Aus dem Augen aus dem Sinn, so das Motto der Stunde. Also starrte er in die Flimmerkiste und ignorierte den Weiß, besser er versuchte es... .
 

Ebenso wie Schuldig sich völlig auf etwas anderes konzentrierte, begann Aya nach einiger Zeit mit dem Kochen und versank ebenso in seiner eigenen Welt aus Konzentration und Kunst. Auch wenn er es nicht gerne zugab, so verschaffte ihm der Umgang mit rohem Fleisch und Messern doch eine gewisse Befriedigung. Ebenso wie er sich glücklich schätzte, mit einfachen Tricks etwas wirklich leckeres zu erschaffen.

Aber mal sehen…vielleicht schmeckte es dem Telepathen ja gar nicht.
 

Aya lächelte stumm, summte zu einer imaginären Melodie. Wenn Schuldig es wagen sollte, das wirklich gut gewordene Hühnchen zu verschmähen…und das galt auch für das angebratene Gemüse und den Reis. An sich Basics, doch das, wonach ihm gerade der Sinn stand. Aya reckte sich empor. Diese Schränke waren einfach zu hoch für ihn. Anscheinend auch zu hoch für das Shirt, welches er trug und nun seinen mehr als ausgehungerten Bauch entblößte.
 

Während Aya kochte, machte sich Schuldig in der Pause seiner Quizshow in den Schlafbereich auf, zog sich ein dünnes schwarzes Hemd an und werkelte ein Weilchen in seinem Schrank herum, bevor er wieder ohne großes Aufsehens zur Couch kam und sich darauf bequemte. Ohne weitere Worte schloss er an die Sendung an und ignorierte Ayas Tun. Obwohl ihm fast schon das Wasser im Mund zusammenlief bei dem leckeren Düften die seine Nase umwehten.
 

Es dauerte noch gut eine halbe Stunde, bis Aya schließlich wirklich sagen konnte, dass er fertig war. Mit allem. Aus reiner Langeweile hatte er auch das Tischdecken übernommen...wie auch Spülen und Abtrocknen. Denn bevor er sich diese Shows antat und sich selbst verdummschte, mutierte er zum Hausmann. Als wenn er bei Weiß etwas anderes wäre…wer konnte von ihnen denn schon kochen?
 

„Wenn du noch nicht all deine Gehirnzellen abgetötet hast um deinen Hintern in die Küche zu bewegen, ist das Essen fertig“, ließ er über seine Schulter in Richtung Fernseher klingen und nahm die Töpfe vom Herd, stellte sie samt Untersetzer auf den Tresen.
 

"Von wegen!", motzte Schuldig zurück und bequemte sich aufzustehen, schaltete den Fernseher aus und ließ leise Musik erklingen. "Das sind durchaus bildende Sendungen gewesen", erläuterte er Aya näselnd.
 

Sich setzend sah er neugierig was Aya gekocht hatte und freute sich schon darauf die Köstlichkeiten probieren zu dürfen. Erwartungsvoll sah er Aya an, bis dieser sich endlich setzte.

Er hatte durchaus bemerkt, wie dünn Ayas Leib war, wie wenig er aß und Schuldig ließ seinen Blick erneut zur Rumpfmitte des Anderen wandern. "Ich will aber schwer hoffen, dass du jetzt mehr isst als bei den paar Malen, die ich gekocht habe", sagte er und zog zweifelnd eine Augenbraue nach oben.
 

Aya schnaubte verächtlich und angelte sich die letzte Schüssel mit dem frischen Salat von der Anrichte, setzte sie schließlich ebenso auf den Tisch. Da kochte er für den anderen Mann und womit dankte es dieser ihm? Mit einem äußerst lästigen Spruch über seine Essgewohnheiten. Wenn Aya eins hasste, dann das. Schon Youji konnte ihn damit nicht in Ruhe lassen. ‚Aya…hier, ich hab dir was mitgebracht, jetzt ISS ES!’, Aya…na komm…es schmeckt doch…WAGE ES JA NICHT DAS STEHEN ZU LASSEN!’. Nett gemeinte Ratschläge, alle miteinander. Und dass er nun noch weniger aß, lag nicht nur daran, dass er diese glorreichen zwei Fastentage hinter sich hatte.
 

Seine Augen kamen auf dem Telepathen zum Ruhen, huschten für einen Moment über dessen Gestalt. Konnte der andere Mann nicht einfach anfangen zu essen? Dann würde er wenigstens mit etwas anderem als ihm selbst beschäftigt sein.
 

„Warum sollte ich? Wenn ich mich so wenig bewege wie hier, setzt das nur an“, gab er scheinbar ernst zurück und griff sich eine der Kellen, wandte sich erneut an Schuldig. „Reis?“
 

Im Normalfall würde Schuldig jetzt seinem Drang nach einem lauten Lachen nachgeben... . Doch dies war kein Normalfall. Also ...

"Ja gerne", sagte er nur schulterzuckend und bediente sich.

"Ich hatte dich eigentlich etwas anders eingeschätzt. Aber Aufmerksamkeit zu erregen, indem du nichts isst...passt gar nicht zu dir...", spielte er den großen Denker und zog die Brauen zusammen, während er vor sich hin murmelte und sich am Essen bediente. "Ist ja deine Sache, nur fällt halt auf und lenkt mich vom Essen ab, wenn du es dir nicht schmecken lässt!"
 

Was Schuldig unterdrückte, ließ Aya nun frei aus sich herausperlen. Er lachte. Überrascht. Schallend. Lachte über das, was Schuldig ihm unterstellte. Schüttelte amüsiert den Kopf. Youji hätte seine wahre Freude an Schuldigs Kommentar, das WUSSTE Aya nur zu gut. Würde wahrscheinlich sogar noch nicken und dem Deutschen die Hand reichen.

Seine Augen blitzten fröhlich, als er sich in aller Ruhe ein Glas Saft einschenkte, seinen Teller noch leer ließ. An dem köstlichen Getränk nippte.

„Wenn es dich stört, kann ich natürlich auch die Küche verlassen. Dann kann wenigstens einer von uns gut essen.“
 

Schuldig hatte angefangen zu essen, blickte bei der Antwort nicht auf. Er fand es nicht zum Lachen. Ganz und gar nicht. Aya war viel zu dünn. Und das durch seine Schuld. Und er brauchte Schuldig nicht erzählen, dass er der große Esser war, denn scheinbar fehlte Aya schon allein die Grundeinstellung zum Essen. Was es bedeutete, sich ausgewogen zu ernähren, nicht um sich zu überfressen, aber um seinen Körper gesund zu halten.

Schuldig verdrängte seinen stillen Monolog und aß vor sich hin. "Am Besten, du verlässt die Wohnung, dann kann ich wirklich in Ruhe essen. Die Tür ist offen. Die Kleidung hab ich dir bereits hingerichtet, das Essen hat den ersten Preis verdient und das ist deine Freilassung", sagte er ruhig und leise, betont kühl. Er fühlte sich verletzt. Durch Ayas Lachen verletzt.

Aya aß definitiv zu wenig. Die herausstehenden Knochen, alles zeugte davon, dass Schuldig daran Schuld hatte und seine Bemühungen, Aya dies zu vermitteln - dass er sich sorgte, dass er wollte, dass es ihm gut ging, schlug der Andere aus. Er wollte es nicht sehen.
 

Aber warum sollte er es denn annehmen? Du hast keine Beziehung zu ihm, in keinster Weise. Vielleicht eher eine feindschaftliche Beziehung, das ist alles. Also warum nervst du ihn damit? Lass ihn doch machen, was er will. Das geht dich nichts mehr an. Dir geht es gut! Sonst ist nichts wichtig, riet ihm seine innere Stimme, die immer dann einsprang, wenn ihn etwas gekränkt hatte.
 


 


 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Fortsetzung folgt...

Coco&Gadreel

Home sweet home

~ Home sweet home ~
 


 


 

Aya hatte zuerst nur auf den harten, kühlen Ton gehört, die Worte dahinter nicht wirklich verstanden. Nicht wirklich verstehen können, sprachen sie doch das aus, was er sich bewusst und unterbewusst immer gewünscht hatte. Schuldig ließ ihn…gehen? Ein Teil in Aya wagte das zu bezweifeln, glaubte an ein neuerliches Spiel des anderen Mannes, an Spott.

Doch der weitaus größere schöpfte Hoffnung aus den Worten des rothaarigen Deutschen. An den Augen, die ihn nicht ansahen. Am Ton des Telepathen.
 

Langsam, beinahe schon vorsichtig setzte er das Glas ab, stand auf. Was, wenn es nur ein Spaß war? Was wenn….Aya erstickte die Zweifel, trat zögernd, zittrig aus der Küche hinaus. Sah die Sachen, sah die offene Tür. Zeichen, dass er gehen konnte. Durfte.
 

Mit wild klopfendem Herzen ging er zur Tür, zog sich nervös zitternd seine Schuhe an. SEINE. Mit denen er jetzt…und ein Mantel. Frei. Aya atmete bemüht ruhig ein. Schluckte seinen allzu großen Kloß hinunter. Frei. Auch wenn der Anlass dazu ihn mehr als erzürnte, hatte er doch sehr wohl die Verletztheit in den Zügen des Deutschen gesehen. Gehört in dessen Worten.
 

Schuldig. Sein Blick fiel zurück zur Küchenzeile, sah den Schwarz dort schweigend sitzen. Eines noch. Eines gab es noch zu tun. Seine Hände schlotterten, immer noch, als er Schritt um Schritt zurücktat. Seine Angst niederkämpfte, doch hier bleiben zu müssen.

Aya lauschte seinen gedämpften, bestiefelten Schritten, die ihn schließlich wieder auf die Fliesen führten. Er blieb neben Schuldig stehen, unschlüssig, wie er es sagen sollte.
 

„Eines noch…“, wiederholte er schließlich seine Gedanken und strich dem Schwarz die Ponyfransen aus der Stirn. Platzierte einen kaum fühlbaren Kuss auf die Stirn des Telepathen. Das war die Sache mit den Versprechen…Waren sie nun leichtfertig oder nicht…er hielt sich an sie. Das Versprechen, Schuldig bei seiner Freilassung einen Kuss zu schenken, gegeben, ohne, dass der andere Mann es ernst genommen hatte.
 

Er schon. „Nur mit dem Schwert kann ich nicht dienen“, richtete Aya an Schuldig und sich selbst auf. „Aber den Kuss hast du bekommen…ich halte meine Versprechen.“ Damit drehte er sich um, verließ die Zeile wieder. Durchquerte die Wohnung. Als wenn er noch einmal irgendjemandem einen Kuss versprechen würde. Never. Ever.
 

o~
 

Schuldigs Innerstes war aufgewühlt, als drohte der Ausbruch eines Vulkans, doch äußerlich wirkte er wie eine unbeteiligte Statue, nur in den grünen, vor Emotionen schillernden Augen konnte man Schuldigs Gefühlswelt erahnen. Doch die verbarg er geschickt, in dem er die Lider etwas senkte, Aya keinen Einblick in sie gestattete.

Er hörte das Rascheln der Kleidung, wusste um das Geld, welches in der Seitentasche darauf wartete, von Aya für eine Fahrmöglichkeit benutzt zu werden, hörte die Schritte, wie sie näherkamen. Egal was Aya sagen würde, er wollte es nicht hören, nicht jetzt. Nicht nachdem es scheinbar egal war, dass er sich um Aya sorgte, um irgendjemanden sorgte. Hatte er das je getan?
 

Verwirrt blickte er für Sekunden auf, als Finger seine Haut streiften, und er kurz darauf Lippen auf seiner Stirn fühlte. Doch es ging so schnell vorbei wie es gekommen war und ließ ihn schlimmer zurück als zuvor.

"Geh endlich", sagte er mit belegter Stimme, die Rauheit darin vermochte er kaum zu verbergen. Er konnte das alles nicht mehr hören, es war ihm egal welches Versprechen eingelöst wurde, was Aya sagte, nur die Tatsache an sich, dass der Andere ging, schien von immenser Bedeutung.

Schuldig stand auf, griff sich seine Zigaretten und setzte sich an die Fensterfront.
 


 

Aya sah nicht zurück. Tat es wohlweißlich nicht. Hatte er doch die stillen, verletzten Worte des Mannes vernommen. Er wusste, dass es ihn nicht stören sollte, den Schwarz so schwach und so niedergeschlagen zu sehen, besonders jetzt nicht, da er im Aufzug stand und auf dem Weg nach unten war. In die Freiheit. In Gedanken immer noch das hohl widerhallende ‚Geh endlich’.

Er war gegangen und eigentlich sollte er sich gut fühlen. Was er auch tat, ohne Frage. Frei sein…war ein Gefühl, das er bisher nie wirklich zu schätzen gewusst hatte.
 

Sich nun aber bewusst wurde, wie schön es doch war, durch den fallenden Schnee zu gehen. Die Kälte um seine Nase zu spüren. Den Wind. Andere Menschen zu sehen. Auch wenn ihn die Lautstärke, mit der sie ihn überholten, regelrecht schmerzte, war er doch nur Schuldigs durchaus angenehme Stille gewohnt.

Wenn es nur nicht so ein langer Weg in die Stadt wäre…Aya verzog die kalten Lippen zu einem bitteren Lächeln. Jetzt war er weg. Hoffentlich war Schuldig zufrieden.
 

o~
 

Der Himmel über der Stadt war mit unterschiedlichen dunklen Grautönen überzogen, die Dunkelheit brach über das Grau schnell herein, als Schuldig weiterhin am Fenster saß und blind dem Einbrechen der Nacht zusah. Sein Kopf lehnte am Rahmen des Fensters, die dritte Zigarette in Folge zerdrückte er gerade im Aschenbecher, der ihm auf dem Fenstersims Gesellschaft leistete. Der Abend kroch in die Stille der Wohnung und legte sich um ihn wie ein Nebelgespinst.

Was war nur passiert?

Warum ist alles so schnell gegangen?

Hatte er es nicht sorgfältig vorbereiten wollen, es ruhig und gelassen, mit einer Spur großkotziger Überlegenheit angehen wollen?

Und jetzt? So schnell? War alles weg?
 

Er ließ die Frage für einen Moment offen, konnte sie sich selbst nicht beantworten, oder besser, er wollte es nicht.

Die nächste Zigarette wurde von ihm aus der Packung gezogen und das sanfte Glimmen im Dunkeln markierte den Punkt an dem er noch lange saß.
 

Entgegen seines ursprünglichen Vorhabens zu laufen, hatte sich Aya doch auf der Hälfte des Weges für ein Taxi entschieden. Er konnte nicht mehr, geschwächt durch die letzten Tage. Das würde noch heiter werden, auch wenn es ihm sehr entgegen kam, dass Weiß ihn nicht strahlend gesund und wohlauf sah.

Denn…sobald sich die ursprüngliche Freude darüber gelegt hatte, wieder frei zu sein, hatte sich die Realität breit gemacht.
 

Wie sollte es von nun an weitergehen? Welche Lügen sollte er Weiß und auch Kritiker auftischen? Die Wahrheit konnte er ihnen wohl kaum unterbreiten. Wo er war? Bei Schwarz. Keine Lüge. Was sie mit ihm gemacht hatten? Wie sollte er darauf antworten? Einen Teil der Wahrheit auslassen? Und seine Schwester gefährden? Aya wusste es nicht…wusste nur, dass er Schuldigs Wohnort, wie auch das, was er über den anderen Mann erfahren hatte, nicht preisgeben würde, auch wenn er Schwarz damit vielleicht in die Hände spielte.
 

Doch das war etwas, das er sich geschworen hatte…schon bei Schuldig. Er würde den anderen Mann nicht so ausliefern.
 

Immer noch völlig in Gedanken versunken wurde ihm bewusst, wie der Fahrer an seinem gewünschten Ziel anhielt. Unweit des Konekos, damit er die letzte Strecke laufen konnte um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen. Aya gab dem älteren Mann dankend das Geld und stieg schließlich schweigend aus, machte sich auf den Weg zu Weiß zurück. Beschloss jedoch augenblicklich, jedem seiner Teammitglieder aus dem Weg zu gehen, sollten sie da sein. Was hieß, dass er sich zur Hintertür hinein stahl, einem Einbrecher gleich.
 

Anscheinend hatte er auch Glück damit. Geöffnet war sie, still war es auch. Was jedoch nicht wirklich etwas bedeuten musste. Auch wenn es seine Chancen auf einen unbehelligten Rückzug in sein Zimmer vergrößerte. Er wollte jetzt keine Gesellschaft…er wollte sie einfach nicht.
 

o~
 

Omi saß im Wohnraum, seinen Laptop auf dem Schoß und surfte - bisweilen ergebnislos im Netz.

Die letzten Tage waren furchtbar für sie gewesen, da sie nicht wussten, was mit Aya war, ob er noch lebte, ob sich ihre Hoffnungen und Ahnungen tatsächlich bewahrheiteten, eben dass Aya mit Sicherheit noch am Leben war.

Schon allein Schuldigs Auftreten und dessen Worte - die Yohji ihnen im Anschluss an den katastrophalen Einsatz wiedergegeben hatte... Es deutete alles darauf hin, dass Aya lebte, aber wie dünn der Faden war, an dem sein Leben hing, wollten sie sich nicht vorstellen.

Kein Hinweis hatte sie zu seinem Verbleib erreicht.
 

Omi blickte auf, als er ein leises Geräusch hörte. "Yohji, bist du schon zurück?", fragte er in die wieder einsetzende Stille hinein, stand jedoch auf, da seine Intuition ihn dazu antrieb.

Im Flur angekommen, nahm er die Kühle der Nachtluft wahr und sah auch gleich die Ursache dafür: Aya.

"Oh", fiel ihm nur dazu ein und seine Augen wurden größer. "Aya!", rief er erleichtert aus, als hätte ihm jemand erzählt, morgen ginge die Welt doch noch nicht unter.
 

Na das wurde wohl nichts mit dem unerkannten Hochschleichen. Aya seufzte stumm und verfluchte seinen leicht schummrigen Zustand. Etwas mehr hätte er schon essen können…aber da Schuldig ihn ja so zuvorkommend herausgeworfen hatte…

Besonders jetzt, da er den Wechsel von klirrender Kälte zu molliger Wärme mitmachte, schien das seinem angeschlagenen Kreislauf nicht wirklich gut zu bekommen.
 

Sein Blick fiel auf Omi, erwiderte diesen mit einem beinahe schon freundlichen, wenn auch abwesenden Lächeln. Anscheinend war für ihren Jüngsten gerade die Sonne aufgegangen…anscheinend hatte er sich Sorgen um ihn gemacht. Das war nichts Neues für Aya, doch nun schien es so positiv nach den letzten Tagen hervorzustechen, dass ihn ein warmes, überwältigend angenehmes Gefühl durchflutete. Wiedersehensfreude.
 

„Hallo Omi“, lächelte er schwach, lehnte sich schwer gegen die Kommode. Wenn der Raum um ihn herum doch endlich aufhören würde, sich zu drehen…
 

"Willst du dich nicht setzen? Warte ich helfe dir...", sprach Omi leise auf Aya ein, als wolle er ihn nicht zu sehr drängen. Es war so unwirklich, dass Aya nun vor ihm stand, wie ein Gespenst oder eher wie ein Geist. Vorsichtig berührte er ihn am Arm, zeigte so an, dass Aya sich auf ihn stützen konnte.

"Soll ich Ken rufen? Willst du dich lieber gleich hinlegen?", fragte er besorgt. Er war so froh, dass Aya wieder gesund bei ihnen war, dass er keine sichtbaren größeren Verletzungen hatte, und...er lächelte...wenn auch müde und geschwächt wirkend. Es war egal. Es war wirklich völlig nebensächlich. Er wollte jetzt nicht nach dem ‚Warum’ fragen.
 

Aya fühlte sich unwahrscheinlich wohl in der Gegenwart des Jüngeren, auch wenn er das nicht geglaubt hatte. Die Besorgnis, die der blonde Junge ihm entgegenbrachte, erinnerte ihn mit überwältigender Gewalt daran, dass er zuhause war. Im Koneko. Unter Freunden. Frei.

„Ich habe genug gelegen“, murmelte Aya durch das penetrante Rauschen in seinen Ohren und drückte Omis Hand, wusste nicht, wen er damit von seiner Gesundheit überzeugen wollte. Wem er Mut machen wollte, dass er es alleine bis nach oben schaffte. Omi oder doch sich selbst? Er stieß sich von der Kommode ab, kämpfte sich ein paar Schritte vorwärts. Fehler.
 

Ein großer Fehler, wie er Sekunden später feststellte, als sein Kreislauf den ständigen Missbrauch strafte. Ihn als Letztes das Parkett spüren ließ, auf das er aufschlug, als seine Beine unter ihm wegsackten und sein Körper das tat, was anscheinend momentan das Beste für ihn war. Ihn in das völlige Blackout zu schicken.
 

Omi konnte den Sturz, der so schnell kam, nicht mehr vollständig abfangen, ging halb mit zu Boden und sah besorgt auf Aya. Und als hätte jemand diese Besorgnis vernommen, hörte er den Schlüssel im Schloss der Tür.

"Yohji?", fragte er hoffnungsvoll, die Stimme leicht überhastet.

"Komm schnell, Aya ist wieder da...", seine Augen überflogen die seltsam zusammengewürfelte Kleidung, die Aya trug, die Hände wischten die Haare aus Ayas Gesicht.
 

o~
 

„Scheiße!“ Kaum war er von seinen abendlichen Ausflügen wieder da, schon erwartete Youji so etwas. Ihr lang vermisster Anführer, bewusstlos am Boden. Bei ihm, Omi, völlig aufgelöst.

„Seit wann ist er wieder da?“, fragte er und eilte an die Seite ihres Jüngsten, ließ seinen Blick ebenso über die komische Kleidung des Rotschopfes gleiten. Merkwürdig.

Genauso merkwürdig wie dessen Verschwinden, Wegbleiben und Wiederauftauchen. Seine Hände fuhren zu Ayas Puls, fühlten, dass er zwar etwas zu schnell schlug, aber dennoch stetig war.
 

Auch wenn sie sich scheinbar keine Sorgen zu machen brauchten, denn ein minimales Blinzeln kündigte bereits die Wachphase Ayas an. Ein unscharfer Blick, der langsam wieder zu sich kam. Blinzelte. Versuchte, sich zu bewegen.

„Geht…schon…“, kam es ebenso verschwommen von den seltsam trockenen Lippen. Youji war es, als klänge das wie eine Entschuldigung.
 

"Grade eben, ich saß auf der Couch und hab ein Geräusch gehört. Ich dachte, ich sehe einen Geist...und so wie er aussieht, ist er nahe dran einer zu werden", murmelte Omi noch abschließend hinzu.

Besorgt und in der spärlichen Beleuchtung nur das helle Gesicht Ayas und die Schatten unter den Wangen erkennend, versuchte er dem Anderen aufzuhelfen.
 

Aya grollte leise und blieb für einige Momente einfach nur auf dem Boden sitzen, versuchte, sowohl seine Gedanken, als auch seine Körperkraft wieder soweit herzustellen, dass er aufstehen konnte und nicht Omi oder Youji dafür bemühen musste, die sich in nicht wirklich charmanter Weise über ihn unterhielten. Ein Geist? Er? So schlimm sah er nicht aus.

„Es geht schon wieder“, brachte er nun schon lauter hervor und sah Youji in die grünen, besorgten Augen. Wie immer roch der blonde Mann nach Alkohol…wie immer.

Er kämpfte sich vorsichtig hoch, stützte sich dabei jedoch noch auf die Schulter ihres Ältesten, der stumm zu ihm hochsah, die evidente Frage jedoch klar in seinen Augen.
 

Wo war er? Wo kam er her? Was war geschehen?
 

Aya hatte keine Antwort darauf. Keine ehrliche.
 

„Schön, wieder hier zu sein“, versuchte er sich mit ein wenig Ablenkung und knöpfte langsam den Mantel auf, lehnte sich mit immer noch zittrigen Beinen an das Treppengeländer. Nahm das wollene, warme Kleidungsstück schließlich ab und hängte es an die Garderobe.
 

Omi blickte auf, den Satz noch nicht so ganz verinnerlicht. "Wir...wir haben uns Sorgen gemacht, Aya", würgte Omi als Antwort heraus und schwieg. Etwas hilflos sah er zu Yohji, der auch nicht viel klüger aus der Wäsche blickte. "Wie...wie ist es dir gegangen? Ich...meine...?", geriet er etwas ins Stocken.
 

Sorgen? Ja…das konnte Aya nachvollziehen. Auch wenn sie es nicht wussten…er hatte sich genauso viele Sorgen um sie gemacht. Ein kurzes, schnell wieder vergessenes Lächeln huschte über seine Züge, als er die beiden, fragend-besorgten Blicke erwiderte. Omis mehr als Youjis.
 

„Wo warst du, Aya?“, zog jedoch die sanfte Stimme des blonden Mannes seine Aufmerksamkeit auf sich und er sah sich einem genau taxierenden Blick gegenüber. Aya wusste in dem Moment genau, was der Andere wahrnahm. Seinen Zustand, seine Kleidung. Er konnte förmlich sehen, wie sich kleine Puzzleteile im Kopf des ehemaligen Privatdetektivs bildeten und sich zu seinem Bild zusammensetzten. Vermutlich kein gutes…aber daran konnte und wollte Aya im Moment auch nichts ändern.
 

„Es ist alles in Ordnung…es ist nichts geschehen“, erwiderte er ausweichend auf ihre Fragen und schüttelte unmerklich den Kopf, stieß sich sacht vom Geländer ab. Er wollte nach oben, wollte sich jetzt noch nicht dieser schwierigen Situation stellen.
 

„Wir reden morgen drüber“, nickte er den Beiden zu und stieg langsam die erste Treppenstufe hinauf. Er musste sich dringend hinlegen…dringend.
 

Omi wollte noch etwas sagen, doch er erkannte, dass es warten musste, bis Aya sich ausgeruht hatte. So nickte er nur. "Soll ich dir noch etwas zu trinken hochbringen?", fragte er dennoch leise.

Wollte er denn wissen, wo Aya gewesen war? Warum er so wohlbehalten wieder bei ihnen war? Was es für Probleme für ihren Anführer mitbringen würde, wenn diese Antwort nicht zufriedenstellend für ihre Bosse ausfallen würde? Nein, momentan war es besser, es wurde nichts ausgesprochen. So musste auch nicht gehandelt werden.
 


 

Zu trinken…
 

Siedendheiß fiel Aya ein, was er vergessen hatte und was Omi ihm NICHT bringen würde. Er hatte kein Wasser oben. Genauso wenig wie etwas, um das Grollen in seinem Magen zu befriedigen. Auch Schuldigs Schuld. Hätte der andere Mann ihn nicht einen Moment später rauswerfen können? Ein Teil in Aya lachte bitter darüber. Nicht, dass er sich das jemals gewünscht hatte….doch in diesem Moment schien die Mühe, wieder zurück in die Küche zu gehen, ganz einfach zu groß, als dass es sich wirklich lohnen würde.
 

Doch Omi oder Youji darum zu bitten, dass sie ihm etwas brachten? Nie.
 

„Nein…ich hole es mir selbst“, erklärte er und strauchelte einmal mehr an seinem Team vorbei. Er musste sich hinlegen…BALD. Doch zuerst musste er essen. Aya schnaubte innerlich. Schuldig wäre stolz auf ihn, wenn er das sähe. Wenn er sähe, dass seine Vorwürfe haltlos wären.

Erschöpft ließ sich Aya auf einen der Küchenstühle sinken, war für einen Moment überrascht, dass sie so tief waren. Wie schnell man sich doch an geänderte Umstände anpassen konnte…
 

Wortlos und unter Youjis wachsamen, aber schweigenden Augen, stand er noch einmal auf und griff in den Kühlschrank, zog sich eines der übrig gebliebenen Sandwiches heraus. Essen. Essen und trinken. Vielleicht gewann er dadurch etwas mehr Kraft.
 

Schweigend folgte Omi dem offensichtlich geschwächten Mann in die Küche, verfolgte mit fragendem Blick die sich ihm bietende Szenerie. Schulterzuckend kreuzte er Yohjis Blickfeld und sah auf dessen Gesicht dieselben Fragen stehen, wie er sie sich selbst wohl auch stellte.

Omis Argusaugen hielten alles fest, was ihm auffiel... der relativ unversehrte, aber geschwächte Körper, die gepflegten, nicht fettigen Haare, die saubere, wärmende Kleidung... aber auch die unnatürliche Blässe.
 

Youji beobachtete ihren Jüngsten, sah sie, die Anzeichen des Zweifels in Omis Gesicht. Auch ihm war nicht wirklich entgangen, wie ihr Anführer nach fünf Tagen Verschwinden aussah. Nach fünf Tagen Ungewissheit, ob er noch lebte oder nicht.

Der blonde Weiß schüttelte leicht den Kopf und begab sich lautlos in die Küche, auch wenn er es vermutlich besser wissen sollte, Aya gerade hierbei zu stören. Dennoch…er hatte das ungute Gefühl, dass hier etwas überhaupt nicht stimmte.
 

„Hast du nichts zu essen bekommen, Aya?“, hallte seine Stimme durch den schier erdrückend stillen Raum, direkt in die nun auf ihn gerichteten, violetten Augen, die ihn schweigend maßen.
 

„Nicht viel.“
 

Es war schon mal eine Antwort, wenn auch keine wirklich aufschlussreiche. Aya war also bereit, darüber zu sprechen. Wenigstens ein Anfang.
 

„Dann lass es dir schmecken, ist eine Kudou-Spezialanfertigung!“, lächelte er etwas gezwungen und ließ sich auf einen der Küchenstühle nieder. Sah gleichzeitig auch den Widerwillen, der in Ayas Augen aufstieg, hier bei ihnen zu bleiben. Allerdings wurde er einen Augenblick später betrogen, als eben dieser sich die langen, bereits aus dem Zopf gelösten Haare zurückstrich und sich auf den Stuhl am anderen Ende des Tisches niederließ.
 

Omi lächelte aufmerksam, als er sich auch an den Tisch setzte, wusste nicht so recht, ob er sich nun freuen, oder ob er diese seltsame Stimmung im Raum als unangenehm empfinden sollte. Er konnte es kaum beschreiben, aber hier lag etwas in der Luft, das sehr nach Misstrauen roch und bei allem, was sie zusammenschweißte, das war das Letzte, was er zwischen ihnen wollte. Doch er konnte eine gewisse Tendenz in diese Richtung nicht verleugnen.

"Sie haben dir deine Sachen abgenommen, nicht?" wagte er einen kleinen Vorstoß. Jedoch immer noch so, dass Aya eine leichte Antwort wählen konnte, bewusst eine Ausflucht offen hatte. Eine kleine logische Frage, nichts weiter.
 

Aya, der gerade in die hoch gelobte ‚Kudouspezialanfertigung’ biss, brauchte einen Moment, bis er das Sandwich wieder ablegte und auch den letzten Rest dieser zugegebenermaßen leckeren Köstlichkeit hinunterschluckte. Er ließ sich Zeit mit der Antwort, trank vorher noch einen Schluck des Wassers, das ihm mit einem Male so kostbar erschien.
 

„Ja…das haben sie“, nickte er und begegnete Omis Lächeln mit einem völlig offenen Blick. Er wusste, dass es nichts brachte zu lügen. Er wusste, dass er sich dem hier nicht entziehen konnte, nicht, wenn er nicht offenes Misstrauen zwischen sie bringen wollte. „Die Überreste meines Pullovers habt ihr ja gefunden.“ Daran bestand für Aya überhaupt kein Zweifel. Ebensowenig, wie er anzweifelte, dass Youji entgangen war, was genau Schuldig vor ein paar Tagen getragen hatte.
 

Doch Youji hielt sich zurück. Angelte sich nur eine der herumstehenden Saftflaschen und nippte bedächtig daran. Überließ es Omi, Aya in typisch diplomatischer Manier auszufragen. Damit sie wenigstens schon etwas wussten.
 

Omi atmete tief ein, die klaren blauen Augen blickten ruhig Aya an, als sie die Worte formten, die ihn mitunter sehr interessierten und vor allem nicht erst, seit ihr Anführer mit der fremden Kleidung hier ohne sichtbare Verletzungen eingetroffen war.

"Wir sind auf Schwarz getroffen...der letzte Auftrag", fügte er flüchtig erklärend hinzu und nickte kurz.

"Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht...und es war irritierend, als wir deine Lederhose an Schuldigs Körper getragen sehen mussten. Wir gingen davon aus, dass du tot bist, Aya."

Er schwieg für einen Moment, wollte Aya nicht unbedingt mit Fragen bombardieren, sondern ihm sowohl Rückzugsmöglichkeiten als auch die Möglichkeit geben sich ihnen zu offenbaren.
 

Es war ihnen also aufgefallen…Aya seufzte innerlich. Dieser verfluchte Telepath hatte keine Gelegenheit ausgelassen, sein Team zu reizen. Aya bedauerte, dass sie sich solche Sorgen um ihn gemacht hatten, doch er konnte im Nachhinein nichts mehr daran ändern. Es war geschehen und nun war er wieder hier. In Sicherheit. Bei Freunden.
 

„Ich weiß…dass er sie getragen hat. Er ließ es sich nicht nehmen, mir nachher das Ergebnis zu präsentieren…gute Arbeit, Youji. Das war meine beste Lederhose…“ Er lächelte im schwachen Versuch eines Witzes, erntete von besagtem Mann jedoch nur eine schwache Spiegelung seiner Geste.
 

„‚Niemand ersetzt Aya so schnell, was würde der Rotschopf nur dazu sagen, wenn er das wüsste?’…das hat er gesagt und Kritikers Ersatz für dich getötet, ohne dass wir etwas tun konnten“, fiel Youji mit der Tür ins Haus. Doch es war keine Frage. Ganz wie Omi auch war es ein Darreichen an Informationen, die keinen zwingenden Charakter hatten. Aya konnte darauf reagieren, musste es aber nicht.
 

Tat es trotzdem. „Ersatz?“, hakte er nach, die Stirn mit einem Male misstrauisch zusammengezogen. Wieso hatten Kritiker schon Ersatz für ihn? Die Frage geisterte wie schweres Blei in seinen Gedanken, machte ihm mit einem Mal deutlich, was er die ganze Zeit befürchtet hatte. Er war ersetzbar, wie jeder andere auch und sie hatten nicht gezögert, dies zu demonstrieren. Er hatte seine Schwester in Gefahr gebracht mit seinem rücksichtslosen Handeln…wenn es nicht schon zu spät war.
 

„Solange, bis du wieder da bist, haben sie uns einen neuen Mann gestellt. Damit wir nicht in der Unterzahl sind…doch das hat nichts zu heißen…“, versuchte ihn Youjis Stimme wieder in die Realität zurückzuholen. Nein…das hatte es für wahr nichts. Aber was, wenn doch?
 

"Ich muss gestehen, ich habe zum ersten Mal wirklich erkannt, dass sie mit uns spielen. Schuldig hat es eindrucksvoll demonstriert. Wäre der sogenannte Ersatz nicht dabei gewesen, hätten wir aller Wahrscheinlichkeit nach keine Verluste davon getragen."

Omi kaute gedankenverloren auf der Innenseite seiner Unterlippe.

"Er tötete ihn einfach so, ohne ihn in einen Kampf zu verwickeln, ohne die übliche Taktik. Sie spielen mit uns, hätten uns jederzeit töten können, wo und wann sie gewollt hätten", sagte Omi ruhig.

"Hast du das auch erfahren Aya, während sie dich festgehalten haben? Die Informationen, die du von dort mitbringst, sind für manche bestimmt von großem Wert", sagte er zweideutig. Kritiker wird mit Sicherheit bald auf dem Plan stehen, grübelte Omi. Besser sie hielten zusammen und stimmten ihre Informationen miteinander ab, bevor Unstimmigkeiten Aya unnötige Probleme auf den Hals hetzten.

Seine etwas naiv gesagten Worte sollten jedoch genau das ausdrücken. Dass sie darauf hofften, dass Aya ihnen erzählte, wo er gewesen war und weshalb er nicht wie ein ehemaliger Gefangener der sadistischen Schwarzgruppierung aussah.
 

Auch wenn Aya erleichtert war, Youji die Frage nach seiner Hose – die sich immer noch im Besitz des Telepathen befand – nicht beantworten zu müssen. Schuldig hatte sie ihm abgenommen…das stimmte. Mehr oder minder freiwillig, denn Aya hatte sie nach seinem ersten Bad in der Wohnung des Deutschen einfach achtlos auf der Bank liegen lassen, wo sie dann auf mysteriöse Weise in den Kleiderschrank des Schwarz gekommen war.
 

Dennoch rettete ihn das nicht vor weiteren, unangenehmen Fragen, die den eigentlichen Kern der Sache trafen. Informationen, mit denen sie Schwarz angreifen konnten. Nein, die konnte er nicht geben. Sie würden das gegnerische Team auf dem Feld besiegen, nicht mit solch unfairen Mitteln, wie es Kritiker gedacht hatte.
 

„Informationen?“, lächelte Aya nachdenklich und sah Omi kopfschüttelnd in die erwartungsvollen, blauen Augen. „Nichts, was Kritiker verwerten kann. Es interessiert sie sicherlich nicht, wie widerlich Schuldigs Duschgel riecht. Oder wie schlecht es sich auf seiner Matratze schläft. Es gibt nichts, was uns weiterhelfen kann.“
 

So. Da hatte er die Entscheidung getroffen. Ob das ein Fehler war, wusste er nicht, doch er hatte einen Schwur getätigt…wenn auch nur sich selbst gegenüber. Nein, gerade sich selbst gegenüber. Und er würde dieses Versprechen einhalten.
 

Völlig in seinen momentanen Gedanken versunken, griff Aya nach dem Glas Wasser und ließ die klare Flüssigkeit in kleinen, genießerischen Schlucken seine Kehle hinunter rinnen. Sein Blick streifte nur nebenbei seine zerschnittenen und immer noch grün-gelblichen Stellen an seinen Knöcheln. Überbleibsel einer unnötigen Eskapade.
 

Omis Augenbrauen wanderten bei den Worten Duschgel und Matratze in Richtung Haaransatz. Sie sollten eher durch Begriffe wie: Kellerboden und Folter ersetzt werden, seiner Meinung nach, denn sie würden besser in sein Gesamtbild von Schwarz passen.

"Sie haben dir nichts getan, Aya?", fragte er nun rundheraus ohne versteckte Fragen. Er wollte Klarheit. Sie hatten Aya gefangengenommen, ohne von ihm etwas herauszupressen? Ohne ihn zu verletzen?

"Kann Schuldig ...ich meine...", druckste er herum, und musste einen Moment selbst über seine Frage nachsinnen.
 

Omi wurde also direkt…erwartete von ihm offene, nicht ausweichende Antworten. Als wenn das so einfach wäre. „Sie haben mir nichts getan. Nichts körperliches, nein. Es ist nichts passiert.“
 

„Und warum sind dann deine Hände zerschnitten?“, schaltete sich nun auch Youji ein, ließ in Aya ein immer größeres Gefühl der Bedrängung aufkeimen. Er fühlte sich durch ihre Fragen ins Kreuzverhör genommen, auch wenn er wusste, dass sie Antworten verdient hatten.
 

„Ich habe einen Spiegel zerschlagen“, erwiderte Aya, als wäre es das Normalste der Welt und hob seinen Blick zu seinem älteren Gegenüber, machte damit gleichzeitig auch deutlich, dass er sich nicht weiter zu diesem Thema auslassen würde.
 

„Was kann Schuldig?“, wandte er sich zurück und mit abruptem Themenwechsel an den blonden Jungen und nippte ein weiteres Mal von dem kühlen Nass.
 

Omi kaute erneut auf seiner Lippe herum. "Kann er dich abhören? Ich meine... wenn du bei ihm warst...bestünde doch die Möglichkeit einer Manipulation von seiner Seite aus, oder?", fragte er vorsichtig.

Ihm widerstrebte es Aya auszuhorchen, aber Omi wollte Klarheit, er hasste nichts so sehr wie Zweifel, denn davon hatten sie in ihrem Leben bereits zu viele mit sich herumzutragen.
 

Die darauffolgende, kurze Stille wurde nur durch Ayas amüsiertes, spontanes Lachen durchbrochen. Stimmt…Omi wusste nicht, dass er natürliche Schilde hatte, die ihn für Schuldig unerreichbar machten. In jeglicher Hinsicht.

„Das kann er nicht. Er kann meine Gedanken nicht lesen“, brachte er dunkel amüsiert hervor. „Es ist wahrscheinlicher, dass er deine oder Youjis liest, als dass er auch nur in die Nähe von meinen kommt. Mach dir da keine Sorgen.“
 

Was wäre es doch schrecklich geworden, wenn Schuldig ihm selbst diese Privatsphäre genommen hätte. Doch nein…was auch immer es war, das den Telepathen blockte, er dankte es ihm aus vollem Herzen.
 

"Oh", sagte Omi wenig ergiebig darauf und blickte zu Yohji. "Konnte er das schon immer nicht?", wurde er nun doch neugierig.
 

„Ja“, erwiderte Aya knapp und widmete sich für die nächsten stummen Augenblicke dem Rest des köstlichen Sandwiches. Sein Magen dankte es ihm…sogar so sehr, dass lautes, freudiges Verdauungsgurgeln eben diese Stille durchbrach. Ein weiterer Schluck und er stand deutlich gestärkt auf, stellte beides in die Spüle, sowohl Teller als auch Glas. Nahm sich eine der Wasserflaschen und wandte sich zurück an die beiden Weiß, die ihn immer noch erwartend ansahen.
 

„Habt ihr noch Fragen?“
 

"Ähm...", meinte Omi und rutschte auf seinem Stuhl etwas unwohl herum. "Wenn du so fragst...ja haben wir...oder ich... Dann haben sie dich einfach so wieder laufen gelassen?", fragte er etwas irritiert. "Es sieht danach aus, Aya. Was wollten sie denn dann von dir?", fragte er, das offene Gesicht in Sorgenfalten gelegt.

Ja genau, warum haben sie Aya so lange festgehalten. Wofür?

Das alles bereitete ihm viel größere Sorgen als anfangs angenommen. Das klang alles unlogisch.
 

Aya lehnte sich seufzend an den Tresen, suchte in diesem für einen Moment Unterstützung, die er dringend brauchte. Er war zwar…satt, den Umständen entsprechend, dennoch hieß das noch lange nicht, dass er sich gut fühlte. Ganz im Gegenteil. Er war müde, erschöpft, fertig und wollte nur ins Bett, um sich dort die nächsten Stunden auzukurieren und das zu verarbeiten, was er die letzten Tage erlebt und erfahren hatte.
 

Und dieses Kreuzverhör tat dem garantiert nicht gut.
 

„Sie haben mich in einer der verlassenen Industriehallen ausgesetzt, ja. Ich habe keine Ahnung, was sie von mir wollten, es hat mir niemand unter die Nase gerieben, Omi…“ …nein, er hatte dieses Wissen eher zufällig in seinen Erfahrungsschatz gebracht. Ohne, dass es Schuldig und Crawford wirklich beabsichtigt hatten. Das war keine Lüge. Wirklich nicht. Ganz im Gegensatz zur Industriehalle. „Ich habe nicht viel erfahren dort. Oder würdest du dein ganzes Leben vor deinem Feind ausbreiten, Omi?“
 

Nein…würde ihr Jüngster nicht, doch Schuldig, selbstsicher und offen wie er war, hatte das getan. Mit Vertrauen darauf, dass Aya zu stolz war, um eben dieses gegen ihn einzusetzen.
 

"Nein, würde ich nicht, Aya", gab Omi zu. "Versteh bitte, dass wir Fragen haben, wir wollen dich ja nicht aushorchen, sondern nur verstehen, was geschehen ist", sagte er kleinlaut und warf Yohji einen unsicheren Blick zu.
 

„Schon gut, Omi“, beruhigte Aya an Youjis Stelle ihren Kleinen und tat ein paar Schritte gen Ausgang. „Ich würde genauso reagieren…doch wenn ich keine Antworten habe, habe ich sie nicht. Wenn ich nichts weiß, kann ich euch nichts sagen. Und nun entschuldigt mich. Ich bin müde…“ Mit einem knappen Nicken zu ihrem Ältesten und einem kurzen Haarewuscheln für Omi machte er sich nun endgültig auf in sein Zimmer.
 

Und was für ein Gefühl war es, sich in die heimischen Federn fallen lassen zu können. Ein warmes, weiches, bequemes Bett. SEIN Bett. Er…alleine. Mit freier Entscheidungskraft, was er tat und wohin er ging. Endlich wieder, nach fünf Tagen. Aya entledigte sich seiner Sachen, ließ sie ungeachtet der beinahe peniblen Ordnung in seinem Raum achtlos auf den Boden fallen und stieg schließlich nackt wie er war in die Federn.
 

Vergrub sich tief unter ihnen und schloss die Augen.
 

o~
 

Währenddessen sortierte Omi seine Haare wieder nachdenklich, hörte allerdings damit auf, als er einsehen musste, dass es ohnehin zwecklos war.

"Meinst du, er ist lediglich zu müde um mehr zu sagen?", fragte er in die eingetretene Stille nachdem Aya gegangen war.
 

„Nein.“ Ein deutliches, desillusionierendes Nein drang über Youjis Lippen. Keine Lüge, nur die Wahrheit. Doch zu welchem Zweck? Niemand von ihnen konnte das sich vor ihnen aufgetane Problem alleine bewältigen. Auch und besonders nicht Aya, der von all dem scheinbar gänzlich unbeeindruckt war. Doch Youji glaubte es dem rothaarigen Mann nicht, dass da nichts passiert war.

„Schwarz sind nicht die Typen von Menschen, die ihre Gefangenen gut behandeln. Das tun sie nicht. Wie hat er sich denn verhalten, als du ihn das erste Mal wieder gesehen hast?“
 

Omi stand auf und ging ein paar Schritte in der Küche umher, als könne er so besser nachdenken.

"Meinst du, als er zur Hintertür hereingeschlichen ist als wolle er das Haus plündern?", fragte er leicht ironisch.
 

Youji hob zweifelnd die Augenbraue. „Er hat sich nicht offen gezeigt? Wollte er gleich nach oben verschwinden, um alleine in seinem Zimmer zu brüten? Wie war denn seine Haltung? Sein Gang? Hat er sich erschrocken, als er dich gesehen hat? Was ist dir an ihm aufgefallen?“
 

Sich wieder zu Yohji umdrehend, fasste Omi diesen ins Auge. "Wie jemand, der etwas zu verbergen hat, genauso ist er hier hereingeschlichen." Omi machte eine kurze Pause, setzte sich wieder an den Tisch, Yohji gegenüber.

"Ich saß auf der Couch und hörte plötzlich ein Geräusch. Erst dachte ich, du wärst wieder da, aber als ich der Sache auf den Grund ging, war’s Aya, der sich vergeblich leise durch den Flur quälte. Er war sichtlich müde und geschwächt, murmelte etwas von ‚er habe genug gelegen’, als ich ihm vorschlug sich hinzusetzen.

Es war ihm nicht recht, dass ich ihn gesehen habe und gar ihm helfen wollte. Letzteres ist nichts Neues bei ihm. Vermutlich hätte er sich still und heimlich hinauf in sein Zimmer gestohlen und für sich allein geblieben, bis er morgen früh von dort oben zu uns heruntergekommen wäre, wie wenn diese Entführung nicht stattgefunden hätte. Was bildet er sich überhaupt ein!" Zornig biss Omi die Kiefer zusammen und stierte vor sich hin. Ihn verletzte das Verhalten von Aya, weil er sich ihnen nicht mitteilte, weil er nicht wirklich bei ihnen war, sondern einsam für sich lebte.
 

Der blonde Mann runzelte bedenklich die Stirn. Er konnte die Wut ihres Jüngsten durchaus verstehen, auch seine Zweifel, dennoch wollte er Aya nicht falscher Dinge bezichtigen. Es kam ihm wie…Verrat vor. Aya war gerade hier, nach fünf Tagen Abwesenheit und hatte weiß Gott was erlebt.
 

„Halt dich zurück, Omi, du weißt nicht, was sie ihm angetan haben, dass er so reagiert. Vielleicht hat er mehr zu verarbeiten, als wir momentan wissen und er uns Glauben macht. Urteile nicht vorschnell“, wies er ihren Jüngsten zurecht, doch wütend ob der allzu sorglosen Verwünschung. „Es kann genauso sein, dass sie ihn zu etwas gezwungen haben, für das er sich uns gegenüber schämt. Wer weiß, mit welchen Mitteln sie sich ihn gefügig gemacht haben...und wieviel er verraten hat. Was denkst du, hat er mit ‚er habe genug gelegen’ gemeint? Das klingt schon seltsam…wie die Sache mit Schuldigs Bett. Was denkst du darüber?“
 

"Ich urteile nicht, Yohji", seufzte Omi niedergeschlagen. "Es ist nur..., ich habe ihn da stehen gesehen und wollte ihm helfen und er ...fast als wollte er mich abweisen...", sagte er unbestimmt und verstummte für einen Moment um seine Gedanken zu ordnen.

Aya stand für ihn am Nächsten. Er hatte ihn akzeptiert und es schmerzte ihn nun einmal, wenn er von dieser Person abgewiesen wurde. Das zu verstehen war nicht leicht, vor allem wenn er mit dem Herzen dachte und nicht mit seinem Verstand.

"Keine Ahnung, was er damit gemeint hat, vielleicht haben sie ihn an ein Bett gefesselt ...und...", fing er an und sein Kopf ruckte zu Yohjis, ihre Blicke kreuzten sich. "Du meinst doch... du meinst doch nicht, dieser Telepath hat sich an Aya vergangen?", sprach er seinen plötzlichen Gedanken schreckensbleich aus. "Ich meine...falls...", stockte er.

"...dann verstehe ich sein Verhalten..."
 

Youji seufzte ebenso ratlos. „Ich weiß es nicht…ich kann es dir nicht sagen. Aya scheint mir nicht…vergewaltigt, doch das heißt nichts. Wer weiß, inwieweit er es in sich vergraben, er es vielleicht auch verdrängt hat. Doch wir können nur mutmaßen, solange, bis er uns Fakten gibt…ansonsten verrennen wir uns vielleicht noch in einem Verdacht, der sich nachher als falsch entpuppt. Ich glaube schon, dass sie ihn irgendwie gefesselt haben…aber gleich so etwas? Nein…“
 

Auch wenn er versuchte, Omi zu beruhigen, so war sich Youji seiner selbst nicht wirklich sicher. Was, wenn Schwarz sich tatsächlich mit ihrem Anführer vergnügt hatten? Doch war das ein Grund, nichts zu sagen? Alles zu verschweigen? Oder war gerade das der Grund, warum er nichts sagte?
 

„Würdest du dich denn von uns bemuttern lassen, wenn du fünf Tage lang in der Gegenwart deiner Feinde verbracht hast?“
 

Omi starrte an Yohji vorbei, die Augen wirkten wie blank polierte Spiegel, bargen seine Gefühle in seinem Innern.

"Nein, ich würde mich nicht ‚bemuttern’ lassen", gab er leise und tonlos zurück.

Er wollte nicht weiter über das Thema sprechen, welches ihn nur wieder an seine eigenen Erfahrungen hinsichtlich solcher Ereignisse erinnerte. Schweigen war besser, auch wenn ihn dieses Schweigen auch in die Vergessenheit gestürzt hatte.
 

Youji sah, dass er einen Fehler gemacht hatte, in dem Moment, als Omi all seine sonstige Fröhlichkeit verlor. Er seufzte. Natürlich…das hatte er mit der größtmöglichen Präzision ja wieder einmal wunderbar erledigt.

Über sich selbst den Kopf schüttelnd stand er auf und trat hinter Omi, legte diesem freundschaftlich warm die Arme um den schmächtigen, starren Körper. Wuschelte wie auch Aya zuvor schon durch die blonden Haare.

„Du hast uns…Omi. Wir sind deine Familie und wir bemuttern dich…auch ohne, dass du es willst“, lächelte er versöhnlich und drückte ihn an sich. Versuchte, ein wenig der Trauer wieder gut zu machen, die er in diesem Jungen hervorgerufen hatte. „Vergiss das, was geschehen ist, wir sind die Gegenwart und werden die Zukunft sein. Niemand anderes.“
 

Vergessen?

Natürlich, das hatte er getan.

Ein kleines nachsichtiges Lächeln legte sich über Omis Gesichtszüge. Omi wollte nicht mehr vergessen. Er wollte sich erinnern, auch wenn es schwer viel. Aber er brauchte diese Erinnerungen um stark zu sein, um daraus seine Kraft und Stärke zu beziehen. Vergessenheit brachte nur Schwäche.

"Ist schon gut, Yohji. Ich weiß, dass ihr für mich da seid, ist gleich wieder vorbei. Nur ein kurzer Moment", wiegelte er schwach lächelnd ab und berührte Yohjis Hand, die ihn immer noch festhielt. Es tat gut die Nähe zu spüren, die ihm ehrlich sagte, dass er erwünscht und gewollt war.

"Er wird uns bestimmt sagen, was geschehen ist, wenn er es für den richtigen Zeitpunkt hält, oder?" sagte er mehr als er fragte und sah zu Yohji auf.
 

„Natürlich wird er das. Wenn er es für sich selbst verwerten konnte, dann wird er garantiert mit uns reden, da bin ich mir sicher.“ Auch wenn das weiter von der Wahrheit entfernt war, als es Youji lieb war. Er hatte den Verdacht, dass Aya das Geschehene einfach totschweigen würde, wenn sie ihm nicht auf die Finger klopften. Doch dafür waren Freunde ja da und genau das würden sie auch tun.
 

Damit sie ihm helfen konnten, wenn es notwendig war. Sie waren eine Familie und nichts würde diesen Bund zerstören…das ließ Youji nicht zu. Ihre Aufgabe als Mörder machte sie einsam. Freunde außerhalb gab es nicht. Da war es doch umso wichtiger, dass sie sich hier drinnen Beistand zupflichteten, wo es nur ging. Sich stützten und zueinander hielten.
 

„Es wird alles gut werden…“
 

o~
 

...ein Satz der Omi am nächsten Tag noch in den Ohren nachklang, als sie beim Mittagsessen saßen und der Platz von Aya verwaist war. Er war noch in seinem Zimmer und würde sich so hoffte Omi bald einfinden.

"Meinst du, wir sollen ihm etwas hochbringen?", fragte Omi nach einer Weile etwas unsicher und blickte Ken fragend an. "Ist aber wohl besser, wir lassen ihm den Freiraum, nicht?"

Omi schwieg wieder, als er Schritte auf den Treppen hörte und innerlich keimte Freude in ihm auf. Aya kam und er aß mit ihnen. Warum er sich so freute, konnte er nicht sagen, er hatte nur das Gefühl gehabt, dass Aya nicht mehr zurückkehren würde, die Angst saß ihm ...ja ihnen allen noch tief im Nacken.
 

Aya konnte nicht wirklich von sich behaupten, ausgeschlafen zu sein, als er sich schließlich nach unten begab. Er hatte zwar Stein und Bein über elf Stunden geschlafen, doch das hieß noch lange nicht, dass das reichte. Die letzten Tage waren einfach zu viel gewesen…und wenn er ehrlich war, gestand er sich ein, dass er vor dem Einschlafen mehr und mehr befürchtet hatte, dass Schuldig doch zurückkommen und ihn dieser Idylle entreißen würde. Auch wenn sie trügerisch war, was er selbst wusste.
 

Essensgeruch drängte sich ihm entgegen, als er frisch geduscht und angezogen die heimische Küche betrat, in der sich ganz Weiß versammelt hatte und in der ihn sämtliche Augenpaare freudig oder auch fragend empfingen.

Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen, als er endgültig die Küche betrat und einen Guten Morgen wünschte, bevor ihm auffiel, dass es weit nach Mittag war. Ein Fauxpas, den er so gehen ließ, wie er gekommen war. Schweigend. Lieber nahm sich Aya etwas von dem kunstvoll zusammen gekochten Eintopf aus Überresten der vorherigen Tage und setzte sich zu seinem Team an den Tisch.
 

Nahm durchaus unwohl mit der Situation mit dem Rücken zur Tür Platz, ihm gegenüber Youji und Omi, an seiner Seite Ken, der – anscheinend durch die beiden Anderen informiert – zum Glück keine Fragen stellte.
 

„Gut geschlafen?“, brummte es ihm gewohnt entgegen. Youji hasste seine Morgenschichten, das wusste Aya. Und war auch dementsprechend dankbar, dass dieser ihn hatte ausschlafen lassen. Er nickte lediglich und widmete sich zunächst schweigend seinem Essen.
 

„Gab es viel zu tun, während ich weg war?“, fragte er dann und sah auf, in die Runde. Kam sich mit einem Male wie ein Fremdkörper vor. Er war zulange weg gewesen…das verunsicherte ihn. Hatten sie ihn jetzt aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen?
 

"Wir hatten einen Einsatz und die üblichen Lieferungen sind eingetroffen. Wir haben auf dich gewartet, wegen den Bestellungen der neuen Rosensorte...", murmelte Omi und grinste leicht schräg.

Schön dämlich kam er sich vor. Vor Tagen hatten sie dagestanden mit dem Bestellzettel, samt dem Katalog und auf Ayas Handschrift gestarrt. Ja, er wollte die Bestellung tätigen und nun...wer sollte diesen ungeliebten Job übernehmen, wenn nicht ihr Boss?

So hatten sie ihm die Auswahl überlassen, mit der stillen und aber auch beständigen Hoffnung Aya würde ihnen wohl erhalten bleiben. "Die Formulare liegen auf dem Tisch im Büro", wies Omi auf Arbeit hin, die Aya nachzuholen hatte.
 

Nein…sie hatten ihn nicht ausgestoßen. Das sah Aya jetzt, als er Omis freundlichen Blick erwiderte. Sie hatten darauf gewartet, dass er zurückkam, auch wenn es nur dafür war, eine unliebsame Bestellung zu tätigen.

Der rothaarige Mann strich sich ein paar der noch leicht nassen Strähnen zurück und lächelte amüsiert. „Wird erledigt“, bestätigte er Omis säuerlichen Gesichtsausdruck und nahm einen weiteren Löffel des Eintopfes.
 

Wie hatte Schuldig ihn genannt? Blumenkind…und Crawford Rotfuchs. Namen, die mehr als passend auf ihn zutrafen, wie er im Nachhinein zähneknirschend feststellen musste. Und schon wieder die Beiden…das Duo infernale. Schrecklich. Wieso konnte er selbst hier nicht loslassen?
 

„Ich kümmere mich nach dem Essen darum“, versicherte er noch einmal und wollte seinen Blick ein weiteres Mal senken, bevor er merkte, dass Youji ihn eingehender betrachtete.
 

„Wolltest du nicht deine Haare abschneiden?“, tönte es auch eine Sekunde später zu ihm und ließ ihn innerlich aufstöhnen. Wie erklärte er DAS nun wieder? Dass er einen Deal mit Schuldig hatte? Ja natürlich…einen Deal, auf den der andere Mann wahrscheinlich einen Dreck gab, so wie er sich zuletzt benommen hatte. Nein, Schuldig wusste es nicht zu schätzen, wenn er Versprechen einhielt.
 

Aya lächelte innerlich. Erleichtert…grimmig. „Ja…wollte ich. Heute noch.“
 

"Ich finde du solltest deine Haare nicht schneiden, sie stehen dir doch sehr gut, Aya!" entgegnete Omi etwas schnell.

Sich selbst etwas über die Tatsache wundernd, dass er überhaupt etwas gesagt hatte. Ayas Haare waren wunderbar und insgeheim hatte er es schrecklich gefunden, dass Aya sie abschneiden wollte. Es aber laut auszusprechen, wäre ihm bisher nie in den Sinn gekommen. Warum also jetzt?

Vermutlich weil er so froh darüber war, dass Aya jetzt wieder bei ihnen war. Verlustängste, nannte sich das sicher, dachte er bei sich und nickte innerlich.
 


 

Anderorts jedoch war man wesentlich weniger gut gestimmt. Schuldig starrte in den Tag hinaus, hielt das Wasserglas noch in der Hand, völlig in das Gespräch vertieft, welches er durch die Gedanken eines gewissen Weißmitgliedes verfolgt hatte. Sehr alarmierende Dinge, die er da vernehmen musste!

Aya wollte sich die Haare abschneiden! Er wagte es doch tatsächlich, ihren Pakt nicht ernst zu nehmen.

Klirrend fiel das Glas auf die Theke, jedoch ohne zu zerbrechen, dafür war es nicht teuer genug, es rollte lediglich einmal um die eigene Achse und blieb schlussendlich liegen.
 

Er wollte nur ‚mal schnell’ nach dem Rechten sehen. Und was musste er da gleich zu Anfang mitbekommen? Aya warf ihren Handel einfach so dahin, als wäre es nichts! Schuldig klinkte sich kurz aus, brauchte etwas, bis er wieder zurück in die Realität kam. Jedoch nur um sich auf die Couch zu legen und sich vorsichtig wieder in die Gedanken eines Weiß einzuklinken...
 


 

Aya runzelte für einen Moment verwirrt die Stirn, als er Omis hastigen Einwand vernahm. Angesichts der Tatsache, dass noch kein Weiß irgendetwas zu seinen Haaren gesagt hatte, eine erstaunliche Bemerkung. Sehr erstaunlich sogar.

Der rothaarige Mann tat dies jedoch letztendlich mit einem Achselzucken ab und griff zu der Wasserflasche, um sich auch ein Glas des kostbaren Nass einzuschenken.
 

„Wieso haben Schwarz diese Aufgabe nicht für dich übernommen?“, fragte Youji in die darauffolgende Stille hinein und fixierte Aya mit ruhigen, unnachgiebigen Blick. Bemerkte dessen Zögern. Natürlich war es klar, dass Aya bei dieser Antwort zögerte. Er hatte schließlich auch ein Dutzend der feinen verwaisten, roten Strähnen gesehen, die auf dem kalten Steinboden der Lagerhalle gelegen hatten. Alle – so hatte er schließlich festgestellt – gleichlang abgeschnitten, nicht ausgefranst. Ein Messer, vermutlich das gleiche, das auch Ayas Pullover zerfetzt hatte.
 

„Sie wollten es nicht“, lautete schließlich die unbefriedigende Antwort auf seine Frage, die ihn über die weiteren Vorgänge im völligen Unklaren ließ.
 

„Warum?“
 

„Ich weiß es nicht.“ Eine deutliche, finite Abfuhr, die nach Youjis Geschmack nicht der Wahrheit entsprach.
 

"Wieso sollten sie seine Haare abschneiden, Yohji?“, fragte Omi ehrlich neugierig wie der Ex-Schnüffler auf diese abwegige Idee kam. Klar, Schwarz wollten Aya mit Sicherheit demütigen. Aber wieso kam Yohji gerade da drauf.

Die Haare waren tatsächlich von ihnen dort gefunden worden, aber es war vielleicht nur eine zufällige Begebenheit gewesen, dass Schwarz Aya zufällig die Haare abgeschnitten hatten, als sie ihm den Pullover zerrissen hatten.
 

„Es sah zu gleichmäßig aus“, wiederholte Youji seine Gedanken und legte sie offen für alle hier Anwesenden dar. „Als wenn das Messer angesetzt wurde und dabei ein paar Strähnen durchgeschnitten hat. Dann jedoch Abstand davon genommen wurde. War es nicht so, Aya?“
 

Und alles, was Aya tun konnte, war zu nicken und Youjis Bericht zu bestätigen. Er konnte jetzt nicht lügen, nicht seinem Team gegenüber, auch wenn er genau das getan hatte. Doch Schuldigs Bündnis mit ihm ging hier niemanden etwas an, besonders dann nicht, wenn diese langen Zotteln spätestens heute der Friseurschere zum Opfer fallen würden.
 

„Sie wollten mich vermutlich ärgern“, lachte er leise und ließ den Blick in die Ferne streifen. Etwas Wahrheit schadete ja nicht. „Zwischen Schuldig und mir ist dieses Thema aufgekommen...und nachher, als Farfarello sie mit dem Pullover abschneiden wollte, hat er ihn davon abgehalten.“
 

Omi sah auf beim letzten Satz, stand auf um sich etwas zu trinken zu holen. Bestimmt drückte sein Gesicht Argwohn aus, wie ihm in den Sinn kam. Er sollte Aya jetzt nicht zusätzlich damit belasten, dass er spürte, dass da noch einiges mehr lauerte. Er musste seine Bedenken in sich verbergen.

Mit einem milden Lächeln trat er wieder an den Tisch setzte sich und nahm einen Schluck Wasser.

"Ärgern?" fragte er leichthin.

"Ein wenig harmlos ausgedrückt für Schwarz, meinst du nicht, Aya?"

Wieder lächelte Omi, doch ihm schien es eine Farce. In seinem Innern fühlte sich nicht wirklich etwas nach einem Lächeln an. Aber er hatte lange dafür geübt, dass es sogar seine Augen erreichte, auch wenn es noch so schmerzte.

Seit wann tat er dies bei Aya? Seit wann, nahm er an Aya würde dies nicht durchschauen?

Omis Blick richtete sich wieder seinem Essen zu.
 

„Nein, Omi. Genau das Richtige in diesem Fall“, sagte Aya geradewegs durch dieses Lächeln und fixierte den Jüngeren plötzlich ernst. Diese Antwort galt ihm…nur ihm. „Das Orakel und Farfarello dachten anscheinend, dass es mich besonders schmerzen würde, wenn sie mir die Haare abschneiden. Dem war nur nicht so. Deswegen sind sie dran geblieben. Keine Sorge, Omi. Es ist nichts weiter passiert.“
 

Aya ließ seinen Blick in die Runde vor sich streifen. Eines hatte er eben gerade begriffen. Er durfte nicht kneifen, nicht vor ihren Fragen fliehen, wenn er nicht wollte, dass sie ihm misstrauten und ihn schließlich aus ihrer Gemeinschaft ausstießen. Er musste ehrlich sein.
 

Leider. Auch bei der nächsten Frage. Youji, dieses Mal und wieder dieser durchbohrende, alles wissende Blick. „Wie sieht denn Schuldigs Wohnung aus, Aya? Was hast du denn die fünf Tage gemacht?“
 

Der rothaarige Weiß seufzte. „Geschlafen, gegessen, geschlafen…mich gelangweilt. Gelesen.“ Die erste Frage hatte er einfach überhört…so war es am Besten für sie alle.
 

Erleichterung breitet sich in dem jüngsten Weiß Mitglied aus, als Aya diesen ernsten Blick direkt an ihn wandte. Es noch immer schaffte durch diesen Blick Stärke auszudrücken und diese weiterzugeben.

Omi blickte ihn einen Moment länger als nötig an, stellte das Lächeln ein und nickte leicht. Ja, sie hatten ihm scheinbar nichts wirklich schlimmes angetan, dieser Blick sagte es Omi. Zufrieden zumindest sich dieser Tatsache bewusst aß er weiter.
 

"Das klingt ja wie Urlaub", mischte sich nun auch Ken ein und hob eine Braue, die Lippen skeptisch verzogen. "Wollten sie vielleicht Lösegeld von Kritiker und Birman und Manx haben uns nur nichts über diese Forderung erzählt?", mutmaßte er ins Blaue, selbst nicht so ganz von seiner Idee überzeugt.
 

„Ja…Urlaub.“ Mit Fastenkur und anschließender Beautyfarm. Genau. Aya konnte sich ein schwaches, bitteres Lächeln nicht verkneifen. Es war kein Urlaub gewesen, auch wenn Schuldig genau das beabsichtigt hatte. Auf seine ganz bestimmte, verquere Art und Weise. Apropos Schuldig…
 

„Nein…Lösegeld haben sie nicht gefordert, dafür haben sie selbst zuviel Geld.“ Aya schüttelte entschieden den Kopf und erhob sich schließlich. Zeit, an Schuldig zu denken. „Wenn ihr mich entschuldigt, ich gehe zum Frisör. Haare abschneiden.“
 

Daran hätte Ken auch selbst denken können, schimpfte er sich selbst einen Trottel und ein zarter Rotschimmer legte sich auf seine Wangen. Er senkte den Kopf etwas, sodass die Haare seine Augen verbargen und widmete sich seinem Essen. Oh Gott, wie blöd war er eigentlich?

Warum zur Hölle konnte er in manchen Fällen nicht einfach den Mund halten, sondern vor lauter ‚Ich will helfen’ musste er etwas Unüberlegtes sagen. Aya war nun mal ihr Sorgenkind, auch wenn es weder offiziell war, oder gar zwischen ihnen eine Unterredung darüber gegeben hätte. Es war schlicht so.

Und das nicht nur seit dessen Entführung. Er war für sie da, so wollten sie es ihm vergelten, indem sie sich um ihn sorgten.

Du Idiot, fluchte Ken in sich hinein und schwieg. Warum konnte er nicht so scharfsinnig wie Yohji sein? Sein leidenschaftliches Engagement für bestimmte Dinge machte sich leider auch oft in Teamangelegenheiten bemerkbar - was nicht immer von Vorteil war.
 

"Bis später, Aya, lass dir Zeit, eine schöne Kopfmassage tut wahre Wunder."

Omi lächelte und sah Aya nach. Er sollte sich eine erholende Massage gönnen.
 

Aya nickte, runzelte aber noch im Hinausgehen die Stirn. Omi war durchaus…seltsam in Bezug auf seine Haare, seit er wieder da war. Aber gut, vielleicht wurde er auch einfach nur paranoid. Das war vermutlich alles. Vor allen Dingen alles Schuldigs Schuld. Diesem verdammten Telepathen.

Er kuschelte sich tief in seinen hauseigenen Mantel und wanderte langsam durch die Straßen Tokyos, missbrauchte diese Zeit für sich alleine, um seine Gedanken zu ordnen.
 

Früher oder später würden Kritiker bei ihnen vor der Tür stehen und wissen wollen, was in diesen Tagen geschehen war. Und was er ihnen dann sagen würde, war ganz sicher nicht zu ihrer Zufriedenheit, konnte und wollte er ihnen doch weder Details über Schuldigs Wohnort noch seine Schwäche liefern. Das war etwas, das alleine zwischen ihnen beiden stand. Vielmehr ihnen dreien, ihm, Schuldig und Crawford.
 

So sehr es Aya auch störte, so deutlich war er sich bewusst, dass es eben Crawford war, dem er sein Leben zu verdanken hatte. Er hatte Schuldig darauf gestoßen, dass er noch dort in der Wohnung war, als dieser vergessen hatte. Es war Crawfords Stimme gewesen, die ihn langsam aus seinen Schmerzen hervorgelockt hatte. Ihm Wasser, Tee und eine durchaus eklig schmeckende Suppe gegeben hatte.
 

Aya hasste es, dankbar sein zu müssen…besonders Menschen gegenüber, die es nicht verdient hatten. Aber gut. Ein Kreuz mehr...
 


 

Schuldig riss sich von seiner Betrachtung der Zimmerdecke los und setzte sich ruckartig auf. Fast hätte er gelacht bei dieser Aktion, wirkte sie doch wie Graf Dracula nach einem langen Tag, wenn die Nacht anbrach und er sich aufmachte um holden Jungfrauen die Kehlen aufzuschlitzen.

Ein ähnlich vorfreudiges Lächeln breitete sich auf Schuldigs Gesicht aus, als er zur Tür lief, seine Schuhe anzog und hastig nach Haustür- und Autoschlüsseln griff.

Nein, dieses Lächeln hätte selbst Dracula eine verkniffene, unsichere Erwiderung entlockt.

In Gedanken schon halb zur Tür hinaus, eilte er ins Badezimmer, sah sich suchend um. Und schon war er wieder draußen, als er das Gesuchte in seinen Händen wusste. Danach ging’s noch zum Kleiderschrank, kurz darin gewühlt, bis sich etwas Weiches in seinen Fingern verfing. Ein kurzer Kontrollblick ob er auch nichts vergessen hatte und die Tür fiel krachend ins Schloss.

Das Lächeln wollte sich kaum abstellen lassen, als er seinen Wagen in halsbrecherischem Tempo durch die Stadt jagte. Ganz im Gegenteil.

Am Ziel angekommen, seinen Wagen parkend, hätte besagter Graf Dracula Angst bekommen.
 


 

Dankbar war Aya aber jetzt vor allen Dingen für die leicht parfümierte, warme Luft, die ihm aus dem Friseursalon entgegenschlug. Endlich aus dieser verdammten Kälte raus, das war alles, was er sich wünschte und bekommen hatte. Ihm verheißungsvoll weihnachtlich entgegenschlug.

Er musste zugeben…es war einer der teureren Friseure aus Tokyo, ein moderner, heller Laden in klassisch-puristischen Interieur, den Aya genau deswegen in sein Herz geschlossen hatte. Und natürlich wegen der kompetenten Bedienung. Die ihm beinahe sofort schon einen Platz auf einem der Friseurstühle anwies.
 

Einmal waschen, schneiden, legen bitte. Wird gemacht. Danke. Das übliche Prozedere, dem sich Aya nun ergab und seinen Kopf samt Haaren in das Waschbecken bettete und die Agen schloss. Völlige Entspannung…zu beruhigend mediterraner Musik.
 

Schuldig sah sich um. Die Gegend, in die er gefahren war, war seine Kragenweite. Noble Geschäfte, schmucke Läden. Einen dieser Läden betrat er und sah sich um.

Sein erklärtes Ziel schon vor Augen, arrangierte er das Nötige. Mittels Telepathie, die er großflächig einsetzte um ungestört zu Werke gehen zu können, ließ er die Arbeitenden weitermachen, während er den Mitarbeiter manipulierte, der sich dem Objekt seiner Begierde angenommen hatte. Doch zuvor brauchte er noch etwas Vorbereitung.

"Ist Ihnen die Temperatur so angenehm?" fragte der Mann neben Schuldig, mit ruhiger Stimme und Schuldig ließ den Mann hinter sich auf einen Stuhl setzen.
 

Er dagegen ließ das Wasser vorsichtig auf die rote Haarflut in dem Waschbecken laufen, wartete gespannt darauf, dass Aya etwas sagte. Schuldig beobachtete ihn genau, stets darauf gefasst, dass Aya die Augen öffnete, was momentan noch nicht günstig wäre. Doch die Wimpern lagen auf den Wangen, die Hände entspannt auf den Seitenlehnen. Alles an Aya wirkte so, als wolle er sich im Glauben, der Mann hinter ihm würde schon das Richtige tun, zurücklehnen und sich entspannen.

Nun, der Mann, der Ayas Haare in den Händen hielt, hatte auf jeden Fall vor, das Richtige zu tun!
 

„Wundervoll“, murmelte Aya und ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen. Er ruckelte sich leicht in seinem Sitz zurecht und wartete völlig entspannt auf die Hände, die ihn verwöhnen würden. Seine allzu empfindliche Kopfhaut. Und wenn es Aya weder vor seinem Team noch vor Schuldig jemals zugegeben hatte, so war die einzige Berührung, die er von Fremden ausnahmslos duldete, eine Kopfhautmassage, die ihm Schauer um Schauer durch den Körper schickte.
 

Vorsichtig um Ayas Stirn nicht mit Wasser zu benetzen, fuhren seine Finger über den Haaransatz, strichen durch das volle Haar, das sich langsam mit Wasser vollsog, schwerer wurde. Schuldig faszinierte das dunkle Blutrot, welches die Haare nun angenommen hatten. Den Wasserstrahl auch unter das Haar haltend um das feine Nackenhaar zu nässen strich er wiederholt über den Stirnansatz, verlor den Hautkontakt nicht.

Erst als das Haar wirklich nass war, begann er das Shampoo aufzutragen, das er von zu hause mitgenommen hatte. Er verteilte eine großzügige Menge in seinen Händen, verteilte es im Haar und begann mit sanftem Druck eine kleine Massage, wechselte jedoch auch ab und kraulte zwischendurch das Haar im Nacken. Sichtlich dies genießend Aya so vor sich zu haben, unwissend und in seinen Händen, war fast schon berauschend. Er musste sich zurücknehmen, damit er nichts sagte, damit er nicht die Wange des Weiß Killers berührte. So genoss er die völlige Entspannung, die er Aya bescherte, zu sehen.
 

Oh ja…dieser Mann verstand sein Handwerk…das konnte Aya mit gutem Gewissen bejahen. Diesen Könner einfach mit zu sich nach Hause nehmen…zum Haare waschen. Jeden Tag wieder. Nein, davon konnte Aya nicht genug bekommen.

Wäre er zuhause gewesen, hätte er sich das Schnurren sicherlich nicht so verkniffen, wie er es jetzt tat. Jetzt musste er sich auf das simple Lächeln auf seinen Lippen beschränken.

Er schnupperte leise. Welch Zufall…sie hatten eben SEIN Shampoo. Sehr schön….wirklich exklusiv.
 

Aya spürte, wie nach und nach auch die restliche Anspannung aus seinen Gliedern wich. Sein Team, Kritiker, die Angst, dass Schuldig noch einmal auftauchte und es sich anders überlegt hatte…alles war ad acta gelegt und existierte in einer kleinen, dick ummantelten Blase weit in den Tiefen seines Bewusstseins. Fernab von der momentanen Entspannung.
 

Schuldigs Augen funkelten, als sie sahen, wie Aya in seinen Händen zu formbarem Wachs wurde. Das hätte doch was, wenn Schuldig das öfter tun konnte.

Er wusch das Haar aus, nahm den Schaum von dem Haaransatz, strich sanft über die Haut, wie zufällig. Aber Schuldig machte nichts zufällig.

Erneut gab er etwas von dem Shampoo auf die Haare, wusch es ein zweites Mal, ließ sich dabei Zeit und übte wieder sanften Druck mit den Fingerspitzen auf die Kopfhaut aus. Währenddessen ließ er mittels seiner Gedankenkontrolle den Friseur der noch immer auf dem Stuhl schräg hinter ihm saß, herantreten und Aya sagen, dass er gleich noch eine Haarkur auftragen würde. Danach war er wieder entlassen und durfte sich wieder setzen.

Das Lächeln, das sich auf Ayas Gesicht ausbreitete, speicherte Schuldig sofort ab. Wer wusste schon, wann er dieses Ereignis wieder einmal sehen würde. Vermutlich war es eine einmalige Sache gewesen.

Wie eine Knospe, die nur einmal in ihrem Leben ihre Blütenblätter entfaltet und danach nie wieder.... Hin und wieder verirrten sich Schuldigs Fingerkuppen zur feinen Rundung der Ohrmuschel, entfernten sanft den Haarschaum, strichen ebenso zart über die Kopfhaut dahinter, jedoch nie so, dass Aya misstrauisch werden konnte.
 

Das war definitiv ohne jeglichen Zweifel zu gut…
 

Die letzten Tage der sträflichen Vernachlässigung forderten nun ihren Tribut und ließen Aya immer wieder sacht, beinahe unmerklich schaudern. Es war, als zögen sich die Stimulationen der Nervenzellen seiner Kopfhaut bis tief hinunter in die Zehen und von dort aus wieder nach oben. Einem endlosen Kreislauf gleich, der ihn als willenlosen, zu Zucker gewordenen Krieger zurückließ.
 

In diesem Moment hätte ihn nichts stören können…in diesem Moment wäre ihm alles egal gewesen, Hauptsache, diese Hände hörten nicht auf damit, ihm solches Wohlbehagen zu bereiten. Verbunden mit den Gerüchen der aufgetragenen Kur eine Stimulation der besonderen Art, die Aya vor Augen führte, dass auch er seinen Instinkten nicht widerstehen konnte. Den natürlichen Empfindungen, die ihn prickelnd erregt zurückließen.
 

Während die Kur ihre Wirkung entfaltete, begann Schuldig nun die wirkliche Kopfmassage, verstärkte minimal den Druck auf die Kopfhaut, griff unter das Haar und nahm Ayas Kopf in seine Handflächen, massierte den Nacken, den unteren Teil des Hinterhaupts. Seine Finger waren weit aufgefächert als eine Hand sich löste, die andere Ayas Kopf leicht anhob um den Nacken besser zu erreichen. Die Gefahr bestand darin, dass Aya die Augen öffnete und Schuldig im Spiegel erkennen konnte. Schuldig war bereit das Risiko einzugehen, schließlich wollte er hier gute Arbeit leisten, sagte er sich selbst und grinste dabei.
 

Den Friseur schickte er weg, er brauchte ihn nicht mehr. Wenn Aya ihn sehen würde, dann musste Schuldig das nun in Kauf nehmen. Es war kein Problem für ihn, ihre Anwesenheit in den Köpfen der Kunden und der Friseure zu löschen.

Die Kur wirkte ein und Schuldig wusch erneut die Haare aus, bis er sicher war, dass sämtliche Reste aus der blutroten nassen Seide entfernt waren. Er ließ Aya kurz liegen, griff sich ein eingerolltes Handtuch aus einem Regal und wickelte es um Ayas Stirn und Haare. Der Turban, wurde von seinen Händen gehalten und Ayas Kopf etwas aufgerichtet, damit die ungewohnte Haltung nicht schmerzte beim Aufrichten.

Schuldig schob das bewegliche Becken weg und stellte sich hinter Aya, noch hatte er nicht die Augen geöffnet, sodass Schuldig das Haar kurz mit dem Handtuch ausdrückte. Den Turban abnahm und die Nässe etwas aus dem Haar nahm, bevor er neben sich einen Kamm erblickte.

"Sie sind also zum Spitzenschneiden gekommen?", fragte er samtig, wartete gierig darauf, dass sich die Lider hoben, die schwer über den Augen lagen. Scheinbar hatte Schuldig ganze Arbeit geleistet.
 

Aya lächelte sanft. Noch…noch wollte er seine Lider nicht öffnen. Viel zu schnell war es in seinen Augen vorbei gewesen…dieses herrliche Gefühl, das auch jetzt noch in seinem Blut prickelte.

„Nein…“, erwiderte er schließlich und hob den Kopf, öffnete langsam seine Augen. Gewöhnte sich dabei erst langsam an die Helligkeit des Raumes. „Ich bin wegen eines Komplettschn- “
 

Stille.
 


 

Fortsetzung folgt...

Danke fürs Lesen!

Coco & Gadreel

Judas

~ Judas ~
 


 


 

Stille.
 

Er sah. Sah den Frisör, den mutmaßlichen, der das Wunder der Kopfhautmassage vollbracht und ihn so entspannt hatte. Er sah den Mann, der hinter ihm stand und erkannte nun auch die samtige Stimme. Wie hatte er sie eben überhören können? Wie?
 

Stille…immer noch.
 

Aya sah sich selbst im Spiegel, sah die weit aufgerissenen, violetten Iriden, die alles, nur keine Ruhe mehr spiegelten. Entspannung, eben noch so präsent im Körper war dem sekundenschnellen Adrenalinschub gewichen, der sein Herz brutal hart in seiner Brust schlagen ließ. Er sah das Lächeln des anderen Mannes, das er mittlerweile so gut kannte. Der Jäger hatte seine Beute.
 

„Schuldig“, brachte er das Offensichtliche mit größter Mühe beherrscht hervor.
 

"Nun, wie der Zufall es will, ist das mein kleiner Nebenjob. Kann ja nicht jeder Blumen verkaufen", sagte dieser salopp, als müsse er sich sein Zubrot hart verdienen, im Gegensatz zu den Weiß Killern.

"Jaja, die Welt ist schlecht, also zurück zum Geschäft."

Er machte eine winzige Handbewegung, wischte das Thema damit vom imaginären Tisch und grinste vielsagend, das amüsierte Funkeln in den Augen in die vor Schock geweiteten Amethyste sengend.

"Spitzenschneiden, wie mir mein Kollege sagte, lehnen Sie sich ruhig zurück, entspannen Sie", plapperte er in allerfeinster Manier eines Scherenkönigs. "Sie haben Recht. Dieses Haar zu schneiden wäre wirklich Frevel. Manch einer würde dafür töten, das können Sie mir glauben. Ich kenne da jemanden, ein vollkommener Trottel, sag ich Ihnen! Man hat ihm doch tatsächlich ein Versprechen gegeben und er hat es doch tatsächlich geglaubt. Da ging’s auch um Haare, glaube ich. Ich sag’s Ihnen, Leute gibt's!"

Gespielt fassungslos schüttelte er den Kopf und ein ironisches Lächeln legte sich auf die offenen Gesichtszüge, doch der Schalk in den grünen Iriden funkelte mit dem Lächeln um die Wette.

Schuldig wartete einen Augenblick und führte seine Hand langsam auf die Haare über Ayas Ohr, legte die Handkante etwas an, um den Kopf nicht zu stark zu bewegen, als er vorsichtig begann das Haar glatt zu kämen. Seine Augen in seine Arbeit vertieft.
 

Aya war sich bewusst, dass er reichlich dümmlich auf die hinter ihm stehende Gestalt starrte und sich bisher noch keinen Deut gerührt hatte. Auch die geöffneten Lippen nicht, die nun ihren Weg zueinander fanden und geräuschvoll zuklappten.
 

Was…..Was ERLAUBTE Schuldig sich? Wie konnte es der andere Mann wagen, so in seine Privatsphäre einzudringen und ihn zu…hintergehen. Ja, hintergehen. Etwas vorzuspielen, was nicht war. Ihn ausnutzen, auf welch verquere Art und Weise auch immer! Wie KONNTE Schuldig es wagen, ihm auch noch einen Vorwurf daraus zu machen?
 

Ayas Hand schnappte nach der ihn kämmenden und zwang sie eisern zum Stillstand. „Und ich habe von jemandem gehört, der auf Versprechen nichts gibt“, erwiderte er dunkel zischend und funkelte wütend. „Sowas…solche Menschen soll es auch geben. Und wenn Sie jetzt so nett wären, mir die Haare GESAMT zu schneiden und Ihren JOB zu tun, wäre ich Ihnen SEHR verbunden!“
 

Schuldig hatte die Wut in den Augen gesehen, hatte mitverfolgt, wie Aya sich fasste, zu seiner alten Form zurückfinden wollte.

Er hatte ihn doch tatsächlich überrumpeln können. Etwas stolz war Schuldig schon, das gestand er sich ein.

"Ja, solche Menschen gibt es mit Sicherheit. Aber ich persönlich halte Versprechen ein und erwarte dies ohne Worte auch von anderen, die sie mir geben."

Die Hand, die Seine festhielt, war unnachgiebig und hart, Schuldigs dagegen ließ diese grobe Behandlung über sich ergehen, mit einem Lächeln wie es sich für einen Angestellten gehörte.

"Ich mache meinen Job immer gründlich", betonte er das Wort ‚gründlich‘, Aya im Spiegel dabei anblickend. Wieder fing er an die Haare zu kämen.
 

„Tatsächlich?“
 

Ein einziges Wort, das Aya dafür brauchte, um alles, was der andere Mann gerade gesagt hatte, in Frage zu stellen. Er wusste es besser…er hatte schließlich die Reaktion des Telepathen auf seine letzte Geste gesehen. Doch das war kein öffentliches Thema und dafür hier einen Aufstand zu veranstalten, konnte er sich nicht leisten.

Was blieb ihm also anderes übrig, als Schuldig gewähren zu lassen? Seinen Arm sinken zu lassen und sich angespannt zurück zu lehnen.
 

„Da sind wir schon zu zweit. Beide Perfektionisten in dem, was wir tun“, gab Aya zurück, erwiderte Schuldigs Drohung mit seiner ganz eigenen.
 

Schweigend machte sich Schuldig wieder ans Werk, kämmte das lange Haar, entfernte die losen Haarsträhnen und scheitelte das Haar in der Mitte.

Sein suchender Blick fand auch kurz darauf die Schere in dem Rollwagen der neben dem Waschbecken stand.

Er fühlte sich wie ein experimentierfreudiger Schüler vor seinem großen ersten Versuch. Wie schneide ich meinem Feind die Haare, möglichst so, dass ich dabei selbst nicht sterbe? Das war die große Herausforderung dieser und der folgenden Momente, grinste Schuldig in sich hinein und griff zur Schere.
 

Während der nächsten Minuten arbeitete er konzentriert, nahm Strähnen auf, kämmte wieder glatt, schritt um Aya herum, versuchte möglichst ein symmetrisches Ergebnis zu erzielen. Akribisch und konzentriert beäugte er die Haarlänge und nach getaner Arbeit war er sichtlich stolz auf sein Werk. Also griff er sich fluchs den Haarföhn, stellte auf eine kühlere Temperatur und fing an Ayas Haar zu föhnen. Zunächst nur die Länge, dann immer weiter zum Ansatz hin arbeitend, berührte er dabei hin und wieder die Kopfhaut, strich mit dem Rücken der Finger um die Strähnen aufzunehmen und sie für die laue Luft des Föns aufzufächern. Den Kamm ließ er außer Acht, zunächst arbeitete er nur mit den Fingern.
 

Aya saß währenddessen kaum mehr entspannt auf dem Stuhl, sondern hatte vielmehr seine Hände in die Lehnen desselbigen gekrallt. Seine Augen versprachen Schuldig einen ruhmvollen, grausamen Tod nach dem anderen, als er mit Argusaugen die Schere verfolgte, immer darauf bedacht, dass er nicht erstochen wurde. Den Fön anstierte, der schließlich die nur wenig kürzeren, gepflegten Strähnen trocknete.
 

Doch so reglos er nach außen hin war, so sehr rasten seine Gedanken im Inneren. Was wollte Schuldig hier? Wieso wusste er davon? Für Aya gab es da nur eine Möglichkeit…der andere Mann beschattete ihn. Bespitzelte ihn und hatte immer noch nicht genug. Wieso konnte er ihn einfach nicht in Ruhe lassen? Oder war es etwa genau das? Ein kurzes Zwischenspiel in Freiheit, bevor Schwarz gleich auftauchen und ihn wieder zurückbringen würden? Aya schluckte mühsam. Wenn er ehrlich war, hatte er Angst. Große Angst davor.
 

Zu sehr vertieft in seine Arbeit bemerkte Schuldig das angespannte Verhalten des Anderen nur marginal.

Er zuckte innerlich mit den Schultern. Aya wollte sich schließlich die Haare schneiden lassen und seinen Schwur brechen, dafür musste er jetzt eben etwas leiden und sich in Schuldigs Hände geben.
 

Schuldig hätte das Haar am Liebsten an der Luft trocknen lassen, aber im Winter war dies weniger günstig. Er griff zur Bürste und kämmte das schwere, lange Haar. Die blutrote Farbe leuchtete im Licht des Frisörgeschäfts als wäre Aya ein Model für eine neue Haarfarbe und würde von einem der Poster in dem Geschäft lächeln.

Wobei....lächeln wohl nicht, eher kühl blickend, korrigierte er seine Gedanken.

Er fing an die Strähnen einzeln abzuteilen und einige gesondert mit der Rundbürste zu fönen, sodass sie sich übereinanderlegten und etwas voller wirkten. Obwohl Ayas Haar glatt war, wirkte es voll, gesund und stark.

Zufrieden mit seinem Werk nahm er Aya den Schutzumhang ab und erst dann blickte er ihn im Spiegel mit einem spöttischen Lächeln an.

"Gefällt es?", fragte er höflich.
 

„Nein“, gab Aya ehrlich zurück, ließ all die falsche Höflichkeit außer Acht. Seine Stimme hörte sich gepresst an, voller Misstrauen und Anspannung, die seinen Körper hart wie Stahl hatte werden lassen. Nur eine Berührung…nur eine, das wusste er, und er würde seinen Vorsatz vergessen, alle anderen Anwesenden nicht einzuweihen.

Er sah sie, die offenen, langen Haare und hasste sie für einen Moment wie nichts anderes auf der Welt. Wenn er doch nur die Gewissheit hätte, dass Schuldig wieder verschwinden würde…dieses Mal für immer und ihn in Ruhe lassen würde. Vielleicht…vielleicht hätte er die Situation dann entspannter angehen können.
 

Aya stand ohne Kommentar auf und wandte sich um, begegnete dem gegnerischen Telepathen nun von Angesicht zu Angesicht. Ließ diesen stumm an seiner Wut teilhaben.
 

Die Reaktion war vorauszusehen, ebenso die Antwort, befand Schuldig.

Von diesem wutgetränkten Blick gebannt, genoss er den angespannten Körper und die harten Gesichtszüge an dem anderen Mann, die ihn am Liebsten hier, vor den Augen aller Anwesenden zerrissen hätten. Für seine Unverfrorenheit, für seine Dreistigkeit.

Die Haarsträhnen umschmeichelten diese Härte, nahmen ihr die Kanten.

Schuldig überlegte einen Moment und befahl den Frisör per Gedanken heran, suggerierte ihm, dass er die Haare geschnitten hatte. Er wandte sich zur Tür von Aya ab und winkte beiläufig. "Vergiss nicht zu zahlen, Blumenkind", lächelte er verschmitzt und verschwand hinaus in das Schneegestöber, welches sich gebildet hatte.
 

Nach wenigen Metern jedoch blieb er stehen und verbarg sich in einer Seitenstraße, sich nicht sicher, ob er nicht die Gedanken eines Weißmitgliedes aufgeschnappt hatte. Er forschte nach und prompt befand er sich in der Gedankenwelt eines ehemals Privatdetektiv - jetzt Weiß Killers - Yohji Kudou, der sich in der Nähe befand und Aya scheinbar beobachtete.

Schuldig schmälerte die Augen, denn dieses Verhalten gefiel ihm ganz und gar nicht. Seit wann bespitzelten sich Teammitglieder? War das bei Weiß so üblich? Er hatte immer gedacht, der Zusammenhalt bei Weiß wäre sehr gut, so wie sie sich oft verhielten.

Zeit um die Gedanken des Ex-Schnüfflers zu erforschen, um die Motive des Mannes zu kennen.
 

o~
 

Die feinen, blauen Adern an Ayas Schläfe pochten verdächtig heftig, als er sich plötzlich dem lächelnden Frisör gegenüber sah, der anscheinend der Meinung war, dass dieser Service erstklassig gewesen war. Natürlich war er das...

Aya schnaubte. Dafür auch noch BEZAHLEN? Er…wenn er Schuldig mit seinem Katana begegnete, würde der andere Mann das keine zwei Sekunden überleben, auch wenn Aya erleichtert war, dass der Telepath diesen gottverdammten Laden endlich verlassen hatte. Hieß das doch vielleicht, dass er einfach mit dem Schrecken davon gekommen war…

Mit vor Wut roten Wangen drückte er dem armen Frisör wortlos das Geld in die Hände und griff seinen Mantel, war in Sekunden raus aus dem Salon. Ohne das Haargummi mitzunehmen, das seine Mähne zusammengehalten hatte. Verdammt. So ein beschissener Tag.
 

Aya schnürte sich den warmen Stoff bis unter das Kinn hoch und steckte seine Hände in die warmen Taschen. Und wie erklärte er seinem Team, dass seine Haare beinahe überhaupt nicht kürzer waren? Zum Teufel…er konnte schon fast ahnen, dass es Schuldig mehr als Spaß machte, ihm Schwierigkeiten zu bereiten.
 

o~
 

Yohjis Gedanken beinhalteten sowohl Sorge, als auch Misstrauen, wobei sich letzteres eher zum Wohle des Anführers verhielt. Er hatte auch gesehen wie Aya sich verhalten hatte, als er zuhause angekommen war. Yohjis Erinnerungen lagen offen für ihn da, der Mann schien sich sehr mit Ayas Zustand zu befassen.

Selbst der Verdacht, Schuldig habe Aya missbraucht kam in diesen Gedankengängen auf, was Schuldig sehr störte. Es missfiel ihm, dass ihm dieses Verhalten zugedacht wurde.

Das Schlimme war, dass er in seinem Leben bereits einiges auf dem Kerbholz hatte und mit Sicherheit hatte er vieles davon vergessen. Er konnte nun nicht einmal mehr mit reinem Gewissen einige Dinge leugnen. Da er es schlicht vergessen hatte. Doch Vergewaltigung hatte nicht dazu gehört. Er konnte es sich nicht vorstellen, dass er das tun könnte. Aber ausschließen bei seinem Manko konnte er es nicht...
 

Er wartete noch einen Moment in der Gasse und wollte sie schon verlassen, während er Yohjis Gedanken observierte, als er darin aufschnappte, dass Aya den Frisörsalon verlassen hatte.

Wenige Augenblicke später erreichte Aya die Gasse, war gerade auf ihrer Höhe und Schuldig entschied spontan, dass er Aya so nicht nach Hause gehen lassen wollte. Mit einem Griff um die Taille zog er Aya mit sich, die Arme, die dieser am Körper hatte, da die Hände in den Taschen steckten, festhaltend. Schuldig griff schnell, fest und bestimmt zu.
 

Also doch…
 

Ayas Herz machte einen entsetzten Sprung, als er plötzlich ins Dunkel gezogen wurde. Nein…da war es, sein Horrorszenario. Schuldig hatte sich einen Spaß daraus gemacht, ihn freizulassen, nur um ihn danach wieder einzufangen. Er bäumte sich auf, verfluchte wortlos seine Nachlässigkeit, in Folge derer er nun seine Arme nicht mehr gebrauchen konnte. Wehrlos war im Gegensatz zu dem Mann, der ihn festhielt.
 

Er versuchte, auszuschlagen, seine Fersen in den Boden unter sich zu graben…er versuchte alles, um von Schuldig loszukommen, dessen Geruch sich in seine Sinne fraß, dessen Augen ihn schier aufzuspießen schienen.
 

„Lass mich gehen, verdammt!“, zischte er schließlich, hielt still, hörte auf, sich gegen seinen Häscher zu wehren. Es hatte keinen Sinn…so nicht. „Was soll das hier?“ Auch wenn er tief in sich panische Angst vor der Antwort hatte.
 

Aya fast augenblicklich aus seinem festen Griff lassend, behielt er nur noch dessen Arme neben seinem Körper, bis er sich beruhigt hatte.

Einige Treffer konnte Aya für sich verbuchen, Schuldig jedoch ignorierte sie.

Er hat Angst, meldete Schuldigs Gehirn, als er in diese violetten Augen sah, die voller Emotionen waren, Wut, Angst, und noch viel mehr spiegelten sich darin wider.

Schuldig bemerkte wie Ayas Körper weicher wurde, wie er sich wohl zwang ruhig zu bleiben. Eine immense Anstrengung von sich selbst forderte, um Beherrschung bemüht.

"Ich will dir nichts tun, dir nur etwas geben", sagte Schuldig leise und ließ von Aya ab. Dessen Haar hatte sich etwas unter dem Kurzmantel aufgeschoben und die Strähnen bauschten sich unter dem Kragen auf, sodass sie Aya im Gesicht streiften und die rechte Hälfte fast verdeckten.
 

Schuldig verlor sich kurz in der Betrachtung des aufgewühlten Mannes, bevor er sich mit unergründlichem Gesichtsausdruck daran machte, in seine Innentasche zu greifen und die weiche Wolle, die er unter seinen Fingern fühlte hervorzuziehen.

Die schwarze Mütze, war einfach und schlicht und auch nicht mehr wirklich neu, aber in der Eile hatte er nichts besseres gefunden in den Tiefen seines heimischen Bermudadreiecks, das sich auch Kleiderschrank nannte.

"Hier", zeigte er Aya die Mütze bevor er sich vorsichtig näherte und Aya die Mütze aufsetzte, sie behutsam leicht in den Nacken zog.
 

Aya zuckte regelrecht zusammen vor der nahen Berührung des anderen Mannes, der – so sanft wie er sprach und handelte – mehr als Aya selbst jemals dazu in der Lage gewesen wäre ihn zu beruhigen vermochte. Er sah das Stück Wolle, wusste, was es war. Wusste, dass es keine Gefahr bedeutete.

Fragte sich instinktiv, ob Schuldigs Motive nicht ebenso harmlos waren und er völlig panisch vor einer neuen Entführung falsch reagiert hatte.

Ruckartig löste Aya seine Hände aus den Taschen und starrte Schuldig stumm an, die Zähne fest zusammengepresst. Auch wenn sein Unterbewusstsein es bereits vermutete, so hatte er doch keinen festen Anhaltspunkt dafür, dass Schuldig so friedlich war, wie er es momentan auf ihn projizierte.
 

„Warum spionierst du mir nach? Reichen dir die fünf Tage nicht? Oder macht es dir Spaß zu sehen, wie Kritiker mich fertig machen, wenn sie herausfinden, dass ich ihnen eines ihrer Ziele nicht ausliefere, sondern mir von ihm die Spitzen schneiden lasse?“, drangen Worte an sein Ohr, die selbst dort fremd klangen.
 

Schuldig nahm seine Hände herunter, steckte sie in die Taschen und lehnte sich an die Mauer neben Aya.

"Es ist niemand in der Nähe der dich beobachtet und dir dabei schaden will, Aya, die Umgebung ist sauber."

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.

"Du hast mir ein Versprechen gegeben. Ich möchte von dir nicht hintergangen werden, deshalb habe ich dem vorgebeugt." Er zuckte mit den Schultern.

"Kritiker ist allerdings ein Problem, das weiß ich ...Crawford ist nicht blöd, er hat das bereits erwähnt."

Schuldig lehnte sich nun vollständig an die kalte Mauer, der Blick ernst auf die gegenüberliegende Mauer gerichtet. "Sie wollen mich immer noch?" fragte er seltsam ruhig.
 

„Ja meinst du denn, sie haben dich aufgegeben, nur weil du einen ihrer Agenten entführt hast? Meinst du, die Sache hat sich von selbst gelöst?“ Aya schüttelte stumm den Kopf. Wieso bedachte Schuldig das nicht? „Es ist ja schön, wenn Crawford sich dem Problem für euch annimmt, aber MIR hilft das nicht im Geringsten. ICH muss für sie arbeiten, nicht ihr.“
 

Sein Blick streifte durch die enge, dunkle Gasse, suchte nach Anzeichen von Schwarz, von irgendeiner feindlichen Aktivität, die er nicht fand. Hier war nichts…außer Schuldig. Als wäre das nicht schon schlimm genug.

„Du gibst doch nichts auf Versprechen…oder suchst du dir aus, welches du zu schätzen weißt und welches nicht?“, setzte er schließlich bitter nach.
 

Schuldig dachte einen Augenblick über die Worte nach, bevor er zu einer Antwort ansetzte und sich wieder Aya zuwandte, der seitlich zu ihm stand.

"Mir fiel es nicht leicht, dich gehen zu lassen. Da waren Gedanken, die mich nicht losließen...Kritiker, deine Gesundheit, meine Sicherheit, das Team...nur weil ich wieder einmal einer spontanen Idee nachgegeben habe und dich nicht Brad überließ." Er hob die Hand, führte sie zu Ayas Schläfe, fuhr sanft über die kalte Haut, strich die Haarsträhne sanft beiseite.

Wie ruhig Aya plötzlich war. Schuldig hatte die Befürchtung gehabt, dass Aya gleich wieder gehen würde, sobald er sah, von wem er in die Gasse gezogen worden war.

"Ich war zu sehr mit mir beschäftigt, als dass ich reagieren konnte. Und ich war nicht darauf gefasst, dass du das Versprechen gleich einlöst. Es hat dich sicher Überwindung gekostet in dem Augenblick, die Freiheit vor Augen und dann noch einmal zurückzukehren zu dem, der dir diese verwehrt hat."

Schuldig atmete tief die kalte Luft ein, ließ die Hand wieder sinken, barg sie in seiner Tasche.
 

Ayas Blick verweilte schon seit dessen Berührung auf dem Profil des Telepathen, folgte nun der sich senkenden Hand. Seine Schläfe…die empfindliche Haut dort…kribbelte. Nur eine simple, unerwünschte Berührung und sie kribbelte. Oder war es vielmehr, als unterstützte die Berührung Schuldigs Worte, die ihm das widerlegten, was er sich vorher zurechtgelegt hatte. Nein…Schuldig hatte es nicht vergessen. Ihm war bewusst gewesen, was es Aya selbst gekostet hatte.
 

Der rothaarige Japaner schluckte schwer. Überwindung. Alleine dieses Wort löste Dinge in ihm, die er bisher zurückhalten konnte. Alleine die Stille des anderen Mannes brachte ihn dazu, den Blick gen Himmel zu heben nur um das zu stoppen, was sich in ihnen anzubahnen drohte. Freiheit…er war alles andere als frei.
 

„Und jetzt?“
 

Ein leises Lächeln erhellte das umwölkte Gesicht von Schuldig. Es war das erste Mal, dass sie in solch einer Umgebung relativ normal redeten. Aya fragte ihn um Rat. Ein seltsam neues Gefühl breitete sich in Schuldig aus. Wärme legte sich in seinen Blick, der jedoch auf die gegenüberliegende Wand gerichtet war.

"Jetzt?", wiederholte er die Frage.

"Jetzt, gehst du nach hause und ruhst dich aus", sagte er die Frage bewusst falsch verstehend. Er wusste, dass Aya die nahe und die ferne Zukunft damit meinte - und ihre Begegnungen darin. Am Besten auf Null reduziert.
 

Aya runzelte missbilligend die Stirn. Natürlich…Schuldig verstand ihn mit Absicht falsch…doch das war ihm recht so. Vertrieb das doch die Schwere in seinen Augen und ließ ihn den Deutschen ohne Scheu ansehen. „Danke für den Hinweis, aber ich meinte nicht das sicherlich kommende Bad, sondern das, was weiterhin geschieht. Wenn sie mich damit beauftragen zu kämpfen und zu töten, dann werde ich das tun. In jedem Fall.“
 

Schuldig stieß sich von der Mauer ab, erwiderte den Blick. "Das weiß ich. Ich sehe es in deinen Augen, nicht in deinem Kopf." Die Stimme des Telepathen war leise, aber fest.

Ayas Augen waren mit einem leichten Schimmer behaftet, es kostete ihn Mühe mit ihm zu sprechen, ohne sich auf Schuldig zu stürzen? War es so, dass er seine Wut so stark unterdrücken musste? Schuldig wusste nicht, wie er diesen leichten Tränenschleier deuten sollte.

"Ich hatte nicht vor dich nach deinem Weggang auszuspionieren, ich wollte lediglich wissen, ob du wohlbehalten zuhause angekommen bist, du bist noch nicht fit", stellte er stirnrunzelnd fest.

"Ich werde dich in Ruhe lassen, Aya."
 

Ayas Blick erwiderte die Ehrlichkeit der grünen Augen ebenso offen. „Nein…das bin ich nicht. Aber es wird besser“, erwiderte er und wusste im selben Moment nicht, ob das als Versicherung ihm oder Schuldig gegenüber gedacht war. Schuldig, dessen Bedauern er auch jetzt noch zu spüren meinte. Er stieß sich von der Wand ab und ruckte sich die warme, weiche Mütze auf seinem Kopf zurecht.
 

„Es wäre besser so. Besser für alle von uns“, nickte er schließlich und ließ seinen Blick ein weiteres Mal in die Dunkelheit der Gasse schweifen. Nein…es war wirklich niemand hier.
 

Nein, da war keine Wut, erkannte Schuldig in den Augen des anderen. "Ja, es wäre besser für uns, aber der nächste Auftrag kommt bestimmt und wir werden uns wieder begegnen, dessen bin ich mir sicher", stieß Schuldig auch dieses Thema an, obwohl es nur eine Feststellung war, er kannte Ayas Motive, sein Ziel. Er hatte es ihm vorhin gesagt.

Schuldig vernahm plötzlich jemanden, der sich ihnen näherte und hinter ihm war. "Du kannst aus dem Schatten treten, Balinese, oder glaubst du tatsächlich, du könntest uns unbemerkt von mir die ganze Zeit beobachten?", troff seine Stimme vor Spott. Die grünen Augen hart, wandte er sich jedoch nicht um, sondern blieb weiterhin Aya zugewandt.
 

Der ihn geschockt, wenn nicht sogar mehr als das anstarrte und wie erstarrt mit ansah, wie eine große, männliche Gestalt mit in die Gasse trat. Seine Augen weiteten sich entsetzt. Nein. Nein…das konnte nicht sein. Youji…ausgerechnet Youji.
 

„Aya…Schwarz“, grüßte die ebenso wenig freundliche Stimme des ältesten Weiß die beiden Männer. „Ich muss es ja sehr bedauern, eure Unterhaltung zu unterbrechen, aber ich möchte jetzt doch wissen, wie du dich mit solchem Abschaum rumtreiben kannst, Aya. Hat er dir soweit das Hirn verdreht, dass du vergisst, wo du die letzten fünf Tage verbracht hast?“
 

Aya schluckte, war nicht in der Lage, darauf zu antworten. Aber…Schuldig hatte doch gesagt, dass niemand sie belauschen würde. Niemand, der ihm schaden wollte. Wollte Youji das nicht? Würde er sich nicht an Kritiker wenden?
 

Schuldig wandte den Kopf seitlich, drehte sich noch immer nicht zu Balinese um. Aya stand vor ihm und Yohji, der hinter Schuldig stand, war die Sicht auf Aya zum Teil verdeckt. "Wir sind eben fertig geworden", sagte Schuldig kalt und richtete sein Augenmerk wieder auf Ayas schreckerbleichtes Antlitz. Zugern hätte er ihn jetzt in Gedanken beruhigt, hätte ihm Ruhe geschenkt, Gewissheit. Schuldigs Augen verloren ihre Härte, als er Ayas Blick fixierte. "Er sorgt sich", sagte er nur, hob die Hand und berührte mit den Fingerspitzen den Haaransatz über der Schläfe, strich zart über die Haut bis hinunter zum Ohr, in Richtung Kiefer.

Sekunden der Nähe, die wohl die letzten sein würden.

Bedauernd löste er diese letzte Verbindung und wandte sich ab, ging auf Balinese zu und wortlos an ihm vorbei, die Hände in den Taschen vergraben verließ er die Gasse und macht sich nach hause auf.

Vielleicht würde Brad noch vorbeikommen, seinen Kaffee trinken, nach dem Rechten sehen...sprich ob er keinen Mist gebaut hatte. Er brauchte Ablenkung. Dringend.
 

Youji…sorgte sich? Wusste Schuldig das aus den Gedanken seines Teammitgliedes? Ayas Hand hob sich langsam, versuchte, das neuerliche Kribbeln auf seiner Haut zu dämpfen, indem er die Spur des Telepathen nachfuhr. War es wirklich Sorge? Konnte es jetzt nicht nur noch Misstrauen sein? Er sah doch den Hass und die Wut in den Zügen seines Freundes. Emotionen, die sich ihm kalt und klar offenbarten, als er Youjis Blick begegnete.

Ich kann das erklären…, schrie alles in ihm. Ich bin kein Verräter! Ich habe euch nicht verraten!
 

Bild für Bild hatte er in sich aufgesaugt und zusammen mit den Gefühlen die sich damit aufgestaut hatten, war das Chaos für Yohji perfekt.

War es wirklich das was er gesehen hatte? Gerade eben?

Aya fuhr die Berührung des Telepathen nach?

Alles Bisherige war nicht so klar gewesen, nicht so extrem, wie diese Geste. Was zur Hölle machte Aya da?

Die Kiefer aufeinandergepresst blieb Yohji wo er war, ging keinen Schritt näher auf die schmale Gestalt zu, die im Moment nicht an den Aya erinnerte den er kannte.

Gekannt hatte.

Denn hier stand ein junger Mann, in einen Mantel gehüllt, dem der Schreck und auch die Verzweiflung im Gesicht standen. Yohji konnte ihn förmlich durch den Schlund fallen sehen in die völlige Schwärze, so wie Aya vor ihm stand, in der Gasse, allein.

"Erklär’s mir, alles", forderte er, die Wut hinunterschluckend, die Lippen schmal. Er wollte keine abgespeckten Versionen, keine Umgehungen, keine Verschönerungen.
 

Aya nickte stumm.
 

Es war eine eckige Geste, die nichts mit menschlicher Grazie zu tun hatte. Er hatte keine Wahl, wollte auch keine Unwahrheiten mehr erfinden müssen, nur um sich selbst zu schützen. Er wollte ehrlich sein. Wollte nicht, dass Youji Lügen aufgetischt wurden. Youji war sein Freund…jemand, den er hintergangen hatte. Doch damit war Schluss. Er konnte nichts mehr verheimlichen, hatte Youji sie beide doch gesehen…nahezu friedlich.
 

Ohne Kampf. „Alles, was du willst…alles.“
 

Diese bereitwillige Zustimmung erstaunte Yohji trotz der Umstände, denn leugnen konnte Aya die Szene, der Yohji gerade ansichtig geworden war, nicht. Aber diese völlige andere Person, die vor Yohji stand, die Arme hängend, neben dem Körper und dieser Satz, ließen Yohji zweifeln, ob nicht wirklich Schuldig Aya manipuliert hatte.

Es war nicht der Aya, den er kannte, der hier nun stand, ohne eine Spur von der sonstigen Wehrhaftigkeit, der üblichen Blockade, wenn Yohji etwas von ihm wissen wollte.

"Lass uns gehen, Aya. Wir reden unterwegs", sagte er mit erzwungener Ruhe.

Er rührte sich jedoch nicht, stand immer noch da und blickte die verlorene Gestalt vor sich an. Yohji schluckte die Wut hinunter, atmete tief ein, wiederholt. "Sag mir eins, bevor wir gehen."
 

Er machte eine Pause, Ayas Augen mit seinen festhaltend. "Bist du dir selbst noch treu?"

Im Innern sah es nämlich nicht ruhig aus. Tausend Vorwürfe spukten ihm im Kopf herum. Es war als hätte man ihm den Boden unter den Füßen fortgezogen, als er Aya mit Schuldig dort stehen gesehen hatte, als führten sie einen netten Plausch. Alte Bekannte, die sich hin und wieder trafen, um Tee zu trinken, keine Todfeinde, die sich hin und wieder trafen um sich darin zu üben, wie sie sich am Besten umbrachten.

Aber wie konnte er Aya verdammen? War es nicht er selbst gewesen, der Weiß beinahe verlassen hätte um mit Neu wegzugehen? War Aya da nicht ebenso wütend gewesen? Und hatte er nicht Recht behalten mit seinem Argwohn?

Yohji war innerlich zerrissen. Zwischen Pflichterfüllung und Freundschaft und nicht zuletzt seiner eigenen Vergangenheit, die ähnlich wie diese Situation geartet war. Doch der Ausgang war grausam gewesen.
 

Ob er sich selbst noch treu war? Ayas Augen hielten die des anderen Mannes verzweifelt fest. Wenn es eine Frage gab, die er haltlos mit ja beantworten konnte, dann war es das. Er war sich selbst treu…immer gewesen. Er war nicht jemand anderes. Er war nicht beeinflusst. Er war er. Wenn auch…
 

„Ja. Das bin ich. Dennoch…gibt es Dinge, die Änderungen hervorgerufen haben, Youji. Ich…habe Einblick in verschiedene Ansichten erhalten. Ich bin mir selbst treu…auch den neuen Facetten.“
 

Er bewegte sich hölzern auf seinen Freund zu und ging mit ihm langsam durch die Straßen. Es brauchte seine Zeit, bis er anfing, zu reden. Bis er den Mut gefasst hatte, das auszusprechen, was er vor nicht mal ganz drei Stunden Weiß verheimlicht hatte. Aya schnupperte unwillkürlich an seinen frisch gewaschenen Haaren, war unbewusst dankbar für die ihn wärmende Mütze, die sich so weich um seinen Kopf schmiegte.
 

„Ich habe euch nicht angelogen, Youji“, begann er schließlich. „Es…ist wahr, dass sie mich entführt haben. Vor fünf Tagen, nachdem sie Schuldig aus dem Keller befreit haben. Allerdings war das nicht ihr ursprünglicher Plan…Crawford wollte mich töten, Schuldig hat sich aber dagegen ausgesprochen. Er hat…gesagt, dass er mich haben möchte.“

Ein unmerkliches, beinahe bitteres Lächeln huschte über Ayas Lippen, als er die Ereignisse von vor fünf Tagen in seine Gedanken zurückrief. Unschöne, für ihn auch zum jetzigen Zeitpunkt schreckliche Erlebnisse.
 

Yohji hörte schweigend zu, zunächst wirklich froh über die ersten Worte. Aya war sich selbst treu geblieben, konnte noch klar sehen.

Doch die folgenden ließen Yohji stehen bleiben, erstarren. Um sie herum strebten die Menschen ihren Zielen entgegen nur sie hatten keins. Aya war etwas weitergelaufen und Yohji starrte ihn an, die Stirn voller Fassungslosigkeit in winzige Falten gelegt.

"Weißt du was du da sagst, Aya? Wie sich das anhört? Und du lächelst dabei?" Er schüttelte den Kopf, den Mund öffnend um etwas zu sagen, aber es kam kein Laut hervor, denn in seinen Augen spiegelten sich Verständnislosigkeit und Verwirrung wider, mit einer Spur Trauer.

"Oh Gott, Aya, was haben sie dir angetan? Was hat diese Ratte mit dir gemacht?" War es wirklich so wie er vermutete, dass Schuldig Aya gefangen gehalten und sich ihn gefügig gemacht hatte?

War Aya deshalb so anders?
 

Aya blieb nun auch stehen, sah sich zu seinem Teammitglied um. Youji war entsetzt, das sah er über den Lärm der sie umgebenden Stadt hinaus. Er konnte es spüren, dieses Unverständnis. Die Angst, dass Schwarz so grausam und böse waren, wie auch er es vermutet hatte.
 

„Das ist es ja, Youji…sie haben gar nichts gemacht. Schuldig hat gar nichts getan. Glaub mir, ich hatte die gleichen Befürchtungen wie du jetzt. Doch es hat sich anders herausgestellt, als ich es mir gedacht hatte. Niemand hat mir irgendetwas getan. Nicht körperlich, nicht geistig. Sie haben mich nicht gefoltert, nicht missbraucht, nichts. Schuldig hat mich zu sich geholt, um mich zu studieren. Um mir eine Auszeit zu gönnen. Eine Auszeit von Kritiker. Er wollte, dass ich sehe, dass es auch andere Dinge außer kämpfen gibt. Deswegen hat er mich bei sich gefangen gehalten. Es ist nichts passiert, Youji. Ich bin immer noch ich…er kontrolliert meine Gedanken nicht.“
 

Aya seufzte leise und nickte dann. „Lass uns weitergehen…mir wird kalt, wenn wir hier stehen bleiben.“
 

Yohji starrte immer noch, und seine Brauen zogen sich enger zusammen. Doch er ging weiter, musste die Worte erst verdauen.

Erst Minuten später fand er seine Sprache wieder.

"Und warum hast du so mitgenommen ausgesehen, wenn nichts passiert ist? Du warst fertig, bist jetzt noch ausgezehrt", murmelte er. Es war kein Vorwurf, aber eine Tatsache die er aussprach.

"Andere Dinge? Du warst in seiner Wohnung?"
 

Aya schauderte innerlich. Da hatte er doch gedacht, er würde eben dieser Frage entkommen. Doch da war sie und er würde sie beantworten, aller Ehrlichkeit nach. „Sie haben mich in seine Wohnung gebracht, ja. Und das Erste, was er mir dort eingerichtet hat, war ein warmes Bad…um schließlich auch mit dem Verdacht auszuräumen, dass er mich meines Körpers wegen will. Ich habe ihm das vorgeworfen…und er hat es nicht bestätigt.

Ja, es ist…richtig, dass er mich gefesselt hat. Zum Schlafen gehen, damit er sicher sein konnte, dass ich ihn nicht umbringe. Doch…darüber konnte ich mich frei bewegen. Bis auf…“, er stockte leicht, wusste, dass es ihm nicht leicht fallen würde, das Folgende auszusprechen. Die Angst, der Schmerz zu verhungern…alleine in dieser kalten Wohnung.
 

„Bis auf den zweiten Tag…er war einkaufen und hatte mich angekettet. Er ist erst zwei Tage später wiedergekommen…konnte nicht anders. Deswegen sehe ich so ausgezehrt aus. Ich bin ihm fast verhungert. Doch es war schließlich Crawford, der mich gefunden und aufgepäppelt hat.“ Gott…er wusste jetzt schon, wie schlecht Youji das aufnehmen würde.
 

Crawford ...ihm verhungert...aufgepäppelt von Crawford?

Schlagworte, die Yohji herausfilterte, brachten ihn wieder dazu stehen zu bleiben, nur kurz um Aya anzusehen.

"Das hört sich nach einem verdammt schlechten Film an, Aya."

Und wieder ein tiefer Atemzug bevor er seinen Gang wieder aufnahm. "Diese...Ratte", suchte er nach der ihm richtig erscheinenden Betitelung Schuldigs. "Diese Ratte, hat dich zwei Tage angekettet gelassen und..." er verstummte.

"Wie menschenverachtend ist das eigentlich?" Wut kochte in ihm auf, als er die bitteren Worte aussprach.

"Versteht Schuldig das unter ‚Auszeit von Kritiker?'", spottete er. "Das ist Wahnsinn, Aya. Der Typ ist wahnsinnig."
 

„Wenn es so einfach wäre, Youji“, erwiderte Aya und suchte den Blick des anderen Mannes, sah das Entsetzen, welches er schon in dessen Worten gehört hatte. Er streckte eine seiner in den Manteltaschen vergrabenen Hände aus und berührte den Älteren sacht an dessen Oberarm…eine Geste, die er sich selten erlaubte, Youji gegenüber schon gar nicht.
 

„Schuldig hat das nicht mit Absicht getan. Der Grund dafür…sind seine Fähigkeiten. Er hat mich nicht absichtlich dort liegen gelassen. Und er bereut, was passiert ist, das weiß ich. Ich habe es in seinen Augen gesehen, in seinem Verhalten. Es ist nicht so, dass er mich danach einfach hat links liegen lassen. Er hat sich wieder und wieder darum bemüht, mich zum Essen zu bewegen, selbst dann, als ICH nicht wollte. Er wollte nicht, dass ich verhungere. Und er hat mich danach nicht mehr gefesselt, aus Reue.“
 

"Du wirst das vermutlich nicht Kritiker auftischen, wenn sie dich befragen werden?", sagte Yohji plötzlich ruhiger werdend. Er wurde daraus nicht schlau.

"In den Tagen scheint viel passiert zu sein zwischen euch, oder? Ich frage das, weil es absurd klingt, nicht mit dem Bild welches ich von Schwarz...von dem Telepathen und dem Orakel habe ...zusammenpasst.

Crawford hat dich gerettet...warum hat er zwei Tage gewartet?" fragte Yohji mehr zu sich selbst.
 

„Nein, das werde ich nicht. Es ist eine Sache, die Kritiker nichts angeht. Weißt du…es ist nicht so, dass ich nicht mehr bereit bin, mit Weiß und gegen Schwarz zu kämpfen, das stimmt nicht. Meine Loyalität gilt uneingeschränkt euch. Doch ich will nicht mit unfairen Mitteln töten. Wenn ich Schuldig töte, dann draußen im Kampf, aber nicht in einem der Kritikerlabore. Das will ich nicht.“
 

Er seufzte ein zweites Mal. Ja…es war viel passiert in den vergangenen Tagen. Zuviel für seinen Geschmack, doch daran ließ sich jetzt wohl kaum noch etwas ändern.
 

„Er hatte erst dann eine Vision von der Situation in Schuldigs Wohnung…hat aber dann eingegriffen. Mir ein widerlich schmeckendes Gebräu eingeflößt, das Schuldig mit dem Titel Suppe bezeichnet hat. Das große Orakel kann nicht kochen…“ Aya lächelte, wurde sich dann erst bewusst, was er dort sagte.
 

Er schüttelte sich unwillkürlich aus seinen Gedanken und überschlug kurz die nachfolgenden Ereignisse. „Der Auftrag, an dem ihr ihm begegnet seid…und er meine Lederhose getragen hat. Ich habe währenddessen ein Foto von ihm gefunden…als Kind. Und einem Bären. SEINEM Bären, den er immer noch aufhebt.“
 

Aya hatte den Mensch hinter dem Auftragskiller kennengelernt, dämmerte Yohji es. Ob dies so gut war...

"Der Auftrag hat uns allen nicht geschmeckt, Aya. Das war und ist nicht unser Stil...auch nicht der Stil von Kritiker. Wenn man dieses Wort mit der Organisation in Verbindung bringen will"

Sie gingen weiter und Yohji sortierte die Fakten etwas, sah langsam wieder klarer und konnte die Details langsam zusammenfügen.

"Glaubst du es war eine Taktik von Schuldig? Dich so nah an ihn ranzubringen, damit du ihn kennenlernst und ihn nicht unvoreingenommen bekämpfen kannst? Meinst du, es war kalkuliert?"

Ging er einem möglichen Motiv nach.
 

„Wenn sie uns schaden wollten, hätten sie das schon längst getan. Sie wissen, wo wir wohnen, sie wissen, wo wir arbeiten…sie hätten uns töten können, ohne dass wir eine Chance gegen sie haben. Ich weiß es nicht hundertprozentig, doch ich bin mir sicher, dass sie uns akzeptieren, eben weil wir nicht in der Lage dazu sind, ihnen außerhalb des Kampfes gefährlich zu werden. Zumindest Schuldig scheint vielmehr…Interesse zu zeigen, als wirkliche Absicht, uns zu vernichten.“ Aya lachte amüsiert.
 

„Und er hat Gefallen an meinen Haaren gefunden. Hat mir einen Handel aufgeschwatzt, dass nur er es sein darf, der mir die Haare schneidet, wenn überhaupt. Deswegen sind sie noch da, wo sie mich stören. Deswegen war er auch hier. Weil er in euren Gedanken gelesen und gesehen hat, dass ich sie mir abschneiden will.“
 

Ayas Augenbraue hob sich spöttisch, als er seinen Blick erneut Youji zuwandte. Er zuckte mit den Schultern.
 

"Ist ihnen langweilig, oder was?", knurrte Yohji und lachte dann zynisch.

"Wir mühen uns ab...und erreichen doch nichts. Du hättest sehen sollen wie harmlos einfach Schuldig diese ‚Vertretung' von dir ausgeschaltet hat. Im Nachhinein dachte ich mir nur - sie spielen wirklich mit uns. Oder ...sind wir Schwarz und Weiß aufeinander eingespielte Teams, die schon fast in einem automatisierten Verhalten gegeneinander kämpfen? Wir kennen die Taktiken der anderen, wir vermuten Schwachstellen, Bewegungsabläufe."

Sie überquerten eine große Kreuzung.

"Sie hassen uns nicht", sagte Yohji tonlos.

Es war erdrückend momentan. Schwarz fehlte die Last des Hasses.
 

Aya warf einen Blick auf seine warmen, bequemen Stiefel, deren dumpfe Laute zu ihm heraufschallten. „Natürlich spielen sie nur mit uns. Der Kleine könnte uns mit einem Wimpernschlag töten, wenn sie es darauf anlegen. Sie hassen uns nicht…nein.“ Auch Aya lächelte für einen Moment bitter. „Damit haben wir ihnen etwas voraus…wir sind so dumm und versuchen, das eine ums andere Mal, sie umzubringen, angetrieben von unserer eigenen Wut über das Schlechte der Welt und Kritiker. Genau das war es auch, was Schuldig mir zeigen wollte. Dass sie es anders können. Wir aber nicht. Aus dem Grund hat er mich nachher auch gehen lassen. Mich praktisch vor die Tür gesetzt.“
 

"Sie sind freier als wir."

Yohji blickte Aya nicht an, Melancholie hatte ihn erfasst und er sah sich um. Viele Menschen, viele Erinnerungen.

"Sie schleppen nicht die Vergangenheit mit sich herum und lassen sich von ihr fesseln, oder?", fragte er mit einem bitteren, fast schon abwesenden Lächeln.

"Hassen wir sie, weil wir sie beneiden...Aya?", wisperte er und suchte den Kontakt mit den violetten Augen.

Eine provokante Frage, doch sie plagte ihn, nicht erst seit heute.
 

Aya erwiderte völlig offen den Blick des größeren Mannes. Seines Freundes.

„Wir hassen sie, weil Kritiker es so will. Weil sie uns das zeigen, was mit ihrer privaten Seite nichts zu tun hat, Youji. Sie sind Killer, wie wir. Doch sie sind frei von den Banden einer Organisation.“
 

Er schwieg einen Moment, wandte sich jedoch nicht ab. Zu wichtig war ihm der Kontakt mit den grünen Augen des Älteren. „Hassen wir nicht uns selbst, weil wir nicht von Kritiker loskommen, sondern weiter ihre Drecksarbeit machen müssen, die nichts mehr mit der ‚edlen Rache der weißen Ritter’ zu tun hat?“
 

Yohji nickte und lächelte dann zynisch.

"Schuldig ist wirklich ein Teufel. Er hat die Frucht des Zweifels aufgehen lassen, als hätte er die Samenkörner genau liegen sehen, wo sie bereits seit vielen Monaten liegen, nicht wahr?"

Sein Blick wurde traurig.

"Wir kommen von Kritiker nicht los, wie auch? Wollen wir das überhaupt? Und wenn, was dann?"
 

„Es ist müßig, darüber nachzudenken“, erwiderte Aya in den Zynismus des blonden Mannes. „Wir werden nicht von ihnen loskommen. Wenn überhaupt, dann ihr. Ihr habt keine Bindungen, die euch verpflichten, ihr Geld annehmen zu müssen. Dennoch…wer weiß schon, wie groß sie wirklich sind und ob wir ihnen jemals entkommen könnten.“
 

Aya glaubte es nicht. Sie waren damals alle eingefangen worden, mehr oder minder im übertragenen Sinne und hatten das Angebot der Rache gegen die ‚Bösen’ dieser Welt angenommen, ohne eine Ahnung, wie sehr sie das alle zerstören würde. Schon nach drei Jahren und sie waren kaputt. Hatten nur noch sich…sonst niemanden, der ihnen Halt gab.
 

„Ja…Schuldig war das vermutlich bekannt, diese Art von Zweifel. Er hat mich mehr oder minder unsanft darauf gestoßen, dass es auch anders hätte sein können…aber er hat doch Recht. Was tun wir hier, Youji? Wir morden…und nun gehen wir dazu über, Menschen für Versuchslabore einzufangen.“
 

Yohji nickte und kramte in seiner Tasche nach einer Packung Zigaretten. Er klopfte sich eine heraus und hielt sie in die Flamme seines Feuerzeugs. Einen tiefer Zug später, verzog er die Mundwinkel etwas.

"Komm lass uns gehen, sonst macht sich Omi nur wieder Sorgen. Willst du, dass die Anderen etwas erfahren?", fragte er sicherheitshalber, damit er wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Er wusste die Antwort schon, glaubte nicht, dass Aya es Omi oder Ken sagen würde.
 

„Nein…noch nicht. Ich möchte nicht, dass du irgendjemanden etwas darüber sagst. Ich will mit Omi und Ken sprechen, wenn ich sicher sein kann, dass sie nichts weitergeben an Kritiker.“ Aya verzog missbilligend seine Nase.
 

„Du solltest aufhören zu rauchen. Diese Dinger sind nicht gut für dich“, wiederholte er den gleichen Satz, den er auch schon hunderte Male vorher zu Youji gesagt hatte. Immer wieder mit der gleichen Leidenschaft ihn zum Aufhören zu bewegen.
 

Beinahe hätte Yohji die Augen gen Himmel gerichtet, bei soviel Hartnäckigkeit. Warum gab Aya es eigentlich nicht endlich auf, ihm das Rauchen ausreden zu wollen?

Er lachte leise und schüttelte den Kopf.

"Was ist schon gut für mich?", fragte Yohji nicht wirklich ernst.
 

„Ich bin gut für dich“, antwortete Aya mit einem ebenso unverhohlenem Lachen zurück und funkelte den anderen Mann herausfordernd an. Er wusste, dass sie sich gegenseitig stützten und halfen, wenn es Probleme innerhalb des Teams gab. Dass sie, trotz aller Anfangsschwierigkeiten, Freunde geworden waren. Damals schon, als Aya in Youjis Bett aufgewacht war.
 

"Das stimmt, Aya, das stimmt", lachte Yohji und sie bogen um die nächste Ecke, die Wohnung in Sichtweite.

Sie schwiegen den Rest des Weges und betraten die Wohnung. Wohlige Temperatur schlug ihnen entgegen und sie zogen ihre Jacken aus. Yohji blickte auf die Mütze auf Ayas Kopf und sein Blick wanderte zur Jacke, die dieser getragen hatte, als er von Schuldig nach diesen fünf Tagen wiedergekehrt war. Sie hing noch am Haken.
 

Aya bemerkte Youjis Blick und zuckte hilflos mit den Schultern. „Damit mir nicht kalt ist“, war das Einzige, was er als Erklärung dafür darbot…als wenn es nicht schon offensichtlich war, was der Telepath damit bezweckte.

Er stopfte die Mütze in die Tasche von Schuldigs Mantel und hängte seinen eigenen darüber, verbarg eher unbewusst das verräterische Stück vor den Augen der Anderen. Er betrat wohlig fröstelnd das Wohnzimmer und warf einen Blick auf die heimische Couch.
 

„Hallo Aya…Willkommen zurück.“
 

Aya blieb sein Gruß im Halse stecken. Birman. Manx. Kritiker waren hier.
 

o~
 

Schuldig legte die Schlüssel auf die Ablage zurück, schnaubte unwillig und entledigte sich der Stiefel und seiner Jacke. Ihm war kalt.

"Seit wann treibst du dich hier herum, wenn ich nicht da bin?", giftete er Crawford an, als er den Mann am Fenster stehen sah...wie sollte es anders sein - mit einer Tasse in der Hand, die womöglich Kaffee enthielt?
 

Crawford drehte sich nicht um, genoss die Aussicht. "Seit du diesem Rotfuchs hinterher läufst. Also erst seit kurzem", gab er trocken zurück.
 

Schuldig hielt kurz inne seine Jacke zu verstauen und blickte auf, Brad stand ihm gegenüber an der entfernten Fensterfront bei der Sitzgruppe.

Zunächst eine hitzige Antwort auf der Zunge liegend, besann er sich. "Es sieht vielleicht so aus, aber ich weiß, dass es unmöglich ist."

"Du bist ein Sicherheitsrisiko, Schuldig."

Crawfords Stimme war pures Eis und Schuldig kaute auf seiner Unterlippe herum, blieb dort stehen wo er war.

"Das heißt? Willst du mich wieder in eine Anstalt stecken? Um Urlaub zu machen, oder eine Strafe abzusitzen?", fragte er ernst, mit dem Hauch von Bitterkeit unterlegt.

Vermutlich eher um ihn von Aya fern zu halten.

Würde Brad das wirklich wieder tun?

Hatten sie jetzt ein gewaltiges Problem?
 

Schuldig stand etwas überfordert mit der Situation an der Tür, er war nicht in der Verfassung sich gegen Brads Vorwurf zu verwehren. "Es tut mir leid, ich werde ihn nicht mehr sehen", sagte er fest, sein Gesicht wirkte hart.
 


 

Aya hatte noch nie etwas so gefürchtet, wie das Lächeln der dunkelhaarigen Japanerin, die nun auf ihn zukam und zuvorkommend nickte. In deren Augen aber Fragen standen, die er nicht beantworten wollte. Jetzt, genau diesem Moment fühlte er sich wie ein Verräter, was jedoch an Youjis und seinem Gespräch lag. Sie hatten sich die Wahrheit gesagt…eine Wahrheit, die Kritiker niemals erfahren durften.
 

„Birman. Manx“, grüßte er die beiden Frauen und nickte höflich. Schluckte unbemerkt den allzu großen Kloß in seinem Hals hinunter.
 

Auch Manx stand nun auf und griff in der gleichen Bewegung nach ihrem Mantel. „Wir würden dich bitten mitzukommen, Abyssinian. Wir haben ein paar Fragen an dich.“
 

Aya strich sich eine verirrte, lange Strähne zurück, bemerkte nur nebenbei Omis verwirrten Blick. Das hatte Zeit bis später…bis viel später. Er sah zu Youji, der ihn mit schweigendem, aufmunternden Blick maß. Das schaffst du schon, sagte der Blick. Du packst das. Wir sind bei dir. Wir sind Weiß und du gehörst dazu. Aya seufzte innerlich. Er fühlte sich sicherer als zuvor. Viel sicherer.
 

Wortlos folgte er den beiden Frauen, stieg ein in das bereit gestellte Auto. Starrte ebenso stumm aus dem Fenster. Wenn weder Birman noch Manx ein Gespräch beginnen würden, wäre er der Letzte, der sich darum bemühen würde. Er ließ sich einfach durch die Gegend fahren, in Gedanken völlig abwesend. In Gedanken war er nicht Abyssinian, sondern der Mann, der sich bei Schuldig aufgehalten hatte und all das noch einmal Revue passieren ließ. Der sich eine Wahrheit zurechtlegte, die er in den kommenden Momenten brauchen würde.
 

Irgendwann, mitten in seinen Überlegungen, hielten sie bei einem unscheinbaren Gebäude. Behörde…schrie es von außen, doch Aya wusste, dass dem nicht so war. Eines von Kritikers Gebäuden. Von innen mit schlichtem, sandfarbenen Stein ausgekleidet.

Sie führten ihn durch die Gänge, brachten ihn nach unten, in den Keller. Wie typisch, schoss es Aya zynisch durch den Kopf. Der große, böse Verbrecher wird in den Keller gebracht, wo er im Schein einer einzelnen Lampe in einem dunklen Raum verhört wird. Wie absolut typisch…
 

Wie absolut wahr.
 

Es WAR ein dunkler Raum. In diesem Raum STAND ein einfacher Stuhl und sonst nichts. Eine grelle, einzelne Leuchte, die eben diesen Bereich und einen kleinen Radius drum herum erhellte. Sonst aber war es völlig schwarz. Er würde also im Licht sitzen…ohne eine Möglichkeit sich an einem Tisch oder ähnlichem festzuhalten.
 

„Setzen Sie sich, Abyssinian.“
 

Aya schluckte. Sein Codename. Die Stimme aus dem Dunkel heraus. Sein Herz pochte unangenehm laut in seinen Ohren. Wenn er es sich ehrlich zugestand, hatte er Angst davor. Vor ihren Fragen, ihren Verdächtigungen, den Konsequenzen, die sie daraus zogen.

Wortlos setzte er sich auf den ihm angewiesenen Platz und sah nichts außer Licht. Keine Gesichter, keine Bewegungen, gar nichts. Hier war nur er. Er und seine frisch duftenden Verräterhaare. Von denen er eine Strähne abgezweigt hatte und sie nun im festen Griff hielt.
 


 

Ungesehen von Schuldig blitzten Brads Augen amüsiert auf, weiterhin in den beginnenden Abend blickend. Er nahm einen Schluck seines Kaffees und ein schmales Lächeln erschien für wenige Wimpernschläge auf seinen Lippen, bevor es erlosch und er sich zu Schuldig umwandte.

"Weshalb? Hast du vor bei uns auszusteigen?"
 

Schuldig zog die Brauen unwillig zusammen. "Verarsch mich nicht, Crawford! Du weißt genau, wie ich das gemeint habe." Er selbst wusste aber auch, was Brad damit andeuten wollte. War Schuldig in der Lage Aya zu töten, falls es erforderlich sein würde? Deshalb griff er die unausgesprochene Frage, die hinter den Worten lauerte auf, fast als hätte er sie in den Gedanken des Amerikaners gelesen.

"Ich werde ihn angreifen und aufhalten, falls er das Team gefährdet, das steht außer Frage, Brad! Wir...", wollte er gerade sagen, dass sie bisher Weiß auch nicht mit Tötungsabsichten entgegen getreten waren, weshalb also jetzt?

Doch Brad unterbrach ihn.

"Natürlich wirst du das, Schuldig", sagte Brad ruhig. Fast schon zu ruhig.

"Oder hast du ‚ vergessen', wie du dich bei Einsätzen verhältst? Dass du dich veränderst in deinem Verhalten? Wie soll dich da jemand stoppen können, der keine Fähigkeiten wie unsere hat? Aya?"

Er lachte kalt auf. "Hast du ihm bereits so viele Dinge anvertraut, dass er dich ausschalten kann? Sind wir wieder soweit? Ist dein Selbstmordtrieb wieder soweit an die Oberfläche getreten, dass du dich Weiß in die Hände spielst?" Schuldig starrte Crawford an, der ihn wütend ansah, die Worte kalt wie Eis und ebenso der Blick, fast schon verächtlich. "Ich dachte, dass Thema hätten wir hinter uns", fügte dieser an.
 


 

„Sie wissen, warum Sie hier sind, Abyssinian?“, tönte es aus dem Dunkel um ihn herum. Die Stimme kam von seinem Rücken her. Saßen sie im Kreis um ihn? Aya schluckte mühsam. Er hasste es nicht zu wissen, was hinter ihm geschah. Er hasste es, die Menschen nicht sehen zu können, die ihm Fragen stellten.
 

„Ja, das ist mir bekannt“, antwortete er trotz seines wild schlagenden Herzens. Er war Weiß. Sie waren ein Team. Er hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen.
 

„Sie hatten einen Auftrag vor fünf Tagen.“

„Ja.“

„Sie wurden verschleppt.“

„Ja.“

„Von Schwarz?“

„Ja.“

„Wurden Sie gefoltert?“

„Nein.“

„Vergewaltigt?“

„Nein.“

„Ist man in Ihre Gedanken eingedrungen?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wo wurden Sie gefangen gehalten?“

„In einem schalldichten Raum.“

„Ohne Feindkontakt?“

„Wenig.“

„Haben Sie mit dem Feind kollaboriert?“

„Nein.“
 

Fragen über Fragen prasselten auf ihn ein, ließen ihn immer kürzer und abgehackter antworten. Seine Hand hatte sich schon längst zur Faust geballt und zerrte schmerzhaft an der Strähne, die sie gefangen hielt. Er sah sie nicht, die Inquisitoren, er hörte sie nur. Starrte ins Leere und hörte die Stimmen, die ihn in die Enge drückten. Die ihm keine Wahl ließen.
 


 

"Das Thema haben wir hinter uns"

Schuldig fühlte sich zu sehr im Fokus dieser wissenden Augen und er ging zur Küche hinüber, um diesem zu entgehen, suchte nach einem Glas, das er mit Wasser füllen konnte.

Er hatte früher oft in selbstmörderischer Absicht Angriffe gestartet, verrückte, wahrlich verrückte Manöver abgezogen, mit seinem Leben gespielt, ohne Rücksicht auf irgendjemanden. Er hatte nicht umsonst, diese ‚sichere’ Wohnung, die ihn teils vor sich selbst schützte. Die abschließbaren Fenster waren nur ein Teil davon. Das hatte sich aber gelegt.

"Warum wärmst du das jetzt wieder auf, Brad?", fragte er lauernd.

Schuldig nahm einen Schluck Wasser und sah zu dem Amerikaner hinüber, der seine Tasse mit einem lauten Geräusch auf der Fensterbank abstellte.
 

"Weil es nötig ist."

"Und das bestimmst du? Was nötig ist? Führ dich nicht auf wie mein nicht vorhandener Vater", zischte Schuldig und funkelte Brad an, die Hand um das Wasserglas gekrampft.
 

Crawford hob eine Augenbraue. "Du weißt doch gar nicht, wie sich ein Vater verhält, geschweige denn eine Mutter, dir fehlt die Erziehung von beiden", schallte die Frage in den Raum zwischen ihnen hinein und raubte Schuldig den Atemantrieb.

Stockend holte er Luft, war sich sicher, dass Brad diese Schwäche nicht gesehen hatte. Er stellte das Glas hart auf die Arbeitsplatte und ging auf Crawford zu.
 


 

„Sind Sie ein Verräter?“

„Nein.“

„Haben Sie Kritiker hintergangen?“

„Nein.“

„Verheimlichen Sie uns Informationen?“

„Nein!“

„Sind Sie Weiß untreu geworden?“

„Nein!“

„Wollen Sie wirklich das Leben Ihrer Schwester riskieren?“

„NEIN!“
 

Aya ertrug es nicht mehr…er sagte die Wahrheit! Er HATTE nichts getan! Es war nicht seine Schuld gewesen, dass sie ihn entführt hatten! Es war nicht seine Schuld gewesen, dass er nicht eher fliehen konnte! Er wollte nichts Böses! Er wollte niemanden hintergehen! ER WAR KEIN VERRÄTER!
 

Alles…alles, was er wollte, war doch nur, seine Freunde und seine Schwester zu schützen…sonst nichts. Er wollte niemandem schaden…Sein Körper schmerzte vor Anspannung, vor Gewalt, mit der er sich zurückhielt.
 

„Wir wissen, dass Sie Informationen zurückhalten.“

„Nein…ich habe Ihnen alles gesagt!“

„Denken Sie an Ihre Schwester.“

„Wollen Sie mir drohen?“

„Wir weisen Sie nur auf die Konsequenzen hin.“

„Ich habe nichts getan! Ich bin kein Verräter!“
 

Es dauerte…Stunden, bevor er gehen durfte. Völlig zittrig und fertig. Stunden, bis er geschwächter als je zuvor den Raum verließ und nach draußen begleitet wurde. Gehen durfte. Endlich gehen…endlich. Auch wenn die quälende Unsicherheit in ihm schwelte, ob sie ihm glaubten oder nicht.

Aya wankte durch die Kälte nach Hause, rempelte mehr als einen Passanten an. Ihm war kalt…er konnte nicht mehr. War am Ende.
 

Noch während Schuldig auf den Amerikaner zuging, begann er rücksichtslos in dessen Gedankenwelt einzudringen, hart, kalt und bezwingend. Er konnte sehen wie Brad die Erkenntnis befiel, doch es war schon zu spät. "Hör...", hörte Schuldig noch, bevor der Amerikaner seinen Mund mit einem Schmerzenslaut schloss und zu Boden ging. Die Knie krachten auf den harten Holzboden und Schuldig fing den Kopf ein bevor er auf die Fensterbank auftraf.

Crawford stöhnte unterdrückt, die beißenden Schmerzen in seinem Kopf lähmten ihn, zwangen ihn beinah in die Bewusstlosigkeit.

Schuldigs Gesicht war eine Mischung aus unterdrückter Verzweiflung und kalter Wut. "Warum redest du so mit mir? Das hast du noch nie gemacht, nicht so...!" Verständnislos zog er sich vorsichtig aus Brads Gedanken zurück, hielt ihn an die Wand gelehnt. "Du weißt, wo meine Schwachstellen sind, nutz dieses Wissen nicht aus."

Schuldig beruhigte sich langsam, sein Blick verlor sich auf dem Boden, er hasste sich dafür, was er gerade getan hatte.

Und es würde ein Nachspiel haben.
 

Da….war das Koneko. Seine Heimat….

Aya taumelte die letzten paar Meter, schleppte sich zum Hintereingang. Ihm war kalt…er war völlig erfroren. Zitternd werkelte er an dem Knauf ihrer Tür, bekam ihn schließlich auf. Er musste hinein in die Sicherheit. Hinein zu seinen Freunden…

Wärme begrüßte ihn…sanfte, angenehme Wärme. Aya strauchelte zum Treppengeländer, konnte gerade noch nach den hölzernen Verstrebungen greifen, bevor er sich daran auf die harten Stufen fallen ließ. Blicklos auf irgendetwas starrte. Das war die Hölle…es war eine einzige, schreckliche Hölle.
 

Das Wasser sickerte in die Erde und Yohji stellte die Gießkanne ab, warf einen kritischen Blick auf die kranken Blätter der Pflanze. "Die macht’s auch nicht mehr lange", murmelte er als er die Tür hörte. Sie hatten versucht sich abzulenken, die letzten Stunden, und die Anderen waren im Fernsehzimmer, arbeiteten an dem nächsten Auftrag, den ihnen Birman und Manx hiergelassen hatten.

Er eilte zur Tür und sah gerade noch wie Aya zitternd und kreidebleich auf die Stufen sank, förmlich in sich zusammenfiel. Der leere Blick alarmierte Yohji und er kniete sich auf die untere Stufe und lehnte sich auf die Fersen zurück, um Ayas Gesicht zu sehen. Eine Hand stahl sich auf die blasse Rechte "Alles ist gut, Aya. Du bist wieder hier."
 

Ein Zittern durchlief Ayas Körper. Youji…zuhause. Er war zuhause…

Seine Hand griff nach der des blonden Mannes, quetschte sie beinahe mit der Intensität, in der er sie nun festhielt. Sein Anker in die Realität…es war sein Anker. Aya hob seinen Blick, traf den Youjis.

„Youji…Youji…“ Seine Augen weiteten sich angstvoll, als er nicht anders konnte, dem anderen Mann in die Arme zu fallen und dessen Schutz zu suchen. Die Versicherung, dass das hier alles real und diese Hölle dort Einbildung war. Dass er zuhause war und alles gut werden würde.
 

Was hatte dieser Telepath nur alles angerichtet, dachte Yohji als er Aya in einer festen Umarmung barg. Dieses Verhör hatte jegliche Kraft aus Aya gezogen und dieses menschliche Bündel Angst zurückgelassen.

"Es ist vorbei."

Seine Hand fuhr über den schmalen Rücken, gab Aya Halt. "Wir sind da, Aya"
 

„Es ist nicht vorbei…sie haben so viele Fragen gestellt…sie werden mir sicherlich nicht glauben…so viele Fragen..“, murmelte Aya und barg seinen Kopf für einen langen, schmerzlichen Moment an der Halsbeuge des älteren Weiß. Sie waren da…das hörte er in den Worten seines Freundes. Das erkannte er. Das stützte ihn. Sie ließen ihn nicht alleine.

Noch…einen kleinen Augenblick, dann würde er sich von Youji lösen und wieder stark sein. Nur noch einen kleinen Moment.
 


 

Brad lag auf der Couch, war noch halb abwesend und Schuldig wollte ihn nicht ansprechen, obwohl er wusste, dass der attackierte Mann vieles um sich herum mitbekam und nicht bewusstlos war.

Schuldig hatte sich auf die breite Fensterbank gesetzt, die Beine darauf ausgestreckt und lehnte sich an den Rahmen.

Und wie sollte es auch anders sein, kaum hatte er die Augen geschlossen, flohen seine Gedanken zu Aya. Doch wie schon in dem Keller und einige Male danach, war Aya für ihn nicht zu fassen. Jemand in seiner Nähe dagegen schon. Yohji, war da, sehr nahe sogar und wie Schuldig in dessen aufgewühlten und besorgten Gedanken wahrnahm, war diese Nähe auch von Nöten.

Die gehörten Worte, die Schuldig durch Yohjis Gedanken aufnahm, alarmierten ihn und ließen ihn körperlich zurückzucken. Als würde er eine Treppe hinabgehen und der nächste Schritt war Bodenlosigkeit, dort wo zuvor eine Stufe gewesen war.

Schnell hatte er die Gründe für Ayas Zustand herausgefunden. Das Verhör, Kritiker, auch Teile des Gespräches mit Yohji, welches er nicht belauscht hatte.

Aya war aufgelöst und suchte Schutz, den er bei Yohji fand.
 

Schuldig atmete tief ein, zog unwillkürlich die Beine an den Körper und legte den Kopf darauf.

‚ Ich bin...'
 

Das Zittern ließ stetig nach und Aya schien sich zu beruhigen, auch wenn die Worte nicht danach klangen, sie festigten sich.

Er hielt Aya noch immer mit der gleichen Fürsorge fest.

„Ich bin da, Aya. Deiner Schwester und dir wird nichts geschehen, das lasse ich...wir nicht zu."

Yohjis Worte waren sanft und leise, als er sie an den roten Schopf auf Ohrhöhe richtete.
 

Aya blinzelte langsam, konnte seine Stirn jedoch immer noch nicht von ihrer warmen, schützenden Stütze heben. Lediglich seine Gedanken reagierten auf die Worte seines Freundes, hüllten sich mehr und mehr in Wärme und Stärke. Er ließ sich beeinflussen durch die Sanftheit, durch ihre Versicherung. Youji war für ihn da…als Einzelperson. Und sie als Team. Beide…als Freund und Vertrauter.

„Danke Youji…ich danke dir…“, murmelte er ebenso leise und zog den anderen Mann etwas näher zu sich.
 

"Blumenkinder sollten doch zusammenhalten, nicht?"
 

Ein sanftes Lächeln begleitete die Worte, auch wenn eine Spur Trauer sie durchzog. Behutsam strich er Aya über den Rücken.
 

Ayas Augen öffneten sich abrupt. Blumenkinder? Es war die Umarmung Youjis…es war Youji selbst, der ihn empfangen hatte, es war Youji, der ihn tröstete…aber das waren nicht Youjis Worte. Sein Blick glitt hoch zu den grünen Augen. Grün…wie Schuldigs. Schuldig…er kannte den Begriff Blumenkind. Schuldig hatte ihn so genannt.

Der Groschen fiel. Spät, aber er fiel und ließ Aya seinen Freund und Feind stumm anstarren. Die Hand des Telepathen lag auf seinem Rücken, spendete ihm die Wärme, die Youji gegeben hatte. Es war Youji…und Schuldig.

„Ja…das sollten sie…“, war das Einzige, zu dem Aya fähig war.
 


 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Fortsetzung folgt.

Coco & Gadreel

Zielperson: Fujimiya! I

~ Zielperson: Fujimiya! I ~
 


 

Wollte er denn, dass Aya ihn entdeckte? Dass es nicht Yohjis Absicht war, diese Worte zu sagen, sie zunächst zu denken und laut auszusprechen in einer Zeit, die kaum messbar war?

Er hätte das nicht sagen dürfen. Es war so typisch für ihn, er dachte selbst nicht nach über die Konsequenzen seiner Taten. Wie jetzt auch.

Unruhig rutschte Schuldig näher an die Scheibe.
 

Er war zu weit weg und zu konzentriert, als dass er bemerkte, wie Crawford sich träge von der Couch erhob, hinsetzte und seine Augen rieb. Die Brille unweit auf dem niedrigen Tisch vor sich war schnell gegriffen und aufgesetzt. Sein Blick ruhte auf Schuldig, der zusammengekauert auf der Fensterbank saß.

"Sagtest du nicht, du willst ihn nicht mehr sehen?", fragte er leise, für sich selbst. Lange blickte er auf den Mann, bevor er sich erhob und die Räumlichkeit verließ.
 

Schuldig hörte die Worte Ayas durch Yohji und lächelte in seinem Apartment. Aya hatte ihn nicht entdeckt, zum Glück. Er konnte seine Scharade also noch etwas aufrecht erhalten bevor er die beiden verließ. Aya hätte mit Sicherheit etwas geäußert um ihn zu vertreiben, wenn er ihn entdeckt hätte.
 

"Sie tun es, sie halten zusammen, Aya. Sonst wären wir nicht bis hierher gekommen. Du schaffst das, wir vertrauen dir."

Yohjis Augen suchten die von Aya, blickten ihn ruhig an. "Aber lad nicht alles auf deine Schultern, wir sind da, wenn du uns brauchst, allein ist es immer schwieriger. Und wir wollen dich nicht verlieren", sagte Yohji leise und zwinkerte lächelnd.
 

„Oder meinst du, dass ich Schuldig zur Rate ziehen soll? Soll ich das auch auf deine Schultern abladen?“, merkte Aya leise an. „Ist es das, was du mir sagen möchtest…Schuldig?“
 

Der rothaarige Weiß musste nun doch lächeln. Was tat er hier? Hing in der Umarmung seines besten Freundes und gefährlichsten Feindes und ließ sich Tipps geben. Denn auch wenn Schuldig sich nicht direkt zu erkennen gegeben hatte, sah und wusste er, dass es sich um den Telepathen des gegnerischen Teams handelte.

Er löste sich langsam aus der Umarmung des blonden Mannes, behielt seinen Blick jedoch nach wie vor auf den grünen Edelsteinen.
 

„Das ist die Belohnung dafür, wenn man mit seinen Feinden kollaboriert…Kritiker verzeihen nichts. Das schon gar nicht.“
 

Yohji schwieg zunächst, erwiderte den Blick als denke er über die Worte nach.

"Wenn du alles alleine ‚er'-tragen willst, gehst du früher oder später daran zu Grunde, das wollte ich damit sagen."

Yohji nahm sich etwas zurück, ein entschuldigendes Lächeln erschien auf den Lippen.

"Ich hatte nicht die Absicht, dass du mich entdeckst, es sollte nicht so laufen....aber es sollte vieles nicht so laufen, wie wir beiden ursprünglich geplant hatten, oder?"
 

Aya schüttelte schweigend den Kopf. „Nichts sollte so laufen…gar nichts von dem, was passiert ist. Wären diese Tage nicht gewesen, müsste ich mich jetzt nicht dem Problem Kritiker stellen…dann würden sie nicht glauben, dass ich sie hintergangen hätte.“ Seine Lippen verzogen sich zu einer bitteren Linie. „Du hast nicht darüber nachgedacht oder es war dir egal und ich habe es schlichtweg ignoriert…ich hätte versuchen sollen, schon am ersten Abend Widerstand zu leisten und zu fliehen…dann wäre das alles nicht passiert.“ Er schnaubte kurz. Nein…dann wäre wirklich nichts geschehen.
 

Der Blick von Yohji senkte sich, verlor die Verbindung zu Ayas Augen. "Wären diese Tage nicht gewesen...ja sie wären nicht gewesen, weil du tot wärst", sagte er ruhig in die Stille hinein.
 

"Es hört sich an, als wärst du freiwillig bei mir gewesen. Und das stimmt nicht. Du hättest nicht fliehen können, deine Möglichkeiten waren begrenzt. Es ist nicht deine Schuld. Ich bin schuldig, weißt du noch?" Wieder erschien ein Lächeln, ganz typisch für Yohji, war es leicht melancholisch.
 

Aya lehnte sich mit seiner Schläfe an das kalte Holz des Treppengeländers, ließ seinen Blick ebenso wie der andere Mann ins Nichts schweifen. „Meine Möglichkeiten mochten begrenzt sein, aber sie waren da. Ich hätte dich im Schlaf töten können…jede Nacht. Und nur weil ich zu stolz und zu ehrenhaft“, er spie das Wort wie einen Fluch aus. „…war, habe ich es nicht getan. SO sieht es aus.“
 

"Dadurch sind deine Möglichkeiten begrenzt, Aya. Ich habe darauf vertraut, auf deine Ehre. Mein Leben ist nicht so viel wert, in meinen Augen...an manchen Tagen..." Yohji hob die Hand etwas, wollte den Anderen berühren, ließ sie aber wieder sinken.

"Das macht dich zu dem, was du bist. Was wärst du ohne? Willst du so wie wir sein?" Yohji blickte den jungen Japaner vor sich warm an. "Ich glaube nicht."
 

Ayas Augen ruhten auf eben dieser Hand. Seine Augen Spiegel von all den Emotionen, die in ihm wüteten. „Ich bin wie ihr. Ich würde alles für Aya tun. Alles. Aber das Thema hatten wir schon mal. Meine Gründe sind rein egoistisch…Meine…Ehre gibt es nicht. Es sind nur starre Worte, an die ich mich klammere. Ich habe mir ein Versprechen gegeben, dass ich das, was nicht zu unserem Kampf gehört, niemandem offenbaren werde, doch darüber hinaus werden wir weiterhin gegeneinander kämpfen.“
 

Sein Blick glitt zurück zu Youji, nahm diesen genau in Augenschein. „Jeder Mensch ist es wert zu leben…das sagen die Philosophen.“ Er lächelte kurz.
 

"Du hast mich am Leben gelassen, als du die Chance gehabt hättest mich zu töten. Wieso sagst du, dass es nur starre Worte sind? Wenn diese Worte doch mein Leben bewahrt haben?"

Eindringlich sah Yohji zu Aya, studierte sein Gesicht.

"Jeder Mensch... bin ich es denn? Menschlich? Manchmal frage ich mich das, wirklich. Und wer definiert Leben?"

Es schmerzte Schuldig, dass er nicht viel öfter mit Aya darüber reden konnte, über diese Dinge, die ihn beschäftigten.
 

„Es sind starre Worte…an die ich mich klammere und die ich vorschiebe, um mich so zu erhalten, wie ich bin. Worte, die dazu dienen, den Schein zu wahren“, zischte Aya plötzlich wütend. Was meinte der andere Mann, sein Leben zu kennen? Zu wissen, wie er dachte! „Ich wette mit dir, dass ich dort!“, er zeigte erbost auf sein Herz, „drinnen um ein tausendfaches verdorbener bin als ihr alle. Und erinnere dich, das hast DU selbst mir bestätigt!“
 

Er schnaubte, wandte seinen Blick ab. Konnte dem seines Freundes und seines Feindes nicht mehr stand halten. Wissende Augen, beiderseitig. Youji kannte ihn wie niemand anderes, Schuldig hatte Seiten an ihm gesehen, die niemand von Weiß je gesehen hatte! Beide…beide hier.

„Hör auf damit…ich werde mit dir nicht diskutieren ob du menschlich oder lebenswert bist! Ich habe dir die Antwort darauf bereits gegeben!“ Er presste seinen Kiefer aufeinander.
 

"Ich hatte nicht vor zu diskutieren. Du hast deine Meinung...ich habe meine...da führt kein Weg zueinander, Aya."

Er senkte den Blick auf seine Hände, dann suchte er wieder den Blickkontakt. "Aber warum sollte es das auch?"

Schuldig zog sich langsam zurück, kehrte in seine eigene Gedankenwelt und Realität zurück. Verschwand aus Ayas Realität und ließ Yohji die Worte und Gedanken verdrängen, sie zu einem Wispern verkommen, welches der Blonde nicht fassen konnte.

Yohji runzelte die Stirn, aufgrund Ayas Gesichtsausdruck. Hatte er gerade etwas gesagt, was dies ausgelöst hatte?
 

Aya selbst blinzelte. Schuldig war weg und dennoch klangen seine Worte wie ein lang gezogenes Echo in dem rothaarigen Weiß nach. Warum sollte es auch? Ja…das war hier die Frage. Warum sollte da ein Weg zueinander führen? Sie waren Gegner. Nicht Freunde. Gegner.

„Schon gut Youji…Schuldig war gerade…zu Gast“, murmelte Aya beinahe unhörbar und fasste den älteren Weiß an dessen Unterarm. Versuchte ihn zu beruhigen, falls dieser ausrasten würde. Auch wenn es Aya nicht vermutete. „Er wollte mich nur…aufmuntern. Nichts weiter.“
 

"Zu ...WAS? ...zu Gast?"
 

Yohji blickte im ersten Moment verwirrt, brachte Ayas Worte nicht gleich mit der jetzigen Situation in Verbindung, als es ihm dämmerte. "Er war hier? Jetzt gerade? Durch mich?" Yohji starrte ungläubig auf Aya, entsetzt. "Gott, ich hab’s noch nicht mal bemerkt!" sagte er seine Fassung nur mühsam aufrecht erhaltend. Er fühlte sich beschmutzt, hintergangen. Schuldig war in seinem Kopf gewesen, hatte ihn manipuliert, seine Stimme benutzt, seine Gedanken verworren.
 

Schuldig könnte ihn so manipulieren, dass er alles Mögliche tat und sich hinterher noch nicht einmal daran erinnerte!
 

Diese und weitere Dinge kamen ihm in den Sinn, den Blick zur Seite gewandt. "Er kann das...und wie oft hat er das schon mit uns gemacht, ohne das wir es mitbekommen haben? Wie oft hat er uns schon die Erinnerung daran genommen?"
 

Yohji schüttelte den Kopf, es war unbegreiflich für ihn, wie so etwas geschehen konnte, wie es so etwas wie den Telepathen geben konnte.
 

Aya sah die Ungläubigkeit in den Zügen des anderen Mannes….dessen Wut, dass Schuldig ihn so dermaßen benutzt hatte. Er sah es und konnte es nachfühlen. Vielmehr…nein. Er hatte Mitleid, nachfühlen konnte er gar nichts, denn das war das Einzige, was der Telepath nicht konnte. Seine eiserne Mauer an Willen zu durchdringen.

Die Hand auf Youjis Unterarm drückte entschuldigend zu. Entschuldigend, dass er Schuldig nicht dafür gehasst hatte, dass er sich in seinem Freund eingenistet hatte. Entschuldigend, dass er darauf eingegangen war.
 

„Ich denke…dass er eher beobachtet“, begann er unsicher, wollte Youji mehr beruhigen als alles andere. „Zumindest ich hätte gemerkt, wenn er euch beeinflusst hätte, oder?“ Doch sicher war er sich da nicht…ganz im Gegenteil. Er hatte es auch erst zu spät bemerkt…zu subtil waren die ersten Anzeichen gewesen. Wir sind da…hatte Youji gesagt. Ich bin da…das hatte Schuldig gesagt. Beide in einem vereint. „Youji, es…tut mir leid.“
 

Yohji stand auf und setzte sich neben Aya. "Er führt uns vor, wie hilflos wir doch sind und das macht mich rasend, Aya", versuchte er sein Verhalten zu begründen. "Es ist gut,", fügte er an, auch wenn er nicht wusste warum Aya sich entschuldigte, er nahm sie an, wollte nicht, dass es dem anderen Mann noch schlechter als ohnehin ging.

Er schwieg eine Weile, dachte nach.

"Konnte er dich aufmuntern?"

Yohji lächelte zynisch. "War es nicht seltsam...er und ich...?"
 

Ob es…seltsam war? Im Nachhinein hätte Aya die Frage mit nein beantwortet, eben weil er die Gesellschaft des anderen Mannes in den letzten Tagen einfach immer um sich gehabt hatte. Dennoch…Youjis Stimme, seine Gestik, doch Schuldigs Mimik. Schuldigs Worte, die er deutlich gehört und sie nicht als die seines Freundes identifiziert hatte. „Er hat uns Blumenkinder genannt…das sollte mich doch aufmuntern, oder?“, gab er im Versuch eines schwachen Witzes zurück und lächelte zaghaft. Drehte Youji seinen Kopf zu. Der andere Mann sah müde aus, beinahe schon übernächtigt. Ja…es tat ihm wirklich leid.
 

„Wir hatten einen Disput…kurz vor der Mission, wo ihr euch begegnet seid…er hat gemeint, dass wir nicht allen Ernstes glauben, hilflos gegen Schwarz zu sein. Dass wir deswegen auch immer weiterkämpfen würden. Das hörte sich für mich nicht wie Spott an…“
 

"Wie erträgst du das?", fragte Yohji aus seinen Gedanken heraus. War sich nicht bewusst, ob Aya seine Frage verstanden hatte. Erwartete fast schon Ayas Frage danach, was genau er meinte.
 

Dieser seufzte leise, runzelte nachdenklich ratlos die Stirn. „Was ertrage ich?“
 

Yohji spielte mit den Säumen seiner Hose, verzog unwirsch die vollen Lippen.

"Dass du so viel von ihm weißt."

Er verstummte wieder für einen Moment. "Ich weiß nur das, was du mir erzählt hast, und finde es jetzt schon als erdrückend. Ist mir jetzt grade gekommen, als du gesagt hast, er nennt uns Blumenkinder, und dass...ja dass er uns nicht verspottet."

Er atmete tief ein.

"Nicht, dass dies etwas ändert, aber ...ich dachte gleich, nein, ich will das nicht hören!"
 

Ein beinahe schon amüsiertes Schnauben entkam Aya. „Ich…weiß es nicht“, erwiderte er schließlich ernst. „Es ist nicht so, dass ich es wissen will. Es beeinträchtigt das Feindbild, das ich von ihm habe, wie du sicherlich weißt. Ich…weiß es einfach. Und es ist da, ich kann es nicht wieder aus meinem Gedächtnis löschen, so gerne ich das auch tun würde. Dazu war es einfach zuviel, was er von sich gezeigt hat. Zuviel…ungewöhnliches.“ Er verstummte einen Moment, plötzlich sehr nachdenklich.
 

„Würdest du an meiner Stelle genauso handeln, Youji? Oder…mache ich das falsch? Habe ich mich wirklich zu sehr beeinflussen lassen?“
 

Yohji sah flüchtig Aya an.

"Du weißt, wie es mir mit Neu gegangen ist. Ich bin da nicht gerade der Richtige, was dieses Thema anbelangt. Damals...war es schwierig, Aya. Ich kann das schon verstehen, aber ob es richtig oder falsch ist...?"

Er blickte wieder zu Aya. "Ich hätte genauso gehandelt, denke ich...aber ich bin nicht der Richtige, um zu sagen ob es falsch ist“, wiederholte er nochmal und schüttelte den Kopf leicht. Die blonden Wellen schmiegten sich sanft an seine Wange, als er den Kopf leicht neigte. "Wir üben immer einen Einfluss aus, sobald wir mit anderen in Kontakt treten, irgendwie beeinflussen wir immer...auch ohne telepathische Fähigkeiten...", lächelte er sanft.
 

„Youji…du hast Neu geliebt“, sagte Aya leise und schüttelte leicht den Kopf. „Das ist hier etwas anderes…dein Handeln war verständlich. Es war nachvollziehbar, dass du so an ihr gehangen hast. Es war richtig…doch mit Schuldig….wir sind Feinde. Nie etwas anderes gewesen. Ich sollte ihn hassen und nicht bereitwillig sitzen bleiben, wenn er mir die Spitzen schneidet, nur weil mich ein Versprechen daran bindet. Das ist falsch, ich habe falsch gehandelt. Er hätte mich nicht beeinflussen dürfen…er hätte das Monster bleiben sollen, für das ich ihn gehalten habe.“
 

Aya stützte seine Stirn auf seine Handballen und atmete tief ein. Er konnte nicht anders. Er musste und wollte kämpfen. Denn sonst wäre seine Schwester in Gefahr. Und das würde er unter keinen Umständen riskieren, egal, was ihn das kostete.
 

"Du kannst nicht beeinflussen, wie viel Einfluss jemand auf dich hat, wenn er Worte an dich richtet, oder du ihn dir ansiehst. Ich meine...wenn du ihn genau siehst. Klar, sind sie unsere Feinde."

Yohji lehnte sich auf der Treppe zurück und stützte sich lässig mit den Ellenbogen auf einer oberen Stufe ab.

"Wir waren nie so kalt, oder berechnend, dass wir trotz allem unsere Menschlichkeit außer Acht gelassen hätten. Das macht uns angreifbar. Wir wissen das, deshalb schützen wir diesen Teil." Er seufzte.

"Wie willst du diesen Schutz Tag und Nacht in Schuldigs Nähe aufrechterhalten? Das geht nicht, Aya." Er verstand Aya, kannte ihn ein Stück weit und wusste, dass sie vier alle ähnlich reagiert hätten, weil sie eben waren, wie sie waren.
 

„Du sollst mir Mut machen, Youji…mich nicht noch desillusionieren“, lachte Aya leise und versuchte, die Schwere der gesamten Situation mit Humor zu schwächen. Zu tilgen, was ihn verunsicherte. „Ich hätte ihn hassen sollen für das, was er getan hat, doch ich habe mich dagegen entschieden. Und nun ist es zu spät. Wie kann das passieren, Youji?“ Er verstand es nicht. Er wusste, dass er den Hass in sich aktiv begraben hatte, damit er es sich nicht noch schwieriger machte, als es schon war. Doch nun konnte er ihn nicht hervorholen.
 

Yohji verzog das Gesicht leidend und schnickte sich eine Haarsträhne aus der Sicht.

"Na dann stell mir nicht solche Fragen", erwiderte er das Lachen.

"Es kommt immer anders als man denkt und dann steht man da, und alles was man sich zurechgelegt -und ‚gelebt’ hat, ist über den Haufen geworfen. Den Hass zu verlieren...", er machte ein Pause um seine Gedanken in Worte zu kleiden, die man auch verstehen würde.

"...ihn zu verlieren, ist doch nicht schlecht?" Selbst erstaunt darüber und etwas ungläubig grübelte er vor sich hin.

"Nur...passt es nicht mit dem zusammen, was wir tun...tun müssen, aus welchen Zwängen auch immer."
 

„Schlimm ist es nicht…nur passt es nicht zu uns. Wir sind Weiß, die RÄCHER der Unschuldigen...Jäger des Dunkels, weißt du noch?“, fragte Aya mit einem bitteren Zug um seinen Mund, sah Youji unverwandt in die grünen Augen. Ja, wie schön wäre es doch, den Hass aufzugeben. Wenn alles vorbei war.

„Im Gegensatz zu Schwarz können wir nicht-“

„Aya! Youji! Was macht ihr denn hier? Aya…wie geht es dir?“, schnitt ihm eine besorgte und zugleich freudige Stimme das Wort ab und ließ ihn ruckartig hochfahren. Omi! Gott…wie lange hatte der Junge nun schon zugehört?
 

Omi war stehengeblieben, als er sah, wie vertraut und wie nah die beiden Ältesten zusammensaßen. Ein ernstes Gespräch führten, wie es den Anschein hatte, welches keinen dritten Zuhörer vertrug.

Er lächelte etwas spärlich. Verbargen sie etwas vor ihm?
 

Yohjis Blick taxierte Omi, fand keine größeren Anzeichen dafür, dass er das ganze Gespräch belauscht hatte, offenbar war der Jüngste gerade eben zu ihnen gestoßen.

"Ich dachte du wolltest dich etwas ausruhen, Kleiner", lächelte er milde. "Wir haben ihn wieder, gesund und munter!"
 

Aya fuhr sich abwesend durch seine langen, offenen Haare. Beobachtete den Kleinen, wie er sie beide ansah, als hätten sie etwas Verbotenes getan. Und zum zweiten Mal fragte sich Aya hektisch, wieviel Omi wusste. Ob er von Schuldig wusste…und es an Kritiker weitergeben würde.
 

Doch der Junge nickte nun nur zögerlich und ließ sich vor ihm auf die Knie, betastete sacht seine zerschnittenen Hände. Es würden Narben bleiben…kleine, sichtbare Narben. „Aya, ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte er vorsichtig, fühlte sich jedoch immer noch wie ein Störenfried. Er war hier nicht erwünscht…das spürte er. Doch…wieso lächelte Aya dann so sanft wie schon seit langem nicht mehr?
 

„Es ist nichts passiert, Omi. Es ist alles in Ordnung…“, bestätigte der andere Mann und runzelte schließlich seine Stirn. „Du solltest dich aber wirklich hinlegen...du siehst übernächtigt aus.“
 

Omi zögerte. Aya sah doch genauso schlimm aus, wenn nicht sogar noch viel mehr…wieso legte er sich nicht auch hin? Genau das schlug er nun vor und erntete ein milde gestimmtes Kopfnicken. „Werde ich auch tun, sobald ich was gegessen habe. Möchte noch jemand etwas? Ich koche auch.“ Egal, dass es die zweite warme Mahlzeit war. Er wollte kochen. Hatte Lust darauf.
 

Yohji hatte vor lauter Sorge das Abendessen ausfallen lassen...sowie die anderen Beiden auch. Ken war wohl immer noch in ihrem Arbeitszimmer.

"Ich esse mit, mein Magen verträgt noch etwas!", stimmte er zu und rieb sich den flachen Bauch, klopfte darauf als wäre er eine Kugel und Yohji selbst mindestens 30 Kilo schwerer. Er grinste Omi an und zwinkerte frech.

Jetzt komm schon Kleiner, kuck uns nicht so an, dachte Yohji den Jungen aufmuntern wollend.
 

Und Omi tat ihm den Gefallen. Auch er lächelte, angesichts der Aussicht, dass Aya ihnen etwas kochte, durchaus wieder ein wenig versöhnt. „Das klingt gut, Aya. Sehr gut sogar. Was kochst du? Geht es schnell? Ich habe großen Hunger!“, grinste er breit und erhob sich, deutete Aya mit einer spöttischen Verbeugung den Weg in Richtung Küche an.
 

Und wer war Aya, dass er diese Höflichkeit ausschlug? Amüsiert den Kopf schüttelnd machte er sich daran, für den Rest seines Teams Essen zu kochen. Inklusive Nachspeise. Er wollte schließlich mal etwas Neues ausprobieren, auch wenn er sich momentan nicht sicher war, woher er die Idee der süßen Teigbällchen hatte. Es musste ihm wohl einfach entfallen sein.
 

o~
 

"Wow", grinste Yohji und schob sich noch ein Bällchen zwischen die Lippen. "Schmeckt fantastisch, bin zwar nicht so der Fan von Süßem, aber hmmm."

Vermutlich liegt das nur daran, dass du rauchst, Yohji....hörte dieser in seinen Gedanken schon die Worte von Aya die unweigerlich folgen mussten.
 

Aya verzog die Lippen zu einem stummen Lächeln. Klar schmeckten sie…sie kamen ja auch von ihm…zumindest jetzt. „Natürlich nicht, du hast dir deine Geschmacksnerven ja auch weggesoffen“, gab er schließlich trocken zurück und lehnte sich zurück, fing Omis verwunderten Blick ein. Und er fragte sich immer noch, wieviel der Junge mitbekommen hatte, was er nun gegen ihn verwenden könnte, wenn Birman ihn genug bearbeitete.
 

Augenrollend und alles abstreitend wedelte Yohji mit den Händen.

"Stimmt doch gar nicht, Aya! Du bist so gemein!", maulte er schicksalsergeben und tat so, als würde er schmollen. Seine Mundwinkel hingen nach unten, die grünen mandelförmigen Augen sahen besonders verletzt aus und blonde Haarsträhnen verdeckten dieses Arrangement kunstvoll.

Ha! Damit bekam er noch jedes Mädchen herum!, grinste er innerlich.
 

„Gib’s auf Kudou…ich bin keine Frau“, gab Aya in beängstigend gedankenleserischer Sicherheit zurück und hob spöttisch seine Augenbrauen. „Ich bin ein Mann und der gemeinste Fiesling, den es gibt. Was willst du mehr?“ Er lachte dunkel.
 

"Hmmm", machte Yohji und gab seine Show auf, war ohnehin zwecklos ...Aya war zu hinterlistig und durchschaute das sowieso gleich.

"Schmeckt trotzdem lecker. Warum hast du das nicht schon früher gemacht? Ist so ne ganz andere Richtung als sonst", fragte er und aß genüsslich weiter.
 

Richtung. Europa. Deutschland. Schuldig. Ayas Augen weiteten sich unmerklich, als ihm mit einem Male bewusst wurde, woher er dieses Rezept hatte. Der Bissen, den er gerade im Hals hatte, blieb ihm mit Freuden stecken und trieb Aya zu einem erstickten Hustenanfall.

„Habe ich von Schuldig“, gab er so trocken wie seine Kehle war zurück und nahm einen tiefen Schluck Wasser. Sollten sie daraus machen, was sie wollten.
 

Yohji, du Idiot, du hirnverbrannter Idiot!, schimpfte der Blonde sich selbst, ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er sie aufriss und seinen Fehler erkannte.

Er starrte auf sein Kokosbällchen wie wenn es ihn gleich mittels einer geistigen Kontrolle angreifen und überwältigen wollte. Seine Mundwinkel zuckten, als er das Bällchen weiter anstarrte, sich in haarsträubenden Szenerien verlor und schlussendlich lauthals lachte. So sehr lachte, dass er kaum mehr konnte. Die anderen zwischen den Tränen die sich aus den Augenwinkeln stahlen, anblickte und nicht mehr an sich halten konnte. "Oh man...", brachte er nur heraus, bevor eine neue Lachsalve ihn übermannte.

Er lachte...über sich selbst, über das Telepathenbällchen und über die ganze vertrackte Situation. Was blieb mehr...als Lachen?
 

Omi starrte. Ken starrte. Aya aß weiter, völlig ungerührt. Ja…Youji hatte gut lachen. Über das Bällchen, das er von Schuldig hatte. Es war ja schön, dass der andere Mann sich darüber amüsierte, doch er konnte schon die fragenden Blicke seines Teams auf sich spüren. Was meinten sie damit? Wieso tauschte Aya mit seinem Feind Kochrezepte aus? Wobei es doch gar nicht so war!

„Jetzt iss das verdammte Bällchen schon und lach dich nicht drüber kaputt!“, schnaubte Aya und sah auf, begegnete Omis weit geöffneten Augen.
 

„Aya…gibt es etwas, das wir wissen sollten?“, fragte der blonde Junge und ließ sein Bällchen so wie es war, auf seinem Teller. Tat beinahe so, als wäre es mit irgendetwas Tödlichem versetzt.
 

„Nein. Es ist weder vergiftet, noch besitzt es telepathischen Einfluss noch wird es gleich vom Teller hüpfen und uns anspringen. Es ist NUR Teig.“
 

"Ein Telepathenbällchen!", lag Yohji in den lachbedingten Nachwehen und schüttelte den Kopf. "Eben deshalb! Weil wir uns alle so verrückt machen lassen und derweil ist es nur Teig. Ich hab mir das Ding angeguckt und im ersten Moment dachte ich: Oh mein Gott, es ist von Schuldig. Und im nächsten Augenblick dachte ich... wie bescheuert bin ich eigentlich? Mich von einem Bällchen einschüchtern zu lassen", lachte er leise, verhaltener. Es war wirklich zu verrückt.

"Es schmeckt trotzdem gut, auch wenn’s ein Telepathenbällchen ist." Er konnte nicht anders.
 

Aya grollte leise. Warum musste der blonde Mann da jetzt so drauf herumreiten? Nur weil er, völlig in Gedanken, das Rezept des Deutschen nachgekocht hatte? Vor allen Dingen, da…
 

„Aya…hat es dir Spaß gemacht…mit Schuldig zu kochen?“ Omi, vorsichtig und leise. Auf der Hut. Er wollte Informationen über die Dinge, die er nicht verstand. Informationen über die Zeit, die Aya augenscheinlich so verändert hatte.
 

„Ich habe nicht mit ihm gekocht. Er hat sie gemacht. Sie waren…etwas anderes. Abwechslung“, gab Aya schließlich zu und erwiderte den mehr als verwunderten Blick des Jungen fest. Dass er sich hatte füttern lassen, mussten sie schließlich nicht wissen. Nein…wirklich nicht, wollte Aya doch nicht wissen, was Youji dann für Späße mit dem Telepathenbällchen treiben würde.
 

Yohji beruhigte sich langsam, fischte sich eines der übrigen Bällchen aus der Schale...die wirklich verdammt schnell weniger wurden...und Yohji sah auch warum... .

Ken hatte sich dazu entschlossen ebenfalls nur den Teig zu sehen und tat sich gütlich daran.

"Er kann kochen?", rutschte es Yohji heraus.
 

Aya hob spöttisch eine Augenbraue. „Nein. Es war ein Glücksgriff. Genau wie bei dir. Manchmal findest du die richtige Mischung, manchmal haust du so daneben, dass du beinahe das Team vergiftest.“
 

Omi starrte die beiden Männer nur sprachlos an. Hier hatte er definitiv etwas nicht mitbekommen. Wieso…wieso sprachen sie über das, was geschehen war, als wäre es nicht schlimm? Er runzelte die Stirn, fühlte sich in mehr als einer Weise verletzt. Wenn…Aya auf seinem Zimmer war, würde er versuchen, noch einmal mit ihm darüber zu sprechen…
 

Ken verstand dieses Verhalten ebenso wenig, und auch wie sich Omi fühlte, als er einen Blick des Jüngsten auffing. "Meinst du, dass du schon fit bist, Aya? Wir müssten noch einige Parameter besprechen. Wir haben in zwei Tagen einen Einsatz", lenkte er das Thema in wichtigere und auch weniger belastende Bahnen - so hoffte er.
 

Yohji dagegen äußerte sich nur mit einem "Hm." und verengte die Augen leicht. "Dann koch ich eben nichts mehr." Sprach’s und war Ken dankbar, dass dieser das Thema wechselte.
 

Auch wenn ihm Aya weniger dankbar war. Manchmal konnte man meinen, dass der Fußballspieler das absichtlich machte. Er wollte noch nichts von einer neuen Mission hören, nicht so kurz nachdem er wieder da war. Wusste er doch, dass das ein genauer Test seiner Loyalität war. Kritiker wollten wissen, auf wessen Seite er stand. Auf der seiner Schwester und seines Teams. Wessen auch sonst?
 

„Ja, bin ich“, erwiderte Aya schließlich und legte das angefangene Bällchen wieder zurück auf den Teller. Ihm war schlecht. Plötzliche, unerwartete Übelkeit vermieste ihm das Essen, als er an das Verhör zurückdachte. Wie wenig sie ihm glauben würden…

Schweigend stand er langsam auf und schüttete den Rest in den Mülleimer. Er war noch nicht wirklich fit. Es wäre wohl besser, wenn er sich noch etwas ausruhte.
 

„Ich gehe schlafen“, gab er als Erklärung preis und verließ die Küche. Er durfte nicht versagen…er durfte es nicht…
 

o~
 

52 Stunden später...
 

"Herr Fujimiya, folgen Sie mir bitte", riet Crawford dem Mann, der ihnen schutzbefohlen war. Einer der größeren Geldhaie hatte sie engagiert für die Tage seines Aufenthaltes in der Stadt, scheinbar fürchtete er ein Attentat.

Nun, Schwarz würden dafür Sorge tragen, dass dies nicht geschah, zumindest für den Zeitraum, der bereits finanziell gedeckt war.

Schuldig und er begleiteten den Mann, während Nagi und Farfarello sich unter die Gäste des Wohltätigkeitsempfangs gemischt hatten. Beide von ihnen waren in neutrales Schwarz gekleidet, mimten mit Headset und Sonnenbrille die üblichen Bodyguards. Selbst wenn sie diese Hilfe nicht benötigten, doch es machte das Auftreten in der Öffentlichkeit, samt Presse, weitaus einfacher.
 

Schuldig konnte sich ein wiederholtes Lächeln nicht verbeißen....'Fujimiya...Gott...ist das wirklich nur ein Zufall?', fragte er Crawford in Gedanken und grinste verstohlen dabei.

‚Ruhe, Schuldig, konzentrier dich, sonst haben wir zwei von denen hier, und der zweite ist mit Sicherheit schlecht gelaunt'
 

„Abysssinian, da ist er…“, wisperte Bombay durch den minimalen, kleinen Ohrknopf, der sie alle miteinander verband, wie sie hier auf der Lauer lagen und ihr neuestes Opfer beschatteten. Fujimiya…ausgerechnet ein Fujimiya, wie Aya schlecht gelaunt bemerkte. Das passte ja wunderbar, fügte sich wie ein fehlendes Teil in den Scherbenhaufen, der seine ungewisse Zukunft war. Fujimiya war das Opfer und wenn sie ihn nicht erledigten und er Schuldig nicht einen Kopf kürzer machte und das im wörtlichen Sinne, war es das letzte Mal, dass Kritiker ihm noch eine Chance gab.
 

Und wie sollte es auch anders sein? Schuldig und Crawford hatten sich als unauffällige Leibwächter an die Seite des anderen Mannes gestellt und wollten so verhindern, dass ihm und den wichtigen Akten in seinem Besitz etwas zustieß. Doch da hatten sie die Rechnung ohne Weiß gemacht!
 

„Angriff in zehn Minuten Bombay. Siberian, Balinese, in Position, die Zielperson ist im Sichtkreis aufgetaucht. Mastermind und Orakel direkt anwesend. Seid vorsichtig“, flüsterte er selbst von seiner Position aus in das kleine Mikro und schlich sich lautlos ein Stück näher an den Mann heran, das Katana bereit an seiner Seite. Aya…und all das, was in den letzten zwei Tagen passiert war, war in diesem Moment Geschichte. Abyssinian herrschte und das mit einer Intensität, die ihn stützte wie sonst nichts. Er würde morden. Diesen Menschen um sein armseliges Leben bringen.
 

Ein leichtes Lächeln stahl sich auf Abyssinians Züge.

Zielperson: Fujimiya! II

~ Zielperson: Fujimiya! II ~
 

Schuldig war sterbenslangweilig. Er hatte den Empfang mit der nötigen Coolness überstanden, in dem einen oder anderen Kopf herumgegeistert und sich in Unterhaltungen eingemischt, aber darüber hinaus war nichts passiert.

Vier Stunden nach Beginn der Feierlichkeit brachen sie auf und ihr Auftraggeber, samt seiner beiden persönlichen Bodyguards wurde von Schwarz hinunter zur geparkten Limousine geleitet.
 

Schuldig folgte als letzter dem kleinen Trupp und sicherte die nähere Umgebung großflächig ab, als ihm einige Gedanken zuflogen, die hier nichts verloren hatten. "Ich dachte schon, es würde gar nicht mehr lustig werden", raunte er und nickte Crawford zu, der sich auf seine Gedanken hin umdrehte.

‚Der schlecht gelaunte Fujimiya ist angekommen, samt übrigem Gefolge', grinste er und pflückte sich das Mikro samt Ohrknopf herunter, warf beides achtlos zur Seite, ebenso die Brille die er langsam abnahm als er sich umwandte.
 

Brad dagegen redete kurz mit seinem Auftraggeber, bedeutete ihm, dass sie einen anderen Weg wählen würden und verschwanden in einem Seiteneingang, der von Nagi kurzerhand ‚geöffnet’ wurde, da er verriegelt war.

"Der Wagen ist zu weit entfernt, wir entscheiden uns für etwas Schnelleres und vor allem Sicheres, Herr Fujimiya", redete Crawford entspannt und zuvorkommend auf den Mann ein. Zügig verließen sie die Halle, während Schuldig zunächst eine großflächige geistige Attacke aussandte um den Anderen Zeit zu verschaffen. Aya allerdings wusste er...war dafür nicht empfänglich.
 

Ein dreifacher Aufschrei ließ Aya innerlich fluchend zusammenzucken und nun offen aus einem Versteck kommen. Schwarz…verdammt. Verflucht seiest du, Schuldig!

Seine Augen suchten die Dunkelheit ab und fanden schließlich Bombay, der sich, den Schädel haltend, am Boden kauerte, sich für einen kurzen Moment soweit fing, dass er zu ihm aufsehen konnte.

„Setz…Schuldig außer Kraft, Abyssinian…er blockiert uns“, presste der Kleine mühsam hervor und Aya setzte sich in Bewegung. Nichts leichter als das…ihm konnten die mentalen Attacken des Deutschen nichts anhaben und das würde er nun auch würdig ausnutzen.
 

Mit im Notlicht der Tiefgarage schimmernden Katana löste sich Aya aus den Schatten und näherte sich völlig lautlos dem anderen Mann. Seinem Feind. Nichts anderem. Es war sein Feind. Niemand anderes.
 

„Folgt sobald es geht dem Ziel, ich kümmere mich um Mastermind“, zischte er ins Mikrofon und löste sich aus der Dunkelheit, präsentierte sich dem deutschen Schwarz. Zeit, gegeneinander anzutreten. Zeit, die Fronten zu klären.

Schweigend hob er sein Katana, ging in Kampfposition.
 

Schuldig wartete äußerlich geduldig, beobachtend wie sich Ayas gesamte Körperdynamik veränderte, geschmeidige Bewegungen ihn in ein gefährliches, nicht zu unterschätzendes und tödliches Subjekt verwandelten.

Die Gesichtsmuskeln drückten bildlich das aus, was Aya Schuldig zu verstehen gegeben hatte. Keine Gnade, keine Rücksicht, kein Privileg, Kälte wie eh und je.

Für einen kurzen Moment erwog Schuldig die Möglichkeit, den drei Weiß bei Gelegenheit zu folgen, sich von Aya zu trennen, oder ihn zu narren, doch er verwarf diese Idee und trat einen Schritt auf Aya zu.

"Ah der Anführer der Katzen", tönte er großspurig und das Grün seiner Augen glomm kurz bewundernd auf. "Das Orakel wäre doch mit Sicherheit deiner würdiger als ich."

Ein kurzer Blick auf den Rest des Weiß-Teams entlockte ihm ein verächtliches Lächeln und ein Kopfschütteln "Tss, die lernen es nie…"
 

Ein Lächeln, das Aya nur allzu bereit spiegelte. Er verschwendete keine Worte an den Mann, dem sein Kampfwille galt. Er verschwendete keine Worte über das, was Schuldig provozieren wollte. Sie waren Feinde, immer gewesen, es war nicht nötig, sich in irgendeiner Weise zu erklären. Sein Tun zu rechtfertigen.
 

Lautlos, als wäre er der schwarze Tod selbst, setzte sich Aya in Bewegung, schwang das Katana in einem Winkel, der es ihm ermöglichte, mit aller Gewalt zuzuschlagen und gleichzeitig mobil zu bleiben, auszuweichen. Seine Hände krampften sich um das Schwert, fühlten den ledernen Griff, sahen das glänzende Metall. Sahen Schuldig. Schwarz. Er war Schwarz. Der Hass.
 

Nicht all zu überrascht von dem Angriff, sprang Schuldig mit einer Drehung nach hinten weg, um sich aus dem Radius von Ayas Schwert zu entfernen. Er bemerkte den tödlichen Ernst hinter diesem Angriff, verfehlte ihn die Klinge doch nur dank seines Geschicks und dem Wissen um Ayas Kampfkünste.
 

Das Blumenkind macht also ernst...nein, das war kein Blumenkind mehr...das hier war ein angriffslustiges Kätzchen, verflochten sich seine Gedanken und öffneten ein Tor zu seinem Spieltrieb, den er momentan verdrängt hatte, als er Aya entdeckt hatte.
 

Ein unternehmungslustiges Lächeln erhellte sein nachdenkliches Gesicht und wuchs rasch zu einem Grinsen heran. "So hitzig heute, mein Kater?"
 

Er lachte laut auf, als wäre es keine todbringende Klinge die nach ihm schlug.
 

Kater? Abyssinian war für Schuldig also nur ein kleines, unwichtiges Ding, mit dem er spielen konnte, wann er wollte. War es das, was er bisher nicht geglaubt hatte? Schwarz spielte nur mit ihnen…hatten sie nur die ganze Zeit getan. Auch die Entführung…alles ein Spiel. Um sich selbst zu belustigen.
 

Aya lachte stumm, völlig fehlplaziert. Er kicherte, während Mordlust in seinen Augen schimmerte. Mordlust und Wut auf den Mann, der vor ihm stand und seine Späße mit ihm trieb. Er hatte einen Auftrag und den würde er erfüllen!

Wieder und wieder setzte Aya dem anderen Mann nach, fing sich ab, wenn er ins Leere strauchelte, versuchte vorherzusehen, wie Mastermind als nächstes reagieren würde. Seine Augen weiteten sich vor unbändigem Irrsinn, vor Verlangen nach dem Blut des höhnenden Schwarz.
 

Schuldig erkannte den treibenden Pol in Aya, sah dessen ungebremsten Hass, die Unbeherrschtheit, die sich auf ihn stürzte. Blitzschnell wich er erneut aus, versuchte hinter Aya zu gelangen, was nur schwer möglich war. Sein Atem ging bereits schneller, sein Herzschlag rannte ihm davon. Langsam wurde er wirklich noch wütend, befand Schuldig, als er sah, wie Aya sich in keinem Augenblick daran erinnerte, wie sie und über was sie sich unterhalten hatten.
 

Wieder wich er aus, ließ sich von dem tödlichen Schwertstreich nicht erwischen.

Er wird aufgerieben, dachte sich Schuldig in einem Moment, als er sich selbst noch zu beherrschen versuchte, anders als sonst, noch immer möglichst ruhig im Innern blieb.

Schuldig konnte sehen, wie sich Ayas Gebundenheit an seine Schwester, an die Ketten von Kritiker ihn zu einem bissigen Tier werden ließen, an die Kette gelegt und wild um sich beißend. Seine Augen sagten es ihm, in denen der Wahnsinn loderte.

‚Brad, verdammt' sandte er Gedanken in diese Richtung aus.

‚Hast du Probleme? Ich bin auf dem Weg zurück.'

‚Probleme nicht wirklich, eher...', schwieg er wieder nachdem Aya ihm gefährlich nah kam. Doch diese kurze Pause weckte auch seine telepathische Aufmerksamkeit auf ein anderes Objekt. Einen unscheinbaren Mann im Schatten, der laut seiner Gedanken Aya observierte. Ein Kritikeragent.

‚Brad, Komm her, wir müssen hier etwas erledigen, so geht das nicht weiter, das Blumenkind dreht halb durch.'

‚Und?'

‚Schwing deinen Arsch hierher, Crawford, du kriegst auch meinen Anteil an dem Auftrag.'

‚Sag das doch gleich.'
 

Schuldigs Blick fixierte die lodernden Amethyste, die sich kaum mehr der Umgebung, der Realität bewusst schienen. Um Aya dort herauszuholen, dort wo er jetzt war...im Innern war, brauchte er Crawfords Fähigkeiten. Und dieser Agent im Verborgenen war ebenfalls noch ein Problem.
 

Was noch für Schuldig nach Hass ausgesehen hatte, wandelte sich innerhalb von wenigen Sekundenbruchteilen in grelle, schmerzende Verzweiflung für Aya. Er konnte nicht gewinnen…er konnte es nicht, wenn der andere Mann ihn verspottete und ihm immer wieder auswich ohne ihn anzugreifen. Immer und immer wieder…

Aya keuchte, sein Puls raste wie verrückt vor Hass und Anstrengung. Er reagierte nicht auf die Sätze seines Teams, die ihn per Interkom erreichten. Er INTERESSIERTE sich nicht dafür! Schuldig war derjenige, der getötet werden musste! Wenn…wenn es ihm heute nicht gelang, was würde dann aus Aya werden? Was würden Kritiker tun? Es war ein Auftrag, er KONNTE nicht versagen!
 

Seine hastigen Atemzüge wurden schwer, ja…verzweifelt. Seine Bewegungen unkoordinierter, nur noch darauf fokussiert einen Treffer zu landen. Mit allen Mitteln. Nichts konnte ihn aufhalten…gar nichts, so sehr hatte er seine Umgebung ausgeblendet.
 

Die Situation schnell erkennend, konnte Schuldig momentan kaum etwas unternehmen, da dieser Kritikeragent mit Sicherheit zu seinem Herrchen laufen würde um diesem Bericht zu erstatten, wie Aya sich bewährt hatte.

Die Verzweiflung des Weißkillers war greifbar, und sie machte Schuldig auch wütend. Er wusste, dass Aya ihn töten musste, dass es unabdinglich für den Anderen geworden war und dies ihn zu zerstören drohte.

Zum ersten Mal verdammte Schuldig sich selbst, dass es so gekommen war. Hier hatte er wieder vor Augen, was er angerichtet hatte. Wie er den Weiß zerstören konnte.. denn er war auf dem besten Weg dahin.

Er hatte genug von dieser Sache! Eindeutig genug.

Erneut wandte er sich unter dem Schwert durch, drehte sich blitzschnell und verpasste Aya einen Schlag in die Nierengegend. "Na, Kitty, schon müde?"

Er hasste sich selbst für diese Frage, doch es war notwendig, um Aya vor dem Verdacht des Verräters zu befreien, denn das war er nicht.
 

Für einen Moment gehemmt durch inneren wie äußeren Schmerz konnte Aya nichts anderes tun, als sich die Seite zu halten und dem Teufel, der vor ihm stand ins Gesicht zu zischen, ihm seine Verachtung mehr als deutlich zu zeigen. „Ich mach dich fertig, Schwarz!“, war das Einzige, was er hervorpressen konnte, als er – ohne Rücksicht auf die stechenden Schmerzen in seinem Körper – weitertaumelte und erneut ansetzte. Er war noch lange nicht am Ende! Nein…er würde weiterkämpfen!

„Du entkommst mir nicht!“ Er schrie…wütend. Erbost. Verzweifelt. Stürzte sich auf Mastermind.
 

"Wer sagt denn, dass ich dir entkommen will", lächelte er Aya in altbekannter Mastermind-Weise an, trieb sein Spiel mit dem gequälten Mann weiter. Ohne dass er es wollte, wirklich wollte.

Es war eine Farce, was er hier veranstaltete, die Show, die er dem Kritiker Agenten zu Ayas Wohl bot, war grausig. Denn Aya war kaum mehr als das zu erkennen, was er war. Nichts war mehr übrig von dem Mann, den er in seiner Wohnung gehabt hatte. Hier existierte nur noch rohe Verzweiflung.

‚Brad, es wird langsam knapp.'

‚Sofort. Was soll ich ...', stockten kurz die Gedanken ‚Du wirst mit ihm nicht fertig? Das finde ich nun doch etwas schwach, Schuldig.'

‚Das Problem ist nicht er...oder doch... aber viel mehr der Kritikeragent, der dort hinten steht und eine gute Show sehen will. Ich hab vor, sie ihm zu geben, aber ich will Aya nicht über den Haufen schießen, meine Fähigkeiten nutzen mir bei ihm nichts, also bist du dran.'

‚Und wie stellst du dir das vor?'

Schuldig sah wie Crawford durch die Tür kam, sich bereits seiner Anzugjacke entledigte, seine Krawatte löste.

‚Beende dies. Ich kann ihn so nicht sehen, es macht mich halb verrückt, er geht drauf dabei.'

‚Du bist schon verrückt', kam die schnelle Antwort zurück, als Schuldig auch schon sah, wie Crawford sich mit einem eisigen Lächeln Aya näherte, ohne dass dieser bisher davon Wind bekommen hatte.

‚Nenn es wie du willst, aber krümm ihm ja kein Haar.'

‚Irgendwelche besonderen Wünsche?'

‚Nicht das Gesicht, nicht in den Unterleib, keine wichtigen Organe, keine Knochenbrüche, nur schillernde Farben und schmerzende Stellen, wenn du schon fragst.' Schuldig grinste.

Brad sagte nichts, war zu konzentriert wie es augenscheinlich aussah. Wieder griff Aya Schuldig an, doch diesmal war Brad zur Stelle, wirbelte Aya herum und schlug ihm das Schwert aus der Hand in dem er das Handgelenk fasste, ihn zwang mit einem schmerzenden Griff das Schwert loszulassen.
 


 

Aya stöhnte überrascht auf, als ihn plötzlich eine zweite Gestalt von seinem Ziel wegriss und ihn in einer einzigen Bewegung seiner Waffe entledigte. Crawford! Nein…NEIN! Der Amerikaner würde ihm die Chance, Schuldig zu töten, zunichte machen! Er hatte keine Chance gegen die Beiden! Doch…noch...war er nicht fertig. NOCH nicht!
 

Sein freier Ellbogen holte aus, ruckte in einem scharfen Winkel in Richtung Gesicht des Orakels, während er an dem gefangenen, schmerzenden Handgelenk riss. Sein Schwert irgendwo…irgendwo weit weg von ihm, er alleine mit seiner hassenden Verzweiflung und dem Spott der beiden Schwarz.
 

Für Brad war es keine Schwierigkeit, dank seines exzellenten prägkognitiven Sinns Aya auszuweichen, sondern eher die Stellen in seinen Attacken zu vermeiden, die Schuldig ihm untersagt hatte.

Manchmal wusste der Amerikaner nicht so recht, wer von ihnen hier das Sagen hatte...

Er deckte Aya mit einer schnellen Abfolge von Fausttreffern ein, erkannte schnell, dass der Andere zu aufgewühlt, zu verzweifelt war um sich selbst zu decken. So fand er die ungeschützten Stellen und bearbeitete sie mit einem überheblichen Lächeln.
 

Ein Lächeln, das Aya nicht sah durch den Schmerz, den seine geschundenen Stellen ihm schickten, als Crawford einen wohl platzierten Hieb in seinen Magen schlug und ihn sich keuchend krümmen ließ. Ihm nun die kaum vorhandene Deckung nahm und mit einem Kinnhaken nachsetzte, der Aya zur Seite taumeln ließ.

Er rang für ein paar kostbare Momente mühsam nach Luft, spuckte den überflüssigen Speichel aus und setzte dann hasserfüllt dagegen. Ballte die Faust und schlug nutzlos zu. Der Amerikaner sah alles…aber auch wirklich jeden Hieb voraus und wich ihm aus. Nutzte seine momentane Schwäche, um noch einmal in die Magengegend zu langen und Aya auf die Knie zu schicken.
 

‚Nicht das Gesicht hab ich gesagt!' Schuldig knirschte mit den Zähnen, während er scheinbar gelangweilt daneben stand und seinem Leader dabei zu sah, wie er den Weiß Killer auf den Boden schickte. Wohl mehr in der Bewusstlosigkeit als unter ihnen weilend.

Seine Hände in den Hosentaschen verborgen, waren zu Fäuste geballt, doch seine Lippen zierte ein verächtliches Lächeln, dass er dem Kritiker Spion präsentierte.

‚Mach Schluss, Crawford'

Er konnte es einfach nicht mehr sehen wie Aya vor ihm halb lag, der Körper wohl ein einziger Schmerzpol, und doch brodelte es noch in dem Japaner, konnte Schuldig genau sehen, wie sich der Körper wieder erheben wollte, egal was folgen würde.

Schuldigs Augen waren wie betäubt auf Aya gerichtet als dieser unter dem nächsten gekonnten Schlag durch Crawfords Faust geführt mit einem Ächzen zusammenbrach. Während Crawford seine Kleidung wieder einsammelte, trat Schuldig in aller Seelenruhe zu Aya hin, blickte auf ihn herab, als wäre er der Sieger und holte mit seinem Fuß aus, trat ihm kräftig in den Bauch und lachte schallend dabei... .
 

So sollte zumindest das Bild im Kopf des Spions aussehen, welches dieser von der Szene hatte. Schuldig hatte jedoch nur leicht den Bauch von Aya berührt, vorher in seiner Intensität etwas abgebremst.

Aber das sollte nun wirklich genügen.

Er stöberte noch im Kopf des Agenten umher und befand, dass dieser die richtigen Schlüsse zog.
 

Schuldig lief mit Crawford zügig nach draußen, sprach kein Wort, auch wenn seine Hände zitterten und er das Gefühl hatte den Boden unter sich zu verlieren... Ihn dort in diesem Zustand liegen zu lassen, war nicht das, was er brauchte um sich wohl zu fühlen, grinste er etwas unsicher, als sie in den bereitstehenden Wagen stiegen.
 


 

o~
 

„Aya…AYA! Verdammt, melde dich!“, zischte Omi ins Interkom, erhielt jedoch, wie in den letzten Minuten auch keine Antwort. Sie hatten weder den Mann noch die Daten bekommen und zusehen müssen, wie dieser sich im Helikopter absetzte. Mission fehlgeschlagen…

Der blonde Weiß fluchte wortgewandt und bahnte sich mit dem Rest seines Teams den Weg nach unten…in die Tiefgarage des Gebäudes. Nur um dort das zu sehen, was seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden ließ.
 

Aya…da war Aya! Omis Herz blieb stehen, als er das entsetzte Keuchen der anderen beiden Weiß hinter sich vernahm und sah, wie Youji losrannte. Aya…reglos. Schwarz…Schwarz war hier gewesen. Gott nein, hatten sie ihn etwa…

Sie alle beugten sich entsetzt und schweigend über ihren Anführer, während Youji den Puls des rothaarigen Japaners erfühlte. Schließlich erleichtert nickte.
 

„Er lebt. Sie haben ihn nicht getötet.“ Aber dafür zusammengeschlagen. In Omi brannte Hass empor. Glühender Hass auf Schwarz…dass sie es wagten, ihnen Aya zu entführen und ihn so fertig zu machen. Was hatten sie ihnen jemals getan, um das zu verdienen? Was hatte Aya getan, dass sie ihn so quälten? Er zischte leise.
 

„Komm…wir tragen ihn zum Wagen“, erlöste Youji ihn jedoch aus seinen Gedanken und hob den bewusstlosen Rotschopf zusammen mit Ken in die Höhe, überließen es Omi, das achtlos beiseite liegende Katana aufzunehmen. Legten ihn schließlich behutsam auf die Rücksitzbank des Wagens und setzte sich neben ihm, dessen Kopf vorsorglich auf seinem Oberschenkel. Aya sah grässlich aus. Völlig zerschlagen und fertig. Schuldig hatte also doch nur gespielt, um ihn jetzt fertig zu machen. Das würde Krieg bedeuten.
 

Schweigend fuhren sie los und es dauerte keine fünf Minuten, bis ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen die Rückkehr ihres Anführers ankündigte.
 

o~
 

Aya konnte sich nicht erinnern, schon jemals solchen Schmerzen ausgesetzt gewesen zu sein. Solcher Übelkeit…solcher…Leere. Leere, die dem Hass folgte, dem Zorn. Der Verzweiflung. Crawford war da gewesen und hatte ihn fertig gemacht. Hatte ihn daran gehindert, Schuldig zu töten. Nein…das durfte nicht sein…jetzt war alles verloren. Er hätte Schuldig töten müssen, das war seine Aufgabe und er hatte wieder versagt. Schon wieder.

Aufgeschreckt durch die lauten Geräusche, fuhren seine Augen hoch und trafen auf grüne, besorgte. Youji! Was…?
 

"Er öffnet die Augen", sagte dieser zu Omi um ihn und Ken zu beruhigen, die mit schweigenden Mienen vorne saßen.

"Wir sind auf dem Weg nach Hause, alle sind in Ordnung, bis auf dich, Aya", wollte er dem Jüngeren zeigen, dass er sich keine zusätzlichen Sorgen machen musste. So wie er Aya kannte, hatte dieser sicher die Befürchtung gehabt, dass es ihnen ähnlich ergangen war. "Brauchst du gleich etwas gegen die Schmerzen, oder geht's noch? Ken hält sonst unterwegs schnell an."

Er hatte Aya einer flüchtigen Untersuchung unterzogen, keine Blutungen festgestellt, die von einem Schuss oder einer Stichwaffe stammten.
 

Schmerzen? Nichts passiert?

Aya schüttelte benommen den Kopf. Wie…? Zu viele Informationen, zu wenig Kraft, diese zu visualisieren, geisterte es durch seine Gedanken, ließ ihn sich erst dann bewusst auf das Gesagte des blonden Weiß ein. „Nein…geht schon…“, erwiderte er aus dem einfachen Grunde, dass er nicht anhalten wollte. Nach Hause…nur nach Hause.

Er fuhr sich mit der Hand über seinen lädierten Körper, versuchte sich schließlich aufzurichten. Scheiterte einfach an dem Schmerz, der seine Nervenzellen belagerte und ihn Sterne sehen ließ. „Die….Mission…?“
 

"Ein Desaster, wir haben weder die Zielperson ausschalten können, noch die Unterlagen in unseren Besitz gebracht."

Yohjis Hand lag im roten Haarschopf, als er den Kopf schüttelte.

"Alles schief gelaufen, war kein guter Tag", sagte er milde und versuchte sich sogar an einem Lächeln, wenn es auch schmal war. Sie hatten Aya bei sich, er lebte und sie waren vorerst in Sicherheit.

Ein verpatzter Auftrag hatte sicherlich eine ordentliche Standpauke zur Folge.
 

Aya stöhnte verzweifelt auf, machte sich in diesem Moment keine Gedanken darüber, ob seinem Team diese Schwäche verborgen blieb oder nicht. Alles…schief gelaufen? Die Mission ein Fehlschlag? Alles nur wegen ihm und seiner Wut auf den Telepathen, der ihn verspottet hatte. In seinem Zorn, seinem Hass hatte er Schuldigs Lachen, dessen Bemerkungen gehört. Wieviel Spaß es dem Deutschen doch gemacht haben musste, ihn fertig zu machen.

Ihm vor Augen zu halten, wie falsch es war, auch nur ein Feindeswort zu glauben. Ja…wie falsch, das hatte er am eigenen Leib gespürt, als Crawford ihn mit dämonischer Freude zusammengeschlagen und Schuldig daneben gestanden hatte. Sich das Spielchen beguckt hatte. Wie sie jetzt wohl über ihn lachen würden.
 

Die Wangen des rothaarigen Weiß brannten vor Scham von dieser Niederlage, dieser Demütigung. Sein pochender, schmerzender Kopf wandte sich ab, zum Polster der Rückenlehne hin, als er sich halb in den Oberschenkel seines Freundes, halb in die Lehne vergrub.
 

Damit nicht nur Omi verschreckte.
 

Denn auch Yohji irritierte dieser Laut, der so ganz unüblich von Aya kam. Automatisch fuhren Yohjis Hände zu den verkrampften Fingern, legten sich darüber, wollten somit zeigen, dass Aya verstanden wurde.
 

Er nicht allein war.
 

Beim nächsten Mal kriegen wir sie, wollte er sagen, doch er schwieg. Was hätte es schon gebracht?
 

Hatte Schuldig ihn so derart zugerichtet? Und wir sollen nicht hassen? Was außer unserem Hass hält uns noch auf den Beinen?
 

Yohji presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, blickte hinaus in die Nacht während sie nach Hause fuhren. Schweigen füllte den Innenraum des Wagens, bis sie endlich parkten und Omi die hintere Tür öffnete. Yohji nahm sich vor, mit Aya darüber zu sprechen, sobald es ihm etwas besser ging.
 

Nur weil der Auftrag nicht erfolgreich verlaufen war...deshalb war Aya nicht so...ja Yohji würde die Geste der Abwendung als Scham interpretieren.
 

Aya war dankbar für den Beistand dieser Hände gewesen, die die Seinen wärmten. Dankbar für die Stille, für die nicht laut geäußerten Fragen. Er hatte Youji widersprochen…vor einem Tag. Hatte versucht, Schuldigs Tun zu rechtfertigen und irgendwie zu beschönigen. Die hässliche Realität hatte sich nun gezeigt, und wie konnte es auch anders sein, er musste nicht nur geistig dafür büßen.

Das war Schwarz’ Rache an ihm…für was auch immer er getan haben mochte.
 

„Aya…komm, ich helfe dir auf“, drang Omis Stimme in seine Gedanken und ließ ihn langsam aufsehen. Ließ ihn die Hände sehen, die sich seinen entgegenreckten. Er nickte leicht, wusste, dass er alleine nicht mehr in der Lage war aufzustehen oder sich auch nur einen Zentimeter auf seinen eigenen Füßen zu bewegen. Mit vor Schmerz starr zusammen gepressten Lippen robbte er sich auf der Rückbank zur Tür hin und ließ sich schließlich aufhelfen. Keuchte dunkel vor Qual, die seinen Brustbereich und Magen durchzog. Vor Übelkeit, die wieder und wieder in ihm aufwallte.
 

Er wollte ins Bett…sich einfach nur noch verkriechen und für nichts die Verantwortung übernehmen, was heute Abend passiert war. Doch bis dahin war es ein langer Weg, wie er mit Grauen feststellte. Er wusste nicht, wie er die Treppe hochkommen sollte. Auch mit Hilfe des Jungen, der sorgsam seinen Oberkörper umfasst hielt, war das Gehen eine momentan schier unlösbare Aufgabe, die er dennoch mit störrischem Willen zu bewältigen gedachte. Einen Schritt vor den anderen. Einen…vor den anderen…
 

Ken kümmerte sich um die Unterbringung des Wagens und Yohji eilte zu Omi, der Aya half, ins Innere zu kommen. Er nahm Aya auf der anderen Seite unter der Schulter, doch dieser konnte kaum laufen, krümmte sich wieder zusammen.

Yohji wollte das nicht mehr lange mit ansehen, fluchte verhalten und nahm Aya kurzerhand auf die Arme. Mit grimmigem Blick, den er sowohl Omi als auch der Tür vor ihnen zuwarf trug er Aya hinein.

"Kein Wort", sagte er zu Aya. Er wollte jetzt keine Widerrede hören. Stolz hin oder her, er hatte ihn heute nicht zum ersten Mal getragen. Und sie kannten sich gut genug, das sollte Aya wissen. Aya konnte froh sein, diese Attacke der beiden übersinnlich befähigten Schwarz überlebt zu haben.

So schnell es ihm möglich war strebte er die Treppe an, erklomm sie zügig.
 

Als wenn Aya auch nur irgendetwas dagegen gesagt hätte, dass ihn nun auch noch Youji wie eine Braut durch die Gegend trug. Er fragte sich unwillkürlich, ob er irgendetwas dermaßen Weibliches an sich hatte, dass jeder meinte, ihn auf die Arme nehmen zu müssen. Anscheinend schon…

So ließ er sich von einem schwankenden und schnaufenden Youji zu seinem Zimmer bringen, immer in der Befürchtung, dass er den wenigen Halt verlor, den er durch die Arme seines Freundes noch hatte. Doch dem hatte er ja schließlich abgeholfen, als er sich mit seinen Armen an dessen Hals festgehalten hatte. Um wenigstens etwas Sicherheit zu haben. Auch wenn es schmerzte. Sein Magen, seine Rippen, sein Kinn. Alles.
 

Yohji ließ Aya auf dem Bett sitzen und setzte sich daneben, froh ihren Freund wohlbehalten zuhause zu haben.
 

Ihm war der Blick von Aya durchaus aufgefallen. "Hätte ich dich über die Schulter legen sollen?", äußerte er sich zu seiner Tat murmelnd. "Hast sich Schmerzen dort." Yohji zuckte mit den Schultern stand dann auf.
 

Omi hatte in der Zwischenzeit das Verbandsmaterial samt Koffer gebracht und stellte diesen aufs Bett.
 

"Kommst du klar?" fragte Yohji und sah, dass Aya seine Ruhe wollte. Einige Prellungen mussten behandelt werden, doch mehr als oberflächlich war da nichts zu machen.
 

Aya nickte und seufzte leise. Über die Schulter hieven? Wie einen Sack Kartoffeln? Nein danke…da war es schon besser, wie Youji ihn gerade getragen hatte. Doch das stand hier nicht zur Debatte, ganz im Gegenteil. „Ist schon in Ordnung, Youji…aber lass mich jetzt alleine, ich komme schon zurecht.“

Ja…das kam er wirklich, wollte er doch nicht, dass sein Team seinen geschundenen Körper sah. Er lehnte sich vor, verzog verbissen die Lippen und holte sich den Verbandskasten heran.
 

„Komm Youji“, sagte Omi leise, wusste er doch, dass es nichts brachte, Aya nun noch zu widersprechen, wo der andere Mann doch so völlig fertig aussah. In sich zusammengesunken, bleich und geschlagen…wie konnte das nur passieren? War es ein Schwächeanfall gewesen, der ihn den beiden Schwarz ausgeliefert hatte? Oder…hatten sie ihn zu zweit überwältigt und dann…Omi schluckte. Das würden Schwarz nicht überleben. Keiner von ihnen.
 

Er nickte dem blonden Mann zu und gemeinsam verließen sie Ayas Zimmer, hörten noch, wie sich ihr Sorgenkind auf die Matratze fallen ließ. Vielleicht war es besser so. Für sie alle. Für die Fragen, die ihnen in den Köpfen herumgeisterten und bis morgen darauf warten mussten, ohne Vorwurf vorgebracht zu werden.

Ohne Verdacht…
 

o~
 

Ein leises, unangenehm trockenes Stöhnen entkam der ausgedörrten Kehle, die nun ein weiteres Mal seufzte und die Schmerzen verfluchte, die sie wach hielten. Eine blasse, mittlerweile mit dunklen, crawfordschen Fingerabdrücken verzierte Hand griff grollend zu der mitgebrachten Flasche Wasser und trank sie in einem Zug leer. Warf sie dann achtlos auf das Bett.
 

Auch wenn ihm das ein neuerliches Ächzen entlockte, schälte sich Aya nun aus seiner sonst so bequemen Unterlage, die Stirn kühl vor kaltem Schweiß. Er wollte hier raus, bekam keine Luft mehr in seinem engen Raum, der ihn schier erstickte vor im Kreise laufenden Gedanken. Er musste an die frische Luft…dorthin, wo ihn die nächtlichen Geräusche ihres hellhörigen Hauses nicht stören würden.
 

Auf ihr Flachdach, von dem er die Sterne genießen konnte, die so klar und leicht über ihnen ruhten und ihm das schenkten, was er selbst sich am heutigen Abend verneint hatte. Ruhe…Gelassenheit.

Aya raffte seine Bettdecke und schlich so gut es ging lautlos nach oben. Öffnete die metallene Tür zu seiner wortwörtlichen Freiheit und war für einen Moment von der ihm entgegen kommenden kalten Frischluft erschlagen. Atmete sie dann jedoch selig und ruhig ein, gewöhnte seine Lungen an den Eishauch.
 

Er ließ sich in der Nähe des Randes an einen der Betonaufsätze nieder und lehnte sich in die Decke gemummelt an die allzu harte Oberfläche, die ihn leise fluchen ließ. Wieso hatte er noch einmal gleich die Schmerztabletten ausgeschlagen? Weil er nach Hause wollte? Wie kurzsichtig…
 


 

Es war mitten in der Nacht. Unruhe kam in einem der Männer auf.
 

Ein kurzer Gedanke huschte durch seinen Kopf. Doch er schlief weiter...
 

Das Haus schien ruhig, die Lichter waren aus, die Gedanken lagen in den Tiefen der Träume verborgen und Schuldig ließ seine Beobachtungen bei einer zweiten Zigarette Revue passieren. Er hatte die Gedanken von dem großen blonden Weiß gelesen und fragte sich wer zu so später Stunde noch nicht schlafen konnte. Das konnte nur einer sein...
 

Er hatte sich Sorgen gemacht. Bei allem Hin und Her bei allem sich um diesen Punkt windend. Es war unumstößlich. Und wo hatten ihn seine Schritte hingelenkt? Besser gesagt, sein Wagen? Zu dem Haus, in dem Weiß lebte. Keine gute Gegend um sich blicken zu lassen, befand er selbst mit einem zynischen Lächeln.
 

Geradezu lebensgefährlich war es, nach der Aktion von vor wenigen Stunden in die Nähe des ,Jägers' zu gehen.

Desto erstaunter war er auch, als sich die Tür des Daches öffnete und jemand zu ihm aufs Dach kam. Er hatte es nicht...bemerkt, schockte ihn diese Tatsache... wie...?
 

Doch gleich keimte in ihm die Erkenntnis...wie auch, wenn es Aya war, dessen ,Nicht-Anwesenheit' ihm eigentlich sofort auffallen hätte müssen.
 

Schuldig zog sich weiter in den Hintergrund zurück, da ihm der Beobachter, den Kritiker geschickt hatten, noch immer im Gedächtnis war...und nicht nur das.
 

Er hatte sich nicht umsonst das Dach ausgewählt als bester Punkt um...ja...um Aya nahe zu sein. Zwei Kritikeragenten saßen dort unten in ihrem Wagen und observierten Aya.
 

Er trat seine Zigarette aus, steckte die Hände wieder in die Taschen seines Mantels, sein Schal wehte leicht im Wind, die Haare steckten unter dem Mantel.
 

"Du wirst beobachtet. Kritiker haben einen Agenten geschickt, der dich beobachtet hat, während wir kämpften", sagte er so leise wie möglich, damit Aya ihn hörte, sich aber nicht verriet. Eine schwierige Situation.
 

Er konnte den Hass spüren, den Aya gegen ihn hegte. Aber wie sollte er es jetzt ändern?
 

Leichter Zigarettengeruch wehte begleitet von den feindlichen Worten zu Aya hinüber und ließ ihn aus seiner friedlichen Betrachtung der Sterne hochschrecken. Schuldig…Schuldig war hier und hatte immer noch nicht genug. Glaubte immer noch, er könnte wieder und wieder in sein persönliches Umfeld eindringen. Besonders jetzt, nachdem er grinsend an Crawfords Seite gestanden hatte. Dennoch…die Worte des anderen Mannes ließen Aya eher unbewusst reagieren und einen Blick nach unten werfen. Um genau das zu sehen, was der andere Mann gesagt hatte.
 

Waren das wirklich Kritikers Agenten, die ihn beschatteten? Oder versuchte Schuldig nur weiter eines seiner Spielchen? Doch was hatte ein Auto mit zwei Männern um diese Zeit hier zu suchen? Gar nichts…rein gar nichts.

Ayas Blick hob sich wieder zurück gen Himmel, ignorierte die evidente Gefahr in seinem Rücken. Ignorierte den Schmerz, den ihm sein geprellter Körper aussandte.
 

"Die kleine Showeinlage, die Crawford und ich dem Agenten geboten haben, war wirksam. Er hat alles umgehend seinem Vorgesetzen per Funk durchgegeben. Seine Gedanken zu manipulieren hätte keinen Zweck gehabt, er war geschult, kannte sich ein wenig damit aus.

Ich hätte mich nicht auf einen Kampf eingelassen mit dir, wäre nicht dieser Agent vor Ort gewesen. Ich hab ihn bemerkt, als wir kämpften."

Er verstummte für kurze Augenblicke, seufzte ungehört.

"Ich wollte das nicht, zumindest nicht in der Form, die du mir zutraust."
 

So…das war also alles nur eine Showeinlage gewesen. Schuldig hatte das alles gar nicht gewollt? Aya war versucht zu lachen. Was für eine verdrehte Welt war das hier? Schwarz half Weiß, indem sie sich so lange prügelten, bis eine Partei bewusstlos zu Boden ging. Und alles nur, weil ihn angeblich diese Agenten beobachteten. Doch war das wirklich so undenkbar? Nach dem Verhör? Wieso sollten sie ihn da nicht beschatten?
 

War das Schwarz’ Motiv gewesen? Schwer vorstellbar. Aya glaubte nicht daran, nicht nachdem er sich so dermaßen gedemütigt fühlte. Vielleicht später irgendwann, doch jetzt nicht. Jetzt nutzte er den Schmerz, der ihm das Atmen erschwerte und Übelkeit bereitete, um Schuldig als den Gegner anzusehen, den er brauchte. Schwarz, nichts anderes.
 

Er erhob sich leise ächzend mit einem letzten Blick auf das dunkle Auto und drehte sich dann um. Entdeckte Schuldig, wie er dort stand, ohne böse Absichten, scheinbar, völlig entspannt und einsam. Er näherte sich ihm ohne eine Miene zu verziehen, ohne kenntlich zu machen, was seine Absichten waren, die dicke Daunendecke auf seinen Armen. Erst kurz vor Schuldig blieb er stehen, fixierte den anderen Mann so wie er dort stand.
 

„Das macht es noch viel schlimmer“, sagte er ebenso leise. „Wir sind Feinde und werden es auch immer bleiben. Hör auf, mir Schwierigkeiten zu bereiten, auf was für eine Art und Weise auch immer. Wir kämpfen gegeneinander und werden uns irgendwann töten. Akzeptier das endlich und lass mich meine Dinge regeln. Du stehst mir dabei nur im Weg, machst alles noch schlimmer als es schon ist. Geh zurück zu Schwarz und sei weiter der Teufel, den ich umbringen will.“
 

Schuldig schüttelte leicht den Kopf, und lächelte sanft. Seine Augen spiegelten das wieder, was er in sich selbst verbarg. Die Trauer und auch Zuneigung zu dem anderen Mann. Sie würden sich jetzt zum letzten Mal auf dieser Ebene begegnen, dessen war er sich sicher.

"Ich brauche nicht zurückzugehen. Ich bin Schwarz, bin es immer, egal wo ich bin oder wann oder wie. Es bleibt das Gleiche. Für dich und für viele andere. Für mich selbst..." Der Satz verlor sich in Gedanken und er verstummte, nicht willens, noch länger hier zu stehen. Sein Blick suchte die Sterne.

"Ich wollte nur sehen, ob es meinem Feind auch gut geht, nicht, dass es mir langweilig wird, das nächste Mal..." Er wandte sich um, drehte den Kopf ein letztes Mal zu Aya. "...wenn wir uns töten wollen.

Ich habe eine gewisse Verantwortung dadurch, dir gegenüber, wenn es meinem Feind gut geht, geht es mir auch gut." Er zwinkerte und näherte sich dem Dachfirst um hinabzusteigen.
 

Das, was Schuldig nicht sah, war das trotz allem traurige Lächeln des Weiß in seinem Rücken. Wie einfach war doch purer Hass gewesen. Wie einfach war es doch gewesen, in sklavischer Ergebenheit zu morden und sich um nichts Gedanken zu machen. Schon gar nicht darum, wie das eigene Leben verlief. Verdammter Schwarz, dass er ihn so dermaßen aus seinem Trott gerissen hatte. Verdammt war Schuldig…bis in alle Ewigkeit.

Aya erwiderte nichts, sondern öffnete lautlos die Tür, schlüpfte schweigend durch den Spalt und schloss sie hinter sich. Lehnte sich für ein paar Momente an die kühle Flurwand und schloss die Augen. Es ging ihm schlecht. Viel schlechter als zuvor. Druck lastete auf seiner Brust, in seinem Hals.
 

Zuviel, mit dem er nicht umgehen konnte. Viel zu viel.
 

o~
 


 

Vielen Dank für's Lesen!

Bis zum nächsten Mal,
 

Gadreel & Coco

Frohe Weihnachten

~ Frohe Weihnachten ~
 


 

Schuldigs Weg führte nicht direkt nach Hause. Er zögerte es hinaus, in seine Wohnung zu kommen, streifte in der Stadt umher und ließ die Menschen und ihre Gedanken auf sich ein. Nicht zuletzt spekulierte er darauf, dass sie Aya aus seinem Kopf verdrängten.

Und er vergaß ihn.
 

Ja...genauso lang, wie sein Besuch in der Stadt währte. Wieder in seinen vier Wänden angekommen war alles wieder da was er versucht hatte zu vergessen, es veranlasste ihn zu einem zynischen Lächeln. Eine Mischung aus traurigem Lächeln und einer Spur Ironie, schloss sich daran.

"Wenn man etwas vergessen will, dann funktioniert’s nicht, welch ein Drama"
 

Mit diesen Worten legte er rockigen Sound in seine Musikanlage und drehte sie auf, knapp an der Grenze zum Erträglichen. Die harten und schnellen Rhythmen beruhigten ihn auf unerklärliche Weise und er lag entspannt auf der Couch, die Kopfhörer aufgesetzt. Es war als ordneten die in der Musik enthaltenen Muster seine Gedanken.
 

Ins Bett fand er erst in den frühen Morgenstunden, der Tag war schon angebrochen, doch er hatte die dumpfe Ahnung, dass er sein Bett meiden wollte. Die Frische der Bettwäsche lachte ihn willkommenheißend an, doch er verzog nur den Mund unwirsch. Trotz dem, dass er das Bett neu bezogen hatte, roch sie immer noch nach Aya.

"Von wegen", murrte er und legte sich fast schon trotzig hinein. "Du hast den Geruch in der Nase, nicht in dieser verfluchten Bettwäsche!"

Knurrend stopfte er sich das Kissen zurecht, bis es zu einem malträtierten Etwas zusammengeschrumpft war und schloss die Augen. Tage wie dieser...hatten meist ähnlich magere Nächte hinter sich und waren kaum besser. Am Besten er blieb im Bett und keiner ließ sich bei ihm freiwillig und ohne triftigen Grund blicken.

Er hatte schlechte Laune.
 

Die sich auch die Tage darauf nicht besserte.

Ganz im Gegenteil wurde es immer unerträglicher. Er konnte es aber auch nicht abstellen. Dieses es, das ihn nicht mehr losließ.
 


 

Tage vergingen, sie hatten erneut einen Auftrag erhalten. Einen simplen Mordauftrag, den er und Crawford ohne die Hilfe der Anderen erledigten. Kleine Fische. Er langweilte sich dabei.

Es war kurz nach halb zwei, als er durch die Kälte der Nacht ins Warme seiner Wohnung trat. Den linken Arm hielt er dicht an seinen Körper. Er war unaufmerksam gewesen, hatte sich verletzen lassen. Ein Streifschuss hatte ihn an der Schulter erwischt. Und nicht, dass dies genügte, um sich selbst darüber zu ärgern, war es Brad, der ihn auch noch zusammenstauchte weil er ‚nicht bei der Sache war', wie er sich ausgedrückt hatte.

Schnaubend ging Schuldig in die Küche, legte seine Waffen ab, zog die Dolche aus ihren Scheiden. Er hatte den zweiten in der Hand, als sein wütender Blick auf das Stofftier fiel.

Ein angewiderter Blick traf das unschuldig daliegende Gebilde aus Frottee und weichem Inhalt, die dunklen Knopfaugen vertrauensvoll auf ihn gerichtet.

Mit einem hämischen Grinsen trieb er seinen Dolch durch den Bauch des Bären, bis er auf dem schwarzen Holz aufkam und dort steckenblieb. "Alles nur wegen dir", zischte er und sein hasserfüllter Blick verlor sich im Nass seiner Verzweiflung, als Tränen in seine Augenwinkel traten.
 

Das Bild lag noch daneben, doch er beachtete es nicht, für ihn war das Stofftier Symbol genug.

"Du bist... nicht... ich. Sei endlich still", sagte er kalt zu dem erdolchten Bären und wandte sich ab. Zeit um sich ein Pflaster zu suchen, wenn er nicht alles vollbluten wollte.
 

Die Küche betrat er in den nächsten Tagen nicht mehr, er aß außerhalb, war selten in seiner Wohnung.
 

"In wenigen Tagen steht ein größerer Auftrag aus. Ihr kennt den Auftraggeber. Es ist Herr Fujimiya. Der Auftrag umfasst den Geleitschutz und das Sicherstellen, dass sie Unterlagen, die der Auftraggeber mit sich führt, in seinem Besitz verbleiben.“

„Das kann seine private kleine Armee nicht?“, schaltete sich Schuldig dazwischen.

Crawford ließ sich Zeit mit der Antwort, maß Schuldig mit einem langen Blick.

„Du hast Recht, es ist nicht die Hauptaufgabe bei dieser Unternehmung. Während wir diesen Teil ausführen, beseitigen wir einen unbequem gewordenen Mitarbeiter.“

„Auch das wäre eine Aufgabe für seine Männer“, sagte Schuldig mit einem hintergründigen Lächeln. Seine Augen durchbohrten Crawford in ihrer Intensität. „Der haken an der Sache?“

„Der ‚unbequeme’ Mitarbeiter ist deshalb zu einem Sicherheitsrisiko des ‚ehrenwerten Herrn Fujimiya’ geworden, da er dessen Kontakte zur Unterwelt offen legen möchte. Vorzugsweise der Keisatsucho. Wir werden dies verhindern.“

„Das heißt, ich berücksichtige bei der Planung einige weitere Schwierigkeiten?“ Nagis Stimme durchschnitt die Stille, die entstanden war.

„Zu den üblichen noch weitere, ja.“

Crawford stand auf, ging um den Schreibtisch herum zum Bildschirm, der an der Wand hing.

„Die Vorbereitungen für den Auftrag sind fast abgeschlossen. Da ich davon ausgehe, dass wir sowohl Besuch von Männern der Keisatsucho, sowie einigen anderen Abteilungen der inneren Sicherheit und Kritiker bekommen, sind größere Maßnahmen von Nöten um einen freien Abzug zu ermöglichen. Nagi ist für die Überlastung es Stromnetzes verantwortlich. Schuldig wird bereits am Tag zuvor eingeschleust um Männer, die nicht zum Stab des Auftraggebers gehören, auszusondern. Die Konferenz findet in den Abendstunden statt. Wenn der Strom ausfällt, sollten wir mit der Mission beginnen. Alles weitere besprechen wir am Tag zuvor, wenn Nagi den Plan den neuen Bedingungen angepasst hat. Ende der Besprechung.“

„Das heißt, Kritiker werden Weiß schicken?“

„Ich vermute. Es sei denn, ihre bisherigen Misserfolge, was uns betrifft, veranlasst Kritiker dazu, eines der anderen Teams zu schicken. Die Wahrscheinlichkeit ist aber hoch, dass Weiß kommt.“

Crawford schaltete den Bildschirm aus und drehte sich mit seinem Sessel zu seinem Team, die verteilt im Raum saßen oder im Fall von schuldig standen.“
 


 

o~
 

Völlige, warme Stille ummantelte Aya, als er in diesem einen, bestimmten weißen Raum saß. DER Raum, in dem sie lag. Sie, diejenige, deren Dasein er die vergangenen Tage beinahe in den Hintergrund gestellt hatte. Vor lauter Verzweiflung, lauter Angst, dass diese fehlgeschlagene Mission ein Nachspiel für ihn und sie haben würde. Doch dem war nicht so. Birman wie auch Manx waren, wenn auch nicht zufrieden, doch nicht wütend…sagten ihnen, dass sie in naher Zukunft noch eine Chance hätten, die Auftragsperson zu erwischen. Fujimiya. Aya lächelte innerlich vor nervösem Zynismus. Wie gut, dass sie ihn nicht damit meinten.
 

Doch das war hier, bei ihr kein Thema mehr. Hier wollte er für sich sein und ihre Gesellschaft genießen, soweit er da konnte. Sie war das, was er beschützen wollte. Auf dass sie eines Tages ihre Augen öffnete und ihn anlächelte, wie sie es auch früher immer getan hatte. Weil er ihr großer Bruder war. Brüderchen…Nervensäge. Aufpasser. Glucke…wobei er doch Ran hieß. Und nun begluckte er sie schon wieder, tat alles nur menschenmögliche, um ihr die beste Versorgung angedeihen zu lassen.
 

Nichts davon würde sie erfahren, wenn sie aufgewacht war. Sie würde es hassen, das Blut, was an seinen Händen klebte. Oh ja…und wie sie es hassen würde.

Aya betrachtete die zarten, schmalgliedrigen Finger in seiner Hand. Irgendwie…hatten sie die gleiche Handform. Nicht ganz länglich, ein mehr oder minder kleiner Bogen in der Mitte der Gelenke. Blass und zierlich. Frauenhände, die sie beide von ihrer Mutter geerbt hatten. Nur dass Ayas Hände keine Schwielen von dem Katanagriff trugen.
 

Aya seufzte leise, strich dem komatösen Mädchen über die schlafende Stirn. Er hatte es aufgegeben, sie darum zu bitten, aufzuwachen. Schon lange. Er wartete, würde das immer tun, bis es wirklich so weit war. Er würde sie nicht mehr drängen oder verfluchen. Sie beschuldigen, dass sie das mit Absicht tat. Nein…er war geduldig.
 

Müde bettete er sein Haupt auf das frische Laken an ihrer Seite, ließ seinen Blick über die Gerätschaften gleiten. Wie gleichmäßig doch ihr Herzschlag war…

Aya schloss seine Augen, erwartete fast, dass ihm auch hier Kritikers Agenten hin gefolgt waren. Wie überall. Ja…er sah sie. Wenn er zum Einkaufen fuhr, wenn er spazieren ging, wenn er einfach den Laden verließ. Und jedes Mal brachte es ihn dem Wahnsinn und der zittrigen Nervosität ein Stückchen näher. Was, wenn sie etwas entdeckten, das ihnen nicht gefiel, was, wenn Schuldig ihm wieder auflauerte und sie sahen das? Was, wenn sie von heute auf morgen eine Mission bekommen würden, die sie wieder Schwarz gegenüberstellte? Und er wieder versagte?
 

Aya erschauerte. Nein, nicht noch einmal. Niemals wieder. Auch wenn er die fragenden Blicke seines Teams nicht mehr ertrug. Die Blicke, auf die er keine Antwort hatte. Nicht für Omi, nicht für Ken. Es hatte schon Mühe gekostet, sich Youji anzuvertrauen, doch nicht noch die Beiden. Nicht jetzt…vielleicht später. Wenn…sie wieder wach und in Sicherheit war. Dann vielleicht.
 

o~
 

Omi war…enttäuscht.
 

Aya war schon immer verschlossen und in sich zurückgezogen gewesen, doch wie er sich nun verhielt, verletzte den kleinen Weiß mehr als er zugeben wollte. Mit Youji hatte er gesprochen, doch ihnen gegenüber schwieg er beharrlich…als könnte er ihnen nicht vertrauen. Als würden sie ihn verraten, wenn es wirklich etwas Böses gäbe. Doch dem war nicht so, oder?
 

Und nachdem Omi wieder und wieder subtil höflich versucht hatte, Aya zum Sprechen zu bringen, hatte er genau an diesem Morgen genug. Aya und er hatten Freischicht, konnten sich also beschäftigen. Zeit für ein direktes Gespräch.

Leise klopfte er an die geschlossene Tür und trat erst nach einem stillen „Herein.“ in das Heiligtum des rothaarigen Mannes.
 

„Hast du etwas Zeit für mich, Aya? Ich möchte gerne mit dir reden“, läutete er unsicher das ein, was wahrscheinlich nicht im Geringsten zu seiner Zufriedenheit laufen würde. Und siehe da, Aya wandte sich ihm zwar zu, doch war seine Miene verschlossen wie immer. Verschlossen und irgendwie nervös, als befürchtete er Dinge, die ihnen anderen verborgen blieben. Und das nun schon seit mehr als zwei Wochen. Seitdem er wieder zurückgekehrt war. Nachdem er sich von den Blessuren erholt hatte, die Schwarz ihm zugefügt hatten. Wieder gerade laufen konnte. Etwas zu Kräften gekommen war.
 

„Natürlich. Was gibt es, Omi?“
 

Alles!, wollte besagter Junge dem anderen Mann entgegen schreien, blieb jedoch stumm. Fragte erst nach ein paar Minuten: „Du misstraust mir, oder, Aya?“
 

Eine dunkelbraune Augenbraue hob sich fragend, erreichte jedoch nicht die Stimmbänder des Älteren.
 

„Du…hast mit Youji über das gesprochen, was bei Schwarz passiert ist. Aber nicht mit uns. Sind wir nicht deine Freunde, Aya? Sind wir es nicht wert, dein Vertrauen zu genießen?“
 

„Omi…“
 

„Du weichst mir aus, wenn ich auf dich zugehe und dich frage, ob du Hilfe brauchst. Du weichst mir aus, wenn ich dich nach den fünf Tagen frage. Du…scheinst Schuldig nicht zu hassen und das, obwohl er dich so verprügelt hat. Aya…was ist mit dir los?“
 

Sein Gegenüber seufzte leise, ließ seinen Blick für ein paar Momente unangenehm auf Omi fallen, bevor er seicht den Kopf schüttelte. „Es ist nichts passiert in den Tagen, Omi. Das ist es ja. Es ist gar nichts passiert…das ist alles, was ich dir dazu sagen kann.“
 

Omi starrte die im Sessel sitzende Gestalt wortlos an, wusste er doch, dass die Worte mit einer Endgültigkeit ausgesprochen worden waren, die ihm jedes Gegenargument versagten. Aya würde hier rüber nicht mehr diskutieren…er würde das nicht tun. Omi kapitulierte resigniert. Nickte enttäuscht. Das war nicht mehr der Aya, der noch vor kurzem ihr Anführer war. Dieser Mann hatte Geheimnisse vor ihnen.
 

„Gut…wie du willst“, erwiderte er leise. „Komm heute Mittag bitte nach unten, wir haben Missionsbesprechung. Dieser Fujimiya ist wieder aufgetaucht…das ist unsere zweite und letzte Chance…“
 

Damit ging er. Wollte nur noch alleine sein. Er…fühlte sich betrogen.
 

o~
 

Dieser Auftrag war eine einzige Farce. Das wurde Aya nun wieder einmal bewusst, als sie hier auf der Lauer lagen, in den Belüftungsschächten des Gebäudes und darauf warteten, dass ihr Ziel auftauchte. Ihre Ziele…korrigierte sich Aya selbst. Denn SEIN zusätzliches Ziel, so hatte Birman es ihm erklärt, war explizit Schuldig. Der Deutsche hatte diese Mission nicht zu überleben…ansonsten stand Ayas Position als Teamführer in Frage. So hatte sie sich ausgedrückt und nicht anders.

Er presste seine Zähne so fest aufeinander, dass sie schon beinahe knirschten. Er HASSTE diese Frau aus vollstem Herzen…hasste sie.
 

Doch für Hass blieb nun keine Zeit, als sich die Tür öffnete und Fujimiya das Zimmer betrat, gefolgt von seinen beiden getreuen Leibwächtern. Aya schnaubte stumm. Legte die Pistole an und wartete lautlos.
 

Es war Abend und die Konferenz neigte sich dem Ende zu. Crawford gab Nagi die Anweisung den Zwischenflur zu sichern. Schuldig hatte sich im kleinen Raum nebenan postiert, den sie durchqueren würden. Herr Fujimiya saß noch am Tisch, klappte seinen Aktenkoffer zu und verschloss ihn mittels eines Fingercodes.

Als alle aus dem Raum waren und Fujimiya mit seinen Leibwächtern allein war, berichtete Crawford ihm von ihrem Auftrag.

"Der Auftrag ist ausgeführt. Wir geben Ihnen Geleitschutz bis zu Ihrem Wagen, Herr Fujimiya. Die Teilzahlung ist bereits auf unser Konto erfolgt. Vielen Dank." Er deutete eine Verneigung an.

"Mit Ihnen Geschäfte zu machen, ist ein besonderes Vergnügen Mr. Crawford. Lassen Sie uns gehen." Crawford trat einen Schritt zurück und Fujimiya nahm den Koffer vom Tisch, strebte die Tür durch den kleinen Nebenraum an. Schuldig öffnete sie uns sie traten zusammen hindurch.
 

Angespannte Stille herrschte in Aya vor, als er den Mann genau ins Visier nahm und sich genau zwei Sekunden Zeit ließ, ihn durch einen gezielten Kopfschuss zu erledigen, der laut und krachend in seinen Ohren widerhallte. Dennoch…er wurde beinahe augenblicklich mit Erfolg belohnt, als der Ältere wie ein Stein umkippte und neben seinem Bodyguard zu Boden sackte. Crawford und Schuldig…schon wieder.

Aya lächelte. Ein zweites Mal würden sie ihn nicht zu fassen bekommen. Er würde seinen Auftrag erledigen und das zu Kritikers vollster Zufriedenheit. Noch im Rauch des ersten Mordes, schoss er erneut.
 

Schuldig wusste nach dem ersten Schuss, dass es Aya war und in der nächsten Sekunde drehte er seinen Körper um sich in Sicherheit zu bringen. Das Projektil streifte ihn und er zischte. Crawford zog ihn am Arm mit, noch bevor er die Richtung aus der geschossen wurde erfassen konnte.

Das Fehlen einer Signatur ließ Schuldig sofort darauf schließen, dass es der Anführer von Weiß sein musste, der hier schoss.

Nagi lief bereits voraus, als sie den Gang erreichten und verständigte Farfarello.

"Raus hier", gab Crawford noch einmal unmissverständlich ihr unmittelbares Vorhaben kund und Schuldig grinste verbissen. Der Streifschuss brannte, wo Aya ihn an der Schläfe erwischt hatte, Blut lief ihm über das Gesicht und Schuldig konnte sich vorstellen, dass es schlimmer aussah, als es tatsächlich war. Kopfwunden hatten immer den scheußlichen Nebeneffekt, dass sie bluteten wie bei einem Schlachtfest.

Noch immer zog Crawford ihn mit sich und Schuldig machte sich während dem Laufen los.

"Ich kann alleine laufen. Nur ein Streifschuss."
 

Ohne zu zögern trat Aya das Gitter weg und ließ sich in den niedrigen Raum fallen, setzte Schwarz nach. „Schwarz kommen runter zu euch, passt auf!“, zischte er ins Intercom und riss die Tür erneut auf, rannte mit Waffe und Schwert in die Richtung der Flüchtenden. Horchte auf ihre Schritte. Nein…dieses Mal würden sie nicht entkommen. Dieses Mal würde er ihnen allen den Garaus machen.

Zusammen mit seinem Team, das sich dazu anschickte, Schwarz den Weg zu versperren.
 

„Wir haben sie“, hörte er Youjis triumphales Zischen und lächelte. Zeit, Blut zu vergießen, noch mehr, als er es jetzt schon getan hatte…
 

Sie hasteten die Treppen hinunter und sahen wie Nagi und Farfarello bereits mit Balinese und den beiden anderen Weiß beschäftigt waren.

"Wäre ja auch zu schön gewesen", lächelte Schuldig schräg und schlug? einen anderen Weg ein. Nagi hatte Probleme mit Balinese, denn er war von den Fäden eingeengt und Crawford zog seine Waffe, feuerte auf Balinese.

Es war ein Durcheinander, als auch noch Aya Schuldig den Rückzug versperrte. Im Hintergrund tobte der Kampf und Schuldig stand Aya gegenüber wie dieser durch die Tür stob.
 

„Endstation“, zischte Aya und ging ohne Zeitverzögerung auf den Verletzten los. Er scherte sich nicht um sein eigenes Team, die mit sich selbst zurechtkommen mussten. Er scherte sich nicht um die anderen Schwarz. Schuldig gehörte ihm und er…nur er…würde ihn heute töten.

Bitter auflachend hob er sein Katana und senkte es im tödlichen Schwung.
 

"Haben sie ihren Bruder erreicht?"

"Nein"

"Es geht ihr zunehmend schlechter, wir fahren sie auf die Intensivstation, Schwester."

"Ja, ich veranlasse alles Notwendige, wir müssen uns beeilen."
 

"Glaubst du", grinste Schuldig in altbekannter Manier und zog sich zurück, seinen Langdolch noch in der gleichen Bewegung ziehend. Damit konnte er zumindest etwas parieren. Er hatte nicht vor Aya zu töten, aber wenn es sein musste so würde er sich seiner Haut erwehren. Seine Waffe war schnell gezogen, doch dafür brauchte er etwas Entfernung und ein wenig Zeit. Zeit, die der Rotschopf ihm hier nicht ließ.
 

"Wir müssen uns beeilen, ihr Kreislauf ist instabil."

"Haben Sie sich die linke Pupille angesehen?"

"Ja, weit und lichtstarr"

"Gut wir fahren. Nehmen Sie den Monitor mit, überwachen Sie die Vitalparameter, wir bekommen sicher gleich Probleme."
 

„Weiß ich“, zischte Aya und hieb ein weiteres Mal in die Richtung des Telepathen, ließ ihm bei weitem keine Zeit, selbst anzugreifen. Er wusste, dass er Schuldig hatte. Der andere Mann war mittlerweile so dermaßen in die Defensive geraten, dass er kaum gegen ihn ankommen würde. Rein gar nicht. Aya triumphierte innerlich. Jetzt hatte Birman keinen Grund mehr, seine Schwester zu bedrohen!
 

Die Türen öffneten sich und die Schwestern, Pfleger und Ärzte kamen bereits entgegengelaufen.

"Was haben wir hier?" fragte der Intensivstationsarzt.

"Fujimiya Aya, eine Langzeitpatientin, seit ihrer Einlieferung komatös. Vor einer halben Stunde Frequenzanstieg, Pupillendifferenz erst seit einigen Minuten. Der Kreislauf wurde instabil, die Atmung setzte aus. Ich musste sie intubieren." Soweit die kurze Übergabe, während sie das Bett in die vorgesehene freie Intensiveinheit fuhren. Der übernehmende Arzt nickte.

"Wir fahren sie rein."

"Es gibt einen Bruder, die Telefonnummer ist in den Akten vermerkt. Er hat die Betreuung. Wir konnten ihn nicht erreichen. Ich werde es gleich noch einmal versuchen."

Er ging an den Stützpunkt während er sah wie die nötigen Vorkehrungen des Personals getroffen wurden. Er nannte erneut die Nummer der Vermittlerstelle.

Roter Alarm klang hektisch durch die Intensivstation. Der Stationsarzt, der die Patientin auf die Intensivstation begleitet hatte, wandte den Kopf in das Zimmer aus dem der Alarm erklang. Es war seine junge Patientin. Die Werte auf dem Monitor waren völlig entgleist. Während um sie herum schnelles Arbeiten aussah, als wäre es Hektik, wurden Medikamente gespritzt um den Kreislauf wieder unter Kontrolle zu bringen.

"Es ist keine Verbindung möglich," hörte er am anderen Ende der Leitung und legte auf.
 

Schuldig lief das Blut an der linken Schläfe ins Auge und er fluchte verhalten, taumelte zurück, sich schnell wieder fangend und den nächsten Angriff blockend. Aya hatte es wirklich auf ihn abgesehen, wollte ihn tot sehen, eiskalt. Und diese Kälte sah er auch in den sturmgrauen Augen, die sich in seine bohrten, als hätte es ihre Begegnung nie gegeben.
 

Mit einem Lachen voller Triumph setzte Aya nach, hatte er doch die Schwachstelle in der Verteidigung des Deutschen erkannt und nutzte sie nun gnadenlos aus. Trieb sein Schwert über die Brust des Telepathen, konnte jedoch nicht verhindern, dass er stolperte. Einen Moment lang hatte er die Kontrolle über den Griff seines Katanas verloren…einen kleinen Moment nur. Doch genug, um Schuldig nur eine Verletzung zuzufügen, nicht um ihn zu töten.
 

Er zuckte zurück, wurde von unsichtbaren Händen gezogen und aus dem Gefahrenbereich katapultiert, hatte den gleißenden Schmerz der sich quer über seine Brust zog mit einem erschreckten Keuchen quittiert. "Schuldig!" Nagi hatte verhindert, dass Aya sein Schwert weiterhin gefährlich in seine Nähe führen konnte - zumindest die nächsten Sekunden lang - doch der junge Telekinet hatte seine Kräfte übergebührlich beansprucht, war noch immer mit Balinese beschäftigt.

Schuldig richtete sich auf, stützte sich an der Wand ab, ihm schwindelte etwas, seine Kleidung sog sich voller Blut. ‚Brad, wir müssen weg, schnell. Ich kann mich kaum konzentrieren.'
 

"Das CT sieht verheerend aus. Alle Ventrikel sind voller Blut." Schweigend arbeiteten die Schwestern weiter während die Ärzte sich unterhielten.

Die Werte auf dem Monitor verloren sich in abnormen Zahlen, waren kaum mehr zu steuern.
 

Aya sah wütend, wie Schuldig von ihm weggezogen wurde. Doch das machte nichts…ganz im Gegenteil. Schweigend setzte er ihm nach und hob das Schwert ein weiteres Mal an…er wusste, es würde das Letzte sein. Schuldig konnte sich nicht verteidigen, er war im klaren Vorteil. Für meine Schwester, auf dass sie leben wird!, lächelte er innerlich und setzte an.
 

Wie paralysiert starrte Schuldig nach oben, das unausweichliche und unvermeidliche für Sekunden wahrnehmend als ein Schuss sich löste und kurz darauf Aya von Crawford geradezu gerammt wurde. Seine Schulter bohrte sich in die Seite des Weiß Anführers und noch ehe Aya sich verteidigen konnte wich Crawford auch schon wieder aus, setzte seine Waffe ein um Aya damit bewusstlos zu schlagen.

"Das war ...verdammt ...knapp, mein Held", wisperte Schuldig ironisch, doch sein Gesicht war ernst und leicht verzerrt. Er starrte blind auf Ayas Körper. Sein Blick flimmerte etwas als er zu Brad aufsah, der zu ihm kam.
 

„SCHEIßE!“, schrie Ken wutentbrannt, als er Aya zu Boden gehen sah…wo er doch gerade so nah an Schuldig dran war. Er wehrte mehr halbherzig als alles andere den Angriff des Berserkers ab und war Youji einen schnellen Blick zu. „Los, geh du zu ihm! Ich halt dir den Rücken frei!“
 

Youji nickte und überließ es gleichzeitig Omi, den Kleinen des feindlichen Teams in Schach zu halten. Wütend schoss sein Draht in Richtung Orakel, den er für diesen ganzen Mist verantwortlich hielt. Für Aya, der bewusstlos am Boden lag, das Schwert aus seinen geöffneten Händen geglitten, die Schläfe merkwürdig deformiert. Die beginnenden Anzeichen einer großen Beule.
 

"Schwester, ich nehme die Unterlagen mit für den Bericht. Kommen Sie zurecht?"

Die Schwester nickte, lächelte milde und arbeitete still weiter.

"Ich werde weiter versuchen den Bruder zu erreichen."
 

Brad stützte Schuldig, half ihm auf. "Die örtlichen Behörden geben sich gleich ein Stelldichein. Wir sollten diesen Aufenthalt hier nicht unbedingt ausweiten, Schuldig."

Dieser fand es ganz und gar nicht lustig, musste jedoch trotzdem bissig grinsen. "Schon klar."

Die Sirenen waren jetzt auch zu hören und Schuldig konnte sehen wie Nagi sich umdrehte.
 

Yohji hetzte zu Aya, der Draht war im Nichts verlaufen, nachdem sich das Orakel rechtzeitig aus der Gefahrenzone begeben hatte.
 

„Los, wir müssen ihn hier rausschaffen! Es stimmt, was Orakel gesagt hat!“, zischte Ken Youji zu und legte seine Arme unter den erneut bewusstlosen Mann, hob seinen Oberkörper in die Höhe, während er Youji bedeutete, das mit den Füßen ihres Anführers zu tun.

So trugen sie Aya aus dem Gebäude, kamen gerade noch sicher und unerkannt aus den feindlichen Gefilden, als die Polizei eintraf.
 

„Verdammt…wie KONNTE das passieren? Ein ZWEITES Mal!“, fauchte Ken noch im Auto, ballte seine Hände um das Lenkrad. „Wir haben sie schon wieder nicht bekommen! Und schon wieder ist Aya nicht bei sich…wird das jetzt zur Gewohnheit?“

„Schuldig hat nicht gut ausgesehen, kalkweiß im Gesicht. Aya hat ihn gut getroffen, vielleicht krepiert das Stück Dreck daran“, sagte Youji ruhig und sein Blick ging aus dem Fenster.
 

o~
 

Es war alles ein großes, schlimmes Déjavue, wie sie Aya auf das Bett ablegten, ihm halfen, sich hinzulegen. Aya, der nicht viel tat außer kraftlos die Augen gen Decke gerichtet zu haben und den Eisbeutel an seiner Stirn zu tolerieren, ihn mit müden Fingern festzuhalten. Der kein einziges Wort gesprochen hatte, sich ihrer noch nicht einmal bewusst schien. Und dennoch schalteten alle wichtigen Funktionen völlig normal…bis anscheinend auf die Gedanken ihres Anführers.
 

Doch so wütend Omi auf dessen abweisendes Verhalten auch war, so gut konnte er den Wunsch des anderen Mannes nach Einsamkeit und Ruhe verstehen. Er seufzte leise, warf einen letzten Blick auf das Häufchen Elend, was dort im Bett lag und schloss die Tür hinter sich. Jetzt nur noch schauen, ob jemand in ihrer Abwesenheit angerufen hatte und dann nichts wie ins Bett.
 

Und tatsächlich…da hatte jemand angerufen. Omi drückte gähnend die Taste, streckte sich, während die Nachricht durchlief. Hielt ein...verharrte völlig still. Das Krankenhaus. Irgendetwas war mit Ayas Schwester passiert….irgendetwas.

Omi brauchte keine zwei Sekunden, um wieder im Zimmer des Älteren zu sein und ihn aus seinem leichten Schlummer zu reißen.
 

„Aya…“, keuchte Omi etwas atemlos. „ Das Krankenhaus hat angerufen! Da ist…irgendetwas mit deiner Schwester! Was, weiß ich nicht!“ Oh Gott…vielleicht war sie endlich aufgewacht! Endlich…nach so langer Zeit zu sich gekommen! Genau die gleiche Hoffnung sah er nun auch in Ayas Augen, die sich schließlich schmerzhaft zusammenkniffen, als sich der andere Mann in die Höhe kämpfte und mit einem kurzen „Danke“ nach unten verschwand. Vermutlich in seinen Porsche und ab zum Krankenhaus.
 

o~
 

Schuldig fühlte sich …gelinde gesagt… bescheiden. Sie hatten ihn doch tatsächlich ins Krankenhaus geschafft, angeblich hätte er auch noch Crawfords Wagen eingesaut und angeblich hatte er genäht werden müssen und …noch angeblicher musste er heute bis abends in dieser verfluchten Klinik zur Überwachung bleiben.

Grauenhafterweise war heute auch noch der 24.12. und er hatte wenig Lust, später alleine nach Hause zu fahren. Crawford und Nagi hatten heute ihr alljährliches Abendessen, das sie strikt einhielten. So eine Vater-Sohn-Geschichte, in die keiner der Beiden eine Einmischung duldete.
 

Schuldig tastete auf dem Verband herum, fand schließlich auf die Ränder, zuppelte unbewusst an ihnen und schloss für einigte Momente die Augen. Bis er einschlief verging noch etwas Zeit und seine Gedanken kreisten um die vergangene Nacht.

Es war sehr knapp gewesen und ein Gefühl, als habe er etwas verloren, haftete sehr hartnäckig in ihm, ließ ihn unruhig werden.

Wieder ließ er die vergangenen Stunden, an die er sich erinnern konnte, Revue passieren. Er wollte es nicht vergessen. Nicht vergessen, wie er beinahe gestorben wäre. Warum hatte der Tod ihn laufen gelassen? Denn niemand anderem hatte er in die Augen gesehen. Diese leeren Augen, die mit allem abgeschlossen hatten. Die nichts mehr besaßen außer dem Wunsch ihn zu töten.

Er wollte nicht nach der treibenden Kraft fragen, denn die Dämonen, die sich alle dazu treiben, kannte er zu gut. Er fragte nach dem Warum. Warum lebte er noch?
 

Er wollte sich auf die Seite drehen, doch schon im Ansatz riss er die Augen auf und fuhr etwas hoch, gleich darauf ächzend wieder zurück auf das Kissen, langsam, bedächtig. „Verdammt.“

Er hatte die Wunde vergessen.

Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass es auf den Abend zuging und er bald hier herauskonnte. Er musste wohl einige Stunden geschlafen haben.
 

Zwei Stunden später hatte er die Visite des Arztes hinter sich gebracht und er konnte seine Entlasspapiere mitnehmen, zahlte bar für die Behandlung und tilgte die Erinnerung an ihn aus den Gedächtnissen derjenigen, die mit ihm Kontakt hatten.

Die Unterlagen waren ihm egal. Er war mit einem nichtssagenden Namen eingeliefert worden und Crawford hatte das Weitere in die Wege geleitet.

Er fuhr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause, da die Taxis um diese Zeit sicherlich höchstens durch den Verkehr krochen.
 

o~
 

Aya wusste nicht, ob sein Herz vor freudiger Erwartung oder Angst so schnell schlug, als er endlich…endlich am Krankenhaus ankam und sich aufstöhnend aus dem Wagen quälte, die Hand unwillkürlich zu seiner demolierten Schläfe fahren ließ. Doch das war jetzt nicht wichtig. Darüber würde er sich jetzt keine Gedanken machen…jetzt, wo SIE wichtiger war als alles andere auf der Welt. Gedanken um die verkorkste Mission würde er sich später machen…nicht jetzt, wo es auf die wirklich wichtigen Dinge ankam.
 

Er betrat die Station, auf der sie lag und wurde gleich von einer der Nachtschwestern begrüßt, die ihn schon lange kannte. Seit drei Jahren…dennoch hatten sie nicht viele Worte miteinander gewechselt. Immer nur ein freundliches Lächeln und ein höflicher Gruß…wie auch jetzt.
 

„Fujimiya-san…“, sagte sie in ihrer wohltuend weichen Stimme. „Warten Sie bitte einen Moment…ich benachrichtige eben den diensthabenden Arzt…er wird dann zu Ihnen kommen.“
 

Aya nickte über das schmerzhaft laute Pochen in seinen Ohren stumm und ließ sich auf einen der bereitgestellten Stühle nieder, wartete. Vermutlich waren es nicht mehr als Minuten, doch ihm kam es vor wie eine Ewigkeit. Eine einzige, große Ewigkeit. Doch was war das im Vergleich zu den drei Jahren, die er schon mit Warten verbracht hatte? In diesem Krankenhaus? Gar nichts…
 

Er hob den Blick, als der Mann Mitte vierzig den Gang betrat und ihm zunickte. Stand schließlich auf und erwiderte die höfliche Verbeugung ebenso leicht.
 

„Kommen Sie bitte mit in mein Büro, Fujimiya-san“, sagte er weich und hinterließ in Aya trotz aller Hoffnung ein nagendes Gefühl der Sorge. Was, wenn sich ihr Zustand verschlechtert hatte? Was, wenn es Komplikationen gab? Hatten sie ihn deswegen benachrichtigt? Doch war das möglich nach drei Jahren? Nein…er glaubte nicht. Sie war doch auf dem Weg der Besserung gewesen.
 

Er folgte dem Arzt, betrat schließlich den schlicht eingerichteten Raum, setzte sich auf einen der bequemen Stühle. Tat alles mechanisch. Es war ja nicht wichtig…es war nicht von Nöten, das weiter zu beachten.
 

„Was ist denn mit meiner Schwester?“, fragte er nach ein paar Momenten des unangenehmen Schweigens und warf einen Blick in die wissenden, grauen Augen. Die ihm sicherlich positives berichten würden…nach drei Jahren. Endlich Positives….Aya lachte innerlich angespannt über seinen Optimismus…der ihm sonst so gänzlich versagt blieb.
 

„Fujimiya-san…es gab Probleme heute Nacht. Die Werte Ihrer Schwester sind in negative Bereiche abgesunken. Wir haben alles versucht, um sie zu stabilisieren, doch nichts hat geholfen.“
 

Ein schmerzhafter Herzschlag brachte Ayas Optimismus zum Komplettstillstand. Werte verschlechtert? Nichts hatte geholfen sie zu stabilisieren? Hieß das, dass sie wieder am Anfang der Behandlung war? Auf der Intensivstation? Doch um sicher zu gehen…
 

„Und was bedeutet das?“, fragte er mit nun schmerzhaft schnellem Herzklopfen.
 

„Dass wir sie verloren haben, Fujimiya-san. Ihre Schwester ist tot.“
 

o~
 


 

Vielen Dank für’s Lesen!

Bis zum nächsten Mal,
 

Gadreel & Coco

Lebe!

~ Lebe! ~
 


 

Frohe Weihnachten, Aya.
 

Es war zu früh, ihr das zu wünschen, das wusste Aya. Denn das hatten sie immer erst am 25. getan…im Brauch ihrer Familie. Heiligabend. Hätte sie denn nicht warten können? Hätte sie denn nicht aufwachen können? Hätte sie denn nicht überleben können? Nein, hätte sie nicht, wie er gerade erfahren hatte. Gerade eben, als er ins Krankenhaus gekommen war…mit dem Arzt gesprochen hatte…versucht gewesen war, wie gewohnt, ihr Zimmer zu betreten und zu lächeln, in der Erwartung, ihre stille Form dort zu sehen. Doch da würde nichts sein. Ein leeres Bett, eine leere Blumenvase, ein leeres Zimmer. Eine leere Seele.
 

Ein Arzt hatte vorsorglich auf ihn gewartet, ihn mit einem warmen, jedoch ernsten Lächeln begrüßt. Zu warm, das hatte Aya am Anfang nicht gewusst. Zu warm für die grausigen Neuigkeiten, die der ältere Mann ihm zu unterbreiten hatte. Gestorben. Einfach so. Keine Chance auf Rettung. Alles Mögliche versucht. Gesprächsfetzen, die ihm im Gedächtnis blieben. Die das leere Bett erklärten. Die seine Stummheit erklärten.

Er hatte geschwiegen, danach. Kein einziger Ton war über seine Lippen gekommen. Tot war sie? Das konnte nicht. Aya starb nicht, Aya lag im Koma. Sie würde wieder aufwachen, dafür mühte er sich doch die ganze Zeit. Dafür tötete er doch. Sie konnte nicht sterben. Tot war sie nicht, nein.
 

Warum er ihren Körper nun auf einer Bahre sah, konnte er sich nicht wirklich erklären. Sie müsste doch in ihrem Bett liegen, an die Geräte angeschlossen... Ruhig, friedlich. Nein, daran hatte sich nichts geändert. Sie war immer noch der Engel, der sie nun mal war. So wie sie nun eben aussah. Warum dann die Bahre? Und warum hier oben, auf der ruhigen Station, wo keine kranken Menschen gebettet waren?
 

Er strich ihr sanft über das schlafende Gesicht, schauderte unwillkürlich angesichts der Kälte, die diesen großen Raum beherrschte. Weiß, fensterlos, kalt. Sie hatte doch besseres verdient. Besseres als das einzelne Laken, mit dem sie bedeckt war. Sah hoch zu dem Arzt, dessen Lippen sich bewegten, dessen Worte er aber nicht vernahm. Gar nichts…wieso lag sie hier? Was war die Begründung des Arztes? Sie war tot? Nein…das konnte nicht sein, das war sie nie gewesen…
 

Eine starke Hand nahm ihn am Arm und führte ihn aus dem Raum, brachte ihn weg von Aya. Wieso ließ er das mit sich machen? Wieso wehrte er sich nicht dagegen? Aya nickte, ohne wirklich die Worte verstanden zu haben, verbeugte sich automatisch…alles automatisch. Drehte sich um, ging. Wohin, das wusste er nicht. Ging einfach…irgendwohin. Wenn er einen Fuß vor den anderen setzte, funktionierte das. Einen…vor den anderen. Und noch einmal. Einen vor den anderen.
 

Er streifte durch die Straßen, unbeachtet der Menschen, die ihm entgegen kamen. Ungeachtet derer, die er anrempelte, die ihn anrempelten. Schneite es? Mochte es wohl so sein bei den weißen Flocken, die vor ihm auf die Straße fielen und verglühten…Flocken, die auf ihm haften blieben.

Flocken, reine, weiße Schneeflocken…Schneewittchen, das Märchen der toten Prinzessin, die durch den Prinzen wieder erweckt wurde…Weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz. Aya.
 

Er strauchelte. Fing sich mechanisch und ging weiter. Was hatte er für ein Ziel vor Augen? Er wusste es nicht…gar keines? Er fühlte sich nicht danach, nach einem Ziel zu suchen…er fühlte nicht, wieviel Zeit verging. Mochten es Minuten oder eher Stunden sein, die er hier in der dunklen, lauten Kälte zubrachte…
 

…bis er sie sah. Da war etwas…eine kleine, unscheinbare Bank. Aya blinzelte taub. Vielleicht sollte er sich etwas ausruhen…hinsetzen. Er war so…müde. So erschöpft…woher nur? Was hatte er getan? Sollte er nicht bei Aya sein? Sollte er das nicht?

Er wusste es nicht. Blinzelte ein zweites Mal. Setzte sich auf die völlig mit Schnee bedeckte Bank und lehnte sich an die kalten Metallverstrebungen. Starrte vor sich ins Dunkel…unsehend, nichts denkend, nichts wissend…es war…Leere. Völlige Leere.
 

o~
 

Das Gefühl des Verlustes haftete noch immer wie der Gestank eines Skunks an ihm und er zog eine Grimasse als er eher unbewusst die Entscheidung traf, den Rest des Weges zu Fuß zurück zu legen. So verließ er die Bahnlinie mit den Händen tief in den Taschen seines Mantels, der noch immer diverse Blutspuren im roten Innenfutter aufwies. So fielen sie wenigstens nicht über Gebühr auf. Es gab Tage, an denen er einfach nicht arbeiten sollte. Vielleicht sollte er bei Gelegenheit Crawford fragen, ob sie nicht so eine Art Sonntag oder Ruhetag einführen sollten.

Er wäre begeistert. Farfarello wäre es egal und Nagi...hmm schwierig.
 

Sich nicht näher mit der Thematik befassend, weil nicht wirklich diskutabel - zumindest nicht unter dem Aspekt, dass er mit Crawford darüber verhandeln wollte, ob sie nun einen Ruhetag einführten oder nicht - streifte er durch die Gassen.
 

Doch auch wenn er noch so unsinnige Gedanken heranzog und sich während des Weges damit herumschlug, machte es das Loch in seiner Brust nicht kleiner. Es legte lediglich einen Hauch von unschöner Tarnfarbe darüber. Er hatte ihn verloren, nicht wahr?

Mit diesem Kampf hatte er ihn verloren. Obwohl er ihn niemals besessen hatte, hatte er ihn verloren. Dadurch, wie er ihn angesehen hatte, dadurch, wie er ihn verletzt hatte…
 

Wenn er doch wenigstens schon zu Hause wäre, grummelte er nach einer halben Stunde, die er bereits durch die Stadt gelaufen war. Warum hatte er unbedingt laufen müssen?

Weil er nachdenken wollte?

Seine interne Schaltzentrale gab ihm wie immer die Antwort, auch wenn diese etwas bissig klang.

Er schnaubte und trottete weiter.
 

Dichte Flocken fielen vom dunklen Dach des Abendhimmels, als er aufblickte und beim Anblick der ihm entgegen wirbelnden Schneekristalle breit lächelte.

Er kam sich vor wie ein Schwachkopf, wie er so dastand den Kopf in den Nacken gelegt und die Flocken anstarrend wie sie sich auf ihn niederließen. Debil und geistesgestört.
 

Wirklich dunkel wurde es in dieser Stadt nie.

Deshalb fühlte er sich hier auch so wohl. Ein Gewimmel an Menschen und an Gedanken, die es zu erforschen galt. Aber bitte schön der Reihe nach und nicht drängeln. Schuldig ist für alle da. Aber bitte nacheinander und nicht wie manchmal: alle auf einmal...
 

Ein gemeines Grinsen später, setzte er seine Füße wieder in Bewegung. Die Kälte kroch ihm langsam durch die Kleidung, die nicht gerade dazu geeignet war um abends – bei diesen Temperaturen - durch die Stadt zu laufen. Aber woher sollte er auch ahnen, dass ...ein gewisser Herr ihn zum erklärten, persönlichen Ziel erkoren hatte und auch noch Ernst machte. Und um sein schweres Los noch schwerer zu machen, kam hinzu, dass ein anderer Herr - Großherz Bradley Crawford persönlich - ihn ins Krankenhaus verfrachtet hatte. Hätte er ihn nicht zu Hause absetzen können? Irgendwie hätte er das schon zusammengeflickt...machte er ja nicht zum ersten Mal.
 

Aber nein, stattdessen musste er sich von diesen Krankenhausfuzzis mit ihrem kryptischen Geschwätz erklären lassen was er ohnehin wusste: Dass er dem Tod von der scharfen, glänzenden Schneide seiner Sense – in diesem Fall Klinge – gesprungen war.

Hach! Welch Weisheit.
 

Er kam der Wohngegend, in der er sein trautes Heim hatte näher und sondierte das Areal gewohnheitsmäßig nach Gefahrquellen.

Und siehe da, er wurde fündig.

Ein Kritikeragent.

Ja, Himmel, fluchte er unterdrückt und verzog das Gesicht abfällig, langsam wurde er wirklich wütend. So wütend, dass es für einen Generalangriff reichte, der den nächsten drei Blocks im Umkreis Kopfschmerzen verursachen konnte.

Sprossen diese Kritikeragenten jetzt wie Pilze aus dem Boden? Ja, genau, Schimmelpilze, befand er, zufrieden mit dieser Bezeichnung und tastete die Gedanken des Agenten ab, noch bevor er in dessen Nähe war oder Sichtkontakt hatte.

Wollen doch mal sehen...
 

Sein Schritttempo verlangsamte sich, doch die Richtung behielt er bei. Auch warum der Agent genau hier weilte, fand er heraus, bevor er ihn mit einem posthypnotischen Auftrag wegschickte.

In diesem Gebiet wildere nur ich, das ist mein Territorium, Bürschchen, verzieh dich, sonst piss ich dir wirklich noch ans Bein, dachte er wütend.

Der Agent ging, sang und klanglos um sich einen Film anzusehen. Was er danach machte war Schuldig egal, aber er hatte ihm eingetrichtert, dass er hier nichts gefunden hatte, was interessant war und dass er des Objektes, welches er zu observieren hatte, verlustig gegangen war.
 

Schuldig blickte sich um, als der Agent weg war. Nur schemenhaft konnte er die Umrisse des Objektes - eine schmale Gestalt auf einer Bank - ausmachen. Die linke Braue hochmütig erhoben fixierte er den Mann, dessen Gesicht selbst im diffusen Licht noch weiß wie der Schnee war, der auf ihn niederfiel und ihn langsam bedeckte.

"Erst abstechen und meucheln wollen und dann auch noch auf der Parkbank herumlungern."
 

Unschlüssig stand Schuldig immer noch da, den kühlen Gesichtsausdruck Aya zugewandt, der immer noch reglos dasaß, obwohl die Blickrichtung ihn Schuldig eigentlich hätte erkennen lassen müssen.

Sein erstes Gefühl war Trotz und eine gewisse Sturheit, die ihm sagte, dass er einfach weitergehen sollte. Doch sein zweites Gefühl nahm die eklige Tarnfarbe von seinem Loch in der Brust und statt es kleiner werden zu lassen, wurde es nur größer. Er kam näher.

"Was willst du hier? Wolltest du nicht einen Schlussstrich ziehen?" Er lächelte kalt, als er vor Aya stand, dessen Haare ihm ins blasse Gesicht geweht waren. Sein Kinn zeigte leicht nach unten, sodass Schuldig Ayas Augen nicht sehen konnte. "Den Strich hast du gezogen, tut immer noch weh."
 

Er holte aus und seine Hand klatschte unnatürlich laut auf die Wange des anderen. Die Haut hatte sich glatt und kalt unter seinen Fingern angefühlt. Glatt wie Eis.

In Schuldigs Ohren hörte sich sein Schlag so an, als hätte es die Stille zerrissen, die der Schnee mit sich gebracht hatte. Ayas Kopf ruckte zur Seite, kehrte jedoch mit traumwandlerischer Sicherheit in seine Ausgangsposition zurück, als hätte es diese Maßregelung nicht gegeben.

"Hey, ich rede mit dir", versuchte er erneut eine Regung in dem stoisch dasitzenden Mann zu erzeugen. Einige Augenblicke stand er aber nur da glotzte und wirkte bestimmt wie jemand dem gerade erzählt wurde, dass er in einem Märchenland war, in dem Feen und Zwerge lebten und er selbst eigentlich auch....nun wahlweise eine Fee war. Gut, ein Feerich...falls er die Wahl hätte und die männliche Ausgabe vertreten war... .

Was zur Hölle dachte er denn für eine gequirlte Scheiße zusammen...? Hatten sie ihm zuviel Schmerzmittel verabreicht?
 

Stirnrunzelnd fasste er sich wieder und beugte sich zu dem Sitzenden, stützte die Hände auf die Bank rechts und links neben Aya ab und warf einen direkten Blick in die Augen des Anderen, die nun auf gleicher Höhe mit seinen waren. Hätte er besser nicht gemacht.

Er zuckte zurück und richtete sich abrupt wieder auf, wandte sich im Affekt ab und holte tief Luft.

"Gut. Also was geht hier ab?", versuchte er sich in Beherrschung seiner Selbst, das ihm hier suggerierte, dass etwas nicht in Ordnung war. So derart nicht in Ordnung, dass es ihn selbst zu betreffen schien. Nein, ihn betroffen machte, denn die Augen von Aya wirkten leblos und fern jeder Realität. Sie waren offen, fixierten den Blick nicht, starrten ins Nichts.
 

Seine Frage prallte an der Mauer des Schweigens ab und verlor sich zwischen ihnen im Schneefall.

Stumm war sein Blick auf Aya gerichtet, dabei ruhig jede Einzelheit, jede Linie in sich aufnehmend. Und so vergingen Minuten, bis er sich erneut in die Gedanken des Kritiker Agenten einklinkte, der auf dem Weg ins Kino war - wohin er ihn geschickt hatte. Dort las er, dass der Agent Aya bis zur Klinik gefolgt war, auf ihn gewartet und ihn danach hierher begleitet hatte.

Er löste sich aus den Gedanken des Agenten, stand mit hängenden Armen da. Es war nicht schwer eins und eins zusammenzuzählen...und auf das unschöne Ergebnis von Minus Eins zu kommen.

"Weiß!" herrschte er Aya an, schüttelte ihn leicht. Mit herzlich wenig Erfolg.
 

Als wenn er nicht wusste, dass dies wenig bis gar nichts bringen würde, wollte er sich gern eines Besseren belehren lassen. Er wollte es wenigstens versucht haben.

Sanft befühlte er Ayas Wange, die er zuvor eher gegenteiliger Behandlung zugeführt hatte. "Wie lange sitzt du hier schon, hmm?"

Die Haut war eiskalt, feucht vom getauten Schnee. "Steh auf, komm mit rein und wärm dich auf."

Er nahm Aya unter dem Arm und bewegte ihn etwas nach oben, dieser stand langsam auf. Doch Schuldig wusste, dass er nicht unter ihnen weilte, wie es so schön hieß. Ja, Aya war momentan an einem anderen Ort. Vielmehr Ran, denn Aya war vermutlich tot, oder ihr ging es sehr schlecht. Eins von beiden, war sehr wahrscheinlich, so wie der Rotschopf sich ihm hier zeigte.

Wie er Weihnachten hasste... dachte er übellaunig und warf einen missmutigen Blick hinauf zum Himmel, als hätte sich da oben jemand gegen ihn verschworen. Er mochte nämlich keine ungebetenen Gäste und er mochte keine Weihnachtsgeschenke. Beides an einem Tag. Er mochte auch Weihnachten nicht, fügte er hinzu. Der kommerzielle Terz darum, das verlogene Getätschel hatten ihn schon immer angewidert. Ein Tag wie jeder andere, das war es für ihn und das sollte es auch bleiben.
 

Das konnte nur noch besser werden, seufzte er innerlich, das Gesicht Aya zugewandt und ein trauriges Lächeln barg sich in den grünen Augen, als sie das verschlossene Profil des Anführers von Weiß anblickten.
 

o~
 

Da war etwas. Etwas, das ihn aus seiner Ruhe herausholen wollte. Etwas, das ihn in Bewegung setzte, schweben ließ. Er ging…das wusste Aya. Er setzte einen Fuß vor den anderen…wieder und wieder. Immer wieder. So schwer war das gar nicht. Einfache Befehle an seinen Körper, an die Mechanik, die ihn bewegte. Doch die weißen Flocken…sie waren weg. Nicht mehr da. War es warm? Er wusste es nicht. War es vorher kalt gewesen…er hatte es nicht bemerkt. Doch die dichten, weißen Flocken waren nicht mehr da. Weiß wie Schnee…aber nicht mehr Schwarz wie Ebenholz. Das nicht mehr. Licht…hier war Licht und Wärme. Keine kalten, weißen Wände. Keine Kacheln…
 

"Wir sind gleich da", faselte Schuldig und schlug sich innerlich vor die Stirn, für diesen Satz. Aber was sollte er sonst sagen?

Er öffnete die Tür und zog Aya in die Wohnung, schloss sie leise wieder und starrte für einen irrsinnigen Moment auf das Schloss. So, jetzt waren sie wieder da, wo sie schon einmal gewesen waren.

Er blickte in das ihm zugewandte Gesicht. Fahl und Weiß, ausgekühlt und leblos wirkend. Puppenhaft. Eine Puppe, die man zurückgelassen hatte...

Nicht ganz. ... sie waren nicht ganz dort wo sie schon Mal waren. Sie waren viel weiter zurück und doch viel weiter voran.
 

Er schluckte.

"Ich...zieh dir erst Mal die Sachen aus, ja?" Mehr eine Frage als eine direkte Aufforderung, denn sobald er den Arm losließ, fiel er schlaff an die Seite des Jüngeren.

"Ich ...helf dir", murmelte Schuldig.
 

Schnell entledigte er sich seiner eigenen Sachen, machte dabei eine ungeschickte Drehbewegung mit dem Oberkörper und warf seinen Mantel auf den Boden neben die Tür. Ein Zischen entschlüpfte zwischen seinen Zähnen - er hatte die genähte Wunde vergessen...vor lauter...Aya.

Nachdem er seine Schuhe ausgezogen und achtlos stehengelassen hatte, hob er seine Hände an die Verschlüsse von Ayas Mantel, öffnete einen nach dem anderen und wunderte sich, dass seine Hände dabei nicht zitterten. Völlig ruhig taten sie ihr Werk und bald darauf schälte er Aya aus seinem Mantel heraus. Vorsichtig als hätte er es mit Kristall oder einer Zeitbombe zu tun, immer wieder einen Blick in das Gesicht erhaschend.
 

Er führte Aya zur Couch, drückte ihn sanft nieder ..."Ich zieh dir die Schuhe aus." ...und machte sich daran dem anderen die Stiefel auszuziehen. Dafür schob er die Hosenbeine nach oben, zog Aya die Schuhe aus.

Die Bewegungen waren nicht gerade förderlich für die Wundheilung und er verzog des Öfteren das Gesicht. Aber ein Indianer kennt keinen Schmerz, verkniff er sich eine Äußerung.

Er holte eine Decke für Aya, legte sie ihm über die Schultern.
 

Der Körper war völlig ausgekühlt. Er nahm die im Schoß liegenden Hände in seine. Sie waren bläulich und eiskalt. Ein Bad, wäre jetzt die Lösung, aber das tat höllisch weh, wenn die Durchblutung wieder einsetzte.

Schuldig sah Aya in die leer vor sich hin blickenden Augen. "Wie wäre es damit, hmm, Aya? Ein warmes Bad?"

Er hoffte auf eine Reaktion.
 

So ließ er das Badewasser ein, lauwarm.
 

"Komm mit", er nahm ihn wieder am Arm und zog ihn mit sich ins Bad, drückte ihn wieder nieder, diesmal auf die kleine Bank.

Es war absurd was er hier tat, völlig bescheuert. Tief einatmend - er hatte das Gefühl tiefer ging es gar nicht mehr - und dabei gleichzeitig den Schmerz fühlend, der sich von seiner Wunde ausbreitete, machte er sich daran Aya auszuziehen. Das konnte heiter werden...sehr heiter...

Er griff um den anderen Mann herum, um an dessen Rücken zu kommen, zog zunächst den Rollkragenpullover über Ayas Kopf nach vorne um dann die Arme daraus zu befreien. Es war ja nicht so, dass er Aya nicht schon nackt gesehen hatte...nein, nackt getragen hatte, korrigierte er sich und wollte schon ein düsteres Grinsen auflegen als er sich zur Räson rief.

Reiß dich am Riemen, mahnte er und griff im selbem Gedankengang an Ayas...Riemen, vielmehr Gürtel. Nicht SEINEN, schrie der kümmerliche Rest seines rationalen Denkens schrill auf. DEINEN ...du sollst dich an deinem Riemen...
 

KLAPPE! herrschte er es an und es schwieg.
 

Er knöpfte die Lederhose auf.
 

"Aya, stellst du dich hin, damit wir dir die Hose ausziehen können?" Dabei achtete er darauf, das Wort "Ich" nicht zu sehr zu benutzen. Oh man, das war nicht leicht, ganz bestimmt nicht.
 

Der rothaarige Mann erhob sich schweigend, als wenn nur sein Körper der Frage des Telepathen Tribut zollen würde…sein Körper. Sonst nichts. Er stand, völlig reglos, nur sein Kopf reagierte. Sein Blick, der sich senkte, dennoch nicht wahrnahm, was dort unten geschah. Auch wenn er leer auf Schuldig ruhte…immer noch schrecklich leer und unbeteiligt, so schien er die Gestalt des Deutschen schier zu durchbohren, so wie er hier stand.
 

Schuldig zog dem anderen Mann die Hose in möglichst kontaktlosen Bewegungen herunter, mied die nackte Haut des anderen, es reichte schon sie zu sehen, er musste sie nicht unbedingt auch noch betatschen. Es wäre ihm vorgekommen als würde er es ausnutzen. Auch wenn es nicht so war, sein fieser Verstand würde es ihm bestimmt einreden, dass er das alles mit Absicht machte, nur um Aya anfassen zu können.

Augen rollend und eine Grimasse ziehend – über so viel dummes Zeug in seinen Gedanken - zog er ihm die Pants herunter.

Schnell stand er wieder auf, einen Kloß im Hals und etwas anderes war auch dabei an Volumen zuzunehmen.

Es war einfach lächerlich. Die ganze Situation, einfach schrecklich. Wie Aya dastand der Blick nach unten gerichtet, auf das was er wohl getan hatte und er stand da wie ein begossener Pudel.

"Setzt du dich wieder, dann ziehen wir dir das Zeug aus und du kannst in die Wärme des Wassers."
 

Aya tat wie ihm geheißen und Schuldig kam sich vor als hätte er einen Zombie vor sich, einen hübschen Zombie, zugegeben. Er verzog die Stirn in gespielter Verzweiflung.

Er war durcheinander. Ganz klar. Seit ...seit er Aya hier gehabt hatte, machte er einen Unsinn nach dem anderen und seine Gedanken verselbstständigten sich und laberten wilden Mist durcheinander. Als hätte ihn ein Virus infiziert.

Mit etwas Mühe schälte er die Lederhose von Ayas langen Beinen, ebenso die Pants. Socken gesellten sich dazu und Aya saß apathisch und nackt vor ihm. Gänzlich schutzlos und unbeteiligt, wie als ginge ihn das Ganze nichts mehr an, was mit ihm gemacht wurde.

Schuldigs Gesichtsausdruck wurde schlagartig ernst, ja vielleicht sogar streng.

"Das glaubst auch nur du. Dich hier heimlich verdrücken wollen", wisperte er und hob den Kopf am Kinn an. "Du schleichst dich nicht davon. Ich hab noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen, mein Lieber."

Er ließ ihn wieder los und wies ihn an aufzustehen. "Steig in die Wanne. Das Wasser wird dich wärmen."

Genauso wie zuvor auch tat Aya genau das und saß schlussendlich in der Wanne.

Er hatte die Gesichter in den unzähligen psychiatrischen Anstalten noch genau vor Augen, wie sie ausgesehen hatten. Sie sahen alle gleich aus. Wie Aya jetzt.

Die unbestimmte Angst, Aya könnte sich in diese Welt der ziellosen Suche verirren und nicht wieder in ihre Realität zurückkommen schob er weit von sich.
 

Und wieder floss er…vernahm das Plätschern von Wasser…floss. Er war nicht mehr fest verankert mit dem Grund, auf dem er stand…nicht mehr auf dem Boden. Es war warm, nicht mehr kalt. Warm, schier angenehm. Woher Aya dieses Wissen nahm, wusste er nicht, hatte es vermutlich gelernt. Irgendwann einmal. Doch das Wasser löste in ihm einen Reflex aus, den er schwerlich unterdrücken konnte, es auch gar nicht wollte.

Haltlos glitten seine Lider zu und er nach unten, unter die Wasseroberfläche. Warum das…er fühlte, dass es ihm gut tat. Dass es etwas Bekanntes war. Etwas Vertrautes.
 

Gerade noch wollte er sich umdrehen, hatte sich seines eigenen zerfetzten Pullovers entledigt

als er das Plätschern hörte. "Oh SHIT", fluchte er und riss seine Augen auf. Im gleichen Moment setzte sein Herz für einen Schlag aus und er hetzte zur Wanne, ein Bein neben den untergegangen Körper stellend und packte Aya unter den Achseln, wuchtete ihn hoch. Doch er hatte eine ungünstige Position eingenommen, sodass er das andere Bein nachzog und seitlich mit Aya im Arm in der Wanne kauerte. Das warme Wasser in Wellen um sie herum durch seine Aktion aufgewühlt und gegen sie schlagend. Er hielt Aya fest, den Oberkörper auf sein angewinkeltes Bein gestützt in der Wanne sitzend.

"Was machst du nur für Sachen, Blumenkind, hmm?" flüsterte er an den nassen Haarschopf und hielt Aya in fester Umarmung. Schwer ging sein Atem und die Wunde brannte, doch er saß nur da und starrte blicklos auf einen Punkt auf dem Boden des Badezimmers.

"Baden ist eine schlechte Idee bei dir, das hab ich jetzt schon herausgefunden. Das müssen wir noch Mal üben, was?", sagte er sanft und leise.
 

Aya blinzelte.

Da war kein Wasser mehr, das ihn zu ertränken drohte. Das ihm die Routine nahm. Da war nur kühle Luft. Schmerz, der seinen Körper durchzog. Da waren Geräusche, nein Worte, die sich an seine Ohren kämpften. Jemand sprach und das noch mit ihm. Er blinzelte erneut. Wieso wollte er nicht in die Realität zurückkehren? Was hinderte ihn daran?

Er hatte das Gefühl, dass es etwas Wichtiges war…zu wichtig, als dass er es vergessen konnte. Aya…der Name schwebte in seinen Gedanken. Aya…die Reine, der Engel. Engel? Engel waren keine Menschen…sie lebten nicht. Lebte Aya nicht mehr? Er wusste es nicht…
 

"Zeit die Wasserspiele zu verlassen." Schuldig tastete nach dem Hebel um das Wasser abzulassen und ließ den Griff um Ayas Rücken etwas lockerer. Er war in der Wanne geblieben und Aya war zwar noch nicht wirklich komplett warm, aber es reichte. Er würde ihn ins Bett packen und ihm etwas zu trinken geben, dann sollte er schlafen und morgen sah der Tag vielleicht schon wieder anders aus. Dann hatte sich der erste Schock gelegt und Aya war wieder der Alte und beschimpfte ihn was er sich hier herausnahm.

Irgendwie hoffte das Schuldig inständig, dass es so sein würde...
 

Er stand auf, das Wasser wie ein Wasserfall aus seiner Hose triefend und verzog das Gesicht nicht wirklich begeistert. Danach stieg er aus der Wanne. "Steh auf und komm bitte aus der Badewanne heraus."
 

Jeder seiner Anweisungen wurde zwar langsam und mit seiner Stütze ausgeführt, doch als Schuldig Aya das Handtuch hinhielt, es ihm in die Hand gab, da klappte das leider nicht mehr so ganz.

"Das war klar, das war ja so klar...", rollte Schuldig mit den Augen und huschte mit dem Handtuch über den für ihn so aufreizenden Körper.

Tu einfach so als wäre er ein Mann...

ER IST EIN MANN HIRNIE

Ja…ein Mann den du widerlich findest...

WITZBOLD, wie denn bitte?

Mach die Augen zu.

Super Ratschlag.
 

Energisch griff er zu einem größeren Handtuch um soviel Stoff wie möglich zwischen seinen Händen und der heiß begehrten Haut zu bringen. Schlussendlich stand er da stolz wie Oskar auch diese Hürde gemeistert zu haben.

Was stellte er sich hier eigentlich so an? fragte er sich und spürte die Hitze in seinem Gesicht.

Zieh ihm endlich was an, und steh hier nicht so gaffend in der Gegend herum, herrschte ihn die Stimme in seinem Innern trocken an und er zog Aya seinen Bademantel über. Das lange Haar in ein Handtuch gewickelt, welches mehr schlecht als recht hielt. So zog er Aya wieder mit sich, nahm ihn diesmal an der Hand.

"Du solltest etwas schlafen, ausruhen."

Sie gingen zum Bett und er bedeutete Aya wieder sich zu setzen. Danach trottete er nass wie er immer noch war zum Schrank um warme Socken für seinen Gast herauszusuchen. Irgendwo musste er doch noch...

Er verschwand halb in dem Kleiderschrank, zog dann nach einigem Suchen einen Pyjama heraus. Warm, mollig...schon etwas älter...aber gut.

Er kam damit wieder zu Aya und die Prozedur wie er sie bereits im Bad veranstaltet hatte wiederholte sich - diesmal in umgekehrter Reihenfolge. Bis Aya im etwas größeren Pyjama vor ihm saß und er die Haare mit dem Handtuch leicht trocknete.
 

Geruch drang zu Aya durch. Nicht seiner…sondern fremder. Nicht steril, nicht kalt…eher weich. Warm. Weich wie das Bett, das sich unter ihm befand. Ein Bett, Ruhe, Vergessen. Aya blinzelte, verspürte mit einem Male nichts als den überwältigenden Drang nach eben dieser Harmonie. So sehr, dass er sich, mechanisch schmerzfrei auf das Bett zog und sich zurück gleiten ließ. Sich auf das wohl duftende Laken bettete. Ein Wimpernschlag mehr. Irgendwoher kannte er diesen Geruch…irgendwoher…doch seine Denkmaschinerie wollte ihm keine Informationen liefern. Nicht jetzt, nicht nachdem…
 

Was nachdem? Was war geschehen?
 

Schuldig sah das alles mit Besorgnis, sputete sich, wickelte Ayas noch feuchtes Haar in ein Badetuch und deckte ihn zu, legte vorsichtshalber noch eine weiche Decke darüber.

Erst nachdem das getan war kümmerte er sich um sich selbst und ging zurück ins Badezimmer um das grobe Chaos dort beseitigen und sich einen neuen Verband anlegend.

Ein hübsches Andenken, seufzte er innerlich als er die Naht begutachtete die schräg über seine Brust verlief. Der Streifschuss an seiner Schläfe ...

Nein, er wollte jetzt nicht darüber nachdenken was gewesen wäre wenn...
 

Dann wäre Aya dort draußen auf der Bank erfroren?
 

Er wischte die Gedanken weg und verließ das Bad, ging automatisch in die Küche und machte vor der unsichtbaren Linie halt die ihn mit treuen Knopfaugen anblickte. Das Küchenmesser noch immer durch den Bauch geschlagen.

Er wollte daran vorbeigehen und drehte sich doch energisch um, trotzig zog er das Messer heraus, verstaute es und starrte den Bär bissig an.

"Ich kann dich nicht mehr sehen, du gehst mir echt auf den Zeiger!"

Knurrig und mit finsterer Miene schnappte er sich den Schwerverletzten und blieb auf dem Weg zu seinem Schrank stehen, warf einen Blick zu Aya, der reglos im Bett unter der Decke lag.

Schuldigs Finger pulten und wühlten gedankenverloren im Innenleben des Kuscheltiers herum bis er sich gottergeben umdrehte und ins Bad stapfte.

Missmutig klebte er ein großes weißes Pflaster auf den Bauch, nachdem er das Füllmaterial wieder in selbigen geschoben hatte und ging zum Bett. Das Pflaster hatte nicht besonders gehalten also hatte er noch Klebeband einmal um die Ränder geklebt, nur dünnes, fiel sicher kaum auf.
 

Aya hatte die Hände vor die Brust gelegt und er legte ihm den Bären sachte hinein.

"Ich sollte eine Klinik aufmachen...für schwer verletzte Teddybären und verletzte Blumenkinder..."

Er verzog sich in die Küche, löschte das Licht, ließ nur einige kleine Lampen an.
 

o~
 

Blasse, schlanke Finger befühlten das sanfte Material unter ihren Händen, strichen über das Fell des Bären in ihren Händen. Ein Fremdling in seiner stumpfen, trägen Welt. Fremd und doch bekannt…woher…?

Seine Finger stockten, stolperten über etwas, das in seine Erinnerungen eingebrannt war. Dass sein Denken beherrschte. Tape. Infusionsschlauch. Aya. Die…er…

Ayas Blick fiel auf den Gegenstand in seinen Händen. Auf das Pflaster…das Tape darum. So…sah…Aya…
 

Aya.
 

Seine Augen weiteten sich. Aya…sie…
 

….brauchte dieses Tape nicht mehr. Die Infusionen nicht mehr. Sie lag dort auf der Bahre, ein Engel, der nicht mehr bei ihm war. Sie war…nicht mehr auf die Infusionen angewiesen, weil sie nicht mehr da war. Nie mehr zurückkommen würde. Sie hatte kein Leben mehr in sich, so bleich, wie sie da gelegen hatte. Bleich, friedlich. Sie war nicht mehr bei ihm…hatte ihn alleine gelassen…sie war weg.
 

Aya blinzelte, versuchte, seine Sicht zu klären, scheiterte jedoch immer und immer wieder. Scheiterte an den Kristallperlen salziger Tränen, die sich zu dutzenden aus seinen Augen stürzten und gar nicht mehr aufhören wollten.
 


 

Schuldig setzte sich an seinen Lieblingsplatz auf dem Fensterbrett und blickte über die Stadt. Sollte er Crawford bescheid geben?

Wusste dieser vielleicht schon was Sache war?

Die Vermutung lag nahe.
 

Er nippte an seinem Glas mit Wasser.
 

Besser wäre er sagte es gleich.

‚Brad?’, nahm er Kontakt zu dem Amerikaner auf.

‚Wir wollten dich soeben besuchen, Schuldig’

‚Ähm...ja gut’, antwortete dieser etwas verspätet.
 

Hieß das nun, dass Brad bereits wusste, dass Aya da war oder nicht? Nun er würde sich überraschen lassen.

Aber eine laute Szene konnte er jetzt nicht gebrauchen...hoffentlich wusste Crawford wenigstens das!
 

So saß er noch ein Weilchen da bis das Türschloss wirklich knackte und Nagi und Crawford seine Wohnung betraten. Nagi ersparte sich wie erhofft das "Frohe Weihnachten" und Schuldig war ihm dankbar dafür. Froh oder sonst irgendetwas war dieses Weihnachten beileibe nicht.
 

"Na wie war das Essen?" fragte er freundlich und mit einem anzüglichen Grinsen, dass er selbst jetzt noch aufbrachte. Nur nichts anmerken lassen. Klar würden sie dahinter kommen, dass er Besuch hatte, wenn Brad das nicht schon längst wusste, doch wenn dann überspielte er es geschickt.

"Vom Feinsten", nickte Nagi und lächelte sogar zur Feier des Tages, was Schuldig doch etwas erstaunte.

"Wie nicht anders zu erwarten", grinste er wieder und schob sich von der Fensterbank.

"Wollt ihr Kaffee oder Tee?"
 

Schuldig machte die Küchenbeleuchtung an, senkte die Intensität jedoch auf ein angenehmes gemütliches Licht herab.

Die beiden setzten sich an die Theke auf die Barhocker und unterhielten sich über den Tag.

Währenddessen kramte und werkte Schuldig in der Küche herum, die Gedanken teils bei Crawford und wieder bei Aya.

Crawford hatte nichts mehr wegen seiner Attacke auf ihn erwähnt. Sie hatten aber auch keine derartigen Gespräche mehr geführt.

Schuldig wusste jetzt nicht, ob er einen wichtigen Punkt in seinem Leben verloren hatte, oder ob Crawford einfach so darüber hinwegsehen konnte. Er wagte nicht zu fragen.
 

"Hier Kaffee und Tee, die Herren", reichte er die Tassen weiter, machte sich selbst auch einen Tee.
 

Da waren Stimmen, die an sein Ohr drangen…durch die Tränen, die so unzählig flossen. Durch die Schicht an permanenter, erdrückender Verzweiflung. Aya…sie war nicht mehr da…ganz im Gegensatz zu den Stimmen. Sie hatten ihn verlassen…keine Wärme in ihm mehr zurückgelassen. Er war völlig leer, völlig überfüllt von Trauer um den Menschen, den er so verehrt hatte….für den er bis zuletzt gekämpft hatte. Doch sie hatte sich davon gestohlen, ihn alleine gelassen. Er war alleine…völlig alleine.
 

Verlust, quälender als es jeder körperliche Schmerz nur sein konnte, bestimmte seine Gefühle, ließ ihn lautlos aufschluchzen. Aya…Aya…wieso war sie nicht mehr da? Er verstand es nicht…doch was war mit diesen Stimmen, die ihm so bekannt vorkamen? Würden sie…Linderung versprechen?

Ebenso stumm wie die Stunden vorher auch erhob er sich. Das Handtuch fiel von seinen Haaren, er ließ es ohne Beachtung hinter sich. Nicht so den Bären, dessen Pfote seine linke Hand immer noch starr umschlossen hielt. Der zusammen mit seinen Armen schier leblos an seinem Körper hing, als er sich Schritt für Schritt zu den Stimmen kämpfte.
 

Schließlich stehenblieb, als er sie sah. Die Stimmen. Er sah sie.
 

Nagi verstummte.

Crawford hatte geschwiegen als er die Gestalt vom Bett her auf sie aus dem abgedunkelten Bereich zukommen sah, griff nur kurz zu Nagi über den Tisch um dessen Hände, die sich aus Gewohnheit gegenüber Gefahren reflexartig erheben wollten, abzubremsen. Und im gleichen Moment wie Crawford wieder aufsah und die Gestalt, die er zugegebenermaßen etwas anders in Erinnerung hatte, stehen blieb, sah Schuldig ihn an und drehte sich abrupt um.
 

Schuldig hatte in Crawfords wechselnder Aufmerksamkeit und Nagis Reaktion gesehen, dass ...so vermutete er ...wohl etwas mit Aya war. Er drehte sich schnell um, doch selbst diese Sekunde schien ihm schon zu lang.

Wie erstarrt blieb er stehen.

Der Mann, der vor ihm in einigem Abstand dastand war völlig aufgelöst, eine Hülle aus Verzweiflung und Schmerz. Die Augen waren lebendiger, voller Verzweiflung und mit dem Wissen was geschehen war angefüllt und dies entlud sich in Tränen die unaufhörlich liefen, stumm davon liefen.

Schuldig konnte sich nicht rühren, fühlte sich wie gelähmt. Dieses Bild erschien ihm zu unwirklich.
 

Aya kannte sie alle drei. Jeden Einzelnen von ihnen. Kein Gesicht, das Aya neu war…dennoch war seine Aufmerksamkeit einzig auf eines von ihnen gerichtet. Das, das ihn geschockt ansah. Das ihn spiegelte. Er zitterte leicht, rührte sich nicht von der Stelle, konnte es gar nicht. Er stand einfach nur da und fragte mit seiner ganzen Gestalt nach dem Warum. Dem Grund…

Doch ein Teil von ihm wusste bereits, dass es keinen gab. Es war geschehen, weil es geschehen war. Keine Begründung, nichts, das ihm weiterhalf. Gar nichts.
 

Sie waren dort…eine Gemeinschaft und er völlig alleine. Losgelöst von allem nur erdenklichen war er einsam, wie noch nie in seinem Leben zuvor. Ohne jegliche Hoffnung, dass jemals eine Besserung eintreten würde. Er hatte niemanden…mehr.
 

Aya sah ihn an. Direkt. Oh Gott. Wie konnte er diesem Blick standhalten? Wie nur.

Er hatte das Gefühl als würde das Loch in seiner Brust wieder aufgerissen und dieser Riss tat weh. Sie standen zu weit entfernt, fiel ihm auf. Ein ganzer Canyon trennte sie.

Er ging näher, bis er kurz vor Aya stand, eine Armlänge Abstand wahrte. Doch den Blick noch festhielt.

"Aya?" fragte er. Sich bewusst, dass es sowohl die Frage nach seiner Schwester sein könnte, oder die Anrede für ihn, den Mann, der hier so verzweifelt und am Ende seiner seelischen Kräfte vor ihm stand.
 

„Tot.“ Ein einziges, schwaches, raues Wort…und dennoch brach es in Aya alles los, was er bisher zurückgehalten hatte. Er sah auf, in die grünen Augen des anderen Mannes, der so nah und doch so fern vor ihm stand. Tot. Sie war tot. Tot…nicht mehr bei ihm.

Tränen perlten sich aus seinen widerstandslosen Augen ab, tropften zu Boden, versanken dort in dem weichen Teppich. Aya war tot…mit allen Bedeutungen, die dieser Satz mit sich brachte. DAS war das Wissen, was seine Gedanken, sein Verstand ihm bisher hatten verschweigen wollen. Das war die schreckliche Wahrheit, vor der er zu flüchten versuchte. Nichts anderes…nur das.
 

Schuldig nickte, als Zeichen, dass er verstanden hatte, näherte sich ganz Aya, schloss seine Arme um Aya und drückte ihn leicht an sich.

Wie oft hatten sie um dieses Thema herumgeredet, gestritten...

Seine Schwester, der Grund für sein Dasein, seine Rache, all das…

Und nun war das alles Schuldig sowas von Scheißegal... sowas von...
 

Da waren Hände, die ihn berührten, Arme, die ihn umschlossen. Da war Wärme, die ihm unverdienterweise zuteil wurde. Ayas Stirn bettete sich auf die Schulter des Mannes, verbarg sich vor den Blicken der anderen Anwesenden. „Sie ist tot…sie ist tot…“, wiederholte er wieder und wieder…wie eine stumpfe Litanei, ein Gebet an Gott, dass er ihr gnädig war. Wie hässlich doch dieses Wort tot war. Wie schrecklich es doch in seinen Ohren nachhallte. Aya schluchzte leise.
 

"Ran", versuchte Schuldig leise zu trösten, raunte nur diesen Namen, als wäre das die Lösung für diese Katastrophe.

Er spürte das Beben wie es durch Ayas Leib ging und er nur dastehen konnte und ihn halten konnte. Aber das war gut, das war für den Moment das was Aya brauchte.

Er konnte sich nicht wirklich vorstellen was es hieß von einem Familienmitglied verlassen worden zu sein ...wenn man sich mit ihm umgeben hatte, wohlgemerkt. Ihn hatte es bisher nicht gekümmert, es verdrängt, wollte nicht darüber nachdenken, wie es wohl gewesen wäre, wenn er seine Eltern gekannt hätte. Es war einerlei. Vorbei.

Ganz im Gegenteil zu dem weinenden Mann, dessen Leid schier unendlich schien, nicht aufzuhören schien, egal was er machte, egal wie sehr er sich anstrengte...

Behutsam strich er ihm über den Rücken.
 

Mehr als alles andere verdeutlichte dem rothaarigen Weiß der Name ‚Ran’, dass der Grund, für den er jahrelang gekämpft hatte, nicht mehr da war. Sie waren voneinander losgerissen, die unzertrennlichen Geschwister. Wo sie doch alles zusammen gemacht hatten, noch vor diesem schrecklichen Unfall…und auch danach, hatte er sie nie im Stich gelassen. Das war nun mehr so…sie hatte ihn hier zurückgelassen. Er war alleine hier. Mit seinem Schmerz und seiner Verzweiflung. Er war Ran…nur noch Ran. Aya gab es nicht mehr. Es hatte keinen Sinn mehr, für Aya zu kämpfen.
 

Schuldig spürte die Blicke im Rücken, doch was sollte er jetzt machen? Aya zu ihnen führen...nein, eher nicht, zur Couch? Hier stehen bleiben, zurück ins Bett?

Etwas hilflos kam er sich vor, war in so einer Situation noch nie gewesen, denn jemandem Trost spenden zu müssen, ...vielmehr zu wollen, war neu für ihn.

"Komm wir setzen uns, ja?", fragte er vorsichtig nach, dirigierte sanft in Richtung Couch die noch etwas im Dunkeln lag, da er vorhin nur die Küche beleuchtet hatte.
 

In dem gleichen, willenlosen Zustand, in dem er sich schon seit Stunden befand, ließ sich Aya auf die Couch platzieren, krallte seine linke Hand förmlich in den kleinen Bären, der momentan der Anker war, den er brauchte, um nicht völlig abzudriften.

Er fühlte das weiche Polster unter seinem Körper, fühlte die stoffliche Wärme, die davon ausging, in ihm auch gleichzeitig den Wunsch weckte, sich völlig in sich zusammenrollen.

Dem nun teilweise nachgab, als er die Beine zu sich auf die Couch zog und sie an seinen Oberkörper presste.
 

Schuldig, ließ Aya auf die Couch gleiten und seine Hände strichen dabei leicht über den Pyjama. Richtig warm war er noch nicht, dachte Schuldig. Ran war noch nicht lange im Bett gewesen um warm zu werden. Wirklich geschlafen hatte er sicher auch nicht.

"Ich hol dir etwas zu trinken."

Er mied den Blick der beiden anderen und ging an ihnen vorbei. Lieber etwas Hochprozentiges, oder doch...eher Wasser? Grübelte er vor dem Schrank.

Er öffnete den Hochschrank und griff zu einer Flasche Hochprozentigem...

"Tee."

Vor Schreck hätte er beinah die Flasche fallen lassen. Mit schnell schlagendem Herzen drehte er sich zu den beiden schweigenden Gesichtern um, die ihn betrachteten, als könnten sie nicht nachvollziehen was er da gerade im Begriff war zu tun.

"Tee", wiederholte er die Worte des Amerikaners etwas unsicher, die Flasche noch immer im Arm.

Dieser nickte nur und nahm einen Schluck Kaffee, deutete mit dem Kinn auf besagten Alkohol. "Ja. Er trinkt dir das Zeug da nicht."
 

Schuldig hielt die Flasche wie einen Rettungsanker und starrte Crawford an. "Ähem", räusperte er sich. "Ja. Stimmt. Tee. Ist besser."

Hatte Crawford also seine Sprache wieder gefunden und nur Nagi beobachtete ihn genau als ginge es darum dem Angriff einer schwarzen Mamba zuvor zu kommen.

Er hatte noch etwas heißes Wasser, genug für etwa zwei Tassen und machte einen Tee für Ran fertig.
 

Schuldig trat mit der Tasse wieder neben Ran, setzte sich neben ihn und hielt ihm die Tasse hin. "Was zum Trinken", murmelte er von sich selbst nicht wirklich überzeugt.

‚Brad...ich glaube es wäre besser wenn...wenn ihr geht', wandte er sich in die Gedanken des Amerikaners.

Er hörte wie dieser aufstand.

"Wir sehen uns morgen."

Schuldig nickte. Den Blick weiterhin Ran zugewandt. ‚Ja, gut.'
 

Aya starrte auf die Tasse heißen Tees. Roch den verführerischen Duft…wusste ihn in diesem Moment jedoch nicht im Geringsten zu schätzen. Warum er dann die Tasse mit zögerlichen, zitternden Händen annahm, wusste er nicht…trieb sie ihm doch nur wieder neue Tränen in die Augen. Wieso hatte er versagt, sie zu beschützen? Hatte er etwas falsch gemacht? Hatte er nicht gut genug für ihre Versorgung gearbeitet? War es zu wenig Geld gewesen? Hätte mehr Geld für bessere Medikamente…für eine bessere Versorgung gereicht?
 

Schuldig behielt die Tasse noch solange in der Hand wie er sicher war, dass die zitternden Hände sie fassen konnten. Er zog die weiche Decke, die auf der Couch lag heran und hüllte Ran damit ein, bis nur noch der Schopf herauslugte, die Knie, die Hände, welche um die Tasse geschlungen waren.

"Soll ...ich jemandem Bescheid geben?" fragte er vorsichtig. Er wollte jetzt nicht in den Köpfen der Weiß Mitglieder herumschnüffeln, wollte sich lieber ganz auf den Mann konzentrieren, der neben ihm saß.
 

Eben dieser verpackte Mann schüttelte unmerklich seinen Kopf. Wen sollte er auch schon benachrichtigen…es war ja niemand mehr da, der es wissen musste. Niemand mehr…Aya schluchzte lautlos auf, brachte nicht viel mehr als ein leichtes, leises Hicksen hervor. Schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, sich Gedanken machen zu müssen. Gedanken über alles…

Der Kloß in seiner Brust drohte ihn zu ersticken. Der Kloß an Trauer und aller Verzweiflung, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatte. Er…hatte doch für sie gekämpft, alles getan. Hatte alles richtig gemacht…wieso also?
 

Schuldig war nicht gut in solchen Sachen. Er verursachte lieber Kummer als ihn zu vertreiben.

Hör auf mit deinen dummen Witzen, herrschte er sich selbst an und sah betrübt und auch etwas zerknirscht das Häuflein Elend an, das neben ihm saß.

Da schnüffelte er in den Gehirnen anderer Leute herum...solange er denken konnte und jetzt wusste er nicht was er in so einem Fall zu sagen hatte?

Vermutlich gab es kein Rezept dafür, befand er. Na dann eben improvisieren...

"Sie machen sich bestimmt Sorgen, ...Ran, wenn du nicht nach hause kommst"

Seine Stimme ruhig, tragend. Ran nur nicht aufschrecken, lautete das Motto.
 

Sorgen? Nach…Hause?

Nichts schien Aya im Moment ferner, wie diese beiden Begriffe. Er hatte kein Zuhause mehr. Die letzte Verbindung in seine geordnete Welt, zu seinem Kampfgeist, war abgebrochen…nicht mehr vorhanden.

Er zog die Decke noch ein Stückchen höher, führte zum ersten Mal die durch seine Hand zitternde Teetasse an seine Lippen. Sah, wie seine Tränen sich mit der heißen Flüssigkeit mischten. Sah sich selbst in dem unruhigen Wasser. Doch…war er das?

„Wer…sollte das schon tun?“, flüsterte er mehr zu sich als zu seinem stetigen Begleiter, schloss schmerzerfüllt die Augen. Er wollte sich nicht sehen…seine traurige, verzweifelte Gestalt.
 

Selbstmitleid, au Backe, verzog Schuldig den rechten Mundwinkel ratlos.

Das mochte er ja so ganz und gar nicht. Gut, er räumte Ran momentan Sonderrechte ein.

"Sieh mich bitte einmal an, Ran, würdest du das tun? Nur für einen Moment." Schuldig lächelte sanft, den warmen Blick auf dem verheulten Gesicht ruhend.
 

Was sprach auch dagegen? Aya öffnete seine Augen ein weiteres Mal und drehte seinen Kopf, seinen überhaupt nicht mehr leeren Blick, zur Seite…zu Schuldig. Bettete seine Schläfe auf seine Knie und erwiderte den Blick des anderen Mannes. Er blinzelte Tränen aus seinen Augen, von denen er sich fragte, wann sie denn endlich zu fließen aufhörten...er hatte doch schon genug geweint…wieso auch jetzt noch? Waren sie nicht schon längst versiegt?
 

Und Schuldig schluckte trocken.

Ja, sieh es dir an, was du dir nun eingebrockt hast! Jetzt blickt er dich direkt an und du würdest am liebsten wie ein Reh im Scheinwerferlicht stehen bleiben, reglos. Genau so fühlst du dich doch jetzt, oder?

Warum wollte er noch gleich, dass Ran ihn ansehen sollte?

Ihm wurde plötzlich heiß.

Der Blick mit dem er bedacht wurde, war so offen und hilflos, dass er selbst mit in diese Hilflosigkeit gezogen wurde.

Und dabei wollte er doch etwas anderes...er hätte Ran lieber umarmt, ihm mit Gesten gezeigt, dass er nicht gänzlich von allen verlassen war. Aber er traute sich nicht mehr. Es war nicht mehr wie vorhin.

Ran wirkte so zerbrechlich auf ihn, als hätte ihn sein Schwert verlassen.
 

Das Bild und die dazu gehörigen Worte tauchten aus den Tiefen seiner Erinnerung auf, als Brad Ran in der Badewanne gehalten hatte. Was hatte er noch gleich gesagt?

‚Das ist der wahre Mensch hinter dem Schwert, hinter dem Hass auf uns. Er ist verletzlich und unschuldig’

Ja genau das war es.

Und hier saß nun dieser Mensch.

"Du hast deine Jungs. Es ist unfair sie voller Sorgen hängen zu lassen. Sie hätten dich sonst nicht ständig vom Boden aufgesammelt, als wir dich auf die Bretter geschickt haben. Sie sorgen sich, weil sie dich gern haben, Ran. Sie müssten es nicht tun." Er schwieg und senkte den Blick etwas auf die Decke, die Ran umhüllte, spielte mit ihrem Saum.

"Eine Nachricht würde ja genügen, oder nicht?"

Nicht das die Meute hier auch noch Einzug hielt. Das wollte er nun wirklich vermeiden.
 

Ayas Blick ruhte jedoch weiterhin auf den nun abgewandten Augen des anderen Mannes. Auf der neben ihm sitzenden Gestalt, die das aussprach, was er noch nicht einmal zu denken wagte. Weiß…seine Jungs? Ihn…gern haben…aber…das wusste er doch. Wenn er nur an Youji dachte, wie sie beide sich zusammengerauft hatten. Und an Ken erst. Omi…

Doch… „Sie...sind alle nicht meine Familie…“

Sein Blick sog sich an dem roten Feuer fest, das ihm gegenüber saß und zum ersten Mal nahm er wirklich bewusst in sich auf, wo er hier war. Wer der zweite Mann war. Was er tat. Was geschehen war. Aber das machte es um keinen Deut besser…in diesem Moment nicht.
 

Dennoch wollte er die Worte nicht aufhalten, die nun an die Oberfläche seiner Lippen sprudelten und nach Freilassung schrieen. „Sie sind…Freunde, vielleicht mehr als das…aber sie sind nicht meine Familie. Sie sind nicht…“, seine Stimme verkam zu einem erstickten Flüstern. „…Aya…“
 

"Hmm" Er nickte, bestätigte Ran diese Aussage. Ja, ein Mensch konnte man nicht durch einem anderen ersetzen.

Schuldigs Gesicht huschte zum Fenster.

"Familie", fügte er noch an und besah sich wieder den Saum der Decke, verfolgte wie seine Finger damit spielten. Vorsichtig lugte er auf, als er das Wort noch einmal aussprach

"Ich...ich kenne das Gefühl nicht so wirklich, das ...familiäre mein ich."

Er lächelte etwas schräg, völlige Offenheit in seinem Gesicht, als er ungelenk mit den Schultern zuckte.

"Hab immer gedacht, Familie ist das, wo man sich wohl und geborgen und aufgehoben fühlt, ein zu Hause eben. Da wo sie sich zoffen bis die Balken biegen und sich aber auch sehr gut kennen, dass sie fast Gedanken lesen könnten. Dumm was?“
 

Aya schloss seine Augen…wurde nicht mehr Herr des überwältigenden Schmerzes. Sein Kopf barg sich ein weiteres Mal in der Kuhle zwischen seinen Knien und seinem Oberkörper, wurde geschüttelt von stummen Schluchzern und verzweifelten Tränen. Wieso…sagte Schuldig das? Wieso musste er ihn noch darauf stoßen, was er verloren hatte? Wieso…

So viele Fragen, auf die es keine Antwort gab, keine Erlösung. Wieso empfand er es auch um Schuldigs Willen als so schrecklich, nie die Familie gekannt zu haben? Sie verloren zu haben, bevor sie überhaupt da sein konnte? Was war denn schlimmer?
 

Ja. Volltreffer. Genau das musste das Wort Familie bedeuten. Du Esel! schimpfte er sich selbst und rückte näher an Aya heran und zog ihn in seiner ganzen zusammengekauerten Gestalt an sich indem er den Arm um ihn legte und ihn an sich drückte.

"Ich bin ein Idiot...finde immer nur das was weh tut", nuschelte er in den Haarschopf den anderen. Klar, Berufskrankheit, machte er das nicht immer so? Nach Schwachstellen fahnden?

"Es tut mir leid..."
 

Ein zweites Mal konnte Aya nichts anderes tun als Zuflucht in der Umarmung des anderen Mannes zu suchen und seine Stirn gegen dessen Schulter zu pressen. „Sie haben es nicht genug versucht…sie haben sie sterben lassen…sie hätten alles versuchen sollen….ich war nicht bei ihr…“, wisperte er. „Ich habe sie alleine gelassen…ich war nicht dabei, als sie…“ Er trieb seine

Zähne in die zitternde Unterlippe. Es war…seine Schuld.
 

Schuldig schloss die Augen, bei diesen Worten.

"Warum glaubst du das, Ran?“, fragte er beruhigend.

"Du warst doch immer bei ihr. Jeder Atemzug war ihr gewidmet." Tröstend strich er Ran über den Arm.
 

„Sie…ist gestorben…als wir diese Mission hatten“, presste Aya hervor. „Sie haben angerufen…während wir weg waren…während ich sie beschützen wollte…haben sie angerufen um mir zu sagen…dass sie nicht mehr lebt…alles umsonst…es war alles umsonst…“ Ein leiser, verzweifelt-kehliger Laut entkam seinen Lippen. Nicht menschlich…nicht mehr menschlich.
 

Ein erzwungenes Lächeln kam von Schuldig als ihm Rans Nähe plötzlich zuviel wurde, er nach diesen Sätzen den dringenden Wunsch verspürte sich zu entfernen. Weit weg, von diesem Mann, von dieser Situation, von der Nähe, diesen Worten.

Seine Wunde trat plötzlich wie ein Mahnmal in den Vordergrund seiner Wahrnehmung, brannte unangenehm, das Pflaster zog und spannte.

Er hob seine Hand, als wollte er sie auf dem Haarschopf ablegen, doch er sah wie sehr sie zitterte und senkte sie stattdessen auf das Polster, löste sich behutsam von Ran und stand wacklig auf.

Er sagte nichts, ging zum Fenster und brauchte Abstand. Die Arme verschränkt, holte er tief Luft.
 

Warum reagierte er so stark auf das was eben geschah?

Weil Ran nur an seine Schwester dachte? Weil sie gekämpft hatten, Ran für sie gekämpft hatte und ihn dabei mit Hass im Blick und Kälte im Herzen töten wollte, nein beinahe hätte.

Und jetzt schmiegte er sich schutz- und haltsuchend an eben diese Wunde, als brächte sie ihm Trost, als gäbe es keine Verletzung auf seiner Brust.

Seine Arme in der Verschränkung enger an sich ziehend, lehnte er sich an die Außenwand und blickte hinaus. Ein Teil von ihm sah die Verzweiflung, sah wie grausam und schrecklich das alles war und wollte Trost spenden. Doch ein anderer Teil sah auch die dadurch entstandene Schwäche, die paradoxe Situation und lachte verächtlich darüber.

Doch es war nur ein flüchtiges Gefühl, um sich vor der Gefühlswelle zu schützen, die über ihn vor Momenten geschwappt war und die ihn immer noch mit ihrem Treibgut mitschwemmte.
 

Doch derjenige, der eben diese Gefühlswelle ausgelöst hatte, saß nun auf der Couch die Arme vor sich auf dem breiten Sitzpolster gestützt, die Augen weit aufgerissen. Tränen entkamen ihrem sonstigen Gefängnis, als Aya begriff, dass selbst oder vielleicht auch gerade dieser Mann ihm nicht helfen konnte und wollte…oder wie hatte er sonst das Lösen von ihm zu verstehen…? Aber dabei war es doch nur Schuldigs Recht, ihn von sich zu stoßen. Da versuchte er, seinen Gegner wieder und wieder umzubringen, nur um seine Schwester zu retten und was passierte…auf schicksalszynische Art und Weise? Während seine Schwester starb, hätte er beinahe ein völlig sinnloses Opfer gebracht.
 

Was erwartete er dann von dem anderen Mann?
 

Aya blieb noch einen Moment sitzen, bevor er mit zittrigen Beinen aufstand, jetzt erst bemerkte, dass er seine Kleidungsstücke nicht mehr trug. „Wo sind meine Sachen?“, richtete er leise an Schuldig. „Ich glaube, es ist besser…wenn ich gehe…“
 

..mit dem Treibgut mitschwemmte ...und ihn auf einer einsamen Insel aussetzte. Schuldig wandte sich abrupt um, ließ die Arme sinken, blickte einen Moment mit leicht gesenktem Kopf zur Seite, bevor er sein offenes Gesicht direkt zu Ran wandte.

"Für ...wen ist es ...besser?", fragte er mit mühsam beherrschter und belegter Stimme. Ihm war zumute als stochere jemand mit einem Messer in ihm herum, als er Ran die Worte sagen hörte.

"Für wen soll es denn besser sein?", wiederholte er bitter, presste die Lippen aufeinander, schloss dabei die Augen für Sekunden. Für lange Sekunden. "Für mich nicht."

"Bleib", flüsterte er rau.

"Bitte."
 


 


 

Vielen Dank für's Lesen!

Fortsetzung folgt…
 

Coco & Gadreel

Unerwünschter Gast

~ Unerwünschter Gast ~
 


 


 

Schuldig wollte…dass er blieb? Für ihn war es sogar besser, dass er blieb? Ayas Hand fuhr sich zittrig durch seine langen, verfilzten Haare. „Ich habe versucht, dich umzubringen…und war beinahe erfolgreich damit…bedeutet das nichts für dich? Macht uns das nicht zu Feinden?“, fragte er tonlos, den Blick immer noch auf die blaugrünen, stillen, verletzten Augen gerichtet.
 

"Es tut noch weh."

War das alles, was er darauf sagen konnte? Mach schon deinen Mund auf, sag was, steh nicht so hilflos da und geb deine Gefühle preis.

"Ich wollte nur ...dass du es weißt...nicht vergessen hast, dass wir soweit im Kampf gegangen sind...gehen mussten." Er scheiterte an einem vorsichtigen kleinen Lächeln, denn es sah eher gequält aus, hilflos und verkümmert.

"Es sah gerade so aus, als ...wäre es für dich nicht vorhanden, als hättest du vergessen, dass du mir beinahe eine Kugel durch den Kopf geschossen hättest, oder dass du mir ein Zeichen quer über die Brust gesetzt hast. Das ist alles." Er fuhr sich leicht an die Schläfe, fuhr über das schmale Pflaster.

"Aber du bist nicht wie ich. Du vergisst nicht."

Unwillkürlich fuhr er sich über den Verlauf der Naht auf seiner Brust, die unter seinem Pullover verborgen war, ließ die Hand wieder sinken.

"Ich hatte es diesen Moment so gesehen, hatte es nicht ertragen, dass du es als Nichts passiert, halb so wild, gesehen hättest." Er kam langsam auf Aya zu, blieb eine Armlänge vor ihm stehen.

„Ich...es tut mir leid...ich ...habe noch nie Trost gespendet, ich bin zu egoistisch um das zu können."
 

Ayas Augen huschten unruhig über die Züge des anderen Mannes, nahmen all ihre Wahrheit in sich auf. Tief in sich konnte es Aya nicht verstehen, dass es Schuldig möglich war, so über das hinweg zu sehen, was sie über Jahre gegeneinander hatten antreten und kämpfen lassen. Doch es war von Anfang an da gewesen…das sah er jetzt. Schuldig HATTE ihm Urlaub gönnen wollen…er hatte auch jetzt nicht aufgegeben, als sie wieder gegeneinander gekämpft hatten. Und Aya…Aya hatte nichts getan als seine Schwester zu beschützen…innerlich aufgerieben zwischen dem Wunsch, sie dazu zu bringen, wieder ihre Augen zu öffnen und der Weigerung, Schuldig aus sinnlosen Gründen zu töten. Er hatte sich für eines entschieden und nichts gewonnen.
 

Gar nichts. Um ein Haar hätte er beide getötet…sowohl seine Schwester als auch den deutschen Telepathen.
 

Er folgte mit seinem Blick den Handbewegungen Schuldigs, konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie die Verletzung aussah…Und… „Vergessen habe ich sie nicht…wie könnte ich?“, murmelte er.
 

Trost? Brauchte er wirklich Trost? Ja…denn nichts anderes hatte ihn hierher geführt. Er war nicht zufällig auf dieser Parkbank gelandet. Sein Unterbewusstsein hatte ihm die Entscheidung abgenommen. Entweder, Schuldig tötete ihn oder würde ihm das geben, wozu sein Team nicht in der Lage war: kein Mitleid. Kein Bedauern…doch genau das…
 

"Ja...wie könntest du...?", wiederholte Schuldig blicklos und die Worte verloren sich etwas. Ran war niemand der vergaß...er dagegen schon.

"Bleibst ...du?", fragte er vorsichtig, die Stimme fester, der Blick wieder klarer, Sicherheit versprechend blickte er Ran in die von Trauer und Verzweiflung gezeichneten Augen.
 

Und Aya nickte.
 

Ja das würde er. Weil er die Wahl hatte. Weil er nicht zurück zu seinem Team wollte. Weil er keine Perspektive sah. Also würde er bleiben und sehen, was passierte. So könnte er der Verzweiflung und Trauer, die in seinem Inneren wühlte, Tribut zollen und sich gehen lassen. Einfach treiben lassen…niemand, der ihn zwang zu töten, niemand, der ihn verhörte…niemand, der etwas von ihm wollte. Hier konnte er…er sein. Das, was er im Moment darstellte.
 

Schuldig fühlte, wie ein Hochgefühl der Erleichterung in ihm war und es leuchtete etwas in seinen Augen, doch er nickte dazu mit ruhiger Miene, ebenso wie Ran.

"Bist du müde?"

Er war hundemüde, die Wunde musste neu verbunden werden, denn durch die häufige Bewegung konnte sie nicht ruhen.

"Ich würde mich gern hinlegen, ich hab zwar im Krankenhaus geschlafen, aber nicht richtig", erklärte er seine Frage. Vielleicht wollte Ran noch nicht ins Bett, das konnte er handhaben wie er wollte, aber Schuldig fühlte, wie der Schlaf an ihm zerrte.
 

„Hast du Schlaftabletten? Dann…geht es vielleicht…“ Aya seufzte und schaute herüber zum Bett, dann wieder zur Couch, auf der der kleine Bär lag. Ein bitterer Zug legte sich auf seine Lippen, als er das Pflaster auf dem Bauch des Teddys sah. Verletzt…wie sein Besitzer…blutend…wie jeder hier. Aya wischte sich die Tränen von seinen Wangen – vergeblich. Es kamen wieder neue…und noch einmal…
 

"Ich nehm das Zeug nur, wenn’s nicht mehr anders geht, aber ist immer was da."

Er trat an Ran vorbei. "Das Zeug macht süchtig, wenn man’s zu häufig und regelmäßig nimmt." Den Mund unwirsch verziehend blickte er Ran an. "Ich geh ins Bad und erneuere den Verband, dauert nicht lang, wenn du willst, kannst du schon mal die Lichter löschen, ich bring dir eine der Tabletten mit."

Er lächelte flüchtig und machte sich zügig ins Bad auf.
 

Aya tat genau das…wusste auch nicht, was er sonst machen sollte. Nach und nach ging er schleppend, ohne Ziel die ganze Wohnung ab und knipste die Lichter aus. Alles, bis auf eine kleine Lampe in der Nähe des Bettes, auf das er sich nun nieder gleiten ließ. Zusammen mit dem Bären in der Hand, den er von der Couch mitgenommen hatte.

Auch wenn er keine große Hoffnung hegte, schlafen zu können…
 

Sich den weißen Verband begutachend befand Schuldig, dass er ihn nicht wechseln musste, erst wieder nach zwei Tagen, wenn er nicht feucht wurde. Schuldig hätte ihn nicht wechseln müssen, wenn er durch die Badewannenrettungsaktion von vorhin nass geworden wäre.

Er putzte sich die Zähne, wusch sich übers Gesicht und kurz über die Stellen, die der Reinigung bedurften, zwecks Wohlgefühl, denn im Krankenhaus hatte er sich nicht duschen können und vereinzelt war noch getrocknetes Blut auf seiner Haut. Vor allem auch unter den Nägel, und im Haar. Das würde warten müssen, beschloss er und fing an sich die Nägel zu schrubben. Nachdem das fleischwasserähnliche Verfärbte im Ausguss davonfloss, trocknete er seine Hände, blickte unterdessen in den neuen Spiegel, den er sich vor Tagen zugelegt hatte.

Was für ein seltsamer Tag..., dachte er und verzog den Mund ironisch.

Weihnachten...und ihm war ...als übernahm er den Part der Herberge...und was war Aya...das Christkind?

Er lachte leise und rollte mit den Augen über den Unfug.
 

Danach warf er das Handtuch in den hölzernen, vergitterten Wäschebehälter und verließ das Bad.

Ran saß zusammengesunken auf dem Bett. Schuldig fiel ein, dass er noch die Tablette mitbringen wollte. Er ging noch einmal zurück und holte eine der leichteren Schlaftabletten, die Leuten gut halfen, die sonst nie welche zu sich nahmen. Für ihn waren diese Pillen nichts weiter als Gummibärchen. Sie hatten längst keine Wirkung mehr auf ihn.

Mit einem Glas Wasser, welches er aus der Küche holte, kam er zu Aya, hielt ihm beides hin. "Die wird dir bestimmt zu etwas Schlaf verhelfen", sagte er zuversichtlich und lächelte sanft. Rans Augen waren rot verweint, die Lippen rau und geschwollen. Vermutlich hatte ihn das Weinen angestrengt. Er sah fertig aus.
 

Ayas Augen hoben sich und trafen auf die unscheinbare, weiße Tablette. War das sein Weg in eine traumlose Nacht? Auf Vergessen? Er seufzte leise, pickte sich das Medikament aus Schuldigs Hand und schluckte es zusammen mit dem Wasser. Er hatte keine Erfahrung mit Schlafmitteln, hatte nie wirklich geglaubt, dass sie helfen würden. Hatte er auf der anderen Seite doch schon genug von Barbituraten und deren Nebenwirkungen gehört.
 

Aber war das jetzt nicht alles völlig egal? Resigniert schloss Aya die Augen und legte sich auf das Bett nieder, zog die Decke beinahe gänzlich über sich. Es war nicht so, dass er den Deutschen völlig ausblendete, dass er ihn ignorierte. Er hatte einfach nur nicht die Kraft zu zwischenmenschlichem Kontakt. Alles, was er wollte, war, die Zeit zurückzudrehen und sie zu retten. Mit all seiner Kraft. Wieso….ausgerechnet sie? War es nicht immer er, der von ihnen beiden zuerst sterben sollte? Warum sie. Aya presste seine Lider aufeinander und drückte sein Gesicht in das Kissen. Verzweiflung überrollte ihn zum unzähligsten Male und ließ ihn sich fragen, wie lange er das noch durchmachen musste, bis er….bis er….ja, bis was? Was wollte er?
 


 

Schuldig blickte ruhig dabei zu wie Ran die Tablette nahm, zog sich danach um und legte sich auf die andere Seite. Das würde keine ruhige Nacht werden, schwante ihm, denn so neben Ran zu liegen, der hoffentlich durch die Tablette schlafen konnte...doch zu wissen, dass es ihm dreckig ging...

Nun Schuldig hatte selten Probleme mit dem Schlafen, nur hin und wieder, wenn sein Kopf von der Fülle der Gedanken überquoll, was momentan nicht der Fall war.

"Ran...?", sprach er den Anderen noch einmal an. Er musste das noch klären.
 

Es dauerte einen langen…wirklich langen Moment, bis ein leises, durch das Kissen gedämpftes „Ja…“ zu Schuldig hinüberschallte und die Stille des großen Raumes brach.
 

"Soll ich...ich meine, fändest du es ...", er suchte nach einem treffenden Wort... "...ungut... wenn ich jemandem telepathisch Bescheid gebe, dass du hier bist und sie sich keine Sorgen machen müssen?" Er runzelte die Stirn. Er konnte sowas einfach nicht, solche ...zwischenmenschlichen ‚Dinge’ besprechen...so normale Sachen...
 

Aya musste beinahe lächeln über diese bittere Ironie. Keine…Sorgen. Sie müssten sich keine Sorgen machen…Aya wusste, dass es egoistisch war, so zu denken, doch er hatte nicht im Geringsten an sein Team gedacht…tat es auch jetzt nicht. Seine Gedanken fixierten sich wieder und wieder auf Aya, auf die Trauer, die in seinem Inneren tobte wie ein Sturm. Auf Vorwürfe, Wut, bodenlose, tiefe Dunkelheit, die so nah vor ihm wuchtete.
 

„Egal…“, entlockte er seinen Lippen ein minimales Wispern. Es war das Einzige, für das er noch genug Kraft aufbringen konnte.
 

Egal...wiederholte Schuldig und verzog den Mund in einer kleinen Grübelei über die Bedeutung und die Auslegung dieses Wortes. Es hieß soviel wie ‚gleich', oder ‚fünzig-fünfzig'. Hieße das nun, es war ihm fünfzig Prozent zuwider, dass Schuldig sie kontaktierte und fünfzig Prozent begrüßte er es?

Konnte er nicht eindeutigere Angaben machen?

Nein, Schuldig du Egoist...er ist momentan in einem Zustand...da ist ihm kurz gesagt alles ‚scheißegal’. So lautet die korrekte Bedeutung, maßregelte er sich selbst.

"Hmm."

Nach dieser wenig aussagekräftigen Antwort schwieg er und schloss die Augen. Kein Gute Nacht, kein Schlaf gut, kein gar nichts. Was sollte er auch sagen? Es würde nicht zutreffen.
 

Aya schwieg ebenso, ließ sich schließlich von der tosenden Stille des Raumes überrollen…sich unter ihr begraben. Er wusste nicht mehr, wie er sich und was er fühlte, so schlecht ging es ihm. Immer und immer wieder tanzten Bilder von Aya in seinem Kopf. Wie er ihr die Ohrringe gekauft hatte, die sie nie tragen würde. Wie sie gemeinsam gelacht hatten. In Cafés…Restaurants…wo sie gerade waren und nach ihren Zukünftigen gesucht hatten. Kitsch pur, doch ihnen beiden war es die liebste Zeit gewesen. Und nun…würde sie nie wieder kommen. Nun hatte sie ihn verlassen…
 

Den Blick in seiner völlig dunklen Umgebung verloren, weinte Aya lautlos. Ließ die Tränen ein weiteres Mal fließen, ohne dass sie ihm ein Quäntchen Linderung verschafften. Nein…solange, bis er tief in die Erinnerung aus glücklichen Tagen dem drogeninduzierten Schlaf zum Opfer fiel.
 

Schuldig ahnte mehr, als dass er hörte wie der Mann neben ihm sich erneut in den Fluss der Verzweiflung ergab, doch leider war dieser Strom nicht Lethe, es war keiner des Vergessens, wie er es wohl eher begrüßt hätte. Schuldig schüttelte den Kopf. Vergessen war nie gut. Ran musste dadurch, nur so ginge es ihm sicher bald etwas besser ... so dachte er. Er hatte noch nie jemanden verloren, der ihm wichtig war...den er ...hmm ja geliebt hatte.

Einen geliebten Menschen...verlieren? Geliebter Mensch...

So etwas hatte es bei ihm noch nie gegeben. Gut, räumte er ein... es gab da so ein paar seltsame Kerle - drei um genau zu sein - die er auf eine verquere Weise mochte, weil es sich irgendwie so ...eingewöhnt hatte. Aber er stellte sich unter dem Begriff geliebter Mensch doch etwas anderes vor.

Hatte er jemals etwas verloren? Bis auf Erinnerungen? Und hatten ihm diese Erinnerungen soviel bedeutet, dass er ihren Verlust bedauerte?
 

Schuldig lag noch eine Zeit wach, bis er den regelmäßigen Atem von Ran hörte und davon eingehüllt, sich zu ihm ins Traumland gesellte.

Morgen würde er Balinese kontaktieren.
 

o~
 

Youji Kudou fuhr sich müde über die stoppeligen Bartfransen, schenkte sich und der Arbeitsfläche unter seiner Tasse gedankenlos Kaffee ein.

Aya war nicht da. Seit gestern war er aus dem Krankenhaus nicht wiedergekommen. Der heiße Kaffee tropfte in kleinen, genüsslichen Mengen auf die Küchenfliesen. Das konnte nur bedeuten, dass etwas mit seiner Schwester war, oder dass sie…

Nein, Youji war nicht dumm…er konnte sich vorstellen, was passiert sein könnte und das machte ihm Angst. Fujimiya-san hatte das Krankenhaus verlassen, soweit die Auskunft der Schwester. Doch was das bedeutete…er mochte es sich nicht ausmalen….
 

Mit einem Wohllaut drehte sich Schuldig im Bett und streckte sich ausgiebig. Er hatte hervorragend geschlafen und wollte noch etwas dösen, bevor er aufstand. Etwas in ihm ließ ihn jedoch die Augen einen Spalt weit öffnen und in das Gesicht des rothaarigen Mannes beobachtend blicken, der es ihm - vermutlich im Schlaf - zugewandt hatte.

Ran lag auf der Seite, das Gesicht entspannt, aber auch abgezehrt und fahl. Man konnte ihm ansehen, dass er gerade eine schlimme Zeit durchmachte. Das lange Haar war in wilden Wellen verteilt, verdeckte die Hälfte des Gesichtes. Die Wimpern lagen ruhig auf den Wangen.

Ran schlief noch fest.
 

Schuldig ließ sich Zeit mit der Betrachtung, als wollte er jede Einzelheit in seinem Gedächtnis abspeichern. Und so war es auch. Er wollte Ran nie wieder vergessen. Nicht mehr so.
 

Nach einiger Zeit, in der er so dalag und dem anderen beim Schlafen zusah - was zugegebenermaßen sehr entspannend war - ließ er seine Gedanken in die des Ex-Schnüfflers der Weiß Killer dringen.

‚Hey Schnüffler...', so die wenig herzliche Begrüßung von Schuldig, in die Gedankenwelt des Weißmitgliedes
 

Als wäre der Kaffee auf dem Boden der Küche noch nicht genug gewesen, verteilte er sich nun auch noch auf die gekachelte Wand der Arbeitsfläche, als Youji anhand des deutlichen Gefahrensignals beinahe die Tasse wegschmiss.

„SCHEIßE!“, fluchte er laut, als ihm die schwarze Brühe über die Hand lief und verdammt heiß war.

‚Was wird das, Schwarz?’, zischte er in Gedanken ebenso ungehalten, erinnerte sich noch genau an die feindliche Übernahme von vor ein paar Tagen.
 

‚ Jetzt echauffier dich nicht gleich, Blondschopf. Da will ich hier ein vernünftiges Gespräch führen und ...das ist der Dank!

Ich will dir nur helfen', meinte Schuldig jovial und hätte wohl die Nase sehr weit hoch getragen, wenn sie sich gegenübergestellt gewesen wären.
 

‚Fick dich und lass mich in Ruhe. Ich hab andere Probleme als deine liebestollen Anwandlungen. Und lass Aya in Ruhe, er ist fertig mit dir!’, gab Youji völlig unbeeindruckt zurück und griff nach einem Wischlappen, sah fasziniert zu, wie dieser seine Farbe innerhalb von Sekunden von Weiß zu abartigst braun wechselte.
 

‚Du bist ja unhöflich' stellte Schuldig mit einem ironischen Unterton fest, nur um dann wieder ernster zu werden. Er wartete etwas ab.

‚ Er ist fertig...da hast du Recht...so sieht er auch aus. Will sagen, dass er bei mir ist und falls es dich interessiert...es geht ihm den Umständen entsprechend.'

Schuldig wartete gelassen darauf, dass Balinese ihm erklärte, dass er ihm kein Sterbenswörtchen glauben würde.
 

Doch wie es das Schicksal so wollte, glaubte ihm Youji jedes einzelne Wort. Jedes einzelne, verdammte Wort!

‚Bei dir? Was hast du mit ihm gemacht? Ist das wieder eines deiner Spielchen ja? Willst du Weiß jetzt vorführen, wie sehr du ihn fertig gemacht hast?’, wallte die wütende und äußerst besorgte Antwort durch ihre Verbindung zu Schuldig herüber. Aya bei Schuldig? Fertig? Wieso…? War es dem Deutschen gelungen, ihren Anführer erneut gefangen zu nehmen?
 

Beinah hätte Schuldig mit den Augen gerollt. Es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass Yohji ihm unterstellte, dass er Ran hier her verschleppt und womöglich noch andere Nettigkeiten verübt hatte.

‚ Was ich mit ihm gemacht habe?'

Schuldig blieb ruhig.

‚Ihn vor dem Erfrierungstod gerettet. Hört sich vielleicht etwas dramatisch an', spielte er es etwas herunter.

‚... aber das Kätzchen ist mir mehr oder weniger zugelaufen. Es saß auf einer eingeschneiten Bank. Wie lange weiß ich nicht, aber er war eiskalt und die weißen Pfötchen taten ihm weh', säuselte er etwas.

‚Was zur Hölle glaubst du eigentlich, Weiß?', fuhr er jetzt wütend auf. ‚Mir liegt etwas an ihm, also werde ich ihn bestimmt nicht vögeln, während er Rotz und Wasser heult und abwesend vor sich hin starrt. Wer von uns hat eigentlich abartige Gedanken?'
 

Mir liegt etwas an ihm.

Schuldig lag etwas an Aya.
 

Nein, das glaubte Youji dem Schwarz nun wirklich nicht. ‚Klar, und weil dir so viel an ihm liegt, verprügelst du ihn. Klasse Sache. Lass dir was Besseres einfallen. Oder nein…lass mich zu ihm und ihn abholen. Oder meinst du etwa, ich will ihn bei dir lassen? Er gehört zu uns….und egal….’ Youji stockte, als die volle Bedeutung von Schuldigs Worten in ihn sackte. Aya geweint? Völlig erfroren…? Wieso? ‚Was ist mit ihm?’
 

Dem Weiß gingen viele Gedanken durch den Kopf, schwirrten umher wie ein betriebsamer Bienenstock.

Schuldig ging nicht auf die ersten Vorwürfe ein. Wie sollte er das groß erklären?

‚Du bist wahrlich schlecht informiert und das als ehemaliger Privatschnüffler....', mokierte sich Schuldig.

‚Seine Schwester ist tot. Zähl eins und eins zusammen und du kommst sicher darauf, warum er ausgerechnet mir zugelaufen ist.'

Tief in sich selbst konnte Schuldig diesen Gedanken nicht verdrängen - den Verdacht, dass Ran zu ihm gekommen war, damit Schuldig ihm half...ja...ihm allerdings bei seinem Ableben behilflich war. Ob er seine Nähe gesucht hatte, weil er unterbewusst nach Hilfe geschrieen hatte...wusste Schuldig nicht. Er wünschte es sich, auf eine Art, aber die Realität konnte man sich nicht immer schön wünschen.
 

Scheiße.

Ein unangenehmer Schauer durchfuhr Youji, der sich in einer Ganzkörpergänsehaut veräußerte. Aya war tot. Der blonde Weiß schluckte schwer. Wie war das möglich? Sie war doch sicher und auf dem Wege der Besserung gewesen. Wieso…in aller Welt war sie tot? Und was zur Hölle war mit ihrem Bruder?

‚Ein Grund mehr, ihn nicht bei dir zu lassen…wenn er zu dir gekommen ist, um sich von dir töten zu lassen, kommt er vermutlich auf noch dümmere Ideen. Von dir ganz zu schweigen. Nenn mir die Adresse.’ Auch seine gedankliche Stimme war überschwemmt von Sorge um den rothaarigen Mann. Dazu hätte man ihm nicht in die Augen sehen müssen.
 

‚Werde bloß nicht beleidigend, Schnüffler. Die komischen Ideen hast allesamt du bisher gehabt!' wirkte Schuldig leicht eingeschnappt.

Nun gut, er war jetzt nicht der Musterknabe an Tugendhaftigkeit, aber er hatte seine Prinzipien...seine Regeln.

‚Ich will dich hier nicht haben, Weiß. Ihm geht es gut, dass muss dir reichen, wenn er zurück zu euch kommen will, wird er das selbst entscheiden. Er ist alt genug und mündig, klar im Kopf und bei Bewusstsein.'
 

‚Bei Bewusstsein?’, entkam es Youji bitter. ‚Seine Schwester ist gestorben und die letzten beiden Wochen waren für ihn die Hölle. Er IST nicht bei Bewusstsein, er ist lebensmüde, Schwarz. Es geht ihm nicht GUT…ich will, dass du ihn entweder hier ablieferst oder mich zu ihm bringst. Ich will mit eigenen Augen sehen, WIE gut es ihm geht. Und wage es nicht, mir das anzuschlagen…ICH gehöre zu seinem Team, nicht DU. Dich hat er nur zum Sterben aufgesucht…WIR können ihm helfen.’
 

Dich hat er zum Sterben aufgesucht.

Zum Sterben aufgesucht...nur zum sterben.

Wiederholte Schuldig und war für einen Moment wie gelähmt. Es tat weh, das zu hören.

Unwillkürlich rollte er sich im Bett etwas mehr zusammen, als wäre ihm kalt, zog die Decke näher. Er wollte nicht, dass einer der Anderen hier einlief. Aber er wusste auch durch die Gedanken des Weißkillers, dass er sich nicht so einfach abwimmeln lassen würde. Und Schuldig wollte das Gespräch nicht abrupt beenden. Er wollte schließlich Rans Zustand nicht als lebensbedrohlich darstellen.

'Ich gebe dir die Adresse eines Platzes in der Nähe. Ich werde dich abholen und du kannst dich davon überzeugen, dass er freiwillig hier ist. Er kann gehen, wohin er will, ich halte ihn nicht auf. Wenn er mit dir gehen will dann kann er das tun. Ich stelle als Bedingung, dass ich dir die Augen verbinde, außer du willst, dass ich dir die Erinnerung an den Weg nehme. Es wäre eine Option.'
 

Doch überrascht über die Bereitschaft des anderen Mannes, ihn zu sich zu holen, konnte Youji nichts anderes tun als nicken. ‚Gib mir die Adresse. Ich bin sofort da. Ich wähle allerdings die Augenbinde…ich will nicht, dass du in meinen Gedanken herumpfuschst’, erwiderte er schließlich und strich sich durch die Haare. Er brannte darauf, zu Aya zu gelangen und das so schnell wie möglich. All seine Sorge galt dem rothaarigen Mann und dessen Zustand.
 

Schuldig gab ihm die Adresse und kehrte wieder zurück, fühlte die Wärme der Decke...und wie etwas anderes sein Gesicht streifte. Er blinzelte etwas und war konfrontiert mit Ayas Gesicht, welches näher bei ihm war, als vorhin noch. Vermutlich hatte er sich gedreht und war dadurch näher gekommen. Er lag jetzt auf dem Bauch, das Gesicht Schuldig zugewandt, die Lippen entspannt, kein bitterer Zug lag darum. Der Atem streifte Schuldigs Gesicht, so nah lag er.

Schuldig kaute auf der Innenseite seiner Lippe herum. ‚Du suchst die Nähe deines Henkers, was?', quälte er sich selbst mit diesen Worten.
 

o~
 

Youji verschränkte zitternd die Arme vor seiner Brust und ließ seinen Blick ungeduldig über die geschäftige Straße gleiten. Autolärm, wohin er hörte, Menschen, wohin er sah. Und das sollte Weihnachten sein…hier war nichts von gemütlicher Beschaulichkeit zu sehen…das hier war das unpersönliche, hektische Tokyo.

In dem er auf den feindlichen Telepathen wartete. Verkehrte Welt, durch und durch.

Er wusste, dass er sich Sorgen machen sollte, dass es eine Falle war. Dass Schwarz etwas im Schilde führte, das sich seiner Kenntnis entzog. Dennoch…glaubte er dem Deutschen alles, was dieser gesagt hatte. Ayas Schwester, sie war tot.
 

Youji konnte sich ausmalen, was das für Aya bedeutete und er wollte bei seinem Freund sein und ihm Beistand leisten. Er traute Schuldig in diesem Punkt nicht, hatte er doch nur zu gut in Erinnerung, wie schrecklich Aya ausgesehen hatte, als sie ihn gefunden hatten. Nein…das war das Werk von Schwarz. Ebenso wie diese verdammte Entführung!
 

Er trat von einem Fuß auf den anderen, vergrub seine Nase in den wollenen, weichen Schal und pustete durch die dicke Wolle dichte, weiße Wolken in den winterlich verhangenen Himmel, aus dem nun einzelne, kleine Schneeflocken entkamen.
 

Ran schlief noch, als sich Schuldig aufmachte, die Tür leise ins Schloss zog und seinen Wagen holte. Wenn Crawford wüsste, was er hier schon wieder veranstaltete, er würde vermutlich vorbeikommen und ihm noch mal eine reinhauen, wie schon einmal geschehen. Oder er wusste es und seit der letzten Aktion, die Schuldig gebracht hatte, als er Brad gehöriges Schädeldröhnen beschert hatte, hielt er sich aus seinen Sachen heraus.

Schuldig verzog den Mund etwas unwillig.

Er war sich nicht sicher, ob er das unbedingt wollte.
 

Eine Stunde später fuhr er in die Straße, deren Adresse er Yohji genannt hatte. Er drosselte sein Tempo und rollte neben den Jüngeren, der in abweisender Haltung wartete.
 

Für ein paar Momente starrte Youji in den teuren, luxuriösen Sportwagen, der augenscheinlich Schuldig gehörte. Da war er, der verhasste Telepath. Feind aller Tage. Momentan jedoch derjenige, der wusste, wo sich Aya aufhielt.

Youji atmete tief ein und öffnete resolut die Autotür. Erwiderte den Blick der blau-grünen Augen zunächst wortlos. Schuldig sah ja sehr ausgeruht aus, dafür, dass er einen in Tränen aufgelösten Aya gefunden hatte.

„Wurde auch Zeit“, brachte er halbherzig hervor und ließ sich in den Sitz gleiten, fühlte sich dabei höchst unwohl. Wer hätte das denn auch nicht?
 

"Tja, schnell bin ich... aber Flügel sind mir noch keine gewachsen, dumm was?", giftete er zurück, ein arrogantes Lächeln aufgesetzt.

Viele, die mit ihm eine Begegnung gehabt hatten, behaupteten später, er wäre so schnell wie der Wind, oder wie ein Schatten, kaum zu bemerken. In Kämpfen fiel das besonders auf, dass sogar jemand ihm Teleportationskräfte angedichtet hatte. Vielleicht war er deshalb bei Kritiker so begehrt.

Es lag aber vielmehr daran, dass er die Wahrnehmung in den Köpfen veränderte, wenn er Kontakte zu anderen hatte, so war er oft nur ein Nebelgespinnst, da, aber doch wieder nicht und schnell vergessen.
 

Er lenkte den Wagen in eine der Seitengassen und zog eine Augenbinde hervor.

"Wenn ich mitbekomme, dass du linst, ist es gelaufen, klar? Dann ist sicher, dass ich dir die Erinnerung an den Weg nehme."
 

Youji schnallte sich an und griff wortlos nach der Augenbinde. Legte sie sich über die Augen und zurrte sie sich an seinem Hinterkopf fest. „Keine Sorge, Schwarz, ich stehe nicht auf Betrug. Und schon gar nicht darauf, dass du in meinen Gedanken David Copperfield spielst“, giftete er und lehnte sich steif zurück. Wie komisch…im Auto seines Feindes. Komischer Geruch. „Was weißt du über Ayas Tod?“
 

Schuldig hielt den Blick auf die Straße gerichtet.

"Nichts."

Seine schlichte Erwiderung begleitete ein lässiges Schulterzucken.

Der Andere sollte sich nur davon überzeugen wie es Ran ging und dann sollte er wieder einen Abflug machen. Mehr nicht.
 

Den Rest der Fahrt verbrachten sie beide in grollendem Schweigen. Wie denn auch sonst? Sie hatten sich ganz einfach nichts zu sagen. Sie waren eine Zweckgemeinschaft, wenn auch eine höchst skurrile und sich nicht wirklich leiden könnende. Doch das war Youji im Moment völlig egal.

Angespannt wartete er, bis sie standen und Schuldig den Wagen verließ, nahm sich dann erst die Augenbinde ab, folgte dem Deutschen. So…da waren sie also.
 

Im Aufzug, wurde Schuldig richtig bewusst, dass er nun einen Feind in seine Wohnung führte, in seine geheiligten Hallen. Zum ersten Mal war ihm, als müsste er aus der Haut fahren und sich gleichzeitig ein Versteck suchen. Obwohl er sich jederzeit verteidigen konnte, hasste er es, diesen Mann hierher geführt zu haben.

Den Gedanken daran, dass er dessen Anführer hier gerne hatte und dieses Gefühl des Versteckens bei Ran nie dagewesen war, vergaß er nicht, es machte die Sache aber auch nicht leichter.

Er ging voran, als sie das letzte Stockwerk erreicht hatten, öffnete die Tür und ließ den Mann eintreten. "Rechts hinten ist der Schlafbereich, ich vermute er schläft noch.“
 

So sehr Youji auch zu seinem Freund wollte, so intensiv ließ er jetzt seinen Blick durch die abgedunkelte Wohnung des Telepathen gleiten. Das hier war…Luxus. Viel Raum, sehr stilvoll und teuer. Geld schwitzte hier aus allen Poren...doch was erwartete er? Schwarz verdiente sicherlich um Längen mehr als sie.

Er zuckte mit den Schultern. Das hatte ihn nicht zu interessieren. Aya war derjenige, dem seine Aufmerksamkeit gelten sollte.

Youji folgte Schuldigs ‚Wegbeschreibung’ und sah ihn. Friedlich schlafend, auf dem Bauch, nur erhellt durch eine kleine Lampe in der Nähe dieses ausufernden Bettes. Auf dem ZWEI Decken lagen.

Der blonde Weiß schauderte leicht. Irgendwie konnte er sich so ganz und gar nicht vorstellen, dass Aya wirklich – unter welchen Umständen auch immer – allen Ernstes mit dem Deutschen in einem Bett schlafen würde.
 

Wie schrecklich bleich Aya aussah. Völlig fertig, auch jetzt noch. Youji ging lautlos in die Hocke, betrachtete seinen Freund für ein paar Momente. Strich schließlich leicht die ins Gesicht gefallenen Strähnen zurück. „Was machst du nur für Sachen…“, murmelte er leise.
 

Schuldig zog seinen Mantel aus, und tigerte zur Couch, lehnte sich an die Rückseite und blickte mit Argusaugen auf das Tun seines Gastes. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt und die Augen waren auf jede Aktion des Weißmitgliedes fixiert.

Nach einigen Minuten kam er sich selbst etwas ...paranoid...oder doch fast schon lauernd vor. Er beschloss etwas zu machen. Vermutlich wollte der Blonde mit Ran reden.

Schuldig stromerte zur Küche, kochte sich einen Kaffee, danach ging er wieder zum Fenster.

Gut...scheinbar war er nervös...warum auch immer....
 

Youjis Blick blieb für ein paar lange Momente an dem langsam blasser werdenden Hämatom am Kiefer des rothaarigen Mannes hängen, bevor er nach oben wanderte und über die frische Beule strich, die Ayas Schläfe verunzierte. Auch Schwarz.

Und da sollte er den anderen Mann hier lassen? Hier bei dem Menschen, der ihm eben dieses zugefügt hatte? Wie konnte er denn sicher sein, dass Schuldig Ayas Schwäche nicht ausnutzte? Wie in den verdammten fünf Tagen, die dieser anscheinend genau hier gefangen gewesen war.
 

Der blonde Weiß erhob sich langsam. Besser, Aya noch etwas schlafen zu lassen…besser, ihm Ruhe zu gönnen, wenn er sie wirklich brauchte. Dafür würde jemand anderes jetzt keine Ruhe bekommen. Schuldig war ihm ein paar Antworten…schuldig. Ja. Das war er.

Er drehte sich um, taxierte den fernen Rücken ihres Gegners wütend und setzte sich in Bewegung.
 

„Ich will mit dir reden. Über Aya“, setzte er an und stellte sich neben Schuldig.
 

Schuldig zeigte keine Regung. "Schieß los."

Er ging in die Küche und schenkte sich einen Kaffee ein. Wenn das hier ein Verhör ...in seiner eigenen Wohnung werden würde, dann wenigstens mit dem Luxus eines heißen Getränks. Er hatte nicht vor, dem Anderen einen anzubieten.
 

Und Youji hatte nicht vor, einen zu trinken.

„Fangen wir von vorne an. Ihr habt ihn entführt. Warum?“ Das war die Gelegenheit um sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen und zu entscheiden, ob Schuldig wirklich so harmlos war, wie er sich gab.
 

Der Kaffee tat gut und Schuldig überlegte sich seine Antwort genau, nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass es am Besten wäre, er würde mit dem Blondschopf reden. Da führte kein Weg dran vorbei...wenn er Ran in seiner Nähe wissen wollte.

"Wir machen keine Gefangenen. Ran ...Aya wäre laut unserer Regeln getötet worden. Ich wollte ihn nicht tot sehen. Crawford ging auf den Deal ein: Entweder er bleibt bei mir, oder er wird getötet."
 

Ran? Youji zischte innerlich, dass sich der Schwarz herausnahm, den Anführer von Weiß bei dem Namen zu nennen, der selbst ihnen verwehrt war. Äußerlich jedoch blieb er völlig ruhig, auch wenn das keinen großen Unterschied machte.

Schwarz machten also keine Gefangenen und dennoch lebte Aya. Interessant.

„Und was hast du dann getan? Du hast ihn sicherlich nicht aus reiner Nächstenliebe bei dir gefangen gehalten?“
 

"Getan?"

Was sollte er schon groß getan haben.

"Es gab keinen besonderen Zweck für seinen Aufenthalt hier, nur dass er lebte. Ich wollte ihn nicht Farfarello überlassen, der ihn töten sollte. Er kam mit hierher und ich musste mir überlegen, was weiter geschehen sollte. Ich hatte keinen Plan, keine Absicht. Es war eine spontane Entscheidung. Du kennst doch sowas...sicherlich?!", sagte er mit leiser Ironie.
 

„Nein…Spontaneität ist mir völlig fremd“, gab Youji nicht minder trocken zurück. Nur dass sich seine Spontaneität nicht auf das Wohl anderer Menschen ausweitete.

„Du hast ihn fast verhungern lassen. War das auch eine deiner spontanen Eingebungen?“, fragte er und sah Schuldig fest in dessen Augen. Wut wallte angesichts dieses….Wissens in ihm hoch. „Ihn angekettet verhungern lassen…schlimmer als ein Tier.“
 

Um Schuldigs Brust schien ein Schraubstock zu sein, der in diesem Moment kontinuierlich enger wurde.
 

"Du bewegst dich auf sehr dünnem Eis, Blondie. Ich an deiner Stelle würde jetzt langsam die Klappe halten, mir bewusst werden, dass du auf meinem Terrain bist und ich zufällig auch noch hier bin. Wenn du morgen nicht als sabbelnder Idiot in einer Klinik landen willst, wo du dein Breichen vorgesetzt bekommst, dann erzähl mir du nicht wie ich mit einem Feind umzugehen habe, der vorher kurz davor war mir mein Gehirn auf dem Silbertablett euren Bossen auszuliefern." Er wurde etwas leiser, jedoch auch drohender. "Redest du hier von Skrupel? Gewissen? Moral? Anstand? Oder um was geht es hier? Um was ging es als ihr mich entführt habt, um mich bei wachem Zustand zu operieren? Um was ging es Kritiker da?" zischte er nun mehr, die Augen schmal und die Wut förmlich auf der Zunge tragend.
 

Bodenlose Wut stahl sich in Youjis Züge. „Wie du mit ihm umzugehen hast?“, hakte er ebenso leise nach. „Nachdem er versucht hat, seiner Arbeit nachzugehen? Du hast es mit Absicht getan…“, er lachte höhnisch. „…und er erzählt mir noch, dass du einen Grund dafür hättest, dabei hast du es einfach aus purer Freude getan…um ihn zu bestrafen.“ Die Wut in Youji kochte über und er presste die Fäuste an seine Seiten, um den anderen Mann nicht zu schlagen. Nein…er würde nicht herausfordern, dass der Telepath seine verdammte Drohung wahrnahm. Doch, dass er Aya hier lassen würde, hatte sich jetzt erledigt. Schuldig war und blieb ein Sadist.
 

„Keinem…absolut keinem von uns, war diese Mission auch nur in Ansätzen angenehm. Wir stehen nicht darauf, Versuchskaninchen an Kritiker auszuliefern. Glaub mir, ich hätte dich lieber mit meinen eigenen Händen getötet, als du wie auf dem Präsentierteller vor uns lagst. Ein schnelles Ende und einen Irren weniger. Doch nein…im Gegensatz zu euch müssen wir uns an Befehle halten und verfügen nicht über ach so tolle Kräfte. Die Wahl hieß: du oder wir. Und für wen entscheiden wir uns da wohl?“
 

Seine Augen funkelten böse, abgrundtief dunkel vor Wut. „Wovon ich rede, hat nichts mit Skrupel, Gewissen oder Moral zu tun. Du hast ihn soweit fertig gemacht, dass er vermutlich irgendeine kranke Dankbarkeit entwickelt hat, dass IRGENDJEMAND da war, der ihn doch nicht verhungern lässt. Und ich habe mich schon gewundert, warum er so über dich gesprochen hat.“ Youji schnaubte verächtlich, fühlte im Inneren jedoch nichts als Horror. Das war die Wahrheit...die volle Wahrheit. „Du hast ihn so fertig gemacht, dass er daran zerbrochen ist. Das ist so krank. Das ist so typisch Schwarz. Und was versprichst du dir jetzt? Dass er…verblendet wie er ist…mit dir in die Kiste steigt?“
 

Schuldigs Zorn der in den letzten Minuten zu brodeln begonnen hat, wallte jetzt auf und seine Atmung wurde tiefer, angewidert verzog er die Lippen zu einem gemeinen Lächeln. "Du redest, als ob du dabei gewesen wärst! Du redest hier auf, als wenn du wüsstest wie ich mich gefühlt habe, als ich ihn dort liegen sehen habe." Er ging näher auf Yohji zu.

"Natürlich war er froh", sagte er lauernd "dass IRGENDJEMAND ihn gefunden hat, es war ihm scheißegal, wer es war, das ist mir klar und wäre es mir möglich gewesen, dass es zu dieser Situation kommt ....es zu umgehen, hätte ich es getan. Stell dir einmal vor…", er kam noch näher bis er seine Augen in die Grünen des Anderen bohrte. "...ich war es nicht mal, der ihn gefunden hat, die Dankbarkeit hat er wenn er sie denn entwickelt hat, nicht für mich entwickelt." Er lächelte, doch das Lächeln war etwas angeschlagen, wirkte gezwungen. "Ich bin immer noch der böse Bube bei ihm, Blondschopf, deshalb kam er ja hierher um sich von mir töten zu lassen, schon vergessen? Oder was glaubst du, weshalb er hier her kam? Wie du so schön sagst... ‚um mit mir in die Kiste zu steigen?’ Dass ich nicht lache." Er ging einen Schritt zurück.

"Glaub was du willst, ich habe nicht vor eure Meinung über mich zu revidieren. Es ist zwecklos und bringt nur Probleme mit sich, wenn man einen von euch zu nah an sich heran lässt. Es gibt Gründe für viele Dinge die hier geschehen sind, von denen du keine Ahnung hast. Er kennt sie, aber dir werde ich sie nicht auf die Nase binden."
 

„Ich will sie auch gar nicht hören…es reicht mir, dass du in seiner Nähe bist“, knurrte Youji unversöhnlich, kam aber im Gleichzug nicht umhin, über die Worte des Telepathen nachzudenken. Seine Vorwürfe schienen zumindest teilweise entkräftet, auch wenn das seinen Beschluss, Aya mitzunehmen nicht kippte. Es vermutlich auch nie tun würde. Er stierte in die ähnlich grünen Augen des Deutschen vor sich und verschränkte abwehrend seine Arme.

Anscheinend legte Schuldig nicht den geringsten Wert darauf, Aya zu besteigen…oder – was er aus der wohlversteckten Reue des Telepathen ersehen konnte – ihn verletzten wollte, was das ausradierte, was ihm am Logischsten erschien. Hatten doch sowohl Omi als auch er selbst den Verdacht gehegt, dass hier mehr passiert war, als sie wussten und uf den ersten Blick gesehen hatten. Aber wozu sollte Schuldig ihn anlügen?
 

„Er hat dir das also einfach so verziehen? Und was ist danach passiert?“, fragte er schließlich.
 

Schuldig lachte freudlos auf. "Ja, sicher...verziehen", sagte er zynisch.
 

"Er hat sich wieder etwas erholt und danach ließ ich ihn gehen. Fertig. Ende der Geschichte. Mehr gab es da nicht", log er, oder vielmehr ließ er die Details aus. Warum sollte er erzählen, wie mühselig es war, Ran das Essen einzutrichtern, ihn wieder und wieder zu animieren, etwas zu trinken. Und doch hatte es geklappt.
 

Aber er hatte nicht vor, sein Seelenleben dem Schnüffler aufzutischen.
 

Und er wollte ihm auch nicht erzählen, dass Crawford maßgeblich daran beteiligt war, dass Ran noch lebte oder besser nicht in einem Krankenhaus lag.
 

Natürlich ließ Schuldig etwas in seinen Erzählungen aus, das konnte sich Youji an fünf Fingern abzählen. Doch nachzuhaken brachte nichts. Er kannte nun beide Versionen…doch in beiden waren Lücken, die durchaus Auffälligkeiten aufwiesen…die anscheinend aber jedem anderen verborgen blieben.

„Und warum lässt er sich dann von dir und Crawford einfach so zusammenschlagen? Warum läuft er dir dann noch nach? Wie erklärst du mir das?“, fragte er blonde Weiß und sah eindringlich in die Augen des anderen Mannes, hatte er doch noch gut die farbenfrohen Hämatome seines langhaarigen Freundes in Erinnerung. Die Scham in dessen Blick, als er im Auto zu sich gekommen war. All das machte Youji wütend…sehr sogar.
 

Schuldig schnaubte.

"Findest du es nicht etwas anmaßend zu behaupten, er hätte sich ‚einfach so’ zusammenschlagen lassen?", knurrte er. "Bist du schon einmal auf die Idee gekommen, dass sie ihn observieren, du Held? Ich wollte nicht, dass er in Gefahr ist, nur weil ich ihn habe laufen lassen", lenkte er äußerlich ruhiger aber innerlich nicht minder aufgewühlter hinzu. Ihn regte es auf, dass der Blonde hier war und all diese Fragen stellte.

"Ich wusste, wenn ich ihn laufen lasse, würde es zu Problemen kommen, und zwar meine ich nicht mich damit", warf er dem Mann neben sich einen warnenden Blick zu.

"Aber ich musste ihn gehen lassen, das war mir auch klar. Ich wollte ihn nicht ewig hier festhalten. Und vergiss bitte nicht, dass ich meinen Boss im Nacken hatte und unsere Regeln habe ich auch gebrochen." Schuldigs Augen verengten sich verärgert.

"Als wir gekämpft haben, habe ich einen Spion von Kritiker bemerkt, der per Funk Rans Erfolg oder Misserfolg über mein Ableben berichten sollte. Sollte er als Verräter gestempelt werden, Weiß? Willst du das? Nein. Also dann... ich ließ es so aussehen, als hätten wir ihn besiegt und der Spion sah, dass er keine Chance gegen uns hatte. Es war für mich die einzige Möglichkeit die Situation zu retten. Für ihn und für mich."

Schuldig schwieg für einen Moment.

"Es ist nicht leicht, seinen Hass zu ertragen, aber er ist nur hier um sich von mir zu seiner Schwester befördern zu lassen", grinste er etwas schräg, den Blonden dabei direkt ansehend. "Keine Angst, mehr ist es nicht."
 

Youji schwieg. Das hier war Wahrheit…keine Lüge. Schuldig hatte keinen Grund ihn anzulügen, wie er es nun sah. Das musste er erst einmal verdauen. Schwarz nicht so böse, wie er bisher gedacht hatte? Gott, das war so kitschig. Schuldig hatte also eine kleine Vorliebe für ihren Anführer…und Youji wusste nicht, ob Aya dem gänzlich abgeneigt war. Vor diesen unseligen fünf Tagen hätte er die Frage klar und deutlich mit nein beantworten könnten. Doch nun war er sich nicht mehr so sicher. Denn irgendetwas zog die beiden Männer an, die sich sonst wie Feuer und Wasser verhalten hatten.
 

Aya wollte sterben…das hatte er in den Raum geworfen, weil er es vermutete. Doch er hoffte inständig, dass dem nicht so war. Was jedoch die Frage aufwarf, wie Aya über den Telepathen dachte, der so überraschend menschlich schien. So, wie ihn Youji nie wahrgenommen hatte. War doch das Feindbild des ruchlosen, teuflischen Sadisten viel ergiebiger gewesen, was seinen Hass anbelangte.
 

„Und was wirst du tun, wenn er dich darum bittet?“, fragte er schließlich. „Ihm seinen Wunsch erfüllen?“
 

"Meinst du nicht auch, ich hätte genug Gelegenheiten gehabt um genau das zu tun? "

Seine Stimme war ruhig aber angespannt. Wenn der Typ nicht bald aufhörte mit seinen Fragen sprang er ihm noch an die Kehle.
 

„Ich kann deine Gedanken nicht lesen, falls du das vergessen hast“, gab Youji mit einem zynischen Lächeln zurück. „Ich habe keinen Anhaltspunkt dafür, dass du letzten Endes nicht doch austickst und ihn verletzt…“

Er drehte sich weg, zurück zum Raum hin und erstarrte. Erschreckte sich anhand der Gestalt, die unweit von ihnen stand, völlig still, mit hängenden Schultern und einem…Teddy in der linken Hand. Das Gesicht bleich und eingefallen, die Augen rotgerändert.

Youji hatte Mühe, in dieser hilflosen Gestalt den starken, rothaarigen Japaner zu erkennen, der mit Wut kämpfte und sein Schwert führte. Er hatte Mühe, etwas zu sagen. Konnte es für ein paar lange Momente nicht.
 

"Ich...", wollte Schuldig gerade dazu ansetzen um zu bestätigen, dass er selbst auch keinen Anhaltspunkt hatte... als Yohji verstummte und sich umdrehte, danach etwas erstarrte wie es auf Schuldig den Eindruck erweckte.

Er folgte der Bewegung und stellte wenig erstaunt fest, dass Ran aufgestanden war. Nur wie lange er dort gestanden hatte, war Schuldig nicht klar, er hatte ihn nicht bemerkt.

"Morgen, Ran", grüßte er und blickte Ran ruhig und fest in die Augen. Er sah nicht mehr ganz so aufgelöst wie gestern aus, wirkte minimal erholter.
 

Youjis Blick ruckte für einen Moment zurück zu Schuldig, fragte sich, woher in aller Welt sich dieser das Recht herausnahm, Aya bei seinem richtigen Namen zu nennen. So vertraut mit ihm zu sein. Dann jedoch konzentrierte er sich auf das wirklich Wichtige und trat einen Schritt auf Aya zu. Noch einen…einen dritten, bis er einen schweigenden Blick in die verzweifelten, zu ihm emporschauenden Augen sehen konnte.
 

„Hey…“, entkam es ihm sanft, als er eine der störenden, roten Strähnen aus dem Gesicht strich, seine Aufmerksamkeit mit niemand anderem als Aya teilte.
 

„Youji…“ Ein minimales Flüstern nur. Gerade laut genug, dass auch Schuldig es hören konnte. Die bisher trockenen Augen füllten sich, zerrissen innerlich Youjis Glauben, dass alles nicht so schlimm war. Aya war…fertig. Er litt…grausam.
 

Schuldig senkte den Blick minimal, wandte sich ruhig wieder um und blickte hinaus. Er brauchte einige Minuten um alles zu verdauen. Das wurde ihm langsam alles zu stressig. Viel zu viele Menschen in seiner trauten Umgebung, viel zu viel Krach, zuviel Gefühl und zuviel, womit er sich beschäftigen musste...ja musste, weil er selbst zu viel zu verlieren hatte. Mittlerweile.

Schuldig nahm seine Tasse wieder auf, die er kurz zuvor auf der Fensterbank abgestellt hatte und ging zur Küche hinüber setzte sich auf einen Barhocker und trank schweigend seinen in der Zwischenzeit lauwarmen Kaffee, den Blick hinaus gerichtet. Sein Haar war offen und er strich es sich aus dem Gesicht, als es sich wie ein Vorhang davor schieben wollte. Nichts da. Vielleicht sollte er auch mal darüber nachdenken es schneiden zu lassen, dachte er grimmig. Er hatte schlechte Laune. Er wollte nicht, dass Aya bei dem Weiß dort stand und ihn womöglich umarmte. Aber mit Genugtuung hatte er gesehen, dass der Teddy an Aya haftete wie festgenäht.

Dabei fiel ihm das Bild ein, das noch immer auf der Theke lag und er griff es sich, blickte es an und drehte auf seine Rückseite, legte es etwas abseits und nahm wieder einen Schluck seines Getränks.
 

Youji konnte dieser Verzweiflung nicht mehr länger standhalten und schloss den kleineren Mann in seine Arme, verbarg dessen Tränen vor der Außenwelt…vor Schuldig. Er wollte nicht, dass der Schwarz ihren Anführer so schwach sah, auch wenn ihm irgendetwas sagte, dass es dafür schon zu spät war.

Dennoch…Aya gehörte in seine Obhut, nicht in die des Deutschen. Er würde sich um den trauernden Mann kümmern und ihn wieder auf die Beine stellen. Nur er. Niemand anderes.

„Es wird alles gut…“, murmelte er in den zitternden Schopf und strich sanft darüber. „Ich bin bei dir…du bist nicht alleine…wir sind bei dir. Du kannst dich auf uns stützen…dich auf uns verlassen.“
 

Doch nichts antwortete ihm, nur stumme, traurige Schluchzer. Ein ihm verborgenes Gesicht. Youji zögerte, hatte noch nie zuvor den Namen des anderen Mannes ohne dessen Einverständnis benutzt…dennoch erschien es ihm nun als unnötige Quälerei, ihn beim Namen seiner toten Schwester zu nennen.
 

„Ran…lass uns nach Hause gehen. Komm…ich bring dich zurück ins Koneko“, sagte er schließlich und erntete endlich die erwünschte Reaktion, die jedoch nicht ganz so ausfiel, wie er es sich gedacht hatte. Der blutrote Schopf hob sich und gab schrecklichen Einblick auf einen fertigen Mann. Einen Mann, der nun seinen Kopf schüttelte und ihn bittend ansah. Als wenn er Verständnis brauchte.
 

„Nein…Youji…ich will nicht zurück…noch nicht…“, wehte eine leise, tränendurchtränkte Stimme an seine Ohren, ließ sein Herz für einen Schlag aussetzen.
 

„Aber warum?“, setzte er an, verstummte jedoch. Es brachte gar nichts, wenn er den jüngeren Mann bedrängte. Nicht jetzt.
 

„Ich…werde…wiederkommen…nur nicht jetzt…“, gab Aya die einzige Erklärung, zu der er fähig war.
 

Schuldig hatte gerade den letzten Schluck seines Kaffees in sich geschüttet, als er das Gespräch hörte...die letzten Worte von Ran hörte. Vorsichtig stellte er die Tasse wieder hin, schloss für einen Augenblick die Augen und stand dann auf ohne seinen Blick auf die beiden zu lenken und schenkte sich nach. Er wusste nicht, was es ihm bedeutete, aber er fühlte Genugtuung, dass er von Aya selbst gehört hatte, dass er nicht gehen wollte. Warum auch immer.

Vielleicht aus dem gleichen Grund warum er hierher gekommen war?

Schuldig setzte sich wieder, griff sich wieder seine Tasse und folgte dem Gespräch aus einigem Abstand. Doch er hatte eher das Gefühl als stände er mittendrin - symbolisch gesehen.
 

Youji glaubte es nicht…konnte es nicht und hatte brachiale Angst, dass Aya etwas passierte. Er WOLLTE den anderen Mann nicht hier lassen, nicht ausgerechnet bei Schuldig, egal wie gut dessen Absichten auch sein mochten.

„Ich möchte dich aber nicht alleine lassen…Ran. Ich hab Angst um dich“, gab er ehrlich zu und strich dem rothaarigen Mann über die tränennasse Wange. Erntete dafür ein mattes Kopfschütteln.
 

„Ich…kann nicht für sie arbeiten…nicht jetzt. Kritiker werden mich dazu zwingen…ich kann es nicht…ich komme zurück, wenn es wieder…geht…“
 

Mehr als alles andere erleichterte Youji das eben Gesagte, verdeutlichte es ihm doch, dass Aya noch Lebenswillen in sich trug. Denn Kritiker würden ihn liquidieren lassen, wenn er sich weigerte zu kämpfen, dessen war er sich sicher. Er nickte, wiederholte seine Berührung. „Wenn es das ist, was du willst…Ran…dann werde ich dir nicht im Wege stehen…Aber sei vorsichtig und nehme dich vor bösen, freilaufen Telepathen in Acht. Ich habe gehört, sie sollen manchmal gefährlich sein.“
 

Besagter Mann spiegelte seine Bewegung und sah zu ihm hoch, ein klein wenig Erleichterung in seinen Augen ob der humorvollen, jedoch ernst gemeinten Warnung. Sogar ein kleines kurzes Lächeln hatte Youji auf den Lippen des rothaarigen Mannes sehen können. Ganz kurz nur.
 

„Soll ich dir noch Gesellschaft leisten? Noch hier bleiben?“, fragte er schließlich und erntete dafür ein minimales Kopfschütteln.
 

„Nein…aber sag den anderen…dass sie sich keine Sorgen machen müssen…bitte. Besonders Omi…“ Neue Tränen verließen Ayas Augen, als er an die Enttäuschung dachte, die er in den Augen ihres Jüngsten gesehen hatte. Er wollte nicht, dass sein Team ihn hasste. Er wollte es ganz einfach nicht…
 

„Werde ich machen…“, erwiderte der größere Weiß ruhig und schloss Aya ein weiteres Mal in die Arme, drückte einen freundschaftlichen Kuss auf die rote Flut. Wiegte ihn ein paar Momente sacht. „Aber du versprichst mir, dass du dir von dem Mistkerl da nichts gefallen lässt, in Ordnung?“, murmelte er und meinte Schuldig damit, der sich anscheinend irgendwo in die Küche zurückgezogen hatte.
 

Schuldig vermied es sich umzudrehen, er fühlte sich nicht gut. Ganz und gar nicht. Aber warum konnte er nicht sagen, er sollte schließlich jubeln, dass Aya noch bei ihm blieb. Weshalb der Mann noch bei ihm bleiben wollte, war ihm nicht ganz klar. Einige Ideen hatte er - schöne und unschöne, realistische und träumerische. Schuldig war jedoch jemand, der zu den Realisten gehörte. Ob die Option eines Selbstmordes durch seine Hand noch zur Debatte stand? Wieder kreisten seine Gedanken darum.
 

Aya nickte mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen. Was konnte Schuldig ihm noch groß antun? Es war schon das Schlimmste passiert, was geschehen konnte. Aya war tot…und würde nicht zurückkommen. Nie mehr. Sie würde nie mehr ihre Augen aufschlagen…

Er wandte seinen Blick ab, fühlte sich mit einem Male wieder zurückgeworfen in den gestrigen Tag. Wollte sich einfach nur verkriechen und nie wieder auftauchen...egal, was auch passierte. Er fühlte sich klein, unsäglich schwach und verletzt…allein. Nicht mehr in der Lage dazu, sich aufrecht zu halten.
 

Was jetzt auch Youji sah, als er ihn sanft unter seinen Armen fasste und zur Couch führte, ihn darauf niederdrückte und einen Blick auf den merkwürdig alten Bären warf. Ayas war das nicht, das stand außer Frage. Schuldigs? Natürlich, Aya hatte ihm davon erzählt, nach dem Frisörbesuch…

Youji seufzte leise, fühlte einen gehörigen Stich von Eifersucht in seiner Brust. Er konnte verstehen, warum Aya alleine sein wollte, doch was er nicht verstehen konnte, war, dass dieser sich in die Gegenwart des Deutschen begab.
 

Stumm sah er zu, wie Aya seine Beine mit auf die Couch zog und die Arme darum schlang. Ein letztes Mal strich er seinem Freund über die wirren Strähnen und nickte ihm beruhigend zu. „Ich bin immer bei dir…okay, Ran? Wenn du mich brauchst, bin ich da.“
 

Damit wandte er seinen Blick ab, gab Aya die Einsamkeit, die dieser anscheinend zu brauchen schien. Ging zu Schuldig, der sich immer noch in der Küche herumtrieb. „Er möchte jetzt alleine sein…“, setzte er an. „…und auch wenn ich es nicht begrüße, werde ich euch beide jetzt verlassen. Aber lass dir noch einmal gesagt sein…solltest du ihm irgendetwas tun, wird niemand mehr seine schützende Hand über dich halten…und DANN werden Kritiker ihre reine Freude damit haben, dich Stück für Stück auseinander zu nehmen, haben wir uns verstanden?“ Gefährlich leise…beinahe schon zu freundlich.
 

Schuldig konnte sich ein spöttisches kleines Hochziehen der Augenbraue nicht verkneifen ob dieser dramatischen Drohung, von der er sich kaum vorstellen konnte, wie der Blonde das anstellen wollte. Aber er verstand die Sorge um seinen Freund und auch die obligatorische Drohung die aufgrund dieser Sorge zwangsläufig folgen musste. ‚Niemand hält seine schützende Hand über mich...' gab er Yohji zu verstehen, ...zumindest Aya nicht...' fügte er noch an und dachte kurz an Crawford.

‚Los, ich fahr dich, damit ich endlich meine Ruhe habe, Schnüffler', wandte sich Schuldig erneut an Yohji in Gedanken, ließ ein schräges Lächeln seine Worte begleiten, als er einen flüchtigen Blick auf die traurige Gestalt auf dem Sofa warf. Schnell blickte er wieder zu dem Blonden und stand auf und mit den Worten "Bin gleich wieder da, ich fahr ihn schnell...", führte er Yohji wieder aus der Wohnung hinaus.
 

Der blonde Mann musste ebenso traurig lächeln, als sein Blick auf Aya durch die Eingangstür versperrt wurde. Ein ungutes, dunkles Gefühl zurückließ. Was, wenn er just zu diesem Zeitpunkt die falsche Entscheidung getroffen hatte? Ein bitterer Zug stahl sich auf seine Lippen. ‚Aya hält nicht seine Hand über dich? Er weiß, wo du wohnst…er hätte dir schon längst Kritiker auf den Hals hetzen können, wenn er es wollte. Aber nein…irgendetwas muss ihm anscheinend an dir gefallen’, gab er automatisch in Gedanken zurück und trat aus dem Aufzug heraus, hin zum Wagen. Wie kalt es ihm doch vorkam, wie trostlos, Weihnachten ohne Aya zu verbringen. Es würde die Hölle werden, ihren beiden Jüngsten zu verklickern, dass Ayas Schwester tot war und er selbst die nächste Zeit nicht mehr wiederkommen würde.

Er seufzte leise. Die dümmsten Bauern ernteten die dicksten Kartoffeln. Durch irgendetwas musste Schuldig ja das Privileg verdient haben…auch wenn ihm schleierhaft war, was er getan hatte.
 

Schuldig antwortete etwas verspätet: ‚Insofern hast du Recht. Aber es ist seine Ehre, die ihn davon abhält, keine wirkliche Sympathie mit dem ‚Teufel’, glaub mir'. Er lächelte stygisch und warf Yohji einen zynischen Blick zu.

Trotzdem fragte sich Schuldig nach wie vor, warum Aya gerade zu ihm gekommen war. Er kam zu keiner vernünftigen Lösung und er wischte die zermürbenden Gedanken beiseite.

Sie stiegen in den Wagen und die übliche Prozedur des Augenverbindends folgte.
 

Hast du eine Ahnung, dachte Youji mit reichlicher Verspätung mehr zu sich als zu Schuldig und wartete blind ab, dass der andere Mann ihn wieder in der Nähe des Konekos absetzte. „Ich möchte, dass du mich über Ayas Zustand auf dem Laufenden hältst“, sagte er in die Stille hinein und wandte seinen Kopf zur Seiter, auch wenn er den Telepathen nicht sehen konnte. „Das ist das Mindeste, was du tun kannst.“
 

Schuldig nickte kommentarlos, tastete während der Fahrt die nähere Umgebung ab um sie ohne etwaige Beobachter zu wissen, vor allem als er in der Nähe des Blumenladens anhielt.

"Er wird wissen, wenn ich dich informiere, ich habe nicht vor etwas ohne sein Einverständnis in dieser Richtung zu tun, nur weil ihr auf dem Laufenden gehalten werden wollt", sagte er ernst.

"Es ist niemand von Kritiker in der Nähe, erst in unmittelbarer Umgebung eures Ladens würde ich vorsichtig sein, der Fensterputzer, auf der anderen Seite ist ein Agent."
 

Sobald sie standen, nahm Youji sich die Augenbinde ab. „So ist es auch gedacht. Ich möchte ihn nicht hintergehen, dafür achte ich ihn viel zu sehr“, gab er zurück und warf einen Blick aus dem Fenster. Gurtete sich langsam ab. Schon wieder Kritiker…wie er diesen Namen hasste. Wie er diese Agenten hasste, die sich um ihr Haus herumtrieben.

„Wenn du weißt, dass sich da einer rumtreibt, wieso tötest du ihn dann nicht?“, lächelte er Schuldig simpel ins Gesicht und stieg aus, ließ die Tür hinter sich zufallen. Stapfte durch den Schnee davon.
 

"Sehe ich aus wie ein Wohltäter?", knurrte Schuldig und wendete den Wagen. "...mach mir nicht an jeder Made die Finger schmutzig...", grollte er weiter während er nach Hause fuhr.

Wenn er schon mal unterwegs war, konnte er gleich noch einkaufen. So stellte er den Wagen ab und kaufte noch einige Dinge, die ...sie ...beide...vielleicht brauchen konnten.

Wie das klang... beide...., Schuldig ließ sich das Wort öfters durch den Kopf gehen, während er sich durch die Menschen schob und nicht nur Lebensmittel kaufte, sondern ganz alltägliche Utensilien, wie eine Zahnbürste oder ähnliches.

Oh Gott, wie lange wollte Aya denn bleiben?

Brauchte er dann nicht auch noch andere Kleidung? Und was noch?

Etwas hilflos stand Schuldig wieder vor seinem Wagen als er die Tüten verstaut hatte. Ach was..., winkte er in Gedanken ab und stieg in den Wagen um nun wirklich zurück nach Hause zu fahren. ...erst einmal konnte Ran seine Sachen mitbenutzen und später...ja...später sollten sie einkaufen gehen. Oder Ran alleine, je nachdem...

Wahnsinn...wie sich die Dinge verändern konnte…und so plötzlich, dass er kaum hinterher kam.

Wenig später öffnete er die Wohnung und trat samt der Tüten auf seinem Arm ein. Ran saß immer noch auf der Couch, eingerollt.
 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Coco & Gadreel

Geraubte Zeit

~ Geraubte Zeit ~
 


 

o~
 

Eingerollt war Aya, doch seine Gestalt war nicht entspannt…ganz im Gegenteil. Sein nicht mehr rationales Denken hatte die Minuten…oder waren es Stunden?, dazu genutzt, um ihm Dinge vorzugaukeln, die nicht gut waren. Selbstvorwürfe schwelten in ihm. Er hatte sie auf dem Gewissen, er hatte sich nicht genug um sie gekümmert, er war es gewesen, der sich lieber dem Ziel gewidmet hatte, Schuldig zu töten, als ihr beizustehen. Er hatte sich nach all den Jahren in Sicherheit gewiegt, hatte gedacht, dass sie es schaffen würde, hatte darauf vertraut.
 

Er hatte versagt.
 

Hatte sich von Schuldig ablenken lassen, in so vielerlei Hinsicht. Erst waren da die fünf Tage gewesen…die er fern von seiner Schwester verbracht hatte, dann der Kampf gegen den Telepathen. All das…all das hatte ihm Zeit mit seiner Schwester geraubt. Kostbare Zeit. Er hatte sich diese Zeit nehmen lassen und Schuldig hatte sie ihm geraubt. Er hatte sie ihm gestohlen…hatte ihn abgelenkt…

Der Falschheit dieses Gedankens war sich Aya in diesem Moment nicht mehr bewusst, schon lange nicht mehr. Dazu war die Spirale der nach außen projizierten Selbstvorwürfe zu tief geglitten, als dass er selbst noch ein Zurück fand. Er machte sich dafür verantwortlich…und Schuldig. Aus Verzweiflung und Trauer geborene Wut dominierte seine Gedanken, ließ ihn zitternd zurück. Vor allen Dingen, da er den Verursacher jetzt hier hatte. Schuldig war wieder da.
 

Vorsichtig stellte dieser die Tüten ab, begann sie auszuräumen, nachdem er sich seiner Schuhe und seines Mantels entledigt hatte. Und währenddessen bemerkte er, dass er noch nichts gegessen hatte und prompt fing sein Magen an, lautstark diese Beobachtung zu bestätigen.

Schuldig sah auf, sein Blick Aya suchend, der immer noch in der gleichen Haltung saß, sich kaum rührte. Seine Anspannung wurde deutlich, so wie er dort hockte.

Er beobachtete den Mann einige Augenblicke, bis ihm auffiel, dass er vergessen hatte, mit Kudou darüber zu sprechen, dass er Aya fragen sollte, wie es mit der Bestattung seiner Schwester aussah. Ob er das schon veranlasst hatte, oder nicht. Schuldig vermutete eher nicht. Aber Ran jetzt zu fragen?

Wenig überzeugt von seiner Idee ging er zu dem Mann. Wie sollte er das Thema jetzt ansprechen? Er war der Falsche dafür. Der Freund des Rotschopfes wäre der bessere Mann gewesen. Vielleicht sollte er ihn kontaktieren?

"Ran?", fragte er zaghaft.
 

Ran…fünf Tage…Ran…
 

Aya sah hoch, hoch in die blaugrünen Augen, die ihn so sanft ansahen. Die Augen, die ihm seine Schwester genommen hatten. Die letzten, wichtigen Tage mit seiner Schwester. Die roten Fäden des Zorns griffen nun auch nach den letzten Bahnen rationalen Denkens und zogen sie mit ins Verderben. Er sagte nichts…keinen Ton. Sah einfach in diese Augen. Hasste sich, hasste Schuldig, hasste jeden. Hasste Ayas Tod. Er war unfähig, diese Wut zu kompensieren und zu verarbeiten, völlig unfähig, mit ihr umzugehen. Er hatte nichts mehr, an dem er sie auslassen konnte.
 

Nein…falsch. Er hatte etwas. Seine Kiefer pressten sich eisern aufeinander.
 

Nichts hatte sich in diesem Blick verändert, als er Schuldig traf, wie dieser befand. Ausdruckslose violette Augen, die Mundwinkel nach unten gerichtet, die Haut fahl und am Kiefer noch immer die schillernden farblichen Überreste des Hämatoms zu sehen. "Ich ...habe ihn nach hause gebracht...und war noch einkaufen...", fing Schuldig deshalb zögernd an, war sich nicht sicher ob die Worte überhaupt ankamen.

Er seufzte ungehört fing noch einmal an.

"Gibt es noch etwas zu erledigen? Ich meine...wegen deiner Schwester...soll ...Kudou sich noch um etwas kümmern, ihre Bestattung?", wagte er es mit ruhigen Worten. Vielleicht war es ein schlechter Moment, aber vermutlich nicht schlechter als andere, die noch kommen mochten.
 

Dass es ein schlechter Moment war, sah Schuldig spätestens jetzt, als eine zur Faust geballte Hand in seinem Gesicht landete und seinen Kopf zurückwarf. Wie zornesdunkle Augen sich in die Seinen bohrten und Aya hochstob. Ihn zurückstieß. „Du WAGST es, SO über sie zu sprechen? DU WAGST es, mich so etwas zu fragen? Nachdem DU mir fünf Tage unserer Zeit gestohlen hast!“, schrie er völlig außer sich, sah in Schuldig einen Feind, den es nicht gab. „DU bist schuld…DU hast sie auf dem Gewissen!“ Völlig neben sich…jeder Logik entbehrend.
 

Der Schmerz schoss durch seine Nervenbahnen, explodierte in seinem Kopf. Er hatte die Faust zwar nicht kommen sehen und konnte sich aber dennoch abfangen, bevor er zu Boden ging. Wut wallte in ihm fast wie in einem Reflex auf, doch sie fand keinen Nährboden, die Worte die ihm entgegen gebracht wurden, waren derart mächtig in ihrer Wirkung auf ihn, dass er lediglich zu Ran aufblickte, mit Unverständnis, als sähe er einen Geist.

Er hatte sich mit der Hand auf dem Boden abfangen können, aber Ran sah nicht danach aus, als wäre er schon fertig mit seinen Vorwürfen. "Ich...", setzte er an, sich zu rechtfertigen.

Aber was hatte er vorzubringen? Nichts.

Alles was er sagen würde, wäre nichtig vor diesem Gericht, welches über ihm stand und auf ihn zornerfüllt nieder blickte.

Sein Kiefer pochte taub, als er aufstehen wollte, sich diesem Blick entziehen wollte. Schuldig hatte das dumpfe Gefühl, dass es hier zu einer Situation kommen konnte, die nicht mehr lenkbar werden würde, falls er sich selbst in seiner Kontrolle verlor.

Er musste die Kontrolle behalten. "Ran...", versuchte er es erneut sich Gehör zu verschaffen.
 

„Sei still“, zischte der rothaarige Weiß, das Gesicht blass, die Augen lodernd. „Halt verdammt noch mal deinen Mund…du hast sie auf dem Gewissen…hast mich davon abgehalten, für sie zu sorgen, nur weil du deine EGOISTISCHEN Spiele durchsetzen wolltest…du hast nicht weiter gedacht, als es deine verdammte Naivität zuließ. Dir war scheiß egal, was aus ihr wird…Hauptsache, du hast deinen Spaß! Wegen DIR haben die Ärzte sie sterben lassen! Weil kein Geld da war für die Versorgung! Mistkerl…das wolltest du! Das hast du von ANFANG AN geplant!“
 

Aya war nicht mehr er selbst. Hass wucherte in eiskalten und doch verbrennend heißen Strängen aus ihm und ließ ihn hässlich werden. Dinge hervor speien, die er ernst meinte…bitterernst. Ließ ihn bedrohlich auf den anderen Mann zugehen…
 

Es hatte keinen Zweck, fiel Schuldig wieder ein, als er bewusst einen Schritt zurück trat. Er musste Abstand gewinnen. Die Worte schmerzten und auch wenn es von ihm kaum bemerkt wurde, da er zu sehr auf die Worte achtete, in ihm begann es zu brodeln. Ein Beben, das ein Zittern hervorrief, welches wie ein Tsunami Wellen auslöste, die in ihm hoch aufbrandeten und etwas in seinem Inneren zerstörten.

"Du weißt, dass es nicht stimmt...nicht so wie du es sagst! Ich verstehe, dass du wütend bist, aber sie starb nicht wegen mir." Er schüttelte den Kopf, das Gesicht Ran zugewandt. Er hob leicht die Hände, als wolle er zeigen, dass er nicht schuld war.

Aber war er es wirklich nicht?

Er war doch Schuldig, nicht wahr? Hatte er Recht? Mit allem? Was sollte er tun? Er hatte keinen Zugang zu Rans Geist. Er konnte sich nicht damit behelfen, wie konnte er ihn mit Worten beruhigen? Er hatte so etwas noch nie gemacht…

Schuldig fühlte sich hilflos, er stand dem Mann gegenüber, für den er etwas fühlte und der zerriss ihn innerlich entzwei mit seinem Hass.
 

Aya gab nichts auf die friedfertig erhobenen Hände…nichts auf die beruhigende, verletzte Stimme des Telepathen. Wut war wie ein Springteufel in ihm hochgestiegen, entfachte seinen inneren Zorn wie einen Vulkan, der nun aufbrach. Auf die Trauer folgte Unverständnis…und darauf Wut. Bahnbrechende Wut auf jeden, der Schuld war. Ein Teufelskreis, der nun ein weiteres Mal seinen Zenit erreicht hatte.
 

„Du hast sie mir gestohlen...die fünf Tage“, zischte er dunkel und packte Schuldig am Kragen. Ließ alles gehen, was sich in den letzten Wochen aufgestaut hatte. Jedes Gefühl, einschließlich überwältigender Hilflosigkeit verschaffte sich nun Gehör…und das nicht alleine durch seine zornigen Augen. „Mit ABSICHT!“
 

War Ran deshalb hier geblieben? War er deshalb nicht mit dem Blonden mitgegangen?

Um ihm diese Dinge vorzuwerfen? Um ihm vorzuwerfen, dass er ihm die Zeit mit seiner Schwester gestohlen hatte?

Schuldig konnte seine Beobachtungen mit dem, was er von dem Mann wusste und bereits kannte überein bringen und kam auf kein schönes Ergebnis.

Oder machte er das, weil er wollte, dass Schuldig sich provozieren ließ und seinem Wunsch nach Tötung nachkam? Sollte er gehen? Ihn allein lassen, damit er sich beruhigte?

Aber würde er sich damit nur noch mehr hineinsteigern? Die unerbittlichen Hände hatten seine Kleidung gepackt und er war unfähig Gewalt gegen den aufgebrachten Mann anzuwenden. Wo war sein anderes Ich, wenn er es brauchte?
 

Schuldig musste versuchen, das anders zu machen, ihn zu beruhigen, denn das, was in den violetten Augen leuchtete war Irrationalität, der Gegenwart fern.

Die Trauer hatte Ran fest im Griff, ließ sie mit Wut um sich schlagen.

Schuldig ergriff nun seinerseits die Schultern des Anderen.

"Hör auf damit!", sagte er fest. "Ran! Das ist völlig irrational."

In gewisser Weise hatte er Recht, doch Schuldig konnte ihm jetzt nicht auf eine sachliche Ebene ziehen, Ran war viel zu weit von der Realität entfernt, war auf einer Gefühlsebene, auf die Schuldig nicht konnte. Er konnte nicht um seine Schwester trauern, er konnte dieses Gefühl nicht nachempfinden.
 

„Es ist die Wahrheit“, hielt eben dieser dagegen und zischte erbost. Verkrampfte seine Hände in dem Pullover des größeren Mannes. „Erst…arbeitest du für Takatori…dann nimmst du sie mir weg und schließlich…“ Aya stockte, wusste nicht, wie er die unzähligen Vorwürfe in seinem Kopf am Besten veräußern sollte. Er wollte…Gewalt. Wollte Schuldig schlagen, wieder und wieder. Dem Telepathen zusetzen dafür, dass er sie…

„Du hast sie vernachlässigt!“, brach es aus ihm heraus. „Dich nicht genug um sie gekümmert! Nicht genug Geld herbei geschafft!“ Vorwürfe um Vorwürfe verließen seine Lippen, sprudelten frei heraus.
 

Schuldig wurde durch diese Worte klar, dass Ran nicht ihn meinte, sondern sich selbst. Als hätte er einen dumpfen Schlag in seine Magengrube bekommen wurde ihm das bewusst und er schüttelte verneinend den Kopf.

"Nein, Ran hör auf damit. Hör auf dich selbst zu verletzen, verdammt!", schrie nun Schuldig unbeherrscht dazwischen. Er war aufgewühlt durch seine Erkenntnis, durch die Worte. Diese Gefühle brachen sich in seinen Augen bahn, waren gut ablesbar, so offen lagen sie dort, so verbissen hielten die Hände die Schultern des Mannes vor sich fest.
 

Er war so sehr darauf konzentriert und bemerkte den Schatten in seinem Augenwinkel erst sehr spät und riss den Kopf hektisch herum.

Crawford stand vor ihm und blickte ihn mit Eiseskälte und einer unnahbaren Aura an, dass Schuldig das Gefühl hatte der Amerikaner wäre ihm komplett fremd. Doch Crawford kam nun näher, pflückte sich Rans Hand mit hartem Griff von seinem Kragen und Schuldig trat automatisch einen Schritt zurück. Warum er das tat darüber dachte er nicht nach, es war als müsse er Crawford Raum geben, obwohl dieser Ran von ihm entfernte.
 

"Genug! Wenn du es nicht ertragen kannst, dann heul wo anders herum", sagte Brad und ließ seine Hand sprechen, als sie auf die Wange niedersauste um Ran wieder zur Vernunft zu bringen. Er hatte es satt, ständig hinter den beiden aufräumen zu müssen.

Er war wütend gewesen als er die Vision gesehen hatte, dass Aya noch immer bei Schuldig weilte. Seine gestrige Vision hatte ihm gezeigt, dass der große Blonde des Kritiker Teams vorbeikommen würde und er war davon ausgegangen, dass Aya mit zurückgehen würde. Aber nein, scheinbar war dem nicht so.

Stattdessen machte er Schuldig noch ganz verrückt, so wie er in dessen blaugrünen Augen ablesen konnte, die ihn aufgewühlt und hilflos anblickten.

Er hasste es, wenn das passierte. Wenn jemand kam und Schuldig schwächte.
 

Crawford ließ es dabei bewenden, gab Ran einen verächtlichen Stoß mit als er ihn losließ und auf die Couch setzen ließ.

Er richtete sein Augenmerk auf Schuldig. "Es muss endlich Schluss damit sein, Schuldig. Wie lange willst du diese Farce noch weiter gedeihen lassen? Willst du es soweit treiben, bis dir Kritiker im Nacken hängt? Willst du das? Ich will es nicht!" herrschte er Schuldig an, sich nicht näher dazu äußernd, ob er nicht wollte, dass das Team durch Kritiker gefährdet wäre, oder Schuldig im Speziellen.
 

Schuldig war wie vor den Kopf gestoßen. War er denn unfähig seine ‚Sachen’ selbst zu regeln? Mit hängenden Armen stand er da und befand, dass es tatsächlich so ausgesehen haben mochte.
 

Die sich unter Aya befindende Couch tat ihm keinen Abbruch für den Schmerz in seiner Wange. Für den Schmerz in seinem Inneren, dem er ausgesetzt war. Schuldig war…er. Nur er. Crawfords Ohrfeige, die plötzliche Gewalt hatte ihm das klar gemacht. Schuld war er selbst. Er hatte sich nicht um sie gekümmert, hatte sie alleine gelassen…hatte sich von ihr trennen lassen.

Nur er, sonst niemand. Ihm galt seine Wut, auf Schuldig hatte er sie projiziert.

Doch genau diese Wut wandelte sich nun wieder in Verzweiflung, in Hass auf sich selbst. Hass, der ihm die Tränen in die Augen schießen ließ.
 

Er schluckte sie herunter, starrte vor sich auf die Couch. Sein Blick war den anderen beiden Männern abgewandt, wie auch seine Gestalt. Er konnte ihnen nicht in die Augen sehen…speziell Schuldig nicht.

Was hatte…Crawford gesagt? Wenn er es nicht ertragen konnte? Wie…konnte man den Tod des einzig geliebten Mensches ertragen? Wie konnte man ertragen, plötzlich alleine zu sein? Aya verstand es nicht, sah sich nicht in der Lage dazu…Also konnte er gehen. Er war zu schwach. Ja…das sah er jetzt…sah er in den Worten des Amerikaners. Was hatte er für ein Recht, hier zu bleiben und Schuldig auszunutzen? Ihm vielleicht noch Kritiker zu schicken? Er war hier unerwünscht…was nicht anders zu erwarten war als Feind.
 

Es war nun doch eine einzelne, suizidale Träne, die sich seine Wange hinunter stahl, als sich so etwas wie Pflichtgefühl in ihn schlich. Kritiker sollten nicht hierhin kommen…das hatte ihm sein Stolz verboten. Also sollte er dieses Versprechen auch einlösen…ganz gleich, ob er sich verstoßen fühlte.

Aya stand leise auf, schenkte weder Schuldig noch Crawford Beachtung. Er nutzte nur aus…war sich nicht bewusst gewesen, was das für Konsequenzen hatte…

Er wandte sich Richtung Kleiderschrank. Schuldig würde sicherlich nichts dagegen haben, wenn er sich etwas borgte…wenn er dann nur von hier verschwand. Ihm Kritiker nicht auf den Hals hetzte. Wie ein Mantra wiederholte er diese Worte und ergriff stumm die großen Flügel des Möbelstücks, griff blind vor in seinen Augen tanzenden Tränen nach irgendetwas…
 

Schuldig verfolgte das übereilte Aufstehen und unsichere, aber zielstrebige Flüchten von Aya zu seinem Schrank mit zunehmender Angst. Angewidert verzog er die Lippen und in die blaugrünen Augen legte sich ein warnendes Blitzen. Diese Augen richteten sich langsam wieder auf Crawford, maßen den Mann mit anderen Augen.

"Solltest du noch einmal, ein einziges Mal deine Hand gegen meinen Besitz erheben, zermalme ich dich wie ein Körnchen Staub unter meinem Schuh. Er…", Schuldig deutete mit dem Kinn fast beiläufig zu Aya hin, der sich aus seinem Schrank eine Jacke zog. „...gehört mir, alles an ihm. Dir gehört nichts", zischte Schuldig und sah wie die Kälte in Crawfords Augen zu seinem bösartigen Blick in Reaktion trat.

Schuldig wandte sich ab, ging zu Aya klappte den Schrank zu und zog den Mann an sich, umarmte ihn fest. "Lauf nicht davon", sagte er rau. "Du bist hier willkommen, das weißt du."

Schuldig versuchte sich zu beruhigen, doch solange die Gefahr in Form von Crawford im Raum war, konnte er sich nicht entspannen, konnte er diese lauernde Unruhe nicht verdrängen.
 

Besitz?

Alleine dieses Wort geisterte in Ayas verstörten Gedankengängen. Besitz. Er war Schuldigs Besitz. Erbittert wehrte er sich gegen die Hände, die ihn festhielten, die Arme, die ihn gefangen hielten. Es war Ruhe, die er empfand, dass Schuldig ihn nicht verstieß. Es war Unverständnis, das in ihm wütete ob der Degradierung, die ihm der Deutsche hatte zukommen lassen. Er gehörte niemandem…Er war kein Stück, das man auf einem Basar erstand…Aya schluchzte leise, hatte sich nicht unter Kontrolle, als ihn das an kaum vergangene Tage erinnerte.

Er stemmte seine Hände gegen den Körper des größeren Mannes, stieß ihn mit geschwächter Kraft von sich. „Aber nicht als dein BESITZ! Ich GEHÖRE dir nicht!“, schrie er in die Stille. Lieber…sich verloren fühlen…als sich selbst aufzugeben zugunsten eines anderen.
 

Schuldigs Blick flackerte, wankte zwischen zwei Empfindungen hin und her, wollte den anderen Mann bestätigen, wollte dessen Worte jedoch auch widerlegen.

Er kniff die Augen kurz zusammen, versuchte sich zu konzentrieren doch die Kälte und das, was in ihm lauerte, hielt ihn fest im Griff. "In seinen Augen musst du mir gehören", wich er aus, hoffte, dass sich Ran beruhigte, nicht ging, doch er konnte sich kaum beherrschen, dunkel war seine Stimme, irrlichternd der Blick, der auf Aya lag.
 

„Nein…“, fuhr Aya hoch, nicht in der Lage, rational zu Denken oder gar zu handeln. Es war zuviel gewesen, alles zuviel. „Dann soll er mich töten, aber ich gehöre dir nicht.“ Leise, ungläubige Worte drangen von Ayas Lippen, als er einen weiteren Schritt zurücktrat und sein Blick zu Crawford flackerte. Das hatten sie schon einmal gehabt. Er wollte es nicht noch einmal. Nicht noch einmal…

Erinnerungen konkurrierten in ihm. Worte, die Schuldig gesagt hatte. Seine Taten. Er hatte ihn gehen lassen, obwohl es ihm nicht leicht gefallen war. War das denn gar nichts gewesen?

Oder sollte er die Worte des anderen Mannes wörtlich nehmen? Welche Seite des Telepathen sprach zu ihm? War das nicht auch egal? Würde die eine nicht Kontrolle über die andere übernehmen? Schuldigs Worte schmerzten, projizierten den Schmerz schon beinahe auf seinen Körper.
 

Dieser machte einen Schritt auf Aya zu, engte diesen vermutlich noch mehr ein, doch er suchte die Nähe des Anderen, beobachtete die furchtsame Gestalt, das Wechselspiel der Emotionen in diesem Blick, der ihn so faszinierte. Etwas in ihm ließ sich von diesem Anblick erweichen, aber nicht verdrängen.

Vorsichtig, als würde er ein scheues Tier berühren wollen, hob er die Hand. "Bitte, trete in meinen Schutz, weiter will ich nichts", sagte er und runzelte gleichzeitig die Stirn. Was redete er da?

"Ran, bitte, vertrau mir."

Verwirrt blickte er den Rothaarigen, der ihm wie zur Flucht bereit gegenüberstand, Crawford im Rücken fast vergessen.
 

Aya zuckte vor eben dieser Hand zurück, ließ seine Augen unruhig über die vor ihm stehende Gestalt gleiten. Vertrauen? Schutz?

Seine Gedanken konnten und wollten ihm nicht gehorchen, als er sich wiederum auf die Worte des Telepathen konzentrierte, die doch so sehr im Gegensatz zu dem Vorherigen standen. In dessen Schutz? Wozu brauchte er Schutz, wenn das, was er ebenso wie das Leben akzeptierte, der Tod war? Wenn ihm außer völliger Selbstaufgabe jedes Ende dieser Trauer recht war?
 

Dennoch…wollte er nicht einfach so aufgeben. Nicht jetzt. Er würde es noch versuchen, würde noch einmal versuchen zu leben. Wenn er scheiterte…dann akzeptierte er das.

Dazu gehörte auch, dass er wirklich versuchte, Schuldig…zu glauben.

In mühevoller Arbeit entspannte er sich schließlich, sah davon ab, noch einen Schritt zurückzutreten. Fixierte ausschließlich den Telepathen, wie er vor ihm stand.
 

Schuldig ließ die Hand wieder sinken und als wäre Etwas in ihm durch Rans Akzeptanz befriedigt worden, wurde sein Blick ruhiger, weniger unstet, doch noch immer lauerte etwas Dunkles dahinter. Er schloss für einen Moment die Augen, die minimale Veränderung in Ran erkennend und diese positiv bewertend drehte er sich um zu Crawford.

"Er wird hier bleiben, Crawford, daran kannst du nichts ändern. Das hat nichts mit Kritiker zu tun... wie du sicher weißt...", lächelte er spöttisch. ‚Danke für deine Hilfe, Brad, geh besser. Ich weiß nicht, warum du dich einmischst, ich kann meine Dinge selbst regeln, oder hast du immer noch ständig Angst, dass ich Mist baue?'

Er beruhigte sich, als er mit dem Anderen in Gedanken kommunizierte, wollte diesen nicht noch einmal verletzen, dazu schätzte er ihn zu sehr, doch er ließ es nicht zu, dass Brad Ran von ihm weg trieb. Jetzt, wo er so nah bei ihm war.

‚Du solltest dich ausruhen, Schuldig. Du schwankst in deinen Stimmungen', war das Einzige, was Brad antwortete, bevor er schweigend die Wohnung verließ.
 

Als wäre eine Last von ihm abgefallen atmete Schuldig aus und entfernte sich von Ran, ging ins Badezimmer und drehte das kalte Wasser auf.
 

Wortlos blieb Aya als Einziger zurück, wusste ein paar lange Momente nicht, was er mit der überwältigenden Stille anfangen sollte, die ihn umgab. Crawford…nach langen Momenten wieder verschwunden. Schuldig ebenso. Nur er stand noch hier, hielt sich die brennende Wange. Was hatte er getan? Was hatte er gedacht? Wie hatte er so dermaßen überreagieren können? Wie hatte er dem Mann, der ihn gestern hier aufgenommen hatte, so rücksichtslos seine eigenen Fehler auf den Leib schneidern können?

Aya hasste das, was die Trauer aus ihm machte, wie ungerecht sie ihn werden ließ. Er bedauerte, was er Schuldig gesagt hatte.

Er seufzte stumm und stieg müde die paar Stufen zum Bett empor. Er setzte sich langsam, fast wie ein alter Mann.

Aya ließ sich zurückfallen, zog die Beine zu sich hoch. Hatte das Bedürfnis, sich einzurollen und unter der dicken Daunendecke zu verschwinden. Ganz einfach weil er nichts mehr von der Welt wollte.

Und er tat genau das.
 


 

Schuldig blickte sich im Spiegel an, das Wasser perlte von seinem Gesicht ab.

"Du bist verrückt", sagte er ernst zu seinem Spiegelbild und kurz flackerte Verzweiflung in seinem Gesicht auf. Vielleicht wäre ein Aufenthalt in der Psychiatrie doch nicht zu verhehlen. "Oh Gott", fuhr er leise auf schloss die Augen und wandte sich ab.

Was tat er hier?, wiederholte er die Frage, die er in der letzten Zeit nur allzu oft gestellt hatte.

Crawford hatte mit all dem, was er sagte, Recht. So verdammt Recht. Schuldig war zu labil um jemanden wie Aya um sich zu haben, der ständig Nährboden für Reibereien bot. Er wollte ihn nicht verletzen und selbst kam er nicht zur Ruhe. Es war verrückt, die ganze Situation war verrückt. Und seine Person machte das nicht besser. Schuldig, du kriegst einfach nichts auf die Reihe, gar nichts...

Rasch trocknete er sich das Gesicht ab um danach wieder in den Wohnraum zu gehen.
 

Es war für Schuldig nicht verwunderlich, dass Ran sich in den Schutz des Bettes und der Decken zurückgezogen hatte. Verständlich, wie Schuldig müde lächelnd befand.

Er fuhr sich kurz die störenden Haare hinter das linke Ohr und überlegte sich, was er eigentlich machen wollte, bevor es zu diesem Ausbruch von Ran gekommen war.

Ach ja...er wollte etwas kochen. Sein Hunger war wieder da, und Aya hatte mit Sicherheit noch nicht gegessen, vermutlich noch nicht einmal etwas getrunken, seit er aufgestanden war.

Zeit, dies zu ändern.

Ein wenig Angst hatte er schon, dass Ran jetzt wieder in den Hungerstreik treten würde und er ihn überreden musste.

Ein Grinsen schlich sich auf die Lippen als er damit begann, das zu kochen, was ihm für den Moment am Besten erschien. "Mit Speck fängt man Mäuse ...und mit Honig ...Bienen", flüsterte er vor sich hin, als er die Zutaten heraussuchte...
 

o~
 

Geräusche drangen nach einiger Zeit durch den dicken Wall an Daunen um ihn herum. Geräusche fern vom Bett…Geräusche, die ihn beruhigten. Ganz gleich, was Schuldig gesagt hatte, ganz gleich, wie viele Worte Crawfords sich in sein Innerstes gebohrt hatten, er hatte einfach nicht mehr die Kraft dazu, von hier fort zu gehen. Er wollte es nicht. Wie ein weidwundes Tier, das sich zum Sterben einen ruhigen Platz gesucht hatte…so lag er hier nun und wartete. Auf nichts. Es gab nichts mehr, auf das er warten und das er erwarten konnte. Das IHN erwarten würde, wenn er von seiner Arbeit nach Hause kam.
 

Die Routine, die seine letzten Jahre bestimmt hatte, war durchbrochen. Zerstört. Da würde es kein Krankenhaus mehr geben, in das er gehen würde. Keine schlafenden, sanften Gesichtszüge, auf denen all seine Hoffnung lag. Damals…ja. Da hatte er sich eine Illusion erschaffen und geglaubt, dass sie leben könnte. Doch diese Illusion war nun zerplatzt. Schmerzte und quälte ihn. Legte eiserne Ketten um seinen Brustkorb, die ihn zu ersticken drohten.
 

Aya presste seine Stirn in das Kissen. Seine Zähne aufeinander. Er würde es versuchen…würde wirklich versuchen, damit zu leben. Er würde jetzt noch nicht aufgeben…das wollte er nicht. Auch wenn alles in ihm danach schrie, seiner Schwester zu folgen.

Doch…da waren Menschen, die ihn brauchten, die ER traurig machen würde, wenn er ginge. Menschen, die er nie wieder sehen würde. Und Aya war sich nicht sicher, ob er das wirklich wollte.
 

Er atmete tief ein und tauchte langsam unter der Decke hervor. Noch ein Atemzug, dann richtete er sich leise auf und sah, wie Schuldig in der Küche stand…irgendetwas zubereitete. Was brachte es ihm, noch weiter hier zu liegen und sich mit seinen Gedanken zu quälen? Zuzusehen, wie sie ihn auffraßen? Wäre da ein wenig Ablenkung nicht genau das Richtige?
 

Er erhob sich aus dem Bett und näherte sich vorsichtig der Küche. Das weidwunde Tier, das noch lebte…Seine Augen kamen auf der Pfanne zu ruhen und sahen, was seine Nase vorher schon unbewusst gerochen hatte. Süße, goldbraune Telepathenbällchen. Er hob den Blick, hin zu Schuldigs Gesicht.
 

Dieser bemerkte Ran und hob den Blick von seiner Speise, die er zubereitet hatte. Er zauberte ein kleines Lächeln auf sein Gesicht, welches fast zu einem spitzbübischen Grinsen auswuchs, als ihm die Bedeutung der Bällchen in den Sinn kam. Sie hatten da eine nette Unterhaltung gehabt, als er sie Ran gefüttert hatte.

"Ist gleich fertig...willst du mir die Schälchen herausgeben? Sie stehen im Schrank neben den Süßigkeiten."

Er leckte sich den Daumen ab, der etwas vom Honig abbekommen hatte und sah so Ran an, der immer noch vor ihm stand, etwas schüchtern in gemessenem Abstand.
 

Ayas Augen folgten den Lippen, die sich um die emsigen Finger schlossen. Saugten ihn auf, den Akt der Unbekümmertheit, bevor er sich auf die Worte seines Gegenübers besann. Neben dem Süßigkeitenschrank. Er drehte sich langsam um und wunderte sich, dass er genau wusste, wo eben dieser sich befand. Warum hatte sein Gehirn das als so wichtig eingestuft, dass er nun wie selbstverständlich danach griff und die geforderten Schälchen herauszog und sie vor sich auf die Anrichte stellte?
 

Er wusste es nicht…wie so vieles.
 

Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über Ayas Gesicht, bevor er schließlich zu sprechen begann. „Youji…hat sie Telepathenbällchen genannt.“ Ein vorsichtiges, leises Schnauben. „Aber gegessen…hat er sie. Und die Anderen auch.“
 

Die Teigbällchen hatten die gewünschte Farbe, als Schuldig sie von dem Kochfeld zog und den Abzug ausschaltete. Er drehte sich um und kramte in einer Schublade nach einem geeigneten Besteck als er die Worte hörte. Sein Kopf ruckte zu Ran hinüber, hörte das Schnauben, welches ihn angesichts der Worte fast schon als Verteidigung seiner selbst vorkamen und musste plötzlich lauthals lachen.
 

"Telepathen...WAS?"
 

Er stützte sich auf der Arbeitsplatte ab, wusste nicht, sollte er Ran ansehen, die...Telepathen...Bällchen...oder sich einfach hinsetzen...weil es zu "…absurd...das ist einfach bescheuert!", lachte er.
 

"Mein Gott, der Typ hat Humor! Das gibt's nicht", griente er noch immer Ran anstarrend. "Oh man, wie soll ich die Dinger jetzt essen...kann doch meine eigenen Bällchen nicht aufessen!"
 

Schon wieder entfuhr ihm eine kleine Lachsalve als er an Ran herantrat, die Schälchen nahm und sie zu der Pfanne brachte um die ...Bällchen zu verteilen.
 

Erst jetzt…nachdem er Schuldig für ein paar lange Momente betrachtet hatte, ging Aya die Bedeutung der Telepathenbällchen auf. Auch er musste lächeln, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Es tat gut zu sehen, dass der andere Mann lachte und ihm nicht zürnte. Es beruhigte Aya, ließ ihn selbst etwas positiver denken.

Sein Blick schweifte auf die Pfanne, zu den Bällchen. Auf Schuldigs Augen zurück. Augen, nicht Bällchen. Auch wenn das durch Schuldig eben heraufbeschworene Bild vor seinem inneren Kino aufflimmerte und ihm noch ein weiteres kleines, beinahe unsichtbares Lächeln abrang.

„Na wenn sie so aussehen….“, er bewunderte unwillkürlich die goldbraune Farbe derselbigen, „…würde ich mir Gedanken machen. Nicht, dass sie so gerne genascht werden, wie die hier.“ Er deutete leicht auf die Pfanne. Erinnerte sich an den Geschmack. Weihnachten und Karibik. Ach ja…es war ja Weihnachten…
 

Bleib stehen, befahl sich Schuldig sofort, nachdem Ran das gesagt hatte.

Er hätte ihn nämlich am Liebsten an sich gerissen und umarmt, ihn aus dieser Tranceähnlichen Haltung, reißen wollen. Dieses Lächeln welches er schenkte, ohne zu ahnen was es in Schuldig anrichtete. Und dann dieser Satz, der alles andere als ein harmloses Witzchen war, so wie Ran ihn anblickte, dann in die Pfanne sah. Er sagte es ohne Anspielung, als wäre es nur darum gegangen das Kochrezept zu erfahren.

Etwas ratlos fuhrwerkte Schuldig in seinen Haaren herum und verzog die Lippen unwillig. "Naschen? …das heißt doch gleich wieder ...beißen, oder? Kommt wirklich darauf an, wie dieses ‚Naschen’ definiert wird...dann könnte ich mich damit anfreunden...aber...ich zweifle noch daran...außerdem…", fing er an eine Schnute zu ziehen und entfernte sich mit den Schalen um sie auf den Tisch zu stellen. "Jeden lasse ich nicht da dran", sagte er harmlos dahin, Schulter zuckend.

"Magst du Früchte dazu? Was zu trinken? Tee? Kaffee?"
 

Ayas Zug um seine Lippen blieb. „Wäre ja auch schlimm, wenn…“, gab er zurück und bewegte sich ebenso zum Tisch, dort, wo ihn die einladenden Bällchen erwarteten. Er ließ sich auf einen der Barhocker nieder, zog leicht an den etwas großen Ärmeln des Schlafanzuges. Er konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt, auf Schuldig und dessen Frage. Auf das Gespräch, das sie führten.

„Tee wäre nicht schlecht“, erwiderte er schließlich und stellte seine nackten Füße übereinander, die wie immer nicht genug Wärme bekamen. Aber das war seine eigene Schuld, hätte er doch gut und gerne an warme Socken denken können…gleich. Nach einer heißen Dusche.
 

Er ließ seinen Blick nach draußen schweifen, verlor sich in den unzähligen Schneeflocken, die vor dem großen Fenster über der Stadt tanzten. Wie kurzlebig sie doch waren…kaum lagen sie und erreichten ihr Lebensziel, schon verglühten sie auf dem schmutzigen Asphalt und waren vergessen. Wie unzählige ihrer Art auch. Achtlos wurden sie niedergetrampelt, zur Seite gefegt, nicht gewürdigt. Er seufzte innerlich schwer. Nichts in dieser Welt war von Dauer. Rein gar nichts.
 

Schuldig kam dem Wunsch nach, richtete alles an und setzte sich schließlich Ran gegenüber. So weit so gut, alles verlief augenscheinlich normal. Nun insoweit man von Normalität in dieser ganzen vertrackten Sache sprechen konnte. Aber es war momentan kontrollierbar, lenkbar und damit war er schon zufrieden.

"Wie kam der Schnüffler eigentlich auf ...diesen Ausdruck? War er nicht sauer? Ich meine, wie hat er das in Kombination gebracht?", fragte Schuldig neugierig, Ran sein Schälchen zuschiebend, damit er sich eines der Bällchen herausfischte. "Hmm...Eis wäre dazu sicher auch nicht übel gewesen", sinnierte er mit zusammengezogenen Brauen auf Rans Antwort wartend.

Er genoss die Ruhe zwischen ihnen und doch spürte Schuldig untrüglich, dass etwas da war, was er nicht greifen oder benennen konnte. Eine Anziehung, der er sich nicht entziehen konnte...oder ...wollte.

Ein Lächeln begleitete seine Worte.
 

Ein ruhiger Blick traf eben dieses Lächeln, als Aya seine Aufmerksamkeit erneut auf den Telepathen richtete. Sich mit Gewalt an dessen Worte festklammerte. Schnüffler? Youji also. Was für eine betreffende Bezeichnung. Hatten Schwarz für sie alle solch liebevolle Kosenamen? Blumenkind…Rotfuchs…Schnüffler…

Aya ließ seine Erinnerungen zurückstreifen. „Ich hatte sie gemacht…und hatte ihm erzählt, woher sie stammen. Er hatte gewissermaßen Angst, dass ihn das Telepathenbällchen anfällt. Aber sauer war er nicht…er hat gelacht“, gab er das wieder, was er noch wusste und nahm sich eines der Bällchen, hielt es einen Moment unter intensiver Betrachtung gegen das Licht. „Nur Ken und Omi haben sich gewundert…“…ebenso wie sie misstrauisch geworden waren, ergänzte er in Gedanken.
 

Sich dieses gemeinsame Essen vorstellend, grinste Schuldig etwas schräg.

"Sie wissen auch nicht so viel wie ...wie heißt er noch gleich... Yohji nennt ihr ihn, oder? Uns sind lediglich die Codenamen vertraut, und naja was ich so aufschnappe, eben ...auch", entschuldigte er sich gleich für seine Unhöflichkeit. Schließlich wollte er das Gespräch in sicheren Bahnen wissen und nicht in gefährliches Fahrwasser lenken.

"Ist der Kleine...Omi...", fing er an, verstummte augenblicklich, nur um nochmals wieder anzusetzen.

"...ist er sehr geknickt?"
 

Aya schnaubte wiederum leise, entschuldigte die Frechheit des Telepathen mit dieser simplen Geste. Wenn sich jemand entschuldigen musste, dann er. Und doch drangen die so einfachen Worte nicht über seine Lippen. Doch wollte er lieber Taten als Worte sprechen lassen.

„Youji heißt er…ja. Er war nicht sehr erfreut, dass du ihn dazu benutzt hast, um mit mir zu sprechen. Er traut dir nicht.“ Er zuckte mit den Schultern…musste einen Moment über die nächste Frage des anderen Mannes nachdenken. Omi…geknickt. Ein Thema, das ihn mehr als schmerzte, fühlte er sich für ihren Jüngsten doch mehr als verantwortlich.

Aya legte das angefangene Bällchen zurück in die Schüssel und starrte auf die Tischplatte. „Er ist enttäuscht, dass ich ihm nicht vertraut habe. Ich hatte eben Angst, ihm…davon zu erzählen. Hatte Angst, dass ich meine…Schwester dadurch gefährden könnte…“ Seine Stimme war leiser geworden. Hieß das, er konnte Omi jetzt alles erzählen? Nun, da sie tot war…und er durch sie nicht mehr erpressbar.
 

Schuldig verkniff es sich, zu antworten, dass Ran jetzt Omi alles erzählen konnte. Darauf würde der Mann wohl auch selbst kommen und viele Dinge wurden schmerzhafter, wenn man sie aussprach.

Er beobachtete wie Ran sein Bällchen, welches er zuvor noch scheinbar mit Appetit angesehen hatte, ablegte und schluckte sein eigenes hinunter.

"Es...wird sich sicher alles wieder einrenken, er versteht doch sicher, dass ..." Wieder verstummte er. Das war wirklich nicht leicht, solche Sachen zu besprechen. Solche Sachen, die unter die Sparte ‚zwischenmenschliche Probleme’ fielen. In den Gedanken der Anderen zu wühlen war einfacher als ihren Blick zu ertragen, ihre Trauer zu fühlen. Vor allem, wenn diese Gefühle sich auf einen selbst übertrugen, durch Nähe. Oder lag es vielmehr an der Tatsache, dass ihm an dem Mann etwas lag? Dass er ihn für sich gewinnen wollte?

"Du kannst es ihm erzählen, wenn du dazu bereit bist."
 

„Ja…irgendwann kann ich das…“, erwiderte Aya langsam und griff erneut nach der Süßspeise, auch wenn er keinen wirklichen Hunger hatte. Doch er wollte diese Süße schmecken, dieses Knusprige…

Dass sein Magen dadurch mehr Arbeit hatte, war ihm egal. „Aber….Crawford hatte Recht, irgendwann WIRD Kritiker hier auftauchen…sie haben ihre Agenten überall. Ich will nicht, dass sie jemand anderen töten, wenn sie auf mich aus sind…“ Seine Stimme war mehr als ruhig geworden. Ja…er kannte die Gefahren seines Hierseins. Er wusste, dass er Kritiker auf Dauer nicht entkommen würde, wenn er versuchte, vor ihnen zu fliehen. Dazu waren sie zu mächtig.
 

Den Kopf leicht schief legend, blickte Schuldig auf die trübselige Gestalt vor sich, seine Hand schlich sich zu Ayas Rechter, die neben der Schale lag, strich mit einem zarten Hauch seines Daumens über die Oberfläche. Eine scheue Geste, einem plötzlichen Bedürfnis nach Nähe geschuldet.

"Glaubst du, jemand könnte sich mit einer derartigen Absicht diesem Wohnhaus nähern? Telepathie...kennt keine örtliche Begrenzung." Er offenbarte dies um Ran zu zeigen, dass er ihm vertraute, dass der Andere ihm vertrauen sollte. Es war sicher nicht leicht und er erwartete nichts.

Er zog seine Hand wieder etwas zurück, wollte damit nur Sicherheit, keine Verunsicherung erreichen.

"Crawford...hat fast immer Recht", seufzte Schuldig ob dieses Umstandes. "Aber eben nur ‚fast immer’, Ran.

Ich möchte dir gerne sagen, dass du hier in Sicherheit bist, dass sie dich nie hier finden werden, aber du weißt so gut wie ich, dass es nur eine sinnlose Lüge wäre um dich zu beruhigen. Wir sind keine Kinder, die das glauben... Aber du bist hier sicherer als irgendwo sonst. Und diese ..." Wie sollte er es am Besten sagen, damit es nicht voller Vorurteile klang, dachte er zynisch. "...diese ‚Leute von Kritiker' sie unterschätzen mich immer noch. Du bist stark, Ran, vergiss das nicht."
 

Aya starrte auf seine Hand. Auf die Haut, die prickelte nach Schuldigs Berührung. Eben weil nur wenig jemals gewagt hatten, dies zu tun. Youji…höchstens. Omi vielleicht auch noch, aber nur, wenn er mit hohem Fieber im Bett gelegen hatte. Doch nicht so offen und zwanglos, wie es Schuldig tat und Aya sich unwillkürlich fragen ließ, wie er selbst das ertragen konnte. War es ihm egal? Im Hinblick auf den Tod seiner Schwester einfach egal, ob Schuldig ihn anfasste? Er bestand nicht auf seinen sonstigen Passus. Doch vielleicht lag es auch ganz einfach an der Berührung. Vielleicht war diese Geste nichts, was Aya als gefährlich einstufte.

Er sah auf, fixierte sich wie schon so viele Male zuvor auf die ihm entgegen gebrachten, leicht akzentuierten Worte.

„Keine Grenzen?“, lächelte er schwach. „Das wissen Kritiker nicht…aufgrund ihrer bisherigen Forschung sind sie davon ausgegangen, dass es räumlich begrenzt ist.“ Was erst zu dieser ganzen, vertrackten Situation geführt hatte. Kritikers Fehler, den er hatte einbüßen müssen. Nicht, dass er es wirklich genossen hätte, Schuldig den Wissenschaftlern auszuliefern…im Nachhinein nicht. Doch da hatte er nur seine Pflicht getan…eine Pflicht, von der er nun entbunden war.
 

Er atmete tief ein, drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Er war frei, aber er war alleine. Was momentan allerdings nicht so schien…hatte er doch ständige, mal mehr, mal weniger ruhige Gesellschaft. Die ihn stärkte? Er wusste es nicht.

Was wäre denn geschehen, wenn er nicht hier gelandet wäre? Wo wäre er dann gewesen? Aya hatte keine Antwort auf diese Fragen, wusste er doch nicht wirklich, wie er hierher gefunden hatte und was passiert war, bevor er in diesem warmen Bett zu sich gekommen war. Mit dem Teddybären in den Händen. Ein beruhigendes Gefühl, ebenso wie die Sicherheit, die Schuldig ihm nun versprochen hatte.
 

Die er auch brauchte, wenn er stark war?
 

„Ich muss irgendwann zu ihnen zurück….zu Weiß. Ich kann sie nicht alleine lassen…“
 

"Du musst zu deinen Freunden zurück...du musst nicht zu Weiß zurück. Solange sie Weiß sind, kannst du nicht zurück, Ran. Außer ...das mit Kritiker erledigt sich ...irgendwann."

Er schwieg, aß weiter. Erst mit dem Essen hatte sich sein Magen wirklich gemeldet.

Er leerte seine Kaffeetasse, überdachte das von ihm Gesagte noch einmal.

"Klar kannst du zu ihnen zurück, mit der Aussicht, weiterhin von Kritiker observiert und in Anspruch genommen zu werden", fügte er noch an. Auch wenn es bedrückend war, aber das waren die Möglichkeiten die sich Ran boten.

Er hatte bemerkt wie kalt Rans Haut war und wollte nicht, dass der Mann ständig über Kritiker nachdachte, wo doch so viel in dem Kopf herumschwirren musste, das Vorrang hatte.

"Ist dir nicht kalt?"
 

Wieso hatte der Telepath eigentlich mit allem Recht, was er sagte? Aya konnte dem nichts entgegensetzen, war es doch die reine, unwiederbringliche Wahrheit, die Schuldig gerade eben ausgesprochen hatte.

Er nickte abwesend, hob schließlich den Blick. Direkt zu Schuldigs Augen, die ihn so offen ansahen. Die nichts zu verbergen hatten, ganz im Gegensatz zu seinen. Die Wälle, die er um sich errichtet hatte, waren stärker als je zuvor, ließen nichts hindurch. Nicht nach innen, nicht nach außen. Die Trauer, Wut, Verzweiflung…all das war in seinem Inneren gefangen und vermischte sich zu einer brodelnden Masse quälender Lava. Mal beruhigte sie sich, mal brach sie mit solch einer Wucht aus, dass Aya es kaum auszuhalten glaubte.
 

Und auch wenn er so verzweifelt war…eines hatte er noch zu tun. Einen Kreuzgang musste er machen. Es würde die Hölle werden, sie noch einmal zu sehen, sich um die Formalitäten zu kümmern…um das Unpersönliche…aber er musste es. Entgegen aller Wut…aller Trauer…allem Unverständnis, das er aufbrachte.
 

„Ich…werde mich gleich anziehen, ich muss auch noch zurück ins Krankenhaus, die Formalitäten für…“, er stockte, sprach nicht weiter. Für die Einäscherung und Verbrennung zu regeln. Das musste er tun. Er hatte Angst davor...große Angst.
 

Schuldig kam nicht umhin sich selbst einzugestehen, wie erleichtert er war, dass Ran es von sich aus ansprach. Das Thema hatte vorhin keine gute Stimmung gebracht, dachte er zweifelnd.

Und er war nicht gerade der Fachmann für so etwas.

"Möchtest du, dass ich dich begleite?", fragte er ruhig. Er würde auch ohne das Einverständnis des labilen Mannes mitgehen, oder ihm nachgehen, aber er würde ihn nicht alleine gehen lassen.

Das war zwar nicht ganz astrein, erst zu fragen und dann doch gegen den Willen des Anderen handeln, aber er hielt sich kaum an Regeln, nur an die von ihm selbst aufgestellten und…einige von Crawford...
 

Aya nickte langsam, mehr von seinem Instinkt getrieben als alles andere. Seine erste Reaktion war, den anderen Mann bei sich zu haben…den letzten Weg nicht alleine zu gehen. Dass er natürlich nicht wirklich eine Wahl hatte, ahnte er nicht. Vielmehr war er dankbar für das Angebot des Telepathen, für die Stütze, die dieser ihm bot, auch wenn er pure Angst vor dem Moment hatte, an dem…

Er griff sich mit aller Gewalt in die Realität zurückziehend nach dem Bällchen und biss ein weiteres Mal davon ab. Aß es schließlich ganz auf.

„Allerdings muss ich noch ins Koneko…die Papiere holen…und Geld…“, merkte er schließlich an.
 

Schuldig nickte. "Willst du, dass ich dich fahre? Oder soll ich besser...vor dem Krankenhaus warten? Oder mich im Hintergrund halten, ...dir die Jungs von Kritiker vom Leib halten?", fragte er bewusst danach. Ran sollte sich bewusst dafür entscheiden, dass Schuldig mitkam, auch wenn es vermutlich in der Situation nicht so einfach war. Sollte er Aya...fragen, ob er seine persönlichen Dinge mit hierher nehmen wollte? Wenn er schon im Koneko vorbeiging?

Besser nicht.

Er war unsicher und doch wieder nicht, es war, als würde er Ran nach draußen entlassen und Schuldig würde sich wappnen, diesen Ausgang so sicher wie möglich zu gestalten.

Langsam...wurde er paranoid. Zu Recht, wie er auch gleich grimmig befand.
 

Aya lächelte leicht. „Letzteres? Dann kann ich vielleicht...unbehelligt ins Koneko?“ Auch wenn der Anlass dafür mehr als traurig war. Doch er wusste, dass gewisse Sachen geregelt werden mussten. Die letzten Rechnungen, die…anderen Kosten, die noch auf ihn zukamen. All das wollte er heute regeln, damit er nicht wieder und wieder damit konfrontiert sein würde…außerdem musste er mit seinem Team sprechen, sich für seine Abwesenheit entschuldigen.
 

Schuldig fischte sich ein weiteres Teigbällchen aus der Schüssel und biss ab, plante innerlich schon die nötigen Schritte, wie er die Agenten ruhig hielt, damit Ran ohne Probleme seine Sachen regeln konnte und er genauso spurlos verschwinden konnte wie er auftauchen würde.

Er selbst musste sich auch in zwei Tagen bei Crawford blicken lassen oder früher, je nachdem wie viel Lust er darauf hatte. Es war alles schwierig geworden. Selbst der Umgang mit Crawford, der früher doch so einfach gewesen war. Einfach in ihren Verhältnissen gesehen. Doch jetzt war alles kompliziert, von Misstrauen und ständigen Vorwürfen durchsickert.

Ran aß nicht viel, bemerkte Schuldig, aber er sagte nichts. Der Mann würde sich schon wieder fangen, so hoffte Schuldig. Er wirkte in dem zu großen Schlafanzug wie ein Halbwüchsiger in den Klamotten seines Vaters.

...Eltern...Verwandte hatten sie beide keine...mehr.

Er hatte nie welche besessen und Ran...hatte seinen Letzten verloren.
 

Plötzlich schoss ein bitterböser Gedanke durch seinen Kopf und er sah Ran entsetzt an, doch nur für einen Moment. Dann war der Gedanke daran vorüber, dass er sich das vielleicht insgeheim gewünscht hatte, dass Ran niemanden mehr hatte, dass er sich dann an jemanden klammern konnte...an ihn klammern konnte.

Nein.

Nein, das wollte er nicht...

Ran war ihm in diesem Punkt egal gewesen, es war ihm egal gewesen, ob Ran Familie hatte oder nicht, es hatte ihn nicht wirklich interessiert, weshalb also sollte er sich gewünscht haben, dass Ran wie er alleine wäre?

Nein, das hatte er sich nicht gewünscht, sagte er sich.

Er war sich sicher, dass es ihm früher keinen Spaß gemacht hatte, dass sich die Verbalattacken, die er auf den Weiß während der Kämpfe abgefeuert hatte, nichts mit seiner Schwester, seinen toten Eltern zu tun gehabt hatten.

Wenn er sich recht erinnerte, war Rans Vater in Geschäfte mit Takatori verwickelt gewesen.
 

War Aya schon erstaunt darüber gewesen, dass der andere Mann ihm nicht antwortete, so gab dessen Mienenspiel ihm doch zu denken. Diese Regung hatte er so noch nicht an dem anderen Mann gesehen und das machte ihn unsicher.

„Was ist?“, fragte er schließlich nach und runzelte die Stirn, ahnte Gott sei Dank nichts von den Gedanken des Telepathen. Seine Hände spielten unruhig mit den Stäbchen.
 

Schuldig schluckte ob des intensiven Blicks aus den violetten Augen, runzelte die Stirn und senkte seinen Blick auf den Tisch und ihm fielen die unruhigen Hände auf.

Du verunsicherst ihn mit deinem Verhalten, rügte er sich und rang sich ein Lächeln ab.

"Nichts von Bedeutung. Alte ...Erinnerungen", fiel ihm kein anderer Begriff dafür ein.

"Komm iss doch noch etwas, die armen Telepathenbällchen müssen sonst hier im kalten herumliegen, Kühle tut ihnen zwar gut, aber in deinem Magen fühlen sie sich sicher auch ganz gut," setzte er ein spitzbübisches Lächeln auf, verdrängte die düsteren Gedanken rigoros.
 

Eine hochgezogene Augenbraue war für einen Augenblick das Einzige, was auf Schuldigs Worte reagierte. Kühle tat ihnen gut…na was das wohl wieder heißen mochte….

Aya wusste es nur zu genau und eben dieses Wissen ließ ihn wortlos aufstehen und zum Kühlschrank gehen. Darin suchen, was er begehrte und schließlich zu Schuldig zurückzukehren. Er warf dem anderen Mann mit einem kleinen Lächeln den Kühlakku zu. Er konnte ebenso spielen wie der Telepath…auch wenn er es nicht unbedingt zeigte.
 

„Zum Abkühlen…“ Aya nahm sich in aller Ruhe noch eines besagter lauwarmer Bällchen und biss energisch hinein.
 

Schuldig glaubte nicht, was er da sah. Geschickt fing er den Kühlakku auf und runzelte angestrengt die Stirn, schüttelte dann den Kopf und sah Ran ernst an.

Aya ging auf das Spiel ein ...nein er sabotierte ihn...seine Telepathenbällchen! Aber das hatte er sich so gedacht!

"Das ist nicht die richtige Kühlung! Ich zeig dir mal, wie das richtig geht, aber ich glaub, die sind heute besser in deinem Magen aufgehoben", sagte er gewichtig und schob Ran das Schüsselchen zu, in dem noch drei der Köstlichkeiten lagen.
 

„Zum Kühlen bin ich wohl der Falsche…“
 

Zufrieden, dass er den Telepathen wenigstens einmal hatte überraschen können, griff sich Aya zwei der Bällchen, platzierte Schuldig jedoch das letzte Anstandsbällchen in dessen Schüssel. Vernaschte sie schweigend, wenn auch langsam. Er wollte sich nicht anziehen…nicht fertig machen. Nicht rausgehen und sich dem stellen…er wollte es einfach nicht.
 

Ein unbewusstes genießerisches Lächeln erreichte die Augen und ein Feuer begann darin zu glimmen.

"Da hast du Recht, Ran...zum Kühlen bist du wahrlich der Falsche", sagte Schuldig, blieb einen Moment in der Betrachtung des Anderen versunken sitzen, bevor er sich erhob und hinüber zur Musikanlage ging, passende Musik auswählte. Er hatte Lust etwas zu hören, was ihn aufmunterte.

Jazz wäre da doch nichts Verkehrtes...
 

Sanfte, leichte Musik erfüllte den Raum, als der Telepath schließlich seine Auswahl traf. Klavier…von Saxophon und tiefen, melodischen Stimmen begleitet. Unter anderen Umständen hätte Aya das als sehr angenehm empfunden, als sehr entspannend, doch nun erinnerte ihn eben dieses Gefühl nur wieder daran, was noch vor ihm lag.

Seufzend stand er auf und räumte die Schälchen in die Spüle, wandte sich mit einem „Ich gehe duschen“, an den anderen Mann und verschwand im Bad. Schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Atmete tief durch. Er war noch nicht bereit…so überhaupt nicht bereit.
 

Die Küche war schnell aufgeräumt und Schuldig stand vor seinen beiden großen Schränken und überlegte sich was ihm nun am Besten stehen würde.

Die Kleidung, die er anziehen wollte, sollte nicht nur zweckmäßige Eigenschaften, wie die des Wärmens erfüllen. Nein, sie sollte dekadent, teuer und auch... ja vielleicht so etwas wie Macht ausstrahlen, falls das Kleidung tun konnte. Eine optische Aussage, die warnen sollte, Ran zu nahe zu kommen oder die zeigen sollte, dass er gut bei ihm aufgehoben war.

Er grinste.

Wenn er an Crawford und dessen Klamottenfimmel dachte, dann konnte sie Macht ausstrahlen. Wobei Schuldig weniger Konservatives bevorzugtes, eher experimentell war.
 

Er hatte sich für etwas Wärmeres entschieden, nachdem es jetzt schon auf den Abend zuging und es noch kälter wurde. Etwas Edleres sollte es sein, einen schwarzen Rollkragenpullover und seinem schwarzen eng anliegenden Gehrock, darüber legte er einen bodenlangen Ledermantel, aus echtem Zebra, mit Pelzkragen, der sich um seine feuerroten Haare im Nacken legte. Er liebte diesen Mantel. Der richtige Anlass für eine derartige Angelegenheit, wie sie Ran zu erledigen hatte. Schwarz und Weiß.

Er würde in den Augen der Passanten, der Menschen die ihnen begegnen würden, nicht länger als ein flüchtiger Augenblick in Erinnerung haften bleiben. Lediglich Ran und seine Partner würden ihn wirklich sehen und das auch nur, falls er Lust dazu hatte.

Den Mantel legte er auf die Couch, danach holte Schuldig eine seiner automatischen Waffen, lederne Handschuhe und warf sie darauf.

Er hatte nicht vor sie zu benutzen, aber er wusste nicht, was auf sie zukam. Er war nicht Crawford.
 

Schuldig war fertig als Ran sich die Haare föhnte.
 

o~
 

Einen letzten Blick in den Spiegel werfend verließ Aya das Bad, das er – geschickt wie er war – ohne frische Kleidung betreten hatte. Und seine eigene schmutzige Kleidung, die auf der Bank lag, wollte er nicht anziehen…also musste Schuldigs Garderobe wohl ein zweites Mal herhalten, bis er sich seine eigenen Sachen geholt hatte.

Er schlang das große Badehandtuch um seine Hüften und verließ das Bad, sah schließlich auf. Stockte mitten in seinen Bewegungen, als er den anderen Mann dort stehen sah. Schon fertig hergerichtet.
 

Sein Blick glitt für lange Momente nur schweigend über dessen wahrlich imposant schwarz gekleidete Gestalt, über den neben Schuldig liegenden Mantel. Brachiales, auffälliges Zebramuster. Aya war milde gesagt erstaunt, obwohl er wusste, dass er von dem exzentrischen Telepathen eigentlich nichts anderes hatte erwarten sollen. Wer schon giftgrün trug, machte hiervor natürlich nicht Halt.

Nicht, dass es seine Wirkung auf Aya verfehlte. Ganz im Gegenteil. Wo der schwarze Gehrock Seriosität ausstrahlte, wurde das gebrochen und ausgeglichen durch eben diesen Mantel. Ein Kontrast, der Aya innerlich ein wenig lächeln ließ. Schwarz und Weiß…das Zebra.
 

„Ich brauche noch etwas zum Anziehen“, brachte er schließlich hervor, wollte nicht einfach so an den Schrank des anderen Mannes gehen. Es schien ihm…nicht richtig.
 

Schuldig sah auf, als die Tür aufging.

Es kam ihm im ersten Moment nicht richtig vor, dass Ran hier nur mit einem Handtuch bekleidet in der Gegend herumstand, auch wenn es mehr ...oder gerade weil es fast verboten verführerisch aussah.

"Die Schränke stehen dir zur Verfügung, nimm dir heraus was du willst", lächelte Schuldig frech und ließ seinen Blick über den Körper des Mannes streifen.

"Trinkst du deinen Tee noch?", fragte er und ging in die Küche, die Kanne in die Hand nehmend, in der noch ein Rest Kaffee war. Rans Teetasse stand noch daneben.

Schuldig hatte sich seine Haare locker im Nacken mit einem Band zusammengebunden.
 

„Ja“, rief Aya zurück und brauchte einen Moment, um sich in dem großen, völlig ungeordneten Schrank zurecht zu finden. Besonders jetzt, da er sich die Kleidungsstücke bewusst zusammensuchte und nicht einfach nur herausgriff. Nach dem vierten Griff zu völlig unanziehbaren Dingen erwischte er einen schwarzen, simplen Rollkragenpullover im Cashmeerestil und seine – wie durch ein Wunder wieder genähte – Lederhose. Schlicht, aber warm, ebenso wie die dicken Socken. Es ging ihm nicht darum, etwas auszustrahlen…er wollte einfach bequeme Sachen tragen…würde er doch noch genug Unangenehmes erfahren heute…
 

Auf dem Weg zur Küche flocht er sich seine Haare zu einem ordentlichen Zopf und griff schließlich nach seinem Tee, trank ihn restlos leer.
 

"Ich hab sie ein paar Tage, nachdem du gegangen bist, nähen lassen", wies Schuldig mit einem Nicken auf die Lederhose.

Er löschte das Licht in der Küche, sodass nur noch die Wohnzimmerbeleuchtung sanft den näher kommenden Abend erhellte, der sich langsam in die Wohnung stahl.

Die Anlage schaltete er aus, als er sich zu Ran umwandte. Es war still im Halbdämmer, als sie sich anblickten.

"Wollen wir?"
 

Aya nickte und stieg in seine Stiefel, warf sich schließlich seinen eigenen Mantel über. Schlug den Kragen hoch und sah zu, wie sich Schuldig dieses Monstrum von Mantel überwarf und selbst zum zweibeinigen Zebra wurde. Auch wenn dies unwillkürlich bedrohend aussah mit den locker zurückgenommenen, roten Haaren. Als wollte Schuldig die Kritikeragenten alleine durch seine Kleidung in die Flucht schlagen…dabei konnte er vermutlich noch froh sein, wenn sie nicht die Betäubungsgewehre zückten und auf Großwildjagd gingen.
 

Er öffnete die Tür und ging in den Flur, der ebenso wie alles andere in diesem Gebäude Luxus ausstrahlte. Puren, verschwenderischen Luxus mit all seinen Gemälden, die an den Wänden hingen. Mit seinen dicken, dämpfenden Teppichen.
 

„Erst zum Koneko?“, wandte er sich schließlich an Schuldig und sah diesem fragend in die Augen.
 

Schuldig steckte die Waffe in die dafür vorgesehene Halterung im Futter des Mantels, welches er extra hatte anbringen lassen und öffnete seine Haare, zog die Tür ins Schloss.

"Wohin du willst. Klar", sagte er, nickte Ran zu und ging zum Aufzug, damit sie zum Wagen in den Garagen kamen.
 

Violette Augen ruhten für ein paar stumme Momente auf der Waffe, die Schuldig mitnahm, bevor sie sich entsannen, dass der Telepath vermutlich nie ohne das Haus verließ. Im Gegensatz zu ihm…der außer auf Missionen völlig unbewaffnet war. Ein Fehler? Naivität? Er wusste es nicht.

Aya folgte Schuldig, kannte er doch dessen Auto nicht…hatte es nie gesehen und war nun nicht wirklich überrascht, einen schwarzen Sportwagen vor sich zu sehen, der alles versprach außer Schneckentempo. Schnittige Form, große, blank polierte Felgen.

Unter anderen Umständen hätte Aya das zu schätzen gewusst. Doch nun schweiften seine Gedanken zu dem, was jetzt kommen würde…was ihn verstummen und aus dem Fenster schauen ließ.
 

Er wollte nicht…wollte sich dem nicht stellen, doch für Flucht war es jetzt zu spät.
 

Auch ohne dass er das Navigationssystem bemühte, wusste Schuldig den Weg und fädelte sich auf die Schnellstraße ein. Ran war angespannt und so schwieg Schuldig, ließ sich durch den Verkehr treiben.

Ein flüchtiger Seitenblick bestätigte ihm seine Vermutung. Ran wäre am Liebsten wieder umgedreht, schon noch in der Wohnung war er zögerlich gewesen, wollte Zeit schinden.

Je schneller er es hinter sich bringen würde, desto schneller war es vorbei.

Es hörte auf zu schneien und sie kamen besser voran.

Nach einer Dreiviertelstunde fuhr er in die Straße, in der der Blumenladen lag ein. Ein Kritikeragent war in der Nähe, saß in einem Wagen, doch nicht mehr lange und er fand den Manga, den er las, plötzlich sehr interessant. Sein ganzes Augenmerk war ab sofort auf die Bilder derselben Seite gerichtet, die er aufmerksam studierte.

Der schnurrende Motor wurde abgestellt und Schuldig öffnete die Tür.
 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Fortsetzung folgt…
 

Coco & Gadreel

Sei still … ich weiß … ich weiß …

~ Sei still … ich weiß … ich weiß … ~
 


 

Aya sah sich um und bemerkte, dass sie im Innenhof des Konekos standen. Nicht weit laufen brauchten. Und wer weiß, vielleicht war das ja auch das Beste gewesen. Sonst hätte er sich vielleicht noch umgedreht und wäre gegangen aus lauter Widerwillen, sich dieser Konfrontation zu stellen.

Was angesichts des in der Hintertür stehenden Kens aber nicht zur Diskussion stand, der Schuldig in Grund und Boden starrte. Der ihn sprachlos anstarrte. Und zum ersten Mal war es Aya egal, dass Weiß ihn mit Schuldig sah. Zum ersten Mal konnte er völlig frei darüber hinweg sehen.
 

Er stieg langsam aus und kam auf Ken zu, dessen Blick sich immer noch völlig gebannt auf Schuldig gerichtet hatte.

„Komm mit ins Haus“, sagte er sanft und fasste Ken am Oberarm. Erlangte nun endlich dessen Aufmerksamkeit.

„Aber…“

„Keine Widerrede.“ Aya warf einen Blick zurück auf Schuldig, fragte den anderen Mann stumm, was dieser nun machen würde.
 

Schuldig hatte sich währenddessen an den Frontflügel seines Wagens gelehnt und zog gerade sein Zigarettenetui hervor um sich eine der ordentlich in Reih und Glied gelegten Glimmstängel anzuzünden.

Er würde warten, bis Ran seine Sache erledigt hatte.

Genüsslich inhalierte er den blauen Dunst und sah Ran fragend an. Was so viel wie: was stehst du noch hier, nun geh schon rein, zu sagen hatte. Er lächelte aufmunternd.
 

Aya nickte kurz und nahm den anderen Weiß mit hinein. Durfte sich kurz danach einem ganzen Schwall an haltlosen, besorgten Fragen stellen, dem er kaum zu gewachsen sein schien. Warum war er mit Schuldig hier? Was machte er in dem Auto des Schwarz? Hatte dieser ihn entführt? Wo war er gewesen? Aya KONNTE sie nicht beantworten, auch wenn er keinen Grund hatte, ihnen noch etwas zu verheimlichen. Vielleicht nur den, dass sie ihn vielleicht verstoßen würden… doch es brachte nichts, sie anzulügen.
 

„Ken bitte… lass uns später darüber reden“, fuhr er endlich dazwischen und brachte den Anderen zum Schweigen. Endlich. Das Letzte, was er momentan wollte, war, sich unnötigen Fragen zu stellen, die ihn nur noch mehr belasteten.
 

Ken klappte den Mund wieder zu, verschränkte abweisend die Arme und lehnte sich an den Türrahmen. Das war ihm nicht geheuer.
 

Omi stand auf der Treppe. Schon als er den Wagen in der Einfahrt zum Hof hörte, war er heruntergeeilt, hatte es aber nicht weiter geschafft. Er konnte nicht weiter gehen.

Was würde Aya sagen? Wie ging es ihm? Würde er wieder gehen? Warum hatte er sie...ihn allein gelassen?

Abwartend stand er da, eine Hand noch immer am Geländer und wartete, bis er Aya im Flur hörte. Ken stellte Fragen, die er auch gerne stellen wollte, die ihn beschäftigten, nicht mehr losließen.

"Aya", flüsterte er, seine Stimme zu einem Krächzen verkommen.

Was sollte er sagen? Er senkte den Blick etwas, neigte leicht den Kopf. "Es tut mir leid...", sagte er, wollte Aya zeigen, dass er mit ihm fühlte und dass er bei ihnen zuhause war, sie mit ihm trauerten.

Aber durch seine Abwesenheit...wie konnten sie ihm dass den zeigen? Er war nicht da.
 

Ayas Blick ruckte von Ken zu Omi, der mit seinen einfachen Worten das erreichte, was er in den letzten Minuten vermeiden wollte.

Dass all das, was Aya betraf, was er versucht hatte von sich zu schieben, über ihn hereinbrach und ihn ein weiteres Mal unter sich begrub. Dass sich Bilder unter seinen Schmerz mischten, die er bisher nicht wahrgenommen hatte. Wie sie dort lag…kalt. Ohne Anschluss an die Geräte. Für ihn verloren.

Tränen stahlen sich in Ayas Augen, seine Lippen bebten unmerklich, als er dort stand, die Schultern hängend. Verzweifelt wie in der ersten Minute.
 

Doch nicht nur das beeinflusste seine Trauer. Er hatte Omi und Ken enttäuscht…jeden von ihnen. Das sah er in ihrer Gestik, in ihren Gesichtern. Es tat ihm leid... so leid…
 

Ken zog die Brauen leicht zusammen, das Gesicht drückte Mitgefühl aus und sein trauriger Blick lag auf Omi, der sich in Ayas Arme gerettet hatte. Omi weinte.

Wir verlieren alles. Alles bricht auseinander, dachte Ken und ging in die Küche, setzte Teewasser auf.

Mit ihrem Tod bricht alles entzwei.

Frustriert und niedergeschlagen stand er in der Anrichte.
 

Omi hatte die Tränen in den Augen desjenigen gesehen, den er für stark und unbeirrbar unerschütterlich hielt, und hatte das Gefühl dessen Verzweiflung in sich aufnehmen zu müssen. Es war alles so schrecklich.

Wie war das alles nur geschehen? Er hielt sich an Aya fest, umarmte den Mann, der für ihn seine Familie war.
 

Aya presste Omi an sich, verschluckte den weinenden Jungen beinahe in seiner Umarmung. Er wusste, dass er für ihn da sein musste…auch für Ken, für ganz Weiß. Er wusste es einfach. Er konnte sie nicht alleine lassen… niemals. Auch wenn er die nächste Zeit nicht im Koneko sein würde, so würde er sie nicht im Stich lassen.

„Es ist gut…Omi…ich bin ja da…ich werde euch alles erklären…“, wisperte er und strich dem zitternden Jungen über den Schopf, wiegte ihn lange einfach hin und her um ihn zu beruhigen....um seine eigenen Tränen wieder zurück zu zwingen. Er hatte genug geweint…und würde es in der heutigen Nacht noch genug tun.
 

„Komm…wir setzen uns…“, murmelte er und zog Omi sanft mit sich in die Küche. Er wusste, dass es den Jungen mehr erschrecken als beruhigen würde, doch Aya wollte ihn einfach nicht alleine sitzen lassen. Wollte den Kontakt noch nicht lösen. Er legte seinen Mantel ab und setzte sich auf einen der Stühle…zog Omi auf seinen Schoß. Es war früher selten genug vorgekommen, dass er einen von ihnen berührte, doch diese Tradition wollte er in genau diesem Augenblick nicht fortsetzen. Er wollte sie nicht entzweien.
 

Ken hatte ihnen den Rücken zugedreht, machte ihnen Tee, Ayas Lieblingstee, stellte ihn vor die beiden auf den Tisch.

"Wollt ihr alleine reden?", fragte er, den flackernden Blick auf Aya gerichtet, völlig ruhig gesprochene Worte, doch die Tasse zitterte, bevor er es bemerkte und sie schnell abstellte.

Aya hielt sie zusammen und ...war es auch Aya der sie wieder auseinander brechen ließ?

Wut und auch Verzweiflung mischten sich in die Gefühle von Trauer und Mitgefühl, derer er nicht wirklich habhaft werden konnte.

Ja, schon einmal hatte er sie verlassen und sie wären draufgegangen. Waren sie denn so verdammt abhängig von diesem Mann?

Wie in Zeitlupe nahm er seine Hand wieder zurück. Nein, keine Zeitlupe...es war die verschwommene Sicht, Tränen, die ihn das glauben ließen.

Er fühlte sich wie betäubt. Was sind wir für dich?, fragte er Aya in seinen Gedanken, doch er schwieg, wie so oft.
 

Omi schmiegte sich an Aya.

"Geht's dir gut? Ist der Kerl draußen?", fragte er drucksend, traute sich nicht wirklich, nicht dass Schuldig in seinem Kopf herumwühlte und ihn auseinander nahm.

"Schnüffelt er wieder in unseren Köpfen herum?"

Ihm war alles zuviel. Er fühlte sich ausgeliefert, diesen Hundesöhnen ausgeliefert und Aya hatten sie an sie verloren.
 

„Nein Ken…setz dich. Ich möchte mit euch beiden reden….“, murmelte Aya und deutete mit schmerzlich zusammengezogenen Lippen auf den nahen Stuhl. Er schloss die Augen, umfasste die Hüfte des auf ihm sitzenden Jungen etwas stärker. Wollte ihm Mut zusprechen.

„Schuldig ist draußen…ja. Aber er hält mir nur die Kritikeragenten vom Hals, die das Haus bespitzeln…sie sollen nicht sehen, dass ich hier bin und mit euch rede. Er wird nichts tun…er wird mir nur helfen, die Formalitäten für…ihre Beerdigung zu regeln. Nichts weiter. Ich weiß, dass das…nicht glaubwürdig klingt…doch es ist so. Ich war seit ihrem …Tod bei ihm.“
 

Ken setzte sich zögernd. Er hatte das Gefühl, ja jetzt erst wo er Aya sah, dass es ihm zuviel war, dass er seine Ruhe wollte, aber sich für sie verantwortlich fühlte. Sich zwang hier vorbei zu sehen.

Aber war er ihnen das nicht schuldig? Als Freund.

Ken brachte ein vages, ehrliches aber trauriges Lächeln zustande.
 

"Hat er dir aufgelauert? Wie bist du zu ihm gekommen?", fragte Omi, die Nähe und den Schutz genießend. Wie hatte er Aya vermisst, als Person. "Warum bist du nicht zu uns gekommen?"
 

"Weil er Abstand brauchte, nicht wahr?", fragte Ken zaghaft. Die braunen, leicht verwüsteten Haare fielen ihm fedrig ins Gesicht. Wache blaue Augen lagen auf Aya. Wie oft hatte dieser Mann ihn schon beschützt?

Sehr oft.
 

„Ich weiß nicht, wie ich zu ihm gekommen bin. Ich weiß nur noch, dass ich in seinem Bett wieder zu mir gekommen bin. Ich habe…das Krankenhaus verlassen und bin vermutlich nur gelaufen…“ Ayas Stimme verlor sich, verebbte schließlich zu einem minimalen Flüstern. Das war noch zu frisch, er wollte sich nicht daran erinnern…er wollte es nicht.

„Vermutlich wollte ich schon unterbewusst nicht hierhin zurück, weil Kritiker noch immer ein Auge auf mich haben. Sie hätten mich gezwungen, weiter zu töten und das ist das Letzte, was ich in diesem Moment will. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder töten werde…ich weiß es nicht.“ So…jetzt war es raus. Jetzt hatte er die schreckliche Wahrheit ausgesprochen.
 

Ken schwieg, nickte zustimmend. Ja. Soweit hergeholt war das nicht. Welchen Grund sollte Aya jetzt noch haben, dieses Leben zu führen?

Er würde sie allein lassen.

Kens Blick verlor sich auf Omi.
 

"Ja, sie stehen draußen und warten, dass du kommst", sagte Omi als hätte er die Worte nicht gehört, die Aya gesagt hatte, doch er hatte, richtete sich wieder etwas auf, die Hände noch in den weichen Pullover gekrallt.

"Wirst du uns verlassen?" Er glaubte nicht, wollte nicht glauben, dass Aya gehen würde, nie wieder zurückkehren würde. Wäre er dann hier? Wäre er nicht wie schon einmal sang- und klanglos gegangen?

Oder hatten sie in der Zwischenzeit schon zu viel aufgebaut?
 

„Schuldig hat sie abgelenkt“, entgegnete Aya. „Sie sehen mich hier nicht…wissen nicht, dass ich da bin. Ich…werde euch nicht verlassen, aber ich werde nicht mehr für Kritiker kämpfen. Das kann ich nicht…in der nächsten Zeit überhaupt nicht mehr.“ Er schüttelte sacht mit dem Kopf. „Aber ich möchte auch nicht, dass ihr unter Kritiker zu leiden habt.“
 

Das beruhigte Omi wirklich. Aber es machte ihm auch Angst.

"Kann ich verstehen", murmelte er.

"Was sollen wir sonst tun, Aya? Wir haben Kritiker gewisse Verpflichtungen, die wir eingegangen sind."
 

Ken atmete tief aus.

"Versteh mich nicht falsch Aya... wir können nicht alle zu Schwarz gehen. Du bist ...dort...aus welchen Gründen auch immer sicher. Aber wir müssen noch spuren, sonst servieren sie uns ab. Wir haben uns dafür vor langem entschieden."

"Bist du mit ihm zusammen?", platzte er heraus, ohne groß darüber nachzudenken. Der Gedanke war ihm gerade gekommen und er hielt die Möglichkeit durchaus für logisch.

Warum sollte Schuldig ihn sonst aufgenommen haben, nachdem...

"...Entschuldige...", sagte er gleich und sah etwas betreten aus "...er war nur voller Blut und...du hattest ihn ordentlich erwischt...es wäre nur logisch wenn naja ...wenn er mehr für dich...", verstummte er und schluckte nervös.
 

„Ich…habe mir bisher noch keine Gedanken gemacht, wie es weitergehen soll, doch ich will nicht euch nicht im Stich lassen. Keinen von euch“, erwiderte Aya nach einer längeren Schweigepause. „Es wird einen Weg geben und ich werde ihn finden.“ Ja…er konnte jetzt noch nicht aufgeben...er musste für sein Team kämpfen. Dafür, dass sie ebenso wie er die Chance erhielten, sich von Kritiker zu lösen.

Aya brauchte einen weiteren Moment, um die Frage des ihm gegenübersitzenden Jungen zu beantworten.
 

„Nein…wir haben nichts miteinander.“ Auch wenn er Schuldig für ein paar Tage paradoxerweise näher als jedem anderen gewesen war. „Es ist durchaus möglich, dass da noch etwas Weiteres ist, das ihn mir helfen lässt. Ich bin nicht dumm genug, um seine Anspielungen nicht zu bemerken…aber…diejenige…“ Aya verstummte. Diejenige, die er geliebt hatte, war vor nicht mal ganz zwei Tagen gestorben. Das wollte er sagen, brachte es jedoch nicht über seine Lippen.
 

Omi hatte bei der Frage von Ken aufgehorcht. Es machte ihm Sorgen, aber er fühlte sich dennoch nicht mehr ganz so haltlos und doch etwas zuversichtlicher als noch vor einigen Stunden, ja selbst vor einer Stunde.

"Wenn er auf dich steht..." Skeptisch hob er die Braue, die Stimme schon wieder gefestigter.

"....is das nicht schwierig dann, wenn du bei ihm bist? Wie ist er so?"

Omi konnte es sich nicht vorstellen, wie Aya...Schuldig überhaupt ohne sein Schwert in Armlänge auf sich ranlassen konnte. Fragend blickte er Aya an. Das dessen Schwester gestorben war und er trauerte rutschte etwas in den Hintergrund ob dieser Absurdität.
 

Aya zuckte mit den Schultern und sah den Jungen von der Seite her an. Er hätte nie gedacht, dass Omi trotz seiner schmächtigen Gestalt doch soviel wog, wie ihm nun seiner Oberschenkel meldeten. Doch das machte nichts…dafür schätzte er den Kontakt zu dem Jüngeren zu sehr.

„Wie er ist? Ein Mensch. Er ist nicht aufdringlich oder darauf versessen, mich ins Bett zu zerren. Hätte er das gewollt – gegen meinen Willen – so hätte er schon genug Gelegenheiten gehabt. Aber bisher ist noch gar nichts geschehen. Manchmal scheint es…“, ein kurzes, bitteres Lächeln huschte über Ayas Züge, „als wäre ich der Böse…so wie ich ihn ein paar Mal erwischt habe.“
 

Omi zog seine Nase kraus und machte große Augen.

"Das ist ehrlich schwer zu glauben."

Aber er hörte auch heraus, dass sich Aya nicht in Gefahr begab, sich auch nicht bewusst in Gefahr begeben würde. Sie hatten sich Gedanken darum gemacht, dass sich ihr Anführer umbringen würde. So hatten sie Aya eingeschätzt.

Aber sie hatten sich getäuscht.

Noch einmal umarmte Omi Aya.

"Können wir dich irgendwie erreichen?"
 

„Ja…es ist schwer zu glauben…das habe ich nie bestritten. Ich wollte es am Anfang auch nicht glauben…geschweige denn verstehen…“ Aya überlegte einen Moment. Ja, wie konnten sie ihn am Besten erreichen? Das Handy würde er hier lassen, um Kritiker nicht auf seine Spur zu bringen. Ebenso wie es außer Frage stand, dass Schuldig seine Telefonnummer hier ließ. Was Aya mit einem Male mit brachialer Gewalt verdeutlichte, was das zu bedeuten hatte. Er würde…die nächste Zeit mit Schuldig verbringen. Nicht bei seinem Team, bei Schuldig.

Doch der Teil, der anhand dieses Wissens aufschreien sollte, blieb still, fügte sich stumm der Trauer.
 

„Ich…“, begann Aya, als ihm eine Idee kam. Die er allerdings nicht alleine entscheiden konnte. Er stand auf und schob Omi sanft von sich. Schuldig könnte ihm bei diesem Problem helfen, wenn es so laufen würde, wie er es sich dachte.
 

o~
 

Yohji öffnete die Tür, blieb in Rahmen stehen und stand damit automatisch Schuldig gegenüber.

High noon.

Jetzt fehlten nur noch die Grasbüschel, die zwischen ihnen herumwirbelten.

Ein schlechter Film.

Ein sehr schlechter Film.
 

Yohji zündete sich eine Zigarette an, ging auf Schuldig frontal zu lächelte gekünstelt und lehnte sich frech an dessen Wagen.

‚Da drin is ziemlich feucht, was?', begrüßte Schuldig ihn, überging, dass der Blonde sich an seinen Wagen lehnte, sich diese Frechheit herausnahm. So standen sie nebeneinander und rauchten.

Ein schlechter Film.
 

„Besser als der Gestank hier draußen“, gab Youji ebenso ätzend zurück und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, betrachtete sich dabei die aufreizend auffällige Gestalt des Telepathen. Der Gute war wohl als Zuhälter unterwegs, um seine Jungs abzukassieren, so wie er aussah und was sein Wagen darstellte. Auch wenn Youji die Sportausführung der schwarzen Corvette wirklich nur loben konnte, so fragte er sich, wie diese wohl mit ein paar Kratzern seines Schlüsselbundes aussehen würde. Mit einem schönen Schriftzug Marke ‚Verpiss dich, du widerlicher Sack und halt dich von Aya fern. Er gehört zu uns’, Das wäre doch mal interessant zu sehen.
 

Schuldig schnippte die Zigarette in den Schnee, fixierte seinen abwesenden Blick darauf, während er fast schon zu liebenswürdig lächelte. Was bei ihm etwas bedrohlich wirken konnte.

"Ja, ich fände es auch sehr interessant, wie sich deine graue und weiße Gehirnmasse auf dem matschigen Asphalt verteilt. Fällt bestimmt kaum auf."

Er runzelte kurz die Stirn, da ein weiterer Kritikeragent im Anmarsch war, der wohl die Ablöse war. Schnell hatte er den zweiten Agenten unter seiner Kontrolle, hielt seine Fäden gespannt.
 

Youji lachte amüsiert. Da war doch tatsächlich jemand eitel und voller männlichem Ehrgeiz, sein bestes Stück in Form zu halten…vor allen Dingen ohne Kratzer. Er schlug die Beine übereinander und ließ seine Hand sanft über den Lack gleiten.

„Keine Sorge, Schwarz, bei schönen Autos werde selbst ich schwach…“ Wirklich ein nettes Stück, mit weit über 300 PS, wie er über den Daumen peilte. Ein Hengst, keine Vollblutstute, wie es Ayas Porsche in mondänem Weiß war. Wie er Aya wieder und wieder genüsslich unter die Nase gerieben hatte.

„Was willst du hier, Mastermind? Hast du nichts anderes zu tun, als Aya durch die Gegend zu chauffieren?“
 

Schuldig hob die Hand kurz. "Halt mal schnell den Rand, Balinese."

Er musste die Übergabe an die Zentrale von Kritiker türken und klinkte sich kurz in den Verstand des Agenten ein.

Nach wenigen Minuten hatte der Agent seine Meldung gemacht und noch kurz mit der Agentin am anderen Ende der Leitung geflirtet und alles war beim Alten.

"So ..wo waren wir?", wandte er kurz den Blick.

"Wenn du mich so fragst...nein eigentlich nicht. Oder doch. Später fahre ich noch zu meinen ‚anderen Jungs' und kassiere ab, aber da ich Aya noch chauffiere, habe ich das auf später verschoben. Er mag es nicht wenn er mit mir in diesen Etablissements gesehen wird", sagte er spöttisch und hob eine Braue.

Er hatte sehr wohl die Gedanken des Weiß gelesen.
 

"Hätte er herlaufen sollen?", fügte er ernster hinzu, entnahm seine dritte Zigarette.

"Wie man’s dreht und wendet, es kommt nichts als Scheiße heraus, meinst du nicht auch, Kudou?", fragte er ohne ein bestimmtes Thema anzuschlagen. Er bezog es auf das Leben an sich und auch auf die jetzige Situation. Mit einem klappenden Geräusch verschloss er das Etui wieder.
 

„Wem sagst du das?“, schnaubte Youji und trat seine eigene Zigarette auf dem Boden aus. Zog seine Packung hervor und steckte sich die nächste an. Verspürte Lust zu einem guten Schluck Alkohol. „Eines kann man dir ja noch zugute halten, Schwarz. Du hast verhindert, dass er von Kritiker auseinander genommen wird direkt nach dem Tod seiner Schwester.“ Sein Blick streifte in den dunklen Himmel. Was für ein beschissenes Weihnachten.
 

"Danke", sagte Schuldig trocken, schob sich die Zigarette mit den Zähnen in den linken Mundwinkel.

"Es war purer Zufall, wenn du so willst. Ich bin ihm nicht nachgelaufen, wollte die Sache dabei bewenden lassen." Er tippte sich mit den Fingern der rechten Hand kurz auf die Brust, deutete damit an, warum er es vermeiden wollte, den Kontakt zu Aya noch einmal zu suchen.

"Sie muss in der Zeit, in der wir kämpften, gestorben sein."

Er nahm einen tiefen Zug. "Bekomm jetzt nicht den falschen Eindruck." Er blickte warnend und mit einem dunklen Funkeln zu Yohji hinüber.

"Mir ist es so gesehen egal, was mit der Kleinen passiert ist. Ich versteh aber, warum er darunter leidet. Und das kann ich nicht ab. Ich will ihn nicht leiden sehen. Es widert mich an."

Er war eifersüchtig auf dieses Leid, das wollte er doch damit sagen, nicht?
 

Youji blinzelte nachdenklich. Während der Mission gestorben. Das war verflucht noch mal der schlechteste Zeitpunkt, den Ayas Schwester oder was auch immer für ihr Ableben zuständig war, sich hatte aussuchen können. Aber das hatte er auch vorher gewusst.

„Wir hatten die Nachricht vom Krankenhaus auf dem Anrufbeantworter“, erinnerte er sich an den Abend. „Aya ist hingefahren und danach nicht mehr wiedergekommen, bis mir dann ein Vögelchen gezwitschert hat, wo er untergekommen ist.“

Sein Blick kehrte zurück zu dem anderen Mann, nahm nur nebenbei die weißen Rauchwolken wahr, die er durch sein Atmen in die Luft paffte.

„Wenn du ihn nicht leiden sehen willst, bist du bei ihm an der falschen Stelle“, sagte er schließlich. „Er wird lange nicht drüber hinwegkommen, dass sie trotz allem, was er getan hat, gestorben ist. Das kann Jahre bei ihm dauern.“
 

Schuldig lachte verhalten.

"Tja, auch ich krieg nicht immer das was ich will." Er wandte das Gesicht zu Yohji.

"Oder hast du im Leben das bekommen was du gewollt hast?" Er lächelte hintergründig, doch nicht spöttisch.

"Wenn wir’s kriegen, dann doch meist so, wie wir es nicht wollten."
 

Youji zog kunstvoll eine seiner Augenbraue in die Höhe. „Klar habe ich alles bekommen was ich wollte. Traumjob, nette Arbeitskollegen, interessantes Themengebiet…großzügige Arbeitgeber…Frau und Kinder nicht zu vergessen.“ Er lachte ebenso. „Keiner von uns bekommt das, was er will, das ist der Nachteil an unserem Beruf. Sieh dir Aya an…wollte er seine Schwester retten und dich dafür abmurksen und was hat er? Genau das Gegenteil. Auch wenn es ihm mit dem Töten nicht wirklich ernst war…er stand seit seiner Entführung nicht mehr hundertprozentig hinter der Sache.“
 

"Nicht wirklich ernst?"

Schuldig rang sich ein düsteres Lächeln ab.

"Dafür hat er aber ganze Arbeit geleistet. Wann macht er ernst? Wenn er mir die Kugel nicht an der Schläfe vorbeischießt, sondern zwei Zentimeter weiter rechts zielt? Oder wenn er anstatt mir seine Klinge über die Brust zu ziehen, einen sauberen Stich durchs Herz verpasst?"

Er spitzte die Lippen, blies den Rauch aus.

"Wie gesagt, ich will ihn nicht leiden sehen. Verzweiflung ist etwas Grausames. Der Grund für diese Verzweiflung, es wäre eine Leichtigkeit gewesen, ihn zu entfernen. Ich hätte das nicht mehr lange mitangesehen. Wie hätten wir aus dieser Situation herauskommen sollen, Kudou, wie?"

Schuldig reckte sich, schlang den Mantel enger um sich.

"Wir mieden euch die letzten Monate. Und dann DAS. Ihr wurdet auf uns angesetzt. Wie sollte er sich entziehen? Er hatte nur die Chance mich zu töten, aber er ist daran fast verzweifelt. Und ich lasse mich nicht töten, nicht so einfach. Obwohl ich einräumen muss, dass er nah dran war. Sehr nah. Wie ...frage ich dich...lautete hier die Lösung dieses Problems?"
 

Youji schnippte die übrig bleibende Asche von seiner Zigarette. „Jetzt stell dich mal nicht so an. Du lebst noch, bist frei und kannst machen, was du willst. Das da“, er deutete auf die beiden Verletzungen „sind ganz normale Dinge, die eben passieren, wenn man sich im Kampf gegenüber steht. Wir haben uns früher noch derber geschlagen, da war das gegen gar nichts. Außerdem HAT er sich verschätzt. Sowohl mit der Schusswaffe als auch mit seinem Katana…das er, wie du weißt, im Schlaf beherrscht.

Die Lösung des Problems?“
 

Youji schnaubte. „Frag euer Orakel, der wird die Lösung kennen. Auch wenn es logisch scheint…seine Schwester ist tot, er nicht mehr erpressbar und frei. Was er daraus macht, liegt in seinen Händen. Er muss nicht mehr verzweifeln, weil er zwischen zwei Dingen aufgerieben wird, die ihn fertig machen. Er muss dich nicht mehr an Kritikers Wissenschaftler abliefern. Nicht mehr töten. Er hat den Hauptpreis gewonnen…auch wenn der Gegenpreis zu hoch war.“
 

"Findest du... dass der Gegenpreis zu hoch war?", fragte er leise.

Schuldig wusste, dass Rans Schwester nicht wieder zu Bewusstsein gekommen wäre, nicht wenn kein Wunder geschehen wäre. Sie hatten sie damals entführt und Schuldig hatte keinerlei Verbindung zur Außenwelt finden können, keine geistige Regung.

Er behielt es für sich. Was brachte es schon, das jetzt auszusprechen?
 

Ein bitteres Lächeln umspielte die Lippen des blonden Weiß. „Er hat sich von Kritiker ködern lassen für sie. Hat für sie gemordet, hat alles für sie getan. Er hat sie abgöttisch geliebt. Was glaubst du, wie groß der Abgrund ist, den er jetzt hinunterstürzt? Ich habe Fotos von ihm gesehen…von DAMALS, als er noch nicht wusste, wo man einem anderen Menschen am Besten das Katana in den Leib treibt, damit er schnellstmöglich stirbt. Ausgelassen, freundlich, immer mit seiner Schwester unterwegs. Nennst du das einen niedrigen Preis?“ Er zündete sich die nächste Zigarette an.
 

Es tat weh. Das zu hören tat weh.

Kurz huschte ein weicher Ausdruck über Schuldigs Gesicht, als er sich dessen bewusst war, änderte er dies und verschloss sich wieder vor dem anderen.

"Ich kenne ihn nur so. Ein solches Bild habe ich von ihm nie gesehen", gab er zu, die Stimme kalt, abweisend, um das Bild von ihm von vorhin auszumerzen, egal was der Schnüffler gesehen haben mochte.

Doch seine Augen konnten nicht schauspielern als er sagte: "Teile von diesem Mann, den du beschreibst kenne ich. Ich weiß wie er ist ...wie verletzlich er ist ...ohne dass ich ihm in den Kopf geschaut habe."

Seine Stimme war ruhig, barg aber eine gewisse Schärfe, die den Worten die Sanftheit nahm. Er wollte sie kaschieren, denn er wollte nicht, dass Yohji den falschen Eindruck von ihm hatte. Einen schwachen Eindruck.
 

Youji legte aufmerksam seinen Kopf schief, betrachtete den Schwarz aus einem anderen Blickwinkel. Er war zu lange Privatdetektiv gewesen, um jetzt nicht jedes einzelne Detail aufzusaugen, das sich ihm hier bot. Mastermind in menschlich, was für eine bemerkenswerte Erkenntnis. Vor allen Dingen eine, gegen die er sich jahrelang gewehrt hatte.
 

„Meinst du, ich kann mir das nicht denken? Du hast ihn vermutlich in dem Moment erlebt, in dem er am Schwächsten war und du das leichteste Spiel mit ihm gehabt hättest. Schließlich war er bei dir und nicht bei uns, als er vom Tod seiner Schwester erfahren hat. Noch etwas, das ich dir zugute halten muss. Scheinbar hat ihm diese erste Hilfe gut getan. Und wer weiß, vielleicht gewinnst du ja irgendwann den Einblick in seine Gedanken. Und damit auch auf den Jungen, der er mal war.“
 

"Ich hab nicht viel gemacht. Eigentlich war es nichts."

Er wollte nicht mehr darüber sprechen, das Thema machte ihn nervös, unsicher werden, wühlte etwas in ihm auf.

"Ich bin mir nicht sicher...", grinste er in altbekannter Manier, einen Teil seiner bösen Seite zeigend ... "ob dieser Junge mich auch sehen will."

War das wirklich seine Angst? Nein.

Er wischte alles beiseite, starrte für Sekunden in die grünen Augen, bevor er sich abwandte, stoisch auf die Tür blickte und hoffte Aya würde bald herauskommen.
 

Auch Youji sagte nichts, sondern starrte auf die Tür. Es war kalt…arschkalt und er hatte nicht länger vor, hier draußen zu bleiben. Er stieß sich vom Wagen ab, setzte sich müßig in Bewegung und schloss die Tür auf und betrat das erholsam warme Haus. Ließ die Tür jedoch offen. Nicht ganz als deutliche Einladung für den Telepathen, aber er knallte ihm auch die Tür nicht vor der Nase zu.
 

Schuldig beobachtete dies mit gelassenem Blick.

Er würde diese Geste zu schätzen wissen, aber er wollte nicht in dieses Haus. Dieses Haus hatte mit Sicherheit Erinnerungen. Von welchen er die eine oder andere hervorgerufen hatte.

Nein.

Da drinnen würde ihm das Ganze zu viel werden. Schon jetzt engte es ihn ein, schnürte ihm die Luft ab und er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Das war nicht seine Welt.

Abrupt drehte er sich um.

Hass kroch in ihm hervor, legte sich um seine Kehle. Seine Handschuhe knirschten, als das Leder sich spannte und er die rechte Faust ballte.
 

o~
 

Aya trat in den Hinterhof hinaus, maß den Telepathen, wie er verspannt und einsam dort bei seinem Wagen stand. Er räusperte sich leise.

„Schuldig…“
 

Schnell wandte der Angesprochene das Gesicht Ran zu, versuchte sich zu fassen.

Sicher würden sie gleich fahren und er konnte sich zurückziehen, zur Ruhe kommen, weder Vorwürfe, anklagende Blicke oder durchschauende Schnüffler ertragen müssen. Selbstgerecht.

Hör auf damit! herrschte ihn etwas in ihm an.

"Ja?" Seine Stimme erinnerte ihn in seinen Ohren an brechendes Eis. Crawford hatte Recht, es brachte ihn noch um, wenn er länger mit ihnen verkehrte, wenn er ihre Gedanken, ihre Worte aufnahm und darüber nachdachte.
 

Aya sah, dass da etwas war, das ihm in den vergangenen Augenblicken entgangen war. Er sah Schuldigs Unwohlsein, nahm es sehr wohl durch sein eigenes wahr. Langsam, so vorsichtig wie möglich trat er an den anderen Mann heran und lehnte sich neben diesen an den kalten Wagen. Warum war Schuldig nicht hereingekommen, wenn schon die Tür offen gestanden hatte? Weil sie in der Überzahl waren? Das konnte doch nicht sein…

„Omi hat gefragt, wie er mich erreichen kann“, legte er schließlich ruhig und ohne jede Frage die Informationen dar. Stellte ein Problem zur Diskussion, dessen Lösung nicht allein ihm oblag.
 

Fahrig wischte sich Schuldig eine seitlich umrahmende Strähne aus dem Gesicht, die sich vor seine Augen verirrt hatte, als er sich zu schnell zu Ran gedreht hatte.

"Ich...ja...." Seine Augen huschten zu der ruhigen Gestalt, saugten die Ruhe in sich auf, die sein aufgewühltes Inneres benötigte.

"Wenn es ihnen nichts macht, wenn du es willst, dann ist das kein Problem", bot er an.

Warum kam er sich jetzt nur so ausgeliefert vor?

"Können wir bald fahren? Du brauchst deine Sachen noch, oder?", fragte er deshalb vorsichtig.
 

Die Ruhe, die Schuldig so dringend benötigte, strahlte Aya nun in beinahe vollkommener Weise aus. Er sah die Rastlosigkeit des Geistes vor ihm, die schiere Unsicherheit in direkter Nähe des Konekos. Und Aya konnte es nachfühlen…nur zu gut.

„Das Geld und die…Papiere hole ich gleich. Brauche ich sonst noch etwas?“, fragte er gemäßigt intoniert, auch wenn ihn selbst dieses Thema ebenso unsicher machte. „Und sie dürfen dich mental rufen, wenn es etwas…dringendes gibt?“
 

Schuldig schüttelte unsicher den Kopf. "Das funktioniert nicht."

Was sollte er denn noch alles offenbaren?

Ohne es zu bemerken sah er den anderen anklagend an, sein Kiefer arbeitete, die Muskulatur war deutlich zu sehen. "Ich muss sie kontaktieren, es funktioniert nicht, dass sie mich rufen."

Wieder gab er Aya etwas in die Hand, was dieser theoretisch Kritiker zuspielen konnte.

"Ich kann mich in einen von ihnen öfter einklinken und ihn fragen ob alles klar ist, aber das ist mühselig."

Er schüttelte noch immer leicht den Kopf. Versuchte, eine Lösung zu finden.

"Und wenn wir dir ein Handy kaufen?", fragte er wenig zuversichtlich, dass Aya darauf einging.
 

Der jedoch seinen Blick gesenkt hatte. Dem vorwurfsvollen Blick nicht standhalten konnte. Er wusste, worauf es sich bezog und ließ ihn sich ein weiteres Mal fragen, ob es wirklich richtig war, was er tat. Es schien ihm nicht richtig, auf einen anderen Menschen angewiesen zu sein und diesen auszunutzen. So wie er es jetzt tat…er kam sich schäbig dabei vor. Auch wenn Schuldig ihm gesagt hatte, dass er bleiben konnte.

Sein Blick glitt die Hausfassade empor, hinauf zu ihrem Badfenster. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, dass er es nicht schaffte, dass alles zuviel für ihn war. Dass er sich einfach von Kritiker erledigen lassen sollte.

Doch das war egoistisches Denken, wie ihm in der nächsten Sekunde bewusst wurde. Das würde niemandem helfen…schon gar nicht seinen Freunden.

Aya wandte sich zur Seite, Schuldig zu. Ein Handy? Ein schmerzliches Lächeln glitt über seine Lippen. „Ich wusste nicht, dass sie dich nicht kontaktieren können…ein Handy wäre wohl das Richtige“, bestätigte er überraschend für sie beide.
 

Schuldig sog das Lächeln auf, wärmte sich an ihm.

Ihm entging die Bitterkeit darin, er sah nur das Lächeln, eine Rarität im Moment in der er sich in seine Vergangenheit versetzt fühlte, in der seine Fähigkeiten ausgebeutet wurden. Ran wollte nicht seine Fähigkeiten benutzen, er hatte es nur vorgeschlagen, kein Grund zu Panik.

Es war zum aus der Haut fahren, er fühlte sich hier gänzlich unwohl, musste sich wegen Ran zusammenreißen, dass er ruhig blieb, wollte ihn nicht erschrecken.

Tief einatmend löste er sich von seinem Wagen, der Mantel wurde etwas vom Wind erfasst, der auch seine Haarsträhnen vor sein Gesicht wehte.

"Sie beherrschen die Telepathie nicht. Sie können ihre Gedanken nicht lösen um sie zu einem Ziel zu schicken“, erklärte er sich und verzog die Lippen ein wenig zu einem Lächeln.

Sein Blick wich zur Tür, die noch offen stand. "Willst du noch Kleidung von dir mitnehmen? Oder kaufst du dir was neues?"

Was war mit seinem Wagen, würde der hier bleiben?, fragte sich Schuldig im Stillen.

Aber das war jetzt zweitrangig, vielleicht blieb Ran nur Tage bei ihm und würde dann wieder gehen, als wäre er nie bei ihm gewesen.

Würde das so sein?

Fragend sah er zu eben diesem hin, fand die Antwort jedoch nicht in den von Trauer durchzogenen Violett.
 

„Ich hole mir was von oben…“, nickte Aya und löste sich von dem kalten Wagen, strebte nach einem weiteren Blick auf den anderen Mann wieder auf das Haus zu. Auf die Treppe, die ihn nach oben in sein Zimmer tragen würde. Auch wenn ihm jeder Schritt schwerer fiel, jede Stufe scheinbar größer wurde. Seine Beine unwilliger, weiter zu gehen. Dennoch schaffte er es und betrat den heimischen Raum…seinen Raum, der für sein altes Leben stand.

Schweigend zog er eine Sporttasche unter dem Bett hervor und nahm einige Sachen aus seinem Schrank. Stoppte bei dem grob gestrickten, orangefarbigen Rollkragenpullover. Beinahe schon zärtlich strich er über die Textur und hängte ihn ab, legte ihn zu den anderen Sachen in die Tasche. Schloss seinen Schrank dann.
 

Wie lange würde er bei Schuldig bleiben? Wie lange würde er nicht mehr hierhin zurückgehen können? War es wirklich für immer? Waren es wirklich die letzten Augenblicke in einem Leben, das er umsonst geführt hatte? Aya ließ sich auf das Bett fallen, richtete seine Augen auf die Steppdecke. Er blinzelte. Sein Blick fiel auf seinen kleinen Beistelltisch. Auf Aya.
 

Zitternde Finger griffen nach einem der Bilder. Dem, das ihn in liebster Erinnerung war. Er holte es zu sich heran, strich durch das Glas über Ayas lachende Züge. Über ihre weichen, langen Haare. Seine Lippen bebten und seine Sicht verschwamm. Wieso war sie nicht mehr da? Was hatte er nur falsch gemacht, dass nun auch noch der letzte Mensch seiner Familie ihn zurückgelassen hatte? Aya schluchzte leise, erbebte selbst unter der Trauer, die ihn überwältigend überfiel. Er weinte zahllose Tränen, konnte nicht anders, als das Bild in seinen Händen zu halten und zu trauern. Zu weinen, zu schluchzen, zu zittern vor lauter Hilflosigkeit und Verzweiflung.
 

o~
 

Schuldig schritt ums Auto herum, die Kälte kroch ihm langsam in die Knochen und das trotz des schützenden Mantels. Ran war nun schon lange drin und er warf einen Blick auf seine Uhr. Zwanzig Minuten waren vergangen seit Ran ins Haus gegangen war. Leise Unruhe drängte ihn dazu es auch mit ungutem Gefühl zu erwägen ins Haus zu gehen.
 

Der Kritikeragent war auf seinem Posten und Schuldig hatte diese Angelegenheit unter seiner Kontrolle. Sich dessen ein letztes Mal versichernd, setzten sich seine Beine in Bewegung und er öffnete die Tür, trat in die stille Atmosphäre des Hauses ein.
 

Angenehme Wärme schlug ihm entgegen, doch er fühlte sich zu eingeengt von diesen kleinen, schmalen Fluren, von den durch Wände abgetrennten Räumen. Als wäre er hier lebendig begraben, zu klein dies alles, zu ...profan, irden, ihm fehlte hier der freie Raum, die Weite.
 

Dennoch roch es gut, Tee, und Räucherwerk, wie er vermutete. Seine Schritte trugen ihn zum Licht hin und er stand vor der Tür zur Küche. Dort standen sie alle...bis auf Ran. Er runzelte unmerklich die glatte Stirn, kniff die Augen minimal zusammen, weil er durch die Dunkelheit aus der er kam, den Lichteinfall der Küchenbeleuchtung auf seine Netzhaut schützen wollte.
 

"Ist er schon lange in seinem Zimmer?", fragte er in die schweigende Runde.
 

"Schon lange?"
 

Yohji runzelte die Stirn und ging auf ihn zu, an ihm vorbei und ihm voran die Treppe nach oben.
 

Schuldig nickte und folgte dem Mann, stieg die Stufen nach oben und sah bereits den Spalt Licht der aus der angelehnten Tür entwich.
 

Youji stockte an eben dieser Tür und warf einen Blick in das sanft erhellte Zimmer. Seine Augen weiteten sich, während er nicht mehr fähig war, auch nur einen Schritt nach vorne zu tun. Als stummer Beobachter schlug er die Hand vor den Mund, um jeglichen Laut zu ersticken, der eventuell seinen Lippen entkommen könnte.

Sein Blick verschwamm. Nein…nein…das, was er hier sah, war Trauer in Reinform. Das war Ran, wie er hinter der Fassade von Aya steckte, die unermüdlich für seine Schwester gekämpft hatte. Und diese Fassade war einem Spiegel gleich in tausend Scherben zersprungen, zeigte ihm nun den in sich zusammengesunkenen Mann, der auf seinem Bett saß, das Bild mit seiner Schwester anstarrte und verzweifelt Tränen vergoss.
 

Automatisch drang Schuldig in die Gedanken des Blonden ein, noch bevor er ihn erreichte. Es war schlichte Gewohnheit, sofort über die Lage informiert werden zu wollen.

Doch er zog sich gleich zurück, als er in den Gedanken den Grund für dessen Blick und die dramatische Haltung las.

Schuldig stockte für einen Moment in seinem Gang bevor er an Yohji vorbei trat, mit unleserlicher Miene den Raum betrat, dann wie aus einem plötzlichen Impuls heraus auf Ran zuging, der sich an einem Bild festzuhalten schien, vor Schluchzern selbst am Luftholen zu scheitern schien. Es schien zerbrochen zu sein. Alles was Ran ausmachte, schien für Schuldig in diesem Moment in tausend Scherben und mehr zersplittert zu sein…
 

Schuldigs stiller Blick lag auf dem Mann, blickte auf ihn hinab und beobachtete ihn ohne Regung. Und doch liefen in seinem Inneren Prozesse ab, die eine ambivalente Neigung aufwiesen.

So wie er dastand, hätte er vor einem Opfer stehen können. Verachtung tropfte wie zähfließende, ätzende Säure hinab, jeden Augenblick die Ruger aus seinem Holster ziehen könnend um ihn zu erledigen. Sein dunkler Blick bohrte sich in die verletzliche, am Boden zerstörte Gestalt.

Etwas in ihm hasste es, ihn so zu sehen. Etwas in ihm ergötzte sich an diesem Anblick.
 

Es überwiegte jedoch der Teil, der ihn nun dazu veranlasste sich neben Ran zu setzen, ihn sanft an sich zu ziehen und festzuhalten. Sein Blick hatte sich verändert, war zur maskenhaften Neutralität verkommen.

Doch wie gut das tat, konnte er nicht beschreiben. Es war merkwürdig, denn auf eine Art war es schmerzhafter, ihm in seinem Leid näher zu sein und es zu fühlen, zu spüren wie der Körper zitterte. Und doch tat er etwas um es zu lindern. Er war nicht nur der Beobachter wie sonst, der Manipulator, der sich die Hände nicht schmutzig machte, er war hier nicht derjenige der mit den Gedanken spielte.

Sein Blick wurde weich, die Anspannung fiel von ihm ab und die Eiseskälte auf seinen Gesichtszügen schmolz im Wasser der Tränen, die Rans Wangen hinunterflossen.

Alles verstummte in ihm, nichts begehrte auf, nichts wühlte in ihm, alles schwieg.

Beruhigend fuhren seine Hände über den Rücken, den Arm, den er berührte, hielten wieder ein und ruhten.
 

Es war nicht nur ein Augenpaar, das Schuldig mehr als misstrauisch bei seinem Tun beobachtete und jederzeit bereit war, einzugreifen. Nicht nur ein Augenpaar, das sich nun vor Überraschung weitete angesichts dieser Szene.

Dort, wo Youji unfähig und geschockt zum Reagieren war, griff nun der Telepath des gegnerischen Teams ein und sorgte dafür, dass der rothaarige Weiß sich aus seiner verzweifelten Starre löste, die ihn befallen hatte. Dass seine rotgeränderten Lider blinzelten, versuchten, die Tränen zu stoppen.
 

Auch wenn Aya nichts sagte, so war es doch mehr als deutlich, dass er nichts, aber auch überhaupt gar nichts gegen diese Art von Trost und Zuversicht hatte. Dass er sich vielmehr ebenso an Schuldig lehnte, wie dieser an ihn. Dass seine freie Hand sich auf dessen Arm legte.

Youjis Brauen zogen sich schmerzerfüllt zusammen. Selbstvorwürfe keimten in ihm auf, dass es nicht er war, der Aya zu trösten vermochte, sondern dass es ausgerechnet der Telepath sein musste.
 

„Es geht schon“, drang eine ungewöhnlich leise Stimme an seine Ohren. Aya, der sich mit fahriger Hand die Tränen von den Wangen wischte, damit mehr als erfolglos war.
 

Wie neu die Situation für Schuldig doch war, verdrängte er selbst geflissentlich. Er kam sich vor als stände er unter Strom. Die Ruhe vorzugeben, die er plötzlich nicht mehr empfand, als er die Worte hörte, war nicht leicht und die Blicke die sich in ihn, seine Gestalt, das was er darstellte bohrten waren schlecht zu ertragen.

Er hatte nicht vor Ran loszulassen, doch er musste sich zusammenreißen um sie nicht mental anzugreifen, wie sie dort wie die Ölgötzen standen und den weinenden Mann angafften.

"Seid ihr fertig mit starren?", fragte er ruhig mit einer Spur Schärfe, die zwar nur als Färbung in den Worten lag, aber er wandte den Blick, zeigte was er davon hielt, dass sie sahen, wie Ran weinte, wie hilflos er sich an ihn lehnte. Wie schwach er war…
 

Genau dieser brachte Youji nun aus seiner eigenen Starre. Da, wo er geglaubt hatte, dass es besser war, sich ihrem Anführer nicht zu zeigen, musste ausgerechnet Schuldig ihn auf das Gegenteil stoßen. Youji schnaubte innerlich erbittert und trat ins Zimmer. Ging langsam vor Aya in die Knie und legte seine Hände auf die des Rotschopfes. Sah ihm in die dunklen, vor Schmerz überquellenden Augen. Er strich ihm sanft über die klamme Wange, wischte dort die Tränen fort.

„Aya…schau, wir sind da. Wir sind für dich da“, murmelte er sanft und sah mit einiger Erleichterung, dass dieser nickte. Dass sich zitternde, bleiche Hände um die seinen schlossen und sie drückten.

Auch wenn damit gar nichts gut war. Rein gar nichts. Es würde weitergehen, immer wieder, immer weiter. Das hier war nur der Anfang von Ayas Trauer. Sie war noch nicht einmal in Ansätzen überstanden.
 

Und auch wenn er sich vorgenommen hatte weiterhin bei Ran sitzen zu bleiben, so war ihm dies nun nicht mehr möglich, nicht mehr länger erträglich, seit der Blonde die Hände von diesem genommen hatte und weiterhin festhielt. Es war ihm zuwider, er wollte weg, wollte raus aus diesen Wänden, fort von diesen Menschen.

Er hatte genug gesehen, genug gehört. Genug von diesen anderen Gedankengängen, die seiner Lebenseinstellung zuwider waren.

Sanft doch bestimmt löste er sich, blickte Ran nicht an sondern stand auf, seine Hand strich über den Rücken, bis sie wie zufällig leicht mit den Fingerspitzen über den Nacken strich.

"Ich warte unten.“
 

Youji kümmerte sich nicht um die Worte des Schwarz. Aya war hier wichtig. Ihre Freundschaft, ihre Familie.

Er wartete solange, bis er wusste, dass der Telepath das Zimmer verlassen hatte, bevor er Ayas Aufmerksamkeit ein weiteres Mal auf sich zog. Vielmehr dieser seine eigene, als sich violette, rot umränderte Augen auf ihn richteten und ihn bewusst ansahen. Einen Blick auf das Foto seiner Schwester warfen und ihn wieder ansahen.
 

„Ich muss noch ins Krankenhaus…die Formalitäten regeln“, tönte eine völlig geschlagene Stimme an seinen Hörnerv und ließ ihn auf seine Fersen zurücksinken. Jetzt? Wieso nicht morgen? Wieso überließ es Aya nicht ihnen? Doch der blonde Mann glaubte die Antwort zu kennen…ja, das tat er wirklich. Aya musste diese Sachen erledigen, damit er sah, dass seine Schwester tot war. Damit er etwas zu tun hatte und nicht nutzlos war. Damit er – so paradox es auch schien – immer noch eine Verbindung zu ihr hatte.
 

Was sein würde, wenn diese Verbindung abbräche, das konnte und wollte Youji sich nicht ausmalen.
 

Er nickte leicht. „Soll ich dich dabei begleiten?“ Ein Kopfschütteln antwortete ihm, verdeutlichte Youji mehr als alles andere, dass Schuldig derjenige sein würde, dem diese Aufgabe auferlegt wurde.
 

„Ich…werde mich melden, wenn es wieder besser geht…“…das Leben. Nicht Aya selbst. Nein…wenn Ayas Leben wieder lief und er sich nicht von einem Moment zum nächsten entlang schleppte, immer in Gefahr, stehen zu bleiben und den Anschluss zu verpassen. Youji strich seinem Freund über die leuchtenden Haare.
 

„Es ist in Ordnung, wir stehen alle hinter dir. Und wenn du uns brauchst, sind wir da.“
 

Aya stand in ihrem kalten Innenhof, wirkte verloren, als er Schuldig in Augenschein nahm. Seine Tasche in der rechten Hand. Er hatte sich gefasst, so gut es ging und machte sich nun für das Schlimmste bereit, was ihm bevorstehen würde.

„Wir…können“, nickte er abwesend und legte seine Tasche auf den Rücksitz, stieg schließlich wieder zu Schuldig in den Wagen. Setzte sich schweigend auf den Beifahrersitz.
 

o~
 

Der Fernseher blubberte vor sich hin.

Schuldig stand im Badezimmer und begutachtete die Naht mit argwöhnisch zusammengezogenen Brauen. Würde wohl keine wulstige Narbe bleiben, hatte er richtig Glück gehabt, grübelte er mit einem zynischen Lächeln, welches verblasste, als er sich vom Spiegel abwandte. Er legte einen Klebeverband an und löschte das Licht.

Bis auf den Flachbildschirm war es dunkel in der Wohnung, die Lichter aus, die Tür zum stillen Raum nur angelehnt.
 

Er ging in die Küche, holte sich aus dem Kühlschrank ein Bier, setzte sich damit vor den Fernseher.

Wiederholt fiel sein Blick auf die angelehnte Tür, die fast geschlossen war. Seit zwei Stunden waren sie wieder in der Wohnung und seit fast genau dieser Zeit war Ran nun schon dort drinnen. Schuldig beobachtete akribisch die vergehende Zeit. Es war nicht gut, ständig dort drinnen zu sein, sich abzuschotten.

Schuldig nahm einen Schluck seines Bieres, klickte sich durch die Programme und blieb an einem Film hängen, den er noch nicht gesehen hatte. Es war fast schon halb elf abends.
 


 

In Schuldigs Zeitrechnung waren es weitere zwei Stunden, die vergingen, für Aya jedoch bedeutete diese Zeit nichts. Rein gar nichts. Beinahestille umhüllte ihn und seine Gedanken, ließ ihn forttreiben von der Realität…beinahe flüchten.

Alles vergessen, was tief in seine Seele eingedrungen war. Die Formalitäten…das Gespräch mit dem zuständigen Berater, mit dem Arzt, ein letztes Durchsehen der Krankenakte…all das hatte er hinter sich und es war nicht gut für ihn gewesen. Also floh er in Gedankenlosigkeit. In Erinnerungen an helle, fröhliche und unbeschwerte Tage.
 

Aya lehnte an den weichen Wänden, hatte sich in eine dunkle Ecke des Raumes gekauert.
 

Wieder fiel Schuldigs Augenmerk zur Tür, danach zur Uhr. Es war halb eins, als Schuldig die Fernbedienung achtlos neben sich warf und aufstand. Er näherte sich der Tür öffnete sie und blickte sich um.

Ohne Licht zu machen trat er in den Raum ein, fand den dunklen Schemen in der hintersten Ecke. Er näherte sich Ran, setzte sich vor ihn hin und berührte einen Arm. "Hey", sagte er sanft und leise.

"Ran...", sprach er ihn mild an. "Komm ins Bett, Blumenkind, hmm? Ist doch besser als hier zu sein", versuchte er die Aufmerksamkeit von Aya zu erlangen.

Es war fast ganz dunkel im Raum, da nur der laufende Fernseher draußen sein Licht hinein fallen ließ.
 

Blumenkind?

Ayas Augen richteten sich der Dunkelheit angepasst auf den anderen Mann, auf die aufmunternden Worte. Ein kurzes, trauriges Lächeln, das so schnell wieder verschwunden war, wie es sich gezeigt hatte. Doch…das Bett hörte sich gut an. Schlafen, Vergessen, kein Bewusstsein mehr, das die Gedanken auf irrwitzige Reisen schickte.

Aya tauchte gänzlich in den morastigen Sumpf der Realität zurück und streckte seine Beine langsam aus. Es schmerzte. Das Hiersein.

„Blumenkind?“, hakte er nach und suchte die Augen des Deutschen durch die minimal erhellte Dunkelheit hindurch. „Ich habe aber im Moment keine, die ich werfen könnte…“
 

Schuldig lachte leise.

"Ich weiß nicht, der Bonsai da draußen kommt einer Blume doch sehr nahe, oder? Aber bitte nicht …werfen…"

Seine Worte waren weich und sanft als er den Kopf leicht neigte, von unten her zu Aya blickte, das Gesicht dabei ganz im Schatten verborgen.

Er hielt die Hand offen hin. "Komm hauen wir uns hin, es war ein langer Tag"
 

Aya musste nun doch etwas länger lächeln. Den Bonsai werfen? Nach Schuldig?

Er schlug ein, ließ seinen Körper das Regiment übernehmen. Seinen Körper, der ihm sagte, dass der andere Mann Recht hatte.

„Wenn…man es genau nimmt, ist der Fukientee keine Blume, sondern eine Baumart“, erwiderte er schließlich mit einem erneuten, vorsichtigen Lächeln. Er ließ sich von Schuldig langsam in die Höhe ziehen und betrachtete sich den anderen Mann, wie sie hier standen. Friedlich sich gegenüber. Kein Vergleich zu noch nicht mal drei Tagen vorher.
 

Schuldig grinste schief. "Grünzeug is’ Grünzeug", murmelte er verlegen und ließ Ran wieder los, obwohl er ihn gerne etwas länger gehalten hätte. Er ging voraus, strich zuvor jedoch noch einmal den Arm entlang, um den Kontakt noch etwas zu halten. Es hätte zufällig ausgesehen, wenn er nicht genau gewusst hätte, dass es Absicht war.
 

Aya blieb einen Moment zurück und besah sich seinen Arm. Wie kam es, dass der andere Mann immer noch zu solch ungezwungenem Hautkontakt neigte? War es wirklich, wie Omi und Ken schon vermutet hatten? Waren das Anzeichen für etwas, das weiter ging, als Aya es bisher ahnte und hören wollte?
 

Er folgte Schuldig, folgte ihm bis ins Bett. War es Egoismus, dass er nicht alleine auf der Couch schlafen wollte, aus Angst vor den Alpträumen, die sicherlich kommen würden? Nutzte er den anderen Mann für seine Belange aus und dessen scheinbare Zuneigung?

Ja. Aya zog seine Decke ein Stückchen höher.

Es gab eine Frage, die all das klären würde. Nur eine einzige Frage. Doch sie zu stellen, würde ihm auch das Letzte zerstören, was ihn noch auf den Beinen hielt.
 


 

War es einfach, hier neben Ran zu liegen?, fragte sich Schuldig.
 

Hier zu liegen und ihn nicht anfassen zu können, als wäre der Mann in einer Blase gefangen und als nähme er das, was außerhalb dieser Blase passierte, nicht wahr... nein dies war nicht einfach.
 

Für Schuldig nicht.
 

So lag er zunächst eine Zeit lang wach, im Halbschlaf, sich der Atemzüge Rans bewusst, die er in seinem Unterbewusstsein registrierte. Hatte er die Befürchtung, Ran würde gehen?
 

Sobald er eine Bewegung wahrnahm war er wieder hellwach.
 

o~
 

Wachsein war kein schönes Gefühl.
 

Übelkeit dominierte seinen Magen, seine Lider waren tränenschwer und gereizt vom vielen Weinen. Der Knoten in seiner Brust war über die Stunden noch stärker geworden. Wie konnte es auch anders sein?

Geschlafen hatte Aya wenig, beinahe gar nicht. Wieder und wieder war er hoch geschreckt und hatte sich umgeschaut. Hatte gehofft, dass alles nur ein Traum war, der schließlich vorbei gehen würde. Doch das war es nicht, wie ihn in den schrecklichen Momenten danach bewusst wurde.
 

Nichts hiervon war ein Traum, alles Realität. Bittere, einsame, kalte Realität, ohne einen Schimmer an Besserung.
 

Aya wusste nicht, wie lange sein Blick schon auf der schlafenden, ihm zugewandten Form des Deutschen lag. Wach wie er war, hatte er sich stumm seinem Schicksal ergeben und die Zeit genutzt, diese vor ihm liegenden, ruhigen Züge zu studieren, die sich nur hin und wieder durch ein Runzeln oder ein angedeutetes Grinsen entstellten. Aya ließ das unwillkürlich lächeln. Selbst im Schlaf holte den Telepathen diese Geste ein.
 

Schon alleine um sich aus seinen abgrundtief dunklen Gedanken zu lösen, versuchte Aya zu ergründen, was der Deutsche an der Textur seines Haares so interessant fand. Überhaupt an der Berührung der Strähnen. Vorsichtig stahlen sich seine Finger vorwärts, leise genug, um den anderen Mann nicht zu wecken. Ebenso vorsichtig strichen sie über ein kleines Bündel dieser überraschend weichen Mähne. War das der Reiz? Das sanfte, federne Gefühl, welches sich von dort aus ausbreitete?
 

Aya probierte es noch einmal, legte seinen Kopf leicht schief. Das spärliche Licht der Schneeverhangenen, nachthellen Wolken tauchte die Züge des anderen Mannes wie auch seine eigene Hand in unwirklichen Schein. Es war, als schwebten sie in der Stille dieser verschneiten Nacht, so wie dicke, weiße Flocken außerhalb des Fensters tanzten. Ein rötlicher Schimmer lag über den gesamten Stadt, bedeckte den Himmel.

Leise hob er seine Hand, strich beinahe unmerklich über die Schläfe des Deutschen. Hatte er das nicht schon einmal getan? Ohne die jetzige, beinahe schon kindliche Neugier?

Er runzelte die Stirn, betrachtete die unschöne, verschorfte Linie dort. Er war es gewesen. Er hatte geschossen…völlig unnütz. Hatte sich aufreiben lassen zwischen den Fronten, zwischen seinem persönlichen Ehrgefühl und dem Zwang, den Kritiker ihm auferlegt hatte.
 

Seine Augenbrauen zogen sich schmerzlich zusammen. Als wenn das das Einzige wäre, das er getan hätte…
 

Ayas Blick wanderte tiefer, ebenso seine Hand. Strich in schweigender Trauer die Decke nach unten und entblößte einen überraschend bedeckenden Pyjama. Angesichts dessen, dass es der andere Mann sonst scheinbar vorzog, nackt zu schlafen, eine Tatsache, die Aya die Stirn runzeln ließ. War es…wegen der Katanawunde? Seine Hand schob sich leicht unter die offenen Ränder des Oberteils, zu leicht, um im Schlaf wahrgenommen zu werden. Sie gaben den Blick frei auf einen scheinbar professionell angelegten Verband.

Ayas Finger strichen leicht über diese Textur, als könnten sie sie dadurch lindern, als könnten sie ungeschehen machen, was geschehen war.
 

Die Süße des Halbschlafes hielt ihn fest in ihren Armen, träge glitt er dahin, sich sicher, dass der Morgen bald anbrechen würde und er noch etwas dösen konnte. Eine warme Berührung, erkannten seine Sinneszellen und alles in ihm richtete sich danach.

Schuldig drohte ein Schauer des Wohlbefindens zu durchlaufen, doch das hätte seine Wachheit verraten und so unterdrückte er ihn. Wie sanft diese Finger doch über seine Haut strichen.
 

Mit ziemlicher Sicherheit würde Ran die erkundenden Finger schnell zurückziehen, wenn er bemerkte, dass Schuldig wach war. Also ließ er sich wieder fallen, genoss, was ihm zuteil wurde, und versuchte sich zu beherrschen.

Dieser Augenblick war so kostbar, dass er Angst hatte, ihn zu vergeuden.

Hieß das nicht, dass Ran so etwas wie Zuneigung für ihn empfand? Er tat es freiwillig, berührte ihn, sanft, so zart, dass Schuldig glaubte, vergehen zu müssen. Doch er wusste, befürchtete, dass er nicht zu viel in diese Geste hinein interpretieren sollte… durfte.

Und plötzlich fuhren die gleichen Finger in elektrisierender Sanftheit hinunter über seine Brust, tasteten über die heilende, genähte Wunde.
 

War es das? War es Schuld, die diese tastenden Finger über seinen Körper führte?

Wenn es das war sollte es so nicht sein. Trauer befiel Schuldig und er spürte Bitterkeit in sich. Er war versucht, sich wegzudrehen so zu tun als würde er sich im Schlaf unabsichtlich weggedreht haben.

Doch etwas hielt ihn davon ab und stattdessen stahl sich seine Hand nach oben, umfasste Rans und legte sie auf seine Brust, hielt sie mit seiner bedeckt, als er die Augen öffnete.

Und in geheimnisvolles Violett blickte, das einen schmerzvollen Ausdruck innehatte. Oft waren diese Augen so undurchschaubar und doch jetzt konnte er sie lesen.

Er schwieg, sah ihn nur an, nahm jede Einzelheit in sich auf, als müsste er ihn zeichnen, ihn für sich in sein Inneres bannen. Hin und wieder senkten sich seine Lider um die Hornhaut zu befeuchten, doch er sprach nichts, wünschte sich lediglich diese Lippen berühren zu dürfen.
 

Aya war unwillkürlich zusammengefahren, als sich der schlafende Mann vor ihm als nicht halb so schlafend herausstellte, wie er es zu Anfang gedacht hatte. Das war…nicht gut. Wie würde…

Nein, die Frage brauchte sich Aya nicht zu stellen, besonders jetzt nicht, da seine Hand allzu warm daran gehindert wurde, ihre frevelhaften Taten aufzugeben und sich zurückzuziehen. Als ihn selbst in diesem Licht leuchtende, grüne Augen ansahen, die alles von ihm zu wissen schienen. Aber dem war nicht so, ganz und gar nicht. Oder? Sie sahen doch nur, was er nach außen hin projizierte.
 

Ayas Blick senkte sich auf ihrer beider Hände, die Verletzung, auf der sie lagen. Zeit, sich dafür zu entschuldigen. Ja…das war es und dennoch brachte er kein Wort über die Lippen, die sich in vergeblichen Bemühungen bewegten. Seine Stimmbänder wollten nicht herauslassen, was ihm durch den Kopf ging, wollten ihm nicht gehorchen. Vielleicht war es auch besser so. Seine Augen glitten wieder nach oben, in die schweigsamen Pendants, die ihn immer noch maßen und nicht freizugeben schienen.
 

Wie berauschend es doch war ihn kennen zu lernen, ihn zu studieren, dachte Schuldig während er Rans Hand in seiner an sich hielt. Er hätte sich ihm ganz leicht entziehen können, doch er blieb bei ihm, wie er auch schon die ganze Zeit über hier in dieser Wohnung geblieben war.

Schuldig verfolgte den Blick, wie er stet über seine Gestalt strich und wieder zu seinen Augen zurückkam. Wie die Lippen sich tonlos bewegten, nutzlos waren die Stimmbänder, wie es den Anschein hatte, versagten sie in der Hitze des Gefechtes, welches in Ran tobte. Er hatte sich sicherlich erschrocken, dass Schuldig nicht geschlafen hatte, dass er ihn erwischt hatte.
 

Mit der Linken hielt er die Hand und mit der Rechten trat er in den nahen Kreis um Ran ein, vorsichtig, bis er mit dem Zeigefinger zart die Lippen erreichte, die Linie, die beide Lippen bildeten mit dem Finger versiegelte. Er bedeutete somit ohne etwas zu sagen, dass Ran nichts zu sagen brauchte, er auch so verstünde.

Er nahm seine Hand wieder zurück, bettete sie vor sich.

Seine Gedanken tasteten sich vor, umhüllten die hohen Barrieren, die um Rans Geist lagen wie die Mauern der Bastille. Und ihm war es als erhaschte er ein Wispern, doch es war fern und kaum von ihm zu erfassen.
 

Ayas Lippen gaben ihr vergebliches Spiel auf, verstummten alleine schon anhand der Geste des Telepathen. Seine Gestalt entspannte sich nach wenigen Momenten, ebenso wie seine, immer noch menschlichem Hautkontakt ausgesetzte Hand. Die Finger, die sich nun bewegten, noch einmal über den Verband strichen, auf den Aya sein Augenmerk richtete. Es schien, als wollte er mit seiner einfachen Geste wenigstens einen Teil dieser Wunde lindern.

Schmerz und Trauer schoben sich in seine Züge, verhärteten nicht nur den bitteren Zug um seine Lippen, als er unwillkürlich daran dachte, was Schuldig ihm…vor längerer Zeit vorgeworfen hatte. Dass er doch für seine Schwester leben sollte. Und was war nun?
 


 


 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Fortsetzung folgt…
 

Coco & Gadreel

‚Uhrwerk Orange’

~ ‚Uhrwerk Orange’ ~
 


 


 

Für Wimpernschläge schloss Schuldig die Augen, konzentrierte sich erneut und ihm war es...

ja....als stünde er vor einer großen Mauer, meterdicke Steine zu einer Festung erbaut, um ihn herum tobte der Sturm, nur unwirtliches Land, verdörrte Bäume, schwarzer Grund, der Himmel verborgen von dunklen Wolken, die schnell dahin zogen und immerwährend zu sein schienen. Von irgendwoher kam ein Flüstern, von jenseits der Mauer ein Wispern, so undeutlich, als wäre es eine fremde Sprache, die er nicht verstünde.

Und schon entfernte er sich wieder von der Mauer und öffnete die Augen, blickte das Violett an, welches durchaus eine Sprache verwendete, die er verstand. Schmerz und Trauer. Er kannte diesen Blick, wie oft hatten Menschen ihn damit angesehen, wie oft hatte er darüber gelacht? Wie oft hätte er am Liebsten geweint und hatte es vorgezogen, sich durch ein Lachen zu schützen? Vor dem, was in ihm war, zu schützen.

Er war bereit zu lernen, diese Sprache zu lernen. Er war bereit Aya mit seinen übrigen Sinnen kennen zulernen, nicht nur mit der Telepathie, die ihm bei diesem Menschen verwehrt blieb.
 

Nicht nur in die Gedanken einzudringen und alles zu erfahren, gefragt oder ungefragt; er war bereit zu sehen, zu fühlen, zu lernen, wie er ohne diese Fähigkeiten Ran kennen lernen konnte.

Eine Reise ins Ungewisse. Denn er musste im Gegenzug vieles von sich preisgeben, was er eifersüchtig hütete. Wenn er in den Gedanken der anderen stöberte, hatte er dies nicht zu befürchten, musste er nichts offenbaren. Konnte nehmen ohne zu geben. Doch hier war es anders. Alles war anders.

Dieser Mann war anders.
 

Wieder setzten sich die Finger in Bewegung und ein warmes Lächeln erschien auf seinen Lippen während er die Augen schloss.

"Wir leben für uns selbst", sagte Schuldig, die Worte rau und nicht voll ausformuliert, da seine Stimme vom Schlaf noch belegt war. Er wusste nicht warum er das sagte, aber es schien ihm passend. Er hatte das Gefühl, dass Ran es jetzt hören sollte. Sanft erhaschte er die Hand und verschlang seine Finger mit denen von Ran.
 

Der für ein paar sanfte, stumme Momente einfach nur auf das Gefühl lauschte, das ihm durch den direkten Hautkontakt zuteil wurde. Wärme, ein Puls, von dem er nicht wusste, ob es seiner oder der des Telepathen war. Er fühlte die Sanftheit der Finger, jedoch auch ihre Härte, mit der sie gewohnt waren, Waffen zu führen und zu töten.
 

Ayas Blick glitt hoch. Er lauschte den Worten des rothaarigen Mannes. Hatte Schuldig seine Gedanken gelesen? Hatte er es in seinen Augen gesehen, was in ihm vorging? Das war doch…unmöglich…oder war es der Hautkontakt, die Nähe, welche das ermöglichte?
 

„Nein…wir sind alleine. Jeder für sich ist alleine auf dieser Welt. Und zu diesem Zweck schaffen wir Menschen uns Bindungen…um nicht alleine zu sein. Rein egoistisches Denken“, senkten sich Worte auf sie, die leiser und überzeugter nicht hätten sein können.
 

Schuldig ruckelte sich leicht zu Recht, seufzte sanft und fasste Rans Hand etwas höher, sodass er sie fast an seiner Wange spüren konnte.

"Dann bist du kein Egoist. Du schaffst dir keine Bindungen", sagte er ohne diese Behauptung zu begründen. "Aber wenn der Mensch ein Egoist ist ...heißt das dann, dass du kein Mensch bist?"

Er verschwieg, was er damit meinte.

Hatte sich Ran nicht einsam gefühlt trotz der Verbindung zu seiner Schwester? Hatte er sich so sehr von diesem Gefühl des Egoismus entfernt, sich außer seiner schwesterlichen Bindung niemanden gegönnt, dass er sein menschliches Ich in sich verbarg?

War Ran im Prinzip wie er selbst? Auch zweigeteilt? Nur nicht so extrem abgegrenzt wie bei ihm, sichtbar?
 

„Schaffe ich mir keine Bindungen...?“, fragte Aya nach und ließ seinen Blick auf den ineinander gewundenen Händen ruhen. Was war mit seinem Team? Hatte er nicht zu jedem von ihnen nach einiger Zeit automatisch Bande geknüpft, die sie aneinander hielten? Sandte nicht jeder von ihnen unbewusst kleine, dünne Fäden aus, mit denen er das Gegenüber für sich umspann und es an sich band? An sich zog um nicht einsam zu sein?

„Vielleicht sind wir zu menschlich…in unseren Bemühungen, uns nicht zu nahe zu kommen und Abstand zu halten, weil wir ja sterben können. Jeder von uns, zu jeder Zeit. Und haben deswegen unsere Menschlichkeit verloren. Den Sinn für das Leben… sind eins in der Ignoranz.“
 

"Dann ist es nicht doch besser ...an erster Stelle für sich selbst zu leben?", fragte Schuldig mit einem warmen Lächeln.

Und dann erst für die anderen? Oder doch eher mit den anderen?

Ich kenne weder das eine noch das andere. Ich lebe für niemanden außer für mich und ich lebe mit niemandem außer mit mir... dachte er und spürte leisen Schmerz in sich. Denn er sehnte sich nach einer dieser Bindungen und gleichzeitig fürchtete er sich vor ihnen.

"Erst Kraft für sich selbst... dann Kraft für die anderen, so heißt es doch immer oder?"
 

„Wenn denn Kraft da ist…vielleicht. Wenn man niemanden mehr hat, dann kann man diese Kraft für sich verwenden.“ Und er hatte niemanden mehr. Aya war tot, das war ihm heute wieder vor Augen geführt worden. Er hatte sie noch einmal sehen wollen. So, wie sie dort lag, aufgebahrt, kalt, schrecklich alleine. Doch derjenige, der wirklich alleine war, war er. Nicht sie. Sie verweilte, wo auch immer sie hingekommen war. Sein Verstand wollte ihm die Antwort darauf nicht geben. Glaubte er an Gott?
 

Er wusste es nicht. Wenn, dann wäre es vielleicht eine Erleichterung zu wissen, dass sie bei ihren Eltern war. Bei seiner Familie. Und der Einzige, der noch fehlte, war er. War es Schicksal, an das er nicht glaubte? Hatte er noch etwas zu erledigen, das ihn hier hielt? Oder war es einfach, weil die Zellansammlung, die sich Körper nannte, noch nicht so schwach wurde, dass sie aufgab und ihm den Frieden schenkte?
 

Aya schloss die Augen, fühlte den warmen Atem des anderen Mannes auf seiner Haut. Er streifte die Zellen, die sich so störrisch weigerten zu sterben. War das gut so? Wollte er das Leben wirklich missen?
 

Der Odem, gleich dem Hauch es Lebens, strich über eben diese Haut, erinnerte sie an Wärme, an Nähe, an Geborgenheit.

Schuldig hatte sich diesem Gefühl nur zu gern ergeben, wollte es mit Ran teilen und ließ ihn nicht los, auch als er in einen ruhigen Schlaf glitt.
 

o~
 

Stumm ruhte Ayas Blick auf den Dutzenden von Produkten, die sich ihm hier feilboten. Er hatte nicht mitgehen, hatte sich verkriechen wollen in dem von der Welt abgeschlossenen, stillen Zimmer. In das Gedankenzimmer, wie Aya den schalldichten Raum insgeheim nannte. Dort wäre er alleine gewesen, alleine mit seinen Gedanken und Erinnerungen an seine Schwester. Alleine mit seiner Trauer.
 

Er hätte weinen dürfen, wenn ihm danach gewesen wäre, doch nun musste er sich zusammenreißen. Musste stark sein für die Außenwelt, wie er es immer gewesen war. Wie leid er es momentan doch war.

Aya sah sich suchend um, fand Schuldig aber nicht, der anscheinend schon wieder in einem der anderen Gänge verschwunden war. Er hatte ihn hier gelassen, damit er etwas besorgte. Was war es gleich noch Mal gewesen? Aya wusste es nicht, er konnte sich nicht mehr an Schuldigs Worte erinnern.
 

Da versank er doch viel lieber in der bunten Kitschwelt der Produkte. Wie schrecklich…wie überaus schrecklich farbenfroh das alles doch war. Wie überaus passend er sich mit dem orangefarbigen Pullover doch in dieses Bild fügte.
 

Schuldig füllte derweil seinen Bar- und Süßigkeitenschrank wieder auf, sah sich jedoch schon seit einigen Minuten vermehrt nach Ran um.

Hatte er ihn nicht in dieser Reihe hier zurückgelassen um sich Badeartikel zu besorgen? Alles nötige, was er so brauchte und noch nicht mit eingepackt hatte in der aufgelösten Stimmung in der er gewesen war...

‚Hmm, aber hier war er nicht’, brummte er in Gedanken.

Er ging die Reihen ab und wurde schon langsam nervös, als er eine Frau ansprach. Er hätte durchaus die Information aus ihrem Kopf holen können, aber in letzter Zeit...seit Ran in seiner Nähe war, nutzte er seine Telepathie weniger um an Informationen von anderen Menschen zu kommen. Er wusste jetzt nicht, ob das für ihn sinnvoll war oder nicht… es würde sich noch heraus stellen…

"... Ah...Sie meinen diesen jungen Herren, dessen Pullover eine ähnliche Farbe wie ihre Haare hat?“
 

Sie blickte ihn beflissen und aufmerksam an. "Eine interessante Kombination! Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Sie ein rotes Hemd anhaben? Ganz gegensätzlich", nickte sie lächelnd.

"Ähm...ja...können Sie mir denn sagen, wohin er gegangen ist?"

"Ja, dort hinten in der Reihe ist er verschwunden."

Schuldig nickte und sputete sich ihrer Beschreibung zu folgen.

Und da stand Ran tatsächlich und stierte uninteressiert auf die Produktpalette.

"Ran?"

Schuldig verzog die Lippen und lächelte schräg. "Man, ich sag dir, wir fallen auf wie bunte Hunde. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass dein schreiend orangefarbiger Pulli...genauso laut brüllt wie meine Haare?"
 

Aya schreckte von seiner gedankenlosen Betrachtung der Lebensmittel auf zu besagtem Mann, der, den Einkaufswagen neben sich, tatsächlich das widerspiegelte, was er hatte verlauten lassen. Bunt brüllend in seiner gewagten Kombination. Aya sah schweigend an sich selbst herunter und strich langsam über die Struktur seines eigenen, nicht gerade farblosen Kleidungsstückes. Von dort aus glitt sein Blick auf die Haare des Deutschen, die der Farbe des Pullovers so frappant ähnelten.
 

Er zog die Augenbrauen hoch und lächelte minimal. „Ich hatte mich schon gefragt, was das penetrante Geräusch im Hintergrund war“, erwiderte er im leicht kritischen, jedoch überraschten Ton und näherte sich dem Mann, der ihn vom Bett aus beinahe in den japanischen Mittelstandwagen gezogen hatte. Noch bevor Aya sich hatte davon schleichen können, wohlgemerkt. Er hatte sich gerade, frisch angezogen und geduscht auf den Weg ins Gedankenzimmer machen wollen, als ihn diese merkwürdige, im wahrsten Sinne des Wortes treibende Kraft aus der Wohnung gezogen hatte.

Sein Blick fiel auf den Einkaufswagen, sah darin die beachtlichen Mengen an flüssigem Rauschmittel und nervenberuhigenden Schokoladendrogen. War das alles, was Schuldig in den nächsten Tagen zu sich zu nehmen gedachte?
 

Ein zufriedenes Glitzern tauchte in dem grün schimmernden Blau von Schuldigs Augen auf, als er diese schlagfertige Antwort hörte. Er mochte den trockenen Humor, den ein angedeutetes Lächeln begleitete. "Brauchen wir noch etwas?", blickte er sich um.
 

„Nahrung?“, fragte Aya in eben dieser gemochten Tonlage und inspizierte mit mehr Interesse und Wachheit als zuvor den Inhalt des Wagens. Und Toilettenartikel…wie er heute Morgen festgestellt hatte. Er brauchte noch so einiges, das er sich von Schuldig nicht ausleihen würde.
 

Nahrung, grinste Schuldig heimlich in sich hinein. Also war der Rotschopf doch nicht so dem Kulinarischen abgeneigt, wie zunächst von ihm angenommen. Schuldig hatte schon die Befürchtung gehabt, dass Ran sich so in seiner Trauer verlieren würde, dass er Mühe haben würde, ihm die Notwendigkeit des Essens näher bringen zu müssen.

"Willst du etwas kochen?", fragte er neugierig und lenkte dabei den Wagen in die entsprechende Richtung.
 

„Nein, aber du doch sicherlich, oder?“, lautete die so leicht dahin gesagt Antwort des Rotfuchses, der im Vorbeigehen nach einigen Utensilien langte, die er noch für seine Körperpflege brauchte. Sie achtlos in den Wagen warf. Es war die Wahrheit. Ihm stand der Sinn nicht nach kochen, doch sein Magen meldete sich nach dem diskreten Hungermarathon der letzten Tage eindeutig protestierend zu Wort. Außerdem….brauchte er für morgen Kraft.
 

Aya schob all die Gedanken, die ihn mit einem Male zu bestürmen drohten, verzweifelt beiseite. In die hinterletzte Ecke seines Denkens, eine Fähigkeit, die er sich mit der Zeit antrainiert hatte, mit jedem Auftrag, den sie erledigt hatten. Er würde sich erst dann Gedanken machen, wenn es Zeit war. Wenn er wirklich…dort stand.
 

Schuldig warf einen flüchtigen Seitenblick zu seinem Begleiter und zog zweifelnd die Brauen in Richtung des leuchtend orangefarbigen Haarschopfes.

"Wenn du’s isst", murmelte er wenig zuversichtlich. Zu gut hatte er noch diese Diskussion im Kopf wegen der Suppe. Er hatte keine Lust auf endlose Verhandlungen mit Ran, ob er nun essen oder nicht essen würde, was er gekocht hatte, nur weil dies oder jenes nicht so gemacht wurde wie dieser es wollte.

‚Ich will ja nicht Koch des Jahres werden...’, grummelte er innerlich trotzig während er Lebensmittel in den Wagen legte.
 

Innerlich wärmte ein nicht zu kleines, hämisches Lächeln Ayas dunkle Gedankengänge. Natürlich hatte ihm Crawfords Essen nicht geschmeckt und natürlich hatte er deswegen einen Aufstand gemacht. Dennoch hieß das noch lange nichts. Er hatte schon Schlimmeres hinuntergewürgt ohne sich auch nur mit einem Ton zu beschweren.

Doch das musste Schuldig nicht wissen, wollte es vermutlich auch gar nicht, hatte dieser schließlich vermutlich immer noch das Bild des verwöhnten Gourmets im Kopf.

„Wir werden sehen“, entgegnete er schließlich wenig aufschlussreich, vielleicht sogar provozierend. Als wolle er den anderen Mann beinahe herausfordern.
 

Das klang ja unheilschwanger. Schuldig hatte ja so überhaupt keinen Bock darauf, hier vor Ran auf dem Prüfstand zu stehen. So etwas vertrug er überhaupt nicht!

Er ließ die Schultern etwas sinken

Doch genauso schnell wie die kleine Flaute in seiner Laune gekommen war, verließ sie ihn auch schon wieder, als er die Gedanken eines Mädchens las, in Schuluniform gekleidet und Ran anhimmelnd. Er fing wieder an, seine Gedanken von einem Kopf zum anderen springen zu lassen, reagierte sich kurzzeitig damit ab.

So hatte er bald alles zusammen, was er gedachte zum Kochen zu brauchen, und was noch fehlte in seinem...nun Zwei-Mann Haushalt.

Ein jungenhaftes Grinsen hatte sich auf seine Züge geschlichen.
 

Eben dieses Grinsen sorgte aber in Aya für noch größeres Unbehagen. Es schien, als suchte ein Teil in ihm wirklich Streit mit dem Telepathen. Als wünschte sich dieser Teil, dass Schuldig ihm Paroli gab, nur damit er seine Sorgen und seine Ängste mit Wut überdecken konnte. Mit anderen Problemen.

Genau das stand im beißenden Gegensatz zu seiner sonstigen Taktik, alles einfach zu verdrängen, was ihm gefährlich werden konnte. Natürlich war es ein Auswuchs davon, doch Aya vermisste seine Ruhe, die er verinnerlicht hatte und die ihm jetzt fehlte. Und noch nie war er so bemüht, Schuldig nichts davon zu zeigen. Er presste seine Lippen aufeinander und wandte sich den Einkäufen zu. Das sah schon mal nicht schlecht aus….was auch immer daraus werden sollte.
 

Es dauerte nicht mehr lange und sie verstauten die Einkäufe in seinem Zweitwagen, ein unauffälliges Fabrikat, welches in der Masse unterging.

Das Wetter hatte sich verschlechtert und Schuldig schlug den Kofferraum zu, als er noch die letzte Tüte verstaut hatte. Durch seine Jeans drang die Kälte und schnell setzte er sich in den Wagen.
 

Auch Aya war nicht gerade warm, als er die Heizung in dem ungewöhnlich unkomfortablen Wagen anschmiss und sie auf volle Kraft stellte. Unter Trance starrte er auf die an ihnen vorbei ziehenden Anzeichen von westlichem Weihnachten. Nikolaus, Tannenbäume, Weihnachtslieder…all das kannte er noch von früher. Er vergrub seine Hände tiefer in den Pullover, roch unwillkürlich an dem großen Rollkragen, der seinen Hals stützte. Es war ihm, als könnte er ihn immer noch riechen, den Geruch von damals.
 

Besonders jetzt…besonders am 26. Dezember.
 

Schuldig täuschte Langeweile vor, als sie durch die Straßen zuckelten, die zum größten Teil um diese Uhrzeit vollgestopft waren. Doch wenn er die kitschigen bunten Weihnachtsdekorationen sah, hätte er sich am Liebsten schnellstens verkrochen.

"Ich will nur noch heim", stöhnte er genervt. "Ich kann mit dem Zeug nichts anfangen", murmelte er und starrte den Wagen vor ihnen in Grund und Boden, als würde er davon verschwinden und sie nicht mehr an der roten Ampel stehen.
 

„Mit welchem Zeug?“, fragte Aya aus seiner Starre gerissen und blinzelte, bevor ihm bewusst wurde, worauf Schuldig anspielte. Weihnachten. Natürlich…

„Eigentlich ist es ein schönes Fest…ein paar ruhige Tage im Kreise derer…“ Aya verstummte abrupt. Nein, dieses Weihnachten verbrachte er nicht im Kreise seiner Liebsten. Die Stunden, die er in den letzten Jahren an Ayas Bett gewacht hatte, waren ihm dieses Jahr nicht zuteil geworden…dieses Jahr nicht.
 

Zynisch lächelnd wandte Schuldig den Blick zu Ran und dann wieder zurück zur Straße.

"Genau", sagte er nur. ...derer die man liebt... hätte Ran wohl jetzt angefügt. Doch weder er noch Schuldig besaßen solch einen Kreis.

"Es ist eine Farce, sonst nichts", beschloss er. "Warum geht denn das nicht weiter", fuhr er knurrend auf.
 

Schuldigs Lächeln schmerzte Aya. Ebenso wie die allzu kalten Worte des anderen Mannes. „Es ist keine Farce“, erwiderte Aya, spürte den Stich Zorn in sich aufwallen, der schon seit Wochen…Monaten in ihm brodelte. Unterdrückte Wut auf alles, was schief lief…auf sein Leben. „Für mich war es das nie…“…weil ich eine Familie hatte, ergänzte er in Gedanken und sah sich plötzlich dem Bild eines kleinen, einsamen Jungen mit einem Teddybär gegenüber. Der scheinbar im Waisenhaus aufgewachsen war. Sicher war für Schuldig Weihnachten nicht so gewichtig wie für ihn. Aber hieß das, dass auch er nun nicht mehr in der Lage war, diese Tage zu schätzen zu wissen?
 

"Kann ich mir denken, dass es für dich so war", sagte Schuldig zynisch.

Er bemerkte die unterdrückte Wut, die neben ihm in Ran gärte und schwankte noch zwischen aufstacheln und beruhigen hin und her.

Sie hatten nicht mehr weit, als der Verkehr wieder floss und er tatsächlich schneller fahren konnte.

"Es täuscht familiären Zusammenhalt und ...Liebe vor, wo nichts anderes ist als verlorene Träume, harte Realität und der Druck an Weihnachten, all das hinter sich zu lassen und heile Welt zu spielen. Eine Farce. Weihnachten ist etwas für Menschen, die in der heilen Welt bereits leben, nicht die, die sie sich wünschen."

Bitterkeit hatte sich in ihm ausgebreitet, als er sein Gesicht für einen Blick zu Ran lenkte.

Ran hatte diese heile Welt komplett verloren, aber er hatte sie zuvor besessen. Wie groß mochte dieser Schmerz sein?
 

Zu groß, als das es Schuldig in diesem Moment bewusst sein konnte. Doch eben dieser Schmerz wurde von Ayas Unterbewusstsein mit überschwemmender Wut übertüncht. Konnte er damit doch viel besser leben als mit der Trauer, die dessen Worte ihn ihm hervor rief.

„Du hast doch keine Ahnung“, zürnte er bitter. „Es täuscht gar nichts vor…nicht bei denen, die sich bewusst sind, was für eine Bedeutung es hat. Verlorene Träume…“ Er verstummte, schwieg. Verlorene Träume…war es das, dem er über die letzten drei Jahre hinterher gejagt war?
 

Schuldig lenkte den Wagen in der Tiefgarage auf seinen Platz und stieg aus, öffnete den Kofferraum.

"Oh sicher! Sicher habe ICH keine Ahnung. Wie Recht zu doch hast."

Nein, er hatte nicht oft als Kind die Gedanken der Erwachsenen gelesen, hatte nicht begonnen, sie als verlogen zu sehen, seine Träume von einer Familie, die ihn aufnehmen und vor allem akzeptieren würde waren nicht verblasst.

Er nahm eine Tüte und gab sie Ran in die Arme, er nahm die andere und dann ging er voran. Dieses Thema machte ihn wütend, warum wusste er nicht, vielleicht lag es daran, dass seine Einstellung bei Ran kein Verständnis fand.

"Sicher habe ich keine Ahnung davon, was andere Menschen in ihren Köpfen haben, während ihr Kind die Geschenke auspackt. Während die Familie einläuft, wie ihre Gesichter lächeln und ihre Gedanken töten könnten."

Er drückte auf den Knopf zum Aufzug.
 

„Du suchst dir doch nur die schlechten Beispiele heraus, damit dir dein eigenes Elend umso bewusster wird“, hallte Ayas Stimme seltsam leer durch die Tiefgarage. Ebenso leer wie seine Schritte, die ihn zu dem anderen Mann trugen mit der Einkaufstüte auf dem Arm. „Du erzählst etwas von dem kleinen Kind…von den Gedanken seiner Eltern…der Liebe. DAS ist Weihnachten, nicht der Hass, den die Verwandten bekommen. Aber du siehst nur das Eine…wofür? Dass du nicht alleine bist mit deiner einsamen Kindheit? Brauchst du die Versicherung, dass auch andere leiden?“
 

Kälte kroch in Schuldig und legte eine Schicht um ihn, die selbst über seinen Augen lag.

"Darauf stürzt du dich jetzt?"

Eine einfache Frage, die müde klang und doch voller Vorwurf war.

Du hast dich ihm ausgeliefert...und nun...sieh was er daraus macht. Er quält dich damit, sagte ihm etwas und seine Hand legte sich fester um die Tüte in seinem Arm.

"Du hast keine Ahnung von einer einsamen Kindheit", schloss er und verließ den Aufzug, suchte sich den Schlüssel heraus. War er es, der dieses Thema begonnen hatte?
 

Es brauchte nur diese wenigen Worte, um Aya wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen. Um ihm zu zeigen, dass er bereitwillig das getan hatte, was er Schuldig vorwarf. Er saugte das Leid der Anderen in sich auf um zu spotten, um zu verletzen. Doch das durfte nicht sein…nicht so.

Ihm war schlecht…schlecht vor sich selbst. Das war nicht er…
 

Wenige Schritte trennten Aya von Schuldig, doch auch diese Distanz überwand er nun und legte die Hand auf den beladenen Arm seines Gegenübers. „Nein…das habe ich nicht. Ich weiß nicht, wie es ist, alleine aufzuwachsen…ich möchte dich auch nicht damit verletzen. Ich wollte nur…meiner Wut ein Ventil geben, nichts weiter. Ich habe das noch nicht einmal ernst gemeint…“, gab er schließlich zu und warf einen ruhigen Blick in das abgewandte Gesicht.
 

Doch so schnell wie Ran sich besinnen konnte...so schnell wollte Schuldig seinen Schutz aus Kälte nicht aufgeben.

Er blickte kurz auf die Hand, die sich auf seinen Arm gelegt hatte und sperrte ungeachtet davon die Tür auf, um die Wohnung zu betreten.

"Du hast es ernst gemeint. Wenn du nicht wütend gewesen wärst, hättest du es nicht ausgesprochen, aber du hast es so gemeint. Und du hast sicherlich Recht. Wer will mit dieser Kindheit schon allein sein?"

Innerlich war er aufgewühlt und er vermied den Blick in die Augen des anderen, ja gar auf die Person. Stattdessen brachte er die Einkäufe gleich in die Küche, begann sie auszuräumen, noch ohne sich die Jacke ausgezogen zu haben.
 

Aya indes brauchte einen Moment um in die Wohnung treten zu können. Nein…er hatte es nicht ernst gemeint, das wusste er im Nachhinein doch. Ein großer Teil in ihm bedauerte die so unachtsam ausgesprochenen Worte.

Leise betrat er die Wohnung und ließ die Tür hinter sich zufallen. Ging zu Schuldig und stellte die andere Tasche dort ab, überlegte einen Moment unschlüssig, was er tun sollte. Der ganzen Gestik des anderen Mannes nach wollte dieser seine Gesellschaft nicht. Natürlich nicht nach seinen Worten…das war nur zu gut nachvollziehbar.
 

Die Arme unnütz an seinen Seiten zog sich Aya mit einem letzten, schweigenden Blick zurück. Er fühlte bereits, wie sich die Wut in den eigentlichen Grund umwandelte. In Trauer.

Schuldig hatte gesagt, dass er nicht nachvollziehen konnte, wie es war, alleine aufzuwachsen. Das stimmte. Aber machte es das alleine Weiterleben nicht umso schmerzhafter?
 

Er zog sich zurück…wieder in den schalldichten Raum ohne Licht, ohne Geräusche. Wie eine Schutzhöhle kam es ihm vor. Wie eine Flucht vor der Konfrontation. Nein, es WAR eine Flucht. Eine Flucht in sich selbst, hinein in eine der Ecken des Raumes, hinein in sein Bewusstsein. Die Beine angezogen, sich selbst verkrochen in seiner jämmerlichen Seele. Er bettete seine Stirn auf die Knie und ergab sich dem, was unweigerlich auf die Trauer folgte. Sich wiederholt wunderte, warum sie noch flossen.
 

Schuldig hatte bemerkt wie Ran ihn angesehen hatte, hatte die Trauer förmlich hinter sich gespürt. Die Stille, die so schwer zwischen ihnen wog, die sich entfernenden Schritte wie ein stummes Schuldgeständnis wirkten, einen Rückzug vor seiner Verletztheit.

Seufzend blickte Schuldig Ran nach, wie er die Tür hinter sich zuzog, sich in die abgeschiedene Dunkelheit zurückzog. "Das ist keine Lösung, Kleiner", sagte er mit einem traurigen Lächeln.

"Ich weiß das...nur zu gut", fügte er sich abwendend hinzu und werkelte weiter.
 

Für Aya war es eine Lösung…die beste, die sich ihm im Moment anbot. Seine Hände verkrampften sich in seinen Haaren, als er sich, völlig in Tränen aufgelöst hin und her wiegte, als sich Schluchzer an der Grenze dieses Raumes brachen. Es war nicht nur die Erinnerung an Schuldigs Schmerz, die sich losbrach. Es war die Erwartung des morgigen Tages, die Beerdigung seiner Schwester, die ihn in die Tiefen der Verzweiflung hinab zog. Er konnte das alles nicht durchstehen…er hatte keine Kraft mehr. Es ging nicht mehr…

Der Wunsch, sich einzugraben und nie wieder aufzutauchen, wurde in den folgenden Momenten immens, ließ ihn die Nägel in seine Kopfhaut krallen.
 

Schuldig stand auf der Terrasse, inhalierte den Rauch seiner Zigarette und verzog den Mund missmutig. Warum hatte er Rans Entschuldigung zurückgewiesen?

‚Das war bescheuert und völlig egoistisch.’

Aber es war für diesen Moment die einzige Lösung, die für ihn akzeptabel gewesen war.

"Mist."

Er drückte den Stummel aus und schnippte ihn davon. Danach ging er in die Wohnung zurück. Ran war seit einer halben Stunde in dem Raum und Schuldig wollte ihn nur ungern dort lassen.
 

Vorsichtig öffnete er die Tür und heisere Schluchzer drangen ihm entgegen. Kurz hielt er betroffen inne.

‚Du verschlimmerst alles nur ständig mit deinem Trotz und deiner Unfähigkeit mit ihm umzugehen.’

Er ging näher zu Ran, kniete sich vor ihn und hüllte den Mann in eine Umarmung. "Ran...bitte komm hier raus...der Raum...er ist nicht gut für dich." Er strich über den verkrampften Rücken, massierte sanft den Nacken unter dem schweren Haar. "Er wurde nicht zum Trauern geschaffen, er ist nicht dazu fähig deine Trauer aufzunehmen...er wirft sie zu dir zurück. Bitte, komm raus hier."

Sanfte Worte, den Mann in einer Umarmung haltend. Er würde ihn hier hinaus bringen.
 

Für lange, traurige Momente blieb es jedoch nur bei Schuldigs Vorschlag. Aya wehrte sich zwar nicht gegen die Umarmung, aber er machte auch keine Anstalten, Selbstinitiative zu zeigen. Es schien bedeutungslos, dass Schuldig diese niederschmetternden Tränen miterlebte. Es war bedeutungslos, wie sehr der andere Mann ihn davon zu überzeugen suchte, dass er nicht hier blieb…sich nicht seinen Gedanken aussetzte.

Dennoch…machte er es vielleicht unbewusst falsch? War seine Variante der Trauerbewältigung vielleicht falsch und wirklich nur dazu gedacht, all das Elend wieder auf ihn zurückzuwerfen? Seine Gedanken, die im Kreise liefen, seinen Körper nicht verließen.
 

War es wirklich besser, sie zu äußern? Über sie zu sprechen? Mit Schuldig? Den er…nur er verletzt hatte? Der schon wieder einen Schritt auf ihn zugetan hatte. Aya verstummte mit der Zeit, versuchte, sich auf das Körperliche zu konzentrieren. Er lauschte auf die Hände, die ihn besänftigten, die Worte…alleine die Worte…
 

Nach und nach lösten sich seine Nägel von seiner Kopfhaut, ließen ein schmerzhaftes Pochen zurück. Nach und nach gewann er an Ruhe um schließlich seinen Kopf zu heben und Schuldig in die Augen sehen zu können. Er versuchte, etwas zu sagen, scheiterte aber schon wie zuvor an dem Kloß in seinem Hals. So mussten seine Augen das übernehmen, was seine Stimme sonst tat.
 

"Komm raus hier", sagte Schuldig sanft, der Einsamkeit und dem Schmerz in dem schimmernden Violett standhaltend.

Er hielt Ran noch in der Umarmung und stemmte sich mit ihm in die Höhe um dem Anderen zu zeigen, dass es ihm durchaus ernst mit seinen Worten war. So lehnten sie an der weichen Wand.
 

„Ja…“
 

Ein Ja zu Schuldigs Vorschlag, ein Ja zum Mut, aus dieser Flucht herauszutreten, ein Ja zum Versuch, anders zu trauern, als Aya es jetzt tat. Er blinzelte nun schon entschlossener als vorher die Tränen weg, die alleine schon unzählig seine Wangen entstellten.

Doch trotz aller guten Vorsätze war es nicht er, der sich von der Wand löste. Sich lösen konnte…schwer lehnte er an dem unter Umständen angenehmen Stoff und sah durch das spärliche Licht, das hineinfiel, in die Augen des Mannes, die ihm die Stärke gaben, die ihm momentan fehlte.
 

Ja, er war schwach gewesen. Gerade noch, nicht einmal ein paar Minuten entfernt und dennoch gab ihm die Anwesenheit des Telepathen Kraft….Versicherung, dass es auch anders sein konnte. Dass er anders war. Er hatte in den letzten drei Jahren von heute auf morgen soviel über sich und andere gelernt…gelernt zu leben, dass er nicht verzweifeln konnte. Nicht, wenn er sein ganzes Bestreben im Kampf zunichte machen wollte.
 

Aya erstaunten und verwirrten diese Stimmungsschwankungen. Als er noch das Ziel vor Augen hatte, seine Schwester zu retten, war er nach dem Tode ihrer Eltern nicht mehr zusammengebrochen, doch nun…schien manchmal einfach kein Halten mehr. Unmännlich, schrie der Krieger in ihm ob der Tränen, die er vergoss. Notwendig, die Seite, die lange nicht getrauert hatte…die nie zu trauern gewagt hatte.
 

Doch was sagte er selbst?
 

Aya sagte, dass er leben wollte. Zwar nur für sich, nicht für Schuldig, doch er wollte leben. Ohne diese Einbrüche.

Entschlossenheit durchfloss seine traurigen Züge. Doch dies tat der Trauer an sich keinen Abbruch, auch wenn Aya begriff, dass er damit leben musste. Nein…sie selbst leben musste. Sich tief in den Abgrund zu stürzen um gestärkt emporzusteigen.
 

Ran schien mit sich selbst zu ringen, ließ sich aber nicht aufgebend in seine Arme fallen, sondern blieb aufrecht stehen. Schuldig gab ihm die Zeit die er brauchte um sich wieder zu fassen. Für den Telepathen war es zwar kein neues Bild mehr, welches sich ihm geboten hatte, als er den in Tränen aufgelösten Mann gesehen hatte, doch irgendetwas in ihm fühlte sich davon betroffen. Es tat ihm leid...ja...das tat es.
 

Ein merkwürdiges Gefühl und er mochte es nicht. Es schnürte ihm die Luft ab und ließ ihn sich hilflos fühlen.
 

Seine Hand hob sich und er wischte die Tränenspuren mit dem Daumen der Linken von Ayas Wange. Eine Geste der Versöhnung oder der Anteilnahme...
 

Er wusste nicht was ihn dazu veranlasst hatte. Aber der Kontakt mit der heißen Haut, der salzigen Flüssigkeit fühlte sich für ihn als etwas Besonderes an. Diese ganze Geste hatte für ihn etwas Merkwürdiges...hatte er sie doch noch nie gebraucht.
 

"Sollen wir?" fragte Schuldig, die Entscheidung Ran überlassend.
 

Es schien jedoch, als würde Aya einen Moment lang über die Berührung des anderen Mannes sinnieren. Ebenso wie dieser über die Bedeutung nachdenken. Über die Bedeutung, die eben diese auch für ihn haben mochte. Noch vor drei Wochen hätte er sie nicht toleriert. Vor drei Wochen war es ihm so wichtig Abstand zu halten und seine Schicht aus Indifferenz vor sich her zu tragen, um eben die mit allen Kräften zu retten, der sein ganzer Kampf galt.
 

Doch dieser Engel war nun dorthin zurückgekehrt, wo sie herkam und hatte ihm den Grund des Schutzes genommen. Nicht ganz...vielleicht nur einen kleinen Teil. Doch dieser Teil reichte anscheinend, um so etwas wie gerade möglich zu machen. Wie oft hatte der Telepath ihn in den letzten, verzweifelten Tagen umarmt, angefasst und berührt? Und wie oft hatte er nichts dagegen getan?
 

Letzten Endes waren es unwichtige Fragen, deren Beantwortung nichts Neues bringen würde, geschweige denn ihm weiter zu helfen. Aya wusste, dass es anders werden würde, wenn er wieder er selbst war. Dass er dann auf Distanz gehen konnte. Doch bis dahin...
 

...nickte er dem Telepathen auf dessen Vorschlag hin stumm zu und löste sich von der Wand, von dem Raum, unisono damit auch von seinem kurzweiligen Zusammenbruch. Es war ein Versuch, nach vorne zu schauen, zu sehen, dass es auch anderes gab außer Verkriechen und Trauer. Dass er auch noch Stärke besaß. Eigene Stärke, die er sich die Jahre über hinweg aufgebaut hatte.
 

Ihm war schlecht beim Gedanken an die morgige Beerdigung, das stimmte. Doch das hieß nicht, dass er sie nicht überstehen konnte. Ganz im Gegenteil. Vielleicht war genau das der Zeitpunkt, um sich einen kleinen Schubs nach vorne zu geben. Oder geben zu lassen, je nachdem. Von seinem Team, das sich sorgte. Von Schuldig, der sich...augenscheinlich auch sorgte.
 

Aya streifte lautlos über den Boden des weitläufigen Lofts und ließ sich schließlich auf das weiche Sofa gleiten. Eines von den Zweien. Doch er zog weder die Beine zu sich, noch weinte er. Was auch das völlig Falsche gewesen wäre.
 

Auch wenn Schuldig die Nähe schon vermisste als Ran sich von ihm löste, so positiv fand er, dass sich dieser nicht hängen ließ sondern aufstand, selbst aus dem Raum ging.

Schuldig fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, rieb sich die Augen und wischte sich die Haare hinter die Ohren. Was für eine Aufregung.

Zögernd ging er aus dem Raum, fand Ran auf der Couch vor, der Fernseher dudelte immer noch sein Programm herunter. Es war früher Nachmittag und draußen war es ihm als wären die Wolken nur hin und wieder von schwachen Sonnenstrahlen durchbrochen. Seltsames Wetter.

Sein Blick wandte sich wieder Ran zu und er stand unschlüssig da.

"Willst du eine Decke, Ran?"

Er fühlte sich schon wieder so hilflos, sobald er nicht mehr in der körperlichen Nähe des anderen war. Aufseufzend setzte er sich in eben diese Nähe, Ran zugewandt ein Bein unterschlagen und nestelte am fremden Pulloversaum herum, sein Blick darauf fixiert und vor sich hinbrütend.
 

Ayas Blick senkte sich automatisch auf die unsteten Finger, die minimalen Zug ausübten. Schon wieder herrschte eine Verbindung zwischen ihnen, gerade so, als könnte Schuldig nicht ohne Kontakt auskommen.

Doch war es nicht genau so? Schon bei ihrer unseligen Begegnung im Keller hatte Schuldig ihn berühren müssen. Auf mehrfache Art und Weise. Wie ein Zwang hatte sich das die letzten Wochen fortgesetzt. Und er selbst hatte es wieder und wieder toleriert. Mal mehr, mal weniger freiwillig, das gestand er sich ein.
 

Ob Schuldig wohl wusste, um was es sich hierbei für einen Pullover handelte? Vermutlich nicht. Sein Blick huschte über die ihm verdeckten Augen des Telepathen. Es war schwer, hinter dieser ruhe-, ja beinahe schon hilflosen Gestalt den Mann zu identifizieren, der auch anders sein konnte und dessen böses Wesen ihm schon mit mancher Menschen Blut den Weg gepflastert hatte. Doch davon konnte auch Aya selbst sich nicht freisprechen. Niemand von ihnen konnte das.
 

Er seufzte leise und beugte sich langsam zu Schuldig herüber, griff sacht zu der hinter seinem Gegenüber liegenden Decke und entfaltete sie. Er wollte keine Decke, doch in diesem Moment hatte er das Gefühl, den Telepathen darin einwickeln zu müssen, so wie er es mit Aya früher getan hatte, wenn sie so dermaßen…schutzbedürftig ausgesehen hatte.

Er legte sie Schuldig über die zusammengefallenen Schultern. Aya fühlte tief in sich instinktiv, dass er sich in diesem Moment keinen Trost zukommen lassen konnte, nicht, wenn er wieder stark werden wollte.

Sein Körper war dem des anderen Mannes so nah, dass er die Wärme fühlen konnte, die von diesem ausging. Den Atem des Feuerschopfes, der über seinen Hals strich.
 

„Der Pullover…ist das Weihnachtsgeschenk meiner Mutter, bevor sie verstorben ist“, erklärte er schließlich und lehnte sich wieder zurück in seine Ausgangsposition. Zupfte dann doch noch einmal die Decke um die Schultern des Deutschen zu Recht.
 

Er hatte sich nicht gerührt als Ran näher gekommen war, bewusst sich in seine Nähe begeben hatte, doch seine Hände hätten ihn am Liebsten gefühlt, ihn an sich gezogen. Nichts dergleichen geschah, denn er verbat es sich, genoss jedoch die Fürsorge, mit der er zugedeckt wurde, obwohl ihm nicht kalt war. Er beließ die Decke, zog sie fester um sich, als wäre sie eine Trophäe aus einem Kampf, den er gewonnen hatte, diese Geste ein Gegenstand, der ihm zusätzlich Wärme in den Körper trieb ...und die kam nicht von der wollenen Umhüllung ...
 

Als er die Worte vernahm wanderte sein Blick über den auffälligen Pullover.
 

"Er trägt sich sicher anders...", verzog er den Mund zu einem traurigen Lächeln." Er ist sicher wärmer als alle anderen Pullover, die es gibt, nicht?"

Er meinte es ernst und fühlte sich so ruhig und ausgeglichen wie lange nicht mehr. Aber er redete Unsinn, wie ihm auffiel. Doch genauso schnell wie dieser scheinbar rationale Einwand kam, wischte er ihn weg. Es war gleich.
 

Sollte Ran ihn auslachen. Er verhielt sich nicht so wie er es von ihm gewohnt war. Du bist zu weich, tadelte ihn etwas im Innern.
 

Aber es ist gut wenn du sanfter zu ihm bist...so wird er dir ganz gehören, bald, sehr bald...
 

Schuldig schluckte diese Gedanken hinunter, schloss für Sekunden die Augen.
 

’Konnte Ran diese Stimme nicht verschwinden lassen? Schieb nicht alles irgendwelchen Stimmen zu! Das bist du selbst! Deine Gier nach ihm, dein Verlangen kollidiert mit deiner Beherrschung, deiner Ratio, die noch übrig ist in deinem verkorksten Gehirn.
 

Und diese Ratio hast du nicht dir selbst zu verdanken, bedenke das! Die wenigen Leute, von denen du gelernt hast ...nicht zuletzt...ja...nicht zuletzt auch Brad, halten diese Ratio aufrecht. Vergiss das nie.’
 

Ein zynisches Lächeln erlaubte er sich noch, bevor er es von seinem Gesicht wischte und zu Ran aufsah, die Augen klar, die Haare locker zusammengefasst, das Antlitz offen und frei.
 

Aya lachte Schuldig nicht aus, auch wenn er nun lächelte und damit Schuldigs Worte bestätigte. „Das ist er. Viel wärmer als alle anderen.“ Seine Augen erwiderten den Blick des Deutschen ohne Mühe, auch wenn in Aya kurzzeitig die Frage aufflackerte, was wohl gewesen wäre, hätte er den Pullover an jenem unseligen Tag getragen, der ihn sein Oberteil gekostet hatte. Was wäre gewesen, hätten Schwarz anstelle von einem erinnerungslosen Stück eben dieses Geschenk zerstört?
 

Er wusste es nicht und es machte ihn zu unruhig, als dass er weiter darüber nachdenken wollte. „Aber das Gleiche lässt sich über deinen Bären sagen. Viel wertvoller als alle anderen Bären auf der Welt.“ Aya nickte leicht, strich beinahe zärtlich über den Ärmel seines Pullovers.
 

"Es ist nur ein Bär."

Schuldigs sparsame Antwort sagte weniger aus als sein Gesichtsausdruck, der etwas verdrießlich war, die Lippen ansatzweise mit einem trotzigen Zug versehen.

"Er spielt keine Rolle mehr."

Er wollte nicht über dieses alte Ding reden, weil das zuviel Erinnerungen in ihm wachrief, die ihn schmerzten, die er jetzt nicht haben wollte, weil sie zuviel offenbarten.

"Hat deine Mutter ihn selbst gemacht?", lenkte er das Thema von sich auf den Pullover fort.
 

„Ja…sie hat ihn selbst gestrickt. Sich drei Monate vorher für drei Stunden abends zurückgezogen und ihn fertig gestrickt.“ Ayas Lächeln wurde für einen Moment bitter. „Ich habe ihn gehasst…seiner Farbe wegen. Ebenso sehr wie du deinen Teddy hassen musst, wenn du ihn schon so ‚verletzt’ hast. Doch als sie dann gestorben ist…und mit ihr alles, was wir hatten, konnte und wollte ich ihn nicht mehr hassen. Ich glaube deswegen auch nicht, dass es nur ein Bär ist. Du hast ihn nicht umsonst ‚aufgeschlitzt’.“

Sein Blick fiel auf die schmale Verschorfung an Schuldigs Schläfe…sah sie im Hellen doch noch schrecklicher aus, als in der mondbeschienenen Dunkelheit.
 

Hmm, das Thema gefiel ihm nicht sonderlich und er wand sich etwas, setzte sich mit seiner Decke bequemer.

"Er tut so als wäre er mein Gewissen, dabei kapiert er gar nichts", brummte er nun wirklich schmollend.

"Er hat mich genervt, wie er da rumlag und mich unschuldig angeglotzt hat." Er lächelte schräg und seine Augen funkelten frech.

Der Druck in seinem Brustkorb löste sich langsam und er fühlte, dass er darüber reden konnte, hatte Ran doch schon soviel von sich gezeigt.

Sein Blick fiel wieder auf den Pullover. "Seltsam, sie muss einen schrägen Sinn für Farbkombinationen gehabt haben."

Dass er diese Kombination auch manchmal trug, eben weil ihm die rote Farbe gefiel, ließ er außen vor.
 

Aya legte seinen Kopf leicht schief, um Schuldig in Augenschein zu nehmen. „Sie meinte, dass es ideal zu meinen Haaren passen würde. Und war nachher auch völlig begeistert anhand der ‚harmonischen’ Kombination. Auch wenn Vater ihr…anderes gesagt hat. Und Aya auch.“ Für einen Moment ebbten Ayas Worte zu einem verhaltenen Schweigen ab, bevor er sich wieder fing. Er nahm Schuldig noch genauer in Augenschein.

„Crawford hat zu mir gesagt, dass dein Gewissen tot ist…dass es nicht mehr existiert. Aber wie kommt es, dass es verarztet und bandagiert auf dem Bett liegt und sich seines Lebens erfreut?“
 

Schuldig blickte so schnell auf, dass er meinte, dass sein Genick dabei laut geknackt hatte und es weithin in dem Raum zu hören war. Doch es war nichts, er starrte nur Ran an und sein Mund fühlte sich mit einem Mal trocken an.

Er wollte nicht, dass diese wissenden Augen ihn auseinander nahmen. Enge legte sich wieder um ihn.

‚Sag etwas, irgendetwas. Er wird dann schon aufhören mit fragen.’

"Du...du hast ihn festgehalten, als es dir nicht gut ging und...und jetzt wo du wieder hier warst, konnte ich ihn nicht so liegenlassen, ich wollte ihn dir nicht so geben mit dem heraushängenden Innenleben, das hätte nicht schön ausgesehen."

Sein Gesicht war bleich und er sah Ran mit der Tendenz zur Flucht an. Als würde das heißen: Sag jetzt nichts Schlimmes zu mir.
 

Es schien, als hätte Aya die stumme, verzweifelte Botschaft des Telepathen gehört. Als könnte er wie ein Weiser in dem Buch Schuldig lesen, das so offen und angespannt vor ihm lag, dessen Seiten nervös flatterten und vor dem kleinsten Windstoß die Flucht ergreifen wollten.

Violette Augen verloren an unwillkürlicher Schärfe, als sich Aya seines inquisitorischen Blickes gewahr wurde. Sie wurden milde, so wie sie es bei Omi immer taten, wenn er dem Jungen Unterstützung zusichern wollte.

„Wir wissen beide, dass das nicht der einzige Grund ist“, lächelte er schließlich Zuversicht bekräftigend und erhob sich langsam. „Kaffee? Tee? Ich wollte welchen kochen.“
 

"Ja?" kam die Antwort von Schuldig etwas zögerlich und verhuscht. War es so?

Was sollte es da noch geben?

Auf der Couch sitzen bleibend hatte Schuldig Ran nun den Rücken zugedreht, als er "Kaffee" antwortete, sich darüber bewusst werdend, dass Ran ihn etwas gefragt hatte.

Er war in gewisser Weise erleichtert, dass Ran sich kurz aus seiner unmittelbaren Umgebung verzogen hatte, so hatte er für kurze Momente Zeit Luft zu holen, sich ein unverfängliches, unkompliziertes Thema auszusuchen.

Er hatte nämlich keine Lust über sich zu sprechen. Aber würde Ran so schnell locker lassen?

Ohne sich der wirklichen Gründe für die Versorgung des Bären bewusst zu entsinnen, blieb er sitzen und umkreiste dieses Thema wie ein Geier.
 

Aya wusste um den Zustand, in dem Schuldig sich befand. Leider nur allzu gut, hatte er doch mehrmals sehen können, wohin diese Disbalance führte. Ihn führte. Nichts war schlimmer als ein in die Enge getriebener Telepath.

Da setzte Aya lieber Kaffee auf, schüttete nachdenklich Löffel um Löffel um Löffel um…Löffel in den Filter. Achtete nicht wirklich auf die Menge, als er ausreichend Wasser mit hinzu gab und die verzweifelt aufspuckende Maschine anwarf. Sich in Gedanken versunken Tee aufsetzte.
 

Ich habe dir etwas voraus, Crawford, merkst du das, lächelte er innerlich. DU magst der Ansicht sein, dass es den Schuldig auf dem Bild nicht mehr gibt, doch ich weiß es besser. Auch wenn ich nur der Feind bin. Auch wenn ich nur durch Zufall darüber gestolpert bin. Aber das spricht nur für dein armseliges Feingefühl. Für deine Unfähigkeit, ein Team alleine mit Mitgefühl und Sorge zusammen zu halten. Ein verächtliches Schnauben folgte.
 

Einen Blick auf das zugedeckte Bild werfend, drehte er es auf den eigentlichen Rücken und ließ seine Augen über die junge Gestalt gleiten. Hatte dieser Junge damals schon gewusst, dass er ein Killer werden würde? Dass er Menschen wie die, die um ihn herumstanden, töten würde? Sicherlich nicht…wie keiner von ihnen.
 

Er lauschte dem finalen Kampf des Kaffees mit der Maschine und nahm sich dann eine Tasse, schüttete die todschwarze Substanz hinein. Die wirklich SCHWARZ war. Da fiel kein Lichtschimmer mehr durch. Aya runzelte die Stirn. Sah Youjis Kaffee auch immer so aus? Er zuckte mit den Schultern, nahm sich seinen Tee und kehrte zu Schuldig zurück. Setzte sich wieder neben dem Deutschen auf die Couch, schwieg jedoch.

Der Telepath sollte ein Thema beginnen, das IHM genehm war.
 

Schuldig hob die Hand als er Ran neben sich spürte um die Tasse in Empfang zu nehmen. Ein Blick hinein und ihm war klar was er hier vor sich hatte: Ein Attentat auf ihn.

Probehalber nahm er einen Schluck und schluckte mühsam den zu starken Kaffee hinunter, dabei den Mund leicht verziehend und die Stirn in Falten legend.

"Ich hab ein schwaches Herz", sagte er stocktrocken und machte große, bemitleidenswerte Augen, die Mundwinkel stark nach unten hängend, doch ein sanftes Glitzern in den ausdrucksstarken Augen.
 

Aya runzelte nicht wirklich verständig seine Stirn, zog dann jedoch nach einem zweiten Blick die Kaffeetasse zu sich. Natürlich…zuviel Bohne. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, als sich ein schmalgliedriger Zeigefinger auf eben diese todesgefährliche, giftige Substanz richtete. „Ist er zu stark…“, der Finger schnellte vor, platzierte sich ein wenig entfernt von der Wunde auf das Herz des Deutschen. „…bist du zu schwach.“ Sein Blick glitt hoch in die allzu armen, grünen Augen. „Aber dem kann durchaus Abhilfe geschaffen werden. Es wäre gar schrecklich, wenn dich ein solches Schicksal ereilen würde…tut es heißes Wasser? Oder soll ich dir noch einen neuen aufsetzen?“
 

Schuldig verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

"Ja, ich hab nur ein Hauch von Herz", griente er mit einem frechen Lächeln und wackelte mit den Augenbrauen.

"Ich glaube ich mach mir lieber nen Tee, der sieht lecker aus, ist das deiner?"
 

„Nimm dir“, entgegnete Aya und reichte Schuldig den herzschonenden Tee, erhob sich ein weiteres Mal. „Ich mach mir einen neuen.“ Sprach’s und nahm die teuflische Tasse Tod mit sich in die Küche. Schüttete sie den Abfluss hinab. Dass er gut kochen konnte, hieß noch lange nicht, dass Getränke mit inbegriffen waren. Besonders Kaffee nicht. Das war Youjis Aufgabe und wehe, jemand anderes hatte sich an die Kaffeemaschine gewagt. Er wartete, bis das übrig gebliebene Wasser ein zweites Mal kochte und kehrte dann zurück zu dem hauchherzigen Menschen, ließ sich ein zweites und letztes Mal neben Schuldig nieder.

„Erzähl mir etwas von deiner Kindheit“, forderte er schließlich ruhig und stellte seinen Tee auf den Couchtisch.
 

Auf seiner Lippe herumkauend blickte Schuldig nachdenklich und auch etwas Zeit schindend in seinen Tee, den Ran ihm gegeben hatte... eigentlich Rans Tee.

"Da gibt es nichts Besonderes zu erzählen. Nichts Weltbewegendes, Spektakuläres. Es lohnt sich kaum, darüber was zu sagen"

Er dachte einige Momente darüber nach. "Mir fällt zumindest nichts ein was interessant wäre."
 

„Ich möchte auch nichts Spektakuläres hören. Erzähle mir irgendetwas“, hakte Aya schier unerbittlich nach. Auf eine völlig sanfte und ruhige Art und Weise…dennoch ließ er sich nicht abschütteln. Zumindest nicht so. Nicht, wenn er sich wirklich für etwas interessierte.

Aya nahm einen Schluck aus seiner Tasse und ließ seinen Blick über Schuldig schweifen. Schon wieder.
 

Angestrengt und in Gedanken vertieft lag die Stirn in Falten, während der Blick unsicher zu Ran huschte. Niemand wollte bisher so etwas von ihm wissen.

Und wie er aus der Stimme und auch an den Augen sehen konnte, würde Ran nicht so schnell lockerlassen.

"Ich kam erst mit vier ins Heim, glaub ich...meine Mutter musste in die Psychiatrie, mein Vater war schon lange in Betrachtung der Würmer unter der Erde vertieft...glaub ich."

Er erzählte das so nüchtern wie ihm möglich war, als gehöre ihm diese Vergangenheit nicht, war nicht seine, sondern eine Geschichte die sich einmal zugetragen hatte...aber eine traurige...

"Sie ...also meine Mom...sie hat in der Psychiatrie Selbstmord begangen und naja da stand ich dann alleine da."
 

Es war das Wetter, wie es Aya hier zugetragen wurde. Zumindest konnte es das sein, wenn es nach Schuldigs Stimmlange ging. Doch es war kaum so harmlos wie das Wetter, was er hier erfuhr. Er mochte sich nicht ausmalen, was das der kleinen Kinderseele angetan hatte.

Aya fühlte mehr als dass er es wirklich wusste, dass er dem anderen Mann nicht mit offenem Mitleid begegnen sollte…nicht, wenn dieser versuchte, auf einer sachlichen Ebene zu bleiben. Wenn sachlich überhaupt möglich war.

„Und was ist dann passiert?“, fragte er ruhig, lehnte sich zurück, den Oberkörper Schuldig zugewandt.
 

Jetzt hatte der Rothaarige wohl Blut geleckt, so wie er sich ihm aufmerksam zudrehte und ihn in Augenschein nahm, stellte Schuldig fest und seufze unhörbar.

"Ich kam in ein katholisches Waisenhaus. Es war nicht schlecht da. Die Leute waren nett und ich hatte was zu essen, es war ein geregelter Tagesablauf und ich hatte ein paar Freunde. Meine Mom... es war etwas schwierig mit ihr, ich weiß nur, dass ich oft allein zu hause war und Nachbarn auf mich aufgepasst haben. Ansonsten habe ich keine Erinnerung mehr daran. Im Heim haben sie mir das erzählt und das meine Mom in der Psychiatrie ist. Damals wusste ich nicht, was das war ...lange Zeit wusste ich es nicht. Ich wusste nur, dass dort meine Mutter gestorben ist. Ich will nicht in einer Psychiatrie sterben."
 

„Weiß Crawford das? Oder hat er dich absichtlich dort eingeliefert?“, fragte Aya mit einem bitteren Unterton, konnte nicht wirklich glauben, dass dieser unselige Aufenthalt erholsam für den Telepathen gewesen war. Nicht, wie sie ihn dort unter Drogen gesetzt und bei Bewusstsein gefesselt auf diesem Bett gefunden hatte. Hilflos in dieser klaustrophobisch anmutenden Atmosphäre.

Wenn er daran dachte, dass sie die Situation beinahe noch verschlimmert hätten…tat es ihm leid. Wirklich leid. Das hatte er niemals gewollt.
 

"Crawford?"

Er lächelte fast unsichtbar, blickte dabei nach draußen. "Nein, er wusste das nicht. Aber ich habe mich auch nicht gewehrt, es war eher ein kleines Spiel zwischen uns...mit vielleicht therapeutischem Hintergrund. Wir hatten in letzter Zeit viel zu tun und ich drehte immer öfter ab. Das Sanatorium wäre mit Sicherheit nicht so schlecht gewesen. Ich wäre gezwungen gewesen nichts zu tun, mich von meinen alltäglichen Gedanken auszuklinken, schon allein um die Ärzte zu narren...das hätte mir Spaß gemacht." Er lachte freudlos auf.

"Er weiß viel von mir... aber das wollte ich ihm nicht erzählen, er mag es nicht, wenn ich Schwäche zeige, es macht ihn wütend."

Schuldig runzelte die Stirn und nahm dann einen Schluck seines Getränks.
 

Aya spiegelte die Bewegung des Telepathen. Und da war schon wieder etwas, das er Crawford voraus hatte…schon wieder ein Stück mehr bitteres Wissen, das sich in den unsortierten Strudel einfügte und mit den anderen Fragmenten um die Wette tanzte. „Warum macht ihn das wütend? Weil er innerlich selbst schwach ist? Weil er darin nur einen Spiegel seiner selbst sieht?“, mutmaßte Aya und wünschte sich nur zu gerne, dass er Recht hatte. Dass der Amerikaner in all seiner Selbstherrlichkeit ein schwaches, hilfloses Männlein war, dessen Menschlichkeit ebenso schmerzend war wie die jedes anderen Menschen auch.
 

Aya sinnierte für einen Moment über das Gesagte nach. Mehr als Crawford interessierten ihn jedoch andere Dinge. Ruhig versuchte er an das anzuknüpfen, was er gerade erfahren hatte. „Dieses…Waisenhaus. War es das auf dem Bild?“
 

Schuldig versteifte sich für einen Moment. Er wollte nicht, ...konnte es nicht zulassen, dass jemand Crawford beleidigte.

"Nein. Er ist nicht schwach. Er ist manchmal sogar für mich mit stark, wenn ich anfange abzudrehen. Deshalb mag er es nicht, er will dass ich selber stark bin um das zu unterbinden. Er hat mich sonst immer an der Backe kleben." Schuldig lachte leise.

"Das Bild...ja das ist das Waisenhaus. Ich war ziemlich lange dort, bin auch von dort in die Schule gegangen."
 

Aya glaubte Schuldig die Sache mit Crawford nicht. Auch wenn es ihm durchaus logisch schien…im Nachhinein. Daher der Besuch des Amerikaners nach der Mission. Deswegen war es Crawford gewesen, der ihm Wasser und Tee eingeflößt hatte…von dieser ekelhaften Suppe ganz zu schweigen. Weil Schuldig nicht stark genug dazu gewesen war.
 

Vielleicht sorgte sich Crawford ja doch um sein Team. Vielleicht.
 

Der rothaarige Mann nahm nachdenklich einen Schluck aus seiner Teetasse und beschloss, dieses leidige Thema vorerst abzuhaken. Vielleicht musste er sich ja gar nicht damit herumschlagen….wer wusste das schon.

Was er wusste, war, dass er höchst neugierig war. Vermutlich zu neugierig, als dass es ihm irgendwie gut tun würde.

„Konntest du auch damals schon die Gedanken der Anderen lesen?“, fragte er, als würde es sich um nichts Wichtiges handeln. Das Wetter. Kein Mitleid. Einfach nur das Wetter. Wie gut, dass dem aber nicht so war.
 

"Ja, konnte ich", sagte Schuldig schlicht.

"Ich dachte früher oft, dass ich verrückt wie Mom werde. Dass sie deshalb gestorben ist. Dann dachte ich eine Zeit lang, so ab zwölf, dass sie deshalb verrückt geworden ist, weil ich besessen war, dass ich von Stimmen besessen war, vom Teufel und sie deshalb in die Klapse kam und sich schließlich umgebracht hat, weil sie mich bekommen hatte und ich so missraten war. Es hat noch eine Zeit lang gedauert, bis ich das als metaphysischen Vorgang abhaken konnte."

Schuldig zuckte mit den Schultern.
 

So sehr Ayas Inneres sich auch vor Schmerz über diesen Verlust zusammenzog…wie groß das Mitleid auch war, das er für den anderen Mann empfand, so wenig zeigte er es nach außen. Horror wucherte in ihm angesichts dieser Vergangenheit…konnte er sich doch genau die Qualen einer armen Kinderseele vorstellen, die sich für Jahre dafür verantwortlich machte, dass der Mensch sich umgebracht hatte, der womöglich die einzige Bezugsperson war.

Und da hatte er gedacht, dass nur er litt?
 

„Was ist danach geschehen? Nach dem Waisenhaus?“
 

"Nichts Schönes."

Schuldig hatte seinen Blick gehoben und sah Ran unvermittelt an. Unsicherheit und viele Fragen standen in seinen Augen, sein Gesicht reglos.

"Ich bin getürmt, nach Frankreich wollte ich und schlussendlich haben mich SZ aufgelesen, noch bevor ich mein Ziel erreicht hatte. Da war ich vierzehn, so um den Dreh glaub ich."

Wollte er das alles erzählen?

Immer wenn er kurz davor war einen Rückzieher zu machen, wagte er sich weiter vor, doch lange würde es wohl nicht mehr gehen spürte er, denn er zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück.
 

„Nach Frankreich….was wolltest du da?“, hakte Aya nach und erwiderte den allzu offenen Blick des Deutschen ebenso ohne Scheu. Gewährte diesem einen kurzen Fensterblick in seine eigene Gefühlswelt. Auch wenn Schuldig das Eintreten verwehrt blieb…vermutlich immer bleiben würde. Aya wusste nicht, woher sie kamen, doch er hatte nicht vor, diese wirksamen Schilde aufzugeben, die ihm wieder und wieder ein Gefühl der Sicherheit vermittelten.

„ß…sie sind die, gegen die wir in der Kathedrale gekämpft haben…sie sind alles andere als harmlos, oder?“
 

"Einfach weg, glaub ich. Und die Kids ...von denen ich der Jüngste war, die wollten da hin und ich dachte wohl einfach, dort würde mich keiner finden. Der Älteste von ihnen war achtzehn und lebte schon seit Jahren auf der Straße. Ich war so was wie Frischfleisch, könnte man sagen. Sie nahmen mich trotzdem mit. Er hat wohl geahnt, dass ich mich nicht abhängen lassen würde. Damals konnte ich nicht vollständig die Gedanken abschotten, sie waren immer da als Hintergrundgeräusch und wurden schlimmer. Deshalb bin ich auch abgehauen. Ich dachte ich könnte auch vor ihnen davonlaufen. Hab mich wohl geirrt."
 

„Was ist dann passiert? Als ß dich gefunden hat?“, fragte Aya, ging in seinen Gedanken systematisch Punkt für Punkt ab. Er musste nicht mehr darauf achten, dass er zuviel über den Mann wusste, der im Kampf sein Feind war. Kritiker konnten ihn nicht mehr erpressen. Er kämpfte nicht mehr für sie.

Er konnte fragen, was er wollte…konnte die Antworten abspeichern, ohne dass er Angst haben musste, dass sie ihm zum Verhängnis wurden. Niemals mehr…
 

Schuldig nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse und befreite sich umständlich aus seiner Decke. "Willst du noch einen?" fragte er statt die Frage, die ihm gestellt worden war, zu beantworten.

Er brauchte einen Moment für sich und hatte die Küche als Fluchtmöglichkeit ins Auge gefasst.
 

„Nein, ich habe noch“, erwiderte Aya und entließ den Deutschen somit aus seiner Fragerei, hatte er doch genau gesehen, wie eilig es Schuldig hatte, von ihm wegzukommen. Als wäre er eine Gefahr…etwas Bedrohliches oder Beängstigendes…

Er ließ Schuldig davonkommen, ohne es zu kommentieren. Auch wenn es ihn schon interessiert hätte.
 

Der Flüchtling ließ sich Zeit mit seinem Tee und als er wieder zurückkam, wählte er einen neuen Sitzplatz - das Fensterbrett, nachdem er Ran ein entschuldigendes Lächeln entgegen gebracht hatte.

Hier fühlte er sich wohler, hier war der Blick auf die Weite besser.

Langsam kehrte sich auch der Tag zur Neige, obwohl es erst Nachmittag war.
 

Aya nahm das Lächeln mit einem Nicken entgegen. Doch den Rückzug ließ er nicht gelten…zumindest nicht jetzt. Schuldig hatte seine Schonzeit ausgekostet und würde nun wieder involviert werden…

Langsam stand Aya auf und schlenderte zu einem der großen Panoramafenster. Er hievte sich ebenso auf den Sims und lehnte sich an der gegenüberliegenden Wand an. „Du sprichst nicht gerne über deine Vergangenheit“, stellte er als Aussage in den Raum, nicht als Frage. „Nur mit mir nicht oder allgemein?“
 

"So kann man das nicht sagen...es ist nur ...neu ...für mich darüber zu sprechen."

Er spielte mit seinen zusammengebundenen Haaren, den Ellbogen auf das Knie abgestützt. Das Bein auf den breiten Sims gestellt.

"Es ist im Prinzip nichts Interessantes, wie ich schon sagte nichts Spektakuläres, was meine von dir wohl so gesehene ...irre Psyche erklärt."

Er schwieg, umschloss mit der linken Hand fest seine Tasse.

"Ich ...was könnte ich dir groß erzählen, was nicht wieder Hass hervorruft?"
 

„Hass? Habe ich dich gehasst, als du mir die wahren Gründe für deine zweitägige…Abstinenz erklärt hast?“, gab Aya mit offenem Blick in die Augen des Telepathen zurück. Ja, kurz hatte er es getan. Kurz…doch nach und nach hatte es sich verlaufen, hatte der Hass in ihm Akzeptanz Platz gemacht. „Wie kommst du darauf, dass alles, was ich empfinden kann, Hass ist?“ Konfrontationskurs mit Schuldig. Leichte Provokation. „Nichts, was du erzählst, ist uninteressant oder ruft Hass hervor, noch maße ich mir ein Urteil über deine Psyche an. Und wenn, dann nur, weil ich genauso verrückt bin.“
 

"Ich weiß nicht, was du denkst, Ran“, sagte er und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe, kühlte die hitzigen Gedanken dahinter etwas.

"Es ist schwer für mich zu glauben, da wäre etwas anderes außer Hass, obwohl ich es mir wohl wünsche." Er redete schnell weiter, bevor Ran noch etwas dazu sagte, was er nicht hören wollte...

"Ich dachte, dass du zu mir gekommen bist, damit ich dich töte, dass du deshalb bei mir bist."
 

„Youji hat dir das eingeredet. Ich weiß nicht, warum ich zu dir gekommen bin, ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, wie ich überhaupt nach hierhin gekommen bin. Was ich weiß, ist, dass es nicht aus dem Grund geschehen ist, dass du mich töten solltest. Vielleicht…für wenige Momente mochte es eine Lösung gewesen sein, doch langfristig nicht. Sicherlich nicht.“ Aya verstummte, ließ seinen Blick ebenso über die Stadt schweifen. Über die Schneeflocken, die wieder begannen zu fallen. „Wenn ich dich hassen würde, würdest du es sehen. Auch ohne meine Gedanken zu lesen.“ Er besah sich die nur noch durch rote Striche erkennbaren Narben des Exzesses am Spiegel. Ja…das würde Schuldig sehen.
 


 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Fortsetzung folgt…

Coco&Gadreel

Früchte der Verführung

~ Früchte der Verführung ~
 


 


 

Schuldig wagte einen Blick zu Ran und verzog den Mund zu einem schrägen, traurigen Lächeln.

"Für die meisten Menschen...existiere ich nicht in ihren Erinnerungen, sie erlischen - durch mich so gewollt. Du warst einer derjenigen, in dessen Gedanken ich bleiben wollte... welche Gründe dies auch sein mochten. Auch wenn ich sie dir sowieso nicht nehmen hätte können, so war der Wille, dass du mich in Erinnerung behältst doch da.“ Stille trat ein, als er kurz seine Gedanken in die Vergangenheit gleiten ließ.

„SZ war eine einzig große Umerziehungsanstalt mit Suggestions- und PSI Einrichtungen. Sie hatten erkannt, was für Fähigkeiten ich hatte und gedachten, sie gewinnbringend einzusetzen. Meine glückliche Kindheit hat damals ein Ende gefunden. Wäre ich besser im Waisenhaus geblieben." Wieder zuckte er mit den Schultern.

"Aber da wäre ich vermutlich wirklich verrückt geworden, denn wer hätte mir dort meine Fähigkeiten erklären sollen? Wer hätte mir erklären sollen, dass es nicht der Teufel war, sondern ein außersinnlicher Vorgang, der mich heimsuchte?"

Er lächelte zynisch. "Was soll’s", wischte er die Vergangenheit beiseite.
 

„Anscheinend hat es sehr viel ausgemacht. Du hast dich schließlich gegen sie gewendet…“, brachte Aya punktgenau das zum Ausdruck, was Schuldigs Aussage fehlte. „Was hat sie so schlimm gemacht?“ Ayas Hände nestelten ruhig an seinen zum Zopf geflochtenen Haaren, spielten gedankenverloren mit den Spitzen.
 

Den Blick wieder abwendend sagte Schuldig das, was ihm gerade in den Sinn kam: "Ich habe nicht vor, mich daran erinnern zu wollen, Ran."

Er war müde darüber nachzudenken.

"Nur die Stärksten haben überlebt. Das Wort Umerziehungsanstalt sollte schon alles sagen. Sie nehmen dir den Rest deiner Identität und lassen ihn zwischen ihren neuen Gesetzen und Weltanschauungen verpuffen."

Blicklos weilten seine Augen auf dem Hereinbrechen des Abends, den angehenden Lichtern der Stadt.
 

Aya schwieg. Er wusste nicht, wieviel Schuldig vor ihm verbarg, wieviel er ihm nicht erzählte. Ob dazu auch die Menschenversuche zählten, die augenscheinlich mit ihm gemacht wurden. Aya konnte leicht eins und eins zusammen zählen und sich vorzustellen, wie diese Methoden der Umerziehung aussahen.

Er mochte sich nicht vorstellen, wie es aussah, wenn Tests an dem Telepathen durchgeführt wurden…doch beinahe wäre es dazu gekommen. Was, wenn sie erfolgreich mit der Mission gewesen wären?
 

Hätte er ausführen können, was ihm aufgetragen worden wäre? Schuldig den Wissenschaftlern abzuliefern und zu wachen, dass er nicht floh, während sie Versuche an ihm durchführten? Wie hatte er jemals so verbohrt in diese Sache hineingehen können?

Ayas Blick folgte dem Schuldigs und grub sich in die unzähligen Häuser, die Lichter, die so weihnachtlich brannten.

„Was hast du jetzt für Ziele?“, fragte er schließlich immer noch abgewandt.
 

"Ziele?", wiederholte Schuldig und nahm einen Schluck des langsam auskühlenden Tees. Er überlegte eine Weile und in seinen Gedanken schlichen sich seine Träume, die er hin und wieder gehabt hatte.

"Keine. Keine mehr. Ich lebe, das reicht...muss reichen."

"Und du? Hast du denn Ziele?", fragte er mit leiser Ironie, wusste er doch gleich die Antwort. Vermutlich hatte Ran ebenso wenig Ziele im Leben wie er. Ziele hatten nur Menschen, die etwas im Leben erreichen wollen, für sich oder für ihre Liebsten.
 

Besagter Mann bestätigte Schuldigs Verdacht mit einem nachdenklichen Kopfschütteln. „Nein, keine.“

Er schwieg wieder, überdachte diese Aussage für ein paar Augenblicke. „Aber warum leben wir dann, wenn wir keine Ziele haben?“, fragte er schließlich, war sich in dem Moment nicht wirklich sicher, was die Antwort darauf war. Wieso lebten sie, wenn es nichts mehr gab, für das es sich zu leben lohnte? War das denn wirklich so? Oder erkannten sie ihre Ziele einfach nur nicht? „Ist denn dein Wunsch, nicht in der Psychiatrie zu sterben, kein Ziel?“
 

Jetzt musste Schuldig doch tatsächlich lachen, ein leises Glucksen, das wirklich aus ihm herauswollte, bewirkte ein Grinsen bei ihm.

"Das ist kein Ziel - das setze ich voraus!"

Er wandte sich wieder voll Ran zu. "Das Leben an sich ist ein Ziel. Und kein zu kleines, wie ich meine. Aber hey! Leben und Leben ist nicht eins. Man kann gut oder schlecht leben."
 

„Und du lebst gut?“, lächelte Aya zurück, war nun doch alleine anhand des vor ihm strahlenden Optimismus amüsiert. Er wünschte Schuldig, dass dieser Wunsch, diese Voraussetzung wahr werden würde. „Hast du alles, was du dir wünschst?“
 

"Nein, klar habe ich das nicht. Manchmal wünschte ich mir die Telepathie zum Teufel, und manchmal bin ich Gottfroh, dass ich sie besitze." Er gebrauchte diese christlich-mythologischen Begriffe nur zu gern in diesem Zusammenhang. Ein kleines, perfides Wortspiel, das ihm gefiel.

"Das Vergessen hängt damit zusammen und ich wünschte, es würde aufhören, aber damit müsste ich mir auch wünschen, ich wäre kein Telepath. Aber wäre ich kein Telepath... dann ...ich weiß nicht, wo ich dann wäre. Aber ich wünsche mir eines ganz stark", gab er in kindlicher Wortwahl wieder.

"Aber das ist nichts, was ich einfach so erzählen kann." Er grinste und der Schalk blitzte aus den Augen.

Dabei war sein Wunsch noch nicht einmal so lustig, nein, eigentlich war sein Wunsch eher arm und klein. Deshalb würde er ihn auch nicht vor Ran verlauten lassen. Nicht jetzt. Vielleicht nie.
 

Aya lauschte gebannt den Ausführungen des Telepathen bezüglich seiner Kräfte, konnte sich durchaus vorstellen, wann Schuldig sich für seine Gabe begeistern konnte. Auch wenn es sicherlich unschöne Momente gab, da pflichtete Aya dem Deutschen bei. Unschöne Momente wie das Vergessen…oder den Wahnsinn, in den er abstieg.

Er horchte interessiert auf, als Schuldigs Stimme in etwas spielerische Gewässer abdriftete. Das bedeutete nie etwas Gutes, wie er schmunzelnd für sich verbuchte. Schuldig schien wie eine große, experimentierfreudige Katze, die – hatte sie einmal ein Objekt ihres Interesses gefunden – dieses mit Begeisterung für sich vereinnahmte. Was es dieses Mal war…
 

„Nicht? Und wenn ich ganz lieb bitte sage?“
 

…würde er vielleicht gleich erfahren.
 

Schuldig hob die Braue, grinste aber dazu was dieser Geste die arrogante Note nahm.

"Wie lieb?", lachte er.
 

Ein Hauch von Amüsement huschte über Ayas Gesicht. Sie spielte, die große Katze. Mit ihm. Er beugte sich vor, stützte seine Hände auf den Fenstersims und fixierte Schuldigs Augen. „So lieb…dass du nicht mehr weißt, wo vorne und hinten ist.“
 

Die Augen bannten sich in seine und Schuldigs Lider senkten sich genießerisch.

"Ach ja?" Er beugte sich ebenso leicht vor.

"Du bist also so lieb zu mir, dass ich nicht mehr weiß, wo vorne noch hinten ist?", verdrehte er mit Absicht die Aussage von Ran.

Ran wusste wohl nicht, wie nah er an der Wahrheit, an seinem Wunsch dran war.
 

Pures Necken schlug damit eben diesem Mann entgegen. Leichtigkeit gepaart mit mehrdeutigen, betonten Worten, die alles andere als harmlos waren, die sie beide jedoch im Spaß benutzten.

Aya legte seinen Kopf nachdenklich schief und taxierte sein Gegenüber. „Genauso ist es. Es sei denn, du hast da noch andere Wünsche.“ Er hob bedeutend die linke Augenbraue.
 

Schuldig tat, als müsse er scharf nachdenken und als fordere dieses kontemplative Augen-gen- Decke-richten seine ganze Energie.

"Ich glaube... das würde mir reichen. Ich bin da genügsam", lächelte er wie ein Wolf, der gerade etwas Lohnendes zum Frühstück entdeckt hatte. Die Worte passten so gar nicht zu diesem Lächeln und dem Funkeln in den Iriden.

Er konnte nicht sagen, wie sehr er es genoss hier zu sitzen und dieses Spiel zu spielen, wo sie doch noch vor wenigen Minuten ganz anderer Stimmung waren.

Als hätte jemand ihnen eine Pause ...ja Ran eine Pause gegönnt.
 

„Genügsam…soso.“
 

Aya glaubte Schuldig kein Wort. Das schien einfach nicht zum Wesen des Deutschen zu passen, dass dieser genügsam war. Und schon gar nicht zu diesen Lippen, die sich so bereitwillig grinsend verzogen.
 

„Dann leg mal los“, bat er den Telepathen süffisant zu Tisch. Mal sehen, was dieses große Geheimnis war.
 

"Apfelstrudel!"

Schuldig hätte am liebsten lauthals losgelacht, aber er war ein guter Schauspieler und blickte verträumt hinaus, schwelgerisch die Augen verklärt.

"Ach, das wäre schön"
 

Aya starrte. Lehnte sich gestützt auf seinen Armen noch ein Stückchen weiter vor und runzelte die Stirn. Lauschte lieber dem Nachklang dieses für ihn fremd scheinenden Wortes. Nein…fremd war es nicht. Nur deutsch. Und so gut sprach er Schuldigs Muttersprache nicht. „Was bedeutet es…das…Apfel…stru…del…?“, hakte er stirnrunzelnd nach, war durchaus misstrauisch anhand des allzu träumerischen Gesichtsausdruckes.
 

Wäre Schuldig ein Fuchs gewesen oder ein ähnliches Wildtier, so hätten sich jetzt seine Ohren aufgerichtet und gelauscht. Ahh, Ran kannte das Wort nicht. Sein unschuldig träumerischer Gesichtsausdruck nahm einen kindlich freudigen an, doch mit einem bewussten Einschlag, sodass Ran womöglich die wahre Bedeutung des Wortes verborgen blieb und er Gott-weiß-was denken musste, so wie Schuldigs Augen glimmten.

"Machst du mir einen?", gurrte er fast schon, das Gesicht möglichst lieb schauend.

"Ist auch gar nicht so schwer", schüttelte er den Kopf. "Ein bisschen Überwindung... und für einen Mann wie dich... eh kein Problem!"
 

Nun in höchsten Tönen misstrauisch fixierte eben dieser Mann Schuldig mit adlerartigem Blick. Er wusste einfach nicht, was das war. Und Schuldigs Gesichtsausdruck half ihm da so nun überhaupt nicht weiter. Ganz im Gegenteil. Dieser schien sich gerade seine Schnurrhaare in Erwartung dieses Spieles zu putzen und sich äußerst darüber zu amüsieren.

„Überwindung? Auf welchem Gebiet? Was ist daran nicht so schwer?“, hakte er nun etwas genauer nach, die Stirn nachdenklich verzogen. In Gedanken ging er das Wort noch einmal durch. Vielleicht sollte er es später noch einmal nachschlagen…
 

"Hmm... na es nimmt schon etwas Zeit in Anspruch, das muss man zelebrieren, sonst kommt der Kick dabei nicht so rüber... Na die einzelnen Abläufe sind nicht so schwer, du hast ja da schon etwas Erfahrung drin... dachte ich mir...", murmelte er und tat als wäre es ein Geheimnis, dann lächelte er schüchtern, als ginge es hier um Sex und nicht ums Kuchen backen. Was ihm Ran wohl sowieso kaum abkaufte, aber er versuchte, gerade noch die Waage zu halten. Wie lange ihm das gelang, da war er sich nicht so sicher.

Er musste sich wahrlich zusammenreißen um den Mann nicht in seine Arme zu reißen, ihn festzuhalten und mit ihm darüber zu lachen.
 

Ayas Verwirrtheit wich langsam einem kleinen, gemeinen, boshaften Lächeln. „Erfahrung…habe ich in vielerlei Dingen…“ Er richtete sich grazil auf.. „In sehr vielen Dingen…“

Beinahe schon bedrohlich gemächlich schlenderte er zum großen Bücherregal und zog sich zielsicher eines der Bücher hervor. Streifte zurück und lehnte sich direkt neben Schuldig an die Gemäuerwand. Hob schließlich bedeutsam das Deutsch-japanische Wörterbuch.
 

„Früher…“, begann er zu erzählen. „Wusste ich noch einmal, wie ich so etwas gebrauche, wie es gelesen wird. Doch heute….“ Er warf einen Blick auf die neben ihm sitzende Gestalt. „…habe ich Erfahrung darin. Ich weiß…wo ich ein A finde - nämlich ganz vorne - und schau her: hier haben wir auch einen Apfel….“, er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, lächelte böse. „..und nun…“
 

Schuldig hatte es kommen sehen. Ran ging zum Bücherregal.

Ein äußerst mageres Schlucken quälte sich seine Kehle hinunter und zerploppte in seinem flauen Magen wie eine Unheil verkündende Seifenblase auf Kamikazekurs.

Mit einem etwas unsicherem Mienenspiel, das sowohl Unwohlsein als auch ein Grinsen aufzeigte, als hätte er etwas ausgefressen.

Er schnappte nach dem Buch und verzog die Lippen leidend und schmollend, hielt die Hand an dem Buch während Ran eifrig nach diesem dämlichen Apfelstrudel suchte.

"Dafür brauchst du doch kein Buch... du hast doch mich...", versuchte er es ein letztes Mal um seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.
 

Aya entzupfte Schuldig das Buch, nahm es mit einem beherzten Ruck wieder in seine Obhut. „Genau deswegen will ich es ja nachlesen…um mir eine UNABHÄNGIGE Meinung zu bilden, nicht wahr?“ Er lächelte ein weiteres Mal. „Da haben wir es ja…den ominösen, sehr aufwendigen Apfelstrudel…“

Ayas Augen flogen über den Text, saugten ihn gierig in sich auf, bis er schließlich das Buch senkte und sich vor Schuldig aufbaute und sich lässig an dessen Rückenstütze lehnte. Er war sich bewusst, wie bedrohlich er wirken musste, als er sich „Eine traditionelle österreichische Süßspeise, die vor allem in Wien zu finden ist. Apfelstrudel besteht aus einer länglichen Rolle aus Strudelteig mit einer Füllung aus zerkleinerten Äpfeln, Zimt, Rosinen und gerösteten Semmelbröseln. Die KUNST der Zubereitung besteht vor allem im Ausrollen beziehungsweise Ausziehen des Teigs.“ auf der Zunge zergehen ließ. Jedes einzelne Wort speziell betonte.
 

„Das gibt einem also den Kick…wenn man Erfahrung darin hat…?“
 

Jetzt hatte er den Salat. Er hatte das Spiel auch soweit treiben müssen, bis Ran die Oberhand erlangt hatte.

"Ach... du weißt überhaupt nicht, wie lecker das Zeug schmeckt. Ich hab’s einfach ewig nicht mehr gegessen", murmelte er verdrießlich, Ran von unten her ansehend. Einen kleinen frechen Blick riskierend, denn auf den Lippen lag schon wieder der Hauch eines kleinen Lächelns.

"Und wenn man Sahne drauf macht, schmeckt es noch besser und dazu eine Tasse Kaffee oder Tee...

Nicht jeder kann einen Apfelstrudel machen damit der auch gut schmeckt... den muss man mit Liebe machen", schulmeisterte er und kam sich momentan schier selbst schon bescheuert vor.

Ein Lachen brach sich in ihm Bahn und er lachte leise, den Kopf schüttelnd.

"Und was hast du jetzt mit mir vor? Werde ich bestraft, weil ich dich hinters Licht führen wollte?"
 

Was er jetzt mit Schuldig vorhatte?
 

Zugegeben eine durchaus interessante Wortwahl aus Ayas Sicht. Natürlich schlug ihm sein Hirn lauter kleine, gemeine Dinge vor, die ihm spontan Spaß bereiten würden, doch keines dieser kleinen Entertainments fand seinen Weg über Ayas Lippen, sondern blieb fröhlich tanzend in den Gedanken des Japaners.
 

Aber wer wäre er, wenn er Schuldig nicht wenigstens einen Teil seines Spieles zurückzahlen würde? Ein kleines, feines Lächeln schlich sich auf Ayas Gesichtszüge, während er sich zu dem sitzenden Mann herunterbeugte, einen Arm gegen das Fenster stützte, den anderen gegen die Wand. Schuldig tief in die Augen sah.
 

„Bestrafung…? Hm…“ Die Katze beäugte ihre gefangene Maus eingehend, gar prüfend. „Das klingt durchaus passabel…sehr passabel sogar. Ein wirklich guter Vorschlag.“ Die violetten Augen kamen den nun grünen Seen in ihrem Spieltrieb noch ein Stückchen näher. Schuldig amüsierte sich…also war seine Augenfarbe dunkler – grüner. Das hatte Aya schon mehrmals beobachten können.

„Die Frage ist nur, was es da geben könnte, das geeignet wäre um diese…Schandtat zu büßen…“
 

Schuldig beobachtete Ran wie die Schlange den Mungo bei seinem Tanz um den Kampfgegner. Er bewegte sich keinen Millimeter, doch seine Augen verfolgten alles haargenau. Diese Stimme machte ihn wahnsinnig…

Die Worte kamen in Schuldigs Gehör wie ein Schnurren an und seine Haut kribbelte, seine Hand zuckte im Verlangen, nach dem anderen zu greifen ihn zu berühren, ihn näher - als nur diese paar Zentimeter, die sie noch auf Abstand waren - zu ziehen. Doch sie blieb wo sie war.

Die Augen immer noch in die von Ran verschränkt, näherte er lediglich sein Gesicht, sein Ziel das Ohr, doch, auf dem Weg dahin ließ er sich Zeit...

... tastete mit Lippen und Nase über die Wange, als wolle er den Geruch, die Berührung aufnehmen. Er küsste nicht, berührte lediglich hautzart, ohne Druck, ohne etwas zu wollen.

"Das musst du mir sagen, Ran", raunte er.
 

Blasse Haut verbrannte unter der sengenden Hitze dieser Lippen, die ihm schon einmal so nahe gekommen waren. Und wie schon damals war Aya im ersten Moment zu überrumpelt, um sich dagegen zu wehren oder sein Gesicht zurückzuziehen.

Er erinnerte sich an das, was Omi gefragt hatte und wurde sich bewusst, dass er keine Antwort darauf hatte. Noch nicht.

Aya schloss ein paar Augenblicke lang die Augen, nur um sie dann wieder zu öffnen. Er lehnte sich ein wenig zurück, sah in das offene Gesicht

Seine Hand legte sich unter das Kinn des Deutschen, dirigierte es behutsam zu sich heran.
 

Wie bewegt dieses mit minimalem Blaustich durchsetzte Grün doch war.
 

Er lächelte, näherte sich seinerseits diesen leicht trockenen Lippen.
 

„Apfelstrudel.“ Ein Lachen sprudelte sich frei und ungebändigt aus ihm heraus, als er sich aufrichtete und einen beschwingten Satz nach hinten tat, sich in Richtung Küche wandte. „Das sage ich dir, Schuldig…Apfelstrudel…“
 

Damit hatte er nicht gerechnet!

Erstaunen schlich sich in die Züge, vermischte sich mit dem warmen Ausdruck darauf.

Die Lippen hatten ihn beinahe berührt. Beinahe! Jubelte es innerlich in ihm und seine Lippe wurde eingezogen um das Gefühl des durch den Atem hauchfeinen Berührens auszukosten.

Schuldig blickte Ran nach, leicht überwältigt und noch genießend was sich ihm gerade geboten hatte. Dieses Lachen stieß in sein Herz und ließ das dunkle Blut wie einen Aderlass herausfließen. Der Druck wurde weniger und die Wärme in ihm ließ ihn lächeln.

"Das heißt ich bekomme einen Apfelstrudel ... als ultimative ‚Strafe’?", grinste er, doch auch Wehmut und Sehnsucht stromerten durch sein Gesicht wie Vagabunden. Er war aufgewühlt.
 

„Nein, das heißt, dass du mir einen backen darfst, natürlich nur, wenn ich es dir gnädigerweise erlaube“, warf Aya immer noch lachend und ganz der Pascha zurück und ließ gluckernd Wasser in den verchromten Kocher laufen. Ein edles Stück, wenn man ihn fragte.
 

Aya befühlte seine Wange. ‚Schuldig liebt dich, oder?’ ‚Ich weiß es nicht. Und wenn…’ Ja, was war mit dem und wenn? Wenn es tatsächlich nicht nur eine der Spielereien des Deutschen war? Eine Art zu flirten, die Youjis doch ernstlich nahe kam. Er wusste es nicht. Würde abwarten, wohin sich das noch entwickelte und danach handeln.

„Auch noch einen Tee?“
 

"Ich?", kam der klägliche Ausruf. "Und du bist sicher, dass dies meine Strafe sein soll ...und nicht...", er verstummte und zog nach kurzer eingehender Überlegung eine leidende Grimasse.

"Jaa klar! Ich backe ihn und dann mäkelst du herum und das wird mein Untergang sein. So hast du dir das also vorgestellt, clever eingefädelt, das ist sicher."

Er stand auf und brachte seine Tasse in die Küche.

"Was hältst du von Abendessen? Tee hält mich nicht mehr lange auf den Beinen", grinste er und öffnete den Kühlschrank um einen Blick hinein zu werfen.
 

„Als wenn ich an deinen herausragenden Kochkünsten etwas auszusetzen hätte“, lachte er und drehte sich zu Schuldig. Vielmehr dem prall gefüllten Kühlschrank.

„Das klingt gut…sehr gut“, bestätigte er und linste ebenso, was sie alles zaubern könnten. Nein, was Schuldig alles zubereiten könnte. Er würde sein Versprechen einlösen und nichts tun, sich derweil fürstlich bedienen lassen.

„Was kochst du mir denn schönes?“
 

Schuldig sah kurz von seiner akribischen Inspektion auf, war sogleich mit neugierigen violetten Augen konfrontiert. Die Wortwahl des Mannes ließen ihn etwas stutzig werden. Sie klang nicht nach dem trauernden Bruder wie vor wenigen Stunden noch. Seit dem Geplänkel auf der Fensterbank war es als hätte Ran dies verdrängt.

Nun, Schuldig würde das beobachten ... aber er konnte jetzt schon sagen, dass es ihm nicht gefiel, wenn dem so war. Aber sagte er jetzt schon etwas konnte das die Stimmung vermiesen... und Aya wieder am Essen hindern. Vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein…
 

"Hab ich dir schon erzählt, dass ich nicht der beste Koch bin?" So wie er es aussprach, hätte es eher heißen müssen: Hey Baby, hab ich dir schon erzählt, was für ein toller Hecht ich bin?

Er zog Gemüse aus dem Fach und legte alles auf die Anrichte. "Ein bisschen Gemüse hier, ein bisschen Fleisch da, wobei Fisch wäre auch nicht schlecht gewesen", sinnierte er und schloss die Kühlschranktür.

"Ich bruzzel das alles an und dann noch etwas Reis dazu"

Er konnte sich nicht entscheiden, wobei Steaks, so richtig gute Steaks hatte er schon lange nicht mehr gegessen.
 

„Na da bin ich mal gespannt“, gab eben dieser Mann unbekümmert zurück und ließ sich auf einen der Barhocker nieder. Es schneite schon wieder…was für ein beruhigender Anblick. Er beobachtete die emsigen Hände des Telepathen, die anscheinend wohl erfahren und kochtechnisch gut ausgerüstet wussten, was sie taten.

„Lebt jeder von euch in einer eigenen Wohnung?“, fragte er unvermittelt, ebenso abrupt, wie ihm die aus dem Kontext gegriffene Frage eingefallen war.
 

Schuldig hatte sich seine lange Schürze umgebunden und wusch sich die Hände. "Nein, Nagi hat eine Art Studentenzimmer, aber er ist nur selten dort. Meist hält er sich bei Crawford auf, oder er arbeitet an seinen Projekten“, sagte er währenddessen und trocknete sich die Hände.

"Farfarello ist ein Fall für sich. Er braucht in gewisser Weise eine Person, die ihn in manchen Dingen des täglichen Lebens betreut."
 

„Ich kann mir Farfarello nicht am Herd vorstellen“, schmunzelte Aya. „Ebenso wenig beim Fensterputzen…oder anderen Dingen, die regelmäßig anfallen. Was macht er den ganzen Tag?“ Aya wunderte sich innerlich selbst über sein Interesse am Privatleben des anderen Teams. Seine Finger huschten spielerisch über das Material der Theke. Noch vor Wochen hätte er jeden für verrückt erklärt, der ihm diese Zukunft geweissagt hätte. Doch so vieles hatte sich geändert…so vieles…
 

"Er lässt uns nichts sehen." Schuldig wandte sich ab und begann zu werkeln.

"Seine Augen sind wie blank polierte Spiegel, in denen ich mich oft selbst gesehen habe. Manchmal dachte ich, er spiele mir vor, wie ich selbst bin, er imitiere die Gefühle, die er fühlt um einem damit wehzutun. Es ist schwierig, ihn verstehen zu wollen. Er lebt bei uns. Wir lassen ihm Raum, geben ihm aber auch Grenzen, die er hin und wieder auslotet - und dies bewusst. Er weißt teils autistische Züge auf in seinem Verhalten, in dem, was er uns zeigt. Manchmal. Und dann wieder … gibt es Auslöser, die ihn wieder anders sein lassen. Dumm ist er nicht."

Schuldig schüttelte leise lachend den Kopf. Nein, das war Farfarello nicht.
 

„Und der Amerikaner?“, fragte Aya nach kurzem Zögern. „Wie kommt er zu so einem ungeordneten Haufen? Er muss sich doch ständig wie der Pascha vorkommen, wenn ihr alle nach seinem Befehl tanzt.“

Wiederum ließ Aya seine Gedanken Revue passieren. Crawford war ein arroganter, kalter Klotz gewesen, der nicht einmal in Ansätzen fähig schien, zwischenmenschliche Kontakte aufzubauen. Bis er dann eines Besseren belehrt wurde und gesehen hatte, dass er… „wie eine Glucke. Ich…hatte das Gefühl, dass er wie eine Glucke über dich wacht.“
 

Schuldig schwieg einige Momente.

"Er passt schon ganz gut in den Haufen", lächelte er in sich hinein, Ran immer noch den Rücken zugewandt.

"Irgendeiner muss das Chaos ja regieren", grinste er, wurde ab gleich wieder ernster.

"An was kann es wohl liegen, dass wir ... wie du sagst ... nach der Pfeife tanzen?"
 

„Ihr lasst euch allesamt gerne beglucken“, lachte Aya. „Genau daran liegt es.“ Amüsiert ausgesprochene Worte, waren sie doch nur die reine Wahrheit. Was blieb ihnen denn schon in einer Welt voller Blut? Sie konnten keine Familien gründen, keine Kinder in die Welt setzen…nicht, wenn sie immer Angst haben mussten, dass jemand kam und ihnen dieses Glück zerstören würde. Dass etwas kam…viel mächtiger als alle Menschen der Welt zusammen.

Aya seufzte innerlich, ließ seinen Blick durch die verschneite Welt dort draußen schwenken. Kalt, unwirklich, unwirtlich. Nicht die Seinige.

War es das Schicksal gewesen, das ihm Aya genommen hatte? Vorherbestimmung oder einfach Zufall? Trauer schlich sich in die Unbeschwertheit seiner vorherigen Gedanken. Morgen…morgen…
 

Er fürchtete sich vor morgen…fürchtete sich so sehr.
 

"So ähnlich."

Schuldig schüttelte den Kopf. "Es ist wohl Sicherheit. Durch seine Fähigkeiten sind wir ein Stück sicherer ... oder wir fühlen uns sicher. Es ist unleugbar, dass er Recht hat, also warum sollten wir ihm dieses Recht streitig machen und uns widersetzen? Wir haben oft genug erlebt wie uns dieses Wissen die Haut gerettet hat, also ist es eine Art stille Übereinkunft geworden."

Bei diesen Worten drehte er sich lächelnd um, erhaschte kurz einen Blick auf die mit Trauer beschwerte Miene.

Ah, da hatte sich Ran wohl gerade an seine Schwester erinnert. Er konnte die Angst in dem Blick sehen, wie er in die Ferne gerichtet war.

Das Messer ablegend und seine Hand am Tuch abwischend trat er näher an den Mann heran. "Lass ihn das nur nicht hören, mit der Glucke ...", lächelte er zuversichtlich, die Worte nur gebraucht um die Stille nicht zu drückend werden zu lassen, das Lächeln benutzt um einen Weg ins Herz des anderen zu finden.
 

Es dauerte etwas, bis das Subjekt von Schuldigs Aufmunterung diese auch wirklich als solche wahrnahm und sich wieder dem Hier und Jetzt widmete. „Nicht? Ich wäre da doch mal auf sein Gesicht gespannt…ob ihn nach dem Zuhälter noch etwas schocken kann“, lächelte Aya schwermütig, etwas verhalten. Wurde sich mit einem Male bewusst, dass Schuldig ihren Loverboy-Zuhälter-Dialog gar nicht mitbekommen hatte. Wie gut…
 

"Zuhälter?"

Schuldig lachte.

"Was sollte Crawford bitte schocken? Er war eine Zeit lang extrem beliebt beim CIA. Die Jungs waren richtig scharf auf ihn. Ich glaube, ihn schockt so schnell nichts. Aber dieser ‚Kosename’ ist durchaus interessant."

Er überlegte einen Moment und grinste Ran dann an.

"Wobei ... überleg mal ... ‚Glucke’ klingt für ihn weitaus fieser ... als ‚Zuhälter’, meinst du nicht?"
 

Aya nickte bestätigend. „Und auf den Fahndungsplakaten steht dann: Dreihundert Millionen Yen Kopfgeld für einen der gefährlichsten Auftragsmörder Japans. Codename ‚Glucke’. Was macht er mit seinen Feinden? Sie zu Tode brüten?“ Ein amüsiertes Kopfschütteln folgte diesen Worten und klammerte sich nur allzu dankbar an die Ablenkung.
 

Schuldig grinste und hatte sichtlich Erfolg mit seiner Therapie, wobei sie auf Kosten von Brad ging, wie er innerlich glucksend zugab.

"Warum hast du ihn eigentlich Zuhälter genannt? Habt ihr euch derart in die Wolle bekommen?"

Er befand, dass die momentane akute Gefahr gebannt war und widmete sich wieder seinen nicht vorhandenen Kochkünsten.
 

Eben diese nicht vorhandenen Kochkünste wurden anderweitig weitaus genauer inspiziert. Von kritischen Augen, die jeden einzelnen Schnitt, jedes einzelne Umdrehen in der Pfanne bewachten. Aya musste innerlich doch zugeben, dass es recht ansprechend roch…durchaus. Wenn es dann auch noch genauso schmeckte…

„Das war Zufall…passte zu dem Zeitpunkt zu ihm“, erwiderte Aya ausweichend. Er hatte also immer noch nicht vergessen, welche Drohung Crawford gegen ihn ausgesprochen hatte. „Wie war das? Ihr macht keine Gefangenen…und den Rest steckt Crawford ins Luxusbordell…“
 

Schuldig hob eine Braue und warf einen amüsierten Blick zurück.

"Ah und was hat er dir drauf geantwortet?", wollte er wissen. Das hatte sich der Amerikaner bestimmt nicht sagen lassen, so wie Schuldig ihn kannte.

"Naja so hat er es ja nicht gesagt", beschwichtigte er und verzog den Mund.

"Die Option stand offen, er hat gute Kontakte, wenn nicht ausgezeichnete ... in diese Szene. Crawford hat mehrere Sachen laufen. Frag mich nicht." Er zuckte mit den Schultern und ließ seinen Blick kurz über den Körper von Ran streichen.

Bordell ... von wegen. Er gehört mir, zischte etwas in ihm.
 

„Vielleicht sollte ihn mal jemand zwingen, die Beine für alte Säcke breit zu machen…dann würde er anders darüber denken.“ Aya schnaubte. Ließ das Thema fallen. Wohl aber nicht Schuldigs Blick, der allzu taxierend über ihn glitt? „Und, gefällt es dir, was du siehst? Passe ich in Crawfords Beuteschema?“, fragte er bitter nach, schob ein kurzes, freudloses Lächeln nach. „Wenn du errätst, was er mir entgegnet hat, gibt’s gebackene Bananen mit Honig à la Abyssinian zum Nachtisch.“
 

Das Thema gefiel Schuldig nicht sonderlich, er wollte sich hier nicht auf Kosten von Brad unterhalten. Dafür mochte er den Anderen doch zu sehr. Brad war nicht einfach ... aber das war keiner von ihnen.

"Ich glaube da komme ich nicht drauf", sagte er und lächelte, mit einem Seitenblick, damit es nicht aussah als wäre er eingeschnappt. Er mochte es nicht, wie Ran darauf reagierte, wie kurz die Wut und Bitterkeit da war. Wie sehr Rans Stimmungen schwankten. Er wollte auch nicht das Thema wieder aufrollen. Das leidige ... wie sie ihre Dinge handhabten.

Die Stimmung schlug etwas um und das war nicht das was er wollte.
 

„Streng dein Köpfchen an. Was passt zum Zuhälter?“, fragte Aya spitzbübisch, aber nur, weil ihnen – wie durch Schuldig auch schon bemerkt – die Situation entglitt. Er sah, welche Ansicht Schuldig da vertrat und wie sehr die mit seiner eigenen kollidierte. Was ihn sich wiederum fragen ließ, ob diese Differenz, diese Kluft zwischen ihnen beiden nicht doch zu groß war, als dass er sie jemals überwinden konnte? Er hatte vollstes Verständnis dafür, dass die Beiden töteten. Das war nachvollziehbar. Doch Vergewaltigung auf diesem Niveau…bestialisch, einfach nur bestialisch. Er verabscheute diese Einstellung.
 

Wieder kroch Wärme in Schuldig und breitete sich stet in ihm aus, denn er hörte aus den Worten, wie Ran, die Stimmung die in die Tiefe fallen wollte, aufgefangen hatte. Er hatte nicht vor, ihn dabei alleine zu lassen.

"Hmm", machte er und zog die Stirn in tiefe Furchen. Er warf einen Blick auf die Uhr.

Nicht mehr lange und sie konnten essen. Er drehte sich um und lehnte sich an die Spüle, verschränkte die Arme.

"Er meinte doch nicht ...Lover Boy?", riet er und grinste anzüglich. Er konnte es einfach nicht lassen.

Trotz des vorherigen Tiefs und der Missstimmung, musste er über diese Bezeichnung lachen.

Er konnte sich Ran in dieser Umgebung kaum vorstellen, dazu war er selbst viel zu besitzergreifend. Doch belog er sich nicht selbst, damit? Gab es nicht tief in ihm etwas, was durchaus diese Form der sexuellen Annäherung interessant fand - in Kombination mit Ran verstand sich.
 

„Nein, meinte er nicht“, log Aya frei heraus, auch wenn man alleine an seiner süßsauren Miene die bittere Wahrheit erkannte. Er schauderte. Was hatte er dieses Thema auch angeregt? „Das Essen schon fertig?“, fragte er unauffällig und linste in die lautstark vor sich hinbrutzelnde Bratpfanne.
 

o~
 

Je kälter es draußen wird, desto hitziger innen.

Wieder geisterte dieser Gedankengang durch seine Gehirnwindungen und verlor sich schlussendlich. Er würde wiederkehren ... sobald er das Tor zu ihren Gefühlen öffnete, ihre Farben einließ und sie ihn überschwemmten. Er mochte nicht alle Farben.

Rot mochte er nicht wirklich. Manchmal war es gut, schmeckte es ihm auch. Aber wirklich mögen ... nein ... das tat er nicht.

Und er konnte diese Farbe auch nie trennen. Ständig vermischten sie sich und ärgerten ihn dadurch.
 

Sie froren...

Und je mehr sie froren, desto mehr erfroren auch ihre Gefühle...

Sie krümmten sich zusammen, ihre Schultern nach vorne gezogen und die Gesichter tief in den Schals verborgen.

Sein Gesicht war nicht verborgen, nur sein Auge.
 

Es war interessant zu sehen, wie sie durch die kleinste Manipulation plötzlich zu einer Fülle von Gefühlen fähig wurden, die zuvor nie da gewesen waren.

Ein berechnendes Lächeln verzog die Lippen minimal.
 

Jei ging weiter die Treppe hinauf, öffnete die Eingangstür und betrat den Aufzug.

Zeit, um zu sehen, wie Schuldig mit diesen neuen Farben zurechtkam, die er sich in die Wohnung geholt hatte. Viel Rot war dabei, aber auch viel Grau und Schwarz.
 

"Aha", kommentierte Schuldig feixend, ging aber auf die Ablenkung ein. Ließ sich aber das Wort noch einmal in Gedanken passieren. .. Lover Boy...

Wieder grinste er während er das Essen abschmeckte.

"Ja, in wenigen Minuten. Der Reis braucht noch etwas."

"Willst du...", wollte er gerade ansetzen, Ran zu fragen ob er den Tisch decken würde, als es klingelte.

Er blickte sich fragend zu Ran um.

Wer?

Noch während des nächsten Wimpernschlages wusste er wer da draußen vor der Tür stand und Einlass begehrte.

"Oh", sagte er wenig aufschlussreich, und nahm die Schürze ab, Ran immer noch anblickend.

War das jetzt gut, oder eher schlecht, dass Jei vor der Tür stand?
 

Aya wusste nicht so recht, was er mit dieser Bemerkung anfangen sollte. ‚Oh’ konnte alles heißen wie ‚Oh der Weihnachtsmann’, ‚Oh, Kritiker’ oder sonst etwas.

Die Augenbrauen gen Haaransatz gehoben, zog er erwartend die Schultern hoch, grub sich tiefer in den Pullover. Angespannter. „Willst du nicht öffnen?“, fragte er skeptisch.
 

"Ja... klar", sagte Schuldig daraufhin etwas fahrig.

Zögernd legte er die Schürze beiseite und drehte den Herd ab, prüfte jedoch vorher noch ob das Essen fertig war. Alles sehr bedächtig. Derweil trat er mit dem ‚Gast’ vor der Tür in telepathische Verbindung. Er hatte nicht vor, sich die Antworten selbst zu holen, dazu waren sie zu komplex im Verstand des Iren.

‚Jei? Bist du alleine hier?'

‚Ja'

‚Machst du deinen Spaziergang?'

‚Ja'

‚Ich habe einen Gast'

‚Das weiß ich'

‚Von Brad? Hat er dir das erzählt?'

Wieder kam die schlichte Bestätigung.

‚Warum bist du hier, Jei?'

‚Nicht, um ihn dir wegzunehmen'

Schuldig ging zur Tür und öffnete sie nach diesen Worten.

"Hi, Zombie", begrüßte er den andern mit einem schrägen Grinsen. Es war eher eine vertraute, freundschaftliche Begrüßung, eine alte Rivalität zwischen ihnen.

"Hi, Luzifer", lächelte Jei, so kalt als glaube Schuldig die Eiskristalle auf dem Mantel wären nicht nur dort sondern lägen auch auf den Lippen und blitzten aus der hellbraunen Iris heraus.
 

So wie es aussah hatte Nagi ihn zu den Festtagen ordentlich angezogen. Vermutlich wusste der Junge, dass Jei fast ausschließlich unterwegs war an diesen Tagen.
 

Auch wenn er es nicht hatte tun wollen, ließ es sich Aya nun nicht nehmen, vorsichtig um die Ecke zu spähen und zu schauen, wer denn nun der ominöse Klingler war. Nur auf eine durchaus bekannte Gestalt zu stoßen, über die sie gerade noch gesprochen hatten. Ayas Herz schlug einen Takt schneller beim Anblick des Iren, als ihm schmerzlich bewusst wurde, dass er nichts bei sich trug um sich im Notfall zu verteidigen. Ausgerechnet Farfarello…ausgerechnet er. Hätte es nicht der Pimp Daddy in Anzug mit Brille sein können? Wieso der Ire? Aya fühlte sich nicht wohl dabei.
 

Jei hatte Schuldigs eisigstes Lächeln imitiert und ließ es kurz nach dem Eintreten achtlos fallen wie den Mantel, den er jetzt dort, wo er stand, von sich schälte und ihn zu Boden gleiten ließ.

Schuldig fiel auf, dass Nagi ihm schwarze Kleidung herausgesucht hatte; sie sahen aus wie die Sachen, die sie ihm kürzlich im Gothic-Store erstanden hatten. Der lange Rosenkranz baumelte ihm am Bauch herum.

Nagi achtete wirklich auf die Details, wie Schuldig anerkennen musste.

Farfarello wäre wohl zwischen den Visual K und den J-Rockern in Harajuku kaum aufgefallen.
 

Jei ging zielstrebig in die Küche, ohne Halt zu machen und postierte sich vor Ran, ohne ihn anzusehen. Er blickte durch ihn durch.

"Schwarz steht ihm nicht, Violett auch nicht", sagte er ruhig.

"Löse nicht noch einmal Violett in ihm aus!" Jetzt fixierten sich die Augen in die von Ran und er wandte sich ab.
 

Aya runzelte die Stirn, versuchte sein allzu bereitwillig schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Innerlich jedoch schnaubte er. Wenn er Schuldig farbenfrohe Hämatome verpasste, dann war das seine Sache und nicht des Iren. Er selbst sah schließlich auch nicht besser aus.

„Dir auch fromme Weihnachten“, soufflierte er dem Rücken des weißhaarigen Mannes entgegen, erhob sich einen Augenblick später und warf einen Blick zu Schuldig. Warum hatte der andere Mann ihn nicht vorgewarnt? Nun... genau das hatte er mit seinem wenig aufschlussreichen ‚Oh’. Sein Blick glitt über die sehnige Statur des Iren. Ein Zombie also. Und Schuldig Luzifer. Und ob das passte.
 

Jeis Silberblick lag auf dem Rothaarigen, als er sich so setzte, dass er am Fenster saß und die Küche gut im Blick hatte.

‚Wie schnell das Herz gleichmäßig und ohne stocken schlagen konnte wenn man Angst hatte, nicht wahr?’

Ausdruckslos war die Mimik und Jei saß ruhig da, als wäre er ein bloßes Anschauungsstück in einem Museum. Doch er lauschte, ließ die Emotionen des Mannes neben Schuldig durch sich fließen, kombinierte anhand ihrer, was die letzten Tage wohl geschehen sein mochte.
 

Schuldig hatte den Blick von Ran aufgefangen und lächelte entschuldigend.

"Er ist wohl nur vorbeigekommen um zu sehen ob alles in Ordnung ist."

Er hätte jetzt am liebsten zu Ran gesagt, dass er sich beruhigen sollte, in Gedanken, nicht mit Worten, doch das war vergebens, also versuchte er es mit einer kleinen Berührung, als er neben ihn trat und das Geschirr aus dem Schrank nahm.

"Hast du etwas gegessen, Jei, bevor du aus dem Haus gegangen bist?"
 

"Ja"

"Wann war das?", fragte Schuldig geduldig.

"Es war noch dunkel"

"Hast du Hunger?"
 

Jei legte den Kopf schief und seine Hand fuhr automatisch auf seinen Bauch. Ihm war schlecht, wie ihm jetzt auffiel.

"Ich denke ja."
 

Mit Erstaunen im Blick sah Aya den beiden Männern zu, schwieg jedoch vernehmlich. Vermutlich hatte er mit seiner Entscheidung auch gelegentliche, unerwünschte Auswirkungen mit auf sich geladen, die sich in Form eines hungrigen Iren auftaten, der - wie Crawford auch – gekommen war um nach dem Rechten zu sehen.

Aya fragte sich allen Ernstes, ob sie ihn für so gefährlich oder Schuldig für so unfähig hielten, dass sie ihn ständig überwachen mussten.
 

Aber gut. Er warf einen Blick auf die Köstlichkeiten hinter sich und stellte fest, dass auch er Hunger hatte.
 

Nachdem Schuldig einen kleinen Rundgang durch die Wohnung absolviert hatte um kleine Lampen anzuschalten und für musikalische Untermalung mittels Jazz zu sorgen, kam er wieder zurück und verteilte das Essen in Schüsseln die er auf den Tisch stellte, dazu drei Schalen, Besteck und Stäbchen legte.

Er füllte Jeis Schale mit etwas Reis, einer großen Portion Gemüse und Fleisch dazu. Daneben stellte er ein Glas Wasser.
 

Aya wohnte der ganzen Zeremonie schweigend bei und fragte sich unwillkürlich, ob zwischen Schwarz nicht eigentlich noch mehr Enge herrschte als zwischen Weiß. So wie sie alle miteinander umgingen, konnten sie alle in einer großen, harmonischen Ehe leben.

Er setzte sich gemächlich an die Theke und nahm sein Gegenüber ungeniert in Augenschein. Die feinen wie auch wulstigeren Narben, die sich durch das bleiche Gesicht zogen. Die schneeweißen Haare…das Bernsteinauge.

Was hatte den Iren so tödlich gemacht?
 

Die auf ihn gerichteten Blicke fanden ihn interessant wie es schien. Noch bevor er zu Essen begann, wie es von ihm erwartet wurde, krochen seine Augen die Tischplatte entlang, schweiften über die Brust des Rothaarigen, bis hinauf zu den Lippen, und dann ... einen Wimpernschlag später in die Augen.

"Du hast Dämonenaugen", sagte Jei ruhig und fing an zu essen.
 

Schuldig hielt kurz die Luft an und tat einfach so als hätte er nichts gehört. Er lächelte zweifelnd zu Ran und reichte ihm den Reis.
 

Den dieser stirnrunzelnd, jedoch kommentarlos annahm. Dämonenaugen also. Ein Lächeln umspielte ungewollt Ayas Lippen, brach sich schließlich zu einem amüsierten Schnauben. Farfarello war kein Mann langer Reden, wie es schien. Doch wenn er etwas sagte, dann hatte das mehr Bedeutung als manches Geplänkel, das ihm Crawford geboten hatte. Er schüttelte ungläubig den Kopf.

„Dann passe ich ja in diese illustre Runde, wie schön.“
 

Schuldig fing an zu essen und tat so als beachte er die zwei nicht mehr wirklich. Gefahr ging von Jei heute nicht aus, er hielt sein Wort, aber er machte manchmal seltsame Auslegungen seiner Worte, deshalb sollte man dennoch etwas Vorsicht walten lassen, wie Schuldig befand.
 

Jei aß wie immer alles auf, was man ihm hinstellte. Sein Blick fiel auf die Serviette die neben dem Besteck lag. Er berührte das leblose Ding, drehte es herum und betrachtete es sich genau.

Danach wandte er den Kopf zu Schuldig. "Soll ich noch mehr essen?“
 

Aya ließ Farfarello keinen Moment aus seinem Interessenfokus, als er die einzelnen irischen Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenfügte. Aus dem ihn ein Eindruck wie ein Springteufel entgegen kam.

Farfarello, der, im Kampf so ruchlos und blutrünstig, sich nicht um die Bedürfnisse kümmerte, die er als unnötig erachtete. Essen. Ein gutes Beispiel. Was für einen Grund hatte er sonst zu fragen, ob er noch etwas essen sollte?

Das meinte Schuldig also vorhin. Alleine würde der Gute vermutlich verhungern, weil er seine Welt auf Dinge fokussierte, die sich nicht auf elementare Bedürfnisse beriefen. Interessant. Ein gebrochenes Kind. Seinem Herrn hörig und doch frei in einer Welt, die sein Eigen war.
 

Seine Augen saugten sich an den blassen Händen fest, die so unnachgiebig Dolche führten.
 

Schuldig legte seine Essstäbchen beiseite, überging das Starren von Ran und füllte Jeis Schale erneut auf.

"Ja, du solltest noch etwas essen, schließlich ist der Weg zurück lang."

Er stellte die Schale ab und wollte sich seinem eigenen Essen widmen als das Telefon klingelte.

"Entschuldigt." Er stand auf, angelte auf der Couch nach dem Telefon und nahm ab.
 

Jei sah wieder in sein Essen, die Schale, die wieder aufgefüllt war. Langsam hob er den Blick wieder in der gleichen müßigen Geschwindigkeit wie zuvor und fixierte lauernd den Beobachter.

"Du meinst, weil er es mir gibt, dass ich es nicht selbst kann?"

Er lächelte etwas, wieder eine Imitation, die er von Schuldig hatte. Er mochte es, wenn dieser lächelte, denn es war nicht immer echt. Und Jei hatte noch nicht herausgefunden wann dieses Lächeln zu den Gefühlen passte, die Schuldig dann hatte. Er war ein überquellendes Studienobjekt.
 

Aya spiegelte dieses Lächeln und fischte sich eine weitere Portion Gemüse aus der Pfanne. Wie auch Farfarello ließ er sich ebenso Zeit für die Antwort, sinnierte über seine vorherigen Betrachtungen.

„Du willst es nicht. Du kannst es, überlässt es aber anderen, daran zu denken, weil es zu unwichtig ist“, erwiderte er und widmete sich weiter seinem Essen. Kam allerdings nicht umhin, die Skurrilität dieser ganzen Situation zu bemerken. Auch wenn er sich nicht sicher war, nicht gleich mit einer Gabel aufgespießt zu werden.
 

„Das…“, begann Aya und sah wieder hoch. „...ist sein falsches Lächeln. Dann, wenn er etwas verbergen will.“ Er selbst lächelte auch. Ehrlich.
 

"Verbergen?" Jei legte den Kopf leicht schief, stellte das Lächeln ein. "Was soll er denn vor mir verbergen?"

Der Mann war interessant ... sehr sogar.

"Sind alle bei euch so interessant wie du?", fragte er, ehrlich Interesse zeigend.
 

„Was sollte er nicht vor dir verbergen?“, stellte Aya die ruhige Gegenfrage. Eine Augenbraue hob sich und violette Dämonenaugen taxierten den Iren. Aya war sich nicht sicher, wie er dessen zweite Frage auffassen sollte. Interessant? Was bedeutete für Farfarello interessant? Auch wenn dieser eher aus kindlicher Neugier gefragt hatte…so lautete zumindest Ayas Instinkt. Doch in was auch immer das umschlagen mochte…

„..nein. Niemand. Nur ich.“
 

Jei blickte den Mann immer noch an. "Die Frage sollte lauten: Was könnte er vor mir verbergen?" Jei richtete seine scheinbare Aufmerksamkeit auf sein Essen, es wirkte als habe er das Interesse verloren.

Doch seine Gedanken richteten sich in verheißungsvolle, neue interessante Gebiete.

Wer würde schon von sich aus sagen, dass er interessant ist? Der Weiß würde es nicht, es sei denn er schützte jemanden.

Ein Lächeln wie es Brad oft auflegte erschien auf dem Gesicht.
 

Und schon wieder war es jemand anderes, dessen Mimik Aya nun sah. Als wenn er verfehlen könnte, wer das war.

„Ist es einfacher, das Lächeln der Anderen zu kopieren? Oder besitzt du kein eigenes?“, fragte er und haftete sich wie giftiges Efeu erneut an der Gestik und Mimik des Iren fest. Er legte seine Stäbchen beiseite und richtete sich auf, ließ seinen Rücken durchknacken. Eines bereitete ihm Sorgen. Es war Crawfords Zufriedenheit, die sich im Gesicht Farfarellos widerspiegelte. Zufriedenheit über was? Dass er seine volle Aufmerksamkeit nun auf Weiß richten konnte? Das würde Aya nicht zulassen. Er war noch immer für sein Team zuständig.
 

"Wie entsteht ein Lächeln?", fragte Jei und richtete seinen Blick wieder auf Ran, langsam kauend.

Natürlich wusste er wie ein Lächeln entstand. Aber es war interessant ... dieses Gespräch.
 

Aya dachte über die Worte des anderen Mannes nach. Wie entstand ein Lächeln? Eine gute Frage…wirklich gut. „Durch Emotion. Muskeln kontrahieren und ziehen die Mundwinkel nach oben. Wenn man etwas Bestimmtes damit ausdrücken möchte.“
 

"Wie einfach es doch ist, Antworten auf Fragen zu finden", sagte Jei und hielt das Gespräch für beendet.

Er aß weiter während Schuldig im Hintergrund noch immer telefonierte.
 

Einfach….nein, das war es nicht. Die Antwort auf ein Lächeln war nie einfach. Warum lächelten Menschen? Er wusste es nicht, schien es doch nur natürlich, das zu tun. Schier angeboren…oder auch nicht. Manche Menschen lächelten wenig, oder gar nicht. Oder aufgesetzt, falsch…

Sein Blick glitt nach hinten, sah dort, wie Schuldig das Gespräch beendete und wieder zu ihnen kam. Dafür, dass es sonst so still in dieser Wohnung war, war seit Farfarellos Ankunft sehr viel Terz. Aya fragte sich, wer das wohl gewesen war.
 

Schuldig setzte sich wieder und nahm sich nachdem er den ausgekühlten Rest aufgegessen hatte, noch einmal nach.

"Und? Habt ihr euch prächtig unterhalten?", fragte er in die kleine Runde und lächelte wissend.

Wie sollte man sich mit Farfarello prächtig unterhalten, dachte bestimmt Ran.

Er ignorierte den fragenden Blick des Mannes nach dem Telefonat. Es würde diesem sicher nicht gefallen, mit wem er telefoniert hatte.
 

Aya überließ Farfarello die Antwort und richtete seinen Blick aus dem Fenster des Lofts. Schneegestöber tobte draußen, färbte den Himmel leicht rötlich ein. Jetzt hatte er doch tatsächlich vergessen, die gebackene Banane zum Nachtisch zuzubereiten. Na so was…was so ein plötzlicher Besuch alles anrichten konnte. So konnte er sich wenigstens auf die wichtigen Dinge konzentrieren…die Beerdigung seiner Schwester. Welch ein hässliches Thema.
 

Farfarello hatte sein Mahl beendet und saß wieder ruhig an seinem Platz beäugte Ran wie ein Tier im Zoo.

Schuldig fand die Situation einerseits komisch, andererseits wieder nicht. Jei war niemand über den man lachen konnte ... oder auch sollte.
 

Jei stand auf, ging um Schuldig herum, der sich gerade noch etwas zu Trinken nachschenkte und stellte sich hinter Ran. Schuldig stellte langsam die Flasche ab, sehr genau darauf bedacht was er tat und sofort in den Gedanken des Iren. ‚Jei, du rührst ihn nicht an.'
 

Doch dieser beugte sich dichter an den Mann heran, störte sich nicht an dessen minimalen Bewegungen, wirkte so als nehme er den Geruch von Ran auf. Doch vielmehr hatte ihn der Wandel in den Gefühlen des Mannes erstaunt. Diese Tiefe, mit der dieser seine Gefühle in seinen Augen ausdrückte. Und mit seinem Annähern hatte er wiederum eine Veränderung bewirkt. Interessant.
 

Eine Veränderung, die ihr Träger selbst aber noch nicht bemerkt hatte. Zu tief war er in Gedanken, um die Warnung seines Unterbewusstseins wahrzunehmen, das ihn auf den Iren aufmerksam zu machen versuchte.

Wie gerne würde er sich noch von ihr verabschieden…die letzte Nacht bei ihr verbringen und ihre Hand halten…in Erinnerung an ‚alte Zeiten’. Aya lachte innerlich bitter auf. Alte, schreckliche Zeiten. Doch was brachte es, sich zu wünschen, dass es anders gekommen wäre? Gar nichts. Die Gegenwart war geschehen und würde sich nicht mehr ändern.
 

Er tauchte auf aus seinen tiefdunklen Gedanken und blinzelte. Er bemerkte, dass der Ire nicht mehr an seinem Platz saß. War er schon gegangen? Aber so tief war er doch nicht versunken gewesen…Aya warf einen Blick auf Schuldig und wusste im ersten Moment, dass etwas nicht stimmte. Der Telepath wirkte völlig angespannt und auch sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes…ebenso wenig wie Ayas Gefühl selbst.
 

Da war etwas. Gefahr. Hinter ihm. Wer es war, brauchte Aya sich kein zweites Mal zu fragen. Er dreht sich bedächtig um, langsam. Ihm war unwohl. Zurecht, wie er feststellte. Farfarello, nicht mal eine Handlänge von ihm entfernt.
 

Doch dieser richtete sich just in diesem Moment wieder auf.

"Ich gehe", beschloss er leise und ging zum Ausgang, öffnete bereits dir Tür, als Schuldig hinter ihm herkam und ihn aufhielt. Er kannte die Aufgewühltheit die er hinter sich nachkommen spürte. Das konnte nur Schuldig sein.

"Warte. Dein Mantel." Schuldig hob ihn auf und Jei ließ sich das Kleidungsstück anziehen. Danach ging er ohne ein Wort.
 

Schuldig wandte sich um, schloss die Tür und kam zu Ran zurück.

"Man, der kann einen ganz schön auf Trab halten", stöhnte er als habe er gerade Babysitting für fünf kleine Racker gemacht.
 

Aya nickte mit immer noch unverständigem Blick. Was gerade eben das sollte…er wusste es nicht. War er wirklich interessant für den Iren? Interessant geworden? Na das hoffte er nicht. Aber da hatte er doch jemanden, der ihm das hoffentlich genauer sagen konnte.

Er lehnte sich an die Tischkante und fixierte Schuldig prüfend.

„Wenn Farfarello etwas interessant findet…wie äußert sich das dann?“
 

Schuldig stahl sich noch ein Stück Fleisch aus der Schale und grübelte. "Schwer zu sagen. Kommt drauf an wie groß das Interesse ist. Schlimmer ist es eher glaube ich wenn er kein Interesse an einer Sache hat, falls du das wissen willst."

Wieder wanderte ein gestohlenes Stückchen in seinen Mund. Hatte er nicht schon genug gegessen?
 

„Welche Abstufungen gibt es da bei ihm? Wie drückte er das dann aus?“, hakte Aya nach. Ihm wäre momentan wirklich lieber gewesen, wenn der Ire kein Interesse an seinem Team gezeigt hätte. Er runzelte die Stirn. Der Bonsai konnte auch mal wieder etwas Pflege gebrauchen, so vertrocknet, wie er aussah.
 

"Das ist nicht so einfach, Ran. Er hat seine eigenen Kriterien. Aber er macht selten etwas ohne unser Wissen."

Schuldig nahm Ran näher in Augenschein. "Machst du dir Sorgen um deine Leute? Ich frag nur ... weil er weiß ..."

Er verstummte, senkte den Blick auf sein Essen.
 

„Ja, mache ich…“…weil ich nicht bei ihnen sein und auf sie aufpassen kann, ergänzte er in Gedanken und seufzte schwer. Alles vertrackt. Diese Sache bereitete ihm kein gutes Gefühl. „Woran orientieren sich denn diese Kriterien? Was weiß er?“ Er schien da ja relativ glimpflich von verschont geblieben zu sein, so wie Farfarello von ihm abgelassen hatte. Wäre das doch der beste Weg gewesen, sich seiner zu entledigen…so wie er gerade in Gedanken gewesen war.
 

Schuldig löste den Haargummi, dachte ernsthaft nach. "Gar nichts denke ich. Wir wissen jedoch auch nicht wie hoch sein Intellekt ist, wie viel er mitbekommt, wie viel er hört. Er spiegelt uns nichts wieder, in keiner Äußerung und wenn er redet, dann klingen seine Worte als habe er sie sich sorgfältig zurechtgelegt, einstudiert. Ich denke er weiß, dass ich sehr böse werde wenn er etwas tut was mir missfällt. Deine Leute anzugehen, würde dich ... wie sagte er ... traurig machen ... und mich dadurch äußerst zornig."

Er fuhr sich durch die Haare, winkelte seinen Arm an und stützte seinen Kopf darauf, blickte Ran unverwandt an.

Damit wollte er sagen, dass Jei genau wusste, dass Ran in Schuldigs Besitz war und somit unantastbar. Was die Freunde von Ran anging ... so hatte Schuldig sich ... etwas künstlerische Freiheit erlaubt.
 

Aya nickte schweigend, dadurch keinesfalls beruhigt. Aber Weiß konnten sich auch alleine verteidigen, auch ohne ihn. Oder? Sie brauchten ihn nicht in allen Lebenslagen…er war schließlich nur da gewesen, um ihr chaotisches Miteinander, das sowohl im Privaten als auch auf den Missionen herrschte, etwas zu glätten. Nicht um sie vor allen Gefahren, die ihn auflauern mochten, wie ein strahlender Ritter in glänzender Rüstung zu beschützen. Nein, das konnten sie wahrlich selbst.
 

Sein Blick ruhte auf der Pfanne, kehrte dann wieder zurück zu Schuldig. „Kann ich dein Telefon benutzen? Ich möchte noch einmal beim Bestattungsinstitut anrufen“, fragte er aus heiterem Himmel, ließ aber außen vor, was er plante.
 

Schuldig fing an abzuräumen. "Natürlich, du kannst hier alles benutzen", sagte er leichthin. Die Zweideutigkeit erst bemerkend als er die Schüsseln zur Spülmaschine trug.

Oh man ... er sollte sich mal wieder austoben, sonst rutschten ihm womöglich noch öfter solche Sachen raus und das auch noch in den Momenten, die extrem unpassend für derlei waren.

Aber vielleicht hatte Ran das gar nicht so aufgefasst...
 

Hatte er wirklich nicht. Nicht im Geringsten bewusst, dass er sich auch Schuldig selbst zunutzen machen konnte, wie es ihm beliebte, nickte Aya und erhob sich, strebte das Telefon an. Suchte schließlich in der Tasche seines Mantels nach der Nummer des Institutes. Wählte sie schweren Herzens. Das war nicht, was er unter einem traditionellen Begräbnis im Kreise der Familie verstand. So, wie sie es bei seinen Großeltern getan hatten. Zeremonien, von Mönchen vorgelesene Sutren…dreitägige Trauerfeiern…das fehlte hier alles…alles war einem modernen, kalten Japan zum Opfer gefallen.
 

Wie er das hasste. Nein, die letzte Nacht wollte er bei ihr verbringen. Alleine.
 

Er sprach leise mit dem zuständigen Bestatter und erlangte nach kurzer Erklärung auch dessen freundliches Verständnis für seine Bitte. Er könnte kommen, wann er wollte, hatte der Mann gesagt. Jetzt sofort oder auch in drei Stunden, das was völlig egal. Sie würden ihm seine Bitte erfüllen. Aya war erleichtert.
 

Die Spülmaschine rumpelte an ... nun ja ...es hörte sich eher sehr leise an, aber für Schuldig hatten diese Maschinen immer etwas mit Krach zu tun. Er kam in den Wohnraum, bemerkte wie Aya den Zettel noch in der Hand hielt und holte sich seine Zigaretten, ging in den Schlafbereich hinüber, die Terrassentür öffnend. Leiser Jazz erfüllte noch immer den Raum und er fühlte Ruhe in sich kehren.
 

Aya beendete das Telefonat und warf einen Blick hinüber zur geöffneten Tür. Er erhob sich langsam…in der Absicht, Schuldig mitzuteilen, dass er für ein paar Stunden das Loft verlassen würde. Einfach so zu gehen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, schien ihm…nicht richtig. War er doch zu gewohnt, sich bei seinem Team abzumelden. Zumindest, nachdem Youji ihm das eingebläut hatte. Auf seine gewohnt charmante Art und Weise.
 

Er stellte sich zu Schuldig auf die Terrasse und sah den weißen, schneedurchsetzten Rauchschwaden hinterher, die sie beide produzierten.

„Ich habe sie gerade um einen Termin gefragt…und werde gleich hinfahren.“
 

Schuldig blies den Rauch aus, blickte in die Ferne.

"Warum ... so offiziell?", wollte er wissen. Lag es daran, dass Ran nicht mehr bei Kritiker war? Eigentlich schon noch war, nur hatten sie kein Druckmittel gegen ihn, aber sicher stand er noch auf ihrer Liste.

"Meinst du die Umgebung um das Institut ist sauber?", fragte er ruhig, über die Situation nachdenkend. Lauerte vielleicht ein Kritikeragent im Institut, wohlweißlich, dass Ran dort noch auftauchen würde?

Oder morgen bei der Verbrennung? Es gab viele Möglichkeiten wo sie ihm auflauern konnten.
 

„Weil ich es so wollte.“ Deswegen offiziell. Weil er sich nicht durch die Hintertür hineinschleichen wollte. Aya war seine Schwester und er hatte ein Recht, sie zu sehen…doch Schuldigs laut ausgesprochene Bedenken zeigten ihm etwas auf, das er bisher nicht mehr hatte bedenken wollen. Kritiker.
 

Er lehnte sich gegen das eiskalte Geländer und ließ seinen Blick in die Tiefe fallen. Wie klein doch alles von hier oben aussah…wie unwichtig. „Sie sind da, da bin ich mir sicher…ich werde sie wohl irgendwie umgehen müssen. Mal sehen.“
 

Vor sich hinbrütend nahm Schuldig erneut einen Zug. "Das geht schief, Ran", sagte er unumwunden nach einigen Minuten der Bedenkzeit. "Die können dir im Institut auflauern und du hast keine Ruhe", knirschte er mit den Zähnen, stützte sich mit den Unterarmen am Geländer ab, sichtbare Sorge in den Zügen, nur verbergend in dem er sich die Stadt ansah.
 

„Wird es wohl“, nickte Aya bestätigend. Er verstummte, verweilte mit seiner Aufmerksamkeit und seinen Blicken weiterhin auf der beleuchteten, nie still stehenden Stadt. „Das wird es wohl…“ Hatte er sich je vorstellen können, wieder aufs Land zu ziehen? In die traditionelle Welt des alten Japans? Dort, wo seine Familie herkam, bevor sein Vater die Arbeit in Tokyo bekommen hatte? Wo er sich seine eigene Firma aufgebaut hatte?
 

Wäre ihnen all das erspart geblieben, wenn sie weiterhin ein schlichtes, von Riten und Religiosität und der alltäglichen Arbeit in ihrer kleinen Stadt geprägtes Leben geführt hätten?
 

"Und was gedenkst du dagegen zu tun?"

Schuldig machte die Ruhe des Anderen unruhig. Ran hatte vorhin angedeutet, dass er alleine dort hin gehen wollte, er hatte ihn nicht gefragt ob er mit wollte.

Wie sollte er hier in aller Gelassenheit warten, wenn er wusste, dass Ran sich diesen Typen aussetzte? Äußerlich blieb er gelassen, doch die Augen spiegelten die Aufruhr wieder, als er das Gesicht frei von Maskerade zu Ran wandte.
 

Aya wandte seinen Kopf ebenso zur Seite, wollte Schuldig mit einem gleichgültigen Schulterzucken begegnen, seufzte dann jedoch, als er dessen völlig ungeschütztes, ehrliches Gesicht vernahm. Die feinen Töne der Sorge, die zu ihm herüber schwangen. So fein, dass sie ihn beinahe überrollten vor lauter Fürsorge.

„Reingehen, gegen sie kämpfen und mich von ihnen töten lassen?“ Er zuckte mit den Schultern, lachte dann bitter. Machte deutlich, dass das nicht wirklich seine Endlösung war. „Es sei denn, du könntest mir helfen.“
 

Sollte er verschweigen, dass er so und so geholfen hätte? Egal wie Ran sich entschieden hätte?

Ja. Ein klares Ja. Er würde es verschweigen.

"Ja könnte ich."

Er wandte sich um, bot Ran eine Zigarette an. "Sorry", sagte er, da er völlig vergessen hatte, ihm eine anzubieten, da Ran hin und wieder rauchte, wie er nun wusste.

"Soll ich warten, oder dir die Typen vom Hals schaffen und ... naja später hol ich dich wieder ab?" Er dachte darüber nach, wie sie das am Besten lösen könnten.
 

Aya lehnte dankend ab. Nickte schließlich. „Ja…das wäre eine Möglichkeit“, erwiderte er, auch wenn er tief in sich wusste, dass das keine Dauerlösung war. Kritiker würden nicht müde werden nach ihm zu suchen und er konnte sich nicht immer abhängig von Schuldig machen. Das ging nicht. Er musste lernen, selbst mit dem Problem klar zu kommen, doch er wusste im Moment wirklich nicht, wie. Es ging einfach nicht.
 

"Du willst gleich los? Kann ich mich noch umziehen, ich werde dann noch Freunde besuchen, während du bei deiner Schwester bist."

Schuldig ging hinein, legte sich bereits Kleidung heraus. Lederhose, Hemd Mantel.
 

Aya folgte dem Deutschen ins Apartment und zog die Tür zu, wartete dann geduldig darauf, dass der andere Mann fertig wurde. Es war schwer vorstellbar, dass Schuldig außer Schwarz noch Freunde hatte…hatte er doch immer von Weiß aus geschlossen, dass sie nach außen hin keine schlossen…um sich abzusichern…keine unnötigen Bindungen aufzubauen.

Er streifte sich Stiefel und Mantel über und starrte stumpfsinnig an die Tür.
 

Mit einem entschuldigenden Lächeln ging Schuldig noch schnell ins Bad, seine "Freunde" wollte er nicht all zulange warten lassen.

Kurz darauf kam er wieder, griff sich die Wagenschlüssel und seinen Mantel.
 

Aya kämpfte sich mehr schlecht als Recht durch die folgende Prozedur des Gefahrenwerdens, des Beobachtens und Ablenkens der Kritikeragenten. Er hatte nur eines vor Augen und das war kein schönes Bild. Der Bestatter hatte ihn vorgewarnt, wie seine Schwester aussehen würde. Nicht so, wie er sie noch vor einem Tag in Erinnerung hatte. Vom Tod gezeichnet…

Doch was machte das? Wusste er denn nicht schon längst, dass genau das unvermeidlich war? Aya zog sich mit Gewalt wieder in die Realität zurück. Sah zu Schuldig.
 

Dieser hielt den Wagen an, nickte Ran zu. "Sind weg, ich hab ihnen einen posthypnotischen Auftrag erteilt, die kommen so schnell nicht wieder. Sei trotzdem wenn du raus gehst wachsam. Aber drinnen bist du sicher vor ihnen. Warte einfach drinnen auf mich, ja?"

Er tastete noch einmal das Gebiet ab.

"Wann soll ich dich abholen?"
 

Eine schwierige Frage für Aya. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er selbst den Zeitpunkt hätte bestimmen können, wann er gehen wollte. Doch das war die Gegenleistung für den Schutz, den Schuldig ihm bot. Er nickte langsam. „In…vier, fünf Stunden?“, entgegnete er fragend. Vielleicht reichte das aus, um sich zu verabschieden…endgültig. Was für ein hässliches Wort…endgültig…wie hässlich.
 

"Hast du dein Handy dabei?", fragte Schuldig, als er bemerkte, dass es Ran schwer fiel diese Frage zu beantworten.

"Ruf mich auf meinem an, die Nummer haben wir ja eingespeichert. Dann kannst du gehen wann du willst."

Er suchte sein eigenes aus dem Handschuhfach heraus und steckte es sich in die Innentasche. So was brauchte er eigentlich nicht. Nur für bestimmte Leute, die nicht wussten, dass er Telepath war, wie seine Freunde zum Beispiel oder wie jetzt Ran.
 

Aya bejahte die Frage des anderen Mannes. War erleichtert ob diesem Entgegenkommens. Seine Augen suchten die des Telepathen. „Danke“, nickte er schließlich und öffnete die Tür, ließ seinen Instinkt über die dunkle, stille Gegend schweifen. Nichts…hier schien keine Gefahr zu sein.

Er wandte sich um und ging zum Eingang, klingelte. Offiziell, wie Schuldig gesagt hatte. Versuchte, Normalität in sein Leben hineinzubringen.

Ein Angestellter öffnete ihm und bat ihn freundlich hinein. Er nickte und ließ sich hineinführen. Zum Büro des Bestatters selbst.
 

Schuldig wartete bis Ran im Institut verschwand und fuhr dann zu seiner Verabredung.
 

Eine halbe Stunde später trat er aus dem Aufzug eines Clubs der über mehrere Etagen ging, er erklomm weiteren Stufen in die oberste Wohnung. Die Tür wurde von einer Japanerin geöffnet, ein fließendes schwarze Abendkleid umschmiegte ihren Körper.

"Ahh", raunte sie "du bist schon hier."

Sie legte ihre schlanken Arme um seinen Nacken und küsste ihn verlangend. Schuldigs Blick streifte ihren Mann der näher kam, die Tür schloss.
 


 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Fortsetzung folgt wie immer ^^
 

Coco&Gadreel

Stille Wasser sind tief … und dunkel…

~ Stille Wasser sind tief … und dunkel… ~
 


 

o~
 

"Hey."
 

Ayas leises Murmeln hallte durch die kleine, abgetrennte Kabine, in der seine Schwester lag. Es war kalt hier, trotz der einsamen Kerze, die noch brannte, die sie vermutlich extra wegen ihm angezündet hatten. Oder auch nicht. Vielleicht sollte sie der Toten das Licht sein, das den Weg wies…hinein in eine bessere Existenz.

So kam es Aya zumindest vor, als er neben ihr stand und auf sie nieder schaute. Auch wenn er es nicht schon vorher gewusst hätte, hätte er sie für tot gehalten. Hier war kein Leben mehr, das war deutlich. Ihre grauwächserne Haut, die eingefallenen Wangenknochen, die blassen

Lippen…Anzeichen einer Toten, einer leeren Hülle.
 

Aya berührte seine Schwester, strich ihr über die Stirn. Es war, als könnte er die Kälte des Schädelknochens durch die Haut hindurch fühlen. Er strich ihr die Haare zurück, die lange, schwarze Mähne. Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, setzte sich schließlich neben sie und legte seine warmen Hände auf ihre eiskalten.

Gedankenverloren streichelte er ihre Fingerknöchel, während er für lange Zeit blicklos in die Luft starrte.
 

"Weißt du, Aya. Ich habe solange für dich gekämpft. Ich habe immer gehofft, dass du aufwachst. Ich habe dich beschützt. Dich zurückgeholt. Aber jetzt bist du weg. Jetzt...bin ich alleine." Aya bemerkte erst, dass er weinte, als er das kurzzeitig schwere Gewicht der Tränen auf seiner Jeans fühlte. Immer schneller tropften sie auf den Stoff der Hose, der zitterte. Nein…er zitterte.

"Aber ich mache dir da keinen Vorwurf daraus", redete er weiter, immer noch auf das Mädchen fixiert, was dort lag. Reglos, leblos, ohne Leben. Nicht mehr bei ihm. "Vielleicht musste es so sein, vielleicht ist es besser so, wer weiß das? Vielleicht hast du unter dem Koma gelitten und bist nun frei…frei zu gehen. Du bist zu unseren Eltern gegangen, oder?"
 

Aya verstummte für einen Moment. Er konnte nicht weiter sprechen, hatte zum Schluss hin nur noch geflüstert.

"Ich liebe dich, Aya. Du weißt, dass du immer meine liebe, kleine Schwester warst, nicht wahr? Du weißt, dass ich das nicht wollte, dass ich dich nie alleine lassen wollte. Und doch...doch habe ich es getan. Aber das verzeihst du mir doch, oder? Bitte…"
 

Aya presste seine Hand vor die Lippen, brachte sich selbst zum Schweigen.

Das Bild seiner Schwester verschwamm, wurde unscharf, als sich zu viele Tränen in seinen Augen ansammelten. Sie fielen schließlich wie eine Festung unter dem Ansturm der Eroberer.

"Ich bin bei Schuldig, weißt du? Ich denke…es wird irgendwann besser werden.

Aber ich werde dich nicht vergessen! Ich werde auch zu euch kommen…dann, wenn es Zeit ist, ok? Nicht jetzt. Ich kann noch nicht. Ich will noch nicht.

Ich habe nicht die Kraft dazu. Aber das würdest du auch nicht wollen, oder?

Du wolltest immer, dass wir alle leben. Dass wir glücklich sind.

Was meinst du, soll ich es versuchen?"
 

Aya verstummte erneut. Bettete seinen Kopf an ihre kalte Seite. Schloss die Augen. Er weinte lautlos, verzweifelt über die Erinnerungen. Er sagte ihr immer und immer wieder, wie sehr er sie doch liebte und wie leid es ihm tat, dass er ihr nicht beistehen konnte. Dass er nicht mehr hatte tun können, nicht mehr getan hatte.

Er sprach leise mit ihr, murmelte, flüsterte. Schluchzte.

"Ist das Leben, Aya?", fragte er sie. "Kann ich so leben?"
 


 

Aya wusste nicht, wie lange er bei ihr gesessen hatte, als er schließlich aufstand und ihr einen letzten Kuss auf die Stirn hauchte. Ihr noch einmal die Haare glatt strich und über die Fingerknöchel fuhr.

Er verbeugte sich vor der stummen Gestalt. Eine letzte Ehrung ihrer Person, ein Wunsch, dass sie es dort gut hatte, wo sie sein mochte.

Er drehte sich um und warf einen Blick auf die einsame Kerze, die im seichten Zug flackerte. Er blies sie sanft aus und verließ den Abschiedsraum. Schloss die Tür hinter sich. Sie brauchte keinen Wegweiser mehr. Sie war am Ziel ihrer Reise.
 

Aya atmete tief durch.
 

Er griff zu seinem Handy und wählte Schuldigs Nummer.
 


 

o~
 


 

Eine dreiviertel Stunde später hielt Schuldig vor dem Institut um Ran abzuholen. Ein prüfender Blick in den Spiegel zeigte ihm wiederholt, dass die letzten Stunden keine verräterischen Spuren hinterlassen hatten.

Er fühlte sich ausgeglichen und entspannt, ganz anders als noch vor dem kleinen Tête-à-tête mit Kim und Toshi. So musste er nicht ständig Ran anstarren, als würde er ihn jeden Moment die Kleidung vom Leib reißen wollen. Es war ohnehin schon schwer, neben diesem Mann zu liegen ohne ihn anfassen zu dürfen.
 

Aya sah mit Erleichterung, dass Schuldig endlich da war. Er löste seine eng um den Oberkörper geschlungenen Arme und öffnete die Autotür, stieg schließlich schweigend ein. Er konnte momentan nichts sagen, es ging einfach nicht. Zu sehr war er noch in einer anderen Ebene gefangen, in die er sich in den letzten Stunden gestürzt hatte. Er schnallte sich an. Er würde sich später bei Schuldig bedanken, dass dieser ihn abgeholt hatte.

Später…nur nicht jetzt. Später.
 

Schuldig beobachtete den Mann aus dem Augenwinkel um herauszufinden, wie es ihm ging, da er nicht in die Gedanken des Mannes dringen konnte. Er musste sich wieder umstellen.

Doch er schwieg, die verschlossene Miene richtig deutend, fuhren sie zurück zur Wohnung.
 

Aya hätte es nicht gedacht, doch er akklimatisierte sich schneller als gedacht. Er tauchte schneller als erwartet aus seinen trüben Gedanken wieder empor in die Realität, die ihn mit einer schweren, damenhaften Süße begrüßte, welche das gesamte Auto ausfüllte. Aya blinzelte, wandte seinen Blick zu Schuldig. Doch das war nicht das Einzige, was er mit seiner Nase vernahm. Da gab es noch etwas anderes…schwächeres. Sein Kiefer presste sich für einen Moment unnachgiebig aufeinander. Ein Stich an…was? Was war es?
 

„Das gleiche Parfum benutzt Birman auch. Es riecht widerlich“, warf er in den beengten Raum, völlig aus dem Kontext gegriffen.
 

Schuldig stand an der Ampel, regulierte die Klimaanlage. "Verzeihung", sagte er nur und ein Quäntchen Spott klang hindurch. Er hatte nicht vor, auf die Stimmungsumschwünge zu reagieren, die ihm hier entgegenkamen. Sollte er als Prellbock für den Japaner dienen?

Selbst wenn er ihm erzählte, wo er gewesen war, dass er Sex gehabt hatte ... Ran würde nicht verstehen, warum er es getan hatte.
 

Aya verstand es wirklich nicht, ebenso wenig wie die dahin geworfene Antwort des Deutschen. Sie machte ihn wütend. Hatte Schuldig nichts Besseres zu tun, als am Vorabend der Einäscherung zu ficken? Machte ihn so etwas geil?

Er wusste nicht, ob es Enttäuschung oder Ekel war, die ihn den Kopf abwenden ließen. Er schwieg, sagte nichts mehr dazu. Was Schuldig machte, war seine Sache. Nicht Ayas. Besonders, mit wem er schlief…doch dann brauchte der andere Mann nicht mit ihm anzubandeln…auch wenn es nur ein Spiel war. Nichts Ernstes.
 

Er wusste nicht genau was sich verändert hatte, seit dieser Autofahrt aber irgendetwas sagte ihm in dem Blick, als sie ausstiegen und nach oben in die Wohnung zurückkehrten ... dass es so war. Mit einer gehörigen Portion Trotz öffnete er die Wohnung. Es war bereits Nacht und die dunklen Fensterfronten luden zur Betrachtung der Stadt ein. Er hatte vergessen die Musik abzustellen, also begrüßte sie leiser Jazz, untermalte die Kulisse der mit der Dunkelheit flirtenden Stadt.

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und er lehnte sich dagegen, momentan kein Licht machend.

"Ran? Sagst du mir, warum du wütend bist?", fragte er über seinen Schatten springend. Schuldig fühlte sich hilflos, denn der Mann war für ihn kaum einzuschätzen und Trotz oder Sturheit brachten ihn nicht weiter.
 

Aya fuhr herum, Wut immer noch in seinem Inneren kochend. „Du gehst…ficken…während sie in nicht mal zehn Stunden beerdigt wird! Soll mich das GLÜCKLICH stimmen?“, schrie er Schuldigs ins schemenhafte Gesicht. Unbeherrscht und völlig impulsiv, auch wenn er sich einen Moment später wünschte, den Mund gehalten zu haben. Noch einmal fragte er sich, was es IHN anging, wie Schuldigs Privatleben aussah. Gar nichts…rein gar nichts ging ihn das an.
 

Er ballte die Hände zu schmerzhaften Fäusten. Und dennoch…trotz allem schien es ihm, als würde Schuldig…ihr Andenken damit entweihen.
 

Sie ist nicht meine Schwester, wollte Schuldig im ersten Moment aufbegehren. Doch er hielt inne. Er trauerte nicht. Er hatte nichts damit zu tun, nicht gefühlsmäßig.

Stumm stand er da und sah nur die Konturen, die Schatten die ihm die Wut entgegenbrachten.

Er wollte nicht, dass Ran auf ihn wütend war. Er hatte ihm helfen wollen mit seiner Begleitung, ihm dadurch etwas helfen ... nur helfen...

Trost? War es seine Art von Trost spenden?

Wo er das doch nicht konnte...

Dass er Sex hatte, war völlig nebensächlich, hatte rein gar nichts mit der Beerdigung, mit Ran, oder gar mit Schuldigs sonstigem Leben zu tun. "Ich ...", wollte er sich erklären, doch er verstummte. Vieles würde ihm einfallen, was er entgegensetzen konnte, was verletzen würde, was vielleicht der Wahrheit entsprach.

Aber nur Schweigen füllte den Raum, als er sich von der Tür löste und ins Bad ging.
 

Aya dagegen blieb für lange Zeit einfach nur dort stehen, wo er sich gerade befand. Was hatte er getan? Woher nahm er sich das Recht, solche Vorwürfe hervorzubringen? Wie konnte er die Hilfsbereitschaft des Telepathen nur so missachten? Aya seufzte, schlich durch die dunkle Wohnung zur Couch und ließ sich darauf nieder. Er vergrub die Hände in seiner langen Mähne. Wieso hatte er nicht auch einfach seinen Mund halten können um Schuldig NICHT das Offensichtliche unter die Nase zu reiben?
 

Schuldig duschte erneut, warf das Hemd in die Wäsche und schlüpfte in eine lange bequeme Hose, einen Pullover über die bloße Haut anziehend. Er war müde und er wollte bald ins Bett. Seine Haare waren feucht, als er aus dem Badezimmer kam, sie mit einem Handtuch noch einmal durchfahrend. Er tastete nach dem Lichtschalter, doch ließ schlussendlich davon ab. Seine Augen gewöhnten sich an das Dunkel und er erkannte die zusammengekauerte Gestalt auf der Couch.

Der Telepath ging näher, schaltete die Musik aus, setzte sich an die Armlehne der Couch auf der Ran saß.

"Bist du müde?"
 

Schuldig roch nicht mehr nach Frau…das war das Erste, was an Ayas Sinne drang, viel eher als die Worte, als die Nähe des anderen Mannes. Sein Blick hob sich, voller Wehmut und Entschuldigungen, die nicht im Ansatz seine Lippen verließen. Es reichte, dass sie in seinen Augen standen…

Er sah Schuldig, wie er hier im Dunkeln neben im saß, der Duft frischen Shampoos von seinen Haaren strömend.

„Noch nicht“, erwiderte er kopfschüttelnd. Nein…als wenn er schlafen konnte.
 

Schuldig haderte mich sich selbst. Das Handtuch senkte sich auf seinen Oberschenkel und stumm betrachtete er das Gesicht, welches einen verletzlichen Ausdruck innehatte.

"Willst du reden?", bot er an. Glaubte aber eher an eine Absage. Er ließ sich über die Lehne gleiten, setzte sich dadurch unmittelbar neben Ran, zog ein Bein auf die Couch.
 

„Worüber? Es ist doch schon alles gesagt…oder soll ich dir noch mehr unangebrachte Vorwürfe an den Kopf werfen?“

Aya schüttelte den Kopf. Er wusste selbst nicht mehr, wo er stand und warum er so unausgeglichen war. Warum er nicht einfach schwieg….so wie früher auch. Denn anscheinend war alles, was er sagte, dazu gedacht, andere zu verletzen und seine unausgegorenen, nicht spruchreifen Gedanken hervorzubringen.
 

Schuldig wandte sich Ran zu, stellte sein Bein somit an der Couchlehne an.

"Ich kann dir nicht in den Kopf schauen, Ran. Du musst mir schon sagen, was dich bewegt."

Er grübelte einen Moment mit düsterem Gesicht. "Wie weit wart ihr eigentlich auseinander?", fragte er nach dem Altersunterschied.
 

Aya sah, dass Schuldig ihn zum Reden bewegen wollte. Über seine Schwester. Über das Stück Eis, das an seinem Herzen festgewachsen war. Wollte er es schmelzen? Aya seufzte.

„Sie ist…war siebzehn. Ein positiver Mensch…ein liebes Mädchen. Ich war immer stolz auf sie“, begann er und wunderte sich, dass er doch so bereitwillig und frei darüber redete. Doch es schien, als würden Worte einfach nur so aus ihm herauspurzeln…als wenn sie kein Halten mehr hätten. „Sie hatte so viele Pläne für ihre Zukunft. So viel mehr als ich, was sie noch verwirklichen wollte…“
 

"Seid ihr hier in der Stadt aufgewachsen?"

Pläne und Ziele... dachte er müde. Vermutlich hätte sie geheiratet ... der klassische Weg und dann wäre Schluss gewesen mit Plänen und Zielen. Wobei, wer wusste schon was die Zukunft brachte ... außer Brad natürlich.
 

„Nein…die ersten zehn Jahre haben wir auf dem Land verbracht, im traditionellen, alten Japan. Fernab von Tokyo. Mutter war für den Haushalt zuständig, Vater war bei einer ansässigen Firma tätig. Doch schließlich war es Aya, die die Frage aufgeworfen hat, ob wir nicht in die Großstadt ziehen sollten, weil uns dort mehr Möglichkeiten offen stünden. Highschool, College, Clubs, AGs…alles. Das traf sich gut mit dem Angebot von Vaters Chef, eine Zweigestelle zu gründen…in Tokyo selbst. Also zogen wir hierhin…und Vater bekam seine eigene Firma.“
 

Dies klang alles nach einer Bilderbuchfamilie. Einer Familie, die er nicht hatte, die er sich aber als Kind oft gewünscht hatte. Mit Sicherheit.

Ein kleines trauriges Lächeln lag auf Schuldigs Lippen, vom Dunkel des Raumes verborgen.

"Wart ihr hier glücklich? Hat sie bekommen was sie wollte? Schule und so, meine ich jetzt..."
 

Wie zwei Blinde sahen sie die jeweilige Trauer des Anderen nicht, auch wenn sie direkt über ihnen schwebte. „Wir waren nicht glücklich. Meine Mutter und ich nicht. Wir sehnten uns nach Ruhe…doch Aya und Vater waren begeistert von der Stadt. Tokyo ist faszinierend…das ist wohl wahr. Aber wir wollten zurück…blieben aber um ihretwillen. Weil Aya alles gefunden hatte, was sie sich wünschte…sie war an so vielem beteiligt. Politisch interessiert, immer ein Auge auf den Tierschutz…sie war ein guter Mensch.“ Er lächelte bitter. Und eben dieses Leben hatte er mit Blut besudelt.
 

Ruhe ... wiederholte Schuldig in Gedanken. Na die hatte der Mann neben sich abrupt verloren. Menschen zu töten, war keine ruhige Angelegenheit. Wobei ... bedachte er es genau ... war es hinterher meist sehr ruhig. Bis auf die gellenden Schreie und Gedankenfetzen im Kopf.

Zynische Gedanken streiften in seinem Kopf umher.

Rans Schwester war also so etwas wie eine Heilige, ein unantastbares Wesen ... und Ran selbst verblasste daneben. Das machte ihn wütend. Dieses Mädchen machte ihn wütend.

"Du sagst es ... ein guter Mensch", pflichtete er bei, die Stimme wirkte jedoch verloren, in Gedanken gefangen.

Was war Ran ... ein schlechter Mensch? Glaubte dieser das wirklich?
 

„Es ist eine schöne Erinnerung“, lächelte Aya und lehnte sich zurück, an den weichen, gemütlichen Stoff der Couch. „Natürlich hatte sie auch Schwächen…wie jeder von uns, doch ich möchte sie so in Erinnerung behalten, wie ich die letzten Jahre für sie getötet habe. Ohne diese Fehler, die uns manchmal beinahe alle verrückt gemacht haben…ihre Arbeitswut, ihren Hang zur völligen Perfektion…es ist jetzt unwichtig, wie oft wir damals gestritten haben…ich habe ihr immer nur das Beste gewünscht.“
 

"Du hast für sie getötet?", fragte Schuldig nun doch etwas stutzig geworden.

"Hat sie das gewollt? Es klingt, als hätte sie dir diesen Auftrag erteilt..."

Er wusste nicht, was er damit womöglich auslöste, aber er konnte diesen euphorischen Satz nicht auf sich sitzen lassen. Am liebsten hätte er diesen Mann neben sich geschüttelt und angeschrieen.

Das Thema hatten sie schon einmal gehabt und es war nicht gut ausgegangen. Was musste er es wieder anreißen?

Schuldig blieb wachsam, falls es einen Ausbruch oder Flucht zur Folge hätte würde er den Mann nicht gehen lassen, keinen Schritt weit weg.
 

Aya schnaubte verbittert. „ICH habe es so gewollt, nicht sie. ICH wollte ihr die beste, medizinische Versorgung zukommen lassen, die es mit Geld zu kaufen gab. Aber wie wir beide sehen, hat auch das nichts geholfen. Hätte ich das nur vorher gewusst…“ Seine Stimme glitt in die Bitterkeit ab und er würgte sich ab, erhob sich ruckartig. Natürlich hatte Schuldig mit dem Recht gehabt…er hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Hatte sich weiter ausnutzen lassen.

Er ging zur Fensterfront, lehnte sich mit den Schienbeinen gegen die niedrige Heizung.
 

Mit Sorge betrachtete Schuldig das schnelle Aufstehen und verfolgte diesen Abgang mit wachsamem Auge. Nach einigen Minuten des Zauderns stand er auf, trat mutig wie ein Löwenbezwinger an den innerlich sicherlich aufgewühlten Mann und umarmte ihn. Locker überkreuzten sich die Hände über den Bauch, legten sich auf die Gürtelschlaufen der Hose, wirkten unschuldig und ohne sexuelle Annäherung.

"Shh. Ich weiß ...", sagte er tröstend. Ja wirklich, er wollte Ran Trost spenden.

Sein Kopf ruhte an Rans rechtem Ohr. Er glaubte nicht, dass Ran ihn abweisen würde, weil er vielleicht an Männern kein Interesse fand, höchstens weil Schuldig ihn verletzt hatte, mit seiner Aussage von vorhin.

"Ich wollte das ...Thema nicht schon wieder in diese Bahn lenken", sagte er leise, bedauernd.
 

Aya hatte sich unwillkürlich versteift, doch vielmehr aus Reflex über den ungewohnten Körperkontakt an seinem Rücken als aus wirklichem Unbehagen. Deswegen löste er sich auch nicht aus der gewohnt unkonventionellen Umarmung, sondern brummte leise, bestätigte die Worte des anderen Mannes. „Es ist schon in Ordnung…es läuft doch alles darauf hinaus, oder nicht? Und was spielt es überhaupt für eine Rolle? Sie ist nicht mehr da…und wird es auch nie wieder sein. Es ist müßig, jetzt noch darüber zu reden, was gewesen wäre, wenn…“
 

Er lauschte den Berührungen des Telepathen, lauschte auf die Reaktion seines Körpers, seiner Gedanken darauf.
 

Schuldig lächelte und in diesem Lächeln war zum ersten Mal so etwas wie der Ausdruck innerer Zufriedenheit, er schloss die Augen, weil die Gefühle die in ihm tobten kein Ende finden wollten. So plötzlich kamen sie über ihn. Der Geruch von Ran, die Wärme des Körpers ... und dass er ihn annahm, die Berührung von ihm tolerierte...

"Verzeih."

War das Einzige, was er sagte und meinte damit alles.

Alles.

Alles was er bisher falsch gemacht hatte, entschuldigte sich in diesem Moment für alles, was er nicht gewollt hatte.

Sein Kopf neigte sich und er verbarg sein Gesicht leicht in den Haaren.
 

Aya lächelte traurig. Für was musste er sich dann alles erst entschuldigen? Er hatte auch so vieles falsch entschieden. Seine Arme hingen an den Seiten, hätten sich gut und gerne losreißen können. Doch sie taten es nicht.

Aya tat es nicht. Im Gegenteil. Er lehnte seine Wange an Schuldigs Kopf und sah schweigend in die Dunkelheit hinaus.

„Es ist in Ordnung…“, murmelte er schließlich und schloss die Augen.
 

Schuldig war froh darüber, dass er seine Hände nicht auf Wanderschaft gehen ließ, dass er den Reizen des Mannes nicht erlag, sonst wäre dieser Moment sicher bald vorbei gewesen.

Er konnte ihn mit seinen Sinnen aufnehmen, wie bisher noch nie zuvor.

Sie waren sich nahe gekommen, doch dieser Augenblick war nicht mit den Vergangenen zu vergleichen. Soviel Ruhe durchströmte ihn, dass es beinah schmerzte. Als habe Ran ihn in seinen Bann gesogen und ließ ihn nicht mehr los. Ein gelöstes Lächeln lag auf den Lippen, die Augen waren geschlossen.

So hätte er noch länger hier stehen können. Denn sobald er ihn losließ war es vorbei. Dann würde es wieder kühler werden, einsamer.
 

Doch noch war dem nicht so. Noch blieb Aya. Noch schenkten sie sich einander Wärme in der dunklen, beinahe schon kalten Wohnung. Noch erforschte Aya die Eindrücke völliger Nähe, die auf ihn einstürmten. Er konnte mit Fug und Recht behaupten, dass es wirklich das erste Mal seit langer Zeit war, dass er sich so vertraulich umarmen ließ. Nicht vom größten Teil seines Teams, nicht von den Frauen und Männern, mit denen er geschlafen hatte. Niemals hatte er ihnen den Rücken zugedreht, hatte zugelassen, dass sie ihm so nahe kamen. Eine Ausnahme war nur Youji geblieben. Als Einziger. Und nur ein einziges Mal.
 

„Lass uns ins Bett gehen“, wehte seine leise Stimme sanft zu dem in seiner langen Mähne vergrabenen Deutschen.
 

In Sekundenschnelle pflückte Schuldig die Worte auseinander ... und das Wörtchen ‚uns’ legte sich wie ein warmer Balsam um sein kaltes Inneres. Er nickte zaghaft.

Er war müde, wie er wieder festgestellt hatte, nur die Dusche hatte ihm kurzzeitig wieder Auftrieb gegeben.

Ein letztes Mal atmete er den Duft ein und ließ dann von Ran ab.
 

Der sich schließlich umdrehte und den immer noch im Dunkeln liegenden Mann taxierte. Er trat an Schuldig vorbei und begab sich in Richtung Schlafbereich, machte dort etwas Licht und suchte sich einen der Schlafkimonos aus dem chaotischen Kleiderschrank. Es dauerte etwas, das stimmte, aber schließlich hielt er ein scheinbar weinlaubrotes, schlichtes Stück in den Händen. Die Farbe seiner Haare.
 

Schuldig hatte sich ebenfalls umgezogen, saß nun auf dem Bett, wie die Nächte zuvor, die verräterischen Spuren ihres Kampfes durch die hoch geknöpfte Leiste verbergend.

"Willst du das Licht anlassen?", fragte er, die kleine Lampe in Augenschein nehmend.

Er hatte keine Probleme damit, konnte fast überall schlafen - sofern er keine psychischen Probleme hatte und mit Schlaftabletten nachhelfen musste.
 

Ebenso bettfertig wie Schuldig auch verneinte Aya dies mit einem Kopfschütteln. Im Gegensatz zu seinem Gegenüber hatte er einen leichten, beinahe schon schreckhaften Schlaf, der zusätzlich noch durch Einflüsse wie Licht oder Lärm gefördert wurde. Wenn auch nur ein Funken von seinen gewohnten Ritualen nicht stimmte, auch nur irgendetwas nicht so war, wie er es als angenehm empfand, konnte er nicht schlafen. Oder nur sehr schlecht. Und Licht gehörte nicht zu seinen Schlafriten, auch wenn er sich gestern wohler gefühlt hatte, nicht im ganzen, kalten Dunklen zu liegen. Doch heute brauchte er diese mentale wie optische Stille.
 

Er löschte die unerwünschte Störquelle und legte sich auf die andere Seite des Bettes.
 

"Wann ist der Termin morgen, Ran?", fragte Schuldig betont ruhig, tastete nach dem Wecker.

"Soll ich den Wecker stellen?"

Er fischte das Ding vom Boden und legte sich auf den Rücken. Die leuchtenden Ziffern würden ihm auch im Dunkeln helfen, die Zeit zu stellen.
 

So wie sie Aya halfen, sich wieder an den noch vor ihm liegenden Kreuzgang zu erinnern. Noch nicht einmal mehr zwölf Stunden…

„Um elf…“, erwiderte er nach kurzem Schweigen und riss sich von den großen, roten Ziffern los, die ihm den Countdown aufzwangen. Er wollte nicht…wollte sich morgen einfach verkriechen. Oder war es schon heute? Heute…es war heute. Heute. Bald. Nicht mehr genug Zeit.

Aya schluckte die Panik hinunter, die sich seiner zu bemächtigen drohte. Anstelle dessen presste er seinen Kopf in das weiche Kissen und schloss die Augen. Ihm war nicht nach Schlaf, aber nach Stille.
 

Der Wecker wanderte kurz darauf auf den Boden zurück, gut versteckt unter dem Bett, damit die Anzeige nicht störte. Danach lag Schuldig da, blickte die abgewandte Silhouette von Ran an, der wie es aussah hellwach dalag.

Er lag sicher über fünfzehn Minuten da, verzog dann den Mund leicht unwillig und rang sich dann endlich durch.

"Magst du ... herkommen?", fragte er in den Raum hinein, den Adressaten immer noch wach wissend.
 

„Nein…“ Ein Seufzen begleitete die leise Antwort des rothaarigen Japaners und ließ sie wie einen auf einem Flügel angeschlagenen Ton nachklingen. Ein Ton in a-Moll, sanft getragen und still, weichen Klanges.
 

Mit einem unwirschen Verziehen des Mundes wanderten Schuldigs Augen wieder über die Konturen, entlang des Kopfes, der Schulter...

Mit winzigen Manövern rückte er näher an Ran heran, sich zum Vorsatz gemacht, näher ins Feindesland mittels verdeckter Operation einzufallen. Die ganze Aktion dauerte seine Zeit, vielleicht sogar zwanzig Minuten, schließlich sollte es nicht auffallen. Dabei tat er immer so, als bewege er sich im Halbschlaf und drehe sich um.

Ein freches Lächeln später war er so nah an Ran herangerückt, dass er die Stirn bequem an den Rücken legen konnte - was er nicht tat, nur ganz leicht streiften die Haare die Nachtbekleidung des anderen.

Trotz der Decken spürte er die Wärmeabstrahlung des Mannes. "Du hast nicht gesagt, dass ich dann ... nicht zu dir kommen darf", murmelte er leise, wie ein trotziges Kind, das schmollte.
 

Das hatte Aya nicht gesagt…das stimmte. Das hatte er die Sekunden und Minuten der Stille erkannt, in denen sich Schuldig so dermaßen unauffällig zu ihm begeben hatte. Aya hatte natürlich keinen Verdacht geschöpft…warum hätte er Schuldig auch Absicht unterstellen sollen?

„Soso…“, schmunzelte Aya und ein kleines Lächeln drückte sich trotz der omnipräsenten Trauer in die weichen Daunen des Kissens. Schlimmer als jede Katze verfolgte Schuldig sein Ziel und setzte alle nur erdenklichen Mittel ein, um seine Wünsche auch zu bekommen. Was in Aya wiederum den eigenen, selten aufkommenden Spieltrieb weckte. So blieb er in der gleichen Position liegen, in der sich jetzt befand und wartete ab. Was Schuldig tat…
 

Diesem fiel etwas aus seiner Kindheit ein, was sie immer gespielt hatten ... jedoch war es eher dazu gedacht, einen Freund zu kitzeln, als eine Annäherung wie diese hier zu starten.

Seltsam dass er sich dieser Dinge gerade hier mit Ran erinnerte.

Er ließ zwei seiner Finger wie ein laufendes Männchen auf zwei Beinen über den Rücken von Ran laufen, bis zu seiner Flanke.
 

"Weißt du ... ist komisch ... mit dir ... meine Erinnerungen sind wie ein großer See und ... seit du hier bist, ist es so, als könnte ich nicht nur kraulen, sondern auch tauchen. Und ich komm immer weiter runter."

Seine Finger ‚liefen’ weiter, sahen sich um, erklommen einen Oberarm, taten so als hatten sie sich verirrt und liefen wieder schnell zurück, nur um wieder inne zu halten.

"Wusstest du, dass es am Grund eines Sees immer gleich warm ist? Dass es nur dazwischen kalt ist?" Er lächelte und seine Finger ließen sich um die Taille von Ran hinunterrutschen, als wäre es eine herrliche Rutschpartie.
 

Voller Interesse hatte Aya dieses harmlose Spielchen mitverfolgt, war schließlich nicht umhin gekommen, den Worten des Telepathen mit einem warmen Gefühl tief in seiner Brust zu begegnen. Er verhalf Schuldig, die schönen Erinnerungen an seine Kindheit auszugraben…sie tauchend zu erforschen. Aya erfüllte das mit Ruhe…mit angenehmer Ruhe, die durch seinen Körper strömte, die jedoch nicht verhinderte, dass er ob der Berührung an seiner Taille zurückzuckte, unwillkürlich zu Schuldig nach hinten ausbrach.
 

Natürlich…von all den Stellen, die sich der Telepath hatte aussuchen können, war es die, an der er am Empfindlichsten war…in jeglicher Hinsicht. Von der kleine Blitze durch sein Nervensystem hinein ins Rückenmark jagten. Ein eher unbeabsichtigtes Geräusch entwich seinen Lippen, wurde jedoch von einem scheinbar empörten Schnauben verdeckt.
 

„Dann…wird es Zeit, sich den Lebensumständen am Grund des Sees anzupassen…nicht den kalten Zwischengewässern…“, sagte er in den Raum, Schuldig immer noch abgewandt.
 

Die Reaktion, die Ran auf seine eher unbeabsichtigte, gemeine Fingerattacke auslöste, erstaunte ihn etwas, zauberte jedoch ein zufriedenes Lächeln auf die frechen Lippen. Schuldig winkelte seinen Arm unter den Kopf, stützte ihn so auf. Seine Hand ruhte immer noch auf diesem besonderen Fleckchen, welches dieses niedliche - anders war es nicht zu umschreiben - Geräusch ausgelöst hatte. Ganz ruhig lag die Handfläche da ... richtig unschuldig wenn nicht Schuldigs Augen darauf gelegen hätten, mit einem unternehmungslustigen Glitzern darin.

"Ich bin aber noch nicht am Grund ... den Tiefseetauchschein hab ich noch nicht", antwortete er belustigt.
 

„Dann wird es Zeit, dass du einen Tauchlehrer nimmst, der es dir beibringt…so tief zu tauchen“, erwiderte Aya mit einem Hauch von Argwohn in seiner Stimme. Diese Hand machte ihn doch vorsichtig. Besonders, da sie keine Anstalten machte, diese verbotene Stätte seiner Schwäche zu verlassen. Wie gerne hätte Aya dem Deutschen doch auf die frechen Fingerchen gepatscht, wenn er nur eine Hand in annähernder Position gehabt hätte. Ohne sich dabei zu verrenken, versteht sich.
 

„Allerdings gibt es dort auch sicherlich große, böse Anglerfische, die dich locken werden…um dir dann ein oder zwei vorwitzige Finger abzubeißen…“ Ayas Lippen zuckten verdächtig.
 

Schuldigs Reaktion kam so plötzlich und war mal wieder eine seiner spontanen Aktionen, als er seine Finger exakt die Stelle traktieren ließ. "Meinst du diese Finger?", lachte er.
 

„Genau die“, zischte Aya und konnte sich ein weiteres Mal den Reaktionen seines Körpers nicht entziehen. „Glaube mir…die Anglerfische haben SEHR große Zähne!“
 

"Ha! Ich kann mich ganz gut selbst verteidigen! Ich bin so schnell ...." Schuldig lachte, als er versuchte die andere Seite von Ran zu erreichen um ihn dort dieselbe quälende, kitzelnde Behandlung zukommen zu lassen.

"... Soo schnell, die erwischen mich gar nicht", behauptete er und atmete schneller, kämpfte sich um Rans Arme herum, da dieser sich teils recht erfolgreich wehrte.
 

Nicht nur teils, sondern nun auch noch effektiv, als sich Aya nach einigem erfolglosen Winden nun endlich diesen frechen, bösen Händen erwehren konnte und zumindest fünf dieser teuflischen Finger unter seiner eigenen Hand begrub, sie daran hinderte, den Rest seiner Taille zu beglücken. "Auch ein blinder Fisch fängt mal seine große Beute", schoss Aya zurück und lehnte sich mit seinem vollen Gewicht auf die gefangene Hand, lag nun halb zu Schuldig, halb auf der Seite. Irgendwie verdreht. Irgendwie ungünstig, wie ihm jetzt bewusst wurde.
 

"Noch ist nicht aller Tage Abend!", prophezeite Schuldig und grinste freudig, seine Hand noch nicht an den Feind verloren sehend. Er ruckelte und ringelte sich so zusammen, bis er auf die Knie kam, nun die andere Hand ihre freche Arbeit tun ließ.

"Ich komm wieder ... keine Frage!", gab er die Worte des Pink Panther wieder, einen Trickfilm der ihm sehr gut gefiel.
 

„Siehst du mich zweifeln?“, keuchte Aya, als er sich plötzlich in einer äußerst ungünstigen Position befand, noch dazu nicht in der Lage war, sich adäquat zu wehren, da er ja vorhersichtig wie er immer noch war, zu einem Schlafkimono gegriffen hatte. Der sich im Brustbereich bereits löste. Seine mehr oder weniger freie Hand griff unter einigen, immer noch völlig ungewohnten Lauten nach der Schuldigs und hielt sie umklammert, führte sie zu seinen weiß blitzenden Zähnen.
 

„Und nun…wird gegessen….“
 

Schuldig fürchtete um das gute Stück und wand sich, zerrte an dem Arm und versuchte mittels offensiverer Taktik den Gefangen zu befreien. "Nein ... nein nein nein ...", wimmerte er fast schon, das Lachen dazwischen kaum zu bremsen. Bei einer seiner Attacken landete er dann doch tatsächlich auf dem Händedieb und stöhnte plötzlich schmerzerfüllt, zuckte zusammen. Die gefangene Hand krampfte sich zusammen und er atmete einige Minuten den bereits wieder verklingenden Schmerz weg.

Er hätte doch beinahe die ‚kleine’ Ziernaht auf seiner Brust vergessen ... es war erst gute zwei Tage her und er turnte hier schon wieder herum ... Na, der Spaß und dieses Lachen war es wert gewesen! Vor allem hatte er den Mann etwas aufgemuntert.
 

Aya blinzelte beinahe schon erschrocken, als sich Schuldig an seiner Seite hinab gleiten ließ und anscheinend erneuten, schmerzhaften Kontakt mit seiner Verletzung machte. Ein Grund für den rothaarigen Japaner, den momentanen Waffenstillstand zu akzeptieren und den Schwerverletzten stumm unter Augenschein zu nehmen. Er atmete stoßweise, halb verdeckt und erstickt durch Schuldig, dessen Körper mehr auf ihm als neben ihm lag.
 

„Wenn ich…erste Hilfe leisten soll, musst du es nur sagen“, presste er hervor und atmete tief ein.
 

Schuldig hörte die gedämpfte Stimme und ließ sich vollends neben Ran gleiten, seine Hand vorsichtig dem Griff entwindend. "Sorry", entschuldigte er sich dafür, dass er sich mit seinem Gewicht auf Ran fallen gelassen hatte.

"War nur eine blöde Drehung. Wird schon nichts aufgegangen sein", sagte er großspurig mit einer kleinen ungewissen Ahnung dahinter. Er legte sich auf den Rücken, lag still und lauschte seinem schnellen Atem, der sich jedoch bald schon beruhigte.
 

Aya allerdings kaufte Schuldig diese Starker-Indianer-Masche nicht ab. Nicht im Geringsten. Seine violetten Augen funkelten in der durch den Mond beschienenen Dunkelheit, als er eine Hand auf den Brustkorb des Deutschen legte und ihn auf die Matratze drückte. Zeit, dafür gerade zu stehen, was er verbrochen hatte.

„Bleib liegen und halt still, ich seh es mir an“, diktierte er in bestem Anführerton und machte sich daran, die Pyjamaknöpfe zu öffnen.
 

Die Hand tastete sich zu den emsigen Fingern, gebot ihnen Einhalt.

"Hey ...Ran", sagte Schuldig schon wieder lächelnd. " ... geht schon, wirklich. Lass lieber ... ist schon gut." Er wollte nicht, dass Ran die Wunde sah. Es war ihm peinlich, da er versagt hatte zum einen, zum anderen wollte er nicht, dass dieser Schnitt zwischen ihnen stand.

"Ich geh einfach ins Bad und seh es mir an, ja?", versuchte er zu entwischen.
 

Doch Aya ließ ihn nicht.

Er schüttelte den Kopf. „Keine Widerrede. Ich sehe mir an, ob die Naht gerissen ist.“ Ayas Ton warnte Schuldig, sich ihm weiter zu widersetzen. Ebenso wie seine Hand, die die des Telepathen kurz drückte, bevor sie sie zur Seite bettete und sich erneut den Weg freimachte.
 

Schuldig biss sich auf die Innenseite der Unterlippe, kaute nervös darauf herum.

"Ach komm schon ...! Das ist doch ... bitte ...", versuchte er es und nestelte wieder an Rans Hand herum. Der strenge Blick, die unerbittlichen Augen bohrten sich in seine leicht unwilligen. "... Ran", quengelte er leicht. "Ich ... ich will nicht ... dass du sie... siehst", rückte er mit dem Grund heraus, leichte Schatten auf den Wangen, die die Dunkelheit verschluckte.
 

Aya seufzte vernehmlich und ließ Schuldig für einen Moment seinen Willen. Hörte aufmerksam zu. Lächelte sogar. „Aber ich möchte sie sehen“, erwiderte er schließlich. „Ich habe sie verursacht…was ist so schlimm daran, wenn ich ihr jetzt Gutes tue? Lass mich sie sehen…ich möchte es so.“ Seine Augen vertieften sich in die des Deutschen, ließen ihn nicht mehr los. Er meinte es völlig ernst und würde sich nicht davon abbringen lassen. Dafür war es jetzt zu spät.
 

Die Stirn in Falten legend, fand Schuldig die Ausführungen von Ran nicht berauschend.

"Hmmm", trotzdem stimmte er zu, die Entschlossenheit in den Händen, in allem spürend, was der Mann jetzt ausstrahlte. Gegen diesen Willen kam er nicht an.
 

Ein minimales Lächeln umschwärmte Ayas Lippen, als er sich über Schuldig beugte und den Lichtschalter der kleinen Lampe betätigte. Sie beide in sanftes Licht tauchte. In Gedanken versunken öffnete er den Pyjama um zwei weitere Knöpfte schob ihn sacht zur Seite. Entfernte vorsichtig den selbst haftenden Wundverband und warf zum ersten Mal seit ihrer unseligen Begegnung einen Blick auf den langen, genähten Schnitt.
 

Er sah feine, schwarze Nähte, die sich um die sauber zusammengefügten Wundränder schlangen, leicht austretendes Wundsekret…eine saubere, gerade Naht. Dafür, dass es dazu gedacht gewesen war, den anderen Mann ernsthaft zu verletzen, sah es gut verheilend aus. Zumindest wünschte Aya sich das.
 

Seine Augen ruhten für weitere, stille Momente auf der Verletzung, bevor er seine Aufmerksamkeit den schattierten, grünen Augen schenkte, die ihn so ergeben betrachteten. Das Blau in den frechen Augen fehlte fast völlig…Schuldig war also aufgeregt. „Wo ist der Verbandskasten? Im Badezimmer?“, fragte er und erhob sich vorsichtig.
 

"Ja, der Koffer und der Kanister mit dem Desinfektionsmittel is da auch irgendwo", sagte Schuldig leise und fühlte sich in eine vertraute Intimität gezogen.

Er lag still und kam sich etwas ausgeliefert vor.
 

Aya holte besagte Utensilien und setzte sich, die lange Mähne zurückstreichend, wieder auf das Bett und suchte in dem Koffer nach einer sterilen Kompresse. Zog sie schließlich schweigend aus der Verpackung und tupfte vorsichtig über den Schnitt. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass er in allerletzter Sekunde den Winkel geändert und den anderen Mann regelrecht aufgeschlitzt hätte? Wie nah war er daran gewesen? Wie viele Zentimeter hatten ihn vom Tod getrennt?
 

Diese Frage zeichnete sich auch auf seinem Gesicht ab, dass Schuldig unter Beobachtung hielt. Er konnte es sich schon fast denken was sich hinter dieser Stirn abspielte.

Er mochte die Stimmung nicht, die er fühlen konnte, grinste etwas schräg.

"Und wie sieht es aus?" fragte er um die Augen sehen zu können.
 

„Besser …“…als vorher. Ja, lebendiger als vorher. Nicht so todbringend. „Viel besser…es wird wohl nicht viel zurückbleiben…“ Aya lächelte still und nahm den kleinen Kanister mit Desinfektionsmittel zur Hand. Tränkte eine neue Kompresse damit und tupfte sie mit einem „Vorsicht…es brennt“ auf die Naht.
 

Es würde nicht brennen, erkannte Schuldig schnell, da Ran das Desinfektionsmittel in der Hand hielt, welches nicht brannte. Ran hatte sicher die Situation mit den Spiegelscherben nicht mehr so in Erinnerung, sodass er sich an das Desinfektionsmittel erinnern könnte.

Wärme flutete durch Schuldig und er lächelte für einen windigen Augenblick, bevor er die Luft einzog, so tat als wappne er sich gegen das unvermeidliche ‚Brennen’, welches einsetzen würde - laut Ran. Er wusste nicht wie er sich gegen diese Wärme wappnen sollte, ließ sie durch sich rauschen und genoss es.

Ran warnte ihn vor, dass es ihm wohl wehtun konnte ... und er wollte das nicht kaputt machen in dem er klugscheißerisch sagte, dass das Desinfektionsmittel nicht brannte ... wo käme er denn da hin?!
 

Ayas Blick fuhr hoch, zu Schuldigs Augen. Hatte er dem anderen Mann wehgetan? Seine Stirn runzelte sich in nachdenkliche Falten, erhaschte aber keinen Blick auf schmerzgezeichnete Linien in den Zügen des Deutschen. Er tupfte vorsichtig weiter, legte die Kompresse schließlich zur Seite und einen neuen Verband auf die Wunde.

„War doch gar nicht so schlimm“, murmelte er in bester Kinderarztmanier. Ließ seinen Blick nun aber so gar nicht ärztlich über die bleiche, haarlose Brust des Telepathen gleiten. Über dessen Hals zu den grün schimmernden Augen.
 

Schuldig hieß die Augen willkommen, hatte ihren Weg verfolgt und lud sie ein zum Verweilen. Das war kein interesseloser Blick gewesen, der da seine Haut entlang gekrochen war, dessen war er sich sicher.

"Und was krieg ich jetzt als Belohnung, weil ich so tapfer war?"

Das hatte er jetzt tatsächlich sagen müssen? Ja! antwortete ihm auch gleich etwas.

Betont harmlos blickte er Ran an.
 

„Was könntest du da bekommen?“, fragte Aya sacht nach und tat, als müsste er angestrengt überlegen. „Einen Lutscher vielleicht?“ Wo auch immer er den hernehmen sollte. Er schüttelte den Kopf. Lächelte schließlich und beugte sich über Schuldig…strich ein paar der widerspenstigen Strähnen zur Seite.
 

Er platzierte einen hauchfeinen Kuss auf den frisch angelegten Verband…gerade eben so, dass es nicht schmerzte und doch präsent war.

„Ich denke, das sollte genügen“ Seine Augen blitzten schalkhaft, als Aya aufstand und sich auf seine Seite des Bettes begab.
 

Nein, Schuldig! Du blickst jetzt nicht dahin ... wo du diesen ‚Lutscher’ vermutest. Nein!

Damit hielt er sich ab in Rans Schoß zu blicken, so nötig hatte er es auch nicht, diesen ... attraktiven, schönen Körper an sich zu reißen, ihm den Kimono vom Körper zu fetzen und sich über ihn herzumachen. NEIN!

Du bist völlig kontrolliert, selbstdiszipliniert, zurückhaltend, stimmte in ihm ein Mantra an, als sich der begehrte Mann über ihn beugte, diese Bewegung schon etwas laszives in Schuldigs Augen hatte, der Körper geschmeidig, das Becken, die Arme, die Schultern, diese gesenkten Lider die Schuldig verfolgte, die feinen Wimpern, das Haar welches über die Schulter nach vorne rutschte ...

Ran küsste seine Wunde und Schuldig rasselte noch immer sein Notfall-Mantra herunter.

So notgeil war er nicht! Reiß dich zusammen, verdammt. Du willst ihn, ja! Aber jetzt kriegst du ihn nicht!

Für Schuldig war diese in der Luft liegende Erotik kaum zu ertragen, mit sehnsüchtigem Blick sah er zu wie Ran sich von ihm entfernte und er lag weiterhin da, die Mundwinkel hängend, die Arme immer noch in ihrer von ihm auferlegten Lähmung neben sich liegend.

Wie gut, dass die Decke über seinem Bauch lag… über seinem Schritt lag… wie gut.
 

Aya bemerkte diese angespannte Starre und wandte sich schon unter der Decke Schuldig zu. Betrachtete den anderen Mann stirnrunzelnd, ebenso wie den Verbandskasten samt Kompressen, die er morgen noch wegräumen konnte. Nicht mehr heute.

„Was ist? Geht es dir nicht gut? Schmerzt die Wunde?“, fragte er beinahe schon besorgt und versuchte einen Blick in die an die Decke gerichteten Augen zu erhaschen. Hatte er sich doch verschätzt mit dem Druck?
 

"Nein ... etwas anderes", gab er zu und lachte dann plötzlich schallend, sich dieser Worte wirklich klar werdend, konnte kaum mehr etwas sagen.

Erst nach einer kleinen Weile wurde er wieder ernster, knöpfte sich das Hemd zu, lachte zwischendrin jedoch leise, die Situation damit für sich entschärft habend.

"Kann ich das Licht löschen?"
 

Aya bestätigte das nach einem weiteren, misstrauischen Blick und bettete seinen Kopf auf das weiche Kissen, lauschte immer noch dem Nachhall von Schuldigs Lachen. Wie positiv es doch war…auch wenn er nicht verstand, was den Telepathen dazu getrieben hatte. Er schloss die Augen, wollte nur noch hören…das Hören genießen. In der Dunkelheit brauchte er seine Augen auch nicht mehr.
 

Schuldig lag auf dem Rücken, ein Lächeln auf den Lippen und noch in seinen Gedanken hängend.

"Ist lustig... seit du hier bist, häng ich nicht mehr so viel in anderen Köpfen herum. Schlaf gut, Blumenkind."
 

„Bleibt dir doch auch gar nicht mehr die Zeit zu…soviel wie ich dich auf Trab halte“, lächelte Aya unsichtbar für Schuldig. Strich sich ein letztes Mal eine der kitzelnden, störenden Haarsträhnen aus dem Gesicht und zog die Decke ein Stückchen höher. Kalt war es geworden. „Du auch, Kullerpfirsich.“
 

Kuller ...WAS?

Schuldig empörte sich kurz darüber, machte dabei sicher ein selten dämliches Gesicht. Wie praktisch, dass das Licht aus war!

Er kam sich vor wie in einen alten Film versetzt, wo das Bilderbuch-Ehepaar ins Bett ging und brav nebeneinander schlief. War bestimmt ein Film aus den Fünfzigern!

Das war bestimmt Rans späte Rache für das ‚Blumenkind’.

Sagte das der Mann nun immer zu ihm? Gott, war das übel. Kullerpfirsich ... hörte sich verdammt unmännlich an. Blumenkind ... war doch viel netter ...neutraler... befand er und driftete über diese und Vielerlei ähnliche Überlegungen in den Schlaf.
 


 

o~
 


 

Omi warf einen schweigenden Blick in die anwesende Runde. Auf den Mönch, der ein paar leise Worte zu Ran sprach. Aya…dem Mann mit eingefallenen Wangen und hängenden Schultern, mit ungesunder Blässe und stumpf wirkenden Haaren. Der wiederum an Schuldigs Seite gekommen war.
 

Auch wenn Omi den Deutschen nicht mochte, so war er ihm doch dankbar, dass er ihnen die größte Sorge, die sie hegten, abgenommen hatte.

Ihr eigentlicher Auftrag lautete, Aya gefangen zu nehmen, sollte er hier auftauchen. Was durchaus wahrscheinlich war aus der Sicht Kritikers. Ohne Verweigerungsrecht. Dass die Agenten, die sie überwachen sollten, wieder weggeschickt wurden, hatten sie alleine dem Telepathen zu verdanken.
 

Der sich, nachdem er sie eine Weile vom Auto aus beobachtet hatte, außer Sichtweite begab. Omi war froh darüber. Ihm war der Telepath wirklich nicht geheuer. Er fröstelte leicht. In der Halle war es kalt trotz der dicken Sachen, die sie trugen.
 

Kaum wahrnehmbarer Geruch von heiligen Räucherstäbchen hing in der Luft, mahnte an alte Traditionen, an den Weg ins Totenreich. Sutren eines anderen, buddhistischen Mönches hallten durch den Raum, begleiteten Aya auf ihrer letzten Reise zurück zu ihren Eltern. Ließen die gezeichnete Gestalt des rothaarigen Mannes zurück, der nun stumm nickend die Urne entgegennahm. Sie mit beiden Händen fest umfasste. Fast so, als wäre sie ein Anker für ihn. Das kostbarste Gut, das er besaß.
 

War es denn nicht auch so?
 

Omi sah, wie Aya sich verbeugte und sich umdrehte, sie mit unleserlichem, unfokussiertem Blick anschaute. Erst langsam gewannen die Augen des Japaners an Leben, an Erkennen.
 

Youji trat vor, strich ihrem Anführer liebevoll über den Oberarm, nickte ihm zu. Ebenso schweigend, wie sie schon die ganze Zeit hier standen. Es brauchte keiner Worte um Aya Beistand zu leisten, um ihm zu zeigen, dass sie für ihn da waren…das wusste auch Aya selbst.
 

Gemeinsam verließen sie die Halle und traten hinaus, in den schneebehangenen Winter. Es würde eine lange Fahrt werden zum Familiengrab. Eine kalte, einsame, lange Fahrt im Toben der weißen Flocken.
 


 

Schuldig hatte sich unterdessen eine Zigarette angezündet. Wie pietätlos, amüsierte er sich und zog genussvoll daran. Er hatte gewartet, in einen anthrazitfarbenen maßgeschneiderten Anzug und einen schwarzen Mantel gehüllt. Lange gewartet, wie es ihm schien, denn er mochte solche Orte nicht besonders, als schwebe ein heiliges Vakuum über diesen Orten und wolle ihn hineinziehen. Schrecklich.

Seine Schultern zusammenziehend, ging er wieder zurück zum Wagen. Am liebsten wäre er jetzt weit weg von hier. Nicht schon wieder mit diesen Weiß konfrontiert, nicht schon wieder mit dem Tod von Rans Schwester konfrontiert - der ihn eigentlich nicht belangte - bis auf die Tatsache eben, dass Ran dadurch litt und dies ihn wütend machte. Aus Gründen die er nicht nachvollziehen konnte.
 

Ihm bereitete es fast eine körperliche Übelkeit wenn er daran dachte, dass sie damit noch nicht fertig waren, mit dieser ganzen Zeremoniegeschichte. Er war noch nie auf einer Beerdigung gewesen, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern bei seiner Mutter am Grab gestanden zu sein. Und er hatte auch nicht vor, hier einen Anfang zu tun. Deshalb hielt er sich im Hintergrund, pflegte sich aus dem Blickfeld zu begeben.
 

Jetzt jedoch kam Ran wieder und Schuldig kehrte zum Wagen zurück. Er vermied den Blick auf die Urne, richtete ihn dagegen auf die Gesichtszüge von Ran. Es wirkte fast als wäre er durchsichtig, so blass war er.
 

Aya hatte Schuldig schon vorher erklärt, dass sie hier nicht beigesetzt werden würde…eben dass er es jetzt nicht machen brauchte. Jetzt, wo seinen Gedanken woanders weilten…nicht hier bei ihnen.

Dennoch sah er auf, direkt und doch nicht direkt in die mehr blauen als grünen, ihn Maß nehmenden Augen. Wusste gleichzeitig sein Team hinter sich. Er…zwischen ihnen. Die einzige Verbindung, die hier zwischen Schuldig und Weiß herrschte. In diesem Moment jedoch interessierte es Aya kein Stück.
 

„Können wir fahren?“, fragte er anstelle dessen ruhig, ausdruckslos.
 

Schuldig nickte und gab den Weg zur Beifahrertür frei, öffnete sie, damit Ran mit seiner Last, die nicht nur körperlicher sondern auch seelischer Last - einsteigen konnte.

Für sich selbst konnte Schuldig nur eine gewisse Nervosität registrieren, die jedoch unter dem Mantel der äußeren Gelassenheit ihr Unwesen trieb.

Den Augenpaaren, die auf Ran und vermutlich auch mit weniger Sympathie auf ihm lagen, schenkte er keine Beachtung. Er stieg ein und ließ den Motor an, fuhr schließlich Richtung Schnellstraße.
 

Weiß fuhr Schuldig im eigenen Wagen nach. Aya registrierte das jedoch nicht. Wie in Trance strich er mit kalten, klammen Fingern über das edel polierte Holz. Die kleinen eingeschnitzten Verzierungen. Wie oft hatte er Ayas Hand gehalten? Wie oft über ihre Wange gestrichen? Über ihre Haare? Und all das war ihm nun versagt, all das ruhte als Erinnerung in einem kleinen Häufchen Asche vor ihm. Das war es, was von ihr übrig geblieben war. Von seiner Familie. Asche. Graue Asche.

Seine Augen starrten durch die Windschutzscheibe, sahen Bilder der Vergangenheit an ihm vorbei ziehen.

Erst jetzt…jetzt in diesem Augenblick begriff er, dass er wirklich alleine war.
 

Niemand war mehr da. Weder seine Mutter, noch sei Vater, noch Aya selbst. Er war alleine. Völlig auf sich gestellt und hatte niemanden mehr, der für ihn das bedeutete, was so hohen Stellenwert gehabt hatte. Familie.
 

Seine Familie war tot.
 

Schuldig konnte nicht sagen, dass ihm die stille Fahrt sehr behagte. Doch er hatte kein Bedürfnis den Mann anzusprechen, wieder war Ran in einer Blase gefangen, die ihn nicht zu ihm ließ.

"Müssen wir hier raus?"
 

Aya wusste nicht, welche Kreise seine Gedanken schon gelaufen waren, bevor ihn eine allzu bekannte Stimme zurückholte und ihn Schuldig ansehen ließ. War das schon…ihre Heimat? Er blinzelte, sah sich um und nickte schließlich. Erklärte in knappen, präzisen Worten den Rest des Weges. Wie bekannt ihm das alles doch vorkam. Er kannte jede Kreuzung, jedes Haus….jedes Geschäft noch aus Kindertagen…alles war ihm im Gedächtnis geblieben…
 

Wann war er nur das letzte Mal hier gewesen? War es wirklich zur Beerdigung seiner Eltern gewesen? So lange? Und nun…
 

Er sah zum Fenster hinaus und saugte sich an den vorbeirauschenden Bäumen fest, bis sie schließlich stehen blieben. Er war da. Sie waren da. Aya war…zurück. Bei ihren Eltern.
 

Wie schon beim Einsteigen, öffnete nun Schuldig wieder die Beifahrertür, ließ Ran aussteigen, bevor er sich erneut an selbige lehnte, darauf wartete, dass Omi, Ken und Yohji herankamen und den Mann zum Familiengrab geleiteten. Sein ruhiger Blick, lag mit tiefer Sorge auf Ran. "Ich warte hier."
 

Aya nickte. Es gab später noch genug Zeit, sich bei Schuldig für seine kleinen Gesten der Hilfe zu bedanken. Jetzt nicht, jetzt brachte er keinen Ton über die Lippen. Später…

Auch er wartete, bis Weiß an seiner Seite war und ging dann mit einem seelenlosen Blick in Schuldigs Augen voran.

Es war, als führe er Aya an ihrer Hand zu einem ihrer verborgenen Lieblingsplätze. Wie sie sich als Kinder immer die abenteuerlichsten Gegenden erobert hatten, so flanierte er nun den breiten, knirschenden Kiesweg hinunter zu ihrer Grabstätte. Zu dem kleinen, gepflegten Schrein, in dem sie alle aufbewahrt wurden. Nur er nicht…ausgerechnet er nicht.
 

Er verbeugte sich leicht vor dem anwesenden Mönch und betrat nun die Grabsstätte, sah sich mit sofortiger, kalter Stille ummantelt. Als wenn die Geister seiner Ahnen sich um ihn herum versammelten und der Beisetzung beiwohnten. Er schloss die Augen, ließ sich für ein paar lange Momente in seinen Gedanken treiben.
 

Schuldig hatte sich innerlich von dieser Gestalt des Mannes, der die Urne in der Hand hielt entfernt. Das war nicht Ran, wie er ihn wollte, so gebrochen, wie diese Augen blickten. Selbst wenn das Gesicht bar jeder Emotion war, selbst wenn die Augen nichts zeigen wollten, so sah Schuldig - der Ran studierte, ihn einschätzen wollte, wie sehr dieser Gang schmerzte.
 

Wieder zündete sich Schuldig eine Zigarette an, verschaffte sich dadurch den Hauch von Wärme, denn ihm wurde kalt, während er auf Rans Rückkehr wartete. Wie der Mann reagieren würde wenn sie allein waren, wenn er allein war, konnte Schuldig sich in gewisser Weise ausmalen, doch er konnte sich nicht wappnen.
 

Es war an sich eine simple Zeremonie, nichts großartiges. Ein paar Handgriffe, eine einzige, bedeutende Handbewegung. Er stellte die Urne seiner Schwester neben die seiner Eltern und verbeugte sich vor ihr. Zündete eines der Stäbchen an, legte seine Hände aneinander und betete. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit betete er. Zu welchem Gott…es war ihm egal. Das, was er sich wünscht, war Frieden. Frieden für Aya, seinen Vater und seine Mutter.
 

Aya atmete tief ein. Er musste gehen…das wusste er. Er konnte nicht mehr hierbleiben oder er würde sich von den Erinnerungen, von der Trauer nicht losreißen können. Würde hier bleiben und mit hinüber gehen in das hoffentlich bessere Reich. Aya lächelte. Sicher stand sie nun da, eine Hand in der ihrer Mutter, die andere in der ihres Vaters. Wie immer lächelnd. Sie lächelte IHM zu. Bedeutete ihm, weiterzumachen. Weil es einen Grund gab. Zum Leben. Einen Grund zum Leben.
 

Aya beugte sich hinab, platzierte einen letzten, hauchfeinen Kuss auf das kühle Holz und drehte sich dann um. Ging nichtssehenden Blickes wieder nach draußen und schloss das Grab hinter sich. Ein ätzendes, hässliches Geräusch. Ein Stein auf seiner Brust.
 

Die dritte Zigarette aschte sich gerade zu Tode und Schuldig harrte immer noch aus, als er in Gedanken der Weiß Mitglieder las, dass sie den Rückweg antraten.

Das Ungewisse kam also auf ihn zu und er wusste nicht wie er ihm begegnen sollte.
 

Doch bevor Aya wieder zurück zu Schuldig gehen konnte, legte sich eine Hand sanft auf seinen Arm, hieß ihn stehen zu bleiben. Omi…der Kleine. Mit all der Trauer in den Augen, die Aya sich selbst verwehrte.

Sie sagten beide nichts…kein einziges Wort, als sie sich ansahen.

Doch dann schloss Omi Aya in seine Arme und drückte den größeren Mann mit aller Gewalt an sich, presste sein Gesicht an dessen Brust, während Aya dastand. Blinzelnd. Nichts sehend. Auch wenn sich seine Arme in Trance um die zitternde Gestalt des Jungen schlossen.
 

Omi fühlte wie sich in ihm alles Bahn brach, die Trauer die er fühlte, die er für Aya fühlte, wollte aus ihm heraus, doch lastete er sie damit nicht Aya auf? Aber er konnte nicht anders, wollte ihm eine Stütze sein, wollte ihn halten, ihm zeigen, dass er nicht allein war, dass sie für ihn da waren.

Die Augen blickten so teilnahmslos, dass Omi sich nicht mehr zusammenreißen konnte, er wollte in Aya etwas lockern, diesen Schock vertreiben.
 

„Es ist in Ordnung…Omi…wein ruhig“, murmelte Aya. Runzelte die Stirn. Sollte er nicht eigentlich derjenige sein, der weinte? Sollte er nicht derjenige sein, der schwach war?

Nein….sollte er nicht.
 

Aya hob das Kinn des aufgelösten Jungen an und sah ihm in die rotgeränderten Augen, während er ihm über die feuchten Wangen strich. „Gib mir etwas Zeit…und ich lasse mir etwas einfallen, wie ich euch da raushole…okay?“, wisperte er. Verstummte, als seine Stimme schwankte. „Ich lasse euch nicht da, das verspreche ich. Ich lasse…meine Freunde nicht im Stich…“
 

Omi nickte, hoffte, sorgte sich. Er wischte sich selbst die Tränen trotzig beiseite und lächelte dann etwas schräg. Genug geheult!, beschloss er. "Ja ... Ran ... darf ich ... dich so nennen? Wir?", fragte er etwas zögerlich, doch es schien ihm ein Frevel, Ran mit dem Namen seiner toten Schwester anzurufen.
 

Aya nickte. Auch wenn er selbst noch lange nicht soweit war, sich als Ran anzunehmen, ihren Namen abzulegen, so wollte er ihn doch nicht mehr hören…nicht jetzt.

„Ja…ihr alle.“ Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen, verebbte jedoch so schnell, wie es gekommen war.

Er stand auf und wuschelte dem Jüngeren durch die blonden Haare, wandte sich schließlich dem größeren Blonden zu, dessen Blick ebenso wie Omis auch Sorge um seine Person widerspiegelte.
 

„Du hast es gehört…“, nickte er.
 

„Ja…habe ich. Du bist immer noch unser Anführer…richtig?“
 

Aya nickte. „Ja…das bin ich.“ Er ließ sich von Youji in die Arme ziehen und drücken, ebenso wie von Ken. Alle miteinander. Sein Team…seine Freunde.

Doch schließlich wandte er sich ab und verabschiedete sich. Suchte die Einsamkeit von Schuldigs Gesellschaft. Zeit, wegzufahren.

Er lief schweigend den Weg hinunter zum Wagen…zu Schuldig selbst.

Seine Augen trafen schließlich auf die des Telepathen und hielten sich an ihnen fest, als er einstieg.
 

Schuldig empfing diesen Blick, nahm ihn wie einen Faden auf und verband ihn mit seinem eigenen, bevor er ebenfalls in den Wagen stieg.

Er hatte in Ran nicht lesen können wie es ihm ging, was er dachte und Schuldigs Lippen pressten sich zu einer bitteren Linie zusammen. Gerade jetzt ... jetzt hasste er es wie nie zuvor in Ran nicht lesen zu können, seine Gedanken für ihn noch immer eine Mauer, die untermalende Geräuschkulisse ein stetes Flüstern, das er nicht verstand.
 

Aya ahnte davon nichts, als sie nun zurückfuhren. Er schwieg, starrte aus dem Fenster als wäre es das Einzige, was er noch zu tun vermochte.

Nicht nur er schwieg…alles in ihm. Nichts war mehr existent, nichts bedrängte ihn…da war nichts. Nichts außer den vorbeiziehenden Schneeflocken. Nichts außer der winterlichen Landschaft. Seine Stirn an die kalte Scheibe gebettet, schloss er schließlich seine Augen.
 

Und was hätte Schuldig davon, wenn er die Gedanken lesen könnte? Wollte er das überhaupt wissen, was dort drin vorging?

Ein vorsichtiger Blick zum Objekt seiner Gedanken und er richtete sein Augenmerk wieder auf die Straße, die zunehmend mehr einschneite.

Der Weg nach Hause dauerte länger da er vorsichtiger fahren musste.
 


 

o~
 


 

Es war Aya ein Rätsel, wie lange es gedauert hatte, bis sie wieder hier waren. Ein Rätsel, wie sie hierher kamen…wie er sich nun hier in der Küche wieder fand, mit der Kaffeedose in der Hand, seine Hände zitternd wie Espenlaub.

Er wusste nicht, was er hier wollte, was er machen sollte…er schien sich beschallen, alles an sich vorbeiziehen zu lassen.
 

Hatte Schuldig etwas zu ihm gesagt? Hatte er selbst etwas gesagt? Aya blinzelte. Wieso in aller Welt zitterten seine Hände so dermaßen?
 

Wie ein Raubtier dass das andere taxierte schlich Schuldig durch die Wohnung bei seinen Tätigkeiten, immer einen Blick zu Ran werfend, unsicher, sorgend, aber auch entschlossen sofort zu handeln, falls diese Zeitbombe dort hochgehen sollte.

Denn so wirkte Ran auf Schuldig. Hölzerne Bewegungen, die aufzeigten, dass das alles aufgesetzt war was Ran ihm präsentierte, das flüchtige, maskenhafte Lächeln als er sagte, er würde Kaffee machen.
 

Schuldig zog sich rasch um, schlüpfte in Jeans und hellgrauen Cashmerepullover, Ran nicht aus seinen Augen lassend. Selbst hier konnte er das extreme Wackeln der Dose sehen die Ran in seinen vermutlich stark zitternden Händen hielt.
 

Eben diese Hände versuchten nun, den Kaffee zu portionieren und in den Filter zu geben, scheiterten jedoch an ihrem eigenen Ungelenk. Verschütteten das braune Pulver auf die Arbeitsfläche. Aya besah es sich, als wäre es nicht er, der das tat. Als wäre das ein Fremder…

Ein Fremder, der nun mechanisch die Dose hinstellte und sich umwandte. Er musste…hier raus. Ganz schnell. Ganz schnell in die Dunkelheit, bevor er es nicht mehr aushielt. Er durfte nicht hier bleiben, nicht unter wachsamen, grünen Augen.

Aya strauchelte vorwärts, löste sich von der Anrichte. Weiter…immer weiter in den Raum hinein.
 

Der Sog hatte ihn...

Schuldigs innere Maschinerie lief gut geölt an, als er sah wie Ran flüchtete, wie er fast magisch von dem ‚stillen Raum’ angezogen wurde. Der so verlockend war wie eine Venusfliegenfalle für ein Insekt.

Schuldig würde sich diesem schwarzen Loch entgegenstemmen, das Ran verschlucken wollte. Er sprintete los, fing Ran in Höhe der Couch ab und wirbelte ihn herum, presste ihn fest an sich, die Arme an den zitternden Körper fesselnd. "Hou...Halt, Halt", sagte er milde. "Geh nicht dorthin ...Ran ...geh nicht dorthin..."
 

Es waren Worte, die in tausendfacher Wucht auf Aya einschlugen, ihn in seiner Obsession, das Vergessen dieser Stille aufzusuchen, störten. Sie massiv durchbrachen. „Nein…“ Er kam nicht von der Stelle! Er…konnte nicht weiter. „Nein…“ Aya wand sich in den Armen, grub seine Fersen in den Boden unter sich. Stemmte sich gegen den Griff.

„Loslassen!“ Panisch.

„Lass LOS!“ Noch panischer…noch verzweifelter.

Er durfte nicht hier bleiben…er musste dort hinein…dort, wo niemand sehen würde, dass…

Niemand sollte sehen, wie er…wie er…
 

Unerbittlich hielt Schuldig die Arme fest um Ran geschlungen. "Nein ...nein Ran... nicht ... das ist falsch ...dieser Raum ist falsch für dich, bitte...", versuchte er mit ruhiger Stimme zu dem aufgelösten Mann durchzudringen, dessen Panik ihn schmerzte, als würde dieser tatsächlich mit seiner Klinge in seine Brust dringen.

Die Stimme flackerte wie eine Kerzenflamme im Luftzug und Schuldig wusste, dass es nicht mehr lange dauerte, bis Ran zusammenbrach. Er selbst war in Aufruhr, sein Herz schlug schnell, mit dieser Situation noch nie konfrontiert, lähmte ihn etwas und er wurde genauso ängstlich wie Ran ...jedoch sorgte er sich um diesen, bezog sich die Angst auf den Mann, der sich gegen ihn wehrte und stemmte.
 

Es war ein Laut fern ab von jeglicher Menschlichkeit, der Ayas Lippen entkam. Er wehrte sich, immer noch. Kämpfte gegen die ihn festhaltenden Hände an, auch wenn er nicht die geringste Chance gegen sie hatte. Er versuchte das zurückzuhalten, was ihn zu überrollen drohte. Versuchte sich mit aller Macht dagegen anzustemmen, es dort zu halten, bis er außer Sichtweite war…in Sicherheit. Bis niemand mehr zusah, wie nun…
 

…Tränen unaufhaltsam aus seinen Augen stürzten. Tränen, die er sich nicht zu weinen gestattet hatte. Wie sich Laute veräußerten, die trauriger nicht hätten sei können. Er schluchzte, weinte, kämpfte erstickt dagegen an. Es musste aufhören…er konnte doch nicht hier so…er musste alleine sein!

„Lass mich…lass mich….“, wisperte er stockend mit weit aufgerissenen Augen. Seine gesamte Gestalt zitterte, mehr noch als zuvor, zollte dem Schock Tribut, der ihn mit gewaltigen Wellen überrollte.
 

Schuldig sagte nichts mehr, die Laute überfuhren seine Gedanken und es war, als klammerte er sich fast an Ran, an den zitternden Körper, der seiner Selbst nicht mehr Herr war.

"Shh, Ran ...Ran ...", wiederholte er immerfort.

Splitternd fraßen sich das Schluchzen, das Weinen durch ihn hindurch, fegten seine dunkle Seite hinweg und ließen sie wimmernd zurück.

Nein. Nein. NEIN. Stell das ab, schrie sie. STELL ES AB! STELL ES AB! Als könne sie es nicht hören wie Ran weinte.

Sein Körper zog den anderen Mann mit hinunter und Schuldig hielt ihn zwischen seinen Beinen fest, umhüllte ihn mit seinem Körper, kein Weichen, kein Wanken.
 

Das begriff endlich auch Aya.
 

Endlich…endlich hörte er auf zu kämpfen. Endlich ruhte er am Körper des anderen Mannes und ließ sich von allem überschwemmen, was er bisher in der kleinen, dunklen Blase gefangen gehalten hatte. Verzweiflung, Trauer, Wut…alles brach sich an der zerplatzten Schale seiner Selbst und quellte heraus. Veräußerte sich in Schreien, in Tränen…in Unverständnis über das, was er am Meisten bewahrt hatte.
 

Ayas Wange ruhte an Schuldigs Brust, während er blicklos auf den Boden starrte und keine andere Wahl hatte, als seine Selbstbeherrschung gehen zu lassen und nichts als Schwäche zu zeigen.
 

Längst hatten Schuldigs Arme ihre harte Umarmung verloren, strichen automatisch, als hätten sie so etwas schon oft getan, tröstend über den Leib des weinenden Mannes. Seine rechte Hand fand den Weg in den Nacken, strich behutsam über die Haare um ihn zu erreichen, hielt die Hand ruhig dort, spendete Wärme, während seine Wange auf dem roten Schopf lag, dieselbe Blickrichtung wie Ran eingenommen hatte, als würden beide dasselbe sehen: nämlich nichts.
 


 


 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Coco & Gadreel

The Day after

~ The Day after ~
 


 

Es dauert lange…endlos lange, bis sich Aya überhaupt erst dieser Geste bewusst wurde.

Bis er sich eingestehen konnte, wo er sich befand. In wessen Gesellschaft. Lange, bevor er den weichen Stoff unter seiner Wange fühlte…die besänftigenden Berührungen, die sich so gut anfühlten in diesem Moment. So…tröstend. Lange, bevor er die Scham vor der eigenen Schwäche überwand und seinen Stolz hinter sich ließ.

Es mochten Minuten vergangen sein, oder auch Stunden, bis endlich ein Fünkchen Besserung die Züge des langhaarigen Japaners aufhellte. Bis das Zittern nicht mehr ganz so stark…das Schluchzen nicht mehr ganz so haltlos war.
 

"Es ist ...gut, Ran ...ist gut ..."

Plötzlich waren Worte da, Erinnerungen an seine Kindheit, Worte, die man sagte um zu beruhigen, um jemanden in Geborgenheit zu hüllen, in Nähe, die Sicherheit schenkte.

Seine Hände hielten nicht still, besänftigen, ruhten wieder, und nahmen ihre beschützende Haltung wieder ein.
 

„Ist es nicht“, drang eine außergewöhnlich dünne Stimme aus dem Bündel an roten Haaren und zusammengesunkenen Gliedern zu Schuldig empor. „Es ist nicht gut…sie ist nicht mehr da…ich halte das ohne sie nicht aus. Sie hat mich allein gelassen…sie ist weg…“ Weitere, sonst metertief vergrabene Worte sprudelten an die Oberfläche und gaben Zeuge, wie hilflos Aya doch gegen den Schmerz und den Verlust war, der in ihm tobte.
 

All das hatte er für sich behalten, niemals Schuldig eröffnen wollen, doch es half nichts. Einmal angefangen, hörte er nicht mehr auf zu erzählen, zu reden…das heraus zu lassen, was ihn bedrückte und zu ersticken drohte. Ein Teil in ihm hämmerte verzweifelt gegen dieses Bedürfnis, hieß ihn zu schweigen.
 

Schwäche! Das war es! Unnötige Schwäche! Doch…was brachte Stärke, wenn er an ihr zerbrach?
 

"Ja sie ist weg", bestätigte Schuldig leise. Was hätte er sonst sagen können? Nichtigkeiten, Sinnlosigkeiten, die der Realität nicht entsprachen? No way. Das war nicht er.

Während Ran sich vieles von der gequälten und beladenen Seele redete, hatte Schuldig bemerkt, wie er hin und wieder seinen Kopf gedreht hatte, sanfte Berührungen des Schopfes mit seinen Lippen tätigte. Seine Hände spendeten Trost. Er fühlte sich seltsam, konnte es nicht verstehen, was mit ihm geschah, etwas war in ihm gebrochen worden. Etwas schmerzte in ihm.
 

Sie waren beide eins in ihrem Schmerz. Beide eins in ihren entzweigebrochenen Gefühlen, auch wenn die Gründe hierfür völlig verschieden waren. Vielleicht aber auch nicht. Leid erzeugte Leid erzeugte Leid. Wieder und wieder, ein Teufelskreis.

Ein Teufelskreis, der so schnell nicht durchbrochen werden konnte.
 

Aya war fort. Schuldig hatte es selbst gesagt. Sie war weg. Wie ein Mantra sagte er es sich immer und immer wieder. Vielleicht…würde es irgendwann einmal bessere Zeiten geben. Vielleicht. Doch jetzt zählten Schmerz und Trauer. Und die sachten Berührungen, die Striche über seinen Rücken. Er war alleine. War er doch, oder?
 

Er weinte sich die Augen aus, schluchzte solange, bis seine Stimmbänder rau waren. Bis er nicht mehr in der Lage war zu reden, weil es körperlich zu sehr schmerzte. Minuten zogen davon, mochten es auch Stunden sein, die er hier verbrachte, bis er seinen Kopf an Schuldigs Schulter vergrub. Die Augen schloss.
 

Vereinzelte rote Haarsträhnen hafteten auf dem nassen, verweinten Gesicht, doch Schuldig beließ sie dort, versteckte eben dieses schutzlose Antlitz an seiner Schulter. Der große Raum war nicht kalt, doch er spürte, wie unbequem diese Haltung langsam wurde.

Er wollte jedoch um keinen Preis Ran loslassen, so hangelte er sich lediglich mit einer Hand, die zuvor auf dem Schopf gelegen hatte, nach der Decke, die auf der Couch lag. Mit einem schleifenden Geräusch zog er sie zu sich, breitete sie etwas umständlich über Ran und sich selbst aus und verhielt wieder in der Haltung die er zuvor schon eingenommen hatte, bettete seine Wange an Rans Kopf.

Das Beben des Körpers hatte langsam nachgelassen und Ran wurde etwas ruhiger, die Müdigkeit hielt Einzug, ein Tribut, den er an das viele Weinen zollen musste.
 

Und schon wieder wurde Aya eine kleine Annehmlichkeit mehr zuteil, als sie beide von Schuldig in die dicke Decke eingehüllt wurden. Er verkroch sich schier in der weichen Wolle, grub sich tief in ihren Schutz hinein.
 

Nur noch…ein paar Momente. Dann würde er wieder stark sein. Nur noch ein paar…er wollte noch ein wenig weinen, bis er schließlich aufsehen und stark sein konnte. Er hatte es Weiß doch versprochen...stark für sie zu sein und sie daraus zu holen. Sie von Kritiker zu lösen. Er konnte vor Schuldig doch nicht so…schwach sein.

Dass ihm ein immer kleiner werdender Teil in sich zurief, dass er genau das nicht zu beweisen brauchte, überhörte er. Er überhörte, dass auch er einmal schwach sein durfte. Dass Schwäche nicht verdammenswürdig war.
 

„Wieso…tust du das für mich?“, nuschelte das eingedeckte Bündel in Schuldigs Richtung.
 

Schuldig durchfuhr ein Schreck, als er die Frage hörte. Was willst du darauf antworten? Was hast du zu antworten? Was kannst du antworten.

"Frag ...doch nicht ...solche Sachen", murmelte er in den Haarschopf, liebevoll, als wären sie schon inniger verbunden, als nicht nur seit eben, seit dieser nahen Umarmung. Eine Nähe, die nicht nur körperlich einherging, sondern mit Gesten, mit der Suche nach Schutz, mit der bereitwilligen Gabe des Schutzes, mit einer Nähe auf einer anderen Ebene.
 

„Warum nicht?“, schallte es gedämpft zurück und ein rot umrahmtes, violettes Augenpaar blinzelte unter dem Deckenrand in grüne, ruhige Augen. Nicht, dass Aya diese Antwort mit Biegen und Brechen wollte…nein. Vielleicht wusste er sie schon. Vielleicht wollte er sie aber auch gar nicht wissen.

Aya blinzelte gegen ein paar ihm in die Augen hängenden Strähnen an, pustete sie schließlich zur Seite. Wie gleichmäßig laut doch das Herz des Telepathen schlug. Wie kräftig. Eben so, als wäre es der Beweis für gewolltes Leben, für…Energie.
 

Doch die Strähnen wollten nicht so recht, klebten noch in feinen einzelnen Haaren fest, sodass Schuldig sie schließlich mit einem Finger wegwischte, fuhr wieder über die Schläfe und verfolgte dieses Tun, ohne Ran dabei in die Augen zu sehen. Es war wie damals ... damals in dem Keller.... "Damals... hab ich dir die Haare ... auch aus dem Gesicht gestrichen ... weißt du noch? Sie haben dich auch gestört ... wie jetzt.", sagte er leise und sah dann in das fragende Violett. "Vielleicht habe ich Angst vor deiner Frage ... oder vor meiner Antwort?"

Er verstummte, lehnte den Kopf an die Couch hinter sich und seufzte unhörbar. Gott, wie furchtbar er sich jetzt fühlte. Als würde ihn gleich etwas verlassen, als wäre das die Ruhe vor dem Sturm.
 

Damals…
 

Ayas Gedanken schweiften müßig schwer zurück. Wann, damals? War es zu Anfang gewesen…was meinte Schuldig? Ihr erstes, erzwungenes Zusammentreffen in dem kalten Keller? Innerlich lächelte er. Kritiker hatten ihnen den Auftrag erteilt, Schuldig gefangen zu nehmen und was kam dabei heraus? Er wurde ihnen abtrünnig und verweilte nun bei ihrem eigentlichen Opfer. Ließ sich selbstsüchtig von ihm trösten. Der Plan war nicht wirklich aufgegangen.
 

Sehnsucht loderte in Aya hoch. Auch wenn er niemals wieder so handeln würde, wie er es da getan hatte, so wünschte er sich die Zeit zurück, in der seine Schwester noch lebte. Vergebens. Alles vergebens.
 

Viel lieber klammerte er sich an die Erinnerung des im Keller Geschehenen. Ekel war es gewesen, den er damals vor genau dieser Berührung empfunden hatte. Ekel war es nun aber nicht mehr.

Nein.

Schuldig selbst hatte den Ekel vertrieben, auch wenn Aya vorher nicht daran geglaubt hätte. Ihm ihn ausgetrieben, im wahrsten Sinne des Wortes, auch wenn dem Deutschen das sicherlich nicht bewusst war. Dabei durfte er keinem erzählen, dass er Schuldig so einiges verziehen hatte, was in diesen fünf Tagen passiert war.

Wie gut doch immer noch die alte Waagschal-Methode funktioniert. Gute Taten gegen böse. Was wog mehr? Hatte am Anfang die Schale mit den bösen Steinen, so er sie denn als solche ansah, Übergewicht und die gute Seite war frei in der Luft gebaumelt, so verhielt es sich im Moment genau anders herum.

Eine…amüsante Vorstellung, wenn er noch in der Lage gewesen wäre, sich darüber zu amüsieren.
 

Aya seufzte leise. Er hatte verziehen. Doch konnte er auch annehmen, was Schuldig ihm darbot? Besonders jetzt? War es denn jetzt nicht Verrat an IHR?
 

„Ist sie so schaurig, dass du Angst vor ihr hast…deiner Antwort?“
 

"Schaurig?", fragte Schuldig, den Kopf noch immer leicht in den Nacken gelegt, die Augen nun öffnend, die Decke des Raumes sehend.

"Nein ... vor schaurigen Sachen habe ich meistens ... keine Angst ... meistens. Eher vor den gegenteiligen Sachen."
 

Er war nah dran, das Ganze ins Ironische oder ins Zynische zu ziehen, um sich gegen die Fragen zu schützen. Doch noch ging es, noch fühlte er nicht, dass Ran ihn absichtlich quälen wollte.
 

Aya schwieg, lehnte sich jedoch an Schuldigs Brust, so wie sie hier saßen...er praktisch auf dem Schoß des Deutschen. Zwischen dessen Beinen…ineinander verknotet.

Er wusste selbst, dass jedes weitere Anstacheln das Thema in eine Richtung gelenkt hätte, die keinem von ihnen angenehm wäre…zu diesem Zeitpunkt.
 

Er zog die Decke wieder etwas höher und starrte blicklos auf einen entfernten Punkt der Wohnung. Er strich sich mit einer Hand über die tränenfeuchten Wangen und atmete zittrig ein und aus. Wenn er einfach hier sitzen blieb und an nichts dachte…würde der zerreißende Schmerz in seinem Inneren dann schließlich besser werden?
 

Und Schuldig legte seine Hand wieder auf den Rücken, ließ sie ruhig dort liegen. So saßen sie zusammen, bis das helle Grau des Tages dunkler wurde und es zu dämmern begann. Es war nicht mehr allzu lang.

Schuldig hatte die Augen geschlossen und genoss die Wärme, die Ruhe, den Geruch, die steten Atemzüge von Ran, die sich anhörten, als hätte er eine Erkältung und sei verschnupft. Kam wohl vom Weinen, huschte eine Überlegung durch Schuldigs steten Strom aus Gedanken.

"Hast du ... willst du etwas Trinken, Ran?", fragte er schließlich.
 

„Einen Scotch…einen starken Scotch.“ Nicht nur einen. So viele, dass Aya nicht mehr wusste, wo er war und was ihn bedrückte. Er wollte sich betrinken. Solange, bis er ein völliges Blackout hatte.
 

Ja, das war eine sehr gute Idee. Vielleicht würde dann die Trauer besser werden…vielleicht aber würde sie auch umso stärker zurückkommen. Wer wusste das schon? Aber versuchen konnte er es doch, oder nicht? Brachte es doch nichts, seine Gedanken wieder und wieder um Aya kreisen zu lassen. Um die Wenn und Aber, die in seinem Kopf dröhnten.
 

Schuldig hatte zwar etwas nicht Alkoholisches gemeint, aber im Nachhinein war das gar keine schlechte Idee, schließlich hatte er seinen Vorrat wieder aufgestockt und damit ließ sich einiges wegspülen, was einem das Innere zerfraß. Für den Moment war es eine Lösung. Ja ... für den Moment tat es gut.

Selbstvergessen platzierte er auf Rans Haarschopf einen Kuss, löste sich leicht aus der Umarmung, damit er aufstehen konnte und wartete darauf, dass Ran ihn gehen ließ. "Ich hol uns etwas. Willst du dich auf die Couch setzen?"
 

Ja, wollte er.

Aya stand langsam auf und gab Schuldig frei.

Er ließ sich schweigend auf die Couch fallen, ganz einfach, weil er keine Kraft mehr hatte um sich zu bewegen. Er würde hier bleiben…ruhen und sich auskurieren…irgendwie.

Er war Schuldig dankbar dafür, dass dieser für ihn das Leben übernahm, es ihm erleichterte, auch wenn er wusste, dass er früher oder später wieder selbst denken und handeln musste. Doch nicht jetzt. Nicht heute…nicht hier.
 

Schuldig besah sich die Flaschen und hatte das von Ran gewünschte Getränk in der Hand, dazu den Whiskey, den er von ... man mochte es kaum glauben ... Jei vor einiger Zeit geschenkt bekommen hatte. Schottischer Import. Schuldig hatte sich gefragt, woher er ihn hatte. Vermutlich über Crawford bezogen.

Mit zwei Gläsern und den Flaschen bewaffnet, kehrte er zu Ran zurück, stellte sie auf dem Couchtisch ab. Und ging dann, um noch die indirekte Beleuchtung einer Stehlampe einzuschalten, die etwas abseits stand und ihr Licht nur dezent zu ihnen fallen ließ.
 

Aya nahm währenddessen die Flasche an sich und öffnete den Verschluss. Er roch an dem starken Tropfen und seufzte innerlich auf. Er kannte diese Sorte. Es war nichts Billiges. Ganz im Gegenteil. Ein sehr gutes Aroma, dafür aber auch sündhaft teuer. Das war purer Alkohol…das war etwas, um schnell zu vergessen, wenn man nur schnell genug und in großen Mengen trank.

Er füllte beide Gläser zu gut einem Viertel und wartete, bis Schuldig sich wieder zu ihm setzte.
 

Schuldig setzte sich auf den Dreisitzer auf dem Ran bereits Platz genommen hatte, wollte sich nicht zu weit von dem Mann entfernen, nicht wo sie sich vorhin so nah waren, nicht nachdem er ihn wieder berühren wollte. Er reichte Ran eines der Gläser und nahm seines in die Hand. "Runter damit", toastete er lapidar zu und nahm einen Schluck, ließ den Geschmack nachwirken und lächelte ob der Wärme die ihn durchströmte.
 

Aya begnügte sich jedoch nicht mit einem Schluck, sondern stürzte gleich das ganze Glas hinunter. Es brannte wie immer und trieb ihm die Tränen in die Augen.

Wo Schuldig sich erwärmte, explodierte nun Hitze in ihm, ließ den Alkohol schwer in seinen Magen sacken.

Er starrte aus dem Fenster, auf die Lichter da draußen. „Ich frage mich…wie es in Zukunft weitergehen soll“, murmelte er schließlich, sah dann erst zurück zu Schuldig.
 

Schon wieder so eine Frage, die Schuldig nicht beantworten konnte. Er zuckte in Ermangelung einer zufrieden stellenden Antwort einfach die Schultern.

"Lass es auf dich zukommen, meinst du nicht?", grübelte er trotzdem noch über die Frage nach.
 

Mit einem weichen Gluckern fand mehr Whiskey in Ayas Glas und schimmerte dort in geheimnisvoll dunklem Bernstein. Er studierte die schattierten Augen des Telepathen, ebenso seine minimal beleuchteten Gesichtszüge. Feuer tanzte in den Haaren des anderen Mannes, so als wäre Schuldig der Teufel persönlich. Luzifer…kam der ‚Kosename’ daher, den Farfarello seinem Teammitglied gegeben hatte?

„Es wird sich nichts ändern, wenn ich nicht handle. Ich kann nicht ewig hier sitzen und warten, dass ich sie vergesse.“
 

Ran sah ihn lange an und Schuldig wand sich innerlich vor diesem Blick, der ihn so forschend studierte. Nicht viele normale Menschen - er konnte sie an einer Hand abzählen - kamen ihm so nahe, dass sie ihn länger im Gedächtnis behielten, oder gar sich sein Gesicht einprägen konnten. Es war ungewohnt für ihn, wenn Ran ihn so direkt und interessiert anblickte.

"Zum Einen... nein es wird sich nicht ändern, das stimmt, aber alles ist jetzt in Aufruhr und manches legt sich und ordnet sich von alleine, wenn man etwas Zeit investiert." Crawfords Worte waren das, doch das behielt Schuldig besser für sich.

"Und zum Zweiten, ‚Vergessen’ kann nicht erzwungen werden, das kommt von alleine. Aber willst du sie denn vergessen, Ran?" Er leerte sein Glas und stellte es auf den Tisch, da Ran die Flasche noch in der Hand hielt.
 

Aya schenkte ihm nach und stellte die Flasche ab, bemühte sich jedoch nicht damit, den Deckel wieder zuzuschrauben. Die Flasche würde sowieso noch schnell genug leer werden. Er nahm einen kleineren Schluck. Sinnierte über die Worte des anderen Mannes.

„Es ist ja nicht so, als hätte ich keine Zeit…ich habe anscheinend viel zu viel davon“, erwiderte er schließlich nachdenklich. „Zuviel, um sie zu vergessen, da hast du Recht. Ich kann sie nicht vergessen…dennoch will ich mich nicht daran erinnern, wie sinnlos es war, dass ich Geld für sie….herbei geschafft habe.“ Indem ich getötet habe, setzte er nach, veräußerte das jedoch nicht. Es war genau das gewesen, was Schuldig ihm vorgeworfen hatte.
 

Für Schuldig waren jedoch genau diese Worte, die ihm in dem Satz von Ran gefehlt haben, er wusste genau - auch ohne die Gedanken lesen zu müssen, was Ran sagen wollte. Doch Ran lenkte ein, näherte sich seinen Worten, seinem Vorwurf von damals an. "Wenn du an damals zurückdenkst wie du warst ... und wie du heute bist. Kannst du nicht sagen, dass du stärker bist?" Er hob gleich die Hand, um dem Einwand, der wohl gleich kommen wollte, Einhalt zu gebieten.

"Ich meine ... ihr habt gleiches mit gleichem bekämpft. Und die Methode mag zwar nicht jedem schmecken, aber ihr habt oft Schlimmeres verhindert - sieht man es mal von eurer Warte aus. Wenn ich an den Spinner Masafumi denke ... Gott ... es war nicht so, dass wir nicht knapp selbst vor einem Angriff von dieser Familie ausgehend standen. Takatori brauchte uns nicht mehr und wollte uns abservieren. Allesamt größenwahnsinnig, diese Familie, sieht man mal von dem Kleinen ab."

Schuldigs Blick fing die Amethyste ein, wollte abwägen ob Ran über das Thema reden konnte.
 

Und sah in ihnen, dass Aya nicht vergessen hatte, warum er so hinter Takatori hergewesen war. „Ich habe sie gehasst...alle, dafür, dass sie mir meine Familie genommen haben. Ich habe sie so sehr gehasst, dass ich alles andere aus den Augen verloren habe. Es gab nur mich, Aya und Takatori. Ich habe Omi dafür verdammt, dass er ein Takatori war…ebenso wie Perser. Sie alle…“
 

Doch es hatte sich gebessert, Stück für Stück. Wochen und Monate, nachdem er endlich den letzten Streich hatte führen können, der seinen Hassfeind niederstrecken sollte, war ihm endlich bewusst geworden, dass es auch andere Dinge gab. Seine Freunde…ein Leben. Dass er sich nicht still und stumm zurückziehen musste.
 

Er sah zur Seite, sein Blick glitt über den Couchtisch hinab auf den Boden. Es dauerte jedoch seine Zeit, bis er seine Gedanken von vorher fortführte. „Ich bin stärker geworden…im Umgang mit den Anderen. Habe mich von Youji durch sämtliche Clubs in Tokyo schleifen lassen.“ Er lächelte schwach. „Ich habe nicht mehr gehasst…wollte es auch gar nicht mehr.“ Sein Blick fiel auf Schuldig zurück.
 

Und dieser staunte nicht schlecht, ein anzügliches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. "Du meinst ... durch wirkliche ALLE Clubs?" Er wackelte etwas mit den Augenbrauen um Ran zu necken und ahnte bereits, dass der Mann nicht so unerfahren und unschuldig vor ihm saß, wie er früher manches Mal vermutet hatte, aufgrund seiner Abneigung auf Berührungen oder seiner Menschenscheu.
 

Aya lächelte etwas. „Ich kann dir nicht sagen, wie oft ich gesehen habe, wie sich jemand auf irgendeiner Bühne hat auspeitschen, vögeln oder quälen hat lassen. Im Gegenzug dazu die Clubs mit Anzugpflicht für die oberen Zehntausend. Ein stetiger Wechsel…wir sind beide Samstags nachher nicht mehr aus dem Bett gekommen, wenn wir Frühschicht hatten. Eine wahre Freude für Ken und Omi.“ Er schweifte mit seinen Gedanken zurück.
 

Schuldig kippte den Inhalt seines nachgeschenkten Glases in einem Zug hinunter, das Grinsen kaum einstellen könnend. Jedoch nicht wegen des Alkohols, der sich nur am Rande in einem wärmenden Gefühl und einer gewissen Entspanntheit bemerkbar machte, schließlich war er einiges gewohnt...

Vielmehr lag es an den davongeisternden Gedanken, die sich an seine eigenen Erfahrungen erinnerten und zu dem Tisch am Ende des Raumes spukten.

Interessant, Ran, sehr interessant. Um nicht zu sagen geradezu elektrisierend, diese Neuigkeit. In solchen Etablissements hätte er Ran nicht vermutet - zumindest nicht in seiner Freizeit - unterwegs um Spaß zu haben mit dem Blonden. Ein Funkeln trat in seine Augen, glimmte in den Schatten seiner Augen, während er sich nachschenkte, Ran die Flasche fragend hinhielt.

"Wart ihr auch im ‚Blind Kiss’?"
 

Aya sah auf die Flasche und schüttelte verneinend den Kopf. Er hatte noch.

Er überlegte. Blind Kiss….Blind Kiss…sie waren in so vielen Clubs gewesen.

Der rothaarige Japaner runzelte die Stirn. Ja…natürlich waren sie da gewesen. Dieser Clubs war einer der Besten, den sie je besucht hatten. Wunderschöne Frauen und Männer, die verschiedenste Shows aufführten, Playrooms wohin das Auge reichte und sehr viele Möglichkeiten, sich nach allen Regeln der Kunst auszutoben.

„Ja“, bestätigte er schließlich auch für den anderen Mann. „Mehrmals sogar…es hat uns Beiden gut gefallen, die Atmosphäre war einfach gut.“ Er nippte an seinem Glas, spürte die Wärme, die nun von seinem Magen aus in seinen gesamten Körper floss.
 

Ahh ... es hat ihm also gefallen, lächelte Schuldig amüsiert in sich hinein, veräußerte sich jedoch nur in einem "Ja… der Club ist gut", und stellte die Flasche wieder ab. Er lehnte sich seitlich an die Rückenlehne, legte seinen Arm darauf.

"Der Privatschnüffler ist also auch kein Kostverächter ...", bestätigte er sich selbst und grinste. Das hätte er dem großen Blonden nicht zugetraut ... ebenso wenig wie Ran. Sie waren ihm bisher was sexuelle Praktiken anging immer zu abgehoben vorgekommen, nur das Ziel vor Augen Kritiker zu ‚dienen’, aber nicht ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte erfüllt zu bekommen. Vermutlich war das ihr einziges Feld, in das Kritiker nicht eingriff.
 

„Kostverächter? Youji? Nie gewesen…Er garantiert nicht. Wo ich mich mit zwei Frauen oder Männern in einer Nacht vergnügt habe, hat er es mit vier getrieben. Und das jedes Wochenende…“ Er leerte mit einem weiteren Schluck sein Glas. Schenkte sich halbvoll nach. Trank wieder. „Aber er macht es nicht mehr…jetzt nicht mehr. Keine Ahnung, warum er aufgehört hat.“ Er seufzte. Es war verdammt warm hier…
 

"Irgendwann ist es immer dasselbe, vielleicht deshalb." Schuldig sah die roten Schatten auf dem verweinten Gesicht, sprach sie dem Alkohol zu. Seine Blicke krochen über den in Gedanken versunkenen Mann, beobachteten die Lippen dabei wie sie sich nach dem Trinken kurz aufeinander legten, wie Ran schluckte...

Was hielt ihn eigentlich davon ab, dem Mann nicht die Kleider vom Leib zu ziehen, ihn nicht besinnungslos zu küssen...

Er nahm einen gierigen Schluck und das Lodern in seinen Augen wurde stärker.

...Und was genau ... war es noch Mal, dass ihn zurückhielt und diesen Mann nicht hier auf der Couch über die Lehne gebeugt zu ficken? Seinen Schwanz tief in diesen schlanken Körper zu versenken, der bereits ihm gehörte. So tief, dass er sich wand, dass er es kaum mehr aushielt und er die rohen Laute des Keuchens ernten konnte...

Schuldig riss sich abrupt von diesen Bildern los, schob sie zurück, dorthin wo sie aus den Untiefen seiner dunklen Fantasie empor geschnellt waren, schluckte erneut und biss sich auf die Innenseite der Unterlippe.

Es war ja nun nichts Neues, dass Ran ihn scharf machte, schrie er seinen Hormonen zu und auch dem Etwas, was sich in ihm zu regen begann und kurz an die Oberfläche getreten war.
 

„Vielleicht…vielleicht auch nicht. Kommt darauf an, welche Praktiken man sich aussucht.“ Aya nickte leicht. Es war nicht schwer für Schuldig zu erraten, dass der Alkohol langsam seine Wirkung tat. Seine Haltung war entspannter, in sich zusammengesunkener. Er strich seine Haare fahrig aus der Stirn, klemmte die längeren Strähnen hinter seine Ohren.

„Je mehr Abwechslung, desto länger kann man das Spiel treiben…Spielzeuge …Fesseln, all das. Auch wenn ich es nie sonderlich Vertrauen erweckend fand, am empfangenden Ende solcher Spielchen zu sein.“ Ein Lächeln huschte über seine Lippen.
 

"Selbst wenn man sich Praktiken auswählt, es wird mit der Zeit langweilig, weil die Personen oft wechseln, sie sind Plattformen, nichts was das Interesse länger fesselt." Schuldig sprach aus Erfahrung. Für ihn war es oft eine Enttäuschung gewesen, denn oft waren die Menschen geistlos und ihre Gedanken abgeschmackt und noch manch anderes schwirrte dort herum. Nur wenig Menschen fesselten ihn und jemand ganz besonders, vielleicht macht dieses Interesse auch die Tatsache aus, dass er Ran nicht lesen konnte. Aber aus anfänglichem Interesse wurde mehr und das spürte Schuldig nun am ganzen Körper, aber vor allem an einer ganz bestimmten Stelle.

"Du fandest es nicht Vertrauen erweckend ... aber du hast es genossen?", fragte er mit einem dunklen Lächeln. Seine Hand, die auf der Rückenlehne der Couch lag, bewegte sich nach vorne, schlich sich zu Rans Haaren in Höhe des Nackens. Ein genießerischer Ausdruck hatte sich in die Augen gestohlen, als sie Ran in einige Bilder seiner Fantasie aus der Realität hinüberholten.
 

Aya bemerkte diese Hand zunächst nicht, als er sich seufzend zurücklehnte und auch noch in den Radius eben dieser begab. „Nein…genossen habe ich es nicht. Deswegen war ich auch nicht derjenige, der unten lag…fast nie. Schon gar nicht gefesselt…fast nie gefesselt…ich mag das Gefühl nicht…Allerdings hat es etwas für sich, jemanden so zu sehen…sehr erregend.“

Er nahm einen weiteren Schluck. Einen tiefen Schluck, mit dem er das Glas leerte. Beugte sich schließlich vor und nahm die Flasche ein zweites Mal auf, schüttete Schuldig schwankend noch hinzu. Das Zeug wirkte. Wundervoll.
 

Schuldig grinste, erkannte er doch, wie der Alkohol bei Ran zu wirken begann. Er selbst spürte ihn auch, doch bei ihm war es äußerlich meist kaum zu merken.

Die Zeit verstrich etwas bevor er antwortete "Ja, so etwas ist ... mehr als ... erregend.“ Er erwähnte jedoch nicht, dass Ran auch hier in dieser Wohnung in Ketten gelegen hatte, denn diese Gedanken verblassten im Alkoholnebel, der ihn langsam einlullte und Ran zum Jagdziel erkor.

Die Hand fand wieder in das rote Haar, grub sich hindurch bis die vorwitzigen Finger den Nacken fanden, ihn sanft bestrichen.
 

Schuldigs Jagdziel schwieg nachdenklich, versank alkoholvernebelt in dem angenehmen Gefühl des leichten Kribbelns ausgelöst durch Schuldigs Finger. Er lehnte sich zurück, in die ihn streichelnde Hand. Er schnurrte sacht. Und noch ein Schluck. Der wievielte…er wusste es nicht.

„Aber…es erfordert Vertrauen“, lehrmeisterte er mit Blick auf die Whiskeyflasche. „Ohne Vertrauen ist es sinnlos…aber auch mit Vertrauen kann es passieren, dass man hintergangen wird…vergessen wird.“ Er seufzte. „Das ist dann unschön.“
 

Schuldig stellte das Glas mit einem Ruck ab, nachdem er es leer getrunken hatte und sein Gesicht fiel etwas zusammen. "Ich wollte dich nicht vergessen!", platzte er reuig heraus. Starrte Ran zerknirscht an.

Er bezog Rans Worte sofort auf dessen Erlebnis und schüttelte den Kopf, die Augen zeigten wie sehr es ihm leid tat.

Der Alkohol machte ihn weicher, sentimentaler und für solcherlei Angriffe auch verletzlicher. Manchmal jedoch auch unberechenbarer, doch heute nicht, heute hatte er Ran neben sich.
 

„Ich weiß…“, lächelte Aya sanft, sah Schuldig direkt in die Augen. „Aber es hat trotzdem wehgetan…“ Er blinzelte, begriff erst einen Moment später, dass es aufkommende Tränen waren, die er dort zu tilgen versuchte. Er ertränkte sie in einer weiteren Ladung Alkohol. Noch einmal ein halbes Glas. „Ist auch egal…“, murmelte er dann, wollte einlenken. Es tat ja nichts zur Sache…es war vergangen. Wie alles vergangen war, nicht wahr?
 

"Nicht ..." Schuldig rutschte zu Ran ... er war nicht wirklich weit von ihm weg, doch seine Hand lag jetzt warm in dessen Nacken, spielte mit den kürzeren Härchen. "Keine Tränen ... wegen ... mir." Er wollte nicht, dass Ran wegen ihm schon wieder heulte. "Dann doch lieber Wut ... soll ich dich noch etwas ärgern?", grinste er etwas schräg.

"Ich trink dir den Rest des Whiskeys weg! HA!" Und schon gluckerte der Rest in Schuldigs Glas und er nahm einen Schluck.

Sie versoffen hier den teuren Whiskys als wäre es Limonade. Welch Schande ... grinste er in sich hinein und nahm noch einen kräftigen Schluck.
 

Violette Augen starrten außergewöhnlich geweitet und groß auf Schuldigs noch vom Whiskey glänzende Lippen. In ihnen standen immer noch Überreste der Tränen, doch den schmalen Mund umspielte bereits ein schwaches Lächeln.

„Das…ist aber gemein…“, beschwerte er sich mit ruhiger, doch schon ein wenig verschwommener Stimme. „Und was bleibt jetzt für mich? Gar nie nichts…“
 

Aya beugte sich vor, merkte schon in der Bewegung, dass er nicht mehr hätte aufstehen können so betrunken wie er war. Kein Wunder…eine halbe Flasche von diesem Zeug sollte noch jeden auf die Matte schicken.

„Obwohl…“ Seine Hände umfassten herrisch das Kinn des Deutschen und zogen es zu sich. „Einen…Schluck gibt es ja noch….“ Oh ja, da war noch einer. Genau vor ihm. Hier…gerade hier.
 

Seine Lippen fanden die Schuldigs und saugten sich an ihnen fest, während eine forsche Zunge Einlass verlangte. Den letzten Schluck…er wollte den letzten Schluck Whiskey.
 

Fahrig fand das leere Glas seinen Ruheplatz auf dem Glastisch, während sich Schuldigs Hände an Rans Seite festhielten, er den Kontakt herbeigesehnt hatte wie nichts zuvor.

Ja, diese Lippen, die so gierig schienen, die Zunge die so beharrlich einen Weg zwischen seine Lippen suchte, die Flüssigkeit darin suchte. Schnell öffnete er die Lippen, verband ihre Münder zu einem gierigen, verschlingenden Kuss. Seine Nervenbahnen schickten ihm die heißesten Impulse, als ihn die Samtigkeit von Rans Zunge, seinen Lippen benebelte, ihn noch heißer machte.
 

Aya trank…im wahrsten Sinne des Wortes von den Lippen des Deutschen. Er ertrank in dem berauschenden Geschmack, der sich ihm hier darbot. Seine Hand spannte um das Kinn, zog es noch ein Stück näher zu sich…näher als es überhaupt noch ging. Er übte Dominanz aus, versuchte es, versuchte mit aller Gewalt, der Leidenschaft in seinem Inneren Tribut zu zollen. Dem Feuer, das in ihm brodelte. Sein Körper verlangte mehr…mehr von dieser Droge, berauscht wie er war durch den Alkohol.
 

Und Schuldig ließ sich ziehen, folgte dem dirigierenden Zug. Seine rechte Hand fand ihren tastenden Weg über Rans Oberteil, suchte sich einen Weg hinunter zu dem Becken und lenkte es etwas zu sich, sodass Ran näher zu ihm kam und er ihn unter sich brachte, als er dem Zug von Rans Hand gänzlich folgte, diesen beharrlich auf den Rücken zurückdrängte. Seine Zunge hatte unterdessen ihr Spiel nicht aufgegeben, leckte sich mit lockenden Strichen über die begehrenswerten Lippen, bevor sie wieder in das feuchte Innere drang, Rans Zunge koste, sie umwarb.

Seine Hände wollten überall sein, doch sie hielten Ran in einer Umarmung, streichelten zärtlich, fahrig jedoch, da der Alkohol Tribut forderte.
 

Ayas Beine spreizten sich geschmeidig, als er sich unter Schuldig wieder fand und dem anderen Mann Raum gab, sich auf ihm zu platzieren. Er gab dem schweren, männlichen Gewicht auf sich Raum und Stütze, wusste jedoch schon längst nicht mehr, was er hier tat. Er wusste nur, dass es sich wundervoll anfühlte. Lippen, Hände, alles verschmolz zu einer Bewegung.

Seine Haare umflossen ihn, rahmten ihn ein, als er in die Mähne des anderen Mannes griff und diese umfasste. Sich daran festhielt, während Schuldig ihm Luft raubte. Während er IHM das lebenswichtige Elixier stahl.
 

Auch seine Hände begaben sich auf Wanderschaft, verweilten unter dem Hemd des Telepathen auf dessen Rücken, dessen Hüfte.
 

Schuldig genoss die streichelnden Berührungen der warmen, schier glühenden Hände, wurde von dem Ansturm an Sinneseindrücken überrollt, als er sich zwischen Rans Beine gleiten ließ, ihr beider Unterleiber sich berührten. Sonst driftete er meist in die Gedankenwelt des Anderen ab, doch dieses Mal musste er seinen Körper zur Gänze wahrnehmen, erlag den Eindrücken fast, als er Ran in ein heftiges Zungenspiel verwickelte.

Seine rechte Hand schob sich zu Rans Nacken hoch, barg ihn in der großen Hand, während die andere Ran leicht von der Couch hob, als er sein Gewicht zur Seite verlagerte, Ran an sich hob um ihn am ganzen Körper zu spüren, um ihn zu vereinnahmen.

Keuchend löste er sich von diesen Lippen, leckte wieder darüber, die Augen dazwischen in die von Ran brennend, die ihm verschleiert erschienen, die Lider zur Hälfte geschlossen, dennoch wachsam dahinter, denn die Hände waren nicht untätig.
 

Aya schauderte. Das war besser als jede Droge auf der Welt…besser als jeder Rausch, dem er verfallen war. Er bog seinen Kopf nach hinten, verlangte…forderte mehr Aufmerksamkeit. Diesig wie er war schloss er die Augen, damit sich die Welt um ihn herum nicht mehr drehte, auch wenn dieses schwerelose Gefühl einfach wundervoll war. Als würde er treiben. Sich treiben lassen im Meer von Wärme und schaurig schönen Impulsen, die seine Synapsen in Brand setzten und nicht zu löschen vermochten.
 

Und Schuldig gab Ran diese Aufmerksamkeit, folgte der stummen Aufforderung, zeichnete mit seinen Lippen einen Weg über den Hals die Kinnlinie entlang, knabberte sanft an der samtenen Haut, unter dem Ohr, wo Kiefer und Halsansatz sich trafen. Geräuschvoll sog er Rans Duft ein, ließ einen genießerischen Laut hören, bevor sich seine Zunge an Rans Ohr gütlich tat, die feine Ohrmuschel nachfuhr, leckte, reizte.

Seine Hand hatte längst den Rücken verlassen, massierte den bedeckten Hintern. "Hmm", raunte er ... "Du liegst so verdammt gut in der Hand." Er presste Ran wieder an sich.
 

Ein feines, genießerisches Lächeln umspielte Ayas Lippen, als er, immer noch mit geschlossenen Augen jede einzelne Berührung seine Sinne fluten ließ. Er war nicht alleine…nicht zu diesem Zeitpunkt. Hier war keine Kälte, keine Trauer…hier war fließendes Wohlbehagen, ja vielleicht auch Glück. Er ließ sich fallen…treiben, lauschte den Reaktionen seines Körpers. Ließ sich wiegen im sanften Takt der Leidenschaft. Ganz vorsichtig…so langsam. So behutsam…
 

Schuldig küsste sich die Kinnlinie, durch die Flut an Haaren nach vorne zum Kinn, blies einige der roten Flechten beiseite und hauchte eine zarte Berührung auf die leicht geöffneten Lippen. Seine Hand kroch ihren bekannten Weg hinauf zum Nacken, hielt diesen sanft.

Leise schmunzelnd legte er seinen Kopf auf Rans Schulter als er die Atemzüge vernahm, die geschlossenen Lider, den ruhigen Körper, der sich ihm vertrauensvoll in die Arme gelegt hatte. Er lauschte auf den Herzschlag.

Einfach eingeschlafen.
 

Ein leises Kichern kroch in ihm herauf und er schloss die Augen, streichelte Ran noch eine kleine Weile weiter, lag noch eine Zeit so da, bevor er sich nach einer halben Stunde vielleicht von ihm löste, den Schlafenden behutsam niederlegte. Unsicher hielt er sich an der Couch fest als er aufstand.

Seine Arme schoben sich unter Rans schlafenden Körper und hoben ihn hoch. Er war zwar nicht mehr ganz fit und der Alkohol feierte rauschende Feste in seiner Blutbahn ... mit Auslagerung in seinem Kopf, doch irgendwie würde er sie beide schon in den sicheren Hafen steuern.

So peilte er doch relativ sicheren Schrittes das Bett an, nahm die Hürde der beiden Stufen problemlos und legte Ran auf seine Seite ab, sich hinter diesen legend und die Decke über sie beide ziehend. Seine Arme fanden, die von Ran und legten sich um ihn, sein Kopf ruhte in dessen Nacken. Es brauchte nicht viel und er war eingeschlafen.
 


 

o~
 

Dass rein optische Reize auch durchaus schmerzen konnten, erfuhr Aya, sobald er die Augen öffnete und feststellte, dass die Sonne es wahrlich nicht gut mit ihm meinte, so wie sie ihm direkt ins Gesicht schien.

Er grollte, stöhnte auf und vergrub sein Gesicht wieder in den weichen Kissen. Wohlweislich ließ er erst einmal langsam das Geschehene in seinen Verstand sacken. Den gestrigen, schrecklichen Tag. Den Abend, den sie gleich noch mal womit verbracht hatten?
 

Saufen.
 

Richtig. Sie hatten diesen überaus süffigen Whiskey getrunken. Ayas Lippen teilten sich für ein zweites Stöhnen. Das erklärte einiges. Seine Kopfschmerzen. Die Übelkeit. Die um ihn geschlungenen, ihn in Besitz nehmenden Arme. Das sanfte Schnarchen, das seinen Nacken kitzelte. Doch Aya hatte keine Ahnung, wie sie hier in dieses Bett gekommen waren. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass sie auf dem Sofa gesessen hatten…
 

…und dann? Nichts. Dann war er hier aufgewacht. Anscheinend hatten sie noch geredet und er war irgendwann eingeschlafen. Ein völliges Blackout…nicht das Erste seiner Art. Ausgerechnet hier. Ausgerechnet. Und Schuldig konnte natürlich die Gelegenheit nicht ziehen lassen und ihn als menschliches Seitenschläferkissen gebrauchen, so wie er sein Bein um ihn geschlungen hatte.
 

Zu schade nur, dass Ayas Blase dem so ganz und gar nicht zugeneigt war.
 

Der rothaarige Mann entwirrte und wand sich langsam und vorsichtig aus dem Klammergriff des hinter ihm liegenden Telepathen, bevor er auf unsicheren Beinen aufstand. Mehr zum Bad wankte als ging. Sich dabei Kopf und Magen hielt.
 

Wenig später fand er sich über der Toilettenschüssel hängend wieder und ließ sich den gesamten gespeicherten Alkoholvorrat des gestrigen Abends noch einmal mit bitterer Magensäure versetzt durch den Kopf gehen. Geschah ihm recht…passte es doch zu seiner momentanen Stimmung…zu seiner Trauer.
 


 

Wenig später regte sich auch der feurige Haarschopf und die Hände tasteten etwas vor sich, fanden jedoch nichts, bevor die Lider sich hoben und empört das Fehlen der Wärmequelle bemerkten.

Ein flaues Gefühl lag wie ein Stein in seinem Magen und sein Kopf pochte hintergründig, was ihn die Stirn etwas zusammenziehen ließ.

"Steh auf", befahl er sich selbst knurrend und schwang auch gleich die Beine aus dem Bett. Sofort fiel sein Blick auf die entfernte Badezimmertür.

Mit zerzaustem Schopf blieb er zunächst sitzen, rieb sich über die Augen. "Oh man, ich brauch eine Dusche", stöhnte er leise. "Sonst werde ich heute nie mehr wach."

Wie spät war es eigentlich? Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass Mittag schon durch war. Auch recht, befand er und erhob sich. Er ging in Richtung Küche und sein Blick fiel auf die Couch, die Whiskeyflasche. Er nahm sie auf und verräumte sie, öffnete das Fenster um zu lüften, frische Luft herein zu lassen und den Geruch zu vertreiben, der noch etwas in diesem Bereich haftete.

Sein Blick glitt wieder zur angelehnten Badtür und er seufzte.

Er müsste sich schon sehr täuschen, wenn da gestern nicht doch etwas zwischen ihnen gelaufen war. Aber so wie er in kompletter Kleidung hier stand, sah es nicht so aus, aber...

Er war sich nicht sicher. Ob Ran etwas erwähnen würde?

Das Thema auf später verschiebend begab er sich in die Küche, machte für sie beide Tee und Kaffee.

Als dies erledigt war, ging er zum Badezimmer, klopfte an. "Brauchst du Hilfe, Ran? Alles klar?"
 

Ayas Hand landete nun schon zum dritten Mal auf dem Knopf der Spülung, ließen ihn für einen Moment die Worte des Telepathen vergessen. Wann war das denn endlich vorbei? Soviel hatte er nun auch nicht getrunken, dass er sich hier vor der Toilettenschüssel häuslich einrichten konnte.
 

Oder? Das war die große Frage. Das Mysterium des heutigen Morgens.
 

„Mir geht’s bestens…könnte nicht besser sein“, gab er zurück und holte tief Luft. Wenn er jetzt aufstand, konnte er sich förmlich sicher sein, dass es wieder von vorne losging. Lieber blieb er da sitzen und machte es sich hier in dem unangenehm kalten Bad gemütlich.

Vorsichtig robbte er rückwärts und lehnte sich an die Wand. Schloss die Augen. Vielleicht konnte er irgendwann in der nächsten Stunde eine Dusche nehmen. Oder ein Bad. Oder irgendetwas, um diesen scheußlichen Geruch loszuwerden…dieses Unwohlsein. Ach wie schön war es doch, sich über Nichtigkeiten zu echauffieren…und das im Hinterkopf lauernde Dunkel für einen Moment beiseite zu schieben.
 

Schuldig stieß sanft an die Tür und öffnete sie langsam, lugte ins Bad hinein. "Oh man", sagte er nur das gequälte Gesicht kommentierend, die zerwühlten Haare, die verquollenen Augen. "Du siehst nicht gut aus, Blumenkind", murmelte er ernst. "Ich hab was für dich, das hilft etwas."

Er verließ das Badezimmer wieder, wühlte in der Küche um eine auflösbare Kopfschmerztablette hervorzuzaubern, danach kamen noch andere geheime Ingredienzien hinzu, etwas um die überschüssige Magensäure zu neutralisieren, und ein paar Vitamine. Mit diesem Cocktail ging er zu Ran, hielt ihm das Glas hin.

"Komm, runter damit, dann geht's dir besser, hilft wirklich", sagte er aufmunternd, doch sein besorgter Blick lag auf dem eingesunkenen Mann.
 

Aya war dankbar für die Hilfe des anscheinend katererprobten Telepathen, auch wenn er das Glas in dessen Hand misstrauisch beäugte. Es sah aus, als würde es wirklich helfen, sprich: nicht wirklich ansprechend in seiner trüben, farblosen Form.

Doch er nahm es dankend an und nippte. Schauderte. Das schmeckte so ganz und gar…scheußlich. Aber mehr als helfen konnte es nicht.
 

Langsam, Stück für Stück leerte er das gesamte Glas und setzte es schließlich zitternd auf den Boden. Lehnte seinen Kopf zurück und sah Schuldig in die aufmerksamen, grünen Augen. „Und dir…wie geht es dir?“, fragte er krächzend.
 

Schuldig griff sich einen Haargummi, kämmte seine Haare mit den Fingern grob durch und fasste sie locker im Nacken zusammen, er mochte es nicht wenn die Kopfhaut zu sehr schmerzte, weil er seine Haare zu streng zusammenband.

"Besser als dir, wie es scheint. Ich hab uns Tee und Kaffee gemacht. Wenn du willst können wir später eine Kleinigkeit frühstücken."
 

Aya schüttelte stumm den Kopf, bereute diese Bewegung jedoch einen Augenblick später. Er hielt sich besagten Schädel und brummte missmutig. Vielleicht…vielleicht wurde es ja schließlich besser. Aber jetzt im Moment war das Wort frühstücken ein rotes Tuch für ihn, das nur eines bedeutete. Wieder über der Toilette zu hängen.

„Ich glaube…ein Tee reicht…oder erstmal gar nichts“, murmelte er.
 

Den Mund zu einem schmalen, mitleidigen Lächeln verzogen ging Schuldig wieder aus dem Bad hinaus.

In der Küche schenkte er sich einen Kaffee ein, griff sich seine Zigaretten und setzte sich ans offene Fenster, die Sonne auf seinem Gesicht genießend, legte er den Kopf in den Nacken.
 


 

Es dauerte schließlich eine geschlagene Stunde, bis sich Aya hoch und aus dem Bad traute. In die Küche taumelte, wo er einen gemütlich mit seiner Zeitung beschäftigten Deutschen vorfand. Aya ließ sich vorsichtig auf den Barhocker gegenüber gleiten und musste durchaus eingestehen, dass dieser Cocktail geholfen hatte. Sein Magen war nicht mehr so in Aufruhr wie zuvor… ebenso wenig wie seine Kopfschmerzen so tosend waren.
 

„Haben wir die Flasche leer gemacht?“, fragte er schließlich und runzelte nachdenklich die Stirn. Wenn ja, wunderte ihn nichts mehr. Seit Youji mit ihm auf Sauftouren gegangen war, vertrug er zwar mehr…aber immer noch nicht VIEL.
 

Schuldig blickte auf, ihn hatte nur die Sportseite interessiert, der Ausgang des gestrigen Motorradrennens.

"Ja, haben wir. Schneller als wohl vorgenommen. Kannst dich ja bei Gelegenheit bei Jei bedanken."

Ein kleines Grinsen lag auf den Lippen, als er an seinem Kaffee nippte.
 

„Werde ich…“, erwiderte Aya nicht minder erstaunt. „Wenn ich weiß, wer Jei ist. Eine Liebschaft von dir?“

Er zog sich den Rest der Zeitung zu sich heran, ließ seinen Blick recht lustlos über die Schlagzeilen schweifen. Wann hatte er das letzte Mal in Ruhe seine Morgenzeitung durchgeblättert?
 

Die Zeitung ganz zu Ran schiebend, stand Schuldig auf. "Kannst du ganz haben, ich lese sie normalerweise nicht, wollte nur wegen dem Rennen nachsehen." Er schenkte sich Kaffee nach und wühlte kurz im Kühlschrank um sich einige Früchte herauszuholen. Er hatte Lust auf frisch gepressten Fruchtsaft.

"Jei ... Farfarello eben", sagte er leichthin mit einem Grinsen, den Mixer hervorholend.
 

Aya schüttelte vorsichtig seinen lädierten Kopf.

Na da hatte er sich ja ein schönes Fettnäpfchen ausgesucht. Farfarello eben…er hätte es sich schließlich auch nicht denken können… „Echter, irischer Whiskey also“, bestätigte er und lenkte so von seinem Fauxpas ab, vergrub sich anschließend in die vor ihm liegende Zeitung. Als wenn sie das schon jahrelang so machen würden...morgens, schoss es ihm durch den Kopf. Friedliches Beisammensein. Frühstück. Zeitung lesen…
 

"Genau. Ein edles Tröpfchen ...", ... für einen edlen Mann ... schloss er grinsend in Gedanken und meinte damit Ran, der jedoch etwas zerzaust und wenig edel da saß. Nun die Verpackung war heute nicht so gut, das stimmte, aber ihn interessierte ja nicht die Verpackung ... sondern die leicht bittere Edelschokolade darin...

"Magst du Schokokekse?", fragte er plötzlich, die Augen darauf hin gleich rollend. Musste er auch gleich von seiner Assoziation auf Aussprache umleiten?

Lautlos seufzend fing er an die Früchte zu schälen.
 

„Wenn du welche da hast“…dann würde Aya es vorsichtig versuchen. Nahm er sich vor, denn sein Magen verlangte mittlerweile doch lautstark revoltierend nach Nahrung, nach Arbeit. Hatte er doch gestern Morgen das Letzte gegessen. Gestern an dem unseligen Tag…

Sein Blick glitt nach draußen, hinein in die sonnige Landschaft. Für ein paar Momente war es ihm gelungen, ihn zu vergessen, den Schmerz, der in ihm tobte. Für ein paar lange, befreite Momente. Doch nun war er wieder da. Überschwemmend wie er nur sein konnte.
 

Der Mixer zerhexelte die Fruchtstücke und Schuldig beäugte das Ergebnis akribisch, bevor er es in einen Krug gab und den gläsernen Krug auf den Tresen stellte. "Willst du auch?"
 

Aya blinzelte und zog sich mit einem Ruck zurück in die Gegenwart.

„Lieber Tee“, verneinte er und warf einen Blick auf den ansprechenden Fruchtcocktail. Der Fruchtsaft sah schon irgendwo attraktiv aus, das konnte er nicht anders sagen. Allerdings wollte er seinen Magen nicht wirklich überstrapazieren.

Er seufzte, versuchte noch einmal die Erinnerung an den gestrigen Abend aufleben zu lassen. Er scheiterte jedoch wieder an dem Nichts, das sich ihm ab ihrem Gespräch auf der Couch in den Weg stellte.
 

"Okay." Schuldig zog die Kekse aus dem Schrank und setzte erneut Wasser für Rans Tee auf. Er nahm wieder Platz und sein Blick fiel auf Rans ... zerknautschte Kleidung, bevor er sich über seinen Saft hermachte.

"Willst du heute einkaufen gehen? Abends?" Er stand wieder auf als das Wasser fertig war und brachte Ran seinen Tee in der Kanne mit, stellte die Teeschale daneben.
 

„Warum einkaufen?“, fragte Aya über die Zeitung hinweg und legte sie schließlich beiseite. Sie hatten doch vorgestern schon alles besorgt… was brauchten sie denn noch? Noch mehr Alkohol? Danke nein…die nächsten Tage nicht mehr. Und wenn, dann nur noch in Maßen und nicht mehr bis zur völligen Besinnungslosigkeit.

Er schenkte sich etwas Tee ein und schnupperte an der wohlriechenden Flüssigkeit. Wundervoll.
 

"Neue Kleidung? Ein paar Klamotten?", lächelte Schuldig um Begeisterung heischend und wackelte mit den Brauen.

"Wir müssen nicht, war nur so eine Frage", lenkte er seine Aufmerksamkeit scheinbar wieder auf die Aussicht.

Wollten doch mal sehen, ob er Ran nicht doch von seinen unscheinbaren Klamottentrieb wegbekam. Er konnte sich den Japaner in vielen Kleidungsstücken vorstellen, vor allem denen, die etwas knapper geschnitten waren, oder...

Seine Gedanken glitten in nicht jungendfreie Gefilde und ein Glitzern erschien wieder in seinen Augen.
 

Aya sah diesen Ausdruck nur zu genau. Kannte ihn. Kannte die Mimik der spielerischen Großkatze, wenn sie ein interessantes, neues Objekt gefunden hatte. Schon alleine das machte ihn misstrauisch für den Vorschlag des Deutschen.

Er seufzte leise, dachte an den Kleiderschrank im Koneko. Dort hätte er durchaus massig Dinge zum Anziehen gehabt, doch er konnte nicht zurück…nicht jetzt. Jetzt hatte er nur das Nötigste bei, was im Chaos der vergangenen Tage nicht wirklich viel war.
 

„Ich habe kein Geld dazu…Kritiker haben mein Konto sperren lassen“, erwiderte er schließlich und presste die Kiefer eisern aufeinander. Das Letzte, was er hatte bezahlen können, war die Beerdigung seiner Schwester. Dann hatte Omi ihm die Nachricht überbracht, dass er das Konto nicht mehr nutzen konnte, da das Geld im Nichts verschwunden war, selbst Omi es auch nicht zurückholen konnte. Ebenso wenig, wie ihm neues besorgen, da auch er von Kritiker überwacht wurde.
 

Schuldig wollte sich nicht so schnell abwimmeln lassen.

"Ich leihe dir das Geld, wo ist das Problem? Du zahlst es mir zurück sobald du kannst." Er nickte ernst, nahm einen Schluck Kaffee. "Bei Crawford würde ich nichts leihen, der hat zu hohe Zinssätze", lachte er um die Stimmung etwas aufzulockern.

Geschenktes Geld würde Ran sicher nicht annehmen, vor allem wenn man bedachte, mit welcher Arbeit Schuldig es verdiente, doch geliehen vielleicht schon.
 

Aya überdachte das für ein paar lange Momente. Ja, was wäre dabei, wenn er sich Geld lieh? Die einzige Angst, die er dabei hatte, war die, dass er es mit Diensten zurückzahlen musste, denen er sich momentan nicht gewachsen fühlte. Er wollte niemanden umbringen…sich nicht so erpressen lassen, so wie es Kritiker mit ihm getan hatten.

Was bedeutete, dass er sich sobald es möglich war, eine Arbeit suchte, auch wenn es nur unten am Hafen war…oder in einer anderen Stadt, besser noch in einem anderen Land. Dort, wo Kritiker ihn nicht vermuteten.
 

Er nickte. Gab zögernd sein Einverständnis.

„Crawfords Zinssätze kann ich mir durchaus vorstellen“, lächelte er schließlich, versuchte seine Unsicherheit zu überspielen.
 

Schuldig hatte die Augen ins Visier seiner Beobachtung genommen, hatte darin die Angst aufflackern gesehen, hörte es selbst in dem Zögern noch nachhallen. Ran vermutete also, dass er das Geld mit einem Zinssatz in Naturalien der besonderen Art zurückzahlen musste - vermutlich mit einer sexuellen Dienstleistung...

Abrupt stand Schuldig auf, sich diesem Umstand bewusst und nahm als Tarnung seine Zigaretten.
 

"Ich geh eine rauchen", sagte er und lächelte fadenscheinig. Es schmerzte ihn ... dass Ran dachte er müsste es mit Sex zurückzahlen. Es brannte wie die Hölle in ihm.

"Zahlst es mir eben zurück wenn’s geht, kannst mir ja einen Kuchen backen oder so...", murmelte er und ging zur Terrassentür um sie aufzumachen und um nach draußen zu gehen. Tief sog er die frische klare Luft ein, fuhr sich über das Gesicht.
 

Wie auch Schuldig vor ihm, gelang es Aya immer besser, in den offenen Zügen des Deutschen zu lesen. So sah er auch die Angst und die Flucht, welche den anderen Mann ergriffen, die der seinen doch so ähnelten.

Er runzelte seine Stirn – einmal mehr - und stand schließlich ebenfalls auf. Es half nichts, wenn dieser Missklang zwischen ihnen nicht gelöst wurde. Dieses Missverständnis.
 

Er stand auf, folgte Schuldig hin zur Terrasse und lehnte sich gegen das Geländer. „Was ist los?“, fragte er mit einem Blick auf das Profil des Deutschen.
 

Welches sich nun abwandte um einen Moment zu überlegen. Er nahm einen tiefen Zug und ließ den Rest des Inhalierten entweichen.

"Es ... ist nichts", sagte er ausweichend, aber eine Spur zu schnell. Das merkte er auch selbst, so drehte er sich um lehnte sich ans kalte Geländer.

"Ich will nichts von dir, ok? Nichts, was du nicht willst!", fuhr er etwas harscher auf, die Angst darin nur in den Augen zu sehen. "Wenn der Schnüffler auch glaubt ich könnte so etwas ..." Er fuhr sich durch die Haare, "Dann nervt mich das auch ... aber ... ich will nicht, dass du so etwas denkst, ja?"
 

„Was soll ich…?“, fragte Aya verwirrt nach, unterbrach sich selbst dann aber. Youji…natürlich konnte er sich vorstellen, was Youji Schuldig vorgeworfen hatte. Natürlich wusste er, was Schuldig jetzt Angst machte. Auch er hatte es dem Telepathen schon einmal untergestellt, als er es noch nicht besser wusste. Und nun war eben das noch einmal geschehen, wenn auch unbeabsichtigt.
 

Er hatte an Mord gedacht und Schuldig an Sex. Das, was Aya nicht einmal im Traum in den Sinn gekommen war.
 

Aya lächelte, schüttelte versöhnlich den Kopf. „Das habe ich auch nicht angenommen. Ich habe dir nicht unterstellt, dass du das Geld in Naturalien zurück haben möchtest. Du weißt das, ich weiß das und Youji kann es sich denken. Er hat einfach nur voreilige Schlüsse gezogen…das war alles.“
 

Schuldigs Gesicht fiel etwas in sich zusammen. Gott, war er ein Idiot. Er wandte sich wieder ab, zerdrückte seine Zigarette, die noch glimmte und nur zur Hälfte aufgeraucht war. Der kurze brennende Schmerz sollte ihm helfen solche Dummheiten nicht noch einmal auszusprechen. So etwas kam davon wenn man die Gedanken nicht lesen konnte. Dann stand man als Dummkopf da.

"Entschuldige. Ich ... bin ein Idiot", sagte er leise. Warum hatte es gleich so wehgetan, als er das bei Ran vermutet hatte, warum fühlte er sich jetzt zwar erleichtert, aber bloßgestellt?
 

„Nein bist du nicht“, verneinte Aya ernst. „Weißt du noch…dass ich es dir auch vorgeworfen habe?“ Er schüttelte wiederum den Kopf. Sah mit Horror, wie Schuldig seine Zigarette ausdrückte…mit seinen Fingern. Doch als er eingreifen wollte, war es auch schon zu spät und die Zigarette nahm ihren Abschied in Richtung Abgrund.

„Wie solltest du da auch etwas anderes von mir denken?“
 

Schuldig war kalt aber er wollte noch nicht hinein gehen, sich umdrehen, wollte sich diesen Augen jetzt nicht stellen müssen.

"Ich hätte es mir denken müssen, dass du was anderes meinst. Wärst du sonst hier, wenn du glaubst, ich könnte so etwas in Erwägung ziehen?" Er stützte die Arme wieder auf die Umrandung, schloss die Augen für einen langen Augenblick.
 

„Nein...so masochistisch bin selbst ich nicht. Außerdem scheinst du mir nicht der richtige Typ für derlei Gefallen“, lächelte er und drehte sich ebenso zur Stadt hin, lehnte Schulter an Schulter mit dem anderen Mann dort. Damit es nicht ganz so kalt war. Ihnen beiden nicht. Er stieß weiße Wölkchen in die sonnige Luft. Es war ein neuer Tag…es war hell und freundlich. Es zeigte ihm, dass er nicht nur Trauer in sich barg. Und das würde er sich zunutze machen…weiter ausbauen, mit aller Macht. Er sah immer noch die positiven Seiten des Lebens. Immer noch.
 

So masochistisch war also ‚selbst’ Ran nicht. Schuldig wandte das Gesicht Ran zu, genoss die Berührung der Schulter an seiner. Ein amüsiertes Lächeln legte sich auf die frechen Lippen.

"Dann gehen wir also einkaufen?", wollte er noch einmal wissen, versöhnt mit sich selbst.
 

Aya sah das Lächeln und ahnte, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Doch gut…wie sollte er das jetzt noch rückgängig machen?

„Ja, machen wir. Nach dem Frühstück, was hältst du davon?“, fragte er und sah zur Seite, direkt in die Augen des Deutschen. Die je nach Stimmung in einer anderen Farbe zwischen grün und blau zu schimmern schienen.
 

"Also Frühstücken willst du jetzt doch?", lachte Schuldig und setzte sich in Bewegung um die Terrasse zu verlassen. "Können wir nach dem Frühstück machen", nickte er und freute sich bereits. Vielleicht konnten sie unterwegs noch etwas Essen gehen.
 

„Ich nicht…aber du doch sicherlich“, lachte Aya und folgte dem anderen Mann in die Wohnung. Ja…er fühlte sich bereit für eine wundervoll warme Dusche.

Aya wandte sich in Richtung Bad und fröstelte nachträglich. Und wie es Winter war…kalt, klar und sonnig. Trotzdem aber verschneit.
 

Die Terrassentür schließend wandte sich Schuldig zu Ran um, der sich Richtung Bad begab. "Willst du wirklich nichts? Nur ne Kleinigkeit? Oder isst du was von den Ständen?" Er überlegte es sich gerade selbst, ob ihn die kleinen Köstlichkeiten die angeboten wurden nicht selbst anlockten.

Ran war noch immer so schmal, und richtig aufgepäppelt war er auch noch nicht.

"Hmm", huschte kurz ein Gefühl von samtig weicher Haut durch ihn, von Rippenbögen die seine Hand umschmeichelt hatte.

War zwischen ihnen gestern doch etwas gelaufen? Mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen machte er das Bett.
 

Die Hand schon an der Bambustür, sah Aya zurück und ließ seinen Blick zur Bett machenden Besorgnis des anderen Mannes gleiten. Das Thema hatten sie schon einmal gehabt und daraufhin hatte ihn Schuldig aus seiner Wohnung geworfen. Denn genau das war es gewesen. Ein Rausschmiss. Nicht, dass sich Aya im Nachhinein darüber beschweren würde, war er doch froh gewesen…
 

Vergangene Tage. Nichts als Erinnerungen.
 

„Eine Kleinigkeit an den Ständen…wie wäre es damit?“, schlug er vor und hob bedeutungsvoll eine Augenbraue.
 

Schuldig ließ sich aufs Bett plumpsen und nickte. "Ja, dann esse ich jetzt auch nichts", grinste er vor Freude. "Das Zeug is eh leckerer." Er stand auf und durchquerte den großen Wohnraum Ran zuzwinkernd und frech grinsend, weil er sich freute, dass der andere nicht gänzlich aufs Essen verzichtete.

Das machte gute Laune, jubelte er innerlich und räumte die Küche auf.
 

Für einen Moment verwirrt, sah Aya Schuldig lächelnd nach und lauschte dem laut-fröhlichen Gerumpel in der Küche. Er hatte doch tatsächlich Schuldig eine Freude damit gemacht, dass er…

Er schüttelte den Kopf, betrat das Bad und schloss die Tür hinter sich. Er duschte sich mit angenehm heißem Wasser ab, immer noch verwundert über die Tatsache, dass es ausgerechnet das Essen war, was Schuldig erfreuen konnte.

Ein leises Summen stahl sich für einen Moment über seine Lippen, endete jedoch mit der Dusche.
 

Kurze Zeit später stand er, fertig und gut eingepackt in warmen Wintersachen am Eingang der Tür und lehnte sich gegen den Rahmen.
 

Kaum die Zeit für eine ausgedehnte Morgentoilette findend, sparte sich Schuldig die Rasur, zugunsten einer kurzen Wäsche und beeilte sich um in seine Kleidung zu kommen, denn Ran schien schon fertig zu sein. Schuldigs Haare waren zwar gekämmt, doch die dicken wilden Strähnen hatten ein Eigenleben, dem er bisher in seinem Leben noch nicht Herr geworden war.
 

Was auch Aya sah, als er Schuldigs Anblick habhaft wurde. Dank der trockenen Kälte schienen sich tausend kleine Fühler aus der roten Mähne emporzurecken und den Tag zu erkunden, so wie sie Schuldig wie einen Heiligenschein umrahmtem. Es ließ Aya kopfschüttelnd lächeln und am letzten Schluck seines Tees nippen. Sie gingen einkaufen…sie taten es wirklich.

„Fertig? Oder willst du erst noch deine Antennen einfahren?“, lachte er mit vorgehaltener Hand, in seinen Augen tanzendes Amüsement.
 

Schuldig gab sich unschuldig und zeigte mit dem Finger seitlich auf seinen Haarschopf.

"Heee, damit übertrage ich die telepathischen Wellen!", behauptete er ... doch er grummelte darauf hin nur und verzog die Lippen gequält um das Bad anzuvisieren. Eine schnelle Kur würde das Problem lösen.
 

Schallendes Gelächter antwortete ihm. Schamlos gab sich Aya eben diesem hin und lehnte sich Halt suchend an den Tresen. Soso…Übertragung von telepathischen Wellen. Brzzz. Hier spricht Schuldig…Crawford, kannst du mich hören? Brzzz. Ja, alles in Ordnung, der Empfang ist gut…kein Rauschen. Brzzz.

Es wollte einfach nicht abbrechen, das Lachen…wollte einfach nicht aufhören. Jetzt schon gar nicht. Vielleicht auch, weil er lachen wollte. Lachen und nicht weinen.
 

In seiner Tätigkeit innehaltend und zufrieden mit seinen Haaren sah Schuldig auf als er dieses befreite laute Lachen hörte. Er lachte sich selbst im Spiegel zu. "Na ...also geht doch!" Wer hätte gedacht, dass er dieses Lachen einen Tag nach der Beerdigung schon wieder hören würde? Er nicht. Es ließ ihn stutzig werden, ließ ihn daran denken wie schnell wohl dies Verdrängte was Ran mit dem Lachen aussperrte schnell und heftig zurückkommen würde.

Aber was nutzte es sich darüber jetzt schon zu Sorgen? Er mochte es, wenn Ran befreit war, von all seinen Ketten, die ihn banden. Und trotzdem eine der schwereren Ketten weg war, so fesselten den Mann noch viele andere…

In seinem Bauch kribbelte es und er trat mit einem warmen Lächeln aus dem Bad heraus, ging zu Ran.

"Du wusstest wohl nicht wie das funktioniert, was?", stachelte er das Lachen noch mehr an, labte sich an der Gestalt, ihrer Ausdrucksfähigkeit, und dem Lachen.
 

Und was für einen Erfolg Schuldig damit hatte. Ein Blick auf den Telepathen und Aya war schon wieder nicht mehr ansprechbar, so sehr musste er lachen. Er hatte Tränen in den Augen, doch dieses eine Mal von der Gewalt, mit der die Laute der Freude aus ihm heraus brachen.

„Ach…so“, keuchte er schließlich. „Und die drei grauen Haare links oben sind dann für dein Team, habe ich Recht?“ Er schüttelte den Kopf, wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
 

Graue Haare?

Schuldig zuckte mit den Schultern, ihm machten graue Haare nichts aus, es kam nicht selten vor bei PSI-Akteuren. Sehr sicher konnte es sogar vorkommen, dass er unter bestimmten extremen Umständen komplett ergraute Haare bekam. Aber das musste er Ran ja nicht auf die Nase binden. Dass er vielleicht in drei Jahren langes graues Haar hatte oder Ansätze davon falls er es mit seinen Fähigkeiten zu bunt trieb.

"Grau? Die sollten doch eigentlich schwarz sein, die Drei", grübelte er gespielt nach und richtete die Augen nach oben.
 

„Je nachdem, wie sehr sie dich ärgern, grau oder sogar weiß“, widersprach Aya mit Mühe um einen ernsten Ton bemüht. „Und von mir kommt dann sicherlich auch noch eines dazu“, schloss er lächelnd und stieß sich ab. Eine Unruhe hatte von ihm Besitz ergriffen, sobald sie festgelegt hatten, dass sie einkaufen würden. Nicht wegen des Einkaufens an sich, nein. Er wollte nach draußen, sich bewegen, das hatte er in den letzten Minuten gemerkt.
 

Raus aus der zwar weitläufigen, aber dennoch begrenzten Wohnung. An die frische Luft.
 

"Hast du heimlich Forschungen betrieben, während ich geschlafen habe?", grinste Schuldig und verstand das Signal von Ran, machte sich zur Tür auf, griff sich nebenbei seinen Mantel und die Schlüssel. Zog sich die Schuhe an.
 

„Aber natürlich…ich habe mir jedes Haar genauestens angeschaut und es auf seine Farbintensität überprüft“, erwiderte er schmunzelnd und tat es Schuldig gleich, warf sich Mantel und Schal über. Schlüpfte in seine Stiefel und verließ mit dem anderen Mann die Wohnung. Ging mit ihm hinunter zu dessen Wagen. Mal sehen, mit was sie wieder kamen.
 


 


 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Fortsetzung folgt…
 

Coco & Gadreel

Spreiz die Beine

~ …Spreiz die Beine… ~
 


 

o~
 

"Komm hier rein", führte Schuldig Ran wenig später in einen Laden für Herrenmode der oberen Klasse. Sicher würde Ran auch ein Kimono samt Obi stehen. Und das Geld spielte keine Rolle - nicht bei ihm.

"Damit machen wir den Anfang", beschloss er gut gelaunt.
 

Aya runzelte nachdenklich die Stirn. Er hatte durch Zufall einen Blick auf das Preisschild geworfen und die Anschaffung dieses Luxusgutes glatt verworfen. Wenn sie in solch großem Stil einkaufen gingen, war er noch Jahre damit beschäftigt, Schuldig das Geld zurück zu zahlen. Nein…das musste nicht sein.

Er deutete auf die mehr modernen und auch billigeren Sachen. Die zum Teil weitaus bequemer waren.

„Wie wäre es denn damit?“, fragte er und deutete auf die Jeans, die säuberlich gestapelt auf den Regalen lagen.
 

Schuldig warf einen kritischen Blick darauf und hatte gleich erkannt, warum Ran wohl zu diesen Sachen tendierte. Doch er sagte nichts. Er würde sich langsam herantasten.

"Klar, warum nicht? Wenn dir etwas gefällt, probier’s an! Ich sag dir schon wie’s aussieht", lächelte er etwas gemein, das amüsierte Funkeln in den Augen nur für Ran präsent.
 

Der eben dieses mit Misstrauen aufnahm. Er konnte sich die Kommentare schon ausmalen, die ihm entgegen wehen würden.

Trotzdem oder gerade deswegen nickte er mit einem warnenden Blick und ging auf Jagd. Suchte sich nach einer kurzen, freundlichen Unterhaltung mit dem Verkäufer durch die Regale und Ablagen. Trug das zusammen, was ihm richtig schien und schlich schließlich mit seiner Beute unauffällig zu den Umkleiden.

Hauptsächlich Jeans, dafür in allen Formen und Farben. Dazu eher sportliches, aber auch elegantes…für eventuelle Vorstellungsgespräche.
 

Zwar nicht unauffällig genug für Schuldig, doch er wusste nicht, was Ran sich alles erbeutet hatte und so harrte er vor der Umkleide aus um sich die guten Stücke am lebenden Objekt vorführen zu lassen.

Die besten Läden hielt er sich natürlich noch in der Hinterhand, die nämlich ausgefallene Sachen anboten.
 

Das erste Outfit fand seinen Weg auf Ayas Körper, wurde schließlich kritisch von diesem in Augenschein genommen. Der weinlaubrote Rollkragenpullover im legeren Schnitt, die schwarze, einfache Bundfaltenhose, passend dazu schwarze Anzugschuhe plus Jackett. Das erste Outfit, was er Schuldig vorführen würde, auch wenn er die Jeans schon durchprobiert hatte. Er drehte sich, beäugte die Sachen stumm. Ihm gefielen sie.

Energisch öffnete er die Tür der Ankleidekabine und hob beide Augenbrauen.
 

Und sah das Grauen vor seiner Ankleidekabine stehen, in Gestalt eines Telepathen ... Zumindest hatte Schuldig den Eindruck als er in das wenig erbaute Gesicht des Mannes blickte, der ihn wohl lieber nicht hier zur Begutachtung gehabt hätte. Ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen.

"Na dann wollen wir doch mal sehen...", unheilte er und ließ seinen Blick über die Zusammenstellung wandern.

Zu brav, urteilte er gleich. "Das Rot passt zu den Haaren, der Schnitt der Hose ... dreh dich mal bitte." Er ließ seinen kritischen Blick ernst über die Kleidung wandern.
 

Aya folgte dem fast gehorsam und drehte sich langsam, beinahe schon bedächtig um und streckte die Arme etwas seitlich aus. Schuldigs Blick hatte nichts Gutes ausgesagt…das hatte er schon beim ersten Ansehen gemerkt. Er wusste schon, warum er lieber alleine einkaufen ging, denn in dieser Hinsicht ähnelte Schuldig auf beängstigende Weise Youji. Zu weit, zu brav, zu bieder…wie wäre es mit etwas mehr Leder…oder nein, noch besser Lack.

Das Ergebnis dessen hing aber leider im fernen Kleiderschrank. Leider? Aya war sich nicht sicher.
 

Seine Runde beendet, begegnete er wieder den grünfunkelnden Augen und vergrub seine Hände lässig in den Taschen.
 

"So schlimm wie es anfangs ausgesehen hat, ist es gar nicht", fiel das endgültige Urteil aus. Es war schließlich gut geschnitten. "Steht dir." Schuldig lehnte sich wieder zurück und wartete auf das nächste Ensemble - das hoffentlich etwas weniger langweilig war.
 

Aya schüttelte lächelnd den Kopf, konnte dadurch nicht wirklich seine Empörung zur Geltung bringen. Er verschwand wieder in der Kabine und zog sich das nächste Outfit über. Dieses Mal etwas Legeres… eine Jeans, die er Schuldig auch zeigen würde und die – anscheinend nach einem neuen, westlichen Schnitt – am Hintern etwas lockerer saß, dafür die Oberschenkel mehr umschmeichelte. Locker über die Schuhe fiel. Dazu trug er ein bedrucktes, olivegrünes Shirt.

Wollte er doch mal sehen, was Schuldig dazu sagte.
 

Schuldig seufzte erleichtert als Ran das nächste Mal herauskam. Ja, das war besser, viel besser.

"Ich hatte schon die Befürchtung das würde gar nichts mehr werden", murmelte er.

"Hose gefällt mir, Oberteil... muss es etwas mit Druck sein? Wenn ja ... gibt es andere Läden mit mehr Auswahl. Das Shirt ist gut, einen Ton heller und es würde dich krank machen, aber das geht gerade noch. Soo nächstes", ordnete er an und grinste, betrachtete sich den verpackten Hintern, der nur andeutete was verborgen dahinter war. Das gefiel ihm außerordentlich gut.
 

Das war definitiv schlimmer, als alleine einkaufen zu gehen. Alleine war es entspannend, er konnte in Ruhe aussuchen, anprobieren, mit der Schlichte der Dinge zufrieden sein…Aber gut… innerlich grollend zog sich Aya das Shirt über den Kopf und stieg aus der Hose, hinein in die nächste Kombination. Mal sehen, was Schuldig DAZU sagte…er lächelte unwillkürlich. Hier war nichts zu brav, das auf keinen Fall. Das konnte Schuldig ihm nicht erzählen. Allerdings hatte er nicht wirklich vor, das Outfit zu kaufen, es war nur dazu gedacht, dieses rothaarige Ungetüm vor der Kabine zu beschwichtigen.
 

Jesus. Schuldig ließ sich von seiner Begeisterung nichts anmerken. Gelassen betrachtete er sich ... zugegebenermaßen lange das Outfit. Eine Jeans - lässiger Schnitt, darüber ... ein enges schwarzes Shirt, welches knapp einen Spalt zwischen Hose und Shirt freiließ. Das ärmellose Shirt eine Kombi aus feinem Netz und schmalen Lederstreifen, die sich zum Einen quer fünf Zentimeter in Höhe der Brustwarzen darüber legten und zum Anderen längs das Brustbein bis hinunter zum Bauchnabel bedeckten. In der Hand hielt Ran eine Jacke die ähnlich wie eine Motorradjacke geschnitten war. Schwarzrotes Leder. "Das nimmst du auf jeden Fall!", grinste Schuldig begeistert und freute sich. Ran in diesem sportlichen Outfit zu sehen. Das passte viel besser zu ihm, als diese langweiligen Bundfaltenhosen.
 

Na das wurde wohl nicht aus dem das Outfit unschuldig dem Verkäufer zuschustern, damit dieser es zurückbrachte. Aya lächelte mit einem gequälten Touch in sich hinein und schüttelte den Kopf. Dennoch bedachte r Schuldig mit einem spöttischen Blick. Hatte er doch gedacht, dass diesem eben dieses Outfit gut gefallen würde. Er streunte wieder zurück in die Kabine und entledigte sich der neuen Sachen, häufte sie ordentlich nach kaufen und nicht kaufen auf.

Er betrachtete sich das einsame Shirt, das er nicht nehmen würde. „Mit dir war der hohe Herr anscheinend nicht zufrieden“, bemerkte er leise. Für einen Moment stand er dort, den Blick auf die Kleidung, die Gedanken jedoch weit weg. Für einen Augenblick war es schwer, hieraus etwas Positives zu ziehen. Der Tod seiner Schwester lastete wie ein schweres Gewicht auf ihm, so sehr, dass er sich am Liebsten verkriechen wollte.
 

Doch das tat er nicht. Er zwang sich dazu zu lächeln und es auch wirklich ernst zu meinen. Erst danach verließ er die Kabine und trat Schuldig entgegen.
 

„Noch etwas? Oder sind wir fertig?“, fragte Aya, wobei ihn jedoch die leise Ahnung beschlich, dass es das für Schuldig nicht gewesen war.
 

"Das war doch erst der Anfang. Du glaubst doch nicht, ich lasse dich so davonkommen", lächelte Schuldig amüsiert und wandte sich der Verkäuferin zu.

Es warteten noch ein paar nette Läden, die er Ran nicht vorenthalten wollte. Also zahlte er schnell die Kleidung und kurz darauf waren sie wieder vor der Tür.

"So ... mir nach." Die Menschen um sich herum tastete er mit seinen Fähigkeiten ab, was beiweilen nicht so leicht war, da Telepathie eine zielgerichtete Sache war. Das Risiko, dass Kritiker ihnen auflauerte, konnte er bei diesen Menschenmassen nicht ausschließen. Aber er wollte Ran nicht beunruhigen, er wollte das Lachen bald wieder hören...

So führte er innerlich leicht angespannt wachsam Ran zum nächsten Laden.
 

Einen Laden, den Aya äußerst wachsam beäugte. Das hier war ein krasses Gegenteil zu dem Geschäft, in dem sie vor kurzem noch waren. Alleine schon die laute, brachiale und schnelle Musik, die ihm entgegenschallte, verhieß, was er hier finden würde. Die besten Accessoires, um mit Youji in einen der S/M-Clubs zu gehen. Lack und Leder soweit das Auge reichte. Nicht, dass ihm derlei Läden gänzlich unbekannt waren…nein. Dafür hatten sie sich schon oft genug in ihnen eingekleidet.
 

Er sah sich mit spöttisch erhobener Augenbraue um und entdeckte in einem abgelegenen Teil des dunklen Raumes auch noch Indie-Sachen. Karomuster, Ketten, Bondagehosen… alles, was das Herz begehrte. Er hätte gestern Abend nicht so viel plaudern sollen…
 

So, da waren sie also und Schuldig freute sich wie ein Dieb auf nächtlicher Erkundungstour. Hatte er sich doch schon einen Plan ausgedacht, wie er Ran möglichst ohne dessen Gegenwehr die attraktivsten Teile zuspielen konnte.

Doch während er sich kurz mit der Verkäuferin unterhielt und sich nach Einzelstücken erkundigte, tastete er die Umgebung kurz ab und tat dies auch als er augenscheinlich vorgab, einige der Stücke sehen zu wollen.
 

Dessen ungeahnt seufzte Aya ergeben und suchte sich durch die Reihen der übereinander und nebeneinander gestapelten Sachen, deren Ordnung verdächtig Schuldigs Kleiderschrank entsprach. Ordnung? Wohl eher Endzeitchaos, wie es sich in Aya bissig breit machte.

Völlig in Gedanken versunken, lud er auch hier sich stapelweise Dinge auf den Arm, die laut Schuldig vermutlich viel zu brav waren.
 

„Bereit für die nächste Runde?“, ließ er zu Schuldig schallen und verschwand hinter einer der durchaus einen Blick zulassenden, löchrigen Holztüren. Aya tat das mit einem Schulterzucken ab. Schlimmer als Youjis Kommentare konnte es nicht mehr kommen. Die ersten beiden Stücke am Leib, trat er schließlich wieder hinaus.
 

Gut - betrachtete sich Schuldig die Teile - schlicht waren sie, wenn nicht doch einige nette Spielereien diesen Eindruck etwas aufpeppten. Ein betonendes Oberteil, mit hohem Kragen, an den Flanken Reißverschlüsse. Im Übrigen nutzte Rans wiederholtes Herunterziehen auch nichts. Das Teil war nun mal bauchnabelfrei. Um die Beine schmiegte sich eine schimmernde Stoffhose aus schwarzem Satin. Die Hose saß eher auf der Hüfte und ließ die Beckenknochen etwas sehen. Was Schuldig mit düsterem Blick zur Kenntnis nahm, aber nichts sagte. Er würde Ran schon aufpäppeln!

"Nicht schlecht, aber mal sehen, was noch so kommt."
 

Irgendetwas schien Schuldig an seinen Bauch nicht zu gefallen, so missfallend wie sein Blick wurde. Doch auch Aya sagte nichts dazu, sondern verschwand mit nachträglichem Schnauben in die Kabine. Ließ sich von der Musik treiben, die scheinbar wie die Faust aufs Auge zu den Sachen passte, die er sich gerade überstreifte. Die eng anliegende Lederhose, deren Beine mit grobgliedrigen Ketten verziert waren und bei jedem Schritt rasselten. Passend dazu das Oberteil, das…
 

Mal sehen, wie es Schuldig gefiel, lächelte Aya in sich hinein und öffnete langsam die Holztüren, stützte sich gönnerhaft an den Flügeln ab. „Besser?“
 

Schuldig hatte sich unterdessen umgesehen, hielt danach zwei Hosen und ein Oberteil in Händen. "Frechdachs", flüsterte er, als er mit amüsiertem Funkeln die kleine Show sah, die Ran vor ihm abzog. So wie er die Arme abstützte...

"Zu viele grobe Ketten", sagte Schuldig. "Probier mal das hier an", reichte er Ran eine Lederhose und eine Stoffhose, die beide seitlich komplett zum Schnüren waren. "Ich such dir unterdessen eine heraus, die weniger Ketten hat. Doch an dem Oberteil kam er nicht vorbei. "Das Teil behältst du", grinste er. War es eine Weste aus grobem, festem Stoff, hochgeschlossen, mit Reißverschluss, gehörten zu der Weste mit Ketten versehene Ärmel, die an diesen abnehmbar waren.

Verlieh dieses Outfit Ran eine verspielte Gefährlichkeit, die sich tatsächlich so verhielt und nicht nur der Kleidung zugeschrieben werden konnte. Doch das wussten nur Ran und er selbst.
 

„Und wofür werde ich das brauchen? Als Arbeitskleidung?“, moserte Aya kritisch und nahm die anderen Dinge an. Er konnte sich nicht vorstellen, sich morgens zu duschen und schließlich in halbdurchsichtige Lederkluft zu schlüpfen.

Er verschwand wieder in den Untiefen der Kabine und streifte sich Schuldigs Vorschlag über. Gar nicht schlecht….wenn auch etwas eng. Dazu passend wählte er ein anderes Oberteil und verschwand wieder nach draußen.
 

"Perfekt", grinste Schuldig

"Als Arbeitskleidung? Hast du denn schon einen Job?", amüsierte er sich weiter und gab Ran die Hose mit den etwas feineren Ketten, dazu noch ein Oberteil das fast nur aus senkrechten Reißverschlüssen bestand, die in dem Licht des Ladens schimmerten.

Er war schon lange nicht mehr in Harajuku in diesem Laden gewesen, hatte ihn schon vermisst, vor allem hier nun mit Ran zu sein, der diesen Einkauf trotz sicher schlimmer Vorahnungen zu genießen schien.
 

o~
 

Ein lautes Magengrollen begleitete Ayas Arbeit, alle Sachen, die sie heute erstanden hatten, in den Kofferraum zu räumen. Und es waren nicht wenige Tüten, die sie erbeutet hatten. Er ächzte. Hier noch ein Laden, da noch einer, da der, in dem Schuldig seine rote Reizwäsche erstanden hatte. Wie gut, dass sich Aya von Anfang an geweigert hatte, die kompetente und nette Verkäuferin kennen zu lernen, die den Telepathen so wundervoll beraten hatte. Auch wenn diese Schuldig durchaus wieder erkannt hatte.
 

Lieber hatte er da seine Aufmerksamkeit einem anderweitigen Geschäft gewidmet… ein großer Fehler. Dort hatte es Mäntel gegeben, in allen Formen und Farben. Viele Mäntel, die Schuldig Anlass gegeben hatten, ihn auch damit einzudecken. Wie viele nannte er jetzt sein eigen? Fünf? Sechs? Sieben? Für jeden Anlass einen. Na das war ja wunderbar.

Aya hievte die Tüte mit den Stiefeln und Schuhen in den Wagen. Insgeheim war er doch etwas belustigt. Das reichte für die nächsten drei Jahre, was sie heute alles gekauft hatten…musste es auch, denn genauso lange würde Aya beschäftigt sein, das Geld zurück zu zahlen, was Schuldig heute für ihn ausgegeben hatte.
 

Er ließ die Kofferraumklappe zufallen und platzierte sich neben Schuldig auf dem Beifahrersitz. Nahm das Mitnahmeessen auf seinen Schoß und schnallte sich an. Wie gut, dass sie in der Wohnung des Deutschen aßen…draußen wäre er erfroren, so kalt war es mittlerweile geworden. Kein Wunder, war doch die Wärme spendende Sonne gen Horizont und weit dahinter verschwunden.
 


 

Schuldig war sehr zufrieden mit sich. Das war doch schon ein guter Anfang gewesen. Ein zufriedener Ausdruck lag auf seinem Gesicht, als er Ran nach längerer Autofahrt einige der Tüten abnahm und sie gemeinsam ins Loft hinauffuhren.

"Ich habe jetzt einen Riesenhunger", bekannte er in der Wohnung und ließ sich auf die Couch fallen.
 

„Vielfraß“, lachte Aya und aktivierte verschiedene, gedämmte Lichtquellen in der großen Wohnung. Hatte er Schuldig doch abgeschaut, wofür auf dieser Fernbedienung was stand.
 

Er stellte sorgsam alle Tüten in den Schlafbereich. Reihte sie ordentlich auf, damit sie sie nachher auseinander wirren konnten. Doch schließlich hatte er ein Nachsehen und platzierte das Essen vor Schuldig auf den Wohnzimmertisch, sich selbst dazu weniger dekorativ neben dem Telepathen. Er zog die geschundenen, kalten Füße zu sich auf die Couch und griff sich eine der kleinen Schachteln.
 

Gut, so klein waren sie auch nicht. Obwohl er auf eine Kinderportion bestanden hatte, hatte der Standbesitzer ihm mit den Worten, er ‚könnte doch etwas auf die Rippen vertragen’, eine Extraportion gegeben. Alles Schuldigs Schuld, darauf mochte er wetten. Er würde seine nicht mehr vorhandene Jungfräulichkeit darauf verwetten, dass dieser in die Gedanken des armen Mannes eingedrungen war.
 

Tatsächlich war es Schuldigs Schuld gewesen, doch das war diesem herzlich egal, denn er schaufelte gerade gut gelaunt das Essen in sich hinein, freute sich über den Verlauf des heutigen Tages und fühlte sich rundherum wohl. Wie gut ... wie gut .. dass Ran nichts von Kritiker erwähnt hatte und sie von diesen nicht zufällig entdeckt worden waren. So war dieser Tag nicht mit Schatten behaftet, wie von ihm zwischendurch befürchtet.

"Darf ich mal probieren", linste Schuldig neugierig zu Rans Portionen, die in unterschiedlichen Größen auf dem Tisch standen.
 

Aya hielt Schuldig lächelnd sein momentanes Essen hin. Er kam sich vor, als würden sie das schon Jahre tun…als wären sie die besten Freunde.

Doch was machte das für einen Unterschied, dass sie eben das nicht waren? Für den Moment fühlte er sich wohl. Für den Moment konnte er vergessen, warum er hier war. Was passiert war. Und so sehr er auch das Andenken an seine Schwester bewahren wollte, so sehr wünschte er sich, dass Augenblicke wie diese sich mehr und mehr häuften und er endlich in der Lage wäre, sein Leben mit mehr Freiheit zu gestalten, als er es je getan hatte.
 

Wozu auch gehörte, dass er sich langsam Gedanken über die Arbeit machte. Über ein neues Leben. Über die Rettung seines Teams. Er wollte sie nicht länger in den Fängen von Kritiker lassen…nicht, wo sie auch Gefahr liefen, getötet zu werden.

Doch das würde er jetzt nicht mit Schuldig erörtern, hatte er doch gespürt, wie der Deutsche den ganzen Tag lang glücklich, wenn nicht sogar zahm gewesen war. Außergewöhnlich handzahm…wie immer, wenn er sich über etwas freute und dadurch äußerst zufrieden war.
 

Seine Stäbchen schlichen sich zum Essen eben dieses Mannes und klauten sich höchst unauffällig ebenso eine Probe.
 

"Hmm das war wie immer ein Genuss", lehnte sich Schuldig zurück auf die leeren Schachteln starrend, die noch hin und wieder einen kleinen Rest innehatten. "Und jetzt eine Zigarette ... oder ...?", ließ er den Satz offen und grinste leicht in sich hinein. Doch er erhob sich und schnappte sich seine Zigaretten, ging damit zur Terrasse.
 

Doch Aya blieb zunächst noch auf der Couch sitzen und lehnte sich wohlgenährt zurück. Schlecht war ihm schon…nur ein klein wenig. Doch nicht soviel, dass er sich übergeben musste. Müde strich er sich seine Haare zurück und löste den geflochtenen Zopf. Schüttelte die Flechten aus und stand auf.

„Wohin soll ich die Sachen räumen?“, rief er zur Terrasse hinaus und begann bereits, die ersten drei Tüten auf dem Bett auszubreiten, als sein Blick auf den großen, metallenen Tisch unweit dessen fiel. Er runzelte die Stirn. Neugier war es, die ihn dorthin trieb. So war ihm dieses zugegebenermaßen etwas puristische Möbelstück nie aufgefallen. Doch nun…
 

"Ich mach dir Platz, kleinen Moment, die Mäntel kannst du in den Schrank dazuhängen", rief Schuldig zurück und zündete sich die Zigarette an. Was für ein herrlicher Tag, sonnte er sich in der Wärme, die ihn durchfloss. Ein warmes Lächeln gefolgt von einem jungenhaften Grinsen legte sich auf das offene Gesicht. Ran zog in seinen Kleiderschrank ein...
 

…hievte sich zunächst aber auf den metallenen Tisch, der – seinen Beobachtungen zufolge – wohl noch ein Fach für Dinge unter der normalen Platte hatte.

Er legte den Kopf schief und beobachtete Schuldig eine Weile lang. Versonnen ließ er die Beine baumeln und strich mit seinen Fingern über die kühle Oberfläche des Tisches.

„Was ist hier drin?“, fragte er schließlich in Richtung Balkon.
 

Schuldig zog die Stirn kraus und kehrte zur Tür zurück. Suchte mit misstrauischem Blick nach Ran und fand ihn auch gleich. Die Zigarette noch im Mundwinkel und den Arm lässig an die Tür gelehnt, fand er das Bild fast berauschend welches sich ihm da bot.

"Der neugierige Kater hat also das Spielzeug gefunden", flüsterte er dunkel für sich. Überlegte jedoch, ob er das gut fand. Lange stand er da und sah Ran zu, wie er da vergnügt saß und scheinbar sein Recht auf Wissensbefriedigung einforderte. So schnell würde der wohl nicht da runterkommen. Schuldigs Blick loderte auf und fast schon beiläufig schnippte er die Zigarette weg. Ging dann ohne die Terrassentür zu schließen auf diesen zu.

"Du willst also wissen, was da drin ist?", fragte er mit der Samtigkeit einer schnurrenden Großkatze, ein sanftes Lächeln auf den Lippen.
 

Aya taxierte Schuldig ebenso wie dieser ihn. Seine Beine baumelten immer noch lässig, als er sich leicht vor- und Schuldig entgegenbeugte. „Würde ich sonst fragen?“, flüsterte er mit einem leicht arroganten Zug um seine Lippen. Oh ja…er ging in diesem Spiel auf, mehr noch sogar. Es machte ihm Spaß. „Also…was hast du hier zu verbergen?“
 

"Gut", sagte Schuldig und kam eben so nahe, ihre Nasen berührten sich fast als er sich zu Ran beugte, das Violett fixierte. "Dann spreiz die Beine." Die Stimme immer noch dunkel und etwas rau, ließ sie nichts von seiner Absicht erkennen.
 

Für Momente… stille, endlos lange Momente ruhte eben dieses Violett im dunklen Grün und taxierte es. Prägte sich jedwede Regung in den bewegten Augen ein. Er lächelte, wie er im Nachhinein wusste, ebenso spöttisch, wie seine Augen diese Emotion wiedergaben.

Schuldigs Atem streifte seine Wange, seinen Hals, als er sich leicht zurücklehnte und Millimeter für Millimeter seine Beine auseinander schob. Dabei den Blick fest verwoben mit Schuldigs.
 

Dieser sah den tanzenden Spott, doch er spiegelte ihn nicht wider. Alles in ihm fühlte sich in diesem Moment zu Ran hingezogen, zu diesem Mann, der tat was er sagte, der auf sein Spiel einging. Ein Spieler. Er hatte in Ran jemanden gefunden, der ebenso gern spielte... Schuldig verfolgte das Spreizen der Beine, kroch mit seinem Blick dann langsam über Rans Schritt hinauf über den Bauch bis hin zu den Lippen, saugte sich für Sekunden fest, bevor er sich den Augen zuwandte.
 

Er trat ganz nahe an den Tisch heran, langsame Bewegungen machend, die die Atmosphäre zwischen ihnen nur mehr verdichteten. Griff unter die Platte und gab den Code ein. Danach beugte er sich zu Ran, legte die Hände fest um dessen Po, zog ihn mit einer kleinen Bewegung näher an seinen Schritt. "Halt dich fest, Kater", sagte er lächelnd, somit seine Scharade etwas aufgebend, da Ran erkennen musste, dass sie lediglich dazu diente ihn vom Tisch zu heben. Doch Schuldig wollte den Mann nicht loslassen.
 

Eben dieser erkannte die Absicht seines Gegenübers und hielt sich an Schuldig fest. Jedoch etwas anders, als der Telepath es vermutlich gedacht hatte. Er schlang seine Beine um die Hüfte des stehenden Mannes und zog diesen näher zu sich heran. So nahe, dass er nun auch seine Arme um den muskulösen Hals schlingen konnte. Sich in die Höhe stemmen und an Schuldig klammern konnte… mit Beinen und Armen.
 

„Und nun…?“, flüsterte er, beugte sich etwas nach hinten, doch gerade nur so, dass er Schuldig in die Augen sehen konnte. „Zeigst du mir jetzt…was du drin hast?“
 

Schuldig festigte seinen Griff und genoss es wie Ran sich um ihn wand, ihn fast besitzergreifend vereinnahmte. Er genoss die erotische Stimmung, das Knistern welches sich zwischen ihnen aufgebaut hatte und in und um ihre Körper zischte. Aber er hatte auch Furcht, dass diese Stimmung verpuffen könnte, wenn er diesen Deckel anhob.

"Dann will ich mal Pandoras Truhe öffnen", sagte er und hob Ran vom Tisch, hielt ihn fest, wusste jedoch auch dass dieser sich festhielt, als er per Knopfdruck die Platte nach hinten gleiten ließ. Seine Hand verließ den Schalter und legte sich wieder unter Rans Hintern. Er wollte ihm so nah wie möglich sein, wollte fühlen, wenn diesem etwas missfiel - wie ihm es auf jeden Fall missfallen würde. Denn dort drinnen lagen auch die Ketten, welche ihn gebunden hatten.
 

Doch die sah Aya nicht. Noch nicht. Er ruhte bequem auf Schuldigs Händen, die ihn abstützten, als er sich zur Seite wandte und einen langen Blick über die Utensilien warf, die hier zu finden waren. Waffen über Waffen, fein säuberlich aufgereiht, allesamt im Halogenlicht der Beleuchtung glänzend. Ein Lächeln huschte über Ayas Züge, als er eine Hand vom Hals des Deutschen löste und sich hinunterbeugte.
 

Einen besonders schönen Dolch aufhob und ihn gegen das Licht hielt. Ihn zu allen Seiten drehte und den Griff bewunderte. „Faszinierend…“, murmelte er und sah Schuldig mit einem dunklen Lächeln in die Augen. „Wirklich…faszinierend…“
 

Schuldig war derselben Meinung, doch im Gegenzug zu Ran konnte er sich nicht wehren, er hatte keine Hand frei. Doch diesen Nervenkitzel genoss er, war er doch ein Spieler und so saugte er das Lächeln in sich auf und spiegelte es mit der gleichen Intensität wider.

"Ein Ritualdolch", sagte er leise, ihre Intimität nicht durch eine zu laute Stimme stören wollend. Seine Hand schlich sich langsam auf die Hüfte und wieder über die Rundung zurück, beobachtete wie Ran darauf reagierte.

Dieser war leicht, viel zu leicht – wenn ihn jemand fragte - doch es fühlte sich gut an in seinen Armen... Ran lag gut in der Han...

Hatte er dies nicht schon einmal gedacht heute? Oder war es gestern gewesen?
 

Die scharfe Waffe lag fantastisch in Ayas Hand, als dieser sie langsam zu sich nach vorne führte. Zwischen sich und Schuldig. Er lächelte hintergründig und bettete die flache Seite unter Schuldigs Kinn. Hob es leicht mit dem kalten Metall an.

Ein metallener Kuss…das war es. Ein gefährlicher, metallener Kuss, den er dem Deutschen dort aufzwang, als er nun den Winkel änderte und die Spitze unter Schuldigs Kinn ruhen ließ. „Ein Ritualdolch….“, sinnierte er flüsternd. „Für das Samhainfest…?“

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
 

Undurchschaubar erschienen Schuldig diese Augen, geschliffen und scharf wie ein Brillant wirkten die Iriden und so bröckelte zum ersten Mal das Gefühl des Vertrauens in Ran. Hatte sicher dieser in sein Herz gestohlen um sich nun zu rächen? War es so?

Er konnte in diesen Augen nicht lesen, er konnte in gar nichts lesen. Und dies schürte nun doch die Angst in ihm. Er konnte sich auf seine Fähigkeiten verlassen - immer. Nur nicht bei ihm. Und nun?

Er antwortete nicht, seine Hände lagen ruhig. Und entgegen seiner Unsicherheit prickelte immer noch die Atmosphäre eben genau deswegen zwischen ihnen. Dennoch ... peitschte sein Puls ihn nach oben, mit dieser Art Situation zum ersten Mal fertig werden müssend.
 

Stille raste ebenso zwischen ihnen wie Schuldigs Herzschlag. Sie ließ Aya innehalten. Erkennen, was er bisher schier übersehen hatte.

„Du hast Angst…“, sagte er ruhig, mit einem sanften Lächeln um die Lippen. Er schüttelte den Kopf, wollte diesen davon laufenden Puls wieder einfangen und beruhigen. Wie er ein scheues Tier beruhigen würde.

Er ließ den Dolch langsam sinken. „Das brauchst du nicht…dazu besteht keine Veranlassung…nicht mehr.“

Aya drehte sich wieder etwas um und legte die Waffe zurück, warf einen genaueren Blick in das Fach. Fischte sich eine der länglichen Boxen heraus.
 

Dieser Mann war purer Wahnsinn, das wusste Schuldig nun. Ran konnte in ihm lesen wie in einem Buch und er hatte die Angst in ihm gesehen. Etwas in ihm beruhigte sich und etwas anderes fühlte Scham, wollte sich von diesen wissenden Augen verbergen, verkriechen und sobald nicht mehr hervorkommen.

Dennoch blieb er, schwieg aber, die Augen blinde Spiegel, verschlossen. Noch hielt er Ran fest in seinen Armen, doch es war als hatte er sich durch die angespannte Situation von eben ... diese Warnung ... in ihrem harmlosen Spiel ... etwas entfernt. Er musste sich wieder einen Weg zurücksuchen.
 

Aya ahnte, was in dem anderen Mann vorging, konnte es schon alleine an der angespannten Gestalt ausmachen, die ihn hielt. „Entspann dich…“, lächelte er und sah ein weiteres Mal in die nun vorsichtigen Augen. „Hältst du mich für so hinterhältig, dass ich…“

Just in diesem Moment hatten seine Finger den Deckel der länglichen Schachtel geöffnet und er staunte nicht schlecht, als er - mit einer pointiert hochgezogenen Augenbraue – den metallenen Buttplug empor und ihnen beiden vor Augen hielt. „Soso…“
 

Das hatte nichts mit Hinterhältigkeit zu tun, schließlich war Schuldig vor ihm, kein Angriff aus dem Hinterhalt wäre es gewesen…

Entspannen sollte er sich?

Diese Situation hatte ihn nachdenklich gemacht, wirre Gedanken gingen in ihm vor und zwischen diesen Gedankenfetzen huschte wie schon einmal ein Bild vorbei.

Wieder der gleiche Mann, doch wie schon zu vor konnte er es nicht fassen. Doch mit diesem Bild kam ein verstärkter Angstschub, denn der Mann hielt ebenso wie Ran einen Dolch in der Hand.

Schuldig blinzelte und täuschte ein Grinsen vor als der Gegenstand vor seinem Gesicht baumelte. "Sex and crime", sagte er, doch innerlich war er aufgefühlt, nur in den Augen zu lesen, die nur kurz einen Einblick gewährten, während sie um Ablenkung im Inhalt des Tisches suchten.
 

Aya lächelte mit, doch nur pro forma. Er hatte es gesehen…hatte gesehen, dass es für Schuldig immer noch nicht gegessen war. Warum dem so war, konnte Aya nur erahnen und die Vorstellung dessen gefiel ihm nicht. Er mochte diese Anspannung zwischen ihnen nicht.

Er bettete besagtes Fundstück schweigend zurück in seine Verpackung, legte es vorsichtig zurück und blieb schließlich an etwas hängen, das ihm jetzt, wo er sich darauf konzentrierte, mehr als bekannt vorkam. Ketten. Lang, schmalgliedrig…Manschetten, dazugehörige…
 

Seine Finger bewegten sich aus Eigenantrieb, fuhren mit altbekanntem Ekel über das Metall. Wieso schien es, als kenne er jede Rundung, jeden Verlauf des Metalls nur auswendig? Wieso? Das weißt du ganz genau!, spotteten Ayas alte Angst, die Einsamkeit und die Kälte in ihm, die Verzweiflung, die ihm während dieser…Tage als einzige Gesellschaft geleistet hatten.
 

Er zog seine Hand aus dem roten Samt zurück, als er merkte, dass sie zitterte. Ballte sie unwillkürlich zur Faust.

„Lass mich runter“, flüsterte er rau. Sein Gefühl sagte ihm, dass er fliehen sollte...hiervor. Vor diesen Erinnerungen.
 

Und genau diese Erkenntnis, die raue Stimme, das Flüstern, all das erkannte Schuldig plötzlich. Wie ein Peitschenschlag fuhr dies über ihn zusammen, rückte Ran völlig in den Vordergrund und bewirkte, dass er diesem Wunsch nicht nachkam. Die automatische Verschließung veranlasste und mit seiner Last zum Bett ging, Ran darauf absetzte und auf die Knie ging, sich zurücksetzte.

"Nein... Ran ...", flüsterte er ebenso wie Ran doch nun den Blick völlig offen in Rans Hände legte.

"Pandoras Büchse hat die Stimmung kaputtgemacht", lächelte er traurig zu Ran auf.
 

Der rothaarige Japaner vermochte es nicht, diesem Blick mit einem Lächeln zu begegnen…es ging einfach nicht. Für lange, schweigsame Momente nicht. Er zwang sich, Schuldigs Augen standzuhalten. Dem Wissen darin, der Erinnerung.

„Ich… habe doch noch nicht alles gesehen“, murmelte er schließlich in dem schwachen Versuch, die Stimmung wieder zu heben, wusste aber, dass er in diesem Augenblick nicht in der Lage gewesen wäre, einen zweiten Blick hinein zu werfen. Er senkte den Blick, starrte auf seine Hände.
 

"Willst du ... sie mir anlegen, Ran?", bot Schuldig an und seine Hände hoben sich zu Rans Knien, boten die Handgelenke an um sie in Fesseln zu legen. Hilflosigkeit glomm aus seinen Augen. Er wusste nicht wie er nun mit dieser Sache umgehen sollte.

"Soll ich sie wegwerfen?"

Er wollte das zwischen ihnen aus der Welt haben, doch das ging nicht, wie ein Mahnmal stand es zwischen ihnen und er war nicht in der Lage, es einzureißen. Doch er brauchte jetzt den Kontakt zum anderen, brauchte die körperliche Nähe, hätte es nicht ertragen, wenn Ran sich von ihm entfernte.

Eins ums andere Mal hatte die Stimmung in ihm in Sekunden umgeschlagen. War von sicher, spielbereit zu ängstlich, in die Enge getrieben und nun...
 

…nur war sie für sie Beide völlig außer Kontrolle geschlagen.

Aya saß auf dem Bett, völlig überfahren von dem Angebot, der Frage des anderen Mannes. Sie Schuldig….anlegen? Sie wegwerfen?

Sein Blick hob sich, während sich seine Hände auf die des Telepathen legten und sie ein zweites Mal auf seine Oberschenkel betteten. Er schüttelte stumm den Kopf.
 

„Nichts von beidem…gar nichts. Sie bleiben da, wo sie sind. Und ich werde es nicht tun… es ist Vergangenheit. Nicht mehr erwähnenswert“, sagte er ruhig, aber bestimmt, wusste jedoch tief in seinem Inneren, dass es keinesfalls nur Vergangenheit war. Nein. Ganz im Gegenteil. Er hatte anscheinend nicht verarbeitet, was geschehen war.
 

Schuldig nickte stumm, bettete vertrauend seinen Kopf auf Rans Oberschenkel, legte ihn seitlich und umfasste mit den Armen locker Rans Hüfte. Die Hände hatten sich gut angefühlt, nicht anklagend, sondern annehmend, als luden sie ihn ein den Erinnerungen zu vergeben.

Warum war er nur so seinen Gefühlen ausgesetzt? Diesem Wandel? Dieser Unberechenbarkeit?

"Ran ... ich habe Angst", sagte er nun von sich aus.
 

„Wovor?“, fragte Aya eben diesen roten Schopf und strich nachdenklich über die langen Flechten. Hieß seine Finger, sich auf ihr Spiel zu konzentrieren, nicht auf die einsamen, kalten Tage hier in der Wohnung. Nicht auf die Angst, die er noch im Nachhinein hegte, wenn er sich der Manschetten bewusst wurde. Oder dem Ring im Boden.

Nein, das Zentrum seines momentanen Denkens waren die weichen Strähnen. War seine Frage.
 

Schuldig schloss die Augen, ließ die Gedanken, Gedanken sein und redete wie sie ihm in den Sinn kamen.

"Vor der Angst in deinen Augen. Vor der Dunkelheit in mir. Vor ... dem Vergessen ... der Dunkelheit die mit dem Vergessen kommt." Seine Hände legten sich etwas fester um Ran. "Ich wünschte ... wünschte ..."

Ja ... er wünschte sich ... NEIN, NEIN, NEIN schrie etwas in ihm und riss ihn aus dem schwarzen Loch, in das er fallen wollte, zurück. NEIN du Feigling, du stiehlst dich jetzt nicht davon!
 

Nein, das würde Schuldig nicht tun. Das hätte auch Aya ihm gesagt, wenn er sich auf die Mimik des anderen Mannes konzentriert hätte. So saß er nur hier, den Blick leer, mit einem kleinen Stich Verzweiflung durchsetzt und hielt Schuldig auf verquere Art und Weise in seinen Armen. Saß auf dem Bett und fuhr mit seinen Händen über dessen Schopf, als wollte er ihn anhand seiner Worte beruhigen.
 

Sekunden später wurde Aya bewusst, dass es genau das war. Seine Gedanken verweilten in der Vergangenheit, tränkten sich mit Erinnerungen. Er ließ sich fallen in den Augenblicken voller Einsamkeit, badete in den Schmerzen. Er wollte nicht mehr meiden, was er bisher totgeschwiegen hatte. Er stellte sich den Schmerzen, der Angst. Dem Hass. Strich Schuldig immer noch beruhigend über die lange, seidige Mähne. Wen wollte er gleich nochmal dadurch beruhigen?
 

„Du wirst nicht mehr vergessen…“, flüsterte er schließlich, seine Augen seltsam starr und ohne Leben in die Maserung des Bodens gekrallt. Wie kindlich sich die Stimme des Telepathen doch angehört hatte…wie verängstigt. Wie schutzbedürftig. „Ich bin da…werde dich daran erinnern, wenn es passieren sollte…“ Was sollte er gegen die Angst in seinen Augen tun? Konnte er überhaupt etwas dagegen tun, als selbst zu vergessen, was geschehen war?
 

"Ich werde nicht mehr vergessen...", wiederholte Schuldig leise, bestätigend, das Gesicht immer noch in Richtung Küche gewendet, die Augen verschlossen, der Schwärze hinter den Lidern ausgesetzt.

Wer sollte ihn vor den Gedanken schützen, wer sollte ihn davor schützen, dass sie Überhand nahmen, dass sie zum ‚Vergessen’ führten? Ran? Hatte er diese Macht?

"Du bist da ... du bist da. Ich will mich doch erinnern. An alles. Aber ... aber ..." Wie ein Kind, dass sich rechtfertigen wollte, das um Verständnis ersuchte. Doch die Stimme war nicht hoch, war nicht mit einem kindlichen Ton versetzt, war ruhig, leise, schwankte nicht. Nur die einfachen Worte, die Art ihrer Vorbringung erinnerte daran. Schuldig fühlte sich nicht, als wäre er real in diesem Moment. Als schwebe er in dieser Blase, in der Aya war. Als könnte er hier alles sagen und nichts würde ihm zur Last gelegt, nichts verspottet, nichts mit Hohn gebrandmarkt.
 

Nein…Schuldig würde nicht mehr vergessen, denn es gab jemanden, der sich an ihn erinnerte. Aya erinnerte sich, erledigte das für den Telepathen. Er war der Stein in dem tosenden Meer um den Telepathen, der sich nicht abrieb oder überschwemmt wurde. Er blieb, während all der andere Sand mit der Zeit verschwand. Sich im Meer verlor.
 

Aya wusste das, ebenso wie er wusste, dass Schuldig nichts mehr vergessen würde. Nicht, wenn er da war und dafür sorgte, dass der Deutsche sich im Gleichgewicht befand. Was manchmal denkbar schwierig, aber dennoch nicht unmöglich war. Er hatte es geschafft…damals…Unwissentlich zu der Zeit, doch nun wurde ihm mehr und mehr bewusst, was er für einen Einfluss, eine Wirkung auf Schuldig hatte.
 

„Du wirst dich erinnern…“, murmelte er schließlich und kämmte mit seinen Händen ein paar der Strähnen auseinander, so wie er es immer bei Aya getan hatte um sie zu beruhigen. „Wenn du ausgeglichen bist, wirst du dich erinnern…und nicht mehr vergessen…“
 

"Ja ... weißt du ... dass du mir Ruhe gibst? Habe ich dir das schon gesagt?" Er sah auf, träge und langsam, doch er wollte Ran ins Gesicht sehen, wollte wieder in diesen Augen lesen, wollte verstehen. Doch die Augen wirkten leblos, fern von ihm, doch die Worte waren ihm so ... nah...

Verwirrt, unsicher und auch mit dem Gefühl der Schuld behaftet, blickte er noch immer auf. "Ran?"

Die Stimme zu einem mageren Flüstern verkommen, das sich anhörte, als würde es jeden Moment brechen.
 

Aya lächelte und sah hinab in die grünen Tiefen. Sein Lächeln voller Traurigkeit und Mitgefühl für Schuldig. Voller Sympathie für eine ebenso rastlose Seele wie die seine.

Er strich Schuldig eine der dicken Strähnen aus der Stirn und bedachte dessen Wange mit zarter Aufmerksamkeit. Er hielt es kaum aus, den anderen Mann so niedergeschlagen und schuldbewusst zu sehen. Jetzt nicht mehr. Vor Wochen…vielleicht. Vor Wochen hätte er für diese Reue alles gegeben. Er hatte sie bekommen, doch nun erst erkannte er, wie sehr es Schuldig und auch ihn schmerzte.
 

Aya beugte sich zu Schuldig hinab und küsste ihn sanft auf die Stirn. Strich über die raue, stoppelige Wange. Lächelte stumm. Es war seine Art des Vergebens.
 

War das Vergebung? War es dieses Gefühl, wenn es hieß, deine Sünden werden dir vergeben sein? Seine Absolution? Nur vor Ran? Oh Gott, hilf mir, hilf mir, dass ich ihn nicht mehr verletze...

Warum schmerzte dann diese Absolution wie das heißeste Feuer der Hölle? War dies das Fegefeuer? Sollte es so aussehen? Warum tat dieses Lächeln so weh? Warum brannte sich dieser Kuss wie ein Mal in ihn? Eine Zeichnung ... für immer gezeichnet ... ein Zeichen, damit er nicht mehr vergaß ... auf seine gottverlorene Seele gebrandmarkt.

Schuldigs Hände zitterten, waren unfähig etwas zu halten. Etwas in ihm schrie und wand sich in ärgster Pein und er war diesen Gefühlen ausgeliefert.
 

„Komm ins Bett“, forderte Aya sacht und zog Schuldig sanft mit sich auf die Matratze. Gott, nicht nur die Hände des Deutschen zitterten, sogar dessen ganzer Körper. Das machte Aya Angst, Angst vor der Wucht der Verzweiflung, die in diesen grünen Iriden tobte. Es schien, als hätte er in Schuldig etwas ausgelöst, das er selbst nicht abzuschätzen vermochte.

„Leg dich zu mir…na komm schon“, flüsterte er und ließ sich selbst nach hinten gleiten.
 

Und Schuldig ließ sich mitziehen, wie ein verwaistes Kind welches alles tat um nur wieder gutzumachen, weswegen man es gescholten hatte. Nicht, dass wieder jemand ging, den er liebte und ihn wieder allein ließ. Er folgte Ran und bettete seinen Kopf an dessen Schulter, die Atmung flach, weil um Beherrschung bemüht.

Er wurde angenommen wie er war, mit seinen Fehlern, mit seiner Schuld, sein gesamtes Ich, wurde eingehüllt in Geborgenheit, Wärme, Ruhe.

Blaugrüne wässrige Pole schimmerten kurz auf, bevor die Lider den Blick verschlossen, diese Offenbahrung von Gefühlen verbargen.
 

Aya sah diese Tränen….er sah sie. Es war das erste Mal…wo er am Anfang ihres unseligen Zusammentreffens die Tränen des anderen Mannes nur hatte erahnen können, sah er sie jetzt deutlich, das wurde ihm in diesem Moment bewusst. Das erste Mal, dass er offene Tränen in Schuldigs Augen sah.

Es zerriss Aya innerlich. Grub sich wie tiefer, schrecklicher Schmerz in ihn und zerfleischte seine Beherrschung wie ein blutrünstiges Tier seine Beute.

Er blinzelte, kämpfte gegen sich und die Trauer, die ihn überkam.
 

„Du bist nicht mehr alleine…..“, wisperte er. „Du bist nicht mehr alleine…nie mehr.“

Er angelte blind nach einer der Decken und zog sie über sich. Barg Schuldig in seinen Armen und mummelte sie beide in die Decke.
 

Schuldig klammerte sich an die Worte, an dieses Gefühl und auch an Ran selbst. Er wollte nicht sprechen, hätte den Mund ohnehin nicht aufbekommen. Was geschah hier nur mit ihm?

Warum entzog sich alles seiner Steuerung? Warum schmerzte ihn im Inneren so vieles? Mit einem Mal?
 

Doch wie oft ... war es die Zeit ... die diese geschlagene Wunde - der Kuss - diesem brennenden Mal den Schmerz auf seiner Seele nahm und plötzlich war es, als verspüre er Trost. Zum ersten Mal fühlte er es, getröstet zu werden und nicht sich diesem Trost zu entziehen, sich gegen ihn zu stellen, sondern ihn anzunehmen, sich in ihm fallen zu lassen.
 

Für Aya hieß es nun ebenso zu schweigen wie für Schuldig auch. Lieber konzentrierte er sich auf körperliche Gestalt des Telepathen, die sich an ihn gepresst hatte, als gäbe es kein Morgen mehr. Als wäre er die letzte Hoffnung des anderen Mannes.

Es machte Aya nichts aus…ganz im Gegenteil. Ein Teil von ihm begrüßte diese Nähe.

Er strich Schuldig durch die wirren Haare, über die empfindsame Kopfhaut. Zog die Decke etwas enger um sie beide.
 

Das gleichförmige Heben und Senken des Brustkorbes, die regelmäßigen Schläge des Herzens, das stete Pulsen der Ader, die Abstrahlung der körperlichen Wärme, die umsorgenden Hände ... all dies umwarb Schuldig, wickelte ihn in die Decke der Geborgenheit und ließ ihn in sich Selbst ruhen. Sein Gesicht hatte nach einiger Zeit die Halsbeuge von Ran aufgesucht, hatte die Lider geschlossen und atmete ruhig den Duft der Haut, ließ den Strom der Wärme durch ihn fließen und fühlte sich unsagbar beschützt.
 

Es war, als gäbe es in diesem Moment nur sie beide. Sie beide in einer Blase voller Wohltat und Wärme. Niemand konnte die Membran durchdringen, die sie schützte.

Denn auch wenn es Aya war, der Initiative ergriff und Schuldig schützte…ihm verzieh und ihn erlöste, so spendete Schuldig unwissend das, was Aya brauchte. Trost. In einer verqueren Form Trost und Zweisamkeit, die für seine Seele wie Balsam war.

Seine Wange ruhte auf den weichen Strähnen des anderen Mannes, sein Blick auf der großräumigen Wohnung. Es war ihre Blase…ihr Schutz.
 

o~
 

Das warme Licht beschien Schuldig, fiel in sein Auge, als er die Lider hob und sich räusperte. Sanft rieb er seine Wange etwas am Kissen, scheinbar hatte er ihn auf das Kissen gelegt, als er eingedöst war. Nun hatte er Rans Ohr vor seinem Gesicht und ein zärtliches Lächeln legte sich auf seine Lippen. Rans Augen waren noch geschlossen, wie er sich kurz versicherte, bevor er aus einem kindischen Impuls heraus in das verführerisch und ihm schamlos präsentierte Ohr pustete. Und ein dreistes Grinsen folgen ließ.
 

Gerade noch in entspanntem Schlummer öffnete Aya abrupt seine Lider, als er vermeintliche Gefahr spürte. Die sich mit einem schnellen Drehen seines Kopfes jedoch als eine wieder zum Spielen aufgelegte Großkatze entpuppte.

Aya kannte dieses Grinsen, hatte es schon früher gesehen und jedes Mal richtig interpretiert: Schuldig wollte spielen…war für ein kleines Tänzchen aufgelegt. Doch im Gegensatz zu früher begegnete er eben diesem nicht mit Misstrauen oder Abscheu, sondern mit einer viel stärkeren Waffe.
 

Neugier.
 

„Was?“, fragte er beinahe lachend.
 

Die Funken sprühten ihm nur so entgegen, das Lachen in Nuancen dazwischen zu hören. "Nichts. Ich wollte dich nur wecken, damit ich keine Langeweile habe."

Doch seine Hände waren äußerst brav und wagten keine Annäherung. Die rechte Hand lag unter dem Kissen und hatte somit auch Rans Kopf über sich und die andere lag locker und in trügerischer Ruhe auf Rans Hüfte.
 

Aya nickte verständnisvoll. „Ich verstehe schon…Langeweile kann etwas Tödliches sein“, pflichtete er Schuldig bei und zeigte seine strahlend weißen Zähne. Im Gegensatz zu Schuldig waren seine Hände jedoch da, wo er etwaige Angriffe strategisch gut planen konnte. Im Gegensatz zum Telepathen.

Er blinzelte unschuldig. „Was für ein Glück es da ist, dass deine Wohnung so groß ist. Da kannst du dich sicherlich lange und ausgiebig dem Reinigen und Pflegen deiner Einrichtungsgegenstände widmen. Um deine Langeweile zu vertreiben, versteht sich.“
 

Rans Haare riechen so verführerisch gut, stellte Schuldig gerade gedanklich fest, seine Nase in die rote Flut steckend, die sich zwischen ihnen auf dem Kissen entlang schlich. Das Raubtierlächeln jedoch konnte er nur mit einem amüsierten Schmunzeln beantworten, als er seinen Arm unter dem Kissen hervorsuchte und seinen Kopf draufstützte. "Och, aber das ist doch weniger unterhaltsam als wenn wir das zusammen täten? Wir könnten uns dabei zusehen und die eine oder andere Technik vom anderen lernen...", malte er zukünftige Fensterputzorgien aus... mit einem dreckigen Grinsen verstand sich von selbst.
 

„Ach…Techniken…soso“, spöttelte Aya vergnügte und sah von unten herauf mit allzu großen Augen zu Schuldig hoch. „Was ist denn schon großartig bei dem rein…raus…rein…raus…mit dem Putzlappen aus dem Wasser? Da hast du eine bestimmte Technik?“

Die hatte Schuldig gewiss…er sah den anderen Mann schon nackt in seiner Wohnung herumspringen, den Wischmob in der einen, die Zigarette in der anderen Hand. Sehr effektiv. Oder wahlweise würde er hier in Schuldigs Vorstellung den Nacktputzer spielen. Aya schauderte unwillkürlich. Wahrscheinlich saß der Gute auch noch auf der Couch und gab ihm Anweisungen. Soweit würde es noch kommen. Sicherlich.
 

"Nein, da werden die Fenster sicher nicht sauber. Ab und an musst du auch das Wasser wechseln und dann auch mal am Fenster kreisen oder den Putzlappen richtig auswringen. Außerdem hat das auch was mit der Geschwindigkeit zu tun. Schließlich habe ich keine Lust den ganzen Tag nur die einen Fenster zu putzen, da fallen ja noch mehr Aufgaben im Haushalt an", seufzte Schuldig gequält und ließ sich mit dem Gesicht ins Kissen fallen, nuschelte da weiter, leise lachend. "Ich liebe Gespräche übers ‚Putzen’“, lachte er glucksend.
 

Aya erwiderte das mit einem ebenso lachenden Kopfschütteln. Es war eines der letzten Dinge, die er je mit Schuldig besprochen hätte. Und nun tauschten sie Putztipps. „Sie haben sehr viel Tiefgang“, gab er schließlich zu und bettete seinen Kopf wieder auf das Kissen, sah Schuldig von der Seite aus an. Strich sich eine der vorwitzigen Haarsträhnen aus der Stirn.

„Also…du machst aus Langeweile deine Wohnung sauber. Und ich? Was ist mit mir? Viele Köche verderben den Brei, wie du sicherlich weißt. Was bleibt mir dann noch zu tun?“
 

"Attraktiv in der Gegend herum stehen", grinste Schuldig in sein Kissen hinein und war kaum zu hören. Sie redeten hier über Nonsens mit dem Hauch von Sex im Hintergrund und ihn freute es wie sonst nichts im Moment. Schuldig fiel etwas ein und sein Kopf ruckte aus dem Kissen empor, doch er verwarf die Idee gleich wieder. Sicher hätte Ran jetzt keine Lust noch wegzugehen. Wesentlich langsamer traf sein scheinbar schwerer Kopf wieder auf das Kissen. "Wie spät is es eigentlich?", kam die Stimme wieder undeutlicher.
 

Wie gut, dass Ayas Ohren zu fantastisch wie immer funktionierten und er die erste, bis zur Unkenntlichkeit gedämpfte Bemerkung des anderen Mannes durchaus verstanden hatte. Er setzte zur Erwiderung an, blieb dann jedoch stumm, als der die Gestik Schuldigs verfolgte, die der eines Springteufels doch ähnelte. Sehr sogar. Doch, sehr interessant war sie. Eine Wissenschaft für sich, könnte man sagen. Schuldigzismus. Ein Schuldigzismus mit Zeitmessung. Ohne eigentlich. Momentan hatte Schuldig ja keine Zeitangabe. Aber er.
 

Aya wähnte den Wecker hinter dem Deutschen und runzelte die Stirn. Erhob sich schließlich leicht und krabbelte mehr über Schuldig als dass er sich wirklich elegant über ihn beugte zum Bettrand. Sah UNTER dem verdammten Bett den Wecker stehen. Was war das nur für eine Angewohnheit? Schrecklich. Mit den Armen hinter und seinen Beinen vor Schuldig, wandte er sich irgendwie zu dem Telepathen um. „Kurz nach zwölf.“ War es schon so spät? Wo war die Zeit geblieben?
 

Schuldig grinste noch immer als das sachte Herabsenken des Bettes und die leichten Berührungen ihn streiften. Er drehte sich flink um, so dass er nun auf dem Rücken lag, wenn Ran wieder zurückklettern wollte. "Danke", grinste er. Als hätte er nicht selbst nach der Zeit sehen können, wo doch der Wecker auf seiner Seite des Bettes stand.

"Hast du Lust noch etwas zu unter...", fragte er als ein Klingeln ihn unterbrach. Das Telefon. Sein Blick suchte sofort den von Ran und er runzelte die Stirn. Er hatte jetzt keine Lust zu telefonieren. Vielleicht war es Brad?

Und schon war er in den Gedanken des Mannes.

`Brad? Rufst du an?'

‚Ja. Komm morgen um 17.00 hier her. Es geht um einen Auftrag.'

‚Klar. Ich bin da.'
 

Aya setzte sich langsam auf, als Schuldigs Aufmerksamkeit von ihm in Regionen abglitt, die er nicht verfolgen konnte. Er sah schier, wie Schuldig auf das Klingeln seines Telefons reagierte, indem er in Gedanken abdriftete. Eine interessante Entdeckung, die er jedoch nicht zum ersten Mal machte. Er fragte sich, ob der Telepath ihn jetzt wahrnehmen konnte… so wie er war. Mit wem auch immer er sich unterhielt. Aya konnte es sich ja fast denken. Crawford, wer sonst. Die Glucke musste ja einen wachsamen Blick auf ihr Küken werfen.

Er studierte schweigend die Züge des Deutschen. Was wollte der andere Mann ihn fragen? Ob er noch weggehen wollte? Wie könnte er denn…im Angesicht ihrer Beerdigung. Wie könnte er ihr Vermächtnis so entehren? Nein…er könnte es nicht.
 

Schuldig lächelte Ran zu, während er mit Crawford kommunizierte, wobei sich diese Kommunikation eher auf wenige Worte beschränkte, bevor sich Schuldig verabschiedete. Rans Blick verriet, dass er durchaus etwas mitbekommen hatte davon, dass Schuldig nun auf anderem Wege mit jemandem reden musste. Schuldigs Hand schlich sich an Rans Seite, um ihm zu zeigen, dass er durchaus alles mitbekam, auch wenn es vielleicht von ihm nicht vermutet war.
 

Eben diese vorwitzige Hand erfuhr nun die typisch Aya’sche Behandlung, als er Schuldigs Finger mit einem tadelnden Klaps belohnte. Eine rein instinktive Reaktion, denn Aya weilte mit seinen Gedanken fern von Schuldig. Beim gestrigen Tag. Beim Abschied, den er von seiner Schwester genommen hatte. Das, was er ihr versprochen… nein sich selbst versprochen hatte. Trotzdem bewahrte ihn das nicht vor dem klaffenden Loch, das er wieder und wieder mit Ablenkung zu übertünchen versuchte. Das aufklaffte, wenn er sich nicht mehr auf andere Dinge konzentrierte. Wie auch jetzt.
 

Er seufzte lautlos und drehte sich weg, schwang die Beine langsam aus dem Bett. Er brauchte Abstand zu Schuldig. Räumlichen Abstand. Lautlos strebte er die Küche an.
 

Ran nachblickend verzog Schuldig bedauernd die Lippen, wälzte sich auf die Seite, faul wie er war und vergrub sich kurz wieder im Kissen. Sobald er Ran nicht mehr ‚beschäftigte’, ihn auf Trab hielt, verfiel dieser wieder in seine Traurigkeit zurück. Ein Stimmungswechsel, der schwierig war.

Aufseufzend beschloss Schuldig bald das Bad aufzusuchen. Sollte er duschen? Eine schwierige und knifflige Frage ... die es hier zu lösen galt.

Vielleicht doch besser morgen früh? Was für eine vertrackte Situation.

Schlussendlich ging er dann doch ins Bad, einen kurzen Blick zur Küche werfend und dann würde er wohl bald ins Bett zurückkriechen, so lustlos und gerädert wie er sich jetzt vorkam. Träge und faul. Jawohl. Vielleicht noch einen Happen Essen und etwas ... stumpfsinnigem Fernsehen und dann ...
 

Kaffee.
 

Danach dürstete es Aya momentan. Schwarz, bitter, aufputschend. Tief in Gedanken versunken schenkte er sich eine Tasse ein und nahm einen Schluck. Verzog gleich darauf vor Ekel das Gesicht. Kalt. Das Gesöff war kalt.

Er stellte schweigend die Tasse wieder weg und fuhr sich ratlos durch die Haare. Fühlte sich rastlos. Warum…warum in aller Welt überfuhr kaum, dass er alleine war, ihn die Erinnerung an die Stunden…die Minuten, wo er dem Arzt gelauscht hatte. Es war das Einzige, an das er sich noch erinnerte, bevor er dann hier aufgewacht war.
 

Besser wurde es dadurch allerdings nicht. Er trug die gleiche Trauer wie zu Anfang in sich. Die gleiche Verständnislosigkeit…das gleiche Gefühl des immensen Verlustes. Er fühlte sich allein, auch wenn er das nicht war. Sein Team…seine Freunde…Schuldig. Er hatte Menschen um sich und war doch allein. Ging das?
 

"Hast du noch etwas vor, oder warum ... willst du Kaffee trinken?", fragte Schuldig, der sich nach einer Weile, in der er im Bad rumort hatte, leise in die Küche begeben hatte, nun am Tresen lehnte und den Mann ins Augenmerk gefasst hatte. So verloren wie dieser dort stand, die Tasse noch bei sich, den Hauch der Bitterkeit noch um die Mundwinkel. Er bemerkte die Unruhe in dem Körper, als er einen Blick über Ran schweifen ließ. Vermutlich tat Ran sich vielleicht auch schwer mit der Tatsache, dass er Schuldig nicht ausweichen konnte. Immer mit ihm in einem Raum war, immer in Sichtkontakt.

"Ran?"

Schuldig stützte sich mit den Händen auf der Ablage ab, legte den Kopf schief. "Soll ich ... ich meine ... willst du heute Nacht vielleicht allein sein? Ich könnte wo anders pennen ... bei Brad oder so ... du hättest die Wohnung für dich ..." Seine Worte verloren sich zwischen ihnen.
 

Ayas Augen fuhren hoch, direkt in die des anderen Mannes. Alleine. Er war alleine…wäre alleine. Schuldigs Frage von vor ein paar Minuten kam ihm wieder in den Sinn, ließ ihn scheinbar verstehen, was der Telepath mit seinen Fragen bezweckte. Wollte er raus? Ohne ihn weggehen? Sicherlich hatte er Schuldig schon genug von seinen üblichen Tätigkeiten abgehalten.
 

„Es ist in Ordnung, wenn du noch auf die Piste gehst“, sagte er schließlich, auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach. „Ich bleibe wohl alleine hier.“ Nur um sich in selbstzerstörerischer Weise Trauer und Verzweiflung auszusetzen.
 

Gut, jetzt wusste Schuldig wo er dran war. Was Ran brauchte.

Wie so oft war sich der Telepath unsicher, wie er sich ihm gegenüber zu verhalten hatte und jedoch frech genug sich nicht stumm in eine Ecke zu stellen oder gar den Dingen ihren Lauf zu lassen - was manchmal nicht schlecht sein mochte ... aber hier ... hatte er das unbestimmte Gefühl, dass er handeln musste, dass ohne Aktion keine Reaktion kam - oder die Falsche. Eine die er nicht mochte.

Aber nun wusste er was los war.
 

"Auf die Piste?", lachte er leise in sich hinein und öffnete den Kühlschrank, holte das Eis hervor, das sie gekauft hatten. Er trat an Ran heran, portionierte Eis in ein Schälchen, holte sich zwei Dessertlöffel während er die Frage im Raum stehen ließ, ein weiches Lächeln auf den Lippen, auch, als er an Ran herantrat ihn kurzerhand um die Taille fasste und zur Couch dirigierte.

"Setzen!", befahl er. Ohne Widerworte setzte sich Ran und die Wärme in Schuldigs Augen glimmte sacht.

Schuldig setzte sich daneben, lümmelte sich zurecht, bevor er die Schale zur Hand nahm und etwas Eis auf den Löffel gab, ihn Ran vor den Mund hielt.

"Bei Crawford zu übernachten, heißt nicht auf die Piste gehen, sondern aufstehen mit dem ersten Hahnenschrei und am besten schon vor dem Hahn auf sein... Was ich damit sagen will ... ich will dich nicht alleine lassen, Idiot", sagte er sanft, liebevoll. „... aber ich dachte du hältst es vielleicht nicht mehr mit mir aus, hier kannst du ja kaum für dich sein ..."
 

Immer noch perplex über den plötzlichen Handlungswechsel blieb Aya nicht viel anderes übrig, als nun wirklich seinen Mund zu öffnen und ein wenig des herrlichen Eis zu kosten, das sich ihm so darbot. Sich gleichzeitig auch bewusst zu werden, dass Schuldig ihn durchschaut hatte. Schuldig würde ihn entgegen seiner Angst also nicht alleine lassen…aus Gründen, die er durchaus akzeptierte.

Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen. In einem Punkt hatte Schuldig durchaus Recht…er war nie für sich, ein Umstand, den Youji als das völlige Armageddon für Schuldig bezeichnen würde. Selbst vor Weiß hatte er sich so manches Mal zurückgezogen, um einfach nicht in sozialem Kontakt mit anderen Menschen stehen zu müssen. Und nun…nun verbrachte er wiederum seine gesamte Zeit mit Schuldig und war sogar dankbar dafür. Ob das nicht irgendwann zum unausweichlichem Konflikt führen würde, war ihm schleierhaft. Zum Armageddon für Schuldigs Gesundheit, wenn Aya durch diese Nähe explodieren würde.
 

Dennoch war Aya jetzt dankbar, dass er in aller Einsamkeit nicht über ihren Tod und seine Trauer nachdenken musste. Auch wenn sie ihn wieder und wieder anfiel. Das waren die Momente, in denen er sich nicht ansprechbar fühlte…nicht im Geringsten. Wie gerade eben. Die Momente, in denen er aus dieser Starre gerissen werden musste.
 

„Es geht schon…mit der Zeit entwickelt man so etwas wie eine Elefantenhaut“, versuchte er die Stimmung ebenso hochzuhalten, auch wenn ihm der Spott nicht ganz gelingen wollte.
 

"Das will hoffentlich nicht heißen, dass gar nichts durch diese Haut hindurch kommt", murmelte Schuldig während er Ran mit dem Löffel auf die Nase stupste bevor er ihn wieder ins Eis tauchen ließ.

"Ich ... bin das auch nicht gewohnt und reden ist für mich auch mit so was wie Arbeit verbunden, Telepathie ist bequemer, ich kann fauler sein, es ist einfacher ...", fing er an, wusste jedoch nicht so recht worauf er hinaus wollte.

"Aber wenn du um mich bist ... dann ist es ... neu für mich. Ich muss viel mehr überlegen was ich zu dir sage, wie ich es sage ... und vorhin ... ich wollte einfach nicht, dass du denkst du könntest nicht einmal eine Auszeit von mir nehmen. Ich kann dich schlecht einschätzen ... weil ich dich nicht lesen kann, Ran." Er grübelte einen Moment über dieses unzusammenhängende Wirrwarr an Worten und zuckte die Schulter. "Also ... zusammenfassend ... ich will dich nicht allein lassen, aber ein bisschen musst du mir schon helfen, damit du mich nicht wegschickst obwohl du es nicht willst...", grinste er leicht über seine Worte...
 

„Es ist für mich ebenso schwierig, viel zu reden…es war vorher einfach nicht nötig“, gab Aya zurück und zog beinahe schon entschuldigend die Schultern hoch. Anscheinend betrieb Schuldig gerade Akkordarbeit, so viel wie er redete. Nicht, dass es Aya störte…im Gegenteil. Anscheinend steckten sie beide noch in den Kinderschuhen, was diese Art von Kommunikation betraf. Und mit eben diesen Schuhen lernten sie langsam laufen, was nicht immer einfach war.

Ein kleines Lächeln erhellte Ayas Gesicht, als er einen weiteren Löffel des Eises zu sich nahm und es sich auf der Zunge zergehen ließ. Einen Momente später jedoch stutzte und das Schälchen ins rechte Licht rückte, damit er sehen konnte, ob es auch wirklich das war, wofür er es hielt.
 

Tatsächlich…Matchaeis, das er, so konnte er sich dunkel erinnern, sich gewünscht hatte. War es etwa immer noch…davon? Gehörte es zu den Dingen, die ihm seinen unfreiwilligen Urlaub hier hatten erleichtern sollen? Vor nicht einmal…drei Wochen?

Kleine Hure

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Blinder Seher

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

...

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Namenlos in einer Welt ohne Gesichter

~ Namenlos in einer Welt ohne Gesichter ~
 


 

Ayas Blick kehrte zurück zu Schuldig, zur Quelle seiner Trauer. Die Emotionslosigkeit von vorher war ersetzt durch tiefe, stumme Traurigkeit. Durch Verzweiflung, wie sie stiller nicht hätte sein können.

„Wie kommst du darauf?“, fragte er, die Stimme rau und uneben. Er hatte so lange geschwiegen, so lange nichts gesagt, dass es schwer war, diese Worte hervor zu bringen und sie in einen Kontext zu setzen. Wieso sollte er Schuldig nicht mehr wollen? War es denn nicht genau anders herum? Waren es nicht die Verletztheit und Trauer in den Zügen des Deutschen gewesen, die ihm deutlich gemacht hatten, was er für einen Fehler begangen hatte?
 

Schuldig suchte Halt an der Ablage. Sieh mich nicht so traurig an, sagte er innerlich zu Ran und wie gerne hätte er jetzt den Geist des anderen besucht. Aber so musste er sprechen, musste er Worte artikulieren.

Heute fiel es ihm am Schwersten.

"Weil du dich ... abgewendet hast. Du ... du...", er atmete tief ein und zog dabei die Brauen konzentriert zusammen.

"...du bist zurückgewichen ... vor mir."
 

Aya schüttelte den Kopf. „War das verwunderlich? Du warst abgestoßen davon, dass ich ihn gefragt habe. Dass ich es weiß. Was soll ich dazu sagen? Ich habe kein Patentrezept, was dir helfen würde…ich wollte nur verstehen. Ich wollte in der Lage sein zu reagieren…doch genau das war nicht richtig. Ich weiß nicht, wie ich sonst damit umgehen soll.“

Er wandte ein weiteres Mal seinen Blick ab. Konnte dem Wissen in seinem Inneren nicht Stand halten.
 

"Ich…", setzte Schuldig an, die Worte überrollten ihn, er wandte sich ebenfalls ab, war überfordert.

"Gott", flüsterte er heiser und Tränen traten ihm in die Augen. Warum heulte er denn jetzt so viel in letzter Zeit?

Er stützte sich mit den Händen am Rand der Ablage auf, legte die Stirn an einen der Hängeschränke.

"Ich war nicht abgestoßen davon. Ich ... hatte vor Augen, dass du es plötzlich wusstest, genauso schnell wie ich hattest du es erfahren, das war im Moment so, als wärst du dabei gewesen. Eben weil ich es auch erst erfahren hatte. Ich hatte gar keine Gelegenheit, es zu verstecken, zu verbergen, vor ... deinen Augen. Ich bin ... mir so ausgeliefert vorgekommen und ich wusste, es würde dich anekeln. Wenn du es nicht gewusst hättest, dann hätte ich es dir verheimlichen können, dich damit nicht belasten müssen. Ich will nicht, dass es dir schlecht geht."
 

Violette Augen maßen die zusammengesunkene Gestalt, hörten auf die Trauer im Inneren des Telepathen und reagierten auf sie. Aya trat einen Schritt näher, schließlich noch einen. Es zog ihn magisch zu diesem Mann…diesem armen Wesen. Vorsichtig umschlang Aya mit seinen Armen Schuldigs Mitte und Bettete seine Stirn auf die ihm abgewandte Schulter. „Was hätte es für einen Sinn gehabt, wenn du es mir verschwiegen hättest? Wenn du alles in dich hineingefressen hättest, ohne eine Möglichkeit, diese Erinnerungen zu teilen? Dieser Mann…ihm galt mein Ekel und meine Wut. Nicht dir. Wie könnte es denn auch überhaupt?“, fragte er leise, in den weichen Stoff des Pullovers nuschelnd.
 

Schuldig durchfuhr es innerlich als er von der Gegenwart des Mannes eingehüllt wurde, sackte ein Stückchen weiter zusammen, wollte sich an ihm festhalten und wandte sich um, umarmte Ran fest, sein heißes Gesicht in dessen Halsbeuge bettend, den Kopf auf der Schulter ablegend.

"Ich war in diesen Erinnerungen so dermaßen gefangen, dass ich für Gefühle kaum Zeit hatte und als ich dein Gesicht gesehen habe, dachte ich, dass das genau die Gefühle sind, die ich eigentlich fühlen müsste, warum tust du es für mich? Warum kann ich es nicht?"

Schweigen schloss sich an die Worte und Schuldig wusste immer noch nicht, warum er den Schmerz in sich nicht fand, den er eigentlich fühlen müsste. Warum wirkte alles so blass…so entfernt von ihm?

"Ich hab dich verletzt nicht?", sagte er nach der kurzen stillen Unterbrechung. "Habe ich dir sehr wehgetan, Ran?"
 

„Nein…hast du nicht“, erwiderte Aya, sagte damit nur die Halbwahrheit. Doch das hatte sie im Moment nicht zu stören, keinen von ihnen. Es würde wieder gut werden. Dieser kleine Hoffnungsschimmer hatte sich in seinen Gedanken festgesetzt. Vielleicht. Ja, vielleicht würde es das.

„Du hast mir nicht wehgetan…das kannst du gar nicht.“ Er küsste den zitternden Schopf. „Du hast dir selbst wehgetan, Schuldig. Weine um das, was geschehen ist. Es wird dir gut tun. Es wird den Kloß lösen, der in deiner Brust sitzt. Versprochen. Versprochen, Schuldig.

Du darfst es nicht in dir aufstauen und es zu groß werden lassen. Ich bin da…und fange dich auf, hörst du?“ Seine Arme bargen den größeren Mann wie ein kleines Kind, drückten ihn fest an sich. Seine Augen jedoch ruhten in weiter Ferne, ruhten auf der imaginären Gestalt Kitamuras.
 

Du hast nicht gewonnen. Du hast ihn nicht gebrochen. Er ist nicht dein…er gehört mir, richtete er stumm an das tote Monster. Ich werde deine Erinnerungen aus ihm tilgen, darauf kannst du dich verlassen.
 

Ein Nicken antwortete Ran und Schuldig schloss die Augen für eine kleine Weile. Es war noch alles zu ungeordnet, als dass er diesen Kloß vollends lösen konnte, denn er brauchte dazu mehr Zeit.

Aber er weinte um die Geborgenheit, die ihn wie eine Welle überschwemmte und ihm den Atem raubte. Sein Inneres lag in diesen Stunden bloß und schutzlos und war empfänglich für Schmerz aber auch für Liebkosung, Zuneigung. Er hatte seinen Schutz eingebüßt und er wusste nicht wo er hin war. Warum konnte er diese Tränen nicht verbannen? Warum fehlte die Wut, wo war sie hin?
 

Doch Aya wusste es nur zu genau. Schuldigs Schwäche glich er durch seine eigene Stärke aus. Er war Schuldigs menschlicher Schutzschild. Er nahm den Schmerz in sich auf und schenkte Wärme und die nötige Zuneigung so wie sie hier standen. Eng umeinander geschlungen, sich näher als je zuvor. Er lauschte auf die Tränen Schuldigs, auf die Trauer, die der andere Mann abstrahlte. Lange Zeit tat er nichts anderes als sie beide hin und her wiegen und nichts sagen. Nein…hier bedurfte es keiner Worte.
 

Und doch wusste er, dass sie nicht ewig hier bleiben konnten. Es gab bessere Orte um sich schließlich zu entspannen. „Komm mit“, flüsterte er schließlich leise. „Wir setzen uns in die Kissenecke.“
 

Schuldig nickte wieder in die Halsbeuge hinein, stupste mit der Nase dagegen und hauchte ins Ohr, das ihm in den Weg kam, als er den Kopf hob.

"Ja"

Der Weg erschien Schuldig eine Meile lang, aber schlussendlich ließen sie sich in die Kissen sinken.
 

„Ich bin gleich wieder da, ich hole nur eben den Tee“, lächelte Aya sanft und strebte zurück in die Küche. Er suchte im Süßigkeitenschrank noch nach Keksen und anderen, nervenberuhigenden Dingen und legte sie mit auf das Tablett um dann zu Schuldig zurück zu kehren. Er griff sich eine Decke für sie beide und ließ sich neben dem Telepathen auf den weichen Teppich nieder.

Aya sank in die bequemen Kissen und schmiegte sich an sein Gegenüber, strich ihm währenddessen zärtlich über den Oberarm, als ein wohlbekanntes Geräusch die Stille durchbrach. Ein Handy klingelte. Nein…SEIN Handy klingelte.
 

o~
 

"Ran?" fragte Omi deutlich besorgt als die Verbindung stand. Sie waren schon längst überfällig und nun hatte er sich doch durchgerungen und hatte angerufen. Sichtlich froh drum, dass immerhin abgenommen wurde, also konnte es nicht zu schlimm sein. Aber wenn Aya schon einen Termin sausen ließ, steckte mit Sicherheit mehr dahinter. Nervös lief Omi in der Küche auf und ab.
 

„Omi…gut dass du anrufst“, seufzte Aya und wusste mit einem Male, was ihm die ganze Zeit im Hinterkopf herumgeschwirrt war. Er hatte es in Anbetracht der Umstände völlig vergessen, dass sie heute zum Kaffee verabredet waren. Bei Weiß. Himmel, wie erklärte er Omi das, ohne dass der Junge enttäuscht wäre? Ohne dass er sich zurückgesetzt fühlte?

Er ging zur Kissenecke zurück, ließ sich neben Schuldig nieder und sah diesen um Hilfe bittend an. „Omi…es tut mir leid. Ich hatte den Termin vergessen“, rückte er schließlich mit der Wahrheit heraus.
 

"Oh. Vergessen", murmelte Omi, allerdings auch erleichtert, zeigte Yohji und Ken im Hintergrund, dass alles in Ordnung war.

"Soso Vergessen, also...", hörte man das dreiste Grinsen aus Omis Worten heraus. Er konnte sich schon vorstellen wie das geschehen konnte, klang Aya am Telefon doch sehr relaxt. Und wenn er an das letzte Gespräch dachte ...

Auch wenn es Omi nicht passte, dass Aya jetzt nicht hier war, war er nicht allzu enttäuscht darüber, denn seine Fantasie hatte sich ausgemalt, dass Aya sicher den Termin ‚vergessen’ hatte, weil er sich mit Schuldig durch die Betten gejagt hatte.

"Es sei dir verziehen, Aya. Aber nur wenn ich Einzelheiten zu hören bekomme!", forderte er, grinsend. Die Sorge war von ihm abgefallen und jetzt war ihm schon leichter. Was sollte er schon groß gegen Schuldig wettern, es half nichts, scheinbar bahnte sich zwischen Schuldig und Aya etwas Ernstes an...
 

Aya glaubte nicht richtig zu hören. Einzelheiten? Details? Ja was glaubte der Junge denn, was sie gemacht hatten? Die ganze Nacht…

Da plötzlich ging es ihm auf. Genau DAS dachte Omi und unterstellte ihm, er hätte sie darüber vergessen. Wenn es doch nur so einfach wäre…

Aya sah hoch, als Schuldig ihn sanft an sich zog und ihn anlächelte. Mit einer Hand zu seinen Haarspitzen griff und mit ihnen spielte. Aya erwiderte diese Sanftheit mit einem Streichen über Schuldigs Wange.

„Denkst du nicht, dass das für dein armes, unschuldiges Wesen nicht noch etwas zu verdorben ist?“, entschloss er sich, dem Jungen zu kontern, anstelle ihm eine gehörige Standpauke zu halten.
 

Stille breitete sich in der Leitung aus ... ebenso ein breites Grinsen auf Omis Gesicht.

"Nein", sagte er prompt. "Ich bin mir sicher, dass ich noch viel zu wenig weiß für mein armes unschuldiges Wesen."

Omis Augen glitzerten frech und er freute sich, so mit Aya sprechen zu können.
 

Aya wiederum freute das weniger. Youji übte, seitdem er nicht mehr da war um die beiden zu kontrollieren, einen durchaus schlechten Einfluss auf ihren Jüngsten aus. Das ging einfach nicht an. Er lehnte an Schuldigs Schulter und seufzte unhörbar für Omi. Wenn er die Gelegenheit dazu hatte, würde er ihm schon den Kopf zurechtrücken, soviel konnte er sagen.

„Ja…deswegen nimmst du dir jetzt erst einmal dein Biologiebuch und schlägst nach, was es mit den Bienchen und den Blümchen auf sich hat.“
 

Ein Satz den Schuldig lachen ließ. "Genau. Sag ihm, ich zeig ihm, wie man Bienchen fängt", lachte er verhalten. Es tat gut über solch harmloses Zeug zu reden und zu lachen. Er wusste wie man Bienen fängt, holte sich seine Biene regelmäßig wieder an sich. Seine Hand strich sanft über Rans Rücken.
 

"Die Story kenn ich schon", sagte Omi und hörte die Worte von Schuldig. Also hatte er wirklich Recht gehabt, die beiden lagen ja noch immer zusammen, so nah wie sich Schuldig anhörte.
 

Da hörte sich doch alles auf! Jetzt fiel ihm auch noch Schuldig in den Rücken. Violette Iriden trafen auf ihre grünen Gegenspieler, als Aya Schuldig leicht in die Seite knuffte und ihm einen gespielt bösen Blick zuwarf.

„Soso…die kennst du schon. Wie wäre es dann mit der Geschichte von Rapunzel und der bösen Hexe?“, fragte er und lächelte dunkel.
 

"Die ...hört sich nicht günstig an", sagte Omi gedehnt und seufzte gequält auf.
 

Und Schuldig zog die Brauen in die Höhe. "Die finde ich auch nicht so gut ... Blumenkind", fiel ihm wieder Rans Spitzname ein, den er ihm gegeben hatte.
 

„In Ordnung ihr beiden“, schloss Aya das leidige Thema und beschloss, sich nicht über die Kommentare dieser beiden Quälgeister zu ärgern. „Das Blumenkind wird dann die Verantwortung an das Bienchen weitergeben“, lächelte er und drückte Schuldig das Handy in die Hand, wollte mal sehen, was er aus den Fragen machte. Und wie Omi auf die Antworten reagierte.
 

Und erschreckte diesen nun doch mit seiner Handlungsweise. „Ran…?“, hakte er vorsichtig nach, nicht wirklich glauben wollend, dass dieser ihn an Schuldig weitergereicht hatte.
 

Zweifelnd stierte Schuldig das kleine Kommunikationsgerät an, als würde es ihn jeden Moment angreifen wollen.

"Nein, der andere Rote", sagte Schuldig unsicher. War das jetzt eine Unterrichtsstunde in verbaler Kommunikation?, fragte er sich insgeheim, absolut unsicher in dieser Situation.

"Ich glaube den haben wir in die Flucht geschlagen", murmelte er verdrossen und blickte mit schuldbewusster Miene zu Aya.
 

Der ihm charmant ins Gesicht lächelte und sich einen der Kekse nahm. Voller Genuss hinein biss und sich die Schokoladigkeit dessen auf der Zunge zergehen ließ. Der sich nun genau Omis Reaktion vorstellen konnte, die…
 

…in einem überraschten Laut bestand. Zunächst. Omi konnte es nicht fassen, dass Ran ihn wirklich Schuldig ausgeliefert….ihn an Schuldig weitergereicht hatte. Auch er fühlte sich nicht auf sicherem Boden, wusste nicht, was er mit dem plötzlich gezähmten Telepathen anfangen sollte.

„Ja…das haben wir wohl…das arme Kerlchen“, gab er schließlich ein wenig mutiger als er sich fühlte zurück. „Wie sieht es denn jetzt aus, mit dem Kaffee?“
 

Tja und was sollte Schuldig nun dem Kleinen antworten? Sein Blick verlor sich einen Moment in der Ferne und er ließ sich ein wenig Zeit.

"Ich muss zu einem Termin, Kleiner, wie wäre es in vier Tagen? Mit Sicherheit kann sich das Blumenkind von mir loseisen und der Sex flaut etwas ab, schließlich braucht man auch eine Pause", grinste er leicht, dabei die Gedanken des Blondschopfs am anderen Ende der Leitung gelesen.
 

Omis Lächeln am anderen Ende der Leitung war etwas, das Aya zwar nicht sehen, das er sich aber hervorragend vorstellen konnte. Da hatten sich zwei Lustmolche gefunden. Die keine Gelegenheit ausließen, über das Eine und nur das Eine zu reden.

Ein freundliches Zwicken erreichte Schuldigs Oberschenkel…nicht zu leicht, nicht zu fest. Gerade richtig. Eine Warnung, doch nicht nur das.
 

Und wie wünschte sich Aya erst, dass er in Omis Reichweite war, als er dessen Worte, durch den Hörer gedämpft hörte.
 

„Na wenn du dann in vier Tagen noch sitzen kannst und Ran vor lauter Erschöpfung nicht zusammengebrochen ist, steht der Termin“, sagte Omi todernst und erntete einige ungläubige Blicke der übrigen Weiß.

Aya verengte seine Augen. Verdammt. Genau das hatte er verhindern wollen.
 

Schuldig lächelte fahrig. Leg auf, sagte ihm etwas. Aber es hatte nichts mit ihm zu tun was der Kleine hier von sich gab. Bleib realistisch, sagte er sich.

"Nimm den Mund mal lieber nicht zu voll, Kleiner ... wie beim letzten Mal", spielte er auf den Blowjob des Kleinen an, den er letzte Woche noch lebhaft in seinem Kopf herumspuken hatte. "Und wem der Hintern momentan noch weh tut, wissen wir beide doch ganz genau", sagte er ruhig, hatte er in den Gedanken des Weiß durchaus erspäht, was dort herumgeisterte.

Und auch wenn Schuldig momentan etwas derangiert war, so wusste er sich durchaus zu wehren.
 

„Ich denke, dieses Thema…“, sagte Aya energisch, laut genug für beide und nahm das Handy wieder an sich. „…können wir auch beim Kaffee in vier Tagen besprechen, habe ich nicht Recht, Omi?“ Ihm gefiel diese Richtung nicht. Ihm gefiel die minimale Anspannung in den Zügen des Deutschen nicht. Auch wenn er Omi sein loses Mundwerk nicht verdenken konnte, so war das der schlechteste Zeitpunkt um solch ein Thema auszubreiten.
 

„Also Omi, bis in vier Tagen. Ich muss mich noch einmal dafür entschuldigen, dass ich es vergessen habe. Ich verspreche dir, dass es nicht wieder vorkommen wird!“
 

Er wartete noch kurz, bis Omi sich verabschiedet hatte und legte dann auf. Er warf das Handy so weit es ging von sich und wandte sich an Schuldig.
 

Schuldig sah dem Treiben dankbar zu und zog Ran wieder näher an sich. "Gut erzogen", murmelte er und verzog die Lippen skeptisch. Aber er war Ran mehr als dankbar, dass dieses fragende Handy endlich weit weg war.

"Ich wusste schon nicht mehr, was ich sagen sollte."
 

Aya lächelte sanft und sah zu Schuldig, schüttelte leicht seinen Kopf. „Anscheinend nicht gut genug. Das war keine Absicht von ihm. Wirklich nicht…“, versuchte er sich zu entschuldigen, hatte er doch das bestimmte Gefühl, dass er für Omis Worte verantwortlich war. Dass er besser aufpassen hätte müssen. Seine Hand strich über die Züge des Telepathen, reichte ihm schließlich eine der Teeschalen. „Ich hätte sofort eingreifen sollen…es tut mir leid.“
 

Die sanften Striche genießend nahm Schuldig den Tee entgegen nippte daran.

"Ist gut, Ran. Ich habe es ihm ja doch noch heimgezahlt", lächelte er etwas matt. "Der Junge hat Phantasien ... kann ich dir sagen." Er schüttelte den Kopf nahm noch einmal einen Schluck. Stille breitete sich aus.

"Küss mich", sagte er plötzlich in sie hinein, blickte Ran über die Tasse hinweg ernst an.
 

Und Aya tat nach einem winzigen Moment genau das. Er lehnte sich zu Schuldig und hauchte auf dessen Lippen einen winzigen, zärtlichen Kuss, sich nicht sicher, ob er das Richtige tat oder ob er weitergehen sollte. Er wollte Schuldig nicht unwillkürlich an dieses Monster erinnern, das sich ihm aufgezwungen hatte. Das wollte er nicht.

Seine Lippen stupsten ein zweites Mal zu, bedeckten dieses Mal die warme Nasenspitze des Telepathen. Er lächelte.

„Habe ich. Und nun?“
 

Schuldig schnäbelte an den Lippen, lächelte gelöst als er diese Wohltat fühlte, er sich nur an Ran erinnert fühlte.

"Und nun...küss ich dich", sagte Schuldig leise und fing die Lippen ein, knabberte zärtlich an ihnen, strich mit der Zunge darüber, bat um Einlass in die warme Mundhöhle.
 

Aya gewährte ihm diesen Zutritt, kam der neugierigen Zunge von sich aus sogar noch entgegen. Seine Hände umfassten seicht das frisch rasierte Gesicht des anderen Mannes und strichen über die babyglatte Haut. Sie erinnerten Aya daran, was ihm noch bevorstand. Doch das war jetzt nicht wichtig in ihrem zärtlichen Zusammensein.

Denn was war schöner, wenn der Mann an seiner eigenen Seite nach dem Tee schmeckte, in dem man am Liebsten baden würde?
 

Schuldig genoss sichtlich diese Momente, labte sich an diesem süßen Gefühl, welches er nur bei Ran hatte.

"Weißt du ... er hat mich nie geküsst, Ran", sagte er zwischen dem Lecken über die Lippen als er verspielt an den Lippen saugte.

"Nie", sagte er bekräftigend. "Und deine Lippen ... deine Zunge ...", er machte einen genießerischen Laut lächelte wieder.
 

Alle Ruhe, die Aya gerade noch in sich beherbergte, schien anhand dieser so ehrlichen Worte von innen heraus zerbersten zu wollen. Er spiegelte das Lächeln und dennoch war das einzige, was darin zu lesen war, Traurigkeit. Er senkte seinen Blick auf die weichen Kissen. Atmete tief ein. Ein Teil in ihm war erleichtert darüber, dass Schuldig eben dieses erspart geblieben war. Dass er nicht auch noch diese Demütigung hatte hinnehmen müssen. Doch ein anderer wurde erneut in die Worte des Amerikaners gestoßen, in die grausigen Beschreibungen.
 

"Nein", sagte Schuldig bestimmt und streichelte Rans Nacken sanft, kraulte ihn. "Nein. Hörst du. Du wirst jetzt nicht daran denken, weil ich es nicht will. Ich will es nicht, Ran hörst du? Hörst du?"

Er schüttelte den Kopf und wieder krochen Tränen in ihm hoch. Er fühlte sich so wankelmütig, so unstet.
 

Aya sah hoch, sah sich direkt mit dieser personifizierten Trauer konfrontiert. Wie gerne wollte er Schuldigs Bitte…seinem Befehl oder was es auch immer war, nachkommen. Wie gerne wollte er die Worte vergessen, die Crawford ihm offenbart hatte. Wie gerne wollte er in der Lage sein, einfach hinter sich zu lassen, was Schuldig schmerzte. Er wollte Schuldig zeigen, dass auch ein liebesvolles, sanftes Leben möglich war.
 

Und genau hierbei versagte er nun, als er derjenige war, der sein Gegenüber wieder und wieder darauf stieß.

Aya zog Schuldig an sich, schlang seine Arme um die rastlose Gestalt. Er küsste ihn…küsste ihn um die salzigen Kristallperlen zu verbergen, die seine Wangen hinunter flohen. Die er für und anstelle von Schuldig weinte.
 

Schuldig erwiderte den Kuss, doch ein Schluchzen bahnte sich in seiner Kehle an und haltlos unterbrach er den Kuss umarmte Ran harsch, wischte ihm die Tränen weg. Küsste ihn wieder, leidenschaftlich, verzweifelt, als gäbe es keine Rettung.

Doch es hatte keinen Sinn, die Tränen liefen nach. Wie erstarrt blickte er den Mann an, kniff die Augen zusammen, als wäre das alles zuviel für ihn.

"Shh", machte er und umarmte ihn wieder, blieb so liegen und gab seinen Gefühlen nach, ließ die Schluchzer raus, auch wenn er eigentlich Ran trösten wollte, nicht wollte, dass er weinte.
 

Sie waren eins…Aya weinte, Schuldig schluchzte…sie kannten beide kein Halten mehr. Und doch war es für Aya eine ungeheure Erleichterung zu hören, dass Schuldig bereit war, sich den Schmerz einzugestehen. Dass sich eben dieser Schmerz bereits seine Bahnen brach und nicht im Inneren des Telepathen zu einem großen, erstickenden Klumpen wurde.

Ayas Arme umfassten die zitternde Gestalt des Deutschen, zogen ihn näher. Doch er sagte nichts, brachte nicht über die Lippen, auch nur ein Wort zu äußern. Er konnte es nicht…so sehr weinte er um die Geschehnisse. Um die Qualen.

Er wollte Trost spenden, Nähe zeigen. Tat dies auch. Er war bei Schuldig…nichts würde mehr passieren.
 

Eine Zeit lagen sie zusammen und nur hin und wieder ruckelte sich Schuldig bequemer, ließ aber Ran dabei nicht los. Es war Ruhe in ihn gekehrt und er lag entspannt halb auf Ran, den Kopf bequem auf das Kissen gebettet, die Lippen an der Ohrmuschel des anderen Mannes, hauchte er nun eine sanfte Berührung mit ihnen darauf.

"Heey", atmete er aus und legte etwas Stimme hinein. Eine Begrüßung, als würde er Ran auf der Straße treffen und ihn wieder sehen. Doch war das Wort viel zärtlicher, als jede Begrüßungsfloskel es sein konnte.
 

Aya sah langsam hoch, blinzelte leicht. Er versuchte sich an einem schwachen Lächeln, während seine Finger sanft über die bedeckte Brust des Telepathen strichen. „Hey“, erwiderte er zärtlich und atmete tief ein. Vorbei…die Zeit des Weinens war vorbei. Es brachte nichts, wenn er wieder und wieder in Tränen ausbrach. Damit war niemandem geholfen. Schon gar nicht Schuldig.

Seine Augen glitten über Schuldigs Gesicht, nahmen schweigend die sanften Züge in sich auf, so als müsste er sie sich immer und immer wieder einprägen. So als würden sie verschwinden…
 

Sie verschwanden nicht.

Schuldig neigte sich vor, küsste sanft die Wangen, suchte sich einen Weg über die salzigen Areale bis hin zu den trockenen, verweinten Lippen, die rot und salzig waren. Zart fuhr er darüber, zupfte und neckte an der Unterlippe.
 

Ayas Augen schlossen sich. Er raubte sich selbst die Sehkraft, damit er sich auf das konzentrieren konnte, was so wichtig in seinem Leben schien. Ein weiteres Mal öffnete er seine Lippen, ein weiteres Mal erwiderte er den Kuss des anderen Mannes.

Ein weiteres Mal ging er auf dieses seichte, sanfte Spiel ein. In der Hoffnung, dass es besser werden würde…mit jedem Male, an dem sie zusammenfanden.
 

Schuldigs Zungespitze umspielte Rans, tauchte in die warme Feuchte und trieb ihr Spiel weiter. Es war als könne er nicht genug von diesem Geschmack von diesem Gefühl bekommen. Zärtlich zog er an der Unterlippe, knabberte leicht daran. Seine Hände strichen über den Körper in seinen Armen.

"Hast du Hunger?", fragte er an die Lippen, blickte Ran mit etwas Abstand in die rotgeränderten Augen.

"Wir sehen sicher schrecklich aus", grinste er Schuldig zaghaft.
 

„Wie Frankenstein“, erwiderte Aya und schüttelte belustigt seinen Kopf. „Und Dracula in einem…“ Er sah an sich herunter, als könne er so feststellen, wieviel Hunger er hatte. Und tatsächlich. Sein Magen antwortete ihm zuverlässig wie er war mit einem lauten und deutlichen ‚Ja!’.

„Scheint so“, wandte sich Aya nach dieser ausführlichen Konferenz an Schuldig und strich ihm zärtlich über das Schlüsselbein. Lächelnd ließ seine Hand über den Oberarm nach unten gleiten.
 

Schuldig hatte keinen wirklichen Hunger aber er wollte, dass Ran etwas aß und so würde er wohl auch essen. Zumindest konnte er es sich denken, dass Ran nichts essen würde, wenn er selbst keinen Bissen hinunterbrachte.
 

Sich aufsetzend, zog er Ran mit sich und kam schließlich auf die Beine. "Was soll’s denn werden? Willst du kochen?", fragte er, dabei die indirekte sanfte Beleuchtung der Wohnung anmachend.
 

Aya stand für einen Moment da und war sich nicht wirklich schlüssig, ob er nicht zu faul war. Ehrlich zu faul, sich jetzt eine längere Zeit mit der Zubereitung von Essen zu beschäftigen. Doch ein Blick auf Schuldigs Gestalt nahm ihm zumindest den Teil der Entscheidung ab. Der andere Mann hatte ebenso lange wie er nichts mehr gegessen und war vermutlich nicht so versiert darin, seinen Hunger einfach zu ignorieren und Hunger sein zu lassen.
 

„Du hilfst mit!“, bestimmte er sanft, als er zu dem Schluss kam, dass das bei weitem mehr Amüsement bedeuten würde und streunte in die weitläufige Küche.
 

Schuldig war dicht hinter Ran und fing ihn in der Küche ein. "Das hört sich ja fast wie ein Befehl an?!", murmelte er schmollend und halb verdrossen an die weiche Haut im Nacken, pustete sanft darauf.

Langsam konnte er die Bilder sortieren, die in seinem Kopf ungefiltert herumspukten und sie hinunterschlucken. Er fühlte sich leichter, vielleicht auch etwas sicherer. Wie es werden würde, wenn er nach draußen musste konnte er jetzt nicht sagen, oder ob es bei einem Auftrag schlimmer wurde...

Doch daran wollte er jetzt nicht denken.
 

„Hm…vielleicht ist es auch einer“, schnurrte Aya sacht und lehnte sich in die sanfte Inbesitznahme. Seine Hände fanden automatisch zu den Unterarmen des anderen Mannes. „Auch in der modernen Zeit muss der Mann von Welt das Jagen praktizieren um sein Futter zu erlegen. Von nichts kommt nichts.“ Er nickte ernsthaft, bestätigte seine elementar wichtigen Worte. Der Urtrieb…das Jagen und Fangen.
 

"Ahh ‚jagen’ und ‚praktizieren’ und ‚erlegen’ klingt ja alles nicht schlecht", raunte Schuldig und grinste dann. "Meinst du jetzt was zu Essen ... oder mich damit?", neckte er und genoss die sanften Finger, die mit den Härchen auf seinem Unterarm spielten.

Er schnupperte an der verführerischen Haut entlang, den Moment in sich schließend, einen Kuss darauf platzierend.
 

Aya grollte spielerisch und strafte den anderen Mann mit einem leichten Tritt vor das Schienbein. „Natürlich meine ich das Essen“, lachte er leise, strafte seine Worte selbst Lügen. „Als wenn ich dich als meine Beute betrachten würde…nein, nein. So sehr schlage ich nun nicht nach Youji.“

Sein Körper schmiegte sich an Schuldigs und wiegte sie beide sanft. Er schauderte sacht, ließ sich treiben von diesen Lippen.
 

"Wieso mich?", fragte Schuldig samtig an Rans Ohr. "Ich hatte das alles eher auf dich als ... zu jagen ... mit dir zu praktizieren ... und dich zu erlegen ... bezogen", log er glatt und ließ seine Lippen zart über die Ohrmuschel streifen, aber nicht so, dass es womöglich kitzelte.

Es machte ihm unheimliches Vergnügen mit Ran zu reden, auch wenn es anstrengender war, als wenn er telepathischen Kontakt aufnehmen hätte können. Er streichelte sanft den Bauch, der leise grummelnde Proteste von sich gab.
 

Soso…ihn selbst zu jagen? Und zu erlegen? Über Ayas Lippen kroch unerkannt ein kleines, gemeines Lächeln, als er den Entschluss fasste, Schuldig genau diesen Wunsch zu erfüllen. Und das schneller, als es sich der Telepath vielleicht je erträumt hatte.

Geschickt löste er sich aus der Umarmung, wich ein paar Schritte Richtung Ausgang…Richtung weiträumigem Loft zurück. Dieses Spiel hatten sie schon einmal gespielt. Und schon einmal hatten sie es beide genossen.
 

„Der geborene Jäger also?“, lächelte Aya und krümmte in altbekannter Geste seinen Zeigefinger. „Dann offenbare mir deine Jagdkünste…“ Noch ein paar Schritte mehr und er stand mitten in dem Raum. Lächelte und posierte verführerisch.
 

Nicht, quengelte es in Schuldig, als Ran sich von ihm löste und nun so weit weg von ihm war. Sein trauriges Gesicht verlor Schuldig jedoch als er sich ohne ein Wort, ohne ein Signal, dass er auf das Spiel eingehen würde, startete, sich seine Beute erjagen wollte.

Ran war frei, er konnte laufen soweit ihn seine Füße trugen, er war nicht gefesselt und konnte sich ihm entziehen wenn er wollte, ja das war herrlich! Berauschend, für Schuldig im Moment und es machte ihm sichtlich Spaß, lockerte sein Inneres wieder mehr auf, dass sich zusammengezogen hatte, aber langsam und stetig eine Linderung erfuhr.
 

Aya sah das, sah, wie Schuldig ihm hinterher stieg. Aber…

„Immer noch zu langsam! Na komm, etwas mehr Elan, sonst entwischt dir deine Beute noch!“, lachte er und ließ sich in die Couchecke treiben. Dort, wo er noch die größten Chancen hatte, seinem Häscher zu entkommen. Der sich wirklich alle Mühe gab, das musste er ihm lassen. Wirklich.

Und so lockte er ihn verführerischer als je zuvor hinter sich her. Umgarnte seine Beute mit Fäden aus seidiger Verzauberung.
 

Und Schuldig ließ sich mit einem jungenhaften Grinsen locken. Schneller atmend blieb er stehen taxierte Ran, lotete aus wohin er ausweichen würde.

"Und da willst du mir sagen, ich wäre hier die Raubkatze? Von wegen!"
 

Aya lachte. „Bist du doch auch…von mir habe ich es nur nie bestritten…“ Er trat demonstrativ einen Schritt zur Seite. Senkte seine Lider auf Halbmast. Täuschte dann nach links aus und floh an Schuldig vorbei ins Badezimmer, positionierte sich auf der anderen Seite der Badewanne.
 

Schuldig hatte sich täuschen lassen, hetzte nun Ran hinterher und sie kamen erst wieder im Bad in Blickkontakt.

"Bin ich nicht!", behauptete Schuldig grinsend. "Ich habe ja auch keinen verdeckten Namen, der was mit Katzen zu tun hat. Kommt ja nicht von ungefähr!"

Rasch blitzte die Überlegung durch seinen Kopf ob er Ran nicht überraschen sollte und kurzerhand in die Wanne stieg, aber die Unfallgefahr war ihm zu groß. Er hatte nicht vor als Killer in seiner eigenen Badewanne zu Tode zu kommen, nur weil er einen uneleganten Abgang machte und sich so das Genick brach. Also wählte er eine Seite.
 

„Was du nicht sagst!“ Natürlich hatten sie gewisse Eigenschaften übernommen. Den Spieltrieb, die Neugier…noch einige andere Dinge. Doch das würde Schuldig noch früh genug herausfinden. Er trat einen Schritt zur Seite und legte den Kopf schief.

„Allerdings sind Katzen sehr schwer zu fangen…und wenn sie einem doch zulaufen, muss man sie sehr, sehr gut erziehen…sonst kratzen sie. Und dominieren ihre Herrchen…“

Aya löste sich von der Wanne und trat rückwärts aus dem Bad heraus…ganz langsam, aber dennoch bereit, jeden Moment wieder zu flüchten.
 

Schuldig kam langsam um die Wanne herum, fixierte den Blick des anderen, lächelte hintergründig.

"Ich wette um die ‚Blind Night’, dass ich Katzen gut erziehen kann!", grinste Schuldig herausfordernd.

Wenn Ran von seiner ‚Erziehungskunst’ nicht überzeugt war, dann würde Schuldig sich die Augen verbinden lassen, wenn er überzeugt war, dann hatte Schuldig eine Blind Night und noch einen Wunsch offen.

Mit einem plötzlicher Sprint schoss er auf Ran zu.
 

Der, noch ganz in der Überlegung, was Schuldig nun damit meinte, einen Augenblick zu spät reagierte und sich nun in arger Not sah. Der Telepath war schnell! Beinahe zu schnell, wie Aya stolpernd feststellte, als er sich in Hast geradeaus flüchtete und die Stufen zum Bettareal hoch flüchtete, an der letzten jedoch stolperte.

Er stolpert so unelegant, dass er sich nicht mehr fangen konnte und der Länge nach bäuchlings auf die weiche Matratze fiel, alle Viere von sich gestreckt.
 

Das Schicksal war anscheinend eine Frau…so launisch, wie es war.

Reglos blieb er liegen und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Verdammt. Ungeschicktes Kätzchen aber auch.
 

Sogleich war Schuldig hinter Ran und nun kniete er über ihm, spielerisch sich über den Schopf beugend zum Ohr. "Na mein Kater, die Flucht schon zu Ende? Und dann auch noch zielsicher auf dem Bett des Herrchens gelandet?" Er berührte Ran nicht, achtete sorgsam darauf nur den Hauch des Atems die Ohrmuschel streifen zu lassen. Nur das Niederdrücken seines Gewichts auf der Matratze zeigte an, dass er über Ran thronte.
 

Schuldigs Haare kitzelten ihn…der Atem des Mannes tat es, als er langsam die Augen öffnete und schauderte. „Zielsicher? Genau…absolut zielsicher“, nuschelte Aya lächelnd und wandte seinen Kopf zur Seite, schielte hoch zu Schuldig. „Anscheinend habe ich in der Jagd kein Glück…oder deine Wohnung ist dir einfach zu wohl gesonnen.“ Genau, das war es. Es war gar nicht seine Schuld…überhaupt nicht seine.

„Und was gedenkt das Herrchen nun zu tun?“, schnurrte er schließlich sacht.
 

"Nimmst du die Wette an?"

Schuldig schnupperte durch Rans Haar, neckte mit der Nase die Ohrmuschel. "Dann bekommst du noch eine Chance zur Flucht, eine einzige. Und wenn die missglückt werde ich sehen, ob ich das freche Katerchen nicht doch wohlerzogen bekomme", grinste er.

Die Gedanken an Kitamura waren verborgen, verschlossen. Sie durften nicht hervor kriechen, aus ihrem mit Ketten umspannten Gefängnis…
 

Also eine weitere Wette…eine Wette um die Blind Night, eine Wette um Erziehung. Wenn er seine Chance nicht nutzen würde. Soso. Aya runzelte leicht seine Stirn. Eine Frage hätte er da doch…eine Unsicherheit vielmehr. Er kannte diese Laszivität in Schuldigs Stimme, die Zweideutigkeit…den Sex, den er daraus hörte. UND er hatte die Spielzeuge in diesem Tisch gesehen. Alle…wie es ihm sein Verstand unnötiger Weise vor Augen führte.

„Und worin wird diese ominöse Erziehung dann wohl bestehen?“, fragte er spielerisch nach, wusste aber, dass er in einem Punkt Gewissheit brauchte. Innerlich freute sich jedoch bereits ein Teil in ihm, dass Schuldig überhaupt noch in der Lage war, mit ihm eine solche Wette einzugehen. Ja, es freute ihn wirklich.
 

Und Schuldig wusste nicht was Ran meinte, er hatte sich zu diesem Spiel noch keine Gedanken gemacht. So unterbrach er den spielerischen Tonfall.

"Was meinst du, Ran?", fragte er sanft nach, ließ sich halb auf den Körper hinab, hüllte ihn zärtlich ein.
 

Es brauchte einen Moment, bis Aya auf diese Frage antworten konnte, auch wenn er nicht wusste, warum. Warum er sich so scheute, diese Worte auszusprechen. War es, weil sie ihn noch immer so beschäftigten? Er drehte sich etwas zur Seite, damit er Schuldig in die Augen sehen konnte. Insgeheim ließ er sich von dessen Wärme beruhigen, von den Erinnerungen ablenken.

„Ich möchte keine Fesseln“, bahnte es sich schließlich leise seinen Weg heraus, verschwand beinahe in der Lautlosigkeit der Worte. „Nichts, dass mich wehrlos macht oder an einen bestimmten Punkt bindet.“
 

"Keine Fesseln, nichts was dich wehrlos macht oder an einen bestimmten Punkt bindet", sagte Schuldig fast schon feierlich, wegen der Wiederholung des Wortlautes. "Aber ein schickes Halsband für meinen Kater, damit er wieder gebracht wird, wenn er verloren geht?", fragte Schuldig bei dieser Gelegenheit gleich einmal nach, lächelte den Blick zärtlich, küsste die nahen Lippen zart und sah Ran wieder in die Augen.
 

Aya erwiderte dieses Lächeln, erwiderte diesen Blick, der ihn verzauberte. Bedachte Schuldig mit der gleichen Aufmerksamkeit, die dieser ihm zukommen ließ. Ein Halsband also. Keine Fesseln, aber ein Halsband. Konnte Aya damit leben?

Warum nicht? Warum sich eigentlich nicht soweit vorwagen?

„Ein Halsband“, bestätigte er schließlich. „Allerdings solltest du gut auf deinen Kater aufpassen…denn wenn er wegläuft, wird er alleine schon aus Neugier so schnell nicht wiederkommen…und sich schon gar nicht von Menschen fangen lassen.“
 

"Aber vielleicht findet er ja einen rotfelligen, streunenden Straßenkater, mit dem sich zusammentun kann." Schalk blitzte in den Augen des Telepathen.
 

„Das glaube ich sogar ganz sicher. Er steht auf Straßenkater. Und wenn sie rotfellig sind, ist es ganz aus. Dann brennt er womöglich mit ihm durch und kommt nie mehr zurück. Ob man das Risiko wohl eingehen kann?“, fragte Aya, seine innere Angst wieder niedergekämpft und in die dunklen, abgelegenen Windungen verstaut.
 

"Tjaa das Risiko muss man wohl eingehen, aber wenn das teure, schicke Halsband an dem Kater dran ist ... dann werden die verruchten Straßenkater sicher hinter ihm her sein, so wie das glänzt. Mal sehen ob der rotfellige Kater ihn sich erkämpfen kann, bei so vielen Angeboten...", gab Schuldig zu bedenken, strich sanft über Rans Seite, neckte mit seiner Nase die des anderen, berührte mit seinen Lippen Rans.
 

„Wenn er stark genug ist…und ordentlich um seinen Gefährten kämpft, wird er vielleicht erwählt. Sicherlich, da bin ich zuversichtlich. Sehr zuversichtlich“, schnurrte Aya und knabberte sacht an den ihn streichelnden Lippen, an dem rasierten Kinn. Er rieb sein eigenes an dessen Haut, lächelte unwillkürlich. Wie musste sich das wohl anfühlen?

Seine Hände gruben sich frei und spielten sacht mit den langen Strähnen.
 

Schuldig knurrte kurz wohlig auf, als Ran sein stoppeliges Kinn an ihm rieb, machte ihn das im Moment an und er haschte mit den Zähnen danach, ließ es wieder los, schmiegte sich an den anderen Mann.

"Stark ist er bestimmt. Ein Prachtkerl von einem Kater, kennt sich auf der Straße aus und ist gewitzt. Er kennt die Tricks und die kann sich Respekt verschaffen. Sein Revier ist nicht klein."
 

„Aber nicht, dass er dann an einen Pascha gerät…an den Pimp Daddy seines Reviers“, merkte Aya sichtlich skeptisch an und runzelte spielerisch die Stirn. „Dann könnte es auch unter ihnen zu Dominanzkämpfen kommen, denn so leicht lässt sich der entlaufene Kater nicht unterordnen. So leicht nicht.“

Er schüttelte den Kopf und lächelte, als sein Magen ihm grollende Zustimmung leistete.
 

"Nein, nein", wiegelte Schuldig ab. "Der ist eher so was wie der verborgene Boss, der die anderen machen lässt und herumstreift, alles jedoch im Blick behält. Er hat nichts und will auch nichts besitzen. Aber er würde sich freuen, wenn er jemanden hätte der ein Stück des Weges mit ihm geht", lächelte Schuldig. Wenn das keine Unterhaltung nach seinem Geschmack war...
 

„Na wenn das Mal keine attraktive Beute für den entlaufenen Kater ist. Ein Gefährte, der ihn ein Stück des Weges begleitet“, wiederholte Aya das Gesagte und zog Schuldig noch etwas näher zu sich heran. Er umschlang ihn mit seinen Armen und lauschte stumm dem schnell schlagenden Herzen. „Das hört sich wundervoll an…wirklich wundervoll.“

Das tat es wirklich. Sich der Zuneigung eines anderen Wesens bewusst zu sein. Selbst in der Lage zu sein, Zuneigung zu empfinden…das war es, was er sich wünschte.
 

Schuldig hatte das Gefühl sie beide wollten am Liebsten ineinander hineinkriechen, so nah wollten sie sich sein. Sex spielte dabei keine Rolle momentan. Wie immer wenn sie zusammen waren, sich näher waren lag der Hauch von Erotik in der Luft, aber jetzt wollten sie beide etwas anderes. Nähe, Geborgenheit.

Ein genießendes Lächeln hatte sich auf Schuldigs Gesichtszügen ausgebreitet.

"Aber der Kater ist so schlank und hungrig", grummte Rans Magen wie aufs verlässliche Stichwort an Schuldigs, bekam aber keine Antwort.
 

„Hungrig? Nein, da musst du dich täuschen!“, behauptete Aya über seinen grollenden Mitbewohner hinweg. Gerade so laut, dass er sich gegen dieses nimmersatte Monstrum durchsetzen konnte.

Er knabberte sanft an dem allzu verführerischen Hals und begnügte sich für ein paar lange Momente mit dieser seine stillen Triebe befriedigenden Tätigkeit. Knabberte an Sehnen, an starken Muskeln, an festem, jungen Fleisch.
 

"Und wie hungrig der Kater ist ... oder ist er gar nicht aufs Essen hungrig?", raunte Schuldig samtig, genoss die zärtlichen Berührungen, kraulte Ran mit der einen Hand im Nacken und mit der anderen kroch er unter den Pullover, streichelte über den nackten Bauch, umkreiste den Bauchnabel.
 

„Vielleicht…vielleicht auch nicht“, gab Aya spielerisch zurück und zuckte instinktiv vor der ihn kitzelnden Hand zurück. Schuldig machte es aber auch Spaß, immer die Stellen zu erwischen, die ihn am Meisten kitzelten. Er knurrte leise ob der allzu kalten Finger, die ihr gemeines Spiel trieben und zwickte mit spitzen Zähnen in die Haut des ihm dargebotenen Halses. Noch einmal. Er musste sich schließlich noch einmal versichern!
 

Schuldig grinste als Ran zurückzuckte, streichelte fester, denn er wollte nicht kitzeln, sondern wohltuende Striche führen.

"Was hältst du davon, wenn wir uns eine Kleinigkeit machen und ich zur Raubtierfütterung übergehe?", lächelte er und knurrte wohlig als die Zähne ihn traktierten.

Es war herrlich hier zu liegen, diesen Mann in seinen Armen zu halten und er brauchte sich um nichts sorgen. Nicht wirklich, denn die Erinnerungen konnte er nicht aufhalten, er war ihnen gegenüber machtlos und musste sie vorüberziehen lassen. Ran bot für Schuldig Ruhe und auch Freiheit.

Bei ihm war seine Telepathie zwecklos, bei ihm brauchte er keine Beherrschung üben, brauchte er seine Macht nicht zügeln. Denn bei Ran wirkte sie nicht.

"Ich bin bei dir frei ...wirklich frei...", sagte er plötzlich leise und fing die Lippen zu einem emotionalen Kuss ein.
 

Aya konnte zwar nur erahnen, was der andere Mann damit meinte, doch er freute sich…sah er doch die Auswirkungen dessen. Schuldig schien gelöst, schien nicht so sehr gefangen in den Gedanken an Kitamura, wenn er bei ihm war. Das war gut so. Sehr gut.

Er ließ sich treiben in dem Kuss, lange noch bevor er antwortete. Bevor er die Kraft fand, sich von diesem Mann zu lösen.

Seine Augen lächelten, ebenso wie seine Lippen. „Aber nicht, dass du mir wegfliegst“, flüsterte er und hob spielerisch die Hüften. „Na komm…lass uns aufstehen.“ Ein sanftes Streichen über die Nase, ein kleines Stupsen auf die Nasenspitze.
 

"Ich bin nur bei dir frei", flüsterte Schuldig und seine Augen funkelten, als er das Violett sich mit seinem Blick verband. Er robbte an den Rand des Bettes und hangelte nach Ran.
 

Dessen Hand sich nun mit der des Telepathen verband und ihren Träger ebenso aus dem Bett zog. Schweigend, denn Aya war mit einem Male klar geworden, was dieser Satz noch bedeuten konnte. Er verstand den Sinn und es ließ ihn Schuldig sanft über die Haare streichen. Schuldig war nicht an seine Gedanken gebunden…sie zwängten sich ihm nicht auf, weil er sie nicht lesen konnte.

War das Freiheit für Schuldig? Wie es für viele Menschen Freiheit war, eben diese Gabe zu besitzen?
 

„Dann lernen wir gemeinsam das Fliegen“, lächelte er und zog Schuldig spielerisch mit sich gen Küche.
 

"Heey, ich dachte ich müsste erst einmal den Tauchschein machen?", lachte Schuldig und erinnerte sich an das Gespräch vor ein zwei Tagen.

Er band sich die Haare mit einem Haargummi nach hinten und wusch sich die Hände, bevor er an den Kühlschrank ging und ihn inspizierte.
 

„Das auch. Multitasking eben! Mit mir musst du alles können!“

Aya platzierte die Hände auf die Ablage und stemmte sich hoch, kam schließlich darauf zum Sitzen. Er spitzte zu Schuldig. Versuchte herauszufinden, was dieser denn nun zaubern würde. Oder vielmehr, was sie beide zaubern würden, denn er hatte so ein Gefühl, dass er nicht ungeschoren davon kommen würde.
 

"Ich dachte das könnten nur Frauen?" grinste Schuldig in den Kühlschrank und holte sich die Zutaten heraus, kramte in den Schränken herum, bis er zu Ran kam sich zwischen dessen Beine stellte und einen Kuss abstaubte.
 

„Nur Frauen? Wir leben in der Zeit der Metrosexualität“, lachte Aya zum guten Teil auch sich selbst aus, wurde dann jedoch von Mal zu mal ernster. Aus heiterem Himmel war ihm etwas eingefallen, das er noch nie wirklich erfragt, aber immer dankbar akzeptiert hatte.

„Gibt es eigentlich einen bestimmten Grund, warum du meine Gedanken nicht lesen kannst?“, fragte er schließlich und runzelte die Stirn.
 

"Keine Ahnung. Wenn ich es wüsste, hätte ich es wohl schon behoben", gab Schuldig zu und wandte sich zur Seite, damit er mit dem Kochen beginnen konnte.
 

Die perfekte Position für Aya, mit seinem Bein Koordinationsübungen zu machen und Schuldig einen freudigen Tritt in den Hintern zu verpassen. „Was soll das denn heißen?“, grollte er spielerisch und gab ebenso missbilligende Laute von sich.

„Bin ich dir so nicht genug? Auch noch meine Gedanken? Neugierig bist du auch überhaupt nicht!“ Ein Lächeln brach sich an seinen Lippen. Wie gut, dass Schuldig wirklich nicht jeden Gedanken, der in ihm herumstreunte, kannte.
 

"Au", spielte Schuldig pflichtschuldig den Malträtierten und rieb sich den Hintern. "Nein bin ich nicht", grinste er bis über beide Ohren und holte Kochgeschirr heraus. Er wollte jetzt nicht näher auf das Thema eingehen. Sicher hätte er das Problem behoben, schon allein um Ran regelmäßig Schmerzen zufügen zu können, um ihn auszuspionieren, damals als sie noch gegeneinander gekämpft hatten. Vielleicht hätte er ihn zwischenzeitlich sogar getötet. Sein Grinsen verblasste, doch Ran sah es nicht, da Schuldig ihm den Rücken zugewandt hatte.
 

Aya beobachtete sich die Szene für einen Moment. Ließ Sekunden verstreichen, bis er ein weiteres Mal herüberlangte und nach Schuldig griff. Dieses Mal den anderen Mann jedoch an dessen Oberarm stolpernd zu sich zog und mit seinen Armen umschloss. Sein Armvoll Deutscher ohne Worte küsste. Schuldig war…sehr anregend, wenn er hier so stand, die Haare zurückgebunden. In der Hand das Messer. Sehr attraktiv.
 

Und Schuldig barg seine sorgenvollen, aber auch traurigen Gedanken in diesem Kuss, verkroch sein Gesicht in der Halsbeuge Rans und erwiderte die Umarmung. Er wollte nicht darüber nachdenken, was hätte sein können, was noch kommen würde, oder ob er es schaffen würde mit den Erinnerungen an ... Kitamura zu leben. Er wollte so weiter machen wie bisher, er wollte einfach nur Ran für sich gewinnen, ganz für sich und nicht an Kitamura denken…
 

Zeitweise ließen ihn die Bilder der Schmach in Ruhe, aber viele Kleinigkeiten holten sie wieder herauf und zeigten ihm wie schwach und erniedrigt er gewesen war. Wie ausgeliefert.
 

Der Duft von Rans Haar vertrieb diese Bilder erneut und Schuldig legte den Kopf auf die Schulter, das Gesicht ernst, wollte er es Ran jetzt nicht zeigen, wollte warten, bis es die gewohnte Fassung wieder hatte.
 

Vielleicht sollte er wieder meditieren... eine Technik, die ihm früher oft geholfen hatte...
 

Aya schwieg zu diesem Verhalten, schwieg zu den Gesten des anderen Mannes, die er nur zu gut verstand. Er würde Schuldig nicht mit Fragen belästigen, ihn nicht versuchen, zu sich zurück zu holen, dann, wenn der Telepath Abstand brauchte.

Jetzt war einer dieser Momente, denn obwohl sie hier standen, in ihrer Umarmung, eng verbunden miteinander, so waren sie sich doch fern.
 

Eine heilsame Distanz, die Stolz bewahren sollte. Das Gesicht. So tat Aya nichts anderes, als Schuldig für viele, schweigsame Momente zu halten. Sein Blick hatte sich auf Dinge außerhalb der Realität gerichtet, fern ab von der Gegenwart. Doch immer nahe genug, damit er auf Schuldig reagieren konnte.
 

Nach einer kleinen Ewigkeit hauchte Schuldig einen Kuss auf Rans Halsbeuge und löste sich mit einem entspannten Gesichtsausdruck. "Komm bringen wir's hinter uns und schlagen uns danach den Bauch voll", versuchte er Ran zu motivieren und löste sich zwar widerwillig, aber mit der lohnenden Aussicht, Ran nachher zu füttern.
 

Der von seinem Glück noch nichts ahnte, aber dennoch lächelnd zustimmte. Sein Blick schweifte zum Essen hin, zumindest zu dem, was es mal werden sollte. Vielleicht hatte er doch ein wenig Hunger, ein wenig nur.

„Was kochst du denn leckeres?“, fragte er schließlich neugierig und sprang von der Anrichte.
 

"Von wegen ICH!", knurrte Schuldig gespielt und drückte Ran das Messer in die Hand.

"Na zeig Mal wie gut du mit dem Messerchen umgehen kannst, Chefkoch", grinste er und widmete sich wieder seiner Pfanne, die er gerade unter Hitze gesetzt hatte.
 

Na das war wohl nichts mit dem untätig und faul zusehen, während Schuldig ihn mit Raubtiernahrung versorgte. Aya lächelte stumm in sich hinein und besah sich ausgiebig das Messer in seiner Hand. Mit einem schulterzuckenden „Na ob das wohl scharf genug ist?“, ließ er es auf seine Beute niederfahren und zerkleinerte sie wie von Schuldig gefordert in kleine, zubereitungsgerechte Portionen. Merkte schon beim Schneiden, wie sehr seine Hände die größere Klinge vermissten, die sonst in ihnen lag.
 

Sein Katana, die Übungen, die er erschöpfend lange durchgehen konnte. Die scharfe Klinge, wie sie im Licht ihrer Trainingshalle glänzte. Wie sie leise durch die Luft surrte, wenn er sie schwang.

Wieso war ihm nicht bewusst gewesen, wie er seinen Gefährten vermisste? Auch wenn er in Kritikers Namen nicht mehr töten wollte.
 

"So scharf wie sein Besitzer", grinste Schuldig ob der platten Anspielung, aber es störte ihn nicht weiter, sah er Ran dabei gelegentlich zu, wie dieser das Gemüse zerteilte, zum Fleisch überging...

Es dauerte nicht mehr lange und sie hatten ein schmackhaftes Mal kreiert. Schuldig ordnete die kleinen Schälchen auf dem Tresen an.
 

Aya setzte noch die Töpfe samt Untersetzer auf den hohen Bartisch und sorgte für die Getränke, bevor er sich schließlich hinsetzte und das Essen verteilte. So, wie er es bei Weiß nur manchmal getan hatte. Wenn die Anderen zu faul schienen, sich ihr Essen selbst zu nehmen. Wenn er Lust dazu hatte, sich bis ins Detail um sein Team zu kümmern. Wenn er einen guten Tag gehabt hatte, ohne Rachegedanken, ohne Erinnerungen an ihre zahlreichen Missionen.
 

Und nun schien das alles so weit weg, auch wenn er sich bewusst war, dass er es niemals hinter sich lassen konnte. Diese Vergangenheit war ein Teil von ihm und konnte nicht abgeschüttelt werden. Mit nichts, keiner Läuterung, die es in der Welt gab. Denn er würde immer bereit sein zu töten. Auch wenn es nur dazu da war, sich und sein Umfeld zu schützen.
 

Und Rans momentanes Umfeld blickte ihm hungrig entgegen. Denn Schuldig hatte tatsächlich Hunger bekommen während des Kochens. Er setzte sich neben Ran, damit er nach draußen sehen konnte und näher an dem Rotschopf dran war. Er hangelte ungefragt nach Rans Stäbchen und fischte ein Fleischstückchen aus dessen Schale heraus. "Sag ahh", grinste er lausbubenhaft.
 

Aya sagte aber erstmal gar nichts. Starrte dem anderen Mann zweifelnd in die Augen. Soso, nun begann also die Raubtierfütterung. Sein Blick funkelte amüsiert über die Nähe des Deutschen, über dessen Gesten. War das hier Glück? Ruhe? War das hier das, was er schon immer gewollt hatte?
 

Er verschwieg sich die Antwort, versagte sie sich. Noch. Noch war dies alles zu jung, zu frisch. Zu zerbrechlich. Niemand gab ihm die Garantie, dass er hoffen durfte. Dass er nicht doch zerbrechen würde. Niemand garantierte ihm, dass nicht alles noch viel schlimmer werden würde, dass dies hier ein schöner Traum war und am Ende die Trauer wartete um ihn ins Dunkel zu stoßen.
 

Aya schob diese Gedanken von sich, sehr weit, als er sich wieder auf das Hier und Jetzt konzentrierte. Auf den Auslöser dieser Gedanken selbst. Warum nicht das genießen, was er momentan hatte? Warum musste er sich Sorgen um seine Zukunft machen, wenn sie doch kommen würde, egal, was er täte?
 

Ein stummes Lächeln huschte über seine Lippen, als er sich vorbeugte und mit seinen Zähnen das dargereichte Stück aufnahm. Dabei sah er Schuldig fest in die spielerisch aufgelegten, grünen Augen und kaute genüsslich.
 

"Sag bloß, dir schmeckt’s?", spielte Schuldig auf Rans Kritik an seiner Kochkunst an, die er in der Zeit geäußert hatte, wo Ran zwangsweise bei Schuldig Quartier beziehen hatte müssen. Ran sah aus, als esse er wahrlich mit Genuss und Schuldig ließ den nächsten Happen folgen. Es beruhigte ihn wie sie hier saßen, war fast wie eine Möglichkeit, Zeit zu gewinnen um alles zu verarbeiten. Nichts was ihn bedrängte, oder befiel, keine Erwartungshaltung, die von Ran kam.
 

„Natürlich schmeckt es mir, habe ich je etwas anderes behauptet?“, lächelte Aya scheinheilig und tat so, als hätte es die Kritik nie gegeben. Nun…dieses Essen war wirklich gut. Das konnte er nicht anders sagen.

Eine Weile aßen sie so, bis Aya eine kleine Pause einlegte. Zuviel des Guten verdarb den Appetit. Nun war Schuldig an der Reihe mit der Raubkatzenfütterung. Mit einem Lächeln schnappte er sich die noch unberührten Stäbchen des anderen Mannes und ließ sie einen Moment über der Schüssel schweben.
 

Er nahm sich Zeit, den Telepathen genauer in Betracht zu nehmen. Ihn zu beobachten, wie er zufrieden zurücklehnte und sich Essen darreichen ließ. Es erinnerte Aya ein wenig an die stilisierte Darstellung der alten Römer, wie sie auf ihren Liegen speisten, im Reinen mit sich und ihrer Welt. Wie sie in diesem unvorstellbaren Luxus schwelgten und lachten, sich bedienen ließen.

Grotesk war das, wo weder Schuldig noch dieses Ambiente Ähnlichkeit mit solch einem Festmahl besaßen. Wer wäre Schuldig denn dann gewesen? Titian? Nero? Oder doch Augustus Caesar?
 

Wohl keiner von denen, denn Schuldig hatte es nicht so mit göttlichen Vertretern auf Erden, nannten sich die damaligen Herren, doch Kaiser und geboten über die alte Welt. Nein ...Schuldig gab sich mit nicht weniger als den Gedanken der Menschen zufrieden. Er war der Herr über die Gedanken der Menschen in der ganzen Welt.

Und doch konnte er nur immer einen Menschen in seinen Gedanken erforschen. Immer nur einer ... doch die Möglichkeit jederzeit in einem beliebigen herumzustöbern. Eine Macht, die fast keinem bekannt war.

Aber Schuldig saß hier am Tresen und ließ sich füttern, genoss es mit innerer Freude und einem Gefühl der starken Zuneigung zu Ran. Bei ihm konnte er normal sein.
 

o~
 

Wenig später lümmelte Schuldig auf der Couch, die Decke bis ans Kinn gezogen und mit dem Kopf auf seinen verschränkten Armen, die auf der Rücklehne thronten blickte er nach draußen in den abendlichen Himmel. Er suchte noch immer nach dem Ekel und dem Hass, doch es wollte nicht so Recht hervor kommen.

Sein Gehirn suchte nach Bildern von Kitamura, nach ihren Spielen und er schloss die Augen weil sie ihn erregten, wenn er nur daran dachte. Wieder breitete sich die Enge in seiner Brust aus und er schloss die Augen. Um ihn herum war es still und die Lampen waren bis auf die Kissenecke gelöscht. Ran las dort und Schuldig liebte ihn dafür, dass er ihn nicht zu sehr umsorgte, das hätte ihm nur mehr gezeigt, wie schwach er war. Ran ließ ihm seinen Raum, den er brauchte und er wusste ja, dass er zu seinem Blumenkind gehen konnte wenn ihm danach war.
 

Ja…Aya wusste, dass es Schuldig wusste. Und auch wenn er hin und wieder einen versteckten Blick zur nachdenklichen Gestalt auf der Couch richtete, so blieb er doch in seinem Revier und hatte sich eines der Bücher an Land gezogen.

Mit einem Lächeln hatte er den Titel gewählt…um der guten, alten Zeiten willen war es der gleiche, den er schon einmal angefangen hatte. Er brachte nur nicht die nötige Konzentration auf, um sich wirklich vollkommen auf den Inhalt zu konzentrieren. Seine Gedanken weilten momentan bei anderen Dingen…dunkleren Dingen.
 

Aya wusste nicht, wie es von hier aus weitergehen sollte. Diese vorsichtige Ruhe, die zwischen ihnen eingetreten war, war wie dünnes Eis, das jeden Moment unter ihnen brechen konnte. Zumindest hatte er das Gefühl, dass Schuldig nicht wirklich stabil war, aber war das denn auch ein Wunder? Bei allem, was der Mann unter diesem…

Wie immer, wenn Aya daran dachte, wellte Übelkeit tief in seinem Magen auf. Widerlich, was dieser alte Sack getan hatte. Mit welcher Ignoranz und Grausamkeit er sich daran gemacht hatte, einen Jungen zu zerstören.

Doch dieser Junge…saß unweit von ihm und lebte. Und ER konnte dafür sorgen, dass es ihm besser ging. Die Frage war, ob er selbst das wollte.
 

Aya seufzte tief. Nein, diese Frage hatte sich ihm nie gestellt. Bei allem, was der andere Mann für ihn getan hatte, würde er sich revanchieren, auch wenn es nicht alleine darum ging. Vermutlich hätte er es auch so getan. Doch wenn er Schuldig eine Stütze sein konnte, dann sollte das so sein.
 

Was nicht sein sollte, war das Gefühl der sexuellen Erregtheit, welches Schuldig empfand, wenn er an einige der Bilder dachte, die nun in ihm spukten wie vergessene Geister. Warum war das so? Warum konnte er nicht alle als widerlich und pervers einstufen? Er wusste doch, dass er es damals nicht gewollt hatte was Kitamura ihm auferzwungen hatte. Niemals hatte er das gewollt. Niemals.

Schuldig veränderte seine Position leicht und verkroch sein Gesicht in der Decke.

Die Intensität der Gefühle von damals war so extrem gewesen, dass sie auch den Sex extrem werden ließen. Seine Hand übte schmerzhaften Druck auf seinen Schoß aus. Er wollte das nicht. Er wollte das alles nicht.

Warum dachte er in diese Richtung? Warum reagierte sein Körper dabei in eine andere? Stumm öffneten sich die Lippen doch der benötigte Schrei blieb aus.
 

Schon alleine, dass Schuldig sich vergraben hatte, war Aya eine Warnung, doch dass diese Gestalt nun unwillkürliche Schauer durchfuhren und er selbst auf diese Distanz vollkommen angespannt wirkte, gab nun wirklich den Anstoß dafür, dass er sich erhob und zu Schuldig ging. Er wollte nicht, dass sich Schuldig zu sehr da hereinsteigerte ohne wirklichen Beistand zu haben.

Lautlos schlich er sich zum Rücken der Couch und hockte sich hin, während seine Finger sich auf Wanderschaft begaben und zu Schuldig unter die Decke krabbelten, ihm gänzlich ohne Worte sagten, dass Aya da war.
 

Was nicht ohne ein kurzes erschrockenes Zusammenzucken quittiert wurde. Doch gleich im nächsten Moment erkannte er die schlanken, Kraft versprechenden Finger, die spielerisch emsig lockten.

„Hi“, nuschelte er und hob den Kopf in Rans Richtung. Schuldbewusst blickten seine Augen Ran im Zwielicht an. Er durfte diese Art der Gedanken nicht haben. Ran würde das nicht verstehen. Wie konnte er auch…

Wie konnte jemand verstehen, dass er zwischen dem Ekel und der Abscheu Erregung empfand? Er verstand es ja selbst nicht.
 

„Hey Tiger“, entgegnete Aya und lächelte. Jetzt, da Schuldig ihn erkannt hatte, ließ er sich auf seinen Hosenboden nieder, seine Hände lösten sich jedoch nicht von denen des Telepathen, auf denen sie immer noch lagen. Sie geboten nicht, schlugen nur vor, was Schuldig an Unterstützung bekommen konnte, wenn er wollte.

„Worüber denkst du nach?“, fragte er sanft.
 

„Über …damals. Es ist so verwirrend.“

Schuldig schloss die Augen und seine Finger strichen über die warme Haut von Rans Hand.

„Alles ist neu, aber doch verblasst. Es sind ‚nur’ Erinnerungen, blass und unvollkommen. Aber doch will ich sie ergründen und dabei habe ich das Gefühl…das Gefühl ich werde immer tiefer in die Gefühle hinein gezogen.“ Ein schleppender Monolog in die Stille um sie herum.
 

„Willst du mir über diese Gefühle erzählen, Schuldig?“, fragte Aya und legte den Kopf schief. Es schmerzte, den Telepathen so zu sehen, diese Mauer zwischen ihnen zu erkennen und sie nicht niederreißen zu können. Noch nicht. Denn Aya würde sich nicht so leicht geschlagen geben.

Seine Finger bewegten sich sacht und verwoben sich mit denen des anderen Mannes.
 

„Ich weiß nicht…“, erwiderte Schuldig mit schwerer Stimme. Sein Blick suchte wieder den nächtlichen Himmel.
 

„Ich aber“, sagte Aya entschlossen in der Stimme und seinen Handlungen. Er meinte zu wissen, was Schuldig brauchte. Distanz. Andere Dinge. Neues. Das ihn nicht an diese Wohnung erinnerte.

„Komm, steh auf und zieh dich an, wir fahren weg.“
 

Nur sah Schuldig das anders. Er bewegte sich nicht und zuckte nur mit den Schultern. „Draußen ist es ungemütlich und kalt. Außerdem ist es Nacht.“

Er suchte nach Ausreden, denn er hatte Angst davor, mit Ran über seine Gedanken zu sprechen. Draußen war alles anders, unberechenbarer. Hier kannten sie sich, hier waren sie beide vertraut. Draußen … änderte sich oft so vieles.
 

Hatte Aya erwartet, dass es einfach wurde? Nein.

„Wir sind beide noch wach, also warum sollte es uns interessieren, ob es Nacht ist, hm?“, zäumte er das Pferd von hinten auf und strich Schuldig über die abgewandte Wange. So leicht ließ er sich nicht überzeugen und in die Flucht schlagen. „Ich war da vor kurzem mit so einem frechen Typen Mäntel kaufen und Pullover. Angeblich sollen sie wärmen. Was hältst du davon, sie auszutesten, hm? Ein kleiner Spaziergang.“
 

„Das ist Psychoterror, Ra~an“, quengelte Schuldig und seufzte ergeben. Er drehte sein Gesicht dem anderen zu und lächelte gequält.

Mühselig zog er die Beine von der Couch und stützte seine Ellbogen auf die Knie. „Ich mag nicht“, der letzte aufbäumende Versuch einer Weigerung…
 

Wenn Schuldig wüsste, dass er Aya genau damit in die Falle gegangen war…

Der rothaarige Japaner erhob sich langsam und ging um die Couch herum. Er kniete sich vor sein Gegenüber und legte die Hände auf dessen eigene, bettete sein Kinn oben drauf. Seine Augen sahen groß und violett zu Schuldigs bläulich grün schimmernden empor, die ihm so nahe waren.

„Schu…“, sagte er nur.
 

„Du bist hinterhältig“, nuschelte Schuldig in seine aufgestützten Handflächen und schielte taxierend auf Ran hinunter. „Hinterhältig und durchtrieben“, erhob er sich und trottete schicksalsergeben zum Schrank um sich umzukleiden. Während dieser traurigen Zeremonie untermalte er sein Leid mit liebevollen Beschimpfungen…

Traum und Sehnsucht

~ Traum und Sehnsucht ~
 


 

o~
 

…und eine dreiviertel Stunde später untermalte er AYAS Leid mit liebevollen Beschimpfungen. Ja, er hatte ihn betrogen mit seinem ‚kurz spazieren gehen’, ja es war kalt draußen, nein es regnete nicht, ja es schneite, nein die Heizung war nicht zu warm, sondern die Luft zu trocken und alles sowieso schlimm und nein, er hätte sich nicht darauf einlassen sollen, sich von Aya durch die Gegend fahren zu lassen in seinem Sportwagen.
 

Ja, Aya bereute seinen Entschluss.
 

Dann jedoch auch wieder nicht, denn solange Schuldig noch meckern konnte, gab es Hoffnung. Diese Hoffnung schürte die Zuversicht in Aya selbst, dass er das Richtige tat und dass sie auf dem Wege waren, selbigen aus dieser Situation herauszufinden.

„Wir sind gleich da“, lächelte Aya zuckersüß. Eine Viertelstunde noch…eine Viertelstunde.
 

„Das sagst du schon die ganze Zeit“, kläffte Schuldig und fingerte an der Heizung herum. „Ich dreh Mal ein Bisschen runter, mir brennen schon die Nasenhaare an“, veräußerte er bierernst und zog ein böses Gesicht.

Nur um gleich darauf zu Aya zu blicken und schon brach sein aufrechterhaltenes Moserkostüm. Ein ungestümes, zwar etwas zittriges aber dennoch lautes Lachen platzte aus ihm heraus als er Rans Blick gewahr wurde.

Er meckerte schon die ganze Zeit herum, wegen nichts im Prinzip. Und es hatte ihm Spaß gemacht, das Meckern, weil Ran so schön darauf reagierte. Ein kleiner Schlagabtausch in Ehren kann doch keiner verwehren. Am wenigsten sie beide.
 

Das ist nicht zum Lachen!, wetterte nun Aya in Gedanken. Seit einer dreiviertel Stunde…NEIN, schon vorher. Schon noch in der Wohnung…

„Wenn du noch mal einmal sagst, dass du es warm haben möchtest“, knurrte er dunkel, im Anführermodus. „Dir ist ja wohl klar, dass die Heizung auf der Rückfahrt auf Null stehen wird, oder? Aus RÜCKSICHT auf deine Nasenhaare!“

Als wenn er seine Drohung wirklich wahr machen konnte, wenn ihn diese Augen, diese verräterischen, grünen Augen so groß und flehend ansahen.
 

„Na, hey, wenn ich ersticke findest dus sicher auch nicht toll! Dann musst du dich damit abmühen meine Leiche wegzuschaffen. Das Räumkommando von Kritiker steht dir ja nicht mehr zur Verfügung also musst du selbst Hand anlegen!“, ereiferte sich Schuldig geduldig.

„Besser du hältst mich am Leben mit etwas Wärme und Atemluft und du hast weniger Arbeit!“
 

Genau das bezweifelte Aya gerade. Weniger Arbeit? Wenn sie auf dem Weg in die Einöden waren? Dort, wo niemand hinkommen würde? Er runzelte schweigend die Stirn. Wenn er sich geschickt anstellte und schnell machte…da sie momentan ja sowieso an den Klippen unterwegs waren…

Ein kleines, gemeines Lächeln breitete sich auf Ayas Lippen aus. Ja…das würde schnell gehen. Und ob das wirklich weniger Arbeit war…
 

Schuldigs Augen schmälerten sich als er die eintretende Stille ganz richtig deutete. Wie ein lauernder Jäger drehte er den Kopf und maß das Lächeln auf Rans Profil.

„So, ist das also. DAS war also alles geplant um mich um die Ecke zu bringen. Wo fahren wir hin? In eine einsame Gegend, wo kein Hahn nach mir kräht?“, wollte er entrüstet wissen, schraubte aber seine Stimme etwas herunter als ihm bewusst wurde, dass tatsächlich keiner nach ihm …krähen würde. Niemand. Es gab niemand außer Schwarz vielleicht, die wussten, dass er existiert hatte. Dass er heute hier hinaus gefahren war.

„Kein Hahn, hmm?“, lächelte er leise. „Ein Namenloser in einem Land ohne Gesichter, in einer Welt ohne Wärme“, murmelte er und blickte hinaus in die Schatten.

So schnell war ihm das Lachen also vergangen. Von Null auf Hundert und wieder zurück.
 

„Jetzt hör auf, Schuldig. Du bist weder namenlos, noch gesichtslos noch wird kein Hahn nach dir krähen, wenn du einmal den Abgang machen solltest. Du willst also sagen, dass ich keine Wärme ausstrahle? Dass es da nicht drei Verrückte gibt, die sehr wohl nach dir krähen würden, wenn ich dich um die Ecke bringe. Ich kenne da einen…der kommt aus Amerika, der würde ganz laut krähen. Und noch einen aus Japan, so einen rothaarigen Esel, der würde noch viel lauter krähen“, knurrte Aya, deutlich wütend. Wieso sagte Schuldig so etwas?

Doch…war es nicht das gleiche Selbstmitleid, das auch er an den Tag gelegt hatte, kurz nachdem er sich bewusst geworden war, dass seine Schwester gestorben ist?

„Du bist nicht allein“, sagte er schon weicher als vorher.
 

„Nein, bin ich nicht.“

Schuldig legte eine Hand auf Rans Oberschenkel. „Bin ich nicht, Ran. Du bist kein Esel, Idiot“, schickte er die Lippen mürrisch verziehend hinterher.

Er schwieg für Augenblicke in denen er dem leisen Fahrgeräusch lauschte. „Es passte nur gerade so gut zu mir … zu jedem von uns. Es ist noch nicht einmal auf meinem Mist gewachsen. Ich hab’s aus irgendeinem Kopf gefischt, vor kurzem. Es passte einfach.“

Die Finger seiner anderen Hand tanzten über die Beifahrerscheibe.
 

„Es passt nicht, denn das hat bestimmt kein Egoist gesagt. Egoisten erschaffen sich ihre Welt, ihre Wärme und ihre Gesichter selbst. Du bist Egoist. Ich auch. Wir alle. Wir alle wissen, dass es jeden Moment vorbei sein kann und wir leben danach.“

Seine rechte Hand ergriff die Schuldigs und drückte sie. „Und wenn du mich noch einmal Idiot nennst, Schuldig, dann setze ich dich ganz egoistisch auf dieser vollmondbeschienen, menschenleeren Landstraße aus.“ Er sah kurz zu Schuldig und lächelte zärtlich.
 

Schuldig lachte leise in sich hinein, nahm seine Hand zu sich und wandte den Kopf etwas ab.

„Du und ein Egoist. Ja, sicher“, sanft wehten diese Worte zu Ran. „Deshalb willst du mir auch helfen. Weil du ganz egoistisch bist. Deshalb umarmst du mich und lächelst mich an, du Egoist“, Schuldig atmete langsam aus.

„Weißt du … ich habe mir schon mehrmals Gedanken darüber gemacht, wie es wohl wäre, wenn ich mich aus den Gedächtnissen von Brad, Nagi und Jei löschen würde. Dann wäre ich unabhängig, niemand würde wissen, dass ich existiere. Ein Niemand in der Welt der Gedanken. Nur bei dir würde das nicht gehen, Ran. Du bist der Einzige, der es wüsste, ich könnte dir mich nicht nehmen…“
 

„Untersteh dich, es jemals zu versuchen, Schuldig“, erwiderte Aya ernst, auch wenn er wusste, dass Schuldig niemals die Gelegenheit dazu erhalten würde.

„Würdest du es wollen? Dich aus ihren Gedanken zu löschen, damit du unabhängig bist? Was würde dir das bringen?“, fragte er und runzelte die Stirn. „Niemand, der dich kennt. Niemand außer ich…“ Wie erschreckend doch für ihn die Vorstellung war, dass jemand vollkommen losgelöst von der Gesellschaft existierte. Ohne dass jemand sich an ihn erinnerte.
 

„Was es mir bringen würde…“, sinnierte Schuldig und brauchte ein paar Momente um darüber nachzudenken. „Ich hätte wohl keinen Sinn für Grenzen mehr. Macht würde mir das bringen. Und ich würde wohl… ich hätte …

Brad sagte das mal… dass wir nie allein agieren sollten, da wir den Sinn für das Menschsein verlieren würden. Wir brauchen eine gewisse Steuerung, damit wir erkennen, dass wir nicht anders sind, nur befähigter.“
 

„Stimmst du ihm zu? Oder würdest du das Vergessen dem Erinnert werden vorziehen? Würdest du die Macht wählen?“, fragte Aya noch einmal und sah kurz zu Schuldig. „Was hätte diese Macht für dich für einen Reiz?“ Nur befähigter…das klang anders als zu Schwarz’ Zeiten. Milder. Nicht ganz so arrogant. Auch sie waren Menschen, auch sie litten, freuten sich, teilten Schmerz, Kummer, Leid…Glück.
 

Schuldig schwieg erneut.

„Sieh mich an, Ran. Bin ich nicht vor der Erinnerung stärker gewesen? War das Vergessen nicht etwas, dass mich stark werden ließ? Meine Hände werden feucht, wenn ich mich erinnere, sie zittern, mein Körper verkrampft sich und ich bin nicht mehr zu gebrauchen. Das ist Schwäche auf ganzer Linie.“
 

„Momentan ist es das, ja“, erwiderte Aya und fuhr auf den dunklen Parkplatz. Sie waren da. Er ließ den Wagen ausrollen und stellte den Motor ab. „Aber das wird nicht für immer so sein. Nicht, wenn du es nicht willst. Du bist stark. Auch wenn du dich erinnerst. Gerade wenn du dich erinnerst.“ Er nahm eine der zittrigen Hände und führte sie an seine Lippen, während er einen sanften Kuss darauf hauchte. „Oder wärst auch dann stärker gewesen, wenn du mich damals vergessen hättest?“, fragte er sanft, ja sogar liebevoll um die Gratwanderung in seinen leisen Worten zu überspielen.
 

Unsicher hob Schuldig den Kopf. „Das …wäre ganz schlimm gewesen“, antwortete er in fast schon kindlicher Schlichtheit.

„Wenn Brad mich nicht erinnert hätte“, fügte er nüchtern hinzu. Brad war es, der Ran gerettet hatte, nicht er und seine Unfähigkeit. Nicht er.

Schuldig befreite sich vom Gurt und stieg aus. Er brauchte frische Luft.
 

Aya stieg ebenso aus und schloss den Wagen ab, bevor er zu Schuldig kam. „Aber du hast dich selbst schließlich erinnert und das hat dich stärker gemacht, nicht geschwächt. Und so wirst du auch diese Erinnerung als das nehmen, was sie ist. Eine Erinnerung, Schuldig. Es WIRD nie wieder passieren. Dieser Mann ist tot. Er lebt nicht mehr, denn du hast ihn umgebracht.“
 

„Ja, er ist tot. Aber ich muss trotzdem an ihn denken“, zischte Schuldig und sog hörbar die Luft in die Lungen. Seine Stimme hallte laut in der klaren nächtlichen Luft wider und um sie herum war es dunkel. Nur der klare Nachthimmel und die Himmelskörper spendeten ihnen Licht.
 

Aya hakte sich bei Schuldig ein, zum einen weil ihm kalt war, zum anderen, weil er nicht wollte, dass ihm der andere Mann abhanden kam, wenn sie hier spazieren gingen. Er war die sanfte Fessel für den Telepathen, die verhinderte, dass er sich diesem Gespräch entzog.

„Ja, das musst du. Aber was fühlst du, wenn du an ihn denkst?“, fragte er und setzte sich in Bewegung, der Kies des Weges unter seinen schweren Stiefeln knirschend.
 

Am Liebsten hätte sich Schuldig nun der Nähe von Ran entzogen. Sie war ihm plötzlich unangenehm. „Was soll ich schon fühlen?“, reagierte er etwas gereizt und stierte mit gewittrig zusammengezogenen Brauen vor sich hin. Seine Zähne kauten auf der Innenseite der Unterlippe herum um sich abzulenken.
 

„Das frage ich dich, Schuldig. Du wirst am Besten wissen, was dir durch den Kopf geht, wenn du an ihn denkst“, blieb Aya vollkommen ruhig, war er in diesem Moment doch der Gegenpol zu Schuldigs Wut. Natürlich war der andere Mann gereizt, er konnte es ihm nicht verdenken…nicht nachdem was passiert war.
 

„Psychologenquatsch“, erwiderte Schuldig im gleichen Tonfall wie auch schon zuvor. Er fühlte sich in die Enge getrieben und er wusste nicht, wie er Ran seine Gefühle beschreiben sollte. Wie sollte er sie Ran erklären? Wie konnte er sie rechtfertigen?
 

Nein, Aya konnte es Schuldig wirklich nicht verdenken.

„Ist es denn nicht wahr?“, fragte er und sah zur Seite, direkt Schuldig ins abweisende Profil. Doch das war das Einzige, was Aya sagte, bevor er in Schweigen verfiel. Er wollte seine Worte erst einmal wirken lassen, in der Hoffnung, dass Schuldig ihm irgendwann antwortete.
 

Irgendwann fiel dann auch eine Antwort, aber sie bestand in einem gemurmelten deutschen Fluch, bevor die Stille wieder eintrat und lediglich die Geräusche der frühen Nacht und ihrer Schritte zu hören waren.

„Ich versteh’s doch selbst nicht, wie soll ich’s dir denn dann erklären?“, gab sich Schuldig dann doch geschlagen.
 

„Dann sag mir, was du nicht verstehst. Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung?“, schlug Aya vor und ließ seinen Blick über die sie umsäumenden Bäume streifen. Sie waren alleine hier…niemand anderes. Sie konnte reden, ehrlich sein…doch war das nicht gerade das Schwere an der ganzen Sache?

Aya überlegte sich etwas. Es war…gefährlich. Nahezu ein Drahtseilakt, aber einen Versuch wert. Er hatte sich daran erinnert, was Crawford ihm über Kitamura erzählt hatte und über diese…Session in dem Raum. Er zog Vergleiche an das, was Schuldig gefühlt hatte.

„Er hat dich dazu gebracht, es zu mögen“, sagte er so neutral und ruhig wie möglich, doch sein Blick ruhte stur geradeaus.
 

„NEIN, ich mag es nicht, verstehst du! Wie kann ich so etwas mögen?“, schrie Schuldig, und wollte sich losreißen. Er hatte sich nicht halb so gut im Griff, wie er es gerne gehabt hätte und seine Stimme brach. Unsicherheit und Schutzlosigkeit ließen ihn an Flucht vor diesem inquisitorischen Gespräch denken.

„Ich habe es nie gewollt! Nie. Und immer…ich meine…nein…ich…“, zunächst unruhig, wusste er nun nicht mehr was er sagen wollte. Es stimmte was Ran sagte, aber wie konnte er dem zustimmen, vor RAN, vor ihm? Wie stand er dann da?
 

Aya wusste….sah in diesem Moment, dass er Recht gehabt hatte. Er erkannte das Problem.

Seine Augen kehrten zurück von ihrer stummen Betrachtung des Weges und er löste sich von Schuldig. Einen Augenblick später jedoch stellte er sich vor den anderen Mann, mit dem Rücken zu ihm und ergriff dessen Hände, die er mit den seinen verschränkte und um sich schlang.

Er zog den Telepathen an sich heran und bettete seinen Hinterkopf an dessen Schulter.

„…und immer hat er dich dazu getrieben zu kommen“, beendete Aya den Satz für Schuldig.
 

Einer Marionette gleich ließ dieser sich bewegen und stand nun da als wüsste er nicht, was er tun sollte, als diese Worte durch die klare Nacht schallten. Sie waren leise ausgesprochen worden, aber in seinem Inneren hörte er sie als befremdend laut.

Als hätte er sich diese Geste anerlernt und als wäre sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen schloss er Ran in die Arme und schmiegte den Mann an sich. So war alles gut, so hatte er …Ran bei sich und so würde Ran ihn nicht für schwach halten, denn ER tat die beschützende Geste, nicht andersherum…nicht anders herum…

Seine Lider schlossen sich und betteten sich an Rans Halsbeuge.

„Ich sitze da und die Erinnerungen kommen ungefragt, als würden sie mir plötzlich passieren und … und… ich werde scharf dabei…verstehst du?“

Verzweiflung sprach aus den letzten beiden Worten.
 

„Ja, das verstehe ich.“

Es war tatsächlich so. Aya konnte sich ausmalen, was in Schuldig vorging. Die Lust war wie ein Reiz antrainiert worden. Demütigung vermischt mit Lust und dieser Reiz funktionierte seit Jahren immer noch. Es war grausam in Ayas Augen, die er zwar vor der Dunkelheit, aber nicht vor der Wahrheit verschließen konnte.

Genauso stand er hier, die Lider geschlossen, sein Körper entspannt gegen den des größeren Mannes gelehnt. Kitamura hatte Schuldig gleichzeitig gequält und Lust bereitet. Immer und immer und immer wieder. Solange, bis der Körper des Deutschen darauf reagiert hatte. Er hatte den Gehorsam und die Belohnung anerkannt, die aufeinander folgten.

„Dein Körper, Schuldig. Er hat es dir antrainiert“, veräußerte Aya seine Gedanken. „Du siehst dein Leid und kannst einen Nachhall der Lust spüren, die er dir zugefügt hat. Du hattest keine Chance, dich dagegen zu wehren. Was hättest du denn auch schon tun sollen, Schuldig?“
 

Darauf wusste Schuldig nichts zu sagen. Er fühlte nur, wie Ran sich an ihn lehnte und zog daraus seine Kraft.

„Ich versteh, wie du es siehst und will… es…auch so sehen, aber ich …die Bilder kommen und …ich hasse diese Gefühle die dabei entstehen. Ich will mich nicht hassen, ich will ihn hassen, aber es kehrt sich alles um, Ran…“
 

Diese schrecklich verzweifelten Worte drangen an Ayas Ohr, während seinen Nacken Feuchtigkeit kitzelte. Die Hände des rothaarigen Mannes drückten fester zu, versichernder. Ich werde dich dem nicht überlassen, Schuldig. Ich bin hier, hieß das.

Er wollte ebenso wenig wie Schuldig selbst, dass dieser starke, zuweilen teuflisch zynische Mann sich selbst hasste. Das war nicht Schuldig…das schien so fern der Realität, dass es schmerzte.

„Lass diese Dinge einfach durch dich hindurchfließen, Schuldig. Wehr dich nicht dagegen, was sich deiner Kontrolle entzieht. Was denkst du…kannst du wieder stark sein? Ich denke ja. Und weißt du auch warum? Weil ich dich als zynischen, gemeinen, sadistischen Mistkerl kennen gelernt habe, der so stark war, dass ich ihn immer verflucht habe. Das bist auch du. Da wirst du wieder sein – natürlich ohne das gemein und sadistisch.

Die Erinnerungen erregen dich? Dann ziehe das aus ihnen heraus, was du jetzt noch Positives gewinnen kannst. Aber halt dir immer dabei vor Augen, dass der Verursacher dessen tot ist. Durch deine Hand gestorben.“
 

„Du meinst, es ist nicht schlimm, wenn das jetzt passiert?“, drang eine matte Stimme an Rans Ohr. Schuldigs rechter Arm lag um die Taille und sein linker stahl sich nun quer über Rans Brust zur anderen Schulter und presste Ran fest an sich.

„…natürlich ohne gemein und sadistisch…aber das Mistkerl schon, wie?“, nuschelte er und zwickte Ran mit seinen Zähnen leicht in die Haut.
 

„Au!“, protestierte Ran pro forma und lächelte leicht. „Da dreht man dir den Rücken zu und schon kommt der Mistkerl hervor…“, maulte er, lehnte sich jedoch an jenen Fiesling zurück. „Aber den hat’s ja mit dazu gegeben…der geht nicht mehr weg.“

Er seufzte und öffnete seine Augen.

„Schuldig. Es ist nicht schlimm, wenn du dich davon…erregt fühlst. Denn es ist nicht die Grausamkeit des anderen Mannes, es sind seine Handlungen. Hätte er dir Schmerz zugefügt, würde das nicht der Fall sein. Er hat dir Lust zugefügt, das hat dich so darauf reagieren lassen. Nicht er. Du hasst ihn. Was du nicht hasst, was dich anmacht, ist deine Lust und nur sie.“
 

„Schon“, räumte Schuldig ein und platzierte anschließend einen sanften Kuss auf die zuvor liebevoll malträtierte Stelle auf Rans Haut, bevor er den Mantelkragen des Japaners hoch schlug und Ran seitlich an sich zog.

Ihm war nach laufen.

„Du trennst diese zwei Punkte. Irgendwie fällt mir das schwer eine klare Linie zu sehen“
 

Aya sah zu Schuldig hoch und gemeinsam liefen sie wieder ein Stück, bis das Rauschen des Wasserfalls, den Aya schon immer so geliebt hatte, näher und näher kam.

„Du bist noch zu nahe dran. Du hast erst gestern deine Erinnerung wiedererlangt. Da kannst du keine Wunder erwarten…du kannst nur auf die Hilfe von japanischen Blumenkindern hoffen, die hinterhältig und gemein sind.“
 

„Mistkerlen wie mir bleibt wohl nichts anderes übrig, aber immerhin gibt’s solche, die auf Mistkerle stehen…“, sagte er wie abwesend, als hätte er es gar nicht zu Ran sondern zu sich selbst gesagt. „Gestern erst…mir kommt’s so lange vor…so verdammt lang…“, sagte er grüblerisch.
 

„Es ist lange her. Sieben Jahre. Sieben Jahre - und du hast ein Leben ohne das Wissen daran geführt. Du empfindest Lust, du hast Sex, du bist in der Lage, ein normales Leben zu führen. Was denkst du, wird sich jetzt ändern?

Schuldig…auch wenn du diese Erinnerungen jetzt besitzt, so sind sie das, was ich gerade gesagt habe: Erinnerungen.

Ich kann nicht in deinen Kopf sehen, ich kann die Bilder nicht sehen, die du vor deinen Augen hast. Doch was ich sehe, ist das Hier und Jetzt, in dem du HIER stehst und lebst und dein Blumenkind ärgerst. Du lebst, Schuldig.“
 

„Du bezeichnest dich selbst als Blumenkind.“

Schuldigs Mund wurde breiter und er grinste unverschämt und mit etwas Stolz bei dieser Erkenntnis. „Ja….“, kam er auf das Thema zurück und sein Tonfall wurde wieder ernster. „das weiß ich ja und ich halte es mir vor Augen, dass es lange her ist. Ich will nur nicht, dass …sich jetzt alles ändert, dass ich jetzt gar keinen Sex mehr haben kann ohne daran zu denken, dass …“

Er verstummte.

Dass was? Dass es geiler wäre wenn es zusätzlich noch mit Schmerz verbunden wäre? Dass es lustvoller wäre ausgeliefert zu sein?
 

„Aber das sind Sorgen, die du dir nicht zu machen brauchst“, erwiderte Aya. „Wir lassen es langsam angehen. Und gehen Schritt für Schritt ab. Du wirst nicht ihn vor dir sehen, Schuldig. Du wirst mich sehen. Und wenn ich merke, dass deine Aufmerksamkeit abgleitet, hole ich sie zu mir zurück. Oder hast du daran irgendwelche Zweifel?“

Er fuhr mit seiner freien Hand über den Rücken des anderen Mannes und strich liebevoll über den dicken Mantel.
 

„Das…meine ich nicht…“, zögerte Schuldig und fing Rans Hand ein. Er musste es anders erklären.

„Ich hatte nie das Bedürfnis …solange ich mich erinnern kann…also vor den Erinnerungen an Kitamura…, dass ich scharf wurde, wenn heftigere Schmerzen oder Erniedrigung und Auslieferung eine Rolle gespielt haben. Verstehst du? Ich habe einfach Zweifel…vielleicht geht’s ohne gar nicht mehr? Und was dann?“
 

„Schuldig…du hattest doch sicherlich in der Zwischenzeit auch Sex. Wie war er? Hast du dich dominieren lassen? Demütigen? Quälen? Nein, oder?“ Aya konnte es sich zumindest nicht vorstellen, dass das der Fall war. Nicht bei dem Schuldig, den er kennen gelernt hatte.

„Sollte es wirklich der Fall sein, dass es gar nicht mehr ohne geht, dann hätte sich schon längst dein Unterbewusstsein eingeklinkt. Dann hättest du schon längst dieser Gier nachgegeben.

Wenn es allerdings gar nicht anders geht…“ Der rothaarige Japaner seufzte. Ja, was dann? Was würde er selbst dann machen? Er wollte Schuldig weder quälen, noch demütigen noch ihn wehrlos machen. Fessel- und Dominanzspiele, ja. Er hatte sie oft genug mit Youji getrieben um sie nicht zu mögen, jedoch die ganze Zeit? Zu dieser Extreme?

„..ich weiß nicht, ob ich das kann.“
 

Schuldig blieb unvermittelt stehen und drehte sich zu der Schattengestalt neben sich um. „Ich will das nicht, Ran. Wenn ich durch diesen Bastard nicht sein kann wie früher… wie vorher dann …“, er wusste nicht was er sagen sollte. Er wollte Ran, wollte endlich Sex mit ihm, wollte ihn spüren, wollte sehen wie er sich bewegte, wollte …wollte so viel…
 

„Was dann, Schuldig? Wirst du nie wieder Sex haben? Nein, das wird es nicht sein“, schüttelte Aya nur traurig den Kopf.

„Aber weißt du, es ist müßig, sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Warten wir das nächste Mal ab, warten wir ab, wie es sich entwickelt und was geschehen wird. Und wenn, probieren wir einfach aus, was dir gefällt und was mir gefällt, was hältst du davon?“
 

„Hmmm.“

Nie wieder Sex? Das konnte er sich nun überhaupt nicht vorstellen. Aber kein Sex mit Ran war schon vorstellbar und grausig dazu.
 

Das war keine wirklich aufschlussreiche Antwort, beschloss Aya, sagte jedoch nichts dazu. Sie würden es ausprobieren, da war er sich sicher.

Er lehnte sich schweigend an Schuldig und ohne Worte gingen sie beide weiter durch die dunkle Landschaft.
 

„Wo sind wir hier?“, fragte Schuldig reichlich verspätet, als sie auf eine Brücke kamen und der Wasserfall in der Nähe schien. Er zog Ran an sich und fuhr mit der einen Hand sanft über die Haare die er am Hinterkopf fühlen konnte, der Rest der seidig langen Pracht steckte nämlich unter dem Mantel.

„Du hättest die Schuldig-Spezial- Mütze aufziehen sollen, jetzt wirst du mir vielleicht noch krank“, lächelte er als er sich an seinen Auftritt nach Rans Friseurtermin erinnerte.
 

„Wir sind hier in Nikko.“

Aya lachte ebenso. Ja, er erinnerte sich daran.

„Hör mal, ich bin kein Kind, ich werde nicht so leicht krank“, erwiderte er und stupste spielerisch tadelnd auf die kalte Nase des anderen Mannes. „Außerdem hängt die Schuldig-Spezial-Mütze noch ganz unschuldig bei uns auf dem Garderobenständer und wurde hoffentlich nicht von Youji beschlagnahmt.“

Wie es diverse Kleidungsstücke getan hatten: vor allen Dingen Schals und andere, wärmende Dinge im Winter, die – versehentlich unten vergessen – schnell zum Allgemeineigentum deklariert worden waren.

„Aber du hättest dir etwas Wärmeres anziehen sollen, Schuldig“, murmelte er besorgt und strich seinem Gegenüber über den Mantel und Strenge legte sich in seinen Blick.
 

„Was, du hast meine Lieblingsmütze einfach so bei euch gelassen?“, überhörte Schuldig - wie stets taub für gut gemeinte Ratschläge - Rans letzten Satz, doch …die Sache mit seiner Mütze…

Schuldigs Mundwinkel rutschten nach unten und der anklagende Blick traf das von den Himmelskörpern beschienene Gesicht des Japaners. „Und jetzt sind die blonden Haare des Schnüfflers zwischen den Wollfäden?“
 

„Vermutlich ja…wenn es nur die sind, kannst du dich glücklich schätzen“, erwiderte Aya teuflisch seufzend. „Einfach so. Ha! Das stellst du dir so einfach vor. Sie war wahrscheinlich unter eifersüchtiger Beobachtung, als ich zum letzten Mal dort war!“

Als er seine Tasche gepackt hatte und selbst dafür nicht wirklich einen Kopf hatte.
 

„Stimmt“, sagte Schuldig leise und sein Gesicht näherte sich Rans, berührte samtig weich mit den Lippen Rans, als würde er nur ertasten, erfühlen wollen, bevor er den Druck verstärkte und ihn sinnlich küsste.
 

Aya fühlte sich geborgen durch die Lippen des anderen Mannes, durch den Kuss, den sie nun teilten.

Er öffnete seine Lippen, hieß Schuldig willkommen in der warmen, gemütlichen Höhle. Er selbst jedoch knabberte an denen des anderen Mannes, nippte und saugte spielerisch an ihnen. Ganz zart nur, so als hätte er Angst, den Telepathen von sich zu verschrecken.
 

Doch wie stets wenn sie sich küssten, blieb es nicht bei dieser Zartheit und wurde langsam aber stetig leidenschaftlicher, forderten mehr, brauchten mehr voneinander. Es zeigte Schuldig, dass sie schon zu weit waren, sie waren reif, reif füreinander und scharf aufeinander.

Bei diesem Gedanken musste er grinsen und er löste den Kuss, Ran fest an sich haltend.
 

Ein leises Knurren begleitete Schuldigs Lösen, das jedoch schnell verebbte, als Aya die Nähe des anderen Mannes in seine Finger bekam. Ja, und ob sie weit und reif genug waren, um es ein weiteres Mal zu versuchen. Nicht heute, nein. Aber bald. Sehr bald.

Das einzig Traurige an der Sache war für Aya, dass er den anderen Mann so schnell nicht toppen würde, aus Rücksicht auf dessen Vergangenheit. Doch das bekam er hin…oder?

Er schlang die Arme um seinen Deutschen und wiegte ihn sanft.
 

„Willst du noch weiter oder sollen wir zurück?“

Schuldig bettete die Wange seitlich an Rans Schopf und lauschte dem Wasserfall. Es war noch kalt und Schuldig wünschte sich langsam den Frühling herbei. Aber öfter raus konnten sie deswegen trotzdem nicht. Kritiker lauerten noch immer auf Ran und somit war der Winter doch eine bessere Ausrede um drinnen zu verweilen.
 

„Lass uns noch ein kleines Stückchen weiter gehen, bis zum Wasserfall“, erwiderte Aya, innerlich froh darum, dass sie an der frischen Luft waren. Er sah, dass Schuldig vermutlich zurück wollte, er selbst jedoch wollte nur noch ein Mal den Frieden des Wasserfalls in sich aufnehmen, wie er es so oft getan hatte, als Aya noch gelebt hatte. Hier hatte er Ruhe gesucht und gefunden.

Ruhe, die ihm in diesem Apartment sehr nützlich sein konnte.
 

Schuldig platzierte einen Kuss als Zustimmung auf Rans Schläfe und sie nahmen den Weg wieder auf.
 


 

o~
 


 

Zugegeben, Aya mochte den Duft des Shampoos, der seinen frisch gewaschenen Haaren anhing. Der Kur, die er nach einigem Suchen wieder gefunden und aufgetragen hatte. Mandelduft, immer noch.

Alles in allem fühlte er sich außerordentlich wohl, wie sie hier im Bett lagen, sie beide, nach ihrem ausgiebigen Spaziergang...

Frisch geduscht und in seinem Fall endlich rasiert, umgeben von sanfter Musik, von minimalem, weichen Licht. Ein Fest für die Sinne. Sie waren sich nah, auf mehr als eine Art und Weise. Hielten sich in sanfter Umarmung, in kleinen, leichten Gesten voller Vertrauen.
 

Das hier war Frieden. Friede, den sich Aya nie gewünscht hatte, weil er sowieso nicht an ihn geglaubt hatte. Und doch war er eines Besseren belehrt worden. Durch die aufmerksamen, grünen Augen vor sich.
 

Schuldig strich mit dem Finger über Rans Wangenknochen, zeichnete die Braue nach.

"Kommst du eher nach deiner Mom? Oder deinem Vater?", fragte er plötzlich in die warme Atmosphäre. Sein Arm lag unter dem Kissen und hielt Ran so an sich.

Er fing den wohlschmeckenden Atem Rans mit seinen Lippen ein, während er sprach.
 

Aya genoss für Momente schweigend diese Zuneigung. Er erwiderte den Kuss, erwiderte die Wärme, die ihm zuteil wurde.

Seine Gedanken schweiften zurück zu seinen Eltern, riefen sie sich beide ins Gedächtnis. Ein schwieriges Thema, immer noch. Damals, als er noch nicht gedacht hatte, was sich für Abgründe in seinem Leben auftun konnten, war er beinahe am Tod der Beiden zerbrochen. Wäre Aya nicht gewesen, für die er gekämpft und gelebt hatte, hätte er sich diese eine Brücke hinuntergestürzt, an der er so oft gestanden und überlegt hatte, sich dort hinunter fallen zu lassen.
 

Hoch genug wäre es gewesen. Den Aufprall hätte er nicht überlebt. Ein Sprung in die Tiefe und es wäre vorbei gewesen. Doch er hatte weiter gelebt. Hatte sich gequält. Wie oft war er nicht aufgestanden? Wie oft war er liegen geblieben und hatte apathisch an die Decke des kargen Zimmers gestarrt, das er sich vom Erbe seiner Familie geleistet hatte?

Solange, bis er schließlich Arbeit fand?
 

Solange, bis er sich an dem Menschen gerächt hatte, der seine Schwester und seine Familie auf dem Gewissen hatte.
 

Aya war sich mit der Zeit erst bewusst geworden, wie tief der Abgrund gewesen war, auf den er zugesteuert hatte und aus dem ihm schließlich Weiß hinaus geholfen hatten. Sie hatten ihm gezeigt, was es hieß, zu leben. Ein Leben danach zu führen und sich nicht aufzugeben. Nach und nach hatten sie ihm Ruhe vermittelt. Notwendige Ruhe.
 

Er blinzelte. Wieso schweiften seine Gedanken immer gleich in die Vergangenheit ab? Wo sie doch geschehen war. Die Vergangenheit war nicht mehr zu ändern, mit nichts. „Die Hände habe ich von meiner Mutter…und die Gesichtszüge von meinem Vater“, erwiderte er schließlich und konnte die Trauer nicht gänzlich aus seiner Stimme tilgen.
 

Wollte Schuldig, dass Ran traurig wurde? Nein wollte er nicht, also warum stellte er ihm solch eine Frage? Führte Schuldig ein innerlichen Disput mit sich selbst, als er die leise Antwort vernahm, die Trauer in den Gesichtszügen las.

Er suchte Rans Hand und fand sie auf seiner Flanke, führte sie an seine Lippen. "Deine Mutter also", sagte Schuldig und lächelte warm, schloss das Thema somit ab, indem er die Augen schloss und versuchte sich die Frau vorzustellen. Er scheiterte daran, kam immer wieder zu Rans Schwester Aya zurück.
 

„Aya kommt…kam sehr nach ihr. Sie war ihr Ebenbild“, erwiderte Aya unwissentlich, dass Schuldig eben diesen Vergleich zog. Seine Hand strich leicht über die Lippen des Deutschen, doch seine Gedanken gingen ein weiteres Mal auf Wanderschaft. Zurück zu ihr, zu ihrem Lächeln. Ein Lächeln, das für ihn auf immer erloschen war. Nein, dafür hatte es sich nicht gelohnt zu töten. Ganz und gar nicht. Dafür hatte es sich nicht gelohnt, sich Birmans Drohung zu beugen und Weiß beizutreten. Oder Crashers.
 

Auch wenn er dort Freunde gefunden hatte. Auch wenn diese Freunde ihn immer noch unterstützten. Das Töten hätte er nicht anfangen müssen, wenn er gewusst hätte, dass es so enden würde.
 

Schuldig öffnete die Augen bei diesen Worten, fixierte Rans mit einem forschenden Blick.

Hatte er durch Zufall Rans Gedanken gelesen? War er deshalb auf Rans Schwester gekommen? Er verzog die Lippen unwillkürlich in Gedanken bei dieser Möglichkeit weilend, tastete er sich schrittweise in Rans Gedankenwelt vor, wurde aber schon wieder durch die undurchdringliche Mauer abgeblockt.
 

Aya erwiderte den stummen Blick des anderen Mannes, als er mit einem Male glaubte, etwas zu spüren, das so unter seine Schädeldecke nicht hingehörte. Wie ein Streichen, ein Umherschleichen kam es ihm vor, dieses Gefühl. Als wäre da etwas, das an einer Tür kratzte und um Einlass bat.

Durch die anhaltende Stille wurde ihm erst jetzt bewusst, dass es Schuldig war, der das sein konnte. War das Telepathie?

Sein Daumen strich zart über die Lippen des Telepathen, während sein stummer Blick den anderen Mann liebevoll maß. Liebevoll, aber aufmerksam. „Du versuchst meine Gedanken zu lesen, oder?“, fragte er mit wachem Blick.
 

Einen Kuss auf den Daumen platzierend nickte Schuldig leicht.

"Ja. Es ist nur weil ...", versuchte er sich zu rechtfertigen, denn es kam ihm so vor, als täte er etwas Verbotenes, etwas, was er sich selbst vielleicht verbieten wollte.

" ... vorhin habe ich versucht, mir deine Mutter vorzustellen, bin aber ständig beim Bild deiner Schwester gelandet. Deshalb dachte ich ... ich hätte zufällig deine Gedanken gelesen...", grübelte er weiterhin.
 

Aya brachte das ebenso zum Grübeln. War es wirklich möglich, dass diese festen Barrieren, die laut Manx’ Vermutungen seiner eisernen Selbstbeherrschung entsprangen, durchlässig? Lag es an dem direkten Kontakt, den sie hatten? Das konnte nicht sein, oder?

Fakt war, dass Aya es nicht genau sagen konnte, eben weil er keine Ahnung hatte. Er konnte diese Barriere nicht aktiv abbauen. Wollte es auch nicht. Ja, er hatte Angst davor, war es ihm doch immer eine Erlösung gewesen, wenigstens in seinen Gedanken alleine zu sein. Zumal er zu misstrauisch war. Auch wenn Schuldig sich sein Vertrauen wirklich verdient hatte, so wollte er diese Blockade doch nicht ablegen…noch nicht. Um sein Innerstes zu schützen, das so…verletzlich war.
 

„Ich denke nicht“, erwiderte er schließlich. „Ich habe zumindest nicht das Gefühl, dass irgendetwas in meinem Kopf nachgegeben hat.“ Aya lächelte leicht. Wie war das? Hätte Schuldig gewusst, wie sich das Problem beheben ließ, hätte er es schon längst getan. Doch war es wirklich ein Problem? „Macht es dir so viel aus, meine Gedanken nicht lesen zu können?“
 

"Manchmal ... wo ich dir nahe sein wollte ... und du es nicht zugelassen hast ... da wollte ich es. Oder wo es dir schlecht ging ... und kaum zu dir dringen konnte, ich hätte deine Gedanken umkost, sie weniger düster wirken lassen. Aber ob das gut gewesen wäre? Du warst so verzweifelt, Ran." Er verstummte für einen Moment des Nachdenkens.

"Aber gerade weil es nicht geht, fühle ich mich bei dir freier, weil ... nun weil ich mit dir reden musste, habe ich dich anders kennen gelernt. Deine Stimme ... samtig, warm", er küsste Ran auf den freiliegenden Hals, hinab zum Kehlkopf.

"Das Violett deiner Augen ... oft schärfer als dein Schwert", lachte er dunkel und suchte den Blick in die Augen. "Telepathie verschluckt dies alles, lässt es in den Hintergrund treten, weil Gedanken oft entlarvender sind als die vermeintlichen Masken."
 

Ayas Blick strömte über die lächelnden Gesichtszüge des anderen Mannes. Er nahm ihn in sich auf, die Worte des Telepathen, den Ausdruck in dem bekannten und vertrauten Gesicht. Was sollte er auf diese Art von Wahrheit erwidern? Konnte er überhaupt etwas sagen? Ja…er konnte. Und er wollte. Weil dieses Thema für ihn ebenso wichtig war wie für Schuldig selbst.
 

„Vielleicht war es besser so, dass du sie nicht lesen konntest. Wer weiß, wie wir uns entwickelt hätten, wie sich dieses alles hier entwickelt hätte, wenn du von Anfang an in der Lage gewesen wärest, sie zu lesen. Vielleicht hätte ich dich dafür gehasst, wer weiß das schon? Vielleicht hätte ich dich dann für deine Einmischung gehasst, weil ich das Gefühl gehabt hätte, dass ich einen wichtigen Abschnitt nicht alleine hätte bewältigen können.“ Er seufzte leise, beinahe unhörbar.
 

"Ja es war besser so."

Denn wenn er die Gedanken von Ran lesen hätte können... Schuldig war sich beinahe sicher, dass sie es nie bis hierher geschafft hätten. Nicht zusammen. Er hätte Ran vernichtet... wurde ihm mit einem Mal klar, denn auch ohne Telepathie sah er, wie verletzlich Ran war, wie stark aber auch. Doch nur durch diese Verletzbarkeit sah er die Stärke. Er hätte mit diesen Gedanken jongliert und sie durcheinander gewirbelt ...bis völliges Chaos vorgeherrscht hätte.

Schuldigs Gesichtsausdruck wurde sorgenvoll und er zog die Brauen leicht zusammen, die Lippen wurden minimal zusammengepresst.
 

Ayas Hand schlich sich verstohlen zu den Gesichtszügen des Deutschen und strich sanft über die angespannten Linien. Er hätte nicht gedacht, dass dieses Thema sie letztendlich beide so beeinflussen konnte. Dass es wirklich so schwer auf ihnen lastete.

Aber vielleicht…irgendwann würde sein Vertrauen über sein Misstrauen siegen und Schuldig war in der Lage, auch diesen Bereich zu erforschen. Irgendwann, wenn er es wollte.
 

„Na komm…das ist Vergangenheit. Wir haben genug versucht, uns die Köpfe einzuschlagen“, lächelte er schwach und strich über die in ernsten Falten geworfene Stirn.
 

"Ja“ Schuldig legte sein altbewährtes Grinsen auf, eine schwache Version jedoch... "Vergangenheit... wie so vieles", nickte er und barg sein Gesicht an Rans Halsbeuge. Als wolle er in ihn hineinkriechen.
 

Und Aya ließ ihn. Zog ihn so nahe es ging zu sich und barg ihn mit seinem Körper. Er strich schweigend über die weichen Haare, über die ebenso stumme Gestalt. Worte waren nicht mehr nötig für den Trost, den er hier spendete. Nein, nicht mehr.

Er legte sich sanft in eine bequemere Position und schloss die Augen. Sie würden einschlafen…schließlich. Würden ruhen für ein paar Momente. Für Stunden, die wichtig waren, um ihnen Kraft zu geben.
 


 

o~
 


 

Schuldig zuckte zurück, sein Herz raste. Noch einmal zuckte er zurück, vor der vollkommenen Schwärze, die seinem Innern bedrohlich entgegenflog. Bis er keuchend die Augen aufschlug. Sie auf die Umgebung fokussierte.

Ein Kissen. Beruhige dich. Ein Traum. Es war nur ein Traum.
 

Er kuschelte sich noch etwas in die Decke ein, lauschte auf die Umgebung und genoss es noch etwas liegen bleiben zu können. Auch wenn derjenige, der mit ihm diesen Genuss teilen hätte sollen, nicht mit im Bett war. "Frühaufsteher", nuschelte Schuldig etwas beleidigt in sein Kissen hinein und drehte sich auf den Rücken. Rieb sich dann über die Augen um den Schlafsand zu entfernen.

Einen Arm unter den Kopf gelegt schloss er die Augen und ließ sich treiben, es war ruhig im Raum.
 

Zu ruhig, wie ihm auffiel. Na ... Ran macht sowieso nicht so viel Krach, grübelte er vor sich hin und machte sich auf die Suche nach diesem blinden Fleck in seiner telepathischen Wahrnehmung. Aber als er die vermeintliche, hohe Mauer suchte, fand er keine. Sie war weg und Szenerien liefen vor seinen geschlossenen Augen ab.

Er riss erschrocken die Augen auf. Er war durch! Er war durch!

Keine Schranken mehr. Er war in Rans Gedankenwelt!
 

Aufgeregt nahm er sich jedoch zurück, war er doch etwas hineingeplatzt und drehte sich nun neugierig herum, blieb aber am Eingang stehen. Es war nichts Bildliches, aber sein Gehirn stellte es in Bildern dar, setzte die Signale in Bilder für ihn um.

So sah er jetzt ein kleines Mädchen ... vielleicht vier Jahre alt ... auf dem Arm ... es schlief, hatte den leuchtenden Haarschopf an seinen Hals gebettet und das Ärmchen um den Hals gelegt.

‚... die gleichen, roten Haare...eine Mischung aus uns beiden...', las Schuldig und wusste im ersten Moment nicht die Gedanken einzuordnen.

Die nächste Szene tauchte aus den vermischten Bildern heraus auf, wurde klarer und er sah deutlich wie Schuldig und das Mädchen ...mit Buntstiften ... eine Wand bekritzelten ... was stand zwischen den vielen Blumen darauf...? Wir haben Papa lieb?

‚...vermutlich würde sie mich zusammen mit Schuldig in den Wahnsinn treiben und das mit Freude.

Und ich würde es mir auch noch gefallen lassen. So was...'

Wieder huschte ein nächstes Bild heran. Die frechen Augen des Mädchens wandten sich Ran zu und das Mädchen setzte ein unschuldiges Lächeln auf, kuschelte sich an Schuldig während Ran vor dem ‚Gemälde’ der beiden stand.
 

Schuldig fühlte wie die Wärme der Gedanken ihn durchzog, wie Wohlwollen ihn durchzog. Er kannte diese Regung. Ran lächelte in seine Gedanken hinein.
 

Er versuchte die Verbindung zu halten, öffnete die Augen und setzte sich gelinde geschockt auf, sah sich um. Ran war nicht zu sehen. Vermutlich saß er bei der Sitzgruppe an der Fensterbank. Sich durch die Haare fahrend wusste er jetzt nicht was er mit dieser neuen Erkenntnis anfangen sollte. Ein Kind? Ran und er ...ein Kind zusammen? Was dachte das Blumenkind da nur? Er schälte sich aus dem Bett heraus und öffnete den Schrank, zog sich ein Hemd über ohne es zu schließen und schlüpfte in eine schwarze, weiche, leicht ausgestellte Hose. Barfüssig ging er zur Sitzgruppe, sah Ran tatsächlich dort auf der Fensterbank sitzen.

Er hatte Schuldigs Teddy in der Hand und reparierte ihn mit Nadel und Faden. Sehr sorgfältig wie Schuldig befand, so genau wie Ran arbeitete.

Noch immer hielt er sich in dessen Gedanken auf, konnte jedoch vor lauter Unverständnis über das Gesehene kaum darauf reagieren. Wollte es schlicht nicht kommentieren, sagte deshalb auch nichts zu Ran.
 

Ran war ein Familienmensch, wie er aus dessen Worten herausgehört hatte. Vielleicht war es gar nicht so weit her geholt, dass er sich eine Familie wünschte. Schuldigs Stirn legte sich in Sorgenfalten und Wehmut kam in ihm auf.

Er ging näher, blieb vor Ran stehen, starrte auf den Teddy. Schon wieder der alte Knirps, lächelte er und streckte dem Stofftier leicht die Zungenspitze raus. Er hob die Hand und berührte Ran zärtlich an der Stirn, fuhr über die Schläfe, bis zum Haaransatz.

"Heey", meinte er sanft. "Was denkst du ...nur für Sachen?" Wärme in seinen Worten und in seinem Blick, in seiner Geste.
 

Wärme, die Aya zunächst entging, als er völlig aus seinen Gedanken gerissen hochschrak und sich selbst die spitze Nadel in den Finger trieb. Sein Blick ruckte zu Schuldig, zu dem Mann, der so plötzlich neben ihm stand. Den er nicht hatte kommen hören, so in Gedanken wie er war.

Aya blinzelte, während seine Lippen sich automatisch zu einem Begrüßungslächeln verzogen. Bis…ja bis er sich der Worte des Telepathen bewusst wurde.

„Was mache ich?“, fragte er schließlich stirnrunzelnd und zog den schmerzenden Daumen zu sich um das austretende Blut mit den Lippen abzusaugen. Er hatte doch sicherlich laut gedacht, oder?
 

Schuldig schmunzelte und gab Ran einen Kuss auf die Schläfe, kraulte sanft dessen Nacken.

‚Du machst gar nichts. Ich kann nur in deine Gedanken hinein. Du hast mich reingelassen', sagte er in eben diese hinein und umstrich Rans Geist sanft und beruhigend, zog sich dann aber wieder zum Eingang zurück. "Hast du geträumt, Ran?"
 

Geträumt? Er hatte Schuldig in seine Gedanken gelassen? Anscheinend…ja, wie es ihm dieses ungewohnte Gefühl vermittelte. Wie es die Stimme in seinem Kopf ihm vermittelte! Ein leichter Druck in der Tiefe seines Kopfes, ein angenehmes Gefühl und dennoch wallte in diesem Moment Angst in Aya hervor. Angst vor der Macht des Mannes an seiner Seite, die trotz aller Sanftheit und Wärme durchschien.

Es war das Thema, das sie gestern schon hatten…nur heute war er in so direktem Maße damit konfrontiert, dass er sich unwillkürlich zurückzog. Nicht körperlich, nein. Geistig. Er schreckte zurück vor dieser fremden Kraft, die ihn seiner Intimsphäre beraubte, wie es noch nie geschehen war.
 

Aya schüttelte abwesend seinen Kopf, zog unbewusst alle Wälle seiner Selbstbeherrschung nach oben. Alle Wälle des Misstrauens und der Angst. Sein Blick suchte den Schuldigs, mit so vielen Emotionen in ihm, dass er es beinahe selbst nicht aushielt.
 

Und der Telepath sah bereits wie die Wand sich um ihn herum aufbaute, er zog sich zurück und ließ die Hand von Rans Schopf gleiten, strich noch einmal behutsam darüber. Stumm.

Das wollte er nicht. Das hatte er nicht gewollt. Er wollte nicht, die Angst, die Ablehnung, das ... ja das verratene Vertrauen in diesen Augen sehen. Zitternd zog er die Hand zurück, machte einen Schritt zurück, wich vor Ran zurück. Sein Gesicht völlig maskenhaft. Er hatte alles zerstört.

Ran sah ihn jetzt genauso wie alle anderen... wie alle anderen ... wie alle anderen.

Er murmelte etwas von ... er müsse noch einkaufen gehen ... und strebte seinen Schrank an, zog sich in Windeseile seine Kleidung über und griff sich die Schlüssel.

Natürlich brauchten sie nichts zum Einkaufen, natürlich hatten sie genug da...ja ...natürlich...

Er musste weg, weg von diesen Augen, die er so sehr verletzt hatte ... mit seinem Ich, mit seinem Wesen ... mit dem was er war...
 

Für einen Moment gelähmt, wurde sich Aya darauf umso deutlicher seines Fehlers bewusst. Er sah das aufkommende Entsetzen und die Abschottung des anderen Mannes. Der Telepath floh vor ihm, vor dieser Situation und das war alleine Ayas Schuld. Eben weil er so kopflos und misstrauisch reagiert hatte.

Er konnte nicht zulassen, dass Schuldig ebenso kopflos floh und sich einem wichtigen Gespräch entzog. Seiner Dummheit entfloh.
 

Doch Aya wollte nicht mehr dumm sein. Er wollte Schuldig zeigen, dass er falsch gehandelt hatte…und dass er sich dessen bewusst war. Dass er bereute. Dass der Andere nicht vor ihm zu fliehen brauchte.

Es dauerte Sekunden, in Ayas Augen viel zu lange Sekunden, bis er endlich reagieren konnte und Schuldig nachsetzte, ihn noch an der geöffneten Tür einholte und sie zuwarf. Er stellte sich mit dem Rücken zu ihr…Schuldig zugewandt.
 

„Nein.“ Ein festes, entschlossenes Nein zur Unsicherheit des Telepathen. Zum Fluchttrieb. Er wollte es Schuldig erklären, wollte ihnen beiden Raum geben zur reden.
 

Schuldig konnte dem anderen Mann nicht in die Augen sehen, sein Blick ruckte zum Türgriff, die Schlüssel bohrten sich in seine angespannte Faust. "Ich ... komme gleich wieder ... ich ...", sagte er und griff zum Türgriff. Innerlich völlig haltlos aufgewühlt gab er sich die Schuld und wollte jetzt nicht hier bleiben, wollte nicht in der Nähe dieser anklagenden, verletzten Augen bleiben.

Sein Gesicht wirkte als ob er es noch immer nicht fassen konnte, was er getan hatte, was geschehen war. Wäre doch die Mauer dagewesen, wäre er doch nie hineingegangen, wäre...
 

„Du bleibst hier.“
 

Worte wie Stein drangen zu Schuldig, als ebenso unnachgiebige Finger die Hand des Deutschen vom Türknopf lösten, sie in der Seinen hielten und nicht nachgaben. Aya wusste, dass sich Schuldig ihm entziehen wollte, dass er vor ihm fliehen wollte. Aber er war derjenige, der einen großen Fehler gemacht hatte. Nicht Schuldig. Er hätte erkennen müssen, wie sehr das den Deutschen schmerzte. Er hätte nicht nur auf seine Angst achten sollen…nicht nur er existierte. Auch Schuldig. Und auch Schuldig hatte Gefühle, die er so rücksichtslos verletzt hatte.
 

Seine Hände umschlossen sanft das abgewandte Gesicht, drehten es zu sich. Dirigierten den Blick der verzweifelten grünen Augen zu sich. „Du bleibst hier, bei mir, Schuldig“, sagte Aya mit festem Ton, mit einer Sänfte in der Stimme, die in diesem Moment wohl ihresgleichen suchen mochte. „Wir müssen darüber reden, hörst du?“
 

"Bei ...dir?", fragte Schuldig und er schüttelte den Kopf. Nein, wie konnte er hier bleiben? Etwas in ihm wollte nach oben greifen, wollte sich verteidigen, wollte sich wehren, gegen diese Bestimmtheit, die Ran an den Tag legte, die ihm befahl. Aber es schaffte nicht den Weg an die Oberfläche, ging wieder unter, als Schuldig sagte: "Aber ich habe ... ich wollte das nicht ... nicht wenn es dir wehtut, ich dachte es wäre nicht schlimm, ich habe ja nichts gemacht, ich wollte dir nicht wehtun, ich tu’s nie wieder ... nie wieder", beteuerte er, das Gesicht leicht verzweifelt zeigte es die Aufgewühltheit, das Flackern in den grünen Augen.
 

„Schuldig…nein. Nein, es ist nicht schlimm, hörst du?“, fuhr Aya sanft dazwischen und schüttelte vehement den Kopf. Die langen, roten Strähnen flogen dabei. „Ich habe zu voreilig reagiert, hörst du? Ich hatte…Angst davor, ganz plötzlich. Das war kopflos. Ich habe keine Angst vor dir, Schuldig. Nicht vor dir…es war nur das Gefühl, nicht mehr alleine hier oben zu sein.“ Er neigte leicht den Kopf zur Seite um das zu verdeutlichen, während seine Daumen sanft über die zittrige Kinnpartie des Deutschen strichen. „Es tat mir nicht weh, ich habe mich nur erschrocken. Nur erschrocken, hörst du? Dich trifft keine Schuld!“
 

Und langsam schwand die Unfassbarkeit, der Schock aus dem Gesicht und Sorge breitete sich aus, zog die Brauen zusammen, verzog minimal die Lippen. Er war noch nicht stabil genug um über solche Situationen hinweg sehen zu können. In jeder anderen Zeit hätte er Ran beruhigen können, oder hätte damit anders umzugehen gewusst als wegzulaufen. Aber jetzt ... jetzt hielt die Erinnerung an Kitamura sein Nervenkostüm in festem Griff. Im Unterbewusstsein machte es ihn verletzlich und griff ihn weiterhin an, höhlte ihn von innen aus und er ... er bemerkte es noch nicht einmal. Nur in Situationen wie diesen, sah man wie labil er war.
 

Langsam kam er näher und neigte sich vor, legte die Arme um Ran und legte den Kopf auf dessen Schulter. Wortlos schloss er die Augen.
 

"Ich bin so leicht aus der Ruhe zu bringen, Ran", sagte er leise in den Pullover hinein, wurden seine Worte dadurch gedämpft.
 

„Nein, Schuldig…es war meine Schuld. Ich habe falsch reagiert, nicht du. Ich hätte mehr Rücksicht nehmen sollen…“, erwiderte Aya und küsste den verborgenen Schopf, sanft über den Rücken streichelnd. „Es wird besser werden…ich helfe dir dabei, hörst du? Es wird besser werden und du wirst deine Ruhe zurückfinden…wieder zu deinem alten Ich zurückfinden.“ Mutige Worte, selbst in Ayas Ohren. Selbstsicher. Zu selbstsicher. Würde es wirklich besser werden? Er hoffte es – aber war das auch die Realität?
 

Er wollte es glauben und deshalb nickte Schuldig. Genau wissend, dass es für diesen Gewaltakt nur Zeit brauchte, Zeit und ein gewisses Maß an Ruhe und ... ja ...auch Ran, der ihm gut tat.

Eine Weile ließ er sich halten, umschlang selbst Rans schmale Gestalt und genoss es, Ran nicht gänzlich verloren zu haben, sondern ihn wieder im Arm halten zu können. Du hast ihn nicht weggetrieben, wiederholte er in Gedanken um sich zu vergewissern und auch zu beruhigen.

"Hast du den alten Bär geflickt?", fragte er und wandte den Kopf etwas, strich mit der Nase über Rans weiche Haut unterhalb des Ohres.
 

Aya lächelte leicht und nickte schließlich. „Er hat mir Leid getan…so wie er dort saß. So verloren und erstochen.“ Er stupste spielerisch tadelnd in Schuldigs Seite, konnte er sich doch denken, woher diese ‚Verletzung’ stammte. Seine Arme hielten den Mann, als wollten sie ihn aufhalten, irgendwo hinzugehen. Als wenn das der Fall wäre…

„Aber sag mir…was hast du in meinen Gedanken gelesen?“, fragte er schließlich sanft und ging alles durch, was es hätte sein können, das der Telepath gelesen hatte.
 

"Hee", muckte Schuldig ob des Tadels und löste sich von Ran. "Komm wir gehen zu dem Stück Stoff mit unverschämt harmlosen Knopfaugen", zog er Ran mit sich und strebte die Fensterbank an. "Können wir gleich darüber sprechen ... ich mach mir nur einen Kaffee, ja?", lenkte er ab und verschwand gleich in der Küche.

"Willst du auch etwas, Tee?", fragte er nebenher, öffnete bereits einen der Schränke und malte sich frische Kaffeebohnen, machte dabei geschäftigen Höllenlärm.

Er musste jetzt kurz darüber nachdenken, wie er Ran das jetzt näherbringen sollte.
 

Aya betrat diesen Höllenlärm zusammen mit dem Teddybären in seiner Hand und ließ sich in dieser mächtigen Geräuschkulisse auf einen der Barhocker nieder, um Schuldigs Frage mit einem „Ja.“ zu beantworten. Er sah ihn vertrauensvoll an, während seine Finger mit den pelzigen Armen des Teddys spielten und ihn Salti schlagen ließen.

Seine Augen glitten über die emsige Gestalt, die so plötzlich so viel zu tun hatte. Zuviel…wie Aya misstrauisch bemerkte. Was in aller Welt hatte Schuldig gesehen? So viele dunkle Geheimnisse hatte er doch gar nicht, stellte er lachend in Gedanken fest.
 

Gemächlich richtete Schuldig Kaffee und Tee an, überlegte sich in Ruhe, was er sagen wollte und kam in seiner inneren Debatte zu keinem Schluss. Er scheiterte schon daran, wie er es Ran sagen sollte. Vor allem nach der vorhergehenden Szene wollte er jetzt nicht mit der Tür ins Haus fallen.

Schlussendlich stellte er die Heißgetränke auf den Tresen, kam zu Ran und setzte sich auf den Hocker daneben, spitzte die Lippen leicht und verzog dann den Mund grübelnd. Die Stirn völliger Ausdruck höchster Konzentration. Bevor er das alles sein ließ und aufseufzend meinte: "Ich habe Bilder gesehen von einem Mädchen ... rote Haare ... klein ... hatte gute Ideen ... und du hast gedacht ... wie ein Kind von uns Beiden wohl aussehen würde....", schloss er seinen unzusammenhängenden, telegrammartigen Report ab und sah Ran mit gehobenen Brauen an. Die Augen fragend und ehrlich interessiert ob solcher Gedanken. Um ein Kind hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Er hatte sich von ihnen immer großräumigst ferngehalten.
 

Ayas Augen weiteten sich überrascht, während seine Finger den Teddy abrupt still hielten. Mit überfahren geöffneten Lippen starrte er Schuldig an, als er schließlich mit einem vielsagenden „Oh.“ auf diese Neuigkeiten reagierte. Ausgerechnet das hatte Schuldig…? Na wenn er schon mal Pech hatte, dann aber auch richtig. Was musste Schuldig jetzt von ihm denken? Sie hatten noch nicht einmal miteinander geschlafen - nicht wirklich zumindest - und er dachte schon an die Familienplanung. Ja, ihm hatte der Gedanke gefallen, doch was Schuldig darüber dachte…
 

„Das war nur…ich habe da nur ein Gedankenspiel…nichts Ernstes. Das war nur Spaß…also nicht wirklich Familienplanung…“, brachte er Worte, genauso unordentlich wie seine Gedanken, hervor, wollte sich mit ihnen herausreden.
 

Ran sah in Schuldigs Augen etwas überfahren aus und Schuldig veranlasste dieser Anblick zu einem warmen Lächeln. Solche Gedanken hatten meist Verliebte, wie er festgestellt hatte. Sie malten sich oft aus, und wenn es nur harmlose Gedankenspiele waren, wie es wohl wäre mit ihrem Partner ein Kind zu haben. Es waren oft nur Bruchteile von Sekunden, die solche Gedanken vorbeiziehen ließen, aber sie waren da, wie bei Ran eben auch.

Es war also die Bestätigung für Schuldig ... dass der Mann wirklich etwas für ihn empfand? Mehr als nur körperliche Anziehung? Aber hatte er diese Bestätigung nicht schon längst auf unzählige Art die letzten Stunden und ... ja auch Tage inzwischen gefunden?

Nur war dies hier viel ... niedlicher...? Er suchte noch nach der richtigen Bezeichnung für dieses Gefühl, welches sich in ihm ausbreitete... Nein. Es war liebevoller.
 

Er stand auf und stellte sich vor den anderen Hocker, zwischen Rans Beine, streichelte Rans Flanke und suchte die blass gewordenen Lippen um sanft mit seinen darüber zufahren. "Der Gedanke ist mir noch nie gekommen, Ran. Viel zu abwegig bisher für mich." Er hielt inne, suchte den Blick in das Violett. "Klar war es nur ein Gedankenspiel", bestätigte er Rans Worte. "Aber ein liebes", lachte er neckend.
 

Kurz schien es, als würde Aya wirklich schmollen, doch dieser Ausdruck verschwand und Aya war dankbar dafür, dass Schuldig seine Gedanken in diesem Moment nicht lesen konnte. Zu abwegig war für ihn ein Kind nicht…er wollte später eine Familie haben, hatte immer davon geträumt. Bis…seine Familie getötet wurde und er begriffen hatte, dass nichts, aber auch absolut gar nichts von Dauer war. Er hatte die letzten Jahre danach gelebt, nur um jetzt einen kleinen Vorgeschmack darauf zu bekommen, wie es wohl wäre, wenn…
 

Es war ein schöner Gedanke gewesen. Ein kitschiger, aber ein schöner Gedanke. Aya seufzte leise. „Ein sehr liebes…“, gab er schließlich zu und nickte, bettete seine Stirn an die breite Brust. Er dachte an die Kleine, wie sie ihn zusammen mit Schuldig auf die Palme trieb…wie die beiden sich so ähnelten. Ein schöner Gedanke.
 

Über den Nacken kraulend umstrichen Schuldigs Gedanken trübe Gewässer.

"Du weißt ... dass ich dir dies nicht bieten kann, Ran. Vielleicht...", fing er an Ausflüchte zu suchen. Ja vielleicht wäre es dann doch besser, wenn Ran sich eine Frau suchte, wenn er so sehr Kinder, eine Familie wollte. Er hatte aus den Worten des Mannes gehört, dass er sowohl an Frauen als auch an Männern sexuell interessiert war.

Wer wusste schon, wie lange Ran bei ihm blieb? Vielleicht nur, bis er seinen Hunger gestillt hatte und ihn das Weibliche mehr ansprach. Die Abwechslung suchte...

Besitzergreifend -gänzlich gegensätzlich zu seinen Gedanken - krallten sich seine Hände in Rans Nacken, umfassten ihn fester. Nein, du bleibst bei mir, zischte etwas in ihm und in seinen Augen flackerte es dunkel auf.
 

Aya war sich dessen unbewusst…Druck in seinem Nacken…Druck in seinem Inneren. Er war gerade dabei, sich einzugestehen, dass er es sich wohl gestatten konnte, Gefühle für eine andere, ihm nahestehende Person zu zeigen, nur um jetzt angedeutet zu bekommen, dass er sich für derlei Dinge doch an jemand anderen wenden sollte.

Aya wusste, dass es nur wahr war und dass es nicht schlimm war, so etwas gesagt zu bekommen, doch er fühlte sich verletzt. So als könnte er seine Partner je nach Belieben wechseln, ganz wie er sich gewisse Dinge wünschte. So als würde er nicht gerade erst daran wagen zu glauben, dass es auch noch andere Dinge für ihn gäbe als töten.
 

Er stemmte sich mit für ihn selbst unerwarteten Druck von Schuldig ab und brachte Abstand zwischen sie. Ertrug es nicht, von Schuldig gehalten zu werden und solche Dinge zu hören. Zu wissen, dass dieser so einfach sagen konnte, er solle sich jemanden suchen…auch wenn es stimmte.

Ayas Blick glitt zur Seite, weg von Schuldig. „Schon in Ordnung…lassen wir das Thema gut sein“, sagte er und verdammte sich innerlich für seine vorherige Unvorsichtigkeit. Hätte er doch irgendwie verhindert, dass der andere Mann einen Blick in seine Gedanken hatte erhaschen können…
 

Konnte er denn nichts richtig machen, fragte sich Schuldig als Ran sich von ihm abwandte, seinen Blick mied.

Sich durch die Haare fahrend war er mit dieser Lage überfordert. Er wollte Ran bei sich behalten, doch dieser wünschte sich eine Familie...? Wie sollte das gehen?

"Du sagst, wir müssen darüber reden ... über Dinge reden ... und dann wendest du dich ab." Er steckte die Hände in die Taschen seiner weiten Hose um sie ruhig zu halten.

"Ich will, dass du bei mir bleibst. Das solltest du inzwischen erkannt haben, oder?"

Natürlich wollte Ran eine Familie. Das war ihm klar geworden, vorhin schon...

"Aber wie soll ich diesem Wunsch gerecht werden? Diese Anforderung schaffe ich nicht, Ran. Auch wenn ich sie dir bieten will...glaubst du nicht ... dass", es mich auch verletzt ... wollte er hinzufügen.

Stattdessen sagte er aber "... dass ich mich selbst unter Druck setze ... dass ich Angst habe ... dass du weggehst? Gerade weil ... alles noch ... frisch ist ... ich will dich einfach halten, Ran. Es ist so schwer an morgen zu denken, oder an den Tag danach."
 

„Und für mich ist es das Wichtigste überhaupt“, erwiderte Aya, schüttelte abwesend den Kopf. „Was bringt es mir zu wissen, dass wir heute glücklich sind, wenn morgen alles vorbei sein kann? Glaube mir, das hatte ich einmal und ich brauche es nicht schon wieder.“ Er atmete frustriert aus. „Natürlich weiß ich, dass es dich verletzt. Mich verletzt es auch. Deswegen ist es unklug, noch weiter auf diesem Thema zu beharren. Ja, ich wünsche mir Kinder und ja, ich könnte es mir vorstellen, mit dir eine Familie zu haben. Und du sagst mir, dass ich mir dazu vielleicht jemand anderen suchen sollte. Ich weiß, dass es niemandem von uns möglich ist, ein Kind zu bekommen und vielleicht willst du auch keins…aber ist das ein Grund, dass ich mich von dir abwende? Nein. So masochistisch bin ich nicht, dass ich alles gleich aufgebe, was mir gut erscheint.“ Aufgebracht schweiften seine Augen nach draußen, hinaus aus dem Fenster.
 

"Ich erscheine dir ...als gut?", fragte Schuldig etwas erstaunt aber auch sanft, nahm seine Linke aus der Tasche und strich federleicht über die abgewandte Schläfe von Ran.

"Ich hätte es dir nicht sagen sollen, was ich gelesen habe", bereute er diese Tat und ließ die Hand sinken, nahm seine Kaffeetasse in die Hand und ging ... zur Kissenecke, wollte Ran Abstand von ihm geben, den dieser scheinbar brauchte.

Schuldig konnte sich ja kaum selbst ordnen, versuchte sich ständig zu kontrollieren ... ein Kind? Wie gefährlich war sein Leben bei Schuldig, dann? Wie sicher wäre dieses Kind? Ein Killer und ein Kind? Zwei Killer ...?
 

Ungesehen von Schuldig hatte Aya seinen Blick wieder dem Raum zugewandt und sah dem anderen Mann nun stumm nach, bevor er seine Stirn auf die kalte Tischplatte bettete. Was hatte er nur angerichtet mit seinem utopischen Wunsch, irgendwann einmal eine Familie zu gründen und dieses Leben hinter sich zu lassen. Was vermutlich nie sein konnte. Niemals…nicht für Menschen wie ihn.

Seine Augen schlossen sich, pressten sich so fest zusammen, dass er hinter den Lidern bunte Sterne tanzen sah. Es war…so schwer, sich auf einen Menschen einzustellen. So unendlich schwer. Wieso konnte er manchmal nicht einfach seinen Mund halten? Wieso schwieg er nicht einfach wie bei Weiß auch?

Kalter Krieg und Heiße Liebe

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Falsche Frage

~ Falsche Frage ~
 


 


 

Aya brütete stumm über seiner Tasse Kaffee und beobachtete Schuldig dabei, wie dieser sich fertig machte um zu Schwarz zu gehen. Um diese Mission zu bestehen. Aya begrüßte das nicht, nicht in Ansätzen. Nicht, wenn er nicht dabei war und wachen konnte, dass ihm nichts passierte.

Doch wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passierte? Nicht groß...nicht bei diesem Team.

Dennoch…ein Restzweifel blieb, der ihn unruhig machte. Wie eine Glucke, das hatte er Crawford vorgeworfen und nun benahm er sich genauso.

Seufzend erhob er sich und gesellte sich langsam zu Schuldig in den Schlafbereich. Bleib hier, wollte er ihm sagen. Pass auf dich auf. Besonders in Angedenken an das, was Schuldig in Erinnerung gekommen war. Inwieweit würde sich das auf den Auftrag auswirken, auf Schuldigs Verhalten?
 

"Soll ich mitkommen?", fragte Aya scherzhaft, wusste im gleichen Moment jedoch, dass es nicht wirklich als Scherz gemeint war.
 

Schuldig war genauso unruhig.

Seine Gedanken waren unstet und nicht wie sonst ruhig, locker und ausgeglichen, wenn er zu einem Auftrag fuhr.

Ihm fehlte heute die Lässigkeit.

Angespannt lächelte er und legte seinen Kopf auf Rans Schulter ab.

"Ich bin doch schon groß", sagte er lächelnd in die rote Haarflut hinein. Das fehlte noch! Dass Ran mitging. Niemals. Das war ein Bereich in seinem Leben, den sein Partner nie von dieser ... seiner Seite ... der schwarzen Seite aus sehen sollte. Erschwerend kam hinzu, dass dieser Partner auch noch Ran war, nicht ein x-beliebiger, der mit der Materie nicht vertraut war.

In seinem Gedankengang stoppend erkannte er diese Tatsache teils als Nach-, aber auch als Vorteil an. Er brauchte nichts zu verheimlichen, denn er hatte die dunkle Seite als Erstes zu Gesicht bekommen, hatte sie Schuldig vielleicht sogar als Seite sichtbar gemacht...
 

„Na, aber nicht, dass dich ein großer, böser Mann mitnimmt…“, murmelte Aya ernst und strich Schuldig über den vergrabenen Schopf. Sicherlich hatte der Deutsche Gründe genug, ihn nicht dabei haben und er selbst ebenso viele Gründe, nicht dabei sein zu wollen, doch die Sorge um den anderen Mann schien genau das in den Hintergrund zu drängen. Die Sorge, dass etwas passieren könnte und würde. Und dass etwas…
 

„Was ist mit meinem Team? Werden sie auch dort sein?“, fragte Aya abgespannt. Er konnte ihnen nicht beistehen, wenn…und wenn doch, musste er mitgehen. Er musste es einfach.

Ja, erst in diesem Augenblick wurde ihm der verdrängte Konflikt richtig bewusst, in dem Weiß und er sich befanden. Weiß musste gegen Schwarz kämpfen auf Kritikers Geheiß. Sie hatten keine andere Wahl. Und Schwarz mussten sich verteidigen. Was, wenn die Konfrontation sich so sehr zuspitzte, dass die Situation außer Kontrolle geriet? Was dann?
 

"Nein, sie werden nicht dort sein", sagte Schuldig nachdem er kurz in den Gedanken von Takatori junior gestöbert hatte, der gemütlich zu Hause vor dem Fernseher saß.
 

"Aber was ... wenn sie das nächste Mal dabei sind?", fragte Schuldig nachdenklich, sein Gesicht wirkte ruhig. Das ewige Thema schon wieder. Würde es immer zwischen ihnen stehen?

Ja... solange Weiß für Kritiker arbeitete, wohl schon.

"Eine Lösung muss her, Ran", sagte er ernst und traurig zugleich. Sie brauchten dringend eine praktikable Lösung für das Problem. Weiß musste von Kritiker gelöst werden.
 

Aya wusste das nur zu genau und es machte ihm mit einem Male deutlich, dass ein Teil von ihm aufbegehren und seinem Team beistehen wollte. Der Teil, der über Jahre für die Menschen gekämpft hatte, die ihm eine zweite Familie geworden waren.

„Ich habe aber keine, die ich anbieten könnte. Kritiker hat zuviel Macht, als dass sie ins Ausland gehen könnten…selbst wenn…“, …ich das nicht ertragen würde, sie so weit von mir zu wissen, wollte er den Satz beenden, tat es aber nicht.

„Dazu müssten erst einmal Kritiker ausgeschaltet werden. Dann ginge es vielleicht.“
 

Schuldig zog Ran enger an sich und strich diesem über den Rücken, murmelte: „Ja vielleicht. Aber das ist nicht unser Ziel. Kritiker sind uns eigentlich egal", gab er zu.

Sanft kraulte er den Nacken spielte mit dem schweren Haar.

„Ich muss los, Ran. Bestimmt geht alles gut", versicherte er und gab dem Rothaarigen einen liebevollen, tröstenden Kuss auf die Schläfe.
 

Gut, dass Ran nicht mitging. Sicherer wäre es und wenn dieser ihn sehen würde... Nein, das wollte er nicht, er könnte ihm nicht ins Gesicht sehen, nicht jetzt ...jetzt nicht mehr.
 

Doch Aya hielt Schuldig noch an dessen Hand zurück, wollte sich noch nicht lösen. „Dann sag mir wenigstens, was es für ein Auftrag ist…wen erledigt ihr?“, fragte er sanft und strich dem Deutschen eine Haarsträhne zurück. Er sah ihm offen in die grünen Augen. Offen und dennoch verborgen in seinen Gedanken. Er wollte wenigstens die Sicherheit…
 

"Irgendein hohes Tier aus dem Verwaltungsrat einer Firma", sagte Schuldig leise, doch sein Blick war unstet, er fühlte sich nicht wohl. „Ran... ich will nicht mit dir über den Job sprechen. Ich will nicht, dass du ..."

Er brach ab löste sich von dem Mann. Er wollte nicht, dass Ran mit seiner Arbeit in Kontakt trat... so wie er die Dinge regelte, wie er sich fühlte, wenn er jemanden tötete, wer er war zu dieser Minute, in dieser Stunde wenn er tötete, wenn er... zu genießen anfing.

Er war heute ganz und gar nicht gestärkt für einen Auftrag, viel zu unsicher, viel zu bereit die Kontrolle abzugeben. Davor hatte er Angst. Ran schwächte ihn jetzt.
 

Aya nickte und sah das, was er angerichtet hatte. Er hatte seine Informationen, mehr brauchte er nicht. Nicht, wenn er Schuldig mit einer weiteren Fragerei nur quälen würde.

„Dann geh. Und wehe, du handelst dir auch nur einen Kratzer ein“, lächelte er wie im Spaß, meinte es jedoch ganz und gar nicht so locker, wie er es gesagt hatte.

Und ob er ein Auge auf Schuldig haben würde. Mehr als diesem lieb war.

Er wandte sich ab, machte es dem Telepathen einfacher, die Wohnung zu verlassen. Schweigend ging er in die Küche und setzte sich mit dem Blick nach draußen rücklings zu Schuldig, sich erneut seine Tasse Kaffee greifend und einen kalten, bitteren Schluck trinkend.
 

Mit hängenden Armen und leeren Händen stand Schuldig da und blickte Ran für einen Moment nickend nach. "Ich pass auf", murmelte er, der schlanken Gestalt nachsehend. Ihm war nicht wohl dabei, heute zu gehen. Er fühlte sich nicht gut, wie er wiederholt für sich selbst vermerkte.

Oder er redete sich das ein, weil er lieber hier geblieben wäre ... aber Blaumachen galt nicht. Nicht wenn Crawford den Blauen Brief persönlich vorbeibringen würde.

"Bis später", ein letzter ernster Blick und die Tür wurde von ihm geöffnet, fiel leise ins Schloss. Der Aufzug brachte ihn hinunter und er wählte den Sportwagen um zu ihrem Treffpunkt zu gelangen.

Er konnte seine Gedanken nicht auf den Auftrag lenken, seine Hände, mit Handschuhen bekleidet, fassten das Lenkrad fester. Er versuchte sich zu beruhigen.
 

Das, was Schuldig versuchte, spiegelte Aya in diesem Moment, doch wie auch seinem feurigen Pendant wollte ihm das nicht so Recht gelingen. Irgendein hohes Tier aus dem Verwaltungsrat einer Firma. Schwarz hatten den Auftrag. Aber Schwarz als Einheit würde gut funktionieren, oder? Und was, wenn Weiß doch dabei wäre? Was, wenn Schuldig entweder gelogen hatte um ihn zu beruhigen oder es in diesem Moment selbst nicht besser wusste? Er musste doch bei seinem Team sein… denn das war Weiß immer noch.

Bei seinen Freunden.
 

Frustriert erhob sich Aya und suchte mit nun um ein paar Grade gesunkener Laune nach seinem Handy. Hoffentlich…hoffentlich erreichte er sein Team noch. Er ließ es nervös umherstreifend klingeln. Einmal…zweimal…ein drittes Mal. Bis endlich…ENDLICH Omi abnahm.
 

"Ja?"

Omi sah auf das Display, sah die unbekannte Nummer und ahnte und hoffte zugleich, dass es Ran sein würde. Als sich dieser dann auch gleich zu erkennen gab, freute sich Omi Rans Stimme zu hören.

Er ging zurück zur Couch und machte es sich samt seinem Gesprächspartner - den er mittels des tragbaren Telefons mit sich trug - gemütlich.

"Alles klar bei euch?"
 

„Ja, alles klar bei uns…Schuldig ist ausgeflogen, ein Auftrag. Und bei euch? Wie geht es dir? Den anderen?“, fragte Aya. Er freute sich ebenso sehr, die Stimme des Jungen zu hören, die ihn in diesem Moment doch beruhigte. Langsam strich er sich durch seine Haare und kämmte sie mit den Fingern auseinander. Sein Blick fiel auf die geschnittenen Spitzen und er fühlte Erleichterung in sich. Weiß war anscheinend nicht auf Mission.
 

"Och naja nichts großes los hier, Yohji ist auch ausgeflogen", grinste Omi über diesen Ausdruck und zuckte dann die Schultern. "Ich sollte mit, aber habe keine große Lust gehabt. Draußen ist es eklig kalt."

Wie um sich dies noch zu verdeutlichen wickelte sich der junge Mann tiefer in die Decke bis nur noch ein blonder Schopf herauslugte.

"Wann wollt ihr denn kommen?"
 

„Morgen gegen Nachmittag. Je nachdem, wann Schuldig wieder da ist“, erwiderte Aya, von einem unbekannten Drang überwältigt, einfach nur Smalltalk mit Omi zu halten. Er vermisste sein Team, er machte sich Sorgen um Schuldig, war es da wirklich verwunderlich, dass er derart komische Gelüste entwickelte?

„Ich muss Youji morgen erst einmal den Kopf zurechtstutzen, dass er so viel weg ist, oder? Kann er sich denn überhaupt noch auf die Arbeit konzentrieren?“

Aya kam auf der Fensterbank zum Ruhen und warf einen langen Blick nach draußen. Kein Laut drang aus der stillen Wohnung, während er hier saß.
 

Omi wurde hellhörig.

"Wieso ... wenn er wieder da ist? Wird das was Größeres?", fragte er nach dem Auftrag von Schuldig hatte aber nicht wirkliches Interesse in seine Stimme gelegt, er wollte Aya nicht löchern, außerdem hatten sie heute frei und er hatte keineswegs Lust auch nur an Arbeit zu denken.

"Was Yohji angeht", redete er schnell weiter „... pendelt sich ein Rhythmus ein, was das Weggehen angeht. Er arbeitet im Laden, erledigt die Aufträge ... lässt dabei seine Wut aus und geht abends weg, dazwischen schläft er etwas und ...mit dem Essen spart er ... dafür trinkt er mehr."

Omi schwieg. Es war nichts Neues, aber dennoch machte ihnen der Blonde Sorgen.
 

Aya hatte Omi gerade die Frage nach Schuldig beantworten wollen, als er gewahr wurde, wie schlecht es Youji ging. Sorge um seinen Freund schwemmte in ihm hoch und in diesem Moment wurde die Sehnsucht, bei seinem Team zu sein und sich um sie zu sorgen, sehr groß.

„Ich werde ein paar Takte mit ihm wechseln…und ihn wieder zur Vernunft bringen“, erwiderte er zuversichtlicher, als er sich fühlte. Er wusste genau, warum es Youji schlechter ging. Er war nicht mehr da…hatte Youji seine Stütze entzogen, die der andere Mann wohl insgeheim doch an ihm gehabt hatte. Das zehrte an dessen Nerven.

„Wie sieht es denn mit dir aus? Und mit Ken? Wie geht es euch? Machen…Kritiker euch sehr zu schaffen?“, wollte Aya wissen.
 

"Ich ...nun ich glaube nicht, dass es etwas bringt, Ran, er tut so, als mache es ihm nichts aus ..." Omi dachte diesmal erst nach nachdem er gesprochen hatte. "OH entschuldige, Ran, wir tun uns alle noch etwas schwer, aber wir arbeiten daran", lächelte er etwas.
 

„Ich auch…ich arbeite auch daran“, murmelte Aya. „Ich suche nach einem Weg, euch da raus zu holen. Insofern ihr wollt. Ich habe Angst, dass Kritiker euch wegen mir noch mehr zusetzt.“ Er seufzte schwer. „Besonders Youji…nein, ihr alle habt es verdient, endlich euer eigenes Leben leben zu dürfen.“
 

Omi ruckelte sich etwas zurecht und sein Blick verlor sich auf dem stummen Fernsehbild, dass sein kaltes Licht in die abgedunkelte Wohnung entließ.

"Sie verhalten sich ruhig. Aber das heißt, dass wir beschattet werden, Ran", sagte er tonlos.
 

„Nicht mehr lange, Omi. Versprochen. Wir finden einen Weg. Wenn nicht ich alleine, dann mit Schuldig. Schwarz können euch vermutlich noch effektiver helfen.“

Auch wenn es ihm schon alleine sein Stolz unmenschlich erschwerte, sich ein weiteres Mal an das gegnerische Team zu wenden und sie um etwas zu bitten, das Gefahr lief, von vornherein abgeschlagen zu werden. Nein…Aya wollte das selbst erledigen und selbst eine Lösung für ihr Problem finden. Nur wie?
 

Vor allen Dingen brachte ihn die Sorge um sein Team auf ein ganz anderes Problem. Was war mit Schuldig? Würde er diese Mission heil überstehen? Ayas Blick fiel auf den weit entfernten Kleiderschrank, seine Gedanken hingegen schweiften zum Lederoberteil mit hohem, stehenden Kragen und langen Ärmeln, das sie in einem der Undergroundshops erstanden hatten. Dazu noch seine Lederhose und das Missionsoutfit wäre perfekt. Schwarz in schwarz würde ihn niemand erkennen, wenn er ein Auge auf den Deutschen warf. Niemand.
 

"Schwarz fragen ...hmm?", grübelte Omi nun selbst über diese Option, die ihm aber so gar nicht gefallen wollte.

Er sagte nichts mehr dazu. Wieviel Einfluss hatte Schuldig schon auf Ran?

Besser er verscheuchte diese untreuen Gedanken.

Tief einatmend lächelte Omi wieder, versuchte einen neuen Faden zu finden, denn er wollte Ran noch nicht gehen lassen. „Was machst du denn dann so alleine? Sicher ist dir seeehr langweilig, wenn Schuldig nicht da ist, oder?" hörte man deutlich die Anspielung auf ihr vermeintlich ausgelastetes Sexleben heraus und die Neugier die dahinter steckte.
 

„Ich warte darauf, dass Schuldig wieder zurückkommt“, erwiderte Aya ehrlich. „Im Prinzip kann ich ohne ihn das Loft nicht verlassen, eben weil überall Kritikeragenten sein könnten.“ Was einen großen Teil der unterschwelligen Frustration ausmachte, die in Aya schwelte. Es tat weh, das zuzugeben.

„Apropos…dir ist nicht zufällig eine Mission untergekommen, oder Omi? Gegen ein hohes Tier in einem der Verwaltungsräte einer großen Firma?“
 

Einen Moment musste Omi überlegen, aber nicht weil er nichts von einem derartigen Fall wusste, sondern ob es klug war gerade Ran davon in Kenntnis zu setzen. Stille herrschte in der Leitung.

"Ja, ist mir schon bekannt. Wir sollten ursprünglich heute darauf angesetzt sein, aber wurden dann vor zwei Tagen davon in Kenntnis gesetzt, dass es besser wäre, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Der Kerl war Kritiker wohl auch ein Dorn im Auge." Mehr sagte er nicht. Er hatte Angst, dass Ran aufspringen...

Ja und was?

Schuldig hinterherlaufen würde?

"Machst du dir solche Sorgen um ihn...?", fing er zögernd an.
 

Da hatte Omi mal wieder viel zu gut kombiniert…

Wiederum beherrschte kurzzeitige Stille die Leitung, bevor Aya antwortete.

„Ja und nein. Er ist momentan sehr unausgeglichen“, erzählte er, achtete jedoch darauf, nicht zuviel zu sagen. Er wollte Schuldig nicht bloßstellen. „Macht der Gewohnheit, Omi, ich kann eben nicht untätig hier herumsitzen und warten, dass er vielleicht nicht wiederkommt.“ Er verstummte. War das nicht wirklich ein Beweis, wie sehr ihm Schuldig ans Herz gewachsen war?

„Wie heißt denn der Mann, auf den ihr angesetzt wart?“, schloss er und hievte sich vom Sims, holte sich dann von der kleinen Ablage an der Couchecke Zettel und Stift.
 

Omi nannte den Namen, ein Chinese. Trotzdem war ihm nicht wohl dabei.

"Das heißt aber nicht, dass du ihm jetzt nachlaufen wirst, Aya!", übte er sich an dem strengen Tonfall, den er von ihrem Leader entlehnte. "Da mach ich mir dann Sorgen ... und lauf dir womöglich auch noch nach", warnte er Ran vor einer Unbedachtheit.

Aber Ran war ein Musterbeispiel für Sturheit und Omi wagte den Verdacht, dass ihr Leader sich mit Sicherheit nicht von einem Vorhaben abbringen ließ.

"Er kann bestimmt auf sich selbst aufpassen, ich hatte nicht den Eindruck, dass Schwarz keinen Teamgeist besäßen", grummelte Omi.
 

„Nein, ich werde ihm nicht hinterherlaufen, Omi“, beruhigte Aya sein Teammitglied. Nein, er lief Schuldig nicht hinterher, sondern passte auf, dass dieser sich nicht selbst gefährdete und sich von Erinnerungen überrollen ließ.

„Schwarz besitzen weit mehr Teamgeist, als wir es wohl immer vermutet haben“, lenkte er schließlich das Thema um und strich sich durch die schweren Haare. Wie war das eigentlich mit dem Deal zwischen Schuldig und ihm? Konnte er sich jetzt die Haare schneiden? Vermutlich nicht…noch nicht. Doch irgendwann würde er den Deutschen austricksen, da war er sich sicher!

„Allerdings wüsste ich gerne, wo diese Mission heute stattfindet…hast du da auch Informationen drüber?“
 

Ihm war nicht wohl dabei. Ganz und gar nicht wohl.

Energisch auf der Unterlippe kauend und die Stirn in tiefe Falten gezogen starrte Ayas Gesprächspartner vor sich hin. „Jaa, hab ich“, ließ er den Anderen zögernd wissen. Und plante selbst schon im Hinterkopf, was er ohne wenn und aber wohl tun musste, wenn er Aya den Ort des nächtlichen Einsatzes verriet.
 

„Wirst du sie mir auch sagen, Omi oder muss ich dich darum bitten?“, fragte Aya etwas ungehalten über die Hinhaltetaktik des Jüngeren, die er so überhaupt nicht schätzte. Nicht, wenn es ihm um etwas wirklich Wichtiges ging.

Natürlich war mit seinem Fortgang auch sein Status als Anführer gekippt worden. Es war nur natürlich, doch es frustrierte Aya mehr als er zugeben wollte.
 

Nach kurzem Überlegen rückte Omi nun doch damit heraus, hörte er das Missfallen über sein Verhalten aus Rans Stimme doch zu genau heraus. Er nannte ihm eine Adresse, die an eine Baustelle grenzte. Ein Bürogebäude, welches einen Anbau bekam; ein Leichtes dort einzudringen.

"Aber du machst keine Dummheiten, Aya?", fragte er trotzdem streng nach, aber rüstete sich innerlich schon in die Kälte hinaus zu müssen um die ganze Sache persönlich zu überwachen.
 

„Nein, Omi. Ich wollte mich nur noch einmal versichern. Und ich möchte nicht, dass DU dahingehen wirst um nachzusehen, ob ich auch dort bin. Wenn ich nachher von irgendwem hören sollte, dass du dagewesen bist und dich in Gefahr gebracht hast, dann hast du von mir ein Donnerwetter zu erwarten“, erwiderte Aya ernst und hoffte, dass der Jüngere sich wirklich daran halte würde und sich an ihm kein schlechtes Beispiel nehmen würde. Er hoffte es wirklich.
 

"Ja, ich merk es mir. Und wenn ich durch Zufall erfahren sollte, dass Kritiker oder sonst wer dich dort gesehen haben, dann erzähl ich das Yohji und Ken und das gibt dann genau denselben Anschiss", grimmte er wenig überzeugend.

Pah, wer war er denn, dass er sich von Aya aufhalten ließ, wenn es um dessen Sicherheit ging?
 

Omi versuchte also, gegen seine Autorität anzukommen…Aya lachte am anderen Ende der Leitung amüsiert auf und schüttelte den Kopf. Na da waren sie beide sich doch ähnlicher als gedacht. Viel, viel ähnlicher. Doch er würde seinen Kopf durchsetzen, schließlich galt es, Schuldig vor eventuellen Gefahren zu schützen. Schließlich war der Telepath noch lange nicht stabil genug.

„Ich sehe schon, wir bleiben jetzt beide zuhause sitzen und schauen uns einen Film an…“, lächelte er und spielte mit den Spitzen seiner langen Haare. „Allerdings muss ich jetzt auflegen…es rufen mich unabänderliche Geschäfte.“
 

"Das ist eine sehr gute Idee, Aya, wir sehen uns beide einen Film an! Komm doch her, oder besser ich komme zu dir!", schlug er vor.

Aber wusste gleich im selben Augenblick, dass seine Taktik bereits durchschaut war und sein Vorschlag wohl auf kein Gegeninteresse stoßen würde.
 

Doch Omi täuschte sich, das sagte alleine schon das Seufzen am anderen Ende der Leitung. „Du weißt, wie gerne ich das machen würde, Omi. Du weißt, wie sehr ich euch vermisse, doch es geht im Moment nicht“, antwortete Aya eine Spur ruhiger und ernster als zuvor. Ließ die Aufrichtigkeit und die Melancholie durchscheinen, mit der er es sagte.
 

"Ja ich weiß", sagte Omi traurig, aber er lächelte gleich wieder wollte nicht, dass Aya sich damit belastete. "Ich freu mich auf morgen!", vergaß er kurzzeitig in seinem Bemühen um gute Laune, dass Aya sich wohl sobald er aufgelegt hatte in die nächtliche Kälte stürzen würde um Schuldig zu folgen.
 

„Ich werde pünktlich um drei da sein“, bestätigte Aya nickend und verabschiedete sich schließlich von ihrem Jüngsten.

Und Omi sollte Recht behalten. Kaum landete der Hörer auf der Couch, machte sich Aya auf den Weg zum Schrank und griff sich die ihn wärmenden, nachtschwarzen Kleidungsstücke.

Der schwarze Rollkragenpullover, den er schon so oft auf Missionen getragen und damals mitgenommen hatte, als er ‚offiziell’ bei Schuldig eingezogen war. Dann ein langärmliges Lederoberteil mit Reißverschluss, das er sich nun anzog und die Taschen glatt strich.

Aya stutzte, als seine Finger Plastik streiften und er zog den Gegenstand hervor. Ein Kondom? Wer hatte…?

Kopfschüttelnd steckte er den Pariser wieder zurück und lächelte.

Er griff zu seiner Hose und schlüpfte in das noch kalte Leder. Auch hier grub er seine Hände in die Taschen und zog sie nach unten.

Er runzelte die Stirn, als er ein weiteres Kondom aus der Gesäßtasche fischte. Langsam erhärtete sich sein Verdacht…
 

Schließlich warf er sich seinen Mantel über und knöpfte das schwarze Leder zu. Erst danach suchte er den Schlüssel des Zweitwagens und fand ihn in dem kleinen Telefontisch am Sofa. Ebenso wie den Ersatzschlüssel zur Wohnung, der damals dort noch nicht gelegen hatte – das hatte Aya bei einem seiner sinnlosen Fluchtversuche herausgefunden.
 

Von der Couch ging er zum Waffentisch und tippte die ihm noch im Gedächtnis haftende Zahlenkombination ein, um sich zwei Pistolen und für seine Lederstiefel die gleiche Anzahl an Dolchen herauszuholen, bevor er den Deckel schloss und einen letzten, prüfenden Blick in den Spiegel warf und die Hände in seine Taschen vergrub.
 

„Was zur Hölle?“, fluchte er nur einen Moment später und förderte ein weiteres Kondom zu Tage. Na klar… „Schuldig!“, motzte er in die leere Wohnung. Wollte der andere Mann ihm subtil damit irgendetwas andeuten? Oder hatte er einfach den Satz ‚Wir sind schon wieder bereit’ anders verstanden, als Aya ihn gemeint hatte?
 

Gänzlich in Leder gekleidet, sah er aus wie zu Crashers Zeiten…nur dass sein Mantel mit den Reißverschlüssen an den Schultern fehlte. War das der Anfang seiner Vorliebe für diese Art von Kleidung gewesen? Vermutlich…vorher war er schließlich nie auf den Gedanken gekommen, so etwas anzuziehen.

Er verließ trotz der kleinen Kondomeskapade angespannt die Wohnung und machte sich schon darauf gefasst, Omi vor Schwarz’ Zugriff aus dem Weg zu cashen. Aber gut…
 

Er fuhr schweigend hinunter in die Tiefgarage und öffnete den Mittelklassewagen. Hätte ihm Schuldig nicht seinen Sportwagen dalassen können?

In Gedanken bereits bei dem, was ihn dort erwarten könnte, machte sich Aya auf den Weg zu der genannten Adresse, die er sich aus dem Stadtplan gesucht hatte, und stellte den Wagen unweit an der Baustelle ab. Zu Fuß machte er sich schließlich auf den Weg und lauschte den Geräuschen um sich herum.
 

Omi war schneller - gemessen an der Zeit, die er zum Anziehen brauchte. Er nahm keinerlei Waffen mit und zog sich höchstens warm an. Er hatte nicht vor, bewaffnet von Schwarz oder sonst jemandem aufgegriffen zu werden. Lediglich ein Handy führte er mit sich und das nötige Kleingeld für ein Taxi, welches er bestellte und das ihn in der Nähe des Einsatzortes von Schwarz brachte. Er stieg aus und machte sich auf den Weg, die kleine Karte auf seinem Display des Handys mit der Umgebung abgleichend.
 

Aya hatte kein solches Hilfsmittel, also musste er sich ganz auf seine Instinkte verlassen, die durch seine jahrelange Tätigkeit als Killer alles andere als verkümmert waren. Er wusste von ihren eigenen Aufträgen, wo man am Besten zuschlug, wie man vorging, was man berücksichtigte und machte sich dieses Wissen nun intensiv zunutze.

Wie gut jedoch, dass zahlreiche Bäume den Weg zum Gebäude säumten, sodass es für ihn möglich war, vollkommen unentdeckt zu bleiben. Wirklich perfekt.

Aya blieb in der Dunkelheit stehen und lauschte den minimalen Geräuschen, bevor er sich in den Schutz eines der Gebüsche begab, von denen er den vor ihm liegenden Platz genauestens beobachten konnte.
 

o~
 

Die Stahlträger ragten wie drohende Spitzen einer Festung in den nächtlichen Himmel hinauf. Im Seitentrakt wurde noch gearbeitet, schnell trocknender Beton wurde als Fundament in vorgefasste Areale geschüttet, die Arbeiter hatten die Anweisung heute Nacht ihr Pensum aufzuholen, welches sie am Tag zuvor nicht geschafft hatten. Es war 1.32 Uhr, als Schuldig auf seine Armbanduhr blickte. Zum wiederholten Mal, wie ihm verstimmt und auch mit dem Hauch von Nervosität auffiel.

Er war schlecht gelaunt. Er wollte nicht hier sein. Er wollte bei Ran sein. Und - was erschwerend hinzukam um seine Laune erheblich sinken zu lassen - er langweilte sich.

Denn er musste sich die Beine in den Bauch stehen um die Arbeiter im Auge zu behalten und dies leider auch noch bei dieser Hundekälte, die ihm bereits durch die Kleidung in die Knochen drang.

‚Brad! Beeilt euch, was braucht ihr eigentlich so lange?', fuhr er den Amerikaner missgelaunt an.

‚Stör mich nicht, Schuldig. Es müssen vorher einige Dinge geklärt werden, bis wir die Zielperson beseitigen werden.'

‚Na herrlich. Wie schön, dass es hier auch NUR saukalt ist...'

Ein verdrießliches Gesicht ziehend, beschloss er sich mit den Arbeitern zu vergnügen, spielte etwas mit ihren Gedanken, brachte sie dazu, ihre Kollegen zu ärgern, oder ihnen Worte einzuflüstern. Keine großen Gemeinheiten, aber dennoch kleine Boshaftigkeiten, die seine Laune minimal hoben.
 

Nach einiger Zeit ließ er es jedoch wieder sein. Es machte keinen wirklichen Spaß.

Er lehnte unweit der Arbeiter an einem Pfeiler und beobachtete das nächtliche Treiben, wartete, wie es sein Job heute Nacht war, auf die Zielperson, die sich laut Vorhersage hier in diesem Gebäude mit einem Geschäftspartner treffen wollte. Beide sollten beseitigt werden. Der eine ein Erpresser, der andere, derjenige, der erpresst wurde. Beide waren ihrem Auftraggeber ein Dorn im Auge. Ein Aussteiger und einer, der mit seinem Wissen Profit daraus schlagen wollte. Maden, allesamt.
 

Schuldig stieß gelangweilt die Luft aus, kramte sich eine Zigarette heran und zündete sie an. Er hatte keine große Angst entdeckt zu werden, dazu hatte er sein Netz aus Manipulation und geistiger Kontrolle heute Nacht zu kontrolliert ausgelegt. Keiner würde durch diese Maschen schlüpfen können ohne von ihm bemerkt zu werden.

Eine arrogante Sichtweise…sicher.
 

Langsam begann er wieder an Ran zu denken und ein Lächeln schlich sich auf die im Schatten liegenden Züge....
 

Wenn Schuldig jedoch gewusst hätte, dass das Objekt seiner Begierde nicht einmal fünfzig Meter von ihm entfernt in der Stille ausharrte und nun das Opfer erspähte, dem er schließlich lautlos folgte…wer wollte schon wissen, was der Deutsche dann getan hätte?

Aya verdrängte es im Moment. Viel zu sehr war er auf den Mann in den guten Fünfzigern konzentriert, der nervös einen der beleuchteten Wege entlang huschte. Er kannte ihn nicht, sah ihn gerade zum ersten Mal. Das war also das Opfer von Schwarz. Aya stellte nicht in Frage, warum. Nein. Das würde er nicht tun.

Sein Blick richtete sich auf die Baustelle, auf die von ihr dringenden, geschäftigen Laute. Zu laut für seinen Geschmack, dennoch gut, um seine eigenen Geräusche zu übertönen.

Und die Geräusche eines anderen, stummen Beobachters, dessen blonder Schopf sich unter einer schwarzen Mütze verborgen hatte, die dieser im Mantel seines Freundes erspäht und für sich beschlagnahmt hatte.
 

'Er kommt', unterrichtete Schuldig Crawford vom Eintreffen ihrer Zielperson - die unweigerlich zu ihrer zweiten Zielperson gehen würde, die im Inneren des Bürokomplexes wartete.

‚Fang ihn ab und erledige den Auftrag’, wies ihn ihr ‚allwissender’ Anführer an - wie Schuldig Crawford insgeheim in dieser Nacht titulierte.

‚Sehr gern.’

Schuldig löste sich von seinem Posten, den er vor einiger Zeit bezogen hatte und schlenderte dem Mann entgegen, der laut seiner Gedanken schrecklich nervös und ängstlich war.

Mit der Zigarette im Mundwinkel, lässig und souverän kam er heran, blieb stehen, als der Mann, der kleiner als er war und in einen korrekten Anzug samt Mantel gekleidet war, ebenfalls stehen blieb.

Wilde Gedanken strömten durch den Anzugträger, völlig konfus, von der Angst beherrscht, dass hier etwas nicht stimmte. "Sie sind spät", lächelte Schuldig wissend, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, nur zog er langsam die Rechte hervor, schnippte die Asche von seiner Zigarette und blies den Rauch genüsslich in die kalte Nachtluft.

"Machen Sie Ihre Geschäfte stets zu so später Stunde?"
 

„Das geht Sie überhaupt nichts an!“, hörte Aya den Mann abweisend antworten, doch aus dieser Abweisung sprach nichts anderes als Angst. Angst vor dem fremden Mann, der dort vor ihm stand und seine Überlegenheit vollkommen auskostete.

Schuldig.

Aya verhielt sich völlig still in seinem Versteck und beobachtete, wie sich der rothaarige Telepath seinem Opfer gegenüber verhielt. Hätte es nicht einfach nur ein Kopfschuss sein können? Wieso musste er noch lange mit dem Mann spielen?
 

Weil es in seiner Natur liegt, erwiderte ihm eine innere Stimme und er musste ihr Recht geben. Schuldig war ein Spieler. Immer gewesen und würde es immer sein.

Stumm zog sich Aya in die Schatten zurück und beobachtete weiter.
 

Damit übersah er jedoch den zweiten Schatten, der sich nun einem ganz anderen Problem stellen musste. Dem, dass er selbst nicht entdeckt wurde, was er für einen Moment befürchtete, dann aber doch verwarf. Niemand wusste, dass er hier war um ihren Anführer zu decken, oder? Omi beruhigte sein schnell schlagendes Herz, versuchte es zumindest – mit mäßigem Erfolg.
 

Schuldig nickte ernst, aber mit der Spur von gespieltem Schuldbewusstsein auf sein Gesicht gesetzt. Tadelnd schüttelte er den Kopf, seufzte einmal und verengte dann die Augen.

"Sie sind eine Schande für die Firma, das wissen Sie doch sicher? Einen wie Sie, der keine Ehre mehr hat, einer wie Sie sollte sich selbst vom Antlitz dieser Welt befreien, finden Sie nicht? Eine Möglichkeit, Ihre Ehre wiederherzustellen", schlug er hilfsbereit vor.

„Takeshi-san wird mit Sicherheit nicht begeistert sein, wenn er von Ihrem Verrat erfährt ..."

So ging es weiter, er redete und redete auf den Mann ein, verstrickte dessen Worte in haltlose Lügen, bis der Mann in einer Spirale aus Zweifeln, Angst und Ausweglosigkeit gefangen war. "Sie sind ein kleines Licht, niemand wird sich um Sie kümmern, dafür ist diese Stadt zu groß, zu laut ... zu gefräßig ..."

Da hatte er gar nicht so Unrecht, wie er selbst befand.
 

Nichts desto trotz durfte er nicht zu viel Zeit vertrödeln. Er ließ den Mann voran gehen, lenkte ihn in die Richtung, an der er tot aufgefunden werden sollte...
 

Nagi verfluchte Schuldigs Spieltrieb, er beobachtete den Telepathen von seiner Position aus, sah jedoch einen Schatten der gerade zwischen den beiden Gebäuden verschwand.

Seine Augen erfassten diesen Schatten und die Lippen verzogen sich spöttisch ob des nächtlichen Beobachters. Zeugen waren höchstens lästig. Er würde sich darum kümmern...

Gewand ließ er sich die Mauer hinab gleiten und kam auf dem Asphalt auf, ging um das Gebäude herum um in die Gasse zu gelangen.
 

Es war unnötige Quälerei, die Schuldig diesem Mann antat, befand Aya im Stillen für sich, hielt sich jedoch davon ab einzugreifen. Das hier war nicht seine Sache. Trotz dessen folgte er den Beiden und ließ damit unwissentlich Omi alleine, der sich einem immer größeren Problem gegenübersah. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass man ihn beobachtete. Ein schlechtes Zeichen, denn seine Instinkte täuschten ihn nie. Niemals.
 

Vorsichtig versuchte er, sich weiter in die Schatten zu stehlen. Dabei sah er nur noch, wie Aya dem Opfer folgte - Schuldig folgte. Nein…er durfte ihn doch jetzt nicht alleine lassen! Er musste doch…
 

Omi zuckte erschrocken zusammen, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Wer…in aller Welt war das? Bitte nicht Berserker…bitte nicht Berserker, wisperte er in Gedanken verzweifelt.
 

Es war nicht Berserker.

Nagis schlanke Gestalt stand in der Mitte der Gasse, wusste sich dem Spitzel gegenüber, der noch im Dunkeln Schutz fand. Aber er wusste, dass er da war, er konnte diesen Jemand fast riechen. Das ausdruckslos wirkende Gesicht regte sich nur für einen Lidschlag, bevor er in traumwandlerischer Langsamkeit seine rechte Hand hob, sie mit der Handfläche nach oben, als hielt er eine Kostbarkeit in der Hand, vor sich ausstreckte. Die feingliedrigen Finger, schlossen sich langsam zur Faust, seine Konzentration, mit der er die Telekinese ausübte, in dieser Faust gebündelt, ließ er sie urplötzlich los und schleuderte den Zeugen an die nächste Wand.
 

Nein, es war wirklich nicht Berserker.

Omi stöhnte gepresst auf, als alle Luft aus seinen Lungen wich und er keuchend an der steinkalten Wand hing. Prodigy stand vor ihm, dessen Hand war erhoben…um ihn zu zerquetschen? Nein…

„…Nein….“, wisperte er, versuchte sich zu rechtfertigen, zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Doch, würde dies Anklang finden? Nein. Wohl eher nicht, vermutlich genau das Gegenteil. Nun hatte Schwarz die Möglichkeit, einen von ihnen zu vernichten. Ohne großes Federlesens. Ohne Widerstand.

Ran…
 

Nagi ging näher und konnte in der Dunkelheit nur schemenhafte Umrisse eines zappelnden Mannes erahnen. Als er vor dem Mann stand, der ihm fast im gleichen Alter erschien, wusste er immer noch nicht, wen er hier vor sich hatte. Das geflüsterte "Nein" war nichts Neues in seiner Anwesenheit.

"Welche Organisation?", fragte er kurz angebunden und vermutete entweder einen Reporter, oder einen Angehörigen der anderen Untergrundorganisationen, aber auch eine Truppe von Kritiker käme in Frage.

Seine Stimme klang ruhig und gleichmäßig, als säße er im Hörsaal an der Universität und stelle eine Frage die Thematik betreffend.
 

Der Telekinet hatte ihn nicht erkannt? Omi keuchte leise und wurde sich dann erst bewusst, warum nicht. Vielleicht…vielleicht konnte er seine minimale Chance nutzen und den Schwarz davon überzeugen, ihn nicht zu töten, nur weil er ihn für den Falschen hielt.

Eine seiner Hände griff mühsam die Mütze und zog sie sich ruckartig vom blonden Schopf. Seine Haare wallten darunter hervor.

„Weiß“, erwiderte er gepresst und starrte seinem Feind in die ausdruckslosen Augen.
 

Stille.

Dann ein trockenes "Ich lach mich tot", das so dunkel und doch deutlich von einem irrwitzigen Verständnis von Humor durchsetzt war. Nagi fand es tatsächlich komisch, einen Weiß vor sich zu haben. Zumal Crawford davon nichts zu wissen schien. Ohne den vermeintlichen Weiß aus seinen Fängen zu lassen, trat er einen Schritt näher, den kaum älteren jungen Mann genauer in Augenschein nehmend. Das blonde Haar hing diesem leicht über das blass wirkende Gesicht und den festen Blick. Er hob seine linke Hand, schnippte dem Blonden das Haar aus dem Blickfeld.

"Crawford. Siehst du Störfaktoren, wie zum Beispiel… Weiß?", fragte er durch das Mikro.

Doch ihr Anführer verneinte, vermeldete, dass der Auftrag in der Endphase war.

"Entweder ich töte dich hier oder du hast mit unserem Auftrag nichts zu tun. Beides dürfte zu Crawfords fehlender Sicht über dich führen."
 

„Ich habe mit dem Auftrag nichts zu tun. Ich bin unbewaffnet hier und nicht involviert. Kein Grund, mich zu töten“, gab Omi versuchsweise zurück und versuchte, die Angst zu schlucken, die in ihm tobte. Aya…wo bist du, wenn ich dich brauche?

Verdammt. Verdammtverdammtverdammt. Das durfte doch nicht wahr sein. Nicht jetzt. Nicht, wenn er einfach nur gute Absichten hegte.

Noch reichlich verwirrt über die Geste des Jungen vor sich, starrte er diesem aufmüpfig in die grauen Augen. Er röchelte leise. Wenn der Schwarz doch endlich seine Kraft von ihm nehmen würde. Wenn er sich doch nur irgendwie erklären könnte. Ohne Aya auch gleich noch mit rein zu reiten…die Frage war jedoch, welchen Status Aya innerhalb von Schwarz innehatte. War er wirklich mit Schuldig liiert? So eng, dass es ihnen ihr Leben retten würde?
 

"Es gibt immer Gründe um einen von Euch zu töten", sagte Nagi uninteressiert und ohne Erkennen zu lassen, wie ernst er das meinte. Undurchschaubar ließ er den Weiß hart an der Mauer nach unten rutschten bis er den altbekannten Feind vor sich hatte. "Was willst du dann hier?" Seine blauvioletten Augen, dunkle alles verschluckende Seen voller Einsamkeit, durchbohrten mit ihrem Blick den vergeblich aufrecht erhaltenen Schutzmantel seines Gegenübers. Nagi wollte keine Ausflüchte, er wollte wissen, warum der Andere hier war.

Nichts rettete den jungen Mann vor der Wahrheit.
 

„Nichts“, gab Omi zurück, dankbar dafür, dass er nicht mehr über den Dingen schwebte, sondern auf dem Boden der Tatsachen gelandet war. „Ich wollte ihn nur beschatten. Das ist alles.“ Und das war noch nicht einmal gelogen. Er hatte das Opfer beschatten wollen, wie auch Ran. Doch seinen Anführer musste er ja nicht erwähnen. Auch wenn er sich sehnsüchtig wünschte, dass der ältere Mann hier war und ihm zur Seite stand. Er wünschte sich, dass er ihm half und ihn anschließend für seine außerordentliche Dummheit hierher zu kommen schalt.

Seine Augen glitten zu denen des Telekineten und hielten sich an ihnen fest.

„Und es gibt nie einen Grund, einen von uns am Leben zu halten, nicht wahr?“
 

Nagi lächelte minimal, fast kaum vorhanden war dieses äußere Zeichen von flüchtiger Anerkennung über diesen geäußerten Gedankengang des Weiß Agenten.

"Ich glaube dir nicht. Schuldig sollte die Wahrheit herausfinden, danach können wir für dich immer noch einen Verwendungszweck finden." Er trat einen Schritt zurück, damit Omi vor ihm laufen konnte.
 

Einen Verwendungszweck? Wie für Ran auch?, schoss es Omi bitter durch den Kopf. Das klang nicht gut. Ebenso wenig wie es gut klang, Ran für seinen eigenen Kopf zu verraten. Doch was blieb ihm anderes übrig? Er konnte sich schon vorstellen, mit welchen Methoden Schuldig ihn zum Sprechen bringen würde…und ob er es nun unfreiwillig mit Schmerzen oder freiwillig ohne verriet…

Omi seufzte leise.

„Ran ist hier. Ich bin ihm gefolgt“, presste er hervor und starrte dem Jungen, der doch noch gut zwei Jahre jünger war, als er selbst, feindselig in die Augen, tat jedoch keinen Schritt.
 

Eine feingeschwungene Braue hob sich in Erstaunen, doch die äußerliche Ruhe blieb. "Schuldig als Drohung funktioniert gut", sagte er beiläufig und ein amüsierter Ausdruck flackerte kurz in seinen Augen. Er nahm den Druck von dem Körper.

Fujimiya war also hier. Interessant.

Er sah, dass der Blondschopf tatsächlich unbewaffnet war. Also hatte er die Wahrheit gesagt und Nagi bezweifelte, dass er in diesem Punkt log. Viel zu widerwillig war er mit der Antwort herausgerückt, viel zu viel Furcht vor einem telepathischen Eingriff spiegelte sich in dem Gesicht wider.

"Fujimiya ist nicht wegen des Auftrages hier?", hakte er nach.
 

„Nein, ist er nicht. Zumindest glaube ich das nicht“, lautete die widerwillige Antwort. Was jedoch das Einzige bleiben würde, was Omi dazu sagte. Er brauchte den Spott des Anderen nicht. Das konnte der Telekinet sich sparen.

Wenn der Schwarz weitere Antworten wollte, dann sollte er sich an Ran persönlich wenden und nicht an ihn. Er wusste nichts über das Beziehungsgefüge zwischen Schuldig und seinem Anführer. Fast nichts.

Er verschränkte fröstelnd die Arme. „Kann ich jetzt gehen?“
 

Beinahe hätte Nagi gelacht. Aber eben nur beinahe. Die Kälte setzte dem Blonden augenscheinlich zu, wie lange er hier schon herumschlich, konnte sich Nagi bereits denken. Doch Schuldig hätte ihn entdeckt, es sei denn, Schuldig war zu abgelenkt gewesen...

"Nein, kannst du nicht. Du bist hier nicht beim Zuspätkommen erwischt worden" Sein trockener Tonfall änderte sich als er einen kühleren Anschlug um mit Crawford zu sprechen. "Seid ihr soweit? Wir sind über dem Zeitplan."

Crawford bestätigte das Ende des Einsatzes.

"Ich fahre mit Schuldig", kommentierte Nagi lediglich und wartete jedoch die Antwort Crawfords ab.

Zu Omi gewandt sagte er: "Geh voran, Parkplätze im hinteren Teil."
 

Und wer war Omi, dass er dieser allzu freundlichen Aufforderung nicht Folge leistete? Brav wie ein Schüler, der eben zu spät gekommen war, oder auch nicht. Denn sie waren hier ja nicht in der Schule, wie Naoe es so schön ausgedrückt hatte. Hier spielte sich der Ernst es normalen Lebens ab. Dass er nicht lachte.

Er ging vor, ließ sich zu den Fahrzeugen bugsieren, nur um dann unschlüssig stehen zu bleiben. Und nun? Wurde jetzt eine Allgemeinkonferenz abgehalten, was mit ihm geschehen sollte?
 

Nagi öffnete den Kofferraum von Schuldigs Wagen, trat einen Schritt zurück. "Wenn ich bitten darf." Höflich und kühl, mehr nicht, der Blick wieder durch den Anderen hindurchgehend, als würde er ihn nicht sehen.

"Wir werden eine kleine Spritztour machen. Keine Angst, ich habe nicht vor dich zu töten. Es liegt momentan kein Grund vor."
 

Omi starrte in den Kofferraum. Starrte den Telekineten an. Eine Spritztour? „Wohin fahren wir?“, fragte er misstrauisch nach.
 

"Wohin?", wiederholte Nagi nun tatsächlich erstaunt.

"Wohin fahrt ihr gewohnheitsmäßig, wenn ihr einen Einsatz beendet habt? Es ist Schuldigs Wagen. Wohin wird er fahren, wenn er fertig ist?" Nagi legte den Kopf schief, betrachtete sich den argwöhnischen jungen Mann. Es lag doch klar auf der Hand, wohin die Reise ging.
 

„Keine Ahnung? In den Freizeitpark für einen lauschigen Nachmittag vielleicht?“, spöttelte Omi zurück und funkelte dem anderen Jungen schnaubend entgegen. „Und warum soll ich jetzt noch mitkommen? Ich weiß nichts. Das wird sich auch Schuldig denken können. Und wenn ich etwas über die Verbindung der Beiden wüsste, ginge es dich garantiert nichts an. Das ist eine Sache zwischen Ran und Schuldig!“
 

Sofort verschloss sich Nagi vor diesem Spott. Er war ehrlich erstaunt gewesen, warum Omi diesen Zusammenhang nicht erkannte. Spott war das, was er erntete, wenn er länger mit diesem Weiß hier herumstand und sinnlos schwatzte.

"Mir geht es nicht um dein Wissen, oder um eine Verbindung. Mir geht es lediglich um die Probleme, die aus dieser Verbindung resultieren. Steig ein", wiederholte er sich. Und er hasste es, sich wiederholen zu müssen.
 

Omi ahnte, dass er es nicht länger herauszögern konnte und hievte sich stumm in den kalten Kofferraum. Na hoffentlich dauerte die Fahrt nicht allzu lange, denn so eisig wie es hier drin war, hielt er das nicht lange aus.

Hatten sie Ran damals auch so verschleppt? Das Universal-Entführungsprogramm von Schwarz…

Er legte sich vorsichtig auf seinen Rücken richtete die Augen an die Klappe. Verflucht noch mal. Wenn Ran das erfuhr…
 

Nagi zog seinen Mantel aus und warf ihn auf Omi, da es wohl noch etwas dauern konnte bevor der Telepath kam. "Versuch deine Gedanken zu verschließen", riet er wenig hilfreich und schloss den Kofferraum.

Ob der Weiß Agent diese Technik beherrschte oder nicht, war Nagi egal bis unbekannt.
 

Nach einer kleinen Weile kam dann auch der Besitzer des Wagens an, mit einem vorfreudigen Lächeln auf den Lippen. Nagi konnte sich schon denken, was in dem Kopf des Telepathen herumschwirrte. Herzchen mit Pfeilen drin, womöglich noch rosa bemalt.

"Ich fahre mit dir, ich möchte etwas mit dir besprechen", sagte er und Schuldig runzelte kurz die Stirn.

"Wie kommst du nach Hause?"

"Mit dem Taxi."

"Ich muss auf der Fahrt das Netz lösen, das ich gelegt habe."
 

Nagi nickte und sie stiegen ein. Ihn wunderte und erzürnte es, dass Schuldig so nachlässig war und sogar Omi im Kofferraum nicht registrierte. Gut, er war abgelenkt, aber dennoch...

"Fällt dir im Wagen nichts auf?"
 

Schuldig konzentrierte sich wieder auf Nagi.
 

Und Omi tat das Gleiche mit der minimalen Wärme, die ihm durch den Mantel zuteil wurde. Dafür war er wirklich dankbar, auch wenn er in Gedanken mehr als wüst auf Schwarz, den dämlichen Telekineten und letzten Endes auch auf den Telepathen fluchte. Auf seine eigene Dummheit, die ihn dazu gebracht hatte, Ran zu folgen. Auf Rans Dummheit, die ihm seinen Herzallerliebsten hatte folgen lassen. Nur weil er sich Sorgen um ihn machte. Dass er nicht lachte. Der Deutsche konnte gut und gerne auf sich alleine aufpassen.

Er wusste sowieso nicht, mit was Schuldig ihren Anführer rumgekriegt hatte. Mit was er ihn verdient hatte.

„Arschgesicht!“, fluchte er nun laut auf jeden und versetzte der Klappe einen wütenden Tritt.
 

Kurz darauf hörte Schuldig das Geräusch aus dem Kofferraum, und hatte auch sofort die Gedanken ihres unfreiwilligen Gastes erreicht. Und kurz darauf die Informationen gezogen die ihn interessierten.

Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich rapide. Langsam wandte er den Blick zu Nagi, sein Kiefer malte, die Zähne zusammengepresst schauten sie sich für Momente an, bevor er den Blick wieder auf die Strecke zurücknahm.

"Ich glaube nicht, dass er mir gefolgt ist", knirschte Schuldig mit den Zähnen, und umkrampfte das Lenkrad etwas. Gott. Wenn das wirklich so war. Er konnte ... er konnte Ran nicht mehr ins Gesicht sehen. Wer war er denn, dass er einen Aufpasser brauchte?
 

Wie sollte er Ran beschützen, wenn dieser ihn für einen unfähigen Trottel hielt, wenn dieser ihm nicht vertraute, dass er den Auftrag bewältigen konnte. Es war, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weg gezogen. Fast blind für seine Umgebung und auch Nagis Worte fuhr er nach Hause.

Er wollte mit eigenen Augen sehen, dass Ran auf ihn wartete, dass er die Tür öffnete und sehen konnte, wie Ran gemütlich auf dem Sofa saß, oder wohl behalten im Bett lag.
 

Darauf konnte er lange warten, das wusste zumindest Omi. Der jetzt angespannt innehielt, als der Wagen anhielt und Türen aufgingen. Was auch immer ihn jetzt zu erwarten hatte…es konnte nichts Gutes sein. Nicht mit den beiden Schwarz. Ran….komm doch bitte zurück…komm doch bitte rechtzeitig, flehte er in Gedanken und erinnerte sich absurderweise daran, dass sowohl Ran als auch Schuldig morgen zum Kaffee eingeladen waren. Zum KAFFEE, wie gute alte Bekannte. Omi grauste es vor den kommenden Momenten, vor morgen, vor Schuldig. Vor Ran, wenn dieser ihn zu Gesicht bekam. WENN.
 

Schuldigs Gesicht wirkte wie eine in Stein gemeißelte Oberfläche. Er war in Gedanken dabei, sich Worte zu überlegen, Worte die seinen Stolz retten sollten, Worte, die dafür sorgen sollten, dass er selbst glaubte, dass Ran noch in der Wohnung auf ihn wartete, vielleicht schon eingeschlafen, warm in eine Decke gehüllt.

Nicht draußen in der Kälte, wo ihm Kritiker, oder sogar Schwarz auflauern hätte können. Wer wusste schon, wie schlecht Crawford auf Ran zu sprechen war, wie Farfarello sich verhielt. Er nicht. Er konnte Rans Gedanken nicht lesen, er hatte ihn nicht bemerkt. Ihm war selbst der weiße Fleck in seiner Wahrnehmung nicht aufgefallen.

War er von ihm beobachtet worden, wenn er tatsächlich dort am Schauplatz der nächtlichen Aktion gewesen war? Glaubte er, er wäre unfähig...?

Diese und schlimmere Gedanken kreisten in ihm während er die Sportausführung der schwarzen Corvette in die Tiefgarage lenkte, den Parkplatz, den sein Zweitwagen besetzte, leer vorfand.

Er sagte nichts, als Nagi ausstieg, die Türen mit einem leisen, angenehmen Geräusch zufielen und der Kofferraum sich öffnete.

Schuldig starrte hinein, sein lodernder Blick durchbohrte den Blondschopf der sichtlich frierend darin lag.
 

Der sich nun langsam in die Sitzende hoch hievte und Schuldig mit einem vorsichtigen Blick maß, den Mantel eng um die Schultern geschlungen.

„Was willst du von mir?“, fragte er ruhig und in diesem Moment konkurrierte jene alte Feindseligkeit zwischen ihnen mit den Erinnerungen an das letzte, erste Telefonat, das sie auf Rans Geheiß miteinander geführt hatten.

Auch wenn ihm noch ganz andere Fragen im Kopf herumschwirrten, die sich allesamt mit Ran befassten, die jedoch warten mussten.
 

Schuldigs dunkle Seite zog sich an diesen Worten nach oben. Erkannte das Wanken zwischen dem altbewährten Verhalten und dem bemüht Neutralen, welches Omi an den Tag legte. Er lächelte auf Omi herab, gewohntes Terrain, kein Grund zur Beunruhigung, sagte er sich im Innern.

"Frag ihn", wies er mit dem Kinn auf Nagi und wandte sich um.

Doch das Lächeln und alles was mit diesem gekommen war, fielen wie eine Maske von ihm ab, als er sich den Aufzügen zudrehte, die wenigen Schritte dorthin mit fast verletzlichem Gesichtsausdruck bewältigte.

Er fühlte sich beschissen. Zum einen verärgert, zum anderen in Sorge, aber es schmerzte auch Etwas in ihm. Wie peinlich war dies eigentlich? Ran lief ihm nach um was? Auf ihn aufzupassen? Oder war er vielleicht gar nicht hinter ihm hergelaufen, sondern wollte er ihn womöglich aufhalten?

Wild spekulierend und sehr unsicher, verdrängte er das Dunkle in ihm wieder und wieder, als es die Unsicherheit nutzen wollte um an die Oberfläche zu kommen.
 

Nagi hob die Hand, winkte ungehalten. "Komm raus."
 

Omi gehorchte. Was blieb ihm auch anderes übrig, als dem Befehl des Telekineten zu folgen und schließlich ihm und Schuldig zu folgen. Hinein in den Aufzug und ganz nach oben ins Penthouse, dessen Ausblick ihn in Staunen versetzte.
 

Weite.
 

Es gab keinen anderen Begriff, die Aufteilung dieses riesigen Raumes zu beschreiben. Platz, wohin das Auge sah. Nichts Beengendes, Kuscheliges, wie sie es hatten. Nein, das war Luxus pur, jedoch nicht durch das Ambiente, sondern ganz einfach durch den Raum. Und was für ein Ausblick auf die nächtliche Stadt. All die Lichter…
 

Als Omi bewusst wurde, dass seine Gedanken mehr als unpassend für seine jetzige Situation waren, räusperte er sich leise und blieb nun doch eingeschüchtert irgendwo in der Mitte des Raumes stehen. Was in aller Welt sollte er hier? Und wieso verhielt sich Schuldig so komisch? So ruhig?

„Also…was mache ich hier?“, wandte er sich neuen Mut fassend wieder an Naoe und bedachte diesen mit einem fragenden Blick. Auf ein Neues…
 

"Wir warten", antwortete Nagi und ging zu Schuldig, der sich an die Fensterfront zurückgezogen hatte um mit ihm zu reden. Omi war zumindest dem Anschein nach für den Moment vergessen.

"Crawford hatte Recht. Er macht Probleme. Jetzt noch. So etwas sollte nicht vorkommen, Schuldig. Egal aus welchen Gründen er gehandelt hat, es ist in deiner Verantwortung wenn etwas daneben geht. Wenn Crawford davon erfährt ..."

"Wird er nicht", zischte Schuldig und drehte den Kopf wie eine Puppe, die dazu befehligt wurde, langsam, sehr langsam und die grünen Iriden verschränkten sich mit kühlem Blauviolett.

"Er ist ein Risiko, das DU eingehst."

Nagis Stimme blieb ruhig, als würde er einen weisen Ratschlag erteilen, kaum wirkte er wirklich daran interessiert, dass Schuldig seine Beweggründe verstand. Doch er war es. Ihm lag etwas an dem Telepathen und ihm lag etwas an ihrem Team, samt ihrer Sicherheit. Vor allem ihrer Sicherheit, die durch Schuldig momentan sehr gefährdet war.
 

Aber das musste er dem Telepathen nicht erst sagen. Für Schuldig war in den letzten Tagen und Wochen einiges durcheinander geraten. Und es schien kein Ende zu nehmen. Seine Teammitglieder konnten sich nicht auf ihn verlassen, da er womöglich von einem Partner im Stillen begleitet wurde, der vom gegnerischen Team war. Er selbst hatte im Unterbewussten, im Privaten mit demütigenden Erinnerungen zu kämpfen ... und das alles nahm kein Ende. Es hörte einfach nicht auf.
 

Hinter seiner Stirn pochte es. Er wollte seine Ruhe haben.

‚Ich will jetzt nicht darüber sprechen, Nagi. Verstehst du das? Ich muss erst mit ihm ...'

Er verstummte auch in Gedanken und schüttelte den Kopf. Eine Tablette musste her.

Sein nächster Gang führte ihn in die Küche, wo er ein Glas Wasser füllte.
 

Omi beobachtete und belauschte die beiden Schwarz so gut es ging. Irgendwie fühlte er sich hier…überflüssig, einfach fehl am Platze. Regelrecht stehen gelassen, wie bestellt und nicht abgeholt. Wie auch immer. Na das war ja wunderbar. Und den Gedanken an Flucht, konnte er womöglich auch noch verwerfen. In Gegenwart Schuldigs und Naoes sicherlich kein Wunder.

Da machte er sich doch lieber auf den Weg zu einem der Sofas, bis er hinter sich in der Tür einen Schlüssel hörte.

Omi fuhr gespannt herum. Ja, er sah, was er hatte sehen wollen!
 

WEN er hatte sehen wollen!
 

„Ran!“, rief er, noch bevor sich der langhaarige Mann in die Wohnung schleichen konnte und hatte ihn innerhalb von Sekunden in seine Arme geschlossen. Wie ein Schraubstock presste er den Körper seines Freundes an sich und wollte nun nicht mehr loslassen. Nicht mehr. Gar nie mehr. Aya war da. Es würde gut werden. Alles…Aya war ja da.
 

„Was machst du hier, Omi?“, fragte die ruhige Stimme ihres Anführers verständnislos, während der Ältere Omi durch die Haare wuschelte. Was in aller Welt war passiert? Und wo war Schuldig?
 

Schuldig gefror.

Sowohl in seiner Haltung - das Glas vor sich - als auch in seinem Inneren. Er war da. Ihm ging es gut. Erleichterung mischte sich mit stärkerer Unsicherheit und dadurch Wut über sich selbst und Rans Unvermögen, ihm Vertrauen zu schenken.

Ein Gut, dass er so dringend benötigte.
 

Niemand sagte etwas. Schuldig schwieg, stand noch immer unsichtbar für Ran in der Küche, den Blick in Richtung Panoramaansicht der Stadt gerichtet, lehnte er an der Küchenzeile.
 

„Schuldig hat mich mitgenommen…“, tönte es sarkastisch aus dem großen Wohnraum und wurde schließlich mit einem überraschten Schnauben beantwortet.

„Tatsächlich?“, fragte Aya und hob bedeutsam eine Augenbraue. „Wo hat er dich denn aufgelesen?“

Es dauerte einen Moment, bis Omi die Verlegenheit ablegen konnte, die ihn anhand dieser Frage beschlich. Was hatte Ran am Telefon gesagt? Und was hatte er nicht beherzigt? Doch nun war es so oder so zu spät. Nun war er hier und Aya würde es erfahren.

„Bei Schwarz’ Auftrag…ich war dort, Ran, und habe dich beobachtet…“, gestand er schließlich ein und handelte sich dafür einen dunklen Blick ein.

„Du warst da? Was habe ich dir gesagt, Omi?“, fragte Aya streng und löste sich mit Nachdruck aus den Fängen seines Teamkollegen. „Dir hätte etwas passieren können!“

„Dir aber auch“, schmollte Omi zurück, fühlte sich anhand der Zurechtweisung verletzt. Aya seufzte ein weiteres Mal.

„Hätte es nicht. Ist Schuldig auch hier?“ Der blonde Weiß deutete mit einem Nicken auf die Küche und Aya wandte sich schweigend in die Richtung. Er wusste nicht, was ihn dort erwarten würde, wie Schuldig darauf reagieren würde, dass er ihm doch nachgegangen war. So wappnete er sich bestmöglich und ließ Omi mit einem beruhigenden Wuscheln in dem seidigen Schopf stehen.

Schritt für Schritt näherte er sich der Küche um schließlich zu sehen, dass Schuldig nicht alleine war. Der Telekinet. Na wundervoll. Aya wurde vorsichtig, ebenso wie seine Worte. Nein, ein Wort war es, ein Einziges.
 

„Schuldig?“
 

Dieser drehte den abgewandten Schopf nicht zur Stimme, die er jetzt dringender als irgendetwas sonst herbei gesehnt, aber auch gefürchtet hatte.

‚Geht in den Raum. Ich will alleine sein, Nagi. Pass auf, dass der Kleine da drin nicht ausflippt.'

Schuldig bat den Telekinet eher mit seinem stummen Blick, als dass er ihn in Gedanken befehligte. Doch Nagi verstand, nickte und ging zu Omi, berührte ihn ganz leicht, als habe er Angst ihn zu grob anzufassen am Ärmel seines eigenen Mantels und zog ihn mit. "Komm mit, wir werden uns etwas zurückziehen", sagte er wie beiläufig.
 

Aya hörte nur, wie sich die beiden Jüngeren in den stillen Raum begaben. Es war auch ihm nur mehr als Recht, nun mit Schuldig alleine zu sein. Auch wenn dieser ihn vorgeblich zu ignorieren schien.

Er blieb an der Anrichte gelehnt stehen und verschränkte locker die Arme. „Bin ich es nicht wert, dass du mir in die Augen siehst?“, fragte er ruhig. „Warum drehst du dich nicht um?“
 

Und Schuldig besah sich Ran, blickte ihm zunächst nicht in die Augen, in denen dieser wohl Enttäuschung sehen würde, aber auch die Unsicherheit, die er selbst so sehr fürchtete. Stattdessen fuhr Schuldigs Blick über die dunkle Kleidung nach oben, sah seine eigenen Waffen in den versteckten Fächern und unwillkürlich spannte sich etwas in ihm an. Als er den Blick stetig hob, die Lippen streifte, die Augen erreichte, war nichts in seinen zu lesen außer Müdigkeit.

Eine bleierne Müdigkeit.

"Muss ich jetzt immer um dein Vertrauen kämpfen? Jedes Mal? Jedes verdammte Mal?"

Er hielt den Blick für einen Moment, doch als sich Enttäuschung oder gar Angst in seine Augen schleichen wollte, drehte er sich abrupt um, nahm die Tablette, die er zuvor hergerichtet hatte und schluckte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Danach wischte er sich über die Stirn hinter der es so heftig zu pochen schien, als wollte jemand von dort ausbrechen.
 

Aya sah, dass er es war, der einen Schritt auf den anderen Mann zutun und die Kluft zwischen ihnen beiden überbrücken musste.

Von eisernem Willen getrieben näherte er sich Schuldig und stellte sich schließlich neben ihm.

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich wollte sehen, ob dir nichts passiert bei diesem Auftrag. Ob dir nicht die Erinnerungen an Kitamura im Weg stehen. Ich habe dir nicht misstraut. Zu keinem Zeitpunkt.“

Nein, nur den Worten des Telepathen, dass er schon groß war. Dass er es alleine konnte. Denen hatte er misstraut. „Ich wollte sicher sein, dass nicht noch jemand stirbt, der mir etwas bedeutet, während ich nichts tun kann und es später erfahren muss. Dann, wenn es zu spät ist“, fügte er schließlich leise an.
 

"Weißt du eigentlich wie gefährlich deine Aktion war?", fuhr Schuldig nun leidenschaftlich auf. Sein Kopf hämmerte wild gegen seine Aufregung an.

"Stell dir vor, ich hätte dich bemerkt und den Kopf verloren, das ganze Netz wäre zusammengebrochen. Und Crawford ... wenn der das rauskriegt! Ich will nicht, dass er Recht hat. Er soll einmal nicht Recht haben, ja?!" Schuldig fluchte ungehalten und kniff die Augen zusammen.

"Und das Schlimmste wäre gewesen ... wenn Weiß dort aufgetaucht wäre!" Er lachte freudlos auf und deutete auf den stillen Raum. "Nicht auszudenken, wenn sie beschlossen hätten, doch noch am Auftrag teilzunehmen und sie uns in die Quere gekommen wären ... und DU dich entscheiden hättest müssen."

Jetzt sah er Ran zum ersten Mal, seit er sich zu erklären versuchte direkt an. Stumm wusste er doch die Antwort schon. Wusste er wie Ran sich entscheiden würde. "Meinst du, es zerreißt mich nicht, zu wissen für wen du dich entscheidest?" Seine Stimme brach.

"Verdammt..."
 

Aya atmete tief ein. Er ließ seinen Blick über Schuldig schweifen und berührte den anderen Mann hauchzart an der Schläfe.

„Es ist aber nichts passiert. Du hast mich nicht gesehen und Crawford weiß nicht Bescheid. Weiß ist nicht aufgetaucht. Es ist nichts passiert. Dennoch…Schuldig…“, seine Augen suchten die des Deutschen. „…es wird zwangsläufig dazu kommen, dass ich irgendwann einmal wählen muss zwischen dir und meinem Team. Du kannst das nicht verhindern, indem du mich hier zurück lässt, damit ich warte, ob du wiederkommst oder auch nicht. Ob jemand meines Teams überlebt. Das geht nicht.

Meinst du, MICH zerreißt es nicht, beide Seiten zu sehen? Meinst du, mir würde es leicht fallen? Meinst du, es gibt hier ein Parameter, mit dem ich sagen kann, dass die eine Seite mehr wiegt als die andere? Ich will, dass keinem von euch etwas passiert. Doch bevor mich dieser Konflikt in Zwistigkeiten bringt, lösche ich ihn ganz aus. Du weißt, wie es in mir aussieht…“ Seine Hand glitt hinunter zum Herzen Schuldigs und blieb dort liegen.

„Doch was bringt es mir, wenn mich das nur fertig macht? Und dich gleich noch mit dazu? So kann es nicht weitergehen. So will ich nicht, dass es weitergeht. Ich will mich nicht für eine Seite entscheiden müssen. Ich will es nicht.“
 

Zunächst wollte Schuldig zurückweichen.

Nicht weil es ihm unangenehm war, dass Ran ihn berührte. Nein, vielmehr weil er spürte, dass Trotz in ihm aufkommen wollte. Sein Gesicht verbarg sich etwas hinter dem Vorhang aus feurig farbenem Haar, das ihm leicht ins Gesicht fiel, als er Ran ansah.

"Du wirst dich aber entscheiden müssen, früher oder später wird es dazu kommen und mit dieser Aktion heute, hättest du es schon provozieren können. Nur allein durch deine Anwesenheit, hätte alles aus dem Ruder laufen können, hätte es zum Chaos kommen können. Verstehst du, Ran?", fragte er und seine Mundwinkel hingen voller Verdruss nach unten.

"Wir umgehen in der Regel Weiß, oder haben etwas unseren Spaß mit ihnen, sofern Crawford sie im Plan vorgesehen hat. Schlimm dagegen ist es, wenn sie unplanmäßig auftreten - wie heute. Nagi hat gut daran getan den Kleinen einzupacken."

Schuldig atmete tief ein und erst jetzt wurde ihm die Wärme der Hand an seiner Brust bewusst, er ergriff sie, fuhr streichelnd mit seiner darüber. Und aus einem plötzlichen Impuls heraus zog er Ran an sich, senkte sein Gesicht zum roten Haar und barg es darin, sog tief Rans Geruch ein. Die Augen schließend genoss er die Sicherheit die ihn durchströmte, wenn er den anderen Mann nah bei sich wusste, im Arm oder an seiner Seite.
 

Aya ließ es zu, dass der andere Mann seine Nähe suchte und sich schier in ihr verkroch. Auch er schloss die Arme um die erschöpfte Gestalt, dennoch konnte er nicht verhindern, dass seine Gedanken zurück zu dem Auftrag glitten. Zu der Art, wie Schuldig tötete, wie er den Mann langsam, qualvoll hatte sterben lassen.

Seine Lippen fanden den Schopf des Deutschen und liebkosten ihn mit ihrer Sänfte, als Ausgleich für das, was nun unweigerlich folgen würde.

„Warum hast du ihn so grausam getötet, Schuldig?“, wisperte Aya sanft, verlangte innerlich nach Erklärung…damit er verstehen konnte.
 

Diese Frage gab Schuldig den Rest. Er zog sich komplett in sich selbst zurück, verdrängt, ja vertrieben von dieser Frage, die er nicht beantworten konnte. Es gab keine Antwort darauf.

Er fühlte sich gut damit wenn er es auf diese Weise tat, zog sich etwas in ihm nach oben, etwas Starkes.

Mit einem kühlen Lächeln und einem amüsierten Funkeln in den Augen löste er seinen Kopf von dem roten Haar und fasste Ran fester. Seine Hand kroch langsam über den festen Hintern und er hob Ran kurzerhand auf die Anrichte.

"Es macht mich an", antwortete er mit einem leisen, fast schon schnurrenden Laut in Rans Ohr. Und wie es ihn anmachte, diese Macht auszukosten, seinem Spieltrieb zu folgen, zu wissen, dass es keinen Ausweg mehr gab bis es vollendet war, bis der Körper still vor ihm lag. Erst dann war er der Gewinner, erst dann, hatte niemand mehr Macht über ihn.

Thekenschlampe

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Das letzte Glühwürmchen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Welche Farbe hat Vertrauen?

~ Welche Farbe hat Vertrauen? ~
 

Schuldig war nie so bewusst gewesen, wie wichtig es ihm sein könnte, nach dem Sex umarmt zu werden, sich anzukuscheln, Küsse auszutauschen. Das Gefühl auskostend strich er über Rans Haar, fuhr bis in den Nacken, erwiderte den zarten Kuss. Danach kuschelte er sich einfach an und tat gar nichts mehr außer dazuliegen und ihrem Herzschlag, ihrer Atmung zu lauschen. Er fühlte sich geborgen, ein Gefühl, das ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb.

"Ich spür’ noch gar nichts", lachte er halb erstickt. Kitamura hatte keine Macht über ihn und Ran hatte ihm dies gezeigt, er war bei Ran zuhause.

Selten sentimental verkroch sich Schuldig bei Ran, genoss ihre Intimität in der kleinen Welt, in der nur sie existierten.
 

„Angeber“, schnurrte Aya leise und schlang seinen Arm etwas enger, intensiver um Schuldig. Mit der anderen Hand angelte er nach der Decke und hüllte sie beide ein. Er summte leise, streichelte sonst schweigend über den Wangenknochen, das Kinn des Deutschen und kraulte dessen empfindliche Kopfhaut.
 

"Keine Angst, das kommt nachher sicher noch umso gemeiner", murmelte Schuldig an die warme Haut unter seinen Lippen, sog genießend den Duft von Ran ein und lauschte auf das Summen, ließ sich von Ran in einen Mantel aus Trost vor dem Grau der Welt und Geborgenheit hüllen. Zufrieden lächelte er. "Ich fühl mich schwerelos", sagte er sanft. Es war eher ein Zustand von Glück. "Dumme Hormone."
 

Aya lächelte ebenso glücklich, schüttelte amüsiert den Kopf. „Das sind nicht die Hormone“, behauptete er frech und stupste Schuldig zärtlich auf die Nase. „Das war ich. Mit meinem Zauberstab.“

Ein leises Kichern wellte sich an die Oberfläche seiner heiteren Gelassenheit und er sah Schuldig in die grünen, seligen Augen.
 

"Das heißt ich hab noch zwei Wünsche frei?", prustete dieser auflachend. "Und ich dachte immer gute Feen sind pummelig und haben rosa Kleidchen an", sinnierte er mit geschlossenen Augen, aber einem Grinsen.
 

„Das mit dem rosa Kleid ließe sich nicht einrichten“, gab Aya zurück und verdrehte innerlich die Augen, als er sich im Tutu vorstellte. Sicherlich, als wenn er so etwas je anziehen würde. „Aber die zwei Wünsche hast du schon frei, das stimmt.“ Vielleicht auch mehr, je nachdem, wie sich das für ihn selbst rentierte, wie Aya amüsiert befand.
 

Schuldig öffnete ein Auge und eine Idee kam ihm bei diesem Angebot. "Soo? Wirklich?" Das grüne Auge sah Ran an und ein hintergründiges Lächeln umspielte die Lippen.

"Da nehme ich dich beim Wort. Ich hätte da etwas ... zwar nicht rosa ... und keine Spitze ... aber etwas Pelz und sehr ‚anschmiegsam’, passgenau sozusagen."
 

Ah…und ob Aya dieses Lächeln misstrauisch machte. Er kannte das. Er wusste, dass Schuldig etwas plante, das garantiert etwas mit wildem, hemmungslosen Sex zu tun hatte. Das wusste er auf der Stelle.

„So…und was ist es?“, fragte er mit hochgezogener Augenbraue.
 

Ran witterte etwas, schlussfolgerte Schuldig und schloss das Auge wieder. Grinste wie die Katze in Alice im Wunderland vor sich hin. "Och ... es wärmt und ist ganz flauschig. Wenn du willst kannst du es in zwei, drei Tagen anprobieren", bot er freigiebig an. "Es steht dir mit Sicherheit ausgezeichnet." Seine Stimme klang beinahe schnurrend.
 

Auch die zweite Augenbraue lupfte sich nun und violette Augen betrachteten den anderen Mann kritisch. „Du weißt, dass ich dich durchschaut habe“, klagte er an und stupste mit einem Finger sacht auf die Brust des Deutschen. „Das ist garantiert etwas Obszönes, habe ich Recht?“ Und OB er Recht hatte. Und ob.
 

Schuldig grinste dreckig. "Ohjaaa", versprach er aus tiefster Überzeugung. "Und WIE obszön." Eine Zunge stahl sich hervor und leckte sich über die Lippen und Schuldig machte einen genießenden Laut. "Perfekt für dich."
 

„Na das werden wir noch sehen“, lächelte Aya und schüttelte amüsiert den Kopf. Neugierig war er schon, wollte er doch wissen, was dieses ominöse Stück war. Er brannte schier darauf zu erfahren, was Schuldig da schon wieder geplant hatte. Gerade eben weil er wusste, dass es sicherlich nicht zu seinem Nachteil sein würde.
 

"Ich hoffe ... dass ich es sehen werde", schloss Schuldig und räkelte sich entspannt. "Wir müssen bald los, oder?"

Schließlich mussten sie noch zum Kaffeetrinken zu Weiß. Schon allein beim Gedanken daran verzog sich alles in ihm.
 

Aya warf umständlich einen Blick auf die Uhr und nickte schließlich mit diebischem Grinsen auf den Lippen. Ja, mussten sie! Dass sich das Ganze vermutlich zu einer Katastrophe entwickeln würde, wusste er selbst…doch wo blieb der Spaß, wenn alles immer glatt lief? Außerdem freute er sich viel zu sehr, dass er sein Team wiedersehen konnte und dass sie endlich wieder alle auf einem Haufen waren.

Seine Augen wanderten über die Züge des unlustigen Deutschen und Aya wuschelte Schuldig beruhigend durch die Haare. „Jetzt zieh nicht so ein Gesicht! Da wird dich niemand auffressen!“
 

„Pah, wäre ja noch schöner! Bevor die mich fressen, fress’ ich sie!“, maulte Schuldig

in bester Kleinkindmanier und zog ein trotziges Gesicht. „Dann geh ich mal

besser duschen, oder?“, fragte er seufzend.
 

Aya lachte vergnügt und wedelte tadelnd mit dem Zeigerfinger. „Oh nein, du wirst sie nicht fressen, sonst bekommst du entweder einen Maulkorb oder…“ Er rückte nahe an den anderen Mann heran und sah ihm eindringlich in die Augen. „..einen großen, passenden Schnuller.“ Er nickte bestätigend und schraubte sich langsam in die Höhe. „Also los, ab mit dir unter die Dusche…ich bin danach dran!“
 

Wieso musste er da nur an Sexspielzeug denken? Darüber nachgrübelnd stand Schuldig auf, streckte dabei kindischerweise Ran die Zungenspitze entgegen und ging ins Bad, diesmal ohne Leintuch, sondern nackt wie er war. Nach einer Stunde war er soweit fertig, geduscht, rasiert, Haare frisiert. „Ich komme mir vor, als würde ich einen Besuch bei der Schwiegermutter machen“, stichelte er, vor dem Kleiderschrank stehend, ratlos hinein spähend. Am besten wieder etwas Dramatisches, überlegte er.
 

Mit beängstigendem Treffsinn vermutete Aya das Gleiche und warf einen kritischen Blick zu Schuldig.

„Wie wäre es mal mit etwas Gediegenem?“, warf er dem nackten Mann hinterher und verengte nachdenklich seine Augen. Ja, ganz bieder. Eben wie ein Schwiegermutterbesuch.

„Die Bezeichnung trifft es übrigens ganz gut. Genauso kritisch werden sie dich unter die Lupe nehmen. Es geschieht schließlich nicht alle Tage, dass der große, BÖSE Schuldig vorbeischaut und sich die Ehre gibt.“ Aya grinste und machte alleine schon durch die Betonung deutlich, dass er nicht wirklich an das ‚böse’ glaubte.
 

"Gediegen?", echote Schuldig entrüstet. Nichts da. "So etwas hab ich nicht."

Er würde schon das Passende anziehen und er wusste auch schon was. Ein gemeines Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als er eine weiße Hose, ein weißes Hemd und den dazu passenden bodenlangen Gehrock anzog. Eine Sonderanfertigung, wirkte es wie ein langer Mantel, war jedoch eher wie ein Gehrock geschnitten, und wurde auch nur bis zur Taille geknöpft. Das Hemd ließ er zwei Knöpfe offen und seine Haare band er sich streng im Nacken bis auf wenige Strähnen die sein Gesicht umrahmten zusammen.

"Schließlich gehen wir zu ‚WEIß’“, murmelte er und grinste in sich hinein.
 

Aya besah sich das Outfit des anderen Mannes, sagte aber wohlweißlich nichts dazu. Er ging erst einmal ins Bad und machte sich fertig, bevor auch er den Kleiderschrank aufsuchte. Trotz allem sah er noch einmal zu Schuldig zurück.

„Willst du sie damit provozieren? Zieh dir was anderes an. Ich finde das nicht komisch“, merkte er ernst an und machte sich daran, seine Sachen herauszusuchen. Er selbst hielt sich an schlichteres, als es Schuldig jetzt trug.
 

Im ersten Moment huschte Unverständnis über Schuldigs Gesicht. Wie konnte Aya ihm sagen, was er anzuziehen hatte? Er sagte nichts, sondern ging zur Couch hinüber, der Mantel wehte hinter ihm her, nahm seine Zigaretten auf und ging auf die Terrasse hinaus.

Niemand sagte ihm, was er anziehen sollte. Absolut niemand. Zorn flackerte in ihm auf.

Er wollte dort nicht hin, fühlte sich absolut fehl dort, hasste es jetzt schon und er brauchte seine Abgrenzung zu ihnen, brauchte dieses Weiß als Symbol, als klare Aussage. Seine gefurchte Stirn und sein konzentrierter Blick zeigten, wie sehr ihn diese Worte von Ran beschäftigten. Er musste sich irgendwie entscheiden, entweder er trotzte dem Ganzen, oder er zog sich um. Beides würde schwierig sein.
 

Mit verschränkten Armen sah Aya Schuldig hinterher, wie dieser sich schweigend von ihm zurückzog. Und er wieder einen Schritt auf ihn zumachen durfte, um zu hinterfragen, was los war. Genau das würde er tun. Genau das tat er jetzt. Wie immer.

Gemächlich kam er Schuldig hinterher und lehnte sich an den Türrahmen. Vergrub seine Hände in den Hosentaschen.

„Was hast du?“, fragte er ausdruckslos, ernst.
 

Bevor Ran zu ihm trat und ihn ansprach, hatte er sich an vieles aus der Vergangenheit erinnert und lodernder Hass hatte seinen Blick verdüstert. Als er jetzt auf Ran blickte, war genau dieser Hass für Momente darin zu sehen, als würde er eine Made aus purer Überlegenheit und Freude unter seinem Stiefel zerquetschen wollen. Doch er schloss die Augen und wandte den Kopf ab. Er wusste, wie er gerade ausgesehen hatte. "Erinnerungen ... nichts weiter", entschuldigte er sich und nahm einen Zug, blies den Rauch in die kalte Luft.

"Was willst du von mir, Ran?", fragte er leise, sein Blick verschwamm. "Ich will nicht wie sie sein und ich habe keine Ambitionen, etwas von ihnen anzunehmen. Ich kann auch vor der Tür warten, es ist kein Problem für mich."
 

Ayas entspanntes Ich zog sich anhand der Abneigung, der offenen Abscheu im Blick des Deutschen zurück und ließ ihn selbst vorsichtig und zurückhaltend werden. Das war der alte Schuldig, der Schuldig, gegen den er als Abyssinian so oft gekämpft hatte. Auch wenn er erahnen konnte, was den Telepathen beschäftigte, was diese Erinnerungen waren. Das verstand er.

„Was ich möchte? Ich möchte, dass du sie nicht provozierst und für mich sieht das so aus.“ Er deutete auf die Kleidung des anderen Mannes. „Ich möchte nicht, dass du vor der Tür wartest. Du gehörst zu mir, ich lasse dich nicht wie einen Chauffeur warten, das kannst du vergessen. Entweder ganz oder gar nicht. Ich kann ebenso alleine hingehen, das geht auch, wenn es dir dann besser geht.“
 

Schuldig hob die Lider und ein harter Blick traf Ran. Statt einem ‚Du gehst nicht allein' sagte er jedoch: "Ich möchte nicht, dass du allein gehst". Etwas diplomatischer, auch wenn sein Blick und sein Tonfall, die beide viel zu ruhig für ihn waren, eher etwas anderes sagten. Er würde ihn nicht allein gehen lassen, es war schlicht zu gefährlich. Dafür müsste er jedoch etwas in Kauf nehmen. Sie hatten also eine verzwickte Situation mit dem Hauch von Erpressung. Er würde Ran nur dann beschützen können, wenn er seine Kleidung wechselte. Dies war die Quintessenz aus dem Ganzen. Er stieß sich ab und ging an Ran vorbei zum Kleiderschrank, begann sich umzuziehen. Er war einen Kompromiss eingegangen, nein kein Kompromiss... er hatte sich untergeordnet.

Er wusste nicht, wie er das Gefühl in seinem Innern beschreiben konnte, welches er nun hatte.
 

Und ob Aya diesen Ton verstanden hatte. Worte waren nicht alles. Gesten, Blicke, Gedanken. Und Schuldigs Gedanken konnte er schon fast erraten, so wie dieser ihn taxiert hatte.

Aya folgte dem anderen Mann nach einigen Momenten und legte ihm die Hand auf die Schulter, zwang ihn an eben dieser zu sich herum.

„Gut, wenn du es so willst: Ich WILL nicht, dass du mitgehst. Es gefällt dir nicht, das ist in Ordnung. Das akzeptiere ich. Und damit gehe ich alleine“, bestimmte er mit eisernem Willen in seinen Augen. Wenn Schuldig das nicht wollte, dann würde er hier bleiben. Er konnte auch alleine zum Koneko kommen und Kritiker umgehen.
 

Schuldig nahm die Hand, drehte sich und drückte Ran somit gegen sich und den Schrank. "Du WILLST. Schön. Lässt du dir etwa von mir sagen, was du anziehen und was du besser nicht anziehen solltest? Lässt du dir von mir etwa sagen, wohin du gehst und wohin nicht, oder ob du gehst oder nicht?", fragte er wütend. "Lass mich raten? Nein? Ich auch nicht. Ich lasse mir es aber scheinbar doch von dir verbieten, so wie es aussieht, und dann willst du wieder etwas. Fragst du mich mal, was ich will? Oder bist du nur gut darin, Befehle zu erteilen?" Er sah in das Violett und sein Blick wurde müde. Sie waren beide dominant, aber er kam sich momentan eher so vor, als hätte er all seine Dominanz eingebüßt.

"Wie kommst du darauf, dass sie sich von Kleidungsstücken provozieren lassen?"
 

Aya starrte Schuldig in die aufgebrachten, grünen Augen. „Dann sage mir einfach, was du willst. Denn ich glaube kaum, dass du mit dorthin fahren willst. Habe ich nicht Recht? Ich will dich nicht bevormunden, Schuldig, aber ich will auch nicht, dass du wegen mir diese Opfer bringst. Dir sagt mein Team nicht zu, fein. Damit kann ich leben. Aber dann bleibe auch hier.“ Er machte sich von Schuldig los und trat einen Schritt zur Seite.

„Du willst allen Ernstes sagen, dass ich nichts anderes als befehlen kann? Gerade du solltest es besser wissen. Gerade du.“ Er schwieg, machte eine Pause und deutete dann auf den verlassenen Kleiderstapel. „Ich kenne sie. Ich kenne ihre Denkweisen und dass sie dir gegenüber misstrauisch sind. Wer wäre das nicht? Wir mögen miteinander schlafen, aber für sie bist du immer noch Schwarz, ein Gegner und wenn es sein muss, auch Feind. So. Deswegen hielt ich deine Kleiderwahl für provokant.“
 

Schweigend sah er Ran an, fuhr sich dann in einer hilflosen Geste eine der langen Strähnen nach hinten. „...ich ... will einfach in deiner Nähe sein, das ist alles.“

Er setzte sich aufs Bett, auf dem die Kleidung lag, nahm den Mantel auf.

„Ich mag das Zeug eben, und provozieren will ich damit niemanden. Es ist mir ... eher egal, was sie davon halten. Es grenzt mich von ihnen ab und ich fühl mich gut darin. Weniger zu Weiß gehörend, wenn ich dort schon einlaufe. Ich habe damit eher das Gefühl ich wäre Schwarz und kein Überläufer, oder Verräter, wie Nagi und Brad bereits glauben“, sagte er wesentlich ruhiger, aber auch resignierender als zuvor.

„Vielleicht will ich sie auch unbewusst darauf aufmerksam machen, dass ich immer noch der „Böse“ bin auch wenn du dich davon nicht schrecken lässt.“ Er lächelte schwach, betrachtete sich das reine Weiß und die glatte Struktur des Mantels.
 

Aya ließ langsam einen langen Atemzug an Luft heraus und seufzte vernehmlich. Natürlich…als hätte er es sich nicht denken können. Wieso musste er auch immer das Schlechteste vermuten? Er konnte Schuldig verstehen, restlos sogar, war aber wie ein Elefant im Porzellanladen vorgegangen und hatte gemeint, dass es keine andere Ansichtsweise außer der eigenen gab.

Er spiegelte das schwache Lächeln des anderen Mannes und nickte schließlich. „Meine Schuld. Ich hätte mehr darauf vertrauen sollen, dass du weißt, was du tust…aber weißt du, wie oft ihr bei Aufträgen und Kämpfen gegen uns Weiß getragen habt? Als Parodie auf das, was wir taten? Zumindest kam es Weiß so vor. Aber natürlich ist es dein gutes Recht, dich von ihnen abzugrenzen.“
 

Schuldig hob die Hand, streckte sie Ran entgegen um diesen an sich zu ziehen um sein Gesicht an ihm zu bergen. "Nein. Weiß stand für uns immer für den Tod, für das Vergängliche, dafür, dass wir uns abgrenzen wollten von euch, soweit, dass nicht einmal ein Blutspritzer auf uns fallen sollte, wenn wir töteten. Sauber und weiß waren unsere Westen in der Öffentlichkeit. Während eure besudelt waren. Das war eher unser Grund, dies zu tragen. Ein Witz, wenn man es genau nimmt, aber keine Parodie auf euch. Ihr wart zufällig dabei und habt die deutsche Bezeichnung getragen. SZ wollte uns diese Art der Kleidung verbieten, weil sie ihrer Maxime trotzte - es war beabsichtigt sie zu provozieren nicht euch."
 

Aya nahm diese Hand an und vergrub Schuldigs Gesicht an seinem Bauch. „Das wusste ich vorher nicht…ich habe vorschnell geurteilt“, murmelte er und hauchte einen sanften Kuss auf den Feuerschopf des Deutschen.

„Trotzdem solltest du nicht mitkommen“, seufzte er ergeben. „Ich würde es gerne sehen, wenn sie dich, wenn sie UNS akzeptieren und vielleicht würden sie das auch tun, aber du fühlst dich dort nicht wohl, habe ich Recht? Und was machst es dann für einen Sinn, wenn du dich dort herumquälst?“
 

Schuldigs Arme umschlangen Ran und er zog ihn näher an sich. "Du fühlst dich auch nicht wohl, wenn Nagi oder Jei hier sind, ganz zu schweigen von dem großen bösen Amerikaner, trotzdem versuchst du, sie kennen zu lernen. Ich bin nicht blind und taub auch nicht, ich merke das schon.

Natürlich fühle ich mich nicht wohl bei ihnen, aber ich fühle mich wohl bei dir. Und wenn bei dir sein bedeutet auch für kurze Zeit bei ihnen zu sein dann tue ich das. Erstens. Zweitens, habe ich zugesagt dich zu begleiten und ich halte mein Wort. Drittens halte ich es für eine Illusion, wenn du glaubst, dass Kritiker sie nicht abhören oder ihre Spitzel überall haben. Ein jahrelanger Nachbar könnte ein Agent von ihnen sein. Ich mach mir einfach Sorgen, wenn du mich zurücklässt. Außerdem habe ich noch was gut bei dir!", meckerte er leicht angesäuert über Rans nächtlichen Exkurs zu ihm während des Auftrages.

"Oder hast du Angst, dass ich mich nicht benehmen kann?", hob er seinen Kopf und stützte sein Kinn auf Rans Bauch um so nach oben zu sehen.
 

Aya gab sich innerlich geschlagen. Schuldig hatte einfach die besseren Argumente. Aber deutlich. Oder er wusste sie besser rüberzubringen mit diesem verdammten Dackelblick, der Ayas Vorsätze samt und sonders dahin schmelzen ließ.

„Ich bin mir da nicht so sicher“, überlegte er wirklich ernsthaft grübelnd. „Keine unschicklichen Gedanken, hörst du! Und es wird nicht gefummelt! Kein Sex im Bad! Auch nicht in der Trainingshalle! Und im Wohnzimmer schon gar nicht!“ Aya verstummte, einfach aus dem Grund, dass er bereits wieder dabei war, sich an diese Gedanken zu gewöhnen und sie höchst reizvoll zu finden. ZU reizvoll für einen Kaffeebesuch.

„Gut, du kommst mit, ziehst an, was du willst, aber du gehst nicht nackt!“
 

"Sex?", lachte Schuldig und ließ sich auf das Bett fallen. "Wie kommst du denn darauf?", lachte er immer noch schallend. "Tut dir dein Hintern nicht mehr weh? Also wenn das der Fall ist, musst du wohl schon wieder scharf sein ... vor allem wenn ich bedenke ... wie zum Geier kommst du auf die Idee ich würde dich bei Weiß vögeln wollen? Noch dazu, wenn ich den Umkreis von einer halben Meile unter Kontrolle halten muss?" Schuldig grinste, als wüsste er genau, wie Ran die Örtlichkeiten zu nutzen wusste, dafür brauchte er nicht einmal Telepathie.
 

„Oh mein Lieber…ich habe nicht davon geredet, dass ICH meinen hübschen Hintern hinhalten soll“, lächelte Aya völlig überzeugt davon, dass er derjenige war, der Schuldig über ihre Couchlehne beugte und tief in ihn stieß…

Aya blinzelte. Schon wieder. Dachte er an nichts anderes als an Sex mehr?

„Außerdem…MEIN Hintern ist dank DEINEM kleinen, gemeinen Freund da oben“, er stieg Schuldig nach und tippte dem anderen Mann auf die Schläfe. „…noch SO unbrauchbar, dass du die nächsten vier Tage nicht mal in den Genuss kommen wirst.“
 

"Vier?", echote Schuldig umarmte Ran und wälzte sich mit ihm auf dem Bett herum, bis er auf dem anderen Mann lag. "Tja, dann heißt es jetzt wohl Abstinenz oder Selbst ist der Mann, mein Hintern ist gerade erst von deinem besten Stück durchgenommen worden, nur weil ich nicht hinke, heißt es nicht, dass es nicht noch etwas zieht, mein Kirschchen", grinste er frech, pustete dann Ran eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Senkte dann seine Lippen auf Rans und küsste sie sanft.
 

Aya ergab sich diesem zärtlichen Kuss, ließ es sich jedoch nicht nehmen, mit seinen geschäftigen Fingerchen herzhaft nach Schuldigs Hintern zu greifen und zuzupacken. Die wohlgeformten Rundungen zu erfühlen. Er lächelte in den Kuss hinein. Oh ja…

„Ich bin also dein Kirschchen, ja? Aber wie gut, dass mein Hintern nicht so rot wie eine ist“, schnurrte er. „Kullerpfirsich. Und wehe, du legst selbst Hand an, ohne dass ich zuschauen kann.“
 

Schuldig löste sich und lächelte, seine grünblauen Augen blitzten vor Unternehmungslust. Er schüttelte nachsichtig den Kopf. "Ran, Ran du denkst nur ans Vögeln! Mir kommt es so vor, als wärst du auf Entzug gewesen, hmm?" Ein Grinsen schloss sich daran und er zuckte mit den Schultern. "Tja, deine Augen können nicht überall sein", trällerte er beinahe.
 

„Meine Augen nicht, aber meine Hände“, lächelte Aya und ließ ebenso flinke wie geschickte, besagte Fingerchen in Windesweile nach vorne in die Hose des auf ihm liegenden Mannes schlängeln und dessen bestes Stück umgarnen. Seine weichen, warmen Hände betteten sich darum und tanzten auf dem weichen Fleisch. „Auf Entzug? Ich? Nein, ich weiß mich zu beherrschen.“ Dreiste Lüge? Nicht doch.
 

Die Lust, die sich schon wieder in ihm regte, ließ Schuldig darin kanalisieren, dass er Ran mit einem hitzigen und leidenschaftlichen Kuss in Beschlag nahm. "Du ...", keuchte er an den Lippen zupfend "... bist definitiv... scharf und unwiderstehlich ... wenn du solche Sachen machst..." Er stöhnte rau in den Kuss hinein, drängte sich näher an die Hand, die sein Glied umfasste, es lediglich hielt, warm und fest.
 

Aya schnurrte und lächelte in diese fordernde Inbesitznahme. Oh ja…da war aber jemand noch nicht wirklich ausgelastet, geschweige denn befriedigt. Noch so überhaupt nicht.

„Genau…und es aus dem Grund“, grinste er zufrieden und zog seine Hand so schnell wie sie gekommen war, auch schon wieder zurück. „…werden wir uns jetzt ganz brav und gesittet benehmen und uns fertig machen. Wir müssen los.“ Damit versetzte er Schuldig einen kleinen, frechen Schubs und beförderte ihn in die Rückenlage.
 

"Wir müssen ...WAS?", keifte Schuldig empört und sein Kopf fiel enttäuscht auf die Matratze, seine Hand tastete in seinen Schritt. "Das ist gemein", maulte er. "Du weißt schon, dass ich mich dafür grausam rächen werde?", murmelte er in die Decke hinein, kaum verständlich, da noch damit beschäftigt, diesen herben Verlust, diese Verschmähung seines Selbst zu verkraften.
 

„Jetzt stell dich mal nicht so an!“, rügte Aya mit reichlich boshaften Lächeln auf den Lippen, während er sich die Schuhe überstreifte und dann einen kritischen Blick auf Schuldig warf. „Planst du Weiß zum Campen einzuladen?“, fragte er schließlich mit kritisch hochgezogener Augenbraue und ließ seinen Blick bedeutsam auf der prächtigen Zeltstange in der unteren Hälfte dieses Prachtkörpers ruhen.
 

"Nein. Das Zelt muss ich erst noch abbauen" murrte die Stimme des Prachtkörpers. "Kannst ja schon mal vorgehen", schlug Schuldig bissig vor und rollte sich auf den Rücken um sich aufzusetzen. Er musste jetzt an eklige Sachen denken, an ... Kritiker zum Beispiel ... oder Crawford, wenn er sauer wurde ... oder...

Während er sich allerlei langweilige Dinge vorstellte, die absolut nichts mit dem Mann im selben Raum gemein hatten, konnte er wieder aufstehen und sich dem Ernst des Lebens stellen: Kaffeeklatsch mit Weiß.
 

o~
 

Youji versetzte dem Campingzelt, das seit geschlagenen zwei Wochen unnütz hier im Weg herum lag, einen wütenden Tritt. Konnte Ken nicht endlich mal dafür sorgen, dass sein Krempel hier wegkam? Zumindest aus dem Bereich, in dem sie allesamt mindestens zweimal pro Tag über die Sachen stolperten. Wie er jetzt eben über die große Zeltstange, die sich scheppernd auf den Weg gen Wand machte.

„Miststück“, zischte er fluchend und warf einen Blick aus dem Fenster. Ran sollte bald kommen und mit ihm Schuldig. Eine interessante Erfahrung, um es euphemistisch zu sagen. Ran würde er am Liebsten hier behalten, Schuldig…nun ja. Er war eben notwendiges Übel.
 

Eben dieses notwendige Übel hielt nun Einfahrt mit ihrem Wunschkandidaten und parkte seinen Sportschlitten in ihrer engen Einfahrt. Na da konnte es ja losgehen, das Armageddon, das häusliche Kaffeetrinken im Kreise alter Freunde. Obwohl sie genau das tun konnten: über alte Zeiten plaudern. Genau. Sicherlich.

Youji seufzte. Er sollte mehr schlafen, weniger rauchen, weniger trinken. Sich weniger Vorwürfe machen, dass das alles hier seine Schuld war und dass er besser auf Ran hätte aufpassen sollen. Wer weiß, vielleicht hätten die Beiden sich dann nie kennen gelernt. Richtig kennen gelernt und er hätte Ran ein nettes, japanisches Mädchen besorgt, das ihn nach zwei Jahren heiraten und ihm fünf Kinder gebären würde.
 

Schuldig ließ den Motor verstummen, holte noch einmal tief Luft, ohne dass es Ran bemerkte, indem er den Wagen verließ und sich umsah. Den obligatorischen Kritikeragenten, der das Haus bewachte, hatte er ruhig gestellt und auch die zwei Anderen, die eine Straße weiter ihr Quartier als Basis bezogen hatten.
 

„Kritiker müssen flüssig genug sein, damit sie ihre eigenen Leute bewachen können“, sagte er spöttisch in seine Gedanken vertieft und kam zu Ran um den Wagen herum. Das weiße, locker geschnittene Hemd hatte er anbehalten, lediglich die weiße Hose gegen schwarzes Leder eingetauscht und eine dazu passende Lederjacke übergeworfen.
 

Aya schüttelte lächelnd den Kopf und strich Schuldig eine vorwitzige Strähne aus der Stirn. „Das Geld, was sie Weiß vorenthalten und sie knapp bei Kasse halten, sacken sie selbst ein. Ist doch immer so, oder nicht?“, scherzte er und hauchte dem Deutschen einen kleinen, flüchtigen Kuss auf die Lippen, bevor sich Youji mit einem Räuspern bemerkbar machte und Aya herumfahren ließ.

„Keine Fummelei in der Öffentlichkeit. Wir sind ein anständiges Haus“, brummte der blonde Mann, der in der Tat nicht gut sah. Alleine schon die Augenringe, die sich bis nach Australien buddeln wollten, so tief hingen sie.

Aya lächelte und löste sich anständig von Schuldig, strich sich sittsam sein Jackett glatt, das er über den schlichten Rollkragenpullover gezogen hatte.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen Youji!“, erwiderte er und kam auf seinen Teampartner zu, umarmte ihn schließlich.
 

Schuldig konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Keine Fummelei in der Öffentlichkeit? Na da kannte er aber so ganz andere Erinnerungen aus dem Verstand des Playboys. Aber er enthielt sich und schluckte seine Antwort hinunter. Er musste brav bleiben, bevor ihm Ran noch das ‚schwarze’ Fell über die Ohren zog.
 

„Na kommt, wir gehen rein“, sagte Aya und zog Schuldig an dessen Hand mit sich ins Haus, was Youji mit einem argwöhnischen Grummeln mitverfolgte. Er stand dieser Liaison immer noch mit Vorsicht gegenüber. Schon alleine deswegen, weil Schuldig…

Ach, egal. Das brachte zu nichts. Er sollte sich lieber freuen, dass es Ran gut ging und dass er hier war. Genau das tat er auch und stolperte vor Freude gleich NOCH einmal über dieses verdammte Campingset.
 

„Ach verfluchte Scheiße, KEN, räum dein ZELT samt verfluchter STANGE hier weg!“, brüllte er quer durch das Haus und erntete zumindest von Aya einen ungläubigen Gesichtsausdruck und ein amüsiertes Lachen.
 

Und von Schuldig ein schräges Lächeln. Er dachte eher an seine Zeltstange vor nicht allzu langer Zeit. "So Zeug ist schwer wieder abzubauen, sag ich dir", murmelte er gewichtig und grinste danach Ran hinterhältig an.
 

"Yohji, was schreist du hier so herum?", kam Omi aus dem Wohnraum. "Ken ist nicht da, er kommt später dazu, hat eine Verabredung", zuckte Omi mit den Schultern und strahlte Ran an.
 

Das gemeine Grinsen, das Aya Schuldig in Antwort auf dessen Bemerkung geschenkt hatte, wandelte sich nun in ein erfreutes Lächeln, als er ihren Kleinen sah. Der gar nicht mehr so klein war. Der genauso große Augenringe wie Youji hatte. Was in aller Welt trieben Weiß, wenn er nicht da war?

„Alles in Ordnung, Omi?“, fragte er und suchte innerlich noch nach irgendwelchen Anzeichen, dass Crawford dem Anderen etwas getan hatte. „Ihr seht mir beide aus, als würdet ihr nicht mehr zur Ruhe kommen…habt ihr keine regelmäßigen Schlafenszeiten mehr?“
 

Omi kam zu Ran und umarmte ihn, verweilte für kostbare Momente in dessen Armen. "Nein, ich war ... nur weg gewesen, letzte Nacht, hab wohl zu wenig Schlaf bekommen", log er glatt ohne ins Stottern zu kommen, warf Ran nur einen flüchtigen Blick zu, so wie man es in so einer Situation eben tat. Er wollte schließlich nicht, dass Yohji davon erfuhr, dass er vergangene Nacht ein Stelldichein mit Naoe und Crawford gehabt hatte. Das wäre die Katastrophe ... Yohji würde Amok laufen... ganz sicher...

"Kommt rein. Ken wird später sicher auftauchen, er freut sich schon auf dich." Omi warf einen bedeutsamen Blick auf Schuldig. Nichts für ungut, sie mussten ja nicht lügen. Keiner freute sich, Schuldig zu sehen. Wobei. Doch. Eigentlich war es gar nicht so schlecht, wenn dieser Ran beschützte und sie sicher sein konnten, dass nicht jeden Moment Kritiker das Haus stürmten. So gesehen ...
 

Aya hob eine Augenbraue, sagte aber nichts mehr dazu. Er würde in einer stillen Minute noch einmal mit Omi darüber sprechen und den Jungen fragen, was nun wirklich vorgefallen war. Wie die beiden Schwarz sich verhalten hatten. Wenn er denn die Gelegenheit dazu bekam, hieß das.

„Das ist schön…gut zu hören“, erwiderte er und verstärkte den Griff um Schuldigs Hand, lächelte den schweigenden Mann beruhigend an. Es würde schon klappen, sagten seine Augen. Irgendwie…

„Was gibt es denn Leckeres?“, fragte er gut gelaunt und strebte das Wohnzimmer an.

„Berliner“, hörte er hinter sich eine trockene Stimme und konnte sich ein Lächeln nun doch nicht verkneifen. „Youji…“, richtete er trotzdem tadelnd an den anderen Mann und sah Schuldig schulterzuckend in die Augen.
 

Und er sollte Weiß nicht mit seiner Kleidung reizen? Wenn er hier mit Worten gereizt wurde, die geradezu beleidigend waren? Ran verlangte hier einiges von ihm.

Sein Silberblick traf den Playboy und ein abfälliges Lächeln folgte, bevor er Ran folgte. Er nahm sich einfach vor dies als ‚Beherrschungsübung’ zu sehen. Beherrsch dich selbst ... dann kannst du andere beherrschen, grinste er teuflisch in sich hinein. Es war seine eigene Auslegung...

Derweilen ging er Ran nach und beschäftigte sich mit den Kritikeragenten, ließ sie allerlei Unsinn in ihre Berichte verfassen.
 

Youji führte sie an den Tisch und maß den Deutschen mit zusammengezogenen Augenbrauen. Hatte er sich doch durchaus auf ein kleines Wortgefecht gefreut, aber anscheinend hatte Aya da jemanden schon gut erzogen. Konnten sich Menschen ändern? Vielleicht. Vielleicht konnte sich Schuldig ändern. Hm.

„Setzen wir uns“, bot er an und holte den erwünschten Kaffee aus der Küche, schenkte jedem ein. Ganz unzeremoniell.

„Und wie klappt es? Habt ihr euch schon umgebracht?“, richtete er schließlich sowohl an Ran als auch an Schuldig und sah mit Freude, dass ihr Freund dem Telepathen das Antworten überließ.
 

„Wir sind noch in der Erprobungsphase“, sagte Schuldig mit einem zuvorkommenden, extrasüßen Lächeln ...schneller als er seinen Mund wieder schließen konnte setzte er hinzu: „…aber wir arbeiten daran.“

„Und bei dir? Alles noch so trist und öd, wie bisher?“ Er senkte seine Stimme zu einem Plauderton herab, griff zur Tasse und nahm sich Zucker und Milch.

Yohji war sehr direkt. Wenn er das war konnte Schuldig das ebenfalls sein.
 

Was Youji sehr schätzte. Das hörte sich schon mehr nach dem Telepathen an. „Die Arbeit, du verstehst? Es kann ja nicht jeder auf der faulen Haut liegen“, erwiderte er lässig und nahm einen Schluck aus seiner Tasche. Doch mit seinen Worten handelte er sich einen schweigenden Blick von Ran ein, der in diesem Moment beschloss, die Beiden einfach machen zu lassen. Sie waren erwachsen und wenn sie meinten, sich deswegen die Köpfe einschlagen zu müssen, dann gut. Sollten sie tun. Kommentarlos griff er zu einem Stück Kuchen und bröselte es sich auseinander.
 

Schuldig hob die linke Augenbraue an und legte den Kopf schief.

‚Hör mal gut zu, Kudou. Dass Ran momentan ohne Job ist, brauchst du ihm nicht noch unter die Nase zu reiben', schickte er dem Blonden ernst und ohne Witz.

"Wer liegt hier auf der faulen Haut? Also ich bin ausgelastet ... und das mehr als nur in einer Hinsicht", grinste er dabei zweideutig und hoffte, dass Ran nicht bemerkt hatte, wie er Yohji telepathisch kontaktiert hatte.
 

Aya hatte es nicht bemerkt, aus verschiedenen Gründen. Er mischte sich hier nicht ein…sollten die beiden ihre Hahnenkämpfe untereinander austragen. Wenn Youji jedoch meinte, ihn noch einmal beleidigen zu wollen…
 

‚Wessen Schuld das wohl ist, brauchen wir nicht zu diskutieren, oder?’, erwiderte Youji beißend. ‚Ich gönne ihm von Herzen, dass er Kritiker los ist, verstehe mich nicht falsch. Aber er will beschäftigt werden…oder meinst du, er wird ewig dein Hausmütterchen spielen?’

„Tatsächlich?“, lächelte er nach außen hin, um den Schein zu wahren. „Dann nimmst du ihn also hart ran…wenn es ums Arbeiten geht, Ran?“, richtete er sich an seinen Freund und kassierte eine hochgezogene Augenbraue.
 

‚Hausmütterchen?', echote Schuldig, als er die Gedanken las. ‚In meiner Wohnung sorge ich dafür, dass alles passt. Ran ist nicht bei mir, um meine Wohnung zu putzen. Was soll das, Kudou? Willst du Ärger? Oder bist du nicht ausgelastet, wenn du hier ständig herumstänkern musst?' Schuldigs Augen funkelten zu Yohji.
 

„Youji…“, durchbrach Ayas dunkle, ruhige Stimme ihre mentale Konversation und machte durchaus deutlich, dass er mitbekommen hatte, dass er mit Schuldig kommunizierte.

Der rothaarige Mann holte tief Luft und stand dann langsam auf. „Ihr habt genau eine Viertelstunde, dann habt ihr eure Differenzen beigelegt oder tragt sie für alle hörbar aus. Ich werde mich derweil mit Omi UNTERHALTEN.“

Weg war er und hinterließ einen zähneknirschenden Youji.

‚Wozu ist er dann bei dir?’, giftete er zurück. ‚Sag mir bloß nicht, dass du ihn in die Aktivitäten deines Teams einbindest…was macht er denn schon anderes, als auf dich zu warten?’
 

"Frag ihn das, nicht mich", sagte Schuldig und stand auf, ging ans Fenster und blickte hinaus. Die Aussicht war nicht überwältigend wie bei ihm, doch besser, als sich ständig von diesem neunmalklugen Blonden anmachen zu lassen. "Und sag bloß, du traust ihm das zu?", zischte er hämisch.
 

Omi sah kurz auf als er - damit beschäftigt, Süßkram auf einen Teller zu häufen - sich gerade fragte, ob Ran ihn wohl fragen würde, was heute Nacht mit Nagi so passiert war und warum er nicht geschlafen hatte. Tja und da war er schon.
 

„Na wer weiß…wer weiß, an was er sich gewöhnt hat…dir zuliebe gewöhnt hat“, erwiderte Youji und stand auf. „Komm, wir gehen eine rauchen.“ Und schon war er im Hinterhof verschwunden, die Tür für Schuldig aufgelassen…vielleicht war es besser, wenn Ran nicht alles mitbekam, was um ihn herum geschah.
 

Schuldig zögerte, doch er riss sich erneut zusammen, war versucht einzulenken und ging etwas langsamer hinterher. Es war, als würden zwei Jungen sich davonstehlen, während die Eltern sich unterhielten - auf der beschaulichen Gartenparty.
 

Eine beschauliche Gartenparty war es zwar nicht, dafür aber eine beschauliche Runde in ihrem Hinterhof.

Youji lehnte sich schweigend an eine der Mülltonnen und nahm sich eine Zigarette aus der halbleeren Schachtel. Er bot Schuldig ebenso eine an.

„Ich mache mir Sorgen um ihn, dass er innerlich an der Trauer zugrunde geht“, gab er nach einem langen Moment des Schweigens zu. „Er zeigt nicht immer das, was er fühlt.“ Ein bitteres Lächeln umspielte Youjis Lippen. Wer tat das denn schon? Er kaute gedankenverloren auf dem Filter.
 

„Das tun die Wenigsten“, kam es auch prompt von Schuldig zurück, als er eine Zigarette nahm und aus seiner Jackentasche ein Feuerzeug hervorzog und Yohji Feuer anbot.

„Wir reden kaum darüber“, fing er an, ließ jedoch den Tod von Aya unausgeprochen, als wüssten sie beide, wovon er sprach. Und das taten sie wohl auch.
 

„Die letzten Tage war es eher so als sei nichts geschehen. Er sucht Ablenkung“, sagte Schuldig leise und lehnte sich seinerseits an die Hausmauer. „Die er auch bekommt.“ Vielleicht war es genau das, was Ran bei ihm suchte ... Ablenkung, Vergessen. Er musste daran denken, wie er aufgewacht war und unerwarteter Weise zu Rans Gedanken Zugang erhalten hatte. Der Wunsch nach ebenso einer Familie wie die, die er verloren hatte, war beinahe erdrückend gewesen.
 

Youji nahm das Feuer dankend an und nickte in Anerkennung von Schuldigs Worten. Genau das dachte er sich. Ran verdrängte, wie er auch andere Dinge in seinem Leben verdrängt hatte, die erst nach und nach zum Vorschein gekommen waren.

„...und selbst das wird irgendwann nicht mehr genügen“, fügte er an und nahm

den ersten, wohlschmeckenden Zug, steckte schließlich die Packung wieder in

die Hosentasche. „Das war damals schon so, nachdem er Takatori erledigt hatte. Zuviel in sich hineingefressen, zu wenig rausgelassen. Und dann schließlich der Zusammenbruch. Keine schöne Sache...niemanden zu wünschen.“
 

Schuldig furchte die Stirn. Es interessierte ihn ungemein, welche Gedanken der Schnüffler bei diesen Worten hegte, aber er übte sich in Geduld und ließ ihn reden. „Zusammenbruch?“ Schuldig seufzte unhörbar und fixierte Yohji mit einem ernsten Blick. „Wie äußerte er sich? Willst du es mir sagen?“

Vielleicht konnte er so besser darauf achten, wenn ein solcher Ausbruch anstand. Oder hatte er ihn schon erlebt?
 

„Es war beinahe wie die Ruhe vor dem Sturm“, erinnerte sich Youji nach einer kurzen Gedankenpause, die Augenbrauen konzentriert zusammengezogen. „Er hat völlig normal gearbeitet, an Missionen teilgenommen, seine Schwester besucht. Aber gleichzeitig war er auch rastlos, gereizt. Nervös bis an seine Grenzen. Er hat wenig geschlafen, noch weniger gegessen. Was alles darin gegipfelt hat, dass er während eines Auftrages sein Opfer schier

niedergemetzelt hat.“ Youji schauderte angesichts des Bildes, das sich ihm nun ungefragt in seine Gedanken stahl. Wie er Aya dabei beobachtet hatte, dass dieser den Mann... „...in blinder Wut und Hass zerstückelt hat. Er hat solange auf ihn eingeschlagen, bis seine einzelnen Körperteile, Gedärme und Knochen um ihn herumlagen. Bis er selbst über und über mit Blut bespritzt war. Auch wenn sein Opfer schon lange tot war, er hat nicht von ihm abgelassen, war überhaupt nicht mehr ansprechbar.“
 

Es waren Gedankenfetzen, die sich zu Bildern formten, ihnen einen Rahmen gaben, während die hoch frequentierten Bilderreihen an Schuldigs innerem Auge vorüber zogen.

Am Meisten erschreckten Schuldig die blinden Augen, mit denen Ran wie ein Unbeteiligter auf die Masse aus Fleisch, Sehnen und anderen Körperanteilen einhackte. Als wäre seine Klinge zu einem Teil geworden, welches aus ihm geboren war, aber ab diesem Zeitpunkt nichts mehr mit ihm zu tun hatte. Er verließ diese Bilder zugunsten des verzweifelten Gesichtsausdrucks, der zusammengepressten Lippen, seines Gegenübers. Es waren nicht die Bilder, oder die Tatsache an sich, die Schuldig erschreckten, vielmehr die Leere zu der Ran fähig war.

„Und weiter? Wann hat er die Kurve gekriegt?“, fragte Schuldig und sein Blick

richtete sich auf die Tür, die vom Haus auf den Hinterhof führte, ganz so als käme Ran gleich hindurch.
 

„Er? Gar nicht. Zumindest nicht an diesem Abend. Ich habe ihn von seinem Opfer weggezerrt und mit nach Hause genommen, ihn anschließend in mein Zimmer gesperrt und sehr sehr lange mit ihm geredet. Über Dinge, die er partout verschwiegen hat.“ Dass er Aya dabei mehr als eine Tüte angedreht hatte, um ihn ‚gefügig‘ zu machen, erwähnte er nicht, das konnte Schuldig aus seinen Augen lesen. Aus seinen Gedanken, die sich nun an Ereignisse und Worte erinnerten, die so offen wie selten zuvor waren. Ein bitteres Lächeln schlich sich auf Youjis Lippen.

„Es hat lange gedauert, bis er sich endgültig von selbst dazu entschlossen hat, aufzutauen und sich uns zu nähern...seine Isolation aufzugeben...und mit mir durch die Clubs zu tingeln oder sich für andere Dinge zu interessieren. Kunst...Vernissagen, Ausstellungen, all das. Er hat sich Ruhe gesucht. Bis du kamst und ihn innerlich wieder aufgerieben hast.“ Eine kleine Spitze gegen den anderen Mann und seiner Entführung....einschließlich der darauf folgenden Katastrophen.
 

„Ah...ich dachte schon der Kern dieser Unterredung würde mir entgehen“, sagte Schuldig leise mit dem Hauch von Sarkasmus. Doch es zielte weniger auf Yohji ab, mehr auf diese ganze Geschichte.

Es tat ihm weh ... dass es gerade jetzt dazu kommen musste, dass er Ran ’gefunden’ hatte. Er empfand zuviel für ihn, als dass es ihn kalt ließ, was Yohji da sagte. Auch wenn es ungerecht war, puren Sarkasmus über Yohji auszuschütten.

Doch wie immer war es bei Schuldig ein Schutzschild, wenn er seine Gefühle nicht zeigen wollte. Eine Schwäche.

„Darf ich zusammenfassen?“ fragte er und breitete gönnerhaft und gleichzeitig, als erwarte er eine göttliche Gabe, die Hände aus, die Zigarette lässig im Mundwinkel und sich schließlich einige Schritte von Yohji entfernend.

„Der Böse ...“, er machte eine ausführende Handbewegung. „...in diesem Fall ... mal wieder ich, reißt die holde Jungfer – gut ich nehme mir einige kleine Änderungen in der Story heraus – aus ihrem trauten Heim und verführe sie – entführe sie in mein dunkles, finsteres Reich, in dem sie fortan an meiner Seite leben muss. Natürlich – schließlich liegt es in der Natur der Sache – erfreue ich mich an der Not der holden Jungfer.“
 

Youji lächelte spöttisch, deutete eine ironische Verbeugung samt Zigarette an. „Situation korrekt erfasst und wiedergegeben, oh böser Drache.“

Er schwieg einen Moment und aschte seine Zigarette ab. „Wir haben uns alle Sorgen gemacht, als er zurückgekommen ist und zwischen den Fronten aufgerieben wurde. Zwischen dir, uns und Kritiker. Zusätzlich dann noch seine Schwester. Ayas Tod half dem nicht wirklich ab. Ganz im Gegenteil. Ich habe ihn ungern aus meiner Reichweite, wenn die Gefahr besteht, dass er wieder in die Apathie zurückfällt.“ Ehrliche, ernste Worte, die Schuldigs Sarkasmus trotzten.
 

Und dies auch schafften. Schuldig betrachtete Yohji einen langen, sehr langen Moment bevor er seine Zigarette langsam aus dem Mundwinkel nahm, die Asche sich im aufkommenden Wind verlor und er einen genauso langen Augenblick diesen Vorgang verfolgte.

„Willst du mir einen Ratschlag geben?“, fragte er ernst. „Sag mir, was du willst“
 

„Ich will so vieles“, entgegnete Youji ausweichend, musste sich für einen Augenblick sammeln, bevor er die chaotisch verlaufenden Gedanken ordnen konnte.

Er fuhr sich mit der Hand durch die dichte, ungeordnete Mähne und verschränkte beinahe schon störrisch die Arme. „Momentan würde ich ihn am Liebsten an meiner Seite wissen, hier im Koneko, oder irgendwo außerhalb von Kritikers Reichweite. Doch da würde spätestens ein sturer, rothaariger, japanischer Esel etwas dagegen haben. Daher begnüge ich mich schon damit, dass es ihm auch weiterhin gut geht und dass du dafür sorgen wirst.“
 

Die Hände in die Hosentaschen steckend, da ihm langsam kalt wurde, zog Schuldig scharf an der Zigarette und ihm war, als hörte er wie das Papier um den Tabak knisterte, als es verglomm, so still war es auf diesem Hinterhof zwischen ihnen.

„‘Hier im Koneko‘ ist das Gegenteil von ‚außerhalb von Kritikers Reichweite‘, sagte er langsam. „Es sieht momentan nicht so aus, als würde es ihm schlecht bei mir gehen, oder? Aber ich verstehe...“ Er verzog den Mundwinkel zu einem kleinen echten Lächeln ... „dass du dir Sorgen machst, dass dieser Eindruck eher davon kommt, dass er alles verdrängt. Er hat seinen eigenen Kopf und solange er ihn durchsetzen kann, geht es ihm wohl gut. Wenn er anfängt ...“, er verstummte für Momente. „... ich möchte diese leeren Augen ... kein zweites Mal bei ihm sehen, das kann ich dir versprechen.“
 

„Solange er ihn durchsetzt?“ Auch Youji lächelte, dankbar über diese kleine Aufmunterung. Ja, er konnte auf diesen harmlosen Spaß eingehen, weil er die Versicherung hatte, dass Schuldig etwas daran lag, Aya nicht so tief fallen zu sehen...nicht noch einmal. „Lass mich raten, ich habe an der falschen Stelle angesetzt? Hätte ich fragen sollen, ob unser kleiner Despot dich auch gut behandelt?“ Seine Augenbraue hob sich fragend, scheinbar besorgt.
 

„Despot?“ Zunächst nur leise lachend musste Schuldig daran denken, dass Yohji wohl nicht ganz unrecht mit dieser wenig schmeichelhaften, dennoch nicht böse gemeinten Bezeichnung hatte. Das Lachen weitete sich aus, bis Schuldigs Augen strahlten und er sich wieder an die Mauer anlehnte, den Kopf in den Nacken gelegt und leise vor sich hin grinste. „Ich halte es gerade noch so aus. Heute hat er mich aus dem Keller herausgelassen, zur Feier des Tages.“ Er richtete sein Augenmerk auf Yohji und schüttelte den Kopf.

„Außerdem musste ich anziehen, was er sagt, du solltest dir eher Sorgen um mich statt um ihn machen!“
 

Grüne Augen quollen schier über vor Besorgnis, als Youji mit einem offenkundigen Grinsen sein Mitleid verdeutlichte. „Ich hoffe, er gibt dir wenigstens eine warme Decke? Kleidung? Zigaretten? Ich kann dir sagen...der Zigarettenentzug ist das Schlimmste an der ganzen Sache. Er will, dass man ihn auf Knien anfleht...dieser elende Sadist.“ Er schüttelte schier verzweifelt seinen Kopf und nahm einen weiteren, tiefen Zug von seinem

Glimmstängel. „Sei froh, dass er nicht passionierter Nichtraucher ist...“
 

„Ja ... die Sache mit den Knien kenn ich“, sagte Schuldig eines seiner teuflischen Lächeln präsentierend. Dass in seinen Worten jeweils ein Körnchen Wahrheit mitschwang, behielt er für sich.

„Du hörst dich aber an, als wüsstest du genau, wovon du sprichst. Sag nur, du hast auch schon vor ihm auf den Knien nach etwas gebettelt?“

Es interessierte ihn fast schon brennend, ob der Blonde mit Ran im Bett war.

Aber er wollte es von Yohji selbst hören.
 

Youji beschäftige sich für einen Moment mit der Vorstellung, wie Schuldig sein Dasein auf seinen Knien vor Ran fristete. Eine durchaus passable Vorstellung, das konnte er wohl sagen.

„Natürlich habe ich das“, gab er mit einem zitternden Seufzen zurück. „Jedes Wochenende. Oh Ran-sama...bitte, ich möchte auf die Piste. Ich bitte Euch, seid so gnädig und erlaubt es mir“, mimte er den perfekten, ängstlichen Untertan. „Ich sage dir, die Hornhautschicht auf meinen Knien ist in den letzten Monaten um ein Vielfaches dicker geworden.“
 

Ihm gefiel es nicht, was er in den Gedanken des Weiß lesen konnte. Wie auch in seinen – war auch in Youjis Worten Wahrheit enthalten gewesen. Ran und Yohji hatten mehr als nur einmal Sex miteinander gehabt. Es dämpfte seine gute Laune etwas. Er wusste zwar nicht mit Bestimmtheit zu sagen, woran das lag, aber es hatte wohl etwas mit dem Gefühl der Eifersucht zu tun, merkte er selbst mürrisch an.

„Willst du noch etwas von ihm?“, kam er direkt zum Punkt, der ihn beschäftigte. Es würde erklären, warum Yohji so vehement gegen ihn arbeitete – wenn man mal außer Acht ließ, dass Schuldig einer der Erzfeinde der Gruppierung war.
 

„Ich würde es vorziehen, wenn du nicht in meinen Gedanken herumschnüffelst“, rügte Youji mit hochgezogener Augenbraue. „Ich hoffe, es hat dir gefallen, was du dort gesehen hast.“ Natürlich konnte er sich vorstellen, was der Telepath gerade in seinen Erinnerungen gelesen hatte. Wie sie durch die Clubs getingelt waren, wie sie sich mehr als einmal mit verschiedenen Männern und Frauen auf einer der großen Liege- und Spielwiesen getummelt hatten. Exhibitionisten...sie beide. Und ja, sie hatten Orgien gefeiert. Zusammen. Sie hatten miteinander geschlafen. Mehr als einmal.

„Er ist ein guter Freund und ebenso gut im Bett, doch er ist kein guter Geliebter. Ich schätze ihn als platonischen Freund, nichts weiter. Eine Beziehung mit ihm wäre mir zu anstrengend, wenn du es so willst“, nickte er und neigte leicht den Kopf, zum Zeichen, dass er es ernst meinte. Dass er Schuldigs unterschwellige Eifersucht durchaus verstehen konnte, auch wenn sie ihn amüsierte.
 

Schuldig musste darüber nachdenken. Ran war kein guter Geliebter?

Er beschloss diese interne Diskussion darüber zu vertagen. „Gut“, sagte er lediglich, da er das Gefühl hatte, sich äußern zu müssen. Schuldig verzog den Mund zu einem schrägen Lächeln und schnippte die Zigarette auf den Boden nur um den Stummel danach auszutreten.

„Hast du etwas dagegen, wenn wir wieder hineingehen?“
 

o~
 

Zur gleichen Zeit hatte sich auch Aya auf ein Gespräch vorbereitet und lächelte nun Omi in die dunkel unterlaufenen Augen.

„Hey.“ Ein sanfter Gruß in Richtung des Jungen, den er in der letzten Nacht im Nachhinein schmählich im Stich gelassen hatte und Aya streifte näher, gesellte sich zu ihm an den Herd. Lehnte sich locker an die Anrichte.

„Wie ist es mit Crawford gelaufen? Hat er sich ordentlich benommen? Was ist mit dem Telekineten?“
 

„So ordentlich, wie sich nun mal ein ‚Crawford’ benehmen kann“, knirschte Omi und stocherte frustriert mit dem Löffel in seinem Kaffee. „Rate mal, wann ich heute Morgen nach Hause gekommen bin, nur weil das verfluchte Orakel mich dazu verdonnert hat, bei Naoe zu bleiben...damit diesem nichts passiert, während er Leuchtdiode spielt.“
 

Aya runzelte fragend die Stirn. „So ernst?“
 

„Es hat wohl irgendetwas mit seinen Kräften zu tun“, zuckte Omi mit seinen Schultern. „Etwas einsam der Gute, wenn du mich fragst. Unausgelastet.“ Er seufzte. „Sag...wie hältst du es nur mit Schwarz aus? Sie scheinen alle so...schwierig zu sein. So...arrogant.“
 

Aya nickte in Anerkennung an Omis Worte. Und ob sie das waren. Arrogant, besonders wenn es sich um das Orakel handelte. Was mit dem Kleinen war...würde sich zeigen. „Hast du Mitleid mit Naoe?“, fragte er schließlich und er erntete ein minimales Kopfschütteln dafür.

„Nein, nicht wirklich...oder vielmehr, nachdem er gestern so hilflos war, vielleicht doch ein wenig. Aber das war schnell vorbei“, lächelte er abschließend und nahm einen Schluck. Kurz darauf sah er nach den Muffins im Backofen und fischte das Tablett aus dem heißen Fach.
 

„... hat wohl irgendetwas mit seinen Kräften zu tun“, hörte Schuldig Omis Worte, als sie in die Nähe der Küche kamen, der Duft von Kuchen in der Luft lag und Schuldigs Magen laut knurrte. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen?

Er blieb stehen, kurz vor der Küchentür, sodass weder Ran noch Omi ihn sehen konnten und lauschte der Unterhaltung. Was redeten die beiden da? Nagi hilflos?

„Was ist gestern passiert?“, wollte er wissen, das Gesicht kühl und reserviert. Er machte sich Sorgen um Nagi. Große Sorgen. Sein Blick heftete sich zunächst auf Omi und es war unmissverständlich, dass er Antworten wollte.
 

Aya hatte schon bevor Schuldig sich geäußert hatte, gewusst, dass der andere Mann bei ihnen war und mitgelauscht hatte. Seine Augenbraue hob sich und er wollte etwas erwidern, doch kam Omi ihm mit einem unmissverständlichen Grimmen in der Stimme zuvor.

„Ich habe gestern Nagi nach Hause begleitet...zumindest versucht, bevor er quasi zusammengebrochen ist und ich ihn in ein Hotel verfrachten musste. Ich habe dann RAN“, betonte Omi den Namen des rothaarigen Mannes mit einem bedeutsamen Blick. „...benachrichtigt, der sich an Crawford gewandt hat. Der wiederum mich verdonnert hat, die ganze Zeit bei eurem Telekineten zu bleiben, bis er wieder aufwacht. Das ist alles.“
 

Schuldig blinzelte. Einmal. Zweimal.

Danach wandte er sich ab, wischte sich übers Gesicht und kontaktierte Nagi per Telepathie.

‚Hey Kleiner? Geht’s dir gut?‘

‚Gemessen an der Tatsache, dass ich mich regeneriert habe und mein physischer Zustand auf einem akzeptablen Level ist, kann ich diese Frage nur positiv beantworten‘, kam es auch prompt zurück.

‚Du bist sauer‘, stellte Schuldig fest.

‚Das ist irrelevant.‘

‚Ist es nicht. Ich hätte dich nicht allein lassen sollen. Warum hast du nicht gesagt, dass du den Weiß nicht begleiten kannst‘

‚Es ist irrelevant, ich wiederhole mich. Stör mich nicht weiter.‘
 

Schuldig zog sich zurück und seufzte. „Er ist sauer, na herrlich“, murmelte er und zuckte mit den Schultern. Sein Magen knurrte wieder.
 

„Das Raubtier hat Hunger...“, schmunzelte Aya, hatte er gerade doch genau gesehen, dass Schuldig gedanklich sehr abwesend war. „Vergiss den Kleinen, er bekommt sich schon wieder ein.“ Und schon machte sich ein wundervoll duftender Muffin auf seine Reise in deutsche Gefilde, um schließlich mit seiner schier überwältigenden Anwesenheit die Sinne des Telepathen zu vernebeln, als Aya ihn mit bedeutsamem Lächeln vor Schuldigs Nase auf und ab tanzen ließ.

„Damit du mir nicht vom Fleisch fällst“, grinste er unter den ungläubigen Blicken seines Teams, die sie beide gerade anstarrten, als wären sie einem Horrorfilm entsprungen.
 

„So ein Service...“, grummelte Omi missgestimmt. „Das ist Benachteiligung von Randgruppen...“
 

Schuldig grinste, griff nach Rans Handgelenk und führte den Muffin an seinen Mund. „Zeit für die Fütterung“, sagte er mit einer dunklen Note und biss hinein.
 

„Aber schön brav bleiben“, erwiderte Aya mit dem minimalsten Hauch eines Schnurrens in seiner Stimme, dabei lächelte er sanft.

Seine Augen glitten von Schuldig zu seinem Team, die erst ihn allesamt anstarrten, dann den Muffin, dann Schuldig. Aya zuckte schmunzelnd mit den Schultern.
 

Sie haben sich beide gezähmt, durchfuhr es Youji und er schüttelte ebenso vergnügt, wie es die zwei Männer vor ihm waren, den Kopf. Gegenseitig...auch wenn bei Schuldig die Verwandlung am Sichtbarsten ist. Kaum zu glauben nach dem, was passiert ist.

Er hütete sich davor, Ayas Verschleppung zu Schuldig als positiv zu bewerten, das würde er ganz sicher nicht tun, dennoch war er in gewisser Weise dankbar für den Umstand, dass die Beiden sich näher kennen gelernt hatten. Sehr dankbar, denn Schuldig tat Aya gut, das sah er. Und das...wünschte er sich auch für seinen Freund. Auch wenn er den seltenen Sex

sicherlich vermissen würde...irgendwie. Doch das war zu verschmerzen.
 

o~
 

Die Sporttasche wurde sorgfältig auf den Boden gestellt, ausgepackt und danach verräumt. Crawford wechselte seine Kleidung und begab sich in sein Büro, bearbeitete seine Korrespondenz.

Nach zwei Stunden sah er von seiner Arbeit auf und lehnte sich zurück. Er hatte heute einen freien Tag, keine Termine, keine außergewöhnlichen Vorkommnisse.

Er entschloss sich nach Farfarello zu sehen. Sich den verspannten Nacken reibend stand er auf und ging dann ins oberste Stockwerk. Vielleicht sollte er sich wieder etwas massieren lassen, trotz seines täglichen Schwimm- und Kampftrainings hatte er Kopfschmerzen und diese schob er auf eine muskuläre Verspannung im Nacken. Oder es lag einfach an Schuldig. Dessen Eskapaden immer der Grund für Kopfschmerzen waren.
 

Schritte hallten durch die Stille. Schritte, die auf der hölzernen Treppe knarrten. Schritte, die ihn loslösten von seiner Tätigkeit.

Farfarello lauschte, wandte seinen Kopf leicht zur Seite. Crawford. Nicht so leicht wie die des Jungen, nicht so lasziv wie die des Telepathen. Also Crawford, eine einfache Gleichung.

Farfarello ließ den dicken Pinsel sinken und sah zurück auf Farben. Auf das Gelb, das in trägen Tropfen vom Pinsel auf den Boden tropfte. Auf das Grün, mit dem er sich bekleckert hatte. Auf Rot, das vielleicht sein Gesicht zierte und Schwarz, das die Farben trennte in seiner nichtfarblichen Form.

Farfarello legte den Kopf schief. Farbfelder, schier ohne Anordnung und dennoch...? Formen? Figuren? Er vermochte es zu sagen, doch ein anderer Betrachter? Gleich...gleich.
 

Doch dieser Betrachter ließ sich dazu kaum aus. Crawford hielt einige Schritte hinter Jei an und betrachtete sich das Bild. Jei malte die Farben der Gefühle, die er als interessant betrachtete.

„Möchtest du dieses Bild als Abschluss deines Zyklus benennen? Die Farben ... gefallen mir nicht, fügen sich aber gut in die anderen ein“, sagte er ruhig. Er wusste, dass er mit Jei keine Spielchen spielen musste, dazu durchschaute der Ire ihn zu oft – allerdings oft nur dann, wenn Crawford es zuließ. Jei jedoch war schwer bis gar nicht zu durchschauen.
 

Der Blick des Iren wandte sich leicht nach oben, glitt über das Bild.

Sie...gefielen nicht? „Natürlich gefallen sie dir nicht“, erwiderte er nachdenklich, schwelgte in den Schwingungen und Strömen, die von diesem Wesen ausgingen.

„Narzissmus ist nicht deine Vorliebe.“

Er drehte sich langsam herum und fixierte den Amerikaner. Studierte ihn und seine Worte. „Das Bild ist nicht das Letzte. Aber du stellst es trotzdem aus.“ Eine Feststellung, keine Frage. Kein Befehl. Er hob den Pinsel, besah sich das leuchtende Gelb. Es passte. Harmonierte genau darauf.
 

„In der nächsten Ausstellung, nicht in dieser, Jei“, antwortete Crawford. Es störte ihn, dass Farfarello ihn als Ziel seines neuesten Bildes ausgewählt hatte. Aber er unterdrückte das Gefühl des Unmutes und verbarg es hinter einer kühlen Mauer, die selbst Jei nicht durchdringen konnte.

„Nagi wird morgen die Ausstellung besuchen.“

Mit diesen Worten verließ der Amerikaner den offenen und weiten Raum, der eher schlicht eingerichtet war.
 

o~
 

Omi stand zunächst einmal wie ein Fremder in dem offenen, weiten Raum. Wie Falschgeld, wie ihm Youji charmant gesagt hatte und dann in den Untiefen der alten Fabrikhalle im Hafen verschwunden war. Er müsse alleine hierdurch, hatte er zu dem Jüngeren gesagt und noch schnell einen Treffpunkt in drei Stunden ausgemacht.
 

Drei Stunden.
 

Wie in aller Welt sollte er drei Stunden einzig und alleine mit der Betrachtung von irgendwelchen Farbklecksen verbringen? Omi hatte keine Ahnung und noch weniger einen Plan. Er war noch nie privat in einer Aufstellung gewesen. Zu Aufträgen, ja. Doch nun sollte er anscheinend Rans Rolle übernehmen.
 

Er sah sich zweifelnd um und seufzte ergeben. Wenigstens konnte er so in aller Ruhe über ihr gemütliches ‚Kaffeetrinken‘ mit Schuldig nachdenken.

Drei Tage war es nun her, dass Aya mit dem Mann seines Vertrauens bei ihnen war. Dass sie das Kaffeetrinken aufgrund eines vielfachen Wunsches eines einzelnen Magens ausgeweitet hatten auf ein gemeinsames Kochen, an dem auch Ken teilgenommen hatte. Und selbst wenn Omi es nur ungern zugab, hatte er es genossen. Vor allem, Ran und Schuldig zu beobachten, wie sie miteinander umgingen und sich gut taten. Das vor allem.
 

Omi verschränkte kritisch die Arme und ließ sich auf eine der mitten im Raum stehenden Steinbänke nieder, die spartanisch als weiße Brocken aus dem Boden ragten. Wie auch alles weiß und Backstein war...Omi konnte das verstehen. So kamen wenigstens die Bilder zur Geltung. Die kräftigen, leuchtenden Farben.

Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass Youji ihn hierhin geschleppt hatte.
 


 

Der junge Mann streifte durch die Hallen auf seinem Weg um die Ausstellung zu verlassen. An einem der größeren Bilder blieb er für einen Moment stehen, lange genug um auf der gegenüberliegenden Seite der Halle einen blonden, hoch gewachsenen Mann zu identifizieren, der ihm besser als Balinese bekannt war.

Nagi war etwas verblüfft, wie er zugeben musste. Es reizte ihn, zu dem Weiß hin zu gehen und ihn anzusprechen. Aber er ließ es, zuckte innerlich mit den Schultern und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss.

Die Menschen um ihn herum nahmen kaum Notiz von ihm und das war ihm nur Recht. Selbst als er ungeschickter Weise angerempelt wurde, kam nur eine murmelnde Entschuldigung und Nagi ging unangenehm berührt weiter. Es waren mehr Menschen hier unten und er achtete darauf niemanden zu berühren.

Nach einigen Schritten blieb er stehen. Sein Blick auf den blonden, fedrig geschnittenen Haarschopf gerichtet. War das nicht...? Er ging näher an den Mann heran, der ihm den Rücken zugekehrt hatte und in die Betrachtung eines Bildes versunken war.

Nagi zögerte. Sollte er ihn ansprechen? Er fühlte sich im Augenblick unfähig ein einziges Wort herauszubringen, denn noch immer schwirrten in ihm die peinlichen Momente im Kopf herum, wie er sich hatte gehen lassen und den Weiß näher an sich heran gelassen hatte – durch seine eigene Unzulänglichkeit.
 

„Gefällt es dir?“ fragte er leise und doch kam er sich unbeholfen vor.

Kätzchentag I

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kätzchentag II

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kalte Wege

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Blind Date

~ Blind Date ~
 


 


 

Omi fuhr zusammen und erschreckte sich, als ihm so plötzlich die Sicht genommen wurde. Er war versucht, herumzufahren, sich von diesem Menschen zu lösen, zu wissen, wer es war, der ihn überrascht hatte. Doch seine Instinkte beruhigten sich, kurz nachdem sie aufgebrandet waren, sagten ihm, dass ihm keine Gefahr drohte und dass er auf das harmlose Spiel eingehen sollte.

Auch er lächelte, hob nun seinerseits seine Hände. Vermutlich einer seiner Studienkollegen.

Er legte seine eigenen Finger sacht auf die des Menschen hinter ihm und ertastete weiche Haut…kleine, schlanke Finger. Definitiv jemand aus seinem Studiengang.

„Du machst es mir nicht leicht“, lachte er.
 

Doch Nagi hörte die Worte nicht, spürte nur die Bewegungen der Wangenmuskeln unter seinen Händen und schloss darauf, dass Omi etwas sagte, sich aber nicht umwandte. Warum nicht?

Er stand wie versteinert da, als er die Wärme der Finger auf seinen kalten spürte. Geradezu heiß fühlten sie sich an. Seine Arme wurden plötzlich schwer, er konnte sie jedoch nicht lösen.

Noch immer hielt er die Augen hinter seinen Lidern in die schwarze Welt seiner Klänge getaucht und fühlte der Aufregung, dem Herzrasen nach, welches ihn befallen hatte, als die Finger ihn berührt hatten. Sein Gesicht war angestrengt, das Lächeln verschwunden, nunmehr ein Ausdruck der Konzentration auf ihm.
 

„Ach komm, das ist nicht fair, wenn du gar nichts sagst!“, beschwerte sich Omi murrend und ließ seine Finger nach oben streifen, zur Seite weg auf die Handgelenke und die Arme des Unbekannten. Er umfasste sie mit den eigenen Händen und stellte fest, dass sie schmächtig waren. Also eines der Mädchen? Musste wohl.

Er arbeitete sich langsam vor, bis hin zur Textur der Jacke.

„Einen kleinen Tipp nur, wie wär’s?“
 

Nagi riss die Augen auf und winzige Fältchen breiteten sich auf seiner Stirn aus als er die neugierigen Finger auf Wanderschaft gehen fühlte. "Nein", sagte er so leise, weil er sich selbst kaum hören konnte durch die nun treibende Musik, die seinen Herzschlag ohnehin hoch peitschte. Mit diesem fast gehauchten Nein wollte er die Hände aufhalten und starrte die linke Hand an. Er sah das Unglück auf sich zukommen und wie im Schock verharrte er lediglich anstatt zu handeln. Ein ungutes Gefühl keimte in ihm auf.

Würde dieses Gefühl zur Angst werden, stünde dem Einsatz seiner Telekinese ohne Barrierefunktion nichts im Wege. Noch wurde diese Emotion von dem sicheren Gefühl durch die Abschottung der Geräusche um sie herum zurückgehalten. Er befand sich in seiner eigenen Welt ohne diese Fähigkeiten. Hier brauchte er sie nicht. Nicht wahr?
 

„Wie nein?“, lachte Omi. Also gut…aus der Stimme konnte er nichts Eindeutiges heraushören, außer, dass sie ihm bekannt vorkam. Wunderbar. Und dass sie männlich war. Wer also…

Es gab so viele, die es sein konnten, und er wollte noch nicht raten, wollte noch nichts Falsches sagen.

Seine Finger streiften bis zu den Ellbogen, senkten sich dann plötzlich. Nur um einen Moment später verdreht nach dem Oberkörper des Unbekannten hinter sich zu greifen und ohne Vorwarnung zu grabschen. Er fühlte kalten, leicht kratzigen Filz, der doch gleichzeitig auch weich war, fühlte etwas Hängendes…einen Schal.
 

Stürmischer Wellengang peitschte seine Ohren, ließen die Beklemmung anwachsen, als die Finger nach hinten in seinen Mantel griffen. Er machte unwillkürlich einen halben Schritt zurück und seine Hände verloren ihren Platz auf den Augen, rutschten herab, streiften über die weichen Lippen. Hastig wollte er sie zurückziehen.
 

Doch Omi war schneller, hielt die frechen Hände mit den seinen fest. Geschickt schnappte er sich sie setzte sie erbarmungslos gefangen.

„Jetzt habe ich dich!“, triumphierte er lachend und drehte sich noch in der Beinaheumarmung um, die Hände des anderen neben sich auf Kopfhöhe. Braune Haare…blaugraue Augen…bekannte Züge. Seine Augen weiteten sich. Ungläubig. Überfahren.

„DU?!“
 

Für Augenblicke tobte der Sturm in seinen Ohren durch seine Sinne, durch seinen Körper und wurde in den Fenstern, die in ihn selbst sonst keine Einblicke gewährten, sichtbar. Meeresrauschen schloss sich dem Sturm an, Möwen kreischten über den Ozean hinweg, getragen von einer sanften Brise. Er konnte das Blau des Himmels in den Iriden sehen und fiel in sie hinein, legte den Kopf schief.
 

Omi hegte den dringenden Verdacht, dass der junge Schwarz irgendetwas genommen hatte, so wie er ihn anstarrte und anscheinend in seiner eigenen, entrückten Welt zu verweilen schien.

Langsam ließ er dessen Hände los und runzelte misstrauisch die Stirn. Es war also tatsächlich Nagi Naoe gewesen. Omi ließ seinen Blick über die bleichen Wangen, den dicken Schal und die graue Jacke gleiten, bevor er schließlich wieder zu den Augen des jungen Mannes zurückkehrte.

„Was sollte das?“
 

Nun kam er wohl doch nicht umhin und musste die Musik leiser drehen. Wahlweise nahm er die Ohrstöpsel aus seiner Muschel und tauchte in die Geräuschkulisse seiner Umgebung ein, barg sie in seiner Jackentasche. Blickte wieder auf, konfrontiert mit forschenden misstrauischen Augen. "Kommst du oft hierher?", fragte er, weil er nicht wusste, was er sagen sollte und er sein Gegenüber nicht bitten wollte, die Worte, die er nicht gehört hatte, zu wiederholen. Die Offenheit, die ihm die Musik beschert hatte, verschwand hinter einer Wand aus steter Gleichgültigkeit, als er wieder aufsah.
 

„Nein“, erwiderte Omi rein um sich aus einem völlig rationalen Impuls heraus zu schützen. Auch wenn es reichlich unsinnig war, das nun vorzutäuschen. Er zuckte mit den Schultern. „Ja, öfter. Und was sollte das jetzt?“, wiederholte er seine Worte, pochte auf eine Erklärung für dieses absonderliche Verhalten. Auch wenn er nicht wirklich misstrauisch war…höchstens diesem plötzlichen Spieltrieb des anderen gegenüber. Doch einer eventuellen Gefahr? Nein…noch nicht.
 

Und was sollte er jetzt sagen? "Eine dumme Laune. Ich gefährde die Neutralität zwischen uns?", fragte Nagi mit einem Hauch von schwarzem Humor, verzog jedoch keine Miene dabei, nur das Blaugrau seiner Iriden brach etwas auf.
 

Omi lachte. „Welche Neutralität?“, hielt er vergnügt dagegen und schnaubte. „Eine dumme Laune…machst du das öfter? Aus dummen Launen heraus?“ Er sah sich unauffällig um. Anscheinend war der Telekinet alleine gekommen; wie beruhigend zu wissen. Nicht, dass er plötzlich halb Schwarz am Hals hatte, nur weil es Nagi gerade so passte…

„Was machst du überhaupt hier?“ War ihm doch nicht entgangen, dass der Andere ganz und gar nicht danach gekleidet war, aufs Eis zu gehen.
 

"Ich?", fragte Nagi um Zeit zu schinden, drehte sich aber halb um. Farfarello war weg. "Ich ... habe jemanden begleitet, der mir scheinbar nun abhanden gekommen ist", meinte er düster und blickte auf die leere Bank.

"Wieso immer ich…"

Sein Schal fing das leise Murren auf und barg es in sich als er sich wieder umwandte.

"Nein ich mache das ... eigentlich nie", entsann er sich auf die Frage des Weiß. "Die Neutralität, die scheinbar zwischen uns - Weiß und Schwarz - außerhalb des Jobs zu herrschen scheint. Oder wie erklärst du dir diese neue Entwicklung?" Er zuckte mit den Schultern.
 

„Na anscheinend hat diese Affäre zwischen Aya und Schuldig etwas Gutes…“, erwiderte Omi schulterzuckend und lächelte wieder. „Jemanden begleitet also? Deine Freundin? Dann solltest du sie schleunigst wieder einholen, nicht, dass sie dir verloren geht. Frauen können da sehr nachtragend sein.“ Auch wenn er sich das Mädchen an Naoes Seite nicht vorstellen konnte…nicht, wenn es um ein normales, weibliches Wesen ging. Diese Tot konnte man schließlich nicht dazu zählen. Schreckliches Wesen.

„Also wollte sie Eis laufen?“
 

"Sie?"

Entgegen dem Drang sich zu beherrschen musste Nagi lachen. "Ich habe einen Arbeitskollegen begleitet und wie du weißt, sind wir ein elitärer Club, in dem keine Frauen erwünscht sind." Netter Versuch, resümierte Nagi ... scheinbar wollte der andere herausfinden, ob er eine Freundin hatte. Er erinnerte sich an ihre Begegnung in der Galerie und seine Gefühle danach. Und nun tat der Weiß es wieder! Ihn in die Enge treiben. Nur momentan fühlte er sich nicht unwohl dabei.
 

„Soso…ein Mann also“, grinste Omi. „Wer von eurem ELITÄREN Club war es denn? Crawford? Farfarello?“ Er lachte vergnügt. Und ob er den Telekineten durchschaut hatte! Das konnte doch nur Schwarz sein, so abgehoben es klang, so distanziert.
 

Nagi ging nicht auf das Grinsen ein, sah sich unauffällig um, blickte an Omi vorbei.

"Farfarello."

Doch dieser war nirgends zu sehen. Ein schlechtes Zeichen. "Bist du denn alleine?", fragte er wie beiläufig, dem anderen sein Profil zeigend.

"Oder wartest du auf deine Freundin?", verzog er den Mund leicht zu einem spöttischen Lächeln, korrigierte jedoch diese Anwandlung sogleich. Spott empfand er als Schwäche, der er sich ganz bestimmt nicht hingeben würde, auch wenn es ab und an gut tat.
 

„Was will Farfarello hier?“, fragte Omi ungläubig, drängte sich ihm im Verborgenen jedoch schon ein gewisser, bekannt brutaler Verdacht auf, der in der Vorstellung mündete, dass der Ire sich ein Opfer suchte und es abstach. Das wäre der oberflächliche Verdacht gewesen. Doch irgendwie konnte sich Omi für diesen Gedanken nicht richtig erwärmen.

Er schnaubte schließlich. „Welche von den hunderten?“
 

"Hättest du gerne, nicht?", lächelte Nagi schmal und wandte sich wieder dem jungen Takatori zu. Er hörte eine gewisse frustrierte Nuance aus der Frage heraus. "Es hört sich an, als wärest du geneigt, dir eine Freundin zu suchen. Ein bisschen schwierig mit deinem Nebenjob", stellte Nagi für sich selbst fest, als wäre er gerade eben erst auf diese Idee gekommen.
 

„Falsch gehört. Ich bin absolut nicht geneigt“, berichtigte Omi die Vermutung des Schwarz glatt und zuckte mit den Schultern. Nein, er war nicht darauf aus, sich ein Mädchen zu suchen. Nicht davon ausgehend, dass es Veranlagung war, hatte er seit längerem für sich beschlossen, dass es sein immerwährender Kontakt zu Kritikeragentinnen und schließlich zu den Kundinnen im Laden – die um ein Vielfaches schlimmer waren – war, der ihn sich hatte der Männerwelt zuwenden lassen. Männer, die so herrlich unkompliziert schienen.

Viele. Manche hingegen auch nicht. Er kannte da ein paar.
 

Nagi beschloss nicht weiter zu fragen. Er mochte den Verlauf ihres Gespräches nicht. Sein Blick glitt von dem Tiefblau der Augen zu den Lippen und wieder zurück.

"Wie hat dir die Ausstellung noch gefallen?", wechselte er das Thema in Bereiche, die ihm mehr behagten.
 

Omi musste für einen Moment überlegen, bevor er sich bewusst wurde, welche Ausstellung Nagi überhaupt meinte.

„Sehr eindrucksvoll. Farben als Situationsersatz…nicht schlecht. Nur nicht mein Interessensgebiet, auch wenn ich mal gerne den Künstler gesehen hätte. Oder hast du dich nie gefragt, wie jemand aussieht, der so etwas malt?“
 

"Nein, das habe ich tatsächlich noch nicht bei diesem Künstler", sagte Nagi ernst, dachte dabei an Farfarello.

"Sicher möchte er nicht erkannt werden. Wer weiß das schon. Künstler sind doch oft sehr exzentrisch."

Sie hatten immer noch die Bande des Eisplatzes zwischen sich, wie Nagi bemerkte und er ließ seinen Blick über den Teil der Kleidung gleiten, den er sehen konnte. Schreiendbunte Zusammenstellung. "Und was sind deine Interessen?"
 

„Mich so anzuziehen, dass andere blöde Kommentare drüber reißen?“, hielt Omi dagegen und stemmte eine Hand in die Hüfte. Schließlich wurde er jedoch ernst. „Was soll die Frage? Das interessiert dich doch nicht wirklich, oder?“, hakte er mit einer misstrauischen Falte auf seiner Stirn nach. Er traute diesem angeblichen Frieden nicht…auch wenn ihm das Verhalten des Telekineten im Nachhinein sehr seltsam vorkam. Wirklich sehr seltsam.
 

Der Vorhang fiel und Nagis Blick wurde wieder ausdruckslos. "Natürlich interessiert es mich nicht, ganz richtig. Deine Annahme es wäre eine Frage der Belanglosigkeit trifft zu", sagte er monoton, die Wut, die in ihm unverständlicher Weise erneut die Oberhand gewinnen wollte, in sich verbergend.

Er drehte sich weg um den Ort zu verlassen. Sollte Jei selbst zurechtkommen. Er wollte weg von dieser anstrengenden Person.

Seine Hände schlossen sich um die Kopfhörer in seinen Taschen.

„Pffft“, schnaubte es hinter Nagis Rücken und Omi stieß sich von der Bande ab, glitt rückwärts und prallte im nächsten Moment auch schon mit jemandem zusammen, der weitaus größer und schwerer war als er selbst. Er hatte den Mann nicht kommen sehen, konnte sich dessen Gestalt nun von der eisigen Eisfläche aus ansehen. Er hatte sich den Rücken geprellt und es schmerzte höllisch, ebenso wie er das Gefühl hatte, dass sein Knöchel in Flammen stand. Verdammt!
 

„Kannst du nicht aufpassen, du Rotzlöffel?“, dröhnte von eben diesem Mann eine unfreundliche, metallene Stimme an Omis Ohren, ließ ihn ungläubig hochsehen.
 

Seine Hände waren schon wieder halb durchgefroren wie Nagi bemerkte, als er einige Meter gelaufen war und sich die Ohrstöpsel versuchte wieder anzubringen, seine tauben Finger dies nicht einmal mit mehrmaligem Korrigieren bewerkstelligen konnten. Sie fielen ihm aus den Händen und er musste sie wieder aufheben, dabei wagte er einen Blick zurück auf die Eisfläche und sah den Weiß auf der Fläche liegen.
 

„Was soll das denn? Können SIE nicht aufpassen?“, ätzte Omi zurück und versuchte sich wütend aufzurappeln, scheiterte jedoch an seinem wirklich schmerzenden Knöchel. Verdammte Scheiße…auch das noch.

„Hast du mir was zu sagen, Kleiner?“, zickte der fremde Mann von oben herab und übertrumpfte ihn bedrohlich. Omi spannte sich an. Was sollte das? Was war das für ein Typ?
 

Nagi erhob sich, den Mann beobachtend, wie er Omi aufhelfen ... nein er wollte ihm nicht aufhelfen.

Stehen bleibend und mit kühlem Interesse musterte er die beiden, die Irritation war auch hier, zehn Schritt von Omi entfernt, in dessen Gesicht abzulesen.

Probehalber winkelte er seinen Arm an, als würde er ihn in einer Schlinge an den Brustkorb fixiert tragen. Er schloss für Momente die Augen, als er seine Hand mit der Handfläche nach oben an seine Jacke hielt, als würde er Wasser darin befördern...zu einer kleinen Kuhle geformt.

Nur um dann die Augen wieder zu öffnen und die Hand wie zu einer einladenden Geste in Richtung des Mannes zu führen. Wärme strömte ausgehend von seiner Hand in seinen Körper und ein kleines Lächeln zierte die Mundwinkel. Was für eine Wohltat.

Er fühlte den energetischen Kreis des Mannes, griff in ihn hinein...
 

Blaue, wütende Augen richteten sich von eben diesem Mann auf Nagi und sahen die Handstellung des jungen Telekineten. Ihm schien, als ob er diese Geste kannte. Nein, natürlich kannte er sie, natürlich war ihm bewusst, was der Andere zu tun beabsichtigte.

„Nein!“, sagte Omi eindringlich, dachte er doch, dass Nagi den Mann, aus welchem Grund auch immer, angreifen wollte. Oder ihn, je nachdem, auch wenn er sich das momentan nicht wirklich vorstellen konnte.

Er rappelte sich langsam auf und zischte, als er halb zurücksackte. Sein verdammter Knöchel…er konnte nicht auftreten.

„Geschieht dir Recht, Rotzlöffel“, lachte der Mann höhnisch und ließ seinen Blick zu Nagi streifen. Omi zischte wenig erfreut.

„Ist das dein Freund?“, nickte der Ältere zu Nagi und deutete mit dem Kopf auf Omi.
 

Eine merkwürdige Frage für einen Fremden, befand der Telekinet und stellte sich taub, sein Blick unergründlich und sein Gesichtsausdruck bar jeder Information, die der Fremde ihm hätte entlocken können. Unbeteiligt blieb er stehen, den kurzen Schmerz in dem Gesicht des jungen Takatoris bemerkend, legte er den Kopf schief. Wie es den Anschein für ihn hatte, konnte Omi nicht aufstehen. "Er ist verletzt, möchten Sie ihm nicht aufhelfen?", fragte Nagi stattdessen höflich und reserviert. Der Mann gefiel ihm nicht, weckte sein Misstrauen.
 

„Warum sollte ich?“, grinste der Mann hämisch. „Hätte er die Augen aufgemacht, wäre das nicht passiert. Merkt er sich eben fürs nächste Mal.“ Sein Blick glitt ab von Omi zurück auf den jungen Telekineten, maß diesem mit durch und durch taxierenden Blick.

So als würde er ihn ausziehen, schoss es Omi durch den Kopf und er runzelte ebenso misstrauisch wie Nagi auch die Stirn. Und tatsächlich. Dieser Blick hatte etwas unverhohlen Gieriges an sich, etwas Gefährliches. Etwas, das hier nicht hin passte, absolut nicht zu einem Mann passte, der simpel Eis lief.
 

Nagi fühlte sich selbst bei diesem Blick an jemandem erinnert, der feurig flammendes Haar trug. "Dann macht es Ihnen nichts aus, sich von ihm zu entfernen", stellte er ruhig klar und trat einen Schritt näher. Auf seinen Lippen zeigte sich ein kleines, boshaftes Lächeln, das dem des Mannes nur in seiner Gier nachstand.

Er würde ihm seine Knochen zerschmettern, innerlich, wenn er nicht bald ging. Nagi wurde ungeduldig.

Um sie herum ließen sich die Leute kaum in ihren Aktivitäten stören, was diese merkwürdige Unterhaltung einfacher machte. Nagi hasste Aufmerksamkeit.
 

Der Mann maß Nagi für ein paar stumme Augenblicke mit verschlagenem Blick, bevor er schnaubte. „Einfältiges Gör“, lachte er schließlich und drehte sich um, lief ohne einen weiteren Kommentar in Richtung Omi weiter um bald darauf hinter der Bande aus ihrem Sichtfeld zu verschwinden.

Der junge Weiß starrte ihm hinterher. Durch und durch unsympathisch. Schrecklich.

Was seinen Knöchel allerdings nicht besser werden ließ, denn das war das nächste, ernste Problem, mit dem er zu kämpfen hatte. Wie kam er vom Eis?
 

Dieselbe Frage stellte sich der Telekinet, als er seine Handhaltung aufgab und er sein Augenmerk auf Omi richtete. Erneut sah er sich nach Farfarello um, als würde das, was er vorhatte, etwas gegen ihre Maxime darstellen, denn er näherte sich Omi bis an die Bande, trat dann durch den Durchgang und überquerte mit wenigen Schritten das Eis. Farfarello war nicht zu sehen und selbst wenn...

Nagi stand unschlüssig da und blickte mit gefurchter Stirn zu Omi hinunter; dessen Augen meidend war sein Interesse auf den scheinbar lädierten Knöchel gerichtet.
 

Omi kam sich wie ein Tier im Zoo vor. Nein. Sein Knöchel war das Tier im Zoo, er wurde ja keines Blickes gewürdigt. Er verzog die Lippen zu einem kritischen Kräuseln und maß den Telekineten. Und da lästerte jemand über seine Kleidungszusammenstellung? Wenigstens ging ER nicht grau in grau und blau. Nein, das gehörte sich für den Winter nicht.

„Du könntest dich nützlich machen und mir aufhelfen“, merkte er an, starrte Nagi trotzig ins Gesicht.
 

Nagi fuhr aus seinen Gedanken geschreckt hoch und wurde mit Omis Augen konfrontiert, den leicht vorgeschobenem Mund, der Trotz signalisierte. Es sah ... niedlich aus.

Wärme kroch ihm in die Wangen und er konnte seine Augen nicht von diesen ... schmollte Omi? Er trat an dessen Seite und zog seine Hand aus der Tasche, fasste ihn unterm Arm um ihn zu stützen. Die Hitze in seinen Wangen brannte unangenehm und nicht nur dort. Ihm war plötzlich sehr warm. Zu warm.
 

Es war ein komisches Gefühl, wirklich seltsam, dass ausgerechnet Prodigy ihm half. Auch wenn Omi die Namensgebung des Anderen momentan wenig passend fand. Sie waren auf keiner Mission, warum also nicht bei den richtigen Namen bleiben? Insofern es denn der Richtige war. In Gedanken auf Nagi Naoe umschulend, ließ sich Omi von ihm in die Höhe ziehen und kam schließlich wackelig auf einem Bein zum Stehen. Gut. Und nun?
 

Eine wenige stabile Angelegenheit wie Nagi schnell bemerkte, da der Weiß sich nur auf eine Kufe stützen konnte und er wohl Schmerzen im anderen Knöchel hatte. Das konnte nicht gut gehen.

"Halt dich an mir fest", sagte er leise und setzte seine Fähigkeiten ein um den Körper des wenig Kleineren in Bewegung zu setzen, er war nur zwei Schritt von der Bande entfernt und er hatte diese Art der Kraftwirkung schon oft ausprobiert jedoch nicht an Menschen und bestimmt nicht in einem Auftrag.

An der Absperrung angekommen, ging er etwas in die Hocke, fuhr mit seiner Hand den Oberschenkel des anderen nach, ganz auf das konzentriert, was er bezweckte. Für einen Außenstehenden musste es aussehen, als würde er das Bein abtasten, ob es unversehrt ist, aber er wirkte seine Kräfte auf die Bewegungsenergie des anderen. Er spürte wie Omis Beine den Boden verloren und sie sich nach vorne verlagerten sodass der Weiß in seine Arme fiel. Seine Hände trugen ihn aber nicht durch körperliche Kraft, sondern durch geistige brachte er ihn zu einer freien Bank und setzte ihn darauf ab, damit er die Beine hochlegen konnte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er den jungen Mann angefasst hatte und schnell, als hätte er sich verbrannt, zog er seine Hände wieder zurück, verschanzte sie in seinen Taschen. Die Augen schimmerten matt Blauviolett, wobei das Blau überwog.
 

Omi schauderte, wohl eine Nachwirkung dieser seltsamen Kräfte, die er doch bisher nur wild und ungezügelt erlebt hatte. Dass sie auch so sanft und so vorsichtig sein konnten, zeigte ihm auf paradoxe Art und Weise, wie mächtig der Telekinet war. Er konnte Menschen zerquetschen wie Ameisen, als wären sie nichts. So jung und so mächtig…so tödlich.

Omi sah auf, verhakte seinen Blick mit dem des Schwarz vor ihm.

„Danke“, erwiderte er schließlich nachdenklich und machte sich daran, die Schuhe auszuziehen, den Knöchel zu befreien, der, wie er nun feststellte, verdammt dick war. Zu dick. Er fluchte leise. Und wie sollte er das jetzt Kritiker erklären? Was, wenn ein Band angerissen oder gerissen war und er für die nächsten drei Wochen ausfiel?
 

Wieder wich Nagi dem Blick aus und er besah sich den Knöchel. "Fällst du länger aus ... haben wir Ruhe vor euch", resümierte er ruhig. "Allerdings ... ist es ... auch sehr wahrscheinlich ... dass Kritiker nicht glücklich über diesen Ausfall sein werden."

Etwas Genugtuung sollte sich schon einstellen bei diesen Worten - tat sie aber nicht. Er stellte ruhig einige Dinge fest und genau so fühlte er sich in der Gegenwart des verhinderten jungen Mannes. Ruhig, bis auf eine unbestimmte, schwer zu definierende Unsicherheit und ein seltsames Gefühl im Bauch, welches nicht da sein sollte.
 

Wäre nicht die Ruhe im Blick des Anderen gewesen, hätte Omi zugesehen, schleunigst Hilfe zu bekommen und von dem Schwarz wegzukommen. Ein Teil von ihm kam für einen Moment auf die wahnwitzige Idee, dass Nagi seinem angestauchten Knöchel noch weiterhelfen würde.

Doch das war Irrsinn…wäre vielleicht vorher denkbar gewesen, als Ran und Schuldig noch nicht diese…skurrile Verbindung zueinander hatten. Und nun? Was würde passieren, wenn sie sich gegenseitig abmetzelten? Eben. Genau deswegen taten sie es nicht, weil jedes Team für sich das Glück des nicht mehr zu gebrauchenden Teammitgliedes nicht zerstören wollte.

So empfand es zumindest Omi. Er würde niemanden von Schwarz angreifen, wenn es nicht erforderlich war. Nicht mehr, eben weil er trotz allem nicht wollte, dass Ran unglücklich würde.

„Und was soll mir das jetzt sagen?“, fragte er ruhig.
 

"Es war lediglich eine Zusammenfassung der gegenwärtigen Lage."

Nagi legte, wie es oft eine Unart von ihm war, den Kopf leicht zur Seite, als würde er eine Frage stellen. "Kann dich jemand deines Teams oder ... ", er dachte kurz darüber nach "... oder deine Freunde dich abholen? Der Knöchel sieht nicht danach aus, als könntest du ihn belasten."

Sicher hatte der junge Takatori Freunde, die ihn gern abholen würden, keimte ein kleiner Anflug von Neid in Nagi auf. Und ausgerechnet jetzt wollte er den jungen Mann ins Gesicht sehen. Glaubst du allen Ernstes, er führt ein schönes, freundliches, sonniges Leben, wenn er hier alleine Eis läuft, fragte er sich selbst spöttisch.
 

Omi grübelte nun seinerseits. Hatte er jemanden, der ihn abholen konnte? In Anbetracht der Tatsache, dass er die Nachmittagskurse schwänzte, konnten seine Kommilitonen wohl kaum kommen und ihn ins Koneko verfrachten. Und Youji? Der war mit Ken vollauf damit beschäftigt, Kundinnen zu versorgen. Der Einzige, der wohl bleiben würde, wäre… „Ran. Alle anderen haben keine Zeit oder sind arbeiten. Das war es dann auch schon mit den Freunden oder meinem Team.“ Ein leicht verzweifeltes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Leicht viel verzweifelt. Himmel.
 

Er selbst hatte keine Freunde. Also war es gar nicht so unrealistisch gewesen. Der Weiß besaß so etwas wie einen Freundeskreis. War das nicht töricht? Gefährlich?

"Dann solltest du ihn anrufen", sagte er schlicht. "Hast du dein Handy dabei?"
 

Omi nickte, holte ein Handy aus der Jackentasche. Er zog das gesunde Bein unter sich und stützte den schmerzenden Knöchel vorsichtig, stockte dann jedoch und überlegte. Eigentlich wollte er Ran nicht anrufen, eben weil der rothaarige Mann immer noch Gefahr lief, von Kritiker entdeckt zu werden. Das war nicht gut…und er wollte nicht derjenige sein, der seinen Freund wenn auch unbewusst verraten hatte.

„Es ist mir zu unsicher“, sagte er und sah hoch. „Wenn er mich zum Koneko fährt, können sie ihn aufgreifen.“
 

"Diese Überlegung ist wohl richtig."

Nagi sah das Unausweichliche bereits auf sich zurasen. Entweder, er entzog sich dieser müßigen und lästigen Situation und machte seinem Namen als Schwarz alle Ehre - das hieß er überließ den Weiß seinem Schicksal - oder er ... begab sich selbst in Gefahr und brachte den Weiß nach Hause.

Eine Augenbraue hoch ziehend wog er die Möglichkeiten ab. Er konnte ihn nicht...
 

„Du willst wohl gefragt werden, ob du mich nach Hause bringst, oder?“, fragte Omi mit gerunzelter Stirn nach, nickte dann. Na was hatte er denn auch schon für eine andere Wahl? Sollte er hier sitzen bleiben, bis das Koneko Feierabend hatte?

„Dann fühle dich jetzt offiziell gefragt: Würdest du mich nach Hause bringen?“
 

Ertappt weiteten sich Nagis Augen dezent und er biss sich unmerklich auf die Innenlippe. War es tatsächlich so, dass er gefragt werden wollte? Er wischte die Antwort beiseite.

"Es ist nicht wesentlich weniger gefährlich für Ran als für mich, wenn ich dich nach Hause bringe. Der einzige Unterschied besteht wohl darin, dass ich dir weniger am Herzen liege als dein Freund", sagte er nüchtern und sachlich. "Ich kann dich aber zu einem Arzt bringen und danach in die Nähe von Ran, vielleicht in ein unscheinbares Hotel, von dort könnte dich einer deiner Teamkollegen abholen", schlug er einen Kompromiss vor.
 

„Nicht in die Nähe von ihm. Wenn Kritiker uns folgen, können sie vielleicht auf seinen Aufenthaltsort stoßen“, lehnte Omi den letzten Teil des Vorschlags ab. „Aber sonst klingt es gut“, ging er nur teilweise darauf ein, was Nagi gesagt hatte. „Wie wäre es, wenn du mich zu einem Arzt bringst? Dann besteht weder für dich noch für Ran Gefahr?“ Omi schauderte, rieb sich die Oberarme. Es war kalt. Sehr kalt, wenn man sich nicht bewegte.
 

Nagi nickte. "Rufst du einen Wagen? Den Rest des Weges kann ich dich erneut tragen, wenn du möchtest, oder du humpelst und es dauert länger"

Er fragte sich kurz, wo Jei abgeblieben war, und wunderte sich darüber, wie er in so kurzer Zeit diese Tatsache in Anwesenheit des Weiß vergessen hatte. Er bedachte ihn mit forschendem Blick.

Die Wangen und die Nase waren gerötet vor Kälte.
 

Omi tat genau das. Ein Taxi rufen, das sie beide hier abholen würde. Vielmehr am Ausgang. Die Frage jedoch war, wie sie dorthin kamen, ob der Andere ihn wieder tragen würde, so wie er es angeboten hatte. Omi grübelte.

„Ich brauche noch meine Schuhe“, erwiderte er schließlich stirnrunzelnd und deutete auf das andere Ende der Fläche.
 

Nagi fand es schade, dass derart viele Menschen um sie herum waren und er Omis Schuhe somit nicht mit seinen Kräften zu ihnen befördern konnte. In diesen Dingen ... hätte man ihn ruhig faul nennen dürfen. Er seufzte verhalten. "Wo sind sie?", wollte er wissen, vermutlich wo viele der anderen Schuhe ebenfalls herum lagen. "Wie sehen sie aus?"
 

„Schwarze Lederboots mit Innenfell. Sie stehen hinten an der Bande auf der Tribüne“, erwiderte Omi insgeheim dankbar für den Bringdienst. Er seufzte unmerklich und lehnte sich zurück. Er konnte sich schon den Spott seines Teams vorstellen, konnte sich vorstellen, was sie dazu sagten, dass er noch Hause gebracht werden musste.
 

Schon sah sich der Telekinet um und strebte das benannte Areal an. Anhand der Beschreibung fand er auch das einsam stehende Paar und nahm sie an sich. Irgendwie kam er sich wie ein Botenjunge vor. Noch auf der Tribüne stehend, blickte er hinunter zu dem Wartenden. Dessen blonder Haarschopf tief in die Jacke gezogen war, da der schneidige Wind, der heute durch die Straßen fuhr, ihm zusetzte. Trotzdem schien die Sonne, sie hatte zwar noch keine Kraft, aber immerhin legte sie einen Goldschimmer auf das Haar des Weiß. Seine eigenen Haare würden nie so leuchten.

Wieder fielen ihm sehr viele Unterschiede zu diesem Sonnenkind und sich selbst auf. Als er vor ihm stand, stellte er die Stiefel auf der Bank ab und betrachtete sich das hübsche Gesicht. Allerdings konnte er wieder nur die Unterschiede zu sich selbst erkennen. Sein Gesicht war grau und kränklich, seine Augen nicht von dieser strahlenden Intensität. "Wollen wir?"
 

Omi nickte, während er sich angestrengt den Schuh über den verletzten Knöchel streifte. Er schnürte ihn sorgfältig zu, bevor er sich wieder an den jungen Schwarz wandte, der tatsächlich bereit war ihm zu helfen. Er streckte die Hände aus, damit Nagi ihm hochhelfen konnte, zumindest den Anschein erwecken konnte, dass er ihn mit normaler Körperkraft hochzog.
 

Nagi fühlte sich in die Last hinein, die er tragen sollte, musste vorsichtig sein und konzentrierte sich auf diese, für ihn schwierige Aufgabe. Er war sonst eher der Mann fürs Grobe. Darüber musste er sogar selbst lachen, als er diese Gedanken durch sich hindurch wehen ließ. Mühelos hob er Omi hoch und trug ihn ohne auch nur das geringste Anzeichen von einer Last auf seinen Armen zu verspüren in Richtung der Straße damit sie das Taxi abholen konnte. Vermutlich sah es merkwürdig aus, dass ein Hänfling wie er Omi trug, wobei dieser auch keine übermäßig kräftige Person war.
 

Nein, das war er in der Tat nicht. Die Absurdität dessen wurde Omi nun auch bewusst und er lächelte. Auch wenn er insgeheim das Gefühl dieser sonderbaren Kraft genoss. Wie von Luft getragen, von Abermillionen Luftmolekülen, die sich um ihn herum verdichteten und ihm eine sanfte Stütze boten.

Es war so anders als die Gewalt, die sonst von Naoe ausging.
 

"Ich setze dich hier ab", sagte Nagi als sie an die Straße kamen, das Taxi jedoch noch nicht zu sehen war. Langsam ließ er Omi auf sein gesundes Bein hinunter und gab ihm jedoch weiterhin eine Stütze auf der Seite. Die Gedanken an Jei waren weg. Gänzlich aus seinem Kopf hinfort geweht. Seine Hände waren durch den Einsatz der Telekinese warm geworden.

Zum Teil, wie er vor einiger Zeit bemerkt hatte, waren seine Fähigkeiten gewachsen und genau genommen gehörte diese Art der Bewegung mittels Gedankenkraft in den Levitationsbereich.
 

Omi wartete schweigend, sich der Bedeutung dieser Handlung gänzlich unbewusst. Er hielt Ausschau nach dem Taxi, das sie schließlich nach zehn Minuten erreichte. Auf Nagi gestützt humpelte er auf den Wagen zu und ließ sich schließlich auf die Rückbank gleiten, gab dem Fahrer die Adresse eines Sportarztes, den er durch Zufall in der Stadt entdeckt hatte. Genau das würde ihm jetzt noch fehlen, mit dem Schwarz zu einem der Kritikerärzte zu gehen. Genau.

Es dauerte eine gute halbe Stunde und ebenso die Hälfte seines Portemonnaies, bis er im Aufzug des Hochhauses stand und sich von dem Telekineten in die siebzehnte Etage bringen ließ.
 

Nagi schalt sich selbst, dass er mitgekommen war, aber wie wenn er eine innere Triebfeder hätte und diese ihn ständig in die Nähe des Weiß dirigierte, folgte er diesem und half ihm auch noch. Er würde sich von Crawford eine gehörige Tracht Prügel zuziehen, wenn dieser davon erfuhr. Zwangsläufig durch ein verfrühtes Auftauchen von Jei oder durch ein Ausfragen von Seiten Crawfords. Nagi konnte seinen Boss nicht anlügen, das war ein Ding der Unmöglichkeit. Und das nicht nur wegen dessen Fähigkeiten der Hellseherei. Sondern eher einem Verhalten geschuldet, welches man einem Mentor gegenüber hat.

Schweigend saßen sie im Wartezimmer, bis Omi den verordneten Verband angelegt bekam und er seinen ‚Freund’, wie er betitelt wurde, wieder abholen konnte. Er betrat das Verbandszimmer und fand den jungen Takatori auf der Liege vor, wie er sich gerade aufsetzte.
 

Besagter Weiß betrachtete sich sein gut bandagiertes Fußgelenk und bewegte das verletzte Bein vorsichtig. Er sah auf, als jemand hineinkam.

„Alles wieder in Ordnung. Ich falle wohl doch nicht so lange aus, wie du für deine Leute gehofft hast“, sagte er nonchalant, gab nach außen hin keine Anzeichen darauf, wer oder was gemeint sein könnte. Die Öffentlichkeit musste schließlich keinen Verdacht schöpfen.
 

"Ich ‚hoffe' nicht", betonte Nagi das Wort sorgfältig und neigte den Kopf etwas, blickte sich im schmalen Behandlungszimmer um. Bis auf eine Liege, dem Patienten, der auf selbiger saß, und einem Arbeitsbereich, samt Waschbecken und Hängeschränken war das Zimmer eher eines von der kargen Sorte.

"Du hast einen Stützverband bekommen. Möchtest du, dass ich dich in ein Hotel bringe, oder an einen anderen Ort, wo du von einem deiner Freunde zu gegebener Zeit abgeholt werden kannst wenn du es für richtig hältst?"
 

„Wenn du weniger gehoben sprechen würdest, würdest du bei weitem nicht so auffallen“, merkte Omi an und ließ sich langsam zum Stehen kommen, belastete vorsichtig beide Knöchel. Er trug schon wieder beide Schuhe, den einen jedoch geweitet und offen.

„Aber es wäre sehr nett, wenn du mich in dem kleinen Café auf der anderen Straßenseite absetzen würdest…“
 

"Dann würde ich sagen, dass ich nicht auffalle!", lächelte Nagi kalt und reichte Omi gleichzeitig die Hand um ihm aufzuhelfen. Eine sehr gegensätzliche Geste in Anbetracht des Lächelns. Er sprach kaum in der Öffentlichkeit mit anderen Menschen. Vermied es und die paar Floskeln, die nötig waren, fielen wohl kaum auf. Außerdem war seine Ausdrucksweise nicht gehoben!

"Komm lass uns gehen, damit ich dich von meiner Gegenwart erlöse", konnte er ein kleines ehrlich gemeintes Lächeln nicht unterdrücken, das sich aber nur in einem winzigen Heben der Mundwinkel zeigte.
 

Omi nahm die Hand an und zog sich daran noch einen Schritt nach vorne. „Ich kann es kaum erwarten“, lächelte er ebenso ehrlich wie auch freundlich, aber nicht bösartig gemeint. Eher ein Spaß, den sie bei Weiß oft untereinander trieben. Liebevolles Foppen, nannte sich das, auch wenn Omi im nächsten Moment nicht wirklich klar war, ob Nagi dieses Konzept vertraut war. Er zischte leise. Sein Fuß tat immer noch höllisch weh.
 

"Und du bist dir sicher, dass du laufen kannst?", fragte Nagi mit dem Hauch von Arroganz, die ihm gelegentlich anhaftete ... und öffnete die Tür für sie beide. "Allerdings scheinen sich die Damen hier bereits über meine Tragetechnik zu amüsieren...", murmelte er und erinnerte sich an das Kichern, als er mit Omi in die Praxis gekommen war.
 

„Ganz sicher“, zischte Omi dem anderen zu. „Zumindest bis wir aus der Praxis rausgekommen sind!“ Würdevoll und mit zusammengebissenen Zähnen wankte er zum Empfang und nahm dort die Salbe entgegen, schleppte sich dann zu Nagi zurück und aus der Praxis heraus. Nur um im Flur erst einmal leise keuchend einzuhalten und sich an die Wand zu lehnen. Verdammt, das tat weh! Aber sowas von!
 

Kleine Schweißperlen standen dem jungen Blonden auf der Stirn und er sah blass aus, als Nagi vor ihn trat, einem Patienten der die Treppe heraufkam den Weg freimachte.

Die Augen waren vor Schmerz zusammengekniffen und der Atem ging schnell und tief. Es dauerte einige Minuten, bis sich dies normalisierte. Bemerkenswert, wie diese Augen leuchteten ... noch immer ... oder gerade weil sie in wässrigem Glanz gebadet waren. Scheinbar musste es einen schmerzhaften Stich gegeben haben.

"Hat er dir ein Schmerzmittel gegeben?"
 

„Natürlich nicht! Gegen so etwas nehme ich keine Schmerzmittel!“, empörte sich Omi und starrte Nagi entrüstet an. Er blinzelte und straffte sich schließlich. Wieso hatte er immer nur das Gefühl, dass dieser Blick ihn samt und sonders zu durchleuchten schien?

„Es geht schon, ich bin schließlich keine Memme!“, murrte er und ging in Richtung Aufzug.
 

"Bist du nicht?", fragte Nagi scheinbar sichtlich erstaunt, konnte aber durch die hochgezogenen Schultern, die verkrampfte, da betont normale Gehweise vortäuschen wollend, erkennen, dass er Schmerzen hatte. "Morgen bist du verspannt weil du derart verkrampft keine Memme bist!", schmunzelte Nagi nun tatsächlich, denn es amüsierte ihn, wie vehement der andere sich vor ihm tapfer gab.
 

Omi widerstand dem Drang, sich aufzuplustern und den Telekineten von oben herab anzusehen, schon alleine deswegen, da Naoe sowieso größer war als er. Da machte der sich auch noch lustig über ihn! Na das glaubte er wohl!

„Dann kannst du ja zur Massage kommen, wenn du schon darüber lachst“, lächelte er dunkel. „Die Adresse kennst du schließlich.“
 

Dieses Lächeln trieb Nagi die zarte Röte auf die Wangen, hatte er doch intuitiv den Verdacht, dass es zweideutig gemeint war. Er trat mit in den Aufzug ein, als die Türen sich öffneten und wandte dem Weiß sein Profil zu und wahrte mehr Abstand als zuvor. "Ich laufe ungern in eine Falle", sagte er um sich mit diesen Worten zu retten. Er wusste nicht, was er von diesem Satz halten sollte ... Massage ... warum machte der Weiß ständig solche Andeutungen. Um ihn lächerlich zu machen? Vermutlich.
 

Omi lachte leise. „Na was sage ich? Du nimmst alles zu ernst. Bierernst. Meine Güte, hier will dich niemand in eine Falle locken, warum sollten wir? Damit Ran Stress mit Schuldig bekommt? Sicherlich…hältst du uns für so dumm?“

Der blonde Weiß hoffte es nicht.

Er drückte den Knopf zum Erdgeschoss und wartete einen Moment schweigend, bis sich der Aufzug in Bewegung setzte.
 

Nagis Kopf ruckte zu Omi und seine Lippen waren hart aufeinander gepresst. "Ich möchte nicht auf dem Untersuchungstisch von Kritiker oder sonst jemandem landen", sagte er leise und tonlos. "Das ist mir ernst genug. Vertrauen kann ich mir nicht leisten. Und selbst wenn ... sie Schuldig und seinem Partner geschuldet ist ... wer kann dir sagen, ob Kritiker euch nicht abhören und euer Domizil jede Minute des Tages observiert wird." Nagis Augen waren weit geöffnet, eindringlich blickten sie Omi an als suchten sie etwas in ihm.
 

„Ich kann dir auch so sagen, dass das der Fall ist. Natürlich bewachen Kritiker uns, besonders jetzt, seitdem Ran nicht mehr da ist. Sie glauben ja schließlich, dass wir mit euch gemeinsame Sache machen.“ Omi schnaubte, schüttelte den Kopf. Sein Blick glitt über die Gestalt des anderen, maß ihn verstohlen von Kopf bis Fuß. Und außerdem…du würdest sowieso nur auf meinem Untersuchungsbett landen, stellte er für sich fest, sich noch nicht bewusst, dass er genau das auch noch laut ausgesprochen hatte.
 

Der Blick war ihm entgangen - die darauf vermeintlich nur in Gedanken geäußerten Worte nicht.

"... Bett? Was soll das? Was...?" Misstrauen wurzelte tief in ihm. Sein Körper spannte sich an, jede Zelle lud sich energetisch auf.

Wut preschte in ihm ungefiltert heran und ohne dass er es steuern konnte, schossen seine Hände voran und seine Fähigkeiten ließen den Weiß gegen die Wand des Aufzuges prallen. Die Entladung ließ ihre Kleidung und Haare flattern wie Fahnen im Wind. Und erst das extreme Ruckeln des Aufzuges ließ ihn wieder zur Besinnung kommen und die Sekunden währende Anspannung aus seinen Armen nehmen und die Hände senkten sich wieder. Heftig atmend blickte er zu dem zuckenden Licht über ihren Köpfen. Es erlosch. Er war verwirrt.

Sie standen.
 

„Ah….SCHEIßE!“, keuchte Omi und rang mühevoll nach Luft. Er war die Wand heruntergerutscht und saß nun auf dem Boden, das Gesicht schmerzverzogen. „Sag mal, HAST du sie noch alle, hier grundlos so ein Theater zu veranstalten?!“

Er blinzelte gegen die Dunkelheit an, versuchte, in dem ganzen Gewirr zu sich zu kommen und herauszufinden, was eigentlich passiert war. Und anhand der entsetzten, schwarzschen Worte erstmal auf den Gedanken zu kommen, dass er sich verplappert hatte, aber gehörig.

Ups.

Trotzdem kein Grund, so auszurasten.

Und nun hatten sie den Salat. Vermutlich hatte der Telekinet die Elektronik außer Kraft gesetzt und sie saßen hier fest. Er…mit dieser prüden, männlichen Zicke, was er dieses Mal aber wohlweißlich für sich behielt.
 

"Ich..."

Weiter kam Nagi nicht. Er hatte überreagiert. Natürlich ... wie so oft. Warum hatte er sich nicht beherrscht! Er hatte doch trainiert. Er war so nahe dran gewesen, sich kontrollieren zu können. So nahe dran. Wütend schrie er auf. "Ich war so nahe dran gewesen, so nahe und wegen dir bin ich wieder da, wo ich vorher war!"

Die Notbeleuchtung des Lifts sprang an, tauchte sie in kühles blaues Licht. Nagis Gesichtsausdruck hatte immer noch etwas von Unfassbarkeit. Seine Hände kribbelten und waren heiß, im Aufzug war es jedoch schlagartig kalt geworden. Ein Anzeichen von PSI-Tätigkeit. Sein Atem kondensierte vor seinem Gesicht.

Es war eine starke Beeinflussung der Materie gewesen ... lange würde es nicht andauern.
 

„HA! Das ist ja noch schöner!“, wetterte Omi dagegen und fröstelte. Es war verdammt kalt hier drin. Aber wirklich kalt. „Ich habe zwar keine Ahnung, WAS du meinst, aber gib mir ruhig die Schuld an DEINEM Versagen. Sicherlich! Ich bin Schuld…jeder andere, nur nicht du.“ Omi zischte über diese Unfassbarkeit in den Zügen des anderen und vergrub seine frierenden Hände unter den Achseln.
 

Er hatte versagt, genau das war es. Nagi ließ sich an der Wand hinabgleiten und setzte sich auf den Boden, starrte auf seine Hände. Würde er es schaffen jemals seine unkontrollierbaren Wutausbrüche in den Griff zu bekommen? Wohl kaum, sagte er sich selbst und ließ die Hände in seinen Schoß sinken, blickte auf zur erloschenen Anzeige. Den kleinen Leuchtdioden, die ihnen die Stockwerke anzeigten, die sie passiert hatten, fehlte jeder Lebensfunke. Ohne auf den anderen zu achten, erhob er sich erneut und betätigte den Hilferuf.

"Der Temperaturabfall gehört zu den thermischen Phänomenen, die durchaus bei Levitationen oder Telekinese mit auftreten können", sagte er den Blick noch immer auf die Armatur gerichtet. Er hatte bemerkt, wie der andere fröstelte.
 

Omi starrte Nagi wortlos, schweigend an. Er wurde nicht schlau aus diesem jungen Mann, absolut nicht. Er wusste nicht, was er mit dessen Verhalten anfangen sollte.

„Warum bist du so gereizt?“, fragte er ruhig, ohne Zusammenhang und ohne auf die Worte einzugehen, die er durchaus vernommen hatte. Ihm schien im Moment einfach wichtiger, endlich einen Anhaltspunkt zu bekommen, wie er mit dem jungen Schwarz umgehen sollte, ohne dass dieser seinen Kräften freien Lauf ließ, deren Nachwirkungen ihm wie die Einflüsse von Geistern vorkamen.
 

"Warum interessiert dich das?"

Nagi wartete stoisch, bis sich eine Stimme meldete und er ihr Problem mitteilen konnte. Natürlich erwähnte er die Worte ‚Paranormale Aktivitäten’ nicht und ersetzte sie durch ‚womöglich ein Stromausfall’, erwähnte somit nur das Ergebnis und nicht die Ursache für ihr Dilemma.

Der Mann in der Zentrale des technischen Dienstes sagte ihnen baldige Hilfe zu und eine Überprüfung. Somit waren sie wieder alleine, als es in der Sprechverbindung knackte und der Mann sich verabschiedete.
 

„Weil ich langsam die Schnauze voll davon habe, an die eine oder andere Wand gepresst zu werden. Ich hätte gerne gewusst, wie ich das verhindern kann. Das ist alles.“ Omi verschränkte die Hände vor seiner Brust und starrte den Anderen schneidend an. Er hatte wirklich genug davon, wirklich.

Zumal ein Teil in ihm auch keinen Streit wollte.
 

Wie weit wollte Nagi gehen? Wie weit sich aus dem Fenster lehnen?

Und entgegen seiner inneren Warnungen und auch einem besseren Wissen zum Trotz erwog er eine Antwort, als er die nach unten gezogenen Mundwinkel fixierte. "Das kannst du gut", sagte er ernst.
 

„Was?“, fragte Omi misstrauisch und schob seine Unterlippe noch ein Stückchen mehr vor, bis er sich bewusst wurde, dass es genau das war, was der Schwarz meinte. Er schnaubte, straffte sich.

„Sehr nützlich manchmal“, erklärte er. „Also…warum bist du so gereizt?“
 

Amüsiert verbiss sich Nagi ein Lachen.

Warum er also gereizt reagiert hatte? "Warum amüsieren dich die Ängste jemandes der Furcht vor dieser Auslieferung bei Kritiker hat? Warum ziehst du es ins Lächerliche und wandelst es in eine anzügliche Bemerkung um? Genau das macht mich wütend."

Nun gut, das war ein Hauptgrund. Ein weiterer Grund war tatsächlich die Erwähnung des Bettes. Somit hatte diese Bemerkung einen sexuellen Touch und nichts lag ihm ferner, als auf einem Untersuchungsbett zu liegen.
 

Na das war doch schon mal eine ehrliche Antwort. Wenn auch eine, die ihn überraschte.

„Ich hatte nicht beabsichtigt, sie ins Lächerliche zu ziehen. Wir beide wissen genau, dass Kritiker nicht an euch herankommen können. Schuldig hat es unlängst bewiesen. Sie wissen einfach zu wenig über euch. Geschweige denn sind sie in der Lage, mit euren Kräften umzugehen“, erwiderte Omi wahrheitsgemäß, verspürte den seltsamen Drang, Nagi zu beruhigen, ihm diese Vorstellung auszureden.

„Und anzüglich…“ Er zuckte mit den Schultern. „Wer gut aussieht, erregt nun mal Aufmerksamkeit.“
 

Die Hitze schoss in Nagis Wangen und er wollte etwas erwidern, klappte jedoch den Mund erst einmal wieder zu. "Du ... hältst mich für gut aussehend?" Er schüttelte den Kopf, als würde er es nicht verstehen und wischte dieses Thema uninteressiert zur Seite.

"Wir können uns nicht gegen alle Menschen in dieser Stadt sichern. Jeder könnte ein Spitzel sein. Es ist schon ein Risiko, sich einen festen Wohnsitz zu leisten. Schon allein die Tatsache, wie viel Strom ich für die Rechner benötige, könnte uns auffliegen lassen. Durch solche simplen Dinge ... nicht durch Sondereinsatzkommandos. Sich sicher zu fühlen ... ist ein Luxus, den wir uns nicht erlauben. Auch wenn ihr denkt, wir tun es." Kein Luxus, es wäre dumm. Crawfords Scheinfirma war mehr als nützlich und tarnte sie.
 

„Aber ihr könnt euch besser absichern als wir. Ihr habt Crawford und ihr habt Schuldig. Du kannst dich mittels deiner Kraft verteidigen. Das ist schon mal etwas“, hielt Omi dagegen, war jedoch innerlich erstaunt über die Ansichten des Schwarz. Es war für sie ebenso unsicher wie für Weiß? Das war ihm neu gewesen, wirklich neu. Doch anscheinend hatte das Leben, das Schwarz führten, auch seine Schattenseiten.
 

Nagi konnte sich schon denken, dass es kein Zufall war, sich einen Blumenladen für die Tarnung auszuwählen. Schließlich fiel somit die Erklärung für hohe Stromkosten flach. Die Geräte für die Klimatisierung der Pflanzen fraßen Strom noch und nöcher. Außerdem sorgte er für ein gelungenes Alibi, von Tarnung ganz zu Schweigen vor allem, wenn man zusätzlich einen Blumenlieferservice betrieb.

"Ja mittels meiner Kräfte verteidigen und gleichzeitig zur Zielscheibe werden."
 

„Gibt es jemanden, der mächtiger ist als ihr?“, fragte Omi ungläubig, konnte er es sich doch fast nicht denken. Für Weiß war die gegnerische Gruppierung immer…übermächtig gewesen. Erst Recht, als sie Aya hatten und sie selbst völlig hilflos gewesen waren. Besonders da hatte er begriffen, dass Schwarz nur mit ihnen spielten, eben weil sie es sich erlauben konnten. Weil sie es nicht nötig hatten, ernst zu machen.

Doch das schien nur die Spitze des Eisberges, wie immer.
 

"Hast du SZ vergessen? Es wäre maßlose Dummheit, würden wir uns selbst überschätzen. Ein winziger, überheblicher Fehler und wir landen in Gummizellen mit dem Freibrief ins Niemandsland. Glaubst du, irgendjemand der Geheimdienste aus den Staaten oder sonst wo würde sich diese Fähigkeiten entgehen lassen? Selbst Hitler hat PSI Versuche unternommen. Wir sind selten, da unsere Fähigkeiten die Norm übersteigen. Crawford wurde Vertrauen einmal beinahe zum Verhängnis. Ein Freund verkaufte ihn für ein Kopfgeld an die CIA, für eine Untergruppierung. Wir sind niemals sicher." Nagi schlug auf das erloschene Display ein um seiner Wut dieses Mal auf andere Art Luft zu machen.
 

Omi runzelte die Stirn. Er begriff langsam, was es für eine Bürde war, mit dieser Gabe zu leben. Was diese Arroganz ausmachte, die Schwarz innehatten. Sie waren allesamt Überlebende eines Schicksals, das Omi hassen würde. Immer auf der Flucht, immer in Angst…er hätte aufgegeben. Schon längst.

„Und wie könnt ihr damit leben?“, fragte er.
 

"Und wie kannst du mit deiner Vergangenheit leben?", schickte Nagi die Frage zurück und meinte die Antwort schon zu kennen: Weil er es musste. Was blieb ihm schon übrig?

"Ihr glaubtet, wir arbeiteten freiwillig für SZ?", fragte er leise und hörte über sich Schritte, vermutlich waren sie in einem Zwischenstockwerk zum Stehen gekommen.
 

„Ja, das haben wir und genau genommen habe ich bis eben immer noch geglaubt. Alles andere schien mir zu abwegig. Zu menschlich, ich weiß es nicht. Wir haben über Jahre hinweg so sehr die dunklen Monster in euch gesehen, dass wir es vermutlich am Ende selbst nicht wahrhaben wollten, dass wir uns geirrt haben.“

Omi verstummte ebenso und sah hoch. War das der Wartungsdienst? Der die hier rausholen würde? Er hoffte es…inständig.
 

"Es ist bequemer, die Monster zu sehen. Aber wir sind es dennoch - monströs. Wir tun, was wir tun, weil wir davon nicht loskommen. Es ist, als wären wir im Krieg gewesen und dieser Krieg lässt uns nicht los. Nutzlos, sich einzubilden wir wären arme, mitleidserregende Kreaturen, die für ihr Los nichts können. SZ haben uns aufgenommen, uns einen Rahmen gegeben, doch dieser Rahmen war aus Blei und Blut geschmiedet und er lässt uns nicht frei. Ich vergesse nie, dass wir es waren, die sie töten wollten, und dafür war uns jedes Mittel Recht."
 

„Jeder ist irgendwie schuldig…es kommt nur immer darauf an, was man daraus lernt“, erwiderte Omi und seufzte. Ihm war das Thema nicht geheuer. Natürlich hatten sie mit Schwarz einen inoffiziellen Waffenstillstand, nachdem Ran…und Schuldig…

ABER das hieß doch nicht, dass sie plötzlich menschlich miteinander umgehen sollten, oder?

Doch, hieß es. Sie waren verbandelt, auf welch skurrile Art und Weise auch immer. Und würden sich immer und immer wieder über den Weg laufen, das wusste Omi einfach.

„Aber ihr habt euch von SZ losgeeist, oder nicht?“
 

"Dank eures heldenhaften Einsatzes gegen uns galten wir als tot. Durch das Fehlen von SZs Führungsleuten zerbrach dieser Orden. Nur durch Crawfords Weitsicht konnten wir uns zum Schluss gegen sie behaupten. Das war unser Ziel seit einem Jahr gewesen, als ihr auf den Plan tratet."

Nagi sprach leise.

"Unsere Auftritte in der Öffentlichkeit reduzierten wir seither gen Null. Sobald Kameras in der Nähe sind, störe ich deren Signal. Ich bin mir sicher, Kritiker haben keine Aufnahmen von uns. Soweit ich weiß, gelten wir als tot, nur Kritiker jagen uns weiterhin, wollen die anderen Geheimdienste überzeugen, dass die Fata Morgana, hinter der sie herjagen, keine ist."
 

„Zumindest haben sie jetzt den Beweis. Schließlich waren es Kritiker, die wussten, wo Schuldig damals zu finden war, nicht wir. Und das hat Rans Entführung nun auch nicht besser gemacht. Sie sind jetzt nur noch umso intensiver hinter euch her, glauben sie doch, dass es euch gelungen ist, unseren Anführer soweit zu beeinflussen, dass er auf eure Seite gewechselt ist.“

Omi zuckte mit den Schultern.
 

"Kritiker...", zischte Nagi verächtlich. "Es geht nicht um Kritiker. Die anderen sind das Problem. Das einzig Gute an Kritiker ist ihr Nationalismus und die Weigerung, mit ausländischen Behörden zusammenzuarbeiten. Sie wollen Japans Problem allein lösen. Gute Einstellung."
 

„Seid froh drum“, lachte Omi leise, aber bitter und verstummte, als sich die Tür öffnete und ein Kopf in der Tür erschien.

„He, ihr beiden da unten! Wir holen euch raus, kann sich nur noch um Momente handeln!“, schallte die Stimme des Wärters durch die kleine Kabine zu ihnen und brach sich an den Plastikwänden. Augenblicke später erschien eine kleine Trittleiter durch die Öffnung. Omi rollte mit den Augen. Na wunderbar. Wie sollte ER da hochkommen?
 

Das fragte sich Nagi auch. "Mein Freund hier ist verletzt. Er kann die Leiter nicht erklimmen", sagte er der Einfachheit halber. "Gibt es keine andere Möglichkeit?"
 

„Ja, ihr wartet noch zwei Stunden, dann ist unser Fachmann wieder da und der bringt den Aufzug zum Laufen. DAS ist die andere Möglichkeit“, tönte es zurück und Omi verspürte wirklich Lust, dem Mann dort den Hals umzudrehen. Danke auch. Sehr hilfsbereit.

„Ich versuch’s so“, wandte er sich schulterzuckend an Nagi und kämpfte sich in die Höhe. Er humpelte zur Leiter, stemmte sich mit seinem gesunden Bein hoch. Eisern biss er die Zähne aufeinander. Verdammt…das tat WEH. Es SCHMERZTE!
 

Nagi konnte das Zusammenzucken sehen, die Knöchel, wie sie weiß hervortraten. Das würde er nicht schaffen, ihm fehlte das Adrenalin eines Einsatzes um diese Schmerzen zu überwinden. Außerdem würde er sich das Band womöglich ernsthaft verletzen. "Memme", flüsterte er kühl lächelnd und zog den Weiß wieder von der Leiter, nur um mit ihm fast hinzufallen. "Wir warten, gehen Sie und holen Sie ihren Techniker", rief er nach oben, Takatori junior immer noch haltend. "Du förderst so nicht die Heilung"
 

Omi stolperte scheinbar so ungeschickt, dass sein Ellenbogen direkt Nagis Rippen traf…na sowas. Er war aber auch ein Tölpel.

„Tatsächlich nicht?“, lächelte er zuckersüß. „Hätte ich Memme denn warten sollen, bis du mich trägst?“
 

"Ein Schmerzmittel hätte es auch getan", rieb sich Nagi seine Seite, die in unfreundlichen Kontakt mit Omis Ellbogen getreten war.

Der Techniker ging wie seine Schritte ihnen verdeutlichten. Er wartete, bis der Mann weg war, als er die Leiter an einer Sprosse fasste und Anstalten machte, nach oben zu kommen.
 

„Ja super! Jetzt lass mich hier auch noch alleine.“ Omi schnaubte, lehnte sich an die Wand und funkelte den ihm zugewandten Rücken wütend entgegen.
 

Nagi drehte sich leicht auf der Leiter herum, seine Augen nahmen einen violetten Glanz an, als er sich zurückließ und frei schwebend vor der Leiter zu Omi blickte. "Das heißt also, meine Gesellschaft ist dir nicht zuwider, ich dachte du wolltest mich loswerden? Hier ist jetzt deine Gelegenheit!" Ein blumiger Duft lag plötzlich in der Luft, nur fehlte diesmal der Temperatursturz. Darüber verzog Nagi unwillig den Mund und seine Stirn legte sich in Falten. Weshalb geschah das immer, wenn er levitierte?
 

Jetzt, genau in diesem Moment hatte Omi wirklich Angst. Es schien zu surreal, so unmöglich, dass der andere dort frei schwebte, dass es ihm vorkam, als hätte er einen Geist vor sich. Und in diesem krassen Gegensatz stand dann auch dieser angenehme Geruch. Frühlingsgeruch…wie von einer der Feen, von denen seine Mutter ihm so oft erzählt hatte. Doch diese Fee war kein sanftes Wesen, zumindest fürchtete Omi das. Auch wenn es irrational war, wie er wusste.

„Dann geh“, stieß er hervor und lehnte sich an die Kabinenwand, die Arme abweisend – Schutz suchend? – vor seiner Brust verschränkt.
 

"Nimm nicht alles so ernst", lächelte Nagi zaghaft. Es waren ähnliche Worte, wie sie Omi ihm gesagt hatte. Nagi wurde bewusst, dass Omi wirklich Angst hatte, er würde ihn hier sitzen lassen mit der Gewissheit, der Fahrstuhl stürze die vielen Meter auf den Boden. Wer wusste schon, was er durch seine Telekinese angerichtet hatte.

"Ich bin gleich wieder da, ich will mir nur ansehen, ob ich etwas Ernstes beschädigt habe." Und schon schwebte er durch die Öffnung, landete auf dem Dach der Kabine. Ein kleiner Kasten zeigte ihm die Elektronik, doch es war nichts zu sehen, was den Aufzug ernsthaft gefährlich werden lassen konnte. Aufzugtechnik war sicher keines seiner Spezialgebiete, aber die Notversorgung war nicht zerstört und somit auch nicht die moderne Bremstechnik.

Wenig später glitt er wieder hinunter. "Scheint, als hätte ich nichts zerstört, was uns ernsthaft gefährlich werden könnte."
 

Omi sah weg. Er konnte es nicht mehr mit ansehen. Es schien, als erwachten alle Bilder aus den alten Horrorfilmen und gaukelten ihm vor, dass hier ein lebendiger Geist vor ihm stand, der auch noch durch die Notbeleuchtung des Aufzuges dürftig erhellt in unwirkliches Licht getaucht wurde.

„Stell dich endlich hin, verdammt“, zischte der junge Weiß, ungehalten über seine eigene Angst, ungehalten über diese Schwäche.
 

Und das tat Nagi auch. "Was hast du?", fragte er und das Verhalten des anderen weckte alte Ängste bei ihm. Er sah die Ablehnung, roch fast die Angst, die den leichten Duft vertrieb. So war es früher gewesen. Sie hatten ihn gehasst, ihn verstoßen, ihn nie gewollt, nicht einmal seine Mutter oder sein Vater hatten ihn gewollt.

Er starrte noch immer auf Omi. Dieses abgewandte Gesicht, die Haltung. "Ich ... kann nach oben gehen, wenn es dir lieber ist?", fragte er ruhig, die alte Kälte war in seine Stimme gekrochen, schützte ihn.
 

„Nein“, bestimmte Omi unwirsch, fühlte sich nun sicherer, auch wenn es immer noch der gleiche Mensch war, der vor ihm stand. Es war paradox, wie sehr ein Detail doch einschlagen konnte, wie sehr es die Wahrnehmung verändern konnte.

„Es ist nichts. Wir warten hier, bis der Typ kommt und fertig aus.“ Eine finite Geste folgte seinen Worten und er sah auf, sah Nagi direkt an, wollte ihm beweisen, dass er keine Angst hatte. Was ja auch völlig unnötig war.
 

Eine Lüge. Aber er log gut. Ausgesprochen gut. Nagi konnte sie nicht aus seinen Augen lesen. Natürlich war etwas.

Der Telekinet nickte nur und ließ sich hinunter auf den Boden, zog die Beine an und wickelte seine Arme darum, hüllte sich äußerlich wie innerlich in eine Blase ein. Es würde sich nie etwas ändern ... und das selbst wenn er seine Kräfte dosiert einsetzte. Und auch ... selbst bei den Menschen, die ihn ... schon als Akteur kannten. Er war so froh, dass wenigstens Jei, Brad und Schuldig wie er waren und sie wussten, wovon sie sprachen, wenn sie ihn auslachten, wenn er im Selbstmitleid versinken wollte. Von ihnen konnte er sich wenigstens auslachen lassen. Sie hatten keine Angst vor ihm. Respekt. Keine Angst.
 

Omi runzelte die Stirn. Er wurde das Gefühl nicht los, mit seinen Worten eine solche Reaktion in dem jungen Schwarz hervorgerufen zu haben. Aber das konnte doch nicht sein, oder? Etwas hilflos verzog er seine Lippen, starrte unwirsch auf die kauernder Gestalt vor sich.

„Was ist los?“, fragte er schließlich, selbst in seinen Ohren unbeholfen.
 

"Nichts, was nicht so sein sollte, wie es ist."

Nagi zuckte mit den Schultern. Es war gut, wenn der andere Angst vor ihm hatte. Sollte er schließlich auch! Wäre ja noch schöner...
 

Wen wollte er damit eigentlich belügen?
 

„Und was wäre das?“, hakte Omi nach und verhärtete seinen Blick auf Nagi. Es war klar, dass dieser ihm eine ausweichende Antwort gab, natürlich. Doch das hieß noch lange nicht, dass er sie akzeptieren musste.
 

Nagi presste die Zähne zusammen. Aber egal, wie lange er schwieg, nach ein paar Minuten wusste er, dass der Blonde nicht klein beigeben würde.

"Du hast Angst. Das soll so sein. Ist doch gut, wenn du sie vor mir hast", sagte er tonlos, schützte sich hinter dieser blanken Aussage ohne Erkennung, ob er hinter ihr stand oder sie sarkastisch gemeint war.

Schwerelos

~ Schwerelos ~
 


 


 

Ein Lachen antwortete dem Schwarz. Na, so überzeugt wie er versuchte, seine Gleichgültigkeit herüber zu bringen, klappte das wohl nicht.

„Natürlich habe ich Angst, wenn ich sehe, wie du frei in der Luft schwebst. Angst vor den bösen großen schwarzen Monstern mit riesigen schiefen Zähnen und furchtbaren Schleimschuppen, die in meiner Kindheit unter dem Bett gelauert haben. Die bösen Geister, denen man zwangsläufig in Horrorfilmen begegnet. Das heißt aber nicht, dass ich nicht zu unterscheiden weiß, was sie sind und was du bist. Es war nur eine Überreaktion.“
 

"Wenn das die einzigen Monster deiner Kindheit waren...", sagte Nagi leise und ließ den Satz unvollendet.

"Ich kenne diese ‚Überreaktionen’ zu genüge. Und ich verstehe sie. Ich würde mich auch nicht mögen, würde ich zu den anderen gehören. Warten wir, bis der Techniker zurückkommt."

Er wollte das Gespräch von sich lenken. Er mochte es nicht, wenn es um ihn ging. Er hasste es geradezu, wenn man ihn ansah, wenn er auffiel.
 

Omi ließ die erste Antwort ohne jeglichen Kommentar gehen. Es tat nichts zur Sache, dass diese Monster menschliche Gestalt hatten, das ging den Schwarz nichts an.

Er verfiel in stummes Brüten, sagte nichts weiter dazu. Ja, warteten sie am Besten auf den Techniker. Der würde ihnen hier raushelfen. Und dann konnte er nach Hause humpeln. Irgendwie.
 

Nach einiger Zeit des stummen Wartens bemerkte Nagi, dass er den Anderen beobachtete. Er linste über seine verschränkten Arme und vertrieb sich die Zeit damit den Weiß zu studieren. Warum interessierte es ihn, was der andere tat, wie er sich die Zeit vertrieb?

Das blonde Haar sah aus, als müsste man es glatt streichen, so durcheinander gewirbelt lagen die Strähnen. Nagi erinnerte sich an die Berührung durch seine Hände als er - aus einer dummen Laune heraus - Omis Augen zugehalten hatte. Wie weich die Haut sich angefühlt hatte...
 

Es war Zufall, dass der blonde Weiß aufsah, Zufall, dass seine Augen die des Telekineten trafen. Er runzelte die Stirn, hielt beinahe schon herausfordernd den Blick Nagis und ließ dessen Musterung unbewegt über sich ergehen. Schlimmer als er konnte der Schwarz nicht sein. Wenn er schon seine Gedanken ausplauderte, dann musste der Andere wohl oder übel nachziehen…aber gut. Darauf war er jetzt gefasst.
 

Doch Nagi konnte den Blick nicht lange halten, ohne dass er die obligatorische Wärme in seinem Gesicht spürte und ihm ganz heiß wurde. Er barg sein heißes Gesicht wieder in seinen auf den Knien verschränkten Armen und hoffte das Notlicht mochte seine Röte verborgen haben. Warum benahm er sich nur derart kindisch?

Es war peinlich.
 

Das fand Omi auch…nach ein paar weiteren Momenten. Sie saßen hier und sagten kein Wort, starrten sich nur an, als wären sie sich fremd, was nicht stimmte.

Der blonde Weiß ließ seinen Blick innerlich aufseufzend zur Decke gleiten. War das Leben kompliziert? Ja! Ja, verdammt!

„Warst du in der letzten Zeit bei Schuldig?“, fragte er unverhofft.
 

"Nein", blickte Nagi auf und löste seine verschlossene Haltung etwas, die Beine ließ er angezogen, nur die Hände legte er in den Schoß. "Er zieht es vor allein zu sein. Mit dieser neuen... Gegebenheit verhält es sich nicht anders. Wir sehen uns nur zu Aufträgen. Wenn er uns sehen will, kommt er sicherlich."

Nagi lehnte den Kopf an das Metall an. "Weshalb fragst du?"
 

Omi zögerte einen langen Moment, bevor er antwortete. „Wegen Ran. Ich würde gerne wissen, wie er sich macht. Ob es ihm gut geht, wenn wir nicht dabei sind. Er ist…manchmal etwas destruktiv.“

Er zuckte mit den Schultern, tat es als unwichtig ab, wenngleich er genau wusste, dass es eben das nicht war. Er machte sich viele Gedanken und vor allen Dingen große Sorgen um ihren Anführer.
 

"Er würde dir nicht die Wahrheit sagen, wenn du ihn fragst, wie es ihm geht, meinst du das damit? Ich glaube, keiner von uns ist begeistert von dieser Affäre. Selbst euer Anführer und Schuldig wollten es nicht, aber sie konnten sich gegen ihre ... dummen ... wie auch immer gearteten Gefühle nicht wehren. Es ist so weit hergeholt ... ich verstehe immer noch nicht, wie Schuldig sich auf ... gerade auf euren Anführer einlassen konnte...", sinnierte Nagi vor sich hin, scheinbar eine plausible Erklärung suchend.
 

„Natürlich würde er mir nicht die Wahrheit sagen…er ist einfach zu stur dafür. Aber so wenig es Schuldig und Ran auch nicht wollten, so sehr…kletten sie nun aufeinander. So schnell kann’s gehen. Der Reiz des Schrecklichen, oder wie sagt man so schön?

Zumal…EUER Rotschopf mit seinem ‚Urlaub’, in den er Ran gesteckt hat, ja wohl den Grundstein gelegt hat.“ Omi schob die Unterlippe vor.

„Du sagst das so abwertend, als könnte dir das nicht passieren.“
 

"Schuldigs Gedankengänge bleiben auch uns manchmal ein Rätsel", sagte Nagi ironisch. Aber was hatte er selbst schon wieder damit zu tun?

"Mir?", hob er den Kopf vom Metall und legte ihn schief, konnte sich ein trockenes Schlucken nicht verbeißen, zumal Omis Geheimwaffe wieder zum Einsatz kam. "Nein ... mir passiert so etwas nicht! Ganz bestimmt nicht! Oder wen meinst du, sollte ich in Erwägung ziehen?", verzog er den Mund zu einem ironischen Lächeln um seine innere Nervosität zu überspielen. Wie er dieses Thema hasste. Warum kam der Weiß immer darauf?
 

„Keine Ahnung? Wer weiß, wo die Liebe hinfällt. Was weiß ich, in wen du dich verguckst…ich kann deine Gedanken schließlich nicht lesen“, gab Omi schulterzuckend zurück und lächelte. „Dass es ihm nicht passieren wird, hat sicherlich auch Schuldig gesagt und sieh ihn dir jetzt an…praktisch schon vorm Altar. So schnell kann’s gehen. Wusstest du, dass er sich von Ran füttern lässt?“
 

Das brach nun wirklich die Dämme von Nagis eiserner Zurückhaltung, Beherrschung und sogar seiner Kühle und er musste tatsächlich grinsen. Das Waschweibergeschwätz welchem sie hier frönten ... es hatte etwas Normales an sich. Es war als würde er lästern ... wie damals in der Schule. Nur war es diesmal nicht er, der hier das Thema war. Er fühlte sich jetzt nicht ausgeschlossen.

"Er lässt sich was? Du meinst der große…" Er formte das Wort ‚Mastermind’ "… lässt sich vom großen, finsteren, kalten", wieder formte er nur den Codenamen des Weißanführers. "… füttern?"

Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. "Woher weißt du das?" Es hörte sich eher an wie: Woher hast du die Informationen? Kann man der Quelle trauen? "Wobei ... wenn ich daran denke, was die zwei gemacht haben während wir im stillen Raum saßen...“, gab er zu bedenken.
 

Dachte Omi gerade noch, er hatte den anderen Jungen endlich aus der Bahn bringen können, so wurde er nun eines Besseren belehrt.

„Wie? Was sie getrieben haben? Du meinst doch nicht…ach QUATSCH!“, stritt er kategorisch und doch völlig nutzlos alles ab, was sich ihm aufdrängte. Verfiel dann für einen Moment in dumpfes Brüten und sah dann ein, dass es gut und gerne so gewesen sein konnte.

„Na klar. Ich hab’s selbst gesehen. Es war ein Stück Kuchen“, erwiderte er schließlich auf die Frage des Telekineten, spiegelte das Grinsen. „Von MIR gebacken. Und Schuldig war handzahm, ich sage es dir. Ran allerdings auch“, fügte er säuerlich an.
 

Ein Stück Kuchen. "Du kannst backen?", fragte Nagi und er konnte den Blonden am Backofen stehen sehen, wie er nach dem Kuchen sah. Er taxierte ihn wie er da saß, maß ihn. "Das hätte ich nicht gedacht."
 

„Natürlich kann ich backen, alles, was du willst. Na?“
 

Nagi verfiel in kurzes Schweigen, starrte Omi lediglich an. Bis er sich unwohl zurechtruckelte.

"Was meinst du mit ‚Na’?" Wollte dieser verrückte Weiß ihm einen Kuchen backen? Ganz bestimmt nicht, ätzte er in Gedanken.
 

„Na wie ‚Na, bist du lebensmüde genug um dich von einem Tsukiyono’schen Kuchen vergiften zu lassen’ natürlich. Was dachtest du denn?“, hielt eben dieser dagegen und lächelte herausfordernd. Irgendwie hatte der Gedanke etwas…

Youji, Ken, ich hab mal Nagi mit nach Hause gebracht…ihr dürftet ihn noch kennen, er gehört zu Schwarz. Ich backe ihm einen Kuchen.

Sicherlich. Genauso würde er es sagen.
 

Den Kopf schief legend sah Nagi aus, als würde er Omi taxieren.

"Wie willst du das anstellen? Ich meine ... wo willst du ihn backen? Und ... da wäre noch eine Frage...", sagte er schmunzelnd. "Wie viel Rattengift ist darin enthalten? Ich habe eine Allergie gegen Rattengift."
 

„In Anbetracht der Tatsache, dass wir bei uns vermutlich zu gefährdet wären, würde ich ja fast schon sagen, dass ich in der grauen Zone backe. Insofern Ran und euer Telepath den Backofen nicht für etwas anderes belegen.“

Er lachte, überrascht durch Nagis Scherz, allgemein überrascht, dass der junge Telekinet überhaupt dazu bereit war, mit ihm zu spaßen. Doch es war angenehm, wirklich.

„Kein Rattengift also? Wie sieht es aus mit Schierling? Arsen?“
 

Dieses Lachen klang in Nagis Körper in Form von angenehmer und prickelnder Hitze nach. Dass er dafür verantwortlich war, diesem Blondschopf ein gelöstes Lachen entlockt zu haben erfüllte ihn mit seltsamen Gefühlen. "Mit Schokolade vielleicht? Gegen diese Zutat bin ich immun. Jahrelange tägliche Einnahme minimaler Mengen härtet ab!"

Er sagte das im völligen Ernst, doch die leichte Röte auf seinen Wangen verriet den Spaß an diesem Spiel.
 

„Schokolade?“, fragte Omi kritisch nach. „Meinst du nicht, dass das etwas ZU gefährlich ist? Was da alles passieren kann…“

Er lehnte sich halbwegs entspannt zurück. Es hatte definitiv etwas, hier mit dem Schwarz sitzen und scherzen zu können, auf einer nicht feindlichen, beinahe schon freundlichen Ebene.
 

"Höchstens, dass ich süchtig werde. Wobei ...", spitzte Nagi die Lippen. "... es könnte natürlich sein, dass ich im Falle einer Überdosierung in einen schwärmerischen Zustand verfalle. Auch kein schöner Anblick, wenn ich dann den Kuchen anschwärme!", unheilte er. "Aber das Risiko gehe ich ein."
 

„Ich auch! Also abgemacht, du fragst Schuldig, ob ich bei ihm backen kann. Dann hat Ran wenigstens auch etwas davon…und Schuldig natürlich auch…“ Omi lächelte, in seinem Herzen aufgewärmt durch das harmlose Spiel, das sie hier trieben. Erwärmt durch die Unbeschwertheit des Telekineten. Sie waren beide noch jung und das sah man hier.
 

"Er wird ablehnen. Besser du fragst euren Anführer", erwiderte Nagi schnell. Er wusste um Schuldigs eifersüchtig gehütetes Heim - noch dazu das Haustierchen, welches er sich darin hielt. Noch eifersüchtiger gehütet als besagtes Heim. Nagi wollte sich besser nicht ausmalen wie kurz das Gespräch bei einem derartigen Vorschlag werden würde: Schuldig darf ich ... mit Omi bei dir einen Kuchen ba...?

Weiter würde er nicht kommen ... wenn überhaupt soweit, bevor die Leitung nur noch einen abweisenden Ton von sich geben würde.
 

„Abgemacht“, lächelte Omi und zog wie selbstverständlich sein Handy hervor und überprüfte, ob er überhaupt Empfang hatte. Und siehe da, durch den kleinen Schlitz, den der Techniker geschaffen hatte, kam genau Funk hinein, dass er mit einigen Mühen telefonieren konnte.

Er wählte Ayas Nummer und wartete, bis sich am anderen Ende der Leitung eine durch und durch freundliche und ausgeglichene Stimme meldete.

„Hallo Ran, ich in es Omi!“, grüßte er seinen Anführer freudig, erntete ein überraschtes Lachen.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte Aya zurück und Omi lächelte verlegen.

„Ich hätte da eine Bitte an euch, Ran…“

Einen Moment Stille in der Leitung. „Und die wäre?“

„Ich möchte…“, er machte eine dramatische Pause. „…den Backofen benutzen. Einen Kuchen backen.“

Wieder Stille. „Und wieso kannst du das nicht im Koneko machen?“, fragte Aya dann amüsiert.

„Weil du dann ja nichts davon hättest…und Schuldig auch nicht.“
 

Nagi verfolgte den Verlauf des Gespräches genauso interessiert wie ein scheinbar nicht interessiert aussehender Telepath, der unweit des Entscheidungsträgers saß und ein misstrauisches Gesicht zog. Da war doch etwas im Gange...

Doch leider verstand Schuldig nicht, mit wem genau Ran sprach und leider auch nur die Hälfte. Weiter heran pirschen wollte er sich auch nicht, denn dann hätte er sich aus dem bequemen, warmen Kissenhaufen hervorquälen müssen. Also beließ er es dabei, sich halb zu verrenken und Ran beim Telefonieren zuzusehen.
 

„Soso…“, erwiderte Aya äußerst skeptisch. Dieses Angebot schien ihm doch äußerst verdächtig. Auch wenn er sich durchaus freuen würde, Omi zu sehen, wirklich. Und dann noch einen Kuchen gebacken zu bekommen…

„Warte einen Moment“, richtete er an den jungen Weiß und drehte sich zu Schuldig, sah, wie dieser mit Luchsohren um die Ecke lugte. Na so was. Da lauschte jemand. Aya hob vielsagend eine Augenbraue, nahm derweil den Hörer vom Ohr.

„Omi möchte uns einen Besuch abstatten und die Küche nutzen“, richtete er nun offiziell an den Telepathen. „Er möchte uns einen Kuchen backen. Was hältst du davon?“
 

Im ersten Moment musste Schuldig äußerst dämlich ausgesehen haben, doch dann lachte er schallend und ließ sich auf die Kissen zurückfallen. "Wie alt sagtest du, ist er? Kuchen backen? Richte ihm aus, er soll gefälligst mit der Wahrheit herausrücken, sonst setzt er keinen Fuß in diese Wohnung", lachte er noch immer, doch die Worte waren durchaus ernst zu verstehen. Er wollte hier nicht ständig der Dreh- und Angelpunkt von Weiß und Schwarz sein. Es war zu gefährlich.
 

Aya runzelte die Stirn und wandte sich schließlich ab. Er ging in die Küche, dort, wo Schuldig ihn nicht so schnell hören konnte. Schuldigs Ton und seine Worte hatten ihm zu denken gegeben…sie hatten ihm nicht gefallen, nicht, wie sie der Telepath geäußert hatte.

Er setzte sich auf einen der Barhocker und drehte sich vom Raum weg zum Fenster hin.

„Also…du hast gehört, was Schuldig gesagt hat. Warum?“

Er hörte ein nervöses Schlucken, begleitet durch ein Rauschen. „Na also Ran, eigentlich stecke ich hier gerade mit Nagi im Aufzug fest und wir haben darüber entschieden, dass ich ihm einen Kuchen backe. Da aber das Koneko zu gefährlich für ihn ist und ich garantiert nicht bei ihm auflaufe, dachte ich, wir könnten es bei euch beiden machen. Weil…du da bist. Und weil ich dich gerne sehen möchte. Nagi würde auch mitkommen.“

Aya grübelte. „Gut, ich werde mit Schuldig drüber sprechen, ich rufe dich gleich zurück.“ Er legte auf und starrte aus dem Fenster, für einen Moment gedankenverloren. Es wäre sicherlich schön, wenn Omi käme…
 

Er erhob sich und streunte zurück in den Wohnraum, gab Schuldig das wieder, was Omi gesagt hatte.
 

Schuldig, der sich auf die Ellbogen aufgestützt hatte, ließ sich in die Kissen fallen und breitete die Arme hinter dem Kopf aus, streckte sich und blickte auf Rans ernste Miene.

"Nagi und Omi also", sagte er sanft zu Ran, ein kleines Lächeln um die Mundwinkel spielend. "Das erklärt einiges. Sie sollen sich an die Regeln halten und vorsichtig sein", gab er seine Zustimmung und streckte die Hand nach Ran aus, zupfte an dessen Shirt.
 

Er erntete dafür ein kurzes, jedoch flüchtiges Lächeln, als Aya nickte und den Rückruf betätigte. Es war schon erstaunlich, wie schnell Omi sich meldete.

„Ihr könnt kommen, aber seid vorsichtig und seht zu, dass euch niemand verfolgt. Haltet euch an die Regeln“, gab er Schuldigs Gesagtes wieder und verabschiedete sich nach einem eindeutigen Ausruf der Freude von Omis Seite her von seinem Teamkollegen. Sah dann auf die nestelnde Hand hinab.
 

Das Lächeln war zu vergänglich, der Blick zu abwägend. Also zog Schuldig die Hand zurück, ließ sie wie leblos auf die Kissen fallen. Dort lag er nun und blickte zu Ran hoch. Etwas beschäftigte Ran. Und Schuldig meinte zu wissen was dies war.

"Fühlst du ... dich wie ein Gefangener ... wenn du mich fragen musst ... ob dich deine Freunde ... besuchen können?" Seine Stimme war derart leise, dass er glaubte Ran würde sie kaum vernehmen.
 

Aya hatte sie durchaus vernommen, doch er schwieg.

Schuldig…hatte Recht mit dem, was er sagte, auch wenn es Aya sich bis jetzt nie wirklich hatte eingestehen wollen. Er hatte es wieder und wieder verdrängen wollen, doch wo er jetzt darüber nachdachte…

„Ja…das tue ich, auch wenn ich weiß, dass es deine Wohnung ist, dein Lebensraum, in dem ich mich befinde, mich Tag und Nacht aufhalte. Vielleicht ist es sogar genau das. Ich fühle mich unnütz. Ich bin hier…und mache nichts. Ich gehe nicht arbeiten, ich lebe von deinem Geld. Und ich weiß, dass ich das so nicht will. Ja, in gewisser Weise fühle ich mich wie ein Gefangener, weil ich genau weiß, dass die Entscheidungsfreiheit bei dir liegen sollte…“
 

"Heißt das, du hast keine Entscheidungsfreiheit?" Schuldig gefiel es nicht, dass Ran sich damit quälte. Aber er wusste um dieses Problem. Ran war niemand, der untätig war und nun war er dazu verdammt.

Erneut hob Schuldig die Hand. "Komm bitte zu mir."

"Du kannst entscheiden, ob deine Freunde hierher kommen dürfen. Nur sollten sie immer bedenken, dass sie uns damit gefährden. Uns und sich selbst. Deshalb ist es für mich immer ein Eingriff in unsere Sicherheit, wenn uns jemand besucht. Eben weil die Verbindung von Weiß zu Kritiker sehr kurz ist."
 

Aya ergriff Schuldigs Hand und ließ sich von dem anderen Mann näher ziehen, kniete sich schließlich neben ihm auf die Kissen.

„Das weiß ich. Aber ich…vermisse sie. Ich möchte niemanden missen…weder sie noch dich. Noch meine Arbeit. Irgendetwas.“ Aya zuckte mit den Schultern, seufzte leise. „Ich will irgendetwas als Gegenleistung bringen, nicht nur hier sitzen und auf deine Kosten leben. Vielleicht fühle ich mich dadurch in meiner Entscheidungsfreiheit beschränkt. Auf irgendeine verquere Art und Weise…“
 

Schuldig robbte näher zu Ran und bettete sein Haupt auf dessen Oberschenkel, umschlang ihn mit den Armen. Ran klang entmutigt und niedergeschlagen. Ein Zustand, der, falls er von Dauer wäre, über kurz oder lang zu einem ernsten Problem führen würde.

"Wir finden etwas. Willst du etwas machen? Hast du eine Idee, etwas was du machen wolltest, bevor du in Kontakt mit dem Untergrund, Kritiker und diesem Leben getreten bist? Bevor das alles …passiert ist…"
 

Aya lächelte auf Schuldig herab und strich ihm sanft durch die Feuermähne. Bitterkeit tränkte seine Gesichtszüge.

„Ich wollte meine eigene Firma haben, so wie mein Vater auch. Ich wollte ins Ausland, meine Geschäftsbeziehungen überall in der ganzen Welt knüpfen und nur unterwegs sein. Und ich wollte eine Bar haben. Etwas, das nur mir gehört, das ich gestalten kann, wie ich will. Aber das sind keine Dinge, mit denen ich jetzt noch aufwarten kann. Vielleicht sollte ich mir einen Job bei den Häfen suchen. Oder auf dem Bau. Irgendetwas.“
 

"Eine Firma", grübelte Schuldig. Das ginge mit Rans Vorgeschichte wohl nicht mehr.

"Was ist mit der Bar?" Er rappelte sich auf, stürzte sich verspielt auf Ran, damit dieser aus seiner trüben Stimmung kam und blickte ihm in die Augen. "Was ist damit?"
 

Aya war doch immer wieder erstaunt, wie schnell Schuldig sein konnte. Wie überrumpelt er nun unten liegen und verwirrt blinzeln konnte.

Schuldig hatte Erfolg mit seinem Vorhaben, denn für einen Moment lächelte Aya gelöst, gewärmt durch den Spieltrieb des Deutschen.

So gut es ging zuckte er jedoch schließlich mit den Schultern und seufzte. „Was soll damit sein? Ein Hirngespinst, nichts weiter. Ich habe nicht das Kapital, um eine zu eröffnen. Und ich werde auch keins bekommen…vergiss nicht, dass wir für den Rest der Welt als tot gelten.“
 

"Ja nun...", murmelte Schuldig und er hatte bereits eine Idee. Aber ob Ran dem zustimmen würde, war fraglich.

"Warum nur ein Hirngespinst?" Sein Blick intensivierte sich in die violetten Iriden und sein Gesicht war ein einziger Ausdruck der Konzentration. "Das Kapital ist nicht das Problem, Ran. Da lässt sich etwas machen. Das Problem ist, ob du es als Leihgabe annimmst." Ran würde sich nichts schenken lassen, das brauchte er gar nicht vorschlagen, soweit schätzte er ihn schon richtig ein.
 

Aya runzelte die Stirn und schüttelte schließlich den Kopf.

„Das möchte ich nicht, Schuldig. Ich schulde dir schon so viel…es kommt mir nicht richtig vor.“ Sein Blick schweifte ab, als ein kleiner Teil in ihm tatsächlich darüber nachdachte, wie es wäre, dieses Angebot anzunehmen und sich diesen kleinen Wunsch zu erfüllen, doch Aya drängte diesen Part in sich energisch zurück. Nein, er würde es nicht annehmen. Er hatte das Geld von Kritiker in die Pflege seiner Schwester investiert und nicht in seine Träume. Es hatte so sein sollen, diese Chance hatte er verpasst. Wissentlich und willentlich. Dafür musste er jetzt Rechnung tragen.
 

"Ich meinte ja auch leihen. Du zahlst es zurück, wenn der Laden läuft!“, versuchte Schuldig es erneut. Die Geldmenge, die für das Startkapital von Nöten wäre, hätte er ohne Probleme. Vielleicht musste sich Ran auch nur an den Gedanken gewöhnen, etwas Neues auf die Beine zu stellen. Außerdem hatten sie noch das Problem mit Kritiker. Solange die Gruppierung auf der Bildfläche war, wäre Ran in der Öffentlichkeit gefährdet.

Kommt Zeit, kommt Rat.

Er würde das bestimmt nicht vergessen. "Wir finden einen Weg, hmm?", grinste er aufmunternd und platzierte einen zarten Kuss auf die Lippen, die aussahen, als bräuchten sie eine warme Berührung.
 

Das brauchten sie in der Tat.

Ayas Antwort erstarb auf seinen Lippen, als er Schuldig an sich zog und die sanfte Zärtlichkeitsbekundung des anderen Mannes erwiderte. Doch insgeheim wusste Aya, dass sie so keinen Weg finden würden, nicht, wenn sie das Thema auf später vertagten.

Er hatte in den letzten Tagen und Wochen gemerkt, wie unruhig er war, wie sehr ihm etwas fehlte, an dem er arbeiten konnte. Das würde nicht besser werden mit der Zeit…eher schlimmer.
 

"Ich werde es nicht vergessen", sagte Schuldig und legte sich halb auf Ran, das Gesicht in dessen Halsbeuge vergraben, mit der Nase das wohlduftende Haar beschnuppernd. "Ganz bestimmt nicht."

Worte, die er fast wie einen feierlichen Schwur aussprach. Nein, mit Ran würde er nicht mehr vergessen. Das hatte Ran ihm versichert.
 

„Ist schon gut“, murmelte Aya und vergrub sich unter Schuldig, beendete das Thema für sie beide. Auch er wollte sich täuschen lassen, einlullen von den Worten des Telepathen, die so viel versprechend klangen.

Er kroch schier hinein in den anderen Mann und umschlang ihn mit seinen Armen und Beinen, verspürte plötzlich das überwältigende Bedürfnis, Schuldig ganz ganz nahe sein, den anderen Mann nicht mehr gehen lassen zu müssen.
 

Ein Bedürfnis, welches Schuldig bemerkte, als Ran sich fast schon an ihm festklammerte. Sie lagen auf dem Boden, die Kissen neben ihnen. Also beschloss Schuldig sich dem Kissenhaufen anzunähern, indem er Ran unter die Schulter fasste und sie beide herumrollte, sodass Ran auf ihm lag und nicht auf dem unangenehmen Boden. Schuldigs Arme umschlangen den schlanken Leib.

"Entspann dich… öffne dich für mich", bat er Ran um Einlass in dessen Gedankenwelt. Nicht, weil er mit ihm kommunizieren wollte, sondern weil er ihm das Gefühl der Anwesenheit vermitteln wollte. Eine Verstärkung des Gefühls, nicht allein zu sein, welches oft körperlich weniger gegeben werden konnte, als geistig.
 

Es dauerte einen Moment, bis Aya sich wirklich dazu imstande fühlte, Schuldigs Bitte Folge zu leisten. Es schien so schwer, so…unsicher, das gerade jetzt zu tun, wo ihn so viele Gedanken quälten und er sie eigentlich hatte vor Schuldig verheimlichen wollen. Doch…er sehnte sich nach Schuldigs Nähe, wollte den anderen Mann bei sich wissen und genau das war schließlich auch der Grund, warum er sich entspannen konnte und seine angespannten Barrieren sich vermutlich senkten.
 

Schuldig überwand die Grenze, ignorierte die umherirrenden Zweifel. Er war nicht hier um sich zu vergewissern, dass Ran ihn brauchte. Er war hier, weil er wusste, dass es so war. Schleichend breitete sich seine Präsenz aus und er beließ es dabei. Schwieg und schloss die Augen, überwältigt von diesem Gefühl der Nähe, der Annahme. Auch wenn Rans Gedanken schwermütig waren, so gaben sie Schuldig das zurück, was er geben wollte. Die Versicherung nicht alleine zu sein.
 

Nein, das waren sie nicht, keiner von ihnen.

Aya war, als schien in ihm ein Sonnenlicht. Als platzierte sich die Wärme der Frühlingssonne direkt in seinem Brustkorb und strahlte beruhigend auf jegliche Körperregion. Zweisamkeit, geisterte es durch seine Gedanken und er badete sich in dem Gefühl, ließ sich von ihm entspannen und besänftigen.

Er schloss die Augen und hauchte Schuldig einen Kuss auf die Schläfe, brachte seine Wange an die des Telepathen. Schweigend lauschte er der sie umgebenden Stille.
 

Wie lange sie dort lagen und in eine Art losgelöster Zufriedenheit schwelgten, wusste Schuldig nicht, doch er wusste eines: Er musste aufstehen und diesen nervenden Klingelton ausstellen, bevor er denjenigen, der Einlass begehrte, kurzer Hand tötete. Sanft zog er sich aus Ran zurück und tastete den Störenfried ab. Es waren Nagi und Omi. Wer hätte es gedacht.

"Jetzt ist es wohl aus mit dem Kuscheln", seufzte er schräg grinsend, wirkte fast, als hätte er gerade geschlafen.
 

„Wundervolles Timing“, grollte Aya und reckte sich auf dem Kissenlager, eben so, als hätten sie gerade sehr lange und sehr ausgiebigen Sex gehabt. Er rollte sich auf den Bauch, wollte nicht aufstehen. Und da Schuldig nun mal schon stand…

„Lass sie rein, ansonsten schlagen sie dir noch die Tür ein…“
 

"Bei Nagi könnte das durchaus ein zu beachtender Gedanke sein", lachte Schuldig und fuhr sich durch die leicht zerzauste Mähne, als er zur Tür ging. Er öffnete die Tür und sah in zwei erwartungsvolle Gesichter.

"Aha. Jetzt bin ich aber auf die Story gespannt", kündigte er an, dass er alles haarklein erzählt bekommen wollte, oder er würde es sich selbst holen. Brad wäre von dem Zusammentreffen der Beiden nicht begeistert, mit Sicherheit nicht. Genau das brannte er auch dem jüngsten Schwarz in die Augen. Und dieser schien auch zu verstehen, da er den Blick senkte.

Schuldig ließ sie ein und lehnte sich an die Tür, verschränkte die Arme. Zu was sollte das alles noch führen?
 

Omi sah von Schuldig zu Nagi und sah, dass er von diesem keine Unterstützung bekommen würde. Pah. Verräter.

Trotzig starrte er den Telepathen an, wechselte dann aber in ein liebes, bittendes, absolut berechnendes Gesicht. Sie waren hier, weil sie etwas wollten, da brachte es ihm nichts, wenn er den Hausherrn verärgerte. Rein gar nichts.

„Wir haben uns durch Zufall getroffen“, ließ er alle interessanten Details schon einmal von vornherein aus. „Und sind dann übereingekommen, dass wir doch Kuchen backen könnten. Ein durchaus sinnvoller Zeitvertreib. Und da weder Weiß noch Schwarz von der Idee übermäßig begeistert sein dürften, dachten wir, dass wir uns in der Grauzone zu schaffen machen könnten.“

Ein Lachen unterbrach ihn, kam augenscheinlich von Aya, der sich hochgerappelt hatte und nun zu ihnen kam. Er begrüßte Omi mit einem Lächeln. „Grauzone also?“
 

"Ah ja", sagte Schuldig spärlich ein amüsiertes Grinsen ins Gesicht gebannt, da er zeitgleich Omis Gedanken gelesen hatte und dessen Erinnerungen, die ihm durch die vehemente Auslassung und die Konzentration auf dieses Unterfangen genau diese Details an die Oberfläche von Omis Gedankenwelt legten. Schon seltsam, wollte man etwas um jeden Preis verschweigen, lag es wie ein Presentkorb obenauf!

"Ich wusste gar nicht, dass du dich fürs Eislaufen interessierst, Nagi", schoss er einen Pfeil ab, löste sich jedoch von der Tür und ging zur Sitzgruppe um sich seine Zigaretten zu greifen. Damit ließ er die Drei stehen und öffnete die Terrassentür um hinaus zum Rauchen zu gehen.
 

Nagi dagegen war klar, dass Omis Versuche Schuldigs Neugier zu überlisten zwecklos waren. Er schwieg jedoch. Was sollte er sagen? Zu Ran nickte er lediglich höflich.
 

Aya gab den Gruß zurück und wandte sich an Omi, dessen Verzweiflung ihm deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Er zuckte mit den Schultern und lächelte. „Telepath eben.“ Er warf einen Blick auf den leicht angewinkelten Fuß ihres Jüngsten und deutete auf das Gelenk.

„Was ist damit?“, fragte er und erntete einen säuerlichen Gesichtsausdruck.

„Ich habe mir beim Eislaufen das Gelenk verstaucht und wurde von Nagi zum Arzt gebracht. Woraufhin wir im Aufzug stecken geblieben sind.“

„Und euch dann diese Idee gekommen ist?“

„So in etwa…“

Aya schüttelte den Kopf. Waren Schuldig und er nun Vorbild für die Jüngeren? Er hoffte es nicht… „Na dann, nichts wie ans Werk. Da ist die Küche“, deutete er trotzdem hinter sich und ging vor, zog sich dann auf einen der Barhocker zurück.
 

Nagi folgte und setzte sich ebenfalls auf einen der Hocker, wartete ab. Omi wollte einen Kuchen backen, also sollte er damit beginnen. Vor allem schwante Nagi schon, dass er noch einkaufen musste. Denn er glaubte kaum, dass Schuldig die Zutaten vorrätig hatte und auch war es unwahrscheinlich, dass Omi mit seinem lädierten Knöchel Einkaufen gehen würde.

Nagi kam sich seltsam neben dem Anführer von Weiß vor, den er sonst eher in anderer Laune kannte. Jedes Mal, wenn er ihn hier bei Schuldig sah, erschien ihm der Rothaarige surreal. Er konnte es nicht begreifen wie Schuldig und Fujimiya hier zusammen lebten. Aber er wusste noch, wie dieser ausgesehen hatte ... nach dem Tod seiner Schwester.
 

Wie Nagi auch wanderte Ayas Blick wieder und wieder zurück zu dem jungen Telekineten, der wie jedes Mal, wenn sie sich begegneten, still schweigend an seiner Umgebung Teil hatte. Èr wirkte schüchtern, doch da war auch noch die andere, die tödliche Seite, die sie alle so hassten, weil sie sie fürchteten. Welche war wirklich?
 

Omi besah sich die Beiden und stellte fest, dass sie in ihrer Betrachtungsweise zueinander gar nicht mal so unähnlich waren. Beide maßen sich mit einem Haufen an Gedanken, die sich vermutlich dem alten Feindbild völlig widersprachen. Beide waren verwirrt und erstaunt über diese Wandlung.

Nur er hatte den Durchblick!

Ha! Schön wäre es gewesen.

Omi suchte die Schränke nach Zutaten durch und fand alles, wirklich alles. Nur nicht das, was er brauchte. Wundervoll.

„So…entweder…mit dem Kuchen wird das nichts, oder jemand geht einkaufen“, meldete er in die Stille des Raumes und sah sich um.
 

Nagi sah sich selbst auch um. Fand jedoch niemanden außer sich, der dazu geeignet wäre. "Soll ich gehen?", fragte er leise und zuckte die Schultern, als wollte er damit ausdrücken, dass es ihm nichts ausmachen würde. Schließlich wollten SIE backen und nicht Schuldig oder Ran.

In Gedanken malte er sich schon Brads Wut aus, die ohne Zweifel über ihn prasseln würde. Doch sein Gesicht spiegelte wie immer keine dieser trüben Gedanken wider.
 

„In Anbetracht der Tatsache, dass…“, der blonde Weiß hob seine Stimme. „…Schuldig wohl nicht gehen würde, ja. Ich mache dir eine Liste.“

Aya lachte, schüttelte innerlich wie äußerlich nur den Kopf über Omi. Anscheinend hatte ihr Jüngster Schuldigs Kaffeebesuch bei Weiß zum Anlass genommen, den Telepathen weniger als Feind, eher als Kumpel anzusehen, mit dem er Scherze treiben konnte. Wie viel Schuldig jedoch von dieser Art von Respektlosigkeit halten würde…nun ja.
 

‚Was willst du, Kleiner?', kam auch prompt die Antwort in Omis Gedankenwelt. Schuldig hatte lediglich seinen Namen auf die Terrasse schallen gehört und innerlich mit den Augen gerollt.

Er konnte es sich schon denken, aber wer sagte, dass er es den anderen immer so einfach machen würde?
 

‚Ich habe mit dem Gedanken gespielt, ob du bereit wärst, ein paar fehlende Zutaten zu besorgen. Und Aya gleich mitzunehmen, er sieht aus, als ob er ein wenig frische Luft vertragen könnte’, fragte Omi mit einem lieben, unschuldigen Bitten in seiner mentalen Stimme an, für die ihn Youji schon längst geschlagen hätte.
 

Schuldig hob gelassen eine Braue und schloss die Terrassentür. Der Junge machte seiner Familie alle Ehre, bemerkte er zynisch und schlenderte lässig näher. ‚Aha. Du willst also andeuten, ich soll mit ihm ‚Gassi’ gehen?’, giftete er Omi an, blickte dabei aber Ran entgegen, die Augen voller Wärme. Als wenn er nicht wüsste, dass Ran raus wollte…
 

‚Ja und wenn ihr Stöckchen holen spielt, hoffe ich, dass es dein Stöckchen ist, das er apportiert!’, motzte Omi zurück und verschränkte die Arme. ‚Du siehst doch selbst genau, wie blass er ist. Der Gute braucht Frischluft, dann würde er dir auch nicht vom Fleisch fallen! Zumal ihm dieser Kuchen sicherlich auch sehr gut schmecken würde…’, lockte seine Stimme und vermittelte Schuldig einen Eindruck, mit welcher Begeisterung Aya sich immer wieder auf seine selbstgebackenen Süßspeisen gestürzt hatte.
 

‚Ich glaube, ich weiß sehr gut wie blass er ist', war das einzige, was Schuldig Omi ernst zurückgab und seine Laune sank dem Nullpunkt entgegen. Was bildete sich dieses freche Etwas ein?

Er kam zu Ran und berührte dessen Wange. "Willst du mit?" Sanft küsste er ihn, scherte sich keinen Deut um die zwei Jüngeren.
 

Einer davon sah fast schon entsetzt zu dem Paar und lief prompt rot im Gesicht an. Wie peinlich das war, vor allem, weil er sich selbst an seine Wünsche und Sehnsüchte erinnert fühlte. Jemanden zu haben, der ihn voll und ganz akzeptierte wie er war, keine Angst vor ihm hatte, auch mit seinen Fähigkeiten.
 

„Wohin?“, fragte Aya überrascht und strich Schuldig durch die wirren Strähnen. Er hatte an den Mienen der beiden sehen können, dass sie eine stumme Zwiesprache hielten, doch was genau…sein Blick glitt von Schuldig zu Omi, der ihn triumphierend angrinste.

„Gassi gehen“, ließ der jüngste Weiß verlauten und Aya hob die Augenbraue. Ein sehr charmanter Ausdruck, der – so nahm er zumindest an – sich auf Schuldig bezog.

„Oder auch einkaufen…finde ich nett, dass sich Schuldig so schnell dazu bereit erklärt hat, uns die Zutaten zu besorgen!“
 

Schuldig kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und spitzte die Lippen. "Lass uns gehen, Blumenkind, bevor ich dem da hinten die Blüten ausrupfe." Also, was sollen wir mitbringen?", gab er sich geschlagen. Der war ja schlimmer, als jeder andere Takatori, den Schuldig zuvor gekannt hatte.

"Nagi, halt dich von ihm fern, der verdirbt dich nur, schlechter Charakter", sagte er kopfschüttelnd und redete dem Jungen ins Gewissen, nur keinen Takatori in die traute Familie zu bringen.

Nagi hob nur spöttisch die Augenbraue und sah dem Telepathen nach. Das sagte gerade der Richtige.
 

„Ja, so schlecht, dass besagter abgrundtief schlechter Mensch dir gleich etwas anderes ausrupfen wird“, grollte Omi Schuldig hinterher. „Aber mit Rücksicht auf Rans Bedürfnisse werde ich wohl davon absehen…“

Der bedürftige, rothaarige Mann drehte sich mit ungläubigem Schnauben um und fixierte den jüngsten Weiß.

„Das ist ja sehr nett von dir, OMI“, bestätigte Aya das Gesagte mehr oder minder eindringlich und indigniert.
 

Nun musste Schuldig doch noch grinsen, während er sich die Schuhe anzog und seinen Kurzmantel überstreifte.

Welch netter Schlagabtausch. Trotzdem war ihm der Kleine zu frech.

"Nun rück schon damit raus, was wir mitbringen sollen, sonst stehen wir morgen immer noch hier", rief er zur Küche und griff sich die Wagenschlüssel.
 

„Zettel? Stift?“, fragte Omi den rothaarigen Japaner und Aya schnaubte, holte ihm beide Dinge, immer noch angesäuert über das Gesagte. Mit hastigen Kanji schrieb der junge Weiß ein paar Zutaten auf und reichte Aya schließlich den Zettel, von wo aus er just zu Schuldig weiterwanderte, während sich Aya komplett anzog, sich Schuhe und Mantel überstreifte.

„Macht nichts Unanständiges, ihr beiden“, rief er zurück. Anscheinend färbten Schuldig und er wirklich ab… „Und wenn, dann entfernt ihr die Flecken selbst.“

Er öffnete die Tür und trat auf den stillen Flur.
 

Nagi hatte diesem Abgang mit unwohlem Gefühl und einer erneut auftretenden zarten Röte im Gesicht nachgeblickt. Warum musste er auch immer an etwas weniger Harmloses wie Flecken vom Kuchenbacken denken? Vor allem, wenn er in dieses helle, verschmitzt blickende Gesicht dabei sah.

Er ließ sich vom Hocker gleiten und zog sich seinen Mantel aus, legte ihn auf die Couch. Danach zog er sich die Schuhe aus. Sein Pflichtbewusstsein sagte ihm, dass er Bescheid sagen musste, also war sein nächster Griff zum Telefon ein Muss.

Er wählte sich in eine sichere Verbindung ein und besprach relativ neutral den Anrufbeantworter. Er hatte nicht vor, Crawford auf dem Mobiltelefon anzurufen. Er war in der Besprechung mit einem neuen Auftraggeber. Das Telefon noch in der Hand haltend, brütete Nagi vor sich hin, einige Minuten hinaus auf die Skyline der Stadt blickend. Ihm war kalt, selbst hier. Er hatte sich einen übergroßen Rollkragenpullover angezogen, aber wenn er daran dachte, was er mit wem hier tat, wurde ihm in Anbetracht der Sanktionen kalt.
 

Omi hatte notgedrungen den Worten des jungen Telekineten gelauscht und festgestellt, dass diese Neutralität doch etwas künstlich wirkte, gar steif, so als müsste Nagi sich schützen durch diese Emotionslosigkeit. Seltsam.

Doch konnte er erwarten, dass Schwarz untereinander eine solch enge Bindung hatten wie Weiß? Vor allen Dingen so vollkommen furchtfrei? Nein, konnte er nicht, konnte er sich doch genau vorstellen, mit was Crawford Schwarz zusammenhielt. Genau. Mit eiserner Disziplin.

Omi runzelte die Stirn, als ihm eine Idee kam. Völlig abstrus, aber darin auch fast schon wieder logisch.

Er wandte sich an Nagi. „Was ist Crawford für eine Art von Mensch?“
 

"Warum fragst du?", drehte sich Nagi um, die Stimme neutral, das Gesicht undurchschaubar, was ihn in diesem Augenblick arrogant wirken ließ.

Seine Beine steckten in gut sitzenden Jeans, was eine Wirkung des großen Pullovers - das Kaschieren seiner schmächtigen Figur - zunichte machte.
 

„Weil es mich interessiert. Du scheinst Angst vor ihm zu haben. Warum? Ist er so, wie wir ihn kennen?“ Omi verschränkte die Arme und kam näher, stellte sich neben Nagi an die Fensterbank. Sein Blick fiel auf den Teddy dort. Er runzelte die Stirn, hob das Plüschtier hoch. Aya hatte gelernt, den Menschen in Schuldig zu sehen…vielleicht auch gerade deswegen?
 

"Nein, schlimmer", erwiderte Nagi allen Ernstes. Er überlegte, was er Omi antworten sollte und ließ sich Zeit dabei. "Hättest du keine Angst, Enttäuschung über dein Verhalten in ... den Augen von Fujimiya Ran zu sehen?"
 

Omi runzelte die Stirn. Diese Frage brachte ihn wirklich zum Nachdenken. Hätte er? Er wusste es nicht. Vielleicht nicht, vielleicht schon…

„Ja und nein…seine Meinung bedeutet mir sehr viel, doch es gibt durchaus einige Punkte, in denen wir uns uneinig sind und ich Enttäuschung schon so oft gesehen habe, dass sie beinahe alltäglich geworden ist. Doch das gehört dazu, denke ich. Du nicht?“
 

"Nein, für mich gehört es das nicht. Wir wissen, was wir voneinander zu erwarten haben und was nicht. Er hat mit allem, was er tut, nur das Wohl der Gruppe zum Ziel. Wenn du wissen willst, wie er wirklich ist ... ich glaube ... das weiß vielleicht nur Schuldig genau, wenn er Crawfords Gedanken liest. Doch das kommt nicht vor, weil Schuldig diese Privatsphäre respektiert. Er forscht nicht in tieferen Gedankenströmen. Es käme einem Bruch unserer lautlosen Vereinbahrung gleich. Wir wenden unsere Kräfte nicht gegen uns an."
 

Das überraschte Omi. Nicht gegen sich selbst? Das klang nobel…nahezu vertraut. Respektvoll. Anders respektvoll, als sie miteinander umgingen.

„Das ist durchaus interessant“, nickte er schließlich und dachte an sein Team. Sie mussten ohne diese Kräfte miteinander auskommen, schafften das jedoch auch so ganz gut. Sie waren zwar chaotisch und im Vergleich zu Schwarz doch noch naiv in ihren Ansichten, aber sie lebten. Auch heute noch. Sie hatten bisher alles überlebt, ebenso wie Schwarz auch.

Zeigte das nicht, dass sie den richtigen Weg eingeschlagen hatten, sich privat durchs Leben zu schlagen?

„Soso…und Crawford ist also noch schlimmer? Ist er ein Despot?“
 

Nun wurde ihm der andere doch etwas zu neugierig. "Das mit dem ‚schlimmer’ war ironisch gemeint", sagte Nagi mit gehobener Braue. "Du bist sehr neugierig. Ist Fujimiya denn ein Despot?", wollte er wissen, da ihm immer noch nicht wirklich klar war, welche Geheimwaffe Schuldig in die Schranken wies. Er musste schon fast ähnliche Eigenschaften wie Crawford besitzen...
 

„Ja!“, lachte Omi lauthals, ließ das Ausrufezeichen selbst durch seine Worte scheinen. „Ein Despot, wie er im Buche steht! Soll ich dir was sagen?“ Er beugte sich verschwörerisch zu Nagi. „Eigentlich…sind wir ganz glücklich, dass Schuldig ihn mittlerweile soweit ausgelastet hält, dass er seinen Tatendrang nicht auf uns projiziert.“
 

"Es wundert mich wirklich, dass Schuldig so zahm ist, wirklich faszinierend. Er begehrt bei autoritärem Verhalten eher noch mehr auf, lässt sich von niemandem etwas sagen."

Nagi bemerkte, dass er unwillkürlich lächelte, doch das Verhalten seines Gesprächspartners und das vor Freude leuchtende Gesicht strahlte ihn derart gut gelaunt an, dass es schwer war, es nicht zu tun. "Ich frage mich was passiert, wenn er genug von eurem Anführer hat...", ließ er die Frage offen und machte sich ernsthaft Gedanken darum. Schuldig war unberechenbar in Gefühlsdingen.
 

Omi hob seine Augenbraue.

„Dann trennen sie sich, ganz einfach.“ Er lächelte. „Wie es ein normales Paar eben auch tut. Es sei denn, du willst mit deiner Frage etwas anderes ausdrücken. Doch Aya wird sich wohl kaum soweit einlullen lassen, dass Schuldig ihn einfach so niedermachen kann, wenn er genug von ihm hat. Willst du mir das damit sagen?“
 

Nagi sah auf. Omi stand noch immer etwas entfernt und er selbst hatte seine Hände in den Hosentaschen seiner Jeans vergraben.

Langsam schüttelte er den Kopf. "Nein. Ich will damit gar nichts sagen. Zumindest nicht das, was du vermutest. Es geht nicht darum, Fujimiya niederzumachen. Es ... nun ja ... Schuldig könnte unkontrollierbar werden. Vieles hängt von ... Gefühlen ab. Vieles von unserer mentalen Begabung wird dadurch beeinflusst." Noch einen Moment hielt er den Blick länger in die tiefblauen Augen, bevor er sich der Stadt zuwandte.

"Zorn, Angst und all die anderen Gefühle ... sie üben Einfluss auf uns. Wie im Aufzug. Für uns ist es immer gefährlich, wenn wir uns auf dieses Spiel der Gefühle einlassen."
 

Omi sah Nagi nachdenklich in die Augen. Das war in der Tat etwas, das er bisher noch nicht bedacht hatte. Schuldigs Unberechenbarkeit, ebenso wie die des Telekineten waren eine Gefahr, wenn sie aus dem Ruder liefen. Doch konnte er es Ran sagen? Der andere Mann schien ihm so glücklich, trotz aller Schicksalsschläge gelöst und zufrieden in der Gegenwart des Telepathen. Wollte er dieses Glück zerstören?

„Was ist mit Rans Schilden?“, erinnerte er sich an etwas, das ihm erst jetzt wieder eingefallen war. „Er sagt, dass Schuldig ihn nicht lesen kann. Kann er sich dadurch denn nicht gegen ihn schützen? Und Schuldig so bremsen?“
 

"Ja, das lässt sie ... auf eine Ebene kommen", nickte Nagi. Er schwieg sich dazu aus, dass Schuldigs schizophrene Anwandlungen nur eines von vielen Problemen waren. Aber das sollte ihn nicht interessieren. Es war etwas zwischen Ran und Schuldig. Vermutlich mussten es nur wieder alle anderen büßen, falls doch etwas schief ging.
 

„Das ist gut…für beide.“ Omi sah aus dem Fenster hinaus und beobachtete die entfernte Stadt für einen Moment. „Sie tun sich beide gut, habe ich das Gefühl. Ran zähmt Schuldig, Schuldig zähmt Ran. Sie hängen aufeinander, aneinander.

Ich weiß nicht, ob es Liebe ist, aber selbst wenn es nur körperliche Anziehung ist, so reicht es doch, die beiden miteinander zu verknüpfen. Das spürt man, wenn man nur in ihrer Nähe ist.“ Er seufzte. So sehr er sich auch für Ran freute…so groß war auch seine Sehnsucht nach jemandem, den ER lieben konnte.
 

"Das hört sich ... ", Nagi wandte sich um und setzte sich unwissentlich auf Rans und Schuldigs Lieblingsplatz auf die Fensterbank. Er stützte sich mit den Händen seitlich ab und lehnte den leicht in den Nacken gelegten Kopf an die Scheibe, schloss die Augen.

Ja… wie hörte sich das an? Positiv? Illusorisch? Fremd? Ja, vielleicht alles zusammen. Er hatte sich bisher eher um die schlechten Seiten dieser Beziehung Gedanken gemacht. "Wenn wir hier in dieser Wohnung verweilen ... wie wir es gerade tun, scheint alles andere ... draußen weit weg." Er schwieg für Augenblicke.

"Aber es ist nicht weit weg."
 

„Zumindest können wir so tun, als ob, oder nicht?“, zuckte Omi mit den Schultern und vergrub seine Hände in den Taschen. „Natürlich lauert“, er rollte mit den Augen. „Das Böse da draußen, das Drama und die tragische Komödie unseres Daseins, wenn du so willst, doch was bringt es, dort draußen zu sein und sich die ganze Zeit nur verstecken zu wollen? Rein gar nichts, ich sage es dir. Sterben werden wir sowieso…nur wann ist die Frage. Und warum jetzt nicht leben? Warum warten?“
 

Nagi lächelte unwissentlich. Ein fast kaum zu sehendes Verziehen der Mundwinkel, doch er öffnete die Augen nicht. "Ich ging eher von Gefahren innerhalb dieser Räumlichkeiten aus. Alles andere ... draußen ... weit weg. Aber dieses ‚alles andere’ ... es nimmt immer Einfluss auf uns. Es begleitet uns auch hier drinnen. Wir können ihm nicht entfliehen. Wie würde Schuldig sagen? Wir können uns nicht selbst verarschen. Es holt uns ohnehin ein. Kleinigkeiten werden zu unlösbaren Konflikten und wir scheitern an unserer innewohnenden Unfähigkeit. Sterben ... natürlich. Alleine sterben, alleine leben. Alles bleibt beim Alten."
 

„Oder auch nicht, das muss es ja nicht. Ich kenne jemanden, der sagt, dass es immer eine Möglichkeit gibt, egal, wie schlecht die Situation auch scheint. Ein schrecklicher Optimist, manchmal könnte ich ihm einfach eine reinhauen.

Aber gut. Wenn wir nicht entfliehen können, warum stellen wir uns nicht einfach? Ran und Schuldig haben das auch getan. Und hat es ihnen geschadet? Nein.“

Omi lächelte, seufzte leise.
 

"Noch nicht", Nagi wandte den Kopf, lehnte noch an der Scheibe und beäugte den Blondschopf, dessen offenes Lächeln. Wie konnte er nur so offen seine Gefühle zeigen? Warum konnte man trotzdem in diesen Augen nicht immer die Wahrheit lesen?

"Und wer ist dieser Optimist?" Hörte sich an, als würde Omi von Crawford sprechen. Allerdings war es zum Teil seiner Fähigkeit des Hellsehens geschuldet, dass er immer eine Lösung fand. Entweder eine schnelle oder eine umständliche. Aber sie war da. Irgendwo dort ... in der Zukunft. Und egal, welche Opfer und Gefahren bis zu dieser Lösung lauerten. Sie würden sie überwinden.
 

Omis Augen wanderten zu denen des Telekineten, hielten sich für einen Moment an ihnen fest. An der schlanken Gestalt des jungen Schwarz, an dessen markanten Gesichtszügen.

„Ich bin es“, antwortete er und drehte sich um, streunte in die Küche.
 

Ihre Blicke kreuzten sich und Nagi schien es, als wäre er gebannt durch die Intensität der Stärke in den blauen Iriden.

Bedächtig hob er den Kopf und drehte sich auf der Fensterbank, Omi nachblickend. "Du?", fragte er gedankenverloren und neigte das Kinn nach unten, den Blick auf den Boden gerichtet.

Für einen Moment hatte er das Gleiche gefühlt wie bei Crawford. Sicherheit. Das gute Gefühl, dass jemand sich schon um ihn Sorgen würde. Dass alles gut werden würde. Nur Crawford sprach nie darüber, über die Tatsache, dass er sich darum kümmerte, dass alles gut wurde. Dass er die Fäden so spann, dass sie sich nicht Sorgen mussten. Nagi sah wieder auf.

Omi war in die Küche gegangen, seinen Fuß mit dem lädierten Knöchel schonend. Er betrachtete Omi mit anderen Augen, jetzt da er eine Gemeinsamkeit mit ihrem Leader erkannt hatte. Zwei Wege, die zum selben Ziel führten: Alles würde gut werden. Es gab immer eine Möglichkeit. "Der eine weiß es, der andere glaubt es."
 

Und war Glauben nicht manchmal genauso stark wie Wissen? Konnte Glaube nicht sprichwörtlich Berge versetzen?

Konnte er. Oder auch nicht, wie Omi nun feststellte, als er sich auf die Suche nach etwas trinkbarem Warmen machte und selbst seinen Glauben an den guten Geschmack von Schuldig verlor.

Ja…klar…Rans Lieblingstee. Verdammtes Zeug, schmeckte widerlich, das Zeug.

Kritisch die Stirn runzelnd durchsuchte er die Schränke, verfluchte den Telepathen. Er wollte keinen Kaffee, er wollte keinen Ran-Lieblingstee. Kakao. Das wäre schön.
 

"Suchst du etwas Bestimmtes?", fragte Nagi.
 

„Kakao. Echten, schokoladigen, Kakao.“
 

Nagi entsann sich, dass das Gesuchte im schmalen Schrank aufbewahrt wurde, in dem auch Schuldigs Süßigkeitenvorrat seinen Platz hatte. Die Fensterbank verlassend ging er in die Küchenzeile und hob die Hand um mittels seiner Telekinese die Tür des Schrankes zu öffnen. Er machte dies oft so, gehörte es doch zu seinem ihm selbst auferlegten Training, damit er seine Fähigkeiten besser dosieren konnte. "Hier steht die Dose. Schuldig füllt den Kakao immer in eine der Dosen um." Eben diese schwebte zu Nagi herab, bis er sie ergriff und sie öffnete. Tatsache.
 

Omi beobachtete fasziniert, wie sich diese Dose auf den Weg gemacht hatte. Oh ja, diese Kraft konnte auch helfen, nicht nur zerstören, das wurde ihm jetzt wieder bewusst.

„Warum wohnt er eigentlich nicht mit dir und Crawford und Farfarello zusammen?“, fragte der blonde Weiß aus plötzlichem Interesse und runzelte die Stirn.
 

Die Dose an Omi reichend wollte Nagi der direkten Frage zunächst ausweichen. "Es geht nicht ums wollen...", wich er aus. „Ich habe auch eine kleine Wohnung in der Nähe der Universität. Dort bin ich aber selten. Schuldig braucht weite, große Räume, sein eigenes Reich. Wenig Reize, die ihn stören, viel Ruhe." Er zuckte mit den Schultern und sah zu Omi auf.
 

„Und da hat er sich Ran ins Haus geholt?“, fragte Omi ungläubig. „Wenn er soviel Ruhe braucht, wie du sagst, wie passt dann Ran in dieses Konzept? Vor allen Dingen, als er noch nicht freiwillig bei ihm war?“
 

"Das ist typisch Schuldig. Er hat nicht über seine Tat nachgedacht. Es war wohl seiner Spontanität geschuldet, dass Ran hier war und nicht beseitigt, wie wir es ursprünglich vorhatten. Crawford hat ihm, trotzdem er wohl gewusst hatte, welche Probleme diese ‚Spontanität’ mit sich bringen würde zugestimmt. Er kann ihm selten etwas abschlagen. Schuldig hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht bedacht, dass es nicht einfach werden würde wenn euer Anführer hier ist und seine Zurückgezogenheit stört."

Nagi zog sich auf einen der Barhocker zurück, blickte nach draußen. Es wurde langsam dunkel.
 

„Anscheinend hat er es überstanden…und so wie es scheint, recht unverletzt. Schuldig meine ich“, grübelte Omi. „Ich kann mir vorstellen, dass Ran ihm die Hölle heiß gemacht hat. Eine harte Schule, ich sage es dir. Vermutlich ist er sogar Masochist. Wer weiß.“

Omi stellte den Kakao ab und machte sich am Kühlschrank zu schaffen. Haha. Wie sollte er denn bitteschön etwas zubereiten, wenn keine MILCH vorhanden war?

Eben. Gar nicht erst versuchen am Besten.

Frustriert schloss er die Tür wieder. Also warten, bis die beiden Herren wieder da waren.
 

"Ja, der arme Schuldig", nickte Nagi, den Rücken Omi zugewandt und leise in den beginnenden Abend lächelnd. Natürlich ... der arme Schuldig. Der arme unberechenbare, schizophrene Schuldig.

"Meinst du sie bringen Milch mit?", fragte er dann, als er hörte wie frustriert der Kühlschrank wieder geschlossen wurde. "Ruf sie lieber an, sonst sinken deine Chancen auf Milch rapide."
 

„Es stand auf dem Einkaufszettel, also sollten sie es gefälligst wohl mitbringen“, grollte Omi und seufzte frustriert, kam dann zu Nagi und setzte sich auf einen der gegenüberliegenden Barhocker. Er stützte sein Kinn auf und grübelte nach. Über irgendwas…er wusste im Nachhinein nicht mehr genau, was es denn gewesen sein mochte.
 

"Warum bist du niedergeschlagen? Außer, dass du mit mir hier festsitzt."

Wieder kam Nagi nicht umhin, diese einladenden Lippen zu bemerken, wie sich die Mundwinkel in schmollendem Zug nach unten bewegten. Langsam wurde die Wohnung ins Dunkel getaucht.
 

Omi lachte über den Scherz, der vermutlich keiner war.

„Wegen nichts“, schüttelte er den Kopf und zuckte mit den Schultern. Er rieb sich über die Augen und entlastete seinen Knöchel. Langsam tat es wieder weh. Langsam wurde es wieder schlimmer.
 

"Solltest du dich nicht niederlegen? Dein Bein hochlegen? Es entlasten?" Omi schien müde zu sein, und Nagi war es als würde er es bereuen, dass er einen Kuchen backen wollte.
 

„Geht schon“, winkte Omi ab. Als wollte er wegen so einer kleinen Verstauchung aufgeben, Nein nein, das würde er nicht tun. Er war doch schließlich keine Memme. Er nicht. Nein. „Wie lange brauchen die beiden bis zum Supermarkt und zurück?“, fragte er, um von seiner Person abzulenken.
 

"Kommt darauf zu welchem sie gehen. Schuldig macht oft Umwege, oder kauft in kleinen Läden ein. Um seine Wohnung zu schützen. Das heißt, es könnte länger dauern bis sie wieder kommen. Vielleicht gehen sie auch zu Fuß." Nagi hob eine Braue. "Du weißt sicherlich wie ... wenig ... verantwortungsvoll es wäre, hier tapfer sein zu wollen, nur um danach länger in deinem Team auszufallen?" Er lächelte wieder sein flüchtiges Lächeln und breitete seine Hände auf der Fläche der Theke aus, Omi begann einige Zentimeter in der Luft über seinem Hocker zu schweben.
 

„Hey!“, beschwerte sich Omi entrüstet und klammerte sich dramatisch an die Tischkante, machte ein sterbensverzweifeltes Gesicht. Lachte dabei jedoch so vergnügt, dass Nagi ihm diese Verzweiflung wohl kaum abkaufen würde.

„Aber nicht fallen lassen, hörst du?“, wedelte er streng mit seinem Zeigefinger und ruckte sich auf…in…dieser unsichtbaren Kraft zusammen.
 

Die Augen leuchteten vor Vergnügen, das Gesicht schien von innen zu strahlen. Es steckte an und Nagis Lippen breiteten sich zu einem echten Lächeln aus. Er wagte es, Omi etwas höher schweben zu lassen. "Du wolltest ja nicht auf gute Ratschläge hören, also musst du jetzt fühlen!", unheilte er breit lächelnd, lachte dann befreit, als er das Gesicht weiter betrachtete wie es einen hilflos komisch verzweifelten Ausdruck annahm. "Ich bin groß und stark und fange dich auf wenn du runterfällst!"
 

Omi fiepste irgendwie, als er sah, wie sich der Boden weiter und weiter von ihm entfernte. „Na das sagst du jetzt! Und wenn es soweit ist…dann lande ich auf meinem Hosenboden, garantiert! Ha!“

Er baumelte mit den Beinen in der Luft, hatte jedoch gar keine Chance, dem Frieden nicht zu trauen. Die Moleküle unter ihm waren so starr, so stabil, dass sie alles halten würden. Zumindest hatte er das Gefühl, dass sie es wären...einen handfesten Beweis dafür gab es nicht.
 

Nagi schloss für Momente die Augen, in denen er die Kraft, die ihm half mit seinen Fingern nachzeichnete und ihm war es als könne er Omis Silhouette nachfühlen. Er dirigierte ihn Richtung Couch, langsam, bedächtig. Es war anstrengend, diese telekinetischen Kräfte in sich zu zügeln. Damit sie nicht ungebremst, wild ausbrachen musste er sich stark konzentrieren. Als er seine Augen wieder öffnete, glimmten sie sacht im charakteristischen Violett. Es war zwar anstrengend aber es machte ... Spaß. Ja, das tat es, schon allein ... weil er auf diesen Körper achten wollte. Eine neue Erfahrung für ihn. Mit Omi daran zu üben machte mehr Spaß als alleine.
 

Omi blinzelte, war schier verstört über seinen schwebenden Abgang.

„Das ist unfaire Kriegsführung“, meckerte er und strampelte noch etwas mehr mit seinen Beinen. Er sah zu Boden, sah auf die Gegenstände, die so faszinierend weit weg schienen.

Auf die Couch, die nun näher und näher kam. „Ich hätte auch alleine laufen können!“ Just in diesem Moment schienen sich die Moleküle unter seinem Hintern zu verändern und um ihn zu streichen. Um seine gesamte Form.

Omi runzelte verwirrt die Stirn, dann lachte er vergnügt. „Du fummelst!“
 

Erschrocken ließ Nagi Omi über der Couch fallen, sodass dieser einige Zentimeter hinunterplumpste. "Tu ich nicht!", bestritt er vehement. Doch aller Vehemenz zum Trotz lief er zartrosa im Gesicht an und strafte seine Worte lügen. "Und weshalb lachst du dabei?", wollte er trotzig wissen, steckte seine Hände in die Taschen seine Hose, als wären sie sonst zu gefährlich. "Ich habe dich nicht unsittlich berührt, es war lediglich ein ‚Nachfühlen’ deiner Silhouette".
 

„Hab ich’s doch gesagt! Du hast mich fallen gelassen!“, motzte Omi dagegen und grollte, rieb sich demonstrativ theatralisch sein lädiertes Hinterteil.

„Nachfühlen der Silhouette? Soso. DAS hätte ich an deiner Stelle auch behauptet!“ Er sah maulend zu Nagi hoch und lachte wieder. „Ich lache, weil ich es lustig finde…nicht, weil ich dich lustig finde. Allerdings würde mich interessieren…funktioniert das mit der Selbstbefriedigung genauso? Ich meine genauso handlos?“
 

Nagi starrte den jungen Mann auf der Couch an, der ihn immer noch freudig angrinste. "Ich habe kein Interesse an ... an ... am Fummeln!" rief er aus und schnaubte. "Ich mache das oft mit Gegenständen um ihre Form zu erfühlen, das ist alles, und es ist anstrengend für mich", sagte er sich auf die Lehne der Couch zu setzend. "Rein theoretisch funktioniert das andere auch. Nur ist es schwierig für mich, weil meine Kräfte wild sind, ich lerne noch sie zu zähmen."
 

Omi sah zu Nagi hoch, direkt in die violetten Augen des anderen Jungen. „Zu zähmen?“, fragte er wissbegierig nach, hatte jedoch im Kopf ein ganz anderes Bild, als ihm der Telekinet vielleicht abnehmen mochte. Er wüsste schon einige Arten, die Kräfte des jungen Schwarz zu zähmen….einige. Wie gut, dass Schuldig gerade nicht in der Nähe war, um ihn ordentlich in die Pfanne zu hauen.
 

Weshalb hatte er nur das Gefühl, dass der Weiß Zweideutigkeiten von sich gab?

"Ja, zähmen", sagte er nachdenklich und behielt Omi im Blick. "Sie sind zu roh, ungeschliffen. Oder erinnerst du dich nicht an unsere Begegnungen während unserer Aufträge? Hattest du den Eindruck, ich könnte meine Kräfte zügeln?" Vermutlich dachte der Weiß die Intensität wäre immer gleich hoch. Doch vieles hing von Übung, aber auch von äußeren Einflüssen ab.
 

„Nein, ich habe gedacht, es wäre Berechnung. Deine Unberechenbarkeit wäre Berechnung. Das hatten wir auch bis jetzt noch angenommen.“ Omi zuckte mit den Schultern, machte deutlich, dass er das Thema eben nicht an Kritiker weitergeben würde.

„Ich kann deine Kräfte nicht messen, ich kann sie nicht sehen. Daher ist es schwer zu sagen, ob sie unausgereift oder schon geschult sind.“
 

"Berechnung." Ja zum Teil war es das. "Es ist Berechnung. Allerdings nur in dem Maße, dass ich meine Kräfte auf hohem Niveau einsetze. Nur die kleinen, sanften Dinge kann ich nicht", sagte er mit wehmütigem Blick, jedoch waren seine Worte wieder ausdruckslos geworden, wenn es um seine Schwäche ging.
 

„Du hast das Eine gelernt, wieso also nicht auch das andere?“, fragte Omi schlicht und bettete seinen heißen Knöchel auf eines der Kissen, zog das andere Bein zu sich. Wenn es möglich war, Zerstörung zu lernen, dann konnte auch Sänfte ausgeübt werden. Ganz sicher.
 

Für einen Augenblick wollte Nagi wütend werden, war es die alte Wut in ihm, die diese Worte, des unverbesserlichen Optimismus zum Schweigen bringen wollte.

Er wandte sich abrupt ab, blickte zum Fenster hinaus. Es war dunkel um sie herum. Er mochte es nicht, wenn es dunkel war. Mit einer kleinen Fingerbewegung legte er die Schalter für die sanfte Beleuchtung in der Nähe um und tauchte sie in warmes Licht.

"Ich habe das ‚Eine' nicht gelernt. Ich kann es einfach. Schon immer. Und habe es nie verstanden."
 

„Es ist ein Teil von dir. Wie deine Haare, deine Augen, deine Beine…was auch immer. Das musst du nicht verstehen, du musst es akzeptieren, oder kannst du sie einfach vergessen, deine Kraft?

Du magst nicht gelernt haben, sie zu erzeugen, aber du hast gelernt, sie zu benutzen. Sie dir in Ansätzen Untertan zu machen. Und das kannst du zum Positiven wenden.“ Omi legte die Arme auf die Couchlehne und stützte das Kinn darauf. Schweigend beobachtete er Nagi.
 

"Nein .. vergessen konnte ich sie noch nie", sagte Nagi und Bitterkeit schlich sich zwischen die Worte. Ich kann sie mir nur dann untertan machen, wie du so schön sagst, wenn ich meine Gefühle bändige. Ohne Gefühle habe ich Ruhe. Leite ich meine Gefühle, beherrsche ich meine Kräfte. Ich wüsste nicht wie ich das zum Positiven wenden sollte", lächelte Nagi und blickte zu Omi.
 

„Hm.“

Omi runzelte nachdenklich die Stirn, sah direkt in die Worte des anderen. „Dann fehlt es dir an Ausgeglichenheit, ganz klar. Du brauchst Ablenkung. Vielleicht konzentrierst du dich zu sehr auf deine Kräfte, vielleicht musst du einfach mal los- und dich gehen lassen“, schlug er schließlich vor.
 

Sich Gehen lassen? Was war das denn für eine Fehlinterpretation seiner Situation? Es amüsierte ihn.

Und ihm kam eine Idee. Er sollte Omi eine Kostprobe von seiner Losgelöstheit geben. Vielleicht verstand dieser dann das Ausmaß seiner Probleme. Wobei ... wirklich verstehen würde er es nie. Das konnte niemand. Außer Jei, Brad und Schuldig. Aber dieser ... normale Mensch konnte das nicht. Sie würden es alle nie verstehen, hatten es noch nie verstanden...

Er legte den Kopf in den Nacken und lächelte verträumt, seine Augen erfassten im Blickwinkel Omi. „Du meinst ich soll mich gehen lassen? So richtig?“, fragte er nach und lachte dann leise, bis er immer lauter wurde, härter, verächtlicher. Kälter.
 

Und dann ließ er sich gehen, schloss die Augen, ließ sich fallen und wurde gleichzeitig getragen. Er levitierte im gleichen Moment, wie er sich nach hinten fallen ließ, spürte wie seine Kraft um ihn wirbelte, ihn fast schon umschmeichelte, seine Haut prickelte und seine Kleidung flog mitsamt seiner Haare auf.

Immer weiter drifteten seine Augen zu, bis sie nur noch einen leuchtenden Spalt offenbarten, die Iriden Omi zugewandt, ihn nicht aus dem Blick lassend. Sie schienen zu sagen: Sieh her, sieh mich an, glaubst du ich könnte mich gehen lassen? Wie sieht es aus, wenn ich mich gehen lasse? Schrecklich?
 

Weiter durfte er nicht gehen, aber er spürte wie es weiter wollte, wie sein Inneres nach außen strebte, es wollte frei sein, es wollte nach draußen, es wollte sich gehen lassen...

Die Schranken wollten brechen ... sie durften nicht brechen, er durfte hier nicht die Kontrolle verlieren.

Wie fängt man mit Süßspeisen Männer ein

~ Wie fängt man mit Süßspeisen Männer ein ~
 

Es war beängstigend.
 

Natürlich war es das, war es doch etwas nie Dagewesenes für Omi. Etwas vollkommen Neues, Erschreckendes, aber gleichzeitig auch Faszinierendes. Sehr faszinierend, erinnerte Nagi Omi doch keineswegs an ein Monster oder ein übernatürlich beängstigendes Wesen wie es im Aufzug geschehen war, sondern an eine helle Lichtgestalt, wie er dort floss, wie ihn dieses sanfte Glimmen umspielte.

Omi spürte den Wunsch, Abstand zu nehmen in sich, doch ebenso den Wunsch, sich ihm zu nähern und ihn zu berühren, zu erfühlen, was diese Kraft tat.

Er richtete sich auf, drückte sich jedoch gleichzeitig zurück in die Lehne. Ambivalent wie seine Gefühle, waren auch seine Handlungen, sein schnell schlagendes Herz, seine vor Aufregung unruhigen Hände.
 

„Und nun?“, fragte er erstaunlich fest in Stimme und Mimik.
 

Nein, er durfte und wollte die Kontrolle nicht verlieren. Doch er wollte ... ja er wollte ... dass Omi ihn so sah. Ihn ganzheitlich erkannte, wie er war und nicht wie er zu sein vorgab, wie er Teile von sich im Verborgenen hielt. Es war befreiend.

Deshalb blieb er noch Augenblicke in diesem Zustand, schwebte in dem Gefühl des angenommenen Seins, nur durch die Tatsache, dass er sich frei bewegen konnte, dass er sich nicht verbergen musste. Es war als könne er frei atmen...
 

... genauso frei, wie Schuldig atmen konnte, seit Ran bei ihm war.

"Man ist das kalt", hangelte Schuldig nach dem flachen Gegenstand der ihnen die Tür öffnen sollte und versuchte dabei die Tüte auf seinem Arm nicht fallen zu lassen.
 

„So dünn wie du angezogen bist, kein Wunder“, gemahnte Aya streng und nahm Schuldig die Schlüsselkarte ab, wuchtete seine Tüte derweil auf die Hüfte und öffnete die Tür, betrat schließlich die einladend warme Wohnung…
 

…nur um im nächsten Moment wie versteinert stehen zu bleiben und das sich vor ihm abspielende Schauspiel anzustarren. Was in aller Welt…?
 

"Ja .. du kannst mich ja aufwärmen. War alles Berechnung ....", verteidigte sich Schuldig und trat nach Ran ein, schob diesen etwas weiter, als er sah, was Ran scheinbar daran hinderte sich zu bewegen. Danach schloss er die Tür.

"Alles in Ordnung", flüsterte er und küsste Ran auf die Ohrmuschel, bevor er sich an ihm vorbei schob und zu Nagi ging, dessen Körper mitten im Raum über der Couch schwebte.

"Nagi ... Nagi", seufzte er mit einem nachsichtigen Grinsen.

‚Hey Kleiner', schoben sich seine Gedanken in Nagis und suchten den Kontakt. Aufgeregte Freude schlug ihm entgegen und Schuldig lachte. Er hatte Nagi noch nie so positiv erlebt. Nicht in seinen Gedanken ... und sonst ... auch nicht.

Der Telepath entledigte sich seiner Jacke, warf sie auf den Dreisitzer daneben und schob seine Hände in Nagis Einflussbereich. Sein Haar wurde von der Energie erfasst, ebenso seine Kleidung, die wild aufflatterte. Noch hatte er keinen Kontakt zu ihm.

"Was soll die Show, Kleiner? Willst deinen neuen Freund beeindrucken, was?", grinste er.

Nagi wandte den Kopf zu ihm und er glitt in seine ausgestreckten Arme. "Will ich nicht", kam es etwas verträumt zurück, obwohl kleine, gemeine Funken in Nagis Augen tanzten. Schuldig konnte deutlich erkennen, dass Nagi seine Fähigkeiten gerne einsetzte und auch bewusst zeigen wollte.

Das Gewicht in seinen Armen wurde mehr, je weiter Nagi sich zurücknahm. "So, nicht? Und warum muss ich dich dann hier herunterpflücken?"

"Ich hatte es so gewollt, ganz einfach"

"Es hat dir Spaß gemacht."

Nagi schwieg zu dieser Feststellung, aber Schuldig wusste, dass dem so war. Der Junge hatte Spaß daran, seine Fähigkeiten einzusetzen, sie für harmlose Dinge zu benutzen. Doch dies tat er nie.
 

Omi begriff in diesem Moment, was Ran an Schuldig fand, was er in Schwarz sah. Er begriff, wie menschlich die Beiden doch waren, wie menschlich trotz und gerade wegen ihrer Kraft. Es wärmte ihn, von innen heraus und er lächelte, wandte seinen Blick zu Ran, in dessen Augen er Ähnliches aufkeimen sah. Ja, Ran wusste, was er von Schuldig hatte.

Er sagte nichts, wollte diesen Moment nicht stören, wollte dieses Bild noch ein wenig länger genießen, diese liebevolle Zuneigung. Wie schön es doch war, wie beneidenswert. Doch was sagte er…waren sie bei Weiß nicht ähnlich verbunden? Zwar nicht durch ihre Kräften, sondern durch ihre äußeren Umstände? Ja, waren sie!
 

"Runter mit dir, du hast zugenommen, Dicker!", grinste Schuldig neckend und ließ Nagi prompt auf den Dreisitzer neben Omi plumpsen. Nagi, der noch immer leicht verträumt zu ihm aufsah, ließ sich jedoch auf diese Provokation nicht ein. "Soll dies bedeuten, du hast nicht genug Muskelkraft um mich zu tragen?", setzte er entgegen.
 

"Seit wann bist du so frech?", murrte Schuldig und schnaubte. Er kehrte dem Jüngeren den Rücken zu und ging um sich den Einkäufen zu widmen. "Ich sag dir doch! Pass auf, mit wem du dich abgibst. Der Kerl hat einen schlechten Einfluss auf dich!"
 

Omi war zu fasziniert, um wirklich beleidigt zu sein. Nagi sah aus, als wäre er auf Droge, so wie die blassen Wangen sich gerötet hatten, so verträumt und gelöst, wie sein Blick war. Und Omi konnte sich durchaus vorstellen, dass es wie ein Rauschmittel auf den jungen Telekineten wirken musste, seine Kräfte anzuwenden und sich ihnen zu ergeben.

„Nach deinem schlechten Einfluss soll Omi noch was beeinflussen können?“, fragte es neben ihm und der junge Weiß sah direkt in Ayas Gesicht, das nur so vor Vergnügen funkelte. „Wie sagt man so schön….da wächst kein Gras mehr!“ Und schon folgte der rothaarige Mann mit einem letzten Blick auf Nagi Schuldig in die Küche und Omi sah nur noch, wie das Hinterteil des Telepathen einen liebevoll klatschenden Klaps erhielt.
 

"Stimmt doch überhaupt nicht! Schlichtweg eine Verleumdung ist das! Du glaubst doch nicht, dass Crawford es zulassen würde, dass Nagi von mir verdorben wird? Da lach ich doch mal kräftig."

Was er auch noch lautstark tat, bevor er zu Omi blickte. "Hey Takatori junior, rutsch mal rüber und greif dir die Sachen für deinen Kuchen", ließ er vernehmen und warf Ran den Zucker zu, damit dieser die süße Fracht in den Schrank räumen konnte.
 

„Fick dich, Mastermind“, ertönte es von der Couch und Aya hätte schon am Ton hören können, dass etwas nicht stimmte. Wenn er es nicht auch so gewusst hätte. Er sah Schuldig in die Augen und schüttelte unmerklich den Kopf. Die durch den Spaziergang noch offene Pforte zu seinen Gedanken ließ nun Ayas eigenes Missfallen heraus, das über den Kommentar des Telepathen aufgebrandet war.

Der Hass auf Takatori war nicht verschwunden, nein, der Hass auf dieses Monster von einem Mann. Der Hass auf den Mann, der seine Familie auf dem Gewissen hatte. ALLE von ihnen.

Aya drehte sich weg und öffnete den Kühlschrank, verstaute schweigend die restlichen Dinge in den Fächern.
 

Ihm entging dabei, dass Omi langsam auf sie zukam, die Miene unleserlich und weit weniger ausgeglichen als zuvor.
 

"Setz dich", sagte Schuldig völlig ernst, aber eindringlich und gab seinen Worten etwas Nachdruck, indem er Omis Geist einen Zug in die Richtung eines der Barhocker gab. Nagi war ihm gefolgt und stand noch außerhalb der Küche, hielt sich mit einer Hand an der Arbeitsplatte.

‚Ran? Diese Made von Mensch ist tot.' Er warf Omi einen langen Blick zu, während er mit verschränkten Armen an der Anrichte ihm gegenüber lehnte.

"Irre ich mich oder bist du kein Spross der Familie Takatori?", fragte er ruhig und sah im Augenwinkel, wie Nagi sich versteifte. Er hatte Takatori gefürchtet und gehasst. Schuldig ... wollte nicht, dass Nagi alte Gefühle befielen. Und er hatte absolut keinen Bedarf danach Ran ...

‚Ich wollte damit keine alten Wunden aufreißen, Ran. Eigentlich hatte ich damit überhaupt keine Absicht erzielen wollen. Ich kenne ihn nur unter diesem Namen. Und vielleicht unter seinem Codenamen. Doch er hätte weniger hochtrabend geklungen.' Noch immer blickte er auf Omi.

"Musstest du ihn erwähnen?", kam eine leise Stimme von Nagi, fremd und monoton klingend. "Eine indiskutable und falsch platzierte Äußerung, die deiner Unbedachtheit geschuldet war."
 

‚Das macht den Schmerz aber nicht leichter. Hat es nie getan’, erwiderte Aya gedanklich, strich Schuldig jedoch liebevoll über den Oberarm.

„Es war sicherlich nicht Absicht…“, erwiderte schließlich überraschenderweise Omi, nicht Aya und er zuckte mit den Schultern. „Natürlich bin ich einer. Doch das heißt nicht, dass ich stolz auf diesen Namen bin oder ihn hören möchte. Es gibt Gründe, warum ich mich nicht Takatori Mamoru nenne. Das dürfte dir nicht unbekannt sein. Du bist schließlich auch jemand anderes als Schuldig“, richtete er explizit an den Deutschen.
 

"Bin ich das?", gab dieser hintergründig zurück, platzierte einen sanften Kuss auf Rans Stirn. "Vielleicht war es ja doch Absicht? Was macht euch da alle so sicher?", löste Schuldig sich von Ran, wollte nicht zu weich wirken. Was glaubten die denn alle, wer er war? Ein verweichlichter Waschlappen! Pah. Er nicht.

Und was ihn am Meisten ... ja ankotzte....

Ein verächtlicher Blick traf Nagi und er griff sich seine Zigaretten von der Ablage. "Ich gehe auf die Terrasse", sagte er, ging an Nagi vorbei, blieb bei ihm stehen und sah auf ihn herab. Etwas in ihm rührte sich.

Wie in Zeitlupe griff er in den zarten Nacken, packte zu und warf Nagi vor Omis Füße.

"Wenn du Angst hast wie früher, dann verhalte dich auch wie früher", zischte er und seine Augen brannten vor Wut. Es war ein altes Problem, mit dem Nagi kämpfte. Und wie oft hatte er versucht, dem Jungen das einzuschärfen.
 

Entsetzen kolorierte Omis Blick, als Nagi mit einem dumpfen Aufprall vor ihm landete, sich noch nicht einmal gegen die grobe Behandlung wehrte.

Schneller als er selbst denken konnte, war er selbst unten und hatte den jungen Telekineten angefasst, ihn vorsichtig zu sich herumgedreht, während er gleichzeitig wütend zu Schuldig hochfunkelte.

„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“, zischte er wutentbrannt. „Was fällt dir ein, er hat doch nichts getan!“

Auch Aya nahm das mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis. Die Entspannung war flöten und mit ihr die Verbindung zu Schuldig. Er griff den Telepathen am Oberarm, zog ihn zu sich herum. „Hör auf damit, was willst du damit erreichen?“
 

Schuldig machte sich los und drehte dem Chaos, welches er angestiftet hatte, den Rücken zu.

"Ich habe schon erreicht, was ich wollte." Schlendernd und leise lachend ging er davon. "Omi könnte nie ein Takatori sein, mit oder ohne Namen. Dazu fehlt ihm das Streben nach dem Genuss nach Macht über andere", hörte man ihn leise. Ohne zu zögern, oder den Impuls zu dieser Anwandlung, diesem guten Gedanken, den die Takatoris immer empfanden, wenn sie jemanden vor sich knien hatten, jemanden vor sich hatten, der litt .. hatte sich der junge Weiß hinunter zu Nagi begeben und ihm beigestanden. Omi war nicht einmal im Kern ein Takatori.

Nagis Ängste vor diesen alten Zeiten, die durch den Namen Takatori wie ein Symbol wirkten traten wieder zu Tage. Und Schuldig mochte den jungen Mann nicht wenn er wieder zu einem willenlosen Werkzeug wurde, wie er früher eines war.
 

Nagi biss sich auf die Innenseite der Unterlippe und verzog den Mund zu einer bitteren Linie. Schuldig hatte Recht.

Langsam sah er auf und wurde mit der Nähe von Takatori Mamoru konfrontiert. Er fixierte diese Augen stumm. Warum konnte er nicht wie Schuldig sein? Er hatte sich selbst belogen damals. Als er versuchte, bei Schwarz mitzuhalten, ebenbürtig mit ihnen zu sein, obwohl er so jung gewesen war. Noch immer der Jüngste. Er hatte seinen eigenen Weg gefunden.
 

Aya starrte Schuldig wütend hinterher. Dieses manipulative…

Er griff den nächsten Gegenstand, der bei ihm war und schleuderte dem verdammten Telepathen mit Präzision den nassen Spüllappen an den Hinterkopf, wo er mit einem lauten Klatschen sein Ziel erreichte. Erst dann atmete Aya tief ein. Natürlich, Schuldig hatte es nur gut gemeint, hatte den beiden nur etwas verdeutlichen wollen. DENNOCH.

Auch er beugte sich zu dem dunkelhaarigen Jungen hinunter und streckte ihm eine Hand entgegen, hatte er doch das unbestimmte Gefühl, etwas von Schuldig Grobheit wiedergutmachen zu müssen.

„Kannst du aufstehen?“, fragte er und wechselte einen Blick mit Omi, in dessen Augen sich Erstaunen und Erkenntnis widerspiegelten. Ja, Omi wusste. Er hatte auch schon vorher gewusst, dass er kein Takatori war, auch wenn er dieser Familie angehörte. Und es nun noch einmal bestätigt zu bekommen…
 

Schuldig zuckte zusammen und drehte den Kopf dreist und deutlich dreckig grinsend zu Ran, nahm den Waschlappen vom Boden auf, wo er nach seinem Treffen gelandet war und verkündete mit einem unheilvollen Blick bitterböse Rache.

Danach verschwand er im hinteren dunklen Bereich der Wohnung und hinaus auf die Terrasse.
 

Nagi fühlte sich unwohl, denn diese unerwünschte Aufmerksamkeit machte ihn verlegen und vor allem unsicher.

Die Worte von Schuldig hingen immer noch in der Luft und er konnte den Blick kaum von dem jungen Takatori lösen. Ja, er war einer von ihnen, aber er verhielt sich anders. Seine Augen waren anders. Aber war es nicht auch so, dass diese Augen lügen konnten? Hatte er es nicht selbst beobachtet? Genau daran konnte er es feststellen. Er war einer von ihnen. Aber er verbarg seine Trauer hinter dieser Lüge, nicht seine Perversität, seine Gier.

"Ja, es geht, Schuldigs Methoden erscheinen etwas unorthodox", sagte er leise.

Er fühlte sich zu diesem Takatori hingezogen.

Mit seltsamem Gefühl im Bauch wurde ihm die Berührung durch diesen immer noch überdeutlich bewusst.
 

Aya hatte Schuldigs Grinsen sehr geflissentlich übersehen und sah nun mit einem Lächeln, wie Nagi einschlug und er ihn hochziehen konnte. Der Junge war leicht, in seinen Augen zu leicht.

„Backt ihr beiden den Kuchen, ich werde mich um Schuldig kümmern“, unheilte er dunkel und vielversprechend. Und ob er sich um den Telepathen kümmern würde. SO würde Schuldig nicht davon kommen, nicht bei ihm. Oh nein. Nein nein. Er streifte durch die Wohnung, zur Terrasse, wo er den Übeltäter vermutete.
 

Der wohlweißlich wissend, dass seine Einladung angenommen werden würde, mit einer Handvoll Schnee aufwartete. Schließlich war die Terrasse nicht überdacht und es lag noch gefallener Schnee zu genüge herum um sich zu rächen.

Die Terrasse lag wie der übrige Teil der Wohnung bis auf die Sitzgruppe und die Küchenzeile in Dunkelheit und Schuldig war nur durch das Aufglimmen seiner Zigarette in der Dunkelheit auszumachen.
 

Dem Rothaarigen nachblickend stand Nagi immer noch sehr dicht an Omi und trat nun einen Schritt weiter in die Küche hinein. Er fühlte sich fehlplatziert und die Erkenntnis von vor wenigen Minuten ließ ihn den Blickkontakt mit Omi meiden. "Wie soll ich dir helfen?"
 

Omi grübelte für einen Moment und nannte Nagi dann alle Mengen der Zutaten, die dieser dann vorsorglich schon mal abteilen konnte, damit Omi schließlich nichts weiter machen musste, als sie kunstvoll ineinander zu verrühren und zu hoffen, dass das Ergebnis auch schmeckte.
 

Aya dagegen trat auf den Balkon und nahm Schuldig einzig als den gewünschten, roten Punkt wahr. „Elender Dramatiker“, murrte er, bevor er zu dem Deutschen aufschloss.
 

Schuldig opferte zu Gunsten einer höheren Aufgabe seine Zigarette, an der er kaum gezogen hatte, als er Ran auf die Terrasse kommen sah.
 

Langsam enthüllte er den weißen Schnee in seiner Hand, traf damit zielgenau Rans schimmerndes Gesicht und verwischte den kalten, weißen Niederschlag in selbigem.

"Sonst lernen sie’s nie", grinste er und griff sich Ran um die Taille um ihn gleich noch gegen die Wand zu pinnen. Teile des Schnees verflüchtigten sich durch die schnelle Bewegung und den Rest um Rans Mund schmolz Schuldig mit seiner Zunge, bevor er die Lippen einnahm und heiß zwischen sie glitt.
 

Aya lächelte in den Kuss, in diese perfide Inbesitznahme, auch wenn er durchaus überrascht von diesem schändlich hinterhältigen Angriff des Deutschen war. Der Schnee schmolz in kleinen Flocken auf seinem Gesicht, hinterließ kalte, nasse Tröpfchen auf seiner Haut.

„Willst du mich herausfordern?“, murmelte er leise lachend und zog Schuldig noch etwas enger an sich, kühlte derweil seine Hände an der kalten Abendluft, nur um sie dann Zentimeter um Zentimeter in Schuldigs Hose kriechen und das noch schlaffe Fleisch des anderen Mannes umfassen zu lassen. Mal sehen…wer von ihnen hier wen überraschte.
 

„Hmm...“ Ein zischender Stöhnlaut entwich Schuldig und er zuckte zurück vor diesen kalten Händen. „Wenn er erfroren abfällt, bist du schuld!“, jammerte er. Was jedoch etwas unglaubwürdig wirkte, denn er presste sich schon näher an Ran, knabberte, nippte an dessen Lippen, während seine Hände sowohl an dessen Nacken als auch an dessen Kehrseite Gefallen fanden. Ran hatte diese fatale Wirkung auf ihn, diese lustbringende Wirkung, die ihn heiß laufen ließ und die kalte Hände noch intensiver fühlen ließ...
 

Währenddessen waren die Jüngeren mit keuscheren Dingen wie Kuchen backen beschäftigt. Nagi hatte nur wenig gefrühstückt und sein Magen knurrte vernehmlich als Omi die Zutaten zusammen mixte, der Duft der Schokolade seine Sinne umwehte.
 

„Hunger?“, lachte Omi vergnügt und verteilte den fertigen Teig in die Backform, gab sie schließlich in den hochmodernen, edlen Backofen mit Schnickschnack, den Omi nur bewundern konnte. Im Vergleich zu ihrem rustikalen Zuhause kein Wunder.
 

„Dann werde ich dich fürstlich dafür entlohnen, falls es tatsächlich so sein sollte“, ließ Aya die Worte nur so aus seiner Kehle schnurren, ließ sie Schuldig locken. Seine Finger krabbelten in längst schon heimische Gefilde, fanden die sanfte Spitze und umstrichen sie.

„Sehr fürstlich“, hauchte er und zog Schuldig in einen weiteren, frivolen Kuss.
 

"Nein, Hunger habe ich keinen... auch wenn mein Magen diese Geräusche von sich gibt."

Glatt gelogen. Und durchaus gekonnt, wie Nagi zugeben musste. Er hatte Hunger. Großen sogar. Aber diese Schwäche wollte er nicht äußern. Außerdem wäre es unschicklich gewesen. Er hatte fast immer Hunger, vor allem, nachdem er seine Fähigkeiten ausübte. Sein Grundumsatz war höher durch die mentale Anstrengung. Gewicht setzte er deshalb nicht an. Dagegen musste er eher darauf achten, nicht noch mehr ins Untergewicht zu rutschen.
 

„Natürlich, das sage ich auch immer“, stimmte Omi Nagi zu und schenkte ihm einen der Blicke, die ausdrückten, dass der blonde Junge ihn genau durchschaut hatte. Er hatte ja sozusagen den handfesten Beweis, dass es nicht stimmte. Ein handfester Beweis, der sich auch jetzt wieder bemerkbar machte und ihn zum Schmunzeln brachte.

„Ein wenig mehr könntest du aber tatsächlich auf den Rippen vertragen“, führte er kritisch an und maß den jungen Telekineten.
 

Nagi sah weg und zuckte mit den Schultern. "Ich weiß, ich bin zu dünn, zu knochig und meine Muskeln sind nicht sonderlich ausgeprägt ... stark untertrieben. Um mehr anzusetzen, müsste ich regelmäßig hochkalorische Drinks zu mir nehmen, nachdem ich meine Fähigkeiten trainiere oder einsetze." Er zuckte resignierend mit den Schultern. "Sie schmecken widerlich. Und ich habe nicht vor, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen", er lächelte leicht und wandte sich nach einem kurzen Augenblick ab um sich auf einen der Hocker zu setzen.
 

„Nein, aber vielleicht solltest du ins Auge fassen, mal hie und da einen richtig fetten Burger mit Pommes und Salat zu essen. Einmal die Woche wäre schon mal ein guter Ansatz. Oder Schokolade. Alkohol. All das gesunde Zeug eben“, hielt Omi dagegen und hob vielsagend eine Augenbraue, hatte er doch schon eine gewisse Vorstellung davon, wie die Ernährung des Telekineten aussah.
 

Das war indiskutabel. Völlig. "Das liegt alles zu schwer im Magen. Zum Teil behindert es meine Selbstkontrolle", spielte er auf den Alkohol an. Die Kontrolle zu verlieren war zwar berauschend und ... schön für ihn, doch es war nicht wirklich in Betracht zu ziehen. "Aber Schokolade wäre eine Möglichkeit", räumte er ein und warf einen Blick zu dem beleuchteten, noch unfertigen Kuchen im Backofen.
 

„Gut, dann verordnet Doktor Tsukiyono dem Patienten täglich drei Tafeln Schokolade, in drei Dosen. Einzunehmen nach den Mahlzeiten“, prophezeite eben dieser Doktor und rückte seine nicht vorhandene Brille zurecht.

„Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sind nicht zu befürchten, es kann lediglich zu einer erhöhten Ausschüttung von Endorphinen führen. Eine sehr wirksame Therapie.“
 

"Täglich? Drei?", verzog Nagi angewidert das Gesicht. "Das ist definitiv schon eine Überdosierung!", behauptete er und sah Omi an, als würde er etwas Abartiges von ihm verlangen. "Sagen Sie bloß, Sie wollen mich damit umbringen, Herr Doktor?"
 

„Nein nein. Das ist eine Schocktherapie. Neu entwickelt. Sehr gut. Ich habe bisher nur die besten Erfahrungen damit gemacht“, nickte Omi. „Es dauert zwar etwas, bevor der Körper die Hormone zu nehmen und umzusetzen weiß, aber dann wird es wunderbar laufen. Ein Zustand dauerhafter Glückseligkeit, sozusagen.“
 

Nagis Blick wurde weicher und er lächelte sogar etwas. "Ein dauerhafter, glückseliger Zustand... den gibt es nicht, Herr Doktor", sagte er und seine Augen fingen wieder den Kuchen im Backofen ein. Diesen Zustand hatte er noch nie erstrebt. Er dagegen hatte früher immer Ruhe, Stille, Alleinsein erstrebt. Geborgenheit, Schutz. Das Gefühl, angenommen zu werden. Das hatte er nur unter Seinesgleichen.
 

„Manchmal bist du einfach zu pessimistisch, weißt du das?“, tadelte Omi den Anderen sanft und prüfte nun selbst nach, wie weit das Teiggebilde schon hochgegangen war. „Nimm dir ein Beispiel an den beiden Turteltauben da. Die sind auch glücklich und schau dir an, auf welcher Basis sie gestartet haben. Beschleicht dich da nicht manchmal auch der Eindruck, dass Glück gar nicht mal so schwer zu erlangen ist, wenn man nur die Augen offen hält?“
 

"Manchmal?" Nagi sah Omi dabei zu, wie er den Kuchen beäugte. Sein Gegenüber sprach von ihm, als würde er schon sämtliche Verhaltensweisen Nagis kennen...

"Du kennst mich doch gar nicht", stellte er erstaunt und mit einem leisen Vorwurf in seinen Worten fest. "Nicht jeder ist so gedankenlos wie Schuldig und auf sein eigenes Wohl bedacht. Es tut ihm gut, das scheint schon richtig", gab er zu und er sah in die Richtung, in die Schuldig und Ran verschwunden waren. "Aber er hat nicht an die Konsequenzen gedacht. Keine Sekunde lang." Er wollte gar nicht daran denken, was geschehen würde, wenn er sich in ähnlicher Weise vergnügen würde. Eine Katastrophe. Besser war es, alles so zu halten wie bisher. Doch dazu war er schon zu sehr in eine Unterhaltung mit einem Weiß vertieft.
 

„Wenn du andauernd nur an die Konsequenzen denkst, vergisst du irgendwann ganz zu leben, glaube es mir“, erwiderte Omi. „Wir haben uns viel zu lange Sorgen über unwichtige Dinge gemacht, irgendwann muss auch mal Schluss sein.“ Er schwieg für einen Moment, ließ seinen Blick nachdenklich auf die Anrichte gleiten.

„Du sprichst immer von Konsequenzen…was für Konsequenzen ergeben sich denn?“
 

"Eine Konsequenz wäre ... dieses Gebäude in Schutt und Asche zu legen. Oder, dass das Team auseinanderbricht, wie wir befürchten. Dass ich zum Verräter werde, all diese Dinge. Jemandes Vertrauen in mich zu verletzen, das wäre wohl das Schlimmste." Nagi wandte sich auf dem Hocker um, drehte Omi den Rücken zu. Er hasste es bereits, im Ansatz Crawford darüber zu berichten, was sie hier veranstalteten. Kuchen backen mit dem ... jungen ... Takatori. Welch Schande.

Nagi schloss die Augen und bettete seinen Kopf auf die verschränkten Arme.
 

Omi seufzte. „Nein, das wäre nicht das Schlimmste…“, erwiderte er und ging zu Nagi, legte diesem von hinten beide Arme um den schmächtigen Körper und lehnte sich an die dünne Gestalt. „Das Schlimmste ist, genau zu wissen, dass es durchaus auch so passieren kann…“, flüsterte er und drückte Nagi einmal, bevor er ihn wieder losließ und sich aufrichtete.
 

"Ja, kann es ... aber wir versuchen all diesen Konsequenzen aus dem Weg zu gehen." Nagi fühlte der Hitze nach, der schieren Betäubung, die auf diese Umarmung in ihm herrschte. "Warum tust du so etwas? Hör auf damit", sagte er ruhig. Er fühlte sich nicht wohl, wenn ihn jemand berührte. Es kam ihm so absurd vor, unwirklich. Als wäre diese Situation etwas Fingiertes.
 

„Du schienst so, als könntest du es gebrauchen. Aber wenn du es nicht willst, werde ich es natürlich nicht wiederholen“, räumte Omi ein und lächelte, jedoch distanzierter als zuvor, so als wolle er seine Worte bekräftigen.

Er widmete sich dem Aufräumen und dem Spülen des benutzten Besteckes und Geschirrs, wandte nun seinerseits Nagi den Rücken zu, summte leise vor sich hin.
 

Schon als die Worte ausgesprochen wurden, konnte Nagi fühlen, das es ihm ...wehtat. Das sie ihm wehtaten. Warum?

Er drehte sich zaghaft um. Weil es etwas Neues war, ihn neue Empfindungen heimgesucht hatten? Wie eine Heimsuchung war das Kribbeln über ihn gekommen und mit ihr das Gefühl von Nähe, dieses Drängen danach weglaufen zu wollen, ihn von sich stoßen zu wollen, mit allem, was er zur Verfügung hatte.

Würde er es aushalten können?

Diese unverblümte Annäherung, die nichts mit ihren Plätzen in der Gesellschaft ... beide im Untergrund auf verschiedenen Seiten zu tun hatte...

"Weil ich es brauchte? Kannst du das so einfach? Ich bin Schwarz", war es für ihn unbegreiflich, genauso hörte sich seine Stimme an, tonlos und verloren.

Er verstand es nicht. Aber ja, er brauchte es. Dringend.
 

„Schwarz…Weiß…und? Sind wir nicht alle Menschen, die Schwächen und Stärken haben? Wen scheren schon unnütze Bezeichnungen für Arbeits- und Wohngemeinschaften? Mich im Moment nicht und wenn ich in der Lage bin, Schuldig zu akzeptieren und mich nicht von Crawford umbringen zu lassen, dann verzeih mir, wenn ich auch nichts gegen dich vorzuweisen habe.“ Er zuckte mit den Schultern, immer noch zur Spüle hin.

„Und ja, ich kann es so einfach. Manchmal ist es eben so leicht.“
 

Es klang alles so einfach. "Das klingt als würde dir alles leicht fallen, als müsstest du keine Hindernisse, keine inneren Schranken überwinden", sagte Nagi leise und fühlte sich wie gewohnt als Außenseiter, der das Leben um sich herum als Nichtwahrgenommener betrachtete. Vielleicht, weil er nicht wahrgenommen werden wollte? Weil er, wie Schuldig und Ran momentan, in einer Blase lebte.

Aber hatte er nicht schon oft daran gedacht? Wie oft? Zu viele Male. Und er war immer zu dem gleichen Schluss gekommen: Es war besser, außen vor zu bleiben. Für alle Beteiligten und vor allem für sich selbst.

Denn genau das war es, was er insgeheim hasste: Diese Überlegenheit, dieser unsinnige Optimismus, der nichts brachte, rein gar nichts. Es schmerzte nur, optimistisch zu sein, nur um dann enttäuscht zu werden. Von anderen oder von sich selbst. Und doch ... genau das war es, was er wollte. Er wollte hören, dass alles gut werden würde. Aber er wollte es so hören, dass er es glauben konnte, nicht so, dass er darüber lachen musste, weil es lächerlich war.

Im Zwiespalt saß er da, die Hände in den Stoff, der seine Oberschenkel umspannte, gekrallt. Crawford konnte es. Er konnte ihm sagen, dass alles gut werden würde oder nicht. Konnte Omi das auch? Oder war es tatsächlich so, dass er einfach nur ein unverbesserlicher Optimist war, einer, der Hirngespinsten hinterher jagte?
 

Omi schüttelte den Kopf. „Mir fällt nichts leicht und manche Schranken scheinen einfach zu hoch, dass man sie überwindet. Doch allein schon diese Anstrengung, der Lohn dafür, wenn man DOCH erfolgreich ist und sich über alles andere hinwegsetzt, das einen behindert und am Boden hält, das macht Optimismus aus. Das gibt einem die Kraft, weiterzumachen. Es gibt MIR zumindest die Kraft.“

Er zuckte mit den Schultern und nahm sich eines der Trockentücher, drehte sich kurz zu Nagi um. „Natürlich bin ich manchmal fertig. Aber es findet sich immer etwas, das mich wieder aufbaut. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist.“
 

"Das kann ich nicht", sah der Telekinet auf, die Augen weit und den Kopf schüttelnd. Damit konnte er keinerlei Kraft gewinnen. Für nichts. Er würde es auch nicht wollen. Es widerte ihn an. Wie sollte er so sein Leben bestreiten? Er wäre nicht bis hierher gekommen. Er wäre ... wäre nicht mehr.

In seinem Innern spürte er etwas Ähnliches wie Unruhe, eine Angst davor, dass Omi ihm etwas wegnehmen wollte, ihm seine Einstellung nehmen wollte, sein Ich, das ihn ausmachte, das ihn davor bewahrte unterzugehen. Diese Angst trat auch in seinen Blick, als er vom Hocker rutschte und die Hände ausbreitete, in einer hilflosen Geste, und sie sinken ließ, als er es bemerkte. "Ich bin nicht ... wie du", legte er den Kopf schräg und sah Omi mit einer tiefer gehenden Trauer an, als er es selbst für sich erkannte.
 

„Nein, das bist du nicht“, bestätigte der blonde Weiß und lächelte sanft über den Kummer des Anderen. „Du bist du und hast deinen Weg gefunden, dein Leben zu leben. Anscheinend bist du damit genauso erfolgreich wie ich, denn sonst würdest du hier nicht stehen. Und es wäre schlimm, wenn du wie ich wärst. Ein zweites Ich könnte ich nicht ertragen.“ Er lachte, drehte sich schulterzuckend wieder zurück und begann damit, die Gerätschaften abzutrocknen.
 

Dem anderen mit einem resignierenden Blick in den Hinterkopf starrend, zwang sich Nagi schlussendlich wegzusehen. "Das ist mir unbegreiflich!", lachte er mit vor Bitterkeit getränkten Worten. "Warum ... lächelst du und bist doch unsäglich ...."

Er verstummte, löste seine steife Haltung und ging hinüber zur angenehm beleuchteten Sitzgruppe. Er verstand es nicht. Dieses Lächeln, diese Unbekümmertheit war ... ein Schild. Und dahinter ...
 

…war das, was wohl jeder von ihnen in sich trug.

Natürlich war Omi nicht nur optimistisch, natürlich hatte er auch Phasen tiefer Depression und Verzweiflung. Doch das war etwas, was er sich nicht oft gestattete. Es lenkte ihn nur ab und das brachte nichts. Das Leben ging weiter, mit oder ohne ihn. Was sollte er sich da in den Abgrund stürzen, der nur Schritte von ihm entfernt lauerte?

Eben.

Deswegen lächelte er. Weil er es konnte. Weil er es wollte. Weil es besser als die Dunkelheit war.
 

Nagi brütete vor sich hin und wünschte sich seine gewohnte Umgebung, seine gewohnten Gedanken, nicht diese neue Sichtweise, dieser wenig ältere Takatori, der ihm Zweifel säte, wo zuvor Gewissheit war.

Der Telekinet sah hinaus in das Dunkel der beginnenden frühen Nacht und fühlte die Schwermut in sich.

Zuletzt war es so bei Tot gewesen. Denn damals hatte er etwas Neues gefühlt, was ihn aufgewühlt hatte, ihn nicht mehr Schlafen ließ und schlussendlich war es umsonst gewesen.
 

Omi wurde schließlich fertig mit dem Abtrocknen und sah nach dem Kuchen, stellte fest, dass er durchaus gut war. Er hangelte sich zwei der Tücher und fischte das Meisterwerk aus dem Backofen.

„Na da hab ich dich aber gut hinbekommen, was?“, lobte Omi sich leise selbst und lächelte stolz. Gott, roch das gut. Verdammt gut! Jetzt nur noch eine Weile abkühlen lassen und dann die Schokoladenglasur drübergeben…und schon war es vollendet, sein Werk.

Er wandte sich zu Nagi. „Hol mal die beiden Turteltauben vom Balkon…die können sich jetzt auch mal nützlich machen.“
 

Doch weiter kam Nagi nicht in seinen Selbstzweifeln, Omis Bitte folgend, war er zur Terrasse gegangen und wurde gerade Schuldig und Ran ansichtig. Hitze schoss ihm ins Gesicht, breitete sich in seinem Unterleib aus, als er wie erstarrt da stand, die Tür noch immer in der Hand, sich daran festhaltend. Die Lippen waren blass, da aufeinander gepresst und die Augen weit geöffnet, saugten sie alles auf, dessen sie ansichtig wurden. Schuldig in einem tiefen, feuchten Kuss mit Ran verstrickt, dessen Oberteil fast ganz hochgeschoben, trotz der Kälte, Schuldigs und Rans Hände in der jeweils anderen Hose. Leises Keuchen, dunkles Lachen ...

"Omi sagte, ihr sollt ... kommen", sagte er kalt und distanziert, konnte sich aber einen kleinen abfälligen Witz nicht verbeißen. Wie widerlich. Er wollte sich nicht davon beeindrucken lassen, es stieß ihn ab, diese rohe Lust, die ihn nicht belangen konnte, diese frivolen Geräusche. Die Tür knallte zu und er spürte, wie er sich abrupt abwandte, sein Gang unsicher, befand er sich kurz darauf auf dem Fensterbrett wieder, auf dem er schon zuvor gesessen hatte, umschlang seine angezogenen Beine. Er hasste es... hasste es... hasste sich...
 

Omi hatte das ganze Drama mit einem wachsamen Auge und einem noch wachsameren Ohr verfolgt und seufzte ergeben. Was konnten die beiden Älteren auch nicht ihre Finger bei sich lassen, wenn sie hier waren...

Aber gut, da mussten sie durch, sowohl Nagi als auch er. Nicht, dass er damit ein Problem gehabt hätte. Zumal er die Vorstellung, Ran und Schuldig...
 

Omi schüttelte unwirsch den Gedankengang ab. Anderes Thema.
 

Er schlenderte wenig elegant hinkend zu Nagi herüber und setzte sich zu ihm auf die Fensterbank, lächelte. "Die beiden...können ihre Griffel nicht voneinander lassen, was? Und, hat es sich wenigstens gelohnt, da rein zu

platzen?", fragte er sanft.
 

"Ich hätte es vorgezogen, diesem vulgären Anblick nicht ausgesetzt zu sein", sagte Nagi kalt, noch immer die beschämende Röte, die der Hitze geschuldet war, auf seinen Wangen habend. Er mied es den Blick des anderen zu kreuzen und ebenso verbat er es sich, über die Szene nachzudenken, sie in sich zu lassen, seine Gefühle anzustacheln.

Der Duft von Kuchen umwehte seine Nase und dieser schokoladige Geruch ließ ihn wieder ruhiger werden. Innerlich hatte ihn das Verhalten von Ran und Schuldig aufgeregt, doch der Duft ließ dies alles halb so schlimm erscheinen.
 

Omi lachte warm. „Ich werde mal ein ernstes Wort mit ihnen wechseln, wenn sie sich voneinander lösen können“, versicherte er und zuckte mit den Schultern. Er sah wohl, wie peinlich berührt der andere war, übersah es in diesem Moment jedoch geflissentlich. Um Nagi nicht zu beschämen, genau deswegen.

„Sie sind eben beide Rotschöpfe…leidenschaftlich und triebgesteuert…“

„Ach ja?“, fragte eine dunkle, durchaus süffisante Stimme hinter ihm und Omi fuhr schuldbewusst herum. Da schau an…sie waren wieder da die beiden Turteltauben. Wie schön, dass Rans Wangen genauso gerötet waren wie Nagis auch…nur aus einem anderen Grund. Und der Grund spannte sich noch leicht etwas weiter unten.

„Ja, noch nicht gewusst, Ran?“

Der ältere Mann bedachte ihn mit einem dunklen Blick.
 

‚Erwischt, Kleiner‘, schickte Schuldig in Omis Gedanken und grinste hinter Ran dreckig.

‚Ran als triebgesteuert zu bezeichnen ... völlig aus der Luft gegriffen!‘, verteidigte er sein Blumenkind beflissen und wackelte mit den Augenbrauen, ungesehen von Ran. Ging aber gleich darauf in die Küche weiter. "Wollt ihr Tee, Kaffe oder etwas anderes?", spielte er den gut gelaunten Gastgeber, die überschüssige Energie, die er nicht abbauen konnte, gipfelte in seiner rauen Stimme und seinen Gedanken, die ganz und gar nicht so feine Dinge mit Ran anstellten...
 

‚Ha! Völlig aus der Luft gegriffen! Wer’s glaubt!’, ereiferte sich Omi und lächelte Ran dabei unschuldig ins Gesicht. VÖLLIG unschuldig. „Ich hätte gerne einen Kaffee“, rief er Schuldig hinterher, seine Meinung ändernd, dass er einen Kakao wollte. Kaffee war jetzt bessre, bitterer, passender. Er folgte Schuldig an Ran vorbei in die Küche. Zeit für das Leckerste am ganzen Kuchen: die Glasur. Weiße und dunkle Schokolade, das zusammengemischt. Wundervoll.

Er stand neben Schuldig, als er unschuldig pfiff und ihm ein „Na, wer hat hier einen schlechten Einfluss?“ zuflüsterte.
 

Dem Geplänkel lauschend wusste sich Nagi außen vor. Er blieb, wo er war. Das warme Lachen von Omi hatte ihn berührt. So weit, dass er aufgesehen hatte, diesem Klang noch nachsann.

Leidenschaftlich und triebgesteuert...

Und was war er? Weder das eine noch das andere. Wieder wurde er in die düsteren Bereiche seiner Gedanken gelockt. Er konnte es nicht. Er konnte sich nicht gehen lassen, konnte sich nicht selbst berühren und sich Lust verschaffen, hatte es noch nie als gut empfunden, als schön. Eher als verdammenswerten Vorgang, um seinem Körper Erleichterung zu verschaffen. Ein Akt, seiner körperlichen Entwicklung geschuldet, die er über die Zeit zu bringen hatte. Leidenschaft ... wie unnütz und wie ... gefährlich.

Er blickte auf und sah Ran, der immer noch dort stand.
 

"Du, natürlich", raunte Schuldig nah an Omis Ohr, weil er sich über ihn beugte um den Kaffee aus dem Schrank zu angeln. "Setz ihn nicht unter Druck, der entlädt sich sonst schneller, als gedacht", meinte er jetzt ernst, grinste aber wie eh und je. Nur dass der Ausdruck seiner Augen ein ernst gemeinter Ratschlag war.
 

Omi sah zur Seite, begegnete den grünen Augen, die einen Vorschlag gemacht hatten, der eigentlich gar keiner war. Omi wusste das und akzeptierte es…auch zu seiner eigenen Sicherheit.

„Ich kann es mir vorstellen“, nickte er schließlich. „Absichtlich werde ich es garantiert nicht tun. Allerdings werde ich ihn nicht mit Samthandschuhen anfassen, ein wenig Abhärtung kann er auch vertragen.“

Er steckte die noch harte Schokolade ungezwungen in die Mikrowelle, stellte sie auf eine Minute ein. „Ihr beide habt da ganz schön was losgetreten…zuerst gab’s nur Schwarz und Weiß und jetzt scheint, als vermischt sich nach und nach alles. Als verwischt es zu einem seltsamen Grau.“ Sein Blick ruhte auf der schwarzen Sichtscheibe, sah zu, wie sich der Teller langsam drehte.
 

Ran wartete noch einen Moment, bevor er sich langsam zu Nagi auf die Fensterbank setzte und den Blick des Jungen festhielt. „Kommt ihr miteinander aus?“, fragte er neutral, ohne jegliche Provokation oder Vorwurf oder etwas anderes in der Stimme.
 

Schuldig antwortete nicht gleich auf Omis Worte, wollte nicht darauf eingehen. ‚Etwas losgetreten? Was haben wir denn losgetreten? Mit den Konsequenzen einer Abhärtung musst du selbst klar kommen, mach nur nicht unsere Arbeit zunichte.‘
 


 

Nagi war ebenso wortkarg. Was sollte er darauf antworten? „Miteinander auskommen?“ fragte er leise zurück. „Ich könnte ihn töten“, er hob die schmalen Schultern, wischte sich über die Oberarme, als wäre ihm kalt.

„Tue es nicht, wegen Schuldig.“ Nagi hob den Kopf und sein etwas abgeklärter Blick traf in Rans Violett. „Ich ... bin auseinander gerissen zwischen Schuldigs Glück und der Loyalität zu Brad. Mit ihm zu sprechen bedeutet für mich den Verlust von Vertrauen.“ Er meinte Omi und legte den Kopf fragend zur Seite. „Ich komme mit ihm aus“, sagte er tonlos, als wäre das die Antwort auf all die Fragen, die in seinem Kopf herumspukten. Und genau das war der Knackpunkt. Er kam mit ihm aus, auf eine verquere Art und Weise und trotz es Sanktionen für ihn bedeutete.
 

„Warum bedeutet es Vertrauensverlust?“, fragte Aya ehrlich erstaunt. „Ihr seid ein Team, seid ihr über die Jahre nicht so gut zusammengewachsen, dass ihr euch vertrauen könnt, auch wenn ihr sozusagen expandiert? Wenn du deinen Fokus erweiterst?“

Er zog ebenso ein Bein an und legte seinen Arm darauf.

„Was kann Crawford schon befürchten?“ Er sinnierte einen Moment lang nach, ließ seine Gedanken zurückschweifen. „Zumal…er es doch vorhergesehen haben müsste. Er hat mich schließlich am Leben gelassen. Er hat den Stein ins Rollen gebracht.“
 

Auf der anderen Seite der Wohnung runzelte gerade der zweite Weiß die Stirn. ‚Eure Wohnung heißt nicht umsonst Grauzone. Hier treffen Schwarz und Weiß aufeinander und vermischen sich. Wegen euch beiden. Ihr habt euch dem anderen gegenüber menschlich gemacht und verbreitet das nun wie die frohe Botschaft auf den Rest der beiden Teams’, erwiderte Omi und holte die fertige Glasur aus der Mikrowelle, goss sie auf den noch etwas warmen Kuchen.

„Keine Sorge, ich werde eure Arbeit nicht zunichte machen, so masochistisch bin ich nicht veranlagt.“
 

„Darum geht es nicht", sagte Nagi und blickte hinaus.

„Wie hättest du reagiert, wenn Omi sich plötzlich ...", er dachte kurz nach, zu abwegig erschien ihm dieses Argument. „...mit mir eingelassen hätte? Und jetzt erzähl mir nicht von deinem Großmut", sagte er leise und blickte auf.

Crawford wollte ihn beschützen, und Omi würde ihn nie verstehen, nicht so, wie Brad es konnte. „Menschen, die keine ähnlichen Fähigkeiten haben, haben uns oft genug gezeigt, wo wir hin gehören, wir alle haben das hinter uns.“

Es bedeutete Verrat, sich mit diesen Menschen abzugeben.
 

Schuldig musste lachen. Schallend. „Soll ich dir was sagen? Ihr seid mir sowas von egal! Ich bin ein egoistischer, egozentrischer Chauvi, es kümmert mich nicht, wer hier zu wem kommen soll. Ran gehört mir, Kleiner. Und ich weiß zwar nicht, ob er gewisse Besitzansprüche stellt, aber es wäre anturnend, würde er es tun. Grauzone...", noch immer lachte er in sich hinein.
 

Omi lachte mit, jedoch aus einem anderen Grund. „Wenn du dich da mal nicht täuschst, Schuldig. Ran gehört nicht dir. Du hast keine Besitzansprüche an ihn, auch wenn du es vielleicht gerne hättest.“ Er drückte die letzten Reste der Glasur aus der Packung und strich sie auf dem Kuchen glatt. „Und zu laut solltest du es auch nicht schreien, es sei denn du willst, dass er sich fluchs wieder an die Zeit erinnert, als du ihn noch gegen seinen Willen hier behalten hast, Mastermind. Ich bin mal gespannt, wie lange du ihn dann noch hier halten kannst.“ Er sah zu Schuldig und lächelte.

„Du magst zwar interessant sein, Schuldig, doch ich würde jederzeit den Kleinen dir vorziehen. Das meinte ich mit Grauzone. Ihr beide habt es vorgemacht, wir machen es nach. Mal sehen, wohin das noch führt.“
 

Besagter Rotschopf lehnte sich gerade mit dem Rücken ans Fenster und ließ seinen Blick über den jungen Telekineten gleiten.

„Die Menschen fürchten das, was sie nicht kennen und lehnen es ab. Es war immer so und wird immer wieder so sein. Sie müssen sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen.“ Er ließ seine Augen durch die Wohnung schweifen.

„Gesetzt dem Fall dass…hätte ich euch beide mit Misstrauen beobachtet. Besonders dich. Wäre aber vermutlich schließlich zu dem Schluss gekommen, dass es wohl gut gehen müsste, wenn Omi dich gewählt hätte. Es ist schließlich sein Leben, nicht meins, auch wenn ich manchmal noch meine schützende Hand über ihn halten möchte. Wäre es allerdings zu Takatoris Zeiten gewesen…“, er ließ seine Stimme abschwächen, ließ sie leiser werden. „…hätte ich alles daran gesetzt, dich zu töten. Doch so verblendet bin ich nicht. Nicht mehr.“
 

"Glaub was du willst", wedelte Schuldig mit der Hand und betätigte die Kaffeemaschine. "Ich meinte das nicht auf körperlicher Ebene, eher auf einer anderen. Nur ob du das verstehst ... ich glaube nicht. Ich gehöre Ran", sagte er schlicht und begab sich aus der Küche um in den Schlafbereich zu gehen, langsam alle Lichter anzuknipsen.
 

"Zu Takatoris Zeiten ...", sagte Nagi leise und lachte kalt auf. Leise und verhalten. Bitter.

Fast ungläubig blickte er zu Ran, sah ihn lange an, alte Bilder kreisten in seinen Gedanken. "Ich mit einem Takatori? Das hätte mich ... verrückt gemacht", sagte er fast schon irre lächelnd und mit einem fahlen, feuchten Schimmer in den Augen.
 

Aya erwiderte diesen Blick schweigend und lächelte schließlich. „Das hätte es…“, bestätigte er und stand lautlos auf. „Deswegen ist Omi auch gut für dich, weil er nie einer war und nie einer sein wird“, nickte er und wuschelte kurz durch die dunkelbraune Mähne des Jungen vor ihm, bevor er sich in Richtung Küche aufmachte und Omis schweigsame Miene einfing. Die sich nun in eine Denkerfalte umwandelte, als die blauen Augen des jüngeren Weiß auf ihm zum Ruhen kamen.

„Er gehört dir also…“, stellte Omi in den Raum, erklärte es aber nicht. Zu Ayas Verwirrung. Er war versucht zu fragen, was der Jüngere damit meinte, bevor er sich wirklich dazu zwang, nachzudenken. Erst im Stillen übereinzukommen, was Omi meinen könnte.

Und eigentlich blieb nur ein Schluss.

„Schuldig?“

Omi nickte.

„Ja, das tut er“, erwiderte Aya bedächtig. Es waren dutzender kleinster Szenen, die nun in seinem Kopf erschienen. Dutzender kleinster Gegebenheiten, die nicht sofort als solche zu erkennen waren. Als Besitzanzeigen, wenn Aya es so wollte.

Wenn er es sich ehrlich eingestand, war es genau das, was er brauchte. Halt, Versicherung, Nähe. Beständigkeit. Es ließ ihn…heilen.

„Und du? Gehörst du ihm?“

Auch das brauchte einen Moment, bis es von Aya beantwortet wurde. „Ich gehöre zu ihm.“
 

Nagi strich sich seine Haare wieder glatt und empörte sich innerlich über diese unwillkommene Behandlung. Omi war gut für ihn? Wie sollte er das verstehen?

Sollte er es so verstehen, wie er es wollte?
 

Schuldig kam von seinem Rundgang zur Sitzgruppe und betrachtete sich Nagi, die Hände in die Hosentaschen vergraben, lässig vor ihm stehend, las er die Gedanken, die er nicht hätte lesen dürfen. Doch dies Mal machte er sich Sorgen um ihren Jüngsten. Aber da musste dieser durch. Schuldig konnte ihm nicht helfen.

Er wandte sich ab und ging in die Küche, nahm die Tasse von Omi und ließ den Kaffee hinein laufen, frisch gemahlen selbstverständlich. Ebenso seine eigene Tasse. "Willst du auch einen?", wandte er sich Ran zu.
 

Aya sah Schuldig in die Augen. Sein Blick ruhte prüfend auf den grünen Iriden, suchend. Ich gehöre dir nicht, richtete er innerlich ungehört an den Deutschen. Nein, das wissen wir beide. Doch ich habe in dir einen Begleiter gefunden. Jemanden, der mich ein Stück meines Lebens mitnimmt. Oder den ich mitnehme, ganz wie man es sieht.

Er nickte…lächelte.

„Gerne“, erwiderte er sanft und strich Schuldig eine der langen Strähnen aus dem Gesicht. Er reckte sich empor und hauchte einen sanften Kuss auf die Schläfe des Telepathen. „Gerne.“
 

Schuldig wusste nicht, was die beiden gesprochen hatten, doch der Blick sagte so einiges aus. Er war ernst und die Geste, die folgte trug viel von Rans Gefühlen für ihn mit sich.

Schuldig erwiderte den sanften Kuss und grinste an Rans Wange, küsste sie schnell und wandte sich wieder seiner Tätigkeit zu.
 

Violette Augen sahen zurück zu Omi und fingen dessen lächelndes Kopfschütteln ein. „Schlimmer als jedes Highschoolpärchen“, grinste der blonde Weiß und zuckte mit den Schultern, nippte an seinem Kaffee. Aya beschloss, das nicht als persönliche Beleidigung zu werten und es einfach mit Humor zu nehmen. Was blieb ihm auch anderes übrig?

Er sah schweigend zu, wie Omi an dem Kuchen werkelte und rückte seinem Teamkollegen

schließlich ein wenig näher. „Wenigstens…“, begann er und stibitzte sich etwas der noch warmen Glasur. „…backen wir uns keine Kuchen. Bei uns geht die Liebe direkt dorthin, wo sie hin soll, nicht erst durch den Magen…“
 

Schuldig erstarrte in der nächsten Bewegung, denn er hatte die Worte aufgeschnappt und zog als äußere Reaktion darauf die Brauen zusammen. Ran liebte ihn.

So beiläufig gesagt, als wäre es klar. Als läge es auf der Hand.

Einfach so dahingesagt.

Schuldig unterdrückte den Impuls, Ran in ein dunkles Eck zu ziehen und über ihn herzufallen, in bester Liebhabermanier verstand sich. Stattdessen grinste er selig vor sich hin und rührte einen Zuckerlöffel nach dem anderen in seinen Kaffee.
 

Aya bemerkte das und sah stirnrunzelnd zu, wie dieser scheinbar plötzlich auf Drogen gesetzte Deutsche sich den Tag versüßte. Natürlich wusste er, dass Schuldig gierig war, zumindest, was den Sex zwischen ihnen beiden betraf.

Doch dass das auch den Zucker betraf, wäre ihm neu gewesen. Und zu sagen, dass Aya nicht den Grund für diesen geistigen Endorphinschub des Telepathen kannte, wäre gelogen gewesen. Er selbst war ja schließlich dafür verantwortlich.
 

Unter den ungläubigen Blicken Omis umarmte er Schuldig von hinten und verschränkte seine Arme vor dem Bauch des Anderen, verwob die Finger ineinander. Er war entspannt, angefüllt von positiven Emotionen, so würde es vielleicht ein leichtes sein, Schuldig in seine Gedanken zu locken. Der Telepath hatte zwar gesagt, dass er selbst nicht senden konnte, doch das hieß noch lange nicht, dass er seine Gedanken speziell in diesem Moment nicht lesen würde. 'Habe ich dich so verstört, hm?', geisterte es durch seine Gedanken, raunend, leise, gerade so, wie er es vielleicht laut ausgesprochen hätte. Innerlich wie äußerlich lächelnd hauchte er einen sanften Kuss auf die so verführerische, noch etwas kalte Ohrmuschel und atmete den Duft des Deutschen ein.
 

Schuldig hielt inne und legte die Stirn in kleine Fältchen, als sich warme, gut anfühlende Hände über seinen Bauch schoben. Und er hörte die Worte, weil er es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, die ständige, nicht vorhandene Präsenz von Rans Geist zu observieren. Vielleicht geschah ja ein Wunder und Ran öffnete sich wie schon einige Male zuvor. Und jetzt? Was hätte es schöneres geben können als dass er Ran hören konnte?

‚Scheint so‘, umschwirrte er fast flatterhaft Rans Geist, war kein ruhender Pol, sondern eher wie Musik eine Abfolge von Tönen nur in Gedankenform. ‚Es ist alles so neu, ich bin aufgeregt‘, lächelte er und genoss das Gefühl der sanften, sich heiß anfühlenden Lippen auf seiner kühlen Haut.

Nichts war neu. Er wusste doch, was Ran für ihn fühlte, hatte es bewiesen bekommen, oft schon und doch war diese beiläufig dahingesagten Worte so wärmend, dass er meinte zu verglühen.

Wie konnte Ran es einfach so sagen? Diese Worte ... die Worte mit dem großen L?!

Seine Hände fanden Rans und umschmeichelten sie, er lehnte sich etwas an den Langhaarigen an und drehte den Kopf, stahl sich einen kleinen, zarten Kuss.
 

’Am Liebsten wäre ich jetzt alleine mit dir, aber das ist Wunschdenken’, jammerte er in Rans Gedanken, lächelte aber verträumt.
 

‚Noch Wunschdenken…noch’, gab Aya zurück und pustete sanft auf die empfindliche, leicht gerötete Haut des Ohrläppchens. ‚Ich denke nicht, dass die beiden Kleinen vorhaben, sich hier häuslich einzurichten. Was nicht heißt, dass du sie in der nächsten halben Stunde vor die Tür setzt, verstanden? Jetzt, wo sie gerade dabei sind, sich kennen zu lernen.’ Er umarmte den Mann noch etwas enger und schmiegte sich von hinten an den muskulösen Körper.
 

Was Omi nun doch etwas zuviel wurde. Es schien wirklich zuviel verlangt, dass die Beiden mal ihre Griffel voneinander lassen würden. Aber gut. Wo war denn überhaupt Nagi?

Seine Augen suchten den für ihn sichtbaren Bereich der Wohnung ab und fanden den jungen Telekineten einsam am Fenster. Er sah zu ihnen herüber, hatte die Augen auf Ran und Schuldig gerichtet, doch es war keine Bewunderung oder Wut, die er in den Augen des Schwarz ablesen konnte. Soweit das denn möglich war auf diese Entfernung hin. Omi runzelte die Stirn. Er täuschte sich nicht…garantiert nicht. Es war sicherlich das, als was er es ansah…sicherlich.
 

Langsam setzte er sich in Bewegung und kam auf Nagi zu, spürte mit jedem Meter, mit jedem Schritt, den er zurücklegte, die Einsamkeit des Telekineten ein wenig intensiver. Diese Blase, die der junge Mann um sich herum erschaffen hatte und mit der er sich isolierte. Die Schultern eingesunken, das Gesicht ernst, ein wenig traurig, die grau-blauen Augen schier stumpf. Omi seufzte leise, kam schließlich zu ihm und stellte sich so, dass Nagi die Sicht auf die beiden Turteltauben verwehrt blieb, dass der Telekinet nur ihn ansehen konnte. Ihn und sein Lächeln, das alles sein sollte. Versicherung, Aufmunterung, in gewisser Weise auch Beistand. Es geht uns allen manchmal so, versicherten seine Augen. Manchmal, öfter, sehr oft…je nachdem.

„Die Beiden sind wirklich zu beneiden, was? Nicht mehr einsam“, nickte er leise, sanft.
 

Schuldig und Ran führten ihre kleine private Unterhaltung fort, während Nagi die Sicht auf die beiden versperrt wurde. Nagi blinzelte einmal und fokussierte seinen Blick auf das Hindernis, welches nun zwischen ihm und dem Gefühl des Neids stand. Was wollte Omi von ihm? Warum war er hergekommen?

Hätte er nicht besser dort bleiben sollen in diesem Kreis aus Positivem, anstatt sich zu ihm zu begeben?

Er selbst würde es niemals schaffen, so wie er es früher nie geschafft hatte.

Sein Blick hob sich zu den Augen, die ihn und nur ihn ansahen. Es verwirrte ihn, dass er im Mittelpunkt dieses kräftigen Blaus stand.

Er wollte wütend sein, wollte sich gegen diese Anschuldigung wehren, aber es war nicht möglich.

„Sieht man es mir so sehr an?“, fragte er und löste den Blick.
 

„Ja, das tut man“, erwiderte Omi ehrlich und behielt seinen Blick dort, wo er war…auf dem abgewandten Profil des jungen, einsamen Telekineten. „Wenn man genau hinsieht, schon. Sie sind ja auch schön anzuschauen. Ihre traute Zweisamkeit, so wie sie miteinander umgehen und alles um sich herum ausblenden.“

Omi wusste jedoch in diesem Moment nicht, ob er von sich sprach oder von Nagi, denn auch er beneidete Schuldig und Aya für das, was sie hatten. Einen Kaltstart mit heißen Folgen. Wenn er die Sorgen bedachte, die sie sich um Ran gemacht hatten, als dieser von Schwarz entführt worden war und sie nicht in der Lage gewesen waren, ihn zu finden. Und sie alle – wirklich ausnahmslos alle – hatten aufgrund Schuldigs Auftritt das Schlimmste befürchtet, hatten befürchtet dass er Ran seinem Ruf nach schlecht behandelte. Dass er ihn quälte.
 

Das dachten sie…nur um eines Besseren belehrt zu werden, denn das hier sah nicht so aus, als würde Ran unter Schuldig leiden. Manchmal wohl eher anders herum, wenn er da an ihren gemeinsamen Kaffeenachmittag dachte.

Ran war glücklich, nicht gebrochen, was sie zuerst befürchtet hatten und er selbst würde den Teufel tun und dem rothaarigen Japaner im Weg stehen.

Was ihm jedoch jetzt auch umso mehr Nagi ins Gedächtnis brachte, der die gleiche Einsamkeit wie Ran damals um sich trug. Die gleiche, blasse Aura, die sie bei Ran nur langsam geknackt hatten. Langsam und beharrlich, stur zum großen Teil.

Und im Stursein war Omi ein Meister!

„Warum gehst du nicht zu ihnen? Denkst du, dass sie dich ablehnen?“, fragte er und warf einen Blick auf die mittlerweile bunt erleuchtete Stadt unter ihnen.
 

Er sollte zu ihnen gehen?, fragte sich Nagi verständnislos. „Was soll ich dort? Ich möchte nicht in ihre Nähe.“ Das stimmte. Es machte ihn zum Teil wütend, dieses ständige Zurschaustellen von Zweisamkeit, von Glücklichsein. Doch diese Wut wollte nicht nach außen drängen, sie glimmte in ihm. Und dort würde sie auch bleiben. Denn alles andere wäre Schwäche.

Den Blick hob er zu Omi an, versuchte die Gefühle des Anderen zu deuten. Oder waren es vielmehr dessen Gedanken, die ihn interessierten? Aber warum?

Warum war er ihm nicht egal, wie ihm so viele andere egal waren?

Weil Omi wie er selbst…ja, ein Stück wie er selbst war?
 

Diese Art von Zärtlichkeitsbekundung war ihm unangenehm.

„Bist du gekommen, um mich zum Kuchenessen zu holen?“, fragte er mit einem vorsichtigen Lächeln. Er konnte sich schon denken, was den wenig Älteren angezogen hatte, doch er verspürte nicht das Bedürfnis darüber zu sprechen. Nicht mit dem Weißmitglied, nicht hier, nicht über sein Inneres.

Besser und weniger belastend war es, auszuweichen, das Thema zu wechseln.
 

„Ja, das wollte ich eigentlich…aber wenn du nicht zu den beiden willst…was machen wir da?“, grübelte Omi spielerisch, wollte sie beide auf eine seichte Ebene bringen. Er war es von dem anderen mittlerweile schon gewohnt, dessen mürrischen und abweisenden Gesichtsausdruck zu sehen, doch die Trauer, die sich in diesem Moment dazwischen gemischt hatte, gefiel ihm nicht im Geringsten.

Und diese Trauer wollte er löschen. Wie gut, dass er schon einen Plan hatte.
 

„Ich glaube…ich weiß was“, verkündete er geheimnisvoll und lächelte. Er drehte sich um und ging wieder zurück in die Küche, konnte genau sehen, dass Ran und Schuldig mental Zwiesprache hielten. Wenn er ehrlich war, freute er sich wirklich für ihren Anführer. Für die Sanftheit in den violetten Augen.

Leise pfeifend machte er sich an seinem Kuchen zu schaffen und schnitt zwei Stücke ab, gab sie auf einen Teller und griff sich eine der Gabeln. Schnell war er wieder auf dem Weg zurück zu Nagi und stellte sich schließlich vor ihn. Herrisch funkelte er ihn an.

„Mund auf“, tschilpte er schließlich und ließ dem Telekineten eine Gabel mit Kuchen entgegenschweben.
 

Die dieser ohne zu zögern entgegennahm. Das Zögern kam erst, als er seinen Blick von den Augen zum Kuchenstückchen auf der Gabel senkte. Nur einen Moment, bevor er den Mund öffnete und den Kuchen mit den Lippen aufnahm. Der schokoladige Geschmack zerging ihm auf der Zunge. Danach senkte er die Gabel.

„Du…hast mir also wirklich einen Kuchen gebacken“, stellte er fest. Sein Blick hob sich wieder und er fixierte das funkelnde Blau. „Er schmeckt ausgezeichnet. Man sagt, jeder Künstler steckt viel von sich in sein Werk. Wie viel steckt von dir in dieser süßen, warmen Speise, die mir auf der Zunge zergehen will?“

Die Frage nach dem Warum steckte wohl auch in diesen ernsten Worten. Warum hatte der junge Takatori das getan? Warum hatte er diesen Kuchen gebacken? Warum hatte er ihm ein Stück hierher gebracht?

War es die berühmte Freundlichkeit? Die berüchtigte Menschlichkeit, die erkannt hatte, wie er sich fühlte? Oder war es nur Fassade, wie das Lächeln, welches ihm so oft präsentiert wurde, und welches er als falsch erkannte.

In den Augen war die Kraft abzulesen, mit der Omi sein Leben meisterte, ebenso der Wille, der ihn angefunkelt hatte. Er ließ die Gabel mit einer sanften Handbewegung tatsächlich zu Omi zurückschweben, als würde er über die Luft streichen.
 

Der jüngste Weiß lächelte eben dieses Lächeln, als er nun fasziniert die Gabel betrachtete, wie sie vor ihm schwebte. Er stieß sie leicht mit dem Finger an, fühlte den Gegendruck, gerade so, als würde sie jemand festhalten. Doch das war nicht der Fall.

„Wie viel von mir in diesem Kuchen steckt?“, wiederholte er die Frage des Schwarz mit einem feinen Grinsen, das in diesem Moment mehr an Schuldig als an Omi erinnerte. Vor allen Dingen, da die Gedanken des blonden jungen Mannes in eine gänzlich andere Richtung liefen. Er griff sich die Gabel und zuckte charmant mit den Schultern.

„Mein Herzblut“, erwiderte er schließlich kryptisch und teilte einen weiteren Bissen von dem Kuchen. Streckte Nagi die Gabel entgegen.
 

Dessen Blick richtete sich auf die süße Speise, nur um nicht in das Gesicht des Anderen blicken zu müssen. Er ertappte sich wie er diese Ausflucht nahm und spürte sogleich die Röte in sein Gesicht steigen.

„Dein Herzblut…“, wiederholte er leise und lächelte samtweich, bevor er die Gabel an sich nahm und sie von ihrer Last befreite. Nur um sie danach auf gleichem Weg zurück schweben zu lassen wie zuvor. „…da könnte ich fast zum Vampir werden, so gut wie es schmeckt“, versuchte er sich daran, die seltsame Atmosphäre zwischen ihnen zu brechen, denn er fühlte sich zunehmend unruhiger unter diesen wachsamen Augen. Nicht nur das … auch … dass Omi ihm die Gabel reichte, sie sich nahe waren, näher als er jeden anderen bis auf wenige Ausnahmen an sich heran ließ.
 

Mochte es sein, dass es die eigenartige Spannung zwischen ihnen war, die Stimmung, die sich zwischen ihnen aufzuladen schien, die Omi näher treten ließ. So, Nagi würde also zum Vampir werden bei seinem Herzblut. Und da wurde ihm vorgeworfen, dass er der Verführer wäre. Omi lachte innerlich. Nein, der junge Mann hier vor ihm war die Unschuld, ein sanfter, naiver Verführer, der nicht zu wissen schien, womit er spielte.

„Was hält dich davon ab?“, fragte er beinahe zu leise und stützte die Hände links und rechts von Nagis Oberkörper am Fenster ab. Seine Lippen näherten sich denen des jungen Telekineten und stahlen sich in einem unbedachten Moment einen kleinen, flüchtigen Kuss, beinahe zu seicht als dass man ihn hätte spüren können.

Pizza Diabolo

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Hello Kitty

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Two Ladies

~ Two Ladies ~
 


 

„So…hat er dies nicht?“, fragte Jei langsam und bedächtig, lächelte über die Emotionen seines Gegenübers. „Warum bist du dann so erregt…darüber?“
 

Erregt…?

Aya glaubte, nicht richtig zu hören. Erregt?! Er war NICHT erregt, wie sollte ihn dieses Ding da erregen? Verdammt, Schuldig, wenn ich dich in die Finger bekomme, dann kannst du was erleben! SO nicht. Verdammt noch mal! Petplay schön und gut, aber das hier…ging zu weit. Um Längen.

„Nein…er hat KEINE Katze, Farfarello“, entgegnete er mit zornigdunklen Augen. „Außerdem bin ich nicht erregt! Nimm das Ding wieder mit.“
 

„Ich nehme von dir keine Anweisungen an“, sagte Jei knochentrocken, aber höflich. „Du solltest vielleicht darüber nachdenken, in welchem Zusammenhang ich das Wort ‚erregt’ benutzt habe.“ Fragend sah er Ran an. „Du scheinst es in sexueller Hinsicht zu gebrauchen.“
 

Aya zählte bis zehn. Langsam bis zehn. Noch langsamer bis zwanzig, bevor er lächelte. Er sah Farfarello in die Augen und lächelte schließlich. „Ich nehme von dir keine Ratschläge an“, konterte er und drehte sich um. „Auf dem Herd steht Essen, bedien dich“, war das Letzte, was er sagte, bevor er sich zur Fensterbank zurückzog, seine Gedanken nun für sich behaltend. Natürlich war es in sexueller Hinsicht gedacht. Der Ire hatte nur einfach keine Ahnung von den Dingen, die sie hier…trieben.

Ja, wortwörtlich trieben.
 

Darüber musste besagter Ire erst einmal gründlich nachdenken. Irgendetwas stimmte mit dem Mann nicht und er hatte den leisen Verdacht, was das sein konnte. Aber in diese Richtung hatte er in seiner Mutmaßung zu Anfang nicht gedacht…

Schon seltsam, wie sich die Dinge hier entwickelten.

Mit einem leisen, aber distanzierten Lächeln erhob sich Jei und strebte den Ausgang an. Er verließ wortlos die Wohnung.
 

Ließ Aya und seine Gedanken damit alleine, die nach und nach wieder ihren trägen Rhythmus fanden. In ihr Brüten, das ihn nach und nach von der Außenwelt abschottete. Er vergaß das Essen, wie auch schon in den letzten Tagen wieder oft. Verwaist ließ er es auf dem Herd stehen, so wie es war. Vielleicht würde er es wegschütten…oder in den Kühlschrank stellen. Damit Schuldig, wenn er wiederkam und seine Strafe abgebüßt hatte, etwas zu essen hatte. Wenn er wiederkam…
 

o~
 

Mit quietschenden Reifen schoss Schuldig regelrecht in die Tiefgarage hinunter. Er war viel zu spät dran, fluchte er innerlich und parkte in Windeseile den Wagen.

Er hatte Ran nicht anrufen können, sonst wäre die Überraschung dahin gewesen. Den Kofferraum öffnend bepackte er sich mit dem ganzen Zubehör, welches er noch hatte kaufen müssen, samt einem der Koffer. Sein Präsent trug er in seiner Manteltasche, welche er sorgsam im Auge behielt. Er war hundemüde und freute sich nur noch auf ein Bett.

Vollbepackt trat er aus dem Aufzug und ging die wenigen Schritte bis zu der Wohnungstür, zog die Karte durch das Lesegerät und öffnete die Tür.

„Hey…Ran. Bin wieder da~ha!“

Er war mal gespannt, was Ran zu seinem Mitbringsel sagen würde!

Den Koffer an Ort und Stelle fallen lassend, schaffte er die große Tüte auf seinem Arm zur Theke in der Küche.
 

So. Da war er also wieder. Der deutsche Telepath.

Aya erhob sich langsam aus der wohlversteckten Kissenecke und kam zur Küche, lehnte sich an den offenen Eingang und verschränkte seine Arme. Er hatte wahrlich genug Zeit gehabt nachzudenken und Schuldig nun zu sagen, dass er bei so etwas nicht mitspielen würde. Kätzchentag hin oder her, aber das würde er nicht mit sich machen lassen. Und auch nicht Schuldig antun.
 

Doch dieser hatte in seinem Eifer gar keine Zeit sich Ran richtig anzusehen. Zu bemerken, dass er nicht wie erwartet um seinen Hals fiel und ihn stürmisch begrüßte.

Er holte die Dosen aus der großen Tüte, stapelte sie daneben und redete munter drauf los.

„Tut mir leid, dass ich länger gebraucht habe, aber ich wollte das noch besorgen, weil es ist doch der erste Tag und … dann ohne Nahrung“, murmelte er und blickte kurz zu Ran, als ihm auffiel, dass dieser so still war. Er ließ seinen Arm sinken, der noch halb in der Tüte war und blickte Ran besorgt an. „Was ist los? Stimmt etwas nicht? Geht´s dir nicht gut?“ Ein schneller Blick über den anderen Mann und er ahnte, was los war. „Hast du etwas gegessen?“
 

Der erste Tag…ohne Nahrung? Ja, Schuldig hatte Recht, der Kühlschrank WAR fast leer bis auf einige Dinge. Nicht, dass es Aya gestört hätte. Doch das, was er nun sah, ließ seinen mühsam beruhigten Blutdruck wieder in die Höhe schießen. Das war…Katzenfutter.

„Und selbst wenn nicht, DAS werde ich garantiert nicht essen, verdammt!“, platzte es aus ihm heraus und er trat einen Schritt näher, die Hände zu Fäusten geballt. Langsam kam er auf Schuldig zu. Er war SO nahe dran, auf den anderen Mann loszugehen, so nahe…
 

„Ähm…wieso solltest du…das ist ….Katzenfutter…“, brachte Schuldig nur heraus. „Hat Jei irgend…etwas getan?“, fragte er indigniert.

„Ich habe ihm genaue Anweisungen gegeben. Das Katzenklo hat er gebracht? Hoffentlich…“ Schuldig wollte sich an Ran vorbei zum Bad machen um zu sehen ob es auch wirklich gebracht worden war. Doch er kam nicht weit, denn ein müdes Geräusch kam aus der Tasche seines Mantels und bei ihm fiel der Groschen.

Sanft griff er in seine Tasche hinein und holte das Bündel roten Fells hervor, das noch verschlafen aus seinen Augen lugte. Er hielt es Ran hin, drückte es ihm quasi in die Hände bevor er an ihm vorbei wollte. „Hier, für dich!“, lächelte er und hauchte Ran einen zarten Kuss auf die Lippen.
 

Noch einen Moment länger und Schuldig wäre reif gewesen. Genaue Anweisung? Farfarello was getan?

Doch er kam gar nicht dazu, Einspruch zu erheben, als Schuldig ihn küsste, ihm so effektiv die Lippen versiegelten. Außerdem war da noch etwas…etwas anderes, etwas weiches, das er nun in der Hand hatte. Aya sah langsam verwirrt an sich herunter, auf seine Finger. Sah…fühlte…es bewegte….

Ayas Augen weiteten sich.

Oh.

Gott.

Das war…das war…

Verständnislos, aber zugleich schon mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht sah er erst zu Schuldig, dann zu…diesem kleinen, roten Fellbüschel, diesem Katzenkind, das er nun leicht hochhob. Das war…Himmel…das war…

Ihm fehlten die Worte, selbst in Gedanken. Ein Kätzchen. Schuldig hatte ihnen ein Kätzchen mitgebracht.

Aya lachte, leise zunächst. Kicherte schließlich albern, lachte sich selbst aus…und an was hatte er gedacht? An Petplay…
 

Schuldig genoss für Momente diesen Augenblick. Die strahlenden violetten Augen, das Glück, welches sich in dem Gesicht zeigte. „Bin gleich wieder da!“, lächelte er, sich in dem Kichern des anderen sonnend. Fluchs war er im Bad und fand das in Auftrag gegebene Katzenklo nicht. Mit mürrischem Gesicht kam er wieder. Er hatte immer noch seinen Mantel an und zog nun erst mal seine Schuhe und selbigen aus.

„War Jei nicht hier?“
 

Jei, wer war Jei?, fragte sich vermutlich der Teil in Aya, der gerade zu sehr damit beschäftigt war, erste Annäherungsversuche zu dem Kätzchen zu starten. Völlig in die grünen, lebhaften Augen versunken, auf das Schnurren und Miauen des Kleinen fixiert, brauchte er einen Moment, um Schuldigs Frage als solche auch zu erkennen.

Er sah verwirrt hoch und besah sich zum ersten Mal richtig seinen impertinenten, ungarisch-deutschen Zackelschaftelepathen. Schuldig war wieder da. Bei ihm. Unversehrt. Ein breites Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.

„Ich habe es ausquartiert. Auf die Terrasse.“
 

„Achso“, sagte Schuldig und war zufrieden mit dieser Antwort. „Ich habe noch einige Sachen im Wagen, die hole ich später nach oben.“

Er setzte sich auf die Couch und legte den Kopf in den Nacken. Was für ein Stress und alles nur…

Er blickte zu Ran und lächelte.

Nein! Es hatte sich definitiv gelohnt! Sehr sogar.
 

Abgelenkt von kleinen, feinen Krallen, die sich haltsuchend in seine Hand bohrten, musste Aya zunächst erst einmal noch überdenken, was Schuldig gesagt hatte. Er ergriff den kleinen Raufbold mit beiden Händen und begab sich ebenso auf die Couch, setzte das Kleine fasziniert ab und stahl sich ganz klamm heimlich nebenher einen süßen Kuss von Schuldig. Er grinste immer noch…strahlte schier von innen heraus vor doppeltem Glück.

„Schön, dass du wieder da bist“, murmelte er.
 

Schuldig zog Ran an sich, küsste ihn sehnsüchtig. „Ich hab dich ganz schlimm vermisst. Schön, dass dir Banshee gefällt, sie war die einzig rote aus dem Wurf“, grinste er und strich der Katze mit einem Finger über den Kopf.
 

„Banshee?“, versuchte sich Aya an dem englischen Namen, wiederholte ihn zwischen zwei Küssen. „Banshee…was bedeutet das?“, fragte er und rieb seine Nase verspielt an der des Telepathen. Er merkte jetzt erst, was für eine Last von ihm abfiel, als er Schuldig hier vor sich sah. Wie sehr er auch den anderen Mann in seiner Gegenwart vermisst hatte.

Sein Blick wanderte zu der Kleinen, die sich nun frecher- und tapsigerweise auf den Weg zu ihnen beiden machte und Schuldig bekletterte, dabei leise maunzte. Aya musste lachen. „Schau, da ist die Mama“, sagte er zu ihr und stupste sie an. „Du weißt schon, an wen du dich halten musst, was?“
 

„Hmm?“ Schuldig blickte von dem Fellknäuel fragend auf und sah tatsächlich, dass Ran ihn mit „Mama“ meinte. „Von wegen“, griff er sich die Katze und drehte sie im Nackenfell so, dass er sie Ran vor die Nase halten konnte. „Das ist deine Bezugsperson! Guck ihn dir genau an!“, sprach er mit dem Tier und grinste im Hintergrund.
 

Die grünen Augen, die ihn so verzweifelt ansahen, erweichten Ayas Herz. Ebenso das leise Miauen und die Tatzen, die sich widerwillig ausstreckten. Er nahm Banshee in Empfang und bettete sie auf seinen Arm, machte es ihr bequem dort.

„Ja, ich Bezugsperson und du Mama“, grinste er und lächelte Schuldig in die blauen, schelmischen Augen. Herrlich. Wirklich.
 

Schuldig streckte sich herzzerreißend, lockerte seine Anzugsjacke und legte den Kopf in den Nacken um die Augen kurz ruhen zu lassen. „Gott, bin ich fertig“, stöhnte er leise.

„Keine Ahnung, was Banshee heißt, da war mal etwas mit einer Totenfrau…dort hinten habe ich ein Buch stehen, da müsste was in der Art drinstehen. Die Kleine hatte den Namen schon“, lächelte Schuldig und drehte den Kopf, sodass er seitlich auf der Rücklehne zu liegen kam. Er war so müde…

„Warum warst du vorhin eigentlich so sauer? War irgendetwas? Und warum hast du nichts gegessen?“, fragte er leise und seine Hand stahl sich an Rans Flanke, fühlte sanft die Seite nach.
 

Doch Ayas Hand schoss vor und stillte diese Bewegung, für einen Moment dominant und unnachgiebig, bevor der rothaarige Japaner die Finger des Telepathen sanft zu seinem Mund führte und mit einem Kuss bedachte, von dieser schreckhaften Geste versuchte abzulenken. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass Schuldig so gut abschätzen konnte, ob und wann er etwas aß oder eben auch nicht.

„Ich war sauer, weil…“ Er stockte. Irgendwie war es lächerlich, im Nachhinein. Wie hatte er überhaupt an so etwas denken können, Schuldig so etwas unterstellen können?

„In Bezug auf den Kätzchentag, dachte ich…“ Und wieder verstummte er, küsste ein weiteres Mal die noch kalten Finger. „…petplay…“, nuschelte er schließlich, beinahe unhörbar. Er ging nicht darauf ein, dass er einfach vergessen und verdrängt hatte, etwas zu essen. Das war ein altes Thema zwischen ihnen, das er nicht jetzt aufwerfen wollte. Er wusste selbst, wie ungesund seine Einstellung zu weilen war, auch schon zu Weiß’ Zeiten, doch was sollte er tun? Sich zum essen zwingen?
 

Schuldig öffnete stirnrunzelnd die Augen, sagte im ersten Moment nichts dazu und betrachtete sich Ran genau, jeden Zentimeter nahm er auseinander, studierte ihn für lange Minuten nachdenklich. „Ran? Du bist nicht mein Haustier. Du empfindest es aber momentan so, habe ich Recht?“
 

Banshee brachte Aya die willkommene Abwechslung, als er ihr einen Moment beim trägen Putzen zusehen konnte. Das Thema hatte er in Ansätzen mit Youji diskutiert und sie waren zu einem Ergebnis gekommen, das Schuldig sicherlich nicht freuen würde…das jedoch versucht werden musste.

„Manchmal ja“, gestand er ihnen schließlich ein. „Ich weiß, es ist ein dummes Gefühl“, lachte er leise und zuckte mit den Schultern. „Es wird sicherlich anders werden, wenn ich endlich was zu tun habe und die Wohnung verlassen kann ohne dass Kritiker mir auflauern.“
 

Auch wenn er es wusste, oder geahnt hatte, so traf Schuldig die Aussprache des Problems trotzdem. „Wäre … es dann nicht besser …diese Spielchen vorerst einzustellen? Sie machen es dir nicht leichter. Es tut mir leid, dass ich das nicht früher gesehen habe.“ Er verzog den Mund vor leiser Bitterkeit. Sie mussten sich etwas einfallen lassen. Dringend.

„Warum hast du nichts gegessen?“ stellte er erneut sanft seine Frage, die ihm so dringend erschien, dennoch stellte er sie ohne Forderung. Es ließ ihn traurig und sentimental werden, wenn er daran dachte, dass Ran wieder dünner geworden war. Das zeugte davon, dass sie beide ein Problem hatten.
 

Einstellen? Wo sie doch das Einzige waren, wo er Energie…

Aya unterband diesen Gedanken. Schnellstens.

„Nein, es ist schon in Ordnung. Es ist ja nicht so, dass ich es nicht auch will. Nur ich dachte, du willst damit“, er gestikulierte Richtung Terrasse „…den Vogel abschießen. Ich war…dumm, einfach nur dumm.“ Er winkte ab und lächelte. „Ich habe nichts gegessen, weil ich es vergessen habe, schlicht und einfach. Ich hab am Fenster gesessen und nachgedacht. Ich hatte sogar etwas gekocht, das steht jetzt im Kühlschrank für dich, wenn du Hunger hast.“
 

Genau jetzt…bei diesem Lächeln hatte Schuldig das Gefühl, seine Brust würde sich schmerzhaft zusammen ziehen.

„Wir müssen etwas tun, Ran. So geht das nicht weiter.“ Er spielte etwas mit Rans Fingern.

„Kommst du her…ganz nah…ich will dich bei mir haben“, rückte er etwas an ihn heran. „Was hast du denn Leckeres gekocht?“, fragte er um das Thema zu wechseln, um sie nicht beide noch schlimmer in die Gefühlsecke zu schieben. „Isst du mit?“
 

Aya kam ihm entgegen, robbte samt dösender Katze auf seinem Oberarm zu Schuldig und lehnte sich an den anderen Mann. „Reis mit etwas Gemüse und den Fleischresten, die noch da waren. Nichts Großartiges also. Ich esse mit, ja. Farfarello wollte nichts, als ich es ihm angeboten habe“, schnaubte er schließlich.
 

Leise lachend legte Schuldig sein müdes Haupt auf Rans Schulter. „Das ist normal. Wenn du es ihm nicht servierst oder ihm die richtigen Fragen stellst, dann isst er nichts. Fragst du ihn, ob er etwas essen will, wird er nichts antworten, fragst du ihn aber, ob er Hunger hat, oder schon etwas gegessen hat, wird er dir antworten. Es ist manchmal etwas schwierig mit ihm. Er hatte nur den Auftrag das Paket abzuliefern und abzuwarten, bis du es aufgemacht hast. Er wäre nicht geblieben. Ich hab ihm eingeschärft, dass er schnell wieder nach Hause soll.“

Er schwieg einen Moment. „Ich bin so müde, Ran“, murmelte er in Kleinkindmanier. „Und ich muss noch soo viel machen…essen, duschen, Koffer holen…und dann erst kann ich mich hinlegen…“, maulte er leidend.
 

So war das also, vermerkte Aya innerlich. Falls er mal wieder in den Genuss eines auftauchenden Iren kommen sollte, der sich nichts andrehen ließ.

Er lachte, als er sich Schuldigs Worte bewusst wurde. „Dann legst du dich jetzt hin und schläfst etwas. Ich hole in der Zwischenzeit die Koffer, duschen kann ich leider nicht für dich, das erledigst du dann danach. Und gegessen wird auch später“, entschied er in der strengen Manier eines Vaters, der seinen ungehorsamen Sohn vor sich hatte.
 

„Nein, essen werde ich gleich“, war Schuldig wieder etwas wacher, streckte sich erneut und rieb sich die Augen. Er erhob sich und entledigte sich seines Mantels.

Wenn er noch wartete dann aß Ran bis dahin auch nichts. Also wurde gleich gegessen!

„Ich mach’s uns zurecht“, lächelte er warm und ging zur Küche. Er zog sich den Haargummi aus seiner Mähne und fasste sein Haar, das zuvor streng und geordnet zurückgekämmt in einem Zopf gehalten wurde lockerer zusammen.
 

Nicht, dass Aya etwas dagegen hatte. So brauchte er sich wenigstens nicht bequemen. Er sah auf Banshee hinunter, die auf seinem Arm schließlich friedlich eingedöst war und Zuneigung für dieses kleine Wesen durchflutete ihn plötzlich. Ebenso wie für denjenigen, der sie mitgebracht hatte.

Vorsichtig setzte Aya die Kleine ab und folgte Schuldig in die Küche. Jetzt…wo er darüber nachdachte, hatte er doch vielleicht etwas Hunger. Ja…das konnte man so sagen.
 

Nach kurzer Zeit erfüllt ein würziger Duft die Luft und Schuldigs Magen knurrte vernehmlich. Er schnupperte und setzte sich mit einem Schüsselchen voller heißem Gemüse und Fleisch an den Tresen. „Lecker“, verzog er die Lippen zu einem breiten Lächeln. Er konnte es kaum abwarten bis es etwas auskühlte und probierte sogleich einen Happen davon. „Autsch…heiß“, maulte er dann…
 

Aya lachte vergnügt, strich Schuldig gleichzeitig über den Haarschopf. „Nicht so hastig…das Essen ist heiß, Kind“, schüttelte er nachsichtig den Kopf und nahm sich auch eine nicht unbeachtliche Portion von besagter Nahrung.

Er musste ja schon zugeben, dass Schuldig Anzüge standen. Vor allem in Verbindung mit dieser Frisur, die ihm einen dekadenten, modernen Eindruck verlieh. Ganz anders als der eher bequem zeitlose Look, den Schuldig hier pflegte. So genoss Aya für ein paar Augenblicke erst einmal diesen Anblick – wenn auch die Anzugsjacke fehlte, aber gut – und setzte sich dann erst zu Schuldig an den Tisch. Er griff sich die Stäbchen aus der Schublade und aß langsam die ersten Bissen, die wirklich gut schmeckten.
 

o~
 

Den warmen Wasserstrahl auf seiner Haut genießend verblieb Schuldig noch etwas in der Dusche, bevor er sich erfrischt und ausgeruht daran machte, sich für den Abend vorzubereiten. Etwas gewöhnungsbedürftig war das kleine Tierchen schon in seiner Wohnung. Ab jetzt musste er darauf achten, dass er den roten Stubentiger nicht platt machte wenn er seine Schritte durch die Wohnung lenkte. Grinsend trocknete er sich ab und begann sich die Haare zu fönen.
 

Momentan konnte Schuldig eben jene Minitigerdame nicht plätten, da sich Aya mit ihr auf den Kissenberg zurückgezogen hatte. Er selbst lauschte auf das Rauschen der Dusche, während es sich Banshee neben ihm auf einem der Kissen gemütlich gemacht hatte und mit einem losen Faden spielte. Eine kleine Unabhängige war sie, das hatte Aya schon herausgefunden, doch sie spielte und kabbelte sich ebenso gerne. Ein faszinierendes Kätzchen.
 

Schuldig war fertig und kam aus dem Bad, ging zum Schrank. „Hast du schon eine Idee, wo es hingehen soll?“, fragte er zu Ran gewandt und besah sich seine Ausbeute was Kleidung anbelangte. Nur mit einem Handtuch um die Hüften wühlte er in seinen Sachen herum und verschwand dabei fast im großen Schrank.
 

„Ich hätte Lust auf Tanzen“, rief Aya Schuldig hinterher und betrachtete sich dessen Hinterteil. Hinreißend.

Er ließ Schuldig erstmal gewähren, bevor er sich anziehen würde. Mal sehen, was er trug…gekauft hatten sie schließlich genug.

„Wie wäre es mit dem Blind Kiss?“, fragte er schließlich.
 

Schuldig sah auf und hatte dabei ein Shirt halb über seinem Schopf hängen, als er es beiseite wischte und hervorlugte. „Ja klar, können wir, in den offenen Bereich. Oder möchtest du in die Twilight-Zone?“, hakte er nach und zerrte endlich die Hose hervor die er gesucht hatte.

Ob er Ran wohl Toshi und Kim vorstellen konnte?
 

Aya fragte sich für einen Moment, ob Schuldig daher seine Kampfesstärke hatte. Dass er jeden Tag wieder gegen das Chaos in seinem Kleiderschrank ankämpfte und siegte. War das sein Training?

„Lassen wir es langsam angehen…wir können ja hinein, aber ich will nur zusehen, nicht selbst aktiv werden“, antwortete er und erhob sich langsam.
 

Ran einen ungläubigen Blick zuwerfend schlüpfte Schuldig in seine Hose.

„Aha“, sagte er sparsam und lächelte anzüglich dabei. „Vom Zusehen…sicher lässt dich das dann eiskalt, nicht?“ bezweifelte er dieses Vorhaben aufs Ärgste.
 

„Mich lässt das sicher nicht eiskalt, aber ich bin garantiert nicht derjenige, der seinen Arsch hinhalten wird, denn der, mein lieber Schuldig, tut immer noch weh.“ Nicht, dass es ihn stören würde, zumindest jetzt nicht. Aber eine neue Runde Sex? Nein…noch nicht.
 

Wow, er wusste gar nicht, wie schnell sein schlechtes Gewissen von Null auf Hundert schießen konnte, dabei hatte er immer gedacht, er hätte so etwas gar nicht.

Zerknirscht verzog Schuldig das Gesicht. „Ehrlich?“

Dass es vier Tage andauert…nun so hart hatte er es nicht durchziehen wollen. Warum hatte Ran nichts gesagt, wenn es ihn so geschmerzt hatte? Er kam zu Ran und zog ihn in die Arme, küsste ihn auf die Schläfe. „Hey“, hauchte er „…warum hast du denn nichts gesagt? Das hätte nicht sein müssen.“
 

Aya lachte und boxte Schuldig leicht in die Seite. „Ich bin ein Mann, keine Memme, Schuldig. In der Nacht war einfach zuviel Lust im Spiel, als dass der Schmerz allzu groß geworden ist.“ Falsch, das war es nicht gewesen. Er hatte ihn wohl gespürt und hatte die leicht stechende Reibung mit Akzeptanz angenommen. Er hatte sie gebraucht, zu dem Zeitpunkt.

Das Danach…hatte er jetzt zu spüren bekommen und er regte sich immer wieder darüber auf. „Außerdem…wie oft haben wir miteinander geschlafen? Natürlich wird man dann irgendwann wund. Das ist doch ganz normal.“ Wen von ihnen beiden versuchte er eigentlich hier zu überzeugen?
 

Nur zu gern wollte Schuldig gerade jetzt die Richtigkeit dieser Worte bestätigt haben. Das Lachen und die Geste waren deplaziert, sie wirkten aufgesetzt, doch Schuldig nahm sie an und ließ sich darin verwickeln, auch wenn seine Augen etwas anderes sagten, grinste er mit.

Er löste sich von Ran und suchte sich ein Hemd aus dem Schrank. „Pass auf dich auf“, sagte er wie nebenbei.
 

„Ich? Immer“, lächelte Aya und machte sich nun seinerseits daran, sich Sachen in dem Schrank zu suchen. „Außerdem mein Lieber“, murmelte er am Ohr des Telepathen „Bin ich der Meinung, dass dein Hintern auch langsam mal wieder dran sein sollte. Du siehst einfach fantastisch aus, wenn du vor Lust deinen Rücken durchbiegst und dich wie eine Großkatze streckst. Wenn du nach mehr stöhnst…“
 

„Ran hör auf, wenn ich dich nicht gleich noch mal flach legen soll“, knurrte Schuldig verspielt und schüttelte den Kopf über so viel Unbelehrbarkeit. „Mein Hintern also…“, überlegte Schuldig laut und zog eine Schnute als würde er überlegen. „den …musst du erst mal kriegen!“ grinste er verschlagen in Erinnerung an Rans Lieblingsspiel: weglaufen und eingefangen werden.
 

„Aber…ich habe ihn doch schon“, murmelte Aya, als er sich besagtes Hinterteil griff und fest zudrückte, den anderen Mann daran an sich zog. „Ganz alleine meiner. Niemandes sonst“, befand er beinahe schon zu sachlich, ließ das begehrte Fleisch jetzt aber los. Er würde auch eine Nacht ohne Sex überstehen…
 

Diese Sachlichkeit hörte Schuldig durchaus heraus, doch es tat ihm gut. Er brauchte dies, zu wissen wohin er gehörte, wer Ansprüche auf ihn erhob. So kam er nicht auf abwegige Gedanken und alles …Ran hatte ihn unter Kontrolle.

Somit konnte er sich frei bewegen, er wusste dass Ran ihn begehrte und ihn wollte.

„Ran…wir wollen doch aber schon noch aus der Wohnung kommen, oder?“, lachte er unvermittelt. Sie waren beide einfach schrecklich.
 

„Natürlich wollen wir das, deswegen…machen wir uns jetzt fertig“, schmunzelte Aya und wandte Schuldig seinen Rücken zu, fischte sich nun seinerseits Sachen aus dem Kleiderschrank, die er anziehen wollte. Nichts großartig entblößendes, dafür aber sehr schlichtes, interessantes. Der Teufel lag im Detail. So war es auch hier. Aya lächelte.

Er zog sich aus, auch seine Unterwäsche und stieg in die Lederhose, arrangierte die Ketten an der Seite. Dazu folgte noch ein schlichtes, grünes, eng anliegendes Oberteil. Alles sehr harmlos, auch seine Boots.
 

„Ran!“, krächzte Schuldig, die Augen auf dessen Hinterteil gerichtet, welches gerade in der Hose verschwand. Er trug keine Unterwäsche. Das tat er sonst immer. Immer.

„Was…was…“, stotterte er. „Ich dachte, wir wollten heute keusch bleiben?“
 

Aya sah VÖLLIG verständnislos zu Schuldig hinauf und in dessen schier entsetzte Gesichtszüge. Dann lächelte er. „Ich will keusch bleiben, das heißt jedoch nicht, dass ich nicht das Leder an meiner nackten Haut fühlen darf, wie es sich über sie schiebt und mit ihr verschmilzt in der Hitze, oder?“
 

„Du bist gemein!“, formte sich Schuldigs Gesicht zum anklagenden Ausdruck und er schluckte. „Sowas ist ziemlich hinterhältig, mich so zu quälen.“

Danach ging er ins Bad, machte die Tür zu und schmollte.
 

o~
 

Es stellte sich heraus, dass Ayas Wahl der Kleidung durchaus die Richtige gewesen war, so heiß es in diesem Club an diesem Tag war. Auch wenn er sich freute…er war unter Menschen, er war raus aus dieser Wohnung, er hatte Schuldig an seiner Seite und gemeinsam machten sie den Club unsicher.

Aya stand am Tresen und nahm einen Schluck seines Long Island Iceteas. Sehr gut gemischt, aber er brauchte das auch. Besonders nach den vergangenen drei Tagen.

Er lehnte bei Schuldig, seine Hand in dessen Hose und beobachtete Leute, die um sie herumschwirrten oder eine der Bühnenshows, die ihnen hier geboten wurden.
 

Diese Hand war es auch, die Schuldig zurückholte, wenn er in den Köpfen der Leute spukte, wenn er sich dazu hinreißen lassen wollte, ihre dunkelsten Gedanken, ihre geheimen Gelüste anzustacheln. Stattdessen plauderte er mit dem Barkeeper, den er kannte, und tat sich an seinem Cocktail gütlich.

„Ist Toshi da? Oder Kim?“, fragte er den Bartender.
 

Aya sah, wie der andere Mann nickte und mit den Lippen das Wort ‚beide’ formte. „Stellst du sie mir vor?“, fragte Aya in das Ohr des Telepathen, damit dieser ihn auch verstehen konnte über die Musik hinweg, über die Geräusche von unzähligen Menschen hier im Club.

Es interessierte ihn…mit wem Schuldig noch alles geschlafen hatte. Nicht, weil er in diesem Fall eifersüchtig war, nein, sondern weil es ihn neugierig machte, wer es schaffte, Schuldigs Aufmerksamkeit so dauerhaft und nachdrücklich zu fesseln.
 

„Ja, wenn es okay ist?“

Der Bartender deutete mit dem Kopf aufs Twilight und Schuldig griff sich seinen Drink und deutete Ran dass sie nun ins Twilight gehen würden.

Er war neugierig, wie Ran auf die beiden reagieren würde, neugierig, aber auch etwas unsicher.
 

Doch Aya lächelte ihm zuversichtlich ins Gesicht und ging mit ihm gemeinsam ins Twilight. Wie der Name schon sagte…ein Zwielicht, eine Zwischenstation zwischen den Welten. Oder eine ganz andere Welt, je nachdem, wie man es sich aussuchte.

Ein Darkroom im gehobenen Ambiente, konnte man sagen, auch wenn es das nicht so ganz traf. Überall waren deckenhohe Glaswände, einzelne Bereiche, in die man sich zurückziehen konnte. Herrlich. Youji und er hatten sich gerne hier verirrt, waren durch die Räume gestreift...um zu schauen, zu agieren…

„Ich bin gespannt…wie die beiden sind.“
 

„Erst mal finden…“, lachte Schuldig und sie streiften zusammen durch die einzelnen Räume, die mehr oder weniger einiges zu bieten hatten. Schließlich fanden sie die beiden. Toshi hatte es sich auf dem Boden bequem gemacht, lehnte an einem Ledersessel, während Kim darauf saß und er ihren Fuß massierte. Sie hatte die Beine überschlagen und saß entspannt da. Beide frönten den Lauten und dem Geschehen, welches sich vor ihnen abspielte. Ein Pärchen vergnügte sich dort.
 

Aya nahm die Szene stumm in sich auf und ließ seinen Blick über das agierende Pärchen gleiten. Er lauschte ihren Geräuschen, seinem Stöhnen und ihrem Seufzen, bevor er sich an das Besitzerpärchen wandte. Zumindest glaubte er sich daran zu erinnern, dass es die beiden waren. Sympathisch, kam es Aya als erstes in den Sinn. Völlig ruhig und gelassen wirkten sie. Vor allen Dingen sie. Was hatte Schuldig ihm über Kim erzählt? Dass sie blind war?

Aya wartete ab, wollte sich nicht einmischen, wollte abschätzen, wie sich die Situation entwickeln würde.
 

Kim wurde als erstes auf sie aufmerksam, wandte ihren Kopf in Schuldigs und Rans Richtung, erst da tat Toshi es ihr gleich und als er Schuldig sah, erhellte sich sein Gesicht und er winkte ihnen entgegen. Gleichzeitig sagte er zu Kim gewandt etwas. Dann erhob er sich.

Schuldig fragte sich, wie die beiden Ran finden würden…
 

Aya betrachtete sich den nicht unattraktiven, jedoch vollkommen unscheinbaren Mann, der nun auf sie zukam. Angeborene Vorsicht machte sich in ihm bemerkbar, griff nach seinen Instinkten. Er war wachsam, auch wenn er sich denken konnte, dass von den beiden keine Gefahr ausgehen würde.
 

"Schön euch hier zu sehen", begrüßte Toshi die beiden Neuankömmlinge mit einem Lächeln.
 

Schuldigs Arm fand Rans Taille und er hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Schläfe.
 

"Toshi, darf ich dir Ran vorstellen? Ran das ist Toshi", lächelte er warm und löste sich von Ran um zu Kim zu gehen, die noch immer auf ihrem Platz saß.
 

"Sie freut sich, dass er da ist", sagte Toshi samtig und geleitete Ran zu den beiden. Toshis Stimme war dunkel und zugleich weich.
 

Schuldig nahm Kims Hand und führte sie an seine Lippen, hauchte einen zarten Kuss darauf.
 

"Kim. Es tut gut, dich zu sehen. Ich möchte dir jemanden vorstellen", flüsterte er Kim diese Worte ins Ohr, die daraufhin lächelte. "Ich bin gespannt endlich den Grund für deine Abwesenheit zu erfahren."
 

Aya merkte deutlich, dass er sich mit dem Kennen lernen von fremden Personen immer noch schwer tat…Er folgte dem anderen Mann – Toshi – zwar, fühlte sich jedoch zunächst eher unwohl, Kontakt mit den Beiden zu schließen. Was nicht daran lag, dass sie beide mit Schuldig geschlafen hatten. Ganz im Gegenteil, das Paar schien etwas Besonderes zu sein, mussten sie ja auch, wenn sie diejenigen waren, die Schuldig in ihren Bann gezogen hatten. Schon als Aya selbst den Telepathen noch als Schwarz gekannt hatte. Nur als Schwarz, als bösen, teuflischen Gegenspieler.
 

Er fühlte sich unwohl, weil er zu Weiß’ Zeiten immer den Kontakt zur Außenwelt gemieden hatte, bis auf die sporadischen Sexabenteuer mit Youji und anderen, unbekannten Paaren zusammen. Er wollte einfach keine emotionalen Bindungen zu Menschen, die nicht wussten, was er war und tat. Er scheute sich vor Kontakten, auch jetzt noch, nachdem Youji ihn so unsanft aus seiner emotionalen und geistigen Starre gerissen hatte. Damals.

Und dennoch kam er mit, brachte zumindest Neugier für die Beiden auf. Er sah Toshi an, entsann sich auf das, was der andere Mann gesagt hatte.

„Er hält viel auf sie. Auf euch beide“, nickte er ruhig.
 

„Er ist uns immer willkommen, Ran.“ Toshi lächelte hintergründig. „Wie du auch“, dann wandte er sich wieder um und sie kamen bei Schuldig und Kim an. Schuldig richtete sich auf und kam zu Ran, während Kim eine mit Leder behandschuhte Hand ihm entgegenstreckte.

Bis zur Mitte des Oberarms umschmiegte weiches dünnes Leder ihre Haut. Sie lächelte Ran wie eine Sphinx an.

„Sie möchte dich kennen lernen“, sagte Schuldig leise und fühlte sich aufgekratzt.

Fast wie ein Familientreffen. Wobei er nicht genau wusste, warum er sich so fühlte.

Kim brauchte nahen Kontakt um jemanden einschätzen zu können. Sie wollte meist das Gesicht berühren. Doch Schuldig wusste nicht, ob Ran das ihr gestattete.
 

Aya lächelte Schuldig flüchtig entgegen, bevor er sich wieder auf die Frau vor sich konzentrierte. Er ergriff ihre Hand und versuchte sich zu erinnern, was ihm Youji irgendwann einmal über westliche Höflichkeit einzubläuen versucht hatte. Denn es genügte nicht, wenn er ihr zunickte oder sie anlächelte, er musste etwas sagen. Handeln. So führte er die ledernen Handknöchel an seine Lippen und küsste sie, fast zu unmerklich, als dass sie es bemerken würde.

„Madame…“, merkte er ruhig an und wollte ihre Hand wieder sinken lassen.
 

Kims Sinne waren ausgeprägter als die Sehender und sie bemerkte sehr wohl den sanften Druck. Sie lachte leise und drehte ihre Hand, sodass sie Rans Wange berührte, sie befühlte.

„Möchtest du dich neben mich setzen?“
 

Es war ungewöhnlich für Aya, sich auf diese Art und Weise berühren zu lassen, doch er hielt still, wusste, dass es ihre Möglichkeit zu sehen war.

„Gerne“, erwiderte er leise und nahm neben ihr Platz, war ihr alleine schon durch die Größe des Ledersessels sehr nahe. Sie roch gut, das war das Erste, was ihm auffiel. Ein zarter, sehr angenehmer Duft, nicht aufdringlich. Sehr frisch auch. Ihre gesamte Erscheinung war entspannt, fließend und ruhig. Quasi der Gegenpol zu Schuldig. Aya lächelte stumm in sich hinein. Er konnte sich schon vorstellen, wie sie die Energie des Telepathen absorbiert hatte, wenn dieser wieder zu hibbelig und zu aufgedreht war.
 

„Wie gefallen sie dir?“ fragte Kim danach, wie Ran das Pärchen in Aktion fand und streckte ihre Linke aus, die sogleich von Schuldig ergriffen wurde. „Würdet ihr uns zwei „Specials“ bringen?“

Schuldig blickte Ran an, ob er ihn mit Kim alleine lassen konnte. Er wusste nicht, ob er sich wohl fühlte, dort neben ihr.
 

Aya nickte Schuldig zu. Er hatte wohl verstanden, was der andere Mann ihm damit andeuten wollte und befand, dass das nun zuviel der Bemutterung war. Natürlich bewegte er sich hier auf neuem Eis, natürlich fühlte er sich nicht so sicher, wie es vielleicht Youji tun würde…ganz sicher nicht SO wie Youji. Aber das hieß nicht, dass er nicht versuchen konnte, mit dieser Situation umzugehen.

Er sah noch schweigend zu, wie die beiden Männer tatsächlich verschwanden und besah sich dann erst das Pärchen vor ihnen.

„Sie sind interessant“, antwortete er wahrheitsgemäß. Denn das waren sie auch. Interessant, aber nicht anziehend.
 

Leise lachend legte sie ihren Kopf dezent schief als würde sie lauschen. „Was findest du denn mehr als interessant, Ran?“

Kim bemerkte in der ruhigen Gestalt neben sich eine gewisse Anspannung, sie wandte sich ihm zu, als würde sie ihre ganze Aufmerksamkeit auch körperlich auf ihn richten.
 

„Schuldig“, war das Erste, was Aya in den Sinn kam. Es stimmte. „Er ist faszinierend in seiner Art und Offenheit“, bot er als Erklärung an, auch wenn er nicht genau wusste, warum er das tat. Vielleicht war es an dem Interesse, das sie offenkundig an ihm zeigte.
 

Ein Schmunzeln zierte Kims Lippen. „Er hat eine freimütige Art, mit seinen Gefühlen umzugehen. Es ist als wandle er zwischen den Menschen, nicht mit ihnen. Seltsam, findest du nicht?“, fragte sie hintergründig. Doch bevor ihr geantwortet werden konnte, beugte sie sich etwas vor.

„Würdest du mir einen Kuss schenken, Ran?“
 

Aya wollte ihr gerade antworten, dass es durchaus nicht seltsam war, als er sich einer Frage gegenüber sah, die ihn im ersten Moment überfuhr. Da sprach sie von Freimütigkeit, wo sie Schuldig doch so ähnlich schien. Vor allen Dingen, da Schuldig ebenso wie sie einen Kuss hatte haben wollen. Ganz zu Anfang. Und er hatte dem Telepathen damals einen versprochen. Er hatte dieses Versprechen auch gehalten.

Es brauchte einen Moment, bevor er lächelte und seine Stimme ebenso ruhig wie freundlich ein „Natürlich.“ entgegnete. Er beugte sich zu ihr und umfasst hauchzart ihre Wange, bevor er ihr einen leichten Kuss auf die Stirn hauchte.
 

Ihre Hände legten sich auf seine Schultern und zart fuhr sie die mit der einen Hand in den Nacken, die andere schlich sich den Kiefer entlang, über die Wange zu Rans Lippen. „Schenk mir einen richtigen Kuss, einen blinden Kuss“ lächelte sie ihr hintergründiges Lächeln. Die Hand im Nacken glitt hinab, entdeckte das lange Haar, fuhr über die seidige Textur. „Zunächst dachte ich, er hätte sich in eine Frau verliebt“, raunte sie, an Rans Lippen. „Er war sehr niedergeschlagen … wegen dir?“ Ihre blinden Augen sahen eher unbewusst in Rans, während ihre Lippen so nah an seinen waren.
 

Und da dachte Aya, er wäre um den Kuss herum gekommen. Aber wie konnte er die Bitte dieser Frau abschlagen? Gar nicht.

Eine Gänsehaut überlief seinen Körper, als sie ihn berührte, doch eher, weil es ungewohnt war und sich seine Zellen dagegen sträubten, ohne sein direktes Einverständnis und Einwirken angefasst zu werden. Er sagte dazu nichts, das hier war das normale Leben und nicht das unantastbare Leben des Killers Abyssinian. Doch das musste noch lange nicht heißen, dass auch er es tolerierte, auch wenn er es um ihretwillen geschehen ließ.

„Eine Frau?“, lachte er. „Nein…das bin ich sicherlich nicht.“ Er verfiel wieder für einen Moment in angenehmes Schweigen, bevor er sich daran erinnerte, wann sie das letzte Mal gestritten hatten.

„Ja, wegen mir. Eigentlich immer wegen mir. Manchmal frage ich mich, was ihn bei mir hält“, entgegnete er scherzend.
 

„Du hast die Frage schon beantwortet … wegen dir“, lachte sie leise, bevor sich ihre Lippen seinen näherten und sie sanft berührten. Danach fragten, ob sie eingelassen würde, stippte ihre Zunge gegen die Lippen. Ihre Augen zur Hälfte geschlossen, waren ihre Sinne völlig auf Ran gerichtet, auf die Spannung in ihm.
 

Aya gewährte ihr den Einlass, gewährte ihr den Blind Kiss, den sie erbeten hatte. Er öffnete seine Lippen, schmeckte sie, schmeckte den Alkohol, den sie vielleicht vor kurzer Zeit noch getrunken hatte. Er bewegte sich nicht, verharrte ganz still.
 

Kims Hand strich über Rans Haar, es sorgsam behandelnd, schlüpfte sie zwischen die Lippen, stupste Rans Zunge mit ihrer an, neckte ihn und umgarnte ihn zart. Noch immer spürte sie etwas Lauerndes in diesem Mann, etwas, das er zurückhielt. Was dies war konnte sie nicht sagen, doch es ähnelte dem, was Schuldig vor ihnen verbarg. Es war fast wie die Unruhe eines Raubtieres, die in den Tiefen brodelte.
 

Es dauerte seine Zeit, bis Aya sich auf ihr Spiel einließ und ihre sanften Avancen erwiderte. Weil sie eine Frau war, entschied er für sich. Einen Mann hätte er niemals so weit kommen lassen, nicht einen fremden. Doch sie war…auf eine Art beharrlich in ihren Wünschen, auf die andere jedoch nicht aufdringlich. Seine Hände lagen ruhig auf dem Ledersofa und er versuchte nach und nach, seine Gestalt von der Anspannung zu befreien.
 

Dies blieb von Kim nicht unbemerkt, die sich mit einem abschließenden Nippen an den für sie so sanften Lippen zurückzog. „Wie sanft und vorsichtig du bist“, sagte sie leise noch an die Lippen gehaucht. „Oder nur misstrauisch und in dich zurückgezogen?“

Sie berührte mit ihrem Daumen die Lippen, lächelte geheimnisvoll und nickte, als hätte sie etwas für sich bestätigt. „Glaubst du, wir könnten Freunde werden, Ran?“
 

Er lachte leise. „Das Erste hört sich sehr schön an, allerdings trifft vermutlich das Zweite eher zu.“ Er fing die ihn berührende Hand ein und platzierte einen weiteren Kuss auf die Fingerknöchel.

„Es gibt nichts, was dagegen spricht, denke ich“, erwiderte er.
 

Kim bemerkte, wie sich jemand näherte und sog genießend Rans Geruch ein, bevor sie sich etwas zurückzog und aufblickte. „Schuldig…er ist gefährlich, du solltest dich vorsehen. Nimm dich vor ihm in Acht“, fiel ihr abschließendes Urteil aus. „Er hat etwas ‚Fesselndes’ an sich“, lächelte sie und lehnte sich zurück, wohl wissend, dass ihr gleich ihr Drink von einem der Männer überreicht wurde.
 

Schuldig hatte bereits, als sie hereintraten, gesehen wie nahe sich die beiden gekommen waren und grinste wissend.

„So meinst du?“, sah er auf Ran und zog ein finsteres, misstrauisches Gesicht, als habe er hier einen Doppelagenten vor sich.
 

Aya hob stumm eine Augenbraue, zuckte gönnerhaft mit den Schultern. Diese Frau hatte es wirklich in sich.

„Ich denke, die Warnung kommt etwas zu spät“, lächelte er schließlich. „Er ist mir schon die in die Falle gegangen…ohne Ausweg.“
 

„Vielleicht kann ich ihn noch retten?“

Kim hob die Hand und Schuldig gab ihr den Drink in die selbige.
 

Toshi reichte Ran seinen Drink, setzte sich auf die Lehne neben Ran und lehnte sich zurück auf die Rücklehne, beobachtete das Pärchen nebenbei.
 

Schuldig setzte sich auf die breite Lehne neben Kim und nahm einen Schluck seines Drinks, seine Augen funkelten und flirteten mit Rans. „Wer weiß, wer hier wen in der Falle hat…“
 

„Die Katze spielt mit der Maus, diese wiederum mit der Katze“, merkte Aya an und nahm ebenso einen Schluck des Specials, der ohne Frage das Beste war, was es hier an alkoholischer Mixtur gab…noch vor seinem obligatorischen Icetea. Stark und bitter, so mochte er es. Er fühlte sich seltsam, dass er hier in diesen Kreis integriert war, dass sie ihn so einfach angenommen hatten. Das ließ ihn vorsichtig werden, vorsichtig auf eine ungefährliche Art und Weise. So als ob er sich erst an das normale Leben gewöhnen müsste.

Aber war es denn nicht auch so?
 

„Du hast also jemandem zum Spielen gesucht?“, wandte sich Kim an Ran. „Selbst beim Spielen sollte man Vorsicht walten lassen…“

Ihre Hand fand ihren Weg auf Rans Oberschenkel, blieb locker darauf liegen, als läge sie zufällig dort und untermauere lediglich ihre Worte.
 

Wem sagte sie das? Aya garantiert nicht. Er kannte die möglichen Auswirkungen eines Spiels. Er kannte die Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Er erwiderte nichts darauf, lächelte nur und sah Schuldig in die Augen.

„Man sollte bei allem Vorsicht walten lassen, was man tut“, richtete er schließlich wieder an Kim.
 

„Wie wahr. Und manchmal …manchmal muss man alles riskieren um etwas zu gewinnen“, antwortete sie.
 

Schuldig nahm einen tiefen Schluck, ließ dabei Ran nicht aus seinem lauernden Blick. Wenn Ran ihn weiterhin so ansah…hatte er bald ein Problem unter dem Stoff seiner Hose. Was hatte er gerade gesagt? Er war zu sehr in diesen Blick vertieft gewesen.

Man sollte bei allem was man tut vorsichtig sein…

War er das? War er immer vorsichtig?
 

„Und wenn es sich dann lohnt, nennt man das Himmel, ich weiß“, antwortete Aya tiefgründig und wandte sich Schuldig zu, lehnte sich etwas über Kim um ihm über die Wange zu streichen.

„Was hast du? Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte er besorgt, mit einem unschuldigen Einschlag. Wieder einmal zu unschuldig, als dass man ihm das auch nur in Ansätzen glauben würde.
 

Schuldig nutzte diese Gelegenheit, senkte seine Lider etwas, fing die schmalen Finger ein und leckte über den längsten der Fünf. „Alles bestens“, zwickte er Ran liebevoll warnend, ihn nicht zu sehr zu reizen.
 

Vielleicht war es genau diese Warnung, die Aya dazu veranlasste, seine Finger nicht zurückzuziehen. Er lächelte, ließ seine Hand von den Lippen des Telepathen hinuntergleiten, streifte den Brustkorb, den muskulösen Bauch bis weit unten, bevor er sich zurückzog.

„Euch beiden gehört das Blind Kiss?“, stellte er in den Raum und sah Toshi in die Augen.
 

Dieser hob seine Hand und strich Ran eine lose Strähne wieder über die Schulter.

„Ja, uns gehört es. Können wir etwas für dich tun?“ Er schien bewusst das Wort ‚dich’ und nicht ‚euch’ gewählt zu haben.
 

„Hey, verschwört sich jetzt alles gegen mich?“, begehrte Schuldig auf, genoss aber diese Stimmung zwischen ihnen, die ihm zeigte, dass Ran die beiden mochte.
 

„Gegen dich? Nie…“, neckte Aya den anderen Mann. Sah es gleichzeitig Toshi nach, dass dieser ihn so ungezwungen berührte. Es schien in dieser Szene so zu sein, dass es niemanden wirklich störte. Aya schon…weil es nicht seiner Maxime entsprach. Doch er wollte diese Stimmung hier nicht zerstören, er wollte die beiden um Schuldigs Willen kennen lernen.

„Nein, ich bin glücklich so wie ich bin“, richtete er an Toshi und strich sich die Haare über die Schulter nach vorne.
 

„Oh, das bezweifelt …keiner…“, sagte Toshi und nickte lächelnd.
 

Doch Schuldig sah diese Geste, sah Rans Rebellion gegen die Berührung. Er wusste, dass Toshi ebenso wie Kim den Kontakt zu anderen mochten. Vor allem wenn sie so attraktiv waren wie Ran.
 

o~
 

Youji stand vor dem Spiegel und überprüfte sein Outfit. Sehr avantgardistisch heute, beschloss er. Eine Schwarze Hose, dazu ein schlichtes, weißes Hemd und ebenso farbige Schuhe. An sich nichts Spektakuläres, wären da nicht die schwarzen Hosenträger und die Krawatte mit auffälligem Muster gewesen. Seine Haare hatte er sorgsam geglättet und schließlich so hochgegelt, dass er sie in einem legeren Zopf nach hinten nehmen konnte und sie am Seitenscheitel frech abstanden.
 

Es war kein Aufreißeroutfit, das er hier anhatte, sondern Vernissagekleidung. Genau dort wollte er nämlich hin und genau dahin begab er sich jetzt. Stilvoll in seinem Seven natürlich fuhr er zu der Halle, einer alten, stillgelegten katholischen Kirche, die nun Ausstellungsort für diverse Künstler war. Mal sehen, was ihn dort erwartete.
 

Die Örtlichkeit füllte sich mit zunehmend fortschreitender Stunde und er ließ sich von seinem Platz aus, der Estrade, auf der sonst der Chor stand, von den Stimmen, der Musik und der Stimmung einhüllen. Crawford hatte dies organisiert, hatte die Einladungen verschickt, hatte das Essen geordert, hatte die Jazzband bestellt, Nagi hatte ihn frisiert, hatte ihn angezogen. Und er … war einfach nur da und genoss diesen Abend auf seine Weise.

Crawford hatte sich auch um die Inszenierung der Bilder gekümmert, sie mit Licht und diesem Ort perfektioniert. Nur hier kamen sie so zur Geltung dass sie diesen Effekt hatten. Er sollte ihnen dafür danken…überlegte er, während er von seinem exklusiven Platz nach unten blickte.
 

Youji war sich nicht mehr genau sicher, wie lange er schon hier war, wie lange er sich schon in Musik und Bild verloren hatte. Es schien alles bis auf das kleinste Detail zu passen…zueinander stimmig zu sein. Wunderbar, das liebte er.

Er nippte an seinem Sekt und konnte beinahe schon wieder Aya im Hintergrund hören, wie er ihm deswegen tadelnd verbal auf die Finger klopfte. Nicht so viel Alkohol, ist ungesund…Er hätte Aya gerne dabei gehabt, fiel Youji jetzt auf. Sehr gerne sogar. Damit er mit ihm genießen konnte, was sich hier darbot.

Er kannte den Künstler sogar…es war der Gleiche von der letzten Ausstellung, nur waren es heute neue Bilder. Die nicht weniger interessant waren als ihre Vorgänger. Schade nur, dass anscheinend niemand hier den Künstler zu kennen schien, er hätte zu gerne ein paar Worte mit ihm gewechselt.
 

„Gefällt es Ihnen?“

Die Arme auf dem Rücken verschränkt stand der Mann in Yohjis Blickwinkel.

Jei hatte ihn von der Estrade aus erblickt und sich gewundert. Sehr sogar. Im ersten Moment war er so erstaunt, dass er viele Minuten damit verbracht hatte die Gestalt zu taxieren, sie zu studieren, in ihren Bewegungen, aber vor allem in ihren Emotionen.
 

„Sehr schön, ja. Sehr anregende Bilder“, erwiderte Youji und deutete auf das, was er gerade in Augenschein genommen hatte, bevor er sich zu der Person, die die Frage gestellt hatte, umdrehte und…erstarrte.

Natürlich kannte er den Mann, der vor ihm stand. Natürlich schlugen seine Instinkte – wenn auch verspätet – aus und er musste den Drang zurück zu weichen unterdrücken. Diese so höfliche Frage schien überhaupt nicht zu Farfarello zu passen. Nein, sie PASSTE einfach nicht. Nicht zu dem blutrünstigen Iren, der hier in einem schwarzen Rock…nein, es war eine weit ausladenden, schwarze Hose, ebenso farbiger Weste mit hohem Kragen vor ihm stand, die Haare zurückgebunden die Hüfte mit einer Art Rosenkranz verziert.

Youji blinzelte. Einmal. Zweimal.

„Was machst du hier?“, fragte er, misstrauisch und kampfbereit.
 

Jeis Auge funkelte ob der Gefühle, die durch den anderen rauschten wie eine Springflut. Das Grün der Iriden leuchtete. Ganz anders als sonst gekleidet erinnerte sich Jei an ihr letztes Zusammentreffen im Kampf. Schuldig war sehr wütend darüber gewesen, dass Weiß einen neuen Anführer im Einsatz hatten. Es war interessant gewesen, doch nun… jetzt hatte er Blut geleckt. „Dasselbe wie du“, übernahm er die persönliche Anrede. „Ich sehe mir die Bilder an und ihre Wirkung auf das Publikum“, sagte er. „In welcher Weise findest du die Bilder ‚anregend’?“ hakte er nach.
 

Youji kam nicht umhin, den anderen Mann noch ein paar Momente mehr anzustarren und ihn in Augenschein zu nehmen. Er kam nicht umhin, sich zu fragen, inwieweit Kritiker und Weiß jemals eine Fehleinschätzung des Iren getroffen hatten.

Natürlich…auf Missionen hatte er ihn IMMER blutrünstig erlebt, doch DAS hier? Das war ja schon beinahe zivilisiert. Beinahe?

Farfarello auf einer Vernissage? Das war das Letzte, mit dem er gerechnet hatte. Ebenso wenig wie mit der Frage des Iren, dessen goldenes Auge ihn ruhig maß. Zu ruhig. Zu gelassen. Youji wurde vorsichtig, beantwortete aber dennoch die ihm gestellte Frage.

„Die Farben. Sie sind das Leben. Nicht immer harmonisch, aber im Gesamten passend.“
 

Sich das Bild betrachtend, wandte sich Jei von Yohji ab, sodass die Augenklappe in Yohjs Sichtbereich fiel.

„Eine gute Antwort, ich hätte es nicht besser sagen können“, stimmte er zu. „Du warst schon öfter in die Betrachtung dieser … Farben versunken gewesen, richtig?“ Nagi hatte ihm gesagt, dass der Blonde auf der letzten Ausstellung war. Er runzelte die Stirn, ungesehen von dem anderen und sog einmal tief die Luft ein, unterdrückt.

Es waren zu viele Menschen in diesem Raum, die es ihm erschwerten, sich nur auf diesen Einen zu konzentrieren. Vor allem weil er auch noch mit ihm kommunizieren wollte. Er war kein Anfänger auf seinem Gebiet, doch all diese neuen Eindrücke zusammen konnten ihm zusetzen. Deshalb wählte er seine Worte genau.
 

Youji beobachtete den anderen Mann genau, sog alleine schon aus Vorsicht jedes Detail in ihm auf.

„Woher weißt du das?“, beantwortete er die Frage des Iren mit einer Gegenfrage und runzelte zweifelnd die Stirn. Ja, er war vor nicht allzu langer Zeit mit Omi bei einer anderen Ausstellung gewesen, die ihm ebenso gut gefallen hatte wie diese hier.
 

Jei wandte sich im Sprechen zu Yohji zurück. „Vielleicht…war ich auch anwesend?“

Er war nicht anwesend gewesen, doch das musste der andere Mann nicht wissen. Und Jei hatte nicht vor, ihm zu sagen, dass er der Künstler dieser Bilder war. Das verstieß gegen eine Abmachung mit Crawford und es interessierte ihn nicht, dass die Betrachter der Bilder wussten von wem sie stammten. Allein der Effekt zählte.
 

„Oh. Tatsächlich?“

Etwas anderes wusste Youji nicht auf diese Tatsache zu erwidern. Er hatte sich so in Sicherheit gewogen, dass er nicht auf seine Umgebung geachtet hatte. Wie auch heute. So etwas war gefährlich, wäre vor Ayas und Schuldigs Verbindung vielleicht noch gefährlicher gewesen.

„Was denkst du über die Bilder?“, fragte er nach, interessehalber.
 

„Sie machen einen unvollendeten Eindruck, es fehlt etwas.“ Jei drehte sich um und ging einige Schritte. Als er merkte, dass der Blonde ihm nicht folgte, winkte er und lächelte spöttisch, als habe er Crawford imitiert. „Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen…oder hast du Angst?“
 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Coco & Gadreel
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

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Viel Spaß beim Stöbern!

Riss im Glas

~ Riss im Glas ~
 


 


 

„Vor wem?“, fragte Youji zurück und setzte sich in Bewegung. Er hatte vielmehr über das nachgedacht, was der Ire ihm gesagt hatte. Was sollte denn fehlen? Grübelnd runzelte er die Stirn und stellte sich neben Farfarello, stellte mit Befriedigung fest, dass er größer war als der Ire.

„Ich hoffe, es lohnt sich auch.“
 

Jei sagte nichts darauf, erst, als sie eines der ruhigeren Seitenschiffe betraten und vor einem der größeren Bilder standen, antwortete er.

„Vor der Dunkelheit. Ah, aber ich vergaß, du hast ja keine Angst davor…du jagst sie. Oder …“ Er schwieg für Momente in die Betrachtung der Farben und der Silhouetten, die sie kreierten, vertieft. „…jagst du sie, weil du sie fürchtest?“
 

Youji gefiel das Bild nicht. Das war sein erster Gedanke, als er die Mischung aus violetten, schwarzen und grauen Tönen sah, die sich hier und da mit rot und Purpur mischten. Rot, das an manchen Stellen sogar ins Blutige hineinging. Dazu umrahmt und unterbrochen von einem matten Grünton, der dem seiner Augen zu nahe kam.

Er runzelte die Stirn. Er konnte noch nicht einmal sagen, was es war, das ihm an diesem Bild missfiel. Doch etwas…etwas Greifbares…

Er wandte sich zu Farfarello um und bedachte diesen mit einem nachdenklichen Blick. „Ich jage sie, weil Unschuldige sie fürchten.“
 

„So ist das also“, resümierte Jei und trat zwischen den Blonden und das Bild, ging zur Hälfte um ihn herum, blieb dann jedoch stehen.

„Du bekämpfst gleiches mit Gleichem. Und wirst zu dem, was du jagst. Sehr interessant, vor allem …“ Seine Hand schoss hervor, als wolle sie ihn attackieren, doch sie tupfte nur hauchzart an die Brust des anderen, bevor sie wieder zu ihrem angestammten Platz auf dem unteren Kreuz des Empathen verschwand. „…vor allem hier drin…sieht es da nicht so aus…wie dort?“, fragte er und deutete mit einem Nicken auf das Bild. Seine Stimme war tief, doch auch leise, man konnte sie kaum in dem Gewirr aus anderen heraushören.
 

Youjis Augen schweiften von Farfarello zu dem Bild, während er dem Prickeln auf seiner Brust lauschte. Waren das seine Farben? Nein, waren sie nicht. Natürlich nicht.

Ein flüchtiges Lächeln streifte seine Lippen, bevor es sich wieder tief in ihm vergrub.

„Hier drinnen“, erwiderte er und tippte Farfarello genauso seicht an, wie dieser es bei ihm getan hatte. „Ist es, wie du schon gesagt hast, schwarz. Wie der Täter, so der Jäger.“
 

In kindlicher Manier senkte sich Jeis Kopf nach unten, folgte der Hand in Erstaunen was diese wohl dort tun würde und sah den Mann vor sich mit dem selben Ausdruck in dem Auge an.

„Dort drin?“ Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht, was dort drin war, oder wie es dort aussah. Es interessierte ihn nicht. „Dort ist nichts“, sagte er konsterniert. Was sollte dort schon sein?

Er schwenkte von sich aus zu dem anderen. „Du fühlst nicht nur Selbsthass, Trauer und Verzweiflung, oder Hass…“, sagte er ruhig.
 

„Was interessiert dich das?“, fragte Youji mit einem Mal distanziert. Was stellte der andere Mann auch Fragen, die er nicht beantworten wollte. „Ich habe dir bereits gesagt, dass ich vollkommen leer hier drin bin. Darin sind wir uns einig. Etwas Anderes gibt es nicht. Was ich fühle oder nicht…ist nicht von Interesse.“

Er wandte seinen Blick ab, weg von der kindlichen Neugier, die er in den Zügen des Iren gesehen hatte.
 

„Du bist ein schlechter Lügner“, stellte Jei fest und drehte dem Blonden den Rücken zu, betrachtete sich erneut das Bild.

Er wusste, dass nur Schwarz über seine Fähigkeiten Bescheid wussten. Sie waren zu unauffällig, zu passiv, als dass sie im Kampf auffielen. Nur seine Freude darüber, wie die Emotionen der Angreifer wild aufstoben, ließ ihn darauf reagieren.
 

„Aber es tut sicher gut sich selbst zu belügen, es ist einfach“, resümierte er und nickte dann als hätte er eine Erkenntnis für sich erlangt.
 

„Was weißt ausgerechnet DU schon davon?“, fragte Youji erbost, zischend, drehte sich wieder zurück zu Farfarello. „Ich belüge mich nicht und du hast nicht das Recht, über mich zu urteilen, Schwarz.“ Seine Hände waren zur Faust geballt, seine Gestalt abweisend.
 

Jei schauderte ob dieser Gefühle, die ihm jedoch bekannt vorkamen, er wollte aber nichts Bekanntes. Er wollte Neuland erforschen. Ein minimales, freudiges Lächeln erhellte die Züge, bevor er es verbarg.

„Hör auf, dich hier wie ein Idiot aufzuführen. Wir sind hier keine Gegner, oder siehst du Waffen?“, sagte er ruhig, mit dem Unterton von Unverständnis.
 

Youji starrte für einen Moment Farfarello in die Augen, als käme er von einem anderen Stern. Idiot? Keine Gegner? Seit wann bitte sah der Ire das aus dieser Sichtweise?

Ran…hättest du mich nicht vorwarnen können, richtete er in Gedanken mit einem kleinen Anflug an Frustration an den rothaarigen Japaner, der gar nicht mal so fern von ihm weilte. Youji war sich hundertprozentig sicher, dass ihr Anführer davon wusste, dass auch er Farfarello schon so kennen gelernt hatte. Doch NEIN. Kein Wort.

„Ich hatte nicht vor, mit dir zu kämpfen, Farfarello“, betonte er den Namen des Iren. „Was aber nicht heißt, dass ich mir von dir sagen lassen muss, wer ich bin und wer nicht.“
 

„Wer soll es dir sonst sagen?“, neigte dieser den Kopf. „Dieser Name existiert nicht mehr, er existierte nur solange, wie wir in dieser Anstellung waren. Ein neuer Job, ein neuer Name.“
 

„Wer sonst? Ran vielleicht, aber garantiert nicht du. Du, der sich auch hinter Masken versteckt, die sich Namen nennen. Ein neuer Auftrag, ein neuer Name? Ist das nicht genauso verlogen und Selbstverleugnung? Ja, ist es.“ Er schüttelte den Kopf.
 

„Es wäre dumm, bei jedem Auftrag den gleichen Code zu benutzen, findest du nicht?“ Es erstaunte Jei etwas, dass der Blonde ihm dies vorwarf, doch spürte er auch Rage und Hitze in ihm, die ihn diese Dinge sicher sagen ließen. „Du solltest dein …Temperament“, er lächelte über dieses Wort, „zügeln…sonst sagst du noch mehr dieser unsinnigen Dinge.“

Er warf Yohji einen langen Blick zu. „Ran? Du meinst das Haustier von Schuldig? Natürlich könnte dieser dir viel über dich sagen, doch er ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er…ist angefühlt mit Emotionen.“
 

„Natürlich ist er das!“, zischte Youji und musste sich mit Gewalt davon abhalten, Farfarello zu packen und gegen die steinerne Wand zu donnern. Das Haustier von Schuldig? Ran WAR nicht das Haustier von diesem Telepathen, er war ein eigenständig denkender Mensch!

„Was ich sage, wie ich es sage und wie ich dabei fühle, hat dich nichts anzugehen, hast du verstanden?“
 

„Warum regst du dich auf?“

Jei blieb gelassen stehen, ein Sinnbild der Gelassenheit, während Yohjis Körper zum Zerreißen angespannt wirkte. „Möchtest du mit auf die Estrade kommen, dort können dich alle hören? Es herrscht eine bessere Akustik dort oben“, meinte er spöttisch und erneut erschien ein typisches Lächeln.
 

Stille schwebte einen Moment lang zwischen ihnen. Youji sagte nichts, starrte Farfarello ins Gesicht. Er trat einen Schritt zurück, noch einen, dann drehte sich um und verließ den Seitenflügel. Er musste raus hier, musste gehen, bevor er sich noch zu etwas hinreißen ließ, das ganz sicherlich nicht förderlich für den Hauch an Normalität wäre, den er im ‚normalen’ Leben um sich kreieren wollte.

Er grub die Hände in die Taschen seiner Hose und presste seine Zähne aufeinander.
 

Wie schnell doch die Wut gekommen war, erstaunte es Jei und blickte dem Japaner hinterher. Für Momente des Zögerns stand er weiterhin ruhig da, bis sich seine Stiefel in Bewegung setzten und er folgte. Er wollte sehen, wo es nach der Wut hinging. Was danach folgte…
 

Oh…und OB Youji die Schritte hinter sich hörte und OB sich sein Killerinstinkt bewusst war, wer ihm da folgte, als er zu seinem Wagen ging und gleich aus der Ferne die Öffnung betätigte. Er hatte die Schnauze voll, wollte nicht auf die Provokationen des Schwarz hören. Nein…nicht mehr. Als wenn er nicht wüsste, was Sache war.
 

Jei sah das Blinken des Wagens und erkannte, dass der andere wegfahren würde. Dass er floh. Vor ihm. Oder vor seiner Wut, die in ihm schwelte?

Seine Schritte wurden langsamer und er blieb stehen, sah dem Blonden zu, wie er sich seinem Wagen näherte. Doch ebenso schnell wie er den Entschluss gefasst hatte dem Mann zu folgen, ebenso schnell setzte er sich wieder in Bewegung und als das Weiß Mitglied in seinen Wagen stieg, öffnete er die Beifahrertür und ließ sich in den Wagen gleiten.
 

Youji sah zur Seite, begegnete einem Auge, das ihn ruhig maß. Er, der weniger ruhig war und dessen Hände nun das Lenkrad seines Sportwagens so fest umgriffen, dass er das Gefühl hatte, sie würden das Leder bald durchgreifen.

„Was. Willst. Du?“, knirschte er hervor und starrte nach draußen, rang mühsam um Ruhe.
 

„Ich möchte wissen, warum dich meine Gegenwart so sehr in Rage versetzt. Der Mann mit den Dämonenaugen war ebenso wütend, als er Schuldigs Geschenk aufgemacht hat.“

So ganz hatte er das nicht verstanden…
 

„Mann mit Dämonenaugen? Schuldigs Geschenk? Drück dich klar aus, Ire! Ich habe keine Lust auf Rätselraten. Und NATÜRLICH bin ich wütend, verdammt!“, hielt Youji dagegen und schlug mit einer Faust aufs Lenkrad, während er die Worte nur so herauszischte.
 

„Dein Anführer bekam von Schuldig“, sagte Jei ganz langsam, als würde Yohji minderbemittelt sein, „ein Geschenk. Er öffnete es und sah hinein …und wurde wütend. Wie du eben.“

Es war seltsam, soviel geballte Wut neben sich sitzen zu haben. Vor allem so unbegründet in seinen Augen. Am Liebsten hätte er diese Wut auf sich gezogen, doch sein Therapeut hatte ihm derlei Experimente wie früher untersagt.

Er sollte lernen, auf anderem Weg seinen ‚Forschungen’ nachzugehen.
 

„So? Und was war das für ein Geschenk, das ihn so wütend gemacht hat?“, fragte Youji, schon misstrauisch. Ihm gefiel nicht, was er hier erfuhr. Ran war schon niedergeschlagen gewesen, als er die Nacht bei ihm gewesen war. Nicht nur das…frustriert und fertig, so hatte er den rothaarigen Mann für sich beschrieben. Und nun…? Anzunehmen war, dass dieses Geschenk eingetroffen war, nachdem er die Wohnung verlassen hatte.

Das diente nicht gerade dazu, seine Sorgen zu zerstreuen, ganz im Gegenteil.
 

„Ein Katzenklo“, sagte Jei und neigte fragend den Kopf. „Ich frage mich, wie man sich über so etwas derart aufregen kann.“
 

Katzenklo…?

Youjis Augen weiteten sich. Schuldig schenkte Ran ein Katzenklo…für das Haustier, das er war? Verdammt noch mal, was SOLLTE das? Hatte der Telepath irgendeine perverse Freude an diesen Spielchen?

Kein Wunder, dass Ran wütend war. Wirklich nicht.

Etwas anderes wurde Youji nun umso dringender bewusst: er musste Ran helfen, musste ihn da raus holen, falls sein Freund nicht genug Kraft hatte, sich Schuldig zu widersetzen. Wenn er den Telepathen in die Finger bekam…

Mit vor Wut zitternden Fingern klappte Youji sein Handy auf und wählte die Nummer des rothaarigen Mannes, der nach einigem Klingeln ein müdes „Ja?“ brummte.

„Ran, ich bin gleich bei dir, mach mir die Tür auf“, befahl er kurz angebunden und legte auf, bevor der andere Mann etwas darauf erwidern konnte
 

Jei dachte angestrengt über diese Reaktion nach, doch trotz eingehender Untersuchung stellte er fest, dass das Hauptproblem wohl doch das Katzenklo war. Nur weshalb dieser Gegenstand derartige Aufmerksamkeit verdiente…dies war ihm schleierhaft. Er beschloss abzuwarten, denn es war viel zu interessant, wie sich der Seilvirtuose neben ihm über dieses Ding echauffierte.
 

Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, vielmehr ignorierte Youji den Iren neben sich, der sich auffallend still verhielt. Seine Gedanken waren unvorsichtigerweise bei Ran und bei der Möglichkeit, dass ihnen jemand folgte, nicht bei der direkten Bedrohung, die Farfarello jeden Moment für ihn darstellen konnte.

Er warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel und stellte fest, dass ihnen niemand gefolgt war, also machte er sich nun auf den direkten Weg in die Tiefgarage von Schuldigs Wohnung und parkte dort seinen Wagen. Wortlos stieg er aus, völlig blind dafür, ob sein ungewollter Passagier auch ausstieg. Er wartete ungeduldig auf den Aufzug, stieg ein, stetig begleitet jedoch von Farfarello.

Mit vor Wut klopfendem Herzen klingelte er und Sekunden später erschien ein verwuschelter, roter Schopf in der Tür.

„Youji? Ist etwas passiert?“, fragte Aya verwirrt und noch reichlich durcheinander vom gerade erst begonnenen Schlaf, als Youji ihn auch schon zur Seite schob und sich Zutritt zur stillen Wohnung verschaffte.

„Ran, ist alles in Ordnung mit dir? Wo verdammt noch mal ist Schuldig?“
 

Dieser saß mit nur einer Hose bekleidet am Bettrand und fuhr sich durch die Haare, machte sich darauf gefasst, große Probleme lösen zu müssen. Nur deshalb war er überhaupt auf die Idee gekommen seinen Luxuskörper in eine Hose zu stecken. Aber große Probleme brauchten große …Vorbereitungen. Warum sollte Yohji sonst mitten in der Nacht bei Ran anrufen und sofort zu ihm kommen wollen?

War er verletzt? Stimmte etwas nicht mit Rans Team?

Er streckte sich und befühlte seinen Nacken, als der Weiß die Wohnung stürmte…
 

Jei trat nach einem Blick auf den Anführer des Blonden noch nicht ein, da dieser noch halb in der Tür stand.
 

Aya KAM noch nicht einmal dazu, Youji zu antworten oder ihn zu fragen, was los war, bevor der Blonde an ihm vorbeistürmte, anscheinend Schuldig gesehen hatte. Sein eigener Blick ging zu Farfarello, hieß ihn stumm einzutreten. Was in aller Welt sollte das…?

Er sah zurück auf Youji, der sich nun Schuldig genähert hatte und sich vor dem sichtlich noch schlafesverwirrten Mann aufbaute.

„Was soll das, verdammt noch mal?“, zischte Youji durch die Stille der Wohnung. „Denkst du, du kannst mit ihm machen, was du willst? Verdammt, was denkst du dir dabei? Das ist doch demütigend!“

Aya hob fragend eine Augenbraue. Wieder wanderte sein Blick, von Schuldig, zu Youji, schließlich auf Farfarello, dessen ungewöhnliche Kleidung ihm ein weiteres Mal ins Auge stach. Wo waren die Beiden gewesen und warum kamen sie gemeinsam hierher?
 

Schuldig ließ sich nach hinten fallen und ächzte. „Gott, womit habe ich das verdient…schaff ihn mir vom Hals!“, bat er müde, griff sich ein Kissen und zog es sich über den Kopf.

Es war also gar nicht so wichtig, nur wieder so eine dumme Laune dieses Schnüfflers.
 

„RAN!“, tönte es aus Youjis Richtung und der rothaarige Mann seufzte.

„Youji, was ist los?“, fragte er und kam zu ihm, rieb sich über die Oberarme, weil ihm nun doch kalt war; kalt vor Müdigkeit.

„Ran…dieser Mann, siehst du denn nicht, was er dir antut? Was er mit dir macht? Er degradiert dich! Verdammt, das geht nicht…egal, was das bedeutet, wir werden eine Lösung finden! Komm mit zurück, Ran!“

Aya konnte nicht sagen, dass er auch nur einen Ton von dem verstand, was Youji ihm da zu sagen versuchte. „Youji, was sollte er mir denn antun? Was ist denn los?“, fragte er stirnrunzelnd.

„Ran, wenn es dir zu demütigend ist, das hier zuzugeben, kann ich das vollkommen verstehen! Aber du musst dich deswegen nicht schämen! DU bist nicht schuld!“
 

„Von was verdammt faselt er da?!“, brüllte Schuldig mit noch vom Schlaf heißerer Stimme und riss sich das Kissen vom Gesicht, zerrte damit noch einige Haare mit und richtete sich abrupt und mit glühenden Augen auf.

„Es ist vier Uhr morgens, du Vollidiot, und was willst du hier?“
 

„Er spricht von dem Geschenk, welches du seinem Anführer gemacht hast. Dem Katzenklo“, entschied sich Jei einem Ausbruch von Schuldig zuvor zu kommen, er sah nun doch sehr wütend aus und war es auch.
 

„Von dem …was?“ Schuldig schüttelte verständnislos den Kopf und wandte sich mit fragendem Blick Ran zu.
 

„Oh.“ Das war das Einzige, was Aya dazu zu sagen hatte. Ja, er hatte verstanden. Sehr gut sogar. Er konnte sich sogar in Ansätzen die Zusammenhänge zusammenreimen. In Ansätzen, ja. Er konnte es sich denken…

Ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus und weitete sich schließlich zu einem leisen Lachen. „Komm mit, Youji, ich zeige dir, was es damit auf sich hat“, lockte er seinen Freund von Schuldig weg und erhellte den aufgehäuften Kissenbereich, zumindest die Stelle, wo er Banshee zuletzt gesehen hatte.

Und siehe da. Da lag sie, als könne sie kein Wässerchen trüben und schlief selig. Ein kleines, rotes Fellknäuel auf einem mitternachtsblauen Kissen.

„Darf ich vorstellen, das ist Banshee. Banshee, wenn du aufwachst, das ist Youji“, lachte er vergnügt und sah Youji in die geweiteten, schier schon entsetzten Augen.

„Ran…ich…also…“
 

„Die haben doch alle nen Schaden…echt“, knurrte Schuldig übellaunig und stand auf um ins Bad zu gehen. „Und du!“, zischte er Jei an. „Du hast ihn auch noch hergeführt und es ihm erzählt. Du hast unseren Vertrag gebrochen. Von wegen Stillschweigen. Du solltest das Paket abliefern und gehen. Und nicht danach ganz Weiß in diese Wohnung schleppen“, knallte er ihm vor und verschwand darauf im Bad.
 

Jei blickte ihm nach und sah dann wieder zurück zu Yohji, neigte leicht den Kopf zur Seite. Und nun?
 

Aya besah sich das ganze Spielchen durchaus amüsiert und schüttelte den Kopf. „Youji, lass dich von ihm nicht reizen, es ist wirklich nichts.“

„Ja, aber Farfarello meinte, du wärest wütend gewesen, als er dir dieses…GESCHENK gemacht hat und da dachte ich…“

„Falsch gedacht, Youji. Auch wenn ich zuerst genauso wie du gedacht habe…aber es stimmt nicht. Er hat mir diese Kleine hier mitgebracht.“ Aya lachte leise. Er fasste seinen Freund am Arm und drückte ihn versichernd. „Alles in Ordnung, wirklich. Aber sag mir…wie kommst du denn ausgerechnet hierhin und dann noch mit ihm?“, fragte Aya und deutete auf den sie fixierenden Iren.

Youji zuckte mit den Schultern. „Er hat sich eingeladen. Im wahrsten Sinne des Wortes.“

„Eingeladen?“

„Wir haben uns auf einer Vernissage getroffen und sind dann hierher…quasi freiwillig.“

„Hat er dir etwas getan?“

„Er hat mich nur wütend gemacht, sonst nichts. Keine Sorge, Ran. Alles in Ordnung…wieder.“

Aya seufzte, als er im Hintergrund hörte, wie die Badtür zugeschlagen wurde. „Hör zu, setz dich erstmal…ich geh das Raubtier beruhigen“, sagte er und verdrehte die Augen. „Kleinen Moment.“

Damit ging er an Farfarello und Youji vorbei ins Bad und wagte sich in die Höhle des Löwen. „Hey du böser Junge…alles klar?“, neckte er den Telepathen.
 

„Nichts ist klar“, knurrte Schuldig auf dem Wannenrand sitzend. „Es kotzt mich an, dass ihr …ja BEIDE … der Meinung seid, ich will dich über einem Katzenklo pinkeln sehen!“ Die Absurdität dieser Vorstellung ließ ihn fassungslos den Kopf schütteln.

„Es mag zwar solche Spielchen geben, aber ich steh nicht drauf …und übrigens“, ereiferte er sich „…hatte ich schon den Eindruck ich würde auf deine Wünsche eingehen, oder nicht?“
 

Aya verzog säuerlich das Gesicht anhand Schuldigs allzu unblumiger Aussprache des Problems. Er sagte erst einmal nichts, sondern ließ sich in aller Ruhe auf der Bank neben der Badewanne nieder und streckte die Beine von sich, lehnte sich bequem zurück. Er maß Schuldig mit sanftem Blick. Nein, dem konnte er wirklich nichts entgegensetzen. Er hatte ihn in der Tat ebenso verdächtigt, wie Youji es ihm nun gleich getan hatte.

„Meinst du, ich wüsste das nicht? Ich sehe es doch jeden Tag“, lächelte er schließlich. „Aber du kannst fünf Jahre Feindschaft nicht innerhalb von ein paar Monaten wettmachen. Er hat dich akzeptiert, aber das heißt nicht, dass nicht noch Aussetzer wie diese kommen, in denen er dir die schlimmsten Dinge andichtet. Und was meinen Teil in der ganzen Geschichte angeht…du solltest mich mittlerweile gut genug kennen, Schu, um zu wissen, dass auch ich manchmal diese Aussetzer habe.“

Er hob abwartend eine Augenbraue.
 

Schuldig sah Ran lange an.

Ohne etwas zu sagen saß er da und maß die Gesichtszüge von ihm, ließ sich von dem Lächeln bezaubern. Ein Kosename fiel…den er bisher selten gehört hatte. Ob Ran es jetzt aufgefallen war, dass er ihn benutzt hatte?

Doch…er hatte Recht, er konnte die Tage ihrer langen Feindschaft nicht tilgen. Selbst wenn er es wollte, selbst wenn er …

Er konnte auch Kitamura nicht aus seinem Gedächtnis löschen…doch …er hatte es sogar getan. Aber nicht für immer. Das hieße, die Vergangenheit würde immer zwischen ihnen stehen?

Schuldig sagte nichts, sein Blick verlor sich auf einen Punkt hinter Ran.
 

Dieser wartete geduldig, doch es geschah nichts. Schuldig wich ihm aus, wich seinen Blicken aus, seinen Worten. Es dauerte einen Moment, bis er sich ächzend erhob und automatisch Schuldig mit einer Hand durch die wild umherstehende Mähne fuhr. Er lächelte ihn dabei an, machte sich jedoch auf den Weg zur Tür. Es gab Momente, da war es einfach besser, mit sich selbst über gewisse Dinge zu hadern, er kannte das. Es war besser so.
 

Nein, es war nicht besser.

„Ran“, rief Schuldig eilig. Er brauchte Rans Nähe jetzt, auch wenn Schuldig darüber nicht sprechen wollte war ihm jetzt nichts unerträglicher, als hier alleine zu brüten, über was auch immer. Darüber nachzudenken, was sie früher gewesen waren und was sie jetzt waren … und das ohne diesen Mann…

Er stand auf und ging auf Ran zu, zog ihn in die Arme und legte seinen Schopf auf dessen Schulter. „Einmal Schwarz, immer Schwarz…weißt du noch?“, fragte er leise. Er hatte es damals Ran auf dem Flachdach des Konekos gesagt. Hier war der Grund, warum er immer Schwarz sein würde. Symbolisch gesehen. Weil niemand etwas anderes in ihm sah.

Er fühlte sich wie früher…im Waisenhaus…als er seine Fähigkeiten eingesetzt und damit oft Unfug angestellt hatte. Irgendwie hatten die Erzieher oft gewusst, dass er seine Finger im Spiel gehabt hatte. Und wenn er es nicht gewesen war…war es zwecklos, seine Unschuld zu beteuern, denn sie hatten irgendwann aufgehört ihm zu glauben. Einmal ein Lügner, immer ein Lügner.
 

„Nein…so ist es nicht. Du hast dich geändert, du bist nicht mehr Schwarz. Nicht mehr nur Schwarz.“ Ayas Arme umfassten die des Deutschen, die sich von hinten um ihn schlangen und er legte seinen Kopf zurück.

„Weißt du, was du jetzt bist? Mein geliebter, ungarisch-deutscher Zackelschaf-Telepath, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Schwarz und Weiß haben hier keinen Griff. Wir sind wir. Du bist du selbst…nicht Mastermind von Schwarz.“
 

„Ich bin mir manchmal da nicht so ganz sicher, Ran“, gab er zu. „Aber ich will auch nicht darüber nachdenken, weil ich weiß, dass du alles im Griff hast. Ja? Hast du doch?“, nuschelte er an Rans Halsbeuge und sog dessen Geruch ein.

Warum er plötzlich Angst hatte, wusste er nicht. Früher … bevor Ran bei ihm war… war er stark und wusste, dass er sich auf diese Stärke in ihm verlassen konnte, jetzt war sie so weit weg, so tief in ihm verborgen. In Einsätzen war sie immer da, aber hier … war sie weg. Hier hatte er mit sich selbst zu tun… wie er früher war… und er musste sich erst wieder an sich selbst gewöhnen. „Manchmal vermisse ich das Schwarz, Ran. Es war etwas Vertrautes…“

Ob Ran ihn verstand?
 

„Aber auch vertraute Dinge können schädlich sein. Und warum nicht etwas Neues wagen? Was spricht dagegen, etwas anderes auszuprobieren?“, fragte er sanft und schmiegte seine Wange an Schuldigs Schopf. „Ich habe alles im Griff, wirklich alles“, bestätigte er das Flehen des Telepathen, auch wenn er wusste, dass das eine himmelschreiende Lüge war. Auch ihm entglitten seine Felle, doch er kämpfte noch, sie zusammenzuhalten.

„Außerdem hast du immer noch die dunkle Seite in dir, Schuldig. Das ist deine Schwärze, die dich stärkt.“
 

Schuldigs Kopf bewegte sich nickend „Hmmm“, stimmte er zu. „Und was machen wir jetzt mit den Beiden? Vor allem, wie kommen Jei und der Schnüffler zusammen hier her? Ich weiß nicht, ob ich das gut finde…es ist wie eine Seuche…erst wir …dann die Kleinen …und nun ….die…“ Verrückten wollte er sagen…aber so verrückt war Jei gar nicht, höchstens der Schnüffler.
 

„Lass das nicht Crawford erfahren, der nimmt sich den nächsten Strick und hängt sich auf“, scherzte Aya leichthin und konnte sich schon ausmalen, dass das große Orakel, das doch immer so feindlich Weiß gegenüber eingestellt war, sich nun mehr als nur die Haare raufen würde. Doch was machte es? Rein gar nichts. Allerdings hatte Schuldig Recht. Die Kombination Youji Farfarello gefiel ihm nicht, absolut nicht. Er traute dem Iren nicht einen Zentimeter über den Weg.

„Du bist der Telepath von uns beiden, lies Farfarellos Gedanken um herauszufinden, was die beiden zusammengeführt hat. Youji meinte, dass er den Iren auf einer Vernissage getroffen hat…“
 

„Nichts leichter als das!“, lachte Schuldig plötzlich und löste sich von Ran. „Bei Jei versagen meine Künste leider. Es ist sinnvoller, ihn direkt zu fragen, ich kann seine Gedanken kaum fassen, liegt wohl an seinen Fähigkeiten“, zuckte Schuldig mit den Achseln und öffnete die Tür um sich den Plagen zu stellen.
 

„Welche Fähigkeiten?“, fragte Aya erstaunt und runzelte die Stirn. Farfarello besaß übersinnliche Fähigkeiten? Das war Kritiker damals völlig entgangen. Und ihnen somit auch, hatten sie den Iren doch immer nur als brutalen Berserker kennen gelernt.
 

Schuldig stoppte in seiner Bewegung und musste diese Frage überdenken. Sie wussten nicht von Jeis Fähigkeiten? Er sah zurück zu Ran und musterte ihn ernst.

„Das erzähle ich dir später, ja?“ Er ging zu Jei, der immer noch an gleicher Stelle stand und maß ihn für wenige Augenblicke bevor er in Richtung Küche ging.

„Hey, Jei, wie war die Ausstellung?“, fragte er milder gestimmt. „Wollt ihr einen Kaffee? Schlafen kann ich jetzt ohnehin vergessen.“
 

„Sie war …interessant“, sagte Jei mit etwas Verspätung und einen Blick auf Yohji
 

Aya folgte Schuldig stirnrunzelnd und gesellte sich an Youjis Seite, der ihn fragend und verwirrt ansah.

„Alles wieder geregelt und der GAU gebannt. Ich sage doch…überlasse das mir und das wird was“, scherzte er leise und nickte in Richtung Küche. „Und jetzt, da du uns so schön geweckt hast, kannst du auch gleich noch zum Kaffee bleiben. Zumindest bist du mir das schuldig, Youji, meinst du nicht auch?“

Grüne Augen schmollten einen Moment, bevor Youji lachte. „Klar. Das bin ich dir schuldig, Ran. Dann lass uns mal in die Höhle des Löwen…“

Aya lachte und schob den blonden Weiß vor sich her in die Küche, erweckte in Youji nicht zum ersten Mal die Frage, wie sich Aya in dieser kurzen Zeit von einem verschlossenen, jungen Mann zu einem relativ offenen Menschen hatte entwickeln können. Alles sehr seltsam.

Youji lehnte sich an die Anrichte und verschränkte die Arme. „Interessant? Ich nenne es aufreibend.“
 

„Kommst du zu uns, Jei?“, schickte Schuldig die Frage in den Raum ohne sich dabei zur angesprochenen Person umzuwenden. Vermutlich stand Jei noch an Ort und Stelle, da er wohl kein Interesse daran verspürte, sich zu ihnen zu gesellen. Nun…Jei war ja auch nicht gesellig. Zumindest nicht im allgemeinen Sinne.
 

Und prompt kam Selbiger auch, nicht ohne fasziniert auf das rote Fellbündel zu blicken, welches sich ihm um die weite Hose schmiegte und damit spielte. Er starrte für Momente auf das Tier, bevor er sich bückte und es aufhob. Ein Schnurren vibrierte durch den ganzen kleinen Körper und Jeis Aufmerksamkeit war geweckt. Er trug Banshee zur Theke und setzte sich auf einen der Barhocker am Fenster.
 

Aya sah das mit Vorsicht, so als würde er sein Kind in die Obhut eines völlig Fremden begeben. Nun, es war auch so. Vielmehr war er nervös wegen Farfarello und ob er Banshee etwas tun würde. Gebannt ließ er sich ihm gegenüber auf einem weiteren Hocker nieder und sah stumm zu, wie die Kleine auf dem Tresen Farfarellos Fingern hinterhertappste und sie zu fangen versucht – mit müßigem Erfolg. Er musste unwillkürlich lächeln.

Auch Youji starrte fasziniert auf die Beiden und hatte den Kaffee wie auch den ihn kochenden Telepathen für einen Moment vollkommen vergessen.
 

Jei umhüllte das Kätzchen mit einer Woge aus Wärme und Wohlgefühlen, sah zu wie es sich an seine Hand schmiegte und fand das weiche Gefühl faszinierend.

Schuldig schüttelte nur den Kopf darüber. „Jei…keine Versuche, klar?“
 

„Ja“, gab dieser gelassen zurück und verengte das Auge unmerklich. Schade, er hätte gerne gesehen, wie sie auf andere Gefühle reagierte. Bei Tieren war dies schwer einzuschätzen ob und wie sie reagierten.
 

Schuldig schaltete die Kaffeemaschine an und machte für alle außer Jei die Tassen fertig.
 

Erst die Zusage des Iren ließ Aya merklich ruhiger und entspannter werden. Doch er war immer noch gebannt von Banshees Spiel, von ihrem neu gefundenen Spielzeug. Er sah zu, wie sie sich begeistert miauend auf den Rücken warf, wie sie mit ihren kleinen Krallen nach den bleichen Fingern langte, die über ihr tanzten. Wie sie versuchte zu fauchen.

Aya schmolz dahin, im wahrsten Sinne des Wortes. Herrje.
 

Youji sah das und konnte sich ebenso ein Lächeln nicht verkneifen. Manchmal…vielleicht, aber nur ganz manchmal war der Telepath doch nützlich. Ja…das konnte man so sagen.
 

„Habt ihr euch auf der Ausstellung getroffen?“, fragte Schuldig in die Geräuschkulisse seiner Kaffeemaschine hinein und ging um das Radio anzuschalten.

„Oder hattet ihr ein Date?“, grinste Schuldig in sich hinein, den Rücken zu den Männern gerichtet.
 

Jeis Finger hielten inne und er blickte auf, sagte jedoch nichts. Ein Date?
 

Es war schließlich Youji, der lachte. „Ein Date? Komisches Date nenne ich das.“

Auch Aya musste schmunzeln, bevor er seine Augen auf Farfarello zurückkehren ließ. „War es ein Date?“, fragte er den Iren.
 

„Vielleicht“, sagte Jei unbestimmt. Er hatte sich ein Treffen erwünscht, weil er neugierig auf dieses Weißmitglied wurde, durch Schuldigs …Eigentum…wie er den rothaarigen Mann betitelte. Doch er hatte dieses Treffen nicht erzwungen.
 

Ayas Augen weiteten sich überrascht, ebenso Youjis. Doch keiner von ihnen fragte nach dem Grund, keiner von ihnen wollte wirklich wissen, warum. Noch nicht. Aya wusste, dass er dieses Wissen nicht besitzen wollte, weil es Unannehmlichkeiten bedeutete.

„Was für eine Ausstellung war das?“, fragte er an beide Männer gewandt, nun doch neugierig, was Farfarello an Kunst interessierte.
 

Jeis Interesse war abgeglitten, denn er wollte nicht über dieses Thema sprechen. Viel mehr faszinierte ihn das rote Fellbündel, welches die kleinen aber feinen Zähnchen in seinen Handballen schlug. „Farben“, sagte er nur nichts sagend, als ginge es um das Gekritzel eines Vorschulkindes.
 

Die Tassen abstellend, kehrte Schuldig zur Anrichte zurück und schenkte Jei ein Glas Wasser ein, stellte es etwas von Banshee entfernt hin. „Trink das“, sagte er und Jei griff mit der freien Hand zum Glas.
 

„Ja…Farben“, murmelte Youji kryptisch und griff zu seiner Kaffeetasse, nahm einen tiefen Schluck aus ihr. Er sah viel lieber zu, wie der Telepath Farfarello befahl, etwas zu trinken und dieser es auch ohne Widerstand tat. Unwillkürlich fragte er sich, was die beiden für eine Beziehung zueinander hatten…vielleicht eine Art Herr und Sklave, so wie es im Moment aussah. Wusste Aya davon? Wenn ja, was hielt er davon?
 

Ein Blick auf Jei sagte Schuldig, dass dieser nicht erwähnt hatte, dass er der Künstler war. Es hätte gegen die Regel verstoßen, die Crawford aufgestellt hatte. Und er würde den Teufel tun und etwas in diese Richtung verlauten lassen. Wenn Brad davon erfuhr, dass Jei Interesse an dem Schnüffler hatte…

Das wäre nicht gut. Es würde Brad noch mehr unter Druck setzen und dies wäre fatal…oder letal für jemanden von ihnen. Ihr komplexes System aus aufgestellten Regeln und den abgesteckten Territorien, die sie hatten und in die niemand von ihnen eingriff, würde auseinander brechen. Es war als würde er jetzt erst bemerken, wie zerbrechlich ihre Gemeinschaft und wie dünn und fragil diese scheinbare Stabilität war.

Hatte er den Anfang dieser Selbstzerstörung gemacht?
 

Hatte er. Wie Aya auch. Sie beide waren die Vorreiter gewesen und es bereitete Aya nicht minder Sorgen, welche Wirkung sie anscheinend auf Weiß UND Schwarz hatten.

Aya nahm nachdenklich einen Schluck Kaffee und beobachtete besonnen das Spiel der kleinen Roten, die sich nun mit einem Satz vom Tisch abstemmte und Farfarellos Oberteil entgegen flog, sich schließlich mit sämtlichen Krallen, die sie zur Verfügung hatte, in ihm festkrallte, als sie feststellte, dass sie rutschte.

Er sog mitfühlend die Luft ein. Das musste wehtun…
 

Jei lächelte und blickte auf das Wesen, welches sich haltsuchend in seiner Weste verfangen hatte. Den Schmerz der kleinen Krallen fühlte er, doch es löste nichts in ihm aus und so hob er nur gelassen die Hand und gab dem Kätzchen den nötigen Halt. Sie würde sicher die Krallen von alleine lösen, wenn sie bereit dazu war.
 

„Vielleicht hättest du ihm auch eine Katze mitbringen sollen“, merkte Aya leise zu Schuldig an und zuckte mit den Schultern. Wie es schien, waren sich Mensch und Tier vollkommen einig, was das Zusammenleben anging. Anders konnte er sich Farfarellos Lächeln und Banshees ekstatisches Schnurren nicht erklären.

Youji schnaubte, aber auch nicht wirklich böse. Ganz im Gegenteil. Er war…fasziniert.
 

„Nein. Besser nicht“, hob Schuldig vielsagend die Brauen und verzog den Mund skeptisch. Ob es wirklich gut wäre, Jei ein Tier zu schenken, bezweifelte er. Vor allem, wenn er daran dachte, dass er sich um dieses kümmern müsste. Er konnte …oder wollte sich ja nicht einmal um sich selbst kümmern.
 

o~
 

Despot…elender!
 

Das war das Letzte, was Aya von Schuldig gehört hatte, als dieser sich murrend, schmollend und leise vor sich hinmeckernd in Richtung Kleiderschrank verzogen hatte, um in diesem Ordnung zu schaffen. Nun…eigentlich, um zwischen seinen Klamotten Ordnung zu schaffen, denn Ayas Sachen waren wie auf einer Schnur in Reih und Glied aufgehängt. Dazwischen jedoch…alles andere.

Und so kam es, dass er sich nun gemütlich auf das Bett pfläzte und den Kopf aufstützte, während er Schuldig beim Mosern zusah.
 

Wie gemein das doch war! Und er hatte leider kein gutes oder wirkungsvolles Gegenargument besessen, als er Ran von der Nutzlosigkeit dieser Aktion überzeugen wollte. Weder der Spruch „Nur ein Genie beherrscht das Chaos“, oder der Hilfeschrei: „Wenn ich aufräume, finde ich nichts mehr“, nutzten hier etwas.

Aber Ran hatte nicht gesagt, dass er den Sklaventreiber dort auf dem Bett nicht etwas ärgern durfte! So begann er die Klamotten zunächst sorgfältig neben Ran aufzustapeln, bis er in die unteren Gefilde kam und nur noch alles was Stoff war hinter sich warf. Dass es dabei auf Ran landete war …Zufall oder eine glückliche Fügung…
 

Besagter Sklaventreiber nahm geduldig jedes einzelne der ihm entgegen fliegenden Kleidungsstücke in Empfang, warf sie zur Seite, machte sich auf das nächste gefasst, warf es wieder zur Seite. Er hatte auch Youji ein gewisses Pensum an Toleranz zugesagt und das geschah nun ebenso mit Schuldig. Auch wenn dieses Pensum sich gemächlich von seiner Mitte gen Ende richtete. Doch noch…noch war es nicht soweit.

Aya fing ein Stück quietschpink auf und entbreitete es Augenbrauen lupfend. Eine Shorts?

„Also Schuldig…manchmal zweifle ich wirklich an deinem guten Geschmack“, näselte er und warf sie zur Seite, lehnte sich wieder zurück.
 

Schuldig kam aus der Versenkung und wischte sich seine Haare ungeduldig aus dem Gesicht. Er richtete sich auf und angelte nach einem Haargummi in seiner Jeans um die Mähne zu bändigen. „War ein Ausrutscher“, murmelte er und verzog das Gesicht zu einer gespielt gelangweilten Miene. „Man muss ja schließlich Neues ausprobieren…nicht wie du!“, moserte er und wandte Ran wieder seine Kehrseite zu um weiterzuschaufeln. Er hatte am Boden einige Kartons stehen…nur wusste er beim Besten Willen nicht mehr, was sie enthielten.
 

„Was soll das denn heißen?“, stänkerte Aya zurück und zog seine Beine an, schob sie etwas auseinander, damit er Schuldig sehen konnte. „ICH gehe wenigstens nicht so nach draußen, als würde ich nur darauf warten, dass mich der nächste Großwildjäger niederstreckt. Purismus nennt man das. In der Einfachheit liegt die Kraft.

Hast du denn NIE daran gedacht, deinen Schrank mal aufzuräumen? Wie lange wohnst du hier denn schon?“, fragte er, als er sah, was sich da noch alles in besagtem Möbelstück tummelte.
 

„Es gibt keine Großwildjäger in Tokyo, höchstens einen … und der ist nicht so böse und gemein wie er immer tut!“, gab Schuldig mit arrogantem Näseln zurück. Purismus „…pftt…“ meinte er dazu nur und kam mit dem Stapel Schachteln wieder, stellte sie vor Ran auf den Boden. „Wie lange ich hier wohne…seit … naja…hm….seit wir uns damals von SZ gelöst hatten. Nach der Sache mit Euch.“
 

„Also drei Jahre…“, nickte Aya, ging jedoch nicht darauf ein, wie sie vorher gegeneinander gearbeitet hatten. Wie sie sich bekämpft hatten und das bis aufs Blut. Das tat hier nichts zur Sache. „In diesen drei Jahren, mein lieber zackelschafdeutscher Telepathenmessie hast du es kein EINZIGES Mal geschafft, dieses schwarze Loch aufzuräumen?“
 

„Das sagt doch schon der Name! Ein schwarzes Loch. Nur Verblödete wagen sich hinein. Und du setzt mich also der tödlichen Gefahr aus. Ein schöner Freund bist du“, frotzelte Schuldig gedämpft vor sich hin und musste selbst schon dabei lachen.
 

Aya grinste lautlos mit, erwiderte jedoch streng und bierernst: „Du sollst nicht ablenken, sondern weitermachen. Ein Viertel hast du schon geschafft, jetzt kommt nur noch der Rest. Und wenn’s geht, etwas schneller, wenn ich bitten darf. Es wird bald dunkel und ich möchte das Bett heute Abend wieder freigeräumt haben.“
 

„Du stehst wohl drauf, mir Befehle zu geben, Blumenkind?“, brachte Schuldig den Rest der einen Hälfte. Es stand ja noch ein Schrank aus, der dieselbe Größe besaß. „Wie wäre es mal mit helfen, statt Sklaventreiber zu spielen“, wackelte er mit den Augenbrauen und kippte seine Ladung T-Shirts über Ran aus.
 

Über Aya, der sich gerade hatte lasziv räkeln wollen, nun aber schier erschlagen wurde von den Textilien.

„DU hast gesagt, dass ICH der Despot bin, nicht andersherum!“, muffte es unter den Stoffschichten, die sich gefährlich bewegten. „Also muss ich mich auch wohl so verhalten!“
 

„Ach?“, fragte Schuldig und sah nur wie sich der Wäscheberg bewegte und dazwischen rotes Haar hindurchspitzte. Seine Hände stahlen sich dazu und er krabbelte über den Begrabenen. „Gib zu, es fällt dir nicht schwer ihn zu spielen!“
 

„Was soll ich da zugeben, das ist eine Tatsache!“, lachte Aya und befreite sich mit einem Schwung von den T-Shirts, die nun allesamt in Schuldigs Gesicht landeten. „Aber…ich bin ein gnädiger Diktator…schließlich darfst du deine Sachen noch anbehalten, während dein liebenswerter Hintern vor mir hin- und herhüpft.“
 

„Ja, sehr gnädig, Euer Durchlaucht“, sagte Schuldig ironisch und stürzte sich auf Ran, nur um ihm einen Kuss zu rauben. Er stupste noch auf dessen Nase, bevor er sich wieder erhob und als gehorsamer Diener an die Arbeit ging. Zunächst jedoch besah er sich die Kartons, die am Bettende standen. Er öffnete einen und staunte nicht schlecht…
 

Aya leckte sich noch über die Lippen, bevor er sich hochstemmte und die Augenbrauen lupfte, einen der kleinen Gegenstände in die Hand nahm, die so zahlreich in der Box lagen. „Spielzeugautos?“, fragte er mit hochgezogener Augenbraue und hielt sich das kleine Matchboxauto vor die Nase. Er nahm ein zweites aus der Box…ein drittes und lachte vergnügt.
 

Das veranlasste Schuldig, sich zunächst auf seinen Hintern zu setzen und in die Schachtel zu starren. „Ich hatte da mal so eine Phase. Kurz nachdem ich hierher gekommen bin. Ehrlich, ich wusste gar nicht mehr, dass ich die kleinen Dinger noch habe!“ Er nahm eines der Autos heraus und schüttelte den Kopf.
 

„Und was hast du mit ihnen gemacht? Gespielt?“, fragte Aya und gesellte sich zu Schuldig auf den Boden, lehnte sich an das Bett, die Beine auf den Treppen zur Schlafstätte hin angewinkelt. Er schubste das Auto leicht an und ließ es zu Schuldig rollen. Die Augen voller Spieltrieb sah er auf und grinste.
 

„Nein, ich…spiele lieber mit anderen Dingen“, lachte Schuldig leise. „Ich habe sie gesammelt. Sollen wir ne Vitrine kaufen, willst du sie aufstellen?“, fragte er, weil er das Leuchten in Rans Augen erkannte. „Hast du als Kind oft mit Autos gespielt?“
 

Aya legte den Kopf schief, imitierte einen Moment Farfarellos Geste, bevor er sich dessen bewusst wurde und er den Kopf wieder zurück in die richtige Position brachte. Er verzog nachdenklich grübelnd die Stirn.

„Ja…allerdings hatte ich nicht solche Autos. Holzautos, die unser Großvater für mich geschnitzt hatte. Und für Aya die Puppen. Wir konnten gar nicht genug bekommen…und hatten jeder so eine große Sammlung.“ Er lachte leise.

„Eine Vitrine? Schuldig…das ist kitschig. Lass sie doch einfach in der Box und stell die hier irgendwo hin.“
 

Schuldig runzelte die Stirn. „Also eigentlich brauch ich diese Autos nicht. Ich hatte sie wohl …vergessen. Zeit sie wegzuwerfen.“ Schuldig schloss den Karton und schob ihn beiseite. Er ging dazu über, den Schrank auszuwischen um danach seine Kleidung wieder einzuräumen. Schon seltsam, die alten Sachen wieder auszukramen. Wenn er daran dachte, dass er sie aufgehoben hatte um sich an diese Zeit zu erinnern. Und dann hatte er es vergessen…
 

Aya krabbelte hinter Schuldig her und riss sich die Box unter den Nagel. „Solche Erinnerungen sollte man nicht wegwerfen“, murmelte er und öffnete noch einmal den Deckel. „Wenn du sie nicht behalten willst, lass sie mich dann wenigstens aufheben, okay?“ Er strich mit seinen Fingern liebevoll über die kleinen, bunten Metallspielzeuge.
 

Schuldig wandte sich um und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Schrank und lächelte unwillkürlich. Da hatte er ja was angerichtet. Die leuchtenden Augen, die vorsichtigen Hände und die besitzergreifenden Arme, all dies fasste Schuldig ins Auge und erkannte schnell, dass Ran hier ein Stück seiner Kindheit gefunden hatte. „Klar kannst du sie aufbewahren, aber pass auf, dass Banshee sie nicht zwischen die Zähne bekommt“, grinste er und betrachtete sich Ran mit immer noch demselben warmen Lächeln in den Augen.
 

Aya wandte seinen Blick zur Seite, als er etwas Rotes in seinem Augenwinkel sah. Lachend hob er Banshee schließlich hoch und hielt sie noch in der Luft auf Gesichtshöhe.

„Die Mama hat gesprochen, hörst du? Keine bösen, kleinen Autos verschlucken! Sonst wird Mama ganz böse und Papa bekommt den Ärger.“ Er nickte gewichtig und ließ sie einmal durch die Luft fliegen, gestützt von seinen umsichtigen Händen natürlich, bevor er sie auf seinem Oberschenkel absetzte und zusah, wie sie über den Klamottenberg tapste, schließlich wieder zu ihm zurückkam und ihre Nase an seiner Schulter rieb. Aya kraulte schmunzelnd ihren roten Schopf.
 

„So schnell wird man also von Platz eins auf Platz drei verdrängt. Jetzt kommen vor mir also noch Banshee und die Autos…tssss“, lachte Schuldig und wischte den Rest des Schrankes sauber.

Ran war heute sehr gut gelaunt, dafür, dass er nicht rauskonnte, dass er eingesperrt war und das Problem Kritiker sich nach wie vor nicht von selbst löste.
 

„Ja sei froh, dass wir keine Kinder haben, sonst könntest du dir den Sex auch noch abschminken“, schickte Aya feixend hinterher und summte leise vor sich hin, als er mit der Kleinen spielte und Schuldigs Tatendrang für einen Moment außen vorließ. Doch dann schnappte er sich das Fellbüschel, setzte es bequem auf seinem Arm ab und erklärte ihr Detail für Detail, was Schuldig genau tat, warum er es tat und wie lieb Schuldig doch war.
 

Ein seltsamer Blick traf die Beiden. „Dann müssten diese Kinder einige herbe Szenen mit ansehen und hätten wohl ein gestörtes Verhältnis zum Sex“, faselte er näselnd und rollte mit den Augen, fing an, die Kleidungsstücke langsam Stück für Stück wieder einzuräumen.

Rans Kinderwunsch schien schon soweit zu gehen, dass er …

Nun gut, das war ja auch Schuldigs Absicht gewesen, ihm eine Art Ersatz zu schenken.
 

Nachdenklich saß er auf dem Bett, Shirts faltend und hin und wieder einen Blick auf Ran werfend.

Es war ohnehin gefährlich, sich hier allzu sicher zu fühlen, sich zu sehr hier an diesen Ort zu gewöhnen.

Nicht umsonst hatte er hier keine wichtigen Unterlagen. Falls er die Wohnung aufgeben musste war hier nichts, was auf ihn schließen würde. Eine Familie…das war nichts für sie…aber vielleicht für Ran…?
 

Rans Gedanken hingegen schwirrten immer noch um das Thema Kinder.

Gestörtes Verhältnis zum Sex?, fragte er sich amüsiert. Nun…das hätten sie dann in der Tat. Aya lachte leise in sich hinein und durchforstete die Box nach verschiedenen Modellen. Besonders zum Thema fesseln. Er konnte sich die Gespräche im Kindergarten schon gut vorstellen: Also mein Papa und mein Papa, die spielen immer Cowboy und Indianer…die fesseln sich immer gegenseitig. Und dann bringt Papa den Papa zum Schreien, ganz laut. Aber das mögen der Papa und der andere Papa auch. Er schaut nachher immer ganz rot aus und lacht. Also ist das was Gutes?

Nein, Kinder waren wirklich nichts für sie…doch das Thema hatten sie ja schon gehabt. Und nun hatte er Banshee. Nein, sie hatten Banshee. Die kleine verspielte Katze, die sich zwischen Schuldigs Sachen tummelte und dem Telepathen auf die Finger sprang, dort, wo sie sie zu fassen bekam. Eine Kämpfernatur, die Rote.
 

Schuldig nahm die junge Katze hoch und hielt sie vor sich, besah sie sich kritisch und überlegte sich haarklein, was er sich als Sanktion für die Sabotage seiner neuen Ordnung aussuchen würde. Doch Banshee passt hervorragend auch in sein Kindchenschema und Schuldig ergab sich dem Schulterzuckend, nahm Banshee auf seinen Arm und kraulte sie ausführlich.

„Was hältst du davon, wenn wir was essen gehen?“ , fragte er Ran, den Blick auf Banshee gerichtet.
 

„Sehr viel“, nickte Aya bedächtig, begab sich jedoch im nächsten Moment schon auf alle Viere und kroch langsam zu Schuldig, stibitzte sich einen langen, zärtlichen Kuss. „Doch vorher…würde ich gerne vom Nachtisch probieren“, lachte er und knabberte sanft an der Halsbeuge des Deutschen. Genießend nippte er an der weichen Haut.
 

Schuldig lachte leise und schmiegte Banshee an Rans Wange. „Genascht wird nicht!“

Er setzte Banshee auf Rans Schulter ab, die sich gleich haltsuchend mit ihren Krallen in Rans Kleidung hakte.

„Was hältst du davon, wenn wir jetzt schön essen gehen, in eines der guten Restaurants und danach….“, ließ er es offen, was danach wäre, und küsste Ran zart. „Danach gibt’s den Nachtisch“, raunte er und zog sich wieder zurück.
 

Aya pflückte sich die Kleine leise zischend aus seinem Pullover und einem guten Stück seiner Haut. „Böses Kätzchen! Siehst du, du hast dir schon viel zu viel von deiner Mama angenommen. Viel zu viel! Dieser Umgang…schrecklich!“ Aya lachte und setzte sie auf dem Boden ab, schubste sie auf den Rücken und rang mir ihr.

„Auch gut…wenn du dir diesen Aufschub noch geben willst. Aber du kommst nicht drum herum“, unheilte er dunkel und viel versprechend.
 

So? Kam er nicht?

Schuldig schwante, dass Ran es heute auf seinen ... wie hatte er sich ausgedrückt ... liebenswerten Hintern abgesehen hatte. Den ganzen Tag lag etwas in der Luft, dass eine unterschwellige Ausübung von Dominanz ihm gegenüber erahnen ließ. Er mochte es, wenn Ran so drauf war.
 

o~
 

Aya nippte bedächtig an seinem Weinglas und ließ den ihm gegenüber sitzenden Telepathen nicht aus den Augen. Genau der Telepath, der gerade der Kellnerin schöne Augen machte und mit ihr um ein weiteres Glas Weißwein buhlte. Mit Argusaugen verfolgte Aya ihre Gestik, seine, ihre Annäherungsversuche und sein Spiel.

Sie hatten sich chic angezogen und waren dann in die Stadt gefahren, dieses Mal mit Aya am Steuer des sündig gut fahrenden Sportwagens. Er war schon seit Monaten nicht mehr selbst gefahren, wie es ihm aufgefallen war, woraufhin er Schuldig den Schlüssel entwendet und sich einfach hinter das Lenkrad des Schlittens platziert hatte.
 

Sowohl er als auch Schuldig trugen zur Feier des Tages Anzüge. Schuldigs in einem dunklen Grauton, der die Farbe seiner Augen mysteriös dunkel schimmern ließ und wunderbar zu seinen Haaren passte. Dazu eine sacht rosafarbige Krawatte, die Haare streng zurückgebunden. Einfach fuckable, so hatte es Aya vom ersten Moment an befunden.
 

Er selbst trug cremefarben mit schwarzem Hemd, die ersten beiden Knöpfe offen, seine eigenen Zotteln fein säuberlich in einem locker sitzenden Pferdeschwanz. Wie zwei erfolgreiche Geschäftsmänner saßen sie hier und Aya genoss ihr kleines Spiel. Er genoss die Möglichkeit, andere Menschen zu beobachten, ihren Gesprächen zu lauschen und am Leben teilzuhaben.
 

Auch wenn Leben momentan bedeutete, die verfluchte Kellnerin zum Teufel zu wünschen. Er lächelte und stellte sein Glas ab. Durchaus ungeschickt kam er an den Stiel und warf es um, ließ es auf dem Boden zerschellen. Der Blick der Kellnerin wandte sich entschuldigend von Schuldig auf ihn und er zauberte ein entsetztes Gesicht hervor.

„Oh…das tut mir leid! Wie ungeschickt von mir!“

„Nein…nein, das macht nichts, warten Sie, ich hole eben etwas zum Fegen und Wischen“, erwiderte sie lächelnd und verbeugte sich kurz, bevor sie vom Tisch verschwand. Er sah ihr hinterher. Natürlich sah sie nicht schlecht aus in ihrem traditionellen Kimono und den schwarzen, hochgesteckten Haaren, doch Schuldig war nicht ihr Revier.
 

Dieser - sich natürlich seiner Schuld völlig bewusst - blickte der Davoneilenden lange, einen wohl berechneten Tick zu lange nach, bevor er sich Ran zuwandte. Diesen lodernden Blick in sich aufsog und harmlos lächelte.

Er wusste, dass er hier mit dem Teufel spielte … der ihm hier gegenüber saß und ihm gerade auf charmante Art und Weise mitteilte, dass er gefälligst nicht mit anderen zu flirten habe, oder dafür bitter büßen würde.

Er war aber kein gehorsamer Büßer…

„Sag bloß, er hat dir nicht geschmeckt?“, lächelte Schuldig, das Kinn leicht gesenkt, sodass sein Blick einen intensiven Ausdruck bekam.
 

„Es hat mir hervorragend geschmeckt, ich warte jetzt nur noch auf den Nachtisch“, lächelte Aya still zurück und ließ seinen Blick nebenbei auf die Kellnerin schweifen, die gerade die Scherben auffegte.

„Wären Sie so nett und würden uns noch etwas Wein bringen?“, fragte er sie überfreundlich und lächelte Schuldig dabei ins Gesicht. Sein Lächeln verhieß…alles. Und nichts.
 

Eine Reaktion die Schuldig verunsicherte. Er konnte Rans Spiel nicht durchschauen, da dieser noch einmal Wein bestellte und nicht die Rechnung. Die kleine Showeinlage mit dem Weinglas hatte ihm Rans Besitzansprüche an ihn vor Augen geführt, in die er sich gerne begab. Es reizte ihn…Ran zu reizen.

Bei diesem Gedanken schlich sich ein kleines Grinsen auf Schuldigs Gesicht und er verbarg es in dem er einen Schluck seines Weines nahm.

„Hast du denn noch Appetit?“
 

Aya antwortete nicht, sondern schickte die junge Frau mit einem Nicken weg.

„Das kommt darauf an“, erwiderte er nach ein paar stummen, spannungsgeladenen Momenten und lehnte sich lächelnd zurück. Er überschlug die Beine und verschränkte die Hände auf seinem Oberschenkel.
 

Schuldig fing an dieses Lächeln als bedrohlich einzustufen. Irgendwas führte der Mann im Schilde, nur konnte Schuldig beim besten Willen nicht ergründen, was dies genau war. Es war ungewohnt für sie beide, in dieser Art auszugehen. Bisher war ihre Umgebung vertraut gewesen. Doch nun waren sie unter anderen Menschen und sie verhielten sich beide anders. Es war berauschend für Schuldig, Ran zu sehen, wie dieser auf andere Menschen wirkte. Was diese Menschen von seinem Ran dachten, wie sie ihn ansahen. Ran wirkte in seiner dominanten Art auf seine Umgebung dabei sehr gelassen und erweckte den Eindruck eines erfolgsverwöhnten Geschäftsmannes, der trotz seiner jungen Jahre ein ernst zu nehmender Gegner war. Wobei er auch Gedanken gelesen hatte, die weniger schmeichelhaft für Ran wären…

„Weißt du, was ich …amüsant finde? Viele denken, du wärst der Sohn aus einer der größeren Häuser“, meinte er damit die Organisationen, die gemeinhin als Yakuza benannt wurden.
 

Aya hob die Augenbrauen und wartete mit seiner Antwort, bis das Mädchen ihm das Glas Rotwein an seinen Platz gestellt hatte.

Erst nachdem sie sie alleine gelassen und er seinen Blick durch den Raum streifen lassen hatte, wandte er sich wieder Schuldig zu. Oh ja, er hatte die Blicke durchaus wahrgenommen, doch die Gedanken, die dahinter standen, überraschten ihn nun doch.

„Und du bist in ihren Gedanken dann wer?“, fragte er, ohne direkt auf das Gesagte des anderen Mannes einzugehen. Er würde sich nicht vor allen Anwesenden ausziehen und beweisen, dass er eben KEIN Yakuza war, denn er trug keine Tätowierung auf dem Rücken, wie es hinlänglich üblich war für Angehörige der Clans.

Er griff zu dem Glas und trank einen Schluck.
 

Schuldig folgte Rans Bewegungen, ergötzte sich an dessen gelassenem Blick, an der ruhigen Art wie dieser dort saß.

„Ein Mann dachte, ich sei ein Geschäftspartner. Ein anderer wiederum denkt, wir sind zwei Sprösslinge der Clans. Die Frau im roten Kleid malt sich gerade ein Bild, in dem wir ficken. Sie gibt sich diesem Bild hin und sieht uns als Geliebte an.“ Schuldig sagte das leise, ließ den Blick lächelnd schweifen, mied jedoch tunlichst Rans Gestalt, vor allem die sicher lodernden Augen. „Der ältere Herr dort hinten meint, dich schon mal in einer der Clans gesehen zu haben, er denkt, ich sei dein Liebhaber. Er kommt auf den Gedanken, da er dich genau beobachtet hat und den Wink mit dem Glas verstanden hat. Er stimmt dir zu in deinem Handeln, er hätte noch heftiger reagiert, was die Kellnerin betrifft. Er findet mich scharf und kann dich gut verstehen, dass du mich … erwählt hast“, schloss Schuldig seinen Rundlauf in einigen Köpfen der Gäste. Er hatte zeitgleich das wiedergegeben, was er gelesen hatte und staunte selbst nicht schlecht über das Resultat. Ob es ihm gefiel, wusste er nicht.

„Interessant findest du nicht?“
 

„Anregend, aber interessant nicht“, erwiderte Aya und warf dem älteren Mann einen längeren, schweigenden Blick zu, nickte schließlich und hob sein Glas leicht in dessen Richtung. Der Alte grüßte zurück, leckte sich die Lippen.

„Ob der Alte da wohl weiß, dass ich dich nicht teile?“, fragte er genüsslich, während er einen weiteren Schluck seines Weines nahm, sein Glas bedenklich schnell leerte. Das hatte natürlich seinen Grund, aber den würde er so schnell nicht offen legen.
 

Schuldig wollte wissen, wie die Reaktion des Mannes auf Rans Geste war.

„Nein. Jetzt weiß er es nicht mehr. Du hast ihn verunsichert…und seine Gedanken nun tatsächlich auf mich gelenkt, aber auch auf dich. Eine nicht unbeträchtliche Summe schwirrt in seinem Kopf herum, die er dir für eine Nacht mit mir bieten würde. Er hätte auch kein Problem damit, wenn du zusiehst. Seine Gedanken spulen immer die gleiche Fantasie ab, aber er glaubt nicht an ihre Realisierung, weil er der Meinung ist, dass es ungünstig wäre für ihn, wenn er sich den Zorn eines Mitgliedes der Clans zuzieht.“

Schuldig schwieg und sein Blick suchte nun das hart schimmernde Violett. Er konnte nichts in Rans Augen lesen, sie waren ihm verschlossen.
 

Auch körperlich waren sie Schuldig nun verschlossen, als Aya seine Augen ein weiteres Mal auf den Mann ihnen gegenüber richtete. Er hob fragend eine Augenbraue und lächelte einladend. Was dachte der Mann? Ihm Geld für Schuldig bieten zu können? Ihn zusehen zu lassen, während er mit Schuldig schlief?

Nein…nein, so würde es nicht laufen. Schuldig gehörte zu ihm, nicht zu diesem Mann.

„Er hat Recht, es IST ungünstig für ihn, wenn er meinen Zorn auf sich zieht. Aber sag mir, in welcher Beziehung steht er zu den Clans? Geschäftspartner? Bediensteter?“
 

„Er macht Geschäfte mit ihnen und war einige Male auf den Partys, die sie für ihre Partner geben, eingeladen.“

Dass einige der oben genannten Dinge, die Schuldig über das Geld und den Sex gesagt hatte, nicht stimmten und seiner wirren Fantasie entsprachen, musste Ran ja nicht wissen. Dass der Mann jedoch tatsächlich in eine sexuelle Richtung von ihnen beiden dachte und das in sehr deutlicher und heftiger Art war interessant, aber hatte Schuldig lediglich dazu veranlasst, es etwas zu verändern in der Wiedergabe an Ran.

Was ihm momentan immer unsicherer machte, war die Tatsache, dass er Ran nicht durchschauen konnte, jeden anderen, nur nicht Ran. Hätten sie nicht ihr Spielchen begonnen, hätte er Ran fragen können, doch so war ihm diese Chance verwehrt. Er hatte von Anfang an Probleme damit gehabt, in Ran zu lesen, da er sich stets auf seine Telepathie verlassen hatte.
 

„Ein kleines Licht also. Niemand wichtiges“, grübelte Aya und runzelte nachdenklich die Stirn. Scheinbar nachdenklich, denn sein momentanes Augenmerk war auf Schuldig gerichtet und die nervöse Person des Telepathen. Oh ja, er hatte seine Gedanken wohl verschlossen vor dem deutschen Mann.

Er leerte das Glas und stellte es zurück auf den Tisch, tupfte sich leicht die Lippen ab. „Nun…ich könnte ihm zeigen, zu wem du gehörst, gleich hier und jetzt. Oder draußen im Auto“, lächelte er bedächtig.
 

„Könntest du?“ Schuldig musterte Ran. „Im Wagen wird er es kaum sehen“, gab Schuldig zu bedenken. „Außer du willst nicht ihm, sondern mir zeigen, zu wem ich gehöre.“ Er lächelte herausfordernd.
 

„Diese Entscheidung behalte ich mir vor“, erwiderte Aya stygisch und hob seine Hand. Zeichen für die Kellnerin, die Rechnung zu bringen. Schuldig hatte es herausgefordert und sollte nun mit den Konsequenzen leben.

Das Mädchen kam zu ihnen und Aya deutete durch eine Geste an, dass nicht er derjenige war, der zahlen würde.
 

Ohne eine Miene zu verziehen, zahlte Schuldig mit einem Lächeln und einem Funkeln für die hübsche Bedienung, reizte er diesen Vorgang des Bezahlens, bis es nicht mehr ging hinaus. Ran hatte ihm mit einer lässigen Handbewegung, die fast lästig wirkte befohlen, dass er bezahlen sollte, zumindest wirkte es auf diejenigen so, die ihnen interessierte Blicke zuwarfen.
 

Als es Aya zu bunt wurde, stand er auf und schob mit einem Lächeln seinen Stuhl zurück. Natürlich provozierte Schuldig ihn, natürlich. Und natürlich hatte er dafür mit der entsprechenden Antwort zu rechnen.

„Komm“, sagte er und ging vor ohne sich noch einmal umzusehen Richtung Ausgang, nicht jedoch, ohne kurz bei dem Mann anzuhalten, der Schuldig mit seinen Blicken auszog.

„Wagen Sie es nicht, meinen Besitz in Frage zu stellen“, richtete er freundlich ruhig an den anderen und ging weiter…nach draußen.
 

Schuldig hatte mitverfolgt, wie das Gesagte bei dem Mann angekommen war und staunte nicht schlecht über Rans Verhalten in der Öffentlichkeit. Er hätte dies nie von seinem Blumenkind gedacht… und warum kam ihm dieser Kosename plötzlich extrem unpassend vor? Keiner seiner Koseworte wollte so Recht auf diesen Mann, der auf den Wagen zuging, passen. Außer einer vielleicht … Abyssinian. Aber das war kein Kosename. Ganz bestimmt nicht.
 

Aya kam eher als Schuldig bei ihrer Fahrgelegenheit an und drehte sich langsam um, sah an den Wagen gelehnt zu, wie dieser zu ihm kam, wie er auf ihn zustreunte. Seine Augen glimmten dunkel und er lächelte stumm vor sich hin, als er wartete, bis Schuldig ihn erreicht hatte, bevor er den Deutschen am Kragen seines Jacketts fasste und gegen das Auto drückte. Ihm ungestüm und wild seine Lippen aufzwang.
 

Keinen Moment hatte er eine derartig schnelle Reaktion von Ran in dieser Hinsicht erwartet. Überrumpelt ließ sich Schuldig einnehmen, erwiderte den Kuss jedoch so gut er es vermochte, da Ran ihm fast keine Erwiderung gönnte und sich nicht zurückdrängen ließ, doch den Kampf, verlor der Telepath haushoch.

„…Ran….ich…“, versuchte er sich zu lösen, wollte ihm erklären, dass es nicht so wirklich der Wahrheit entsprochen hatte was der Typ angeblich gedacht hatte…
 

„Halt den Mund“, raunte Aya und versiegelte den aufkommenden Protest des Deutschen dort, wo er entstand. Er erkämpfte sich seinen Platz als dominanter Partner in ihrer Konstellation, fummelte ungeduldig an dessen Hemd, an der Hose des anderen Mannes. Er WOLLTE, musste den anderen jetzt flachlegen. Sofort…warum nicht gleich auch noch hier? Wer würde ihnen schon zusehen, wer würde daran schon Anstoß nehmen? Sie waren beide nicht existent, unbekannt durch ihr Unterweltdasein.
 

Was zur …Hölle?, geisterte ein irrwitziger Gedanke in Schuldigs Gehirnwindungen, die momentan jedoch zugunsten der Blutzirkulation in abgelegenen Gefilden wenig bis gar nichts zu melden hatten herum.

„Ran…nicht hier, lass uns …fahren“, fing er die Hand ein und hielt sie fest. Er spürte die Unnachgiebigkeit in dieser Hand und er fühlte seinen Willen, den Ran durchsetzen wollte.

Die Hitze zwischen ihnen brodelte und zischte und Schuldig spürte, wie sie sehr schnell auf einen Punkt in der Ferne zusteuerten. Was dieser Punkt war, konnte er jedoch nicht sehen, denn er hatte keine Zeit, Ran war zu schnell, viel zu heiß, wie ein Komet, der unaufhaltsam und nicht zu stoppen war.
 

Aya war für einen Moment versucht, diesem Wunsch nicht nachzugeben und hier und jetzt das zu beenden, was sie, nein, was ER angefangen hatte. Doch eine kleine Stimme in ihm stimmte Schuldig zu, sagte ihm, dass er nicht hier weitermachen sollte.

Er knurrte, biss Schuldig leicht in die Lippen. „Steig ein“, flüsterte er lüstern, jedoch ohne Widerspruch zu dulden und ging zum Fahrersitz, ließ sich darauf gleiten. Wortlos startete er den Wagen.
 

Schuldig ging um den Wagen herum auf die Beifahrerseite. Sein Atem ging schnell, sein Blick ruhte für Momente auf Ran, bevor er sich setzte und zum Beifahrerfenster hinaus blickte. Sie waren scharf aufeinander, doch er hatte Ran noch nie derart erlebt.

Schuldig sehnte sich nach Rans heißen Körper, nach diesen schlanken Händen, der Haut die ihn verbrennen würde, nach dem Fleisch, welches ihn einnehmen würde…
 

Nur irgendetwas ließ ihn unruhig werden, unsicher. Lag es daran, dass er Ran nicht durchschauen konnte?
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Coco & Gadreel
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

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Viel Spaß beim Stöbern!

Freiheit

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Tausche Schwarz gegen Weiß

~ Tausche Schwarz gegen Weiß ~
 


 


 


 

„Ran…“
 

Aya blinzelte und sah zu Youji.

„Ran, was hast du getan?“

Aya zuckte hilflos mit den Schultern. „Sie meinte das nicht ernst.“ Er sah auf Schuldig hinab. „Schuldig, sie meinte das nicht ernst mit Crawford, oder?“

„Ran, er wird dich umbringen, wenn er davon erfährt“, sagte Youji wenig hilfreich und griff nach seiner eigenen Tasse Kaffee. Aya schloss die Augen. Aber sie waren frei…er…er hatte doch…sie waren doch jetzt frei. Nur zu welchem Preis? Was hatte er GETAN?
 

Schuldig hatte geschwiegen, mit seiner Kehle und seinem Körper, selbst seine Gedanken waren wie festgefroren.

„Scheiße“, rief er aus und stand auf. Er hatte ihren Blick gesehen. Sie meinte es verdammt ernst. Sie hatte sie in die Falle laufen lassen. Aber das hieß noch nicht, dass Brad sich von ihnen einfangen ließ. Irgendwas stimmte hier nicht. Sein Gesicht ein einziger Ausbund an Konzentration.

Natürlich hätte er sie manipulieren können, natürlich hätte er ihr Innerstes nach außen kehren können. Aber …Ran hätte davon Wind bekommen und hätte mit Sicherheit etwas dagegen gehabt, dass er sich auf diese Art einmischte. Ran wollte das alleine regeln. Es war sein Ding …das er jetzt gedreht hatte…nur das Ergebnis…?
 

Aya fasste Schuldig am Arm, zog ihn ungeduldig zu sich herum. „Schuldig…sag mir, dass sie es nicht ernst gemeint hat.“ Seine Stimme wurde dunkler, emotionaler, mit einem Hauch an Verzweiflung. Seine Augen fixierten den Telepathen, baten um Rat. Er hatte nichts für den Amerikaner übrig, das stimmte. Doch was das für Konsequenzen nach sich ziehen würde…für SIE beide, das wollte er sich nicht ausmalen.
 

Sich ziehen lassend raufte sich Schuldig kurz durch die Haare. „Sie hat es verdammt ernst gemeint. Ihr Lachen war falsch, ihre Augen sagten die Wahrheit und ihre Gedanken sprühten nur so vor Gewissheit. Ich dachte mir anfangs schon, dass sie etwas verbirgt, irgendeine Absicht. Ich fürchte, dass sie es darauf abgezielt hatte, einen Handel zu bewirken. Es war nur Glück, dass du es ihr vorgeschlagen hattest. Wir müssen es ihm sagen….Gott… er wird ausrasten…“, überlegte Schuldig im nervösen Tonfall.

„Schon allein, dass er erfahren wird, dass ich hier war…“, unheilte er und ließ sich zurück auf den Sessel plumpsen.

„Habt ihr harte Drogen hier?!“, fragte er an Yohji gewandt mit hoffnungsvollem Blick.
 

Gott.

Ayas Freude über die Worte der Frau hatte sich völlig verflüchtigt. Er sah Schuldig, sah dessen Verzweiflung und fühlte sich abgrundtief schlecht. Und da hatte er einmal zu Crawford gesagt, dass sie nicht auf einem Basar wären und dass er kein Stück Fleisch war, das man so einfach erstehen könne. Und nun? Menschenhändler, hallte es spöttisch in ihm.

„Warum hast du dann nichts gesagt, Schuldig?“, fragte er langsam. „Du konntest doch in ihre Gedanken sehen, warum hast du keine Einwände erhoben?“ Er fuhr sich zittrig durch die Haare. „Und ich dachte, sie würde auch mal etwas…für das Team tun…“, murmelte er leise, beinahe unhörbar.
 

Youji besah sich die beiden. Gut, er konnte die Sorge nicht nachvollziehen, verband er doch mit Crawford nichts Positives.

Sein Blick kam auf Schuldig zum Ruhen, als dieser ihn ansprach und er drehte sich schweigend um, verließ das Wohnzimmer. Kehrte einen Moment später mit einer Handtellergroßen Schatulle wieder, die er schweigend vor Schuldig hinstellte und ihm Blättchen wie auch Streichhölzer daneben legte.
 

„Bedient euch“, sagte er ungezwungen.
 

Schuldig rollte mit den Augen, seufzte und beäugte die Schatulle. „Ich fass es nicht“, murmelte er als wäre er von Idioten umgeben. „Ich meinte eher etwas in flüssiger Form. Außerdem war das ein Witz. Galgenhumor. Denn wenn ich mir überlege, welch schwerer Gang mir bevorsteht…uns bevorsteht“, murmelte er mit einem kleinen Seitenblick auf Ran. „…dann könnte ich sternhagelvoll sein und es würde mir rein gar nichts einfallen, wie ich es Crawford erklären könnte.“
 

Yohjis Gedanken lagen auf der Hand und Schuldig verzog mürrisch das Gesicht. „Stell dir vor, du hättest das Leben von Aya an mich verscherbelt. Wäre sicher auch nicht angenehm, ihm das zu beichten, hmm?“, grummelte er und schoss böse Pfeile auf Yohji ab. Es war fast schon so, als wollte er Crawford im Geiste verteidigen.
 

„Er käme gar nicht dazu“, merkte Aya an und verzog seine Lippen zu einem bitteren Lächeln, während er schweigend nach der Schatulle griff und sich etwas davon herausnahm. Er legte es auf ein Blättchen und drehte es, den Blick immer noch auf den Tisch gerichtet. Verdammt, was hatte er angestellt? Warum hatte er nicht einfach ablehnen können? Wieso hatte sie ihn so über den Tisch gezogen?

Weil sie Kritiker ist, antwortete er sich selbst. Sie ist, was sie ist. Es gibt für sie kein normal mehr. Kein gänzlich menschlich mehr.

Er schob sich die versetzte Zigarette zwischen die Lippen und griff zu den Streichhölzern.
 

„Im Gegensatz zu Crawford hätte Aya aber keine Ahnung, was auf ihn zukäme“, erwiderte Youji mit einem angesäuerten Blick auf Schuldig. „Und wer weiß, so wie sie ihn angeschmachtet hat…“
 

„Ja sicher Träumer…sie will ihn um ihn flach zu legen“, schnaubte Schuldig und schüttelte den Kopf. Lauter Vollidioten. Der süßliche Geruch des Joints verteilte sich im Raum und Schuldig ließ den Kopf in den Nacken und auf die Sessellehne fallen. Er schloss die Augen und dachte nach, wie sie am Besten dieses Problem lösen sollten.

Sollte er vielleicht Crawford gleich kontaktieren und es ihm beichten? Dann könnte er sich an ihm gleich austoben. Oder er gestand ihm einiges zu, als Entschädigung.
 

„Ich werde mit Crawford reden“, mischte sich Aya nun in das Gespräch ein und nahm einen weiteren, tiefen Zug. „Ich habe es verbockt, also bin ich derjenige, der es ihm beibringt und der den Ärger kassiert.“ Er sah hoch, Schuldig direkt an und lächelte kurz. „Wir werden gleich zu ihm fahren. Wenn ich noch in einem Stück wieder rauskomme, weißt du, dass er…entweder vorhergesehen hat, dass es nicht passieren wird oder dass für ihn etwas herausspringt. Wenn nicht…“ Er verstummte, sagte nichts mehr, lachte dann jedoch schließlich. „Wie merkwürdig. Ein Zuhälter, der verscherbelt wurde…was für eine Ironie…“ Eine verdammte Ironie…eine, die er nie gewollt hatte. Er stellte sich doch nicht auf eine Stufe mit Crawford.
 

Schuldig konnte darüber nicht lachen. In gewisser Weise fühlte er sich durch diesen Satz verletzt. Warum auch immer. Weder fand er diese Situation witzig noch die Geschichte mit dem Zuhälter. „Lass uns gehen“, sagte er müde und stand auf. Alles geriet ins Wanken…außer Kontrolle. Ob Crawford das gemeint hatte, als er ihnen den Kontakt zu Weiß verboten hatte? Zweifel nagten an ihm. Ohne ein Wort zu sagen verließ er das Zimmer und das Haus.
 

Aya blieb zunächst noch am Tisch sitzen, rauchte wie in Trance auf. Er hatte ihn auch gebraucht…dringend gebraucht. Es milderte zumindest in diesem Moment die akute Panik für die kommenden Konflikte, deren Lösung er sich doch ganz anders vorgestellt hatte.

„Habe ich das Falsche getan, Youji?“, fragte er und sah hoch, begegnete grünen Augen, die die Seinen maßen. Doch der blonde Mann schüttelte den Kopf.

„Für uns hast du genau das Richtige getan, Ran. Du weißt doch, was sie gesagt hat. Wir sind frei, alle. Nicht mehr unter Beobachtung. Es wird dir besser gehen, warte es ab. Und die Sache mit Crawford…wird sich von selbst lösen. Schwarz ist viel zu mächtig, um Kritiker einen Angriffspunkt zu bieten.“

Der langhaarige Mann nickte bedächtig, wollte sich so gerne von den einlullenden Worten überzeugen lassen, wirklich so gerne...wenn es denn funktionierte.

„Ich hoffe es, Youji, wirklich. Ich hoffe es.“ Er erhob sich ächzend, nahm den Aschenbecher mit und stellte ihn in die Küche. Sein Blick blieb am Schlüsselbrett hängen und nach kurzem Zögern ergriff er den Schlüssel seines Porsches.

„Wieder bereit für deine Frauenkarre?“, lachte Youji hinter ihm und Aya drehte sich herum. Seine Augen funkelten, wieder in alter Bösewichtmanier.

„Das musst gerade du sagen…wenigstens verwechselt man meinen nicht mit einem Bobbycar“, gab er zurück und der andere Mann hob spielerisch seine Faust. Aya hielt mit seiner dagegen und kurz rangen sie um die Vormachtstellung, bevor sie beide aufgaben und Aya mit einem letzten Nicken aus der Haustür verschwand. Er warf einen Blick auf Schuldig.

„Ich fahre dir mit meinem hinterher“, merkte er an und nickte zu dem weißen Sportwagen.
 

Schuldig konnte sich beim Anblick des Porsches ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Wie gut, dass er noch Stellplätze frei hatte.

‚Brad’, kündigte er sich bei seinem Anführer an und sagte ihm, dass er und Ran vorbei kommen würden um mit ihm etwas zu besprechen. Er wirkte wenig begeistert, denn er zog gerade seine Bahnen im hauseigenen Pool.
 

Gemeinsam fuhren sie aus Tokyo heraus, in einen der grünen, abgelegenen und ruhigen Vororte. Luxus ölte hier aus allen Poren, auch wenn der nächste Nachbar beinahe Kilometer weit weg war. Jeder für sich hatte ein Grundstück, das für zehn Familien reichen würde.

Auch wenn der Anlass ernst war, genoss Aya die Fahrt in seinem eigenen, vertrauten Wagen, den er solange nicht mehr benutzt hatte. Und nun roch er es wieder. Den schwachen, jedoch immer noch existenten Geruch von Leder, der ihm so sehr ans Herz gewachsen war.

Den CD-Player jedoch ließ er aus, wusste ganz genau, welche CD er hören würde: Die, mit der er das letzte Mal zum Krankenhaus gefahren war. Er wollte sie nicht mehr hören, würde sie nachher wegwerfen.
 

Schuldig wurde langsamer und parkte schließlich seinen Wagen auf einem einfachen, jedoch stilistisch perfekt angelegten Grundstück. Es war ohne jede Frage genauso groß wie all die anderen, doch es wirkte weniger…provozierend. Normal, könnte man schon fast sagen.

Aya stieg aus und kam zu Schuldig. Er schwieg, war trotz der Droge in seinem Blut nervös und angespannt.
 

Der zweistöckige eher flach gehaltene L-förmige Bau glänzte durch seine Transparenz an einigen Seiten, vor allem aber im Bereich des Untergeschosses zur Terrasse hin. Schuldig zog seinen Schlüssel hervor und wartete auf Ran, bis dieser zu ihm trat, bevor sie das Haus stürmten…oder besser sich hineinschlichen wie zwei getaufte Mäuse…zur Katze…
 

Trotz der ganzen Situation kam Aya nicht umhin, die offene, schöne Schlichtheit der Inneneinrichtung zu bewundern. Hier war alles aufeinander abgestimmt, nichts an einem falschen Platz. Akribische Ordnung, wohin das Auge reichte.

Aya hätte das ohne je mit der Wimper zu zucken sofort Crawford zugesprochen. Das war der Amerikaner, hier also hatte er sich verewigt.

Gemeinsam streunten sie durch das Haus bis zum hauseigenen Schwimmbad und dem darin planschenden Amerikaner. Was wohl etwas untertrieben war. Crawford schwamm, von Planschen konnte hier keine Rede sein.

Vielmehr war er geschwommen, denn just in dem Moment, in dem sie eintraten, hievte er sich aus dem Wasser und Aya starrte für einen Augenblick auf die beinahe nackte Gestalt des Orakels.

Er hatte schon immer vermutet, dass Crawford Kraft besaß. Dass er Muskeln besaß. Aber dass er so wohlproportioniert war, hatte er nicht gedacht. Durchaus…fuckable.

Wie gut, dass dieses Attribut nur auf den Körper, nicht den darin steckenden Mann zutraf. Aya schauderte. Wenn es jemanden gab, mit dem er niemals ins Bett steigen würde, dann war das Bradley Crawford, Orakel von Schwarz und Zuhälter.
 

"Du brauchst ihn nicht noch auszuziehen, er ist schon halbnackt!", zischte Schuldig unterdrückt, als er Rans Starren bemerkt hatte. Während dieser noch an der Doppeltür stand, trat Schuldig an ihm vorbei uns beobachtete dabei Brad dabei, wie er sich einen Morgenmantel überwarf und mit dem Handtuch seine Haare kurz bearbeitete. Danach standen sie in alle Richtungen und fielen ihm in bester Herzensbrechermanier ins Gesicht.
 

„Was ist passiert?“, wollte dieser auch gleich wissen und Schuldig ging zunächst zur Bar, goss sich einen Scotch ein und kippte ihn hinunter. Gut. Ein guter Anfang.

„Wir hatten da ein Problem. Und zur Lösung des Problems …dachten wir uns wäre es gut…“, fing er an die Story von ganz weit hinten aufzurollen. Zwecks besserem Verständnis …und zwecks Aufschub …
 

„Ich habe dich für die Freiheit meines Teams und meine eigene an Manx verkauft“, beendete Aya den ausschweifenden Monolog ruhig in Richtung Crawford. Beide Männer wandten ihm den Rücken zu, doch er hatte laut genug gesprochen, dass sie ihn verstehen konnten. Und bevor Schuldig auch nur daran DENKEN konnte, irgendeinen Teil der Schuld auf sich zu laden, würde er die Sache wieder hinbiegen.

„Manx wollte zuerst Schuldig, dann Schwarz, dann dich. Bei letzterem habe ich dann zugestimmt.“
 

Es hatte Brad gewundert, warum die beiden ihm einen Besuch abstatten wollten und andererseits hatte er eine gewisse Gefahr im Hintergrund gewittert. Welche diese war, konnte ihm seine Hellsicht noch nicht klar darlegen, dazu schien sie noch zu weit weg. Während er den Worten zugegebenermaßen neugierig lauschte, ging er zu Schuldig und schenkte sich ein Glas Wasser ein, trank es gerade leer und blickte Schuldig dabei in die Augen.

„Du verkaufst mich?“, fragte er leise, mit gefährlichem Unterton an Schuldig gerichtet, das leere Glas abstellend. „Ich dachte, ich sei mehr wert, aber man überschätzt sich bei weitem.“
 

Schuldig konnte ihn nur anstarren, schien völlig eingenommen von dieser Ausstrahlung zu sein. „Brad…es war nicht so …wie es sich jetzt anhört. Wir dachten, diese…“

„Was dachtet ihr? Dass sie Witze macht?“, sah er Schuldigs nächste Worte und sprach sie aus.
 

Aya sagte nichts. Natürlich ignorierte Crawford ihn…business as usual. Er konnte noch nicht einmal sagen, warum es gerade in diesem Moment so schmerzte, dieses Gefühl, als wäre er nicht vorhanden, als wäre er nur…ja…ein Gegenstand. Er wartete im Türrahmen, trat keinen Schritt weiter in die Schwimmhalle hinein.

Sein Blick glitt nach draußen. Was schert es dich, was aus Crawford wird?, hielt ihm sein inneres Pendant vor Augen. Dieser Mann hasst dich und du hasst ihn mindestens genauso sehr. Was schert es dich, was mit ihm passiert?

Gar nichts. Das war die ehrliche Antwort darauf. Es scherte ihn gar nichts, doch Schuldig war da ein anderes Thema. Es scherte ihn, was Schuldig fühlte. Und dieser WAR nun mal mit dem Amerikaner verbunden. Auf verschiedene, ihm sehr wohl auch verborgene Arten..
 

„Wir werden uns jetzt ausführlich über dieses Thema unterhalten, hast du mich verstanden?“ eine rein rhetorische Frage, wie Schuldig befand.

„Ohne ihn!“, hörte Schuldig Brads Stimme, die merkwürdig laut in diesem Raum hallte. Brad ging an ihm vorbei und kam an der Tür an. Er blieb vor Ran stehen, maß ihn abschätzend.

„Das heißt, für diese Idiotie habe ich etwas gut bei dir!“, sagte er und beförderte Ran mit einem Wurf ins Wasser. „Ich bin oben“, schickte er zu dem Telepathen, bevor er den Raum verließ.
 

Crawford hatte bei ihm nichts gut, dachte Aya noch, bevor er mit einem Schwung im kalten Nass landete. Es schien, als hätte er es geahnt, als hätte er es vorher in den Augen des Amerikaners gelesen, denn er strampelte nicht oder versuchte sich an die Oberfläche zu ziehen, sondern ließ sich nach dem Fall im Wasser treiben. Die Augen nach oben gerichtet, tauchte er in dem klaren Wasser, lauschte den Geräuschen um sich herum. Warum sollte er auch schon wieder auftauchen? Es war ja nicht wichtig, was er sagte.

Der Joint war nicht gut für dich, merkte er für sich an. Er macht dich emotional und angreifbar für diesen Mistkerl.

Ich weiß…
 

Schuldigs Hemd flog im hohen Bogen davon, dicht gefolgt von den Socken. Er folgte Ran aus einem sentimentalen Impuls heraus, denn er hatte dessen abwesenden Blick gesehen als Crawford zu ihm gegangen war. Seine Arme umschlangen den Mann und dessen rotes langes Haar wogte um sie herum.
 

Aya schloss die Augen, sich nur durch die Berührung bewusst, dass Schuldig bei ihm war. Er ließ sich treiben, ohne eigenen Antrieb, durch jahrelanges Spiel darin geschult, solange wie möglich die Luft anzuhalten. Sich dieser friedvollen Welt zu ergeben. War er nicht mehr alleine? War Schuldig bei ihm? Er wusste es nicht, er fühlte sich so ausgestoßen. So…anders. So verhasst.
 

Nur war Schuldig nicht darin geschult, wie Ran derart lange die Luft anzuhalten, so ließ er sie wieder an die Oberfläche treiben, suchte die ihm bekannte Liegefläche des langen Pools auf.

„Hey...Blumenkind...“, sagte er sanft und beobachtete das ihm so schutzlos zugewandte Gesicht, die noch immer geschlossenen Lider. Das Haar, sonst weich umrahmend ließ nun, aufgrund der Nässe die Konturen des Gesichtes feiner hervortreten.

Das Problem war zwar noch nicht behoben, aber Brad schien die Sache gelassen anzugehen und wenn er gesprächsbereit war, dann war alles halb so wild.

Hauptsache, er ließ Ran außen vor. Schuldig war dies wichtig. Er wollte nicht, dass Ran Brads Zielscheibe wurde.
 

Aya öffnete die Augen, sah Schuldig direkt an.

„Warum ignoriert er mich?“, fragte er leise, zu leise, dass es jemand Außenstehender hätte hören können. „Ich habe es verbrochen, aber er nimmt mich nicht wahr. Ich kann sagen, was ich will. Und ich will nicht, dass du da mit hineingezogen wirst. Du hast damit gar nichts zu tun. Ich sollte mich mit ihm auseinandersetzen, aber ich bin es noch nicht einmal wert, dass er mit mir redet.“ Da hatte er den Salat…die Drogen begannen zu wirken und er wurde redselig.
 

„Schmollst du?“, stutzte Schuldig und lächelte seinen bekifften Ran zärtlich an. „Du gehörst nicht zu unserem Team, Ran, das ist alles. Er regelt Teamsachen immer und ausschließlich im Team. Es ist ihm in der Akutsituation egal, wer es verbrochen hat, er will alle Informationen haben, dann wird ausgewertet und überlegt, was zu tun ist. Du hast es nicht verbrochen, Honey, ich hätte sie töten können, ich hätte ihre Gedanken löschen können, ich hätte es früher bemerken müssen. Und …ich hätte nicht mitgehen sollen. Das sind seine Argumente. Ich bin also verantwortlich, nicht du.“

Er strich mit den Fingern zart über Rans Wange und danach über die Lippen. „Ich möchte dich ebenso heraushalten. Aber er ist mein Boss. Für Brad ist das, was wir haben…nichts weiter als eine Fickbeziehung.“ Er schwieg einen Moment um Rans Lippen zart zu küssen.

„Ich mache mir trotzdem Sorgen. Stell dir vor, Kritiker schnappen sich ihn tatsächlich…“

Er wusste nicht warum, aber er hasste diesen Gedanken daran abgrundtief. Er …wollte Brad nicht verlieren. Egal …was für ein Ekel er manchmal war. Aber genau dieses Ekel hatte ihn…beschützt…so viele Male schon.

Aufseufzend blickte Schuldig wieder in das helle Gesicht.
 

„Das werden sie nicht können. Er ist Schwarz, Schwarz war Kritiker noch nie unterlegen, weißt du das nicht mehr? Außerdem weiß er es doch jetzt und kann sich darauf einstellen.

Was hast du denn in ihren Gedanken gelesen, Schuldig? Was hatte sie mit ihm geplant?“, fragte Aya und schauderte. Das trocknende Wasser war kalt, zu kalt für ihn. Er schwieg nachdenklich eine Weile.

„Warum degradiert er das, was wir haben? Nur weil ICH es bin? Würde er bei…Farfarello anders reagieren?“, fragte Aya schließlich und bewegte sich leicht.
 

"Sie hat nichts über ihre Pläne gedacht, so schnell hatte ich nicht herausfinden können, was sie vorhatte. Es war, als hätte sie gleichzeitig an vieles gedacht, ihre Möglichkeiten offen gehalten. Sie hat mich fehlgeleitet, weil sie wusste, dass ein Telepath anwesend ist."
 

Schuldig glitt wieder mehr von der Liegefläche, damit sie tiefer im Wasser lagen.
 

"Farfarello…er würde ebenso handeln, nein er würde es schlicht verbieten. Er gestattet es mir nur…nur…weil...", hing er an dieses Satz fest. Er gestattete es ihm, weil er ihm etwas bedeutete? Keimte erneut dieser Verdacht in Schuldig Kopf und er starrte hilflos auf Ran.
 

"Keine Ahnung", schloss er kurz angebunden. Crawford erlaubte ihm viel, verzieh ihm viel. Warum? Wegen der Sache mit Kitamura?
 

Schuldig setzte sich auf umfing seine Beine mit den Armen und grübelte mit abgelegtem Kinn auf den Knien vor sich hin. Er hatte noch zu deutlich diese Erinnerung vor Augen…wie er von Brad gehalten wurde…wie dieser ihm Dinge zuflüsterte um ihn zu beruhigen…so sanft.
 

Aya schwieg und fixierte den anderen Mann. Er fror und ihm war komisch zumute. Sehr komisch.

Auch er setzte sich auf und strich sich seine klatschnassen Haare zurück, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht um die Nässe dort zu vertreiben. „Warum lässt du dir Dinge von ihm verbieten? Warum brauchst du seine Erlaubnis?“, fragte er nach und wrang den Ärmel seines Pullovers aus, lauschte dem ins Becken zurücktropfenden Chlorwasser.
 

Das war die Frage aller Fragen, witzelte Schuldig für sich. „Es ist keine direkte Erlaubnis…“, sagte er leise und blickte hinaus in den Nachmittag. Trübe Wolken zogen noch immer über den Himmel und färbten alles Grau in Grau.

„Vielmehr…vielleicht…weiß ich dann, dass alles gut wird, wenn er nichts dagegen hat.“

Schuldig verzog den Mund unwillig und schnaubte. „Das klingt beschissen“, murmelte er und fuhr mit der Linken in sein Haar. „Ich weiß es nicht, an was es liegt, aber … es stört mich, wenn er sauer ist. Auch wenn ich es oft mit Absicht gemacht hatte, klar. Damals.“ Er schwieg für Momente der Erinnerung.

„Weißt du… als ich noch nicht wusste…was damals mit Kitamura los war. Seither ist es anders geworden. Ich war sauer und wenn ich mir denke …dass er dabei war …so nahe dabei war…habe ich Probleme, ihm nicht ins Gesicht zu schlagen. Aber ich kann es nicht. Ich glaube…ich bin weich geworden.“ Angewidert verzog er das attraktive Gesicht und streckte die Zunge heraus.
 

„Weich wie ein Gummibärchen“, züngelte Aya und schnappte mit seinen Fingern nach dieser frechen Zunge, erwischte sie jedoch nicht. Zu schnell war sie wieder in dem vorlauten Mund verschwunden.

„Deine Weichheit hat auch angenehme Seiten“, erwiderte er und erinnerte sich an alte Zeiten, an die Seite des anderen Mannes, die er gehasst hatte wie sonst nichts. Dessen verspottendes, überhebliches Wesen, dessen Grausamkeit ihm selbst gegenüber.

Aya schwieg einen Moment. Was hatte Crawford ihm erzählt? Über die Zeit bei Kitamura? Oh ja, Schuldig hatte alle Rechte, auf den Amerikaner sauer zu sein, doch er war es nicht. Das war keine Freundschaft mehr…

„Bedeutet er dir mehr? Liebst du ihn?“, fragte Aya ruhig, getragen, um sein eigenes, wild aufbegehrendes Entsetzen über diese Frage in Schach zu halten.
 

Über so derart Abwegiges hatte er noch nicht nachgedacht. Schuldig schluckte und sein Kopf ruckte zu Ran herum. „Wie meinst du das? Ich liebe dich!“, verteidigte er sich und hatte dabei noch nicht einmal bemerkt, dass er das große L-Wort ausgesprochen hatte in seiner Entrüstung. „Ähm…“, sanfte Röte überschattete seine Wangen als er sich wieder den Wolken zuwandte und „...du weißt schon, was ich meine…“, murmelte. Irgendwie war ihm jetzt unwohl. Weil ihm das große L-Wort herausgerutscht war oder weil …Ran …so etwas von ihm behauptete.

Aber war es denn so abwegig?
 

Sein Blick verlor sich etwas als er in sich ging und über diese Worte nachdachte. Es hatte ihm damals wehgetan was Brad über ihn gesagt hatte. Dass er keine Erziehung genossen hatte. Dass er unfähig sei. Es hatte ihn geschmerzt …eben weil Brad es war, der diese Worte ausgesprochen hatte?

„Ich …“, fing er leise an. „Ich weiß nicht, Ran. Wir sind schon lange ein Team. Und bis vor kurzem habe ich ihn nie …nie in diesem Licht wie jetzt gesehen. Aber…“, er kam einfach nicht weiter. Das verwirrte ihn und er wollte nicht, dass Ran so von ihm dachte.

„Glaubst du das denn?“, fragte er und blickte Ran dabei unsicher an.
 

Schuldig schien…ein Meister darin zu sein, ihn von einem Hoch ins nächste Tief zu stürzen und dabei so unschuldig zu schauen, dass man ihm das noch nicht einmal böse nehmen konnte. Schuldig liebte ihn, das war das Eine. Das war etwas, das Aya einen ebenso warmen Schauer durch den Körper trieb wie Schuldig seinerzeit. Das war eine Tatsache, die seltsamerweise Ayas Herz wie eine dicke, warme Decke in kalten Winterabenden ummantelte.

Es war etwas, das…ihm fremd war. Er kannte es nicht, dass jemand zu ihm sagte ‚Ich liebe dich!’. Auf platonischer, familiärer Ebene, ja. Doch so? So…intim? Nein, das war das erste Mal. Auch wenn er schon mit mehr als einem Dutzend von Männern und Frauen geschlafen hatte, so war er doch nie, niemals, eine Beziehung eingegangen und somit auch diesem Satz entgangen, der wie Feuer auf ihn niederprasselte.

Und Aya sonnte sich in diesem Feuer, erwärmte sich, nur um daraufhin in tiefste Kälte zurückgestoßen zu werden.
 

Schuldig war sich nicht sicher, er konnte es ihm nicht genau sagen. Kein klares Nein. Aya schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern. „Es kam mir so in den Sinn. Es schien so. Eben weil ihr euch durch eure Vergangenheit so nah seid…“
 

„Nah! Pfh“, stieß Schuldig verächtlich aus und vergrub sein Gesicht bis zur Nasenspitze hinter seinen verschränkten Armen. Darüber lugte er hinweg ins Wasser. „Dieser Arsch“, murmelte er verdrossen. „Das wäre doch zu blöd“, sinnierte er. „Nein…bestimmt ist es das nicht…“, schüttelte er dann energisch den Kopf.

„Vermutlich hänge ich an ihm, weil er mir oft geholfen hat. Weil er von Anfang an mit mir in diesem Land war. Wir haben viel erlebt, das stimmt schon…es verbindet eben“, räumte er nachdenklich ein. „Ich kann nicht mal sagen, dass es eine enge Freundschaft ist, denn wir halten einander trotz allem auf Abstand. Wir halten Regeln ein… das habe ich dir erzählt. Wir überschreiten sie nicht.“

Er schwieg eine Weile, bevor er fort fuhr.

„In letzter Zeit übertreten wir aber diese Grenzen. Das ist nicht gut. Und dann passiert so was, dass du mich fragst, ob ich für diesen arroganten Arsch mehr fühle als nur Pflichtbewusstsein… wobei ich gar nicht sicher bin, ob ich überhaupt weiß, was das ist …“, grinste er Ran schräg an und drehte den Kopf zur Seite.
 

Aya erwiderte das Lächeln. „Vielleicht ist es genau aus diesem Grund mehr als Pflichtbewusstsein. Vielleicht bist du dir nur so unsicher, weil es darüber hinausgeht.“ Er ließ seinen Blick nach draußen gleiten und schwieg nachdenklich. Wolken zogen am Fenster vorbei, tiefhängend und regenlastig.

„Würdest du denn Abstand halten, wenn er es nicht täte?“, fragte er schließlich.
 

„Ran…du bist schlimmer als die Inquisition“, murmelte Schuldig und zerfurchte sich seine Stirn über diese Frage. Es dauerte einige stille Minuten bevor er zögerlich antwortete. „Ich hätte ihn nicht gehalten, denke ich. Schon allein der Provokation wegen nicht. Und vielleicht auch manches Mal aus Langeweile nicht. Aber … ich frage mich, was daraus geworden wäre…wie es geendet hätte. Ich…ich weiß nicht…“, schloss er hilflos. Sicher schien nur eins…dass Crawford wohl gewusst zu haben schien, warum er Schuldig oft mit dieser strengen Hand führen musste. Schuldig hatte es ihm nie lange übel genommen, wenn dieser ihn in seine Schranken verwiesen hatte, wenn dieser seinem Spieltrieb nur im Rahmen bleibend nachgegeben hatte.
 

Aya seufzte. Schlimmer als die Inquisition? Ja, manchmal war er das. Er nickte bedächtig.

„Geh zu ihm…ihr habt einiges zu regeln“, sagte er leise und bewegte aufmunternd seine Schultern. Na los, bedeutete es. Geh schon. Damit wir hier schneller wieder rauskommen…aus diesem Hort für Zweifel. Doch das sollte es nicht darstellen, das dachte sich Aya nur und ein Stich an Trauer und Eifersucht durchzuckte ihn, wurde jedoch nicht nach außen hin sichtbar.
 

Schuldig hatte absolut unprofessionelle Unlust zu Brad zu gehen, wenn er ehrlich war.

„Bekomme ich einen Kuss mit auf den Weg?“, lächelte er gewinnend. „Dann bin ich schnell wieder hier und wir hauen ab!“, wisperte er an Rans Lippen und berührte sie beim Sprechen zart.
 

Aya umschlang Schuldig mit seinen Armen und schmatzte ihm einen lauten Kuss auf die Lippen, bevor er sanfter wurde und die des Deutschen beruhigend liebkoste.

„Ich warte hier.“ Er lachte leise. Als wenn er eine andere Wahl hätte. Er würde garantiert nicht durch das Haus streifen. In jedem anderen Haus…vielleicht. Aber NICHT in diesem.
 

o~
 

Zierlich schlanke Finger bewegten mit graziler Anmut Seite für Seite des Buches in dem er las. Nur hin und wieder lenkte er sich selbst damit ab, die Tür zu beobachten, die zum Bereich des Schwimmbades führte. Nach einer Weile, in der die beiden ‚Roten’ dahinter verschwunden waren, kam Brad heraus, mit versteinerter Miene und einem bitteren Zug um die Mundwinkel. Nagi enthielt sich eines Kommentars, vertiefte sich wieder in seine Lektüre. Einige Zeit darauf ging die Tür erneut auf und Nagi blickte auf, sah jedoch gerade noch wie Schuldig Brad hinterher ging. Nagi klappte das Buch zu und setzte sich auf. Er wartete einige Augenblicke, bevor er aus seiner gemütlichen abgeschirmten Ecke hervorkam und ins angrenzende Badezimmer ging. Vermutlich hatten die drei etwas zu besprechen…

Was dies wohl war?

Nun auf jeden Fall war jetzt das Schwimmbad frei. Seinen Gedanken nachhängend zog er sich um und betrat schließlich das sanft beleuchtete Schwimmbad. Er mochte es nicht sonderlich, wenn jemand anderer ihn sah, deshalb wartete er stets bis alle weg waren und er den Raum für sich hatte.
 

Draußen zog es sich dunkel zusammen und das sanfte Grün des Wassers zeichnete filigrane Muster an die Wände.
 

Aya horchte auf, als die Tür zum Schwimmbad aufging. Doch es war weder Schuldig, noch das Orakel, noch der Ire, wie er aus seinem Versteck erkennen konnte. Es war der Junge des Teams, welcher sich nun ins Wasser begab.

Naoe war dürr. Wirklich dürr, wie er es gut sehen konnte. Aya runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts, sondern zog fröstelnd das spärliche Badetuch um seine Schultern enger. Ihm war kalt…er fror und er wollte zurück. Hoffentlich war Schuldig bald wieder da.
 

Nagi ließ sich ins Wasser gleiten, drehte sich auf den Rücken und ließ sich von diesem Element tragen. Sein Blick richtete sich an die Decke als er die Augen öffnete.

Erst nach einem kleinen Weilchen der Ruhe und Entspannung hob er die Hände und ließ seine Kraft gegen die Decke wirken, sodass diese ihn nach unten drückte. Das Wasser schwappte über ihm zusammen und er konzentrierte sich diesen Druck zu halten, auch nachdem er seine Hände neben den Körper gebettet hatte. Es war anstrengend und er richtete alle Konzentration die er aufbieten konnte auf diese Übung. Er musste sich dem Aufwärtstrieb des Wassers entgegenstellen auch ohne den Gebrauch seiner Hände. Er musste…
 

Aya blinzelte, als sich die feinen Haare auf seiner Haut aufstellten und die Luft plötzlich wie elektrisiert schien. Er reckte seinen Schopf noch etwas mehr in die Richtung des Pools, konnte aber nichts erkennen. Anscheinend war der Junge untergetaucht. Wie er es auch immer tat.

Aya lachte lautlos, verzog die Lippen zu einem leichten Grinsen. Als wäre der Telekinet eine jüngere Ausgabe seiner Selbst.
 

Nur noch ein wenig, ein wenig mehr…trieb er sich an, doch es ging nicht mehr, seine Lungen schrieen nach Luft. Hustend und spuckend durchstieß Nagi die Oberfläche. Sein schweres Keuchen schlug sich von den Wänden wieder und er wischte sich das Wasser zittrig aus den Augen. Wütend pitschte er mit der Faust auf die wogende Oberfläche und atmete angestrengt.

„Warum geht das nicht…“, überlegte er leise, während er an den Rand schwamm und sich mühevoll nach oben zog. Er saß dort und starrte ins Wasser, ein Bein noch darin, das andere angezogen. Es musste doch zu schaffen sein, ohne den Einsatz seiner Hände als Führungswerkzeuge…
 

Aya war drauf und dran, sich zu erkennen zu geben, hielt jedoch Abstand davon. Das hier war doch die perfekte Gelegenheit, den Jungen in seiner ‚natürlichen Umgebung’ kennen zu lernen. Etwas mehr über ihn zu erfahren. Und wenn er Glück hatte, würde dieser ihn nicht entdecken.

Aya zog lautlos seine Nase hoch. Verdammte Kälte. Verdammtes Wasser. Verdammtes Orakel. Gespannt lauschte er auf den Jungen, auf das, was dieser gerade mit seinen Kräften zu trainieren versuchte.
 

Nagi hatte sich beruhigt, ebenso das Wasser. Er erhob sich und stellte sich an den Rand, sein stoischer Blick auf das Wasser gerichtet, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er musste versuchen das Wasser zu greifen, einen Teil zu bewegen. Den Energiefluss zu ändern…

Seine Konzentration verstärkte sich darauf.

Er trieb sich weiter, bis er merkte dass ihm schwindelte. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus und er schmeckte Blut. Erst da bemerkte er, dass er zu Boden gesunken war. Er fühlte eine unangenehme Enge in seinem Brustkorb und er holte keuchend Luft, als würde er ersticken. Die Anspannung entlud er in dem er die Hände reflexartig von sich stieß und eine Fontäne im Wasser hoch spritzte, die ihn überfuhr. Schwer atmend blieb er seitlich liegen und stöhnte. Warum klappte es nicht? Enttäuschung machte sich in ihm breit. Es musste ihm doch gelingen…
 

Aya merkte erst, dass er schon aufgesprungen war, als die ruckartige Bewegung seine gesamten Abwehrkräfte mobilisierte und er gewaltig niesen musste. Was ihn herzlich wenig scherte, ebenso wenig wie das Handtuch, das nun herunterrutschte, als er zu Nagi lief und sich schweigend neben dem zu Boden gegangenen Jungen kniete. Was machte er auch für Sachen?

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er ruhig und war schon dabei, den Kopf des Telekineten nach Verletzungen zu untersuchen.
 

Aus seinen Grübeleien herausgerissen zuckte Nagi erschrocken zusammen, als er das Niesen vernahm und kurz darauf ihn kühle Finger berührten. Hektisch ruckte er davon, seine Augen weit aufgerissen starrten den Langhaarigen an. „Was machst du hier? Warum bist du nicht bei Schuldig?“, wollte er mit ruhiger Stimme wissen, doch es klang etwas atemlos. Ein schmales Rinnsal Blut lief ihm aus dem Mundwinkel und er setzte sich auf, wischte es sich beiläufig ab, während eine umsichtige Zunge hervorspitzte und den Rest im Mundwinkel davonstahl.
 

„Warum sollte ich?“, gab Aya zurück und wischte ein paar der nassen, braunen Strähnen des anderen zur Seite, um ihn auf eventuelle Kopfverletzungen zu untersuchen.

„Die Frage ist wohl eher, was du hier machst? Versuchst du dir den Kopf an den Fliesen aufzuschlagen?“, fragte er mit strengem, jedoch sanftem Unterton und ließ seinen Blick auf dem Blut ruhen.
 

Etwas indigniert schüttelte Nagi langsam den Kopf. „Nein, mit Sicherheit nicht. Ich habe mir nur auf die Innenseite der Lippe gebissen, es hat mich überfordert“, gab er wenig darüber Auskunft was er genau gemacht hatte.

Er entwand sich der sanften Berührung - sie war ihm peinlich - und stand einigermaßen würdevoll auf. Auch wenn er sich mehr als nur nackt und begafft vorkam. Er hasste es geradezu, so freizügig gesehen zu werden.

„Warum bist du nass? Warst du freiwillig schwimmen?“, bemerkte der Telekinet Rans nassen Kleiderzustand. Sanft wellten sich dessen feuchtnasse Haare.
 

„Sehe ich so aus?“ Aya lachte leise und sah hoch, punktgenau in die grauen Augen des über ihm stehenden Jungen. Er blieb noch einen Moment auf dem nassen Boden knien. Jetzt machte es auch nichts mehr aus.

„Nein, freiwillig war das nicht. Eher im Gegenteil.“ Er besah sich die nassen Ärmel, die kaum getrocknete Hose und seufzte ergeben.
 

Nagi tippte auf Crawford. Vermutlich hatte dieser Fujimiya in den Pool befördert. Schuldigs Späße waren manches Mal in der Vergangenheit in eine ähnliche Richtung gegangen, doch Nagi bezweifelte, dass der Telepath in seiner derzeitigen Verliebtheit seinen Freund in den Pool befördern würde – angezogen und noch dazu in Crawfords Anwesenheit. Nein, da stand der Verdacht eher an, dass Crawford nachgeholfen hatte.

„Gibt es Ärger?“ …im Paradies…fügte Nagi für sich in Gedanken hinzu.

Nur minimal ließ er sich beginnende Sorge anmerken, indem er mit der Zunge die Innenseite seiner selbst beigebrachten Verletzung befühlte. Ansonsten ließ seine Mimik wie immer keine Rückschlüsse auf seine Gedanken oder Gefühle zu.

Nagi richtete sich gen Tür, wandte jedoch nach flüchtigem Überlegen den Kopf bedächtig und fixierte Ran mit einem forschenden Blick.

Wenn Brad und Schuldig ihn brauchten, würden sie ihn rufen, scheinbar war es nicht so schlimm.
 

Zögernd stand er da und ihm huschte wieder ein Gedanke durch den Kopf. Doch er konnte ihn nicht äußern. Es wäre inakzeptabel.

„Möchtest du etwas Trockenes zum Anziehen?“, richtete er stattdessen seine Frage an Ran und die grauen Augen huschten über die leicht fröstelnde Gestalt.

Vielleicht konnte er die Frage später stellen, wenn der Andere ihm folgte.
 

Aya erhob sich nun ebenso und entlockte seiner Nase ein weiteres, frustriertes Niesen. Vielleicht dachte er gerade deshalb noch einmal intensiver über das Angebot des anderen nach und kam zu dem Schluss, dass er es vielleicht gar nicht so ablehnen würde, diese verdammten, klitschnassen Sachen auszuziehen.

„Wenn du etwas für mich hast“, entgegnete er mit einem kleinen, aber penetranten Hoffnungsschimmer in der Stimme und folgte Nagi, währenddessen dachte er über die erste Frage nach. Wie viel sollte er dem Jungen sagen? Genauso viel, wie er Omi sagen würde: Rein gar nichts.

„Nicht direkt. Crawford wollte mit Schuldig reden“, erwiderte er nahe genug an der Wahrheit, um nicht unglaubwürdig zu wirken und weit entfernt genug von ihr, um Nagi nicht auch noch mit einzuweihen.
 

Nagi nickte und ein vorsichtiges, vielleicht sogar nachsichtiges Lächeln erschien, bevor er sich wirklich umdrehte und die Tür anstrebte.

„So könnte man es wohl auch harmlos umschreiben, aber sicher nimmt Schuldig dich nicht hier her mit wenn es um eine Harmlosigkeit ginge“, sagte er leise und bedächtig, war aber nicht daran interessiert, näher in Ran zu dringen um den Grund für dessen Hiersein zu erfahren.

„Wir müssen nach oben…wegen der Kleidung“, erklärte er und ging voran. Seine Haut hatte sich mit einer Gänsehaut überzogen, die nassen Haare klebten ihm noch am Kopf als er nun die Tür öffnete.
 

Nach oben…

Alleine der Gedanke daran verursachte Aya eine Gänsehaut, die sich weit über seinen Rücken bis hin zu seinen Unterarmen erstreckte. Hätte ihm jemand vor drei Monaten gesagt, dass er jemals einen Fuß in das Anwesen von Schwarz setzen würde und das dazu dann noch…in großen Stücken freiwillig…er wäre geflüchtet. Genauso fühlte er sich jetzt, wie jeden Moment auf der Flucht. So als würde ihn etwas angreifen und nur darauf lauern, dass er einen Fehler machte.

Reichlich kindisch, diese Angst, befand Aya und schüttelte innerlich den Kopf. Was sich nicht alles ändern konnte in so kurzer Zeit.

Er folgte Nagi und stieg die Treppen hinauf, hörte mit einem säuerlichen Lächeln, wie seine Hose jedes Mal, wenn er eine Stufe höher stieg auf das Holz klatschte und ein nasses Geräusch von sich gab. Er schauderte. Danke Crawford, ätzte er in Gedanken. Vielen Dank dafür.
 

Im oberen Stockwerk angekommen gingen sie in den hinteren Bereich. Auch hier waren die Räume lichtdurchflutet, nur wenig Möbel behinderten die freie Sicht auf künstlerisch gestaltete Wände, zum Teil Kohlezeichnungen, zum Teil Ölgemälde verschönerten die großen Flächen.

Nagi ging in ein Zimmer - die Türen standen bei ihnen ohnehin offen - und richtete sich an die Kleidungsstücke in diesem Ankleidezimmer.

„Hier, dies dürfte dir passen, such dir welche aus“, wies er auf einige Hosen, Hemden und Pullover, die er für passend hielt. „Gegenüber ist ein Badezimmer, du kannst dich aber auch hier umziehen“
 

„Danke dir“, nickte Aya und nahm die Kleidung in Empfang, wandte sich jedoch ab in Richtung Badezimmer. Wenn er immer noch hinter etwas her war wie der Teufel hinter der Seele, dann war das der Schutz seiner Privatsphäre.

Er betrat den hellen, weitläufigen Raum und schloss die Tür hinter sich. Mühevoll schälte er sich aus seinen Sachen, kämpfte schließlich noch mit der Hose, bevor er sie mit einem frustrierten Knurren von sich schleuderte. Ebenso mit seiner Unterwäsche verfuhr. Er griff sich eines der Handtücher und schrubbte seinen Körper warm, bis kein Tropfen dieser verdammten Nässe übrig geblieben war.

Ohne Kommentar stieg er in die geliehene Jeans und stellte fest, dass sie wirklich gut passte. Ein wenig zu groß, aber bequem. Ebenso sehr der warme Pullover, der sich an seinen Körper schmiegte. Aya schauderte wohlig und legte seine Sachen zu einem ordentlich gefalteten Haufen zusammen, nahm sie eingewickelt in ein Handtuch wieder mit sich.
 

Wenn er ehrlich war, war er fasziniert von diesem Haus, von der Atmosphäre, die auf ihn einströmte. Auch wenn er sich fehl am Platz vorkam…und genauso deplatziert im Flur stand, den Blick halb auf Nagi gerichtet, halb auf die kleinen Accessoires, die hier und da das Ambiente ergänzten.
 

Nagi schlüpfte gerade in einen Pullover, den er zuhause oft trug, wenn Crawford ihn nicht sah. Er sah unmöglich aus, wie der Amerikaner sagte.

Dazu hatte er wohl allen Grund. Er gehörte einst ihm und war Nagi um Ellen zu groß, doch jetzt wärmte er ihn, denn er hatte während des Wartens zu zittern begonnen und er wollte sich noch nicht ankleiden, da er noch in die Wärme eines Vollbades genießen wollte. So stand er mit dem übergroßen Pullover da und kam zu Ran auf den Flur.

„Wie geht es …Omi?“, fragte er betont beiläufig, doch es wollte ihm nicht Recht gelingen, da sein Blick den des Anderen suchte.
 

Ayas Augen weiteten sich überrascht. Das war eine Frage, die er nicht erwartet hatte. Vor allen Dingen nicht mit dem Unterton, denn dass diese Frage aus gelangweilter Neugier entstanden war, bezweifelte er doch stark.

„Es geht ihm gut. Er langweilt sich, wie immer, wenn er niemanden um sich hat, der sich um ihn kümmert. Und sein Knöchel ist verheilt. Außerdem hat er Schuldig reichlich verdächtig umschwänzelt, als dieser im Koneko war.“ Aya gab bewusst gerne mehr als freizügig Informationen preis, wusste er doch, was Omi getan hatte. Und er hatte nichts dagegen. Zumal er nun…vielleicht den Beweis hatte, dass diese Überrumpelungstaktik des Blonden doch geholfen und den Telekineten nicht verschreckt hatte. „Vielleicht wollte er Informationen.“

Auch er ließ seinen Blick über die halbwegs bekleidete Gestalt schweifen. Nagi sah jünger aus in dem Pullover. Viel jünger. Gar schutzlos.
 

Nur einen Moment lang war Nagi versucht weiter zu fragen und öffnete die Lippen, doch er bremste sich und legte den Kopf schief… dann lächelte er traurig. Der Andere hatte ihn durchschaut. Wissend blickte er auf und sah Ran lange an.

„Hast du keine Sorge, dass ich ihn verletze? Er war wütend als wir uns getrennt haben. Und er versteht nicht…er versteht mich nicht“, schloss er rätselhaft und zuckte mit den Schultern.
 

„Das ist menschlich. Er hat keine Basis, um dich zu verstehen, er kennt dich nicht. Wenn du willst, dass er dich versteht, musst du ihm mehr von dir geben.“ Aya erwiderte den Blick für ein paar Momente, bevor er leicht lächelte.

„Sorge, dass du ihn verletzt…nein. Vielleicht hintergründig, ja. Aber eher im Unterbewusstsein. Und selbst wenn, was sollte ich tun? Euch beiden Steine in den Weg legen? Nein…nicht mehr. Wenn es das Richtige für euch ist, dann nur zu.“
 

„Hmmm.“

Nagis Blick senkte sich und er verfiel in eine kleine Grübelei. „Das Richtige wäre wohl, ‚es’ gar nicht zu beginnen“, wisperte er mit einem kleinen Seitenblick den Flur hinunter. Dort, wo er Brad vermutete.

Es belastete ihn plötzlich, dass er wählen sollte, dass er aber nicht wählen wollte. Ganz bestimmt nicht…

Aber er konnte diesen Gedanken der Wahl nicht abstreifen und daher zerfraß es ihn förmlich innerlich. Er konnte die Gedanken an Omi nicht abstellen. Es war, als sehnte er sich nach Schokoladenkuchen…
 

„Das Richtige wäre es, es einfach zu probieren. Mehr als schief gehen kann es nicht und es ist eine gute Erfahrung“, erwiderte Aya und sah sich unauffällig um. Er steckte die Hände in die Taschen der fremden Hose und zog die Schultern hoch. Ihm war noch kalt.

„Die Frage ist, wie viel du dir von außerhalb sagen lässt. Von Menschen, die meinen, über dich bestimmen zu können…

Er hob bedeutsam die Augenbraue.
 

So wie sich Nagis Gedanken verdüsterten, wurde dieser Effekt nun auch auf seinem Gesicht sichtbar. Scheinbar gab es niemanden, der ihn in diesem Punkt verstand. Unwillkürlich krampften sich seine Hände in den Pullover in Höhe der Oberschenkel und bildeten Fäuste. Er blickte wieder auf. „Jeder sollte dort bleiben, wo er hingehört“, lächelte er und nickte. Er hatte verstanden. Diese Lehrstunde war gut gewesen. Sie tat weh, wie alle Lehrstunden.

So wie Omi dachten wohl viele, die nicht wie sie waren. „Meine Entscheidungen treffe ich in soweit frei, wie frei ich sie treffen kann. Du kannst die Kleidung behalten oder du bringst sie zurück. Es macht sicher nichts aus, wenn du sie trägst.“ Er hatte das Thema gewechselt, weil es ihn schmerzte, über dieses Damoklesschwert ‚der Wahl’ zu sprechen.
 

Aya nickte bedächtig, dachte jedoch nicht daran, sich an den letzten, unwichtigen Worten aufzuhalten. Vielmehr interessierte ihn das, was Nagi vorher gesagt hatte.

Er nahm den Jungen noch einmal genau in Augenschein, maß ihn eindringlich. Jetzt, in diesem Pullover, schien es, als würde die äußere Erscheinung genau das bestätigen, was er sich schon seit langem gedacht hatte.

„Jeder sollte dort bleiben, wo er zuhause ist, da hast du Recht. Aber nicht jeder weiß wirklich, wo er hingehört.“ Sein Blick schweifte aus dem Fenster, betrachtete sich den dort an die Scheiben peitschenden Regen.
 

Nagi wollte nicht hier darüber sprechen. Eigentlich wollte er überhaupt nicht darüber sprechen, aber er musste ständig daran denken. Fast jede Minute des Tages belastete ihn dies, als hätte Omi ihm diese Last aufgedrückt.

Er ließ den Pullover los und machte sich auf den Weg zurück ins untere Stockwerk, weg von dem Flur…der zu Brads Besprechungszimmer führte.

„Ich will diese Wahl nicht, die ihr mir hier aufbürdet“, sagte er leise, während er sich abwandte. Sein Blick spiegelte seine Emotionen wieder, es belastete ihn, dies aufgebürdet zu bekommen.
 

Aya folgte Nagi langsam und stieg die Treppe hinunter, begab sich in den gemütlichen Wohnbereich zu einem der Sofas.

„Welche Wahl hast du?“, fragte Aya und ließ sich auf das weiche Möbelstück inmitten eines Pflanzenhains nieder. Er widerstand dem Drang, nun auch noch die Beine anzuziehen und sich hinzulegen, eine Runde zu schlafen. Der Tag war wieder zu lang und zu anstrengend gewesen, die Nacht davor zu kurz und zu verstörend.
 

„Entweder ein Zuhause oder zu Takatori Mamoru gehen“, setzte er unbewusst diesen Namen ein. Er seufzte unterdrückt und verließ den Raum, ging zur Dusche, die an den Schwimmbereich angrenzte. Hier fiel es ihm leichter über diese Dinge zu sprechen, hier in seinem…Zuhause. Fujimiya Ran …kam Nagi vor als wäre er Omi etwas näher. Auch wenn ihn das zu düsteren ungeliebten Gedanken und Gefühlen trieb. Es putschte seinen Herzschlag auf und machte ihn unruhig.

Er duschte und wärmte sich etwas auf, bevor er sich seine weiche, graue Wollhose anzog und in den unförmigen Pullover schlüpfte, der ihm halb von der Schulter rutschte, doch er brauchte dieses Stück Stoff, diesen Geruch, mit dem es behaftet war.
 

Aya grübelte, wartete in der aufgezogenen Stille. Obwohl…ihm war, als hörte er irgendwo den tiefen Bariton des Amerikaners. Er wurde unruhig, wollte Schuldig nicht dem ungerechten Zorn des Orakels aussetzen. Nicht, wo er dafür verantwortlich war.

Doch er war ja nur schmückendes Beiwerk, nicht dazu gedacht, den Mund aufzumachen. Nicht dazu gedacht, beachtet zu werden.

Er seufzte schwer und zog ein Bein zu sich, ungeachtet der Umgebung. Er bettete sein Kinn auf das Knie und starrte hinaus in den Regen.
 

Nagi betrachtete sich abschließend im Spiegel und befand, dass der Pullover genau das Richtige war um seine überschlanke Figur zu kaschieren. So war es schon besser und Schuldigs …ja…was war Ran? Ein Geliebter…? Röte schoss Nagi ins Gesicht und ihm wurde heiß.

Er verließ das Badezimmer und kehrte wieder zur Sitzecke zurück, in die es Schuldigs …Geliebter gezogen hatte.
 

Der Geliebte, der gerade seine Augen geschlossen hatte und immer noch in den Nachwirkungen des Joints gefangen vor sich hindöste, bis er jemanden kommen hörte. Nagi. Er war also zurück. Anscheinend hatte das Bad der Gesichtsfarbe des Jungen gut getan.

„Kannst du dir denn vorstellen, mit ihm zu schlafen?“, fragte er und fühlte sich mehr und mehr in die Rolle des großen Bruders versetzt, der hier die Angelegenheiten seiner kleinen Geschwister regelte, damit ihnen auch ja nichts passierte.

Und war es denn auch nicht so? Er war schließlich der Anführer von Weiß gewesen…war immer noch ihr Freund. Und Bezugsperson für Omi.
 

Innehaltend verkeilten sich Nagis Hände in den Ärmeln, die etwas überstanden, trotz der hochgekrempelten Enden. Diese Frage…so direkt gestellt…brachte ihn aus der Bahn.

„Ich…“, fing er an, sein Blick starr auf Ran gerichtet, mit trockener Kehle. Er hatte sich schon seine Gedanken gemacht, sicher. Nie so weit…doch schon so weit, aber es schien ihm so fern, so fremd…dass er es selbst kaum glaubte, sich schämte, wenn er an Sex dachte.

Gefühle kamen in ihm hoch, die er eisern vergraben hatte, seit Jahren schon.

Er schüttelte einmal den Kopf, trat einen Schritt näher an die Aussichtsfront und lehnte sich an das Glas. „Seit wir bei euch waren …denke ich ständig daran. Es macht mich verrückt, wo ich doch so lange Zeit diesen Gedanken verdrängt hatte. Es war gut, nicht mehr daran zu denken, es war befreiend…und nun…“, wisperte er mehr zu sich selbst an die Scheibe.

Es war zermürbend. Er wollte sich berühren…doch er wusste…er konnte es dann nicht mehr kontrollieren.
 

„Geht es dir nur um Sex oder um mehr?“, fragte Aya weiter und lauschte förmlich auf die leisen Worte des Jungen unweit von ihm. Das Thema schien Nagi schon zu belasten, unheimlich zu belasten.

„Was hätte Crawford dagegen, wenn du dich mit unserem Jüngsten triffst?“, fragte er und stieg in seinen Gedanken nun gleich zum Vater auf. ‚Unserem Jüngsten’…Aya seufzte lautlos gegen sein Knie und sah zur abgewandten Gestalt des Japaners.
 

Um mehr…?

„Ich weiß nicht…was dieses Mehr ist…aber der Sex ist wichtig…der Sex macht die Probleme“, sprach er in Rätseln. „Wenn ich an Mamoru denke, dann denke ich nur an Sex…nur daran…wie besessen…nur daran“, er schluckte, sein Blick verlor sich, verschwamm. Er konnte an nichts anderes denken, weil er so sehr Angst davor hatte.
 

„Wenn du ihn tatsächlich für dich gewinnen willst, dann solltest du ihn nicht zu oft daran erinnern, dass er ein Takatori ist“, merkte Aya nachdenklich an und verzog grübelnd die Stirn. Für ein paar Momente erwiderte er nichts, starrte schweigend vor sich hin und durchdachte die Problematik.

„Ich nehme jetzt mal nicht an, dass du so versessen darauf bist, mit ihm zu schlafen. Also geht es um deine Kräfte? Sind sie das Problem?“
 

Für ihn gewinnen…

Es klang so abwegig, so irreal.

Nagi wandte den Kopf und nach einer langen Minute stieß er sich ab und setzte sich auf einen der größeren Ledersessel.

„Ja, das ist das Problem. Ich kann nur daran denken, nur daran“, sagte er ungehalten darüber. Das Leder knirschte angenehm, als er die Beine hochzog.

„Es ist nichts Neues, deshalb habe ich …Angst“, huschte sein Blick zu Ran, der diesem sagen sollte, dass er nicht dumm war, nur unerfahren und naiv dadurch in einigen Dingen.
 

„Du weißt selbst am Besten, wo die Lücken in deiner Gabe liegen…und du sie austricksen kannst. Oder wo sie dir nicht gehorchen will. Wie gerade eben im Pool. Das solltest du für dich ausnutzen, anstelle sie für deinen Feind zu halten“, sagte Aya und hob eine Augenbraue.

„Wenn du nur daran denkst, dann solltest du es tun, insofern Omi auch will. Ansonsten staut sich nur Spannung auf und das ist nie gut.“
 

„Ich weiß es nicht!“, rief Nagi aus, schlug jedoch gleich die Augen nieder und blickte weg. Er durfte sich nicht gehen lassen. „Ich …weiß nicht, wie ich es ändern kann, ich übe schon so lange daran, Jahre beinahe schon. Ich habe es immerhin schon geschafft, dass mein Körper sich wehrt, wenn mir jemand zu nahe kommen möchte. Ein tolles Ergebnis, nicht?“, lächelte er traurig. Es war eine Nebenreaktion auf seine Übungen. Nähe brachte Gefühle mit sich, die, wenn sie sich entluden, zerstörerische Ergebnisse mit sich brachten. Sexuell gesehen war dies der Megagau. „Mein Kalorienverbrauch übersteigt meine Zufuhr um Längen. Je mehr ich übe, desto mehr verbrauche ich. Eine Zeitlang habe ich es aufgegeben, aber …ich verliere den Bezug zu mir selbst…zu meinem Körper.“ Nagi fröstelte, wischte sich über die Wange. Es tat gut, mit jemanden zu sprechen, der nichts davon wusste. Brad …wusste es…auch wenn sie nicht darüber sprachen. Schuldig wusste es auch, ebenso Jei. Sie akzeptierten ihn und respektieren seine Entscheidungen.
 

Aber er hielt es nicht mehr aus.
 

Aya wurde sich einmal mehr bewusst, dass eine solch starke Kraft auch Nebenwirkungen hatte, die ihren Träger durchaus zerstören konnten. Genau das sah er hier bei dem Jungen.

„Womit steuerst du deine Kraft?“, fragte er und zog die Stirn in Falten. „Bei unseren Aufträgen habe ich diese Geste hier gesehen“, er imitierte die Handhaltung des Telekineten. „Also sind es deine Hände? Was, wenn du deine Hände blockst?“
 

„Blocken?“, fragte Nagi und suchte Rans Blick.

„Meine Hände sind die Werkzeuge, ich kann damit besser die Energie auf Punkte richten. Optimal wäre es, wenn ich die Hände nicht bräuchte, aber es ist schwierig, ich bin wohl noch zu unerfahren darin. Ich kenne auch niemanden, der diese Fähigkeiten derart ausgeprägt besitzt wie ich.“
 

„Niemand, den du fragen könntest…“, wiederholte Aya nachdenklich. Herrgott noch mal. Wenn er sich schon wie der Urvater verhielt, sollte er doch auch eine Lösung parat haben, oder?

„Was wäre, wenn deine Hände fixiert sind? Durch Fesseln, welcher Art auch immer?“, fragte er und lachte sich im nächsten Moment selbst dafür aus…innerlich. Sicherlich, Fesseln. Und das schlug ausgerechnet er vor, der sich gegen jede Art von Handfesseln wehrte? Der es noch nicht einmal ertragen konnte, sie zu sehen oder in den Händen zu halten? Und er hatte es versucht, in den drei Tagen von Schuldigs Abwesenheit. Er hatte versucht, sich ihnen zu stellen.

Er hatte versagt. Noch etwas mehr, dass er ganz ganz tief unten sich begraben hatte, damit es niemand fand. Nicht Schuldig und er selbst schon gar nicht.
 

„Ich weiß nicht…es würde dann nicht auf die Person wirken, nicht zielgerichtet… aber … es ist in einer ähnlichen Situation schon vorgekommen, dass ganze Straßenzüge ohne Strom waren, Fenster zerborsten waren. Ich habe auch keine Ergebnisse, was den Fall betrifft, wenn ich nun… für jemand anderen Gefühle entwickle…ob ich dann einen gewissen Schutz für diesen bilden kann. Bei Tot…hat es geklappt. Sie konnte ich beschützen“, schloss er leise.
 

„Bei Tot…“, wiederholte Aya und musste erst einmal begreifen, dass Nagi wirklich das kleine, blauhaarige Monster von Schreiend meinte. Er enthielt sich eines Kommentars und schob es auf die Jugend des Telekineten, auf dessen Einsamkeit und Suche nach jemandem, der ihm gleich war…in einer verschrobenen Art.

„Wenn es bei ihr geklappt hat, was könnte dann bei Omi anders sein?“, fragte er nachdenklich, versuchte sich auszumalen, was passieren konnte, wenn es wirklich ernst wurde. Nichts Gutes…wirklich nicht.

„Der Strom und die paar Fenster sind zu verschmerzen, vielleicht musst du sogar lernen, damit zu leben. Solange es niemandem schadet, solltest du dir noch immer der Nächste sein.“ Da schau an, was er hier wieder sagte. Das, was er vor kurzem noch mit Youji besprochen hatte.
 

„Bei ihr…war es mehr der Wunsch sie vor anderen zu beschützen, als vor mir. Ich … es war nicht wie bei Omi. Das hier ist etwas anderes, etwas Schwieriges.“ Er musste damit leben „…zu zerstören…und ein Monster zu sein…und damit leben?“, fragte er mit einem müden Lächeln. „Das mache ich bisher schon. Aber vielleicht wird es gar nichts mit Omi…wenn er mich weiter vor die Wahl stellt“, zuckte er mit den Schultern und der Pullover rutschte ihm wieder herunter. Er lehnte sich zurück und ließ den Kopf in den Nacken gleiten.

„Brad ist Brad und daran wird sich nichts ändern. Und das ist genau das, was an ihm gut so ist“, sagte er und schloss die Augen, als er Schritte auf der Treppe vernahm. Dem Gefluche nach Schuldig.
 

Aya setzte sich wieder gerade hin, als er ebenso die Geräusche hörte.

„Gegen einen Versuch spricht nichts, meinen Segen hast du, falls du darauf Wert legen solltest.“ Er lachte. Als wenn…natürlich legte der junge Schwarz da keinen Wert drauf, er hatte schließlich nichts mit Omi in der Beziehung zu tun, dass er ihm irgendwas verbieten konnte oder gar wollte.

Sein Kopf wandte sich zur Treppe und er erwartete schon fast, Crawford dort zu sehen und ihn ein weiteres Mal in den Pool zu befördern. Doch da war zunächst nur Schuldigs Stimme.
 

Die auch sehr farbenfroh über ihren Anführer sprach. Er rieb sich den malträtierten Kiefer und kam um die Ecke, denn er hatte Rans Stimme vernommen.

Ihn fror es und die Behandlung, die Brad ihn zuteil werden ließ, bewirkte nicht, dass er sich besser fühlte. „Lass uns abhauen“, brummte er gereizt und stand mit den Händen in den nassen Hosentaschen da, wie jemand, der gleich einen Mord begehen würde. Seine Augen loderten und waren schmal.

Von wegen … er hätte was für dieses arrogante großkotzige Arschloch übrig. Er hasste diesen Wichser.

Sein Blick fiel in graue Augen, die ihn vom Sessel herauf anblickten. „Danke“, brachte er hervor und nickte zu Ran. „Jeis Sachen passen ihm wenigstens.“
 

Ayas Blick verdüsterte sich, als er Schuldigs Laune gewahr wurde. Na wunderbar, hatte Crawford seine Launen wieder an jemand anderem ausgelassen nur nicht an dem wahren Schuldigen.

Doch der nächste Satz ließ Aya jedoch sein Vorhaben, einfach mal nach oben zu gehen und sich mit Crawford zu prügeln, vorerst vergessen. Dies waren Jeis Sachen? Oh. Nun gut, sie passten wenigstens, wie Schuldig es schon so passend festgestellt hatte, auch wenn alleine bei dem Gedanken eine Gänsehaut seine Arme hinaufkroch.

Er erhob sich langsam und nickte Nagi zu. „Denk daran. Einen Versuch ist es immer wert. Ich halte dich nicht auf.“

„Und dich stecken wir erst einmal in eine heiße Wanne, wenn wir hier raus und bei dir sind“, befahl er skeptisch, als er den Zustand des Deutschen sah.
 

Nagi drehte sich im Sessel und blickte über dessen Rückenlehne den beiden nach. Die Worte hatten ihm zu denken gegeben. Einen Versuch ist es immer wert…ja natürlich, aber wenn bei diesem einen Versuch alles schief ging?

Er beschloss seine Übungen in der nächsten Zeit zu vertiefen. Es musste einen Weg geben…
 

Den Kopf auf die Lehne bettend beobachtete er, wie Ran und Schuldig mit ihren Sportwagen vom Gelände fuhren. Es regnete draußen heftig und die Bäume bogen sich im aufkommenden Sturm. Seine Augen fielen ihm zu und erst als er eine Berührung seiner Haare fühlte, blickte er auf. „Brad?“, wunderte er sich und rieb sich die Augen. Er musste in dieser Haltung kurz eingenickt sein.

„Gibt es Probleme?“

Nagi sah, wie der Amerikaner um ihn herum ging und sich setzte. Er hatte ein Weinglas in der Hand, welches er wohl abstellte nach dem Geräusch zu urteilen. Nagi blickte wieder in das Unwetter hinaus.

„Schuldigs Rotfuchs hat meine Wenigkeit an Kritiker verkauft, sie wollten mich warnen“, hörte Nagi die kühle Erklärung und diese ließ ihn sich auf dem Ledersessel umwenden.

„Was?“

„Keine Sorge, es wird nicht eintreten, sie wollten nur sichergehen, dass ich es weiß.“

Brad nippte an seinem Weinglas. „Ist dir kalt? Soll ich das Feuer anfachen? Der Kamin ist vorbereitet.“

Nagi schüttelte nur den Kopf. „Bist du sicher…?“
 

Brad erzählte dem Telekineten das Problem, das seiner Ansicht nach kein wirkliches war, dennoch schien es Nagi zu beunruhigen. Er selbst fand es lediglich amüsant, wobei es ihn auch etwas verärgert hatte, vor allem nachdem Schuldig mit diesem kleinen Arrogantling hier aufgetaucht war.
 

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Viel Spaß beim Stöbern!

Krake & Klette

~ Krake & Klette ~
 


 


 

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Noch bevor Aya gänzlich wach war, räkelte er sich genüsslich auf der weichen, warmen Liegestatt. Sonne kitzelte seine Nase und er nieste im Halbschlaf.

Oder war es etwas anderes? Er schniefte leise und rollte sich zur Seite, robbte mit geschlossenen Augen zum Bettrand, wo er die Papiertaschentücher deponiert hatte. Er griff sich eines und schnäuzte leise, wurde alleine schon durch die Anstrengung gänzlich wach. Tatsächlich, die Sonne schien durch die heruntergelassenen Rollos. Aya folgte einem der hellen Wege und drehte sich wieder zu dem noch schlafenden, leise schnorchelnden Telepathen. Ein vorwitziger Strahl hatte sich auf ihr Bett gewagt und fixierte nun einen Punkt auf Schuldigs noch schlafendem Gesicht.
 

Aya runzelte die Stirn. War das nur Einbildung oder hatte der andere Mann am Kiefer tatsächlich einen dunklen Flecken?

Er beugte sich näher zu Schuldig und stellte fest, dass es tatsächlich ein Hämatom war, frisch genug, um von gestern zu sein. Aya atmete tief ein. Crawford. Dieser Bastard. Also doch…er hatte Schuldig für das geschlagen, was er verbrochen hatte.

Wirklich ein Wunder, dass dich dein Team nicht schon längst verlassen hat, du Arschloch, richtete er in Gedanken an das Orakel und erhob sich lautlos. Schmerz durchzog seinen Hintern und er verzog das Gesicht. Nein, davon hatte er erstmal genug. Nicht so schnell wieder.

Er ging ins Bad und ließ sich Badewasser ein, nieste noch einmal.

Fröstelnd stieg Aya schließlich in die hochgefüllte, mit Badezusatz versetzte Wanne und tauchte unter um sich der stille Unterwasserwelt und seinen Gedanken zu widmen.
 

Nur träge öffneten sich Schuldigs Lider und seine Augen riskierten einen Blick in die helle Welt. Er murmelte etwas von wegen „Viel zu hell“ und verkroch sich erneut unter der Decke. Allerdings nicht lange, höchstens zehn Minuten, dauerte diese Maßnahme, als er feststellte, dass er nun hellwach war. Frustriert schob er die Decke von sich und machte sich auf in die Küche um der Kaffeemaschine ein Tässchen dunklen Gebräus zu entreißen. Während diese vor sich hin arbeitete, machte er sich auf ins Badezimmer, lugte vorsichtig hinein, nur um von einem Schaumberg begrüßt zu werden. „Ran?“
 

Es war etwas, das ihn aus seiner Ruhe locken wollte, das spürte Aya instinktiv, doch es war keine Gefahr, das konnten ihm seine Instinkte schon verraten. Es war etwas Anderes, etwas Wichtiges.

Aya tauchte langsam auf und holte tief Luft. Anscheinend war er doch länger, als er sich dessen bewusst gewesen war, unter Wasser geblieben.
 

Und siehe da, Schuldig hatte seinen Schopf durch die Tür gesteckt und sah ihn an. Aya lächelte. „Guten Morgen. Habe ich dich geweckt, Langschläfer?“
 

„Morgen“, lächelte Schuldig und verzog daraufhin das Gesicht vor Schmerz. Er hatte seinen malträtierten Kiefer vergessen.

„Von wegen Langschläfer…“, murmelte er „…du hast noch gar keine Schwimmhäute, so lange kann ich also nicht nach dir aufgewacht sein!“

Die Tür vollends öffnend trat er ins Bad und beäugte den schillernd farbenfrohen Schmerzpol im Spiegel, bevor er sich die Zahnbürste griff und sich vorsichtig die Zähne putzte.
 

Aya tauchte die untere Gesichtshälfte auf Schuldigs Worte hin ins Wasser und blubberte, versuchte so der These des anderen Mannes zu widersprechen, bevor er sich einem anderen Problem widmete. Er streckte sich empor und überstreckte seinen Kopf, um sich den hinter ihm stehenden Mann kopfüber zu betrachten. Er wusste, wie sehr so ein Kinnhaken auch im Nachhinein schmerzen konnte und genau dieses Gefühl hatte er gerade in Schuldigs Augen gesehen.

„Warum hat Crawford dich geschlagen?“, fragte er geradeheraus und drehte sich in der Wanne um, sodass er den anderen Mann normal anschauen konnte.
 

Ran wirkte verspielt auf ihn, wenn er im Wasser planschte, es veranlasste Schuldig zu einem Lächeln, den dadurch ausgelösten dumpfen Schmerz in seinem Kiefer in Kauf nehmend.

Er drehte sich um und lehnte sich an den Rand des Waschbeckens. „Ich hatte keinen Bock auf den nächsten Auftrag. Zwei Wochen Shanghai. Ich hab ihm wohl einiges an den Kopf geknallt was er mich mal kann, deshalb war er wohl etwas sauer. Vermutlich auch wegen der Geschichte mit Kritiker, aber das hatte ihn weniger gestresst, eher die Tatsache, dass ich gemault hab“, zuckte Schuldig mit den Schultern und nahm sich einen Haargummi von der Ablage um sein Haar in Ordnung zu bringen.
 

„Zwei Wochen?“ Aya runzelte die Stirn. Schon wieder, wo doch der letzte Auftrag noch nicht lange her war.

„Wieso musst du so oft weg?“, fragte er mit Unverständnis. „Das war doch vorher nicht so. Ausgerechnet jetzt. Und zwei Wochen…“ Er würde also ganze zwei Wochen auf Schuldig warten müssen, hoffen, bangen, dass der andere Mann wiederkam. Aya wurde schlecht bei dem Gedanken, dass er eben das in keinerlei Art und Weise beeinflussen konnte.
 

Schuldig zog seine Hose aus und näherte sich der Wanne, warf das dunkle Stück Stoff auf die Bank. „Das war der Grund, warum ich ebenfalls ausgeflippt bin, genau wie du verstehe ich es nicht. Er sagt, dass es jetzt noch ein Grund mehr gibt, warum es besser sei, unsere Aktivitäten in Tokyo einzuschränken. Schließlich haben Kritiker ein Auge auf ihn geworfen.“

Zu Ran in die Wanne steigend, seufzte er wohlig, als die Wärme seine Glieder umwogte.

„Wir hatten nach dem Fall von SZ eine Phase, wo wir unsere Aufträge nur im Ausland tätigten. Zum Teil, um euch aus dem Weg zu gehen, nur nach und nach nahmen wir wieder hier Jobs an. So abwegig ist das also nicht, dass wir nach Shanghai gehen“, seufzte er und legte den Kopf in den Nacken, blickte missmutig an die Decke.

Er hatte Brad einen Dreckskerl genannt, der es nicht ertragen konnte, dass Schuldig nicht mehr auf ihn angewiesen war…deshalb hatte dieser ihm eine verpasst. Doch das sagte er nicht.
 

„Wird das jetzt immer so gehen? Eine Woche hier, zwei Wochen oder länger weg? Wird es darauf hinauslaufen?“, fragte Aya mit einem Schmerz in der Stimme, der nicht von ungefähr kam. Denn obwohl er jetzt frei war, die Wohnung zu verlassen, so musste er doch immer noch tatenlos mitansehen, dass Schuldig ging. Was auch immer ein Problem für ihn bleiben würde. Er zog missmutig ein Bein an und stützte seinen Arm darauf, sein Kinn auf die Hand bettend. „Oder werdet ihr irgendwann ganz auswandern?“
 

Schuldig ließ sich ins Wasser gleiten, bis nur noch seine Augen aus dem Wasser blickten, seine Beine umwanden Ran und stupsten ihn in seine Richtung. Er tauchte wieder etwas auf und wischte sich über das Gesicht, nässte sein Haar.

„Wir sind nicht abgehauen, als wir ganz unten waren, warum sollten wir jetzt abhauen? Ich liebe diese Stadt, ich brauche diese vielen Gedanken, Brad mag die Atmosphäre, die Möglichkeiten, Jei und Nagi bleiben bei uns, vor allem Nagi fühlte sich in der Fremde nicht sehr wohl, er ist geradezu schreckhaft in anderer Umgebung. Nein, ich werde hier nicht weggehen, nur müssen wir Aufträge annehmen, die uns Kohle bringen. Und Brad kümmert sich darum. Glaubst du, es hat andere Gründe?“
 

„Ja, das glaube ich“, erwiderte Aya ehrlich. „Crawford hasst mich, er hat etwas gegen unsere Verbindung. Und er empfindet etwas für dich. Natürlich macht er das mit Absicht, er kann es nicht ertragen, dass du glücklich bist…ohne ihn.“

Er schüttelte den Kopf, kam Schuldig noch etwas näher und platzierte sich auf dem Schoß des anderen Mannes.

„Es gibt auch Aufträge innerhalb Japans, die ihr annehmen könntet. Es muss nicht gleich so weit sein. Was kommt denn als nächstes? Amerika? Australien? Europa?“
 

Entspannt legte Schuldig den Kopf in den Nacken und sah zu Ran hoch. „Ja, das stimmt“, seufzte er und taxierte Rans Gesicht. „Du meinst, er dreht langsam durch?“, meinte er langsam. Er war ja selbst schuld…

„Ich hab ihn gestern gereizt“, gab er zu und schloss die Augen für Momente des Nachdenkens. Crawford empfand etwas für ihn. Warum konnte er sich mit diesem Gedanken so schlecht anfreunden… Es machte alles so kompliziert.

Und dazu noch der Verdacht, dass ihm selbst auch etwas an dem Amerikaner lag. Nur was genau…?
 

„Was hast du denn getan?“, fragte Aya nach, konnte sich schon vorstellen, dass weder Schuldig noch Crawford an sich hatten halten können. Er strich Schuldig durch die nassen Haare, fuhr hauchzart über das lädierte Kinn. Irgendwann würde er nicht mehr tolerieren, was Crawford tat und sagte. Irgendwann würde auch seine Selbstbeherrschung platzen.
 

„Ach…“, meinte Schuldig und genoss die Berührungen. „…ich habe ihn einen Dreckskerl genannt, der es nicht erträgt, dass er nun nicht mehr seine Hand über mich halten kann. Ich war wütend, weil ich weg muss und daher wohl ungerecht. Er und ich wussten in diesem Moment dass ich Recht hatte, aber ich wusste vorher schon, dass er sich das nicht bieten lassen würde, genau wie er wusste, dass ich es wusste. Ich hätte es nicht sagen sollen, aber nach dem, was du vermutest…dass ich was für ihn empfinde, wollte ich seine Reaktion testen“, sagte er etwas kleinlaut und verzog den Mund bedauernd, was ihn zu einem schmerzempfindlichen Zischen veranlasste.
 

„Freche Schnauze, wie immer“, lachte Aya und hauchte einen leichten Kuss auf die Stirn des vom Kriege gezeichneten Telepathen. „Lass dich von ihm nicht unterkriegen, so wie es euer Jüngster tut.“ Er seufzte. „Anscheinend hat es ihn wirklich erwischt. Er kann sich vorstellen, was mit Omi anzufangen. Es ist ihm ernst, aber er hat Angst davor. Weißt du da Abhilfe?“
 

Schuldigs Gesicht verdüsterte sich etwas. „Das alte Problem“, nickte er. „Nagi lässt sich nicht unterkriegen, Ran. Er hängt sehr an Brad. Das kann ihm keiner nehmen. Auch Omi nicht.“

Er hatte schon bemerkt, dass es für Nagi nicht einfach war, vor allem eine Entscheidung zu treffen unter all den Problemen, unter denen er litt.
 

„Omi will ihm seinen Amerikaner auch nicht nehmen, das ist nicht das Problem. Die Frage ist eher, ob Crawford ihn gehen lassen kann und will, zumindest soweit, dass er es akzeptieren würde, wenn die beiden sich nähern. Und das ist es, was ich bezweifle.“ Aya setzte sich etwas zurück. „Was hat Crawford gegen Weiß, Schuldig?“
 

„Nichts“, erstaunte es Schuldig. „Es ist Kritiker, was ihm Sorgen macht. Je mehr wir mit euch ‚verkehren’, wie er sich ausdrückt, desto höher ist die Gefahr der Entdeckung und der Tötung durch andere Gruppen, wie zum Beispiel Kritiker. Nicht nur Kritiker sind hinter uns her, Ran, auch andere Gruppen, die Wind von uns bekommen haben, legen Wert darauf uns auszuschalten. Er kann nicht alles sehen, was uns bedroht, deshalb will er, dass wir uns schützen und die Augen offen halten. Wenn wir bis über beide Ohren mit poppen beschäftigt sind und vor lauter rosa Wolken nichts anderes sehen, könnte uns das unter die Erde befördern. Er hat nicht unbedingt etwas gegen euch persönlich, es ist das was ihr verkörpert – Gefahr für uns.“
 

Das brachte Aya zum Grübeln. „Er hat Recht, du bist bis über beide Ohren mit Poppen beschäftigt, aber dass du deswegen unaufmerksam wirst, kann man nicht sagen. Außerdem wärst du das dann auch, wenn er mit dir schläft.

Die Gefahr, dass euch jemand aufspürt, ist immer gegeben. Ihr könnt Sicherheitsvorkehrungen treffen, ja. Aber ein Restrisiko bleibt immer. Mit oder ohne Sex. Es sei denn, ihr würdet euer Geld mit anderen Dingen verdienen.“

Er nieste wieder, verfluchte seine schwache Konstitution. Sein Kopf fühlte sich nämlich schon an, als würde sich da etwas Ernsteres anbahnen.
 

Schuldig musste grinsen, da Ran einen überraschten Gesichtsausdruck hatte, als ihn der Niesanfall überfiel. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ...wir miteinander ins Bett hüpfen, wenn ich ehrlich bin. Auch wenn er damals bei Kitamura dabei war, oder gerade deshalb. Ich verstehe nicht, warum er sich nicht schon früher an mich ran gemacht hat, schließlich hätte ich ganz bestimmt nicht nein gesagt.“ Er legte den Kopf zur Seite, als er eine Bewegung im Augenwinkel sah. Banshee stromerte neugierig ins Bad.

„Klar ist die Gefahr immer da, aber je näher wir euch kommen, desto höher ist die offensichtliche Gefahr. Schwierigkeiten im Bezug auf Interessenkonflikte entstehen, wie er sich ausgedrückt hat. Er meinte, dass ihr Probleme bekommen könntet, was eure Loyalität anbetrifft.“
 

„Wir?“, fragte Aya nach. „Du meinst, der Rest von Weiß. Ich bin zu keiner Loyalität verpflichtet und das weiß er. Das einzige Problem, das ich habe, ist…“, Aya zögerte für einen Moment, bevor er das Thema anschnitt, was er schon einmal kurz angesprochen hatte. Nur ganz kurz, bevor sie wilden, ungestümen Sex hatten. „…eure Art zu töten. Es genügt ein kurzer Streich und sie sind tot. Warum spielt ihr unnötig mit euren Opfern?“

Er sah ebenso zur Seite und lockte die Kleine nach ein paar Momenten, nahm sie auf, als sie nah genug bei ihm war.

„Willst du auch baden, Banshee?“, fragte er leise und hielt sie zwischen sie beide, sah zu, wie ihre kleinen Tatzen neugierig die Wasseroberfläche erkundeten und sie leise miaute, ihre Verwirrung kund tat.
 

Schweigen breitete sich wie eine dunkle Wolke zwischen ihnen aus. Er konnte diese Frage nicht beantworten. Er wollte es nicht.

Genugtuung, ein Ventil, Unterhaltung, er konnte es nicht begründen, denn es überfiel ihn wie ein Rausch, ein Trip, als wäre es eine Droge, die durch ihn wusch, wenn er tötete.

Sein Blick wandte sich zu Banshee, der das Wasser nicht geheuer war. „Jetzt bist du zu keiner Loyalität mehr verpflichtet, aber du warst es…und es hätte mich beinahe von Schwarz entfernt. Er fürchtet wohl erneut ein Desaster wie bei uns beiden.“
 

„Ich war wegen meiner Schwester verpflichtet, doch Omi hat niemanden, für den er sorgen muss. Er ist so gesehen frei, einfach unterzutauchen und Weiß zu verlassen“, erwiderte Aya und setzte Banshee auf dem breiten Rand der Wanne ab, ließ sie ihren Weg zu Schuldig erklettern. Sie war die Reinheit, so kam es Aya jedenfalls vor. Die Unschuld in ihrem dunklen Gesprächsthema.

Und wie unschuldig sie mit den roten Zotteln spielte, die so vorwitzig über den Rand hinweg standen.
 

„Wenn er es tun würde, wäre er keine Gefahr mehr für Nagi. Wir sind alle mit unseren Fähigkeiten tief verwurzelt, wir können nicht einfach so aufhören damit. Es würde uns…verrückter machen, als wir schon sind wenn wir versuchten es zu unterbinden.“

Nagi litt nach außen hin am Meisten unter der Telekinese und ihren Folgen. Dass Crawford und Jei große Probleme mit ihren Fähigkeiten hatten, war zwar nachvollziehbar und Schuldig sah es auch an kleinen Dingen, aber sie äußerten es nicht. Er dagegen…war nicht umsonst seit seiner frühen Jugend in diversen Kliniken gewesen.
 

„Was zu unterbinden, Schuldig? Das Töten?“, fragte Aya nach. „Gibt es denn nicht die Möglichkeit, eure Kräfte anders einzusetzen? Warum so?“ Wenn er ehrlich war, fragte er sich das schon, seit sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Jemand wie Schwarz, denen alle Möglichkeiten offen standen…wie konnte so jemand sich aufs Töten festlegen?
 

Unruhe breitete sich in Schuldig aus, als diese Fragen auf ihn niederfuhren. Er setzte sich auf, weil er das Gefühl hatte, dass er weg musste. Aus dieser Nähe, von diesen Fragen, von diesen guten Absichten weg musste.

„Mir wird hier zu warm, ich glaube ich werde mich abtrocknen“, lächelte er ausweichend und machte Anstalten sich zu erheben, zumindest wollte er signalisieren, dass er aufstehen wollte, doch noch ließ ihn Ran nicht.
 

„Es ist nicht zu warm hier, Schuldig. Du weichst mir aus“, erklärte Aya klar und offen. Er dachte nicht daran, den anderen Mann einfach so entkommen zu lassen. Nicht jetzt, jetzt, wo er ihm schon zweimal ausgewichen war auf diese Frage.

„Sag mir, was macht es dir so schwer, mir diese Frage zu beantworten, Schuldig?“, fragte er sanft, getragen. Er wich jedoch nicht von der Stelle, gab Schuldig keinen Raum um sich zu erheben.
 

Als würde Banshee die Stimmungsveränderung spüren können sprang sie vom Wannenrand und tapste aus dem Bad. Schuldig blickte ihr nach. Langsam wandte er den ernsten Blick zu Ran zurück. „Lass mich gehen, Ran.“ Er fühlte sich in die Ecke gedrängt, unter diesem Blick, der sein Innerstes sehen wollte. „Was willst du hören?“, fragte er angespannt, mit der Spur von Trotz. Er ahnte, worauf das hinaus lief.
 

„Ich möchte die Wahrheit hören“, erwiderte Aya sanft und strich sanft über die feuchte Haut des Telepathen, strich ihm über die gesunde Wange. „Ich will und werde nicht über dich urteilen, Schuldig. Ich möchte einfach nur, dass du mir den Grund nennst.“
 

„Und was bringt dir das dann? Glaubst du, es tut dir gut, wenn ich dir sage, dass ich es brauche? Meinst du das?“, blaffte er und presste die Lippen zusammen, sah Ran anklagend dabei an.
 

„Ja, das meine ich. Ich möchte wissen, woran ich bin, nicht mit Verdrängung oder einer galanten Lüge leben, Schuldig. Ich habe dir schon gesagt, was ich für dich empfinde und wie tief diese Gefühle gehen. Das heißt, ich kann mit allem an dir leben. Ich möchte nur den Grund wissen. Warum willst du es mir nicht sagen?“ Aya hielt diesem Blick ausdruckslos, jedoch stark stand und setzte sich ein Stück zurück. Ja, Schuldig konnte aufstehen, wenn er wollte, doch er würde das nicht gut finden. Würde nicht gut finden, wenn der andere Mann jetzt vor ihm floh.
 

Für eine Flucht war es zu spät, erkannte Schuldig und scheute den Blick gerade jetzt in die wissenden Augen.

„Ich kann dir den Grund nicht nennen… weil ich ihn nicht weiß. Es macht mir Spaß zu töten, in manchen Einsätzen. Es verschafft mir Genugtuung, irgendetwas in mir braucht es.“

Sein Blick kehrte zu Ran zurück und er verzog das Gesicht zu einer starren Maske der Beherrschung. Die Angst vor der Ablehnung, vor diesem Thema war nur in seinen Augen sichtbar.
 

Doch er konnte in Ayas Augen, in seinem gesamten Gesicht nur Offenheit und Zuneigung lesen. Nichts anderes und schon gar keine Ablehnung.

„Was ist, wenn du nicht töten würdest? Hast du das über einen längeren Zeitraum schon mal getan?“, fragte er schließlich.
 

„Seit Kitamura nicht“, sagte Schuldig widerstrebend. „Seit ich in diesem Job bin“, sagte er und lachte freudlos auf, sah Ran mit einem Blick an, der diesem sagen sollte, dass er hier mit einem Teufel saß, doch der Mund war zynisch verzogen.

„Es war das Einzige, was ich konnte, worin ich gut war und bin. Alles andere war sinnlos für einen ohne Ausbildung, ohne Erziehung, ohne Schuldbildung. Ich bin gut darin.“
 

„Du sagst das, als wäre das die einzige Lösung, Schuldig. Doch dir steht die ganze Welt offen. Gerade dir. Du kannst alles nachholen, was du willst. Schulbildung, Ausbildung, Studium, was auch immer. Und die Erziehung übernehme ich, wenn es da überhaupt noch etwas zu erziehen gibt. Du bist gut so, wie du bist. Ich habe dich so kennen gelernt und bin immer noch bei dir. Ich würde doch mal sagen, dass das nicht von ungefähr kommt, oder?“ Aya hob abwartend seine Augenbraue und suchte ein weiteres Mal Kontakt zu Schuldig, ungeachtet dessen Gesichtsausdrucks.
 

„Du meinst ich ficke gut? Dumm fickt gut“, lachte Schuldig triefend vor Zynismus, ließ sich frustriert nach hinten gleiten, entspannte seinen Körper wieder etwas. „Das hört sich alles leicht an, aber es bringt nicht diese Erlösung, diese Spannung, diesen Thrill mit sich“, wurde er wieder ernster. Er wusste wirklich nicht, was er machen sollte ohne dieses Spiel des Tötens.
 

Manchmal…genau jetzt in diesem Moment, konnte Aya durchaus verstehen, warum Crawford Schuldig eine reingehauen hatte. Er verspürte ähnliche Gelüste, eben weil der Telepath sich selbst so abwertete.

„Brauchst du diesen Thrill denn so dringend?“, fragte er, nachdem er sich innerlich wieder beruhigt hatte, nachdem er Schuldig in die Augen sehen konnte ohne ihn würgen zu wollen.
 

Schuldigs Blick flackerte für Wimpernschläge, bevor ein trauriges Lächeln auf dem Gesicht erschien. „Hör auf mich das zu fragen, sonst erzähle ich dir wieder Dinge, damit du mich hasst. Dinge, damit ich den Hass in deinen Augen sehen kann, damit ich ein Anrecht darauf habe, mich gut zu fühlen wenn ich sie töte.“

Er schwieg und fuhr dann tonlos fort, seine Augen jedoch blitzten interessiert. „Es ist der Moment, in dem sie still werden. Keine Gedanken mehr. Nichts mehr. Stille. Stille, die ich nur in diesem Moment höre. Nur dann, wenn ich noch in ihrem Kopf bin und sie verstummen.“
 

Aya schwieg.

Er wusste ehrlich gesagt nicht, was er darauf antworten sollte. Ihm war schon immer bewusst gewesen, dass Schuldig es liebte zu töten. Doch wie tief diese Sucht ging, wurde ihm erst jetzt wirklich richtig bewusst. Wie körperlich das Verlangen nach dieser Stille war, die Schuldig doch sonst nicht vergönnt war…

Er grübelte über die Worte nach, während sein Verstand versuchte, die Ausmaße dessen zu erfassen und daran scheiterte. Er fand einfach keine Lösung, keinen Weg, wie er sie beide da auf einen Pfad bringen konnte, der über das simple Verstehen hinausging.

Auch wenn er es Schuldig nachempfinden konnte, natürlich, dafür war er zu lange Zeit ebenso Killer gewesen, so konnte er damit nicht konform gehen. Er musste diese Seite des anderen Mannes ausblenden. Eben weil ihm die andere Seite, der unschuldige Junge, sehr viel bedeutete.
 

Schuldig lächelte bitter und stand dann auf, das Schweigen sagte in diesem Moment viel mehr als Worte es hier je vermocht hätten. Ran hatte es geradezu herausgefordert, dass dies geschehen war.

Sich abtrocknend, warf er noch einen stillen Blick zu Ran bevor er nackt wie er war das Bad verließ um sich bequeme Kleidung anzuziehen.

Er fühlte sich leer und taub nach diesem Gespräch und so zog es ihn zunächst in die Küche um sich einen Kaffee zu holen. Der Duft nach frisch gemahlenen Bohnen durchzog noch die Wohnung, als er sich in die Kissenecke zurückzog und in den Himmel hinausblickte.
 

Aya ließ sich noch mehr Zeit als nötig um wieder aus dem Bad zu treten. Er war noch lange Zeit im Wasser geblieben und hatte über einige Dinge nachgedacht, bis er sich auch erhoben hatte und nach der üblichen Prozedur des Abtrocknens so wie Gott ihn geschaffen hatte, das Bad verließ. Schweigend ging er zum Kleiderschrank, wo er sich einige, warme Sachen herausnahm und sich schließlich Schuhe überstreifte.

Er warf einen schweigenden Blick zu Schuldig, der sich auf den Kissenberg zurückgezogen hatte und seufzte leise. Banshee war bei ihm, da konnte ja nichts passieren.

„Ich bin draußen…fahre ein wenig durch die Gegend“, sagte er ins stille Apartment und verließ Schuldigs Wohnung.
 

Er hatte die Worte gehört und genickt. Vielleicht sollte auch er etwas entspannen, etwas gegen dieses dumpfe Gefühl in sich tun, es mundtot machen.

Den Kaffee ließ er auf den Boden stehen und er grübelte, während er bereits zielstrebig in die Küche ging um sich ein Beruhigungsmittel zu holen. Es würde ihn etwas müde machen, aber nicht länger als zwei, drei Stunden. Er wollte nicht, dass Ran ihn schlafend vorfand.

Nur ein wenig Stille brauchte er jetzt. Banshee folgte ihm neugierig, als er den ‚stillen Raum’ anstrebte. Doch er verscheuchte sie sanft bevor er den Raum betrat, das Licht löschte und sich eine der Tabletten aus dem Döschen nahm und sich in eine der Ecken verzog. Wie lange war er nicht mehr hier drin gewesen?

Seine Gedanken kreisten um diesen Aspekt, bis er in einen Halbdämmer gefallen war und ihm das Döschen aus der Hand glitt. Es tat ihm gut, obwohl er erst aufgestanden war, hatte er das Gefühl gehabt, dass dieses Gespräch ihn sehr viel seiner Kräfte gekostet hatte.
 

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Es hatte gut getan, wirklich sehr gut, aus freien Stücken die Wohnung zu verlassen. Ohne auf Schuldig angewiesen sein zu müssen, ohne immer mit der Angst im Nacken, dass Kritiker ihn an der nächsten Ecke abfingen.

Natürlich, er war noch immer vorsichtig. Er rechnete immer noch halb damit, dass sie ihm auflauerten. Doch es war nicht mehr dieses bedrückende Gefühl des gefangen Seins, das ihn in den letzten Wochen so fertig gemacht hatte.

So war er auch um einiges ruhiger, als er die Wohnung betrat und ihm Stille antwortete. dämmrige Stille, die nur durch ein leises, im nahes Mauzen unterbrochen wurde.

Er sah hinunter und bemerkte Banshee, die aufmerksamkeitsheischend um seine Beine strich. Leise lachend nahm er sie auf und ging mit ihr in die Küche, Ausschau nach ihrem zweiten Herrchen haltend, doch anscheinend hatte auch Schuldig die Wohnung verlassen, wenngleich sein Wagen noch unten stand.

Aya grübelte ein paar Momente über diese Tatsache und nahm sich eine der angebrochenen Saftflaschen aus dem Kühlschrank.
 

Eine derjenigen, die er in mühevoller Kleinstarbeit in der Wohnung zusammensuchte, nachdem sie Schuldig angebrochen und in Hamsterverstecke gebracht hatte. Aber er fand sie alle! Wirklich alle! Was man von der Schokolade nicht behaupten konnte. Leider. Die fand er nur, wenn er sich auf sie setzte.

Ein sanftes Lächeln umspielte Ayas Lippen. Anscheinend musste er sich erst diese kleinen, alltäglichen Dinge vor Augen halten, damit er das bittere Gefühl in seinen Gedanken loswurde.
 

Er setzte Banshee auf das Fensterbrett, von der sie zwei Sekunden später wieder heruntersprang und ihn vom Boden her anmaunzte. Aya runzelte die Stirn. „Was ist, was willst du mir sagen, Kleine?“, lockte er sanft und sie rannte auf ihren kleinen, noch etwas ungelenken Tapsen in den offenen Wohnraum hinein. Aya lachte leise. Banshee wollte also spielen. Seufzend stellte er die Flasche ab und folgte ihr, sah, dass sie vor dem stillen Raum wartete und ihn rief.

Aya folgte ihr und öffnete noch im Dunkeln die Tür. „Na, magst du auch etwas Stille schnuppern?“, fragte er leise und betätigte den Lichtschalter, warf lächelnd einen Blick in den Raum hinein.
 

Das Lächeln erstarrte. Aya auch.
 

Das Erste, was er sah, war das Pillendöschen, das verwaist auf dem gepolsterten Boden lag. Das Zweite, was er wahrnahm, war Schuldig. Schuldig, wie er in einer Ecke kauerte, völlig leblos, den Kopf wie tot auf der Schulter ruhend.

„Nein…“
 

Das Nächste, was er wahrnahm, war er selbst, wie er neben Schuldig auf dem Boden kniete und den anderen Mann rüttelte. Wie er mit zitternden Fingern nach dem Puls des anderen Mannes haschte.

„Schuldig…Schuldig verdammt!“, zischte er, ängstlich und wütend. „Verdammt, mach keinen Scheiß, tu mir das nicht an! Schuldig.“ Verdammt, wieso hatte er bloß die Wohnung verlassen? Wieso war er nicht hier geblieben? Bei Schuldig…um zu verhindern, dass…dass es noch einmal geschah, wie bei Aya…wie bei allem…

Völlig neben sich stehend griff er zu dem Döschen und starrte darauf. Beruhigungsmittel. Nein…
 


 

Sanfter Schlaf hatte ihn in seine Arme gezogen, als die Ruhe ihn überwältigt hatte. Doch jetzt riss etwas an ihm und erschrocken öffnete er die Augen, er war noch müde, noch immer zog der Schlaf an ihm wie Blei, welches ihn in tiefes Wasser zerren wollte. „…Ran…?“ Er kniff die Lider zusammen, da es viel zu hell war.

„Bist du schon wieder hier? So …früh?“, fragte Schuldig verwirrt nach und wischte sich übers Gesicht um wach zu werden. „Ich dachte du würdest erst später zurückkommen?“

„Was ist los?“ Erst jetzt, da er Ran genauer in Augenschein nahm erkannte er dessen besorgte …fast schon verzerrte Miene.
 

Aya starrte, erstarrte, als sich Schuldig regte. Als er aufwachte und sich NICHT mit einer Überdosis an Beruhigungsmitteln…

Der rothaarige Mann atmete tief,zittrig ein. Schock durchwusch ihn in großen, verschwenderischen Wellen und ließ ihn beben. Ließ ihn außer sich vor Angst, kurz aufgeflammter Verzweiflung und Wut nach dem Kragen des Pullovers greifen, den Schuldig am Leibe trug. Er riss den anderen Mann daran hoch, halb zu sich, Feuchtigkeit in den Augen, die er da überhaupt nicht haben wollte.

„Warum tust du das?“, schrie er ohne Halt und ruckte an dem gefangenen Shirt. „Warum tust du mir das an?“
 

„Was…“, brachte Schuldig erschrocken über die Intensität des Gefühlsausbruches lediglich hervor. Was meinte Ran? Seine Hände hatten schnell nach oben zu Rans Unterarmen gegriffen, hielten ihn fest. Tränen schwammen in dem vor Verzweiflung angefüllten Blick, der Schuldig entsetzte. Dieses Gefühl setzte sich in ihm fest und wurde auf seinem Gesicht sichtbar.

„Was ist denn?“, wusste er noch immer nicht den Grund für diese Situation. Er wollte Ruhe haben…er hatte Tabletten genom….

„Ran!“, schrie er in plötzlicher Erkenntnis. „Alles ist gut, Ran. Es tut mir leid…bitte, verzeih mir…“, schüttelte er den Kopf, als wollte er mit dieser Geste den Verdacht des Suizides aus Rans Kopf verdrängen. „So war das nicht, ich wollte nur abschalten…Ran…“

Sein Atem ging schneller und er blickte eindringlich ins Gesicht des anderen Mannes, der ihm so aufgelöst schien.
 

Ayas Lippen zitterten, er selbst tat es, seine Finger immer noch rettungssuchend um den Anker des Stoffes geschlungen. Als die verräterischen Tränen zu fallen begannen, senkte er den Kopf, ließ dichte Haarsträhnen sein Gesicht verbergen. Er saß hier und weinte lautlos. Er hatte gedacht…er hatte für einen Moment gedacht, dass Schuldig versucht hatte sich umzubringen…wegen IHM. Aya presste seine Lider eisern aufeinander. Nein. Er hätte das nicht durchgestanden.
 

„Nein“, flüsterte Schuldig heiser. „Nein, Ran…nicht wegen mir…nicht“, wischte er hilflos und mit zitternden Händen Rans Tränen weg, die diesem über die Wangen liefen.

„Ich würde so etwas nicht machen, hörst du? Dafür bin ich zu sehr in dich vernarrt, dafür will ich dich nicht aufgeben, dafür…nein, Ran…hör auf…wie könnte ich dich alleine lassen?“ Er wiederholte sich und seine Stimme wankte etwas, brach vor lauter Hast.
 

Leise, schluchzende Geräusche entrangen sich Aya. Er wagte es nicht hochzusehen, wagte nicht, Schuldig anzusehen.

„Ich habe gedacht, du hättest dich…nur weil ich gegangen wäre…ich habe gedacht, dass ich dich verloren hätte…ich habe die Pillen gesehen…wie du dort lagst…ich…“ Seine Stimme versagte ihm, war zum Ende hin immer gepresster geworden. „Es tut mir leid…es tut mir leid…ich wollte nicht gehen. Nicht schon wieder…“
 

Das was er mit seiner unüberlegten Tat angerichtet hatte schmerzte ihn ebenso, wie Ran es schmerzte. „Dir muss nichts leid tun, gar nichts“, sagte Schuldig, die Stimme schwer vor Sorge. „Ich bin derjenige, der Mist gebaut hat, ja? Ich habe nicht nachgedacht, ich hätte es nicht tun sollen, ich habe nicht an dich gedacht! Siehst du? Ich bin egoistisch und unüberlegt.“

Er hielt Ran fest, blickte ihn voller Angst, dass dieser von ihm gehen könnte, an, versuchte herauszufinden wie er ihn beruhigen konnte. „Ich mach es nie wieder, hörst du? Nie wieder. Wenn du gehst…ich würde überall hinkommen und dich versuchen zurückzuholen…weißt du noch? Ich bin wie eine Klette…und du bist mein Krake? Ran…“, sagte er leise, schluckte den Kloß im Hals hinunter.
 

Aya musste lächeln…trotz allem. Musste an der Brust des anderen Mannes gelehnt über diese so naiven, jedoch seltsam beruhigenden Worte lächeln. Dennoch brauchte er lange Zeit um sich zu beruhigen. Lange Zeit konnte er nichts anderes tun, als an Schuldig zu lehnen, den Schock durch seinen Körper waschen zu lassen und sich zu beruhigen, sich zu versichern, dass es gut war, dass es nicht so war, wie er gedacht hatte und dass er nicht wieder vor der kompletten Leere stehen würde, nur weil er gegangen war und eine falsche Entscheidung getroffen hatte…oder machtlos gegen das Schicksal gewesen war, für das er gekämpft hatte.
 

Leises Maunzen löste ihn schließlich aus seiner Starre und einen Augenblick später schlugen sich scharfe, kleine Krallen in seinen Oberschenkel. Aya schniefte, sah langsam hoch und in die Augen des anderen Mannes.

„Nein…es war nicht deine Schuld. Ich hätte…nicht überreagieren sollen“, erwiderte er. „Ich habe nicht überlegt. Ich hätte nicht…“ Er schüttelte den Kopf, zog Banshee zu sich, die sich schnurrend an ihn schmiegte und sich zwischen sie drängte. Zwischen sie beide, als würde sie sie trösten oder mit ihnen eins sein wollen.
 

Schuldig spürte, wie die Müdigkeit durch die Tabletten gewirkt wieder mit voller Wucht zuschlug als diese Anspannung, diese Angst wieder etwas von ihm fiel. Er war noch immer aufgewühlt von der Verzweiflung und den Tränen wegen dieser Tat, die er begangen hatte. Rans Stimme hörte sich verletzt an, rau.

Aus einem Impuls heraus umarmte er Ran fester, verkroch sein Gesicht in dessen Halsbeuge. „Verzeih mir…ich wollte nicht…ich will nicht, dass es dir schlecht geht…“, wisperte er.
 

Erst jetzt brachte Aya auch wirklich die Kraft zusammen, Schuldig zu umarmen und den anderen Mann ebenso an sich zu ziehen. Banshee hangelte sich zwischen ihnen empor, bohrte ihre scharfen Krallen nun auch in Schuldigs Oberteil.

„Es ist okay…es ist in Ordnung“, murmelte Aya und strich sanft über den Rücken des Telepathen. „Mach dir keine Vorwürfe, nicht wegen mir. Lass es uns vergessen.“
 

„Ja…vergessen“, murmelte Schuldig und seufzte. Sein heißer Atem strich über Rans Halsbeuge. Er durfte nicht so sorglos sein, er musste endlich begreifen, dass sein Handeln nicht nur Auswirkung auf ihn hatte, sondern auch Ran belasten konnte.

„War’s denn schön draußen?“, spielte auf Rans neu gewonnene Freiheit an.
 

Aya nickte nach einiger Zeit. „Es war…befreiend“, erwiderte er, dankbar über die Ablenkung, dankbar über den Themenwechsel. Dafür war das Wiederkommen umso schrecklicher gewesen…das Erkennen.

Er verstummte, schwieg beschämt über sein Verhalten. Warum hatte er nicht nachgedacht? Nur, weil Schuldig den Eindruck gemacht hatte, dass er...sich davon gestohlen hatte?
 

„Ran… was denkst du?“

Schuldigs Stimme war leise. „Sag es mir…bitte.“

Er wollte nicht, dass dieser Augenblick für Ran zu stark im Gedächtnis blieb. Denn er hatte gezeigt, wie sehr Ran unter der Tatsache litt, niemanden zu haben, alleine zurück zu bleiben. Nicht zu wissen, wie er ihm helfen konnte, lastete plötzlich schwer auf Schuldig.
 

Aya erwiderte nichts, konnte es auch gar nicht. Stattdessen schwieg er solange, bis er die Gedanken, die in seinem Kopf schwirrten, in Worte fassen konnte, ohne dass sie missverständlich und falsch waren.

Nachdenklich rieb er seine Stirn an dem Pullover des anderen Mannes, genoss dessen Wärme und Nähe. Dessen Leben.
 

Und Schuldig begriff warum Ran dies tat, warum er nicht sprechen wollte. Er sagte nichts, ließ lediglich Banshee um sie herum rumoren, fühlte Rans angenehme Schwere auf sich, liebte dieses Gefühl des Körpers auf seinem.

„Ich hau nicht einfach ab, hörst du? So einfach kriegt man mich nicht aus dieser beschissenen Welt.“
 

„Ich hoffe es“, kamen geisterhaft auch Ayas Worte, genauso leise geflüstert wie Schuldigs es gewesen waren, als er sich mit seiner körperlichen Präsenz an der des anderen Mannes festklammerte, sie umhüllte. Vielleicht war es auch nur ein Gefühl, vielleicht Wunschdenken, das ihn derart fühlen ließ, verbildlichen ließ, was in ihm schwebte. Es war, als würden sie in Gedanken verbunden sein und deswegen leise sprechen…damit es die Außenwelt nicht mitbekam.
 

„Denk daran, Ran…ich verspreche es dir…leicht mach ich es keinem, der mich von dir trennen will.“

Er konnte nicht in die Zukunft blicken, deshalb wusste er nicht, wann er das Zeitliche segnen musste, aber er würde es nicht freiwillig tun.

„Denk daran…“
 

o~
 

„Omi ist verschossen…Omi ist verschossen…“, summte Youji leise, als er sich überschwänglich den Morgenkaffee einschüttete und das Gegrummel vom Tisch daraufhin geflissentlich überhörte.

„Na etwa nicht? Du und dein Dauergrinsen…ich weiß genau, was das zu bedeuten hat“, lachte er und Omi vergrub sich hinter der Morgenzeitung. „Lass mich raten, es ist derjenige, für den du den ‚Kuchen’ gebacken hast?“, lästerte Youji weiter und ließ sich das Wort Kuchen nur so auf der Zunge zergehen.

Siehe da, die gerade noch hoch erhobene Zeitung senkte sich empört. „Woher weißt du DAS denn bitteschön schon wieder?“

„Es hat mir ein Singvögelchen gezwitschert…“ Youji grinste dreist.

„Ich werd dem Singvögelchen den Hals umdrehen“, knurrte Omi.

„Uh…da wird die auf das Singvögelchen aufpassende Katze aber gar nicht erfreut von sein…“

„Die ist mir scheißegal…“

Youji winkte ab und lachte. „Soso…der Kleine von Schwarz also. Was findest du an dem? Stehst du auf Gerippe?“

Omi knurrte. „Ich wüsste nicht, was dich das anginge…“

„So Aya-like…du hast dir schon viel zu viel von unserem Vögelchen angenommen.“

„Hey, soll dir der Frauen- und Männerkenner numero uno ein paar Tipps geben, wie du an dein Herzblatt herankommst?“, schnurrte Youji und lehnte sich zu Omi, erhielt einen freundschaftlich-feindlichen Stoß mit dem Ellbogen in die Rippen.

„Weißt du was…wenn du absolut nicht weißt, wie du sein Herz erweichen kannst, stell dich hochoffiziell dem Vater vor. Nimm dir ein paar Blümchen mit, ein Strauß Rosen, eine Flasche Wein und ein paar gute Zigaretten für den Großen und spreche bei ihm vor. Halte ganz offiziell um seine Hand an…“

Omi sah auf, sah Youji direkt in die Augen und lächelte. „Hör auf zu trinken, Youji, du redest Müll. Als wenn ich bei Crawford um Nagis Hand anhalten würde…“

„Also doch der Junge…“

Der blonde Weiß rollte mit den Augen. „Er ist eben interessant. Außerdem hast du schon Aya gepoppt…skurriler kann’s auch nicht mehr werden.“

„Wer nicht frech, junger Mann, oder…“

„Jaja…nein, ich werde nicht zu Crawford gehen. Das ist eine beschissene Idee. Willst du, dass er mich fein säuberlich in Einzelteilen zurückschickt?“

„Feigling…“, schnurrte Youji und strubbelte Omi durch die Haare. „Ich sag’s dir…ich hab es ein paar Mal ausprobiert. Es wirkt Wunder.“ Er löste sich von dem Jüngeren und verschwand leise summend aus der Küche. Omi seufzte tief. Oh nein. Soweit war er noch nicht gesunken. Nur weil er den jungen Schwarz kennen lernen und ja, vielleicht auch mit ihm schlafen wollte, gleich bei Crawford vorzusprechen…nie!
 

o~
 

Das Rennen lief gut und Schuldig schaltete in der Werbepause auf einen anderen Kanal, als es an der Tür läutete. Überrascht blickte er auf und tastete den Besucher geistig ab. „Was…?“, entfuhr es ihm, als er zur Tür ging und öffnete.
 

Omi lächelte sein charmantestes Lächeln und sah zu Schuldig hoch. „Kann ich reinkommen? Ich habe da mal eine Frage…“
 

Mit den Augen rollend öffnete Schuldig die Tür vollends und trat übertrieben galant beiseite. „Was willst du?“, fragte er wenig gnädig und blickte sich Hilfe suchend nach Ran um. „Ran müsste gleich wieder hier sein, er ist unterwegs.“

Es war zum Haare raufen, jetzt lief die Bande hier schon ein und aus, wie es ihr beliebte. Mürrisch kehrte er zurück zu seiner Couch, nachdem er die Tür lautstark und voller Unmut geschlossen hatte und schaltete auf das Rennen um.
 

„Ran…kann mir dabei glaube ich nicht viel helfen“, erwiderte Omi entgegen der offensichtlich schlechten Laune des Telepathen – seiner ersten Hürde - und stromerte durch die Wohnung zur Sitzecke. Dort fielen seine Augen auf ein kleines, rotes Fellbüschel, das ihn von Schuldigs Couch aus neugierig maß, aber ansonsten bei dem Telepathen blieb. Gott…wie niedlich. Omi grinste bis über beide Ohren. Wie gebannt kam er näher und streckte der Kleinen seine Hand entgegen, an die sie sich verspielt schmiegte und leise maunzte. Omi hatte das Gefühl, vor lauter Zucker zu zerfließen.

„Öhm…ja“, nahm er reichlich verspätet seinen eigentlichen Faden noch einmal auf. „Eigentlich wollte ich nur fragen, wo ich Nagi…und Crawford finden kann“, rückte er mit der Wahrheit heraus. Mit einem noch charmanteren Lächeln.
 

Zunächst wollte Schuldig lauthals lachen und den Kleinen sofort wieder vor die Tür setzen, als er in dessen Gedanken den Grund dafür las.

„Das klappt nie, Kleiner!“, setzte er an und seine Mundwinkel zuckten verdächtig. „Um ihn flach zu legen gehst du einen sehr steinigen Weg, da laufen sicher draußen genügend andere herum, die du leichter haben kannst…“, gab er zu bedenken. Denn er hatte einen Gedanken des Jungen aufgeschnappt, der genau in diese Richtung ging, weshalb dieser nun jedoch vor ihm stand, mit dem Plan Nagi Zuhause zu besuchen, war ihm noch schleierhaft. Ein verdächtig amüsiertes Lächeln spielte aber bereits um seine Lippen.
 

Omi schob schon fast trotzig sein Kinn vor. „Mich interessieren die, die ich leicht haben kann, nicht. Er ist interessant und ich möchte ihn kennen lernen“, grummelte er über Schuldigs Amüsement. „Mir ist das durchaus ernst…ansonsten würde ich wohl kaum deinen Spott auf mich nehmen wollen, oder? Ganz zu schweigen von dem, was Crawford mit mir machen wird, wenn ich da aufkreuze.“
 

„Stimmt, das wäre den Ausflug wert…zu sehen, was er mit dir macht“, lächelte Schuldig hinterlistig und stand bereits auf, den Fernseher ausmachend. Das Rennen war plötzlich nicht mehr so wichtig. Er nahm Banshee auf und schmiegte sie an sein Gesicht, lächelte leise ob des weichen Gefühls.

„Das wird bestimmt sehr interessant“, unheilte er und maß den Kleineren mit abschätzigem Blick. „Willst du gleich los?“
 

„Zum Picknick bin ich ganz bestimmt nicht gekommen. Ja, möchte ich“, erwiderte Omi höflich und maß die kleine Rote mit liebevollem Blick. Das war also die ominöse Mieze, die Schuldig Aya geschenkt hatte. Süßes Tier.

„Ich wette, du wirst dir nicht ein Detail entgegen lassen, habe ich Recht?“, lächelte er und hob bedeutungsschwanger eine Augenbraue.

„Nicht das Kleinste“, antwortete Schuldig mit eben dem gleichen Lächeln. „Sag leb wohl zu unserem Helden hier, Banshee“, flüsterte Schuldig Banshee zu, sodass Omi es noch hören konnte. „Trotz allem ist die Idee nicht schlecht, für diese Rotznasigkeit hast du dir immerhin noch einen letzten Wunsch bei Crawford verdient. Dumm nur, dass er so etwas nicht gewährt.“

Schuldig ließ Banshee auf den Boden und schlüpfte in seine Schuhe. Doch bevor er die Tür öffnete, drehte er sich noch mal um. „Ruf Ran an, sag ihm, was wir hier tun, sonst tötet er mich, dass ich dich mitschleppe. Er wird mir nie glauben, dass ich nicht auf diese hirnrissige Idee gekommen bin.“
 

Omi tat nach einigen Momenten genau das. Nahm sein Handy und wählte Rans Nummer und lauschte der Stimme des anderen Mannes, die sich nach einigem Klingeln auch meldete. Der junge Weiß schilderte sein Vorhaben und ebenso, dass er nun mit Schuldig auf dem Weg dorthin wäre. Aya nannte ihn lebensmüde und wünschte ihm lachend viel Glück, trug Schuldig durch ihn noch auf, dass er auf seinen Jungen aufpassen sollte. Damit der große, böse Amerikaner auch nichts Großes, Böses mit Omi anstellte. Omi stieg zu Schuldig in den Wagen und richtete dem Telepathen genau das aus.
 

Der Motor schnurrte und Schuldig fuhr aus der Garage, als er dem Jungen neben sich einen skeptischen Blick zuwarf, der ihm sagen sollte, dass er nicht glaubte, dass Ran ihm einen solchen Auftrag gegeben hatte. Dass es so war, war sicher wie das Amen in der Kirche, das hieß aber nicht, dass er sich nicht einen Spaß erlauben und den Jungen verunsichern konnte. „Schließ die Augen, wenn ich es dir sage, finde ich nur ein einziges wichtiges Detail, das du dir gemerkt hast, in deinem Oberstübchen, lösche ich es, ist das klar?“

„Und eines kann ich dir sagen, das weiß sogar Ran, und deshalb hätte er sich seine Worte sparen können, Kleiner. Ich habe Crawford überhaupt nichts zu sagen, er wird dich auseinander nehmen wie es ihm gefällt, oder eben nicht. Darauf habe ich keinerlei Einfluss.“

Wieder zierte ein hintergründiges Lächeln mit der Spur von köstlichem Amüsement Schuldigs Mimik. „Siehst du das hier“, er deutete auf die dunkel schimmernde Seite seines Kiefers.

„Und dabei gehöre ich zu denjenigen, die er noch mag!“, nickte er bekräftigend. „Was er wohl mit jemandem macht, den er nicht mag?“, fragte er scheinheilig und seufzte schwer.

Er hätte Schauspieler werden sollen…, grinste er in sich hinein.
 

Omi betrachtete sich den anderen Mann schweigend, hatte sich ihm voll zugewandt und folgte nun gehorsam dem Fingerzeig zum Kinnveilchen. Übles Teil, da hatte Crawford aber ordentlich zugelangt.

Er runzelte die Stirn, legte eine ängstliche Miene auf. "Er wird mich auseinander nehmen?", fragte Omi mit mühsam unterdrücktem Zittern in der Unterlippe. "Mich in Einzelteilen zu Weiß zurückschicken?" Er schaute noch einen Augenblick wie das arme Lämmchen, das Schuldig von ihm erwartete, bis er zu einem Grinsen zurückkehrte.
 

"Und selbst wenn er das tun sollte, das war es wert. Ich gehe nicht blauäugig in die Sache und erwarte, dass Crawford dem mit einem Lächeln zustimmt. Was ich von eurem Amerikaner bisher gesehen habe, reicht mir. Er ist ein Arschloch, wird es auch immer sein, das wird mich aber nicht davon abhalten, ihn wie den besten Vorgesetzten zu behandeln, wenn ich dafür bekomme, was ich will. Weißt du, das liebe, alte Takatoriblut…einmal ein Arschkriecher, immer ein Arschkriecher."

Omi lachte, lehnte sich im Sitz zurück und schnallte sich an.

"Und zu deinem hübschen Veilchen…das hat er dir wohl kaum umsonst verpasst.

Lass mich raten, du konntest deinen Mund ihm gegenüber nicht halten? Er mag sowas nicht, ich weiß."
 

Nein! Dieses Gör hätte Schauspieler sein können!

Schuldig befand dies nach einem prüfenden Blick in diese wirklich armen Augen, in die vom Leben gezeichnete Mimik und die wirklich arg hängenden, mitleiderregenden Mundwinkel.

„Mach mal halblang, Kleiner. Du weißt? Das heißt, du hast seine Technik des Mundstopfens schon erprobt? Sag nur, dass war der Blowjob, von dem du damals die Erinnerungen hattest?“, feixte er doch im gleichen Moment, als er es aussprach, fuhr seine eigene Erinnerung an derartige Maßregelungen und er schnaubte abfällig über sein eigenes verfluchtes Mundwerk. „Vergiss es, Kleiner. Lassen wir das Geplänkel“, sagte er leise, und sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. „Ehrlich, warum machst du das? Und ich will es von dir hören, nicht lesen“, sagte er und fuhr auf die Schnellstraße.
 

Omi grübelte, nun wirklich ernst. Er hatte diesen Wechsel in Schuldig gesehen, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen. Er seufzte leise, nickte schließlich.

„Ich finde ihn anziehend, faszinierend. Ich finde es faszinierend, den Menschen hinter dem Telekineten zu sehen und zu erkennen, dass er so ungefestigt ist, dass er weit unsicherer ist als unsereiner. Natürlich könnte ich sagen, dass er genau in mein Beuteschema passt, was männliche Vertreter der Spezies Mensch angeht, doch das wäre zu platt gesagt. Ich möchte ihn kennen lernen. Ganz kennen lernen. So wie du Ran kennen lernen wolltest.“ Omis Worte klangen neutral und letzten Endes waren sie das auch, aber hinter ihnen steckte mehr.

Von dem, was Youji und Ran ihm erzählt hatten, konnte er sehr wohl eine gewisse Neugier von Schuldig an Ran erkennen - seit den frühen Anfängen…seit dem Zeitpunkt, an dem Ran nach ihrem kleinen Intermezzo im Keller verschwunden war.
 

Der Junge hielt wohl große Stück auf sein Faible für Ran, lächelte Schuldig breit. „So so…du hast mich also zum Vorbild genommen?“, lachte er warm auf und schüttelte den Kopf. Das war zu verrückt. „Dann sollte ich jetzt wohl Angst um Nagi haben, was?“

„Mach die Augen zu“, sagte er wie beiläufig, während er die kommende Ausfahrt nahm.

„Ich meine…“, kam er wieder zum Thema zurück… „wenn ich daran denke, dass ich in diesem verdammten Keller nur daran dachte, Ran gegen die Nächste Wand zu ficken…macht mir die Wahl deines Vorbildes schon etwas Sorgen.“
 

Omi hielt mit MÜHE seine Augen geschlossen. Alleine die Vorstellung…

„Manchmal frage ich mich, wer von euch beiden mehr kinky ist, Ran oder du. Nur um es nochmal zu rekapitulieren: Du denkst in diesem siffigen, ätzenden Loch nur daran, einen Mann zu vögeln, der dich in dem Moment nichts anderes als gehasst hat? Sicher, dass das nicht die Beruhigungsmittel waren?“, fragte er zweifelnd. „Aber ich bin froh, dass du’s nicht getan hast.“ Das war er wirklich…denn Ran hätte zu diesem Zeitpunkt keineswegs freiwillig zugestimmt, soviel war sicher. Und wie es dann gelaufen wäre…nein, er wollte es sich nicht ausmalen.

„Also ich finde, du bist ein gutes Vorbild“, grinste er blind. „Du lässt nicht locker, bleibst beharrlich am Ball und hast dazu noch unverschämtes Glück…was kann es Besseres geben?“
 

Dunkel amüsiertes Lachen vibrierte in Schuldigs Brustkorb heran und verließ seine Kehle. „Ich dachte zwar daran, hatte aber eher den Thrill im Blick als die wirkliche Absicht. Zwischendurch war ich sauer und … dann wollte ich ihn nicht mehr hergeben“, seufzend schloss er diese Episode seiner Erzählung und das Lachen verebbte langsam.

„Es liegt mir nicht anderen auf diese Art Schmerz zu bereiten“, sagte er nachdenklich und wechselte dann auch das Thema. „Unverschämtes Glück?“ Ja so konnte man es bezeichnen. So ein Glück, dass Rans Schwester das Zeitliche gesegnet hatte.

Leise lächelnd um seine Gedanken zu kaschieren zuckte er mit den Schultern. „Ran spielt da schon auch noch mit eine Rolle. Ebenso wie Nagi noch ein oder zwei Wörtchen mitzureden hat. Vor allem …ich gebe dir einen Tipp. Seine Zeichensprache hat es echt in sich!“, grinste er.
 

Omi erleichterte das Wissen. Er wusste nicht warum, doch nun schien es, als hätte er die verbindliche Bestätigung, dass Schuldig niemanden vergewaltigen würde. Es zerstörte den letzten leisen Zweifel, den Omi vielleicht noch gehabt haben mochte.

„So vernarrt und anhänglich habe ich Ran noch nie gesehen“, lächelte er. „Und vor allen Dingen nicht so sexgierig. Ich bin mir sicher, dass ihr es selbst da getrieben habt, als Nagi und ich in diesem…isolierten Raum waren. Ich hab es in Rans Augen gesehen! Und dass er dich so vehement unter seinen Fittichen hält…“ Das Lächeln wandelte sich in ein Grinsen, milderte sich dann jedoch wieder.

„Zeichensprache also…ist ja kein Wunder. Er redet ja nicht viel.“ Omi nickte. „Wie kommt das eigentlich? Ich meine…er ist doch mit dir aufgewachsen. Wird man da nicht zwangsläufig gesprächig?“
 

„Weshalb?“, fragte Schuldig interessiert nach und ließ den vorherigen Kommentar geflissentlich außen vor. Freches Rotzgör…

„Du meinst also wenn man mit einem Telepathen ‚aufwächst’, wird man gesprächiger? Oder meinst du nicht, dass man fauler, gleichgültiger wird, introvertierter?“
 

Omi grübelte nachdenklich. Natürlich hatte Schuldig Recht. Vor allen Dingen, wenn es um den naseweisen, sich nicht um Privatsphäre kümmernden Telepathen ging, den Omi von frühen Aufträgen her kannte. Schuldig war nicht zimperlich gewesen, was das Lesen ihrer Gedanken anging, ganz und gar nicht. Auch nicht, was das spottende Kommentieren anging, das sie alle erst nach einiger Zeit und psychologischer Unterstützung von Kritiker hatten ignorieren können...so gut es ging.

Doch hätte er als Telepath es anders gemacht? Omi wusste es nicht. Er vermutete, dass so eine Gabe einfach arrogant und überheblich machen musste.

Wie weit das alles aber eine Hülle, ein Selbstschutz war, vermochte Omi nicht zu sagen. Denn so wie sich Schuldig verhielt, seitdem er Ran um sich hatte, schien es komplett gegensätzlich zu dem Monster, das sie auf Aufträgen kennen und hassen gelernt hatten. Ein Mensch, mit Schwäche, Stärken, sanften Seiten…

"Ich denke, das ist wohl eher die wahrscheinlichere Variante", lächelte er schließlich. "Aber er sagt, was er sagen möchte, wenn man ihn ausreden lässt, das ist gut."
 

„Wenn man ihm Fragen stellt antwortet er meist, nur manchmal redet er derart kryptisch daher…“, überlegte Schuldig laut, jedoch mit einem liebevollen Unterton, denn er kannte Nagis Probleme, seine Abschottung und den Grund dafür. Selbst wenn er wütend oder ungehalten war erkannte man dies, denn dann übte er sich in einer gehobenen Sprache, die er mit vielen Fremdwörtern spickte. Ebenfalls um sich abzuheben, um für sich zu bleiben. Und seine geistige Reaktion auf andere Menschen und deren näheren physischen Kontakt war ebenfalls ein Problem, welches in die gleiche Kerbe schlug.
 

„Warum hast du keine Angst vor ihm?“, fragte Schuldig plötzlich aus einem Impuls heraus. Oder war es viel mehr so, dass der Junge keine Ahnung hatte, wie groß Nagis Kräfte tatsächlich waren?

Keiner von ihnen konnte das Ausmaß seiner Stärke wirklich begreifen. Versuchsreihen unter SZs Aufsicht hatten ein sehr hohes Potential an PSI ergeben, doch nur dadurch, dass sie sich von SZ distanziert hatten, konnten sie Nagi in etwas normalere Bahnen lenken. Er nahm sich nur als Werkzeug wahr und nicht als Individuum. Teils war es heute noch so, aber es war bei Weitem nicht mehr so ausgeprägt wie früher.
 

Ja…mit dieser Eigenschaft des jungen Japaners hatte er auch schon Bekanntschaft gemacht. Es war ein deutliches Zeichen, dass Nagi etwas auf die Nerven ging, ein sehr deutliches. Omi konnte sich noch gut an die Szene im Aufzug erinnern…oder beim Eislaufen…oder nachdem Nagi ihn nach dieser Mission aufgegriffen hatte...oder…

Mit einem Stirnrunzeln stellte der blonde junge Mann fest, dass er schon viel zu viel dieser Seite hatte zu spüren bekommen.

Doch dann brachte Schuldig ihn auf eine ganz andere Frage. Ja…warum hatte er keine Angst vor Nagi?

„Hm. Gute Frage. Warum habe ich keine Angst vor dir? Weil ich mich sicher fühle, da du…nun…mit Ran liiert bist. Sozusagen als Schwager in spe schon in den Weißschen Dunstkreis aufgenommen bist.

Er…ist ein ähnlicher Fall. Dadurch, dass er so schüchtern und so in sich zurückgezogen wirkt, fällt dieser ‚kalte Killer’-Aspekt weg. Denke ich. Außerdem sehe ich nach und nach mehr…Normales an ihm. Er mag Kuchen, er mag dich, er scheint sogar Ran nicht zu hassen. Er hat Schwächen, wie jeder andere Mensch auch. Außerdem…ist meine Angst nie wirklich groß gewesen. Ich wurde darauf trainiert, so etwas zu erwarten…mich nicht vor dem Tod zu fürchten. Das geht wohl nicht mehr raus.“ Er lächelte schräg.
 

Schuldigs schmales Lächeln entging Omi, der noch immer die Lider geschlossen hielt.

„Der Tod ist nicht das Schlimmste, was man zu fürchten hat“, sagte er fast schon philosophisch und gewährte somit einen kleinen Einblick in sein anderes Ich, welches bisher nur Ran vorbehalten war. Der Einblick in den Teil, der etwas …ja sehr viel aus den Begegnungen mit den Gedanken der Menschen gelernt hatte.
 

„Natürlich nicht. Aber auch das kennen wir, oder nicht?“, fragte Omi und zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben schon Dinge in unserem Leben erlebt, die uns beinahe haben verrückt werden lassen. Das erste Opfer zu töten, zum Beispiel.

Wann hast du angefangen?“, fragte er bitter nach. „Früh? Hast du es gemocht? Ich nicht, das kann ich dir sagen. Auch eines dieser Dinge, die man fürchtet.“
 

„Das war aber nicht deine größte Furcht…ebenso wie es jetzt nicht deine größte Furcht ist“, sagte Schuldig und blickte zu dem Jungen hinüber.

Er wusste, was der Junge verdrängte, was seine tiefsten Ängste waren, was ihn verrückt machen würde, welche Fäden er ziehen müsste um ihn in tiefste Verzweiflung zu treiben.

Schuldig wandte sich wieder dem aktuellen Straßenbild zu. Die Einfahrt tauchte in einigen Metern auf, als er dem Straßenverlauf folgte.

Er wunderte sich etwas, dass er keines der Gefühle in sich spürte, die ihn sonst bei der Feststellung Macht über andere zu haben, begleiteten.

Nichts war da. Nur das Wissen, dass er wusste, wie es in Omis Seelenleben aussah.

„Ich habe mit meiner Mutter begonnen“, sagte Schuldig lapidar und bog in die Einfahrt hinein. „Sehr früh könnte man somit sagen. Ich wurde geboren und ab da …war alles für die Katz“, lachte er leise.

„Du kannst die Augen öffnen“
 

Omi folgte diesem Satz und hatte keinen Moment später seine volle Aufmerksamkeit auf den Telepathen gerichtet. Zuerst…hatte er geglaubt, dass Schuldig seine eigene Mutter umgebracht hatte. Doch der darauf folgende Satz ließ ihn zweifeln.

„Wie ist sie gestorben?“, fragte er sanft, mit Vorsicht in der Stimme, so als würde er die Frage jeden Moment zurückziehen, wenn es das Armageddon bedeuten würde, dass er sie gestellt hatte. Vergessen waren seine eigenen Ängste. Nur zu gerne vergessen.
 

„Sicher kennst du meine Fähigkeit, andere in den Wahnsinn zu treiben. Nun das habe ich …sie in den Wahnsinn getrieben, an dem sie schlussendlich auch verstarb. Im Grunde genommen einer meiner leichtesten Übungen. Früh übt sich, wer ein Meister werden will“, lachte Schuldig und der Wagen stoppte vor dem großzügigen Eingang. Er lächelte ironisch und stieg aus.

Er sah schon, wie sich hinter dem Glas des Wohnraumes jemand rührte. Vermutlich Nagi, dem gerade das Herz stehen blieb.
 

Omi erwiderte nichts, musste immer noch die Worte des anderen Mannes verdauen. Zu hart schienen sie. Zu wahr. Was sie ja auch waren.

Es gibt immer einen Grund, hatte ihm Ran vor nicht allzu langer Zeit gesagt und genau das zeigte sich nun hier. Genau das war der Grund, warum Ran Schuldig verziehen hatte…alles verziehen hatte. Weil es einen Grund gab.

Seine Augen ruhten nachdenklich auf der Rückansicht des Telepathen, als er sich zu ihm begab und einen Blick auf das Haus wagte.
 

Groß.

Luxuriös.

Transparent.

Der Wahnsinn.
 

„Manchmal denke ich wirklich, die falsche Seite gewählt zu haben“, lachte er und steckte die Hände in die Hosentaschen.
 

Schuldig wartete bis Omi an seine Seite getreten war und blickte auf ihn hinab. Beide betrachteten sich so das Haus.

„Wenn du Crawford einlullst, kannst du dir ja ein kleines Lustschlösschen mit Nagi zusammen kaufen. Einen Fickpalast, der dem hier weit überlegen ist. Wenn du noch ficken kannst …dann…also ich meine …wenn du diese Mauern hier mit der holden Prinzessin verlassen kannst…zunächst musst du natürlich erst am Cerberus vorbei…“, sinnierte Schuldig und sein Blick schien in weite Ferne gerichtet. Er amüsierte sich wirklich prächtig.
 

Omi sah zu Schuldig hoch und hob zweifelnd eine Augenbraue. „Woran du immer denkst…Fickpalast. So nennt man das doch heutzutage nicht mehr. Liebeshöhle. Aber doch nicht Fickpalast. Was soll denn Crawford von mir denken, wenn ich ihn frage, ob ich Nagi in unseren Fickpalast entführen darf? Er hält mich doch gleich für einen Zuhälter, der Nagi in ein Bordell steckt!“ Omi grinste und schüttelte den Kopf. „Crawford wird mich also kastrieren…und das sagst du mir nicht vorher? Himmel…“
 

„Hab ich doch!“, meckerte Schuldig leicht verteidigend. „Jetzt ist vorher, wenn du wieder rauskommst…also falls … dann ist nachher“, klugscheißerte er und grinste wissend.

„Sprich…meine Warnung kommt auf alle Fälle rechtzeitig!“

Er setzte sich in Bewegung um den 18-jährigen Telekineten zu erlösen, der sicher fieberhaft nach einem Grund suchte weshalb Schuldig ausgerechnet Omi hier anschleppte.

Schuldig ließ sie ein und führte Omi an dem Wohnraum vorbei, um ihn gleich zu Brad zu bringen. Nagi stand mitten in dem freien Raum, schon wieder diesen hässlichen Pullover an und wirkte verwirrt.

„Was…macht er hier?“, richtete er leise an Schuldig, der stehen blieb.
 

„Ich bin hier, um bei Crawford um deine Hand anzuhalten und dich in aller Form auszuführen“, erwiderte Omi bierernst und mit nichts als der reinen Wahrheit in seinen Worten, auch wenn er sich genau ausmalen konnte, dass Nagi ihm kein einziges Wort glaubte. Er ließ seinen Blick über den Jungen gleiten und wollte ihn sofort…sofort mit sich nehmen und sich mit ihm in seinem heimischen Bett einkuscheln. Alleine dieser Pullover, so gänzlich unsteif und lässig.

‚Danke für deine ‚rechtzeitige Warnung’, zischelte er Schuldig in Gedanken zu. ‚Aber was beschwere ich mich, ich habe es mir so ausgesucht. Also auf in den Kampf. Wo ist der Höllenhund…Herr des Hauses?’
 

Nagi stand etwas verloren im Raum und hörte mit Unglauben was der andere ihm hier offenbarte. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, zog sich den Pullover versucht unauffällig wieder etwas gerader, weil er bereits wieder den leisen kühlen Zug an seiner Schulter fühlte.

„Bist du verrückt?“

Er blickte Schuldig an, schüttelte einmal den Kopf. Sein Mienenspiel wechselte von Unglauben zu Ausdruckslosigkeit. Er wollte dahinter sein schlechtes Gefühl verbergen, seine Angst und seine Sorge.

„Das ist absolut indiskutabel“, machte er erneut einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
 

„Natürlich ist es das“, bestätigte Omi aus seinem Standpunkt, aus seiner Sicht. Ja, er war verrückt, ja, er wusste, was er hier tat und nein, er konnte nicht sagen, wie Crawford darauf reagieren würde. Doch das würden sie gleich sehen.

‚Soll ich mir meinen Weg suchen, oder verrätst du mir, wo ich ihn finde?’, fragte er Schuldig und richtete seinen Blick für einen Moment auf ihn, bevor er einen Schritt näher an Nagi herantrat, diesen mit einem beruhigenden Lächeln maß.

„Du hast es selbst gesagt…du willst dich nicht entscheiden. Also…“
 

„Hier entlang“, sagte Schuldig und hob eine Braue in Richtung Nagi der dem Ganzen mit Chaos in seinen Gedanken antwortete.

„Aber…“, sagte er und die Maske der Ruhe fiel etwas von dem Telekineten ab.

Kurz huschte der Gedanke durch seinen Kopf, er könne den Blonden aufhalten…ihn nicht zu Brad gehen lassen. Mühelos wäre dies gegangen, und er hob bereits seine Rechte, als Schuldig ihn zurechtwies.

„Was bist du?“, zischte er abfällig und Nagi zuckte regelrecht zusammen.
 

Für einen Augenblick stand er nur da und starrte beide an. Omi wollte ihn kennen lernen …und dafür nahm er es in Kauf…

Er traute seinen Gedanken nicht, er schüttelte nur langsam den Kopf, zum Zeichen, dass es keine gute Idee des anderen war, ihn hier zu besuchen.
 

Omi sah das, ließ es jedoch unkommentiert. Er folgte Schuldigs Fingerzeig und ging nach oben. Auf der Treppe drehte er sich jedoch noch einmal um und lächelte Nagi beruhigend zu.

„Ich komme wieder, das verspreche ich dir“, unheilte er düster und fokussierte sich nun gänzlich auf das vor ihm liegende Ziel. Egal, was es ihn kosten würde, hier, in der Höhle des Löwen.
 


 


 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Omiai

~ Omiai ~
 


 

Besagter Löwe war eingehend mit der ersten Planung des nächsten Auftrages beschäftigt und verschaffte sich mittels Blaupausen und Karten einen ersten Eindruck des Gebäudes der Zielperson. Er hatte bereits eine Ahnung, wo sie den Mann eliminieren würden, doch es war trotzdem kein leichtes Unterfangen, ihn in seiner vertrauten Umgebung zu erreichen. Bodyguards, Sicherheitsanlagen auf dem neuesten Standard und ein enges Verhältnis zur Familie erschwerten es ihnen ein klein wenig.

Aufgrund ihrer Fähigkeiten war es keine wirklich ernstzunehmende Problematik, dennoch wollte er sich nach allen Seiten hin absichern. Nagi würde sie begleiten müssen, überlegte er und scrollte über den Bildschirm.
 

Der Auftraggeber hatte ihnen die Daten…

Noch während er sich diesen Gedanken durch den Kopf gehen ließ, schob sich ein Bild darüber, welches einen jungen Mann zeigte, der in den nächsten Augenblicken bei ihm erscheinen würde. Erstaunt richtete er seinen Blick auf die Tür zum Planungsraum und er fragte sich, ob er wirklich wissen wollte, warum der junge Takatori hier bei ihnen war.

Sein Blick wurde kühl, als er sich wieder seiner Arbeit zuwandte.
 

Von Schuldig zum Arbeitszimmer des Amerikaners geführt, atmete Omi vor dessen geschlossener Tür einmal tief ein und schloss die Augen. Er wird mir den Kopf abreißen, sprach er sich selbst Mut zu und nickte bestimmt. Seine Lider hoben sich und er starrte kampfesbereit die Tür an. Auf geht’s, Tsukiyono, du hast schon ganz andere Dinge gemeistert.

Er pflasterte ein freundliches, nicht zu breites Lächeln auf sein Gesicht und hielt es dort fest, klopfte nicht zu leise, nicht zu resolut an und trat dann ein.

Da saß er auch schon, sein Untergang, in oben aufgeknöpftem Hemd und ohne die sporadische Krawatte. Legerer als sonst, aber noch lange nicht locker.

„Guten Tag, Crawford-san“, grüßte Omi und verneigte sich leicht, perfektionierte, japanische Höflichkeit.
 

Brad blickte noch nicht von seiner Arbeit auf, tippte einige Zahlen in seinen Rechner und erst als dies getan war, als wenige Minuten des Schweigens zwischen ihnen lagen und vergangen waren, richtete er einen ebenso schweigenden Blick zu dem jungen Mann, der an der Tür stand. Er ließ sich Zeit mit der Betrachtung, maß ihn mit stoischem Blick bevor er sich erhob und um den Tisch herum ging.

„Takatori junior. Was verschafft mir diese außergewöhnliche Ehre?“, sagte Crawford ernst ohne die sonstige spöttische Note. Seine Augen sprachen jedoch eine andere Sprache.
 

„Ich habe eine Bitte, Crawford-san“, erwiderte der junge Weiß und beantwortete den ambivalenten Blick mit einer Ruhe, die er mittlerweile verinnerlicht hatte. Er ließ nichts des Spotts an sich heran, auch nicht die Nennung seines wahren Namens. Warum auch? Momentan WAR er Takatori Mamoru. Durch und durch.

„Darf ich sie vortragen?“
 

Ein wissendes Lächeln erschien auf Brads Gesichtszügen und er schüttelte den Kopf.

„Ganz der Vater, wie mir scheint“, lachte er nun kalt und löste sich von dem Tisch um näher an den Jungen heranzutreten.

„Scheinbar ist es wichtig, wenn du es wagst, hier aufzutauchen. Dir ist bewusst, dass du von hier nicht mehr wegkommen wirst?“ Mehr Feststellung als wirkliche Frage bot er Mamoru einen Platz auf einer der sich gegenüberstehenden, schwarzen Ledercouchen an.

Wut dominierte seine Gefühle, als er bereits eine Ahnung erfassen konnte, was den Weiß Agenten zu ihm führte. Wut, aber auch eine gewisse Portion Bewunderung.
 

„Das lassen wir noch dahingestellt, Crawford-san“, nickte Omi höflich und folgte der Einladung, ließ sich auf dem ihm gezeigten Sofa nieder. Das Leder knirschte unter seiner einfachen Jeans und fühlte sich kalt an. Noch…

Er schlug die Beine übereinander und legte seine Hände locker auf die überkreuzten Oberschenkel.

„Ich bin wegen Naoe Nagi hier“, begann er, nannte jedoch immer noch nicht den wahren Grund seines Hierseins. Er musste Crawford langsam an die Thematik heranführen und durfte ihm nicht gleich alles auf der Silberplatte servieren.
 

Brad ließ Mamoru nicht aus dem Blick, als er sich ihm gegenüber setzte und eine ähnliche Haltung einnahm, er überschlug die Beine und lehnte sich entspannt zurück.

„Weiter“, sagte Brad leise. Er hob eine Braue fragend und ironisch, war neugierig, was nun kommen mochte. Wobei er bereits ahnte um was es ging. Vor allem, wenn er an die Begegnung der Beiden vor einiger Zeit dachte. Und Nagis verbissenes Training Tag für Tag seither. Seine Zurückgezogenheit und Unsicherheit.
 

„Es hat sich mit der Zeit herauskristallisiert, dass er mir nicht ganz abgeneigt ist und das auf meiner Seite ebenso aussieht. Da jedoch ein ‚einfaches’ Kennen lernen nicht möglich ist, weil er Angst hat, seinen Status in dieser Gemeinschaft“, er deutete mit einer leichten Handbewegung auf Crawford selbst und lächelte, machte deutlich, was er meinte. Dass er keinesfalls die Arbeitsgemeinschaft von Schwarz meinte. „…verliert, denke ich, dass Sie der richtige Ansprechpartner sind, Crawford-san, da er auf Ihre Meinung sehr viel Wert legt.“
 

Und dies war aus bestimmten Gründen auch gut so, sinnierte Brad über Nagis Gründe, seine Loyalität gegenüber ihm über seine eigenen Wünsche zu stellen. Das war typisch für den Jungen. „Mit der Zeit? Von welchem Zeitraum sprechen wir hier?“, wollte er jedoch zunächst wissen. „Und ich möchte noch hinzufügen, dass ein ‚einfaches Kennen lernen’ unter den gegebenen Umständen ein Risiko beinhaltet“, schnitt seine ruhige, aber kühle Stimme durch den weitläufigen Raum.
 

„Natürlich tut es das, das sind wir uns völlig einig.“ Omi gewann mehr und mehr den Eindruck von einem strengen Vater, der über das Glück seines Kindes mit Argusaugen wachte. Mit tödlichen Argusaugen, wie er sich selbst verbesserte. Dieser Mann hier vor ihm hatte es in sich, aber er war doch zu lenken, wie jeder Mensch auf diesem Planeten. Omi lächelte innerlich und stellte sich vor, wie es gewesen wäre, wenn er hier hereingekommen wäre, dem Amerikaner lässig sein Vorhaben erklärt und dann mit Nagi durchgebrannt wäre. Gut, er hätte es nicht überlebt, doch nun…zumindest war er schon mal fünf Minuten hier ohne dass er wie Schuldig geschlagen worden war oder seinen Kopf dafür einbüßen musste. Ein viel versprechender Anfang also.

„Der von mir erwähnte Zeitraum beläuft sich auf vier Wochen, vielleicht auch länger, seit unserem ersten Kontakt.“
 

„Wie schön, dass wir uns ‚einig’ sind“, lächelte Brad arktisch. Er fragte sich, mit welcher Dreistigkeit der Junge sich hier derart präsentieren konnte? Vermutlich waren es die Gene. Das Takatori Erbe, welches sich noch immer in diesem Blut befand.

Brad durfte ihn nicht unterschätzen. Das Äußere des Jungen ließ darauf schließen, dass er sich wohl vorbereitet hatte und sein Verhalten, dass er es ernst meinte.

„Obwohl ihr von Kritiker beschattet werdet, hat er sich mit dir in der Öffentlichkeit getroffen?“, fragte Brad lauernd.
 

„Getroffen? Nein, das ist nicht der richtige Begriff. Wir sind uns begegnet, keiner von uns hatte Einfluss auf diese Begebenheiten.“ Omi begegnete dieser Fangfrage mit der gleichen, höflichen Freundlichkeit wie schon zuvor. „Zumal Sie mich nicht unterschätzen sollten. Ich weiß sehr wohl, wie ich die mir folgenden Agenten abhänge, dazu bin ich zulange selbst einer. Keiner von uns beiden ist je fahrlässig oder vorsätzlich ein Sicherheitsrisiko eingegangen.

Wie dem auch sei, ich denke, das ist kein Thema, das ich Ihnen weiter erläutern muss, Crawford-san. Sie sind selbst gut genug informiert, um über uns und Kritiker Bescheid zu wissen.

Sie wissen, ob Sie Naoe Nagi einer Gefahr aussetzen oder nicht. Ich werde es garantiert nicht bewusst tun.“
 

„Bewusst oder unbewusst spielt keine Rolle. Das Resultat ist entscheidend“, entgegnete Brad lapidar. „Und ja ich bin gut genug informiert um zu wissen, dass Kritiker im Augenblick ein Auge auf uns geworfen haben. Weshalb dein Auftauchen hier bei mir eine etwas ungünstige Wahl deinerseits war, fürchte ich.“

Crawford lächelte hintergründig. „Warum willst du Nagi kennen lernen?“, fragte er als Nächstes aus heiterem Himmel. Er wollte hören, was der Junge vorzubringen hatte.
 

„Ob ungünstig oder nicht, es war der richtige Zeitpunkt“, bekräftigte Omi noch einmal seinen Wunsch hier zu sein und seinen gut versteckten Starrsinn. Zudem er die wiederholte Drohung des anderen Mannes für momentan unwichtig abtat. Darum würde er sich dann kümmern, wenn es Zeit wurde.

„Weil er mich interessiert und mich fasziniert“, erwiderte er schließlich ehrlich, so wie er es Schuldig auch schon gesagt hatte. „Mir ist es egal, ob er zu Schwarz gehört, ich sehe nur die Person in ihm, nicht das, was er darstellt.“
 

Ah, jetzt wurde es interessant. Brad erhob sich langsam und ging zur Bar, die hinter dem Zweisitzer platziert war. Er befand es nicht für nötig, dem ‚Bittsteller’ ebenfalls etwas anzubieten. „Was stellt er dar? Interesse und Faszination… du könntest in den Zoo gehen“, sagte er verächtlich. Es war ihm nicht genug. Bei weitem nicht. Er wollte etwas anderes hören.
 

„Könnte ich. Aber ich bin nicht darauf aus, ein Tier zu beschauen“, kam von Omi die ruhige Antwort. Er hatte eine Augenbraue anhand dieses rüden Vergleiches erhoben. „Interesse und Faszination sind Grundlage einer jeden, menschlichen Beziehung, über die ich Sie garantiert nicht aufzuklären brauche, Crawford-san. Es ist eine hohe Art der Wertschätzung, nichts, was man leichtfertig mit einem Besuch im Zoo vergleichen kann.“

Er machte eine kunstvolle Pause, sah dem Amerikaner direkt in die Augen. Auch wenn der Amerikaner keine Höflichkeit kannte, er war dennoch in der Lage, sein Benehmen beizubehalten.

„Ja, was stellt er für mich da…einen Jungen, der trotz seiner Kräfte nicht das ist, was aus ihm hätte werden können. Ich sehe Sie, Crawford-san und ich sehe ihn, denjenigen, der ganze Hochhäuser ineinander fallen lassen kann. Seine Gabe ist um so vieles gefährlicher als die Ihre und er ist so unsicher. Er braucht jemanden, der ihm Stärke gibt. Halt vielleicht.“
 

Das brachte Brad nun wirklich dazu schallend zu lachen. Er schüttelte den Kopf leicht, als könne er nicht glauben, was der Junge da von sich gab. Einen Schluck von der goldenen Flüssigkeit nehmend kehrte er wieder zurück und machte es sich erneut bequem.

„Wer ist der gefährlichere? Der Hund oder sein Herr?“, fragte Brad zynisch. Nagi war sehr beeinflussbar und er dachte nicht daran, ihn jemandem zu überlassen, der wie damals Takatori diese Beeinflussung auf ihn ausübte. Sich seiner Fähigkeiten bediente, als wäre es lediglich ein verlängerter Arm. Diese Zeiten waren vorbei.

„Du denkst, du bist der Jenige, der ihm diese Stärke gibt? Der ihn lenkt?“ Brads Worte waren leise, doch die Schärfe dahinter war wie ein Raubtier, welches sich jeden Moment aus dem Dickicht stürzen und den Tod bringen konnte.
 

„Lenken? Nein“, lächelte Omi. Ich bin nicht wie du, Amerikaner, fügte er in Gedanken an, äußerte es aber nicht laut. „Wie ich gerade schon sagte: ich möchte ihm Halt geben. Halt ist etwas anderes als jemanden zu lenken, das liegt mir nicht. Ich möchte keine Macht auf eine andere Person ausüben. Auf ihn schon gar nicht. Macht…zerstört die Reaktionen eines Individuums auf bestimmte Situationen. Das ist bedauerlich. Es interessiert mich nicht.“ Er warf einen müßigen Blick nach draußen und kehrte dann wieder zu dem Kriegsherd zwischen ihnen zurück.

„Nur um eines klarzustellen, Crawford-san. Ich mag zwar Takatori Mamoru heißen und das Blut in mir tragen, doch ich bin nicht wie mein Vater oder Onkel. Nie gewesen und werde es auch nie sein.“
 

„Das bleibt abzuwarten“, ließ Brad sich nicht beirren und wiederholte Mamorus Worte eingangs.

„Menschen verändern sich. Wie willst du der Tatsache entgegen wirken, dass er sich dir unterordnen wird?“ Brads Augen fraßen sich in die Blauen seines Gegenübers. „Was ist wenn dies eintrifft? Wenn ich dir sage, dass eure Zukunft so aussieht, dass er alles tut, was du ihm sagst? Dass du ihn hasst dafür? Ihr nicht mehr von einander los kommt? Das ist eure Zukunft“, prophezeite er.

Nagi konnte in ihrer Gemeinschaft nur als Individuum bestehen, weil sie gleich waren, sie hatten alle ihre Probleme mit ihren Fähigkeiten und Brad hatte ihn auf Abstand gehalten, ihm jedoch trotzdem versucht, das Gefühl von Familie zu vermitteln. Nagi hatte eigene Interessen entwickelt, doch der Weg war noch weit, ihn dort hin zu bringen, wo Brad ihn sehen wollte. Er sollte sich nicht beeinflussen lassen, er sollte keine Angst mehr haben vor den Menschen die anders waren als sie.
 

„Das wird nicht unsere Zukunft sein. Es ist EINE Möglichkeit. Die Möglichkeit, wenn ich nicht aktiv etwas dagegen mache. Wenn er sich jedoch von Anfang an bewusst ist, dass er ein eigenständiger Mensch ist; wenn ich ihm das vermitteln kann, wird es nicht so weit kommen. Vielleicht bin auch gerade ich der Richtige, weil ich mit ihm auf einer Altersstufe stehe, ihm alleine schon deswegen nicht vorstehe, sondern gleichberechtigt bin.“ Wieder ließ Omi seine Augen nicht von denen des Amerikaners, erwiderte den Blick aufrecht und ohne Angst. Er hatte nichts zu verbergen, warum sollte er deshalb Angst haben?
 

Crawford nickte und lächelte hintergründig. Er hatte den Jungen auf die Probe gestellt. „Es ist eine Möglichkeit, ja.“

Falls diese mögliche Zukunft eintreffen würde, müsste einer von Beiden ausgeschaltet werden. Nagi würde sich nicht gegen den Jungen stellen, schon allein, weil sein Schutzinstinkt zu hoch ausgeprägt war. Er würde alles für ihn tun.

„Falls diese Möglichkeit eintritt, wird es Folgen haben“, mehr sagte er speziell dazu nicht.

„Ich möchte noch einmal wissen, warum du ihn kennen lernen willst. Und was dann? Wenn du ihn kennst? Willst du mit ihm befreundet sein? Oder willst du ihn eher ficken?“
 

Auch die zweite Augenbraue hob sich. Welch direkte Worte…

„Ficken…wie Sie so schön sagen, Crawford-san, ist nicht meine primäre Absicht. Natürlich zieht er mich auch auf sexueller Basis an. Das heißt aber nicht, dass ich nicht auch gleichzeitig mit ihm befreundet sein und ihn näher kennen lernen möchte. Einfach aus Neugier. Ich wüsste auch nicht, was ich anderes auf Ihre Frage antworten sollte, Crawford-san. Aus welchem Grund wollen Sie denn jemanden kennen lernen und mit ihm ein Verhältnis beginnen?“
 

Crawford ignorierte diese persönliche Frage.

Für Nagi wurde es langsam Zeit, sich in andere Gebiete vorzuwagen. Man sah ihm an, dass er seelischem und geistigem Druck ausgesetzt war, den er sich zum großen Teil selbst machte. Sein Körper litt unter seinen Fähigkeiten. Er hatte keinen Bezug zur eigenen Sexualität, zu seinem Körper. Crawford hätte Nagi nicht als attraktiv bezeichnet, da er ihn aus einem anderen Blickwinkel betrachtete. Er sah jedoch, dass er hübsch war, dass gerade diese Zerbrechlichkeit ihn fremdartig schön wirken ließ.

Ihm war wichtig, dass Mamoru diesen Aspekt bedacht hatte, dass er sich von dieser Fragilität angezogen fühlte, nicht nur den Telekineten, den Geist in dem Jungen sah.

„Löse dich von Kritiker und dir steht es frei, dich ihm zu nähern“, stellte er die letzte Bedingung.
 

„Das ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, aber ich werde zusehen, dass sich das bald bewerkstelligen lässt“, akzeptierte Omi diese Bedingung. Er lebte. UND hatte die Zustimmung des Amerikaners, die ihn zwar so nicht die Bohne kratzte, die aber Nagi für sehr wichtig hielt. Also war er diesen Weg gegangen, ohne dabei eine Faust ins Gesicht zu bekommen.

Manchmal musste man sich einfach benehmen, dachte er vergnügt für sich und nickte. „Sie erlauben, dass ich mich entferne?“, fragte er schließlich, immer noch der brave Junge.
 

„Ja, du kannst gehen. Allerdings wirst du das Gelände erst verlassen, wenn ich es sage“, sagte er und erhob sich, ging langsam vor zur Tür um sie zu öffnen und den jungen Mann hinaus zu lassen. Die Antwort gefiel Brad nicht wirklich, da dieser zu enthusiastisch schien, aber er wollte sich Nagis Wünsche vor Augen halten.
 

„Natürlich, wie Sie es wünschen“, erwiderte Omi und erhob sich, verbeugte sich mit japanisch höflicher Distanz. Er ließ seinen Blick nicht vom Amerikaner, als er die Tür anstrebte. So…erst, wenn er es ihm sagte.

Omi stand schon an der Tür, als er sich noch einmal umdrehte und sich entschloss, das auszusprechen, was ihm momentan durch den Kopf ging. „Ich akzeptiere Ihr Hausrecht hier, Crawford-san. Aber denken Sie nicht, dass Sie damit immer über mich verfügen können. Ich empfehle mich.“ Er legte die Hand auf die Klinke.
 

Brads Hand griff um den Jungen herum zu dessen Kehle und wirbelte ihn zu sich um ihn gegen das Holz der noch geschlossenen Tür zu drücken. „Hör mal gut zu, Kleiner. Dieses Spiel war ja ganz amüsant, aber jetzt werden wir beide Klartext reden. Du bleibst lediglich deshalb hier, damit ihr miteinander sprechen könnt. Du erhältst dir dein Leben nur deshalb, weil er sonst keine Chance auf ähnliche Gefühle bekommt wie er sie jetzt für dich empfindet. Nur deshalb bist du noch nicht bei den Ratten“, lächelte er bösartig.

„Falls ihm etwas zustößt und ich ‚sehe’, dass du involviert bist…wird dir keiner mehr helfen können“, sagte er und ließ ihn los, öffnete die Tür.

„In einer Stunde bist du weg.“
 

Omi rieb sich schweigend seinen Hals. Oh ja…das war die Seite des Amerikaners, die er kannte. Ein weiteres Lächeln zierte seine Lippen, doch es war keins von Höflichkeit.

„Damit wir uns richtig verstehen…Crawford. Ich scheiße auf deine Drohungen. Du bist nicht der Allgott und wirst es auch nie sein. Du musst erstmal an mich rankommen um mich zu töten. Und dann…darfst du dir um die Konsequenzen Gedanken machen. Hast du schon mal an das große Ganze gedacht? Nein? Wie leicht dieses Gefüge zusammenbrechen kann?

Ich bin nicht hier um bei dir Eindruck zu schinden, Orakel. Nichts könnte mich weniger interessieren. Er ist es, der mich interessiert und er braucht deine Zustimmung, weil er es so will. Er will weder das Eine noch das Andere verlieren und da will ich ihm nicht im Wege stehen, sondern es ihm so leicht wie möglich machen.

Respekt gegen Respekt. Etwas, das du nie gelernt hast.“

Er drehte sich um, eine Hand an die Hosentasche eingehakt.
 

„Respekt muss man sich erst verdienen“, sagte Crawford leise. „Löse dich von Kritiker und bring ihn dazu sich selbst zu respektieren, dann hast du meinen Respekt, falls du Wert darauf legen solltest.“ Sein spöttisches Lachen geleitete Omi zur Tür hinaus.
 

„Von dir?“, murmelte Omi leise. „Niemals.“

Trotzdem wanderte er breit grinsend nach unten, bevor es sich zu einem Lächeln abmilderte. Er hatte seinen Willen bekommen und nun würden die nächsten Schritte geplant werden müssen.

Ausgeglichen und ruhig kam er wieder in den Wohnzimmerbereich und sah zuerst nur Schuldig, grinste diesem nun doch leicht froh über seinen Sieg zu, bevor er sich nach Nagi umsah. Nagi, der ihm von Crawford in einer verschrobenen Art und Weise doch zugeschustert worden war, denn das hatten die Worte des Orakels ausgedrückt. Nagi hätte keine andere Chance, an die Gefühle zu kommen, die er jetzt für ihn hegte. Recht zweckmäßig und pragmatisch diese Denkweise, doch für ihn gut.
 

Um diese Jahreszeit war es noch kalt draußen, dennoch musste Nagi an die frische Luft. Er hatte gewartet, mit Schuldig zusammen, ohne dass sie ein Wort gesprochen hatten.

Oh, sie hatten zunächst einige Dinge geklärt, bevor sie zum Schweigen übergegangen waren.

Schuldig war wütend gewesen, weil er den Gedanken bei Nagi aufgeschnappt hatte, dass er Omi mit seiner Gabe zurückhalten wollte, bevor dieser zu Brad gehen konnte.

Er hatte gesagt, dass Omi eine Entscheidung gefällt hatte und er ihn nicht davon abbringen könne, schon gleich nicht mit Telekinese. Er müsste es akzeptieren.

Wenn er seine Probleme mit anderen Menschen in den Griff kriegen wollte, dann durfte er nicht in schwierigen Situationen gleich zum einfachsten Mittel greifen.
 

Nagi schmälerte den Mund unwillig und zog die Schultern leicht nach oben, da ihm in seinem viel zu großen Pullover kalt wurde.

Gerade Schuldig musste solche Ratschläge erteilen. War er es nicht, der sich seiner Gabe bediente, wenn er etwas wissen wollte, wenn er neugierig war?
 

Über diesen letzten Gedanken entschied er sich seine Kasteiung auf der Terrasse einzustellen, bevor ihm die Kälte gänzlich in die Knochen drang und hineinzugehen.
 

„Na, oh tapferer Held, aller Gerüchte zum Trotz doch überlebt? Wie war die Schlacht?“, grinste Schuldig gut gelaunt von einem Ohr zum anderen, als er Omi erspähte. Gemächlich stand er von seinem Platz auf und kam zu ihm.

„Dann werde ich mich mal dem Ungeheuer stellen, wenn du es kannst und überlebt hast, kann ich das schon lange!“
 

„Na da wäre ich mir nicht so sicher…ich habe immer noch Rückenschmerzen vom zu Kreuze kriechen“, lachte Omi und zuckte belustigt mit den Schultern. „Aber er ist glaube ich recht amüsiert von der Tatsache, soweit man das von ihm sagen kann.“

Aus den Augenwinkeln heraus hatte er auch jetzt seinen wohl gehüteten Prinzen gesehen, der sich anscheinend in eine Ecke des Raumes verkrochen hatte.
 

Schuldig bremste seinen enthusiastischen Schritt neben Omi und warf einen skeptischen Blick Richtung oberes Stockwerk. „Amüsiert?“, hob er irritiert eine Braue.

„Ich glaube, dann wage ich mich nicht nach oben“, verzog er das Gesicht leidend. „Amüsiert ist nicht gut.“

Brad war dann launisch und ihm fielen einige kleine Boshaftigkeiten ein, auf die Schuldig gut und gerne verzichten konnte.

Aber er musste nach oben um den nächsten Auftrag zu besprechen. Zumindest wollte er wissen um was es ging, denn heute sollten die Daten eingetroffen sein.

Wesentlich langsamer setzte er sich wieder in Bewegung und erklomm die Stufen…
 

Nagi hatte aufgesehen, als er Omi kommen gehörte, und richtete sich etwas auf seinem Platz auf. Er hatte sich auf den Boden seitlich des Kamins gesetzt und lehnte dort an der Couch, gönnte seinem Körper die Wärme des Feuers.

Omi schien sich Brads Zorn nicht zugezogen zu haben, dann hatte der junge Weiß Agent ihn nicht angegriffen und keine alten Geschichten aufgewärmt, wie Nagi anfangs befürchtet hatte.
 

Schuldig noch viel Glück wünschend kam Omi schließlich zu Nagi und setzte sich zu ihm auf den Boden. Ja. Hier war es kuschelig warm…sehr angenehm. Omi lächelte.

„Er hat mir…uns eine Stunde gegeben, bis ich von hier verschwinden soll“, merkte er an und sah dem Telekineten in die Augen.
 

Der diesem nur für einige Wimpernschläge standhalten konnte, bevor die grauen Augen sich in den Anblick des prasselnden Feuers flüchteten.

„Wie lautet das Ergebnis der Unterredung?“

Er war nervös, durch Omis Nähe und der Tatsache, dass er nicht wusste, was er sagen oder tun sollte.

Nagi kamen die Worte wieder in den Sinn, die Omi zu anfangs als Grund für sein Hiersein vorgebracht hatte.

‚…um deine Hand anhalten…dich ausführen…’

Diese Worte klangen seltsam für ihn, so förmlich und es warf ihn etwas aus der Bahn. Denn sie waren nicht spöttisch gemeint, das hatte Nagi erkannt. Zumindest war es das, was er erkennen sollte. Vielleicht konnte Omi sich einfach nur gut verstellen…
 

„Ich darf mich dir nähern, wenn ich mich von Kritiker löse“, erwiderte Omi und zog ein Bein an, winkelte es in bequemen Winkel schließlich ab. „Insofern du Interesse hast, heißt das. Das ist Voraussetzung von allem.“ Sein Blick ruhte ebenso im Feuer und er lauschte dem Knistern der Holzscheite. Er konnte sich noch daran erinnern, dass sie Zuhause auch einen Kamin gehabt hatten. Dass er öfter mit seiner Mutter davor gesessen, gelegen oder gespielt hatte. Später…als er fernab von seiner Mutter aufgewachsen war, ohne Erinnerung, hatte es das nicht gegeben. So etwas nicht.
 

Ein unsicherer Blick traf Omis Profil. Interesse?

Was sollte er sagen? Dass er Angst vor diesem Interesse hatte? Vor den Auswirkungen des Interesses? „Er hat zugestimmt? Nur diese Vorraussetzung?“, kamen ihm plötzlich die Bedeutung der Worte in den Sinn und leises Erstaunen schlich sich in ihn.

Die Angst in ihm nahm zu.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Er war sich sicher gewesen, dass Brad Omi hinauswerfen würde. Aber nun…

Jetzt war alles unsicher. Jetzt war es so, als wäre sein Schutzwall hinfort und er musste sich seinen Ängsten stellen. Brad hatte ihn von sich geschoben.
 

„Nein…natürlich nicht nur unter dieser Voraussetzung. Er wollte genau wissen, warum ich mich für dich interessiere und ob es auch wirklich ernst ist.“ Omi warf einen Blick zur Seite. „Er hütet dich wie seinen Augapfel und hat nun gesehen, dass es für dich etwas Neues gibt, was du entdecken kannst. Natürlich hat er das wortwörtlich nicht so gesagt.“

Omi zog seine Beine in den Schneidersitz und lehnte sich etwas zurück. „Die Frage ist, ob du mir soweit traust, dass du es auch versuchen willst.“
 

Brad hatte es nicht wörtlich gesagt, aber Omi sprach es aus. „Du bist sehr offen… mit deinen Worten“, sagte Nagi leise und senkte den Blick. In ihm wirbelten Gedanken durcheinander, Worte, die er mit Fujimiya Ran besprochen hatte.

Er sah wieder auf zu dem Blonden und er konnte fühlen, wie er es wollte, aber Angst davor hatte es zu sagen, es zu versuchen.
 

„Natürlich. Warum sollte ich dir auch etwas verheimlichen?“, fragte der junge Weiß ehrlich und rutschte ein Stück näher. Er sah schon, das wurde nichts….nicht, wenn er nicht den ersten Schritt tat. Er lehnte schon beinahe an der Schulter des Anderen. „Nur sprechenden Menschen kann geholfen werden, weißt du?“, fragte er sanft. „Wenn du etwas willst, musst du es äußern.“
 

Er wusste, was er wollte, aber er konnte es nicht vorbringen. Nicht bei ihm. Es war zu beschämend, darüber mit ihm zu sprechen. Merkwürdigerweise konnte er es bei dem Rothaarigen…

Vielleicht weil er wusste, dass Omi es auch tun würde. Weil er Angst davor hatte.

Das Prasseln des Feuers und das Knacken der Scheite drangen plötzlich sehr laut an Nagis Ohren, während der Stille die zwischen ihnen schwebte wie Nebel.

Nur durch die sanfte Stimme gelockt hob er den Blick wieder etwas, streifte die einladenden Lippen und traf auf schillerndes, vom Feuer besänftigtes Blau. „Einen Kuss“, hauchte er und wirkte fast atemlos dabei.
 

Omi entsprach diesem Wunsch beinahe sofort. Sanft wie eine Feder berührte er mit seinen Lippen die des anderen Jungen. Er wollte ihn nicht verschrecken, wollte ihn vielleicht erst an das Gefühl eines Kusses gewöhnen. Er wollte nicht, dass Nagi sich überfahren von ihm fühlte. Nun…nicht noch mehr überfahren.

Er löste sich nach ein paar Momenten von dem jungen Telekineten und lächelte, als er die geröteten Wangen bemerkte. „Siehst du…einem sprechenden Menschen wurde geholfen.“
 

„Ja.“

Omi war nur wenige Zentimeter von ihm zurückgewichen und er hatte das Gefühl, sein Herzschlag war hörbar für den anderen, so laut kam er ihm selbst vor. Es brauchte nur zwei Wimpernschläge, bis Nagi Omi folgte und dessen Lippen mit seinen berührte, sie schmecken wollte. Seine Hand löste sich vom Boden und griff in weichen Stoff an Omis Flanke, wie um sich festzuhalten.
 

Omi jubelte innerlich über den Mut des Telekineten. Er lehnte sich in den Kuss, öffnete sacht seine Lippen. Er lud Nagi ein, ihn zu erkunden, lud ihn zum leichten, beschwingten Spiel ein. Seine Hand legte sich über die des Anderen an seiner Seite, wärmte sie mit seiner eigenen. Er fühlte die dünnen, ja beinahe schon knochigen Finger unter seinen Händen und hatte das Gefühl, sie einfach beschützen zu müssen.
 

Zuviel prasselte auf Nagi ein, sodass er nicht mehr nachdachte, seine Gedanken waren fort.

Unsicher und daher zögerlich zunächst spitzte seine Zungenspitze über die Innenseite der Unterlippe, fühlte deren Textur, dieses himmlische Gefühl, welches durch ihn rauschte, ihn erfasste und mit sich riss. Ohne es selbst zu bemerken, fing er an zu zittern, als er die Wärme um seine Hand fühlte, die seine bedeckte. Seine Hände rückten wieder mehr in den Vordergrund seines Denkens und dies ließ ihn wiederum mehr zittern, bis er sich mehr festkrallte als festhielt um diese Reaktion zu dämmen.
 

Omi gewährte Nagi noch mehr Zutritt, öffnete sich weiter für den Jungen, der seine ersten Schritte tat. Ein warmer, angenehm lieblicher Schauer durchrann ihn und er seufzte leise in den Kuss. Seine andere Hand strich sanft über den Rücken seines Gegenübers, während er die zitternde Gestalt zu wärmen versuchte. Er ergriff Nagis Hand ergriff und sie in der seinen barg, den Rücken auf und ab fuhr. Leicht nur, nicht um ihn zu verschrecken. Es fühlte sich gut an. Nein, fantastisch. Einfach herrlich.
 

Nagi hörte das Seufzen, diesen Laut, den er zuvor noch nie bei jemandem in dieser Art gehört hatte. Nicht so nah, nicht durch den Kontakt mit ihm ausgelöst. Er drang weiter vor, bis seine Zunge auf Omis traf und sie berührte. Sein Körper fiel in diese Umarmung als dies geschah, begab sich völlig in Omis Arme.

Weder spürte er aktiv das Prickeln in seinen Händen, noch die Tränen, die ihm aus den Augenwinkeln liefen. Tränen der Wonne. Nagi schadete ihm nicht, Omi wollte von ihm berührt werden, er hielt ihn fest, er stieß ihn nicht weg.

Er hatte das Gefühl, es nicht mehr länger auszuhalten, diese Anspannung, dieses Kitzeln im Bauch.
 

Omi zog den anderen Jungen ebenso sehr in seine Umarmung, umsorgte ihn und hüllte ihn ein. Trotzdem oder gerade deswegen sah er die Tränen des Telekineten und er löste sich etwas von Nagi, minimal nur.

„Du weinst…“, wisperte er sanft und küsste eine der salzigen Spuren, so als wollte er sie lindern, sie tilgen. Oder sie akzeptieren.
 

Blinzelnd bemerkte Nagi die Feuchte auf seiner Wange und keuchte, weil es ihn beschämte. Er senkte das Kinn und lehnte seine Wange an Omis, bis sein Gesicht in dessen Halsbeuge lag.

„Du hast meine Hand berührt und festgehalten“, schien ihm diese Erklärung ausreichend um seine Tränen zu erklären. „Niemand tut dies“, flüsterte er an die Haut des anderen. „Es macht mich …high…“

Ja, dieses Gefühl passte. Es war so neu für ihn, dass jemand anderer seine Hände hielt, sie sanft umkoste.
 

Omi begriff erst jetzt, was Crawford gemeint hatte. Was er ihm hatte sagen wollen. Er sah es in den Worten und Gesten Nagis.

„Dabei ist es doch so schön…sich durch Berührungen nahe zu sein“, murmelte Omi und strich mit seinen Fingern über die Knöchel der anderen Hand. Liebkoste sie sanft und erfühlte sie.

„Stell dir vor, wie es sich erst hier anfühlt…“, lächelte er und strich Nagi hauchzart über die Wange.
 

Nagi öffnete die Lippen und sein heißer Atem streifte über Omis Haut, als er seufzte. Es war so schön, endlich diese Berührungen zu erfahren und doch hatte er Angst vor dem, was vielleicht kommen mochte. Er musste unbedingt die Kontrolle behalten. Er durfte sich nicht gehen lassen, nur hier ein kleines Weilchen des Genusses, der Entspannung und der Loslösung vom alltäglichen Trott.
 

Omi besah sich Nagi schweigend. Jedes Detail wurde von ihm gespeichert, jede Kleinigkeit sich eingeprägt. Die spitzen Wangenknochen, die blasse Haut, die Blutströme unter ihr. Die grauen, scheuen Augen von dichten Wimpern umrahmt.

Es war faszinierend, wie sehr Nagis Äußeres sich von seiner inneren Kraft unterschied, wie sehr Schein und Sein auseinanderklafften. Doch taten sie das wirklich?
 

„Es fühlt sich gut an“

Nagi barg sein sich heiß anfühlendes Gesicht an Omis relativ kühler Haut der Halsbeuge, genoss dessen Nähe, dessen Lebendigkeit.

Er wollte nicht nach dem Warum fragen, auch wenn er diese Frage in sich trug, doch oft zogen Fragen nach dem Warum Zerstörung mit sich, lösten Dinge aus, die er jetzt nicht wollte. Es sollte so bleiben, wie es jetzt war.

Seine Hand an Omis Flanke schlich sich nach oben zu Omis Nacken, strich hauchzart darüber und er freute sich es tun zu können und zeigte dies mit einem stillen Lächeln.
 

Omi erwiderte dieses Lächeln so ehrlich, wie er es nur engen Freunden schenkte. Er sagte noch nichts, lehnte sich in die Berührung des anderen und genoss dessen neugierige Wanderschaft. Es war, als würde jeder Berührung eine Spur von Gänsehaut folgen, die sich seinen Körper untertan machte und ihn in sich verschlang.

„Es gibt noch so viele andere Dinge, die sich gut anfühlen“, merkte er leise an und fuhr mit seiner freien Hand durch die seidigen Haare, ließ seine Finger stimulierend über die Kopfhaut gleiten.
 

Einen genießerischen Laut von sich gebend, schmiegte sich Nagi weiter in die Hand hinein. Es tat so gut, diese Berührungen auf seiner Kopfhaut zu fühlen, wie elektrisierend schossen diese Empfindungen durch seinen Körper und ließen ihn zu einem Klumpen formbaren Wachses in Omis Händen werden.

Er spürte, wie die Anspannung zunehmend schwand und etwas in ihm losbrach, was er nicht mehr beherrschen konnte. Ein Schluchzen kündigte es an und er verkroch sich schier in Omis Gegenwart um es zu dämmen. Das Warum wollte heraus, die Wehklage, warum er bisher dies nicht erfahren durfte wollte heraus. Er weinte stumm und bemerkte nicht, wie er seine Fähigkeiten auf sie beide richtete, wie ein sanfter Schimmer von seinen Händen ausging.
 

„Hey…hey…es ist doch nicht schlimm“, murmelte Omi überrascht und zum kleinen Teil auch verstört über die Tränen des Jungen. Er streckte seine Hand aus und fuhr hauchzart über die nassen Wangen, fühlte, wie sich im Gegenzug etwas um ihn schlag, wie ihn unsichtbare Hände, unsichtbare Tücher berührten. Es war kaum zu beschreiben, doch es fühlte sich gut an. Fühlte sich…vertraut an.
 

Nagi schüttelte den Kopf. „Nein, nicht schlimm, nur zu lange nicht gekannt“, murmelte er mit tränenschwerer Stimme. Er löste sich etwas und versuchte sich an einem zaghaften Lächeln. Er bemerkte den Energiefluss seiner Hände und sein Herz setzte aus. Nein! Nein!

Er zog sie zurück und verschränkte seine Arme vor seiner Brust.

„Ich muss noch lernen, das zu unterbinden“, erklärte er und nickte bekräftigend.
 

Omis Hände wanderten denen des Telekineten hinterher, umschlossen die Unterarme und zogen sie auseinander. Er nahm die Hände des Anderen und verwob die Finger mit seinen eigenen.

„Warum? Es fühlt sich…gut an. Ungewohnt, aber schön.“ Omi lächelte und sah auf ihrer beider Hände, auf die Verbindung, die zwischen ihnen herrschte.
 

Diese direkte Konfrontation mit seinen ‚Werkzeugen’, seinen ausführenden Organen, machte ihn fast fertig. Wie gebannt starrte Nagi auf diese Verbindung und schüttelte den Kopf leicht, fand aber zu Omis Augen, als er das Kinn hob.

„Ich muss meine Gefühle davon abtrennen, verstehst du?“
 

„Dann werde ich dir dabei helfen“, nickte Omi ernst und führte eine dieser Hände an seine Lippen und hauchte einen sanften Kuss auf die leuchtende Haut. „Irgendwie schaffen wir das schon, oder?“
 

Fasziniert sah Nagi zu wie die sanften Lippen seine Haut küssten. „Ich habe es schon oft versucht und ich scheitere jedes Mal an diesem Versuch. Egal, wie hart ich trainiere. Ich weiß nicht, wie ich mich verbessern kann“, gab er zu.

Wir…hatte er gesagt. Es gab für ihn nur ein ‚Ich’, er musste es schaffen, wie konnte Omi ihm helfen?
 

„Vielleicht trainierst du zu hart? Vielleicht solltest du einfach versuchen zu entspannen, hast du es schon einmal damit versucht? Je mehr du daran denkst, desto größer ist die Angst vor einer weiteren Niederlage.“ Omi seufzte leise und lächelte. „Wenn du dich fallen lässt…wirst du aufgefangen.“
 

„Aber…“, fing Nagi leise an, verstummte jedoch und musste über die letzten Worte nachdenken. „…ich muss doch trainieren. Ohne das Training hätte ich dich zum Beispiel nicht tragen können“, erinnerte er sich an den Tag, an dem er Omi mit seinem verletzten Knöchel geholfen hatte.

„Ohne das Training bin ich…“, nichts weiter als ein verrohtes Stück Fleisch, ohne Arme, ohne Hände, die etwas Sanftes tun können, dachte er den Satz zu Ende.

Wenn er sich fallen lassen würde… sein Geist würde nie zulassen, dass er nicht aufgefangen werden würde. Dazu war der Selbsterhaltungstrieb zu groß.

Aber wenn er sich weiter so nach vorne trieb? War das eine Art von Selbstmord? Machte er das unbewusst um seinen Geist zu überlisten, damit sein Körper starb?

Erschrocken senkte er den Blick, damit Omi nicht sah, woran er möglicherweise dachte.
 

„Es redet niemand davon, dass du mit dem Training aufhören sollst. Doch du hast gerade nur von Konzentration gesprochen. Das ist wichtig. Aber wie sieht es mit Entspannung aus? Mit Lockerheit?“ Omis Finger legten sich unter das Kinn des Telekineten und hoben es an.
 

„Das ist zu gefährlich“, versuchte Nagi den Blick zu heben, doch er mied die Augen seines Gegenübers. „Das wäre, als würde Schuldig aufhören, die Gedanken der anderen auszuschließen. Wenn ich …lockerer werde…, dann vergesse ich vielleicht, was ich bin…“
 

„Und wenn du genau das im Gedächtnis behältst, jedoch nicht mehr so verkrampft versuchst, Erfolge zu erzielen, für die du vielleicht nur etwas Geduld haben musst?“
 

Verzweiflung und Wut kamen in ihm auf und wurden sichtbar als er Omi anblickte.

„Ich habe keine Zeit um zu warten. Ich kann nicht mehr warten…keine Minute länger …ich kann einfach nicht mehr warten…“, begehrte er auf und zog die Brauen zusammen. „Meine Geduld ist am Ende…ich bin am Ende… sieh mich an.“

Seine Fähigkeiten waren sein Schutz gewesen und nun wurde dieser Schutz zu einem Fluch.
 

„Ich sehe jemanden, der am Anfang einer wundervollen Erfahrung steht und solange darauf gewartet hat, dass es nicht mehr wirklich eilt. Es bringt nichts, wenn du es jetzt übers Knie brichst.

„Du bist nicht am Ende…ich bin jetzt da. Ich bin dein Anfang.“ Omis Hände strichen sanft über die des jungen Schwarz und er lächelte.
 

Omi fand die richtigen Worte, die ins Schwarze trafen und Nagi eine sanfte Röte ins Gesicht trieben. Er schwieg eine Weile und lehnte sich wieder an Omi an.

„Was ist nach dieser Stunde?“
 

„Dann werde ich mit einem hoffentlich lebenden Schuldig wieder zurückfahren. Und mich in der nächsten Zeit darum kümmern, die Forderung des Amerikaners zu erfüllen. Eine Herausforderung, die ich gerne annehme.“

Denn…so lange er auch für Kritiker tätig gewesen war, solange er sich auch in ihrem Namen schuldig gemacht hatte, jetzt war es genug. Er wollte nicht mehr. Ran war ihm immer ein Vorbild gewesen, so auch jetzt. Es ging, sie konnten sich von ihnen lösen. Es brauchte alles nur seine Zeit.

„Das Orakel reißt mir den Kopf ab, wenn ich mich dir noch weiter nähere, ohne dass ich mich und dich gegen meine Auftraggeber absichere.“
 

Nagi zog es vor erneut zu schweigen, lediglich einen kleinen zustimmenden Laut entlockten diese Worte seiner Kehle. Einerseits beruhigte es ihn, dass Omi sich von Kritiker trennen wollte, andererseits barg selbst diese Lösung eine Gefahr in sich.

„Was ist…wenn du dieses Opfer vergebens machst?“, fragte er in die eingetretene Stille, die nur vom Knacken der Holzscheite begleitet wurde. Was wäre, wenn Omi sich von Kritiker löste und nicht zufrieden mit ihm war?

„…wenn du nicht zufrieden mit mir bist?“
 

„Du bist kein Gegenstand, Nagi. Ich werde niemals ‚nicht mit dir zufrieden sein’.“ Omi schüttelte ernst den Kopf. Diese Entwertung gefiel ihm nicht…das war genau das, was Crawford ihm gesagt hatte. Und dem würde er entgegenwirken.

„Außerdem…“, begann er langsam, leise.

„Du bist der unmittelbare Auslöser dafür und ich bin bereit dafür einiges zu tun, doch der eigentliche Wunsch besteht schon seit Jahren.“ Er lächelte kurz. „Ich hatte bisher nicht gewusst, dass ausgerechnet Ran der Erste ist, der sich löst…und das macht Mut, glaube mir.“ Er streifte mit seinen Händen die Wange des jungen Schwarz, versichernd, beruhigend.
 

„Gut, dass du es nicht …wegen mir …tust…oder weil Brad es verlangt.“

Nagi schloss die Augen und fühlte innerlich den Berührungen nach, jedes Fleckchen Haut, welches von Omi berührt wurde, bedachte er mit einem Gedanken und musste darüber lächeln. Vielleicht war es das einzige Mal, dass seine Haut diese fremde und sanfte Berührung erfuhr, die ihn mehr wärmte, als dieses Feuer es je vermochte.

„Meinst du, ich könnte dich irgendwie erreichen? Über eine sichere Leitung…“, murmelte er leise und fast kaum hörbar. Er setzte sich über Brads ausdrücklichen Wunsch hinweg und es fiel ihm schwer, aber er wollte wenigstens zeigen, dass er Omi nicht einfach so gehen lassen wollte, ohne ihn erreichen zu können. Es stand außer Frage, dass er dies über Schuldig tun würde, obwohl es diese Möglichkeit gab.

Ob er Omi anrief, stand in den Sternen, aber es war, weil er nichts anderes tun konnte, als nach dieser Verbindung zu verlangen.
 

Ein breites Lächeln erhellte Omis Gesicht. Da war wohl nichts mit der absoluten Gesetzestreue, die er dem Anderen unterstellt hatte. Nagi war bereit, sich hinter Crawfords Rücken mit ihm zu treffen? Er nickte langsam, verschwörerisch und sah sich suchend um. Beim Eintreten hatte er doch neben dem Telefon Zettel und Stift gesehen, das konnten sie jetzt nutzen.

Vorsichtig, auf geheimer Mission, erhob er sich und brachte beides in seine Gewalt, Notizblock und Mittel zur Kommunikation, schrieb Nagi eine Nummer auf. Erklärend darunter, dass es auch Ayas Leitung war, die der rothaarige Mann immer genutzt hatte, als er noch von Kritiker gesucht wurde und sich ihnen nicht offen nähern konnte. Er schob Nagi unauffällig den Zettel zu, platzierte einen weiteren Kuss auf die weiche Haut der Wange.
 

Den Kopf neigend suchten Nagis Lippen Omis und so wurde aus dem züchtigen Küsschen ein sinnlicher Kuss, als er seine Lippen öffnete und wie Omi zuvor zum Spiel einlud.

Seine Hand griff nach dem Zettel und barg ihn schützend in seiner Faust.
 

Omi nahm diese Einladung gerne an und wagte nun mit seiner Zunge einen sanften Vorstoß in den warmen, weichen Mund des Telekineten. Nur ganz vorsichtig tastete er nach der anderen Zunge, nur ganz vorsichtig fuhr er über die glatten Zahnreihen. Nagi schmeckte…wunderbar. Nach Kakao, nach Süßem…irgendwie so, wie er es erhofft hatte. Wie es zu dem anderen passte.
 

Diesmal kamen keine Tränen sondern ein Seufzen, als sich Nagi nach einer kleinen Weile mit einem kleinen Kuss auf die Lippen löste und wieder den Kontakt mit Omis freier Haut an dessen Halsbeuge suchte. Er liebte dieses Gefühl schon jetzt.

„Findest du es nicht seltsam, dass wir uns heute so nahe sind?“, wisperte er und sein Blick glitt in die Ferne.

„Ich kann mich daran erinnern, dass ich dich beseitigen wollte. Meine Hände erinnern sich noch genau, wie ich dir die Knochen brechen wollte. Ich habe dich gegen die Säule geschmettert und du hast geblutet…“

Warum sagte er das jetzt? „Warum sitzen wir jetzt hier? Haben wir uns so sehr verändert, dass wir nicht mehr so denken wir früher?“
 

Omi grübelte für ein paar Momente schweigend. „Vielleicht noch nicht einmal. Vielleicht haben wir einfach den Menschen hinter dem unpersönlichen Feind gesehen, den wir töten wollten. Dieser Mensch hat genau wie wir Schwächen und Stärken und spiegelt das, was wir sind. Und sich selbst zu töten ist immer ein Stück schwerer, als ein Bild zu vernichten, das man sich eindimensional über Jahre hinweg aufgebaut hat, findest du nicht?“

Omi erinnerte sich an die Säule, an ihren Endkampf, den sie alle mehr oder minder gut überlebt hatten. Weiß hatte lange gebraucht, um sich davon zu erholen und alle von ihnen trugen jetzt immer noch Narben davon. Seelische wie auch körperliche. Das war Geschichte…oder?
 

„Ja, sehr schwer“, murmelte Nagi und wechselte darauf sogleich das Thema.

„…hast du …schlimme Verletzungen davon getragen?“

Er wusste noch, wie stark seine Fähigkeiten damals schon waren und wie schonungslos er sie gegen den schlanken Körper eingesetzt hatte. Wie leicht es ihm gefallen war.

Wie leicht war es doch für ihn, Körper zu zerschmettern, sie zu zerreißen.

Unwillkürlich strich seine Hand über Omis Brust, die Hemd und Pullover bedeckten. Ob er noch Narben trug, von damals?
 

„Jeder von uns, nicht zuletzt von dem Sturz aus der Kathedrale ins Meer“, antwortete Omi. Nagi würde ihn vielleicht noch früh genug nackt sehen und damit die Narben von den Operationen, mit denen er zusammengeflickt worden war. Youji und ihn hatte es am Schlimmsten erwischt, sie waren diejenigen gewesen, die wochenlang das Bett hatten hüten müssen. Unter Ayas strenger Bewachung, wie er mit einem innerlichen Lächeln zugeben musste. Wenn der rothaarige Mann eines konnte, dann, sich um jemanden kümmern.

„Und du? Ihr seid doch auch so tief gestürzt wie wir auch….wir dachten, ihr wäret tot gewesen.“
 

„Ich …habe am wenigsten darunter gelitten. Ich konnte die Trümmer gut von mir fernhalten, aber wohin ich sie geschossen habe weiß ich nicht, ich weiß nicht mehr, was geschehen war. Nur dass ich im Gegensatz zu Brad, Jei und Schuldig fast keinen Kratzer hatte. Ertrunken wäre ich beinahe, aber jemand hat mich aus dem Wasser gezogen.“

Es war schwer für ihn, dass er nicht wie die anderen körperliche Zeichen des Kampfes trug, dass er keine Narben trug. Es war, als wäre er nicht dabei gewesen.
 

„Dann kannst du stolz auf deine Gabe sein, dass sie dich beschützt und verhindert hat, dass dir mehr passiert. Viele von den SZ-Agenten, die dort im Meer gestorben sind, haben sich sicherlich so etwas gewünscht.“ Omi verstummte, schwieg ein paar Momente.

„Und die anderen? Hattet ihr auch jemanden, der wochenlang jammernd im Bett gelegen und sich beschwert hat, der Service wäre so schlecht?“
 

„Nein. Wir trennten uns sofort. Jei hat sich die ersten Tage versteckt. Nur Brad war am Schwersten verletzt. Ich weiß nicht warum, er hat die beste Kondition von uns. Schuldig hat sich um ihn gekümmert, sie haben wohl irgendwo einen Arzt aufgetrieben, der sie versorgt hat… aus dem Untergrund. Ich blieb die nächsten Wochen allein. Wir waren schwer angeschlagen und fürchteten einen erneuten Angriff durch andere Gruppierungen.“

Er erinnerte sich nicht gerne an diese Zeit, konnte es kaum noch, als hätte irgendetwas in ihm diese Episode verdrängt.
 

„Aber ihr habt euch wieder zusammengerauft und seid in voller Stärke zurückgekommen“, resümierte Omi und strich Nagi durch die dunklen Strähnen. „Komisch, ich hatte euch damals immer für unbesiegbar gehalten…doch nun seid ihr menschlicher, nicht mehr ganz so über uns.“ Wieder schwieg er einen Moment lang und blinzelte dann verschwörerisch, wollte Nagi aus seiner negativen Stimmung holen. „Was mich aber wundert, ist, dass Crawford die Pflege des Telepathen überlebt hat…war sicherlich kein leichtes Unterfangen, oder?“, zwinkerte er, zum Zeichen, dass es nur ein Spaß war.
 

Nagi lächelte auch prompt, erwiderte aber ernster: „…vermutlich nicht, aber welche Wahl hatte er schon? Sicher war es von Brad so geplant, damit Schuldig nicht noch größeren Unfug machte, stellte er sich lieber schwer verletzt“, lachte Nagi sogar leise. Zuzutrauen wäre es Brad.
 

Omi lachte mit Nagi. „Lass ihn das nur bloß nicht hören. Crawford meine ich…dass du ihn durchschaut hast. Und Schuldig, dass Crawford zu solchen drastischen Methoden gegriffen hat, um ihn zu sitten. Es scheint, als hätten die Beiden ein herzliches Verhältnis, oder?“
 

„Ja, sehr herzlich“, knarrte da Schuldigs finstere Stimme hinter ihnen. Sein lodernder Blick erfasste die Beiden vor sich und er verzog den Mund abfällig.

„Komm endlich, wir gehen“, knurrte er und wandte sich ab um nach draußen zu gehen.
 

Hei….da hatte er sich ein Fettnäpfchen geleistet. Omi zog unwillkürlich den Kopf ein und ergriff ein letztes Mal die Hand des Telekineten, hauchte einen sanften Kuss auf die verletzlichen Knöchel. „Auf bald“, murmelte er, erhob sich fließend und seufzte bedauernd. Schuldig folgend trottete er dem anderen Mann hinterher.
 

„Ja…“, sagte Nagi leise und sah den Beiden nach. „…auf bald.“

Sein wehmütiger Blick blieb auch der Person nicht verborgen, die auf der Treppe stand und ihn beobachtete. Sie verließ jedoch ihren Platz und kehrte zurück ins obere Stockwerk.
 

o~
 


 

Schweigend und kochend vor Wut über Crawford fuhr Schuldig sehr rasant durch die Stadt, bis er anhielt. „Los, raus. Hier kommst du auch alleine weiter“, blaffte er und wieder traf ein gnadenloser Blick Omi.
 

Der blonde Weiß wandte Schuldig seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu und maß den anderen Mann für ein paar Momente stumm.

„Lass deine Wut über was auch immer nicht an Ran aus, Schuldig“, merkte er ernst an, bevor er sich abschnallte und das Auto verließ, sich gen Stadt bewegte. Er wäre sicherlich eine gute Stunde unterwegs, aber was sollte es schon. Besser, als mit einem suizidalen Deutschen im gleichen Auto zu sitzen.
 

„Drecksgör“, zischte Schuldig und drehte seinen Wagen, um auf direktem Weg nach Hause zu fahren. „Von wegen ‚lass deine Wut nicht an Ran aus’“, äffte er Omi nach und hielt wenig später frustriert in der Tiefgarage an. Schnaubend stieg er aus und trottete zu den Aufzügen. Natürlich musste er seine Laune in den Griff bekommen, er war ja kein Idiot.

Wobei… Crawford sah das anders.

„Bin wieder da“, rief er verhalten in die Wohnung.
 

„Niemand hier“, tönte es lachend aus der Kissenecke, in der sich Aya mit Banshee zurückgezogen hatte. Seit er wieder da war, hatte er seine volle Aufmerksamkeit der Kleinen vor sich gewidmet, die mit voller Inbrunst einer einfachen Schnur mit einem Glöckchen hinterher jagte und mit ihm schmuste. Je nachdem, was sie gerade wollte. Wie gut, dass er seine Haare rechtzeitig zu einem nachlässigen Dutt zusammengerauft hatte, nachdem sich Banshee beim Abseilen in ihnen verhakt hatte.
 

Seufzend lehnte sich Schuldig an die Tür an, legte seinen Kopf in den Nacken und schloss die Augen für einen Moment. Ran lachte… wie schön sich das anhörte.

Er lauschte noch einige Momente den leisen Geräuschen aus der hintersten Ecke und musste lächeln. Ja, das war schon besser als Brad. Viel besser.
 

„Was machst du da drüben? Warum kommst du nicht näher?“, fragte Aya nach ein paar Momenten und hob eine schnurrende Banshee auf seinen Arm, stand auf. „Wir beißen nicht“, lockte er, kam aber nun seinerseits auf Schuldig zu, streckte eine Hand nach ihm aus, als er ihn erreicht hatte. Er strich ihm sanft über die angespannte Wange.
 

Schuldig lächelte und öffnete die Augen. „Hi“, sagte er und verbarg seine Gefühle vor Ran, er zog ihn samt Banshee an sich und verbarg sein Gesicht an dessen Schulter. „Na, was habt ihr beiden gemacht?“, wollte er wissen und löste sich kurz darauf um seine Schuhe und Jacke auszuziehen.
 

„Auf dich gewartet, dass du uns verschweigst, warum du so schlecht drauf bist, nicht wahr, Banshee?“, sagte er wie zu der Kleinen, die er jetzt auf Schuldigs Schulter absetzte und zusah, wie sie mit ihren sanften, kleinen Tatzen das Ohr des Telepathen zu erreichen versuchte und sich schließlich auf wackligen Beine eine seiner Haarsträhnen schnappte.
 

Ein Auge zusammenkneifend hob Schuldig die Kleine an sich, setzte sich schließlich gänzlich auf den Boden und unterschlug ein Bein. Er blickte zu Ran auf und verzog den Mund kapitulierend. „Es ist nicht wichtig. Außerdem habe ich den Befehl erhalten – von Omi – nicht darüber zu sprechen“, verdrehte er die Tatsachen zu seinen Gunsten etwas.
 

„Dass es nicht wichtig ist, sehe ich. Deswegen ziehst du auch so ein verkniffenes Gesicht. Und seit wann lässt du dir von Omi Befehle erteilen? Das wäre mir neu. Also, was bedrückt dich?“, fragte Aya zielgerichtet und nicht locker lassend. Er hatte Lunte gerochen und war zu lange Anführer eines Teams gewesen, als dass er sich nun von ein paar läppischen Worten in die Flucht schlagen lassen würde.
 

Dem forschenden Blick wich Schuldig aus indem er sich erhob und sich samt Banshee auf dem Arm in die Kissenecke begab. „Brad nervt mich, das ist alles. Wir haben wieder gestritten und …naja ein Wort gab das andere. Das übliche eben…“, sagte er schulterzuckend.
 

„Schuldig…“ Aya wusste genau, dass das nur ein grober Umriss dessen war, was wirklich zwischen den Beiden vorgefallen war. Er kam zu den beiden Rothaarigen zu den Kissen, kniete sich über Schuldig und verschränkte seine Arme. Konnte jedoch ein minimales Verziehen seines Gesichts nicht verhindern. Es tat weh. Verdammt weh noch. Nie wieder, das hatte er sich geschworen. Nie wieder.

„Wie wäre es, wenn du mir alles von Anfang an erzählst?“
 

„Da gibt es nichts zu erzählen, nicht wirklich. Ich weiß auch gar nicht um was es überhaupt ging, wir haben uns nur angegriffen und es schien mir wichtig, aber jetzt …“, sagte er nachdenklich und berührte eine der längeren Haarsträhnen Rans, die ihrem Gefängnis entkommen waren. Nachdenklich fühlte er die Textur nach.

„Es lief wie immer. Ich habe ihn gereizt, er ist darauf eingegangen, obwohl er es bemerkte und … wir warfen uns Dinge an den Kopf, die wahr sind und schmerzen, wie es die Wahrheit immer tut.“
 

„Warum greift ihr beiden euch an?“, fragte Aya. Zu Anfang hatte er das Gefühl gehabt, dass die beiden Schwarz eine recht harmonische Beziehung zueinander pflegten, doch das hatte sich mit der Zeit mehr und mehr ins Negative gewendet. Aya ahnte, woran das lag und es gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht.

„Was habt ihr euch an den Kopf geworfen?“
 

Schuldig wandte den Kopf auf die Seite, da er nicht auskam. Ran kniete auf seinen Oberschenkeln und verwehrte ihm die Flucht. „Ich weiß es nicht mehr. Das übliche eben. Ich will das nicht noch einmal durchkauen“, murmelte er in eines der Kissen hinein und blickte hinaus auf die Terrasse.

„Wir werden wie immer diesen Auftrag über die Bühne bringen, als wenn nichts wäre.“
 

„Irgendwann hat jede Professionalität ein Ende“, sagte Aya und ließ sich von Schuldig hinuntergleiten, legte sich neben den anderen Mann in die Kissen. „Es wird sich bei euch beiden aufstauen und euch zum Verderben werden“, führte er weiter ernst aus und seufzte. „Ich will nicht irgendwann feststellen müssen, dass du nicht von einem Auftrag zurückkommst, weil eure Differenzen dir zum Verhängnis geworden sind.“
 

„Was soll ich dagegen tun?“ flüsterte er. Es war zu verworren. Sobald er in die Nähe von Brad kam, wurde er wütend. Irgendetwas an diesem Amerikaner nervte ihn jetzt gewaltig. Woran das lag wusste er nicht. Vielleicht an der Tatsache, dass Ran behauptet hatte, er würde vielleicht etwas für den Hellseher fühlen. Was überhaupt nicht stimmte!
 

„Sei ehrlich zu ihm. Lass ihn ehrlich zu dir sein“, erwiderte Aya schlicht und rollte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. „Es bereitet mir Sorgen, Schuldig. Ich möchte dich nicht alleine gehen lassen. Nicht mit ihm. Nicht mit eurem Konflikt. Das Risiko ist einfach zu hoch.“
 

Schuldig schnaubte und rollte sich etwas zusammen. Was sollte das schon wieder heißen? Ihn nicht alleine gehen lassen… „Nagi ist dabei“, sagte er gelassen und überdachte die Worte im Einzelnen. Ehrlich…

Sie waren ja ehrlich …oder?

Er versuchte zwanghaft irgendetwas zu finden woran er erkennen konnte, dass er mehr für den Amerikaner empfand als gut für Ran und seine Beziehung zu ihm war. Und dies dann sogleich im Keim zu ersticken. Und Crawford… der bestätigte ihn in diesem Vorhaben in dem er aggressiv wurde. Ja…und wie ehrlich sie zueinander waren… So ehrlich wie es eben bei Schwarz möglich war, lächelte er traurig.
 

„Der Junge, der sich nicht traut, eine Hand gegen dich zu erheben, geschweige denn gegen Crawford. So gesehen hilft er euch gar nichts. Und mich beruhigt es nicht, verdammt.“ Er knurrte leise. Seufzte frustriert. „Was meinst du, würde Crawford mir den Kopf abreißen, wenn ich mitkäme?“
 

„Ganz klar, ja“, grinste Schuldig leicht.

„Wir streiten nicht wenn wir einen Auftrag zu erledigen haben. Ganz bestimmt nicht…vor allem Crawford nicht. Er ist kalt wie ein Fisch und … versuch du mal ein Gefühl aus ihm herauszubringen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit“, lachte er humorlos.

„Wir kriegen das hin, mach dir keine Sorgen.“
 

„Du weißt, dass ich mir trotz allem Sorgen mache, Schuldig. Es wird nie aufhören“, erwiderte Aya und erhob sich langsam. Er ließ seine Knochen knacken und ging steif in die Küche. „Willst du auch einen Kaffee?“, fragte er aus dem anderen Raum heraus, wechselte abrupt das Thema. Es würde sie zu nichts führen. Schuldig erledigte seine Aufträge, genauso stur, wie er sich deswegen Sorgen machte. Das Übliche eben. Sie mussten lernen, damit umzugehen. Nein, er musste lernen, damit umzugehen.
 

„Nein“, murmelte Schuldig „Ich möchte etwas dösen.“

Er wollte keinen Kaffee, der ihn vielleicht wach hielt. Er wollte schlafen… ruhen… vergessen…wie schön es doch gewesen war, ohne das Wissen um die Vergangenheit. Wie schön…

War er deshalb noch immer wütend auf Brad?

Seufzend verkroch er sich mehr in den Kissen. War er wütend auf ihn, weil er ihn aus dem Vergessen gezogen hatte? Aber es war doch Ran … der ihm die Erinnerung zurückgab …

In dubio pro reo

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Explosiver Höhepunkt

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Virtuose Hände

~ Virtuose Hände ~
 


 


 


 

Im ersten Moment wollte er der Drohung nachgeben, Omi versichern, es nicht wieder zu tun.

„Erwartest du von mir, dass ich diese Drohung versuche zu beschwichtigen?“, wollte Nagi wissen, verunsichert durch die Dominanz, mit der der andere ihn umhüllte.

Die Stimme so nah an seinem Ohr, bewirkte ein Zittern bei ihm. „Was … willst du von mir?“ Er wusste nicht mehr, was Omi von ihm erwartete, so gegensätzlich kamen ihm dessen Worte vor. „Ich… wollte dich zu nichts zwingen… ich hatte nur Angst, dass du gehst… ich würde … ich will niemanden zu etwas zwingen…“, wurde er langsam wieder aufgewühlter.
 

„Es tut gut, das zu wissen, Nagi. Ich möchte nichts außer Respekt, Nagi. Den gleichen Respekt, den ich auch vor dir habe. Ich möchte mit dir auf einer Ebene sein, in allen Dingen. Ich will nicht über dich herrschen“, wiederholte Omi noch einmal und ergriff nun auch noch die andere Hand des Telekineten, drückte sie zuversichtlich in der eigenen. Er führte diese Hände an seine Lippen und küsste sie zärtlich.
 

Omi sprach anders mit ihm. Als würde er etwas bedeuten, als wäre er von Wert. Schon allein die Geste, der Kuss auf die Hände wirkte auf Nagi elektrisierend. Er starrte förmlich auf diese Stelle. Als wäre er etwas Besonderes.

„Ich … weiß nicht, ob ich damit zurecht komme. Hilfst du mir dabei?“ Irgendetwas erinnerte ihn an das Oberhaupt der Familie Takatori, wie sich Omi verhielt. Nichts Negatives, nein.
 

„Ja, das werde ich“, gab Omi das Versprechen, welches er Crawford auch schon in anderer Form gegenüber abgelegt hatte. Er neigte leicht den Kopf. „Ich bin mir sicher, dass du es schaffst…mit meiner Hilfe.“ Er zog den größeren Jungen an sich, zog ihn mit sich zurück ins Dunkel, noch während er die Tasche achtlos fallen ließ.

„Komm mit ins Bett“, flüsterte er leise.
 

Nagi ließ sich ziehen, er fühlte sich mit einem Mal leer und ausgebrannt, ganz so, als hätte dieses Gespräch… dieses Streitgespräch alle noch vorhandene Kraft aus ihm herausgesaugt. Extreme Müdigkeit befiel ihn, als er sich auf die Bettkante setzte und seine Stirn befühlte, sich über die müden Augen fuhr. Er gähnte verhalten.

Das strengte ihn alles zu sehr an. Erst der Sex, dann diese emotionale Auseinandersetzung…
 

Omi setzte sich ebenso auf das harte Bett. Es schien, als müssten sie es erst einliegen, bevor es auch nur den Hauch einer Chance auf Gemütlichkeit versprühen konnte. Doch wer war er, dass er eben dieser Aufgabe nicht gewachsen war?

Der blonde Weiß legte sich auf die Matratze, zog Nagi zu sich, für einen Moment fest an sich, bevor er den Griff lockerte und ihnen beiden die Decke überwarf. Damit ihnen wenigstens etwas warm wurde.

Es gab da noch etwas, das er im Hinterkopf hatte. Dieses Etwas hatte viel mit dem morgigen Tag, vielmehr den kommenden zwei Wochen zu tun.

„Die Wochen in Shanghai…bist du mit Schwarz dort?“, fragte er nach einiger Stille in den Raum hinein.
 

Nagi fand die Nähe zum anderen einerseits sehr schön, anders und trotzdem aber gewöhnungsbedürftig. Er hatte das Gefühl als würde ihm sämtliche Kraft entweichen und er ließ sich fallen, drohte jeden Moment einzuschlafen.

„Kannst du … dich ausziehen, Omi?“, fragte er anstatt die Frage zu beantworten.

Er selbst nestelte an seiner Kleidung und zog sich das Oberteil über den Kopf, brachte es fertig und zog die Hose aus.

„Unser … Gespräch hat mich ausgelaugt … der Sex auch… vielleicht gehe ich in eine Regenerationsphase über…“, erklärte er sein Tun.
 

Omi blinzelte in der Dunkelheit, geradezu fasziniert vom Verhalten des jungen Telekineten. Sicherlich hatte er Nagi gerade befriedigt…doch dass sie nun…

Omi lächelte und folgte den Lauten des Anderen, zog sich ebenso aus und robbte sich gänzlich an Nagi heran. Er bettete vorsichtig seinen Arm um dessen Hüfte, das eigentliche Thema nicht mehr anschneidend. Etwas anderes verbrauchte auch einen weit größeren Anteil an Aufmerksamkeit. Regenerationsphase? Hatte Crawford nicht gesagt…?

„Ist es das, was im Hotelzimmer passiert ist? Ist es dann in Ordnung, wenn ich so nahe bei dir bin?“
 

„Ich weiß nicht…“, murmelte Nagi rollte sich etwas zusammen, bettete seinen Kopf vertraulich in dessen Nähe.

„Ich…weiß nicht … was passiert, aber ich will es riskieren… auf deine Kosten könnte man sagen…“, sagte er selbst verwundert über diese Tatsache. „Schuldig würde sagen… ich als Schwarz sollte meinen Ruf wahren.“
 

Omi lachte leise. „Wenigstens beschönigst du nichts“, erwiderte er, wurde dann jedoch nachdenklich. „Crawford meinte damals…dass ich dir auf keinen Fall zu nahe kommen sollte in so einem Zustand. Dass es für mich tödlich wäre.“ Seine Bemerkung schwebte als stille Anmerkung zwischen ihnen beiden, ohne Vorwurf, bar jeglichen Gefühls. Sie war einfach nur da…
 

Nagi registrierte dies und öffnete die Augen, hob seine Hand und tastete vorsichtig zu Omis Gesicht, wagte es dessen Lippen, dessen noch immer leicht vorhandenes Lachen unter seinen Fingern nachzufühlen.

„Wenn du von außen … hineingreifen möchtest, könnte es für dich tödlich sein, es baut sich eine Art Spannungsfeld auf, aber es ist psychokinetischen Ursprungs, also nicht wirklich mit einem Spannungsfeld zu vergleichen. Gehe ich einen Kontakt mit dir ein … könnte es dazu führen, dass du ebenfalls in diesem Feld bist … aber ich habe es noch nicht ausprobiert.“

Wie auch? War er doch stets anderen Menschen fern geblieben.
 

Omi hatte ein verdammt ungutes Gefühl bei der Sache. Er kannte die Kräfte des jungen Telekineten und konnte sich durchaus vorstellen, dass diese in der Lage waren, ihn zu zerfetzen.

Dennoch….wozu waren ungute Gefühle da? Um durch Vertrauen vernichtet zu werden. So war das. Auch wenn Omis Vertrauen noch dünn gesät war, so entfernte er sich jetzt nicht von Nagi, sondern rückte etwas näher an ihn heran. Seine Finger hielten die des Anderen auf und bedachten sie mit einem sanften Kuss.

„Gut, dann probieren wir es….“ Selbstmörderisch war er also…
 

Ein müdes Lächeln legte sich auf die Gesichtszüge des Telekineten und er legte seinen Arm locker um die Hüfte des anderen, schloss die Augen. „Ich weiß nicht, ob ich regenerieren muss, das kommt von alleine, wenn ich langsam vor mich hindämmere. Gehst du aus dem Kreis hinaus, komm nicht wieder hinein, ja?“

Er spürte bereits ein Kribbeln in seinen Händen, dort wo seine Haut auf Omis traf und er begann, sich fallen zu lassen.

„Deine Frage wegen … Shanghai… ich werde dort mit Schwarz hingehen… deshalb… wollte ich dich heute … noch sehen…“, wisperte er müde. Er wollte noch etwas sagen… sagen, dass es Omi vielleicht warm werden könnte … wenn er regenerierte… aber er war viel zu müde…
 

Und nur langsam von ihm ausgehend legte sich ein sanfter Schimmer um sie, wie Mondschein, kaltes Licht, diffus, schimmerte um sie beide. Nagi war fast eingeschlafen und er seufzte im Halbschlaf.
 

Sein Pendant jedoch war weit davon entfernt einzuschlafen. Dafür faszinierte Omi dieser Anblick, dieses Gefühl der um sie BEIDE tanzenden Atome viel zu sehr. Die Luft um sie herum fühlte sich elektrisiert an, geladen und dennoch weich und warm. Es schien, als wäre dieses kalte Licht ein Gegenteil zu der schier angenehmen Wärme, die dadurch verbreitet wurde.

Er atmete ruhig, die Augen immer noch offen und genoss diesen Anblick, genoss die Beruhigung nach dem ersten Adrenalinstoß der aufgekommenen Angst. Er war also sicher. So schien es zumindest.

Morgen bist du also in Shanghai…, richtete er im Schlaf an den jungen Telekineten und seufzte leise. Zwei Wochen…und wie würde es danach weitergehen?
 

o~
 

Sie standen im Stau. Wie sollte es auch anders sein…, grummelte Schuldig und legte den Kopf leicht in den Nacken. Nur gut, dass er das eingeplant hatte und sie hoffentlich noch rechtzeitig zum vereinbarten Termin kommen würden. Der Wagen war unbequem. Unbequemer als sein Sportwagen, aber er hatte für solche Treffen nicht vor, allzu auffällig zu werden und sich für den unauffälligen Zweitwagen entschieden.

„Wir schlagen hier noch Wurzeln“, schimpfte er lahm und verzog den Mund.
 

„Auch nicht schlimm“, hielt Aya ebenso murrend entgegen. Er hatte kein gutes Gefühl, schon seit sie heute morgen aufgewacht waren nicht. Verdammt. Schuldig war zwei Wochen irgendwo in Thailand und er musste auf den Iren aufpassen, der zu allem Übel ein Empath war. Aya hatte das Gefühl, dass es langsam zuviel wurde, wirklich zuviel. Er war nicht so anpassungsfähig wie vielleicht Omi oder Youji. Er brauchte seine Konstante und die hieß im Moment eben Schuldig. Schuldig, den er am Liebsten gar nicht aus seinen Klauen lassen würde; schon gar nicht mit dem Amerikaner nach Thailand!

„Dann bleibst du wenigstens hier.“ Und da war er schon wieder am Meckern. Am Fluchen. Aya seufzte, sah den Telepathen ruhig von der Seite her an.
 

Der spürte den Blick und wandte bereits versöhnlich lächelnd das Gesicht Ran zu.

„Stimmt.“

Seine Hand fand ihren Weg auf Rans Oberschenkel und er öffnete die Handfläche.

„Meinst du Banshee fühlt sich wohl in ihrer Kiste?“, fragte er um das Thema auf etwas anderes zu lenken, etwas rotes Kleines, welches Ran immer aufmunterte…
 

Aya verzog unwirsch die Lippen, ließ sich durch diese Frage tatsächlich von seinen eigentlichen Sorgen wegtreiben.

„Anscheinend schon“, erwiderte er nach einem Kontrollblick auf den Rücksitz. „Sie schläft tief und friedlich, als wenn sie kein Wässerchen trüben könnte. Beneidenswert…“ Und tatsächlich, sobald sie im Auto waren, hatte die Kleine Ruhe gegeben und sich in ihre Kiste verzogen, die Aya provisorisch hergerichtet hatte.
 

Schuldig schloss zum Wagen vor ihnen auf.

„Es wundert mich etwas, dass Crawford Raubkatzen in seiner Wohnung duldet … und dann auch noch zwei von dem Kaliber… tzzz“, murmelte er, die Stirn in scharf nachdenkliche Falten gezogen. „Die teuren Kunstobjekte…“
 

Ayas Blick wurde durchaus dunkler. „Was soll das denn heißen? Dass ich nicht auf etwaige Kunstgegenstände aufpassen kann? Und aller Wahrscheinlichkeit nach, lieber Schuldig, sieht Crawford uns nicht als Raubkatzen, sondern eher als…Nahrung zum Verfüttern, oder?“ Er schnaubte, nur halb so beleidigt, wie er tat.
 

„Heey … ist gut, mein Kater“, lächelte Schuldig versöhnlich, fasste es tatsächlich so auf, als hätte er Ran auf dem falschen Fuß erwischt. Aber vielleicht ließ er seine Späße für heute besser, so angespannt wie sie beide innerlich waren.

Der Stau löste sich langsam auf und sie fuhren wieder …
 

„Das war ein Scherz, Schuldig“, merkte Aya nach einiger Zeit an und sah aus dem Fenster. Sie fuhren hinaus, zum Anwesen von Schwarz und Aya kam nicht umhin, sich zum wiederholten Male zu fragen, welcher Teufel ihn genau geritten hatte, als er dieser Idee zugestimmt hatte. Es war doch vollkommen hirnrissig, wenn man bedachte, dass der Ire vor nicht ganz drei Monaten noch darauf bedacht war, ihn zu töten. Nicht, dass es anders herum nicht genauso gewesen wäre…und nun? Nun sollte das klappen? Aya bezweifelte es.

„Gibt es außer der Empathie noch etwas anderes, das ich über Farfarello wissen muss?“ fragte er schließlich leicht misstrauisch.
 

„Nichts, wovon ich etwas weiß“, antwortete Schuldig. Doch wer wusste schon alles von Jei?

„Er hat seine Anweisungen und … deshalb mache ich mir da jetzt nicht so große Sorgen, Ran. Er ist beschäftigt, hat einige Bilder, die er noch fertig stellen wollte. Jetzt, da wir ihn für diesen Auftrag nicht brauchen, hat er Zeit sich der Kunst zu widmen“, resümierte Schuldig und begann bereits, die Umgebung etwas abzutasten.
 

„Bilder?“, hakte Aya nach. „Was meinst du damit? Malt er?“, fragte er und irgendetwas zeterte in seinem Inneren, dass das schon wieder etwas war, auf das er sich einstellen musste! Er war nicht flexibel! Ganz und gar nicht. Nun gut…bei ihren Aufträgen war er es gewesen, aber nicht so. Das hier war sein Privatleben, das war er selbst…und nur er selbst.
 

„Oh.. habe ich das nicht erwähnt?“, huschte Schuldigs Aufmerksamkeit kurz zu Ran und er drosselte die Geschwindigkeit, als sie in die Nähe des Anwesens kamen.

„Crawford arrangiert Ausstellungen seiner Bilder, er hat es vor ein oder zwei Jahren begonnen.“
 

„Nein, Schuldig, hast du nicht“, knurrte Aya und boxte Schuldig spielerisch in den Oberarm. Insgeheim fragte er sich jedoch, wie viel anderes der Telepath vergessen hatte, ihm zu sagen. Aber gut. Farfarello malte, Crawford stellte die Bilder aus. Das war eine interessante Geschäftbeziehung. Doch…

„Die Ausstellung, von der vor kurzem Youji und Farfarello gekommen sind, war das seine Ausstellung?“, fragte er aus heiterem Himmel, als er sich daran erinnerte, was Youji gesagt hatte, bevor er auf Schuldig losgegangen war.
 

„Ja, war es … denke ich. Jei wollte sich wohl die Reaktionen der Anwesenden reinziehen. Diese projiziert er dann wiederum auf die Bilder. Hat wohl was mit seiner Empathie zu tun“, entgegnete Schuldig salopp und zuckte mit den Schultern, als er auf das Grundstück fuhr.

„Seither ist er auch nicht mehr so unkontrolliert in seinen Gefühlsausbrüchen. Er verwendet seine Energie … und das, was auf ihn eindrängt, in die Arbeit an den Bildern. Aber erzähl das bloß nicht dem Schnüffler… das kann er alleine herausfinden“, lachte Schuldig gehässig und grinste breit.
 

Aya lachte mit. „Wenn er das überhaupt herausfinden will. Youji traut euch nur soweit, wie er euch werfen kann. Und wirklich weit ist das ja nicht. Aber ich werde nichts sagen, es sei denn, Farfarello vergreift sich an seinen Gefühlen.“ Was er dem Iren schwer genug nachweisen können würde, wenn überhaupt.

Aya wusste nicht, warum er gerade jetzt an seine Schwester dachte und sie im Stillen um Rat fragte, wie immer, wenn er nicht weiterwusste und dies hier war so eine Situation.

Aber vielleicht hing es auch mit Schuldig zusammen, dass dieser ihn jetzt zurückließ und er mit etwas umgehen musste, das er in dieser Form noch nie bewältigt hatte.

Sie stiegen aus und Aya nahm Banshee samt Kiste an sich, die Sporttasche über die rechte Schulter gehängt.

Er sah mit wenig Wohlwollen die Fassade des Hauses hoch und runzelte die Stirn.
 

Schuldig nahm seinen Koffer aus dem Kofferraum, beobachtete Ran unauffällig bei seinem Tun. Er unterzog Ran erneut eines prüfenden Blickes, als er die Kofferraumklappe schloss, wie dieser die Fassade hinauf blickte, als wäre es ein Geisterhaus, in dem es Gerüchten zufolge spukte.

Er trat neben ihn und ahmte diese Geste nach, sah dann Ran an.

„Wir sehen aus wie zwei Geisterjäger, als würden wir in dieses Haus zum Exorzismus einziehen“, sagte er nüchtern und legte den Kopf schief, das Haus wieder anstarrend.

Den kleinen Witz konnte er sich nicht verkneifen, bei dem skeptischen Blick den Ran an die Hauswand warf.
 

Ayas Seufzen war wenig hoffnungsvoll, als er sich zu Schuldig umdrehte und den anderen Mann kritisch maß. „Danke, lieber Schuldig, dass du mir DAS noch mal vor Augen gehalten hast“, resignierte er schließlich. Als wenn es nicht schon schlimm genug wäre, was ihm bevorstehen würde in den nächsten zwei Wochen.

Dann jedoch zogen sich seine Lippen in der Andeutung eines Lächelns nach oben, als er leise hinzufügte: „Wenn es allerdings darum gehen sollte, einen gewissen, amerikanischen Poltergeist auszutreiben, bin ich dabei.“
 

„Der ist eh nicht da“, richtete Schuldig seinen Kopf wieder gerade und wackelte mit den Augenbrauen.

Wieder ernster werdend, sah er Ran stumm an, als wollte er sich jeden Quadratzentimeter Haut genauestens einprägen. An den Lippen blieb er hängen…

„Komm wir gehen hinein, sonst kann ich nicht dafür garantieren, dass ich dich hier nicht küsse“, sagte er langsam und seine Augen krochen den Weg von den Lippen hinauf in das mysteriöse Violett, welches er so liebte.
 

„Sag bloß, du bist mit einem Mal keusch geworden? Wie schade…“, schnurrte Aya lasziv und drehte sich mit einem lüsternen Hüftschwung um. Er präsentierte Schuldig schamlos seine Kehrseite und ging ungerührt zum Haus hin, so als ob ihn kein Wässerchen trüben könnte. So als ob er Schuldig nicht gerade heiß machen würde. Nein…das tat er garantiert nicht mit Absicht, garantiert nicht. Denn Küssen reichte ihm als Abschiedsgeschenk nicht…hatte er gerade festgestellt.
 

Schuldigs Mundwinkel wanderten missmutig nach unten und wie von Ran provoziert festigte sich sein Blick auf eben dieses Hinterteil, als er ihm folgte. Zumindest teilweise, bis er das Haus betreten hatte und es sich nicht nehmen wollte, einen herzhaften Klaps auf selbiges zu setzen, den Koffer abstellend und an Ran vorbeigehend.

Nagi kam gerade die Treppe herab. „Hey Kleiner“, setzte er an und wurde mit einem Nicken begrüßt und einem zaghaften Lächeln.
 

Aya lächelte hinter Schuldigs Rücken und sah einen Moment später den jungen Telekineten. Er runzelte die Stirn. Irgendetwas war anders. Was genau das war, konnte er in diesem Moment nicht identifizieren, doch es kam ihm spanisch vor.

Er nickte wortlos, jedoch nicht unfreundlich und sah sich ein zweites Mal um. Währenddessen erwachte Banshee in ihrer weichen Lagerstätte zum Leben und streckte leise miauend den Kopf über die Box, anscheinend neugierig auf ihre neue Umgebung.

Da waren sie also…
 

Nagi trat näher aber blieb noch immer den Abstand wahrend in einiger Entfernung, den Blick knapp über Banshee werfend, bevor er sich seine Handschuhe überstreifte, dies mit Sorgfalt tat.

„Kleiner… kannst du Ran sein Zimmer zeigen?“, wandte sich Schuldig unflätig an Nagi, bevor er Ran kurz um die Hüfte strich und ihn sacht an sich zog.

„Ich geh Jei suchen und komm dann nach, ja?“, raunte er ihm zu.
 

„Unverschämter Telepath“, knurrte Aya ohne wirklichen Elan dahinter, griff jedoch – ungesehen von Nagi – fest in das attraktive Fleisch des ansprechenden Hinterns. Dann löste er sich von Schuldig und ging ohne besagte Laszivität zu dem Jüngsten von Schwarz, hielt mit einer Hand Banshee davon ab, sich aus der Box auf den Weg in unbekannte Gefilde zu machen. Ihm war nicht wohl dabei, sie hier im Haus frei herumlaufen zu lassen…wirklich nicht.
 

o~
 


 

Die infame Beleidigung mit einem kecken Augenaufschlag quittierend, erklomm Schuldig mit wenigen ausladenden Schritten das obere Stockwerk, sein Ziel die heimischen Gefilde von Farfarello.

Dieser saß fast schon lauernd im Schneidersitz auf seinem Bett und sezierte jeden, der durch seine Tür trat, mit einem schwefelgelben Auge.

„Jei, wir müssen reden“, begann Schuldig mit leiser aber eindringlicher Stimme und schloss die Tür, lehnte sich dagegen und verschränkte die Arme vor der Brust, taxierte nun seinerseits den Iren.

„Rede“, forderte Jei ihn nach schier endlosem Starren auf.

„Du weißt, weshalb er hier ist?“

„Seine Sicherheit ist bei dir gefährdet, deshalb überträgst du mir die Verantwortung dafür“, sagte Jei ruhig.

„Richtig. Er dagegen glaubt, er müsse auf dich achten. Soweit die Spielregeln. Ich habe noch etwas hinzuzufügen. Was deine Forderungen an mich wegen eines Ausgleichs natürlich erhöht, falls du darauf eingehst.“

Schuldig wartete mit ernster Miene ab. Hier wurde mit harten Bandagen gekämpft. Jei war ein schwierigerer Verhandlungspartner als Brad…

Jei neigte leicht den Kopf als Zeichen, dass er dieses ‚Etwas’ in Erwägung ziehen würde.

„Dass wir zu den Spielregeln noch ‚regelmäßiges Essen’ hinzufügen, wir nehmen es in die ‚to do’ Liste auf, die Nagi angefertigt hat.“

Wieder schien Jei darüber nachzusinnen, welchen Zweck es wohl haben müsste und entschied sich dafür, als er nickte.

„Was willst du dafür?“

„Was bietest du mir?“

„Den Blonden von Weiß, den Schnüffler“, sagte Schuldig langsam.

„Das liegt nicht in deinem Ermessen.“ Jei erhob sich in einer geschmeidigen Bewegung, kam zu Schuldig.

„Das nicht. Aber du hättest vielleicht Brads Einverständnis, oder Rans Nichteinmischung, wenn ich nachhelfe“, lockte er.

Jei wandte sich um und ging zum Panoramafenster, ließ sich nieder.

„Das ist ein angemessener Bonus.“
 

o~
 

„Dein Zimmer ist hier unten. Somit kannst du jederzeit das Haus verlassen, ob durch die Tür oder das Fenster. Du kannst es absperren. Es gibt einen Türcode, den ich dir noch sagen werde, verwende ihn auch für die Fenster und den ersten Stock. Die Telefonanlage ist gesperrt. Anrufer gibt es nicht. Wenn du aus dem Haus gehst, nur über die Garagen. Jei ist eine gute Warnanlage, trotzdem …“, ließ er offen, dass Ran diese Sicherheitsmaßnahmen beherzigen sollte.

„Hast du Waffen dabei?“
 

„Mein Katana liegt im Koneko“, erwiderte Aya und runzelte die Stirn. Er trug keine Waffen bei sich. Wie denn auch? Er brauchte sie nicht…nicht, wenn er nicht auf einem Auftrag gewesen war.

Er musste sagen, dass die Sicherheitsvorkehrungen, die Schwarz trafen, die von Weiß um Längen überstiegen. Eigentlich naiv von ihnen, jedem Fremden so einfach Zutritt zu ihnen zu gewähren; alleine schon durch den Blumenladen…
 

„Ich verstehe“, nickte Nagi und er stockte kurz. Sein Blick bisher sehr unpersönlich, nicht weiter als bis zu Rans Kinn gehoben, erreichte nun dessen Augen.

„Wir … sind vorsichtiger. Wir müssen jeden Moment damit rechnen aufzufliegen. In … letzter Zeit haben wir das Gefühl, dass wir anderen Gruppierungen in die Suppe spucken, weil wir mehr Aufträge erhalten. Unter anderem bleibt Jei deshalb hier“, offenbarte er mit einem entschuldigenden Lächeln, sah allerdings sogleich wieder weg.
 

Aya runzelte die Stirn. „Warum weichst du mir aus?“, fragte er nach einigen Augenblicken des Überlegens geradeheraus. Natürlich war der Junge schüchtern, so hatte er ihn auch kennen gelernt, doch heute schien es wirklich anders zu sein.

Er setzte die Box auf dem Bett ab und schloss die Tür, sodass Banshee sich ohne Probleme auf Erkundungstour machen konnte.
 

„Tue ich das?“ fragte Nagi und hob den Blick wieder leicht an. Was sollte er antworten?

Dass Jei nur deshalb hier blieb weil er auf das Haus aufpassen sollte? Und nicht weil er unfähig war, auf sich selbst zu achten? … wie Crawford dem Weiß erzählt hatte. Und weil Schuldig Angst hatte Ran alleine zu lassen …

„Warum interessiert dich das?“, legte sich eine zarte Röte auf seine Wangen. Oder fragte ihn Fujimiya … wegen Omi dies? Sah man es ihm an, dass er mit dem anderen…
 

„Weil es so offensichtlich ist - im Gegensatz zu deinem vorherigen Verhalten. Aber wenn du es nicht sagen willst, dann ist das in Ordnung.“ Aya sah sich in dem großen Zimmer um, das ebenso lichtdurchflutet, jedoch nicht ganz so offen war, wie der Rest des Hauses. Ein großes, schlicht weißes Bett stand in den Raum hinein, gesäumt von zwei Nachtkommoden aus Kirschholz. Insgesamt war der Raum in dunklem Braun und überwiegend Weiß gehalten. Schlicht, aber elegant, ganz nach Ayas Geschmack.

„Gibt es etwas, das ich über Farfarello wissen sollte?“, fragte er den Jungen und drehte sich wieder um. Vielleicht vermittelte ihm Nagi noch etwas, das Schuldig vergessen hatte.
 

„Wie oft isst du am Tag?“ wollte Nagi plötzlich wissen.
 

Violette Augen kamen abrupt zurück zum Jüngsten von Schwarz. „Wie oft?“, fragte Aya überfahren nach. Er aß, wenn er Hunger hatte, das konnte von einmal pro Tag bis zu rechten Fressgelagen ausarten, je nach Stimmung, je nach Appetit.

„Braucht Farfarello regelmäßiges Essen?“, traf er vermutlich den Kern von Nagis Frage.
 

„Ja …und nicht nur der“, huschte sein Blick über die Statur des anderen und festigte sich auf Banshee die gerade vor dem Bett saß und hinauf blickte.

„Mindestens morgens und abends, eine Kleinigkeit zu Mittag. Eingekauft ist genügend und wenn du ihn fragst, ob er Hunger hat wird er dir antworten. Du darfst ihm nur keine offenen Fragen stellen. In der Art wie: Möchtest du etwas essen? Die wird er nicht beantworten. Seine Tabletten sind in der Küche, die nimmt er abends ein. Allerdings weiß er selbst, wann er sie braucht. Leg sie ihm zum Abendessen hin. Wenn er sie nimmt ist gut, wenn nicht … auch gut. Was seine Kleidung angeht… ist neben seinem Zimmer ein Ankleideraum. Du kannst ihm alles hinlegen, was du möchtest. Er zieht es ungefragt an. Das ist sonst meine Aufgabe.“
 

„Es liegt nicht in deiner Kompetenz, mir meine Essgewohnheiten vor Augen zu halten“, erwiderte Aya freundlich, jedoch bestimmt auf den ersten Kommentar des Telekineten, nachdem er dessen Monolog schweigend und aufmerksam zugehört hatte. Wenn er für eine Form der Kritik nicht empfänglich war, dann war es Kritik über dieses Thema. Das sensible Thema Essen…er hatte es zu oft durchgekaut, mit Youji, Omi, Ken, Schuldig und nun auch noch er?

„Was sind das für Tabletten? Wird er mich akzeptieren, wenn ich deine Rolle übernehme?“
 

Nagi deutete eine Verbeugung an und lächelte reserviert. „Ich meinte eher mich damit. Verzeihung“, sagte er und bedeutete Ran ihm zu folgen. Er führte ihn hinauf ins obere Stockwerk, zeigte ihm an dessen Ende ein Bedienfeld um die Lichtschranke zu decodieren.

„Psychopharmaka. Sie dämpfen etwas und helfen ihm beim Schlafen. Er hat seine Befehle, hier geht es nicht um Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz.“
 

Aya folgte mitsamt Banshee und berührte den Jungen schließlich am Arm. „Entschuldige, ich hatte dich missverstanden.“ Schneller, als Nagi vermutlich reagieren konnte, hatte er sich auch schon gelöst und merkte sich in Gedanken die Decodierungsnummer.

„Wie lauten seine Befehle?“
 

Doch Nagi konnte nicht reagieren, er war innerlich fast schockiert über diese Entschuldigung. Sein Puls beschleunigte sich und er zog die Stirn in Falten, den Blick fragend an Ran gerichtet ohne es selbst zu merken.

„Dich für zwei Wochen als Teammitglied zu betrachten.“ Was dies alles beinhaltete, das musste nicht erwähnt werden. Das würde Ran schon herausfinden … oder auch nicht.
 

Aya war ebenso überrascht, wie es der Jüngere vielleicht sein mochte. Er? Ein Teammitglied von Schwarz? Gut, wenn er das von der logischen Seite her betrachtete, war es nur normal.

Er nickte bedächtig, noch nicht ganz von diesem Arrangement überzeugt, jedoch schon etwas beruhigter.

„War Omi schon hier?“, fragte nun er aus heiterem Himmel, ohne wirklichen Zusammenhang.
 

Das verschlug Nagi die Sprache und er konnte die aufsteigende Hitze in seinem Gesicht nicht verhindern. Sein Mund wurde trocken, als ihm dessen Berührungen plötzlich aufdringlich in Gedanken vordergründig wurden.

„Da?“, fragte er vorsichtig nach. Wie viel wusste Fujimiya? Durfte er etwas wissen? Er fühlte sich plötzlich wie ertappt.
 

„War er nicht mit Schuldig hier gewesen?“, fragte Aya geduldig, mit soviel Freundlichkeit, wie er in seine Stimme legen konnte, ohne den anderen zu verschrecken. Zumindest mehr als er es jetzt schon war, während Banshee sich mit ihren Krallen an seinem Brustkorb hochstemmte und versuchte die Umgebung von seiner Schulter aus zu inspizieren.
 

Nagi räusperte sich und ging weiter zu Jeis Ankleidezimmer, blieb im offenen Türrahmen stehen.

„Doch… er war hier“, sagte er sparsam.
 

Aya erwiderte nichts darauf. Mehr hatte er auch gar nicht wissen wollen. Es gab Menschen, die behaupteten, dass er nicht eins und eins zusammenzählen konnte, doch entgegen der Meinung der Allgemeinheit war er dazu durchaus in der Lage.

Er warf einen Blick in den doch recht großen Raum, der über und über mit Kleidung behängt war. Es ließ sich hier auf den ersten Blick alles finden. Alles.

Es schien, als würde Aya nun zum ersten Mal klar werden, was es wirklich bedeutete, hier zu sein: Farfarello Sachen heraussuchen - zum Anziehen. Das hatte er selbst für sein Team nur in Ausnahmefällen getan. Hilfe.

Aya schloss das Thema rigoros ab und wandte sich angenehmeren Gedanken zu. Er dachte an Omi und lächelte beinahe augenblicklich vergnügt in sich hinein. Omi…der sich wirklich getraut hatte – bei Crawford vorzusprechen um für Nagis Hand anzuhalten…oder das moderne Äquivalent davon.

Er hatte sich durchaus Sorgen um ihren Jüngsten gemacht, als Omi ihm am Telefon schon auf dem Weg zum Amerikaner den in seinen Augen völlig hirnrissigen und gefährlichen Plan vorgestellt hatte. Doch was hatte er machen sollen, außer darauf zu hoffen, dass Schuldig über etwaige Katastrophen ein Auge haben würde…und: es war ja auch nichts passiert.
 

Nagi sah das Lächeln welches sich in die sonst eher kühlen Züge des früheren Anführers von Weiß geschlichen hatte und machte dicht.

Es war ungewohnt, ihn auf dieses Thema ‚Omi’ derart frech lächeln zu sehen. Er drehte sich weg, sich unwohl fühlend und ging wieder hinunter, Richtung Küche … als würde er von dem anderen fliehen. Hatte Omi … Ran etwas erzählt? Vermutlich… ! Würde er alles andere zwischen ihnen ihm auch erzählen?

Zweifel nagten an ihm.
 

„Jetzt haben wir ihn vergrault, was?“, murmelte Aya zu Banshee und fing sie wieder ein um

mit ihr durch das Haus zu streunen. Omi würde schon das Richtige machen, dessen war er sich sicher. Nachdem Nagi wieder da war, hieß das.

Aya hatte ein komisches Gefühl, nach so langen Jahren der Feindschaft, die zum Teil auch heute noch bestand, hier, in genau diesem Haus umher zu wandern. Er wusste, dass er nicht hierher gehörte und fühlte das auch.

Es sind nur zwei Wochen, sagte er sich selbst. Zwei kurze Wochen. Dann ist alles wieder so, wie es sein sollte. Hoffentlich.

Eher unwissentlich war er mit seiner Wanderung ins weitläufige Wohnzimmer gekommen.
 

Wo Schuldig gerade auch eintraf, nachdem er Ran nicht in dessen zugewiesenem Zimmer gefunden hatte. „Wir hauen in einer Stunde ab“, verkündete er und wandte sich zu Nagi um der aus Richtung Küche kam.
 

Eine Stunde? Das war zu wenig, das war…sie brauchten noch mehr Zeit, Schuldig konnte doch nicht in einer Stunde schon…

Aya verdonnerte seine wild laufenden Gedanken zum Schweigen. Was sollte das? Wieso geriet er hier in Panik? Er hatte schon WEITAUS Schlimmeres überstanden. Das war doch ein Klacks. Er war doch sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.

Nein…er war auch hier nicht aus der Ruhe zu bringen, wie er nur Augenblicke später feststellte. Wenn er sich beherrschte, wenn er sich zusammenriss, dann funktionierte es auch.
 

„Kleiner … wir sind in Rans Zimmer. Wir müssen noch über den Plan sprechen“, sagte Schuldig ernst und nahm von Nagi ein Blatt Papier entgegen.

Danach griff er sich Ran am Handgelenk und zerrte etwas daran, damit dieser ihm folgte. Im Zimmer angekommen schloss er die Tür, warf das Blatt auf einen Stuhl und zog seine Ruger aus dem Holster.
 

Plan…?, kam Aya noch dazu, sich über Schuldig zu wundern, bevor er von diesem ohne Verzögerung geradewegs in seinen Raum gezogen wurde. Bevor Schuldig seine Waffe zog, was der rothaarige Japaner misstrauisch zur Kenntnis nahm. Seine Augen ruhten auf den Händen des Telepathen, während er ruhig vor dem Bett stand.
 

Schuldig drehte die Waffe, als er sich sicher war, dass sie genügend Munition enthielt, reichte sie Ran weiter. „Hier. Allerdings ist sie nicht für Jei gedacht“, sagte er ruhig und suchte Rans Blick.
 

„Nicht, wenn es nicht nötig ist“, stimmte Aya nickend zu und nahm die Waffe an, besah sich das schwere Gewicht in seiner Hand. „Ich habe schließlich keinen Grund, ihn zu töten, insofern er mich nicht angreift.“

Seine Augen ruhten auf denen des Telepathen, als er verstummte und Schuldig mit intensivem Blick maß.
 

„Und was ist… wenn es aussieht wie ein Angriff, es aber keiner ist? Wenn er dich nur schützen will?“, fragte Schuldig. „Sie ist nicht für ihn, Ran. Kein nervöser Zeigefinger, ja?“

Schuldig war sich nicht sicher, ob er das Richtige tat, ihm war nicht wohl dabei und das sah vermutlich auch Ran.
 

„Ich bin kein Anfänger, Schuldig. Ich werde nicht gleich bei der erstbesten Bedrohung zur Waffe greifen und ihn niederstrecken. Wir haben einen Deal. Ich passe auf Farfarello auf und sorge dafür, dass er die nächsten zwei Wochen Kleidung und etwas zu essen bekommt, dass er seine Medikamente nimmt. Nichts weiter. Ich werde meine Nerven nicht verlieren. Ich denke, ich kann zwischen seinem Spiel und Ernst unterscheiden. Und ernst wird es dann, wenn er mit einem Messer oder einer anderen Waffe auf mich losgeht und ich ihn anderweitig nicht stoppen kann.“

Aya seufzte und legte die Waffe auf die Kommode, die dem Bett gegenüberstand. Er ging zu Schuldig und strich ihm mit den Fingern über die Wange.

„Keine Sorge, Schuldig, ich weiß, wie viel dir dein Team bedeutet.“
 

Schuldig lächelte entschuldigend und schmiegte sich etwas in die Berührung.

„Ich weiß, dass du kein Anfänger bist … ich mache mir nur Sorgen … um dich … und auch um Jei.“
 

„Ich weiß. Aber es wird nichts passieren. Wer weiß, vielleicht sind er und ich durchgebrannt, wenn du wiederkommst?“ Aya knuffte Schuldig spielerisch in die Seite, zwinkerte, alleine um die Stimmung zwischen ihnen aufzulockern. Er wollte nicht, dass der andere Mann traurig war. Er sollte sich keine Sorgen um ihn machen.
 

„Durch… ge…WAS?“, hakte Schuldig ungläubig nach und sein Kopf ruckte pflichtschuldigst höchst verwundert über eine derartige Vorstellung vor. „Das zeigst du mir aber erst einmal“, forderte er und hob beide Brauen Richtung Stirnansatz, bevor er dreckig grinste.
 

Wer war Aya, dass er diese Bitte nicht erfüllte? Er lächelte und versuchte sich zu entspannen…versuchte die Atemtechnik anzuwenden, die ihm schon lange Zeit zuvor gezeigt worden war. Und tatsächlich…es funktionierte nach einer Weile.

Und dieses Mal entwarf er ein Szenario, das selbst ihn in einem versteckten Winkel seiner selbst durch und durch gruselte. Farfarello und er…klassisch durchgebrannt nach Hawaii mit bunten Hemden, Longdrinks in der Hand und so schmalzend, dass es ihn schauderte. Nicht sein Fall, aber gut genug, Schuldigs Wunsch zu erfüllen.
 

Innerlich verzog sich Schuldig alles bei dieser grotesken Darstellung. „Hör auf …hör auf“, winselte er fast schon leidend und klappte seinen Kopf in den Nacken, lehnte somit an der Tür und schloss voller verzweifelter Dramatik die Augen, die Hand obligatorisch mit dem Handrücken auf der Stirn abgelegt. „Grausam“, seufzte er gequält. „Diese Hawaiihemden.“
 

„Du regst dich über die Hawaiihemden auf?“, knurrte Aya und schnaubte. „Dann sieh dir das hier an…“ Und wieder entstand ein absurdes Szenario in seinem Kopf. Farfarello und er, in Baströckchen und Blumenkränzen auf den Köpfen, wie sie sich schmachtend das Ja-Wort gaben. ‚Ja, mein irisches Bärchen, ich will.’ ‚Ja, ich will auch, du japanisches Seidenräupchen, du.’

Youji hatte Aya einmal so genannt. Einmal. Sie waren danach nicht mehr zum Sex gekommen im Blind Kiss. Ganz im Gegenteil. Das hatte ihre damalige Fickfreundschaft auf reine Freundschaft reduziert, für Wochen.
 

Schuldig gab angewiderte Geräusche von sich die sich mit ungläubigen Lauten mischten. Das Gesicht dazu selbstverständlich optimal getimed. „Ran …hör auf, mir wird schlecht“, mahnte er die Folter einzustellen. „Seidenräupchen…“, ließ er sich das Wort fast auf der Zunge zergehen und brachte ihn zum hintergründigen Lächeln. Ein neues Wort auf seiner Liste.
 

Und Aya sah den Fehler, den er begangen hatte, Schuldig erst auf dieses Wort zu bringen.

„Mein lieber Schuldig“, lächelte er sanft, liebenswürdig, und strich dem Telepathen über die weiche Haut der Kinnpartie. „Solltest du es einmal benutzen, wirst du das hier“, er griff fest in den Schritt des anderen Mannes und drückte warnend, nicht schmerzhaft zu. „Nie wieder irgendwo reinstecken, schon gar nicht hier rein.“ Er griff sich die freie Hand des Deutschen und patschte sie zusammen mit seiner eigenen auf seinen Hintern. „Und ICH werde dieses hier“, ihrer beider Hände wanderten zu seinem besten Stück und ließen Schuldig dessen Präsenz spüren. „Auch garantiert nicht mehr dort hinein stecken.“ Und schon lagen die beiden Hände auf Schuldigs Hintern.

„Das war doch deutlich, oder?“
 

„Total“, grinste Schuldig. Seidenräupchen. Seidenräupchen, schrieen seine Augen. Seidenräupchen. Seidenräupchen. Er hatte kein Wort gesagt, kein einziges zu Ran schweben lassen und doch stand es in seinen Augen.

Seine Mundwinkel freuten sich geradezu über dieses Wort.
 

Aya lächelte, jetzt zuckersüß. Und OB er die Gedanken des Telepathen lesen konnte. Alleine schon dieses fiese Grinsen sagte alles.

Er drehte sich mit einem leisen Lachen weg und suchte nach Banshee. Nahm sie schließlich wieder auf den Arm und schmuste mit ihr. „Na, wollen wir uns mal auf die Suche nach etwas Essbarem für dich begeben, hm? Schuldig hat ja keine Lust auf Sex. Für die nächsten Jahre nicht mehr…da muss ich mir wohl Ersatz suchen, was?“
 

Schuldigs Lider klappten zur Hälfte herunter und er nahm Mann samt Kätzchen in finsteren Augenschein. „Ran“, zog er drohend den Namen unnötig in die Länge. „Da verstehe ich keinen Spaß mehr“, schüttelte er ganz langsam den Kopf. Nein, nein. „Du hast mit dem…. ‚S’- Wort angefangen, nicht ich!“, verteidigte er sich mit nun leidendem Unterton, sein ganzes Repertoire aufführend.
 

Ayas Blick traf den Schuldigs, jedoch nur für einen kurzen Moment, bevor er sich wieder an Banshee wandte und sie zärtlich kraulte. „Weißt du, Banshee. Ich hätte auch keine Lust auf Sex. Stell dir mal vor… so richtig heißen Sex. Wildes Rumgestöhne, heiße Leiber, die sich aneinander reiben. Und dann…das erlösende Eindringen in den willigen Leib. Nein, darauf hätte ich auch keine Lust...vielleicht ist es also gar nicht so schlimm, abstinent zu leben. Aber wir haben ja noch Farfarello, nicht wahr? Uns wird es garantiert nicht langweilig werden“, murmelte er sanft, auch wenn er innerlich beinahe bei Schuldigs evidentem Leid dahinschmolz.
 

Dieser schloss die Augen. Irgendwie hatten diese letzten Sätze den Ernst der Lage wieder näher an Schuldig heran gerückt. Sie hatten noch vierzig Minuten Zeit. Und nur … um sich vielleicht nie wieder zu sehen. Er hob die Lider wieder an, doch seine Augen erreichten nur Banshee, wie sie sich in den kraulenden Berührungen sonnte. Schuldig schwieg und lächelte. Er versuchte, sich diese Momente einzuprägen.
 

Die darauf eingetretene Stille ließ Aya schließlich aufsehen. Das, was er in Schuldigs Augen sah, ernüchterte ihn mehr als alles andere es jemals gekonnt hatte. Das Lächeln auf seinen Lippen erstarb und er sah zur Seite. Schuldig würde bald weg sein. Und er blieb in Japan, würde sich zwei Wochen nur Sorgen machen. Brachiale Angst, dass er noch jemanden verlieren würde.

Der Tod seiner Schwester war noch zu nahe, als dass ihn das nicht schmerzen würde. Es zeigte sich in seinen Augen, die er Schuldig jedoch nach wie vor vorenthielt und sich nun auch noch zur Sicherheit an das Fenster stellte. Den Blick über die Natur hinweg in den Himmel schweifen ließ.
 

Ran wollte alleine vor sich hinleiden, brummte Schuldigs zynisches Ich und er blickte Ran nach, wie dieser sich vor ihm körperlich verschloss, wie er ihm seine Nähe entzog. Wie ein Dieb stahl er sich in seine Gedanken, schlenderte gemächlich hinein und platzierte sich in eine Ecke. ‚Das Plätzchen gefällt mir hier. Hier könnte ich mich glatt einnisten’, wehten seine Gedanken durch Rans.
 

Aya schmerzte Schuldigs Spott und seine instinktive Reaktion war, die Barrieren, die seine Gedanken schützten, hochzuziehen. Er sagte nichts, stand nur am Fenster und starrte hinaus. Schuldig gefiel es also, wenn er um seine Schwester trauerte? Wenn er mit Schmerz an sie zurückdachte? Was sollte das?

Aya schloss die Augen.
 

So langsam wie er in Rans Gedanken eingedrungen war, so schnell und sorgfältig wurde er vor die Tür gesetzt. Was schmerzte, wenn er nicht darauf vorbereitet war, wenn er sein Vertrauen einsetzte und keine Vorsichtsmaßnahmen ergriff.

Schuldigs Kopf flog nach hinten und er zischte ob des Schmerzes, der beißend durch seinen Kopf schoss und er erschauerte. Keuchend öffnete er vorsichtig die Augen. Es war noch alles dran. „Ran… was soll das? Wenn du nicht willst, dass wir eine Verbindung halten, während ich weg bin, kannst du das auch sagen“, knirschte er und seine Hand fuhr zu seinem dumpf pochenden Kopf.
 

„Verbindung halten?“, fragte Aya bitter nach und drehte sich abrupt um, fixierte Schuldig. Hatte er dem anderen Mann Schmerzen zugefügt? So wie es aussah, hatte er das. Aya tat es Leid, das wollte er nicht. Dennoch…trotz aller Sorge um Schuldig…

„Ich würde gerne diese Verbindung halten, wenn es nicht Spott wäre, den du mir entgegenbringst“, merkte er an, nicht wütend, sondern leise, ruhig.
 

„Was für Spott denn bitte?“, sagte Schuldig und presste die Lippen aufeinander. Warum stritten sie hier eigentlich? Was hatte er denn bitte getan? „Ich wollte dir damit sagen, dass ich mir ein Plätzchen aussuchen könnte … ein geheimes … von dem ich dich besuchen könnte, im Schlaf, wann auch immer. Was habe ich denn Schlimmes gesagt?“, schwankte seine Stimme zwischen Trotz und Verletztheit.

Das Letzte, was er jetzt gewollt hätte, war, sich spottend über Ran herzumachen. Sehr viel Vertrauen schien ja nicht zwischen ihnen zu herrschen. Nach wie vor nicht.

Schuldigs Blick, der zuvor auf dem Boden geweilt hatte, verschwamm.
 

Momente herrschte Stille zwischen ihnen, bevor auch Aya seinen Blick senkte und tief einatmete. Gott. Als wenn er die aufkommenden Tränen in Schuldigs Augen nicht gesehen hätte…

Er setzte Banshee schweigend ab und ging zu Schuldig hinüber. Und schon wieder hatte er etwas falsch verstanden, schon wieder war es zu unnötigen Missverständnissen gekommen. „Nichts…du hast nichts Schlimmes gesagt. Ich habe nur nicht nachgedacht“, wiegelte er ab und streichelte Schuldig durch die Haare. „Ich war wieder…völlig sozial unfähig.“ Es war schwer, das zuzugeben. Sehr schwer. Und sehr bitter.
 

Ohne hinzusehen zog Schuldig Ran fest an sich und verbarg sein Gesicht an der Schulter des anderen. „Ich würde dich nicht verspotten … habe ich das denn … seit du bei mir bist, Ran?“ Es tat ihm weh auf eine Weise, die er nicht beschreiben konnte, aber eigentlich … wollte er nicht darüber nachdenken. Und eigentlich hatte er nicht vor, im Pfuhl des Selbstmitleides zu versinken. „Egal. Wir sind sicher beide nur durch den Wind“, murmelte er schwach, gab er ihnen beiden eine praktische und bequeme Entschuldigung.
 

„Nein, das hast du nicht. Deswegen war es mein Fehler, es von dir anzunehmen. Hörst du? Ich habe überreagiert“, murmelte Aya und schloss Schuldig in seine Arme. Er schwieg auch für ein paar Minuten, wiegte Schuldig stumm hin und her.

„Ich hätte dich gerne bei mir, das weißt du.“
 

„Weiß ich das?“, fragte Schuldig etwas müde nach. Nach dem Ausschluss gerade eben war er sich da kurzzeitig nicht mehr sicher gewesen. „Es verunsichert mich… gerade war ich dir noch so nahe und … im nächsten Augenblick schleuderst du mich davon. Sag mir einfach, wenn ich gehen soll… aus deinen Gedanken, ich tue es… Ran. Du brauchst mich nicht rauszuwerfen.“

Für ihn war ein Besuch bei Ran etwas Besonderes und er hatte noch nie seit sie zusammen waren die Zeit, jeden erlaubten Winkel zu durchforschen. Ein Rauswurf schmerzte.

Seufzend rückte er sie zurecht und barg sein Gesicht in Rans Halsbeuge. „Irgendwie… sind wir doch echt …blöd“, sagte er in kindlicher Manier und seufzte wiederholt.
 

„Wir? Ich bin es. Zu blöd, dich zu verstehen. Ich wollte dich gerade nicht rauswerfen, das tut mir leid. Ich hatte nicht gedacht, dass es dir…wehtut. Ich dachte nur…ich war so sehr in Erinnerungen, dass ich…“ Aya brach ab, sagte nichts mehr. Seine Gedanken liefen durcheinander, als er nicht preisgeben wollte, was ihn so sehr geschmerzt hatte.

Ein weiteres Mal lud er Schuldig ein.

‚Ich verspreche dir, dass ich das nächste Mal Bescheid sage, wenn du gerade zu Besuch bist. In Ordnung?’, fragte er hoffnungsvoll in Gedanken.
 

‚Ich habe nur gelesen, dass du dir Sorgen um mich machst, Ran. Alles andere war zu sehr von dir verborgen, in tiefen Schichten, die du mich nicht sehen lässt. Du verbirgst ja selbst deinen Blick vor mir. Wie soll ich dich dann einschätzen?’, trat Schuldig wieder ein und formte diese Worte betont sanft, vorsichtig.
 

‚Ich dachte…du kannst mich gesamt lesen, wenn du in meinen Gedanken bist’, erwiderte Aya überrascht und sah Schuldig an. Er war sich bewusst, dass sie zum ersten Mal eine ernsthafte Diskussion auf die Gedankenebene verlegt hatte. ‚Ich…musste an Aya denken. An den möglichen Fall, dass du ebenso nicht zurückkommst und ich…’ Die bewussten Gedanken endeten hier, ließen nur Bilder übrig. Emotionen, die dunkel waren.
 

Schuldigs Hände hielten Ran, strichen beruhigend und auch versichernd über den Rücken.

‚Das könnte ich … dich gesamt lesen, aber du verbirgst es so tief… die Trauer um deine Schwester, ich benötige Zeit oder dein Einverständnis. Die Sorge … um mich lag offener und bequemer für mich … wie ein Papier oben auf dem Stapel liegt.’

Er schwieg einen Moment.

‚Du teilst dich mir nicht mit, oft sieht es so aus, als hättest du alles komplett überwunden. Was völliger Schwachsinn ist, nur du frisst es in dich hinein. Und dann …schießt es heraus, wie eine Fontäne.’
 

‚Bisher ist es immer gut gegangen’, hielt Aya dagegen und meinte alles damit. Er hatte so den Tod seiner Eltern überstanden. Die unzähligen Morde. Es funktionierte seit sieben Jahren. Er hatte nie die Notwendigkeit gesehen, es zu ändern, weil niemand…so tief gekommen war. All das projizierte er in diesem Augenblick in seine Gedanken. ‚Wenn du wieder da bist, dann nehmen wir uns Zeit. Und…dann schauen wir, wie tief wir kommen, in Ordnung?’ Es war das Intimste, was Aya Schuldig schenken konnte. Er hatte Angst davor, so durchsichtig zu werden. Doch er fühlte, dass Schuldig es wollte.
 

‚Glaubst du nicht… dass es dir gut tun würde? Die Last abzuschütteln?’

Er hätte doch Psychologe werden sollen, dachte er für sich selbst und verzog das Gesicht.
 

‚Werden wir sehen, wenn es so weit ist, Schu.’ Er zog den Telepathen mit sich zum Bett und ließ sie beide darauf fallen, die Arme immer noch umeinander geschlungen. Eng verbunden in Körper und Geist.
 

o~
 

Jeis Blick richtete sich auf den Boden. Mal ging er hierhin, mal dorthin, als verfolge er eine Spur. Die Spur eines Tieres in den Eingeweiden des Hauses. Ein Umstand, der nicht so verkehrt war.

Wieder verfolgte er den Gang quer durch sein Zimmer. Er selbst saß auf dem Bett, begutachtete den leeren Boden.
 

Aya hingegen war unruhig.

Es war bestimmt schon zwei Stunden her, dass Schwarz das Haus verlassen hatten und nach Shanghai geflogen waren. Schuldig und er waren bis zur letzten Minute verbunden geblieben. Ob sie es jetzt noch waren, wusste Aya nicht, zumindest hatte der Telepath seine Gegenwart nicht verlauten lassen.

Aya stromerte wie ein gefangener Tiger durch das Wohnzimmer und warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde und er würde damit anfangen, Farfarello sein Essen zu kochen. Er rollte nervös mit den Augen. Anscheinend hatte Banshee seine Unruhe auch gespürt und sich zu ihm begeben, nur um nun mit ihm durchs Wohnzimmer gewandert zu werden.

Er ließ sich schließlich auf die Couch fallen und starrte aus dem Fenster. Es war schon dunkel.
 

Dem Treiben hatte er nun einige Zeit genügend Beachtung geschenkt. Jei erhob sich geschmeidig von seinem Beobachtungsposten und begab sich hinüber in den Teil seines Zimmers in dem sich das Sammelsurium seiner Bilderkunst befand. Doch die rechte Lust wollte nicht aufkommen. Es gab Interessanteres im Haus.

Auf barfüßigen Sohlen ging er hinunter um seinen ‚Aufpasser’ zu beäugen. Was er auch tat. Ausführlichst. So saß er erst einmal auf dem Treppenabsatz, den Kopf ans Geländer gelehnt und spähte zu Ran und dessen Tier, die in Höhe des Kamins auf der Couch saßen.

Trauer durchfloss den Mann in vielen Schichten.
 

„Sag mir, dass das ein beschissener Plan ist“, sagte Aya zu Banshee und hob sie sich vor Augen. „Sag mir, dass ich völlig unüberlegt zugestimmt habe. UND dass ich Schuldig hätte nicht gehen lassen sollen. Scheiß auf den Amerikaner.“

Ein leises Maunzen antwortete ihm.

„Ja, du hast ja Recht…“ Aya ließ sie wieder auf seinen Schoß, doch sie blieb dort nicht, sondern sprang hinunter und lief gen Flur. Der rothaarige Japaner drehte sich um und erstarrte. Farfarello. Hier. Seit wann?
 

Das rote, agile, zum Spielen aufgelegte Fellbündel auf sich zukommen sehend und ins Visier seines aufmerksamen Auges nehmend hob Jei es auf und fühlte die lebendige Weichheit nach, die Anschmiegsamkeit. Fortan eine neue Beschäftigung gefunden, spielte er mit dem Katzenkind, während sein Blick zu Ran glitt.
 

Aya besah sich die beiden stumm und musste wider Willen zugeben, dass sie zusammenpassten, so wie sie dort saßen, einträchtig. Banshee liebte Farfarello abgöttisch, das sah er. Verräterin, schmunzelte er in Gedanken. Sie holte sich das, was sie wollte und kannte keine Rücksicht.

„Hast du Hunger?“, fragte Aya vollkommen aus seinem gedanklichen Kontext gegriffen, erinnerte sich dabei an die Tipps von Schuldig und Nagi. Direkte Fragen, keine Umwege.
 

Jei lächelte wissend, ob dieser Taktik. Wissend und lobend. „Ja, habe ich“, antwortete er fügsam und widmete sich danach ausschließlich Banshee. „Magst du Farben, Katzenkind?“, fragte er und legte den Kopf schief.
 

Aya streifte vom Sofa aus langsam näher und betrachtete sich Farfarello eindringlich. In Höhe des Flures verschränkte er die Arme vor der Brust und ließ seinen Blick über die Gestalt des Iren schweifen. Er hatte wohl gesehen, dass der Ire seinen ‚Fortschritt’ bemerkt hatte.

„Warum hast du zwei Namen? Jei…Farfarello?“, fragte er, die Augen auf Banshee gerichtet, die einem weißen, vernarbten Finger hinterher huschte.
 

Doch Jei reagierte nicht darauf, er würde zu gegebener Zeit darauf antworten. Aber jetzt gab es Wichtigeres. „Schmetterlinge gibt es im Frühjahr wieder, nicht?“, sagte er zu Banshee. „Es macht Spaß sie zu jagen, nicht?“ Erst dann hob er den Blick zu Ran, bevor er aufstand, samt Banshee und die Treppe hinunter kam.
 

Violette Augen maßen ihr stechendes Gegenstück…sie waren anscheinend gleich groß, stellte Aya jetzt fest. Wie kam es, dass ihn die Gegenwart des Iren nach und nach beruhigte? Denn das war er; weitaus gelassener als zuvor. Auch als Farfarello Schuldig damals einen Besuch abgestattet hatte.

Er drehte sich um und ging ohne Kommentar in die Küche, besah sich dort den Vorrat. „Isst du gebratenen Eierreis mit Gemüse?“, rief er gen Wohnzimmer, gespannt, ob er darauf eine Antwort bekommen würde, auch wenn die Chancen darauf wohl eher schlecht standen.
 

Die jedoch ausblieb. Da Jei sich nun auf den Weg nach oben in seinen Raum gemacht hatte, sobald Ran in der Küche verschwunden war. Mit einem flachen Farbbehältnis, in dem Purpur schwappte, kam er wieder herunter, eine große Rolle Papier unter dem Arm, welche er quer im Wohnzimmer ausrollte.
 

Natürlich kam keine Antwort, aber was hatte Aya auch erwartet? Es war nur eine rein provisorische Frage gewesen und so machte er sich daran, die Zutaten aus dem Kühlschrank zu holen und das Essen zuzubereiten. Angst, Banshee bei Farfarello zu lassen, hatte er nicht…mehr.

Er schaltete das Radio an und ließ sich vom leisen Gedudel im Hintergrund beschallen, als er für sie beide das Essen zubereitete.
 

Der Künstler und sein Modell beschäftigten sich unterdessen mit sich selbst, bis Jei zur Küche kam und Banshee auf den Boden setzte, diese sogleich freudig auf ihren Pfoten zu Ran tapste, den Küchenboden mit Purpur und ihren Spuren markierte. Jei sah ihr stolz nach und verfolgte ihre Spuren auf dem glatten Boden.
 

Aya schüttete gerade den Reis ab, als er merkte, dass etwas seine Beine umstrich. Er sah lächelnd hinab und hatte im nächsten Moment das Sieb mit dem Reis schon längst vergessen, als er die roten Tapsen auf dem Boden sah. Rot wie…

„Banshee!“ Er nahm die Kleine entsetzt hoch, prüfte sie auf Verletzungen, fand jedoch nichts. Dann…

Im nächsten Moment war er schon im Eingang der Küche und prallte fast gegen Farfarello. Weit hinter dem Iren ein Farbeimer. Zufälligerweise in Purpur…und der ganze Bereich um sie voll von den Tapsen. Und dann erst mal das Papier hinter dem Iren…
 

Schwarzes Papier mit weißen Schlieren darin und nun … roten Kätzchentapsen darauf. Jei begutachtete den spontanen Einfall und irgendetwas sagte ihm, dass hier noch etwas fehlte. In seiner Grübelei blickte er auf und legte fragend den Kopf schief. Fragend und doch bereits wissend. „Hast du schon einmal … Bodypainting gemacht?“
 

Aya gefiel die Zusammenstellung nach ein paar Minuten des intensiven Hinsehens doch recht gut, vor allen Dingen die spielerische Spur der Pfötchen mitten durch das Bild.

Schlimmer war jedoch, dass es auch eines derjenigen war, die er sich durchaus in seine Wohnung hängen würde.

Er sinnierte über die Frage des anderen Mannes, der ihm in diesem Moment wie sein Sohn vorkam, welcher auf dem Teppich saß, mit seinem Farbkasten spielte und den vollkommen Unschuldigen mimte, nachdem er etwas angestellt hatte. Doch dieser Moment verflüchtigte sich sehr schnell. Sehr sehr schnell.

Ob er sich schon einmal hatte bemalen lassen. Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus.

„Ja, habe ich.“ Damit drehte er sich um und verschwand wieder in der Küche, schwelgte in den Momenten der Erinnerung. Ihnen war etwas Ähnliches schon in einem der vielen SM-Clubs angeboten worden. Körperbemalung mit Geschmack versetzter, ableckbarer Farbe. Youji hatte seine helle Freude gehabt…er auch.
 

Jei lachte leise, samtig und verfolgte Rans Abgang in die Küche. Die Gefühle, die den anderen gerade durchzogen hatten eindeutigen Charakter. Er konnte sich nun eine gewisse sexuelle Nähe mit dieser Art der Körperbemalung vorstellen. Eine neue Erfahrung wäre es sicherlich…

Körper, Farben, Formen, Kurven und daraus resultierende Gefühle…
 

Aya streckte sich und ließ einen seiner aus der Façon geratenen Rückenwirbel wieder in die richtige Position knacksen. Das Essen war fertig und er richtete es an, deckte den massivholzenen Tisch in der Mitte der weitläufigen Küche. An Farfarellos Platz legte er zusätzlich noch zwei der weißen Pillen, die Nagi ihm gezeigt hatte und die dem Iren beim Schlafen helfen sollten.

Er schüttete ihnen beiden zum Schluss noch etwas zu trinken ein, bevor er wieder in Richtung Wohnzimmer ging, den mittlerweile überall verteilten, roten Tapsen folgte. Er überlegte, ob er es nicht einfach so lassen sollte. Es sah…interessant aus.

Seine Augen ruhten auf Farfarello, der immer noch vor dem großen Bild saß und ihn beobachtete. Auf Banshee, wie sie ihn umschlich und ihren Kopf an seinem Knie rieb. Aya musste lächeln. Sie hatte also ihren Besitz markiert.

„Komm essen“, richtete er neutral an den Iren und nickte. „Banshee komm…“, lockte er auch die Kleine, für die er auch gesorgt hatte.
 

Ohne viel Zeit verstreichen zu lassen erhob sich Jei und folgte dem Küchenmeister in sein Revier, setzte sich artig, mit einer abgezirkelten Bewegung an den Tisch und fing kommentarlos an zu essen. Dabei nur auf den eigentlichen Vorgang der Nahrungsaufnahme konzentriert, schwieg sich Jei aus.
 

Besagter Küchenmeister jedoch probierte erst einmal nicht von seinem Essen, sondern beobachtete ganz ungeniert den anderen Mann. Skurril, das war die ganze Situation hier. Farfarello und er saßen gemeinsam an einem Tisch, aßen von ihm gekochtes Essen. Wie selbstvergessen der Ire hier saß, seine gesamte Konzentration nur auf die Nahrungsaufnahme gerichtet, dabei jedoch nicht feindlich oder ihm abweisend gegenüber eingestellt, sondern einfach nur…für sich.

Hatte er bei Weiß nicht auch oft so am Tisch gesessen? Tief in sich versunken, distanziert von den anderen, hatte sich nicht darum geschert, was sie dachten, sie redeten oder wie sie fühlten? DAS war negativ gewesen. Doch Farfarello hier…

Banshee spürte das anscheinend schon von Anfang an, so wie sie ihn kaum aus ihren Augen ließ. Nur jetzt, wo sie sich selbst an ihrem Napf bediente, wich sie ihm von der Seite.

Aya griff zu seinem Glas Saft und nahm einen Schluck.
 

Als er sein Mal beendet hatte stand Jei auf, suchte Rans Augenkontakt und blickte ihn direkt an, das Gefühl von Geborgenheit in diesen ausstrahlend, nur einen Moment lang wie eine kleine Sommerbrise, bevor er weiterging, die Küche verließ.

Es war seine Art sich zu bedanken, auch wenn er es nicht wirklich für nötig befunden hatte, wie er auf seinem Platz vom Boden aus auf das Bild starrend resümierte.

Er wartete auf seine neue Freundin, betrachtete selbstvergessen das Bild.
 

Aya blinzelte verwirrt ob des warmen Kribbelns in ihm selbst. Seine Hand floh automatisch zu seinem Herz und legte sich darauf, während er verwirrt hinunter sah. Er wusste im gleichen Moment, dass es von Farfarello kam, dass der andere Mann das in ihm ausgelöst hatte. Nur kurz…nicht für lang. Doch es hatte gut getan. Es war…ein schönes Gefühl gewesen. Wunderschön, um genau zu sein.

Der rothaarige Japaner lächelte stumm und strich sich eine Strähne des langen Haares zurück. Er sah, wie Banshee nach einem Blick auf Farfarellos leerem Platz mit ein paar Sätzen aus der Küche war und ihm anscheinend ins Wohnzimmer hinterher trottete. Na sowas. Da war er aber ganz schnell out und sie ihm fremdgegangen...

Aya nahm einen Bissen seines lauwarmen Essens, legte jedoch nach kurzer Zeit seine Stäbchen zur Seite. Er hatte keinen Hunger, vermutlich auf Basis des Stresses der letzten Tage. Das würde sich geben. Und da er nun für zwei kochen musste und das auch noch regelmäßig…
 

o~
 

Zwei Nächte waren vergangen und es war bereits Abend, seine Hände hatten Gefühle erfasst, die sie unmöglich vergehen lassen konnten, so huschte der Pinsel über die Leinwand, vermischten sich düstere Farben mit grellbunten zu einer Kakophonie aus aggressiven, harten Pinselstrichen und wilden Strudeln.

In seiner Wahrnehmung als Hintergrund zerschmolzen, hatte er stets die Gewissheit, dass er nicht allein im Haus war.
 

Aya hätte sich auf den Bildern sehen können…sich selbst, ungeschönt und realistisch, wäre er denn zu Farfarello in dessen Räumlichkeiten gekommen. Doch das hatte er weitestgehend, bis auf den morgendlichen Ankleidungsritus, vermieden; alles, was er tat, war, an der Tür stehen zu bleiben und den anderen Mann zum Essen zu rufen, wenn er fertig gekocht hatte. Sonst hatte sich der Kontakt zwischen ihnen auf ein Minimum reduziert. Aya kochte, beschäftigte sich sonst mit sich selbst. Er wanderte durch den Garten, durch die Umgebung, sah fern, las…hielt sich davon ab, im Haus allzu neugierig zu sein.

Als du noch Gefangener bei Schuldig warst, hattest du damit kein Problem, hielt ihm seine innere Stimme schadenfroh beißend vor. Und nun stellst du dich so an.
 

Aya ignorierte das und vergrub sich wieder in seinem Buch, das er momentan las. Es war ein englisches, irgendetwas, das lange zu lesen war und mindestens doppelt so schwer. Aber wenn schon Banshee ihn im Stich gelassen hatte, dann musste er sich wenigstens so beschäftigen. Aya seufzte und bettete den Kopf auf die weiche Lehne des großen Sofas. Er schloss seine Augen. Er war müde…erschöpft geradezu. Warum auch immer.

Ohne es wirklich zu merken, glitt er in leichten, dösenden Schlaf.
 

Während Ran ruhte, schlich sich die abtrünnige Banshee wieder an, streunte um die Liegstatt herum, nur um mit einem Sprung und einem kurzen Ausfahren der Krallen auf dem Sofa zu landen. Ihre Tapsen, wieder gereinigt, traten samtig auf Rans Bauch umher und sie nistete sich in der Ellenbeuge ein.
 

Kurz öffnete Aya seine Augen um zu sehen, dass die Kleine wieder bei ihm war und sich zu ihm legte. Vermutlich war Farfarello dann auch irgendwo in der Nähe, geisterte es durch seine Gedanken, wurde jedoch zu nichts Greifbarem, als er seine Augen erneut schloss und ruhig ausatmete.
 

Was insofern stimmte, da Jei sich im Wasser des Pools treiben ließ, ein Ort, den Banshee vorerst noch mied…

Jemand anderer war jedoch auch anwesend, nicht körperlich, aber umso mehr geistig…
 

Es dauerte nicht lange, bis Ayas Schlaf so eindringlich wurde, dass er träumte. Er ging aus dem Haus hinaus in die Sonne. Es war Sommer und warm und als er an sich hinuntersah, merkte er, dass er nur eine leichte Hose trug. Sonst nichts, kein Oberteil, das den Wind davon abhalten würde, seine Haut zu streicheln. Aya schauderte, doch vor Wohlgefallen und ging durch das weiche, hohe Gras, das sich so belebend unter seinen nackten Füßen anfühlte.

Er schloss die Augen und lauschte den Geräuschen des Tages, dem Vögelzwitschern, dem Rauschen der Bäume, den fernen Geräuschen des Hauses. Farfarello malte also wieder? Es schien, als hörte er jeden Pinselstrich, der über die Leinwand fuhr, als könnte er sich die Farben dazu vorstellen, wie sie auf den Stoff aufgetragen wurden.
 

Und im nächsten Augenblick waren es nicht Pinselstriche, sondern Hände, die seinen Körper bemalten, ihn bestrichen in ihrer Virtuosität wie eine Leinwand. Unsichtbare Hände, schier überall, ein leises Lachen trug sich zu ihm heran, getragen vom Wind und bekannt in seiner Laszivität.

Sophie Fuchoin

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Bettgeflüster

~ Bettgeflüster ~
 


 


 

Jeis Aufmerksamkeit wanderte von seiner inneren Zurückgezogenheit zum Farbenspiel des schneidenden Violetts, welches momentan zu einem weichen blaugrau gewechselt hatte.

„So, hast du das“, meinte er lediglich und blickte auf die Kleidung. Er neigte den Kopf, sah fragend und doch gleichzeitig interesselos auf die Kleidung.

„Und …“, zögerte er im Satz, ein Umstand der eher ungewöhnlich für Jei war. „…ist das angemessen für einen Besuch?“, wollte er wissen. „Angemessen für …diesen Besuch?“, nur marginal schwebte die Betonung des Wortes „diesen“ zu Ran. Sanft abgehoben von der üblichen monoton Wortwahl. „Nagis Auswahl ist anders als deine.“
 

Aya betrachtete sich Farfarello schweigend und wog die Worte des anderen Mannes hin und her.

„Bist du unzufrieden mit meiner Wahl?“, fragte er und nahm die Kleidung genauer in Augenschein. „Youji wird…Ähnliches tragen.“
 

„Unzufrieden?“ echote Jei in fast identischer Stimme und ebenso fast hätte man den Anschein gehabt als kräuselten sich die Lippen zu einem kleinen feinen Lächeln. Fast.

„Ist es wichtig, was er trägt?“
 

„Mir nicht“, erwiderte Aya und spiegelte Farfarellos - also sein eigenes - Lächeln. Er betrachtete sich für einen Moment die Sachen in seiner Hand…die unscheinbare Jeans und den langärmeligen Pullover. War das angemessene Kleidung für Youjis Besuch?

Ihm war es egal…doch alleine die Tatsache, dass Farfarello sich nach vier Tagen dazu hatte hinreißen lassen, das erste Mal seine Wahl zu kommentieren, schien ihm anderes zu sagen. War das die Art, in der Farfarello Skepsis äußerte? Protest?

Ayas Blick wanderte hoch, in das Auge des Iren und er drehte sich langsam wieder zurück. Immer noch mit dem unheimlichen Gefühl des Misstrauens und der Vorsicht im Nacken, legte er beides wieder zurück und sah sich die Kleidungsstücke genauer an.
 

Als er das nächste Mal Farfarello seine Beute präsentierte, hatte er vollkommen gegensätzliche Sachen zu vorher in der Hand. Ein weißes, leichtes Hemd und dazu eine ausladende, schwarze Leinenhose. Es passte.
 

Ohne hinzusehen drehte sich Jei weg und fing an sich auszuziehen. Es war interessant, wie sich der Rothaarige bemühte um seinen Wünschen nachzukommen. Und wie sehr er sich auf ihn fixierte.

„Ist es nicht interessant wie viele Gäste wir hier haben? Brad wird sicher erstaunt sein“, redete er wie mit sich selbst und wiegte den Kopf tadelnd hin und her. Sein Blick im Augenwinkel auf Ran gerichtet, lächelte er wissend.
 

Violette Augen beobachteten Farfarello nun doch neugierig. Aya konnte den Iren partout nicht einschätzen, konnte dessen Stimmung nicht auf einen Nenner bringen.

So leidenschaftlich und sprunghaft Schuldig in seinen Stimmungen auch war, so eine gefestigte Basis hatte Aya schon nach den ersten Tagen im Umgang mit dem Telepathen. Bei Farfarello ging das nicht.

„Das wird er sicherlich“, erwiderte er schließlich. Crawford war ihm egal. Er war hier und was er tat, war seine Sache. Nur seine. Und solange der noch verbleibende Bewohner des Hauses nichts dagegen hatte, holte er sich seinen Freund so oft er wollte hierhin.
 

„Falls er es wüsste … wäre er es wohl“, sinnierte Jei nachdenklich und ließ sich die Kleidungsstücke reichen. Er zog sich an, die Bewegungen wirkten, als wären sie einstudiert und betrachtete sich danach. Die Knöpfe des Hemdes reichten nur bis über den letzten Rippenbogen, danach konnte ein Neugieriger seine Haut erspähen, im Falle er hätte es darauf abgezielt. „Ist Yohji wie diese Kleidung? Offen und provozierend?“, fragte er mit einem feinen, harmlosen Lächeln und blickte auf.

Sein Blick war jedoch alles andere als harmlos.
 

Aya besah sich Farfarello. Das Hemd schien etwas zu groß, war aber genau passend geschnitten. Er erspähte tatsächlich die Haut, die beabsichtigt durch den Schnitt freigelegt wurde, und fand auch hier Narben, die sich wie ein feines Geflecht über die Brust zu ziehen schienen.

Nein, nicht nur die Brust. Farfarellos Körper trug überall Narben. Zu sagen, dass der rothaarige Japaner gerade nicht hingeschaut hatte, als Farfarello sich so leidenschaftslos vor ihm ausgezogen hatte, wäre gelogen gewesen. Wirklich gelogen.

Doch jetzt fragte sich Aya zum ersten Mal, woher all diese Verletzungen stammten. Er runzelte die Stirn, begegnete dem Blick des Iren, der ihm zu denken gab. Etwas stimmte nicht. Etwas Dunkles schwelte in dem Schwarz und ließ Ayas Gefahreninstinkt ausschlagen.

„Was interessiert dich das?“
 

„…interessiert?“

Jei überlegte einen Moment blickte dabei aber an Ran vorbei.

„Nein, ich denke nicht, dass es das tut“, kam er zum Schluss. „Es war nur Zufall demnach, dass du mir diese Kleidung gewählt hast? Zufälle sind interessant…“, murmelte er und sein Blick glitt in die Ferne, als auch schon die kleine Katze herein ins Zimmer kam und auf ihn zulief.

Es schien, als wollte Jei noch etwas hinzufügen, doch seine Aufmerksamkeit wurde samt und sonders von Banshee eingenommen.
 

Die gerade von Aya geschnappt und auf den Arm genommen wurde. Der Japaner hatte wohl gemerkt, dass Farfarello noch etwas sagen wollte und dass er dann plötzlich uninteressant geworden war…der Grund dafür war klar.

Wer auch sonst außer Banshee konnte das vollbringen?

„Du weißt, warum ich die Kleidung gewählt habe, du kannst in meinen Gefühlen lesen“, erwiderte er und sah dem Iren fest in das Auge, während er Banshee kraulte. „Du glaubst an Zufälle?“
 

„Glauben?“, griff Jei das Wort auf und sein Gesicht fiel fast in sich zusammen. Für einen kurzen Moment tendierte er dazu, dieses Wort zum Schweigen zu bringen. Dieses Wort nie mehr hören zu müssen. Nie mehr.

Doch dieser Augenblick verging und sein Blick verlor sich, als hätte er sich an etwas erinnert. Kurz nur huschten Gefühle vorüber, wurden sichtbar, bevor sie wie ein Traum verblassten und er an Ran vorbei trat.

Fast zeitgleich fauchte die kleine Katze und kratzte Ran, der sie kraulte.

Unbewusst hatte Jei seine Gefühle auf sie übertragen und er wandte sich noch einmal um, blickte auf die Hand, die die Krallen gespürt hatte.

Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben, in der er darauf starrte. Auf die Katze, die nun wieder friedlich war. Auf den Mann, der sie hielt.

„Wie ist das passiert?“, fragte er erstaunt und wisperte die Worte noch als er sich entfernte.

Eine unbestimmte Trauer hatte sich in seine Stimme gelegt.
 

Aya war sich nicht sicher, dass sich die Frage auf die blutigen Kratzer auf seiner Hand bezog. Nein, ganz und gar nicht.

Er stand im Zimmer, den Blick leer in eine unbestimmte Richtung gewandt. Er starrte, noch unter Einwirkung der fremden Gefühle.

Trauer…Verlustangst…Angst davor zu leben. Das wucherte in ihm und erinnerte an dunkle Zeiten...sehr dunkle Zeiten, die er auf dem besten Weg war zurückzulassen.

Doch dieses Mal waren es nicht seine Gefühle gewesen. Farfarello. Farfarello fühlte so, hatte diese Emotionen ungefiltert auf ihn und auch auf Banshee projiziert. Ein Zittern durchlief die schlanke Gestalt des Japaners. Was in aller Welt…?
 

Wenn Aya es sich ehrlich eingestand, fühlte er sich in diesem Augenblick um Längen überfordert. Woher sollte er wissen, was richtig war? Er war nicht derjenige, der sich gut in andere Menschen einfühlen konnte. Er lebte für sich, zurückgezogen und distanziert. Er legte keinen Wert auf viele emotionale Bindungen. Wie hätte er darauf gefasst sein können, was gerade eben geschehen war?
 


 

o~
 


 

Yohji lehnte an der Lehne einer Bank und tat als könnte er kein Wässerchen trüben. Er wartete seit zehn Minuten in der Kälte, seine Tasche parkte neben ihm und seine zweite Zigarette wähnte sich bereits in den letzten Zügen.

Er hatte in den letzten Minuten Zeit gehabt, sich über diese und viele andere Neuentwicklungen Gedanken zu machen.

Farfarello.

Bei aller Komik an dieser Situation … es war dennoch nicht zum Lachen. Was … wenn jemand von ihnen etwas Dummes machte? Etwas Dummes sagte?

Seine Waffe hatte er dabei und gerade das sagte ihm, dass er sie vermutlich auch benutzen würde. Aber es war kein Job, sondern Freizeit.

Er besuchte einen Freund, der Babysitten musste. Vielleicht konnten sie das ‚Baby’ bald ins Bett stecken und sich danach auf der Couch vergnügen…
 

Es dauerte noch zwanzig Minuten, bis endlich aus der Ferne ein Motorengeräusch zu vernehmen war und schließlich Aya vor seinem Freund anhielt…auf Schuldigs Maschine, die sich fantastisch fahren ließ. Das war etwas, das er Kritiker wirklich zu Gute halten konnte: sie hatten sie alle einem speziellen Fahrtraining unterzogen, das alle Fahrzeuge einschloss. Seitdem liebte Aya es, mit der einen oder anderen geliehenen Maschine längere Touren zu machen. Alleine, für sich…nur der Rausch der Geschwindigkeit.

Er nahm den Helm ab und lächelte Youji entgegen. „Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?“, fragte er laut, über das Motorengeräusch hinweg.
 

Yohji grinste und nahm die Tasche auf, sicherte sie mit zwei Gurten auf seinem Rücken und stieg auf. Ihm war verdammt kalt und der Helm, den er sich aufsetzte, schützte ihn nur marginal vor der beißenden Kälte. Deshalb zog er sich seinen Schal zweimal um den Hals und dichtete die Lücken zwischen Helm und hochgeschlagenem Jackenkragen akribisch ab.

Hätte Ran ihn nicht vorwarnen können, dass er mit einem Motorrad kam? Na er würde es überleben… und hoffentlich ohne Erkältung. Er gab Ran zu verstehen, dass er fahren sollte.

Seine Kleidung war nicht gerade dazu geeignet, aber es musste jetzt gehen.

Er konnte nur hoffen, dass die Fahrt nicht zu lange dauerte.
 

Zu Youjis Leidwesen dauerte sie länger, als es bei dieser Kälte angenehm war. Sie waren gut eine halbe Stunde unterwegs gewesen, in der Aya Haken um Haken schlug und immer wieder nachkontrollierte, ob ihnen auch niemand folgte.

Da war nichts…niemand.

Schließlich durchgefroren trotz der dicken Lederkleidung fuhr Aya auf das Anwesen und stellte die Maschine in der Garage ab.

Schaudernd zog er den Helm ab und betrachtete sich Youji. Freude durchzog ihn. Youji war da.
 

Ja, der war da und fühlte keinen einzigen Knochen mehr im Leib. Alles schien taub und erfroren. Als wäre ein schneidender, eisiger Wind mit seinen Klingen durch seine Kleidung gefahren und hätte seinen Körper filetiert.

„Du siehst aus, als würdest du mir gleich um den Hals fallen“, lächelte Yohji in bester Schwerenötermanier. „Aber … macht es dir etwas aus, wenn wir es nach drinnen verschieben, ich bin gerade am Erfrieren.“
 

Aya tauchte aus seiner momentanen Euphorie auf und nickte. „Klar…komm.“ Er führte sie beide ins Haus. „Willst du ein Bad nehmen? Dich duschen um dich wieder aufzuwärmen?“, fragte er den durch und durch zitternden Mann.

Sie kamen durch einen Seiteneingang hinein in den großen Wohnraum des Anwesens, der fast das gesamte Erdgeschoss ausmachte. Den beheizten Innenraum, wie Aya es dankbar feststellte.
 

Yohjis erster Eindruck erinnerte ihn etwas an Schuldigs Wohnung. Ebenso teuer, ebenso weitläufig, ebenso exklusiv.

„Bist du sicher, dass so einer wie ich, sich in einer der teuren Badewannen aalen darf?“, fragte er und purer Spott troff aus seinen Worten.

„Komm erst mal her“, murmelte er und zog Ran zu sich, drückte ihn an sich und zerzauste das rote Haar, soweit er es schaffte.
 

Und wie bereitwillig sich Aya umarmen ließ. Auch wenn er schier von Youjis Kälte infiltriert wurde, umschlang er den anderen Mann ebenso stark mit seinen Armen und presste ihn an sich.

„Ich bin so froh, dass du hier bist, Youji“, murmelte er leise…gerade eben so laut, dass Youji es verstand, doch niemand sonst.

Laut sagte er mit einem spöttischen Lächeln auf seinen Lippen: „Wenn selbst ich…der persönliche Dorn im Auge des großen, bösen Amerikaners in diesen Gefilden baden darf, dann wird das für dich vermutlich auch gelten!“
 

Yohji versank kurz in die Betrachtung des roten Schopfes, als er lächelte und Ran bewusst etwas fester über den Rücken strich.

„So schlimm kann dieser Dorn gar nicht sein, wenn er hier das Baby sitten darf. Wo ist es eigentlich?“ Yohji ließ seinen Blick in den Raum schweifen, konnte Jei jedoch nirgends entdecken.
 

„Mit Banshee vermutlich irgendwo…er wird sich schon zeigen, wenn er Interesse hat“, erwiderte Aya und zuckte mit den Schultern. „Er hat nach dir gefragt, bevor ich losgefahren bin…ob du gewisse Dinge auch anziehst…ob du so offenherzig bist…“
 

Yohjis Mundwinkel zuckten etwas und er runzelte die Stirn, als er Ran frei gab.

„Warum finde ich das jetzt nicht sehr gut?“ Fröstelnd zog er sich die Jacke aus, den weitläufigen Wohnraum durchquerend immer Richtung Kamin und diesen in Augenschein nehmend. „Wow, du hast sogar ein Feuerchen hier!“

Er zog sich die Schuhe aus und erkor den Platz vor dem Kamin zu seinem Lieblingsplatz. Herrlich wie das Feuer prasselte und das Holz knackte.
 

Aya pflanzte sich daneben und streckte die Zehen gen Feuer, damit sie von der sengenden Hitze wenigstens etwas erwärmt wurden. Er schauderte und besah sich den blonden Mann. „Du siehst aus, als würdest du zuviel trinken und zu wenig essen, Youji“, merkte er kritisch an und schürzte die Lippen. „Wie geht es dir?“
 

Es erschien ihm eine Ewigkeit, wie er so hier saß und ins Feuer blickte, wie er spürte wie die Melancholie sich wieder in ihm ausbreitete. Er wollte nicht über diese Dinge sprechen. Nicht über die Dinge, die ihn betrafen.

„Gut“, sagte er um irgendetwas zu sagen, um diese erdrückende Antwort nicht schuldig zu bleiben. Eine direkte Frage wie diese schien er kaum zu verkraften.

„Aber lass und doch eher über dein zeitweiliges Zuhause plaudern?“, schlug er vor und lächelte zu Ran. „Hast du schon alles erkundet?“
 

Wenn es eines an Youji gab, das Aya hasste, dann war das dessen Verschwiegenheit, wenn es ihm nicht gut ging. Es schien, als hätte sich der blonde Mann doch einiges von ihm angenommen. Einiges zuviel. Aya runzelte die Stirn, verzog unwirsch die Lippen…ließ das Thema aber fallen. Zunächst. Was nicht hieß, dass er später nicht noch einmal darauf zu sprechen kommen würde.

Er rückte beherzt ein Stückchen näher zu Youji und lehnte sich an den noch kalten Mann. „Du weißt, dass ich nicht so neugierig bin wie du, Kudou. Es würde wir niemals einfallen, im Zimmer des Orakels nach kompromittierender Reizwäsche zu suchen.“ Er hob bedeutend eine Augenbraue und dachte an das Set, das ihm eigens geschenkt immer noch unschuldig in der Wäscheschublade des Deutschen thronte. Er hatte es erst letztens wieder gesehen und sich an ‚gute’, alte Zeiten erinnert.
 

„Es würde dir zwar niemals einfallen… aber du brauchst mir nicht weismachen zu wollen, dass du nicht neugierig bist“, lachte Yohji und grinste Ran an, dessen Schulter an seiner lehnte.

„Ich habe also eine gewisse Verpflichtung meinem Anführer gegenüber und muss das feindliche Gebiet erforschen und Bericht erstatten“, verschmälerten sich seine Augen und funkelten ins Feuer hinein – in bester verschwörerischer Art selbstverständlich.
 

Für einen Moment waren sie wieder Balinese und Abyssinian, auf einer geheimen Mission inmitten des Feindeslandes.

Zugegeben…sich auf diese harmlose Art und Weise an die vergangene Zeit zu erinnern, nötigte Aya ein Lächeln ab. Es war…amüsant.

„Neugierig? Ich nenne das eher Finden von Feindesschwächen. Man weiß nie, was sich einem so offenbart. Selbst die stillsten Wasser können abgrundtief sein. Deswegen…hast du gar nicht so unrecht.“ Aya schmunzelte.

„Du solltest nur auf die Raubtiere aufpassen. Du weißt nie, wo sie als nächstes zuschlagen…und wer weiß, vielleicht finden sie in dir ein gefundenes Fressen zum Spielen?“
 

„Ich schmecke nicht, viel zu dünn, viel zu zäh und absolut giftig… und verdorben“, verzog Yohji den Mund angewidert. „Wobei… willst du mir damit etwas sagen?“

Sein Blick richtete sich in die Weite des Raumes, der still und verwaist im Dunkeln lag.
 

„Ich? Nie“, lächelte Aya und verlor sich für einen Moment im Feuer des Kamins. Es war beruhigend, den anderen Mann neben sich zu haben…um sich. Wie in alten Zeiten, wenn Omi und Ken ausgeflogen waren und sie sich eine gemütliche Zeit auf der Couch gemacht hatten. Auch wenn der Kontakt nicht so eng wie jetzt gewesen war, so war es doch immer etwas gewesen, das Aya sehr gefallen hatte.

„Ich bin froh, dass du hier bist, Youji.“
 

„Ah, das sagst du nur, weil der Telepathenbällchenmann nicht da ist!“, empörte sich Yohji spielerisch und winkte ab. Allerdings war dies nur um seine Gefühle zu übertünchen, die Ran in ihm auslöste. Die Wehmut nach alten Zeiten, nach einem Stück davon. Einem Stück des Steten, des Gewohnten. Einem Halt, den er nicht mehr verspürt hatte seit Ran gegangen war. Ihm schien es, als würde er immer weiter treiben… wo auch immer dies ihn hinführte, er hatte keinen Einfluss darauf. Als zöge ihn die Schwärze seiner Gedanken immer weiter hinunter.

„Ich bin auch froh, dass du froh bist“, lächelte er warm. Es war faszinierend, wie gut er es schaffte sich in sich selbst einzusperren.
 

„So siehst du aber nicht aus!“, motzte Aya im guten alten Anführerton los und ließ sich auf die Oberschenkel des anderen Mannes fallen, missbrauchte sie als bequeme Stütze. Er sah zu Youji hoch und lächelte dunkel.

„Du siehst eher aus, als könntest du etwas anderes vertragen. Außerdem…ja, ich vermisse diesen gewissen Deutschen, der sich manchmal unmöglich benimmt und dir manchmal ähnlicher ist, als ihr beiden euch es wünscht. Aber…ich vermisse dich genauso, du Hornochse. Ich suche keinen Ersatz für Schuldig, verstanden? Ich will dich hier haben, jetzt, hier…gerade eben!“
 

„Schon klar!“

Yohji piekte Ran provozierend in die Seiten um diese allzu bequem aussehende Haltung zu zerstören. „Und… kennt er auch schon deine Schwachstellen? Bist du schon weich geworden?“, lachte er und fing an Ran zu kitzeln.
 

In gewohnt abwehrendem Schlängeln versuchte Aya dem anderen Mann etwas auf seine heimtückische Attacke entgegen zu setzen, schaffte das aber nicht wirklich…nicht, wenn es sich um Youji handelte, der jede dieser kleinen, empfindlichen Stellen punktgenau traf und ohne Gnade bearbeitete. Er lachte, fiepste, fluchte und röchelte, wand sich im Griff des blonden Mannes.

„Youji! Verdammt! H…hörst du…auf…YOUJI!“ Seine Hände fischten erfolglos nach denen des Anderen. Seine Auge versprachen seinem Freund tausend Tode, ebenso wie sie sie Schuldig versprochen hatten.

„Ich…bin…nicht….WEICH!“, empörte er sich, als er gerade ein ausreichendes Kontingent an Luft hatte. „Das…war….ich…niii~iie! Das hat auch…Schuldig…nicht erreicht…“, keuchte er. „Ihr seid euch….ja…..SO….ähnlich!“
 

„Na DAS ist jetzt aber eine üble Verleumdung“, ereiferte sich Yohji und stoppte seine Attacke, hatte sich über Ran begeben und hielt ihn unter sich fest. Einen Moment schien es, als würde sein Gesicht tatsächlich den Ernst seiner inneren Lage widerspiegeln, als suche er etwas in Rans Blick. Doch dann war es vorbei und er lächelte müde, legte sich auf Ran und blieb wie erschöpft scheinend liegen. „Ich bin so müde…so verdammt müde“, sagte er unbestimmt, den Blick ins Feuer gerichtet.
 

Aya starrte schwer atmend in diese offenen Augen, zumindest das, was er von ihnen sehen konnte. Für einen Moment hatte er in Youjis Blick die Wahrheit gesehen und es war etwas, das ihm nicht gefiel. Denn diese Müdigkeit, die der andere Mann beschrieb, war nicht rein körperlicher Natur.

„Weißt du…“, sagte er leise. „Manchmal träume ich davon, eine Bar zu eröffnen. Und wir alle arbeiten dort…wie in alten Zeiten. Wir alle und gehen uns gegenseitig auf die Nerven. Na, wie wäre das?“, fragte er und zog an einer der herabhängenden Haarsträhnen des auf ihn Liegenden.
 

„Das…wäre interessant…ja…“, wisperte Yohji und schloss die Augen. Weshalb konnte er dieses schlechte Gefühl nur nicht abstellen? Warum hörte es erst auf, wenn er sich verausgabte, wenn er nicht mehr konnte?

Als er die Augen wieder öffnete saß vor ihm eine kleine Katze und es sah aus als blicke sie ihn neugierig an, so wie sie sich hin und wieder zu ihm beugte.

Er schloss die Augen wieder, fühlte mit einem Mal, wie dieses Bild ihn wärmte, wie es ihn sogar lächeln ließ. „Banshee hat eine wirklich gute Wirkung…“, lächelte er und er fühlte sich angenehm und wohl.
 

„Das hat sie ohne Frage“, erwiderte Aya und lockte die Kleine zu sich. Wenn sie hier war, war Farfarello garantiert nicht mehr weit, die Frage war nur wo. Doch was spielte es angesichts von Youjis Lächeln noch eine Rolle? „Sie ist die beste Sonnenschein-Droge, die es gibt, Kudou, das sage ich dir. Besonders für dich…du brauchst das. Und du brauchst eine große Portion Aya. Eine sehr große.“ Er warf einen Blick auf die Couch, wollte er doch eine der Decken zu ihnen ziehen. Doch soweit kam er gar nicht, als er Farfarello sah.
 

Jeis Blick war ruhig und beinahe schon gelassen auf die beiden vor dem Kamin gerichtet. Seine Beine waren an den Körper gezogen und sein Kopf lehnte bequem an seinen Knien.

Sein Blick nahm das Farbenspiel des Feuerscheins auf Yohjis Haar wahr, das abgewandte Gesicht welches wohl ein stilles Lächeln innehatte. Ruhe war in den Mann eingekehrt, Ruhe und Zufriedenheit. Wie seltsam war es, dass gerade letzteres das höchste Bestreben eines Menschen war…
 

Mit einem Mal wusste Aya, was ihn an diesem friedlichen Bild, dieser einvernehmlichen Stille zwischen ihnen dreien so störte. Der abrupte Wandel in Youjis Gefühlswelt konnte an Banshee liegen. Konnte, musste aber nicht. Denn hier gab es noch jemanden, der in der Lage war, gute Wirkungen zu erzielen.

„Youji…“, sagte er, plötzlich ernst und wand sich unter dem anderen Mann, schob ihn etwas von sich.

Der blonde Weiß tauchte aus seiner Gefühlswelt auf und sah ihm verwirrt, jedoch mit einem Lächeln in die Augen. Anzeichen genug für Aya, dass hier etwas ganz und gar nicht richtig lief.
 

Auch wenn ein kleiner Teil in ihm sich Youji genau so wünschte, so entspannt und froh, wusste er, dass es so falsch war.

„Hör auf, seine Gefühle zu manipulieren, Farfarello“, richtete er an den Empathen und sah ihm fest in die Augen. Gleichzeitig jedoch legte er Youji beruhigend eine Hand auf den Oberschenkel, als er sah, dass dieser überrascht herumfuhr.
 

„Was sagt dir, dass ich etwas getan habe?“, schickte Jei für seine Verhältnisse erstaunt zurück, dabei zeigte er dieses Erstaunen lediglich in einer gehobenen Braue.

„Vielleicht unterschätzt du die Wirkung der kleinen Katze.“ Und schon war Banshee auf dem Weg zu ihm und er nahm sie in einer raschen Bewegung vom Boden auf.

„Und … vielleicht … urteilst du zu schnell, nach Schwarz und Weiß. Wahrheit und Realität sind Maßstäbe, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Glaubst du zu wissen, was Realität und was Wahrheit ist?“

Farfarellos Gesicht lag im feurigen Schein und das helle Braun glimmte sacht wie Bernstein. Er beachtete Yohji gar nicht, ignorierte dessen Irritation.
 

Doch der blonde Mann starrte sie beide an. Farfarello wie auch Ran, nicht in der Lage, zu begreifen, was nun eigentlich Sache war.

"Ran?", bat er sichtlich verwirrt, vielleicht auch verstört um Erklärung des Ganzen, doch der rothaarige Japaner schüttelte nur kurz angebunden den Kopf.
 

"Ich werde es dir erklären…später", richtete Aya an ihn und wandte sich dann an Farfarello. "Ich glaube es nicht zu wissen. Ich kann es mir zusammenzählen", erwiderte er dem Iren. Nein, es war nicht Banshee gewesen, das sah er immer noch im Gesicht seines Freundes, der regelrecht verstört schien.

"Stopp! Stopp stopp stopp!", fuhr Youji im nächsten Moment dazwischen und fasste Aya am Oberarm. "Was soll das hier? Was geht hier vor? Gefühle manipulieren? RAN!"

Doch Aya sah nur bedeutungsvoll zu Farfarello, den Kiefer wütend aufeinander gepresst.
 

Jei ließ Banshee auf den Boden zurück, allerdings schien sie davon wenig begeistert zu sein, vor allem als er seine Beine von der Couch gleiten ließ.

„Ich verstehe nicht… warum so viel Rot in dir vorherrscht. In diesem Haus gab es nie derart viel davon. Keiner bringt mir diese Farbe entgegen. Vor allem nicht, wenn…“

Er sprach nicht weiter, sondern hielt inne als lausche er auf etwas anderes. Danach stand er auf und verließ das Erdgeschoss, ohne einen Blick auf die Beiden am Kamin zu werfen.

Warum … spürte er Wut bei dem anderen, wenn er wollte, dass sich der große Mann besser fühlte? Das verstand er nicht.
 

In dem Moment, in dem er den Schwarz die Treppe hinaufsteigen hörte, verstand Aya, auch wenn er dieses Wissen noch etwas unsicher annahm.

Wusste Farfarello nicht, was er tat? War er sich nicht bewusst, dass er mit Hilfe seiner Gabe etwas schenkte, das in dem Moment auf natürliche Art und Weise nicht da gewesen war?

Und was hatte er getan? Er war wieder vom Schlimmsten ausgegangen, war wütend gewesen, weil er Farfarello Absicht unterstellt hatte.

Farfarello hatte es als Geschenk gedacht…

Aya seufzte, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

Er sah Youji in die Augen. Sah dessen absolute Verständnislosigkeit.
 

„Du musst mir versprechen, hiervon nichts…gar nichts Kritiker weiterzugeben. Niemandem, hörst du?

Farfarello ist in der Lage, deine Gefühle zu beeinflussen“, erklärte er schließlich. „Gerade eben, in Verbindung mit Banshee, hat er es getan.“
 

Das war…kurz und gut, ein Schlag in Youjis Magengrube. „Gerade eben?“, fragte er nach und wusste einen Moment später, was Ran damit meinte. Dieses kurze Wohlgefühl, die positiven Emotionen, die ihn durchströmt hatten, als er der Katze ansichtig wurde. Es hatte sich gut angefühlt, entspannt und positiv wie schon seit langem nicht mehr. Seit sehr langem…

Trotz allem Entsetzen, dass der Schwarz zu so etwas in der Lage war, sehnte er sich danach, es noch einmal zu fühlen. Zu fühlen, wie er sich seit langem nicht mehr gefühlt hatte.

„Warum hast du mir davon nichts gesagt, Ran?“
 

Der rothaarige Mann seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Ich hatte nicht gedacht, dass es nötig wäre, Youji. Aber anscheinend hat er wirklichen Grund dazu gehabt…“

Youji runzelte die Stirn. „Na danke auch für deine Einschätzung!“, schmollte er, nicht wirklich böse mit seinem Freund, aber auch nicht wirklich böse mit dem Schwarz.

Wie auch bei Ran schon zuvor, verwirrte ihn diese menschliche Seite an dem unmenschlich brutalen Killer und machte ihm zum guten Teil auch Angst…
 

….weil er sie nicht kannte.

Und weil es Schwarz war, mit dem er hier zu tun hatte. Schwarz, die solange Jahre das Böse für sie verkörpert hatten. Schwarz, die ihnen nun näher kamen, als es ihnen allen vermutlich lieb war. Sie näherten sich scheinbar in allen Bereichen an. In menschlichen Ängsten, in Emotionen…in ihrer Art zu leben, die sich gar nicht so drastisch von der eigenen unterscheiden ließ.
 

Ein Stockwerk höher verfolgte der Grund dieser Unterhaltung eben diese auf seine ganz spezielle Art. Das Rot war verschwunden…es war verschwunden, kaum dass er aus dem Raum war, kaum dass der Rothaarige seiner nicht mehr ansichtig war. Aber was am Erstaunlichsten war … der Blonde mit den grünen Augen, die Schuldigs ähnelten, nur grüner, weniger blau waren, dieser war überhaupt nicht vom Rot beherrscht gewesen. Er war nicht von Wut erfüllt, nicht auf ihn.

Nagi hatte diese Anwandlungen auch, doch er bezog die Wut auf sich selbst. Er war nie auf Jei wütend, auch wenn er es gegenteilig äußerte, Jei kannte die Wahrheit.

In Gedanken versunken und die Farben bestimmend, die durch die beiden Männer in weichen Schlieren zogen, bemerkte er das nach Aufmerksamkeit heischende Streichen um seine Beine kaum, erst, als die Töne dazu sein Ohr erreichten, wandte er den Kopf nach unten und sah sich mit Banshee konfrontiert.
 

Aya konfrontierten ein Stockwerk tiefer ebenso grüne Augen und er ließ die Schultern in sich zusammensacken.

Ja, er hatte einen Fehler gemacht…nicht nur einen…und hatte prompt die Quittung dafür bekommen. Wie immer eigentlich.

Er schürzte die Lippen, wollte nichts sagen, konnte es auch gar nicht. Warum war er nicht in der Lage, das, was Youji betraf, richtig zu machen?

„Hey! Bläst du etwa Trübsinn?“, fragte Youji und hatte ihn plötzlich im Schwitzkasten, wuschelte ihm gnadenlos durch die Haare, während Aya wortwörtlich überfahren unter seinem Arm hing und sich weder wehren noch rühren konnte.

Erst nachdem sich der erste Schock gelegt hatte und Youji dazu überging, seine Seiten zu malträtieren, wand er sich in dessen Griff, lachte und grollte.

„Nein! Youji! Hör auf!“, zischte er, doch der blonde Mann dachte anscheinend nicht daran, so wie er ihn wehrlos hielt und ihm gute Laune eintrichterte.
 

Er war gegangen, weil diese Farben in die Stofflichkeit gebannt werden sollten. Und das tat er hiermit. Lautlos erklomm er die Treppe zum weitläufigen ausgebauten Dachgeschoss, welches ihm gänzlich zur Verfügung stand. Er hatte sich nie gefragt, warum er den meisten Platz im Haus für sich hatte. Vielleicht hatte Brad in einer emotionalen seltenen Anwandlung beschlossen, sein Gefängnis ansprechend zu gestalten. Denn die Welt dort draußen war nicht seine.

„Was hältst du von Rot?“, fragte er in keine bestimmte Richtung, meinte jedoch die kleine Katze neben ihm, die gerade damit begann, seine Zehen zu traktieren, die in Richtung Leinwand zeigten. „Überall ist Rot, sogar hier“
 

o~
 

„Ran…“
 

„Nein.“
 

„Raan…“
 

Ayas Blick wanderte demonstrativ wieder zum großen Fernsehen, auf dem gerade ein nicht wirklich interessanter Actionfilm lief. Es war die Sorte von Film, über die Youji und er sich immer lustig gemacht hatten, wenn ihnen so etwas in die Finger gekommen war. Die Szenerie interessierte ihn nicht wirklich, doch er musste Akzente setzen…seinen Standpunkt klar machen.
 

„Raan…“, lockte die Stimme neben ihm verführerisch, um dann jedoch in ein seichtes Schnurren zu geraten. „Man könnte fast meinen, dass du Angst vor mir hättest…“
 

„Überschätz dich nicht, Kudou“, grollte Aya zurück und verschränkte die Arme. Er hatte die Beine zu sich aufs Sofa gezogen und saß nun ebenso wie Youji auch nach ihrer kleinen Rangelei auf den weichen Kissen…

Jedoch am anderen Ende der Couch. Aus Protest, dass ihn der blonde Mann so gequält und ihm nicht einmal die Chance auf Gegenwehr gelassen hatte.
 

„Früher hast du nie so niedlich geschmollt“, feixte Yohji und der Kern dessen, was er gesagt hatte, traf den Nagel wirklich auf den Kopf. Ran war weniger verbissen, weniger introvertiert seit … ja seit wann?
 

Seitdem er sich besagtes Schmollen von jenem abwesenden Deutschen abgeschaut hatte, das dieser hin und wieder gegen ihn verwendete, wenn er etwas Bestimmtes wollte.

Dennoch…

„Ich schmolle nicht niedlich! Ich bin ernstlich sauer“,…schmollte er ein weiteres Mal, dieses Mal direkt in die Augen des anderen Mannes.
 

„Soso. Und warum genau?“, lächelte Yohji mit den Brauen wackelnd. Er wusste doch ganz genau, dass Ran seine „Aufmunterungsattacken“ insgeheim genossen hatte. „Ich dachte, du hättest mich eingeladen, damit ich dich in gewohnter Weise zum Lachen bringe? Nun ja… mit etwas abgewandelter Technik, das gebe ich zu.“
 

Aya erwiderte nichts darauf, eben weil er dem nicht wirklich etwas entgegen zu setzen hatte. Ja, Youji hatte Recht. In gewohnter Weise…fast gewohnt. Und gemocht hatte er es auch…aber es ging hier ums Prinzip! Und da hatte Youji ihn gnadenlos überfallen.

Er drehte sich wieder zum Fernseher, aber nicht ohne vorher etwas von „Gemein…“ zu murmeln und sich hinter seinen hochgezogenen Beinen zu vergraben.

Wann hatte er diese Position das letzte Mal eingenommen? Es musste bei Youji gewesen sein.
 


 

Ohne sich bemerkbar zu machen kam just in diesem Moment Jei wieder herab, trat noch im Schatten in den Raum und strebte seinen Platz in der Nähe des Kamins an. Er brachte einen Hauch von Farbe mit, der in der Luft lag und auch seine Schläfe zierte ein kleiner Streifen Rot. Doch dies wurde zum größten Teil von den überlangen Strähnen verdeckt die ihm fedrig bis auf die Wange fielen. Sonst war seine Kleidung auffällig sauber. Kein anderer Farbklecks hatte sich darauf verirrt. Nur das kleine Fellbündel das ihm folgte hatte im besagten Fell einige unauffällige Farbspritzer.
 

Weder Youji noch Aya bemerkten Farfarello, was unter anderem auch daran lag, dass Youji just in dem Moment einen zweiten Angriff auf den rothaarigen Japaner startete und ihn unter Protestmotzen an sich zog, jedoch seine Finger nicht mehr dazu benutzte, Ran zu traktieren, sondern ihm durch die lange Mähne zu wuscheln.

Der Widerspenstigen Zähmung…der Titel des Romans hätte glatt von ihm stammen können, so wie er es immer und immer wieder schaffte, diese gefährliche, menschenfressende Großkatze zu beruhigen und auf seine Seite zu ziehen.
 

Und wenn er ehrlich war, tat ihm Ran genauso gut, wie andersherum. Er fühlte sich beruhigt durch Rans Nähe, durch dessen Wärme und Freundschaft, in der sie hier schweigend saßen…umgarnt von einem leicht künstlichen Geruch. Youji konnte nicht genau sagen, was es war, es erinnerte ihn an Terpentin. Er zuckte innerlich mit den Schultern und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Ran.
 

Es war interessant aber auch erstaunlich wie sich die beiden Männer zu einander verhielten. Aber vor allem wie wandelbar die Gefühle des Blonden mit den grünen Augen waren. Vor nicht mal zwei Stunden wirkten sie, als gäbe es nichts als bodenlose Schwärze und nun tschilpten bunte Vögel durch das Schwarz und erhellten das vormals dunkle Reich. Und er hatte noch nicht einmal nachgeholfen. Faszinierend.

Jei legte den Kopf schief und linste zwischen den Strähnen hindurch, die ihm die Sicht etwas beeinträchtigten doch ihn schien das kaum zu stören.
 

Youji langte nach den Chips, die vor ihnen auf dem niedrigen Tisch lagen und knabberte für diesen Moment zufrieden an dem salzigen Knabberzeug. Wie oft hatten Ran und er am Wochenende alleine oder mit Ken und Omi vor dem Fernseher gesessen und sich gemütliche Abende gemacht? Wie oft?

Und nun war wieder einer derjenigen…einer, der seine tiefe Unzufriedenheit und Depression in den Hintergrund drückte.

„Sag…hast du Bier da?“, fragte er Ran, der von dem mäßig spannenden Film zu ihm sah und nickte.

„Im Kühlschrank, Youji. Ich hole es dir.“
 

Noch während Aya aufstand, bemerkte er, dass sie nicht alleine waren. Banshee hatte sich von Farfarello loseisen können. Im nächsten Moment jedoch sah Aya, dass dem nicht so war. Farfarello war auch hier, saß von den Flammen beleuchtet am Kamin und hatte sie anscheinend beobachtet.

Wann er diesen Raum betreten hatte, war Aya schleierhaft. Trotz all dem verspürte er jedoch keinen Groll gegen den Iren.
 

„Hast du Hunger, Farfarello?“, fragte er und erwiderte den ihm entgegengebrachten Blick ruhig.
 

Dieser riss seinen Blick von dem Blonden los und seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Es erstaunte und überforderte ihn in gewisser Weise, gerade jetzt mit dieser Frage konfrontiert zu sein. „Jetzt?“ Er überlegte einen Moment und schüttelte den Kopf. „Nein“

Warum fragte der Langhaarige ihn das?
 

Aya nickte und ertappte sich bei einem kleinen Lächeln, das einzig und alleine der Entspanntheit der ganzen Situation zu verdanken war.

Er wandte sich um und ließ einen aufgeschreckten Youji, eine sich schnurrend am Bein des Iren reibende Katze und einen verwirrten Iren zurück, um Youji und sich Bier zu holen…für Farfarello Wasser.
 

Während er in der Küche rumorte, saß Youji angespannt auf dem Sofa, starrte erst Ran hinterher, dann wieder zu Farfarello, der anscheinend immer wie aus dem Nichts auftauchte und plötzlich da war, so als könnte ihn kein Wässerchen trüben.

Auch wenn Youji unwohl bei der Situation war, so war er neugierig auf den Iren. Wenn er Gefühle manipulieren konnte…hieße das dann, dass er ein Empath war? Und warum stand das nicht in den Kritikerakten?
 

Jener Ire nahm seine Studien wieder auf und taxierte den Blonden wieder. Die unwillkommene Störung durch eine derart banale Frage… ob er Hunger hätte … rückte wieder in den Hintergrund seines Denkens. Er hatte seine ganze Aufmerksamkeit dem Mann auf der anderen Couch gewidmet, dessen Nervosität und Unwohlsein durch ihn wirbelten.
 

„Warum starrst du mich so an?“, fragte Youji misstrauisch. Er hatte sich immer noch nicht von der Couch erhoben, blieb jedoch wachsam gegenüber dem Verhalten des Iren.
 

Jetzt wurde es wirklich interessant…

„Weil es interessant ist wie du dich verhältst“, gab Jei zur Antwort und sann noch darüber nach, ob sie ihre Richtigkeit hatte. Hatte er mit diesem Satz alles gesagt, was er zum Ausdruck bringen wollte? Wie schwierig das doch alles war, das hätte er sich vorher nicht gedacht.
 

„Warum ist das so?“, fragte Youji. Farfarello verwirrte ihn mehr und mehr. „Was sollte an mir interessant sein?“

Hatte er am Telefon noch mit Aya gespaßt, dass er sich hier gegen zwei Raubtiere behaupten müsste, war es nun tatsächlich so, dass eines von ihnen ihn ins Visier genommen hatte. Ob das gut war…
 

„Warum nicht?“

Jei wandte sich seitlich zur Couchlehne und legte seinen Kopf darauf, machte es sich bequem. Die Wärme des Feuers machte ihn müde. „Du bist unstet, ständig wirbelt etwas Neues in dir auf.“
 

„Und was bedeutet das dann für dich? Was machst du, wenn du jemanden interessant findest?“, stellte Youji die Frage, die ihm eigentlich schon von Anfang an in den Gedanken herumspukte. Wie würde der Ire sich verhalten? Inwieweit bedeutete das Gefahr für ihn?
 

Ein kleines wissendes, durchschauendes Lächeln zierte die Lippen. „Bisher fand ich noch niemanden interessant.“

Jei schmiegte sich weiter an die Lehne und zog seine Arme an sich. Sein Blick glitt über das Gesicht des Anderen, über die Lippen, das weich aussehende im Feuer schimmernde Haar.
 

Das war nicht wirklich die Antwort, die sich Youji erhofft hatte, beruhigte sie ihn doch nicht wirklich. Er war also das erste Versuchskaninchen für dieses Experiment. War das gut oder schlecht?

Auch er analysierte das Gesicht des Iren, das ihn ruhig maß. Farfarellos Haare waren länger geworden und hingen ihm fransig ins Gesicht. Die Augenklappe, die er dazu trug, verlieh ihm das Aussehen eines Piraten.

Sah man einmal davon ab, dass dieser Mann sein Gegner, früherer Feind und ein unberechenbarer Killer war, war er durchaus attraktiv. Die Art von Mann, die Youji auch in sein Bett holen…und nicht gleich nach der ersten Nacht von der Bettkante schubsen würde.

„Was hast du jetzt vor?“
 

„Hast du…Angst?“

Wieder dieses hintergründige Lächeln. Eine provozierende Frage, denn wer konnte einem Empathen schon vorenthalten, ob er Angst hatte oder nicht. Aber hier ging es eher um eine hintergründige Angst vor ihm. Die Jei jedoch erkannte, versteckt hinter den anderen Farben.
 

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht…“, ließ sich Youji auf das nebulöse Spiel, das sie beide hier spielten, ein, doch auch er wusste, wie überflüssig diese Antwort eigentlich war.

Lieber konzentrierte er sich da auf Aya, der nun mit dem richtig guten Zeug bewaffnet, wieder zu ihnen zurückkam.

Das Bier stellte er bei ihnen ab, während er das Glas Wasser, über das Youji sich gewundert hatte, zu Farfarello brachte und es dem anderen Mann anbot.
 

Das dieser annahm. Er blickte verwundert auf und nahm das Glas mit einem fragenden Blick entgegen. Sich aufsetzend und die Beine wieder lässig auf den Boden absetzend, nahm Jei einen kleinen Schluck seines Wassers, die beiden Männer unter ständiger Beobachtung haltend.
 

Youji war gelinde gesagt erstaunt, wie Ran und Farfarello miteinander umgingen. Es schien, als würde er zum ersten Mal wirklich begreifen, was es bedeutete, dass ihr Anführer durch seine Beziehung zu Schuldig einen Einblick in das andere Team erhalten hatte. Wäre vor drei Monaten noch eine solche Begegnung, wie sie hier stattfand, möglich gewesen?

Nein.
 

Ran kam wieder zu ihm zurück und setzte sich auf die Couch, ließ sich gegen ihn fallen, auf den Lippen ein leichtes Lächeln. Youji runzelte die Stirn, warf einen letzten Blick zu Farfarello und konzentrierte sich auf den Film. Versuchte es.
 

Ja er versuchte es. Jei spürte dieses Unwohlsein, welches den Blonden zu irritieren schien. Hin und wieder trank er einen Schluck Wasser, beobachtete das Verhalten, das positive Gefühl welches von dem Langhaarigen kam. Er verstand gar nicht, wie die beiden sich mit einem Film unterhalten konnten. Viel aufregender schienen für Jei die Farben zu sein, die durch die Männer flimmerten.
 

Wirklich unterhalten wurden Aya und Youji durch den Film nicht, vielmehr ärgerten sie sich gegenseitig durch verbale und körperliche Sticheleien. Sie hatten Sehnsucht nacheinander gehabt, das wussten sowohl Youji als auch Aya, denn so wie sie hier aufeinander gluckten und all das im Schnelldurchgang nachholten, was sie bei Weiß vorsichtig und in Maßen getan hatten, ähnelte das doch dem Verhalten von Süchtigen.

Und zumindest Aya vergaß Farfarello in diesem Moment vollkommen. Youji jedoch nahm die Präsenz in seinem Rücken immer mit einem wachsamen Auge wahr.
 

Doch diese Präsenz verlor nach vielen Momenten der anstrengenden Beobachtungen langsam das brennende Interesse. Das Glas hatte seinen Weg auf den Boden gefunden, die Beine des Empathen wurden auf die Couch gezogen und selbiger lehnte erneut an der Rücklehne der Couch. Das Auge halb geschlossen, döste Jei vor sich hin. Allerdings schlief er nicht, sondern hielt eine Art Wachschlaf, der ihm gestattete, sich zu erholen und dennoch seine Fähigkeiten auszuüben, um etwaige Gefahren schneller zu erkennen. Er war sogar besser als Schuldig in dieser ‚Wachhundfunktion’.
 

„Du schläfst!“, murrte Aya nach einiger Zeit, als der tiefe, ruhige Atem Youjis seinen Nacken kitzelte. Und tatsächlich, es kam keinerlei Antwort von dem blonden Mann. Eingeschlafen…das, obwohl er sein Bier noch nicht einmal zur Hälfte ausgetrunken hatte. Aya lächelte in sich hinein und langte lautlos nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ab.

Er warf einen Blick hinter sich und siehe da. Kaum zu glauben, doch wahr…Farfarello döste ebenso wie Youji auch. Aya schüttelte den Kopf und entwirrte sich aus Youjis Griff. Es schien, als würde das wirken.

Verschlafene grüne Augen richteten sich zunächst ohne Erkennen, dann mit einem Grinsen auf ihn und Youji streckte sich.

„Zeit, ins Bett zu gehen, was?“, gähnte er und kämpfte sich aus den weichen Kissen heraus, nur um einen Moment später leise zu lachen.
 

Er hatte Farfarello gesehen, wie er dort saß, an die Rückenlehne gekuschelt, das Auge geschlossen…auf seinem Schoß Banshee, die ebenso schlief.

„Irgendwie niedlich, was?“, wandte er sich an Aya, der das nur bestätigen konnte. „Man könnte die glatt mit ins Bett nehmen, so wie sie jetzt sind, die beiden Raubtiere.“
 

Aya sah Youji von der Seite an. „Soso. Willst du mich also auch verlassen, Verräter?“

Der blonde Mann riss gespielt entsetzt die Augen auf. „Aber RAN! Das würde ich NIE tun!“
 

Aya grollte. „Na das will ich auch hoffen!“
 

Youji hakte sich bei seinem Despoten ein und ließ sich von ihm ins Schlafzimmer ziehen. Es war klar, dass sie gemeinsam schliefen…das hatten sie so lange nicht mehr getan.
 

Während die beiden sich ins Bett begaben, noch etwas im Bad rumorten öffnete sich eben das Lid des schlafend geglaubten und Jei verfolgte das Geschehen auf seine eigene Art.

Als wären die beiden wie die unterschiedlichen Farben eines Wärmescanners sichtbar, nur auf eine andere Weise in seiner Wahrnehmung, so verfolgte er, wie sich Ran und Yohji zur Ruhe begaben. Erst dann nahm er seinen Wachschlaf wieder auf und sein Auge schloss sich langsam.
 

Es dauerte etwas, bis Youji und Aya sich soweit fertig gemacht hatten, dass sie zusammen unter die Bettdecke kriechen konnten. Es war trotz des nahenden Frühlings kalt.

Aya schauderte und vergrub sich tief in den weichen Federn, Youji zugewandt. Der andere Mann sah fertig aus mit seinen tiefen Augenrändern und der bleichen Gesichtsfarbe. Sehr fertig.
 

„Weißt du was wirklich pervers ist?“

Yohji drehte sich auf den Rücken, boxte sich das Kissen bequemer und ließ seine Hände über dem Kopf um das Kissen geschlungen. Seine Augen schmälerten sich und starrten nachdenklich an die Decke, als würden sie die Maserung des Holzes dort oben erforschen.
 

„Nein, aber ich bin sicher, du wirst es mir gleich sagen“, erwiderte Aya amüsiert und betrachtete sich das Profil des blonden Mannes. Youji war dünner geworden. Sehr viel dünner als vorher.

Aya ließ sich das durch den Kopf gehen und kam auf eine Idee…
 

„Ich finde es furchtbar und verteufelt, aber dieser Ort hier ist sicherer als jeder Ort den ich bisher kennen gelernt habe. Und rate Mal warum dies so ist!“ Es war tatsächlich so. Was sollte ihnen hier schon passieren?

„Weißt du… ich meine… klar können wir auf uns achten, wir sind keine Neulinge im Geschäft, aber es ist nie so, dass wir gänzlich sicher sein können, niemals. Nie.“ Nur hier… hier war die Chance groß, dass sie es waren. „Was kann man einem Empathen schon verheimlichen? Wie soll man sich anschleichen können?“

Irgendwie war das verwirrend. „Dass ausgerechnet der Ire hier geblieben ist… warum haben sie ihn nicht auf den Einsatz mitgenommen?“
 

Aya ließ sich das Gesagte noch einmal durch den Kopf gehen. Sicherer, als anderswo. Das stimmte. Allerdings nur, wenn der Rest von Schwarz nicht auch anwesend war. Zumindest der große, böse Amerikaner. Das von ihm verachtete Orakel.

Doch alleine mit Farfarello…

„Ich weiß nicht, Youji. Vielleicht, weil er nicht ins Konzept gepasst hat. Er ist auffällig in seiner Erscheinung. Wer weiß, was Schwarz für einen Auftrag haben?

Oder er ist zu unberechenbar. Du kennst ihn doch auch noch. Mordlustig, blutrünstig…das ist seine andere Seite.“
 

„Ja stimmt. Deshalb finde ich es merkwürdig, dass er so… naja anders ist. Er tut nichts. Er rastet nicht aus wie wir ihn kennen gelernt haben. Das ist doch seltsam. Und trotzdem fühle ich keine Gefahr. Du weißt schon… das ‚Ausschlagen’ der Instinkte … das Prickeln im Nacken, das dir sagt, dass dein Hintern zu nah überm Feuer hängt. Es fehlt hier. Das Haus ist groß, nicht protzig, es wirkt ruhig … naja nicht kalt, wie ich es gedacht hätte, sondern normal. Irgendwie.“ Er konnte es nicht erklären, nicht gut zumindest.
 

„Vielleicht ist das Haus Spiegelbild seiner Bewohner, wer weiß das schon? Was wissen wir denn schon von Schwarz? Rein gar nichts. Oder vielmehr das, was sie uns auf Aufträgen gezeigt haben, nicht mehr, nicht weniger. Das schließt das Privatleben aus. Und das kommt jetzt, mit der Zeit.

Farfarello ist seltsam, Youji. Aber irgendwie auch interessant in seinen Verhaltensweisen, die manchmal den eigenen so sehr ähneln.“

Ayas Blick folgte dem Youjis an der Zimmerdecke und er runzelte die Stirn. War das denn ein Wunder? Farfarello war Empath. Er spiegelte die Emotionen der Menschen, die mit ihm umgingen.
 

„Ach, was soll’s. Hast du abgesperrt?“, fragte Yohji und grinste etwas schräg, da er zuvor noch gesagt hatte, er fühle sich sicher, doch die Waffe war griffbereit in der Nähe und die Tür…?
 

„Du hast Schiss, Kudou“, bemerkte Aya mit einigem Erstaunen. Nein, er hatte nicht daran gedacht abzuschließen, auch wenn er es in den ersten Tagen durchaus getan hatte. Aber gut…wenn der blonde Mann sich dadurch besser fühlte.

Ächzend kämpfte sich Aya aus den Federn und ging zur Tür, drehte den Schlüssel einmal herum und lächelte spöttisch. „Zufrieden, Angsthase?“

Er krabbelte wieder in die Kissen und fröstelte unter der Decke. „Aber jetzt zu dir, Youji. Dir ist ja wohl klar, dass du bei Schuldig einziehen wirst, sobald er wieder da ist, damit ich ein Auge auf dich haben kann, oder?“
 

„Ja klar, dass ist ja auch der Grund dafür, dass du nicht absperren willst, schließlich bist du mit einem von denen zusammen“, schnaubte Yohji gespielt eingeschnappt und verzog den Mund abfällig. Und dann legte sich sein Kopf auf dem Kissen schief und er zog zunächst die Brauen erstaunt hoch bevor er in schallendes Gelächter ausbrach.

„Gott… der war gut, wo hast du nur diese Witze her?! Muss wohl der Einfluss des Deutschen sein, was?“
 

Aya lächelte ruhig und robbte sich ein Stück mehr zu Youji. „Witz? Youji, das war kein Witz“, sagte er bierernst. „Du siehst schlimm aus, hast so dunkle Augenringe, als wolltest du jedem Zombie Konkurrenz machen, du hast abgenommen und wirkst erschöpft. Und ganz nebenher sagst du das auch noch. Ich kann eins und eins zusammenzählen, also will ich dich unter meinen Fittichen haben. Ich werde das schon mit Schuldig regeln. In dem Bett ist auch Platz für drei. Und damit du nachts nicht abhaust, schläft Schuldig links und ich rechts von dir. Passt doch alles.“
 

Yohji wandte seinen Kopf ab, kicherte leise. Hier vermischte sich purer Ernst mit Lächerlichkeit und er wusste nicht, ob er dem schmerzhaften Ziehen in seinem Inneren nachgeben oder einfach nur lauthals lachen sollte – damit er nicht heulen musste.

„Ich wusste, dass du keinen Sinn für Humor hast, dumm von mir zu behaupten, es wäre ein Witz gewesen.“
 

Aya zog an Youjis Oberarm…zog kräftig daran und den anderen Mann zu sich. Er kannte Youji lange genug um dessen Stimmung einschätzen zu können. Deswegen stieß es ihn wie nichts anderes in ein Tief, seinen Freund so zu sehen.

„Sieh mir in die Augen, Kudou“, knurrte er leise und zog dessen Kinn zu sich. „Ich will nicht, dass es dir schlecht geht und ich werde das, was ich tun kann, tun, damit ich dich nicht so sehen muss, hörst du?“
 

Es fiel Yohji schwer diesem zwingenden Blick stand zu halten. Sanft entzog er sich den Fingern die sein Kinn dirigierten.

„Und wie genau sieht das aus?“, wollte er wissen und er konnte den schützenden Zynismus den er um sich gelegt hatte nicht vermeiden. Er brauchte ihn. Zwingend.
 

„Ich tue, was ich kann, um dich wieder herzustellen“, entgegnete Aya ernst. „Und wenn es sein muss, komme ich ins Koneko zurück.“ Sein Blick war immer noch nicht von seinem Freund gewichen, auch wenn dieser ebenso wie Schuldig auch wie ein in die Enge getriebenes Tier um sich schlug…mit Sarkasmus und beißenden Kommentaren. Doch Aya meinte es ernst. Er wollte Schuldig…doch er wollte auch Youji als Freund nicht verlieren.
 

Genau das spürte auch Yohji als er nach einem langen Blick in die violetten Iriden einlenkte und sogar ein Lächeln zustande brachte. Kein Herzensbrecherlächeln, sondern ein echtes, ein sanftes.

„Hör auf damit, Ran. Das wäre absoluter Unsinn und das weißt du. Ich weiß deine Sorge zu schätzen und auch wenn du im Koneko wärst, was würde es ändern?“

Er seufzte und strich Ran mit zwei Fingern über die Wange. „Was ist das für eine Suche… dass du ständig zwischen zwei Menschen wählen willst? Hast du das nicht eben gerade hinter dich gebracht?“ Denn genau dies würde Ran müssen, wenn er zurück ins Koneko ging, zurück zu Kritiker, zurück zum alten Leben, zurück in die Knechtschaft.
 

„Ich will einfach niemanden mehr verlieren, der mir etwas bedeutet!“, begehrte Aya auf, emotional und abrupt, Feuchtigkeit in den Augen, die eigentlich nicht dort sein sollte. Sein Blick kehrte zurück zur Decke, suchte um Ruhe in der eigenwilligen Maserung.

Er vermisste seine Schwester, auch jetzt noch, auch wenn diese klaffende Wunde in seinem Herzen nach und nach verheilte. Eine Narbe würde aber dennoch bleiben und an Tagen wie solchen schmerzte der Prozess der Vernarbung. Manchmal mehr, manchmal weniger, aber immer dumpf und drückend.

„Dir geht es nicht gut, seitdem ich nicht mehr da bin“, erklärte er der Decke über sich. „Selbst Omi sagt das. Und wenn die einzige Möglichkeit, dem zu entkommen, eine Rückkehr ins Koneko ist, dann werde ich das tun.“
 

„Red keinen Scheiß“, setzte sich Yohji nun auf, seiner Ruhe beraubt. „Weißt du überhaupt, was du mir mit deiner Rückkehr aufbürden würdest? Endlich bist du …frei und du kämst wegen mir zurück in eine Knechtschaft, die aus Blut und totem Fleisch geschmiedet ist? Es liegt nicht an dir, dass es mir nicht gut geht, wie du dich ausdrückst. Niemand ist daran schuld. Es ist einfach der Job. Er frisst mich auf und ich weiß einfach nicht mehr wie ich es kompensieren kann.“ Er zog die Beine an sich und legte seine Hände um den weißen Stoff des leinenen Betttuches. „Es ging mir früher schon schlecht. Auch als du da warst. Aber … was sollte ich das zeigen, du hattest deine eigenen Probleme, wie wir alle.“
 

Aya schwieg. Was sollte er auch darauf antworten? Ja, ihnen allen war es schlecht gegangen, sie alle waren dabei draufzugehen. Und jetzt…jetzt hatte er sich lösen können und hatte ein Stück weit miterleben können, wie sich Glück anfühlte. Nur um mitanzusehen, wie sein Team, für das er verantwortlich war, langsam auseinanderbrach, weil sie mit ihrer Bürde nicht mehr fertig wurden.

Aya presste die Unterarme auf seine Augen. Er fühlte sich schlecht, grottenschlecht.
 

Minuten der Stille vergingen in denen keine Antwort von Ran kam, wie Yohji schon befürchtet hatte. Eine solch offene Aussprache der Dinge hatte Ran noch nie sonderlich gut verkraftet, vor allem nicht wenn sie so wütend…und von ihm kam. Er schien Ran etwas zu bedeuten, sehr viel sogar, denn immer, wenn Yohji derart wütend wurde, zog sich Ran zurück, als mache es ihm tatsächlich etwas aus.

Er blickte zu Ran, dessen Augen hinter dem Schild aus seinen Armen verborgen waren.

„Ran?“, fragte er leise aber mit fester Stimme.
 

Aya schüttelte schweigend den Kopf. Lass mich, es wird gleich wieder, sollte das heißen. Er brauchte nur einen Moment, um zu seiner ursprünglichen Fassung zurückzufinden. Nur einen Moment noch um sich zu beherrschen und wieder der Alte zu sein.

Wie sehr war ihm doch bewusst geworden, dass er ohne das Glück, das Schuldig um ihn herum verbreitete, nichts weiter als ein Ball aus Sorge und Trauer war. Er hatte seine Augen vor dem Unglück seines Teams verschlossen, nur um sich selbst besser zu fühlen. Würde es ihnen also auch irgendwann so gehen wie seiner Schwester?

Würden sie wegsterben, durch seine Schuld? Wäre er dann ganz allein? Seine Nägel gruben sich in die Handballen, versuchten mit Schmerz zu kompensieren, was ihm Schmerz zufügte.
 

Wie labil der andere Mann tatsächlich war, erfuhr Yohji nun als er das sachte Beben welches durch den Leib neben ihm fuhr bemerkte.

Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine Lippen. Es war wirklich gut gewesen, dass Ran nach dem Tod seiner Schwester fort zu dem Deutschen gegangen war. Es war besser, viel besser.

Sie hätten alle fort gehen sollen. Irgendwo hin.

Yohji lehnte sich zu der Nachttischlampe und löschte das weiche Licht welches sie verströmte.

„Hey, Großer…“, raunte er sanft, während sich sein Arm wie ein Dieb unter Rans Schulter schob genau unter die Stelle, wo das Kissen begann, sodass er leichter hindurch kam. Seinen Kopf bettete er auf die Brust und sein Bein umschlang das von Ran über der Decke.
 

Es schien, als hätte Youji genau das Richtige getan mit seinem direkten Kontakt zu Aya…mit der Dunkelheit, die sie nun umströmte.

Langsam…sehr langsam löste er seine Arme, umso schneller jedoch fanden eben diese Youjis Körper und drückten ihn in einer verzweifelten Geste an sich. Aya atmete zittrig ein, mit der gleichen Tränenschwere, die er gerade noch vor Youji hatte verbergen wollen.

Einzig seine Lippen zitterten, als er lautlos weinte, die Emotionen so plötzlich überkochten, dass er ihnen kaum folgen konnte.
 

Yohji schloss die Augen. Ran brauchte den Trost dringender als er, so verzweifelt wie die Arme sich um ihn schlossen. Er spürte Rans Kinn an seiner Stirn, die teils hastigen Atemzüge und dann das Resultat davon – die salzige Nässe unter seinen Fingern, als er Ran über die Schläfe strich, wohlwissend, was er dort finden würde. Er beließ seine Hand dort, strich sanft über den Haaransatz.
 

„Ich will doch nur das Beste für uns alle…“, flüsterte Aya. „Warum geht das nicht, Youji? Warum kann ich euch da nicht rausholen?“

Er presste die Lider eisern aufeinander, teils aus Verzweiflung, teils aus Schmerz. Er vergrub sein Gesicht in Youjis Haaren, suchte Trost in dem vertrauten Geruch.

„Und jetzt bin ich derjenige, der heult…und nicht der, der dafür sorgt, dass es besser wird…“
 

„Warum du uns da nicht rausholen kannst? Weil jeder von mit seinen eigenen Ketten an Kritiker gefesselt ist, mit dem nur für ihn passenden Schloss, Ran. Kein anderer kann dieses Schloss knacken. Auch du nicht.“ Jeder von ihnen hatte sich selbst an Kritiker gefesselt, das war die Antwort und beide wussten dies.
 

Es schien einleuchtend…und dennoch war es nur ein geringer Trost. Denn das Endergebnis blieb das Gleiche, auch wenn die Verantwortung dafür abgegeben worden war.

Aya öffnete der Dunkelheit seine Augen und starrte nichts sehend in den Raum hinein, während ihm immer noch Tränen aus den Augen flohen. Er sprach nicht, wusste, dass seine Worte nichts ausrichten konnten, so ließ er sie in seinem Inneren herumwirbeln.
 

Yohji teilte das Schweigen und erst nach einer Weile musste er an etwas denken welches ihm ein kleines gemeines Lächeln auf die Lippen legte.

„Der Telepathenbällchenmann wird ziemlich sauer werden, wenn er rausfindet wie wir hier liegen, meinst du nicht auch?“, wisperte er hinterhältig. Er wollte nicht, dass Ran noch weiter düsteren Gedanken nachhing, auch wenn es ihm mit Sicherheit gut tat, den Druck loszuwerden der sich in ihm aufgestaut hatte.
 

„Das ist mir egal“, murmelte Aya und machte keinerlei Anstalten, Youji loszulassen. „Er weiß, wie es gemeint ist und wenn er meint, deswegen eifersüchtig zu sein, werde ich ihm das schon austreiben!“

Und wie Youjis Methode des Ablenkens funktionierte. Denn Aya konnte sich nach und nach den depressiven Gedanken lösen, die ihn umgaben. Er konnte sich auf den Mann neben sich konzentrieren, auf die lang vermisste Nähe, die ihn beruhigte…mehr als das.

Shanghai

~ Shanghai ~
 


 


 

o~
 

Shanghai
 

Der verwinkelte Raum war heruntergekommen. Die Tapeten schäbig, vergilbt und an einigen Stellen blätterte der Putz von den Wänden. Es roch feucht und modrig. Wie es in diesen und ähnlichen Räumlichkeiten irgendwie immer roch… bemerkte Schuldig müßig in Gedanken.

Die nackte Glühbirne über einem der vier Billardtische hing an einem Kabel herab. Schuldig saß halb auf dem Tisch, stieß die Glühbirne mit seinem Koe an und erzeugte zum wiederholten Male schwankende Schatten in diesem ansonsten dunklen Kellerraum.

Er war allein, sah man mal von den zwei Toten ab, die ihm stille Gesellschaft leisteten. Einer der Männer lag auf dem Tisch, auf dem Schuldig es sich bequem gemacht hatte, und blutete das Grün voll. Seine Augen starrten blind ins Leere, während Schuldig sich die Zeit damit vertrieb, die Kugeln in die rote Flüssigkeit rollen zu lassen. Er hatte nur noch die Schwarze übrig und wog sie in der Hand ab, als er Schritte hörte.

„Wurde auch langsam Zeit“, wisperte er und ließ die Kugel mit einem sanften Stoß seiner Finger in das Blut rollen.
 

Laut polternd flog die Tür auf und Nagi kam herein. Seine Verkleidung war in Unordnung gebracht, das Mantelkleid mit den Blütenstickereien schmutzig. Die langen Haare, die zu einem kunstvollen Zopf frisiert waren und in seidigen Strähnen herab hingen waren zerzaust.

„Schick, Sweety, hast du die Codes?“ Schuldig ließ sich aufreizend langsam vom Tisch gleiten und kam zu Nagi, der außer Puste war.

„Ist jemand hinter dir her?“
 

Nagi schüttelte den Kopf, sodass die Haare der Perücke nur so flogen. „Nein, es waren nur mehr als gedacht und es war schwierig die falsche Spur zu legen. Später…“, vertröstete er Schuldigs ständig präsente Neugier. „Wir müssen los.“
 

„Nicht so schnell“, Schuldig hielt Nagi am Arm zurück und für einen Moment blickten ihn die Augen irritiert an.

„Wir müssen dich noch zurecht machen, es ist Nachmittag, Sweety“, grinste Schuldig diabolisch und Nagis Blick drückte Unsicherheit aus. Dennoch blieb er stehen und ließ die Hände über seinen Körper fahren, die den Staub von seiner Kleidung klopfte, die seine Haare richteten und ihm eine Schmutzspur von der Wange wischten.

„Nun, mein kleiner Drache, lass uns entfliehen“, näselte der Deutsche und sie verließen das Gebäude.
 

o~
 

Braune Augen beobachteten das Muskelspiel, das sich selbst unter dem eleganten, schwarzen Nadelstreifenanzug abzeichnete, der den ruhigen Mann am anderen Ende des kleinen, runden Tisches äußerst elegant kleidete.

Selbst die Beine, wie sie überschlagen waren…und diese Hände. Diese Hände, groß und dennoch schlank. Es waren Männerhände, die vermutlich genauso grob wie sanft zu berühren verstanden. Wobei…hatte nicht beides seinen Reiz?
 

Ja, das hatte es! Doch das war es nicht alleine. Dieser Blick, diese tiefe Stimme, diese Lippen, welche das sie verlassende Englisch so charmant gebildet nach außen trugen. Wäre da nicht dieser Blick, der alles zu durchleuchten schien. Wirklich alles. Stechende, hellbraune Augen mit einem Wissen in ihnen verborgen, das längst nicht jeder besaß. Junge Weisheit und Weltoffenheit.
 

Sophie wollte diesen Mann, der ihr gegenüber saß und an seinem Drink nippte. Mit Haut und Haaren…
 


 

„…stand der Fusion nichts mehr im Wege“, schloss Brad seine kleine Ausführung bezüglich seiner nicht vorhandenen Geschäfte mit Schuldig als Partner. So ganz falsch war diese Geschichte nicht, aber er hatte sie alltagstauglich umgesetzt. Vielleicht hätte er Geschichtenerzähler werden sollen…

Er bemerkte wie die Aufmerksamkeit der dunkelhaarigen Halbjapanerin kurzzeitig abschweifte und lächelte ob der vergnügt blitzenden schokoladenbraunen Augen. Er mochte ihre Art zu Lachen und die kleinen Gesten, mit denen sie ihre Worte unterstrich. Dieses Lachen schien ungetrübt von seiner Welt, in der er sich bewegte, es versprach Unbeschwertheit und Gelassenheit.
 

Sophie blinzelte und lächelte automatisch, als sie sich verlegen die Haare zurückstrich. Ertappt!

„Ich muss Ihnen gestehen, Mr. Martinez, dass ich mich gerade nicht auf Ihre Worte, sondern eher auf Ihre Lippen konzentriert habe. Würden Sie wohl bitte wiederholen, was Sie versuchten mir zu sagen?“

Sie neigte entschuldigend den Kopf und funkelte den Amerikaner spanischer Abstammung vergnügt an.
 

Ein entspanntes Lachen löste sich aus Brads Kehle und er war wirklich amüsiert. Keine Show, keine Verstellung, die er hier abzog, wie Schuldig es nennen würde. Nein, Sophie war erfrischend anders und … sie hatte es tatsächlich auf ihn abgesehen.

„Sie hingen mir also vor lauter Spannung förmlich an den Lippen?“, hob er fragend eine Braue und schmunzelte in sich hinein.
 

„Sie sagen es! Allerdings waren es in Ihrem Fall nicht nur die Lippen…“, erwiderte Sophie und senkte ihre Lider, schaute unter dichten Wimpern zu ihrem attraktiven Gegenüber auf. Sie mochte sein Lachen, sog es geradezu in sich auf. Es versprach alles: Wärme…Dominanz…Spaß…Leidenschaft. Es wäre ein netter Zeitvertreib…
 

Bradley Crawford alias Keith Martinez erläuterte Sophie in kurzen Worten, wie die geschäftlichen Beziehungen mit Mr. Thomas Miller alias Schuldig zu Stande gekommen waren und schien dabei in seinem Element zu sein. Sie waren auf dieses Thema gekommen, da es Sophie zu interessieren schien, was sie hier in Shanghai trieben…

Crawford mochte dieses Spielchen, mochte seine Rolle als langweiliger, ausländischer Geschäftemacher, die er sich auserkoren hatte. Was Sophie an ihm interessant fand, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, denn er gab sich möglichst langweilig, dennoch nicht uninteressiert an ihr. Ein geregeltes, langweiliges Leben, dessen einziger Zweck es war, Geld anzuhäufen. In gewisser Weise machte er das in Wirklichkeit auch… nun… in gewisser Weise…

Brad lächelte bei diesem Gedanken und die hellbraunen Iriden glimmten amüsiert dadurch eine Nuance heller auf.
 

„Sagen Sie mir, was Sie so amüsant finden?“, bat Sophie und nippte an ihrem Martini. Ja, dieser Mann war ein Geschäftsmann durch und durch. Und jemand, der Kontrolle liebte. Kontrolle und ein bis auf das letzte Bisschen durchgeplante Leben.

Vielleicht fühlte sie sich deswegen so wohl in seiner Gegenwart? Ihr eigenes Leben war das Chaos schlechthin. Unorganisiert, unberechenbar und immer mit Überraschungen angereichert.

Sie neigte den Kopf und legte ihn leicht schief, maß diesen stattlichen Mann vor ihr.
 

„Ihr schmeichelhaftes Interesse an einem langweiligen, wenig spektakulären Kerl wie mir. Eine Frau mit ihren Fähigkeiten hat sicher einen nervenaufreibenden Lebenswandel.“

Brad bestellte sich noch einen Drink. Er erwartete nun langsam Schuldigs Rückmeldung, wie die Vorbereitungen für ihren Zugriff verlaufen waren.

„Wie sie mir erzählten, ist ihr Terminkalender gefüllt mit Terminen, die über den gesamten Erdball verstreut sind. Das scheint mir ein aufregendes Leben zu sein. Sie lernen sicher viele interessante Menschen kennen.“
 

Ihre dunklen Augen funkelten amüsiert, als sie sich die Worte des Mannes durch den Kopf gehen ließ.

„Sehr viele Menschen. Viele Exzentriker, Lügner, Künstler, Abenteurer, Großstadtcowboys…alle im Stress dieses Businesses. Man könnte sagen, auf der Durchreise. Da ist es doch einmal angenehm, einen langweiligen, wenig spektakulären Kerl wie Sie kennen zu lernen“, lachte sie schelmisch. „Nahezu wohltuend, das kann ich Ihnen sagen!“
 

Lügner also… nun ein Spezialist auf diesem Gebiet näherte sich nun mit gelassenen Schritten und flüsterte in seine Gedanken, wie die Vorbereitungen verlaufen waren.

„Was halten sie davon, dieses Gespräch bei einem guten Abendessen fortzuführen, denn mich beschleicht der Verdacht, dass wir nicht mehr lange ungestört sein werden.“

Er wandte den Kopf und sah Schuldig auf sie zukommen. Nagi stand wartend an der Tür, verneigte sich unauffällig in seine Richtung. Etwas irritiert hob er eine Braue und betrachtete sich den Aufzug des jungen Mannes. Beinahe hätte er ihn nicht erkannt. Wieso musste sich Nagi auch immer derart komplizierte Inkogniti zulegen?

Schuldig blieb auf Höhe der Bar stehen und bestellte sich einen Drink, grüßte sie beide mit einem herzerweichenden Lächeln.

Crawford hätte ihn dafür am Liebsten auf den Mond geschossen…

Innerlich den Kopf schüttelnd wandte er sich wieder zu Sophie um.
 

„Sagen Sie bloß, Sie können die Zukunft vorhersehen, Mr. Martinez?“, ging Sophie auf das amüsante Spiel ein. Da kannten sie sich erst wenige Stunden und schon machte es ihr Freude, mit diesem Mann zu kommunizieren und ihn zu necken.

Auch sie wandte den Kopf zu Thomas um und winkte grazil.

„Meine Güte, ja! Sie können es“, lachte sie hell und zeigte eine Reihe strahlender, weißer Zähne.
 

„Wenn ich es könnte, hätte ich wohl vorher Reißaus genommen, Sophie“, seufzte Brad in gespieltem Leid, hob die Brauen fragend, als Schuldig an den Tisch kam, Nagi im Schlepptau, der seine Rolle sehr gut spielte. Nagis Äußeres war schon immer sanft gewesen, aber dass er derart gut in diese Kleidung und diese Perücke samt Make-up passte erstaunte Brad dennoch.

„Darf ich vorstellen, Sophie, das ist Tomoko, meine Halbschwester. Sie begleitet mich manchmal auf meinen Reisen“, stellte Brad vor und fing einen intensiven Blick von Nagi auf. Schuldig legte seine Hand an Tomokos Flanke und zog sie sanft an sich. „Wir wollten uns nur kurz blicken lassen und werden uns gleich ins Nachtleben stürzen. Nicht wahr?“

Tomoko nickte lediglich und zauberte ein kleines schüchternes Lächeln auf ihre Lippen.
 

„Mr. Martinez…Sie machen mich ja richtig eifersüchtig, dass sie noch eine schöne Frau an Ihrer Seite haben!“, quittierte Sophie die Erscheinung der jungen Schönheit, die wirklich bezaubernd war in ihrem traditionell chinesischen Kleid. Wie zart sie war…schier zerbrechlich! Einfach faszinierend.

Sophie erhob sich halb und reichte Tomoko ihre Hand.

„Gestatten, Fuchoin mein Name. Sophie Fuchoin. Es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen, Tomoko. Ganz unter uns…“, senkte sie ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. „Einen wunderbaren Halbbruder haben Sie!“ Sie zwinkerte geheimnisvoll.
 

Tomoko reichte ihr die behandschuhte Hand und drückte sie sanft. „Ja, das ist er. Wunderbar“, sagte sie leise und lächelte mit dem Hauch von zarter Röte auf den Wangen. „Ach übrigens, Keith, die Besprechung ist gut angelaufen, die Kugel ist ins Rollen gekommen, jetzt müssen wir lediglich abwarten, bis sie sich beraten haben um das nächste Treffen zu arrangieren“, gab Schuldig einen kurzen Bericht über ihren Termin.

„Na, das hört sich doch viel versprechend an“, sagte Brad und wirkte sehr angetan von der ersten Sondierung ihres Geschäftes. „Wo geht ihr hin?“, wandte er sich an Schuldig.

„Ein Club in der Nähe, dort ist es angenehm und nicht zu laut“, zwinkerte er verschwörerisch und Tomokos Wangen zierte erneut eine zarte Röte.

„Pass mir bloß auf Tomoko auf, sonst kannst du was erleben, mein Lieber“, drohte Brad spielerisch.
 

„Eben, da müssen Sie vorsichtig sein, Thomas!“, sprang Sophie nur allzu schelmisch auf den gleichen Zug. „So eine Schönheit kann Ihnen leicht abhanden kommen, wenn Sie nicht aufpassen. Die chinesischen Männer werden sich um Sie reißen, Tomoko, da bin ich mir sicher!“

Wie angenehm weich sich der Händedruck trotz der Handschuhe angefühlt hatte.

„Wollen Sie sich nicht erst noch zu uns setzen?“, fragte Sophie die beiden Neuankömmlinge. „Sagen Sie mir nur, was Sie für einen Drink wünschen und fühlen Sie sich eingeladen!“ Sie deutete auf die beiden freien Sessel am Tisch.
 

„Aber nein, nein, vielen Dank“, wiegelte Schuldig ab und lachte. „Wir machen uns gleich auf den Weg. Wenn ihr möchtet könnt ihr ja zu uns stoßen. Den Club könnt ihr gar nicht verfehlen, er ist nur ein paar Straßen weiter, du warst letztes Mal mit mir auch dort“, erklärte Schuldig und wünschte ihnen noch einen schönen Abend, bevor Tomoko und er sich verabschiedeten.
 

Brad wünschte Schuldig zwar die Pest an den Hals für diesen Auftritt, aber er hatte den Wink mit dem Zaunpfahl ebenfalls verstanden. Wenn er Sophie flachlegen wollte, sollte er sich in diesen Club begeben. Er war geradezu ideal.

Das sandte Schuldig ihm, bevor er sich mit seiner Tomoko in den Aufzug begab um nach unten zu fahren.

Brads Augemerk wandte sich wieder Sophie zu. „Was meinen Sie?“, fragte er mit einem einladenden minimalen Lächeln. „Hätten Sie Lust?“
 

„Ja, hätte ich!“, schmunzelte sie. „Aber wehe, Sie sagen mir noch einmal, dass Sie ein langweiliger Kerl sind! Dann bezichtige ich Sie nämlich vor all diesen Leuten als Lügner. Oder meinen Sie, dieser Club wäre langweilig?“

Sophie schüttelte tadelnd den Kopf und legte ein paar Scheine auf den Tisch. Sie würden wohl für ihre beiden Drinks reichen…der Rest war eben eine kleine Aufmerksamkeit an den Ober.

Sie erhob sich und streckte ihrem Gegenüber die Hand entgegen. „Dann auf ins Vergnügen!“
 

o~
 

Sophie sah sich neugierig um und sog die Energie der umherschwirrenden Clubbesucher beinahe schon gierig in sich auf. Sie fühlte sich hier wohl, war vollkommen in ihrem Element, auch wenn sie sich eher zurückhielt mit dem Tanzen. Wie Mr. Martinez sicherlich auch. Denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser vornehme, attraktive Mann sich zu den Massen auf die Tanzfläche stürzte.

Sie warf einen anerkennenden Blick auf die örtlichen, erlesenen Speisen.

„Sie wissen, wie man gut isst, nicht wahr?“, fragte sie und hob ihren Drink in seine Richtung. Über ihnen thronte ein Kronleuchter aus dutzenden kleinen Kristallen, der ihren Tisch sanft erleuchtete und den neben ihr sitzenden Mann äußerst geheimnisvoll wirken ließ, so wie er im Halbschatten saß. Er roch fantastisch, fiel es Sophie in diesem Moment auf, wo sie sich doch so nah waren.
 

„Ich habe selten die Gelegenheit einen Abend wie diesen zu genießen. Gutes Essen, gute Musik und eine wunderschöne Frau an meiner Seite…sind eine Rarität zwischen dem täglichen Einerlei und der Jagd nach freier Zeit.“

Brad erwiderte den Toast und lachte leise. Er beugte sich etwas vor. „Probieren Sie die Spieße, sie sind mild gewürzt und haben eine angenehme Süße im Geschmack.“

Brads Blick verfing sich an der schmalen Schulter, kroch über das Schlüsselbein hinauf zum Halsansatz. Sophies Haut war makellos und das dunkle Haar harmonierte sanft mit den Schatten, die das diffuse Zwielicht erzeugten.
 

„Sie sind ein Charmeur, wissen Sie das?“, fragte Sophie leise und lehnte sich etwas näher zu dem reizenden Mann an ihrer Seite, pickte sich jedoch gleichzeitig einen der Spieße aus dem Ensemble.

Sie neigte den Kopf so, dass sie ein Stück ihres zierlichen Halses entblößte, gerade so viel, dass es ein deutliches Zeichen des Flirttanzes war, den sie hier aufführten.

„Eine milde Würze…und angenehme Süße, wäre das nicht auch etwas für Sie…Keith? Ich darf Sie doch Keith nennen, oder?“ Sie lächelte mit einem minimalen frechen Einschlag, der jedoch eher spielerisch als aufdringlich war.
 

Brad nickte. „Sie dürfen“, sagte er und nahm sich dabei eines der Spießchen.

„Eine köstliche Mischung“, raunte er. „Das Fleisch ist weich, der Duft ist nussig und bildet mit den Gewürzen einen interessanten Geschmack, der einem nicht mehr aus dem Gedächtnis gehen möchte. Zusammen mit der herben Süße, die einem auf der Zunge zergeht sind sie ein kulinarischer Leckerbissen.“ Er war näher gekommen, nur wenige Zentimeter von ihrem Ohr entfernt, da ein neues Stück gespielt wurde und die Musik ihr Gespräch stören würde. Besser gesagt, es war eine gute Ausrede um Sophie näher kommen zu können.
 

Sophie neigte ihren Kopf leicht nach links und senkte ihre Lider. Sie genoss diese Nähe…diese Verführung, denn der neben ihr sitzende Mann wusste ganz genau, wie er eine Frau zu becircen hatte.

Ihre Lippen waren Millimeter von seiner Wange entfernt und sie roch sein frisches, jedoch mit einer angenehm schweren Note versetztes Aftershave.

„Da haben Sie wohl Recht“, sagte sie und während sie sprach, strich ihr sanfter Atem über seine Wange.
 

„Probieren Sie es, Sophie“, sagte er auffordernd und sprach ihren Namen sanft und zugleich mit dunkler Note aus. Er mochte diesen Namen, er passte zu ihr und ihrer verführerischen Art, die ihn magisch anzog. Brad fragte sich, wie weit dieser Tanz zwischen ihnen gehen mochte, wie weit er sich vorwagen würde. Kurz wunderte er sich über die Tatsache, da er derartige Verabredungen während eines Auftrages nicht vereinbarte. Warum zur Hölle hatte er es jetzt getan?
 

Sophie öffnete ihre Lippen und schien etwas sagen zu wollen, bevor sie lächelte und unter den wachsamen Augen Keiths ein kleines Fleischstück von ihrem Spieß zog. Sie kostete es in kleinen Bissen, kostete den vollen Geschmack dieser Köstlichkeit bis in Letzte aus.

„Sie haben Recht, Keith. Es schmeckt fantastisch. Möchten Sie auch?“, fragte sie mit einer Unschuld in der Stimme, die vom dunklen Glanz in ihren Augen beinahe sofort betrogen wurde.
 

Er blickte sie durchschauend an. „Ja, lassen Sie mich kosten, mit Sicherheit schmeckt er köstlicher als den, den ich mir ausgewählt habe“, lächelte er ironisch und verwob seinen Blick mit dem ihren, bevor er den Kopf leicht neigte.
 

Sie lachte laut und amüsiert. Dieser Mann gefiel ihr. Der Klang seiner Stimme gefiel ihr. Seine Haltung, seine Präsenz, alles an ihm gefiel ihr.

Mit höchster Konzentration zog sie ein Fleischstückchen von ihrem Spieß und hielt es Keith vor die Lippen.

„Ich bin mir SICHER, dass es Ihnen besser schmecken wird“, erwiderte sie mit einer lockenden Note in ihrer Stimme.
 

Brad nahm den Bissen den sie ihr bot auf, streifte weich ihre Fingerspitzen und zog sich zurück, seine mit der würzigen Soße benetzten Lippen nachschmeckend. Wieder legte sich dieses von ihm bekannte hintergründige Lächeln in seine Augen, milderte die sonst undurchschaubare Kälte in ihnen. „Sie hatten Recht“, antwortete er und aß nun seinen eigenen Spieß auf. Gewandt zog er die Serviette von dem Tisch und wischte sich die Finger damit ab. Fingerfood mochte er nur zu gern, doch das würde er vor allem vor Schuldig für sich behalten…
 

Auch Sophie beendete ihren Spieß, auch sie tupfte sich in damenhafter Eleganz ihre Finger ab.

„Wissen Sie, dass Sie sehr schwer zu knacken sind, Mr. Keith Martinez?“, merkte sie mit aufmerksamem Blick auf seine Gesichtszüge an. „Und das, obwohl Sie ein solch charmanter Mann sind.
 

Auflachend schüttelte Brad amüsiert den Kopf und sein Blick tangierte die Tanzfläche, die wachen, scharfen Augen erfassten das Bild, das sich ihm bot, bevor die Schärfe nur leicht abgemildert wurde als er zu Sophie sah. „Wo bliebe denn da der Reiz, Sophie?“
 

„Da haben Sie wohl Recht, Keith“, nickte sie bestätigend. „Nur dürfen Sie mich nicht gänzlich im Dunklen tappen lassen, was Sie angeht. Ich möchte Sie schließlich nicht verängstigen!“

Sophie lachte ihr glockenhelles Lachen und zwinkerte amüsiert. Alleine die Vorstellung, diesen großen, imposanten Mann auf irgendeine Art und Weise zu verschrecken, schien grotesk.
 

„Was möchten Sie denn von mir wissen, Sophie?“

Brad nahm sich ein weiteres Spießchen. Er hatte Hunger bekommen.
 

„Hm…“, überlegte sie und ihre weißen Zähne blitzten, als sie grinste. „Ich möchte wissen…was Sie unter ihrem chicen Anzug tragen! Sind Sie eher der Boxershorts-Mann, der sportliche oder eher der elegante?“
 

„Ich denke, ich sollte nächstes Mal darauf achten, wie freigiebig ich mit der Auswahl der Fragestellung in Ihre Richtung bin“, hob Brad schmunzelnd, charakteristisch für ihn eine Augenbraue.

„Empfinden Sie es als wichtig, was ‚Mann’ darunter trägt?“
 

Sophie schmunzelte in ihren Drink, als sie amüsiert den Kopf schüttelte. „Nein, das ist nicht wirklich wichtig.“ Dass es viel wichtiger war, was Mann darin trug, verschwieg sie galant. „Erzählen Sie mir…wenn Sie jetzt die Möglichkeit hätten, irgendetwas zu tun, egal was und egal wo auf dieser Welt, was würden Sie machen?“
 

„Generell, eine schwierige Frage.“

Brad ließ sich Zeit, aß erst und wischte sich die Finger an der Serviette ab.

„Aber einfach zu beantworten. Ich tue das, was ich jetzt machen möchte. Es gibt keine Zwänge in meinem Leben. Früher sah dies anders aus, nur irgendwann sollte man wissen was einem wichtig ist und was man machen möchte. Ich tue das was mir gefällt, Sophie.“ Bis auf einen kleinen Bereich in seinem Leben, der für ihn tabu war…

Das sanfte Glimmen in dem hellen Braun seiner Augen traf auf das anmutige Gesicht der Frau. „Und wie sieht es mit Ihnen aus?“
 

Eine beeindruckende Antwort. Dieser Mann schien ganz mit sich im Reinen zu sein und nicht den leisesten Zweifel zu haben. Das war toll. Genau das zog Sophie an einem Menschen an.

„Ich tue das, was ich tun muss um mein Leben nicht langweilig werden zu lassen“, erwiderte sie und griff sich einen ihrer Spieße, zog ein Stück Fleisch davon ab.
 

„Sie fürchten die Langeweile?“

Das konnte Brad für sich selbst nun nicht behaupten. Er ließ sich den Anfang des Satzes noch einmal durch den Kopf gehen. „Sie tun müssen…? Warum tun Sie nicht das, was Sie wollen? Oder sitzen Sie hier mit mir, weil Sie es müssen?“

Brad neigte den Kopf und bot ihr ein Spießchen mit Gemüse an.
 

„Nein, ich sitze mit Ihnen hier, weil ich es will. Sie sind nicht meine Arbeit, Sie gehören in meine Freizeit“, lächelte Sophie ertappt und nahm den Spieß dankend an. „Manchmal will ich Langeweile, doch das bleibt nie lange. Ich bin ein Junkie nach Stress, Aufregung, Jet-Set, Reisen. Süchtig ohne Hoffnung auf Rettung, Keith. Oder wollen Sie mein edler Retter in strahlender Rüstung sein?“, fragte sie und zwinkerte.
 

„Ein edler Retter, bei dem Sie sich langweilen würden, Sophie. Glauben Sie mir, mein Leben verläuft in ruhigen, schattigen Zügen, kein Stress, keine Hektik, alles ruhig und schön durchgeplant“, untermalte Brad seine gelangweilt vorgetragenen Worte mit einer beiläufigen Geste und nippte an seinem Drink.
 

„Wenn Sie mich in diesem Moment fragen, klingt das wie der Himmel für mich. Aber es ist Abend und ich habe schon genug Drinks getrunken, damit ich mich derlei Fantasien problemlos hingeben kann“, räumte sie ein.

„Morgen sieht das Ganze vermutlich schon wieder anders aus, wenn ich im Aufsichtsrat sitze und meinen Standpunkt klar machen muss.

Sie sehen also ein müßiges Thema, Keith. Lassen sie uns über etwas anderes reden.“

Sie strich sich die Haare zurück und seufzte.

„Erzählen Sie mir von Ihrer Familie.“
 

Brad erwog für einen kurzen Augenblick eine erfundene Antwort zu liefern, verwarf aber diesen Einfall. Zu Keith Martinez passte es besser, wenn er sich dazu ausschwieg.

„Verzeihen Sie, Sophie, darüber gibt es nicht viel zu erzählen. Tomoko und ich sind eher selten zu Hause“, wiegelte er höflich ab und ließ sie damit verstehen, dass er nicht über dieses Thema sprechen wollte. Streute aber dadurch auch den Eindruck, als hätten Tomoko und er Probleme mit der übrigen Familie. Zumindest könnte der Verdacht aufkommen.
 

„Natürlich, das ist überhaupt kein Problem, Keith“, lächelte sie sanft und nutzte die Gelegenheit um ihm über den Oberarm zu streichen: eine freundschaftliche, unverfängliche Geste, die gleichzeitig Entschuldigung für ihre Neugier war.

Es war hier vorher auch schon bewusst gewesen, dass ein Mann wie Keith Martinez vermutlich nicht gerne über seine Familie sprach. Sie tat es ebenso wenig. Das war die Jet-Set-Generation eben. Ein oberflächliches, schnelles Leben ohne tiefere Bindungen.
 

Brads Muskeln spannten sich kurz an, als er die überraschende, allerdings auch willkommene Berührung der schlanken Finger auf seinem Arm spürte. Die Wärme, der minimale Druck der Hand drang durch sein dünnes Hemd. „Und Sie, Sophie? Sehen Sie ihre Familie hin und wieder? Gibt es in ihrem Leben so etwas wie Familie?“ Er lächelte ironisch.
 

Sie ging voll auf dieses ironische Lächeln ein und schüttelte amüsiert den Kopf. Sie fühlte die harten, starken Muskeln unter ihrer Hand und wusste zu schätzen, was sich ihr dort anbot. Oh ja…und wie sie diesen Mann begehrte.

„Es gibt in meinem Leben keine Familie. Ich bin frei für die Welt und Einzelkämpferin! Immer gewesen!“
 

Keith kam nicht umhin zu bemerken, dass die Frau ihm mehr als sympathisch war und das über seine Rolle als Mr Martinez hinaus. Eine nette Abwechslung für heute oder vielleicht für morgen. Dennoch war an ihr etwas anders, er konnte es nicht sagen, ob es einfach ihre dunklen Augen waren, die ihm geheimnisvoll und mysteriös zugleich erschienen. Oder ob es die weiße, ebenfarbene Haut war und deren Kontrast zu dem Dunkel der Augen und der Haare, der sie ätherisch und zerbrechlich wirken ließ.

Verletzlichkeit zog ihn an, wie die Motte vom Licht angezogen wurde. Schuldig war das beste Beispiel dafür, wenn er daran dachte, dass er von diesem Mann nicht los kam, ständig um sein Teammitglied besorgt war. Mehr als ihm lieb war.

Und mehr als er je zugeben würde, bedeutete Schuldig ihm. Sein Blick kehrte kurz für wenige unaufmerksame Momente nach innen, als er sich auf seinen Drink besann und ihn mit einem letzten Schluck leerte. Er wollte jetzt nicht an Schuldig denken, oder die Probleme, die an seinem Team zerrten.
 

o~
 

Sophie stand unter dem Schein der gedimmten Flurbeleuchtung und sah zu ihrem groß gewachsenen Begleiter empor, dem sie im Laufe des Abends immer und immer näher gekommen war. Sie hatten geflirtet, jedoch waren es nur flüchtige Gesten und kurze Berührungen gewesen, die wie zufällig geschahen, jedoch alles andere als das waren.

Sie hatten sich unterhalten den ganzen Abend lang. Sehr gut unterhalten und nun standen sie hier, inmitten dieses luxuriösen Hotels, vor Keith’ Zimmer, immer noch beieinander und sichtbar voneinander angezogen. Spannung knisterte zwischen ihnen.
 

„Und…“, sagte Brad zögernd, neigte sich leicht zu Sophie, die neben ihm vor der Tür stand. „Sie sind sich sicher, dass ihr Terminkalender es erlaubt…“, er neigte sich weiter, berührte nun fast ihre Lippen, sein Blick brannte sich in die dunklen Iriden. „…dass Sie sich noch mit mir abgeben?“, raunte er.
 

„Absolut….Keith“, flüsterte sie. „Da bin ich mir absolut sicher.“ Ihre Lippen bewegten sich und stupsten hin und wieder wie zufällig an die Seinen, so nahe waren sie sich. Ihre Fingerspitzen prickelten in der Hoffnung, diesen Mann berühren zu dürfen, über diesen Körper streichen zu dürfen…Blut rauschte durch ihre Adern und pulste in ihren Ohren.
 

Brads Hand tauchte wie ein Überraschungsgast hinter der Bühne auf Sophies Rücken auf, legte sich warm und fest auf den oberen Teil und fuhr bis zur Höhe der Taille hinunter. „Na …dann…“, lächelte er plötzlich dunkel und vergaß seine Rolle für einen Augenblick, bei diesem Lächeln. „…lassen wir doch diese Höflichkeitsfloskeln weg, die ohnehin längst störend geworden sind“, hauchte er und berührte die Lippen weich, ließ seine Zunge forschend, fragend… tastend für kurze Momente die Lippen berühren.
 

Sophie…ließ eben diese Floskeln nun ebenso fallen und öffnete dem anderen Mann ihre Lippen, hieß ihn hinein zu kommen und zu erforschen, was sich ihm darbot.

Das dunkle Lächeln hatte ihr einen Schauer über den Rücken laufen lassen und sie griff mit einer Hand nach hinten, legte sie weich und warm über die von Keith. Die andere Hand stahl sich an die männliche Flanke und umstrich sie.
 

Brad umschmeichelte Sophies Zunge mit seiner, den schlanken Körper gegen die Wand drängend, suchte seine Hand den grazilen Nacken und legte die Wärme seiner Haut darauf. Viel von seiner verleugneten Sehnsucht lag in diesem Kuss, vieles von dem, was er sich selbst verbat und was Sophie nun zu spüren bekam.
 

Es war, als harmonierten sie und nur sie perfekt miteinander, als würden sie perfekt aufeinander abgestimmt sein.

Sophie musste innerlich nun doch über den romantischen, wenn nicht sogar kitschigen Gedanken lächeln, der doch so vieles barg, was sie selbst sich für sich wünschte - in ihren schwachen Stunden.

Ihre rechte Hand stahl sich nach oben in die Haare des großen Mannes und ihre Linke legte sich auf die breite Brust. Sie lächelte und schmeckte Keith, begegnete seiner Zunge mit Zärtlichkeit.
 

Einem Gefühl, welchem Brad nicht abgeneigt war. Er genoss diese Sanftheit, die auf diese leichte, zärtliche Art nur von einer Frau kommen konnte. Dennoch war er vorsichtig, seine Sinne nicht völlig dieser aufregenden Frau ergeben, sondern lauernd im Hintergrund auf Hinterhalte. Nach vielen Augenblicken, in denen sie sich mit zungenumschmeichelnder Aufmerksamkeit bedachten, sich in naher Umarmung gehalten hatten, löste sich Brad von den köstlichen Lippen. „Willst du …mehr?“, fragte er mit aufgerauter Stimme an die zierliche Ohrmuschel.
 

„Ja…“, wisperte Sophie aus tiefstem Herzen und küsste, die sich ihr schamlos dargebotene Wange. Bis…ja, bis ihr bewusst wurde, was Keith…was sie damit tun würden. Sie beide. Mehr bedeutete… Sex.

Rationalität hielt mit einem Schlag Einzug und schrie ihr zu, dass das niemals, unter gar keinen Umständen, nie, möglich wäre. Dass sie von hier weg musste. Schnellstens. Dass sie sich diesem Mann nicht mehr nähern durfte! Gott! Entsetzen schwelte ihn ihr, zeigte sich jedoch noch nicht auf ihrem Gesicht, das immer noch sacht gerötet vor Verlangen war.
 

Brads Hand öffnete kaum, dass diese verbale Zustimmung gegeben war, die Tür, fing die weichen Lippen wieder ein und drehte sich mit Sophie im Arm Richtung spaltbreit offener Tür.
 

So sehr Sophie auch wollte, so sehr sie auch mit diesem Mann schlafen wollte…sie stemmte sich gegen die Arme, gegen die Zärtlichkeit, gegen alles, was sie in dieser Nacht bekommen hätte - oder auch nicht.

Sie strauchelte zurück, entriss sich diesen Armen mit der Bitte um Verständnis. Sie wusste, dass sie es nicht bekommen würde, doch was machte das schon? Nichts…

„Es tut mir leid“, flüsterte sie wie ein scheues Tier, das sich seinem Jäger gegenüber sah und floh den Gang hinunter. Nur weg von hier. Nur weg!
 

Brad konnte das Gefühl das ihn nun durchzog nicht beschreiben. Nur in einzelne Fragmente unterteilen, als er schließlich in seine Suite trat und die Tür hinter sich schloss. Was zur Hölle war das denn gewesen? Er konnte behaupten, dass ihm eine derartige Abfuhr bisher noch nie widerfahren war. Vor allem, wenn er daran dachte, dass Sophie nicht wie eine Frau wirkte, die Männer aufheizte, nur um danach einen Rückzieher zu machen. Sie wollte definitiv weiter gehen, aber irgendetwas hatte sie davon abgehalten. Vielleicht ein Partner, den sie sich trotz allem vorherigen Verleugnens wieder ins Gedächtnis gerufen hatte.

Brad erwog kurz seinem Ärger über diese Abfuhr Raum zu geben, als ihn ein Umstand davon ablenkte. Nein, genauer gesehen waren es zwei gewesen.

Brad ging ins Badezimmer und überdachte diese Fakten. Er spritzte sich kühles Wasser ins Gesicht, lockerte sein Hemd und schenkte sich einen Drink ein.

Der erste Fakt war, dass Sophies Aura sich verändert hatte, als sie geflüchtet war, denn nichts anderes war dieser Abgang gewesen.

Der zweite Fakt war, dass er diese Flucht nicht vorausgesehen hatte – ein Umstand, der ihm früher gesagt hätte, dass sie einen Rückzieher machen wollte.
 

o~
 

Aya wusch mit leisem Summen das Gemüse, während Youji an seiner Seite stand und das Fleisch schnitt. Einträchtig wie selten waren sie dabei, Essen zu kochen für sie drei. Einträchtig, wie sie zu Weiß’ Zeiten nie gewesen wären, da es früher immer Streitereien um das Essen gegeben hatte - das dann an wem hängen geblieben war? An Omi, richtig.

Dann, wenn sowohl Youji als auch Aya wie die Kinder geschmollt hatten, weil der Andere sich weigerte zu kochen, war der Jüngste mit einem ungehaltenen „Kinder! Jetzt ist gut!“ eingeschritten und hatte sich selbst an den Herd gestellt. Die übrigen Male war es Aya gewesen…Ken auch, wenn er Lust hatte und Youji…
 

Youji KONNTE kochen, sehr gut sogar. Er nutzte diesen Umstand leider nur viel zu selten.
 

Aya fühlte sich entspannt an der Seite des blonden Mannes…so entspannt wie schon lange nicht mehr.
 

„Legst du mir mal eben die Nudeln herüber“, murmelte Yohji und legte das geschnittene Fleisch für kurze Zeit in die Gewürzsoße ein.

„Was glaubst du, was er jetzt macht?“, grübelte Yohji.
 

„Schuldig? Ich denke, er wird sich jetzt um seinen Auftrag kümmern und Crawford auf die Nerven gehen“, erwiderte Aya und gab Youji die verlangten Nudeln. Er wusch das Gemüse ab und gab es in das kalte, gesalzene Wasser.
 

Yohji brummte. „Nein, Farfarello. Ich meine, das ist doch unheimlich hier, er schleicht durchs Haus wie ein Geist und ab und an taucht er mal auf wie ein aus der Tiefe an die Oberfläche kommender Wal.“ Er dachte kurz daran, wie abwegig Ran diese Frage wohl nun fand, nachdem er zunächst angenommen hatte, dass er nach Schuldig gefragt hatte.
 

Aya hielt ein und betrachtete sich Youji. Er hatte in der Tat keinen Gedanken daran verschwendet, dass sein gegenüber Farfarello meinen könnte. Wie denn auch? Er hatte sich anscheinend schon an die ruhige, unaufdringliche Präsenz des Iren gewöhnt, der hie und da mal auftauchte und eigentlich nichts tat, außer Banshee zu beschäftigen.

„Er gehört zu diesem Haus, Youji. Vielleicht nehme ich, ihn deswegen nicht als Bedrohung wahr… oder weil er noch keine Züge in der Richtung gezeigt hat. Leichtsinnig von mir, ich weiß.“ Er lachte leise, verstummte dann. Ja, es war in der Tat leichtsinnig.

„Vielleicht malt er oben…oder spielt mit Banshee.“
 

„Das klingt, als wäre er ein Kleinkind“, verzog Yohji den Mund zweifelnd und öffnete die Packung mit den langen, dünnen Nudeln. „Was er nicht ist, Ran.“

Dieser Typ da … da oben, oder wo immer er sich aufhalten mochte, war unheimlich und er konnte ihn nicht durchschauen, was ihn halb wahnsinnig machte, denn diese Blicke, die er in seinem Nacken beizeiten spüren konnte, stachen wie gemeine Nadeln.
 

„Nein, er ist es nicht, auch wenn er manchmal so scheint…als wenn er mit kindlicher Neugier die Welt um sich herum wahrnimmt und beobachtet. Das ist der Gegensatz zu dem Killer, den wir kennen gelernt haben.“ Aya schüttelte den Kopf. „Manchmal glaube ich, dass er nicht ursprünglich dieses bestialische Monster war, gegen das wir gekämpft, weißt du?“
 

„Ja und das empfinde ich als sehr gefährlich. Eine Nachlässigkeit, die provoziert sein könnte und im richtigen Augenblick passt du nicht auf.“

Yohji widmete sich nun dem Fleisch, und nach kurzem erfüllte der würzige Duft von Gebratenem die Küche.
 

„Und was soll ich deiner Meinung nach machen? Mich einschließen und jede Minute dieser zwei Wochen wachsam sein, Youji? Wie soll das gehen, Youji? Könntest du es? Könntest du jemanden, der dir für ein Essen dankt, indem er dir Wohlgefühl schenkt, misstrauisch gegenüber sein?“ Aya schüttelte den Kopf. „Anscheinend hast du Recht und mit meinem Ende bei Kritiker ist auch mein Killerinstinkt den Bach runtergegangen.“
 

„Das glaubst du doch selbst nicht“, murrte Yohji und wandte sich um. Er blickte den Rothaarigen Mann an der so geschäftig wirkte. „Ran, so … etwas… so eine Vergangenheit kann man nicht einfach ablegen. Und dass du Schuldig als Freund - oder wie auch immer du ihn in seiner Funktion benennen magst – hast und uns als Freunde, wird ebenfalls nichts daran ändern. Wenn du wirklich dieses Prickeln im Nacken bei Gefahr oder deine schnellen Reflexe, wenn du glaubst bedroht zu werden verlieren willst, dann bleibt dir nur eins: weit weg zu ziehen und zwanzig Jahre zu warten. Vielleicht wird dann so etwas wie Normalität bei dir einziehen. Die Normalität, die wir wohl alle gehabt hätten, wenn wir nicht mit …“, ja mit der Brutalität, der Ungerechtigkeit, der Abgründe menschlicher Bösartigkeit und gieriger Kreativität konfrontiert worden wären.
 

Aya wusste genau, was Youji meinte und nickte in Anerkennung an dessen Worte. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich bewusst wurde, dass es diese Normalität für ihn nie geben würde.

Vielleicht war er nicht mehr ganz so ausgestoßen am Rande der Gesellschaft, wie sie es als Killer waren, doch dieses anders Sein würde immer bleiben. Immer.

„Dann sind meine Instinkte noch nicht verkümmert…was mich wiederum fragen lässt, warum sie bei Farfarello nicht anschlagen. Was meinst du?“
 

Yohji schnaubte und wandte sich erneut um, begutachtete die Nudeln. „Instinkt… ich weiß nicht ob das der richtige Ausdruck für diesen Wahn ist, den ich in dessen Augen gesehen habe, als er Ouka erschossen hat. Wenn Omi erfährt, dass du Farfarello sittest …“, ließ er die Worte offen. Er fragte sich tatsächlich, wie Omi nicht wutentbrannt auf Nagi losging – einfach stellvertretend für ganz Schwarz und stellvertretend für Farfarello.
 

Währenddessen schlich sich eine angenehm entspannte Präsenz zwischen die sich Unterhaltenden, nistete sich an ihrem Lieblingsplatz ein und fühlte sich geborgen, als heimlicher Lauscher.
 

Aya hielt inne und starrte auf das vor sich hinköchelnde Gemüse. Ja…das war in der Tat etwas, das er vollkommen außer Acht gelassen hatte. Hieß das, dass er leichtfertig mit dem umging, was passiert war in seiner ignoranten Leidenschaft für Schuldig?

Hatte er darüber hinaus vergessen, was er für Gründe hatte, Schwarz zu hassen? Ja, ganz Schwarz, auch Schuldig. Und das nur, weil dieser ihn in seiner dunklen Zeit unterstützt hatte.

Hätte er ihn von Anfang an hassen sollen, schon als er ihn gefangen genommen hatte? Hätte er sich nicht von den ‚guten’ Absichten des Telepathen in die Irre führen lassen und ihr Ziel vor Augen behalten sollen: die Rache an Schwarz. War auch er dem berüchtigten Stockholm-Syndrom anheim gefallen und auch jetzt noch dem verfallen?
 

Schwarz hatten ihnen nichts Gutes getan. Sie hatten Weiß gequält, wo sie nur konnten und Ouka Takatori war nur eine von vielen gewesen. Sakura…seine Schwester…er war bisher einfach so darüber hinweggegangen und hatte Schwarz als die Menschen wahrgenommen, die sie in diesem Moment waren - ohne ihre Vergangenheit. War das ein Fehler? Beging er dadurch Verrat an seinem Team?
 

Und die Präsenz schwieg, obwohl Unruhe, drängende Unruhe sie erfasst hatte. Denn der Körper von dem sie ausging war in den Schlaf hinübergeglitten und in diesem hatten sich die Gedanken des Träumenden an die Stätte des Wohlbefindens gestohlen, die sie sonst auch des Öfteren aufgesucht hatten.

Die Gedanken, die ihn umschwirrten, verunsicherten ihn, ließen Zweifel um ihn kreisen.
 

War es also falsch, mit dem Telepathen zusammen zu sein, ihn zu…lieben? War all das falsch, was er zum ersten Mal in sich fühlte? Musste er sich davon lösen und zu Weiß zurückkehren oder diesem Leben ganz den Rücken kehren? Was war richtig, was nicht?

Aya ließ seine Hand sinken, starrte blind auf den Topf. Alles falsch?
 

„Ran?“, fragte Yohji und spürte die Stille unangenehm zwischen ihnen. Er hatte mit seinen Worten etwas in dem Mann ausgelöst, dass er so nicht gewollt hatte. Er berührte ihn an der Schulter, strich sanft über eine der Haarsträhnen.
 

Angst breitete sich unterdessen in dem Körper aus, der in Shanghai in dem Hotel lag und sich unruhig hin und her wälzte. „Nein“, murmelten die Lippen, gefangen von den Gedanken die um ihn spülten wie die vom Wind gepeitschte See in einem Sturm. Warum war der Ort der Ruhe und der Geborgenheit jetzt so unsicher und unwirtlich für ihn?
 

Aya blinzelte, fühlte die Berührung Youjis, doch auch noch etwas anderes. Ein schweres, unruhiges Gewicht in seinen Gedanken, das er nicht als sein eigenes erkannte. Schuldig…Schuldig war da. In seinen Gedanken.

‚Bist du da?’, fragte er zögernd, ebenso ängstlich wie Schuldig vielleicht auch.

‚Sag mir, ob er Recht hat’, bat er in die Stille hinein, als er seine Augen schloss und schwankte. Was, wenn Youji Recht hatte?
 

Dieser nahm Ran halb in den Arm, zog ihn an sich und führte ihn an den großen Tisch, zog einen der Stühle hervor und ließ Ran darauf gleiten, der scheinbar mit seinen Gedanken woanders war. So weggetreten wie Ran war …

Yohji ging zurück zu den Töpfen und kümmerte sich ums Abendessen. Hin und wieder wagte er einen besorgten Blick über die Schulter.
 

‚Ran… warum … warum … diese Zweifel, warum… entfernst du dich von mir?’, wisperten Schuldigs ängstliche, geisterhafte Worte durch Rans Geist.
 

‚Ist es denn nicht so? Hat Youji denn nicht Recht, Schuldig?’, fragte Aya verzweifelt, doch mit einem Stich an Erleichterung, dass der Telepath da war, dass er ihn nicht alleine ließ.
 

‚Ich … weiß nicht was ich sagen soll, Ran’, kam es bekümmert zurück. ‚Recht und Unrecht … was soll ich dir antworten?’ Noch immer war Rans Gedankenwelt mit Unsicherheit, mit Angst durchwoben, wie ein bösartiges Geschwür, das seine feinen dünnen Arme in alle Organe ausstreckte und sie infiltrierte.
 

‚Sag mir, ob ich falsch liege, Schuldig. Habe ich zu einfach vergeben? Habe ich mich von dem, was wir teilen, einlullen lassen und nun den Sinn für die Realität aus den Augen verloren?’ Aya klang verzweifelt…traurig und zweifelnd. Er wollte das nicht glauben, doch die Anzeichen dessen waren klar vorhanden. Youji hatte ihm gerade das beste Beispiel genannt.
 

‚Welche Realität, sag mir das, Ran’, wollte Schuldig enttäuscht wissen. ‚Sag mir welche Realität du meinst. Yohjis? Deine… unsere?’ Er schwieg und Ruhe kehrte in ihm ein.

‚Willst du damit andeuten, ich hätte… dich verhext, damit du … du … mich …liebst?’, sprach er die Worte aus, die er kaum über seine Lippen brachte. ‚Hast du die Wahrheit zugunsten einer Realität aus dem Blick verloren?’
 

‚Ja…vielleicht hast du mich verhext. Mit deinen Augen, deinem Lächeln, deiner Art. Deiner Menschlichkeit…sag mir, dass das nicht falsch ist, Schuldig. Sag mir, dass ich keinen Verrat an meinen Freunden begehe!’

Und ob er diese Versicherung brauchte, diese Gewissheit. Er war unsicher, er wusste nicht, was er denken sollte.

‚Gibt es denn verschiedene Realitäten?’
 

Schuldig spürte Kälte in sich als er die plötzliche Unsicherheit in seinem Ran las. ‚Wenn ich dir diese Frage… Fragen mit ja beantworte, ist es nicht dann wirklich so, als würde ich dir etwas auf dem Tablett präsentieren, das mir in den Kram passt? Sieht es dann nicht so aus, als würde ich dir sagen, was du denken sollst?’ Er schwieg, wusste nicht weiter. Warum … dachte Ran so etwas?

‚Ich kann dir diese Antwort nicht geben, Ran, nicht wenn ich will, dass du bei mir bleibst. Realitäten gibt es wie Sand am Meer. Jede Einzelne ist ein Sandkorn, jeder nimmt die Welt mit seinen Augen war, in seiner eigenen Realität. Die Wahrheit begreifen nur wenige.’
 

‚Und was ist die Wahrheit, Schuldig?’, fragte Aya. Ja…was würde passieren, wenn Schuldig ihm diese Antworten vorkaute? Er würde sie annehmen, dankbar, einen Grund gefunden zu haben. Doch was dachte er selbst - unter all dieser Unsicherheit, unter all diesen plötzlich aufgekommenen Zweifeln?

Dass er Schuldig nicht mehr missen wollte, weil er für sich eine Realität gefunden hatte, mit der er endlich leben konnte. Zwar keine perfekte Realität, aber dennoch eine, die ihn glücklich machte.

Aber was war mit dem Schmerz seiner Freunde?

„Nehmt ihr es mir übel, dass ich bei Schuldig bin?“, fragte er aus heiterem Himmel Youji, kam sich einen aberwitzigen Moment so vor, als würde er eine Konferenzschaltung führen. Doch er wollte beide Antworten.
 

Yohji hatte sich an die Stille in der Küche gewöhnt als er von seinem Tun abgelenkt wurde und sich zunächst, statt dem Gemüse diese Frage auf der Zunge zergehen ließ. Schwierig war sie.

Er hätte glatt mit ja geantwortet. Aber so einfach war sie nicht zu beantworten. Ohne sich umzudrehen arbeitete er weiter. „Wie kommst du jetzt auf die Frage“, wollte er wissen.
 

Es war kein ‚Nein’, das sah Aya. Es war kein klares Nein. War es also wirklich so? Hassten sie ihn dafür, dass er sie alleine gelassen hatte?

„Habe ich Recht, Youji?“, stellte er die Gegenfrage. „Ist es wirklich so?“
 

„Ich möchte jetzt keine Gegenfragen“, sagte Yohji mit den Worten eines Älteren, denn ihm schien es, als würde Ran halb durchdrehen, so wie er dort saß, die Augen unsicher und fast ängstlich verwirrt. Nein verzweifelt.

„Ich möchte wissen, warum du das fragst. Ganz einfach.“

So einfach war es wohl nicht.

Er drehte die Hitze der jeweiligen in Betrieb genommenen Herdplatten herunter und wandte sich zu Ran um, ging zu ihm und lehnte sich an die Tischplatte, strich dem Mann über die Schulter und ließ die Hand dort ruhen.
 

Aya sah hoch, in diese grünen, ruhigen Augen, die ihn schon so manches Mal so angesehen hatten und es immer bedeutet hatte, dass sie reden würden. Es war nicht immer angenehm, doch…im Nachhinein brauchte er es. Ebenso wie die Hand auf seiner Schulter, diese Zuversicht.

„Mir scheint…als hätte ich aus den Augen verloren, dass Schwarz und Weiß sich gehasst haben und es immer noch tun. Durch meine Verbindung zu Schuldig. Habe ich meine Augen davor verschlossen, Youji? Vor Omis Schmerz, deinem…Kens?“
 

Währenddessen zog sich Schuldig zurück. Er wollte nicht sehen, nicht lesen, wie Ran sich entscheiden würde. Es tat ihm zu sehr weh, zu sehen wie Ran scheinbar erwachte, als hätte er bisher alles nur geträumt. Vielleicht war alles für Ran bisher nur ein einziger Albtraum gewesen.

‚Vielleicht ist es richtig so, dass ich nicht da bin, dass du dich entscheiden kannst, bis ich wieder da bin. Vielleicht ist es … besser wenn ich nicht in deiner Nähe bin, damit ich dich nicht … verhexe.’

Er lächelte und seine Präsenz zog sich aus Ran zurück, gab ihm Raum für Überlegungen ohne Zuhörer.
 

Yohji betrachtete sich Ran lange Momente. Er seufzte und zog die Stirn kraus.
 

‚Nein, bleib!’, rief Aya mental, als er hautnah spürte, dass Schuldig sich zurückzog. Er wollte jetzt nicht alleine sein…er wollte bei Schuldig und Youji sein. Bei beiden…Er hatte Angst, alleine zu sein. Für immer alleine.

„Warum antwortest du mir nicht, Youji?“, fragte er mit steigernder Verzweiflung.
 

„Hey, was ist denn mit dir los?“, fragte Yohji nun ernstlich besorgt und zog den anderen Mann vom Stuhl um ihn ins Wohnzimmer zu verfrachten. Dort platzierte er ihn auf die Couch und zog ihn versichernd an sich. „Ich musste mir die vielen Antworten, die ich auf einmal rausschreien wollte, erst noch überlegen.“

Er atmete tief ein. „Ich erinnere mich noch gut daran – schließlich ist es noch nicht allzu lange her – dass du schier die Wände hoch gegangen bist, als du gemerkt hast, dass du bei Schuldig bleiben willst. Nennst du das ‚die Augen verschließen’? Ich nicht. Du hattest Angst, deine Schwester zu verlieren, vor dir selbst, vor unseren Reaktionen, vor Kritiker.“

Er überlegte einige Wimpernschläge, bevor er fortfuhr. „Wir hassten nicht die Personen von Schwarz, sondern was Schwarz darstellten. Wofür sie standen.

Ich mag sie allesamt nicht besonders, ja sie hatten ihre Finger mächtig tief drin, als wir gegen Takatoris Machenschaften und denen von SZ gekämpft haben. Sie machten ihren Job – wir den unseren.

Wir haben uns gehasst Ran, ja. Aber jetzt? Sind wir uns nicht gleichgültig geworden? In gewisser Hinsicht ist die Luft raus. Und das, weil wir uns kaum noch an der Front auf der Straße begegnen. Es sind Killer, de facto. Wir auch.“
 

Vor allem musste Yohji einräumen, dass das Gefühl des Hasses wohl eher auf Seiten von Weiß vorhanden gewesen war, denn auf Seiten Schwarz. Vermutlich waren Weiß lediglich ein amüsanter Zeitvertreib, eine spannende Beigabe für Schwarz.

Er zog Ran noch etwas dichter an sich. „Keiner weiß, wohin es unser Herz verschlägt, hmm?“, raunte er sanft. „Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, er hätte dich manipuliert? Erinnerst du dich, dass wir uns diese Gedanken alle schon gemacht haben? Kein einziger wurde vergessen, kein einziger unter den Teppich gekehrt. Warum denkst du nun, wir würden dich hassen, dafür, dass du uns allein gelassen hast? Als würdest du diese Bedenken das erste Mal haben. Denn das tust du nicht, hmm? Du hast am Anfang alles bedacht, erinnerst du dich?“, wiederholte er die Frage sanft.

„Wir machten uns Sorgen um dich, aber du bist deinen Weg gegangen. Zugegeben, ein gefühlsmäßig betonter Weg, aber deinen Weg. Und hast du nun den Eindruck, dass es uns schlecht geht ohne dich? Dass wir dich verdammen, weil du mit Schuldig zusammen bist und wir sehen, wie gut es dir geht? Wie gut seit so langer Zeit … nein …eigentlich noch nie?“
 

Und Aya erkannte die Wahrheit in diesen Worten, erkannte, was Youji ihm schon die ganze Zeit zu verstehen gab. Nein, sie waren ihm nicht böse. Sie gönnten ihm vielleicht sogar das, was er mit Schuldig teilte.

Er schmiegte sich an den anderen Mann und bettete sein Gesicht in gewohnter Manier an die Seite des blonden Weiß. Sein freier Arm schlängelte sich um den Brustkorb und ließ Youji nicht mehr los.

„Aber was wird jetzt sein, Youji?“, fragte er gedämpft. „Du kennst mich Gierschlund. Ich möchte euch alle fünf. Euch und Schuldig. Kann ich euch alle unter einen Hut bringen? Vor allen Dingen, wenn er trotz allem Schwarz misstrauisch gegenüber bleibt - wie ich auch. Nur Schuldig…ich vertraue ihm.

Und ja, ich habe den Eindruck, dass es euch schlechter geht ohne mich, dass ihr…nicht die gleiche Stärke wie zuvor besitzt. Dass ich nicht mehr über euch wachen kann, wie ich es früher getan habe, damit alles glatt läuft…besonders auf Missionen.“

Er seufzte tief.

„Ich bin froh und erleichtert um euren Zuspruch, doch…“

Ja, was war dieses Doch?

„Doch ich fühle mich, als ob ich mich nicht genug anstrengen würde um eine Lösung aus dieser Situation zu finden.“
 

„Dafür müssen wir uns selbst anstrengen, Ran. Jeder einzelne von uns. Du bist der Letzte, der zu uns gekommen ist und du hast den Anfang gemacht und bist der Erste, der von uns gegangen ist. Du bist gekommen wegen … einer Liebe und bist gegangen wegen …“, er lachte leise. „…nun wegen einer Liebe.“

Er wuschelte Ran durch das dichte, schwere Haar. „Akzeptiere, dass jeder von uns sein eigenes Los zu tragen hat, niemand zwang uns dazu zu Kritiker zu kommen. Wir sind aus freien Stücken dort, wo wir heute nicht mehr sein wollen. Aber wir müssen so wie du einen eigenen Weg dort herausfinden, so wie wir einen eigenen Weg dort hinein bestritten haben. Wäre es nicht unfair jedem Einzelnen gegenüber, wenn wir Hilfe von dir bekämen?“ Wie pathetisch, spöttelte er über sich selbst. Nur dass es die Wahrheit war, so blöd es in seinen Ohren klang.
 

„Schuldig hat mir geholfen, einen Weg heraus zu finden, kann ich das nicht ebenso mit euch machen? Kann ich euch keine Hand reichen, die euch aus dieser schwarzen Masse zieht? Was wäre daran unfair? Ich verstehe das nicht, Youji“, hielt Aya dagegen und blinzelte durch seine Strähnen nach oben.
 

Yohji seufzte unhörbar und verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln, seine Augen maßen Ran traurig. „Nein, kannst du nicht. Du kannst uns nicht helfen. Es gibt Gründe, warum wir dort sind wo wir sind. Und du hast deinen Grund verloren. Wir nicht. Wir müssen noch mit uns selbst am meisten kämpfen, bevor wir diese … Vergangenheiten loswerden können, verstehst du?“ Er schwieg einige Momente, denn er wusste nicht recht, wie er Ran verstehen lassen konnte, was er meinte. Der Mann schien in seinen Zweifeln so verstrickt zu sein, dass er gedanklich keinen Deut davon abwich.

„Wenn du uns helfen würdest, wäre es als hätten wir es nicht aus eigener Kraft geschafft, das ist wichtig, Ran. Jeder von uns muss das Gefühl haben, mit der Vergangenheit abschließen zu können. Auf die eine oder andere Art. Wenn es Kritiker nicht mehr gäbe, würden wir ohne einen Platz zu haben herumirren bis wir auf die nächste Gruppe ‚Kritiker’ stoßen. Du hilfst uns eher damit, dass wir uns um dich keine Sorgen machen müssen, weil wir wissen, dass es dir gut geht und du dein Leben lebst, wie es dir gefällt.“
 

Aya sah Youji offen in die Augen und bedachte dessen Gesagtes. Youji hatte Recht, vielleicht war es besser, wenn er Weiß sich alleine befreien ließ. Doch…das nahm ihm nicht das schlechte Gefühl in seiner Brust, nicht genug für sein Team da zu sein.

Nachdenklich runzelte Aya die Stirn und schob seine Unterlippe vor.

Würden sich Weiß befreien können? Oder würden sie sich irgendwann zerstören?

„Keine Sorgen um mich…?“ Er lächelte. Stimmt, jetzt mussten sie sich keine Sorgen mehr um ihn machen.
 

„Nun ja, du warst schon immer unser Sorgenkind, auch wenn du das nicht hören willst“, lachte Yohji warm. „Ken und ich … werden uns lösen können, ob Omi das jemals schafft, wage ich zu bezweifeln. Du und er waren die wirklichen Gefangenen von Kritiker. Würde Ken ins Gefängnis gehen und seine Strafe absitzen, würde ich … alles vergessen können, dann wären wir wohl frei, aber Omi?“, ließ er die Frage offen.
 

„Vielleicht hat Omi eine treibende Kraft von außen, die ihn von Kritiker lösen wird“, sinnierte Aya. Er hatte mit ihrem Jüngsten unlängst darüber gesprochen, was bei Crawford vorgefallen war und was dieser als Bedingung gestellt hatte. Jetzt noch unmöglich, könnte es bei fortgeschrittener Zeit durchaus eine Alternative sein, wenn auch eine sehr wackelige.

„Du würdest alles vergessen wollen? Auch mich? Untersteh dich, Youji. Eher kaufe ich euch frei, das glaube mir, als dass ich möchte, dass du deine Freunde vergisst.“ Er pausierte einen Moment. „Die dunkleren Momente sollst du aber vergessen…doch auch da sind wir für dich da, Youji. Du musst das nicht alleine durchstehen.“
 

Yohji löste sich von dem Anderen, stand auf und ging Achselzuckend wieder gen Küche. „Jeder muss das alleine durchstehen, Ran. Auf die eine oder andere Art sind wir doch alle allein. Keiner kann deine Gefühle wirklich erfassen, oder deine Gedanken, es sei denn, du sprichst sie laut aus und das dann auch noch so, wie sie rein und unverfälscht sind, also wahr.

Alles andere wird doch von unserem Gehabe, von unseren Ängsten und unserer Scham übertüncht, ach ja, die gesellschaftlichen, sozialen Umgangsformen nicht zu vergessen!“, rief er aus der Küche heraus und widmete sich wieder dem Essen, das bald fertig sein würde.
 

„An dir ist ein Philosoph verloren gegangen, Youji, weißt du das?“, rief Aya ihm hinterher und drehte sich so, dass er einen guten Blick in die Küche werfen konnte. Wie Recht der blonde Mann doch hatte… all ihre Gefühle waren in irgendeiner Art und Weise verfälscht… doch einer konnte sie lesen.

„Willst du damit andeuten, dass ich Farfarello fragen soll, was du fühlst?“, überlegte er laut und konnte sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.
 

Shit, da hatte er wohl die Rechnung ohne den Wirt gemacht, wie es so schön hieß. Klar, hier hauste ein Empath und Schuldig konnte Gedanken lesen. In seinem kleinen Monolog hatte er diese Tatsachen völlig außer Acht gelassen.

„Untersteh dich“, knurrte er. „Das habe ich nicht bedacht, meine philosophische Ansprache bezog sich auf Normalsterbliche“, murrte er aus der Küche heraus.

Es wäre der Horror wenn … wenn … ja wenn Farfarello anders mit seinem ständigen Wissen über die Gefühlswelten der Menschen um ihn herum umgehen würde als so… schweigsam und reserviert.

War es der logische Schluss um in einer Gesellschaft – auch in einer kleinen – leben zu können? Darüber zu schweigen was man erfuhr?
 

„Im Nachhinein könnte ich auch ALLES bestreiten, mein lieber Youji“, lachte Aya und schraubte sich vom Sofa hoch. Er kam in die Küche gestreunt und knuffte den anderen Mann freundschaftlich.

„Außerdem muss ich nicht viel tun… glaubst du, er würde unsere Gefühle nicht lesen, wenn er wollte? Glaubst du, dass du es ihm verbieten könntest? Es ist Farfarello, Youji. Auch wenn er nicht darüber spricht, so ist das seine Gabe. Er lebt damit. Vermutlich gehört es für ihn mit zum Alltag.“ Vielleicht…manchmal war er froh, nicht an Crawfords Stelle zu sein und ein solches Team zu leiten. Ihm hätte das sicherlich schon den letzten Nerv geraubt.
 

„Und glaubst du eigentlich, dass er es dir sagen würde, nur weil du ihn fragst? Es ist Farfarello, Ran“, äffte Yohji den anderen hämisch grinsend nach.
 

Aya hob spöttisch eine Augenbraue. „Du kannst ein ganz schönes Miststück sein, weißt du das? Zerstör mir noch alle meine Illusionen! Dank dir!“ Er schwieg, scheinbar nachdenklich. Dann jedoch lächelte er teuflisch.

„Ich kann ja lieb bitte bitte sagen…so wie ich es bei dir immer getan habe, weißt du noch?“ Und wie es Youji noch wissen sollte, ihre gemeinsamen Abende in diversen Nachtclubs.
 

„Bei Farfarello?“, glotzte Yohji ungläubig, ob Ran dieses Himmelfahrtskommando wirklich annehmen würde und platzte dann lachend heraus: „Nie im Leben… der weiß doch sicher nichts mit dir anzufangen, oder er nimmt dich stückchenweise auseinander.“…und Ran wollte ihn mit Sex bestechen? Nie… niee…
 

Der rothaarige Japaner glaubte eher Ersteres als Letzteres, doch er lächelte und schwieg dazu. Farfarello sah ihm nicht so aus, als würde er großen Wert darauf legen, engeren Kontakt zu seinen Mitmenschen zu pflegen. Ganz im Gegenteil. Vielleicht wollte er es auch einfach durch seine Gabe nicht, die gewisse Dinge vermutlich erschwerte, wenn nicht gar unmöglich machte.

„Du hast schon Recht, Youji“, lachte er leise. „Aber wie sieht es mit dir aus?“ Diese wahnwitzige Idee war gerade erst in Aya aufgestiegen…wirklich. Sie war ZU wahnwitzig, um wahr zu sein.
 

Die Nudeln sahen so aus als ob sie fertig wären und das Gemüse vertrug noch etwas Würze. Yohji blickte kurz auf zu Ran, bevor er sich dem Würzen verschrieb. „Was meinst du?“, fragte er in Gedanken damit beschäftigt, die richtige Dosis zu finden.
 

„Würde er in deinem Bett landen?“, spezifizierte Aya seine Frage.
 

Yohji runzelte die Stirn, als müsse er nachdenken, tat er tatsächlich, aber nicht über diese absurde Idee. Viel mehr untermischte er die Gewürzsoße und kostete sein Gebrautes.

„Nein“, sagte er schlicht und knapp. Schon allein der Gedanke löste bei ihm nacktes Grauen aus. Schon allein die Vorstellung, er würde mit Farfarello… dem Verrückten … demjenigen der Omis Halbschwester auf dem Gewissen hatte…

Nein. Aus vielen Gründen – Nein. Nicht nur deshalb, weil er Angst davor hätte diesem Etwas körperlich näher zu kommen.
 

Nichts anderes hatte Aya erwartet. Youji konnte es sich genauso wenig vorstellen, wie er selbst.

Er trat zu dem blonden Mann und naschte sich einen Löffel voll. Lecker. Wenn Youji doch mal öfter kochen würde. „Essen ist fertig“, verkündete Aya und nahm sich aus einem der rechten Schränke drei Teller, ebenso wie die dazugehörige Anzahl an Stäbchen und Gläsern. In aller Ruhe deckte er den Tisch und verließ mit einem „Ich gehe Farfarello holen!“ die Küche.

Langsam stieg er die Treppe hinauf und dachte währenddessen über ihr vorheriges Gespräch nach. Natürlich hatte Farfarello etwas gefährlich Attraktives an sich, doch alleine schon der Gedanke an ihn…nein. Dazu schien ihm der Ire zu asexuell.
 

Benannter Ire döste.

Er lag auf seinem Bett und ‚lauschte’ auf die Gefühlswelt, die ihre Umgebung betraf, außerhalb des Hauses, ließ die Emotionen durch sich rieseln wie Puderzucker. Genauso weiß waren sie teilweise. Und dazwischen bunte Streusel. Er träumte von Gebäck, von der Zuckerbäckerei im Himmel, wie ihm als Kind erzählt worden war. Und die Emotionen, die er durch sich laufen ließ, als wäre er nicht stofflich und als könnten sie mit ihren langen Fingern durch ihn wie durch eine Wolke greifen, waren bunt und hatten keine Formen.
 

Aya besah sich das vom Türrahmen aus und dachte an das, was Youji ihn gefragt hatte. Ob er denn keine Angst vor Farfarello hatte?

Nein…nicht, wenn er den anderen Mann hier so sah.

Er räusperte sich leise, die Arme verschränkt. „Komm essen, Farfarello“, sagte er ruhig.
 

Nur zögerlich öffnete sich das verschlafene Auge und blinzelte. Jei lag auf der Seite und besah sich den Ankömmling stumm. Erst nach einigen Augenblicken, in denen er sich auf das Haus und seine momentanen Bewohner eingestellt hatte, setzte er sich geschmeidig auf, und erhob sich sofort.
 

Aya drehte sich um und ging wieder hinunter in die Küche. Seine Gedanken wanderten zu Schuldig, während er in jedes der Gläser Wasser goss. Der Deutsche hatte sich nicht mehr gemeldet, hatte nicht auf seine letzte Bitte reagiert. Hieß das, dass er sich vollkommen aus seinen Gedanken ausgeklinkt hatte?

Auch wenn Aya seine Zweifel überwunden - beiseite geschoben? - hatte?
 

Als Farfarello und Ran in die Küche kamen blickte Yohji auf, hielt sich unbeteiligt was seine Gefühle anging und verrichtete alle nötigen Handgriffe ohne großes Nachdenken. Trotzdem musste er flüchtig an die Frage denken, die Ran ihm gestellt hatte.

Die Gegenwart des Empathen löste in Yohji immer den Drang aus die gegenteilige Richtung einzuschlagen, so eindringlich war sie.
 

Während des Essens schweiften Yohjis Blicke gelegentlich zu dem Iren hin, maßen ihn schweigend, doch Yohji achtete darauf, dass er genauso häufig zu Ran blickte oder sich mit ihm länger unterhielt. Er war neugierig auf Farfarello, trotzdem war es wohl eher eine morbide Neugier.
 


 

o~
 


 

Im Zimmer war es nach wie vor dunkel, das Lichtermeer der Stadt reichte aus um mit ihrem kühlen Schimmer die schattenhaften Umrisse des Interieurs hervortreten zu lassen. Schuldig lag ausgestreckt auf dem Rücken in dem luxuriösen Bett, hatte den Unterarm über die Partie der Augen gelegt und versuchte noch immer den bohrenden Schmerz in seiner Brustgegend zu vertreiben.

Ran hatte Zweifel an ihm. Er zweifelte daran, dass er seine Entscheidung frei getroffen hatte, er glaubte, dass er von Schuldig beeinflusst worden war. Er misstraute ihm.
 

Noch immer.
 

Er würde nie aus diesem Misstrauen herauswachsen, nie mit bedingungslosem Vertrauen rechnen dürfen. Er würde sich immer dieses Vertrauen aufs Neue erkämpfen müssen, auch wenn er dieses Vertrauen nicht gebrochen hatte. Doch sobald neue Zweifel auftauchten, durch welche Gegebenheiten auch immer – er würde sich erneut beweisen müssen.

Im Zweifelsfall gegen den Angeklagten, lachte er zynisch und atmete tief ein, vertrieb den Kloß im Hals der ihm bitter erschien.
 

Er richtete sich auf und legte den Kopf in den Nacken, konzentrierte sich auf seine Atmung. Es war an der Zeit, an andere Dinge zu denken, Nagi wartete auf ihn, denn sie mussten heute den Hauptteil des Auftrages erledigen. Trübe Gedanken an Ran würden ihn nur behindern und er hatte nicht vor sein Team deshalb zu gefährden.

Kiss me, kill me, love me, hit me

~ Kiss me, kill me, love me, hit me ~
 


 


 

o~
 

Seine Laune hatte sich nicht verbessert, auch als er Nagi wohlbehalten in seinem Hotel abgeliefert und den Kleinen daran gehindert hatte, aufdringlichen, männlichen Blicken mit Telekinese zu begegnen.

Sie hatten gute Arbeit geleistet, doch selbst diese Erkenntnis konnte Schuldig nicht wirklich aufmuntern.

Ständig stach die Erinnerung an Rans Misstrauen wie eine unerwartete Messerattacke in seinen Rücken.

Es machte ihn unausgeglichen und er hatte Lust, etwas gemein zu sein, etwas …Böses zu tun, hinterhältig zu sein.
 

Der Aufzug hielt im gewünschten Stockwerk an und Schuldig lockerte seine Krawatte, spürte den gestärkten weißen Kragen seines blitzsauber gebliebenen Hemdes nach. Er hasste es, wenn er bei der Arbeit schmutzig wurde. Da konnte er richtig ungemütlich werden.

Aber ihn eitel zu nennen, wäre vermessen gewesen. Vor allem angesichts der Tatsache, dass Crawford es war, der noch vor ein paar Jahren – in ihren besten Zeiten – einen Ersatzanzug mit im Wagen herumfuhr. Nur für alle Fälle verstand sich. Schließlich wollte er einen guten Eindruck hinterlassen, was natürlich mit ein paar Spritzern Blut, Haarresten, Hautteilen oder Fleischstückchen wesentlich schwerer war.

Sie waren schließlich keine Schläger. Nur Geschäftsmänner. Und da wollte man doch den richtigen Eindruck erwecken. Oder den falschen.

Je nachdem…
 

Über diesen Gedanken lächelnd warf Schuldig einen Blick auf seine Uhr, als er durch rasche Schritte alarmiert aufblickte. Den Arm noch angewinkelt stockte er wie ein Standbild in seiner Bewegung, lediglich die Augen verfolgten das, was seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte.

Im Schatten verhaltend sah er wie eine Frau im sich kreuzenden Gang an ihm vorbei rannte. Sophie Fuchoin.

Schuldig versuchte sie zu lesen.

Wieder gelang es ihm nicht. Schlicht nicht vorhanden dieser Mensch, resümierte er und sein Blick besaß im Augenblick nichts Menschliches, als er stoisch dort stand, den Arm langsam sinken lassend.
 

Irgendetwas stimmte hier nicht. Innere Ruhe befiel ihn, wie ein Schleier legte sie sich über ihn.

‚Brad?’

‚Was willst du?’

‚Alles klar bei dir?’

‚Ja.’
 

Eine schlichte Antwort wie stets. Das war ein gutes Zeichen. Trotzdem setzte sich Schuldig lautlos in Bewegung, ging zügig und seine Telepathie, soweit es überhaupt ging, in den Hintergrund schiebend um sich mit den übrigen Sinnen nach Unregelmäßigkeiten zu orientieren, in die Richtung, aus der Sophie gekommen zu sein schien.
 

Am Zimmer von Brad angekommen, sah er sich nochmal in beide Richtungen um. ‚Ich komme rein. Mach auf.’

Kurz darauf hörte er das charakteristische Klicken im Schloss der Entriegelung und eine Hand zog ihn nach innen. „Hey, langsam…“, murrte er und machte sich los, glättete das Revers an seinem Hemd.
 

Das Zimmer war nicht beleuchtet, nur das Licht der Stadt schien durch das Panoramafenster herein. Schuldig registrierte das Glas in Brads Hand.

„Wie lief’s?“

Brad ging zum Fenster hinüber, lediglich sein verschlossenes Profil Schuldig präsentierend. Es dauerte einige Momente bis der Telepath sich von dem Anblick loseiste und die Wut unterdrücken konnte, die bereits wieder die Oberhand gewinnen wollte. Brad spielte das übliche Spielchen: er wies ihn ab.

Alles zeugte davon: seine Haltung, seine Gestik, seine Stimme, seine Worte. Alles. Schuldig hasste es.

„Alles nach Plan. Keine besonderen Vorkommnisse, keine außerplanmäßigen Aktionen. Sonst noch was?“, gab er übellaunig zurück. Kurz war er in Sorge um diesen Arsch gewesen und jetzt hätte er ihm gerne eine rein gehauen. Nur allein wegen der Tatsache, dass er sich ihm gegenüber so reserviert verhielt.
 

„Nein, du kannst gehen.“

Schuldig sah zu, wie Brad einen Schluck seines Drinks zu sich nahm. Vermutlich seinen heiß geliebten Whisky.

Sein Blick verlor sich auf der Hand die das schmucklose Glas mit dickem Boden hielt. Whisky war so typisch für Brad, trotzdem er ihn selten trank. Immer dann, wenn er nachdenken musste. Immer dann, wenn etwas zwar gut lief, aber noch nicht abgeschlossen war. Nicht zum Feiern, nicht zum Trauern.

Wobei Schuldig bezweifelte, dass Brad jemals um etwas trauern würde. Vielleicht um verlorenes Geld. Klar.

„Ach…kann ich das, Eure Hoheit?“
 

Brad sagte nichts dazu. Er wollte sich nicht von ihm provozieren lassen. Aber heute nicht. Heute reichte es Schuldig.

Ran misstraute ihm immer noch. Warum also das Ganze nicht ein wenig auf die Spitze treiben? Es war doch ohnehin egal.
 

„Was ist eigentlich mit der Kleinen? Für einen kleinen Fick ging’s doch reichlich schnell, wart ihr so heiß aufeinander?“
 

Schuldig sah befriedigt wie sich Brads Hand mehr um das Glas spannte und er nach wie vor stoisch nach draußen starrte.

Brad löste sich nach einigen Minuten aus seiner Haltung und durchquerte das Zimmer um zur Bar zu gelangen, kam dabei an ihm vorbei.

„Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“
 

Schuldig lachte hämisch.

„So wie sie an mir gerade vorbeigezogen ist, sah es aus als hättest du etwas gewollt, was sie nicht bereit war zu geben, Keith“, spottete er, mit dem Hauch von Genugtuung. „Aber wir beide wissen doch ganz genau, was du wirklich willst, nicht wahr, Keith?“

Brad trank den Rest seines Whiskys, stürzte ihn regelrecht hinunter.

Nur nichts vergeuden, Keith, ätzte Schuldig in Gedanken.

Danach fand das Glas seinen Weg auf die Holzplatte des Tisches. Brad hatte ihm immer noch den Rücken zugewandt, was Schuldig zu mehr anstachelte.

„Sie ist doch eher ein billiger Ersatz für mich, Keith.“

Schuldigs Stimme hatte einen rauen Ton angenommen, herausfordernd, dabei aber auch hinterhältig provozierend.

Selbst hier im düsteren Licht erkannte er das Muskelspiel an Brads Rücken. Das dünne Hemd verriet, dass er angespannt war. Und in Erwartung des Kommenden verhielt Schuldig ganz ruhig in seiner Position zwei Schritt hinter Brad. Denn so ruhig, so gefährlich ruhig wie dieser war, wusste Schuldig, dass etwas kommen würde.

„Was willst du von mir, Schuldig?“, kam es mühsam beherrscht aus der aufgerauten Kehle des Amerikaners.
 

„Ehrlichkeit.“ Er setzte alles auf eine Karte, auch wenn er nicht wusste wie hoch dieser Einsatz in Wirklichkeit war.
 

„Ich hasse dich. Ist es das, was du hören willst? Verschwinde endlich und lass mich in Ruhe.“ Noch immer diese Angespanntheit in der ganzen, ihm noch immer den Rücken zudrehenden Gestalt.
 

„Einen Dreck werde ich.“ Schuldigs Gesicht zeugte von seiner Verzweiflung und auch seiner Wut über den anderen. Hinter seiner Stirn arbeitete es fieberhaft. Es konnte so nicht weitergehen. Wieso konnte es nicht so sein wie früher?

Er machte einen Schritt auf Brad zu, berührte die harten, angespannten Muskeln am Oberarm und wurde sogleich, noch bevor er wirklich das Hemd zwischen seinen Fingern hatte, herumgeschleudert und ihm versagten seine Lungen den Dienst als sein Rücken unerquicklichen Kontakt mit der Wand herstellte.

„Lügner“, zischte Schuldig und er hielt gegen Brad, stemmte sich gegen den anderen, landete trotz der überlegenen Kraft des anderen einen Schwinger in dessen Magen und befreite sich. Brad hielt sich zurück, wie Schuldig in einem kleinen Winkel seines Gehirn feststellte, bevor er erneut nachsetzte und Brad an der Tür festhielt. Ihn mit seinem Körper an diese presste.

„Lügner. Lügner. Lügner.“ Immer wieder schleuderte Schuldig ihm dieses Wort entgegen, während Brad seinen Blick abgewandt hielt.

Noch immer Spannung in Brads Körper, musste Schuldig viel Kraft aufbringen um ihn an der Tür zu halten. Ihr Atem vermischte sich, so nah waren sie sich.
 

Schuldig biss die Zähne zusammen, beschloss es zu wagen. Er verstärkte seinen Druck auf Brad und neigte seinen Kopf ebenfalls zur Seite, berührte dessen Mundwinkel mit seinen Lippen. „Lügner“, flüsterte er.
 

„Hör auf damit, verdammt.“

Brad wollte seinen Arm befreien, Schuldig spürte wie Brad seine Rücksichtnahme nicht mehr lange aufrecht halten würde, wenn er ihn weiter in die Enge trieb.
 

Doch Schuldig nutzte die Gelegenheit. Seine Lippen fanden ihren Weg auf die unwilligen Lippen, er leckte kosend darüber, küsste Brad harsch.

Während dieser sprach, stippte seine Zunge kurz zwischen die Lippen, kontaktierte Brads und beließ es bei diesem ersten, elektrisierenden Kontakt, als er sich zurückzog. All die Stärke verließ ihn plötzlich bei diesem Gefühl, das ihn durchzog. Er konnte es nicht beschreiben und es ähnelte auch nicht dem, was er für Ran empfand…oder doch?

Er wusste es nicht. Er spürte nur, dass Brad für einen Moment genauso unsicher schien wie er. Doch der Moment währte nur kurz in dem Schuldig an Brad lehnte, bevor er weggeschoben wurde.

„Verschwinde.“

Brads Stimme war brüchig, angeschlagen.

Schuldig atmete tief ein, während er wie betäubt zusah, wie Brad zur Bar ging, sich nachschenkte, seinen Drink hinunterstürzte und dann ins Bad ging.
 

„Ich…“, fing Schuldig an, die Hand zunächst hilflos erhoben, als wollte er den anderen aufhalten, ließ er sie dann jedoch sinken, die verschlossene Tür anstarrend.
 

Was hatte er getan?
 

o~
 

Youji wusste schon, warum er damals zu Schuldig gesagt hatte, dass Ran kein guter Liebhaber war…alleine schon die gemeinsamen Nächte würden Youji den rothaarigen Japaner irgendwann umbringen lassen, so unruhig wie dieser schlief, sich von einer Seite auf die andere wälzte und im Schlaf irgendwelchen Unsinn von sich gab. Oder auch knurrte, dass es Youji beinahe vor Schreck aus dem Bett trieb. Nein, da bevorzugte er jemanden, der still schlief und keinen Mucks von sich gab.

Seufzend richtete sich Youji auf und stahl sich in gewohnt lautloser Manier aus dem Bett. Er hatte schließlich jahrelange Übung darin, sich aus irgendwelchen Betten zu schleichen und Ran war nach anfänglichen Schwierigkeiten auch kein Problem mehr gewesen.
 

Müde strubbelte er sich durch die Haare und ging so, wie er war - nur mit einer Pyjamahose bekleidet - aus dem Zimmer heraus in das stille Haus. Ein Schaudern erfasste ihn und er zog die Schultern ein. Diese Wände waren…unheimlich. Ihr Bewohner war unheimlich und Youji hatte das Gefühl, jederzeit von ihm angegriffen zu werden in der Dunkelheit.

So war er auch dementsprechend vorsichtig, als er durch die Gänge streifte, immer auf der Suche…ja, nach was suchte er eigentlich? Nach seiner Neugier? Nach der Vorsicht?

Oder war es gar sein gesunder Menschenverstand, den er verloren hatte, als er sich aus dem relativ sicheren Zimmer seines Freundes begeben hatte?
 

Youji wusste es nicht, doch das tat seinem Detektivspürsinn keinen Abbruch. Lautlos stieg er die Treppen hoch, nur begleitet vom hellen Mondlicht, das durch den transparenten Bau schien und ihn in ein unwirkliches, kaltes Licht tauchte.
 

Die Farben der Nacht waren dagegen weniger kühl, als von dem auf nächtlicher Erkundungstour seienden Mann gedacht. Denn für Jei waren sie wie flirrende bunte … Schemen, mit stetigen immer wieder kehrenden Schatten durchzogen. Die sich gerade näherten, durch das Haus streiften…
 


 

Ein leichter Ölgeruch leitete Youji, als er sich weiter nach oben tastete.

Was hatte Ran gesagt? Dass Farfarello malte?

Irgendwie hatte er Probleme, sich genau das vorzustellen. Ausgerechnet der verrückte Ire malte. Doch war das wirklich der Mann, den sie samt Takatori bekämpft hatten und es immer noch taten?

Gut, Gott sei Dank in letzter Zeit nicht mehr. Youji wollte sich nicht vorstellen, wie es werden würde, wenn sie sich doch einmal in feindlicher Absicht gegenüber standen. Konnten sie kämpfen? Wollten sie kämpfen? Wären sie durch Rans Verbindung zu Schuldig gehandicapt?
 

Natürlich hatte er zu dem langhaarigen Japaner gesagt, dass jeder von ihnen durch seine eigenen Fesseln an Kritiker gebunden war, doch wie weit gingen diese Fesseln - und vor allen Dingen: waren sie länger als die Bande der Freundschaft, die sie hegten?

In derlei Gedanken versunken, merkte Youji erst jetzt, dass er vor einer geöffneten Tür stand, die nicht viel von dem Raum, der hinter ihr lag, preisgab. Die Wände machten nach einigen Metern einen scharfen Linksknick.

Youji lauschte, konnte jedoch nichts Verdächtiges feststellen, nur dass scheinbar aus genau diesem Raum der Farbgeruch, dieser leicht beißende Gestank nach Lösungsmitteln, drang.
 

War Farfarello auch hier?
 

Neugier überwog gegen die Angst, die ihn sonst vorsichtig werden ließ und er betrat lautlos den Raum.
 

Das Bild beinhaltete keine Harmonie, nichts was miteinander verschmolz, nichts was den Betrachter liebkoste. Unruhe und Dunkelheit dominierten in ihm und doch konnte nur ein aufmerksamer Betrachter die feinen Nuancen erkennen, die Mischungen von Farben, die leisen Töne zwischen den groben provozierenden Strichen.

So viele Farben, die nur er sehen konnte… würde es ihm irgendwann gelingen, sie anderen zu zeigen? Wollte er es denn?
 

Jei hatte sich etwas von dem Bild entfernt, betrachtete es sich stumm, mit hängenden Armen. Sein Blick war auf die auslaufenden Ränder, die grazilen, zarten Umrisse der wütend erscheinenden Pinselstriche gerichtet. Es erschien dem Betrachter, ohne dass er es bemerkte, als saugten die dunklen Striche, die Lebendigkeit der anderen Farben ein, als würden sie verschluckt.
 

Doch es fehlte etwas. Noch immer war es nicht … ganz fertig. Warum war es so unvollkommen? Gerade dieses hier? Wo er doch zunächst gedacht hatte, es wäre das Einfachste von allen? Warum gab es immer noch etwas, was er nicht verstand?
 

Youji hörte die Geräusche mehr, als dass er den Mann, der mit ihm in diesem Raum stand, zunächst sah. Mondschein erhellte den weitläufigen Raum, zudem noch eine kleine Lampe, die in der hintersten Ecke des Zimmers stand und einen kleinen Blick auf die große Leinwand gestattete, vor der Youji nun einen Blick auf Farfarello erhaschte. Der Ire stand völlig reglos vor dieser Ansammlung von wilden, ineinander verkeilten Farben und raubte Youji in diesem Moment jegliche Illusion, dass er diesen Stil nicht kannte.
 

Und ob er ihn erkannte…wie die Handschrift, wie der Stil eines Autors, so konnte Youji genauestens sagen, wem diese Art von Kunst zuzuordnen war. Er war schon oft genug auf dessen Ausstellungen gewesen.

Himmel. Hätte er es gewusst…wie oft hatte er vor diesen Bildern gestanden und manchmal gedacht, dass sie ihm bekannt vorkamen, wie ein Déjà-vu, wie eine schwache Erinnerung an etwas, das sich nicht zeigen wollte. Und nun? Nun stellte er fest, dass einer seiner momentanen Lieblingskünstler ein Mann war, den er bekämpfte und dessen blutrünstige Vergangenheit er nur allzu gut kannte.
 

Wie konnte das?
 

Ja, das fragte er sich nicht zum ersten Mal, seit er hier war. Youji ließ seinen Blick über die halbnackte Gestalt des Iren gleiten und stellte fest, dass dieser gar nicht mal schlecht gebaut war, so wie er hier stand, mit nacktem Oberkörper und nachlässig attraktiv tief gebundener Leinenhose, durch die das Licht schimmerte.

Es wäre durchaus etwas, das Youji anreizend fand. Leise lehnte er sich an die Wand und spähte um die Ecke, beobachtete den Schwarz dabei, wie dieser scheinbar gedankenversunken auf die Leinwand starrte. Was fehlte dem Künstler? Womit war er nicht zufrieden? Seine Augen glitten über die unzähligen, feinen und auch wulstigen Narben auf dem Körper des Iren.

Woher hatte er sie?

Lautlos ließ sich Youji nieder und hockte nun auf dem Boden, besah sich das Schauspiel vor seinen Augen.
 

Das Hellblau war es, das den Hintergrund gebildet hatte und nun war es zu einem dunklen, trüben Sumpf zerflossen, in dem sich braune und schwarze Schlieren tummelten wie giftige Schlangen. Er sinnierte noch über diese Wandlung und stellte gerade fest, dass er diesen Vorgang nicht sonderlich schätzte, wollte er doch das Blau eher vordergründiger bewahren, als er eben dieses Sammelsurium aus Farben in seiner Nähe entdeckte. Sein Kopf wandte sich in diese Richtung. Natürlich wäre es nicht nötig gewesen dies zu tun, aber er wollte sehen, ob es nicht etwas war, das ihm entgangen war. Es dauerte um seine Einschätzung vorzunehmen und er verhaarte in dieser Kopfstellung, als ging sein Körper diese Drehung nichts an. Erst nach Beendigung dieser Prüfung wandte er sich wieder dem Bild zu, griff erneut zum Spachtel und versetzte einigen dunklen dicken Pinselschleifen harte hellblaue Kanten hinzu.
 

Youjis Herz schlug bis zum Hals, als er hier saß und sich jeden Moment darauf gefasst gemacht hatte, dass er von Farfarello entdeckt, wenn nicht sogar angegriffen wurde.

Doch nichts geschah, denn der Blick, der so lange in seine Richtung zu gehen schien, wandte sich wieder ab und bleiche Finger trugen mit dem Spachtel eine erneute Farbschicht auf. Youji beobachtete das Geschehen fasziniert und sich nicht wirklich bewusst, in welcher Gefahr er schweben mochte. Er gab sich der trügerischen Illusion hin, dass Farfarello - Empath, wohlgemerkt - ihn nicht spürte, doch der Teil, der ihm Naivität höchsten Grades zuschrie, wurde komplett von Neugier und Faszination überdeckt.

Farfarello schien ihn zu locken mit seinem Verhalten. Wie eine Motte wurde er zum Licht gezogen, ohne dass er sich bewegte. Ohne, dass er auch nur einen Schritt tat oder etwas sagte.
 

Es war interessant welche Wirkung die bloße Anwesenheit seiner Person auf den Blonden hatte. Weich und doch flatterhaft tummelten sich plötzlich gänzlich neue Farbkombinationen zu Jei und dieser legte nun nach einer längeren Zeit den Spatel zur Seite und wandte sich in einer einzigen fließenden Bewegung um, ging auf den größeren Mann zu.

Einen Schritt vor ihm blieb er stehen, blickte auf ihn hinab und streckte ihm die Hand hin, damit der andere sie ergriff. Er hatte langsam eine Ahnung, wie er das Bild vollenden konnte.

Stoisch abwartend und den Blick in die grünen, neugierigen, aber unsicheren Augen verschränkend faszinierte ihn das Mienenspiel und die dazugehörigen Gefühle die scheinbar vor ihm verborgen werden sollten.

„Mach dir keine Mühe. Es ist doch sicher anstrengend?“, fragte er und legte den Kopf schief.
 

Youji starrte Farfarello in das ihn auseinander nehmende Auge, schließlich auf die Hand, die vor ihm schwebte. Etwas in ihm drängte danach, sie zu ergreifen, ebenso sehr wie der Killer in ihm sagte, dass das falsch angebrachtes Vertrauen war.

Er war hier ALLEINE mit einem ehemals verrückten Sadisten, der Menschen in Salzsäure tränkte UND der Omis Halbschwester umgebracht hatte.

Verrat!, schrie alles in ihm, doch seine Gedanken wanderten zu Ran. Ran hatte ebenso wenig Verrat begangen wie er selbst auch. Nur dass Ran etwas für Schuldig empfand und das Einzige, was Youji für den Iren fühlte, war Vorsicht, aber auch Neugierde, gemischt mit Verachtung und Wut über das, was in der Vergangenheit geschehen war.
 

„Neugier ist der Katze Tod, was?“, lachte er zynisch und ergriff diese bleiche, ebenso mit Narben übersäte Hand, die ihn kraftvoll hochzog. „Was soll anstrengend sein?“
 

Ohne gleich zu antworten dirigierte Jei sein Studienobjekt vor die Leinwand. Er blickte zu ihm auf und legte eine Hand auf den Bereich unterhalb des Brustbeines, schob den Mann weiter nach hinten, bis dieser auf die Farben traf. „Einen anderen Gesichtsausdruck zu deinen Gefühlen zu zeigen.“
 

Youji zuckte merklich zusammen, als er auf die noch nassen Farbschichten traf. Einen anderen Gesichtsausdruck? Ja…klar…Farfarello war Empath und konnte in ihn hineinsehen, doch das musste Youji noch lange nicht gefallen.

Und das tat es nicht, denn er fühlte sich entblößt vor diesem Mann, der doch sein Feind war, sein Gegner. Er hatte Omis Schwester getötet und ihnen das Leben zur Hölle gemacht.

Wo war der verrückte Schwarz geblieben, den er ohne Gewissensbisse bekämpfen und hassen konnte? Nicht hier, das sah er deutlich, auch an seiner Reaktion und an seinem Gefühl, das ihm sagte, sich nicht diesem Blick und dieser Berührung zu entziehen.

„Warum interessiert dich das?“, fragte er und sah auf den anderen Mann hinab.
 

Jei blickte auf. Der Mann war tatsächlich neugierig.

„Interessiert?“ Er schüttelte den Kopf, die Hand wie vergessen noch immer auf der samtig warmen Haut. Sein Blick löste sich und richtete sich tiefer auf den grellen Kontrast, den seine vernarbte Hand auf diesem makellosen Untergrund bildete. Wie in Trance starrte er darauf.

„Es interessiert mich nicht. Es ist unnötig, zuviel Energie darauf zu verschwenden Dinge vor mir verbergen zu wollen, die ich trotzdem und ohne Mühe erfahre.“

Er platzierte seine andere Hand auf das Brustbein, fächerte seine Finger ebenso auf. Faszinierend war dieser Unterschied zwischen ihnen.
 

Youji starrte auf ihre Verbindung, auf die Hände, die ihn zwanglos berührten, als stünde nicht die halbe Welt zwischen ihnen, als würde es noch etwas anderes außer Feindschaft zwischen ihnen geben.

Der blonde Weiß wurde vorsichtig. Feindschaft, ja, das stand zwischen ihnen. Dieser Mann war gefährlich, so anziehend und ruhig er sich hier auch geben mochte. Youji umfasste die Handgelenke des Iren, ertappte sich jedoch dabei, wie er diese Hände nicht von seiner Brust löste, sondern festhielt. Es war keine freundschaftliche Geste, eher etwas…
 

Ja, was war es eigentlich? Youji verzog unwirsch die Lippen. Müßig, darüber nachzudenken, doch er dachte nicht daran, Farfarello so viel Kontrolle zu überlassen, dass er seine Hände ungestört auf Wanderschaft schicken konnte.

„Deine Gabe…“, lächelte Youji schließlich. „Die du so freimütig einsetzt. Was bringt es dir, die wahren Gefühle der Menschen um dich herum zu kennen?“, fragte er ernst, seinerseits nachdenklich nun. „Die Masken zu kennen?“
 

„Bringen?“ echote Jei und sah irritiert auf. „Was bringt dir die Luft, die du einatmest?“

Sein Gesicht war dem anderen zugewandt, das Auge fragend und wissend zugleich. „Ich setze nichts ein, es ist einfach da, wie eine Berührung“, er wandte den Blick auf die Hände die ihn berührten.
 

„Berührungen kann man tolerieren - oder auch nicht, ganz wie man will“, erwiderte Youji und ließ die Handgelenke des Iren los. Sein Blick irrte zu dem ruhigen Auge und streifte von dort aus über das vernarbte Gesicht, die wilden Haare bis hin zum Hals und dem freiliegenden Oberkörper. Farfarello mochte als verrückt gelten, aber durchtrainiert war er und das mit einer Sorgsamkeit, die keinen Zufall zuließ.

Die Muskelgruppen der Oberarme, Schultern und des Bauches waren perfekt aufeinander abgestimmt und strahlten trotz der schlanken Gestalt unbändige Kraft aus. Wie Aya…, geisterte es durch Youjis Gedanken. Ihm sah man seine Stärke auch nicht an.
 

„Will …“, sinnierte Jei und löste nachdrücklich seine Hände aus eben dieser Berührung. Er bückte sich und nahm die Palette und einen Spatel auf. „Eine Wahl habe ich nicht. Die Gefühle berühren mich und ich berühre sie, wenn sie es wollen, nicht, wenn ich es will.“

Langsam begann er damit die Silhouette des Mannes auf der Leinwand nachzuziehen.

„Wenn jemand dich berührt… hast du dann eine Wahl?“ Er verrichtete seine Arbeit, während er sein Werk verrichtete. „Du musst die Berührung akzeptieren, denn sie ist schon geschehen. Du kannst danach erst davon laufen. Aber … wenn dich diese Berührung überall erreichen kann, überall gleich und immer… wohin willst du laufen?“
 

Wie kam es, dass er in ein paar Minuten mehr über den Iren zu erfahren schien als in den vergangenen fünf Jahren, in denen sie gegeneinander gekämpft hatten? Er hatte die plakativ böse Fassade dieses Mannes gehasst und bekam nun das Resultat präsentiert. Offen, als wäre es kein Geheimnis, als wäre er nicht der Feind, als könnte er mit diesem Wissen nicht Schwarz zu Fall bringen, wenn er und damit auch Kritiker es geschickt anstellten.
 

Nur, dass er es Kritiker nie sagen würde. Um Rans Glück Willen, um seinem Seelenfrieden Willen. Denn auch wenn er gesündigt hatte, so würde er dieser Organisation nicht noch in die Hände spielen, was ihm hier so vertrauensvoll und ernst entgegengetragen wurde. Oder war es Absicht, so wie er es Ran einmal zugetragen hatte? Wollten Schwarz sie einlullen?

Crawford vielleicht, Schuldig auch noch, aber Farfarello? Nein.
 

„Und wie lernt man dann, damit umzugehen?“, fragte er schließlich und lauschte den rauen Strichen des Spatels auf der Leinwand, die seine Gestalt ummantelten. So…war er dieses Mal also Teil des Kunstwerkes und nicht nur stummer Beobachter. Youji lächelte. So konnten sich Dinge ändern. Wer hätte einmal gedacht, dass er diesen geheimnisvollen Künstler einmal kennen lernen durfte?
 

Jei war an der linken Schulter angelangt und hob den Kopf an, wandte das Gesicht dichter an das des blonden Mannes heran, bis ihn nur noch wenige Fingerbreit trennten.

Näher. So nahe…war er…

Er maß das Gesicht mit seltsam müden Blick und dem Ansatz eines fiebrigen Lächelns.

„Gar nicht. Man wird … verrückt.“

Das letzte Wort traf auf die Lippen, wisperte an ihnen entlang und wusste nicht wohin, als hätte es sich verirrt.
 

„Bist du es denn?“, fragte Youji mit einem Lächeln auf den Lippen, das seinem Spieltrieb entsprang. Er wusste, dass diese Situation hier ganz schnell umschlagen konnte, ganz schnell für ihn unkontrollierbar werden könnte. Doch nein, er wollte spielen, wollte den Iren herausfordern.

Er fühlte den warmen, seichten Atem des Iren auf seiner Haut und wie von selbst hob sich eine seiner Hände. Sie legte sich auf Farfarellos nackten Oberkörper, direkt auf sein Herz.

„Du scheinst es mir nicht zu sein.“

Sie waren sich nahe, so nahe wie nie zuvor, doch Youji hatte keine Angst. Nicht vor diesem Mann, nicht vor dessen Berührung, vor gar nichts.
 

Ein breites Lächeln erschien plötzlich, es war fremd, es war neu und es war gefährlich. „Ja.“

Die Antwort verklang in der Berührung der weichen Haut und er verschmolz förmlich in den Farben, die um ihn aufwallten. Warum nur so grell, warum so rot?

Vor allem…

Warum… kamen sie nicht von dem Körper vor ihm? Woher kamen sie?
 

„Na dann ist ja gut“, flüsterte Youji. „Ich bin es auch.“

Seine Lippen überwanden die Barriere zwischen ihnen beiden und nahmen sich das, was sie in diesem Augenblick begehrten, ohne zu zögern, ohne Reue, ohne einen Gedanken über das Nachspiel.

Die Lippen des Iren fühlten sich weich und warm an, nicht so hart wie der sehnige Körper. Sie schienen verwirrt, skeptisch, offen noch für ihn.
 

Dies war der Augenblick, in dem Jei zögerte, wartete, nicht wissend was er tun sollte. Vieles von dem, was er von Yohjis Gefühlen erfuhr zeugte von Aufregung, aber gleichzeitig auch von Ruhe, doch von ihm selbst … kam nichts. Also wartete er, stupste die Lippen des Blonden an, während er fragend aufblickte.
 

Youji wusste nicht genau, was er erwartet hatte, doch das hier…traf es genau. Er hatte weder erwartet, dass Farfarello sich ihm nun in einem stürmischen Kuss hingeben würde, noch, dass der andere Mann ihn plötzlich niederrang. Nein, das wäre alles nicht passend gewesen. Doch das hier…das hier war Neugier.

Youji sagte nichts, sondern lächelte nur, umgarnt und beruhigt von dieser Situation, von dem sie umschwelenden Farbgeruch. Sie sahen sich in vollkommener Stille an, nur auf sich konzentriert.
 

Die Projektion von zarten Farbnuancen auf sich selbst nahm Jei in diesem Moment halb in sich gekehrt war. Er ahmte die Bewegung der Lippen nach und lauschte auf sich selbst, doch es kam nichts. Er hörte das Schlagen seines Herzens, das Rauschen des Blutes in seinen Adern, den Fluss des Atems… doch sonst… war es still in ihm.

Sein Blick verschloss sich und er löste sich etwas, nur um dann das Auge wieder zu öffnen und dem Mann einen Anflug von unverständiger Trauer zu widmen. Gerade jetzt war es als käme die Frage aller Fragen wieder in ihm auf: Warum konnte er Gefühle schenken, aber keine erleben? Warum?

Verbitterung … ja das war auch ein Gefühl, warum fühlte er es jetzt nicht? Wenn das Wort doch dafür stand, wie er sich jetzt fühlen sollte?
 

Youji beobachtete das Mienenspiel des Iren, beobachtete, wie sich dessen Gesicht von Ruhe zu etwas entwickelte, dass man durchaus Schmerz nennen konnte und das auf ihn bezogen war. Youji verstand es nicht, verstand diese Reaktion nicht.

„Warum bist du traurig?“, fragte er schließlich leise, ohne den anderen Mann zu berühren, jedoch ohne den Blick von ihm abzuwenden.
 

Dessen Gesicht wandte sich ab zur Seite hin, verlor sich in den Farben der Leinwand. „Das bin ich nicht“, gab er einsilbig zurück und nahm seine Arbeit wieder auf, langsam, fast zögerlich, als wüsste er nicht, was er tun sollte.

Das Geräusch des Werkzeugs auf der Leinwand zog seine äußerliche Aufmerksamkeit auf sich.

Doch diese leise Frage beschäftigte ihn, die Gefühle die der andere dabei aussandte zeugten von Anrührung. „Du magst keine traurigen Menschen“, stellte er seine Beobachtung für sich fest und setzte den Spatel mit einer Auswärtsbewegung neben Kudous Hals auf der Leinwand an.
 

„Magst du sie denn?“, fragte Youji und hörte, wie der Spatel von ihm weg auf der Leinwand kratzte. Er wusste, dass er sich später fragen würde, warum er hier für Farfarello Modell gestanden hatte, warum er überhaupt zugelassen hatte, dass dieser ihm so nahe kam, doch nun…zählte nur seine Neugier, die verlangte, mehr über diesen Mann zu erfahren.
 

„Ich habe … keine Gefühle zu traurigen Menschen, du schon.“

Jei war am Kopf angekommen und spähte zur Seite in die grünen ihn musternden Iriden. Der Mann sog gerade zu Trauer in sich auf, ließ sich von ihr einlullen, hinabziehen und sie machte ihn verwundbar.
 

„Und dennoch hat dein Gesicht gerade Trauer getragen“, erwiderte Youji schlicht. Er hatte diesen Ausdruck gesehen, direkt nach dem Kuss. Was war das gewesen?
 

„Hat es das?“

Jei ließ den Spatel sinken, er blickte den Mann vor sich an als sehe er ihn zum ersten Mal. Die Palette fiel zu Boden und seine Hand hob sich zu seinem Gesicht, befühlte seine Wange. „Hat es das?“
 

Youji nickte schweigend und beobachtete jede Regung im Gesicht des anderen Mannes. Farfarello schien regelrecht geschockt zu sein über diese Tatsache. Warum, das verstand Youji nicht - noch nicht?
 

„Ich verstehe das nicht“, flüsterte Jei und senkte den Blick zur Seite abwärts. „Wenn ich doch nichts fühle… warum …ich…“, fast atemlos wirkten die Worte als er sich zur Seite drehte und nicht wusste, wohin er mit sich sollte, was er wollte… und warum sich alles so verkehrte…plötzlich.
 

Youji trat vor, löste sich von der ihn nur zögernd loslassenden Farbe. Seine Hände schlossen sich um Farfarellos Oberarme und zogen den anderen Mann zu sich heran. „Du bist ein Mensch. Warum solltest du nichts fühlen?“, fragte er ruhig.
 

Mensch.

Jei war der Meinung, dass dem nicht so war.

„Ich kann mich von anderen nicht separieren“, murmelte er wie in Gedanken in eine Erklärung vertieft, er spürte auch nicht die körperliche Nähe zum anderen. Wie war das gegangen, dass er nun eines der Gefühle herausgegriffen hatte… wie war es geschehen, dass er ein einziges Gefühl erkannt hatte und es für sich haben durfte? Und warum gerade Trauer?
 

„Es war aber nicht meine Trauer“, hielt Youji dagegen. Seine rechte Hand verließ den muskulösen Oberarm des Iren und bettete sich unter das Kinn des Mannes. Prüfend sah er ihm in das Auge.
 

Jei sagte darauf nichts. Das helle Bernstein seines Auges glimmte abschätzend im Licht, doch sein Gesicht wirkte wie stets ausdruckslos. Seine Trauer war es.

„Es ist wieder weg. Es war schön und hat nur mir gehört. Nur mir allein.“

Sein Gefühl der Trauer war kurz gewesen.

Er lächelte und wandte sich ab.

„Die Farbe muss abgewaschen werden“, murmelte er und zog an der Hand, die sein Kinn zuvor gehalten hatte.
 

Youji ließ sich von diesem starken Griff mitziehen.

Abwaschen?, fragte er sich verwirrt, dann jedoch wurde ihm klar, dass Farfarello ihn unter die Dusche stellen wollte…ein Verdacht, der spätestens dann an Form gewann, als er sich nun wirklich in dem ausladenden Bad des Anwesens befand, genauer gesagt in der weitläufigen Duschkabine. Er sah verwirrt auf Farfarello hinab.

Jetzt erst kam er dazu, über die Worte des Iren nachzudenken. Ein Gefühl nur für ihn allein? Was meinte er damit? Hatte er als Empath nicht alle Gefühle für sich allein?

Es schien, als würde Youji kurz ein Licht aufgehen. Was, wenn ein Empath so von Gefühlen überströmt war, dass er für sich selbst nichts empfinden konnte? Oder was, wenn es etwas anderes war?
 

Der Regenschauer prasselte auf sie herunter und Jeis Linke griff zu einem Schwamm wusch mit beherzten Strichen die Farbe von der Haut am Rücken. Erst als alle Farbe weg war, legte er unbeteiligt den Schwamm zurück und blickte für einen zögernden Moment auf den Blonden, bevor er sich umdrehte.
 

Es war nichts Erotisches in den Berührungen gewesen, in diesem Waschen und dennoch fühlte Youji einen Hunger nach mehr, den er sich selbst nicht erklären konnte, geschweige denn, den er vor sich rechtfertigen konnte und wollte!

Farfarello war Schwarz, Schwarz waren ihre Gegner. Sie mischten sich nicht.

Doch wem erzählte er das eigentlich?

Das lauwarme Wasser auf seiner Haut ließ ihn schaudern. Seine Pyjamahose klebte unangenehm an seinen Beinen und er widerstand dem Drang, sie auszuziehen. Youjis Blick ruhte auf dem Rücken des Iren, seine Lippen öffneten sich, als wollten sie noch etwas sagen, doch nichts entkam ihnen.
 

„Was ist?“

Jei hatte das seltsame Gefühlssammelsurium wahrgenommen und verstand es nicht. Diese innere Unruhe des anderen…
 

Da hatte er doch schon wieder vergessen, dass er hier mit seinen Gefühlen nicht alleine war. Ob er sich emotional entblößt fühlte, war für Youji in diesem Moment schwer zu sagen. Es war nicht so wie bei Schuldig, nicht so….aufdringlich, vielleicht konnte er deswegen besser damit umgehen.

„Warum hast du so eine Wirkung auf mich?“
 

Den Kopf zur Seite drehend lauschte Jei für einen Moment auf das prasselnde Nass in seinem Rücken. „Vielleicht … weil ich …anders bin als das Gewohnte.“
 

Anders. Ja, in vielerlei Hinsicht war Farfarello das. Anders als andere Menschen, anders als sein Feindbild, anders als Schwarz.

Youji lächelte. Wunderbar. Noch mehr Verwirrendes zum Verarbeiten. Als wäre sein Leben momentan nicht schon kompliziert genug.

„Wieso könnt ihr eigentlich nicht das sein, was ihr solange für uns repräsentiert habt?“, fragte er unbestimmt.
 

Jei verzog die Lippen zu einem kleinen verblassten Lächeln, das er einmal bei Schuldig entdeckt hatte, ein Ausbund an unterschiedlichen Arten zu Lächeln, seine Freude, seine Melancholie, seine Trauer, seine Wut, seine Bosheit, seine Gier, seine Macht über andere auszudrücken. Schuldig war ein interessantes Studienobjekt, ebenso wie dieser Blonde hier. „Weil es zu einfach wäre.“
 

Youji starrte Farfarello erst überrascht an, dann lachte er befreit. Wie wahr. Wie wahr das doch alles war. Zu einfach…richtig. Als wenn irgendetwas mal NICHT schwierig wäre.

„Es muss immer schwierig sein, nicht wahr? Sonst wäre es zu langweilig“, schmunzelte er mit einem Stich an Wehmut darin.
 

Eine Gemütsregung, die Jei sich halb umwenden ließ. „Wenn es einfach wäre, würden wir uns nicht entwickeln, es wäre keine Herausforderung, oder?“, neigte Jei den Kopf leicht zur Seite. „Du… bist auch nicht einfach.“
 

„Ist das ein Kompliment?“, fragte der blonde Weiß zurück und seufzte. Er fuhr sich durch die klatschnassen Haare und stellte den Regenschauer der Dusche aus, bevor er sich eines der Handtücher griff. Einfach? Nein, war er nie gewesen. Sie alle nicht. Sie alle hatten ihre Ecken und Kanten, ihre Psychosen und Träume…ihre kleinen Paradiese, die kein Außenstehender begreifen konnte.
 

„Nein, es bedeutet, alles, was nicht einfach ist, ist eine Herausforderung“, sagte Jei und wandte sich zum Gehen.
 

o~
 

Der Wagen setzte ihn ab und Schuldig schulterte seine Tasche, den Aktenkoffer in seiner Linken haltend. Er hatte den Augenblick gefürchtet in dem er zurückkommen und sein Apartment verwaist vorfinden würde. Seine Schritte trugen ihn die Treppen zum Eingang hinauf und passierten die Tür samt Schlüsselkontrolle der oberen Apartments.
 

Wie schon viele Male zuvor überdachte er ihr Gespräch, ihren letzten Gedankenaustausch und kam zu keinem guten Ergebnis. Warum sollte Ran bei ihm bleiben?

Welchen triftigen Grund gab es dafür?

Keinen.

Das war die bittere Antwort.

Hatte er ihn nicht in dieses Apartment gezwungen? Hatte er ihm nicht seine Nähe aufgezwungen? Hatte er ihn nicht …in dieses Leben gezwungen?

Ja verdammt. Du warst es. Du hast ihn… in ein Leben gezwungen.

Es war dieses Leben. Aber es war EIN Leben. Es war nicht die Selbstaufgabe. Es war nicht der kalte Tod.

Du wirst pathetisch, Schuldig, rief er sich zur Raison.
 

Flüchtig streiften seine Gedanken die Szene in Brads Hotelzimmer, den Kuss.

Den Kuss, den beide verdrängen wollten. Am nächsten Tag war es so, als hätte es den Kuss nie gegeben, Brad verhielt sich wie die Tage zuvor zu ihm und Schuldig …Schuldig ging darauf ein, verhielt sich ebenso, als wäre nichts gewesen. Alles beim Alten.

Sie kamen aus diesem Dilemma nicht heraus. Es würde nur schlimmer werden.

Während er sich seiner Wohnung näherte tastete er die Räume hinter den Wänden nach Personen, nach Eindringlingen ab. Alles war sauber.
 

Er öffnete die Tür zu seiner Wohnung. Der Klick, der trotz aller Telepathie noch einen dezenten Anteil an Unsicherheit besaß.
 

Dunkelheit und Kühle schlug ihm entgegen und er schaltete das Licht an. Sein Blick glitt vom unberührten Bett zur leeren Couch.

Ran war nicht da. Niemand war da.

Er war allein.
 

Die Tasche kam auf dem Boden auf und Schuldig lehnte sich schwer gegen die ins Schloss fallende Tür. Minuten vergingen, in denen er dort stand und blinden Blickes vor sich auf den Boden starrte.

Vielleicht war alles gar nicht so schlimm, wie er jetzt erwartete. Vielleicht war Ran noch bei Jei.

Tief einatmend stellte er den Koffer ab und entledigte sich seiner Schuhe und dem Mantel.
 

Seine nächsten Schritte trugen ihn zum Telefon, wählten die Nummer des Anwesens, in dem sich Jei und Ran aufhalten sollten. Niemand nahm ab und Jei war auch mental dort nicht zu erreichen. Mit tiefen Sorgenfalten legte er das Gerät auf den niedrigen Tisch ab, setzte sich für einen Moment auf die Couch und stützte sein Kinn auf eine Handfläche.

„Wo bist du?“, murmelte er gedankenverloren. Brad war sicher bald Zuhause und wenn etwas geschehen wäre, dann hätte Brad dies mit Sicherheit voraus gesehen. Also kein Grund zur Sorge, versuchte er sich zu beruhigen und erhob sich nach einigen Augenblicken.

Den Gedanken, dass Brad seine Voraussicht unter den gegebenen Umständen nicht mitteilen würde…vergrub er tief in sich.
 

Nicht wirklich wissend, was er mit sich anfangen sollte, beschloss er, seine Unruhe mit einer Dusche zu vertreiben. War deshalb niemand zu erreichen, weil Ran gegangen war? War er tatsächlich fort?

Schwerfällig zog er sich aus, ließ die Kleidungsstücke dort fallen wo er stand und trat unter das tröstend warme Nass. Es war betäubend sich auszumalen, dass alles vorbei war, dass es das nun gewesen sein sollte. Ran hatte sich gegen ihn entschieden?

Oft hatte er sich die verbliebenen Stunden in Shanghai ausgemalt, wie er reagieren würde, wenn Ran sich gegen ihn entscheiden würde.

Wie es sein würde wenn Ran seinen Traum ausgeträumt hätte. Wenn Schuldig als Albtraum zurückbleiben würde. Hinter verschlossenen Lidern, als vergessener Traum…wie er es bei so vielen war.

Wie er fühlen würde und hatte sich … nein hatte versucht sich darauf vorzubereiten. Und nun war es lediglich eine kalte Leere die sich in ihm ausbreitete. So kalt, wie die Wohnung bei seinem Betreten gewesen war.

Ausgekühlt, schal, leer und dunkel.

Vergessen.
 

o~
 

Aya vergrub sich noch einen Zentimeter tiefer in die dicke Schicht an Kleidung, die ihn umgab. Es war schneidend kalt, als er sich hier einen Weg durch Tokyo bahnte, mit den Gedanken überall, nur nicht bei seiner Umgebung.

Youji war noch dageblieben und vor zwei Tagen erst gefahren…und gleich würde er zu Schuldigs Maschine zurückkehren und sich auf den Rückweg zum Anwesen machen um seine Sachen zu packen. Farfarello….Jei…wie der andere Mann auch hieß, hatte sich in diesen zwei Wochen von einer Seite gezeigt, die Aya mehr als neugierig machte, da sie doch nicht der üblichen Verhaltensweise entsprach, die er kannte.

Sie beide hatten die Zeit überstanden, ohne sich zu töten.
 

Aya wandte seinen Blick zum Himmel und schloss für einen Moment die Augen. Na Aya, hättest du das je gedacht? Wäre ich je soweit gekommen? Was wäre passiert, wenn du nicht gestorben wärst?, fragte er sich und fühlte einen Stich an Schuld für sein Glück, das er jetzt empfand.

Wäre Aya noch am Leben, wäre er Schuldig nie so nahe gekommen. Nie. Alles wäre anders verlaufen.
 

Sehnsucht nach Schuldig brannte in ihm auf, doch er wusste, dass er an diesem Abend ankommen würde. Bald sogar…ganz bald. Und dann konnte er den Telepathen in die Arme schließen und ihm sagen, wofür er sich entschieden hatte.
 

Die Dunkelheit war ihr Kleid, die Stunde ihr Gebot. Lautlose Schatten über den Dächern, Verfolger der Beute in der nächtlichen Kälte. Sie schlichen sich an, überwanden den Instinkt zur Flucht ihrer Beute, tauchten in der schummrigen Beleuchtung als schwarze Gestalten in der Gasse auf. Sie hatten den Überraschungseffekt auf ihrer Seite und der erste Schlag kam von hinten, wischte den Mann von den Beinen.
 

Da ist etwas, hatte Ayas Instinkt geflüstert, doch bevor er sich umdrehen konnte, landete er schon brutal und rücksichtslos auf seinem Hintern. Sein Kopf folgte auf den Asphalt und für einen Augenblick sah er nichts anderes als Sterne, bevor er sich aus Geistesgegenwart zur Seite rollte und auf die Knie zu kommen versuchte. Seine Sicht verschwamm ihm vor Augen aufgrund des Aufpralls und er konnte nicht richtig ausmachen, wer ihn angegriffen hatte. Kritiker etwa? Verdammt…wieso war er so unaufmerksam und vertrauensselig gewesen?
 

Wieder ein Schlag, der den Mann traf, dieses Mal im Gesicht.

„Er denkt nach. Aber er kommt nicht drauf“, wisperte eine glockenhelle Stimme, zerschnitt die Geräusche der Stiefelsohlen die näher kamen. Gehässiges Lachen sprudelte hervor.

Die schattenhaften Gestalten hatten sich so postiert, dass sie jederzeit eine Flucht ihrer Beute verhindern konnten.
 

Der Schlag schickte Aya ein weiteres Mal beinahe zu Boden. Konzentriere dich auf deine Instinkte, verdammt!, rief er sich selbst zur Ordnung und stemmte sich mit aller Macht los. Er sah nichts, ihm war übel und schwindelig, doch seine Ohren funktionierten immer noch, also musste er sich auf diesen Sinn verlassen, der ihm sagte, dass sie sich ihm näherten, dass sie neben ihm standen.

Er kam nicht darauf? Was sollte das heißen? Wer waren sie?

Er zischte und seine Faust schnellte nach vorne, traf auf etwas Hartes.
 

Dieser Schlag löste sein überraschtes Keuchen aus, als er auf einen fein modulierten Kiefer traf und wieder dieses Lachen zu hören war.

„Er wehrt sich, wie possierlich.“

Darauf folgten ein ungehaltenes Knurren und ein weiterer Schlag.
 

Aya gab ein schmerzerfülltes Stöhnen von sich und sackte auf den Boden. Der Schlag hatte seine Schläfe getroffen und ließ ihn nun schwanken vor Schwindel. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen, doch er zog sich mit Gewalt zurück. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass das hier kein Zufall war…sie hatten es direkt auf ihn abgesehen.

Er blinzelte gegen das Blut in seinem rechten Augen an, erblickte über sich Schatten, die er mühsam auseinander zu ziehen versuchte, damit er sich darauf einstellen konnte, wie viele ihn angriffen. Kritiker waren es nicht…warum sollten sie?

„Wer…seid ihr?“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor.
 

Die Antwort kam mit schnellen Stiefelschritten, einer Abfolge von mehreren Schüssen und einem Messer, welches zielsicher in der Flanke eines der Angreifer landete. Diese ließen sich es nicht nehmen, dem auf dem Boden liegenden Mann zwei Tritte in die Seite zu verpassen, bevor sie sich einvernehmlich durch ein Zeichen ihres Führers eingeleitet lachend davon machten.

Es war ein Spaß, eine kleine nächtliche Unternehmung gewesen, die ihnen aufschlussreiche Erkenntnisse gebracht hatte. Und nun kam ein Gast, den sie nicht hier haben wollten und der ihnen ungelegen kam. Sie zogen es vor, ihre Unternehmung für beendet zu halten.
 

Der Neuankömmling trat mit ruhigen, langsamen Schritten näher an den zusammengeschlagenen Mann heran, versicherte sich jedoch noch immer der Umgebung. Er blickte dabei nach oben in den nächtlichen Himmel, während sein ganzes Ich, Ruhe und Sicherheit ausstrahlte, dem Adrenalin entgegenwirkte, Angst vertrieb, aber auch den Kampf- und Fluchttrieb etwas milderte. Dann erst kniete er sich hin, die Finger an der blutenden Schläfe entlang führend.
 

Aya zuckte instinktiv vor eben diesen zurück, doch weniger aus Angst, denn aus Schmerz, der ihn sich krümmen ließ. Er zitterte, als er hochsah und verschwommen erkannte, wer für diese merkwürdige Ruhe und Gelassenheit in seinem Inneren verantwortlich war…wer anscheinend auch die anderen Männer vertrieben hatte.

„Farfarello…“, wisperte Aya und hielt sich die Seite. Als wäre es noch nötig, sich der beinahe schon tröstlichen Gegenwart des anderen Mannes zu versichern.
 

„Steh auf“, wies Jei ihn nüchtern an und fasste den Rothaarigen unter dem Arm, zog leicht daran.

„Bist du ihnen schon einmal begegnet?“

Jei suchte noch immer mit seinem forschenden Blick die Umgebung ab, nichts erweckte den Eindruck, als würden sie zurückkehren.
 

Aya ließ sich ohne Kommentar hochziehen, stellte jedoch zwei Augenblicke später fest, dass er keinen Schritt würde gehen können, so wie seine Eingeweide sich verknoteten und vor Feuer brannten. Er konnte ja noch nicht einmal den Mund richtig zum Sprechen bewegen.

Er schüttelte stumm den Kopf, versuchte dadurch auch, seinen Schwindel zu vertreiben, was ihm nur mäßig gelang und damit endete, dass er sich schwer auf Farfarello stützte.

„Ich…habe keine Ahnung…wer die waren…“, presste er schließlich hervor.
 

„Sie sind gefährlich.“

Jei steckte seine Waffe in den Holster seiner Weste zurück und bot danach dem gleichgroßen Mann eine Stütze. So bewegten sie sich nur langsam vorwärts, die Dampfwölkchen ihres Atems stets voraus gerichtet. Jeis Gedanken suchten nach einem Ort, der in der Nähe lag und fanden ihn. Eine Sicherheit für das Kätzchen in seinen Armen, die für den Moment nicht größer hätte sein können. Seine Entscheidung war gefällt und somit kehrten seine Gedanken zu einem anderen Punkt der Besorgnis zurück: die Angreifer.

Sie hatten ein Merkmal an sich, welches er im Team zur Sprache bringen musste…
 

Als sie schließlich bei dem großen Apartmentkomplex ankam, in dem Schuldigs Loft lag, war Aya kaum mehr in der Lage, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Langsam aber sicher setzte sich der Schock über diesen plötzlichen Angriff, weniger über die Tat an sich, als dass er sich vollkommen sicher gefühlt hatte und diese Sicherheit zersplittert worden war.

Dieser Männer hatten es nur auf IHN abgesehen, sie kannten ihn und wollten ihn verletzen… töten? Wer in aller Welt waren sie?

Schweigend blieb Aya schließlich mit Farfarello stehen, der ihn nach Hause gebracht hatte. In Sicherheit, wie es ihm eine kleine Stimme flüsterte, die er erbost verscheuchte. Er war ein Killer, er konnte sich wehren… und er war keinesfalls das Opfer.
 

Jei öffnete die Tür, stützte seinen Schützling bis sie am Aufzug angekommen waren. „Sag Schuldig, dass der Auftrag beendet ist und ich die Bezahlung erhalten habe.“
 

Aya starrte Farfarello auf das abgewandte Gesicht. Auftrag beendet? Bezahlung entgegengenommen? Sein schmerzvernebelter Geist wollte sich zuerst keinen rechten Reim darauf machen, als schließlich ein kleiner, aber nagender Verdacht in ihm aufkeimte.

„Was war der Auftrag, Farfarello?“, fragte er leise, erschöpft und schloss für einen Moment seine Augen, bis sich der erneute Schwindelanfall legte.
 

Den Verletzten ins ausdruckslose Auge fassend, legte Jei den Kopf nachdenkend schief. „Ein Personenschutzauftrag“, nickte er sodann und versuchte den Zustand des Mannes einzuschätzen. Er konnte nicht sagen, ob er den Weg hinein schaffen würde, und öffnete die Tür weiter, stützte ihn und zog ihn hindurch ins warme Innere. Der Nachtportier schien gerade seine Runde zu machen, denn er saß nicht am üblichen Posten. Jei registrierte diesen Umstand mit Argwohn.
 

Aya ließ sich wortlos mitziehen. Personenschutzauftrag. Wer außer ihm sollte damit gemeint sein? Verdammt noch mal, was war er? Konnte er nicht gut genug auf sich selbst aufpassen, oder warum brauchte er einen Beschützer?

Eine kleine, zynische Stimme in seinem Hinterkopf verneinte das und zerrte noch einmal die Erinnerungen des Angriffs hervor. Wer weiß, was sie mit dir gemacht hätten, wenn Farfarello dir nicht geholfen hätte, mein Lieber, säuselte sie und Aya zischte.

„Ich finde schon alleine zurück“, wandte er sich unwirsch an Farfarello, trotzdem erbost über dessen Dreistigkeit. Über SCHULDIGS Dreistigkeit.
 

„Gut.“

Jei nickte und war im Begriff sich umzuwenden, als er sich dafür entschied dem Mann nachzublicken, bis dieser in einem der Aufzüge verschwunden sein würde. „Rot steht dir nicht“, sagte er und sah dem Mann nach. Nein, Rot war keine Farbe, die der andere im Inneren mit sich tragen sollte.
 

Aya lehnte schwer an der Wand der Aufzugskabine, die ihn ganz nach oben zu Schuldig bringen sollte. Was hatte Farfarello gesagt? Sein Geist versuchte die Worte für sich zu verstehen, zu begreifen, was der Ire ihm gesagt hatte. Rot stand ihm nicht. Dass er damit seine Haarfarbe meinte, bezweifelte Aya stark. Wenn er eines in diesen verfluchten zwei Wochen gelernt hatte, dann über die zweideutigen Worte des Empathen zu grübeln, die meist mehr aussagten, als sie augenscheinlich beinhalteten.

Rot. Rot wie die Leidenschaft. Aber auch rot wie der Hass und der Zorn. Konnte es das sein? Stand ihm seine Wut nicht?

Vermutlich nicht, wenn man bedachte, wie sehr er um Ruhe gekämpft hatte und das immer noch tat. Er hasste diese Wut, dennoch brandete sie immer und immer wieder in ihm hoch.

Und nun…nun war es eher der Zorn darüber gewesen, dass er sich von diesen Unbekannten hatte überrumpeln lassen und dass er vor Schmerzen nicht mehr laufen konnte. Dazu kam aber, dass er erfuhr, dass Schuldig es für nötig befand, ihm einen BABYSITTER an die Seite zu stellen. Und ja, der Groschen fiel bei Aya. Vermutlich war das ein abgekartetes Spiel zwischen den Beiden gewesen. Er sollte auf Farfarello aufpassen, der von Schuldig den Auftrag erhalten hatte, auf IHN aufzupassen.
 

Wunderbar. Einfach herrlich.
 

Hätte es nicht so wehgetan, hätte Aya darüber gelacht. So begnügte er sich damit, die Schlüsselkarte durch das Schloss zu ziehen und die Tür aufzustoßen. Vielleicht war Schuldig ja schon da…vielleicht aber auch nicht und dafür jemand anderes…

Hör auf!, schalt er sich selbst, als er die Tür hinter sich schloss. Das war paranoid. Diese Männer kamen sicherlich nicht hierher. Oder?

Aya lehnte sich gegen die geschlossene Tür und bemerkte das kleine Licht, das einen kleinen Teil der Wohnung erleuchtete. Er schloss überwältigt von dem plötzlichen Gefühl des Zuhause Seins die Augen. Schuldig war da. Er war zuhause.
 

Er öffnete seine Augen und näherte sich dem Wohnbereich, sah schließlich den anderen Mann, wie er schlafend auf der Couch lag. Aya atmete erleichtert aus. Schuldig war hier, unversehrt und das schon seit einiger Zeit…zumindest hatte er Zeit gehabt, sich umzuziehen.

Ayas Lippen umspielte ein vorsichtiges, warmes Lächeln, als er sah, was sich Schuldig angezogen hatte. Klar…wie konnte er diese Cordhose, dieses Mickeymouseshirt unter dem Baseballpullover nicht erkennen? Schuldigs Lieblingsklamotten, bei denen er sich strikt weigerte, sie wegzuwerfen.

Auch wenn seine Erfahrungen mit diesen Sachen nicht ganz so positiv gewesen waren, so wusste er doch, dass sie Schuldigs Ein und Alles waren und genau das trieb einen warmen Schauer an Zuneigung durch seinen zitternden Körper.
 

Langsam schälte sich Aya aus seinem Mantel und ließ ihn so, wie er war, auf den Boden gleiten. Wegräumen konnte er ihn morgen. Mit Mühen entledigte er sich der dicken Stiefel und schlich sich zu Schuldig auf das Sofa, das breit genug für sie beide war. Er legte sich dazu, zog sich mit schmerzverzerrtem Gesicht näher an den Telepathen heran.

Endlich, nach zwei Wochen…der vertraute Geruch, diese Körperwärme, der tröstliche Herzschlag…Schuldig war wieder da, er war endlich wieder da.

Aya presste seine Stirn gegen die Brust des anderen Mannes und legte einen Arm um dessen Gestalt. Auch wenn es ihm nicht gut ging, so trat das in diesem Moment in den Hintergrund, da sich Erschöpfung und Erleichterung zu einem großen, schwarzen Loch auftaten und ihn schier hineinzogen.

Er zog die Decke, die sich an Schuldigs Beinen verfangen hatte, über sie beide und ergab sich schließlich seiner körperlichen und geistigen Müdigkeit…ja, auch dem Schock, der noch in ihm schwelte.
 

Sich nicht ganz von der Traumfee lösen wollend, spürte Schuldig die Schwere eines Körpers an sich, vertrauten Geruch, überlagert von etwas anderem und er öffnete die Augen, zog instinktiv den vertrauten Körper näher an sich heran. Schattenhaft erkannte er die Züge, beruhigte seine innerlichen Sorgen und er schlief über diese Erleichterung in seinem Unterbewusstsein wieder ein.
 

Erst nach einigen Stunden erwachte er erneut, als er sich aus der unbequemen Lage befreien wollte, in der er sich vermutlich während des Schlafes gebracht hatte. Er war auf der Couch eingeschlafen, wo er sich nach der Unterlage zu urteilen noch befand. Die Augen öffnend hob er den Kopf ruckartig an. Ran war bei ihm!

Er war nicht gegangen.

Erleichterung durchfuhr ihn und er wischte dem Mann die Haare aus dem Gesicht. Erst jetzt bemerkte er den Geruch der in der Luft lag, als seine Finger etwas klebrig Verkrustetes berührten. Blut, wie er feststellte, als er sich die Stelle genauer betrachtete. Und da zog er die Decke etwas herab, bemerkte die Straßenkleidung die Ran noch trug. Dessen Gesicht schien schier in ihn hineinkriechen zu wollen, denn es lag in seiner Ellenbeuge, in seinen Pullover gebettet.

„Ran… hey … komm wach … auf, ja?“ Er fuhr tastend über den Hals, die unnatürliche Blässe hatte ihm zwar Angst gemacht, doch der leise, stete Atem gleich wieder beruhigt.
 

Nur widerwillig löste sich Aya aus der ihm Erlösung versprechenden Dunkelheit. Er hatte schon im leichten Halbschlaf festgestellt, dass ihm nicht gut war…ganz und gar nicht. Sein ganzer Körper tat ihm weh und seine Augen zu öffnen, war ein Fall für sich.

Nur langsam und zögerlich folgte er also der sanften Stimme, die ihn zu sich lockte und stöhnte im nächsten Moment unwillig auf, als selbst das Bewegen der trockenen Lippen mit Schmerz verbunden war.
 

Was Schuldig dazu brachte, sich den Lippen mit seinen zu nähern. Er hatte den Kampf beobachtet und entschieden, ins Geschehen einzugreifen. Nicht wissend was geschehen war, kümmerte er sich besser erst um die aktuelle Lösung der kleinen Probleme.

Seine Zunge fuhr wiederholt über die trockenen Lippen, schmeckte altes Blut, welches er mit dem Speichel aufweichte, nur ein feiner Hauch, denn den unteren Mundwinkel hatte es erwischt, wie es schien. Er ließ dieses Areal frei und benetzte nur die Stellen, die ihm frei von Blut schienen. „Ran“, wisperte er. „Wach auf, was ist passiert, hmm?“
 

„Hmmm….“ Aya murrte missbilligend, bevor ihm bewusst wurde, dass diese Person- Schuldig! - ihm Gutes damit tat.

„Männer…gestern Abend… Hinterhalt…“, war alles, was er hervorbrachte, als er es schaffte, seine Augen zumindest soweit zu öffnen, dass er Schuldig sehen konnte.

Er versuchte sich an einem Lächeln. „Hey…“, murmelte er und ein Zittern durchlief seinen Körper. Er schloss seine Augen wieder und genoss den Atem und die Nähe des Deutschen trotz allen Schmerzes.
 

Besagter Deutscher knurrte ungehalten und setzte sich halb auf.

„Hat Jei dich etwa alleine gelassen?“, murrte er und begann damit Ran vorsichtig aus der Decke zu schälen, stieg über ihn ohne ihn zu berühren und stand so vor der Couch, blickte auf Ran herab. Er konnte es sich kaum vorstellen, dass Jei einen Deal nicht einhielt. Er würde ihn selbst einhalten wenn um ihn herum ein Erdbeben zig Häuser brachlegen würde.

„Zieh deine Beine an, beweg sie etwas, deine Arme auch“, wies er an und untersuchte Ran auf Brüche.
 

Aya grollte dunkel, nun wieder darauf gebracht, was er gestern Abend als unwichtig abgetan hatte.

„Hat er…nicht…er hat getan, wofür du ihn…bezahlt hast….Mistkerl…“, presste er hervor und zog währenddessen erst das linke, dann das rechte Bein an. Ganz vorsichtig nur. Eine Hand fuhr automatisch zu seiner Seite und hielt sich die schmerzende Stelle.

Es dauerte einen Moment, bis er auch die Arme einen nach dem anderen hochnahm und sie dann kraftlos wieder sinken ließ.
 

„Dann ist ja gut!“, grimmte Schuldig und nickte als er sah, dass scheinbar nichts gebrochen war, wobei der Kiefer etwas geschwollen aussah. Hoffentlich hatten sie da keinen Krankenhausaufenthalt ins Haus stehen. Und hoffentlich konnte Ran etwas essen, sonst wurde er bald noch dünner. „Kannst du dich aufsetzen, wenn ich dir helfe?“

Schuldig setzte sich halb auf die Couch, bot Ran einen Halt. „Wir müssen dir das Zeug aus dem Gesicht waschen und deine Verletzungen sichten.“

Farbspiele

~ Farbspiele ~
 


 

Aya ergriff die Hand und zog sich daran in die Sitzende. Er atmete gepresst aus und schaffte es, nach einigen Momenten den Schwindel vor seinen Augen zu vertreiben. „Es geht schon…ich bin schließlich kein Baby mehr…geschweige denn, dass ich einen Babysitter brauche“, funkelte er so böse wie er konnte zu Schuldig empor, was jedoch durch die Freude, diesen zu sehen, zunichte gemacht wurde und in einem schrägen, grimassenhaften Lächeln endete. „Schön, dass du wieder da bist“, murmelte er und stemmte sich hoch…
 

…und wurde von Schuldig in die Arme gezogen. „Schön, dass DU wieder da bist. Ich … war mir nicht sicher“, sagte Schuldig und löste sich leicht um Ran Raum zu geben.

„Kannst du ein paar Schritte ins Bad laufen?“ Er sparte sich die Bemerkung, dass es scheinbar nur zu gut war, dass Jei auf ‚sein Baby’ aufgepasst hatte.

„Na komm, chibi, ein paar kleine Schritte und wir sind im Bad“, sagte er ernst und sah Ran mit Besorgnis in der Stimme bei diesen Worten an.
 

Aya lächelte schmerzlich. „Kipp nicht noch Salz in die Wunden, Schuldig. Ich bin kein Kind und ich möchte auch nicht, dass du mich so nennst.“ Das ließ die nicht zu geringe Demütigung, dass er sich einfach so hatte zusammenschlagen lassen müssen, dass er einfach unvorbereitet war, um ein Vielfaches mehr leuchten.

Er tat zusammen mit Schuldig ein paar Schritte gen Bad. Es ging…obwohl es schmerzte und er nur einseitig belasten konnte, da seine linke Seite einfach zu sehr zog.

„Ich war es….ich war mir sicher. Als wenn ich dich alleine lassen würde“, murmelte er schließlich, den Blick sorgsam auf die Badtür gerichtet. DAS Ziel.
 

Schuldig hörte sich Rans Worte ruhig an. Ja sicher…schon klar, dass unser Held hier einen auf starker Mann machen musste…, meckerte er innerlich.

„Das sollte kein Salz sein, das sollte höchstens zeigen, dass es völlig unwichtig ist, ob du dich nun darüber aufregst, dass dein Stolz einen Dämpfer erhalten hat oder nicht. Wichtig ist … dass du lebst, verstehst du das, Ran? Wer sollte dich schon angreifen? Und wer überwindet dein Gespür für Gefahr? Daran solltest du denken, bevor du darüber nachdenkst, dass ich dich wie ein Baby behandle, was nicht stimmt. Du bist in Gefahr, wenn du mit mir zusammen bist. Und ich möchte diese Gefahr minimieren, das ist alles.“

Schuldig erkannte, dass Ran sich seitlich hielt, eine Schonhaltung einnahm. Nur noch wenige Schritte und sie waren im Bad. Sicherlich hätte er Ran auf die Arme nehmen können, doch das wäre natürlich nicht in Frage gekommen, wenn der andere schon von ‚wie ein Baby behandeln’ sprach.
 

„Anscheinend kann man diese Gefahr aber nicht minimieren, Schuldig“, hielt Aya dagegen und ließ sich von Schuldig nun endlich auf die Bank im Bad gleiten. Sitzen…

Vorsichtig nestelte er an seinem Oberteil und startete den störrischen Versuch, es sich über den Kopf zu ziehen. Schwach? Er? Nie. So etwas warf ihn nicht aus der Bahn. Mit zusammengebissenen Zähnen zerrte er es schließlich über den Kopf und warf es zu Boden, starrte den leblosen Stoff feindlich an. Sein Oberkörper war leicht vor Anstrengung und vor Schmerz nach vorne gekrümmt.
 

„Diese Leute kannten mich, sie wussten, wen sie angreifen und sie hatten es NUR auf mich abgesehen. Ich habe genug gestern darüber nachgedacht und ich bin zu keinem Ergebnis gekommen.“ Er schnaubte.

„Außer, dass es Kritiker sein könnten. Oder Feinde von euch, die ICH nicht kenne.“
 

„Wir haben viele Feinde“, erwiderte Schuldig lediglich und holte das altbewährte Desinfektionsmittel hervor und den Verbandskasten. Er benetzte ein Tuch mit Wasser und begann damit die Blutspuren aus Rans Gesicht zu entfernen, setzte sich auf die Bank neben ihn und betastete vorsichtig den Hinterkopf bevor er Ran sanft daran hielt um Gegendruck zu haben, denn das Blut war zum Teil angetrocknet. „Keiner würde sich jedoch so nahe an uns herantrauen, dass sie mich beobachtet hätten. Brad hat stets ein Auge in diese Richtung der Zukunft gerichtet.“

Einen Moment dachte er über Rans Idee nach „Kritiker … warum sollten sie?“
 

Aya seufzte müde und ergab sich gänzlich den sanften Administrationen des anderen Mannes. „Ich weiß es nicht“, erwiderte er nach einer kurzen Pause. „Deswegen macht es mich so misstrauisch. Sie hatten Spaß daran…und es waren Japaner von der Sprache her. Außerdem waren es mehr als drei. Vielleicht ist es aber jemand, dem ich als Abyssinian mal ans Bein gepinkelt habe, kann auch sein.“ Er lehnte sich gegen die ihn haltende Hand und drehte Schuldig den Kopf zu.

„Sehe ich schlimm aus?“
 

„In Anbetracht der Tatsache, dass es schlimmer gegangen wäre, siehst du immer noch so hübsch aus wie immer. Also wir hätten da sicher bessere Arbeit geleistet“, winkte die Ironie mit einer spöttischen Spitze aus den Worten. Er berührte die Lippen zu einem sanften Kuss. Weniger ironisch dafür ernster sagte er: „Das Auge wird sicher anschwellen und in schillernden Farben erblühen und einige andere Stellen wohl auch, der Kiefer insbesondere, aber da du gut sprechen kannst, scheint es nicht ganz so schlimm zu sein. Noch nicht. Wird sich wohl erst die nächsten Tage zeigen, wo sie dich härter erwischt haben.“

Er fuhr über die gerötete Flanke. „Du sagst, es waren mehrere? Mehr als vier? Dann war es nicht Kritiker“, zwinkerte er.
 

„Warum? Weil sie sich nicht mehr Agenten leisten können oder weil Weiß jetzt nur noch zu dritt sind?“, stieg Aya auf die Ironie ein, lachte und hielt sich aufstöhnend die Seite. „Au…böser Fehler. Lachen ist verboten die nächsten Tage, hörst du?“ Doch seine Lippen blieben immer noch in leichter Andeutung eines Lächelns, das dann jedoch, wie bei Schuldig zuvor auch schon, ernst wurde.

„Ja, es waren mehr als drei. Drei vor mir, einer an meiner Seite…die Anderen konnte ich nicht sehen, weil ich da schon am Boden lag.“
 

„Nein, weil Kritiker nur die unheilvolle Viererzahl in seinen Teams auftreten lässt. Sie haben nur Viererteams. Eine Abweichung von dieser Zahl hat Nagi in den Unterlagen, derer wir habhaft werden konnten, nie herausgelesen.“

Der Haaransatz wies noch einige hartnäckige Spuren auf, doch die Stirn war bis auf kleine Platzwunden gesäubert, die er nun mit Desinfektionsmittel und sauberen Kompressen reinigte.

„Ich kenn noch nen guten Witz, soll ich loslegen?“, grinste er halbherzig. Seinem Ran gings einigermaßen wenn er ein wenig lachen konnte.
 

„Wag es Schuldig und ich sperre dich für die nächsten drei Tage in den schalldichten Raum!“, grinste Aya und knuffte den anderen Mann in eine der beiden, gesunden Seiten. Innerlich wärmte er sich an dieser Zweisamkeit, tat es doch gut, ihn wieder hier zu haben. So nahe…
 

„Aber was mich noch interessiert… warum war Jei so langsam, warum hat er die Angreifer nicht vorher bemerkt? Erzähl mir genau wie es passiert ist…“, hakte Schuldig nach.
 

Rans Gedanken jedoch schweiften zurück und er seufzte leise. „Ich bin spazieren gegangen - ohne Farfarello - und dann waren sie auf einmal da. Ich habe den ersten Schlag gar nicht kommen gesehen und lag schon am Boden…von da an hatten sie es leicht, bis schließlich Farfarello kam und sie vertrieben hat. Allerdings“, Aya runzelte die Stirn, als ihm dieses Detail bewusst wurde. „Ohne Kampf. Sie wollten keinen Kampf mit ihm. Naja…dann hat er mir jedenfalls nach Hause geholfen. Mehr ist da nicht passiert. Sie haben auch nichts gesagt, was wichtig sein könnte. Aber sag, wie geht es dir überhaupt? Wie ist dein Auftrag gelaufen?“
 

„Hmm“, war alles, was Schuldig dazu sagte. Er musste heute mit Jei sprechen. Etwas stimmte nicht, warum hat Jei Ran so spät erst geholfen?

Etwas Wichtiges nagte an ihm, doch er nahm die Ablenkung dankbar an und ging auf Rans Themenwechsel ein. „Alles glatt gegangen“, murmelte er und musste sich an die kleine unschöne Eskapade mit Brad erinnern. War er wirklich eifersüchtig auf diese kleine Schlampe gewesen?

Was erwartete er von Brad, dass er sich ständig ihre Geturtel ansah und alleine ins Bett ging?

Keine zwei Sekunden musste er überlegen um diese Frage mit einem kleinen leisen Ja zu beantworten. Ja, verdammt, genau das wollte er!
 

Eine der blassen Hände hob sich und strich Schuldig durch die wilde, rote Mähne. Aya sah, wie die Gedanken des anderen Mannes abdrifteten und wie er über Dinge sinnierte, die ihn beschäftigten, über die er sich aber nicht ausließ.

„Was ist passiert, Schuldig?“, fragte Aya simpel und schob eine der Strähnen hinter das Ohr zurück. Denn das alles glatt gegangen war, betrog sich selbst spätestens durch diesen unwirschen Gesichtsausdruck, der quasi schon nach ‚Da ist noch etwas!’ schrie.
 

„Hmm?“, wechselte Schuldig die Kompresse und machte sich daran die Stellen in Rans Gesicht mit Wundabdeckungen zu bedenken oder mit kleinen Strips zu versehen.

„Passiert … ist nichts Großes, der Auftrag ist glatt gegangen und Nagi sah zuckersüß aus in seinem chinesischen Kleid“, lachte Schuldig leise an diese Erinnerung. „Brad und ich hatten eine kleine Konfrontation.“
 

Nagi im Kleid? Aya hatte Mitleid mit dem jungen Mann, der sich garantiert nicht freiwillig in so einen Aufzug geworfen hatte. Oder? Es erinnerte ihn unwillkürlich an Omis Stewardessenoutfit bei dem Auftrag, den sie alle gehasst hatten, Omi ganz besonders. Aya lächelte ob der Erinnerung, widmete sich dann jedoch einem weitaus gewichtigeren Problem.

„Was war das für eine Konfrontation, Schuldig?“, fragte er ernst. Er machte sich Sorgen, denn es war nicht die erste Konfrontation zwischen den Beiden und Aya wusste, dass er mit der Auslöser war. Der Amerikaner hatte ein Problem damit, dass Schuldig und er sich so nahe waren…und wenn es selbst auf einem Auftrag ausbrach, dann konnte das nicht gut enden…denn dadurch war Schwarz’ Professionalität gefährdet.
 

Schnaubend wandte sich Schuldig ab, stützte seine Ellbogen auf die Knie und hantierte mit den Verbandsmaterialien vor sich herum, darüber nachdenkend, was er jetzt sagen sollte.

Lüge oder Wahrheit?

„Ich weiß auch nicht. Es war eine Dummheit“, begann er seine Einleitung und er sah schon Ran auf und davon laufen.

„Er behandelt mich wie einen Aussätzigen und sein Tonfall bringt mich zur Weißglut. Es ist anders als früher und ich meine den Grund dafür zu wissen. Das Problem ist, dass er mir nichts sagen kann, dass er seinen Mund nicht aufbekommt. Gut, die nächste Frage ist, was fange ich dann mit dieser offiziellen Bekundung an.“, lachte er freudlos auf. Unsicherheit kroch wie Nebel durch ihn, wie stets, wenn es um dieses Thema ging.

„Und weil es für ihn vermutlich nicht ganz so einfach ist, wie ich es mir manchmal vorstelle, behandelt er mich wie Scheiße unter seinem Schuh. Das macht mich wahnsinnig.“
 

Eine Dummheit. Also war etwas zwischen Schuldig und Crawford geschehen. Aya musste zugeben, dass er bei diesem Gedanken einen gehörigen Stich an Eifersucht wie auch Wut und Enttäuschung verspürte. Ein Arschloch wie Crawford hatte Schuldig nicht verdient und egal, aus welchem Grund er ihn so dreckig behandelte…für Aya war das unverzeihlich und…kindisch. Ja, kindisch. Nur weil Crawford seinen Mund nicht aufmachen konnte um zu sagen, was ihm missfiel oder gefiel, verletzte und beleidigte er Schuldig, wo er nur konnte.

Was sollte das?

„Was hält dich davon ab, ihm einen ordentlichen Arschtritt zu verpassen? Und wenn er dir dann sagt, dass er dich liebt und dass du mich zum Teufel schicken sollst“, Aya lachte bitter, so wie es sein schmerzender Winkel zuließ, „…dann kannst du ihm immer noch das Passende sagen. Das, was du fühlst, Schuldig. Das, was du willst. Was ist zwischen euch vorgefallen bei diesem Auftrag, hm?“, fragte Aya ernsthaft. Gerade jetzt beschlich ihn ein ungutes Gefühl…ein SEHR ungutes Gefühl.
 

Wieder wurde ihm nur zu bewusst, wie sehr er ernste Gespräche hasste. Die meist ja nun mit Ran in sein Leben getreten waren.

Seufzend wischte er sich mit der Rechten über die Stirn und raufte sich die Haare.

„Ach ich weiß auch nicht. Das war alles … bescheuert. An dem Abend, an dem wir uns unterhalten haben und du … nun eine … ich wollte dir Zeit geben um zu überlegen und gleichzeitig war ich mir fast schon sicher, dass das jetzt das Ende gewesen war. Mir gings Scheiße und ich war sauer … irgendwie.“ Er grübelte einige Momente wie er fortfahren sollte.

„Brad hat sich an dem Abend eine Schnalle angelacht, gut zugegeben, recht ansprechend und nett, trotzdem … ich hab sie für ihn klarmachen müssen und das hat er nur gemacht um mich zu verarschen. Als wenn er das nicht besser alleine machen könnte. Über diese Spielereien sind wir doch schon raus, verdammt. Ich hab in meinem Zimmer keine Ruhe gefunden und bin später zu ihm, hab ihn provoziert, bis wir uns an die Kehle gegangen sind. Genau das hatte er verhindern wollen, wie ich gespürt hab, er will mich auf Abstand halten, bewusst. Als ich das bemerkt hab, war es auch schon zu spät. Ich hab ihm einen Kuss aufgezwungen. Im Nachhinein… gleich als ich aus dem Zimmer raus war, wusste ich nicht einmal mehr, was das alles sollte.“
 

Nur ein Kuss…sie haben nicht miteinander geschlafen, geisterte es im ersten Moment durch Ayas Gedanken und es war Erleichterung, die er dabei fühlte. Doch im nächsten Moment ging ihm auf, was das auch bedeutete und das war nicht gut. Sein erster Instinkt war aufzustehen und wegzugehen, doch davon hielt er sich ganz schnell ab. Was brachte es denn auch? Dieses offensichtliche Problem mussten sie gemeinsam lösen. Hier und jetzt.

„Er will dich auf Abstand halten, weil er mehr für dich empfindet“, sagte er schließlich ruhig und sah Schuldig fest in das abgewandte Gesicht. Sieh hin, zügelte er sich selbst, denn auch er wollte wegsehen, auch er konnte dieser Wahrheit nicht wirklich ins Gesicht sehen.

„Es verletzt dich und macht dich wütend, weil du das Gleiche für ihn empfindest.“ Ein Statement, keine Frage, keine Vermutung. Einfach ruhig ausgesprochene Worte. „Das Gleiche für ihn…wie für mich.“
 

„Nein!“

Schuldig sprang aufgebracht auf, das Gesicht vor verzweifeltem Zorn verzogen. „Nein!“ Er ging zur Tür, hielt jedoch ein und kam wieder zurück. „Das geht nicht. Es hat nichts zu bedeuten, das sind nur… das ist nur, weil er sich ab und zu um mich gekümmert hat, vielleicht eher so etwas wie Gefühle, die ich für einen Bruder empfinden würde. Ich will das nicht, Ran, ich will das nicht…“, verloren sich seine Worte und er stand mit hängenden Armen da, sah verletzt in die violetten Augen.
 

Aya streckte die Arme aus und bedeutete dem anderen Mann, zu ihm zu kommen. „Komm zu mir, Schuldig…komm her.“ Er wusste, dass es sehr wohl etwas zu bedeuteten hatte und dass es keine ‚Bruderliebe’ war, doch das würde er jetzt nicht mehr zur Sprache bringen. Es wäre zuviel für Schuldig. Denn egal, was er wollte oder nicht, Aya wusste, dass diese Gefühle da waren - unwiederbringlich. Sie verschwanden nicht, waren es vermutlich die ganzen sieben Jahre nicht und nun brandeten sie auf.
 

Sich neben Ran setzend, legte Schuldig sein Haupt auf dessen Schoß schmiegte sich an dessen unversehrte Seite. „Wir haben uns gerade erst gefunden und der Weg war so lang und steinig und … ich will dich nicht wieder hergeben, verstehst du? Das lasse ich nicht zu!“

Wieder kindlicher Trotz, kindliche Worte, die da seine Lippen verließen. „Niemand wird dich mir wegnehmen!“ Auch er selbst nicht.

Gerade dieser gedankliche Zusatz verwirrte ihn noch mehr, doch es stimmte für ihn.
 

Aya lächelte vorsichtig und strich Schuldig über das verzweifelte Gesicht. „Nein, Schuldig, das lässt du nicht zu, sicherlich nicht“, beruhigte er den Mann auf seinen Oberschenkeln. Dass es jedoch nicht in Schuldigs Macht liegen würde, seine Gefühle für Crawford zu vergessen oder zu unterdrücken, erwähnte er nicht.

„Wir kleben schon aufeinander“, versicherte er mit einem Lächeln, das er in diesem Augenblick auch so fühlte, wie er es gesagt hatte. Sie beide konnte nichts so schnell lösen. Nichts, bis auf Crawford?

Schmerz durchzog Aya.
 

Für einige Momente genoss Schuldig die benötigten Streicheleinheiten und schloss genießend die Augen. Doch dann besann er sich und hob den Kopf, richtete sich auf. „Ist dir nicht kalt?“

Seine Besorgnis begründete sich nicht nur darauf, dass Ran verletzt war, sondern war zum Teil auch ein Teil seines schlechten Gewissens, dass er Ran erzählen musste, dass er mit Brad ‚herumgemacht’ hatte. Auch wenn dieses ‚Herummachen’ weniger freiwillig und ganz und gar nicht so toll war und mehr Probleme mit sich gebracht hatte und noch mit sich bringen würde.

Ihm lag es fern, dass es seinem Ran schlecht ging und das auch noch wegen ihm. „Dusche oder Couch?“, schlug er weich lächelnd vor.
 

Aya sah an sich herunter, wie, als ob er dadurch die Antwort auf Schuldigs Frage bekommen würde. Er schnüffelte prüfend und fuhr sich über seine mit Hämatomen übersäte Seite.

Er wollte sich das Blut abwaschen...dieses Gefühl der Schläge. Ja, eine Dusche wäre sicherlich nicht schlecht.

"Ersteres", seufzte er. "Zwei Fliegen mit einer Klappe." Denn so, wie die kalte Luft über seine Haut strich, dauerte es nicht mehr lange und er würde sich einen Pullover suchen müssen.

Er strich Schuldig über den Haaransatz. "Duschst du mit? Ich könnte jemanden

brauchen, der mir hilft." Er hob vielsagend die Augenbrauen.

"Aber nur helfen!" Er lachte und stöhnte schmerzerfüllt auf. Sein Kiefer...vorsichtig betastete sich Aya das heiße, geschwollene Fleisch.
 

Und da war sie wieder! Die gute Laune!

Schuldig lachte wegen der nachdrücklichen Worte. „Klar, …nur helfen! Tu ich das nicht immer?“ Schon befand sich seine Hand in Rans Schoß und arbeitete geschickt daran dessen Hose zu öffnen. „Siehst du… nur helfen!“, nickte er beflissen und konnte sich dabei das kleine fiese Lächeln nicht aus dem Gesicht wischen.
 

Aya lachte grollend und murrend, während er mit einer Hand Schuldigs festhielt, mit der anderen versuchte, seinen Kiefer davon abzuhalten, weiter zu schmerzen.

"Ich habe mir doch gedacht, dass du nach zwei Wochen Notstand hast", murmelte er und ließ zumindest Schuldigs Hand los, damit diese ihr Werk verrichten und ihn von seiner Hose befreien konnte.

Dennoch zischte er leise, als sich dort unten etwas sehr gut an Schuldigs Hand erinnerte und dem anderen Mann schon wieder entgegengierte, obwohl es momentan gegen den Schmerz in Ayas Körper nicht ankam.

Er hob etwas sein Becken an um Schuldig es zu erleichtern, ihm seine Hose vom Körper zu ziehen.
 

„Quatsch! Notstand“, entrüstete sich Schuldig und half Ran dabei sich zu entkleiden. „Du wohl nicht, was?“, murmelte er spielerisch angesäuert und hob vielsagend die rechte Braue. „Oder hast du dich anderweitig beholfen? Der Blondling war ja schließlich auf Tuchfühlung in der Nähe, hmm?“

Na sicher war er eifersüchtig! Die Frage konnte er beantworten, ohne dass sie jemand stellte und es gehörte sich zum guten Ton in einer Beziehung – sprach der langjährig Erfahrene – so zu tun als ob.
 

"Ja, war er", lächelte Aya vielsagend, schüttelte dann jedoch den Kopf.

"Aber keine Sorge, ich habe genauso großen Notstand wie du auch. Allerdings wird der etwas warten müssen. Solange, bis mir nicht mehr schlecht ist und ich meine Körperteile ohne Schmerzen bewegen kann. Aber das halten wir aus", befand er mit einem prüfenden Blick zu dem Übeltäter etwas unterhalb von Schuldigs Körpermitte.

"Außerdem...als wenn Youji das Risiko eingehen würde, sich von mir flachlegen zu lassen, wenn er nachher von dir dafür gegrillt wird, du eifersüchtiges Zackelschaf." Aya sparte sich das Lächeln, weil es wehtat, doch seine Augen funkelten verschmitzt.
 

„Eifersüchtig… klar! Und du etwa nicht oder?“, verharmloste Schuldig die Situation in bester Manier. Schließlich hatten sie nicht gerade noch vor wenigen Augenblicken über das Problem Crawford gesprochen. Nein… das war eine Illusion gewesen, ein Tagtraum.

„Na, so sicher war ich mir da nicht, ob du nicht doch blond statt rot bevorzugst zu dem Zeitpunkt“, gab Schuldig zu bedenken und ließ die Mundwinkel kollektiv sinken.
 

"Wenn du so weiter machst, bewahrheitet sich deine Behauptung, mein Lieber, und zwar schneller, als du es für möglich gehalten hast", grollte Aya und machte vorsichtig die Dusche an, bevor er ebenso behutsam unter den warmen Strahl stellte, immer darauf bedacht, dass die Verbände und Klebestrips in seinem Gesicht nicht in Kontakt mit dem Wasser kamen.
 

"Natürlich bin ich AUCH darauf bedacht, dich nicht frei in der Weltgeschichte herum laufen zu lassen, mein Lieber. Wie du die Kellnerin damals in dem Restaurant angeflirtet hast, da muss man ja auch ein Auge auf dich haben."

Er blinzelte und langte nach dem Duschgel, verzog dabei jedoch unwirsch das Gesicht.

Diese verdammten Bastarde...zweimal in die Seite, die jetzt dunkelrot

schimmerte.
 

„Jetzt komm! Die Kellnerin zählt nicht, das war nur eine kleine Showeinlage zwecks abendlicher Unterhaltung!“

Schuldig baute sich vor der Dusche auf und besah sich Ran wie er sich wusch. Bis auf die roten Schimmer an einigen Stellen hatte er jeden Zentimeter dieses Körpers vermisst.

Doch er stand nicht untätig da, wollte er doch Ran in eines der vorgewärmten Handtücher wickeln wenn dieser aus der Dusche trat.
 

"Kleine Showeinlage?", schnaubte Aya nur zum Schein empört und wusch sich langsam den Schaum von seiner Haut. Er hatte Schuldigs Begutachten durchaus bemerkt, äußerte sich jedoch nicht dazu, weil er wusste, dass sie beide viel zu lange voneinander getrennt waren, um sich nicht gegenseitig mit Blicken auszuziehen – wenn sie nicht schon ausgezogen waren, hieß das.

"Außerdem muss ich mal anmerken, dass es ungerecht ist, mich schwer verletzten Mann nackt vor dir posieren zu lassem, während du mir keinen Anreiz bietest", grollte er und schaltete die Dusche ab, ließ sich von Schuldig in eines der wunderbar warmen, übergroßen Handtücher hüllen.
 

„Was heißt hier kein Anreiz!? Meine höchstselbste körperliche Anwesenheit reicht wohl nicht aus, hmm?“

Während er Ran in eines der Handtücher hüllte und es einmal um ihn herumwand zog Schuldig ihn nah an sich heran und kuschelte ihn behütend an sich. Der Schreck saß ihm noch in den Gliedern und ihm war noch immer nicht wohl dabei, wenn er daran dachte, wie er Ran in seinen Armen vorgefunden hatte. Die Tatsache, DASS er ihn überhaupt in seinen Armen hatte halten dürfen und der Mann nicht auf und davon war nach ihrem letzten ‚Gespräch’, spielte dabei zwar eine zweitrangige, aber dennoch eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Sein Gesicht schmiegte sich in die noch feuchte Halsbeuge und er genoss das zarte schutzlose Gefühl unter seiner Haut, dass nur ihm zustand, es für sich zu beanspruchen. Keiner durfte Ran ein Leid zufügen. Und wer immer es auch gewagt hatte … lange würde er dafür nicht ungeschoren davon kommen.
 

Aya seufzte und bettete seine Wange vorsichtig an Schuldig Haarschopf. Endlich war der andere Mann wieder da, endlich musste er sich nicht mehr darum sorgen, ob alles glatt ging…doch auch ihn plagten Zweifel.

So sehr er auch froh war, dass diese Männer schließlich abgezogen waren, so sehr wusste er gleichzeitig, dass sie eine Gefahr waren, immer noch. Und dass diese Gefahr unerkannt herumlief und noch einmal zuschlagen konnte…zuschlagen würde?

Aya schloss die Augen. Aber als wenn es nur das wäre…dieser Kuss zwischen Schuldig und Crawford war verstörend, denn daraus konnte sich mehr entwickeln, weit mehr, als die Beiden jetzt teilten und es könnte sich zu seinen Ungunsten entscheiden.

Schuldig könnte ihn wegen Crawford verlassen.

Ayas Augen flogen bei dem Gedanken ruckartig auf. Nein…soweit würde es nicht kommen, Crawford würde es nicht wagen, solch einen Keil zwischen sie zu treiben, oder? Allerdings hasste Crawford ihn, das wusste Aya. Warum sollte er es also nicht versuchen?
 

Es war still geworden in dem warmen Badezimmer. Schuldig glaubte den Grund dafür zu ahnen, wusste jedoch nicht, ob er etwas sagen sollte, oder ob er es dabei bewenden ließ. Sich vorzustellen, dass Ran diese Angelegenheit mit dem Kuss auf sich beruhen ließ, war angenehm aber auch sehr blauäugig.

„Worüber denkst du nach?“, murmelte er die Lippen an die warme Haut gebettet.
 

„Hmm…nichts Wichtiges.. Ich habe mich gerade gefragt, wer diese Männer sein können“, erwiderte Aya und bog seinen Kopf leicht nach hinten, damit er Schuldig in die Augen sehen und lächeln konnte. Natürlich würde er Crawford nicht mehr erwähnen, er wusste doch, wie Schuldig darauf reagierte, auch wenn zumindest für ihn die Anzeichen klar und dafür umso drückender waren. Zumal der Amerikaner auch schon einen Vorsprung von sieben oder sogar noch mehr Jahren hatte, was Schuldig anging.

„Und ich habe mir ausgemalt, wie du mich heute den ganzen Tag verwöhnst“, lenkte er das Thema wieder auf die spielerische Ebene um, damit sie nicht auf zu dunkle Gedanken kamen. Allerdings hatte die Vorstellung eines ihn umsorgenden Telepathen doch etwas Angenehmes.
 

„Das hast du dir also ausgemalt, soso…“, grübelte Schuldig laut, als müsse er sich dieses schwierige Unterfangen zunächst noch gut überlegen, bevor er es in Angriff nahm.

„Wenn das so ist, dann husch mit dir auf die Couch, die ist sicher bequemer als die Kuschelecke und ich mach dir einen kleinen Imbiss“, vielmehr einen Großen, aber das musste er ja nicht so offenkundig herausposaunen, schließlich wollte er die Pferde nicht scheu machen. „Aber zuerst kommen die unangenehmen Dinge!“
 

Er löste sich von Ran und besah sich die Utensilien in dem Verbandskoffer, zog schlussendlich eine kühlende Salbe hervor. „Ich trag noch diese Salbe auf, sie kühlt und verhindert, dass die Haut spannt, wenn diese Blutergüsse schillernd erblühen“, verzog er die Lippen bedauernd und rupfte leicht an dem Badetuch, damit Ran mit ihm zur Bank kam. Er setzte sich darauf und positionierte Ran vor sich, löste langsam das Tuch ab. Eine gute Gelegenheit um unvorsichtigerweise Ran mit seinem Arm im unteren Bereich des Bauches zu berühren. Er drehte ihn seitlich und öffnete die Tube.
 

„Na was freue ich mich jetzt schon darauf…“, sagte Aya mit hoch erhobener Augenbraue und sah auf Schuldig hinab, zwischen dessen Beinen er nackt, wie er auf die Welt gekommen war, stand und sich dessen Tätigkeit besah, auch wenn er wusste, dass er nicht mehr lange stehen konnte. Warum zum Teufel wurden die Schmerzen im Nachhinein eigentlich immer schlimmer und nicht besser?

Aber da er ja weder aus Zucker noch eine Memme war, würde er es männlich stoisch ertragen. Vielleicht sollte er schlafen gehen, es zumindest nochmal versuchen, oder sich auf die Couch legen.

Vielleicht…

Ayas zweite Augenbraue hob sich, als er sich Schuldig noch einmal genauer betrachtete.

„Was wird das, wenn’s fertig ist? Willst du mich heiß machen?“
 

„Nie! Bist du irre?“ Schuldig gab sich entrüstet, mit einem Quäntchen Missmutigkeit, schließlich … was nutzte ihm ein heißer Ran wenn … er nicht durfte …oder konnte…

„Ich kann dich so besser eincremen, das Zeug soll ja einziehen, die ganze Flanke ist überwärmt und dunkelrot. Teile von deiner Hüfte auch. Diese Bastarde haben dich ordentlich erwischt“, murmelte er, den Witz aus seiner Stimme getilgt. Er bemerkte, wie angespannt Rans Gesäßmuskulatur war als er den Hüftknochen vorsichtig bestrich. „Nur noch einen Moment, dann hol ich dir deine Wohlfühlklamotten, ja Honey?“

Sein Gesicht drückte Sorge aus und er platzierte einen sanften Kuss auf die Kuhle unterhalb des Hüftknochens.
 

„Hey…“, murmelte Aya und strich Schuldig durch die lange Mähne. „Ich lebe ja noch…kein Grund, so besorgt zu sein, Schuldig!“ Er lächelte etwas gequält. Ein Blick auf seine Haut genügte, damit er den Schmerz wiederfand, der penetrant dumpf unter der Haut pochte und ihn langsam doch wahnsinnig werden ließ.

Seine Arme umschlagen den Kopf des Deutschen und zogen ihn vorsichtig an seinen Körper, als er einen Kuss auf das feuerrote Haar schmatzte.
 

„Das letzte Mal als du so derangiert warst… na da waren wir wenigstens am Werk gewesen und es diente zumindest deinem Schutz, aber das heute… fremde gemeine Pfoten an meinem Blumenkind?“, schnaubte er an Rans Haut und pustete kleine Luftwirbel darauf.

Er hatte Angst um ihn. Er konnte gar nicht oft genug daran denken, wie gut es doch war, Jei auf Ran angesetzt zu haben. Und doch …

Langsam drehte er den Kopf und blickte nach oben. „Ich komm gleich, ich hol dir nur was zum Anziehen“

Er löste sich und stand auf, küsste Ran auf die Stirn und machte sich zum Kleiderschrank auf.
 

„Zu meinem Schutz…ja“, murmelte Aya und schnaubte. Seine Gedanken wanderten zurück zu weniger erfreulichen Erinnerungen, die er mit Schuldig teilte. Denn auch wenn dieser es im Spaß gesagt hatte, so wusste Aya um die Verzweiflung und das Chaos in den Wochen vor Ayas Tod. Und um seine Angst, seine Schwester verlieren zu können, wenn Kritiker herausfanden, was es mit Schuldig auf sich hatte. Was auch nicht zu vergessen war: die Prügel, die er von Crawford bezogen hatte, seine Wut in dem Moment, die Demütigung über diesen Angriff, seine Verzweiflung, dass er doch Schuldig töten müsse…all das machte es ihm schwer, sich mit Humor daran zu erinnern, unmöglich eigentlich.

In Gedanken versunken ließ er sich auf die Bank sinken und fröstelte. Es war kalt hier in der Wohnung.
 

Währenddessen suchte Schuldig eine weiche bequeme graue Hose und das dazugehörige Oberteil aus dem Schrank, richtete danach Ran ein bequemes Kissen und Deckenlager auf der Couch ein. Mit seiner Beute im Arm kehrte er zu Ran ins Bad zurück. „Komm zieh dir was an und auf die Couch mit dir.“
 

Aya nahm Schuldig die Kleidungsstücke aus der Hand und streifte sie sich im Sitzen über. Er verzog das Gesicht, als er die Arme über seinen Kopf strecken musste und zischte leise, als das Oberteil nun endlich herabfiel. So saß er jetzt auf der Bank und starrte frustriert zu Schuldig hoch, der immer noch pochende Schmerz als scheinbar stetiges Hintergrundmurmeln in seinem Körper.
 

Schuldig assistierte Ran mit dem Oberteil und ebenso verfuhr er rasch mit den dicken weichen Socken. „Soll ich dich auf den Rücken nehmen?“, fragte Schuldig neckend mit einem lausbubenhaften Grinsen im Gesicht.
 

„Elender Sadist!“, rümpfte Aya so würdevoll, wie es noch ging, seine Nase und kämpfte sich mit einer Hand in Schuldigs Oberarm verkrampft hoch. Er konnte noch selbst laufen und würde es auch bis zur Couch schaffen! Schließlich war er nicht todkrank und diese paar Hämatome würden ihn schon nicht umbringen, geschweige denn lahm legen.

Er stemmte sich von dem Telepathen ab und schlurfte in Richtung Wohnzimmer, eine Hand auf der selbst durch den Stoff noch heißen Haut seiner Seite und peinlich darauf bedacht, seinen Körper auf die andere Seite auszubalancieren.
 

„Hey! Das ist gemein“, rief besagter Sadist dem ‚davoneilenden’ Masochisten hinterher. Er ging in die Küchenzeile und öffnete einen Schrank auf der Suche nach guten Schmerzmitteln und fand sie auch sogleich. Zwei Tabletten davon und Ran war in Hochstimmung…

Aus dem Kühlschrank holte er zwei Eispacks und wickelte sie in Tücher ein. Ein Glas Wasser komplettierte die Ansammlung kleiner Helferlein gegen den Schmerz und Schuldig kam zu Ran der sich vorsichtig auf der Couch zurechtruckelte.
 

„Tja….zwei Sadisten unter sich“, grunzte Aya, als er die am wenigsten schmerzintensivste Position gefunden hatte und bereits nach einer Decke angelte, die ihm etwas Wärme spenden sollte.

Er sah zu Schuldig hoch und nahm dankbar die Tabletten und das Glas Wasser entgegen, schluckte beides in Rekordzeit - jedoch in vorsichtiger Rekordzeit - denn seinen Mund bekam er nicht halb so weit auf, wie er zunächst gedacht hatte. Wunderbar…dann war das Essen für die nächsten Stunden auch gegessen, oder je nachdem, wie lange es anhielt.

„Machst du mir gleich auch noch meinen Tee? Du weiß schon…DEN Tee?“, fragte er mit großen Augen in Richtung Krankenpfleger.
 

„Oh“, brachte Schuldig gerade so heraus und starrte in diese hypnotisierenden großen, alles sagenden Augen.

Shit.

Da war sie: Rans Geheimwaffe. Hoher Niedlichkeitsfaktor. Seltenheitswert von einer Skala von null bis zehn. Minus eins!

Shit, er war verloren.

Wenn er diese verfluchten Bastarde erwischte, die ihm einen kranken Ran aufgebürdet hatten… Die würden nie wieder irgendeinen Atemzug tätigen. Keinen einzigen. Nicht mal einen winzigen…

Er lächelte tapfer und nickt und machte sich dienstbeflissen auf, um dem Erwünschten nachzukommen.
 

Aya seufzte dankbar und sah dem anderen Mann voller Zuneigung hinterher. Alleine schon dessen wechselnder Gesichtsausdruck hatte Bände gesprochen. Bände von Rachdurst, von Ergebenheit, von Mut…und davon, dass er einfach zu gut wusste, wie er Schuldig kriegen konnte.

Aber wer war er, dass er dem anderen Mann keine ‚Belohnung’ für das gab, was er tat. Die Frage war nur wie…so unwohl ihm momentan war. Außerdem hatten sie keinen Sex gehabt und er war nicht annähernd so entspannt, dass die Barrieren um seinen Geist einfach so nachgeben würden.

Aber es musste da doch noch einen anderen Weg geben, oder? Was könnte er sich dennoch zu Nutze machen, dass er Schuldig zu sich locken konnte?

Die Lippen unwirsch verzogen, heftete sich sein Blick auf den Rücken des anderen Mannes und wieder durchfuhr ihn ein freudiger Schauer, dass Schuldig wieder da war…bei IHM war.

Aya lächelte und kultivierte eben diese Freude weiter in sich. Er ließ sowohl Vorfreude, als auch schöne Erinnerungen mit einfließen und stellte sich vor, als würde er sie sowohl stetig, als auch geballt zu Schuldig schicken, als würde er den anderen Mann mit diesem feinen Nebel einhüllen und zu sich ziehen.

Innerlich zweifelte er zwar noch immer an seinem Vorhaben, aber einen Versuch war es wohl wert.
 

Doch Schuldig war zu sehr in Gedanken darin vertieft, warum es zu diesem Angriff gekommen war und wie er Ähnliches in Zukunft verhindern konnte.

Er kam mit dem gewünschten Tee zurück, stellte die filigrane Tasse auf den Tisch ab und setzte sich zu seinem kranken Ran, korrigierte den Sitz des Eispacks nach und zog fürsorglich die Decke hoch. „Ruh dich aus.“

Sich neben Ran setzend und diesen seitlich an seine Brust dirigierend nahm er die Fernbedienung zur Hand und schaltete die automatischen Rollos ein, senkte sie zur Hälfte herab, sodass es nicht zu hell wurde und Ran ausruhen konnte.
 

Aya seufzte leise und sah Schuldig in das abgewandte Profil. Anscheinend funktionierte dieser Weg nicht…ansonsten hätte sich der Telepath doch schon längst bemerkbar gemacht, oder? Skeptisch runzelte er die Stirn und machte es sich so bequem wie möglich. Müde schloss er die Augen.

Gut…dann musste Schuldigs Belohnung eben noch warten, bis sie wieder dazu kamen, sich so dermaßen körperlich zu verausgaben, dass die Barrieren von alleine nachgaben.

Nach einer Weile jedoch erinnerte er sich an seinen Tee und angelte ihn sich mit der ausgestreckten Hand, nahm einen kleinen Schluck des bitteren Gebräus. Wenigstens hatte sein Magen damit etwas zu tun.
 

„Ich werde später Banshee holen, du kannst noch etwas schlafen, wenn du möchtest. Bin sicher bald zurück, wird nicht lange dauern.“ Einmal abgesehen vom Verkehr und der kleinen Unterredung, die er mit Jei zu tätigen hatte.
 

„Hmm“, entgegnete Aya aufschlussreich und starrte auf die sich seicht bewegende Oberfläche seines Tees, den er gerade hin und herschwenkte. „Ich komme mit. Ich habe meine Sachen noch dort.“
 

Woher hatte Schuldig nun gewusst, dass Ran mitkommen wollte? Er verzog seine Lippen ungesehen von Ran skeptisch resignierend was seinem Gesicht einen unwilligen Ausdruck gab. „Warum? Ich kann sie doch mitbringen…“, grübelte Schuldig.

„Es geht dir …noch nicht wirklich gut, ein wenig Ruhe wäre doch nicht schlecht oder?“

Er musste das geschickt anstellen, wenn er Ran erzählte, dass er beschissen aussah und dass es besser wäre, er würde zuhause bleiben…

…nein ganz schlechte Idee…
 

„Die Ruhe kann ich auch danach noch bekommen, Schuldig“, hielt Aya prompt dagegen.

„Außerdem lässt du dir Banshee garantiert von Farfarello abschwatzen oder du findest sie nicht. Ich kann sie da besser suchen, ich weiß, wo sie sich verstecken könnte.“

Der Tee verlor nach und nach an Interessantheitsgrad und Aya hielt den ihn schier hypnotisierenden Iriden stand, die ihn beschwören wollten, hier zu bleiben.

„Ich bin nicht bettlägerig, Schuldig“, murrte er. „Das sind nur ein paar Hämatome.“
 

Das schmeckte Schuldig nicht wirklich. Er wollte, dass Ran sich ausruhte und …hier in der sicheren Wohnung blieb. Nicht genau wissend, warum er so überbesorgt war, seufzte er nachgebend. „Ja, sicher. Aber hey… Jei könnte niemandem irgendetwas abschwatzen, dazu fehlt ihm der egoistische Trieb, fürchte ich.“

Durch Rans Haar schnuffelnd, welches an der Schläfe noch etwas mit Blut verklebt war und ihn stutzen ließ, murmelte er lediglich bedauernd: „Schade, dass du nicht ans Bett gefesselt bist… natürlich nur im übertragenen Sinne“, fügte er schnell hinzu, lächelte dabei aber verschlagen.
 

Dieses Grinsen verdiente einen ordentlichen Kneifer in die Seite des unverschämten Telepathen, aber keinesfalls einen Kommentar von Aya. Als wenn…als wenn Schuldig jemals in den Genuss dieser Ansicht kommen würde…jemals wieder.

„Ich kenn doch deine Weichherzigkeit, mein Lieber. Wenn du Farfarello…Jei“, benutzte Aya zum ersten Mal den wirklichen Namen des Iren, weil er sich seltsam vergangenheitsverbunden fühlte, den alten auszusprechen, „mit Banshee auf dem Arm siehst und die Beiden dich unisono anschauen, dann lässt du sie da, ich kenne dich. Ergo komme ich mit.“
 

Schuldig schmiegte sich enger an den Mann heran und kitzelte mit seiner Nase in Rans Nacken herum, pustete die kleinen Härchen dort auf, als ginge es hier darum den Geruch des anderen, jede Einzelheit sich wieder ins Gedächtnis zu rufen. „Ich bin gar nicht weichherzig… du spinnst ja, Blödmann“, grummelte Schuldig und drückte seine Zähne sanft in die weiche unversehrte Haut. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich Banshee zurücklasse und ohne sie hier ankomme, damit ich mir von dir eine Predigt anhören darf. Ich bin doch nicht bescheuert! Mein Selbsterhaltungstrieb ist stark ausgeprägt und … meine Gier nach dir auch… deine Sanktionen kann ich mir schon vorstellen, wenn es dann heißt: solange Banshee nicht da ist, gibt’s keinen Sex oder Ähnliches“, schnaubte er.
 

„Das hast du richtig erfasst!“, stimmte Aya diesen nicht ganz so unrealistischen Vermutungen zu und versuchte sich an einem teuflischen Lächeln, das vermutlich nicht halb so böse aussah, wie er es geplant hatte.

Er zischte leise, aber nicht vor Schmerz und schauderte ob der nur allzu sinnlichen Reizung. Seine Lippen suchten den Teil des Mannes, dem sie habhaft werden konnten und erwiderten etwas dieses Wohlgefühls.

„Aber damit du nicht als strahlender Verlierer nach Hause kommst, begleite ich dich und gebe dir Rückendeckung. Außerdem langweile ich mich nur, wenn du nicht da bist und denkst du allen Ernstes, ich würde dich nach zwei Wochen auch nur eine Minute aus den Augen lassen?“
 

Dies gab den Anstoß zu einem sanften Lächeln auf Schuldigs Gesicht und einem sanften Kuss, den er auf Rans Lippen platzierte. „Nein, das denke ich keine Sekunde lang“, raunte er zwischen den sinnlichen Berührungen ihrer Lippen. Er wandte seine Gedanken Ran zu, umschlich dessen Geist wie ein Dieb, der eine lohnende Beute auskundschaftete.
 

„Na siehst du, da sind wir uns einig“, murmelte Aya und schloss vorsichtig seine Lippen, die er minimal für Schuldig geöffnet hatte. Mehr ging im Moment nicht, vermutlich noch für die nächsten drei Tage nicht. Aber dann…konnte sich Schuldig warm anziehen. Vielmehr dessen anziehender Hintern.
 

Schuldig entfernte sich etwas und legte das heruntergerutschte Eis auf Rans Kiefer zurück. „Erzähl mal, was habt ihr also alles getrieben … ihr drei?“, fragte er nach dem Besuch des Blonden.
 

Der rothaarige Japaner schmunzelte. Schuldig schien dieses Thema nicht loszulassen, so geschickt ihn der Telepath auch immer wieder ablenkte und dann darauf zurückkam.

„Was sollen wir drei schon getrieben haben, so ganz alleine in dem großen Haus…in dem Pool oder in diesem herrlich großen Wohnzimmer vorm Kamin?“, fragte er unschuldig.

„Was drei erwachsene Männer eben so machen, wenn sie scharf und zu dritt sind. Ich sage dir, es war sehr…prickelnd.“ Und wie er da mit dem Teufel spielte, der hier neben ihm saß und in dessen Augen er nun schaute.
 

„Ra~an“, quengelte Schuldig nicht wissend, wie er darauf reagieren sollte. Schließlich fand er es gar nicht lustig, dass der Blonde so nah an seinen Ran gekommen war. „Im Übrigen kannst du Jei gleich von der Liste streichen, für solche Spaßhaftigkeiten ist er nicht sehr empfänglich.“

Dennoch arbeitete es hinter seiner Stirn und die weiche Haut seiner Innenlippe wurde im Zuge der regen Gedanken malträtiert. Was wenn Ran und der Blonde alte Zeiten wieder aufleben hatten lassen?

Quatsch, haben sie nicht. Ran ist nur dein und hör auf mit diesen Eifersüchteleien, das ist Unsinn, mahnte ihn da eine andere Stimme. Dennoch … eigentlich würden die beiden viel besser zusammenpassen und warum sollte Ran das Schwierige dem Einfachen vorziehen? Scham wegen seiner Eifersucht und auch Zweifel fraßen hinter seiner Stirn die Rationalität dahinter auf.
 

Aya brauchte wirklich kein Telepath zu sein um zu wissen, was just in diesem Augenblick in Schuldigs Gedanken vor sich ging, die quasi in klar verständlichen Rauchzeichen über seinem Kopf aufgingen und sich in jedem Muskel des Gesichts einprägten.

Er richtete sich etwas auf. „Du denkst also, ich würde warten, bis du im Ausland bist, mir keine zwei Tage später Youji in das Anwesen von Schwarz holen und es mit ihm auf der Couch im Wohnzimmer treiben?“, fragte er schließlich schlicht.
 

„Nein! Übertreibs doch nicht gleich so“, verzog er den Mund missmutig. „Aber … du könntest dir deine Gedanken gemacht haben und naja ich weiß nicht, ihr könntet ja gekuschelt haben oder euch geküsst haben… das fände ich auch nicht so … ansprechend“, gelinde gesagt. Er fand es ätzend, andere Finger auf der Haut seines Mannes … wie das klang… zu wissen.
 

„Schuldig, wir HABEN gekuschelt“, erwiderte Aya ernst.

„Wir hatten keinen Sex, wir haben uns nicht geküsst, aber wir sind Arm in Arm eingeschlafen. Wir haben auf der Couch gesessen und gekuschelt, wie wir das früher oft gemacht haben. Das ändert aber nichts an meinen Gefühlen zu dir, Schuldig, verstehst du das? Es ist Youji, ein Freund, mit dem ich öfter Sex hatte. Nichts weiter. Nur Sex, ohne Bindungen. Da ist nicht mehr.

Youji hat mir damals aus vielem herausgeholfen…unter anderem auch aus Miseren mit euch. Wir haben eine starke Bindung zueinander - auf freundschaftlicher Ebene. Ich möchte diese Bindung nicht missen.

Was gefällt dir nicht daran? Schließlich bin ich hier, nicht bei ihm. Warum wohl?“
 

Bereits bereuend, dass er etwas gesagt hatte sah Schuldig zur Seite. Was fehlte denn noch zwischen einem freundschaftlichen Gefühl, experimentierfreudigem Sex und jemandem, der einem gelegentlich aus größeren Katastrophen heraushalf. Band ihn da nicht mehr an den anderen als an Schuldig? Die Frage war wohl mehr mit ja als mit nein zu beantworten.

Er wusste von dem Blonden ja, was sie alles durchgestanden hatten und dass sie mehr verband, aber eben deshalb war dieses Band auch so schwer zu überwinden. Warum versuchte er es denn auch? Zwecklos.

„Klar, kein Problem“, lächelte er und nickte. Was sollte er sagen? Er sollte dieses Thema einfach nicht ansprechen. Deshalb war er zwar nicht weniger eifersüchtig, aber damit musste er wohl leben.
 

„Sicher. Deswegen siehst du auch so aus, als würdest du dich gleich von der Terrasse stürzen“, stellte Aya ruhig fest. Wie gut, dass er vor Schuldig lag und der andere Mann nicht einfach so von der Couch konnte. „Es GIBT ein Problem. Was für eins?“
 

Scheiße. Scheiße. Scheiße. Warum konnte er nicht so gut bluffen wie Brad wenn es um solche Unterhaltungen ging? Aber dass er so sehr seine Gefühle auf seinem Gesicht zur Schau trug, war ihm früher nicht so vorgekommen.

„Keine Ahnung“, wand sich Schuldig, wie der sprichwörtliche Wurm am Angelhaken. „Ihr teilt so viel… das kann ich nie aufholen. Nie.“

Ganz im Gegenteil er musste eher darum kämpfen, dass es auf diesem schmalen Grat blieb, auf dem er jetzt wandelte. Erst vor wenigen Tagen waren wieder Zweifel aufgekommen.
 

„Das sollst du auch nicht. Denn was wir teilen, ist anders als das, was ich mit Youji habe. Ihr seid zwei verschiedene Arten von Menschen mit zwei verschiedenen Wegen, die zu mir führen. Das heißt aber nicht, dass der eine kürzer, oder der andere länger ist, deiner länger, weil du noch mehr aufzuholen hast, Youjis kürzer, weil er mir in den Hintern getreten hat, als ich mich aufgegeben hatte, und drei Jahre Vorsprung hat. Das stimmt nicht. Er hat sich eben das letzte Stück auf seinem Weg eine Bank gesucht und betrachtet sich von dort aus die Landschaft, während du weiter Richtung Ziel aufgebrochen bist.“

Aya lächelte und strich Schuldig eine der Haarsträhnen zurück, die ihm ins Gesicht gefallen waren.
 

„Amen“, ließ Schuldig diese Standpauke über sich ergehen und sah Ran schuldbewusst – zumindest ein kleines Bisschen – an. „Mal gucken, ob ich dort ankomme“, sagte er mit leiser Stimme und schmunzelte.
 

„Glaub mir Schuldig, wenn es mir nicht so wehtun würde, würde ich dir in den Hintern treten, aber ordentlich. Mehrmals.“ Aber es tat Aya gut zu sehen, dass Schuldig wenigstens wieder lächeln konnte.

„Was ist aus dem großkotzigen ‚Mir liegt die Welt zu Füßen!’-Schuldig geworden, der sich genommen hat, was er wollte, auch wenn das Etwas zu dem Zeitpunkt nicht wollte, hm? Nicht, dass ich mir genau DEN Schuldig zurückwünsche, aber…du solltest deinen Einfluss nicht unterschätzen. Und deinen Charme.“
 

„Also, erstens… würdest du mir also eher in den Hintern treten als ihn zu ficken?!

Und zweitens… du stehst also auf Machos, hmm, hmm? Können wir gleich ändern! Du bleibst zuhause und hütest den Herd!“ Schuldig grinste über das ganze Gesicht. „Außerdem liegt mir die Welt auch zu Füßen, nur bei dir muss ich ständig ackern.“
 

„Richtig, da ich auch nicht die Welt bin. Und da ich auf Machoärsche stehe, denen ich in den Hintern treten kann, bevor ich sie ficke, kannst du das den Herd hüten mal glatt vergessen, mein Lieber“, lächelte Aya charmant wie immer und knuffte Schuldig in die Seite.
 

„Na schön, für heute vergess ich’s mal.“

Schuldig mimte den Schwerverletzten und röchelte pflichtschuldigst. „Mach nur so weiter und Brad glaubt, dass wir uns geprügelt haben, wenn ich mit lauter blauen Flecken ankomme!“
 

„Danke! Dann wird er dir wahrscheinlich noch auf die Schulter klopfen und sagen, dass du deinem Loverboy mal ordentlich den Marsch geblasen und ihm die Leviten gelesen hast…oder wie hat er sich damals ausgedrückt hat: das Mundwerk gestopft hast“, spöttelte Aya. „Und bei dir wird er dann Kriegsnarben sagen! Oder dass dus verdient hast!“
 

„Idiot“, senkte Schuldig seine Lider auf Halbmast und nur langsam stahl sich seine Zunge zu einer kleinen Demonstration heraus, nur um danach schnell wieder den Rückzug anzutreten.

Schade, dass Ran gehandicapt war, somit konnte er sich jetzt nicht mit ihm balgen. Zu schade war das, so musste er sich mit gemeinen Verbalitäten und einem Zungeherausstrecken begnügen.
 

„Ich wette mit dir, dass es so ablaufen wird“, meckerte Aya und seufzte. Er lehnte sich vorsichtig an Schuldig und schloss seine Augen. So sehr ihn dieses Geplänkel auch abgelenkt hatte, so wenig konnte er diesen dumpfen, unangenehmen, wenn auch nicht mehr stechenden Schmerz ertragen. Vielleicht sollte er ein wenig ruhen. Nur ein wenig, aber nicht zu intensiv, denn sonst war Schuldig weg, wenn er aufwachte.
 

„Wetten?“, tönte Schuldig und zog Ran wieder mehr in seine Arme. „Komm, leg dich her und ich erzähl dir ein kleines Märchen vom gestiefelten Wettkönig …äh Kater wollte ich sagen … und du schlummerst etwas, hmm? Klingt doch verlockend, oder?“
 

„Klingt sehr verlockend“, murmelte Aya und lächelte, stemmte sich jedoch etwas hoch. „Zieh den Pullover aus.“
 

Misstrauisch stutzte Schuldig. „Warum? Du brauchst Ruhe! Auch wenn ich das schlimm finde und…“, aber Ran zerrte bereits an seiner Kleidung und Schuldig half ihm nach, zog schlussendlich das Stück Stoff über seinen Kopf und sah danach aus wie ein Wischmopp, dachte er und wischte sich nun tatsächlich die Haare aus dem Gesicht.
 

Na das war doch ganz nach seinem Geschmack! Aya betrachtete sich den anderen Mann und griff sich schließlich sein kostbares Gut. Geschickt drehte er die Ärmel zu einem relativ dünnen Stück Stoff und wand es um Schuldigs linkes Handgelenk, schließlich um sein eigenes, rechtes. Er zurrte es fest und sah hoch, lächelte Schuldig in die Augen, während er ihm mit der noch freien Hand die Haare aus dem Gesicht strich.

„Du denkst doch nicht wirklich, dass du dich davon stehlen kannst, während ich schlafe, oder, Schuldig?“, fragte er leicht grinsend.
 

„Du hast ja eine blühende Fantasie!“

Schuldig sah sich diese Pseudofessel an, die ihn nicht wirklich vom Wegschleichen abhalten konnte, doch er nickte wenn auch demonstrativ gelangweilt.

„Nein nein, das werde ich nicht, nachdem ich jetzt sooo fest gefesselt bin“, sah er Ran skeptisch lächelnd an.
 

„Da ich zu faul bin um ins Bad zu laufen, um den Gürtel zu holen, wird es wohl dabei bleiben…verwöhnter Bastard. Aber so bekomme ich wenigstens MIT, wenn du versuchst, aufzustehen. Und was meinst du, wer dir dann nachfahren wird? Auf deinem Motorrad? Hm? Und jetzt leg dich bequem hin, ich möchte etwas schlafen!“, bestimmte Aya hochnäsig und kuschelte sich an Schuldigs Seite ein.
 

Oha, da war aber jemand in seinem Können nicht gebührend gewürdigt worden, sonst würde derjenige wohl nicht das kleine Böcklein …wahlweise Zicklein heraushängen lassen, das sich gerade in seiner Armbeuge verschanzte…

Schuldig lachte und schloss ebenfalls die Augen, Rans Eisbeutel sicher an Ort und Stelle auf dessen Kiefer haltend.
 

o~
 

Aya konnte nicht sagen, dass es ihm wirklich besser ging, als er gegen Mittag aus seinem unruhigen Schlaf aufgewacht war und festgestellt hatte, dass Schuldig sich doch nicht davon gestohlen hatte, wie er es erst…herumprotzen musste. Aber gut. Es war ja nicht so, als würde sich der Telepath nicht um ihn kümmern - nein, ihn bemuttern und umsorgen. Ganz im Gegenteil. Er hatte die Stunden bis zum Spätnachmittag in reger Pflege und Aufmerksamkeit verbracht, bis er Schuldig dann dazu hatte bewegen können, sie beide aufzurichten und anzuziehen.

Aya selbst fühlte sich diesig und wenig dazu in der Lage, jetzt noch große Sprünge zu machen, doch er wollte mit und schluckte so den Schmerz herunter, der ihn angespannt im Beifahrersitz neben Schuldig sitzen ließ, während sie zum Schwarzschen Anwesen fuhren.

„Sind wir gleich da?“, fragte Aya und lächelte…erinnerte sich, wie Schuldig diese Frage gestellt hatte.
 

„Hey! Nachquengeln gibt’s nicht! Überleg dir was Eigenes“, ereiferte sich Schuldig und schmollte in kindlicher Manier. Seine Hand fand Rans Oberschenkel und legte sich versichernd darauf. „Wir brauchen nicht lange, dann sind wir wieder raus.“
 

Etwas Eigenes also? Aya seufzte und fuhr sich über den weichen, hochgeschlossenen Mantel, der gerade mal sein Gesicht enthüllte, mehr aber nicht, was auch schon bei weitem genug war.

Also…mal sehen, was konnte es denn geben? Aya wandte seinen Blick zur Seite, starrte Schuldig durchdringend in das auf die Straße fixierte Profil.

„Papa Schuldig“, fiepte er jammernd und klagend und sowieso war er der Ärmste und Geschundenste überhaupt… „Ich muss poppen!“, wehklagte er in bester Kleinkindmanier und in Windeseile schnellte seine Hand hervor, in den Schoß des anderen Mannes und drückte zu. „Ganz ganz dringend!“
 

„Unterstellst du mir hier, auf kleine Kinder zu stehen?“, keuchte Schuldig und hatte schon wie er die Hand im Anflug gesehen hatte das Lenkrad fester gefasst.

„Na warte … wenn wir zuhause sind…. Dann blüht dir was… krank hin oder her…!“
 

Ayas Hand verlor etwas ihrer Stärke und griff nun eher schmeichelnd in das Gemächt des anderen Mannes…massierte mit geschickter Hand das kleine Vögelchen. „So? Dann musst du aber noch lange warten, bis dein Hintern beansprucht wird, mein Lieber“, gurrte Aya und legte ein Schmollen auf, dass jedes Kleinkind neidisch gemacht hätte, während seine Finger über den Stoff der Hose tanzten.

„Aber nein, ich unterstelle dir das nicht. Das ist nur ein persönlicher Kink von mir…was dagegen, wenn ich dich ab jetzt immer so nenne, Daddy Schu?“ Es waren die Schmerztabletten, ganz sicher…oder sie hatten gestern seinen Kopf getroffen.
 

„Untersteh dich…obwohl“, tauchte sein legendäres Grinsen auf und das dazu passende Glitzern in den Augen. „Dann bekommst du aber den passenden Namen dazu.“

So etwas wie … chibi… genau!, dachte er und grinste vor sich hin.
 

Und so schnell verließ die emsige Hand das Gemächt und bettete sich brav auf den Oberschenkel. „Oh…ich wusste gar nicht, dass du SO abstinent leben willst, die nächsten Wochen…Monate“, lächelte Aya vor sich hin.
 

„Von wegen, schließlich hast du mit dem ganzen angefangen!“, zischte Schuldig in Anbetracht der fehlenden Hand in seinem Schritt, die ihn so umsorgt und… versorgt hätte. Er hatte Notstand, ja und er hatte sich zusammengerissen…auch wahr und ja zum Teufel … er war besorgt gewesen und er hatte sich erschreckt. Aber jetzt war alles wieder gut und er war scharf auf Ran…

Heute Abend… ganz sicher… egal wie… er würde etwas bekommen!

Finstere Pläne ausmalend, lächelte er still vor sich hin und stellte sich Ran vor, wie er sich der unteren, unverletzten Regionen zuwandte und sich um sie kümmerte.
 

Aya besah sich das kommende Drama von der Seite und hob leicht eine Augenbraue. "Meinst du nicht auch, dass man dir in letzter Zeit etwas zu deutlich ansehen kann, was in deinem hübschen Kopf vorgeht?", mutmaßte er.

"Du hast die Worte Sex, Ran begatten und nochmal Sex quasi auf deiner Stirn stehen."

Nicht, dass es ihm da anders ging, nur ihm stand es eben nicht ins Gesicht geschrieben. Er zehrte tief in sich selbst von dem Verlangen nach Schuldig und wusste nicht, ob dieses heute Abend gestillt werden konnte, wenn das so weiter ging; es sei denn, er nahm bald erneut zwei von den Schmerztabletten und hoffte darauf, dass sie wirkten. Obwohl das vermutlich jetzt auch schon zu spät war, so nachdrücklich war der Schmerz.
 

„In letzter Zeit…hast du mich überhaupt nicht gesehen“, hielt Schuldig dagegen. „Außerdem … kannst du vermutlich immer an meinem Gesicht ablesen, wenn ich scharf auf dich bin, was soll heute anders sein als sonst?“

Sie waren fast da und Schuldig schlug einen Umweg ein um ganz sicher vor etwaigen Verfolgern zu sein. Nur kein Risiko eingehen.
 

Aya kannte die Strecke noch von seinen Touren auf Schuldigs Motorrad und besah sich die kahle Landschaft hier draußen. Ja, eigentlich war nichts anders zu den anderen Malen. Schuldig trug das gleiche, vorfreudige Glitzern in seinen Augen, diese kindliche Verspieltheit mit einem Schuss an Verschlagenheit und Berechnung, die ihn eigentlich misstrauisch stimmen sollten, wenn er nicht wüsste, dass er nur Gutes daraus ziehen würde.

„Ich habe dich gestern Abend und heute gesehen, das reicht, um das sagen zu können“, erwiderte er schließlich. „Dass deine Haare noch nicht abstehen, ist auch alles. Obwohl…“ Er fuhr mit seiner Hand über die noch elektrische Mähne des Telepathen. „…wenn du weiter unten ebenso geladen bist, wie hier oben, muss es SEHR dringend sein.“
 

„Haha, sehr witzig“, nuschelte Schuldig angesäuert in seinen nicht vorhandenen Bart, höchstens Stoppeln und warf einen kleinen angefressenen Seitenblick zu seinem Folterknecht auf dem Beifahrersitz. Warts nur ab, Freundchen, sollte dieser Blick zum Teil aussagen, doch Schuldig steuerte keinen verbalen Satz zur Unterstützung bei.

Er lenkte den Wagen in die Einfahrt. Sie waren da.
 

Auch Aya schwieg geflissentlich auf diesen Blick, ließ es sich jedoch nicht nehmen, nach dem Aussteigen in einem unbeobachteten Moment über Schuldigs Hintern zu streichen, den er kurz bewunderte, bevor er sich - also ob nichts gewesen wäre - den alltäglichen Dingen widmete. Er zog seinen Kragen noch etwas weiter hoch und entlastete unauffällig die schmerzende Seite. Denn auch wenn man es ihm schon an seinem Gesicht ansah, dass er ordentlich etwas abbekommen hatte, so musste er nicht gleich wie ein Schild vor sich herumtragen, dass er anderweitig noch stärkere Schmerzen hatte.
 

Wie so oft öffnete Nagi die Tür und sein Blick glitt in einer fließenden Bewegung sofort zu Ran, wie Schuldig bemerkte. „Na Kleiner, alles im Lot?“
 

„Sicher“, sagte Nagi und trat beiseite um die Beiden hereinzulassen. „Ich habe gerade den Kamin angeworfen“, setzte er überflüssigerweise hinzu, was aber eher ein kleiner Wink zu Ran darstellen sollte es sich dort gemütlich zu machen.
 

„Wo ist Jei?“, fragte Schuldig geradeheraus.
 

„In seinem Zimmer. Wir sollen uns zu Brad bequemen, wenn ihr da seid.“
 

Aya nickte dem Jungen zu und trat nach Schuldig in das Haus, dessen Schlüssel er noch in der Jackentasche trug. Seltsam, wie vertraut und doch fremd das Haus war, jetzt, wo der Rest von Schwarz nach Japan zurückgekehrt war. Für zwei Wochen hatte es ihm wenig ausgemacht, hier zu wohnen, zu schlafen, zu essen. Nun fühlte er sich unwohl. Er wusste, dass er hier nicht hingehörte.

Sein Blick streifte durch die große Eingangshalle und blieb schlussendlich an Nagi hängen.

„Wo ist Banshee?“, fragte er durch die Schmerzen in seinem Mundwinkel bedingt leise und hätte sich am Liebsten in den Hintern getreten dafür. Besser, er hielt den Mund…dann war es auch nicht GANZ so deutlich, wie sehr ihn ein paar Schläge mitnahmen.
 

Nagi äußerte sich nicht zu den bereits dunkler werdenden, vor allem anschwellenden Partien in Rans Gesicht. „Wo wohl?“, schickte er die Frage zurück und ging in den Wohnraum.

„Sie hat sich passenden Ersatz erwählt.“
 

„Was kann schon passend sein?“, schnaubte Aya und folgte dem dunkelhaarigen Schopf. Kurz zog eine Vorstellung durch seine Gedanken, wie dieser junge Mann ein Kleid getragen hatte…doch er scheuchte dieses Bild ganz schnell wieder aus seinen Gedanken. Unnützer Ballast!

„Ist sie bei Jei?“, fragte er und ließ sich samt Mantel auf einem der Sessel im Wohnzimmer nieder.
 

Nagis Lippen zierten ein winziges Lächeln, während Schuldig sich mit einem „Bin kurz bei Jei“ verabschiedete.

„Deine verwöhnte Katze scheint sich mit Fußvolk nicht abgeben zu wollen. Meine Worte bezogen sich auf den Status des Anführers. Kaum, dass Besagter das Haus betreten hatte, haftete sich das Tier an ihn. Verwöhnt eben.“ Schulterzuckend ging Nagi in die Küche. „Möchtest du etwas zu trinken, während du wartest? Oder eher ein Schmerzmittel?“ Nagis Blick huschte über die Küchenzeile und fahndete bereits zu letzterem Gegenstand. Irgendwo hatten sie doch noch das gute Zeug…
 

Crawford?

Passender Ersatz?

Aya hoffte, dass Nagi das wirklich nur auf den Anführerstatus bezog und nicht auf etwaige charakterliche Ähnlichkeiten, denn die hatten sie ganz und gar nicht, hoffte er. Wusste er, denn wenn er wie Crawford war, würde er…nun, sich erschießen nicht, das war es sicherlich nicht wert.

Und Banshee die Verräterin! Jei war…in Ordnung. Aber Crawford, ausgerechnet ER? Das musste wirklich die Ähnlichkeit in der Stellung innerhalb des Teams sein.

Aya erhob sich und folgte dem jungen Telekineten in die Küche, vielmehr blieb er am Eingang stehen und verschränkte demonstrativ gelassen seine Arme. Soweit würde es noch kommen, dass er Schmerzmittel annahm.

„Nicht nötig“, sagte er daher ruhig, dieses Mal etwas lauter. „Wasser wäre hingegen nicht schlecht.“
 

Nagi wandte sich um und betrachtete sich still den abweisenden Mann für einige Momente, bis er plötzlich schallend lachte. „Wie kann man nur so borniert sein? Weshalb schlagt ihr die Hand, die euch helfen will, aus?“ Er schüttelte den Kopf und dachte an eben eine ähnliche Situation mit Omi zurück. „Ihr seid doch wirklich alle gleich. Tapfere Helden, weiße Rächer…“

Er konnte nicht mehr und wandte sich wieder um ein Glas mit Wasser füllend.
 

„Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, was?“, lächelte Aya zynisch. Wie schön, dass er wenigstens für Naoes Spaß gut war, wenn ihm das Lachen schon nicht so recht gelingen sollte.

Er betrachtete sich den Jungen und wunderte sich eins ums andere Mal über das freche Mundwerk des Telekineten. Und darüber, dass er nicht mit Wut oder Zorn oder verletztem Stolz auf diese zugegebenermaßen nur allzu wahren Worte reagierte, sondern mit Gelassenheit.

„Sag mir nicht, dass ihr da anders seid…“
 

„Wir sind lernfähig, schneller wie es aussieht als ihr“, Nagi reichte das Glas Wasser weiter und durchquerte den Wohnraum. „Warte hier, es dauert sicher nicht lange.“
 

„Sicherlich“, murmelte Aya und trank in kleinen Schlucken das kühlende Wasser, bevor er das leere Glas wieder auf die Anrichte stellte und sich seines Mantels entledigte. Sich alleine wissend, ließ er sich langsam auf den ihm am nächsten stehenden Küchenstuhl sinken und schloss die Augen. Den Kopf leicht in seine Hände gestützt, betastete er sich vorsichtig sein heißes und geschwollenes Gesicht. Das konnte noch etwas werden…

Vielleicht war er doch nicht lernfähig und stur und wollte keine Hilfe von ehemaligen Feinden annehmen. Nein, nicht vielleicht. Ganz sicher.
 

Es dauerte keine zwanzig Minuten da kam Nagi wieder herunter in die Küche.

„Du…“, fing Nagi an, besann sich dann jedoch. „Crawford lässt fragen, ob du nach oben kommen könntest“, war die nettere Form von: „Schick ihn hoch“, wie Brad es formuliert hatte.

Die Legende des Dolchstoßes

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Herr der Flöhe

~ Herr der Flöhe ~
 


 

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Schuldig kreuzte wie ein bengalischer Tiger auf Streifzug durch die Wohnung und kaute missmutig auf seiner Unterlippe herum.

Sein offenes weißes Hemd war ein Zeichen seiner nachlässigen Aufmerksamkeit, die Hände in den Hosentaschen seiner Cargohose vergraben um sich selbst etwas zu zügeln, ballten sich.

Eine Hand wurde wiederholt aus der Tasche befreit um einen kurzen Blick auf die Armbanduhr zu werfen und sofort wieder versenkt.

Wie zum Teufel sollte er hier ruhig und gelassen sein, wenn er nicht wusste, ob Ran nicht wieder von dieser Schlägertruppe angefallen wurde? Dabei konnten sie ihm weitaus Schlimmeres antun, als sie bereits hatten.

Nach einer halben Stunde des schweigenden Brütens und Furchen Laufens brach er sein eigenes, nicht ernst gemeintes Gelübde und klinkte sich telepathisch bei Kudou ein, der mit Sicherheit über den kleinen Mann im Ohr nicht begeistert sein würde.

‚Die Brünette sieht aber wirklich nicht schlecht aus, hmm?’, redete er dem Blonden zur Begrüßung gleich einmal eines der Mädchen ein. So seicht war er in die Gedanken des Mannes gedrungen, als wären es dessen eigene Gedanken gewesen, denn so war sein Eindringen wesentlich angenehmer als ein plötzlicher Überfall.
 

Youji schüttete trotz aller Sanftheit besagter Brünetten zum Dank über diese plötzliche Gesellschaft erst einmal das Wasser der halben Blumenvase über das Kleid und entschuldigte sich hastig für sein Malheur. Soviel zum abendlichen Date…

‚Was willst du hier?’, knurrte er wenig erfreut zurück und wusste selbst nicht, ob er hier, im Koneko, oder hier, bei mir, meinte.
 

‚Ich wollte sehen…wissen ob Ran schon bei euch angekommen ist’, erklärte er sich obwohl er bereits den flüchtigen Blick des Blonden gelesen hatte.
 

Youji runzelte nachdenklich die Stirn, als er Schuldigs Anfrage bestätigte. Ja, Ran war bei ihnen und Ran hatte Spuren von Schlägen im Gesicht, denen Youji zwar noch nicht auf den Grund gegangen war, die ihn jedoch stark beschäftigten. Und wie, als hätte Schuldig mit seinem Auftauchen den Verdacht entspringen lassen, fragte Youji: ‚Habt ihr euch geprügelt oder woher hat er die Hämatome?’

Eine große Portion Misstrauen schwamm in dieser Frage mit…hatte er doch keine Anhaltspunkte für einen möglichen Verlauf. Oder war es Farfarello gewesen?
 

‚War ja klar, dass die Frage kommt’, ätzte Schuldig, doch die nötige Schärfe ließ er bei diesem Gedankenbesuch sein. ‚Nein, haben wir nicht, Schnüffler. Er ist überfallen worden, an dem Tag, an dem ich wieder zurückgekommen bin. Er hatte keine Chance, sie waren zu schnell und zu viele. Es wundert mich, dass er nicht mehr abbekommen hat, aber er sagte, dass sie mit ihm gespielt haben, was die Sache nur schlimmer macht.

Ich wollte nur sehen, ob er heil bei euch angekommen ist, er wollte nicht, dass ich ihn begleite, du kennst das Problem ja…’ Yohji hatte ihm selbst von Rans Sturheit erzählt.
 

Und starrte nun abwesend auf das Blumengesteck, wo seine Finger wie von selbst die Blüten arrangierten. Innerlich jedoch ließ er sich Schuldigs Worte durch den Kopf gehen, die eines ganz laut schrieen: Gefahr!

Ran, zusammengeschlagen von unbekannten Männern? Verflucht. Verflucht!

Wie auch schon Schuldig zuvor beunruhigte ihn der ‚Spiel’-Aspekt. Da musste er gleich noch einmal mit dem rothaarigen Japaner drüber sprechen…vermutlich war das auch der Grund, warum Ran hier war. Informationen.

Und Schuldig spionierte Ran wieder hinterher. Gut…spionieren konnte man das nicht nennen, sich eher davon überzeugen, dass der rothaarige Esel keinen Mist baute.

Ja, das kannte er. Deswegen…war er nicht ganz so sauer, was das anging, sondern empfand eine gewisse Sympathie Schuldig gegenüber – zumindest in diesem Punkt.

‚Du machst dir also Sorgen…’
 

,Bei dir hört sich das für mich so an, als wäre es eine Krankheit. Und wenn es eine wäre, sieht es so aus, als sei sie ansteckend', meinte Schuldig ironisch.

,Ja…und ich mache mir Sorgen’, schob er jedoch einlenkend nach.

‚Wenn ich wüsste, in welche Richtung ich suchen soll… aber so? Ich verstehe auch seine Ansicht, dass ich ihm nicht ständig hinterherlaufen kann. Klar, er muss mit einigen Dingen auch alleine klar kommen. Das tut er auch, das weiß ich. Schließlich ist er kein Kleinkind mehr und wer sollte besser wissen als ich, dass er sich gut verteidigen kann. Deshalb kotzt es mich ja derart an… hier stimmt etwas nicht.'
 

Schuldig wusste, dass er in dem Schnüffler einen hervorragenden Verbündeten und Leidensgenossen im Kampf gegen Rans Sturheit gefunden hatte. ,Vor allem jetzt, wo Kritiker ihn freigegeben haben, passt das nicht zusammen.'
 

Wie gut es doch tat zu hören, dass wenigstens einer genauso dachte wie er selbst!, befand Youji mit grimmiger Genugtuung und einem gehörigen Stich an Sympathie für den anderen Mann… zumindest auf diesem Gebiet. Schuldig umsorgte Ran genauso, wie er es getan hatte und jederzeit mit diesem sturen Idioten wieder tun würde, auch wenn dieser wenig begeistert davon war. Das war gut zu hören…

Allerdings traf das nicht auf alles zu, was er jetzt erfuhr.

‚Kritiker sind es nicht…sie haben einiges an Dreck am Stecken, aber soweit würden sie sich nicht herablassen’, mutmaßte Youji. Ergo blieb für ihn vorläufig nur eine Variante übrig:

‚Sind das Feinde von euch, die dir oder Schwarz eins auswischen wollen?’, fragte er stirnrunzelnd und sah, wie Ken den Laden betrat um ihn abzulösen. Mit einem verzaubernden Lächeln zu seinen Verehrerinnen beendete er das Gesteck und verabschiedete sich schließlich in den Privatbereich und lehnte sich erst einmal gegen die geschlossene Tür. Scheiße. Was hatten sie sich da jetzt schon wieder eingebrockt?
 

‚Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass dem so ist, Kudou.’ Schuldig ging nun in den Küchenbereich hinüber, schenkte sich Kaffee ein.

‚Aber warum haben sie ihn dann nicht gleich erledigt oder mitgenommen um ihn als Druckmittel festzuhalten?’, schickte er zu dem Blonden und setzte sich samt Kaffetasse auf die Fensterbank.
 

Youji blinzelte. Diese Möglichkeit hatte er nicht in Betracht gezogen…doch jetzt, wo Schuldig sie ansprach.

‚Sie spielen. Es war vielleicht eine Warnung, ein Hinweis auf die Möglichkeiten, die sie haben. Und auf die Nachlässigkeit auf unserer Seite.’
 

‚Oh, unsere Seite… wir sind fusioniert? Erzähl das besser nicht Crawford’, machte sich Schuldig über Yohjis ‚unsere Seite’ lustig. ‚Davon mal abgesehen…könntest du aber Recht haben. Dennoch ist es für mich unmöglich herauszufinden wer sie waren.’
 

‚Ich meinte nicht Schwarz und Weiß zusammen, es ging mir nur um Weiß, denn wir müssen uns bewusst sein, dass es Feinde gibt, die EUCH schaden wollen und RAN dazu benutzen. Es war naiv zu glauben, er wäre in Sicherheit – auch ohne dass Kritiker ihm im Nacken sitzen. Also mach dir keine Sorgen um eine eventuelle Fusion…die wird es nicht geben’, stellte Youji seine Ansichten klar und schnaubte innerlich amüsiert. Dass aber sogar Schuldig nicht wusste, wer es sein könnte, amüsierte ihn weniger.
 

Dieser schwieg.

Er musste über die Worte nachdenken. … naiv zu glauben, er wäre in Sicherheit…

Aber Ran war doch in Sicherheit bei ihm. Er war doch nicht in Gefahr gewesen… bis jetzt. Schuldig grämte sich ziemlich darüber, dass wieder er es war, der Ran in eine gefährliche Situation gebracht hatte. Es sollte wohl nicht sein, dass sie zusammen waren.
 

‚Stimmst du mir zu oder warum sagst du jetzt nichts?’, fragte Youji nach und zog sich seine Schürze aus, die er achtlos in eine Ecke pfefferte.

‚Hast du überhaupt schon mit Ran gesprochen? Was sagt er zu dem Ganzen?’
 

Was sollte Schuldig schon auf die erste Frage antworten? Er verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. ‚Was soll er schon sagen? Er hat wörtlich gesagt, dass er ja noch lebe und ich mir nicht solche Sorgen machen solle. Was erwartest du von ihm? Dass er meine Sorge noch vergrößert, indem er nicht den tapferen Ran spielt? Ja…und genau das tut er, auch wenn er meint, dass ich mich schon von ihm einlullen lasse.’ Schuldig seufzte und raufte sich die Haare.

‚Was, wenn die wirklich hinter uns her sind? Was soll ich denn machen, verdammt?’
 

‚Ihn einweihen, dich mit ihm absprechen und euch nach außen hin absichern, das könntest du machen, wenn du mich fragst. Aber lass dir bloß nicht irgendwelche Stunts einfallen, ihn nicht einzuweihen’, gab Youji einen gut gemeinten Ratschlag. Denn das war…der Killer für jegliche Annäherung an den rothaarigen Japaner, der es wie die Pest hasste, übergangen zu werden.

‚Außerdem…ihr seid Schwarz. Fällt euch nicht irgendetwas ein? Eure Feinde? Wer es sein könnte?’
 

‚In was soll ich ihn denn einweihen, wenn ich selbst nichts weiß, verdammt. Nach außen hin absichern … das mache ich ohnehin die ganze Zeit. Und unsere Feinde… da gibt es keine speziellen Gruppierungen. Wir spielen ohnehin in einer anderen Liga. Unsere Aufträge bewegen sich in den oberen Kreisen, wie du sicher weißt, so weit kommen diese Gangs gar nicht hinauf.’
 

‚Woher willst du wissen, dass es eine Gang ist, wenn du GAR nichts über sie weißt, Schuldig?’, hielt Youji scharf dagegen. Wie konnte der andere Mann das ausschließen? ‚Und woher willst du wissen, dass sie nicht genau aus diesen Kreisen kommt?’

Er überdachte das einen Moment, bevor er sich der nächsten Fragen widmete.

‚Dann darfst du ihn eben nicht mehr aus den Augen lassen, damit die Gefahr, eines erneuten Angriffs oder einer Entführung minimiert wird.’
 

‚Stell dich nicht blöder als du bist, es waren mehrere Personen und sie hatten Spaß daran, Ran zu verprügeln, das heißt, sie haben sich abgesprochen es zu tun und es liegt nahe, dass sie eine Gruppierung sind, die sich nicht lose zusammenfinden, sondern organisiert sind.’

Schuldig war zornig. Was sollte dieser Spruch? Er wusste genauso wenig wie Ran, mit dem kleinen Unterschied, dass er von Jei eine Information hatte, die noch nicht gesichert war aber keinen Unterschied für Ran machte.

‚Ihn nicht mehr aus den Augen lassen… sicher… natürlich. Und du meinst, er rastet nicht aus, wenn er weiß, dass ich ihm hinterher spioniere?’
 

‚Ich bezog das eher auf das Niveau der Gruppe, nicht auf ihre Struktur’, merkte Youji trocken an.

‚Natürlich wird er das, aber wozu bist DU Mastermind…ein Killer und dazu noch Schwarz? Wenn du noch nicht einmal einen Sack voller Flöhe bespitzeln kannst, dann weiß ich nicht, warum ihr die letzten Jahre so erfolgreich wart. Außerdem….’ Youji vollendete den Satz nicht. Außerdem war Schuldig nicht alleine, das hatte er sagen oder auch denken wollen. Aber würde er selbst da wirklich mitmachen?
 

Schuldig musste schmunzeln bei dieser treffenden Bezeichnung.

‚Nichts würde ich lieber tun, als jeden Floh aus diesem Sack einzeln zu beäugen, aber …’ ihre Beziehung würde darunter leiden. Schuldig schwieg wieder einige Augenblicke. Warum kapierte das der Blonde nicht?

‚Er fühlt sich ohnehin von mir eingesperrt, schon allein, weil er keinen Job hat. Mit Kritiker war’s noch schlimmer, kein Geld, immer hier eingeschlossen… er war abhängig von mir…von mir! Kapierst du das? Und jetzt spitzel ich ihm hinterher?

Das würde ihn schlussendlich von mir wegtreiben. Na sicher, dir würde das gefallen, aber mir nicht, verstanden?’
 

‚Haha! Witzbold, natürlich würde mir das gefallen, wenn er dann leidet, solltet er dich nicht mehr haben!’ Youji rollte innerlich mit den Augen. ‚Bist du so blind, oder siehst du nicht, wie er auf dir gluckt? Und jetzt stell dir mal vor, man würde dich ihm wegnehmen. Meinst du, ICH will dann dafür verantwortlich sein, ihn aufzubauen – eine wenig Erfolg versprechende Aufgabe übrigens. Tz.

Ja natürlich fühlt er sich eingesperrt, ja natürlich will er einen Job. Den kann er sich ja auch nehmen, aber was hält dich davon ab, ihm zu folgen, sei es telepathisch oder persönlich. Solange du ihn nicht zu Hause bei dir festhältst und er hingehen kann, wo er will, wird es kein größeres Problem geben. Sollte er dich nicht entdecken, heißt das.’
 

‚Telepathisch folgen? Du stellst dir das einfach vor, hmm? Klar, ginge es, wenn der Herr seine Barrieren willentlich herablassen könnte, oder wenn ich jeden Menschen in seiner Umgebung gedanklich überfalle und ihm damit hinterher spioniere. Natürlich ginge das, aber herausfinden darf er es nicht, denn sein Sinn für diese Art Umgehung der Freiheitsrechte eines jeden ist sehr ausgeprägt, wenn du verstehst, was ich meine. Außerdem schützt ihn das nicht vor einer Kugel im Kopf.’

Sich seitlich an die kühle Scheibe lehnend festigten sich Schuldigs Finger um die warme Tasse.

‚Ich könnte ihm hinterher gehen, aber er ist nicht blöd und seine Instinkte, was Verfolger betrifft, sind durch diese Tat noch mehr geschärft.’

Schuldig knabberte an Kudous Worten … von wegen … auf ihm glucken…

Es wärmte sein Herz, dass es sogar dem Blonden auffiel, wie nah sie sich waren.
 

‚Natürlich ist er nicht blöd, war er noch nie. Und nein, ich weiß nicht, wie du es genau mit deiner Telepathie bewerkstelligen könntest, ihm zu folgen, dafür KENNE ich dich einfach zu wenig – Kritiker kann eben nicht alles herausfinden.

Wenn du seinen Wunsch nach gedanklicher Freiheit respektierst, dann musst du ihn wohl oder übel alleine durch Tokyo ziehen lassen, wenn er denn möchte. Eine andere Möglichkeit sehe ich da nicht.’ Nicht wenn diese….Barrieren…von denen Schuldig geredet hatte, sich nicht nach Rans Willen herunterfahren ließen. Was Youji zum Einen für den rothaarigen Japaner freute, zum Anderen für diese Situation nicht zuträglich war.

‚Nur rein aus Interesse: Das, was wir hier besprechen, hast du das schon mit ihm besprochen? Habt ihr beiden euch zusammen schon eine Lösung überlegt?’
 

‚Ich hatte nicht den Eindruck als sehe er da ein großes Problem darin, alleine loszuziehen. Er hat eine Waffe dabei, klar, aber das hatte er auch an diesem Abend und sie hat ihm nichts genützt.’
 

‚Du hattest nicht den Eindruck, aber gefragt hast du ihn auch nicht“, hakte Youji nach.
 

‚Ich habe ihn gefragt, ob ich mitkommen soll, hab ihn gewarnt, dass es zu gefährlich ist… was soll ich denn machen? Ihn in die Wohnung sperren?’
 

‚Genau DAS vielleicht nicht!’ Youji seufzte und rieb sich über die Augen. Scheiße. Scheiße scheiße scheiße. Warum hatten die beiden sich auch einander ausgesucht? Es war ja klar, dass es da Probleme gab, die sie vorher nicht hatten fassen können. ‚Gab es NICHTS Besonderes an diesen Männern? Nichts, was man als Anhaltspunkt werten könnte?’
 

Schuldig haderte mit sich selbst, ob er diese Information weitergeben sollte, auch wenn sie nichts nutzte. ‚Jei hat sie nicht bemerkt, das ist das einzig Merkwürdige. Aber es hilft nichts. Jeis Fähigkeiten sind zuverlässig, aber warum sie bei den Typen versagten oder was der Grund dafür war, konnten wir nicht herausfinden.’
 

Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Typen, die für den Empathen ‚unsichtbar’ waren? ‚Heißt das, dass du sie ebenso nicht lokalisieren könntest?’, fragte Youji und knirschte mit den Zähnen, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte. ‚Sind sie dann so etwas wie Ran? Haben sie Barrieren?

Aber wie sieht es denn damit aus? Seid ihr so jemanden schon einmal begegnet?’
 

Die Fragen, die auf ihn einstürzten brachten ihn zu einem Stöhnen, und Schuldig rieb sich die Augen. ‚Woher soll ich das wissen? Ich bin ihnen schließlich nicht begegnet, nur Jei. Nur weil er sie nicht bemerkte, heißt das nicht, dass es bei mir das Gleiche wäre. Das weiß ich erst, wenn sie vor mir stehen. Jei sagte, dass sie für ihn schlicht nicht vorhanden waren, als er sich mit ihnen auseinandergesetzt hatte.’

Schuldig überdachte die letzte Frage und stutzte… ‚In Shanghai gab es da eine Frau… die ich mittels Telepathie nicht greifen konnte, aber das gibt es hin und wieder, wie es Menschen wie Ran gibt. Sicher nicht viele, aber es gibt sie.’
 

Das machte Youji hellhörig. Er war nun schon zu lange Killer und zu lange Privatdetektiv gewesen, dass ihn das nicht misstrauisch machen würde.

‚Meinst du nicht, dass das ein komischer Zufall war? Du triffst eine Frau, die du nicht lesen kannst und Ran wird von Typen zusammengeschlagen, die Farf…Jei nicht spüren kann.“ Jei…so hieß der Ire also. Ein passender Name…
 

‚Ich glaube grundsätzlich nicht an Zufälle, aber … es wäre schon sehr weit hergeholt…’ Ganz ließ ihn der Verdacht jedoch nicht los. Darüber nachgrübelnd bemerkte er jedoch eine erstaunliche Kleinigkeit.

‚Wohin gehen denn deine Gedanken spazieren?’, wollte er amüsiert wissen.
 

‚In KEINE Richtung, die dich etwas angehen würde! Und bevor du dumme Kommentare machst, fasse dich an deine eigene Nase’, grollte Youji wütend über Schuldigs Schnüffeln und betrat die Küche, in der Ran und Omi am Tisch saßen, deren Augen zu ihm hochfuhren. Er lächelte in Gedanken versunken.
 

„…Recht. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass Naoe das zulassen würde. Obwohl, wenn ich…“ Omi wandte den Kopf als er die Tür hörte. „…an meine Vorstellungsrunde denke…“
 

„Was würde Naoe nicht zulassen?“, fragte Youji und hatte das Gefühl, dass man ihm sofort ansah, dass er nicht alleine war, dass er noch einen kleinen Mann im Ohr hatte quasi. Deswegen konnte er Ran auch nicht ins Gesicht sehen. Soviel zum Thema nachspionieren. Klasse…wenn er JETZT schon das Gefühl hatte, dass Ran jeden Moment klarstellen würde, dass er es nicht schätzte, wenn man ihn ausspionierte.
 

‚Aber sicher doch. Aber mich dazu anstiften wollen’, lächelte Schuldig gehässig. ‚Diesen violetten Augen entgeht nämlich nichts, sieh ruhig hinein, er wird dich sofort entlarven!’, gängelte Schuldig den Blonden. Dennoch konzentrierte er sich auf dessen Wahrnehmung und Omis Worte.
 

„Ran ist überfallen worden und wir sind gerade dabei angekommen, dass wir jemanden im Verdacht haben.“
 

Youjis Blick ruckte tatsächlich zu Ran, doch nur anhand von Schuldigs Worten, nicht, weil er wirklich überrascht von Omis Worten war. ‚Fick dich, Schuldig, fick dich einfach!’, zischte er gedanklich, während er es äußerlich schaffte, ein fragendes Gesicht zu machen.
 

„Am letzten Abend hat mich eine Gruppe überfallen, die mich anscheinend kannte und es darauf abgesehen hatte, mich zusammenzuschlagen. Deswegen auch das hier.“ Er deutete auf sein Gesicht. „Der Verdacht lautet auf Crawford. Dass er die Typen engagiert hat um sich ein lästiges Problem möglichst unblutig vom Leib zu schaffen. Die Männer schlagen mich zusammen, Crawford befiehlt Jei, sich erst später einzumischen und abzuwarten, ob sie mich töten oder nicht, je nachdem. Als Konsequenz dessen trennen Schuldig und ich uns, weil es sicherer ist und er hat seinen Telepathen wieder für sich. Motiv: Eifersucht und Habgier. Das ist unsere Theorie…“ Aya seufzte und schüttelte den Kopf. „Eine verdammt glaubhafte Theorie.“
 

‚Was?’, setzte sich Schuldig auf. ‚Wie kommen die nur darauf? Das würde…’ fing er an zu zetern, verstummte aber. Brad … würde doch nie so ein Arsch sein, dass er ihm so etwas antun würde? Jedem anderen … aber … seine Gedanken kamen ins stocken.

‚Das ist Schwachsinn, Kudou, was denken die sich da eigentlich zusammen?’
 

„Seid ihr euch da sicher?“, fragte Youji vorsichtig. ‚Es ist nur natürlich, dass sie darauf kommen. Nach Rans Erzählungen hasst Crawford ihn. Warum sollte er ihn nicht aus dem Weg räumen?’

„Gibt es denn dafür stichhaltige Beweise?“, fuhr er weiterhin zweigleisig und Ran schüttelte den Kopf.
 

„Natürlich nicht. Aber angesichts seines Verhaltens könnte man so etwas schon vermuten. Zumal er von einer gewissen anderen Verbindung vielleicht auch nicht erfreut sein würde.“ Er deutete bedeutungsschwanger auf Omi.
 

Schuldig lachte und übertrug dieses dunkle Lachen auf Yohji, sodass dieser seine Gedanken dazu gefärbt mitbekam. ‚Das ist einfach absurd. Gewisse andere Verbindung. Wie weit sind die Kleinen denn schon? Und du … was schaffst du mit Jei herum? Wenn Brad das rauskriegt, dreht er hohl! Seid ihr denn alle beknackt? Trotzdem würde er das nicht machen… er …’

Schuldig erhob sich und stellte seine Tasse ab, er würde Brad damit konfrontieren und ihn fragen was es damit auf sich hatte. Er war sich nicht mehr sicher… gar nicht mehr… Brad verdammt… warum ließ er sich von diesen Weiß so verunsichern?

Weil es stimmen könnte.
 

‚Woher willst du das so genau wissen, Schuldig?’, fragte Youji, doch er bekam keine Rückantwort. ‚Schuldig?’ Scheiße…

Youji fuhr sich aufstöhnend durch die Haare. Was hatte er nur ausgelöst? ‚Schuldig!’ Wieder keine Reaktion. Sein Blick fuhr auf, direkt in Rans Augen.

„Ich glaube…du solltest dich ganz schnell um Schuldig kümmern, Ran“, sagte er und machte sich auf das Donnerwetter gefasst, das direkt jedoch nicht folgte.
 

„Was?“, fragte der rothaarige Japaner misstrauisch und Youji schluckte.

„Ich…war da oben nicht ganz alleine“, gestand er und tippte sich gegen die Schläfe.

Violette Augen starrten ihn ungläubig an. „Verdammt!, zischte Aya und hatte sich bereits erhoben und zu seinem Autoschlüssel gegriffen. Youji sprang auf und wollte ihn zurückhalten, doch der andere Mann machte sich los.

„Ich muss Schlimmeres verhindern, Youji!“, fuhr er auf. „Warum hast du nichts GESAGT?“

Der blonde Weiß zuckte nur hilflos mit den Schulten. „Ich….weiß es nicht, Ran. Ich weiß es nicht.“

Und schon war ihr Anführer zur Tür hinaus.
 

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Es gab Dinge, die waren einfach nicht dazu gedacht, zu gelingen. So zum Beispiel, einem Telepathen etwas zu verschweigen oder zu versuchen, Lösungen für ein gewisses Problem mit seinem eigenen Team zu finden…heimlich natürlich. Oder darauf zu hoffen, dass ihm nicht nachgespürt wurde!

Aya wusste nicht genau, ob er wütend auf Schuldig sein sollte, weil dieser ihm hinterher spionierte oder ob er Angst haben sollte, dass der Telepath, vielmehr dessen dunkle Seite, ausrastete, sich Crawford zur Brust nahm.

Verdammt.

Verdammt verdammt verdammt!

Aya wählte die Nummer des Telepathen um vielleicht noch Schuldig zu erreichen, um ihn VIELLEICHT noch davon abzuhalten, zu Crawford zu fahren, während er den Stau verfluchte, der ihm ein schnelles Vorankommen schier unmöglich machte. Er stand, fest umklammert von anderen, hupenden Wagen, ohne Chance, schnell zu handeln.

„Und wenn du verflucht nochmal an das verfluchte Telefon gehen würdest!“, schnappte er und legte frustriert auf. Das war wohl nichts…dann blieb ihm nur noch eins übrig.
 

Zur Sicherheit hatte er sich vor zwei Wochen die Nummer des Schwarzanwesens gemerkt. Wer hatte gedacht, dass ihm dieses Wissen jetzt auch noch behilflich sein konnte. Denn so wenig er auch dagegen hatte, dass Crawford der Garaus gemacht wurde, so unglücklich würde sich Schuldig damit machen, also kam diese Variante der fehlenden Zivilcourage nicht in Frage.

Wütend wählte er besagte Nummer und wartete.
 

Brad kam aus der Dusche, fuhr sich mit dem Handtuch übers Haar und ging zum Telefon, das auf seinem Schreibtisch lag. Mit einem tiefen Ausatmen nahm er das Gespräch an.

„Ja?“
 

„Ist Schuldig bei dir?“, blaffte Aya unfreundlicher, als er es eigentlich geplant hatte, durch den Hörer. Und ob er ihr letztes Aufeinandertreffen noch gut in Erinnerung hatte…und ob.
 

Brad zwang sich dazu, nicht den Hörer etwas von seinem Ohr fernzuhalten um sein Gehör vor dem unfreundlichen Ansturm zu schützen. „Nein… noch nicht“, meinte er ruhig.

„Wie es scheint, wird er aber bald hier aufkreuzen, wenn du schon so umsichtig bist und vorher Bescheid sagst.“
 

Wenn es jemand so nachdrücklich und schnell schaffte, dass Aya dieser Person die Pest an den Hals wünschte, war es Crawford. Egal, was der andere Mann auch sagte, egal, wie ruhig er auch blieb, es machte den rothaarigen Japaner nur noch wütender und gereizter.

Doch…auch er konnte sich beherrschen und seine Feindseligkeiten hinunterschlucken.

„Er wird dir vermutlich vorwerfen, dass du etwas mit den Männern zu tun hast. Inwieweit seine dunkle Seite ausgeprägt ist, kann ich dir nicht sagen…“ …auch wenn er ganz egoistisch hoffte, dass sie Crawford einen ordentlichen Arschtritt verpasste.
 

„Ich frage mich, wie er wohl darauf kommt“, ließ Brad vernehmen und ging wieder ins Badezimmer zurück, legte das nasse Handtuch ab. „Ich sagte dir doch, dass ich nichts damit zu tun habe“, ließ er die Frage danach offen, ob er gelogen hatte.
 

„Genau, und da du ja so vertrauenswürdig bist, habe ich dir schon mal jedes Wort geglaubt, was du sagst“, bestätigte Aya eine Sekunde später auch besagte Frage. „Das ist hier aber nicht das Thema. Ich rufe dich an, damit Schuldig keine Dummheiten anstellen kann, die er später bereuen wird, also halte ihn davon ab, dich umzubringen, sollte er das im Sinn haben.“
 

„Deine Sorge ehrt dich“, spöttelte Brad nun doch, trotz aller guten Vorsätze. „Ich denke, ich kann gut auf mich aufpassen und ich bin mir immer noch selbst der nächste, Rotfuchs“, sagte er, dabei schmal lächelnd.
 

„Meine Sorge bezieht sich nicht auf dich, sondern auf Schuldig“, gab Aya nicht minder spöttelnd zurück. Rotfuchs? Was erlaubte das Orakel sich? „Ob und wie du auf dich aufpassen kannst, ist mir egal. Wenn du allerdings Schuldig ein Haar krümmst, wird mir das nicht mehr egal sein.“ Da zählte er doch einfach mal auf Crawfords Gefühle für Schuldig.

Ehe er sich’s versah, hatte er auch schon aufgelegt, das Handy wütend auf den Beifahrersitz geschmissen. Und als wäre die Katastrophe mit Schuldig aber immer noch nicht genug, erklärten sie ihm im Radio gerade, dass er in einer Vollsperrung steckte, die erst in einer Stunde aufgelöst werden würde.

Aya fluchte.

Laut. Ausdrucksstark. Einfallsreich.
 

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Nach dem Gespräch mit Brad fuhr Schuldig etwas beruhigter nach Hause, die Wohnung lag verwaist da, einige Lampen brannten noch. Jetzt hoffte er nur, Ran würde bald zurückkommen. Sein Wagen stand noch nicht unten auf seinem Stellplatz. Also verzog sich Schuldig in die Kissenecke und starrte hinaus in den Abendhimmel.
 

Besagter, vermisster Mann schloss auch schon wenig später die Wohnungstür auf und hievte mit einem Ächzen die überladene Einkaufstüte in die Wohnung. Ganz so fit war er immer noch nicht, aber er hatte Hunger und er machte sich Sorgen um Schuldig, dessen rotes Haar er nun jedoch beruhigt dort hinten in der Kissenecke wahrnahm.

„Bin wieder da“, rief er in die stille Wohnung und brachte die Tüte in die Küche, nicht wissend, was ihn jetzt erwarten mochte. Er war nicht mehr zum Anwesen von Schwarz gefahren, da er es für unnötig befunden hatte… Crawford war gewarnt und nach einer weiteren Stunde im Stau hatte sich Ayas Ansicht gefestigt, dass Schuldig jenem nichts antun würde. Er würde nachfragen…ja, aber gleich Gewalt anwenden…nein.

So hatte er sich entschieden, für sie einkaufen zu gehen und die Lebensmittel, die schon gestern in ihrem Kühlschrank abstinent gewesen waren, nun endlich zu besorgen. Außerdem vermisste Aya seinen Grüntee und schon alleine dafür hatte er noch in die Stadt gemusst.
 

Schon als der Türöffner die Karte registriert und sie geöffnet hatte war Schuldig etwas in sich zusammengesunken und das fidele „Bin wieder da“ tat einiges dazu bei, dass er erleichtert und halb grinsend in seinen Kissen lag. „Bin auch da!“, rief er zurück - nur der Form halber verstand sich.
 

Aya lächelte sich ebenso wie Schuldig in der Küche in seinen momentan kaum vorhandenen Bart, höchstens in die Stoppeln, die seit drei Tagen dort sprießten, weil er lieber noch mit dem Rasieren wartete, bis es abgeheilt war.

„Da warten noch drei Tüten im Flur!“, rief er freundlich zurück, als wäre dies die herzlichste Begrüßung auf der ganzen Welt.
 

„Schön für die Tüten!“, echote Schuldig liebevoll zurück, blieb aber liegen. Zumindest zwei Minuten lang, bevor er sich umwandte und zu Ran spitzte.
 

„Einen armen, verletzten Mann noch so durch die Gegend scheuchen, das hat man gerne“, motzte Aya vor sich hin und stapfte mit einem rügenden Blick wieder zur Tür. Schön, dass der andere Mann so bequem da lag!, meckerte er ohne wirkliche Wut dahinter für sich innerlich und hievte die nächste Tüte auf seine Arme. Da jetzt auch noch die Tür auf war, hangelte er nach der zweiten und schleppte sie gleich bequemlichkeitshalber mit hinein.
 

Nun ja, da blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich heldenhaft und todesmutig zu erheben und zur Tür zu schreiten. Sich streckend und gähnend stand er dann tatsächlich auf und schlurfte zur Tür, hob die letzte Tüte auf und schloss die Tür wieder. Zu Ran kommend stellte er sie ab und fing sein muffliges, armes, krankes Blumenkind zu einer kurzen Kuschelrunde ein. „War viel los?“, nuschelte er in die vom Schal warm gehaltene Halsbeuge, öffnete dabei Rans Kurzmantel.
 

„Überladen war es!“, murrte Aya noch nicht ganz so überzeugt von der Kuschelrunde, aber schon dabei, sich wie immer erweichen zu lassen. Seine Arme legten sich zärtlich um die Gestalt des anderen Mannes und zogen ihn näher, wie er sich hier an ihm verkroch.

Aya lächelte und pustete in das lange, rote Haar vor sich. Na da waren Schuldigs Greifarme aber wieder flink bei ihm und stellten den direkten Körperkontakt zwischen ihnen beiden her.

„Wie war es bei Crawford, hm?“, fragte er sanft.
 

„Du bist so neugierig“, nuschelte Schuldig weiter, aber dieses Mal wirklich kaum zu verstehen.

Wie sollte er sich da wieder herausreden? Oder brauchte er es gar nicht, weil Ran ihm gar nicht so sehr zürnte, dass er ihn durch Kudou belauscht hatte?

„Er war’s nicht und ich glaube ihm“, sollte als Erklärung reichen, fand er und hob den Kopf aus seiner Lieblingskuhle.
 

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“, stellte Aya die Frage, die ihn am Meisten beschäftigte. Es verwunderte ihn nicht, wenn Schuldig dem Amerikaner vertraute, doch ihm fiel das schwer, ja beinahe unmöglich. Nein, eigentlich generell unmöglich. Verflucht noch eins.

Ja, er war neugierig zu erfahren, was sich zwischen den Beiden ereignet hatte. „Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, Schuldig!“, murrte er und biss leicht in die ihm schamlos dargebotene Nase.
 

„Achtung, ich muss niesen“, grinste Schuldig und entzog den Gefangenen Rans Beisslingen.

„Er hat mir gestattet, in seinen Gedanken zu lesen“, erklärte er. Er hatte dieses Angebot zwar nicht angenommen, da es ein unermesslicher Vertrauensbeweis für Brad war, ihm dies zu gestatten. Es wäre einfach nicht Brads Stil Ran derart abzuservieren.
 

Aya betrachtete sich Schuldig, den er immer noch in den Armen hielt. Seine Augen verengten sich leicht, als er sich den anderen Mann kritisch betrachtete – dessen Worte kritisch beäugte. „Und was hast du in ihnen gelesen?“

Er brauchte die hundertprozentige Versicherung, dass es NICHT Crawford war, der das anberaumt hatte, denn sonst würde er immer…immer wieder auf den Verdacht kommen.
 

„Nichts, was darauf schließt, dass er es war“, sagte Schuldig und blickte Ran in die Augen. Er hatte nicht explizit gesagt, dass er dies nicht in Brads Gedanken gelesen hatte, sondern in dessen Augen. Aber dazu kannte er ihn zu lange und vertraute dessen Ausführungen.
 

Aya seufzte tief und legte seinen Kopf in den Nacken. „Ist das alles ein Wust“, murmelte er und schickte ein kurzes Gebet in den Himmel…vielmehr einen kleinen Kommentar an seine Schwester, was er sich denn dabei gedacht hatte, sich so etwas aufzuladen. Doch es war nicht wirklich ernst gemeint und er kehrte lächelnd zu seinem irdischen Teufel zurück.

„Alle Aufregung umsonst also“, neckte er den anderen Mann und raubte diesen verführerischen Lippen einen kleinen Kuss, während sich seine Hand an den Hinterkopf des Telepathen stahl und ihn zu sich zog.

„Du warst also bei Youji zu Gast und hast gelauscht“, hauchte er schließlich jedoch vollkommen aus dem Kontext gegriffen.
 

„Äh… dieser Idiot hat mich also verraten! Der kann ja wohl kein einziges Mal seine Klappe halten“, moserte Schuldig und zog ein beleidigtes Gesicht, vor allem, weil er den Ärger jetzt abbekam.

„Ich wollte nur sichergehen, dass dir nichts passiert, ist ohnehin schon schwer genug ... dich Sack voller Flöhe zu hüten. Und DAS, mein Lieber, waren die Worte des Verräters! Ha!“ So, jetzt hatte er auch gepetzt! Und hoffentlich war die Strafe fürchterlich - für Kudou.
 

Doch zunächst einmal würde sie fürchterlich für Schuldig werden, da dieser Übeltäter Nummer eins und zusätzlich noch in Reichweite war.

Aya lächelte.

„Sack Flöhe, sagst du, hat er gesagt? Wie ich dich kenne, hast du ihm da noch zugestimmt, nicht wahr?“, wehrte er diese Ablenkungstaktik gleich mal wieder ab. „Man braucht mich nicht hüten, Schuldig“, begann Aya mit seiner üblichen Strafpredigt, was das Hinterherschnüffeln anging. „Ich kann auf mich alleine aufpassen und vor allen Dingen, wenn es so belebt und taghell wie jetzt ist! Meinst du, sie werden mich auf offener Straße angreifen? Was meinst du, wozu ich mit dem Auto gefahren bin?

Außerdem…kein einziges Mal? Heißt das, ihr habt schon öfter zusammengearbeitet?“ Aya verengte die Augen. „Schuldig…“
 

Das sah wirklich schlecht aus für ihn. Schuldig entwand sich Ran unbehaglich und machte sich daran, pflichtbewusst und braver Hausmann, der er war, die Einkäufe zu verräumen. „Stimmt gar nicht! Haben wir nicht!“, entrüstete er sich und warf Ran einen beleidigten Blick zu. Er hoffte nur, dass er wieder einmal schauspielerische Glanzleistungen hier ablieferte, während er in seinem Gedächtnis in höchster Not danach fahndete, ob er mit dem Blonden tatsächlich keine Unternehmungen dieser Art verbrochen hatte.
 

„Und das soll ich dir jetzt glauben, wo du dich schon wegstiehlst um Dinge zu erledigen, die du hasst?“, grimmte es unheilschwanger von der rothaarigen, dunklen Materie, die Schuldig gegenüberstand und sich nun ihres Mantels entledigte.

„Ich meine…es ist ja in Ordnung, dass du ein Auge darauf hast, dass dir nichts abhanden kommt – das hast du früher auch schon getan, ohne mich zu fragen.“ Aya lächelte lieblich, der dunkle Einschlag darin aber unübersehbar. „Aber beschränke dich auf gefährliche Situation, nicht auf so etwas Banales.“
 

„Da ist nichts banal dran!“, keifte Schuldig und wandte sich um. „Ich fand die Situation ehrlich beschissen, vor allem, weil Jei sie nicht erfassen konnte, findest du das so harmlos?“

Gut, er sollte im Zorn seinen Mund nächstes Mal nicht mehr aufmachen, denn scheinbar reizte Ran ihn da und er konnte seine Klappe nicht halten. Obwohl er doch seinen Ran nicht noch mehr in Sorge versetzen wollte.
 

„Nein, es ist ganz sicher nicht harmlos“, entgegnete Aya ruhig, jedoch nachdenklich. Jemand wie er…mit Barrieren? Gedanklich vermerkte er es sich, beschloss es jedoch, später anzusprechen, da ihm dies hier wichtiger erschien. „Diese Situation an dem Abend war es garantiert nicht und JA, ich hätte dabei draufgehen können, wenn sie es denn gewollt hätten. Doch heute, bei Tageslicht und in meinem Wagen, den ich nur verlasse um direkt ins Koneko zu gehen und wieder in den Wagen einzusteigen, werden sie mich nicht angreifen. Die potentielle Gefahrensituation ist also nicht gegeben. Das meine ich damit.“ Er seufzte tief.

„Aber was willst du machen? Oder was soll ICH machen? Den ganzen Tag hier bleiben? Nichts tun? Schuldig, ich muss mir eine Arbeit suchen, immer noch. Ist dir das Problem bewusst?“
 

Schuldig ließ die Packung Nudeln mit der er während seines leidenschaftlichen Aufbegehrens gewedelt hatte sinken. „Ja, ist es mir, aber du denkst wohl nicht an Scharfschützen oder daran, dass du entführt werden könntest oder … keine Ahnung was.“
 

„Schuldig…WAS soll ich dagegen machen, wenn dieser Fall eintreffen sollte?“, fragte Aya plötzlich sanft. Ja, er hatte das Problem erkannt, doch er dachte nicht daran, die Wohnung gar nicht mehr zu verlassen…nur weil es zu gefährlich sein könnte. Und das nicht nur für ihn, wohlgemerkt.
 

„Weiß ich nicht“, gab Schuldig kleinlaut zu und genau das war ja auch der springende Punkt, seine Hilflosigkeit.
 

„Ach komm her, du Zackelschaf“, knurrte Aya und entwand Schuldig unwirsch die Spaghetti. Er umarmte ihn, barg den etwas größeren Mann in seinen Armen. Er sah sie, die Verzweiflung in den Augen des Telepathen. „Wir packen das schon, hörst du. Wir gemeinsam. Du nicht allein, ich nicht allein, wir zusammen. Und wehe, du versuchst etwas in die Richtung. Auch wenn ich keine Fähigkeiten besitze, so bin ich nicht hilflos, hörst du?“
 

„Hmmm“, murmelte Schuldig, nicht ganz überzeugt, aber auch nicht ganz widersprechend. Klar konnte sich Ran wehren, aber wenn er ihn hier so im Arm hielt, so schlank und anschmiegsam musste er an die Zeit denken, in der er wie etwas Zerbrechliches gewirkt hatte. Blass, mitgenommen, ausgezehrt, zu schlank. Und jetzt wollte er ihm einreden, dass er der Superheld war.
 

„Du bist nicht meiner Meinung“, stellte Aya fest. Natürlich war Schuldig das nicht. Schon zu Weiß’ Zeiten hatte Schuldig gemeint, ein Auge auf ihn haben zu müssen, dass ihm nichts passierte und dass er sich erholte. Ja, er kannte dieses Spielchen und es stimmte ihn nicht glücklich.

„Was kann ich tun um dich davon zu überzeugen, dass ich kein Baby bin, auf das du aufpassen musst?“
 

„Du bist kein Kind, verdammt! Glaubst du denn, das würde mich anmachen, wenn du dich nicht wehren könntest, oder wenn du nicht für dich selbst einstehen könntest? Gerade eben DASS ich mich nicht um dich sorgen muss, du aus dem gleichen Geschäft kommst, du weißt, wie die Dinge laufen, gerade das war ein Punkt von Vielen, warum ich …“, ah das übliche Stocken… „dich bei mir haben will. Aber ich kann mir eben nicht helfen, soll ich so tun, als würde ich mir keine Sorgen machen? Oder darf ich dich daran erinnern, dass du mir auf den Auftrag gefolgt bist… ganz bestimmt nicht, weil ich so gefasst war, sondern weil du dir Sorgen um mich gemacht hast. Hier geht es nicht darum, wer wen wie ein Baby behandelt.“
 

„Sondern es geht darum, ein Problem zu lösen, das momentan nicht lösbar ist, außer: genauso weiterzuleben wie bisher, nicht jeden Tag Angst zu haben, dass es noch einmal oder dass etwas Schlimmeres passiert.

Niemand verbietet dir, dir Sorgen zu machen, ich als Allerletzter, denn wie du schon gesagt hast; ich bin genauso wie du. Auch ich bin dir damals nachgestiegen, damit ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, dass es dir gut geht.“ Aya schüttelte den Kopf und drehte sich zum Kühlschrank, in dem er die mitgebrachten Zutaten ausspähte, die er für das Essen brauchte, das er kochen wollte. Er sah über seine Schulter zurück. „Lassen wir es gut sein, Schuldig. Es ist wirklich nicht lösbar.“
 

Aber Schuldig wollte nicht, dass das zwischen ihnen stand und genauso stand er jetzt da, wie ein begossener Pudel, er fühlte sich wie bestellt und nicht abgeholt. „Aber…“, fing er an und verstummte dann wieder, begann den Rest der Einkäufe wegzusortieren.
 

Aya atmete tief ein und drehte sich mit dem Fleisch in der Hand um. „Was aber? Es gibt kein Aber, oder fällt dir eine Idee ein, wie wir einen Anhaltspunkt bekommen, wer diese Männer sind? Nein…genauso wenig Crawford, genauso wenig Omi…aussichtslos. Anscheinend sind es wirklich Feinde von euch. Vielleicht sind wir noch nicht einmal hier mehr sicher. Wer weiß das schon? Und…was wollen wir tun? Auswandern, flüchten, uns verkriechen?“
 

Das hatte gesessen und Schuldig räumte schweigend die Einkäufe ein. Am besten, er hielt den Mund, das hatte er sich vorhin schließlich vorgenommen und er plapperte immer noch blödsinniges unlogisches Zeug vor sich hin. Er war einfach zu dumm. Brad hatte Recht, er hatte keine Erziehung, keine Schule genossen. Kudou hatte Recht, er sollte Ran machen lassen, Ran hatte Recht…
 

Aya stand da und fühlte sich…verarscht. Schuldig sagte nichts, räumte nur weiter die Sachen ein, die ja weiß Gott nicht wichtig waren und ignorierte ihn. Wut stieg in ihm auf. Wut auf Schuldig, Wut auf die Situation, vor allen Dingen jedoch Wut auf diese Bastarde…und die Ungewissheit, was weiter geschehen würde.

Mit eben diesem Zorn im Bauch knallte er das Fleisch auf die Ablage und verließ die Küche. Er musste raus, ganz dringend. Er musste seiner Wut ein Ventil geben, bevor sie sich auf Schuldig entlud, der in nächster Nähe war.

Er stürmte regelrecht zur Terrasse und riss die Tür auf, knallte sie hinter sich zu und schlug mit der rechten Faust gegen die Betonwand.
 

Super. Jetzt hast du ihn soweit! Du hättest irgendetwas sagen sollen, nicht einfach schweigen, du Idiot, kannst wohl immer noch nicht deinen Mund aufmachen, wann wirst du es endlich lernen? So zeterte es in Schuldig und er stand weiterhin da, wusste nicht wie er jetzt reagieren sollte. Ran war sauer auf ihn. Okay, soweit nichts Neues. Nur diesmal hatte er anstatt wie früher gar nichts gesagt. Was etwas Neues war. Soweit die Analyse der aktuellen Lage.

Ran war sauer ergo Schuldig war gearscht.

Nachgehen war ganz schlecht, schied also als Lösung aus. Sein Blick fiel auf das Fleisch. Gut, dann eben Altbewehrtes…
 

Ayas Faust pochte und brannte von dem erlösenden Schlag gegen die Wand, die hart genug war, um ihm Widerstand zu geben. Widerstand, den er brauchte. Wie gerne hätte er seine Faust noch einmal in das Gesicht der Angreifer getrieben, wie gerne hätte er sein Katana genommen und sie einen nach dem anderen getötet.

Killer, hatte ihn Manx genannt und sie hatte Recht. Diesen Instinkt, den ein normaler Mensch nicht besaß, den Wunsch zu töten, trug er noch in sich. Gerade jetzt merkte er das.

Er stand am Geländer und starrte leeren Blickes in die Tiefe hinab. Nicht in die hoffnungslose Weite der Stadt, sondern die scharfe Tiefe des unter ihnen liegenden Bodens.

Reiß dich zusammen, Aya. Reiß dich verdammt noch mal zusammen, sagte er sich wieder und wieder, doch es geschah nichts. Der gleiche Zorn, die gleichen Erinnerungen, die gleiche…ja, Demütigung. Die gleiche Angst und Verzweiflung. Dieses ungute Gefühl blieb. Was, wenn sie mehr im Schilde führten? Was, wenn er nicht stark genug war?
 

Aya krallte seine Hände um das Geländer und aus den feinen Rissen seiner Hand quoll Blut hervor. Nicht viel…aber genug, damit er sich an, den Morgen drei Tage zuvor erinnerte. Blut…
 

Ran kam nicht, auch während Schuldig das Fleisch zubereitete und die Beilagen arrangierte. Das Essen war noch nicht fertig und sein Blick ging wieder Richtung Terrasse. Wie schon die letzten Minuten auch. Ran kam nicht und Gott … ja Schuldig machte sich schon wieder Sorgen. Sollte er jetzt raus gehen und sich Ärger einhandeln oder besser hier bleiben, nicht dass Ran sich noch wegen ihm aufregte?

Schlussendlich ließ er das Gericht auf kleiner Flamme weiter köcheln und zog sich die Schürze ab. Er sah den Schatten an der Balustrade stehen und öffnete die Tür. Rans Haltung wirkte angespannt. „Willst … du nicht reinkommen?“, fragte Schuldig zerknirscht. Dadurch signalisierend, dass ihm diese schief gegangene Unterhaltung Leid tat.
 

Aya öffnete seine Augen und starrte einen Augenblick lang auf die vor ihm liegende Stadt. Dreh dich um, befahl er sich selbst. Deine Wut ist nicht auf ihn gerichtet und sie wird sich auch nicht auf ihn entladen. Er atmete tief ein und wandte sich tatsächlich zu Schuldig um. Das Lächeln, was er eigentlich auf seinen Lippen tragen wollte, blieb aus, doch er nickte abgehackt.

„Ja“, erwiderte er leise und trat auf Schuldig zu.
 

Ran benahm sich tatsächlich so, als wäre er sauer auf ihn. Und zwar richtig. „Was ist mit dir…Ran?“, fragte der Telepath ebenso leise zurück. Er traute sich ja fast schon nicht nachfragen, so düster wie Rans Blick war. Eine Düsternis die so tief ging, so fest verwurzelt war, dass sie alles zu verschlucken schien.

„Was…was sollte ich denn schon groß…dazu sagen? Du hast ja Recht mit dem, was du gesagt hast, und … ich bin eben ein …Hohlkopf.“
 

„Nein, bist du nicht“, erwiderte Aya mit Schmerz in der Stimme und den Gesichtszügen. „Ich bin…wütend. Nicht wegen dir. Auch nicht mehr, weil du nichts gesagt hast. Ich bin wütend, dass ich nichts tun konnte, in der Nacht. Dass ich jetzt immer noch nichts tun kann. In keine Richtung. Wozu bin…war ich denn dann Anführer von Weiß, wenn ich so dermaßen hilflos bin?“ Er starrte frustriert zu Boden, dann wieder zu Schuldig. „Ich kenne das nicht…es gibt immer eine Lösung.“
 

„Aber nicht unbedingt gleich.“ Und übrigens …

„Jei hatte sie nicht einmal bemerkt, was willst du da tun? Es war geplant, Ran. Das haben wir …“ Schuldig bemerkte die Schrammen auf dessen Hand, als er näher ging. „…schon besprochen, nicht? Ich … sei nicht sauer auf mich. Ich versteh deine Wut. Mir ging es genauso.“ Er nahm Rans Hand, die dieser zuvor wohl irgendwo gegen geschlagen hatte. „Damit wird es auch nicht besser…“, murmelte er.
 

„Ein Bisschen schon“, erwiderte Aya und strich Schuldig mit der linken Hand über die Wange, während er die Rechte wieder zu sich zog. Ja, er hatte das gebraucht und nun war es gut. Es würde verheilen, ebenso wie die Blessuren von seinem Gesicht verschwinden würden.

„Ich bin nicht sauer auf dich…es war die gesamte Situation…aber nicht du. Wie könnte ich denn auch?“
 

„Na da gäbe es bestimmt viele Gründe, wenn du scharf darüber nachdenkst. Komm rein. Hey… wie wäre es mit einem Pflaster? Diese Hände kenne ich ja schon zu gut, wenn’s ums Verarzten geht!“, lächelte er und zog Ran hinein in die Wärme, die ihn schaudern ließ.

„Ahh und das Füttern danach ist das Beste… du hast nicht vor, deine andere Hand noch irgendwo gegen zu schlagen?“, grinste er dreist in Aussicht Ran zu füttern.
 

Aya musste gegen seinen Willen lachen. Diese Frage war so absurd, so…bizarr, dass sie ihn doch tatsächlich von seinen Gedanken ablenkte und ehe er es sich versah, war er in dem Loft, die Tür zu seinem kalten Exil zu und er in der Küche, in der es verführerisch nach Essen roch.

„Gibt es nicht, essen kann ich noch alleine“, machte er seinen Standpunkt klar und kramte bereits in einer der Küchenschubladen nach einem kleinen Pflaster…zu Schuldigs Beruhigung.
 

„So?“, zog Schuldig das Wort in die Länge. „Können schon, aber auch wollen?“, wackelte er herausfordernd mit den Brauen.
 

Aya sah den ihn doch tatsächlich überrumpeln wollenden Mann mit hoch erhobener Augenbraue skeptisch an. Es war gut, wie sie beide wieder auf die spielerische Ebene zurück glitten und sich mehr und mehr von dem eigentlichen Problem entfernten. Gut für sie beide…heilsam für sie beide.

Seine Augen glitzerten geheimnisvoll, als sich seine Lippen langsam zu einem Lächeln kräuselten.

„Ich will…ich will nicht. Wer weiß…Aber eigentlich will ich heute mal dich füttern.“ Eine Kampfansage an Schuldigs Dominanz.
 

Schon allein dieses hintergründige Lächeln. Es war eher eine Mischung aus einer Ahnung von etwas Geheimnisvollem und einem Versprechen.

Ran führte etwas im Schilde…

Schuldig beschloss abzuwarten und es auf sich zukommen zu lassen.

Er freute sich…dass die Schatten in Rans violetten Augen…zurückgetreten waren, dort, wo er sie nicht sehen konnte. Und sie ihm keine Angst machten, denn er fürchtete, Ran an diese Schatten zu verlieren. Schuldig wusste nicht, ob es die Vergangenheit war, oder einfach der Rest, der übriggeblieben war vom Hass, den Ran in sich getragen hatte …oder jetzt noch in sich trug. Er selbst wusste, was es hieß, sich in diesen Schatten zu verlieren. Aber er wusste auch, dass er es nicht zulassen würde. Nicht bei Ran.
 

Aya selbst aß für ein paar lange Momente schweigend und wieder darüber nachsinnend, was es mit den Angreifern auf sich hatte. Sowieso setzte er sich mit dem, was geschehen war, intensiv und analytisch auseinander, wie er es immer getan hatte, wenn bei einem Auftrag etwas nicht nach seiner Zufriedenheit gelaufen war.

Und von Zufriedenheit konnte man hier nun erst recht nicht sprechen.

Er musste mehr trainieren. Er hatte den Kampf mit dem Schwert zwar schon wieder aufgenommen und seine Übungen angefangen, doch es reicht nicht. Er war außer Form und nicht zu gebrauchen, wenn es darum ging, sich selbst zu verteidigen. Überhaupt musste er diese Lücke in seiner Abwehr so gut es ging schließen, da Nahkampf nie seine Stärke gewesen war.
 

Aya verfolgte minutiös noch einmal die Einzelheiten, die sich in seine Gedanken eingebrannt hatten, minutiös noch einmal ihre Taktik und ihre Worte…ihr Lachen, alles, doch er kam zu keinem Schluss. Und dann noch die Sache mit Jei.
 

„Wieso konnte er sie nicht fühlen, hat er dazu etwas gesagt?“, fragte Aya aus heiterem Himmel, bevor er sich bewusst wurde, dass Schuldig seinen Gedanken eben nicht gefolgt war. „Jei meine ich.“
 

Huch. Und da hatte sich Schuldig gedacht, Ran hätte es doch glatt überhört, was er in seinem Übereifer vorhin ausgeplaudert hatte.

Schuldig hangelte gerade nach seinem Glas Wasser, nahm sich während des Trinkens kurz die Zeit um abzuwägen, was er Ran hier erzählen sollte. Wahrheit oder Halbwahrheit?

„Nein. Konnte er nicht.“ Die Wahrheit also.
 

„Aus welchem Grund konnte er sie denn übersehen? Haben sie Schilde, so wie ich sie habe?“, fragte Aya weiter, da Schuldig momentan nicht geneigt dazu schien, ihm ausführlich Auskunft zu geben.
 

Dieser stellte das Glas mit einem dumpfen, fast endgültigen Ton auf dem Tresen ab und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das kann Jei nicht beurteilen. Er weiß nicht, wie sich jemand mit einer Barriere anfühlt. Es gibt Menschen, mental begabte Menschen, die Schilde bewusst aufbauen können, doch Jei ist stark. Er würde sie überwinden. Warum er hier niemanden gespürt hat…wissen wir nicht. Vor allem waren es mehrere. Und alle soll er nicht gespürt haben? Das gibt es nicht.“ Schuldigs Hand legte sich fester um das Glas. Sein Gesicht war angespannt in Erinnerung daran, dass Ran von diesen…Phantomen angegriffen worden war.

Es gab da noch eine Möglichkeit…aber diese war zu…abwegig.
 

„Wenn es das nicht gibt, Schuldig, was ist es dann?“, fragte Aya mit gerunzelter Stirn. Das hörte sich alles nicht sehr gut an, wirklich nicht. Andere PSI-Talente vielleicht?
 

„Ich weiß es nicht. Wenn es ein großflächiges Schild war, dann wäre dieses Schild von einem …“

Schuldig schüttelte den Kopf und wandte sich ab, stand auf und verschränkte die Arme. Er strich sich über die Arme, als wäre ihm plötzlich kalt.

„Das ist unmöglich, Ran.“
 

„Von einem was, Schuldig?“, hakte Aya wieder genauer nach. Ihn beschlich ein verdammt ungutes Gefühl…sehr ungut. Alleine schon die halbe Flucht des Telepathen sprach Bände.

„Was ist unmöglich?“
 

„Es gibt einige andere Möglichkeiten, Schilde aufzubauen. Aber…es ist zu abwegig. Würde aber erklären, warum wir blind sind. Spiritismus, Magie… es gibt einige Systemmodelle, die es ermöglichen Barrieren aufzubauen, wenn man sie beherrscht.“

Er versuchte das in Worte zu fassen, fand aber nur schwer Begriffe, die für Ran nicht zu lächerlich klangen. „Es ist …wilde Energie…die das …Voodoo sagt dir was …oder Schamanismus?“ Er wandte sich um, sah Ran zweifelnd an.
 

Aya nickte nach einigem Überlegen langsam. Er hatte davon gehört, öfter mal, hatte es bisher aber für Humbug gehalten. Gut, vor ein paar Jahren hätte er auch noch jeden für verrückt erklärt, der ihm gesagt hätte, dass Gaben wie Telepathie und Telekinese wirklich existierten…so änderten sich die Zeiten.

„Sowas könnte es sein? Und dagegen könnt ihr nichts tun?“
 

„Wenn wir wüssten, was es genau ist, könnten wir herausfinden, wie wir dagegen vorgehen müssten. Aber so? Und es ist ja noch nicht einmal gesagt, dass diese Typen etwas in diese Richtung beherrschen. Es war nur ein …Gedanke.“

Schuldig lehnte sich an die Anrichte.
 

Es war alles so schwammig…so wenige Informationen, so viele Möglichkeiten. Aber das Schlimmste daran war, dass Aya hier nicht weiter wusste, es gab keine Quellen, denen er sich bedienen konnte, auch wenn er akuten Handlungsbedarf sah.

„Hast du schon mit Crawford darüber gesprochen?“
 

Schuldig stieß sich von der Anrichte ab und kam wieder zu Ran, setzte sich neben ihn auf den Barhocker. „Ja. Er hatte diese Idee. Aber hat sie ebenso schnell wieder verworfen. Zumindest vorläufig. Selbst wenn, dann würde es keinen Unterschied machen.“ Er zuckte mit den Schultern und sah nicht glücklich dabei aus, wie er sich vorstellen konnte.

Er nahm seine Stäbchen auf und fing wieder an zu essen. „Zuviel sollten wir nicht darauf geben, denn wer weiß…ob nicht euer Playboyhase alias Schnüffler Jei derart den Kopf verdreht hat, dass er die Kerle nur deshalb nicht erfassen konnte.“ Schuldigs Miene hellte sich bei diesem Gedanken auf und das Lächeln weitete sich zu einem breiten Grinsen aus, als er daran dachte, was er so alles in Yohjis Gedanken aufgeschnappt hatte. Rein zufällig natürlich.
 

„Wieso sollte…?“, begann Aya und hob eine Augenbraue. „Nein…das macht er doch nicht! Niemals…YOUJI nicht. Der hat nichts mit Jei…“ Für diesen Moment war das Thema Angreifer vom Tisch, denn Aya stürzte sich voller Neugierde auf diese Neuigkeiten.

„Was weißt du? Los, sag es!“ Seine Augen verengten sich.
 

Oh Shit. Die Heilige Inquisition in persona.

„Öhm.“

Ja du Held, etwas Schlaueres als diesen Laut der geistigen Umnachtung …solltest du dir hier schon überlegen, wenn du schon so ein Plappermaul bist, schimpfte Schuldig und sehr schnell füllte sich sein Mund mit Gemüse und Hühnchenfleisch um die Antwort hinauszögern zu können. Dabei sah er natürlich äußerst unschuldig aus.

Sicherlich.

„Nichts“, nuschelte er, den Mund halb voll noch. Am Besten er legte gleich noch einmal Gemüse nach.
 

Was jedoch äußert wirkungsvoll durch zwei blasse Hände vereitelt wurde, die sich um seine Handgelenke legten und sie auf den Tresen fesselten, auch wenn Ayas Position dadurch etwas verrenkt war, so wie er halb über Schuldig lehnte.

„So mein Lieber…noch einmal von vorne“, schnurrte er dunkel. „WAS genau weißt du über Youji und Jei, das ICH in den letzten beiden Wochen nicht mitbekommen habe?“
 

Schuldigs Grinsen hatte sich längst eingestellt und war zu einem unschuldigslammartigen, halbseidenen Schmollmund zusammengeschrumpft. Rans durchbohrender Blick erzählte von grausamer Folter und Marter, wenn er ihm nichts verriet. Wobei er konnte doch nicht so unehrenhaft sein und Yohji ans Messer liefern.

Konnte er …nicht?

Doch konnte er.

„Nichts…so habe ich das nicht gemeint. Aber das Playboybunny war doch ein paar Tage bei euch und Jei hatte doch - und da warst du dabei - kundgetan ob Yohji ebenso interessant wäre wie du. Klarer Fall, dass ich eins und eins zusammenzähle und dabei …so etwas herauskommt oder?“

Gute Lüge. Gute Lüge.
 

„Klar und du hast auch nicht in seinen Gedanken herumgeschnüffelt, richtig?“, fragte Aya mit einem Lächeln auf den Lippen. „Mein lieber Kullerpfirsich…ich verwette meine Haare, dass du dem ‚Playboybunny’ einen gedanklichen Besuch abgestattet hast. Richtig?“ Aya seufzte lang gezogen. „Also Schuldig…ich wusste gar nicht, dass dir so eine kleine Information so viel wert ist…wenn auf der anderen Stelle Sexentzug steht.“
 

Schuldigs Gesicht nahm einen Ausdruck an als hätte man ihm sein Lieblingsspielzeug geklaut. „Du drohst mir mit Haareabschneiden und Sexentzug?“
 

„Ich wusste schon immer, dass du ein intelligenter Junge bist“, lächelte Aya lieblich und hob seine zweite Augenbraue.
 

Noch immer waren Schuldigs Handgelenke so delikat gefesselt. Sein Blick senkte sich auf Rans Hände und er beugte sich hinab um seine Lippen über das Pflaster gleiten zu lassen.

„Ich kann’s dir nicht sagen, Ran, was ich gelesen habe. Das wäre…unfair…dem Häschen gegenüber oder?“

Er appellierte an Rans Ehre. Das klappte immer. Hundertprozentige Erfolgschance.

„Aber du …könntest raten?“, gab er leise einen Tipp, mit einem neckenden Lächeln in Rans Richtung.
 

Einen Moment lang vermutete Aya, dass Schuldig ihn becircen wollte mit seinem Verhalten. Das tat er nach diesem Moment immer noch, nur war er nicht so leicht mehr von seinem Vorhaben abzubringen.

Er nahm die immer noch bewegungslosen Handgelenke auf, ließ sie jedoch nicht los und drehte Schuldig zu sich, bettete dessen Hände schließlich in seinen Schoß. Damit Schuldig fühlen konnte, was ihm entgehen würde.

„Ich bin GANZ schlecht im Raten“, lächelte Aya. „Da musst du mich wohl oder übel mit Informationen versorgen.“
 

Ohje…da hatte er den Salat.

Wieder einmal.

Ran kannte ihn einfach zu gut.

Schuldigs Augen trafen Rans und hielten den Blick fest. Die beste Waffe war nur noch …die Sache mit dem Gewissen.

„Du möchtest also, dass ich dir erzähle, was ich in Yohjis Gedankenwelt gelesen habe. Etwas, das intimer als eine Berührung seines Körpers ist. Seine letzte Rückzugsmöglichkeit. Etwas, das er nie jemanden erzählen würde, dir vielleicht aber vielleicht nur dann, wenn er wüsste, dass du ihn nicht verurteilst. Wenn er es dir nicht erzählt hat bisher, wäre es dann nicht…unter deinem Niveau mich auszuquetschen? Vielleicht ist der Playboyhase gar kein Playboyhase sondern ein Angsthase?“ Nein, ganz sicher war Yohji das. Wobei…vermutlich eher beides, was Gefühle anbetraf.
 

Für einen Moment hatte Aya wirklich das Gefühl, der schlechteste Mensch der ganzen Welt zu sein.

Dieses Gefühl schwand jedoch. Rapide. Sehr rapide.

„Mein lieber Schuldig…jetzt lass das mal nicht so klingen, als wäre ich der große Bösewicht, wenn du seine letzte Rückzugsmöglichkeit schon infiltriert hast, als du seine Gedanken gelesen hast. Außerdem möchte ich nur wissen, was da zwischen den beiden läuft…was genau läuft, will ich nicht wissen…ebenso wenig die Details. Außerdem ist Youji kein Angsthase…nie gewesen.“
 

Schuldig setzte sich etwas zurück, da Ran seine Hände in dessen Schoß gezogen hatte, beließ aber seine Hände in den warmen Fesseln.

„Was heißt …wäre? Du bist der Bösewicht. Wusstest du das nicht?“ Schuldig legte den Kopf schief als würde er ein Wesen vom Mars sein und versuchen den Menschen vor sich zu verstehen.

„Im Übrigen lese ich die Gedanken sehr vieler Menschen, ständig... seit du hier bist…und nun doch seltener spiele ich sie gegeneinander aus. Ein Gedanke hetzt den anderen. Du hast mir gezeigt, dass es schlecht ist so etwas zu tun. Noch dazu bei deinen Freunden. Du hast es mir sogar verboten. Willst aber jetzt die Ergebnisse sehen. Etwas Doppelzüngig mein Lieber.“ Schuldig lächelte durchtrieben.

„Yohji ist ein Angsthase, was seine Gefühle betrifft. Sag nur, dass ist dir noch nicht aufgefallen? Er läuft vor sich selbst weg. Und DAS habe ich nicht in seinen Gedanken gelesen.“
 

„Das ist mir schon lange aufgefallen…“, stellte Aya in den Raum und ließ seinen Blick aus dem Fenster schweifen, bevor er wieder zu Schuldig zurückkehrte.

„Richtig…ich habe es dir verboten…vielmehr gesagt, dass ich das nicht gerne sehe. Daran hast du dich nicht gehalten und hast dich ohne meine Erlaubnis in Youjis Gedanken eingeklinkt“, resümierte er mit einem dunklen, lasziven Ton in seiner Stimme. „Da ich ja der Bösewicht bin, gehört das eigentlich bestraft, wobei wir wieder beim Sexentzug sind.“ Er zog Schuldig an dessen Handgelenken wieder etwas näher an sich, damit er ihm direkt in die Augen sehen konnte – und nur ihm, so nahe waren sie sich. „Nun?“
 

Schuldig sah das Dilemma, in dem er bis zum Halse steckte.

Dieses Violett schnitt direkt in sein Herz und von dort wie ein Schwertstreich hinunter in seine Eingeweide.

„Ich…“, sagte er, die Stimme rau und daher kaum zu verstehen.

„Wenn ich dir was sage, werde ich’s ihm erzählen, dass ich dir was sagte. Das ist nur fair.“
 

„Abgemacht. Und ich erzähle ihm, dass du ihn Playboybunny genannt hast“, stimmte Aya dem zu. „Soll ich ihn einladen? Morgen Nachmittag wäre schön.“
 

„Das heißt also …ich bin bei allen beiden Versionen der Arsch“, murmelte Schuldig und ließ den Kopf hängen. „Schon recht. Einverstanden“, gab er sich geschlagen.

„Jei hat experimentiert und Yohji war das Versuchsobjekt.“
 

Das klang nicht gut. Das klang nach Ärger…aber eigentlich konnte es nichts Schlimmes sein, denn sonst hätte Schuldig schon längst etwas gesagt.

Dennoch…

Aya erhob sich und zog Schuldig keinen Widerstand zulassend mit sich aus der offenen Küche hinaus zum Schlafbereich, wo er den Deutschen auf das Bett stieß, vorsichtig über ihn gekrochen kam. Solche exorbitanten Bewegungen waren noch nichts für seinen geschundenen Körper.

„Und jetzt wirst du mir noch einmal ganz genau erläutern, was das für ein Experiment war, mein Lieber“, war seine Stimme sanfter Honig, dunkle Lockung, seichte Drohung, alles zusammen.
 

Trotz Rans Blessuren, die sicher noch spannten, waren dessen Bewegungen fordernd und bestimmend zugleich. Schuldig spielte den Flüchtenden und stützte sich auf die Ellbogen um nach hinten auszuweichen, Ran immer im Blick.

„Kein solches…welches du hier…augenscheinlich planst…“, zirkelte ein Lächeln um seine Mundwinkel.
 

Aya glitt über Schuldig und setzte den anderen Mann mit seinem Körper fest, die Hände mit denen des Telepathen verwoben.

„So…und welches dann?“, gurrte er, als sich seine Unterseite wie zufällig an der des anderen rieb. Rein zufällig natürlich.
 

Schuldig lächelte zu Ran hinauf. Betrachtete sich für einen langen Moment dessen so aufmerksames Gesicht. „Vielleicht…“

Das sanfte Glimmen in den Augen, das nur ihm gehörte, das nur wegen ihm…dort aus dem Violett hindurchtrat und sich ihm zeigte.

„…so etwas wie das hier…“ Er reckte sein Kinn, schloss die Augen etwas und genoss es sein Gesicht Rans entgegen zu heben. Dessen Wärme näherzukommen, dessen Haut an seiner zu spüren und dessen Lippen mit seinen zu fühlen.

Wer im Glashaus sitzt…

~ Wer im Glashaus sitzt… ~
 


 

o~
 

Er beobachtete müßig die Schwärme an bunten Fischen, die direkt vor seiner Nase herschwommen. Schnurgerade in die eine Richtung, dann schnurgerade in die Andere. Dann abrupt nach oben, als der Räuber der See kam und majestätisch durch sein Reich glitt.

Omi bewunderte die brutal anmutende Gestalt des Katzenhais, der gerade an ihm vorbeizog und sein Maul aufsperrte. Wie gebannt starrte der blonde Weiß auf die kleinen Fische, die vor ihm flüchteten und sich in Sicherheit brachten…alle in ihrem Schwarm, denn da waren sie stark.

Nur er, er stand alleine hier in diesem riesigen Aquazoo und wartete.
 

Er glaubte nicht, dass Nagi kommen würde, wenngleich er ihm eine Nachricht in den Briefkasten seiner kleinen Wohnung geworfen hatte. Er war nun schon einige Zeit aus China wieder da, laut Ran, und Omi hatte den Entschluss gefasst, dass es an der Zeit war, sich ein weiteres Mal in die Schwarzsche Gefahrenzone zu begeben. Ob diese jedoch auch mitspielte…würde er noch sehen.

Er schaute auf seine Uhr. Zwei Uhr hatte er geschrieben…es war viertel nach. Etwas würde er noch warten und die künstliche Unterwasserwelt hier vor sich beobachten.
 

Alles andere als etwas Künstliches beobachtete der augenscheinliche Zuspätkommer. Doch Nagi war schon früher hier als von Omi angenommen, nur … hatte bei seinem kleinen Versteckspiel Unsicherheit eine große Rolle gespielt. Sie hatten sich fast drei Wochen nicht gesehen und … wie würde ihre Begegnung nun sein?

Er sah den wiederholten Blick auf die Uhr und erkannte, dass er sich nun endlich dazu entschließen musste hinzugehen oder so zu tun, als hätte er die Nachricht verspätet erhalten und somit keine Möglichkeit mehr gehabt zu dem Treffen zu erscheinen.

Feigling, zwitscherte etwas in ihm und dies gab schließlich den Ausschlag dazu, seine Beine in Bewegung zu setzen. Die kühlruhige Atmosphäre traf genau seinen Geschmack und so war zumindest die Umgebung eine, in der er sich glaubte wohl zu fühlen.

Sich dem Blonden nähernd, hob er seine Hände und führte sie über dessen Augen.
 

Omi erschrak und blinzelte gegen die ihn blendenden Hände. Er war schon halb zurückgezuckt, als sich seine Lippen zu einem Lächeln nach oben bogen.

„Hmm….wer könnte das wohl sein?“, grübelte er nachdenklich und runzelte unter den kalten Händen seine Stirn. „Gib mir einen Tipp!“
 

„Das Gegenteil von Weiß“, antwortete Nagi im trockenen Tonfall, da er auf derlei kindische Ratespiele eigentlich wenig Lust hatte. Einfach unsinnig.
 

„Ooh!“, meinte Omi demonstrativ überrascht und entwand sich dem anderen wie eine Schlange. Er drehte sich abrupt um und lächelte.

„Du bist also doch gekommen“, stellte er fest und legte den Kopf schief. Kritisch besah er sich Nagi und hob die Augenbraue.
 

Und da Omi diesen Blick eher selten mit ihm in Verbindung anbrachte wurde die Unsicherheit in Nagi größer und sein Nervenkostüm bröckelte leicht. Er blickte zur Seite und dann wieder zu Omi. „Was… ist?“ Hatte er etwas an sich, was so nicht ganz ins Gesamtbild passte?
 

„Du siehst gut aus“, sagte Omi in dem gleichen, kritischen Ton wie vorher. „Wenn auch etwas blass, aber wohl genährt.“
 

Wohl…genährt?

Nagis Mundwinkel zuckten, konnten sich jedoch aufgrund eines Befehls von höchster Stelle zum Stillstand bewegen.

„Ich … habe nicht trainiert, während des Einsatzes.“
 

Da hatte er es doch genau gesehen, das Lächeln, das sich da anbahnen wollte, aber schändlichst unterdrückt wurde. Gut…noch war nicht aller Tage Abend und noch hatte Omi nicht aufgegeben.

Ihm lag ein ‚Wie lief es?’ auf der Zunge, doch er sagte nichts, schließlich waren sie nicht hier um über den Beruf zu reden.

„Wie geht es dir?“, fragte er anstelle dessen.
 

Nagi trat neben den anderen, verbarg seine Hände in seiner Jackentasche und betrachtete sich für einen Moment das satte Blau um sie herum, die gelben Fischschwärme die es durchzogen.

„Gut, Danke. Und dir?“ Er wusste wirklich nicht, was er sagen sollte, die Situation empfand er als furchtbar für sich selbst. Sein Magen fühlte sich flau an und er konnte kaum atmen in Gegenwart des anderen. War es Aufregung?

Doch die hatte er doch sonst nicht? Nicht einmal bei Einsätzen!
 

Dies hier war aber anders als ein Einsatz, es war viel gefährlicher, viel hinterhältiger und unberechenbarer: es war Omi.

„Gut geht’s mir! Ein Bisschen Familienstress, aber gut“, lachte er und stupste Nagi mit seiner Schulter an. „Schau mal, ein Feuerfisch“, sagte er und deutete auf das Prachtexemplar dieser Art, das gerade indigniert an ihnen vorbeizog und sie anglotzte.
 

„Familienstress?“, hakte Nagi nach einigen Minuten des einträchtigen Schweigens nach. Er wusste nicht genau welche Familie der junge Takatori neben ihm meinte. Vermutlich war es Weiß.
 

„Du weißt schon…unser Sorgenkind mal wieder. Aber was erzähle ich es dir“, lachte er. „Du hast den Kleinen sicherlich schon eher zu sehen bekommen als ich!“ Wenn Ran das hörte, wäre er doch glatt mal einen Kopf kürzer, befand Omi. Wie gut jedoch, dass Ran eben NICHT hier war.

„Alles etwas chaotisch in der letzten Zeit. Dafür ist es hier aber umso ruhiger.“
 

„Oh… du meinst… wegen dieser…“, Nagi deutete auf seine rechte Gesichtshälfte mit dem Zeigefinger. „…Sache?“

Danach schwieg er wieder etwas, ließ sich von dem sachten Treiben hinter der dicken Scheibe einlullen. „Glaubst du auch, dass wir es waren?“
 

Das war eine Frage, mit der sich Omi seit längerem nun beschäftigte und auf die er keine Antwort erhalten hatte. Ran war zwar noch einmal da gewesen und hatte mit ihm darüber gesprochen, hatte ihn in dem Zuge gleich darum gebeten, die Augen offen zu halten, was neue Aktivitäten in gewissen Kreisen anging. Mehr konnten sie nicht machen.

Omi runzelte die Stirn, als er sich daran erinnerte, wie Ran sein Katana mitgenommen hatte – zu Übungszwecken, wie es hieß. Doch daran glaubte er nicht wirklich.

Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht und sah Nagi von der Seite her an.

„Ihr…nein. Er…vielleicht. Aber ich weiß gar nichts. Es sind alles nur Vermutungen, die sich nicht beweisen lassen. Genau das ist das Schlimme. Es gibt keinen konkreten Anhaltspunkt und das lässt genügend Raum für Spekulationen.“
 

„Er? Wen meinst du damit?“

Nagi überdachte die Worte. Wir nicht, aber er.

Fujimiya war wütend abgerauscht und Schuldig wenig später zornig angerauscht. Verdächtigten sie vielleicht Brad? „Du meinst Brad?“ Seine Gestalt straffte sich etwas.
 

Omi nickte schweigend. „Rein logisch – von UNSERER Logik aus – betrachtet, ist er der momentan dringlichste Verdächtigte. Ja, auch wenn Ran gesagt hat, dass er es vermutlich wohl doch nicht ist und dass er nichts damit zu tun hat.“ Omi sah zu Nagi, nahm den anderen ganz genau in Augenschein. „Crawford hat nichts davon, dass Ran und Schuldig etwas miteinander haben. Er hätte MEHR davon, wenn sie es nicht hätten.“
 

Nagis Unsicherheit fand ein Ventil und entlud sich nun in Wut und auch Enttäuschung.

„Hast du mich deshalb hierher gebeten um über diese exorbitante Lage zu sprechen?“, wurden seine Worte leidenschaftslos und sein Blick ging durch den anderen hindurch.

Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, in welcher Umgebung er sich befand und dass er hier seine Fähigkeiten besser zurückhielt, wenn er nicht mit den Fischen schwimmen wollte.

Er selbst würde hier wohl ein nasses Grab finden. Er wich einen Schritt zurück vom Glas weg, als ginge von dem Material selbst eine Gefahr aus.

Wachsbleich im Gesicht sah er sich um, über sich und um ihn herum… Glas und Wasser welches einen hohen Druck ausübte…ein kleiner Stoß und …

Die Menschen um ihn herum wurden ausgeblendet, sein Sichtfeld schränkte sich ein, die Ränder verwischten, wurden zu Schatten.
 

Einen weiteren Schritt zurückgehend hatte sich seine Unsicherheit mit Angst vermischt. Furcht über die Tatsache seiner Unbeherrschtheit.
 

Omi wusste nicht, was er mit der Angst anfangen sollte, die er in den Augen des Jungen sah, der sich Schritt für Schritt von ihm entfernte. War es wirklich nur wegen Crawford? Nein…

„Ich habe dich hierher gebeten, weil ich dich sehen wollte. Ich würde am Liebsten gar nicht über Crawford sprechen. Sondern nur mit dir über dich.“ Er lächelte gewinnend und steckte die Hände in die Hosentaschen.
 

Die Luft wurde Nagi eng und die Leute um ihn herum machten diesen Umstand der aufkommenden Panik keinen Deut besser, ganz im Gegenteil. „Ich…“, fing er an, wusste aber nicht, was er eigentlich sagen wollte, so beschränkte er sich darauf, den anderen in der Ellenbeuge mit klammem Griff zu fassen und ihn mit scheuklappenartigem Blick raus aus diesem speziellen Raum zu ziehen. Dunkle Schatten umringten sein Sehfeld und er war froh, als er in einem Raum mit normalem Sichtglas nach draußen auf eine Bank sank. Fest die Zähne zusammengebissen atmete er tief ein, dabei nach draußen in die Weite des Himmels hinauf blickend.

Alles war hier gut, er musste sich nur beherrschen, dann wäre dort drinnen ebenfalls nichts geschehen, weshalb hatte er plötzlich diese Furcht besessen?

Nur weil er wütend geworden war? Wut wegen etwas anderem. Nicht wegen der Umgebung. Sie war schön. Hier war es schön und ruhig. Keiner wollte ihm hier etwas Böses.

Vorher war doch alles in Ordnung gewesen.
 

Sich neben Nagi setzend, fuhr Omi dem anderen schweigend durch die Haare. Es war nur eine kurze, flüchtige Geste, nichts, das groß auffiel oder Nagi zu sehr aufrütteln würde.

„Was ist los mit dir?“, fragte er, hatte er doch die Panik in den Augen des Telekineten gesehen, diese Flucht aus der Wassergrotte. Oder war es genau das? Fühlte sich Nagi begraben?

Das konnte vielleicht sein, denn vielen ging es so. Youji zum Beispiel mied den Aquazoo wie die Pest, er HASSTE die Tonnen an Wasser um sich herum, die irgendwann über ihn zusammenbrechen könnten. Hatte Nagi…

Jetzt dämmerte es Omi und er konnte sich vorstellen, warum der andere so reagierte.

„Sollen wir woanders hingehen?“
 

Nagi schmälerte seinen Blick um den anderen zu fokussieren, nickte dann erleichtert. „Es …ist schön hier, aber …gefährlich“, führte er nicht näher aus, was er damit meinte.

Es war einfach albern, er führte sich auf wie ein Kleinkind, ein verzogenes noch dazu. Warum konnte er sich nicht beherrschen! Gerade eben, warum musste er wütend werden?

Er hasste diese Wut dieses Gefühl des Zorns in sich, schon immer hatte er es gehasst und gefürchtet zugleich. Diese Gefühle mussten eingedämmt werden, sie mussten verschwinden.
 

Omi wusste, was Nagi meinte und nickte schweigend.

„Wir können auch in den Dschungel gehen, weißt du? Da gibt’s nur gefährliche Krokodile, keine Aquarien! Und die kannst du ganz leicht fertig machen, wie wäre es?“ Er lächelte gewinnend und aufmunternd, während sich seine Hand wie von selbst auf den Oberschenkel des Schwarz legte. „Du kannst mir aber auch etwas über Shanghai erzählen. Wie war es denn dort?“
 

Wärme drang durch den Stoff seiner Hose dort wo er den Kontakt mit Omis Hand fühlte. Er strich flüchtig, schüchtern darüber und erhob sich dann. „Reptilien klingt gut.“

Ein schwaches Lächeln kräuselte seine Lippen. „Es war interessant… aber auch wie immer das Gleiche.“ Besser er erzählte nichts über seine Verschleierungstaktik…
 

„Was war denn dann interessant daran? Hattest du auch Gelegenheit, Land und Leute kennen zu lernen?“, fragte Omi ganz weg von der Missionsthematik, die hier bei weitem nicht hingehörte. Er stand auf und bedeutete Nagi aufmunternd, mit ihm dorthin zu schlendern. Er freute sich schon auf die Krokodile…besonders dann, wenn sie gefüttert wurden.
 

Nagi musste sich daran erinnern, wie er in dieser Mädchenkleidung herumgelaufen war. „Ja… ich hatte genügend Gelegenheit“, verzog er den Mund zu einem halben Schmunzeln.

Schuldigs dumme Sprüche als sein zukünftiger Ehemann waren der Gipfel der Unverfrorenheit gewesen. „Ich agiere meist separiert von den anderen.“

Sie passierten einen anderen Eingang und der erstickende Geruch von feuchtklimatisierten Räumen und Reptilien hing dezent in der Luft.
 

Omi lauschte im Hintergrund auf das kreischende Zwitschern der Vögel, die über ihren Köpfen hin und herflogen. Er ließ sich die Worte Nagis schweigend durch den Kopf gehen und lächelte schließlich.

„Dann erzähle mir etwas Ungefährliches, aber Interessantes, das du erlebt hast!“ Eine klare Ansage, dass er diese Frage niemals als Weiß gestellt hatte, sondern als Omi. Und dass er diese Informationen auch nie weitergeben würde. Und ebenso war es der Hinweis darauf, dass Omi sich brennend dafür interessierte, was Nagi überhaupt zu erzählen hatte.
 

„Hmm“, sinnierte Nagi und blickte in einen der größeren Schaukästen, in dem sich augenscheinlich nichts bewegte. Neugierig versuchte er die kleine grüne Schlange, die sich dort laut Bild befinden sollte, auszuspähen.

„Ich … war hauptsächlich in den Auftrag involviert. Kannst du die Schlange sehen?“
 

Omi ging noch etwas näher an das Glas heran und stierte in das Fenster. Noch konnte er das Reptil nicht sehen…er verengte die Augen. Wo war sie denn? Eine wirkliche Möglichkeit zum Verstecken gab es unter all dem offenen Grün nicht, also musste sie doch irgendwo da sein…

„Ich sehe sie nicht…du?“
 

Enttäuscht die Lippen vorschiebend verneinte Nagi ebenso und verzog seine Schnute missbilligend. „Ich will mein Geld zurück!“, sagte er ernst und hob seine Braue, einen nicht ganz ernsten Blick zu Omi werfend, bevor er zum nächsten Schaukasten ging.
 

„Vermutlich ist sie ausgebrochen und macht sich jetzt draußen ein schönes Leben“, lachte Omi auf den Kommentar des Telekineten und besah sich Nagi noch einmal genauer. Dieser Schmollmund lud zum Küssen ein.

Sein Blick glitt über die ganze Gestalt. Der Andere war größer als er, aber dünner. Und wieder grau in grau gehüllt…dabei würden ihm bunte Sachen wirklich gut stehen.

Omi überlegte sich, ob er Nagi das nächste Mal - sollte es denn eines geben - zum Einkaufen mitnahm und ihm gewisse Dinge aufschwatzte.

„Aber schau, sie kann man sehen!“, grinste er und deutete auf die Kobra, die ihnen in diesem Moment genauso interessiert entgegenstarrte.
 

„Ja…und sie uns…irgendwie …unangenehm“, krauste Nagi die Nase und versuchte die Kobra niederzustarren. Was ihm nicht recht gelingen wollte.

„Glas ist wirklich sehr vorteilhaft … in mancher Situation“, versuchte er seine vorherige Schwäche abzumildern und einen Scherz daraus zu machen.
 

Omi wusste das zu würdigen, denn seine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, allerdings nicht nur wegen des Humors, sondern dem dramatischen Kampf hier vor seinen Augen. Manchmal war er sich nicht so wirklich sicher, wer von ihnen sich mehr im Glaskasten fühlte: die Schlange oder sie selbst…vielleicht dachte die Kobra ja auch, dass sie die interessanten

Objekte zur Anschauung waren - oder zur Fütterung.

Die Kobra näherte sich dem Glas und schwebte regelrecht von Nagi zu ihm, dann wieder zurück. Eine kleine, gespaltene Zunge fuhr heraus um ihre Umgebung zu ertasten.

"Sehr vorteilhaft!", stieg Omi darauf ein und meinte es ernst. Ihr wollte er nicht ohne einen Schutz begegnen. Obwohl…so viele gefährliche Raubtiere hatten sich schon als zahme Katzen herausgestellt, als sie dem richtigen Dompteur überantwortet worden waren.

"Aber gruselig, meinst du nicht auch?"
 

„Gehört nicht zu meinen Lieblingstieren“, wisperte Nagi und wandte sich von der Kobra ab, die sich von ihm – kleinem Menschen – nicht beeindrucken hatte lassen. Wobei …

Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

Diese Kobra schien keine Angst vor so etwas wie ihm zu haben!
 

"Dann hast du also andere Lieblingstiere?", fragte Omi prompt. Irgendwie hätte es ihm noch vor Wochen absurd erschienen, dass jemand von Schwarz derart menschlich wäre. Doch nun war das anders. Nun konnte er sich das durchaus vorstellen, die Frage war nur…

"Welches?"

Omi tippte da ja auf eine Spinne…zumindest könnte sie zu dem anderen Jungen passen: äußerst giftig, aber eigentlich ängstlich und schnell aufbrausend.

Ob der Telekinet allerdings mit dieser Wahl zufrieden sein würde?

Omi behielt seine Erkenntnisse lieber für sich.
 

„Nein, habe ich nicht. Aber wenn ich welche hätte, gehörten Schlangen nicht dazu. Obwohl sie schön anzuschauen sind“, räumte er ein und blieb vor einem Kasten mit Nattern stehen. Hübsche Farben hatten sie. „Als Kind favorisierte ich Elefanten, vermutlich wegen ihrer Größe und wegen des praktischen Rüssels… denke ich.“ Er verzog den Mund missmutig.

„Die wirft so schnell nichts um“, erinnerte er sich an seine Kindheitstage.
 

„Nein, das sicherlich nicht“, bestätigte Omi. Elefanten? Spinnen? Okay…Er lächelte.

„Elefanten sagt man nach, dass sie sehr intelligent und sozial seien. Kennst du die Berichte von Menschen, die beinahe von ihnen zu Tode getrampelt worden wären, weil sie ihnen böses getan haben? Im letzten Moment aber haben die Elefanten von ihnen abgelassen…vielleicht kennen sie so etwas wie Gnade, was meinst du?“

Er selbst hatte sich immer vor diesen Tieren gefürchtet, als er damals mit der jungen Manx im Zoo gewesen war. Sie war zu dieser Zeit schon eine Kritikeragentin gewesen, noch lange bevor er sich bewusst geworden war, dass dieser gütige Mann, der ihn gerettet hatte, das nur tat, weil er ihn zum Killer erziehen wollte.

Omi konnte sich nicht mehr richtig an diese Zeit erinnern - er wollte es auch nicht - doch solche Sachen stachen hervor. Ebenso wie der Elefant, der groß und imposant vor ihm gestanden hatte und vor dessen Rüssel sich Omi hinter Manx versteckt hatte.
 

„Gnade? Darüber kann ich nichts sagen. Ich beschäftige mich nicht mit diesem Thema, du weißt ich ziehe Physik der Philosophie vor“, erschien ein kleines Lächeln im Mundwinkel des Braunhaarigen.

„Wie waren eigentlich deine Prüfungen? Die sind doch sicher schon vorbei, nicht?“, lenkte Nagi das Thema um und er spähte über eine gläserne Begrenzung in die reich mit Pflanzen angelegten Becken, in denen sich das ein oder andere Urzeitgetier herumtrieb.
 

Omi lachte verlegen. „Ich bin knapp dem ‚Haut-über-die-Ohren-ziehen’ entkommen, wenn du das wissen willst. Aber es hat gereicht und ich bin durchgekommen. Nächstes Semester geht es wieder mit voller Power weiter!“ Er hatte in der letzten Zeit einfach zu viele Sorgen gehabt, als dass er sich wirklich auf die Uni hatte konzentrieren können. Ran…Weiß…Kritiker…all das hatte seine Aufmerksamkeit gefordert.

„Wie sieht es denn bei dir aus? Hast du alles unter einen Hut bekommen?“, fragte er der Ablenkung halber und starrte auf eines der riesigen Krokodile hinab, das gerade träge am Rande des Wassers lag.
 

„Ich mache meist nichts anderes als Projekte auszuarbeiten oder Studienbriefe durchzuarbeiten. Ab und an kommt mir ein Auftrag dazwischen, das wirft mich dann fast um vier Wochen zurück, in denen ich auch die Vorlesungen nicht besuchen kann. Momentan muss ich den Stoff der letzten Wochen aufarbeiten.“ Ein wenig erfreuter Blick traf Omi und spiegelte dessen Leid mit der Vollzeitbeschäftigung und dem lukrativen Nebenjob wieder. Einen Moment in die Betrachtung der grüblerisch verzogenen Lippen vertieft, erinnerte sich Nagi der Nacht bevor sie nach China aufgebrochen waren. Süße Lippen und eine talentierte Zunge die dahinter lag… wie er sich entsann.
 

"Das kann ich nachvollziehen", seufzte Omi. "Ist der Stoff wenigstens interessant?" Er erwiderte den Blick der grauen, ihn taxierenden Augen und fragte sich, was wohl dahinter verborgen sein mochte. Was dachte der Telekinet gerade über ihn, wo er ihn doch schon so eindringlich anstarrte?

Ein kleines, laszives Lächeln breitete sich auf Omis Lippen aus, als er einen Schritt näher zu Nagi kam.

"Sag, was würdest du machen, wenn ich dich hier vor aller Leute Augen einfach küssen würde?", flüsterte er ihm ins Ohr und pustete sanft gegen, die empfindliche Haut.
 

„Fändest du das so klug?“

Nagi hob eine Braue und wandte den Kopf leicht sodass Omis Atem seine Wange streifte. Er musste lächeln bei diesem warmen, fedrigen Gefühl.

Noch einen Moment länger blickte er in das freche Blau bevor er näher kam, sodass sich fast ihre Lippen berührten, einen Moment verharrte bevor er zwinkerte und sich umdrehte. Die Röte auf seinen Wangen zeigte bis auf Omi allen, die ihn anblickten, dass diese kurze Berührung ihn nicht kalt gelassen hatte. Trotzdem freute er sich, dass er dem Charme des anderen widerstanden hatte und ausgebüxt war. So strebte er die kleine Brücke über dem Krokodilbecken an.
 

„Hey!“, maulte Omi indigniert. Das waren ja ganz neue Seiten an dem schüchternen Telekineten. Seiten, die er ganz und gar nicht zu schätzen wusste!

Leise vor sich hin schimpfend ging er Nagi hinterher und überlegte, ob er nicht einfach einen Überfall planen sollte, oder ob sie das beide unweigerlich nach unten zu den großen Beißerchen brachte. Er plädierte da doch stark auf Letzteres, also begnügte er sich damit, friedlich neben Nagi herzulaufen und nach unten zu spähen. Wie gut, dass sie mit knapp vier Metern einfach zu hoch für diese Viecher waren!

„Kann es sein, dass du dir mehr und mehr von Schuldig annimmst?“, fragte er schelmisch. Obwohl…der Telepath war nicht zu überbieten an Kokettierung.
 

Das brachte Nagi allerdings wirklich zum …Entsetzen … oder Staunen. Jedenfalls warf er Omi einen zweifelnden Blick zu. „Das halte ich für unwahrscheinlich“, meinte er und blickte angesäuert.

Er … und Schuldig gleichen. „Nicht im Entferntesten!“, schnaubte er und sah nach unten zu den Krokodilen, lehnte sich an die Absperrung.
 

Omi stellte sich neben Nagi und knuffte den anderen leicht in die Seite. „Sicher?“, lächelte er spitzbübisch und schielte ins Becken. „Vielleicht kannst du dich seinem Einfluss gar nicht entziehen, auch unbewusst nicht“, grübelte er nachdenklich. „Er hat dich assimiliert!“, war schließlich das glorreiche Ergebnis seiner Nachforschungen.
 

„Aha“, war Nagis trockene Antwort. „Du siehst zu viel Star Trek, fürchte ich.“

Ich glaube eher, dass Schuldig Fujimiya assimiliert hat und zwar mit Haut und Haar…vollständig sozusagen.“
 

„Naa! Also das muss noch geklärt werden, wer da wen assimiliert hat!“, hielt Omi dagegen und musste schmunzeln. Für einen Moment kam es ihm so vor, als würde das ein kleiner Kampf zwischen Weiß und Schwarz sein; wer hatte über wen triumphiert. Doch da waren sie schon weit drüber hinweg…auch wenn es Weiß immer noch schwer fiel zu akzeptieren, dass Schuldig sich Aya einverleibt hatte und dieser sich das so gefallen ließ - wo sie doch vorher Feinde gewesen waren. Omi wusste nicht genau, was in diesen anfänglichen fünf Tagen zwischen den Beiden vorgefallen war, doch er vermutete, dass genau das der Grundstein für diese…Assimilation war.

„Außerdem lenk nicht ab! Du bist frecher geworden als beim letzten Mal!“
 

„Wer sagt dir denn, dass ich nicht immer so frech war?“

Nagi warf dem anderen einen trockenen Blick zu und schürzte die Lippen minimal. Natürlich stimmte es nicht wirklich, was er da als Verteidigung ins Feld brachte, aber schließlich musste ein guter Zocker auch einen guten Bluff beherrschen.
 

„Hm…stimmt. Allerdings müsste ich das dann erst einmal austesten!“, grinste Omi und hielt diesem verdächtig verschlagenem Blick tapfer stand. Verstohlen sah er sich um, um festzustellen, ob ihnen jemand zusah, bevor er einen minimalen Kuss auf diese einladend gespitzten Lippen platzierte und sich dann, als wäre nichts gewesen, wieder auf das Terrarium unter ihnen konzentrierte.
 

Federleicht… und doch mit genügend feinem Druck appliziert um tiefe Eindrücke in Nagi zu hinterlassen. Dieses zarte Küsschen war süß und sofort wurde dieser Süße nachgeschmeckt.

Er sog leicht die Lippe zwischen die Zähne und spitzte mit der Zungenspitze darüber, fast verstohlen wirkte diese kindlich anmutende Tat.
 

Omi lächelte und zwinkerte schelmisch zu Nagi, bevor er seine Hände in die Taschen vergrub und leise pfeifend voraus ging. Na da genoss aber jemand die Zuwendung, da war aber jemand ganz und gar nicht abgeneigt.

Omi war für diesen Moment wirklich geneigt, Crawford und seine Vaterallüren zum Teufel zu jagen, wenn ihm dieses Versprechen nicht so wichtig gewesen wäre. Er wollte Nagi nicht gefährden, indem Kritiker mitbekamen, was er hier trieb. Also…musste er sich zurückhalten.
 

Genau. Zurückhalten.
 

Wie in Nagis Apartment vor viereinhalb Wochen.
 


 

Später…viel später ging Omi mit eben diesem beschwingten Gefühl nach Hause und ließ seinen Blick zum dunklen Himmel empor gleiten. Er grinste wie ein Verrückter und das schon die ganze Zeit auf dem Nachhauseweg. Der Tag war…toll gewesen. Sie waren sich näher gekommen, aber doch soweit auf Abstand geblieben, dass es selbst der Anstandsdame gepasst hätte, die ihre Orakelaugen auf sie beide hatte.

Leise pfeifend betrat er das Koneko und kam in die Küche, wo ihn Youji empfing, der die Augenbraue anhand seiner guten Laune deutlich in die Höhe erhoben hatte.
 

„Hallo!“, tschilpte Omi und raubte dem Kühlschrank seinen viel getrunkenen Orangensaft.

„War er gut?“, fragte Youji trocken und Omi lachte auf.

„Wen meinst du?“

„Dein Date natürlich!“

„Wie kommst du darauf, dass ich heute ein Date hatte?“, fragte Omi zurück und lehnte sich an den Kühlschrank, das Glas Saft in seiner Hand.

„Du hast dich angezogen, als wolltest du ganz Tokyo aufreißen, natürlich mit deinem jungfräulichen“, Yohji fiel Omis verschlagen Grinsen ins Auge. „…Charme. Außerdem kann man das Glück schon beinahe aus deinen Ohren quillen sehen!“
 

Der blonde Junge verzog bei der Vorstellung angewidert seine Nase. „Manchmal bist du echt eklig, Youji, weißt du das?“

„Tzz. Also…wer ist es?“

„Sag ich nicht!“

„Du kannst es sowieso nicht vor mir geheim halten!“, grinste Youji zweideutig und nickte in Richtung Küchentisch. „Wie wäre es mit DEM da?“

Omi runzelte die Stirn und nahm den unscheinbaren, einfachen Zettel auf, der zwischen ihnen lag. Auf ihm stand nichts…fast nichts. Nur ein Datum und eine Uhrzeit. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

Oh ja.

„Omi…“

„Schlaf gut, Youji!“

„Hey! Du kannst mich doch nicht so abspeisen! Ich muss doch wissen, was hier vor sich geht!“

„Aber alles wirst du nicht erfahren!“, flötete Omi und zog lächelnd in seine Gemächer.
 

20. Februar.

19:00 Uhr.
 

Na wenn das mal kein Date war…
 

o~
 

„Hmm, was meinst du?“

Nagi lehnte sich in den Ledersessel zurück und las zum wiederholten Mal die kurze Nachricht auf ihrer Messagebox, die sie anonym über ein Hotel geschaltet hatten. Eine ihrer vielen Auslegeradressen, um Schwarz für einen Auftrag zu engagieren.

Allerdings hatten nur zwei Kontaktmänner diese Nummern.

Diese Nachricht kam über das Grand Hyatt.

Brad hatte seinen linken Arm über die Lehne gelegt und richtete sich nun auf, lehnte sich an den Tisch an. Nagi blickte ihn an.

„Könnte eine Falle sein“, meinte Nagi ruhig.

„Mit Sicherheit ist es eine.“

Pause.

Brad hatte die Arme verschränkt, zog ein nachdenkliches Gesicht. Er schien vor sich hinzubrüten.

Eine Weile war es still in dem Raum, bis ein unwilliges Knurren aus der Denkerkehle zu vernehmen war.

„Aber weshalb ausgerechnet jetzt?“
 

Nagi behielt seinen Blick auf den Bildschirm. „Weder besser noch schlechter zu früher, woran denkst du?“

„An Fujimiya. Der Angriff war vor ungefähr zweieinhalb Wochen. Sie hätten vorher bereits Gelegenheit gehabt, sich Schuldig zu greifen, wenn sie diese Absicht verfolgt hätten. An dem Tag, an dem die beiden Spaßvögel mich an Kritiker verkauft haben, hätten sie genügend Männer ins Spiel bringen können. Ohne Aufsehen könnte Schuldig sie in Harajuku nicht ohne weiteres abschütteln, oder gar ausschalten. Nicht alle auf einmal und mit Fujimiya im Schlepptau. Zu viele Zeugen, zu viele Unsicherheiten.“
 

„Das heißt, du wirst hingehen?“

Nagi legte seine Hände auf die Lehnen und blickte zu Brad auf. „Warum?“
 

Brad sah ihn länger an als nötig, was Nagi zu dem Schluss brachte, dass er selbst noch nicht ganz überzeugt von seiner Idee war.

„Weil hier etwas nicht stimmt. Und ich möchte wissen, was es ist.“

Er stieß sich ab und massierte sich kurz die Schulter, eine seltene Geste, zeigte sie, dass Brad in Sorge war.

„Schick eine Bestätigung und vereinbare ein Treffen am Treffpunkt zweiter Kategorie, ich leg mich hin.“
 

Nagi nickte und wünschte Brad eine gute Nacht. Der Telekinet formulierte eine kurze Nachricht mit Ort, Zeit und Datumsangabe.
 

o~
 

Manx spielte mit dem silbernen Füllfederhalter in ihrer Hand, der müßig auf ihrem Zeige- und Mittelfinger balancierte. Er fiel herunter und sie griff sich ihn, bevor er den Tisch herunterrollen konnte.

Hätte sie gedacht, dass er unpünktlich war? Nein. Aber vermutlich saß er irgendwo schon hier und beobachtete sie. Manx sah sich schweigend um und begegnete der Kellnerin mit einem Lächeln, während sie noch einen weiteren Kaffee bestellte.

Ihr Blick ging geradewegs auf die Straße heraus von ihrem kleinen Tisch in dem Café, wo sie wortwörtlich mit dem Rücken zur Wand saß. Mal sehen, ob er sich sehen ließ. Bradley Crawford, Orakel von Schwarz. Wenn sie es genau nahm, IHR Eigentum, fair ausgetauscht gegen die Freiheit Fujimiya Rans und seines Teams.
 

Das so betitelte Eigentum war bereits zwei Stunden vor dem Eintreffen der Abteilungsleiterin von Kritiker eingetroffen. Die Umgebung war augenscheinlich sauber, nichts, was auffällig wäre, niemand der nicht hier her gehörte.

Brad erhob sich und verließ den Coffeshop gegenüber dem Café und überquerte die Straße mit lässigen, nicht eilenden Schritten.

Er fand sie an einem gut gewählten Tisch, an dem sie beide den Eingang im Auge behalten konnten, ohne sich zu nahe zu kommen.

Er ging näher und noch im Hinsetzen ging er auf das Thema seines Hier seins ein. „Was wollen Sie?“, fragte er mit leiser, ruhiger Stimme. Seine Miene war unleserlich.
 

Meinen vereinbarten Preis, sagten ihre Augen, „Eine kleine Unterredung mit Ihnen“, ihre Lippen, als sie das Orakel mit einem ihr angeborenen Misstrauen betrachtete. Zweifellos war er ein einnehmender Mann, sowohl von seiner Aura, als auch von seinem Auftreten, doch dadurch ließ sie sich nicht einschüchtern. Auch nicht dadurch, dass Schwarz ihren Kritikeraufträgen jahrelang dazwischengefunkt hatten, auch nicht davon, dass auf ihren Befehl hin Schuldig entführt worden war. Auf ihren Befehl hatte Abyssinian den anderen Mann bewacht. Sie war es, die sich Sorgen um den rothaarigen Japaner gemacht hatte, als er verschwunden war und selbst sie nicht wusste, was ihn erwarten würde.

„Vielen Dank für Ihr Kommen. Wie geht es Ihnen?“, fragte sie höflich, jedoch distanziert.
 

„Haben Sie mir nichts Wichtigeres als Höflichkeiten anzubieten?“

Brads Augen zeigten seine ruhige Kühle, die ihn stets unnahbar und undurchschaubar wirken ließ. „Sie sollten zur Sache kommen“, forderte er sie erneut auf, ihm den Grund für dieses Treffen zu nennen.
 

Manx lächelte.

"Ich habe Informationen für Sie, die Sie vielleicht interessieren könnten.

Informationen über feindliche Aktivitäten, die auch meinen Ex-Agenten und Ihr Teammitglied schon tangiert haben. Vielleicht sollten Sie sich einen Moment Zeit nehmen und sich anhören, was ich Ihnen zu sagen habe", erwiderte sie und der Füllfederhalter in ihrer Hand kam auf der blank polierten Tischplatte zum Ruhen.
 

Brads Beobachtungen hatten ihm gesagt, dass die Frau nervös war, auch wenn es bis auf das Spiel mit dem Schreibgerät keine offensichtlichen Hinweise darauf gab.

„Wie haben Sie uns gefunden?“
 

„Kontakte, Informationen, das Übliche“, erwiderte Manx bedächtig. „Hier und da ein erledigter Auftrag, die richten Leute befragen und schließlich die Informationen in der richtigen Reihenfolge miteinander kombinieren. Es war zwar nicht leicht“, sie nickte anerkennend in Crawfords Richtung. „Aber nicht unüberwindlich.“
 

„Wer sagt ihnen, dass ich diese Tatsache nicht als störend empfinde und mir darüber Gedanken machen werde, ob ich Sie nicht aus dem Weg räumen werde.“ Was soviel hieß wie die Agentin samt ihrer Abteilung auszuschalten.

Die blaugrauen Augen blickten ihn fest an und das herzförmige Gesicht war aufmerksam und doch mit einer gewissen Unnahbarkeit auf ihn gerichtet.

Er war der Agentin früher begegnet, als sie noch für Takatori tätig waren. Sie wusste, wie anziehend sie wirken konnte. Heute hatte sie sich eher zugeknöpft gekleidet. Doch auch so formten der knielange Rock, das Kostüm ihre weibliche, schlanke Figur nach.

Brad hatte darauf geachtet, ob das kleine Gerät, dass Nagi ihm mitgegeben hatte und etwaiges Abhörequipment ausfindig machen sollte, stummen Vibrationsalarm gab. Doch es blieb aus.
 

„Nennen Sie es Risikobereitschaft oder einfach den Spaß am Spiel mit dem Feuer“, scherzte Manx, lachte kurz, doch nicht lange genug, als dass es echt wirken konnte. Sie schüttelte schließlich den Kopf.

„Sie hätten die Gelegenheit dazu schon vor Tagen gehabt, wenn Sie es gewollt hätten. Sie hätten sich nicht die Mühe eines Herkommens machen müssen, der ganzen Absicherung, die Sie getroffen haben. Ein Mann Ihres Profils macht keinen Handschlag umsonst oder aus reiner Freude, habe ich nicht Recht? Von daher scheint Ihr Interesse an dem, was ich Ihnen zu sagen habe mehr zu wiegen, als an meinem Tod. Und dem meiner Mitarbeiter.“ Sie wusste aus den Akten, dass er eine Brille trug. Doch heute hatte er anscheinend die andere Variante gewählt, die seine Augen noch heller erscheinen ließen. Stechend hell in einer Intensität, die sie nahe zu durchbohren schien. Manx hielt diesem Blick gelassen Stand.
 

„Ich bin kein Spieler, Manx-san.“

Brad war sich nicht sicher, was ein Spiel mit diesen Informationen zu tun hatte. Für ihn sah es eher wie eine Bedrohung aus.

„Verraten Sie mir auch, was Sie für die Informationen wollen?“
 

„Hilfe bei einem kleinen Problem, das ich gerade habe“, erwiderte Manx und nippte an ihrem Kaffee. Ihre Augen waren ernst, als sie sich die vergangenen Tage durch den Kopf gehen ließ, die schlechten Nachrichten, die eine nach der anderen eingetrudelt waren…mal auf die eine oder andere Weise. Berichte von toten Agenten, von Aktivitäten, die sie nicht vorhergesehen hatten, von Organisationen, die sie nicht kannten…

„Und vermutlich wird unser Problem auch bald Ihres sein, Crawford-san. Das sollten Sie auch bedenken.“
 

Aha, daher wehte also der Wind. Kritiker suchten ihre Hilfe.

Beinahe hätte er sich zu einem Lächeln hinreißen lassen. Welch Ironie diese Situation doch beinhaltete.

„Sie brauchen also die Hilfe von Schwarz.“

Er hatte es einfach so sagen müssen. Keine böse Absicht, wirklich.

„Wie sieht ihr Problem denn aus?“
 

Manx ließ sich zu einem säuerlichen Lächeln hinreißen. Ja, er hatte es sich wirklich noch einmal auf der Zunge zergehen lassen müssen.

„Mein Problem sind mindestens vier Männer, die einen meiner Ex-Agenten zusammengeschlagen haben und das aus unbestimmtem Grund. Sie haben allerdings genau gewusst, wen sie vor sich haben. Seltsam, dass es erst jetzt geschieht.“ Sie öffnete die schmale Aktentasche, die auf ihrem Schoß lag und zog eine schwarze Mappe hervor. Eine ihrer Waffen, die sich in eben dieser Tasche befand, blieb jedoch, wo sie war.

„Und so sieht mein Problem in Bildern aus.“ Tote Kritikeragenten, allesamt in ihren Wohnungen erschossen oder anderweitig umgebracht.
 

„Wie kommen Sie darauf, dass wir ihnen helfen werden? Das Problem scheint nur Sie kümmern zu müssen. Bisher sehe ich nur Ihre Agenten in einer Blutlache.“

Brad warf einen flüchtigen Blick auf die Bilder und reichte sie wieder zurück.

Wenn Fujimiya nicht wäre, würde sie dieses Problem nicht im Entferntesten tangieren.
 

„Richtig, bisher sind es nur unsere Agenten. Die Katzen sind davon nicht betroffen, was aber ist mit demjenigen, der Verbindung zu einem Ihrer Mitarbeiter pflegt? Seltsamer Zufall, dass es erst jetzt passiert. Sehr seltsamer Zufall, meinen Sie nicht auch? Jemand ist gut genug um uns aufzuspüren, wie lange meinen Sie, wird es dauern, bis er über Ihre Schwachstelle auch SIE erreicht hat?“ Ihr Ton war freundlich und ruhig, doch Manx’ Augen spiegelten den Ernst der Lage wieder. Sie steckte die Akte wieder weg.

„Uns ist es damals gelungen, Ihren Mitarbeiter in unsere Obhut zu bringen. Was gibt Ihnen die Sicherheit, Crawford-san, dass so etwas nicht noch einmal geschehen wird - von jemandem initiiert, der sich nicht so leicht verschleppen und gefangen halten lässt?“
 

„An dieser Gefangenhaltung ist besagter Mitarbeiter unserer Organisation schuld. Er hat sich gegen meinen Befehl der Tötung ausgesprochen, verehrte Manx-san“, lächelte Brad eisig.

„Generell sind wir nicht wählerisch, was unsere Aufträge angeht. Wir haben unsere Regeln, allerdings … durch, sagen wir spezielle Umstände in der Vergangenheit lässt sich eine Zusammenarbeit zwischen uns wohl ausschließen.“

Eine Absage, allerdings… noch nicht vollständig.
 

„Nun, dann muss ich mich leider entschuldigen, Crawford-san. Mein Zeitplan erfordert meine Anwesenheit bei einem wichtigen Projekt, da Sie nun nicht geneigt sind, auf den Handel einzugehen“, lächelte sie auf eben der professionellen Ebene, die sämtliche ihrer Gedanken vor der Außenwelt abschirmte. Sie hatte sich eine kleine Hoffnung gemacht, doch diese war niedergeschlagen worden. Dann musste sie einen anderen Weg finden. Welcher sich ihr allerdings auftun würde…wusste sie nicht.

Sie winkte der Kellnerin und ließ sich ihren Kaffee abnehmen. Anschließend erhob sie sich und griff sich den dunkelgrünen Tweedmantel, der neben ihr lag.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Crawford-san. Hoffentlich überleben Sie und Ihr Team“ Sie nickte dem sitzenden Mann zu und verließ das Café. Kaum draußen steckte sie sich eine Zigarette an…eigentlich hatte sie ja aufgehört, durch den Stress jedoch wieder angefangen.
 

Crawford hob eine Braue ob diesem schnellen Abgang und es erstaunte ihn ein wenig, dass die Leiterin einer Einheit wie Kritiker nicht vehementer gewesen war. Er schloss daraus, dass sich Kritiker in die Enge getrieben vorkam.

Er beschloss seinen bestellten Kaffee zu genießen und über die Worte nachzudenken. Lange würde er jedoch nicht hier verweilen.

Kritiker waren also schon soweit gekommen, dass sie Schwarz zur Zusammenarbeit bewegen wollten?

Wenig später verließ auch er das Café und stieg in das bestellte Taxi.
 

o~
 

Es war kaum eine Woche seit ihrem Treffen mit dem Schwarzanführer vergangen und Manx erstickte in Arbeit. Weitere Agenten waren bei Aufträgen gestorben, gezielt oder grausam. Das alles schien kein Muster zu ergeben, nur eines war gleich: die Brutalität, mit der vorgegangen wurde und immer waren die Leichen gut sichtbar positioniert. Gut sichtbar für Presse und Polizei, was sie in allen Fällen gerade noch hatte verhindern können.

Manx trank ihren dritten Kaffee in Folge, rauchte Zigarette um Zigarette, als sie jedem der Prioritäts-Stufe A-Agenten neue Domizile zuwies, die nur sie kannte. Ab in die Anonymität ohne Verbindung zur Außenwelt. Nicht, dass sie sie nicht alle überprüfen ließ, denn wie oft war der Tod eines Imperiums der Verrat aus der Mitte gewesen?

„’Warum du, Brutus?’“, zitierte sie leise und aktualisierte ihr Mailpostfach um eine neue Nachricht dort zu finden. Sie runzelte die Stirn und verfolgte den Weg der Mail, bevor sie sie öffnete und der Inhalt bestätigte, was sie vermutet hatte. Nein…nicht vermutet, aber gehofft. Sehr gehofft.

Es war der gleiche anonyme Absender, die gleiche IP, der gleiche Server.

Datum, Uhrzeit und Treffpunkt waren genannt. Sie fuhr sich durch die Haare, drückte ihre nur halb gerauchte Zigarette aus. „Jawohl“, grollte sie. „Hoffe, du hältst, was du versprichst“, teilte sie der Mail mit, der Hoffnung, die in ihr schwelte.
 

o~
 

Brad war wie üblich sehr viel früher am genannten Treffpunkt eingetroffen. Falls sich Kritikeragenten oder sogar deren Gegner sich an Manx Fersen geheftet hätten, würde er sie sehen.

Es war eine seiner Lieblingslokalitäten, abseits der großen Straßen und des hektischen Treibens etwas außerhalb des Zentrums. Eine Bar, in der es Lifemusik gab. Sie hatte zwei Ausgänge, einen regulären und einen Notausgang.

Er saß im hinteren Teil etwas abgeschirmt und den Blick gut in Richtung Eingang.
 

Auch hin zur Tür, die sich nun öffnete und ebenfalls pünktlicher als zur angegebenen Uhrzeit, den Blick auf Manx freigab, die nun von tragender Musik und verschiedensten Gerüchen umgeben wurde. Die Welle aus unzähligen Menschenstimmen schlug über sie herein und vereinnahmte sie als die ihre. Hier fühlte sie sich sofort wohl, obwohl sie noch nie in dieser Bar gewesen war.

Die Tür schloss sich hinter ihr und sie warf einen letzten Blick zurück. Niemand war ihr gefolgt, zumindest niemand, den ihre Augen bemerkt hatten. Sie bemerkte viel…schon immer. Mehr als andere Agenten.

Graue Augen suchten den Raum nach einem bekannten Gesicht ab und nach einigen Momenten fand sie ihn: etwas abgeschirmt, in Anzug und Jackett. Manx fragte sich, ob das Orakel jemals etwas anderes anzog. Kein einziges der Bilder in den Kritikerakten zeigte etwas anderes als diesen Mann in Anzug. Nicht, dass er ihm nicht stand.

Manx belächelte innerlich ihre eigenen, unprofessionellen Gedanken und stählte sich für ihr Zusammentreffen. Sie setzte ein professionelles Lächeln auf die Lippen und kam zu Crawford.

„Crawford-san…“, nickte sie leicht und ließ sich auf den Stuhl seitlich neben dem Orakel nieder. Aus dieser Entfernung wehte schon wie im Café der leichte Geruch seines Aftershaves zu ihr. Eine herbe, nicht zu sportliche Note. Es gefiel ihr. „Danke für Ihr Kommen.“
 

Der Höflichkeit geschuldet begrüßte Brad die Japanerin mit der nötigen Etikette und gönnte sich sogar ein kleines Lächeln, welches jedoch nur in seinen Augen sichtbar wurde.

Der Temperaturunterschied von beißender Kälte zur angenehmen Wärme ließ ihre blaugrauen Augen aufgrund eines leichten Tränenschimmers erstrahlen. In der weichen warmen Beleuchtung, der Intimität der abgeschirmten Bereiche, ließ dieser Umstand ihre aufmerksamen, taxierenden Augen heller wirken.

„Sind Sie ein Stück des Weges gelaufen?“

Er vermutete es, denn mit einem Wagen zu kommen war sicherlich auch für Sie ein zu hohes Risiko. „Die Bar ist nicht leicht zu finden“, meinte er und tatsächlich kräuselten sich seine Lippen zu einem fast schon gemeinen Lächeln mit dem Hauch von echtem Humor.

Diese Örtlichkeit lag versteckt in einem verwinkelten Gassensystem und überwiegend Stammpublikum bekannt, zu dem er in größeren zeitlichen Abständen gezählt werden konnte.
 

Manx lachte laut, aber ehrlich amüsiert auf. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich mehr als ein Stück des Weges gelaufen bin, eben weil diese Bar nicht leicht zu finden ist!“ Es war nicht ihr Stil, sich zu verlaufen, das konnte sie sich in ihrem Beruf gar nicht leisten, doch das Orakel hatte es tatsächlich geschafft, sie viermal an diesem kleinen, versteckten Eingang vorbeilaufen zu lassen, der zu eben jener Gasse führte, in der auch diese Bar lag.

Es musste die ganze Atmosphäre sein, oder auch die Tatsache, dass sie sich tatsächlich ein zweites Mal trafen…oder auch einfach diese kleine Emotion auf seinem Gesicht, die sie entspannter werden ließ. Natürlich vergaß sie die, ihr antrainierte Vorsicht dabei nicht, das Misstrauen Crawford gegenüber.

Manx strich sich eine aus ihren hochgesteckten Haaren gefallene Locke zurück, die ihr störend im Gesicht hing und warf einen kurzen Blick auf die Karte, die unweit von ihnen stand.
 

Scheinbar hatte er eine noch nicht gekannte Vorliebe für Rothaarige, stach dieses Merkmal Brad sehr deutlich ins Auge.

Vielleicht sollte er bei Gelegenheit einen Glückskeks kaufen, in dem er dann die längst verdrängte Wahrheit geschrieben fand: Die Farbe Rot wird in ihrem Leben eine herausragende Rolle spielen. Rot wie das Blut, Rot wie Schuldigs Haare, Rot wie der Name des Teufels, der sich Schuldig angenommen hatte… Rot wie die Chefin des Teufels… Korrektur: Ex-Chefin des Teufels… Tja…wie gut, dass er kein Hellseher war, sonst wäre ihm wohl bei all dem Rot sehr seltsam zumute geworden. Wie gut.
 

Graue, wachsame Augen nahmen jede Bewegung, jede Regung sogar in den Zügen des Mannes vor ihr auf. Sie beobachte die Lippen, welche an dem Glas nippten wie auch seine Augen, die sie schier zu durchbohren schienen. Nichts entging ihr, auch nicht die Spannung, die zwischen ihnen in der Luft lag. Sie war anders als zuvor, viel ruhiger, wenn auch nicht ungefährlicher.

Ganz im Gegenteil. Dieser Mann war ein gefährliches Raubtier, dem man nicht den Rücken zudrehen durfte.

Aber machte ihn das weniger interessant?
 

Die Antwort war einfach. Nicht umsonst hatte Manx Abyssinian diesen Handel abgeschwatzt, dessen Lohn gerade vor ihr saß. Sie fragte sich, ob er davon wusste, was geschehen war und ob er mit einer natürlichen Arroganz behauptete, dass ihm sowieso nichts passieren konnte.

Der Kellner kam auf sie zu und sie bestellte sich einen Suntory.

„Was denken Sie?“, fragte Manx frei heraus, als der Mann wieder weg war und legte den Kopf leicht schief.
 

Brad stellte seinen 16 Jahre alten Single Malt ab.

„Dass Sie Schwierigkeiten haben und ich überlege mir gerade, wie ich Ihnen in dieser Lage helfen sollte“, kam er auf das Geschäftliche zu sprechen. Auch wenn die Agentin wohl etwas anderes erwartet hatte als Antwort auf ihre Frage.
 

Nun war Manx doch tatsächlich überrascht worden von den Worten des Mannes an ihrer Seite. Es zeigte sich nicht in ihren Augen, ebenso wenig wie dieser kleine, penetrante Hoffnungsschimmer, der sich in ihr ausbreitete.

„Nun, es ist naturbedingt so, dass Ihr Team Fähigkeiten besitzt, die unserer Organisation im Kampf gegen diese Bedrohung fehlen. Außerdem scheinen Sie ein größeres Sicherheitsnetz zu besitzen, als wir es tun, trotz aller Professionalität. Auch wenn ich meine Mitarbeiter schon umgesetzt habe, so bin ich immer noch nicht der Meinung, dass sie in Sicherheit sind“, bot Manx ihm als Gesprächsgrundlage an.
 

„Umgesetzt… haben Sie jedoch Weiß nicht. Sind Ihnen Ihre Spitzenleute nichts wert oder sind Weiß in der Rangfolge bereits weit nach unten gerutscht seit dem Weggang Fujimiyas?“

Er hatte nicht verstanden, warum Nagi ihm während seiner Recherchen mitgeteilt hatte, dass keines der Weißmitglieder in Sicherheit gebracht worden war.

Dies gab ihm zu denken.
 

Manx lächelte kurz, aber nicht wirklich freundlich. Der Kellner kam und sie nahm ihren Suntory entgegen. „Sie irren sich. Weiß ist immer noch so wertvoll, wie vor seiner unseligen Verbindung zu Ihrem Teammitglied, von der wir anscheinend beide nicht so begeistert sind, wie wir es eigentlich sein sollten. Es gibt Gründe dafür, unter anderem auch dafür, dass es in letzter Zeit so wenige Aufträge für diese Mitarbeiter gegeben hat. Aber momentan brauchen wir diese Einheit im Notfall noch, wir können sie nicht in den inaktiven Status versetzen.“
 

Ja, den letzten beißen die Hunde und so würde es auch mit dieser Einheit geschehen, die augenscheinlich eine der letzten von Kritiker war, die noch inoffiziell- offiziell operierten.

Tja Jungs…dumm gelaufen.

Er lehnte sich bequemer in den Sessel und beobachtete für einen Moment äußerlich scheinbar abwesend das Spiel des Bassisten.

„Wollten Sie eigentlich etwas Bestimmtes bei Ihrem „Deal“ mit Fujimiya von mir? Oder geschah dieses kleine Tauschgeschäft aus einer dummen Laune, des Ex-Bestandes Ihrer Einheit heraus?“

Er hatte es nicht vergessen, dass er verhökert werden sollte. Und scheinbar saß hier nun sein neuer Besitzer. Ein Blick wie aus den Augen eines wachsamen Wolfes maß die Gestalt und vor allem das Gesicht der Agentin. Fast reglos saß Brad ihr scheinbar gelassen gegenüber.
 

Ihre Gedanken gerade noch bei der ernsten Thematik von Weiß’ Evakuierung, wurden nun zu einem Thema gelenkt, das ein kleines, minimales Lächeln auf ihre Lippen zauberte. Ihr Blick kehrte voller Aufmerksamkeit zu Crawford zurück und sie nippte durch und durch gelassen an ihrem japanischen Whiskey.

Hatte er es also doch angesprochen…hatte Schuldig ihn wohl vorgewarnt.

„Sie sind ein interessanter Mann, Crawford-san und das auf vielen Gebieten. Zuletzt natürlich nicht auch noch durch Ihre Gabe, die Sie sehr wertvoll macht für Ihr Team…aber auch für mich. Dass mein ehemaliger Mitarbeiter mir diesen Vorschlag unterbreitet hat, geschah aus dem Glauben heraus, ich würde es nicht ernsthaft annehmen, auch wenn ich leider sagen muss, dass mein Interesse durchaus ernst zu nehmen ist.“
 

Ein Satz den Brad nicht wirklich ernst nehmen konnte auch wenn das Vorhaben wohl tatsächlich ernst war.

„Ist es das?“

Irgendwie musste er über so viel Dreistigkeit lachen.

„Wie kann ich Ihnen nun mit meinen Fähigkeiten helfen? Ich bezweifle, dass Ihre Abteilung die nötigen finanziellen Mittel aufgreifen kann um Außendienstmitarbeiter, wie wir es dann wären, anzuheuern.“
 

„Um unsere finanziellen Mittel machen Sie sich mal keine Sorgen, Crawford-san“, lachte sie ebenso amüsiert über seine Wortwahl. „Um die Mitarbeiter zu retten, die ich großgezogen und gefördert habe, ist mir jedes Mittel recht, wenn Sie verstehen, was ich meine“, wurde sie schließlich ernster, doch der helle Funke in ihren Augen blieb. Sie verschwieg Crawford, dass die Entführung aus der Psychiatrie, mit der alles begonnen hatte, eben aus diesem Grund geschehen war. Um Kritiker mit dem Wissen, was sie aus ihren Erkenntnissen gezogen hätten, zu stärken, hätte sie das Opfer des feindlichen Agenten in Kauf genommen. Und sie würde es auch jetzt noch tun, ganz gleich, welche Verbindung Fujimiya Ran zu Schuldig hegte, wenn es Kritiker mit Sicherheit retten würde.
 

Sie zog sich aus diesen Gedanken hoch und konzentrierte sich auf seine erste Frage. „Wie Ihre Fähigkeiten mir helfen könnten? Nun, das dürfte wohl klar sein. Ich will das, was Sie auf der Hand haben: die Zukunft.“
 

„Da sind Sie nicht alleine“, meinte er ruhiger, als er sich innerlicher fühlte. „Und …glauben Sie, Sie könnten mit dieser Information „der Zukunft“ irgendetwas anfangen? Oder sie richtig einsetzen?“ Er bezweifelte es. Die wenigsten ertrugen diese Last ohne gierig zu werden.
 

„Gesetzt dem Fall, ich wäre nicht in der Lage dazu, hätte ich einen kompetenten, gut bezahlten Ratgeber, der sich der Zukunft annimmt“, nickte sie bedeutungsvoll.

Manx kam jedoch nicht umhin, sich zu fragen, warum Crawford hier war. Aus welchen Motiven er es sich doch noch überlegt hatte, ihnen vielleicht zu helfen. Ein großes Vielleicht, aber zumindest schon mal eines.

Eine Möglichkeit bestand. Er spielte ein doppeltes Spiel und nutzte diese Verbindung, um Kritiker von innen heraus zu zerstören. Doch hätten Schwarz das nicht schon längst gekonnt?

Manx brauchte sich die Frage gar nicht erst zu beantworten, sie konnte sie gleich als unwichtig abtun.

Etwas anderes war wohl eher der Grund: eben dass für Schwarz eben so viel Gefahr bestand wie für Kritiker. Das wiederum jedoch konnte bedeuten, dass Crawford die Zukunft eben nicht kannte. War das möglich?
 

„Um eine Schattenkönigin zu sein?“, gab Brad zu bedenken. Er hielt nichts davon, anderen das Denken zu überlassen. Und er hielt noch weniger davon seine Informationen preiszugeben, die ihm das Schicksal oder …was auch immer ihm diese Fähigkeiten gegeben hatten. Vermutlich eher eine evolutionäre Laune, als göttliche Eingebung.
 

„Von einer Schattenkönigin kann keine Rede sein. Ich führe MEIN Unternehmen mit meiner Hand. Nur ich. Einflüsse von außen sind erwünscht, solange sie hilfreich sind, doch sie werden uns nicht infiltrieren.“ Sie überlegte einen Moment, nahm einen weiteren, kleinen Schluck ihres Getränks. „Das Einzige, was mir wichtig ist, ist das Überleben meiner Mitarbeiter. Ich will diese neue Bedrohung vernichten, doch das schaffe ich nicht alleine. Sollten wir zusammenarbeiten, dann gilt das ausschließlich solange, bis diese Gefahr gebannt ist. Danach wird keine weitere Zusammenarbeit erfolgen. Wie Sie schon sagten, aufgrund gewisser Begegnungen in der Vergangenheit wird es zwischen uns keine andauernde Kooperation geben. Dieser Fall ist allerdings eine Ausnahme…gemessen an der Schwere der Gefahr.“
 

„Das ist beruhigend zu wissen“

Brad nippte an seinem Drink. „Was bekomme ich… wir dafür, dass Kritiker unsere einzigartigen Fähigkeiten nutzen darf?“

Nichts sagte, dass er sie überhaupt zur Verfügung stellen würde.
 

„Das kommt ganz darauf an, in welchem Umfang Sie mir ihre Gaben zur Verfügung stellen und was Sie dafür haben wollen.“
 

„Wir können unsere ‚Gaben’ nur in vollem oder gar keinem Umfang zur Verfügung stellen.“

Einen Moment schien die Luft zwischen ihnen zu schimmern, fast als schwele ein Brand aus Feuer und Eis dort, wo sie sich anblickten. Dramatisch ausgedrückt, doch selbst die Musik und das Stimmengewirr rutschten in den Hintergrund und verkamen zu einem Murmeln.

„Ich will alle Daten, die Weiß an sie bindet, sämtliche Akten, Unterlagen, Querverbindungen. Um es antiquiert auszudrücken: ihre Schuldscheine, die sie an sie binden.“
 

Graue Augen weiteten sich nun ehrlich überrascht und dieses Mal machte Manx nicht den geringsten Hehl daraus. Sie lachte auf.

„Crawford-san…das ist ein sehr hoher Preis für Ihre Dienste. Ich traue Ihnen nicht. Und ich vertraue Ihnen schon gar nicht meine beste Einheit an, damit Sie sie vernichten.“ Schwarz als Arbeitgeber für Weiß. Wenn sie dem Team diesen Verkauf bekannt machte, konnte sie sich sicher sein, von Weiß nie mehr etwas zu hören. Die Jungs würden vermutlich auswandern, bevor Schwarz sie in die Finger bekam.

„Was wollen Sie mit Weiß?“
 

„Sie sehen aus, als glaubten Sie, ich hätte unehrenhafte Dinge mit den Burschen vor“, meinte er fast schon den Beleidigten spielend, lächelte aber wölfisch danach.

„Keine Angst, mir geht es nicht darum sie zu vernichten, das klingt so …dramatisch. Nein, es geht mir darum zu wissen, wo sie ihr Unwesen treiben und dass sie mir nicht ins Handwerk pfuschen. Das ist alles. Damit umgehe ich einen gewissen Interessenkonflikt, dem der eine… oder andere meiner Männer ausgesetzt wäre.“ Schuldig beispielsweise… Nagi in Zukunft … vielleicht.

Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, aber er musste dem Schrecken – alias Takatori junior – ins Auge blicken. Furchtlos. Und zu Nagis Wohl.
 

Manx horchte auf. Der eine oder andere? Schuldig war die eine Person, die schon beschlagnahmt war, denn nichts anderes hatte Abyssinian getan.

Unter der kalten Oberfläche des rothaarigen Mannes, schlummerte etwas Wildes, das sich bisher nur in Missionen entladen hatte. Von dem kurzen Zusammentreffen mit dem Telepathen und Abyssinian hatte sie aber einen Eindruck mitgenommen: das Fujimiya Ran seine Leidenschaft und seine Dominanz von seinem Team auf eben diesen Mann übertragen hatte.

Ja, eines musste Manx zugeben: der Profiler in ihr interessierte sich für dieses Beziehungsgefüge.

Ebenso wie für das zweite Beziehungsgefüge, das sich noch auftun würde. Wer von den Jungs war derjenige?
 

Doch weit ab von dem löste das immer noch nicht ihr momentanes Problem. Weiß eintauschen gegen das Fortbestehen von Kritiker? Ihr war unwohler, als es ihr eigentlich hätte sein sollen und das lag nicht nur daran, dass Weiß ihre beste Einheit war.

„Ich denke, Sie wissen auch so, wo sie ihr Unwesen treiben und wissen es zu verhindern, dass sie Ihnen ins Handwerk pfuschen. Es hat schließlich zwei Jahre lang geklappt, bis es dann zu diesem bedauerlichen Zwischenfall gekommen ist. Dafür muss ich Ihnen nicht Weiß überschreiben.

Allerdings sagten Sie etwas von mehreren Personen. Wer noch von meinen Mitarbeitern?“
 

Sie hatte angebissen.

Brad ließ sich zu keiner äußeren Regung hinreißen, stumm und kalt wie ein Fisch. Nur verschlagener.

„Zwei Jahre … bis meine rechte Hand und ihr Leiter der Gruppe ihr eigenes kleines schmutziges Ding drehen wollten. Tja und nun … sehen Sie das Dilemma. Es kommt ständig zu Konflikten und das schadet sowohl meinem als auch Ihrem Ex-Mitglied. Und damit Ihrer Gruppe im Gesamten. Es wäre besser, sie komplett aus dem Weg zu räumen, auf die saubere oder eher unsaubere Art. Ich biete Ihnen Sicherheit für diese Männer, dafür bieten Sie mir eine sorgenfreie Zeit ohne Gezeter und Dramen an.“

Er überhörte nonchalant die letzte Frage. Mal sehen ob sie wirklich interessiert genug war. Wobei …wollte er überhaupt diese Information herausrücken? Schließlich war es die Sache der Jungen ob sie es jemandem sagten oder nicht – von ihm natürlich einmal abgesehen.
 

„Die Sicherheit, die Sie mir für meine Mitarbeiter bieten, ist mir zu wenig. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass Weiß schließlich nicht dazu eingesetzt wird, sich gegen mich zu wenden oder für Ihre Seite zu arbeiten. Das Risiko ist mir zu hoch, denn mit dem Wissen, was Weiß über uns verfügt, sind sie nicht mehr dazu gedacht, den Arbeitgeber zu wechseln.“ Sie lächelte bedauernd und nahm noch einen Schluck Suntory.

„Ich muss Ihnen allerdings in punkto Konflikten widersprechen. Seitdem es zu dieser unseligen Verbindung meines ehemaligen Beschäftigten und Ihrer rechten Hand gekommen ist, haben sich Weiß und Schwarz nicht mehr tangiert. Ein Spannungsverhältnis ist also hier nicht aufgetreten. Zumal Sie unsere Informationsquellen nicht unterschätzen sollten. Auch wir wissen, wer alles anwesend sein wird.“ Manx prostete Crawford bedächtig zu.

„Die elementarste Frage ist sicherlich…wie können Sie für die Sicherheit meiner Leute garantieren? Wissen Sie, es hat mich schon misstrauisch gemacht, dass Ihre rechte Hand nicht zugegen war, als mein ehemaliger Mitarbeiter an diese Männer geraten ist. Oder Sie selbst es verhindert haben.“ Manx hatte die Frage nach dem weiteren Teammitglied nicht vergessen…sie schob sie nur zurück.
 

„Wir waren …nicht im Land.“ Er legte den Kopf leicht schief, fragend. Natürlich hätte Schuldig alles dafür getan um Fujimiya unversehrt zu sehen, das sollte die Agentin wissen, wenn sie behauptete, das Verhältnis zwischen den Beiden zu kennen.
 

Sie nickte in Anerkennung seiner Worte. „Damit haben Sie wohl Recht, doch das wirft ein schlechtes Licht auf die Qualität Ihrer Gabe, also des Produktes, um das wir hier werben.“ Ihre Augen funkelten herausfordernd.
 

„Nun, dann scheint das Produkt nicht gut genug zu sein und ich frage mich, was Sie dann von mir wollen“, lächelte er wissend.
 

„Sagen wir es so: das Produkt entspricht nicht dem Preis, für den es angesetzt werden soll“, erwiderte Manx freundlich. Sie schlug bequem die Beine über und strich sich eben die gleiche Locke zurück, die ihr vorher schon störend im Gesicht gehangen hatte und die genauso störrisch war wie der Mann vor ihr.

„Dass ich vorher nicht über die Qualität des Produktes informiert war, mir die Information fehlte, dass Sie es nicht vielleicht absichtlich übersehen haben, und dass sich der Preis als höher herausgestellt hat, als zunächst vermutet, habe ich vorher nicht erahnen können. Eine Frau in meiner Lage sollte sich die ihr bietenden Chancen nutzen, gleichzeitig aber Grenzen setzen. Die Grenze liegt bei Weiß. Dieses Team wird unter meiner Aufsicht bleiben, allerdings können WIR beide eine gewisse… Übereinstimmung aushandeln, was Aufträge angeht.“

Sie ließ ihren Blick routinemäßig durch die Bar gleiten, fand jedoch nichts, was verdächtig wäre.

„Voraussetzung ist allerdings, dass Sie mir plausibel machen können, warum Sie es nicht vorhergesehen haben.“
 

„Sie wollen etwas von mir, nicht ich von Ihnen“, meinte Brad sich genötigt zu fühlen, diesen klitzekleinen, jedoch nicht zu verachtenden Umstand zu erwähnen.

„Wie meine Fähigkeiten funktionieren und weshalb oder ob sie zu diesem Zeitpunkt funktioniert oder eben nicht haben … dies ist eine Information, die ich selbst meinen Mitgliedern vorenthalte. Weshalb sollte ich es Ihnen also sagen?“

Eine längere Pause entstand in der sie sich mit nichts enthüllenden Masken anblickten.

„Sie wissen nichts von uns, und dabei sollte es bleiben. Eine gewisse Übereinkunft wäre ein guter Boden für eine Verhandlung“, räumte er jedoch ein.
 

„Sehen Sie, ganz meine Meinung. Aber um es deutlich zu sagen: ich kaufe nicht die Katze im Sack, Crawford-san und das sind Sie momentan. Ich möchte etwas Bestimmtes von Ihnen und ich möchte keine Abstriche in der Qualität machen. Sie haben also Recht, ich bin in diesem Fall die Bittstellerin, allerdings eine anspruchsvolle Bittstellerin, da es nicht nur um mein Leben geht.“

Ihre Finger spielten mit dem Glas, schwenkten es leicht hin und her. Ihre Augen hefteten sich auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit - etwas heller als seine Augen war sie - kehrten dann jedoch wieder zurück zu ihm.

„Ich werde Ihnen in keinem Fall Weiß überantworten, wenn sich nachher herausstellen sollte, dass Ihre Gabe mir nicht das liefern kann, was Bestandteil unseres Vertrages ist: wichtige Informationen über die neue Gefahr.“

Fallendes Glas

~ Fallendes Glas ~
 


 

Brad lächelte undurchschaubar, als er für einen Moment der Absence eine schnell schwindende, kaum zu greifende Vision erhielt, die sich in naher Zukunft ereignen würde, wenn er diese Zeitlinie weiter verfolgte, die er vorhin eingeschlagen hatte.

Eine interessante Möglichkeit, die sich ihm hier bot.

„Sie möchten einen Beweis meiner Fähigkeiten?“, fragte er einen Schluck nehmend, die Frau dabei nicht aus dem taxierenden Blick lassend.

„Verstehe ich Sie richtig? Wenn ich Ihnen einen Beweis liefere, dann überantworten Sie mir Weiß?“ Die Schlange starrte das Kaninchen an.

Lauernd und hungrig.
 

„Falsch. Wenn Sie mir einen Beweis liefern, verhandeln WIR beide, ob ich mit Ihnen die Missionen abstimme, die Weiß haben wird. Weiß wird Ihnen nicht überantwortet, dafür traue ich Ihnen zu wenig“, hielt sie freundlich lächelnd, jedoch kalt im Ton dagegen. Sie leerte mit dem letzten Schluck ihr Glas und fühlte, wie sich der Alkohol warm in ihrem Magen ausbreitete. Betrunken war sie noch nicht, dafür war sie zu trinkfest, auch für eine japanische Frau.
 

„Den Drink, den sie sich als nächstes bestellen, wird es nicht geben“, sagte Brad leise, schwenkte dann jedoch, als wenn er nichts gesagt hätte, auf das eigentliche Thema zurück.

„Sie werden sich noch an mein Angebot erinnern, wenn Kritiker zerschlagen ist, Manx-san.“ Er machte eine Pause. „Weiß wären unter dem Schutze meiner gönnerhaften Hand sicher und wohlbehütet.“ Ein wolfsähnliches Lächeln traf die Rothaarige.
 

„Mein lieber Mr. Crawford“, wechselte Manx abrupt ins Englische. „Ihr Lächeln passt nicht zu Ihren Worten, von daher bezweifle ich es höchst, dass Weiß unter Ihrer gönnerhaften Hand sicher sein wird. Etwas anderes wäre es natürlich, wenn Sie meinen ehemaligen Mitarbeiter in unseren Handel einbeziehen würden. Wenn sowohl Sie als auch er über Aufträge entscheiden würden.“ Sie nickte bedeutungsvoll und ließ sich seine ersten Worte durch den Kopf gehen.

„Er ist also nicht da?“, fragte sie nun wieder auf Japanisch nach und winkte den Kellner zu sich heran. So, Crawford hatte also vorhergesehen, dass ihr Drink nicht da war? Dann würde sie jetzt umschwenken und eben nicht den nehmen, den sie zunächst in Gedanken gehabt hatte…schon alleine, weil Schuldig vielleicht seine Finger im Spiel haben könnte.

„Sehr wohl meine Dame“, nickte er auf ihre gerade geänderte Bestellung und sie lächelte. „Natürlich haben wir ihn da.“

Manx’ Blick glitt mit hochgezogener Augenbraue zu Crawford, als sich der Kellner entfernte.
 

Doch Brad ging nicht darauf ein. Diese Wahrsagerspielchen amüsierten ihn und das lag zum größten Teil daran, dass er hier die Leiterin der offiziell „nicht existenten“ Kritiker Abteilung vor sich hatte. Ansonsten hatte er für derlei Spielchen nichts übrig. Aber sie amüsierte ihn und …interessierte ihn. Es gefiel ihm, dass sie sich sicher fühlte. Und es doch nicht war.

„Über die Miteinbeziehung ihres Ex- Mitgliedes wäre zu verhandeln. Dennoch bestehe ich darauf, diese ‚Schuldscheine’ zu besitzen. Sagen wir… die Datenverwaltung geht auf mich über. Und das“, sagte er ernst, ohne das falsche Lächeln. „nach wie vor unter dem Aspekt, dass sich die Mitglieder ihre Auftragsbeteiligung aussuchen dürfen. Sie arbeiten weiter für Kritiker, und Sie sagen ihnen nicht, dass Sie die Verpflichtung an mich überantwortet haben. Weiß arbeiten für die Guten, im Namen der Bösen. Was halten Sie davon?“
 

„Um ehrlich zu sein? Nichts. Oder würden Sie Ihre besten Hengste im Stall einfach abgeben?“ Sie schüttelte amüsiert den Kopf. „Sollte mein ehemaliger Mitarbeiter uneingeschränkte Entscheidungsgewalt haben und die Schuldscheine besitzen, während Sie mit ihm Ihre Aufträge abstimmen, stimme ich zu.“ Manx wusste, dass sie sich hier nichts schenkten, auf keiner Seite. Warum denn auch?

Sie hatte den Teamführer von Schwarz neben sich, sie selbst war Abteilungsleiterin bei Japans effizientester Organisation zur Abwehr von krimineller Energie. Sie würde es nicht zulassen, dass Crawford Weiß in der Hand hatte und sie nur noch offiziell die Leitung besaß, damit aber von Schwarz abhängig wäre. Fujimiya hätte zwar ein Mitspracherecht, doch inwieweit würde das zum Tragen kommen? Ebenso sehr, wie sie daran zweifelte, dass Weiß wirklich das Wahlrecht hatten, was Missionen anging. Mit einem Telepathen und Orakel in einem Team konnten sie Weiß zu allem bringen.

Nein.
 

Der Kellner kam wieder und lächelte sie entschuldigend an. „Ich muss mich leider entschuldigen, meine Dame, aber Ihre Wahl ist uns heute ausgegangen. Kann ich Ihnen etwas anderes bringen?“

Manx hörte seine Worte nicht wirklich, reagierte auch nicht auf sie. Es war das eingetroffen, was das Orakel vorhergesagt hatte, obwohl sie ihre Wahl geändert hatte.

Sie sah in diese allzu amüsiert funkelnden Cognacaugen.

„Ich hätte gerne noch einen Suntory.“
 

„Gut, dann schlagen Sie mir etwas anderes vor, Manx-san“, meinte Brad und seine Augen lächelten wissend. „Etwas…das mich interessieren könnte.“
 

„Wie wäre es mit mir?“, lächelte die rothaarige Frau und nahm ihren neuen Drink in Empfang.
 

Ah, jetzt kamen sie der Sache schon näher.

„Ich bin versucht den Handel einzugehen, Manx- san. Allerdings würde dieses Arrangement länger gehen, als Sie sich wohl durch ihren Vorschlag erhoffen.“

Das leere Glas fand seinen Platz auf dem Tisch.

„Wir helfen Ihnen und Sie stehen auf Abruf für mich bereit…um mir einen Dienst zu erweisen. Spionage, Information, Transporttätigkeiten. Sie erledigen zwei, drei Dienste für Schwarz. Kein Akteur, nur Support.“
 

Manx nickte bedächtig. Dieser Handel gefiel ihr besser, weil er ihr die Kontrolle über Weiß nicht nahm. Es nahm ihr das Gefühl von Unsicherheit, das sie so sehr verabscheute. Es waren ihre Agenten und sie sorgte für deren Wohlergehen. Nicht jemand anderes, den sie nicht ‚großgezogen’ hatte.

„Und was würde ich für meinen Teil unseres Handels bekommen?“, hakte sie noch einmal in aller Deutlichkeit nach.
 

„Kontaktieren Sie mich, falls Sie die Gruppe ins Visier nehmen können, das heißt, wenn sie ein Ziel haben. Solange Sie keine Informationen, keinen Standort haben, können wir nicht zuschlagen. Wir werden unsererseits die Augen offen halten, falls in den dunkleren Fahrwässern etwas in diese Richtung zu sehen …und zu hören ist.“

Mehr konnte er ihr nicht anbieten. Oder wollte er nicht… aber das war immerhin schon mehr als er anfänglich beabsichtigt hatte.
 

Und mehr, als sich Manx erhofft hatte, als sie diese Bar betreten hatte.

„Crawford-san, ich freue mich, Geschäfte mit Ihnen zu tätigen“, sagte sie schlicht und hob ihren Whiskey zum Toast. Nun galt es jedoch nur noch eine Schlacht auszutragen…eine Schlacht, die keine Gewalt erforderte, dafür umso mehr Subtiles. Sie hatte nicht vergessen, dass Crawford bereits Teil eines Handels war. Diesen Teil hatte sie vor, sich heute Abend zu holen, allerdings auf eine etwas andere Art und Weise, als Fujimiya und Schuldig damals vermutet hatten.
 

Brad lächelte wölfisch. Die Dame wusste wohl nicht, was er mit Support meinte, aber er wollte seinen Triumph nicht übereilt auskosten.

„Grün steht Ihnen, Manx-san“, sagte er plötzlich beiläufig, nachdem der Kellner seine Bestellung aufgenommen hatte.
 

„Das weiß ich, Crawford-san. Wie kommen Sie darauf?“, fragte sie mit einem Lächeln, das leicht abwesend schien, es in keinem Fall aber war. Sie taxierte den neben ihr sitzenden Mann genauestens und ließ ihn keinen Augenblick aus ihren Augen.

Und ob er Interesse an ihr hatte. Da sah sie nur zu deutlich, auch wenn er es nicht offen sagte. Dass das Interesse beiderseitig war…ein nettes Detail am Rande.
 

„Wie ich darauf komme? Über die Spitze die ihre helle Haut an einigen aufreizenden Stellen bedeckt“, meinte er lapidar als ginge es noch immer um den Deal.

Sein Drink kam und es wurde Zeit zum angenehmen Teil des Abends überzugehen…
 

o~
 

Ein diabolisches Lächeln umspielte die Lippen des rothaarigen Teufels, der im Schneidersitz vor der Couch saß und sein momentanes Opfer wie ein Luchs taxierte. Hier war aber auch das Elend ausgebrochen…schon heute Morgen und es war kontinuierlich schlimmer geworden. Ganz schlimm, das Ende der Welt…aller guten Dinge und sowieso der ganzen Menschheit.

Besagter Teufel legte den Kopf schief, als er in den kleinen, murrenden Knubbel zwickte, der das Sofa als letzte Festung der Menschheit auserwählt hatte, um auf seinen Tod zu warten und solange zu darben, bis er erlöst war.

Ein Murren verscheuchte seine Hand, konnte sie jedoch nicht wirklich davon abhalten, sich ein weiteres Mal in feindliche Gebiete zu begeben und ihr Glück heraus zu fordern, immer begleitet von besagtem, stygischem Lächeln, das seiner wirklich würdig war, ginge es nach dem Orakel.

Des Teufels Raubtier schnurrte auf seinem Schoß leise und betrachtete sich mit hellwachen Augen sein Spiel…sie war auf der Jagd und beobachtete die momentane Beute.
 

„Määh“, protestierte Schuldig mit krächzender Stimme. „Das ist hundsgemein, Ran, hör auf mich zu piesacken.“

Schuldigs Stimme schwankte, war teils kaum, teils gut zu verstehen. Sein Hals schmerzte und jedes Wort kratzte übel und verursachte ihm Schmerzen. Mit hängenden Mundwinkeln und anklagendem Blick spähte Schuldig über die Decke hinweg. „Ran… du grinst …und wie fies. Findest du das anständig? Hmm?“
 

Aya schüttelte schweigend den Kopf und brach dann in amüsiertes Lachen aus, genau in dem Moment, in dem Banshee sich dazu entschlossen hatte, einen Angriff auf seine Finger zu starten, dummerweise aber genau in Schuldigs Gesicht landete mit ihrem weichen Babyfell, das sie noch lange haben würde.

Aya räusperte sich und pflückte die Kleine mit angestrengt unter Kontrolle gehaltenen Mundwinkeln von ihrer Beute und setzte sie vor Schuldigs Bauch ab.

„Aber ich grinse doch gar nicht, ich versuche dich doch nur aufzumuntern!“, behauptete der rothaarige Japaner und seine Finger stahlen sich ein weiteres Mal zum Telepathen. „Du bist nur so…niedlich leidend, wenn du einen ausgewachsenen Kater hast!“ Schuldig hatte gestern Abend ordentlich gebechert, natürlich bis zur letzten Sekunde nüchtern, wie immer, und heute Morgen…
 

„Das ist Folter! Und wenn du nicht willst, dass ich Amnesty International einschalte, dann ….dann…“, tja was dann…

„Dann bist du gefälligst lieb zu mir!“ So dem hatte er es jetzt aber gegeben.
 

„Ich soll also lieb zu dir sein?“, fragte Aya verschlagen nach und näherte sich besagtem Opfer seiner gemeinen Folterungen. Taxierend wich sein Blick nicht von dessen Augen, als er sich mit einem Ruck erhob und sich der Länge nach auf Schuldig warf, auf Banshee achtete und den anderen Mann nebenher noch nieder knuddelte. Keine einfache Tätigkeit, aber eine Mission, die er erfolgreich abwickeln würde!

„Soo, jetzt beschwer dich noch einmal, dass ich nicht lieb zu dir wäre!“, pustete er in die langen, wirren Haare und seine Finger suchten sich an den Seiten des Telepathen ein neues Zuhause.
 

Schuldigs Kopf hämmerte wütend und der Nebel in selbigem, scheinbar leerem Gefäß wurde dichter und dichter. „Ra~an …hör au~uf. Mir ist …schlecht…uhh…“, mehr brachte er jedoch nicht heraus, er fühlte sich wirklich hundeelend.

Ran war langweilig, wie es schien, und er das Objekt des Zeitvertreibs.
 

Aya räusperte sich und ließ sich neben Schuldig gleiten. „Armer Schuldig“, murmelte er, die Augen nun wirklich voller Mitleid ob dieses Leides, dessen er hier Zeuge wurde.

„Kann ich etwas Gutes für dich tun? Noch einen Anti-Kater-Cocktail für fleißige Fässer ohne Boden? Oder Magentropfen?“
 

„Blödmann, ich war letztes Mal, als du auf dem Fußboden im Bad gesessen bist und grün im Gesicht warst, nicht so gemein.“ Schuldig drehte demonstrativ das Gesicht weg.

„Ich mag lieber was anderes…“, fing er leise an.
 

„Sex? Den wollte ich gestern Abend auch, als wir ausgegangen sind und du dann kurzerhand eingeschlafen bist!“, zwitscherte Aya so fröhlich, dass man seine Mordgedanken dahinter schon beinahe riechen konnte.

Doch Schwamm drüber.

Nun galt es erst einmal, sich um dieses sterbenselende Wesen hier zu kümmern. „Womit kann ich denn wirklich dienen, hm?“, fragte er und strich über das abgewandte Gesicht, über die für ihn erreichbare Schläfe, wie er es so oft machte in intimen Momenten.
 

Genießend bogen sich die Mundwinkel leicht befriedigt schon wieder nach oben und Schuldig schmiegte sich in die warme, vom häufigen Gebrauch des Schwertes raue Hand. Und wie er diese Hände liebte. Sie waren sanft, doch an einigen Stellen zeugten sie von der Arbeit mit dem Schwert. Schuldig wandte sein Gesicht in diese Hand die ihn koste und bewirkte somit, dass sie über sein Gesicht fuhr. Sanft rieb er seine Nase daran, bog den Kopf so, dass sie über seine Lippen strich. „Ich will bei dir sein“, murmelte er verschmust und meinte damit in Rans Gedankenwelt, doch da konnte er so ohne weiteres nicht hin.
 

Aya lächelte und zog Schuldig erneut zu sich…sanfter aber dieses Mal. Er lehnte seine Stirn gegen die des kranken Mannes und schloss die Augen. Er wusste genau, was ‚Bei dir sein’ bedeutete, da musste er nicht extra fragen und er versuchte es…versuchte sich zu entspannen und stellte fest, dass das faule Nichtstun dieses Tages ihn bereits in einen Zustand versetzt hatte, er ihm dabei half, eine gewisse Akzeptanz für die telepathischen Kräfte des anderen zu finden. Schneller als sonst und mit weniger Aufwand als sonst.

Hoffte er zumindest, denn einen wirklichen Anhaltspunkt hatte er dafür nicht.

‚Wo bist du denn, mein deutsches, Kater-Zackelschaf’, gurrte er probeweise.
 

‚Das hab ich gehört!’, kam es auch schon prompt aufgebracht zurück. Schuldig hatte sich trotz allem anstrengen müssen, Rans Mauern zu überwinden, die noch schwach vorhanden waren. Als würde man durch eine gallertartige Masse gehen.
 

Die sich jedoch beiseite drängen ließ, als Aya auf besagtes Scha…auf den ehrenwerten Telepathen zugeschwirrt kam und ihn mitsamt seiner ganzen Präsenz umhuschte. Es war, als würde er Schuldig an einem warmen Frühlingstag unter Schatten spendenden Bäumen umarmen oder ihn in weiche, warme Handtücher einwickeln, nachdem dieser durchgefroren nach Hause kam, oder ihn generell wo es nur ging verhätschelte und ihm die Aufmerksamkeit zukommen ließ, die ihm gebührte.

‚Willkommen zuhause’, lächelte Aya und küsste besagte Knubbel - Nasenspitze - Schuldigs.
 

Schuldig ließ sich von dieser wohltuenden Sanftheit einlullen und in sie hineintreiben. Ja, hier war sein zuhause. Rein körperlich trieb seine Stirn wie rein selbstverständlich in Rans Halsbeuge, seinem Lieblingsplatz und schnuffelte dort wie ein Igel im Blätterhaufen.
 

Aya lockte seinen hauseigenen Igel mit lauter kleinen Leckereien - liebevollen Gedanken - zu sich und schnurrte leise. ‚Was würdest du jetzt am Liebsten machen? Wo am Liebsten sein?’, fragte er aus einer spielerischen Laune heraus und seine Hände suchten sich unter dem Shirt des anderen Mannes IHR Zuhause.
 

Während Schuldig sich vollständig in Rans Gedankenwelt treiben ließ, bemerkte er nur wie in einem fernen Traum wie dieser ihn berührte. Sanft und erfahren umschmeichelten die Hände seine nestwarme Haut. ‚Wo am liebsten? Na hier, hier ist alles gut.’

Hier fühlte er sich aufgehoben und angenommen, geliebt und umsorgt. Hier brauchte er nichts weiter außer dieser Ruhe und dieser Geborgenheit, die er in seinem Leben erst jetzt als erwachsener Mann genießen durfte. Vor allem das Gefühl des Akzeptiertseins war etwas für ihn, dass ihn mit Glück, dass er ihn sich fühlte überschwemmte.

‚Ich lebe einen Traum, Ran, was sollte ich sonst wollen? Außer dass es so weitergeht, dass alles gut bleibt und du mich nicht allein lässt.’

Er hatte zuvor alles besessen, was er begehrt hatte, und dann … dann spürte er, dass er noch etwas wollte. Und dass dieses etwas, dieser jemand unerreichbar schien. Erst als er auftauchte merkte Schuldig, dass ihm etwas gefehlt hatte.

‚Aber du… sag… was wünschst du dir? Und dasselbe sagen gilt nicht!’, schickte Schuldig positive Gedanken zu Ran, die dieser wohl als Lachen begreifen würde.
 

Tatsächlich…und Aya erwiderte das mit seiner eigenen Fröhlichkeit. Bevor er wirklich ernst darüber nachdachte, was er sich wünschte…wo schon das Gleiche nicht galt!

Schuldig wollte bei ihm sein, das war sein Wunsch und er?

‚Ich wünsche mir eine Schuldig-Familie’, lächelte Aya innerlich kryptisch und verrenkte sich wie ein Kater im Paarungsbegehren. Müßig strich er über den eigentlich gar nicht knubbeligen Nasenknubbel. Aya musste lächeln. Schuldig hatte die geradeste Nase, die er je gesehen hatte. Da war eigentlich nichts mit Knubbel…aber dennoch.
 

‚Ist das ein Heiratsantrag?’, amüsierte sich Schuldig und verzog die Nase ungehalten, entzog sie der kitzelnden Aufmerksamkeit und vergrub sie, unwillige Töne von sich gebend, an der weichen Haut des Halses.
 

‚Hey! Das war mein Spielzeug!’, motzte Aya empört um dieser allzu verfänglichen Frage zu entgehen. Ein Heiratsantrag? Nein…das war es nicht, denn dafür vertraute er zu wenig darauf, dass nicht noch irgendetwas passierte…oder dass es nicht für die Ewigkeit war.

Man konnte es Intuition nennen, doch Aya beschlich immer dann, wenn er an ihre Beziehung zueinander dachte, ein schlechtes Gefühl, als lauere da etwas. Aber war das verwunderlich? Sein komplettes Leben war aus den Fugen geraten in den letzten Monaten, Kritiker, Crawford und jetzt noch diese Männer…

Doch jetzt war nicht die Zeit, daran zu denken!

‚Wenn du die Braut mimst, ist es vielleicht einer’, lächelte er spitzbübisch in Gedanken.
 

Schuldig registrierte diese Schatten, die in Rans Gedanken lauerten, doch er äußerte sich nicht dazu. Er selbst war viel zu optimistisch, viel zu treuherzig und …ja treudoof, oder wie sollte er es besser beschreiben: naiv traf es ganz gut, was ihre Beziehung anging.

Er würde nie wieder jemanden suchen… finden, der wie Ran wäre und ihm das Gleiche schenken würde. Niemand außer Ran und wenn er an einen möglichen Verlust dachte, krampfte sich etwas Kleines, Vergessenes in seiner Brust zusammen und schmerzte.

‚Du hast die längeren Haare!’, schickte Schuldig diesen Ball wieder zurück. ‚Außerdem bist du etwas kleiner, und schmaler gebaut, das sind alles Attribute … die dich wohl eher zur Braut taugen lassen als mich!’
 

‚Du guckst aber nicht halb so böse wie ich und schweigsam bist du auch nicht. DAS mein lieber, sind typisch weibliche Attribute. Oder könntest du dir eine Braut vorstellen, die ihren Bräutigam ansieht, als ob sie ihn auffressen würde? Und kaum die Zähne auseinander bekommt? Nein nein…da passt du schon besser in die Rolle der Frau’, eruierte Aya das Thema ganz sachlich und spürte, wie ihm dieses fröhliche Quatschen gut tat. Sehr gut, denn es lenkte ihn von seinen dunklen Gedanken ab.
 

‚Stimmt doch gar nicht!’, ereiferte sich Schuldig. ‚Ich kann viel hinterhältiger ….’, fing er an und verstummte dann sogleich. Waren Frauen nicht oft viel hinterhältiger in ihren Plänen? Gut, das legte er dann besser nicht in die Waagschale.

Im Allgemeinen genommen hatte er wohl doch ein wenig Gehirnstruktur von einer Frau, vor allem was die Kommunikation anbelangte, die er gleich auf mehreren Wegen absolvieren konnte. Ein Fehler in der Konstruktionsplanung der Evolution war er … waren sie mit ihren dummen Fähigkeiten! Betrübt schwieg er dazu und konnte sich der weiblichen Beschuldigung gar nicht entziehen.

Er war ja der Überzeugung, dass eines Tages die Geschlechter unnütz werden würden. Dass es Mischformen geben würde! Jawohl. Und dann würde da kein Ran Fujimiya mehr ankommen und ihm erzählen wollen, dass er eine Frau war!

Diese Gedanken wehten natürlich – der Gesetzmäßigkeit geschuldet - auch zu Ran.
 

Ein leises Lachen zeugte von der Aufmerksamkeit, die Aya Schuldigs Gedanken widmete. ‚Genau…Mischwesen…Mann und Frau’, gab er noch einmal den Kern des Protestes wider und küsste die feuerroten Strähnen, die sich ihm hier so schamlos darboten.

‚Aber sag, wie geht es eigentlich dem kleinen Kater hier drin?’, fragte er hinterhältig und strich über den Bauch…vielmehr in Höhe des Magens über die reizende Haut.
 

‚Der soll die Klappe halten’, kams zunächst mürrisch zurück. ‚Geht so, is wohl abgelenkt’, dann doch kleinlauter.

Aber ihm keimte da eine Idee. Es war zwar keine Hochzeit aber …etwas mit ähnlicher Aussagekraft…vielleicht.

Ein hintergründiges Lächeln ließ sein Gesicht weniger verschmust schmollend wie zuvor erscheinen, sondern eher wie die Katze in Alice im Wunderland.
 

Ayas Gedanken waren mehr als kritisch, als Schuldigs Vorstellungen wie ein sanfter Sommerwind zu ihm herübergeweht kamen, sich aber nicht klar definieren ließen, was ihn ÄUßERST misstrauisch machte.

Er blinzelte, als etwas Echtes, Felliges seinen Bauch kitzelte und sah, dass Banshee es sich gemütlich gemacht hatte…zwischen ihnen gemütlich eingemummelt.

‚Deinen abgelenkten Kater in allen Ehren, mein Lieber…aber WAS planst du?’, hakte Aya nach.
 

‚Nichts!’, kams einen Tick zu schnell und zu nachdrücklich und viel zu entrüstet. Wie ein aufgeschrecktes Etwas, das zugleich entsetzt die Augen aufriss, da man es einer Verschwörung beschuldigte.

„Gar nichts“, murmelte Schuldig und grinste leicht, nur halb versteckt.
 

Ayas Augen verengten sich, als wäre er ein Spion auf geheimer Mission und hätte gerade den Hauptverdächtigen in einem äußerst mysteriösen Fall gefunden.

Er knurrte leise und grub seine spitzen Zähne leicht in das ihm schamlos präsentierte Ohr, während sich seine Finger nach unten stahlen und sich ihren gnadenlosen Weg zu den Seiten des Telepathen bahnten, wo sie erbarmungslos kitzelten.

‚Los, sag es! Sofort!’, maulte Aya. Neugier war der Katze Tod…immer schon gewesen.
 

‚Da gibt’s nichts zu sagen! Und jetzt hör auf mich zu quälen, du Folterknecht. Dir ist ja wohl gar nichts heilig, was?’

Schuldig wehrte sich halbherzig, zischte dann und lag dann still als er spürte wie Banshee ihre Krallen in seine Hose heftete, da es ihr wohl zu turbulent wurde. Verdammt diese Krallen waren ja nun nichts für Schwächlinge. Autsch das tat echt weh.
 

‚Heilig? Wer spricht hier von heilig, Luzifer!’, lachte Aya innerlich, wie auch äußerlich, als er sah, dass Banshee SEINE Partei ergriff. Aber Schuldig hatte schon Recht, diese Krallen waren nichts für schwache Nerven.

Vorsichtig löste Aya eben jene und hob das schnurrende Bündel mit der Hand unter ihrem Bauch zu ihnen beiden nach oben, wo die kleine, aufmerksamkeitsheischende Dame es sich bequem machen…und Aya in aller Seelenruhe seinen teuflischen, unheiligen Aktivitäten weiter nachgehen konnte.

‚Gib’s zu, du stehst darauf!’, grimmte er und schraubte seine Attacke noch eine Intensitätsstufe höher.
 

‚Hör auf damit, sonst kotz ich dich an, mir ist schon wieder schlecht’, jammerte Schuldig in Gedanken zu Ran und wurde schon ganz weiß im Gesicht. Das ständige Geschaukel und Gezuckel brachte seine Kopfschmerzen auch wieder heftiger hervor und ließ ihn die Augen schließen.

Er wollte einfach nur seine Ruhe und seine lebendige Wärmflasche neben sich und sonst nichts mehr. Damit war er schon zufrieden! War er nicht genügsam?

Klar war er das!
 

Aya starrte Schuldig zweifelnd und auch irgendwie…misstrauisch nervös an. Schuldigs Wortwahl war nicht gerade die Blumigste gewesen, nahe dramatisch könnte man sagen, aber deutlich. Und bevor Aya seine blühende Fantasie bestätigt sah, zog er lieber ganz langsam seine Finger zurück und entfernte sich noch langsamer wie auch vorsichtiger von diesem Minenfeld, das gleich hochgehen konnte. Unauffällig robbte er sich zurück, Millimeter für Millimeter in Kleinstarbeit.
 

„Bleib da…ich will kuscheln“, quengelte Schuldig und grinste in sich hinein, auch wenn ihm schlecht war, Ran hatte Angst …vor seinem Mageninhalt…

Was ihn wirklich …aber so wirklich erheiterte. Er haschte nach Ran und klammerte sich an ihn. ‚Wenn du nicht herumalberst und still bleibst ist alles in Ordnung und mein Magen bleibt ruhig.’
 

‚Ich bin da durchaus für einen Anti-Kater-Cocktail’, murrte Aya und verhielt sich völlig still. Seine Gedanken jedoch beschwerten sich über das Saufgelage am gestrigen Abend, sowieso über trinkfreudige Deutsche und überhaupt über den Sex, den er nicht bekommen hatte, weil der PASSIVE Part ja eingeschlafen war. Einfach hin und weg, ohne Wiederkehr bis zum heutigen Mittag. Jaha, und dann nutzte Ihre Dreistigkeit auch noch seine Wenigkeit als Kissen, Wärmflasche, was auch immer er darstellte!
 

‚Sei nicht so gemein’, rügte Schuldig und seine Mundwinkel fielen wie abgestorben herab. ‚Ich bin auch immer lieb zu dir, wenn du einen auf sterbenskrank machst.’

Sein Gesicht stahl sich in Rans Halsbeuge und er schnupperte wieder. ‚Hmm, du riechst heute so gut…’
 

‚Jetzt auch noch Komplimente klopfen hier! Du versuchst es wohl mit allen Mitteln, was?’, murrte Aya. ‚Außerdem…was soll das einen, immer, wenn ich einen auf sterbenskrank mache? Wann bin ich denn mal krank? Kannst du mir in den letzten drei Monaten einmal aufzählen, wann ich krank war?’ Eine schmale, rote Augenbraue hob sich in energischem Schwung.
 

Schuldig lupfte sein Gesicht nicht aus dem Versteck. ‚Dir gings immer nicht gut, also hier bei mir. Entweder …am Rande der Unterernährung, dann beide Hände im Verband, dann fast erfroren, verprügelt von Brad und mir, und wieder verprügelt von irgendwelchen Bastarden. Hab ich was vergessen?’
 

Aya konnte nicht wirklich sagen, dass Schuldig irgendetwas vergessen hatte. ‚Ja schon…aber eine ganz normale Krankheit’, lenkte er ab…Schuldig von seiner Argumentation und sich selbst von den Erinnerungen, die gewisse Dinge aufwarfen und die er nicht gebrauchen konnte…oder wollte. Je nachdem.

Er zwickte Schuldig ein weiteres Mal in die Nase.
 

„Ich bin heute auch nur so normal krank wie du damals als du dich zugesoffen hast, also mecker nicht herum und sei lieb zu mir!“
 

Aya strich offiziell die Segel, als nun auch sein letztes Argument zerschossen wurde.

‚Bin lieb’, murmelte er in Gedanken und sah Schuldig mit dem traurigen Blick aus großen, violetten Augen an, die sonst so ganz anders schauten als jetzt.
 

Schuldig rieb mit seiner Wange an Rans. ‚Hey…du hast geübt!’, lobte er dessen ‚Ich bin ein kleiner, armer Aya’-Blick.

Aber er seufzte in Anerkennung dessen und hauchte einen Kuss auf die Ohrmuschel. Schuldig würde sich diesen denkwürdigen Tag mit den kleinen Wörtchen: An diesem Tag sagte Ran, dass er lieb war, rot im Kalender anstreichen. Ein denkwürdiger Tag!
 

o~
 

Er sah sie an, als sie nach ihrem grünen Spitzen-BH fischte und ihn sich wieder anzog, ebenso wie den passenden Slip. Seitlich lag er, ein Bein aufgestellt, das Laken über seiner Hüfte drapiert, verdeckte das wirklich Lohnenswerte.

Es war ja nicht so, dass Manx in den vergangenen Stunden keinen Spaß gehabt hatte, ganz im Gegenteil. Sie hatte den Preis für Fujimiyas Entlassung mit Wohlwollen entgegengenommen und ihn vollkommen ausgekostet - mehrmals. Wenn sie eines sagen konnte, dann, dass Crawford den Verlust wert gewesen war, den sie durch Fujimiya Ran erlitt. Zwar nicht auf geschäftlicher Ebene…denn sie bezweifelte, dass irgendjemand einen Abyssinian mit dieser Wut und diesem Hass in sich ersetzen könnte. Dafür jedoch auf der privaten Ebene weit ab von Kritiker und Schwarz.
 

Sie erhob sich und drehte dem Raubtier hinter sich den Rücken zu, zog sich Bluse und Hose über, nahm ihre Haare locker hoch und steckte sie fest. Immer noch schweigend stellte sie ihr Handy wieder an und schob es in die Tasche zurück, die sie sich über die Schulter warf und sich mit hoch erhobener Augenbraue zu dem arroganten Adonis auf den Laken umdrehte.

Sie tippte sich mit dem Finger in einer Grußgeste an die Schläfe und verschwand aus dem exklusiven Hotelzimmer hinein in die Kälte der Nacht…tief eingemummelt in ihren warmen Mantel.
 

Sich der Tür mittels Abschließen versichernd, begab sich Brad ins angrenzende Badezimmer. Noch während er unter die laufende Dusche trat musste er den Kopf über die Tatsache schütteln, dass er nicht so ahnungslos gewesen war wie alle geglaubt hatten. Schon als Schuldig, oder nein, Fujimiya ihm eröffnet hatten, dass sie ihn an Manx verkauft hatten, hatte er eine Ahnung …keine Vorhersehung aber eine Ahnung besessen was auf ihn zukommen würde. Diese Ahnung hatte sich durch eine hohe Wahrscheinlichkeit zur Vorhersehung errechnet und heute war es nun dazu gekommen. Nutzlos dem Schicksal ausweichen zu wollen. Obwohl er es versucht hatte.

Brad lehnte sich an die durchsichtige Wand der Dusche und ließ sich vom warmen Nass berieseln. Und da beschuldigte Fujimiya ihn der Zuhälterei. War doch der Rothaarige es, der ihn verkauft hatte. Und was würde als nächstes kommen?

Er wusste, dass er ein Instrument war. Für viele Menschen in der Vergangenheit war er lediglich ein Instrumentarium gewesen. Seltsam, dass er noch immer nicht gelernt hatte diese Tatsache hinzunehmen.

Obwohl er sich zu Gute halten musste, dass er sich zumindest bei SZ gewehrt hatte. Ein Wendepunkt in seinem Leben.

Es schien unmöglich, dass er über sich selbst bestimmen durfte.

Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel als er das warme Nass seine Muskeln entspannen ließ.

Manchmal jedoch hatten diese schicksalhaften Zwänge auch ihre angenehmen Seiten…wie heute Abend…
 

Brad duschte zu Ende und verließ danach das Hotelzimmer. Hier war es nicht mehr sicher. Ruhig schlafen konnte er nicht, wer wusste schon, wer ihr Treffen beobachtet hatte.
 

o~
 

Aya verzog mürrisch das Gesicht, als er zu dem Fön griff, der noch an der Steckdose hing. Schuldig hatte ihn dort hängen lassen, als er seine Haare getrocknet hatte.

Wortlos setzte Aya sich auf die Bank und begann, seine langen Zotteln zu fönen…wie immer eine morgenfüllende Aufgabe, die ihm lästig war. Wie sehnte er sich doch den Sommer her…oder wahlweise eine spitze Schere, die mit einem zufrieden stellenden Schnipp diese Haare von seinem Kopf trennen würde, die mittlerweile fast seinen Hintern erreicht hatten. Er könnte heute zum Friseur gehen und sich einen neuen Schnitt schneiden lassen, am Besten einen kompletten Kahlschlag. Einmal Glatze schneiden bitte. Danke.
 

Könnte er. Gäbe es da nicht etwas, was ihn davon abhalten würde. Etwas, das penetranter als jedes Versprechen war, das er jemals leichtfertig gegeben hatte. Etwas, das sturer und unnachgiebiger war als jeder Esel auf dieser Welt, wenn es um besagte Thematik ging.

Doch Aya gab nicht auf. Noch nicht. Noch hatte er nicht all seine Tricks ausgespielt, noch hatte er nicht zum letzten, noch möglichen Mittel gegriffen…noch hatte er den Telepathen nicht gefragt, ob diese Zotteln nun endlich unwichtig geworden waren. Schuldig hatte lange Haare genug für sie beide.
 

Eine halbe Stunde später und einen mehr oder weniger ausgereiften Plan weiter betrat Aya den Küchenbereich des Lofts und ließ sich an dem prächtig gedeckten Frühstückstisch nieder, den Schuldig für sie beide hergerichtet hatte. Dieser war schon vor einer Stunde dem Bad entschwunden und hatte sich nun in den Sportteil vergraben.

Ebenso in Gedanken nahm sich Aya seine allmorgendliche Tasse Kaffee samt Brötchen und stärkte sich erst einmal für den kommenden Kampf. Holde, zu rettende Prinzessin dieses Kampfes lag ruhig über seiner Schulter drapiert bis hinunter in seinem Schoß und schlängelte sich rot über das grüne Shirt, das er trug.
 

„Schuldig…“, läutete er schließlich die erste Runde ein und sah hoch, wartete darauf, dass der Telepath die Zeitung herunternahm.
 

Doch dieser brachte gerade noch so ein interessiertes „Hmm?“ heraus und senkte die Zeitung minimal, einen flüchtigen Blick zu Ran werfend, bevor er seinen angefangenen Satz weiter las.

Seine Hand fischte die Kaffeetasse in das sichere Revier hinter der Zeitung und er nahm einen Schluck.
 

Aya war nie ein Mensch gewesen, der leicht aufgab und der nicht bis zum letzten Tropfen Blutes kämpfte. Also konnte ihn dieses offene Desinteresse nicht vergraulen, sondern stachelte ihn noch mehr an. Aber er musste es strategisch günstig angehen.

„Kritiker haben meine Konten wieder freigeschaltet“, führte er daher erst einmal auf.
 

Das brachte Schuldig nun doch dazu, seine Aufmerksamkeit Ran zu widmen.

„Zeit wurde es ja auch, schließlich haben wir Brad …hast du Brad schon vor einiger Zeit verkauft, sie sollten also langsam mal mit der Gegenleistung rüberrücken“, meinte Schuldig lakonisch mit dem Hauch von Sarkasmus.
 

Aya lag eine passende Antwort auf der Zunge, äußerte sie jedoch nicht. Er musste Schuldig milde stimmen, nicht die Bockigkeit des anderen Mannes auf den Plan rufen. Also lächelte er über sein Brötchen hinweg.

„Das haben sie schon vor längerer Zeit getan, ich habe nur vergessen, es zu erwähnen. Wie dem auch sei, wie wäre es, wenn wir heute einkaufen gehen? Zur Abwechslung kaufen wir dir neue Sachen. Und für mich steht dann ein Friseurbesuch an…wie wäre es?“, fragte Aya so harmlos und enthusiastisch, wie er nur konnte. Und er konnte das gut, sehr gut, denn diese Schlacht war die seine, er MUSSTE sie gewinnen!
 

Für einen Moment lächelte Schuldig zustimmend, nahm erneut einen Schluck seines Kaffees. Ran, sein Füchslein, hatte wohl schon wieder das alte Leid im Bad gepackt.

„Gott, du bist so durchschaubar“, meinte Schuldig und ohne die Miene zu verziehen sah er Ran an, bis er nicht mehr konnte und lauthals lachte.

„Nächstes Mal bitte nicht so betont gut gelaunt und harmlos. Das bist einfach nicht du! Das nimmt dir keiner ab!“ Noch immer kichernd, stand er auf und ging um den Tisch herum.

„Schlauer Fuchs ….aaaber leider verloren. Spitzenschneiden können wir gern machen.“

Er war ja nicht so.
 

Gut….GUT, hatte diese Masche eben nicht gezogen. Wer den Schaden hatte…konnte es sich sicherlich ja auch mal gefallen lassen, ausgelacht zu werden. Mistkerl.

Da hatte Aya doch glatt Hoffnung geschöpft, als Schuldig genickt hatte, aber nein. Spitzenschneiden? Aya verspürte große Lust, mal eine andere Spitze zu schneiden und zwar nicht an sich selbst.

„Spitzenschneiden ist zu wenig, Schuldig“, wechselte er nun auf die argumentative Ebene. „Sie stören, sind lästig, im Weg. Ich bleibe hängen, setzte mich auf sie UND sie bieten ein gutes Angriffsziel für eventuelle Feinde. Ganz zu schweigen von dem, was ich in Zukunft machen werde. Was, wenn ich im Hafen arbeite? Da stören sie nur.“
 

Schuldig drehte Ran auf dem Barhocker zu sich herum und drängte sich zwischen die Beine, suchte mit seinen Lippen die Nähe der Schläfe. „Und was ist mit dem Gefühl der Seidigkeit auf deiner nackten Haut…?“ Natürlich zog dieses Argument nicht.

„Zwei Zentimeter können ab, aber nicht mehr!“, murmelte er und befühlte die Länge der Haare.
 

Eben diese Länge wurde nun unwirsch aus den Händen des Telepathen gerupft und auf den Rücken zurückgeworfen.

Dunkel starrte Aya in die blauen Augen. „Zwei Zentimeter…zwei Zentimeter…dann bleibe ich mit zwei Zentimetern weniger hängen. Oder setze mich auf zwei Zentimeter weniger.

Was findest du an diesen Zotteln? Sie würden genauso aussehen, wenn sie kurz sind! Die Farbe bleibt die gleiche!“
 

„Sie sehen schön aus an dir“, sagte Schuldig und ließ Ran los. Er zuckte mit den Schultern, was sollte er denn noch sagen? „Wenn du unbedingt willst, dann brich den Pakt und schneid sie dir“, sagte er und ging wieder auf seinen Platz, vergrub seinen Schopf wieder in der Zeitung. Irgendwie war er verletzt und es …nun es wurmte ihn innerlich, dass Ran so wütend darüber war. Dann sollte er sich die Haare schneiden wenn er dann glücklicher war, er würde deswegen keinen Streit heraufbeschwören.
 

Aya starrte Schuldig, vielmehr dessen Zeitung noch dunkler und nun tatsächlich wütend an. Hatte er nun also die offizielle inoffizielle Erlaubnis dazu, sich die Haare zu schneiden. Sicherlich…bis auf dass sie Schuldig schön fand und dass er trotz allem den Pakt BRECHEN würde. Alleine schon dieses Wort implizierte, was er damit tun und antun würde. Ein Angriff auf sein schlechtes Gewissen und ein wirksamer noch dazu.

Wortlos ließ auch er das Thema für sich fallen und zog sich den allgemeinen Teil der Zeitung heran, vergrub sich in den Nachrichten, während er mit Hunger sein Brötchen vernichtete.
 

Schweigend genoss Schuldig sein Frühstück, toastete sich ein weiteres Brötchen, als die Stille je vom Läuten des Telefons unterbrochen wurde. Er beschloss es zu ignorieren und schaffte es auch so zu tun, als ginge ihn das Ganze gar nichts an.
 

Aya runzelte die Stirn, als das Telefon in weiter Ferne vor sich hinklingelte und Schuldig nicht die geringsten Anstalten machte abzunehmen. Wer auch immer es war…sein Team konnte es nicht sein, denn sie hatten nur seine Handynummer. Jemand von Schwarz also.

Er seufzte und vergrub sich wieder in die Zeitung. Was für ein wundervoll versiebter Morgen. Er sollte sich wirklich langsam Arbeit suchen, sonst brachten sie sich womöglich noch irgendwann um.
 

Irgendwann hörte das Klingeln auf, allerdings nur für wenige Minuten, bevor es wieder anfing. Schuldig seufzte auf und blickte Ran mitleiderregend an. Danach erhob er sich wie ein geprügelter Hund und schlurfte seine Tasse noch in der Hand zum Telefon.

Er besah sich dich Nummer im Display und legte dann auf, bevor er abgenommen hatte.

Es war Brad.

‚Was willst du?’, kontaktierte er diesen mittels Telepathie.

‚Ein Auftrag, Hongkong, für wenige Tage. Es hat mit dem gleichen Auftrag zu tun, den wir bereits erledigt haben.’

‚Nehmen wir Nagi mit?’

‚Nein, nur wir beide.’

‚Gut. Hast du Daten darüber?’

‚Ja, komm heute noch vorbei.’

‚Alles klar.’
 

Das Telefon noch in der anderen Hand kam er wieder zu Ran zurück, zog sich auf den Hocker und legte das blöde Ding neben die Tasse, die er nun abstellte.

„Brad war’s“, murrte er und stierte das Telefon an.
 

Konnte der Tag NOCH beschissener werden? Aya tendierte zum Ja, sagte jedoch nichts. Er seufzte nur tief.

„Ein Auftrag?“, fragte er anstelle dessen. Natürlich war es einer, da brauchte er sich wenig vorzumachen. Wozu sonst sollte der Amerikaner hier anrufen?

Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben sich, nahm einen Schluck aus seiner Tasse, der bitterer als vorher schmeckte. Einbildung, aber eine gute.
 

Ah, das schwarze Loch sog ihn an.

„Ja. Wieder Hongkong. Vermutlich nix Großes, wobei, ich habe noch keine Ahnung um was es geht. Aber vielleicht hat’s was mit dem letzten Ding zu tun.“
 

Der Blick, den anstelle Crawford nun Schuldig bekam, war genervt. „Warum habt ihr so viele Aufträge in letzter Zeit?“, fragte Aya mit Resignation in der Stimme, aber auch mit Wut. Er konnte es sich schon denken und es stimmte ihn nicht glücklich.

„Wie lange ist es dieses Mal? Einen Monat lang?“
 

„Ich denke nur ein paar Tage. Drei, vier? Ich muss mit Brad noch besprechen um was es genau geht. Aber es stimmt, wir haben meist nur wenige Aufträge im Jahr, es sei denn wir langweilen uns…“, verzog er den Mund skeptisch.
 

„Anscheinend gibt es jemanden, der sich gerade langweilt, weil er nichts zu tun hat. Vielleicht solltest du ihn wieder öfter zum Kaffee einladen, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt.“

Aya WUSSTE, dass er unfair war, dass er seine Wut zwar nicht auf Schuldig projizierte, er wusste um Schuldigs Loyalität zum Orakel und darum, dass dieser kein böses Wort auf seinen Anführer kommen ließ, doch für ihn war der Kaffee auf, sprich, es reichte ihm.

Er hatte genug von Crawfords Eifersucht.

Und ja, es war immer noch ein Problem für Aya, hier zu sitzen. Während Schuldig seinen Aufträgen nachging. Er konnte hier nichts tun, musste darauf warten, dass der andere Mann lebend zurückkam - oder auch nicht. Eben.
 

Nach einem langen forschenden Blick in Rans Augen stand Schuldig auf, nahm seine leere Tasse. „Und …was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?“

Er machte sich daran sein Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.
 

„Das weiß ich nicht. Willst du dich deinem Anführer entgegenstellen? Wohl kaum. Dann musst du eben springen, wenn er dir sagt, dass du dorthin sollst, dann hierhin und wieder in ein anderes Land. Eine andere Möglichkeit GIBT es da anscheinend nicht. Ich kann ja schließlich warten, ich laufe dir nicht davon. Ich bleibe hier und warte brav, dass du zurückkommst, möglichst unversehrt und dass wir dann wieder bis zum nächsten Auftrag warten.“ Aya zuckte mit den Schultern und trank den Rest seines Kaffees. Auch er erhob sich und räumte seine Sachen in die Spülmaschine, wie den Rest der Nahrungsmittel in den Kühlschrank.
 

Schuldig hielt inne, sah Ran dabei zu wie dieser sich in Aktion flüchtete.

„Willst du … dass wir im Streit auseinander gehen?“, flüsterte Schuldig. Er ging nicht zum Einkaufen. Er ging nicht zum Beten. Er ging nicht um Freunde zu besuchen. Er ging um zu töten. Er ging in den Krieg. Wollten sie wirklich vorher streiten? Egal, um was es bei diesem Streit ging.

„Ich …will nicht, dass ich fahre und …wir vorher …“, er verstummte. „Auch wenn es um Brad geht…ich verstehe dich ja, aber…“ Tja, was aber?
 

„…aber weder du noch ich können etwas dagegen tun. Es ist dein Job, das zu tun, wofür du bezahlt wirst, nicht mehr und nicht weniger. Crawford hat da den älteren Anspruch auf deine Gesellschaft. Du bist eben immer noch Schwarz, das ist nicht zu ändern.“ Aya lehnte sich an den Kühlschrank und schloss für einen Moment die Augen.

„Ich will nicht im Streit auseinander gehen, doch ich ertrage es nicht mehr, dich immer und immer wieder gehen zu sehen und darauf zu warten, dass du vielleicht nicht mehr zurückkommst. Ja, das ist egoistisch von mir, aber was soll ich machen? Lächeln? Winken?“ Sein Blick suchte den des Telepathen.
 

Doch dieser wich ihm aus. Ran ertrug es nicht mehr.

Und das war kein kleines Problem. Es war ein übles Problem. Eines, das sich nicht lösen ließ, eines, das dazu führen würde…das dazu führen würde…

Irgendetwas zog sich in ihm zusammen, erstarrte. Er wusste sicher …Ran würde gehen. Früher oder später. Das hier waren nur die Vorboten, nicht wahr? Das war nur der Anfang, an dem man noch darüber sprach, es versuchte … bis alle Versuche vergeblich waren und man sich trennte.

Und später hieß es dann: Wir liebten uns…ich liebe ihn noch heute … aber zusammen leben können wir nicht…

Genau so wird es sein …
 

„Siehst du. Du weichst mir aus, du weißt, dass es genauso ist, wie ich es gesagt habe“, goss Aya unwillkürlich noch mehr Öl ins Feuer. „Wie lange willst du das noch so weiter machen? Ewig? Bis es dann doch irgendwann einmal schief geht? Aber es ist egal…es lässt sich nichts dagegen machen. Ich warte auf dich. Wie immer.“
 

Schuldig wich nicht aus, das zeigte er in seinem Blick, den er Ran schenkte. Er wusste, dass Ran ihn verlassen würde, in diesem Moment wusste er es und es stand in seinen Augen.

„Es ist nicht egal, Ran“, wisperte er. „Wie …immer.“ Er lächelte und atmete dann tief ein, den Kloß in seinem Hals verdrängend. Den Blick lösend, verwischte das Lächeln plötzlich und Schuldig konzentrierte seine Handlungen darauf, die Küche aufzuräumen. Seine Gedanken waren wie im Nebel.

Ran würde gehen…und …dann?
 

Arme umschlossen Schuldig von hinten, als sich Aya an ihn schmiegte und seine Stirn zwischen die Schulterblätter presste.

„Ich will dich nicht verlieren, Schuldig“, sagte er schlicht.
 

„Hast du nicht auch manchmal Angst…nicht das zu bekommen, was du willst?“, flüsterte Schuldig und drehte sich in Rans Armen, sodass er sein Gesicht auf Rans Schulter legen konnte. „Ich …habe Angst davor…dass du gehst, Ran. Furchtbar“, gestand er so leise flüsternd ein, dass man die einzelnen Worte kaum verstand.
 

„Ich habe ständig Angst, dich zu verlieren, Schuldig“, erwiderte Ran ebenso leise und starrte aus dem Fenster. „Ich habe meine Schwester verloren…etwas, das ich wollte, aber nicht bekommen habe. Noch einen Menschen zu verlieren, wäre unerträglich für mich.“

Da hatte er es ausgesprochen, da waren sie heraus, die Worte, die ihm ein solches Drücken auf dem Brustkorb verursachten. Doch das machte es nicht besser.
 

„Ich..bin unkaputtbar, Ran! Im Knautschtest und Langlaufleistungstest geprüft. Unverwüstlich …mich kriegt niemand so schnell klein…ich werde nicht weggehen, Ran, nicht wenn du es nicht willst.“

Alles war ruhig in ihm, nichts begehrte bei diesen Worten auf, alles war friedlich. Keine Unruhe, keine Einflüsse…
 

Aya musste lächeln, trotz der traurigen Wahrheit. Ja…unverwüstlich, schön wäre es.

„Ich will, dass du bei mir bleibst“, bestätigte er sanft und rieb seine Wange an den Haaren des Telepathen. „Aber was will Crawford? Was lässt du dir von ihm sagen?“
 

„Es ist mein Job, Ran.“ Was sollte er sonst sagen? Sie hatten das schon öfter besprochen und dieselben Worte wie jedes Mal gebraucht. Dieselben Versicherungen, dieselben Argumente.

„Was meinst du soll ich machen? Ohne dass ich abstumpfe oder vor Langeweile zugrunde gehe?“
 

„Das weiß ich eben nicht. Also musst du wohl weiterhin töten“, lächelte Aya und schwieg, seine Wange immer noch an den Schopf des Telepathen gebettet. Es war alles gesagt, sie waren wirklich wieder beim alten Thema angekommen, das ihnen beiden nichts bringen würde. Außer dem alten Frust.

Er seufzte schwer auf. „Los, geh zu Crawford und hol dir deinen Auftrag ab. Damit du umso schneller wieder hier bist.“
 

o~
 

Schuldig brütete über den wenigen Daten, die sie erhalten hatten und wenn er ehrlich war, bekam er jetzt schon Kopfschmerzen. Er massierte sich die Nasenwurzel und legte den Kopf in den Nacken. Der Auftrag umfasste vier Tage, Flugzeit mitgerechnet, eine schnelle Sache, wobei sie ein genaues Zeitfenster einzuhalten hatten.

Im Prinzip zu wenig Zeit, viel zu wenig Zeit.

Die Grafik des Gebäudeumrisses prangte noch immer auf dem Rechner, der auf seinem Schoß lag. In zwei Tagen sollte es losgehen…
 

Soviel hatte auch schon Aya mitbekommen, doch er hatte es irgendwann aufgegeben, Schuldig verstohlen über die Schulter zu schauen und sich seine eigenen Gedanken um das Gebäude zu machen…über allgemein die Pläne, die er sah.

Aya bemerkte auch jetzt wieder, dass er das Verantwortungsbewusstsein eines Anführers nicht aus seinen Gedanken tilgen konnte. Er fühlte sich verantwortlich, Schuldig auf Dinge aufmerksam zu machen, die diesem vielleicht entgehen könnten, verantwortlich, bei der Planung mitzureden.

Doch das hier war nicht sein Team. Er hatte kein Mitspracherecht, so hatte er sich in die Küche zurückgezogen und spielte momentan mit Banshee, die auf dem Tresen seinem Finger nachjagte.
 

Schuldigs Blick war seit einigen Minuten bereits abgedriftet, sein Kopf lag auf der Seite, die Kopfschmerzen nicht besser geworden. Er beobachtete Ran für eine kleine Weile.

„Weißt du… ich finde es eigentlich seltsam, dass ein ‚Florist’ Pflanzen so schändlich eingehen lässt.“

Ein fahriges Lächeln, eigentlich sollte es ein Grinsen werden, schimmerte zwischen dem Kopfschmerz hindurch. Sein Blick hatte den verkümmerten Bonsai getroffen, den Schuldig für Ran besorgt hatte.
 

Aya drehte sich um und wandte sich Schuldig vollkommen zu. Er runzelte die Stirn, in diesem Moment auch von seinen dunklen Gedanken abgebracht. Die Pflanzen?

Ja…die Pflanzen.

Aya ließ seinen Blick kritisch über die gesamte Wohnung streifen. Die anderen Pflanzen sahen aber auch nicht besser aus. Und das waren Schuldigs Pflanzen, der jedoch der Meinung schien, dass er sich einen Florist nicht nur zum Bestäuben, sondern auch zum Gießen angeschafft hatte.

Sicherlich.

„Noch sind sie nicht eingegangen“, murrte er. „Außerdem…das ist Grünzeug, es bringt kein Geld und es ist lästig zu pflegen.“
 

„Wetten, dass wenn ich wieder da bin, keine einzige der Pflanzen noch steht?“, schloss Schuldig lächelnd die Augen. Er brauchte eine Tablette. Wie ätzend, jetzt musste er aufstehen.

Er schob den Rechner von sich und setzte sich auf, die Hand in die Stirn gelegt. Erst dann erhob er sich und ging in die Küchenzeile, kramte sich eine der Tabletten hervor.
 

„Dann frage ich mich allen Ernstes, wie deine Flora und Fauna überlebt hat, als ich noch nicht hier war um sie eingehen zu lassen“, unheilte es neben Schuldig, doch dem Telepathen wurde freundlich ein Wasserglas eingeschüttet und gereicht, damit er die Tablette nehmen konnte.
 

„Ich hatte bisher keine Fauna, aber jetzt hab ich ja gleich zwei Angehörige …“, murmelte Schuldig und nahm einen Schluck des Wassers.
 

„So, wo ist denn die zweite Spezies?“, fragte Aya, sich so ganz und gar nicht der Rolle als Tierart bewusst, die er hier in Schuldigs Wohnung erfüllte.

„Außerdem fressen die meisten Arten das Grünzeug eher, als dass sie es verdursten lassen.“
 

„Na eines zum Kraulen und eines zum Liebhaben“, zog Schuldig Ran an sich und legte seinen schweren Kopf auf die Schulter des anderen. Warum fühlte er sich heute nur so scheiße?
 

Vielleicht mochte es an dem Auftrag liegen…oder allgemein daran, dass der Amerikaner meinte, Schuldig für jeden noch so kleinen Auftrag einspannen zu müssen. Aya wusste es nicht, er sah nur die Auswüchse dessen und es machte ihm Sorgen.

Schuldig schien müde…kampfesmüde, was nie gut war.

„Leg dich hin und schlaf dich aus…dann werden auch die Kopfschmerzen besser sein“, murmelte er und küsste Schuldig sanft auf dessen Haarschopf.

„Kommst du mi~it?“, quengelte Schuldig und seine geschlossenen Augenlider lagen an Rans Halsbeuge. Sein Kopf fühlte sich schwer und heiß an. Nur Rans Haut kam diesem Umstand mit Kühle entgegen.
 


 

o ~
 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Coco & Gadreel
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Zerbrochenes Glas

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Glassplitter unter der Haut

~ Glassplitter unter der Haut ~
 


 


 

Sein Körper tat den Schmerz kund, der sich bleiern über ihn gelegt hatte. Brad wälzte sich unruhig auf die Seite, ächzend streckte er seine Beine aus, die er in einer ungewöhnlichen Haltung an sich gezogen hatte. Vermutlich im Schlaf.

Er öffnete die Augen, erkannte die schwachen Umrisse der Möbel seines Schlafzimmers, die durch die hervorspringenden Schatten der Morgendämmerung ihm ins Gedächtnis riefen, dass der nächste Tag bevorstand.

Wieder ein Tag.

Wieder zu viele Gedanken.

Wieder zu viele Visionen von Schuldigs Tod.
 

Er schlug die Decke zur Seite, die sich um seine Beine gewickelt hatte, schob das verschwitzte Laken von sich und hievte die Beine über die Bettkante. Sein Schädel dröhnte und sein Magen wusste wohl nicht so recht, was er nun mit seiner Entscheidung aufzustehen anfangen sollte.

Ein freudloses Lächeln irrlichterte auf seinem Gesicht, als er sich durch die verstrubbelten Haare fuhr und sich erhob. Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass er zwei Tage hatte vergehen lassen, in denen er - außer zu schlafen und zu trinken – wenig mehr getan hatte.

Es wurde Zeit.

Zeit, sich um die zu kümmern, die er bisher vernachlässigt hatte.
 

Das Haus lag still da. Es war noch zu früh für Nagi und Jei.

Kam es ihm nur so vor, oder waren seine Bewegungen langsamer, bedächtiger, fast wie eingefroren, befand er in der Dusche und danach beim Heraussuchen seiner Kleidung.
 

Als er schließlich eine Stunde später in die Küche hinunter ging, eine Jeans, ein weißes langärmliges Shirt als Oberbekleidung gewählt, waren seine Haare noch feucht. Es interessierte ihn nicht, wie er aussah, ob seine Kleidung der sonstigen Etikette genügte. Er mochte dieses anliegende Shirt, er mochte die Farbe, die Weichheit. Schuldig hätte es gemocht.

Ihn hatten seine Anzüge, die Art sich zu kleiden, immer gestört. Er konnte es noch zu deutlich in den Ohren hören: Zu spießig für den Alltag. Sei doch mal lockerer. Ne andere Farbe, Brad! Langweiler…
 

Wenig später, nach einer Kopfschmerztablette, einem Glas Wasser und einer Nachricht für Nagi, fuhr er gegen zehn Uhr Richtung Stadt. Er hatte ein Versprechen einzulösen.
 

Vielleicht hatte der Alkohol etwas Gutes gehabt. Ja, vielleicht. Nein sicher sogar. Er hatte ihn abgelenkt und nun hatte er Kopfschmerzen und ein flaues Gefühl in der Magengegend, welches aber zunehmend besser wurde.
 

Er atmete tief ein, als er seinen Wagen parkte und die wenigen Stufen zum Hintereingang hinaufging. Die Sonnenbrille, noch immer auf seinem Nasenrücken, setzte er jetzt ab. Es war kalt draußen, doch er hatte nicht das Bedürfnis nach einer Jacke verspürt.
 

Schuldig hatte mit Sicherheit gewusst, warum er ihm diese letzten Gedanken übermittelt hatte. Doch Brad hatte nun keinen Schimmer, was ihn hinter der Tür erwartete, die er nun mittels der Codekarte öffnete. Er konnte Fujimiya… Ran nicht einschätzen. Er hatte zu viel in letzter Zeit verloren. Alles. Und sich selbst?
 

Brad schob die Tür auf und abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Die Jalousien waren fast alle zu dreiviertel herabgelassen und tauchten die Wohnung in ein unangenehmes Zwielicht. Ein willkommenes Fluchtinstrument.

Mit einem schweren, dennoch verhaltenen Seufzen schlüpfte er aus den Schuhen und bemerkte alsbald eine kleine Gestalt, die sich ihm näherte, leise maunzend.

Still blickte er auf das Katzenkind, für stumme Momente pressten sich seine Kiefer aufeinander. „Verrückter Kerl“, wisperte er und bückte sich. „Hast du Hunger, Kleine? Komm, sehen wir nach, ob wir noch etwas für dich finden.“ Als er sich erhob, hatten sich seine Augen an das Dämmer gewöhnt und glitten suchend durch die Wohnung. Erst am Bett blieben sie hängen, erkannten den stillen Leib darauf liegend.
 

Zunächst führten ihn seine Füße in die Küche, öffneten seine Hände auf der Suche nach dem Futter für die junge Katze die Schränke. Zwei Döschen mit Katzenfutter fanden sich noch und er öffnete eine davon, füllte sowohl frisches Wasser als auch das Futter in die dafür vorgesehenen Schalen.

Erst dann näherte er sich dem Bett.

Er sah die offenen Augen, den abwesenden Blick, erkannte aber auch, dass der Mann lebte, auch wenn dieser wohl eher empfand, dass er alles Leben eingebüßt hatte. „Ran…?“
 

Es war jemand da.

Aya wusste auch genau, wer es war, doch das hieß nicht, dass er auf ihn reagieren musste, oder? Es fiel ihm so schwer. Alles fiel ihm schwer. Wann war er das letzte Mal aufgestanden und hatte etwas getan wie trinken, essen, waschen…leben?

Er wusste es nicht.

Er wollte es auch nicht mehr.

Youji war für ihn da gewesen, zumindest, bis er wieder gefahren war, mit den Worten, dass er für sich selbst trauern wollte. Youji hatte ihn gehen lassen, so hatte Aya das Einzige getan, wozu er sich noch fähig sah. Sich in Schuldigs Sachen mit Schuldigs Geruch noch in den Laken in das Bett zu legen und darauf zu warten, dass ein Wunder geschah. Dass er aufwachte vielleicht.
 

Anscheinend träumte er noch. Einen Alptraum.
 

Aya blinzelte. Ach ja, Crawford war das. Ein rationaler Gedanke schlich sich durch sein träges Hirn. Crawford wollte ihn sicherlich hier raus haben. Er wollte Schuldigs Wohnung für sich.

Und was würde ihm dann noch bleiben? Nichts. Nichts außer Erinnerungen, die er nicht anfassen konnte, die ihn nicht umarmen würden, ihn nicht küssen würden.

Kalte Zeugen einer Liebe, die ihm mehr gegeben und mehr genommen hatte als alles zuvor in seinem Leben.
 

Den Blick durch Crawford hindurch gehend nickte er und versuchte sich zumindest schon mal in die Sitzende hochzuraffen.

„Ich… bin gleich weg. Gleich… ich muss nur noch aufstehen… und gehen…“, raspelte er trocken, mühsam.
 

Auf den Mann nieder blickend, atmete Brad tief ein, er hatte das Gefühl schwer Luft zu bekommen. Seit zwei Tagen… war das so.

Aus einem Impuls heraus wollte er sich setzen, doch ebenso war ihm, als wäre das Bett tabu für ihn. So setzte er sich auf den Boden, lehnte sich an das Bett an.

„Warum… willst du gehen? Vor allem: Wohin willst du? Glaubst du… er hätte gewollt, dass du so schnell hier abhaust?“, sagte Brad ruhig, fixierte eine der Jalousien, die Lichtbündel, die Staubpartikel sammelten.
 

Aya hatte Mühe, dem Sinn der Worte zu folgen, überhaupt sich zu konzentrieren. Gewollt? Was Schuldig gewollt hätte? Nein… hätte er nicht.

Müde blinzelte er und sah zu Crawford, der sich neben ihn gesetzt hatte. Etwas war anders an dem Amerikaner. Er war fertig.

Konnte Aya verstehen, nur zu gut.

Sein Blick verfing sich in dem weißen Shirt und er erinnerte sich an Schuldigs weiße Kleidung. Sie hatten einmal deswegen gestritten.

„Bist du nicht gekommen um die Wohnung für dich zu beanspruchen?“, fragte Aya, anstelle Crawfords Fragen zu beantworten. Er wusste selbst, warum er gehen wollte… nein, eigentlich wollte er nicht. Und wohin? Schuldig hinterher in die Hölle um ihn herauszuholen.
 

Die Wohnung für sich beanspruchen?

„Nein. Es… war von Anfang an sein Reich. Etwas in dem er sich wohl gefühlt hatte. Wo er Ruhe vor der Welt hatte, zumindest einem Teil davon, auch wenn er die Gedanken nie ganz losgeworden ist. Erst… die Tatsache, dass er dich nicht lesen konnte, machte diesen Raum perfekt.“ Brad schloss die Augen, spürte wieder diese innere Qual in sich, die er durch Tränen nicht tilgen konnte. Er konnte nicht weinen, hatte es noch nie vermocht. Er wünschte, er könnte es jetzt. Nur ein einziges Mal.

„Du gehörst hierhin. An den Ort, an dem er… glücklich war“, würgte er hervor, tarnte seine ihm versagende Stimme, indem er sich erhob. „Ich mache Kaffee, willst du auch einen? Oder… etwas anderes?“
 

„Ich will Schuldig zurück“, wisperte Aya und presste die Hände auf die Augen. Nicht weinen, Fujimiya, nicht weinen. Du hast die letzten Tage geheult, oder wie lange auch immer du schon in dem Bett liegst.

Was Crawford sagte… wie sehr musste es den Amerikaner schmerzen? Es war das erste Mal, dass Aya sich das fragte, und das erste Mal, dass er es überhaupt wahrnahm. Das erste Mal, dass dieser Vorwurf etwas zurücktrat. Das erste Mal, dass er sich nicht einredete, dass Crawford Schuldig mit Absicht hatte umbringen lassen.

Er atmete tief ein und nahm die Hände herunter. Er gehörte hierhin… hierhin. Schuldigs Erbe. Ein Raum, der ihm zuflüsterte, wie glücklich er doch gewesen war, der Schuldig war.

„Ich… kann Frühstück machen“, sagte er, den Blick zur Seite gewandt, die Augen feucht.
 

Die Enge in der Brust wurde nur um ein Vielfaches schlimmer, als Brad den ersten Satz hörte. Ja, auch er wollte ihn wieder zurück.

Brad wandte den Blick ab und ging zu einem der Fenster, öffnete es und ließ frische Luft herein. „Eine… gute Idee“, sagte er nicht sicher in seinen Worten. Ihm fehlte Stärke.

Er hatte den jüngeren Mann in ähnlicher Verfassung gesehen, früher einmal. Nach dem Tod seiner Schwester. Jetzt… war es, als könne er diesen Schmerz körperlich fühlen. Ihn in Gestalt von Ran zu sehen, schmerzte ihn umso mehr.
 

Es war… eine Aufgabe. Etwas, das Aya tun konnte, musste… etwas, für das er aufstehen musste. Eine gute Idee, lobte seine rationale Seite. Lass mich in Ruhe, zischte die emotionale.

Er kämpfte sich hoch und ging in den Küchenbereich, die Haare immer noch offen und ungekämmt, die Füße barfuß auf dem kalten Boden. Sein Blick fiel auf Banshees Schüsseln… Crawford hatte sie schon gefüllt.

Aya wandte sich an den Kühlschrank, öffnete ihn. Er brauchte länger, sehr lange, um Dinge hervor zu holen, die Crawford essen konnte und die nicht verschimmelt waren.

Er zögerte und holte dann den Apfelstrudel, den er gebacken hatte, hervor und stellte ihn auf den Tisch.

Für… ihn.

Einen Apfelstrudel.

Aya starrte auf das Gebäck und sein Blick verschwamm. Seine Lippen öffneten sich, ließen jedoch nichts heraus. Er drehte sich wieder um und holte den Rest.
 

Während Brad die Fenster öffnete, seine Blicke immer wieder auf den einen oder anderen Gegenstand schweifen ließ, hörte er, wie in einem andere Teil der Wohnung das Besteck hervorgeholt wurde.

Er folgte diesem Geräusch und machte sich an seine Aufgabe, die des Kaffeekochens. Stumm erledigten sie ihre Tätigkeiten. „Hast du gestern etwas gegessen?“, fragte Brad, den Blick auf den Tresen richtend, wo ein Kuchen stand. Er selbst hatte bis auf den Alkohol nichts zu sich genommen und nun verspürte er Hunger.
 

„Gestern?“ Wann war gestern gewesen? Aya wusste es nicht, konnte nicht genau sagen, wann es das letzte Mal gewesen war. „Ich weiß nicht“, wiederholte er noch einmal und starrte abwesend auf die Teller, die dort standen. Schuldig hatte sich einen Apfelstrudel gewünscht und Aya hatte ihn mit einem überraschen wollen. Wenn er wieder zurückkam, hätte er einen selbstgebackenen Apfelstrudel vorgefunden.

Hätte.

Wenn.

Es war nicht so.

Warum hatte Aya ihn nicht eher gebacken? Schuldig hatte ihn sich doch so gewünscht, er wusste noch genau, was er gesagt hatte. Wie er ihn angesehen hatte… wie er dort auf der Fensterbank gesessen hatte und versucht hatte, ihm das Wörterbuch wegzunehmen.

Aya war sich nicht bewusst, dass er an einer Strähne seines Haares zog, so kräftig, dass es schmerzte. Schmerz war gut, oder? Körperlicher Schmerz, aber nicht seelischer. Er wünschte, er hätte nur körperliche Schmerzen.

„Er hat dich geliebt, weißt du das?“, sagte Aya völlig aus dem Kontext gegriffen. „Er wollte es nicht wahrhaben…“
 

Brad wollte diese Worte nicht hören, nicht jetzt, nie mehr.

„Es macht keinen Unterschied.“

Seine Worte kamen ihm so distanziert vor, so fern seiner Gefühle. Die Bitterkeit, die er in sich wahrnahm, nachdem er verstand, was diese Worte zu bedeuten hatten, überschwemmte ihn.

Für Momente stand er da, fühlte nichts außer Schuld, nichts außer Reue, während er auf den Kaffee wartete. „Ich… wusste das nicht.“

Und selbst wenn… es hätte keinen Unterschied gemacht.
 

Aya nickte, der Blick draußen auf irgendetwas gerichtet. Das letzte Mal, als er so an seine Schwester gedacht hatte, hatte ihn Schuldig getröstet… und nun? Nun war niemand mehr da, eben weil er es wollte. Er konnte nicht mit Nähe trauern, mit menschlicher Zuneigung. Das ging nicht… Schuldig hatte ihm damals das Gleiche gegeben: Distanz.

Vermutlich war er deswegen auch vor Youji geflohen und saß hier nun im gleichen Raum mit Crawford.

Aya starrte auf den Apfelstrudel. Doch er sah ihn nicht, sah ihre letzte Umarmung, ihre gemeinsamen Stunden, ihr Kuscheln. Wieder bemerkte er, wie er an einer Strähne zog und schließlich ein paar der Haare in den Händen hielt.
 

Eine der Tassen bereits gefüllt, kam Brad von der Anrichte zu dem Tresen und stellte Ran die zu dreiviertel gefüllte Tasse hin. „Hör auf, sie dir auszureißen, er hat sie gemocht“, sagte Brad leise, verzog mit halb weinendem, halb lachendem Auge den Mundwinkel. Er wusste nicht, wie er sich fühlte. Einerseits hätte er gern gelacht über Schuldigs Haarfimmel, andererseits… hätte er gern Schuldig samt Haarspleen wieder hier, lebend.
 

Aya sah irritiert auf, zum ersten Mal direkt in die braunen Augen, die ebenso viel Schmerz versteckten wie er selbst auch. Er hatte sich Haare ausgerupft?

Ja, hatte er, wie er mit einem Blick auf seine Hand feststellte, die er nun auf seinen Schoß sinken ließ, wo sie stumm ruhte.

„Du weißt vieles… hast vieles beobachtet“, sagte er zum Kaffee hin, der vor ihm stand.

Müder ergriff er das Messer und schnitt den Apfelstrudel an… teilte für Crawford ein Stück ab und legte es auf den Teller des anderen Mannes.
 

Sich seine eigene Tasse dazu holend und sich dem Mann gegenübersetzend, nahm Brad einen Schluck des wohltuenden Getränks. „Hast du vergessen, dass er mir in diesem Keller gesagt hat: Die Haare bleiben dran!“

Brad musste nun wirklich lächeln, wenn auch zwangsweise, wenn er an diese Szene zurückdachte. Er wartete, bis Ran sich auch eines der Kuchenstücke auf den Teller gegeben hatte. Er hatte nicht vor, den Kuchen alleine zu essen. Ganz sicher nicht.
 

„Ja… stimmt.“

Aya erinnerte sich an diese Szene, doch der Hass von damals schien wie nichts, er WAR nichts. Rein gar nichts. Er hatte sich gewandelt, in das genaue Gegenteil und nun, was war nun? Die große Leere, das Unbegreifen und der Schock. Die Lähmung, die Aya nicht klar denken ließ. Aber schließlich wollte er das auch: nicht mehr denken zu müssen, nicht daran denken zu müssen, was er verloren hatte, was nie wieder kommen würde.

Sein Blick glitt zu Crawfords unangerührtem Kuchen.

„Ich… weiß nicht, ob er schmeckt. Ich habe ihn das erste Mal gemacht. Wenn… du etwas anderes willst, kann ich das auch machen…“, sagte er nachdenklich, seltsam fern.
 

Ah, da hatte jemand angebissen. „Nein, nein, ich warte lediglich, bis du dir auch ein Stück geholt hast. Ich werde ihn nicht alleine essen, Ran.“ Das war eine klare Ansage, vor allem in Erinnerung an das, was sie beide – was das Essen oder Nichtessen betraf – bereits hinter sich hatten. „Weder werden wir ein Stück wegwerfen, noch wird einer ein Stück zu wenig essen.“

Eine Prophezeiung.
 

„Ich…“ …habe keinen Hunger, hatte Aya sagen wollen, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Er hatte ihn für Schuldig gebacken, wieso sollte er nicht wenigstens versuchen, im Andenken an den rothaarigen Deutschen gemeinsam mit dem Mann, der ebenso sehr trauerte, wie er selbst, ein Stück zu essen.

Wortlos nahm er ein Stück und lud es sich auf den anderen Teller, während er auf die Mischung herabstarrte. Er teilte sich eine Gabel ab und schob sie sich in den Mund. Er kaute langsam und schluckte.

„Es schmeckt scheußlich“, sagte er schließlich. In der Tat… irgendetwas hatte er falsch gemacht bei der Zubereitung. Vielleicht war es gut, dass Schuldig doch nicht von diesem misslungenen Versuch hatte kosten können…

Nein. Nein, war es nicht. Besser Schuldigs zu Ekel verzogene Lippen als… gar keinen Schuldig.
 

Brad machte es Ran nach…

„Hmm… würde ich nicht sagen. Das ist ein Apfelkuchen… er schmeckt gut, er ist nur kalt.“

Er erhob sich, ging hinüber zum Backofen und stellte ihn an. Danach öffnete er den Kühlschrank und fahndete nach… ah da war sie ja schon. Er kam mit der Sahne zurück und stellte sie demonstrativ auf den Tisch.

Sich über die Arme reibend fiel ihm jetzt wieder ein, dass er nur ein Shirt, zwar langärmlich aber dennoch nur dünn, anhatte und die Fenster immer noch geöffnet waren. Samt Kaffeetasse ging er zum anderen Teil der Wohnung hinüber und schloss sie wieder.
 

Violette Augen fanden ihren Weg zur Sahne, dann zum Backofen, dann mit etwas Aufwand dem anderen Mann hinterher, der die Kühle vertrieb.

Warum war Crawford hier?, stellte sich Aya zum ersten Mal die vermutlich wahrscheinlichste und nahe liegendste Frage. Wieso kümmerte der Amerikaner sich um Dinge, um die er sich nicht sorgen brauchte? Die Wohnung… ihn selbst. Er kam klar. Er wäre schon irgendwann aufgestanden. Oder? Und selbst wenn… was hätte es das Orakel denn gekostet? Vielleicht jemanden, der seine Leiche wegräumte.
 

Der Backofen war schneller aufgeheizt, als Brad wieder in der Küchenzeile angekommen war und er nahm ihre beiden Kuchenstücke, stellte sie hinein, um sie aufzuwärmen. Mal sehen, ob er aus diesem nicht mehr ganz so frischen Gebäck etwas herausholen konnte.

„Was hältst du vom Einkaufen? Das Katzenfutter reicht nur noch für morgen.“ Für Schuldigs kleine und große Katze… musste etwas gekauft werden, bevor der Mann auf die absurde Idee kam, nichts mehr zu essen. Was vermutlich nicht ganz so abwegig war, wenn er sich die schlanke Gestalt anblickte. Er verstand dessen Lage… nur zu gut, sah man es doch den eingefallenen Gesichtszügen, der niedergeschlagenen Körperhaltung an.
 

„Warum tust du das?“, fragte Aya erstickt. „Du… müsstest das nicht tun, ich kann auch für mich alleine sorgen.“ Die gleichen Fragen wie noch kurz zuvor in seinen Gedanken und Aya wusste immer noch keine Antwort darauf. „Du kannst mich noch nicht einmal sonderlich ab…“
 

Für einen Augenblick erwog Brad zu lügen. Warum? Weil er nicht wusste, wie der Mann seine Worte aufnehmen würde?

Er lehnte an der Anrichte, blickte in den beleuchteten Backofen hinein. Nicht mehr lange und er konnte die beiden Teller wieder herausnehmen. „Wir… waren in Gedanken verbunden gewesen, als er…“, was sollte er sagen? Wie ein Stück Vieh erschossen wurde? „…bevor die Verbindung brach… sagte er mir, dass ich mich um dich kümmern solle.“
 

Worte, wie sie schlimmer nicht hätten sein können. Sie rissen sich in Ayas Inneres, das so schmerztaub gewesen war und schlugen blutige Krater in seiner Trauer. Er nickte und das Brennen in seinen Augen, die bisher ungeweinten Tränen machten sich auf den Weg nach oben, sie wollten hinaus, wollten um den anderen Mann trauern, um das, was nicht mehr da war.

Aya stützte seine Hände auf den Tisch und vergrub sie in seinen Haaren. Den Kopf gesenkt, ließ er los, ließ er den Tränen freien Lauf, die ihn fertig machten, doch er weinte stumm; schluchzte nicht, schrie nicht… gar nichts.
 

Brad ließ ihn. Für lange Momente ließ er ihn diesen Druck loswerden, den er selbst nicht von sich bekam. Er klebte an ihm wie ein Mal. Sein Blick glitt langsam über die in sich verschlossene, trauernde Gestalt.

Nach einer Weile holte er den Kuchen aus dem Ofen, brachte ihn wieder an den Tresen und verteilte auf seinem Teller die Sprühsahne. Er war nicht perfekt, aber süß und warm. Zwar war Brad nicht so ein Fan von Süßem wie Schuldig aber… es war Schuldigs Kuchen. Und es tat gut… „Er stand auf diese Süße, säuerlich, süß und warm“, murmelte er und hob den Blick von seinem Teller zu seinem Gegenüber.
 

Aya hatte in der Zwischenzeit tief durchgeatmet und sich mehr oder minder versteckt die Tränen aus dem Gesicht gewischt. Er sah auf den Kuchen und griff sich ein letztes Mal über die Augen wischend die Sahne - laut Schuldig war sie ja ein Muss.

„Er… hat ihn sich gewünscht. Ist schon etwas länger. Ich wusste erst nicht, was es ist und er… hat es so aufgezogen, als wäre es etwas Verbotenes. A… Apfelstrudel, so heißt es auf Deutsch, glaube ich“, erwiderte er und ließ seinen Blick kurz hochstreifen.
 

„Hast du etwas anderes erwartet? Du warst hoffentlich misstrauisch!“

Brad schaffte ein halbes Lächeln beim Gedanken daran, dass Schuldig den Rothaarigen hinters Licht führen wollte.
 

„War ich, wie immer, wenn er mit einer seiner kreativen Ideen gekommen ist und dieses Grinsen auf den Lippen hatte“, stimmte Aya dem zu und bemühte sich, dieses Lächeln nicht vergehen zu lassen. Es nicht zu verschwenden.

„War das… bei dir auch so?“
 

„Lass mich überlegen…“

Brad pickte sich etwas Blätterteig und ein Häubchen Sahne auf die Gabel. „Anfangs schon, vor allem weil er meine Gedanken einnehmen wollte. Ständig war er drauf und dran mich zu überrumpeln, was die Arbeit mit ihm sehr erschwert hat. Ich musste immer auf der Hut sein“, nun musste Brad in Erinnerung daran wirklich lächeln. Wehmut lag in seinem Blick.

„Danach… kam ein eher dunkleres Kapitel, wie du weißt“, spielte er auf Kitamura an.

„Als das vorüber war, das Schlimmste zumindest… hat er eher versucht mich zu reizen, mit irgendwelchen „haar“sträubenden Ideen. Ich hab ihm für die misslungenen Aktionen einen gewissen Teil vom Gewinn abgezogen.“
 

Aya nahm probeweise eine Gabel und kaute auf dem warmen Teig, schluckt ihn schließlich hinunter. Dass er nicht an dem großen Klumpen in seinem Hals hängen blieb, war alles. Er lächelte trotzdem und es war für einen Moment ein positives Lächeln, bevor die Trauer Einzug hielt.

„Was für haarsträubende Ideen waren das?“, fragte Aya nach und nahm einen Schluck seines Kaffees, auch wenn er nicht wirklich Durst hatte. Doch er aß ja schließlich auch, obwohl er keinen Hunger hatte… also. Diese Tätigkeiten bewirkten bei ihm nichts Gutes… aber auch nichts Schlimmes.
 

„Beispielsweise, die Idee dir die Haare nicht abzuschneiden. In diese fixe Idee schien er sich verbissen zu haben. Oder wenn wir bei dir… bleiben, die Idee dich zusammen zu schlagen, um die Kritikerjungs hinters Licht zu führen. Aber wenn ich mal weitersehe… Nagi als Mädchen zu verkleiden… war einer seiner Krönungen. Der Junge hatte sich lange geweigert… und schließlich musste er selbst einsehen, dass es keine schlechte Tarnung war. Seither kommt es öfter vor…“ rutschte er in die Gegenwart, bis er seinen Fehler bemerkte… „…kam es öfter vor, dass die beiden als Paar auftraten.“
 

Alles… alles hatte mit ihm zu tun. So vieles. Doch jetzt nichts mehr.

„Das ging also auf seine Kappe…“, murmelte Aya durch den Stich an Schmerz hindurch, den die Präsensform bei ihm ausgelöst hatte. „Er hatte mir davon erzählt, das übliche Glitzern in seinen Augen. Wie geht es Nagi?“, fragte er schließlich, durch die Worte des Amerikaners auf etwas gebracht, das er bisher vergessen hatte. Was machte der Rest von Schwarz?
 

Eine schwere Frage für Brad.

Zum sonstigen Verhalten stützte Brad nun eher gegenteilig seinen Ellbogen auf den Tresen, legte seine Stirn in seine Hand als hätte diese Frage ihm Kopfschmerzen bereitet. Noch nie hatte er sich derart offen im Verhalten gezeigt, schon gar nicht jemandem wie… Ran.

„Ich… weiß es nicht. Die letzten zwei Tage habe ich ihn kaum gesehen. Vermutlich habe ich ihn schändlich vernachlässigt. Aber Jei ist nicht immer so passiv, wie er nach außen hin scheint. Er wird das tun, was er für nötig hält, wenn es nötig ist. Trotzdem…“ Ein leises Seufzen kroch seine Kehle empor, wurde jedoch nicht laut.
 

Dass Bradley Crawford noch niemals vorher so dermaßen seine Fassung verloren hatte, dachte sich auch Aya in diesem Moment und wer wusste schon… vielleicht hätte ihm das dem Verständnis des Amerikaners einen Schritt näher gebracht, wenn er nicht selbst zu sehr in seiner Trauer gefangen gewesen wäre.

So sah er es nur als Zeichen des trauernden Orakels, nicht als Zeichen eines Mannes, der durchaus menschlich war und nicht immer nur das Monster, das er in ihm gesehen hatte.

Doch im Moment sah Aya sowieso nichts… nichts außer dem großen Loch in seiner Brust, das schmerzte.

„Er wird sich sicherlich um ihn kümmern… das tut er…“ Omi vielleicht auch, aber Aya hatte die Geistesgegenwart, das nicht auszusprechen. „Was ist mit dir? Du hast doch sicherlich besseres zu tun, als dich um mich zu kümmern… auch wenn es… sein letzter Wunsch war.“
 

Brad hob den Blick und er traf pfeilgenau in das schimmernde Violett. Er sprach davon, dass es nichts Besseres für ihn geben konnte, außer Schuldig diesen Wunsch zu erfüllen. Was hatte er denn sonst noch von ihm? Außer diesem...Wunsch.

„Nein, habe ich nicht“, antwortete er langsam. Er fragte sich, wann der andere auf die Idee kommen würde, ihn nach den Einzelheiten des Auftrages zu fragen. Und er fragte sich auch, wann er selbst an Rache denken würde. Momentan war es, als hätte sich alles aus ihm heraus gewaschen, alles, was an Vergeltung dachte.
 

„Ich… entbinde dich von deiner ‚Pflicht’, wenn du das möchtest. Es ist nicht nötig, dass du dich um mich kümmerst“, sagte Aya in Gedanken versunken. Nein… das musste wirklich nicht sein, wenn Crawford das nicht wollte - und er auch nicht, davon mal ganz abgesehen. Doch… momentan schwieg der hassende Teil, der Teil, der Crawford die Schuld an Schuldigs Tod gab. Da war nichts. Weil sie sich eins waren in ihrer Trauer?
 

Milde zeigte sich in seinen Augen, als Brad nach einer kleinen Weile antwortete. Auch begleitet von einem versteckten Lächeln. „Das kannst du nicht“, sagte er schlicht, sich bewusst, dass der Mann aufbegehren wollte. „Niemand kann mich entbinden, wie du es nennst.“

Dafür hatte er zu viele Gefühle für Schuldig empfunden und fühlte sie noch immer in sich, vermengt zu einem tristen, grauen Brei, in dem sie langsam ertranken.
 

Aya sah hoch, doch die Wut, die er nachher vielleicht irgendwann fühlen würde, stellte sich nicht ein. Er verstand Crawford, verstand dessen Gedankengang, denn er würde genauso handeln. Die Frage war jedoch, wie sie damit lebten - ja, sie beide. Ob sie überhaupt lebten.

Denn so sicher war sich Aya da nicht. Der Verlust war einfach zu groß, als dass er noch irgendeinen Willen besessen hätte.

Er lächelte schmerzlich und schob sich eine weitere Gabel des Apfelstrudels in den Mund. Ein leises Mauzen an seiner Seite ließ ihn auf Banshee herabsehen, die sich nun mit einem beherzten Sprung auf seinen Schoß retten wollte. Doch Aya sah, dass sie das nicht schaffen würde, nicht, ohne abzustürzen, so umfasste er ihren kleinen, warmen Leib und zog sie zu sich auf seinen Schoß, wo sie leise miaute.
 

Brads Kopfschmerz war in den Hintergrund getreten, sein Magen nach dieser kleinen Nahrungszufuhr nicht mehr ganz so hohl, dennoch stand er jetzt auf, seine Tasse nach einem kleinen Schluck Kaffee auf dem Tresen zurücklassend. Sein Weg führte ihn zu dem Schrank, in dem Schuldig seine Medikamente aufbewahrte. Er kramte darin herum und fischte sich eine der kleinen Döschen heraus. Zeit, dieses perfide dumpfe Hämmern in seinem Schädel zu vernichten. „Kannst du nachts schlafen?“
 

Mit dem Blick auf Banshee, die Crawford mit ihrer Nase folgte und das zweite, interessante Spielzeug mit taxierenden Augen beobachtete, nickte Aya. „Ja, kann ich“, erwiderte er automatisch. Dass es eine Lüge war, wusste er und vielleicht auch Crawford selbst, doch Aya wollte nicht, dass der Amerikaner sich Gedanken darüber machen musste oder Sorgen oder dass er sich schließlich darum kümmerte, dass er schlief.

Aya WOLLTE nicht schlafen, das war es. Er wollte nicht einschlafen und aufwachen, dabei feststellen, dass Schuldig… nicht mehr an seiner Seite lag und er ihn nicht mehr beobachten konnte, wie er dort schlief, manchmal näher, manchmal weiter zu ihm hin.
 

„Halt dich von diesen Tabletten fern, ich denke, dass sie zu stark für dich sind“, sagte Brad leise und stellte das Sammelsurium der verschiedensten Psychopharmaka wieder zurück in den Schrank. Nur kurz erwog er, sie mitzunehmen oder weg zu werfen. Aber es hätte weder eine Konsequenz noch irgendeinen wirklichen Nutzen.

Warum er das gesagt hatte, drängte sich ihm beinahe schon unbehaglich auf. Hätte er versagt, wenn Ran sich umbrächte? Wenn der andere Mann zu nahe am Tod wandelte?

Ja, das hätte er. Schuldig würde es ihm nie verzeihen.
 

Was zwischen den Zeilen stand, vermochte Brad nur zu gut zu lesen. Ran schlief nicht, das hatten ihm die Augenringe, die rot geränderten Augen gezeigt, die unnatürliche Blässe. Erholung sah anders aus.
 

„Ich halte nichts von Schlaftabletten“, erwiderte Aya leise. Dass er nichts von den Tabletten hielt um sich umzubringen, verschwieg er lieber. Es gab da eine hohe Brücke… an dieser Brücke hatte er schon oft gestanden. Sehr oft.

„Bleibst du jetzt… hier?“, fragte er und nahm einen Schluck seines Kaffees, der so schmeckte, wie alles andere auch: fahl, öde und bitter.
 

Die Tablette schluckend und das Glas Wasser abstellend, wandte sich Brad wieder zum Tresen hin, kam zu Ran und blieb mit dem Blick auf die kleine Katze stehen.

„Ich… denke nicht.“ Er konnte sich vorstellen, dass seine Gegenwart in diesem Tabernakel störte, in diesem Mausoleum, in dem Ran nun lebte. Von Gegenständen eines… Toten umgeben. Aber er wusste auch, dass seine Anwesenheit den Mann aus seinem Schmerz herausriss, ihn auf neue Gedanken bringen konnte.
 

„Wenn du… hier bleiben willst, dann ist das in Ordnung“, sagte Aya und wusste, dass er es vielleicht irgendwann bereuen würde, diesen Vorschlag gemacht zu haben. Doch jetzt, just in diesem Moment, schien es ihm das Richtige zu sein, da Crawford… ebenso sehr derjenige gewesen war, der Schuldig etwas bedeutet hatte. Andersherum war es genauso. Es schien ihm nicht richtig, Crawford das zu verneinen.

Banshee reckte sich und maunzte Crawford leise, empört an, dass er sie nicht beachtete, dass er ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkte, die sie verdiente. Wie ihr Herrchen auch… ihr totes Herrchen.
 

Brad nickte. „Ein anderes Mal… vielleicht“, erwiderte er tiefer einatmend, als würde ihn der bloße Gedanke des Hierbleibens erdrücken.

Seine Hand folgte der Empörung, die sich hier verbalisierte und fand den Weg in das seidige Fell. „Wir sollten noch etwas Einkaufen, meinst du nicht? Oder soll ich dir morgen etwas mitbringen?“

Er musste irgendwann… noch etwas ansprechen… der rechte Zeitpunkt schien ihm nicht wirklich gekommen zu sein.
 

„Banshee braucht Futter… ich habe gerade gesehen, dass sie keines mehr hat“, erwiderte Aya mit gerunzelter Stirn und hob die Kleine auf den Tresen, stand selbst müde auf. Er wusste sie bei Crawford in besten Händen… besseren Händen als er sie momentan hatte.

„Ich werde eben fahren. Bleibst du noch solange… bei ihr?“ Damit wenigstens sie noch da war, wenn er wiederkam und er nicht vollkommen alleine war.
 

„Vergiss nicht… dir auch etwas zum Essen zu kaufen, Rotfuchs“, mahnte Brad und hatte sich bereits zu Banshee umgedreht, fasste sie mit einer Hand und nahm sie mit zur Couch. Unterwegs füllte er sich noch Kaffee auf. Es war vermutlich wirklich keine schlechte Idee von Schuldig gewesen, seinem Roten eine Katze zu schenken. So war diesem immerhin noch etwas geblieben, um der Einsamkeit zu entkommen, damit die Gedanken und Gefühle ihn nicht in die Finsternis mitreißen konnten.
 

Es war nicht so, dass Aya die Worte des anderen Mannes nicht gehört hatte, doch ob er sie hören wollte? Er wusste es nicht, er wusste nur, dass er keinen Hunger hatte und dass nun niemand ihn antrieb, zu essen, sich der Außenwelt zu stellen oder sonstiges. Da war kein Deutscher, der es verstand, ihn aus seiner Trance zu reißen.

So wie er war, verließ er die Wohnung und begab sich in Richtung Aufzug. Mit einem leisen, vertrauten Ping kündigte sich dieser schließlich an und Aya stieg ein, den Blick auf das leuchtende Zahlenpad gerichtet.

Schließlich unten, stieg er aus und suchte seinen Wagen… neben dem Schuldigs Sportkarosserie stand. Wortlos betrachtete er sich das Auto und blinzelte, als das wohlbekannte Brennen zurückkehrte. Er wandte sich ab und fuhr los.
 

Alles, was er tat, war mechanisch, antrainiert und mit wenig Elan. Er wusste, dass er Katzenfutter kaufen musste… dass er für sich etwas kaufen musste, wenn er seine Ruhe haben wollte. Wenn er nicht wollte, dass Crawford ihn… zum Essen zu überreden versuchte.

Vermutlich würde der andere Mann sowieso in den nächsten Tagen nicht wiederkommen und ihn seinen Gedanken überlassen.
 

Menschen zogen an Aya vorbei und er wusste nicht genau, wie er schließlich mit der Einkaufstüte wieder vor der Wohnung stand und die Schlüsselkarte durch das Schloss zog.

Ich bin wieder da, sagte er der Wohnung, würde er auch Schuldig sagen, doch er war ja alleine… Schuldig würde ihn nie wieder begrüßen, wenn er hereinkam.

Alleine.

Aya schloss die Tür hinter sich und entledigte sich seiner Schuhe, brachte die Tüte voller Katzenfutter und Fertiggerichten in die Küche.
 

Das entfernte Schließen der Tür riss Brad aus einem Tagtraum heraus und er wurde sich wieder der Realität bewusst. Die Umgebung eröffnete sich ihm, als er die Lider hob und die Skyline der Stadt vor sich erkannte, die über die Abgrenzung der Terrasse spitzte. Er saß auf einem der Stühle und blickte nun hinauf in das Weiß des Himmels und Brad war es, als würde es bald erneut schneien.

Er hatte den Winter satt, gründlich.
 

Schweigend verräumte Aya die mitgebrachten Dinge und warf einen Blick auf den hohen Bartisch, auf dem noch die angefangenen Kuchenstücke standen, ebenso wie seine Kaffeetasse. Trostlos war es, war alles hier und schrecklich. Er wollte sich verkriechen, gleichzeitig aber weglaufen, irgendwohin, nirgendwohin… weg von hier, ins Bett, zu Schuldig, egal.

Aya stand mitten im Raum und hatte die Hände kraftlos gesenkt. Er hatte keine Kraft mehr… für nichts.

Er wollte nur schlafen, nein, das eigentlich nicht. Vergessen… aber auch nicht vergessen, denn er wollte sich an Schuldig erinnern, er wollte die schönen Momente, die Stunden, Tage, Wochen und Monate mit dem Telepathen nicht hinter sich lassen. Er war nicht bereit dazu. Das war alles viel zu abrupt, viel zu schnell. Es konnte doch nicht vorbei sein, nicht so einfach.

Aya verstand das nicht, auch wenn er es doch eigentlich schon wissen musste. Seine Schwester war schließlich auch plötzlich verstorben, warum also nicht auch Schuldig?

Warum nicht auch Youji, Omi und Ken? Oder Banshee? Warum nicht alle? Er konnte es ja ertragen…
 

Mit einem leisen seufzenden Laut erhob sich Brad nach einigen Minuten und drehte der zurückkehrenden Winterluft den Rücken zu. Er ging wieder hinein in die Wohnung, schloss die Tür. In den Wohnraum zurückkehrend, bemerkte er Ran, wie er dort stand, völlig teilnahmslos seine Umgebung wohl kaum wahrnehmend.

Er näherte sich dem Mann und sprach ihn leise mit Namen an.

„Kann ich dich etwas fragen?“

Etwas zögerlich kam diese Bitte, diese Frage. Es war nicht üblich für ihn, etwas zu erbitten und es sich nicht zu nehmen. Aber in diesen Tagen war vieles nicht mehr… üblich.
 

Es dauerte etwas, bis Aya in der Lage war, sich auf Crawford zu konzentrieren auf das, was der andere Mann gesagt hatte. Doch er hatte verstanden und nickte nun. „Natürlich“, bestätigte er die ungewöhnlich… ja sanft, vorgetragene Frage des Amerikaners und versuchte sich an einem Lächeln, an dem er kläglich scheiterte.
 

„Ich… weiß, dass es nicht der richtige Zeitpunkt dafür ist…“, räumte Brad ein und lehnte sich an die Ablage. „Glaubst du… auch wenn es noch so absurd wäre… einer von deinen Männern… von Weiß… hätte diesen Auftrag… verraten? Nicht absichtlich, das glaube ich nicht, aber der Kontakt zu Kritiker war doch nahe…“, selbst seine gesprochenen Worte klangen voller Selbstzweifel, dennoch musste er diese Möglichkeit aussprechen, sie ausräumen. „Ich brauche Anhaltspunkte… wir sind verraten worden… gezielt.“

Zum ersten Mal gab er etwas Preis.
 

War er gerade noch weit entfernt von allem gewesen, so schärfte sich Ayas Verstand nun minimal, seitdem er von Schuldigs Tod erfahren hatte.

Weiß… Schuldig verraten? Nein, Schwarz verraten, sodass der Auftrag gefährdet wurde und diese Männer Schuldig hatten töten können? Jemand von Weiß? Von seinen Freunden?

„Nein…“, erwiderte Aya mit Tränen in den Augen, die er nicht herauskommen ließ.

„Der Einzige… der von dem Auftrag wusste, war ich. Sie… hatten keine Ahnung. Und ich würde doch nicht…“ Seine Stimme versagte ihm und Aya schluckte mühsam. Es gab etwas, auf das er sich hier konzentrieren musste. Er räusperte sich.

„Diese Männer… die mich zusammengeschlagen haben. Waren SIE es?“
 

„Möglich ist es.“

Brad überdachte die erste Möglichkeit. „Es war nicht nötig von diesem Auftrag zu wissen, Ran. Derjenige… unser Auftraggeber selbst muss der Verräter sein. Ich gehe davon aus, dass uns jemand nur zu dem Zweck uns zu töten angeheuert hat. Nur so konnte unser Ziel erfahren, wann, wie und wo wir angreifen würden.“

Sie hatten wie immer den Auftraggeber durchleuchtet. Nagi machte in diesem Punkt keine Fehler.
 

Aya überdachte das und das Ergebnis war kein schönes.

„Ihr seid aufgeflogen“, stellte er leise fest. „Wenn jemand so nahe an euch herankommt, dass er euch einen falschen Auftrag geben kann, dann… seid ihr nicht mehr sicher.“

Er wischte sich mit der rechten Hand fahrig über das Gesicht. „Durch… mich? Seid ihr durch mich so… offen nach außen geworden?“ War er Schuld an Schuldigs Tod?

„Wir… müssen nach Informationen suchen, die zu diesem Auftraggeber führen. Irgendetwas… es muss doch etwas möglich sein.“
 

Wenn einer Schuld war, dann wohl eher Brad selbst. Denn hätte er nicht zugelassen, dass Ran sich in Schuldigs Leben begab… dann wäre dies alles vielleicht nicht geschehen. Dann wäre Schuldig… nicht so glücklich gewesen… vor seinem Tod.

Brad lächelte. Was für eine Ironie.

„Nagi arbeitet daran. Wenn unser ‚Feind’, denn es scheint, als habe es jemand auf uns abgesehen, uns in Bewegung setzen wollte, dann hat er das erreicht. Wir werden das Haus verlassen.“
 

Aya nickte. Dann würde Schwarz Tokyo vermutlich verlassen… und die Episode aus seinem Leben, die so viel versprechend angefangen hatte, würde endgültig ihren Abschluss finden. Für einen Augenblick wollte Aya nicht, dass Schwarz gingen, waren sie doch auf eine absurde Art und Weise die letzten Erinnerungen an Schuldig, an dessen Leben, die ihm so bleiben würden. Wenn sie weg waren, dann war alles wie vorher. Nur dass er weder seine Schwester hatte noch den Menschen, der ihm mehr bedeutet hatte, als jemand anderer zuvor. Er war wieder allein.

„Ich… würde gerne mithelfen.“ Mich rächen. Ja, das wollte er. Sich rächen an diesen Mördern.
 

In diesem Moment beschloss Brad… eine Ausnahme zu machen. Diesen „normalen“ Menschen in ihren Kreis zu lassen, auch wenn er nie einer von ihnen war und sein würde, oder gar sein wollte. Für diese Mission, diesen Auftrag… würde er eine großzügige Ausnahme machen.

„Wir werden diese Bastarde finden und ich schwöre dir, keiner wird einfach sterben oder vor seiner Strafe davonkommen.“ Einfache Worte, leise ausgesprochen, aber er würde sie wahr machen.
 

„Gut.“

Aya sah den Ernst und die Entschlossenheit in den Zügen des Orakels, doch was hatte er auch anderes erwartet? Eben… nichts anderes, als der Hass auch in ihm hervorrief. „Ich will sie leiden sehen. Ich will, dass sie wissen, was sie… uns angetan haben.“

Der rothaarige Japaner fuhr sich durch die verfilzten Haare, blieb stecken. Er sollte sich duschen irgendwann… die Haare pflegen, die Schuldig so gerne gemocht hatte.
 

„Ich lass dich wissen, wenn ich etwas Neues weiß.“ Brad stieß sich von der Ablage ab und ging Richtung Tür. „Bis morgen“, verabschiedete er sich, mit der üblichen Distanz. Er hatte einiges zu tun. Und morgen würde er wieder nach Ran sehen.

Ihm war es als hätte Schuldig ihm ein Findelkind zurückgelassen…
 

o~
 

Es hatte sich nichts geändert über die vergangenen Tage hinweg, die Aya in einem Zustand zwischen wachen und schlafen verbracht hatte… beides jedoch konnte er nicht. Es war Crawford, der jeden Tag vorbeikam und ihn dazu brachte, aufzustehen und etwas zu essen, der sich um Banshee kümmerte, wenn er es bisher noch nicht geschafft hatte. Warum Crawford immer wieder kam… Aya kannte den Grund, natürlich.

Vielleicht war es auch der einzige Lichtblick, denn bis auf die sporadischen Besuche des Amerikaners war er alleine in der Wohnung mit den halb heruntergelassenen Jalousien. Er wollte nicht die Sonne sehen, die durch sie hereinstibitzte, wollte nicht sehen, dass der Winter dem Frühling Platz machte und einen neuen Kreislauf anbrechen ließ. Und das innerhalb von Tagen, so als würde es jetzt mit Gewalt wärmer werden wollen.
 

Auch er hatte geglaubt, ein neues Leben beginnen zu können, mit einem Mann an seiner Seite, den er nicht hatte missen wollen. Doch wie es immer so war: erst als er sich bewusst wurde, dass er völlig alleine war nun, konnte er sich ausmalen, WAS genau ihm fehlte und wie groß das Loch in seiner Brust war, das sich aufgetan hatte und sich nicht schließen würde.

Er weinte jetzt nur noch selten, wenn, dann aber unkontrolliert und verzweifelt. Doch der große Teil in ihm war Leere, die ihm nicht das schenkte, wonach er sich gesehnt hatte; nämlich Ruhe.
 

Aya hatte über vieles in den Stunden, die er wach hier auf dem Bett verbrachte, nachgedacht. Er hatte ihre Beziehung vor seinem inneren Auge ablaufen lassen, hatte sich Gedanken um Dinge gemacht, denen er sich vorher nicht gestellt hatte.

Ein leise Knurren und Fauchen ließ ihn sich auf Banshee konzentrieren, die anscheinend die Spielzeugautos gefunden hatte, die er irgendwann in den letzten Tagen hervorgeholt hatte. Anscheinend hatte sie herausgefunden, dass sie die kleinen Wagen nur anzustoßen brauchte, damit sie davonfuhren und sie sie jagen konnte.

Wenigstens hatte sie damit etwas zu spielen…

Er dachte an seine eigene Hatz, die er immer mit Schuldig getrieben hatte. Es war ein Spiel zwischen ihnen gewesen, wenn auch für ihn notwendig, wie er festgestellt hatte. Notwendig, dass er sich der Dominanz des anderen Mannes ergeben konnte, auch wenn er sich nie ganz ergab. Denn freiwillig ging es nicht, war es auch nicht bei Youji gegangen. Aya brauchte das Gefühl, eingefangen und ‚besiegt’ zu werden, damit er unten liegen konnte. Skurril… wenn er darüber nachdachte. Verkorkst vielleicht auch.
 

Schuldig hatte es immer aufgeregt, wenn er damit anfing. Schuldig, die Ungeduld in Person. Nicht, dass er sich davon hatte stören lassen, doch nun? Nun war es nicht mehr nötig. Nie mehr. Aya schloss die Augen und vergrub sich in den Kissen des Bettes. Crawford würde irgendwann wieder eintreffen… bis dahin konnte er noch vor sich hinleben. Oder existieren.
 


 


 

Es war schlimmer als mit Rans Schwester.

Ein Gedanke, der Ken gerade beschlich, als sie mit dem Aufzug nach oben fuhren. Omi und er. Yohji… hatte sich wie jeden Abend betrunken und verschlief die Hälfte des folgenden Tages, bis zum nächsten Gedanken an Alkohol. Er litt mit Ran… auf seine Art.

„Es ist schlimmer als mit Aya“, sagte er, als die Türen sich öffneten.
 

Omi horchte auf. „Meinst du, weil er insgeheim immer gedacht hatte, dass Aya irgendwann sterben könnte… und… Schuldig“, Omi atmete tief ein. „Schuldig so plötzlich…“
 

„Ja, Schuldig… Schwarz schienen für uns unbesiegbar… und jetzt…“ Omi nickte lediglich und klingelte zaghaft an der Tür.
 

Aya horchte ob dem Klingeln auf, das seine Gedanken durchbrach. Crawford klingelte nicht, Crawford hatte eine Schlüsselkarte.

Was… was, wenn es Schuldig war, der irgendwie…. irgendwie noch lebte und zurückgekommen war? Wenn er vor der Tür stand und…

Aya quälte sich aus dem Bett und hastete zur Tür. Mit klopfendem Herzen starrte er auf den Bildschirm, der ihm sagte, wer dort stand und sein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Doch nicht vor Überraschung, sondern vor Schmerz. Schmerz, dass es nicht Schuldig war, dass es ‚nur’ Omi und Ken waren.

Einen Augenblick lang überlegte Aya, den Beiden nicht aufzumachen, sich wieder zu vergraben, doch etwas in ihm entschied sich dagegen. Genau definieren konnte er dieses Etwas nicht. Schweigend drückte Aya den Öffnungsmechanismus, der Kloß in seinem Hals noch größer als zuvor.
 

Die Enttäuschung war nicht ganz so deutlich, wie sie vielleicht zuvor gewesen sein mochte, dennoch ein kleiner Rest war in den Augen geblieben, als Omi Ran ansichtig wurde. Er verstand dieses Gefühl. „Hey…“, sagte er als Begrüßung leise und lächelte sanft.

„Dürfen wir reinkommen?“
 

Aya versuchte gar nicht erst zu lächeln und ließ die Beiden kommentarlos in die Wohnung. Sie waren seine Freunde, sein Team und vielleicht konnten sie ihn etwas aus seiner Starre reißen - ob Aya das allerdings wollte, wusste er nicht so recht. Eigentlich nicht… aber gut.

Er schloss die Tür hinter den Beiden und heftete seinen Blick auf Banshee, die auf die Abwechslung zugerannt kam und laut maunzte.

„Möchtet ihr etwas trinken? Oder essen?“, fragte er das, was er Crawford auch immer fragte. Reiner Reflex, wie er feststellte.
 

Omi und Ken wechselten rasch einen Blick.

„Ja, ein Tee wäre prima. Trotz der Sonne is es noch kalt draußen“, sagte Ken und beugte sich hinunter zu der Katze, schien sofort verliebt in das junge Tier zu sein.
 

Omi hatte in Kens Blick dasselbe gelesen was er auch empfand. Ran sah schlecht aus. Alles an dieser gramgebeugten Gestalt deutete auf tiefen seelischen Schmerz hin, den nichts so schnell zu löschen vermochte. Was sollten sie da schon ausrichten?
 

Ken neckte die Katze etwas. Und wieder waren es Schwarz die ihnen zusetzten, die sie langsam … ins Grab trieben.

Auch wenn dieser Gedanke nun wirklich nicht passend war, wie er im gleichen Moment bedachte… so störte ihn das kleine Körnchen Wahrheit darin.
 

Aya nickte in Gedanken, total auf Autopilot umgeschaltet machte er den Beiden einen Tee. Er hatte gesehen, wie Ken mit Banshee spielte und es ließ Wärme in ihn… soviel wie möglich eben. Viel war es nicht, aber immerhin etwas.

„Wie geht es euch?“, fragte er schließlich. „Wie läuft das Koneko?“
 

„Gut. Den Leuten scheinen Blumen in diesem langen Winter sehr ans Herz gewachsen zu sein. Wir können uns vor Aufträgen kaum retten.“

Omi ließ Ken bei seinem neuen Zeitvertreib zurück und folgte Ran in die Küche. Ihm brannten so viele Fragen unter den Nägeln, aber er wusste nicht, wie er sie in sich verbergen konnte, bis der geeignete Zeitpunkt gekommen war… falls er je kommen würde, wenn er sich Ran anblickte.
 

Der Blick des rothaarigen Mannes ruhte auf Ken, der zwar immer einen Seitenblick auf sie beide warf und ihn beobachtete wie eine Bombe, die gleich hochgehen würde, der sich jedoch im Abstand hielt. Er verstand vermutlich, wie es ihm ging und was er brauchte.

Doch Aya wollte Omi nicht vor den Kopf stoßen. Dass er sich am Liebsten bis ans Ende der Tage verkriechen würde, mussten die Beiden nicht wissen, wirklich nicht.

„Das ist schön… aber stressig ohne mich, richtig?“, fragte Aya.
 

„Ja, das ist es.“

Omi nickte nachdenklich. „Wenn… wenn ich nicht wüsste, dass es gegen die Regeln verstoßen würde… dann würde ich dich sofort fragen, ob du zu uns kommen würdest, Ran.“ Omis Stirn furchten Sorgenfalten, seine Augen blickten voller Kummer auf den größeren Mann.
 

Es hatte bisher keinen Moment gegeben, in dem sich Aya ausgestoßener als jetzt gefühlt hatte. Er war sich nicht sicher, ob er es wirklich wollte, ob er sich wirklich in den Laden stellen und arbeiten wollte, doch… doch vielleicht wäre es eine Möglichkeit gewesen, die ihm nun verschlossen war. Er hatte sich unter anderem für Schuldig gegen Kritiker und somit Weiß entschieden und war nun alleine.

Vielleicht konnte man das in diesem Moment aus seinen Augen ablesen, auch wenn er wusste, dass es nur zu verständlich war. Er war kein Sicherheitsrisiko, doch Kritiker sahen ihn als solches an. Was konnte er auch schon verlangen, nachdem sie ihn hatten einfach so gehen lassen? Dass sie ihn jetzt auch noch wieder aufnahmen? Ohne dass er für sie arbeiten musste?
 

Das war zuviel des Guten, auch wenn Aya…
 

„Schon in Ordnung, ich komm schon klar“, erwiderte Aya unbestimmt. Ja natürlich.
 

Omi schwieg, dennoch erhob er sich. Er ertrug diesen Blick nicht, diese Trauer, die wie es schien nur zu einem kurzen Gastspiel für wenige Wochen verschwunden gewesen war und nun umso dramatischer ihren Rückzug hielt. Seine Hand schlüpfte in die von Ran und er lehnte sich leicht an ihn, wollte jetzt durch Nähe wenigstens etwas Trost vermitteln. Sonst hatte es doch bei ihnen… zwischen ihnen auch so geklappt. Was konnte er denn sonst tun?
 

Aya erzitterte ob des menschlichen Kontaktes, den er in den letzten Tagen so gemieden hatte. Er wusste auch schon warum… denn er konnte nicht ertragen, dass ihm noch einmal Trost zuteil wurde, dass jemand ihm zeigte, dass er da war und dann doch ging.

Seine Finger entzogen sich Omis nicht, doch die ersten Tränen fielen leblos aus Ayas Augen, so als ob sie nicht zu ihm gehörten.
 

Omi blickte Ran nicht an, denn er wollte nicht, dass sein Freund sich ihm durch diesen ausliefernden Blickkontakt entzog. Er stand eine kleine Weile so da, sich bewusst, dass Ran viel zu steif, viel zu angespannt war um diesen Trost annehmen zu können.
 

Erst ein anderes Geräusch… das Öffnen der Tür ließ ihn sich von Ran lösen. „Wer…?“

Spiegelglas

~ Spiegelglas ~
 


 


 

Aya schniefte leise und wischte sich mit der Hand über die Augen und Wangen, strich sich die verräterischen Tränen fort.

Er sah zur Tür, sah den Amerikaner gerade eintreten. Ken war herumgefahren und trotz allem Ernst fragte sich Aya, wie Crawford wohl reagieren mochte… wie Ken und Omi reagieren würden, wenn sie ihn sahen… den trauernden Teufel.

„Er“, erwiderte Aya aufschlussreich mit dem Blick auf Crawford. Schuldig war es nicht… Schuldig würde es nie wieder sein.
 

„Oh.“

Omis Hand hatte sich in Rans Kleidung gehakt und er stand immer noch dicht neben Ran, als er an diesem vorbei zur Tür spähte, zum Amerikaner hin, der diese gerade leise schloss.
 

Ken behielt seine kniende Haltung bei, er hatte keine Lust aufzuspringen, nur weil der Leader des anderen Teams herein kam. Er empfand eher eine gewisse Lethargie, als er aufblickte, erkannte wer vor ihm stand und wieder wegblickte um mit der Katze weiter zu spielen.
 

Und Brad… er war zwar überrascht und gleichzeitig wütend über sich selbst, da er sich nicht auf seine Vorhersehung verlassen konnte… nicht wenn sie ihm ständig zeigte, wie Schuldig starb… anstatt ihm zu zeigen, was auf ihn zukam, damit er vorbereitet war.

Aber was sollte er dagegen tun…?

Wieder hatte er trotz der Kälte nur wenig Schützendes an, entledigte sich lediglich seiner Schuhe und ging zur Küche… sich vierpfötiger Verfolgung gewiss…
 

Eigentlich war es eine sechspfötige Verfolgung, denn sobald es sich herausstellte, dass diese unschuldige Katze einem weniger unschuldigen Amerikaner hinterherlief, erhob sich auch Ken und folgte den beiden in die Küche… vielmehr in die Nähe derer, denn ihm war Crawford nicht geheuer, vor allen Dingen JETZT nicht.
 

Aya nickte Crawford bei dessen Eintreten zu und wandte sich zur Kaffeemaschine, vollendete das Ritual, indem er für den Amerikaner Kaffee aufsetzte.
 

Brad spürte beinahe sofort, dass ihm die Anwesenheit der Killer im Auftrag ihrer Majestät… witzelte er selbst in Gedanken an Kritiker, mit hämischem Einschlag, hier nicht recht waren.

Sie hatten kein Recht hier zu sein. Keiner von ihnen, außer Ran.

Das drückte auch sein Blick aus, als er sich eine der Tassen herausnahm und sie mit einem lauten Geräusch, selbst immer noch schweigend, auf die Ablage abstellte.

Es zerstörte ihr Friedensabkommen – Ran und seins.
 

Ran nahm diese Wut wahr… oder auch wieder nicht, denn er konnte und wollte sie nicht umsetzen. Es war ihm egal.

So dauerte es auch etwas, bis er das nun fertig gekochte Wasser in die Tassen goss und sie mit sich in den Wohnraum nahm, wohl innerlich das Bedürfnis verspürte, sie alle an einen Tisch zu setzen… warum auch immer.
 

Omi sah Ran mit einem bedauernden Blick nach, als dieser mit gesenkten Schultern und niedergeschlagenem Blick aus dem Küchenbereich verschwand und Ken ihm folgte. Er konnte sagen, dass Ken Angst vor dem Amerikaner hatte, doch wer hätte das nicht, so wie dieser sie maß, als wären sie… Ungeziefer.

Doch er blieb, denn er brauchte… Antworten. Wie es Nagi ging.
 

Ken half Ran unauffällig und setzte sich erst, als dieser sich auf der Couch niederließ. Erst dann machte er es sich selbst gemütlich, nahm die warme Tasse zu sich und freute sich über diesen kleinen Trost.
 

Brad hingegen schenkte sich seine Tasse Kaffee ein, den Ran ihm in kleinen abgezirkelten Bewegungen arrangiert hatte. Er brauchte sie dringend, denn die letzte Nacht war verstörend und von Albträumen durchsetzt gewesen.
 

Blaue, wachsame Augen beobachteten den Amerikaner bei seiner Tätigkeit und versuchten vorsichtig einzuschätzen, wie weit er wohl gehen konnte, ohne dass der andere Mann ihn umbrachte. Da dieser ja sowieso nichts davon hielt, dass er mit Nagi etwas hatte, waren die Chancen dementsprechend hoch.

Schweigend suchte er im Kühlschrank nach Milch und nahm sich den Zucker aus dem Vorratsschrank, an den er sich noch erinnerte und stellte das Friedensangebot neben Crawford auf die Anrichte.

„Nagi… er…“, begann er, stockte dann jedoch. So kam er nicht weiter. „Wie steht es um ihn… isst er?“ Etwas ungelenk, da er nicht wusste, wie er ein ‚Wie geht es ihm?’ so formulieren sollte, dass es nicht lapidar klang… und das zeigte, dass er sich wirklich um ihn sorgte.
 

Diesen Umstand registrierte auch Brad. Er lehnte sich an die Anrichte und taxierte den Jungen für Momente des Abwägens. Dann kam er zu dem Schluss, dass es sowieso keinen Sinn hatte sich jetzt auf sein Misstrauen zu berufen. Mit einem kleinen Seitenblick zur Sitzgruppe, auf der Ran saß, nahm er den Zucker und gab einen halben Löffel davon in seinen Kaffee.

„Wenig. Zu wenig.“

Vermutlich würde das den anderen nicht zufrieden stellen. Ihm selbst würde das als Antwort nicht ausreichen, wenn man sie ihm so präsentieren würde.

„Ich werde ihn nicht dazu zwingen. Er muss durch diese Zeit durch und… dieses Nichtessen ist ein Zeichen seiner Trauer.“

Ran ging es ebenso, nur war es bei Ran deutlicher zu sehen.
 

Omi akzeptierte das mit einem Nicken, zumindest, dass Nagi sich alleine aus dem Hungern lösen musste. Dass er jedoch alleine aus seiner Trauer herauskam…

„Vielleicht wäre es ihm eine Stütze, wenn er jemanden hätte, der für ihn da ist, wenn er trauert“, stellte er so in den Raum, nüchtern als Vermutung, keinesfalls als Frage, einfach so. Doch er wollte, dass Crawford wusste, dass er ehrlich zu ihm in diesem Punkt und dass er Nagi nicht einfach sich selbst überlassen wollte.
 

„Er ist nicht allein“, war alles was Brad dazu sagte. Er ging zur Fensterfront und blickte hinaus.

„Ich habe eine Frage an dich.“
 

Omi musste die Enttäuschung herunterschlucken, die ihn befallen hatte anhand der Worte des anderen Mannes… doch dessen letzter Satz gab ihm zu denken.

„Was für eine Frage?“
 

„Ich habe diese Frage Ran auch schon gestellt in ähnlicher Form. Seid ihr dafür verantwortlich, dass Schuldig tot ist? Oder um es deutlicher zu machen… ist es für Kritiker angenehmer so?“ Er nahm einen Schluck aus der Tasse, völlig ruhig und konzentriert, blickte hinaus in den Himmel.

„Rein theoretisch betrachtet, war die Verbindung zwischen Schuldig und Ran nicht nur ein kleiner Dorn in Kritikers Auge. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit…?“

Er wandte den Blick leicht nach hinten, aber nur kurz. „Bevor du beginnst, dich darüber aufzuregen, denke lieber in Ruhe darüber nach.“
 

Omi hatte nicht vorgehabt, sich darüber aufzuregen, denn… so schmerzend der Verdacht auch war, so wahrscheinlich war er. Er konnte es nachvollziehen, hätte vermutlich genauso gedacht wie der ältere Mann auch.

Er dachte in der Tat in Ruhe darüber nach und kam zu keinem schlüssigen Ergebnis.

„Manx… hatte damals den Verdacht, dass Schuldig oder generell ihr Ran beeinflusst oder dass er sich in eurer Gefangenschaft befindet - als Ran dich ‚verkauft’ hat. Doch Teil des Handels war ebenso, dass sie Schuldig in Ruhe lassen würden.“

Er schwieg einen Moment. „Ich kann dir nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass sie es nicht geplant haben… ich kann es dir noch nicht einmal mit zehnprozentiger Sicherheit sagen. Wir haben nur mit Manx, Birman und Perser Kontakt und wissen nicht, was sie wirklich planen. Allerdings… schien Manx zufrieden damit zu sein, Ran sicher zu wissen. Sie würde es ihm nicht antun… doch was Kritiker tun, um ihre Feinde auszulöschen, das wissen wir nicht. Nicht auf den ersten Blick.“ Omi schwieg wieder, überlegte, wie er das, was er sagen wollte, in Worte fasste, die unverbindlich, aber ein Versprechen waren.
 

„Ich kann dir garantieren, dass niemand - wirklich niemand - der Ran den Menschen genommen hat, den er geliebt hat, ungestraft davonkommen wird.

Natürlich weiß ich, dass Weiß nur ein kleines Licht ist, nur eine Gruppierung und dass ich nur ein Hacker bin, aber ich bin bereit, meinen Teil zu leisten, damit diejenigen nicht ungestraft davon kommen“, sagte er schließlich.
 

„Der Kreis derer, denen ich vertraue und meine Rache anvertraue,… ist kleiner geworden. Jemand hat uns beschissen und auch wenn du die Wahrheit sagst… ich kann dein Angebot nicht annehmen. Noch jemanden zu verlieren wäre… für das Team die Zerstörung.“

Er setzte nicht ‚für mich’ anstelle von ‚Team’… hätte es aber genauso gut tun können. Auch wenn er wusste, dass er somit etwas offenbarte, was er niemandem sonst zu zeigen pflegte… so war es dennoch Schwäche, die er sich nicht eingestehen wollte, aber musste. Er war entmachtet. Sie hatten ihm das Liebste genommen, das Wertvollste… „…und dafür werden sie büßen“, sagte er ruhig, doch seine Augen brannten, vor Wut und vor Hass.
 

„Ich bin mir sicher, dass sie das werden“, bestätigte Omi und richtete seinen Blick auf Ran, der wie ein Häufchen Elend auf der Couch saß und Ken ansah, der ihn gerade etwas erzählte. Banshee hingegen war bei ihnen, saß neben Crawfords Kaffeetasse und sah den anderen Mann ruhig an.

„Kritiker… hat Schwarz, seitdem Ran bei Schuldig ist… war… gemieden, könnte man sagen. Unsere Aufträge haben sich nicht mehr vorrangig damit beschäftigt, euch zu töten.“
 

„Das was sie uns zeigen und dass was sie uns Glauben machen, ist nicht das, was sie planen und dann in die Tat umsetzen.“ Ihm ging es nicht einmal direkt um Kritiker, zu viele in dieser Stadt und weit von dieser Stadt entfernt trachteten nach ihnen.

„Wir haben einen falschen Auftrag erhalten. Was sagt dir das?“
 

„Dass euch jemand unbedingt tot sehen will und euch auf die Schliche gekommen ist. Ihr seid enttarnt“, erwiderte Omi grimmig. Natürlich konnte es nur das sein… natürlich war es nichts anderes. „Ihr solltet untertauchen, besser heute als morgen… wer weiß, wie viel sie von euch schon wissen.“
 

„Ja, das sollten wir“, pflichtete Brad mit einem hintergründigen Lächeln um die Mundwinkel bei. Dann wäre wohl der Kontakt zwischen dem jungen Takatori und Nagi kein Problem mehr für ihn. Schließlich gäbe es dann keinen Kontakt mehr.

Keine Gefahr mehr für Nagi, derer der Junge ausgesetzt war. Somit konnte er nicht Gefahr laufen, nicht noch jemanden sofort zu verlieren. Sie würden sich eine Zeit lang still verhalten, vielleicht sogar… würde er Nagi aus diesem Job heraushalten, so wie er es in letzter Zeit mit Jei begonnen hatte, damit sie… normaler wurden.
 

„Die Frage ist dann nur, was mit Ran geschieht… ihr seid die einzige Verbindung, die er zu Schuldig noch hat, in verquerer Weise. Aber das liegt sicherlich nicht in deinem Interesse, nicht wahr?“, fragte Omi ruhig, völlig ohne Vorwurf. Es war nun einmal so, warum sollte er es verschweigen, wenn man es so deutlich sah?

Ran hasste Crawford, doch nun tolerierte er ihn mit einem Nicken, nun kochte er für ihn Kaffee… was gab es Deutlicheres?
 

Brad überdachte diesen Einwand eine Zeit lang, nippte dann an seiner Tasse.

„Du kannst doch nicht wirklich glauben, dass er sich an mich hängt, nur weil ich die Verbindung zu … Schuldig war… denn Schuldig ist nicht mehr, also gibt es auch keine Verbindung mehr. Es wäre… nur mehr Schmerz. Besser ist es… zu verschwinden.“
 

„Da kennst du Ran schlecht, wenn er trauert“, sagte Omi mit einem Blick aus dem Fenster. „Wenn er schon soweit geht und dich… akzeptiert, dann wird er auch noch weitergehen. Er war schon immer ein extremer Mensch. Aber wie sich das entwickelt, das kann ich dir auch nicht genau sagen.“
 

„Ich denke, ich weiß, was zu tun ist“, sagte Brad plötzlich und wandte den Blick flüchtig zur Seite auf den neben ihm stehenden. „Wir nehmen ihn mit, wenn wir untertauchen. Wir… assimilieren ihn!“ Ein Scherz, wenn er auch keine Miene verzog, aber das Gespräch war einfach zu absurd.
 

Crawford hatte Erfolg mit dem Witz, denn für einen Moment, nein, eigentlich sehr lange, glaubte Omi ihm das auch noch. Die Augen weit starrte er das Orakel an und hatte die passende Antwort auf den Lippen, dass sie ihnen Ran nicht entführen würden… dann jedoch wurden seine Augen noch weiter und Omi musste tatsächlich über diesen kleinen Witz lächeln. Wie… menschlich von Crawford. Wie… erstaunlich in einer schrecklichen Situation wie dieser.

„Die Frage ist, ob er sich so einfach assimilieren lässt“, mutmaßte Omi und richtete seinen Blick auch auf Aya. Trauer durchzog ihn anhand dessen evidenter Verzweiflung und er wurde etwas ernster. „Und ob er euch dann nicht in den Wahnsinn treibt.“
 

„Das hat er schon. Auf die eine… oder andere Art.“

Brad richtete seinen Blick in den weißen Himmel, an dessen Horizont bereits graue Wolken hingen, die ihnen wohl flockigen Niederschlag bescheren würden.

„Hast du nicht an manchen Tagen daran gedacht, dass alles nicht geschehen wäre… wenn dieser unselige Aufenthalt in diesem Keller gewesen wäre? Wäre Schuldig nicht in dieser Psychiatrie gewesen… hättet ihr ihn nicht für eure Experimentchen auserkoren…“

Er ließ den Satz in der Luft hängen, fühlte sich ebenso, nicht in diesem Raum, sondern wieder je an diesen Ort versetzt.

‚Gib ihn mir’ hatte Schuldig ihm gesagt, nicht im Zorn, sondern ruhig, bestimmt, ohne den üblichen schrägen Humor, ohne das sadistische Glimmen in seinen Augen. „Hatte er gewusst, dass es so kommen würde?“, wisperte Brad leise.
 

Wir?, fragte sich Omi und war für einen Moment versucht, aufzubegehren und zu sagen, dass es Kritiker waren, nicht sie, die ihn auserkoren. Doch was machte das schon? Vor allen Dingen, was brachte es? Sie waren ja schließlich das ausführende Organ gewesen.

Omi dachte für einen Moment nach.

„Nein. Ich bin der Meinung, dass es Schicksal war. Aufgrund von Schuldigs Beharrlichkeit und dem Tod von Ayas Schwester wäre es früher oder später dazu gekommen… die Frage ist jedoch, wie es geendet hätte. Anders vielleicht als jetzt.“

Er betrachtete sich die nachdenkliche Miene des älteren Mannes. „Vielleicht wäre es nur später dazu gekommen, dass sie beiden engere Bekanntschaft miteinander machen, aber sie… schienen einfach zusammengepasst zu haben. Die Topf-Deckel-Theorie.“
 

„Dabei sind sie sich seit Jahren über den Weg gelaufen. Seltsam… ausgerechnet jetzt diese Topf-Deckel-Theorie ins Feld zu führen.“

Brad hielt nicht viel vom Schicksal… obwohl er es eigentlich besser wissen müsste.

Ein bitterer Zug legte sich um seine Mundwinkel. Momentan hatte das Schicksal Spaß daran, ihm wieder und wieder Schuldigs Ableben vor Augen zu führen… in doppelter Sichtweise.
 

„Ja, aber manchmal braucht es einen minimalen Anstoß, damit besagte Theorie wirksam wird. Ein Wort, eine Geste, irgendetwas. Rans Schwester wäre sowieso gestorben, da habe ich keinen Zweifel dran. Was danach gewesen wäre… schwer zu sagen. Und wer weiß, vielleicht hätte sich Schuldig Ran dann während eines Auftrages gegriffen.“ Er zuckte ebenso bitter wie der andere Mann auch mit den Schultern. „Aber eigentlich ist es müßig, darüber zu sprechen, denn… so hoffnungsvoll das Ganze angefangen hat, so hoffnungslos endet es jetzt.“
 

„Gegriffen?“, knurrte Brad beinahe schon belustigt und er drehte sich nach einem Skepsis vortäuschenden Blick um, sich erneut einen Kaffe einschenkend.

Danach öffnete er den Kühlschrank, inspizierte den Inhalt, der unangetastet war. Die Lippen zusammengepresst, fixierten seine Augen die zusammengesunkene Gestalt auf der Couch, deren Magen wohl sehr leer war.
 

„Sage ich doch… so einfach ist das mit Ran nicht, wenn es ihm nicht gut geht.“ Auch Omi hatte den Kühlschrankinhalt erkundet und seine Schlüsse gezogen. Er kannte Ran und er wusste, wie wenig der andere Mann aß, wenn es ihm schlecht ging. Und wenn es sein musste, würde er Ran das Essen mit einem Trichter einflößen, wenn der rothaarige Esel nichts zu sich nehmen wollte. Frustriert wanderte sein Blick zu besagtem Esel zurück.
 

„Ich weiß… wie… einfach unser Findelkind ist“, knurrte Brad verhalten, leise, mehr zu sich selbst. Er wusste nur zu gut wie schwierig Fujimiya war. Der Kühlschrankinhalt war nicht sonderlich aufgefüllt, eigentlich reichte es gerade für Reis und vielleicht etwas Obst.

„Er isst zu wenig, und das, was er dann ist, sollte zumindest gehaltvoll sein, wenn schon die Menge nicht hoch ist.“
 

Omi stellte fest, dass Crawford ihn immer mehr überraschte. Gut, er hatte diesen Namen, diesen speziellen, wütend verärgert ausgesprochen, doch dass er Ran überhaupt so nannte.

Findelkind.

Das klang… liebevoll.

Omi fragte sich allen Ernstes, wie die Beziehung zwischen den beiden Männern aussah, konnte er sich doch nicht vorstellen, dass sich Crawford und Ran annähern würden. Nicht, nachdem Ran den anderen Mann so hasste.

Dass der Amerikaner sich noch zusätzlich darum sorgte, was Ran aß, setzte dem Ganzen die Krone auf.

„Wenn du ihm etwas kochst, wird er es sicherlich essen“, sagte Omi hilfreich.
 

Brad lehnte sich an die Ablage und zog seinen Kaffee zu sich, nahm einen Schluck und hob ironisch die Brauen. „Hat dir deine neugierige Nase, die so vorwitzig den Kühlschrank mitinspizierte, nicht erkannt, dass es außer Reis in diesem Haushalt nicht viel zu kochen gibt?“

Er nickte zur Sitzgruppe hinüber und maß das sanfte, und doch so schalkhafte Gesicht des anderen. „Er hat heute nicht eingekauft, wie ich es ihm aufgetragen habe.“
 

„Kein Wunder, dass er nicht eingekauft hat, wenn du es ihm aufträgst. Dafür ist er einfach nicht der Typ“, erwiderte Omi trocken. „Aber sag mir, was du ihm kochen willst und ich besorge es.“ Kaum zu glauben, dass er einmal mit Crawford gemeinsame Sache machen würde, kaum zu glauben, dass sie sich einmal gegenüberstehen und sich einig sein würden.

Wenn der Anlass nicht so verzweifelt sein würde, hätte es Omi fasziniert.
 

„Scheinbar kennst du ihn da schlecht“, murmelte Brad leise, zu Ran blickend. „Momentan folgt er meinen Ratschlägen, was mir die Sache erleichtert.“

Er öffnete, die Tasse noch in der Hand, einige der Schränke. Das hieß, morgen stand ein Großeinkauf im Raum. „Das wird heute nichts.“

Ihm kam eine Idee und er zog sein Mobiltelefon aus seiner Gesäßtasche, rief eines der besseren Restaurants in der Nähe an, bestellte ein kleines Arrangement verschiedener Speisen und eröffnete der Frau am Ende der Leitung, dass er alles in einer halben Stunde abholen kommen würde.

„Kannst du das erledigen?“, fragte er. „Wie lange seid ihr schon hier? Hat er geduscht?“ Nach den Haaren zu urteilen wohl nicht. Also würde er sich darum kümmern, sofern es ihm gelang. „Nimm deinen Freund mit, dann fällt es dem Rotfuchs leichter, sich meinem Ratschlag zu ergeben“, drückte er sich ironisch aus und zeigte somit, dass er nur Gutes im Sinn hatte, das aber selbst vom dem anderen verkannt wurde.
 

Findelkind…

Rotfuchs…

Wie viele Namen hatte der Amerikaner noch für Ran?, fragte sich Omi nachdenklich, bevor er sich Crawfords Worte durch den Kopf gehen ließ. Er beschloss, jetzt noch nicht darüber nachzudenken und nickte verschlagen, bevor er nach Ken rief.

„Wir haben einen Auftrag, komm“, sagte er in allerbester Planermanier und lächelte Ran sanft an, der ihn mit verwirrtem Blick maß. Wenn Crawford schon seine soziale Ader entdeckte… vermutlich, um das Findelkind, das ihm Schuldig dagelassen hatte, zu behüten, dann würde er die beiden jetzt auch alleine lassen… in der Hoffnung, dass es Ran danach etwas besser ging.
 

Brad nannte dem kleinen Blonden die Adresse.

Nachdem die beiden die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatten, begann Brad den Tisch zu decken, kam zwischen seinen Tätigkeiten kurz zu der Gestalt auf der Couch.

„Ich… kann es verstehen, Ran, wenn du keine Lust hast dich aufzuraffen… dennoch, sie machen sich Sorgen um dich, dein unaufgeräumter Aufzug macht sie hilflos.“ Er kannte das nur zu genüge. „Nagi hat mich mit den gleichen Augen vor einigen Tagen angesehen, bis Jei mir in seiner erfrischend offenen Art gesagt hatte, dass ich wie einer stinken würde, den man in Alkohol eingelegt und auf der Straße liegen gelassen hätte.“ Er verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. „Soweit ist es bei dir nicht, keine Sorge“, räumte er ein.
 

Aya sah dumpf hoch und blinzelte langsam. Er war gerade wie so oft in der letzten Zeit in seine eigenen Gedanken versunken und musste sich nun wieder auf die Worte des anderen Mannes konzentrieren, die ihm so fern schienen.

„Geht ja auch schlecht, wenn ich nichts trinke“, erwiderte er schließlich, in dem Versuch, einen Witz zu machen, doch er scheiterte daran.

„Sie sind überraschend vorbeigekommen“, sagte Aya, als würde das seinen Aufzug erklären und die Tatsache, dass er sie verängstigte.
 

„Ich denke“, Brad wandte sich wieder der Küche zu, gab somit dem anderen die Möglichkeit vielleicht den Gedanken zu erwägen ins Badezimmer zu streunen. „…in dieser Zeit… kämen sie immer überraschend.“

Er verstand das Bedürfnis nach dem Alleinsein und dann wieder … brauchte er dringend Nagi oder Jei um sich. Es waren seltene Momente.
 

Aya lehnte sich zurück und starrte den anderen Mann nachdenklich an. Ja, das kämen sie, doch er wollte nichts ändern. Anscheinend hatte er sich wirklich schon aufgegeben, hatte den Willen verloren, irgendetwas zu tun.

„Du hast noch soviel Kraft“, sagte er mit einem schmerzlichen Lächeln.
 

Brad erwiderte diesen Blick sehr lange.

Was sollte er sagen? Dass es Ran war, der Brads inneren Schmerz und seine Trauer spiegelte? Dass Brad es selbst nicht konnte? Dass Ran Brads innerer Spiegel war?

„Ich weiß, wofür ich diese Kraft brauche“, nämlich um mich um dich zu kümmern, das hatte Schuldig gewusst, deshalb hatte er ihm auch diesen Wunsch veräußert.
 

„Du hast ein Ziel vor Augen… beneidenswert“, sagte Aya wie zu sich selbst… doch gerade so laut, dass Crawford es auch mitbekam. Er selbst hatte keines mehr… was denn auch für eins? Zu überleben, damit er sehen konnte, wie alle anderen ihm vor der Nase wegstarben?
 

„Ja, und das ist keine poetische Metapher“, weit weniger ruhig, sondern mit einer gewissen Schärfe.

„Du hast Zeit, bis die beiden mit dem Essen da sind, ansonsten müssen wir wohl wieder das kleine Spiel mit der Dusche oder der Badewanne vollziehen.“ Brad wandte sich nun vollends ab, verlor eben dieses Ziel aus den Augen.

„Schuldig liebte dich, geh also etwas sorgfältiger mit dir selbst um.“ Er stapfte in die Küche, innerlich aufgewühlt und machte sich – den Kopf voller Gedanken weiter auf, den Tisch zu decken.
 

War es Aya noch egal gewesen, dass Crawford ihn begleiten wollte, so rüttelten ihn dessen letzte Worte mehr auf, als es jede Drohung gekonnt hätte. Beschmutzte er wirklich Schuldigs Andenken? War es das? Sollte er sich also besser um sich kümmern?

Es dauerte seine Zeit, doch schließlich erhob sich Aya schweigend und ging ins Bad. Schuldig zuliebe würde er sich also aufraffen, jeden Tag wieder, sich hochschleppen und Dinge tun, die er nicht tun wollte - aber wer wusste schon, vielleicht kam dann irgendwann wieder Normalität in sein Leben?
 

Er schloss die Tür hinter sich und ging mit traumwandlerischer Sicherheit zur Badewanne. Er ließ Wasser einlaufen und gab den Badezusatz hinzu, den sie am letzten Abend verwandt hatten.

Schwaden stiegen schließlich aus dem heißen Wasser auf, als er sich der Kleidung entledigte und in die Wanne stieg. Es schmerzte, ja, doch das war gut. Es übertünchte das Drücken auf seiner Seele, diesen Schmerz, den er nicht loswerden konnte, für einen Augenblick.

Aya schloss die Augen und tauchte unter… hinein in die stille Welt des Wassers und der Einsamkeit.
 

Während der Zeit, die Ran im Bad verbrachte, ließ Brad wie schon die Tage zuvor frische Luft durch einige der Fenster in die Wohnung, schloss sie wieder und setzte sich mit leiser angenehmer Musik auf die Couch, fand sich beinahe sofort mit der Aufmerksamkeit der Katze bedacht.
 

Es dauerte lange, bis Aya die Kraft fand, sich aus der Wanne zu hieven und den Rest der morgendlichen Runde zu absolvieren… wie einstudiert rasierte er sich schließlich, kämmte und fönte er seine Haare, putzte die Zähne… alles weit weg.

Seine Haut war rot vom heißen Wasser, als er auf der Bank saß, nackt, seine langen Haare offen und um sich herum fliegend. Eine Strähne hatte er in der Hand und starrte sie gedankenverloren an. Er erinnerte sich an den Handel und an seinen Frust, dass er sich die Haare nicht schneiden durfte. Was gäbe er jetzt darum, dass Schuldig ihm noch so einen verrückten Handel aufschwatzte?

Alles?
 

Der Fön verstummte nach einiger Zeit und Brad erwartete die beiden Weiß Mitglieder bald schon zurück. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass kleine zarte Flöckchen vom Himmel segelten, fast schon wie Fussel, oder Daunenflöckchen. Er erhob sich mit einem lautlosen Seufzen und streifte in den hinteren Teil der Wohnung, besah sich das Bücherregal, streifte mit den Fingern über einige der Buchrücken – Themen, die typisch Schuldig waren.

Er ließ seinen Blick zum Bett gleiten.

Auf selbigem lagen zwei Bademäntel und aus einem inneren Impuls heraus nahm er beide an sich und ging in Richtung Badezimmer. Er klopfte an.
 

Nichts antwortete ihm in die Stille hinein, da Aya es noch nicht einmal wahrnahm, was um ihn herum passierte. Seine Gedanken waren in die Vergangenheit abgedriftet, bis zu den Anfängen in diesem Bad. Er konnte die Erinnerungen schon beinahe fühlen… die Szenen sehen, die sich hier abgespielt hatten. Schöne, schreckliche, verzweifelte… sanfte, leidenschaftliche, alles zusammen.
 

Und in diese Szenerie hinein öffnete Brad die Tür, fand sich in einiger schrittweiter Entfernung dem Mann gegenüber, dessen Haarflut sein Gesicht verdeckte und keinen Einblick bot. Auch wenn Fujimiya es nicht hören wollte und manches Mal auch nicht auf sich herab beschwor, im Kampf zum Beispiel, aber jetzt, jetzt sah er verletzlich und schutzlos aus. Und jetzt war es nicht die ergebene Haltung, die halbe Bewusstlosigkeit, die diesen Eindruck erweckte.
 

Brad lehnte die Tür nur an und kam näher, legte einen der Bademäntel über die Schulter des Mannes. Den anderen legte er neben Ran auf die Bank. „Sie werden gleich hier sein.“

Mehr sagte er nicht, es hatte keinen Zweck, den anderen zu drängen, ebenso hatte es keinen Zweck, ihn in seinen Erinnerungen stören zu wollen.
 

Sie…?, fragte sich Aya für einen Augenblick, noch in den Erinnerungen an die unsäglichen fünf Tage gefangen, die er hier verbracht hatte… zum Urlaub machen. Doch dann begriff er, dass er der Vergangenheit nachgehangen hatte und nickte leicht. Sein Team. Omi und Ken.

Seine Hände befühlten den weichen Stoff des Bademantels und seine Arme wanden sich schließlich in die Ärmel. Alles ungelenk und starr, nicht wirklich koordiniert.

Er hüllte sich in den Stoff und zog den Gürtel fest um seine Mitte.

„Warum sind sie überhaupt gegangen?“, fragte er mit einem Stirnrunzeln.
 

Brad hatte sich bereits zum Gehen gewandt. „Unschwer zu erraten, meinst du nicht? Ich sagte doch, du machst ihnen Sorgen.“ Damit war er auch schon aus der Tür.
 

Was seine Frage nicht im Geringsten beantwortete, befand der rothaarige Japaner für sich und stemmte sich hoch. Er legte die schmutzigen Sachen in den Wäschekorb und streunte schließlich zum Kleiderschrank, suchte sich neue, bequeme Kleidung heraus, die allesamt Schuldig gehörte und nach ihm roch. Er wollte nicht loslassen… noch nicht. Er konnte es nicht.

Aya sah sich um und steuerte schließlich den anderen Mann an, der von einer kleinen, penetranten Dame verfolgt wurde.

„Wenn ihr... das Haus auflöst und wegzieht, würdest du dann Banshee mitnehmen?“, fragte Aya.
 

„Nein“, kam sofort, ohne Widerrede. Fast schon Zorn glimmte in den hellbraunen Iriden, als er diese Worte hörte.
 

Ein Nicken antwortete Crawford, als Aya sich umdrehte, den Sinn dieses Neins erst später verwirklichte und sich auf die Fensterbank setzte. Er hatte gefragt, damit Banshee nicht Gefahr lief zu verhungern, wenn es gar nicht mehr ging, wenn er nicht mehr konnte, doch nun musste er sich um sie kümmern. Wenn er sich schon nicht mehr um sich selbst kümmern konnte, dann um die Kleine. Um ihr Kind, wie sich Crawford einmal ausgedrückt hatte.

Dieses Kind hatte er weggeben wollen, doch nur, weil er sich sorgte, nicht, weil er auch noch den letzten Teil von Schuldig aus seinem Leben löschen wollte.
 

Wenig später läutete es und Brad öffnete die Tür, nachdem er sich versichert hatte, wer dort auf Einlass begehrte.

Ken war vollbepackt mit Tüten und kleinen Boxen, manövrierte seine Last sofort in die Küche.
 

Der Geruch von Essen drängte sich Aya auf, selbst dort, wo er saß: weit entfernt von den Wiedergekommenen. Jetzt wusste er, was Crawford geplant hatte, war jedoch nicht im Mindesten überzeugt davon.
 

Ganz im Gegensatz zu Omi, der mit berechnend funkelnden Augen das Essen auf den Tresen stellte. Crawford hatte genug bestellt und es roch einfach fantastisch. Zumindest sein Magen knurrte verlangend bei dem Gedanken daran, wie es allerdings mit Rans aussah…

Doch sie waren zu dritt. Sie würden den anderen Mann schon überzeugen, dass er aß.
 

Brad ging es ähnlich wie Ran, aber der Geruch des Essens spornte ihn zumindest etwas an und sein Magen knurrte verhalten. Er hatte heute auch noch nichts gegessen und da er vermutet hatte, dass Ran auch noch nichts gegessen hatte, wollte er sich selbst mit Hilfe von Ran dazu überreden zu essen. Sie packten alles schweigend aus und verteilten es auf den Tresen.

Als alles soweit war und Ken noch Getränke organisierte… „Wer holt ihn?“, fragte er in ihre kleine Runde leise hinein. Das war kein leichter Job…
 

„Ich sehe, was meine blauen Augen anrichten können“, erwiderte Omi ergeben und streunte in Richtung Fensterbank. Er ließ sich Ran gegenüber auf den warmen Marmor und betrachtete sich das abgewandte Profil des trauernden Mannes.

„Hey… Ran“, sagte er sanft und violette Iriden schenkten ihm die Aufmerksamkeit, die er verdiente.

„Omi“, lächelte Aya schwach zurück und der blonde Junge nickte anerkennend. Genauso hieß er. Schön, dass Ran das noch erkannte.

„Riechst du das?“, fragte er immer noch, als würde er mit einem kleinen Kind sprechen, das er nicht verängstigen durfte und Aya nickte.

„Riecht gut, oder?“

Wieder nickte Aya.

„Willst du nicht zu uns kommen und etwas essen? Es wird dir sicherlich schmecken.“

Da war es, das altbekannte Kopfschütteln, die erste Weigerung, die sie schon so oft durchlaufen hatten. Dass Ran aber auch nie schlau daraus wurde…

„Hast du keinen Hunger?“, fragte Omi weiter, jetzt, da er Rans Aufmerksamkeit hatte und der rothaarige Japaner nickte. „Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen, Ran?“

Ein gequälter, schmerzender Blick traf Omi und verletzte ihn bis ins Mark. Ja, ich weiß, dass du trauerst, Ran, erwiderte er in Gedanken, sagte jedoch nichts. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, doch du darfst dich nicht aufgeben.

„Wann?“, wiederholte er seine Frage noch einmal.

„Gestern… morgen irgendwann. Ich weiß es nicht.“

„Steh auf, Ran.“

„Omi, ich will nicht“, kam es leise von der gegenüberliegenden Seite, doch der blonde Weiß hatte kein Mitleid… so gar keins.

„Du wirst essen.“

„Nein.“

Ah, jetzt waren sie beim Trotz.

„Ran…ist das dein letztes Wort?“ Omis Ton war zuckersüß und Ran sah sie Warnung, die er enthielt, dennoch nickte er.

„Warum machst du uns alle so traurig, Ran?“, fragte Omi leise und sah mit großen, blauen Augen zu seinem ehemaligen Anführer empor.

„Du weißt ganz genau, was wir uns für Sorgen um dich machen, dass du etwas isst und dass du überlebst. Willst du uns wirklich so wehtun, Ran?“ Ja, es war unfair und ja, es war gemein, doch was sollte Omi machen? Aufgeben?

„Omi…“

Der Junge stand auf und fasste Rans Hand, strich über die Finger. „Komm, Ran.“ Besagter Mann war gerade wieder dabei, den Kopf zu schütteln, doch Omi hatte bereits gesehen, dass der Widerstand in den Zügen seines Freundes gebröckelt war, so umfasste er erstaunlich stark dessen Handgelenk und zog ihn stolpernd von der Fensterbank hinunter mit sich in die Küche.

„Setz dich“, befahl er keinen Widerstand zulassend und Aya wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb. Schweigend setzte er sich und starrte auf besagtes Essen.
 

Es war nicht so, dass er Omis Leistung nicht zu schätzen wusste, deshalb sandte er einen entsprechenden Blick an dessen Adresse und nickte unauffällig.

Gut, nur musste er selbst auch einige der Speisen hinunterbekommen. Fast schon grimmig häufte er sich einiges auf seinen Teller und schob es sich nacheinander in den Mund.

Den lauernden Blick auf Ran gerichtet.
 

Dieses Mal bemerkte Aya sogar den Blick, der sich in ihn bohrte und jeden seiner eigenen Bissen überwachte, die sich von seinem Teller in den Mund schoben. Unwillig… jeder einzelne, gezwungen könnte man fast sagen.

Aya hatte fast die gleiche Menge an Essen auf dem Teller wie Crawford, zumindest hatte Omi ihm entgegen seines schwachen Protests sowohl ein Steak, als auch viel zu viel Salat und… Pommes auf den Teller geladen. Er wusste nicht, wie er das alles zur Zufriedenheit seines Teamkollegen essen sollte, knabberte er doch gerade mal an einem der Kartoffelstäbchen, obwohl er keinen Hunger hatte.

Sein Blick schweifte über den Tisch. Wer sollte das alles essen?
 

Über diesen Punkt brauchte er sich nicht viele Gedanken machen, denn Ken kümmerte sich fast schon mit Hingabe um die Vertilgung der Speisen.

Zwar nicht unanständig, doch sehr beharrlich…
 

Brad fand, dass Ran Fortschritte machte, auch wenn er unwillig aß… aber dennoch, er aß! Schuldig… du wärst stolz auf uns, meinte er in Gedanken zynisch.

Und genau in diesem Moment fiel sein Blick etwas in sich zusammen, bröckelte die Stärke wie alter Putz von seiner äußeren Wand. Er tat nichts weiter außer starren, bis er den Blick auf das Wasserglas senkte es vor sich ergriff und daraus trank – zur Tarnung.
 

Nicht nur ein Augenpaar hatte den Wechsel im Verhalten des Amerikaners gesehen, doch im Gegensatz zu Ran senkte Omi den Blick nicht. Er wollte lernen, wollte diese skurrile Situation begreifen, die sie hier zusammenbrachte. Hier sah er den Unmenschen als Menschen, als jemanden, der sich sorgte und der es schaffte, Ran in den Hintern zu treten.

Ja… vielleicht war er doch nicht allzu schlecht für Nagi, befand Omi schließlich und begann, seine Meinung über den Amerikaner teilweise zu revidieren.

Aus einem Anfall an Kindlichkeit heraus klaute er Ken das letzte Stück Fleisch von seinem Teller und schob es sich dreist in den Mund, grinste dabei.
 

„Ich… glaubs ja nicht“, blaffte Ken und schmälerte seinen Blick. Ohne viel Federlesen, stemmte er sich hoch, seinen Enterhaken griffbereit und schlug diesen in eine der Bratkartoffeln samt Kräuterquark als deliziöses Häubchen. Er holte seine Beute ein und schwupps war es in seinem Mund verschwunden.
 

Violette Augen sahen langsam auf, als sie merkten, dass etwas auf dem noch gut gefüllten Teller fehlte. Es war ein altes Spiel zwischen ihnen: wer war am Schnellsten und hielt den Rekord im Essensklau. Ken, dicht gefolgt von Youji, da er selbst sich oft schlichtweg geweigert hatte, mitzumachen.

Doch nun… ja, irgendetwas in Aya sagte ihm, dass er sich auch versuchen sollte. Irgendetwas stieß ihn in die Richtung an.

Den Blick fest auf Ken gerichtet, traf seine Gabel auf Omis Pommes und häufte sie auf seinen Teller… gut, es waren nur zwei, doch der empörte Aufschrei des blonden Jungen war ihm Beute genug. Blaue Augen starrten ihn ungläubig an, als er eine von ihnen hochnahm und sich in den Mund schob.

„Du… hinterhältiger Mistkerl!“, wetterte Omi und startete den Gegenangriff, doch Aya war schneller und brachte seinen Teller aus der Reichweite seines Nachbarn. Blieb nur noch… Crawfords Teller.
 

Der dem Treiben mit einem… geradezu todbringenden eisigen Blick zusah. Alles in ihm sagte, dass er dieses Spiel lächerlich fand und sich aber… keiner trauen sollte ihn miteinzubeziehen oder gar ihm etwas vom Teller zu nehmen. Für diesen Unfug war er zu alt. Definitiv.

Aber Ran taute auf…
 

In der Tat… Aya lächelte leicht und es war das erste, ehrliche Lächeln seit Tagen. Doch dafür war die Situation einfach zu amüsant. Omi und Ken, die beide ihre Gabeln wie auf Beute wartende Falken in den Händen hielten, seinen, für sie unerreichbaren Teller gierig anstarrten, bevor sie Crawford in Augenschein nahmen. Vorsichtig nur, da der Schwarz… alles ausstrahlte, nur keine Ungefährlichkeit. Sein Blick sagte etwas anderes, versprach grausame Bestrafung.

Aya schnitt sich ein weiteres, kleines Stück Fleisch ab und kaute langsam.
 

„Kritiker scheint euch zu wenig Taschengeld zu geben, wenn gleich Futterneid aufkommt“, knurrte Brad und begann still vor sich hin zu essen, das Messer in der Hand so leicht wie eine Feder… und so… flink vor allem.
 

Zwei Augenpaare beobachten das scheinbar ungefährliche Messerspiel, wandten sich dann wieder ihren eigenen Tellern zu, während Aya dieses Lächeln immer noch auf seinen Lippen trug. Es schien… passend zu sein und er konnte sich noch nicht einmal über die Bemerkung des Amerikaners aufregen - weil es stimmte.

Aya beobachtete Crawford beim Essen und seine Gabel kroch rein aus einem spielerischen Reflex in Richtung Amerikaner… warum genau… das durfte man ihn nicht fragen.
 

Wenn er es nicht genau wissen würde so hätte er geglaubt, Schuldig hatte sich Rans bemächtigt und ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt. Aber Schuldig war tot.

Er verstand nicht ganz, was hier vor sich ging. Nein, Korrektur. Er wollte es nicht verstehen.
 

An anderer Stelle wollte es ebenso wenig verstanden werden, denn Omi konnte nur mit Grauen fasziniert zusehen, wie Ran mutig das in Angriff nahm, wovon sie beide großen Abstand hielten. Omi hielt gespannt die Luft an, fixierte den Amerikaner, der Ran durchdringend anstarrte. Es würde alles gut werden… oder? Es würde hier gleich keinen Krieg geben… oder?
 

Schlange und Mungo. Klarer Fall. Er würde warten… lauern… bis der Zugriff kam, erst dann würde der Augenblick gekommen sein.
 

Es war, als müsste Aya diesem inneren Drang, Crawford zu überlisten ein Ventil geben, als müsste er beweisen, dass er immer noch Meister des Spiels war. Seine Hand schoss mit wohldosiertem Kraftstoß vor und zielte auf das letzte Gemüsestück des Orakels.
 

Zielte und traf. Doch der Rückzug wurde verhindert, indem Brad seine Hand wie das Maul einer Schlange hervorschießen ließ und um Rans Handgelenk schlang.

Mit einem bösen Lächeln zwang er sie nach oben, samt Gabel, samt Gemüse und happste sich das letzte Stück von selbiger.

Mit einer erhobenen Braue ließ er Ran los und schluckte das Stückchen kommentarlos hinunter.
 

So war das aber nicht gedacht gewesen…

Aya hatte ja mit einigem gerechnet, aber damit nun wirklich nicht. Er blinzelte verwirrt, wusste nicht einzuordnen, wie sich Crawford gerade verhalten hatte, wie er selbst sich gerade verhalten hatte.

Er sah bewusst nicht auf seine Hand hinab und auf das prickelnde Gefühl des Zwangs, dem sie gerade noch unterlegen war, sondern zog sie gesittet, mit einem pflichtschuldigen Funkeln in den Augen zu sich zurück und spießte fast Kens Hand auf, als dieser sich erdreistete, noch etwas von seinem Teller zu klauen. Doch zu langsam!
 

„Au!“

Ken zog einen Flunsch und seine Augen weiteten sich empört. Aber… da hatte er wohl Rans verletzten Stolz zu spüren bekommen.

Na immerhin gings ihm für wenige Augenblicke besser und wenn sie drei hier die Animateure spielten… war es doch einerlei, Hauptsache, das Ergebnis stimmte!
 

Omi sah Ken verstohlen von der Seite an, noch verstohlener aber Crawford und dessen Gesichtsausdruck. Er war sich nicht mehr ganz so sicher, ob nicht doch etwas zwischen Crawford und Ran war, von dem sie nichts wussten… doch war das möglich? Angesichts Schuldigs Tod? Nein… konnte es nicht.

Schweigend erhob er sich und holte die letzte Tüte aus dem Kühlschrank - der Nachtisch. Schälchen fand er auch nach einigem Suchen und legte die passenden Löffel auf den Tisch. Beerenlasagne mit Schokoladenbisquitteig und weißen Schokoladenraspeln. Eine Spezialität des Hauses, war ihm gesagt worden.
 

Brad beendete sein Mal ohne weitere Attacken, verzichtete jedoch auf den Nachtisch und erhob sich nach einer Weile, nahm Banshee auf, die vor ihm auf dem Boden herumturnte und sich schier seine Schienbeine hinaufhangeln wollte.

„Bis morgen, ich muss los“, nickte er den anderen zu, verweilte etwas länger bei Ran, bevor er sich abwandte und in die grünen Augen der Katze sah.

Bis morgen… Grünauge.

So hatte er Schuldig früher genannt. Früher.
 

o~
 

Es schneite schon seit Stunden… dicke, weiße Flocken waren erst sacht, dann immer dichter auf die Stadt niedergefallen und hatten Aya in ihren Bann gezogen, wie er hier am Fenster saß, über der warmen Heizung. Banshee, die auf seinem Schoß lag, schnurrte zufrieden ob der Hände, die sie so gekonnt verwöhnten und kraulten. Ihre kleinen Krallen schlugen sich mal mehr, mal weniger müßig in den weichen Stoff der Nickihose, die sich Aya frisch geduscht angezogen hatte.

Er tat das mittlerweile jeden Tag: aufstehen, duschen, aus dem Fenster starren, die Kleine versorgen. Doch das war auch das Einzige, was ihm gelingen wollte und wozu er sich noch aufraffen konnte. Vielleicht… zum Essen, wenn Crawford kam. Der andere Mann war eben einfach zu penetrant, als dass er sich weigerte, etwas zu essen; es machte einfach weniger Stress, wenn er die Portionen, die vor ihm lagen, herunterwürgte oder wenn er einkaufen ging.
 

Leise innerlich fluchend kam eben jener penetrante andere Mann - wie schon die Tage zuvor regelmäßig von Statten gegangen - durch die Tür. Er hatte unterwegs für sie beide Essen mitgebracht und nun war er halb eingeschneit, da er nicht mit dem Wagen sondern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hergekommen war. Im Prinzip kam er aus dem Büro und nicht von zuhause.
 

Winterliche Kühle wehte zu ihm, als die Tür aufging und Aya noch nicht einmal den Kopf wenden brauchte um zu sehen, dass es nicht Schuldig war - sondern Crawford, der nun durch die Tür trat. Dennoch wandte er den Blick nach einer kleinen Weile zu dem anderen Mann, der wütend vor sich hinstarrte und dessen Haare und Kleidung unter einer beachtlichen Schicht an noch nicht geschmolzenem Schnee steckten. Crawford sah so aus, als ob er das Wetter hassen würde wie die Pest. Nun… vielleicht würde Aya das auch tun, wenn er einen Schritt vor die Tür machen würde.
 

Darauf achtend, dass er das Essen nicht über den Boden verteilte, mühte sich Brad ab um aus den Schuhen zu kommen und brachte seine Last dann in den Küchenbereich. Erst dann ging er ins Bad um sich den Schnee vom Leib zu klopfen und missmutig in den Spiegel zu blicken. Seine Haare waren hinüber, standen in alle Richtungen.

Heute war kein guter Tag, beschloss er spontan und zog sich den Mantel aus. Er hatte noch das Jackett darunter das ebenfalls von seinem Körper gezerrt wurde. Beide Dinge nahm er aus dem Bad mit um sie an der Garderobe zurück zu lassen.

Erst dann ging er zu Ran, den steten Schneefall bemerkend, die dicken Flocken. „Nagi lässt dir Grüße ausrichten. Er wollte mitkommen, war sich aber nicht sicher, ob dir das recht wäre.“ Brad wischte sich wieder durch die Haare, da ein vorwitziger Wassertropfen sich seine Schläfe hinabhangelte.
 

„Er kann gerne kommen“, sagte Aya automatisch. Er hatte die letzten Tage an vieles gedacht, unter anderem auch an Nagi und wie es dem Jüngeren ging. Dass er bereit war, hinaus zu gehen und zu ihm zu kommen, zeugte davon, dass es ihm besser ging und dass er weitaus mehr mit seinem Leben zurechtkam, als es Aya im Moment in der Lage war.

„Bist du gelaufen?“, fragte er schließlich, als ihm der Aufzug des anderen Mannes bewusst wurde, doch Aya wusste selbst, wie absurd der Gedanke war. Crawford schien ihm einfach nicht der Typ dazu zu sein.
 

„Ja“, hob Brad spöttisch eine Braue, halb fragend, halb belustigt, auch wenn es nur ein müder, ein versöhnlicher Abklatsch des früheren, beißenden Spotts war.

„Ich war im Büro um einige Dinge zu überprüfen“, vor allem Kontakte, die ihren Sinn verloren hatten und gekappt werden mussten.

Er ging zum Eingang zurück und holte den Aktenkoffer den er dort abgestellt hatte. Das perfekte Tarnmittel wenn man in der Masse der Angestellten untergehen wollte. Aber der Inhalt war doch etwas… interessanter als so mancher Aktenberg.

Der Koffer fand seinen Ruheplatz auf dem Wohnzimmertisch und wurde auch sogleich geöffnet. Brad nahm ein Gerät heraus und begann damit die Wohnung nach möglichen Wanzen abzusuchen.
 

Aya sah dem Ganzen schweigend zu. Er wusste erst nicht, was der andere Mann dort tat, dann wurde es ihm jedoch bewusst. Wanzen? Hier?

Konnte gut sein, wer wusste das schon… Aya selbst interessierte das nicht. Es war einfach zu spät, um sich darum Gedanken zu machen. Schuldig… war nicht mehr da. Einem Komplott zum Opfer gefallen, das einzig und allein dazu gedient hatte um Schwarz zu schwächen oder auszuschalten. Schuldig…

Ayas Gedanken schweiften wieder ab und hefteten sich an glücklichere Erinnerungen, als er vor der Gegenwart floh.
 

Brad hatte auch ohne seine verhinderten Fähigkeiten gewusst, dass er den anderen damit nicht glücklicher machte, wenn er hier mit diesen Geräten aufwartete. Aber er brauchte Gewissheit, ansonsten hätte er Ran sofort eingepackt und ihn umgesiedelt, ob er wollte oder nicht.

Aber es war „Alles sauber“, murmelte er befriedigt und verräumte alles wieder. Erst da fiel ihm das Essen wieder ein. „Mist“, rutschte ihm – sonst so zurückhaltend mit Schimpfwörtern – heraus und sein Blick wanderte zur Küchenablage. Sein Magen hatte ihn daran erinnert, dass er heute bis auf eine unter Nagis Argusaugen gefrühstückte Suppe noch nichts zu sich genommen hatte.
 

Es waren in der Tat ungewohnte Laute, die an Ayas Ohr drangen und die ihn Crawford mustern ließen. Ihm wurde immer vorgeworfen, er esse zu wenig, doch was war mit dem Amerikaner? Er war… dünner. Nein, dünner war vielleicht das falsche Wort. Seine Wangen wirkten hohler, eingefallener, das Orakel selbst weniger muskulös. Seine Haltung wirkte etwas zusammengesunken.

Er litt.

Ja, da wusste Aya. Crawford trauerte ebenso stark wie er selbst auch.

Wortlos erhob sich der rothaarige Mann und kam in den Küchenbereich zurück, besah sich dort das mitgebrachte Essen.

„Du isst zu wenig“, sprach er die Worte aus, die er schon so oft gehört hatte.
 

Es kam etwas monoton, abgespult und Brad wandte das Gesicht von seiner Inspektion der Tüten fast überrumpelt zur Seite. Rans Gesichtsausdruck wirkte undurchschaubar, nicht wirklich interessiert. Aber das spielte keine Rolle.

„Mit diesem Problem stehe ich nicht alleine da.“

Brad hob das Essen aus den Tüten und begann damit Besteck aus den Schubladen zu holen.
 

Aya wartete noch einen Moment, bevor er sich daran machte, in alter Gewohnheit Schüsseln auf den Tisch zu stellen und das Essen auf sie zu verteilen. Es roch… wie alles andere auch: gleich lecker, aber uninteressant für ihn und seinen Magen, der keine einzige Regung tat. Es war da um ihn am Leben zu erhalten, nicht mehr und nicht weniger.

Wortlos setzte sich Aya und nahm die Stäbchen auf, wartete jedoch noch auf Crawford.
 

Sie aßen wie stets langsam und ohne Unterhaltung. Brad war die Stille nicht unangenehm, nie gewesen und er musste gestehen, auch wenn es ihm schwer fiel, dass der Mann der ihm gegenüber saß ihm da nicht unähnlich schien.

Trotzdem fühlte Brad Unruhe in sich. Er konnte jedoch nicht genau sagen woher sie kam, nicht den Finger darauf legen. Obwohl der Verdacht nahe lag, dass es seine fehlende Voraussicht war. Als hätte man ihm die Augen verbunden oder ihm wahlweise beide ausgestochen, was treffender war in der Umschreibung, denn der Schmerz in seiner Brust war nicht minder heftig. Das Ironische daran war, selbst wenn sein Sehvermögen tatsächlich nicht mehr vorhanden gewesen wäre… die Bilder in seinem Kopf… ließen sich nicht ins Dunkel stürzen.
 

Es dauerte wie immer lange, bis sie das Essen beendeten und das Geschirr wie auch das Besteck in die Spülmaschine räumten. Tätigkeiten, die sie zusammen ausführten, die Aya aber früher niemals… niemals mit Crawford zusammen gemacht hätte. Doch so vieles hatte sich geändert innerhalb nur weniger Tage. So vieles war schrecklicher geworden, trostloser, verzweifelter.

Aya wurde sich bewusst, dass er kaum noch weinte, dafür aber umso häufiger von der eigentlichen Welt abdriftete in seine eigene Illusion, die ihm so heilsam schien. Denn in dieser Illusion lebte Schuldig noch, in dieser Illusion waren sie noch glücklich und zu zweit… da war er nicht alleine und das Loch in seiner Brust, in seiner Seele gab es auch nicht.

Wie auch jetzt, wie auch jeden Abend, an dem Crawford etwas länger blieb als bis nach dem Essen und sie im Wohnraum saßen. Jeder tat das, was er für richtig hielt. Niemand störte den anderen dabei. Vielleicht war es auch für Aya gerade deswegen tröstlich, dass er jemanden um sich hatte, der ihm seine Präsenz nicht aufdrängte, sondern einfach da war.
 

Brad ließ sich auf der Fensterbank nieder, zog ein Bein nach oben und blickte in die Nacht hinaus. Nur Schnee, man konnte kaum bis zu den ersten Häusern blicken so stürmte es draußen. Er würde noch ein wenig warten, bis er ging.

Nur wenige Lampen erhellten an einigen Stellen die Wohnung und er verließ seinen Platz, setzte sich auf die Couch und machte es sich gemütlich. Die leise Hintergrundmusik ließ ihn sich schwermütig fühlen, doch er verdrängte dieses Gefühl, wischte es beiseite und schloss die Augen. Er würde sie nur kurz ruhen lassen.
 

Eine merkwürdige Atmosphäre lag über der Wohnung, eine winterliche Stille, die alleine durch die fallenden, dicken Flocken bestärkt wurde, die außerhalb fielen und die ganze Stadt in eine weiße Schicht tauchten. Was gäbe Aya darum, diese Atmosphäre mit Schuldig genießen zu können? Was gäbe er darum, noch einmal in diese grünen Augen schauen zu können, diese Lippen berühren zu können… oder wie viel würde er darum geben, diesem Mann noch einmal nahe zu sein.
 

Aya fühlte nur drückende Leere in sich. Nichts anderes als das. Die gleiche drückende Leere, die ihn auch am Schlafen hinderte, die ihn antriebslos zurückließ… antriebs- und willenlos. Nicht mehr bereit zu leben, sagte er sich.

Ganz im Gegensatz zu dem Mann, der ruhte… doch die Couch war dafür wirklich zu unbequem, das wusste Aya aus eigener Erfahrung. Sollte er sich ins Bett legen… sollte er schlafen, damit er Kraft gewann, die er brauchte.
 

Es brauchte seine Zeit, bis Aya den Gedanken umsetzen konnte und aufstand… bis er zu Crawford ging und den anderen Mann an der Schulter berührte. Wann hatte er ihn zum ersten Mal freiwillig berührt?

Gerade eben, antwortete es ihm und Banshee maunzte leise, aufgeweckt durch seine Ankunft.

„Wach auf“, sagte er ruhig.
 

Brad bewegte sich etwas, räusperte sich und wischte sich über die Augen. Er war tatsächlich eingeschlafen und fühlte sich nicht wirklich erholt. „Wie spät ist es?“, fragte er leise, noch schlaftrunken. „Ich… muss los.“ Jetzt aufzustehen war die Hölle. Alles tat ihm weh und er glaubte, dass es nicht nur die Couch war, sondern auch der Schlafmangel der letzten Tage.
 

„Du bleibst. Leg dich ins Bett, du siehst fertig aus“, erwiderte Aya im gleichen Ton wie vorher. Leise, ruhig, nicht bevormundend. Er wusste nicht, ob Crawford den Weg überstehen würde, wenn er jetzt ging.
 

Brad setzte sich auf und stöhnte verhalten, rieb sich die eingeschlafene Schulter, aber die Augen bekam er nicht wirklich auf. „Ich muss gehen, Nagi…“, murmelte er, stand bereits auf.
 

„Geh ins Bett“, wiederholte Aya, dieses Mal jedoch eindringlich. „Ich rufe den Kleinen an.“
 

Wie er ins Bett gekommen war, wusste er nicht mehr, er war einfach zu müde, und hatte sich überreden lassen. Seine Kleidung landete einigermaßen geordnet neben dem Bett und er zog die Beine aufs Bett, legte sich auf die Seite. Er spürte wie der Sog des Schlafes ihn erfasst hatte und genoss das Gefühl, welches er lange nicht mehr gehabt hatte… das Gefühl, mitzubekommen wenn er einschlief.
 

Währenddessen griff Aya zum Telefon und wählte die Nummer des Schwarzhaushalts. Er wusste, wie spät es war, dass es mitten in der Nacht war, doch der Junge machte sich sicherlich Sorgen um seinen Anführer.

Gedankenverloren lauschte er dem Freizeichen.
 

Nagi saß halb liegend im Bett, das Telefon neben sich, kein Licht brannte, aber er lauschte beharrlich fremden nicht hierher gehörenden Geräuschen. Er hatte Angst.

Brad war nicht nach hause gekommen und angerufen hatte er auch nicht. Ganz entgegen seiner sonstigen Art. Die Furcht, dass sie nacheinander denselben Leuten zum Opfer fielen, wie Schuldig eines dieser Opfer war, hämmerte wie ein Schlagbolzen in seiner Brust, als just das Telefon klingelte. Hektisch nahm er es an sich und fast schon atemlos und mit einem unsicheren Laut meldete er sich mit einem „Ja…“
 

„Ich bin es… Ran“, meldete sich der rothaarige Mann ruhig. Nagi klang panisch. „Crawford geht es gut, er schläft gerade. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“
 

„Ja?“, hakte er untypisch nach und die Unsicherheit war wieder in seinen Worten zu hören.

„Ich… ich hatte Angst… ich dachte… sie hätten Brad auch geholt… und…“, er stockte. „Ich weiß es ist irrational, aber…“ Was redete er da eigentlich?

„Sag ihm nicht, dass ich mir Sorgen gemacht habe. Es… geht ihm nicht gut, er schläft kaum.“
 

„Das sieht man ihm an“, bestätigte Aya, wurde sich aber im gleichen Moment auch bewusst, dass es ihm ebenso ging und dass man es ihm ebenso ansehen musste.

„Sie… haben ihn nicht geholt, Nagi. Er ist hier und in Sicherheit. Er wird bis morgen schlafen, das versichere ich dir.“ Er schwieg für einen Moment, dachte daran, was Crawford ihm vorher gesagt hatte, ganz am Anfang dieses Abends.

„Wie sieht es mit dir aus?“
 

Zunächst zögerte Nagi, denn nur langsam beruhigte sich sein Herz, beruhigte sich sein Inneres und die Anspannung fiel etwas von ihm ab. Er ruckelte sich zurecht und kuschelte sich mehr in die Decken ein, die er um sich gehäuft hatte.

„Ich fühle mich nicht mehr sicher hier. Aber es geht schon, Jei achtet auf die Umgebung… aber falls… er sagte, dass die, die dich angegriffen haben auch nicht auszumachen waren. Verstehst du… ich… wir haben keinen Schutz mehr.“ Er fühlte sich so matt und ausgezehrt.
 

„Ja… ich verstehe. Crawford hat Ähnliches gesagt.“ Aya überlegte einen Moment lang.

„Er bringt euch da raus, vertrau ihm“, fügte er schließlich an, zuversichtlicher, als er sich selbst fühlte. „Vergiss nicht, dass du auch Kräfte hast, Nagi. Du kannst dich und das Anwesen verteidigen.“

Schuldig hatte sich auch verteidigen können, sagte eine kleine Stimme in ihm. Und er war trotzdem gestorben.

Aya schloss die Augen und presste den Daumen und den Zeigefinger der linken Hand auf die Lider. Es tat weh… es schmerzte, darüber nachzudenken. Vor allen Dingen darüber nachzudenken, dass er alleine war… gänzlich. Ganz im Gegensatz zu Nagi, der noch Omi hatte.

„Ist Omi bei dir?“
 

Omi? Wiederholte Nagi überrascht.

„Nein, natürlich nicht. Ich… habe ihn länger nicht mehr gesehen“, sagte er bedauernd. Er fühlte sich allein und auch wenn Jei bei ihm war, die Furcht, dass jeden Moment ein Angriff kommen konnte, zerrte an ihm und machte jedes Geräusch zu einem Schatten der böses wollte.

„Brad vertraut Kritiker nicht, dass sie diesen Pakt einhalten, er hält sie immer noch für mögliche Täter.“
 

„Möglich, dass sie es sind… aber Weiß gehören nicht dazu. Omi ist nicht Kritiker… er ist auch nicht vorrangig ein Weiß.“ Dass er jemals so etwas sagen würde… aber es war alles Vergangenheit. Alles.

„Willst du ihn sehen? Soll ich ihm Bescheid geben?“
 

„Ich… ich… weiß nicht. Er… mitten in der Nacht?“

Es war so untypisch für ihn, zu stottern, seine gewohnte Sicherheit war zum Teufel und er fühlte nur innerlich diese Unruhe, dieses Zittern, seit Schuldigs Tod.
 

„Er wird Verständnis haben.“ Omi hatte immer Verständnis und nun schlief Crawford hier, also konnte er doch zu Schwarz fahren, oder?

Aya blinzelte, als er sich der aktiven Gedanken bewusst wurde, die gerade regelrecht in seinem Hirn arbeiteten. In diesem Moment war er in der Lage, sich um die Belange anderer Menschen zu kümmern, er lebte und existierte nicht nur vor sich hin.

„Soll ich ihn anrufen und zu dir schicken?“
 

„Ja.“

Es kam zu verhuscht, sehr leise, so undeutlich wie nur möglich, nicht dass es zu sehr nach Zustimmung klang. Und wenn doch Kritiker ihre Zuflucht fanden?

„Ran… es tut mir so leid. Ich hätte nie gedacht, dass sie… jemand Schuldig doch noch kriegen würde. Warum gerade er? Warum wollten sie ständig nur ihn?“ Er schluchzte auf und legte auf, als hätte ihn sein eigenes Geräusch erschreckt.
 

Ja… warum wollte jeder Schuldig? Kritiker… diese Männer, die ihn angegriffen hatten und vielleicht auch, die Schuldig getötet hatten? Warum ihn? Weil er außergewöhnlich war? Außergewöhnlich stark gewesen, denn es gab ihn nicht mehr.
 

Das leise Tut des Hörers drang an sein Ohr, aber nicht zu Aya selbst hindurch, so wie er hier stand, mitten in dem großen Raum. Der außergewöhnliche Mann war tot.

Aya rieb sich ein weiteres Mal über die Augen und drückte die Tränen zurück, die in ihnen standen. Hör auf, das bringt nichts. Gar nichts. Wer achtet schon darauf, dass du heulst? Niemand. Außerdem… kommt er davon auch nicht zurück. Er wird nie wieder zurückkommen. Nie.
 

Zeit, Omi anzurufen.

Mit einem großen Kloß im Hals wählte Aya die Nummer des blonden Jungen. Es klingelte dreimal, bevor abgenommen wurde und eine abgehetzte Stimme am anderen Ende der Leitung Omis Aufmerksamkeit zusicherte.

Er schilderte knapp die Situation und vereinbarte mit dem Anderen einen Treffpunkt in der Nähe dieses Hauses aus, in einer halben Stunde, da es zu gefährlich war, Omi die Adresse am Telefon durchzugeben.

Er hatte richtig gelegen, Omi war sofort bereit, zu Nagi zu fahren.
 

Aya legte auf und warf einen prüfenden Blick auf den Amerikaner.

Crawford schlief tief und fest auf Schuldigs Seite des Bettes. Ein bitteres Lächeln umspielte die Lippen des rothaarigen Mannes und er wandte sich um. Er zog sich lautlos einige, wärmende Kleidungsstücke über, stieg schließlich in seine Stiefel, steckte die Waffe in seine Manteltasche und verließ ebenso leise zum ersten Mal seit zwei Tagen die Wohnung. Die Hände tief in den Taschen von Schuldigs Mantel vergraben, stapfte er durch den Schnee.

Gläsernes Lächeln

~ Gläsernes Lächeln ~
 


 


 


 

Nach dem Gespräch hatte sich Nagi wie durch die Augen eines Fremden gesehen.

Er war noch auf dem Bett sitzen geblieben und hatte zugesehen, wie das Licht des Displays verlöschte. Erst dann hatte er es sinken lassen. Brad ging es gut, das war doch nicht schlecht! Also warum heulst du hier herum?

Tief einatmend zog er seine nackten Füße vom Bett und stand auf.

Aber was war, wenn Omi nicht kommen konnte oder… wollte? Und… wie fand er her… und wie kam er ins Haus? Am besten, er ging gleich hinunter und wartete unten. Und Jei musste er noch informieren, nicht, dass dieser den nächtlichen Besucher zum Zwecke der Feindelimination ausschaltete. Wäre wirklich schade drum…- tauchten die alten ironischen Gedanken flüchtig in ihm auf und er lachte zwischen den Tränen, wischte sie sich aber ärgerlich beiseite.

Seine Füße tappten auf dem Weg zu Jeis Zimmer. Leise klopfte er an und schlich sich zu Jeis Bett. Der Empath lag wie eine Katze eingerollt auf der Seite, das Auge jedoch nur zur Hälfte geschlossen. Nagi wusste, dass er in eine Art Halbschlaf gefallen war und er die Umgebung sicherte.

„Jei… der junge Takatori kommt noch vorbei.“

Seine Stimme war zu einem Flüstern verkommen, als er sich vor dem Bett in die Hocke gelassen hatte.

„Gut“, hörte er nur klar und deutlich. Bei ihm war die Stimme nicht so angeschlagen wie bei Nagi. Er hörte sich wie immer an.

„Danke, Jei.“

Nagi verließ das Zimmer wieder, lehnte die Tür nur einen Spalt an. Er hatte sich eine Decke um den Leib gezogen und ging ohne Licht zu machen hinunter in den großen Wohnraum. Der Kamin war aus und er setzte sich in seinen Lieblingssessel in dem er ganz verschwand. Er rollte sich etwas zusammen und wartete.
 

Es dauerte etwas, bis Omi so wie er war, in der Nähe der ihm genannten Adresse stand und die Umgebung sicherte. Wie praktisch, dass er noch im Missionsmodus war, lachte er sich selbstzynisch zu und schnaubte leise.

Sie hatten heute Nacht einen Auftrag gehabt, der katastrophal gelaufen war… natürlich hatten sie das Ziel töten können, doch wie, das brauchte man nicht zu fragen. Sie alle waren schon lange nicht mehr bei der Sache. Besonders Youji nicht, der mit Ran mitlitt… mehr noch als Ken und er.

Omi beendete seine Untersuchung und wandte sich der Straße zu, fuhr das letzte Stück und stieg dann schließlich aus. Eine große Hausfassade tat sich vor ihm auf, verdeckt von Neuschnee. Hier wohnten sie also?
 

Omi starrte auf die unscheinbare Klingel mit dem noch unscheinbareren Namen. Einen Moment lang zögerte er… dann klingelte er.
 

Doch kein Laut erklang. Alles war still im Haus, nur auf Nagis Fernbedienung blinkte ein stummes Signal. Sein Herz klopfte schneller, als er sich samt Decke erhob und zur Tür tappte, den stummen Alarm ihrer Sicherheitsanlage bestätigte. Die Kamera zeigte die Silhouette Omis, der Nachtsichtmodus der Anlage jenen noch deutlicher und er öffnete rasch die Tür, als er sich sicher war, wer dort stand. Die dunkle Gestalt, die sich gegen den hellen Schnee abhob und die er stumm anstarrte, war Omi.

Er trat einen Schritt auf den anderen zu in die eisige Kälte der Treppenstufen, seltsam beklommen. Als wäre Omi vielleicht ein Trugbild, das sich schnell ins Nichts auflösen konnte, griff seine Hand den Arm des anderen und wollte ihn in die Wärme des Hauses ziehen.
 

Omi ergriff diese Hand und zog Nagi fest an sich. Gemeinsam mit ihm ging er ins Haus und zog die Tür hinter sich zu, alles jedoch, ohne den anderen loszulassen, immer noch in dieser festen, emotionale Wärme spendenden Umarmung.

„Ich bin da“, murmelte er liebevoll.
 

Die Decke rutschte herab und legte sich um Nagis nackte Füße, als er seine Stirn gegen die rechte Schulter seines Gegenübers legte und nickte. „Habe ich dich geweckt?“

Nagi legte seinen Kopf seitlich, sodass er bequemer lag und seiner Nase stieg ein alarmierender Geruch in die Nase. Nach Straße, Schweiß und da war noch etwas, was sich aus dieser Melange hervorhob, die ihm vertraut vorkam. Es roch nach Kampf, Blut und Waffen.

„Du… kommst nicht von zuhause?“ Dennoch, eine gewisse Portion Angst war nicht zu verhehlen, die in ihm schwellte. Misstrauen… Angst. Er verspannte sich, wie ein Hase, der in seinem Bau saß und zitterte, weil von draußen jeden Moment die Schlange hereinkriechen konnte.
 

„Ich komm gerade von einem Auftrag, das ist alles“, murmelte Omi in die angstvollen Augen hinein. „Wir hatten heute Nacht eine Mission und Ran hat mich danach sofort angerufen, dass ich zu dir kommen sollte. Er hat mir auch den Weg genannt.“

Behutsam strich er dem Größeren über den Rücken.
 

Nagi seufzte verhalten und löste sich etwas. Noch immer stand kein Licht zwischen ihnen und nur der Schnee, der die Himmelskörper und die leuchtende Stadt reflektierte, schlich sich als Zwielicht zwischen sie… und Nagi dachte… vielleicht auch in sein Herz.

„Ich… bin nur misstrauisch…“, gab er zu und seine Brauen zogen sich um Nachsicht bittend zusammen.

Noch immer klammerten seine Finger an der Kleidung des anderen.
 

„Verständlich“, murmelte Omi und strich mit seiner Hand durch die verirrten, braunen Strähnen. „Aber… ich bin kein Feind. Und ich habe auch keinen mitgebracht. Die Gegend ist sauber.“ Zumindest hoffte er, dass sie es war, denn wenn sie Schuldig schon getötet hatten, den Mann, der immer als beinahe unbesiegbar gegolten hatte und Crawford das nicht vorhergesehen hatte, wie groß war dann die Gefahr, in der sie sich hier befanden?
 

„Ich habe Angst“, gab Nagi zu. Sein Nervenkostüm war zu fragil und durchscheinend geworden, dass er diese Schwäche nicht vor Omi äußern konnte. Es war zerfasert und die losen Fäden baumelten in der Luft. „Ihr… du hattet Recht… wir waren zu selbstsicher, zu arrogant, trotz unserer Fähigkeiten, trotz unserer Maßnahmen, wir sind machtlos. Sie werden uns immer weiter jagen, bis niemand von uns mehr existiert.“ Er drohte schon wieder in eine kleine Krise zu steuern, auch wenn er die Tränen zurückhalten konnte, er spürte selbst, wie labil er war.
 

Omi durchlief ein Schauer, als er Nagis Worte hörte, die er verneinen wollte… bei denen er sich im nächsten Moment jedoch bewusst wurde, dass er sie nicht verneinen KONNTE. Der andere hatte Recht, mit allem, was er sagte. Doch…

„…ihr habt immer noch eine Chance, sie zu finden, bevor sie euch vernichten und dann seid ihr die ersten, die denen das Licht ausblasen, okay? Da habe ich gar keinen Zweifel dran, Nagi. Ja… ihr seid… nur noch zu dritt, doch… ihr werdet weiter funktionieren. Ganz sicher.“

Einen Moment lang herrschte Stille zwischen ihnen und Omi lauschte auf die Geräusche des Hauses, die sie umgaben.

„Es tut mir so leid, Nagi.“
 

Nagi konnte nur nicken und ein kleines ungeschicktes Schniefen war unvermeidlich.

„Willst du… duschen? Bleibst du hier?“ Irgendwie fühlte er sich überfordert. Er hatte so sehr gewollt, dass der andere herkam und nun wusste er nicht so Recht wie es weitergehen sollte. „Oder hast du Hunger?“ Er löste sich und sammelte seine Decke wieder auf.
 

„Alles Nagi, alles. Aber alles nach der Reihe.“ Omi lächelte leicht schief und half Nagi, sich die Decke wieder um den kühlen Körper zu legen. „Begleitest du mich? Dann brauchst du nicht alleine zu sein… außerdem siehst du so aus, als könntest du ein heißes Bad vertragen. Wie wäre es?“
 

Wie aufgezogen nickte Nagi und er fasste nach Omis Hand, schmuggelte seine eigene hinein und zog ihn mit sich hinauf zu seinem Schlafzimmer und dem großen und vor allem hohen Badezimmer. Er ließ die Decke auf den beheizten Boden fallen und stöhnte wohlig auf, als seine Füße die warmen Fliesen zu spüren bekamen. Er schauderte ob der Wärme und rubbelte sich die Arme. Das Licht ging nach und nach an, ganz langsam und er gewöhnte sich an die heller werdende Umgebung.

Erst als sein Blick auf die Badewanne fiel, wurde ihm klar, was es hieß zusammen zu baden: Er würde auch nackt sein.
 

Omi ließ Nagi mit einem Streichen über dessen Rücken stehen und drehte das heiße Wasser auf, fügte etwas Badesubstanz hinzu.

Er wusste wohl, was hinter dieser Stirn vor sich ging, er wusste wohl, was Nagi im Moment denken musste, doch er zeigte ihm, dass er keine Sorge haben musste… denn er entkleidete sich als erstes, legte langsam, Stück für Stück seine schmutzige Kleidung ab und häufte sie wenig ordentlich zu einem Berg etwas abseits an. Schweigend stieg er unter die Dusche und gab Nagi Zeit, sich daran zu gewöhnen, an den Gedanken, an den Anblick, an alles.
 

Nagi beaufsichtigte das Wasser und er sah auch Omi ungeniert beim Duschen zu. Nicht ständig, aber dennoch in zufälligen und doch wie magisch angezogenen Blicken. Ihm fehlte jedoch das erhitzende Gefühl, welches zwar kam, doch durch das Ziehen in seiner Brust über den Verlust eines Freundes gemildert wurde. Es war eher ein warmes Glimmen, ein stetes, kräftiges Feuer, kein heftig aufloderndes. Und auch Scham. Scham darüber, dass Omi da war. Dass Ran alleine war und niemanden mehr hatte, den er mit einem derartigen Blick bedenken konnte.
 

Nagi sah, wie Omi sich wusch, es war Normalität, kein affektiertes Gehabe, nichts, was ihn beeindrucken sollte, nichts womit er mithalten sollte oder musste. Es war normal und genau dieser Aspekt tat ihm gut. Auch wenn seine Gedanken teilweise zu Ran und Schuldig fortglitten. Ran, der alleine war, dessen Herz zerbrochen war. Wie pathetisch. Und wie wahr.
 

Es tat auch Omi gut zu sehen, dass Nagi sich zumindest etwas entspannt hatte, als er sich wieder umdrehte und aus der Dusche stieg. Nass wie er war drehte er das Wasser ab und lächelte aufmunternd.

„Ich geh schon mal rein und mache die Augen zu. Dann kommst du nach, wie wäre es?“, fragte er mit leichtem, schelmischen Einschlag.
 

Nagi glotzte. Wirklich. Die Brauen wanderten gen Stirn über diesen… kindischen Vorschlag. Er näherte sich Omi etwas und prüfte das Wasser, bevor er den anderen um die Flanken nahm und an sich zog, nass wie dieser war. „Zieh mich aus“, wisperte er und versuchte sich an einem Lächeln. „In rauen Zeiten wie diesen neige ich dazu mich anzupassen, was soll ich da noch großartig Zurückhaltung üben?“, …wenn er morgen schon tot sein konnte. Es war kein neuer Gedanke, aber er hatte ihn für wenige Monate, für zwei, drei Jahre in den Hintergrund gedrängt. Und er war älter geworden.
 

Na wenn das mal kein Angebot war… auch wenn es Omi im ersten Moment geradezu überfahren hatte.

Er lächelte warm und strich Nagi ein weiteres Mal über die noch kalte Haut, dieses Mal jedoch über die Wange, die sich so weich unter seine Hand anfühlte. Einen Moment verharrte er dort, dann wanderte er langsam nach unten und strich bewundernd über den weichen Flanell des Pyjamas, bevor er sich ruhig daran machte, einen Knopf nach dem anderen zu lösen. Schließlich schob er Nagi das Oberteil von den schmalen Schultern.

Er verfolgte dessen Weg nach unten und legte es schließlich schweigend beiseite. Nagi aß zu wenig… seine Rippen stachen deutlich hervor, sicherlich auch durch die letzten Tage bedingt… doch wenn das so weiterging, würde es den anderen an den Rand der Unterernährung treiben, wenn nicht sogar schon darüber hinaus.
 

„Sieh nicht zu genau hin“, sagte Nagi weich und merkwürdig distanziert. Er wollte keinen besorgten Blick aus dem kräftigen Blau sehen. Er hatte das Gefühl, geprüft und gemustert zu werden.
 

„Okay…“, lächelte Omi und schloss die Augen. Blind tasteten sich nun seine Finger über die Seiten des anderen zu der Pyjamahose, die er langsam hinuntergleiten ließ. Er ging mit ihr in die Hocke und streifte die Unterschenkel, bevor er Nagi bedeutete, erst den einen, dann den anderen Fuß zu heben, damit er die Hose von den Beinen lösen konnte. Alles blind.
 

Das brachte Nagi zum Schmunzeln. Er stieg aus der Hose heraus und übte leichten Zug an Omis Armen aus. Seine Lippen streiften die des anderen hauchzart und er zog ihn nahe an sich heran, sodass sie sich berührten, ihr Geschlecht in Kontakt mit der Haut des anderen kam.

„Verschließ nicht die Augen… sonst entgeht dir vielleicht etwas“, sagte er und sog tief den Duft von Omis Haut ein.
 

Blaue Augen taten Nagi ein weiteres Mal den Gefallen und Omi zwickte dem anderen spielerisch ins Ohrläppchen… doch, Strafe musste sein.

Wer sich nicht entscheiden konnte, der… musste eben fühlen.

Ebenso fühlen, wie er jetzt auch, denn Nagi ließ ihn garantiert nicht kalt, so aufgeputscht wie er von dem Auftrag noch war.

„Ich habe meine Augen überall, auch wenn sie geschlossen sind“, erwiderte er und zog Nagi in einen längeren, jedoch immer noch sanften Kuss.
 

Nagis Herz klopfte schneller und heftiger in seiner Brust als er die Sanftheit spürte mit der er empfangen wurde. Wärme und Sanftheit. Tröstlich.

Die Angst, dass er unbedacht, durch seine Verletztheit, seine Sorgen und auch seine Ängste seine Kräfte einsetzen könnte blieb im Hintergrund. Seine Hände fanden im Gegenteil wie von Selbst den unteren Rücken Omis, kosten über die Hüfte.

Langsam löste er sich und seine Augen hatten einen verträumt wässrigen Schimmer erhalten als er Omi anlächelte und in die Wanne kletterte. Schauer liefen über seine Haut und er seufzte wohlig als die Wärme des Wassers sich durch seinen ausgekühlten Zustand wie Hitze anfühlte.
 

Omi stieg Nagi hinterher und kuschelte sich eng an den anderen Jungen. Diese Wanne war groß genug für sie beide, sodass sie viel Platz hatten, doch Omi fühlte sich nun einfach mehr danach, Nagi einfach zu halten und in seinen Armen zu wissen… zu wissen, dass er dem anderen damit wenigstens etwas Trost spenden konnte.
 

Eine Weile war es still zwischen ihnen. Nagi hatte sich an Omi gelehnt und er genoss die einlullende Wärme um sie herum. Langsam kroch sie nämlich auch in ihn und vertrieb die Kälte die zuvor so vordergründig in ihm geherrscht hatte.

„Ich habe das Gefühl, dass wir nicht alles getan haben. Vielleicht ist er tatsächlich noch am Leben und… und…“

Nagi versagte die Stimme, er ließ den Satz ins Nichts gleiten, weil er keine Ahnung hatte, wie er ihn fortführen sollte.
 

Der blonde Junge seufzte leise. Er nahm sich Zeit mit der Antwort, die er in seinen Gedanken vorsichtig formuliert hatte.

„Was hast du denn alles getan, Nagi?“, fragte er ruhig und strich Nagi über die beinahe zierliche Schläfe.
 

Nagi richtete sich auf und umfasste seine angezogenen Beine mit einem Arm, den anderen brauchte er um mit dem Schaum der auf dem Wasser trieb zu spielen. Es beruhigte ihn, während er über ihre Vorgehensweise nachdachte.

„Als Brad anrief und mich bat zu suchen, dachte ich, es wäre keine schlechte Idee, mich in den Polizeirechner einzuhacken. Ich suchte nach gemeldeten Vorfällen, die unsere Zielperson betrafen und nach Ungereimtheiten. Nach jemandem, der aufgefunden wurde und dem man kein Gesicht zuordnen konnte.

Es dauerte etwas, bis ich tatsächlich einen Vorfall fand, der die Zielperson betraf. Ein Einbruch und einen Toten. Der Einbrecher wurde vom Sicherheitspersonal auf dem Anwesen gestellt. Als er sich nicht ergeben wollte und das Feuer eröffnet hatte, haben sie ihn erschossen. Soweit die Fakten. Der Fall wurde geschlossen und zu den Akten gelegt.“ Er schwieg für den Moment eines weiteren Gedankens.

„Ich holte mir die Akten der Gerichtsmedizin und fand dann schlussendlich die Bilder des Tatortes, samt der Bilder, die im Leichenschauhaus während der Obduktion gemacht wurden. Ich habe den Bericht gelesen. Ich habe die Narbe gesehen, die Ran ihm verpasst hat. Ich… diese Bilder sind echt, es war… Schuldig. Ich weiß nicht was ich noch tun soll.“
 

Ein Kuss fand seinen Weg auf Nagis Schläfe und Omi zog den anderen noch enger an sich. Schmerz zog sich in seiner Brust zu einem engen Knäuel zusammen und ließ ihn die Augen schließen.

„Das Einzige, was ihr noch machen könntet, wäre hinzufahren und euch selbst zu überzeugen, Nagi. Eindeutiger kann es nicht sein.“

Nein, das konnte es nicht. „Vor allen Dingen, da sie keinen Grund zum Lügen haben… aber es wäre schön, wenn er noch leben würde.“ Doch wie es bei den meisten Träumen so war… blieben sie Träume. Nichts als Schall und Rauch.
 

„Laut den Unterlagen ist er bereits eingeäschert worden.“ Nagis Stimme klang hohl und distanziert.

„Nein…“, fügte er an. „Lügen brauchen sie nicht. Es sei denn die Zielperson wusste von Schuldigs Fähigkeiten und davon, dass wir suchen würden. Aber was für Möglichkeiten haben wir im Moment, wenn diese… Angreifer… immun gegen unsere Fähigkeiten sind. Jei kann nicht so falsch liegen.“
 

Omi hätte Nagi so gerne gesagt, dass die Möglichkeit, Schuldig würde noch leben, bestünde. So gerne. Er hätte so gerne gehofft.

Denn die Möglichkeit einer Versuchsreihe bestand… Kritiker hatten Schuldig schließlich auch dafür gewollt.

„Warum sollten sie sich so einen Aufwand machen, solche Bilder zu erstellen, wenn sie euch ebenbürtig sind? Und euch anlocken könnten… euch andere? Sie… schneiden sich damit ins eigene Fleisch.“

Omi ließ sich einen Moment Zeit mit seinen Worten. „Ich denke nicht, dass er noch lebt, Nagi.“
 

Nagi nickte langsam, schloss seine Augen und schloss diesen letzten Satz in sich ein, als das, was er war. Die schmerzliche Realität.
 

o~
 

Wie still es doch war inmitten all diesen Schnees, inmitten der gedämpften Nachthelligkeit, wie Aya diese Nächte nannte, in denen es nicht richtig dunkel war, weil alles von weißem Pulver erhellt wurde.

Nur seine Schritte, die knirschten in den aufgetürmten Schichten und leiteten ihn zu der Stelle, an der er seit Jahren seine erste Schneeballschlacht ausgetragen hatte - mit Schuldig. Und wie viel Spaß sie gehabt hatten, sie beide, gelöst, auch wenn er getrauert hatte. Genauso wie jetzt.

Aya bückte sich und nahm Schnee in seine bloßen Hände auf, formte ihn zu einer Kugel. Vor seinem geistigen Auge tobte er jedoch hier Schuldig hinterher. Gedankenverloren warf er den Ball, der auf Leere traf und in Millionen kleiner Eiskristalle zersprang.
 

In diesem Augenblick schien es für Aya das einzig Richtige zu sein, sich hier in den Schnee zu legen und auf das Morgen zu warten, das es nicht geben würde, wenn er einmal die Augen schloss und sich der gefährlichen Müdigkeit ergab, die dem Erfrierungstod voranging.

Na, hast du schon Asyl dort oben gefunden?, fragte Aya zynisch in den Himmel. Oder bist du unten beim Teufel, Schuldig? Oder bist du etwa… gar nicht?

Eine schreckliche Vorstellung. Für Aya unvorstellbar. Nein… er wünschte Schuldig, dass er glücklich war… wo immer er war, wo immer er ohne ihn war. Wenn er ihn schon nicht begraben konnte, wenn er nichts hatte, an das er sich klammern konnte, dann musste er Schuldig doch so etwas wünschen, nicht wahr?
 

Ja, vielleicht hatte Schuldig wirklich Asyl im Paradies gefunden, während er hier unten kämpfen musste… um jeden einzelnen Tag. Aber vielleicht würde er bald folgen… oder in ein paar Jahren, wann auch immer seine Zeit gekommen war.
 

Aya starrte auf den Schnee, starrte auf seine Möglichkeit zu sterben, doch er konnte nicht. Er weinte um Schuldigs Verlust, aber er konnte nicht. Seine Beine trugen ihn zurück zu Banshee, zu der Verantwortung, die er noch hatte. Hinein in die Wohnung, in die stillen Räumlichkeiten, die im Halbdämmern vor ihm lagen.

Er machte sich nicht die Mühe, das Licht anzumachen, sondern stieg so aus seinem Mantel und seinen Stiefeln. Er sah, dass Crawford auf dem Bett anscheinend schlief… neben ihm eingerollt die kleine Verräterin, wie er sie einmal genannt hatte. Doch anscheinend wusste sie, an wen sie sich halten musste, damit sie nicht verhungerte.

Es war auch richtig so. Er war… unfähig dazu.
 

Einen Augenblick lang stand Aya dort und lauschte den ruhigen, tiefen Atemzügen des Orakels. Doch bevor er sich wegdrehen konnte… bevor er eine weitere Nacht auf der Couch verbringen konnte, flüsterte ihm eine Stimme zu, dass es sicherlich nicht schadete, noch einmal das Gefühl der Zweisamkeit zu genießen, das er so lange genossen hatte. Er musste sich nur auf seine Seite des Bettes legen und so tun, als wäre Crawford Schuldig. Schlafen konnte er sowieso nicht, also würde er früh genug wieder aufstehen, bevor der andere Mann wach würde.
 

Auch hier reagierten seine Füße schneller als sein Kopf und trugen ihn zum Bett, hießen ihn, sich darauf nieder zu lassen. Crawford lag mit dem Rücken zu ihm und Aya streckte sich lautlos auf der Matratze aus, seinen Blick auf die ausgeprägten Muskeln gerichtet. Nicht ganz so schmal wie Schuldigs, aber ein Mann… jemand, der bei ihm war.

Aya schloss die Augen, sog den Geruch des Amerikaners ein, der unweit von ihm lag. Er stellte sich vor, es wäre Schuldigs Geruch… er stellte sich vor, es wäre Schuldig… und nichts wäre passiert.
 

Gar nichts…
 

Gar…
 

… nichts…
 

o~
 

Ein leises Seufzen ließ ihn träge die Ohren spitzen. Dass es SEIN leises Seufzen war, wusste er erst nicht… einen Moment später vielleicht ja, nur jetzt, jetzt glitt er seicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins dahin und schmiegte sich enger an die Wärme spendende Quelle. Mit geschlossenen Augen hangelte er nach der halb nach unten gerutschten Decke und zog sie wieder richtig, bevor er ein weiteres Mal seine Nase an das definitiv menschliche Kissen bettete.

Es war schön hier… entspannend. Natürlich war es das… es war immer entspannend, mit Schuldig aufzuwachen, den Telepathen in seinen Armen zu halten und ihn zu beobachten, wenn er noch tief und fest schlief, dabei die verschiedensten Gesichter zog. Mal grimmig, mal entspannt… mal aufgeregt oder auch verspielt gefährlich.
 

Aya rückte noch etwas näher an Schuldig und hauchte ihm mit seinen Lippen einen Kuss auf, bevor er von der leichten Schlafphase in eine träge Wachphase glitt… einmal müßig die Augen öffnete, bevor er sie wieder schloss. Noch ein wenig Schuldig, noch ein wenig ruhen, noch ein wenig…
 

…Bilder von Schuldigs Leiche im Leichenschauhaus sehen…
 

Violette Augen öffneten sich ruckartig und Ayas Lippen wollten die Verzweiflung herauslassen, die in ihnen aufbrandete. Doch nichts, kein Laut, entkam ihnen…nur seine Augen quollen über vor Entsetzen, vor ERKENNEN.

Die menschliche Wärme, die er genossen hatte, war nicht Schuldig und dieses Wissen war schrecklicher als das über die Person des Mannes, die immer noch ihm abgewandt auf dem Bett lag und um die er im Schlaf - den er normalerweise nicht bekam, nur ausgerechnet jetzt - einen Arm geschlungen hatte. Die er nahe zu sich gezogen hatte… als Missverständnis.
 

Nein…
 

Es brauchte seine Zeit, bis Aya den Entschluss fassen konnte, Crawford loszulassen, denn er musste das bodenlose schwarze Loch in seiner Brust stopfen… notdürftig… damit er nicht erstickte.

Vorsichtig hob er seinen Arm und zog ihn zu sich.
 

Die Wärmequelle, die auch Brad in seinem Schlaf einen Ort der Ruhe und der albtraumfreien Zone bescherte, entzog sich ihm und er wurde unruhiger, drehte sich nach einer Weile um. Sein Arm fand das, was er suchte und zog es wieder zu sich. Seine Wange lehnte an seidigem Haar und seine Hand strich über die Wärme unter seiner Haut.
 

Die Enttäuschung, dass es nicht Schuldig war, der hier lag, wandelte sich nun wirklich innerhalb von Sekundenbruchteilen in etwas anderes. Ja, jetzt zum ersten Mal begehrte etwas in Aya auf, als er mit Nachdruck und ohne die Möglichkeit, sich ohne Gewalt aus den Fängen des Amerikaners zu befreien, an Crawfords warmen Körper gezogen wurde. Schlimmer als das… dieser Mann vereinnahmte ihn gänzlich, umhüllte ihn regelrecht und…
 

Eine Gänsehaut folgte den Fingerspuren des anderen Mannes wie Feuer, gegen das Aya sich wehrte. Er wollte nicht so nah sein, er wollte das nicht, das war Schuldigs Platz, das war Schuldigs Aufgabe… doch selbst er hatte Crawford irrtümlich mit dem Mann, den er liebte, verwechselt. Aber… aber…

Es fühlte sich gut an, das war das Schlimme. Trotz allem Widerwillen vermisste Aya die Wärme, die ihm hier zuteil wurde. Trotz allem… fand er diesen Geruch beruhigend, der über ihn strömte. Schon seit damals… seit er nicht ganz bei sich gewesen war und Crawford ihn aufgepäppelt hatte, bedeutete dieser Geruch für ihn Leben und Erleichterung.
 

Nur langsam driftete Brad in ein Stadium eines höheren Wachheitsgrades, wohl auch bedingt durch seine streichelnde Tätigkeit, die eine seiner Hände aufgenommen hatte. Er blinzelte und erinnerte sich, dass er doch nicht ganz so tief geschlafen hatte, denn ihm war bewusst, wen er hier im Arm hielt.

Er wunderte sich, natürlich. Es machte jedoch nichts. Es war wie es war und duldete keine düsteren, schweren Gedanken. Das Gefühl der Nähe würde ohnehin… auch ohne sein zutun … früher oder später aufhören.

Vielleicht konnte er noch eine Weile so tun, als hätte es Ran… und vor allem er selbst, in seinem kontrollierten Ich einfach nicht mitbekommen. Sein Unterarm legte sich in die Mitte des unteren Rückens und er hielt Ran sicher und warm an sich. Er ließ seine Augen wieder ruhen und sinnierte dieser Ruhe nach, der Zeit ohne Albträume.
 

Völlig bewegungslos lag Aya hier und versuchte sich einen Reim auf diese Emotionen zu machen, auf das, was in ihm schwelte und an ihm zerrte. In diesem Moment brandete alte Feindschaft zwischen ihnen auf… Hass, wenn man so wollte, der gleichzeitig besänftigt wurde durch das Wissen, nicht alleine zu sein… doch er konnte diese Nähe nicht genießen, es ging nicht. Es war Verrat an Schuldig… an Schuldigs Erbe, an seiner Erinnerung, an einfach allem, was…

Warum bist du nicht einfach zufrieden mit dem, was du hier bekommst?, fragte ihn eine innere Stimme und er hatte keine Antwort auf die Frage. Du hast geschlafen, zum ersten Mal seit Tagen und du bist nicht allein.

Aber es ist nicht der Richtige…

Es schien Aya überdeutlich, wo die Hände des anderen Mannes lagen. Dass sie ihn berührten.
 

Brad hatte das untrügliche Gefühl, dass der, den er im Arm hielt, wie ein erstarrtes Reh im Scheinwerferlicht war. Die Anspannung war deutlich zu fühlen und zeigte ihm, dass Ran wach war, der Herzschlag war zu schnell für ruhigen Schlaf und die Atmung stockte, als würde jeder Atemzug Brad wecken und über Ran herfallen lassen.

Langsam wie zufällig lockerte er seine Haltung und ließ seinen Arm locker liegen, nicht mehr an die Wärme gelegt. Er dämmerte noch immer, in der Zwischenwelt, wo Wissen aber auch Gleichgültigkeit stark waren. Er wollte, dass der andere sich entspannte.
 

„Es… ist noch zu früh zum Aufstehen“, sagte Aya in die Stille, die seine Stimme wie ein Donnerschlag durchbrach, gleichwohl sie leise war… sehr leise. Er war sich bewusst geworden, dass Crawford wach war und dass er sich von ihm entfernt hatte. Warum genau Aya das aber gesagt hatte… blieb ihm selbst in Rätsel. Er hätte auch aufstehen können, weggehen oder Crawford wie früher angiften können. Doch dann sowas.
 

„Hmmm“, murmelte Brad zustimmend in seinem dösigen Zustand. „Hattest du vor… aufzustehen?“ Er schmunzelte verschlafen und überdachte die Situation, doch irgendwie schien sein Gehirn noch halb zu schlafen, denn ihm fiel beim besten Willen nichts ein.
 

„Nein“, erwiderten Ayas Lippen, bevor er auch nur daran denken konnte, Einspruch zu erheben und sich die Worte zu verbieten. Ein großer Teil von ihm wollte es tatsächlich nicht.

„Ich bin müde… und hier ist es warm.“ Ja, das war es in der Tat, menschlich warm aber auch nicht gut. „Ich hätte auf der Couch schlafen sollen, dann wäre das nicht passiert.“
 

Nun die Augen gänzlich öffnend und nicht nur dösend wie eine Katze halb geschlossen, blickte Brad an Ran hinunter und ließ seinen Blick durch die Wohnung gleiten.

„Was… ist denn passiert?“, fragte er ehrlich interessiert und räusperte sich, da sein Hals trocken war. „Oder meinst du, dass wir die Nähe des anderen suchen, ist so frevelhaft, dass Schuldig damit nicht einverstanden gewesen wäre?“, kam es müde von Brad, aber auch nachdenklich. Seine Stimme war ähnlich leise wie die von Ran.

„Wir sind beide fertig, Ran. Gönn uns doch eine kleine Auszeit von dem üblichen ‚ich hasse dich, du hasst mich’ Gezanke.“
 

Aya starrte auf die ihm nahe Brust, auf die gut ausgebauten Muskeln. Auszeit von dem üblichen Gezanke? Frevelhafte Nähe?

Er wusste nicht, was er sagen sollte, wusste nicht, was er denken sollte, nein, er konnte nicht denken, er konnte sich nicht selbst fragen, was nun stimmte und was nicht. Alles in ihm war träge und undurchdringlich geworden… nichts wollte mehr so, wie er wollte. Nichts… aber absolut gar nichts. Er schaffte es ja noch nicht einmal auf Anhieb, dem anderen Mann endlich in die Augen zu sehen, aus Furcht davor, was er dort finden würde.
 

Doch was konnte dort schon sein? Hass? Nein. Verständnis? Ja… er glaubte, er fürchtete sich vor dem Verständnis. Vor der Trauer, die er dort sah und die doch selbst für ihn unerträglich war.

Trotzdem…. trotz allem sah er hoch, langsam zwar, aber sein Blick schweifte nach oben und heftete sich an Feindesaugen, die nicht mehr so feindselig waren.

Es schien, als würden verschiedene Dämme in ihm brechen, nun, da jemand ihm nahe war und ihn berührte. Wie immer, wenn er trauerte. Solange er für sich war, konnte er die Trauer in Schach halten, solange ging es. Doch nun…

„Eine Auszeit…“, wiederholte er nachdenklich und seine Augen wanderten zur Seite, zur willkommenen, kleinen Abwechslung, die sich hinter Crawford aufgemacht hatte, den Amerikaner zu erkunden. „Ja… vielleicht.“

Er atmete tief ein, so tief, wie er es mit dem Kloß im Hals konnte. Die erste Frage…

„Was passiert ist? Ich bin ganz unschicklich über dich hergefallen“, versuchte sich Aya in der schwachen Variante eines Witzes.
 

Brad stieß ein gequältes Lachen aus, da kleine Krallen sich an seiner Decke emporhangelten und seine Hüften traktierten. „Und die entsetzte Jungfrau war nur halb so entsetzt darüber, stimmt das?“ Er hatte bemerkt, dass Ran zunächst zu ihm sehen wollte, aber dann fast erleichtert weggesehen hatte. „Ran, siehst du mich kurz einmal an?“, bat er leise aber nachdrücklich. Fujimiya hatte sich immer noch nicht gerührt, keinen Zentimeter.
 

„Jungfrau?“, sah Aya nun wirklich ehrlich überrascht in diese braunen, ruhigen Augen, bevor er sich bewusst wurde, dass Crawford das nicht ernst gemeint hatte. Er sollte endlich anfangen zu denken… und nicht mehr vor sich hin leben. Zumindest für einen Moment… einen kleinen Augenblick.

Er hielt dem Blick des Amerikaners Stand und hob nun seine Hand, um Banshees Krallen aus dem ‚Fell’ Crawfords zu holen.
 

Die Finger seiner Hand, die noch immer an Rans Rücken lag, seit Minuten aber die seidige Textur der Haare erfühlte wickelten sich gerade um eine der Strähnen. Brad hob die linke Braue und sah spöttisch in das nun doch etwas ruhigere Violett. „Manx hat mir meine Unschuld genommen, mein lieber Zuhälter.“ Er kräuselte den Mund zu einem spöttischen Lächeln, auch wenn es eher das Lächeln eines Träumenden war, der sich gerade über einen verkehrt stehenden Baum lustig machte und im Schlaf lächelte. „Ich finde, damit ist ausreichend geklärt, wer hier von uns beiden der Zuhälter ist, nicht wahr?“
 

Aya staunte nicht schlecht, nein ehrlich gesagt war er vollkommen überfahren von den Worten des Amerikaners. Denn so spöttisch sie auch sein mochten, dass Manx und Crawford… die beiden… Manx hatte also den Preis eingefordert und Crawford ihn anscheinend auch noch bezahlt. Es war schwer zu glauben, doch sollte es Aya wundern? Nein, ihn wunderte nichts mehr.

Selbst der letzte Kommentar nicht mehr, der ihn sogar lächeln ließ. Er war der Zuhälter… ja, das stimmte.

„Das heißt dann, dass du mein Loverboy bist?“, fragte er eine Spur zu trocken, zu ernst und zu… überzeugt davon.
 

„Eine einmalige Angelegenheit.“

Brad schwieg ein Weilchen. „Es würde mich allerdings schon interessieren, wem du mich noch so andrehen würdest.“
 

Schuldig.

Schuldig würde er ihm andrehen.

Das war Ayas erster Gedanke, den er jedoch nicht aussprach. Wenn er noch einmal die Gelegenheit haben würde, wenn es noch einmal eine Möglichkeit gäbe, Schuldig wieder bei sich zu haben… er würde sie beide in den Hintern treten. Doch was das für ihn bedeuten würde… er wusste es nicht.

„Wie wäre es mit Omi? Nein, viel zu jung… Youji. Youji würde gut sein, dann hätte er endlich jemanden, der ihm mal ordentlich den Marsch bläst.“ Ein kleines Lächeln umspielte Ayas Lippen. Ja, das wäre in der Tat gut.
 

„Der Blonde?“, fragte Brad irritiert nach. „Der mit den Drähten?“

Wirklich nicht. Nicht sein Typ. Er hakte den Blonden in Gedanken ab. „Trotz allem bevorzuge ich Frauen, falls du auf diesen Gedanken noch nicht gekommen bist.“ Er lächelte hintergründig und stützte seinen Kopf auf seinen Arm.
 

„Wieso sollte ich?“, fragte Aya ehrlich verwundert nach. Alles, was er bisher über den Amerikaner gehört hatte, war in die männliche Richtung gegangen. Nun, fast alles. Die Frauen, die Schuldig für das Orakel aufreißen musste… doch Schuldig… war… ein Mann gewesen.

„Aber bei uns gibt es eine alte Oma, sie hat ständig ihre Katze auf dem Schoß, sie würde sich freuen, wenn sie einen jungen, kräftigen Mann hätte, der ihr helfen würde einzukaufen und all das.“
 

„Ich wusste gar nicht, dass ihr es euch auf ihrem Schoß gemütlich gemacht habt… ihr Kätzchen“, spielte er auf den Namen des Blumenladens und die Codenamen der Killer an.

„Aber danke für das ‚junger, kräftiger Mann’“, lachte er nun wirklich und zum ersten Mal seit Tagen drückte die Last der Trauer nicht ganz so stark in seinem Innern.
 

Aya schaffte es tatsächlich, indigniert die Nase zu rümpfen über den ersten Kommentar des anderen Mannes. Kätzchen… natürlich haftete ihm der Name noch an. Kätzchen im Haus. Oder auf dem Schoß, je nachdem.

Das Lachen erwärmte auch ihn etwas und Ayas Lippen zogen sich etwas auseinander. „Ich muss die Ware schließlich gut anpreisen, damit sie sich verkauft. Das Gleiche wie mit Blumen, ich sage es dir“, erwiderte er.
 

„Du hättest in die Wirtschaft gehen sollen.“

Die Dämmerung setzte ein, wie Brad eben bemerkte, da die Schatten an Kontur zunahmen.
 

„Hatte ich vor… irgendwann einmal.“ In einem anderen Leben, einer anderen Zeit. „Eine eigene Firma oder eine eigene Bar, irgendetwas in diese Richtung. Aber Killer? Nie. Hätte ich nie für möglich gehalten.“ Aya lachte leise, jedoch abwesend. Vorbei… es war alles vorbei.
 

„Es gibt kaum Kinder, die als Berufswunsch Killer angeben“, stimmte er zu. „Was willst du jetzt tun?“, fragte er nach einer kleinen Weile.
 

„Als ich mir das gewünscht habe, war ich kein Kind mehr…“, sinnierte Aya über die Zeit davor nach und über die Frage des Amerikaners. Was wollte er tun? Nichts. Er wollte weiter vor sich hin leben, im Bett liegen und betrauern, was er verloren hatte. Doch um welchen Preis? Damit er nachher aus dieser Wohnung geworfen wurde, nur weil er die allgemeinen Kosten nicht aufbringen konnte? Irgendwann wäre auch das Geld, das er noch auf seinem Konto hatte, weg und dann stand er auf der Straße.
 

Das wollte er nicht.

„Arbeiten gehen vermutlich. Irgendeine Arbeit, die sich ohne viel Umstand erledigen lässt… unten an den Häfen oder auf dem Bau. Es wird sich schon etwas finden lassen.“
 

Darüber musste Brad erst einmal nachdenken. Es war ihm egal, was der Mann machen würde und was nicht. Er konnte zum großen Teil nachvollziehen, dass dieser einen normalen Job bevorzugte, oder zumindest versuchen wollte, kein Killer mehr zu sein. Auch wenn Brad nicht glaubte, dass er es schaffen würde. ‚Einmal ein Killer… immer einer. Es steckt in dir.’, dachte er, während er die im Schatten liegenden Züge musterte.

Auf dem Bau oder an den Häfen?

Für Schuldig wäre es ein klarer Fall für ein deutliches Nein und es wäre wohl für Ran ein klarer Fall um noch deutlicher Ja zu brüllen. „Wann willst du anfangen zu suchen?“
 

„Wohl besser heute als morgen. Die Arbeitsmarktsituation sieht schlecht aus und jemand wie ich, ohne irgendetwas, das er im Alltagsleben sinnvoll nutzen kann, kann nicht darauf hoffen, dass ihm die Jobs nachgeschmissen werden.“ Aya zuckte leicht mit der Schulter. „Aber irgendetwas wird sich finden lassen, sobald ich einen gefälschten Ausweis habe.“ Er hatte die Nachdenklichkeit des anderen Mannes sehr wohl bemerkt, konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen. Über was dachte Crawford nach? Ihm einen Job zu besorgen? Ja… es war Teil ihres Deals gewesen, doch nein, das lehnte Aya ab. Hatte es abgelehnt, als Schuldig noch lebte…
 

„Ruh dich noch etwas aus, so wie du momentan aussiehst halten sie dich für krank oder nicht leistungsfähig. Gib dir noch ein paar Tage.“

Brads Stimme war sachlich. Er zog sich in der nächsten Bewegung die Decke weiter über die Hüfte, da sie etwas heruntergerutscht war.
 

Instinktiv folgte Aya dieser Bewegung…vielmehr folgten seine Augen dem anderen Mann, dessen Hand, die sich die Decke gegriffen hatte. Er hätte es zu schätzen gewusst, diesen Körper neben sich zu haben, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort und unter anderen Umständen.

Doch nicht so.

„Vermutlich hast du Recht...“, murmelte er und seine Augen kehrten zurück zum Bernstein des anderen. Er lächelte kurz. Also würde er sich weitere Tage hier einschließen und vor sich hindämmern, auf dass er eines Tages so weit sein würde.
 

„Das heißt nicht, dass das eine gute Ausrede ist um dich hier zu vergraben“, knurrte Brad das Lächeln des anderen an, erwiderte es aber ein klein wenig. „Ich kann das auch nicht. Also wirst du es auch nicht tun!“
 

Langsam wurde sich Aya wieder bewusst, warum genau er Wahrsager nicht mochte…

„Ich vergrabe mich nicht. Es gibt einfach… nichts anderes zu tun“, versuchte er sich zu rechtfertigen, einen Grund dafür zu finden, in der Wohnung zu bleiben und…ja, nichts zu tun.
 

Brad ließ es gelten. Er hätte es ebenso gemacht. Es war alles noch zu frisch, zu schmerzhaft.

Die Augen schließend überließ er sich dem Dösen und zog wortlos Ran näher, wie er ihn zuvor gehalten hatte, kommentierte es jedoch nicht.
 

Auch Aya sagte nichts dazu, war besänftigt durch ihr Gespräch. Seine Hände lagen zwar vor seiner Brust zwischen ihnen, eine letzte Barriere, doch er gestattete es sich, die Nähe des anderen Mannes anzunehmen und seine Stirn an dessen Wärme zu betten. Es war vielleicht… gar nicht mal so falsch, für den heutigen Tag. Ein wenig Trost, ein wenig… Zweisamkeit, damit er sich stärken konnte.
 

o~
 

Bradley Crawford genoss seinen Drink in der Bar, die über zwei Ebenen angelegt war. Es gab eine Lounge, einen ruhigen, stilistisch gehobenen Bereich im Gegensatz dazu einen trendy stylisch auf die minimalistische Pop-Kultur der Jungreichen getrimmten. Beide Bereiche hatten eine angenehme Atmosphäre und Brad kam früher hin und wieder mit Schuldig vorbei, wenn sie die Nase voll von Aufträgen oder auch Takatori hatten. Er war nun schon lange nicht mehr hier gewesen, doch den Besitzer kannte er gut.

Amerati Gabriele, ein Italiener, allerdings hatte er eine Japanerin geheiratet und sie leiteten diese Bar.
 

Sie war gut besucht und das Angenehme war, dass sich die Leute, die hier verkehrten sich nicht auf eine Altersschicht begrenzten. Gabriele saß neben ihm und sie unterhielten sich über die Bar, ihren Standort und die Gewinne, die sie abwarf. Yuki, seine Frau, stand hinter der Bar und beaufsichtigte die Bestellungen. Selbst war sie eine hervorragende Barmixerin.

„Geschäfte fürchte ich. Keine dramatischen Ereignisse“, erwiderte Brad gerade die Frage nach seiner Abwesenheit.

„Dann ist es kein Zufall, dass du dich hierher verirrt hast?“, lachte Gabriele.

„Nein. Ich suche einen Job.“

„Du?“ Gabriele sah ihn an als würde Brad flunkern.

Brad hielt sein smartes Lächeln bei und prostete dem anderen zu. „Nein. Du hast mich durchschaut. Es ist ein… Freund. Er ist in einer schwierigen Lage und braucht Beschäftigung.“
 

„Hmmm…“

Gabriele setzte sich etwas auf und stützte den Ellbogen auf den halbmondförmigen Ledersessel. Er tat so, als stände er vor einem großen Problem… einem Problem, dass er für sich annektiert zu haben schien. „Yuki erwartet unser zweites Kind“, murmelte er und rieb sich über den Dreitagebart. Sie hätte Entspannung nötig. Was sucht er denn für Arbeit?“

„Hinter der Bar, er hat… früher schon in einem Cafe oder Ähnlichem gearbeitet, ganz unerfahren ist er nicht.“
 

Gabriele nickte nachdenklich. „Schick ihn mir morgen vorbei.“ Dann fiel ihm noch etwas ein. „Er wird mir doch keine Schwierigkeiten machen?“

Brad verneinte. „Nein, er ist ein ordentlicher junger Mann.“

Gabriele lachte und seine Augen lächelten verschmitzt. Er würde abwarten und sehen, was Brad ihm ins Nest legte, erst dann würde er seine Meinung festigen. Aber er würde ihm eine Chance geben.

Sie unterhielten sich noch über verschiedenes, Gabrieles Nachwuchs, seine Pläne, die eine Expansion ins Auge fassten, nein schon gefasst hatten und seine Chancen. Sie hatten schon eine Zweigstelle der Bar gekauft und nun liefen die Renovierungen des Baus in die Endphase. In zwei Wochen sollte eingezogen und das neue Café eröffnet werden.
 

Brad ging um 23.00 Uhr zu seinem Wagen. Seine Stiefel knirschten unter dem Schnee, als er sein Mobiltelefon hervorholte und Rans Nummer wählte.
 

Das empfangende Mobiltelefon lag am anderen Ende der Stadt und dort am anderen Ende der Wohnung und so fiel Aya die Entscheidung schwer, ob er überhaupt aufstehen sollte um abzunehmen. Es war doch sicherlich nur Crawford oder jemand aus dem Blumenladen… er wollte jetzt einfach nicht. Doch das Klingeln gab nicht nach, verschwand nicht nach ein paar Mal wieder, sodass er viel Zeit hatte, das kleine Telefon in die Hand zu nehmen und abzuheben.

„Ja?“, meldete er sich, allerdings ohne den Biss dahinter, den er sonst immer getragen hatte. Er hatte sich erholt und auch gestärkt, doch wirklich elanreich war er nicht.
 

„Ich habe einen Job für dich. Du hast morgen ein Probearbeiten im ‚Smile’ hinter der Bar. Um 17.00 Uhr geht’s los. Ich hol dich morgen ab“, fing Brad sofort an ohne Begrüßung. Das war etwas, was sie sich bisher an Freundlichkeit verwehrt hatten.
 

Einen Job? So plötzlich?

Aya schwieg. Ich kann nicht, schrie es in ihm. Ich will hier nicht weg, ich will nicht unter Menschen, die fröhlich sind, ich will nicht weg von hier! Doch er blieb stumm, schob die Worte des Amerikaners hin und her. Es klang wie ein Befehl, einen Befehl, den er nicht wollte, gegen den er sich sträubte. Doch… war das nicht seine Chance, Geld zu verdienen? Es war ein Job, in einer Stadt wie Tokyo… Crawford hatte sich darum gekümmert, sein Versprechen eingelöst. Wollte er es?

„Was ist das ‚Smile’?“, fragte er schließlich nur.
 

„Ein Club, mit einem ruhigeren Teil, eine Mischung aus Café und Bar und dann noch einen Teil für die Jüngeren. Gabriele Amerati ist der Besitzer, er und seine Frau Yuki leiten das ‚Smile’. Er war mir noch einen Gefallen schuldig, könnte man sagen. Aber das ist nebensächlich. Seine Frau ist schwanger und sie könnte Hilfe gebrauchen. Sie stehen kurz vor einer Erweiterung und sie sind für jede Hilfe...“

Brad blieb plötzlich stehen, seine Hand krampfte sich, als ein glühender Schmerz durch seinen Kopf zog. Er stützte sich mit der Hand an einem Pfosten ab und keuchte, riss sich das Telefon vom Ohr und versuchte diese Bilder loszuwerden, die ihm die Sicht nahmen. Wieder starb Schuldig, wieder sah er alles genau…
 

Aya hatte das Keuchen am anderen Ende der Leitung genau gehört, den unterbrochenen Satz, alles… alles, was daraufhin deutete, dass irgendetwas mit dem Amerikaner war, etwas nicht stimmte.

„Crawford?“, fragte er nach, das Herz einen kleinen Schritt schneller schlagend. „Crawford, was ist los, Crawford?“, fragte er laut, nun in wirklicher Panik. Waren sie da… die, die auch Schuldig getötet hatten? Nein… nein…
 

Brad hörte diese Worte nicht, nur die Stimme, die besorgt klang. Durch die Schwaden des Kopfschmerzes verärgert zischend, brauchte er einige Sekunden um sich zu fangen.

Er hob das Telefon wieder ans Ohr.

„…sie können jede Hilfe gebrauchen. Das Gehalt kannst du mit ihnen morgen selbst aushandeln, wenn du dich gut machst“, schloss er seine Stimme etwas ermattet. Er richtete sich auf, hatte trotzdem das Gefühl, alles verschwommen zu sehen und schluckte. Wo verdammt war gleich sein Wagen?
 

„Ich werde sehen, was sich ergibt“, sagte Aya und lauschte auf alles, was nur in irgendeiner Weise verdächtig klang. Unruhig tigerte er auf und ab.

„Was ist passiert?“, wollte er schließlich wissen und seine Stimme klang fordernd vor Angst.
 

Brad horchte auf. „Warte“, schloss er seine Augen für einen Moment und blickte sich jetzt konzentrierter um, erst dann überquerte er die Straße um zu seinem Wagen zu kommen.

Er stieg ein und ließ den Motor an. „Ich… es geht schon wieder…“

Erneut schluckte er, da ihm heiß war, die Kopfschmerzen und die noch anhaltenden teilweise in einzelnen Fetzen noch vorhandenen Bilder spukten wie Geisterschiffe durch seinen Kopf.

„Wir sehen uns morgen…“
 

„Nein. Du kommst hierher“, sagte Aya aus dem ersten Impuls heraus. Das, was er da hörte, war nicht Crawford, sondern ein Mann, der gerade etwas Schreckliches erlebt hatte… irgendetwas und Aya machte es unruhig, nicht zu wissen, was es war. Er wollte nicht, dass Crawford da draußen herumirrte und womöglich noch etwas geschah.
 

Brad konnte nicht verhindern, dass er tief Luft holte und dies zu hören war am Ende der Leitung. Er wollte jetzt kein Gespräch um diese Visionen.

„Ich sage Nagi Bescheid und komme dann.“ Er legte auf und lehnte sich ermattet zurück. Wenigstes wusste er die Tabletten bei Schuldig und würde gleich eine nehmen, sobald er dort ankam.

Während er den Wagen anrollen ließ und aus der Parklücke fuhr, wählte er Nagis Nummer.
 


 

Dreißig Minuten und genau vierundvierzig Sekunden brauchte Crawford, um die Schlüsselkarte durch das Schloss zu ziehen und die Wohnung zu betreten, die Aya wie ein unruhiges Tier durchstreift hatte. Jetzt erst, als der andere Mann da war, wurde er sich der Anspannung bewusst, der er unterlegen hatte. Verdammt.

Stumm stand er am Fenster, den Blick sorgsam neutral gehalten, auch wenn er innerlich nach Antworten schrie.
 

Der so aufmerksam taxierte Amerikaner hatte sich wieder gefangen, nur der Geschmack der bitteren Galle, die ihm in den Rachen gestiegen war wollte nicht weichen.

Seine ersten Schritte führten ihn deshalb ins Badezimmer wo er sich erbrach und danach mit zitternden Händen am Waschbecken stand, sich nach einem langen Blick in den Spiegel Wasser ins Gesicht schaufelte.
 

Besagte Geräusche halfen Aya nicht wirklich, sich zu entspannen und so tigerte er in die Küche und setzte Wasser auf.

Es war, als wäre dieser kurze Anflug von Angst dafür gut gewesen, ihn aus seiner Starre zu holen, ihn mehr als nur reagieren zu lassen. Er handelte, wusste, was zu tun war. Und er würde Crawford hier nicht ohne einen beruhigenden Magentee weggehen lassen. Niemals.
 

Nach Minuten kam Brad wieder heraus, das Gesicht noch blass, aber sein Magen rebellierte nicht mehr ganz so sehr… er war schließlich leer.

Seine Schritte zunächst zur Garderobe gelenkt um sich seines Mantels und der Schuhe zu entledigen lockten ihn Geräusche zur Küche. Die Wohnung hatte nur wenige, beleuchtete Eckchen und er war froh darum.

„Kannst du mir eine Tablette heraus geben?“ Ran stand am nächsten an dem Fach. „Die gegen Kopfschmerzen.“ Seine Stimme war leise.
 

Zunächst aber stellte Aya Crawford wortlos die Tasse mit Tee vor die Nase. Der andere Mann roch nicht danach, getrunken zu haben… nichts in alkoholischer Form. Doch was hatte diese Übelkeit dann ausgelöst?

Weiterhin schweigend kramte er in den Medikamenten nach dem Kopfschmerzmittel und drückte eine Tablette aus der Schachtel. Es waren die, die Schuldig immer nahm, wenn es ihm zuviel wurde in seinem Kopf… genommen hatte.

„Trink den Tee. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass er den Magen beruhigt.“ Ja… in der Tat war es DER Tee, an den Aya sich allerdings nur schwach erinnerte. Es war damals das Labsal im Gegensatz zur Suppe gewesen.

Er reichte die Tablette weiter.
 

Und Brad nahm sie nach einem kurzen Seitenblick in besorgtes Violett an und schluckte sie mit Wasser hinunter. Er nahm den Tee an und ging an Ran vorbei zur Couch, ließ sich darauf nieder und stellte den Tee auf dem Glastisch ab. Um sie herum war dämmriges Licht, sein Gesicht lag im Schatten. „Warum sollte ich kommen?“
 

Ja… warum?

Weil ich mir Sorgen gemacht habe, lautete Ayas inoffizielle Antwort.

„Weil ich mit dir noch Dinge wegen morgen besprechen wollte“, die Offizielle. Er kam zu Crawford und ließ sich in einiger Entfernung von ihm nieder, hatte dabei ein Argusauge auf den Tee und dass er auch getrunken wurde.
 

Brad lehnte sich zurück und legte seinen Kopf müde auf die Rücklehne der Couch, wandte ihn zur Seite, sodass er Rans Silhouette sehen konnte. Es war still zwischen ihnen, als würde alles ruhen und Brad hatte das Gefühl, als würde er sich in einem Mausoleum befinden, von der Last der Erinnerung erdrückt.

„Deshalb hast du dich angehört, als würdest du dir Sorgen machen?“, sagte er ironisch und seufzte dann, nahm Rans Worte wie sie waren. „Das brauchst du nicht, die Leute sind in Ordnung.“ Er setzte sich wieder aufrechter und nahm die Tasse in die Hand, nahm einen vorsichtigen Schluck.

Er war noch zu heiß.
 

„Was ist los mit dir?“, fragte Aya nun wenig verschleiernd, dafür mit besagter Sorge in seiner Stimme, die er anscheinend sowieso nicht verstecken konnte. Er wollte nicht so tun, als würde ihm die Arbeit Sorgen bereiten, weil es nicht stimmte.

Der andere Mann sah schrecklich aus, bleich im Gesicht mit eingefallenen Augen und einem Schrecken hinter den beherrschten, braunen Augen, der nur allzu offensichtlich war.
 

Nach reiflicher Überlegung, die ungefähr fünf Minuten dauerte - nach Brads Zeitgefühl - nahm er wieder einen Schluck.

Er stand auf, ging zur Fensterfront. So fiel es ihm leichter darüber zu sprechen.

„An… als Schuldig starb… er… ich meine, willst du das hören?“, fragte er und nahm erneut einen tiefen Schluck, auch wenn es heiß war.
 

„Ja…“

Aya wollte alles hören, was mit Schuldig zu tun hatte, er wollte alles wissen, er wollte diesen Mann nicht vergessen, der alles für ihn bedeutet hatte und noch immer bedeutete. Dessen Verlust ihn unvollständig zurückließ.

„Was war mit Schuldig?“
 

Ein abgehaktes Nicken, dann fuhr Brad fort.

„Ich kam zu der Gruppe, die ihn umringt hatten. Er lag bereits auf dem Boden und er bewegte sich nicht. Ich dachte zunächst aus gutem Grund, dass er nur bewusstlos ist, dass sie ihn niedergeschlagen haben… oder…“ Er machte eine wütende Handbewegung. „… aus sonst einem harmloseren Grund.“

Sein Blick schweifte wie schon so oft von diesem Platz aus über die Stadt. „Wir hielten Verbindung während des Auftrages und ich konnte die Verbindung fühlen. Ich…weiß nicht ob du weißt, was ich meine. Ich wusste, dass er noch da ist. Ich konnte ihn noch spüren. Nicht direkt als Gefühl…

Wie dem auch sei. Er war noch am Leben zu diesem Zeitpunkt. Da tauchte der Boss auf, das Ziel. Er sah mich an, hatte aber die Waffe auf Schuldig gerichtet und trat über ihn. In genau diesem Moment sah ich den Boss so klar vor meinen Augen… aus Schuldigs Sicht. Er drückte ab. Ich sah ihn aus meinen Augen, wie er mich anlächelte und wie er Schuldig erschoss, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Stattdessen lächelte er mich an. Ich habe beide Sichtweisen in meinem Verstand und werde sie nicht los. Jedes Mal, wenn ich eine Vision empfangen sollte… sehe ich diese Bilder und es ist, als würde es wieder passieren. Wieder und wieder und wieder. Als hätte Schuldig mir das als Abschiedsgeschenk verpasst, bevor die Verbindung riss.“
 

Stille.

Absolut Stille.
 

Ayas Blickfeld verschwamm vor den Tränen, die in seinen Augen standen. Diesen… Leichnam zu sehen, zu wissen, dass Schuldig tot war, war die eine Sache. Zu erfahren, wie er gestorben war, eine ganz andere. Nervös fuhr sich Aya über die Stirn, durch die Haare, alles, nur nicht um daran denken zu müssen, wie… wie es aussehen musste. Wie es immer und immer wieder sein musste, es vor seinen eigenen Augen zu sehen.

Unfähig, irgendetwas zu sagen, starrte Aya Crawford an und… wusste, dass er für so etwas keinen Trost spenden konnte. Was gab es denn auch für einen Trost? Die Zeit heilt alle Wunden? Irgendwann würden diese Bilder vergessen werden?

Völliger Schwachsinn!

Schuldig war regelrecht hingerichtet worden, mit eiskalter Freude am Töten…
 

„Ich sehe momentan nichts… nur das. Als hätte dieser Moment meine Fähigkeit gelöscht oder überzeichnet sie.“ Brad verstummte erneut, wollte sie noch nicht umdrehen, da die Stille, die Geräusche hinter ihm wirkten, als würde sich dort etwas anbahnen, als würde dort die Büchse der Pandora kurz vor ihrer Öffnung stehen. Er spürte beinahe körperlich, wie es den anderen mitnahm oder… war es nur sein eigenes Inneres, das aufbegehrte?

Er presste die Lippen zusammen.
 

Erste Tränen tropften auf den Boden. Aya wollte sich die Ohren zuhalten, wollte nichts mehr hören, doch er wusste, dass er jetzt nicht aufhören konnte. Er musste… wissen… er musste dieses Wissen in sich bewahren. Alles davon. Denn das alles war Schuldig… auch das. Auch das Fehlen von Crawfords Gabe… dessen Folter.

Denn nichts anderes war das. Was konnte es für ein größeres Fegefeuer geben als diesen Moment wieder und wieder vor Augen zu sehen?

Eher unbewusst stand er auf, erhob sich zittrig.
 

Brad zwang den letzten Schluck Tee hinunter, verzog das Gesicht, nicht wegen des Geschmacks, eher wegen der Enge in seinem Hals. Er atmete tief ein und wandte sich um, wollte zur Küchenzeile, um weg… um nicht mehr… nicht mehr hier zu stehen. In Rans Nähe zu stehen.

Er brauchte ein Glas Wasser. Noch im Umdrehen sah er, dass Ran stand, an der Längsseite der Couch, dass dessen Gesicht im Licht der Stadt und Himmelskörper nass war. Er ertrug es nicht. Nicht jetzt.

Hör auf damit.

Die Tasse fand hart ihren Platz auf der Fensterbank und er kam die wenigen Schritte auf Ran zu. Leise wispernd, dann immer lauter werdend tat er das kund, was er schon dachte. Ran sollte aufhören damit. Mit diesen Tränen…

„Hör auf damit… hör… auf…“ Er war bei ihm angekommen, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn einmal, bevor er abrupt aufhörte und den Mann an sich zog, harsch und fast schon hastig, als hätte er Angst, dass er ihm sonst davon lief.

„Hör auf damit“, sagte er nun ruhiger, sanfter, die Stimme erstickt von dem seidigen Haar. Er lachte leise, verzweifelt, verstummte dann aber. „Ich will nicht sehen… was ich nicht kann.“
 

Aya zitterte in der Umarmung, der Umklammerung des größeren Mannes, die ihn hier gefangen hielt, während sich der andere gleichzeitig an ihm festhielt. Denn es war nichts anderes… die Suche nach Stärke, die Verzweiflung…

Aya biss sich auf die Lippen und zog Crawford an sich, doch nur um seine Schluchzer zu ersticken, die der Amerikaner nicht sehen wollte… konnte… wie schrecklich musste es sein, nicht weinen zu können, seiner Trauer kein Ventil zu geben?

Seine Hände verkrallten sich im Hemd des Amerikaners, streiften über Muskeln… über warme, menschliche Nähe, die Schuldig... in den letzten Momenten seines Lebens nicht vergönnt gewesen war.
 

Die Trauer zu sehen, war anders, als die Trauer zu fühlen, das Zittern an sich zu spüren, die Feuchte der Tränen, oder die Anspannung. „Er… hat meinen Namen gerufen… so oft und ich konnte nicht mehr zu ihm… ich konnte einfach nicht… und dann war alles so verdammt still… als hätte er etwas aus mir heraus gerissen.“
 

Worte, die Ayas Hörnerv verätzten, doch nicht nur ihn… alles, alles in Aya zog sich zusammen, alles in ihm scheute sich vor den Worten, vor dem Wissen und den Bildern, die diese einfachen Umschreibungen in ihm hervorriefen.

Aya konnte gar nicht mehr aufhören, es ging nicht. Er erstickte an seinen Tränen, an seiner Trauer, an dem, was Crawford fühlen musste, an allem. Er atmete ruckartig, nicht mehr regelmäßig… alles verschwamm vor seinen Augen. Komm zurück, flehte er in Gedanken, komm zurück, Schuldig… ich kann das nicht ohne dich… es geht nicht…
 

Rans Rücken wurde von einem Schluchzer erschüttert und Brad strich auf und ab, als hätte er das schon immer so gemacht, wenn Ran geweint hatte.

Die Geräusche durchbrachen die Stille wie Kanonenschläge und rissen sich wie Klauen in sein Inneres. Aber er war unfähig sich zu rühren, oder wegzugehen.
 

„Ich… kann… nicht… aufhören…“, würgte Aya erstickt hervor. Es ging nicht, er konnte nicht mehr. Nur noch kraftlos lehnte er an dem ihn stützenden Körper und wäre vermutlich heruntergeglitten, wenn Crawford ihn nicht gehalten hätte. Der Kloß in seinem Hals schnürte ihm den Atem ab und ließ ihn unter der Wucht des Schmerzes erzittern, der durch seinen Körper ging.
 

„Ist… gut“, wisperte Brad lediglich. Die schmale Gestalt, die an ihm lehnte zitterte immer noch.

„Komm… leg dich etwas hin… hmm?“ Er löste sich, aber nicht viel und führte Ran zum Bett. Er war nicht sicher, ob Ran das alles mitbekam, so heftig hatten ihn die Trauer und der Schmerz im Griff. Die Laute rauschten durch ihn und sein Gesicht war wie versteinert, auch wenn seine Augen eine andere Sprache sprachen.
 

Aya legte sich hin, zog die Beine zu sich auf die Matratze und starrte an die Decke. Er war nicht wirklich zurechnungsfähig, nicht wirklich ansprechbar. Alles war… ein Brei aus negativen Emotionen und Gedanken, derer er nicht Herr wurde.

Es dauerte etwas, bis er sich zur Seite drehte und sein Gesicht in den Kissen verbarg, das immer schwächer nach Schuldig selbst roch… immer und immer schwächer. Bald würde es ganz verschwunden sein…wie Schuldig selbst auch.
 

Brad setzte sich aufs Bett, stützte die Ellbogen auf und starrte auf die Dunkelheit um sie herum. Er verfluchte Schuldig. Er verwünschte ihn.

Für sein Sterben, für die Tatsache, dass er ihm Ran aufgebürdet hatte… für alles. Für diese Tränen und für seine fehlenden Visionen, für diese wiederkehrenden Bilder und dafür, dass er jetzt hier saß und sich nicht bewegen konnte.

Er sah sich selbst dort auf dem Bett sitzen, stumm und erstarrt, zeitlos. Als wenn eine Kamera um ihn herum auf einem Gleis fahren würde und ihn aus allen Blickwinkeln einfangen würde. Die Schatten im Raum, die Lichter der Stadt… ihre Trostlosigkeit.
 

Aya wusste nicht, ob sie Stunden hier verbrachten, jede mit seiner eigenen Unfähigkeit, mit Schuldigs Tod umzugehen. Darin waren sie sich beide einig und vielleicht vom Verständnis her, das sie für den anderen aufbrachten.

Der rothaarige Japaner war völlig fertig, zitterte, als er schließlich den Kopf hob und sich Crawford betrachtete, der neben ihm saß und nicht weinen konnte. Doch hieß das, dass er weniger trauerte?

Nein.

Ohne Worte schob sich Ayas Rechte zu Crawford und legte sich auf dessen Oberschenkel. Er war da, wollte er sagen. Er war da und verstand.
 

Warme Finger legten sich über diese Hand, sprachen die gleiche Sprache.

Brad saß lange dort, in dieser Haltung, fast als wäre er erstarrt.

Doch er lauschte auf sein Inneres, auf das wirre Ich, das sich eingestand so viele Fehler gemacht zu haben und nun… war er am Ende.
 

o~

Glasbrücke

~ Glasbrücke ~
 


 

Yuki bewegte sich sanft im Takt der Musik, strich sich mit einer Hand zärtlich über den schon runden Bauch. Von der anderen Seite des kleinen Universums in ihr wurde dagegen gearbeitet und sie lächelte. Sehr munter der Kleine, der in ihr heranwuchs.

Mit der anderen Hand mischte sie gerade den letzten Cocktail für die Bestellung und stellte ihn schließlich auf das Tablett, das von Soryu abgeholt wurde. Er zwinkerte ihr zu und sie lachte über die spielerische Anbiederung, als die Tür aufging und ein neuer Gast ihre Bar betrat.

Sie lächelte, als ihr Blick den seinen traf und er auf sie zukam. Nein… er war kein Gast, zumindest wirkte er nicht wie einer… sondern wie jemand, der genau wusste, zu wem er wollte.

„Hi!“, grüßte sie, als er bei ihr ankam und ihr zunickte. Sein Gesicht war neutral gehalten, eigentlich kalt, konnte man sagen - völlig emotionslos.
 

„Guten Tag, Amerati-san. Mein Name ist Fujimiya Ran.“ Seine Stimme war tief und ebenso gelassen und ruhig wie sein Gesichtsausdruck, doch irgendetwas an ihm sprach sofort von Leid. Vielleicht waren es auch einfach die eingefallenen Wangen und die leichten Augenringe, die sie erspähen konnte.

Das war also der Mann, den Crawford-san ihnen empfohlen hatte. Der Mann mit dem dunklen Geheimnis, der ihnen aber angeblich keine Schwierigkeiten machen würde. Yuki lächelte und putzte sich mit einem Handtuch die Finger ab, streckte ihm ganz westlich die Hand entgegen, die er annahm und drückte. Seine Finger waren kalt, der Händedruck angespannt.

„Freut mich, Fujimiya-san. Sie sind also derjenige, der uns empfohlen wurde…“ Er nickte leicht, fast verunsichert, aber nur fast. Auf den ersten Blick schien es so, doch auf den zweiten war er vollkommen in sich selbst verankert, abgeschottet von ihnen allen hier.
 

„Lassen Sie uns an einen der ungestörten Tische setzen, damit wir reden können“, nickte sie in Richtung des ruhigen Bereiches, wo um diese Uhrzeit noch gar nichts los war. „Yamato, würdest du dich eben um die Theke kümmern?“, rief sie leise nach hinten und ein lautes „Ja!“ schallte zurück.

„Möchten Sie etwas trinken, Fujimiya-san?“, fragte sie freundlich, doch der schweigsame Mann verneinte. Sehr zurückhaltend, der Gute.
 

Sie führte ihn an einen der Tische, von wo aus sie die Bar gut überblicken konnte und ließ sich nieder.

„Erzählen Sie mir etwas über sich, Fujimiya-san“, forderte sie sanft und beobachtete seine Körpersprache, sein gesamtes, äußerst gepflegtes Erscheinungsbild, als er einen Moment lang nachdachte. Diese Haare… die langen, sündig roten Haare. Welch ein Traum für die Frauenwelt er doch war. Ein Publikumsmagnet, sagte die Pragmatin in ihr. Er würde den Umsatz steigern, sollten sie ihn einstellen.
 

„Ich habe früher schon einmal in der Gastronomie gearbeitet, als ich sechzehn war. Gekellnert, hinter der Bar, Küche… alles. Danach war ich als Florist tätig. Das war es eigentlich, was meine Qualifikationen angeht“, lächelte er entschuldigend.

„Wie alt sind Sie denn?“, fragte Yuki. Nichts Persönliches, der Mann hatte nichts Persönliches über sich erzählt.

„Dreiundzwanzig.“
 

Yuki hob erstaunt ihre Augenbraue. So jung noch? Das hätte sie nicht geschätzt!

„Was treibt Sie denn wieder zurück in die Gastronomiegefilde?“, fragte sie schließlich und sah ihn lächeln. Es war ein distanziertes Lächeln.

„Ich bin auf der Suche nach Arbeit und Crawford-san hatte mir gesagt, ich solle heute bei Ihnen vorsprechen, da Sie momentan Bedarf an Arbeitskräften hätten.“

Ein seltsamer, junger Mann, aber nicht unsympathisch. Gerade weil er schweigsam war, es auf den Punkt brachte.

„In der Tat… wir suchen, allerdings erst dann, wenn wir umgezogen sind und erweitert haben. Das, was ich Ihnen anbieten kann, ist ein Probearbeiten. Sie lernen alle Bereiche unserer Bar kennen, Theke, Tablett und Küche und spezialisieren sich dann auf das, was Ihnen am Besten gefällt, sofern Sie und wir auch mit Ihrer Arbeit hier zufrieden sind. Na, wie klingt das für Sie?“ Sie lächelte schelmisch und erntete für einen kleinen Augenblick ein ehrliches Gegenstück dazu.
 

„Ich würde gerne hier arbeiten“, erwiderte er und sie nickte, streckte ihm die Hand entgegen.

„Dann machen Sie uns und ihrem Fürsprecher keine Schande!“, scherzte sie und er schüttelte den Kopf.

„Mein Name ist übrigens Yuki. Darf ich Ran zu dir sagen?“

Er nickte. „Ja… Ran. Freut mich, Yuki.“
 

Es freute ihn nicht, es war ihm egal, das sah sie. Seine Aufmerksamkeit war bei etwas anderem, das auch ihn offenbar bedrückte. Was auch immer es war.
 

Yuki ließ sich Zeit, ihn beim Arbeiten zu beobachten. Wie er nach Anleitung die Cocktails mischte, die als Bestellung hereinkamen. Er war konzentriert und fähig, seine Gedanken hinter seiner Arbeit zu verstecken, das sah sie. Auch wenn er Abstand hielt, höflichen Abstand.

Sie beschloss, dass er noch die anderen Stationen durchlaufen sollte, bevor sie sich endgültig entschieden, doch hinter der Theke war er überzeugend. Ruhig, ausgeglichen, wenig stressanfällig, auch als es voller wurde.
 


 

o~
 


 

Schlussendlich hatte Brad Ran in der Nähe der Bar abgesetzt und dieser war zu dem Probearbeiten gegangen. Es war bereits ein paar Tage her, seit Ran dort zu Arbeiten angefangen hatte und Brad saß auf der Couch und wartete auf den Mann. Eigentlich hatte er schon längst wieder zuhause sein wollen. Aber ihn zog es nicht dorthin, nicht heute. Er hatte gekocht und wartete.

Da Ran nun Beschäftigung hatte, war Brad nicht mehr jeden Tag gekommen, hatte sich seit drei Tagen nur telefonisch nach Rans Befinden und dessen Job erkundigt.
 

Eben jener stand nun im Aufzug, der ihn nach oben fuhr, und hatte die Stirn an das kühle Metall gelehnt. So sehr es ihn auch ablenkte und davor bewahrte, verrückt vor Einsamkeit und Verzweiflung zu werden, so anstrengend war es, eben dieses Gefühl zu unterdrücken und zu funktionieren, als würde es ihm gut gehen. Höflich sein, arbeiten, sich konzentrieren. Er schaffte es, ohne Frage, doch der Preis dafür war hoch.
 

Aya war körperlich und geistig erschöpft und an seinen Grenzen. Morgen noch einen Tag in der Küche, dann hatte er das Probearbeiten hinter sich. Es war gut gelaufen, Yuki war zufrieden, ebenso wie ihr Mann. Wenn er wollte, konnte er bleiben. Wollte er?

Eigentlich wollte er sich verkriechen, doch er musste das Geld aufbringen für Schuldigs Erbe, für die Wohnung. Er musste sich um Banshee kümmern.
 

Auch wenn die hohe Brücke heute verführerisch war…heute hatte er hinter der Brüstung gestanden, die Straße in seinem Rücken und somit auch die unzähligen Autos, die an ihm vorbei fuhren. Keiner hatte angehalten, keiner hatte Notiz davon genommen, dass er dort stand. Es war der Welt egal, wer starb. Nur ihm war es nicht egal gewesen, dass ihm alle Lieben wegstarben. Aya hatte hinuntergeschaut und geschwankt in dem Wind, hatte die Augen geschlossen und sich vorgestellt, wie er fliegen würde und innerhalb von wenigen Sekunden alles vorbei sein würde.

Sein ganzes Leben.

Doch sein Leben trug auch Verantwortung. Verantwortung für ihr ‚Kind’, für die kleine, rotfellige Katze, die nun von ihm abhängig war.

Für Banshee musste er überleben.

Es war der Grund gewesen, warum Aya nach Stunden schließlich von der Brüstung gestiegen war und beschlossen hatte, sich einem weiteren Tag zu stellen, der ihm nichts außer Schmerz bringen würde… Schmerz und Arbeit, die ihn von dem Schmerz ablenkte.
 

Aya öffnete die Augen, als sich sein Ausstieg mit einem leisen Ping ankündigte. Er verließ den Aufzug und zog die Karte durch den Leser. Sobald er die Tür geöffnet hatte, schlug ihm ein verführerischer Essensgeruch entgegen. Crawford war also da.

Schweigend schloss er die Tür hinter sich und entledigte sich seines Mantels und seiner Schuhe.

„Hallo“, grüßte er den anderen Mann, der anscheinend schon auf ihn gewartet hatte.
 

Brad hatte sich den Gruß erwidernd erhoben und entließ Banshee gerade auf ihre Pfoten. Er hatte die Hand in einer Hosentasche und das Hemd fiel locker darüber, als er um die Sitzgruppe herumging.

Er hatte nicht vor, den Mann mit Fragen zu überhäufen, dennoch war er neugierig.
 

Doch seine Neugier wurde noch nicht befriedigt, da sich Aya auf die Couch niederließ, die Beine über die Lehne baumeln ließ und sich erschöpft ein Kissen über den Kopf stülpte. Selige Ruhe… hier war alles in Ordnung, hier konnte er in sich selbst fliehen. Oder zur Präsenz des Amerikaners… die ihm sagte, dass er sich nicht umbringen durfte.
 

Es war die erste… erste menschliche Geste, die er an Ran seit Schuldigs Tod zu sehen bekam, die erste Geste der Normalität. Und sie reizte ihn zu einem Lachen, welches jedoch nur leise über seine Lippen kam. Banshee sprang auf die Couch zu dem daniederliegenden Mann, in seinem ganzen Elend und wollte Aufmerksamkeit. Doch die Gestalt bewegte sich kaum noch. „Lass das besser, Banshee, ich glaube er kann nicht einmal mehr den kleinen Finger rühren.“
 

„Das stimmt sogar. Den habe ich mir verstaucht, als ich am Kühlschrank hängen geblieben bin“, grimmte es unter dem Kissen, bevor dieses zu Banshees Schrecken hochgerissen und zu Boden geworfen wurde.

Aya wandte unter großen Anstrengungen den Kopf zur Seite und erblickte zwei große, grüne Augen, die Zärtlichkeit verlangten und neugierig waren. Da war er also… sein Grund zum Weiterleben.

Er lächelte leicht und zog sie zu sich, kraulte sie gehorsam. Sein Blick wanderte zu Crawford.

„Du hast gekocht?“, fragte er, als ob es nicht offensichtlich wäre, dass nicht der Weihnachtsmann das Essen gekocht hatte, sondern Crawford. Auch nicht Schuldig… Crawford.
 

Brad enthob sich einer Antwort, die das offensichtliche bestätigte und hob lediglich eine Braue als wollte er fragen, ob das nicht zu riechen war. „Du sagst jetzt aber nicht, dass du keinen Hunger hast?“, schwang eine kleine Drohung mit die dadurch verstärkt wurde, dass Brad stand und auf Ran herniederblickte.
 

Der angestrengt zu ihm hochschielte und dann die Augen schloss. Nein, keinen Hunger hatte er nicht. Ganz und gar nicht. Er hatte Hunger und auch Appetit.

Brummend grub er seinen Kopf ein letztes Mal erfolglos in den Stoff des Sofas, bevor er sich Zentimeter für Zentimeter hochschraubte und sich wie ein alter Mann vor Brad stellte, sich den Rücken haltend.

„Sklaventreiber“, verließ es murmelnd seine Lippen, bevor er zum Küchenbereich wankte.
 

„Nur zu deinem Wohl“, nickte Brad einmal und konnte sich ein gemeines Lächeln, eines der alten Versionen, nicht verkneifen. Er folgte dem alten gebrechlichen Herrn. „Du hast die letzten Tage nicht viel erzählt…“, fing er an um Ran zu entlocken, ob er sich entschieden hatte dort weiter zu arbeiten oder nicht.
 

Dass es zu seinem Wohl war, sah Aya spätestens jetzt, als er das Essen aus dem Ofen nahm, wo es warmgehalten wurde und es auf den Tisch stellte. Crawford kochte sehr viel westlich, so auch heute. Es gab anscheinend etwas Europäisches, wie Aya es einordnen würde. Viel Fleisch, viele Ballaststoffe, damit er auch ja nicht von seinem eigenen Fleisch fiel. Er lud ihnen beiden Kartoffeln auf den Teller, dazu das Gemüse und das mit Fleisch umrollte Hackfleisch. Doppelt Fleisch… reine Verschwendung, aber er aß es.

Er schenkte ihnen Wasser ein und seufzte leise.

„Es ist… nett da“, entschied er schließlich mit der Wahrheit heraus zu rücken. „Sehr anstrengend, aber nett. Sie sind beide in Ordnung, die Arbeit ist okay. Viel zu tun, viele Gäste. Anfangen kann ich, wenn sie umgezogen sind.“
 

„Gehst du morgen noch einmal hin? Wie lange geht dieses Probearbeiten?“ Brad quetschte ihn nach allen Regeln der Kunst aus. Schließlich musste er wissen wo sich seine Leute herum…

Nein. Ran gehörte nicht dazu. Nun vielleicht doch… am Rande… vorläufig.

Und wenn sie umziehen würden, dann wäre es Zeit, den Kontakt abzubrechen.
 

„Bis morgen noch. Dann entscheidet sich auch endgültig, ob die Beiden mich haben wollen. Dann habe ich erst einmal Pause.“ Leerlauf wieder. Leerlauf, in dem er nicht wusste, was er machen sollte… vermutlich würde er wieder den ganzen Tag hier verbringen und Erinnerungen nachhängen, die er nun einen guten Teil des Tages ausblenden musste um sich zu fokussieren.

Um sich auf das Leben zu fokussieren.

Aya griff sich Gabel und Messer und rückte den Fleischbergen auf den Leib. Westliches Essen… kein Wunder, dass sie alle so aussahen, wie Crawford und… Schuldig, breitschultrig, groß und muskulös...nicht so wie Japaner eben.

„Wie sieht es bei dir aus? Hast du schon Vorbereitungen getroffen?“
 

„Für was?“

Brad sah von seinem Essen auf, er war in Gedanken gewesen und hatte den Faden verloren.

Was ihm erst seit kurzem etwas häufiger passierte.
 

„Für… eure Sicherheit“, erwiderte Aya ausweichend und kaute ausgiebig auf dem Stück Fleisch, bevor er es schluckte. Für euren Umzug, war wohl treffender, doch das wollte er nicht sagen… denn dann war er hier ganz alleine.
 

„Ja, ich kappe alle Verbindungen, die in Frage kämen, so lautlos und gründlich, als hätte es sie nie gegeben.“ Er lachte freudlos auf. „Unsere Konten sind gesichert. In ein paar Wochen… können wir damit abschließen.“

Sein Blick zuvor noch auf Ran gerichtet, fiel zur Seite ab und er nippte an dem Glas Wein, welches sie sich gönnten. Es diente nicht zur Feier… einfach nur um ihnen etwas Gutes zu tun. Wenigstens einmal.
 

„Hm.“

Damit abschließen? Mit diesem Leben hier? Ja, dann war es weg, das Schreckgespenst Schwarz und sie würden sich vermutlich nie wieder begegnen. Sie würden von heute auf morgen verschwinden, wie es Schuldig getan hatte.

„Dann habe ich ja niemanden mehr, der mich bekocht“, erwiderte Aya scherzhaft, jedoch war es bitterer Ernst. Vermutlich würde er das noch nicht einmal selbst tun.
 

Brad war die nächsten Momente still. Er hatte sich in der Farbe des Weins verloren…

„Würdest du mitkommen?“, schlich sich dann diese Frage aus einem Gedankenspiel in die ausgesprochene Realität.
 

Mitkommen?

Aya sah überrascht auf. Verständnislos suchten seine Augen die des Orakels, bevor er begriff. Mitkommen… mit Schwarz. Schuldigs Familie.

Doch dann hieß es, all das hier aufzugeben. Sein Team, seine Freunde. Diese Wohnung, diese Erinnerungen, all das zugunsten eines neuen Lebens.

„Ich würde… weiß es nicht. Kann ich das alles hier aufgeben?“
 

„Die Frage kann ich dir nicht beantworten“, sagte Brad langsam.

„Du stehst vor der gleichen Wahl wie damals, als du dich zwischen Schuldig und deinen Freunden entscheiden musstest.“ Seine hellbraunen Iriden bohrten sich in die violetten seines Gegenübers. „Diesmal jedoch gibt es keinen Kompromiss, fürchte ich, Ran“, sagte er sanft. Er musste sein Team schützen, dafür konnte er nicht mehr hier bleiben.
 

Ja… das wusste auch Aya und es machte ihm die Wahl nicht leichter. Wie denn auch?

Alles in ihm sträubte sich, seine Freunde aufzugeben… Youji, Ken und Omi hinter sich zu lassen, denn sie waren nun mal seine eigene, kleine Familie.

Selbst wenn der Gedanke an einen Neuanfang verführerisch war, an ein Vergessen, so konnte er das nicht zulassen. Er würde hier bleiben, würde sich erinnern und Schuldigs Andenken aufbewahren… würde für seine Freunde und für Banshee da sein. Hier in Tokyo. Zumindest klang so der Plan…doch gute Vorsätze waren da um gebrochen zu werden…das Erlebnis heute auf der Brücke hatte es ihm gezeigt.

„Dann werde ich mich für sie entscheiden“, erwiderte er schließlich und fühlte einen Stich, den er eigentlich nicht fühlen sollte. „Ich kann sie nicht alleine lassen.“
 

„Dann sprechen wir nicht mehr darüber“, sagte Brad schlicht, aber nicht abweisend. Der andere Mann konnte nicht alles haben. Das konnte niemand. Strebte man nach dem Einen, musste man auf etwas anderes verzichten.
 

Aya nickte und widmete sich schweigend seinem Essen, das er gewohnt Bissen für Bissen hinunterwürgte. Banshee hatte sich derweil auf seinen Schoß gesetzt und sah fasziniert zu, wie eine Gabel nach der anderen in seinem Mund verschwand. Kleine, schamlose Bettlerin war sie.

Es dauerte, bis sie fertig waren und der Nachtisch vor Aya stand, den er schweigend maß. Noch mehr, das er essen sollte, dabei war ihm schon schlecht. Doch dieses westliche, undefinierbare Essen, das Crawford gekocht hatte - für ihn wohlgemerkt - sah einfach zu gut aus.
 

„Wirst du die… Wohnung behalten?“ Ein kleines Zögern, ein Abweichen von Brads sonstiger klarer und kühler Sprachbegabung, die selten und in wirklich nur extremen Situationen beeinträchtigt wurde. Vielleicht war dieser Tage eine solche Situation eingetreten…

Er bemerkte es und er mochte es nicht, wenn er zögerte, wenn er Schwäche zeigte und sie gesehen wurde. Aber das war… dieser Tage nebensächlich, nicht wahr?

Brad nahm einen weiteren Schluck des Rotweins. Es wunderte ihn, dass er ausgerechnet jetzt wieder damit anfing zu denken, dass dieses kleine Zögern ein Sprachproblem mit sich bringen würde. Vielleicht lag es daran, dass Schuldigs Tod für ihn ebenso einschneidend schien wie damals, als er plötzlich Visionen der Zukunft bekam. Der unmittelbaren Zukunft.

Es gab Zeiten in seiner Kindheit, in denen er gar nicht gesprochen hatte. Kinderpsychologen hatten seine wahre Freude mit ihm. Im Gegensatz zu Schuldig blieb ihm jedoch die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung erspart. Er schwieg.

Und hatte eine gute Entscheidung getroffen zu schweigen. Was er heute noch tat.
 

„Wenn ich dafür aufkommen kann, ja“, erwiderte Aya mit dem wohlbekannten Stich des sengenden Schmerzes in seiner Brust. „Ich möchte Schuldigs… Lebensraum… nicht einfach so aufgeben.“ Auch wenn dies nur leere Hüllen waren, Geister der Vergangenheit, die er nicht loslassen wollte, weil er nicht akzeptieren konnte, dass es den Telepathen nicht mehr gab. Dass er schon wieder jemanden verloren hatte, den er liebte. Es war noch zu frisch.
 

Brads Blick veränderte sich für Augenblicke, in denen er eher wirkte wie der eines Raubvogels.

„Glaubst du, das ist hilfreich?“, fragte er und seine Stimme war neutral gehalten, nur ein wenig Wärme kräuselte sich an den Rändern seiner Mundwinkel und seines Blickes, der sich beruhigt hatte.
 

Ein Blick in die Augen des Amerikaners brachte ihm die Stärke, die er benötigte, weil er sie selbst nicht hatte.

„Nein, ist es nicht, aber es ist das Einzige, was mir von Schuldig noch geblieben ist. Soll ich auch noch das zerstören, wo er schon nicht mehr existiert?“, fragte er leise, den Blick mittlerweile auf die Tischplatte gerichtet.
 

Brads Blick glitt zur Seite, schweifte über die Gestalt, über das Gesicht, das trotz der blanken Maske kummervoll erschien. Oder war es sein eigener Kummer, den er in Rans Gesicht zu sehen glaubte oder zu sehen hoffte?

„Das ist masochistisch“, erwiderte er leise.
 

„Ja, das ist es“, bestätigte Aya schlicht. Er wusste es, was sollte er es verneinen. Er wusste, dass es ihm über lange Zeit nur Schmerz bringen würde, doch das würde ihn auch an Schuldig erinnern… und vielleicht daran, dass er nicht noch einmal auf den Gedanken kam, sich enger zu binden. Vielleicht war es auch das, in einem verdrehten, abstrusen Sinn.
 

Damit war das Frage- und Antwortspielchen zu Ende. Brad sagte nichts mehr. Er aß den Nachtisch und leerte sein Weinglas.

Es änderte sich selten etwas in kurzer Zeit. Vor allem nicht zwischen ihnen und vor allem auch nicht ihre Art zu kommunizieren. Einer stellte die Fragen und der andere beantwortete sie. Wie bei einem Bullen und dem potentiellen Verdächtigen.
 

Der potentielle Verdächtige machte jedoch keine weitere Aussage, den ganzen Abend über nicht. Er war froh, nicht alleine zu sein, die ruhige Präsenz des Amerikaners an seiner Seite zu haben, doch reden konnte er nicht. Dafür war der Kloß in seinem Hals viel zu groß. Er sah lieber zu, wie Banshee sich schamlos an Crawford anbiederte und diesen doch tatsächlich verleiten konnte, ihr etwas seiner Aufmerksamkeit zu schenken. Wie ihre ‚Mama’ auch schon… das hatte sie wohl ‚geerbt’.

Draußen schneite es zwar nicht mehr, dafür waberte aber dichter Nebel über der Stadt. Ayas Blick glitt zum Fernseher, wo irgendein Wirtschaftsmagazin lief, das sie beide interessierte, dem sie aber keine Beachtung schenkten; oder zumindest nur halb.
 

Aya wurde sich bewusst, dass er heute Nacht hier nicht alleine schlafen wollte. Nicht, wenn er das Gefühl hatte, dass Schwarz bald schon weg sein würden und er niemanden mehr hier hatte, der irgendeine Verbindung zu Schuldig pflegte.

Außerdem… konnte er schlafen, wenn Crawford an seiner Seite war. Etwas, das ihm die letzten Tage nicht vergönnt war, weil er sich einfach nicht dazu zwingen konnte, die Augen zu schließen und zu schlafen… nur um dann von Schuldig zu träumen, von den Bildern aus dem Leichenschauhaus. Oder einen glücklichen Traum zu träumen und danach festzustellen, dass der andere Mann nicht mehr lebte und dass alles eine grausame Illusion gewesen war.
 

„Bleibst du heute Nacht hier?“, fragte Aya zum Fernseher gewandt, den er erst nach ein paar Augenblicken verließ. Warum sollte er drumherumreden?
 

Der gleiche Pragmatismus gab ihm die Antwort: „Ja. Ich habe Nagi schon Bescheid gegeben.“ Brads Finger fuhren durch das weiche Fell und spürten den schmalen Körper, das stete Heben und Senken des Leibes bei jedem Atemzug. Eine Hand voller Leben, so vertrauensselig und anschmiegsam. Kurz verlor er sich in diesen Gedanken, sein Augenmerk auf Banshee gelenkt, die seine Berührungen genoss.
 

Eine Welle der Erleichterung durchwusch Aya, zeigte sich jedoch nicht nach außen hin. Sein Blick glitt über die sonst verhasste Gestalt, anhand derer sich jedoch nichts in ihm regte im Moment. Noch nicht einmal der Vorwurf, er habe Schuldig auf dem Gewissen… weil es nicht stimmte? Nein… weil er sah, wie Crawford darunter litt.

„Ich gehe schon mal vor“, sagte er schlicht und erhob sich wie ein alter Mann von der Couch, auf der er gesessen hatte. Sein Körper schmerzte, unter anderem auch vor Erschöpfung und Schlafmangel, größtenteils jedoch von der Arbeit. Doch noch hielt er durch… einen Tag gab es noch zu überstehen, dann konnte er sich für die nächsten Wochen verkriechen, bevor es dann richtig losgehen würde.
 

Das klang, als wären sie ein altes Ehepaar, wie aus einem dieser Filme aus früheren Zeiten. Schaltest du das Licht aus, Schatz? Ich geh schon mal vor.

Brad blieb noch sitzen. Er würde… bevor er das Licht ausschaltete noch schnell ins Badezimmer verschwinden. Was für eine Farce.
 

Aya lag schon im Bett, als Brad sich zu ihm legte… noch in sicherer Entfernung, noch auf Schuldigs Platz. Das würde sich im Laufe der Nacht ändern, da war sich Aya sicher.

Er drehte sich zu Crawford und zog die Decke etwas höher. Ihm war kalt und er war müde… er wollte menschliche Nähe. Besonders jetzt.

Er sagte nichts, war nicht fähig dazu, doch seine Augen hielten sich an Crawfords fest.
 

Brad schlug die Decke zur Seite und legte sich ins Bett, blieb auf dem Rücken liegen und genoss für einen Moment die Reglosigkeit die er sich selbst auferlegte. Eine Nacht ohne… vielleicht ohne die Träume. Es würde eine gute Nacht werden.

Seine Hand entschlüpfte der Reglosigkeit und offerierte eine Geste der Einladung als er sie unter Rans Kopfkissen schob.
 

Nach einiger Zeit wurde diese Einladung auch angenommen und Aya rückte näher an den anderen Mann heran. Es war Scheu, die ihn langsam sein ließ. Ungewohnte Zurückhaltung ließ ihn zögern, den Arm um Crawford zu legen, doch schließlich lag er mit seinem Körper an dem des Amerikaners; sein Arm hatte sich über die Brust des Amerikaners gelegt. Menschliche Nähe. Beruhigend.
 

Und der Amerikaner hatte die Falle zuschnappen lassen. Sein Arm hatte sich langsam um Rans Rücken gelegt, sich harmlos um dessen Flanke geschlungen. Seine Wange, sein Kinn ruhten an der roten Haarflut.

Es war wie ein skurriler Traum, etwas, über das man nicht sprach, weil es zu abwegig war, zu fremd. Aber man genoss es, weil man es brauchte, weil man diesen kleinen skurrilen Wunsch in sich trug und innerlich selbst skurril war.

Brad zog die Decke höher über sie beide.
 

o~
 

Aya streckte sich langsam.

Er war… ausgeschlafen, hatte keine Träume gehabt, die ihm Schuldig vorgegaukelt hatten… er war heute Morgen mit Crawford zusammen aufgewacht… und hatte sich zum ersten Mal seit langer Zeit entspannt gefühlt. Nicht ganz so fertig wie sonst.
 

Gerade saßen sie beide am Frühstückstisch, Crawford mit der Zeitung und er selbst mit seinem Brötchen beschäftigt. Er hatte Hunger heute morgen, wenn auch nicht viel, doch auf ihn warteten noch drei weitere Hälften, durch die er sich kämpfen musste um keinen Stress zu haben.

Banshee hatte die Fensterbank in der Küche zu ihrem neuen Spielplatz erkoren und jagte gerade einem ihrer Bälle hinterher. Leises Maunzen und Fauchen erfüllte die Stille. Es hätte friedlich sein können.
 

„Wann musst du los?“ Brad Stimme durchschnitt die Stille mit leiser Anpassung. Er sah auf und faltete seine Zeitung zusammen, legte sie beiseite. Er nahm den Appetit des Mannes wohlwollend zur Kenntnis, aber sagte wohlweißlich auch nichts dazu.
 

„Um zwei… ich habe heute die Nachmittagsschicht“, erwiderte Aya kauend und schluckte den Rest des Brötchens mit einer guten Portion Kaffee hinunter. „Was machst du denn heute noch?“ Es war etwas ungelenk, die Frage, doch er hatte sie mit ehrlichem Interesse gestellt. Vielleicht käme der andere Mann heute Abend ja wieder?
 

Neugier? Eine seltene Anwandlung, die Brads Blick, der immer noch auf Ran ruhte, nachdenklicher werden ließ.

„Jei muss zu seiner Jahresinspektion gebracht werden. Der Tüv unter den psychologisch auffälligen Serienkillern unserer Zunft.“ Knochentrocken und aalglatt. Dennoch legte er ein selbstironisches Lächeln in seine Augen. Wer ihn nicht kannte, hätte jetzt denken können, er meinte es ernst. Todernst.
 

Anscheinend kannte Aya Crawford nicht gut genug, denn er GLAUBTE ihm, was er sagte… ja, er glaubte es ihm wirklich. Zumindest zwei Minuten lang, bevor das Erstaunen von einem leicht zusammengekniffenen Blick ersetzt wurde.

„Verarsch mich nicht“, brummte er leicht indigniert, trotzdem musste er kurz lächeln. „Steht die Abgasuntersuchung auch an?“, fragte er schließlich.
 

Brad hob eine Braue, aufgrund der brummenden Zurechtweisung.

„Jei wird nie krank, die Abgasuntersuchung können wir uns somit ersparen.“

Bei allen PSI lag die Wahrscheinlichkeit, dass sie durch Viren oder Bakterien einer Infektion erlagen nicht sehr hoch. Unter zwei Prozent. Allerdings wurde in diese Studie der weltliche Einfluss nicht mit einberechnet. Wuchs ein PSI in einem abgeschirmten Bereich auf, hatte ein Leben ohne psychische Stressfaktoren, wie zum Beispiel Ausgrenzung oder Anfeindung, konnten ihn physische Gebrechen nicht belangen. Der Geist stand über dem Körper.

Bei Jei war dies stark ausgeprägt, er hatte sich sehr weit von der Welt entfernt, vom Alltag.
 

„Beneidenswert“, murmelte Aya und fing Banshee ab, die sich gerade mit einem beherzten Sprung auf den Frühstückstisch retten wollte.

„Nichts da, Frechdachs. Runter mit dir!“, grollte er dunkel und setzte sie wieder auf ihrer Fensterbank ab. Schamloses Vieh!

„Wie geht es Farfarello und Nagi?“
 

Brad wandte sich zur Seite und glitt vom Hocker, holte sich die Kaffeekanne und schenkte sich nach. „Willst du auch?“
 

„Danke, ich will nicht mehr“, erwiderte Aya und zog sich die Zeitung heran, die Crawford schon fertig gelesen hatte.
 

„Jei hat nicht den Eindruck erweckt, als hätte es ihn groß interessiert. Er hat seine Gewohnheiten nicht geändert, was gut ist. Aber er hat einen neuen Bilderzyklus angefangen.“

Brad stellte die Kanne zurück.

„Nagi… hat Angst.“ Das erklärte es wohl am besten. Es war fast so, als hätte Schuldigs Tod ihn aufgerüttelt. Er hatte Angstzustände.
 

Aya sah überrascht hoch. Wirklich mit einer Antwort hatte er nicht gerechnet und dann schon gar nicht mit so einer ehrlichen.

Er ließ sich die Worte des Amerikaners durch den Kopf gehen. Der Junge tat ihm leid… er würde gerne Trost spenden, wenn er denn wüsste, wie. Wenn er selbst nicht völlig unfähig wäre, mit dem, was hinter der erzwungenen Normalität lauerte, umzugehen. Irgendwann würde es durchbrechen, da war sich Aya sicher. Jetzt noch nicht, irgendwann. Was danach war… er wollte es sich nicht ausmalen.

„Hat er Angst, dass Schwarz ausgelöscht werden?“
 

„Unter anderem.“

Seine Miene verschloss sich. Mehr kam nicht über Brads Lippen, die sich nun an den Rand der Tasse legten. Brad trank einen Schluck. Das Thema war beendet. Er mochte es nicht, über sein Team… über sein zerfallenes Team zu sprechen.

In manchen Stunden hätte er sich gerne wieder betrunken und das alles hingeworfen. Die Stunden häuften sich, in denen er sich wünschte, er könne sich gehen lassen.

Aber er wollte sich diesem Versagen diesem Eingeständnis seiner Schwäche nicht völlig ausliefern. Es reichte, wie es war. Bei weitem.
 

Schweigend beendeten sie das Frühstück, räumten die Wohnung auf, alles in Ruhe, ohne Hast, nein, ohne Elan. Es musste getan werden, sie taten es nicht, weil sie es wollten. Zumindest Aya war es egal, doch was sollte er machen? Alles verkommen lassen? Untätig herumsitzen? Nein… Ordnung war Ablenkung, es war Arbeit, die ihn an etwas anderes denken ließ.

Als er das Bett machte, stolperten seine Finger über den Bären, den er hier hatte und der ihn aus großen, schwarzen Knopfaugen vertrauensvoll ansah. Aya lächelte traurig. Schuldigs Bär… der Übeltäter.
 

Im Hintergrund rumorte Crawford in der Küche und Ayas Blick fiel auf den anderen Mann. Crawford hatte nichts von Schuldig, außer seinen Dateien über die Jungend des Telepathen. Nichts zum Anfassen, nichts zum Einkuscheln, wenn die Trauer zu groß wurde. Er besah sich den Bären. Crawford hatte nichts und er hortete hier alles. Warum also sollte er ihn nicht abgeben? Crawford war… auch von Schuldig geliebt gewesen.
 

Ein letzter Blick zurück auf Crawford und Aya ging zur Tür, steckte den kleinen Bären dann in die Manteltasche des Älteren. Es fiel ihm schwer, ihn gehen zu lassen, eben weil er ihn nie wieder sehen würde. Doch… jetzt hatte Crawford auch etwas, an dem er sich festhalten konnte.
 

Aya kam wieder zu seinen Tätigkeiten zurück und machte sich schließlich arbeitsfähig… der letzte Probetag. Es war schon ein Wunder, dass Yuki in Erwägung gezogen hatte, ausgerechnet ihn zu nehmen… viel redete er nicht und ein Blick in den Spiegel bestätigte Aya wiederum seinen Verdacht, dass er mehr wie eine Leiche als wie ein Lebender aussah mit seinen scharf hervorstechenden Wangenknochen, mit den dunklen Augenringen und dem dumpfen Ausdruck in den Augen. Doch vielleicht nahm auch nur er es so wahr… und alle anderen sahen diesen Verlust nicht, dieses klaffende Loch in seiner Brust.
 

„Ich geh dann jetzt“, sagte er in die Wohnung hinein und schlüpfte in seine Stiefel und den bequemen, weichen Mantel.
 

„Mach mir keine Schande“, schickte Brad aufgrund der Abschiedszeremonie zurück. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, zumindest zwei, drei Wörter zu sagen, nicht unbedingt etwas Nettes, aber immerhin etwas.

Selten schaffte Brad es, nicht spöttisch oder ironisch zu klingen. Aber er bemühte sich. Manchmal zumindest.
 

o~
 

Aya holte sich schweigend die Kleidungsstücke zusammen, die er im Laufe der Tage in der Wohnung verteilt und nicht aufgehoben hatte um sie in den Kleiderschrank zu sortieren. Er hatte einfach keine Kraft mehr gehabt… nach der Arbeit, nach dem Stress der Außenwelt und seiner inneren, unhaltbaren Trauer. Sobald er in diese Wohnung kam, fiel die Selbstbeherrschung wie ein Mantel von ihm ab und er verkroch sich in sich selbst… und in Crawfords Nähe, die dieser ihm immer wieder näher brachte. Dadurch, dass er ihm Essen machte, dass er hier blieb, dass er ihn davon abhielt, sich umzubringen oder sich einfach hinzulegen und zu sterben… all das.
 

Eben dieser Mann war gerade im Bad und machte sich fertig, bevor sie frühstücken würden. Aya hatte den Tisch schon gedeckt und beschäftigte sich mit der mühseligen Aufgabe äußerlich und innerlich Ordnung zu schaffen. Die erste Ladung fand ihren Weg in den Kleiderschrank und die zweite sammelte er gerade in der Nähe der Couch ein, versuchte es zumindest, würde er nicht so gedankenleer aus dem Fenster auf den bewölkten Himmel starren.
 

Brad fuhr sich abschließend über die frisch rasierte Wange, ein Handtuch über die Schulter gelegt und wandte sich vom Spiegel ab. Er begann sich anzuziehen.

Er hatte heute noch einiges zu tun und war in Gedanken bereits bei der Erledigung der anstehenden Aufgaben.
 

Anscheinend war Crawford fertig, den Geräuschen aus dem Bad nach zu urteilen, befand Aya, als er mit einem Ohr dem anderen Mann lauschte.

Etwas Anderes bohrte sich jedoch in seine Gedanken, dessen er sich erst spät bewusst wurde. Ein leises Piepen kündigte an, dass jemand den Kartenschlüssel durch das Lesegerät zog und die Tür öffnete sich mit einem Knacken. War das Nagi, der vorbeikommen wollte, wie er es gesagt hatte? Oder etwa jemand anderes? Ein… Feind?

Aya trat einen Schritt zurück und wusste in dem Moment, als die Tür aufschwang, dass es zu spät war um noch den Waffentisch zu erreichen. Alles, was er tun konnte, war stehen bleiben und wie erstarrt auf denjenigen zu starren, der dort durch die Tür kommen mochte.
 

Genau das tat er jetzt.
 

Das Erste, was Aya sah, war Feuerrot. Ungeordnetes, strubbeliges Feuerrot. Dann Blau, dunkles Blau… mit weißem Stoff. Und helles Blaugrün.

Seine Augen weiteten sich. Nein… nein. Nein…
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Allerdings geht es zunächst mit der Sidestory "A chines doll story" weiter, die zum besseren Verständnis gelesen werden sollte. Wer darauf verzichtet kann natürlich getrost in der Hauptstory weiterlesen, ohne große Verluste in der Storyline beklagen zu müssen. ^.~

Die Sidestory ist somit optional aber nicht uninteressant.
 

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Coco & Gadreel
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Fünf vor zwölf

~ Fünf vor zwölf ~
 


 

Schuldig sah sofort die Gestalt am Fenster, wie sie einen Schritt zurück trat, wie ablehnend der Blick war.

„Ich bin… wieder da“, fiel Schuldig in diesem Moment nichts Besseres ein und lächelte etwas, denn das geschockte Gesicht Rans, dessen Ausdruck, sah fast so aus, als wäre der Teufel persönlich durch die Tür gestolpert.

„Ran?“ Sein Lächeln verblasste, es fiel von ihm wie ein Mantel, den man sich über die Schulter striff und machte den Zweifeln und der Ungewissheit Platz. Gut, er wusste, dass sie dachten, er wäre tot, aber… er schaffte es nicht noch einmal, auf diese Art Ablehnung wie bei Nagi zu stoßen. Er hielt es nicht aus. Nicht von Ran…
 

Brad fuhr sich gerade durch die frisch gewaschenen Haare, als er zur Tür hinausging und wie angewurzelt stehen blieb, den Türgriff noch in der Hand. Er starrte den Mann an, der noch an der verschlossenen Tür stand, er trug keine Waffe in der Hand, sagte ihm sein Auge. Und …

…aber… wie…
 

Ayas Blick ruckte nervös zu Crawford. Seine Augen schienen den anderen Mann um Rat zu fragen, um eine Antwort auf die offensichtliche Frage zu bitten. Wieder da… er… war… wieder… da….

Violette Augen kamen wieder auf den anderen Mann zurück, der dort in der Tür stand. Wieder da? Er war… tot. Er konnte nicht… das konnte nicht. Nein. NEIN. Das gab es nicht, es gab keine Wunder.

Das Zittern begann in seinen Händen und wanderte innerhalb von Sekundenbruchteilen auf seinen gesamten Körper über.

Sein Geist war nicht in der Lage das zu fassen, was er dachte, geschweige denn, was er sah.
 

Brad ging einen Schritt auf den Mann zu, der wie Schuldig aussah, der nun sein Gesicht zu ihm wandte. Noch sagte er nichts, aber die Augen erzählten ihm viel, auch das abgehärmte Gesicht, die zerstrubbelten Haare, der lässig umfunktionierte Anzug und vor allem die Haltung… die Ausstrahlung. Das war Schuldig.

Dennoch blieb Brad misstrauisch, unsicher. Und genau dieser Punkt machte ihn wütend. Auf diese Situation, auf die Tatsache… dass sie getrauert hatten, auf die Möglichkeit, dass dies doch nicht Schuldig war, dass er träumte, und das alles bald verschwinden würde.
 

Schuldig fühlte sich als würde er über einem Abgrund stehen und nicht mehr weit davon entfernt um hinunter zu stürzen. Er spürte die Wut neben sich, fast greifbar und die… Ablehnung vor sich, in Rans Augen. Schuldig presste die Lippen zusammen, atmete tief durch die Nase ein, seine Stirn umwölkte sich.

Trotzdem… er durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren, er musste versuchen, das alles zu regeln.

„Ich… war gerade bei Nagi… und ich habe von ihm meine Karte geholt. Ich bin schon seit drei in der Stadt… mit dem Flugzeug angekommen… ich wollte euch nicht wecken“, redete er unsinniges Zeug, aber er wusste nicht wirklich, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Er war zu müde, zu kraftlos dazu.

Und er war enttäuscht. Er fühlte sich, als hätte er in der Ferne eine wunderschöne Landschaft erblickt und als wäre er auf diese schöne Welt zugelaufen. Nur um gegen eine schmutzige Betonmauer zu prallen, die plötzlich vor ihm hochgeschossen war.

Er fühlte sich betrogen. Um das Gefühl des Heimkommens und des Angenommenwerdenseins betrogen. Alles, was er bekam, war Kälte und Ablehnung.
 

Das war… Schuldig. Das war wirklich Schuldig. Er… lebte? Schuldig lebte?

Aya blinzelte. Das war ein Traum, er träumte noch. Schuldig war doch tot, er hatte die Bilder gesehen von dessen Leiche. Crawford hatte ihm ebenso bestätigt, dass…Nagi auch.

Aya verstand nicht. Er verstand nicht, wie das sein konnte, wie es möglich war, dass so etwas geschah… das war doch absurd! Wie oft in den letzten vierzehn Tagen hatte er sich derartiges gewünscht und wie oft hatte ihn die Realität eingeholt?

Sicherlich war das einer dieser Momente und er hatte angefangen zu halluzinieren, wenngleich er alles an diesem Mann erkannte… aber vielleicht gerade deswegen. Sein Geist wurde langsam aber sicher vor Trauer verrückt.

Aya öffnete seine Lippen um etwas zu sagen, doch nichts kam heraus. Nichts. Er konnte nichts sagen, es ging nicht.
 

Schuldig dagegen kam sich vor wie in Feindesland, unter Feinden. Keiner bewegte sich, sie starrten ihn nur an. Er hatte sich sein Heimkommen anders vorgestellt.

Zu spät erkannte er den Schatten in seinen Augenwinkeln, da hatte ihn Brad schon am Kragen seines Hemdes gepackt und starrte ihm in die Augen, mit finsterem, deutlich wütendem Blick, für einen kurzen Moment, bevor sein Kiefer harten und schmerzhaften Kontakt mit dessen Faust erfuhr.

Zunächst nur taumelnd, sackte er auf den Boden, und blieb dort halb sitzen.
 

„Warum bist du nicht schon früher gekommen, verdammt!“, schrie Brad ihn mit heiserer Stimme an. „Du hättest eine Nachricht schicken können, irgendetwas. Warum hast du keinen Kontakt aufgenommen?“ Fragen über Fragen sprudelten über Schuldig ein, der vor sich hinstarrte und keine einzige wirklich aus der Flut erfassen konnte.
 

„Weil ich mich dort köstlich amüsiert habe! Deshalb. Das meint ihr doch, oder?“, erwiderte er zynisch und Tränen stiegen ihm erneut in die Augen. Warum konnte er sie heute nicht zurück halten? Was war so schwer daran, hmm?, blaffte er sich selbst an.

Etwas schrie in ihm, so schmerzerfüllt und gepeinigt, dass es in seinen Ohren zu schrill, zu unmenschlich klang.
 

„Crawford.“ Das erste Wort, das ihm über die Lippen kam, war eine Bitte an den Amerikaner, inne zu halten. Er sah sie, die Tränen des Telepathen, die er nicht vergießen konnte. Er hatte keine mehr übrig. Schuldig… es war Schuldig. Ja… er lebte.

Aya wusste es und konnte trotzdem nichts machen, er konnte sich keinen Schritt rühren. Sein Körper verweigerte den Dienst, sein Geist das Denken… es geschah nichts, es war Stillstand eingetreten, er stand unter Schock, dem Schock, plötzlich etwas unfassbar Schön-Schreckliches erlebt zu haben.

„Du lebst“, sagte er wie zu sich selbst, wie um das Unglaubliche glaubwürdig zu machen und ihm Wahrheit zu geben.
 

Schuldig drehte während er sprach den Kopf zu Ran herum.

„Ja, gerade noch so und wenn ihr alle so weitermacht, dann kann sich das schnell ändern“, sagte er langsam, leise, lauernd.

Es kotzte ihn an, ihr Verhalten. Er hatte gedacht, dass sie ihn besser kennen würden, dass sie ihn sehen würde und dann würden sie zwar kurz irritiert sein, aber dann würden sie ihn willkommen heißen. Stattdessen erfuhr er Ablehnung, Wut und Angst. Angst vor ihm.

Ran hatte sich immer noch nicht bewegt, stand dort und blickte ihn mit diesem undefinierbaren Blick an, diesem hellen, bleichen Gesicht, welches noch Unglauben widerspiegelte.
 

Schuldig brauchte einige Augenblicke, bis er sich ohne Hilfe erheben und in die Küchenzeile gehen konnte. Er fühlte die Blicke auf sich und fühlte aber auch, dass er ihnen jetzt nicht gewachsen war.

Er war enttäuscht. Vor allem von Ran. „Der Auftrag war unecht und ebenso war es eine große Lüge, dass ich tot bin. Könnt ihr das nicht akzeptieren?“, fragte er leise, unterschwellig zornig.

„Sie… haben mir meine Fähigkeiten genommen, deshalb konnte ich euch nicht kontaktieren. Sie wussten, dass ich ein PSI Talent bin, zumindest die, die uns in diesen Auftrag geschickt haben.“
 

Das war alles… durchaus logisch. Alles hatte… seine Richtigkeit.

Aber Schuldigs Tod hatte für zwei Wochen ebenso seine Richtigkeit gehabt und hatte Aya beinahe in den Abgrund gerissen, weil er es ohne den Telepathen nicht aushielt. Und nun… nachdem er versucht hatte damit zu leben, dass er alles verloren hatte, sollte er mit einem Mal wieder leben können, als wenn ihm nichts genommen worden wäre?
 

Das konnte Aya nicht.
 

Er wusste ja noch nicht einmal, wie er reagieren sollte. Er wusste nur, dass er nicht in die Küche gehen konnte, seine Beine wollten nicht. Eher im Gegenteil. Weg von hier, hallte es in ihm. Das überlebst du nicht… weg von hier. Du wirst verrückt, du kannst nicht dorthin, das geht nicht.
 

Ran lange mit einem anklagendem Blick messend, wandte sich Schuldig schlussendlich ab und holte sich ein Glas aus dem Schrank, mit fahrigen Händen schenkte er sich Wasser ein.

„Verzieht euch. Wenn ihr nicht mehr zu sagen habt als DAS oder gar nichts, dann haut ab. Es scheint, als wäre ich besser dort geblieben“, sagte er leise und starrte in das Glas.
 

Brad konnte darauf gar nichts sagen. Er war wütend, ja, aber so recht wusste er nicht, weshalb. Aber er wusste eins, dass Schuldig jetzt für sich sein musste, nur dass er Ran…
 

Das war etwas, das mehr Bewegung in Aya brachte als vorher. Dies hier war keine Frage, die er sowieso nicht beantworten konnte, weil ihm die mentale und körperliche Stärke dazu fehlte, das hier war ein Befehl und es war gut so. Schuldig hatte Recht…

Denn zumindest er musste raus hier, er empfand diese Situation mittlerweile als Bedrohung. Noch einmal und er würde verrückt werden.

Aya wandte sich mechanisch um, die Sachen, die er aufgenommen hatte, mit zum Kleiderschrank tragend. Wortlos und wie ferngesteuert nahm er sich seine Reisetasche und packte in ausgewählter Ruhe Sachen ein, die er mitnehmen würde… die Sachen, die er damals aus dem Koneko mit sich genommen hatte.
 

Seine Haare fielen ihm mehrmals über die Schulter nach vorne, doch dieses Mal haschte Banshee nicht nach ihnen wie sie es so oft in den letzten Tagen getan hatte. Sie war bei Schuldig… bei ihrer Mama…

Aya strich sich die Haare wieder zurück und packte weiter, effizient, auf das Ziel gerichtet, diese Wohnung zu verlassen… und mit ihr den Mann, der von den Toten auferstanden war.
 

Schuldig sah dies, er hielt sich an der Arbeitsplatte fest, die in Richtung des offenen Wohnraums zeigte, nahm ein Schluck des Wassers und stellte das Glas schwankend wieder ab.

Er wollte schreien, wollte Ran davon abhalten, seine Worte in dieser Art umzusetzen. Er hatte doch nie gewollt, dass er ging… er wollte doch nur… nur umarmt werden, ein wenig Wärme, nicht diese ablehnende Miene, diese Wut von Brad, der bereits in seine Schuhe schlüpfte.

„Ich will dich morgen sehen“, hörte er von diesem und kurz darauf ging die Wohnungstür.

Noch immer stand Schuldig da, innerlich zitternd und wankend wie ein Baum während eines Bebens. Er senkte den Kopf leicht, barg sein Gesicht in einer Hand.

Alles war zerbrochen. Alles.

Er hätte dort bleiben sollen. Er… Ran… warum...?
 

Auch Aya ging nun, den Blick gesenkt. Es war schon richtig, dass Schuldig ihn herauswarf, wenn er noch nicht einmal in der Lage war, auf den anderen Mann zu reagieren und sich über dessen Rückkehr zu freuen. Doch wie konnte er sich freuen, wenn er noch gar nicht richtig begriffen hatte, was geschehen war?

Die Hand, die seine Tasche hielt, zitterte, die, die seinen Autoschlüssel von der kleinen Kommode nahm, ebenso. Weg… weg hier. Dann konnte er weitersehen. Nur weg hier...

Die Tür klickte ein zweites Mal, als Aya dieses Kapitel endgültig hinter sich zugezogen hatte. Der Mann, den er liebte, war gestorben und wieder von den Toten auferstanden und so wollte Aya ihn in Erinnerung behalten. Lebend… wütend… nicht gebrochen. Nicht tot. Nicht wie auf diesen Bildern. Nicht kalt, bleich, der Körper wächsern und nicht mehr lebendig.
 

Beim zweiten Klicken sank Schuldig zu Boden, lehnte an der Anrichte, die Arme über den angezogenen Knien gelegt. Tränen brannten in seinen Augen. Er versuchte sie zurückzuhalten, aber es war schlussendlich sinnlos, bis sich alles in einem verzweifelten Schluchzen löste. Banshee schlich um ihn herum, doch er hatte noch nicht einmal die Kraft um sich ihr zu widmen. Ran war fort und das nur weil er nach Hause gekommen war.

Nur weil er existierte.
 

o~
 

Youji ging es beschissen, die ganzen Tage schon. Er hatte abends mehr als genug getrunken, kam jede Nacht spät nach Hause um dann morgens zu spät zu seinen Schichten zu erscheinen. Omi und Ken tolerierten das noch, aber nicht mehr lange, wie er wusste. Irgendwann würden sie ihn an seine Pflichten erinnern.

Pflichten… ja genau.

Seine Pflicht war es, seinen Freunden beizustehen, im Speziellen Ran, der jedoch jede Hilfe ablehnte. Das wusste Youji, er hatte Ran schon immer als jemanden gekannt, der sich nur in Notsituationen anderen öffnete. Dass Schuldig tot war, war anscheinend noch keine so große Notsituation, bemerkte er zynisch. Erst, wenn Ran nur noch mit einer Zehenspitze vor dem sicheren Abgrund stand, konnte er zu ihm durchdringen.
 

Youji seufzte leise und vergrub sich im Halbschlaf noch tiefer in sein Kissen. Ihm war übel, während er hier über die Ereignisse der letzten Wochen nachdachte; übel vom Alkoholexzess der gestrigen Nacht. Und anscheinend hatte er schon wieder jemanden mit nach Hause genommen, so zumindest fühlte sich der warme, schwere Körper in seinen Armen an. Nur dass Youji gar keinen Bock auf morgendliche Gesellschaft hatte… so überhaupt nicht.

Mühsam öffnete er ein Auge und stellte fest, dass er sich eine Rothaarige geangelt hatte… an die er sich nach seinem Vollrausch natürlich nicht erinnern konnte, so eine Scheiße.

Name?

Na hoffentlich wusste die Gute, woran sie bei ihm war, andererseits war ihm eine Szene momentan eigentlich scheißegal.
 

Sie ist wach, bemerkte er müßig für sich, als er die Augen sah. Und sie hat die gleiche Augenfarbe wie Ran… Gott. So nötig habe ich es schon…

Er lachte, doch es kam nur ein Kratzen aus seinem Hals und richtete sich vorsichtig auf. „Hör zu… das mit letzter Nacht…“, begann er leise zu erklären, bis seinem noch alkoholvernebelten Verstand allmählich bewusst wurde, dass das keine Frau war, die wie Ran aussah… nein, das WAR Ran, der sich hier in seine Arme gestohlen hatte, in Straßenkleidung, wie es sich nach einem schwankenden Blick nach unten herausstellte und dessen Augen ihn verwirrt ansahen.
 

„Hi“, grinste er schräg und ließ sich wieder zurückfallen, eine Hand über seine Augen legend. Es war zu früh, zu hell, zu beschissen. Was tat Ran hier?

„Du hast zuviel getrunken, Youji“, sagte Ran ruhig und der blonde Weiß verdrehte seine Augen hinter seinen Fingern. Die alte Leier. Ja was sollte er denn auch tun, wenn er vor Sorgen nicht mehr weiter wusste? Hier in seinem Raum sitzen und darauf warten, dass Ran nun völlig zusammenbrach?

Aber zumindest sah Ran schon besser aus… nicht mehr ganz so verzweifelt.

„Wie geht es dir?“, fragte er leise und strich dem anderen eine der langen, roten Strähnen aus dem Gesicht. Dieses Mal wehrte sich Ran nicht gegen die Berührung, sondern schloss nur seine Augen.

„Ich weiß es nicht…“

Das machte Youji misstrauisch, selbst in seinem vernebelten Kopf. Ran war viel zu gefasst, viel zu gelassen für die letzten Wochen. „Willst du reden, Ran?“

Es dauerte eine Weile, bis der rothaarige Japaner zu Youjis Erstaunen nickte und seine Augen sich auf einen Punkt auf seiner Brust richteten.

„Ich wurde aus der Wohnung geworfen“, begann er leise.

„Von Crawford?“ Youji schalt sich nachträglich für die Frage. Klar, von wem denn sonst? Schuldig? Der war tot. Für immer…

„Nein… von Schuldig.“

Gut…einen Moment lang glaubte Youji an einen blöden Scherz, an Ironie oder Sarkasmus, doch ein Blick in Ayas niedergeschlagene Augen sagte ihm anderes. Doch gleichzeitig fragte er sich auch, was diesen dazu veranlasst hatte, das zu sagen. Halluzinierte Ran? Hatte ihn die Verzweiflung mittlerweile so weit getrieben, dass er dachte, Schuldig würde wieder leben?

„Ran… wie meinst du das?“, fragte er vorsichtig und strich seinem Freund über die eingefallene Wange. Er aß zu wenig… viel zu wenig, doch das war seine Art, mit Trauer und Stress fertig zu werden.

„Schuldig ist heute morgen… aus Hongkong wiedergekommen. Er… hat doch überlebt. Er… ich… er stand plötzlich in der Tür und war… einfach wieder da. Einfach so, nach zwei Wochen… ich habe zwei Wochen geglaubt, dass er tot ist, ich bin am Ende, Youji und dann steht er einfach so da… am LEBEN…“ Leise Hysterie tränkte Rans Worte und Youji zog den anderen Mann umsorgend an sich, bevor er die Worte genauer auf sich wirken ließ.

Grüne Augen weiteten sich ungläubig, doch dann begriff er langsam, was Ran ihm damit zu sagen versuchte. Schuldig lebte. Schuldig LEBTE!

„Oh Gott, Ran! Das ist doch wundervoll!“, platzte er heraus. „Ran, ich freue mich so für dich… verdammt!“ Doch anscheinend schien sich Ran nicht zu freuen, so schmerzlich, wie sich seine Augen schlossen. Youji runzelte die Stirn, drehte seinen Kopf etwas zur Seite, damit er die violett schimmernden Augen sehen konnte. Schuldig lebte, aber Ran war über diese Tatsache nicht so begeistert, wie er es eigentlich sein sollte. Warum? Vor allen Dingen…

„Aber da ist etwas anderes, richtig? Warum hat er dich rausgeschmissen“, fragte Youji nach einigen Momenten und sah Rans Gestalt erzittern.
 

„Ich…er hat es nicht ertragen, dass ich nicht auf ihn zugegangen bin, dass ich ihn nicht begrüßt habe. Doch ich konnte das nicht, Youji. Ich habe Angst davor… ich kann nicht zu ihm gehen. Nicht noch einmal… was, wenn er dann wieder weg ist? Wie… kann ich diese Bilder vergessen, von seiner Leiche?“, wisperte Ran verzweifelt und vergrub sein Gesicht an der Brust des anderen und ein trockenes, ersticktes Schluchzen brach sich an Youjis Haut.

Er konnte Ran verstehen, dessen Abneigung gegen einen weiteren Verlust. Ran hatte den Tod seiner Eltern bis heute nicht ordentlich verarbeitet, das wusste er und nun hatte er innerhalb von wenigen Monaten erst seine Schwester, dann den Mann, den er liebte, verloren. Konnte es jemand Ran da verdenken, dass er sich vor dem Wunder scheute, das sich Schuldig nannte?

„Was hast du jetzt vor, Ran?“, fragte er nach ein paar Minuten stummer Zweisamkeit und Ran zuckte mit den Schultern.

„Ich muss weg von hier, ich brauche Abstand von allem. Weg aus Tokyo.“

Das schmeckte Youji überhaupt nicht. Er wollte Ran nicht irgendwo wissen, ganz auf sich alleine und seine Sorgen gestellt, wo er ihn nicht erreichen konnte. Mit dummen Gedanken, die ihn überall hintreiben konnten.

„Das halte ich nicht für gut, Ran. Du brauchst erst einmal Zeit um zu dir zu kommen… um nachzudenken. Eine überstürzte Flucht bringt da gar nichts. Wie wäre es, wenn du erst einmal hier in Tokyo bleibst, die ganze Sache überdenkst und dann siehst du weiter, in Ordnung?“ Wie gerne würde er ihm einen Schlafplatz hier im Koneko anbieten oder ihn hier in seinem alten Zimmer einquartieren, doch das würden Kritiker mitnichten tolerieren. Das war eben der Preis für eine Kollaboration mit dem Feind, auch wenn sich Youji sicher war, dass Ran in Bezug auf Schwarz kein Sicherheitsrisiko war. Vermutlich noch viel weniger als sie alle zusammen.
 

Ran schwieg und Youji spielte für eine Weile gedankenverloren mit den Strähnen, die sich ungeordnet über den Rücken des Japaners geschlängelt hatten. Er hielt den anderen Mann gerne in den Armen, hatte er doch so das Gefühl, wenigstens etwas für ihn tun zu können und nicht ganz hilflos zu sein. Ebenso hatte er das Gefühl, dass es Ran gut tat, bei ihm zu sein. Das war…gut.

„Ich hab da noch eine Adresse für eine Wohnung; die könntest du dir mal ansehen. Ist nicht mehr als ein Zimmer, aber ruhig gelegen und etwas außerhalb. Dort könntest du in Ruhe nachdenken. Wie wäre es?“ Und er wüsste immer, wo sein Freund sich aufhielt… außerdem kannte er die Vermieter. Das beruhigte Youji zumindest dahingehend schon mal.

Es brauchte etwas, bis sich zögernde Zustimmung auf Ayas Gesicht abzeichnete und er langsam nickte. „In Ordnung.“
 

Youji lächelte. Sehr schön… dann würden sie die Sache doch mal in Angriff nehmen. Doch erst einmal würde er den Mann hier vor sich füttern. Er musste etwas mehr auf den Rippen bekommen!

„Wie wäre es mit Frühstück, Ran?“, fragte er und unterband das Kopfschütteln, das sich da anbahnen wollte, mit einem freundschaftlichen Kuss auf die Stirn.

„Doch. Um nachzudenken musst du gestärkt sein. Omi hat sicherlich ein leckeres Frühstück gemacht, er wird sich freuen, wenn du da bist und etwas mitisst. Ansonsten kennst du ja das alte Spiel, nicht wahr? Das Spiel vom Ran, der nicht essen will und von Omi und Youji, die nicht wollen, dass Ran nichts isst.“

Ein schweres Seufzen ertönte und violette, tränenverschleierte Augen sahen hoch zu Youji. Der Anblick schmerzte, doch er lächelte schließlich zuversichtlich. Es würde sich alles regeln…irgendwie würde sich alles finden.

„Alles wird gut werden, glaube es mir. Alles wird gut. Du bist nicht allein, Ran. Wir sind jederzeit da um dir zu helfen.“
 

Alleine war Ran wirklich nicht mehr. Sie waren da, Schuldig war wieder da und wie es Ken und Omi ihm erzählt hatten, hatte sich sogar das große Orakel um Ran gekümmert… ohne ihm etwas zu tun.

Ja, alles würde sich wieder einrenken, Youji konnte es quasi schon riechen… es sei denn, es war noch der Alkohol, den er roch.
 

o~
 

Der Tag hielt Einzug, es wurde heller und das trübe Grau des Himmels drängte weiter in dicken dunklen Wolken gen Erde. Noch immer saß Schuldig auf dem Boden, starrte unsinnigerweise vor sich hin, gelegentlich von Selbstmitleid überwältigt und sich darin ergießend.

Es war halb elf, als er aufstand, dem kläglichen Miauen von Banshee nachgab und sich mit ihr auf die Couch setzte, damit sie sich auf seinem Schoß einringeln konnte um zu dösen.

Er musste schlafen, aber wie sollte er das, wenn er ständig an Ran denken musste, an die Tatsache, dass er weg war.

Durfte das sein?

Wie war das geschehen?

Sie hatten gedacht, dass er tot war, jetzt kam er wieder zurück… sollten sie sich nicht freuen? So wie er sich freute, dass er wieder da war?
 

Wo war sein altes Leben geblieben, in das er so gerne zurückgewollt hatte? Sich danach gesehnt hatte, nur dafür gekämpft hatte? Nur deshalb… nur weil er geglaubt hatte, dass Takaba Ran war konnte er einen kleinen Rest seiner Fähigkeiten bewahren. Zwar nur, um den Jungen zu beschützen, aber immerhin.
 

Und jetzt war sein altes Leben zerplatzt wie eine Seifenblase, die zu lange gelebt und ihre Spannung verloren hatte.

Im Laufe des Tages wanderte er durch die Wohnung, setzte sich auf verschiedene Plätze, auf die Fensterbank, in die Küche, in die Kissenecke, selbst auf die Terrasse ging er. Sonst tat er nichts. Bis er schließlich abends ins Bett fand. Er legte sich zunächst auf seinen Platz, ursupierte das Kissen und der Geruch kam ihm bekannt vor, aber es war nicht Ran. Vermutlich war es Brad gewesen, der hier gelegen hatte. Schuldig deckte sich zu und robbte in die Mitte, grabschte sich das andere Kissen und raffte es an sich, lag auf Brads Kissen und hatte Rans im Arm.
 

Sie hatten hier beide geschlafen, nebeneinander… vielleicht sogar aneinander…
 

Schuldig schloss die Augen, heiße Tränen quollen wieder hervor, obwohl er nicht wusste warum. War er eifersüchtig?

Nein. Er wusste es nicht. Es war nur… verletzend, wie sie ihn ausgeschlossen hatten, wie sie ihn behandelt und angesehen hatten. Und sie waren hier beide gelegen und er hatte sie… beide vermisst.
 

Als er so dalag und Banshee beim Mäusejagen zuhörte, ein durchaus vertrautes und anheimelndes Geräusch, kam ihm ein Gedanke.

Waren sie deshalb so gewesen? Weil sie beide… etwas begonnen hatten, im Glauben, dass er tot war? In ihrer Trauer um ihn? Hatten sie sich zusammengerauft…?

Er glaubte nicht, dass sie schon früher mehr für einander empfunden hatten, dazu war zuviel Antipathie und ehrliche Abneigung vorhanden gewesen.
 

Die Fragen wurden nicht weniger und nur schwer fand er in einen unruhigen, alptraumhaften Schlaf hinüber, aus dem er mindestens drei Mal erwachte und dann wieder in sein Lager hineinsank. Getröstet vom anheimelndem Geruch der Vertrautheit.
 

Er musste gegen morgen in einen tieferen Schlaf gesunken sein, denn irgendwann kitzelte ihn etwas an der Nase und er schreckte auf, was das kitzelnde Flauschknäuel ebenfalls aufschreckte und vom Bett fahren ließ. Er drehte sich auf den Rücken, stöhnend und ächzend und hörte das sanfte Miauen. Da hatte wohl jemand Hunger.

„Hast du Hunger, Banshee?“ Er robbte zur Bettkante, koste ihr begrüßend über das Köpfchen und streckte sich während er aufstand. Er hatte es vorgezogen wegen der Wunden einen Kimono zum Schlafen zu tragen, da der Bund einer Hose scheuerte und die Bettwäsche nicht von etwaigem Sekret oder Schorf beschmutzt werden sollte.
 

In die Küche gehend, blickte er auf die Uhr und sah mit einer großen Portion Resignation, dass es erst halb acht Uhr morgens war. Sich durch die Haare raufend und dazu unflätig gähnend richtete er Banshee ihr Essen, sah ihr zu, wie sie hungrig zu essen anfing, bevor er sich ins Bad begab. Er fühlte sich wie gerädert. Die Nacht hatte ihm nicht die erhoffte Stärkung gebracht, ganz im Gegenteil. Er fühlte sich schlimmer denn je.
 

Es dauerte wirklich lange bis er sich gewaschen, die Haare geföhnt, Zähne geputzt, Nägel geschnitten, und rasiert hatte. Er musste dringend einmal wieder zum Friseur, stellte er fest.

Wobei… das half auch nichts mehr, so fertig wie er aussah.
 

Nach einer kleinen Ewigkeit, wie es ihm vorkam, kam er wieder heraus und ging zum Kleiderschrank, suchte sich eine Jeans und ein olivefarbenes Hemd heraus, dazu einen schwarzen Pullover. Weiß konnte er heute nicht anziehen, er würde ohnehin in jeder Farbe nicht unbedingt wie das blühende Leben aussehen. Eher wie Gevatter Tod nach einer durchzechten Nacht, scherzte er in Gedanken und musste trotz seiner trüben Stimmung darüber grinsen.
 

So gegen Mittag verließ er dann die Wohnung in Richtung Nagi, Brad und Jei. Er hatte nur einen Tee getrunken und hoffte er konnte bei den Dreien noch eine Kleinigkeit essen. Zwar hatte er nicht gesagt, wann er kommen würde, aber er war nie ein großer Freund von Terminen gewesen.
 

Er nahm den Jeep, wusste zwar nicht wie er wieder zurückkommen wollte, wenn er den Wagen abgeliefert hatte, aber vielleicht fuhr Nagi ja mit und dieser konnte den Wagen wieder mit nach Hause fahren…
 

o~
 

Brad war es in dieser Nacht nicht besser gegangen. Er hatte lange nicht schlafen können und war erst gegen morgen eingenickt, bis ihn Nagi zum verspäteten Frühstück geholt hatte. Das war vor einer halben Stunde gewesen.

Als er gestern nach Hause gekommen, war hatte er Nagi aufgewühlt vorgefunden, Fragen hervorsprudelnd wie eine heiße Quelle. Sie hatten einige Zeit darüber geredet, waren immer wieder auf dieselben Antworten gekommen und ihnen blieb schließlich nichts anderes übrig, als auf Schuldig zu warten.
 

Nun klingelte es und kurz darauf ging die Haustür. Erst hatten sie sich alle angesehen, dann sofort wohl das Gleiche gedacht. Brad erhob sich und ging in den Wohnraum.

Und tatsächlich Schuldig kam ihm entgegen. Brad behielt seine Gefühle für sich, wie stets, aber auch wie Ran fiel es ihm schwer, das Positive zu zeigen. Gern hätte er es getan, aber alles in ihm blockierte.

„Du kannst nicht schlafen.“

Schuldig zog sich die Lederjacke sehr bedächtig von den Schultern, was Brad misstrauisch werden ließ. Er bewegte sich, als befürchte er Schmerzen, als wäre seine Bewegung eingeschränkt.

Aber… hatten sie wirklich gedacht, dass Fei Long seine Gefangenen auf Rosen bettete? Nein, doch eher nicht.

„Kann ich etwas für dich tun?“, brachte er dann doch heraus als Schuldig sich die Schuhe auszog und zu ihm kam.
 

„Frühstück wäre nicht schlecht“, grinste Schuldig in altbekannter Manier. Allerdings sah es etwas abgeschwächt aus, was wohl daran lag, dass er sehr abgekämpft aussah.

Brad nickte und machte eine Kopfbewegung in die Küche. „Wir sind noch dabei.“
 

„Okay. Ich wasch mir nur schnell die Hände“, erwiderte Schuldig und ging in Richtung Bad.

Er atmete tief ein. Im Badezimmer angekommen, drehte er das kalte Wasser mit zittrigen Händen auf.

Der Anfang war gemacht, und Brad war doch nicht ganz so ablehnend gewesen, nur die übliche ruppige Art. Damit konnte er leben. Das war vertrautes Terrain.

Er schöpfte sich mit den Händen kühles Wasser ins Gesicht. Dass er sich ihnen einmal so fremd und fern vorkommen würde…

Lag es daran, dass er seine Fähigkeiten nicht mehr benutzen konnte? Machte es ihm zu schaffen?

Er registrierte, wie jemand ins kleine Badezimmer gekommen, war und sah auf. Es war Brad, der ihm gerade ein Handtuch reichte und ihn mit forschendem Blick maß.

Schuldig wischte sich darüber und wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, als er in eine harsche Umarmung gezogen wurde, am Nacken und am Rücken gehalten, was ihn zusammenzucken ließ. Sofort ließ Brad seine Umarmung sanfter werden.

„Du hast Schmerzen.“

Schuldig schloss für einen Moment die Augen, bevor ihn Brad wieder entließ. Er lächelte etwas und verzog den Mund leicht.

„Ja. Aber sag es den anderen nicht. Ich will nicht zu viel Wirbel darum, das würde mich nur nerven.“ Er blickte noch einmal in den Spiegel, hängte dann das Handtuch an die Seite.

„Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist, ich wusste gar nichts über dich… über euch. Und Fei Longs Drogen haben mir die Telepathie gänzlich bis auf einige Möglichkeiten genommen. Sonst… wäre… das alles nicht passiert.“
 

Brad lehnte sich an den Türstock, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich habe gesehen, wie Fei Long dich… erschoss… zumindest dachte ich es. Er zielte, schoss und du hast dich nicht mehr gerührt, die Verbindung förmlich aus mir herausgerissen. Das hat verdammt weh getan.“ Seine Worte waren neutral, ohne Anklage, oder spezifische Wertung.
 

Doch Schuldigs Augen wurden größer, sahen schuldbewusst drein und er trat näher.

„Fühlst du es noch immer?“ Er wusste… dass so etwas schmerzhaft war, dass es einen seelisch sehr belasten konnte und…

„Darf ich…?“, fragte er und er hob seine Hand, wollte an Brads Schläfe fassen, doch dieser fing seine Hand vorsichtig ein und zog sich herunter. „Es ist schon gut, erhol dich erst einmal und wenn deine Kräfte wieder voll da sind, dann siehst du nach…“

Schuldig spürte, dass da noch mehr war, dass Brad vor ihm etwas verbarg, aber es nutzte nichts wenn er jetzt drängte.

Er war ja noch nicht einmal sicher, ob es überhaupt funktionieren würde…
 

Sie sahen sich noch für einen Moment in die Augen, bevor sie sich gleichzeitig auf das gleiche ungehörte Signal abwandten und in die Küche gingen.
 

Nagi begrüßte ihn für seine Verhältnisse überschwänglich und sie frühstückten gemeinsam. Danach unterhielten sie sich über das Erlebte, fügten alle Informationen zusammen und Nagi übertrug alles auf seinen Rechner.

Ein kleiner Kriegsrat wurde abgehalten und die nächsten Schritte wurden besprochen.

Nagi begann zu recherchieren, woher die Bilder aus dem Leichenschauhaus kamen, wer der Betreiber war, wer Kontakte zu Fei Long hatte. Schuldig fertigte sogar ein Phantombild von „Herrn Kawamori“ an. Ein zarter, unscheinbarer Mann mit kinnlangen, schwarz-braunen Locken und braunen Augen. Nichts, was hervorstach. Nichts, was den anderen bekannt vorkam.

Sie arbeiteten lange und Brad und Nagi machten weiter, als Schuldig sich kurz ausruhte, nachdem er seine eigene Leiche gesehen hatte.

Hübsch hatten sie ihn hergerichtet, dass musste man ihnen lassen, grimmte er in Gedanken und purer Hass formte sich in seinen Augen und… in seinen Gedanken.

Jetzt wusste er auch, woher die hellen Flecken auf einigen Stellen seiner Haut herrührten. Scheinbar hatten sie nicht alles entfernen können bei ihrer kleinen Maskerade.

Irgendjemand würde dafür bezahlen, dass er Ran und… den anderen soviel Schmerz und Leid zugefügt hatte. Nur allein mit diesen Bildern.

Vom Rest wollte er gar nicht sprechen.
 

Gegen Nachmittag begann er dann mit Jei alte Übungen aus SZ Tagen zu machen und er spürte wie einige Teile seiner Fähigkeiten wieder verfügbar waren. Aber es war, als würde er durch zähflüssigen Honig sehen, greifen und hören.
 

Erst spät am Abend fuhr er mit Brad nach Hause, der den Wagen dann wieder mitnahm. Schuldig hatte ihn nicht danach gefragt, ob er mit Ran etwas am Laufen gehabt hatte. Es schien ihm ungerecht und deplatziert. Außerdem hatte er festgestellt, bei aller Eifersucht… es wäre ihm egal gewesen, wenn ja.
 

Die nächste Nacht verlief nicht besser und er wartete ab vier Uhr morgens nur mehr darauf, dass er aufstehen, sich anziehen und Ran suchen konnte. Er hielt es einfach nicht mehr aus ohne ihn, ohne dass er ihn im Arm halten konnte und durfte.

Viel zu sehr sehnte er sich nach diesem Mann, nach der Wärme, der Geborgenheit und dessen Liebe.

Er musste mit ihm reden, ihn überzeugen, wieder zu ihm zu kommen. Sie mussten doch eine Lösung finden, für welches Problem auch immer.
 

Aber… wo war Ran? Der einzige Ort an dem er seine Suche beginnen konnte war …
 

o~
 

„…im Koneko. Was kann ich für Sie tun?“, fragte Youji und nahm die Bestellung für eine Hochzeit in drei Tagen in Empfang, die sie schon vorher abgesprochen, aber jetzt nur noch extra zusammengestellt hatten. Die Elemente mit den Weidekätzchen, dann die Rosen in gelb und rosé, eine rote Rose, viele Gerberas… das würde eine Heidenarbeit werden. Wie er sich darauf freute.

Lautlos gähnen schloss er den Bestellzettel ab und bedankte sich bei dem Kunden, legte auf. Der Laden war um diese Uhrzeit noch nicht so bevölkert, doch Youji war schon recht produktiv gewesen, wie er sich selbst loben musste. Er hatte bei den Vermietern angerufen, sich erkundigt, ob Ran sich bei ihnen eingemietet hatte nach ihrem Gespräch. In der Tat… Ran war tatsächlich da. Sehr schön. Dann hatte er sich erst einmal um sich selbst gekümmert und dann den Laden auf Vordermann gebracht.
 

Er heftete den Zettel an ihre Bestellwand und machte sich mit der Gießkanne daran, die Pflanzen zu gießen, die noch Wurzeln hatten.
 


 

Die Tür öffnete sich geräuschlos, erst als Schuldig eingetreten war, hörte er den melodischen Ton, der das antike Palimpalim abgelöst hatte.

Da seine Fähigkeiten mit Abwesenheit glänzten hatte er sich dafür entschieden auf altbewährte Art hier aufzutauchen. Durch den Vordereingang und gut getarnt, sodass er nicht so schnell erkannt werden konnte. Hoffte er zumindest.

Noch immer fraß die Unsicherheit und Angst in ihm an dem Loch, welches stetig größer wurde.
 

Sein Haar war zusammengebunden und unter einer schwarzen Wollmütze versteckt, seine Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. Wie gut, dass es Tag war und es Tokyo war. Kein Grund, wegen einem Mann mit Sonnenbrille im Winter misstrauisch zu werden!

Dazu hatte er sich für eine Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover samt schwarzer taillierter Glattlederjacke entschieden, unter der ein Holster samt Halbautomatic ruhte.

So stand er nun, seine Hände in Lederhandschuhen versteckt inmitten von Pflanzen und sah sich erst einmal innen, dann sofort mit einem Blick auf die Straße gerichtet dort um.

Es war ihm augenscheinlich keiner gefolgt.
 

„Einen schönen guten Tag!“, flirtete Youji und drehte sich um… und blieb im nächsten Moment wie erstarrt stehen. Auch wenn man anhand der Sonnenbrille und der Mütze die Augen und Haare des Telepathen nicht erkennen würde, so wurde ihm spätestens durch den geheimnisvollen Aufzug des Deutschen klar, um wen es sich hier handelte. Das war also der Todgeglaubte.

Youji seufzte schwer. Wenn Schuldig noch auf zwei Beinen laufen konnte…

„Hallo Schuldig“, grüßte er den anderen ruhig.
 

Dieser nahm die Brille ab und grinste missglückt, ein wenig verlegen. Sein Aufzug war nicht der Beste, schon allein die dunkle Mütze ließ sein Gesicht schmaler und blasser erscheinen. Aber… daran konnte er jetzt auch nichts ändern. Es ging ihm nicht gut, warum sollte er es verbergen?

Nur… dass er sich schutzlos und angreifbar ohne seine Telepathie fühlte, brachte ihn fast um… den Verstand.

„Hi“, sagte er etwas unbeholfen und holte tief Luft. „Ähm. Hast du… habt ihr… Ran gesehen?“ Er schluckte, war nervös und zog die Brauen zusammen.

Er hasste diese Situation. Ran war weg.

Wegen ihm.

Und er fühlte sich mies deshalb, ihm war zum Heulen zumute. Jetzt sofort, hätte er losplärren können.
 

Oh Himmel…Schuldig war noch fertiger, als er es in Verdacht gehabt hatte. Anders konnte sich Youji das Auftreten des Telepathen nicht erklären, der ihm gleich davon zu laufen schien, wenn er die falsche Bewegung machte.

„Er war hier… ja“, bestätigte Youji und nickte dem anderen Mann zu, ihm in die Küche zu folgen. Von dort aus suchte er nach Omi und bat ihn, für ihn eben kurz auf den Laden aufzupassen, weil er ‚wichtigen Besuch’ hatte. Omi war zwar nicht begeistert, steckte seinen Kopf aus dem Wohnzimmer und seine Augen wurden groß, als er Schuldig sah. Doch Youji gab ihm zu verstehen, dass der andere Mann nun keine aufgeregten Fragen gebrauchen konnte und Omi zog sich wieder zurück…wie Youji jedoch vermutete mit großen Ohren zum Lauschen. Er konnte es ihm nicht verdenken. Omi wusste zwar, dass Schuldig lebte, doch ihn zu sehen…
 

Youji selbst kam wieder in die Küche zurück und schloss die Tür hinter sich. „Du siehst scheiße aus“, sagte er dem Telepathen ins Gesicht und holte aus dem Kühlschrank Saft, schenkte Schuldig ein Glas ein. „Willst du was essen? Was Warmes? Siehst aus, als könntest du es vertragen.“
 

Schuldig folgte dem Wink und fand sich in der Küche wieder. Wo sonst?

Wurden nicht alle wichtigen Gespräche in der Küche absolviert oder war nicht der beste Ort auf einer Party… die Küche?

„Danke. Ja… ich habe noch nichts gegessen.“ Das war alles was er dazu sagte. Nein, danke ich möchte nichts, oder ja bitte, ich möchte etwas, kam ihm nicht über die Lippen, nur die Information, dass er noch nichts gegessen hatte und eine magere Bedankung für das Getränk.

Er setzte sich und zog seine Mütze vom Kopf, knetete sie in seinen Händen.

„Er… ich…“ fing er eine Erklärung an aber wirklich voran kam er nicht. „Geht es ihm gut?“, fragte er anstatt dessen und blickte hoffnungsvoll auf, vorsichtig.
 

Youji wandte sich zunächst zum Herd und stellte die Misosuppe, die es heute zum Frühstück gegeben hatte, auf große Flamme. Er holte eine Schale aus dem Schrank und legte Stäbchen hinzu, bevor er sich zu Schuldig umdrehte.

„Er ist verstört. War es, als er die Nachricht von deinem angeblichen Tod erhalten hat, ist es jetzt wieder. Es geht ihm nicht gut“, erwiderte er dann wahrheitsgemäß. „Wo warst du diese zwei Wochen, Schuldig?“
 

Dieser stützte seine Unterarme auf sein Knie und starrte auf den Boden vor sich hin, drehte seine Mütze dankbar für die Beschäftigung, die seine Hände somit hatten.

„In Gefangenschaft. China. Unser Auftrag… jemand hat uns gelinkt. Wir sind darauf hereingefallen. Und… wieder…“, er lachte glücklos auf, wischte sich eine lose Strähne aus dem Gesicht. „…bin ich es der einbehalten wurde. Das sollte mir langsam zu denken geben. Vor allem… haben sie mich wieder mit Drogen ausgeknockt.“ Tja… wie Kritiker nur im größeren Stil. Er war wirklich dumm. Ein dummer Mensch.
 

„…und wieder konntest du nichts dafür, weil der Plan einfach zu gut war, als dass du irgendetwas dagegen hättest du können“, vollendete Youji die Selbstanklage des Deutschen so wie er die Situation sah und schüttelte den Kopf.

„Das klingt, als wärest du schuld daran. Schwachsinn.“

Hinter ihm hatte die Suppe angefangen zu kochen und er setzte sie von der Platte, schenkte Schuldig ordentlich ein und stellte die Schale samt Stäbchen vor dem Telepathen auf den Tisch. Das war alles eine große Scheiße, befand Youji. Schuldig tat ihm wirklich Leid, ebenso wie Ran und er wünschte sich nichts sehnlicher für die Beiden, dass sie wieder glücklich miteinander wurden. Doch momentan? Schwierig, das war es.

„Weißt du, wer dich gefangen gehalten hat?“
 

Schuldig blickte auf. „Ja, unser Ziel. Einer der großen Bosse aus Hongkong, wenn nicht gleich DER große Boss“, murmelte Schuldig. „Die hatten gewusst, dass wir kommen und uns dann sauber in die Pfanne gehauen. Es waren einfach zu viele. Als hätten sie gewusst, dass ich mit dieser Masse nicht klar kommen würde. Als wir den Auftrag starteten, war es, wie es sein sollte, die übliche Zahl an Wachpersonal, alles hübsch normal. Als wir dann auf dem Grundstück waren, waren es fünfmal so viele. So schnell kann ich kein Netz errichten, das geht einfach nicht. Und… alles andere hätte Brad gefährdet. Ich entschied mich für Brads Sicherheit in einem Atemzug und dann lag ich auch schon auf dem Rasen mit einer Waffe auf mein Gesicht gerichtet“, erzählte er die Kurzfassung.

Er wandte sich an den Tisch um und erhob sich dann doch, zog sich seine Jacke aus, diese, samt Handschuhen und Mütze auf den benachbarten Stuhl ablegend. Erst dann zog er sich die Schale heran. Sie war heiß.
 

Youji ließ Schuldig erst einmal Ruhe essen und überdachte die Worte seines Gegenübers. Schwarz wurde gelinkt. Sehr dumm, das nicht in Verbindung mit Ran zu bringen, der nicht vor allzu langer Zeit von diesen Typen zusammengeschlagen worden war.

Schwarz war aufgeflogen… im Privaten wie auch im Beruflichen. Es war eine deutliche Warnung, das konnte Youji sehen und er sah aus der ganzen Misere nur einen Ausweg: dass Schwarz für immer aus Tokyo verschwanden, untertauchten und sich abschotteten.

Was natürlich nicht die Ideallösung für Rans und Schuldigs Beziehung war.

„Du siehst alles in allem recht unversehrt, aber geschwächt aus. Geht es dir gut oder haben sie dir noch andere Dinge angetan?“, fragte er ruhig und setzte sich auf die andere Seite des Tisches, spielte nun mit seinem Glas.
 

Schuldig trank einen Schluck der wohlschmeckenden wärmenden Suppe, ließ den anderen nicht aus seinem taxierenden Blick dabei. Er wollte nicht, dass jeder wusste, was er auf seiner Rückseite hatte. Aber lügen brachte auch nicht wirklich etwas…

„Nichts, was ein Pflaster nicht wieder heil macht“, gab er zurück, doch sein fester Blick in Yohjis Augen sagte mehr, vor allem aber, dass dieser seinen Mund halten sollte, falls er mehr vermutete. Weder wollte er darüber sprechen, noch sollte Yohji Mutmaßungen anstellen.
 

„Darum sollte sich dann Ran kümmern“, lächelte dieser mit Bedacht in der Stimme und nickte. Anscheinend hatte Schuldigs Freizügigkeit gerade eben ihre Grenze erreicht. Nicht, dass Youji es nicht verstehen könnte. Es war in der Tat wirklich etwas, mit dem nur Ran umgehen können würde. Wie sich das allerdings auf ihre zukünftige Beziehung auswirken würde, stand noch in den Sternen.
 

Er saß einige Augenblicke da, trank seine Suppe, fischte die Einlagen heraus und legte nach Beendigung des Mals die Stäbchen beiseite, dabei in die leere Schale starrend.

„…ich saß in diesem Drecksloch und ich dachte nur“, fing er aus heiterem Himmel an. „…ich muss zurück zu ihm. Weil er doch sonst durchdreht, weil er doch sonst aufhört zu essen, weil er es nicht ertragen würde. Nur allein deshalb hätte ich sie alle vernichtet. Nur deshalb.“

Er holte tief Luft und blickte dann auf. Seine Augenfarbe hatte ein intensives Grün angenommen.

„Und dann komme ich nach Hause und sie starren mich an, der eine bricht mir halb den Kiefer und der andere… weicht vor mir zurück. Ran… ich… ich komme zurück und er entfernt sich von mir…“, fast unverständig blickt er zur Seite, die Augen ins Nichts gerichtet.

„Es war, als wäre es besser gewesen dort zu bleiben, sie im Glauben zu lassen ich wäre tot, dann wäre doch alles prima für die beiden oder? Sie könnten sich trösten und…“ Er holte tief Luft und schüttelte einmal den Kopf, sah wieder zu Yohji hin, doch fast durch ihn hindurch mit einem abwesenden Lächeln. „Vergiss es, ich rede einen Mist zusammen, liegt wohl daran, dass ich nicht besonders gut schlafe…“
 

„Ja… du redest ganz große Scheiße, mein Lieber“, knurrte Youji wütend. Er glaubte nicht richtig zu hören. Es wäre besser gewesen, dass Schuldig dablieb und Ran trauern ließ…verzweifeln ließ? Youji hielt Schuldig zugute, dass dieser noch unter Schock stand, sonst hätte er ihm eine reingehauen.

„Während du in dem Drecksloch saßt, saß Ran zusammengekauert bei mir oben im Zimmer in der Ecke, hat sich die Augen ausgeheult und um sich geschlagen, als ich versucht habe, ihn zu trösten. Er konnte noch nicht einmal atmen vor Trauer, vor Tränen und vor Verzweiflung, dass er auch noch das Letzte verlor, was er geliebt hat. Das hat er nämlich immer wieder gesagt… ‚aber ich habe ihn doch geliebt’ …immer und immer wieder. Er IST durchgedreht und er HAT aufgehört zu essen und nur DEIN Anführer hat ihn dazu gebracht, weiter zu machen. Sich jeden Tag wieder hochzuquälen, zu essen, sich um sich zu kümmern… weil er keinen SINN mehr gesehen hat.

Und dann… dann kommst du wieder und…“

Youji stockte und raufte sich die Haare, schüttelte fassungslos den Kopf.

„Klar ist es SCHEIßE für dich, wenn sie dich beide abweisen… aber was meinst du, was sie in dem Moment gedacht haben… oder ob sie überhaupt dazu in der Lage waren… oder ob sie einfach Angst hatten. Was meinst du, was sie in den zwei Wochen durchgemacht haben?“ Wir alle!, fügte er in Gedanken an, veräußerte es jedoch nicht laut.
 

Schuldig ließ die Worte über sich ergehen, er fühlte sich nicht in der Lage etwas zu erwidern. Es trieb ihm nur wieder die Tränen der Schwäche, der Resignation, der Müdigkeit und der Schmerzen in seiner Seele, in die Augen.

Es tat ihm in der Seele weh, so schwach zu sein, dass er wegen jedem lauten Wort schon eine enge Brust bekam. Wo war seine Schwärze, seine Stärke, wenn er sie mal brauchte?

Aber er wusste zu gut, dass sie lauerte, dass er sie bewusst unterdrückte, weil er ihr derart harsch sagte, dass er alles unter Kontrolle hatte, sodass sie es auch glaubte.
 

Tränen in Schuldigs Augen zu sehen, war trotz seiner ehrlichen Worte das Letzte, was Youji gebraucht hatte um sich richtig gut zu fühlen, wie er zynisch anmerkte. Er kam sich wie der letzte Sadist vor und der Telepath wie ein getretenes Hündchen - von IHM wohlgemerkt.

„Halt dir vor Augen, wo ihr gestartet seid und nimm das, was noch von dir übrig ist zusammen, um zu ihm zu gehen. Ich habe ihm eine Wohnung hier in Tokyo Wohnung vermittelt. Fahr hin und rede mit ihm. Er braucht das, du brauchst das, ich brauche das für meinen Seelenfrieden.“
 

„Dann sollte ich wohl los, nicht dass ich dir noch einen Psychiater empfehlen muss“, sagte Schuldig leise, aber eigentlich sollte es ironisch gemeint sein, nur kam diese Ironie nicht wirklich durch die waidwunde Stimme hervor. Man hörte, dass tief unter all dem Verletzten der alte Schuldig war.

Er nahm einen Schluck von dem Saft und noch einen, bevor er sich erhob. „Danke… für die Suppe“, sagte er und zog sich die Jacke über. Er wollte sich noch für die Adresse bedanken, aber brachte es nicht wirklich raus.
 

„Nichts zu danken, für den zukünftigen Schwager doch immer gern.“

Youji nickte dem anderen Mann lächelnd zu, doch insgeheim schauderte es ihn vor der zusammengesunkenen Gestalt. Schuldig so menschlich, so schwach zu erleben, hatte etwas Verstörendes an sich, das er in der nächsten Zeit nicht noch einmal wiederholen wollte, wenn man ihn fragte.

Er hoffte wirklich für die beiden, dass sie es geregelt bekamen, denn dass es dem einen ohne den anderen schlecht ging, war einfach nicht zu übersehen.
 

Schuldig überhörte das Gesagte zumindest reagierte er es äußerlich nicht darauf, sein Gesicht schien wie eingefroren zu sein. Als hätte er den größten Teil seiner Fähigkeit, mit dem Gesicht seine Gefühle auszudrücken, eingebüßt. Trotzdem musste er innerlich doch über Youjis Bemerkung schmunzeln.

„Schreibst du mir die Adresse auf?“, bat Schuldig, zog den Reißverschluss der Jacke bis zur Mitte hoch, sodass er immer noch locker seine Waffe ziehen konnte.

Er setzte sich die Mütze wieder auf, stopfte seine auffälligen Haare wieder darunter und zog seine Handschuhe wieder an.
 

„Natürlich.“

Youji angelte nach einem Zettel und kritzelte die goldenen Schriftzeichen darauf. Schuldig würde eine Weile unterwegs sein um dorthin zu gelangen.

„Vielleicht solltest du etwas zu essen für ihn mitnehmen, er wird sicherlich noch nichts zu sich genommen haben“, schlug er vor und reichte Schuldig den Zettel.
 

Das lockte ein sanftes Lächeln auf Schuldigs Gesichtszüge, als er auf den Zettel blickte und er nickte, bedankte sich nun doch und steckte den Zettel sorgsam ein. „Gute Idee“, wisperte er und überlegte sich bereits Rans Lieblingsspeisen… schade, dass er die Honig -Mandel-Bällchen nicht vorbereitet hatte… aber wenn sie nach Hause kamen, würde er sie machen! Nur für Ran!
 

„Ich hab immer gute Ideen, noch nicht gewusst?“, grinste Youji selbstsicher, aber mit einem Zwinkern. „Und nun raus hier. Du sollst deine Zeit schließlich nicht hier vertrödeln, sondern mit Ran sinnvoll nutzen“, meckerte er väterlich, aber nachsichtig und hob eine Augenbraue.
 

Schuldig nickte nur und machte sich zur Tür hinaus. Er hoffte, dass Kudou Recht behalten würde, dass Ran es brauchte, wenn er mit ihm sprach, dass er es wollte, dass Schuldig zu ihm kam, doch er fürchtete sich zeitgleich auch, dass Ran ihn erneut ablehnte.

Was sollte er dann machen?
 

Er verließ diesen Stadtteil gen Westen.
 

o~
 

Wenn diese möblierte Ein-Zimmer-Wohnung etwas Gutes hatte, dann war das ihre Aussicht. Im vierzigsten Stock eines Wohnbunkers konnte er alles überblicken, was Tokyo darstellte, so er denn gewollt hätte. Doch Aya saß seit anderthalb Tagen am schmutzigen Fenster und starrte blicklos heraus, die Geräusche der anderen Hausbewohner ein stetiges Hintergrundmurmeln…mal leiser, mal lauter, je nach Situation.

Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren und sich darüber klar zu werden, wie es jetzt weitergehen würde. Zu einem Ergebnis war er nicht gekommen, doch Ausgangspunkt war immer Schuldigs Rauswurf.

Zurecht oder nicht zurecht, das war egal… aber Aya wusste, dass er es genauso wollte. Schuldig so in Erinnerung behalten, wie er ihn zuletzt gesehen hatte: abgekämpft, sichtlich gezeichnet, aber lebend… das war das Wichtigste. Lebend, nicht tot.
 

Wenn er jetzt ging und nie wieder kam, konnte er sich für immer einreden, dass Schuldig es überlebt hatte und dass es diesen außergewöhnlichen Menschen doch noch gab. Dann konnte er sich abschotten, weggehen und sich stählen, so wie er es zu Weiß’ Zeiten mal getan hatte. Verlieben würde er sich nie wieder, geschweige denn, dass er jemanden so nah an sich heran lassen würde, dass er ihm emotional gefährlich werden könnte.

Sein Team besaß genug seiner freundschaftlichen Gefühle, die er noch aufbrachte… sie würde er nicht hinter sich lassen können, ebenso wenig wie Schuldig. Doch… sie würden eine positive Erinnerung in dem dunklen Chaos bleiben.
 

Alles in allem klang das gut, ein umsetzbarer, realistischer Plan, nachdem er in der nächsten Zeit leben konnte. Dass er dafür aus Tokyo wegmusste… war ein Übel, das unumgänglich war. Denn sonst hätte er immer wieder die Chance und die Gefahr, auf Fragmente seiner Vergangenheit zu treffen. Oder die Chance, dass Fragmente seiner Vergangenheit ihn fanden, so sie denn wollten.

Ran bettete seine Schläfe auf die angezogenen Knie und schloss die Augen. Einmal Einzelgänger, immer Einzelgänger, oder wie sagte man so schön?

Der Tod seiner Eltern hatte ihn zu einem regelrechten Soziopathen gemacht, jemand, der von anderen Menschen fernhielt, aber auch jemand, der gleichzeitig die Nähe einigerweniger suchte. Doch ein gebranntes Kind scheute Feuer. Sehr sogar. Und wenn dieses Feuer Trauer und Verzweiflung hieß, so wollte er es kein zweites Mal durchleben.
 


 

Samt zwei Tüten und deren leckeren Inhaltes ging Schuldig nach einer längeren Stop-and-Go-Fahrt durch die Stadt zu dem aparten Hochhaus. Er hatte seinen Wagen weiter weg geparkt und öffnete nun die Eingangstür des Wohnhauses, ging zu den Aufzügen und stieg in einen der Wartenden ein. Er drückte den Knopf, auf dem die 24 stand und wartete ungeduldig, bis er oben angekommen war. Der Flur war leer, dunkel und nicht wirklich anheimelnd.

Er sah sich um und blickte auf die Wohnungsnummern, ging dann zügig in den hinteren verwinkelten Teil des Stockwerkes, bis er vor der Nummer stand, die Kudou ihm aufnotiert hatte. Er klopfte einigermaßen selbstsicher, auch wenn er das momentan überhaupt so gar nicht war. Er hatte Angst, dass Ran…

Nein, denk nicht daran! Sprich erst mit ihm…
 

Aya konnte dieses Geräusch, das seine Stille durchbrach, erst gar nicht richtig zuordnen, bis er darauf kam, dass es wohl seine Tür sein musste. Wer auch immer das war, er hatte keine Lust aufzumachen und sich irgendwelchen Problemen zu stellen, die dort auf ihn zukommen mochten. Hier war eine... nicht seine Höhle, in der er sich verkriechen konnte und hinter der Tür war draußen, die Welt, die er erst wieder betreten würde, wenn er innerlich genug gestärkt war.
 

Wie er sich allerdings innerlich stärken sollte, wenn er es schon körperlich nicht schaffte, war die andere Frage. Dazu hatte er sich in den letzten Tagen einfach zu oft und zu sehr darauf verlassen, dass Crawford für ihn kochte und er sich ins gemachte Nest setzen konnte... verwöhnt, wie er war. Vorbei, ein für alle Mal.

Das musste sich ändern, das wusste Aya nur zu gut und den halbherzigen Entschluss hatte er auch schon gefasst... ein guter Vorsatz.

Doch was sagte man zu guten Vorsätzen so schön? Sie waren die Pflastersteine in wärmere Regionen... sprich, der Weg zur Hölle.

Nicht, dass er sich nicht noch mehr in der Hölle fühlen konnte wie jetzt.
 

Sein Blick glitt zur Tür, als könne er durch das Metall sehen, wer dort stand. Vielleicht waren es aber auch die Vermieter, die wirklich nett waren...

Pflichtgefühl schlich sich in ihn, ebenso wie der Gedanke, dass er sich nicht so dermaßen gehen lassen konnte.

Es brauchte seine Zeit, bis Aya mit sich übereingekommen war, dass er doch hinging; um des Hingehen Willens, auch wenn er sich bewusst war, dass er nicht wie das blühende Leben aussah und schon gar nicht so roch. Doch wie war das mit dem Alleinsein? Irgendwann wurden gewisse Dinge bedeutungslos.
 

Er schlich zur Tür und öffnete sie, doch weder der Vermieter noch irgendwelche Nachbarn standen dort...

Schuldig war es und es roch nach Essen... das der andere Mann mitgebracht hatte und in der Hand hielt.

Der Mann, der es alleine mit seinem Anblick schaffte, seinen Entschluss zum Wanken zu bringen, wenngleich Aya innerlich dagegen anschrie, sich wehrte und am liebsten diese Zweifel ausgelöscht hätte.
 

Wie auch schon zuvor brachte Aya kein einziges Wort heraus, sondern starrte den anderen Mann wortlos an... zu gelähmt um irgendetwas zu sagen, immer noch das Bild des angeblich Toten vor seinen Augen.
 

Reiß dich zusammen, schallte es in Schuldig, als die Tür sich öffnete und tatsächlich – entgegen seiner Ängste – Ran vor ihm stand. Wieder wachsbleich werdend und stumm wie ein Fisch.

Er trat keinen Schritt zurück um ihn einzulassen, hielt nur die Tür fest und stand unbeweglich da. Sie starrten sich an wie zwei Fremde und wieder spürte Schuldig diesen Druck in der Brust, diese Enge, die dieses verrückte Chaos in ihm auslöste.

In der Linken hielt er die Tüten mit den kleinen Kartons und Schächtelchen, samt Getränken. Mit der anderen Hand zog er sich nun die Mütze vom Schopf. Er kam sich vor wie ein Bettler, der von Haus zu Haus zog.

„Ran… warum… sagst du denn nichts?“, wollte er leise wissen und vorsichtig, als könnte er den anderen verschrecken. „Ist… es so schlimm, dass ich wieder da bin?“, versuchte er Ran die Möglichkeit zu geben, wenigstens einen Laut von sich zu geben, ihn auf das notwendige Thema zu lenken.
 

„Es ist schön… es ist das, was ich mir gewünscht habe“, sagte Aya schließlich rau, gepresst. Zwei Wochen lang hatte er es sich gewünscht, hatte davon geträumt, nur um aufzuwachen und festzustellen, dass es eben nicht der Fall war, um festzustellen, dass es immer noch Crawford war, der mit ihm in dieser Wohnung war…einzig und allein aus dem Grund, dass Schuldig ihn darum gebeten hatte, kurz bevor er ‚starb’.

Für einen Augenblick erwog Aya, Schuldig nicht hereinzulassen, denn das würde bedeuten, dass er sich aktiv mit diesem Thema auseinander setzen musste… doch im nächsten brachte er es nicht übers Herz. Dafür hatten sie zuviel geteilt…viel zu viel. Dafür las er zuviel Schmerz in diesen bekannten Iriden.

Wortlos trat er zur Seite.
 

Schuldig trat ein, blieb auf Höhe von Ran stehen und sah in die violetten Augen, die er so sehr vermisst hatte. „Manchmal, bekommen wir das, was wir uns wünschen, Ran. Ich… ich habe mir sehr gewünscht, dass ich wieder zu dir kommen darf. Es war mein einziger Wunsch.“ Schuldig lächelte und zwinkerte versöhnlich um in den Raum einzutreten. Er wandte sich von Ran ab, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Danach fühlte er sich wieder etwas stärker und er öffnete sie wieder, sah sich jetzt um und fand einen Tisch, auf dem er die beiden Tüten abstellte und sich dann umwandte, die Mütze in den Händen.

Nun, wo er hier war, wusste er die Kluft zwischen ihnen nicht zu überbrücken. Er wusste einfach nicht, was er sagen, was er tun konnte um Ran wieder näher zu sich zu holen.
 

Aya schloss die Tür und drehte sich schließlich langsam zu Schuldig um. Es war ein Fehler, dass der andere Mann hier war… ein großer Fehler.

Mit hängenden Armen und eingesunkenen Schultern stand er an der Tür und musterte den Telepathen. Schuldig ging es nicht gut, das sah er… aber er war am Leben.

„Meiner war es auch. Aber es gab kein Happy End… für zwei Wochen nicht“, sagte er, den Blick in die kaum vergangene Zeit gerichtet.
 

„Das weiß ich, Ran“, erwiderte Schuldig ruhig und langsam. Er schwieg eine Zeit lang, lehnte sich am Tisch an. „Es tut mir leid, dass ich dich weggeschickt hatte. Ich… war sehr müde und brauchte Zeit für mich. Nein, das stimmt so nicht…“, schüttelte er gleich den Kopf über seine Worte, die nichts weiter waren, als eine hohle Phrase.

„Ich… es… tat mir weh, wie ich von allen empfangen wurde. Auch von dir“, schloss er an.

Er musste es erwähnen, es würde sie nicht weiterbringen, wenn er mit Halbwahrheiten hantierte.
 

„Und wie hast du dir den Empfang vorgestellt? Dass ich dir in die Arme falle, nachdem ich zwei Wochen vorher zu Schwarz gefahren bin und mir die Bilder deiner Leiche angesehen habe?“, fragte Aya mit lebloser Stimme, in der nur ein Quäntchen des Schmerzes durchschien, dem er in den letzten zwei Wochen ausgesetzt gewesen war.

„Wie ist es wohl, wenn man den einen Tag überlegt, ob man nicht Schluss machen soll mit allem und am anderen Tag das Wunder geschieht?“

Er wandte sich ab und ging zur kleinen Küchenzeile, nahm zwei Gläser aus dem Schrank. Er füllte sie mit Leitungswasser, weil er nichts anderes hier hatte und kam zu Schuldig zurück, reichte ihm das zweite.
 

Es war Spott, den er nicht verdient hatte und es tat weh, diese Worte zu hören. Schuldig konnte Ran nicht in die Augen sehen, als dieser ihm das Glas reichte und er stellte es auf den Tisch ab. Er entfernte sich langsam von Ran zum Fenster hin, blickte hinaus.

Gerade jetzt stellte er fest, dass er noch nicht…

„Ich… ich glaube, ich bin noch nicht bereit für dieses Gespräch. Ich glaube… ich hätte nicht hier her kommen sollen“, sagte er leise mit gedrückter Stimme.

Es tat sehr weh, was Ran sagte und er wusste, dass er Recht damit hatte, zumindest damit, dass er sich mehr bemühen hätte sollen zurückzukehren, oder zumindest nicht gefangen genommen zu werden.

Er presste die Augen zusammen. Natürlich hätte er das nicht erwarten dürfen. Diese Wärme nicht erwarten dürfen.

Mühsam schluckend öffnete er die Augen wieder und wandte sich mit einem Lächeln um. „Ich war im Irrtum. Wenn du… es gestattest, dann können wir vielleicht irgendwann noch einmal darüber reden, aber jetzt… ich…“ Er nickte und ging zur Tür.

Es war so, dass es einfach nicht ging. Er konnte sich jetzt keine Vorwürfe anhören, keine Schuld… sich nicht noch mehr Schuld aufladen.
 

Aya sah auf das Glas in seiner Hand, stellte es dann langsam auf den Tisch.

„Nein“, sagte er mit dem Rücken zu Schuldig. „Es wird kein zweites Mal geben. Diese Wohnung ist nur eine Übergangslösung. Ich werde aus Tokyo weggehen… denn noch einmal überstehe ich es nicht, dich tot zu glauben und dich wiederkommen zu sehen. Dazu liebe ich dich zu sehr.“

Er lächelte bitter. Und manchmal brachte man im Namen eben dieser Liebe eben Opfer, hackte sich selbst das Herz heraus und schickte denjenigen weg, der für eine kurze Zeit im Leben alles für einen bedeutet hatte.

Liebe ging seltsame Wege.
 

Schuldig blieb stehen und lächelte grimmig, verächtlich, drehte sich aber noch nicht um.

„Du gehst, weil du es nicht erträgst, für diese Liebe zu kämpfen? Ist das nicht doch etwas zu einfach?“, sagte er laut. „Und was ist mit mir? Ist dir scheißegal, was mit mir ist? Wie es mir dabei geht? Ist dir nur wichtig, dass du nicht mehr jemanden verlieren würdest – falls es dazu kommen würde.“ Er verstummte kurz. „Ist es das?“

Sich umwendend blickte er auf die ihm den Rücken zu wendende Gestalt. „Und was ist mit mir? Meinst du nicht, ich habe Todesängste ausgestanden, wenn du raus bist und Kritiker auf dich gelauert haben? Meinst du nicht, ich habe Blut und Wasser geschwitzt, als sie dich in ihren Händen hatten? Ich würde alles für dich tun. Das Einzige, was mich am Leben gehalten und mich vor den Folterern bewahrt hatte, war der Gedanke an dich, an deine warmen Augen, an dein Lächeln und deine Wärme. Nur das. Und das nimmst du jetzt weg? Glaubst du nicht, dass ich es wert bin, dass du mich ein Stück weit meines Lebens weiter begleitest? Dass wir ein Stück weit gehen können? Woher sollen wir denn wissen was morgen oder übermorgen ist? Aber die Zeit bis dort hin… was ist mit der?“ Seine Stimme war leiser geworden, verbitterter. Er sah hier nicht mehr viel Hoffnung, so wie Ran sich abgewendet hatte.

„Willst du sie alleine in Verbitterung verbringen? In Angst vor dem Leben oder vor dem Tod? Oder willst du sie genießen? Mit jedem Atemzug?“ Er verstummte, starrte den Rücken an, blickte dann an Ran herab bis auf den Boden.

Das war also das Ende? Der Bruch?

Hatte er nicht vor kurzem noch gedacht, sie würden auseinandergehen…und später hieß es dann: sie liebten sich, aber sie konnten nicht miteinander leben…
 

„Oh ja… ich bin ein herzloses, verbittertes Stück… was soll ich genießen, Schuldig, was?“, sagte Aya und drehte sich ruckartig um. Seine Augen loderten vor Wut. „Soll ich genießen, bei JEDEM Auftrag, den du jetzt haben wirst, meinerseits Todesängste auszustehen? Vielleicht kommt er ja nicht wieder und wenn er nicht wiederkommt, lebt er noch? Jedes Mal wieder? JEDES VERDAMMTE MAL?“ Aya war sich nicht bewusst, dass er immer und immer lauter geworden war.

„Du warst alles, was ich hatte und von einem auf den anderen Tag wurde mir das hier raus gerissen!“ Er stach sich mit Finger an die Brust. Seine Augen funkelten erbost, waren dunkel vor Verzweiflung und auch Zorn.

„Was meinst du, wie oft ich an deine Arme, an deine Augen und Berührungen gedacht habe? Wie oft ich davon geträumt habe nur um aufzuwachen und festzustellen, dass die Wohnung bis auf Banshee und mich leer ist und dass du nur noch als Geist in deinen Sachen existierst… mit dem Wissen, dass ich dich NIE mehr berühren kann… dass du nie mehr mit mir reden wirst? Was denkst du, wie oft ich das noch machen kann? Ja… meine Angst ist, dass ich noch jemanden verliere… ich habe meine Eltern verloren, meine Schwester und dann noch dich. Ich werde verrückt, wenn das noch einmal geschieht…“ Oh ja, das wurde er. Er war es jetzt schon, hatte jetzt schon einen Schaden davon behalten. Nicht noch einmal…das konnte er doch nicht.

Einsam Zweisam

~Einsam Zweisam~
 


 

Schuldig spürte wie ihm erneut Tränen in die Augen schossen, sie liefen nicht… noch nicht, aber er fühlte sie bereits.

„Ich bin nun… einmal was ich bin“, versuchte er es erneut.

„Unsere Welt ist nicht heil… sie kann jederzeit zerbrechen, jederzeit kann einer von uns sterben. Was soll ich dagegen tun, wenn ich mich nicht selbst verleugnen will?“

Er presste die Lippen für einen Moment zusammen. „Aber… du hast Recht. Ich… will nicht, dass du leidest und Angst hast. Und wenn ein Leben ohne mich keine Angst davor jemanden zu verlieren bedeutet, dann musst du wohl gehen.“ Warum zum Teufel hörte sich seine Stimme nur so erbärmlich an? Warum so verbittert? Das wollte er so nicht.

„Auch wenn dieses Leben dann vermutlich sehr einsam und arm an Gefühlen werden wird. Liebe bedeutet Risiko, Schmerz und Leid. Hast… du das nicht gewusst?“, fragte er jetzt leise und er lächelte, Ran dabei allerdings nicht ansehend.

Was sollte er jetzt noch sagen? Er wusste nicht, was er noch vorbringen sollte, Ran hatte seine Entscheidung getroffen, er hatte heute nicht die Kraft ihn umzustimmen.
 

Schuldig sprach das aus, was er sich selbst gesagt hatte, was er wusste und was sein Grund war… doch bei ihm hatte es nicht so wehgetan, wie es hier der Fall war… oder lag es an Schuldigs aufkommenden Tränen? Wortlos sah Aya den anderen Mann an und sagte nichts… was konnte er auch schon sagen?

War es wirklich etwas anderes, wenn Schuldig ihm noch einmal die Konsequenzen aufzählte? Es ihm direkt ins Gesicht sagte.

Doch wenn es so logisch und rational war, warum vergoss er nun die Tränen, die in Schuldigs Augen standen? Lautlos hatten sie ihn überfallen und flohen nun aus ihrem Gefängnis.
 

Nervosität und Hektik machte sich in Aya breit, als er sich umwandte und ein weiteres Mal zum Schrank ging… das Essen wurde sicherlich kalt und es musste doch noch gegessen werden, sagte er sich selbst, während er zwei Teller hervorholte, dazu Stäbchen und zum Tisch zurückkehrte.

Er wollte Schuldig fragen, wie viel er ihm auf den Teller geben sollte, doch er brachte keinen Ton heraus, so sehr zitterten seine Lippen, so sehr zitterte er selbst.

Die linke Hand hatte eine Strähne seiner losen Haaren gegriffen und zog daran, wie sie es in den vergangenen Wochen so oft getan hatte, während die andere die Teller verteilte und ungeschickt die Beutel löste.
 

Schuldig sah auf, mit fragendem Blick, als er Rans plötzlichen Aktionismus bemerkte. Seine Zähne schlugen sich in die innere Unterseite seiner Lippe, als er sah wie aufgelöst Ran war.

Warum folterte Ran sich selbst so?

Schuldig verstand es doch, warum Ran weg wollte, zu einem kleinen Teil zumindest. Aber er konnte es nicht gutheißen, ganz bestimmt nicht, dazu war er zu egoistisch, zu besitzergreifend und er wollte nicht wieder einsam sein in der Welt voller Gesichter.

Er hatte doch Ran gefunden, oder Ran hatte ihn gefunden, wenn er es genau nahm. Schließlich hatte er Ran zum ersten Mal seit langem damals wieder vor sich gesehen, wie er dort saß, oder über ihn gebeugt war, in diesem Keller, seinem Gefängnis. Dort hatte es begonnen, weil Ran ihn gefunden hatte.

Seine Beine setzten sich in Bewegung, auch wenn sie vorher dies verneint hatten, da Rans Ablehnung, seine Verzweiflung ihn daran gehindert hatten zu ihm zu dringen, taten sie es jetzt.

Schuldig näherte sich dem seitlich abgewandten Mann, legte seine Arme um dessen Mitte, die Linke um die Faust Rans gelegt und zog ihn an sich, er legte seine Wange an Rans Kopfseite.

„Verlass mich nicht Ran, bleib doch bitte bei mir“, wisperte er mit brüchiger Kehle, da sie für diese feine Lautstärke fast kaum mehr Stimme aufbringen konnte.
 

Worte, die Aya genauso umhüllten und innerlich schockierten wie die Berührung des anderen Mannes. Er hatte keinen so derart engen, körperlichen Kontakt erwartet… doch noch weniger hatte er die Reaktionen seinerseits darauf erwartet, die ihm nun Denken und Handeln erschwerten.

Alleine die körperliche Nähe des anderen Mannes ließ ihn innerlich aufschreien, ließ den Teil sein Inneres blutig kratzen, der immer noch trauerte und dessen Trauer und Gram sich immer ein Happy End erhofft hatte, nun aber schier keines mehr wollte, aus Angst vor einer neuerlichen Enttäuschung.

Die Rationalität trat in diesem Moment in den Hintergrund, ganz im Gegensatz zum Verständnis für Schuldigs Lage überhaupt. Dieser Mann war zwei Wochen in Gefangenschaft gewesen und hatte nichts anderes gesehnt, als wieder zu ihm zu kommen, und er selbst… er hatte beschlossen, sich nicht noch einmal derart emotional leiten zu lassen.
 

Ja, es war egoistisch und feige… aber… doch die beste Lösung für ihn… er konnte es nicht noch einmal durchstehen… nicht noch einmal… aber dafür konnte er ebenso wenig die Bitte des Telepathen zurückweisen… Schuldig hatte ihn gebeten, hier zu bleiben und ein Teil von ihm krallte sich an diese Bitte, wollte nicht weg, wollte hier bleiben und glücklich sein, während der andere dagegen argumentierte… das Leid gegen zukünftiges aufwog und ihm sagte, dass er wieder so werden konnte wie zu Weiß’ Zeiten. Es ging, er war nicht auf seine Emotionen angewiesen.
 

Doch dann wäre Ayas Opfer ganz umsonst gewesen… das ihn erst zu Schuldig geführt hatte. Er war der Letzte seiner Familie… sollte er ewig im Unglück leben? In der emotionalen Starre?

Aya sog Schuldigs Geruch ein, spürte dessen Kraft, dessen Präsenz. Er ist wieder da, flüsterte es in ihm. Er ist wieder da… er ist das Wunder, auf das du gehofft hast. Er lebt und hier hast du den Beweis dafür… den fleischlichen Beweis für seine Bitte, bei ihm zu bleiben…
 

Er erzitterte unter der Wucht des Krieges, der in ihm tobte.

Nein, schrie die Angst in ihm, noch einmal vor der kompletten Leere zu stehen. Mach das nicht, nein! Du wirst es bereuen, wenn er dann wirklich stirbt, wirst du verrückt werden, verdammt!

Aber ich habe Verantwortung für ihn… ich will ihm etwas dafür zurückgeben, was er mir schenkt…, hielt er verzweifelt dagegen.

Die beiden Seiten in ihm schrieen und tobten, doch Ayas Körper drehte sich in der Umarmung um, eine gewohnte Bewegung, aber mit ungeheurer Kraft, die dahinter stand. Sieh nicht hin, sieh ihn nicht an, dann wirst du es nicht können!, hallte es immer und immer wieder, doch diese Stimme rückte in den Hintergrund… mehr und mehr und mehr… das war der Geruch, die Stärke des Mannes, die Präsenz, alles, die Berührung, die Worte.

Er konnte nicht an seinem Entschluss festhalten, so stark er vorher auch daran geglaubt hatte. Nein… es ging nicht. Er war schwach, ja, schwach und mutig, seiner rationalen Seite nicht zu gehorchen.
 

Wortlos vergrub Aya seine Stirn an der Schulter des Telepathen und schlang den freien Arm um Schuldig, zog ihn nah an sich.
 

Schuldig ließ Ran sich umdrehen, umarmte ihn sanft und schmiegte sein Gesicht in dessen Halsbeuge, wie er es so gerne tat, dessen Geruch in sich aufnehmend.

Noch immer hatte er Angst. Was wenn es einfach nur die letzte Umarmung für Ran wäre? Wenn er sich so verabschieden wollte? Und wenn er sich gleich von ihm lösen würde…

„Wir… finden eine Lösung dafür, Blumenkind, ja?“, murmelte er verhuscht.

„Wir… haben doch für so viel einen Ausweg gefunden. Schon… allein, dass wir zusammen sind…“ oder sollte er sagen, waren? „…sollte doch schon Beweis genug sein, dass wir zusammen gehören. Wir haben so gekämpft, so viel ge… litten und jetzt… soll das umsonst gewesen sein? Das ist es doch was uns ausmacht.“

Er strich Ran behutsam über den Rücken, drückte ihn dann an sich.
 

Aya traute sich nichts zu sagen, aus Angst, das Wort ‚nein’ würde doch noch seine Lippen verlassen. So nickte er nur an der Schulter des Telepathen, weinend und zitternd. Schuldig… hatte Recht, mit allem, was er sagte. Er war wirklich feige, wenn er ging. Nein, dieses Leid würde nicht umsonst sein, dieses Leid würde besänftigt werden.

Sie gehörten zusammen… daran hatte Aya auch während dieser zwei Wochen festgehalten, hatte Schuldig sich zurückgesehnt mit all dem Chaos. Und nun sollte er ihn verlassen? Gott nein, das konnte er nicht.

„Ich habe solche Angst, dass es noch einmal geschieht…“, wisperte er ganz leise… beinahe unhörbar.
 

Schuldigs Hand fand ihren Weg in Rans Haarfülle, schmuggelte sich dazwischen und koste über den Nacken. „Ich doch auch, Ran. Mir geht es genauso. Aber ich weiß nicht was kommt, ich will dich so lange bei mir behalten, wie es nur geht und ich werde alles dafür tun.“

Er löste seine Haltung etwas und schmuste mit seinen Lippen über Rans Schläfe und seine Wange. „Ich wollte dich doch nie alleine lassen. Nie.“
 

Gott… wie sehr hatte Aya diese Berührungen vermisst, wie sehr labte er sich jetzt alleine von dem Gefühl von Schuldigs Lippen auf seiner Haut… es war das Paradies und gleichzeitig doch die Hölle, da der Kampf in seinem Inneren noch nicht ausgefochten war, denn immer noch schrie etwas in ihm, immer noch war er nicht vollkommen sicher.

Aya öffnete seine Augen und starrte blicklos auf einen Punkt an der Wand, seine Nase und seine Lippen wund von dem Salz der Tränen.

„Das weiß ich… aber wie lange geht das gut? Bis zum nächsten Auftrag? Sie haben euch jetzt schon verraten… was, wenn der nächste Auftrag endgültig das Ende ist?“, fragte er mit Verzweiflung in der Stimme ob dieser Horrorvision nach. Es war doch nur zu wahrscheinlich.
 

Schuldig löste sich und seine Hand legte sich an Rans Wange, lotste das Gesicht so, dass Schuldig in Rans Augen blicken konnte. „Dann werden wir kämpfen und du… wirst auf mich aufpassen, hmm? Und ich auf dich!“ Er lächelte sanft.

„Wenn sie Schwarz zerstören wollen und das von innen heraus, dann schaffen sie es, wenn wir nicht zusammen halten, Ran. Sie können uns nichts wegnehmen, schon gar nicht das, was wir fühlen und sie können sich nicht in unser Herz bohren, weil sie nicht wissen was es heißt… zu… lieben. Wir werden uns nichts von ihnen nehmen lassen. Ganz bestimmt nicht etwas so hart Erkämpftes.“
 

Wie lange war es her, seitdem Aya in diese Augen gesehen hatte? Wie oft hatte er sich in den letzten vierzehn Tagen eben hiernach gesehnt? Und nun, nun glaubte er an diesem Blick zugrunde zu gehen und sich in ihm zu verlieren… so tief es nur ging.

Sie würden gemeinsam kämpfen… das war alles, was für Aya zählte, denn es gab ihm Hoffnung für seine Unsicherheit. Er würde nicht noch einmal hilflos mitansehen, wie jemand starb. Niemals mehr.

Ein Versprechen war es.

Ayas Mundwinkel zogen sich nach oben… ein Lächeln konnte man das jedoch nicht nennen, dafür war es zu schwach… viel zu schwach.
 

Und eben diese Lippen, die ein so zartes Lächeln wagten, berührte Schuldig sanft mit seinen, küsste sie sacht und entfernte sich wieder. Als würden sie sich zum ersten Mal küssen.

Er erwiderte dieses Lächeln wesentlich zuversichtlicher, seine Augen glimmten vor Wärme, vor Liebe für Ran.
 

Konnte er nach diesem Kuss noch nein sagen? Nach diesem Lächeln aus den Augen, von denen er gedacht hatte, dass sie sich nie wieder für ihn öffnen würden?

Nein. Nein… dieses Mal nein zum Nein.

Er blieb bei Schuldig.

Dieses Mal war es Aya, der Schuldig zu sich zog und eng an sich hielt. Jetzt… langsam wurde diese gähnende Leere in seinem Inneren wieder gefüllt und wärmte ihn mit seinem Strahlen, ebenso wie sich seine Augen mit neuen Tränen füllten.

„Ich habe dich vermisst… ich habe dich so sehr vermisst…“, flüsterte er rau. „Aber du bist wieder da…“
 

„Ja.“

Schuldig fühlte diese Wärme und Nähe und labte sich an ihr. „Halt mich so fest du kannst, Ran“, lächelte er im Verborgenen, weil sie sich eng hielten.

War es denn möglich, dass er diese Art Worte so einfach, so natürlich aussprechen konnte, ohne dass sie aufgesetzt wirkten… nur… weil es die reine, verzweifelte, elementare Wahrheit war?
 

War es… denn sie hatten sich seit zwei Wochen nicht halten können, die eine Ewigkeit gewesen waren… die beinahe zur Ewigkeit geworden wäre.

Aya schluchzte lautlos auf und hielt Schuldig ebenso verzweifelt mit seinen Armen wie auch mit seinen Lippen, die nun ihrerseits die des Telepathen umfingen. Aya weinte, lächelte… alles zusammen in einem Wust und in einem Kuss, der nicht nur sich selbst beweisen sollte, dass er sich für das Bleiben entschieden hatte.
 

Aller Schmerz, alle Müdigkeit und Sorge war fort und Schuldig spürte, wie chaotisch Rans Gefühlswelt sein musste, der in diesem äußeren Ansturm gipfelte. Sie standen da und bezeugten sich ihrer Gefühle mit kleinen Gesten, mit sanften Küssen und Umarmungen, bis Schuldig Ran zum Bett führte und sich mit ihm niederließ. Nur vorsichtig lehnte er sich an die Rückwand an, kuschelte Ran an sich und schmuste sich an ihn.
 

Es schien, als wäre das Bett zentraler Punkt in den letzten Wochen. Wie lange Aya hier und in Schuldigs Wohnung auf dem Bett gelegen und vor sich hingestarrt hatte, wusste er nicht, doch nun war er nicht mehr alleine… jetzt war es nicht mehr Crawford, der neben ihm lag, sondern Schuldig, der sich an ihn ankuschelte. Auch wenn Aya nicht entgangen war, dass er das mit einer Art von…Vorsicht getan hatte.

„Was… ist in den zwei Wochen passiert?“, fragte Aya schließlich leise.
 

Schuldig musste für seine Antwort nicht lange überlegen. „Naja, sie haben mich halt ein wenig verhauen, du weißt ja, wie das so ist… als Killerkommando. Die meisten Menschen stehen nicht so drauf, wenn man ihnen ans Leder will. Aber jetzt ist es ja vorbei“, lächelte er sanft und konnte dieses Lächeln fast schon nicht mehr einstellen, so gut fühlte sich Ran in seinen Armen an. Und dieses Mal war es kein Trugbild.

„Isst du etwas mit mir? Ich hab einen Bärenhunger…“
 

Sie hatten ihn nur geschlagen? Es fiel Aya schwer zu glauben, dass diese Männer es dabei belassen hatten, denn wie Schuldig schon sagte, ein Killerkommando fasste man nicht mit Samthandschuhen an. Doch vielleicht hatte Schuldig Gebrauch von seiner Telepathie machen können? Aya wusste es nicht und er würde das Thema auch nicht weiter verfolgen… zumindest jetzt noch nicht. Er würde Schuldig alle Zeit der Welt geben.

Er zog den Telepathen wie zur Bekräftigung enger an sich und warf einen Blick auf den Tisch, wo das Essen stand. Eigentlich hatte er keinen Hunger… doch er würde essen… mit Schuldig.

„Und wer steht auf?“, fragte er mit einem kleinen Anflug an Humor.
 

„Du natürlich!“, hob Schuldig keck die Brauen. „Rein geographisch bist du näher am Essen als ich! Klarer Fall“, nickte er bedächtig und küsste Ran auf die Nasenspitze.
 

Ein weiteres, vorsichtiges Lächeln stahl sich auf Ayas Lippen. Unter Umständen hätte er protestiert… unter Umständen hätte er Schuldig böse angeschaut, doch nun unterblieb beides und er stand seufzend auf. Er häufte ihnen beiden etwas auf die Teller und stellte fest, dass es genau das war, was er mochte… sicherlich hatte Schuldig das nicht umsonst mitgebracht. Sicherlich nicht.

Mit zwei vollen Tellern und den Stäbchen kam er wieder zurück und setzte sich neben Schuldig, reichte diesem seinen Teller.

„Bitteschön der Herr, das Essen“, neckte er und es fühlte sich einfach gut an. Es fühlte sich warm und wuschelig in seinem Inneren an.
 

„Aber hey, nicht so weit weg setzen“, maulte Schuldig schon beäugend, dass er nah genug an Ran saß. Schließlich brauchte er diese Nähe für sein Seelenheil und er würde darauf bestehen!

Er fing an zu essen als sie Schulter an Schulter saßen, sich kaum rühren konnten, aber das war ihm egal, Hauptsache nahe bei Ran sitzen.

„Hat Brad dir wenigstens etwas zu essen gemacht, wenn er dir schon auf die Nerven gefallen ist?“, fragte er ins Blaue hinein.
 

Aya sah von seinem momentanen Bissen hoch. Wusste Schuldig davon? Hatte Crawford ihm etwas von dem erzählt, was passiert war?

„Er hat für mich gekocht, ja“, erwiderte Aya mit einem unschönen Blick in die Vergangenheit. „Am Anfang nur alle paar Tage… dann jeden Tag.“ Als er gesehen hatte, dass sich Aya selbst nichts kochen würde.

Es schien, als hätte er etwas Verbotenes getan… als er die Nähe des Amerikaners gesucht hatte. Besonders jetzt, da Schuldig doch lebte.
 

„Na, dann ist ja gut“, lächelte Schuldig zu Ran, der ihn mit undurchschaubarem Blick das Gesicht zuwandte. „Wäre ja schlimm gewesen, wenn ihr euch gestritten hättet, oder Schlimmeres“, murmelte Schuldig und schob sich eine Ladung Nudeln in den Mund.

Er hatte nicht vor, anzusprechen, dass er bemerkt hatte, dass Brad und Ran nahe im Bett gelegen hatten, schon allein die näher gerückten Kissen hatten ihm das erzählt. Es störte ihn nicht wirklich, aber er hätte gern gewusst, warum das so plötzlich gekommen war… wie war Brad auf die Idee gekommen, Ran Essen zu kochen…
 

„Nein… dazu hatte er keine Gelegenheit. Er war selbst so fertig, dass Anfeindungen das Letzte waren, was wir benötigt haben.“

Wir… Crawford und er… wir… wann wäre es Aya eingefallen, den anderen Mann mit einzubeziehen?

Doch nach diesen Tagen war vieles anders.

„Er war irgendwann da und hat nicht lockergelassen.“
 

„Aber warum?“, grübelte Schuldig vor sich hin. Er würde wohl Brad fragen. „Es ist ja nicht wichtig, es war gut so, dass ihr zusammen wart, das hätte ich mir gewünscht, wenn… naja du weißt schon…“, sprach er es lieber nicht aus, wenn er das Zeitliche gesegnet hätte.

„Mich wundert es nur, sonst lebt er diesen Umsorgetrieb nur bei mir aus, und das auch nicht so extrem, mit bekochen und… so…“
 

„Weil du ihn darum gebeten hast“, erwiderte Aya langsam nach ein paar Momenten des Nachdenkens, ob er diesen Satz überhaupt äußern sollte. Zumindest hatte Crawford ihm das als Grund genannt und einen anderen konnte er sich auch nicht vorstellen… nicht wirklich.

Dass er ihn vermutlich aus dem einfachen Grund bekocht hatte, damit er etwas aß, verschwieg Aya.
 

Das brachte Schuldig dazu seine Stäbchen sinken zu lassen. Er saß im Schneidersitz da, den Teller in der Hand auf seinen Beinen und sah nun zu Ran. „Ich?“

Er senkte den Blick wieder auf seinen Teller und lehnte sich dann an die Wand an. Er hatte das vergessen… einfach vergessen…

So etwas Wichtiges hatte er vergessen…
 

Aya sah auf, als er mit Stille konfrontiert wurde, unguter Stille, wie ihm bewusst wurde.

Er legte seine Stäbchen ab und eine Hand schlich sich automatisch zu Schuldigs Haaren, um eine Strähne beiseite zu schieben und dem anderen in die Augen zu schauen. Blau waren sie. Tiefblau.

„Es ist vorbei…“, flüsterte er, im Wissen um das, was kurz vor Schuldigs Ohnmacht geschehen war. „Wahrscheinlich tanzt er jetzt vor Freude, sich nicht mehr kümmern zu müssen“, versuchte er sich in einem kleinen Witz.
 

„Na, das mit Sicherheit“, sprang Schuldig auf den Zug auf und versuchte sich an einem winzigen Lächeln. Er drehte den Kopf und küsste Rans Hand, schmiegte seine Wange dann hinein.

Seufzend nahm er wieder sein Essen auf, auch wenn ihm der Kloß in der Brust seine Kehle zuschnürte. Fast verbissen schaufelte er sich langsam die Nudeln hinein.

„Ich bin froh, dass ihr zusammen wart“, sagte er zwischen zwei Bissen leise in die Stille hinein.

Ja, das war er. Was hätte er sich mehr wünschen können, außer dass es Ran gut ging und Brad keine Dummheiten machte, weil er ein Versprechen einzulösen hatte und sie sich beide trösten konnten auf die eine oder andere Art.

Welche war doch in diesem Zusammenhang völlig einerlei.
 

„Ich bin mir da nicht ganz so sicher“, brachte Aya die alte Rivalität zwischen Crawford und ihm hoch, wusste jedoch, dass er sich nicht umsonst mit dem anderen Mann so ruhig verstanden hatte. Wie es von nun an jedoch weitergehen würde, stand in den Sternen.

Auch Aya aß weiter, bevor er sich an etwas erinnerte…

Wie von alleine wanderten die Stäbchen plötzlich zu Schuldigs Teller, bahnten sich einen Weg durch feindliche Linien. Er hatte es mit Crawford getan und wie um sich zu versichern, dass Schuldig da war, musste er es auch mit ihm machen.
 

Dessen Augen quollen schier über vor blankem Entsetzen. „Du… hast sie wohl nicht mehr alle!!“, kabbelten seine Stäbchen mit Rans um ihm die Nudel wieder abzujagen.

Und da dies nur bedingt funktionierte ging er zum Gegenangriff über und schnappte sich ein Stück Fleisch von Ran und vertilgte es eilends. „So!“, grinste er hinterlistig und verengte die Augen.
 

Da war doch jemand tatsächlich gewiefter in seinem Spiel!

„Das darf ja wohl nicht…!“, empörte Aya sich und startete einen zweiten, erbarmungslosen Angriff, den er gnadenlos ausführte und sich ein Brokkoliröschen sicherte.

„Unverschämt wie immer!“, meckerte er und steckte es sich zwischen die Lippen.
 

„Trotzdem habe ich gewonnen! Brokkoli zählt nicht so viel wie Fleisch!“, ereiferte sich Schuldig und grinste tatsächlich unverschämt vor sich hin, Ran erneut ein Stückchen stehlend.

„Warum… bist du dir nicht so ganz sicher, Blumenkind?“, hakte er nach und schob zu dem Fleisch noch Gemüse hinterher.
 

Aya sah mit hoch erhobener Augenbraue zu, wie sich seine Nahrung drastisch verringerte. Deswegen nutzte er auch die kleine Unaufmerksamkeit des anderen um ihm den ganzen Teller zu stehlen und ihn für sich zu hamstern.

Er räuberte mit seinen Stäbchen, während er über die Frage nachdachte.

„Weil… ich ihn eigentlich nicht mag“, gestand er schließlich mit vollem Mund ein.
 

„Aber du… findest ihn anziehend?!“, war sich Schuldig schon beinahe sicher. Denn niemand würde sich nahe zu jemand anderen ins Bett legen, wenn da nicht eine gewisse Anziehung war. Irgendetwas musste da sein.

„Ran… du bist gemein!“, quengelte er und blickte zu den beiden Tellern, die nun in Rans Besitz übergegangen waren. Seine Lippen schmollten eindeutig. „Hunger!“
 

„Na dann hol dir dein Essen!“, forderte Aya Schuldig heraus und wackelte mit seinen Augenbrauen. Natürlich würde er es nicht zu lange herauszögern, denn Schuldig sollte essen… aber wer so gemein sein Fleisch stahl…

Über die Frage, ob er Crawford anziehend fand, musste er jedoch länger nachdenken. Vor allen Dingen wollte er wissen, ob Schuldig Angst hatte oder eifersüchtig war.

„Körperlich vielleicht“, gestand er schließlich ein. „Aber alles andere reizt mich nicht an ihm. Warum fragst du?“
 

„Gute Frage“, murmelte Schuldig und senkte den Blick auf die beiden Teller, rutschte näher an Ran, küsste ihn auf die mit Gewürzsoße feurigen Lippen und stahl sich so seinen Teller zurück. „Hmm, lecker wie eh und je“, lächelte er und labte sich wieder an seinen Nudeln.

Über die Frage musste er nun ein wenig nachdenken.

„Ich weiß nicht, eigentlich bin ich eifersüchtig auf alles, was sich bewegt und das dich anfasst, aber… naja“, druckste er herum. „Ich… also ich hab gesehen, dass ihr zusammen gelegen seid und… naja es hat mir nichts ausgemacht. Vielleicht einfach wegen den Umständen oder weil ich noch etwas verdreht im Kopf bin oder einfach nur hundemüde.“
 

Das war Aya auch aufgefallen… hätte Youji ihn in dem Maße getröstet und umsorgt wie es Crawford getan hatte, dann wäre Schuldig vermutlich mehr als eifersüchtig gewesen. Doch hier?

„Vielleicht bist du es bei ihm nicht, weil du weißt, dass wir uns nicht mögen“, äußerte Aya seine Vermutung. „Youji hätte es nicht so leicht gehabt.“

Dass Schuldig jedoch wusste, dass Crawford und er zusammen im Bett gelegen hatten… natürlich. Sie hatten nicht aufgeräumt, als sie aufgestanden waren… vielmehr waren sie nicht dazu gekommen und Schuldig hatte seine Rückschlüsse gezogen.

„Du solltest dich gleich hinlegen und etwas schlafen, wie wäre es?“
 

„Wäre nicht schlecht, aber nur wenn du mitmachst“, stand auf und lud sich aus den verschiedensten kleinen Behältnissen ein Sammelsurium an Leckereien auf den Teller. „Willst du auch etwas trinken?“
 

„Gerne“, erwiderte Aya und ließ sich von Schuldig das Mangolassi geben, das er so gerne mochte.
 

„Dann schlaf ich gleich hier. Ich… bin mir nicht mehr sicher, ob meine Wohnung… sicher ist, Ran“, sagte er und wandte sich mit dem Gesicht leicht zum Bett, warf Ran einen nachdenklichen Blick zu.

„Ich will es zwar nicht wahrhaben, aber… was wenn es stimmt?“
 

„Dann musst du untertauchen.“ Die Zelte abbrechen, wie es Schwarz auch tun würden… doch was hieß das für sie beide? Dass Schuldig doch gehen würde? Dass sich ihm dann die gleiche Frage stellen würde wie es Crawford auch schon getan hatte? Würde er mitgehen oder würde er hier bleiben? Was war dieses Mal die Antwort?

„Vielleicht steht dieser missglückte Auftrag in Zusammenhang mit den Männern, die mich zusammengeschlagen haben?“, äußerte er seinen Verdacht. Es wäre ein zu großer Zufall, wäre es nicht so.
 

Schuldig kam zurück zum Bett, seinen Teller darauf ablegend und dann die zwei Gläser mit Wasser holend, bevor er sich auf dem Bett niederließ und Ran sein Wasser reichte.

„So abwegig ist das nicht“, Schuldig wischte sich mit der freien Hand über die vor Müdigkeit brennenden Augen, fing wieder an zu essen und grübelte darüber nach.
 

Aya nahm einen Schluck und verfiel ebenso in dumpfes Brüten wie Schuldig auch.

„Wenn dem so ist, seid ihr hier in Tokyo nicht mehr sicher, denn sie haben euch sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich angegriffen und ihr könnt sie zudem nicht aufspüren.“ Er seufzte hoffnungslos auf. Es schmerzte ihn zu wissen, dass Schuldig wieder hier war, dass er selbst sich zum hier bleiben entschlossen hatte und dennoch führte kein Weg daran vorbei, dass Schwarz untertauchten.
 

Doch Schuldig lächelte nur… man hätte sagen können, böse. „Wir lassen uns diese Stadt nicht nehmen, von keinem“, wisperte er.

„Aber wir werden uns zurückziehen müssen, pausieren. Wir können sie nicht aufspüren, aber sie können uns auch nicht aufspüren, wenn wir uns nicht mehr auf unsere Fähigkeiten verlassen wie bisher. Die normalen Methoden der Verschleierung werden bei ihnen anschlagen. Wir ändern die Taktik und den Plan!“
 

Ayas Blick hob sich und begegnete der Entschlossenheit des Telepathen, die so versichernd schien. Doch Aya hatte seine Zweifel, auch wenn er sie nicht äußerte.

„Aber ihr habt immer noch eine Verbindung zu Weiß“, sagte er dann, verschwieg, dass er sich dazu zählte. Wie ihm schon bewiesen worden war, war er nicht mehr gut genug im Training und von daher leicht zu überrumpeln, also eine Schwachstelle für Schuldig. Das durfte nicht sein… das konnte er sich nicht leisten.

Doch nicht nur er, sondern auch Omi waren Punkte, über die es nachzudenken galt.
 

„Dann werdet ihr auf Zack sein. Wenn… der Blumenladen ist natürlich ein Problem. Genauso wie ganz Kritiker. Diese Organisation hat ihre Jungs viel zu statisch untergebracht. Bisher hat es funktioniert… aber jetzt…?“ Er stahl sich von Ran ein Fleischspießchen und zupfte an dem zarten in Gewürzsoße eingelegtem Fleisch.

„Wir können nur zusammen arbeiten. Nicht wirklich…ich meine nur…was uns betrifft. In diesem Punkt müssen wir an einem Strang ziehen. Brad wird das Haus bald abstoßen und sie werden von dort verschwinden. Nagis Wohnung ist zwar nicht so bekannt, trotzdem wird er in eine andere wechseln. Jeder von uns hat noch einen kleinen Unterschlupf, den er kaum oder wenig oft besucht. Dort ist meist nicht viel, nur in einem Versteck wichtige Dinge… die einem das Überleben erleichtern. Wenn wir jetzt wissen, dass unser Gegner, vor unseren Fähigkeiten gefeit ist… ziehen wir andere Seiten auf.“
 

Aya nickte und setzte seine Stäbchen wieder an, als er sich bewusst wurde, dass er vergessen hatte zu essen und Schuldig somit die Gelegenheit erhielt, ihm das Essen vom Teller zu klauen. Darauf nahm er sich gleich einmal ein weiteres Gemüsestück von Schuldig.

„Weiß werden kooperieren, das Problem ist aber Kritiker. Sie sehen euch lieber tot als lebend, es sei denn, ihr seid ihre Verbündeten.“ Sein Blick schweifte wieder in die Ferne, zurück zu einigen Dingen.

„Auch wenn… anscheinend hat sich Manx ihren ‚Preis’ geholt, ohne Crawford zu töten“, rekapitulierte er nachdenklich, was Crawford ihm erzählt hatte.
 

Schuldig blickte auf, legte den Kopf schief, dabei vergessend zu kauen. „Er ist mit ihr ins Bett gesprungen?“, platzte er heraus. So wie Ran das Wort „Preis“ ausgesprochen hatte, konnte es nur etwas Sexlastiges sein. Etwas Abwegiges!

„Mit dieser manipulativen Schla…Rothaarigen?“ Der Rest, das magere Hauptproblem schien jetzt eher zweitrangig von Interesse… hinfort waren die Probleme, die Sorgen… weggeweht von dieser anrüchigen Geschichte, die sich ihm hier auftat. „Einzelheiten?!“
 

„Ich weiß nicht, ob sie miteinander geschlafen haben!“, protestierte Aya schwach. Sicherlich, Crawford hatte gesagt, dass Manx ihn entjungfert hatte, aber das konnte alles bedeuten! Vermutlich hatten sie nur Informationen ausgetauscht.

„Ich glaube es auch gar nicht… vermutlich hat er nur übertrieben, als er mich seinen Zuhälter genannt hat!“
 

„Willst du… wetten?“, schlich sich wie die Grinsekatze bei Alice im Wunderland ein herausforderndes, wissendes Grinsen auf Schuldigs Züge. „Vielleicht… gewinnst du ja… dieses Mal...“, lockte er.
 

„Ja, wir wetten! Hör mal… es ist Manx. Manx würde mit ihm nicht ins Bett steigen, für kein Geld der Welt! Außerdem…“…außerdem würde das seine Theorie der Rothaarigen untermauern. Crawford stand auf Rothaarige, auch auf Schuldig und Schuldig auch auf ihn… was er Crawford auch gesagt hatte.

Ayas Augen weiteten sich. Crawford wusste es jetzt. Aber Schuldig wusste es vermutlich nicht, was auch gut so war… denn so sollte es bleiben.
 

„Dein Einsatz?“, knarrte Schuldig mit einem Gesicht, das jedem Bluff beim Poker alle Ehre gemacht hätte. Seine Zockerseele freute sich und… auch etwas anderes…

Denn er hatte den Verdacht, dass Brad ganz bestimmt nicht gelogen, sondern sich eher etwas kryptisch ausgedrückt hatte. Er kannte Brads Geschmack und mit großer Wahrscheinlichkeit hatte er die Rothaarige flachgelegt.
 

Aya musste tatsächlich überlegen, was nun denn der Einsatz wäre. Sicher war er sich, dass er Recht hatte, dafür kannte er Manx einfach zu gut - glaubte er, sie so gut zu kennen.

„Ein fünf Gänge Menü?“, schlug er vor und lächelte. „Oder willst du etwas Schärferes?“
 

„Du scheinst dir ja nicht sehr sicher zu sein, wenn du so wenig in den Topf wirfst“, beschwerte sich Schuldig über diesen mageren Einsatz. „Fünf Gänge sind nicht schlecht… aber… nicht gut genug“, seine Augen schmälerten sich.

Ihm fiel etwas ein…

„Wie wäre es mit einer kleinen Reise in die Arabischen Emirate? Und du bist mein kleiner… Loverboy auf dem Trip?“
 

Wie Aya dieses Wort hasste!

Loverboy…

Einmal durfte Schuldig es aber sagen.

Er vertraute dem anderen, deswegen nahm er die Wette auch nun an ohne zu fragen. „Abgemacht! Und wenn ich gewinne, wirst du für die Dauer der Reise mein… Boytoy sein“, grinste er mit verschlagenem Einschlag.
 

„Abgemacht!“, Schuldig streckte Ran seine Hand zur Wettannahme an.
 

Aya schlug ein. Was freute er sich schon auf die Reise in warme Gefilde!

„Und wer fragt Crawford?“, fiel ihm dann ein, denn dass er den Älteren noch einmal darauf ansprechen würde, schloss sich von alleine aus. Allerdings musste er auch zusehen, dass Schuldig ihn nicht übers Ohr haute.
 

Dieser nutzte den Handschlag um Ran einen Kuss zu rauben. „Ich natürlich!“, grinste er frech und zog ihn schnell über ihre Teller an sich.

Er fühlte sich trotz der Müdigkeit sauwohl. Sie saßen hier zusammen wie zwei Ränkeschmiede… von ungefähr maximal zehn Jahren. Maximal!
 

Allerhöchstens…

Wie sehr wurde es Aya bewusst, dass er alles an diesem Mann vermisst hatte und alles wieder an seinen Platz gefügt worden war… zumal diese Albereien den Ernst der Lage exzellent zu überdecken wussten.

„Und wie kann ich dann kontrollieren, dass du auch die Wahrheit sagst?“, fragte er skeptisch. „Oder dass Crawford die Unwahrheit sagt, weil er mir eins auswischen will?“
 

„Du glaubst doch nicht, dass ich Crawford erzähle, warum ich es wissen will?“ Im Übrigen kannst du Manx fragen“, grinste Schuldig wissend. Er könnte sie aber auch dazu bringen es auszuplaudern… sofern seine Fähigkeiten wieder da waren und sie mit Brad gepoppt hatte.
 

„Und Crawford wird dir erzählen, dass er mit ihr geschlafen hat, auch wenn du ihn ganz versteckt fragst?“, zweifelt Aya nun offen an den Künsten des Telepathen. Zumal… Crawford es ihm vielleicht auch gar nicht mehr erzählen würde, angesichts dessen, was er von ihm selbst erfahren hatte.

Er dachte über die zweite Möglichkeit nach. Er sollte Manx fragen?

„Ausgeschlossen! Wie stellst du dir das vor? Soll ich sie anrufen und offiziell anfragen?“, wetterte er.
 

„Wer sagt, dass ich ihn versteckt frage?“, wunderte sich Schuldig und zog dem halb vergessenen Spieß mit den Zähnen das Fleisch ab.

„Mir egal, wie du das machst… du hängst in der Wette drin, du hast eingeschlagen und mit einem süßen Kuss wurde dieser Pakt besiegelt“, lächelte Schuldig unschuldig. „Aus diesem Vertrag gibt es kein… Entkommen!“, unheilte er mystisch.
 

„Kein Entkommen, wie wahr, wie wahr…“, stimmte Aya nachdenklich zu und stahl sich nebenher noch etwas Fleisch von Schuldigs Teller. Er war sich vollkommen sicher, dass er Recht behalten würde. Vollkommen, eben weil Crawford sich so eindeutig zweideutig geäußert hatte.
 

Sie verzehrten ihr Mahl und Schuldig erhob sich zwischendrin noch einmal um Rans Teller den kleinen Rest zukommen zu lassen, der sich noch in den Behältnissen befand. Schlussendlich hatten sie alles aufgegessen und Schuldig stellte die Teller samt Stäbchen auf den Tisch zurück, kam wieder zu Ran aufs Bett. Er kniete sich hin und drängte Ran weiter auf das bequeme Lager zurück um sich mit ihm hinzulegen und ihn ein wenig zu bekuscheln.

„Wenn wir uns früher schon getroffen hätten… wie wäre das wohl gewesen?“
 

Aya schmiegte sich an Schuldig und ließ seinen Blick aus dem Fenster gleiten. Er zog nachdenklich die Stirn kraus. „Was meinst du? Vor unserem Kampf… gegeneinander? Meinst du das?“
 

„Hmm…neeein“, zog Schuldig die Lippen nach unten.

„Stell dir mal vor… so als Zehnjährige… meinst du… wir hätten viel Spaß gehabt… oder wärst du eher bei den Draufgängerjungs gewesen?“, sinnierte Schuldig vor sich hin. Er konnte es sich schon vorstellen… er… bei den Außenseitern und Ran bei den Draufgängern… durchaus möglich. „Dann hättest du mich immer verkloppt!“
 

„Ich habe nie jemanden in der Schule verkloppt!“, empörte sich Aya. „Ich habe mich immer aus diesen Streitigkeiten herausgehalten um nicht selbst mit hineingezogen zu werden.“ Ja, was hätte Aya getan als Zehnjähriger… was HATTE er getan? „Ich hatte immer Angst vor den großen Jungs, die die Kleineren verprügelt haben. Ich hätte dir vermutlich nachher das Pflaster gereicht“, lachte er.
 

„Ein ganz braver Junge also, ein schüchterner kleiner Rotschopf?“, lächelte Schuldig warm und wuschelte Ran durch das Haar, brachte es durcheinander und schnappte sich schlussendlich eine Strähne, die er um seinen Zeigefinger ringelte um daraus in verrückter Absicht Korkenzieherlöckchen zu kreieren.
 

Aya sah diesem Treiben eher skeptisch zu, ließ Schuldig jedoch sein Vergnügen. Er hatte die Haare in den vergangenen Wochen oft offen getragen… sehr oft.

Doch auch sein Blick färbte sich mit Sanftheit. Er hatte wieder jemanden, der mit seinen Haaren spielte… und dieser jemand war Schuldig. „Damals war ich schüchtern… damals. Das hat sich aber schlagartig gegeben!“ Spätestens dann, als Youji und Omi in geballter Ladung ihn dazu gebracht hatte, seinem eigenen Team gegenüber aufzutauen, nachdem Ken den Grundstein gelegt hatte.
 

„Hmm, ich frag mich wirklich, wie das gewesen wäre… du und ich… wobei… eigentlich unmöglich.“

Ran wuchs als Kind in einer intakten, nicht unbedingt stinkreichen, aber wohlhabenden Familie auf. Und er..? Hatte nie jemals etwas besessen… und jetzt war es… andersherum?

Diese Gedanken verdüsterten sein Gesicht und er zog Ran fest an sich, verbarg sein Gesicht an dem Mann, als wollte er ihn irgendwie dafür entschädigen… „Es tut mir so leid, Ran… wenn ich wüsste wie, ich würde es rückgängig machen…“, flüsterte er.
 

„Was...?“, fragte Aya verständnislos, bevor ihm bewusst wurde, was Schuldig meinte. Zumindest meinte er zu wissen, was das war.

Seine Augen weiteten sich und er schüttelte den Kopf. „Sie standen Takatori im Weg… und Aya hat er zum Vergnügen angefahren. Daran lässt sich nichts ändern, das ist eben unsere Welt. Es gibt immer Unschuldige…“

Aya schwieg einen Moment lang. „Du kannst daran nichts ändern und du warst nicht dafür verantwortlich…“ Zumindest dafür nicht, doch das andere hatten sie schon lange hinter sich gelassen. Sie waren hier nicht mehr Schwarz und Weiß, sondern Schuldig und Ran. Ja, er war Ran, auch wenn er es noch nicht über sich bringen konnte, diesen Namen für sich anzunehmen.

„Es tut… weniger weh als am Anfang.“
 

Es machte Schuldig in diesem Moment traurig. Vermutlich lag es an seiner Müdigkeit und weil ihm bereits die Augen zudrifteten. „Du hättest Familie, einen guten Job… ein Leben… weg von diesem ganzen Mist“, zu dem er auch gehörte. Er produzierte diesen Mist… er gehörte hierhin, Ran aber nicht.

Ran gehörte nicht hierher… eigentlich nicht zu ihm. Schuldig… hätte alleine bleiben sollen, aber … Takatori… hatte ihm Ran zugespielt hätte man sagen können.

Zugespielt… war es wirklich nur Zufall gewesen, dass sie beide in diesem verdammten Keller gelandet waren? Es schien so absurd… jetzt im Nachhinein betrachtet...

Schuldig spürte, wie seine Augen zu brennen begannen und er wandte sich von Ran mit dem Gesicht ab, täuschte vor sich einzukuscheln und umarmte Ran fest.
 

„Tja… jetzt gehöre ich aber dazu und werde es auch immer sein. Ich weiß, wie man einen Menschen tötet, ich habe es unzählige Male getan… egal, dass ich jetzt aufgehört habe… meine Hände sind blutbeschmutzt.“ Er schwieg einen Moment und zog Schuldig ebenso sehr in seine Arme wie dieser ihn auch festhielt.

„Manx hat zu mir gesagt, dass ich den Killerinstinkt in mir trage und sie hat Recht. Das werde ich nicht mehr los. Vielleicht hätte mein Leben anders ausgesehen, wenn ich kein Mörder geworden wäre. Vielleicht wären wir uns dann nie begegnet oder ich wäre anstelle meines Vaters eines Tages das Opfer geworden. Nein… ich bin glücklich mit dir. Und was hättest du ohne mich gemacht?“
 

Schuldig schwieg. Es war eine rein rhetorische Frage.

In der Zeit mit Kitamura… da hatte sich Hass in ihm gebildet, sein Selbstmitleid, sein sich Vorhalten, wie übel ihm mitgespielt wurde… all dies hatten dazu geführt, dass er anderen Gewalt antun wollte, aber er durfte nicht… durfte Kitamura nicht töten, somit hatte er etwas in sich abgekapselt, seinen Hass auf alles und jeden, seine eigene Leere, die er wie ein dunkles Banner mit sich trug.

Ohne Ran… wäre er immer leerer geworden… würde er immer leerer werden, bis nichts mehr übrig blieb, außer seinem Körper, der Hass und dem, was er tat: töten.
 

Aya nahm Schuldigs Schweigen als das, was es war und hauchte einen zärtlichen Kuss auf den Feuerschopf.

„Siehst du. Gut, dass ich hier bin“, murmelte er und wurde sich der Ironie dieses Satzes nur zu bewusst. Beinahe wäre er weg gewesen und was wäre dann mit Schuldig passiert?

„Aber jetzt wollen wir an etwas anderes denken… schlaf ein wenig. Du bist müde.“
 

Schuldig drückte nur Rans Arm wie zur Bestätigung und über die angenehme Stille um sie herum schlief er ein, doch der Schlaf war nicht ruhig.

Zu viele Ängste tummelten sich in diesen Träumen und er gab wimmernde, ängstliche Geräusche von sich. Hätte er es gewusst… er wäre gar nicht erst eingeschlafen.
 

Aya schlief nicht.

Er konnte es nicht, dafür hatte er zuviel Angst, Schuldig zu verlieren, also wachte er über dessen Schlaf, der jedoch keinesfalls ruhig war, wie er es sich erhofft hatte.

Aya hatte Schuldig noch NIE wimmern gehört, hatte noch nie diese Angst gesehen, wahrgenommen und gefühlt, die von dem anderen Mann ausging und das verstörte ihn. Es riss an den dünnen Fäden des Glücks, die kurzfristig sein Herz zusammengebunden hatten.

Es war mehr passiert, mehr als Schuldig zugeben wollte und das belastete den Telepathen. Vielleicht aber auch die Angst, ihn, Aya, zu verlieren.

Sanft strich er ihm über das sorgenvolle Gesicht, über die angespannte Stirn. „Ich bin da… ganz ruhig“, murmelte er.
 

Die Stimme hörte er nicht, aber er fühlte in seinem unruhigen Schlaf die sanfte, schützende Berührung und wurde ruhiger, für einige Zeit und glitt dadurch tiefer in den Schlaf hinein, ein wenig erholsamer als zuvor.

Als Schuldig zum ersten Mal aufwachte, begann es bereits dunkel zu werden… er fühlte sich wie erschlagen.
 

„Hey… wieder wach?“, fragte Aya leise aus dem Halbdämmern heraus. Er war nicht dazu gekommen, das Licht anzumachen, so verharrten sie hier in der Dunkelheit… was auch besser für Schuldig war, damit er schlafen konnte.
 

Schuldig brummte nur etwas Zustimmendes und erhob sich dann vorsichtig, setzte sich an die Bettkante und legte die Stirn kurz in die Hände, fuhr sich klärend über die Augen.

„Wo ist hier die Toilette?“, fragte er mit kratziger Stimme.
 

„Die einzige Tür rechts“, erwiderte Aya und strich dem anderen Mann beruhigend über den verspannten Rücken. „Komm danach wieder ins Bett, du siehst nicht ausgeschlafen aus, Schuldig.“
 

„Ja“, bestätigte Schuldig mit resignierendem Unterton. Er fühlte sich schlimmer als zuvor. Jeder Knochen im Leib tat ihm weh, als würde er einen grippalen Infekt bekommen.

Er folgte der Weisung und knipste das Licht im Bad an. Nach kurzem Zusammenkneifen seiner Augen, hatten sie sich ans grelle Licht gewöhnt.
 

Gott, sah er beschissen aus. Er trat näher an den Spiegel und runzelte die Stirn über einige Strähnen, die geflochten in seinem Haar hingen. Wer das wohl gewesen war?

Das Sandmännchen, dem langweilig war? Oder das ihm den falschen Schlafsand in die Augen gestreut hatte? Vermutlich war es besoffen gewesen und hatte die Beutel vertauscht und Schuldig hatte das mit dem Albtraumsand bekommen. Na herzlichen Dank auch…

Er spülte sich den Mund aus, verrichtete seine Toilette und ging nach dem kurzen Erfrischen unter dem Wasser wieder ins Zimmer zurück.

„Stell dir mal vor… das Sandmännchen war besoffen und hat mir den falschen Schlafsand reingestreut und weil es ein schlechtes Gewissen hatte, hat’s mir noch Zöpfe geflochten“, murmelte Schuldig verdrießlich und kuschelte sich wieder an Ran.
 

„Na sowas… dann musst du diesem Sandmännchen wohl zeigen, dass man das mit einem Schuldig nicht umsonst macht; falls du es zu fassen bekommen solltest, heißt das. Die sollen verdammt flink sein, habe ich mir sagen lassen und schwer zu fassen. Selbst ICH habe es ja noch nicht einmal gesehen!“

Sein Blick glitt über die wüste, zerstrubelte und geflochtene Masse, die Schuldig Haar darstellte und er fuhr zärtlich darüber. „Du siehst aus, als könntest du tagelangen Winterschlaf gebrauchen“, sagte er sanft.
 

„Ich… fühl mich auch so. Ich glaub… ich werde krank. Vermutlich lässt die Anspannung und der Stress der vergangenen Tage etwas nach… würde mich nicht wundern wenn sich jetzt noch eine Erkältung oben drauf setzt“, seufzte er.

„Aber vielleicht ist es jetzt nur eine Verspannung und keine Gliederschmerzen. Ich fühl mich einfach wie einmal durch die Mangel gedreht“, sagte er leise.
 

„Dann solltest du jetzt ruhen und dich vom Meister bekochen lassen, auf dass du viele Vitamine zu dir nimmst!“ Die Schuldig in den letzten Wochen sicherlich nicht erhalten hatte.

„Das Essen dort war nicht sehr vitaminreich, oder?“, fragte Aya beiläufig.
 

„Nicht wirklich“, lachte schuldig leise. „Sollen wir heute hier bleiben?“
 

„Wäre wohl besser, du würdest im Auto nur einschlafen. Allerdings ist das Bett kleiner als deine Liegewiese“, gab Aya zu bedenken und zupfte an der Bettdecke. Es war in der Tat nur auf eine Person ausgerichtet.
 

Schuldig lag halb auf Ran und seine Hände gingen auf Wanderschaft, stahlen sich unter dessen Shirt auf den warmen Rücken. „Das hat auch seine Vorteile“, grinste Schuldig halbherzig.

Er war zu müde für Sex, aber der Gedanke hatte trotzdem etwas für sich…
 

Ja… hatte es definitiv, wie Aya nur zu gut bestätigen konnte. Er lehnte sich gegen Schuldig und seine Hände suchten ebenso den Hautkontakt, betteten sich unter dem Rollkragenpullover des anderen auf die Brust, dort, wo sie das Herz schlagen hören konnten. Es schlug…stark und kräftig. Den Einschuss, der Schuldigs Tod bedeutet hatte, den konnte er nicht erfühlen. Es war alles gefaked gewesen. Alles.

„Zieh den Pullover doch aus…“, murmelte er leise.
 

„Mir ist… etwas kalt“, fand Schuldig eine Erklärung, zog aber den Pullover aus, er hatte schließlich noch das Hemd darunter. Er musste darauf achten, dass Ran seine Rückfront nicht bemerkte. Es würde sicher bald heilen und Ran brauchte sich darum nicht auch noch sorgen.

Er legte sich wieder an Ran, halb auf ihn, schmuste mit seinen Lippen über dessen Wange.
 

„Dann muss ich dich wohl wärmen, was?“, maulte Aya liebevoll und ließ sich beschmusen… schmuste im Gegenzug noch intensiver zurück. Sie waren wieder eins und Aya erlaubte es sich, so etwas wie Glück darüber zu empfinden. Glück, Freude… auch Liebe.

Er schloss etwas entspannter als zuvor die Augen und presste seine Stirn gegen den anderen Mann.
 

„Ich… hab dich so vermisst, Ran“, wisperte Schuldig und er ließ seine Hände über den Körper gleiten, nicht in sexueller Absicht - wobei die bei ihm wohl immer eine gewisse Rolle spielte - sondern als wollte er sich versichern, dass es sein Ran war der hier mit ihm lag, der ihn hielt und mit ihm sprach.
 

o~
 

Sie waren wieder da.

Schuldig und er, zusammen in dieser Wohnung, die für zwei Wochen nichts als leere Schatten des Telepathen für Aya geborgen hatten. Nun waren diese Schatten mit Leben erfüllt, mit menschlichem, feuerschopfigem Leben, das hier und da hinwuselte, alles in gemäßigtem Tempo, während Aya Banshee auf dem Arm hielt und sie streichelte.
 

Er hatte einen Moment lang darüber nachdenken müssen, ob er wieder hierhin zurückkommen wollte oder ob er in der kleinen Wohnung blieb, die Youji ihm empfohlen hatte, doch die Entscheidung war mit einem Blick in grüne, ohne ihn doch sicherlich hilflose Augen sehr leicht gefallen. So hatte er noch eben den Mietvertrag zum Ende des Monats gekündigt und war nun wieder hier… hier in dieser Wohnung.
 

Auch wenn er müde war… wie Schuldig selbst auch, denn obwohl sie beide geschlafen hatten, hatten sowohl der Telepath als auch er nicht wirklich tief geschlafen. Es war alles andere als erholsam gewesen, doch vielleicht fanden sie hier Ruhe? Soviel Ruhe man in einer nicht mehr sicheren Wohnung eben finden konnte.
 

Die Unruhe, die den Telepathen erfasst hatte, seit sie hier in der Wohnung angekommen waren, hatte dazu geführt, dass er angefangen hatte, die Wohnung aufzuräumen, in seinen Schränken zu kramen und wiederholt die Waffen zu putzen, sie auseinander zunehmen, sie zusammenzusetzen, immer wieder… wie um sicher zu gehen, dass er es noch drauf hatte, dass er sich sicher fühlen konnte.

Momentan kramte er in seinem Schrank herum, durchsuchte alles um ja sicher zu gehen, keine Spuren von sich zu hinterlassen, falls sie hier abhauten. Dann fiel ihm etwas ein und so zerstreut wie er war ging er vor sich hinmurmelnd zum Bücherregal und suchte… jedes einzelne Buch durch.
 

Spätestens jetzt umfing Aya den anderen und zog ihn beruhigend an sich. Schuldig war viel zu hektisch, viel zu umtriebig als dass es gesund sein konnte.

„Was suchst du, Schuldig?“, fragte er leise und küsste eines der ansprechenden Ohren. „Du bist nervös…“
 

Schuldig ließ sich kurz halten, küsste Ran flüchtig um sich von ihm dann zu lösen. Er hatte es nicht gefunden… er wusste doch, es war hier irgendwo.

„Keiner darf es finden, weißt du?“, sagte er in Kleinkindmanier, die Augen halb glänzend wie von Fieber. Er hatte nichts geschlafen und sein Gesicht war gräulich, die Augenringe dunkler.

Jedes Buch wurde herausgenommen, herumgedreht, aufgeschüttelt und… wieder nichts…
 

Banshee auf dem Arm haltend, die leise schnurrte, runzelte Aya verwirrt die Stirn über das Verhalten des anderen. „Was darf niemand finden? Was suchst du?“, wiederholte er, einen Tick bestimmter als zuvor, weil ihn Schuldigs Verhalten nervös machte.
 

Kurz flammte unbändiger Zorn in Schuldigs Augen über diese Fragen auf. Sie störten ihn…

Aber… das war doch Ran!, maßregelte er sich selbst und als er sich zu Ran umwandte war der Ausdruck in seinen Augen der Müdigkeit zuvor gewichen.

„Das Bild… ich hab es doch wieder in eines der Bücher gesteckt… weil es mir auf die Nerven gegangen ist…“
 

„Ich habe es herausgenommen, als du… nicht da warst“, klärte Aya Schuldigs hektische Suche auf und schüttelte den Kopf. „Allerdings weiß ich nicht mehr, wo es ist…

Komm zu mir, Schuldig“, befahl er leise und streckte die freie Hand aus.
 

„Nein!“

Schuldig wandte sich ab, ging hektisch in der Wohnung auf und ab.

„Ich muss es finden… wenn SIE es finden… sie wissen dann alles von mir, es darf nicht in falsche Hände gelangen… ich hätte es nicht aufbewahren sollen… verdammt!“ Er wusste, dass er irrational wurde, tigerte vor Ran hin und her, warf ab und an einen Blick zu dem ruhig dastehenden Mann, als wüsste er nicht ob er dessen… leisem Kommando folgen sollte oder nicht. Nein. Er würde sich nicht von ihm beruhigen lassen. Nicht jetzt! Nicht jetzt… jeder wollte ihn immer ruhig haben, aber jetzt nicht jetzt wollte er toben… er wollte…
 

„Komm, ich suche für dich mit… sie werden es nicht finden und es wird in der nächsten halben Stunde auch nicht in falsche Hände geraten. Und wegwerfen wirst du es schon gar nicht.“

Aya seufzte leise und machte sich mit Banshee zusammen auf die Suche nach dem Foto. Er hatte keine Ahnung, wo er es abgelegt hatte, doch viele Plätze gab es nicht, wo es sein konnte… er musste sie nur in Ruhe alle absuchen. Sein größeres Problem war momentan eher Schuldig selbst, dessen Unruhe schon fast körperlich spürbar war.
 

Wiederholt rieb Schuldig sich über die Augen. Er hätte heulen können, aber das Foto war weg. „Sie haben es! Sie waren hier und haben es an sich genommen“, sagte er gehetzt, als er wiederholt alles durchsucht hatte und die Wohnung wie ein chaotischer Haufen Wahnsinn aussah. Er wischte den Stapel Bücher aus dem Regal und presste seine Augen zusammen.

Er war so unruhig, so unstet im Innern, alles kribbelte in ihm, selbst seine Hände zitterten.
 

Aya konnte genau sehen, wie sich etwas in dem anderen aufstaute und entlud, gerade jetzt in diesem Moment, die am Boden liegenden Bücher anklagende Zeugen des Ausbruchs.

„Schuldig!“, sagte er laut und bestimmt um zu dem Telepathen durchzudringen. Er entließ Banshee aus ihrem warmen Tragecomfort und ging zu Schuldig, zog ihn zu sich herum.

„Niemand war hier. Niemand hat das Bild mitgenommen, alles ist in Ordnung. Wir werden es gleich finden. Hör auf die Wohnung zu verwüsten und in Panik zu geraten, Schuldig.“
 

Dieses Etwas schlug sich kurz in einem vernichtenden Blick nieder. „Nein!“, zischte er, bevor er sich abwandte und den Kopf schüttelte, die Terrassentür öffnete und hinaus an die frische Luft ging. Dort ließ er sich an der Mauer hinabgleiten. Er war geflohen vor diesem festen Blick, vor der Ruhe in Ran. Er seufzte, ließ den etwas milderen Wind durch seine Haare fahren und sein Gesicht kühlen. Sein Kopf glitt in den Nacken und nun zitterte er nur wegen der Kälte an seinen Füßen. Er spürte wie er langsam wieder ruhiger wurde.

Was war nur schon wieder mit ihm los?
 

Aya wusste, dass es im Moment nichts brachte, Schuldig hinterher zu gehen und die dunkle Seite noch mehr herauszufordern, als er es jetzt schon tat. Also machte er sich daran, die Wohnung aufzuräumen und gleichzeitig das Bild zu suchen, das er nach einigem Hin und Her im Bett fand… vergraben unter den Laken und Decken. Natürlich hatten sie es da auch nicht finden können.

Aya besah sich den Jungen auf dem Bild… den Jungen mit dem Teddy, der so verloren aussah. Dann schweifte sein Blick zu dem Mann, dessen angespannte Gestalt auf dem Balkon ausgemacht werden konnte.
 

Als hätte Schuldig diesen Blick gespürt, wandte er das Gesicht ins Zimmer hinein, sah Ran durch die leicht spiegelnde Scheibe auf dem Bett sitzen.

Jetzt hatte er ihn wieder zurückerobert und er führte sich auf wie… etwas… unaussprechlich Böses… so war es doch…

Er schloss die Augen und senkte das Gesicht. Weshalb konnte er das nicht einstellen? Weshalb konnte er nicht so ruhig wie vorher sein… warum war er nur so verdreht im Kopf?

Vielleicht hätte er besser in eine Klinik gesollt und Ran erst… später… aber später wäre er weg gewesen. Für immer.
 

Hatte Aya gedacht, dass sie nun eine Chance hatten um sich zu entspannen und glücklich zu sein, sah er sich mit einem Male getäuscht in seinem Glauben und seinem Hoffen.

Schuldigs Unruhe schien einfach überhand zu nehmen, zu stark zu werden, wenn sich nun schon Ansätze der dunklen Seite zeigten.

Langsam erhob sich Aya und kam zu Schuldig, blieb jedoch in der Wohnung stehen. „Ich habe das Bild gefunden… es ist alles in Ordnung.“
 

Schuldig blickte auf, so etwas wie Hoffnung aber auch eine Bitte stand in seinen Augen. „Ich… weiß… dass du das regelst, Ran. Ich meine… dass du es findest. Danke“, er lächelte schmal und sah wieder weg, als konnte er den Blick in diese ruhigen Augen nicht ertragen, als fürchte er sich vor Ran. Aber er liebte ihn doch…
 

…und Aya liebte Schuldig, doch er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum Schuldig so dermaßen unsicher und nervös war. Wenngleich es etwas gab, das Aya sich doch denken konnte...

„Was haben sie dir angetan, Schuldig?“, fragte er immer noch ruhig und getragen. Irgendetwas lauerte in dem anderen Mann und es schien, als wäre es eine tickende Zeitbombe.
 

„Nichts Schlimmes, Ran“, er sah nun wieder hoch. „An was denkst du?“
 

Die Wahrheit? Nein. „Dass etwas mit dir nicht in Ordnung ist… und dass du Angst hast“, entschied er sich für die harmlosere, aber dennoch wahre Variante.
 

„Ja… ich… sie haben mir meine Fähigkeiten genommen. Ich… es ist alles wie verschwommen und im Nebel, ich fühle mich nackt… und schutzlos, ich… habe Angst, nackte Angst, Ran. Ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann, sie nimmt einfach überhand.“
 

„Erinnerst du dich, was du gestern zu mir gesagt hast?“, fragte Aya. „Wir kämpfen gemeinsam… und wenn meine Fähigkeiten bei ihnen nicht funktionieren, dann schaffen wir das auf menschlichem Weg. Das hast du gesagt. Und wir werden es auch schaffen, denn obwohl du deine Telepathie momentan nicht zur Verfügung hast, bist du weder schutzlos, noch nackt, noch wehrlos. Du kannst ihnen auch so gehörig in den Hintern treten.“

Er trat nun doch auf den Balkon hinaus und setzte sich neben Schuldig, zog diesen in eine strenge, beschützende Umarmung.

„Es wird besser werden mit deinen Fähigkeiten… oder?“
 

Schuldig nickte, ließ sich ziehen und senkte den Kopf wie ein Welpe, der es brauchte, dass man ihm sagte, was er zu tun hatte, was er zu lassen hatte. Er fühlte sich elend. Und diese Umarmung war Schutz, er konnte sich fallen lassen hier, weil Ran da war und ihm half, ihm einen Rahmen gab.

„Ja, du hast Recht. Entschuldige, ich war einfach kopflos.“
 

„Das ist in Ordnung… dafür bin ich schließlich da… um deinen Kopf zu tragen“, lächelte Aya zuversichtlicher als er wirklich war. Doch was sollte er tun? Er musste Schuldig aufbauen, musste dem anderen Mann sein Selbstvertrauen wieder zurückgeben.

„Aber bald wirst du das wieder selbst übernehmen, ist das klar?“
 

Schuldig hatte besagten Kopf an Rans Brust gebettet und stützte sich nun etwas mehr an ihn, erwiderte die Umarmung. „Ja… ist klar“, murmelte er in Rans Kleidung hinein.

Er musste sich zusammenreißen. Aber… wie sollte er?, kam auch gleich der Einspruch.

Ran wäre beinahe verloren gewesen, er selbst beinahe tot, seine Fähigkeiten fort, Schwarz in Gefahr, seine Wohnung nicht mehr sicher, irgendjemand war hinter ihnen her und er konnte Ran nicht beschützen… weder sich selbst noch Ran.

Wo waren seine heroischen Sprüche von gestern hin? Sie würden zusammen kämpfen…

Alles schien so weit weg, denn nur noch Angst kribbelte in ihm wie lauter böse kleine Ameisen.
 

Dass hier nichts klar war, wurde Aya bewusst. Schuldig hatte Angst, war nervös und das brachte ihn an den Rand seiner Nerven. Doch er war stark, stark für Schuldig und dessen Selbstbewusstsein… solange, bis die Fähigkeiten des Telepathen wieder da waren und sich Schuldig sicherer fühlte.

Aya zog das Foto hervor und zeigte es Schuldig. „Schau her… den Bären hast du damals doch auch heldenhaft verteidigt, oder? Und da warst du noch klein… jetzt bist du aber groß und stark und weißt, wie man jemandem Benehmen beibringt.“
 

„So… weiß ich das…?“, schmunzelte Schuldig, doch seine Augen irrlichterten über das Foto, als er den Kopf wandte. „Damals hatte ich meine Fähigkeiten bereits… und jetzt…“
 

„Und jetzt hast du sie nicht… das heißt, du fühlst wie ein normaler Mensch, ohne die Stimmen in deinem Kopf. Aber das wird sich wieder geben, bald vielleicht sogar. Nimm dir ein Beispiel an mir: ich habe auch die ganzen Jahre ohne Kräfte überlebt.“ Aya seufzte leise und biss Schuldig leicht in das freche Ohr.

„Weißt du es nicht? Dann muss ich mich wohl getäuscht haben“, grinste er vielsagend.
 

Schuldig drehte sich nun in Rans Armen, sodass er zu Ran aufsehen konnte. Es war zwar etwas unbequem hier draußen auf den kalten Steinfliesen, aber er brauchte diese Kälte jetzt um sich selbst weh zu tun, um etwas zu leiden. Zu Ran aufblickend lächelte er etwas ruhiger, auch wenn er sich so hundemüde fühlte, war doch diese Unruhe in ihm, oder gerade deshalb?

„Und… wenn du mich in den stillen Raum lässt? Meinst du nicht, dass es besser wäre? Irgendwann würde ich schlafen können, ich muss nur lange genug darin bleiben, Ran. Du sperrst mich ein und ich krieg mich dann wieder ein.“
 

„Du hast einen Vogel, Schuldig, einen ganz großen. Ich werde dich nirgendwo einsperren, damit du dich wieder zusammenraufst, hast du gehört?“, sagte Aya aufgebracht, kaum dass er die Worte des Telepathen gehört hatte. Was wäre er für ein Partner, würde er Schuldig so etwas antun?

„Geh in den stillen Raum, so du es denn musst, aber ich werde dich NICHT einsperren!“
 

Schuldig rappelte sich auf und blickte Ran fast verbissen an, hob dann aber mit einem etwas entspannteren Gesichtsausdruck die Hand und fuhr diesem über die Wange.

„Du hättest es mir einfach leichter gemacht, Ran, das ist alles. So… ist es schwierig… sehr schwierig“, sagte er leise und wandte sich aufstehend ab. Er brauchte etwas zum Trinken. Er war verschwitzt… vorhin hatte er vor Angst geschwitzt, vor Unruhe… vielleicht sollte er erst duschen?

Zielstrebig ging er ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich, zog sich rasch aus und stellte die Regendusche ab, benutzte nur den Duschkopf damit seine geschundene Rückfront nichts abbekam. Der Schweiß brannte in seinen Wunden.

Er musste einen klaren Kopf bekommen.
 

Einfacher gemacht…?

Schuldig wollte, dass er ihn einsperrte? Gott…

Aya wusste, dass er egoistisch war, doch er konnte es nicht… er konnte Schuldig nicht einsperren. Es ging einfach nicht, auch wenn er alles dafür tun würde, dass es dem anderen wieder besser ging.

Er sah auf die geschlossene Badtür, die ihn eindeutig abwies und in seinen Gedanken formte sich ein Vorschlag, den er dem anderen Mann machen würde und der dem Einsperren in etwa gleichkam.

Er erhob sich schließlich langsam und schloss die Balkontür, ging in die Küche um ihnen beiden Tee zu machen.
 

Es dauerte länger als geplant bis Schuldig aus dem Bad wieder herauskam, aber er beförderte die Handtücher, mit denen er sich den Rücken vorsichtig und so gut es ging gesäubert hatte, gleich in die Waschmaschine und schaltete sie an. Da er an einige der Wunden nicht selbst hinkam, vor allem die auf dem Rücken, musste er sich auf das Handtuch verlassen. Er hatte bisher auf Verbandsmaterial verzichtet, Ran würde es im Mülleimer entdecken und gerade über seinem Steiß und an seinem Hintern …dort wo die dicken Striemen waren, ebenso wie auf seinen Unterschenkeln, in den Kniekehlen und an den Knöcheln… dort wo die breiten Stellen waren, die noch nässten, musste er etwas drauf machen. Durch die Bewegung rissen die verschorften Stellen wieder und wieder auf.

Schlussendlich hatte er sich wieder angezogen und verließ das Badezimmer, noch einen Blick zurück werfend, ob auch alles aufgeräumt war. Er blickte sich um und fand Ran in der Küche.

Während seiner Tätigkeit im Bad war er etwas zuversichtlicher, wenn auch nicht ruhiger geworden. Aber schon der Anblick des Sinnbilds der Ruhe übertrug sich auch auf ihn.

„Hier riecht es gut…“, schnupperte er und roch den Tee.
 

„Auch einen?“, fragte Aya lächelnd und reichte Schuldig eine Teetasse. Das bleiche Gesicht und die tief liegenden Augen sahen so aus, als ob sie etwas gebrauchen könnten.
 


 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

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Viel Spaß beim Stöbern!
 

Gadreel & Coco

Rastlos in Tokyo

~ Rastlos in Tokyo ~
 


 

Währenddessen nahm sich Aya seine eigene und überlegte, wie er seinen Vorschlag am Besten so formulierte, dass der andere Mann ihm nicht sofort davon - oder Amok lief.

„Schuldig… wäre es dir lieber, wenn du alleine in der Wohnung wärst für die nächste Zeit?“, sprach er das für ihn akzeptable Äquivalent zum Einsperren aus.
 

Die Tasse landete just auf dem Boden und Schuldig starrte ihr hinterher, erst aufblickend und dann den Kopf schüttelnd. „Nein, nein, Ran… ich warum… ich meine warum willst du gehen?“ Er sammelte mit zitternden Händen die Scherben ein und entsorgte die größten Stücke im Mülleimer, holte ein Tuch um den Rest aufzuwischen.

Was sollte er ohne die Ruhe von Ran tun? Es wäre eine noch schlimmere Katastrophe.

„Warum… willst du denn ständig weg von mir? Was… soll ich etwas tun? Ich tue alles, Ran… aber bitte geh nicht weg. Mach ich etwas falsch?“, plapperte er nervös geworden.

Ran hatte das Weggehen wieder angesprochen. Schon wieder, dabei war er doch gerade erst wieder mit zurückgekommen. Schuldig holte sich eine neue Tasse heraus. „Ich… du müsstest nur sagen, was ich anders machen soll, dann musst du nicht gehen.“
 

„Du wirst gar nichts anders machen“, schallte Ayas Stimme wie ein Befehl durch die Angst des Telepathen. Nein… es war wirklich ein Befehl, eine eiskalte Verneinung der Unsicherheit. Vielleicht auch ein Ausdruck von Angst, die Aya angesichts Schuldigs Verhalten befallen hatte.

Aya kam zu dem Telepathen und zog ihn an den Oberarmen zu sich herum, hielt ihn eisern fest.

„Ich will nicht weg von dir, Schuldig“, sagte er fest. „Aber… wenn du sagst, dass es besser für dich ist, wenn ich dich einsperre, dann willst du Einsamkeit, oder habe ich das falsch verstanden, Schuldig?“ Seine Augen drückten Ruhe, aber auch Dominanz aus, die durch das Kindähnliche des Telepathen dringen sollte.
 

„Aber wie willst du denn auf mich aufpassen, wenn du nicht mehr da bist?“, drang nun eben genau dieses mit fast ruhiger Stimme zu Ran zurück.

„Ich brauche dich, Ran.“
 

„Dann bleibe ich hier, Schuldig“, erwiderte Aya und drückte dessen Oberarme zuversichtlich, bevor er den anderen losließ und ihm durch die wirre Mähne strich. „Ich bleibe hier, weil ich es will… nur wenn du es nicht willst, gehe ich, verstanden?“
 

Schuldig nickte wie aufgezogen, seine Augen blickten noch immer erschrocken. Nur Rans fester Griff milderte diesen Schrecken etwas, ließ ihn sich sicher fühlen. „Bekomm ich noch einmal Tee?“, fragte er halb lächelnd, um auf gut Wetter zu machen.
 

Aya lächelte und hauchte Schuldig einen Kuss auf die Wange, bevor er sich dessen Tasse stahl und ihm neuen Tee zubereitete. Dabei fiel sein Blick auf eine Scherbe, die noch auf dem Boden lag. Schuldig war so unsicher, dass es Aya beinahe körperlich wehtat.

„Komm mit“, sagte er und brachte die Tassen zur Kissenecke, wo er sich setzte und auf Schuldig wartete.
 

Dieser folgte Ran und ließ sich neben ihm nieder, etwas vorsichtiger und auf die Seite, nicht direkt auf die Striemen seiner Kehrseite. Ran hatte noch immer die Tassen und Schuldig lächelte leicht. „Krieg ich eine?“, schmunzelte er und sah Ran mutig in die Augen, was er vorhin gemieden hatte.

Er hatte gleichzeitig Angst vor der Stärke in ihnen, andererseits brauchte er sie wie die Luft zum Atmen.
 

Als wenn Aya nicht gesehen hätte, welche Vorsicht Schuldig walten ließ… doch er wollte nicht fragen, jetzt nicht. Später, wenn sich die Wogen geglättet hatten.

„Nur… wenn ich einen Kuss bekomme“, funkelte er zu Schuldig und hob erwartend eine Augenbraue.
 

Schuldig setzte sich wieder auf, stützte sich rechts und links von Ran ab und kam näher. „Einen Richtigen?“, fragte er mit der alten Samtigkeit im Unterton. Wenn nicht die Müdigkeit, die Tortur der letzten Tage und Wochen auf seinem Gesicht gestanden hätte, dann wäre es ihm leichter gefallen, sich selbst auch in diese Samtigkeit fallen zu lassen. Doch er fühlte sich immer noch wie zerschlagen.

Sie hatten sich bisher nicht richtig geküsst, nicht leidenschaftlich, nicht versengend, sondern versichernd, beschützend, liebevoll.
 

„Einen Richtigen“, bestätigte Aya mit einem ernsten Nicken und einem sanften Lächeln, die Teetassen ruhig, aber sicher in seiner Hand.
 

Sich nähernd schnupperte Schuldig zunächst über Rans Wange, streifte mit seinen Lippen über die samtene Haut, bis hin zu den Mundwinkeln, spitzte mit seiner Zunge darüber und ließ seine Lippen weich aufkommen.

Sanft daran zupfend umwarb er Ran, bat um Einlass, spitzte mit der Zunge zwischen die köstlichen Lippen und seufzte vor aufkommenden Gefühlen, als er Rans Zunge berührte, der Kuss inniger wurde.
 

Aya öffnete seine Lippen nun vollkommen und begegnete der forschen Zunge einladend und frech, als er sie anstippte und sich dann wieder zurückzog, bevor er sie zärtlich umgarnte.

Die Tassen fanden ihren Weg auf einen sicheren Platz und Ayas Hände umfassten das Gesicht des Telepathen. Das war es, wonach er sich gesehnt hatte…
 

Schuldig ging auf das Spiel ein, welches mal ruhiger, mal lockender, dann wieder wilder wurde und leidenschaftlicher, begehrlicher…

Sie lösten sich scheinbar beide nur widerstrebend und verharrten schnell atmend noch an den Lippen des anderen. „Hab ich mir jetzt den Tee verdient?“, wisperte Schuldig im Scherz, doch die aufgewühlten Gefühle ließen nicht zu, dass er lächelte, dazu knisterte es zu plötzlich zu heftig zwischen ihnen.
 

„Ich bin mir noch nicht ganz sicher…“

Aya wollte weitergehen, er spürte die Lust auf den anderen Mann in sich, die Lust, ihn hier nieder zu ringen und weiter zu gehen, als es der Kuss je konnte. Doch er sagte nichts, machte keine Bewegung oder Andeutung in die Richtung, denn er spürte Schuldigs Zurückhaltung und schrieb sie der Gefangenschaft zu, die immer noch wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebte.

Es war noch nicht Zeit…

Er lächelte und griff sich eine der beiden Tassen um sie Schuldig anzureichen.
 

Schuldig griff danach mit beiden Händen, eine Hand unter die Tasse, eine um sie gelegt und wärmte sich an dem heißen Porzellan. Er hob die Tasse an die Lippen, kostete einen vorsichtigen Schluck und schloss dabei die Augen.

Wie gut das tat. „Ich… habe dort, wo ich war, jemanden… kennen gelernt…“, fing er an, da er sich nun wohler fühlte.
 

Kennen gelernt…

Aya durchfuhr ein eiskalter Schauer, als Schuldig diese Worte äußerte. Er hatte jemanden kennen gelernt… war das der Grund für seine Zurückhaltung? Aber wie passte dann das andere Verhalten des Telepathen zu seinem Verdacht? Gar nicht… und dennoch war Aya eifersüchtig.

„Wen?“, fragte er dennoch ruhig.
 

„Er ist so alt wie du und… er war ein Mitgefangener die zwei Wochen über. Hat wohl schon länger für Fei Long seinen…“ Er verstummte kurz und sein Blick wurde kurz abwesend, sein Gesicht fiel etwas in sich zusammen und ein Außenstehender hätte es verhärmt genannt.

„…er hat sich an ihm regelmäßig bedient“, schloss er.
 

Aya schalt sich abrupt für seine Eifersucht… für die Wut, die er empfunden hatte, denn er wusste zweifelsohne, was Schuldig mit bedient meinte. Fei Long war es also… Fei Long… was man über ihn hörte, war nie gut. Zu Weiß’ Zeiten hatten sie denn Mann zwar nicht tangiert, das aber aus dem einfachen Grunde, dass dieser sich weitgehend aus den kriminellen Geschäften in Japan heraushielt. Es bedeutete allerdings nicht, dass sie ihn nicht kannten.
 

Fei Long hatte Schuldig gefangen gehalten… in dem Moment, in dem es Schuldig aussprach, wusste Aya, dass nichts so harmlos gewesen sein konnte, wie es hier auf den ersten Blick schien. Doch nicht nur das… jemand, an dem sich bedient wurde… jemand, der wie Schuldig vor sieben Jahren war. Jemand, der wie Schuldig ein Gefangener war, der Gnade dieses Monstrums ausgesetzt.

„Was ist geschehen?“, fragte er leise und diese Frage galt für alles: was hatte Schuldig empfunden, hatte er dem anderen helfen können… der so alt war wie er selbst…?
 

Schuldig öffnete die Augen, da er in kleinen Schlückchen an dem Tee genippt hatte und blickte nun von unten herauf Ran an. „Nichts mehr, als ich dann da war. Ich…“ er löschte diesen eindringlichen Blick und wurde verlegen, fast spürte er die Röte im Gesicht.
 

„Du…?“, hakte Aya nach. Fühlte sich Schuldig in die Zeit zu Kitamura versetzt, als er mit diesem Mann gefangen war. War das der Grund für seine Zurückhaltung? Natürlich, was sollte es auch anders sein, nachdem Schuldig wie dieser Unbekannte auch Monate in der Gewalt dieses Sadisten verbracht hatte.
 

„Ich… war anfangs nicht ganz bei mir… die Drogen hatten mir sehr zugesetzt und ich… hielt ihn für dich…“, schloss er und war sich nicht sicher ob er noch etwas anfügen sollte und wenn ja, was er anfügen konnte.
 

Aya lächelte schmerzlich. War das gut oder schlecht? Aber vielleicht war er für Schuldig in diesem Moment eher ein willkommenes Traumgespinst als ein Alptraum gewesen. „Was hast du dann getan?“, bat er sanft um Informationen, die Schuldig ihm bisher nicht gegeben hatte. Er machte dem anderen Mann keinen Vorwurf daraus… nicht, wenn dieser unter Drogen stand und sich vermutlich mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert sah.
 

„So… so richtig weiß ich das nicht mehr“, sah Schuldig wieder nicht in Rans Augen. „Ich… habe mich ihm glaube ich etwas aufgedrängt…“, grübelte er nach. Nichts Schlimmeres natürlich, aber es hatte wohl schon gereicht, dass er den Jungen an sich geklettet hatte, wie dieser ihm irgendwann erzählt hatte.
 

„Aufgedrängt? Schuldig…“ Ayas Miene drückte vieles aus… Unglauben, Bedauern, Horror… alles in einem, aber alles für Schuldig. Er wollte eigentlich nicht wissen, wie weit Schuldig gegangen war und trotzdem brauchte er auf der anderen Seite dieses Wissen um sich sicher zu sein, dass nichts Schlimmes geschehen war.
 

„Ja… es tut mir auch Leid, im Nachhinein, aber ich hatte einfach Angst um dich. Ich war voll auf einem Trip und da dachte ich eben, du wärst in Gefahr und der Typ wollte dich doch ständig von mir wegholen. Ich dachte, ich würde das Richtige tun. Vermutlich war es das auch.“

Schuldig sprach leise, um Verständnis bittend und er dachte an Takaba. Wie es dem Jungen wohl ging?
 

„Du hast dich ihm aufgedrängt, weil du ihn schützen wolltest? Weil du Angst um mich hattest?“

Was für Drogen hatten sie Schuldig gegeben, damit er sich über jemand anderen hermachte? Wie hatte sich der andere Mann danach gefühlt… nachdem er zu Bewusstsein gekommen war?
 

„So verängstigt wie er war… Ich hab ihn nicht mehr von mir weggelassen, ich glaube fast die ganze Woche lang, zumindest ein paar Tage, hab ich ihn an mich gepresst. Es war ihm denke ich sehr unangenehm, aber besser er quetscht sich an mich, als dass dieser Mistkerl ihn fickt, dachte ich mir im Nachhinein. Für mich warst du er und nur seine Gedanken konnte ich lesen, und nur ihm, also dir zuliebe konnte ich Fei Long manipulieren. Einzig zu der Aufgabe ihn oder dich zu beschützen. Dachte ich an mich, funktionierte das nicht mehr oder erst später bedingt. Es war verrückt.“
 

Nur festgehalten…, schallte es erleichtert durch Ayas Gedanken. Er hatte ihn nur festgehalten und beschützt. Nicht nur den Mann… sondern auch ihn selbst, Aya.

„Er wird es sicherlich geschätzt haben, dass du ihn vor Fei Long beschützt hast…“, meinte Aya nachdenklich.

„Konnte er mit dir fliehen oder ist er noch da?“
 

Schuldig verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. „Eigentlich ist sein Rettungskommando Schuld daran, dass ich frei kam, sonst würde ich immer noch in diesem Loch sitzen, zumindest bis meine Fähigkeiten wiederhergestellt wären. Naja, anfangs dachte ich, Brad hätte den Rettungstrupp des Kleinen angeheuert. Aber Brad hatte nichts getan und irgendjemand hat mich rausgehauen, mich im Glauben gelassen, ‚meine Leute’ hätten ihn beauftragt und ich hab’s geschluckt. Danach ist der Kerl verschwunden.“
 

Das ließ Ayas Alarmglocken schrillen. Jemand Unbekanntes, der Schuldig befreite und dann verschwand? Wieder fragte sich Aya, was für ein Spiel mit ihnen getrieben wurde…mit Weiß und mit Schwarz.

„Es war derjenige, der euch verraten hat.“ Das war keine Frage, keine Vermutung… es war ein Fakt, denn laut Aya gab es keine andere Möglichkeit. Es waren einfach zu viele Details, die zueinander zu passen schienen. Es konnte natürlich sein, dass er komplett falsch lag, doch daran glaubte Aya nicht… nicht mehr.

„Wer war denn der Mann, der mit dir gefangen war?“
 

Ja, Schuldig war mal wieder jemandem auf den Leim gegangen. Aber zumindest war er jetzt frei. Ob sie hier sicher waren…

Er sah aus seinen Gedanken gerissen auf. „Hmm… du meinst den Kleinen? Das Liebchen von Asami Ryuichi. Aber wenn du mich fragst, hat der den Kleinen gar nicht verdient, dieser Arsch.“ Nun schmollte er fast schon.
 

Asami? DER Asami?

„Ihr habt in ein Wespennest gestochen…“, stellte Aya mehr für sich als für den anderen Mann fest. Aber genau das war es auch. Wer aus ihrem Gewerbe kannte Asami nicht? Wie oft hatten sie versucht, ihn zu fassen, doch nie war es ihnen gelungen. Und nun hatte Schuldig Kontakt mit dessem… ja, was? Partner? Liebhaber? Sexsklaven? Er konnte sich nicht vorstellen, dass Asami sich eine solche Schwachstelle leistete.

Andererseits…

„Wieso war er Fei Longs Gefangener?“
 

„Rache, Vergeltung, Spaß, Wut und… habe ich noch etwas vergessen? Ach ja… Eifersucht.“ Schuldig hob vielsagend eine Braue. „Ich denke nicht, dass der Kerl, der vorgab, dass ‚meine Leute’ mich befreien wollten und damit Asami kontaktierten, um die nötigen Mittel zu bekommen und um den Jungen und mich rauszuholen, etwas mit Asami zu tun hatte. Er hat Asami und mich gelinkt, oder ihm nur die Hälfte erzählt. Das traue ich dem Kerl zu. Ich kann jedoch nicht sagen, ob er ‚lesbar’ gewesen wäre. Dazu bin ich noch nicht wieder gut genug“, gab er halb wütend, halb zähneknirschend zu.
 

„Kannst du dich noch an sein Gesicht erinnern, dass sich vielleicht eine Zeichnung von ihm anfertigen lässt?“ Wenn sie das Gesicht schon einmal hatten, wäre es vermutlich zwar immer noch aussichtslos, den Mann zu identifizieren, aber man konnte für die Zukunft darauf achten… und Indizien sammeln.

„Weißt du, wie es dem Jungen geht?“, fragte Aya nach einer kurzen Pause.
 

„Erinnern… ja… vielleicht, natürlich, aber ob wir ihn dann wieder erkennen würden?“, zweifelte Schuldig daran. Das Phantombild hatte er ja schon angefertigt, aber ob sie damit weiterkämen?

„Nein, er… Asami hat ihn eingepackt und ist mit ihm abgehauen. Der Kleine wirkte nicht glücklich damit. Aber bei diesem Problem konnte ich ihm nicht helfen, da muss er alleine durch. Ich wollte so schnell wie möglich… zu dir… zu euch zurück.“
 

„Wird Asami ihn denn gut behandeln?“ Aya glaubte nicht daran, nicht bei einem Mann wie diesem, der abgrundtief böse war. Zumal… wenn der Junge wirklich nicht glücklich ausgesehen hatte? Was dann?

Es war schon seltsam… er kannte den Jungen nicht und machte sich doch Sorgen um ihn und sein Wohlergehen.

Er bedachte die letzten Worte des anderen mit einem leisen Seufzen. Schuldig hatte nur zu ihnen zurückgewollt und war mit Ablehnung empfangen worden…von ihnen beiden. Doch nun hatte sich alles wieder ins Positive gekehrt…oder?
 

„Keine Ahnung. Der Kleine war etwas kompliziert in seinen Gefühlen zu Asami, wenn du mich fragst. Stell dir vor… jemand von der Statur wie du nur mit kurzen, fransigen braunen Haaren, steht auf einen Kerl wie…“ er dachte wirklich scharf nach… „wie Bradley Crawford. Ich weiß nicht… einerseits findet dieser Typ wie du… nur mit braunen kurzen Haaren, das, was Bradley tut, schlimm, spioniert ihm aber permanent hinterher, linkt ihn, schleicht sich bei ihm ein und führt ihn hinters Licht. Stell dir die verschärfte Version mit Asami vor“, verbildlichte Schuldig alles ganz genau und rückte somit Ran ins Bild der Dinge. „Wenn du willst… sollen wir mal bei dem lieben Herrn Asami einmal reinschneien, wenn ich meine Kräfte wieder habe?“, fragte er mit einem Augenbrauenwackeln, doch einem ernsten Blick.
 

„Da bin ich sehr für“, erwiderte Aya mit dem gleichen Ernst, jedoch mit anderer Intention… Asami war für Weiß immer ein lohnendes, permanentes Ziel gewesen und diese Tradition würde er fortführen. Eine winzige Gelegenheit und es gab einen Yakuzaboss weniger auf der Welt.

„Wenn du mich fragst, hat es dieser Mann darauf angelegt, von Asami erwischt zu werden.“ Und wenn Aya weiterdachte, konnte er sich ausmalen, dass Asami das nicht mit Wohlwollen aufgenommen hatte… ein Raubtier, das gereizt wurde, schlug zurück, mit aller Macht. Wie er zurückgeschlagen hatte, wusste nur er und sein Freund… Freund? War er das wirklich?

„Wenn er genauso alt ist wie ich und genauso groß, wieso nennst du ihn dann Kleiner, Schuldig?“
 

„Auch wenn du dafür bist. Asami ist tabu, meine blutige Klinge“, wisperte Schuldig und sah Ran mit offenem Gesicht und unleserlichem Blick an. Er hatte gesehen, auf welchen Wegen Ran gedacht hatte…

Er wusste, wie weh es tun konnte, wenn Ran ihn schnitt, wenn er sich an Ran… schnitt.

„Und was den Jungen angeht. Er ist schmaler als du, war halbverhungert und sah aus wie ein junges Kätzchen in einem Karton mitten auf der Müllhalde.“ Er nahm einen Schluck Tee. „Denk dir nichts, ich sah nicht besser aus, nur nicht halbverhungert und…“ er grinste halbherzig. „…mein Körper wirkt doch etwas stabiler als der des Jungen. Und weil ihm übel mitgespielt worden ist, wegen seiner Angst und vielleicht wegen seiner schutzlosen Nacktheit… habe ich ihn vermutlich ‚Kleiner’ genannt. Beschützerinstinkt.“
 

Aya hielt sich zurück, was das Argumentieren mit Schuldig auf dem Gebiet des Tötens anging. Sie hatten beide ihre Art zu leben, zu töten und Gerechtigkeit auszulegen.

Er lächelte. Sie würden sehen… er selbst würde sehen, wofür er sich entschied, wenn er tatsächlich einmal in Asami Ryuichis Nähe kam.

„Warum sollte Asami tabu für mich sein? Wer sagt mir das?“, schnurrte er schon fast, ganz dem neuerlichen Kosenamen, mit dem Schuldig ihn belegt hatte, blutrünstig.
 

Oha. Da hatte er schlafende Hunde geweckt. Aber… war das nicht seine… Absicht gewesen? Schuldig entsann sich gerade seinem Verhalten und er staunte etwas darüber. Er wollte…

Für sich selbst zustimmend blickte er auf, die gefährlich samtene und zu ruhige Stimme kroch in seinen Nacken und schien ihn dort zu packen.

„Ich… was, wenn der Junge Gefühle für ihn hat?“, gab er zu bedenken und legte seinen Kopf auf eines der Kissen, stellte die Tasse dabei zur Seite und blickte zu Ran auf.
 

„Was sind die Gefühle des Jungen gegen einen großen Fisch weniger auf dem Tokyoter Markt der Yakuzabosse?“, lächelte Aya und tat das eiskalt. Aus ihm sprach der Killer, der solange Jahre gegen Schuldig gekämpft hatte, der auf der anderen Seite des Gesetzes stand.

„Oder was, wenn der Junge keine Gefühle für ihn hat? Wenn er sich vor ihm fürchtet?“
 

„Und wenn schon…“, Schuldigs Finger schlichten sich zu Rans Tasse, fuhr sanft über Rans Schwerthand, fuhr die Fingerspitzen nach. „Dann kommt ein neuer Asami, vielleicht einer, der nicht alles so gut unter Kontrolle hat, vielleicht einer, der seine Verbindung zu Regierungskreisen lieber knüpft als Asami mit dem Ausland.“ Schuldigs Blick wurde etwas trauriger, als er wieder Rans Blick suchte. Es schauderte ihn innerlich vor dieser Kälte, vor Abyssinian…

Schnell wandte er den Blick wieder ab, lächelte traurig und zog seine Finger wieder zu sich um sie im Kissen zu vergraben. Einst hatte Ran ihn gehasst, zumindest… ja doch… verabscheut und nun… aber war er mit Asami zu vergleichen?

„Ist Asami mit mir zu vergleichen?“, fragte er leise.
 

Aya lachte leise. „Nein… wie kommst du darauf, Schuldig? Asami ist… böse… du bist aber mein Zackelschaf, mein liebes.“ Wärme schlich sich in Ayas Blick, als er auf Schuldigs Hände sah, die seine Rechte umgarnt hatten.

„Ich würde nie jemanden wie Asami so nahe an mich heranlassen, wie es bei dir der Fall ist.“ Nie jemanden so lieben, wie er Schuldig liebte…

„Ja, du hast Recht. Es wird immer wieder einen neuen Asami geben und es wird immer wieder jemanden wie Weiß oder mich geben, der Jagd auf ihn macht.“
 

Während er sprach, sah er langsam, fast irritierend langsam mit einem lauernden Blick zu Ran auf, sein Gesicht neutral haltend. „Hast du vergessen, dass ich… auch böse bin?“, fragte er und lächelte plötzlich einen Tick zu freundlich. Irgendetwas kochte und gärte und schwellte in ihm. Aber nein, hier war Ran und Ran hatte alles im Griff, scheuchte er es wieder zurück.
 

Ayas Blick bohrte sich in den des anderen Mannes. Was versuchte Schuldig ihm damit zu sagen? Er näherte sich den grünen, unsteten Augen.

„Nein, das habe ich nicht…“, ließ er seine Stimme zum Ende hin langsam ausklingen ohne sich näher zu erklären. Schuldig tötete… ja. Er tötete grausam und es war für Aya nach wie vor ein Problem. Doch das war eine Seite des Telepathen… die andere hatte er vor kurzem noch in den Händen gehalten; ein kleiner Junge mit einem Teddybären.
 

Die Spannung zwischen ihnen nahm nun noch einmal zu, als Schuldig Ran ein wenig über sich beugen sah. Schuldig stützte seine Unterarme unter sich auf, fiel somit etwas auf den Rücken und stemmte sich leicht nach oben, das Kinn, den Kopf gereckt zu Ran, erhaschte er dessen Kehle, fuhr sanft mit der Zunge und den Lippen darüber. „Weißt du eigentlich… wie sehr ich dich… liebe?“

Seine Stimme war belegt, er fühlte sich von der Nähe des anderen trunken, von dessen Schutz umhüllt und dabei durch das Fehlen seiner Telepathie frei… so frei.

Die Gefühle quollen über und er schloss an der Haut die so gut roch die Augen.
 

Da hatte ihn das unterlegene Raubtier aber beruhigt… denn die Geste des Telepathen war eindeutig gewesen.

Aya knurrte leise, als er die Worte des anderen hörte und schmiegte sich an den Haarschopf Schuldigs. Was konnte er darauf erwidern? Eine simple Antwort schien zu platt, zu einfach… wusste Schuldig doch um seine Gefühle.

Seine Hand stahl sich in die Mähne des Telepathen und massierte dessen Hinterkopf, presste ihn an sich.
 

Schuldig genoss dieses vibrierende Knurren in der Kehle auf die er seine Lippen gesetzt hatte und schmuste dann sein Gesicht unterhalb des Kiefers, seitlich an. „Hmm… das fühlt sich gut an“, murmelte er und genoss diese Streicheleinheiten, saugte sie auf wie ein Schwamm kühles Nass aufnahm.
 

Ja… das fühlte es sich.

Aya schloss die Augen und genoss die Nähe, Wärme und das Leben, welches durch Schuldig pulste und ihn sich zweisam fühlen ließ. Seine Hand ließ nicht ab von seiner Tätigkeit, wurde jedoch weniger drängend, sondern zärtlicher und zupfte hier und da an einzelnen Strähnen, bevor sie die Kopfhaut wieder beruhigte.
 

o~
 

Die Hoffnung, dass der nächste Tag besser verlaufen würde, dass er innerlichen Abstand zu dem Erlebten gewinnen würde oder ruhiger in der Nacht geschlafen hätte, löste sich schon nach dem Aufstehen in Luft auf. Nichts war besser geworden. Ganz im Gegenteil.

Schuldig hatte gewartet, bis Ran aus dem Badezimmer draußen war und schlich sich dann selbst hinein. Wo sie sich sonst oft gemeinsam fertig gemacht hatten, sonderte er sich ab. Wütend darüber verzog er sein Gesicht zu einer Fratze und hätte beinahe den Spiegel in einem Anfall zerschlagen.

Kleinigkeiten zermürbten ihn, regten ihn derart auf, dass er ausflippen wollte.
 

Er brauchte lange im Badezimmer und als er endlich fertig war, die alten Verbandstreifen in eine Tüte packte und sie im großen Verbandskasten versteckte, von wo er sie später unbemerkt von Ran entsorgen würde, ging er hinaus in den Wohnraum und setzte sich auf die Couch, den Fernseher zwecks Ablenkung einschaltend.
 

Es war noch vor dem Frühstück und Schuldig schaltete schon den Fernseher ein, war das zweite, was Aya an diesem Morgen auffiel. Seit sie hier zusammen wohnten, war das nie geschehen. Wenn, dann immer nur nach dem gemeinsamen Frühstück oder mittags… oder dann, wenn es ihn genauso nervte wie jetzt, aber nie so früh. Aya schrieb das Schuldigs immer noch andauernder Unruhe zugute… dessen Gefangenschaft, über die er zwar gestern mehr erfahren hatte, von der er aber immer noch nicht wirklich viel wusste.
 

Das Erste, was Aya jedoch aufgefallen war, war Schuldigs wiederholte Abschottung gewesen. Er stand immer früher auf als der Telepath, doch Schuldig war schon oft nachgekommen ins Bad und hatte sich ebenso geduscht.

Die letzten Tage aber nicht. Nie.

Hatte Schuldig Angst, dass er ihn nackt sah? Oder war etwas geschehen, was Aya nicht wissen durfte, was Schuldig unbedingt vor ihm verheimlichen wollte?
 

Während er das Frühstück zubereitete und sinnlose Talkshows im Hintergrund liefen dachte Aya über diese Möglichkeit nach. Schuldig war in Fei Longs Gefangenschaft gewesen, zwei Wochen lang. Laut eigenen Angaben hatten sie ihn nur geschlagen… nur. Als wäre es nicht schon schlimm genug.

Was aber, wenn mehr geschehen war? Was, wenn sich Fei Long ebenso an Schuldig wie an dem Jungen bedient hatte, hatte er doch gesagt, dass seine Kräfte nur bei Asamis Kleinem gewirkt hatten. War es das?

Ayas Finger erzitterten und er setzte die Kaffeekanne ab.
 

Aber was sollte er tun? Die Badtür aufreißen und schauen, was sich dahinter verbarg? Niemals.

Er atmete tief ein und stellte die Kaffeekanne auf den gedeckten Tisch, kam in den Wohnraum.

„Frühstück ist fertig“, sagte er lauter als geplant um den Lärm der keifenden Hausfrauen zu übertönen.
 

Schuldigs Kopf ruckte hoch und er blickte in ein unlesbares Gesicht. Fast augenblicklich fand er den Knopf um das Gerät auszuschalten. „Klar, ja“, murmelte er und erhob sich langsam. Wenn er länger gesessen hatte, tat es umso mehr weh aufzustehen, denn die Hautfalten in denen die Striemen noch nicht verheilt waren, nässten und es brannte.

Er ließ sich nichts anmerken und rieb sich übers müde Gesicht. „Ich… hab dir nicht geholfen“, stellte er fest, als er auf den gedeckten Tisch sah und blickte schuldbewusst drein. „…fehlt noch etwas?“, fragte er kleinlaut.
 

„Nein, es ist alles da“, erwiderte Aya ruhig und deutete auf Schuldigs Stammplatz. „Setz dich. Willst du Kaffee oder Tee?“ Es stand beides auf dem Tisch, denn Aya hatte die Untätigkeit nicht ertragen, sich wie Schuldig schon am frühen Morgen Talkshows anzuschauen… und sich abzuschotten.
 

„Kaffee, bitte.“

Schuldig setzte sich und nahm sich eines der Brötchen, auch wenn er keinen Hunger hatte. Wirklich so überhaupt keinen, aber vielleicht kam der Appetit mit dem Essen. Er fühlte sich wie gerädert und bereits heute Nacht hatte er Stimmen in seinem Kopf gehört, als käme die Telepathie unkontrolliert zurück.
 

„Du siehst nicht gut aus. Konntest du diese Nacht nicht schlafen?“, fragte Aya, während er Schuldig den gewünschten Kaffee einschenkte. Es war eigentlich eine überflüssige Frage, da er sehr wohl mitbekommen hatte, dass Schuldig sehr unruhig geschlafen und schlecht geträumt hatte. Doch vielleicht war das Gesprächsgrundlage für mehr… hoffte Aya und setzte sich Schuldig gegenüber.
 

„Ich hörte viele Stimmen im wilden Durcheinander und habe sie wohl in Träume eingebaut. Heute Morgen habe ich gemerkt, dass es meine Fähigkeit war, die langsam wieder zu ihrem normalen Stand zurückfindet. Vermutlich habe ich mich treiben lassen und deshalb diese Gedanken gelesen.“

Es war ein Zeichen, dass er sich austoben wollte, oder dass er fliehen… vor sich selbst fliehen wollte.

Aber nein, er würde nur zu Ran fliehen und da war stopp.

Die Hälfte des Brötchens hatte er vertilgt, als er innehielt und sich überlegte, ob er das Weiteressen auf später verschob.
 

Aya schwieg, auch wenn er Schuldigs Verhalten genau sah. Er schwieg, auch wenn er den anderen Mann anschreien, ihn schütteln wollte, damit dieser zur Besinnung kam oder Aya zumindest nicht im Dunkeln tappen ließ.

„Aber wenigstens kehren jetzt deine Fähigkeiten zurück“, versuchte er sich an einem Lächeln. „Bald wirst du sie dann wieder kontrollieren können, richtig?“
 

„Ja, richtig“, bestätigte Schuldig und mied wieder Rans Blick. Einerseits wurde er von diesem starken Violett magisch angezogen, andererseits ahnte er, wenn er hineinblicke würde, dass ein anderer Teil in ihm rebellieren würde. Schuldig schob den Teller beiseite und zog sich den Kaffee heran. Etwas Warmes, Tröstendes in das er starren konnte, ohne dabei einen Reigen an Gefühlen zu durchlaufen. Die von Lust bis Aggression alles beinhalteten.
 

„Was hältst du davon, gleich spazieren zu gehen?“, fragte Aya, als ihm die Stille zu bunt wurde und sah über den Rand seiner Teetasse hinweg zu Schuldig, der seinen Blick scheinbar auf Gedeih und Verderb mied. „Ein Bisschen frische Luft kann dir nicht schaden, ganz zu schweigen von Bewegung und besser als diese Talkshows ist es alle Male.“
 

Schuldig schüttelte nur den Kopf. „Nein, mir ist nicht danach. Ich werde mich noch etwas hinlegen oder so…“ Er hatte Angst nach draußen zu gehen. Er wollte nicht nach draußen, viel zu viele Reize, die ihn austicken lassen konnten und selbst Ran konnte dann nichts mehr machen. Nein… er würde nicht raus gehen. „Morgen vielleicht… morgen ist es bestimmt schon besser und dann war die Nacht vielleicht auch besser, ja?“, fragte er beinahe schon hoffnungsvoll und blickte lächelnd auf.
 

Doch Aya lächelte nicht, sondern maß ihn schweigend. Morgen… immer morgen. Er wusste, dass es so weitergehen würde, dass Schuldig Dinge immer auf morgen verschieben würde.

„Warum willst du nicht mit?“, fragte er schließlich und widmete sich wieder seinem Brötchen, schmierte bedächtig Butter auf das noch warme Stück. Auch ohne Schuldig würde Aya gehen, zumindest kurz um Luft zu schnappen, denn dieser Druck, diese belastende Stimmung zwischen ihnen, zehrte an seinen angegriffen Nerven, die seit nun mehr zweieinhalb Wochen nicht wussten, wie sie nun reagieren sollten.
 

„Folter mich, dann sag ichs dir, Herr Inquisitor“, lächelte Schuldig fast schon fiebrig, als er die Worte leise… wie im Spaß sagte. Dann zuckte er jedoch als wäre nichts gewesen mit den Schultern. „Ich flipp draußen aus Ran, zu viele Reize. Heute nicht… morgen, ja? Morgen gehe ich einkaufen, ist eh noch nicht alles da. Dann kochen wir morgen etwas hmm?“
 

Aya zog kritisch die Stirn zusammen und sah dann auf. Nein, foltern würde er den anderen Mann mitnichten. Er nickte wortlos und nahm einen Schluck von seinem Tee.

„Gut… morgen. Ich werde aber gleich gehen…“ …denn ich flippe hier aus, vollendete er den Satz in Gedanken und lächelte nun doch kurz. „Ruh dich aus, damit es dir besser geht.“
 

„Bringst du mir… etwas Süßes mit?“, fragte Schuldig etwas leiser.

Die übliche Sorge, dass Ran etwas passieren könnte, wenn er nach draußen ging, war fast verschwunden…
 

Nun lächelte Aya wirklich, war das doch eher der Schuldig, den er kannte, auch wenn er immer noch schrecklich niedergeschlagen schien.

„Wirst du denn auch in der Zwischenzeit lieb sein?“, fragte er schelmisch und seine Hand wanderte über den Tisch, pirschte sich an die des Telepathen an und wagte es, sie anzustupsen.
 

Schuldigs Zeigefinger stupste zurück. „Aber sicher doch! Keine Talkshows mehr“, nickte er artig.
 

„Sehr schön… das wollte ich hören!“, wurde Schuldigs Sinneswandlung gelobt, auch wenn violette Augen nicht wirklich an eben diese glaubten. Doch was er nicht wusste…

„Bestimmte Wünsche, der Herr?“

„Nein, ich lass mich von dir überraschen. Du weißt schon was gut für mein kleines Leckermäulchen ist“, grinste Schuldig nun doch etwas frech und legte den Kopf schief.
 

„Ein schöner, großer Lutscher….?“, fragte Aya nur zur Sicherheit nach.
 

„Ja, wenn du einen findest? Da hat man länger was davon, das stimmt“, bestätigte Schuldig, als hätte er die Zweideutigkeit nicht verstanden und erhob sich. „Ich werde dann hier abräumen und etwas Sinnvolles tun.“
 

Schuldig hatte den ersten Satz ohne das übliche Grinsen gesagt, ohne Intonation und war umgeschwenkt. Aya behagte das nicht, zeigte es ihm doch an, dass etwas deutlich nicht in Ordnung war. Schweigend in seine Gedanken versunken blieb er sitzen und sah Schuldig dabei zu, wie er den Tisch abräumte, bis nur noch seine Teetasse und er übrig waren. Es schien Aya wie eine Flucht vor ihm… nur weg hier, weg von dem Mann, den Schuldig wieder zu sich geholt hatte, weil er nicht ohne ihn leben konnte. Kurz, nur für den Bruchteil einer Sekunde wallte ungerechte Wut über Schuldigs Verhalten in Aya auf. Er versuchte doch auch, mit seiner Angst fertig zu werden, der begründeten Angst, Schuldig nun für immer zu verlieren!

Das Einsperren schwirrte ihm ein weiteres Mal im Kopf herum. War es das, wonach sich Schuldig wirklich sehnte?
 

Die Spülmaschine war eingeräumt und Schuldig besah sich den Inhalt des Kühlschranks. Morgen, hatte er gesagt, wollten sie kochen und deshalb… sie brauchten noch Gemüse und frisches Fleisch…

Er holte sich einen Zettel und setzte sich wieder an den Tisch um alles, was ihnen fehlte, aufzunotieren.
 

Immer mit einem wachsamen Blick auf Schuldig zog sich Aya Schuhe und Mantel über und steckte seine Geldbörse sein… mit Waffe, die er in das Holster, das er aus Schuldigs Tisch geborgt hatte, steckte. Von außen war es versteckt, doch wenn es notwendig war sich zu verteidigen, hatte er sie innerhalb von Sekundenbruchteilen gezogen.

Ein letzter Blick ging zu Schuldig, dann verschwand Aya mit einem „Bis später!“ aus der Tür und atmete tief durch.

So froh er auch war, dass Schuldig wieder da war… so froh, dass sie wieder beieinander waren, so wenig ertrug er diese Spannung.

Mit tief in Schuldigs Schal vergrabener Nase machte er sich durch die milde Kälte auf den Weg. Die gefühlte Temperatur bei ihm ging unter den Gefrierpunkt… angezeigte Temperatur am Hauseingang war vier Grad plus gewesen.
 

Zunächst hatte sich das Sorgenkind auf die Couch plumpsen lassen, doch die Unruhe hatte ihn auf eine Idee gebracht…

Schnell war alles installiert und er konnte loslegen. So saß er nun auf dem Boden und beschäftigte sich zumindest nicht mit dem sinnlosen Ansehen von Talkshows.
 

Vier Stunden, ganze vier Stunden hatte es gedauert, bis Aya samt Lutscher und leckerer Schokolade wiederkam und die Karte durch den Leser zog.

„Ich bin wieder da“, rief er in die mit lautem Motorengeräusch angefüllte Wohnung und sah Schuldig auch prompt an die Couch angelehnt auf dem Boden sitzen, das Gamepad in der Hand. Als ob das eine lohnende Alternative zu Talkshows war…, schimpfte er stumm vor sich hin und stellte seine Mitbringsel vor der neugierigen, kleinen Nase einer bestimmten Dame weit nach oben, bevor er sich seines Mantels und der Stiefel entledigte und seine Beute wieder aufnahm. „Er hat dich den ganzen Tag nicht beachtet, richtig?“, murmelte er leise zu Banshee, die maunzte und ihm zu Schuldig folgte.
 

Schuldig wandte nur leicht den Kopf, die Augen wissend lächelnd. „Hey“, rief er begrüßend zurück und das Lächeln in seinen Augen fand den Weg auf seine Lippen, bevor er sich wieder dem Motorradrennen zuwandte.
 

Kaum war er aus dem Haus, schon rangierte er hinter der Playstation, sowas.

Aya verengte Unheil verkündend seine Augen und kam samt Tüte zu Schuldig, pirschte sich um das Sofa herum um dem Grauen ins Gesicht zu sehen… dem Grauen namens BMW, denn das war Schuldigs momentane Marke, die er in diesem grundlangweiligen Motorradrennen fuhr. Da war es schon verständlich, dass er nur eine Nebenrolle spielte, ganz klar.

Dass Aya sie aber nicht spielen wollte, wurde spätestens dadurch deutlich, dass er sich über die Lehne auf die Couch gleiten ließ und seine Beine rechts und links von Schuldig abstellte, diesen so einkesselte und sein Kinn auf dem Kopf des Telepathen abstützte.
 

Schuldig fühlte das Kribbeln in sich, eine gewisse Spannung, die sich in ihm aufbaute und er hoffte, dass sie sich noch… ausbaute…

„War’s schön draußen?“, fragte er und schaltete auf eine andere Maschine um, eine von ihm zusammengebastelte Kawasaki.
 

„Sehr lohnenswert…“, erwiderte Aya und löste sein Kinn von seiner bequemen Stütze, nur um wiederum mit seinen Händen in die Mähne zu fassen, die sich ihm so offen und schamlos anbot. „Wie wäre es… du machst die Playstation aus und ich erzähle dir davon?“
 

„Ich… höre dir doch zu, du… kannst doch auch so erzählen…“, sagte Schuldig leise. Oh… er wusste… hoffte was er hier provozierte.
 

„Genau…“, stimmte Aya dem anderen Mann zu als würde er es wirklich in Erwägung ziehen, Schuldig weiterspielen und ihn ignorieren zu lassen. Doch da hatte sich der Gute ins Fleisch geschnitten, sehr tief sogar.

Die Hände, die gerade noch durch die Haare gewuschelt hatten, umfassten nun den Kopf und zogen ihn zurück, sodass Schuldig den Fernseher aus dem Blickfeld verlor und in seine Augen sah… sehen musste.
 

Ein Zischen entglitt ihm als sein Kopf so harsch in den Nacken gezogen und überstreckt wurde. Er öffnete die Lippen und keuchte auf, hörte die Hintergrundgeräusche seines Motorrads welches über die Bergklippe hinunterstürzte und der Kommentar, dass er aus dem Rennen war.

Rans Augen waren so unnachgiebig und Schuldig erstarrte wie das Kaninchen vor der Schlange, fühlte mit einem Mal diese Spannung ihren Gipfel erreichen und das Gefühl des Wohlseins durchkroch in.

„Spiel… doch… mit mir…“, brachte er heraus. So zweideutig, wie es sich anhörte, so war es auch, nur seine harmlos blickenden Augen, der unschuldige Gesichtsausdruck passte nicht dazu.
 

„Genau das tue ich gerade, mein Lieber“, sagte Aya leise, angestachelt durch die Herausforderung des anderen, durch den Blick. „Doch ich bevorzuge es, wenn mir meine Spielkameraden ihre gesamte Aufmerksamkeit schenken.“

Keinen Widerstand duldend nahm er Schuldig das Gamepad aus der Hand und schaltete per Fernbedienung den Fernseher ganz aus, legte beides beiseite.

„Nicht wahr…?“, lächelte er und kam Schuldigs Lippen noch etwas näher, jedoch noch nicht nahe genug.
 

„Ja“, formte Schuldig mit den Lippen, da sein Kopf noch immer überstreckt, seine Lippen geöffnet waren. „Ich… bin ganz Ohr“, sagte Schuldig mit einem Hauch von Stimme. Ran war ihm ganz nahe, dessen Hals, dessen Brust kam immer näher über ihn, aber noch nicht nahe genug. Denn seine Hände schienen auf seinen Beinen wie festgewachsen zu sein. Er wagte es nicht sie zu bewegen oder zu heben.
 

„Augen zu“, befahl Aya, die Stimme zwar immer noch ruhig, in ihrem Klang jedoch etwas Stahlhartes, etwas Unnachgiebiges, das keinen Widerstand zuließ.
 

Und Schuldig folgte diesem Befehl, schloss die Augen und entspannte sich für diesen Moment. Er ließ sich fallen, sein ganzer Körper wurde weicher unter Rans griff unter dieser Stimme. Selbst sein Kopf glitt noch etwas weiter nach hinten, zwischen Rans Schenkel, zwischen denen er gefangen saß.

Er brauchte diese Gefangenschaft, die ihn schützte… so sehr. Und niemand anderer konnte sie ihm geben außer Ran.
 

„Sehr folgsam“, lobte Aya sanft und raschelte absichtlich lange und laut in seinem Mitbringsel, aus dem er nun eines der kostbaren Stücke zutage förderte und sie langsam an Schuldigs Wange hinuntergleiten ließ… bis hin zur frechen Nase, die er riechen ließ, was ihn hier erwartete.
 

Schuldig roch die Schokolade, spürte sie auf seiner Haut und doch hörte er nur Rans Stimme in seinem Kopf. Er atmete tief ein, ließ die Luft mit einem sanften, kehligen Geräusch entweichen, das Wohlwollen und ein Gefühl des Gutfühlens ausdrückte.
 

„Sag mir, wonach sie riecht“, forderte Aya und platzierte einen hauchfeinen Kuss auf die Stirn des anderen. Schuldig hier so ausgestreckt und nachgiebig zu sehen, war nicht förderlich, was seine Zurückhaltung anging, soviel konnte Aya sagen. Er hatte Lust auf diesen Mann… Lust, ihn unter sich zu bringen und diese aufmüpfigen Augen nur für ihn leuchten zu sehen.
 

„Nach… herber Süße, nach dir“, brachte Schuldig hervor nach dieser sanften Berührung. Er sehnte sich selbst so sehr nach Ran, aber auf anderem Wege als sonst…
 

„Willst du diese herbe Süße?“, hakte Aya mit einem dunklen Lächeln auf den Lippen nach und umstrich nun das Kinn des Deutschen mit seiner süßen Beute.
 

„Ja“, krächzte Schuldig und konnte schier nicht mehr die Augen geschlossen halten, so sehr musste er sich zurückhalten um nicht aufzuspringen.
 

Aya erwiderte nichts, sondern fuhr mit seinen eigenen, sündigen Lippen die Spur der Schokolade nach, die er auf der bleichen Haut des anderen gelegt hatte um sich schlussendlich diesen zittrigen und gierigen Lippen zu widmen, sie mit den seinen zu umgarnen und in die warme, ihn willkommen heißende Höhle zu stoßen.
 

Seufzend und genießende Laute in den Kuss legend genoss Schuldig diese Eroberung seiner und nun hoben sich doch seine Arme, krallten sich seine Hände in Rans Oberarme, in dessen Kleidung.

Doch diese Arme wurden eingefangen und von Händen festgehalten, die schier kein Entkommen versprachen und die Schutz für Schuldig waren.

Aya ließ sich Zeit, alles auszukundschaften, das sich ihm hier bot und zu kosten… zu trinken… Schuldig und sich selbst trunken zu machen.

„Du schmeckst nach mehr“, seufzte er schließlich leise gegen diese Lippen und löste sich etwas von ihnen.

„Ich… will dir mehr geben… Ran…“, wisperte Schuldig und öffnete die Augen einen Spalt breit, seine Hände immer noch gefangen in Rans.
 

Ja… Aya wollte, dass Schuldig ihm mehr gab, als er jetzt bekam. Mehr Vertrauen, mehr Nähe, mehr Offenheit. Doch das hatte Zeit, alles hatte Zeit, denn schon während er über den flachen Bauch des anderen Mannes gestrichen hatte, war ihm bewusst geworden, dass dieser die Gefangenschaft auch nicht unbeschadet überstanden hatte… nein… wie denn auch? Als hätte Schuldig jeden Tag genug zu essen bekommen!

„Jetzt wirst du aber erst essen, Schuldig“, bestimmte er mit ernstem Blick, für einen Moment gänzlich von der sexuellen Anspielung weg.
 

„Was?“ kam von Schuldig völlig überfahren und er öffnete die Augen gänzlich. „Ähm.“…er wandte sich etwas um und streifte dabei Ran. „Ich… habe doch vorhin etwas gegessen!“ protestierte er.

„Ich bin doch nicht unterernährt.“
 

„Vorhin war vor fünf Stunden und das war nur ein halbes Brötchen. Gestern war es auch nicht viel mehr und was du in den vergangenen Tagen gegessen hast, will ich gar nicht erst wissen. Jetzt bin ich wieder bei dir und es wird anständig gegessen“, hielt Aya streng dagegen und funkelte Schuldig in die Augen. Er war heiß auf diesen Mann, ohne jede Frage, doch die Gesundheit ging vor. Dass er aber vermutlich ebenso unterernährt wie Schuldig aussah… dagegen konnte man was tun.
 

„Gut… kochen wir etwas?“, fragte Schuldig noch immer etwas überrumpelt, auch wenn er wenig Lust auf Kochen oder irgendeine andere Tätigkeit hatte.
 

Aya lächelte ob dieser Verständnislosigkeit und küsste Schuldig auf die leicht schmollenden Lippen. „Ja, werden wir. Los, steh auf und beweg deinen hübschen Hintern in die Küche.“
 

Schuldig erhob sich und tat wie ihm geheißen. Sie brauchten die letzten frischen Nahrungsmittel auf und es machte ihm sogar Spaß zu kochen, auch wenn stetig diese Angst in ihm lauerte… Angst wovor konnte er nicht sagen, nur diese Unruhe, diese Angst.
 

o~
 

Das Gefühl seiner kitzelnden Nase weckte ihn langsam aus seinem Schlaf, der doch tiefer gewesen war als zunächst angenommen.

Aya rieb sich über das verbrecherische Körperteil und grub seinen Kopf ein weiteres Mal in die Kissen, glücklich darüber, dass er nicht nach vier Stunden Schlaf schon wieder aufgewacht war. Doch anstelle Ruhe zu geben, zog der unsichtbare Übeltäter nun an seinen Haaren.

„Lass… Schuldig“, brummte er verschlafen, doch insgeheim glücklich, eben das wieder sagen zu können. Schuldig war wieder da, er lebte. Sie waren beide wieder hier.

Allerdings begrüßte ihn anstelle der Stimme des Telepathen ein empörtes Miauen, begleitet von einem so heftigen Zug, dass Aya genervt die Augen aufschlug und sich zur Übeltäterin herumdrehte, die ihn mit großen, grünen Augen ansah und um Beschäftigung und Aufmerksamkeit bettelte.
 

Er seufzte. „Was ist los, spielt Schuldig nicht mit dir?“, fragte er und holte sie zu sich heran um sie auf seinen Bauch zu platzieren, als er sich auf den Rücken gelegt hatte. „Wo ist der Übeltäter überhaupt, hm?“ Es war selten genug, dass er nach Schuldig aufwachte und noch seltener, dass dieser es schaffte, sich aus dem Bett zu stehlen, ohne dass er es mitbekam. Aber vermutlich lag es an seiner Müdigkeit und der Unterbrechung der letzten Nacht.
 

Schuldig hatte wieder einen Alptraum gehabt. Dieses Mal jedoch hatten ihn dieser aus dem Schlaf gerissen… eigentlich sie beide, denn Aya war von Schuldigs verzweifeltem „Ran!“ ebenso hochgefahren. Ein Alptraum… nichts weiter. Verlustängste vielleicht? Es war schlimm gewesen, vor allen Dingen die Tränen, die durch die Dunkelheit hinweg auf Schuldigs Wangen gesehen hatte.

Er hatte Schuldig danach in seine Arme gezogen und dem aufgeregten Mann etwas Ruhe gegeben, die dieser schließlich dazu genutzt hatte, wieder einzuschlafen… eng mit ihm verbunden. Daher wunderte es Aya nur umso mehr, dass er so tief geschlafen hatte.

Sein Blick glitt aus dem Fenster, während er darüber nachdachte, wie die Lust und der Beschützerinstinkt in ihm konkurriert hatten, als er Schuldig so nah bei sich gehabt hatte. Natürlich… sie hatten lange nicht mehr miteinander geschlafen und ihre Emotionen waren dabei überzukochen… gefolgt von der latenten Unterordnung des Telepathen, die dieser in den letzten Tagen impliziert hatte und die Aya nur noch umso mehr reizte.
 

In Gedanken versunken kraulte Aya Banshee und schraubte sich schließlich mit ihr in die Höhe, machte sich auf die Suche nach Schuldig… fand ihn jedoch nicht. Die gesamte Wohnung war leer, von Schuldig nichts zu sehen. Aber gleichzeitig auch keine Nachricht, kein Hinweis, wo er sein konnte, nichts.
 

„Scheiße“, flüsterte Aya, als er in der Küche stand, das Telefon schon in der Hand. Schuldig war weg… fort…und würde nicht wiederkommen, flüsterte die kleine Stimme in ihm, die sich nur zu gut an die schrecklichen zwei Wochen erinnerte.

Aber das war Schwachsinn, das war… aber wo war Schuldig? Wo konnte der andere Mann sein, ohne Nachricht, ohne alles? Fiebrig ging Aya alle Möglichkeiten durch und blieb schließlich bei dem gestrigen Abend stehen. Schuldig hatte gesagt, dass sie heute einkaufen müssten… vielleicht war er schon einkaufen gegangen.
 

Ganz sicher war er einkaufen gegangen.
 

Was Aya aber nicht minder wütend machte, denn wieso hinterließ Schuldig keine Nachricht? Oder weckte ihn, damit er mitkonnte? Oder wartete auf ihn? Er hatte mitgewollt, ja! Als wenn er den anderen alleine gehen lassen würde… damit dieser schon wieder verloren ging?

Aya knurrte unwillig und wusste selbst, dass er kein Recht auf diese Wut hatte und das machte ihn noch umso wütender… ein ewiger Kreislauf, der darin gipfelte, dass er Schuldig an seine Seite bannen wollte… dem anderen zeigen wollte, zu wem er gehörte. Mit allen Mitteln.

Wie Gift schlich sich der kaum gefasste Entschluss in seine Gedanken und manifestierte sich dort. Mit dunklem Lächeln fuhr er Banshee durch ihr Fell und setzte sie schließlich in der Kissenecke ab.

„Nichts verraten, hörst du?“, flüsterte er verschwörerisch, zum großen Teil auch, um sich von seiner Angst, dass Schuldig doch nicht wiederkommen würde, abzulenken.

Aus der gleichen Angst heraus machte er sich auch mit grimmigem Lächeln fertig, duschte sich, rasierte sich, zog sich an.

Das Gift hatte mittlerweile auch seinen Verstand erreicht und er stromerte zum Kleiderschrank um dort etwas Passendes auszusuchen.
 

o~
 


 

„Oh, Verzeihung“, hörte er neben sich und Schuldig wandte sich in Gedanken um, erblickte eine Frau Mitte Dreißig, die sich gerade lächelnd bei ihm entschuldigte. Im ersten Moment wusste er nicht, was los war, bis er automatisch in ihre Gedanken schlüpfte und las, dass sie ihn kurz gestreift hatte. Er nickte, lächelte pflichtschuldigst und wandte sich wieder dem Regal zu.

Gott, er hatte sie nicht einmal bemerkt. Aber… er hatte ihre Gedanken gelesen!

Sogleich stellte sich eine Art Beruhigung bei ihm ein, zumindest eine, die er sich selbst einredete. Gleichzeitig gedankenlos durch die Regale gehend und dennoch in den Köpfen der Menschen um ihn herum stöbernd, brauchte er eine halbe Ewigkeit für seinen Einkauf.
 

Er fühlte sich wie ein Alkoholiker, vor allem achtete er darauf, dass seine Hände nicht allzu zitterten wenn er Dinge aus dem Regal oder aus dem Kühlfach nahm.

Als er aus dem Supermarkt trat und alles im Wagen verstaute, war es ihm, als wäre er auf Droge. Die Welt kam ihm so fern vor so unwirklich, alles schien zu hell zu sein und viel zu feindlich gesinnt. Die Gedanken der anderen konnte er nur sporadisch lesen, scheinbar nur die oberflächlich gelegenen, die man den meisten Menschen manchmal schon durch ihre Mimik und Gestik ablesen konnte.

Hatte er nicht schon Fortschritte gemacht? Er hatte geglaubt, dass es besser gehen würde…
 

Sich noch einmal unauffällig umsehend stieg er in seinen Wagen ein und fuhr vom Parkplatz, fädelte sich in den Verkehr ein und stand sogleich im Stau. Nichts Neues im Lande, sozusagen.

Ausgiebig Zeit um über die vergangene Nacht nachzudenken.
 

Wieder Albträume. Aber dieses Mal war es schlimmer gewesen. Peinlicherweise war er sogar aufgewacht und hatte danach dagesessen und nach Ran gerufen wie ein irrer Tölpel. Er hatte minutenlang nicht gewusst, wo er war und er hätte schwören können, dass er geheult hatte.

Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen konnte er sich immer an seine Träume erinnern, er arbeitete mit ihnen und manchmal schaltete er die Verarbeitung einfach aus, wenn er Lust dazu hatte oder es unnötig empfand. Jetzt konnte er es nicht – das Ausschalten.
 

In seinem Traum hatte er Angst um Ran gehabt. Er hatte zusehen müssen, wie dieser tagelang von Fei Long vergewaltigt oder dazu gezwungen wurde, ihm anderweitig zu Diensten zu sein. Es war schrecklich gewesen, so furchtbar. Und dann plötzlich hatte er sich selbst gesehen und Kitamura war plötzlich so lebendig vor ihm erschienen…

Alles hatte sich zu einem hässlichen, grausamen Gemälde verbunden. Natürlich hatte er dann irgendwann, als er in Rans Armen gelegen und sich beruhigt hatte, geahnt und dann gewusst, dass es Takabas Gedanken und seine Erinnerungen gewesen waren, die er über Rans Gestalt gelegt hatte. Schließlich war es Ran gewesen, von dem er geglaubt hatte, dass er bei ihm gewesen war, in den Anfangstagen seiner Gefangenschaft. Die Angst, Ran zu verlieren, mischte sich mit den Erinnerungen von Takaba, dessen Leid mit Schuldigs Leid in der Vergangenheit. Alles reproduzierte sich, als würde man ein Korn in einen fruchtbaren Boden legen und die Saat die aufginge würde groß, stark und… vernichtend sein.
 

Früher hatte er Ruhe gebraucht, hatte sich in der Wohnung eingesperrt, keine Aufträge von Brad bekommen oder wurde gleich in ein „Sanatorium“ zur Erholung gesperrt. War die Akutphase vorbei, war alles wieder in Ordnung. Er hatte das Zuviel an Stress verarbeitet.

Nun… quoll alles über. Seine Erinnerungen, die Angst um Ran, die Angst um Brad, dann wieder die Anspannung auf seiner Flucht und vor allem der Verlust seiner Fähigkeiten. Aber das war noch nicht genug um ihn aus der Bahn zu werfen. Ran wollte ihn verlassen, sie waren nicht mehr sicher in ihrem Zuhause und sie hatten sich linken lassen. Wenn er wenigstens keinen psychischen Schaden hätte…

Schuldig musste über diesen letzten Gedanken lächeln.

Dann hätte er das jetzt alles auf die Reihe bekommen, aber nein, er musste ja langsam ausflippen. Er wollte Ran doch nicht verletzen, ihm doch nicht wehtun.

Wenn er es doch aber nicht anders will?, lachte etwas in ihm gehässig und sein Lächeln wurde dreister.

Dunkle Gedanken krochen in ihm hoch auf der Heimfahrt, wurden jedoch leiser und verschwanden schließlich, als er auf den Stellplatz fuhr und Rans Porsche zu Gesicht bekam.
 

Wie immer war er zwei ausgewählte Umwege gefahren um sich sicher zu sein, dass ihm keiner folgte. Er glaubte zwar nicht, dass sie deshalb sicher waren, aber er musste ja nicht noch zusätzlich ein Risiko eingehen. Im Gegensatz zu anderen Gruppierungen stand nämlich hinter Schwarz keine große beschützende Organisation, auch wenn einige das glaubten.
 

Die Einkäufe in weißen Tüten in beiden Händen, mühte er sich aus dem Aufzug und stellte eine der Tüten ab um die Karte durch den Schlitz zu ziehen. Er hob sie wieder auf, öffnete die Tür und trat ein.
 

Als die Tür aufging und Aya Schuldigs roten Schopf erblickte, konnte er sich ein kleines, erleichtertes Aufseufzen nicht verkneifen. Er war wieder da und Aya war nicht alleine… nicht mehr. Doch diese Erleichterung wurde durch etwas anderes, Wütenderes abgelöst, das ihn Schuldig stumm mustern ließ, als dieser die Einkäufe in die Wohnung trug.

Das Buch auf seinen Knien wurde langsam zugeschlagen. Er hatte es sowieso nicht wirklich gelesen, hatte nicht die Muße dafür gehabt.
 

Schuldig sah nur flüchtig auf, erblickte Ran auf seinem Lieblingsplatz auf der Fensterbank, bevor er die Tür hinter sich schloss und seine Schuhe umständlich abstreifte.

„Na, schon wach?“, lächelte er und trug die Einkäufe in die Küche, stellte sie auf dem Tresen ab und zog sich danach die Jacke aus. Er hatte sich über sein langärmliges Shirt nur seinen Mantel übergeworfen. Ihm war kalt… draußen, aber er brauchte dieses Gefühl der Kälte, damit er wusste, dass er lebte und das Unwohlsein und der Schmerz rissen ihn auch von tiefer gehenden Gedanken fort, lenkten seine Aufmerksamkeit auf sich selbst, auf seinen Körper. Es zeigte ihm, dass er sich gefälligst wichtigeren Dingen als seiner inneren Unruhe zu widmen hatte. So hatte er nur ein Shirt und seine Jeans angezogen und war losgezogen.

Schuldig wandte sein Gesicht Ran zu, als er damit begann, die Einkäufe zu verräumen. Die Miene war unleserlich und doch… Ran sezierte ihn fast schon.

War irgendetwas?

Er konnte ihn auf diese Distanz nicht einschätzen… aber…
 

Aya wartete schweigend, bis Schuldig alles eingeräumt hatte und stand dann auf, kam langsam zu dem Ausreißer. Sein Blick streifte die leeren Einkaufstüten und dann wieder Schuldig, als er vielsagend seine Augenbraue hob.

„Soso…“, schnurrte er dunkel, lasziv gar.
 

Schuldig kannte diesen Tonfall, diese fast schon schleppende Stimme, aber eben nur fast. Man hätte nicht wirklich sagen können, ob es gewollt so war, es war perfekt… perfekt um ihn anzumachen, ihm die Nackenhaare aufzustellen oder bis hinunter zwischen seine Beine zu kriechen.

Gestern schon hatten sie sich herangetastet nur er… nur wegen ihm hatten sie beide gezögert, er war einfach noch zu unstet und sich selbst nicht sicher.

Nur jetzt… lag noch etwas anderes in Rans Stimme, vor allem auch in diesen unnachgiebig harten Augen, die ihn maßen, als er sich nun umwandte, seine Hände auf die Theke legend, da er gerade Zucker einsortiert hatte. „Hmm?“, fragte er unsicher, wie sein ganzes Wesen momentan war. Ohne Ziel, ohne Halt, ohne Anker, ohne Richtung.
 

„Da muss ich doch tatsächlich aufwachen und feststellen, dass du nicht da bist… ohne eine Nachricht, ohne alles…“, half Aya eben dieser Unsicherheit etwas auf die Sprünge und strich Schuldig - tadelnd den Kopf schüttelnd - über die Wange. Noch würde er nicht durchziehen, was er vorhatte… noch nicht, dafür waren die Anzeichen noch zu unsicher.
 

Dem Ausgebüxten schlug das Herz sofort bis zum Hals. Ran war angespannt, er war unterschwellig wütend… das spürte und konnte Schuldig in dessen Augen lesen. „Ich… ich dachte, du hättest es gewusst, ich, wir hatten doch gestern darüber gesprochen.“ Ja, das stimmte, aber… er war trotzdem einfach ohne Nachricht abgehauen und das obwohl sie erst vor kurzem der vermeintliche Tod getrennt hatte. „Es… tut mir leid, Ran. Ich dachte, dass ich wieder zurück bin bis du aufstehst, oder dass es nicht so schlimm ist, wenn ich kurz alleine einkaufen gehe.“ Er sah zerknirscht in das harte Violett.
 

Aya lächelte und schüttelte nachsichtig den Kopf… so nachsichtig, wie er sich eigentlich gar nicht fühlte. Seine Hand wanderte von der Wange des Telepathen in dessen Nacken und streichelte dort beruhigend weiter.

„Immer büchst du mir aus… sag mir, was soll ich bloß dagegen machen?“, fragte er verschwörerisch.
 

Für einen Moment hielten Schuldigs Gedanken inne, wurden herausgerissen aus ihrer Bahn und sich bewusst, dass sich ihm… dass Ran ihm eine Möglichkeit bot, eine Wahl ließ, die er doch eigentlich nicht haben wollte.

Er wollte keine Wahl.

Zu wählen hieß sich etwas einzugestehen. Aber gleichzeitig wusste er, dass Ran ihm immer die Wahl lassen würde, schon allein wegen Rans und seiner eigenen Vergangenheit. „Dann bist du wohl zu nachsichtig mit mir, hmm?“, bot er an und alles in ihm schnürte sich zu, kribbelte, schrie auf. Ein Teil in ihm, der die Entscheidung getroffen hatte, glaubte zu wissen, in welche Richtung es ging und beruhigte sich dadurch, der andere Teil in ihm begehrte auf, wurde wild und riss an den Ketten.
 

„Das ist wohl wahr“, lächelte Aya wissend und seine Hand packte fest zu. „Aber noch ist nicht aller Tage Abend nicht wahr?“ Er schwieg einen kurzen, dramatischen Moment und nickte dann unwirsch in Richtung Wohnraum. „Auf dem Bett liegt eine Hose für dich. Zieh sie an, such dir das passende Oberteil dazu aus und mach dir die Haare. Wir fahren weg.“
 

Das war eine klare Ansage. Eine deutliche unmissverständliche Einwilligung auf sein unterbewusstes Bitten der letzten Tage.

Die Hand, die so schleichend wie Gift in seinen Nacken gekrochen war, so täuschend sanft wie ein überdosiertes Schlafmittel, und die nun fest zupackte, wies in an seinen Platz, den er momentan gerne annahm. Er wusste Ran würde alles richten, Ran würde alles wieder gut machen und bei ihm war er so sicher wie nirgends wo sonst. Sein Herz schlug schneller, alle Sinne richteten sich auf Ran, auf seine Körpersprache. „Wohin?“, fragte er neugierig, bewegte sich aber bereits durch die Wohnung in Richtung Bett.
 

„Wenn wir da sind, wirst du es wissen“, gab Aya ruhig zurück und ging zum Kühlschrank, nahm sich einen Schluck Saft, ohne weiter auf Schuldig zu achten. Sie würden ins Blind Kiss fahren und Kim und Toshi einen Besuch abstatten… und ihr Spiel spielen, das schon seit Tagen zwischen ihnen schwelte.
 

Schuldig glaubte zu wissen wohin sie fahren würden, aber er war viel zu sehr schon in seiner Rolle, dass er diese Frage nach dem Wohin unterdrückt hätte.

Kurz blickte er in den Kleiderschrank, als er die Hose auf dem Bett erblickt hatte und wählte das dazu passende Oberteil aus. Mit beiden Dingen machte er sich auf und ging ins Badezimmer. Nachdem er sich frisch gemacht hatte, rasiert hatte er sich morgens schon, begann er sich auszukleiden und wieder anzukleiden.

Die Unterwäsche ließ er geflissentlich weg, das verstand sich von selbst. Ebenso ließ er die Socken weg, als er in die weichen eng anliegenden Stiefel schlüpfte, die genau für diese Art Veranstaltung gemacht worden waren.

Die Hose, die Ran ausgewählt hatte, besaß an der Kehrseite einen Reißverschluss, den man nach Belieben öffnen konnte. Schuldig malte sich nur kurz aus, warum er gerade diese Hose anziehen sollte. Seine Hände zogen das Leder glatt und fuhren noch einmal langsam darüber. Selbst sein Körper wusste um was es hier ging, fühlte alles intensiver, bewegte sich anders.

Er zog die alten Verbände ab und entschied sich keine zu tragen. Falls sie sich ablösten… aber wenn Schweiß hinein lief? Egal.

Er zog sie ersatzlos ab und entsorgte sie auf die übliche Art.

Erst danach zog er vorsichtig die Weste über, legte sie über seinen Rücken und zog den Reißverschluss hoch. Sie saß perfekt, das Leder war weich und angenehm zu tragen. Seine Haare waren heute Morgen frisch gewaschen worden und fielen ausnahmsweise fast glatt um sein Gesicht. Er fasste die langen Strähnen keck am Hinterkopf mit einem breiten Lederband zusammen, sodass nurmehr einige kürzere übrig blieben, die sein Gesicht umschmeichelten. Es ließ es weicher aussehen. Durch die Blässe und Anstrengungen der letzten Wochen wirkte es kantiger und härter.
 

Als er fertig war, atmete er noch einmal tief ein und verließ das Badezimmer.

Das verborgene Gemälde

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Refugium

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Familienidylle

~Familienidylle~
 


 


 

Schuldig wickelte sich eine der dickeren langen Strähnen um die Finger und zwickte Ran in eine Brustwarze. „Ich... mag es, wenn du eifersüchtig bist“, veräußerte er in frivolem Tonfall und schmirgelte seine Wange über die malträtierte Stelle. Danach kuschelte er sich wieder ganz züchtig an. Es waren keine leicht dahin gesagten Worte, er mochte es wirklich wenn Ran eifersüchtig war, denn er brauchte diese Bestätigung.

Sicher würde er bald einschlafen… mit Ran in seinen Armen… nackt…
 

Aya lächelte und es schauderte ihn ob der leichten, aber dennoch wirksamen Reizung. „Und ich mag es, wenn du anderen Hintern hinterher steigst“, knurrte Aya spielerisch und biss Schuldig ins Ohrläppchen.
 

„Was?“, keifte der Eigentümer des Ohrläppchens und die zuvor heraufbeschworene Ruhe war dahin, sein Kopf ruckte samt Kapuze in die Höhe, die ihm sofort die Sicht versperrte und die er genervt nach hinten strich. „Was magst du?!“, starrte er Ran entgeistert an, sich halb auf ihn gelegt.
 

„Natürlich mag ich das… denn danach macht es umso mehr Vergnügen, dir zu zeigen, dass Zuhause gegessen wird, mein Lieber.“ Aya lächelte diabolisch und bleckte leicht die Zähne. „Also nur zu… mein Appetit wird dadurch nur größer.“

Aya wusste um die sexuelle Spannung, die zwischen ihnen herrschte und die Luft prickeln ließ, aber er wusste genauso darum, dass es Schuldig noch nicht so gut ging und dass er ruhen musste… ein Zwiespalt.
 

„Aber… du beziehst das jetzt nicht auf den Jungen oder?“

Schuldig legte die Skepsis die er bei Rans Worten empfand durchaus auch in seine Frage.

„Und welchen Hintern steige ich hinterher? Wenn ich mich da… noch an Brad Crawford… im Pool erinnere, dem DU hinterher- und nachgeglotzt hast… also…“, fehlte ihm da fast die Sprache, sein Gesicht ein Ausbund völliger Empörtheit.
 

„Ich habe mir meinen Gegner nur genau angesehen… man muss ja wissen, was einen erwartet“, rechtfertigte sich Aya auf den impertinenten Vorwurf, er habe Crawford – CRAWFORD – hinterher gestarrt. Er hatte wirklich nur Vergleiche ziehen wollen.

„Und ja, ich beziehe das auf den Jungen, mein Lieber. Ich kenne dich. Der Kellnerin hast du auch schöne Augen gemacht, ihm dann vermutlich auch – während du ihn als Kuscheltier gehortet hast.“ Aya sagte das bierernst, eine Spur zu ernst fast, denn das Lachen, das schon in ihm hochkroch, war beinahe an seinen Lippen zu sehen, die sich kurz kräuselten, dann jedoch wieder eine kritische Welle bildeten.
 

„Sicherlich… deinen Gegner genau angesehen“, blickte Schuldig Ran an mit der Mimik eines Menschen, der dem anderen keinen Handstrich breit glaubte. „Du hast mich früher nie so angesehen und wir waren früher auch… Gegner!“ Er war mal gespannt, wie Ran sich da herausreden wollte.

„Und… das mit der Kellnerin zählt nicht, weil das zielte speziell auf dich ab“, lächelte er zuckersüß, auch wenn dieses Lächeln doch noch sehr verpennt aussah. „Und was den Jungen betrifft… ich glaubte wirklich, dass du es warst“, formten sich seine Lippen leicht trotzig nach unten.
 

„Und als du dir bewusst warst, dass er nicht ich ist, hast du natürlich züchtig Abstand gehalten. Nein, ich glaube dir das“, merkte Aya an und nickte gewichtig. „Nun… ich brauchte dich auch nicht so anzusehen, weil du mir nie gefährlich schienst. Ich hätte dich jederzeit aufs Kreuz legen können, wenn ich gewollt hätte!“

Sicherlich… jederzeit, deswegen hatte er es ja auch so oft getan. Aber vielleicht war ja wirklich immer etwas dazwischen gekommen, was Schuldig den Hintern gerettet hatte. Das war vermutlich die Erklärung dafür.
 

Schuldigs Lippen formten sich zu einem unwilligen Strich und seine Stirn furchte sich gewittrig. Er schnaubte und drehte sich von Ran weg auf die andere Seite. „Du bist blöd“, murmelte er, die Kapuze wieder auf sich und sich ins Gesicht ziehend. Er mummelte sich ein.

Natürlich war er von dem Jungen abgewichen, nachdem er erkannt hatte, dass es nicht Ran war. Er konnte sich noch genau daran erinnern wie er seinen „Ran“ in den etwas wärmeren Raum mittels seiner eingeschränkten Fähigkeiten bugsiert hatte, damit es ihm besser ging, zumindest was die Unterbringung anging. Als er dann feststellen musste, dass es nicht Ran war… hatte er sich gänzlich anders verhalten. Tröstend ja, helfend, aber doch nicht wie zuvor wie mit dem vermeintlichen Ran.
 

„Aha. Jetzt bin ich blöd und du lässt mich hier liegen… in der Kälte, nackt!“, wetterte Aya und zog an der Decke, die Schuldig bisher für sich beansprucht hatte, bis sie ihn einhüllte. Er konnte nur raten, was zwischen diesem Mann und Schuldig vorgefallen war, auch wenn er wusste, dass es kein Sex gewesen war. Nicht, wenn Schuldig wusste, was Fei Long getan hatte… als wenn er sich irgendjemanden auch sonst aufzwingen würde.

Es war wahrscheinlich gut, dass Schuldig für den anderen da gewesen war, ebenso wie es für Schuldig sicherlich Labsal gewesen war, ihn zu haben. Auch wenn er nicht… Aya war. Das beruhigte den rothaarigen Japaner und er lächelte, ziepte Schuldig an den dargebotenen Haaren.
 

„Hee“, maulte Schuldig und setzte sich ruckartig auf, blickte neben sich zu Ran, der nun wieder eingewickelt dalag. Es war wirklich kalt und er hatte Ran mit seiner Schmollphase die Wärme genommen. Seufzend ließ er den Kopf hängen und blickte seitlich zu Ran, als würde er überlegen, was er als nächstes Gemeines anstellen könnte um sich für diese Unterstellung zu rächen.

Schlussendlich jedoch legte er sich wieder hin und kuschelte sich an den eingewickelten Mann an. „Einem nackten Mann etwas anzutun wäre unfair“, tat er seinen inneren Entschluss kund und grabschte Ran für sich fest an seinen Körper.
 

Das brachte Aya nun wirklich zum Lachen. Erst leise, dann immer lauter, konnte er sich gar nicht mehr beherrschen, als er seine Stirn auf die Schulter des Telepathen bettete und sich schüttelte vor Lachen und kaum aufrecht erhaltener Selbstbeherrschung. Nichts antun… einem nackten Mann…Aya keuchte und röchelte nach Luft, die ihm bisher versagt geblieben war, lachte weiter.

„Der… ist gut… der ist wirklich gut!“, prustete er und hatte Tränen in den Augen.
 

Diesem Treiben zunächst nur zusehend und dann selbst leise lachend, drückte Schuldig Ran einen sanften Kuss auf die Wange, schmiegte sich an ihn und ließ Ran seine Lachsalve. Er würde noch ein Weilchen schlummern, bis Ran fertig war sich über ihn zu amüsieren. Auch wenn es dafür gedacht war…, lächelte er still in sich hinein. Wie schön es doch war dieses Lachen endlich wieder zu hören, dieses seltene…
 

Tatsächlich. Aya brauchte etwas um sich zu beruhigen, doch er war nur umso entspannter, als er sich schließlich die Tränen aus den Augen wischte und Schuldig einen Kuss auf den Haarschopf schmatzte.

Nun lagen sie also hier, er mit Decke und Schuldig ohne, dafür aber angezogen… doch trotz allem war Aya selbst kalt, denn es wurde und wurde hier nicht richtig warm… wie auch, wenn sich erst einmal die Räume, die Decken und die Fußböden aufheizen mussten.

„Wie wäre es… du schlummerst noch etwas weiter und ich fahre hinunter ins Dorf und besorge uns das Notwendigste?“; unterbreitete er Schuldig seinen ursprünglichen Plan, bevor er nackt im Bett gelandet war, dass, trotz aller japanischen Tradition, das musste er ja zugeben, in der ersten Nacht noch recht unbequem war. Doch das war seine erste Nacht in einem westlichen Bett auch gewesen.
 

Für Schuldig war die Bequemlichkeit momentan eher an etwas niederer Stelle. „Und dann muss ich hier ganz alleine…’rumliegen?“, murmelte Schuldig halb im Schlaf. „Dann… hab ich… ja gar nichts mehr.“ Er gähnte in die Decke hinein. „…von… dir… nackt… so schön…“, faselte er und seufzte leise.
 

Aya lächelte liebevoll. „Keine Sorge, ich fahre eben so wie ich bin ins Dorf und gehe dort einkaufen. Ich will ja schließlich keine Zeit mit dem Anziehen verlieren, damit ich umso schneller bei dir sein kann“, erwiderte er leise. „Soll ich dir die Decke zurechtstutzen, damit du wenigstens sie in den Armen hast?“
 

„Hmmhmmm“, murmelte Schuldig zustimmend. Er hatte nicht mehr wirklich mitbekommen was Rans Worte genau waren nur, dass es lieb klang.
 

„Und du wirst auch sicherlich ein lieber Schuldig sein und keine Dummheiten anstellen, richtig? Und meine Haare werde wir auch schneiden lassen… nicht wahr?“, fragte Aya in genau der gleichen Tonlage, noch lieber als zuvor.
 

„Bin… lieb… und lieb deine Haare…“, seufzte Schuldig.
 

Das war kein klares Ja… und wenn es sich Aya genau überlegte, dann war es sogar ein Nein… schon wieder ein Nein, auch wenn der andere sich im Halbschlaf dessen wohl kaum bewusst war.

Aya grollte innerlich. Aber nun gut.

Es gab sicherlich noch andere Gelegenheiten und nun begann sich auch sein schlechtes Gewissen zu regen, das ihn davon abhielt, es noch einmal zu versuchen. Aber nicht nur das… Schuldig war eingeschlafen, das erkannte Aya an den ruhigen, gleichmäßigen Atemzügen, die sich tief aus dem Brustkorb hoben.
 

Für eine Weile genoss Aya noch das friedliche Bild des schlafenden Telepathen, bevor er sich unter dessen Armen hervorschlängelte und diesen bis oben hin in die Decke wickelte… damit er sich auch ja nicht erkältete. Aya selbst wurde jedoch immer noch nicht warm, als er in seine Sachen stieg und sich ausgehfertig machte… zumindest sollte es so aussehen, denn er kam dem Bild eines erfolgreichen Geschäftsmannes nicht annähernd so nahe, wie er es gerne gehabt hätte.
 

Die Türen des Hauses so gut es ging sichernd, machte sich Aya mit einem letzten, sorgenvollen Blick in Richtung Auto auf. Ihm behagte es nicht, Schuldig dort alleine zu lassen, doch was sollte er tun, wenn sie elementare Dinge wie Nahrungsmittel und Kleidung brauchten…?

Schnell stieg er die Stufen hinab und zog fröstelnd die Plane von seinem Wagen. Wenn er die Heizung auf voll stellte, hatte er vermutlich das Glück, dass sie im Dorf dann wärmte… und so war es auch. Pünktlich, als er den Wagen am Rande der kleinen Straße parkte und den neugierig schauenden Leuten freundlich zunickte, spürte er einen Hauch von Wärme, der sich nun aber verflüchtigte, als er aus dem Auto stieg. Er hatte einen kleinen Krämerladen gefunden und hoffte, dort das zu finden, was er brauchte… und vor allen Dingen mit seinem Geld auszukommen.
 

Fasziniert stand Aya vor dem alten Gebäude mit seinen kleinen, schiefen Dächern und der verwitterten Holztür, bevor er eintrat und sich nach einem kurzen Moment des Innehaltens seiner japanischen Erziehung erinnerte und sich vor der alten Dame, die nun zu ihm sah, verbeugte.

„Einen schönen, guten Tag“, wünschte er ihr.
 

Die Verkäuferin mittleren Alters begrüßte den jungen Mann mit ebensolcher Höflichkeit und lächelte aufmerksam. „Willkommen. Willkommen. Wie kann ich ihnen helfen?“

Ihre Augen drückten höfliches Interesse aus, auch wenn sie im Innern mehr als neugierig war, was ihr bescheidener Laden in diesem abgelegenen Dorf für einen jungen Mann in einem teuren Anzug zu bieten hatte. Vielleicht hatte er sich verfahren…
 

„Ich bräuchte ein paar Dinge, da das Haus, in dem wir dort oben wohnen, noch recht kahl ist, was Lebensmittel und Kleidung angeht… wir sind sehr spontan hierhin gekommen, müssen Sie wissen.“ Aya mochte es schon vorm ersten Moment an, sich der höflichen, eher altertümlichen Sprache zu bedienen, die ihm manchmal so am modernen Tokyo fehlte. Er fühlte sich hier… zuhause, am richtigen Platz quasi.
 

„Aber natürlich, der junge Herr“, nickte die Verkäuferin. „Das alte Nakama Anwesen? Ja?“, nickte sie und ging in den hinteren Teil des Ladens, bedeutete dem jungen Mann ihr zu folgen.
 

Aya streunte ihr hinterher, blieb mit seinem Blick immer wieder hier und da hängen. „Das am Fuße des Berges, etwas außerhalb von hier“, bestätigte Aya. Nakama Anwesen hatte er noch nicht gehört aber es mochte wohl das Gleiche sein. „Wir müssen es uns erst wohnlich gestalten.“
 

„Das kann ich mir vorstellen. Sehen Sie hier, dort sind die Lebensmittel. Und dort drüben haben wir einige warme Kleidungsstücke. Allerdings nicht in jeder Größe, Sie müssen verzeihen.“ Sie ging zunächst zu den Kleidungsstücken und zu einigen Stoffballen, die in den Regalen lagen.

„Sind Sie mit ihrer Familie hier?“, fragte sie wie beiläufig. Sie musste schließlich wissen, für wie viele Personen der junge Herr seinen Einkauf tätigte.
 

Aya entschied sich, zuerst für die Kleidung zu sorgen und sich dann den Lebensmitteln zu widmen. Doch zuerst musste er über die Frage der Frau nachdenken… mit wem war er hier? Mit einem Telepathen, der nun ruhigen Gewissens schlief und den er nicht zu lange alleine lassen wollte.

„Ja, mit meiner Familie. Wir haben uns zu einem spontanen Urlaub entschlossen“, bestätigte Aya mit einem ehrlichen Lächeln und nickte. Er suchte sich durch die Reihen der Yukatas, Kimonos und warmen Mäntel, nahm schließlich für jeden von ihnen drei Yukatas mit und für sich noch einen Mantel, dazu passende Schuhe und ganz wichtig Socken. Dicke Wollsocken!

Er legte seine Beute auf den hölzernen Tresen und griff nach einem der Einkaufskörbe.
 

„Ich werde sie Ihnen verpacken“, nickte sie und lächelte. Scheinbar war dieser Urlaub sehr spontan ausgefallen, wenn sie nicht einmal Socken hatten. Fast schon besorgt blickte sie zu dem jungen Mann.

„Das Nakama Anwesen steht schon ein paar Jahre lang leer“, plauderte sie und begann, die Yukatas zu falten und sie Stück für Stück sorgsam mit dünnem Zwischenpapier zu verpacken.

„Als der alte Nakama starb… da zog der älteste Sohn mit seiner Familie in die Stadt. Seither steht das Haus leer, sicher schon zehn Jahre. Es ist zu weit ab vom Schuss, dort wollte keiner hin. Nicht mal die Städter, die auf dem Land die Ruhe suchen“, lachte sie gutmütig.

„Werden Sie länger bleiben?“
 

Während Aya verschiedene Lebensmittel einsammelte, Frisches, wie auch Konserven, drehte er sich zwischendurch immer wieder zu der Frau um. Sie war neugierig, das war nicht zu übersehen, doch Aya wusste auch, dass er nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen sollte, als er es jetzt schon tat in seinem Aufzug.

„Ich denke schon, wir wissen es noch nicht genau, aber wir wollen uns hier erst einmal vertraut machen“, lächelte er. „Ich finde es schön, dass es so…weit ab ist“, gestand er schließlich ein. „Es ist ruhig und entspannend dort.“
 

„Ja, das ist es“, bestätigte die Frau. „So ist es… erst wollen alle in die Stadt und dann suchen sie die Ruhe auf dem Land“, seufzte sie fast schon wehmütig.

Sorgfältig packte sie die Socken und Schuhe ein. „In dem Haus ist es doch sicher kalt oder? Brauchen Sie Decken, oder haben Sie sich bereits etwas eingerichtet? Zu dieser Jahreszeit… es dauert noch, bis es richtig Frühling wird.“
 

„Wem sagen Sie das?“, fragte Aya und schauderte an die bloße Erinnerung der Kälte dort oben, während er die Lebensmittel zu den Kleidungsstücken stellte. „Ich habe das Gefühl, gar nicht richtig warm zu werden. Hätten Sie denn so etwas wie eine dicke Decke?“
 

Die Frau arrangierte alles und packte die Lebensmittel in Tüten, sobald abgewogen oder abgezählt war. „Ah… warten Sie, da habe ich noch etwas… vielleicht hilft das!“ Sie ging in den hinteren Bereich, der einen kleinen Knick machte und holte sich einen Schemel heran um an eines der oberen Regale zu kommen. Dort zog sie eine Heizdecke hervor und besah sie sich genau. „Hier, sehen Sie“, brachte sie ihr Fundstück zu dem jungen Mann. „Ich gebe sie Ihnen für die Hälfte, sie ist nicht mehr auf dem neuesten Stand, aber gehen müsste sie. Und wenn nicht, dann bringen Sie sie wieder zu mir. Ich könnte auch im nächsten Ort anrufen und für Sie eine ordern. Die Lieferung müsste dann morgen hier sein…“, fragte sie nach.
 

Aya maß diesen kostbaren Schatz mit leuchtenden Augen und nickte. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe! Hauptsache, sie wärmt und ich bin überzeugt, das wird sie“, lächelte er und in diesem Moment kam der Junge heraus, der schon als kleines Kind vor der Ladentheke gestanden und über eben diese gelinst hatte, weil es dort süße Früchte gab.

„Wie viel bekommen sie denn von mir?“, fragte er uns besah sich den Berg an Kleidung, notwendigen Haushaltsdingen und Nahrungsmitteln. Es müsste reichen, hatte er grob überschlagen. Hoffentlich. Denn Geld konnten sie so schnell nicht bekommen… nicht, wenn sie keine Spur in dieses Dorf legen wollten.

Er maß die Frau vor sich. Wie alt mochte sie wohl sein? Fünfzig… älter? Er konnte es schlecht einschätzen, denn auch wenn sie wenig Falten trug, so sagte ihm unverkennbar doch etwas, dass sie nicht mehr jung war. Vielleicht waren es ihre wissenden, jedoch neugierigen, dunklen Augen?
 

Die Bezahlung war schnell abgewickelt und die Frau verpackte alles in Tüten, gab unbemerkt in eine der Tüten noch eine Süßigkeit aus Schokolade und eine aus Grünteekeksen hinein, für die Kinder, wie sie beschloss. Der Mann schien in dem Alter, um Familie zu haben, auch wenn seine Augen eine Alterslosigkeit widerspiegelten, oder als hätten sie schon zuviel gesehen. Aber bei den Städtern wusste man nie, beschloss sie und schloss die Tüte etwas, bevor sie sie übergab.

„Das alte Nakama Anwesen hat sicher noch eine Feuerstelle oder einen Kamin, der alte Meister Todai hat ihn, soweit ich mich erinnern kann vor einigen Jahren dort eingebaut. Wenn Sie Feuerholz benötigen, dann kann Ihnen sicher der frühere Hausverwalter weiterhelfen. Er hat auf das leere Anwesen geachtet bis es verkauft wurde. In alten Tagen war die Nakama Familie wichtig für dieses Dorf, als wir noch mehr hier waren… aber nun…“, sie lächelte wehmütig. „Aber… das sind alte Zeiten, genug davon“, wischte sie es weg und kam hinter der Theke hervor, die Hände in den Schoß gefaltet, um für weitere Wünsche des jungen Kunden zu Diensten zu sein.
 

Aya griff sich auch die zweite Tüte und nickte lächelnd. Ja… alte Zeiten waren immer etwas Gutes zum Schwelgen, insofern man sich nicht in ihnen verlor.

Er überdachte die Möglichkeit des Feuerholzes, denn der Kamin stand sauber, aber eingerostet im Wohnzimmer. Sie müssten ihn wieder in Gang bekommen. Ebenso wie die Feuerstelle im Nebenzimmer, die eine angenehme Wärme im ganzen Haus verbreiten würde. Herrlich…wirklich herrlich.

Vermutlich war der Kamin eine Neuanschaffung der Vorbesitzer gewesen, denn in den alten Herrenhäusern genügt alleine die Feuerstelle. Nicht, dass Aya sich beschwerte!

„Wo finde ich denn den Hausverwalter? Es wird meine Familie sicherlich freuen, wenn es warm wird oben. Und meine Ohren auch, unter uns“, zwinkerte er. „Dann hört das Gequengel auf, wenn Sie verstehen“, sprang er bewusst auf den Zug der Frau auf.

Seine Gedanken glitten zu Schuldig, dem Quengler, und kamen bei einem anderen Problem zum Stehen. Er brauchte Medikamente um dessen Rücken adäquat behandeln zu können… oder wahlweise Kräuter, denn Aya bezweifelte, dass es hier eine gut ausgestattete Apotheke wie in Tokyo gab.

„Und sagen Sie… haben Sie hier jemanden, der Medikamente oder Salben verkauft?“
 

„Todai wohnt etwas außerhalb. Er ist heute aber in die Stadt gefahren. Wenn Sie morgen noch einmal vorbei kommen möchten, oder heute Abend? Ich sage ihm dann Bescheid, falls Sie es wünschen. Er könnte Ihnen dann gleich etwas bereit machen. Außer Sie wollen mit ihm selbst sprechen?“, ließ sie diese Möglichkeit offen. Die Städter wollten diese Dinge oft selbst regeln. Wo es doch so viel einfacher ging.

„Und Medikamente bekommen Sie in der kleinen Apotheke zwei Straßen weiter. Sie fahren da vorne links und dann geradeaus, bis Sie zu einem kleinen Schrein kommen, dann biegen Sie rechts ab und fahren die Straße bis zum Ende, es ist eine Sackgasse. An dessen Ende sehen Sie schon das Schild. Sie können es nicht verfehlen.“
 

„Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe!“, erwiderte Aya mit einem freundlichen Lächeln und überlegte einen Moment lang. „Wissen Sie… ich bräuchte etwas um Schnittwunden zu versorgen. Wir haben an dem Haus gearbeitet und dann war da plötzlich eine Metallplatte mit scharfen Kanten im Weg. Eigentlich nichts Wildes, es soll nur nicht schlimmer werden. Wir Städter sind manchmal in manchen Dingen etwas ungeschickt.“

Aya hatte beschlossen, zumindest was das Aussehen der Verletzungen betraf, ehrlich zu sein und der Frau eine Erklärung dafür zu liefern, denn Wunden oder Medikamente waren das Erste, was misstrauisch machte und das wollte er nicht. Nicht hier. Nicht jetzt.

„Ich würde gerne morgen noch einmal vorbeikommen wegen dem Holz, bestätigte er schließlich und raffte die beiden Tüten für einen sicheren Halt auf seine Hüften. Fehlte nur noch die Kleidung, die er wohl extra hochbringen musste.
 

Die Frau ging vor und nickte verständnisvoll, öffnete dem jungen Mann die Tür. „Aber natürlich, kommen Sie nur. Und ich denke, dass Ihnen in der Apotheke gut weitergeholfen werden kann.“
 

Aya nickte und lud die ersten beiden Tüten in den Kofferraum, danach folgte die wärmende Kleidung. Schließlich verbeugte er sich höflich vor der älteren Dame. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und vielen Dank noch einmal für Ihre Hilfe.“ Ein letztes Lächeln und er stieg in den Wagen, folgte der ihm genannten Wegbeschreibung hinein in die Sackgasse. Er stieg aus und betrat den kleinen, noch urigeren Laden. Vielleicht hatte er mit den Heilkräutern nicht falsch gelegen…
 

Hatte er nicht, doch trotz allem stand in den Regalen, die der Tür am nächsten standen eine modern ausgestattete Auswahl an gängigen und meistgebrauchten Arzneien.

„Ich komme gleich!“, rief die alte Frau aus dem hinteren Wohnbereich, denn die Apotheke bildete nur den vorderen Abschnitt des Hauses. Eine Art Arbeitsraum schloss sich daran und dann kam im oberen Stockwerk ihr Wohnraum.

Die Zigarette noch im faltigen Mundwinkel, glimmte der würzige mit Kräutern gedrehte Stengel vor sich hin, als die kleine Frau durch den Durchgang kam. „Kazou, bist du das?“, fragte sie ungehalten und blickte jetzt erst auf. „Oh…junger Herr, ich habe Sie wohl verwechselt. Willkommen. Kann ich Ihnen helfen?“
 

„Ja… ja, das wäre nett von Ihnen“, erwiderte Aya und versteckte sorgfältig das aufkommende Lächeln über die liebevolle Zerstreuung der Frau, die noch älter schien als ihr Vorgängerin. Er verbeugte sich höflich und beförderte seine Haare wieder auf den Rücken, die nach vorne gefallen waren. Noch ein Grund, sie loszuwerden. Sie waren lästig, wenn man sich verbeugte um anderen Respekt zu erweisen.

„Ich suche eine Salbe gegen Schnittwunden… und eine, die die Haut elastisch hält, wenn Sie so etwas da hätten. Und Schmerztabletten“, fügte er mit einem Blick zur Seite hinzu.
 

Die alte Base kaute kurz abschätzend auf der Zigarette herum, den jungen Mann musternd, bevor sie sich nickend leicht abwandte.

„Ja… ja… ich verstehe… junger Herr. Was für Schmerzen? Wo sind die Schmerzen?“
 

Was für eine gewiefte Alte, dachte sich Aya, als er den Blick sah. „Die Schmerzen rühren von zwei, drei Schnitten. Ich bin mit meiner Familie neu in das Haus dort oben am Berg eingezogen und wir haben daran gearbeitet… nur leider kam uns eine Metallplatte mit scharfen Enden in die Quere“, erzählte er ihr das Gleiche wie auch schon der anderen Frau.
 

„Ah… jaja“, nickte sie und winkte mit der Hand ab. „Ihre Frau… ja?“, nickte sie wieder, scheinbar alles verstehend und schmunzelte, ging bereits nach hinten. „Ja… ja… ich weiß… eine gute Mischung habe ich da… heilt die frischen Wunden… aber nicht alte…“ Sie warf einen kleinen, gleichzeitig fragenden als auch wissenden Blick zurück zu dem jungen Mann. Dann blickte sie wieder zu den Regalen und zog an einer Schublade. „… alte Wunden… heilt das hier…“, murmelte sie und winkte kurz. „Einen Moment… ich mische Ihnen etwas Besseres als dieses Neumodische…“
 

„Ich wäre ihnen sehr verbunden dafür“, rief Aya ihr hinterher und furchte die Stirn. Wieso hatte er das Gefühl, dass die Alte ihn durchschaute und wusste, dass es nicht so harmlos war? Aber das war sicherlich nur ein Zufall und nichts, worüber er sich Sorgen machen müsste. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war jemand, der dahinter kam, was geschehen war und wer sie waren.
 

Summend kramte die Frau an ihrer dicken niedrigen Arbeitsplatte herum, zerstob Kräuter und mischte die Paste an. Es dauerte etwas, bis sie fertig war und in drei große Kunststoffdosen die Arzneien brachte.

Sie waren per Hand beschriftet, mit kleinen blauen Etiketten. Die Zigarette hatte sie nicht mehr im Mund als sie wieder nach vorne kam.

„Die hier“, sie stellte eine auf den Tresen. „…die hier ist für die frischen Wunden… die für alte… schlecht heilende Wunden… und die hier ist für die verschorften Wunden, zum Ablösen des Schorfs… und um die neue Haut zu schützen. Zarte Frauenhaut braucht behutsame Pflege“, geckerte die Alte leise und holte noch zwei Packungen Mullbinden hervor. „Hier… das Wetter soll schlechter werden, nehmen Sie sie lieber mehr mit… sonst müssen Sie bald wieder kommen. Und denken Sie daran, falls es doch nicht besser wird… der Arzt ist hier etwas weiter weg, mit solchen Wunden… ist nicht zu spaßen“, bläute sie ihm ein und sah ihn ernst aus den kleinen Augen an. „Rost und Schmutz in Wunden… die ins Blut gehen… da ist schon mancher dran gestorben“, nickte sie.

„Und Schmerzmittel… ist dort oben… rechts an der Tür… das kennen Sie sicher… ist gut bei allen Schmerzen, für Knochen taugt es nix“, wertete sie es ab und schnaubte.
 

„Wenn es schlechter wird, werden wir natürlich sofort zum Arzt fahren“, erwiderte Aya ernst und meinte es auch so, wie er es sagte. Doch nicht zu einem hier in der Gegend, sondern nach Tokyo zurück und dann zum Schwarzschen Hausarzt, insofern es so etwas denn gab.

Er nahm das besagte Schmerzmittel aus dem Regal und fügte es noch zu den Döschen hinzu. Er kannte es, das hatten sie auch oft ausprobiert, vielmehr die anderen und er nur, wenn er dazu gezwungen wurde.

„Ich werde zusehen, dass ich diese zarte Haut so zart wie zuvor gesund pflege“, lächelte er um den Anschein von Normalität und Harmlosigkeit zu erwecken.
 

„Das will ich hoffen“, schnarrte die Frau und nickte grimmig. „Und das hier…“, sie ging wieder nach hinten und kam nach einer Weile mit einem zwei Hand großen Stoffsäckchen zurück. „…ins Badewasser hinein… das hilft und desinfiziert, aber nicht zu lange im Wasser bleiben, nur zwanzig Minuten! Und wenn’s nur der Arm ist, dann nur den Arm in das Bad legen, ja?“
 

„Nur den Arm!“, nickte Aya vorsichtig. Diese Frau war… wie er sich eine alte, japanische Oma eigentlich nicht vorstellte. Omas waren lieb, nett, etwas tüddelig, aber nicht so offensichtlich berechnend und gewieft wie diese hier…

„Wie viel bekommen Sie dafür, werte Dame?“, versuchte er auf ein anderes Thema umzulenken und möglichst schnell zu Schuldig zurück zu kommen… zu seiner Frau mit seinen Kindern… alles in einer Person.

Stimmt ja auch, grinste eine innere Stimme leise vor sich hin.
 

Mit der Hand eine Rechnung schreibend, reichte sie diese dem jungen Herrn, nannte den Betrag und packte alles in zwei Papiertüten ein. Die Binden und die losen Kräuter kamen extra.
 

Aya bezahlte die Ware und bedankte sich artig bei der Frau. Er nahm die Tüten an sich und verbeugte sich zum Abschied.

„Ich werde Ihnen dann berichten, wie gut es verheilt ist“, sagte er und verließ den Laden, nun wirklich froh, wieder draußen zu sein. So wenig, wie sich die Menschen in Tokyo für ihre direkten Nachbarn interessierten, so sehr konnte man hier ins Zentrum des Interesses rücken. Daran musste er sich erst einmal wieder gewöhnen.
 

Erleichtert stieg er in den Wagen und fuhr die Strecke wieder zurück, parkte schließlich seinen Wagen. Es dunkelte schon etwas, als er die Plane über das Weiß des Porsches ausbreitete und die erste Ladung an Tüten hervorkramte. Zwei schwere Tüten beladen mit allem, was er dort für notwenig erachtet hatte… Lebensmittel, frisches Obst, Tee, Kaffee, Gemüse, Kerzen für das Haus… alles, was sie für das erste Überleben so brauchten.

Resignierend die Stufe emporschauend machte er sich auf den Weg und schaffte die erste Fuhre nach oben, überzeugte sich jedoch erst davon, dass es Schuldig gut ging… dass dieser noch in aller Seelenruhe schlief und leise den Schlaf des Gerechten schnarchte.

Sehr schön… sehr beruhigend, sagte Aya sich, als er den Lichtschalter in der Küche betätigte und feststellte, dass das zumindest funktionierte… die Lampen waren angeschlossen.
 

Ächzend hievte er seine Taschen auf die Anrichte und ging ein weiteres Mal nach unten. Wenn ihn das nicht trainierte, sollte er das jeden Morgen machen, dann wusste er es auch nicht… was jedoch außer Frage stand, denn sie würden kämpfen üben, wenn es Schuldig besser ging. Sie mussten schließlich beide in Form bleiben. Nur schade, dass er sein Katana nicht dabei hatte.
 

Ein zweites Mal erklomm Aya deutlich unter der Last seiner Arme gebeugt die Stufen und schleppte sich mit letzter Energie ins Haus und zog die Tür hinter sich zu.

So.

Schwer atmend legte er die Kleidungsstücke im Wohnzimmer ab und kam dann zurück in die Küche… machte sich daran, die mitgebrachte Beute zu verstauen.
 

Das Rumoren weckte Schuldig nun doch und er streckte sich leicht und mit Vorsicht, als er das erste Ziehen auf seiner Rückfront bemerkte. Es war dunkel im Raum, nur durch die geschlossenen Läden spitzte die Abenddämmerung durch die Bäume. Er stand auf und betätigte die Fenster, schob sie beiseite und ließ frische Abendluft herein. Hier draußen war es kälter, resümierte er am Fenster und seufzte. Nur mit den dünnen Socken bekleidet verließ er das Schlafgemach und stromerte dem Licht entgegen, welches… ah in der Küche brannte.
 

Aya hörte es schon leise schlurfen noch bevor er Schuldig ansichtig wurde und den völlig zerpflückten und zerzausten Telepathen mit einem Lächeln begrüßte.

„Hey Tiger, wieder wach?“, fragte er und schob gerade die letzte Konservendose in den Vorratsschrank. Vor ihm hatte sich das frische Gemüse und Fleisch getürmt, das er bald herrichten wollte, damit Schuldig auch was zwischen die Zähne bekam.
 

„Und wie!“, lächelte Schuldig noch verschlafen aber schon breiter als die Tage zuvor. Er wischte sich die Haare nach hinten und fröstelte dann doch etwas, rieb sich über die Arme, als er näher kam und sich von hinten an Ran schmiegte. „Hmm, was gibt’s denn Feines? Du warst richtig shoppen? So fleißig...“, lobte Schuldig und schnupperte an Rans Nacken einen feuchten Kuss platzierend und dazu noch frech grinsend.
 

„So fleißig, wie du dich ausgeruht hast“, erwiderte Aya und schnappte pflichtschuldig nach dem Ohrläppchen, bevor er sich an den anderen kuschelte. „Du siehst schon etwas besser aus… wenn aber auch noch verbesserungswürdig!“, murmelte er sanft. „Deswegen wird es nachher all diese leckeren Dinge zum Abendessen geben, die hier liegen und du wirst alles schön aufessen, auf dass du wieder groß und stark wirst.“
 

„Ich bin größer und stärker als du… das reicht mir völlig“, zwickte Schuldig Ran in die empfindlichen Seiten. „Aber… ich bin noch etwas zerknautscht und noch nicht völlig der attraktive junge Mann, der ich einmal war“, seufzte er schwer geplagt auf.
 

„Richtig. Und bis es soweit ist, stehst du unter Welpenschutz, mein Lieber“, grinste Aya noch etwas Salz in die Wunde streuend. Welpe war nur manchmal der richtige Begriff für Schuldig und ganz sicher nicht das, was Schuldig hören wollte, doch manchmal waren eben drastische Maßnahmen notwendig.

„Vielleicht solltest du ein angenehm warmes Bad nehmen, was hältst du davon?“
 

Über dieses verniedlichende Wort nuschelnd und seinen Unmut mit erneutem Kitzeln kundtuend sah Schuldig dann doch auf und verzog den Mund überlegend. „Alleine?“, wurden seine Augen groß und fragend und vor allem rund und fast ängstlich.
 

Welpe? Welpenschutz?

Noch ja!

Aber nicht mehr lange…

Konnte er diesen großen, bittenden, furchterfüllten Augen etwas abschlagen? Nein… nicht wirklich, das wusste Aya, das hatte er schon immer gewusst. So auch jetzt nicht.

„Zu zweit?“, lächelte er.
 

„Aber sicher!“, entrüstete sich Schuldig beinahe schon über diese Fragestellung. Natürlich zu zweit, welch überflüssige Frage!

„Erst essen und dann mit vollem Bauch in das Badebecken?“, war Schuldig bereits Feuer und Flamme für diese Idee.
 

„Klingt sehr gut“, nickte Aya und stupste den Telepathen mit seiner Nase an. „Und je eher wir zum Essen kommen, desto eher können wir uns auch in unsere Yukatas kuscheln, die ich uns mitgebracht habe.“ Nachdem er Schuldigs Rücken sorgfältig versorgt hatte, doch das erwähnte Aya nicht. Das würde nur zum Aufbegehren des Telepathen führen. Jetzt noch nicht…
 

„Gut“, schwärmte Schuldig und löste sich etwas. „Ich sehe mal nach dem Baderäumen. Hast du schon gesehen? Wir haben sogar ein richtiges Badehäuschen hier.“
 

„Alles traditionell“, bestätigte Aya mit nach oben gekräuselten Lippen, die von Glück sprachen. „Während du nachsiehst, koche ich etwas für uns, in Ordnung? Aber überanstreng dich nicht!“
 

„Mit was?“, brummte Schuldig und fühlte sich zu sehr bemuttert, aber er ließ es Ran. Sie hatten viel aufzuholen. „Vielleicht mit Wasser schöpfen?“, spöttelte er liebevoll und trollte sich murmelnd. „Haben doch ne Leitung hier…“

Er ging und inspizierte die sanitären Anlagen. Zwar nicht auf dem neuesten, aber auf einem guten Stand.

Sein Weg führte ihn ins Badehaus und er begann damit die Rohre freizuspülen und das Rechteckige Badebecken zu reinigen. Er fühlte sich während der Arbeit gut und vor allem… sicher… seit langem wieder sicher an einem Ort.
 

Auch wenn sie eine Leitung hatten, so war sich Aya fast sicher, dass Schuldig es trotzdem übertreiben würde. Aber gut, er konnte sich ja nachher um die Wunden kümmern und da würde der andere Mann ihm nicht entkommen, das wusste Aya jetzt schon.

Leise summend und hin und wieder fröstelnd machte er sich daran, das Gemüse und das Fleisch zuzubereiten und alles schließlich in eine große Pfanne zu geben. Frei nach gut Dünken schmeckte er es ab und kochte ihnen Reis mit dazu. Einfach, leicht, nahrhaft und lecker, befand er und warf einen Blick in die Tüte, die er noch nicht ganz ausgeräumt hatte. Er hatte eigentlich eingelegte, süße Früchte zum Nachtisch geholt, doch nun fielen ihm Schokolade und Grünteekekse in die Hände und er runzelte die Stirn. Hatte er das aus Versehen mitgehen lassen? Nein… und gekauft hatte er es auch nicht, wie…
 

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und Aya wurde sich bewusst, dass er in weniger als vier Stunden öfter gelächelt hatte wie die vergangenen Wochen zusammengenommen.

Eine kleine Aufmerksamkeit für sie.

Aya zog eine kleine Schüssel aus dem Schrank und verteilte die Süßigkeiten auf den Teller, stellte ihn mit dem anderen Essen auf den Tisch.

„Fertig, Herr Bademeister? Können wir essen?“, rief er in Richtung Badehaus.
 

Doch selbiger hörte bis auf das Rauschen des Wassers gar nichts. Er hatte alles vorbereitet, nur …Handtücher fehlten. So ging er missmutig in die Küche zurück. Das Essen verbreitete einen wunderbaren Duft und sein Magen knurrte hungrig.

„Wir haben keine Handtücher, keine großen“, stellte er fest. Daran habe ich nicht gedacht… damals.“
 

„Das macht nichts, da lassen wir uns etwas einfallen“, wiegelte Aya ab. „Baden können wir morgen immer noch, dann müssen wir uns jetzt eben hiermit begnügen…“ Er ging ins Wohnzimmer und kehrte mit der funktionierenden Heizdecke wieder. Sie war zwar älter, das stimmte, aber sie funktionierte wunderbar!

Triumphierend hielt er seine Beute hoch und gab sie Schuldig, damit er ihnen Essen aufgeben konnte… Schuldig die doppelte Portion natürlich.
 

Schuldig besah sich die Packung und legte sie schlussendlich halb geöffnet zur Seite. „Guter Sammler!“, lobte er ernst und lächelte in sich hinein, was aber sogleich abperlte, als er die ungleiche Essensverteilung sah. „Hee, warum ich so viel und du so wenig?“
 

„Jäger bitte, wenn wir schon dabei sind“, hob Aya seine Augenbraue und wanderte mit seinem Blick Schuldigs Richtung nach zu seinem Teller.

„Schuldig… auf meinem Teller ist viel. Auf deinem aber extra viel, weil du essen musst. Das sieht nur so ungerecht aus! Aber sieh her…“ Brav gab sich Aya noch einen Löffel auf den Teller. „Zufrieden?“
 

„Hmm“, noch nicht ganz, wie es nach dem missmutigen Blick aussah und dem heben der Augenbrauen. „Noch einen drauf“, wollte Schuldig und wartete bis Ran das tat.
 

Aya sah dem weniger zuversichtlich entgegen, nahm aber noch einen gut gefüllten Löffel und lud ihn sich auf den ächzenden Teller. Da ihm das aber nun unfair erschien, bekam Schuldig gleich noch mal einen mit darauf.

„So… dann lass es dir schmecken!“, lächelte er und schnappte sich seine Stäbchen.
 

Damit musste er sich wohl zufrieden geben, resümierte Schuldig und nahm ebenso seine Stäbchen auf und holte sich aus der größeren Schüssel Reis in sein Schälchen. „Ja, du auch, Blumenkind“, lächelte Schuldig und nahm den ersten Bissen. „Hmm, lecker. Warst du in dem nächsten Dorf?“
 

„War ich“ sagte Aya, nachdem er die ersten Bissen mit einem Mordshunger vertilgt hatte. Er hatte bisher nichts gegessen gehabt, doch erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Magen wirklich danach dürstete, etwas zu tun zu bekommen.

„Die Leute sind sehr nett, wenn auch sehr neugierig. Die Verkäuferin in dem Lebensmittelladen hat gefragt, ob ich mit meiner Familie hier bin und ich habe ja gesagt.“ Sein Blick kam sanft auf Schuldig stehen, voller Zuneigung.
 

Was Schuldig mit einem warmen Blick aber einer spitzen Zunge quittierte. Auch ein Zeichen, dass es ihm langsam besser ging. „Und was bin ich dann… deine kleine Ehefrau?“, brummte er und schmollte fast schon wieder. Er konnte es sich schon vorstellen, wie alle dachten, dass Ran mit seiner kleinen japanischen Frau hier oben war und die kleinen Kinderchen bald kommen würden.
 

„…und die Kinder in einer Person, jawohl“, setzte Aya noch einen darauf und aß ungeachtet Schuldigs Meckerei weiter. Er vermutete, dass die Bewohner das wirklich dachten, bis auf diese Alte aus der Apotheke… und wenn sie Schuldig dann sahen, würde er selbst vermutlich ruckzuck auf den Platz der Frau rutschen… er hatte weniger breite Schultern, seine Haare waren länger, Schuldig war Ausländer. Alles Kriterien für das, was er nicht war.
 

„Kinder? Was…?“ Schuldig ließ die Stäbchen sinken. „Was willst du damit sagen? Dass ich kindisch bin?“, beugte er sich leicht vor und nahm Ran genauer in Augenschein, der sehr harmlos auf der anderen Seite des Tisches tat. „Was hast du denen noch erzählt?“
 

„Ich habe ihnen gar nichts erzählt“, sagte Aya und sah noch harmloser in Schuldigs Augen. „Ich habe nur gesagt, dass ich mit meiner Familie hier bin, nichts weiter. Alles andere haben sie selbst erschlossen.“ Seine Gedanken schweiften zu den wohl versteckten Kräutern im Schrank. Ja, eines hatte er ihnen noch erzählt.

„Kindisch? Nein. Aber dein Kind im Manne ist sehr ausgeprägt.“ Er lächelte. Sehr harmlos.
 

„Ra~an…“, drohte Schuldig und seine Augen verengten sich dezent. „Dafür werde ich dich übers Knie legen… du hast denen sicher viele schlimme unwahre Dinge erzählt und schon allein, dass du ihre Annahme nicht korrigiert hast…“, tadelte er und maß das helle Antlitz vor sich abschätzend, als müsse er prüfen, welche Strafe er anwenden würde. „Dir macht das auch noch Spaß mich als Frau zu verkaufen. Das sehe ich doch ganz genau in deinen strahlenden Augen und dem kleinen delikaten Kräuseln um die Mundwinkel“, wedelte er mit den Stäbchen um auf eben diese Mundwinkel zu deuten.
 

„Stimmt ja gar nicht! Ich war nur gezwungen, ihnen nicht zuviel zu verraten. Oder hätte ich sagen sollen, dass ich da einen deutschen Telepathen habe, der momentan selig schläft, aber irgendwann wieder aufwachen wird? Und wenn ich ‚wir’ sage und sie daraus Familie schließen…“

Die violetten Augen funkelten herrisch. „Du mich über das Knie legen? Eher habe ich dich soweit, das kannst du mir glauben. Wie war das… Kind im Manne?“
 

„Das mit dem Kind im Manne hast du von dir gegeben und ich erinnere mich noch ganz genau an die Matchboxkiste und deine funkelnden, glitzrigen Augen. Und jetzt erzähl mir du noch einmal was von Kind im Manne…!“, ereiferte er sich und aß neben zu. „Wir werden ja sehen …ob ich dich nicht doch übers Knie lege, Herr Fujimiya!“, lächelte Schuldig versprechend.
 

„Dem kann ich nur zustimmen, Schuldig-san… wir werden sehen!“, hielt Aya dagegen und pickte sich ein Fleischstückchen heraus. „Außerdem brauchen wir nicht darüber zu diskutieren, wer hier bei den anderweitigen Spielzeugen, die du in deiner Wohnung hast, glitzernde Augen bekommt. Oder wer damals auf meinem Arm Spinnenbeine gespielt hat, wer mich kitzelt…“
 

„Das sind nur ausgeklügelte Foltertaktiken… und nach den Quietsch- und Wimmerlauten zu urteilen, durchaus erfolgreiche.“ Schuldig stockte plötzlich, sein Gesicht wurde schlagartig ernst und er starrte Ran wie vom Blitz getroffen an. „Gott… wir haben was vergessen!“
 

„Was?“, fragte Aya misstrauisch, noch halb im Spaß hängend, aber schon auf dem Weg in die Ernsthaftigkeit.
 

„Na Alkohol! Wir haben hier nichts, null! Noch nicht einmal guten alten Sake“, meinte er betrübt und starrte in sein Essen hinein, ganz die zusammengesunkene Gestalt. „Dabei hätten wir heute feiern können. Unseren Wohnungs-…nein Hauseinstand…und das Bett ist auch noch nicht richtig eingeweiht“, meinte er betrübt. „Das hab ich mir alles anders vorgestellt…“, murmelte er und sein Gesicht verdüsterte sich grüblerisch.

Er hätte sich heute gerne etwas betrunken, einfach so… das hatte er schon lange nicht mehr… seit damals nicht mehr… seit Ran… seit Rans Schwester gestorben war.
 

Aya lächelte stumm und widmete sich geschäftig seinem Essen. Keinen guten, alten Sake? Das wüsste er aber… natürlich hatte er eine Flasche mitgenommen, er hatte schließlich schier nicht an dem Getränk vorbeigehen können. Zwar nicht unbedingt für heute Abend gedacht, aber wenn Schuldig es unbedingt wollte. Vielleicht wurde ihnen ja wärmer davon… apropos…

„Die Frau vom Laden meinte, ich solle morgen noch einmal wiederkommen um mit dem ehemaligen Hausverwalter über Feuerholz zu verhandeln… was hältst du davon?“, fragte er auf ein anderes Thema umschwenkend.
 

Ah und da ging Schuldig doch gleich wieder das Herz auf. „Klingt gut. Hier draußen wird’s denke ich noch ein Weilchen dauern, bis es wärmer wird. Obwohl die Häuser mit gutem Holz gebaut sind und gut isolieren. Sie halten die Wärme an kälteren Tagen drinnen. Mit dem Holz kann man bestimmt auch das Badehaus heizen“, griente Schuldig und malte sich schon einen Plan aus wie er das ganze angehen wollte.

„Mal sehen, müsste eigentlich so angelegt sein.“ Er sah Ran schon mit geröteten Wangen im Wasser sitzen, schön geschmeidig und willig, weich wie Butter in seinen Armen, schwelgte er mit einem träumerischen Lächeln.
 

Dass Schuldig nicht nur wegen der besseren Wärmeverteilung aussah wie eine große, zufriedene Katze, wusste Aya und er konnte auch in ungefähr erahnen, was dahinter stehen mochte. Doch er sagte dazu nichts… oh ja, wenn es nach ihm ginge, würden sie SEHR bald Sex haben. Sehr bald.

„Bis dahin haben wir ja die elektrische Bettdecke, die uns wärmt!“, erwiderte er und beendete seine Mahlzeit mit dem letzten Stäbchen voller Gemüse. Satt… er war bis oben hin satt.
 

„Komm iss noch etwas, da ist noch ein kleiner Rest… der verdirbt sonst wenn wir ihn nicht essen“, wollte Schuldig Ran zum weiteren Essen animieren und war selbst aber schon bis oben hin voll. Auch wenn er noch etwas über hatte. Das musste noch rein…

„Wie breit ist das Teil eigentlich? Ist es ne große oder so ne Ein-Mann-Decke?“
 

„Eine große Ein-Mann-Decke“, lächelte Aya vielsagend und teilte das Übriggebliebene sorgfältig in zwei Hälften, gab Schuldig die eine, sich die andere Hälfte auf den Teller. Schuldig hatte Recht, verderben sollte das Essen nun nicht! Auch wenn er kämpfen musste… wirklich kämpfen.

„Aber wenn wir ausnahmsweise eng zusammenrücken, dann dürfte das gehen.“
 

„Hmm… aber nicht grabschen…“, murmelte Schuldig und blickte kurz mit einem unternehmungslustigen Glimmen in dem eher nüchternen Gesichtsausdruck auf.
 

„Ich versuche mich zu beherrschen, aber versprechen kann ich nichts“, erwiderte Aya bierernst mit ebenso ernstem Gesichtsausdruck.
 

„Eigentlich hatte ich immer angenommen, Abyssinians Selbstbeherrschung wäre legendär“, lächelte Schuldig zuvorkommend, als säßen sie bei einem Gläschen Wein am Kamin, wie zwei gute alte Freunde aus Kindertagen. Wenn nur nicht dieses… skeptische, wissende und durchtriebene Lächeln gewesen wäre, das um seine Mundwinkel spielte.
 

„Manchmal versagt eben auch diese legendäre Selbstbeherrschung, mein lieber Mastermind“, lächelte Aya dunkel und in ihm keimte ein weiteres Mal der Wunsch auf, den anderen Mann unter sich zu bringen… den dominanten Part zu übernehmen, auch wenn es das letzte Mal ordentlich schief gegangen war. „Aber wir können es gerne austesten.“
 

„Will der überragende Abyssinian damit andeuten, dass mein Körper unwiderstehlich ist, wenn selbst seine legendäre Selbstbeherrschung versagt?“, stichelte und flirtete Schuldig auf Teufel… oder Abyssinian komm raus…

Mal sehen… er hatte schon Lust Ran aufzuheizen. Wäre doch gelacht, wenn er das nicht hinkriegen würde!
 

Genau genommen heizte Aya schon auf kleiner Flamme, immer darauf bedacht, das Lächeln nicht allzu lasziv werden zu lassen.

„So ist es… und wenn der große Mastermind so weitermacht, findet er sich schneller als gedacht bäuchlings auf diesem Tisch wieder“, bot Aya höflich dagegen.
 

Schuldig lächelte, doch sein Blick zeigte deutlich wie wenig überzeugt er von Rans Theorie war. Schon allein ein Blick von Ran auf seinen Rücken und dessen Lust würde im Nu zu einer kleinen mageren Mitleidspfütze zusammenschrumpfen.

Ran… mochte ihn dazu zu sehr, nicht wahr? Er konnte nicht sehen wie Schuldig litt oder sich daran erinnern wie er vielleicht gelitten haben mochte…

Schuldigs Lächeln wurde wärmer und verlor die unterschwellig sexuelle Note.

„Dann werde ich wohl meinen Mund halten müssen, bevor du ihn mir mit etwas wirksamem verschließt, hmm?“
 

„Das wäre auch eine Variante“, ließ sich Aya von dem anders gefärbten Lächeln einlullen und beruhigen. „Aber ich würde dann doch das Bad vorziehen, das wir nehmen werden, bevor ich dir mit einer speziellen Kräutermischung zuleibe rücke.“ Er konnte ihn jetzt schon hören, den Protest…
 

„Aber wir haben keine Handtücher, also fällt Baden vorerst flach. Nur das kleine für die Hände. Und… mischung? Zum Trinken? Sake, vielleicht?“, griente Schuldig. Dieses warme Gefühl im Bauch wäre jetzt wirklich wundervoll.
 

Stimmt… die Handtücher fehlten. Nun gut, würden sie sich eben nur waschen. Morgen… morgen…

„Für deinen Rücken, Schuldig. Es sind Heilkräuter“, sagte er sanft lächelnd.
 

Das Lächeln war verdächtig, beschloss Schuldig, seine Stäbchen gerade beiseite legend. Er konnte beim Besten willen nichts mehr essen.

„Das ist nicht nötig, ich brauch nur Ruhe und das hab ich doch hier“, sagte er fest und beobachtete sich gerade nach der Heizdecke umwendend aus dem Augenwinkel Rans… Lächeln, welches einen Tick zu sanft und zu beschwichtigend war. Es sagte soviel wie: du hast keine Wahl. Du wirst dich fügen… oder du wirst gefügt werden. Wie eine Suggestion, ein Versprechen. Eine nette Drohung.
 

„Die haben wir hier, das stimmt“, bestätigte Aya und er reichte über den Tisch zu Schuldig, umfasste dessen Hand. „Aber damit heilen sie besser ab, als sie es jetzt tun, glaube mir.“ Natürlich konnte er nun argumentieren, dass sie in den Tagen, wo Schuldig schon wieder hier war, vermutlich noch keinen Deut besser geworden waren, doch was brachte das außer Streit?

„Und da du an die Stellen nicht so gut herankommst, bietet es sich an, dass ich das für dich mache.“
 

Auf Schuldigs Gesicht zeichneten sich einige Gefühlsregungen ab, die von Trotz, über Trotz zu Sturheit und Scham überwechselten. Ran würde schon wieder diesen ganzen Mist sehen müssen und Schuldig wollte das nicht. Er fühlte sich so scheiße damit. Er war es einfach nicht gewohnt, dass sich jemand um Wunden an seinem Körper kümmerte.

„Du hast doch auch nie jemanden an dich ran gelassen wenn du ein paar blaue Flecke oder sonst was abbekommen hattest. Ich erinnere mich da an eine Sache mit Masafumi, den irren Typen… der hat dir schließlich auch zugesetzt damals… und da bist du auch nicht zu deinem Team gerannt… oder?“

Gut… die Argumentation hinkte, aber dennoch war es ähnlich!
 

Die Argumentation hinkte gewaltig… sehr sogar.

„Wenn ich dich daran erinnern darf: du hast mich gepflegt und gehegt, als ich von den Männern zusammengeschlagen wurde, von Youji musste ich mich zumindest die ersten Minuten pflegen lassen, als IHR mich zusammengeschlagen habt, warte… was war da noch….“ Aya verstummte scheinbar überlegend, doch seine Augen glommen dunkeln. Eigentlich war er NIE ungeschoren davongekommen, als es darum ging, ihn zu versorgen. Am Anfang vielleicht, als er sich noch von dem Team abgespalten hatte und unerreichbar für sie war, doch später…

„Takatori Masafumi…“, sinnierte er schließlich. „Wärest du zu deinem Team gerannt, wenn du überall Nesselspuren von diesen Tentakeln am Körper gehabt hättest?“
 

Schuldig kämpfte sichtlich mit sich und seiner Niederlage. Bis er sich schließlich abwandte und die Hände aufgebend in den Schoß legte. „Gut, du hast gewonnen“, murrte er.

Es hatte bestimmt gebrannt wie die Hölle… die Nesselspuren, mal ganz davon abgesehen, dass Masafumi einen cerebralen Totalschaden hoch zehn hatte.

Schuldig mochte das einfach nicht… dass man sich um ihn kümmerte… es belastete ihn, da er damit nicht umgehen konnte. Auf die ruppige befehlende Art wie Brad… ja gut, aber liebevoll und sanft wie Ran?

Das ließ ihn fast zerfließen und machte ihn schwach. Es zeigte ihm, was er vermisste und was er früher nie bekommen hatte - und auch nie gewollte hatte, so wie er es sich immer vorgesagt hatte als Kind und später dann als Jungendlicher.
 

Aya verbuchte diese grummelige Zustimmung als Erfolg, zeigte es aber nicht, sondern strich Schuldig sanft über die Hand, bevor er seine wieder zurückzog.

„Wie wäre es, wir räumen die Küche auf und waschen uns dann, ziehen uns die Schlafkimonos über und kuscheln uns ins Wohnzimmer oder Schlafzimmer, mit der elektrischen Heizdecke und einem guten Glas Sake?“
 

Oder zwei oder drei oder vier Gläsern?

Schuldig würde definitiv mehr als ein Glas trinken, wenn er Rans Blicke auf sich wusste und auf diesen verdammten Wunden. Aber da… fiel ihm etwas auf… „Du hast Sake mitgebracht?“, leuchtete sein Gesicht freudig und er erhob sich, drückte Ran einen harschen Kuss auf die Lippen. Hmm und wie das nach mehr schmeckte.
 

Aya musste sich nun doch abstützen, als er halb über den Tisch gezogen wurde für den dankbaren Kuss. Er lächelte und strich über die noch unrasierte, stoppelige Wange des Telepathen… das Schmirgelpapier könnte man auch sagen.

„Habe ich… und den gibt es als Belohnung nachher.“
 

Bei dem Wort Belohnung kam Schuldig eine Idee wie er seinen Kopf oder wahlweise Luxuskörper noch aus der Schlinge ziehen könnte. Er räumte den Tisch mittels eines Tabletts ab und seine Gedanken überschlugen sich förmlich vor Kreativität.

So würde es mit Sicherheit klappen!

Neugierig besah er sich Rans Einkäufe in einem der Schränke, die eigentlich für das noch nicht vorhandene Geschirr gedacht waren. Hier hatten sie nur eine kleine Notausstattung.

„Kerzen? Gute Idee… wir könnten sie nachher anfackeln… sehr ‚romanterisch’, hmm?“, fragte er das Wort ‚romantisch’ gekonnt verunstaltend. Er wandte sich zu Ran um und wackelte auffordernd mit den Augenbrauen.
 

„Das auf jeden Fall“, bestätigte Aya und machte sich daran, das dreckige Geschirr zu spülen und abzutrocknen. Es war nicht viel und er würde im Nu fertig sein, also genügend Zeit um sich nun gänzlich Schuldig zu widmen.

„Wie wäre es, wenn wir sie nach dem Waschen anzünden?“
 

„Soll ich dir hier noch helfen, oder soll ich schon mal vorgehen?“, grabschte sich Schuldig wieder die Heizdecke, werkelte schon an der Verpackung herum. Sie mussten noch testen ob das Ding überhaupt funktionierte.
 

„Geh ruhig schon mal vor.“ Aya werkelte an der Spüle herum und fragte sich, woher Schuldigs plötzlicher Tatendrang kam, der ihm etwas komisch vorkam, für den er aber keine Begründung hatte. Nun gut… er würde es bald herausfinden. „Mach dich schon einmal fertig, ich komme dann nach.“
 

Zunächst ging Schuldig ins Schlafzimmer und schloss das Fenster, welches er noch offen gelassen hatte. Zu dumm, es war schweinekalt im Raum. Fröstelnd packte er die Heizdecke aus und steckte sie an.

Wie gut, dass es hier unten auf diesem Eiland nicht ganz so kalt wurde wie beispielsweise in seiner Heimat um diese Jahreszeit.
 

Die Heizdecke schien zu funktionieren wie er nach einigem testen feststellte. Er drapierte alles zu ihrem Lager zusammen. Danach ging er wieder in die Küche und holte sich einige der dicken Kerzen und Glasuntersetzer… die mussten reichen für das Wachs.

„Wo sind eigentlich die Yukatas?“, lugte er nachdem er die Kerzen positioniert hatte in die Küche. Er hatte vor sich zu waschen und sich frisch anzuziehen. Ihm war schon wieder kalt.
 

„Im Wohnzimmer“, erwiderte Aya und trocknete den letzten Topf ab, stellte ihn in den Schrank. Er drehte sich zu Schuldig um und kam zu ihm, hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen.

„Du siehst aus, als könntest du etwas Wärme gebrauchen“, murmelte er. „Wärme von mir!“ Nicht, dass ihm bedeutend kälter oder wärmer war als Schuldig selbst… denn er fror ebenso und freute sich auf die beheizte Decke. „Ist die Decke denn warm?“
 

„Ja, läuft wie am Schnürchen!“

Schuldig ging ins Wohnzimmer mit diesen Worten. Und wie er sich Wärme von seinem Blumenkind holen würde…

Er besah sich den kleinen sorgsam gefalteten Stapel und nahm sich einen dunkelblauen Yukata heraus, samt dicker Socken und Pantoffel, in die er sogleich schlüpfte um zum Badezimmer zu gehen.

Dort zog er sich aus, es war nicht mehr ganz so kalt in dem Raum, dennoch richtig warm wurde er heute scheinbar nicht. Er wusch sich sorgsam, vermisste einen großen Spiegel in dem Haus und musste sich damit begnügen, einige der Stellen mittels unangenehmer Verrenkungen zu inspizieren.

Etwas besorgt sah er sich den neuen Yukata an. Er würde ihn einsauen, wenn er ihn so auf die Wunden anzog. Seine Hose und sein Shirt waren bereits mit seriösen Flecken übersät. Fertig mit waschen besah er sich das mittlerweile nasse kleine Handtuch. Das zweite hing noch am Waschbecken, da es für Ran gedacht war.
 

Aya nahm sich ebenso einen neuen, dicken Yukata und die hochgelobten, dicken Socken, die ihm Wärme versprachen. Er ging in Richtung Schlafzimmer, blieb aber an der Einmündung zum Badezimmer stehen.

„Sag Bescheid, wenn du dich fertig gewaschen hast, dann hole ich die Kräuterpaste“, rief er Schuldig zu und wartete auf Antwort, die – so konnte er sich schon fast denken – ausweichend oder negativ ausfallen würde.
 

„Ich bin fertig… aber… ich denke im Liegen wäre es besser oder?“, sprachen aus Schuldig echte Zweifel, wie Ran das hier im Bad bewerkstelligen wollte. Er zog den Yukata nur locker drüber und ging ins Schlafzimmer. Die Socken in der Hand, setzte er sich auf die Liegstatt.
 

„Das ist besser, das stimmt.“ Aya nickte und legte seinen Kleidungsstapel neben dem Futon ab und ging wieder zurück in die Küche um dort die Kräutermischung und die Verbände zu holen.

„Wenn ich also bitten dürfte, Schuldig-san“, schlug er den strengen Ton ihres Hausarztes an, der Weiß hin und wieder einige derbe Verletzungen versorgt hatte… „Machen Sie sich frei und begeben Sie sich in die Bauchlage.“
 

„Und du? Das ist doch völlig… ungut… zieh dich auch um“, blockte Schuldig ab. Er war hier allein in der traditionellen Klamotte und… „Ich hätte dich gern bei mir, auch so… und dass wir dann gleich hier kuscheln und du nicht gleich wieder aufspringst danach. Wir können doch alles fertig machen. Den Sake wärmen und herstellen, dass wir danach nicht mehr ausm Bett müssen!“, schlug er vor und wagte einen vorsichtigen Blick in das strenge Antlitz über sich.
 

Ja, Aya wurde schwach… was konnte er diesen verführerischen grünen Augen schon abschlagen? Er seufzte tief.

Genau das hier.

„Ich muss nachher so oder so noch einmal ins Bad um mir die Hände zu waschen… und den Sake mache ich warm, während die Kräuter einwirken und ich mich schnell wasche… das kann ich alles nachher machen und dann kuscheln wir in aller Ruhe ohne Störungen.“
 

„Das ist ungemütlich. Ach Ran… ich will dich doch bei mir haben“, zog Schuldig Ran an sich, der noch stand, schmiegte seine Wange an dessen Hüfte, die noch mit der Anzughose bekleidet war. „Bitte…“, sah er hoch auf dem Futon sitzend.

Er fand es blöd… wenn Ran hier durch die Gegend sprang und der Moment doch so viel intimer war und schöner, wenn Ran sich gleich zu ihm legte danach.
 

Jetzt wurde das mit dem Widerstehen schon etwas schwieriger, befand Aya und wagte einen Blick in die Augen, die ihn so aufmerksamkeitsheischend ansahen. Schuldig wusste, welche Fäden er bei ihm zu ziehen hatte… er wusste es nur zu gut.

„Na gut. Dann werde ich jetzt den Sake aufsetzen, mich waschen und umziehen und dann zu dir zurückkommen. Genehmigt?“
 

Ein wirklich frohes Lächeln antwortete ihm und Schuldig entließ Ran wieder. „Genehmigt!“

„Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um die Kerzen.“

Die Heizdecke wärmte bereits schön, wie er an seinem Rücken fand, da er an sie etwas lehnte.

Er freute sich auf den Abend, trotz der kleinen unangenehmen Zwischeneinlage, die ihm vielleicht noch bevorstehen mochte.

Sie waren zusammen, mitten im Nirgendwo und die Stille, die hier draußen herrschte, hätte er mit niemand anderem außer Ran teilen wollen.

Fremder, reicher Mann

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Frieden

~ Frieden ~
 


 


 

In der Zwischenzeit erprobte Schuldig seine telepathischen Fähigkeiten an dem alten Mann. Allerdings kam er nicht sehr weit in dessen Gedanken, lediglich ein paar lose Bruchstücke konnte er greifen, was ihn erneut frustrierte.

So saß er schließlich missmutig da und war zudem noch ungeduldig. Was laberte Ran auch so lange mit dem alten Kauz!
 

Sich Schuldigs Ungeduld bewusst, nickte Aya ergeben. „Ja, wir sind nicht verheiratet. Aber es ist meine Familie“, sagte er und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Es schien, als müsse er sich rechtfertigen, dass er nicht nach den alten Traditionen und Bräuchen lebte.

Doch Todai schüttelte nur mit dem Kopf. „Ihr Städter seid komisch… ein Leben voller Hektik, nicht mehr heiraten…“, schmunzelte er und trank seinen Tee leer. „Aber das Glück, das ist das Wichtigste. Hauptsache, man ist hier drinnen glücklich. Mit wem, das spielt letzten Endes keines Rolle, ob Frau oder Freundin.“

Er fuhr sich nachdenklich über die Seite des Brustkorbs, unter dem sein Herz schlug, und sah ein weiteres Mal nach draußen. „Das Leben lernen… das ist wichtig.“ Er nickte langsam, auch wenn Aya sich keinen richtigen Reim auf diese Worte machen konnte. Doch… aus dem Kontext gegriffen hatte der Mann durchaus Recht.
 

Auch er hatte das Leben lernen müssen.
 

Was dauerte denn da solange? Hielten die beiden ein gemütliches Pläuschchen während er hier den grausamen Kältetod starb?

Schuldig erhob sich vom Bett und begann auf und ab zu tigern. Er hatte Hunger, hier war es kalt und er wollte endlich zu seinem Ran! Verdammt, war das gemein, grollte er innerlich.
 

„Aber ich rede dummes Zeug… sollte zurück ins Dorf“, sprach Todai die für Schuldig erlösenden Worte und erhob sich, noch bevor Aya die Möglichkeit hatte, dagegen zu protestieren.

„Ich begleite Sie noch mit nach unten…ich muss noch die Handtücher aus dem Wagen holen“, gab sich Aya schließlich geschlagen und hörte im Hintergrund das verdächtige Geräusch nackter Füße auf dem Holzboden. Da wurde wohl jemand ungeduldig…

Aya hoffte, dass Todai-san eben dieses Tapsen nicht vernommen hatte, als er ihn aus dem Haus begleitete und mit ihm nach unten ging. Dort vor dem Lastwagen stehen blieb.

„Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass sie mir Holz verkauft haben“, verbeugte sich Aya voller ehrlicher Dankbarkeit.

„Immer gerne wieder, Junge. Sag einfach dem jungen, alten Mädchen im Laden Bescheid und ich komme noch einmal.“

Aya lächelte und nickte und sah zu, wie sich der Mann in seinen Wagen schwang und schließlich davonfuhr. Während Todai davonfuhr, machte sich Aya daran, die Handtücher aus dem Kofferraum zu nehmen. Erst, als er den Wagen schon gar nicht mehr hören konnte, legte er die Plane drüber und kämpfte sich ein weiteres Mal mit den Handtüchern nach oben, schloss die Tür hinter sich.
 

Und wurde sogleich von Schuldig stürmisch empfangen, samt der Tüte, die Ran noch im Arm hatte. „Gut gemacht, Geheimagent Red!“, grinste Schuldig und knutschte seinen Ran schmatzend auf die Lippen.

„War er sehr misstrauisch?“, wollte er sogleich wissen, Neugierde sprach aus den blauengrünen Augen.
 

„Ich denke nicht, auch wenn sich der große Agent Kullerpfirsich zum Ende hin beinahe verraten hätte“, grimmte er spielerisch böse. „Wenn du schon ungeduldig wirst, dann bitte etwas leiser! Oder hättest du ihm gerne jetzt schon erklärt, wer du bist, hmm?“, tadelte er kopfschüttelnd und schmatzte Schuldig nun seinerseits einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen.

„Am Besten war noch die Frage nach dem Ehering…“
 

Schuldigs Gesicht verzog sich angeekelt. „Ehe… was?“ Er gab Ran frei und ging wieder in die Küche. „Und was hast du ihm erzählt?“

Er war neugierig, wie Ran sich da herausgeredet hatte, nach seiner Familien- und Kinderlüge. Schuldig grinste hinterhältig, als er daran dachte, wie Ran wohl geschwitzt hatte bei dieser Frage.
 

„Ganz einfach, ich habe ihm gesagt, ich wäre nicht verheiratet, dass ich aber dennoch eine Familie hätte. Woraufhin Todai-san meinte, dass das wohl der Lebensweg der modernen Städter wäre“, sagte Aya in den nun leeren Flur und grollte. Die Handtücher durfte er also auch noch alleine schleppen. Gut… gut… Schuldig hatte Schonfrist, NOCH. Aber nicht mehr lange.

„Und es gab Gerüchte, dass ein Ausländer das Haus hier gekauft hat“, sagte er, während er ins Bad ging und dort die Handtücher deponierte. Mit das einzig Moderne hier war die Waschmaschine und in die stopfte er zumindest den Großteil der Wäsche, bevor er sie anschaltete. Zwei Tücher hingen hier für den Notgebrauch, alle anderen würden in den nächsten Tagen trocken sein. Doch da sie jetzt den Kamin und das dazu gehörige Feuerholz hatten, würde das Trocknen schneller gehen, viel schneller.

Er kam wieder in die Küche und schnupperte dem verführerischen Duft entgegen.
 

Unterdessen hatte Schuldig das Essen aus dem Ofen geholt und inspizierte es. Es war noch nicht ganz zusammengefallen, aber sie sollten es bald essen, sonst garantierte er für nichts.

„Und brav Hände gewaschen?“

Schuldig wandte sich den Hängeschränken zu, nahm Geschirr heraus und deckte den Tisch.

Er lächelte Ran an, der bereits zum Essen spitzte. „Du hast dich also geschickt aus der Affäre gezogen?“
 

Aya schnaubte und ließ sich auf seine Knie nieder. Ganz der Macho, der er war, ließ er Schuldig das Essen auftragen… dieses Mal aber alleinig aus dem Grund, dass er seine Arme nicht mehr wirklich heben konnte. Er war zu lange aus dem Training und die zwei Wochen hatten ihr Übriges getan, dass er sich langsam erst an das tägliche Konditionstraining gewöhnen musste, das nun folgen würde.

„Was hätte ich denn machen sollen? Zuvorkommend die Tür zum Schlafzimmer öffnen und euch einander vorstellen? Du willst dich noch nicht zu erkennen geben, vergiss das nicht“, grimmte er und stützte sein Kinn auf die rechte Hand, schloss die Augen.
 

„Ja, mein Kirschchen“, säuselte Schuldig und trug Ran sein Essen auf, küsste ihn herzig auf die Stirn. „Hast du toll gemacht!“

Er hoffte, dass er nicht zu dick auftrug, aber irgendwie drängte ihn geradezu etwas, Ran zu ärgern. Ihn aufzustacheln.

Der Abend war lang, sehr lang, hier oben und… sie konnten es sich jetzt schön warm machen und Sake war auch noch da… und das Badewasser… und überhaupt.

Schuldig begab sich selbst an den Tisch und lächelte hintergründig. Fast wie die Katze aus Alice im Wunderland. Nichts und doch alles sagend.

„Guten Hunger!“
 

„Na dir auch…“…Möhrchen, lag Aya auf der Zunge, doch er verkniff es sich. Der große, böse Deutsche sollte sich nicht darüber echauffieren, sondern essen, auch wenn Aya nicht entgangen war, dass er hier gereizt wurde.

„Das nächste Mal bist du derjenige, der die Wahrheit sagen wird, ich sage es dir!“, drohte er spielerisch, bevor er die Stäbchen in das Essen tauchte und eine Ladung voll nahm, langsam kaute und dann übertrieben schwer schluckte.

„Also ich finde, das Gemüse hätte ruhig etwas knackiger sein können“, fachsimpelte er schließlich, spielte ihr altes Spiel. Schuldig, der Koch, Aya, der Kritiker… das hatten sie schon einmal gehabt.
 

„So… hätte es?“

Schuldig hob spielerisch spöttisch die Brauen. „Wenn Mr. Macho früher zuhause gewesen wäre und die Holzscheite schneller hier herauf befördert und diesen alten Mann nicht noch eingeladen hätte, dann wäre das Gemüse jetzt… knack-ig!“, betonte er das letzte Wort abgehackt. Brav spielte er die keifende Ehefrau, wenn auch widerwillig. „Aber du kannst morgen gerne kochen“, bot er an.

Er meckerte wenigstens nicht am Essen herum, grummelte er innerlich.
 

Selbst das hatte er vermisst… dieses missmutige Brummen, diese aufsässigen, grünen Augen, die es gar nicht vertragen konnten, kritisiert zu werden und das auch noch zu Unrecht. Ja, selbst dafür war Aya nun dankbar, weil er Zeuge dessen werden durfte.

Ein liebevolles Lächeln hatte sich auf seine Lippen gestohlen, als er Schuldig beobachtete und sich schließlich wieder seinem Essen widmete.

Crawford und er hatten über Schuldig und seine Eigenarten gesprochen, darüber, wie sehr der Telepath sie manchmal auf die Palme treiben konnte… Erinnerung an alte Zeiten war es zu dem Augenblick gewesen, doch jetzt war es Realität. Eine zweite Chance…

„Wir können auch gerne zusammenkochen“, schmunzelte er.
 

Die Art wie Ran die Worte ausgesprochen hatte, ließ Schuldig aufhorchen und er sah kauend von seinem Essen auf. Das Schmunzeln, was Ran ihm entgegenbrachte, passte zum erfreuten Blick, doch trotzdem lag etwas Trauriges in Rans Augen.

Schuldig schluckte seinen Bissen hinunter. „Was ist los?“, legte er den Kopf leicht schief, wie um zu sagen, dass er spürte, dass da etwas im Busch war.
 

Lange Zeit herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis Aya sortiert hatte, wie er es am besten formulierte. „Ich freue mich, dass du lebst“, lautete schließlich die Antwort und Aya ließ seine Stäbchen sinken, sah Schuldig offen in die Augen. Ich freue mich, dass du lebst und bin traurig über all das, was geschehen ist, lautete die volle Antwort, doch das musste er Schuldig nicht sagen… garantiert nicht.
 

Was auch nicht nötig war.

„Oh“, meinte Schuldig wenig geistreich, dafür aber ergriffen. Das war also die traurige Aura um das Lächeln gewesen, was Schuldig erfasst hatte.

Er ließ seine Stäbchen ebenfalls sinken und damit seine Mundwinkel auch gleich.
 

„Es macht nichts mehr… es ist Vergangenheit“, sagte Aya und seine Hand stahl sich zu der des Telepathen. Ja, das war es in der Tat, doch etwas, das er nie vergessen würde. Diese zwei Wochen hatten sich in seine Gedanken, in seine Erinnerungen gebrannt und ihm ein Stück seiner Ruhe genommen. Er hatte Angst, Schuldig auf einem erneuten Auftrag nun wirklich zu verlieren… ohne dass er hätte etwas tun können.
 

Sie verschränkten ihre Finger ineinander und hielten sich fest, drückten sie zur Bestätigung ihres Hier seins, ihrer beider Existenz und in ihren Gefühlen zueinander.

„Wir haben ziemlich zu tun …mit unserer Vergangenheit, nicht?“, lächelte Schuldig schmerzlich mit einem Anflug von Ironie.

Ein tiefes Einatmen löste den inneren Druck auf seiner Brust, der ihm zeigte, dass er noch nicht wirklich gefestigt in sich selbst und auf der Höhe war. Viel zu anfällig für alles momentan.

„Was hältst du davon, wenn ich abspüle und wir danach ein Bad nehmen?“

Er wollte das Thema wechseln, hatte genug von dieser Angst, dieser Sehnsucht und der Last von Vergangenem, das seine Klauen immer noch nach ihnen ausstreckte.
 

„Was hältst du davon, wenn ICH das übernehme und du machst dich schon mal entspannungsfertig?“, fragte Aya dagegen und hob eine Augenbraue. Ähnlich wie Schuldig auch fühlte er, dass sie es langsam angehen mussten…ganz langsam.

„Wir hatten schon vorher viel mit unserer Vergangenheit zu tun gehabt, also werden wir das hier auch noch schaffen.“ Es lag Überzeugung in Ayas Stimme, Überzeugung, die er auch in sich trug, denn er war gewillt, für ihren Frieden zu kämpfen.
 

Schuldig begann wieder zu essen und verzog das Gesicht verstimmt. „Bevor ich mich entspannungsfertig machen kann, muss noch eingeheizt werden, das Wasser eingelassen und das Bad beheizt werden. Und diese Verbände jucken, ich muss die Dinger da abziehen!“ Einige der Kompressen waren in der Nacht schon stiften gegangen und der Rest war zwar noch drauf, doch er hatte morgens bei der Körperpflege nur einige inspizieren können.
 

„Ich helfe dir dabei“, war Ayas automatische Antwort, da er sich die Wunden noch ansehen wollte, bevor sie ins Wasser stiegen. Vielleicht waren sie ja wirklich besser geworden, zumindest hoffte Aya das für Schuldig.

„Wie wäre es, wenn du nach dem Essen eine Runde im Garten machst und Frischluft zu dir nimmst, während ich uns alles soweit herrichte? Klingt doch gut, oder? Finde ich auch!“ Er lachte leise und pickte sich das letzte Stück Fleisch von seinem Teller.
 

„Nach draußen?“, rief Schuldig entsetzt aus. „Da raus? Da is es kalt. Ich hab schon frische Luft geschnappt, als ich auf dich gewartet habe!“, behauptete er nicht zu unrecht und aß genüsslich weiter. Ließ sich gar nicht aus der Ruhe bringen, schon gar nicht von solch komischen, Rantypischen Ideen. „Wir können das doch zusammen machen, Ran“, sagte er dann etwas ernster und lächelte Ran aufmunternd zu.
 

„Das können wir… nachdem ich hier alles hergerichtet habe“, stimmte dieser zu und nickte bedächtig. „Aber du brauchst frische Luft. Ich möchte wetten, dass du in der letzten Zeit nicht viel davon gesehen hast.“ Aya gestikulierte mit seinen benutzten Stäbchen, bevor er sie in die Schüssel legte und sah Schuldig streng in die Augen. „Zu wenig, möchte ich sagen.“ Als ob er da viel anders wäre… nur er hatte den Vorteil, dass er das Holz hatte schleppen dürfen.
 

Schuldig gab sich geschlagen. „Also gu~ut“, sagte er gedehnt und verdrehte theatralisch die Augen. „Aber wie soll ich mit diesen „Zierverbänden“, die ohnehin bei jeder Bewegung abfallen Spaziergänge machen? Hmm? Hmm?“
 

„Wir kleben sie einfach neu fest, was hältst du davon?“, fragte Aya und war zumindest für sich begeistert von der Idee. Dann konnte er sich um den Rücken des Telepathen kümmern und gleich nachsehen, ob die Verletzungen schon mit ihrem Heilungsprozess begonnen hatten.

Danach konnten sie dann schön baden.

„Eine Runde durch den Garten, wie wäre es? Ich führe dich auch an der Hand, wenn du willst“, neckte er den anderen Mann.
 

Die Salbe war ohnehin schon eingezogen oder getrocknet und musste entfernt werden, murrte Schuldig in Gedanken, während er zu Ende aß.

„Wie wäre es, wenn du mir die Teile komplett abzupfst und ich das langärmlige, blaue, hübsche, erotische„lange Unterwäsche Ensemble“ anziehe? Dann kann ich das mit Salbe einsauen ohne dass den Klamotten was passiert und nach dem Bad kannst du mir alles wieder draufpappen.“

Na, das war ja mal mit Begeisterung vorgetragen, wie er fand.
 

Mit vollendeter Begeisterung, also gar nicht…befand Aya dagegen und musste wirklich schmunzeln. Doch es führt kein Weg daran vorbei, er würde Schuldig versorgen.

„Gut, dann machen wir es so“, stimmte er zu und ließ das Wasser in die Spüle. „Die lange Unterwäsche hält übrigens wunderbar warm.“ Das war Aya wichtig für Schuldig…dass der andere Mann sich wohl fühlte. Dass ihm warm war.
 

Irgendetwas Undefinierbares knurrend hob Schuldig ihr gemeinsames Essen auf und stellte das Geschirr zusammen, bevor er sich erhob. Ran hatte also wieder seinen Willen bekommen, auch wenn Schuldig vorher schon abgewehrt hatte.

Er hatte das Schmunzeln ganz genau gesehen, dieses „Ich habe gewonnen und es ist nur das Beste für dich“-Schmunzeln.

Während er Spülwasser einließ, malte er sich aus, wie er Ran das nächste Mal am besten überlisten würde.
 

Genau dieses Schmunzeln weitete sich nun zu einem Lächeln aus, als Aya sich von Schuldig wegdrehte und Pläne schmiedete, wie er den anderen Mann ins Bad locken konnte. Wie er ihm die Wunden versorgte, damit es Schuldig schließlich besser ging.

„Der Garten ist wunderschön“, sagte er völlig aus dem Kontext gegriffen. „Aber er fordert viel Arbeit, wenn der Winter vorbei ist.“ Dass er am Liebsten selbst die Arbeit übernehmen würde, sagte er nicht, denn das ging nicht. Schließlich hatte er einen Job… und was würden Gabriele und Yuki sagen, wenn er jetzt kündigte? Nein… ausgeschlossen.
 

Schuldig strahlte über das ganze Gesicht über diesen unerwarteten Satz. „Ja, fand ich auch. Ich musste an dich denken, als ich ihn gesehen habe und da war der Kauf schon so gut wie erledigt. Wir können ja öfter zusammen herkommen, oder du lässt jemanden dir den Garten machen, wäre doch nicht schlecht, anderen bei der Arbeit zuzusehen…“

Schuldig grinste, weil er schon wusste, dass Ran vermutlich eher nicht so dachte.
 

Und ob Aya nicht so dachte. „Ich würde ihn lieber selbst machen, ich weiß nur nicht, ob ich Urlaub bekomme und wann… ich habe in einer Bar angefangen, während du weg warst. Als Barkeeper sozusagen. Die Leute sind nett und es ist ein guter Job.“ Es war ein Job gewesen um ihn am Leben zu erhalten, ihn nicht aufgeben zu lassen, wie Aya im Nachhinein erkannte. Er war unter Leuten, übernahm Verantwortung und vergaß sein eigenes Selbst; was hätte ihm in diesem Moment besseres passieren können?
 

Bereits das Geschirr abgespült, wandte sich Schuldig nun mit dem Trockentuch und einem Teller um, mildes Erstaunen aber vor allem Stolz in seinem Blick. Stolz auf seinen Ran, der sich nicht hatte unterkriegen lassen. Und ein wenig Beschämung, dass er Angst davor gehabt hatte, dass Ran sich etwas antun hätte können.

„Hört sich gut an“, lächelte er. „Du bist deinem Traum einen Schritt näher gekommen.“

War es vielleicht so, dass er Ran sogar gebremst hatte? Dass er sich viel schneller entwickeln würde, wenn Schuldig nicht da wäre?
 

„Crawford ist meinem Traum etwas näher gekommen, er hat mir diesen Job besorgt“, erwiderte Aya und sprach damit unbewusst auf die Angst des Telepathen an… widersprach ihr.

„Ich habe den ganzen Tag nur im Bett gelegen oder auf der Couch gesessen, bis er mit dem Vorschlag gekommen ist.“ Aya zuckte mit den Schultern. Er sagte nicht, dass er es Crawford überlassen hatte, sein Leben für ihn zu leben, weil er innerlich schon längst aufgegeben hatte…nein. Davon sagte er kein Wort.
 

Schuldig musste daran denken, dass er Brad auferlegt hatte, für Ran zu sorgen. Zumindest hatte Ran ihm das erzählt. Er selbst wusste nichts mehr davon, sein verschrobenes Gehirn musste es wohl von der Festplatte gelöscht haben.

Vermutlich erzählte Ran ihm nicht die ausgeschmückte, reale Version sondern eher die abgespeckte, damit er nicht noch im Nachhinein in schlechte Stimmung verfallen konnte.

„Ihr nehmt euch nicht viel im Umsorgen, wenn’s drauf ankommt“, grinste Schuldig in sich hinein.
 

„Willst du damit etwa andeuten, wir würden uns ähneln?“, fragte Aya und stierte Schuldig in die erfreuten, grünen Augen. Seine Stimme war lauernd, fast schon berechnend. Nagi hatte mal etwas Ähnliches gesagt, doch er konnte nichts finden, das sowohl Crawford als auch er innehatten. Oder wollte er nichts finden?

Nein. Es gab nichts. Nicht das Geringste.
 

Das Geschirr verräumend drehte Schuldig nur verstohlen lächelnd das Gesicht Ran zu.

„Ja, ihr ähnelt euch, mehr als dir lieb ist.“

So, jetzt hatte er es Ran aber gegeben!
 

Und wie!

„Was erdreistest du dich zu sagen?“, empörte sich eben dieser und kam Schuldig nach, kesselte ihn am Geschirrschrank ein. „Du wagst es wirklich, einfach so zu behaupten, wir beide wären uns ähnlich, obwohl es dafür keine Anhaltspunkt gibt?“, grimmte er.
 

„Oh, es gibt da so einiges Anhaltspunkte.“

Uh, jetzt fuhr Ran aber schwere Geschütze auf… wie er an sich spürte.

„Zum Beispiel im strategischen Denken, oder das erwähnte ‚sich kümmern’…“
 

„Das kann man aber nicht in einen Topf werfen!“, behauptete Aya und unterzog Schuldig einer genauen Musterung. „Das pflegen wir jeweils zwei vollkommen unterschiedliche Handlungsweisen und Ansichten. Da ist nichts homogen! Rein gar nichts!“
 

„Und was ist mit eurer Vorliebe für Rothaarige?“, spielte Schuldig fies lächelnd – aber gut getarnt – seinen Joker aus.
 

„Vorliebe für Rothaarige?“, fragte Aya stirnrunzelnd nach und maß Schuldig nachdenklich - scheinbar. „Also so weit ich mich erinnern kann, war Youji blond“, nickte er und sein Lächeln war teuflisch. Schuldig meinte, ihn austricksen zu können? Das konnte ER auch.
 

„So, war er das? Nun, ich meine mich auch erinnern zu können, dass deine Gefühle für Yohji nicht die gleich intensiven waren – sind – wie für mich“, hob Schuldig eine Braue. Also war da doch mehr zwischen den beiden außer Sex?, sollte sein Blick sagen.
 

„Es gibt Dinge, die sich nicht ändern…so auch deine Eifersucht“, knurrte Aya und bleckte spielerisch die Zähne. „Mit wem stehe ich jetzt hier? Mit dir oder Youji? Beantwortet dir das deine Frage?“
 

„Weich nicht vom Thema ab“, hatte er Rans List durchschaut. „Außerdem bist du genauso eifersüchtig, mein Kirschchen, nicht wahr?“

Schuldig schubste mit seinem Hintern Ran leicht in seinen Schritt und lachte neckend.

„Du stehst auf Rote! Und Brad auch. Du hast sogar zwei davon, ich meine nämlich, dass Banshees Fell im Ton meinem Haar durchaus ähnelt.“ Kunststück, er hatte die Kleine danach ausgesucht, bemerkte er ironisch in Gedanken.
 

„Also ich stehe ja eher auf den Inhalt als auf die Verpackung… nun, vielleicht doch ein wenig auch darauf“, begutachtete Aya eben dieser Verpackung, die ansprechende. „Dass es wie durch Zufall zwei Rothaarige sind… Zufall eben, nicht wahr?“

Ayas Arme schlängelten sich um die Mitte des Telepathen und zogen ihn an sich. „Natürlich bin ich das…ich muss ja zusehen, dass du dir nicht allzu viel Appetit holst, bevor du bei mir isst!“
 

„Solche Zufälle gibt’s nicht“, nein, es sei denn, sie waren von Schuldig höchst persönlich eingefädelt!

„Also gib es zu, ihr seid euch in einigen Punkten ähnlich!“
 

„Niemals! Im Leben nicht!“, wetterte Aya und löste sich von Schuldig, ging geschäftig seinen Tätigkeiten in der Küche nach. Vielleicht mochte der Telepath Recht haben und Crawford und er besaßen einige gemeinsame Züge…doch nichts, was nicht Millionen anderer Menschen auch mit ihnen teilen würden. Nichts Besonderes also.

„Wieso gehst du nicht schon mal ins Bad? Du wolltest doch baden…“
 

Rans hektische Betriebsamkeit verfolgte Schuldig mit einem kleinen wissenden Lächeln. „Wieso gehen wir nicht zusammen, die Küche ist aufgeräumt, wir müssen nur noch einheizen.“

Schuldig stand abwartend da, das Abtrockentuch noch immer über der Schulter hängend und die Arme verschränkt.

Das konnte noch ein lustiger Abend werden…
 

o~
 

Ein lustiger Abend war es garantiert, wie sie momentan beisammensaßen und Schuldig vorsichtig badete. Aya hatte ihn schnurstracks in das Kräuterbad verfrachtet. Wenn auch unter Murren und Protestlauten. Er war stringent gewesen und hatte sich nicht erweichen lassen mit dem Kommentar, man könne ja auch noch später beisammen sein und kuscheln.

Keine schlechte Aussicht, befand Aya und legte den nach vorne gefallenen Zopf wieder nach hinten. Diese Zotteln waren schon wieder gewachsen…hörten gar nicht mehr auf damit. Irgendwann würden sie auf dem Boden schleifen, das sah Aya schon.

Der rothaarige Japaner nippte an seinem Becher Sake und lächelte. „Jetzt fehlt nur noch eine dieser gelben Enten“, merkte er an. „Wie heißen sie noch mal?“
 

Schuldig lehnte am Rand, wohlweißlich nur mit den Schultern und dazu noch mit einem Handtuch am kantigen Beckenende abgepolstert. Spitzbübisch lächelnd legte er den Kopf leicht seitlich in den Nacken und sah Ran überkopf an. „Meinst du den komplizierten, schwer zu merkenden Namen: Badeente?“
 

„Sehr amüsant…wirklich sehr amüsant, Schuldig“, grollte Aya und biss dem schelmischen Telepathen in die vorwitzige Nase. „Das ist auch eine der westlichen Errungenschaften. Badeente. Wozu nimmt man ein Gummitier, das quietscht, mit in die Wanne? Völlig unlogisch.“

Er setzte sich wieder etwas zurück und betrachtete sich den anderen Mann. Schuldig wirkte zart in diesem Moment…seine Augen, die groß, aber tief in ihren Höhlen ruhten, die leichten Augenringe, die die vorherigen, wenig schlafintensiven Nächte bezeugten. Genau jetzt konnte Aya einen guten Blick darauf werfen, wie viel Schuldig eigentlich an Gewicht verloren hatte, da die Wangenknochen allzu deutlich hervorstachen.

Es verlieh dem Deutschen etwas Durchscheinendes, begleitet von der blassen Haut und den Feuerhaaren. Als ob Schuldig zart wäre…was er definitiv nicht wahr. Die Muskeln mussten wieder her, ebenso etwas Speck auf den Rippen und Aya würde sein Bestes geben um Schuldig wieder aufzupäppeln.
 

„Wozu?“

Schuldig rieb sich übertrieben seine geschundene Nasenspitze. „Um Gesellschaft zu haben und um damit zu spielen. Kleine Jungs tun das. Und wenn sie groß sind haben sie dann andere Dinge zum spielen.“ Klarer Fall!
 

„Na da kann ich ja richtig froh sein, dass du keine Quietscheente mehr dein Eigen nennst, nicht wahr?“, fragte Aya mit einem Lächeln, das nicht ganz so überzeugt von der Theorie war. Seine Hand tauchte ins Wasser und schlug dort leichte Wellen, die den intensiven Kräuterdunst ein weiteres Mal aufstreben ließen. Wie zufällig strich er die Rippen entlang, fühlte ihre scharf geschnittene Form nach.

„Große Jungs müssen aber auch viel essen….“
 

„Ja, das tun sie ja auch!“

Mit überzeugender – zumindest für ihn – schauspielerischer Leistung tat Schuldig seine Entrüstung kund und richtete sich sogleich in dem Becken auf, dass in den Boden eingelassen war und sah Ran vorwurfsvoll an.

„Es waren nur zwei Wochen, Ran! So dürr bin ich ja nun auch wieder nicht geworden“, blickte er an sich hinab und zupfte an seinen Oberarmen. Nun gut, bei ihm merkte man es fast sofort, wenn er nicht genug nachlegte und die letzten zwei Wochen mit diesem Wasserbrei waren schon deutlich zu spüren gewesen, aber das war ja kein Problem. Genau wie Nagi achtete er stets ebenfalls auf seine Ernährung, zwar verbrauchte er nicht so extrem viel Energie wie Nagi, der Materie mittels Gedankenkraft bewegte und verformte, aber er hatte durch seine erhöhte geistige Aktivität ebenso einen erhöhten Umsatz.
 

„Nein, das bist du nicht. Aber dünn genug, dass ich es merke. Was habe ich denn da zu beißen, wenn ich nur noch auf Knochen treffe?“, funkelte Aya und fuhr Schuldig sanft durch die Haare. Gerade jetzt war er trotz des leicht negativen Themas ruhig, ruhiger als zuvor, denn immer dann, wenn Schuldig nicht in seiner Nähe war, suchte er nach ihm - bewusst oder unbewusst - und war erst wieder ruhiger, wenn er den Mann an seiner Seite wusste. Ob sich das irgendwann einmal geben würde, wusste Aya nicht, aber momentan glaubte er nicht daran.

Er hatte davon geträumt, Schuldig zu verlieren, wie er auch geträumt hatte, dass er neben Schuldigs Leichnam aufwachen würde und alles so war wie vor ein paar Wochen. Doch was sein Geist zu kompensieren versuchte, hatte Aya noch nicht annähernd verarbeitet. Zu tief saß noch der Schock über den maßgeblichen Tod des Telepathen.

„Aber du bist ja auf dem Weg der Besserung und wenn du zwei Wochen meiner Fünf-Sterne-Küche genossen hast, wirst du dich nach Hause kugeln können.“ Die Frage war, wo Schuldigs Zuhause war…schließlich fühlte dieser sich nicht mehr sicher in seiner Wohnung.
 

Doch gleichzeitig gab es noch eine andere Frage, die sich Aya plötzlich stellte und über die er nie nachgedacht hatte. Wo war eigentlich SEIN Zuhause? Sein Zimmer bei Weiß war so etwas Ähnliches gewesen, doch Schuldigs Wohnung…er wohnte dort, aber er hatte nicht das Gefühl, dort zuhause zu sein…er hatte das Gefühl, nirgendwo zuhause zu sein. Als wenn er gar nicht in der Lage wäre, so etwas zu fühlen.
 

„Fünf- Sterne?“ echote Schuldig.

„Überschätzt sich der Herr Meisterkoch da nicht ein wenig?“

Schuldig spritzte etwas Wasser neckend in Rans Richtung und grinste dreist.
 

Es schien, als wäre Schuldigs Humor genau das, was Aya brauchte um aus seinen dunklen Gedanken aufzutauchen.

Er tat es dem Deutschen gleich und spritzte mit einer etwas größeren Menge Wasser, grimmte pflichtschuldig und sah Schuldig aus verengten Augen kritisch an. „Nein, ich habe mein Können sogar noch unterboten!“, behauptete er dreist.
 

Da drehte sich Schuldig gänzlich zu Ran um, verschränkte die Arme und bedachte Ran mit einem langen kritischen Blick.

„Hmmm….“, machte er und verengte die Augen nachdenklich. Natürlich ordentlich übertreibend, Ran sollte ja neugierig auf seine weisen Worte die da folgen würden, werden…
 

„Sag’s nicht“, erwiderte Aya und seine Augenbraue erhob sich leicht einschüchternd.
 

Und Schuldig ließ sich brav einschüchtern, wandte sich wieder mit einer langsamen Bewegung ab. „Okay“, zog er das Wort in die Länge und schwieg sich aus.

Er macht es sich an seinem Handtuch gemütlich, legte den Kopf in den Nacken und schloss entspannt die Augen. Noch ein paar Minuten dann musste er hier raus. Zu lange sollte er nicht in dem Bad bleiben, sonst weichte seine Haut auf und das bekam seinen Wunden nicht wirklich.
 

Innerlich über Schuldigs ‚Gehorsam’ lächelnd, erhob sich Aya nach ein paar Minuten und nahm sich, als hätte er die Gedanken des anderen gelesen, eines der aufgewärmten Handtücher um Schuldig damit zu verhüllen, sobald dieser von der Wanne in die Dusche gewechselt hatte, damit er sich den Badezusatz vom Leib waschen konnte.

„Wie wäre es, du erhebst dich aus deinem erhabenen Bad und trocknest dich ab, ziehst dich an und wir gehen anschließend eine kleine Runde im Garten spazieren um frische Luft zu tanken?“ Dass er vorher aber noch Schuldigs Rücken in der üblichen Prozedur einbalsamieren und verbinden würde, verschwieg Aya.
 

Das brachte Schuldig nun doch dazu, die Augen wieder zu öffnen, den Kopf zu heben und ihn in zeitlupenhafter Geschwindigkeit zu drehen, mit einem Gesichtsausdruck der soviel ausdrückte wie: Bist du jetzt völlig wahnsinnig geworden? Willst du mich umbringen?

„Und du willst behaupten, dass du mich aufpäppeln willst? Ich denke eher…“

Schuldigs Miene konnte als schockiert bezeichnet werden. „…du hast zuviel Misery angekuckt! Ich habe dich durchschaut! Du willst mich erst scheinheilig in Sicherheit wiegen, nackt und schutzlos wie ich bin, unterernährt und schwächlich noch dazu und dann willst du mich nach draußen im Winter in die Kälte jagen, damit ich nach einem Vollbad…wohlgemerkt eine richtige gemeine Grippe bekomme und du mich verhätscheln kannst. Somit ist gesichert, dass ich dir nie wieder davonlaufen kann.“ Eine hieb- und stichfeste These.

Er glaubte es ja nicht, jedes Kind wusste, dass man nach einem Bad ins Bett sollte, oder zumindest ruhen sollte und Ran torpedierte seine Genesung aufs Übelste. Aber er hatte ihn durchschaut, aber total!
 

Aya war sich bewusst, dass er Schuldig anstarrte. Er war sich sogar bewusst, dass er vollkommen überfahren und daher leicht debil aussehen musste, doch seine Gedanken liefen immer noch der Logik dieser These hinterher und ließen gewisse andere Teile seines Gehirns im Stich.

Er runzelte die Stirn, als sich wieder alles an seinen Platz fügte und er schließlich eine Augenbraue hob.

„Daran hatte ich nicht gedacht“, meinte er nachdenklich. „Aber jetzt, wo du es gesagt hast, klingt das nach einem sehr guten Vorhaben.“ Er nickte und machte dann eine ungeduldige Handbewegung. „Also worauf wartest du? Raus aus der Wanne…je eher die Grippe Einzug hält, desto besser. Los, hopp, raus hier! Am Besten, ich jage dich gleich nackt in die Kälte.“ Und wie die violetten Augen glimmen konnten…so als ob sie hellauf begeistert von der Idee waren.
 

Okay, jetzt war es an der Zeit die sexuelle Energie, die sich zwischen ihnen aufbaute und langsam Funken schlug mit etwas Verzweiflung in seinem Gesicht zu mildern… oder anzuheizen, je nachdem…

Schuldig zog die Stirn in einen leicht verzweifelten Ausdruck und biss sich zur Tarnung auf die Unterlippe, rutschte etwas von Ran weg. Nur einen Hauch, damit es Rans Jagdtrieb etwas ansprach. Er sah in den violetten Augen, wie dunkel sie geworden waren. Ran hatte es heute definitiv auf ihn abgesehen.

Schuldig hob eine Hand aus dem Wasser und strich sich eine nasse Strähne hinters Ohr. „So komme ich bestimmt nicht aus dem Becken, wenn du so gemein zu mir bist.“
 

„Soll das etwas heißen, dass ich dich erst holen kommen muss?“, fragte Aya, denn Schuldig HATTE definitiv seinen Jagdtrieb geweckt. Aya war sich dessen bewusst, doch seine hochgelobte Selbstkontrolle zerfranste mittlerweile an ihren Enden und machte ihm bewusst, dass er Schuldig wollte…mit Haut und Haar. Auch ein Überbleibsel…als müsste er sich auf jeder Ebene ihrer Beziehung versichern, dass Schuldig da war.
 

Ups, da bahnte sich ein lockendes, verführerisch harmloses Lächeln auf Schuldigs Gesicht an. Und er konnte es nicht verhindern, obwohl er es mit aller Macht versuchte. Nagut, mit aller Macht auf Sparflamme…

„Hier ist es aber sehr nass, Ran und deine Kleidung wird es dir nicht danken, wenn du sie mit in das Kräuterbad nimmst, das geht nie wieder raus…und so viele Yukatas hast du nicht…“, gab er leise zu bedenken.

Sein betont harmloser Blick schrie jedoch förmlich: Hol mich!
 

„Richtig…richtig…“, murmelte Aya und konnte einfach nicht mehr. Er konnte diesem Blick, dieser Verführung in Person nicht mehr widerstehen, auch wenn er wusste, dass Schuldig ihn lockte! Verdammt.

Langsam erhob er sich und streifte sich bedeutungsvoll den Yukata von den Schultern.

„So einfach ist das…“, sagte er und stand nackt vor Schuldig.
 

Dieser hob bedächtig den Blick, angefangen von den Füßen über die langen Beine nach oben. In der Körpermitte angekommen, breitete sich ein laszives Lächeln auf Schuldigs Lippen aus und sie schoben sich zu einem überlegenden Schmollen zusammen, bevor seine Augen weiter hinaufglitten zu Rans Gesicht.

„Aber…in diesem Wasser sind alte Hautschüppchen von mir, Wundsekret und lauter Kräuter. Das ist nicht gut für dich, Ran, überleg es dir noch einmal!“
 

Eigentlich waren Aya diese Dinge recht egal, vollkommen eigentlich, denn ihn interessierte der Mann, der in diesen Kräutern und anderen Dingen schwamm. Nichts anderes. Dieser laszive Blick interessierte ihn, diese Augen, diese Lockung.

Er antwortete nicht, sondern kam ebenso in die Wanne und setzte sich rittlings auf Schuldigs Oberschenkel.

„Perfekt überlegt. Und nun…?“
 

Ein wirklich böses, berechnendes Lächeln breitete sich auf Schuldigs Gesicht aus und er blickte zu Ran auf. „Und nun… wäscht du mir den Rücken! Aber schön vorsichtig, ja?“

Er reichte Ran den weichen Lappen, den sie schon zuvor als vorsichtiges Mittel benutzt hatten um die verschorften Stellen zu betupfen.
 

Rücken waschen? Nachdem Schuldig ihn hier zu sich ins Wasser gelockt hatte?

Sicherlich.

Nein, wirklich. Sicherlich würde Aya Schuldig den Rücken waschen.

„Ganz vorsichtig“, bekräftigte der rothaarige Japaner und ließ den Lappen zur Vorbereitung schon mal über den ihm dargebotenen Brustkorb gleiten.
 

Stirnrunzelnd blickte Schuldig nach unten. „Das ist aber nicht mein Rücken, Ran“, klugscheißerte er und hob eine Braue. „Außerdem muss ich bald aus dem Wasser raus, weil das ja nicht gut ist, wenn die Wunden aufweichen, nicht?“ Oh, konnte er harmlos schauen. Wie ein Waisenjunge…

Über diesen Gedanken musste er plötzlich lauthals lachen. Seine Hände griffen fester nach Ran und er prustete und gackerte, sodass das Wasser um sie herum wogte.
 

Aya wusste nicht genau, was den anderen Mann so erheitert hatte, doch es machte ihm Freude, Schuldig so zu sehen, das Amüsement wiederkehren zu sehen. Denn Schuldig war immer der Verspieltere, der Lebenslustigere von ihnen beiden gewesen.

Er ließ sich fassen und mitbewegen, lächelte immer noch mit dem Lappen in der Hand.
 

Nur langsam bekam Schuldig sich wieder ein und lachte nurmehr leise an Rans Schulter.

„Ich denke wir verlegen das Rückenwaschen in die Dusche, was hältst du davon?“
 

Wenn sie überhaupt dazu kamen….zum Rückenwaschen…

„Bevor du mir ganz davonschmilzt, ja“, nickte Aya mit einem Lächeln und hauchte Schuldig einen Kuss auf das nasse Haar. „Ich kann nur so schlecht aufstehen und weiß nicht…wie man das beheben könnte.“
 

„Oh, ich hätte da schon eine Idee.“

Schuldigs Rechte schlich sich zu Rans Kehrseite, streifte den Spalt dazwischen und fasste Ran nah an seinen Schritt, nur um sich dann etwas auszubalancieren und aufzustehen. Er konnte nur hoffen, dass Ran sich festhielt, ansonsten würde das hier vielleicht unschön enden, denn er spürte ganz genau, dass er trainieren musste und seine Kraft war noch nicht wieder hergestellt. Ran war zwar schlank, aber weder zierlich noch klein und er hatte trotz seiner Schlankheit Muskeln und sollte von keinem unterschätzt werden, am allerwenigsten machte Schuldig das. Aber er konnte jetzt wohl kaum klein beigeben wenn er seinen Ran endlich wieder durch die Gegend schleppen durfte.
 

Das wusste Aya und hielt sich fest. Gleichzeitig jedoch schloss er die Augen um sich das Drama, was sich sicherlich gleich abspielen würde, nicht mit ansehen zu müssen. Und wenn sie sich das Genick brachen, dann hätte Crawford sicherlich schon angerufen um sie zu warnen, oder?

Nein… hätte er nicht, denn seine Visionen funktionierten nicht richtig.

Aya betete stumm, dass alles gut gehen würde, denn Schuldig war bei weitem noch nicht in der Lage, sich derlei Kraftanstrengungen dauernd zu unterziehen. Bald…. bald wieder, doch jetzt…

„Bist du dir sicher?“, fragte er ruhig.
 

So schwächlich war er jetzt nun auch wieder nicht, empörte sich Schuldigs Stolz und er nahm die zwei Stufen aus dem Becken mit Bravour. „Wenn du so ruhig wirst, ist das immer ein Zeichen davon, dass du der Sache nicht ganz traust. Oder hast du Angst, mein Kirschchen, dass ich mit dir auf dem Arm der Länge nach hinschlage?“, grinste er grimmig.
 

Genau das. Und dass sie sich beide an der Beckenkante das Genick brachen. Oder den Kopf einschlugen. Es gab vieles, was passieren konnte, sehr vieles. Doch Aya wusste erst seit jetzt, dass er angeblich so reagierte, wenn ihm etwas nicht geheuer war.

„Du machst das schon, du starker Mann!“, lächelte er nun doch und sah hoch.
 

Diesen Blick hielt Schuldig fest, bis sie in der Dusche angekommen waren und er Ran an die Wand pressen und ihn küssen konnte. Wie samtig und so wundervoll passend diese Lippen doch waren. Genießend schloss er die Augen und schmeckte Ran ausführlich, wollte ihn mit all seinen Sinnen aufnehmen.
 

Sie nahmen sich Zeit… viel Zeit um das zu erkunden, was sie kannten und doch jedes Mal wieder aufs Neue entdeckten. Aya kostete ebenso wie Schuldig, neckte ihn und lockte ihn zu sich.

Wenn es nach Aya ging, konnten sie hier sofort Sex haben…nach Ayas hormongesteuerter, ausgehungerter Seite. Die rational denkende wagte es, ihn auf Gleitcreme und Kondome hinzuweisen, die noch in der Tasche waren...und als letzten Hinderungsgrund auch auf Schuldigs Rücken.
 

Nach einer kleinen Weile löste sich Schuldig und betrachtete Rans Gesicht. „Dir ist kalt“, grinste Schuldig und schaltete mit der einen nun befreiten Hand die Dusche an, die sie zunächst mit einem kalten Schauer beglückte bis er sie warm drehen konnte. Er kroch schier in Ran hinein als der kalte Schwall Wasser über ihn kam. „Verdammt.“
 

„JETZT ist mit kalt“, grollte Aya und bibberte, harrte in Schuldigs Greifarm-Position schier wehrlos aus, bis sich das Wasser zumindest etwas aufheizte, doch da war es schon zu spät. Leicht zitternd hielt er den Blick des Telepathen durchaus mit Vorwurf darin…aber wie es schien, hatte nicht nur er Schnapsideen, sondern auch Schuldig.
 

„Sieh mich nicht so an, dafür kann ich ja wohl nichts“, murrte Schuldig und schob seine Lippen schmollend vor. Aber nichts desto trotz bot es sich jetzt umso mehr an Ran näher an sich zu kuscheln, zwecks Aufwärmung, verstand sich!

„Wird doch gleich wieder warm. Du kommst mir ja schon beinahe vor wie Nagi…“, schob er noch nach und umfasste Ran an der Taille.
 

„Richtig“, bestätigte Aya mit ironisch hochgezogener Augenbraue. Nur weil Schuldig sein Blumenkind mit eiskaltem Wasser goss, wurde eben dieses gleich mit Nagi verglichen, dessen Körperhaushalt vermutlich nie dazu geboren worden war, warm zu werden. Natürlich fror er im Winter auch, aber nicht so schnell.

Er räkelte sich und spannte die Muskeln in seinen Oberschenkeln an, um sich Schuldig etwas näher zu ziehen. Um ihn fühlen zu lassen, dass er durchaus angetan von dieser Position war.

„Kommen wir jetzt zur Sache?“, fragte er mit einem Lächeln.
 

„Ach ja!“, rief Schuldig erfreut aus und nickte dümmlich. Er ließ seine Hand von Rans Seite gleiten, sodass dessen Stütze nun fehlte, signalisierend, dass er ihn nun nicht mehr halten würde und Ran sich gar nicht so festzuklammern brauchte. „Den Lappen hast du ja noch, dann kanns ja losgehen, damit mein Rücken endlich von diesem Wasser hier wegkommt.“
 

„Genau….dein Rücken“, stimmte Aya diesem Ausruf bekräftigend zu und nickte nach etwas längerer Zeit. Schuldig verarschte ihn, schon die ganze Zeit, doch wer war Aya, dass er das nicht zu kontern wusste? „Los, dreh dich“, befahl er und wischte nun, wieder festen Boden unter den Füßen, unwirsch mit der Hand durch die Luft.
 

Und Schuldig folgte gehorsam mit einem schlussendlich leisen Lächeln. Klar wusste Ran, dass er ihn neckte, aber dafür würden sie hinterher umso mehr Spaß haben…

Er nahm seine nassen Haare nach vorne um Ran besseren Zugang zu verschaffen. „Hast du noch etwas von der Kräuterpaste? Die war wirklich nicht schlecht. Die Striemen spannen nicht mehr so und das Brennen hat auch nachgelassen“, sagte er leise. Es schien ihm als wäre dies ein intimerer Moment als den Sex den sie teilten, besser noch nicht teilten, denn ihre letzte Vereinigung lag schon ein paar Wochen zurück. Aber dieses Offenbaren seiner Schwäche, zuzulassen, dass Ran diese Schwäche umsorgte, sie in seine Hände hüllte…war als würde man an seinem nackten, blutigen Herzen raue bloße Hände lassen.
 

Und diese rauen, bloßen Hände waren vorsichtig, als sie nun mit dem Lappen vorsichtig über das geschundene Fleisch wischten und die letzten Rückstände aus der Badewanne entfernten.

„Ich habe noch sehr viel davon…die alte Frau hat schließlich vorgesorgt und mir gleich mehr davon mitgegeben. Aber man sieht, dass es gut getan hat…“, merkte er nachdenklich an.

Ein ‚Es sieht besser aus’ kam nicht über seine Lippen, da es das eben nicht tat. Es sah immer noch schlimm aus.

Als Aya fertig war, stellte er die Dusche ab und ging zu den Handtüchern, reichte Schuldig eines, damit dieser sich an der Vorderfront abtrocknete.

Er selbst nahm sich das zweite und fuhr sich ruppig über den eigenen Körper, der sich nun wieder etwas abgekühlt hatte. Knapp und präzise schlug Aya sich das Handtuch um die Hüfte und ging ins Schlafzimmer, wo er die Paste hatte.

Er wollte schnell damit fertig werden, damit Schuldig sich nicht lange damit herumschlagen musste, dass er ihn versorgte…dass er diese Verletzungen sah.
 

Dieser hatte sich auf einen der beiden Hocker gesetzt und wartete mit bedecktem Schoß, dass Ran zurückkam. Er hielt ihm ein kleines Handtuch hin, damit Ran die noch feuchten Stellen an seiner Rückfront zwischen den Striemen trocknen konnte. „Meinst du wir können die Pflaster weglassen? Sie nerven mich und es stört höllisch“, fragte er kleinlaut als Ran wieder zurückkam.
 

„Dann kannst du dich weder auf den Rücken legen, noch kannst du etwas anziehen…es sei denn, wir opfern einen Yukata“, erwiderte Aya und trocknete derweil Schuldigs Rücken ab. „Hinknien geht dann auch nicht, denn deine Kniekehlen müssen versorgt werden…ebenso wie dein Hintern.“ Er runzelte die Stirn. „Und deine Fersen…“

Er begann damit, die Paste aufzutragen und vorsichtig zu verreiben.
 

„Dann opfern wir eben einen“, kam es voller Verdruss zurück zu Ran. „Ich kann ja Socken anziehen…hab ich ohnehin an. Es juckt auch ohne die ziependen Pflaster und ich könnte mir die Haut langsam schon runterkratzen.“ Während Ran sich an seinem Rücken zu schaffen machte, kümmerte sich Schuldig um die eigenen nassen Haare, die er zwar in einen Zopf am Hinterkopf zusammengenommen hatte, die aber trotzdem beim Duschen teils entkommen waren und nun am unteren Teil nass waren. Er musste sie morgen sowieso waschen, aber heute hatte er keine Lust dazu. Heute hatte er Lust auf…etwas anderes…
 

„Wie du willst“, lachte Aya leise und platzierte einen kleinen Kuss auf den freigelegten Nacken. Selbst hier befand sich eine oberflächlich geschlagene Wunde. „Ich hole dir gleich einen, dann kannst du dich darin einwickeln…und die Socken gleich mit dazu.“ Es tat gut, dass sie hier über alltägliche Dinge sprachen und dass sie sich umeinander kümmerten…irgendwie.
 

Ja, das war eine prima Idee! Er konnte sich einwickeln und Ran nachher auswickeln! Hervorragend. So war das ein guter Plan. Yukatas waren wie Geschenkverpackungen, für ihn zumindest. Bunt, mit einem Haufen Wickelband und immer war Nettes darin verpackt.
 

Nichts von Schuldigs blasphemischen Gedanken ahnend - wie denn auch? - stromerte Aya ein weiteres Mal nackt durch das Haus und suchte Schuldig einen neuen Yukata und dicke, warme Wollsocken. Er brachte seine Beute mit ins Bad zurück und legte sie auf die Ablagefläche unweit von dem Telepathen. Er konnte die Vorfreude auf Schuldigs Gesicht lesen, konnte erahnen, was der andere wollte, doch der eigene Teufel in ihm hatte da andere Pläne…

Auch Aya nahm schließlich seinen Yukata auf und zog sich an. Endlich Wärme, stellte er erleichtert fest, auch wenn das nicht so ganz stimmte, wie er selbst zugeben musste.

Dank des Feuerholzes und der langsam warm laufenden Heizung war es im ganzen Haus angenehm temperiert…mollig warm. Es musste vermutlich nur am kurzen Schock des kalten Wasser gelegen haben, dass er nun fror.

„Wie wäre es, du legst dich hin und versuchst ein wenig Schlaf nachzuholen und ich lese noch etwas?“
 

„Jetzt schon?“ kam es von Schuldig und er wandte sich fast schon erschrocken um. „Es ist doch gerade einmal um …ich denke acht Uhr?“

Das war ja wie früher als Kind im Waisenhaus. Da hatte er auch umsonst gebettelt länger aufbleiben zu dürfen.

Schuldig band sich einen neuen Zopf am Hinterkopf und kam zu Ran.

„Haben wir noch etwas von dem guten, alten Sake übrig?“, lächelte er. „Dann schlaf ich sicher schnell ein.“
 

„Davon ist nichts mehr da… wir haben gestern alles ausgetrunken“, log Aya frei heraus und das auch noch glaubwürdig. „Aber ich kann dir einen Kräutertee machen, der beruhigend wirkt…damit wirst du sicherlich auch gut schlafen.“ Ayas Blick wanderte über den Yukata und er kam nicht umhin, die Kunstfertigkeit zu bewundern, mit der dieses Kleidungsstück erstellt worden war…mit welcher Liebe zum Detail…und wie sehr das Blau dem in Schuldigs Augen ähnelte.
 

Schuldig trat nun näher zu Ran, die Linke auf Rans Hintern klapsen lassend.

„Ah…da haben aber Lügen sehr lange aber hübsche Beine, was?“, grinste er diabolisch aber wissend und stolzierte fluchs erhobenen Hauptes in die Küche zum noch vorrätigen Sakebestand – wie er wusste.
 

Aya hob die rechte Augenbraue und zuckte dann mit den Schultern. Lächelnd machte er sich daran, das Badezimmer wieder aufzuräumen. So…Schuldig dachte also daran, sie beide mit Sake abzufüllen und dann wilden, leidenschaftlichen Sex mit ihm zu haben?

Darauf würde Schuldig sehr lange verzichten müssen…denn Rache war süß und Aya war schon immer jemand gewesen, der seine Rache besonders renitent verfolgt hatte.
 

Tja, da stand Schuldig nun in der Küche, samt wippenden Zopf und einer Flasche Sake und stellte sie schlussendlich wieder in das Schränkchen.

Was sollte er hier Sake trinken, wenn niemand mit ihm mit trank? Allein war das nun wirklich nicht sein Ding. Also fügte er sich in sein Schicksal – ohne Sake und trottete ganz der geschlagene Krieger ins Schlafzimmer, zuvor die Lichter löschend auf seinem Weg dorthin.
 

Da war aber jemand sehr artig heute…wo er doch gerade noch so elanreich den Sake hatte holen wollen um doch einen Versuch zu starten, sich zu betrinken.

Aya musste darüber grinsen und nahm sich tatsächlich den Gedichtband mit Haiku, den er in dem kleinen Laden erstanden hatte aus dem Wohnzimmer mit ins Schlafzimmer.

„Was freue ich mich auf einen gemütlichen Abend“, proklamierte er und ließ sich erschöpft auf die Matratze fallen…erschöpft vom Nichtstun.
 

Ja, einen gemütlichen, langweiligen, sterbensöden Abend, jammerte Schuldig in Gedanken.

Dennoch löschte er das große Licht, nachdem er Ran eine der kleinen Lampen nahe ans Bett gestellt hatte und setzte sich aufs Futon.

Er löste den Haargummi aus den Haaren und schüttelte sie etwas auf.

Immer noch feucht, murrte er nun doch, nicht wirklich begeistert von dem über ihm liegenden Kräuterduft. Jetzt hing der Geruch auch noch in seinen Haaren. Erst dann schlüpfte er unter die Decke und wandte sich Ran zu, um ihm beim Lesen zuzusehen und darüber vermutlich an elendiger Langeweile zugrunde zu gehen.
 

Aya war sich des Blicks wohl bewusst, ebenso wie dem Drama, das sich hier neben ihm abspielte…der qualvolle Niedergang des Telepathen an Langeweile. Während er hier las. Schlimm war das, schlimm von ihm, dass er sich erdreistete, Schuldig so zu ignorieren.

Doch Aya führte in aller Ruhe das fort, was er hier begonnen hatte…denn auch wenn seine Selbstbeherrschung zuweilen Schiffbruch erlitt, so war seine Geduld doch untergangssicher.
 

Die Minuten verrannen und Schuldigs Laune sank rapide. Seufzend drehte er sich um und sein Mund war ein einziges schmollendes stummes Lippenbekenntnis. Erst nach vielen langen Momenten brach er das Schweigen, nachdem er sich in seinem Selbstmitleid gesuhlt hatte.

„Warum musst du ausgerechnet dann plötzlich lesen, wenn ich dich spüren will, hmm?“, kam es frustriert aus der Decke heraus, nicht wirklich auf eine Antwort wartend.

Es war echt gemein. Wenn sie nicht vorhin im Wasser gewesen wären …alles kein Problem…aber jetzt, jetzt musste Ran ja lesen….
 

Eine rote Augenbraue erhob sich und violette Augen richteten sich auf den äußerst bedürftigen Mann an Ayas Seite.

„Aber du spürst mich doch…ich bin direkt neben dir!“, behauptete Aya frech und sein Blick sprach von einer Unschuld, die er vermutlich noch nicht einmal mit Namen nennen konnte.
 

Klasse. Jetzt wurde er schon die ganze Zeit verarscht … und das auch noch wenn er heute seinen Hintern herhalten wollte.

Das passte seinem Stolz so überhaupt nicht. Nicht wenn er sich innerlich dazu entschlossen hatte.

„Stimmt“, murmelte er und zog die Decke ein Stück höher.
 

Etwas Liebevolles stahl sich in Ayas Blick, als das Elend nun auch noch sein Antlitz vor ihm zu verbergen suchte…und ihn mit einer armen, bauschigen Kugel konfrontierte, die ihn anschuldigte, das böseste Übel zu sein, das es gab.

„Da schwebt ein ganz großes Aber über deinem Haupt…“
 

„Idiot“, kam es von Schuldig und er verengte die Augen. „Da gibt’s kein Aber.“

Gut, er schmollte…immer noch. Aber wenn Ran hier auch so blöd lesen musste.
 

„Nicht? Dann kann ich ja weiter lesen, wenn du damit zufrieden bist…“ Nun hatte Ayas Grinsen etwas durchaus stygisches, wie er selbst zugeben musste. Schuldig hatte ihn in der Dusche auf den Arm genommen und das hier spiegelte sich jetzt… „Oder habe ich da etwa etwas falsch verstanden?“
 

„Nein, was gibt’s da falsch zu verstehen? Du liest, ich schlafe, ist doch alles klar.“

Schuldig seufzte und gab auf. Ran machte die Retourkutsche Spaß, ihm nicht. Ganz im Gegenteil. Er war eben momentan noch nicht für diese Späße wie sie sie früher zu genüge gespielt hatten aufgelegt, wie es schien. Das frustrierte ihn selbst.

Ach was solls, dachte er sich innerlich achselzuckend. Dann eben morgen! Morgen war auch noch ein Tag.
 

Aya merkte es…wie konnte er es auch nicht anhand des Tons in der Stimme? Er legte den Kopf schief und lächelte, während er Schuldig eine seiner Feuersträhnen aus dem Gesicht strich. „Wer ein Spiel anfängt muss auch damit rechnen, dass der Ball zurückgespielt wird, mein Lieber…“, entgegnete Aya der abgewandten, schmollenden Gestalt und zupfte an besagter Strähne.
 

Schuldig stob förmlich missgelaunt auf und wandte sich zu Ran um. Blau und Grün konkurrierten um die Vorherrschaft in den blitzenden Iriden.

„Ja sicher, nur weil ich nicht in der Dusche von dir gepoppt werden und das ganze etwas netter wollte?“ Er schnaubte und pflückte sich die Decke vom Körper.

Pah, er würde sich doch den Sake holen, sich voll laufen lassen und dann wäre alles kein Problem mehr! Schon gleich gar nicht sein Stolz, der gerade flöten gegangen war.

Er verließ das Schlafzimmer mit grimmiger Entschlossenheit Richtung Küche.

Das war es also gewesen…

Aya atmete tief ein und klappte langsam den Haiku-Band zu. Er glaubte zu wissen, was Schuldig nun so hatte reagieren lassen und nickte für sich. Da hatten sie beide sich wohl falsch verstanden, denn zumindest Aya hatte sich in der Dusche darauf eingestellt, dass er es sein würde, der unten lag, nicht Schuldig.

Er verharrte still und lauschte den Geräuschen aus der Küche, blieb jedoch hier. Entweder, Schuldig wäre sauer…aus verletztem Stolz, dass er ihn in seiner Absicht, unten zu liegen, abgewiesen hatte, und würde erst einmal nicht wiederkommen oder er kam zurück und sie würden darüber reden. Wenn Schuldig nicht reden wollte, dann würde Aya ihm diesen Freiraum lassen. Genau aus dem Grund blieb er auch nun hier sitzen, legte das Buch zur Seite und ließ sich zurückfallen auf die Matratze.
 

Schuldig stand mit verschränkten Armen neben dem Herd samt sich erwärmenden Sake und starrte vor sich hin. Warum musste Ran alles so verkomplizieren…?

Über diesen und viele andere natürlich seinem Trotz geschuldeteten Gedanken füllte er den Sake in die kleine Karaffe und stellte zwei Trinkbecher dazu, falls Ran der Abstinenzler, wie Schuldig ihn bösartigerweise in Gedanken bezeichnete wider Erwarten doch Sake wollte.

So ging er ins Schlafzimmer zurück und stellte das kleine Tablett auf den Boden ab, Ran mit einem neutralen Gesichtsausdruck betrachtend, während er das tat.
 

Aya erwiderte diesen Blick schweigend und sah auf das Angebot in Form von zwei Sakebechern. Er wusste, dass sich Schuldig auch sonst nicht scheute, die Wahrheit zu sagen und dass es dieses Mal keinesfalls etwas zu tun gehabt hatte, dass der andere Mann es in irgendeiner Art und Weise hatte nett ausdrücken wollen. Es war der Stolz gewesen…müßig aber, noch weiter darüber nachzudenken.

Aya streckte Schuldig seine Hand entgegen. „Komm her“, befahl er sanft.
 

Und Schuldig kam…allerdings mit einem gefüllten Sakebecher, den er Ran reichte. Er selbst setzte sich in den Schneidersitz und nahm einen Schluck des warmen Getränks, fühlte sich danach gleich wohler, als hätte er alles Negative damit weggespült.
 

Aya hatte diese Geste wohl verstanden, sagte aber nichts dazu. Schuldig hatte sich ihm verweigert, ihm nur den Reiswein gegeben, den Aya komplett hinunterstürzte, bevor er den Becher an seiner Seite abstellte. Das machte die Sache, das Gefühl in seinem Inneren allerdings nicht besser, eher schlimmer und sein Blick ruhte auf dem ältlichen Einband des Buches. Sie waren vom Spiel auf eine ernste Ebene abgeglitten und Schuldig hatte sich ihm verweigert. Wie so oft im Traum auch schon…nur dass er sich im Traum verweigert hatte, zurück zu kommen, wieder zu leben.

Aya durchfuhr anhand dieser Erinnerungen, der Gedankenbilder, ein stechender Schmerz. Müde fuhr er sich über die Augen, als könne er diese Eindrücke dadurch vertreiben, doch dem war nicht so. Sie waren da. Eingebrannt.
 

Schuldig schüttete den nächsten Sakebecher seine Kehle hinunter bevor er den Becher zurück zur Karaffe stellte. Er hatte während seines Trinkens diese unbeachtete Geste von Ran gesehen, die er selten ausführte. Außer wenn es ihm emotional nicht gut ging.

Da Schuldig nun beide Hände frei hatte, legte er sich zur Seite um, mit dem Kopf auf Rans Bauch und blickte nach oben zu seinem Ran.
 

Aya erwiderte diesen Blick und lächelte nach ein paar Augenblicken schwach, nicht wirklich überzeugend. Er wusste, dass er sich freuen sollte, dass Schuldig wieder da war…und das tat er auch ohne Zweifel, doch das tilgte die zwei Wochen nicht… die Angst, dass nochmal etwas geschehen würde.
 

„Was ist?“

Schuldigs Stimme war leicht belegt, fast schlafesschwer, doch das war es nicht, es war eher die Stille, ihre Nähe die sie beschwerte.

„Bist du sauer?“
 

„Nein…ich habe mich nur erinnert“, sagte Aya, als wenn das alles erklären würde, als wenn Schuldig nun wüsste, was er meinte.

„An die Zeit davor.“ Wie feige er doch war, selbst das nicht auszusprechen, nicht auszusprechen, dass er an die Zeit gedacht hatte, in der Schuldig noch als tot gegolten hatte.

„Du hast mich auf den Arm genommen, ich habe es bei dir getan und sieh, was dabei herauskommt.“ Mehr zu sich als zu Schuldig schnaubte Aya bitter auf.
 

Schuldig erhob sich etwas und kam auf alle Viere, sodass er Ran genau in die Augen sehen konnte, so stupste er Rans Nase mit seiner eigenen auffordernd an.

„Hey, komm schon. Ich wollte dich nur necken und uns einen schönen Abend bescheren, aber dort war es so ungemütlich, Ran. Und du wolltest es mir heimzahlen. Na …wer wären wir denn, wenn wir da nicht mit harten Bandagen kämpften? Weicheier, oder? Aber das sind wir ja nicht, wir tapferen Recken, kämpfen bis auf den letzten Blutstropfen um unsere Narrenehre, hmm?“ Schuldig zog ein heldenhaftes Gesicht.
 

Es tat gut, dass Schuldig nicht auf seine Worte einging, dass er mit Humor an die Sache heranging. Es brachte Aya weg von dieser dunklen Masse, die immer noch in ihm lauerte.

„Ich liebe dich, Schuldig“, sagte er in aller Ernsthaftigkeit und völlig aus dem Kontext gegriffen, doch es war das, was er genau in diesem Moment für den anderen Mann fühlte. Nicht mehr, nicht weniger.
 

Das brachte Schuldig nun endgültig zum Einbruch. Er plumpste mit seinem Hintern auf Rans Oberschenkel und verzog seine Lippen zu einem breiten aber liebevollen, geradezu liebestollen Lausbubenlächeln.

„Ran…Ran…da versuche ich zu deiner Spaßseite zu sprechen und was machst du…? Du schickst den Ernst vor…so wird das nichts mein Lieber…mein Liebster, hmm?“, setzte er weicher, ernster hinzu und berührte so zart, fast nur einem Hauch des Windes gleich Rans Lippen, spitzte dabei in die ernst blickenden Augen mit seinen aufgewühlten, lächelnden Blick. „Alles wird gut“, wisperte er an die Lippen.
 

„Ja…ja, das wird es“, bestätigte Aya. Er wollte daran glauben und würde das auch tun…doch jetzt war noch Vorsicht in ihm. Doch auch er musste lächeln und er umschmeichelte Schuldigs Lippen mit seinen… anstelle einer Antwort. Ja, es würde alles gut werden…
 

„Wir sind nicht nur Meister im Necken, sondern auch im…Honig um unsere Mäulchen schmieren, nicht?“

Schuldig haschte daraufhin beherzter nach Rans Lippen, drang beinahe sofort zwischen die Lippen, als würde er ihn einnehmen wollen und nie wieder hergeben, gänzlich gegensätzlich zu seinen neckenden Worten.
 

Eingedenk Schuldigs Verletzungen zog Aya den Telepathen vorsichtig, aber fest an sich und erwiderte den Kuss ebenso leidenschaftlich. Nicht nachdenken, handeln…das war es. Einfach fühlen und handeln…nichts weiter.

„Nicht nur Honig…“, murmelte er schließlich, versiegelte Schuldigs Lippen gleich darauf wieder, als ob er sich nicht die kleinste Gelegenheit entgehen lassen dürfte.

Herr Schuldig hat keinen Vornamen

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Fieberträume…stürmische Träume

~ Fieberträume…stürmische Träume ~
 


 


 

Aua!, wollte Schuldig lautstark, anklagend aufbegehren und streifte sich die lose Strähne, die aus seinem Zopf entkommen war sicherheitshalber hinters Ohr. Nicht, dass Ran noch einmal in Versuchung geführt wurde, ihm ein Leid anzutun.

Leider kam nur ein Murren heraus, anstatt des verbalen Protestes.

Sich eine der Birnenhälften betrachtend, stahl sich Schuldigs Hand zu eben derer und pflückte sich eine vom Teller. Er hatte keinen Hunger, aber irgendetwas musste heute noch in seinen Magen. Ein Stückchen abnagend, kaute er es und schluckte es schließlich hinunter. So schlecht schmeckte es gar nicht und es zeigte ihm, dass es gar nicht so schlimm werden würde, denn schließlich schmeckte er wenigstens noch etwas.
 

Oh je, da war aber jemand ganz krank…wirklich sehr krank, wenn er schon indigniert auf jegliche Verletzung seines Schutzkreises reagierte.

Und wie er leidend das ihm vorgesetzte Obst aß, das Aya ein paar Tage zuvor in dem kleinen Laden hatte erstehen können. Doch…wenigstens aß er etwas und stellte sich nicht so quer, wie Aya selbst es immer tat. Etwas, das besagter Japaner ihm hoch anrechnete.

„Man könnte auch versuchen, einen Birnenstrudel zu backen“, sinniert Aya schließlich, den Blick sezierend auf den Stücken, die zwischen Schuldigs Beißerchen verschwanden.
 

„Warum nicht…“, stimmte Schuldig zu. „Müsste eigentlich gehen, denke ich. Zumindest glaube ich das…aber das kannst du ja ausprobieren oder? Ich stelle mich als Tester zur Verfügung!“ Schuldig schnappte sich das nächste Stück Birne und begann es mit Mäusebissen zu vertilgen.
 

„Wenn du noch weniger isst, wird sich dein Magen bald fragen, wieso er immer die Ansage bekommt, dass etwas kommen könnte und sich beschweren, dass dann doch nichts auf dem Weg nach unten ist“, schmunzelte Aya. „Wenn du die Birnen schon nicht in ihrer Reinform isst…wie wird das dann erst mit diesem Strudel werden?“
 

„Das ist doch was ganz anderes“, winkte Schuldig ab. „Außerdem habe ich gestern viel gegessen, da habe ich heute nicht so viel Hunger, ist doch klar.“
 

„Du hast immer Hunger“, stellte Aya die Gegenthese auf und sah fachmännisch auf den Esstisch.

„Außerdem hatten wir die ganze Nacht Sex…“ Deswegen hatte ER heute Morgen auch zwei Kissen und nicht nur eins wie Schuldig.

„Danach kannst du immer essen wie drei.“
 

„Dann esse ich später, ich bin viel zu müde zum Essen.“ Dennoch griff Schuldig demonstrativ zum Gemüse und vertilgte es sogleich. Er würde etwas essen, weil er wusste, dass es nicht besser werden würde, wenn er nichts aß. Aber wenn er wirklich krank werden würde…dann würde ihm das Zeug hier ordentlich schwer im Magen liegen.
 

Youji hatte Aya einmal penetrant genannt, Omi hatte das Gleiche über ihn behauptet. Ken hatte ihn mal aus seinem Zimmer geschmissen, als er versucht hatte, sich um sein krankes Team zu kümmern. Alles undankbare Wesen, wenn sie krank waren, befand Aya und wusste, dass er es bei Schuldig nicht durchgehen lassen würde, wenn dieser sich gegen seine Pflege wehrte.

„Dann schlaf doch noch, Schu“, schlug er liebevoll vor. „Bist du wieder wach bist, habe ich dir ein leckeres Essen gekocht, das du dann essen kannst.“ Das ‚kannst’ war zwar kein richtiges Können, sondern eher ein Werden, aber das verschwieg Aya…
 

Schuldig hörte die feinen leisen Töne zwischen den Worten und die eher in Rans Blick lagen, als er aufsah und die Braue hob. „Mal sehen“, verzog Schuldig den Mund.

„Nur wenn’s was total Leckeres ist“ Und da würde auch Rans Unerbittlichkeit nichts ausrichten können. Er kannte schließlich seinen Ranchan nun doch ein wenig…
 

„Dann werde ich etwas total Leckeres kochen“, entgegnete Aya mit einem herausfordernden Lächeln, das nur so von Sicherheit strotzte. Denn er wusste, dass sein Essen lecker sein würde…und dass es Schuldig schmeckte, auch wenn dieser dann das Gegenteil behaupten mochte…doch das würde er ihm nicht durchgehen lassen. Ganz bestimmt nicht.
 

Ja, hier wurde mit harten Bandagen gekämpft. Doch Schuldig hielt sich eher an seinem Tee fest als an dem Gemüse oder dem Obst.

„Ich glaube ich geh dann mal wieder, machst du mir noch einen Tee für später?“, fragte er, während er aufstand.
 

„Gerne, Schu“, lächelte Aya, liebevoller in der Tonlage, als er es bei seinem Team gewesen war…doch Schuldig war etwas anderes. Er war subtiler zu beeinflussen…Aya war froh, dass besagter Telepath im Moment seine Gedanken nicht lesen konnte, da er schon an einem Schlachtplan arbeitete, wie er sein Ziel erreichen konnte.

„Ruh dich etwas aus und wenn du wieder aufstehst, wirst du sicherlich Hunger haben.“
 

Das ging doch alles nicht mit rechten Dingen zu, dachte Schuldig und warf einen skeptischen Blick auf den harmlosen, gut aussehenden Buddha, der dort noch am Tisch saß und vor sich hinlächelte.

Als wenn Ran nicht was im Schilde führen würde…

Doch er sparte sich jeden weiteren Gedanken an mögliche, gut gemeinte Vitaminattacken des rothaarigen Japaners und verzog sich samt seiner Tasse Tee ins Schlafzimmer zurück.

Er schlüpfte samt seines frischen Yukatas, der zum Schlafen vorgesehen war, ins Bett und spürte sogleich, wie sein Körper es ihm mit einem wohligen Gefühl dankte. Das war schon besser…viel besser.
 

Nachdem Aya das tägliche Ritual aus abwaschen, aufräumen und einen weiteren Bereich des Hauses auf Vordermann bringen hinter sich gebracht und sich schließlich um sein eigenes, leibliches Wohl in Form von einem ausgiebigem Bad gesorgt hatte, stand er wenig schlüssig im Schlafzimmer und sah Schuldig beim Schlafen zu.

Er müsste wirklich dringend ins Dorf und Kräuter besorgen, auch noch ein paar andere Lebensmittel, doch den anderen Mann nun hier alleine lassen? Er hielt es für wenig ratsam, besonders, wenn Schuldig schlief. Oder wenn er krank war. Oder wenn er selbst nicht dabei war.
 

Das alte Dilemma.
 

Aya wollte Schuldig um nichts in der Welt alleine lassen…doch er wusste, dass es wichtig war, diese Dinge zu erledigen. Vernunft oder Angst? Was wog mehr in diesem Augenblick? Es war die Angst, das wusste Aya, doch es gab da eine kleine, nagende Stimme, die ihn nach draußen treiben wollte, die Stimme des Anführers, des Rationalisten, des Killers, der Prioritäten setzte. Und was nutzte er hier Schuldig als aufmerksamer Wächter, wenn er für den anderen nicht die richtigen Kräuter oder Medikamente da hatte?
 

Sich tief in den wärmenden Yukata vergrabend, obwohl es eigentlich nicht mehr kalt war, sinnierte er über dieses Gefühl und stieß sich schließlich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte.
 

Gut, würde er also ins Dorf fahren.
 

Währenddessen schlief Schuldig tief und fest und war sich der schweren Entscheidung, die Ran wegen seiner zu treffen hatte, ganz und gar nicht bewusst. Nur selten wachte er auf um einen Schluck des mittlerweile kalten Tees zu sich zu nehmen, der ihm wie kühlendes Labsal in seiner trockenen und schmerzenden Kehle erschien.
 

o~
 

Misumi Kazukawa holte die frischen Rinden von der Trockenstange und begann sie zu schälen um sie dann zu kochen. Auf dem Herd siedete bereits das Wasser dafür. Als sie die ersten Rinden hineingab, vernahm sie, wie jemand den kleinen Laden betrat und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
 

Aya hörte die alte Frau im hinteren Teil des Ladens, der durch einen Vorhang halb abgetrennt war, doch er sah sie nicht. Es roch nach scharfen Kräutern, nach schwerem, leicht bitterem Tee und er schnupperte mit einem Lächeln auf den Lippen. Es faszinierte ihn immer noch, dass es solche Dinge noch gab und nicht alles von der modernen Gesellschaft verschluckt worden war.

„Guten Tag!“, rief er verspätet in die Einsamkeit hinein und sah sich mit interessiertem, neugierigem Blick um.
 

Die Stärke der Hitzezufuhr am Herd auf ein Minimum reduzierend, ging Misumi in den Verkaufsteil des Ladens und schob somit den Vorhang beiseite.

„Guten Tag“, nickte sie und ihre Augen lächelten dem jungen Mann zu. „Ah, der junge Herr! Wie geht es Ihrer Frau? Sind die Wunden schon besser?“
 

Aya deutete eine leichte Verbeugung an und erwiderte mit seinen Lippen die Geste der alten Frau. „Sehr viel besser! Die Linderung war schon am nächsten Tag zu sehen. Vielen Dank dafür noch einmal!“ Ihm wurde bewusst, dass er den Namen der Frau nicht kannte…ebenso wie sie seinen nicht.

„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Fujimiya“, nickte er, auch wenn tief in ihm etwas darauf aufmerksam machte, dass er nicht so vertrauensselig sein sollte. Es waren schließlich Fremde hier…doch Fremde, mit denen er auf die Dauer auskommen wollte.
 

„Schön. Wie schön“, nickte die alte Misumi und ließ ihren Blick unauffällig über den jungen Mann streifen. „Dieses Haus gehört der Kazukawa Familie. Wir leben schon lange hier. Und ich bin Misumi Kazukawa. Das Geschäft im Ort gehört meiner Tochter, früher habe ich es einmal geführt.“ Misumi lächelte leicht. „Aber…wie kann ich Ihnen helfen?“
 

„Die Dame dort ist Ihre Tochter?“, fragte Aya verwundert nach. Das hätte er nicht gedacht…und das warf die Frage auf, wie alt diese Frau hier vor ihm wirklich war. Er hatte ja schon ihre Tochter als recht alt eingeschätzt.

Sich auf die zweite Frage besinnend, seufzte er vernehmlich.

„Ich bin hier, weil sich das nächste Problem einstellt, Kazukawa-san. Haben Sie ein Mittel gegen eine kommende, schwere Erkältung? Vielleicht auch Grippe?“
 

„Hmm, lassen Sie mich überlegen…“ Misumi fasste den jungen Mann wieder scharf ins Auge, bevor sie sich umwandte um in einem der schmalen Schränke zu ihrer linken Seite, etwas zu suchen. Sie fand nicht gleich was sie suchte und musste einen Schemel heranziehen, tat dies mit ihrem Fuß.

Nach wenigen Minuten in denen sie ein Päckchen heranzog und es nahe an ihre mit einer Sehhilfe unterstützten Augen hielt, stieg sie herab und kam an die Theke.

„Das hilft dem Körper, wenn das Fieber hoch ist. Alle drei bis vier Stunden eine Tasse trinken. Ich mische es mit anderen Zutaten. Einen Moment.“ Misumi verschwand mit dem Päckchen im hinteren Teil des Ladens und begann verschiedene Kräuter abzuwiegen und eine Mischung daraus zu machen.
 

Aya sah ihr lächelnd hinterher und ließ seine Gedanken zu einer ihrer ersten Fragen zurückschweifen. Er hatte nicht verneint, dass seine Frau krank war. Schuldig würde ihn dafür umbringen. Was Kazukawa-san erst denken würde, wenn sie Schuldigs ansichtig wurde, wollte er gar nicht wissen. Und das alles nur, weil er keine Aufmerksamkeit erregen wollte.

Grübelnd sah er sich in dem Laden um und fand so einiges, das er noch aus seinen Kindertagen kannte. Damals hatte er sich mit den Jungs immer zur wunderlichen Tante geschlichen, wenn sie Bonbons aus süßem Reis und Früchten gemacht hatte. Frisch natürlich, sodass sie es schon von weitem rochen. Eins für jeden von ihnen und dann konnte die Lausbubenbande wieder von dannen ziehen. So hatten sie die Alten immer genannt, auch wenn Aya es nicht recht verstanden hatte. So schlimm waren sie nicht gewesen. Oder?
 

Misumi machte sich ihre eigenen Gedanken, die eher in Richtung ihrer Tätigkeit gingen. Obwohl sie schon vermutete, dass das halbe Dorf wohl mehr als neugierig auf den jungen Mann und seine Familie war. Allen voran ihre Tochter. Sie mochte wetten, dass wenn sie heute noch zu Abend aßen und Misumi wie nebenbei verlauten ließ, dass der junge Mann bei ihr gewesen war, sie die Aufmerksamkeit der gesamten Familie hatte.

Ein berechnendes Lächeln weiter gab sie die abgewogenen Kräuter in eine Packung zusammen und verschloss sie sorgfältig. Damit ging sie langsam in den Laden zurück. „Sind es denn die Kinder? Vertragen sie das Klima nicht dort oben im Haus?“ Nicht dass der junge Mann besser einen Arzt holte.
 

„Den Großen hat es erwischt. Ein Rabauke, sage ich Ihnen. Macht den ganzen Tag nur Unsinn und wehe, wenn ich nicht da bin. Ich kann ihn eigentlich keine Sekunde aus den Augen lassen“, half sich Aya mit einer weiteren, KLEINEN Notlüge aus. Sehr klein…hoffentlich verzieh sie ihm, wenn sie des Kleinen ansichtig wurde.

„Das Klima ist wunderbar…es war nur etwas anstrengend die letzten Wochen und nun schlägt sich das natürlich nieder.“ Wenigstens war das die Wahrheit.
 

„Ah…vielleicht wäre es doch besser dann, wenn Sie zu einem Arzt fahren würden…bei Kindern kann es durchaus auch etwas anderes sein, als eine bloße Erkältung. Und in den nächsten Tagen steht schlechtes Wetter an. Ein Sturm zieht in unsere Richtung.“

Misumi holte noch zwei Tees und legte sie dazu. „Der hier…“ sie hob nacheinander die Packungen hoch. „Ist um das Fieber zu mildern und der hier ist für Umschläge und Waschungen. Damit geht das Fieber zeitweise herunter und es stärkt den Leib. Wenn es eine wirkliche Grippe ist, dann dauert es wirklich ein paar Tage bis sie vorbeigeht. Auf den Packungen stehen die Anleitungen für Tee und Umschläge oder Waschung.“ Sie klebte entsprechende Zettel auf die Packungen.
 

„Vielen Dank!“

Aya ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Ein Sturm würde aufziehen? Das bedeutete hier sicherlich etwas anderes als in Tokyo, wo sie durch die Masse der Häuser doch noch recht gut geschützt waren. Aber hier, auf dem Land und dazu dann noch oben auf dem Berg, konnten sie vermutlich froh sein, wenn ihnen das Dach über dem Kopf nicht wegflog.

Nun gut, vielleicht malte er auch etwas zu sehr schwarz, befand Aya.

Was aber blieb, war das Problem mit Schuldig. Es war gut möglich, dass er einen Arzt brauchte.

„Haben Sie die Adresse des Arztes?“, fragte er, nur um sicherzugehen, dass er einen Anlaufpunkt hatte.
 

„Ich werde sie Ihnen aufschreiben, aber er wohnt 40 Kilometer von hier weg. Wir wohnen leider etwas abseits, Fujimiya-san. Das hat seine Vorteile…“, sie lachte leise, während sie sich umwandte und aus einer Schublade einen Zettel herausfischte. „…aber auch Nachteile.“ Sie nickte wie in Gedanken versunken und reichte dem jungen Mann die Adresse.

„Wenn es stürmt und die Wege voller Wasser und Schlamm sind, wird es selbst für den Arzt eine Unmöglichkeit sein, in angemessener Zeit zu Ihnen zu gelangen.“
 

„Das ist wohl wahr…“, erwiderte Aya und musste sich eingestehen, dass ihm das ganz und gar nicht passte. Was, wenn es Schuldig bis dahin schlechter ging?

„Ich werde es erst einmal mit Ihren Kräutern versuchen. Bisher hört es sich noch nicht so schlimm an, wissen Sie?“ Auch wenn eine kleine Stimme in ihm wütend dagegenhielt, dass er maßlos untertrieb, doch diese Stimme schrieb er der Überbesorgnis zu.
 

„Ein junger Körper mag einiges wegstecken, das Fieber kann bei Kindern hoch steigen, aber das wissen Sie sicher, Fujimiya-san.“ Sie nickte lächelnd und verpackte alles mit schnellen, geübten Handgriffen in eine Papierumantelung.

„Kommen Sie in zwei, drei Tagen wieder, ich werde dann einen guten Sud zur Stärkung bereitmachen, wenn Sie wünschen.“
 

„Gerne, Kazukawa-san. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen für Ihre Hilfe danken soll“, verfiel Aya mit Leichtigkeit in die japanische Höflichkeit, die er in seinen Jahren bei und vor Weiß nach dem Tode seiner Eltern gänzlich verloren hatte. Doch hier schienen alte Kenntnis wie selbstverständlich präsent zu sein…so als würde er ewig hier leben…als wäre er nie nach Tokyo gegangen. Zumindest hatte Aya in diesem Moment das Gefühl, denn im gleichen Atemzug wusste er auch, dass er noch viel daran arbeiten musste, eben diese Kenntnisse nicht zu verlieren.
 

„Indem Ihre Familie wieder gesund wird, Fujimiya-san“, winkte Misumi lächelnd ab und verneigte sich leicht.

Ein ungewöhnlicher junger Mann, wie Misumi befand. Sie war gespannt, was ihre Tochter wieder interessieren würde – im speziellen.

Ihre wissenden, tief liegenden Augen nahm jede Einzelheit in dem rothaarigen Mann auf. Vor allem dessen ruhige, aber seltsam verborgene Aura.
 

„Das verspreche ich Ihnen gerne“, lächelte Aya in den schier inquisitorischen Blick hinein, der geradewegs bis tief in sein Innerstes zu gehen schien. So als würde gegen Kazukawa-san jegliche Möglichkeit des Versteckens oder einer Maske unnütz sein, da sie alles durchschaute.

Und das bei ihm…sein Team war jahrelang nicht zu ihm durchgedrungen und emotional offen war er erst, seitdem er Schuldig hatte. War das der Grund?

Aya bezahlte und griff sich das Päckchen, das für Schuldig gedacht war.

„Ich werde mich dann wieder auf den Weg nach oben machen, ich möchte meine Familie schließlich nicht zu lange alleine lassen“, sagte er höflich und verbeugte sich mit einem Lächeln. Er musste noch Lebensmittel besorgen, mehr als gedacht, wenn nun auch noch ein Sturm aufziehen würde. Zumal er Schuldig, sollten dessen Grippeviren es immer noch nicht vorgezogen haben, sich von alleine aus dem Staub zu machen, mit Vitamin C bombardieren musste.

Und Hühnersuppe. Die vor allen Dingen.
 

Ein Nicken und er hatte samt seiner wertvollen Beute den Laden verlassen, während er mit Selbstironie und Humor das zu überspielen versuchte, was ihm jetzt schon ernstliche Sorgen bereitete: dass Schuldigs Gesundheitszustand vielleicht doch schlimm wurde.
 

o~
 

Es war ätzend.

Wirklich ätzend.

Viel zu kalt und viel zu wenig Decken da um ihn zu wärmen. So konnte er beim besten Willen nicht schlafen.

Wieder wälzte sich Schuldig herum, raffte die beiden Decken um sich herum und rollte sich leicht zusammen. Unbequemer war es, aber vielleicht wärmer.

Er horchte auf die Geräusche, hörte seinem eigenen Atem nach und auch den Bäumen, die im Wind gegen das Dach wischten.
 

Als Aya auch die letzte Stufe erklommen hatte zum Haus, stellte er mit einem schweren Seufzen die Tüte ab und atmete tief ein. Er war nie schwach gewesen, besonders in den letzten Jahren nicht, doch die Abstinenz vom täglichen Training mit seinem Katana machte sich nun bemerkbar und ließ ihn mit dem festen Vorsatz zurück, sich in Tokyo sein Katana aus dem Koneko zu holen und das Training wieder aufzunehmen. Sowohl körperlich als auch strategisch keine schlecht Entscheidung, da er ebenso bedenken musste, dass sie womöglich angegriffen werden konnten.

Grimmig nahm Aya die Tüten wieder auf und betrat das Haus, lauschte zunächst wachsam in die Stille, in der sich langsam das Plätschern der Dusche herauskristallisierte.

Er brachte die Tüten in die Küche und machte sich dann auf die Suche nach dem anderen Bewohner. Aya fand ihn schließlich im Badezimmer, wie er auf dem Boden der Dusche saß, klatschnass und die Schwaden warmen Wassers um sich herumdampfend.

Anscheinend war Schuldig ganz in sich selbst versunken, so ließ sich Aya Zeit, sich an den Türrahmen zu lehnen und den anderen Mann einfach zu beobachten.
 

Die Wärme war gut, zumindest am Anfang war sie gut gewesen, als Schuldig zitternd darunter gestiegen war. Aber jetzt…jetzt fühlte er sich seltsam kraftlos. Er wäre am liebsten auf der Stelle eingeschlafen, aber da war noch die Sache mit dem Aufstehen, dem Abtrocknen, dem Ankleiden und ganz generell die Sache mit dem Augen aufmachen.

Am besten er blieb einfach hier sitzen, bis sein Retter in weißer Rüstung zurückkam und ihn errettete.
 

Dass diesem besagten weißen Ritter nun aber bewusst wurde, dass es nicht gut sein konnte, im geschwächten Zustand apathisch in der Dusche zu sitzen, wurde Schuldig spätestens dann bewusst, als Aya sich damit bemerkbar machte, dass er den warmen Wasserstrahl ausstellte und vor dem anderen in die Hocke ging.

„Hey, Schlafmütze“, sagte er sanft und strich Schuldig über das warme Gesicht. Zu warm. „Lange duschen ist nicht gut für den Patienten!“
 

Schon als er die Bewegung hörte und die Dusche abgestellt wurde öffnete Schuldig die Augen und folgte Ran mit selbigen, als dieser in die Hocke ging.

„Hey“, lächelte Schuldig sich nicht wirklich rührend. „Mir war kalt. Hast du alles bekommen?“ Schuldig fröstelte leicht über den sanften Windzug, den er spürte und der offenbar durch die offene Tür und das Fenster zog.
 

„Alles, was dich wieder auf die Beine bringt“, nickte Aya und platzierte einen liebevollen Kuss auf die trotz allem blasse Nase. „Wie wäre es, du trocknest dich ab und ziehst dich erst einmal wieder warm an, während ich die Sachen einräume. Danach…werde ich dann mal sehen, ob ich dich nicht warm bekomme?“
 

„Hmm“, gab Schuldig nur zurück und seine Mundwinkel hingen nach unten. „Ich fühl mich scheiße“, zog er die Brauen zusammen und verzog den Mund bedauernd.

„Und das jetzt, wo wir ausspannen wollten.“
 

„Ist doch ganz logisch. Dein Immunsystem will mit dir ausspannen“, schmunzelte Aya und erhob sich, holte zwei der großen Handtücher heran. „Es hat die letzten Wochen eben auch zuviel gearbeitet und ist nun ganz weit unten im Süden.“ Einer seiner Finger krabbelte über den allzu flachen Bauch. „…um es sich dort gut gehen zu lassen.“ Aya schlang das erste Handtuch um Schuldigs Kopf, das zweite hielt er noch innerlich diskutierend in der Hand. Sollte er, sollte er nicht?
 

Schuldigs bereits wieder kühle Hand nahm Ran das Handtuch aus den Händen und reichte ihm die Hand. „Hilfst du mir hoch?“ Er war sich nicht ganz sicher, ob diese Idee mit dem Duschen so eine gute von ihm gewesen war. „Ich muss mich hinlegen. Ich…lass das mit dem Abtrocknen…das kann ich später noch…ich will mich hinlegen.“
 

Aya nahm die ihm dargebotene Hand und platzierte einen liebevollen Kuss darauf, bevor er jedoch mit einem grimmigen Lächeln Schuldig das Handtuch wieder und schüttelte streng den Kopf.

„Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich hier nass aufstehen lasse, damit du dich nass ins Bett legst und dir gleich noch einen Infekt einfängst?“, grollte er und hatte sich währenddessen daran gemacht, Schuldig nun von sich aus abzutrocknen - ohne Gnade, wie sich das gehörte.
 

„Den hab ich doch schon lä~ängst“, meckerte Schuldig missmutig, während er durchgerüttelt und trocken gerubbelt wurde. „Da kommts auf einen mehr oder weniger nicht an. Was für eine grandiose Argumentation, hörte er eine weit entfernte, wenig ausdrucksstarke Stimme in sich.

„Das reicht schon…echt…“, brummte er und wehrte nach einiger Zeit die Hände ab, die ihn überforderten. Das war alles zuviel. Er wollte ins Bett.
 

„Los, aufstehen!“, befahl Aya ohne Gnade. Gequengelt wurde bei ihm nicht, zumindest dann nicht, wenn es darum ging, Schuldig möglichst schnell möglichst trocken wieder ins Bett zu bekommen.

Er warf sich das feuchte Handtuch über die Schulter und streckte Schuldig beide Hände entgegen. Zur Sicherheit…wenn dem anderen diesig werden würde.

„Das reicht erst, wenn du vollkommen trocken bist!“
 

Ran traf ein wirklich böser Blick und die Mundwinkel sanken noch um einige Stufen weiter runter. „Du bist gemein.“

Dennoch ergriff Schuldig verbissen Rans Hände und zog sich wackelig mit dessen Unterstützung in die Senkrechte. „Scheiße“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Ihm war zwar nur leicht schwindlig, aber er fühlte sich seltsam. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte er zuviel Watte darin.
 

„Genau das“, murmelte Aya mit starrem Blick in die nahe Zukunft. Schuldig, da wo er hingehörte. „Komm leg deinen Kopf an meine Schulter, ich trockne deine Rückseite und dann schaff ich dich bösen Telepathen mit dem bösen Telepathenblick schneller als du es dir denken kannst ins Bett zurück“, schlug er vor, begann jedoch bereits mit seiner Arbeit. Eine Hand um Schuldig geschlungen, damit dieser Halt hatte, die andere arbeitete sich sacht mit dem Handtuch nach unten.
 

Schuldig sagte nichts dazu, sondern hielt sich an der Wand fest und wartete bis Ran endlich damit fertig war an ihm herumzuwerken. Er fühlte bereits, wie die Kälte zurück in ihn kroch und eine Gänsehaut ihn schaudern ließ.

Gliederschmerzen ließen ihn fühlen, als hätte er am ganzen Körper Muskelkater. Wenn jetzt jemand angriff, wäre er völlig nutzlos.
 

Ungeahnt dieser Gedanken beendete Aya sein Werk und bedachte Schuldig mit kleinen, aufmunternden Gesten.

„Na komm, jetzt geht es ins Warme“, murmelte er, als er mit seinen Händen über die zitternde Gestalt fuhr und Schuldig aus dem Bad führte.
 

Den Weg ins Schlafzimmer bekam Schuldig im Nachhinein nicht mehr wirklich mit. Er setzte sich auf die Matratze und schlotterte vor sich hin. „Mir ist so kalt. Hast du… hast du einen Schlaf…Schlafanzug da?“, hob er den Blick und sah Ran mit glasigen, fiebrigen Augen zweifelnd an. Seine Stimme hörte sich ungesund müde und rau an.
 

Schuldig tat Aya in diesem Moment wirklich leid und der rothaarige Japaner wusste, dass wenn er noch einen Augenblick länger in diese gequälten Augen gesehen hätte, er seinen Entschluss sofort umgeworfen hätte, doch er ließ die Rationalität siegen und nickte. „Gleich, Schuldig. Leg dich schon mal mit dem Bauch auf den Futon, damit ich mir deinen Rücken ansehen kann. Danach stecke ich dich sofort in einen warmen, kuscheligen Schlafanzug, in Ordnung?“
 

„Oh man“, stöhnte Schuldig als einzigen Kommentar und zog die Beine auf die Unterlage, legte sich hin, allerdings seitlich und die Beine anziehen.
 

Geschwind hatte er die Decke herangeangelt und zog sie sich über. „Mir ist kalt, lass doch den Rücken, wie er ist.“ Er wurde langsam wirklich ungehalten. Es fühlte sich beschissen und Ran wollte diese blöden Striemen da umhegen, als gäbe es nichts Schlimmeres.
 

„Richtig… und wenn es dir dann irgendwann wieder besser gehen sollte - wenn, wohlgemerkt - wird das nächste Problem in Form deines Rückens auf dich warten, das dir mit eitrigen Wunden und schlecht verheilten Verletzungen entgegenwinkt“, gab Aya gnadenlos zurück und schlug die Bettdecke gerade soweit zurück, dass er die Wunden inspizieren konnte.
 

Sie waren aufgeweicht und ein deutliches Anzeichen dafür, wie lange der Deutsche unter der Dusche verbracht hatte. Sowas…unvernünftiges.

„Halt still, es dauert nicht lange“, grimmte er und angelte sich einen der Salbentöpfe heran, tauchte seine Finger in die streng riechende Kräutermasse. Er begann, sie auf dem Rücken zu verteilen. „Es ist alles nur zu deinem Besten, Schuldig, ich sage es dir. Du wirst mir irgendwann noch einmal dankbar sein“, erzählte Aya, während er sich des Rückens annahm.

„Spätestens dann, wenn es dir umso schneller wieder besser geht und du nicht mehr jeden auffressen willst, der dir im Moment etwas Gutes tut.“
 

„Blablabla“, brachte Schuldig trotzig hervor, allerdings war seine Stimme wenig enthusiastisch, sondern müde und kaum aus dem Kissen zu hören. „Lamentier du nur gescheit daher. Du klingst… wie meine nicht vorhandene Mutter, die wäre bestimmt genauso fies gewesen. Und die Salbe is kalt… verdammt!“, wurde er nun doch etwas fauchender.
 

„Ja das ist sie und ja, wenn es sein muss, übernehme ich diese Rolle und wenn du so weitermachst, werde ich sie noch bei weitem übertreffen“, ließ sich Aya vernehmen, als würde er über das Wetter reden, während er ohne zu zögern seiner Tätigkeit nachging und es schließlich auch noch wagte, die heiß geliebten Verbände hervor zu holen.
 

Schuldig dummelte langsam ein, aber er war noch nicht eingeschlafen, sondern nur in einem Halbdämmer. Er wollte schließlich nichts verpassen!

„Du… weißt doch gar nicht wie sie gewesen wäre… woher willst du denn wissen…dass du schlimmer als sie bist…hä?“, wollte er unflätig mit rauer Stimme wissen.
 

„Richtig… das weiß ich eben nicht, also muss ich mir doppelt Mühe geben, sie zu übertreffen, was hältst du davon?“, reichte Aya Schuldig auch noch die Schaufel, um sein eigenes Grab zu schaufeln und lächelte liebevoll.

Doch dieses Lächeln wurde tatsächlich ernst, als er sich zu Schuldig hinunterbeugte und ihm einen Kuss auf das Ohrläppchen präsentierte.

„Aber du könntest mir von ihr erzählen.“
 

„Ich… war zu klein… als… sie sich in der Psychiatrie erhängte… ich stell mir sie immer nett vor, aber… warum sollte sie nett gewesen sein, wenn sie dachte ich wäre ein Kind des Teufels. Sind solche Leute nett?“

Wieder schüttelte es ihn leicht und er kuschelte sich in seiner von ihm gewählten Seitenlange in die Decken hinein.
 

„Können sie…“, erwiderte Aya nach ein paar Augenblicken der Überlegung. Partiell, um Schuldig zu beruhigen, der ihm in diesem Moment wie das kleine Kind vorkam, das damals alleine gelassen worden war, dann jedoch entsprach es auch seiner Meinung.

Niemand wusste, warum sie verrückt geworden war… vielleicht war sie auch einer der Menschen gewesen, die ein solches Wissen nicht verkraften konnten. Darüber war sie vielleicht verrückt geworden.

Aya erhob sich und holte aus dem Schrank einen der wärmeren Schlafkimonos.

„Komm, setz dich auf, dann kann ich dich darin einpacken.“
 

Schuldigs eingerollte Rückfront reagierte nicht auf diese Aufforderung. Er war für den Moment zu sehr damit abgelenkt, an seine Kindheit zu denken. Mit fiebrigem Glanz in den Augen blickte er vor sich hin und dachte daran, wie es früher war. Wen er alles schon vergessen hatte, an wen er sich noch erinnerte…

Viele waren es nicht. Wirklich nicht.

„Können Sie…“, wiederholte er leise und in Erinnerungen gefangen. „Sie fehlte mir. Eine… zeitlang hab ich mir die Schuld gegeben, dafür dass ich ihr das angetan habe… dann… dann hab ich angefangen, ihr die Schuld für meine Gefühle gegeben… und irgendwie hasste ich…und dann ging alles los.“
 

„Was ging los? Deine Fähigkeiten?“, fragte Aya, während er sich vor den anderen hinkniete und seine Hände unter Schuldig schob. Mit dem Rücken zu ihm…so eingerollt wie ein Kind hatte Schuldig mehr denn je den Beschützerinstinkt in Aya geweckt. Und waren es nur Grippeviren, vor denen Aya den anderen schützen konnte…irgendetwas musste er tun, damit es Schuldig besser ging.

Nun aber übernahm er die mühsame Aufgabe des Aufrichtens und zog Schuldig schließlich wie eine Puppe aus leblosen Gliedern und abwesendem Blick an.

„Du hast ihr vielleicht auch gefehlt…vielleicht hat sie dich so sehr geliebt, dass sie darüber verrückt geworden ist…“, mutmaßte er und hauchte einen zärtlichen Kuss auf die fiebrige Stirn.
 

Den Kopf etwas hebend, blickte Schuldig leicht nach oben zu Ran, ignorierte jedoch die letzten Worte. Er brachte nicht ganz die Kraft auf, sich wirklich aufzurichten, viel zu schwerfällig fühlte sich sein Körper an und er fror immer noch. „Nein nicht… die Fähigkeiten… die… die waren schon immer da…“
 

„Was dann?“

Aya hatte Schuldig zu Ende angezogen und wieder sicher unter der Bettdecke verstaut, als er sich aufrichtete und schnell ins Wohnzimmer verschwand, woher er zwei der dort liegenden Decken holte. Mit der einen wickelte er Schuldig nun vom Bauch abwärts ein, mit der anderen sorgte er um dessen Oberkörper für Wärme, bevor er die heizbare Decke wieder über die Gestalt legte und sie feststeckte. Zumindest sah Schuldig jetzt so aus, als ob ihm warm wäre.
 

Der Spaß am Töten…

…wisperte Schuldig in Gedanken, doch er schloss die Augen und schlief beinahe sofort ein. Jetzt war es besser… wärmer… viel besser.

Die feuchten Haare hoben sich dunkel vom Kissen ab.
 

Aya beobachtete Schuldig, wie dieser in den wohlverdienten und hoffentlich erholsamen Schlaf glitt. Er seufzte leise und schickte ein Stoßgebet an seine Schwester, dass nicht noch etwas Schlimmeres passieren mochte.

Ohne eine Antwort auf seine Frage erhalten zu haben, erhob er sich um in der Küche für Schuldig Tee zuzubereiten. In einer Stunde würde er den anderen Mann aufwecken und versuchen, ihm etwas davon einzuflößen.
 

In Gedanken versunken verließ Aya die Küche und schob die Tür zum Garten langsam auf. Es gab hier viel Arbeit, die noch zu tun war, wenn es wärmer wurde. Besonders, da der Garten so weitläufig und verwinkelt war… und die verschiedenen Pflanzen brauchten mal weniger, mal mehr intensive Pflege. Dabei hatte er es ja so mit Pflanzen…

Doch im Gegensatz zum Koneko oder Schuldigs Wohnung konnte Aya sich hier durchaus vorstellen, Tage in dieser noch wuchernden Wildnis zu verbringen um sie zu zähmen und nach seinen Vorstellungen zu formen. Alleine schon der groß angelegte Teich in der Mitte des Gartens oder der Steingarten direkt am Haus reizten ihn. So vieles… friedliches, wie er es nie in den letzten Jahren erfahren hatte - wenn Schuldig wieder gesund war, hieß das.
 

Aber natürlich wurde er das…jetzt, wo er wieder lebte.
 

Aya schloss die Augen. Er konnte die Bilder nicht vergessen, die Nagi ihm gezeigt hatte. Er konnte nicht vergessen, wie einsam und leer es die zwei Wochen gewesen war. Wie verzweifelt er selbst gewesen war. Es schien, als würde er diese Erinnerungen immer wieder zurückdrängen können, während er jedoch nicht verhindern konnte, dass sie ihn überfielen.

Es durfte nicht so weitergehen, doch wie sollte er sich damit auseinandersetzen, wenn er nicht wusste, wie, und wenn er nicht wusste, ob er es überhaupt wollte?
 

Er öffnete seine Lider wieder und atmete tief ein. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken…Schuldig war krank und es gab noch etwas anderes, das er erledigen musste.

Er ging ins Haus zurück und suchte nach seinem Handy, wählte Youjis Nummer.

„Tokyo Playboy Nummer eins?“, meldete sich eine ihm wohlbekannte Stimme und Aya verdrehte trotz aller Niedergeschlagenheit die Augen. Wunderte ihn das noch?

„Du änderst dich auch nie, Kudou“, grollte er in den Hörer und erntete ein Lachen.

„Sollte ich das denn, Fujimiya-kun?“

„Würde dir nicht schaden, Tokyo Playboy Nummer eins…“

„Du nimmst auch alles gleich zu ernst!“

Aya seufzte.
 

Schuldig dämmerte vor sich hin. Ihm war heiß und wenn er die Augen öffnete, hatte er das Gefühl die Luft flimmerte vor ihm so heiß war es im Raum.

Ran… Ran… mach die Heizung aus… es ist so warm… wollte er sagen, aber er brachte nur ein unwilliges Geräusch von sich und einige Wortfetzen, die zu leise waren um wirklich einen Wunsch zu äußern.
 

Sich Schuldigs Wunsch und Worten unbewusst, ließ sich Aya von Youji beruhigen, zumindest was den Gesundheitszustand des Telepathen anging. Nach Grippe klang es nicht und er würde wohl innerhalb von einem Tag wieder auf den Beinen sein. Das klang zu schön um wahr zu sein, befand Aya, wollte aber daran glauben.

Viel weniger wollte er jedoch über das Thema reden, wie es ihm selbst ging.

„Du klingst angespannt“, sagte Youji just in diesem Moment. Hellseherei? Aya vermutete es fast.

„Bin ich…wegen Schuldig.“

„Nicht wegen den letzten Wochen?“

„Auch.“

„Ran…“

„Es geht schon, Youji. Es wird werden…das wird es immer. Schuldig ist ja wieder da.“

„Und dennoch braucht es seine Zeit, bis du das verdaut hast, du sturer Esel.“

„Weiß ich...

Sag mir lieber, wie es euch geht. Ist alles in Ordnung im Koneko? Habt ihr viele Aufträge?“

„Momentan nicht. Eigentlich gar keine. Es scheint, als wolle Manx uns schonen. Warum auch immer. Und der Laden läuft wie immer, Ran. Viele Mädchen, viele fragen nach dir und bekommen immer die gleiche Antwort: du arbeitest jetzt woanders. Soll ich ihnen deine Adresse geben?“

„Untersteh dich, Kudou, dann setzt es was!“

„Ach komm… das würde dem Kranken auch gefallen…“

„Du redest Unsinn.“

„Ich weiß.“

„Blödmann.“

Auch wenn Aya es nicht zugab, so tat ihm dieses Herumgeplänkel mehr als gut. Es war…Normalität. Er sah in den Himmel und damit auch in die sich leicht hin und her wiegenden Bäume. Ja…es sah wirklich nach Sturm aus.
 

Es war ein Frühlingstag, alles erblühte als wäre es aus langem Schlaf erwacht, die Natur schien zu explodieren, so kraftvoll färbte sie alles grün. Und trotz des Frühlings war es heiß, viel zu heiß…für diese Zeit…

Die Vögel…sie …sie zwitscherten und obwohl die Farben so klar und deutlich und satt in ihrer Pracht sein sollten, war dennoch alles von weißem Nebel übertüncht.

Die Bauklötze fanden ihren Weg wie von selbst in die vorgesehenen Aussparungen. Die geschickten Kinderhände grabschten nach den Bauklötzen und schon war der nächste Bauklotz versenkt.

„Komm Kleiner…wir gehen zu deiner Mama. Sie wartet schon auf dich.“

„Mama! Wir ge~ehen zu~u Ma~ama!“
 

„Wie geht es Omi und Ken?“, fragte Aya und die ersten Regentropfen fielen mit leisen Geräuschen auf das kleine Vordach, auf den Teich, auf die noch vorhandenen Nadeln an den Tannen. Aya zog sich etwas ins Haus zurück und maß kritisch das aufkommende Unwetter. So dunkel, wie der Himmel im Westen wurde, konnte das ein Problem geben.

„Sie schlagen sich durch, Aya. Omi mehr als Ken, obwohl der sich vorgestern mit einem Mädchen getroffen hat. Anscheinend jemand, den er beim Fußball kennen gelernt hat. Er will uns noch nichts verraten…“

Aya hob die Augenbraue. „Ken hatte eine Verabredung?“, fragte er zur Sicherheit noch einmal nach und ein zustimmender Grunzlaut ertönte durch die Leitung.

„Omi ist mit seinem amourösen Abenteuer ebenfalls beschäftigt. Nur ich… ich bin alleine.“
 

Die Wände waren so hoch und alles war so groß und sie gingen einen langen Flur entlang. Noch immer war einer der Bauklötze in den Händen des Jungen fest zwischen den Fingern verankert. Er hatte ihm am besten gefallen, weil er so herrlich blau war. Er mochte blau.

Aber sie kamen nicht an…der Gang war lange und… sie gingen immer weiter und… langsam wurde er müde…sehr müde…
 

„Dann komm her!“, schlug Aya vor, doch das wurde mit einem ablehnenden Schnauben belohnt.

„SO einsam bin ich nun auch wieder nicht!“

„Du kannst mich mal, Kudou!“

„Wie oft?“

Aya schüttelte den Kopf. Es gab Dinge, die änderten sich nicht und auch wenn ihn das auf die Palme trieb, war das gut so.
 

Schuldig wälzte sich unruhig hin und her. Das Fieber verbrannte seinen Leib, auch wenn sich eine Gänsehaut gebildet hatte, so war seine Haut heiß und trocken.

„Mama…“, wisperte er.

Sein Traum hatte ihn fest im Griff und ließ ihn so schnell nicht los. „Ich will…wo ist…“, brabbelte er und hatte sich nach kurzer Zeit bereits die Decken weggestrampelt. Der Yukata klaffte auf und sein Atem floh schnell und tief von seinen Lippen.
 

Während Youji ihm erzählte, dass es momentan Probleme mit den Freesien gab, horchte Aya auf und kam ein paar Schritte an das Schlafzimmer heran. Er warf einen Blick hinein und sah, dass Schuldig anscheinend nicht so ruhig schlief, wie er es erst vermutet hatte.

„Youji, ich muss auflegen, Schuldig geht es gar nicht gut“, murmelte er in den Hörer und der andere Mann brummte zustimmend.

„Aber ruf wieder an, hörst du?“

„Ja!“, grimmte Aya und legte auf, kam an Schuldigs Seite.

Tastend strich er dem anderen über die Stirn, die klamm und heiß war. Der Telepath schien aufgeregt und in einem Fiebertraum gefangen.

„Ganz ruhig…ich bin hier“, sagte Aya sanft, ein wenig lauter zu Schuldig und strich ihm über die Wange.
 

„Wann…wa…ist Ma… wieder da?“ wisperte Schuldig fasrig und es dauerte etwas bis er ruhiger wurde, bis er die Kühle auf seiner Stirn fühlte und er nur noch unzusammenhängendes Zeug brabbelte, aber nicht mehr so getrieben war.
 

„Bald…bald ist sie wieder da“, erwiderte Aya, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Es dauert nur noch etwas…bis dahin musst du aber schlafen…“ Er wusste nicht, ob seine Worte Wirkung erzielen würden, doch er hoffte es. Das gab ihm mehr Zeit, den Tee und eventuell auch noch kalte Getränke heran zu schaffen.
 

„Bald…“, murmelte Schuldig und wurde ruhiger, sank auch wieder in tieferen Schlaf.
 

Aya folgte währenddessen seinem ursprünglichen Plan und macht den Tee für Schuldig. Als er schließlich durchgezogen war, suchte er sich auch noch einen kühlen, aber nicht zu kalten Saft aus dem Kühlschrank. Aya wusste, dass es ein Kampf werden würde, Schuldig beides einzuflößen…vielleicht auch nicht, doch wie der Tee roch, konnte er nicht gut schmecken. Nun gut, da mussten sie durch.

Entschlossen, das Möglichste zu tun, kam Aya wieder ins Schlafzimmer und kniete sich neben Schuldig, dessen Atem schon schwerer als zuvor zu gehen schien.

Fiebrig zitterten die Lider hin und her und gaben Aufschluss über die unruhigen Träume, denen Schuldig anheim gefallen war.
 

„Hey“, murmelte Aya und fuhr dem anderen über die Wange. „Ich habe hier etwas Leckeres für dich, Schuldig… wach auf.“
 

Doch Schuldig dachte gar nicht daran aufzuwachen. Er wäre vielleicht gerne aufgewacht, aber seine Träume und das Fieber hielten ihn zu fest im Griff. Nur entfernt hörte er eine Stimme, aber sie war ihm nicht wichtig genug, nicht dringlich genug.
 

Dass Aya eben dies beunruhigte, lag auf der Hand und so begnügte sich der andere Mann nicht nur damit, Schuldig über die Wange zu streichen. Seine Stimme wurde lauter, als er Schuldig noch einmal ansprach und dabei an dessen Schulter schüttelte.

„Du musst aufwachen, Schuldig. Komm schon!“, versuchte er den Telepathen zu ermuntern, jedoch war seine Stimme mit etwas anderem als Motivation getränkt…erinnerte es ihn doch zu sehr an einen der immer wiederkehrenden Träume.
 

„Nhh“, kam da nur von Schuldig und er drehte den Kopf leicht zur Seite und wieder zurück.
 

Als auch dies nichts half, schob Aya kurzerhand seine Arme unter den Oberkörper und hob Schuldig in eine sitzende Position. So lehnte er nun an Ayas Brust, den Kopf scheinbar willenlos an der beunruhigten Stütze, die nun umso dringlicher versuchte, ihn aufzuwecken.
 

Was er auch schaffte, da Schuldig die glasigen Augen öffnete und seine Hand ihren Weg von der Decke in Rans Kleidung fand und sich festhielt.

„Durst“, krächzte er noch halb verschluckt und fasrig. „…ich hab so Durst. Es ist so heiß…ich fühl mich scheiße…“
 

„Du bist wach…“, murmelte Aya für sich und seufzte erleichtert auf. Schuldig war wach…halbwegs lebend, etwas, das Aya sehr beruhigte. Er nahm den Tee zur Hand und strich dem anderen einige der verschwitzten, roten Strähnen aus der Stirn.

„Ich habe etwas zu trinken für dich, Schu. Du wirst dich gleich besser fühlen, garantiert“, umhegte er seinen Partner und setzte diesem den warmen Tee an die Lippen.
 

„Schu…?“, murmelte Schuldig die Lippen an der Tasse, bevor er einen Schluck nahm. Zunächst war es angenehm kühl, obwohl der Tee mit Sicherheit warm war, aber der Geschmack kam mit Verzögerung und war grausig.

„Willst…du mich vergiften?“, brummte er und hob den Kopf etwas, damit er ihn auf Rans Schulter legen konnte. „Ganz sicher sogar…willst du das…! Aber du solltest warten, bis ich den Ehevertrag aufgesetzt hab…sonst erbst du nichts…“, kicherte Schuldig fahrig.
 

Ehevertrag…?

Vergiften?

„Das ist Erkältungstee“, erwiderte Aya indigniert und raffte sich Schuldig zwecks besseren Haltes an den Oberkörper. Er versuchte, einen Blick in das fiebrige Gesicht des anderen zu werfen, scheiterte jedoch an dessen Versteck, das zugegebenermaßen sehr gut gewählt war.

„Das ist ein Liebestrank, gemischt mit etwas Aphrodisiakum, mein Lieber“, sagte er dann trocken. „Du weißt doch, so etwas schmeckt nie gut.“
 

„Du bist soo schön kühl“, seufzte Schuldig. „Hast du denn den Trank selber gemischt, mein Hexer?“ Wieder dieses leise Lachen. Schuldig fühlte sich nach dem Aufwachen, als hätte er Watte im Kopf. Weiße, fluffige Wattewölkchen, flauschig und kuschelig….
 

„Ganz im Gegensatz zu dir“, schmunzelte Aya über den heimlichen Verführer an seiner Seite. „Ich habe ihn mischen lassen, Hänsel, um dich in meine Hütte zu locken und dich anzuknabbern. Also trink…damit mein böser Plan aufgeht!“, erinnerte er sich an eines dieser deutschen, alten Märchen über zwei Kinder, die im Wald von einer Hexe gefunden wurden, damit sie sie auffressen konnte. So etwas wurde für Kinder geschrieben…sehr komisch.

Wieder hielt er die Tasse an die Lippen des Telepathen.
 

Schuldig seufzte ergeben, setzte sich etwas besser auf, obwohl er sich seltsam dabei fühlte. Es strengte ihn viel zu sehr an. „Gib her das Zeug.“ Mürrisch entzog er Ran die Tasse und setzte den Tee an um ihn in wenigen Schlucken hinunterzustürzen. Danach verzog er den Mund und würgte fast schon vor Ekel.

„Das is’ widerlich“, sah er Ran anklagend an den Mund noch verzogen.
 

Aya sah Schuldigs Ekel, konnte ihn zwar nicht nachvollziehen, aber dennoch verstehen. Ihm schmeckten manche Dinge genauso wenig, wenn er krank war. Er nahm Schuldig die nun leere Tasse und griff zu dem Glas, das noch hinter ihm stand.

„Hier…Birnensaft“, reichte er es dem Telepathen, jeden Moment darauf bedacht, diesen zu stützen. „Damit kannst du den schlechten Geschmack hinunterspülen.“ Er erinnerte sich grau daran, wie er die Suppe damals ebenso widerlich gefunden hatte und wie unbewusst dankbar er für einen Kontrast gewesen war.
 

„Bist du sicher…dass da auch das drin ist, was du ankündigst?“ Aha, sein Misstrauen war geboren und er blickte auf das Glas, als wäre es ein gemeiner Anschlag in seine Richtung.
 

„Das wirst du nur erfahren, wenn du deine Angst überwindest und einen Schluck trinkst“, orakelte Aya und sein strafender Blick traf Schuldig in der vollen, dunklen Wucht. „Es könnte dir Erlösung verschaffen…“, lockte Aya mit einem schelmischen Lächeln.
 

„Ra~an…die …“ Schuldig legte seinen Kopf wieder an Rans Schulter. „...die Jekyll und Hyde Masche zieht nicht.“ Gleichzeitig fischte er nach dem Glas und trank es in halber, seitlicher Kopflage, was die Hälfte über seinen Mundwinkel nach unten tropfen ließ.

„Fertig“, nuschelte er und drückte das Glas wieder in Rans Hand, machte jedoch keine Anstalten sich wieder hinzulegen. Es schmeckte nach nichts, aber es roch nach Birne. Und es war herrlich kühl. Hier bei Ran war es ohnehin viel schöner. Viel kühler und einfach besser.

Er konnte Rans Herzschlag unter seiner Hand fühlen, wenn er sie auf dessen Brust legte. Über dieses Gefühl drifteten seine Lider zu.
 

Ein seltsames Gefühl beschlich Aya, als er Schuldig hier halb sitzen, halb liegen sah, mit den Augen geschlossen und der Hand auf seinem Herzen. Es war, als waren ihre Rollen vertauscht, als wolle sich Schuldig unbedingt versichern, dass er noch lebte. Doch war es nicht genau andersherum? Hatte Aya nicht nahezu panische Angst, den Deutschen ein weiteres Mal zu verlieren?

In Gedanken versunken strich Aya Schuldig die Überbleibsel des verloren gegangenen Birnensaftes vom Kinn und stellte das Glas ab. Er wollte, dass Schuldig sich erholte, aber es würde sicherlich nicht schaden, wenn er ihn noch etwas im Arm hielt und leise summte.
 

o~
 

„Nein!“

Die feurigroten Haare waren dunkel vor Feuchtigkeit, klebten im Nacken an, als Schuldig in größter Not hochfuhr und die schreckgeweiteten Augen ziellos den Raum absuchten. Wonach genau sie suchten, wusste selbst Schuldig nicht. Seine Hand krampfte sich über den wenigen Stoff, der über seiner schmerzhaft pochenden Brust lag, zusammen.

Sein Atem floh über die trockenen Lippen. „Wo…?“ Wo war er?
 

Aya war aus seinem Dämmerschlaf ebenso hochgefahren wie Schuldig auch, als der andere Mann neben ihm aus dem mühsam erkämpften Schlaf fuhr. In den letzten Stunden hatte sich Aya darum bemüht, dem anderen jede Stunde entweder Saft oder Wasser einzuflößen, wenn es ging, auch Tee, doch diesen hatte Schuldig vor geraumer Zeit nicht mehr angenommen. Der leicht angewärmte, für Schuldig vermutlich jedoch kühle Lappen auf seiner Stirn war heruntergerutscht, auf Ayas Hand.

Müde blinzelte Aya, während das Adrenalin in seinem Körper mit dem Schlafentzug zu kämpfen versuchte und ihm ein wild klopfendes Herz bescherte.

„Hier bin ich…“, murmelte er und berührte Schuldig an der Stirn…heiß war sie. „Du hattest einen Alptraum…nur einen Alptraum.“
 

Schuldig drehte sich reflexartig herum, wich zurück, bis er schlussendlich wenig elegant hinüber auf den Boden rutschte. Doch noch immer starrte er Ran an.

„Wer…?“ Völliges Unverständnis stand in seinen fiebrigen Augen. Wen er vor sich sah…das konnte nicht sein…er war tot…das hatte Brad doch gesagt…dass er tot war…dieser Schatten…warum kam er immer näher…dieser undurchdringliche Schatten. Er konnte das Gesicht nicht sehen.
 

„Schu…ich bin es“, sagte Aya so beruhigend und versichernd wie möglich anhand der evidenten Panik in Schuldigs Stimme. Der andere Mann wusste nicht, wo er war. Langsam kam er zu Schuldig und strich ihm über die Schulter.

„Schu…alles in Ordnung…es kann dir nichts passieren…“
 

„…Ran.“

Es war wie eine Bestätigung, als Schuldigs Angst in sich zusammenfiel und von seinem Gesicht glitt.

Es war immer noch düster im Raum, nur eine kleine Lampe brannte. Doch Rans Stimme gab den Ausschlag.

„Ich…alles…es tut mir leid“, flüsterte er mit rauer Stimme und rappelte sich vorsichtig hoch um wieder auf den Futon zu kommen. Dort legte er sich nicht hin, sondern blieb sitzen. Er fühlte sich miserabel, verschwitzt, stinkend und einfach nur unwohl.
 

Schuldig war noch tiefer ins Fieber gesunken als noch vor ein paar Stunden. Es wurde schlimmer…Die Alternative des Arztes wurde immer und immer verlockender und dringlicher für Aya.

Der rothaarige Japaner nahm die Hand des anderen und drückte sie sacht. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, alles ist gut. Hörst du…alles ist gut.“
 

Schuldig stützte einen Ellbogen auf ein Knie und legte seine Stirn in seine Hand. Ausgelaugt schloss er die Augen.

„Denk dir nichts. Das…das ist immer so wenn ich krank bin. Dann rede ich den allergrößten Scheiß und sehe Dinge, die nicht da sind. Ich… höre Dinge die nicht…“

Aufmerksam hob er den Kopf und lauschte, dabei schlossen sich seine feuchten Finger um Rans Hand.

„Der Wind geht stark. Die Äste schlagen gegen das niedrige Dach weiter hinten.“ Ein regelrechtes Heulen war zu hören. Vermutlich hatte er das in den Traum mit eingebaut.
 

„Ein Sturm zieht auf…“, erwiderte Aya und seine Lippen fanden ihren Weg zu Schuldigs Schläfe. Jetzt, wo Ruhe eingekehrt war, hörte er es auch…anscheinend war mit Schuldigs Fieber auch das Unwetter gestiegen.

Vereinzelte Tropfen trafen schon an die geschlossenen Fenster und der Wind ließ die Tannen draußen rauschen.

„Vermutlich können wir die nächsten beiden Tage nicht mehr hier weg…nicht, dass ich dich in deinem Zustand irgendwo hingehen lassen würde, heißt das“, sagte er mit mehr Humor in der Stimme, als er eigentlich in sich fühlte, wusste er doch genau, was Schuldig sah und hörte, das nicht mehr da war.

Wen er vor allen Dingen hörte…

„Niemand anderes außer mir ist hier, Schuldig. Niemand…“

Seine Hand fuhr über die Seite und traf auf schweißnasse Kleidung…ebenso wie ein klammes Laken. Aya verzog die Lippen zu einem Grübeln.

„Wie wäre es, ich tausche die Bettwäsche aus, wasche dich und packe dich dann frisch und sauber wieder ins Bett?“, sagte er mit zusammengezogenen Augenbrauen.
 

Schuldig nickte nur und entzog sich Rans Hand. Er blickte zur Seite und auf, die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen. „Holst du mir das Zeug her? Dann krieg…ich das …auch alleine hin, ja?“, bat er.
 

Aya kannte Schuldigs Ablehnung, wenn es darum ging, gewaschen zu werden. Auch sie konnte er nachvollziehen und er würde ihn lassen.

„Ich habe Vertrauen in dich“, versicherte er Schuldig seine Unterstützung und erhob sich. „Nicht weglaufen, bis ich wieder da bin!“

Und schon war er aus dem Schlafzimmer heraus, holte die nötigen Utensilien zusammen. Unter ihnen waren auch neue Kleidung für Schuldig und ein frisches Bettlaken, das noch nicht in den Schrank des Schlafzimmers eingeräumt war.

„Am Besten, du setzt dich auf den Boden…aber vorsichtig dieses Mal.“
 

„Nh…“

Mehr bekam Ran nicht zur Antwort.

Schuldig stand wankend auf und zwei Schritte weiter ließ er sich nieder, zog das eine Bein wie zum Schneidersitz an sich und zog das andere Bein angestellt an sich. Die Holzschüssel mit dem lauwarmem Wasser mit zitternder Hand zu sich holend ließ er zunächst nur seine Hände ermattet und wohlig in dem kühlen Wasser liegen, bevor er einen Lappen nahm und sein Gesicht wusch. Die Haare störten dabei. „Ran“, wisperte er. „Hast du einen Haargummi…oder etwas Ähnliches?“

Er schob sich die eine Seite des Yukatas von der Schulter und blickte zu Ran, der sich an das Beziehen des Bettes gemacht hatte.

Seltsam war das alles. Und doch… genoss er es. So selbstverständlich war das alles. Und doch… war es das nicht. Es war Glück. Sein Glück. Ihr Glück.
 

Aya nahm den Haargummi, den er in seinen Haaren trug und kam damit zu Schuldig. Er nahm diesem liebevoll die Haare nach hinten und band sie vorsichtig zusammen, damit sie den anderen nicht mehr störten.

„Geht es oder soll ich dir helfen, Schuldig?“, fragte er neutral, wollte er doch nicht, dass der Telepath sich durch sein Angebot in seiner Selbstständigkeit verletzt fühlte.
 

„Nur den Rücken. Das wäre gut“, nickte Schuldig und ließ seine Hände samt Lappen im kühlen Wasser verweilen. Er war zu müde, zu schlapp, aber das kühle Wasser tat gut. Er verlagerte sein Gewicht mehr auf das eine Bein und schlug es unter.
 

„Wie geht es dir?“, fragte Aya, während er sich hinter Schuldig kniete und langsam den Yukata von der anderen, noch nicht freigelegten Schulter gleiten ließ. Er war feucht vom Schweiß…ebenso wie Schuldigs Haut.

Vorsichtig löste er die Verbände auf dessen Rücken. Auch dieses Mal war die Salbe gut eingezogen und ließ nun den Rücken besser aussehen. Er griff sich den Lappen von vorne und wischte damit sanft über den Rücken.

„Wenn das Fieber weiter steigt, müssen wir einen Arzt aufsuchen.“
 

„Es wird schon gehen.“ Schuldig wandte den Kopf zur Seite. „Mach dir keine Sorgen, hmm?“ Er spürte die Anspannung in Ran, auch wenn sein Hirn noch so vernebelt vom Fieber war, aber DAS war etwas was seine Antennen sofort registrierten.
 

„Ich hoffe es…“, kam die gedankenschwere Antwort und Aya küsste eine der heilenden Striemen. Es schien, als ob ihn alles zu Schuldig hinzog, immer wieder…

„Ich mache mir keine Sorgen, versprochen…“
 

Ein leises Lachen antwortete ihm, während Schuldig still hielt und dabei eine seiner Hände noch immer im kühlen Nass liegen ließ als wäre sie ohne Leben.

„Ich kenne wirklich niemanden…der so schlecht lügt wie du, Ran. Und das, obwohl ich noch nicht einmal deine Gedanken lesen kann“, sagte Schuldig leise.

„Aber weißt du was…ich …ich mag es wenn du versuchst tapfer zu sein wenn es mir nicht gut geht. Zumindest in diesem Fall. Du…machst dir Sorgen …und auf verquere Art tut das gut. Aber…“, er zögerte.

„Aber… ich will nicht, dass du dir Sorgen machst. Es ist nur eine Grippe und… du weißt doch… ich bin unkaputtbar, weißt du noch?“ Er lächelte, als würde er etwas in der Ferne der Vergangenheit sehen.
 

Ertappt ließ Aya das Stück Stoff in seiner Hand sinken. Er seufzte leise. Es stimmte… er konnte nicht damit aufhören. Weder mit dem Sorgen machen noch mit dem tapfer sein. Es ging einfach nicht.

Unbemerkt und auf geheimer Mission schlängelten sich seine Arme unter Schuldigs hindurch und er zog den anderen in eine sanfte Umarmung. „Ja…das bist du. Unkaputtbar und unsterblich.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln und er schloss die Augen.
 

Die Finger in dem kühlen Nass zuckten kurz bei dieser sanften Umarmung. Mit seiner freien Hand hielt er sich an Rans Unterarm fest. Sie schwiegen ein Weilchen, bis Schuldig etwas einfiel.

„Ran? Ich bin momentan ziemlich waffenlos, wenn… jemand uns hier findet, sehen wir alt aus“, gab er zu bedenken.
 

Aya überdachte das für einen Moment und nickte dann ungesehen von Schuldig.

„Ich habe eine Waffe mitgenommen, als wir ins Blind Kiss gefahren sind. Ein zusätzliches Magazin noch, aber das war es auch schon. Doch hier wird uns niemand finden, Schuldig.“ Würde das tatsächlich der Fall sein? Aya bezweifelte es… denn wenn es jemand wirklich darauf anlegte, Schwarz zu vernichten, würde ihnen auch das nichts mehr helfen. Doch bisher war nichts geschehen. Was das zu bedeuten hatte, konnte sich Aya vielleicht erklären, doch eine Sicherheit hatte er trotzdem nicht.

„Und wenn…hätten sie uns schon im Blind Kiss töten können. Ich glaube nicht, dass jemand weiß, wo wir sind.“
 

„Ich will nur… dass du weißt, dass ich dir momentan nicht viel nütze, Ran. Pass auf dich auf. Verlass dich nicht auf mich.“ Die Worte kamen müde, aber auch merkwürdig tonlos heraus. Er war selten krank aber wenn, dann erwischte es ihn derart, dass er weder seine Telepathie noch sonst etwas bewirken konnte. Er lag flach.
 

Als wenn Aya Schuldig jemals zurücklassen würde, wenn der andere Mann krank war und sie angegriffen wurden…als wenn er jemals auch nur einen GEDANKEN an so etwas verschwenden würde. Denn genau das sollte Schuldigs Gesagtes ausdrücken. Wut über diesen Wunsch brandete in Aya auf und er schluckte sie mühsam hinunter. Niemals.

„Ich werde für uns beide aufpassen“, nickte er und löste sich von Schuldig.

„Und damit du schnell wieder auf die Beine kommst, sehen wir jetzt zu, dass du ins warme Bett kommst.“ Er nahm den Lappen wieder auf und machte sich daran, seine Arbeit zu vollenden.
 

Als Ran sich löste wandte sich Schuldig zu diesem, warf dabei fast die Schüssel um. „Hey…was ist?“

Als hätte er gespürt, dass Ran sich zu schnell von ihm gelöst hatte, war er intuitiv in Aktion getreten. Das Wasser tropfte noch von seiner Hand und netzte Rans Yukata, als seine Hand sich in dessen verfing, als müsste er permanent sicher gehen, dass Ran wirklich in seiner Nähe war.
 

Aya hielt die Schüssel in einer Hand, die er gerade vor Schuldig in Sicherheit gebracht hatte. Er sah dem anderen Mann für einen Moment schweigend in die Augen, bevor er ihm mit einer Hand über die Stirn strich.

„Ich lasse dich nicht alleine. Egal, was passiert“, erwiderte er bestimmt, aber ohne Bestimmung in den Raum hinein.
 

Den Kopf leicht schief legend, sah Schuldig Ran ernst an. Das Blau seiner Augen war tatsächlich durch das Fieber wässrig, als würden seine Iriden einen Blick in eine blaue Lagune bieten. „Das will ich ja schwer hoffen, Agent Red.“ Seine Finger krallten sich mehr in das Kleidungsstück.

„Dummerchen. Das meinte ich doch nicht. Verlass dich nur nicht auf mich. Das wollte ich sagen. Wenn ich weiß, dass du dich nicht auf mich verlässt…dann bin ich beruhigter. Ich vertrau schließlich deinen Fähigkeiten …“ Er flüsterte nur noch. „Abyssinian“, formten seine Lippen tonlos.
 

Aya musste trotz allem lächeln, als er seinen Assasinennamen zwar nicht aus dem Mund des anderen hören, aber von dessen Lippen ablesen konnte. Ja, er würde zu Abyssinian zurückkehren, sollten sie angegriffen werden. „Darauf kannst du vertrauen“, erwiderte er schlicht und überging, dass er aus lauter Verlustangst diese eine Sache falsch verstanden hatte. Es würde sich legen.

„Aber jetzt genug! Das Bett muss gemacht werden“, beendete er dieses Thema, das ihn nur schmerzte und er schmatzte Schuldig einen dicken Kuss auf die Lippen, während er ihm über die Augen strich…so als wolle er die Tränen dort wegstreichen.

Schnell erhob er sich und raffte die Sachen an sich, die er brauchte, um Schuldig ein frisches Bett zu bieten. Seine Haare verfingen sich dabei in dem Wust und mit einem Grollen zog er die überlangen Zotteln in ihre richtige Position.
 

Ein Seufzen später machte sich Schuldig weiter daran sich zu waschen. Er rieb sich ab und schälte sich nach und nach aus dem verschwitzten Kleidungsstück heraus, bis er nackt auf selbigem saß und sich abtrocknete, eines der Handtücher über seinen Schritt gelegt.
 

Schließlich alles, inklusive Bett und Schuldig, gerichtet, half Aya diesem hoch und zurück in die warmen, einladenden Federn. Er wollte nicht, dass Schuldig allzu lange an der kühlen Luft blieb.

„Willst du noch ein Kuscheltier für die Nacht oder schläfst du lieber alleine?“, fragte Aya mit einem schelmischen Grinsen.
 

Sich auf das frisch bezogene Futon gleiten lassend legte Schuldig berechnenderweise alles in einen mitleidheischenden, harmlosen, lieben Blick…wenn nur nicht das fiebrige Glänzen darüber gelegen hätte …ja dann hätte es vielleicht echter gewirkt. „Kuschelkatze und eine Geschichte! Und dann schlaf ich alleine…später dann.“
 

Das waren ja Ansprüche, die hier gestellt wurden…

„Soso“, hob Aya bedeutungsvoll eine Augenbraue, machte sich aber bereits daran, sich neben Schuldig gleiten zu lassen und ihn an sich zu kuscheln.

„Was denn für eine Geschichte, du verwöhnter Telepath?“, fragte er kritisch.
 

„Die Geschichte von dem jungen Mann, der einen anderen jungen, überaus hübschen und klugen jungen Mann pflegte, weil dieser Grippe bekommen hatte und dann selber krank wurde. Wobei …wie wäre es mit der Geschichte, wo das Blumenkind von der Tigerlilly bezaubert wurde und die beiden durchbrannten?“

Schuldig kuschelte sich bequem an und schloss die Augen. Sein Hals kratzte etwas, aber es war nicht wirklich schlimm. „Kann ich noch etwas zu trinken haben? Was Kühles?“, fiel ihm ein und er löste sich wieder, blickte sich um ob noch etwas neben dem Futon stand.
 

Aya angelte nach dem großen Glas Birnensaft, das noch dort stand, wo er es aus der Küche kommend abgestellt hatte und reichte es Schuldig, behielt jedoch noch eine Hand am Rand. „Er ist nicht eiskalt, aber trotzdem kühl…außerdem hätte ich da noch den Tee im Angebot, den ich Hexer gebraut habe.“ Er lächelte.

„Soso…die Geschichte der Tigerlilly soll ich dir also erzählen…“
 

Schuldig stürzte das Getränk die trockene Kehle hinunter und legte sich wieder hin. Sein Kopf fühlte sich dumpf und schwer an. Dennoch hatte ihn das Waschen gut getan und seinen Körper ein wenig belebt.

Die Apothekerin

~ Die Apothekerin ~
 

o~
 

Aya hatte schon dermaßen viel Erfahrung darin, Hühnersuppen zur Erstarkung von Grippekranken zu kochen, dass es für ihn im Prinzip etwas Leichtes war, die Zutaten zu einer halbwegs essbaren Brühe zusammen zu mixen und ihr etwas Würze bei zu mischen.

Er hatte Schuldig den Morgen über schlafen lassen, nachdem er selbst nur ein paar Stunden Ruhe gefunden hatte. Seine Träumen waren unruhig gewesen… was genau sie beinhalteten, wusste er allerdings nicht mehr.

Nun hatte er nach einem Rundgang durch das Haus beschlossen, Schuldig mit Essen aus den Federn zu locken, auch wenn er den Verdacht hegte, dass sich dessen Gesundheit nicht wirklich verbessert hatte.

Eher im Gegenteil…

Aya sah nach draußen und beobachtete den Regen dabei, wie er mit roher Gewalt an die Scheibe prasselte, während der Sturm die Äste an das Haus trieb. Es war…still hier in diesem Haus, draußen wütete die Natur und es kam ihm vor, als würde dieses Haus sich in einer Blase befinden, die nichts an ihr Innerstes heranließ.
 

Seit geraumer Zeit wälzte sich Schuldig im Bett von rechts nach links im Glauben, das würde helfen beim Wiedereinschlafen. Aber weit davon gefehlt, schlug er nun doch ergeben die Augen auf und blickte an die Decke, lauschte auf die Geräusche im Haus. Sein Blick wandte sich zur Seite und dann zur verschlossenen Schiebetür. Ran war schon auf den Beinen.

So richtig fit fühlte sich der Herr Telepath allerdings noch nicht. Immerhin war das Fieber nicht mehr ganz so hoch – so vermutete er zumindest. Trotzdem dauerte es etwas, bis er sich dazu aufraffen konnte tatsächlich aufzustehen und sich zunächst zur Toilette zu begeben.

Als er durch das Haus streifte, roch er den Duft des Essens, welches Ran scheinbar offensichtlich und folgte diesem Wohlgeruch in die Küche. „Morgen“, krächzte er und kam zu Ran um in die Töpfe zu linsen.
 

„Morgen, Murmeltier!“

Aya senkte das flache Probierschälchen, mit dem er gerade gekostet hatte, und stahl sich einen kleinen Kuss von den trockenen, rissigen Lippen. „Du siehst fantastisch aus…das blühende Leben!“, lächelte er ob der feinen, fast subtilen Ironie, die seine Worte durchzog. Schuldig sah aus, als hätte er gar nicht geschlafen und Schlimmeres.
 

Lachend zog Schuldig Ran spielerisch an einer Haarsträhne. „Du gibst nicht auf, was?“, amüsierte er sich über Rans Versuche ihm den Titel als Lügenbaron streitig zu machen.

„Was kochst du denn da? So wirklich Hunger hab ich ja nicht. Trotzdem riecht es sehr appetitlich.“ Zweifelnd sah er Ran an, lehnte sich - mit in die Ärmel der Kleidung versteckten Händen - an die Anrichte.
 

„Brauchst du auch nicht. Das ist nur eine Suppe mit ganz viel gesundem Zeug und wenig, das man kauen muss. Für kranke Leute geradezu das Idealste!“ Als wenn aus Ayas Worten nun nicht scheinen würde, dass er ein Nein nicht akzeptierte.
 

„Aha“, meinte Schuldig sparsam. „Und wer sagt dir, dass ich diese Suppe esse?“, forderte er den Todesblick heraus. Schließlich hatte Ran auch Zicken gemacht als es daran ging eine Suppe zu essen. Er konnte sich noch ganz genau daran erinnern. Zu genau.
 

„Du bist krank und hast dir die Grippe eingefangen. Das sagt mir, dass du die Suppe essen willst“, erwiderte Aya mit einem Lächeln, sah er doch in Schuldigs Blick, was in dessen und seinen eigenen Gedanken herumschwirrte.

Er hatte damals besagte Suppe verweigert, ja regelrecht gehasst, weil er sich vor ihr geekelt hatte. Es war ein anderer Anlass gewesen, ein anderer Grund.
 

„Nein, das ist keine ausreichende Begründung, warum ich sie essen sollte. Da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen!“ Schuldig hob die linke Braue herausfordernd. Mal sehen, ob Ran den Lösungssatz brachte, den er als Schlüsselkarte akzeptieren würde.
 

Wo sich Schuldigs linke Braue hob, tat dies nun Ayas rechte und violette Augen nahmen ihr Gegenüber taxierend in Augenschein, während er selbst sich an den Herd lehnte.

„Genau genommen bin nicht ich es, der sich etwas einfallen lassen muss. Ich bin schließlich gesund, fähig, soviel…Spaß….und soviel…Entspannung…zu haben, wie ich will. Für dich allerdings ist Sex ja momentan tabu und eine Grippe kann sich sehr lange hinziehen.“ Aya nickte gewichtig. „Unangenehm, ein paar Wochen lang nicht zu dürfen. Mich würde das stören.“ Er zuckte mit den Schultern und drehte sich ein weiteres Mal zum Herd und probierte den Zaubertrank der Gesunden.

„Du kannst natürlich auch weiterhin nichts essen…aber spätestens, wenn Crawford von deinem Zustand erfährt und dafür sorgt, dass du etwas isst, könnte das recht unangenehm werden. Allerdings gibt es ja auch da eine mildere Möglichkeit. Youji hat denke ich weitaus mehr Erfahrung im Zwangsfüttern als ich. Du hast doch nichts dagegen, dass er kurz

vorbeikommt, oder?“

Aya ließ keinen Zweifel, dass er das, was er gerade gesagt hatte, vollkommen ernst meinte. Vollkommen.
 

Schuldig verzog den Mund verstimmt. Irgendetwas Unverständliches murrend, das soviel hieß wie „Muss mal ins Bad und komm gleich wieder“, trat Schuldig die Flucht an.
 

Plötzlich mit der Stille der Küche konfrontiert, fragte sich Aya, ob Schuldig wohl ernst genommen hatte, was er gesagt hatte. Hatte er deswegen so reagiert? Deutlich ablehnend, denn auch wenn er einen Vorwand hatte, ihn hier alleine zu lassen, so glaubte Aya ihm das nicht.

Leise seufzend starrte er in die köchelnde Suppe. Er verstand, dass es Schuldig nicht gut ging, doch sie schienen hier von einem Moment in den anderen von Zärtlichkeit zur negativen Emotionen zu rutschen…oder bildete er sich das alles nur ein?

Gut…es war sehr viel auf einmal gewesen. Youji, Crawford…doch er hatte es nicht ernst gemeint letzten Endes.

Aya war versucht, Schuldig hinterher zu gehen und ihn zu fragen, was ihn belastete, doch er schien wie festgewachsen hier, in seinen Gedanken verankert. Vielleicht brauchte Schuldig auch einfach nur etwas Zeit?
 

Dieser hasste es, jetzt an Brad erinnert zu werden. Hier an diesem Ort, wo er nicht an seine Probleme denken wollte. Nicht an ihre Entzweiung, die so schnell fort schritt, dass er sich unter Druck gesetzt fühlte. Hier wollte er nicht darüber nachdenken. Und gerade hier wollte er ganz bestimmt nicht womöglich auf diesen Schnüffler stoßen.

Das war ihr heimliches Zuhause, ihr beider Ort von dem nur sie wussten. Und er hatte diesen Ort nicht gewählt, damit hier jeder Hanswurst – in diesem speziellen Fall Kudou – hier hereinschneien konnte.

Niedergeschlagen ging er ins Schlafzimmer, holte sich dort einen Yukata, der auf ihrer Tasche lag und den Ran wohl erst gestern nachgekauft hatte – in weiser Voraussicht. Schuldig setzte sich für einen Moment neben die Tasche und strich mit der Hand nachdenklich über das Material des Kleidungsstücks.

Er sollte wohl lüften, es roch nach abgestandener Luft und nach Kranksein.
 

Schon seltsam, dass er sich in einen Japaner verliebt hatte und dann auch noch so heftig. Vermutlich lag es an der köstlichen Mischung aus verrückt und traditionell. Ersteres glich ihm Selbst, Letzteres vermisste er und wünschte sich sehnsüchtig. Etwas das Bestand hatte. So war Ran …oder? Beständig. Er hatte seine Ansichten und von ihnen war er nur schwer bis gar nicht abzubringen. Manchmal ganz schön lästig und dann wieder tröstlich. Er liebte Ran. Wenn er sich zurück erinnerte an ihre Kämpfe. Wie schnell und tödlich sein Körper damals werden konnte und sein Blick und seine Mimik kalt. So verdammt kalt, leer und einsam. Und dann wieder… so leidenschaftlich, so voller Emotionen: Schmerz, Trauer, Hass, Wut.

Jetzt war dies anders geworden. Dieses für ihn so eherne Ziel, die Vergeltung; seine Familie alles war ihm genommen worden. Kein Wunder, dass er danach in ein tiefes Loch fiel. Ran war ruhiger geworden.
 

Für einen Moment in dem Schuldig dort bei der Tasche saß, mit unterschlagenen Beinen, die Hand immer noch auf dem Stoff liegend, fragte er sich ob Ran etwas verloren hatte, seine Energie verloren hatte.

Er schien müde zu sein. Zuviel war in letzter Zeit passiert und immer noch kämpfte Ran, darum bemüht alles geregelt zu kriegen. Er hielt sich verdammt gut, dass sah Schuldig. Aber… wie lange noch? Oder war er einfach so stark und steckte dies alles so gut weg, wie er es zeigte?

Etwas in Schuldig meldete Zweifel an.

Warum nur musste er selbst nun auch noch krank werden?
 

Seufzend erhob er sich und ging zum Fenster um es samt Laden zu öffnen. Danach schloss er die Tür und trabte Richtung Bad um sich etwas zu erfrischen, auch wenn jeder Handgriff zuviel erschien. Gliederschmerzen waren ätzend.

Was sollte er auch groß Ran Vorhaltungen machen? Es war nur im Scherz gesagt, das wusste Schuldig. Aber allein der Gedanke an die zwei Problemfelder Crawford und Kudou ließ ihn mit den Zähnen knirschen.
 

Schuldig kniete vor dem Waschzuber, schob sich den Yukata von den Schultern und hielt kurz inne. Er hasste es krank zu sein. Es machte ihn schwach und schaltete ihn völlig aus. Sein Hals tat ihm bei jedem Schlucken weh und er hatte das Gefühl als wären seine Nebenhöhlen aufs doppelte angeschwollen. Stirnhöhlen inklusive. Aber die waren ohnehin egal, weil er die Kopfschmerzen schon seit dem Aufwachen spürte.

Er streifte den Yukata auf seine Hüften hinab und war wirklich froh, dass Ran das Bad schon eingeheizt hatte. Mit einem kleinen dankbaren Lächeln für diese Tat beugte er sich seitlich mit dem Kopf nach vorne und benetzte seine Haare mit lauwarmem Wasser. Duschen hielt er im Anbetracht auf die erst in der Nacht erneuerten Verbände nicht sehr klug. Seine Haare waren verschwitzt und er musste sie waschen, sonst fühlte er sich noch kränker, als er eigentlich war…
 

Aya hörte im Hintergrund das Wasser im Bad und drehte sich nun endlich um. Es war schon erstaunlich, wie viel man denken konnte, wenn man eigentlich nichts dachte. Vielleicht sollte er das Bett machen, damit Schuldig ein frisch aufgeschütteltes Kissen und eine frisch aufgeschüttelte Decke vorfand.

Langsamen Schrittes kam er ins Schlafzimmer und griff sich beides. Frische, kalte Luft strich über seine Haut, zumindest der Teil, der für die Urgewalt da draußen erreichbar war und ließ ihn frösteln. Es stürmte immer noch, auch wenn es momentan aufgehört hatte zu regnen.

Immer wieder ertappte sich Aya dabei, wie er auf die Geräusche des anderen Mannes im Bad hörte.

Kam er zurecht? Vielleicht sollte er gleich schauen gehen?
 

Es dauerte eine Ewigkeit, wie es Schuldig schien, bis alle Haare zumindest nass waren. Zweiter Punkt auf der Tagesordnung war das Shampoonieren. Doch bevor er damit beginnen wollte, pausierte er kurz mit den Armen auf dem Waschzuber und griff erst dann mit müder Hand zum Shampoo. So jetzt konnte es losgehen.
 

Diese Ewigkeit verging auch für Aya und er war besorgt aus dem Schlafzimmer herausgekommen, hatte sich in Richtung Bad aufgewacht, wo er nun an der Tür stand und Schuldig beobachtete, wie dieser seine Haare wusch. Er wollte den Telepathen nicht stören, wollte aber auch nicht, dass diesem in dessen angeschlagenen Zustand etwas passierte.
 

Schuldig bemerkte, als er seine müden Arme etwas sinken ließ, dass Ran an der Tür stand und hob den eingeschäumten Kopf und sah Ran fragend an. „Hilfst du mir?“, fragte er bittend und hatte ein angedeutetes lässiges Grinsen auf den Lippen. Ran schien unsicher, vielleicht sogar etwas befangen zu sein. Schuldig spürte, wie eine Haarsträhne sich aus dem Schaumberg löste und ihm nach vorne ins Gesicht fiel. Schnaubend pappte er sie sich wieder oben auf.
 

„Klar“, lächelte Aya kurz und kam dann zu Schuldig, kniete sich neben ihm.

„Lehn dich nach vorne, dann kann ich dich besser waschen.“ Es wunderte Aya, dass der andere Mann überhaupt bis hierhin gekommen war, denn die Blässe in seinem Gesicht sah nicht gut aus.
 

„Zieh nicht so ein Gesicht, Ran“, Schuldig drehte sich zu ihm um und stupste ihm ganz frech eine kleine Schaumkrone auf die Nase. „Sonst ziehst du noch mehr Gewitter über dieses Haus.“
 

„Red keinen Blödsinn“, gab Aya zurück und bespritzte Schuldig zum Dank für die Schaumkrone mit Wasser. Er schnaubte empört, konnte sich jedoch nicht ganz dazu durchringen, zu lächeln. „Mehr kann es hier gar nicht geben.“
 

Schuldig hielt inne. „Was ist denn?“, hakte er nun ernster nach, wobei er sich nicht gerade in einer Position fand um nicht lächerlich mit dem Schaumberg auf dem Kopf zu wirken. Integer war eine Beschreibung, die momentan eher nicht auf ihn passte.

„Bist du sauer weil ich vorhin abgezogen bin?“, fragte er neutral nach.
 

Aya schüttelte nach ein paar Momenten des Überlegens seinen Kopf. „Nein, das nicht. Ich habe mich nur gefragt warum“, erwiderte Aya ehrlich. „Es war ein Spaß.“
 

„Ja…das wusste ich schon. Nur…mit Brad…zum Einen und Kudou zum Anderen erpresst zu werden, das ist selbst im Spaß für mich nicht leicht wegzustecken“, gab er zu und senkte den Blick auf die Wasseroberfläche im Waschzuber die mit kleinen Schaumbergen besetzt war.

„Das mit Brad kotzt mich an und …Kudou hat mir mehr mit dir voraus, als ich je erreichen werde und ich bin eben ein eifersüchtiger Kotzbrocken“, zuckte er mit den Schultern um die Vergeblichkeit einer Verneinung dieser Erkenntnis aufzuzeigen.
 

„Ja, das bist du“, sagte Aya schlicht, jedoch mit einem minimalen Lächeln. Anscheinend war das etwas, was nie in Schuldig verloren gehen würde…er würde immer eifersüchtig auf Youji sein. Aya hatte aber deswegen nicht vor, seinen Kontakt zu dem anderen Weiß abzubrechen.

„Beug deinen Kopf, ich will dir den Schaum aus den Haaren waschen, sonst ist er bald getrocknet“, sagte er und stupste den anderen Mann an. „Ich werde die beiden nicht mehr erwähnen.“
 

Seufzend tat Schuldig wie angeordnet und fühlte sich trotz allem schlecht dabei. Sein Kopf hämmerte nur noch mehr wenn er ihn nach unten beugte. „Ich wollte doch nur weg von all dem, deshalb sind wir doch hier. Und Kudou…so schlimm ist er gar nicht“, murmelte Schuldig zwecks Schadensbegrenzung.

„Wenn…wenn ich mal ins Gras beiße dann hätte ich ja auch gar nichts dagegen wenn ihr zwei was anfangen würdet…ich meine er passt auf dich auf und kennt dich verdammt gut. Aber genau da ist der Haken dran…ich muss immer daran denken, wenn wir streiten oder wenn ich wieder mal Mist mache, dass du dann bei ihm landest“, sagte er betrübt.

„Das ist ja nicht so, dass ich dir nicht vertraue, ich weiß doch, dass du Kudou nicht an dich ran lässt, weil du eher Bock auf mich hast…darum geht’s ja gar nicht. Ich habe nur Angst, dass ich es vergeige und das permanent.“
 

„Ich lasse ihn nicht an mich heran, weil wir letzten Endes doch nicht zusammenpassen. Ich habe keine Probleme, mit ihm zu schlafen. Wenn ich da nicht jemanden hätte, der mir ein Bisschen mehr bedeutet, heißt das“, stellte Aya klar, während er Schuldigs Haare schnell und effizient wusch. „Das ist der kleine, aber feine Unterschied. Das, was du hast, fehlt ihm.“

Fertig ausgeschäumt, dirigierte er Schuldigs Kopf langsam wieder nach oben und wickelte den nassen Schopf dann in eines der bereitgelegten Handtücher.
 

„Nur ein …BISSCHEN?“, fragte Schuldig mit großen Augen und herabhängenden Mundwinkeln nach. Kiekte dabei fast schon vor unfassbarem Krächzen.
 

„Sei froh, dass es überhaupt soviel ist“, erwiderte Aya trocken. „Du weißt schon…der böse, kalte Killer, Abyssinian und so. Da sind Gefühle Mangelware.“ Wie unrecht er doch hatte mit diesen Worten.
 

„Blödmann“, schmollte Schuldig und löste den Gürtel, um sich des Yukatas zu entledigen und seinen mitgebrachten anzuziehen. Und wie froh er war, dass es wenigstens das bisschen war. Und das Bisschen, das so schnell wieder verschwinden würde, wenn er einen Fehler machte. Nur ein wenig anders, nur ein wenig fehl und er wäre wie alle anderen und nicht mehr interessant für Ran. Geschäftig werkelte er an der Kleidung herum und erhob sich wackelig.
 

„Kann man so sagen, Idiot“, lächelte Aya zuckersüß. „Aber das kleine Bisschen hält sich hartnäckig. Alle Versuche, etwas dagegen zu unternehmen, zwecklos. Das hat sich festgewachsen.“

Er stand ebenso auf und stützte Schuldig, als er sah, dass der andere Mann schwankte.

„Du gehörst ins Bett, nach einer guten Schüssel Suppe.“
 

„Die ess ich eh nur, weil du sie gemacht hast und nicht weil sie gesund ist“, meckerte Schuldig leise vor sich hin und schimpfte über die Schlechtigkeit der Welt.
 

„Das ehrt mich natürlich, besonders, da es zur Erfüllung meines momentanen Primärziels dient“, lächelte Aya und Schuldig erhielt einen Klapps auf das Hinterteil. Aya hatte mal gehört, das solle gut für die Durchblutung sein.
 

„Das Fenster ist noch offen, ich habs vergessen zu schließen“, sagte Schuldig, während sie in den Wohnraum gingen.
 

Aya nahm eine der größeren Schüsseln aus dem Schrank und machte sie Schuldig ordentlich voll. Dazu holte er Stäbchen und deutete Schuldig, sich hinzusetzen.

„Ich mache es gleich zu.“
 

Schuldig ließ sich nieder, nein, er plumpste regelrecht unelegant hin und stützte seinen schweren Kopf auf den Unterarm auf, befühlte seine pochende Stirn. Seine Augen waren schmal vor Schmerz. Ran hatte ihm die Suppe hingestellt und er starrte hinein. Er hatte nicht wirklich Hunger. Aber da musste er wohl durch.

„Hört sich an, als wenn’s heftiger wird“, sagte er leise und schon zog der erste Donner krachend hernieder.
 

Aya nickte und tigerte ins Schlafzimmer, schloss das weit geöffnete Fenster. Keinen Augenblick zu spät, wie er feststellte, als die ersten Tropfen zu fallen begannen und im Nu dicker wurden. Er kam in den Essbereich zurück.

„Wir haben noch Schmerzmittel da, wenn du willst“, schlug er vor und strich Schuldig über die heiße Stirn. „Soll ich dir noch einen Tee kochen? Willst du Saft?“
 

„Tabletten…viele davon und Wasser oder …machst du mir noch einen Tee…aber nicht den Ekligen. Der Saft brennt im Hals, meine Kehle fühlt sich an wie rohes Fleisch“, sagte Schuldig mit deutlich angeschlagenem Stimmorgan.
 

„Natürlich.“

Aya platzierte einen Kuss auf den Feuerschopf und machte sich daran, die Wünsche des Kranken zu erfüllen. Schuldig musste schließlich umhegt werden. Die Frage nach dem Tee war jedoch schon schwieriger…bis Aya auf den Trichter kam, dass er die beiden Kräutersorten auch mischen konnte. So hatte Schuldig nicht den ekligen Geschmack im Mund und er hatte trotz allem seinen Erkältungstee. Mal sehen, ob es dem anderen Mann schmeckte. Während besagter Tee zog, machte sich Aya daran, Schuldig ein Glas Wasser zu der Suppe zu stellen.

„Iss etwas, dann wird es besser.“
 

Schuldig war brav und nahm die Suppe in Angriff. Irgendwie tat sie gut, sie reizte seinen Hals nicht, sie tat seinem Magen gut. Es erinnerte ihn an ein nicht gekanntes Zuhause. „Ist das Hühnersuppe?“ Er nahm einen Schluck aus der Schale.
 

„Ja, ist es. Angeblich soll sie das Allheilmittel gegen alle Krankheiten sein. Omi hasst sie, aber du wirst dir kein Beispiel an ihm nehmen. Gesund ist sie trotz allem“, tönte es wieder aus der Küche und Aya kam schließlich zurück zu Schuldig, stellte diesem den Tee an die Seite.

"Brauchst du noch etwas?"
 

Schuldig schüttelte nur den Kopf. „Danke“ und leerte langsam seine Suppe. Nachdem er fertig war, griff er sich die bereit gelegten Tabletten und nahm sich zwei heraus, stürzte sie mit dem Wasser hinunter. Mehr bekam er in seinen Magen nicht hinein. Der Tee musste eben für später herhalten. „Den Tee nehm ich mit ins Schlafzimmer.“
 

„Ruh dich aus und schlafe etwas“, nickte Aya. „Ich bin in Hörweite.“ Er würde sich, während Schuldig hoffentlich seine Grippe auskurierte, im Haus betätigen und zusehen, dass er die Einrichtungsgegenstände in eine etwas harmonischere, denn zusammen gewürfelte Form bekam.
 

o~
 

Aya fuhr zum dutzendsten Mal aus seinem leichten Schlummer, als sich der Mann neben ihm wieder herumdrehte und anfing, in seinen Fieberträumen zu sprechen, die im Laufe des Abends sprunghaft angestiegen waren. Er blinzelte erschöpft und setzte sich auf, schaltete die kleine Lampe neben ihrem Bett an, die zumindest für etwas Licht sorgte. Der Wind trieb die Äste gegen das Dach des Hauses, wurde jedoch fast von dem peitschenden Regen übertrumpft, der Aya sich fragen ließ, wie sie in der nächsten Zeit zum Einkaufen in das Dorf kommen sollten, wenn diese Ergüsse anhielten. Die Wege waren nicht befestigt und vermutlich vom Wasser vollkommen aufgeweicht, sodass mit dem Porsche kein Durchkommen war. Also mussten sie…oder er laufen.
 

Aya verschob das auf noch ein paar Tage nach hinten. Bis jetzt hatten sie alles…bis auf, ja, bis auf den Arzt, den Schuldig brauchen würde, wenn sich das Fieber weiter steigerte.

Als hätte der Mann neben ihm seine Gedanken erfasst, fing er nach kurzem Schweigen wieder an zu sprechen…in einer Sprache, die Aya nicht verstand, von der er aber vermutete, dass es Deutsch war. Sicherlich…gebrochen war er dieser Sprache mächtig, solange er ein Wörterbuch neben sich hatte, aber so, wie Schuldig nun sprach, verstand er gar nichts.

„Hey…shh…alles ist in Ordnung“, sagte er beruhigend und strich der unsteten Form neben sich über das schweißnasse Gesicht. Wo hatte er denn den Lappen gelassen?
 

Aya wandte sich um und holte sich die Schüssel mit lauwarmem Wasser heran. Er tauchte den an der Seite hängenden Lappen in die Flüssigkeit und wrang ihn aus, bevor er Schuldig damit über die Stirn strich, in der Hoffnung, dass es dem Telepathen etwas Linderung verschaffte.
 

Ein Akt, der nur wenig Erfolg brachte, denn Schuldig wurde nicht ruhiger, phasenweise verhielt er wie lauernd, bis er erneut Unzusammenhängendes brabbelte und sich wieder herumwälzte. Die Decke war längst abgestrampelt

und die Kleidung feucht und unangenehm für ihn geworden. Obwohl er nicht wirklich wach war, fühlte er sich unwohl, da ihm heiß war und diese feuchte Hitze mit klammen Stoffen an ihm klebte.
 

Aya ließ das ein paar Minuten geschehen, bis er sich an die Kräutermischung erinnerte, die die alte Frau ihm mitgegeben hatte zum Baden. Er würde Schuldig damit doch sicherlich auch abwaschen können, damit er vielleicht so das Fieber etwas lindern konnte, oder?

In diesem Moment verfluchte Aya ihre Abgeschiedenheit. Wären sie in Tokyo gewesen, hätte er den anderen Mann zu einem Arzt gebracht und ihm kleine, chemische Wunderwerke zur Bekämpfung von Grippe geben lassen, doch hier war er ganz auf die Natur angewiesen und das machte ihn unsicher.

Doch er tat, was er tun konnte und erhob sich, richtete das Kräuterbad an, das auch seine halbe Stunde brauchte, bis es gänzlich abgekühlt war und er mit einem Handtuch und der Schüssel ins Schlafzimmer zurückkehren konnte.

Die Müdigkeit hing ihm schwer in den Knochen, als er sich niederließ und Schuldig sanft auf den Rücken drehte, den Yukata löste. Er war sowieso komplett verschwitzt und hätte ausgezogen werden müssen, befand Aya und hob Schuldig leicht an, damit er ihn ganz von dem Kleidungsstück befreien konnte.
 

„Ja…ich weiß…aber es muss sein“, erwiderte Aya auf einen besonders heftigen Brabbelanfall, sich sicher, dass seine Worte überhaupt nicht dazu passten.

„Du wirst mir danken, wenn du wieder gesund bist.“ Ja, wenn… Er wrang den Lappen aus und begann bei Schuldigs Hals, seiner Brust und dem Bauch, die er sorgfältig abwischte.
 

„Nh..nh…“, nuschelte Schuldig und seine Lider taten, als würden sie sich heben wollen. Er linste auch tatsächlich etwas, als sein Körper sich kühler anfühlte etwas von der Hitze verlor. Er haschte fahrig nach der Hand, die den kühlen Lappen führte, auch wenn er alles nur verschwommen erkennen konnte. Sich hundeelend fühlend, hob er seine andere Hand erneut und betrachtete sich seine Finger, die Lider nur einen Spaltbreit geöffnet, fühlte er sich hilfloser als ein Säugling.
 

„Bist du wach?“, fragte Aya, während er ein Handtuch über Schuldigs Schritt ausbreitete, damit der mit Minze angereicherte Sud nicht nach unten lief und dort womöglich Reizungen verursachte. Zumindest roch es gut… „Keine Sorge, ich bin es nur. Ich wasche dich gerade, damit dein Körper etwas abkühlt…“, erklärte er und ging zu dein Beinen über. „Aber du solltest Japanisch sprechen, damit ich auch verstehe, was du sagst.“
 

Doch Schuldig dachte gar nicht daran, denn für ihn war es astreines Japanisch, was er von sich gab, auch wenn es in der Umsetzung dann doch eher an Deutsch erinnerte.

„Tut gut“, murmelte er. „Aber ich kann das bestimmt auch alleine, gib mir mal den Lappen“, haschte er nach der Hand samt Lappen und machte Anstalten sich aufzusetzen, was schon im Ansatz scheiterte.
 

Aya seufzte und drückte Schuldig mit seiner Hand zurück auf die Laken.

„Soweit kommt es noch, mein Lieber, dass du dich hier aufsetzt. Finger weg von dem Lappen, das mache ich selbst! Du kannst ja noch nicht einmal geradeaus gucken!“, meckerte Aya eher um die Stille in dem Raum zu vertreiben, als auf Schuldigs immer noch unverständliche Worte zu antworten. Er nahm sich die rechte Wade vor und tauchte den Lappen dann wieder in den kühlen Aufguss. Die Vorderseite war fertig… Er hob eine Augenbraue. „Und jetzt, Schuldig, drehen wir dich um.“ Aya schob eine Hand unter die halbwache Form und zog ihn mit der anderen auf die Seite.
 

Wieder bekam Ran nur ein Stöhnen und einen unwilligen Laut zur Erwiderung, als sich Schuldigs Kopf seitlich ins Kissen drückte.

„Ra~an“, quengelte er halb vom Kissen erstickt, wobei er auch ein genießerisches Ächzen von sich gab als der kühle Lappen seine Rückfront bearbeitete. Mit einem Mal lag er ganz still, genießend und fast wieder in ruhigere Atemzüge übergehend.
 

Dieses Mal HATTE Aya verstanden, was Schuldig ihm sagen wollte, auch wenn der andere dafür nicht viele Worte brauchte. Doch Aya kannte dafür keine Gnade, wer Fieber hatte, musste gewaschen werden - überall. Aber die Unruhe und der Protest gaben sich und Aya strich mit dem Lappen über die erhitzte Gestalt, bis sie nun völlig mit dem Sud eingedeckt war, den er an der Luft trocken ließ…damit er auch einziehen konnte.

„Ich finde es ja schön, wenn du mir keine Widerworte gibst“, sagte Aya mit einem Lächeln. „So folgsam bist du ja selten…aber mal sehen, wie lange das noch anhält, nicht wahr?“

Er schob Schuldig nun wieder auf seine Seite des Bettes, um sich der langatmigen Prozedur des Bettmachens zu widmen.
 

Sich auf Rans Seite zusammenkuschelnd und des Handtuchs verlustig gehend, knautschte sich Schuldig Rans Kissen passend und umschlang es, irgendetwas Kindliches brummend.
 

Aya hielt für einen Moment in dem ein, was er gerade tat. Ein Lächeln stahl sich auf seine müden Lippen und weitete sich zu einem leisen Lachen aus. Da fand jemand aber sehr zielsicher das, was ihm gut tat, schmunzelte er für sich.

Und etwas, das IHM persönlich gefiel, wenn er sich herüberbeugen und einen Blick um die Ecke werfen würde. Doch da Schuldig für die nächste Zeit außer Gefecht gesetzt war, würde es auch keinen Sex geben. Nun…es gab wichtigeres.

Einen kleinen Klaps auf das ihm entgegengestreckte Hinterteil werfend, versuchte er Schuldig samt ergatterter Beute auf die frisch gemachte Seite zu rollen.
 

„Ich…will hier liegen…Ra~an“, murmelte Schuldig und umklammerte das herrlich nach Ran duftende Kissen wie einen Schatz. Er schmiegte sein Gesicht hinein und seufzte zufrieden.
 

„Hier wird nicht gemeckert, ich mache das Bett frisch für dich, mein Lieber“, erwiderte Aya den deutschen Worten, anhand deren Intonation er mehr verstand als ihrer Übersetzung, derer er sowieso nicht fähig war.

„Genau…behalte dein Kissen fest im Arm, das ist gut! Es freut sich sicherlich darüber, dass du es bekuschelst.“ Wenngleich sich jemand anderes da mehr drüber freuen würde, doch Aya nahm einfach mal an, dass Schuldig nicht von ungefähr SEIN Kissen gewählt hatte. Er hoffte es…

Er schob den anderen Mann noch ein Stück zur Seite und machte nun auch seine Seite frisch und fertig.
 

Indessen wurde es um Schuldig wieder ruhiger. Er räkelte sich noch leicht zurecht und versank alsbald darauf wieder in ruhigem tiefen Schlummer. Es störte ihn keineswegs, dass er keinen Schlafanzug um sich hatte.
 

Wenn sich Aya Schuldig so betrachtete…so friedlich, wie er hier lag, dann verschwand der Gedanken an einen neuerlichen Yukata ganz schnell in den Hintergrund. Vielleicht würden es auch die beiden, warmen Decken tun, die hier auf dem Bett lagen…und sein Körper, der Schuldigs wärmte, sollte er wieder auskühlen...wenn das irgendwann in nächster Zeit der Fall sein sollte.

Eine gute Idee, beschloss Aya und legte sich neben den Mann und zog ihn so gut es mit dem Kissen ging, in seine Arme, um schließlich die Decken über sie beide zu breiten und sie festzuzurren. Es müsste gehen.
 

Schuldig schlief und das Fieber sank für den Rest der Nacht gen Morgen. Von Ran umfangen und von dessen Armen und Duft umhüllt schlief er und ruhte, befreit von Albträumen und weiteren wirren Szenerien die das Fieber ihm vorgaukelte.
 

o~
 

Das Fieber war schon wieder schlimmer geworden.
 

Nicht nur das, auch das Wetter schien nicht dazu einzuladen, den Telepathen ins Auto zu packen und endlich mit ihm zum Arzt zu fahren…nicht, dass sich Aya das zutrauen würde. Er hatte wenig geschlafen und das schlecht…außerdem waren die ganzen Wege und Straßen schlammig, zudem schüttete es aus Kübeln.
 

Sie waren hier oben gefangen. Ohne medizinische Hilfe.
 

„Scheiße“, fluchte Aya leise wie er besorgt neben Schuldig saß und dem anderen Mann wieder und wieder über die schwitzige Stirn strich. „Das muss auch ausgerechnet jetzt passieren…“

Er meinte es nicht wirklich ernst, sondern sprach eigentlich nur um des Sprechens willen. Er wollte nicht, dass es hier bis auf Schuldigs leichten Atem still war.
 


 

Die alte Frau Kazukawa stand erneut von ihrem Hocker auf und ging zum Fenster. Ihre knochigen, leicht gekrümmten Hände stützten sich auf der Ablage der Arbeitsplatte ab, als sie sich etwas vorbeugte um die Farbe des Himmels zwischen den Bäumen hindurch zu erspähen.
 

„Was für ein Wetter“, hörte sie die Stimme ihrer Tochter, die gerade zur Tür hereinkam und sich ihrer nassen Sachen entledigte. Misumi löste sich vom Fenster und kam in den Eingangsbereich, nahm ihrer Tochter den kurzen Regenmantel ab und hängte ihn auf die vorgesehenen Haken weit auf, sodass er abtrocknen konnte.

„Es wird wohl noch eine Weile so weitergehen.“
 

Misumi antwortete nicht, sondern ging wieder in den Wohnraum zurück, wo sie ihrer Beschäftigung weiter nachging. Midori hatte ihren breitkrempigen Hut abgelegt und zog sich während sie in den Wohnraum kam das Kopftuch herab und glättete ihre Haare danach prüfend mit der Hand.

„Was ist mit dir? Warum bist du so besorgt? Das Gewitter vor zwei Wochen war schlimmer als dieses.“

Misumi winkte ungeduldig ab. Ihre Sorgenfalten blieben jedoch.

„Ach, nicht deswegen. Die neuen Bewohner des Herrenhauses…die Fujimiyas machen mir Sorgen. Der junge Hausherr wollte vorbeikommen und den Sud abholen, den ich gemacht habe. Keiner kam. Die Wege sind für einen Reifen unpassierbar geworden. Der schmale befestigte Weg über den Hang ist für einen Wagen nicht befahrbar und die junge Familie wird ihn nicht kennen.“ Sie schwiegen ein Weilchen, beiden ihren Gedanken nachgehend. Midori packte ihre Mitbringsel aus und verräumte sie in die Vorratskammer, während Misumi sich daran machte sich anzuziehen. Ihre wasserabweisenden Hosen, stülpte sie über die Stiefel. Die Prozedur dauerte lange aber sie hatte ja Zeit.
 

„Willst du nicht warten bis Kohai wieder kommt? Er könnte das erledigen.“ Midoris besorgte Stimme ließ Misumi aufsehen. „Er kennt sich nicht aus. Was soll er einem kranken Kind helfen?“ Sie machte ein schnaubendes Geräusch und ließ sich von ihrer Tochter in eine warme Weste helfen, die diese in weiser Voraussicht in Händen hielt.

Misumi hatte ihren Rucksack schon gepackt.

„Ich halte mich am geschützten Hang, dort wurde der Weg noch nie weggespült in all den Jahrzehnten. Mach dir keine Sorgen. Den Weg bin ich schon oft gegangen bei weitaus schlimmerem Wetter.“
 

Midori packte ihre Mutter am Arm und drückte ihn versichernd. „Ist gut. Pass auf.“ Sie nickte und holte ihrer Mutter den Rucksack aus dem Wohnraum. „Wenn es zu spät wird dann bleib besser über Nacht.“
 

Wenig später verließ Misumi das Haus und machte sich mit ihrem Stock auf. Ungefährlich war es nicht. Ein loser Ast oder ein umknickender Baum konnte ihr Ende bedeuten. Aber die Erfahrung halfen ihr, ihre Schritte zu lenken und bald schon war sie im Schutz dichten hohen Buschwerks und fand den befestigten Weg unter ihren Füßen, der weiter hinauf führte.
 

Aya war aufgestanden um neues Wasser für den Lappen zu holen, mit dem er Schuldig etwas Linderung verschaffte. Er hielt es nicht lange an einem Punkt aus, hatte er doch das Gefühl, dass er etwas tun musste außer hier zu sitzen und tatenlos zuzusehen, wie es Schuldig schlechter ging.

Wieder und wieder stellte er sich die gleichen Fragen, kam auf die gleichen, unbefriedigenden Antworten – ein Kreislauf, der ihn nur noch mehr frustrierte.
 

Schweigend stellte er das lauwarme Wasser wieder neben ihrem Bett ab und wollte sich gerade neben dem Telepathen niederlassen, als er ein Klopfen hörte…vermutlich waren es Äste gewesen, die nur kurz rhythmisch vom Wind an das Haus geschlagen worden waren.
 

Doch genau dieses Klopfen wiederholte sich nach ein paar Momenten der Stille nur umso lauter und Aya wurde sich auch nun bewusst, dass es von der Eingangstür kam und nicht vom Wohnzimmer aus, wie er erst gedacht hatte. Wer in aller Welt war das?
 

Es war, als hätte dieses einfache Geräusch einen Schalter in ihm umgelegt und ihm den Weg zu Abyssinian geebnet, dessen eiskaltes Kalkül die Sorge um Schuldig überlagerte und nun den Feind vermutete, der dort hinter der Tür lauern konnte. Wie waren ihre Chancen auf einen Kampf? Schlecht. Schuldig war nicht ansprechbar, er hatte nur eine einzige Waffe mit dabei. Sehr schlecht.

Doch einen Versuch war es wert…vielleicht war es auch einer der Dorfbewohner, doch was sollten sie bei diesem Wetter hier oben, vor allen Dingen um diese Uhrzeit?
 

Lautlos erhob er sich und nahm die Waffe, die er prüfte und entsicherte, bevor er zur Tür ging und einen Moment lauschte. Schuldigs Ruger in den Falten des Yukata verborgen, öffnete er vorsichtig die Tür, gerade so weit, dass er hinausspähen konnte und gerade so geschlossen, dass er sie im Notfall sofort zuschlagen konnte.
 

Von diesen Vorsichtsmaßnahmen gänzlich unwissend hatte sich Misumi versucht in den Windschatten zu stellen. Der tobende Wind zerrte an ihrem Hut, der fest unter dem Kinn mit einem Knoten gesichert war. Ihre Hände zogen an den Handschuhen um sie abzustreifen und erneut an der Tür zu klopfen, als sie sich plötzlich öffnete.

Nur wenig war von ihrem Gesicht zu sehen, denn das halbe Tuch welches um Mund und Nase gebunden war ließ nur ein bisschen ihrer wettergegerbten, faltigen Haut und der tief liegenden Augen erkennen. „Kazukawa Misumi. Guten Tag“, hörte sie selbst durch den Wind nur gedämpft ihre Stimme, bis sie ihr Tuch von Mund und Nase zog. „Fujimiya-san? Kazukawa Misumi…“
 

Den Finger um den Abzug gespannt, ENTspannte Aya sich selbst, als er eher an der Stimme der Alten als an deren Worten hörte, dass es kein Feind war, sondern die Kräuterfrau, die…die durch den Sturm zu ihnen gekommen war. Ayas Augen weiteten sich und sein erster Gedanke, die Frau nicht hereinlassen zu können, verschwand beinahe augenblicklich. Wie rüde wäre das denn?

„Wie überraschend, Sie hier zu sehen!“, sagte er mit einem erleichterten Unterton in der Stimme. „Kommen Sie herein.“

Er wusste instinktiv, dass er Schuldig nicht verstecken können würde. Noch instinktiver wusste er jedoch, dass er das auch gar nicht wollte, auch wenn er nicht die Wahrheit gesagt hatte. Schuldig brauchte Hilfe, die über die seine hinausging.

Die Ruger unter den Falten sichernd, trat er zur Seite und verbeugte sich leicht.
 

Die alte Frau Kazukawa trat dankbar ein. Es war ein harter Weg hier herauf gewesen, doch sie war froh den jungen Mann wohlauf zu sehen. „Es ist lange her, dass ich hier war. Noch länger ist es her, dass ich, während ein solcher Sturm aufgezogen war, hier hinaufgegangen bin.“ Sie nickte in Gedanken und nahm ihren Hut samt Kopftuch ab. Der Mantel war triefend nass, hatte ihr jedoch gute Dienste geleistet. Der Rucksack darunter war nicht nass geworden.

„Nachdem Sie nicht ins Dorf gekommen sind, habe ich mich um ihre Familie gesorgt. Wenn doch ein Kind erkrankt ist. Und hier draußen ist es schwer abzuschätzen, wann ein Arzt kommen kann.“
 

„Ja…ja, das stimmt“, sagte Aya und vertraute darauf, dass die Waffe nicht aus der kleinen, eingearbeiteten Tasche fiel, als er nun auch seine zweite Hand hervornahm und Kazukawa-san ihre Sachen abnahm. „Es war schier unmöglich, ins Dorf zu kommen mit meinem Wagen…ich wusste nicht, ob es zu Fuß gut gehen würde und ich wollte ihn auch nicht so lange alleine lassen.“

Aya fiel erst später auf, dass er im Singular und nicht im Plural gesprochen hatte, doch das würde sich innerhalb weniger Minuten sowieso erledigt haben, wenn sie Schuldig sah.

„Wollen Sie etwas trinken, Kazukawa-san? Oder wollen Sie ein Handtuch?“
 

„Über ein Schlückchen Tee würde ich mich sehr freuen, junger Mann. Und ein Handtuch wäre nicht das Schlechteste.“ Bis auf das Toben und Heulen des Sturmes hoch in den Wipfeln der Bäume war das Haus ruhig. Misumi schlüpfte in die bereitgestellten Hausschuhe und musste einige Momente verschnaufen. „Wären Sie so nett und würden mir den Rucksack abnehmen? Ich habe einige Dinge für den Jungen mitgebracht. Meine Tochter hat mir auch ein paar Süßigkeiten für den Rest der Familie eingepackt.“
 

Aya nickte und nahm sich ihren Rucksack, der doch um einiges schwerer war, als er zunächst aussah. Als nächstes strebte er das Bad an, wo er auch die Waffe deponierte, damit sie nicht doch irgendwann auffiel und einen Verdacht auf sie lenkte, der alles andere als positiv war. Mit einem großen Handtuch bewaffnet, kam er wieder zurück und reichte es der alten Frau mit einem entschuldigenden Lächeln.

„Ich bin Ihnen so dankbar, dass Sie sich die Mühe gemacht haben und uns einen Besuch abstatten. Kommen Sie…ich mache Ihnen einen Tee“, murmelte er und machte sich bereits wieder auf den Weg in die Küche um dort das noch warme Wasser ordentlich aufzuheizen und Kazukawa-san Tee zu kochen.

Den Rucksack stellte er auf die Anrichte neben sich und musste unwillkürlich lächeln. Süßigkeiten für die Kinder…er hoffte, sie würde sie hier lassen, denn das große Kind mit der noch größeren Grippe im Schlafzimmer würde sich sicherlich darüber freuen.
 

Misumi Kazukawa hatte das leise Lächeln bemerkt, folgte dem jungen Mann in die Küche.

Sie musste an die Worte ihrer Tochter denken, die den Familienvater als außerordentlich hübsch bezeichnet hatte. Misumi hatte für derlei nicht mehr viel im Sinn. Doch selbst ihr schon trüber Blick sagte ihr, dass der junge Herr Fujimiya für so eine junge Frau und vielleicht sogar für manch jungen Mann ein Hingucker war.

Über diesen Gedanken musste sie lächeln. Gedanken an eine längst vergangene Zeit mit ihrem verstorbenen Mann kamen ihr in den Sinn.
 

Aus den Augenwinkeln heraus war es nun Aya, der das abwesende Lächeln der alten Frau bemerkte, und sich fragte, an was sie gerade dachte. Er stellte ihr mit einer kleinen Verbeugung den Tee hin. Er wollte gerade dazu ansetzen, ihr zu erklären, um wen genau es sich bei seiner Familie handelte, als aus dem Schlafzimmer – auf den Moment genau abgepasst – leises, unverständliches Gebrabbel tönte.

Aya horchte auf…vielleicht sprach Schuldig im Schlaf nur wie es so oft vorkam in den letzten Stunden, doch als die für ihn keinen Sinn ergebenden Laute an Intensität zunahmen strebte er mit einem „Entschuldigung…ich muss nach ihm sehen!“ aus der Küche in das Schlafzimmer hinein und kam an Schuldigs Seite.

„Ich bin da“, murmelte er und strich dem anderen Mann über die schweißnasse Stirn, holte sich den Lappen heran. „Es ist Hilfe hier…“
 

Die Alte hob den Kopf und nahm den Tee an, als die Aufmerksamkeit des jungen Mannes von dem, was er sagen wollte zu dem, was er hörte, umschwenkte und er kurz darauf eilig die Küche verließ. Mit einem Nicken pflichtete sie dem Mann bei.
 

Währenddessen sich die alte Misumi – wie sie von vielen im Dorf genannt wurde – aufwärmte und ihren Tee trank, war Schuldig gänzlich unruhig in einem Fiebertraum gefangen. „Ran…Ran!“

Er redete wirres Zeug. Über Angriffe, über Fei Long, über Kitamura und Brad und er war allein. Ran war weg. Es war als wäre er in einem leeren Raum und Ran hätte sich umgedreht und die Tür hinter dem Kapitel Schuldig zugeschlagen. Aber…warum sah er ihn dann manchmal vor sich, wie ein besorgtes Nebelgespinnst? Und warum hörte er ihn so nahe, so besorgt und sanft wie ein Echo aus alten Tagen?

„Ran…bleib…hier…bleib!“
 

Misumi blickte von ihrem Tee auf als einer der dickeren Äste gegen das Haus schlug. Schon lange war Todai nicht mehr hier hinauf gegangen um sie zurückzuschneiden. Jetzt wurde das Geäst vom Wind ans Haus geschlagen. Der letzte Schluck des Tees war getan und ihre Hände warm. Nun würde sie aufstehen und zu dem Kranken gehen.

Hier schienen keine Kinder zu sein …, kein Spielzeug war zu sehen, es war viel zu still. Außerdem hatte der junge Mann nichts von seiner Frau gesagt, dass sie gleich zum Tee kommen würde, dass sie sich hingelegt hatte, oder nach den Kindern sah.

Aber Misumi nahm es gelassen, wie so vieles in ihrem Leben. Sie würde sehen. Und dann würde sie helfen. Bedächtig stand sie auf und ging zu ihrem Rucksack, nahm ihn mit und folgte dem jungen Mann.
 

„Ich bin bei dir, Schu…niemand ist das. Kitamura nicht, Feilong nicht, nur ich. Beruhige dich“, sagte Aya, sich nicht bewusst, dass Misumi ihm schon gefolgt war. Er machte sich vielmehr Sorgen um Schuldig und um dessen Wohlergehen. Der andere Mann war einfach nicht zu beruhigen, egal, was er tat. Es schien, als würde er ihn gar nicht wahrnehmen…nicht einmal die Hand, die ihn berührte. Doch letzten Endes wusste er auch nicht genau, was Schuldig murmelte…er hatte nur Namen herausgehört und sich anhand dessen erklären können, was der andere gerade durchlebte.

„Hey…ich bin es, Ran. Niemand anderes.“ Er küsste den Telepathen leicht auf die klamme Schläfe.
 

Doch wie Misumi sehen konnte beruhigte das den unruhigen Leib nur mäßig. Zwar drehte sich das gerötete Gesicht dem jungen Herrn Fujimiya zu und auch der Mann – ein Ausländer – wurde ruhiger, doch die haspelig dahingeworfenen fremden Worte behielten ihre Dringlichkeit. „Da ist also der junge Bursche.“ Misumi lächelte über einen kleinen gemeinen Gedanken. „Da haben Sie sich aber gut gehalten, Herr Fujimiya, wenn das ihr Sohn ist! Ich hatte Sie für jünger gehalten.“ Ein leises gutmütiges Lachen löste sich von ihren schmalen Lippen, während sie näher trat und in einigem Abstand hinter dem Rothaarigen stehen blieb.

Sie witterte eine interessante Geschichte…
 

Aya sah die Frau mit großen, entschuldigenden Augen an, die neben Reue auch noch Verzweiflung spiegelten über den Zustand des anderen Mannes.„Er ist meine Familie“, sagte er leise, als würde das alles erklären. „Er…ist…“ Er verstummte. Sicherlich wollte Kazukawa-san nicht hören, dass Schuldig im Prinzip alles in einer Person war: Partner…manchmal Kind…manchmal eine ganze Horde von Kindern, schlimmer als ein Sack Flöhe. Nein…sicherlich nicht.
 

„…zunächst einmal krank“, beendete Misumi den Satz und lachte leise, als sie um das Futon herumging zur anderen Seite. Der junge Fujimiya sah nun wirklich sehr jung aus. Vielleicht gerade einmal über die Zwanzig? Mitte Zwanzig. Vorhin, als er ihr die Tür geöffnet hatte,

waren seine Augen wie die von jemandem gewesen, der Dinge gesehen hatte, die sie vielleicht nicht einmal denken mochte. Jetzt allerdings war er ein junger Mann, der sich sehr sorgte.

„Hält das Fieber immer noch an? Oder ist es zwischendurch auch abgeklungen?“
 

„Zwischenzeitlich ist es stärker, dann schwächt es wieder ab“, nickte Aya, einen Teil weit auch erleichtert, keine Ablehnung in den alten Augen zu sehen, kein Misstrauen oder Missbilligung, dass er es gewagt hatte, in die Dorfgemeinschaft einzudringen und zu lügen - sie alle zu belügen.

„Er hatte schon in den letzten Tagen leichte Fieberträume, war aber immer noch bei Bewusstsein…erst seit ein paar Stunden ist es schlimmer geworden. Sein Blick wanderte von ihr zu Schuldig, dessen zusammengezogene Augenbrauen die leisen Worte zu untermalen schienen, die er an die Fiebergestalt richtete.
 

„Hmm“, grunzte die Alte und sie ließ sich neben dem Futon nieder. „Hat er etwas von dem Tee getrunken?“ Ihre trockene Hand nahm eine von Schuldigs in ihre und fühlte den Puls, die klamme Haut nach. „Er fiebert ab“, murmelte sie.
 

„Ein wenig…er hat ihm nicht geschmeckt, so konnte ich ihm nicht das ganze Glas zu trinken geben…“ War es zu wenig gewesen, was er Schuldig gegeben hatte? Doch schon die nächsten Worte ließen Aya Hoffnung schöpfen. „Heißt das, dass es ihm bald besser gehen wird?“
 

„Das ist schwer zu sagen.“

Misumi beließ es bei lediglich einem: „Er hätte den Tee alle zwei Stunden zu sich nehmen müssen“, und hielt dem jungen Mann keine Standpauke, wie sie es üblich zu tun pflegte. Ihre Stirnfalten waren tief gezogen und sie überlegte, warum ein junger und augenscheinlich kräftiger Mann so heftig auf eine Grippe reagierte um gleich bewusstlos zu sein.

Ein kommendes und gehendes Fieber deutete auf eine Lungenentzündung hin, aber dann müsste der Mann geschwächt gewesen sein. „Während wir überlegen und warten, soll er sich ausruhen“, beschloss sie plötzlich mit einem grimmigen Nicken zu dem jungen Mann, dessen

hoffnungsvoller Blick kurz die Angst übertünchte. Wobei sie ihn nicht ängstlich einschätzte, aber dennoch war da etwas, was sie nicht deuten konnte…

„Los…ans Werk“, scheuchte sie. „Er muss mit dem Sud gewaschen werden, ein frisches Bett, das wird ihn ruhiger machen und dann bekommt er zusätzlich etwas zur Beruhigung.“ Sie erhob sich und ihr Blick fiel auch auf den halb geöffneten Yukata…auf die glatte Narbe, die dem Ausländer über die Brust ging.

Nur ein Gegenstand konnte eine derartige Narbe entstehen lassen. So fein, so glatt, so …tödlich.

Tiefer furchten sich ihre Stirnfalten, als sie sich ächzend aufrichtete. Welche Menschen ließen sich heute noch auf einen Schwertkampf ein?
 

Aya bemerkte den Blick, auch wenn er sich schon erhoben hatte. Er sah das Stirnrunzeln wie auch das Erkennen und in diesem Moment wusste er, dass er Kazukawa-san nichts, aber auch gar nichts würde vormachen können. Doch er konnte ihr nicht sagen, was sie waren und woher diese Narbe stammte. Er wollte die Leute nicht gefährden…und er wollte SIE nicht

gefährden. Sie konnten die Polizei nicht gebrauchen, aber noch viel weniger den Geheimdienst.

„Seine Schnittwunden…sie sind auf dem Rücken“, erwiderte Aya anscheinend zusammenhangslos und sein Blick nahm etwas anderes als Angst an…ein kleiner Funken Rachdurst und Wut über diese Verletzungen glomm in seinen Augen. „Ich werde den Sud zubereiten“, ergab er sich stattdessen der Standpauke und wandte den Blick ab, bevor er in die Küche eilte.
 

Wenig zu wissen war immer ein Hort für Spekulationen. Das war eines, was sie gelernt hatte. Deshalb zog sie es vor, die Fragmente an Informationen so zu lassen, wie sie waren ohne zu versuchen sie zusammenzusetzen. Der abgeschiedene Ort, zwei augenscheinlich gestrandete, junge Männer…

Während sie ihren Rucksack öffnete und die mitgebrachten Dinge auspackte und den Sud in Händen hielt, erhob sie sich erneut und folgte dem jungen Mann in die Küche.

„Hier ist er, er sollte in das lauwarme Wasser gegeben werden, nicht zu viel Wasser.“

Sie sah Fujimiya-san zu wie dieser arbeitete, während sie leise vor sich hinmurmelte…

„Die Wunden…heilen sie? Vielleicht sind sie es, die ihm zusätzliche Probleme bereiten. Das würde das wiederkommende Fieber vielleicht erklären. Oder…wenn er eine zeitlang nicht auf sich geachtet hat und sehr geschwächt war…ist das der Fall? Dann wäre es auch zu erklären. Eine Lungenentzündung …dann müssen wir auf jeden Fall in ein Krankenhaus“, schloss sie murmelnd.
 

Aya schaltete den Wasserkocher aus und gab den sprudelnden Inhalt in eine kleine Schüssel, während sein Blick immer wieder zu der alten Frau an seiner Seite zurückkehrte.

„Sie sind recht gut verheilt“, bestätigte er schließlich. „Auch wenn noch nicht alle verheilt sind…aber der Großteil. Wollen Sie sie sich zur Sicherheit noch einmal anschauen?“

Er öffnete die Tüte mit dem Sud und schnupperte daran. Es roch gut…ähnlich wie das, was sie schon da hatten.

„Er war sehr geschwächt…ist es immer noch, denke ich. Das ist zwei Wochen her…“

Ein Krankenhaus also…er konnte sich schon Schuldigs Beschwerden anhören, wenn dieser aufwachte und mitbekam, was geschehen war.
 

„Ja das wäre gut. Vielleicht hat sich…eine Wunde in der Tiefe entzündet. Dann müssen wir sie öffnen und den Eiter herauslassen, die Wunde entlasten.“

Misumi betrachtete sich das Wasser. „Noch kaltes Wasser hinzu, dann genügt es. Der Sud ist schon fertig vorbereitet.“

Sie nahm Ran mit einem bestimmenden Nicken das Glas ab und kippte etwas von dem dunklen Gebräu, das aus gekochten Wurzeln, Kräutern und Rinden bestand, in das Wasser.

„Wenn er aufwacht, dann braucht er zu trinken. Wann hat er das letzte Mal etwas getrunken?“ Fujimiya-san hatte wohl am Bett des Mannes gewacht und sicher Versuche unternommen, dem Mann ein wenig Flüssigkeit zukommen zu lassen.
 

„Kurz bevor Sie gekommen sind, habe ich ihm noch etwas eingeflößt“, antwortete Aya. „Wir können nach den Wunden schauen, wenn ich ihn gewaschen habe…oder?“ Es war ihm unwohl dabei, der alten Frau die Verletzungen zu zeigen, doch was war, wenn sie wirklich Recht hatte? Und vielleicht konnte Schuldig dann endlich geholfen werden.
 

"Ja, das können wir.”

Misumi sah, wie wenig sicher der junge Mann gegenüber der ganzen Situation und ihr vermutlich auch war. „Soll ich hier warten, Fujimiya-san?“, fragte sie und sah Aya direkt an.
 

Dieser war im ersten Moment versucht, auf diese Frage zu nicken, ganz einfach um Schuldigs Privatsphäre zu schützen, solange der andere Mann bewusstlos war. Doch auch hier bot seine Sorge ein großes Gegengewicht und er seufzte leise.

„Ich bin mir nicht sicher. Was ist, wenn Sie etwas sehen, dass ich ÜBERsehen habe? Wäre es dann nicht besser, Sie würden mitkommen?“ Er nahm die Schüssel mit dem Sud auf und ging in Richtung Flur.
 

„Das werden Sie nicht, junger Mann“, machte sie ihm Mut und berührte ihn fest an der Schulter, klopfte aufmunternd darauf. „Machen Sie ihn fertig und ich werde ihn mir dann ansehen. Decken Sie ihn nur leicht zu und ziehen Sie ihn noch nicht an, ja?“

Sie würde währenddessen ein Zigarettchen rauchen. Im Zimmer des Kranken angekommen, schloss sie von außen die Tür und beschloss, kurz vor die Tür zu treten und sich dort in den geschützten Winkel der Tür zu hocken. Dort war eine niedrige Bank, die noch trocken

aussah.

Es war stiller geworden. „Na…machst du eine Pause?“, fragte sie den Wind, mit dem Blick gen Himmel gerichtet, bevor sie sich mit einem leisen Seufzen setzte.
 

Aya hielt sich an die ihn aufmunternden Worte und seufzte vernehmlich, als Schuldig wieder zu sprechen begann. „Ja…ich weiß, es passt dir wahrscheinlich nicht, du deutsches Zackelschaf, dass sie hier ist, aber was soll ich machen? Sie hilft dir!“, murrte er, während er Schuldig ein weiteres Mal entkleidete, wusch und die feuchte Haut trocknen ließ, während er das Bett machte.

Schließlich in sauberen, weißen Lacken – die langsam zuneige gingen – nur mit einem leichten Tuch bedeckt, lag der andere Mann vor ihm, die Haare wirr, ebenso die Worte, die leise seine Lippen verließen.

Aya erhob sich und schob die Tür zum Flur wieder auf, suchte Kazukawa-san. Er fand sie schließlich draußen auf der Veranda. „Ich habe ihn gewaschen“, sagte er mit einem leichten Lächeln ob dem Glimmstängel zwischen ihren Lippen. Bisher hatte sie noch nichts zu Schuldig gesagt…oder zu ihrer offensichtlichen Beziehung.
 

Sie nickte einmal und deutete kurz mit dem Kinn in den Himmel. „Der Wind hat sich ein Weilchen zur Ruhe gelegt. Diese Ruhe wird nicht lange anhalten. Aber das Haus ist ein gutes Haus. Es beschützt die, die darin wohnen.“

Sie zog an ihrer Zigarette.
 

„Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein“, sagte Aya in Gedanken und wurde sich erst danach bewusst, was er gesagt hatte. Doch aus welcher Intention…das konnte die Alte nicht wissen, oder? Nein…vermutlich bezog sie es auf Schuldigs Erkrankung. „Uns gefällt das Haus, ihm und mir. Aber das wissen Sie ja.“ Ayas Blick schweifte über den Garten. „Er hat es mir geschenkt.“
 

Misumi lachte leise in sich hinein und blickte zu dem jungen Mann auf, nur um wieder in den seichten Nieselregen hinauszublicken. „Ein gutes Geschenk. Eine Möglichkeit um an einen Ort zu kommen, der einen immer willkommen heißt. Das ist gut.“

Sie schwieg einige Momente, hörte dem leisen Pitschen des ablaufenden Regenwassers vom Vordach zu.

„Todai hat berichtet, dass es so ausgesehen hätte, als hätte ein Fremder das Herrenhaus gekauft. Als wir niemanden hier her kommen sahen, dachten wir daran, dass es vielleicht doch noch nicht verkauft worden war. Das Haus ist alt. Es hat schon viele Gesichter, viele Leiden und Freuden aber auch Geschichten gesehen.“
 

Ein Ort, der einen immer willkommen hieß…

Aya schien, als wäre er sich der Bedeutung gar nicht bewusst, denn es hatte so lange keinen Ort gegeben, der ihn hundertprozentig hatte willkommen geheißen. Das Koneko war durchsetzt mit schlechten Erinnerungen an Missionen und Kritiker, wenn es auch sicherlich gute Momente gegeben hatte.

Schuldigs Wohnung wiederum barg ebenso viele negative wie positive Erinnerungen.

Dieses Haus jedoch war neutral und nicht beschmutzt durch Krieg oder negative Emotionen. Aya lächelte in sich hinein. Konnte ein Haus rein sein?

„Man spürt es…dass es alt ist, meine ich. Es ist nicht seelenlos wie manche Hochhäuser in Tokyo.“ Er schwieg wieder einen Moment. „Sie kennen viele dieser Geschichten, oder?“
 

„Ja.“ Sie nickte bedächtig und nahm einen weiteren Zug aus ihrer Zigarette. „Aber…ich bin nicht die einzige, die viel zu erzählen hätte“, nickte sie und blickte wieder hinauf zu dem jungen Mann, mit wissenden Augen, so scharf, als hätte ein Habicht seine Beute erspäht, bevor sie den Blick wieder abwandte.

Es war nicht unauffällig, wenn zwei junge Männer, einer davon krank mit einer Schwertnarbe und wirren Worten und Sätzen, der andere mit einem alten, weisen Blick, dessen Hände aussahen, als hätten sie hart gearbeitet, dessen Statur aber etwas anders sagte. Ja…wenn diese Männer hier in der Abgeschiedenheit plötzlich ein Haus kauften.

„Wir sind ein beschauliches Dorf und wir lieben die Ruhe, Fujimiya-san. Wir heißen jeden willkommen, der ebenfalls diese Dinge mit uns teilen möchte. Wir haben nicht viel zu bieten…“ Sie seufzte.
 

Aya fühlte sich mit einem einzigen Blick durchschaut. Denn so, wie ihn diese Augen ansahen, sahen sie direkt in ihn hinein und wussten, dass sie kein normales, modernes Pärchen waren…wie auch? Genug Anzeichen sprachen ja dagegen…doch in Kazukawa-sans Blick lag etwas anderes, etwas, das darüber hinausging.

Gerade deswegen schienen ihm ihre Worte wie eine Warnung an sie beide, keine Bedrohung von außen in diesen Frieden zu bringen. Er nickte. „Sie haben Ruhe zu bieten, das ist das Wichtigste“, erwiderte er schließlich. „Für zwei gestresste Großstadtmenschen ist das der Himmel.“
 

„Da haben Sie Recht, junger Mann.“ Sie löschte den Rest ihrer Zigarette und erhob sich schwerfällig. Lächelnd nickte sie. „Na, kommen Sie hinein, sehen wir uns mal Ihren Freund an. Und passen Sie mir auf dieses Haus auf“, schimpfte sie gutmütig, während sie in das Schlafzimmer voranschritt.
 

„Jawohl“, lachte Aya auf diesen Befehl hin und folgte ihr ins Schlafzimmer, wo Schuldig sich auf die Seite gerollt, sich in die spärliche Decke eingewickelt hatte und momentan anscheinend etwas tiefer schlief, da er aufgehört hatte zu sprechen.

Aya kniete sich neben ihn und strich ihm ein paar der Strähnen zurück.
 

„Die Waschung hat ihm gut getan.“

Misumi murmelte etwas über die Menge der Kräuter bei der nächsten Waschung, setzte sich auf die Seite, auf die der junge Mann mit dem Rücken zugewandt lag. Sie konnte die hellroten Striemen schon auf den Schulterblättern erkennen.

„Drehen wir ihn auf den Bauch.“ Misumis Stimme war fest, aber sie spürte eine Traurigkeit in sich. Sie ahnte, dass es nicht nur die Schultern waren, die von den Striemen betroffen waren. Und sie wusste woher so etwas kam.
 

„Ich weiß…das passt dir nicht“, murmelte Aya, als er Schuldig auf den Bauch drehte und der andere Mann wieder anfing zu sprechen, ein leises Murren in der Stimme. „Aber danach wird es besser gehen, ganz bestimmt.“ Ein leises Aufschnarchen antwortete ihm und Aya musste unwillkürlich lächeln. Doch dieses Lächeln schwand mit jedem Zentimeter, den er von Schuldigs kompletter Rückfront entblößte. Er sagte nichts dazu, wusste, dass er es nicht brauchte. Was hätte er auch sagen sollen? Was konnte er sagen? Das hier war schon schrecklich wie auch auffällig genug.
 

Schuldig hatte seine Arme halb unter sich gebracht, sie an sich gezogen und die Finger seiner Hand lagen vor seinem Gesicht. „Ran…“, krächzte er mit starken Halsschmerzen und dröhnendem Schädel.

„Ran?“
 

„Ich bin hier…keine Sorge, Schu. Es passiert nichts. Dir wird geholfen, Zackelschaf“, erwiderte Aya und hauchte Schuldig einen Kuss auf die Schläfe.
 

Misumis Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst, als sie das ganze Ausmaß der Verletzungen sah und ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren aufgeraut.

„Einige sind entzündet…“, murmelte sie. „Ich brauche mehr Licht. Die Fensterläden müssen weiter aufgemacht werden. Würden Sie sie öffnen, junger Mann?“ Sie beugte sich bereits über den Rücken, ihre Hände rieben sich mit einem scharfen Öl ein um sie zu säubern.
 

„Natürlich.“

Aya erhob sich und öffnete die Fensterläden, sodass Kazukawa-san besser sehen konnte…also war es wirklich schlimmer als gedacht und er hatte seine Arbeit nicht richtig gemacht. Er kam wieder zurück und kniete sich neben die alte Frau.

„Sie sind dann der Grund für sein hohes Fieber?“ Er hatte das Entsetzen in ihrer Stimme wahrgenommen…das gleiche Entsetzen, das er zu Anfang getragen hatte und nun immer noch empfand, als er daran dachte, wie es geschehen sein mochte.
 

„Nein, nein“, winkte sie fast unwirsch ab, da sie in Gedanken zu sehr mit dem weiteren Vorgehen beschäftigt war. „Er hat eine Grippe, das ist schon richtig. Aber einige der Wunden, sind von Anfang an nicht richtig verheilt, sie sind schon einige Tage alt.“ Sie setzte sich wieder auf ihre Fersen und kramte in ihrem Rucksack nach einem kleinen Etui. Daraus entnahm sie filigrane Werkzeuge. Aus einem anderen holte sie ihre Brille hervor, die sie sich auf die Nase setzte.

„Seit wann ist er krank? Wie ist er krank geworden?“ Die Folterspuren ließen vermuten, dass der Mann vielleicht länger am Ort der Folter gelegen hatte, vielleicht noch spärlich bekleidet und geschwächt. Wurde er deshalb krank?
 

„Diese Verletzungen trägt er seit ungefähr dreieinhalb Wochen. Richtig krank geworden ist er hingegen ist er vor drei Tagen. Es war alles erst eine leichte Erkältung mit Kopfschmerzen…das sich dann aber gesteigert hat. Und seitdem ist er so.“

Einen Moment lang schwieg Aya, sich nicht sicher, ob es das Richtige war, was er tat.

„Er…hat sich nicht ausführlich dazu geäußert, doch ich denke, dass er wenig Nahrung erhalten hat und dass der Raum, in dem er sich befunden hatte, nicht beheizt gewesen war.“
 

Ein grunzendes, zustimmendes Geräusch kam aus Misumis Kehle, was sowohl ihr Missfallen als auch ihre Entschlossenheit ausdrücken sollte.

Die oberen Wunden sahen schon ganz gut aus, nur zwei an der Flanke sahen entzündet aus. „Die machen kein solch hohes Fieber. Aber sie begünstigen die Genesung nicht, weil der Körper an vielen verschiedenen Stellen zu kämpfen hat. Zudem ist er noch geschwächt.“

Ihre Hände huschten geschäftig über die Wunden, prüfte die Haut um die jeweiligen Wundherde und arbeitete sich weiter hinab, bis zu den Fersen.

„Sie haben ihn aufgehängt“, murmelte sie in Gedanken. „So kann der Körper wenig oder gar keine Spannung aufbauen und die Haut platzt schneller auf. Die Kniekehlen und am Oberschenkel, sie sind auch nicht richtig verheilt. Auch dort wo die Achillessehnen sind, dauert es noch eine Weile.“

Fernes Donnergrollen ließ Misumi sich aufsetzen und ihren Rücken etwas durchstrecken. Sie war noch rüstig für ihr Alter, doch diese Arbeit forderte sehr viel von ihrem alten Körper.

„In meinem Rucksack ist ein kleines Döschen, seitlich, holen Sie es heraus und geben Sie ihm zwei der kleinen Tabletten unter die Zunge. Es wird ihm helfen, ruhiger zu werden und zu schlafen.“
 

Wieder tat Aya ohne zu zögern, was die Alte von ihm verlangte. Während er das Pillendöschen fand, dachte er über die Worte der Frau nach. Aufgehängt hatten sie Schuldig? Das schien…logisch und noch einen Touch grausamer, als es jetzt schon war.

Er kam wieder ins Schlafzimmer zurück und öffnete sanft Schuldigs Lippen mit seinem Daumen. Eine fruchtlose Angelegenheit, wie sich augenblicklich herausstellte, als sein Finger zwischen den Lippen verschwand und annektiert wurde. Aya musste leicht schmunzeln.

„Komm, ich hab was Besseres für dich.“ Er nahm seine andere Hand und öffnete den Kiefer, gab Schuldig schnell die beiden Tabletten unter die Zunge und entzog dem Telepathen seinen Daumen.
 

Dies entlockte ein wirklich widerwilliges Knurren aus Schuldigs Kehle und er murmelte etwas Unzusammenhängendes.
 

Nach einer halben Stunde war Misumi mit ihrer Sichtung fertig. „Sie sind nicht tief, nur oberflächlich entzündet. Die Salben werden ausreichen, die ich Ihnen mitgegeben habe. Wären Sie so nett, sie mir zu bringen? Und etwas zu trinken, dann bekommt er später noch etwas gegen das Fieber, am Abend wird es stärker. Dann lassen wir ihn ruhen und sehen

später wieder nach ihm.“

Wenig später waren die Salben mit einem Spatel aufgetragen. Feste Klebeverbände sicherten die fünf betroffenen Wunden. Der Regen prasselte auf das Vordach und draußen fing der Sturm wieder an zu wüten, als sie Schuldig auf die Seite drehten und eine dünne Decke über ihn legten.

„Lassen wir ihn ruhen.“ Sie erhob sich und reinigte ihre Utensilien, packte sie wieder weg. In der Apotheke würden sie dann einer Desinfektion zugeführt werden.

Danach erhob sie sich und nickte Fujimiya-san zu, klopfte ihm auf den Oberarm als sie an ihm vorbei in Richtung Küche ging.

Der Besuch der alten Dame

~ Der Besuch der alten Dame ~
 


 


 

Aya fühlte sich seltsam beruhigt durch die Geste der alten Frau und durch ihre Worte. Er hoffte wirklich, dass es Schuldig jetzt besser gehen und dass der Telepath sich nun erholen würde. Er fühlte sich nicht mehr ganz so hilflos wie zuvor.

„Sie wissen nicht, wie dankbar ich Ihnen für Ihre Hilfe bin, Kazukawa-san“, sagte Aya, als er die Küche betrat und für einen Moment überlegte. Sie hatten nicht mehr viel da, aber er würde den Teufel tun und die Frau ohne eine gescheite Mahlzeit gehen lassen. Eigentlich…wenn er sich den Sturm draußen betrachtete, wäre es am Besten, wenn sie erst morgen früh wieder hinunter ging oder er sie nach Hause brachte.
 

Misumi nickte ein paar Mal gefällig und seufzte erneut. „Sehen Sie es als Nachbarschaftshilfe an, Fujimiya-san.“ Ihr verschmitzt blickendes Gesicht fing das junge, verschlossene des Mannes ein.

Sie setzte sich in dem Wohnraum, blickte hinaus auf die Veranda des Gartens.

„Später geben wir ihm noch einmal diese Tabletten und noch welche gegen Fieber und Schmerzen. Das lindert die Gliederschmerzen…“
 

Während die beiden sich unterhielten und ihr weiteres Vorgehen planten, schlief das Sorgenkind dank der Tabletten ruhiger und erholte sich etwas mehr als die Stunden zuvor.

Dafür nahm der Husten zu und auch der Schnupfen wurde mehr.

Gegen morgen dann fischte Schuldig im halbwachen Zustand gelegentlich schon nach den bereitliegenden Taschentüchern. Seine Kehle fand auch einen dankbaren Helfer, der in Form von kühlem Tee erschien, und er schlief wieder ein.
 

Als er das nächste Mal die Augen aufschlug, war es angenehm dunkel im Raum. Die Läden waren nur angelehnt und draußen war das leise Plätschern des Regens zu hören.

Die Decke etwas hochziehend drehte er sich auf die Seite, rollte sich halb ein, wobei er überraschend feststellte, dass er nicht alleine war.

„Was?“

Er fuhr alarmiert hoch – was sich darin äußerte, dass er sich auf einen Ellbogen stützte und die Stirn runzelte. „Wer sind Sie?“, wisperte er, da seine Stimme angegriffen war. Er brachte kaum einen Ton heraus. Die alte Frau reichte ihm eine Schale, in die er zunächst misstrauisch starrte, bevor er sie an die Lippen führte um einen köstlichen Schluck Tee zu sich zu nehmen. Es tat gut und beruhigte seine Kehle.
 

Aya hatte aus seiner etwas weiter entfernten Position gesehen, wie Schuldig zu sich kam und die Frau argwöhnisch beobachtete. Er kam durch die offene Tür und schob sich in das Blickfeld des Telepathen, kniete sich neben die alte Frau.

Ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen, als er die Hand für die leere Teeschale aufhielt.

„Hey…wieder unter den Lebenden?“
 

Misumi hatte sich vorgestellt, während Fujimiya-san hereingeeilt war. Der junge Mann mit den Feuerhaaren lächelte müde, doch hinter diesem Lächeln lauerte etwas anderes, als Fujimiya-san sprach. Die blaugrünen Augen schimmerten erleichtert, als sein Blick sich in den des anderen legte.
 

„Ja, ich bin mal wieder unter den Lebenden.“ Schuldig nickte zu der Frau und lehnte sich wieder zurück. Es kratzte bereits wieder im Hals. „Ihr seht mich an, als wäre das nicht ganz so normal, dass ich jetzt die Augen aufschlage.“

Sein Blick ging von Kazukawa zu Ran und er strich sich die Haarsträhne hinter das Ohr zurück. Selbst das war anstrengend. Es hatte ihn scheinbar richtig böse erwischt gehabt.
 

„Sagen wir…es ist erleichternd, dass du deine Augen endlich wieder aufgeschlagen hast“, entgegnete Aya mit einem Stirnrunzeln. „Du hast mir…uns ganz schöne Sorgen bereitet, mein Lieber.“

Er füllte die Schale mit dem Tee wieder auf und hielt sie Schuldig ein weiteres Mal hin.
 

Schuldig ließ seinen Blick prüfend über Ran gleiten, beschloss, dass es diesem gut zu gehen schien, auch wenn die sorgenvollen Augen noch immer nicht gegen einen freudigen Schimmer eingetauscht waren.

Sich räuspernd nahm er den Tee entgegen und behielt die Tasse in den Händen. „Ich danke euch Zweien, mir geht es schon besser“, grinste er in Herzensbrechermanier, auch wenn sein Gesicht noch sehr blass, die Haare zwar zusammengebunden, dennoch wild und unfrisiert waren. Er freute sich, dass er sich nicht mehr ganz so bescheiden fühlte.
 

Argusaugen beobachteten, wie Schuldig Schluck für Schluck den Tee zu sich nahm und schließlich nickte Aya bedächtig. „Sehr gut…dann werde ich dir jetzt Suppe kochen, damit du schnell wieder zu Kräften kommst.“

Sprach’s und war ohne Widerworte zuzulassen, aus dem Schlafzimmer verschwunden.

Misumi sah dem nun schon erleichterten Mann nachdenklich hinterher, bevor sie ihren Blick auf den Patienten vor sich richtete und ihn mit prüfendem Blick maß.

„Er hat sich Sorgen um Sie gemacht.“
 

Schuldig hatte Ran mit seinem Blick verfolgt und verzog den Mund nachdenklich. Er hustete verhalten und nahm noch einen Schluck Tee.

„Ja“, nickte er mit ernstem Gesicht. „das ist wohl wahr, Kazukawa-san.“ Schuldig lehnte sich zurück ins Kissen und blickte die alte Frau an.

„Ich danke ihnen, dass Sie da waren und …dass er nicht alleine war.“ Ran… sein Ran alleine, das war nicht gut… da kamen seinem Blumenkind die komischsten Gedanken.
 

Misumi befand, dass dieser Ausländer im wachen Zustand, auch wenn er noch deutlich angeschlagen war, etwas ausstrahlte, das ihren Instinkt für Gefahren ausschlagen ließ. Sie fürchtete ihn nicht…nein, aber er war etwas, das über sein äußeres Erscheinungsbild hinwegging. Wie der Blick Fujimiya-sans, als er ihr gestern die Tür geöffnet hatte.

„Er war erleichtert, dass ich zu Ihnen gekommen bin und mich um seine Familie gekümmert habe“, erwiderte sie mit einem kurzen Lächeln und warf einen prüfenden Blick in die Teeschale.
 

Schuldigs Gedankenleserei war noch nicht auf dem höchsten Level und das brauchte sie auch nicht sein um die Gedanken der Alten deuten zu können.

„Wir müssen Sie um Verzeihung bitten, Kazukawa-san, dass wir ihnen nicht erzählt haben, dass es nicht die Familie im traditionellen Sinne ist. Mir ging es bei unserer Anreise nicht sonderlich gut und ich falle…auf, wie ein bunter Hund. Ich wollte keine Unruhe in Ihre Gemeinschaft bringen. Ran war nicht wohl dabei, dass ich mich nicht habe blicken lassen in Ihrem Dorf.“
 

„Trinken Sie Ihren Tee auf, junger Mann, trinken Sie“, winkte Misumi bedächtig ab und machte eine auffordernde Bewegung in Richtung Getränk.

„Familie ist in der heutigen Zeit ein weit gefasster Kreis, sagt ihr Städter vermutlich…da können wir Alten nicht mithalten.“ Sie lachte leise.

„Unser Dorf hat seit Jahrhunderten seinen kleinen Kreis an Menschen…ein Kreis, der immer kleiner wird. Es verirren sich nicht viele Junge hier herauf.“
 

Einen Schluck Tee nehmend nickte Schuldig. „Als ich das Haus gesehen habe, wusste ich sofort, dass es für Ran wie gemacht ist. Für ihn wäre es erfüllend hier zu bleiben und hier zu leben, kann ich mir denken. Dieses Haus…es ähnelt ihm so sehr.“
 

Misumi dachte an ihren ersten Eindruck…an die alten Augen, die zuviel gesehen hatten, was sie nicht sehen sollten. Und sie dachte an die Geschichten, die dieses Haus in sich trug.

Sie wiegte ihren Kopf leicht hin und her und musste an ihre Tochter denken, die mit Sicherheit eine ganz große Geschichte wittern würde. Doch sie selbst nahm es eher gelassen, mit der Ruhe des Alters.

„Wohl wahr…wohl wahr“, murmelte sie in Gedanken. „Wohl wahr…dieses Haus hat schon vieles gesehen, viele Schicksale…“
 

„Ja und es ist Zeit, dass Ruhe einkehrt, in beide.“

Schuldig musste selbst an diesen Worten einige Augenblicke länger knabbern.

Er machte Ran ständig Sorgen, seit Anfang schon und das musste endlich aufhören. Ran war nicht unendlich leidensfähig. Ruhe und Erholung, Spaß… Ran brauchte Freude und Spaß im Leben.
 

„In alle drei...“, sagte Misumi in ihrem in sich versunkenen Singsang und sie runzelte in Gedanken vertieft die Stirn. Es waren Gedanken an die Narben, die sie gesehen hatte.

„Wie geht es Ihnen? Wie fühlen Sie sich? Haben Sie Schmerzen?“, fragte sie nach einer kleinen Weile des Schweigens.
 

„Nur beim Schlucken, aber das richtet der Tee ganz hervorragend“, lächelte Schuldig.

„Es fing schon mit Halsschmerzen an. Ein wenig schlapp in den Gliedern, aber das kriegt sich schon wieder ein, bei dieser Pflege“, wieder erprobte er das Lausbubengrinsen. Er mochte alte Menschen sehr. Vielleicht… weil er selbst nie eine Großmutter oder einen Großvater gehabt hatte? Oder weil ihre Gedanken interessanter für ihn waren.
 

Eine der weißen Augenbrauen hob sich, bevor Misumi leise lachte. „Jaja…viel Liebe gehört auch dazu“, bestätigte sie die Zeilen zwischen den Worten und nahm dem Mann die leere Schale ab, füllte sie nachdenklich zur Hälfte.

„Außer der Schlappheit? Der Rücken, wie geht’s ihm?“ Besser, direkt anzusprechen, was auszusprechen war, als um den heißen Brei herum zu reden…
 

Schuldig erstarrte förmlich. Sie hatte seinen Rücken gesehen! Was …was hatte sie dort zu suchen? Warum hat Ran das zugelassen?

Sämtliche Empfindungen flossen über sein Gesicht wie ein kühlheißer Schauer.

Er fixierte die Augen mit einem Blick, von dem er sich nicht sicher war was er erzählte. Er konnte seine Emotionen nicht abschätzen. Verrat, Enttäuschung, Vorsicht, Verletztheit, Unsicherheit, Wut, Dankbarkeit?

Es war eindeutig, woher diese Wunden stammten, wollte Ran sie verraten? Das sollte doch ihr Rückzugsort sein, Rans Platz, falls etwas in ihrer Beziehung schief gehen sollte. Dort wo Schuldig ihn wusste, er aber nie hinkommen würde, wenn Ran es verbot.
 

Misumi hatte zuviel gesehen in ihrem Leben, als dass sie nun diesen Blick nicht deuten könnte, der vor allem von enttäuschtem Vertrauen sprach.

„Der Körper kann manchmal überfordert sein, wenn er an zu vielen Kriegsherden kämpfen muss. Eine Grippe ist nichts Leichtes…eine Entzündung ebenso wenig nicht. Nicht leicht zu verkraften für ein geschwächtes Immunsystem. Daher muss man alle Herde eindämmen und behandeln, damit es nachher wieder bergauf geht.“

Ihre Augen hielten dem Blick des Fremden stand und beobachteten jede Reaktion auf ihre Worte mit Adleraugen.

„Kümmert man sich jedoch nur um das Augenscheinliche, so kann es sein, dass einem etwas Wichtiges entgeht. Fujimiya-san hat sich um Sie gesorgt, in vielerlei Hinsicht.“ Ein Großteil der Trauer, die sie anhand der Erinnerung an diese Verletzungen verspürte, zeigte sich nicht in ihren Worten…ein kleiner Hauch jedoch schon.
 

„Sorge treibt uns manchmal zu seltsamen Dingen.“

Schuldig schluckte und nahm einen Schluck des Tees, den er von ihr entgegengenommen hatte. Er hatte Durst und das Gefühl, er könne nicht genug trinken.

„Ich weiß…ich sollte nicht ungerecht sein“, gab er zu und legte den Kopf in den Nacken. „Sie haben Recht, Kazukawa-san.
 

„Seltsame Dinge sind manchmal die besten Dinge…“, sinnierte die alte Frau mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen. „Vor allem sind das Dinge, die uns gut tun.“

Sie schwieg wieder und lauschte den fernen Geräuschen aus der Küche.

„Manche Fragen bleiben besser unbeantwortet, mein Junge, aber manche Dinge sind dazu da, geändert zu werden. Geheilt zu werden.“
 

Da saßen sie nun, vom Alter meilenweilt von einander entfernt und warfen mit phrasenhaften Weisheiten um sich.

Schuldig musste plötzlich lächeln. „Und manchmal ist man rettungslos verloren und steuert auf einen Punkt zu, bis jemand kommt, der einem den Kopf zurechtrückt. Ran kann das sehr gut“, lächelte er breiter, bis er husten musste und erschöpft zurücksank.
 

„Das glaube ich Ihnen aufs Wort“, stieg Misumi in das Lächeln ein und ihr Blick richtete sich in Richtung Küche, wo besagter Mann herumwerkelte und die stärkende Suppe kochte. Sie sah ihn nicht, dafür war das Haus zu groß, aber sie hörte ihn.

Misumi hatte schon beim ersten Husten dem Mann die Teeschale weggenommen und wartete nun geduldig, bis dieser sich wieder gefangen hatte.

„Was halten Sie davon…Sie bekommen diese sicherlich köstliche Suppe, aber zuvor lassen Sie mich nachsehen, ob die Kräutersalben auch ihre Wirkungen getan haben?“
 

Er wusste, dass er es ihr nicht abschlagen konnte. Dass er aber auch nicht quengeln durfte. Das wäre peinlich und unter seiner Würde gewesen. Bei Ran ging das noch. Verführen …konnte er sie auch nicht, bei Ran auch eine erfolgreiche Methode. Was blieb dann noch?

tot quatschen?

„Sagen Sie…ist diese Kräutersalbe von Ihnen? Dann sind Sie die Apothekerin?“
 

Misumi nickte gemächlich und wandte sich zur Seite, wo sie sich heute Morgen ihren schwer bepackten Rucksack hingestellt hatte.

„Die bin ich“, sagte sie wie zu sich selbst und kramte in den Untiefen des Stoffes nach etwas, beförderte es nach draußen. Sie legte es neben sich und ruckelte sich etwas zurecht. Ihre alten Knochen wollten auch nicht mehr ganz so wie sie, stellte sie von Zeit zu Zeit fest, doch noch bereiteten sie ihr keine größeren Probleme. Nur das Sitzen…das war von Zeit zu Zeit etwas schwierig.

„Haben Ihnen die Salben geholfen?“ Ihre Augen kehrten wieder zu den fremden, grünen zurück, die etwas im Schilde führten. Das sah sie. Ganz genau.
 

Hmm tot quatschen, funktionierte bei Ran schon nicht. Also warum hier bei der weiblichen, alten Ausgabe von Ran?

Seufzend griff er zu einem weiteren Taschentuch und schnäuzte sich geräuscharm.

„Sie müssten doch gesehen haben, ob sie geholfen haben“, meinte er unverschämterweise etwas stur, besann sich aber dann, nachdem er einen Blick in die alten Augen geworfen hatte.

„Es brennt nicht mehr so stark und nässen tut es auch nicht mehr, Kazukawa-san.“ Er verneigte sich angedeutet im Sitzen.

Schuldigs Blick ging zur Seite in Richtung offener Tür, woher ein Duft nach Hähnchen und Kräutern hereindrang.

„Ich will, dass es ihm gut geht. Sie müssen wissen, dass er mein Beschützer ist. Kein leichter Job, kann ich Ihnen sagen“, er lachte und grinste dann nur noch breit. Seine Lippen waren nur leicht trocken, aber scheinbar hatte sich jemand darum gekümmert und sie mit pflegender Creme versorgt. Wer das wohl gewesen sein mag?
 

Graue, alte Augen folgten dem Blick des jungen Mannes und sinnierten über dessen Worte nach. Natürlich hatte sie gewisse Vorstellungen, was die Worte dieses rothaarigen Ausländers anging, doch sie beschloss, sie nicht weiter zu hinterfragen…denn dazu war sie einfach zu alt, die Neugierde ihrer Tochter kannte sie nicht mehr.

„Auf Sie aufzupassen, ist wirklich nicht leicht. Vor allen Dingen Ihre Gesundheit ist schlimmer als ein Sack Flöhe.“ Ihr Blick kehrte zurück und maß den Brustkorb, der neben den Anzeichen von zu wenig Nahrung auch einen Eindruck eines durchtrainierten Mannes vermittelte.

„Ein paar der Verletzungen auf Ihrem Rücken haben sich entzündet und ich musste sie gestern erneut behandeln“, stellte sie schließlich in den Raum. „Doch die anderen sind gut verheilt, da haben Sie Recht.“
 

„Ich bin eigentlich nie krank, Kazukawa-san. Eine Grippe wie diese hatte ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Und sonst kann ich auch gut auf mich aufpassen. Naja irgendwann geht einfach mal etwas schief und dann kommt eins zum anderen. Danke für Ihre Hilfe“, schloss er ehrlich und lächelte matt.

„In meiner Heimat…da hat mir jemand einmal gesagt: Wenn du glaubst es geht nicht mehr…kommt von irgendwoher ein Engel daher. So verkehrt ist das gar nicht.“ Das Sprichwort mündete in der richtigen Version auf Licht statt auf Engel, aber ihm hatte diese Version als Kind schon immer besser gefallen.
 

„Wie wahr, wie wahr…“, murmelte Misumi und ihre schon leicht knorrigen Finger hoben die kleine Dose, die sie in der Hand hielt, auf ihren Schoß. Engel…sie hatte einmal eine christliche Darstellung dieser Gottesboten im Fernsehen gesehen. Wesen mit Flügeln und leuchtenden Ringen über dem Kopf. Seltsam. „Ihr Engel war sehr besorgt um sie“, nickte sie in Richtung Küche. „Er hat mit Ihnen geschimpft deswegen.“ Sie lächelte in sich hinein, machte eine ausladende Geste.
 

Schuldigs Gedanken gingen zurück zu früheren Zeiten, für einen Moment verlor sein Blick all die Lebendigkeit, als er in Gedanken versank. Doch dann kehrte ein Lächeln in ihn zurück.

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Ich hasse es ihn alleine zu lassen.“ Im Prinzip hatte er das, als er hohes Fieber bekommen hatte.

„Ich lade nicht gern etwas auf ihn ab, gerade wenn ich selbst es bin.“
 

Alt wie die Welt selbst, so kam Misumi der Mann vor ihr vor. Aber nur für einen Moment, dann war er wieder ein normaler Mensch. Seltsam, sehr seltsam hier alles.

„Als wenn du das tun würdest, du Zackelschaf“, schallte es von der Tür her und Misumi erblickte die Person ihres Gespräches. Fujimiya-san hatte die Arme verschränkt und eine seiner Augenbrauen erhoben. Prüfend sah er auf seine Familie…seinen Partner hinab.
 

„Hee, keine Vertraulichkeiten in Anwesenheit von unserem Gast, Herr Fujimiya“, tadelte Schuldig obergescheit und obendrein noch rotzfrech – samt dazugehörigen, harmlosen Blick.

Eine gute Gelegenheit sich dieses unseligen Namens zu entledigen. Schließlich gab es einige Namen, die Ran auch nicht mochte. Und genau…das Wort Seidenräupchen lag gerade in seinen Augen, es schrie geradezu von seinen stummen Lippen.
 

Auch Ayas zweite Augenbraue hob sich anhand dieser deutlichen Anspielung. Sehr deutlich war sie…war das, was hinter den geschlossenen Lippen lauerte.

Sich der aufmerksamen, dunklen Augen bewusst, die sie beide beobachteten, wandte sich Aya mit einem höflichen Lächeln an die alte Frau.

„Meinen Sie, der Patient könnte schon etwas Suppe vertragen, Kazukawa-san?“, fragte er weg vom Seidenräupchen und die alte Frau strich sich nachdenklich über das Kinn.

„Er sieht sehr hungrig aus“, erwiderte sie schließlich und nickte.
 

„Aber ich werde unter Garantie nicht alleine essen“, beschloss Schuldig für sich einstimmig.

Wirklichen Hunger hatte er nicht, aber es konnte nicht schaden. Außerdem würde er den beiden Oberpflegern hier sicher einen gefallen tun wenn er etwas aß. Er wusste ja wie schlimm es war, wenn Kranke nichts aßen, weil sie…zu störrisch waren.
 

Das wusste auch Aya, deswegen beschloss er, diese Sturheit gar nicht aufkommen zu lassen, sondern Schuldig gleich sanft und liebevoll zu locken.

„Gut…dann alle! Kazukawa-san, möchten Sie auch etwas?“, fragte er und die alte Frau erhob sich langsam.

„Gegen einen kleinen Schluck ist sicherlich nichts einzuwenden…“, erwiderte sie und besah sich prüfend den Nicht-Alleineesser. „Wie sieht es mit Ihnen aus…fühlen Sie sich schon in der Lage, ein wenig aufzustehen und im Esszimmer zu essen oder wollen Sie die Suppe lieber hier einnehmen?“
 

Aya tendierte für das Bett, aus dem er Schuldig erst lassen wollte, wenn dieser wieder gesund war, sagte jedoch nichts.

„Nein, nein, ich komme mit, ich werde mich nur schnell etwas frisch machen.“ Sprach der Held näselnder Weise und verdrängte den Gedanken daran, wie er es anstellen wollte, so schlapp wie er sich fühlte. Wenn die Zwei in der Küche waren konnte er das alles schön alleine regeln, hübsch langsam, hübsch peinlich und niemand würde es sehen.

„Geht ihr zwei nur und ich komme gleich nach, ja?“
 

„Die Jugend…die Jugend…“, murmelte Misumi und legte eine Hand auf ihren Rücken. Sie ging den Kopf schüttelnd und vor sich hinlachend aus dem Schlafzimmer heraus, überließ sie es doch lieber Fujimiya-san, dem Helden ein wenig unter die Arme zu greifen.

Aya währenddessen kam zu Schuldig und streckte dem anderen Mann die Hand entgegen. „Ich muss sowieso am Bad vorbei…da kann ich dich auch mitnehmen.“
 

Schuldig nahm Rans Hand, machte aber keine Anstalten aufzustehen oder sich hochzuziehen.

„War’s arg schlimm? War…ich schlimm?“, wollte er ernst wissen, mit einem Hauch von Naivität.

Diese Frage beinhaltete viel.

Viel von dem was er befürchtete. Hatte er viel gesprochen? Wenn ja, was? Wie lange hatte das Fieber gedauert. Ein paar Stunden?
 

Aya lehnte sich zu Schuldig, hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe und strich mit seinen Fingern über die fragenden Lippen. Er schüttelte leicht den Kopf.

„Wie kommst du nur auf solche Sachen? Als wenn dich gesund pflegen jemals schlimm wäre…und ob du schlimm warst, weiß ich nicht, denn du hast kein Japanisch gesprochen. Aber ich denke, ich habe mich ganz tapfer geschlagen - wie du auch.“
 

Schuldig griff nach oben mit beiden Händen und hielt Rans Gesicht fest, die Augen in dieses so sanfte, ruhige Violett hakend. „Aber ich…war nicht gemein zu dir …oder Ähnliches? Sag’s mir, wenn’s so war.“

Er würde sehen, wenn Ran etwas verbarg. Er wusste nichts mehr von dem Fieber. Gar nichts mehr. Als hätte er es vergessen und wenns so war… vielleicht hatte er es vergessen, weil etwas anderes geschehen war.
 

Der Blick der violetten Augen wurde weich unter der verzweifelten Intensität des Telepathen. Aya fühlte ein warmes Gefühl in seiner Brust ob dieser Fragen, fühlte sich seltsam gerührt.

„Nein, das warst du nicht“, murmelte er liebevoll. „Im Gegenteil…du warst außergewöhnlich friedfertig!“
 

Da fiel Schuldig ein großer Brocken Zement vom Herzen, denn er hatte wirklich die Befürchtung gehabt, die Erinnerungslücke mochte daher rühren, dass er wieder irgendetwas…verbrochen hatte.

Er ließ Ran los und behielt dessen Hand in seiner um seine Wange an Rans Handrücken zu schmiegen.

„Wie viel Zeit ist denn vergangen? Hat das Fieber die ganze Nacht gedauert?“
 

„Und den Tag davor…es wollte einfach nicht sinken. Und dann stand Kazukawa-san vor der Tür.“ Aya strich Schuldig über dessen noch klamme Wange. „Sie hat dir geholfen, als ich nicht mehr weiter wusste…dabei wollte sie nur nach den Kindern sehen.“
 

„Oh“, hauchte Schuldig betroffen.

Tja, mehr brauchte er wohl nicht zu sagen. Die Alte kam den ganzen Weg hier herauf, bei diesem Wetter …und musste feststellen, dass sie sie verarscht hatten.

„Oh man. Wir haben doch wirklich das große Los gezogen. Wenn’s kommt, dann Dicke oder?“, grinste er schief und küsste Rans Handinnenfläche, bevor er Anstalten machte die Decke zur Seite zu schieben und seine Beine auf den Boden zu stellen.
 

„Sie scheint nicht böse zu sein…“, sagte Aya nachdenklich.

„Es tut mir leid, dass ich sie angelogen habe.“ Doch was hätte er auch anderes tun sollen? Die Wahrheit sagen in ihrer Lage?

Aya trat ein Stück nach hinten und entledigte Schuldig gänzlich der Decke, half ihm, sich aufzurichten. Das Stehen würde interessant werden…
 

Er meisterte es besser als gedacht…nun, das glaubte Schuldig zumindest. Er stand, allerdings tanzten schwarze und gelbe Flecken vor seinen Augen herum, noch dazu hatte er nicht viel an. Gar nichts um genau zu sein. „Ähm?“, sah er Ran an als die Flecken verschwunden waren.

„Ein wenig Stoff wäre sicher schicklicher…“ murmelte er verdrossen, mit einer Spur Sarkasmus.

Na wenigstens der war wieder da. Also konnte es gar nicht mehr schlimmer werden, behauptete er und nieste gleich zur Bekräftigung.
 

Da hatte Aya fast die Anwesenheit der alten Dame vergessen.

„Ich glaube, bei ihrer Lebenserfahrung ist es für sie nichts besonderes, einen nackten Männerhintern zu sehen“, sagte er trotzdem mit Schalk in seinen Augen. Natürlich griff er gleichzeitig zu einem der Laken und brachte es in einem Akt von künstlerischem Geschick zu ihnen nach oben, da er gleichzeitig Schuldig festhalten musste, der gefährlich schwankte.

„Allerdings ist er momentan etwas blass, das stimmt.“
 

Als wenn der jemals sonnengebräunt gewesen wäre…, meckerte Schuldig in Gedanken. „Weil ja sonst so viel Sonne da ran kommt…“, witzelte er trocken und hustete verhalten. Ohje, sein Schädel fing schon wieder an zu dröhnen, bemerkte er wie nebenbei als Ran ihm das Tuch umwickelte und er sich an dessen Schulter einhielt.
 

„Dann wird es umso mehr Zeit!“

Aya setzte sich langsam in Bewegung, half Schuldig bei jedem, mühsamen Schritt ins Badezimmer. Das alles erinnerte ihn an damals…an Crawford und ihn, wie er damals seinen Kopf hatte durchsetzen wollen. Duschen…war sein Primärwunsch gewesen und wo war er schließlich gelandet? In der Badewanne…unter den wachsamen Augen des Amerikaners.

Dass er nun eine ähnliche Rolle bei Schuldig einnahm…lag in der Natur der Dinge. Oder an der Ironie des Ganzen.

„Wie fühlst du dich, Schuldig?“
 

„Besser.“ Nein, furchtbar.

Er bewältigte den Weg in schleppender kaugummimäßiger Langsamkeit, aber es ging! Das war die Hauptsache. Und er würde den Teufel tun und es nicht bis ins Badezimmer schaffen, samt hinterher schleifendem Zipfel Bettdecke, seinem rasselnden Atem und seiner verstopften Nase. Den dröhnenden Schädel und seinem Helferling an der Seite nicht zu vergessen.
 

„Hört man…ein Neider, wer dich nicht für das blühende Leben per se hält“, erwiderte Aya und konnte die liebevolle Ironie nicht ganz aus seinen Worten fernhalten.

Es hatte vermutlich gar nicht mal so lange gedauert, bis sie im Bad angekommen waren, doch Aya schien der Weg wie eine Ewigkeit…und er konnte hören, dass es Schuldig einfach zu sehr angestrengt hatte. Vorsichtig ließ er den anderen Mann auf der Holzbank nieder.
 

„Witzig“, meckerte Schuldig zurück. „Gib zu du hast heimlich geübt…vermutlich als ich im Fieber lag. Da hast du an mir deine Witze geübt.“

Klaar, sicher war das so. Vermutlich eher, dass Ran verrückt vor Sorge gewesen war…
 

„Richtig. Sonst habe ich ja keine Gelegenheit dazu“, behauptete Aya dreist und hob eine Augenbraue, als er sich die Lage anschaute. „Du weißt, dass Duschen momentan unmöglich ist und Baden auch, oder?“ Er fragte nur Sicherheit nach…nicht, dass es hier noch zum Drama kam. Auch das hier erinnerte ihn stark an sich selbst.
 

Das brachte Schuldig zum Lachen und er blickte auf.

„Ja, mein Kirschchen, ich bin ja nicht so stur wie manch einer…und unrealistisch… nein…ich denke es reicht, wenn ich mir das Gesicht wasche und mich etwas frisch mache. Zähne putzen wäre auch nicht schlecht, ich hab das Gefühl ich hab nen dicken Pelz auf den Zähnen.“ Eine Rasur war ebenfalls fällig, wie er über seine Stoppeln kratzend feststellte.
 

„Das klingt doch gut…“

Aya wandte sich um und bereitete Schuldig seine Zahnbürste vor, übergab sie ihm schließlich fertig zum Zähneputzen.

„So, Kullerpfirsich…dann wollen wir mal. Während du deine Beißerchen polierst, kümmere ich mich um den Waschlappen und den Rasierer.“
 

Schuldig murmelte nur etwas Unverschämtes zu dem Kosewort, schnappte sich die Zahnbürste und ging der monotonen Beschäftigung des Zähneputzens nach, während Ran sich um alles weitere kümmerte.

Nach einer viertel Stunde waren sie in etwa soweit. „Es reicht…denk ich“, sagte er und legte das Handtuch beiseite, nieste erneut…gleich dreimal hintereinander.

„Falls du irgendwo so eine komische weiße Zellansammlung siehst, nicht drauftreten, das ist mein …Hirn…“, meinte er mitleidig, als er gleich noch mal niesen musste.
 

„Ich werde es pflichtbewusst aufsammeln und konservieren“, stimmte Aya dem zu und reichte Schuldig Papier zum Schnäuzen, welches er schließlich in der Toilette entsorgte.

„Meinst du, du schaffst es bis ins Esszimmer oder willst du dich wieder hinlegen?“
 

„Nein! Das wird durchgestanden, ich krieg das schon geregelt. Wir essen alle gemeinsam die Suppe und dann erst lege ich mich wieder hin.“ So …weit kam es noch, dass der Hausherr – wohlgemerkt… nicht am gemeinsamen Essen teilnahm. Grinsend über diesen Gedanken setzte er an sich zu erheben, damit Ran ihm beim Anziehen helfen konnte. Klassische Rollenverteilung, würde er da mal sagen.
 

Aya fing Schuldig wieder ein, als er sich erhob und hüllte ihn in den bereitgelegten Yukata. Gemeinsam verließen sie in gemächlich, gemütlichem Tempo das Bad und kamen ins Esszimmer, wo Aya Schuldig gegenüber von Kazukawa-san platzierte. Er selbst würde sich vor Kopf niederlassen. Doch erst einmal holte er die Suppe samt Schälchen und gab ihnen allen auf.

„Ich hoffe, es schmeckt“, sagte er und Kazukawa-san schnupperte prüfend, nickte schließlich.

„Da bin ich mir fast sicher“, war ihre Antwort, bevor sie ihrer Rolle als Älteste in der Runde nachkam und zu essen begann.
 

Schuldig schmeckte nicht wirklich etwas, so zu war seine Nase und die Erinnerung an scheinbar mal vorhandene Geschmacksknospen konnte es auch nicht besser machen.

Aber er aß brav auf und die Wärme der Suppe tat sowohl seinem Hals als auch seinem Magen gut wie er feststellte.

Sie aßen schweigend und es war ungewohnt für ihn in dieser Umgebung mit dieser alten Frau hier zu sitzen. Fast wie in der Zeit zurückgereist.

Aber dann würde er wohl hier nicht so unbescholten sitzen. Ausländer waren hier nicht immer so gefragt…naja sie waren heute auch noch nicht so gefragt, korrigierte er sich.
 

o~
 

Kaltes Wasser traf auf seine müden Augen. Wenngleich Aya erschöpft war und einfach nur noch schlafen wollte, war er unruhig, seitdem Kazukawa-san das Haus verlassen und er sie in das Dorf gebracht hatte.

Natürlich nicht, ohne vorher Schuldigs Rücken noch einmal zu verarzten, was der Telepath mit…schmollender Würde über sich hatte ergehen lassen. Zumindest schien es Aya so, wenngleich Schuldig vermutlich nach außen hin einen völlig ausdruckslosen Blick gezeigt hatte.

Er gähnte und trocknete sich das Gesicht ab, kam zu Schuldig ins Schlafzimmer, der schon eingerollt unter den Decken lag.

„Sag bloß, du schläfst schon?“, fragte er und schmiegte sich unverschämt eng an den Telepathen.
 

„Ja…tief und fest. Das was du hier hörst, ist nur der Wind…mein Kind“, alberte Schuldig mit näselnder, verstellt mystisch angehauchter Stimme.
 

„Der Wind also…ich hatte mich schon gefragt, was dieses rasselnde und pfeifende Geräusch ist. Muss wohl irgendwo eine Ritze im Gebälk sein.“
 

„Du wirst auch krank, Ran, wenn du so nah an mich ran kommst“, wandte Schuldig sich um, die Decke halb zurückschlagend. Er betrachtete sich Ran und musste lächeln. Er liebte ihn so sehr, dass es schmerzte. Verliebter Trottel eben, resümierte er seinen Zustand ins rechte Licht gerückt.
 

„Du weißt doch, ich werde nie krank“, war Ayas…beschönigende Antwort und er zog die Decke über sie beide, steckte sie fest. „Zumal ich doch mein Recht einfordern muss, neben dir zu liegen und dich zu umarmen, wenn ich das schon die letzten beiden Nächte nicht konnte.“

Er stützte sich halb auf und betrachtete den schon auf dem Weg der Besserung wandelnden Telepathen.
 

„Besser nicht, ich rotz dich sonst noch voll, mein Kirschchen“, lächelte Schuldig samt verstopfter Nase und kratzendem Hals zu Ran auf.

Er hob die Hand und fuhr Ran mit zwei Fingern die losen kürzeren Strähnen aus dem Gesicht, bevor er ihm sanft über den Hals strich. „Wir haben einiges nach zu holen, aber irgendwie gelingt es uns nicht so wirklich.“ Für einen langen Moment hielt er den Blick in die ihn so sanft ansehenden Augen, als er sagte: „Geht’s dir gut? Sag…ehrlich.“

Eigentlich war es ihm nur so herausgerutscht. Er ahnte ja schon beinahe, was für eine Antwort er bekommen würde. Und das machte ihn nur umso trauriger. Ran, der Held.

Ja, klar.
 

Aya rümpfte gerade noch über Schuldigs leicht unblumige Aussprache die Nase, als sich die Worte des anderen Mannes in seine Gedanken schlichen. Ob es ihm gut ging? Die Antwort schien eindeutig: ja, warum auch nicht? Schuldig war hier, er war am Leben, sie waren in einem Haus voller Ruhe, als das, was er sich immer gewünscht hatte, waren glücklich…natürlich gab es kleine Abstriche, doch da war noch etwas anderes. Etwas, das er nicht greifen konnte, weil es zu tief verwurzelt war. Aya vermutete, dass es an den zwei Wochen lag, in denen Schuldig als tot gegolten hatte…einen anderen Grund konnte er sich nicht vorstellen.

„Ich bin etwas erschöpft.“ Er lächelte. „Aber sonst ist alles in Ordnung. Gibt es einen bestimmten Anlass zu deiner Sorge?“
 

Erschöpft, ja das traf es genau. Aber es war keine momentane Erschöpfung, denn sie saß tiefer und fester, als Ran es vielleicht wahrhaben wollte.

„Nicht wirklich.“

Schuldig hustete halb in seine Decke hinein, drehte sich leicht von Ran weg deshalb. Nachdem der Hustenanfall vorbei war sah er wieder zu ihm auf.

„Du hast die letzten Monate so viel mitgemacht, meinst du nicht, dass du nicht nur „etwas“ erschöpft bist? Es ging drunter und drüber. Von einem Hoch ins nächste Tief.“

Gut, aber was sollte Ran mit dieser Erkenntnis anfangen? Sich schonen?

Er wollte einen Job, jetzt hatte er ihn und er hatte diesen Schritt getan – zugegeben mit Brads Hilfe – in einer wohl schlimmen Zeit. Vielleicht fand er auf diese Art in ein Stück Normalität hinein. Nur musste er sich hierbei wieder anstrengen, wieder kämpfen.
 

„Das ist wohl wahr…“ Aya zuckte mit den Schultern. „Was soll ich machen? Winterschlaf halten?“ Er lächelte müde.

„Das Leben geht eben weiter, Schuldig, das ist es immer und wird es immer. Ich muss mich diesem Tempo eben anpassen.“ Sonst würde er sich selbst verlieren, das wusste Aya. Er konnte nicht stehen bleiben und halt machen, nicht in die Vergangenheit schauen oder überlegen, was passiert war. Er musste in die Zukunft sehen, weg von dieser immensen Schwärze, die hinter ihm lauerte.
 

Wie immer die gleiche Antwort, merkte Schuldig für sich selbst an. Als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen, keifte etwas in ihm und Schuldig begehrte innerlich auf.

Er wollte Ran schütteln, ihm sagen, dass er nicht alles ertragen konnte und musste, dass er das nicht länger musste. Dass es eine Zeit geben musste, die ruhig und geordnet für den Japaner sein sollte.

Nicht so chaotisch… wie mit ihm.

Schuldig sagte nichts, sondern robbte näher an Ran und schmiegte sein Gesicht an dessen Brust. „Ja…wenn du es kannst“, murmelte er.
 

„Sicherlich. Ich starker Mann, ugah!“, kam die zuversichtliche Antwort und Aya zog Schuldig an sich. Was sollte er auch anderes? Verzweifeln? Das konnte er nicht, hatte sich das schon nach dem Tod seiner Eltern abgewöhnen müssen. Der Zeit davon fliehen, hatte Knight ihm einmal gesagt. Der Zeit und damit den Schuldgefühlen und danach richtete er sich.
 

„Blödmann“, murmelte Schuldig nicht wirklich überzeugt von Rans Foppen.

Er schloss die Augen und wollte nichts mehr hören und sehen. Momentan schien es ihm zuviel zu sein, obwohl er dieses Thema aufgebracht hatte.

„Lass uns schlafen, Blumenkind.“
 

„Gute Idee!“
 

Ja, Schlaf wäre das Beste für sie beide…wirklich das Beste. Und für Schuldig schien dieser Schlaf wirklich nötig zu sein, so schnell, wie er schließlich in seinen Armen in ein leises Schnorcheln glitt und Aya in der Dunkelheit alleine zurückließ.

Es war nicht das erste Mal, dass er nicht schlafen konnte und noch wach lag, doch nun gingen ihm die Gedanken ihres Gespräches durch den Kopf. Er war erschöpft…sollte sich ausruhen. Das konnte er nicht, also hatten sie eine Pattsituation.

Aya schloss seine Augen. Es würde sich wieder einrenken, ganz sicherlich.
 

Dennoch brauchte es seine gute Zeit, bis er schließlich eingeschlafen war und sich nun ins Reich der Träume gesellt hatte…der dunklen, schwarzen Träume, die ihn oft, aber nicht regelmäßig befielen.
 

o~
 

Hass wellte hoch, gepaart mit Verzweiflung und der unbändigen Wut, die er im Anblick dieses Mannes verspürte. Rote Haare, heller als die Seinen und grüne, teuflische Augen, die ihr ätzendes Lächeln lächelten.

Schmale Lippen verzogen sich und grüßten ihn.

„Abyssinian…wie SCHÖN.“

Aya zischte und seine Hand umgriff das Schwert fester.

„Lass sie in Ruhe!“, grollte er als sein Blick auf das scheinbar seelenlose Mädchen fiel, das sich ihm nun näherte, eindeutig unter Schuldigs Einfluss.

„Sakura! Wach auf!“ Auch wenn er keine besonderen Gefühle für sie hegte - außer, dass sie wie die ältere Ausgabe seiner Schwester aussah - konnte er es nicht zulassen, wie sie von Schuldig benutzt wurde…aber sie hatte…

…eine Waffe…

…und…

Das Bild verzerrte sich von jetzt auf gleich und er hörte den Donner des abgefeuerten Schusses, er sah ihre Augen, er hörte Schuldigs Lachen. Er spürte sich selbst zurücktaumeln, zu Boden gehen vor Schmerz. Die Kugel hatte ihn voll getroffen, sah er, als er die Hand auf seine Brust legte. Mitten ins Herz. Er keuchte verzweifelt auf und die grünen Augen genossen jede Sekunde seines Endes, jeden Funken des Lebens, der mit dem Blut aus ihm heraus floss.

Sie waren…

…das letzte, was er sah…

als er…
 

Aya schoss hoch, röchelte verzweifelt nach Luft, nach Leben, nach irgendetwas. Sein Brustkorb schmerzte, war angefüllt von Phantomschmerz. Er wollte noch nicht sterben…vor allen Dingen nicht so! Die Augen weit aufgerissen starrte er in die Dunkelheit und wusste im ersten Moment nicht, wo er war…wie er hier hinkam und was er hier machte. Nichts wusste er.

Wild sah er sich um und blieb mit Entsetzen bei einer Gestalt neben sich hängen. Rote Haare…lange rote Haare. Abrupt wie auch gefangen in Erinnerungen taumelte er zurück, aus dem Bett, auf den Boden und von dort aus nach hinten. Was in aller Welt? Wieso war das Schuldig? SCHULDIG! Schuldig, der auf ihn geschossen hatte!
 

Schuldig ruhte noch immer in gleicher Position, die Hände vor sich liegen, in der kleinen Kuhle zwischen Ran und sich selbst, allerdings war er durch etwas wach geworden. Durch… etwas Lautes. Seine Hand fand ihren Weg zu seinen Augen, die sich den Schlaf aus ihnen rieben.

„Ran…?“ wisperte er rau in der Kehle, noch schlaftrunken.
 

Ran…

Abyssinian…

Nein, Ran. Hier, das hier war…

Die Gegenwart.

Vergangenheit, der Schuss war die Vergangenheit. Nichts weiter. Vergangenheit.

Gegenwart. Schuldig. Hier. Mit ihm.

Ayas Augen weiteten sich im schwachen Lichtkegel der kleinen Lampe, als er zu sich kam und wusste, dass das eben nur ein Traum gewesen war.

Nein, Vergangenheit in einer abgeänderten Version.

Noch zu deutlich hatte er seinen Traum vor Augen. Aya schluckte mühevoll und wollte, dass er sich beruhigte, doch das leichte Zittern, was ihn ergriffen hatte, ließ nicht nach. Auch jetzt nicht, wo er sich bewusst wurde, wer es war. Dass der Mann, der so schlaftrunken nach ihm fragte auch derjenige war, der Sakura manipuliert hatte, ihn anzuschießen.

Das Zittern wurde stärker…die Übelkeit ebenso.
 

Träumte er?

Was er da sah, war das ein böser Traum, der Ran ihn so hasserfüllt und doch voller Abscheu und versteckter Furcht anblickte?

„Was ist…?“, fragte er vorsichtig nach und richtete sich auf. „Ran…du hast geträumt?“ Und das war kein guter Traum gewesen, wie es den Anschein hatte. Oder war es etwas anderes?

Plötzlich war Schuldig hellwach, setzte sich auf.
 

Erst als sein Körper noch in den Fängen des Traums zurückzuckte, kam Aya völlig zu sich und atmete tief durch. Er schloss seine Augen und fuhr sich müde über die Lider.

„Ja…nur ein Traum. Es ist nichts“, versuchte er zu beruhigen, doch dafür war seine Stimme zu…ja, undefinierbar. Er konnte nicht ausmachen, was alles mitschwang. „Ist schon okay…leg dich wieder hin, ich gehe eben ins Bad“, sagte er und erhob sich. Eben…eben um die Übelkeit loszuwerden, die ihm mittlerweile bis zum Hals stand und sich ihren Weg nach draußen bahnen wollte.
 

Ran ging und Schuldig saß völlig überfahren da. Zunächst einmal konnte er sich gut vorstellen, wer der Hauptakteur in dem kleinen Horrorstreifen war, den Ran just erfahren hatte. Und er war nicht stolz auf die Rolle.

Er streckte sich und wandte sich auf die andere Seite, trank etwas Wasser und schnäuzte sich. Herrlich. Wirklich herrlich. Warum musste er ausgerechnet jetzt krank sein?

Schuldig zog seinen Yukata in eine geordnete Position, erhob sich und schlüpfte in seine Hausschuhe bevor er Ran folgte. Den leichten Morgenmantel in Nähe der Tür zog er ebenfalls über, bevor er in Richtung Bad ging.
 

…wo Aya gerade die Toilettenspülung betätigte und sein Abendessen der Kanalisation übergab.

Er hatte es noch geschafft und all seinen Ekel, all seine Angst in einer körperlichen Reaktion aus sich herausgelassen, aus sich herausgewürgt.

Er erhob sich und drehte mit zitternden Fingern den Wasserhahn auf, wusch sich das Gesicht und die Hände, während seine Gedanken weit weit weg waren von hier.

Wie konnte er?

Das war die Frage, die in ihm brodelte. Wie konnte er jemanden lieben, der früher nichts als Gewalt übrig hatte, der schier sadistischen Spaß daran hatte, Weiß und die Menschen, die Weiß in einer Art und Weise nahe standen zu quälen?

Er hatte die Vergangenheit zurücklassen wollen, doch sie hatte ihn eingeholt. Gerade eben, mit diesem Traum, der ihm so einiges verdeutlichte.

War er gerade ein leichtes Zittern gewesen, so spürte Aya nun, wie seine Zähne aufeinander schlugen. Er presste sie aufeinander. Nein…aufhören, befahl er sich selbst, doch so recht hören wollte sein Körper nicht.
 

Schuldig hörte wie die Spülung lief, aber Ran danach nicht herauskam, wartete und klopfte schlussendlich an die Tür. Er wollte wissen, was mit Ran war, aber er wollte ihm auch Zeit geben.

Vielleicht, weil er selbst Angst vor dessen Reaktion hatte. Und weil er Rans Gesicht nicht mehr so hasserfüllt sehen wollte. Nie mehr.

Und wenn…du musst da durch, sagte er sich grimmig.

„Ran? Lässt du mich rein?“
 

Seine violetten Augen im Spiegel sagten nein. Sie waren schon lange nicht mehr so mit Hass angereichert wie noch vor ein paar Minuten, nein, jetzt wohl eher mit stummem Entsetzen. Er schloss sie und schulte sich auf Ausdruckslosigkeit.

Dann erst fand er die Kraft zum Sprechen.

„Komm rein, es ist offen.“
 

Schuldig öffnete die Tür, den Morgenmantel offen gelassen, schleifte der Gürtel lose in den Schlaufen herab. Mit einer Hand kämmte er sich die wüsten Haare aus dem Gesicht hinter die Ohren, als er ins Bad eintrat. Er wollte gerade ansetzen etwas zu sagen, als er mitten drin stockte. Ran hatte sich vor ihm verschlossen, doch dessen Leib zitterte unmerklich.

„War dir übel?“

Seine Frage war absichtlich betont harmlos gestellt, auch die Tür war nicht geschlossen. Ran erschien ihm wie ein Tier… bereit zur Flucht.

Wie in ihren Anfängen, als Ran unfreiwillig bei ihm war.
 

Es war doch offensichtlich…

„Ja.“

Aya atmete tief ein und öffnete die Augen, konnte sich aber immer noch nicht umdrehen oder Schuldig gar in dessen grüne Iriden sehen, aus Furcht, er würde mit seinem Traum konfrontiert werden.

„Ich habe schlecht geträumt.“
 

‚Ja, das war klar. Aber so schlecht gleich, dass du dich übergeben musst? Ran, verdammt sprich mit mir.’

Doch das kam nicht über Schuldigs Lippen. Nichts davon.

Stattdessen zog er seinen Morgenmantel herunter und kam zu Ran, hängte ihn sanft über dessen Schultern. „Du zitterst, als hättest du ein Monster gesehen.“ Seine Finger fuhren den Rand des Mantels nach als er ihn Ran umhängte und sich abwandte.

„Ich…bin kurz draußen, frische Luft schnappen.“
 

Erst als er aus dem Bad kam, bemerkte Schuldig erst, wie aufgeladen die Spannung zwischen ihnen war. Er hatte die Luft angehalten, die er nun entließ und in die Küche ging. Er holte sich seine Zigaretten und ging hinaus auf die Terrasse des Gartens. Setzte sich unter das Dach auf die hölzerne Bank und zog die Kleidung um sich. Er brauchte jetzt diese beißende Kälte und den Rauch der Zigarette, die er sich anzündete.

Ran brauchte Zeit, das zeigte allein schon der ihm zugedrehte Rücken. Das hieß: fass mich nicht an, sag ja nichts Falsches, lass mich… lass mich einfach…
 

Aya nickte, als er die Worte verspätet wahrnahm…sehr viel später, als Schuldig sie ausgesprochen hatte, obwohl dieser schon längst das Bad verlassen hatte.

Nur langsam löste er sich vom Waschbecken und kam gerade einmal bis zur hölzernen Bank, auf der er nieder sackte und sich den Morgenmantel enger um die Schultern zog.

Das Zittern wurde dadurch nicht besser, ganz im Gegenteil. Er wusste doch, dass er Schuldig liebte, aber er wusste auch, dass er ihn eigentlich nicht lieben durfte.

Schuldig war so viele Jahre lang das Böse in seinem Leben gewesen und der Traum, die Erinnerung an Sakura, war nur ein kleiner Ausschnitt davon. Takatori…von Schwarz beschützt, Ouka, von Farfarello getötet, Weiß als Spielball für die gegnerische Gruppierung. Dem gegenüber stand das Menschsein. Schuldig war ein Mensch, er litt, war traurig…verzweifelt, wie jeder andere auch.

Der Unmensch von damals ein Mensch mit Gefühlen gewesen.

Ein Zwiespalt.

Aber das Schlimmste war das Gefühl des sich verkauft habens…für die Liebe, das Glück hatte er sich verkauft, sich und seine Ideale. An den Mann, der ihn liebte. Den er liebte.
 

Es stürmte nicht mehr, nur noch ein leiser Wind zog durch den verwilderten Garten und Schuldig zog ein Bein auf die Bank. Verdammt war das kalt, grimmte er in Gedanken als ihm eine Bö unter den Yukata fuhr.

Ein weiterer tiefer Zug tröstete ihn über die Situation hinweg. Es würde bald Frühling werden, vielleicht würde es dann besser…wenn dieser elendslange furchtbare Winter endlich rum wäre.
 

Sein Team…ja, sein Team hatte er auch verraten, Omi vor allen Dingen. Oder? Er war sich so uneins mit sich selbst, so zerrissen vom inneren Widerstreit seiner Emotionen, die sich in dem Zittern entluden, das ihn heimgesucht hatte.

Aya stützte seinen Kopf auf die Hände und starrte blicklos zu Boden. Was tun, fragte er sich, die Welt, seine Schwester, alle, die im Gegensatz zu ihm eine Antwort parat hatten.
 

Schon seltsam wie schwer einem das Atmen fiel, wenn man eine Erkältung hatte und wie leicht es plötzlich ging wenn man unbedingt eine Zigarette rauchen wollte.

Schuldig verzog den Mund zu einem nachdenklichen Lächeln und seufzte, bevor er erneut daran zog.

Vielleicht sollte er reingehen und Ran zur Vernunft bringen, wenn er wieder in diesen Zweifeln versank? Wieder das Gleiche, wie damals, als er in Shanghai war, als er mit Yohji allein im Haus war.

War es wirklich gut ihn jetzt alleine zu lassen, oder hätte er doch bei ihm bleiben sollen?

Man…so leicht war das nicht, sich zu beherrschen und hier sitzen zu bleiben. Er hätte ihn am liebsten an sich gerissen und geschüttelt.
 

Es gab eine kleine Stimme, die schlug Aya vor, sich mit Schuldig auseinander zu setzen und dem anderen Mann von seinem Traum zu erzählen. Von der Vergangenheit…doch wozu? Sie beide kannten die vergangenen Monate und Jahre und hatte er nicht vor dem Schlafengehen noch groß getönt, dass er nicht erschöpft war und dass er nach vorne sehen konnte?

Hatte er es die ganze Zeit nicht gekonnt und war es nun ausgebrochen? War das das unruhige Gefühl, diese unterschwellige Angst und das Unwohlsein gewesen? Dieser ständige Drang nach Beschäftigung, nach Entspannung aber auch und nach Nähe zu dem anderen Mann, so als müsse er sich beweisen, dass er ihn trotz allem liebte?

Aya atmete tief ein und es war ein unsicheres Einatmen. Er konnte jetzt nicht schweigen, er musste mit ihm reden, das wusste er.
 

Doch was dabei herauskommen sollte…außer Erinnerungen, die er lieber tief in sich vergrub, das wusste Aya nicht, nur sein Körper konnte anscheinend schon sagen, was zu tun war, als er sich schlaff erhob und sich auf die Suche nach dem Telepathen machte.

Er fand ihn auf der Terrasse und schweigend lehnte er sich an den Türrahmen. Jetzt, wo er da war, fehlten ihm die Worte.
 

Schuldig musste seinen Kopf nicht aus dem Nacken heben, musste nicht aufsehen und seinen Kopf drehen um zu sehen, dass Ran zu ihm gekommen war.

Er nahm einen Zug aus der Zigarette und entließ ihn langsam.

„Früher…im Waisenhaus…da hatte ich einen Freund, er hieß Marc. Er war zwei Jahre älter als ich und wir machten alles zusammen. So richtig tolle Kumpels. Durch dick und dünn, du weißt schon.
 

Bis ich angefangen habe seine Gedanken zu lesen. Er war der erste, bei dem ich es wirklich tat, ohne dass ich mich schämte, ohne dass ich es als etwas Schlimmes angesehen habe. Und ab da … konnte ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich konnte es einfach nicht mehr. Ich hätte schreien mögen, wenn er mir etwas tolles erzählt hatte, was gar nicht stimmte, oder verdreht war, nur weil er sich toller darstellen wollte, sich über mich stellen wollte. Das war so dumm. Ich mochte ihn doch auch so. Er war doch mein einziger Freund.

Ich stellte fest, dass jeder so war. Mal mehr, mal weniger.

Es machte mich schier verrückt. Diese Lügen, diese Intrigen, diese Aufwertung.

Ich glaube, damals war ich acht, wenn ich mich richtig erinnere.“

Er hatte Lust, das zu erzählen. Wem sollte er es sonst erzählen, wenn nicht ihm?

Er war zu nervös um etwas zu fragen, Angst vor der Antwort, vor den Zweifeln in Ran, hatte er zu Genüge.
 

Aya stellte fest, dass er diese Worte gar nicht hören wollte, dass er sich lieber die Hände auf die Ohren pressen wollte, als noch einmal bestätigt zu bekommen, WIE menschlich Schuldig war… doch liebte er nicht genau das an dem Telepathen, hatte ihn nicht genau das damals überzeugt?

Damals…wie das klang. Es waren doch nur ein paar Monate her, seit sie sich das erste Mal näher gekommen waren. Seit sie den Feind im Privaten kennen gelernt hatten.

War es das, was Schuldig meinte?

„Ich habe von Sakura geträumt…und dir. Dir als Mastermind.“ Nicht als achtjährigen, unschuldigen Jungen, der enttäuscht und verletzt über seine Freunde war, die Menschen, mit denen er sich umgab. Aya wusste nicht, was mehr schmerzte…Schuldigs Schmerz oder seine Erinnerungen an die Vergangenheit.
 

Oh. Die Kleine.

Er konnte sich an sie erinnern. Ran… hatte wohl damals was für sie übrig. Und er hatte sie ihm …und er hatte sie und Rans Schwester ihm weggenommen. Ja beide, ihm weggenommen um Weiß zu schwächen.

Zu seiner Verteidigung könnte er anbringen, dass es Brads Plan gewesen war. Was keinen Unterschied machte, denn die Ausführung oblag ihm und die hatte er immer möglichst kreativ und unterhaltsam für sich gestaltet.

Was sollte er sagen…? Scheißtraum. Übel.

Nein. Ja.

Es war eine andere Zeit?

Krieg?

Im Krieg zeigten sich die Menschen immer von ihrer schlimmsten Seite?
 

Er zerdrückte die Zigarette vorsichtig auf der Bank und legte den Stummel daneben. Er würde ihn später mit hineinnehmen.

„Wir wollten uns verletzen, Ran. Schon vergessen?“, fragte er sanft und drehte den Kopf noch immer in den Nacken gelegt und am Holz angelehnt zur Seite damit er ihn ansehen konnte.

„Wir wollten das, weil wir einen Grund hatten. Du hattest einen Befehl und wir hatten einen Befehl.“
 

Einen Befehl…

Er hatte den Befehl gehabt, Verbrecher zu morden, selbst zu einem zu werden, eben weil er mordete. Schuldig hatte den Befehl, mit ihnen zu spielen. Mit allen zu spielen.

Es machte es nicht einfacher…gar nichts vereinfachte das. Im Gegenteil…es ließ Sakuras Blick in seinem Inneren wieder aufkommen, ihre leeren Augen und die Waffe, die auf ihn zielte, abdrückte, das Lachen…

„Nein, ich habe es nicht vergessen“, sagte er mit Mühe ausdruckslos und wandte seinen Blick ab, sah nach draußen in die Dunkelheit. Der Grund, ein unschuldiges Mädchen dafür zu missbrauchen, ihm zu schaden…ja, dafür hatte es einen Grund gegeben, nur Aya wusste nicht, welchen.

Hand in Hand

~ Hand in Hand ~
 


 


 

„Red mit mir, Ran. Sag irgendetwas. Auch wenn du mich anschreist, aber sag bitte etwas“, bat er mit ruhiger Stimme, nicht fordernd, nicht zu sanft, denn er wollte weder zu sehr angreifen noch zu sehr zurücktreten.

Er spürte wie Ran neben ihm mehr und mehr zur schattenhaften brodelnden Masse wurde, in sich zusammenfiel und dabei noch mehr dieser dunklen Gedanken produzierte.

Das war nicht gut, verdammt.

Wer konnte das besser wissen, wenn nicht ein verrückter Telepath?
 

„Ich hatte mich gefragt, welchen Grund es dafür gegeben hat, sie dazu zu missbrauchen, mich anzuschießen“, vokalisierte Aya seine Gedanken und sah Schuldig nun zum ersten Mal direkt in die Augen. Er wusste, dass diese Ausdruckslosigkeit nur eine Mauer war, die zwischen Schuldig und seiner Wut, seinem damaligen Hass, ja und auch seiner Liebe stand und die er aufrecht hielt, weil er nicht wusste, was passieren würde, wenn sie brach. Momentan vielleicht zuviel, auch wenn das, was er momentan Schuldig entgegenbrachte, den weitaus größten Teil ausmachte.

„Die Frage habe ich mir sehr oft gestellt und dir ebenso…und ich denke, ich kenne die Antwort. Sie müsste auch eigentlich hinter mir liegen, ich weiß nur nicht, wieso sie jetzt wieder aufgekommen ist. Ausgerechnet jetzt…“ Das Letzte war nur noch leise, wie in Gedanken ausgesprochen worden.
 

„Wann sonst, wenn nicht jetzt?“, meinte Schuldig lapidar und atmete tief ein, nur um langsam wieder auszuatmen.

Er schauderte leicht und rieb sich über die Arme, als er sich aus seiner Haltung löste und das Bein auf den Boden setzte.

Ihm war kalt, sehr kalt, denn er hatte bis auf seinen Yukata nichts weiter an. Aufstehend nahm er seinen Zigarettenstummel mit und kam zu Ran an die Tür.

In der Küche und im Wohnraum war kein Licht und so standen sie sich gegenüber und Schuldig konnte Ran direkt in dieses unleserliche Gesicht blicken, in die ihn ausschließenden Augen blicken.

Aber … mittlerweile wusste er wie es hinter ihnen brodelte.

„Lass uns drinnen reden, wie wär’s mit einem Tee?“

Er streifte Rans Hand, hielt sie für einen Moment fest und gab ihr eine sanfte Zugrichtung nach drinnen. Dann ging er in die Küche.

Hier war es herrlich warm im Gegenzug zu draußen. Wieder schüttelte es ihn, dieses Mal vor Wohligkeit.
 

Es brauchte einen Moment, bis sich Aya entschloss, dieser Richtung endgültig zu folgen und er schloss die Tür hinter sich, sperrte die immer noch immense Kälte aus.

Langsam folgte er Schuldig in die Küche und sah dem anderen stumm dabei zu, wie er Tee machte. Der Tee würde vielleicht den bitteren Geschmack wegspülen, die immer noch in seinem Mund lauerte.
 

Schuldig entsorgte den Zigarettenstummel, schaltete eine der indirekten Wandbeleuchtungen ein und wusch sich die Hände, sie sich abtrocknend wandte er sich Ran halb zu.

„Hör zu.“ Er legte das Tuch beiseite und begann den Tee vorzubreiten.

„Unsere Teamstruktur sieht zwar nicht so aus, aber ich bin durchaus fähig, den Zweitkoordinator zu stellen und so war es dort auch. Nach Kitamura war fürs Erste Sendepause. Nur kleinere Jobs, harmlose im Vergleich zu der Geschichte mit Takatori. Aber das weißt du, darüber haben wir gesprochen.“ Er schaltete den Herd an und setzte das Wasser auf.
 

„Kitamura war das Tor für SZ nach Asien, Takatori der Wegbereiter. Eine zeitlang lief nichts in diese Richtung und dann zogen SZ Takatori an Land. Plötzlich ging es los und die Herrschaften in Europa trimmten uns dahingehend, dass wir Takatori helfen sollten, aber nicht uneingeschränkt. Nicht blind wie bei Kitamura. So etwas sollte sich nicht wiederholen. Sie brauchten mich. Weil sie wussten, dass ich mehr Biss als früher hatte, mehr Engagement, mehr Lebenshunger, nach den Aufenthalten in den Psychiatrien.“

Schuldig füllte den Tee ab und lehnte sich an die Anrichte.

„Mein Aufgabengebiet lag in der Informationsbeschaffung, dem Erstellen von Profilen, Infiltration und Spionage. Täuschung und Verwirrung waren obligat. Die anderen Drei hatten ihre jeweiligen Aufgabengebiete nach ihren Fähigkeiten.“

War es zum ersten Mal, dass er Ran tatsächlich einen konkreten Einblick in ihre Arbeit gab? Weg vom emotionalen Wahnsinn, den sie nach außen scheinen ließen?
 

Aya rührte sich zunächst nicht, immer noch stumm und ließ sich die Worte des anderen durch den Kopf gehen. Er sagte dazu nichts, weil es nichts dazu zu sagen gab - war es doch ein Abriss der Vergangenheit, eine Zusammenfassung von Schwarz’ Tätigkeiten. Das Elementare würde noch kommen, da war er sich sicher.

Es dauerte einen Augenblick, bevor er sich abstieß und sich auf einen der Stühle setzte.
 

„Wir hatten mit einigen anderen Gruppen zu tun bevor ihr auf den Plan getreten seid. Ihr wart die letzte Instanz könnte man sagen. Kritikers letzte verzweifelte Waffe. Und eine gute, noch dazu. Ihr wart unsichtbar für uns zuvor gewesen. Schatten.“

Schuldig wandte sich um als das Wasser siedete und schaltete die Stufe der Herdplatte herab. „Ich bekam die Aufgabe herauszufinden wer ihr wart, warum ihr Takatori schaden wolltet und wie. Dazu erstellte ich Profile von euch. Eure Stärken, eure Schwächen. Wie heißt ein chinesisches Sprichwort doch …man muss dem Drachen den Kopf abschlagen um ihn zu besiegen.“

Das Wasser kochte, er stellte den Herd ab und goss den Tee auf, wartete ein wenig um die Poren der Teeblätter sich öffnen zu lassen.

„SZ verbat es, uns mit den Behörden direkt anzulegen, oder direkt auffällig zu werden. Das besorgte allein schon Takatori und seine abgedrehte Familie. Da ihr die größte Bedrohung für ein Scheitern von SZ persönlichem Erscheinen in Tokyo darstelltet, waren wir ausschließlich auf euch angesetzt während dieser Phase. Takatori und seine Spießgesellen, ihre Spielchen und Machenschaften rückten für uns in den Hintergrund.“

Schuldig goss den Tee erneut auf und stellte den Rest des Wassers in dem Topf zurück auf den Herd.
 

„Ich hatte herausgefunden, dass das Mädchen und du etwas laufen hattet. Deshalb bot es sich an, sie gegen dich einzusetzen um dich zu Schwächen und dich einzuschüchtern. Eine Machtdemonstration mittels Gedankenführung- und übernahme war dazu ideal.

Ich versprach mir dadurch, entweder dich zu verletzen, dich auszuschalten, oder dich derart einzuschüchtern, dass du loslässt und uns in Ruhe lässt. Je rechtschaffener ihr euch aufführtet, desto mehr hielten wir dagegen und kehrten ins Gegenteil um.“
 

Schuldig hob die Teeblätter aus dem Tee und brachte ihre zwei Schalen zu Ran, ließ sich ihm gegenüber nieder.

„Uns unterschied etwas Wesentliches dabei: Ich konnte zwischen Privat und Job unterscheiden. Du nicht. Das war zum einen euer Vorteil, was den Job anging, aber zum anderen auch euer Nachteil was …eure Seele anging. Aber lassen wir das pathetische beiseite, dass ohnehin keiner hören will.“

Schuldigs blasse Finger umschlangen die Schale auf der Suche nach Wärme.
 

„Ihr wart Einmalprodukte. Kritiker kämpften ausschließlich gegen Takatori, ihr wurdet lediglich zu diesem Zweck rekrutiert. Was mit euch danach passieren sollte stand in den Sternen. Natürlich hätte sich eine Verwendung gefunden. Aber primär solltet ihr dort eure Bestimmung finden. Denn euer Zorn und euer Hass waren Triebfeder genug um einen persönlichen Grund für euer Tun zu haben. Perfekt für Kritiker.

Nur…Ran? Was habe ich mit diesem Hass zu tun? Ich habe meinen Job gemacht, Takatori bewacht und euch davon abgehalten, ihn zu töten. Mit den Mitteln die mir zustanden. Natürlich ein umfangreicherer Rahmen, doch bei dir war dies alles schwieriger. Ich konnte nur Sakura gegen dich einsetzen um dich zu stoppen, nicht meinen Einfluss auf dich – denn den hatte ich nicht.

Dich eigenhändig niederschießen hätte nicht den gleichen Effekt gehabt. Gehe ich davon aus, dass alle drei Bosse von SZ im Wagen saßen und mich beobachteten, ob ich für sie noch einträglich war oder nicht, war es die beste Option. Ob ich mich noch rechnete, bei all dem, was ich falsch gemacht hatte und wie unlenkbar ich im Grunde genommen war.“

Er raufte sich die Haare, einen Ellbogen auf dem Tisch abgestützt.
 

Darwin hielt also Einzug. Fressen oder gefressen werden. Aya konnte es Schuldig noch nicht einmal richtig vorwerfen. Er war ebenso gestrickt. Bevor er getötet wurde, brachte er mit seinen eigenen Händen um.

Die Mittel, derer er sich bediente…waren anders.

Also war es die Schuld von SZ? Wie alles in Schuldigs Leben. Sie zwangen ihn, seine Haut zu retten, und sich anderer Menschen zu bedienen.

„Du hast gerne mit Menschen gespielt.“ Ein Statement, ein neutraler Kommentar.
 

Der doch nicht so neutral gesagt werden konnte, wie sich vielleicht Ran erhoffte. Es war ein Vorwurf.

Schuldigs Blick brannte sich in Rans, während er einen Schluck des Tees kostete. Die Wärme floss ihm den Rachen und die Speiseröhre hinab. Es tat verdammt gut.

„Ja, so sah es wohl aus. Und so sieht es wohl heute noch aus.“
 

„Deine dunkle Seite ist der Meinung, dass es ihr Spaß macht.“ Nichts anderes hatte dieses wilde, hassende Etwas ihm gesagt.

Aya nahm seinen Tee und trank etwas, stellte die Schale schließlich wieder ab. „Bei dir kann ich mir das nicht vorstellen.“
 

Seine dunkle Seite?

Gab es jetzt schon zwei säuberlich von einander getrennte Seiten in sich?

Schuldig lächelte leise vor sich hin und schüttelte langsam den Kopf. „Du machst einen Fehler wenn du glaubst, dass meine Gefühlsumschwünge, die Anhäufung meiner negativen Gefühle und mein ausgeglichener Zustand zwei säuberlich von einander getrennte Seiten sind.“

Macht zu haben und diese umsetzen zu können, ohne Schranken, ohne Grenzen … es wurde auf Dauern langweilig. Sterbenslangweilig. Etwas Abwechslung war da nie schlecht.

„Ich könnte mit dir wetten Ran, dass du mehr Leichen im Keller hast als ich. Dass dein Schwert mehr Menschen tötete als meine Gedanken oder meine Hände.“

Er nahm erneut einen Schluck Tee.

„Ich habe den Wahnsinn in deinen Augen gesehen, Ran. Erzähl mir nicht, dass du nicht weißt, wie sich Macht anfühlt und wie es sich anfühlt diese zu benutzen“, sagte er leise.
 

„Das bestreite ich auch nicht, Schuldig. Ich habe Menschen zerhackt, weil ich es wollte. Ich habe ihnen die Köpfe abgeschlagen, ich habe ihn hundertfach mein Schwert durch die Brust gestoßen und mir danach das Blut vom Gesicht und von meinem Mantel gewaschen. Hellrotes Wasser ist für mich zur Realität geworden.“

Er schwieg einen Moment.

„Ob es mir Spaß gemacht hat und ich diese Macht genossen habe? Ich habe die Rache genossen, die ich erhalten habe.“
 

„Ich spreche nicht von Spaß, Ran. Das ist lediglich das Ergebnis dieser Machtausübung. Für mich war es Spaß, für dich war es Zufriedenheit und Genugtuung. Dasselbe mit zwei unterschiedlichen Ergebnissen.

Ich brauchte es um die Gedanken abzustellen, um meinen Job zu machen, um der Monotonie zu entkommen – generell was die Arbeit betraf. Negative Empfindungen waren dabei nicht im Spiel. Kurzfristiges Vergnügen das war alles. Wenn sie sich hinterher noch an Dinge erinnerten, war das eher ein Zeichen dafür, dass sie aus dem Weg geräumt werden mussten. Der Rest …vergaß.“
 

Tod oder Vergessen….alle, bis auf Weiß, die bis heute lebten und wussten, wer Schwarz war. Sie waren ihnen nahe gekommen, näher als zuvor…ganz nahe.

Aya schwieg und vertiefte sich in den Geschmack seines Tees.
 

Noch immer hatte Schuldig seinen Ellbogen aufgestützt, sein Kopf lag in seiner Hand und er beobachtete Ran wie dieser in Gedanken versunken seinen Tee trank.

Er liebte ihn.

Gerade jetzt stellte er das fest. So ruhig und in sich gekehrt wie er dort saß, in seinem Yukata, die Haare zu einem dicken Zopf gefasst, dem ein paar Strähnen malerisch schön verwirrt entkommen waren.

Dämonenaugen…sagte Jei.

Ja, sein Dämon…der es nicht leiden konnte, wenn Schuldig Spaß bei der Arbeit hatte.
 

Und wie sein Dämon es nicht leiden konnte, wenn er Spaß bei der Arbeit hatte. Wie gerne er es dem anderen austreiben würde, ein für alle Mal.

Doch Aya hielt sich zurück mit Worten und mit Gesten, selbst mit seinen Gedanken, die nicht über das bloße Feststellen dieser Tatsache drüber hinwegkamen. Es brachte nichts…wie Schuldig schon gesagt hatte, er brauchte das um sich gut zu fühlen, Aya hingegen versuchte, davon wegzukommen. Er hielt nichts davon, Menschen zu quälen: ein schneller, sauberer Tod, das war das Ideal, zumindest für ihn. Dass er selbst auch Menschen mordete, wusste er.

„Alles Vergangenheit…“, sagte er in Gedanken und hob seine Augenbrauen, nahm noch einen Schluck Tee.
 

„Nicht ganz, Ran, nicht ganz“, erwiderte Schuldig leise und lächelte warm. Für Ran war es Vergangenheit, doch in Rans Gegenwart hing Schuldig mit dran.

„Ich werde dich immer an deine Vergangenheit erinnern, wie ein Mahnmal. Ich bezweifle, ob das gut für dich ist.“ Ob ich gut für dich bin, sollte das heißen.
 

Ayas Lippen zuckten, doch es war kein rechtes Lächeln.

„Du erinnerst mich genauso wie Youji, Omi und Ken an meine Vergangenheit. Bei ihnen bin ich mir sicher, dass sie gut für mich sind. Warum sollte das bei dir anders sein?“ Vielleicht anhand der kleinen Tatsache, dass Schuldig der gegnerischen Seite angehört hatte.

„Natürlich werde ich mich immer an die Vergangenheit erinnern, aber was bringt es mir, in ihr zu leben?“
 

„Wir reden uns …das hier schön, Ran. Das hier…damit meine ich unsere Beziehung. Wir verteidigen sie vor deinen Moralvorstellungen und meinen Ängsten und Befürchtungen. Ich bin nicht der perfekte Schwiegersohn. Du dagegen schon und das liegt an deiner Vorstellung von Gerechtigkeit, an der edlen Gesinnung, auch wenn du sagst, du hast mehr Blut als ich an den Händen.

Ich werde nie edel oder gerechtigkeitsliebend sein. Dieses hohe Ziel Gerechtigkeit kann man nicht erreichen, meiner Ansicht nach. Das Streben in diese Richtung empfinde ich als Zeitverschwendung.“ Er hatte seine eigene Auffassung von Gerechtigkeit, die jedoch nicht ganz so konform mit der öffentlichen Meinung ging.

„Wir sollten aufhören, das, was uns verbindet vor unseren anerzogenen Moralvorstellungen zu verteidigen. Bevor es nichts mehr zu verteidigen gibt.“
 

„Wenn ich dich nicht vor mir verteidigen würde, würde ich nicht hier sitzen, wir wären nie soweit gekommen und es wir würden uns garantiert nicht lieben. Höre ich auf zu wissen, dass in dir auch etwas anderes ist außer einem Killer, kann ich es nicht mehr…das Ganze hier.

Du bist nicht gerechtigkeitsliebend und ich bin ein Schlächter. Davon ausgehend passen wir ganz gut zusammen.“ Aya bemerkte sein bitteres Lächeln und wischte es sich vom Gesicht. Er sah auf.

„Was reden wir uns schön? Dass wir uns lieben? Das ist eine Tatsache, daran brauchen wir uns nichts schön zu reden. Alles andere wird sich regeln mit der Zeit. Es sind erst Monate vergangen, seitdem wir von Feind auf Freund und dann auf Partner gewechselt sind.“
 

Na, da wären wir ja da wo sie hinwollten…

„Gut…und warum hast du mich vorhin angesehen, als wäre dir gerade dieses Schönreden abhanden gekommen? Wenn wir uns lieben und dies eine Tatsache ist, warum siehst du mich dann an, als würdest du dich vor mir …und vor dir selbst ekeln?“
 

„Weil trotz aller Liebe sich die Vergangenheit nicht einfach so auslöschen lässt. Ich brauche Zeit, um das, was ich jetzt habe, mit dem, was damals war in den Ausgleich bringen zu können. Ja, ich habe von dir und Sakura geträumt, von der Vergangenheit und ja, ich habe geträumt, dass sie mich erschossen hat, aber das geht vorbei.“ Das hoffte Aya zumindest…damals hatte er Youji gebraucht, der ihn aus dem Kreislauf brachte, in dem er sich befunden hatte und in den letzten Monaten war sein Leben - wie Schuldig schon festgestellt hatte - auf den Kopf gestellt worden.

Nein…das war zu harmlos. Es hatte sich zunächst zur Katastrophe entwickelt, nur um dann besser zu werden. Und dann wieder in den Abgrund zu stürzen.

„In diesem Moment, mit diesen Erinnerungen und ohne die Erinnerungen an das, was wir jetzt teilen, habe ich mich davor geekelt und ich habe dich gehasst, weil ich dich damals gehasst habe. Die Überlappung der beiden Realitäten war das Schlimme.“

Von dem ihm immer noch flau im Magen war…doch zumindest verspürte er nicht mehr den Drang, sich zu übergeben und zumindest hatte der Tee den größten Teil des bitteren Geschmacks fortgespült.
 

„Wenn es Zeit ist was du brauchst…ich werde sie dir geben, aber nicht um den Preis, dass du dich selbst aufarbeitest.“

Schuldig trank seine Schale leer und schob sie einige Zentimeter auf dem Tisch vor sich her.
 

„Das wird nicht so kommen.“ Er hatte seine Entscheidung schon längst getroffen, als er Kritiker den Rücken gekehrt und bei Schuldig geblieben war. Es gab Dinge, die überwogen die Vergangenheit und das, was jetzt noch übrig blieb, waren Details, die er auch in den Griff bekommen würde. Mit Verständnis für Schuldig, etwas Geduld für sich und einem normalen Leben…so zumindest lautete Ayas Plan.
 

„Das ist gut. Denn diese Schwäche steht dir nicht, Ran“, sagte Schuldig plötzlich, als er ein paar lange Augenblicke der Stille dazu genutzt hatte Rans Gesicht zu betrachten.

„Du hast einen Job gemacht. Du hast ihn gut gemacht. Und du hast ihn überlebt. Bis jetzt.“

Schuldig sah Ran ernst an. Und tippte mit seinem Finger leicht auf die Tischplatte als wollte er sagen. Bis hier und jetzt.

„Jeder verdammte Scheißbulle dort draußen macht das gleiche. Tag ein Tag aus. Nur weil sie fünf Stapel Papiere in dreifacher Ausfertigung ausfüllen müssen über den Tod eines Dealers und du dir den lästigen Papierkram sparen konntest unterscheidet es sie nicht großartig von dem, was du getan hast. Den Dreck der Gesellschaft wegzukehren ist kein angenehmer Job. Du hast ihn gemacht. Also lass diese Scheiße nicht an dich heran.“

Er holte tief Luft und hustete unterdrückt.

„Wir sind die Vergangenheit und die Gegenwart. Hier und jetzt. Mit all dem Mist den wir hinter uns haben. Sonst wären wir nicht hier. Und ich …ich will damit sagen, dass diese Zeit jetzt die beste ist, die ich je gelebt habe.“
 

Auch wenn Aya nicht sagen konnte, dass dies die beste Zeit seines Lebens war, so waren die letzten Monate bis auf ein paar Abstriche angenehm gewesen. Das Leben, was er sich gewünscht hatte, hatte bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr angedauert und war danach abrupt geendet. Die beste Zeit war mit seinen Eltern und seiner Schwester gewesen, in einer intakten Familie ohne große Gedanken an das Dunkel, das um sie herum lauerte.

Diese Zeit war vorbei, unwiderruflich und nichts in den vergangenen Jahren war an sie heran gekommen. Das, was er jetzt mit Schuldig teilte, kam dem nahe, ebenso wie die Zeit, die er mit Youji verbracht hatte. Doch Ruhe und im Prinzip nichtige Sorgen gab es in diesem Leben noch nicht.

Vielleicht irgendwann, wenn die Zeit fortgeschritten war…würde es sie dann geben und er könnte über dieses Leben auch sagen, dass es das war, was er wollte.
 

Er konnte jedoch nachvollziehen und verstehen, dass es für Schuldig anders war…hatte der Telepath nicht so viel Glück wie er gehabt was die Familie anbetraf.

Für einen Moment erschrak Aya die Macht, die die Worte Schuldigs mit sich brachten, denn er –ausgerechnet er – war dafür verantwortlich. Er übte diese Macht aus auf Schuldig…auch wenn es nichts mit Dominanz oder Befehl und Gehorsam zu tun hatte.

Es war…wie sich Aya selbst nie wahrgenommen hatte. Er war ein Mensch, der für sich lebte und keine wirklich tief greifenden, verändernden Beziehungen zu anderen hegte. Ausnahme war hier vielleicht Youji gewesen, doch ihre Freundschaft war eher auf einer schweigenden, nicht erklärenden Basis gewesen.

Was Schuldig ihm hier sagte…hörte er in dieser Beziehung das erste Mal.
 

Aya wollte etwas sagen, irgendetwas, doch ihm fehlten die Worte. Was entgegnete sich auch darauf? Schön, dass es so für dich ist? Freut mich für dich? Dass es ihm genauso ging, stimmte nicht, auch wenn er Schuldig nie wieder missen wollte.

Statt etwas zu sagen, stippte sein Finger den des anderen an, spielerisch, neckend, die Augen voller Zuneigung.

„Du wirst sie aber nicht mehr lange leben können, wenn du dich während einer kaum überstandenen Grippe nach draußen setzt und eine rauchst“, waren seine Worte im Gegensatz zu seinem Blick streng.
 

Dafür, dass Ran nichts erwiderte was seine Worte betraf gab es vielerlei Gründe, aber vor allem den, dass Ran nicht so fühlte wie er. Dass es für ihn nicht die beste Zeit war, die er bisher gehabt hatte. Schließlich gab es einst eine Familie in Rans Leben. Und da dieser die Vergangenheit nicht loslassen konnte…

Schuldig war nur die zweite Wahl. Das …würde er immer sein. Er würde nicht an erster Stelle stehen wenn es noch jemanden aus Rans Familie geben würde und er stand jetzt nicht an erster Stelle, da die Jungs von Weiß an erster standen.

Das war so und er musste sich damit abfinden, wenn er weiterhin die zweite Wahl sein wollte und nicht …überhaupt nicht mehr zur Auswahl stand, weil Ran ihn absägen würde.

Nein, dann besser die zweite Wahl.

„War ja klar, dass du das nicht unkommentiert lassen würdest, ich hab mich schon gefragt wann der Anschiss kommt…“, setzte Schuldig seine Lider unbeeindruckt auf Halbmast. Hakte seinen Finger in Rans ein.
 

„Der kommt eigentlich viel zu spät. Mein Fehler, das nächste Mal bin ich schneller“, gab Aya noch unbeeindruckter zurück und besah sich Schuldigs Gesicht, auf dem - wie manchmal - einiges von dem zu lesen war, was ihm durch den Kopf ging. In diesem Moment schien es Enttäuschung zu sein und Aya konnte sich denken, warum.
 

„Lass dir nur Zeit mit dem Schimpfen, es eilt nicht, das kann ich dir versichern“, beteuerte Schuldig und das sanfte Glimmen war wieder in seine Augen zurückgekehrt.

Es tat ihm weh daran zu denken, dass er für Ran nicht an erster Stelle stand, oder stehen würde wenn es zu einer Entscheidung kommen würde. Aber damit musste er leben und …wie Ran schon sagte, sie waren erst am Anfang.
 

„Es hat eine Zeit gegeben, da war ich vollkommen glücklich. Ich hatte meine Familie, Freunde, habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass es so etwas wie uns geben könnte. Menschen, die für Geld oder aus Rache andere töten. Naiv war sie, aber schön. Dann war diese Zeit zu Ende und ich wusste dafür nun, dass es solche Menschen gab und ich bin einer von ihnen geworden. Diese Zeit war schlimm, dunkel und völlig gegensätzlich zu meiner Kindheit und Jugend. Jetzt ist wiederum ein anderer Abschnitt angebrochen, der im Begriff ist, wie der erste zu werden. Doch er steht erst am Anfang.“ Nun war es an Ayas Statt, ehrlich zu sein und zu schildern, wie sein Werdegang aussah und noch aussehen würde.
 

„Ich möchte mit dir noch so viel erleben, Ran. Wir… wir müssten nur irgendwie alles auf die Reihe kriegen. Ich will nicht, dass wir daran scheitern.“ Schuldig verzog das Gesicht zu einer verzweifelt komischen Grimasse.
 

„Werden wir nicht. Es wird klappen, das tut es immer. Wir beide haben oberste Priorität, nicht wahr?“, entsprach Aya nicht dem, was Schuldig wehtat, widerlegte es unbewusst sogar. „Wo würde ich denn hinkommen, ohne dich, wenn ich niemanden mehr zum schimpfen hätte?“
 

Da sanken sie auch schon hinab, seine Mundwinkel, in gar selbstmörderischer Absicht in die Tiefe. Schuldig beugte sich leicht vor und fixierte Ran mit einem anklagenden Blick.

„Wie gemein ist DAS denn? Du brauchst mich …MICH, einen gut aussehenden charmanten, jungen, reichen Mann nur, um mit ihm zu schimpfen?“, blieb ihm halb die Stimme weg.

Was wohl eher an seiner Erkrankung als an dem gespielten Entsetzen lag.
 

Aya hob seine rechte Augenbraue und sah den anderen Mann zweifelnd an, vielleicht auch etwas ratlos und vor allen Dingen recht skeptisch.

„Nun, wärest du weniger gutaussehend, charmant, jung und reich wäre es ja nur halb so befriedigend mit dir zu schimpfen, oder nicht?“, kam die vollkommen logische, leicht mit einem‚ war dir das nicht schon von Anfang an klar?’ getönte Frage.

Er stützte sein Kinn auf die andere Hand und zog an Schuldigs mit ihm immer noch verbundenen Zeigefinger.
 

Schuldig öffnete den Mund …und schloss ihn dann wieder. „Stimmt“, murmelte er eher widerwillig. „Das soll aber nicht zur Gewohnheit werden, mein Lieber Herr Fujimiya!“ meckerte er noch nach, verstummte dann aber und sah auf ihre Verbindung hinab.

Er schwieg einige Augenblicke, bis er den Blick wieder zu Ran hob.

„Wie geht’s dir jetzt?“
 

„Besser als gerade…gelassener. Vor allen Dingen weiß ich wieder, was ich will.“ Aya schwieg für einen Moment und seine zweite Hand legte sich über Schuldigs. „Und ich weiß, wem meine Liebe gilt…auch wenn es manchmal Gewitterwolken gibt, die sich ab und zu entladen. Aber wie geht es dir? Du sahst gerade…enttäuscht aus.“
 

Er war es einfach nicht gewohnt, dass jemand die doch recht offene zur Schaustellung seiner Gefühle auch noch genauso offen ansprach. Er wusste doch, wie mitteilsam sein Gesicht war, wenn er etwas dachte, oder fühlte.

Ran war da wirklich gnadenlos.

Schuldig seufzte, er fühlte sich nicht wohl mit dieser Frage und er erhob sich, Rans Hand greifend und diesen mit hochziehen wollend. „Komm…lass uns wieder ins Bett gehen, dort können wir weiterreden, was hältst du davon?“, fragte er bereits aufgestanden, auf Ran mit einem sanften Lächeln niederblickend.“
 

Aya seufzte tief und erhob sich dann ebenso. Er hauchte einen Kuss auf Schuldigs Handknöchel und löste sich dann von ihm, seine Schale in die Spüle stellend, während er Schuldigs nur ausspülte, damit er dem anderen Mann noch einen Tee zubereiten konnte.

„Gleich…gleich“, murmelte er schon wie die alte Frau. „Einen Tee noch, junger Mann…einen schönen Erkältungstee…“ Er wusste, dass Schuldig diesem Tee lieber entfliehen wollte, doch Aya ließ ihn nicht. Also wollte er es ihm leichter machen.
 

„Ach…jetzt …Ran“, zog Schuldig dessen Name leidend in die Länge. „Das ist doch völlig unnötig, ich bin doch schon wieder fast überm Berg!“

Was für eine grandiose Argumentation, lobte er sich und bemühte sich nicht seine laufende Nase zu sehr zur Schau zu stellen und seinen Husten etwas zu unterdrücken. Zumindest die nächste halbe Minute…
 

Aya nickte beflissen. „Jaja…die Jugend von heute…aber zur Sicherheit, junger Mann, zur Sicherheit…damit alles wieder gut wird.“ Vor sich hin murmelnd und mit einem dicken Lächeln auf dem Gesicht stand er abgewandt von Schuldig und goss gerade das heiße Teewasser auf die Blätter.
 

Schuldig verschränkte die Arme. „Du genießt es förmlich junge, knackige Telepathen zu foltern, was?“, beschuldigte er Ran der absichtlich grausamen Folter. „Ich kann das Grinsen schon förmlich auf deinem Gesicht sehen. Wenn du keine Ohren hättest wäre es nämlich sogar tatsächlich zu sehen…!“, meinte er anklagend.
 

„Sicher, sicher…deswegen habe ich ja meine Ohren…dass die obere Hälfte der unteren Hälfte meines Kopfes nicht verloren geht“, erklärte er im Singsang Kazukawa-sans, die er gedanklich um Verzeihung bat, dass er sie hier so hochnahm.

Er wiegte den Kopf und warf über die Schulter einen kurzen Blick zu Schuldig.

„Also so wie Sie aussehen, junger Mann, könnten Sie glatt die doppelte Menge Tee gebrauchen.“
 

„Ra~an…“, drohte Schuldig nun seinerseits mit einem Lächeln und wandte sich in einer abgezirkelten Bewegung Richtung Schlafzimmer um… „..Ran…Ran Ran…die Alte wird nicht begeistert davon sein, wenn der anständige, junge Herr Fujimiya sie so nachäfft…denke ich“, sinnierte er betont laut und entschwand ins Schlafzimmer.

Er würde den Teufel tun und dieses Gesöff in doppelter Menge trinken. Nur über seine Leiche.
 

Wie der Tod persönlich trug Aya schließlich seine Sense in Teeform in Richtung Schlafzimmer. Natürlich hatte er nicht die doppelte Menge gewählt, so grausam war selbst er nicht, auch wenn er - wenn es nach IHM ginge - Schuldig das Dreifache verordnet hätte. Nein, eine kleine Schale des Erkältungstees reichte…zunächst.

„Sei froh, dass ich dir nicht mehr verordne und sieh es als Strafe an, dass du in deinem Zustand rauchst“, griff Aya das eigentlich Thema noch einmal auf und hob die Augenbraue, als er auf das Bett deutete.

„Leg dich hin.“
 

„Und…“, zögerte Schuldig langsam, mit einem warmen, schmeichelnden Unterton in der Stimme, der jedoch von Rebellion kündetete. „…was …wenn nicht?“
 

Aya hob lächelnd die Schale. „Doppelte Menge?“
 

„Vergiss es“, verengte Schuldig die Augen herausfordernd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das Zeug ist eklig.“
 

„Das weiß ich mittlerweile…du hattest es einmal erwähnt, glaube ich.“ Aya kam einen Schritt auf Schuldig zu, die Schale immer noch vor sich gehalten. „Aber wir können auch warten, bis es dir wieder schlechter geht, du Fieber hast und mir etwas von Eheverträgen erzählst und dann brav und ordentlich den Tee schluckst - auch wenn du dich nachher nicht mehr daran erinnerst.“ Dass das leicht geflunkert war, musste Schuldig ja nicht wissen, würde er auch nicht, denn Ayas Miene verriet nichts.
 

Schuldig wich etwas zurück, in seinem Rücken nur wenige Schritt weit entfernt wäre seine Flucht je zu Ende. „Ehe…was?“, wollte er indigniert wissen.

„Im Übrigen, stehen die Chancen, dass DU vor mir als nächstes krank wirst in meiner eigenen Statistik deutlich höher, also hör auf mich hier zu quälen – auch wenns dir Spaß macht – denn ich werde mich ganz genau an diese Folter entsinnen und es dir heimzahlen.“
 

„Du irrst, mein Lieber. Momentan bin ich dabei, es dir zurück zu zahlen. Allerdings finde ich mich nicht wirklich schlimm momentan.“ Aya runzelte die Stirn als ob er angestrengt nachdenken würde.

„Und ja, Ehevertrag. Du meintest zu mir, dass ich mit dem Vergiften warten solle, bis zu den Ehevertrag aufgesetzt hast, sonst würde ich nichts erben.“
 

„Ersteres ist Ansichtssache…je von welcher Warte man es betrachtet und von meiner aus gesehen ist es fies. Es sei denn …ich würde eine Belohnung bekommen…?“, leuchtete sein Gesicht bei diesem plötzlich spontanen Einfall auf.
 

„Kommt darauf an, wie artig du bist“, stimmte Aya nach einigen Momenten des nachdenklichen Überlegens zu.
 

„Was bekomme ich, wenn ich den Tee sofort und schnell runterkippe?“ Schuldig hatte da schon so seine Ideen, die natürlich alle in den sexuellen Sektor liefen…wobei …nicht alle, das musste er zugeben.
 

Das sofort und schnell war zwar keine Voraussetzung, würde ihnen beiden aber einen langen Leidensweg ersparen und war deswegen durchaus bedenkenswürdig.

„In deiner momentanen Fassung eine Gute-Nacht-Geschichte und eine ausgiebige Kuschelrunde.“
 

Mehr war wohl heute nicht drin, wog Schuldig das Angebot ab und griff sich die Schale aus Rans Hand. „Deal.“ Er nickte grimmig. „Los gib her das Gesöff“, murrte er, setzte die Schale an und trank sie in wenigen Schlucken leer. Verdammt warm, an der Grenze zu heiß, aber noch erträglich.
 

Tapfer, befand Aya und ging an Schuldig vorbei, schlug das Bett auf und löschte im Flur die indirekte Beleuchtung. Wegen Wärmeerhalts behielt er die Tür zum Schlafzimmer auf, da der Ofen im Wohnraum das ganze Haus wärmte, und entledigte sich ebenso seines Morgenmantels, kroch ins Bett und hielt für Schuldig die Decke hoch. An Schlaf war für ihn heute nicht zu denken, war er doch noch viel zu wach und angespannt von ihrem Gespräch…aber er würde über Schuldigs Schlummer wachen.
 

„Okay.“ Schuldig kam zu Ran und legte sich dicht an Ran. „Aber es muss ne gute Story sein.“ Schließlich musste es sich ja gelohnt haben, das Teufelszeug zu trinken.

„Dein erster Sex!“, forderte er. „Und die dazugehörige Liebesgeschichte, also du weißt schon, das erste Verliebtsein und so…“

Er schmiegte sich dichter an Ran, sein Haupt auf dessen Schulter gelegt.
 

Aya schlang die Decke um sie beide und fragte sich, was genau er sich da eingebrockt hatte. Aber gut…

„Das willst du wirklich wissen? Bist du dir ganz sicher?“, fragte er dennoch skeptisch.
 

Alles nur Tarnung, befand Schuldig durchschauend. „Na sicher doch.“ Es sei denn für Ran war es nicht sonderlich schön, oder eine mittelprächtige Katastrophe gewesen. „Wars denn so schlimm? Ich meine…gabs da nicht jemanden, den du gesehen hast und den du wolltest? Als Jugendlicher? Gabs da nicht ein Mädchen oder vor mir aus auch einen knackigen Kerl?“, hakte Schuldig leise nach, Rans Nähe genießend und mit dessen Füßen kabbelnd.
 

„Ja, gab es“, sagte Aya langsam.

„In meiner Klasse damals gab es ein Mädchen. Youko hieß sie. Hinter ihr waren alle Jungs her, also war ich da keine Ausnahme. Sie war hübsch, zierlich, klein, nett, also so, wie man sich als Teenager die ideale erste Liebe vorstellt. Irgendwann ist sie dann auf mich - ich habe mich damals mitnichten getraut, sie anzusprechen, dazu war ich viel zu schüchtern - zugekommen und hat mich gefragt, ob ich ihr in Chemie helfen könnte. Konnte ich - mehr oder minder und dann haben wir uns öfter getroffen, waren Eis essen, einkaufen, im Zoo…bei ihr Zuhause.“ Aya musste lächelnd den Kopf schütteln, als er daran zurückdachte. „Sie war meine erste Liebe…geschlafen habe ich mit ihrem Zwillingsbruder.“
 

Schuldigs Kopf hob sich von seiner bequemen Unterlage und er rollte sich über Ran, das Kinn auf einen Arm gestützt. „Details!“, forderte er und lauschte andächtig. Das war besser als jedes Staatsgeheimnis. „Wie ist es dazu gekommen?“
 

Da hatte jemand aber angebissen…doppelt und dreifach.

„Wie gesagt, ich war bei ihr zuhause und wir hatten sturmfrei…dachten wir und dann haben wir das getan, was alle Teenager tun: wir haben uns gegenseitig ausgezogen und uns berührt. Man will ja wissen, wie der andere aussieht. Ihr Bruder war allerdings noch da und hat uns in flagranti erwischt…ich war mir vorher immer schon bewusst, dass ich nicht nur auf Mädchen stehe, auch wenn ich mir das andere nicht eingestehen wollte, doch er…war sie - nur besser. Er hat mich hochkant aus dem Haus gejagt und mir jeden Kontakt zu ihr verboten…wie das so ist, habe ich eben auf ihn gehört.

Hayato, so hieß der Gute, war zu der Zeit auf einem der Jungeninternate, weswegen ich ihn auch vorher nie gesehen hatte, und…nun ja…lauerte mir seitdem öfter auf.

Ich habe ihn am Anfang für einen Arsch gehalten, der mich einfach nur triezen wollte - was er ohne Frage auch tat, aber mit der Zeit schien das anders…ausgewählter und sexueller.

Er machte mich unterschwellig an und das war mir auch bewusst…aber um diesen Quälgeist loszuwerden, habe ich ihn irgendwann einfach geküsst, als uns keiner zusah…in der Hoffnung, er würde jetzt abhauen. Keine zwei Tage später lagen wir auf dem Rücksitz des Wagens von seinem Vater - dieses Mal hatte er wirklich sturmfrei - und haben miteinander geschlafen.“
 

„Ich dachte du wärst schüchtern gewesen?“ Für Schuldig klang das ja nicht gerade nach schüchtern, sondern nach einem kleinen Heißsporn.
 

„War ich. Dieser Kuss war das Höchste, was ich mich getraut hatte und das war nur eine Verzweiflungstat gewesen. Aber in dem Moment wusste ich, dass ich diesen Jungen wollte. Ich habe mich nur nicht getraut, etwas zu sagen…er war ein JUNGE…und ich auch. Das war unnatürlich irgendwie. So dachte ich jedenfalls. Er war derjenige von uns beiden, der den Ton angegeben hat das erste Mal…mit allem, was dazu gehörte. Aber sanft war er nicht, eher unbeholfen.“ Aya lachte leise. „Das erste Mal war…was man vom Sex auf dem Rücksitz des Autos der Eltern erwartet. Der Blowjob war nichts Halbes und nichts Ganzes und der Analsex…naja. Man war eben unerfahren.“
 

Schuldig lachte leise, rau, da sein Hals noch immer aufgescheuert schien. „Ja…Mann war es wohl“

Er konnte es sich in etwa vorstellen, wie es abgelaufen war.

„Und wie ging es dann mit seiner Schwester weiter? Gab das nicht Stress? Wart ihr länger zusammen?“
 

„Wir haben uns heimlich weiter getroffen…weder seine Schwester noch seine Eltern, noch meine Schwester oder meine Eltern wussten davon. Offiziell wollte ich von Youko nur noch Freundschaft, inoffiziell konnte ich nicht auch noch mit ihr etwas anfangen…dachte ich damals zumindest. Hayato hatte es mir zwar mehrfach vorgeschlagen, aber dafür war ich zu anständig…und zu prüde. Aber einen Monat später sind sie dann weggezogen, der Vater wurde ins Ausland versetzt und weg waren meine heimlichen, kleinen Stelldicheins. Es hat übrigens besser geklappt, wenn ich oben war und es tat weniger weh. In der Oberstufe gab es dann Amiko…“ Ja…Amiko…
 

Schuldig war dazu übergegangen Rans Yukata mit den Fingerspitzen zu öffnen und kleine Figuren auf Rans Brust zu malen, während er andächtig lauschte.

Ein sanftes aber auch neugieriges Lächeln auf den Lippen tragend, konnte er sich genau vorstellen wie Rans Wangen eine zarte Röte inne gehabt hatten. Wie die Augen unschuldig und doch so willig geleuchtet hatten.

Unbemerkt seufzte Schuldig.

„Ja …was war mit Amiko?“
 

Für einen Moment dachte Aya, Schuldig würde von dem, was er sagte, erregt werden, so wie er sich langsam dorthin stahl, wo er schon von Anfang an hingewollt hatte. Doch dann entdeckte er nicht die Lust, sondern andere Dinge auf dem Gesicht des Telepathen, die ihn selbst schmunzeln ließen… wie auch die Frage selbst. Aber Schuldig wollte es ja so genau wissen.

„Sie war der Wahnsinn“, fand er gleich die perfekte Einleitung für das Kommende. „Grüne Haare, farbige Kontaktlinsen und eigentlich total durchgedreht mit 15 Jahren. Ich war natürlich wie immer zu schüchtern, sie auch nur anzuschauen oder gar anzusprechen. Hätte ich mich nie gewagt. Außerdem dachte ich noch, ich würde doch sowieso auf Jungs stehen…und dann jetzt wieder ein Mädchen? Ich war komplett verwirrt. Sie nicht. Sie hat mich gefragt, ob ich mit ihr Mathehausaufgaben machen könnten, weil sie das nicht konnte. Habe ich getan…ich konnte sie dabei noch nicht einmal ansehen und war vermutlich die ganze Zeit puterrot. Als wir dann fertig waren und ich gehen wollte…haben wir es miteinander getrieben, OBWOHL ihre Eltern nebenan waren. Mehrmals. Sehr oft…eigentlich jeden Tag danach. Sie war schier besessen von Sex.“
 

„Wie lange ging das mit ihr?“, nuschelte Schuldig weich an Rans Haut.

Ran hatte wirklich eine schöne Kindheit gehabt. Schöne erste Erfahrungen, prickelnd und aufregend.
 

Wohl eher durchbrochen von lauter Herzinfarkten vor lauter Schüchternheit…

„Genau ein Jahr.“ Bis seine Eltern starben.

Aya küsste den anderen Mann auf die Stirn. „Sie hat heute einen Mann, zwei Kinder und geht jeden Sonntag zum Golfen.“ Er lachte leise.
 

Was genau nur eine Theorie zuließ: Ran dachte immer noch an sie und hatte sich informiert wie sie lebte, hielt sich auf dem Laufenden.

„Dann wäre sie jetzt an meiner Stelle, vorausgesetzt es wäre alles so weitergelaufen“, dachte Schuldig und sein Zeigefinger stellte den kreativen Zeitvertreib ein.
 

„Sie ist ein Stück meiner Vergangenheit. Ich wollte sehen, ob es ihr gut geht. Meine Gefühle für sie haben sich verändert…wie denn auch nicht in sechs Jahren? Damals war sie verrückt, heute ist sie es nicht. Sie weiß noch nicht einmal, dass ich noch lebe und selbst wenn sie es wüsste, dann wäre ich jetzt in diesem Augenblick mit dir zusammen. Aber ja, wäre alles so weitergelaufen und wären nicht diese Rückschläge gewesen, vielleicht…nein, sehr wahrscheinlich hätte ich dich dann nicht kennen gelernt und wäre vielleicht mit ihr zusammengeblieben. Eine von vielen Möglichkeiten, Schuldig.“ Aya sah zu dem anderen Mann und sein Zeigefinger stupste auf die Nase.
 

„Ach ja“, seufzte Schuldig theatralisch. „Ich hätte gern einen süßen Ran, dessen Wangen zartrosa leuchten wenn ich ihm sage wie heiß er ist oder wie attraktiv. Stattdessen habe ich hier einen dem das gänzlich gleichgültig ist und der nur mehr durch heißen, schmutzigen wilden Sex zu seinen geröteten Wangen kommt. Ja, ich habs schon schwer“, bedauerte er sich selbst in tiefdepressivem Tonfall.
 

„Total…deswegen liegst du ja auch danieder, weil du dich immer so anstrengen musst, mir die roten Wangen zu verpassen, indem du heißen, schmutzigen, wilden Sex praktizierst.“ Ayas Finger schlichen sich zur Seite und zwickten Schuldig hinein.

„Weißt du Schuldig…damals hat es mich eben verlegen gemacht, wenn man mir gesagt hat, dass ich heiß und attraktiv bin. Heute weiß ich das einfach.“ Und wie hier das Selbstbewusstsein nur so strotzte und angab… „Da musst du dich eben anstrengen und mir etwas bieten.“
 

Warum machte es Schuldig schon wieder traurig wenn er an diese Geschichten denken musste? Weil es schon wieder etwas von Vergänglichkeit hatte?

Etwas trat ein und dann würden sie wieder getrennter Wege gehen?

Pah! Von wegen! Er würde dem Schicksal ein Schnippchen schlagen wenn es dahergelaufen kommen würde und ihm seinen Ran einfach so wegnehmen wollte.

Mit ihm nicht!

„Ein Auto hast du ja schon, ein Haus ebenfalls…eine gute teure Wohnung auch…“, überlegte er sich etwas. „Eine Yacht vielleicht?“
 

„Eine Glatze!“ Aya versuchte es immer wieder von Zeit zu Zeit…auch wenn er sich damit nicht wirklich große Erfolgschancen ausrechnete. Aber er war mal gespannt, wie sich Schuldig da jetzt heraus manövrieren würde.
 

Schuldig zog eine beleidigte Miene. Er stützte sich auf, setzte sich rittlings auf Rans Schoß und inspizierte seine Haare. „Ich meine ich weiß, dass sie eine furchtbare Farbe im Gegenzug zu deinen haben, aber eine Glatze?“ Er betrachtete sich Ran einen Moment nur um dann über Ran zu klettern und aufzustehen.

„Das haben wir gleich.“ Er würde schon irgendwo eine Schere finden. So eitel war er nun auch wieder nicht…
 

Schon beim ersten Satz dachte Aya, sich verhört zu haben. Beim zweiten jedoch…Aufstöhnend ließ er seinen Kopf wieder in die Kissen fallen und schloss die Augen.

„Bei dir doch nicht, Idiot.“, rief er dem anderen Mann nach. „Komm zurück ins Bett oder es gibt nie wieder Sex. NIE WIEDER, hörst du? Und bring die Schere mit…“
 

„Das hab ich gleich erledigt…“, rief Schuldig aus der Küche zurück und wühlte in einer der Schubladen. Viel war ja hier nicht zu finden. Aber ein Messer würde es zur Not auch tun. Er fand jedoch kein geeignetes Messer und auch keine Schere.

So kam er unverrichteter Dinge wieder. „Wir müssen warten bis zu hause.“ Erneut wurde die Tür geschlossen und er sah durch die schummrige Beleuchtung zu Ran auf dem Bett hinab.

Ein leichtes Grinsen auf den Lippen.

„Wenn du dir die Haare abschneidest dann schneide ich sie mir zur Glatze.“
 

„Anders herum…ich die Glatze, du den Spitzenschnitt“, berichtigte Aya den allzu übereifrigen Kranken und hob skeptisch seine Augenbraue, bevor er seine Augen öffnete. „Aber die Reihenfolge bekommen wir schon noch hin, nicht wahr?“
 

„Erklär mir eins…“ sagte Schuldig und setzte sich wieder auf Rans Körpermitte, stützte sich mit den Händen ins Kissen neben dessen Kopf ab.

„Warum soll ich meine langen Haare behalten?“
 

Grunzen antwortete ihm…zunächst. Aber so schwer war Schuldig auch wieder nicht.

„Damit ich etwas zu Gucken habe. Weswegen sonst? Du mit kurzen Haaren…so kenn ich dich gar nicht, von daher kannst du sie dir gar nicht abschneiden. Ich habe dich schließlich nur mit diesen Zotteln gesehen. Ich hingegen…HATTE sie kurz.“

Aya sah hoch und öffnete leicht die Lippen, die Augen explizit auf Schuldigs gerichtet…fast beschwörend.
 

„Du…weißt, dass Hypnose bei mir nicht wirkt? Und…auch wenn sie noch so verführerisch und sexy …ist?“, meinte der Telepath schmeichelnd.

„Zur Haarthematik: Ich hatte sie auch mal kurz. Der Einwand zählt also nicht.“
 

„Aber nicht, als wir uns das erste Mal kennen gelernt haben. Da waren sie auch schon lang“, hielt Aya dagegen und streckte sich leicht unter Schuldig. „Ich hypnotisiere dich nicht…das bin ich selbst. Oder nicht?“ Die Lider um die violetten Iriden herum senkten sich auf Halbmast. Zufall aber auch, dass seine Lippen gerade so trocken waren, dass er sie befeuchten musste.
 

Schuldig starrte auf diese teuflische Lockung hinab. „Du bist gemein. Ich bin krank, bekomme kaum Luft, hab einen furchtbaren Geschmack im Mund, meine Zunge ist belegt, sodass ich eh nichts schmecke und ich habe vermutlich noch leichtes Fieber und du…du weißt genau, dass ich dich nicht küssen werde, weil ich krank bin und …und…“ ja was und? Vermutlich würde Ran ohnehin schon angesteckt sein.

Aber er musste ihm ja nicht noch den Rest zumuten, oder?

Schuldig ließ sich auf Ran sinken und küsste ihn sanft auf die Schläfe. „Wie fies das ist“, schmollte er in sanften Tonfall.
 

„Genau…und je schneller du gesund wirst und endlich aufhörst, herum zu turnen und dich außerhalb der Deckenwärme zu befinden, desto schneller kannst du mich auch wieder küssen und noch ganz andere Dinge tun, mein Lieber. Klingt gut, oder?“

Aya schmunzelte und seine Lippen suchte die Wange des anderen. „Ich immer, mein Lieber, aber das weißt du doch schon. Von Anfang an.“ Schon als er die Suppe nicht gegessen hatte, die Schuldig für ihn zubereitet hatte…schon da hatte Aya das Gefühl, richtig fies zu sein.
 

Die weiche, zarte Textur von Rans Lippen an seiner Wange ließ ihn innerlich seufzen.

Sich die Decke über sich werkelnd, kuschelte sich Schuldig wieder in die Nestwärme und schloss die Augen. Langsam wurde er wieder etwas müder.

„Ja…ich bin vermutlich doch masochistisch veranlagt. Siehst du …gar kein Sadist…Masochist. Sonst würde ich mir doch nicht dich ausgesucht haben? Klarer Fall!“
 

„Ganz klarer Fall“, ächzte Aya und versuchte sich unter dem Gewicht des anderen zurecht zu ruckeln. Natürlich ehrte es ihn, dass Schuldig ihn als Liegestatt auserkoren hatte, dennoch…war der andere Mann immer noch nicht so leicht wie Omi zum Beispiel. Aber das würden sie schon hinbekommen, solange es dem anderen Mann dadurch besser ging.

„Das habe ich von der ersten Minute an gespürt, dass ich gemein zu dir sein darf.“ Deswegen war er ja auch so freiwillig mitgekommen, sicherlich. Aya lächelte leicht.
 

Schuldig schmuste sein Gesicht an Rans Schulter, rutschte seitlich von ihm herunter und blieb halb auf ihm liegen, sodass sein sadistischer Freund auch gemütlich lag.

„Na, die klassische Rollenverteilung war ja von Anfang an klar gelegt. Ich in Fesseln und du mit bösem Blick als Folterengel gemein und fies über mir thronend.“
 

Aya ließ seinen Blick sinnierend in die Vergangenheit streifen. Dass sie das, was sie damals noch halb verrückt gemacht hatte, nun mit Humor sehen konnten, wertete er als Fortschritt.

„Richtig…und ich in Fesseln war dann dein Versuch, eben diese Rolle zu übernehmen. Hat aber nicht ganz geklappt, wie man sieht.“
 

Was Schuldig nicht ganz so humorig nehmen konnte, denn er hätte Ran…seinen Ran beinahe um die Ecke gebracht und das nur weil er etwas …vergessen hatte.

Seine Finger lagen an Rans Wange und er strich mit den Fingerrücken über die warme Haut.

„Ja…war wohl ein mieser Versuch…aber zwischenzeitlich hatte ich ein paar gute Anläufe, meinst du nicht?“
 

„Hmm.“ Das bedurfte schwerster Überlegungen. Doch Aya wusste, dass das, was sie bisher als Fesseln benutzt hatten, er selbst nie in Verbindung mit diesen Stahlmanschetten bringen würde und dass es nur deshalb gute Anläufe waren.

„Ich denke, es war ganz zufrieden stellend für uns beide“, lächelte er und haschte mit seinen Zähnen nach den Knöcheln, bekam einen von ihnen zu fassen. Seine Zunge stippte kurz über die Haut, bevor er den Gefangenen wieder entließ.
 

Der kurze feuchtwarme Kontakt mit der samtigen Textur der Zunge ließ Schuldig grinsen.

Es fühlte sich herrlich an.

„Nur zufrieden stellend?“, kiekste Schuldig schon vor Empörung. Er hätte Ran jetzt am liebsten flach gelegt, aber …dazu war er zu müde und zu angeschlagen. Sein Schädel hämmerte vor lauter Protest warum er hier so einen Aufstand fabrizierte.
 

Ayas Hand strich über Schuldigs Rücken und schob sich unter den an der Seite aufgeklafften - wie gut, dass Schuldig sich so eifrig bewegt hatte - Stoff, um die warme Haut des anderen zu erfühlen.

„Na nett eben. War ganz okay“, nickte Aya, während sich der kleine Teufel auf seiner Schulter diebisch freute. Seine Hand bettete sich auf das Gesäß kurz über den runden Pobacken des Telepathen und tippte dort spielerisch auf die Haut. Schuldig war eigentlich noch zu krank. Eigentlich würde es nicht gut sein, sich jetzt in anstrengenden, körperlichen Aktivitäten zu ergehen.
 

Eigentlich.

Schuldigs Fieber war nicht mehr ganz so hoch, ihm ging es schon besser…

Sich fester an Ran schmiegend, rieb Schuldig sich leicht provozierend an dessen Hüfte. „Du…würdest doch nicht über einen armen, kranken Mann herfallen?“, lächelte er wissend und biss sanft in Rans Schulter die noch vom Stoff verdeckt war.

Mal sehen wie weit er Ran treiben konnte bis dieser über ihn …herfiel?!
 

Irgendwie…war Schuldig durchschaubar, stellte Aya wenig überrascht fest.

Noch weniger überrascht stellte er jedoch fest, dass er NOCH durchschaubarer war, so wie er Schuldig nun unter sich brachte und leise knurrte.

„Hier spricht niemand von über dich herfallen…ich spreche nur von sehr, sehr langsam in den Wahnsinn treiben, mein Lieber…“
 

Genau das tat er nun auch, mal auf die eine, mal auf die andere Art, aber immer sanft und sehr ausdauernd.
 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Gadreel & Coco
 

Dies und unsere anderen Geschichten findet ihr unter

http://gadreel_coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Sin

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kardinaltugend

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Kardinalsünde

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Zeit der Zärtlichkeit

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Ran-koi, mein Freund der Karpfen

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On a blind springs day

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Das Ende der Unschuld

~ Das Ende der Unschuld ~
 


 


 

Tja wer wusste das schon. Aber Rans Gedankengänge machten sich auf den nachdenklich verzogenen Lippen bemerkbar.

„Es hat viel geregnet und wer weiß…den einen oder anderen Tümpel wird es vielleicht geben, oder kleinere Wasserfälle…“, lächelte Schuldig wissend.

„Und damit du keine nassen Füße bekommst, werde ich ganz umsichtig sein, wenn du artig bist und meinen Schwanz in Ruhe lässt, bis wir wieder da sind. Oder du bringst es gleich zu Ende…“
 

„Was soll ich zu Ende bringen?“, fragte Aya eine Spur zu harmlos um nicht als verdorben zu gelten. Er lächelte, den Gürtel des Yukatas um seine Hüften sichernd. „Aber du hast Recht, ich werde deinen Schwanz in Ruhe lassen…“ Selbst in seinen Ohren klang es, als würde in diesen Worten eine eindeutige Drohung mitschwingen. Vielleicht sollte er an seiner Wortwahl feilen.
 

Schuldig bemühte sich, seine Enttäuschung in sich zu verbergen und rappelte sich auf. „Gut, dann auf, die Pfützen…die gute Luft wartet…!“, stichelte er und erhob sich einigermaßen würdevoll. Sein Rücken schmerzte noch etwas, aber im Gesamten fühlte er sich schon besser. Auch wenn er wusste, dass es wohl noch einige Tage dauern würde, bis er wirklich wieder wie vorher war. Er fühlte sich noch sehr schlapp.
 

Aya folgte der Stimme, erhob sich jedoch noch nicht, sondern streckte Schuldig seine Hand entgegen, auf dass dieser ihn führte. Die Hoffnung, trocken wieder in dieses Haus zu kommen, hatte sich relativ schnell verflüchtigt und war nun gänzlich verschwunden.

Doch wozu gab es Bäder?

Eben.

„Dann führe mich ins Ungewisse, mein Luzifer“, lächelte er und schon wieder klangen seine Worte eher versprechend denn jugendfrei.
 

Für Schuldig klang es eher nach einer handfesten Verarschung. Er fasste Ran an der Hand und zog ihn hoch. „Und was bist du dann? Der unschuldige Engel?“ Seine Worte klangen eher nach Skepsis ob dieser Unschuld, als er Ran zu ihren Kleidern zog.

„Wir sollten uns wärmer anziehen.“
 

„Ich? Nein…ich bin der Oberteufel. Aber sag es niemandem“, erwiderte Aya verschwörerisch und wartete, dass Schuldig ihn anzog oder umzog…

„Dass du da aber noch fragen musst“, grübelte er.
 

„Liegt vielleicht daran, dass deine Autorität nicht die beste ist“, alberte er.

Schuldig zog Ran seinen Yukata aus und schnappte sich Shirt, Hose und Pulli um es diesem anzuziehen. Erst danach gab es einen wärmeren Yukata darüber. Schließlich waren sie gerade aus dem Bad gekommen und Rans Haare waren gerade einmal halb trocken. Was Schuldig dazu veranlasste Ran eine …seine Mütze aufzuziehen. Liebevoll schob er die Haare unter die Jacke und zog Ran die Mütze über, küsste ihn dann auf die Nasenspitze.

„So, nicht weglaufen, ich zieh mich schnell um.“
 

Aya stand in dem Raum, dick eingepackt und warm und fühlte sich…gut. Einfach umsorgt, wenn auch seltsam, so untätig und blind der Umgebung gegenüber. Schweigend nickte er und wartete auf Schuldig, dass dieser fertig wurde und dass sie nach draußen gingen.

„Zieh dich warm an, es ist kalt draußen! Denk dran, dass du dich nicht wieder erkältest!“
 

Schuldig warf Ran einen spöttisch gelassenen Blick zu, während er sich die dicken Socken auf dem Futon überstreifte und sich erhob. „Ja, Herr Oberaufseher“, maulte er spöttisch zurück und beeilte sich.
 

So war es doch in Ordnung, so lobte er sich die Folgsamkeit von Schuldig. Aya grinste und verschränkte die Arme, lauschte auf das leise Motzen des anderen Mannes, das nach einiger Zeit wieder näher kam.

Ab nach draußen, hörte er noch, bevor er vorsichtig, aber unaufhaltsam nach draußen bugsiert wurde und seine Hand sich etwas enger um Schuldigs Oberarm klammerte. Er hatte schließlich doch Respekt davor, sehr viel Respekt, blind durch die Gegend geführt zu werden.
 

So verließen sie also das traute Heim - Schuldig samt seinem Klammeräffchen in Richtung Bergpfad.

„Meinst du wir sollten uns bevor wir fahren kurz von denen im Dorf verabschieden, die wir oder du öfter getroffen haben?“, merkte Schuldig an.
 

„Ja…das halte ich für richtig. Es scheint mir normal zu sein und erwünscht…Vor allem bei Kazukawa-san. Sie hat dir sehr geholfen…“ Aya setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und ließ sich durch die Landschaft führen, seine Ohren auf die Geräusche gerichtet, die sich ihm entgegentrugen, während er schnupperte. Es roch nach Frühling, auch noch nach Winter…eine interessante Mischung.
 

Obwohl er diese Hilfe nicht gewünscht hatte, keimte da ein wenig Starrsinn in Schuldig auf. Aber er war froh, dass Ran in dieser Zeit nicht alleine gewesen war. Das war ihm sehr viel Wert.

„Dann sagen wir ihr auf Wiedersehen, wenn wir gehen“, sagte er zufrieden mit sich und der Welt und wenn auch nur für einen Augenblick.

Er ließ seinen Blick schweifen, der leider getrübt wurde von dichten Bäumen und Gehölz und nur wenig Aussicht auf die Umgebung bot.

„Glaubst du, wir können bald wieder hierher kommen?“

Etwas Wehmut lag in seiner Stimme, auch wenn er die Frage neutral formulieren wollte, so barg sie an sich schon dieses Gefühl in sich.

Noch immer war ihnen jemand auf den Fersen und sie machten …Urlaub. Die Lage schien sich stetig zuzuspitzen, dennoch fehlte ihr die Dringlichkeit. Es gab keine direkten Angriffe.
 

„Ich hoffe es…aber erst müssen wir diese Wohnung verlassen und zusehen, dass wir sicher sind“, grübelte Aya. „Die Frage ist, wo wir hinziehen…ob Tokyo, was am Sichersten ist…und was mit Weiß ist.“ Denn seine Freunde würde er garantiert nicht zurücklassen…nicht, wenn sie so dermaßen gefährdet waren wie jetzt. Denn wenn sie Youji und ihn angegriffen hatten…dann konnte er für Omis und Kens Sicherheit nicht garantieren.

Außerdem musste er sich nach ihrer Rückkehr um Youji kümmern.

„Youji…ihm geht es sicherlich nicht gut. Was hältst du davon, wenn er erst einmal zu uns kommt?“, kam Aya auf eine vage Idee, die jedoch noch nicht einmal in Ansätzen ausgereift war.
 

Was Schuldig sofort akute Kopfschmerzen bereitete. Er blieb stehen und hätte am liebsten angefangen, diese Idee komplett in der Luft zu zerfetzen, damit auch nicht das kleinste Fitzelchen davon übrig blieb. Stattdessen zählte er bis zehn. „Findest du das eine gute Idee?“
 

Die übliche Abwehrreaktion auf Youjis Person…

Wie hätte es auch anders sein können bei Schuldigs Eifersucht?

„Eigentlich ja…so ist er nicht alleine und ich kann auf ihn aufpassen, dass er sich erholt und Kraft tankt. Ich scheine ihm einfach zu fehlen, weißt du?“

Aya brauchte seine Augen nicht, um sich Schuldig nun vorzustellen, wie er ihn anstarrte. Diese Mischung aus Abwehr, Ekel und Eifersucht, dazu noch das sich sträubende Fell. Wer von ihnen war noch einmal gleich der Kater?
 

„Gut, wenn du meinst“, zuckte Schuldig mit den Schultern. Er wusste zwar, dass er so gut wie nie zuhause sein würde, wenn der Schnüffler hinter ihm und seiner Privatsphäre her schnüffelte, aber wenn Ran meinte, dass er seine spärliche Freizeit mit dem Playboy verbringen wollte…
 

Da strömte der Widerwillen aus jeder Pore und tränkte den Boden unter ihnen.

„Wie gut, dass du mir da ohne zu argumentieren zustimmst“, erwiderte Aya und lachte leise. „Ich verstehe nicht, warum du immer noch eifersüchtig bist…es ist ja nicht so, als müsste ich mich noch zwischen dir und ihm entscheiden. Meine Wahl habe ich schon längst getroffen…“
 

„Ich bin nicht eifersüchtig“, sagte er ruhig und sehr ernst. Er fand es einfach unmöglich, dass Ran auf derartige Ideen kam.

Es ging stetig bergauf und Schuldig spürte wie gut es tat, an der frischen Luft zu sein, aber auch, dass die Wunden noch an einigen Stellen zogen. „Wie sieht das dann aus? Ich meine, wie stellst du dir das vor? Während du den ganzen Tag in der Arbeit bist, schlage ich mir mit Kudou die Zeit tot? Und glaubst du, er findet die Idee so toll? Uns dabei zuzusehen, wie wir uns das Hirn rausvögeln? Ach stimmt ja, du möchtest sicher während der Zeit, in der er da ist, auf Sex verzichten, oder?“ Er sagte alles ganz ruhig, aber eine gewisse Spur Zynismus konnte er nicht aus seiner Stimme tilgen. Ran dachte mit seinem Herzen und wenig mit dem Verstand bei dieser Idee.
 

Aya seufzte, sagte aber nichts weiter dazu. Natürlich brachte es einige Schwierigkeiten mit sich, wenn er Youji zu ihnen holte, doch er wollte dem anderen Mann ebenso sehr ein Beistand sein, wie dieser es zu seinen dunklen Zeiten gewesen war.

Noch ein Nachteil an einer gemeinsamen Wohnung, wie es Aya auffiel, denn er wurde sich bewusst, dass er Youji selten zu sich holen konnte, sondern immer zu ihm fahren würde. Eben weil es nicht ging, weil er die beiden nicht unter einen Hut bringen konnte, egal, wie sehr er sich anstrengte.

Er war zu lange egoistisch gewesen, hatte sich zu lange seinen eigenen Emotionen hingegeben und nun war das Team in Gefahr.

Auch wenn er nicht mehr zu Weiß gehörte, so dachte er immer noch als ihr Anführer und er wollte sie aus der Schusslinie haben. Wollte sie schließlich glücklich sehen – ohne Kritiker.
 

Es war schlimmer, als wenn Ran die Schwiegermutter ins Haus holen wollte. Ran wollte seinen Ex-Lover bei ihnen einquartieren und fand es legitim. Nein, er verstand scheinbar nicht, warum Schuldig etwas dagegen hatte.

Und reden wollte er scheinbar auch nicht darüber, so wie Schuldig das Schweigen wohl zu verstehen hatte.
 

Es dauerte auch noch seine gewisse Zeit, in der Aya in tiefes Grübeln verfiel, bis er wieder in die Realität zurückkehrte und ein weiteres Mal seufzte.

„Ihr beiden könnt euch nicht ausstehen. Ich wiederum würde es gerne sehen, wenn ihr in der Lage wärt, freundschaftlich miteinander umzugehen. Aber das geht nicht.“ Er lächelte kurz bedauernd. „Also bleibt Youji da, wo er ist, und wenn etwas ist, stehe ich ihm zur Seite. Du bist da ganz außen vor…und brauchst dich mit ihm nicht zu belasten.“
 

Schuldig hatte den immens hohen Drang mit den Augen zu rollen. Er wandte sich vollends Ran zu und seine Hände grabbelten an Rans Ohren zu dem Knoten an Rans Hinterkopf um ihn unter der Mütze zu lösen. Er zog das Band herab und Ran wurde mit einem sehr ernsten, - bei ihm eher seltenen Gesichtsausdruck konfrontiert.

Ran blinzelte ihm entgegen und Schuldig genoss den kurzen Moment der Verwirrtheit in dem faszinierenden Violett.

„Woher nimmst du die Gewissheit, dass wir uns nicht ausstehen können, oder dass ich eifersüchtig wäre. Hältst du mich für so unsensibel, dass ich dir verweigere, deinem Freund beizustehen, der gerade etwas sehr Übles durchlebt hat? Mein Bedarf an Spielen ist seit einiger Zeit etwas in den Hintergrund getreten, findest du nicht?“
 

Da es einfach zu hell für seine an Dunkelheit gewöhnten Augen war, belohnte Aya Schuldig auch noch für die nächsten Momente mit einem verwirrten Blinzeln und eulenhaften Augen, die er von Zeit zu Zeit schließen musste um sich langsam an die Helligkeit zu gewöhnen.

Auch wenn er sich für den ersten Moment fragte, warum nun ihr Spiel vorbei war, wusste er es, sobald Schuldig den Mund aufmachte. Es stand also eine ernsthafte Diskussion ins Haus, die…so wurde Aya es sich bewusst, schon längst hätte geführt werden sollen.

Schuldig schließlich mit großen, fragenden Augen ansehend, musste sich Aya eingestehen, dass er genau das gedacht hatte…zumindest die Sache mit der Eifersucht und dem Nicht Ausstehen könnend.
 

„Ja, ich hatte dich für eifersüchtig gehalten, Schuldig“, gab Aya ehrlich zu. „Aber schön, eines besseren belehrt zu werden…ich freue mich, wenn ihr beiden euch versteht.“ Er lächelte und strich Schuldig über die rechte Wange. Vermutlich hatten die beiden Kontakt gehabt, während er nicht dabei war…und keiner von beiden hatte ihm etwas gesagt.

„Nein, unsensibel bist du nicht, das habe ich nicht gemeint…ich wollte es dir eben nur recht machen…aber vielleicht war die Idee mit dem Einziehen auch etwas zu brachial.“
 

„Nur Recht machen…Ran du bist keine an den Herd gebundene Ehefrau eines Arschlochs von Ehemann“, sagte er mit hochgezogenen Brauen. „Streich das Ehemann und Ehefrau“, schmunzelte er.

„Du brauchst mir nichts recht zu machen. Und mich über zu behüten fördert nicht gerade meine Genesung. Ich genieße es, wenn du mich verhätschelst, aber ich muss auch mal den starken Mann raushängen lassen, eh?“, zwinkerte er und stupste Rans Handinnenfläche mit seiner Nase an.

„Ich liebe es, wie du dich um mich sorgst, weil ich weiß, dass wir beide viel füreinander empfinden. Ja, ich weiß, so etwas schwafeln die wenigsten einfach so daher, inmitten einer solchen Umgebung“, rollte er mit den Augen um diese Worte nicht allzu hochtrabend klingen zu lassen. „…aber ich kenne deine Gefühle und deine Gedanken. Ich kann es mir leisten so etwas zu sagen“, fand er zu seinem Schmunzeln zurück.
 

Aya lachte, dieses Mal nun wirklich befreit.

Ja, Schuldig hatte Recht mit dem, was er sagte. Schuldig wusste, wie er tief in sich fühlte und er selbst sah es in jeder Zelle des anderen Mannes, dass dieser ihm auch nicht abgeneigt war – eine leichte Untertreibung, wie Aya fand.

Schuldig brauchte seine Freiheit und seine Stärke, dessen war sich Aya bewusst, doch eine kleine, penetrante Stimme in ihm wollte den anderen Mann nur verhätscheln, ihn versorgen und behüten und dafür sorgen, dass nichts mehr geschah…gar nichts mehr.

Doch so würde es nicht funktionieren.

„Gut….“, sinnierte er. „Dann nichts wie ab mit dir ins kalte Wasser! Damit du dich auch ja abhärtest und wieder gesund wirst! Das mit der Ehefrau und Ehemann und generell das an den Herd gebunden, vergessen wir ganz schnell, nicht wahr?“

Ayas Zeigefinger stupste Schuldig auf die Nase.
 

„Mir deucht, du hast das …Arschloch vergessen. Soll mir das etwas sagen, Honigkuchenpferdchen?“ lächelte Schuldig fast schon zu liebenswürdig.
 

Aya lauschte auf den Nachklang des deutschen Wortes, das ihm ganz und gar fremd vorkam. Er runzelte die Stirn und war sich schon fast sicher, dass es etwas Böses bedeutete.

„Das Arschloch vergessen wir natürlich auch, insofern du es willst! Allerdings dachte ich, dass du dadurch zu deinem starken Ich zurückfindest…also dem Macho, dem bösen Schwarz und ultrabösen Telepathen.“

Alles blieb brav dort, wo es war, sowohl seine Mundwinkel als auch seine Augen, die ein Lächeln oder gar Lachen hätten andeuten können.

„Was heißt das…dieses Honigku…“ Den Rest konnte er nicht mehr aussprechen. Die deutsche Sprache war ihm bei solchen Wörtern einfach ein Mysterium.
 

„Das ist das Äquivalent zu Arschloch. Vielleicht noch einen zacken Schärfer. Wenn du jemanden so richtig beleidigen willst solltest du es ihm ins Gesicht schleudern, wie einen Fehdehandschuh“, erläuterte Schuldig gelassen, selbstsicher und seiner Ausführung absolut sicher. Er streute noch etwas Langeweile in seine Wortwahl und etwas Genervtheit, weil er Ran das erklären musste. Schließlich wollte er, dass Ran das schluckte.
 

Zunächst erntete Schuldig jedoch ein dunkles Funkeln aus violetten Augen, das deutlich von Misstrauen sprach.

„Das ist also der Lohn dafür, dass ich dir etwas deiner Manneskraft wiedergeben möchte, ja?“, grimmte der Japaner und verschränkte die Arme vor seiner Brust.

„Übrigens sagte mir ein ‚weiser Mann’ seinerzeit, dass man dir in solchen Dingen nicht trauen dürfte…siehe dem Apfelstrudel. Ich werde es also nachschlagen, sobald wir nach Tokyo zurückgekehrt sind, mein Lieber.“
 

Schuldig zog eine Grimasse. „Lass mich raten, das allsehende Auge? Die Brillenschlange Brad Crawford? Du glaubst ihm also mehr als mir?“, tat er beleidigt. Jetzt verschworen sich schon Erzfeinde gegen ihn. Pah, soweit war es schon gekommen. „…wegen einem läppischen Apfelstrudel und einem fiesen Honigkuchenpferdchen“, murmelte er.
 

Sobald er dieses Wort noch einmal gehört hatte, speicherte Aya es sicher und tief in sich ab. Ja, um es in Tokyo nachzuschlagen…wenn er es überhaupt fand, hieß das.

„Genau der. Ja, ich glaube ihm mehr als dir…denn er hat mir sachlich einige Situationen geschildert, in denen du versucht hast, ihn übers Ohr zu hauen. Wie mich auch…in so einigen Dingen. Sagen wir so…gebrannte Kinder halten zusammen. Und tauschen sich aus.“ Ein gemeines Lächeln umspielte Ayas Lippen.
 

„Und was habt ihr sonst noch ausgetauscht?“ Gut, er konnte ein durchtriebenes Lächeln nicht unterdrücken. Auch wenn er noch so harmlos dabei aussehen wollte. Aber wie das immer so war mit dem harmlosen Aussehen…in Rans Gegenwart. Je mehr er es wollte desto fieser wurde es.
 

„Das, mein liebes Zackelschaf…“, lächelte Aya liebevoll. „Ist eine Sache zwischen dem allsehenden Brillenschlangenauge und der rothaarigen Raubkatze.“ Damit entfernte er sich mit einem Satz von Schuldig und lachte. „Sagen wir…wir haben Erfahrungen ausgetauscht!“
 

„Pass auf die Pfützen auf, Hase“, grinste Schuldig eindeutig nicht jugendfrei. „Wenn du nass wirst, weißt du ja wo du landest…da macht dann das bisschen Wasser mehr auch nichts mehr aus.“
 

„Ach Schuldig…du weißt doch, wie ich es mit Teichen halte, oder?“, fragte Aya spielerisch. Die Drohung, die hinter diesen Worten stand, wiederholte er nicht. Es war schließlich auch nicht nötig. Was ihm jedoch wiederholt auf die Nerven ging, waren diese ständigen Kosenamen.

„Weißt du, Schuldig, ich weiß, dass du mich liebst, das brauchst du nicht durch Verniedlichungen zu belegen“, lächelte er, ein minimaler Funken Ernst in seinen Augen.
 

Schuldig stutzte, runzelte die Stirn, aber er verstand. „Gut, klar, kein Problem.“

Er folgte Ran und sah sich genau in der Umgebung um. Bald würden sie wieder in der Großstadt sein, bald würde das Gewusel wieder losgehen. Er hatte bemerkt, dass ihm die Ruhe hier gut getan hatte. Obwohl er anfangs angenommen hatte, dass ein Leben hier draußen ihn wahnsinnig machen würde. Aber vielleicht war dies gar nicht der Fall.

Vielleicht war es das, was er brauchte?

Ruhe… doch …so sicher war er sich da leider immer noch nicht.

Vielleicht würden sie nie wieder hierher zurückfinden?
 

Schweigend gingen sie nebeneinander her und Aya ließ seine Gedanken durch die Natur schweifen, sog die Eindrücke in sich auf, die er mit all seinen Sinnen erfasste. Es wurde wirklich bald Frühling, das merkte er nicht nur an der Temperatur und er konnte nicht erwarten, hierhin zurück zu kehren und sich um diesen verwunschenen Garten zu kümmern, während sich Schuldig in der Sonne herumlümmelte.

Aya lächelte bei dieser Vorstellung, die die ganze Spannung, die sie in den nächsten Wochen erwarten würde, außen vor ließ. Es wäre schön…wirklich schön.

Er seufzte und maneuvrierte sich vor Schuldig, griff sich dessen Arme und legte sie um sich.

„Wenn wir unseren Fuhrpark loswerden müssen, was schaffen wir uns dann an?“ Ein wichtiges Thema.
 

Aha, daher wehte also der Wind.

„Ich fürchte wir müssen zunächst auf unauffällige Fabrikate ausweichen. Je teurer der Wagen, desto höher die Wahrscheinlichkeit uns aufzuspüren. Wobei der neue Porsche in schmuckem Weiß es schon in sich hat“, lächelte Schuldig und wackelte mit den Augenbrauen.
 

„Hör auf…außerdem kostet der Wagen ein Einfamilienhaus in der besten Gegend…sowieso unbezahlbar. Was hältst du von einem Kleinwagen, Dreitürer, unauffällig?“, forderte Aya den Teufel namens Luxuskerl heraus und lehnte seine Wange an Schuldigs.
 

Dieser tat es Ran gleich und musste lächeln. „Wir brauchen ohnehin zwei Wagen. Was hältst du davon, wenn wir uns etwas Jeepähnliches zulegen und einen fünftürigen Stadtwagen. Mit dem Tourenwagen können wir hier raus fahren und wir können ihn innen etwas aufmöbeln.“

Klar das Ran wieder auf dem Spartripp war.
 

„Klingt sehr gut. Vorschlag geprüft und angenommen“, kam es von dem Geizkragen und Aya lächelte.

„Nächster Punkt…die neue Wohnung. Wo? Wie groß? Welche Aussicht?“ Aya persönlich hatte eine Vorliebe für das Meer, für die Weite des Ozeans. Eine schöne, große Terrasse würde ihm gefallen. Hirngespinste, alle miteinander.
 

„Wo? Nicht in Tokyo direkt würde ich sagen. Aber da ist dein Weg dann weiter zur Arbeit, oder?“
 

„Ja, das wäre zu bedenken. Aber unsere Sicherheit muss an allererster Stelle stehen.“ Wenn sie das aus sicherheitstechnischen Gesichtspunkten betrachteten, dann wäre es sicherlich besser, sie würden ganz aus Tokyo fortgehen und ein Teil – der rationale – in Aya sagte ihm genau das. Ins Ausland, ohne eine Verbindung zu Japan.

Doch…war das möglich?
 

„Okay. Und wie groß? Wie wäre es mit …groß? Und Aussicht…keine Ahnung, müssen wir sehen, wenn wir Angebote sichten. Hast du denn zu Größe und Aussicht Vorstellungen, Ran?“
 

Gewisse Vorstellungen hatte Aya schon, nur waren die allesamt in Tokyo vermutlich unbezahlbar. Oder nur von Schuldig bezahlbar. Doch er wusste, dass sie keine kleine Wohnung haben durften. Schuldig brauchte viel Freiraum für sich, viel Platz zum Atmen.

Ihm hingegen war es egal. Bis auf ein kleines Detail.

„Aussicht…das Meer auf der einen Seite, Tokyo auf der anderen. Vielleicht eine Vierzimmerwohnung mit Terrasse…oder fünf Zimmer, je nachdem, ob du auch einen Raum nur für dich willst. Soviel zum Thema Traumwohnung!“ Aya grinste.
 

Okay, also eine Fünfzimmerwohnung mit so ungefähr 200 Quadratmetern, möglichst weit oben, damit man eine gelungene Aussicht genießen kann. Gut damit konnte er leben.

Schuldig grinste zurück. „So machen wir´s!“
 

o~
 

„Ach komm!“, grollte Aya, während er die Veranda des großen Hauses betrat, über der einen Schulter die mitgenommene Tasche, in der anderen Hand den Schlüssel zum Haus. Schuldig stand neben ihm und sah ihn an, als ob er ihn auffressen wollte.

„Wir können doch nicht einfach so von hier verschwinden! Das ganze Dorf kennt uns vermutlich schon!“

Hier standen sie nun, das Haus sorgsam aufgeräumt und abgeriegelt, bereit um zurück nach Tokyo zu fahren. Aya selbst dazu bereit, sich von den Dorfbewohnern zu verabschieden und ihnen gleichzeitig Schuldig vorzustellen. Schuldig selbst aber dazu weniger bereit.
 

Der hatte es sich nämlich anders überlegt. Zwar wusste Schuldig, dass es nötig war, aber er … er wollte es so ausdrücken: Er zierte sich noch.

„Keiner kennt uns, die Alte hat bestimmt dicht gehalten!“ Obwohl er in Gedanken bereits spazieren gegangen war und durchaus erkennen hatte müssen, dass dem wohl nicht ganz so war.
 

„Ein Grund mehr, dich vorzustellen!“, konterte Aya und maß Schuldig kritisch, während er den Schlüssel im Schloss herumdrehte. „Außerdem kennen zumindest MICH ihre Tochter und der alte Mann, der das Holz gebracht hat. Es gebietet alleine die Höflichkeit, sich von ihnen zu verabschieden und dich vorzustellen, denn du hast schließlich das Haus hier gekauft! Ich kann mir auch vorstellen, dass sie sich freuen würden, dich kennen zu lernen, du bist schließlich ein ansehnlicher, junger Mann!“ Aya musste lächeln. Er konnte sich gut vorstellen, dass die Tochter der Kräuterfrau – Kazukawa-san – Schuldig schöne Augen machte. Und er ihr auch, davon einmal ganz abgesehen. Schuldig kannte da sicherlich gar nichts.
 

„Oh man“, nuschelte Schuldig und ging die Treppen vom Haus hinab und drehte sich dann noch einmal um, um das Haus ein letztes Mal noch einer Betrachtung zu unterziehen. ‚Bis bald’, wisperte er in Gedanken.
 

Auch Aya verabschiedete sich auf seine ganz eigene Art von dieser Zufluchtsstätte und zog Schuldig an sich, ging mit ihm gemeinsam zum Auto. „Ich wusste, dass du es auch gut findest!“ Und wie da der Teufel in ihm herauskam.
 

„Und ich wusste schon immer, dass du manipulativ bist, aber so …“, spielte er den überrumpelten, überfahrenen arglosen Mitbürger, dem hier vom System übel mitgespielt worden war.
 

Gemeinsam stiegen in den Wagen, nachdem Aya die Tasche sicher im Kofferraum verstaut hatte. Ein letzter Blick auf das Haus und sie fuhren die holprige Straße entlang zum Dorf, hielten schließlich vor Kazukawa-sans Geschäft. „So, auf in den Kampf!“ Erste Station…
 

Während der kurzen Fahrt war es still zwischen ihnen gewesen. Schuldigs Gedanken hatten im vergangenen Tag verweilt, an dem sie noch vieles beredet hatten. Und er musste daran denken, dass ihr Blind Day leider nicht so erfolgreich verlaufen war wie er es sich in sexueller Hinsicht gewünscht hätte. Er musste grinsen, als er ausstieg.

Aber sonst… was Rans Ängste anbetraf und seine eigenen Sorgen war dieser gestrige Tag durchaus ein Erfolg gewesen.
 

Diese seltene Zufriedenheit auf Schuldigs Gesicht bemerkte auch Aya, als er einen Blick auf den Telepathen warf und Frieden in dessen Zügen sah. Tiefen Frieden.

Er selbst lächelte und betrat dann den Laden. Die altmodische Türklingel erklang und Kazukawa-san trat aus dem hinteren Bereich. Sie lächelte, als sie sie sah.

„Fujimiya-san…was führt Sie zu mir? Ah…und auch der genesene Patient, wie ich sehen kann. Sehr gut genesen“, sagte sie und nahm einen Zug der im Mundwinkel hängenden Zigarette. „Roswell-san, Sie sind sehr gut anzusehen mit etwas mehr Farbe im Gesicht!“ Sie lächelte ihr altes, leicht durchtriebenes Lächeln, das so vieles bedeuten konnte. „Wie geht es Ihnen?“
 

Na die Alte schien ja heute wieder auf Zack zu sein, bemerkte Schuldig und kam sich vor, als wäre das hier seine alte verschollene Großmutter, die er nie gehabt hatte.

„Kazukawa-san“, begrüßte Schuldig sie mit gebührender Höflichkeit und freute sich, dass er nicht seine Schlabberklamotten sondern einen Yukatta trug.

„Es wird jeden Tag besser, dank ihrer Hilfe.“ Er war noch nicht genesen, aber es wurde besser.
 

„Sehr schön, sehr schön.“ Sie nickte und ließ ihren Blick noch einmal über den ausländischen Mann schweifen, zufrieden mit ihrer eigenen und Fujimiya-sans Antwort.

„Wir möchten uns gerne von Ihnen verabschieden, Kazukawa-san. Wir werden heute nach Tokyo zurückkehren“, holte Aya nun ihre Aufmerksamkeit zu sich und er sah kurz Bedauern in ihrem Blick, bevor sie nickte.

„Es wird Zeit für Sie?“

„Die Arbeit ruft“, entgegnete er lächelnd. „Deswegen sind wir gekommen um bis bald zu sagen und damit Roswell-san…“, Schuldig hatte den Namen aufgrund seiner telepathischen Antennen gewählt, die er selbst ihm einmal angedichtet hatte – Aya hatte drei Anläufe gebraucht, um sich daran zu erinnern. „…sich auch Ihrer Tochter und Todai-san vorstellen kann. Damit er nicht ganz unbekannt ist in diesem Dorf. Nicht wahr?“
 

„Ja, ganz recht“, stelzte Schuldig pflicht…schuldigst, da er sich zu einer Antwort bemüßigt fühlte und sah sich neugierig mit Blicken im Laden um.
 

Mizumi lächelte leicht und nickte beflissen, während sie sich den ausländischen Mann ein letztes Mal betrachtete, der auf den Beinen und recht wohlauf doch schon eher nach etwas aussah wie vorher…

Was für ein Geheimnis er jedoch mit sich trug, das konnte sie nicht entschlüsseln. Alles, was sie hatte, war eine Intuition, die ihr sagte, dass an diesen beiden nichts war, wie es auf den ersten Blick schien.

„Bevor Sie jedoch gehen, habe ich noch etwas für Sie“, sagte Mizumi und verschwand für die nächsten Minuten in ihrer kleinen Kammer, in der sie die Salben und Bäder mischte und ansetzte.

Als sie schließlich wieder nach vorne ging, hielt sie einen kleinen Tiegel in der Hand und reichte ihn Schuldig.

„Solange es spannt und gerötet ist, einmal am Tag. Nach einer Woche dürfte dann schließlich auch der Rest verheilt sein“, sagte sie mit ernstem Blick hoch in die hellen, fremden Augen.
 

Schuldig berührte die Finger der alten Frau als er den Tiegel in die Hand nahm und schenkte ihr ein echtes, sanftes Lächeln. „Vielen Dank, Kazakawa-san. Ich werde mich an Ihre Anweisungen halten. Und passen sie mir gut auf das alte Haus auf“, lächelte er einen Tick breiter und zwinkerte.“ Sie hatten schließlich ihre ganz eigene Unterhaltung über das Haus und die Erinnerungen darin gehabt. Aber auch ihre ganz eigene Unterhaltung über den Vergleich zu Ran.
 

„Werde ich, werde ich“, nickte Mizumi und wusste um das Wissen und die Erinnerungen in den Augen Roswell-sans. „Wenn Sie beide möchten, kann sich Todai-san auch um den Garten kümmern…dass er nicht so verwildert ist, wenn Sie wiederkommen?“

Aya wechselte einen Blick mit Schuldig. Das Angebot klang zu verlockend um wahr zu sein, doch er wollte nicht ohne Schuldig bestimmen – auch wenn ihm das Haus gehörte…geschenkt von Schuldig.
 

Dieser legte den Kopf leicht schief, lächelte aber aufmunternd. „Es ist dein Haus, Ran. Triff du die Entscheidung.“ Er wollte mit Ran draußen vor der Tür darüber sprechen, nicht in Gegenwart Kazukawas. Er sah Ran zwar lächelnd aber durchaus auch so an, dass dieser verstand, nicht sogleich auf das Angebot einzugehen.
 

Aya verstand, was Schuldig ihm damit sagen wollte, er sah die stille Warnung in den Augen des anderen.

„Wir überlegen es uns, Kazukawa-san und werden dann auf Todai-san zutreten, wenn wir zu einer Entscheidung gekommen sind“, nickte er schließlich und die alte Frau lächelte.

„Ganz wie Sie es möchten, Fujimiya-san.“ Die beiden hier waren schon etwas Besonderes und der Teufel sollte sie holen, wenn die beiden nicht mehr als nur gute Freunde waren. Städter…ein seltsames Völkchen, so ganz anders als das Leben hier auf dem Dorf. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass zwei der Männer hier im Dorf mehr teilten als Freundschaft.

Natürlich war Fujimiya-san attraktiv und wäre ihre Tochter im heiratsfähigen Alter und nicht schon lange darüber hinaus, so hätte sie eine Hochzeit zwischen ihr und ihm nicht ausgeschlossen, doch…wie es das Schicksal so wollte…
 

Ah…so eine alte Kuplerin, amüsierte sich Schuldig insgeheim über die Gedanken der Alten. Seine Fähigkeiten waren wieder vollständig zurückgekehrt und er hatte an dem einen oder anderen Tag in den Köpfen der Menschen gestöbert.

„So…wir Städter werden uns dann auf den Weg machen, wir wollen ja noch zu ihrer Tochter in den Laden, einige Kleinigkeiten für den langen Weg zurück einkaufen“, zwinkerte Schuldig ihr zu.
 

Mizumi runzelte ihre faltige Stirn. Fast war ihr, als hätte Roswell-san ihre Gedanken gelesen. Fast…

„Sie sind ein Schlingel“, sagte sie, ohne es zu erklären und verengte ihre Augen. „Machen Sie meiner Tochter ja schöne Augen. Sie hat sich schon darauf gefreut, die Familie Fujimiya-sans kennen zu lernen!“

Aya sah von Schuldig zu der Alten und hatte eine Idee, eine flüchtige. Misstrauisch spiegelte er die Geste der alten Frau und kräuselte seine Stirn.
 

Ohje …nicht mal ein bisschen Spaß konnte man sich hier erlauben, meckerte Schuldig über Rans gekrauste Stirn.

„Werde ich, Kazukawa-san“, beeilte sich Schuldig zu sagen, verabschiedete sich gebührlich und trat schon mal Richtung Tür. „Auf ein baldiges Widersehen.“
 

Gemeinsam verließen sie das Geschäft und gingen in Richtung Lebensmittelladen. „Was genau hast du in ihren Gedanken gelesen, Schuldig?“, fragte Aya mit einem kleinen Lächeln um seine Lippen, leise genug, dass niemand es mitbekam.
 

„Ich hab doch nicht in ihren Gedanken gelesen! Wie kommst du denn jetzt da drauf?“, fragte Schuldig ernst mit dem Hauch von Verwunderung. Mal sehen ob es klappte.

Er ließ sich von Ran zu dem kleinen Laden führen.
 

„Du könntest mich genauso gut fragen, wie ich darauf komme, dass heute die Sonne scheint.“ Das tat sie übrigens sehr kräftig, sehr auffällig, sehr…hell.

Aya wackelte mit seinen Augenbrauen.
 

Und Schuldig konterte mit einem gelangweilten du-weißt-ja-immer-alles-besser-Blick und verzog die Lippen unwirsch. „Na gu~ut“, lenkte er ein. „Sie dachte, dass sie sich ziemlich sicher wäre, dass wir nicht nur Kumpel wären sonder ganz bestimmt mehr am Laufen hätten und dass sie dich gerne mit ihrer Tochter verkuppelt hätte - wenn diese noch im heiratsfähigen Alter wäre.“

So…zufrieden?, meckerte Schuldigs Blick deutlich zu Ran hinüber.
 

Eine rote Augenbraue hob sich im eleganten Schwung und Aya lachte entspannt, gelöst. Die vergangenen Tage hatten ihn ruhiger werden lassen, ebenso wie die Stunden unter der Augenbinde, die ihm gezeigt hatten, dass Schuldig ihm nicht stiften ging und dass er vertrauen musste – und konnte. Ja, er konnte vertrauen.

„Sag bloß, du bist eifersüchtig auf Kazukawa-sans Tochter?“
 

„Ich?“, quiekte Schuldig fast schon vor Empörung über diese infame Unterstellung. „Ich doch nicht! Die ist viel zu alt für dich. Außerdem bist du schon vergeben, da habe ich überhaupt keine Angst!“ Genau so war das nämlich. Angst hatte er dann eher wieder in der großen Stadt, vielleicht wenn Brad wieder …näher ist…
 

„Richtig, ich bin schon vergeben. Da gibt es ja jemanden…“

Aya grinste und nickte zu dem kleinen Lebensmittelladen hin.

„Wir sind da…mal sehen, ob sie mir schöne Augen macht“, sagte Aya leise und drückte die Türklinke hinunter. Auch hier kündigte ein leises Klingeln ihre Ankunft an und er betrat den Laden, dicht gefolgt von Schuldig.

Besagte Tochter sah ihnen beiden auch schon entgegen, den Blick von ihm auf Schuldig schwenkend. Und Aya erkannte, dass sich Schuldig und damit auch Kazukawa-san geirrt hatten. Sie wollte wenn nicht mit ihm verkuppelt werden, nein. Dafür war viel zu viel Bewunderung für Schuldig. Viel zu viel…was auch immer es war, Schuldig war ihr Favorit.

„Guten Tag, Kazukawa-san“, lächelte Aya.
 

Und Schuldig fiel in diese Begrüßung mit ein, trat denselben Gang wie Ran ein, und stellte sich halb seitlich halb hinter ihn. Schuldig war schon gespannt darauf wann sie endlich wieder fahren würden, denn ihm sagte dieses Schwiegersöhnchenvorgestelle ganz und gar nicht zu. Er fühlte sich schlicht unwohl, so begafft, so interessiert beglotzt und vor allem so angelächelt zu werden. Er hatte es nicht umsonst in der Vergangenheit vorgezogen zunächst bewundert zu werden, nur um danach diese Bewunderung aus den Köpfen zu löschen. Dennoch wusste er um seine Manieren. Er stellte sich also brav und wie es sich gehörte vor und fügte noch an, dass er derjenige gewesen war, der das Haus gekauft hatte.
 

„Ein Glück, dass Sie ausgerechnet dieses Haus gefunden haben!“, kicherte die ältere Frau und Aya fragte sich, ob Schuldig sich bewusst war, dass er die Tochter der Kräuterfrau bereits vollkommen in seinen Bann gezogen hatte. Auch wenn Aya den Widerwillen, den Schuldig hier empfand, beinahe greifen konnte. Es war auch nur zu verständlich…sicherlich wollte Schuldig schnell nach Hause.

Nach Schwarz.

Zu Crawford.

„Das ist wohl wahr“, entgegnete Aya anstelle von Schuldig und ging dann mit einem Lächeln zu einem der Regale mit den Wasserflaschen. Sie brauchten noch welche für die Rückfahrt.

„Aber wir müssen leider schon wieder fahren. Die Arbeit ruft!“

Kazukawa seufzte. „Wie schade…aber Sie beide beehren uns doch bald wieder, oder?“, fragte sie mit einem Hoffnungsschimmer in der Stimme, der es Aya schwermachte, zu lügen.

Trotzdem nickte er und bezahlte währenddessen die Wasserflaschen. „Immer dann, wenn wir Zeit haben“, nickte er schließlich. „Sagen Sie, wissen Sie, wo wir Todai-san finden?“, fragte Aya…die letzte Station ihrer kleinen Abschiedstour und die Frau nickte eifrig.

„Er hat dort hinten ein kleines Haus.“ Sie zeigte auf die Straße und dann nach rechts. „Dort ist er meistens, wenn er nicht irgendwelche Erledigungen hat.“

Aya bedankte und verbeugte sich, bevor sie beide sich von der Tochter der alten Kräuterfrau verabschiedeten und sich auf den Weg zu Todai-san machten.
 

Draußen vor der Tür atmete Schuldig auf. „Oh man“, murmelte er verdrossen und zog ein verkniffenes Gesicht. „Ich mag so etwas gar nicht.“

Warum auch immer. Er fühlte sich, als wäre er gerade auf Herz und Nieren geprüft worden. Vielleicht lag es daran, dass er sich hier sehr wohl fühlte und er sich im Haus auch sehr wohl gefühlt hatte. Alles hatte hier einen gewissen Familiencharakter und einerseits war es ihm zuwider, andererseits musste er sich selbst eingestehen, dass ihm so etwas fehlte und dann wieder …wollte er nur weg von hier.

Es war nicht so, dass er sich anlügen müsste um zu verdrängen, dass er Angst hatte diesen Leuten zu nahe zu kommen.
 

„Wir sind bald fertig, nur noch Todai-san, dann fahren wir nach Hause“, murmelte Aya liebevoll und warf einen Blick in das gestresste Gesicht des Deutschen. „Sie sind eben alle neugierig auf uns…und auf dich. Du bist quasi ein Blickfang.“ Aya lachte leise.
 

„Ja, das befürchtete ich auch“, seufzte Schuldig und korrigierte seine Mimik, auf freundlich ausdruckslosen Modus um die Sache schnell hinter sich bringen zu können. Er war einfach nicht in der Stimmung für eine harmlose Plauderei.

„Ach, Ran…“, hielt er Ran auf und sah in das aufmerksame Gesicht seines Mannes. Hach, das klang doch schon wieder aufmunternder, lobte er seine eigenen Gedanken.

„Todai… meinst du es wäre gut, wenn der Alte zusätzlich zu seiner sonstigen Arbeit noch deinen Garten macht? Er hat’s nicht so leicht mit seinem Rücken. Er würde nicht ablehnen, aber ich weiß nicht, ob wir ihn überhaupt fragen sollten, eben deshalb.“
 

Verwundert bedachte Aya Schuldig mit einem schweigenden Blick. Da war der Telepath doch schneller als gedacht infiltriert worden von der Dorfgemeinschaft, wenn er sich nun um einen Rücken eines Mannes Gedanken machte, den er noch nie persönlich kennen gelernt hatte.

„Nein, wir sollten ihn nicht fragen. Unseren Garten machen wir selbst…oder vielmehr ich werde ihn dann im Frühling trimmen, während du dich faul auf der Veranda pfläzt.“
 

„Echt? Ich darf? Ich muss nicht irgendwelche Lakeienarbeiten machen, wie Äste absägen oder Unkraut jäten?“ Schuldigs Miene hellte sich etwas auf beim Gedanken daran, dass er es sich gemütlich machen konnte.
 

„Du darfst? Du wirst, so wie ich dich kenne. Aber du wirst mich natürlich mit deiner liebreizenden Anwesenheit beehren und mich schon so unterstützen.“

Aya zog sich den wollenen Überwurf enger. Trotz der Sonne war es doch recht kalt. Aber wenigstens lag das Dorf hell erleuchtet vor ihnen, sonnig und wie aus einem Historienfilm entsprungen. Das hatte Schuldig wirklich gut gemacht…es war ein wertvolles und wundervolles Geschenk an ihn.

Sie waren vor Todais Haus angekommen und Aya klopfte an die Tür.
 

Es dauerte ein Weilchen bis der alte Herr die Tür öffnete. Es hatte etwas Fragendes an sich wie er aus der Tür trat und sie begrüßte. Ran schien er sofort zu erkennen, bei Schuldig konnte dieser etwas Neugierde aber auch …seltsamerweise so etwas wie das Zusammenfügen zweier Puzzleteile. Hatte sich Ran mit Todai über ihn unterhalten?
 

„Fujimiya-san…schön, Sie zu sehen“, sagte der Alte und verbeugte sich leicht. Aya erwiderte diese Geste.

„Todai-san, darf ich Ihnen vorstellen, das ist Roswell-san“, benutzte er Schuldigs Tarnnamen, für den es später noch ein Donnerwetter geben würde. „Ich muss zugeben, dass er die Familie ist, über die wir uns unterhalten haben, als Sie bei uns oben waren.“ Ein entschuldigendes Lächeln traf auf einen fragenden und prüfenden Blick, der über Schuldig glitt und Aya hatte innerlich wirklich Angst vor dem, was als nächstes kam.
 

„Todai-san“, begrüßte Schuldig den alten Kauz - wie er ihn schon einmal bezeichnet hatte - vorbildlich und stellte sich als denjenigen vor, der das Haus gekauft hatte. „…und deshalb werde ich wohl besser auf die Beschreibung des Käufers passen, als Ran“, erklärte er die Umstände soweit er sie erklären wollte. „Ich möchte mich noch einmal für die Holzlieferung bedanken.“
 

Ein Schmunzeln begleitete diese Worte und Todai nickte bedächtig. Nicht, dass er von der alten Kazukawa nicht schon gehört hätte, um wen es sich dort handelte, nein, doch ihn mit eigenen Augen zu sehen, den stattlichen Ausländer, das war etwas ganz Anderes. Und ja, er passte wirklich besser in diese Beschreibung.

„Hat es Ihnen denn oben gefallen?“, fragte er explizit an den großgewachsenen, ihn um zwei Köpfe überragenden Ausländer. Neugierig war er schon etwas.
 

„Ja, sehr“, schwärmte Schuldig und seine Augen leuchteten einen Tick heller. Er war froh, dass er dank …Kitamura so gut japanisch sprechen konnte. Schnell verdrängte er diesen Gedanken daran, der immer wieder aufkam, sobald er an seine Anfangszeit und an die Sprachschwierigkeiten denken musste. Alles war miteinander vernetzt und irgendwie hing immer Kitamura mit in diesem Netz. „Es ist in sehr gutem Zustand, aber der Garten benötigt noch ein kundiges Händchen und das Haus ist noch sehr leer, das werden wir sehr bald ändern, bei unserem nächsten Besuch.“
 

„Soll ich Ihnen beiden in der Zwischenzeit etwas behilflich sein mit dem Garten? Nicht, dass er komplett verwildert ist, wenn Sie wiederkommen?“

Doch Aya schüttelte nur den Kopf. „Das Angebot ist sehr nett, Todai-san, aber da ich ein Faible für Pflanzen habe“, log er, dass sich die Balken bogen, „würde ich das gerne selbst übernehmen.“

„Ein Pflanzenkenner also?“

Aya nickte beflissen. Konnte man so sagen. Wenn auch nur zur Tarnung. Aber er kannte sich aus.
 

Ran…Ran, seufzte und tadelte Schuldig innerlich. Denn da sah er doch glatt, wie die Pinocchionase länger und länger wurde. Es reizte ihn schon sehr, Todai-san auf die Nase zu binden, wie sehr seine heimischen Pflanzen unter der schändlichen Missachtung des hochwohlgerühmten Fachpflanzenexperten litten.

Aber Schweigen war in diesem Fall mehr als nur Gold wert…
 

„Wissen Sie, ich könnte Stunden damit verbringen, unsere Pflanzen zu pflegen. Ein Garten ist da etwas Wundervolles.“ So, damit dürfte gesichert sein, dass sich Todai nicht zu sehr anstrengte, befand Aya und nickte. Unauffällig jedoch schnupperte er. Es roch gut aus diesem Haus, nach Essen, nach Tee, nach Räucherstäbchen. Eine alte, aber heimelige Mischung.

„Wem sagen Sie das? Außerdem hält er jung“, lachte Todai und Aya grinste mit ihm.
 

Na da waren sich zwei aber einig, bemerkte Schuldig.

Es war aber etwas anderes, das ihm erneut auffiel, aber jetzt stärker als zuvor. Ran grinste. Er freute sich einfach so mit anderen Menschen, fremden Menschen. Er führte ein normales Gespräch, mit stinknormalen Leuten und grinste. Schuldig empfand dies als Fortschritt und ein sanftes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als er den beiden beim Palavern zuhörte.
 

Was die beiden auch ausgiebig taten, bis sie sich verabschiedeten und Schuldig nun wirklich von der Last der Vorstellungsrunde erlöst war. Obwohl er sich gar nicht mal schlecht geschlagen hatte…

„Ich bin stolz auf dich, du hast dich exzellent geschlagen“, lobte er, als sie in das Auto stiegen. In seinen Wagen, der bald nicht mehr seiner sein würde.

Wehmut beschlich Aya. Der Killer in ihm begrüßte es, den Wagen loszuwerden. Viel zu auffällig war er. Der Teil in ihm, der einmal Ran gewesen war, wollte das Gefährt nicht aufgeben.
 

„Jajaa, das sagst du nur so um mich einzulullen“, meinte Schuldig in dem Ton, in dem man sagt: Ich weiß, dass es keinen Weihnachtsmann mehr gibt, also lass die Geschenke rüberwachsen, Oma. Möglichst gelangweilt, möglichst oberschlau.

Aber er sah dieses kleine sanfte Streicheln, welches Rans Hand vollführte, bevor er einstieg, dieses klitzekleine längere Verweilen der Hand auf dem Autodach.

„Sag mal …Pinocchio…seit wann kannst du so gut lügen?“, fragte er nun wirklich interessiert an Rans schauspielerischen Talenten. Er schnallte sich an und wandte sich ganz Ran zu, sah ihn fragend an.
 

„Es gab da einen Zeitpunkt, da habe ich jemanden kennen gelernt. Näher kennen gelernt, sozusagen. Bei diesem jemand habe ich mir manche Dinge abgeschaut, weil sie mir als praktisch erschienen. Außerdem stimmt es doch, ich BIN nun einmal Florist! Und dass du DEINE Blumen gnädigerweise, vor allen Dingen noch im stummen Einverständnis mir überlassen hast…“ Aya hob eine Augenbraue. Nicht, dass er Pflanzen hassen würde wie die Pest. Sie waren schön anzusehen. Pflegen…musste er sie nicht freiwillig.
 

„Jetzt hör mal, ich dachte du seist Florist mit Leib und Seele und ich meine …der Bonsai, der gehört schließlich dir. Und jetzt schau du dir das kümmerliche Etwas da mal an. Nur noch Stängel, weit und breit kein Blatt mehr dran“, meinte er in gutväterlichem Tonfall.
 

„Ich übe mich noch in der Pflege dieses mir angetragenen Gewächses! Ich bin schließlich nicht freiwillig zu diesem Bäumchen gekommen, es war irgendwann einmal da! Außerdem…es gibt durchaus Zyklen, wo Bonsais ihre Blätter verlieren“, schimpfte Aya vor sich hin, während er losfuhr und sich langsam die Straße aus dem Dorf zur etwas größeren Landstraße hinunterschlängelte.
 

„Du wolltest …ihn.“ Schuldigs Gesicht fiel in sich zusammen und es bahnte sich ein ausgewachsenes Schmollgesicht an. Aber er konnte nichts dafür… es passierte einfach.
 

Aya kam sich etwas dumm vor mit der Windschutzscheibe zu sprechen, doch eine andere Wahl blieb ihm nicht, wenn er keinen Unfall bauen wollte.

Doch der Ton des Telepathen ließ ihn einen kleinen Blick nach links werfen und ausgiebig seufzen.

„Also wenn ich dir jetzt sage, dass ich ihn nur wollte um dich zu ärgern und dir Arbeit zu machen, dann sinken deine Mundwinkel sicherlich bis auf den Boden. Aber ich habe ihn lieb gewonnen, auch wenn ich bisher keine Ahnung hatte, wie ich einen Bonsai zu pflegen habe. Doch man lernt nie aus.“
 

„Du bist ein schlechter Florist.“ Schuldig betonte das schlecht, als ginge es hier um das übelste Übel, was es auf Erden gab. So richtig schlecht eben. Eine Anklage, genau das war es.

Es war klar, dass Schuldig sich nicht wirklich darüber aufregte und es kratzte ihn auch nicht besonders was diesem Gewächs widerfuhr und noch widerfahren würde. Es machte lediglich Spaß ein wenig zu schmollen. Es tat gut, wenn Ran sich um ihn bemühte. Und gerade jetzt fragte sich Schuldig, wer hier schlecht war… und er wusste mit Sicherheit, dass es nicht der Bonsai und auch nicht besagter Florist hier waren…
 

Aya ließ diese Worte ein paar Meter lang auf sich wirken, setzte schließlich den Blinker und fuhr an den Straßenrand. Er schaltete den Motor aus und drehte sich langsam zu Schuldig.

Die Augen ruhig, ja gar beherrscht und Schuldig bannend, fragte er gemäßigten Tones: „Hast du gerade gesagt, ich sei ein schlechter Florist?“
 

Schuldig dagegen sah die Katastrophe kommen, wusste aber nicht, ob Ran seine Meldung, zugegeben seine unqualifizierte, aber dennoch sehr emotionale Äußerung, ernst genommen hatte oder …vielleicht …nicht… die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt.

Schuldig wandte sich nicht zur Seite, sondern schickte erst einmal die Augen vor, die sich nach rechts samt nachfolgendem Kopf drehten. „Äh…“ …er entschied sich für …für … „Nein?!“, hakte er nach und lächelte vorschriftsmäßig dümmlich. Marke: Ich bin dumm… ich muss gefördert werden, schlag mich nicht!
 

„Weißt du, was du mir damit antust?“, brach sich der Stress von unzähligen Jahren der Knechtschaft im Blumenladen die Bahn. „Weißt du, was du mir sagst? Du sagst, dass ich ALL die Jahre voller Gekreische, von dem mir abends die Ohren geklingelt haben, von dem ich nachts Alpträume hatte, all die Jahre Pflanzen pflegen und hegen, sich um die Rosen kümmern UND die Orchideen…Blumengestecke anfertigen und diszipliniert arbeiten…weißt du, was du da gerade gesagt hast?“ Ayas Stimme stand kurz vorm Zetern, aber nur ganz kurz.
 

Okay, jetzt war der Zeitpunkt günstig für ein ganz liebes Gesicht. Eines, dem man nicht widerstehen konnte. Einem geknickten kümmerlichen Etwas, mit dem Hauch einer Sorgenfalte und dem Ausdruck von großem Schuldbewusstsein. „Ra~an“

Die passende, total verständnisvolle Stimme eines Psychotherapeuten durfte natürlich nicht fehlen. „Bist du dir ganz sicher, dass es gut ist sich so aufzuregen?“
 

„Ja!“ Ein inbrünstiges, überzeugtes Ja ertönte Schuldig hier entgegen, aus vollster Brust geschmettert. „Mit diesem einen Satz negierst du all die Qualen, all das Leid, das ich in diesem kalten, noch Blumen riechenden Blumenladen mit beinahe kaum mehr vorhandenem Gehörsinn ausstehen musste und sagst mir, dass ich das für NICHTS getan habe?! Du bist ein solcher Sadist…“ Dem Schuldbewusstsein trat hier das personifizierte Selbstmitleid entgegen.
 

„Stimmt“, meinte Schuldig mit nun - sofort geänderter Mimik - nachdenklich und zog die Stirn in Falten. „Aber …das ist doch nichts Neues, oder?“, fragte er nun doch etwas erstaunt.

Es war ein perfekter Schlagabtausch und es tat verdammt gut dass sie ihn gerade jetzt hatten. Bevor es vielleicht ganz schnell sehr unlustig werden konnte in Tokyo.
 

„Stimmt, ich habe es mir ja so ausgesucht. Vermutlich kann ich nicht ohne ein wenig Sadismus in meinem Leben“, grimmte Aya. „Vielleicht sollten wir beide in Tokyo einen Blumenladen eröffnen…es fehlt mir vielleicht. Nein, ganz sicher sogar. Aber ich vergaß, du verdienst dir deine Brötchen ja hart als Friseur!“ Hatte sich Aya doch just an ihr damaliges Treffen erinnert.
 

Jetzt musste Schuldig wirklich lachen und durchbrach somit ihren Schlagabtausch. Er hatte Tränen in den Augen als er zu Ran hinüberblickte. Gern hätte er ihn jetzt Blumenkind genannt, aber er verkniff es sich.
 

„Da lacht die Koralle….“, zitierte er grummelnd einen von Youjis Sprüchen und startete den Wagen, fädelte sie beide wieder in den Verkehr ein. Da hatte jemand wirklich gut lachen, verdammt…das waren harte Jahre gewesen in dem Blumenladen.
 

„Hey“, sagte Schuldig, sanft um damit zu besänftigen, nachdem er seinen Lachanfall ausgekostet hatte und schmuggelte seine Hand auf Rans Oberschenkel, beließ sie dort und blickte in die Gegend durch die sie fuhren.

„Hast du denn eine Lieblingsblume?“, fragte er nach einer Weile.
 

„Das gemeine Mauerblümchen. Sehr pflegeleicht“, knirschte es vom halb Besänftigten herüber zu Schuldig.
 

Schuldig lächelte nur zur Antwort und blickte zum Fenster hinaus, zwickte aber Ran in die Innenseite des Schenkels. „Wie wäre es wenn wir anhalten… irgendwo und Blumen kaufen?“, schlug er plötzlich in Gedanken versunken vor.
 

Woraufhin das Auto einen kleinen Abstecher in den Gegenverkehr machte, der zum Glück zu diesem Zeitpunkt ausblieb.

Aya wusste im Nachhinein nicht, was es nun gewesen war…der Kneifer oder die Worte, die impertinenten, des anderen Mannes.

„Hast du noch einen guten Vorschlag?“, fragte Aya mit klopfendem Herzen.
 

„Sag…kaufen wir nun Blumen?“, fragte Schuldig erneut, wie jemand der in Trance war und monoton das wiedergab, was er in dieser Trance erlebte.
 

Die kleine, blaue Ader an Ayas Schläfe pochte verdächtig laut und stark, als er Schuldig Worte vernahm. Wenn er ein Kessel gewesen wäre, hätte er jetzt schon gepfiffen und das ganz laut.

„Ja, Brennnesseln für dich.“
 

„Und Gänseblümchen für dich!“

Schuldig war aber nicht mehr ganz bei der Sache. Er dachte über etwas nach, über etwas, was …vielleicht jetzt noch wichtig wäre. Er zog vom seitlichen Fach ihre Landkarte heran und suchte nach ihrem Zielort.
 

„Ich stopf dir deine Gänseblümchen sonst wo hin, dann kannst du mal sehen, wo meine kindliche Unschuld geblieben ist!“

Ja, der Schlagabtausch machte Aya Spaß, auch wenn er das Gefühl hatte, nun ein paar graue Haare mehr zu besitzen als vorher. Zumindest die abgestorbenen Zellen dazu.
 

Schuldig lächelte nur wieder. „Wenn ein Blumenladen kommt, halt bitte an“, bat er und meinte dies durchaus ernst. Während Ran sich hoffentlich beruhigte, begann er ihn zurück Richtung Tokyo zu lotsen.
 

„Das meinst du wirklich ernst“, stellte auch Aya nun fest und fuhr schweigend weiter, bis sie schließlich kurz vor Tokyo waren. Bis sie unseligerweise den ersten Blumenladen erreichten, der nicht das Koneko war. Er erwog kurz, daran vorbei zu fahren, hielt schließlich jedoch an. Wehe, Schuldig verarschte ihn. Wehe. Dann wusste zumindest ER, wer alleine nach Hause laufen durfte.
 

Und wie ernst es Schuldig meinte. Er ließ sich von Ran etwas Geld geben und stieg aus dem Wagen aus. In seiner traditionellen Kluft kam er sich nicht nur ein wenig seltsam vor. Er fand auch gleich was er suchte und ließ die Blumen sorgfältig einpacken, bevor er den Laden verließ und wieder in den Wagen stieg. Ein leises Lächeln auf den Lippen.

„So und jetzt müssen wir auf den…“, wies er an und begann Ran die Richtung nach ihrem nächsten Ziel zu zeigen.
 

Große, violette Augen hatten vergeblich den verborgenen Schatz auszumachen versucht, der sich seinem Argusblick entzog. So musste er sich notgedrungen auf den Weg machen in Richtung Schwarzhaus, neuem Schwarzhaus, und sich von Schuldig lotsen lassen, der den Weg besser kannte als er selbst.
 

Schuldig lotste …und lotste Ran schließlich dorthin, wo er zuletzt vor einiger Zeit gewesen war Und er fragte sich, wann Ran die Gegend auf dem Weg zu seines Schwester letzter Ruhestätte erkennen würde…
 

Es dauerte noch etwas, bis es Aya auffiel, in welche Richtung sie unterwegs waren. Er brauchte eigentlich sehr lange dafür, aber je mehr er sich sicher war, dass es zum Grab seiner Familie gehen würde, desto beklemmender war das Gefühl, das seine Brust enger werden ließ.

„Was wollen wir hier, Schuldig?“, fragte Aya schließlich ernst, ohne jeglichen Spaß in seiner Stimme.
 

„Wir?“, fragte Schuldig sanft nach. „Wir…denke ich nichts. Aber …du vielleicht. Du wirst vielleicht ein wenig mit deiner Familie reden. Erzählen, was so los war die letzte Zeit und ihnen sagen, wie es dir so geht. Und was du dir für die Zukunft so vorstellst. Nichts Besonderes also, nur das was man so sagt, wenn man die Befürchtung hegt, dass man nicht mehr an Orte wie diese kommen könnte in nächster Zeit.“ Er spürte Rans Unbehagen, aber dafür gab es keine Gründe. Es war wichtig, dass Ran diesen Schritt ging, allerdings hatte Schuldig nicht erwartet, dass es Ran erneut so schnell so schwer belasten könnte. Er hatte geglaubt, dass er wenigstens ein bisschen verarbeitet hätte. „Wir können auch umdrehen, Ran. Ich wollte dir keinen Stress machen mit dieser Idee…“, sagte er besorgt und wandte sein Gesicht Ran zu.
 

„Nein, ist schon in Ordnung. Es ist eine gute Idee“, wiegelte Aya ab, wenngleich seine Finger sich um das Lenkgrad gekrampft hatten bei den Worten des anderen Mannes. Mit ihnen reden? Er sprach doch regelmäßig mit ihnen…und jetzt, wo er gerade Schuldig wieder hatte, sollte er sich damit auseinander setzen, dass seine Familie tot war? Er hatte genug Tod erlebt in den letzten Monaten…und war nun endlich dabei, es zu verdrängen, auch Schuldigs Tod zu verdrängen, die Leere, die Hoffnungslosigkeit, die dem gefolgt war.

Aya wusste nicht, ob er es schaffte, doch ein Teil von ihm wollte es auch sehen, das Grab. Doch ein Teil von ihm wäre am Liebsten umgekehrt und dieser Teil ließ ihn angespannt am Steuer sitzen.
 

„Bist du sicher?“

Schuldig begriff langsam das ganze Ausmaß der Verdrängung, die Ran in sich losgetreten hatte. Der Telepath spürte fast körperlich, wie Ran innerlich kämpfte. Es war wie ein Schock für ihn.

„Ran, soll ich fahren?“, hakte er nach, die Stimme leise. Rans Beherrschung bröckelte langsam.
 

Aya atmete tief ein, ließ seine Atmung innerlich einen Kreis beschreiben, damit er entspannter und ruhiger wurde. Das würde sich hier nicht hoch steigern, er würde verdammt noch mal die Kontrolle behalten.

Ein kurzer, versichernder Seitenblick auf Schuldig und er lächelte, schüttelte leicht den Kopf. „Schuldig, es ist alles in Ordnung. Es ist wirklich eine gute Idee, das Grab meiner Familie zu besuchen“, sprach der Teil in ihm, der es wirklich wollte, der nach seiner Familie gierte.
 

Nichts war in Ordnung. Und Schuldig fuhr hart mit sich selbst ins Gericht, dass er Ran nicht auf seine Idee vorbereitet hatte, sondern ihn blind hineinlaufen hatte lassen.

Eines war gut daran, er hatte jetzt deutlicher vor Augen gehabt, dass es Ran tatsächlich schlecht ging. Sehr schlecht. „Okay, dann mal los. Die Blumen haben wir ja schon“, lächelte er aufmunternd, auch wenn er in großer Sorge war.
 

Aya nickte lächelnd und fuhr den Weg automatisch bis hin zu dem kleinen Parkplatz, von dem aus er laufen musste um an das Grab zu kommen. Er war den Weg schon so oft gelaufen, viel viel früher sehr oft, hatte sich hier sehr oft Beistand geholt von den Urnen seiner Familie. Seit ein paar Monaten waren es drei gewesen und wenn Schuldig doch gestorben wäre…wenn er der Asche hätte habhaft werden können, hätte er ihn hier bestatten lassen.

Aya runzelte die Stirn.

Schuldig saß lebend neben ihm, was dachte er da?

Aya schaltete den Wagen aus und drehte sich zu Schuldig. „Also für sie…“, sagte er mit einem Blick auf die Blumen. Damals…waren sie durch Takatoris Schuld ums Leben gekommen und Schwarz hatten für den Mann gearbeitet…sie waren nicht direkt am Tod seiner Eltern beteiligt gewesen, aber sie hatten dennoch für ihn gearbeitet.

All das schwelte in ihm, hinter seiner ruhigen Fassung.
 

„Ja, für sie. Weil es wichtig für dich ist. Sie sind von deinem Geld. Du hast es dir redlich verdient, mit harter Arbeit, hast du mir erzählt. Das Geld aus deiner Brieftasche war das Trinkgeld aus dem Smile. Du brauchst dir also keine Sorgen machen, dass es schmutziges Geld ist, Ran.“ Er konnte vieles aus Rans Augen lesen, als er das sagte. Ein wenig nahmen sie die Färbung von damals an. Ein wenig kam die Anklage hindurch und noch so vieles andere, was Schuldig in diesem Violett schwer auf sich fallen fühlte.
 

Aya lächelte mit Bedauern in den Augen. „Wärst du in China gestorben…ich hätte dich zu ihnen gebettet“, veräußerte er seine Gedanken von eben. „Wessen Geld…ist doch egal. Sie kommen von dir...von uns. Das ist es, was zählt.“ Ayas Stimme klang nicht rau, noch nicht einmal gepresst, nein, sie klang kontrolliert. Genauestens kontrolliert bis in die kleinste Nuance seiner selbst.
 

„Ist es …schlecht…wenn sie von mir kommen?“, fragte er leise.

Schuldig war sich nicht sicher ob er die Worte richtig verstanden hatte, den Sinn des Gesagten. Er war sich nicht sicher ob er das Recht hatte Blumen hier niederzulegen.
 

„Nein, das ist es nicht. Es ist schön, wenn sie von dir kommen.“ Schön und schrecklich, wie sich Aya gestehen musste, denn tief unten in ihm drin brodelte es. Schrie es nach der Erinnerung an die Takatorizeit, an den Hass.

Doch das war vorbei und wo sich bei manchen Liebe in Hass verwandelte, war es bei ihnen umgekehrt so gewesen.

„Weil sie sich freuen würden, dich kennen zu lernen.“ Ganz leise war das gekommen, nachdenklich und beinahe nicht dazu gedacht, laut ausgesprochen zu werden.
 

Nein.

Das war es was Schuldig zuerst dachte. Sie würden sich nicht freuen, Ran. Aber er sagte es nicht, stattdessen schnallte er seine Gurt ab und beugt sich zu Ran, legte seine Hand an dessen Wange und kam dicht mit seinen an dessen Lippen heran. „Shht, Ran. Ist schon gut. Geh jetzt und komm bald wieder. Ich warte hier, okay?“ ^
 

„Ja, ich beeile mich.“

Ein kurzer Kuss auf Schuldigs Lippen schien wie ein Hauch zwischen ihnen vorbei zu ziehen, bevor auch Aya sich abschnallte und die Wagentür öffnete. Er besah sich schließlich die zwei Päckchen, die dort lagen. „Welches soll ich denn mitnehmen?“
 

Schuldig besah sich die Päckchen und nahm das linke. „Das hier“, sagte Schuldig und stockte. „Ich denke ich sollte doch mitkommen, wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass dieser Ort unseren neuen Freunden nicht bekannt ist.“
 

Das stimmte und war durchaus möglich, denn wenn Schwarz schon bei einem Auftrag hintergangen worden waren, so war es durchaus möglich, dass auch ihr gesamtes Privatleben bereits bekannt war. Wut erfüllte Aya wie auch Angst. Sie waren alle in Gefahr, Schwarz wie auch Weiß. Sie mussten weg aus ihrem bisherigen Leben, weit weg.

„Dann komm mit“, sagte er kurz lächelnd mit dem Blick auf Schuldig und stieg aus, besah sich die stille Umgebung. Was würde sie hier erwarten?

Was würde ihn erwarten, denn alles in ihm sträubte sich, zu diesem Grab zu gehen. Es war doch noch zu früh. Er wollte doch nicht schon wieder mit dem Tod seiner Lieben konfrontiert sein.
 

Ein Nicken antwortete Rans angespannten Worten, bevor Schuldig die Sporttasche öffnete und die Waffen herausnahm die oben auf lagen. Er kontrollierte Magazinstärke, während Ran bereits draußen wartete und sich umsah. Schuldig steckte sich eine der Waffen in die Stofffalte seines Yukatas in Höhe seiner Brust und ging um den Wagen herum, reichte Ran die zweite Waffe, die dieser in dem angelegten Holster verstaute.

Schuldig besah sich wie Ran die nähere Umgebung, verließ sich dabei nicht nur auf seine Fähigkeiten, ganz im Gegenteil stellte er sie in den Hintergrund und konzentrierte sich auf die normalsterblichen Sinne, die auch jedem anderen auf diesem Planeten als Grundausrüstung zur Verfügung standen.

Dabei bemerkte er auch, wie angespannt Ran war. Er war sehr ruhig.

Das Holster hatte sich Ran zwar angelegt, aber bei ihrem Rundgang durch das Dorf lieber ohne Inhalt gelassen. Schließlich trug er seinen Anzug und bei diesem konnte eine Waffe schnell gesehen werden. „Gehen wir?“
 

Nein, tönte es in Aya, doch er nickte nur und ging vor. Er hatte diesen Gang wann das letzte Mal angetreten?

Er war trotz des Widerwillens wachsam und kampfbereit, besonders dann, als sie den halboffenen Schrein betraten. Von drei Seiten windgeschützt war die vierte offen für die Angehörigen, um in dem kalten Steinraum zu beten.

Er wusste Schuldig direkt hinter sich, als er auf die Grabstätte seiner Familie starrte und spürte, wie sich Druck in seiner Brust breitmachte, der stetig wuchs.

Es war kalt hier. Sehr kalt.

Schuldig war jedoch nicht mehr direkt hinter Ran. Er hielt sich in der Nähe auf, aber verbarg sich geschickt vor jedem ersten Blick der in die Richtung des Gehölzes gerichtet wurde, welches neben einem anderen Schrein wuchs. Einem zweiten Blick hielt sein Versteck nicht stand, aber es reichte, damit er jemand der ihnen nichts Gutes wollte von ihm zuerst bemerkt wurde.

Und er konnte Ran einigermaßen gut sehen. Schuldig verhielt sich wie ein Bodyguard, der er früher einmal gewesen war. Zugegeben damals für Takatori, heute für Ran.

Der Himmel war weiß und die Wolken hingen tief. Es war kalt und Schuldigs Atem kondensierte in der kalten Luft.

Ran war in dem Schrein und Schuldig wartete.
 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Gadreel & Coco

Vorboten

~ Vorboten ~
 


 

Es dauerte etwas, bis sich Aya aus dem blicklosen Starren auf die Steine, die die Asche seiner Familie beherbergten, lösen konnte und sich auf den kalten Untergrund kniete. Schuldigs Blumenarrangement lag neben ihm und er packte es zögerlich, ja beinahe schon widerwillig aus.

Es war das Gleiche wie bei der Beerdigung, fiel ihm auf. Das Gleiche, das er damals hier abgelegt hatte…damals, als er wie in Trance den letzten Weg seiner Schwester begleitet hatte.

Es war ein kleines Arrangement, zwei weiße Lilien, eine dunkelrote Calla, etwas Grün und eine gelbe Gerbera.

Aya schloss die Augen, als sich die Wucht der Erinnerung an diesen Tag in ihm hochschraubte, er sich aber nicht lassen wollte.
 

Es war nicht so, als würden Schuldig nicht auch Erinnerungen plagen. Wobei plagen wohl das falsche Wort dafür war, was ihm durch den Kopf ging, während Ran aus seinem Sichtbereich entschwunden war, in dem er sich wohl hingekniet hatte. Schuldig trat auf den Absatz einer kleinen Steinfigur um sein Sichtfeld zu erweitern und Ran tatsächlich im Schrein kniend vorzufinden. Als er sich davon überzeugt hatte, kehrte er wieder in seine Ausgangsposition zurück und lehnte sich wieder an den schmalen Baum, die Hand stets in seinem Yukata und an seiner Waffe.

Er wollte keine Gedanken an die Vergangenheit haben. Aber er wollte auch nicht …das Vergessen wieder heraufbeschwören. Darum war die Vergangenheit wichtig. Ihre…Vergangenheit. Das was sie gemeinsam durchlebt hatten und das…was sie schlussendlich zueinander aber vielleicht auch wieder trennen konnte. Es war also wichtig, dass er sich damit auseinandersetzte.

Schuldig Gedanken kreisten in diesen einsamen, kalten aber auch ruhigen Momenten um viele Dinge. Und zwischen diesen vielen Dingen kam auch kurz der Gedanke an den Tod von Rans Eltern auf. Er hatte sie früh verloren.

Und Schuldig war sich fast sicher, dass falls ihre Seelen zurückkehren würden – aus welchen Gründen auch immer …warum auch immer – sie würden Schuldig dafür heimsuchen, dass er damals für Takatori gearbeitet hatte und ihrem Sohn die Hölle heiß gemacht hatte.

Die Zeiten hatten sich geändert.

Aber …das Gedächtnis eines rachsüchtigen Geistes kannte das Vergehen von Zeit sicher nicht.
 

Dass Aya eine ganz andere Ansicht vertrat – nämlich, dass seine Eltern Schuldig sehr wohl willkommen hießen, wenn sie noch lebten – wurde in dem Moment klar, als Aya seinen Eltern in Gedanken von Schuldig erzählte, besonders von Schuldigs Tod und seinem Wiederauferstehen, das ihnen nicht vergönnt gewesen war. Er sagte ihnen, dass er es nicht geschafft hätte, dass er keinen Tod mehr ertrug. Er wollte niemanden sterben sehen und er wünschte sich sie zurück wie nichts auf der Welt.

Er wünschte sich sie alle zurück, seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester.

Lautlos seufzend ließ sich Aya auf seine Fersen zurück und schloss die Augen. Er wollte sie alle wiederhaben, keimte in einem Moment der kindische Wunsch nach einer perfekten, kleinen Welt auf, die er besessen hatte.

Seine Augen wieder öffnend, starrte er auf ihre Grabmale, hinter denen er die Asche wusste, die Überreste seiner Familie, die nie wieder lachen würden oder ihn umarmen würden. Dafür war jetzt Schuldig zuständig, doch es war nicht das Gleiche.

Es war der Himmel, aber es war nicht das Gleiche.

Aya verlor sich immer weiter in seinen Gedanken, immer weiter in Zwiegesprächen mit seiner Familie, in verlorenem Glück, als dass er noch Zeit oder Ort beachten würde.
 

Schuldig wurde es kalt. Zehn Minuten waren vergangen und ihm wurde klar, dass er nicht gut genug dafür angezogen war, um hier in der Kälte in dieser ungeschützten Gegend herumzustehen. Vor allem nicht wenn er noch an den Strapazen der letzten Wochen zu knabbern hatte.

Eine Zigarette hätte er jetzt gerne geraucht, aber dies wäre zu auffällig für mögliche Beobachter, also ließ er es und wartete.

Weitere fünfzehn Minuten…
 

…in denen immer noch nichts geschah, da sich Aya nun vollkommen von seiner Außenwelt abgeschottet hatte und blind für seine Umgebung in den Strudel an negativen Empfindungen geraten war. An Stressüberladung, die ihn jetzt unbeweglich und still werden ließ, den Blick starr geradeaus gerichtet.

Seine zum Zopf gebundenen Haare hielt er in einer geballten Hand und zog daran, ohne dass er es selbst mitbekam.
 

In der verstreichenden Zeit dachte Schuldig ein paar Mal darüber nach, zu Ran zu gehen und ihn zu fragen wie lange sie noch bleiben würden. Nicht drängend…natürlich.

Er überlegte sich auch, wie er seine Frage höflich und so gestalten würde, dass Ran sich nicht gedrängt fühlte. Aber er tat es nicht. Er zögerte.

Nur dann… wurde Schuldig unruhig. Die Umgebung wirkte zu ruhig auf ihn, Ran regte sich nicht, er war nämlich nicht aufgestanden aus seiner Haltung.

Und Schuldigs Hände waren bläulich an den Fingerspitzen. Er fror erbärmlich in seiner leichten Kleidung. Seine Atemwege schmerzen durch die kalte Luft und er spürte wie sein Körper sich verkrampfte durch die Kälte. Seine Nase begann wieder zu laufen…

Er wollte gehen. Doch Ran war auch nach weiteren fünfzehn Minuten nicht da und Schuldig setzte sich in Bewegung um nach ihm zu sehen.

Kurz und wirklich nur kurz hatte er die unglaubliche Panik, dass Ran nicht mehr im Schrein sein würde. Plötzlich und unter seinen Augen verschwunden.

Doch dieser Horror wurde nicht wahr. Ran war immer noch da, kniend, seine Hände um den Zopf geschlungen. Schuldig erwog kurz wieder umzudrehen…

„Ran? Brauchst du noch etwas?“, fragte er leise. Ran antwortete ihm nicht. „Es ist kalt, Ran…“

Keine Antwort.

Schuldig sah sich um. In alle Richtungen. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Er ging lautlos näher, kniete sich so zu Ran, dass er dessen Gesicht einsehen und gleichzeitig den Ausgang des halboffenen Raumes einsehen konnte.

Rans Augen waren …blicklos.

Schuldig berührte seine Hand. Kalt und verkrampft, völlig starr war sie.

„Was ist mit dir, Blumenkind?“, wisperte Schuldig.
 

Die blicklosen Augen brauchten ihre Zeit um zu begreifen, dass da jemand vor ihnen war und dass ihnen die grünen, besorgten Augen bekannt vorkamen.

Leben kehrte sehr langsam in Aya, als er Schuldig bewusst in die Augen sah, als er spürte, dass er berührt wurde, doch er brachte keinen Ton heraus, keinen einzigen. Seine Lippen blieben verschlossen, bewegten sich nicht, wenngleich er gerne etwas gesagt hätte. Doch dazu fehlte ihm die Kraft, die in ihm tobenden Erinnerungen und Gedankenfetzen des stummen Dialogs mit seiner Familie, beiseite zu schieben und sie gehen zu lassen.

Es ging nicht.

Er konnte nicht.

Er konnte sich nicht mehr ausdrücken, weder mit Worten noch mit seinen Augen. Alles schien blockiert und eingefroren.
 

Ran regte sich. Schuldig sah untrüglich, dass Ran es zumindest versuchte, aber er scheiterte an was auch immer.

„Ran?!“ Dies war schon etwas vehementer. „Sag etwas. Ich will, dass du etwas sagst. Zeig mir, dass alles in Ordnung ist.“ Er ließ Rans Hand wo sie war, lockerte jedoch den Zopf etwas aus den starren Fingern um die Kopfhaut zu entspannen, bevor er Ran an den Schultern fasste und ihn etwas schüttelte.
 

Doch auch das Schütteln half nichts, denn das Einzige, zu dem Aya imstande war, war ein minimales Bewegen seiner Lippen, als er versuchte zu sprechen. Doch es ging nicht, er bekam seine Lippen noch nicht einmal soweit auseinander, dass er nur ein Wort hervorbrachte. Es war, als wären sie aus Stein, unbeweglich und starr.

Angst zeigte sich in seinen Augen, war in seinen Gedanken ob dieser Tatsache, doch es war nur eine minimale Emotion in den kalten Augen. Nicht viel deutete auf die Beinahepanik hin, die Aya im festen Griff hatte.
 

Und die bald auch Schuldig befallen würde, wenn er nicht bald herausfand, was mit Ran plötzlich los war. Er hörte auf ihn zu schütteln und zog ihn vorsichtig an sich, auf den Knien näher an ihn heranrutschend. „Ran…das wird dir jetzt nicht gefallen, aber ich sehe momentan keine andere Möglichkeit. Ich weiß nicht was mit dir los ist.“ Schuldigs Gedanken arbeiteten fieberhaft. War es etwas Körperliches? Oder doch eher etwas Emotionales?

Er bettete Rans Kopf an seine Brust und hielt dessen Gesicht mit seiner Hand an der kühlen Wange an sich. Ran rutschte dadurch halb in die liegende Position.

Schuldig wusste, dass er durch das was er vorhatte die Umgebung zum größten Teil aus seiner Wahrnehmung ausschließen würde. Zwar würde ein unmittelbarer Angriff von ihm sicher bemerkt werden aber die feinen Warnsignale eines noch weiter entfernten Angreifers würden ihn wohl erst spät erreichen.

Dennoch wollte er es darauf ankommen lassen.

Er senkte seinen Blick auf Ran, schloss seine Augen damit er sich nur auf Ran konzentrieren konnte und war schon im nächsten Gedanken in Rans Gedanken gedrungen. Er fühlte mit seinem Daumen Rans Atem, denn sein Daumen lag nahe der kalten Lippen und der Nase. Eine Versicherung und ein Anker in die Realität, denn er wollte wissen wie es Ran ging und anhand der Atmung konnte er das gut bestimmen.

Die Mauer versinnbildlichte sich für Schuldig als hohe Schranke in Rans Gedankenwelt. Wie eh und je war sie meterdick und undurchdringlich. Er wappnete sich um einen Versuch zu starten hindurch zu gelangen. Und wenn es nur ein kurzer Moment sein würde, vielleicht würde das reichen um sich zu erklären was mit Ran los war.

Seine mentalen Finger berührten einen der Mauerblöcke und … er zerbröselte unter der Last seines Druckes den er ausübte.

Das war seltsam.

Mit dem nächsten Stein geschah das gleiche. Und mit dem übernächsten ebenso.

Die Mauer bröckelte.

Schuldig hielt erstaunt inne.
 

Mehr Körperkontakt sackte zu Aya, ebenso, wie er bemerkte, dass er nicht mehr kniete. Doch…doch da war noch etwas anderes, das sein Inneres aufschreien ließ.

Es war der langsam steigende Druck hinter seiner Stirn, der seiner Panik noch einen Anschub mehr gab, ebenso wie die Worte des anderen. Es würde ihm nicht gefallen…

Er war nicht entspannt…

Schuldig war auf dem Weg in ihn…in seine Gedanken.

Er war nicht entspannt!
 

Nein, das war er nicht, aber es schien hier kein Schutz wie sonst zu existieren. Jeder Block zerbröselte und zerfiel zu Staub. Schuldig stand bereits in der meterdicken Mauer und drang immer weiter in die Gedanken Rans vor, bis er tatsächlich hinter dieser Mauer stand.

Er blieb jedoch dort stehen und tastete sich sanft vor. Wilde Gedankenfetzen haltlos und willkürlich zusammengeführt trieben um ihn herum und er hatte nicht übel Lust, sie sinnvoll zusammenzusetzen. Aber das war nicht an ihm. ‚Ran? Was ist mir dir? Hörst du mich?’
 

Ja, ja, schrie es in Aya und er war erleichtert, sich wenigstens gedanklich äußern zu können…wenigstens das. Doch gleichzeitig war da auch Angst, Angst davor, dass seine Barrieren nicht mehr existent waren.

Doch die Erleichterung überwog deutlich in dem Chaos, das ihn lähmte.

‚Schuldig’, tönte ein Name, eine Versicherung in Aya, wehte hinüber zu dem anderen Mann. Er war da, er konnte sich verständigen. ‚Schuldig…’
 

Aber Ran war nur in Fragmenten vorhanden. ‚Ran, du bist nicht…’ vollständig, wollte Schuldig sagen aber er überlegte es sich anders. Er wollte die Angst nicht noch verstärken.

‚Es ist alles gut, Ran. Du bist nur etwas verwirrt.’ Er blieb zunächst wo er war und weitete seine Präsenz etwas aus, gab ihr mehr Substanz, damit Ran Sicherheit fühlen konnte. Altbewehrtes in sich spürte. Erst dann machte er sich zu dem Ort auf, an dem er sich sonst auch aufhielt.

‚Ran, spürst du mich?’ Gedankenfetzen zogen an ihm vorbei, rasch und unkontrolliert. Trauer, Wut und Verzweiflung aber auch alter Hass und Scham waren daraus zu lesen.
 

Aya spürte Schuldig, jedoch als Gefühl, nicht als Gestalt. Er strebte auf dieses Gefühl zu, strebte auf die Sicherheit, die es ausstrahlte und ließ sich davon einlullen, beruhigen. Es war, als würde das kleine, schwarze Häufchen Chaos, das Aya in diesem Moment darstellte, sich in der warmen, pulsierenden Kraft einrollen und schier in den anderen hineinkriechen aus lauter Verzweiflung über die eigene Lage.

‚Bleib…hier…’, geisterte es zu dieser Kraft und mit den Worten kamen einige Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit in ihm hoch.
 

‚Ich bin hier, ganz nah, Ran. Näher kann dir keiner sein, Ran. Ich werde hier immer einen Platz haben und bei dir sein.’ Schuldig zog Rans Gedanken auf sich und auch dessen Fokus. Er tat etwas, was er sich bisher verboten hatte. Er begann mit mentalen Fingern Rans Gedankenfäden zu sortieren. Er leitete eine Art Flussordnung ein, die die Fäden zueinander führen sollte um das Chaos zu mindern.
 

Es schien, als dass der bodenlose Abgrund, vor dem sich Aya zu Schuldig geflüchtet hatte, langsam verdichtete, ihm Halt und Stärke gab. Ganz langsam gewann Aya an Stabilität, an Erkennen, das die Angst in den Hintergrund treten ließ. Verzweiflung und Panik verschwanden langsam, zogen sich zurück in die Tiefe, die ihren Schlund hinter ihnen schloss und ihn nun bewusst und weitaus sicherer zurückließ.

Dennoch sagte Aya nichts, sondern ließ sich von der Wärme des anderen umhüllen, labte sich an ihr, auch wenn er ahnte, dass er zu dieser Ruhe nicht alleine gefunden hatte.
 

‚Ran, ich habe dir geholfen. Es wäre besser gewesen, wenn du es alleine geschafft hättest, aber wir sind hier an einem ungünstigen Ort.’

Schuldigs Hand befand sich immer noch auf Rans Wange, und er fühlte auf seiner Haut wie Rans Atem ruhig und gleichmäßig ging. Er forderte kein Gespräch, da er deutlich erkennen konnte, wie Ran sich in dieser Ruhe und Sicherheit sonnte.
 

‚Ja…’

Eine Zustimmung, eine nachträgliche, zu Schuldigs Handeln, ebenso wie zu Schuldigs Präsenz in seinen Gedanken, in seinem Chaos.

‚Wieso ist das passiert?’, fragte Aya schließlich selbst in Gedanken leise, beinahe flüsternd, die Frage ein Hauch seiner selbst.
 

‚Ran, dir geht es nicht gut. Deine Belastungsgrenze ist erreicht. Wir müssen uns etwas überlegen was wir ändern sollten. Wenn es so weitergeht wird das wieder passieren und heftiger. Verstehst du, Ran?’ Schuldig presste seine kalten Lippen auf Rans Haarschopf. ‚Jetzt ist alles wieder gut. Hast du gebetet, Ran?’
 

‚Ich weiß nicht, wie das geschehen ist…wieso kam das so schnell?’

Natürlich war Aya unwohl zumute gewesen, er war unter Druck gewesen, als sie hierher gefahren waren, doch mit Druck wurde er fertig. War er immer geworden.

Sonst hätte er doch nicht töten können all die Jahre lang.

Aya wollte es nicht wahrhaben, wollte nicht sehen, dass er fertig war. Das ging doch nicht, es wurde alles besser.
 

Schuldig sah das Dilemma, doch er konnte Ran momentan nicht aus dieser Lage hinauslotsen. Um Ran von seinem Irrweg abzubringen, von seinem Weg der perfekten Verdrängung brauchten sie Zeit und …lange Gespräche, Ruhe. Nicht diesen Ort der schicksalsträchtig und vor allem kalt war. Sehr kalt. ‚Wie geht’s dir jetzt?’
 

Es dauerte etwas, bis Aya antwortete. Es war sich selbst nicht sicher, wie er seinen Zustand beschreiben sollte, deswegen musste er erst tief in sich hineinhorchen um eine halbwegs passable Antwort zu finden. Zu tief, als dass es ihm lieb gewesen wäre, doch es schien, als würde ihm alles noch etwas schwer fallen…selbst die Antwort auf eine so einfache Frage.

‚Es geht…wieder. Ich fühle mich sicherer als vorher.’ Es stimmte, denn er gewann schließlich von Sekunde zu Sekunde mehr Stärke. Er schauderte und merkte erst jetzt, dass er schon die ganze Zeit zitterte…doch vor Kälte, denn seine Beine waren schier eingefroren.
 

Schuldig jedoch verweilte noch in Rans Gedanken, wollte zunächst, dass dieser vollends erwachte, in ihre Realität zurückkehrte. ‚Das ist gut, Ran. Denn …wir müssen hier weg. Es ist zu kalt…’, gab er sanft und nicht drängend zu bedenken. Er ließ ein wohlklingendes Lachen in Rans Gedankenwelt erstehen. Auch wenn ihm ganz und gar nicht nach Lachen zumute war, sollte es Ran den nötigen Auftrieb geben.
 

Aya schmiegte sich in dieses Lachen und an den anderen Mann, bevor er sich erheben wollte und feststellte, dass durch die Kälte seine Beine vollkommen eingefroren und steif waren. Und dass Schuldig ihn mit seiner Umarmung wirkungsvoll am Boden festhielt... Wenn sie jetzt überfallen wurden, dann könnte er sich nicht richtig verteidigen…wie achtlos von ihm. Wie unprofessionell.

Ein grimmiger Ausdruck trat auf Ayas Gesicht.

Die rationalen Gedanken kamen schnell wieder, sehr schnell und drängten die Angst und die Panik in seinem Inneren zurück in die dunkelste Ecke. Es war wie der Überlebensinstinkt eines Tieres, kam es Aya in den Sinn. Entweder Angst oder Mut…aber dazwischen gab es nichts….nicht viel. Von einem Extrem in das Andere.

„Ein schöner Killer bin ich“, veräußerte er seine vorherigen Gedanken laut. „Weglaufen wäre jetzt unmöglich, ebenso wie kämpfen. Man sollte nicht meinen, dass ich die Jahre bis jetzt überlebt habe.“

Seine Hand stahl sich zu Schuldig und stellte fest, dass der andere Mann ebenso unterkühlt war wie er selbst.

„Du holst dir wieder etwas…“
 

Der so angesprochene Telepath öffnete langsam die Augen und zog sich aus Ran zurück. Er fühlte sich beschissen. Ja, das traf den Kern der Dinge doch wirklich perfekt. Sein Gesicht verzog sich unwillkürlich leidend und er sah sich um. „Können wir gehen?“, fragte er und sah zurück zu Ran.
 

„Du wirst wieder krank und ich bin Schuld“, grimmte Aya und seufzte schwer. Er nickte. „Du brauchst ein heißes Bad, Schuldig, und ein warmes Bett. So bald wie möglich.“

Aya bedeutete Schuldig, ihm zu helfen, da er halb auf dem anderen, knieenden Mann lag. Alleine aufstehen ging nicht. Und wenn er erst einmal oben war, konnte Schuldig auf seine Hilfe zählen.
 

„Du zitterst, Ran“, murmelte Schuldig, der seine eigene Kälte noch nicht spürte und er half Ran aufzustehen, richtete dessen Schultern auf und brachte sogar ein Lächeln zustande. „Hast du mit ihnen geredet?“, wollte Schuldig trotzdem wissen.
 

Aya kämpfte sich sehr langsam in die Höhe und kam wie ein neugeborenes Giraffenbaby auf seinen Beinen zum stehen. Obwohl, wenn sie jetzt angegriffen wurden, konnte er diejenigen vielleicht mit seinen Eisklötzen von Beinen erschlagen.

Er strich sich die Haare auf den Rücken zurück und reichte Schuldig seine rechte Hand.

„Du auch, Schuldig. Sogar noch mehr als ich.“

Für die nächste Frage brauchte er jedoch einen Moment, um sie beantworten zu können. Ja, er hatte mit ihnen gesprochen, doch das fiel ihm nicht leicht zuzugeben.

Er nickte. „Ein wenig.“ Zuviel, denn dadurch war er ins Nichts abgeglitten.
 

Schuldig ließ sich von Ran aufhelfen und ignorierte sein Zittern. Doch seine Hände schmerzten vor Kälte und sein Gesicht fühlte sich steif und unbeweglich wie der Rest seines Körpers an.

„Gut.“

Als er stand, grabschte er nach Ran und zog ihn für eine heftige Umarmung an sich. „Ich hatte Angst um dich“, wisperte er und küsste Ran auf Eskimoart, bevor er ihn freigab und ihn an der Hand Richtung Auto führte.
 

Ich habe immer Angst um dich, gellte es in Aya. Auch wenn diese Angst schon abgenommen hatte, so graute es dem rothaarigen Japaner vor Schuldigs erstem Auftrag nach seinem angeblichen Tod. Es graute ihm davor, Schuldig durch die Tür gehen zu sehen und darauf warten zu müssen, dass dieser lebend zurückkam…oder auch nicht.

„Es ist alles in Ordnung“, lächelte Aya. „Schließlich ist nichts passiert!“

Bevor sie einstigen, zog Aya Schuldig auf die Ayasche Art an sich und platzierte einen Kuss auf das kalte Ohrläppchen.
 

Nein, es war nichts passiert. Ran war nur wie ein Zombie gewesen und Schuldig hatte Angst gehabt ihn verloren zu haben.

Für einen kleinen Moment erwog Schuldig Ran zu fragen ob er sich dazu bereit fühlte den Wagen zu fahren, er verwarf es aber beim Gedanken an den grimmigen Blick von zuvor.

Ran würde nicht einlenken, wenn er ihm sagte, dass er vielleicht ihm die Steuerung des Wagens überlassen sollte. Das war so klar wie das Amen in der Kirche.

Nichts mehr dazu sagend schloss Schuldig die Tür, schnallte sich an und hoffte auf das Beste: einen möglichst schnell warm werdenden Wagen. Er zog die Karte wieder heran um Ran in die richtige Richtung lotsen zu können.

„Saukalt“, bibberte er nur und fingerte an der Heizung herum als Ran den Wagen startete.

„Wenn du willst, können wir uns ja abwechseln beim Fahren“, meinte er beiläufig, während er die Karte studierte.
 

„Wie weit müssen wir denn fahren?“, fragte Aya, als er sich ein letztes Mal die eiskalten Hände rieb, bevor er sie um das Lenkgrad schlang und den Wagen startete. Ein letzter Blick auf die Grabstätte und ein letzter, wehmütiger Gedanke an sie und er fuhr los, ließ den Ort seiner Familie hinter sich.

Die Heizung rauschte auf Hochtouren, langsam warm werdend.
 

„Etwa noch eine dreiviertelstunde, dann müssten wir da sein, Plus Minus Verkehrssituation“, rechnete Schuldig und nannte Ran die nächste Abfahrt um auf die Straße Richtung Tokyo zu gelangen.
 

„Das schaffe ich noch, aber dann brauche ich ein warmes Bad oder eine warme Dusche.“ Ein kurzer Seitenblick auf Schuldig und Aya zog sich seine Haare unter seinem Hintern weg. Wie immer setzte er sich auf die langen Strähnen und wenn er sich dann falsch bewegte, zog es auf seiner Kopfhaut.

Verdammt.

Wie lang sollten diese Zotteln denn noch werden?

Wenn sie auf dem Boden schleiften, gab er Jei einen Dolch in die Hand und schob nachher die Schuld auf ihn. So lautete Ayas Notfallplan.

„Wie sieht es mit dir aus. Hältst du es noch aus?“
 

„Sicher.“

Schuldig bemerkte fast zeitgleich, wie betont unbekümmert und viel zu harmlos seine Versicherung von ihm ausgesprochen worden war und er blickte zu Ran auf. „Es geht schon, es ist ohnehin nicht zu ändern“, zwinkerte er und vertiefte sich wieder in die Karte.
 

„Du weißt, dass wir in kein Hotel fahren können, wenn du wieder krank wirst, nicht wahr? Dann müssen wir beide bei deinem Team bleiben.“

Oder nur Schuldig selbst, aber Aya wusste, dass der Telepath dem nicht zustimmen würde. Außerdem war es nun nicht mehr so, dass er Crawford auf den Tod nicht ausstehen konnte…dafür verband sie ein Gefühl, das einfach zu stark war.

Trauer.
 

Irgendwie hörte sich das nach einer Drohung an oder einer Anschuldigung. Was hätte er denn tun sollen? Ran einfach so dort sitzen lassen?

„Ja, das weiß ich“, antwortete er stirnrunzelnd. „Wir können trotzdem in ein Hotel oder ein Apartment. Solange wir genügend zahlen, können wir überall hin“, fügte er hinzu und ließ seinen gesundheitlichen Status außen vor dabei.
 

„Nein nein. In einem Hotel kann ich nicht richtig für dich kochen, wenn du krank bist. Geschweige denn, dass du dann nicht in bekannten Gefilden bist und das Gemurre will ich mir nicht anhören!“, legte Aya klar und deutlich seine Gründe nieder.

„Außerdem ist es nicht gut für deine Konstitution, wenn du jetzt wieder krank wirst, deswegen untersteh dich!“

Er lächelte kurz zur Seite hin und das Lächeln war warm und neckend.
 

Irritiert aufblickend und ein wenig verstimmt über diese vorbeugende Zurechtweisung blickte Schuldig auf und wollte schon zu einer Frage ansetzen als er das Lächeln erkannte und sich selbst schalt dafür, dass er glaubte Ran würde böse …wirklich sauer auf ihn werden, wenn er es sich erlauben würde erneut durch Krankheit zur Last zu fallen.

Scheinbar war er tatsächlich zu ernst seit der Sache am Friedhof, der Schuldig noch nachhing.

„Du kannst mich ja bestrafen wenn ich wieder krank werde“, schlug er ebenfalls neckend vor verzog aber keine Miene dabei sondern lehnte sich in den Sitz zurück und entspannte seine Beine.
 

„Werde ich. Den Tee der alten Frau habe ich eingepackt. Den gibt es dann in doppelter Dosis. Jede Stunde.“

Ein leises, wenn auch noch untergründig zittriges Lachen brach sich über Ayas Lippen. „Und was wird Crawford nur mit einem kranken Telepathen machen?“
 

„Ihn hoffentlich in Ruhe lassen, sonst gibt’s Tote“, knurrte Schuldig ungehalten, aber leider auch nur gespielt, denn wenn er wirklich krank in Brads Obhut kam, dann … war er hilfloser als ein ausgesetztes Kätzchen.
 

„Genau, wenn du dann krächzend aus dem Bett kriechst und versuchst, ihn zu meucheln, gibt es Tote. Auf den Anblick bin ich gespannt, Schuldig.“ Wie gut es doch tat, herum zu albern und die Dinge, die beim Grab passiert waren zu vergessen.
 

„War ja klar“, maulte Schuldig aber nicht weiter näher drauf eingehend was er genau damit meinte. Vielleicht sprang Ran ja darauf an und er konnte ihn ärgern.
 

„Ja natürlich! Ich würde dich sogar anschieben, damit das Kriechen auch schneller geht.“ Sie bogen rechts auf eine der kreuzenden Hauptstraßen ein und standen erst einmal im Stau. Aya fischte sich die aufgeladenen Strähnen hinter sein Ohr.
 

„Ich muss nicht kriechen um jemanden töten zu können“, meinte Schuldig lapidar und starrte zum Fenster hinaus. Betont gelangweilt natürlich.
 

„Wie gut, dass Crawford seine Vorhersehung besitzt. Das kann er dann vorher mit einplanen.“ So humorvoll Schuldig es auch gemeint hatte, so wenig humorvoll war der Hintergrund. Schuldig war so mächtig, dass er mit seinen Gedanken töten konnte. Er musste noch nicht einmal einen Finger rühren.
 

So wirklich humorig hatte Schuldig es auch nicht gemeint, wie er jetzt - wo er mehr darüber nachdachte - feststellen musste. Sie fuhren zu Brad. Brad, der wusste, dass Schuldig mehr für ihn fühlte. Und Brad …wie würde er darauf reagieren wenn sie plötzlich länger blieben?

„Letztes Mal war ich zu schnell für seine Voraussicht“, murmelte er in Gedanken als er sich daran erinnerte wo er Brad starke Schmerzen zugefügt hatte, bei einem gewalttätigen Eingriff in dessen Gedankenwelt.
 

„Letztes Mal? Was hast du mit ihm gemacht?“, fragte Aya nun ernst, aber ehrlich interessiert. Die beiden hatten ihm nie den Eindruck gemacht, dass sie sich unter einander bekämpften, zumindest nicht bis aufs Blut. Dass Crawford Schuldig gerne schlug, hatte er schon während seines unfreiwilligen Aufenthaltes in Schuldigs Wohnung kennengelernt.

Unfreiwilliger Aufenthalt. Aya schnaubte innerlich. Gefangenschaft, das drückte es besser aus…nicht ganz so euphemistisch.
 

Es vergingen einige Minuten des gedankenvollen Schweigens bevor Schuldig antwortete.

„Ich drang in seine Gedanken ein und verursachte bei ihm Kopfschmerzen, Schwindel und eine Art Bewusstlosigkeit. Ich war wütend. Er hatte mich gereizt und ich fühlte mich verletzt. Normalerweise bin ich es der ihn reizt und verletzt. Dieses Mal war es andersherum und ich schlug mit meiner Waffe zu.“ Ein kurzer Bericht der Lage von damals. Es tat ihm immer noch Leid.
 

„Womit hat er dich denn gereizt, dass du ihn angegriffen hast?“

Wann war das gewesen? Bevor Schuldig und er sich nähergekommen waren? Es interessierte Aya, gab es ihm doch Aufschluss über die Beziehung, die die beiden pflegten.
 

„Das …ist nicht leicht zu erzählen. Ich glaube, dass ist kein gutes Thema für jetzt“, wand er sich heraus. Einerseits würde er es begrüßen darüber zu sprechen andererseits hatte er Angst davor.
 

Aya runzelte die Stirn. Er hatte das Schwanken in der Stimme des anderen gehört, hatte die Unsicherheit wahrgenommen.

„Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht willst.“
 

Nun ja, so neu war das Thema auch wieder nicht, seufzte Schuldig in Gedanken und sprach sich selbst Mut zu. „Schon okay“, murmelte er und grübelte über die Situation damals nach. Wo fing er am Besten an. Vielleicht zierte er sich auch nur, weil er nicht wollte, dass Ran Brad in einem zu schlechten Licht sah…

Gott, was dachte er sich da zusammen?
 

Schuldig holte tief Luft ließ diese leise entweichen und lehnte den Kopf an die Nackenstütze.

Erst dann begann er leise zu erzählen. „Er war bei mir in der Wohnung und wir kamen im Laufe des Gesprächs …er machte sich Sorgen um mich, vermute ich. Um mich und das Team. Er mahnte mich, dass ich vielleicht zu sorglos wäre und fragte mich ob mein Selbstmordtrieb wieder zu ausgeprägt wäre um mich selbst zu schützen. Ob es wieder soweit wäre…

Ich fragte ihn, warum er diese alten Sachen wieder aufwärmen wollte und er solle sich nicht wie mein Vater aufführen. Daraufhin meinte er, ich wüsste überhaupt nicht wie ein Vater sich verhalten würde, geschweige denn eine Mutter. Danach rastete ich aus. Ich habe ihn angeschrieen, ich war so enttäuscht von ihm, dass es mir fast körperlich wehtat, solche Worte von ihm zu hören.“
 

Das war etwas, das Aya erst einmal verdauen musste. Er verstand nicht, warum Crawford so etwas sagte, welchen Nutzen er daraus zog, Schuldig so dermaßen zu provozieren. Vor allen Dingen nicht mit solch harschen Worten.

„Ich würde sagen, dann ist er es selbst schuld, dass du ihn angegriffen hast. Diese Provokation war persönlich, sinnlos und nicht notwendig“, erwiderte Aya mit wenig Mitleid…eigentlich mit gar keinem Mitleid.

„Er hat dir wehgetan mit seinen Worten, weil du von ihm Verständnis erwartet hast, nicht wahr?“
 

„Verständnis?“, hakte Schuldig irritiert nach. „Nein, nein, kein Verständnis. Er wusste lediglich, dass ich dich nicht aufgeben konnte. Ich kann mich noch gut dran erinnern wie ich sagte: Ich werde ihn nicht wieder sehen.“

Schuldig schwieg einen Moment und lächelte dann. „Er fragte mich, ob ich bei ihnen aussteigen wollen würde. Offenbar hatte er bezweifelt, dass ich dich hätte loslassen können.“
 

Da sie momentan völlig zum Stehen gekommen waren, hatte Aya ausgiebig Zeit, sich Schuldig zu betrachten. Wenn Aya es richtig verstand, war es nach seinem Verschwinden aus der Wohnung….kurz danach?

Da hatte Schuldig sich schon entschlossen, ihn nicht loszulassen?

„Wir haben damals gegeneinander gekämpft und du hast beschlossen, mich nicht aufzugeben?“, fragte Aya mit leichtem Unglauben in der Stimme nach. „War das vor oder nach unserem Gespräch auf dem Dach?“
 

„Davor glaube ich… es war …nachdem oder zum selben Zeitpunkt, als du von Kritiker verhört wurdest. Ich …habe Youji übernommen weil ich dich trösten wollte… es war alles so verworren. Vielleicht war es einfach nur so, dass ich selbst Trost brauchte, nachdem ich Brad auf die Bretter geschickt hatte - der lag zum damaligen Zeitpunkt auf der Couch.“
 

„Ich hätte also nie eine Chance gehabt, dich aus meinem Leben herauszuhalten, wenn ich es gewollt hätte?“, fragte Aya mit hochgezogener Augenbraue. Er erinnerte sich noch gut an das Gespräch, das sie nach seinem missglückten Frisörbesuch hatten.

„Hast du denn damals Trost von mir bekommen?“ Aya hatte nicht das Gefühl, eben weil er es damals noch nicht gewollt hatte. Weil er zu fertig von Kritiker war.
 

„Doch …ich wollte dich in Ruhe lassen. Das sagte ich doch oder?“, rechtfertigte sich Schuldig vehement und setzte sich etwas in dem Sitz auf. Er sah zum Fenster hinaus, abwesend.

„Ich sagte zu Brad, dass ich dich nicht wiedersehen würde, nur hat er mir nicht geglaubt. Ich hätte dich nicht wiedergesehen, nicht wenn es nach mir gegangen wäre. Erst als wir dich …als ich die Idee mit dem gefakeden Zusammenschlagen hatte …erst da …ich wollte sehen mich überzeugen, ob es dir gut geht, das war alles. Deshalb bin ich auf die Dachterrasse gekommen. Danach …sind wir uns nur noch einmal begegnet“, schloss er verteidigend.

Er hatte von Ran insofern Trost bekommen, dass er ihn trösten konnte, ja.
 

„Du brauchst dich dafür nicht zu verteidigen, Schuldig. Letzten Endes wollte ich ja auch. Und wer weiß, ohne einen Anreiz wären wir vielleicht nicht hier. Ohne deine Bemühungen ebenso nicht…“ Wenn seine Schwester nicht gestorben wäre. Aya lächelte kurz. Er boxte Schuldig auf den Oberarm. „Außerdem war das Zusammenschlagen alles andere als gefaked. Crawford hat verdammt brutal zugeschlagen. Ich konnte drei Tage später immer noch nicht ohne Schmerzen sitzen.“ Da musste Aya doch den Lädierten heraushängen lassen.
 

Schuldig getraute sich nun doch wieder zu Ran hinüberzublicken und es tauchte sogar ein Lächeln auf seinen Gesichtszügen auf. „Aber nach der Show, die ich dem Kritikerspitzel geboten habe hättest du innere Blutungen haben müssen“, sagte er und ein altbewährtes Grinsen war andeutungsweise zu erkennen.
 

„Da bin ich ja richtig froh, dass ihr diese Show nur dem Agenten geboten habt“, schnarrte Aya wenig begeistert von dieser Aussage. „Ansonsten wäre ICH euch hinterher gekrochen und hätte euch getötet, sogar noch mit Infusionsständer, das kannst du mir glauben.“ Sicherlich…wenn er nicht vorher gestorben wäre an besagten inneren Blutungen.
 

Ja, Ran hätte ihn beinahe getötet. Kurz darauf sogar.

„Damals habe ich dich zum ersten Mal Blumenkind genannt …ich meine damals als du von Kritiker zurückgekommen bist“, lenkte er das Thema um.
 

Es ging wieder etwas vorwärts in der großen Blechschlange, die sich durch die Stadt schlang und kroch.

„Nicht ganz. Im Keller und in deiner Wohnung hast du mich auch schon so genannt…nur da hast du nicht mitbekommen, dass ICH es mitbekommen habe. Ebenso wie Crawfords Rotfuchs.“ Seine Stimme hatte einen leichten ironischen Klang.
 

„Stimmt“, gab Schuldig nach einigem Überlegen zu. Hatte er das wieder vergessen? So etwas Wichtiges? Ging das schon wieder los?

Er runzelte die Stirn. „Ich kann mich am besten aber an die Sache mit Yohji erinnern. Aber es wird schon so sein, dass ich dich vorher schon so genannt habe. Liegt ja auch nahe…“, lächelte er müde.
 

„Anscheinend liegt es sehr nahe…man könnte fast sagen, dass du mich so genannt hast, bevor du mich mit meinem Namen angesprochen hast. Das sollte mir zu denken geben.“ Blumenkind…damals hatte er es für eine Provokation gehalten. Jetzt wusste er, dass Schuldig ihn eben nicht damit provozieren wollte, sondern dass er ihn liebevoll necken wollte. Was für ein Unterschied…

„Vielleicht erinnerst du dich deswegen so gut daran, weil du mich dort zum ersten Mal umarmen durftest.“ Aya musste nun doch lachen. Es würde ihn wirklich nicht wundern, wenn es so wäre.

Er blieb vor einer roten Ampel stehen und richtete seinen Blick auf die Massen an Fußgängern, die an ihnen vorbeiströmten. Was für ein Gegensatz zu dem ruhigen Haus…was für ein Ameisennest.
 

„Hmm …das könnte stimmen.“ Schuldig verfiel nun tatsächlich in trübes Brüten und hing seinen Gedanken nach, während die Leute vor ihrem Wagen vorbeiströmten.

Gerade jetzt fragte er sich wieder, wie er es ausgehalten hätte, ohne Ran zu sein…

Vielleicht lag es daran, dass er daran hatte denken müssen, wie Brad nach seinem Selbstmordtrieb gefragt hatte. Hätte er ohne Ran leben können? Einmal Liebe erfahren und dann ohne diese Liebe weiterleben? Ging das für ihn?
 

Die Stadt war brechend voll und Aya stöhnte widerwillig auf, als er für den sechsten Fußgänger eine Vollbremsung hinlegen musste, als dieser beschloss, bei rot über eine Ampel zu springen. Er wollte wieder zurück in diese Ruhe, zurück in das Leben, das so normal schien. Er wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, die hier in Tokyo lauerte.

Doch er wollte auch sein Team sicher wissen. Er wollte nicht, dass noch jemanden von ihnen etwas geschah. Außerdem musste er sich um Youji kümmern.

„Wie lange noch?“, fragte er schließlich und leichte Unzufriedenheit wie auch Widerwillen war in seiner Stimme zu hören.
 

„Wir müssen den Wagen noch loswerden. Und wir müssen zunächst durch die Stadt. Sie wohnen nicht mehr in Tokyo direkt.“

Schuldig bemerkte wie ungeduldig Ran war und fand zu seinem üblichen Humor zurück. „Du hast es ganz schön eilig… vermisst du Brad so sehr?“, grinste er leicht und konnte es auch so gar nicht verbergen.
 

Schuldig brauchte es auch gar nicht zu verbergen, denn Aya hörte das Grinsen schon aus dieser infamen Unterstellung.

„Würdest du uns gerne zusammen sehen oder warum unterstellst du mir das immer wieder?“, fragte Aya mit teuflischem Einschlag nach. Schuldig brachte dieses Thema nicht zum ersten Mal auf zwischen ihnen und langsam gab es Aya zu denken.

„Außerdem will ich schnell ankommen, damit ich eine warme Dusche nehmen kann. Mir ist kalt bis auf die Knochen.“
 

Kalt war ihm auch, jedoch längst nicht mehr so kalt wie auf dem Friedhof.

Schuldig musste tatsächlich länger überlegen, ob er Ran zusammen mit Brad sehen wollte. Denn es war nicht das erste Mal, dass er mit einem solchen Gedanken konfrontiert wurde. „Ich will dich nur ärgern“, gab er schließlich ein wenig kleinlaut zu.
 

„Nenn mich Kirschchen, das ärgert mich auch“, gab Aya zurück und schielte kurz zu Schuldigs Seite. Der Verkehr wurde wieder etwas flüssiger und er konnte mittlerweile in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit fahren.

Aber den Wagen loswerden? Jetzt schon? Er war doch noch gar nicht bereit.

Aya seufzte niedergeschlagen und strich über das Lenkgrad. „Wo sollen wir denn so schnell einen Neuen herbekommen?“, fragte er und stellte sich auf einen fünf Stunden Marathon ein. Wenn nicht sogar noch mehr.
 

„Was hältst du davon, wenn wir den Wagen verkaufen und mit nem Taxi weiterfahren? Morgen kaufen wir dann einen neuen, je nachdem.“ Schuldig sah das Ganze nicht als so schlimm an. Sie mussten das schon des Öfteren tun. Dieses Mal jedoch waren sie zu lange an einem Ort geblieben. Zwei Jahre waren zu gefährlich und zu unvorsichtig mit ein und derselben Identität.
 

Aya nickte. Aus sicherheitstechnischen Gründen klang das gut, sehr rational. Doch seine Gefühlsseite sprach sich dagegen aus. Aber diese Seite konnte sie alle in Gefahr bringen, also brachte er sie zum Schweigen.

„Gut, dann können wir uns auch noch überlegen, welches Modell wir uns dann zulegen“, stimmte er schließlich zu…schweren Herzens…aber er stimmte zu.
 

Also führte Schuldig Ran zum nächsten Autohändler, der seines Erachtens wenigstens noch einen einigermaßen annehmbaren Preis für Rans Wagen mit hohem ideellen Wert rausspringen ließ. Dumm nur, dass der ideelle Wert hierbei nichts zählte. Aber …Schuldig wäre nicht Schuldig, wenn er den alten Geizkragen nicht ein wenig auf die Sprünge helfen würde…
 

Genau das merkte auch Aya, als er sich im übertragenen Sinne zurücklehnte und mit missmutiger Miene beobachtete, wie hier sein Porsche unter den Hammer kam. Das Erstgebot des Händlers war lächerlich. Viel zu niedrig. Dass Schuldig seine Finger im Spiel hatte, merkte Aya aber spätestens dann, als der Preis plötzlich dann doch in annehmbare Höhen glitt, während Aya selbst und der Händler über das Fahrzeug fachsimpelten.

Aya beschloss, bei hundert Millionen Yen Schuldig Einhalt zu gebieten…ganz gönnerhaft. Nein, so hoch wollte er es nicht treiben.

Bei der fünften Runde um seinen Wagen herum und einer immer geringer werdenden Mängelliste blieben sie bei 30 Millionen Yen.
 

Während Ran den Verkauf abwickelte, stellte sich Schuldig etwas abseits und benutzte Rans Mobiltelefon für den Anruf bei einem Taxiunternehmen.

Als Ran zu ihm kam und sie gehen konnten, änderte er die Erinnerungen des Mannes, der Rans Wagen gekauft hatte, etwas ab, er veränderte ihr Aussehen in seinen Gedanken und sie konnten abziehen. Ein wenig warten mussten sie noch, bis das Taxi kam. „Wir müssen noch ein paar Minuten warten, bis der Wagen kommt.“
 

Aya erwiderte darauf nichts. Er war viel zu sehr beschäftigt, sich seinen Wagen…den er gerade verkauft hatte, dessen materieller Wert nun in seiner Brieftasche lag, zu betrachten. Er verspürte einen kleinen, dummen Stich an Sehnsucht nach dem Porsche, nach dem letzten Stück Eigentum, das er sich in der letzten Zeit wirklich von seinem Geld geleistet hatte…und das rechtmäßig ihm gehörte.

Schuldig würde da anders denken, sicherlich, doch für Aya war diese Selbstständigkeit immens wichtig. Aber vielleicht würde sich das geben, wenn er erst einmal wieder regelmäßig arbeitete.
 

Schuldig fühlte sich noch immer etwas zu auffällig gekleidet in seinem traditionellen Gewand mit seinen leuchtend roten Haaren auf blauem Grund. Der Tag neigte sich jedoch bald seinem Ende und soweit er es beurteilen konnte, wurden sie hier an dieser Straßenecke von nicht allzu vielen Leuten gesehen. Sie warteten und in der Zwischenzeit fiel Schuldigs Augenmerk des Öfteren auf Rans Gesicht. "Zieh nicht so einen Schmollmund sonst küsse ich dich vielleicht noch", meinte er und tat dies so, als wäre das kein glücklicher Umstand, sondern durchaus sehr unglücklich für Ran. Sein Gesicht drückte das kümmerliche Leid aus, welches sich über Ran mit diesem Kuss ergießen würde. "Dein Wagen wird es gut haben, ganz sicher wird der neue Besitzer ihn hegen und pflegen und du wirst deinen neuen Wagen ganz sicher genauso lieb haben!" Schuldig runzelte für einen Moment die Stirn als ginge es hier um ein Haustier...ein Pferd oder von ihm aus auch eine Katze, die man leider weggeben musste. Nein...es war ein Wagen. Viel schlimmer als ein Haustier...oder?
 

Das Stirnrunzeln wurde energischer. "Wie lange hattest du den Wagen?", beendete er seine Grübeleien.
 

Aya zeigte nicht gerne viel Zärtlichkeit in der Öffentlichkeit, doch jetzt wäre es ihm egal gewesen, sehr egal, ob Schuldig ihn geküsst hätte.

Er seufzte schwer.

„Um mit Crashers zu arbeiten, habe ich auch noch in einer Art Schnellkurs den Führerschein machen müssen…schon mit sechzehn anstelle mit achtzehn. Mit einem gefälschten Personalausweis ist eben alles möglich. Mit achtzehn habe ich mir dann den Wagen gekauft, quasi als Geschenk an mich selbst.“ Als Erinnerung daran, dass auch er etwas verdient hatte. Dass er auch etwas privat für sich brauchte. „Youji hat mich dazu angespornt, ihn zu kaufen, weil er Konkurrenz für einen Seven benötigte. Aber schließlich hat er mir dann doch gut gefallen. Es war schließlich mein Wagen.“
 

„Das hört sich an, als wäre es dein Kind, zwar nicht so schön wie andere Kinder aber schließlich dein Kind“, lächelte Schuldig und neckte Ran ein wenig damit.

Ran sah sehr kläglich drein und Schuldig konnte nicht widerstehen und küsste Ran sanft auf die Wange. Nicht ganz so provokant in der Öffentlichkeit, denn er wusste, dass Ran das nicht mochte. „Hey Kopf hoch! Bald hast du dein eigenes Leben wieder zurück, was zählt da schon das Auto?“
 

Ein kleines Lächeln entlohnte Schuldig für seine Mühen und violetten Augen sahen kurz in ihre grünen Gegenstücke, bevor sie zum treuen Gefährt wiederkehrten, das bald nicht mehr seins war.

Er konnte momentan eben einfach nicht gut loslassen.

„Ich weiß, Schuldig, ich weiß. Aber es ist eben mein Auto gewesen. Oder würdest du deinen Bären einfach so mit der Wimper zu zucken abgeben?“ Zugegeben, das war kein Vergleich, denn er hatte seinen Wagen nicht schon im Kindergartenalter besessen. Dennoch.
 

Über diesen herben Vergleich musste Schuldig dann doch länger nachdenken. Als er schließlich antwortete hatte er seine Stimme neutral gehalten.

„Ich habe ihm schon einmal ein Messer durch den Bauch gerammt. Ja, ich denke ich könnte ihn weggeben. Vermutlich ist er ohnehin schon weg. Wenn sie schon in unserer Wohnung die Spielzeuge gefunden haben…“
 

„Ein Messer in den Bauch gerammt…stimmt. Und ihn schutzlos deinem Feind ausgeliefert. Das ist kein gutes Verhältnis zu einem Teddybär, Schuldig“, nickte Aya und musste nun doch etwas breiter lächeln. Und doch hatte Schuldig den kleinen über die Jahre hinweg zerzausten Bären gern.

Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen ihnen, als Aya seinen Mantel enger um sich zog. Der Steinboden am Grab war zu kalt gewesen, viel zu kalt.

„Der Bär ist in Sicherheit“, erwiderte er kryptisch. Crawford hatte ihn.
 

Schuldig hielt nach dem Taxi ausschau und blickte die Straße hinab. „Woher willst du das wissen?, fragte der nebenbei. Ran klang so als wüsste er es sehr genau und Schuldig fragte sich, wie er sich so sicher sein konnte. Es sei denn er wusste wo der Bär sich aufhielt. „Hast du ihm einen Peilsender verpasst?“
 

„Ich habe hellseherische Fähigkeiten“, war Ayas noch geheimnisvollere Antwort, die scheinbar nichts und doch alles zu erklären schien, zumindest in seinen Augen. Aya drehte sich um, weg von seinem Wagen. Irgendwann musste er einfach Abschied nehmen, er konnte seinem Porsche schließlich nicht ewig hinterstarren.
 

„Brad hat ihn?!“ entfuhr es Schuldig plötzlich und er wandte das bleiche Gesicht zu Ran herum.
 

„Ja“, erwiderte Aya schlicht, seine Augen in die des anderen vergraben. Vermutlich war es für Schuldig der Untergang oder unfassbar, so wie dieser Blick vor Entsetzen schier überquoll.

„Ich hab ihn ihm in die Manteltasche gesteckt, als du…weg warst. Er schien mir auch etwas von dir zu brauchen.“
 

Das Taxi kam. Gott sei Dank.

„Vermutlich hat er das alte Ding bereits entsorgt. Er ist nicht so der Typ, der sowas braucht“, erwiderte Schuldig in einem Ton, der sagen sollte: war völlig unnötig ihm den Bären aufzuhalsen.

Schuldig signalisierte dem Fahrer, dass sie die Gäste waren und sie gingen auf den Wagen zu.
 

Da war Aya anderer Meinung, doch er behielt es für sich. Schuldig schien es wichtig zu sein, von Crawford zu denken, dass dieser überhaupt nichts für ihn empfand. Das konnte Aya verstehen, denn für Schuldig war es sicherlich ein Schock gewesen, dass er mit Crawford über ihn gesprochen hatte…vor allen Dingen, WAS er gesagt hatte. Und nun noch der Bär, der sich in der Obhut des Amerikaners befand.

Gemeinsam stiegen sie ein und labten sich an der molligen Wärme, die ihnen das Taxi bot. Ein letzter Blick auf seinen Wagen und der Fahrer startete, brachte sie von hier weg.

Ayas Blick fiel auf die Sporttasche zu seinen Füßen, in der sich seine Geldbörse befand. Der Wagen war mehr wert gewesen, viel mehr.

Quasi unverkäuflich.

Aya seufzte im Stillen.

Genug davon, Zeit nach vorne zu schauen.

„Mal sehen, ob Banshee uns abtrünnig geworden ist“, sagte er um sie beide auf ein anderes Thema zu bringen.
 

Schuldig, der neben Ran saß musste jetzt an seinen Bär denken.

Wenn er jedoch ehrlich zu sich selbst war, musste er an die Hände denken, die den Bär gefunden hatten, in der Manteltasche. Wie Brad wohl darauf reagiert hatte?

Und wenn er jetzt wieder lebte, existierte der Bär überhaupt noch? Oder war Brad nachhause gegangen und hatte seine Restwut an dem Bären ausgelassen?

„Ich glaube nicht, sie steht nicht so auf Wölfe“, murmelte Schuldig und der Witz trat durch seinen abwesenden Tonfall etwas in den Hintergrund.
 

„Dann bin ich ja beruhigt“, erwiderte Aya mit einem Seitenblick auf den Mann, der mit den Gedanken sicherlich nicht bei ihm verweilte, sondern bei Crawford.

„Hätte ich ihn leer ausgehen lassen sollen, Schu?“, fragte Aya schließlich. „Hätte der Bär in der Wohnung bleiben sollen?“

Das Taxi roch…anders als sein Porsche. Schmutziger. Aber wenigstens fuhr der Fahrer gut und zügig, redete nicht viel, eigentlich gar nichts, sondern summte nur namenlose Volkslieder mit, die aus dem Radio dröhnten.
 

Schuldig sah weiterhin zum Fenster hinaus, suchte aber mit seiner Hand die von Ran die in dessen Schoß lag. „Nein, ist schon gut. Besser er ist da, wo er jetzt ist, als dass diese Typen ihn in ihre Hände bekommen. Es ist nur …etwas seltsam.“
 

„Wieso? Kannst du dir nicht vorstellen, wie er mit dem Bären im Arm einschläft und ihn an sich kuschelt?“, fragte Ayas kleiner Teufel, der hin und wieder zum Vorschein kam und Schuldig triezte, wo er nur konnte. Seine Finger jedoch strichen währenddessen liebevoll über die Finger der ihn haltenden Hand.
 

„Ra~an“, seufzte Schuldig gequält auf. „Das ist irgendwie geschmacklos. Kannst DU es dir denn vorstellen?“ Er sah zu Ran hinüber der sich gerade so mal ein fieses Lächeln verkneifen konnte.
 

„Ja“, kam es staubtrocken zurück und Aya hob eine Augenbraue. Er konnte es nicht wirklich, denn dafür war Crawford zu sehr Crawford eben, zu kalt und zu ernst, aber das Bild, das er im Kopf hatte, brachte ihn zu einem Lächeln.
 

„Du kennst aber schon den Unterschied zwischen Wunschvorstellung und Realität?“, kam nun Schuldigs innerer Teufel hervor und somit auch ein kleines gemeines Lächeln - als Replik auf das verträumte Lächeln das er auf Rans Gesicht ausmachen konnte.
 

„Richtig. Aber meine Wunschvorstellungen laufen da in ganz andere Richtungen.“ Aya hatte nun wirklich das Gefühl, dass Schuldig ihm irgendetwas aufschwatzen wollte und dass dieses Irgendetwas Crawford hieß. Was durchaus möglich war, wie er befand, wenn es Schuldigs unterbewusster Wunsch war, sowohl mit dem Amerikaner als auch mit ihm ein Verhältnis zu haben.
 

„In welche? Brad mit einem Teddybär im Arm?“, zweifelte Schuldig sehr an dieser Vision. „Das ist grotesk und eines der Vorzeichen zum Weltuntergang. Sowas wie… eine Heuschreckenplage oder Ähnliches…“

Brad mit einem Teddy im Arm.
 

„Vielleicht verkennst du ihn und er macht so etwas öfter. Du weißt nur nichts davon, weil er dir gegenüber immer den harten Mann spielt.“

Hart vor allen Dingen.

Aya schüttelte innerlich den Kopf über sich selbst. Ja, Crawford begehrte Schuldig, das konnte er sich denken, doch das musste er nicht gleich so plakativ machen.
 

Schuldig blickte wieder zum Fenster hinaus, verfolgte das Geschehen um sie herum mit trübem Blick. Er wurde langsam müde. Seine Augen brannten und er rieb sie sich mit der freien Hand.

„Keine Ahnung. Ich kenne ihn … überhaupt nicht“, sagte er leise aber mit der Spur von Bitterkeit.
 

Auch Ayas zweite Hand strich nun über den kostbaren Schatz, der auf seinem Schoß lag. Aya vermochte nichts dazu zu sagen, da Schuldig vermutlich mehr als Recht hatte mit dem, was er gesagt hatte. Crawford zeigte nichts von sich und Aya konnte sich vorstellen, dass er es die sieben Jahre, die Schuldig ohne Erinnerungen verbracht hatte, absichtlich getan hatte. Um sich zu schützen und um Schuldig nicht auf dumme Gedanken zu bringen.

Würde sich das ändern?
 

Sie fuhren schweigend weiter, Schuldig hing seinen Gedanken nach und erst, als sie die genannte Adresse erreicht hatten hielt der Wagen an. Schuldig wurde aus seinen Gedanken gerissen und sah sich um. Hier war nicht die richtige Adresse, aber sie waren in der Nähe, ein paar Minuten von hier entfernt würden sie zu Nagis, Jeis und Brads neuem Domizil gelangen.
 

Aya bezahlte das Fahrtgeld und sie stiegen aus. Aya besah sich die Gegend. Es war ruhig hier, aber nicht zu abgeschieden, jedoch deutlich gehoben. Für japanische Verhältnisse gab es hier viel Platz zum Wohlfühlen.

Dennoch konnte diese Gegend hier nicht mit seinem neu geschenkten Haus mithalten, dachte Aya mit Genugtuung grimmig und sah zu, wie der Taxifahrer wegfuhr.

„Auf geht es in die Höhle des Löwen…wie weit müssen wir noch laufen?“ Er wusste, dass Schuldig sich nie direkt nach Hause bringen ließ.

Nach Hause.

Crawford war Schuldigs Zuhause?

Komisch, dass Aya es so wahrnahm. Crawford war Schuldigs erstes Zuhause gewesen.
 

„Ein paar Minuten“, sagte Schuldig während er sich zu orientieren versuchte und er die Karte hervorzog.

„Hier bin ich noch nie gewesen. Sieht ordentlich, nett aus. Unauffällig beinahe schon.“ Er blickte wieder auf die Karte. „Hier runter müssen wir.“

Er deutete die Straße hinunter auf der sie standen. „Die Zweite Rrechts und dann bis zum Ende…“
 

Aya kam sich wie ein Tourist vor, wie sie hier suchten und Schuldig die Karte in der Hand hielt.

Als sie dann schließlich vor dem Haus standen, staunte er nicht schlecht. Nicht, dass es pompöser war als das Alte, ganz im Gegenteil. Es war ein Ryokan, nur etwas kleiner und sehr schlicht gehalten von außen. Allerdings konnte er durch das Tor nicht viel erkennen…er hörte nur Wasser plätschern. Ein Teich also?

„Du klingelst.“
 

„Ist doch egal wer klingelt“, murrte er und drückte die Klingel. Kurz darauf öffnete sich das Tor wie von Geisterhand und sie gingen hinein. Das Tor schloss sich wieder und Schuldig sah aus dem Augenwinkel, dass sich etwas bewegte hinter ihm. „Hey Kleiner!“, begrüßte er Nagi, der das Tor soeben verschloss. „Schuldig“, lächelte Nagi etwas angespannt und begrüßte ebenso auch Ran. „Du siehst nicht gut aus. Bist du krank?“
 

„Lass uns reingehen, wir sind beide müde“, lenkte Schuldig von seinem Befinden ab und er zog Nagi leicht an sich heran um ihm die akkurate, fedrige Frisur zu zerwuscheln.
 

„Könntest du dies bitte unterbinden“, kam es indigniert zurück und der junge Schwarz strich sich die impertinent durcheinander gebrachten Haare glatt. Doch wirklich Biss hatte diese Zurechtweisung nicht, dafür war er viel zu besorgt um den Telepathen, der doch eigentlich ausgeruht aussehen sollte, oder?

Was er nicht wusste, war, dass Aya hinter ihm schmunzelte, als er das Haus betrat. Wie Brüder, die beiden.

Der rothaarige Japaner sah sich in dem spärlich möblierten Raum um, der kalt wirkte. Nicht richtig wohnlich, ungemütlich gar. Da war selbst das Haus, das Schuldig ihm geschenkt hatte, gemütlicher gewesen, nachdem er es aufgeräumt hatte.

Vielleicht könnte man aus dem Haus noch viel machen, denn Platz war da.

„Wollt ihr etwas trinken?“, fragte Nagi und riss Aya damit aus seiner Beobachtung. Er nickte schweigend.
 

„Ich hätte Lust auf etwas Warmes. Habt ihr was da?“, Schuldig grinste, als er sich aus den Schuhen kämpfte und in die bereitgestellten warmen Hauspuschen stieg.

„Sake?“ Brads Stimme veranlasste Schuldig sich aufzurichten und sich umzudrehen. Für einen Moment wurde er durch die Wucht der Autorität, die ihm hier entgegenschlug, stumm. Und vermutlich glotzte er auch.

Brads Stimme, seine Haltung - die verschränkten Arme - das Anlehnen an der Wand. Lässig, aber dennoch hatte Brad nichts mit Lässigkeit zu tun. Schuldig versuchte angestrengt, Brad mit einem Teddy in Verbindung zu bringen, scheiterte aber kläglich.

„Wäre gut“, stimmte Schuldig zu. So ein wenig Alkohol hatte noch jeden aufgewärmt und schadtete sicher nicht. Zumindest war das seine Meinung.
 

Wie gut, dass Aya viel zu beschäftigt war, seine Schuhe auszuziehen, dass er nicht das erste Zusammentreffen zwischen Schuldig und Crawford miterleben musste. Dass er Crawford nach ihrem zweiwöchigen Zusammensein in die Augen sehen musste.

Er wollte nicht wissen, wie er reagierte, wie sie miteinander umgingen. Genauso feindselig wie vorher? In ruhiger Akzeptanz wie in den zwei Wochen?

Er richtete sich auf und folgte Nagi in die Küche, die sich direkt an das Wohnzimmer anschloss.

„Willst du auch einen Sake?“

Aya schüttelte den Kopf. „Tee.“

Nagi nickte und machte sich daran, aus einem der noch leeren Schränke, wie Aya sah, eine Tasse zu holen und einen Beutel hinein zu legen. Zumindest gab es hier schon einmal einen Wasserkocher.
 

Schuldig bemerkte, wie Ran sich mit Nagi in einen Raum verzog, vermutlich die Küche. Der Vorraum war groß und so etwas wie ein Empfangsraum. Brad sah ihm zu, wie er seinen Blick schweifen ließ. Und er war nervös.

„Was ist passiert? Du siehst schlimmer aus als zuvor“, merkte Brad an und selbst für ihn hörte sich seine Stimme strenger an als beabsichtigt.

Schuldig war blass. Dieser Eindruck wurde durch die roten Haare nur verstärkt. Die Augen glänzten unnatürlich.
 

Diese Augen suchten nun Brads Blick. „Ich hab mir ne Grippe eingefangen. War wohl doch alles zu stressig in letzter Zeit“, versuchte er sich etwas zu rechtfertigen, wenn auch mit wenig Kraft dahinter. Er wandte sich ab, als Brad sich ebenfalls von der Wand löste und sie gingen in die Küche, wie er bemerkte. „Schönes Haus“, sagte er und fühlte sich seltsam beklommen in Brads Nähe.
 

„Es ist noch nicht ganz fertig eingerichtet“, bemerkte Nagi und schüttete Ayas Tee mit heißem Wasser auf, während er für Schuldig und Brad Sake aufsetzte. Warm natürlich, denn Schuldig sah mehr als erfroren aus.

„Wo wart ihr die Tage denn?“, fragte er schließlich in die Stille des Raumes hinein, da keiner der Männer auch nur einen Ton sagte, sondern nur Blicke hin und her schwirrten. Nagi hatte das Gefühl, dass sie alle auf einem Pulverfass saßen.
 

„In einem Ferienhaus, sehr ländlich das Ganze.“

Schuldig setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf auf. Es war warm hier und er war hundemüde. Jetzt wo er sich etwas entspannen konnte - trotz Brads forschendem Blick - jetzt kam die Müdigkeit wie ein bleiernes Gewischt zurück.

„Meint ihr wir könnten ein oder zwei Tag bei euch bleiben, bis wir in die Wohnung gehen?“, fragte er und sein Blick wanderte zu Brad.

Er war nicht sicher ob das ein so guter Plan war aber er fragte sich in seiner jetzigen Müdigkeit ob er dazu in der Lage sein würde, ohne eine Mütze voll ruhigen und sicheren Schlafs frohen Mutes in seine Wohnung zurückzugehen - und sei es nur um sie aufzugeben.

Schuldig, das Scheidungskind

~ Schuldig, das Scheidungskind ~
 

Brad hob eine Braue. „Wenn ihr wollt, könnt ihr bleiben.“ Sein Blick ging zu Ran hinüber, der sich in der Nähe seiner Teetasse aufhielt. „Kommt ins Wohnzimmer, dort ist es wärmer“, sagte er ruhig und verließ die Küche in Richtung Arbeitszimmer. In diesem Haus hatte er ein Arbeitszimmer in Verbindung mit Nagis Arbeitszimmer eingerichtet. Sie konnten die Trennwand wegschieben und hatten ein großes Zimmer um sich besser abgleichen zu können. Schließlich wussten sie immer noch nicht, wer hinter ihnen her war.
 

Sie folgten dem Vorschlag des Amerikaners und Aya ließ sich auf die Couch nieder, die schon samt Tisch hier stand. Schuldig tat es ihm gleich und der rothaarige Japaner hatte den Eindruck, dass Schuldig in den nächsten Sekunden einfach einschlafen würde.

Nagi kam schließlich ebenso zu ihnen wie Crawford auch und so saßen sie auf der Sitzgruppe…die Stimmung hatte sich allerdings mitnichten geändert.

Aya verschränkte die Arme und setzte seinen Tee auf einen Unterarm. Seine Augen schweiften zu Crawford, dann wieder zu Schuldig.
 

„Wo ist Jei?“ Schuldig zog die Beine auf die Couch, soweit es der Yukata zuließ und lehnte sich seitlich an die Rücklehne der Couch. „Habt Ihr die Sachen gut untergebracht? Das Räumungskommando?“
 

Brad enthielt sich, da er den Sake in die zwei Schalen verteilte.
 

„Jei ist oben. Er gewöhnt sich an dieses Haus…und er hat die Katze bei sich“, antwortete Nagi und beruhigte Aya somit eher unwissentlich, denn der rothaarige Weiß wusste die Kleine in sicherer Obhut.

„Das alte Haus ist leer…es ist nichts mehr vorhanden. Wir haben ihnen dafür unseren Fuhrpark geboten.“ Ein kurzes Lächeln huschte über Nagis Lippen und Aya fühlte Sympathie für den jungen Mann. Ja…auch er hatte sein Gefährt abgegeben. Gerade eben. „Ein paar Dinge haben wir auch mit hierhin genommen, aber nur wenige.“
 

„Können wir die Jungs auch für meine Wohnung anfordern? Sie können meinen Fuhrpark von mir aus auch haben“, brummte er müde und nahm den gereichten Sake von Brad an sich, nickte ihm zu, aber so recht konnte er den Blick nicht lange halten. Brads Gesicht schien ihm anders als vorher.

Oder war es nur, weil er Dinge wusste, die er nie hatte wissen wollen?
 

„Ja, wir haben ihnen gesagt, dass der Deal für ein weiteres Objekt gilt. Sie warten lediglich auf meinen Anruf.“ Brad nahm einen Schluck Sake und ließ seinen Blick wieder über Schuldigs Kleidung schweifen.

„Die Schlafzimmer sind oben. Es stehen nicht überall Betten darin. Wir haben nur vier. Es macht euch sicher nichts aus, in einem zusammen zu schlafen“, sagte er ruhig, obwohl er die kleine Spitze nicht ganz verhindern konnte.
 

Es war mehr als eine Spitze, es war ein Vorwurf und Ayas Blick verfinsterte sich. Waren sie also wieder zurück zu ihren alten Gewohnheiten gekommen?

Doch bis ins Letzte konnte Aya dem anderen Mann nicht böse sein, denn er verstand dessen Zynismus, verstand dessen Schmerz.

„Nein, macht es uns nicht. Dir?“, fragte er trotzdem, genau in diesem Moment wissend, dass er provozieren wollte, dass er eine Reaktion vom anderen bekommen wollte.
 

„Ich habe Informationen über die Gegner und ihre Vorgehensweise“, kam jedoch Nagi einer etwaigen Reaktion von Brad zuvor. Nach einem Blick auf den Amerikaner hatte er nämlich beschlossen, das Gespräch in eine etwas andere Richtung zu lenken. „Es sind nicht viele, sehr dürftig, aber es sind schon einmal Informationen.“
 

Schuldig hatte sein müdes Haupt, das nach dem einsamen Schluck Sake noch müder geworden war, auf der Rücklehne gemütlich abgelegt und die Augen ein wenig ruhen lassen.

„Klasse! Ging ja schnell, lass mal hören“, öffneten sich die blauen Augen und Schuldig signalisierte völlige Wachheit.

Er versuchte es zumindest, aber die Müdigkeit zog wie Blei an seinen Augenlidern.
 

Brad, der die Informationen bereits kannte, ließ seinen Blick wieder auf Schuldig zum Ruhen kommen, eine Braue skeptisch erhoben.

„Was ist mit ihm? Eine simple Grippe…“, ließ er die Frage offen, ob da noch mehr im Raum stand. Er wandte seine Frage an Ran.
 

Schuldig dagegen nervte es ein wenig, dass Brad über ihn mit Ran sprach, sagte jedoch nichts dazu.
 

„Er hat sich durch mein Verschulden verkühlt, kurz nachdem er von der Grippe genesen ist“, erwiderte Aya und lächelte Schuldig liebevoll entschuldigend an. Crawford hatte ein Anrecht darauf, es zu wissen, fand er. Auch wenn Schuldig das nicht so sah, wie er bemerkte. „Außerdem war es eine schwere Grippe.“
 

Nagi wartete an, bis Ran fertig war und setzte dann an, den anderen beiden die Informationen, die sie zusammengetragenen hatten, vorzulegen.

„Fakt ist, dass sie sowohl mit Asami als auch mit Feilong Kontakt hatten und sich in diesen Kreisen auskennen müssen. Es sind wohl Japaner vom Aussehen her. Jei sagte, er kann sie nicht lesen, Schuldig kann es anscheinend auch nicht, Brad kann durch sie nichts vorhersehen. So etwas gibt es eher selten und war sehr begehrt als SZ-Forschungsobjekt. Allerdings hat mich meine Suche in diese Richtung nicht weitergeführt.“

Nagi stockte, als Rans Blick in seiner Aufmerksamkeit zu Schuldig glitt, der müde und abgespannt auf dem Sofa saß und die Augen geschlossen hatte.

„Ich denke, das sollten wir auf später verschieben, oder?“, fragte der rothaarige Japaner. „Er ist nicht mehr so ganz aufnahmefähig.“
 

„Doch bin ich wohl!“, behauptete die raue Stimme in die Sofarücklehne hinein und Schuldig hob tapfer den Kopf. Wobei er seine Haare sortierte und seine Wange rieb, da die Abdrücke des Sofas seine Wange zierten. Er räusperte sich und wischte sich über die Augen, blinzelte.

„SZ? Hmm stimmt…“, murmelte er. „Vielleicht sollten wir in diese Richtung auch denken. Alte Verbindungen checken. Oder hast du das schon?“
 

„Noch nicht in umfangreichen Maße, wir hatten schließlich noch einige Dinge nebenbei zu tun“, sagte Brad daraufhin und irgendwie …warum zum Teufel klang alles was dieser Mann sagte wie eine Provokation für Schuldig?
 

Das empfand auch Aya so.

„Manchmal ist Ruhe das Einzige, was man tun kann“, entgegnete er an Schuldigs Statt und runzelte missbilligend die Stirn in Richtung Crawford.

„Schuldig, du solltest dich wirklich ausruhen. Morgen ist immer noch Zeit für Informationen.“ Aya hatte seinen Ton neutral gehalten, wollte Schuldig nicht den Eindruck vermitteln, dass er ihn bevormundete.
 

Brads Mundwinkel umspielte ein süffisantes Lächeln, als er Rans Blick erwiderte. Während Schuldig gegen Rans Vorschlag aufbegehrte - vermutlich nur der Form halber - machte sich Brad so seine eigenen Gedanken.

Eine schwere Grippe hatte Schuldig während ihres Aufenthaltes, wo auch immer, schwer im Griff? Und er hatte es nicht für nötig befunden, anzurufen um ihnen Bescheid zu sagen…

Das war früher anders gewesen, schließlich beeinflussten Krankheiten Schuldigs Fähigkeiten zusätzlich. Die Zeiten änderten sich augenscheinlich und Ran bedeutete vermutlich Unabhängigkeit von ihnen…
 

„…gut …ich gehe schon“, murrte Schuldig nur wieder. Er erhob sich und schmollte Ran müde an. Dieses Schmollen sollte sagen: Jetzt komm gefälligst auch mit, wenn du mich schon ins Bett schickst.
 

„Ich zeige euch, wo die Betten sind“, sagte Brad und erhob sich. „Nagi, stell die Downloads fertig und kontrolliere die neuen Kreditkarten.“
 

„Natürlich“, erwiderte der junge Schwarz und war erleichtert, dieser illustren Runde nun zu entkommen. Irgendetwas war zwischen den Dreien vorgefallen, etwas hatte Brad und Ran wieder weiter voneinander weggetrieben und Nagi wollte gar nicht wissen, was.

Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und schloss die Tür hinter sich.
 

Aya hatte sich währenddessen ebenso von der Couch erhoben und stand nun neben Schuldig. Sein Blick ruhte grimmig auf Crawford. Ja, sie waren wieder dort, wo sie vorher gewesen waren. Vermutlich war das Ganze auch nur ein Auftrag für den Amerikaner gewesen, der nun beendet war, wo Schuldig wieder hier war.
 

Diese Selbstgefälligkeit, mit der Ran dort stand, brachte Brad innerlich auf. Nach außen hin blieb er jedoch gelassen, als er das Licht löschte und voran in das obere Stockwerk ging. „Wir sind noch nicht sicher, ob wir hier bleiben werden, oder nicht doch lieber nach Kyoto umziehen.“
 

Schuldig bremste kurz auf einem Treppenabsatz und blickte auf zu Brad, der im Dunkel des oberen Flurs verschwunden war. Er ließ sich jedoch nichts anmerken und folgte ihm.

Nach Kyoto? Gut, es war keine große Entfernung, dennoch … sie …wären weiter weg…

Er schluckte hart und spürte wie bereits Kopfschmerzen hinter seiner Stirn zu pochen begannen.
 

Brad blieb vor einem Zimmer mit geöffneter Tür stehen. „Du kannst dieses Bett haben, im nächsten Zimmer steht noch eins, das kannst du dann nehmen“, sagte er zu Ran.“ Als er ging klopfte er Schuldig einmal in wohl gutgemeinter Gute-Nacht-Geste auf den Rücken, auf die halbe Schulter. „Schlaft gut und nicht zu laut“, lächelte er stygisch und verschwand wieder hinunter.
 

Schuldig hatte die Zähne zusammengebissen als Brad ihm so unverhofft auf die Schulter geklopft hatte. Du verdammtes Arschloch, es ist noch nicht ganz verheilt, gellte es in ihm, doch er schwieg, legte seine Stirn lediglich gegen den Türrahmen. „Ich erwürge ihn. Irgendwann.“
 

„Ich möchte ihn jetzt erwürgen“, sagte Aya ruhig und dunkel, die Stimme nur einen Steinwurf entfernt vom Grollen.

Er kam zu Schuldig und strich dem anderen vorsichtig über die geschundene Stelle, dann über den flammend roten Schopf, bevor er Schuldig an sich zog, sanft aber doch beschützend.

Was sollte das? Konnte sich Crawford nicht denken, dass Schuldig noch verletzt war?

Nein…vielleicht nicht. Vielleicht wusste das Orakel auch gar nichts davon.
 

„Blödarsch, der meint wohl wir wollen hier ficken, oder was?“, keifte Schuldig unterdrückt und ging ins Zimmer hinein, sah sich in dem kahlen Raum um. Als er seine Bestandsaufnahme gemacht hatte, blieb sein Blick an Rans hängen.

„Du musst wegen mir nicht aufbleiben, Ran. Wird wohl schwer werden diese Nacht, wenn wir nicht wie sonst aneinanderkleben können, hmm?“, lächelte er müde und begann sich aus seinem Yukata zu schälen. „Wo hast du eigentlich die Tasche hin?“
 

„Sie steht noch unten im Wohnzimmer oder das, was mal das Wohnzimmer darstellen soll“, erwiderte Aya. „Ich hole sie gleich.“ …und werde mich mit Crawford auseinandersetzen.

Es würde dem Amerikaner recht geschehen, wenn sie hier Sex hätten und er es hören würde. Ganz recht. Doch auch wenn Schuldig gesund wäre, soweit würde Aya nicht gehen.

Er besah sich das schmale Bett, das nur für eine Person reichte. Absicht?

Sicherlich nicht.

„Wie geht es dir, Schuldig?“
 

„Hundemüde“ …nein das war untertrieben. „Beschissen ist noch geprahlt“, grinste er schräg und setzte sich auf die Kante des Bettes. „Ich brauche die Tasche nur wegen der Schlafklamotten.“ Auch seine Lieblingsklamotten genannt. Es war warm in diesem Zimmer, angenehm, trotzdem brauchte er diese Kleidungsstücke.
 

„Ich bin eben unten“, lächelte Aya und verließ das Zimmer. Im Gegensatz zum alten Anwesen wirkte dieses ungemütlich und kalt, leer gar.

Er stieg leise die Treppe hinunter, auf der Suche nach Crawford. Aya wollte es nicht zugeben, doch unbewusst war er enttäuscht von dem anderen Mann. Diese Kälte, dieser Sadismus…er hatte gedacht, es wäre einfach ausgelöscht. Doch anscheinend ließen sich manche Eigenschaften nicht auslöschen.

Er machte sich auf die Suche nach der Tasche, nahm sie hoch und stellte sie auf die Couch, sah sich genauer um. Er lauschte auf die Umgebung und sah schließlich, wie Crawford samt Decke durch die Küche ins Wohnzimmer kam.

Schweigend erwiderte er den Blick des Amerikaners.
 

Dieser zog zwischen den Falten der Decke das vieldiskutierte Stofftier hervor und warf es Ran zu. „Willst du mir etwas sagen?“, fragte er ruhig und ging an Ran vorbei, die Decke auf der Couch ausbreitend - sein nächtliches Lager für heute.
 

„Außer dass du dich wie ein Arschloch verhältst?“, hielt Aya dagegen und betrachtete sich den Bären in seiner Hand. Hatte Crawford ihn also doch nicht weggeworfen. Hatte er es sich fast gedacht. Nun sollte er also in Schuldigs Besitz zurückgehen.

Seine Augen kamen wieder zurück zu Crawford, musterten diesen. Er opferte sein Bett?
 

„Weshalb verhalte ich mich wie ein Arschloch?“, hakte Brad mit leidlich wenig Elan dahinter nach. Seine Frage barg wenig Interesse an der Antwort, sie kündete davon, dass er überhaupt nicht daran interessiert war, mit Ran zu sprechen.
 

Das erkannte auch Aya und er verspürte nun wirklich Lust, den Amerikaner zu erwürgen.

„Schuldig kann nichts dafür, dass er wieder lebt. Er kann auch nichts dafür, dass er krank ist. Und für die Spuren seiner Gefangenschaft, der du dich so frei bedient hast, kann er am wenigsten.“ Aya schnaubte abfällig.
 

Plötzlich wurden Rans Worte doch interessant für ihn, auch wenn Brad ahnte, dass diese Bemerkung nur eine Falle war und er würde hineintappen. Er würde hineinlaufen wie der dumme Tor, der er war.

„Welche Spuren?“, wollte er alarmiert wissen und im Halbdunkel konnte er nur die Hälfte von Rans Gesicht erkennen. Es war still im Erdgeschoss, lediglich ihr Atem und ihre Bewegungen verursachten leise Laute.
 

Durch diese Stille trat Aya zu Crawford, kam ganz nah an ihn heran. „Hast du wirklich geglaubt, sie würden ihm nichts tun?“, fragte er gefährlich ruhig. Er hatte es auch nicht geglaubt, doch Schuldig hatte es vor ihm verheimlicht…viel zu lange. „Wenn du ihn weiter verletzten willst, dann klopfe ihm ruhig noch ein paar Mal auf die Schulter.“ Es war paradox, wie sie hier standen, denn vor nicht ganz fünf Monaten hatte Crawford ihn gewarnt, Schuldig noch einmal mit der Erinnerung an sein Vergessen zu verletzen.
 

Brad blickte sein Gegenüber für einige Momente ruhig, fast erstarrt an, bevor er sich abwandte und sich in einer unüblichen Geste durch die Haare fuhr.

Er wusste nicht, wie er sich Schuldig gegenüber verhalten sollte… oder wollte. „Nein. Ich habe nicht geglaubt, dass sie ihm nichts tun. Ich wollte einfach nur fühlen, dass er da ist. Oder glaubst du, das ich nach eurem schnellen Abgang …glaubst du dass wir das Gefühl haben, dass er wieder hier ist? Hattest du Zeit genug um dir bewusst zu machen, dass er wieder hier ist, ja?“ Verächtlich verzog er die Lippen. „Schön. Ich nicht. Es geht mich auch nichts an. Ich werde es in Zukunft vermeiden“, gab er zurück, die kurz vernachlässigte Kühle langsam wieder in seine Stimme legend. In seinen Augen jedoch spiegelte sich etwas anderes wider.

Er verlor langsam die Kontrolle.
 

„Ich habe mich noch nicht richtig daran gewöhnt, dass er wieder da ist. Und ja, ich verstehe dich.“ Das tat Aya wirklich und dieser emotionale Ausbruch hatte ihm etwas gezeigt, das er bisher mit Freude ignoriert hatte. Crawford war auch ein Mensch, hatte auch Gefühle, liebte Schuldig auch, vermisste ihn auch. Das wusste Aya…schließlich hatte Crawford mit ihm gelitten…genauso wie er gelitten, als Schuldig für tot erklärt worden war.

Offen erwiderte Aya diesen ehrlichen, schonungslosen Blick, während sich seine Lippen wie von alleine bewegten.

„Er weiß, dass ich dir gesagt habe, dass er dich liebt.“ Es war grausame Ehrlichkeit, aber auch ein Geschenk an Crawford…eine Möglichkeit für den anderen, nun mehr daraus zu machen.
 

Brad spürte wie es in ihm kribbelte und als dieses Kribbeln nach außen drang lachte er. Ein leises und dann immer lauter werdendes volles Lachen durchdrang den Raum.

„Was hast du dir dabei gedacht? Dass es ihm damit besser gehen wird?“ Er setzte sich hin und schüttelte über so viel Dummheit den Kopf. „Glaubst du, dass es irgendetwas besser machen wird? Nein, das wird es nicht, im Gegenteil. Er wird durchdrehen, über kurz oder lang“, meinte Brad und legte den Kopf in den Nacken, noch immer zirkelte ein Lächeln um die Mundwinkel. „Was willst du damit erreichen? Dass er sich zwischen uns zerreibt? Schuldig wird zwischen uns zerrieben werden, er wird splittern und bröseln wie zerlöchertes Gestein“, wahrsagte er, während seiner Worte ernster, bitterer wurden. Einer von ihnen musste ihn aufgeben. Und verschwinden. Er dachte für einen Moment nach, betrachtete den Bär in Rans Hand und fuhr sich durch die Haare. „Was haben sie mit ihm gemacht? Hat er darüber geredet?“, schwenkt er das Thema um.
 

„Er soll nicht zwischen uns aufgerieben werden!“, fuhr Aya auf. „Er war sowieso am Rand der Verzweiflung, was dich betrifft, was mich betrifft…da war es egal, ob ich es ihm sage. Nun WEIß er, woran er ist, Crawford und du weißt es ebenso! Was ihr daraus macht, ist euch überlassen, aber meinst du, ich kann mir ansehen, wie du eifersüchtig auf ihn losgehst und wie er darunter leidet, nicht zu wissen, woran er bei dir ist oder ob er dich überhaupt kennt?“

Aya schwieg einen Moment um sich selbst herunter zu bringen. Er musste ruhiger werden…und die Gelegenheit nutzte er, als er über die Frage des Amerikaners nachdachte und abwog, was eine Antwort mit sich bringen würde.

„Hat er – oberflächlich. Sie haben ihn ausgepeitscht, das ist es, was man zumindest sieht.“ Da war sie gefallen, die Entscheidung und Aya hoffte, er hatte sie richtig getroffen.
 

Ja, die Entscheidung war gefallen.

Das musste aufhören.

Es musste aufhören.

Brad blickte stumpf vor sich hin. Für einen Moment, bevor er sich wieder fing und sich erhob.

„Hat er darüber gesprochen?“, wiederholte er.
 

Aya überlegte. „Nein, das hat er nicht. Er hat mir die Verletzungen verschwiegen die ersten Tage, bis ich sie durch Zufall entdeckt habe. Er hat nur gesagt, dass sie ihm sonst nichts getan haben.“

Warum wollte Crawford das wissen? Aya hatte dieser leere Blick misstrauisch gemacht. Das war nicht Crawford, zumindest nicht der eiskalte Crawford, den er kannte. Das war der Crawford, der auch trauern konnte, der litt.
 

„Typisch“, schnarrte Brad und verzog den Mund verächtlich. „Dieser Idiot.“

Brad sah zu Ran auf. „Er muss darüber reden, sonst gerät er wieder ins Ungleichgewicht. Je länger er darüber den Mund hält, desto explosiver wird der Ausbruch werden. Ihm damit auf den Wecker zu fallen ist eine gute Strategie um ihn zum Reden zu bringen.“ Brad lachte leise auf. „Das wird dir sicher nicht schwer fallen…“
 

„Idiot? Ich glaube kaum, dass Schuldig in seiner momentanen Situation ein Idiot ist“, zischte Aya. Wie konnte Crawford es wagen? Natürlich war es gut, wenn Schuldig darüber sprach, was in China geschehen war…aber es war ebenso verständlich, dass er es nicht tat.

„Und was ist überhaupt mit dir? Du bist sein Anführer, ein Freund für ihn, vermutlich sogar mehr, und jemand, der ihm Halt gibt. Zumindest hatte das in der Vergangenheit den Anschein. Dir wird es vermutlich noch viel leichter fallen, ihn zum Sprechen zu bringen!“
 

Scheinbar hatte Ran das Recht gepachtet, Schuldig mit unschönen Namen betiteln zu dürfen, denn Brad hätte viel gewettet darum, dass der Rothaarige es sicherlich nicht amüsant gefunden hatte, dass Schuldig ihm seine Verletzungen verschwiegen hatte.
 

"Er will nicht mit mir sprechen. Das ist nicht mehr mein Job. Unser Verhältnis war eher kollegialer, nicht wie du anzunehmen scheinst, freundschaftlicher Natur. Du bist es, dem er es erzählen sollte."
 

„Ist es nicht komisch, dass ihr beide, obwohl euer Verhältnis nur kollegialer Natur zu sein schien, nun Probleme damit zu haben scheint?“, fragte Aya lauernd und ließ seinen Blick durch das Fenster schweifen. Es war schon vollkommen dunkel und die Schwärze kroch zu ihnen in das Wohnzimmer, hatte er das Gefühl.

„Zumindest er hat gewaltige Probleme damit. Du bedeutest ihm sehr viel.“ So, jetzt hatte Aya es ausgesprochen, hatte es Crawford direkt ins Gesicht gesagt…vermutlich, dass der andere Mann es sofort verneinte. Doch er wusste es besser, er sah Schuldigs Reaktionen.

„Er will nicht mir dir sprechen? Oder KANN er nicht mit dir sprechen, weil Kitamura ihn hindert?“
 

Brad hatte dieser kleinen Ansprache zugehört. Bis zum bitteren Ende.
 

Kitamura drängte sich in ihre Gegenwart, offenbar ließ er selbst nach seinem Tod keine Gelegenheit aus um Dinge zu zerstören.
 

Und wenn Ran Fujimiya noch immer zu Weiß gehören und den guten, braven, mutigen Anführer dieses lächerlichen Vereins mimen würde…dann wäre Kitamura noch da, wo er hingehörte: in die Vergangenheit, in die Vergessenheit.
 

"Wärst du nicht, dann gäbe es Kitamura für ihn nicht. Also halte mir hier keine Vorträge darüber, was gut für ihn ist und was nicht. Es gäbe kein Einziges dieser Probleme." Er spürte, wie ein heißkalter Sturm in ihm zu Toben begann, den er nur schwer aus seinem Blick heraushalten konnte.
 

"Was willst du mir damit sagen, Fujimiya? Und was willst du damit erreichen? Mit diesem: Ich bedeute ihm sehr viel? Wo soll uns das deiner Meinung nach hinführen? Oder plapperst du gern derartige Dinge vor dich hin ohne nachzudenken?" Brad versuchte sich zu beruhigen, doch der andere Mann im Raum machte ihm dieses Vorhaben wirklich schwer. "Er gehört dir, bist du damit nicht zufrieden? Was willst du noch?", fragte er mit Anklage aber auch mit vor Wut leiser Stimme. Ja, was wollte er noch?
 

Ohne ihn selbst gab es Kitamura für Schuldig nicht?

Aya glaubte nicht richtig zu hören, doch als er dann begriff, was diese Worte bedeuteten, hätte er sie am Liebsten aus Crawfords Gesicht geschlagen, immer und immer wieder. Wut beherrschte ihn, eiskalte Wut.

„Ich bin schuld, dass Kitamura wieder aufgetaucht ist? Dass er verarbeiten kann, was damals geschehen ist? Dann bist du genauso schuldig, ihn Kitamura überhaupt vorgestellt zu haben und als Anführer in dieser Zeit versagt zu haben. Du hast ihn diesem Monster erst ausgeliefert.“ Ruhige, eiskalte Worte, die nur so vor hartem Zynismus trieften.

Wenn sie hier einen Schuldigen an der momentanen Situation suchten, dann konnte er mithalten.

Aya reagierte auf die Wut, die er in Crawfords Blick las, mit eiskalter Verachtung.

„Was ich noch will? Glück für ihn. Wenn das Opfer bedeutet, so nehme ich sie in Kauf. Er liebt mich, das weiß ich. Er wird mich nicht verlassen. Doch du bist auch noch da und dich kann er ebenso wenig gehen lassen.“ Aya lachte bitter auf, höhnisch gar.

„Oh…ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Über dich, ihn, diese ganze, verdammte Situation. Und der Einzige, der sich hier querstellt, bist du. Der Schuldig wo es nur geht von sich wegstößt. Und dabei ist Schuldig in China bei dem Versuch, dich zu retten, gefangen genommen worden. Aus Kollegialität natürlich“, spottete Aya, die Hände zu Fäusten verkrampft.
 

SZ waren daran schuld, nicht er.

Er hatte Schuldig zu seinem Folterer und schlussendlich zum Schafott geführt, aber er hatte nicht den Befehl dazu erlassen.

Nein, er nicht.

Brad sagte sich das immer wieder, doch er sprach es nicht laut aus. Wie lange hatte er sich mit diesen Vorwürfen herumgeschlagen. Er hatte es satt.

Was musste er tun um dies alles abzustellen? Um diese Schuld, die ihm anhaftete wie ein übler Gestank, nicht mehr ständig in Schuldigs Gesicht abzulesen?
 

Denn es war doch die stumme Anklage, die er in den Augen lesen konnte…oder?
 

"Worauf zum Teufel willst du hinaus, Fujimiya?" wurde Brad zorniger und seine Stimme schärfer. "Hast du vor deine Seite des Bettes zeitweise an mich abzutreten, oder was soll all das Gerede um das Querstellen...?"
 

Ein Stockwerk weiter oben jedoch war es sehr leise geworden.

Schuldig war nach einer Katzenwäsche unschlüssig im Flur gestanden und hatte gerade in sein karg eingerichtetes Domizil für diese Nacht gewollt, als die Stimmen im Erdgeschoss lauter geworden waren und er aus perfider Neugierde inne gehalten hatte.
 

Doch jetzt stellte sich heraus, dass dies keine gute Idee gewesen war, denn was er dort hörte war zwar vorausschaubar gewesen aber auch .

Es tat weh.

Es tat weh Ran und Brad so über ihn sprechen zu hören. Die Worte waren unterbrochen, aber die beiden sprachen mittlerweile so laut, dass er sie gut hören konnte.
 

Dort stand er also mit seinem Mickey Mouse Shirt, seiner schwarzen Cordhose mit den vielen Fusseln und einer Schmusedecke und hörte den beiden Erwachsenen zu, wie sie über das unfolgsame Kind debattierten. War er so unmündig geworden?
 

Es hörte sich fast so an.
 

Schwach war er. Körperlich schwach und Seelisch labil, nicht entscheidungsfähig, nicht stark. Aber so fühlte er sich nicht.

Mit Ran in seinem Leben hatte sich etwas verändert. Das stimmte. Und er war mehr eingebunden, hatte Gelegenheit und auch Lust sanfter zu sein. Warum hörte sich das bei den Beiden so an als wäre er…unfähig?

Er wusste, dass er Wut empfinden sollte. Aber er war schlicht zu fertig dazu. Das Einzige, was er in sich fühlte, war Müdigkeit und eine große Portion Resignation.
 

Schuldig lehnte wie betäubt an der Wand und hörte zu, wie die beiden im Erdgeschoss ihn hin und her schoben, wie ein Kind in einem Scheidungskrieg.
 

Wie auch Crawford war sich Aya nicht bewusst, dass derjenige, über den sie sich so erhitzt stritten, bereits alles hörte, was zwischen ihnen fiel.

Doch Aya wollte nur, dass es Schuldig gut ging.

Mit dem Wissen, dass Crawford ihn wollte und es nun wusste, dass er vielleicht ebenso wollte, ging es Schuldig aber nicht gut.

Aya wollte das nicht, Aya wollte Schuldig nicht unglücklich sehen und es war doch seine Aufgabe, den ersten Schritt zu tun, denn anscheinend war er für Schuldig der Grund, eben nicht mit Crawford anzubandeln. Unter anderem…aber wenn er eben dieses Hindernis doch auslöschen konnte?

„Ich habe dich als widerliches, arrogantes, sadistisches Arschloch kennen gelernt“, erwiderte Aya kalt. „Als Schuldig angeblich tot war, habe ich eine andere Seite gesehen, eine MENSCHLICHE. Ich werde meine Seite niemals für dich räumen. Aber wenn du genauso menschlich zu Schuldig bist wie zu mir in diesen zwei Wochen, so bin ich der Letzte, der nein sagt. Mögen muss ich es garantiert nicht, aber wenn Schuldig es will, stehe ich ihm nicht im Weg.“

Menschlich.

Aya schnaubte innerlich. Ja, Crawford war menschlich gewesen durch seine Trauer. Und jetzt? Verbittert wie ein alter, verlassener, einsamer Mann.

Nur, dass er genau das auch war.
 

Brad lachte auf und verfiel dann in ein leises Lachen, bevor er sich auf die Lehne der Couch setzte und Ran anblickte. „Du willst ihn mit mir teilen? Wie großzügig von dir. Wie überaus großzügig“, sagte er und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Und schon wieder muss ich mich fragen, wer von uns beiden der Zuhälter ist. Vielleicht solltest du deine neuen Ideen zuerst mit Schuldig besprechen, bevor du ihn mir so großzügig anbietest.“ Brad erhob sich.
 

Aya trat einen Schritt zurück, dann noch einen.

„Keine Sorge, ich habe nicht vor, Schuldig zu verschachern oder ihm irgendjemanden anzubieten“, sagte er grollend und drehte sich um. Er hatte genug Crawford für heute, genug Arschloch in einer Portion Mann.

Wütend stieg er die Treppe hinauf und blieb wie angewurzelt stehen, als er jemanden dort stehen sah. Sein Herz setzte einen Takt aus, als ihm bewusst wurde, dass es nicht Nagi war, auch nicht Jei.

Verdammt.

Seine Augen begegneten denen des Telepathen stumm…ja, vielleicht auch schuldbewusst mit einem Male.
 

Schuldig sah langsam hoch und lugte zwischen den Haarsträhnen hindurch wie jemand, der eine Mordslust hatte, wütend zu werden. Seine Augen waren schmal und dunkel. Ebenso dunkel wie es hier im Flur war. Schuldigs Lippen hatten sich zu einem schmalen Strich verjüngt und er starrte.

Starrte Ran schweigend an.
 

„Du hast es also gehört?“, fragte Aya, zugegeben recht überflüssig, da alleine schon Schuldigs Augen von einer Wut sprachen, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte…eigentlich noch nie ihm gegenüber.

Er hatte es doch nur gut gemeint…

Das sah er in dieser Wut aber nicht. Vermutlich war es auch das Falsche gewesen, doch er wollte Schuldig nicht in sein Unglück rennen lassen, nicht nachdem, was geschehen war. Nicht, nachdem er beinahe tot gewesen war.
 

Schuldigs Blick lag immer noch schwer auf Ran als er nach hinten griff und die Tür zu seinem momentanen Zimmer öffnete und wartete bis Ran eintrat. Er wollte diese Tür zwischen Brads Ohren und seinen Worten wissen.
 

Aya betrat schweigend das Zimmer und spürte, wie ein schweres Gewicht sich auf seinen Schultern breit machte.

Er ging zum Bett und ließ sich darauf nieder, die Augen auf Schuldig gerichtet.
 

Die Tür wurde von Schuldig geschlossen und er wollte etwas sagen, doch er wusste im ersten Moment nicht wo er anfangen sollte. Und dann sah er die Zeichen.

Zeichen der Schuld.

Ran setzte sich. Er begab sich in die Büßer-, in die Sünderrolle. Er sah zu ihm auf. Machte sich kleiner.

„Was machst du da, Ran?“, fragte Schuldig mit dunkel aufgerauter Stimme. Es war nicht nur Wut, es war auch Müdigkeit die sie so werden ließ. „Was ist los mit dir?“
 

„Ich will dir helfen glücklich zu werden“, erwiderte Aya schlicht und ebenso schlicht war seine Körperhaltung. Er hatte die Hände neben sich auf der Matratze, angespannt aber nicht abwehrend, nicht vor sich gehalten.

„Aber irgendwie…geht das daneben.“
 

Es war diese simple Ehrlichkeit, die Schuldigs Inneres wieder zur zuvor herrschenden Resignation zurückführte.

Sein Blick wurde weicher und er … er spürte wie er lächelte. Ein trauriges Lächeln, das Ran erreichte. Ein Lächeln, welches ältere Menschen jüngeren schenkten, wenn diese große Töne vom Leben spuckten.

„Man kann nicht alles im Leben haben, Ran. Sei nicht so ein verdammter Samariter. Ich bin mit dir glücklich. Brad wird jemand anderen finden. Und Brad und ich werden uns nach einer gewissen Übergangsphase wieder einkriegen.“
 

Nun fand zumindest Ayas rechte Hand ihren Weg zu seinem Gesicht, als er sich über die Augen fuhr, mehr in einer verzweifelten als in einer müden Geste. Es wäre schön, wenn es so käme, denn eigentlich wollte er Schuldig mit niemandem teilen, schon gar nicht mit diesem selbstgerechten, arroganten Wahrsagerarschloch.

Doch irgendetwas in Aya zweifelte an Schuldigs Worten. Irgendetwas glaubte diesem Frieden nicht. Dieses Irgendetwas hatte einfach zuviel Negatives erlebt um kein Pessimist zu sein.

„Ich hoffe, dass es so sein wird“, sagte er und ließ die Hand sinken, richtete den Blick wieder auf Schuldig.

Ein guter Samariter. War er das wirklich?
 

„Habe ich irgendwann seit diesen Monaten den Eindruck erweckt, dass ich heimlich Brad bevorzugen würde? Oder hattest du das Gefühl, dass ich nicht glücklich mit dir wäre?“

Schuldigs Blick war forschend, sein Gesicht zeigte jedoch nichts von seinen Gefühlen. Rein gar nichts.
 

„Nein, hast du nicht. Aber das war auch nicht das, was ich gemeint habe.“

Ayas Kiefer knirschten unter der Wucht der Kraft, mit der er sie aufeinander mahlte.

„Du bevorzugst ihn nicht und du bist mit mir glücklich. Aber hättest du etwas dagegen, auch mit IHM glücklich zu sein, also mit mir und ihm?“ Mit uns beiden wäre die kürzere Variante gewesen, doch Aya weigerte sich selbst in Gedanken, Crawford ihn sich selbst so zu betiteln.
 

Schuldig sah Ran scharf an, wandte den Kopf zur Seite und ging auf das Bett zu. Er ließ die Decke darauf fallen und setzte sich neben Ran.

„Glaubst du, mir würde dein Glück nicht am Herzen liegen? Meinst du ich will, dass du mich mit jemandem teilst, den du nicht ausstehen kannst? Meinst du, ich will,l dass du mit jemanden zusammen bist, dessen Herz zweigeteilt ist? So etwas schmerzt. Ich will das nicht.“
 

Aya runzelte grübelnd die Stirn und dachte für eine Weile über die Worte des anderen Mannes nach. Schuldig wollte, dass er nicht unglücklich wurde und er wollte, dass Schuldig nicht unglücklich wurde. Schuldig wäre aber unglücklich, wenn es ihm nicht gut ginge. Ihm ging es nicht gut, wenn es Schuldig nicht gut ging.

Eine sich in den Schwanz beißende Katze.

Aya ließ sich zur Seite fallen, direkt auf Schuldigs Schoß und sah zu ihm hoch, zog wortlos an einer Strähne.

„Kannst du ihn einfach so hinter dir lassen?“
 

„Man kann nicht alles im Leben haben. Und manchmal, wenn man das eine gewinnt, muss man auf das andere verzichten oder man verliert vielleicht durch Gier beides.“

Schuldigs Blick ruhte auf Rans Gesicht, als er seine Hand an Rans Wange führte und seine Daumen über die weiche Haut streichelte.

Schuldig wusste nicht, wie das gehen sollte… wenn er Brad ebenso stark in sein Herz ließ, wie Ran dort herrschte. Er konnte doch nicht Ran mit lediglich der Hälfte lieben, weil die andere Hälfte Brad in Beschlag nahm, oder?

Oder ging das? Beide mit der gleichen intensiven Kraft zu lieben? Schaffte er das?

Schuldig zweifelte daran.
 

Durch Gier beides zu verlieren…wenn Schuldig sie beide wollte und sie sich irgendwann gegenseitig umbrachten, weil sie den Kampf um den anderen Mann nicht ertrugen.

Eine durchaus wahrscheinliche Möglichkeit, wie Aya befand, denn wenn Crawford sich so verhielt, wie er es schon immer getan hatte, würde er ihn irgendwann umbringen.

„Mich verlierst du nicht.“ Nie.
 

„Du weißt, so gut wie ich, dass wir nicht immer Einfluss darauf haben was wir verlieren.“

Schuldigs Stimme war derart tonlos, dass das letzte Wort nur mehr heißer aus seiner Kehle verbalisiert wurde.

Er beugte sich hinab und berührte die weichen Lippen mit seinen, leckte mit der Zungenspitze begrüßend über die feuchtwarme Textur zwischen den Lippen.

„Ich habe Angst, alles zu zerstören“, wisperte er wie jemand, der eine große Katastrophe prophezeite. Unheilvoll und bestimmt.
 

„Du wirst nichts zerstören, gar nichts. Dafür hängen wir zu sehr aneinander.“

Optimistische Worte, wirklich optimistisch dafür, dass er die Zukunft nicht kannte, dass er nicht abschätzen konnte, wie es in einem Jahr zwischen ihnen aussah.

Ayas Finger strichen über Schuldigs Lippen und ein kurzes Lächeln erschien auf den Seinen.
 

„Den letzten Satz habe ich schon einmal gehört“, lächelte Schuldig unter den ihn berührenden Fingern.

„Ich will ganz dir gehören, Ran. Ich habe keine Ahnung wie es ist …sich auf ihn einzulassen. Er ist … wie dunkler Nebel. Ich weiß noch nicht einmal, wo er geboren wurde, oder aus welchen Verhältnissen er kommt. Die paar Mal, in denen ich Zugang zu seinen Gedanken hatte …konnte ich nichts lesen. Nichts, was ihn für mich transparenter machte.“

Er setzte sich wieder auf, lehnte sich an die Wand an und verwob seinen Blick mit Rans. „Keine Erinnerungen an Familie. Keine Gedanken an Kindheit. Nichts.“
 

„Frag ihn nach seiner Vergangenheit“, erwiderte Aya schlicht. „Ihr seid Arbeitskollegen, Freunde vielleicht. Wieso sollte er es dir nicht sagen?“ Weil Crawford ein kalter Mensch war, der nicht an der Vergangenheit hing.

Falsch.

Sonst hätte er sich keine Filme über Schuldig angesehen, über dessen Vergangenheit.

Ayas linke Hand zog den Bären zu sich auf den Bauch, betrachtete sich das Stofftier. Er hatte es nicht weggeworfen.
 

„Bei ihm… ist das nicht so einfach. Er …zieht die Schotten hoch und er ist so geschickt im Ausweichen, dass es gar nicht wie ein Ausweichen rüberkommt. Er spricht nur mit uns, wenn es um den Job geht und auch wenn es vielleicht ein wenig um andere private Dinge geht, kommen wir trotzdem immer wieder auf den Job.“
 

„Und ihr beharrt nicht auf seinem Privatleben…“

Aya wusste, dass er Crawford sein Privatleben gelassen hätte, denn er war genauso. Erst durch den unermüdlichen Einsatz seines Teams…ehemaligen Teams…hatte er sich geöffnet – nach zwei Jahren Kälte, in denen er geglaubt hatte, sein Team endlich vergrault zu haben.

Doch weit gefehlt.

„Vielleicht habt ihr noch nicht den richtigen Weg gefunden, ihn zu knacken.“
 

„Wenn er es nicht erzählen möchte, dann ist das seine Sache. Wir sind alles so, Ran. Das verbindet uns. Keiner weiß vom anderen mehr, als er mit ihm erlebt und wir akzeptieren jeden vorbehaltlos, denn die Vergangenheit war für jeden von uns schmerzhaft und wir haben ein neues Leben als Schwarz begonnen.“
 

„Dennoch ist dir seine Vergangenheit wichtig, obwohl ihr ein neues Leben begonnen habt. Dir macht es etwas aus, seine Vergangenheit nicht zu kennen, weil du dadurch IHN selbst nicht kennst.“

Aya lächelte traurig. Eine Zwickmühle war es und es spiegelte das wieder, was sich durch Schuldigs und Crawfords gesamte Freundschaft zog.
 

„Mir macht es erst etwas aus, Ran seit ich dich kenne. Seit ich erfahren habe, dass ich vergessen hatte, dass er mir mit Kitamura sehr nahe stand. Auf die eine oder andere Weise. Erst seither will ich mehr wissen. Erst seit ich mich erinnert habe.“
 

„Ist das auch meine Schuld?“, fragte Aya mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln. Crawford hatte ihm einen ähnlichen Vorwurf gemacht. War er es also schuld, dass Kitamura auch nach seinem Tod diese Probleme mit sich brachte? Nur weil Schuldig er und miteinander geschlafen hatten? War es wirklich so?
 

„Schuld? Weshalb Schuld?“, hakte Schuldig nach. „Hat das etwas mit Schuld zu tun?“ So ganz verstand er Rans Frage nicht.

„Es war einfach der Zeitpunkt an dem es mich anfing zu interessieren. Das ist alles.“
 

„Crawford hat mir die Schuld gegeben, dass du dich erinnert hast, deswegen Schuld“, erwiderte Aya auf Schuldigs Frage. Ob es etwas mit Schuld zu tun hatte, fragte auch er sich und er wusste es nicht. Er hatte es nie als seine Schuld empfunden, sondern als Zufall, einen schlimmen Zufall.

„Was würdest du jetzt tun um mehr über ihn zu erfahren, wenn er dir nichts erzählt?“
 

„Was ich tun würde?“

Schuldig grübelte über die Satzstellung. „Das heißt, was ich tun würde, wenn ich nicht beschlossen hätte es zu lassen? Würdest du etwas aus mir herauszwingen wollen, wenn ich dir nichts freiwillig erzählen wollte?“
 

„Nein.“

Doch.

Nicht direkt herauszwingen, sagte sich Aya, aber solange bohren, bis der andere Mann seinen Mund aufmachte, denn das war etwas, in dem er mit Crawford übereinstimmte. Schuldig musste schließlich über die Dinge in China sprechen.

„Er ist ein Arsch“, sagte Aya aus dem Kontext gegriffen, aber mit Inbrunst, eben weil er es gerade sagen wollte…und musste.
 

Schuldig lachte. „Ja das ist er. Du bist ein Sturkopf und ich bin ein Vollidiot. Findest du nicht, dass das gut passt?“ Seine Finger fanden Rans Seiten und pieksten ein paar Mal kitzelnderweise hinein um durch ein paar Zuckungen entlohnt zu werden.
 

Und siehe da, Schuldig hatte Erfolg mit seinem Vorhaben, wenn auch nicht die volle Durchschlagskraft, die solche Attacken schon einmal besessen hatten. Dennoch wand sich Aya auf dem Schoß des anderen und griff wie immer verzweifelt und nutzlos nach den Händen des Telepathen um sie aufzuhalten.

„Nein! Das…ist…“, er rollte sich auf eine der Hände und setzte sie eisern fest. „…keine gute Kombination! Ich will nur den Vollidioten!“
 

Doch Schuldig hörte sogleich auf mit seiner Kitzelfolter. Er war zu müde für diese Art der Unterhaltung. „Hey… komm wir legen uns etwas hin, ich bin fertig.“ Fertig für heute, fügte er in Gedanken an und hing halb liegend halb sitzend da, mit einer Hand unter Rans Seite begraben.
 

Dass Schuldig fertig war, sah man ihm an…Aya sah es, denn die unnatürliche Blässe, die sich unter der Schicht geröteter Wangen verteilte, war Indikator genug für Schuldigs Zustand.

Auch für seine emotionale Erschöpfung.

Aya rollte sich zur Seite und ließ sich auf der Futonkante nieder.

„Du wirst dich schön hier hinlegen und ich werde im Nebenzimmer schlafen. Schließlich brauchst du den Platz zum Ruhen. Morgen sehen wir dann weiter.“
 

Es dauerte etwas bis Schuldig die Decke unter sich hervorgezogen bekam. Er rollte sich ein und zog die Decke zurecht. „Bleibst du hier, bis ich eingeschlafen bin?“, fragte er bis zum Kinn zugedeckt. „Du bekommst auch ein Stück Decke ab.“
 

Aya nickte lächelnd und nahm das dargebotene Stück Decke an. Er blieb bei Schuldig, bis dieser tief und fest schlummerte, jedoch unruhig war wie oft in der letzten Zeit. Seine Finger strichen durch das feine Haar, nur leicht nur um Schuldig nicht aufzuwecken und dem anderen Mann nicht den wohlverdienten Schlaf zu rauben. Er selbst zog seine Ruhe daraus, Schuldig dabei zuzusehen, wie er sich ihm anvertraute und sich langsam erholte, bevor er schließlich in das andere Zimmer ging, das eben so karg eingerichtet war wie dieses. Noch karger, als es die japanische Lebensart eigentlich vorlebte.

Doch die Lampe aus gelbem Reispapier warf ein gemütliches Licht in den Raum hinein, in dem Aya schließlich einschlief, fest in die Decke gemummelt und die Beine weit von sich gestreckt.
 

o~
 

Der Radiosprecher kündete den nächsten Song an und Brad warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr. Es war neun Uhr morgens und Nagi längst aus dem Haus. Er wollte erst abends wiederkommen, hatte aber vor, sich stündlich per Sms zu melden.

Er wollte endlich seinen Abschluss durchziehen und nicht wie von Brad vorgeschlagen die Universität wechseln. Deshalb würde er eher selten hier zu ihnen kommen. Was das Risiko eher erhöhte von diesen Bastarden geschnappt zu werden. Sie hatten heute Morgen eine Diskussion darüber gehabt aber Nagi hatte sich durchgesetzt. Vermutlich lag es daran, dass Brad nicht wirklich bei der Sache gewesen war.

Nagi konnte auf sich selbst achten, aber Ran hatte dies damals auch gekonnt und war trotzdem überfallen worden.

Er hatte es satt, dass er ständig die Unis wechseln musste nur damit er erneut eine neue Identität annehmen konnte. Er wollte diesen verdammten Abschluss.
 

Brad machte gerade Frühstück und spürte wie etwas weiches um seine Beine strich, nach aufmerksamkeit rang.
 

Das Weiche war nicht Aya, auch wenn Banshee die Vorbotin des rothaarigen Japaners war, der nun frisch aus dem Bett mit durchwühlten Haaren in die Küche schlich, der festen Meinung, dass sie zu diesem Zeitpunkt mittlerweile verwaist sein müsste. Er hatte nach dem Aufwachen ausgiebig mit seiner kleinen Verräterin geschmust, die ihn schier nicht mehr alleine lassen konnte und immerzu raufen wollte.

Eine positive Erfahrung…dass er Crawford hier antraf, jedoch weniger.

Schweigend ging Aya an Crawford vorbei zur Kaffeemaschine und begann, in den Schränken nach einer Tasse zu suchen.
 

Während sich Schuldig noch unruhig im Bett herumwälzte, noch nicht sicher, ob er tatsächlich aufstehen wollte, wurde ein Stockwerk weiter unter das harmonische Frühstück eingeläutet.

Der Telepath räusperte sich und hustete geplagt auf. Sein Hals war trocken und rau und …er schmerzte.

Dabei hatte er gedacht, dass seine Grippe vorbei wäre. Setzte es jetzt noch eine Erkältung obenauf?

Er ringelte sich wieder in seine Decke ein und zog die Nase hoch.
 

„Hast du schon nach ihm gesehen?“

Brad drehte den Schinken in der Pfanne um, den er gerade anbriet und holte Eier aus dem Kühlschrank.

Scheinbar war Ran noch bettwarm, so wie er sich hier präsentierte im Out-of-Bed-Look.
 

„Ich brauche erst meinen Kaffee.“

Außerdem wollte sich Aya beweisen, dass er auch einen Moment lang ohne Schuldig konnte, dass er sich nicht ständig versichern musste, dass der andere Mann noch da war.

Außerdem konnte Schuldig seinen Schlaf gut gebrauchen, er musste sich ausruhen und zu Kräften kommen. Das ging nicht, wenn er ihn störte, besonders morgens, wo Schuldigs Schlaf leicht war.

Die Tasse Kaffee endlich vor sich, zog Aya das Haargummi aus seinen Haaren und löste sie, flocht sie dann neu. Zu lang.

Aber Schuldig liebte diese Länge.

Aya besah sich kritisch die roten Zotteln. Manchmal hatte er seinen Frieden mit ihnen geschlossen, manchmal verfluchte er sie aber auch; je nachdem, wo er sich gerade verfangen hatte oder wie lange Schuldig ihm die Wohltat einer Kopfhautmassage samt Ausbürsten zukommen ließ.
 

„Er ist krank“, sagte Brad und holte den angebratenen Schinken aus der Pfanne, bevor er die Eier dort hinein aufschlug. „Ich denke nicht, dass er aufstehen wir…“

Er zuckte zusammen und seine Hand die eines der Eier aus der Schüssel aufgenommen hatten zerquetschte selbiges, als er erneut eine Vision hatte. Die zweite heute morgen schon, doch wie stets schob sich ein Schuss, ein paar Augen und der Tod von Schuldig dazwischen. Als er die Augen aufschlug, stand er noch immer da mit dem Ei, welches durch seine Finger ran und keuchte. Er brauchte ein paar Momente bevor er den Blick überhaupt auf seine Finger festigen konnte und begreifen konnte, dass Schuldig lebte und dass es wieder einmal eine falsche Vision war und nicht tatsächlich die Zukunft.
 

Aya hatte das Ganze mit wachsamen Augen verfolgt und sich seinen Reim darauf gemacht. Crawford hatte ihm erzählt, was er sah…was er nicht sah, nicht mehr sehen konnte.

„Er lebt“, sagte er schlicht und verschränkte seine Arme. „Sollte es nicht besser werden?“
 

Brad kam sich vor, als wäre er behindert. Ein verhinderter oder behinderter Hellseher. Oder ein bestrafter Hellseher.

„Ja, sollte es“, antwortete er verzögert. Es sollte, wurde aber nicht.

Die Pfanne brutzelte und es wurde Zeit für die Eier, wie er feststellte nach einem Seitenblick auf das Geräusch. So wusch er sich immer noch etwas fahrig die Finger ab und fischte die noch ganzen Eier aus der Schüssel um sie in der Pfanne zu zerschlagen. Die Eierschalen landeten in der Schüssel wo noch immer das zerbrochene Ei lag.

Er war nach dieser Vision immer halb gelähmt, unfähig sich zu konzentrieren, doch langsam gewöhnte er sich an das Danach und konnte es kompensieren, überspielen.
 

Crawford litt, was ihn wiederum menschlich machte.

Genau das machte es Aya schwer, dem anderen Mann mit der gleichen Abneigung wie früher zu begegnen, mit diesem feurigen Hass, der ein solcher Balsam für seine Seele war.

Aya nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und sein Blick glitt zu Banshee, die zu Crawford hinaufstarrte und leise maunzte, sich dann wieder an ihn schmiegte.

Sie spürte es auch.

„Schuldig wird sich über die Eier freuen.“
 

„Ja, wird er“, gab Brad einsilbig und automatisch zurück, wie in Trance benutzte er dieselben Wörter die er hörte und die ihn erreichten.

Sein unfokussierter Blick lag auf den Spiegeleiern, die langsam an Konsistenz gewannen und bereit für die Würzung waren. Ein Vorgang, den er auch automatisch ausführte.
 

Mehr als alles andere machte Aya diese bereitwillige Zustimmung misstrauisch. Crawford war nicht bei ihm, er war völlig in Trance, tat alles, was er machte, in einer Art Tagtraum gefangen.

So nahm Aya dem anderen die Pfanne weg und stellte sie ab, schob Crawford zur Seite, die Hand eine feste Konstante auf dem Oberarm des Amerikaners.

„Komm zu dir“, drang Ayas Stimme scharf zu Crawford, scharf und gebietend.
 

"Es geht schon, lass mich", gab Brad darauf hin ruppig zurück. Zumindest war das der Plan - der zugegeben automatisiert umgesetzte Plan, wenn Ran ihm gegenübertrat. Dieses Mal jedoch fehlte dem üblichen Tonfall alles an sonstiger Schärfe. Es klang einfach nur müde, tonlos und weit weg.
 

Es war oft so, dass er alleine war, wenn die Visionen kamen, oder er separierte sich von anderen und saß die Nebenwirkungen einfach aus. Nagi und Jei dachten sich nichts dabei.
 

Nur...das Problem hierbei war…Ran wusste von der Tatsache, dass er keine Visionen empfangen konnte, dass er lediglich ständig Schuldigs vermeintliches Ableben vor Augen geführt bekam.
 

Ein Fakt, der es sehr schwer machte sich abzusondern oder es unbemerkt vorübergehen zu lassen.
 

"Erzähl ihm nichts davon." Brad hob seine Hand und fasste an Rans Arm, drückte seine Fingerkuppen hinein. "Hast du mich verstanden? Du erzählst gerne viel, aber das nicht", bestimmte er und sah dem anderen fest in die Augen, auch wenn sein Blick noch etwas verschwommen war. "Du hast nicht das Recht, ihm das zu sagen."
 

„Du hast nicht das Recht, mir Befehle zu erteilen“, gab Aya zurück und zog seinen Arm zu sich, aus Crawfords Griff heraus. Sein Blick war dunkel, jedoch nicht ganz so voller Abneigung, wie er es gerne gehabt hätte.

„Aber ich werde ihm nichts sagen“, gestand er Crawford schließlich zu. Nein, das war wirklich Crawfords Sache, Schuldig zu sagen, was mit ihm nicht stimmte. „Du vermutlich auch nicht.“
 

„Was nicht sagen?“ schlich sich da die gemeine Stimme zwischen die beiden Keifhähne, die ruhig, aber mit etwas schlafesmüder Tonlage wissen wollte, was hier gespielt wurde. Schuldig stand im Eingang der Küche, hatte seine Arme verschränkt und sah sich die beiden an. Ran im Yukata mit augenscheinlich frisch geflochtenem Zopf und Brad am Herd und sie standen sich sehr nahe, es hatte so ausgesehen als hätten sie zuvor gerangelt.
 

Brads Blick ging nicht ganz zu ihm, er wandte nur den Kopf leicht aber seine Augen fanden Schuldigs nicht.
 

Denn Brad wusste, wenn er Schuldig jetzt in die Augen blickte dann würde dieser Lunte riechen. Die Frage stellte sich jedoch jetzt ohnehin schon…
 

Aya drehte sich abrupt um und sah Schuldig im Türrahmen stehen. Sie sollten wirklich besser aufpassen, was sie sagten…

Er lächelte leicht, eingedenk ihres gestrigen Gespräches.

„Frage das nicht mich, Schuldig.“ Crawford wollte nicht, dass er ihr kleines Geheimnis weitergab, Schuldig wollte nicht, dass er ein guter Samariter war. Aya war erleichtert in diesem Moment.
 

Brad sah zu Schuldig auf, fixierte dessen Blick. „Ich habe starke Kopfschmerzen von Zeit zu Zeit, seitdem du die Verbindung gelöst hast, das ist alles.“ Schuldig kannte seine Abneigung gegenüber, ihnen seine Wehwehchen breit zu treten.
 

Und tatsächlich Schuldig rollte mit den Augen und seufzte. „Das lässt sich doch beheben. Ich wollte mir das ohnehin noch ansehen“, sagte er leise und ein wenig schuldbewusst. Sie waren einfach in den Urlaub gefahren ohne ... wobei …er hätte nichts viel tun können mit seinen reduzierten Fähigkeiten. Jetzt ging es mit Sicherheit besser.
 

„Es geht schon. Stelle sicher, dass deine Fähigkeiten auf einem hohen Level sind, bevor du in einen Geist eingreifst. Solange begnüge ich mich mit Schmerztabletten.“ Damit war das Thema für Brad erledigt und er wandte sich wieder dem Frühstück zu, das er vorbereiten wollte.
 

Schuldig hatte auch schon in seinen Geist eingegriffen, dachte Aya, doch er sagte nichts. Es war besser so.

Lieber trat er auf Schuldig zu und strich dem anderen eine Strähne aus dem Gesicht. Er sah wieder schlimm aus, krank und blass…als würde sich eine neue Grippe einschleichen.

„Du solltest lieber wieder ins Bett“, murmelte Aya besorgt.
 

„Ich kann nicht mehr schlafen. Außerdem brauche ich etwas zum Essen.“ Gelogen. Aalglatt.

„Kannst du mir auch ein paar Eier reinhauen?“, fragte Schuldig an Brad gerichtet, dieser nickte und machte sich wieder ans Werk.

Er grübelte darüber nach, wie er Brad helfen konnte. Es war durchaus möglich, dass er in Materie eingreifen musste um Brads Kopfschmerzen zu beseitigen. Und das stellte ein höheres Level dar, als wenn er Rans Gedanken sortierte und dessen Geist zu sich leitete.
 

„Willst du einen Tee?“, fragte Aya und betrachtete sich das nachdenkliche Gesicht, welches auf Crawford ruhte. Niemand konnte ihm sagen, dass da nichts zwischen den beiden schwebte. Es musste nicht unbedingt Liebe sein, aber etwas, das über Kollegialität hinausging.
 

„Ja, wäre wohl nicht schlecht, mein Hals ist ganz ausgetrocknet.“

Schuldig gab Ran einen Kuss auf die Stirn, als er an ihm vorbeiging zum Wasserkocher und diesen mit Wasser füllte. Sie hatten ja noch den Tee aus dem Dorf, den sie mitgenommen hatten.

„Sind die anderen beiden ausgeflogen?“

Schuldig fühlte sich unwohl in Brads Nähe. Er wusste nicht, wie er mit all dem umgehen sollte. Mit Brad …Ran und ihm in einem Raum.
 

„Jei ist oben. Und Nagi kommt erst gegen Abend wieder. Er ist in der Uni.“

Brad hatte die fertigen Spiegeleier herausgenommen und schlug noch einmal zwei auf.
 

„Er geht noch zur Uni? Glaubt er nicht daran, dass es zu gefährlich sein könnte?“ Schuldig hielt inne.
 

„Die Diskussion hatte ich heute Morgen schon mit ihm. Er hat gereizt reagiert. Du weißt, wie er ist wenn er …gereizt reagiert.“ Er konnte da schon passieren, dass Brad dann eine kurze Flugstunde durchs Zimmer nahm. Allerdings war das die letzten Jahre nicht mehr vorgekommen.
 

Schuldig blickte zu Ran und zuckte mit den Schultern. Seine Stirn war in Sorgenfalten gelegt.
 

Nein, das alles war nicht spurlos an Schwarz vorbeigegangen…das wusste Aya, dazu brauchte er sich Crawford noch nicht einmal anzuschauen.

„Ich hole eben den Tee“, meldete sich Aya ab und verschwand wieder in das obere Stockwerk, suchte dort sehr langsam nach besagtem Tee. Jeder von ihnen suchte ein Stück Normalität, an das er sich klammern konnte. Nagi ging weiter zur Universität, Crawford machte Frühstück…Jei würde wie immer ihre Gefühle beobachten oder gar nicht an ihrem Leben teilnehmen.

Schwarz war genauso wenig bereit aufzubrechen und loszulassen, wie Weiß und vor allen Dingen er selbst es nicht waren.

Mit dem Tee in der Hand kam Aya wieder nach unten und füllte ihn in eine Tasse, wartete auf das heiße Wasser. Dabei stand er zwischen den beiden Männern, die schweigend ihre Tätigkeiten verrichteten.
 

Schuldig brachte ihre Teller zum Tisch und begann den Toaster zu bestücken. Im Radio kam angenehme Musik und er setzte sich.

„Wäre es dir lieber, dass Nagi nicht mehr hier her kommt, solange er studiert?“
 

Brad holte sich noch eine Tasse Kaffe und kam auch an den Tisch, setzte sich jedoch noch nicht, sondern betrachtete sich Schuldig, wie er dort abwartend saß und auf seinen Toast wartete. „Besser wäre es. Wenn ihm jemand folgt finden sie uns hier.“ Vermutlich würden sie das über kurz oder lang ohnehin tun.
 

Es wäre besser, wenn sie außer Landes gingen, überlegte Aya stumm, während er sich ebenso an den Tisch setzte, sich zunächst aber an seinen Kaffee hielt.

Komisch, dass ihm ausgerechnet heute danach war, denn sonst trank er lieber Tee.

Es war auch für Weiß besser, wenn sie untertauchten und den Blumenladen aufgaben, doch Aya konnte sich schon fast denken, dass Manx die Einheit zwang, bis zum Letzten zu bleiben…oder sie war sich der Gefahr gar nicht so bewusst.
 

„Es sind noch ein paar Monate bis zu Nagis Abschluss. Es reichen allerdings Tage um uns ausfindig zu machen. Und da wir immer noch nicht wissen wer diese Gruppe ist, können wir uns nicht nach allen Seiten absichern. Denk an die Batim-Gruppe. Sie hatten zwar keine Chance aber sie kamen aus dem Nichts.“

Brad nahm sich eines der Brötchen und pflückte sich ein Stück ab.
 

Schuldig erinnerte sich an Batim. Eine Splittergruppe von SZ, die ihnen kurz nach dem Fall von SZ auf den Fersen war. „Ja, aber Batim waren keine PSI Akteure“, hielt er gegen Brad.

„Sie waren lediglich gut vorbereitet…“

Und da war der Haken.

Er versank ins Grübeln.
 

„Genau. Sie waren gut vorbereitet. Das alleine reicht um einen Vorteil zu ziehen, der uns ausschaltet“, sagte Brad und begann sein Ei zu zerteilen.
 

Aya zog es vor zu schweigen und so etwas mehr über die beiden zu lernen…und über die momentane Situation, in der sie steckten. Seine Finger spielten mit dem schmucklosen Henkel der Tasse. Gut vorbereitet war diese Gruppe, das konnte man ihnen in der Tat nicht absprechen. Wenn es Weiß nur einmal gelungen wäre, so nah an Schwarz heranzukommen, damals…doch es war nicht der Fall gewesen und heute war er froh darum.

Schließlich angelte sich Aya eine Scheibe Toast heran und fing an, sie zu belegen.

„Wie habt ihr diese Gruppe dann vernichtet?“
 

„Wir haben sie gejagt, nachdem einer von ihnen den Fehler gemacht hatte, in unsere Hände zu fallen.“ Schuldig hustete und verzog das Gesicht da sein Hals grausig wehtat.
 

Aya verzog die Lippen zu einem kurzen, freudlosen Lächeln.

„Wie lange hat er überlebt?“
 

„Länger als die anderen.“

Schuldig fischte sich einen Toast heran und bestrich ihn mit Butter, sah danach Ran mit undurchdringlichem Blick für einen Moment an, bevor er eine Ecke des Toastes in seinem Spiegelei versenkte.

eye-catcher I

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

eye-catcher II

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

A Red Kiss For A Red Boy

~ A Red Kiss For A Red Boy ~
 


 

o~
 

Es war eine mühsame Angelegenheit gewesen, das konnte Aya nur bestätigen, als sie in dem nach völlig neuem Leder riechendem Geländewagen saßen, der um ein Vielfaches größer war, als sein alter Porsche.

Aya… gefiel er. Einigermaßen. Es war ein Auto und es fuhr.

Doch alleine Schuldigs Augen, als er den Wagen gesehen hatte, waren den Kauf wert gewesen. Was Aya nämlich nicht vergessen durfte, war, dass auch Schuldigs einiges aufgab um sicher zu sein, um sich abzusichern.

Aya ließ sich Zeit, sich an den Wagen zu gewöhnen und beobachtete Schuldig am Steuer, wie er nun anhielt.

Sein Blick glitt das große Hochhaus hinauf, das inmitten von Tokyo stand. Sie würden hier eine Wohnung besichtigen, damit sie sich ein neues Domizil schaffen konnten und nicht mehr auf Crawford angewiesen waren.

Es wurde mittlerweile schwer, in das neue Haus des Amerikaners zurück zu kehren, spürte Aya doch die gereizte Stimmung, die zwischen ihnen schwelte und ausbrechen würde. Dazu kam noch die Spannung zwischen Schuldig und Crawford.

Aya selbst wollte Ruhe und Normalität.

„Wie weit oben ist das Apartment?“, fragte er und runzelte die Stirn.
 

„Weit oben“, gab Schuldig kryptisch zurück. Er parkte den Wagen in dem zugehörigen Parkhaus, welches neben dem Gebäude stand und sie gingen hinüber zur Eingangshalle, in dessen Foyer sie der Makler erwartete.

„Turner“, stellte sich Schuldig vor.
 

Aya sah, dass dieser Gebäudekomplex weit luxuriöser war als der, in dem Schuldig vorher gewohnt hatte. Schwarzer und weißer Marmor begrüßte sie, war mit Tropenholz und Glas das Gerüst für das luxuriöse Gebäude. Geld schwitzte hier aus allen Poren.

„Willkommen, Turner-san, Makino mein Name“, verbeugte sich der Makler höflich und wandte sich an Aya. Er erwiderte die Geste des Mannes.

„Takahashi“, verbeugte auch Aya sich und lächelte, ein höfliches, nichts sagendes Lächeln, ebenso wie das des Maklers.

„Meine Herren, wollen wir uns das Apartment anschauen? Wie Sie sehen, spricht ja alleine schon die exklusive Eingangshalle des Komplexes für sich und für den Luxus, den Sie hier genießen werden.“

Wenn Makino-san die Tatsache verwirrte, dass hier zwei Männer auf Wohnungssuche waren, so zeigte er es nicht. Aya nahm an, dass es in der gehobenen Preisklasse dazu gehörte, sich Abneigung oder Bestürzung nicht anmerken zu lassen.
 

Schuldig fragte sich gerade in diesem Moment und in vielen weiteren Momenten, als sie dem Makler hinauf in die oberste Etage folgten - inklusive eines informativen Monologes - ob es klug war, eine Wohnung in dieser Preisklasse näher ins Auge zu fassen. Das war nicht gerade DAS, was er sich unter ‚Ich verschwinde in den Untergrund’ vorstellte. Wie unauffällig war man in der kleinen Menge an Menschen, die diese Art Luxus besaßen? Vor allem, wie viele männliche Pärchen gab es in ihrer Konstellation?

Er fiel ohnehin bereits auf wie ein bunter Hund. Groß und rothaarig und männlich. Davon abgesehen dass er himmlisch gut aussah…

Und dann noch zusammen mit diesem…ebenfalls rothaarigen Japaner, ebenfalls lange Haare und so attraktiv, dass ihm die Frauen hinterher glotzten.

Und nicht nur die.
 

Aya bemerkte später als der Makler, dass Schuldigs Aufmerksamkeit nicht ganz auf der momentanen Situation lag, sondern auf anderen Dingen. So wurde er Opfer der exzessiven Beschreibungen der Lage, der Schönheit, der Eleganz und anderen tollen Dingen des Apartments, das doch so groß war, soviel Platz und soviel Luxus bot…

Aya hatte das Gefühl, dass seine Ohren qualmten und überlegte sich ernsthaft, Makino-san zu eröffnen, dass er nicht derjenige mit dem Geld war.

Doch das würde er nicht, dafür hatte er selbst zu viel daran zu knacksen, dass er wieder keinen großen Teil dazu beileisten können würde.

Sie traten aus dem Aufzug in die oberste Etage und Aya konnte sich ein kurzes Stirnrunzeln nicht verkneifen, als er durch eine ungünstige Bewegung das Ziehen in seinem Hinterteil etwas mehr spürte. Schuldig war wieder sehr… enthusiastisch gewesen.

„Und hier wären wir, in unserem Glanzstück“, öffnete Makino-san die Tür und gab Aya einen Blick auf… Weite. Nichts als Weite.
 

Nichts als Leere, die man einrichten musste. Schuldig sah sich schon in Katalogen blättern und Möbelhäuser abklappern. Eine für ihn gruselige Vorstellung.

Er stellte einige belanglose Fragen um Makino zumindest etwas Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, interessierte sich aber nicht wirklich für die ausführlichen und motiviert vorgetragenen Antworten. Als wäre sein Mundwerk und ein kleiner geschäftlicher Teil seines Gehirns abgekapselt und in Makinos Welt, während der andere Teil seines Gehirns sich mit anderen Fragen beschäftigte. Der Sicherheit beispielsweise.

Er durchmaß langsam den Raum um zur anderen Seite zu gehen und den gigantischen Ausblick zu genießen. Schön, teuer, aber sehr risikoreich.

Er konnte es nicht genau an einem Punkt festmachen, aber ihm behagte diese Umgebung nicht. Das Parkhaus auf der anderen Seite. Zu wenige Ausgänge.
 

„…also die perfekte Anschaffung für Sie beide!“, beendete Makino seinen Beinahe-Monolog und lächelte beiden zu.

Für Aya war es die perfekte Anschaffung, wenn sie nicht darauf aus gewesen wären, sich abzusichern. Seine Gedanken verliefen in ähnlichen Bahnen wie Schuldigs, wenngleich ihn immer wieder der Ausblick faszinierte, der sich hier bot.

Doch was nutzte ihnen der Ausblick, wenn sie angegriffen und getötet wurden?

„Was meinen Sie, Turner-san?“, behielt er die förmliche Ebene bei.
 

„Die Aussicht ist phänomenal, allerdings finde ich sie etwas ungenügend, was die Aufteilung und unsere Ansprüche angeht. Im Übrigen hätte ich mir eine zweite Panoramawand gewünscht. Was meinen Sie dazu?“, wandte er sich zu Ran halb um, noch immer die Aussicht ins Hauptaugenmerk gefasst.
 

„Die zweite Panoramawand ist wichtig, das stimmt. Das ist ein sehr großes Manko.“ Aya tat der arme Makler jetzt schon leid, der immer noch höflich lächelte, aber schon wusste, dass er verloren und seine kostbare Zeit umsonst geopfert hatte.

„Das ist wirklich sehr bedauerlich und tut mir außerordentlich leid. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen jedoch auch noch andere Objekte anbieten, die vielleicht eher Ihrer Zufriedenheit entsprächen“, erwiderte Makino-san und Aya runzelte die Stirn. Das Angebot war sicherlich verlockend, aber auch gefährlich, wenn sie mit ein- und derselben Person suchten.
 

„Vielen Dank, Makino-san. Wir haben bereits zwei Objekte in die engere Auswahl gezogen, suchten jedoch noch eines im Zentrum.“ Somit hatten sie die Sache erledigt und konnten hier abhauen. Schuldig gefiel die Wohnung nicht wirklich. Warum das so war, ließ sich von seiner Seite her nicht feststellen.
 

Der Makler begleitete sie nach unten und sie verabschiedeten sich. Gemütlich schlenderten sie wieder zum Wagen zurück.
 

„Am Sichersten wären wir im Ausland.“

Aya besah sich die Umgebung… teuer, exklusiv und zu auffällig. Außerdem zu staureich, wenn sie schnell fliehen mussten. Ja, diese Wohnung wäre eine sehr schlechte Wahl gewesen. „Deutschland vielleicht.“ Er lachte. „Woher aus Deutschland kommst du eigentlich?“ Eine Frage, die er Schuldig noch nie gestellt hatte, wie ihm jetzt auffiel.

Er kannte sich ein wenig aus – war er doch in der Schule mit deutschen Bundesländern gequält worden. Alleine die Namen waren unaussprechlich und eine Qual.
 

„Westen, Grenze zu Frankreich“, murmelte Schuldig abwesend. Es interessierte ihn nur marginal, woher er kam. Wichtig für sie war eher, wohin sie nun gehen sollten.

„Die nächsten zwei Termine haben wir morgen. Wann musst du eigentlich im ‚Laugh’ wieder anfangen? In den nächsten Tagen?“
 

„Am Montag, ja.“ Sie hatten jetzt Mittwoch, also noch etwas Zeit um sich eine Wohnung zu suchen. Dann würde er den größten Teil der Zeit im ‚Laugh’ verbringen und nicht bei Schuldig – auch eine Situation, an die er sich gewöhnen musste, da er trotz allem Schuldig nicht gerne alleine ließ.

Allerdings wusste Aya selbst, dass das irgendwann einmal aufhören musste. Schuldig war erwachsen und konnte auf sich aufpassen – das feite ihn jedoch nicht davor, gefangen genommen und gefoltert zu werden. Wirklich nicht.

„Kennst du die Besitzer auch?“
 

Sie waren im Parkhaus angekommen, bezahlten das Ticket und gingen hinauf zu ihrem nagelneuen Wagen. Er roch so schön neu, schwärmte Schuldig insgeheim.

„Nein, Brad hat mal was erwähnt. Aber ich war nie dort.“ Schließlich war sein Lieblingsvergnügungsetablissement das ‚Blind Kiss’.

Jedem das Seine.

Schuldig konnte sich Brad im ‚Blind Kiss’ nur sehr schlecht vorstellen. Vielleicht eher als Besitzer Schrägstrich Manager.

„Ich kann dich aber bestimmt ein- oder zweimal besuchen kommen. Das ließe sich sicher einrichten“, lächelte er hintergründig zu Ran hinüber.
 

Und traf auf ein dunkles Lächeln. „Wieso habe ich das Gefühl, dass es mehr als ein- oder zweimal sein wird?“, fragte Aya und runzelte spielerisch die Stirn. Denn so sehr er an Schuldig hing, so sehr hing der andere auch an ihm und Aya wusste nicht, wie Schuldig es ‚verkraften’ würde, wenn er den Großteil des Tages nicht da war.

Sie stiegen in den Geländewagen und Aya musste wieder an seinen… ehemalig seinen… Porsche denken. Schlecht war dieser Wagen sicherlich nicht.
 

„Nein…“ Schuldig ließ den Motor an und parkte aus. „… das kann ich dir schwören, mehr als ein- oder zwei mal am Tag werde ich dort bestimmt nicht aufkreuzen“, meinte er betont harmlos und als er sich wieder zurück zu Ran wandte streckte er ihm ganz unerwachsen die Zungenspitze heraus.
 

Das wiederum nötigte Aya ein Augenbrauenhochziehen der Sonderklasse ab.

„Ich dachte es mir“, grollte er und schnappte nach Schuldigs vorwitziger Zunge, hielt das feuchte, fleischige Stück zwischen dem Daumen und Zeigefinger fest.

„So mein Lieber… wem streckst du nun deine Zunge heraus?“
 

„Ran… das schickt sich nicht für einen Japaner in der Öffentlichkeit. Denk daran!“, nuschelte Schuldig und zeigte auf den Wagen der neben ihnen vorbei fuhr um sich einen Parkplatz zu suchen.
 

Der Blick des anderen Fahrers strafte Ayas ursprüngliche Antwort, dass es niemand gesehen hatte, Lügen und zwar ganz deutlich.

Er schnaubte und zwickte Schuldig ein letztes Mal in die verräterische Übeltäterzunge, bevor er sie losließ.

Die Öffentlichkeit ging es nichts an, da hatte dieser Recht.

„Es schickt sich auch für einen Ausländer nicht in der Öffentlichkeit“, grollte Aya. „Auch wenn ihr mehr Freiheiten genießt, was das Nicht-Benehmen angeht!“
 

„Tja… klar, von uns erwartet der normale Japaner auch das schlechte Benehmen insoweit, dass wir schon gar nicht mehr anders können als uns schlechter zu benehmen als erwartet um eure Aufmerksamkeit zu erringen.“

Schuldig überlegte sich noch ein paar gute Argumente, die er mit wahrer Freude zum Besten gab, während sie das Parkhaus verließen und den Heimweg antraten.
 

Als sie schließlich wieder im Schwarzschen Anwesen waren, rauchte Aya der Kopf von Schuldigs Abhandlung über das Benehmen von Nicht-Japanern in Japan und deren Gründe.

Er stieg aus und schloss die Tür, genauso schnell, wie er seine Stirn an das herrlich kühle Metall des Wagens lehnte. Himmlische Ruhe.

„Hilfe...“, murmelte er und seufzte theatralisch. Etwas, das er früher nie getan hätte, wie ihm auffiel. Vor Schwarz schon gar nicht, das stand außer Frage, aber im Allgemeinen auch nicht. Viel zu beherrscht, viel zu kalt war er um seine Gefühle und Gedanken offen zu zeigen.

Youji hatte da den Grundstein gelegt und Schuldig hatte ihn vollends in den Alltag gezerrt.
 

Niedergequasselt!

Schuldig gratulierte sich selbst als er Ran danieder gesunken am Wagen stehen sah. Er legte ein selbstzufriedenes Lächeln auf, stieg aus dem Wagen und kam zu Ran herum. Fast hätte er geglaubt, er hätte es nicht mehr drauf in eine verbale Kampfhandlung einzutreten und als Sieger daraus hervorzugehen. Aber wie er jetzt sah… er hatte es noch drauf!

Und wie!

„Was hältst du von einem nachmittäglichen Nickerchen?“
 

Aya sah zweifelnd auf.

„Nicht viel, eben weil es erst Nachmittag ist.“ Er würde nachts nicht schlafen können, außerdem war er nicht müde. Eher voller Tatendrang und Unruhe, denn er wollte seine Zeit nicht vergeuden, durfte es auch nicht. Er musste sich um Youji kümmern und um sein ehemaliges Team. Sie waren mehr in Gefahr als Schwarz… brauchten eher seine Hilfe.

„Willst du denn schlafen?“
 

Schuldig blickte in das mürrische Gesicht, schüttelte den Kopf langsam und neigte ihn dann fragend. „Was denkst du gerade?“
 

„Ich muss nach Youji und dem Rest von Weiß sehen. Sie sind wie auf dem Präsentierteller im Koneko.“

Genau das machte Aya große Sorgen. Wieso war Weiß noch nicht untergetaucht? Was hielt Manx davon ab, sie in den Inaktiv-Status zu versetzen?
 

So etwas hatte sich Schuldig schon gedacht. Aber er selbst verspürte nicht unbedingt große Lust ins Koneko zu fahren. Ran alleine gehen zu lassen bot auch keinen großen Reiz.

„Willst du heute noch nach ihnen sehen? Reicht ein Telefongespräch nicht aus?“, fragte Schuldig darum bemüht möglichst ruhig zu klingen und in Ran nicht sofort den üblichen Verteidigungsmechanismus auszulösen.
 

„Sie sind in Gefahr... ein Telefongespräch reicht nicht. Außerdem ist es zu unsicher“, hielt Aya nüchtern und ernst dagegen. Sorge bestimmte seine Gedanken. „Ich muss zu ihnen und sehen, wie es ihnen geht. Sie sind mein Team, nein, meine Freunde.“

Aya schüttelte den Kopf. „Du brauchst nicht mitkommen. Leg dich hin und schlafe, ich werde derweil unbeschadet hin- und wieder zurückkommen.“
 

Schuldig rollte innerlich mit den Augen. Ran und sein Tick… seine Freunde ständig mit seinem Team in Verbindung zu bringen. Zunächst sagte er stets… sie waren sein Team, korrigierte sich dann aber und sagte Freunde. Als könne er beides noch nicht in Verbindung bringen, oder als würde das eine das andere rechtfertigen.

Äußerlich ließ er sich jedoch nichts anmerken, bis auf ein undurchschaubares Gesicht und ein Nicken.

„Dann geh. Ich brauche dir nicht zu sagen, dass du auf dich aufpassen sollst und dass du primär niemandem vertrauen sollst? Und… dass du deine Erbsen immer brav aufessen sollst?“, fügte er noch hinzu um ihnen den Abschied etwas zu erleichtern. Er hatte einfach keinen Nerv auf die Weiß-Visagen. Auch wenn es bisweilen ganz unterhaltsam mit ihnen war.
 

„Ja, Papa, ich werde brav aufpassen, alles aufessen und mit keinem Fremden sprechen“, lächelte Aya. Er zog Schuldig an sich und hauchte dem Telepathen einen Kuss auf die Lippen. „Ich bin heute Abend wieder da, in Ordnung?“, murmelte er und zwickte Schuldig in den Bauch.
 

„Aber bevor’s dunkel wird, klar?“ hakte Schuldig in bester Vaterrolle nach, behielt aber den verschmitzt ernsten Gesichtsausdruck bei. Seine Augen hatten einen harten Ausdruck inne. Es war ihm sehr ernst.
 

„Wenn sie irgendeinen von uns töten oder entführen wollen, dann können sie das auch übertags, Schuldig, das weißt du genauso gut wie ich. Aber ja, zu deiner Beruhigung werde ich vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein.“

Aya lächelte nachsichtig. Er konnte die Sorge des anderen verstehen. Er machte sich die gleichen Sorgen.
 

Schuldig hatte das eher in seiner Rolle als strenger Vater zum Besten gegeben, dass Ran dies ernst nahm zeigte ihm, wie wenig ausgeglichen er war.

„Du verstehst das falsch, Ran. Bei Tag darfst du mit den Guten spielen, bei Anbeginn der Dunkelheit musst du mit den Bösen spielen!“ Bestechende Logik.
 

Zwei rote Augenbrauen schossen in die Höhe. Zum zweiten Mal innerhalb von kurzer Zeit… anscheinend war es sein neues Hobby.

„Ja, das habe ich in der Tat falsch verstanden“, erwiderte er und runzelte die Stirn. „Und du bist der Böse, ja? Wo genau? Hier etwa?“, fragte er und kniff Schuldig in die Nase. Aber Schuldig hatte Recht… in mehr als einer Hinsicht. Früher war er übertags Florist gewesen, nachts ein Killer.
 

„Willst du mit dem Wagen fahren oder fährst du mit den Öffentlichen?“
 

„Ich nehme den Wagen, damit bin ich flexibler. Außerdem ist die Anbindung hierhin schlecht. Ich müsste einiges laufen, viel zu viele unübersichtliche Ecken.“
 

„Unnötig dir zu sagen, dass du diesen Wagen schön weit außerhalb von Weiß Gebiet parken sollst, eh?“, fragte Schuldig besserwisserisch nach. „Nicht das unser schöner neuer Wagen auf weißem Boden geparkt ist.“ Viel mehr ging es darum etwaige Schmeißfliegen, die Ran und vor allem dem Wagen folgen könnten, auszubooten.
 

Ayas Blick wurde ernst. Schuldigs Fürsorge in allen Ehren…

„Ich töte, seitdem ich 16 bin, Schuldig. Denkst du, ich hätte sieben Jahre lang überlebt, wenn ich unvorsichtig wäre?“ Nein, das war er garantiert nicht. Vor allen Dingen, seitdem er bei Kritiker war, nicht. Kritiker hatten sie nicht nur diversen Gefangenschaftssimulationen unterzogen, nein, sie hatten sie auch auf das normale Leben neben dem Killerdasein vorbereitet. Was sie beachten mussten, worauf sie aufpassen mussten…

All das, was notwendig war um zu überleben.
 

„Etwas länger als ich.“ Schuldig lächelte dieses ernste ruhige Gesicht an. „das muss ich zugeben. Aber Ran…wir alle waren in letzter Zeit unvorsichtig geworden. Weder halfen unsere Wohnungschecks, noch unsere Sinne, noch unsere Intuition. Sie haben uns überrannt.“

Er beugte sich zu Ran und küsste dessen linke Wange samtig.

„Pass auf dich auf, bis später.“
 

Aya seufzte. „In letzter Zeit waren wir uns aber nicht so stark der Gefahr bewusst gewesen… das ist jetzt anders. Wir sind bereit und wissen, dass wir beobachtet werden.“

Er erwiderte den Kuss und strich Schuldig vorsichtig über den Rücken. „Geh ins Haus, sonst erkältest du dich wieder. Los, rein mit dir, ab zum großen, bösen Amerikaner!“ Aya schmunzelte, auch wenn ihm Sekundenbruchteile später schon gar nicht mehr danach war.

Crawford und Schuldig, auch noch ein Thema, das sie lösen mussten.
 

Schuldig löste sich von Ran und zwinkerte ihm zu, hörte die Untertöne folgerichtig heraus. Schließlich war es nicht so, als würde das Thema ‚Brad’ nicht allgegenwärtig sein.

„Immer ein Problem nach dem anderen, Blumenkind.“ Er zwinkerte und wandte sich um, winkte noch im Weggehen salopp.
 

o~
 

Aya summte leise, während er die Gläser spülte. Seitdem Schuldig und er nach Wohnungen gesucht und schließlich eine passende gefunden hatten, waren ein paar Wochen ins Land gezogen. Ein Monat voller Normalität.

Heute war es stressig, viele Gäste zur Neueröffnung, aber er konnte sich nicht beschweren. So hatte er wenigstens gut zu tun und eine Arbeit, die ihm Spaß machte. Sie war eine Abwechslung und endlich hatte er das Gefühl, etwas für das Geld zu tun, das ihm zur Verfügung stand.

Ein nicht unwichtiger Punkt in seinem Leben.

Er ließ seinen Blick durch die Bar streifen, die nun auf einem erträglichen Level Kundschaft weilte. Das „Laugh“ war freundlich und hell eingerichtet, jedoch nie so, dass es die japanische Kühle verlor, die auch das „Smile“ innehatte.
 

Gabriele steckte seinen Kopf zur Tür heraus und sah mit einem zufriedenen Schmunzeln um die Mundwinkel ihren neuesten Mitarbeiter für einen Moment bei seiner Arbeit zu, bevor er heraustrat.

„Ran-san, würden sie bitte Nanami im Lager helfen? Die zweite Getränkelieferung ist gerade angekommen. Ich löse sie kurz ab.“
 

Aya nickte und trocknete sich seine Hände ab. „Gerne, Amerati-san!“

Es war ein Unterschied wie Tag und Nacht zu dem Arbeiten vor Schuldigs Rückkehr… es machte ihm Spaß, es war nicht nur Beschäftigung um von todbringenden Gedanken wegzukommen.

Er verschwand ins Lager und half dem Koch dabei, die Getränke in den Kühlkeller zu bringen. Sie waren noch nicht ganz besetzt, also tat jeder das, was er konnte, denn jede helfende Hand war wichtig.

Außerdem war es körperliche Arbeit, die ihn befriedigte und ausglich.
 

Unterdessen übernahm Amerati Gabriele Fujimiyas Platz. Er hatte wirklich einen Glücksgriff mit dem Jungen getan. Zwar wusste er immer noch nicht, in welchen Schwierigkeiten der junge Mann gesteckt haben mochte, aber seit seinem letzten Arbeiten im Smile und jetzt bestand ein Unterschied zwischen Tag und Nacht. Etwas musste geschehen sein, denn der Japaner wirkte gelöster, nicht mehr so angespannt und gedrückt in seiner Stimmung. Was sich nicht so sehr in seiner Mimik zeigte, denn diese konnte er geschickt beeinflussen, wie es Gabriele schien.

Nein, es zeigte sich in seiner Arbeit. Fujimiya war entspannter. Die Bar war im Moment leer und an den Tischen in der Lounge Ecke saßen ein paar Gäste, die wohl versorgt waren.

Deshalb kümmerte sich Amerati um noch ausstehende Bestellungen und hakte eine Checkliste ab. Er blickte auf, als er ein unangenehmes Gefühl im Nacken verspürte und drehte sich um. Tatsächlich ein Gast kam auf die Bar zu, lächelte ihn charmant an und setzte sich auf einen der Hocker. Kein Japaner, soviel stand fest mit den auffällig rotorangefarbenen Haaren. Vielleicht ein Ire?

Der Blick auf die Karte und derjenige bestellte mit demselben charmanten Lächeln einen Red Boy.

Einer von vielen Vitamincocktails, die sie hier im Laugh anboten. Einige beliebte Drinks hatten sie aus dem Smile mitgenommen, dazu gehörte der Red Boy auch.
 

„Gut gemacht!“, brummte Nanami und Aya nickte kurz. Das Lächeln fiel ihm noch schwer, besonders Fremden gegenüber, auch wenn es Arbeitskollegen waren.

„Ebenso!“, gab er zurück und nickte dem älteren Mann zu, verabschiedete sich aus dem Getränkekühlhaus, das nun wieder bis oben hin voll war und in dem sie garantiert nicht viel wieder finden würden.

Er kam wieder nach vorne in den Thekenbereich und zweifelte für einen Moment an seiner Wahrnehmung, als er dort jemanden sitzen sah, den er gut kannte. Sehr gut sogar. Und passend zum roten Jungen hatte er einen roten Jungen vor sich stehen.

Das. War. So. Klar.

Das war typisch Schuldig.

„Guten Tag“, grüßte er freundlich, nicht zu zuckersüß, nicht zu knirschend, nicht wirklich auffällig.
 

Schuldig lümmelte halb auf dem Tresen, hatte seine Arme verschränkt, eine Hand stützte den müden Kopf, als er seine Lippen zu einem breiten Lächeln kräuselte.

„Hi“, grüßte Schuldig im best gefälschten amerikanisch-breiten Slang.
 

Gabriele kam zu Ran, der seine Aufgabe bei den Gläsern wieder übernahm. „Wir müssen die Lieferung noch sortieren. Aber das machen wir besser morgen, dazu brauche ich Ihre Hilfe. Ich möchte das gleiche System wie im ‚Smile’ einführen. Vielleicht könnten Sie morgen etwas länger bleiben, damit wir das nach Schluss ihrer Tagesschicht erledigen können. Dann kann Kai die Bar übernehmen.“
 

„Ja natürlich, ich habe nach der Arbeit nichts vor!“, gab Aya mit Freuden zurück und warf einen kurzen, leicht hämischen Blick auf den Amerikaner, nein, besser Texaner, der hier saß und dabei war, sich schlecht zu benehmen. SEHR schlecht.

Ein kleiner Zug um seinen Mundwinkel, von Amerati-san ungesehen.

„Schmeckt Ihnen ihr Drink?“
 

Schuldig lag bereits in den letzten Zügen und er schlürfte die letzten Reste aus dem Glas was der Strohhalm geräuschvoll hergab.

„Sehr gut“, Schuldig leckte sich unauffällig den letzten Tropfen von den Lippen. „Wie wäre es jetzt mit diesem… wie hieß er doch gleich…“ Er klappte die schmale Karte auf und suchte mit dem Finger diese ab. „Ah… einen Red Kiss bitte.“ Ein unschuldig dreinblickender Texaner sah den Barkeeper auffordernd an.
 

Gabriele konnte sich des Gedankens nicht erwähren, dass dieser Gast etwas seltsam war. Aber vor allem hatte er das Gefühl, dass er auf die rote Haarfarbe seines Mitarbeiters anspielte. Vielleicht sollte er einige der roten Drinks umbenennen…
 

Aya wusste, dass es seine Aufgabe war, besagten Drink zu mixen und das tat er nun.

Clou des Cocktails war der Chilibeigeschmack, der durch eine halbe Schote hinzugefügt wurde. Aya bemühte sich redlich, besagte Schote zu umgarnen, sie liebevoll zu waschen und zu umhegen… um sie dann in brutaler Präzision mit einem Messerstich in zwei Hälften zu zerteilen und eine Hälfte in den Drink zu geben.

Mit einem Lächeln nahm er Schuldig das leere Glas ab und stelle ihm den Red Kiss hin.

„Lassen Sie es sich schmecken!“ Noch freundlicher konnte er nicht werden.
 

Schuldig hatte Ran bei seinem versierten Umgang mit dem Messer genau beobachtet und nahm nun einen vorsichtigen Schluck des Drinks. „Gut“, lobte er die richtige Mischung und die angenehme Schärfe. Umrühren durfte er nicht, sonst musste er sich einen Feuerlöscher beim nächsten Schluck neben den Drink positionieren. Und er war sich fast sicher, dass Ran das Schauspiel seines innerlichen Brandes mit einer ordentlichen Portion Schadenfreude genießen würde.
 

„Ich kann Ihnen wirklich nur empfehlen, Ihren Cocktail umzurühren. Dann kommt die richtige Würze zum Vorschein. Ansonsten können Sie die volle Wirkung nicht genießen!“ Ein teuflisches Lächeln lag auf Ayas Lippen, dennoch würde es nur Schuldig als teuflisch erkennen. Die Herausforderung war jedoch deutlich zu hören, auch für Amerati-san.
 

Eben dieses Lächeln sah Gabriele, als er an Ran vorbei zum Telefon griff um einen Anruf bei einem ihrer Lieferanten zu tätigen. Dieser schien sehr fürsorglich auf ihren Gast einzugehen. Sehr fürsorglich.

So fürsorglich, dass er ihm gleich – für Fujimiya unüblich – Tipps gab, wie er in den zweifelhaften Genuss einer halben Chilischote kam.

Eine derartige Entgleisung auf dem sonst so stoisch kühlen Gesichts des jungen Japaners war ein Highlight.
 

„Danke… für Ihren wohlgemeinten Ratschlag, aber ich fange gerade an mein Leben zu genießen und ich bin weit entfernt von suizidalen Gedanken“, erwiderte Schuldig zuckersüß.

„Aber… wie wäre es … ich gebe Ihnen einen aus und Sie trinken eine Runde mit. Ist ja ohnehin kein Alkohol drinnen“, schlug Schuldig - der Trinkfreund - vor.
 

Ayas Miene blieb sorgsam stoisch und warf einen kurzen Blick zu Amerati-san. Wenn es ein Gast ‚anbot’ sollte er, wenn es ging, mittrinken, solange es kein Alkohol war.

„Der Genuss des Lebens ist das Wichtigste, das stimmt!“, pflichtete Aya dem ‚Gast’ zu und mixte sich auch einen Red Kiss.

Die zweite Hälfte der Chilischote fand ihren Weg in seinen Drink, den Aya mit einem unguten Gefühl im Magen betrachtete. Er ahnte, was jetzt kommen würde und stählte sich innerlich gegen den Schmerz, den ihm seine ‚Tapferkeit’ einbringen würde. Wenn er Schuldig in die Finger bekam…

„Ich danke Ihnen für die Einladung“, sagte Aya scheinbar unbeeindruckt und rührte mit der Chilischote in seinem Cocktail, hob ihn dann an um Schuldig zuzuprosten.
 

Amerati beobachtete das Treiben mit unauffällig interessiertem Blick, allerdings war er in das Gespräch vertieft.

Er wandte sich wieder seiner Bestellung zu und sprach in schnellem Italienisch mit seinem Landsmann.
 

Einen Trinkspruch später setzten beide das Glas an die Lippen und beobachteten sich aus tödlich sezierenden Blicken den jeweils anderen beim ersten Schluck.

Schuldig hatte pflichtschuldigst seinen Drink umgerührt.

Er schwor Ran viele Todesarten… in verschiedenen Stellungen – fügte er in Gedanken hinzu – nachdem sich das Feuer in seinem Mund ausgebreitet hatte.
 

Ayas Lippen brannten als erstes. Dann folgte seine Zunge. Dann seine Mundhöhle. Die Zähne schienen auch irgendwie in Flammen zu stehen, von seinem Rachen ganz zu schweigen. Konnte es sein, dass sich das Feuer auch in die Nase hochzog?

Aya brauchte ALL seine jahrelang antrainierte Willenskraft, um keine Miene zu verziehen und das gleich beim ersten Schluck, der einfach der pure Horror war. Und er hatte noch einen fast vollen Cocktail vor sich…

Sein Magen… sein Magen… es war HEIß!

Er lächelte, er schaffte es wirklich zu lächeln!

„Eine sehr exquisite Rezeptur“, lobte er den Erfinder dieses Drinks und verfluchte ihn in Gedanken.
 

Schuldigs Gesicht dagegen drückte puren Sadismus aus. Er konnte es aushalten so lange er Rans Tränen in dessen Augen miterleben durfte. Schließlich ernährte sich ein Teil seines Selbst aus dem Leid anderer. Zumindest zeitweise.

„Ja… muss ich mir merken…“
 

Gabriele schüttelte in Gedanken den Kopf. Auf der Karte stand dabei, dass man nur auf eigene Gefahr umrühren sollte.

Vielleicht sollte er die Namen der Drinks behalten… denn diese Szene gerade eben war es wert Fujimiya ein wenig aufzuziehen… schließlich war er der Red Boy hier in diesem Club.

Er sollte im Gegenteil einen Drink für jeden von ihnen kreieren. Einen Chef Master… einen Italien Boss …
 

Doch noch waren Ayas Augen nur feucht, noch keine beginnenden Tränen, zumindest redete er es sich ein, als sein Magen langsam ernsthaft böse wurde.

„Schmeckt es Ihnen?“, fragte er mit hochgezogener Augenbraue.

Gut, seine Augen waren etwas weiter als sonst, da er aufpassen musste, dass sie nicht tränten… aber das war das einzige Anzeichen.
 

„Ein wenig zu scharf“, gab Schuldig ehrlich zu und hoffte so, Ran zu überraschen, der sicher vermutet hatte, dass er hier einen auf Häuptling Starke Marke machen würde.

„Aber ich hätte da schon eine Idee, wie ich diese Schärfe ein wenig mildern könnte…“, sagte Schuldig und lächelte eindeutig zweideutig. Vor allem herausfordernd. Eine Drohung… hier vor allen Leuten, die zwar in einiger Entfernung saßen… aber…
 

Amerati trat mit einem Schmunzeln den Rückzug in die Küche an und ging von dort aus ins Lager, da er etwas überprüfen musste.
 

„Trink doch ein Glas Milch, mein Lieber“, flüsterte Aya zuckersüß, allerdings mit dem Nachklang der Überraschung in seiner Stimme. Ja, er hatte in der Tat anderes erwartet, sehr viel anderes.

Er blinzelte.

Seine Augen waren jedoch dunkel auf Schuldig gerichtet, falls dieser etwas versuchen wollte… über die Bar hinweg.
 

„Du hast… ANGST“, wisperte Schuldig das letzte Wort und beugte sich etwas vor, wie jemand, der eine unheimliche Geschichte erzählte, aber nicht wollte, dass jemand den Namen des Monsters allzu laut hörte. Das Monster selbst zum Beispiel.

„Angst… vor einem fiesen, grausamen, alles zerfressenden, versengenden… feuchten… Kuss!“ Ein kindisch freudiges Lächeln erhellte die Gesichtszüge des Deutschen.
 

Aya stützte sich auf den Tresen ab und lächelte immer noch höflich, jedoch jederzeit bereit, eine Flucht nach hinten anzutreten, falls Schuldig meinte, seine Drohung wahr machen zu müssen. Jemand, der sie nur beobachtete und sie nicht hörte, würde keinen Verdacht schöpfen.

„Und du hast Angst davor, deinen Schwanz NIE wieder in meinen Hintern zu stecken, nicht wahr?“, wisperte er in der gleichen Lautstärke wie Schuldig auch.
 

Schuldig hielt sich mit einer Antwort zurück, da Rans Arbeitgeber zurückkam.
 

Dieses Aufstützen war etwas, was Amerati sah, aber er hörte seinen Mitarbeiter nicht, was sicher besser für die Zusammenarbeit war.

Aber er erkannte, dass sie sich mit Sicherheit näher standen und wenn er Fujimiyas Verhalten richtig deutete, dann flirtete er, aber da konnte er sich auch täuschen. Nur war seine Gestik eine andere, als wenn er mit anderen Kunden sprach. Und das Grinsen des Mannes war mehr als provozierend.

„Ran-san, wenn Sie hier fertig sind, können Sie ruhig Schluss für heute machen. Ihre Schicht ist ohnehin schon seit…“ Ein Blick auf die Uhr. „…seit zwanzig Minuten vorbei. Ich habe Sie schon zu lange hier behalten.“ Er zwinkerte schelmisch.

Er hatte ihn nur länger für die Lieferung gebraucht um jemanden Nanami an die Seite zu stellen, damit das Ausladen schneller ging und die Bar auch nicht unbesetzt gewesen wäre.
 

„Das habe ich nicht gemerkt!“, sagte Aya überrascht mit einem Blick auf seine Uhr und löste sich vom Tresen, nickte Amerati-san freundlich zu.

Die Augen des Mannes sprachen von etwas, das Aya so noch nicht in dem anderen erlebt hatte: der pure Schelm. Und ein Wissen, dass dieser vorher nicht hatte.

Gut, Schuldig war auch nicht gerade unauffällig! Er schon. Dachte er.

„Ich werde mich noch bemühen, unseren Gast hier zufrieden zu stellen und werde dann Feierabend machen.“
 

„Okay. Rufen Sie mich, wenn Sie gehen.“

Alleine, dass er noch hier blieb um den Ausländer ‚zufrieden zu stellen’ zeugte davon, dass sie sich kannten, näher kannten.

Es machte Gabriele neugierig, mehr über seinen Mitarbeiter zu erfahren, auch wenn er sich sonst nicht in die Privatsphäre seiner Leute mischte. Doch dieser hier war ihm von der Hand eines guten Freundes in seine Obhut gegeben worden. Und die mysteriöse Aura, die den jungen Japaner umgab, war unverkennbar.
 

Aya nickte höflich und widmete sich den restlichen Gläsern, die noch poliert werden mussten.

Er sah die Fragen in den Augen des anderen, doch jetzt würde und konnte er sie nicht beantworten. Es ging nicht.

Er verräumte die Gläser auf die Vitrine und wusch sich ein letztes Mal die Hände, sah dann Schuldig schelmisch in die Augen.

„Wenn ich mich dann verabschieden darf, mein Herr.“ Sehr höflich. Und sein Mund brannte immer noch, von seinem Magen ganz zu schweigen!
 

Selber Schuld, meckerte Schuldig auf die anklagenden Augen seines Blumenkindes hin.

„Ich muss leider noch etwas da bleiben, denn mein Freund, den ich hier treffen sollte, hat sich um zwanzig Minuten verspätet. Aber ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend“, witzelte Schuldig und grinste frech.
 

„Das ist sehr bedauerlich für Sie, mein Herr! Ich hoffe, dass er recht bald… kommt.“ Es war nur eine minimale Pause zwischen Ayas Worten, aber sie reichte, um ihnen eine zweideutige Note zu geben.

Er nickte und deutete eine höfliche Verbeugung an, die Augen funkelndes Violett.

„Amerati-san, ich verabschiede mich“, sagte er nach hinten und machte sich daran, seine Sachen zu holen.
 

Gabriele sah ihm nach und wandte dann den Blick zu dem Ausländer. „Verzeihen Sie, ich habe Ihr Gespräch mitverfolgt. Ihr Freund, auf den Sie warten, hat nicht zufällig rote Haare?“
 

Schuldig nahm noch einen Schluck des schrecklichen Gesöffs und würgte ihn hinunter, bevor er lächelte. Dieses Mal war es ein willkommenes Lächeln. „Ja. Weshalb fragen Sie? Ist er hier gewesen?“ Sein Lächeln wurde breiter. Dieser Italiener war sich wohl noch nicht ganz sicher in seiner Vermutung.
 

„Ja… wenn es ein Japaner war… dann war er hier gewesen…“, antwortete Amerati ungewiss.
 

Beim Hinausgehen bekam Aya die Unterhaltung noch mit einem halben Ohr mit und schüttelte innerlich den Kopf. Man konnte Schuldig mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit zusprechen, dass er den anderen Mann auf den Arm nahm!

An die frische, nach Frühling duftende Luft tretend, nahm Aya einen tiefen Zug und grinste breit. Amerati-san würde ihn schon zu händeln wissen - hoffte er.
 

„Tja, was mache ich denn da… hat er mich wohl versetzt, oder wir haben uns verpasst.“ Schuldig hätte es darum gewettet, dass Ran nicht reinkommen und ihn hier abholen würde. Vermutlich blieb ihm nichts anderes übrig als hinauszugehen um den Feigling einzusammeln.
 

„Vielleicht wartet er ja mittlerweile draußen auf Sie.“
 

Das war durchaus möglich. Doch als es Schuldig nicht wirklich für nötig hielt ihm zu folgen, sah sich der Berg gezwungen, zum Propheten zu kommen.

Aber dieses Mal richtig offiziell.

Ein weiteres Mal betrat Aya das Laugh, durch die Vordertür und bekam dafür einige überraschte Blicke. Er ignorierte diese und kam langsam zum Tresen, den langen Mantel noch an.

„Hallo!“, grüßte er, als hätte er Amerati-san nicht gerade noch ein paar Minuten zuvor gesehen. „Ich suche jemanden…“
 

„Du bist zu spät!“ keifte Schuldig pflichtschuldigst, aber doch recht gelassen und drehte sich auf seinem Hocker zu Ran.
 

Amerati kam gar nicht dazu etwas zu sagen, denn das kleine Schauspiel der beiden zeugte davon, dass der rothaarige Japaner durchaus Humor hatte und nicht ganz so in sich gekehrt war wie anfangs gedacht. Oder lag es an dem sympathischen, charmanten Mann?

Wobei sympathisch nicht ganz zutraf. In diesen grünblauen Augen lag etwas, das ihn vorsichtig werden ließ und dann drückte dieses Gesicht eine Offenheit aus, das jeden Gedanken an ein Geheimnis oder eine Lüge hinter dieser Fassade auslöschte.
 

„Ich habe im Stau gestanden“, entgegnete Aya knochentrocken. „Und du, du betrinkst dich hier. Wundervoll!“

Er lächelte Amerati-san entschuldigend für ihre kleine Scharade an. Herrje, wenn ihn das den Job kostete… aber momentan sah es nicht danach aus.

„Sie haben ihm doch hoffentlich nichts allzu Starkes gemischt, oder?“
 

„Mein Mitarbeiter hat ihn vermutlich eines unserer stärksten Getränke gemischt. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen das Gleiche noch einmal mixen. Dann können Sie sich selbst von der Stärke des Getränks überzeugen“, schlug Amerati vor und ging auf den Spaß ein. Wenn Yuki hier wäre, hätte sie ihre helle Freude an den beiden. Das musste er ihr gleich erzählen, wenn er nach Hause fuhr.
 

„Ja, ich betrinke mich hier mit Gemüse- und Obstsäften“, murrte Schuldig und verzog skeptisch gelangweilt die Mundwinkel. „Blödmann“, fügte er leise an und wollte schon das Schmollen anfangen, als er Ameratis Worte hörte und sogleich besserte sich seine vorgetäuscht trübe Laune.
 

Aya wusste nicht, wen er als erstes erwürgen sollte, Schuldig, der ihn Blödmann nannte oder Amerati, der ihm noch einen Red Kiss andrehen wollte!

„Ich muss leider ablehnen, mein Magen macht mir momentan etwas Probleme“, sagte Aya gespielt leidend und seufzte schwer.

Was allerdings entsprach es den Tatsachen.

„Und du wirst nicht lachen“, sagte er zuckersüß zu Schuldig.
 

„Aber der Name der Bar ist doch sicher Programm oder?“, wandte Schuldig sich unschuldig an Ran, erhob sich aber von seinem Sitz. Er zahlte die beiden Drinks bei Amerati.
 

„Das schon…“, ließ Aya die unausgesprochene Drohung im Raum schweben und seine Mimik war sehr kühl.

Auch das hatte er in den letzten Monaten gelernt… diese eisige Maske war zwar noch da und er konnte sie nutzen, aber genauso konnte er mit anderen Ausdrücken spielen.

Dank Schuldig.

Er verabschiedete sich ein zweites Mal von seinem Chef und ging in Richtung Ausgang.
 

Schuldig tat es ihm gleich und holte Ran schließlich ein.

„Dein Boss scheint okay zu sein.“

Heute hatte es angenehme Temperaturen und Schuldig bemerkte für sich, dass ihm dieses mildere Wetter gut tat. Es ließ ihn seine Probleme besser händeln.
 

„Ist er! Wenn er mich nach dieser Vorstellung gerade nicht feuert, versteht sich!“

Aya hatte Durst. Nein, vielmehr hatte er das Verlangen, dieses Brennen in seinem Mund zu löschen, das immer noch anhielt.

„Er ist ein guter Chef… er erinnert mich an damals.“ Als er mit 16 selbst gekellnert hatte. War es wie eine Wiederholung seiner Vergangenheit? Er hoffte es nicht, denn er wollte nicht noch eine Familie verlieren.
 

„Ach Quatsch, er mochte es, dass du lächelst und ein wenig lockerer warst. Du warst ihnen schon etwas unheimlich.“ Ran war es schlecht gegangen, wie er in Ameratis Gedanken gelesen hatte.
 

Sie gingen Richtung Wagen, denn sie hatten vor zu einem Einrichtungshaus der oberen Gehaltsklasse zu fahren um sich die einen oder anderen Stücke für ihre Wohnung auszusuchen. Einen Katalog hatten sie schon angefordert und zusammen mit diversen anderen Katalogen durchpflügt.

Das Einzige, was sie bisher in ihrer Wohnung hatten, war… wie sollte es anders sein: ein Bett. Der Rest ihrer Habe war im Schlafzimmer und in einem der Badezimmer ihres neuen Domizils. Und es war wahrlich nicht viel. Die Kleidungsstücke stapelten sich neben dem Bett.

Aber…sie hatten wenigstens endlich eine neue passable Bleibe. Und bis auf kleine Abstriche genau das, was sie wollten.
 

„Wieso unheimlich?“, fragte Aya mit einem Stirnrunzeln. Er war doch einfach nur er selbst gewesen, hatte gearbeitet und darauf geachtet, sich den Stress, die Trauer und die Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.

Schuldig schloss ihr Schlachtschiff auf und Aya griff sich die Flasche Wasser, die noch in einer der Halterungen stand. Es war nicht mehr viel drin, aber er würde teilen - brüderlich.

Er hielt Schuldig das Wasser hin.
 

Dieser winkte heldenhaft ab, was eher daran lag, dass er dieses abgestandene Wasser nicht mochte und er lieber frisches bevorzugte, als dass er zugunsten von Ran darauf verzichtete.

Sie würden eine Tankstelle anfahren.

„Weil du sehr verschlossen warst, du wirktest eher wie jemand, der nicht mehr wirklich am Leben teilnahm. Zumindest waren diese Gedanken sehr präsent in Ameratis Kopf.
 

Sie schnallten sich an und er ließ den Wagen an. Wenig später waren sie auf dem Weg zum Einrichtungshaus.
 

Die Fahrt dorthin verlief schweigend, denn Aya musste über Schuldigs Worte nachdenken. Nicht am Leben teilnehmend…nun, genauso war es eigentlich gewesen. Er hatte in Erinnerungen an Schuldig geschwelgt, hatte sich in eine Welt zurückgezogen, die niemand sehen konnte außer ihm selbst.

Erst als sie vor dem Möbelhaus standen und beide ausstiegen, kehrte er wieder in die Gegenwart zurück und strich Schuldig kurz über die Hand, als sie nebeneinander zum Gebäude liefen.

Der Telepath lebte und er war glücklich.

„Aber wehe, du machst soviel Theater wie beim Aussuchen der Wohnung!“ Schuldig hatte den Makler nämlich einfach fertig gemacht. Besonders der Kommentar, dass diese abgeschiedene Ecke doch perfekt für etwaige Schweinereien wäre und alleine schon, wenn man Haken in die Wand bohren würde, die dann nachher für Spielzeuge dienen würden.

Aya war jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen, als er Schuldig angestarrt hatte… Mord deutlich in seinen Augen stehend.

Dem Makler hingegen konnte man plötzlich eine sehr gute Durchblutung nachsagen, exzellent sogar.
 

„Ja… ja… schon klar“, meinte Schuldig gedehnt, zwinkerte Ran aber zu, bevor er eine der gläsernen Doppeltüren für sie öffnete und sie hineingehen konnten.

Es dauerte nicht lange, ganze fünf Schritte nämlich bis ihnen eine Verkäuferin im aparten Zweiteiler lächelnd und sie höflich begrüßend entgegenkam.
 

Dieses „schon klar“ beunruhigte Aya, aber er glaubte einfach an Schuldigs gute Seite. Das war wohl das Beste!

Die Küche stand als erstes auf dem Programm und prompt wurden sie in die entsprechende Abteilung geleitet, jedoch friedlich alleine gelassen, als sie wünschten, sich selbst umzuschauen. Es gab da nämlich noch einige Meinungsverschiedenheiten, was die Farbe, den Stil und die Größe der Küche anging.

„Wie wäre es hiermit?“, fragte Aya und deutete auf ein praktisches, großes Modell. Er hatte mit einem Zähneknirschen akzeptiert, dass Schuldig eher die gehobene Klasse an Möbeln bevorzugte. Das hieß jetzt aber nicht, dass sie Millionen für eine einzige Küche ausgeben würden!
 

Schuldig tat so als müsse er zumindest zwei Minuten darüber nachdenken und als würde er etwas mit sich hadern. Aber … er fand die Küche schon beim ersten Anblick schlimm.

„Vielleicht sollten wir uns einigen, was wir generell für einen Typ wollen… eine gute Mischung aus Holz, Stahl, Glas oder doch eher auf hypermodern?“
 

„Ersteres. Es ist wärmer.“ Es passte besser zum Flair der noch leer stehenden Wohnung. Durch den Ausblick auf die Bucht von Tokyo zum einen und dem Stadtblick zum anderen war sie einfach sommerlich.

„Aber nur, wenn es nicht zu teuer ist!“

Aya hatte irgendwie das Gefühl, gegen Windmühlen zu reden. Er konnte Schuldig ja auch verstehen, aber dieses Gefühl verschwand einfach nicht, das ihm einredete, einfach nichts hierfür getan zu haben.
 

„Okay, finde ich auch besser. Und wir sehen auch, dass sie nicht zu teuer ist.“

Schuldig wollte auch nicht, dass Ran sich jedes Mal daran erinnert fühlte, dass er weniger dazu beisteuerte als er selbst.

Das gab schlechtes Karma und darauf hatte Schuldig so gar keinen Bock.

Sie schlenderten also weiter und begegneten auf ihrem Weg durch die abgeteilten Küchenareale ein paar anderen Interessierten, die teilweise in Gespräche mit Verkäufern vertieft waren.
 

Hier fanden sie niemanden, der sich in Tokyo nur ein fünfzehn Quadratmeter Apartment leisten konnte…

Aya ließ seinen Blick umherstreifen und sah plötzlich etwas, das etwas abseits stand, aber im Prinzip genau das widerspiegelte, was sie haben wollten.

„Wie wäre es hiermit?“, fragte er Schuldig und deutete auf die Komposition aus freistehendem Kochblock mit darüber hängendem Utensilienkranz und die u-förmig angeordnete Restküche samt allem, was man sich vorstellen konnte.
 

Schuldig gefiel sie auf den ersten Blick ganz gut. Jetzt musste sie nur noch dem zweiten Blick standhalten. „Nicht schlecht.“

Das war das Startzeichen um die eine oder andere Schublade aufzureißen und in den einen oder anderen Schrank zu spitzen.
 

Das taten sie nun, ausgiebig und schamlos, bis sie auch den kleinsten Winkel dieser Küche unter die Lupe genommen hatten und wussten, dass es IHRE Küche war, die alles hatte, was sie wollten. Hier konnte man wahre Kochorgien feiern.

„Und, was meinst du?“, fragte er ein wenig atemlos, da er wirklich begeistert war.
 

„Nehmen wir“, meinte Schuldig lapidar, sah aber deutlich die Freude in Rans Augen. „Brauchen wir nur noch die passenden Geräte dazu. Die gibt’s da hinten. Aber dafür können wir uns einen dieser Verkäufer holen, zwecks Passgenauigkeit.“
 

Genau das taten sie auch und die Küche wurde teurer und teurer. Doch als Aya Schuldigs Freude anhand der Küchengeräte sah, wollte er nicht dazwischengehen. Sie würden die Küche nehmen. Komplett, mit allem Schnickschnack, allen technischen Neuheiten, die es gab.

Die erste Station hatten sie geschafft.

Nun, der Graus.

Der Wohnraum.

„Es wird Krieg geben…“, murmelte Aya zu sich, als der Verkäufer außer Hörweite war und sah sich einem Bataillon an Möglichkeiten gegenüber, wie sie es einrichten konnten.

Was war er doch glücklich mit seinem Raum im Koneko gewesen…es hatte nicht viel hineingepasst, ein Bett, ein Regal, Couch, Fernseher. Das war es. Und nun…

Er hatte noch nie eine Wohnung eingerichtet.
 

Allerdings hatte Schuldig auf solch einen Unsinn wie einen Eiswürfelmacher oder eine Saftbar im Kühlschrank verzichtet. So etwas fand er unnötig und zwar aus dem Grund, dass man es von Zeit zu Zeit sauber machen musste. Und da er nicht unbedingt der Putzkönig war, suchte sich Schuldig Küchengeräte durchaus nach praktischen Motiven aus.

„Erst einmal gibt es Verhandlungen… und dann … werden wir sehen…“ grinste Schuldig und streifte durch die Couchlandschaften.
 

„Genau…dann heißt es, immer auf der Hut sein, den ersten Schlag führen und keine Gnade walten lassen!“, grimmte Aya und hakte die ersten Stücke innerlich schon ab. Blumenmuster aus den europäischen sechziger Jahren kamen ihm definitiv nirgendwohin.

Er war eher Minimalist, nichts Verspieltes, aber warme Töne, das war wichtig. Mal sehen, wie Schuldig das sah.
 

„Was hältst du von der Kombination?“ Schuldig betrachtete sich das kalte Rot des Zwei- und des Dreisitzers. Zwar war die Farbe kühl, doch der Schnitt der Ledercouchen und ihre Bequemlichkeit – die Schuldig soeben testete - sprachen für sich. Die Linien waren schlicht und es war definitiv eine Lümmelcouch, denn die Sitzfläche war großzügig und der Dreisitzer lief in einer Ottomane aus. Vier weiße Kissen samt Decke waren zur Dekoration auf den Couchen drapiert.

Sie hatten hellgraue Steinfliesen auf der einen Seite des Wohnraumes, die dann in sandfarbene Steinfliesen übergingen. Es hatte etwas von Wüste und Stein. Die sandfarbene Ecke gehörte definitiv Ran, denn es war auch die Seite mit dem Meerblick. Die Couch würde sowohl in die eine als auch auf die andere Seite passen. Und da sie die Mitte, wo beide Untergrunde ineinander überflossen, für ihre Couchlandschaft erkoren hatten…

Die Oberfläche der Fliesen war so natürlich gestaltet, dass sie zusammen mit der Fußbodenheizung den Eindruck von warmem, von der Sonne aufgeheiztem Stein erweckte.
 

Aya lächelte und streckte Schuldig in einer verspielten Geste die Zunge heraus.

„Neutraler Boden klingt gut, sehr gut! Damit wir beide uns aus unseren Höhlen heraustrauen, wenn es mal gekracht hat nur um auf diesem wunderbaren Stück zu sitzen.“

Er strich über das glatte Leder, anerkennend und liebkosend.

„Dann brauchen wir nur noch zwei andere Couchen!“ Was für eine Verschwendung, murrte die sparsame, geizige Seite in ihm innerlich.
 

„Hmm…richtig. Aber die können wir uns ja selbst aussuchen, oder? Müssen ja nicht unbedingt Couchen sein. Ich denke, ich werde auf meiner Seite eine kleine Lounge einrichten. Vier Sessel … die hab ich dort hinten gesehen. Schlicht und sehr bequem. Ach … was hältst du eigentlich davon wenn wir noch einen Arbeitsplatz einrichten? Oder sollen wir den in eines der größeren Zimmer packen.“ Schuldig hoffte, dass Ran wusste, was er mit „Arbeitsplatz“ meinte. „Erstens brauchen wir ein Zimmer einem Dojo ähnlich zum trainieren, zweitens vielleicht noch ein Zimmer in dem wir den ganzen Technik… kram unterbringen.“
 

Aya nickte. „Was brauchen wir denn alles für diesen Arbeitsplatz an Möbeln?“, fragte er und ging gedanklich alle technischen Elemente ab, die sie im zukünftigen Kampf gegen ihren Gegner ab.

„Hast du eigentlich schon einen Händler für das Holz des Dojo-Bodens?“
 

„Ein paar Tische wären nicht schlecht und einige Regale… aber ich denke ein oder zwei Tische für die Rechner würden es schon tun. Dann brauchen wir noch Material um den Raum abzuschotten. Aber das kann uns Nagi oder sicherlich auch Omi besorgen“, zwinkerte er Ran zu.

„Was das Holz anbetrifft…nein, mir kam der Gedanke nur gerade eben … dass es gut wäre, wenn wir einen Raum danach einrichten. Bloß welchen?“
 

„Oben auf der Balustrade vielleicht?“ Bisher nutzten sie den Raum nicht, vielmehr war er angedacht als Ayas ‚stiller Raum’, eine Abtrennung in der weiten Wohnung, die er benötigte, wenn er alleine sein wollte.

Es sprach ja nichts dagegen, dort auch den Trainingsraum für sie beide einzurichten.

Die Wohnung war riesig…größer als die alte und sehr weitläufig, deswegen hatte sie Schuldig auf Anhieb auch so gut gefallen. Ihm hatte da mehr der Seeblick zugesagt, was schließlich auch den Ausschlag gegeben hatte in Schuldigs Entscheidung. So konnten sie schließlich einziehen, mit Kegel und Kind. Eigentlich nur mit Bett und Katze, die sich nun an ihnen erfreute, da sie sonst nichts zum Spielen hatte. Doch momentan hatte es ihr mehr Schuldig angetan, was Aya nur zu gut verstehen konnte. Auch sie hatte ihn vermisst.

„Wir brauchen auch noch eine Ecke für Banshee“, mutmaßte er und runzelte die Stirn. „Inklusive Sitzgelegenheit.“
 

Schuldig fand den Enthusiasmus seines Blumenkindes einen großen Grinser wert.

„Deine Motivation in allen Ehren, aber vielleicht sollten wir eins nach dem anderen einrichten. Meinst du dort oben wäre der Platz vorhanden? Es hat ja gerade mal dreißig Quadratmeter, wenn überhaupt und vom Schnitt her nicht gerade praktisch. Da würde ich eher den Raum neben dem Schlafzimmer bevorzugen. Er ist der zweitgrößte in der Wohnung.“
 

Aya bedachte das für einen Moment und nickte schließlich. Für diesen Raum hatten sie noch keine Verwendung… bis auf ein paar hanebüchene Vorschläge von Schuldigs Seite her, die Aya allesamt abgeschmettert hatte.

Spielzimmer.

Dass er nicht lachte.

Als Schuldig dann auch noch mit Andreaskreuzen gekommen war…und anderen, eventuellen Möbelstücken, mit denen sie Spaß haben konnten, war es ganz aus gewesen. Nicht mit ihm!

Wenn Schuldig sich freiwillig fesseln ließ…vielleicht. Aber er? Nein.

„Der obere Raum dient dann als was?“
 

„Bücherraum? Multimediaraum? Keine Ahnung, such dir etwas aus.“ Schuldig überlegte einen Moment. „Oder sogar eine Art Gästeraum.“ Falls Yohji übernachten würde, hätte er dieses Problem zumindest schon einmal weit weg vom Schlafzimmer separiert.
 

„Wie wäre es mit einem Rückzugsort für dich, wenn du einmal genug von mir hast?“, fragte Aya und konnte sich das im Moment nicht wirklich vorstellen. Zumindest wäre es dann ein Charakterzug an Schuldig, den er noch nicht kennen gelernt hatte. Denn dass Schuldig sich irgendwann von ihm und seiner direkten Umgebung lösen würde, war sehr unwahrscheinlich!

Doch wer wusste, was sich über die Jahre einpendelte…

Jahre…

Aya runzelte innerlich die Stirn.

Seit wann plante er in Jahren? Eine lange Zeit hatte seine Planung nur für die nächsten Monate oder sogar nur Wochen bestanden, aber Jahre? Nein… dazu war das Leben eines Killers wahrlich zu kurz.
 

„Dafür können wir den Trainingsraum umfunktionieren, falls es dazu kommen sollte“, sagte Schuldig und räumte mit seinen Worten auch gleich ein, wie unwahrscheinlich dies doch wäre.

Doch er brauchte einen Raum für sich. „Du bist ohnehin ständig am Arbeiten. Die Wohnung gehört die Hälfte… wenn nicht mehr des Tages mir.“ Er überdachte die Möglichkeiten, die ihm im Kopf herumschwirrten noch einmal. „Wir könnten da oben ein paar unserer Waffen, die wir sammeln werden, deponieren. Ein paar Klingen … ein paar Dolche…“
 

Eine gute Möglichkeit, sich schnell und effizient zu verteidigen, sollte es zu einem Angriff kommen. Waffen, in einem Raum offen, in den anderen versteckt, untergebracht, war das Beste, was sie tun konnten…

„Es wäre ein sehr schöner Ausstellungsraum“, pflichtete Aya Schuldig zu und musste innerlich grinsen. Ausstellungsraum. Sicherlich.

Vermutlich würden sie sich irgendwann aus Spieltrieb mit besagten Klingen jagen und sich bekämpfen.
 

„Und was Banshee anbelangt, für die finden wir schon ein Plätzchen. Oder sie sucht sich ihres selbst aus. Wo ich sie nicht haben will ist im Schlafzimmer, mir reichen schon unsere Haare, die mir ständig zwischen Zähnen und Zehen hängen.“ Schuldig verzog das Gesicht leidend.
 

„Ich will dir da ja nicht widersprechen, aber ich kann mich noch daran erinnern, direkt nach dem Aufwachen jemanden gesehen zu haben, der mit der Kleinen geschmust hat, während er mich beim Schlafen beobachtet hat. Seitdem denkt sie, du wärst ihr persönliches Kissen!“

Aya musste lächeln. Ja… Schuldig und Banshee hatten sehr gut zusammengepasst.
 

„Ihr persönliches Kissen…“ Schuldig schnaubte.

„Von mir aus, aber nicht im Schlafzimmer, außerdem fand ich es zeitweise etwas irritierend, wenn die Kleine mitten im Sex zwischen unseren Beinen herumstreifte. Und… ich möchte dich noch daran erinnern, dass du es warst, der ziemlich finster ausgesehen hat, als ihre Krallen zwischen deinen Eiern herumtapsten.“ Schuldig hatte seine Stimme nicht im Mindesten gesenkt, aber es war auch niemand in der Nähe, der ihr Gespräch mitanhören konnte… oder wollte.
 

Aya war absolut nicht erfreut darüber gewesen, das stimmte. Aber genauso wenig war er nun über Schuldigs Lautstärke erfreut, wie sein Blick dem anderen nun mitteilte.

„Es hat auch wehgetan… und dass du gelacht hast, hat mir nicht im Mindesten geholfen, nur mal am Rand“, zischte Aya.
 

„Ran… du weißt aber schon, dass die meisten Leute erst recht aufmerksam werden, wenn jemand flüstert oder so herumzischt wie du gerade eben?“ Schuldig lächelte charmant in das finstere Gesicht, das ihn mit seiner Aufmerksamkeit bedachte.

„Und… wenn du nicht willst, dass es noch mehr weh tut, dann bleibt das Katzenkind draußen! Es ist ja nicht so, dass die Wohnung klein wäre…“
 

„Und es ist ja nicht so, als würden wir nur im Bett Sex haben, daher ist das Argument schon hinfällig“, erwiderte Aya und lehnte sich großkotzig zurück. Was Schuldig konnte…

Und Schuldig war ein guter Lehrmeister…
 

„Würden wir nicht? Wo willst du denn dann poppen?“ Schuldig wandte nun seine ganze ungeteilte Aufmerksamkeit Ran zu und drehte sich zu ihm hin.

Na dann erzähl doch mal, sollte dies heißen.

Unauffällig hatte sich ein Verkäufer genähert und stand nun etwas abseits, jedoch in Hörweite.
 

„Die Frage ist, wo du den Beischlaf mit mir vollziehen willst“, lächelte Aya, die Stimme normal, aber nicht übermäßig laut. Es sollte ja schließlich niemand mitbekommen. Dass nun der Verkäufer noch einen Schritt näher an sie heran getreten war, sah er zu spät.
 

Schuldigs Lächeln wurde minimal breiter und er sah wie Ran blass wurde. Zwar bewahrte er Haltung, aber er wurde blass, sehr blass. Schuldig wäre sogar soweit gegangen zu sagen… kränklich blass.

„Was krieg ich dafür, dass ich dem Kerl diesen Satz aus dem Kopf lösche?“, fragte er im gleichen Plauderton Ran, während der Verkäufer wieder zu Wort gefunden hatte und sie fragte, ob sie sich an dieser Couchlandschaft interessiert wären. Er mied Rans Blick.
 

Viel konnte Aya nicht mehr falsch machen, das sah er in diesem Moment. Der Verkäufer hatte es gehört. Geschockt war er schon und mehr konnte Aya auch nicht tun.

Und nun MUSSTE Schuldig die Gedanken des armen Mannes ändern, da er nun schon so freimütig zugegeben hatte, ein Telepath zu sein.

Aya achtete ebenso sehr nicht auf Schuldig, als er sich erhob und die Verbeugung des Verkäufers erwiderte.

„Diese Garnitur gefällt uns ausgezeichnet. Und Schuldig, du bekommst nichts außer vier Wochen Sexentzug. Und pass auf, dass Banshees Krallen sich nicht irgendwann an deinem Gemächt bedienen.“

Sprach’s und sah direkt in die Augen des Verkäufers.

Schuldig war ein sehr guter Lehrmeister.
 

Das Gesicht des Verkäufers zeigte trotzdem professionelle Höflichkeit, was Schuldigs Amüsement nur steigerte. Er blieb sitzen und wohnte dem Schauspiel bei.

„Mir gefällt dieses Rot ebenfalls sehr gut, Liebling. Wie wäre es, wenn du die Formalitäten regelst.“
 

„Wenn Sie so freundlich wären…“, wandte sich Aya ebenso professionell an den Verkäufer. Die vier Wochen wurden immer realistischer, dachte er sich, während er exakt diese Farbe und exakt diese Maße aushandelte und beim Preis schlucken musste. Es würde für ihn immer ein Rätsel bleiben, sich einen Kleinwagen als Couch in das Wohnzimmer zu stellen.
 

Schuldig hatte sich unterdessen dazu bequemt hinüber zu der Sitzgruppe aus schwarzen niedrigen Ledersesseln zu gehen. Er hatte Ran seinem Schicksal überlassen und verhandelte währenddessen mit einer Verkäuferin über den Preis. Und nicht nur darüber. Ein Flirt in Ehren …
 

Aya hatte alles mit dem Verkäufer beredet und verhandelt, hatte den Handel mit einer höflichen Verbeugung besiegelt und drehte sich schließlich um… um Schuldig zu sehen, der mit der Frau flirtete.

Da konnte es jemand nicht lassen.

Aya kam langsam auf die beiden zu und sah, wie die junge Frau erfreut lachte und Schuldig anschmachtete.

„Das ist aber lieb von Ihnen!“, kicherte sie auf ihre typisch japanisch niedliche Art und Aya hob eine Augenbraue.
 

Was Schuldig nicht sah. Vielmehr spürte er, wie Ran näher kam und hörte die langsamen Schritte hinter sich nahen.

Er heizte in den Gedanken der Frau deren Worte an, sodass sie mehr Flirtcharakter bekamen und gab sich selbst sehr interessiert. Mal sehen, wie Ran darauf reagierte.
 

„Eine sehr schöne Kombination“, mischte sich Aya in das Gespräch ein und zog die Aufmerksamkeit der Frau auf sich. Ihre Augen huschten verwirrt zu ihm und trafen auf das beste Lächeln, das Aya zu bieten hatte. Er konnte lächeln - wenn er wollte und musste und das tat er jetzt.

Charmant, bezaubernd, flirtend.

Der Teufel, der ihn ritt, war äußerst fleißig, könnte man sagen.

„Ja, ja, das ist sie, deswegen haben wir sie im Programm!“

Aya schmunzelte und deutete eine Verbeugung an. „Sie steht Ihnen… schlanke Eleganz, klare Linien… einfach perfekt.“

Aya ließ seine Stimme samtig klingen, so samtig, dass sie ihr die Röte auf die Wangen trieb.
 

Schuldig wusste zwar nicht ganz genau was Ran meinte und wie er die Sitzgruppe in Verbindung mit der jungen Frau brachte, aber er wusste, dass Ran ihm noch nie ein solches Lächeln geschenkt hatte!

Er ließ die Frau sich verneigen und sich entschuldigen. Als sie weg war, wandte er sich nachdenklich zu Ran um. „Warum lächelst du mich eigentlich nie so an?“, meckerte er und die Mundwinkel gerieten verdächtig nahe an seine bekannte Schmollversion heran.
 

Schuldig traf eben dieses Lächeln nun in seiner vollen, gewaltigen Wucht.

„Vielleicht weil du es nicht verdient hast?“, meinte Aya trocken. Dann verschwand das Lächeln jedoch wie ausgeknipst und Ayas Blick kehrte zur Normalität zurück.

„Oder vielleicht, weil es ein falsches Lächeln ist?“

Und das war es… professionell, kalt, leer. So bezeichnete er es.
 

Die Sache mit dem Verdienen brachte die Wirkung der Schwerkraft in Bezug der Mundwinkel stark hervor.

„Ein falsches?“, echote Schuldig und er verzog den rechten Mundwinkel leicht nach oben was seinem Gesicht einen skeptischen Ausdruck verlieh. „So… so“, murmelte er und legte den Kopf schief.

„Brauchen wir denn noch etwas, oder sind wir für heute fertig? Sie waren schon über zwei Stunden in dem Laden, wenn sie die Gespräche mit den Verkäufern dazurechneten.
 

„Wir brauchen noch unsere komplette Inneneinrichtung bis auf das Bett.“ Ayas Stirn runzelte sich und er hob eine Augenbraue. Es war klar gewesen, dass sie zuerst das Bett hatten…doch auf Dauer reichte es nicht.

Und er wollte es gerne schnell hinter sich haben.
 

Was Schuldig auch wollte, aber heute nicht mehr. Er hatte schlicht und ergreifend keine Lust mehr. „Der schmale Raum, der vom Schlafzimmer aus auch zu begehen ist, wird ohnehin als Kleiderschrank herhalten müssen. Dafür brauchen wir nur mehr passende Konstruktionen.“ Er war sich nicht sicher, ob dieses Geschäft derartiges auch führte und er hatte noch weniger Lust darauf, eine Sonderanfertigung machen zu lassen.

„Bevor wir uns eine Sonderanfertigung machen lassen müssen, hau ich ein paar Nägel samt der dazugehörigen Bretter an die Wand und wir sind gleich fertig mit den Schränken…“, drohte er missmutig.
 

Die zweite Augenbraue gesellte sich zur ersten. Schuldig mit Hammer und Nagel?

Das konnte sich Aya beim besten Willen nicht vorstellen! Schuldig mit Waffe in der Hand, ja. Als Killer, ja. Mit seinen Dolchen, ja.

Aber DAS?

Er lachte leise. „Hattest du schon mal einen Hammer in der Hand?“

Aber er spürte Schuldigs Unlust, den Widerwillen… es war besser, wenn sie gleich gingen.
 

„Ja, hatte ich schon, aber es waren keine Nägel die ich damit getroffen habe“, zuckte Schuldig mit den Schultern und wandte sich in Richtung Schlafzimmerabteilung. „Komm, wir fragen mal, vielleicht haben sie ja etwas Ähnliches hier.“
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Liebe Grüße

Coco & Gadreel

Desperate Housemen

~ Desperate Housemen ~
 


 

„Aber nur noch die Regale, dann fahren wir zurück. Du siehst aus, als könntest du einen heißen Kaffee vertragen!“ Eine Ausrede, paradoxerweise aber auch die Wahrheit, da Aya immer noch darauf achtete, dass sich Schuldig nicht überanstrengte und sich ausruhte, damit er zu seiner eigentlichen Stärke zurückfand, die er seit China noch nicht wiedererlangt hatte.

„Was hast du denn mit dem Hammer getroffen?“, fragte Aya scheinbar unwissend und doch konnte er genau sagen, was es wohl sein würde.

Es war auch einer der Beweise dafür, dass Schuldig nicht nur gut und zärtlich war, nein, ganz und gar nicht. Böse und sadistisch, so hatte er Schwarz bis vor Monaten gesehen und das waren sie.

Gemeinsam verließen sie die Wohnmöbelabteilung.
 

„Etwas Weiches… Lebendiges“, gab Schuldig kryptisch an und sprach sogleich einen der Verkäufer an, die wie stets aus dem Nichts lächelnderweise auftauchten und sogleich zu Diensten waren.

Tatsächlich wurden sie zu einer kleinen Auswahl an hübschen Einrichtungen für begehbare Kleiderschränke geführt.
 

Aya ließ sich etwas zurückfallen. Etwas Weiches und Lebendiges… ein sehr plastischer Ausdruck für den menschlichen Körper.

Eben jener sadistischer, böser Mensch durchstöberte jedoch nun mit dem Verkäufer Regalsysteme, ganz normal und alltäglich, als hätte es das, was er gerade gesagt hatte, gar nicht gegeben. Es waren zwei Welten, die hier aufeinander stießen und zum Glück war der Verkäufer völlig ahnungslos.

Schuldigs Brutalität stieß Aya nicht mehr so extrem ab wie früher; unter anderem auch, weil seine eigene Art zu töten auch nicht unbrutal gewesen war. Weil er den Menschen hinter der Gewalt kannte. Doch löschte das Gräueltaten aus? Nein, doch auch bei ihm löschte es nichts aus.

Wirklich nicht.
 

Schuldigs sadistische Ader hatte sich jedoch dieses Mal gegen die Vorhersehbarkeit von Rans Gedanken gerichtet. Er bemerkte, dass sich Ran zurück hatte fallen lassen und schmunzelte innerlich darüber.

Er war vor einem der Regalsysteme stehen geblieben und favorisierte dieses, denn es bot nicht nur ausreichend Platz für ihrer beider Kleidung, sondern hatte auch noch integrierte Schränke für Schuhe und diverse andere Dinge, die nicht sofort jeder sehen musste…

Schuldig blickte zu Ran hinüber und deutete fragend auf das Objekt.
 

Aya brauchte derweil etwas, um sich aus seinen Gedanken zu lösen und die grünen Augen auch ohne Grausamkeit in ihnen zu sehen, ohne den Spaß am Töten.

Doch es ging hier um den Alltag, um das Aussuchen von Regalen, um Normalität im Ganzen. Dass sie beide Killer waren, wussten nur sie, nicht die Angestellten, die sie so freundlich berieten.

Aya besah sich das besagte Stück und nickte. Es war zweckdienlich und darauf kam es an. Wie Aya Schuldig und auch sich kannte, würden sie mit der Zeit viel zu verstauen haben.
 

Schuldig ging mit dem Verkäufer zu einer Sitzgruppe, die in der Nähe für Verkaufsgespräche eingerichtet worden war und sie machten den Vertrag fest.

Als sie alles erledigt hatten, kehrten sie den Möbeln den Rücken und verließen das Einrichtungshaus in Richtung Wagen.

Unterdessen löschte Schuldig das Gedächtnis der Mitarbeiter, was ihr Aussehen anbelangte. Den Rest beließ er, wie er war.

„Ich meinte meine Finger, Ran“, schmunzelte Schuldig Rans ernstes Gesicht an. Denn seit er dieses kleine Spielchen getrieben hatte … und dabei waren es nur drei kleine Worte gewesen, war Ran sehr still geworden.
 

Ein zweifelnder Blick traf ihn. Aya glaubte ihm das nicht wirklich. Eigentlich absolut nicht. Seine Finger... ja klar. Mastermind von Schwarz schändete seine Finger beim Nagel in die Wand schlagen.

Doch Schuldig klang ernst genug, dass Aya sehr geneigt war, es ihm zu glauben. Sehr sogar. So hatte er wenigstens keinen Grund, in ihrer beider Vergangenheit zu verweilen.

„Deine Finger“, wiederholte Aya in Gedanken und schnaubte. Aber es erst spannend machen. Spielchen mit ihm spielen, die ihn an damals erinnerten. Doch Schuldig hatte recht damit. Es gehörte zu ihrer beider Vergangenheit. Wieso sollten sie es verschweigen?

Oder keine Scherze darüber machen?

„Geschieht dir recht!“, versuchte er nun seinerseits einen Spaß.
 

Der Scherzbold fand es lustig und er lachte, bis sie am Wagen waren. Erst dann verkam das Gelächter zu einem leisen Lachen.

„Was hältst du davon, wenn wir noch schnell einkaufen und für heute Abend einige Leckereien kaufen, uns dann in die Badewanne begeben und diese einweihen und ich meine damit Alkohohl und Fressgelage… um etwaige bösartige Unterstellungen gleich auszuräumen!“
 

„Sehr viel!“, löste sich Aya nun endgültig von seinen dunklen Gedanken bezüglich ihrer beider vergangenen Tage.

„Fressgelage, soso. An was genau knabberst du denn?“, fragte er mit einem leichten Lächeln. Aya hatte da ja schon gewisse Vorstellungen, auch wenn er für heute derjenige war, der durchaus Lust hatte, den anderen zu poppen… aber sie würden keusch bleiben. Nur essen und trinken. Nichts anderes.
 

„Mit dieser so scheinheilig harmlos gestellten Frage torpedierst du meine gut gemeinte Absicht, Ran“, sagte Schuldig tadelnd und er ließ den Wagen an. „Seien wir doch ehrlich. Du bist doch derjenige, der heute statt essen und trinken, eher ficken und gefickt werden im Sinn hat“, sagte Schuldig mit genau demselben sanften Tonfall, den Ran zuvor angeschlagen hatte.
 

„So kann man das jetzt nicht sagen, Schuldig“, widersprach Aya ruhig, getragen, sanft; als ginge es um das Wetter. „Mir geht es durchaus ums Essen, ich habe Hunger und du auch, so blass, wie du um die Nase bist.“ Was sie danach noch trieben, konnten sie ja spontan entscheiden. „Alles andere ergibt sich dann“, lächelte er durchaus durchtrieben und sehr doppeldeutig.
 

„Wer ist hier blass?“ blaffte Schuldig, drehte sich den Rückspiegel so, dass er sein vermeintliches Spiegelb… Na guuut, er war blass. Sehr sogar. Selbst seine sonst übertünchten Sommersprossen, die bei jedem Sonnenstrahl in die Öffentlichkeit strebten, waren verschwunden.

„Ach … das bisschen vornehme Blässe“, tat er es ab und richtete den Spiegel wieder so hin, wie er gehörte. „Du willst mich bloß aufpäppeln, damit du mich bepoppen kannst und somit keine Angst haben musst, dass ich dir abklappe dabei.“
 

„Richtig“, sagte Aya so stocknüchtern, dass er es sich beinahe selbst glaubte und sah Schuldig dabei ernst ins Gesicht.

„Außerdem stoßen deine hervorstechenden Beckenknochen an und dadurch entstehen mir Hämatome. Keine schöne Angelegenheit, das kann ich dir sagen!“

Noch stocknüchterner…

Vor allen Dingen, da gerade ER das sagen durfte mit seinem recht schmalen Körperbau und Schuldigs dazugehörigen Kommentaren, er würde zu wenig essen und er könnte noch mehr auf den Rippen vertragen und er müsste gesünder leben.
 

„Bei mir steht nur eins manchmal hervor und das ist kein Knochen, Pinocchio!“ erwiderte Schuldig ebenso ernst wie Ran, während sie nach Yokohama zurückfuhren, dort wo ihre neue Bleibe war. Am Wasser in einem umgebauten Fabrikgebäude, in dem lediglich fünf andere Parteien wohnten. Teuer, exklusiv und weit ab vom Schuss. Und… wenn sie wollten, waren sie sehr schnell unten, denn die Wohnung hatte einen zweiten Notaufgang, der zwar anfangs zugemauert war, aber das hatten sie sogleich rückgängig machen lassen und dort eine schwere Tür geordert.

Vorerst war dort nur eine einfache Holztür, ein Provisorium. Aber in drei Wochen sollte es eine Sicherheitstür geben. Somit hatten sie zwei Aufgänge und Schuldig war rundum zufrieden mit ihrem Domizil.
 

„Ebenfalls Pinocchio! Und nein, bei dir wird auch nichts länger, wenn du lügst!“ Alleine die Vorstellung war seltsam, befand Aya und lehnte sich in seinem Sitz zurück, schloss die Augen. Die vergangenen Tage waren anstrengend gewesen: Schichten im Laugh hatten sich abgewechselt mit dem Marathon, eine Wohnung, ein Bett und Möbel zu finden. Dazu kamen dann noch Schuldig und Banshee, die Sorge um seine Freunde und vieles andere…zuviel.

Aya hatte das Gefühl, müder und erschöpfter zu sein als zu Weiß’ Zeiten, als er beides gemacht hatte: getötet und Blumen verkauft. Wie oft war er zu der Zeit erst um fünf Uhr morgens ins Bett gekommen, wie oft war er um sieben Uhr wieder aufgestanden und hatte gearbeitet?

Doch damals hatte ihn der Hass angetrieben, die Sorge um seine Schwester. Und nun? Was trieb ihn nun an?

Der Drang nach Normalität vielleicht.

Aber reichte er aus um ihn weiter zu stärken, besonders mit der neuen Bedrohung im Nacken?
 

Schuldig hatte den dringenden Verdacht, dass Ran keinen blassen Schimmer hatte, was oder wer Pinocchio eigentlich war. „Du meinst wohl… wenn du lügst. Denn bisher hatte ich noch keine blauen Flecken an deinem Unterleib bemerkt. Außerdem was… soll da schon länger werden?“
 

„Keine? Wenn ich daran erinnern darf: unser letztes Stelldichein in deiner alten Wohnung HAT bei mir Spuren hinterlassen dank deinem Eifer!“

Aya öffnete seine Augen und ließ seinen Kopf nach rechts fallen, beobachtete Schuldig dabei, wie er fuhr.

„Nein, ich meinte, wenn DU lügst. Das ist doch das Märchen von Pinocchio. Er lügt und seine Nase wird länger, oder nicht?“

Seine Mutter hatte ihm damals einiges vorgelesen, auch wenn Aya im Geheimen immer davon geträumt hatte, dass ihm auch seine Oma etwas vorlesen würde, eine alte, lächelnde Frau, die ihn mit ihren dunklen Augen schelmisch musterte.

Doch das war eine Wunschvorstellung. Seine Großeltern waren verstorben, bevor er zur Welt kam, hatte ihm seine Mutter erzählt. Es war schade. Aya hätte sie gerne kennen gelernt.
 

„Du hattest Hämatome?“, hallte es nicht nur verbal sondern auch innerlich ein wenig in Schuldig nach. Sie hielten gerade an einer Ampel und er wandte sich durchaus erstaunt zu Ran um. „Warum sagst du mir das nicht?“

Shit. So etwas sollte doch nicht wieder vorkommen, verdammt.
 

Ayas Blick wurde doch recht zweifelnd. Er runzelte die Stirn.

„Ja, hatte ich. Vielmehr Druckstellen davon, dass du mich gegen die Wand gepresst hast. Aber fange jetzt bloß nicht an, dir deswegen Sorgen zu machen und mich wie ein rohes Ei zu behandeln! Wir sind früher ganz anders miteinander umgegangen und wie oft hattest du von mir und ich von dir ein Veilchen, als wir noch gegeneinander gekämpft haben?“
 

„Das war ja wohl etwas anderes, meinst du nicht auch?“, sagte Schuldig und bemerkte, dass die Ampel umgesprungen war und er wieder fahren konnte.

Entweder war Ran zerbrechlicher, als er vorgab zu sein, oder er selbst war grober, als er glaubte.
 

„Ja, ist es, aber es zeigt, dass unser Level für Gewalt höher liegt, als das eines normalen Menschen. Wenn man hier überhaupt von Gewalt sprechen kann. Eher, dass unser Leben roher ist als das eines Normalsterblichen.“

Aya sah da kein Problem, aber er merkte, dass es durchaus eines für Schuldig war. Die Frage nach dem Warum stellte sich hier jedoch nicht; er konnte sich vorstellen, dass Schuldig immer noch Angst hatte, ihn zu verletzen. Doch das würde nicht mehr geschehen, er würde sich nie mehr selbst verletzen. Nie mehr.
 

Schuldig sah dies ein, er seufzte lautlos und sagte dann mit müder Stimme: „Das mag so sein, Ran. Aber ich kann nicht abschätzen, wann es zu viel für dich wird und du es mir nicht sagst oder wann es zu viel für dich wird und du es so willst.“ Beides war schon vorgekommen. Wie sollte er unterscheiden können und es selbst genießen?
 

„Wenn es mir zuviel wird, sage ich es dir“, sagte Aya bestimmend. Sie beide konnten sich kein Misstrauen, keine Zweifel leisten. Außerdem wollte er nicht, dass Schuldig sich Vorwürfe machte wegen Dingen, die er ebenso wollte und die ihm gut taten, ohne dass sie ihn verletzten.

Er grübelte über die zweite Möglichkeit nach, die Schuldig erwähnt hatte.

„Du glaubst mir nicht, dass ich mich nicht mehr verletzen werde?“
 

„Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, dass ich es nicht abschätzen kann in solch einer Situation. Ich pass einfach nicht auf, wenn ich so weit weg bin, dass alleinig der Sex zählt.“
 

„Ich bin in der Lage, nein zu sagen, wenn du Dinge tust, die ich nicht will. Aber bisher ist das nicht vorgekommen. Warum machst du dir Sorgen darüber?“, fragte Aya nun selbst mit Sorge.
 

„Warum?“ Schuldig lächelte traurig. Er bog in die Einfahrt des Einkaufscenters ein, das im Untergeschoss kleine Essstände hatte, von denen sie sich etwas mitnehmen wollten - für Abends in der Badewanne.

„Weil ich immer erst hinterher erfahre, wenn ich etwas verbrochen habe und somit keine Gelegenheit es zu verhindern.“
 

Wenn du mir den Mund zuhältst, kann ich auch nicht sprechen, schmunzelte Aya in sich hinein, sagte es jedoch nicht. Er würde Schuldig eher verschrecken damit.

„Was hättest du denn verhindern wollen zu dem Zeitpunkt? Das gehörte mit zum Spiel, also hat es gepasst. Ich war zufrieden, du warst zufrieden, wir sind beide gekommen, weil es uns scharf gemacht hat…

Außerdem hast du nichts VERBROCHEN. Verbrochen hättest du etwas, wenn du mir wehgetan hättest – wissentlich und willentlich, aber so nicht.“
 

„Okay, ist gut“, Schuldig legte seine Hand auf Rans Oberschenkel und signalisierte, dass er Ran vertraute und er auf ebensolches Vertrauen hoffte.

„Willst du mit rein, oder soll ich deine Lieblingshäppchen mitbringen?“
 

„Ich komme mit, ich habe heute Lust auf etwas Besonderes!“

Auch wenn das Besondere sich vermutlich wieder auf das Gewöhnliche beschränken würde; er war da doch ein Gewohnheitstier.

Veränderungen waren nicht wirklich etwas für ihn. Doch sie hatten hier immer etwas zum Ausprobieren, was Aya durchaus gerne tat.

Aya nahm Schuldigs Hand auf und küsste sie.
 

o~
 

Sie gingen und ins Land ging auch die Zeit. Es wurde Frühling, so richtig. Mit allem drum und dran. Mit Wärme, mit frischen Farben, mit kurzlebigen Kirschblüten, den dazugehörigen Festen und der guten Laune, die sich bei Schuldig eingestellt hatte, seit das Leben kraftvoll aus dem Boden spross.

Ran arbeitete und er selbst … nun er selbst lebte von Luft und Liebe. Momentan saß er gerade auf ihrer Terrasse in einem Liegestuhl, schlürfte seinen Kaffee und telefonierte.

Es waren nur wenige Wochen vergangen und sie hatten Anfang Mai. Keine weiteren Überfälle, keine weiteren Verfolgungen, keine Typen, die etwas von ihnen wollten.

Aber… für Schuldig auch keine weiteren Aufträge. Für ganz Schwarz nicht.

Nagi genoss die Zeit in der Uni und vermutlich auch mit dem Blondschopf Takatori junior.
 

„…willst du ihm nachspionieren?“, fragte Schuldig Nagi gerade, da er sich darüber beklagte, dass Brad sich selten abmeldete, wenn er ging oder sie nicht wussten, wo er sich gerade aufhielt. Er sprach zu fast niemandem mehr als ein oder zwei belanglose Floskeln. Was Schuldig große Sorgen bereitete.
 

„Einem solch infamen Verhalten würde ich niemals frönen“, tönte es von Nagi zurück, indigniert und dennoch mit Sorge behaftet. Brad bereitet ihm Sorgen mit seinem Verhalten, große Sorgen sogar.

Ja, er hatte kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, Brad zu folgen oder seine Fährte aufzunehmen, doch wo war da das Vertrauen?

Sie waren Schwarz, ein Team, vielleicht sogar auch eine Familie. Brad tat das Richtige. Oder?

„Unsere Gegner halten sich ruhig momentan und Brad ist viel unterwegs. Das ist auffällig. Wir sollten vielleicht das Land verlassen.“
 

Schuldig kam mit Nagis Gedankengängen nicht mit, hatte aber momentan auch keine große Lust sich in den Kopf des Neunmalklugen einzuloggen.

„Was haben diese beiden Dinge gemeinsam…‚das Land verlassen’ und ‚Brad ist viel unterwegs’?“ fragte er deshalb nach und nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse.
 

Nagi seufzte schwer und frustriert. Ja, er sollte sich wirklich sammeln; er war unstrukturiert zurzeit.

Vermutlich lag es an Omi und dessen Verhalten. Es brachte ihn aus der Bahn, wenngleich sie noch nicht miteinander geschlafen hatten. Immer noch nicht.

„Brad ist viel unterwegs ohne uns Bescheid zu sagen. Du weißt nicht, wo er ist, ich weiß es nicht und Jei auch nicht, das ist nicht gut.

Was, wenn er Aufträge alleine ausführt? Wir sollten uns diesen ganzen Ärger ersparen und ins Ausland auswandern. Dort, wohin man uns nicht so schnell folgen kann.“
 

Ein Gähnen antwortete Nagi und Schuldig streckte die Beine auf der Liege aus. Er hatte den Liegestuhl so gestellt, dass er noch ein wenig der Abendsonne genießen konnte. Natürlich hatte er seine Sonnenbrille auf und tat so, als wäre es Hochsommer.

„Und das wäre wo? In einem kleinen Teil der Welt werden wir gesucht. Und im Rest davon fallen wir auf wie bunte Hunde.“ Schuldig überdachte die Möglichkeit konnte sich aber nicht wirklich dazu durchringen, sie als umsetzbar anzusehen.
 

„Es gibt immer eine Möglichkeit, unterzutauchen und das weißt du. Sie können uns nicht überall hin folgen und wenn wir die nächsten Jahre umherreisen, können sie auch unseren Spuren nicht folgen.“ Es würde anstrengend werden und an den Nerven zehren, doch sie wären in Sicherheit. Sie alle.

Und was war mit Weiß?

Nagi runzelte die Stirn. Dieses durfte ihn nicht aufhalten. Der junge Takatori war Abwechslung, er war etwas anderes als sonstige Menschen. Doch Nagi durfte sich emotional nicht an ihn hängen.
 

Als hätte Schuldig das gerochen, sprach er genau diesen Punkt an.

„Und was ist mit deiner kleinen Liebschaft? Takatori junior wird es dort, wo wir hingehen, nicht geben. Willst du dieses neue positive Lebensgefühl zu Lasten von räumlicher Sicherheit aufgeben?“ Eine rein hypothetische Frage und rhetorisch war sie zusätzlich. Für Schuldig lag der

Fall klar auf der Hand. Er würde lieber einen Fight mehr aufnehmen, als dass er sich verkriechen würde. Aber… er wusste ebenso gut genug, dass seine eigene Liebschaft das anders sah.
 

„Es geht hier nicht um räumliche Sicherheit, sondern um die Sicherheit, nicht gefangen und getötet zu werden. Oder als Versuchskaninchen zu enden. Was soll ich da mit einer Liebschaft, die mich den Kopf kosten wird?“ Nagis Ton enthielt Missbilligung. „Ich trage keine rosafarbene Brille.“
 

„Schade Kleiner, manchmal ist das nicht schlecht. Und ich sage dir noch eines, und das lass dir mal durch den Kopf gehen. Lieber einen Augenblick richtig gelebt als ein Leben lang im Einklang der Monotonie. Wir werden irgendwann durch die eine oder andere unschöne Art ins Gras beißen. An was willst du dich dann erinnern, wenn es soweit ist? An das Davonlaufen? Oder doch vielleicht an die schöne Zeit mit dem Blondschopf?“
 

Nagi schwieg. Das klang zu verlockend um wahr zu sein. Doch er hatte diese Art von Liebe noch nie in seinem Leben gespürt und was man nicht kannte, konnte man nicht vermissen, nicht wahr? Oder war gerade diese wohltuende Leere in ihm Zeichen seiner Unzufriedenheit, seiner Einsamkeit, die ihm zu schaffen machen würde?

Doch was, wenn der, für den er etwas empfand, starb? Nagi wollte nichts verlieren. Er war SCHWARZ, sie waren STARK, stärker als alle anderen je gewesen waren! Sie würden nicht untergehen, niemals! Doch ihre Anhängsel?

„Hast du keine Angst um deinen… deinen… um Ran?“, fragte er schließlich.
 

Da war die Antwort einfach. „Klar hab ich das. Aber Ran ist stark genug um mithalten zu können. Das hab ich begriffen, Kleiner. Er ist einer der wenigen, die wissen, auf was sie sich eingelassen haben. Und wie es momentan aussieht kriegt er die Kurve ins normale Leben. Zumindest, bis ihn seine Vergangenheit einholt… was sie irgendwie immer bei Leuten tut, die vor ihr abhauen wollen.“
 

„Aber er ist nicht wie wir. Er kann sich nicht so gut verteidigen wie wir… deswegen wurde er auch angegriffen und zusammengeschlagen. Genauso wie der Blonde. Sie können sich nicht wehren.“ Nagi runzelte für Schuldig unsichtbar die Stirn. Er hätte nicht gedacht, dass es in der Tat ein so großes Problem für ihn war.
 

Schuldig seufzte hörbar. „Sie können sich verteidigen. Es wird nur schwierig wenn sie zum Spielball irgendeiner Gruppe werden, die es eigentlich auf uns abgesehen hat. Der Meinung bin ich immer noch, auch wenn Ran glaubt, dass es durchaus auch Weiß sein könnte, die als Ziel ausgewählt wurden. Wir waren zu blauäugig, zu sehr auf Kritiker fixiert und das haben diese Penner ausgenutzt.“
 

„Wir müssen herausfinden, wer es ist und sie umbringen.“

Nagi würde sie einzeln in der Luft zerreißen, dafür, dass sie es gewagt hatten, Schwarz durch Weiß anzugreifen.

„Wenn Weiß unsere Schwachstelle ist, dann müssen wir sie hinter uns lassen, Schuldig.“

Auch wenn diese Möglichkeit nicht das war, was Nagi als realistisch erachtete. Müßig glitt das Wasserglas vor ihm hin und her, ungelenk etwas, aber er übte sich.
 

Dieses Gespräch ermüdete Schuldig langsam, aber es musste geführt werden mit Nagi. Denn mit Brad waren Gespräche seit langem eher ein Problem denn eine Lösung.

„Hör zu, Kleiner.“ Er stellte seine Tasse ab und erhob sich. Das Telefongespräch mittels Kopfhöher gesichert stand er auf und tapste mit nackten Füßen auf den kalten Fliesen die Terrasse entlang zur anderen Seite um über das Wohnzimmer in die Küche zu gelangen. Er trug lediglich Jeans und ein Shirt, auf dem stand: Ich bin der Held dieser Geschichte.

„Ich werde Ran erst hinter mir lassen, wenn er mir auf den Keks geht. Und das wird er in nächster Zeit nicht. Soweit ich das in der Zukunft sehen kann. Wenn er mich nervt, schieß ich ihn in den Wind. Alles klar?“

Er war im Wohnzimmer angekommen und warf einen Blick auf den laufenden Fernseher.

„Aus anderen Gründen werde ich ihn nicht aufgeben. Zumindest habe ich das nicht vor.“
 

Nagi lauschte auf die Geräusche im Hintergrund, die von Schuldigs Positionswechsel zeugten. „Was passiert, wenn du dich zwischen ihm und deinem eigenen Leben entscheiden musst? Wenn du die Wahl hast, entweder ihn zurück zu lassen oder selbst zu sterben, was würdest du dann tun?“

Er selbst nahm einen Schluck seines heißen Kakaos. Westlicher, weißer Kakao, den Omi ihm mitgebracht hatte, damit er an Gewicht zulegte.

Dabei aß er momentan doch wirklich viel. Mehr als sonst.
 

„Die Entscheidung ist einfach, Kleiner. Ihn zurück zu lassen wäre für mich im Augenblick gleichbedeutend mit dem seelischen Tod. Ich würde den körperlichen diesem Tod vorziehen. Du kennst mein seelisches Ungleichgewicht und ich habe mich noch nie so gut, so ausgeglichen gefühlt, trotz der Scheiße in China.“ Schuldig sah auf die Uhr an seinem Handgelenk und öffnete dann den Kühlschrank, holte das Fleisch heraus, welches es vorzubereiten galt. Ran würde bald nach Hause kommen und hatte sicher Hunger.
 

Am anderen Ende der Leitung begrüßte Schuldig Schweigen. Nagi war nicht wirklich weiter mit seinen Überlegungen, was ihre vertrackte Situation anging. Schuldig würde Ran nicht opfern, das stand fest. Was er mit Omi machen würde, wusste er nicht.

„Dir geht es wirklich gut seit damals“, erinnerte er sich an die Zeit, seit Ran noch unfreiwillig bei Schuldig war. „Erst hattest du Oberwasser, als er noch gefangen bei dir war. Und nun ist dieselbe Gelassenheit dadurch bedingt, dass du ihn liebst.“ Es klang seltsam in Nagis Ohren.
 

Schuldig begann das Fleisch zu zerteilen. „Ja zusammenfassend ist das so. Und du kannst mir glauben, mir gruselt bei der Vorstellung, diese Ausgeglichenheit zu verlieren. Davor habe ich mehr Angst als vor dem ins Gras zu beißen.“
 

„Was gibt dir diese Ausgeglichenheit? Alleine seine Anwesenheit?“

Nagi hatte immer noch nicht das Gefühl, wirklich zu verstehen, was hinter dem Begriff Liebe steckte.

Misstrauisch lauschte er auf die langsam verdächtig klingenden Geräusche im Hintergrund. „Was machst du gerade?“
 

„Menschenteile in mundgerechte Stücke hacken. Was glaubst du wohl?“, fragte Schuldig zweifelnd, erwartete jedoch keine Antwort.

„Ich bereite das Essen für ihn vor. Er kommt in zwei Stunden nach Hause. Und da er abends zu fertig ist um sich etwas Vernünftiges hinter die Kiemen zu werfen koche ich für ihn, bis er zuhause ist. Er hat einen Bärenhunger entwickelt, seit er arbeitet“, gluckste Schuldig leise vor sich hin.

„Wenn es nur seine Anwesenheit wäre, dann hätte ich ihn ebenso gut ausstopfen und an die Wand hängen können. Nein, ich glaube es ist eher, dass ich für ihn da sein kann, dass ich positives Feedback zurückbekomme, wenn es gut läuft und wenn es schlecht läuft, einen oder …zwei Arschtritte. Das ist dann weniger lustig, aber es hält mich unten. Auf dem Boden.“

Er dachte einen Moment nach und stellte seine Tätigkeit dafür ein. „Keine Ahnung, was es genau ist aber ich hab mich in ihn verknallt, will ihm nicht wehtun, möchte, dass er so anschmiegsam nur für mich sein will. Und dafür muss ich brav sein!“
 

„Du bist verschlagen und berechnend“, erwiderte Nagi zweifelnd. „Aber erfolgreich mit deinen Unternehmungen, ihn zu dir zu ziehen.“ Noch zweifelnder… dass es so einfach funktionierte, schien Nagi fast ZU einfach.

„Du kochst Essen für ihn. Das hast du für uns selten getan.“ Es war eine schlichte Beobachtung, nicht mehr und dennoch bestätigte es all das, was Schuldig gerade gesagt hatte.

Nagi hörte ein Geräusch im Hintergrund und fuhr herum, nur um mit Jeis ruhigem Auge konfrontiert zu sein, das ihn kurz maß, bevor der Ire sich in ihrem nun eingerichteten Wohnraum auf die Couch niederließ. Nagi ließ ihn.
 

„Was ist los?“ Schuldig hörte das kurze harsche Einatmen durch den Äther.
 

„Jei ist gerade zu mir gekommen“, gab Nagi Entwarnung. Er drehte sich wieder zur Aussicht auf den Garten.

„Was kochst du?“

Eine unerwartete Frage, doch irgendwoher musste Nagi doch Informationen bekommen, was das Kochen anging. Schuldig als lebendes Beispiel war günstig. Er kochte für Ran und dieser war auch noch zufrieden damit. Vielleicht konnte er Omi überraschen?
 

„Willst du das Thema wechseln?“, amüsierte sich Schuldig über diesen herben Themenwechsel. „Ich mache Bami Goreng.“
 

„Eine infame Unterstellung!“, empörte sich Nagi würdevoll. Eine kleine Weile schwieg er, dann gab er sich einen Ruck; einen wirklich großen.

„Machst du alles selbst? Nichts Fertiges?“
 

Aha. Schuldig ahnte, was die treibende Kraft hinter Nagis Fragerei war. „Nein, nichts Fertiges. Ist auch nicht schwer, Kleiner. Mie-Nudeln, Gemüse, Hähnchenfleisch, du kannst auch Meeresfrüchte rein tun und alles schön scharf. Das ist nicht wirklich schwer. Du kochst doch sonst auch, wo ist das Problem?“
 

„Ich habe dir lediglich eine höfliche Frage aus Interesse gestellt, da du sonst nicht so oft gekocht hast. Nicht mehr und nicht weniger!“ Sprach’s und glaubte es selbst nicht. Aber er musste sich ja schließlich irgendwie rechtfertigen, und durfte nicht so aussehen, als würde er für eine kleine Liebelei sich ins Zeug legen wollen!
 

„Ach so, ja ich verstehe, natürlich…“, meinte Schuldig und es hörte sich tatsächlich und auch so gewollt an, als würde er Nagi verarschen wollen.

„Sag mir Bescheid Kleiner, wenn Brad länger wegbleibt.“

Schuldig kam vor allem ein Gedanke, der zur Möglichkeit stand, was Brad ohne ihr Wissen trieb. Er konnte sich nicht vorstellen, was dieser ohne ihren Job tun sollte. Brad war ihm sehr ähnlich, was dies anging. Er brauchte diese Ablenkung, diesen geistigen und körperlichen Ansporn.
 

„Er war vor einer Woche länger weg… drei Tage. Er hat jeden Tag angerufen, sich aber nicht sehen lassen“, erwiderte Nagi nach einer längeren Weile zögerlich. Er wollte Brad nicht in den Rücken fallen, doch es war gefährlich. Zumal…

„Er hat kaum ein Wort gesprochen und sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen.“ Was ihr Haus nicht wesentlich wohnlicher machte, denn Nagi selbst hatte für Einrichtungsstil keinen Sinn. Jei brauchte er nicht zu fragen. Und Brad… Brad war bisher für solche Dinge zuständig gewesen.
 

Schuldig fühlte wie er mehr und mehr in die Verantwortung rutschte. Die er aber nicht wollte. Er hob den Kopf von seiner Arbeit, und ließ den nachdenklich gewordenen Blick, nach draußen gleiten.

„Wie geht es euch damit?“, rang er sich schweren Herzens durch.
 

„Wie immer. Der Stress belastet uns alle. Außer Jei, er ist wie immer.“ Also blieb quasi nur er selbst übrig. Brad schien so, als würde es ihn überhaupt nicht interessieren.

„Aber wir werden damit fertig, sind es immer geworden!“ Mutige Worte, doch angesichts der Tatsache, dass er schon einmal solche Angst ausgestanden hatte…

Nein, damals war sie schlimmer gewesen, denn die Angst vor der Strafe für den Verrat, den sie begangen hatten an SZ, wog immer noch schwer.
 

„Schon klar, Kleiner, aber bisher hat sich Brad noch nie derart aufgeführt. Und bisher war auch Brad derjenige gewesen, der den Laden am Laufen gehalten hat.“ Mit Laden meinte er nicht unbedingt Schwarz als Gruppierung und auch nicht Schwarz als Kollegen, er meinte jeden Einzelnen in seiner Persönlichkeit. Brad hatte ihnen Halt gegeben und diese Konstante fiel immer mehr in sich zusammen und mit ihr der Rest.
 

Genau das waren Nagis Ängste. Dass mit Brads Instabilität Schwarz auseinander brechen würde. Sie waren doch jetzt schon verstreuter als vorher durch den Einfluss von Weiß. Und den Anfang hatte Schuldig gemacht, er selbst war der Zweite gewesen.

Hatten sie ihre kleine Gemeinschaft zugunsten von sexuellen Bedürfnissen aufgegeben?

Nein, nicht nur, oder?

„Momentan ist das aber nicht der Fall“, erwiderte Nagi und horchte auf, als sich die Tür öffnete und Brad das Haus betrat, in seiner Hand eine Sporttasche.
 

„Nein, ist es nicht und deshalb müssen wir wohl oder übel unseren Hintern hochkriegen und die Sache selbst in die Hand nehmen“, gab Schuldig schweren Herzens zu.

„Ich muss mir ihn ohnehin noch mal ansehen, er hat wohl immer noch die Kopfschmerzen, wenn er Visionen hat. Die habe ich ihm noch nicht genommen. Er ließ mich nicht ran.“
 

„Ja, das solltest du tun, dafür bin ich auch. Das wäre sehr gut“, erwiderte Nagi unverbindlich, zu unverbindlich und begegnete Brads Blick, der nichts aussagte. Weder Missbilligung noch Entspannung, gar nichts! Vielleicht würde es sogar Besserung bringen, aber er glaubte es nicht wirklich… nicht, wenn Brad weiterhin so gereizt auf Schuldig reagierte.
 

„Höre ich da heraus, dass das Objekt unseres subordinären Gesprächs anwesend ist?“

Schuldig legte das Fleisch in die Würzsauce ein und stellte es abgedeckt in den Kühlschrank. Er fragte sich selbst, wie er in Brads Geist eindringen sollte ohne dessen Zustimmung? Um ihm zu helfen - ihn überfallen?
 

„Ja, das könntest du so sagen.“ Ein Blick auf Brad zeigte ihm, dass der ältere Mann völlig desinteressiert sein Zimmer aufsuchte und sich dort vermutlich seiner Sachen entledigte. „Am Besten, wir beenden das Gespräch und du kommst bald vorbei. Es wäre besser.“
 

„Sieht er… schlecht aus?“ Schuldig hielt am Kühlschrank inne.
 

„Stumpf, seine Augen haben kein Feuer.“ Nagi runzelte die Stirn und begegnete Jeis Blick, der ihn immer noch schweigend maß.
 

Kein Feuer.

Schuldig ließ die Packung Nudeln sinken, die er gerade aus dem Schrank gezogen hatte.

„Ich versuche, ne Lösung zu finden, Kleiner. Versprochen.“ Seine Stimme klang selbst in seinen Ohren etwas müde und nicht wirklich zuversichtlich.
 

„Ich komme nicht durch.“ Zu ihm. Zu ihrem alten Anführer, dem Teufel, dem Erwachsenen, der Nagi einen Halt gegeben hatte, eine klare Linie.

Nagi hatte Schuldig in relativ wenigen Dingen um Hilfe gebeten, doch jetzt tat er es; er MUSSTE es tun.
 

Wie diese Lösung aussehen sollte wusste Schuldig noch nicht aber ihm dämmerte es, dass sie nicht sanft von Statten gehen würde.

„Ich muss hier weiter machen, Nagi. Was hältst du davon wenn ich dich morgen nochmal kontaktierte. Vielleicht ist mir bis dahin etwas eingefallen.“
 

„Das würde mir gut passen“, stimmte Nagi dem Telepathen zu. Heute Abend würde er sich mit Omi treffen, insofern Brad keinen Auftrag für ihn hatte.

Doch das war wenig wahrscheinlich.
 

„Bis dahin, Kleiner.“ Schuldig kappte die Verbindung und nahm das Headset ab, legte es auf die Anrichte. „Oh man.“

Er fühlte sich schlecht. Wie immer eigentlich, wenn er sich zu sehr mit dem Problemfall in ihrer kleinen illustren PSI Runde befasste. Und das nicht einmal persönlich.

Er scheute sich davor mit „himself“, dem großen „master of desaster“ Bradley Crawford zu sprechen. Es artete ohnehin wieder in Streit aus.
 

o~
 

Selbst das Sitzen im Wagen und Warten, dass der Verkehr voranging, schlauchten Aya. Er hatte heute eine anderthalbfache Schicht geschoben, da Yukiko, eine Arbeitskollegin, erst später konnte. Ihr Mann war wie so viele zurzeit krank geworden.

Zudem hatten es heute anscheinend alle Tokyoter auf den Laden abgesehen. Das Laugh war brechend voll gewesen, kein freier Tisch mehr und stellenweise totales Chaos.

Doch das Chaos hatte seine Herrscher gefunden! Gabriele, Sora und Aya hatten das Ganze am Laufen erhalten, ohne Pause ohne gar nichts, mit blank liegenden Nerven und knurrenden Mägen.

Aya schloss die Augen und riss sie einen Moment später wieder auf, als hinter ihm wütendes Hupen ertönte.

„Ruhe dahinten!“, knurrte er bösartig und bewegte sich exakt drei Meter vorwärts. Dieses Kriechtempo machte mürbe.
 

Dieses Kriechtempo inklusive Gehupe hatte Aya dann nach einer weiteren halben Stunde so mürbe gemacht, dass er in der Tiefgarage seinen Kopf auf das Lenkgrad legte und die Augen schloss, alles von sich wegwünschte.

Seine Glieder taten weh, ebenso wie sein Kopf und sein Magen sowieso. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen? Schon länger her vermutlich…

Aya stöhnte auf und ließ sich zurückfallen, nahm seine Umgebung wieder bewusst wahr. Er musste nach oben.

Da war sein Bett.

Da war Schuldig.

Auf ihrem Bett.

Nackt vielleicht.

Er würde heute sicherlich nicht der oben liegende Part sein, sollte Schuldig Lust haben. Er würde sich bespaßen lassen. Und vermutlich dabei einschlafen, wenn es so weiter ging.
 

Aya quälte sich aus dem Wagen und ging langsam, aber hoch wachsam durch die Tiefgarage zum Aufzug. Er trug immer eine Waffe bei sich, wenn er alleine war. Doch wie die letzten Wochen auch, passierte gar nichts.

Weder ihm, noch seinen Freunden, niemandem. Eine Sicherheit… eine trügerische.
 

Der Aufzug brachte ihn nach oben und er zog die Karte durch das Schloss. Gleich am Eingang tönte ihm leises Maunzen entgegen und grüne Augen funkelten von der Kommode zu ihm hoch.

„Hey Entdeckerin!“, murmelte er liebevoll und nahm sie auf den Arm, ein Kraftakt, wie er fand. Er verschloss und verriegelte die Tür hinter sich. Es roch nach Essen, nach frisch gekochtem.

Den Geräuschen nach zu urteilen duschte Schuldig und Aya folgte dem Plätschern ihrer Dusche. Er musste erst immer sehen, ob alles in Ordnung war.

Er suchte das Badezimmer auf und lehnte sich an die Tür.
 

Alleine der Anblick…
 

Schuldig bemerkte Rans Eintritt in die Wohnung, weil an dem kleinen Bildschirm am Badezimmereingang ein Lämpchen leuchtete und ein akustischer Alarm angesprungen war, der nach dreimaligem Piepen verkündete, dass Ran zuhause war.

Schuldig wusste auch, dass Ran zunächst zu ihm kommen würde um sich zu vergewissern, dass auch alles im grünen Bereich war. Deshalb trat jetzt auch Schuldig aus der Dusche, als er Ran an der Tür stehen sah. Er griff sich ein Handtuch, rieb sich die Nässe aus den Haaren und wickelte sich ein zweites um die Hüfte.

„Hey…“, sagte er aufmunternd und grinste Ran an. Er ging auf ihn zu und bemerkte beim Näher kommen, wie müde Ran aussah. Die Augen waren trüb und Ran schien nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken zu können.

„Na, mein müder Krieger? Alle Schlachten geschlagen?“ Die Worte unterstrichen ein Kuss und ein liebevolles Streicheln über die Wange. „Du siehst fertig aus.“
 

„Dann solltest du die anderen sehen“, lächelte Aya und schloss wiederum die Augen, lehnte sich an die Hand, bedachte sie gleichzeitig mit einem sachten Kuss.

„Der Tag war anstrengend, ich möchte nur noch schlafen“, seufzte er. „Aber wie geht es dir? Was hast du gemacht?“ Sein Blick nahm den der grünen Augen wieder auf und hielt ihn fest.
 

„Sollte das ein Themenwechsel sein? Eine Ablenkung über die Grauen des Kriegsschauplatzes?“ Schuldigs Augen funkelten vor Vergnügen und vor allem vor Zuneigung.

„Ich habe mit Nagi telefoniert, hab mir die spärliche Sonne auf den Pelz brennen lassen, hab trainiert, war einkaufen, habe… gekocht…!“ Er wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen.
 

„Sehr gut, das bewahrt dich vor einem Aufgeknabbert werden, einem schnellen, hungrigen!“ Aya lächelte müde und streckte sich, damit auch all seine Hals- und Rückenwirbel, die sich lautstark darüber freuten.

„Du siehst auch schon wohlbeleibter und wohlgeformter aus!“ Was wirklich stimmte. Schuldig hatte wieder zu seinem Normalgewicht gefunden und zu neuen Muskeln.

„Also, wo ist das Raubtierfutter?“
 

Schuldig löste sich von Ran und ging zum schmalen Schrank, den sie hier stehen hatten um sich einen Bademantel zu nehmen und diesen überzustreifen. Extrakuschlig!

„Ich bezweifle, dass du hier noch eine Beute, egal wie groß… oder klein sie sein mag, erlegen wirst…!“, lächelte er gönnerhaft.

„Deshalb habe ich dir leicht zu kauende, klitzekleine Stückchen geschnitten“
 

„Dafür bin ich dir sehr dankbar“, seufzte Aya und rutschte mit Banshee auf dem Arm am Türrahmen hinunter. Sie schnurrte, liebte sie es doch, auf dem Arm zu liegen und sich kraulen zu lassen.

Sitzen tat gut. Entspannen tat gut. Faulenzen tat gut. Einfach einmal leiden tat auch gut.
 

Ah, da hatte aber jemand die nächste Evolutionsstufe erreicht. Vom starken Mann Gehabe zum kummervollen, abgeschufteten Elend auf zwei attraktiven Beinen.

Schuldig sah sich das Elend für einen Augenblick an und schmunzelte dann.

„Was hältst du davon, wenn wir essen und uns dann mit einem Glas Rotwein auf die Terrasse im Schlafzimmer setzen und dann ins Bett fallen?“
 

„Sehr viel, da halte ich sehr viel von!“ Nur machte Aya keine Anstalten, sich zu erheben, jetzt, wo er einmal saß und es auch noch bequem war. Selbst seine Haare störten ihn nicht, mit denen Banshee gerade spielte und die sich in einer Schlange in seinem Schoß zusammengekringelt hatten. Wie lang waren sie mittlerweile? Über Hinternlänge, vermutete Aya. Schuldig mochte sie, sehr sogar. Er auch. Wenn er sich nicht auf sie setzte, wenn nicht an ihnen gezogen wurde, wenn er nicht hängen blieb, wenn sie keine Knoten hatten…

„Trägst du mich zum Küchenbereich?“
 

Das Leiden Christi. In persona.

Schuldig gürtete den Bademantel zu, während er zu Ran ging und auf ihn hinab sah. „Ich dachte, du magst es nicht, von mir herumgetragen zu werden wie eine Braut?“
 

„Manchmal frisst der Teufel fliegen“, grollte Aya mit einem Blick nach oben, lupfte gleichzeitig den Bademantel, damit er sehen konnte, ob noch alles da war.

Sehr gut.

Alles unversehrt.

Perfekt!

„Ich mag es nicht, das stimmt, aber der Weg bis zur Küche ist nicht zu schaffen. Niemals. Nicht heute.“
 

„Fliegen? Wie wäre es…“ Schuldig ging in die Hocke und sammelte Ran auf, rutschte ihn zurecht und hob ihn hoch. „…wenn der Teufel andere Dinge… zwischen seine Lippen nehmen würde… Fliegen… sind doch eklig…“

Banshee hatte sich auf den Boden geflüchtet nachdem Ran sich mit seinen Armen festhielt.
 

„Glaub mir, heute wäre das eine sehr einseitige Angelegenheit für dich, wenn ich mittendrin oder mittendrauf einschlafen würde.“ Aya lehnte sich an Schuldig und ließ sich tragen. Ja, das tat gut. Einmal würde er es sich gönnen!

Gemeinsam erreichten sie die Küche und Aya wurde auf einem der urbequemen Stühle abgesetzt.
 

„Erzähl, was war los heute?“

Schuldig holte das Essen vom Herd und arrangierte es auf ihren Tellern. „Willst du etwas zum Essen trinken?“
 

Unabhängigkeit schön und gut, heute aber genoss es Aya einfach, bemuttert und umsorgt zu werden.

„Saft!“, kam es nuschelnd, da schon eine Gabel samt Last in seinem Mund steckte. Nun aber wartete Aya, kaute und schluckte das leckere Essen mit Genuss hinunter.

„Toll! Wunderbar gekocht!“ Sein Blick schwelgte nach draußen. „Chaos total, ganz Tokyo bei uns! Wir haben zu dritt geschuftet und sind alle fertig! Und Gabriele muss sich noch um Yuki kümmern, ihr geht es momentan nicht gut.“ Sie waren mittlerweile beim Du angekommen. Ungewohnt für Aya, aber nicht unangenehm.
 

Schuldig schmunzelte und er holte Ran den gewünschten Saft und schenkte ihm ein. Dann erst setzte er sich ihm gegenüber und beäugte diesen neuen, diesen anderen Ran, während er aß und ihm zuhörte.

Ran wirkte wie ein Junge. Ein Junge der seinen ersten Job hatte, der aufgekratzt vor Müdigkeit war. Er liebte diesen Ran. Er hatte ihn sich gewünscht.

„Wann kommt das Baby denn?“
 

„In vier Wochen! Aber es gibt Probleme und sie musste sich hinlegen. Gabriele geht auf dem Zahnfleisch… ich wünsche ihr, dass die Geburt reibungslos verläuft.“ Und schon fand der nächste Schaufelbagger seinen Weg in Ayas Mund. Und schon wieder der nächste.

Er hatte Hunger wie schon lange nicht mehr! Sein Blick schweifte zu Schuldig, lächelte kurz und er aß weiter. Erst einmal die primitiven Bedürfnisse befriedigen!
 

Schuldig bezweifelte, dass Ran etwas von seinen Kochkünsten schmeckte, die einzelnen Facetten des Geschmacks herausfilterte… nein, Ran schaufelte in sich hinein als gäbe es kein Morgen mehr. Kein geziertes Herumgestochere, wie es manchmal der Fall gewesen war.

„Geht sicher alles gut. Aber jetzt bist du gefordert. Du bist ja ohnehin nur deshalb eingestellt worden, damit du sie ersetzen kannst. Momentan also ein sicherer Job, wie’s aussieht.“ Bei all den Schwangerschaftsproblemen sollte man nicht die positiven Auswirkungen außer Acht lassen.
 

Aya ließ sich nun etwas länger Zeit um den Bissen zu kauen, den er gerade im Mund hatte. Genau eine Millisekunde mehr.

„Sie meinte zu mir, dass sie sich erst einmal zurückziehen wird, wenn das Kind da ist. Also ist der Job wirklich relativ sicher. Und wenn nicht, findet sich immer etwas.“ Und wenn es nur das Töten war, doch dorthin wollte Aya nicht mehr zurück, im Leben nicht!

Schuldig hatte noch einiges auf dem Teller, als Aya seine letzte Gabel nahm und für einen Moment überlegte, sich dann ohne viel Federlesens eine zweite Portion auf den Teller lud.

Sein Magen hatte immer noch Hunger.

Er auch.

„Sehr gut… lecker das Essen! Du kochst gut!“
 

Der Koch aß wesentlich langsamer, er war viel zu beschäftigt damit Ran zuzuhören und diesen neu erwachten Lebenshunger an diesem zu beobachten.
 

"Ist ja alles sehr interessant, aber findest du nicht, dass du jetzt langsam mit der Wahrheit rausrücken solltest?", sagte er langsam, deutete mit der Gabel auf Ran und zog auffordernd eine Augenbraue gen Stirn.
 

Überraschte violette Augen trafen auf prüfende Grüne.

„Welche Wahrheit? Was meinst du?“, war er sich nicht wirklich sicher, was der Andere meinte. Aya ließ die Gabel sinken, immer noch ein bisschen auf seinem Teller.
 

Schuldig legte langsam, fast bedeutungsvoll die Gabel ab und erhob sich, sein Gesicht verriet nichts von seinen Gedanken.

Er griff über den Tisch, packte Rans Shirt und zog daran, beugte sich über den Tisch. „Wo hast du Ran versteckt? Ich habe dein Spiel durchschaut! Ihr habt Ran entführt und mir diesen normalen, anschmiegsamen, gefügigen jungen Mann hier gelassen, der sich herumtragen lässt, der in sich hinein schaufelt, als gäbe es morgen nichts mehr zu essen und der über Dinge in seiner sozialen Umgebung spricht!“
 

Stille.

Absolute Stille herrschte zwischen ihnen beiden.

Violette Augen bestätigten Schuldigs Verdacht für einen Moment, dass er nicht… er war. Leichter Unglauben tränkte die Mandelaugen, die den anderen Mann nicht außer Acht ließen… auf IRGENDETWAS warteten…

„Ähm… ich… wir… das sagen wir dir nicht!“, brachte er mit Verspätung heraus und mit einigen Schwierigkeiten. „Niemals!“ Ein böser, dunkler Blick traf Schuldig.
 

Schuldig musste all seine Selbstbeherrschung aufbringen um nicht loszulachen. Aber er war ja kein Anfänger im Showbusiness.

Er kam noch näher an Rans Gesicht, ihre Augen waren in einem intensiven Blick ineinander verschränkt und plötzlich schienen Rans Augen gar nicht mehr müde zu sein.

Er hielt den Blick bei, berührte die verlockenden Lippen, die nach Gewürzen schmeckten und ließ Ran dann wieder los. Schuldig setzte sich zurück und fing wieder an zu essen.

„Auch gut. Ist ja auch nicht ganz so schlimm. Essen wir erst einmal und später können wir dann zu den Folterpraktiken überlegen, gleich nach dem Drink mit dem Wahrheitsserum!“, meinte er lapidar.
 

Dass Aya reichlich verdattert aussah, wusste er auch ohne in den Spiegel zu schauen. Vor allen Dingen nach Schuldigs letztem Gesagten.

Er leckte sich langsam die Lippen und versuchte, sich auf Schuldigs Worte einen Reim zu machen. Einen sinnvollen Reim.

„Du willst mich foltern? Traust du dir das zu? Wer sagt, dass ich mich von dir foltern lasse, hm?“, schnurrte Aya und seine Stimme gewann einen eindeutig lasziven Touch. „Und wer weiß, was dir das Serum offenbart, hm?“

Rache musste sein! Ja, das musste sie!
 

„So schnell wird also ein müder Ran zu einem sehr interessierten, aktiven Ran?! Ist ja interessant…“, lächelte Schuldig und hob den Blick in Rans Gesicht.

„Du bestreitest also gar nicht, dass du nicht mein echter Ran bist?“
 

„Die Frage ist, was ist echt und was ist die Matrix?“

Ein teuflisches Lächeln umspielte Aya Lippen, gepaart allerdings mit einem vollständig unschuldigen Blick.

„Wer weiß, wer Ran wirklich war?“

Eine sehr gute Frage, denn all die Jahre war er dem 15-jährigen Jungen, der er einmal gewesen war, nie so nahe gekommen wie jetzt. Nie.
 

„Tja, da ist was dran an dieser Frage.“ Schuldig war nicht mehr nach Essen zumute. Wollte Ran bespaßt werden oder warum sprang er derart lasziv auf den Wagen auf?

„Es gibt nur einen Weg herauszufinden, ob du der echte Ran bist! Nur eine Methode…“

Schuldig erhob sich und ging hinüber zur Arbeitsfläche um den Rotwein zu öffnen. „Das ist ein längerer und durchaus auch quälender Prozess“, erklärte er während er die Weinflasche öffnete und zwei Gläser hervorholte.
 

„Oh Gnade!“, flehte Aya und folgte Schuldig mit seinen Augen, wachsam wie immer genau darauf lauernd, dass der andere etwas tat, was mehr als gut war.

„Sag mir, Foltermeister, wie lange wird meine Qual dauern?“

Gut, vielleicht war er wirklich nicht mehr ganz so müde, wenn auch erschöpft. Aber er war bereit für etwaige Schandtaten in eine nicht ganz jugendfreie Richtung, soweit er sich nicht verausgaben müsste heute Abend.
 

„Vermutlich solange, wie jede Folter dauert, bis du das Bewusstsein verlierst“, unheilte Schuldig und wandte einen viel versprechend bösen Blick über die Schulter Ran zu. Er schenkte ihnen den Rotwein ein, verkostete ihn und befand ihn treffend für diesen Abend. Er nahm beide Gläser auf und ging zu Ran… an ihm vorbei…

„…iss fertig und komm dann auf die Terrasse und von dort ins Schlafzimmer“, lächelte er und entschwand in den Flur Richtung des angekündigten Treffpunktes.

Das Lächeln war nicht wirklich freundlich, es war eher eine liebe Drohung.
 

Genauso wurde es auch aufgenommen. Diese Art von Lächeln hatte er schon einmal gesehen und es war kein wirklich liebes Lächeln.

Eher… dunkel und gefährlich.

Aber dafür liebte Aya Schuldig.

Langsam, bedacht darauf, möglichst viel Zeit verstreichen zu lassen, aß er zu Ende und genoss das, was Schuldig gekocht hatte. Danach stellte er seinen Teller in die Spülmaschine, räumte auf und kam dann auf die Terrasse geschlendert.

So, bis er das Bewusstsein verlor? Große Worte!
 

So groß waren die Worte gar nicht angesichts der Tatsache, dass Ran zu anfangs seine überaus große Müdigkeit bekundet hatte. Lautstark und auch jammervoll.

Schuldig hatte sich auf einen der beiden Liegestühle gesetzt und lehnte an der Rückenlehne, sein Glas Wein zur Hälfte geleert.

Er sah Ran entgegen und maß ihn von unten nach oben bis er zu dem dunklen Violett kam. „Zieh dich aus“, sagte er leise, aber doch gut zu verstehen.
 

„Warum sollte ich?“, grinste es diabolisch Schuldig entgegen und Aya legte den Kopf schief, lehnte sich an das Geländer.

Seine Haltung war offen, gewährte Schuldig einen guten Blick auf das, was noch durch Kleidung bedeckt war. Seine Haare lagen durch Zufall vorne und schlängelten sich seinen Brustkorb hinunter.
 

Natürlich… der gute alte Freund Zufall.

Schuldigs Lächeln vertiefte sich in die dunkle Note. „Weil ich es nicht machen werde.“

So einfach war das. Er wollte Ran müde machen, arbeiten lassen, abfüllen…

Aber das musste er ja nicht gleich wissen.
 

„So, und warum denkst du, dass ich mich zwar in völliger Dunkelheit, aber auch Kühle, vor dir ausziehen werde, obwohl ich nicht weiß, was ich daraus bekommen werde.“

Es würde ein Dominanzkampf zwischen ihnen werden, aber Aya wusste, dass er ihn heute verlieren würde und wollte.

Ja, heute wollte er mal ganz nicht er selbst sein!
 

Es war still hier oben, nur die Möwen kreischten und das Wasser plätscherte an den Kai etwas weiter weg.

Schuldig ließ sich Zeit mit der Antwort.

„Oh… du weißt gut genug, was du bekommen wirst. Nur wenn du weiterhin so viel unnützes Zeug redest, bekommst du vielleicht gar nichts… wer weiß?“, sagte er im Tonfall, der in so manchem Kampf Weiß gegen Schwarz gefallen war. Einschmeichelnd und gleichzeitig schonungslos, und vor allem… kalt.

Er musste die gesunde, anturnende Mischung finden um Ran zu reizen. Ein schmaler Grat.
 

Genau dem näherten sie sich an. Sie schwankten zwar noch unter ihm, hatten noch nicht die perfekte Balance zwischen Bösartigkeit und Lust gefunden, doch sie waren auf dem besten Weg dahin.

Zumindest war der Stich an Begierde in Ayas Unterleib nicht zu verneinen. Er räkelte sich und spielte mit dem langen Zopf, der Schuldig nach wie vor faszinierte.

„Und wenn ich nichts bekomme, wenn ich ungeschoren davon komme, was dann?“ Ebenso wie Schuldigs Ton kalt war, war seiner distanziert, fern.
 

„Ich verspreche es dir. Und… habe ich in dieser Hinsicht je ein Versprechen gebrochen?“ Schuldig trank einen Schluck Wein, bot Ran seinen allerdings immer noch nicht an, der in Schuldigs Nähe stand, jedoch nicht… ganz und gar nicht in Rans Reichweite, was gut so war.

Dieses Mal war seine Stimme eindeutig sexlastiger.
 

Nein, das hatte Schuldig nicht, nicht wirklich. Er hatte Versprechen nur anders ausgelegt… öfter mal. Doch…

„Soso, du versprichst es mir?“, hauchte er durch das Rauschen hinweg und seine Finger umspielten den ersten Knopf seines Hemdes, lösten ihn.

„Und dann legst du Versprechen anders aus.“ Der zweite Knopf folgte. „Was mich wiederum in prekäre Situationen bringt.“ Der dritte Knopf.

„Nicht, dass mich das stören würde.“ Die letzten Knöpfe rissen zusammen mit seinem Hemd auf, als er es von den Schultern gleiten ließ.
 

„Soweit ich weiß, gefallen dir prekäre Situationen und du bist ein Spezialist darin sie so umzuwandeln, dass sie ein positives Ende nehmen.“ Schuldigs Augen folgten den Fingern, die die Knöpfe lösten.
 

„Das ist wahr, das war schon immer meine Fähigkeit.“

Ayas Finger öffneten die Hose, ließen sie hinunterfallen. Er hatte keine Schuhe und keine Socken mehr an und Unterwäsche hatte er heute nicht getragen – was Schuldig nicht gewusst hatte.

Die Hose beiseite tretend, griff er an seinen Pferdeschwanz.

„Du gefällst mir in prekären Situationen“, lächelte er und löste bei jeder Silbe den Zopf ein wenig mehr, bis die roten, langen Haare frei über die Brüstung flossen, an der er lehnte und die sich kühl in seinen Rücken drückte.
 

Schuldig sah mit wachsender Begeisterung zu wie sein Plan funktionierte, und er liebte es, wenn seine Pläne funktionierten. Ran streifte mit einem Fuße seine Hose beiseite… und dieses kleine Schlitzohr hatte keine Unterwäsche an. Den ganzen Tag nicht angehabt. Unter dieser Hose hatte sich also nur die pure nackte Haut seines Rans befunden.

Schuldig genoss den Anblick des manipulativen Adonis vor sich und erhob sich, sein Weinglas mitnehmend, kam er zu Ran. Er fuhr mit einer Hand großflächig über dessen Brust, bis hinunter zum Unterbauch auf dem er sie liegen ließ. Es war kühl und windig und Rans Haare flatterten wie ein blutrotes Banner. „Sehr dramatisch“, wisperte Schuldig rau und setzte Ran den Wein an die Lippen. „Trink…trink aus, es wärmt dich.“, taten seine Lippen an Rans Ohr kund, was er verlangte. Das halbe Glas auf einen Zug… das würde Ran wärmen.
 

Es wärmte Aya tatsächlich, als er schluckte und der Alkohol warm in seinem Mund und von dort dem Rachen hinunterrutschte.

Sein Magen freute sich, was seine Augen widerspiegelten, als er Schuldig dabei in die Augen sah und gleichzeitig dessen Hand auf seinem Unterleib spürte, wie sie warm lag… warm hielt.

Denn der Rest des Körpers war sich durchaus bewusst, dass es recht kühl war.

Es drehte sich leicht, als er das Glas intus hatte, doch es war ein angenehmes Drehen.
 

Schuldig stellte das leere Glas am unteren Teil der gemauerten Brüstung ab, öffnete seinen Bademantel und zog Ran ganz nah an seine nackte Haut, hüllte ihn dann mit dem Rest des Stoffes so gut es ging ein. Seine Lippen nippten an dem dünnen Rinnsaal Rotwein welches an Rans linkem Mundwinkel zu schmecken war. Er hatte ihm wohl den Wein zu schnell reingekippt.

Aber das machte nichts, denn sein Ran hatte es bravourös gemeistert.

Schuldig spürte wie Ran sich innerlich fallen ließ, obschon er äußerlich wie immer den tapferen Sexmaniac mimte.

„Du bist hundemüde“, murmelte Schuldig an die seidig kühle Textur der Wange. Der Boden war kalt und Ran stand mit bloßen Füßen darauf.
 

„Gerücht!“, behauptete eben jener muffelige Sexmaniac, der seine Füße zumindest teilweise auf Schuldig geparkt hatte. Er schmiegte sich an die Wärme und schloss die Augen, lauschte den Geräuschen, die von der Stadt zu ihnen herübergetragen wurden.

Es war Frieden… momentaner. Entspannung.

Und für die nächsten drei Tage würde es auch Entspannung bleiben, da Aya frei hatte nach zwei Wochen langem Arbeiten. Er freute sich.
 

„So?“ Schuldigs Teufelsantennen hörten diesen Widerspruch natürlich nur zu gerne.

„Dann würde ich sagen, gehen wir nach drinnen und du betätigst dich noch etwas in körperlicher Ertüchtigung. Nach dem Essen gleich ins Bett ist doch nicht gut und denk an den Nachtisch, der deine Lippen noch nicht passiert hat.“

Gut, er hätte auch sagen können: So mein lieber Ran, wenn du meinst, du bist noch so fit, dann blas mir gefälligst einen! Doch ganz so drastisch wollte Schuldig nicht mit der Tür ins Haus fallen.
 

„Eine gute Idee“, erwiderte Aya und es entkam ein kleines Gähnen seinen Lippen. Vielleicht doch nicht so wirklich, aber nein, er wollte noch, ganz sicher!

Zumal er schon nackt war, wohlgemerkt!

„Und was für einen Nachtisch gibt es heute? Sahnecreme mit Zimtstange?“ Seine Gedanken waren sicherlich nicht jugendfrei. Und sicherlich auch nicht müde!
 

„Nein, Zimtstange mit Sahnecreme“, korrigierte Schuldig und fragte sich tatsächlich, wie Ran das noch auf die Reihe kriegen wollte. Es sollte ja nur ein kleines Vorbereitungsszenario werden und er hatte vor, Ran sanft in den Schlaf zu bespaßen. Aber ob das funktionieren würde?

„Komm mit“, sagte er und nahm Ran an der Hand, achtete darauf, dass dieser seine Füße von den seinen nahm und zog ihn hinter sich her ins Schlafzimmer.

Vor dem Bett blieb er allerdings stehen, zog Ran an sich und schob seine Zunge zwischen die immer noch nach Wein schmeckenden Lippen. Der darauf folgende Kuss stand seiner umtriebigen Hand in Punkto Forscherdrang in nichts nach. Vor allem Rans bestes Stück wurde mit geübten aber dennoch harschen Strichen zur gewünschten Größe gebracht. Er hatte nicht vor, Ran so schnell ins Reich der Träume zu entlassen.

Seit einer Woche hatten sie bereits keinen Sex mehr gehabt und nur deshalb, weil Ran jeden Tag müde von der Arbeit nach Hause kam und eigentlich zu nichts mehr fähig war außer das zu essen was Schuldig ihm vorsetzte, sich zu duschen und die Zähne zu putzen. Heute würde die Dusche und das Zähne putzen ausfallen…
 

Auch wenn Aya zu müde zum Stöhnen war, so genoss er Schuldigs Aufmerksamkeit doch in allen Zügen und mit jeder kleinsten Faser seines Daseins.

Sein Körper hatte zu lange ohne Schuldig verbracht die letzte Woche, als dass ihn jetzt nicht jeder Strich, jede Berührung, jeder Kuss anmachen würde, erregen würde. Ein kleines, minimales Stöhnen entkam ihm aber jetzt doch, als es schier zuviel wurde, dennoch keine Erlösung kam.

Nichts… nur quälende Härte, die Schuldig da hielt, wo sie war.

Er grollte leise.
 

Ah sehr schön, lobte Schuldig mit einem zufriedenen Grinser.

„Je schneller du dir deinen Nachtisch holst, desto schneller erlöse ich dich von dem Übel“, lächelte er vertraulich zu Ran und kam sich schon selbst so vor, als wäre er ein böser Freund. Rans böser Freund Schuldig.

Er selbst war halb erregt, doch es fehlte noch ein gutes Stück, damit sein gutes Stück sich in Ran schieben konnte…
 

Für einen Moment wollte Aya nicht verstehen, was Schuldig ihm damit sagen wollte. Wie… Nachtisch holen? Er war doch selbst schon überreif.

Mehr als das.

Er musste kommen!

Schuldig…

Dieser…

Aya öffnete die Augen und löste sich von Schuldig. Sein Violett kollidierte mit dunklem Grün, als er sich an dem Körper des anderen reibend nach unten glitt und dort auf seine Knie kam. Es SCHMERZTE, aber wer war er, dass er sich beschwerte?

Ohne seine gewöhnliche Sturheit, sah er schweigend zu Schuldig hoch, die pure Verführung in seinen Augen.

Seine Finger schoben den Stoff des Bademantels etwas weiter auseinander und näherten sich schließlich Schuldigs bedürftigem Stück Fleisch.
 

War Ran so langsam, weil er halb einschlief, obwohl dessen Augen bis auf die darunter liegenden Ringe nicht ganz danach aussahen, ganz im Gegenteil. In ihnen lag das Feuer, das sich Schuldig schon die ganze Woche für sich gewünscht hatte.

Oder war er so langsam, weil er ihn foltern wollte? Schuldig war sich nicht so ganz schlüssig.

Die Finger seiner linken Hand griffen in Rans Haar, ließen seidige Strähnen zwischen ihnen hindurchgleiten und fächerten Rans Haar hinter dessen Ohr.

Rans Atem brach sich an seiner Haut und vermischte sich mit den Geräuschen der Stadt und des Meeres.
 

Ein wenig Unsicherheit war in den Augen des Telepathen zu lesen und für einen Moment heizte eben das die sadistische Seite des rothaarigen Japaners nur noch mehr an.

Er strich blind über das halb aufgerichtete Glied Schuldigs und richtete seinen Blick dann auf seinen… Nachtisch.

Zimtstange mit Sahne.

Eine große Zimtstange.

Gänzlich auf seine momentane Aufgabe beschränkt, küsste sich Aya seinen Weg um die Männlichkeit herum zu Schuldigs eigentlich Bedürftigem. Ein sanfter Kuss auf das Fleisch, dann umschloss er es mit seinen Lippen, die Augen wieder auf Schuldig gerichtet.
 

‚Schlampe.’

Genau das war es, was Rans Augen momentan wiedergaben. Frech, verwöhnt, hungrig, gierig und ein großes Tabu, nicht zu vergessen die schändliche Verführung in hellem Weiß und tiefem Rot. Rans sündige Lippen hatten ihn umschlungen und Schuldig wäre allein schon bei diesem Anblick gepaart mit diesem herausfordernden Blick gekommen. Wenn er nicht noch etwas mehr vorgehabt hätte …

Doch Ran schien weit von der Müdigkeit entfernt zu sein, wenn er ihm einen derartig sündig schmutzigen Blick zu werfen konnte.
 

Das hatte in der Tat etwas Wahres, denn Ayas Müdigkeit war für einen Moment lang vergessen, als er Schuldig bewusst und gerne in luftige Höhen trieb, dann jedoch, kurz vor dem Höhepunkt des anderen, kurz vor der absoluten Härte, seine Bemühungen stoppte und völlig unschuldig zu Schuldig hochsah.

Völlig unschuldig.

Er leckte mit seiner Zunge einmal die Länge herauf, wie ein Kater auf Milchsuche. Oder ein Kater beim Putzen.
 

Doch das reichte Schuldig völlig. Die Feuchte, die durch das Lecken entstanden war reizte Schuldig nur umso heftiger dass Ran weitermachen sollte. Doch er war ganz selbstbeherrscht und wickelte sich eine Haarsträhne sanft um zwei Finger und zog leicht daran nach oben um Ran zu signalisieren, er solle aufstehen.

„Leg dich hin… ruh dich aus“, lud er dazu ein auf dem Bett zu verweilen, ob sich Ran wirklich dabei ausruhen konnte, würde sich noch herausstellen.
 

„Ausruhen!“, schnaubte Aya empört, glitt aber in die Höhe.

Gleiten war gut… es tat WEH, was da zwischen seinen Beinen schwelte. Was nach Erlösung gierte und lechzte, sie von Schuldig aber nicht bekam!

Doch wenigstens litt Schuldig nun genauso!

Ayas Hand umschlich Schuldigs Po und packte fest zu, zog den anderen Mann abrupt an sich. Seine Finger schlichen sich zwischen die Spalte der beiden festen Hälften und verhielten dort… eine kleine Warnung, ein Versprechen.
 

Eine Warnung die durchaus verstanden wurde. Schuldig nahm Rans Mund schnell ein, verstrickte dessen Zunge in einen heißen Machtkampf und dirigierte währenddessen Ran auf das Bett auf dem beide landeten. Schuldig schmirgelte seinen Körper auf Rans und vor allem dessen hocherregtem Glied heftig fast schmerzhaft einmal von oben nach unten, bevor er Ran griff und seitlich drehte. Harsch kam ihr Atem von ihren Lippen und Schuldig verrieb die ersten Lusttropfen an Rans Eingang, indem er Ran spüren ließ, was Schuldig ihm versprochen hatte.

Er hielt Ran eng an sich, halb unter sich gebracht, und dennoch seitlich.
 

Ayas Stöhnen wurde lauter, verlangender. Anscheinend hatte seine kleine Dominanzgeste genau das gebracht, was er wollte. Genau das.

Er rieb sich leicht an Schuldig, schnurrte.

„Gibt es etwas, auf das du wartest?“
 

„Entspann dich“, Schuldig löste sich leicht von Ran griff Richtung Kopfkissen und förderte eine kleine Tube Gleitgel hervor, die er sonst eher für unterwegs einsteckte. Man konnte schließlich nie wissen wann sie das nächste Mal Lust hatten und vor allem wo.

Also zelebrierte er die übliche Vorbereitung und drang in Ran ein. Sie waren aufeinander eingespielt, wussten wo sie aufeinander warten mussten, wo jeder seine Zeit brauchte und wann es schneller gehen konnte.

Schuldig spürte wie Ran, wie ihm der Schweiß ausbrach, als er sich in ihn versenkt hatte.

Sie brauchten beide nicht mehr allzu viel und würden kommen aber um dies ganze nicht so einseitig zu gestalten, griff Schuldig nach vorne und umfasste Rans pralles Glied, umkoste es fürsorglich.
 

Beinahe zeitgleich bog sich Ayas Rücken durch, presste sich seine Wange an Schuldigs Lippen. Er stöhnte guttural und erlöst, vereinnahmt und vollkommen zufrieden, als Schuldig langsam damit begann, sich in ihm zu bewegen.

Man hätte meinen können, dass Schuldig das extra machte, sie beide zu foltern, wieder und wieder an den Rand der Verzweiflung zu treiben und wieder zurück, immer das gleiche Spiel, bis Aya das Gefühl hatte, nicht mehr zu können.
 

Der finale Stoß zusammen mit den hilfreichen Handreichungen brachten Ran und auch Schuldig zum Kommen. Laut schlugen sich die Geräusche der Erlösung an den Wänden wider, wurde ihr Keuchen und ihr schnell gehender Atem zu ihnen zurückgeworfen. Als Schuldig in seinem Nachglühen schwelgte und sich fertig fühlte brachte er es jedoch zustande Rans Wange und dessen Lippen abzulecken, herrlich salzige Schweißperlen hatten sich dort gesammelt. „Hmm, lecker…“

Heißkalt

~ Heißkalt ~
 


 


 


 

Wo Schuldig fertig war, war Aya hinüber. Er lächelte müde und erschöpft und fing Schuldigs Lippen ein.

„Schleckermaul“, grollte er leise, undeutlich gar und blinzelte. Schon während ihres Spiels hatte er gemerkt, dass er es genoss, aber nicht mehr wirklich wach genug war um aktiv teilzunehmen. Also richtig aktiv.

Mit Schuldig noch in sich, räkelte er sich ein wenig und genoss das Gefühl des Fleisches in ihm. Etwas, das früher nicht möglich gewesen war, wie ihm in den Sinn kam. Schon gar nicht das gemütliche Kuscheln danach.

„Bist du müde?“ Eine gute Frage aus seinem Mund, befand er.
 

Ums genau zu sagen, Ran schlief schon halb, denn Schuldig hörte die genuschelte Frage nur mit sehr viel Fantasie und seinem guten Kombinationsvermögen.

„Ja, bin ich.“

Er log.

Aalglatt und völlig frei von einem schlechten Gewissen.

Er war nicht müde. Von was sollte er bitte müde sein? Vom täglichen Nichtstun? Der Monotonie in den Stunden, in denen er auf Ran wartete? Seine einzige Abwechslung, auf die er sich mit all seiner Selbstbeherrschung und Zurückhaltung stürzte, sobald die Tür aufging?

Er fieberte Rans Nachhausekommen entgegen, als gelte es einem Gefängnis zu entfliehen. In gewisser Weise war dies auch so.
 

Natürlich verstand er es, diese Freude zu tarnen. Er verzog sich meist in einen anderen Teil der Wohnung, wenn er sah, dass Ran den Hauseingang erreicht hatte. Er gab sich beschäftigt, ein wenig begeistert natürlich schon, aber nicht zuviel. Ran sollte nicht denken, dass es ihm schlecht damit ging, nichts zu tun.
 

Schließlich und endlich kannte er diese Phasen in seinem Leben: Die Phase des Untertauchens, des Stillhaltens. Sie hatten diese Phasen schon zwei-, dreimal über längere Zeiträume hinter sich gebracht. Hatten Gras über bestimmte Dinge wachsen lassen und diesem Gras beim Wachsen zuzusehen, konnte einen umbringen…
 

Sie wohnten ja erst seit wenigen, sehr wenigen Wochen hier. Waren es zwei gewesen? Ein paar Tage länger als zwei, vielleicht schon, sinnierte er und strich Ran über den Bauch und die Brust, als wollte er ihn in den Schlaf streicheln.

Was auch durchaus seine Absicht war.

Währenddessen schweiften seine Gedanken wieder um die ewig selben Themen wie die letzten Tage schon. Und sie machten ihn verrückt. Verrückter als er ohnehin schon war und das war das gefährliche an der Sache.
 

Da gab es das Thema Zukunft.
 

Schuldig zog die Decke an sie beide heran, deckte Ran zu und grinste unverschämt, sich selbst innerlich auf die Schulter klopfend, dass er Ran wieder einmal zur Strecke gebracht hatte, als er sah, wie dieser sich irgendetwas murmelnd zur Seite drehte.

Schuldig stahl sich aus dem Bett und betätigte den automatischen Rollladen, der geräuschlos hinabglitt und Ran am nächsten Tag einen längeren Schlaf ermöglichen würde. Er zog sich seinen Bademantel wieder über und verließ das Schlafzimmer, die Tür ließ er Handbreit offen, denn falls Ran aufwachte konnte es durchaus passieren, dass dieser sich im Halbschlaf auf die Suche nach ihm machte.
 

Was letzte Woche geschehen war.

Schuldig ging die Lichter löschend ins Wohnzimmer, griff sich eine der Decken und ging damit wieder auf den Balkon um sich sein Weinglas zu holen, welches immer noch vor dem Schlafzimmer auf den Liegestühlen auf ihn wartete. Es war kalt, dennoch setzte er sich und packte sich in die Decke ein.
 

Letzte Woche waren die Möbelpacker angerückt und hatten ihnen einige ihrer Möbelstücke geliefert. Es war ein anstrengender Vormittag gewesen und Ran hatte es sich nicht nehmen lassen die Hauptarbeit bei der Koordination zu übernehmen. Zudem waren sie noch unterwegs gewesen um noch einiges einzukaufen.

Es würde wohl trotzdem noch dauern, bis sie es hier so richtig gemütlich hatten. Ran war schon am Nachmittag müde gewesen hatte es sich aber nicht anmerken lassen, denn er hatte noch die Abendschicht im Laugh zu meistern. Um 1.30 hatte ihm Ran dann eine Nachricht geschickt, er glaube, dass die letzten Gäste bald gehen würden. Schuldig hatte sich auf dem Weg gemacht um ihn abzuholen und tatsächlich als er ankam waren die letzten Gäste weg nur noch zwei von Micheles Leuten waren mit Ran anwesend. Während diese noch aufräumten, durfte Ran gehen, er war am längsten in der Schicht gewesen.
 

Schuldig hatte sich keine allzugroßen Sorgen wegen der langen Schicht gemacht, denn solange Ran im Laugh war, waren die Chancen geringer, dass ihm diese - leider ihnen noch immer unbekannte - Gruppierung zusetzte.

Gefährlich wurde es, wenn er das Laugh verließ, vor allem um 2.00 nachts. Dann pflegte Schuldig ihn abzuholen, egal wie groß das Gemecker ausfiel. Aber darüber war Schuldig ohnehin erhaben.
 

War er schon immer gewesen, denn bis auf ein paar ernste Ausnahmen machte Schuldig Rans Gemecker eher an, als dass es ihn abschreckte.

Als Ran endlich ins Bett kam war es halb drei gewesen und Schuldig hatte sich noch die Nacht mit Wiederholungen der Motorradrennen um die Ohren geschlagen.

Um fünf Uhr morgens kam Ran ins Wohnzimmer geschlichen und suchte mit eulenhaften Augen nach ihm. Schuldig hatte ihn wieder ins Bett gebracht und ihm versichert, dass er gleich nachkommen würde und dass doch alles in Ordnung sei.
 

Sein Weinglas an die Lippen führend und einen Schluck trinkend musste Schuldig an ähnliche Situationen denken, die ihm zeigten, dass Ran noch lange nicht über seine Verlustängste hinweg war. Würde er vermutlich nie sein. Und dabei spielte seine Familie wohl eine größere Rolle als er selbst.
 

Schuldig seufzte und schloss die Augen, ließ den nächtlichen Wind über sein Gesicht streifen.

Die Gedanken an Brad versuchte er tunlichst zu vermeiden. Obwohl sie hervordrängten und nach einer Lösung schrieen.

Einer endgültigen Lösung.
 

Er hatte das Gefühl, die innere Verzweiflung über dieses Thema, über die Unlösbarkeit dieses Problems langsam in den Griff zu bekommen. Er sagte es sich jeden Tag: Alles läuft gut, alles ist in Ordnung.
 

Ein Teil von ihm klammerte sich an diesen Gedanken, ein anderer Teil puschte und förderte die Zweifel bis die Verzweiflung immer größer werden würde und er vielleicht… daran zerbrach?
 

Er hatte sich doch für Ran entschieden. Was sollte das alles mit Brad dann? War er es der in Richtung Brad strebte? War er die treibende Kraft?

Nein, er wollte Ran.
 

Warum war es nur so kompliziert geworden? Warum konnte er Brad nicht wie früher eine reinhauen und sich dafür im Gegenzug auch eine einfangen? Brad war früher auch schon ein Arschloch gewesen, nur warum tat es Schuldig plötzlich weh, wie er von diesem behandelt wurde?
 

Die Antwort auf diese Fragen schmeckte ihm nicht und er konnte sie auch nicht aussprechen, nicht einmal in Gedanken. Es war, als wäre er bereits Ran untreu. Dabei wollte er das gar nicht!
 

Innerlich aufgewühlt setzte er die Füße auf den kalten Boden, die Decke hatte sich um seine Beine gewickelt und er stützte einen Ellbogen auf die Knie, legte seine Stirn in seine Hand und kniff die Augen zusammen.

„Verdammt“, murmelte er niedergeschlagen.
 

o~
 

Schuldig begann den nächsten Morgen damit, erst einmal auszuschlafen. Trotzdem er später ins Bett gegangen war – er glaubte sich erinnern zu können, dass es ein Uhr war – stand er um halb zehn auf und stahl sich aus dem Schlafzimmer.

Das hereinfallende Licht des Flurs traf Ran und Schuldig warf einen Blick zurück zum Bett.

Rans Atem ging gleichmäßig und sein Gesicht war entspannt und erholt. Hell und ohne die grauen Schatten unter den Augen.
 

Diesen freien Tag konnten sie doch mit einer kleinen Aufmerksamkeit beginnen. Ran mochte keine Geschenke und zugegeben Schuldig hatte ihn in letzter Zeit sehr reich beschenkt, aber dieses Mal sollte es etwas Kleines werden. Eine neue Ära der kleinen Aufmerksamkeiten.
 

Er hatte es auch schon besorgt und nun saß er in der Küche und verpackte mit etwas Geschick die längliche schmale Schachtel aus edlem Papier mit edlem Papier. Die Verpackung war ja wichtig, wie er gelernt hatte.

Beim vierten Versuch und zwei Bögen des teuren Papiers welches er in den Papierkorb verschwinden ließ war die Schachtel samt Präsent darin wohl verpackt und genügte seinen Ansprüchen.
 

Soweit er sich entsann war es das erste Geschenk, welches er für Ran verpackt hatte.
 

Später – als er das Geschenk platziert hatte - machte sich Schuldig daran, das Frühstück vorzubereiten.

Das Radio lief und Schuldig tippte mit dem Fuß mit, während er Früchte klein schnitt und sie nach und nach in den Mixer gab.
 

Eben jene Geräusche fanden ihren Weg in Ayas Traumwelt, der sie dort doch recht kreativ einbaute und sich fragte, warum er ausgerechnet einen Propeller auf dem Kopf benötigte um Arbeiten zu gehen und warum Schuldig plötzlich eine Möwe war, die über ihrer Wohnung schwebte und kreischte, weil es ihr so gut ging.

Sehr seltsam das alles.
 

Aya runzelte die Stirn und öffnete ein Auge. Hell und verschwommen war es.

Zu hell. Die Verschwommenheit würde sich legen.

Er schloss es wieder und fasste den Entschluss, dass er noch nicht wirklich wach genug war um sich einer solch impertinenten Lichtquelle hinzugeben. Doch die Geräusche im Hintergrund waren immer noch nicht verschwunden, die ihn in seinen Traum gefolgt waren.

Ganz im Gegenteil, so lauschte er seiner Umgebung, auch den menschlichen Geräuschen in ihrer Wohnung wie auch dem Schnurren, dass vom Fuße des Bettes zu ihm hinaufdrang. Banshee wartete auf ihn… wie immer. Wobei sie sich wenig zwischen sie legte, sondern immer schön am Rande des Bettes blieb.

Es sei denn, sie hatten Sex, da konnte es schon einmal mal vorkommen, dass sie gewisse, sich bewegende Teile der männlichen Anatomie zum Jagen fand.
 

Was waren diese kleinen Krallen scharf gewesen!
 

Aya drehte sich zur Seite und stieß auf etwas hartes, Kleines, wie er mit erneut geöffneten Augen feststellte. Eine Hand erhob sich und umfasste die Verpackung, hob sie ins Licht, damit er sie besser sehen konnte.

Sie war verpackt.

Wie ein Geschenk.

Und sie lag auf Schuldig leerer Seite.

Schenkte Schuldig ihm schon wieder etwas?

Aber hübsch verpackt war sie, das musste Aya dem anderen Mann lassen.
 

Aya erwog, diese Schachtel dazu zu benutzen, Schuldig ordentlich den Marsch zu blasen, aber neugierig war er schon…

Langsam, Lage für Lage entblätterte er das Geschenk, stellte fest, dass er mit seiner Vermutung, eine Schachtel vor sich zu haben, gar nicht mal so falsch gelegen hatte.

Länglich war sie, ungefähr 15 Zentimeter lang. Sie hatten sich noch kein Spielzeug zugelegt… das Einzige, was sie behalten hatten, waren die Edelstahlfesseln gewesen und die rührte Aya nicht an. Dazu hatte er viel zu viel Angst, auch wenn er sich geschworen hatte, dass er lernen würde, eben diese Angst zu besiegen. Genau aus dem Grund hatte er sich auch dafür ausgesprochen, dass sie sie mitnahmen aus der alten Wohnung.
 

Also war das hier?
 

Er hob den Deckel und fand… nicht das, was er zu finden gedacht hatte, irgendwie.

Ein schmaler Metallzylinder streckte sich ihm hier entgegen, beim ersten Hochheben hatte er den Anschein von Leichtmetall. Schön, aber schlicht gearbeitet.

Was Aya aber nicht wirklich weiterbrachte.

Er setzte sich auf und nutzte seine freie Hand um Banshee hinter den ihm schamlos hingestreckten Ohren zu kraulen, während er den Zylinder drehte und feststellte, dass es eine Röhre war, die man aufklappen konnte.

Aber für seinen Schwanz war das ganze Gebilde zu schmal.

Aya klappte es auf und entdeckte die Zacken innen drin.

Garantiert NICHT für seinen Schwanz.
 

Aber…
 

Aya nahm das Büschel an Haaren nach vorne und versuchte hier sein Glück… sie hielt.
 

Eine Haarspange?
 

Er musste lächeln und erhob sich unter Banshees Protest von seinem warmen, gemütlichen Lager, streunte so, wie er war, nämlich nackt, durch die Wohnung auf der Suche nach Schuldig und fand ihn schließlich in der Küche.

„Guten Morgen!“, krächzte er rau und räusperte sich.
 

Schuldig hatte die tapsenden Füße auf dem Boden sich Nähern gehört, blickte auf den Boden und bemerkte eben diese Füße. Seine Augen glitten an den Beinen entlang nach oben, blieben einen gönnerhaft langen Blick im Schritt und glitten dann nach oben. „Guten Morgen“, er hatte seine Rechte auf dem Deckel des Mixers und füllte gerade die Erdbeeren ein.

„Seit wann läufst du nackt durch die Gegend? Verkehrte Welt? Ist das nicht meine Rolle?“
 

„Hmmm“, brummte es Schuldig entgegen und Aya schlich sich an den Telepathen heran, stahl ihm einen kleinen Kuss.

„Du hast mir schon wieder etwas geschenkt!“ Seine Finger fanden eine Strähne feurigen Haares und zogen daran. Die Spange trug sich gut, soweit er es bis jetzt beurteilen konnte. Sehr gut sogar und sie gefiel ihm.
 

Der Mixer war jetzt nicht mehr ganz so interessant und Schuldig wandte sich Ran zu, zog ihn an sich und schmiegte sein Gesicht an dessen Halsbeuge. „Hab ich. Damit du im Laugh eine gute Figur machst und deine Haare dich beim Arbeiten nicht stören. Sie steht dir ausgezeichnet.“ Er fasste mit einer Hand an Rans unteren Hinterkopf. Die roten Haare wurden dort von der Spange gehalten.

Schuldig schnuffelte an Rans bettwarmer Haut. „Du riechst gut. Hast du gut geschlafen?
 

„Lang und gut“, schnurrte Aya beinahe und drängte sich an Schuldig. Ihm tat zwar alles weh, aber er fühlte sich pudelwohl… mit seiner neuen Haarspange, die wirklich individuell war. Für ihn gemacht schier.

„Du bist unverbesserlich!“, sagte er ohne die vorherige Schärfe und befühlte das kühle Metall. Ähnlich dem der Fesseln… aber nur im Entferntesten. „Danke dir!“
 

„Gern geschehen. Warst du schon im Bad?“, fragte er mit einem kleinen Lächeln und hob sein Gesicht aus seinem Lieblingsplätzchen.

Schuldig hatte das große Schiebetablett mit allerlei Köstlichkeiten fürs Frühstück bestückt und dieses auf dem Badewannenrand angebracht. Ein ausgedehntes Bad samt Frühstück wäre doch ein schöner Start in den Tag, hatte er sich gedacht.
 

„Noch nicht, du gehst vor!“, erwiderte Aya und warf einen Blick hinter Schuldig. Sein Magen knurrte, als wenn er dem Blick der Augen beipflichten wollte.

„Erwartet mich da die nächste Überraschung?“, fragte er und biss leicht in Schuldigs weiche Haut. Zwickend, spielerisch, aber dennoch leicht drohend, doch nicht wirklich ernst gemeint.
 

„Könnte durchaus sein…“ spielte Schuldig den geheimnisvollen Überrascher und enthielt sich sonstiger verräterischer Worte.

„…ich dachte, du würdest den ersten freien Tag nach deinen Arbeitsmarathon gemütlich mit einem Bad beginnen wollen.“ Er drehte Ran herum, klatschte mit kühler Hand – weil diese zuvor noch die frischen Früchte bearbeitet hatten und ständig mit Wasser in Kontakt waren – auf den noch bettwarmen Hintern und griff herzhaft zu. „Ab mit dir ins Bad, ich komme nach. Versprochen! Hab hier noch was zu erledigen. Lass dir doch schon einmal Wasser ein, hmm?“
 

„Mistkerl“, grollte Aya doch recht indigniert, da sein Augenmerk gerade auf seinem lädierten Hinterteil lag. Zumindest einer Hälfte seines lädierten Hinterteiles, denn die andere war noch unversehrt… wenn man davon absah, dass er sowieso leicht schmerzte. Nicht stark, eher ein Ziehen, trotzdem!

Schuldigs Werk, wie immer!

Seine Hand griff nach hinten und ebenso herzhaft in Schuldigs Gemächt, bevor er sich von dessen Grabschern löste und sich wieder umdrehte.

„Wehe, du kommst nicht in angemessener Zeit nach, dann überlege ich mir was!“

Teuflisch lächelnd zog er sich zurück und streunte in Richtung Bad.
 

„Bin gleich da, mein Unbarmherziger!“, gelobte Schuldig. Seine Stimme drückte aber aus, wie wenig beeindruckt er von Rans Drohung war. Er würde zwar nachkommen, aber Ran nicht während seines Bades stören oder sich in selbiges gesellen.

Jetzt da Ran wach war konnte er seine Lieblingsmusik wieder anstellen. Momentan stand er auf eine Mischung aus Lounge und Trance.

Schuldig widmete sich wieder dem Sammelsurium, welches er Frühstück nannte. Er hatte einige kleine Köstlichkeiten vorbereitet, die von Miso, über Rühreiern, bis hin zu frischen, warmen Vollkornbrötchen, die er aus einem deutschen Spezialitäten- und Delikatessenladen geholt hatte. Aber auch einen Fruchtsalat, zwei selbst angerührte Dips und die dazugehörigen Gemüsesticks als Fingerfood gehörten zu der kleinen Auswahl.
 

Währenddessen hatte sich Aya ins Bad begeben und war mit einem Tablett an kleinen Köstlichkeiten konfrontiert, das seinem Magen auf den ersten Blick gefiel. Schuldig hatte alles in Kleinarbeit arrangiert und sich kreativ betätigt, was die Butter anging. Es zauberte ein Lächeln auf Ayas Lippen und vorsichtig umschiffte er das Tablett.

Er ließ sich Wasser in die Wanne ein, fügte ein wenig Schaumbad hinzu und setzte sich auf eine der Holzbänke nieder. Es war wärmer geworden und so hatte er die Chance genutzt, sich nackt aus den Federn zu erheben, ein Luxus, den er sich nicht oft gönnte.

Aya wollte es nicht, zumindest die meiste Zeit nicht, weil er Kleidung am Körper als angenehmer empfand. Kleidung war Distanz, für wen auch immer. Für Schuldig sicherlich nicht.

Doch heute hatte er selbst diese Distanz nicht gewollt, eigentlich ein Zeichen dafür, dass es ihm sehr gut ging.

Trotz der Unsicherheit der unbekannten Gruppierung fühlte er sich wirklich gut, er arbeitete, Schuldig lebte, soweit war alles in Ordnung.

Wenn sie alles beiseite ließen, das sie sonst noch belastete - so auch Crawford.

Doch Aya wollte sich mit dem Amerikaner nicht belasten, wirklich nicht. Es würde nur dann zu seiner eigenen Sache werden, wenn es Schuldig zu sehr belastete.
 

Das stetige Plätschern des Wassers stoppte schließlich, als Aya den Wasserhahn abwürgte. Die Wanne war nun genug gefüllt, Temperatur war angenehm und so ließ er sich in das mit Badeschaum versetzte Wasser gleiten. Sein Kopf fiel müßig zurück und er schloss die Augen.
 

Alles war fertig.

Schuldig begann nun damit auf einem weiteren Tablett einen Teller, die bereits belegten Brötchen, Besteck, den frischen Tee, die Misosuppe in einer kleinen Schale und den Cocktail anzurichten. Die Gemüsedips samt Gemüse natürlich nicht zu vergessen.

Ein Tablett stand ja bereits im Badezimmer und das zweite folgte nun durch ihn. Mit stolz geschwellter Brust trug er das Tablett vor sich her und bereits im Flur roch er den Badezusatz, den Ran so gern mochte. Irgendetwas mit Alge und Meeresbrise.

Mit einem Fuß stieß er die angelehnte Badezimmertür auf und kam zur halb in den Boden eingelassenen Badewanne in der Ran schon – sichtlich das warme Nass genießend – lag.

„Na du Koi, schon eine Runde geschwommen? Ist wärmer als im Teich, nicht?“

Schuldig stellte das Tablett neben das bereits vorhandene und grinste Ran verschlagen an.
 

„Blubb“, erwiderte Aya mit Würde und sein Kopf fiel zur Seite, während seine Augen Schuldigs Gestalt hinaufglitten. Ein zweites Tablett?

Schuldig wollte ihn mästen.

Nicht, dass Ayas Magen seit Neuestem etwas dagegen hätte. Seitdem er arbeitete und sich hier alles eingependelt hatte, war er voller Tatendrang, was das Essen anging… er hatte das Gefühl, noch nie in seinem Leben soviel gegessen zu haben wie in letzter Zeit. Oder noch nie soviel Energie besessen zu haben wie in dieser Zeit.

„Pass auf, dass aus dem Koi kein Piranha wird!“
 

„Dann hol ich Banshee, die zieht dir die Zähnchen, kleiner Fisch!“

Schuldig stellte beide Tabletts auf die verschiebbare Ablage, die quer über die Badewanne angebracht war und schob diese dann in die Mitte der Wanne.

Erst vor ein paar Tagen hatten sie beide so gefrühstückt, im Wasser, im Schneidersitz, ganz bequem über das Tablett und dessen Köstlichkeiten gebeugt.

Schuldig selbst setzte sich auf den Boden neben den niedrigen Wannenrand und griff sich einen der Gemüsesticks, lehnte sich am Wannenrand an und knabberte an seiner Beute.

„Aber Banshee turnt gerade auf dem Geländer herum, wenn sie nicht runterfällt, habe ich gute Chancen im Beistand gegen fiese kleine Fische“, sinnierte er.
 

„Deine Chancen sind nicht zu verachten“, stimmte Aya dem anderen zu und hob zweifelnd eine Augenbraue. Nein, das waren sie in der Tat nicht, denn Banshee ließ es sich mittlerweile nicht mehr nehmen, frei über dem Abgrund auf dem Geländer zu balancieren. Aya konnte es ihr zwar gleich tun, hatte es in der Vergangenheit auch so manches Mal getan, doch momentan verspürte er weniger das Bedürfnis dazu.

„Aber ich werde mich heldenhaft verteidigen, bis zum bitteren Ende!“

Jetzt aber würde er erst einmal eine Stärkung zu sich nehmen.

Seine Nase schnupperte sich ihren Weg bis zum Fruchtsalat und nahm dort mit der kleinen Gabel ein paar Fruchtstücke auf. Es schmeckte hervorragend, hatte Schuldig den Salat doch mit etwas… Zimt gewürzt.
 

„Du würdest mir also“, Schuldig stand auf, den Rest einer Karotte noch zwischen den Lippen und krempelte sich die Hosenbeine bis zu den Oberschenkeln hoch. „…als flutschiger, kleiner, fieser Fisch durch die schlanken Finger flutschen?“ Gut, dieser Satz beinhaltete nicht nur eine schlüpfrige Bemerkung im Subtext….

Er ging zu der kleinen Musikanlage in der Ecke und schaltete sie an, stellte die Lautstärke soweit herab, dass sie sich gut unterhalten konnten. Danach kramte er auf ihrem noch spärlich besetzten Regal nach einem Kopfmassageöl, Shampoo und einem Körpermassageöl. Mit seiner Beute bewaffnet kam er zu Ran, stellte alles am Rand der Badewanne ab und kletterte hinter Ran in die Wanne, allerdings stellte er nur seine Füße in die Wanne und setzte sich auf den Wannenrand an die Kopfseite, sodass seine Schienbeine an Rans Rücken lagen.

Es war ein schönes Gefühl, Ran im warmen seifigen Wasser an sich zu spüren, vor allem, wenn er ihn nebenzu etwas ärgern konnte, jetzt zum Beispiel mit seinen vorwitzigen Zehen, die Ran in den Hintern pieksten.
 

„Wenn du das klein und fies streichen würdest, hätte deine Aussage Wahrheitsgehalt“, antwortete Aya schließlich und hielt mit seinen Fingern Schuldigs impertinente Zehen fest, grub sich seinen Weg zu dessen Fußsohlen um sie zu kitzeln.

Wenngleich… Schuldig war der Mann mit dem Massageöl… er musste vorsichtig sein, sonst würde ihm dieser Spaß entgehen… sehr schnell sogar.
 

„Das liegt ja wohl…“ Schuldig brachte seine Zehen in Sicherheit und sein rechter Fuß stahl sich um Ran herum zu dessen Forderseite um die Innenseite der Schenkel zu massieren. „…im Auge des Betrachters. Iss, mein Fischchen, sonst wird sowohl die Suppe als auch die Eier… kalt.“
 

Aya räkelte sich unter Schuldigs Administrationen und nahm sich in der Tat ein wenig von dem Rührei. Er legte den Kopf in den Schoß, sodass Schuldig seinen ungeschützten Kehlkopf vor sich hatte. Die Gabel fand ihren Weg zu seinen Lippen und Aya leckte sie lächelnd sauber.

„Natürlich, die Eier sollen nicht kalt werden.“
 

„Du sprichst mit gespaltener Zunge mein listiger Freund“, meinte Schuldig in bester Wild Wild West Manier. „Oder sollte ich sagen mit doppeldeutiger?“

Schuldig begann damit Rans Haare zu nässen, jedoch sehr langsam, er wollte Ran in Ruhe essen lassen. So feuchtete er seine Hände nur an und zog sie durch die Haare, doch nicht zu sehr, es war eher eine beruhigende Maßnahme, als würde man eine Katze streicheln. „Ich wasch dir die Haare, wenn du fertig bist. Was hältst du davon wenn wir später raus gehen und uns am Nachmittag ein Eis genehmigen? Das Wetter soll so schön bleiben.“ Schuldigs Hand strich über Rans Hals und Kehlkopf und wieder zurück. Er ließ Ran die Freiheit sich zu bewegen, denn er sollte ja Essen und hier nicht herumlümmeln.
 

Aya murrte nicht wirklich unfreundlich und beugte sich wieder leicht nach vorne, nahm sich die kleine Schüssel Misosuppe, die sich ihm hier so frei darbot. Die linke Hand hielt die Suppe, während die rechte mit den Stäbchen in ihr fischte.

„Eis essen klingt gut“, kam er zu Schuldig zurück, dessen Hand ihn immer noch umsorgte. „Allerdings kommt es mir langsam komisch vor, wie du mich verwöhnst… da kommt doch noch etwas, habe ich Recht?“ Leichtes Misstrauen schwang zusammen mit vollkommener Zufriedenheit in Ayas Stimme.
 

„Natürlich.“ Schuldigs Stimme strotzte nur so vor Selbstverständlichkeit.

„Aber erst wenn du gänzlich erholt bist, wohl genährt, gesättigt, sauber, ordentlich und so… erst dann schleife ich dich auf die Galerie und tue dir lauter erniedrigende, schmutzige, sexuelle Dinge an und zeichne alles auf Video auf um dich danach zu erpressen und dich als Sexsklaven zu halten.“ Ein Märchen nach seinem Geschmack, wobei… es doch viel Realitätsgehalt beinhaltete.
 

Ein wirklich zweifelnder Blick traf Schuldig, als Aya den Rest des Tintenfischs zwischen seinen Lippen verschwinden ließ.

„Du hast zuviel Fantasie oder zu wenig Ausgleich“, grübelte er scheinbar nachdenklich. Doch er ließ sich von Schuldigs Worten nicht wirklich verunsichern. Vielleicht hatte es eine Zeit gegeben, ja, da hätte es Schuldig mit seiner Aussage durchaus geschafft, aber jetzt nicht mehr.

Jetzt war es eher so, dass Schuldigs Worte ihm einen heißen Schauer über das Rückenmark nach ganz unten trieben. Der andere machte ihn heiß… ohne jede Zweifel.

„Und was wären die schmutzigen, erniedrigenden Dinge, die du mir antust?“
 

Schuldig musste wirklich ein wenig überlegen, denn viele Dinge hatten sie schon hinter sich gebracht und wirkliche Neuerungen noch nicht in ihr Programm aufgenommen. Sicher gab es noch einige Dinge die offen standen, aber viele davon waren für sie Tabu und gehörten in eine Ecke die ihnen beiden nicht zusagte.

„Du darfst dich auf die Knie begeben und mir die nackten Füße lecken.“ Das fand Schuldig als ultraschlimm – im harmlosen Sinne – und er stellte es so dar, als wäre das der ultimative Schocker. Wobei es in ihrem Liebesspiel durchaus schon das eine oder andere Mal vorgekommen war, dass entweder er oder Ran beschriebenes Szeneraio aufgeführt hatten. Und es hatte Spaß gemacht, als er Ran die Füße geleckt hatte und dann immer weiter nach oben gekrochen war, ohne natürlich Rans Erlaubnis dafür zu haben, aber da war Schuldig eben ungehorsam gewesen… wieder einmal.
 

„Ich fürchte mich vor meinem schrecklichen Schicksal!“, kam es staubtrocken von Aya zurück und er nahm sich eine Brötchenhälfte, beträufelte sie mit Honig. Er schlemmte hier und Schuldig bekam nichts, wie er es sich gerade bewusst wurde und so hielt er Schuldig die schon angebissene Hälfte hin.

„Hier, zur Bärenbeschwichtigung. Honig zum Locken!“
 

Schuldig ließ sich nicht zweimal bitten, beugte sich vor und bis von dem dargebotenen Lockmittel ab.

„Wie geht’s eigentlich dem lästigen Playboy?“, fragte er kauend und hielt diesen Augenblick für gut genug um die Frage zu stellen. Die letzten Tage war ihm schon aufgefallen, dass Ran überhaupt kein einziges Wort über den Blonden verloren hatte. Zunächst hatte er es auf ihre Diskussion in den Bergen geschoben aber Ran hatte auch nie bemerkt, dass er kurz zu Weiß gegangen wäre, vor oder nach der Arbeit.
 

„Gut, schätze ich!“

Wenn Aya ehrlich war, hatte er Youji seit zwei Wochen nicht mehr gesehen, eben weil die Arbeit so anstrengend war.

Aber es ging dem anderen Mann gut, sonst hätte er sich schon gemeldet… das wusste Aya. Das war früher auch öfter so gewesen, dass sie wenig Kontakt hatten, obwohl sie unter einem Dach gewohnt hatten.

„Er ist ruhiger geworden, seitdem es passiert ist.“
 

„Hmmm“, meinte Schuldig wenig aufschlussreich. Dafür dass Ran so dringend zu dem Playboy gewollt hatte nach ihrem Aufenthalt in den Bergen war er nun bemerkenswert abstinent, was den Blonden anbelangte.

Schuldig hatte nichts dagegen, da er es ohnehin für mehr als hirnrissig von Ran fand, dass dieser nach wie vor ins Koneko fuhr. „Sind sie in der Zwischenzeit umgezogen?“
 

„Nein, sind sie nicht.“ Aya beugte sich vor und nahm sich ein Stück Toast, biss auf ihm herum. Er wollte nicht zu genau darüber nachdenken, was momentan mit Weiß war… nicht, weil sie ihm egal waren, ganz im Gegenteil, sondern weil er das Gefühl hatte, es jetzt nicht zu können.

„Du bist ein sehr guter Koch“, schmunzelte er nach oben und eine weitere Gabel Rührei fand ihren Weg zwischen seine Lippen.
 

Themenwechsel?

Ein Lob über seine Kochkünste?

Schuldig schwieg und er beobachtete Ran, wie dieser aß.

Hier stimmte etwas nicht. Ganz und gar nicht. Ran ging es nicht gut.

Die Diagnose war gestellt, aber die Behandlung noch sehr unklar, denn Schuldig hatte nicht den blassesten Schimmer, was noch auf ihn zukommen mochte. Ran wirkte auf ihn unecht.
 

„Hast du Lust, morgen Essen zu gehen? In ein kleines, unscheinbares, italienisches Restaurant in der Nähe? Habe ich letztens entdeckt.“
 

„Du willst mich mästen“, stellte Aya mit einem Stirnrunzeln fest und hielt sich nun, umschmeichelt von warmen, schaumigen Badewasser, an seiner Teetasse fest.

Der Tee, der ihm so gut schmeckte.

„Aber ja, habe ich. Es sei denn, du möchtest etwas anderes machen.“
 

„Würde ich sonst fragen, ob du mit mir Essen gehen willst?“ Schuldig sah Ran an, als wäre dieser nicht ganz bei Trost, aber gut, dass dieser ihn gerade nicht anblickte, sondern mit seinem Tee beschäftigt war.

Ran war nicht ganz bei ihnen. Das erkannte Schuldig gerade in diesem Augenblick. Warum hatte er es nicht vorher bemerkt?

Die Antwort lag klar auf der Hand: Weil Ran die meiste Zeit des Tages arbeitete.
 

Während er über Ran nachdachte, griff er zum Massageöl, träufelte sich ein wenig auf die Finger und begann damit Rans Kopfhaut zu massieren.

Das war doch nicht Ran hier. Warum war er so weich, so sanft? Natürlich freute Schuldig das und vielleicht lag es tatsächlich nur einzig und alleine daran, dass der frühere Ran momentan sehr zum Vorschein kam.

Und vielleicht… mochte Schuldig den früheren Ran gar nicht. Vielleicht hatte er ihn sich gewünscht und wollte das Gewünschte nach Erhalt nicht mehr.
 

Diesen Gedanken strich Schuldig sofort aus seinen Überlegungen.

Aber was würde noch auf sie zukommen, wenn Ran wieder einen derartigen Zusammenbruch wie auf dem Friedhof hatte? Schuldig hatte geglaubt, dass es damit vorbei sein würde.
 

„Wer weiß, ob du nicht lieber ganz andere Dinge mit mir machen willst als essen?“, fragte Aya und seine Stimme hatte einen definitiv verführerischen Klang inne. Er lehnte sich zurück und genoss… ja, er genoss wirklich, Schuldigs Berührungen, die Aufmerksamkeit, die dieser ihm entgegenbrachte.

Er genoss jeden einzelnen der kleinen Lustimpulse, die aus seinen Nervenzellen strömten.

„Ich war schließlich die letzten Tage arbeiten und du bist zu kurz gekommen!“ Sie beide waren zu kurz gekommen, musste es richtig heißen. Aya hatte auch Lust, sehr große sogar.

Mit Sehnsucht dachte er an den Kätzchentag zurück.
 

Schuldig hatte eine Idee, wie er herausfinden konnte, wie sehr Ran seinen inneren Stress vor ihm verbarg. Seine Hand fand ihren Weg zu dessen Hals und die Kehle.

„Das stimmt, aber gestern Abend haben wir das nachtgeholt und im Übrigen bist du auch zu kurz gekommen, es sei denn du hast dir deine Befriedigung anderorts geholt!“ Er überstreckte Rans Hals nach hinten und legte seine Hand über die schutzlose Kehle, strich großflächig darüber und lächelte drohend in das Violett hinab.
 

Ein Schauder durchrann Ayas Körper bei dieser Behandlung, bei diesen Worten und diesem Blick. Seine Augen gruben sich dunkel vor Lust in Schuldigs und er lächelte leicht.

„Wer weiß, vielleicht habe ich das… oder vielleicht auch nicht“, erwiderte er und bleckte die Zähne, die Teetasse still in seiner Hand. „Vielleicht müsstest du mir zeigen, dass du der bessere Liebhaber bist.“

Der Teufel ritt Aya und er räkelte sich unter der Hand, verschüttete damit Tee über seiner Hand. Warmen, fast noch heißen Tee.

Er zischte leise auf und wollte die Tasse wegstellen, doch Schuldig hinderte ihn, so griff er sich die Hand des Telepathen und zog sie rabiat weg. Die Lust war ihm vergangen für den Moment…

Er stellte seine Teetasse ab und besah sich seine Hand.
 

Schuldig sagte nichts dazu. Der Tee war nicht zu heiß gewesen. Er hatte nicht gekocht, als er ihn über Rans Tee gegossen hatte und sie waren nun doch schon ein Weilchen im Badezimmer. Auf Rans Hand war nichts zu sehen. Das Badewasser war sehr warm gewesen, Rans Körpertemperatur auf Hitze getrimmt…

Und Ran war sonst nicht so zimperlich. Vor allem nicht, wenn es darum ging sich devot zu geben oder ihn anzuheizen.
 

Wie aus einer Trance schreckte Aya wieder hoch und drehte sich leicht zu Schuldig herum. Er lächelte und strich sich den Schaum aus den Haaren, als wäre gerade nichts gewesen… das war es ja schließlich auch nicht.

„Wie wäre es… wenn du weiter machst?“, fragte er und ruckelte sich wieder zurecht, den Rücken zu Schuldig gewandt.
 

Schuldig blieb gar keine Gelegenheit etwas zu sagen und er nahm seine Arbeit des Kopfmassierens wieder auf, schwieg jedoch zu dem – für Ran offensichtlich – nicht stattgefundenen Vorfall. Was merkwürdig genug war, denn Ran achtete sonst auf Kleinigkeiten, die ihn betrafen.

Schuldigs Gedanken kreisten um viele kleine Auffälligkeiten, die Ran ihm wie Brotkrumen hinwarf. Auf das Gesamtbild war Schuldig jedoch nicht gespannt, er fürchtete es.
 

Vor wenigen Augenblicken hatte Ran sehr devot gewirkt, hatte bedacht, dass „er“ Schuldig zu kurz gekommen sei und sich unter seiner Hand geräkelt und schon kurz darauf schlug er seine Hand aus einem merkwürdigen Grund weg.
 

In die Stille des Schweigens hinein genoss Aya Schuldigs Zuwendungen, sich gänzlich dessen Gedankengängen unbewusst. Er lehnte an dem anderen Mann und hatte die Augen geschlossen, ließ seine Hand durch das Wasser gleiten.

Was konnte es besseres an einem freien Tag geben?
 

o~
 

Am nächsten Tag waren sie tatsächlich beim Italiener gewesen. Ran hatte es geschmeckt und Schuldig hatte beschlossen, Rans Launenhaftigkeit was Sex und Nichtsex betraf hinzunehmen und sich zwar Gedanken zu machen, aber Ran nicht darauf anzusprechen.

Ran brauchte Zeit. Allerdings war zwischen ihnen auch nichts mehr seit Donnerstag gelaufen. Vielleicht war es gut so.

Vielleicht.

Jetzt lagen sie mit einem guten Glas Wein und Schlafanzug, Morgenmantel, Socken und Decken auf den Liegen vor dem Schlafzimmer und sahen in den Sonnenuntergang. Sie hatten sich die Nachspeise einpacken lassen und sie hier gegessen.

Morgen musste Ran für vier Tage wieder arbeiten und hatte dann wieder frei.
 

„Wie stellst du dir die Zukunft vor?“, fragte Aya aus heiterem Himmel nachdenklich. Er hatte die letzten paar Minuten in der Vorstellung geschwelgt, mit Schuldig alt zu werden. Wobei seine Vorstellung gerade da versagte. Vielleicht lag es an dem Lebenswandel, den er bisher geführt hatte, an dem ständigen Tod vor Augen.

An den Morden, die er begangen hatte.
 

„Diese Frage hatten wir schon einmal, erinnerst du dich? Und wenn ich mich richtig erinnere sagte ich damals etwas Ähnliches, wie ich es jetzt sage: Ich stelle sie mir gar nicht vor. Und bisher war das gut so, denn was soll es mir bringen, wenn ich sie mir vorstelle und sie doch ganz anders wird als zuvor gedacht? Das wäre doch reichlich sinnlos.“
 

Schlau gesprochen, Herr Schuldig, bemerkte er für sich in sarkastischem Tonfall.

Über die Zukunft nachzudenken war für ihn Luxus. Auch jetzt war es nichts anderes, denn auch wenn er wusste, oder die Wahrscheinlichkeit sehr hoch dafür war, dass Ran auf eine psychische Katastrophe zusteuerte, konnte er nichts anderes tun als warten.
 

Die Anzeichen dafür, dass der Overkill bald anstand hatte er sowohl im Haus, auf dem Friedhof als auch gestern und heute wieder erhalten. Rans Stimmungsschwankungen konnte er nicht voraussehen, nur wissen, und akzeptieren, dass es so war und sie hinnehmen.
 

Nicht provozieren, lautete das Motto. Schuldig belauerte Ran, denn er wusste um die Symptome. Er hatte nicht umsonst jahrelang in Psychiatrien und anderen Anstalten verbracht und Hirnstudien mit den Insassen betrieben. Nicht nur um sich selbst zu analysieren und sich vor dem völligen Austillen zu bewahren, sondern auch weil es ihn interessierte.

Dumm war nur, dass er bei Ran nicht ins Oberstübchen kam, wenn er es wollte. Er musste abwarten und auf das reagieren, was Ran ihm bot.

Es war nicht bloß eine harmlose Überlastung, denn Ran bemerkte gar nicht mehr, wenn er überreagierte, oder… gar nicht mehr reagierte. Er spulte einfach eine neue Schleife ab, als würde sein Gehirn das korrigieren, was zuvor falsch gesagt worden war. Korrektur, anhalten, löschen, neue Version.

Rans Geist war überlastet und er bemerkte es nicht.
 

Schuldig hatte Angst, dass Ran der Overkill – wie er den großen nervlichen Zusammenbruch nannte – dort ereilte, wo Schuldig nicht zugegen war. Im Auto, in der Stadt, auf der Arbeit.
 

Und Schuldig rauchte. Wie ein kaputter Ofen. Er hatte den ganzen Tag reichlich Zeit dazu nervös zu sein und Ran mittels Observation von Rans Kollegen zu überwachen. Und er hatte reichlich Zeit dazu diese Nervosität mittels Zigarettenkonsum einzudämmen.
 

Aya hatte schon längst einen Blick auf den Aschenbecher geworfen, das Stilleben jedoch unkommentiert gelassen.

Seine Gedanken waren eher bei anderen Themen, so auch der Zukunft. Er machte sich so seine Gedanken, Schuldig mied sie… das war schon immer so.

„Stell dir doch mal vor, hier würden Kinder durch die Wohnung springen“, gab Aya seine Vorstellung von der Zukunft preis. Zwei Kinder, Junge und Mädchen, das wäre schon schön, das hatte er sich immer vorgestellt, bevor ihm seine Tätigkeit als Killer dazwischen gekommen war… und ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.
 

Oh man.

Das Kinderthema.

Schuldig überlegte für einen Augenblick, ob es einen Zusammenhang zwischen Rans Stimmungen und dessen Gedanken um Kinder gab.

„Dafür braucht man eine Frau, Ran. Du weißt schon, glückliche Familie, Kinder machen, Kinder kriegen und so.“
 

„Ja, du hast wohl Recht. Deswegen ist es auch nur ein Hirngespinst… aber manchmal könnte man meinen, wir würden uns redlich bemühen, Kinder zu bekommen, so wie wir es miteinander treiben!“ Aya legte den Kopf zur Seite und sah Schuldig aus ruhigen, beinahe schon emotionslosen Augen an, die aber eines genau widerspiegelten… Lust. Nur Lust, nichts anderes, die so plötzlich entstanden war, dass es selbst Aya schwach verwunderte. Doch seine Verwunderung war so minimal, dass er sie abtat.
 

Doch Schuldig bekam von dieser Lust wenig mit, da er eher in den nun leicht bewölkten Nachthimmel blickte. „Ich denke eher daran, dass wir deshalb gerade so viel poppen, gerade weil wir nicht auf Verhütung achten müssen. Und dafür bin ich dankbar“, murmelte er hinzufügend.

Auf der einen Seite stellte er sich eine Frau viel komplizierter als Ran vor allerdings… auch wieder nicht.

Nein… wenn er es genau bedachte war Ran wesentlich komplizierter als eine Frau… irgendeine Frau auf diesem Erdball es je sein könnte.

Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen nicht. Wobei diese Komplexität sich eigentlich nur daraus erschloss, dass er Ran nicht lesen konnte.
 

„Oder so…“, schnurrte Aya und erhob sich langsam von seinem deckenbewehrten Lager. Schuldig schenkte ihm zu wenig Aufmerksamkeit, aber wie der andere Mann gerade festgestellt hatte, brauchten sie nicht wirklich auf Verhütung achten. Von ihnen beiden wurde niemand schwanger, niemand lief Gefahr, ein nicht gewolltes Kind zu bekommen.

Wenngleich nicht gewollt einfach nicht stimmte.

„Allerdings finde ich, dass wir deine Theorie noch überprüfen und wissenschaftlich belegen müssen.“ Seine Stimme war tief und dunkel, bevor er sich auf Schuldigs Liege niederließ, sich rechts und links der Beine des Telepathen niederkniete.
 

„So müssen wir das?“, sprang nun endlich auch Schuldig auf Ran an und dessen sexlastigen Themenwechsel. „Und wie willst du das anstellen? Willst du eine Studie beginnen?“ Schuldigs Hände legten sich auf Rans Oberschenkel, strichen um sie herum zu dessen Hintern.

Ran thronte vor dem Himmel der Stadt. Die Wolken reflektierten das Licht der Stadt, sodass Ran sich vor dem nächtlichen Wolkenhimmel dunkel abhob.
 

„Ja, die Fujimiyastudie“, grimmte Aya und er griff sich Schuldigs Hände, verschraubte seine Finger mit denen des Telepathen, presste sie neben dessen Kopf auf die Liege. Er räkelte sich auf Schuldig und lächelte.

„Eine sehr zuverlässige Studie…“

Er beugte sich zu Schuldig hinab und strich mit seinen Lippen über die des anderen Mannes.
 

„Eine Doppelblindstudie, Herr Fujimiya“, wisperte Schuldig an die Lippen, die ihn hier überfielen. Ran schien es heute auf ihn abgesehen zu haben. Plötzlich und unerwartet. Schuldig hatte nicht mehr damit gerechnet, dass er heute das Opfer des großen Abyssinian werden würde… aber noch war nicht aller Tage Abend.
 

Die Lippen des anderen nun einnehmend, ließ sich Aya einen Moment Zeit, nur um dann wie verbrannt zurück zu zucken. So als hätte sich alle Lust mit einem Mal verflüchtigt und das nur aus einem einzigen Grund… einem schnellen Grund, der schnell gefunden gewesen war.

Er setzte sich zurück, die Stirn gerunzelt.

„Du schmeckst nach Zigaretten“, sagte er und seine Stimme troff nur so vor Abneigung gegen den Geschmack.
 

Ähm.

Sendepause.

Keiner da.

„Kann sein…“, fing Schuldig zögernd an, wusste aber nicht, was er so abrupt antworten sollte. Oder ob er etwas antworten sollte, doch Ran schien, als wolle er eine Antwort.

In Schuldigs Kopf war gähnende Leere. Für den Moment.

Er lag da, die Hände noch immer dort liegend wo Ran sie zuvor festgepinnt hatte und starrte in die schattenhafte Gestalt über sich.
 

„Nicht gut“, murmelte Aya über den Verlust seiner Libido hinweg und löste sich von Schuldigs Händen wie auch von dessen Gestalt, als er aufstand.

„Ich gehe ins Bett, ich bin müde.“ Und er wollte Schuldigs Zigaretten nicht schmecken, deswegen hatte er einen Rückzug gemacht, nicht wahr? Das war zumindest der einzig logische Grund.
 

„Ja“, sagte Schuldig bedächtig. „Klar, mach das.“ Ein wenig tonlos erschien ihm seine Stimme, als er seine Arme dazu benutzte sich auf die Unterarme zu stützen und Ran hinterherzublicken. Als dieser in der Wohnung verschwand, ließ sich Schuldig genervt stöhnend auf die Liege fallen und starrte in den Himmel.

„Wie lange soll das noch so gehen?“, fragte er sich leise selbst. Ein paar Minuten blieb er noch so liegen bevor er seine Zigaretten von unter der Liege hervorkramte und sich prompt erneut eine ansteckte. Ein kleiner Trost.

Ran wusste doch, dass er rauchte. Sie hatten sich kennen… näher kennen gelernt und Schuldig hatte ab und an eine geraucht. Selbst Ran pflegte von Zeit zu Zeit eine Zigarette zu rauchen.
 

Momentan war Schuldigs Zigarettenkonsum sehr gestiegen, vom Gelegenheitsraucher zum richtigen Raucher, zumindest solange Ran nicht in seiner Nähe oder zuhause war, rauchte er häufig.
 

Aya wiederum machte sich währenddessen für das Bett fertig und legte sich schließlich im Schlafanzug zwischen die Federn. Ihn wunderte seine wechselnde Libido auch etwas, doch nicht so sehr, dass er sich ernsthafte Gedanken über dieses Thema machen würde.
 

Dass sein Verhalten jedoch seltsam war, bemerkte er selbst nicht… auch nicht, dass er immer tiefer in einen Teufelskreis hineingeriet.

Banshee sprang zu ihm auf das Bett und er kraulte sie gedankenverloren.
 

o~
 

Die nächsten Tage beschäftigte sich Schuldig damit, Nagi gute Tipps zu geben wie er Brad observieren konnte, ohne dass dieser es mitbekam.

Ein sehr schwieriges Unterfangen.
 

Nagi hatte Angst um ihren Anführer und dessen Führungsqualitäten ließen tatsächlich zu Wünschen übrig, doch genau genommen war Schuldig froh darüber. Aber… für ihr Team war es nicht gut, wenn Brad die Zügel schleifen ließ. Er wiederum war froh, dass er Ran und ihn in Ruhe ließ.

Ein Dilemma, in dem sie steckten.

Ansonsten gab es für Schuldig nicht viel zu tun. Ohne Rans Wissen – da dieser in der Spätschicht war, hielt sich Schuldig an zwei Abenden im Blind Kiss in der unmittelbaren Nähe von Kim auf. Er brauchte ihre Ruhe, ihre ehrliche Ruhe, damit er auf Rans Launen mit der gleichen entsprechenden Ruhe reagieren konnte und nicht plötzlich dazu überging dem Japaner den hübschen Hals umzudrehen.
 

Die Male, in denen Ran einen Aussetzer gehabt hatte, hatte er ihn nicht mehr erkannt und war völlig apathisch gewesen. Würde sich Ran wieder einkriegen? Oder artete Rans zunehmende Instabilität in etwas Kritischem aus?
 

Diese Frage konnten zur Zeit weder Schuldig noch Aya beantworten. Aya noch weniger als Schuldig, war er sich dieser extremen Schwankungen nicht wirklich bewusst. Er bemerkte nur, dass er momentan schnell wütend wurde, oder vielmehr just in diesem Augenblick, in dem er seinen Autoschlüssel nicht fand und eine Wut in sich spürte, die er zuletzt einem Opfer gegenüber gespürt hatte.

Takatori zum Beispiel.

Mit Wut im Bauch fuhr er nach Hause, Wut, die auf einer eigenen Art und Weise heilsam war, überdeckte sie doch etwas, wovon er nicht wusste, dass es überdeckt werden wollte.

Sich durch den Verkehr kämpfend, ließ er den Wagen schließlich auf ihren Parkplatz rollen und stieg aus. Es war halb zwölf nachts und er war erschöpft, dennoch auch aufgekratzt.

Den Wohnungsschlüssel ins Schloss fummelnd, betrat er die stille, jedoch beleuchtete Wohnung

„Bin wieder da!“
 

Schuldig war auf der Terrasse, Banshee auf seinem Schoß haschte nach ihrem Glöckchen welches er gemeinerweise immer fast in Reichweite der halbwüchsigen Katze hielt, aber leider nur fast.

„Terrasse!“, rief Schuldig nach hinten. Er hatte auf dem Monitor des Laptops, welcher neben ihm zugeklappt lag, gesehen wie Ran im Treppenhaus heraufgekommen war und die Wohnung betreten hatte.

Mit der Rechten nahm er seine Zigarette auf und einen tiefen Zug, während er mit der Linken gerade Banshee ärgerte, die just seinen Finger zwischen den Zähnen hatte und bearbeitete. Vermutlich aus purer Frustration.

Warum sollte nur er frustriert sein?

Er hörte es nämlich schon an den ersten Worten, wie gut drauf Ran war. Zu gut. Künstlich gut. Vermutlich darum bemüht, dieses völlig überdrehte Gefühlskonstrukt aufrecht zu erhalten.
 

Aya folgte der Stimme und legte währenddessen seine Jacke und seine Schuhe auf dem Weg zur Terrasse ab, ebenso wie seinen Schlüssel. Er trat hinaus in die Nacht, aus der er gekommen war und entdeckte seine beiden Lieben. Banshee, wie sie erfreut zu ihm gesprungen kam, Schuldig, wie er ihn aus seinen blau-grünen Augen ansah.

Er nahm Banshee hoch und beugte sich zu Schuldig hinab, gab ihm einen Kuss. Ein kurzes Lächeln erschien auf seinen Lippen, als er die kleine Rote wieder auf dem großen Roten absetzte.

„Na ihr beiden? Wie geht es euch?“

Sein Blick fiel auf den Aschenbecher neben Schuldig und er runzelte die Stirn. Er war schon wieder randvoll.
 

„Bestens, siehst du ja, ich ärgere den Teenie und sie knabbert an mir herum“, lächelte Schuldig und überlegte es sich, wie er seine nächste Frage abwechslungsreich gestalten könnte.

„Ging’s heute besser im Laugh?“ Ran hatte gestern gesagt, dass es nicht so toll gewesen wäre, aber als er näheres wissen wollte, hatte er abgeblockt.
 

„Ja, es ging. Stressig war es“, wich Aya wie gestern schon aus und spürte, wie dieser Aschenbecher sich zu einem Dorn in seinem Auge entwickelte.

„Hast du Langeweile?“, fragte er völlig aus dem Kontext gegriffen und deutete auf den Aschenbecher, ein willkommenes Objekt um daran seine Wut auszulassen.
 

Schuldig war Rans Blick gefolgt und fühlte sich nicht nur ein wenig im Abseits, da Ran stand und er saß und dieser wie ein drohender Schatten über ihm aufragte.

„Nein, was hat Langeweile mit dem Aschenbecher zu tun?“ Seine Frage war nicht vorsichtig formuliert, eher amüsiert und er schubste Banshee mit einem kleinen liebevollen Wurf auf dem Boden, da diese schon zu quängeln anfing und weg wollte.
 

„Weil du wie ein Schlot rauchst!“, kam es schärfer als geplant über Ayas Lippen, doch der Teil in ihm, der sich nach Ruhe sehnte, wurde im gleichen Moment von dem, der seine Wut herauslassen wollte, überschwemmt.

Er runzelte über sich selbst die Stirn.
 

„Ah, stimmt. Ich wird’s bald wieder einstellen, ist nur so ne Phase, du kennst sowas ja… solche Phasen hat jeder mal“, tat Schuldig seinen Zigarettenkonsum ab. Ran übertrieb ein wenig, so viel war es nun auch wieder nicht. Eine halbe Schachtel am Tag, vielleicht.
 

„Eine ungesunde Phase, noch dazu sieht es widerlich aus“, kam es schon gereizter aus Aya heraus und er verschränkte seine Arme. Die bisher nur unterschwellig in ihm schwelende Wut kochte ein erstes Mal hoch.
 

Schuldig sah Ran ruhig an, maß das verärgerte Gesicht, die wütenden Augen und Rans Haltung im Allgemeinen. „Es ist meine Phase“, erwiderte er dann ruhig, sehr ruhig und sein Gesicht verlor den amüsanten Ausdruck. „Nehme ich in irgendeiner Form nicht Rücksicht auf dich? Ich rauche nicht drinnen, ich rauche nicht in deiner Gegenwart.“
 

„Du schmeckst aber nach Rauch! Nennst du das Rücksicht?“, kam die Wut in Aya nun offen zum Vorschein, als sein Ton lauter wurde und er das betreffende Behältnis hochnahm, angewidert daran roch.
 

Schuldig erhob sich, rollte leicht mit den Augen und ging an Ran vorbei.

„Findest du nicht, dass du etwas überzogen reagierst?“, wagte er endlich die Frage aller Fragen, die ihn schon seit Tagen auf der Seele brannte, obwohl er ahnte, dass es in die Hose gehen würde. Solche Fragen brachten Leute in Wut und Rage nur noch mehr auf. Vor allem seine Provokation mit den Augen würde wohl hoch zu Buche schlagen.
 

Würde sie.

Hatte sie just in dem Moment, in dem der Aschenbecher vorbei an Schuldig gegen das Mauerwerk flog und dort mit einem lauten Splittern zerschellte.

„Das tue ich NICHT!“, schrie Aya außer sich vor heilsamer, ihn überschwemmender Wut, die sich allesamt auf Schuldig entlud in diesem Moment. „WAG ES NICHT, DICH VON MIR ABZUWENDEN!“
 

Schuldig starrte Ran an. Sein Körper war angespannt.

Er überlegte, kalkulierte das Risiko ein. Spott wollte er nicht, Zynismus wäre mehr Provokation, Amüsement wäre ebenfalls nicht das was Ran brauchte. Was Ran brauchte war Wut. Kontrollierte Wut.

Schuldig packte Ran im Nacken, wirbelte ihn an eben diese Mauer, an die der Aschenbecher in Einzelteile zerbrochen war und presse Ran seine Hand auf den Mund. Sein Gesicht kam ganz nah an Rans. „Wir haben Nachbarn. Nachbarn mit Ohren. Normale Nachbarn. Wir können darüber reden. In normaler Lautstärke, oder in nicht normaler Lautstärke – drinnen.

Du tickst aus wegen Zigaretten? Kann ich froh sein, dass ich diesen Aschenbecher nicht an den Kopf bekommen habe? Du machst Banshee Angst. Und du machst mir Angst.“
 

Geweitete, violette Augen starrten Schuldig an, während Aya nach einem zweiten Überlegen noch nicht einmal den Versuch unternahm, sich gegen den Griff oder gegen die auf seinen Mund gepresste Hand zu wehren. Er starrte in die grünen Augen, überrascht, wütend, entsetzt, verständnislos über sein eigenes Verhalten. Seine Hände gerade noch zu Fäusten geballt, lösten sich sehr langsam aus dieser Position.

Was machte er hier?

Schuldig Angst… Banshee Angst… das tat er.

Und warum? Weil es gut tat… weil es ihm für den Moment gut tat, es ihm Befriedigung verschaffte, die er so sehnlichst vermisst hatte.
 

Was Schuldig jedoch auch sah… war Genugtuung in diesem so erschrockenen Violett. Er sah vieles darin aber auch jene Befriedigung, nur in einer verschwindend geringen Spur enthalten, aber er verstand es. Er verstand, dass Ran es brauchte herumzuschreien, zu toben, weil er vermutlich keinen blassen Schimmer hatte warum er es brauchte.

„Was brauchst du, Ran? Ich gebe es dir.“ Schuldig hielt seine Hand immer noch über Rans Mund, lockerte jedoch die Intensität mit der er es tat. Mit der anderen hob er Rans Hand an seine eigene Wange. „Willst du… mir eine reinhauen?“, fragte er ruhig.

„Machs einfach. Es hilft dir vielleicht. Oder… Sex? Harten Sex? Ich bin hier, Ran. Du kannst es haben. Sag mir was los ist und ich helfe dir, egal wie.“
 

Was Aya im Moment brauchte, war die Hand über seinem Mund, die ihm genau zeigte, was er zu tun hatte, dass er seinen Mund zu halten hatte.

Er blinzelte zum ersten Mal nach seinem Ausbruch und schüttelte leicht den Kopf.

Nicht schlagen… er wollte Schuldig nicht schlagen. Das war das Letzte, was er wollte. Er wollte ihn auch nicht verletzen, selbst nicht mit dem Aschenbecher. Was wollte er? Wieso hatte er das getan? Er wusste es nicht…
 

Die Augen des Telepathen waren geschärft auf dieses Nichtwissen.

Schuldig spürte die weichen Lippen unter seiner Haut, das minimale Zittern darin und er nahm die Hand weg, zog Ran an der Hand, die er immer noch hielt mit sich in die Wohnung. Von dort ging es weiter zum Badezimmer.

Er würde mit ihm duschen und dann würden sie ins Bett gehen. Ran war verwirrt und brauchte klare Linien, eine führende Hand.
 

Aya ließ sich ziehen, leistete zunächst noch Widerstand, doch mit dem ersten Stolpern erlahmte eben dieser. Er keimte erst wieder auf, als er in der Dusche stand und Schuldig ihn auszog, als er unkoordiniert versuchte, dessen Hände einzufangen.

„Nicht“, murmelte er, die Stimme erschöpft. Er räusperte sich. „Ich hätte ihn nicht werfen sollen.“
 

Schuldig hielt inne, ließ den zweitletzten Knopf von Rans schwarzem Hemd fahren und seine Hand fuhr das Hemd nach oben zu Rans Wange. Seine Finger strichen darüber.

„Doch das hättest du. Du müsstest mehr werfen. Viel mehr. Irgendwohin, alles rauswerfen. Aber es klappt nicht, oder?“, fragte Schuldig leise und er lehnte fast an Ran, intim, als ginge es darum Ran zu verstecken, niemand anderen Ran sehen zu lassen, niemand anderer an ihrem Gespräch teilzuhaben. Ein Geheimnis.
 

„Es geht mir gut…“ Aya seufzte niedergeschlagen für einen Moment. „Die Arbeit läuft gut, uns geht es gut… ich sollte nicht wütend sein, Schuldig. Ich sollte dich nicht anschreien.“

Nein, Schuldig trug daran keine Schuld… er auf keinen Fall.

Er lehnte seinen Kopf an Schuldigs Schläfe und schloss die Augen. Die Nähe des anderen war ihm in diesem Moment wichtiger als alle Distanz der Welt, die ihm half, das Gefühl des Fliehens zu unterdrücken.
 

„Es geht dir nicht gut, das wissen wir beide“, sagte Schuldig und seine Stimme streifte so leise Rans Haut, dass er beinahe meinte es nur gedacht zu haben.

Schuldigs Linke hatte sich um Ran geschlungen und lag auf dessen Schulterblatt, seine Rechte fuhr in langsamen Strichen über die Flanke und Brust.

„Zum ersten Mal seit so vielen Jahren hast du Gelegenheit um zu trauern, um dich gehen zu lassen und genau das tust du jetzt. Lass es zu, Ran. Unterdrücke nichts, das… ist nicht gut.“ Er wollte es vorsichtig ausdrücken, denn lieber wäre ihm gewesen, wenn er gesagt hätte, dass es Ran fertig machen würde. Ran kämpfte dagegen an, dass die Verarbeitung der letzten Jahre über ihn hereinbrach.

„Was hältst du davon, wenn du duschst und wir uns danach hinlegen. Oder… bist du zu aufgekratzt?“ Noch immer dieser leise, intime Tonfall, kaum ein Flüstern, als würde er sie ihrer Nähe durch ein lautes Wort entreißen.
 

„Nein, ich bin müde…“

War er das wirklich? Aya vermutete es, doch gleichzeitig fühlte er eine Rastlosigkeit in sich, die ihm sowohl den Schlaf verneinen würde, als auch alleinig durch Schlaf ausgelöscht werden konnte.

Es war verrückt.

Er würde sich nicht gehen lassen, nicht trauern, er brauchte nichts zu unterdrücken. Er war immer mit allem fertig geworden und jetzt, gerade jetzt, wo sich sein Leben zum besseren wandte, würde er mitnichten aufgeben!

Aya konnte es sich nicht vorstellen, wie er den anderen noch vor ein paar Minuten hatte so anfahren können… er wollte es doch gar nicht.

„Lass uns duschen und dann schlafen gehen.“ Er griff zum Duschgel und schraubte es auf.
 

Wie sehr Ran durch den Wind war bezeugte schon allein diese absurde Geste. Ran hatte das Duschgel in der Hand, öffnete es sogar, war aber immer noch angezogen. Bis auf die paar Knöpfe die Schuldig geöffnet hatte.

„Zieh dich vorher aus“, sagte Schuldig in die Stille hinein und küsste Ran auf die Schläfe, bevor er sich löste. „Ich sehe zu, dass Banshee herein kommt und schalte das System ein. Fang schon einmal an, ich bin gleich da.“
 

Schuldig verließ das Badezimmer, durchquerte Flur, Wohnraum und ging auf die Terrasse hinaus. Er fand ihren Katzenteenie und pflückte die junge Dame vom Geländer.

„Komm mit Kleine, Ran geht’s nicht gut, wie wäre es wenn du heute Nacht ausnahmsweise bei uns schläfst, hmm? Das ist doch mal eine Maßnahme, die dir sicher gefällt, hmm?“ Er schmuste mit seinem Gesicht über ihren Kopf und genoss das sanfte Schnurren, welches sie ihm entgegenbrachte. Er schloss die Terrassentür und betätigte die Rolladen, aktivierte das Sicherheitssystem und ließ Banshee wieder hinab. Sogleich wetzte sie davon.
 

Das Schlafzimmer war der Ort, in den Banshee nicht immer durfte und sobald dort die Tür offen war, gab es nur einen Ort, an dem man sie suchen musste: das Schlafzimmer.

Momentan war sie aber eher Richtung ihrer eigenen kleinen Ecke in der Küche unterwegs um ihren Durst zu löschen.
 

Schuldig löschte die einzelnen Lichter und ging ins Schlafzimmer, knipste dort die indirekte Beleuchtung an. Er ließ die Tür offen und schwenkte in Richtung Badezimmer.
 

Für einen Moment lang starrte Aya das Duschgel an, bevor er es zur Seite stellte und sich auszog, langsam auszog.

Seine Kleidung fand ihren unordentlichen Weg auf den Boden vor der Dusche und Aya schloss die Glastür.

Das warme Wasser über seinen Körper prasseln lassend schloss er die Augen und schaltete zumindest zum Teil ab. Ganz konnte er es nicht, dazu ließen ihn einige Dinge einfach nicht in Ruhe. Dinge, die er für sich selbst nicht veräußern konnte.
 

Minuten vergingen, bis er allen Schaum aus seinen Haaren und von seinem Körper gewaschen hatte und sich abtrocknete. Einen Bademantel überwerfend, kam er zu Schuldig und umarmte den anderen Mann von hinten… eben weil ihm danach war. Dabei fiel sein Blick auf Banshee, die sich schon mit unschuldig grünen Augen auf ihrer Matratze breit gemacht hatte.

„Ein Dreier?“, fragte Aya lächelnd.
 

„Ausnahmsweise…“, murmelte Schuldig verdrießlich und warf einen gespielt strengen Blick zu Banshee. Im Normalfall würde er sie jetzt hochnehmen und vor die Schlafzimmertür werfen und diese dann schließen. Aber heute… würde er eine Ausnahme machen.

Er hatte nicht daran gedacht, dass Ran heute Sex wollte, denn dann würde Banshee auf jeden Fall raus fliegen.

Nur… gab es da ein Problem. Schuldig hatte heute keine Lust. Er war zu angespannt, zu sehr auf Rans Seelenleben und dessen verworrene Instabilität fixiert, als dass er an Sex denken wollte oder konnte.

Overload

~ Overload ~
 


 

„So lieb heute….“

Ein Kuss ereilte Schuldigs Wange und Aya kam zu Banshee auf das Bett gekrochen, legte den Bademantel davor auf den Boden. Fröstelnd vergrub er sich unter der Decke und zog sie bis zum Kinn hoch, scheuchte damit die kleine Rote auf, die sich protestierend ans Fußende platzierte und von dort aus zu Schuldig hochsah… ganz klar um Hilfe bittend.
 

Schuldig blieb jedoch unbeeindruckt von diesen Augen, er ließ die Tür einen Spalt breit auf, falls Banshee nach draußen wollte. Schuldig zog sein Oberteil aus und warf dieses auf den ausladenden Entspannungssessel der in der Nähe des begehbaren Kleiderschranks stand. „Du frierst, willst du nicht doch lieber etwas anziehen?“

Ran pflegte seit neuestem manchmal nackt zu schlafen. Fror zwar erbärmlich zu anfangs, doch war nicht dazu zu bekommen etwas anzuziehen. Warum das so war, hatte Schuldig bisher noch nicht eindeutig herausfinden können.
 

„So ist es besser“, kam die einsilbige Antwort von Aya und er drehte sich zu Schuldigs Seite. Wieso sollte er etwas anziehen, wenn Schuldig ihn wärmte… auf was für eine Art und Weise auch immer.

Seine Gedanken glitten wieder zum Kätzchentag zurück, an das klare Machtverhältnis zwischen ihnen beiden.

Ein Stich an Lust wanderte gemächlich Ayas Wirbelsäule hinunter… tief in andere Regionen.
 

„Willst du das kleine Licht anlassen?“

Schuldig kam wieder zum Bett und legte sich hinein, Banshee wurde erneut aufgescheucht und floh kurzerhand vom Bett nur um danach sofort wieder hinauf zu springen und sich einen geeigneten Platz zwischen ihren Füßen zu suchen. Den sie ohnehin im Laufe der Nacht zugunsten einer besseren Position aufgeben würde.

Schuldig dagegen hatte ein anderes Problem. Er vermutete, dass Ran sich nackt ins Bett legte, weil er ihn nahe an sich fühlen wollte. Aber Nacktsein hatte auch etwas mit Unterordnung zu tun, wenn der andere Partner angezogen war...
 

„Ja, lass es an.“

Kaum lag Schuldig, hatte sich Aya an ihn geschmiegt, ihn mit seinen Armen umschlungen und ganz für sich vereinnahmt. Dabei lag er etwas tiefer als der andere, war somit noch kleiner. Doch zu Schuldig aufsehen war gut, es… passte.

Es passte zu seiner momentanen Stimmung.

Aya lächelte und strich mit seiner Hand über Schuldigs Rücken.
 

Das war der Beweis, den Schuldig brauchte um für sich sicher zu sein, was Ran von ihm jetzt erwartete. Ran war absichtlich etwas an ihm herabgerutscht, er ordnete sich unter.

Aber dass es ihm nicht gut dabei ging erklärte eindeutig der Wunsch, dass Licht anzulassen.

Am Anfang, als sie noch nicht wirklich zusammen gefunden hatten, bestand Ran ebenfalls darauf, eine kleine Lichtquelle anzulassen.

Es fiel Schuldig etwas schwer Ran zu umarmen, weil er einige Entscheidungen zu treffen hatte. Dennoch tat er es mit vorsichtiger Dominanz. „Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Oder bist du zu müde dazu?“ Das war natürlich etwas, was Ran vermutlich gar nicht wollte. Geschichten hören oder schlafen.
 

„Kommt darauf an, ob du mir die Geschichte mit oder ohne körperlichen Einsatz erzählst“, erwiderte Aya und ließ seine Zunge währenddessen auf Schuldigs Haut spazieren gehen. Die Hand auf Schuldigs Rücken schlich sich tiefer, noch nicht ganz eindeutig, jedoch richtungsweisend.
 

Zum ersten Mal geschah etwas, dass es zwischen ihnen noch nicht gegeben hatte. Er lehnte Rans Angebot zum Sex ab.

„Nein, Ran, ohne körperlichen Einsatz“, sagte er leise aber bestimmt und fing Rans Hand ein um sie nach vorne zwischen sie zu ziehen. „Dreh dich um, ich möchte deinen Hintern an mir spüren“, setzte er hinzu. Er würde es anders versuchen, denn er fürchtete, dass Ran nicht auf ihn hörte, nicht auf normale Worte. Auf dominierende, aber nicht auf normale.
 

Eine kleine Weile schwieg Aya, dann drehte er sich langsam, verführerisch um und presste sein Hinterteil an Schuldigs Vorderseite. Es passte genau… ganz genau.

„Gut so?“, fragte er leise, mit leicht laszivem Unterton. Seine Haut brannte immer noch von Schuldigs dominierender Handhabung.
 

Entweder er trickste Ran aus oder er stieß ihn vor den Kopf. Es war eine schwere Entscheidung die Schuldig zu treffen hatte und er hatte nicht die Zeit dazu sie zu treffen.

„Befriedige dich selbst. Jetzt.“ Schuldig hielt seine Stimme betont neutral, kühl. Es würde Ran nur mehr triggern, aber er hatte seine Entscheidung getroffen. Ran würde seinen Höhepunkt haben und ihn dann in seinen Geist lassen, damit er ihn schlafen schicken, oder zumindest beruhigen konnte. Er mochte das nicht.

Ganz und gar nicht. Aber er wusste nicht was er sonst tun konnte, damit Ran bekam, was er wollte.
 

Sich selbst befriedigen?

Etwas in Aya zögerte trotz der Dominanz in Schuldigs Stimme.

Er wollte sich nicht selbst befriedigen ohne dass Schuldig Hand anlegte.

„Nur wenn du mithilfst…“, sagte er, die Lust schon dabei, sich zurück zu ziehen. Ob sich Unsicherheit darunter mischte, konnte er nicht sagen…

Zumindest flüsterte ihm sein Unterbewusstsein ein, dass er nicht weitergehen sollte… konnte… durfte.
 

Es mischte sich Unsicherheit zumindest in Rans Stimme. „Ich werde nicht mithelfen, denn ich habe keine Lust auf dich. Nicht, wenn du derart unterwürfig bist.“ Jetzt hatte Schuldig es gesagt, wenn auch in einem sanften Tonfall und nicht ruppig wie zunächst geplant.

Er wollte Ran nicht verletzen, aber das würde dieser Satz ohnehin. Vielleicht wäre es besser gewesen mit ihm zu schlafen, anstatt ihm das zu sagen.
 

Wären die ihn haltenden Arme nicht gewesen, Aya wäre sicher aus dem Bett geflohen. Zwar erst nach ein paar Sekunden, erst nachdem er wirklich verstanden hatte, was Schuldig ihm sagte, was er wirklich meinte.

Er war angespannt, schier verspannt, als er an die gegenüberliegende Wand starrte. Unterwürfig… damals hatte Schuldig nichts dagegen gehabt.

Aya schwieg.
 

Und dieses Schweigen wog schwer zwischen ihnen. Schuldigs Hand fand Rans Bauch und legte sich warm darauf.

„Missbrauch mich nicht für etwas, das du nicht wirklich willst. Du bist nicht überzeugt davon heute Spielchen durchzuziehen, du brauchst es für etwas, was ich nicht… fassen kann, Ran.“ Schuldigs Hand begann damit auf Rans Bauch Kreise zu ziehen.

„Die letzten Tage hast du mich angemacht und fallen gelassen und das innerhalb weniger Minuten. Du schreist mich an und in der nächsten Minute willst du, dass ich dich… unterwerfe. Hilf mir zu verstehen, was los ist, ich mache mir Sorgen um diese Stimmungswechsel. Und ich mache mir Sorgen um dich. Und diese Sorge überwiegt.“
 

Das waren Worte, die Ayas innerer Wahrheit viel zu nahe kamen, als dass er sie als ungeschehen hätte abtun können.

Schuldig sorgte sich um ihn… aufgrund seiner Stimmungsschwankungen, die er die letzten Tage gehabt hatte. Und wollte deshalb nicht mit ihm schlafen. Er missbrauchte Schuldig… stimmte das wirklich? Aya wusste es nicht. Es kam ihm nicht so vor, doch Schuldig sagte es nicht umsonst. Wirklich nicht.

„Es ist alles in Ordnung“, sprach er die Lüge aus, die wie die Wahrheit klingen sollte, es aber nicht tat. Gewiss nicht. „Es wird sich schon wieder einrenken.“

Ja, das würde es, irgendwie. Er war momentan nur gestresst, nichts weiter. Vielleicht war gerade das auch der Grund, warum ihm jetzt selbst Schuldigs Hand auf seinem Bauch zuviel wurde und er sie von seiner Haut löste, seine Finger mit ihr verschränkte und sie zusammen mit der seinen auf der Bettdecke platzierte.
 

Ran blockte erneut ab.

Nicht nur das… er widersprach sich selbst, denn zum Einen sagte er, es wäre nichts und zum Zweiten, es würde sich alles wieder einrenken.

Schuldig kam nicht an ihn heran und das Übelste daran war, dass es weitaus schlimmer als damals war… damals als Rans Schwester gestorben war.

„Möchtest… möchtest du alleine schlafen?“, fragte er vorsichtig, da er nicht wusste, wie er Rans Handlung beurteilen sollte. Wollte er allein sein? War es gut, dass er allein war?
 

„Nein, es ist schön, mit dir… mit euch hier zu liegen“, verneinte Aya Schuldigs Vorschlag und schmiegte sich im Gegenzug zu seiner Handlung zuvor an Schuldig. Die Augen schließend, seufzte er leicht.

„Es ist gut so.“

Was gut so war, konnte er selbst nicht so wirklich betiteln, geschweige denn veräußern. Also schob er es lieber wieder zurück in die Untiefen seines Geistes zurück.
 

o~
 


 

Die Einrichtung des Laughs war dem im Smile vom Stil her nicht unähnlich. Brad erkannte Gabrieles Einfluss und dessen Liebe zu klaren Linien, als er die Mischung aus Bar und Café betrat. Er hatte gestern einen Auftrag zu seiner eigenen grimmigen Zufriedenheit erledigt, obschon es fast schief gegangen wäre.

Seine Fähigkeit des Hellsehens hatte sich immer noch nicht eingestellt und die Wut darüber schwelte tief und heiß in ihm. Der Zorn stieg und er entlud diesen Zorn darin, dass er alleine einige Aufträge erledigte.

Kleinere Sachen, keine großen Dinger, wie sie sie im Team erledigen konnten. Bisher hatte er zwei Aufträge hinter sich gebracht und das nur mit der Erfahrung der letzten Jahre und einiger Kontakte wie er zugeben musste. Zumindest was die Informationsbeschaffung anging.
 

Brads geübtes Auge fand Gabriele in der Lounge in einer ruhigen Ecke. Es war schon spät und nur noch wenige Gäste waren im Laugh. Gabriele hatte ihn vor Längerem eingeladen mit ihm seinen Weinkeller unsicher zu machen und Brad fand sich in der Stimmung dies zu tun und hatte die Einladung angenommen.

Er wusste, dass Ran hier arbeitete und hoffte, dass er ihm heute nicht über den Weg laufen würde. Sein Bedarf an giftigen Blicken war gedeckt, seitdem Schuldig und Ran kurzzeitig bei ihnen eingezogen waren. Und er war umso froher, dass sie wieder weg waren.

„Der Laden scheint gut zu laufen“, resümierte er und verzog die Mundwinkel zu einem minimalen Lächeln als Gabriele aufblickte und seiner ansichtig wurde.
 

Gabriele erwiderte dieses Lächeln und erhob sich von seinem momentanen Platz, streckte Brad die Hand entgegen. Sie hatten sich vor Jahren schon auf diese westliche Art des Ehrerbietens geeinigt…da sie beide gebürtig nicht aus Japan kamen. Zugereist, zugeheiratet… wohin sie das Schicksal eben trieb.

„Das tut er. Ich habe schließlich auch gutes Personal, das die Gäste bedient. Dein Vorschlag war übrigens ein Glücksgriff.“ Gabriele zwinkerte. „Er arbeitet gut, seine Laune ist besser und er kann gut mit den Gästen.“
 


 

Besagter Arbeitnehmer hatte Crawford schon von weitem gesehen und sich an das andere Ende der Bar zurückgezogen. Er hatte heute wenig Lust, dem Amerikaner zu begegnen, schon gar nicht, wenn er freundlich zu ihm sein musste.

Aya war unruhig, nicht nur wegen dem Auftauchen des Orakels, sondern wegen Dingen, die er nicht genau spezifizieren konnte. Und vor lauter Unruhe waren ihm Gläser zerbrochen, als er sie hatte fallen lassen… eines von vielen Missgeschicken am heutigen Tage.

Er wollte nicht mehr, wollte nach Hause, aber gleichzeitig auch nicht, gleichzeitig wusste er, dass er Schuldigs Stille nicht ertragen würde.
 

Brad setzte sich. „Das freut mich und ich danke dir noch einmal für die Möglichkeit, die du ihm gegeben hast.“ Dass er Ran die Pest an den Hals wünschte - zwar nur in seiner Fantasie - musste er nicht so offensichtlich machen, deshalb war hier ein wenig höfliche Konversation, was dieses Thema anbelangte, durchaus angesagt.

„Wie geht es deiner Frau und dem Kind?“
 

Gabriele gab Brad einen kompletten Abriss, wie es den beiden – seiner Familie – ging, während sie beide sich zunächst an einen Kaffee hielten. Den größten Teil unterhielten sie sich über geschäftliche Dinge, Brad über seine Firma und er über die beiden Bars, sie tauschten Businessklatsch aus und stellten Mutmaßungen über politische Entwicklungen in diesem Land an.

„Ich habe da übrigens einen guten Wein… einen exzellenten Tropfen aus Spanien. Ich habe dir ja davon erzählt… Lust?“, fragte er, als sie beim Thema Importieren und Exportieren angelangt waren.
 

„Zu einem guten Tropfen sage ich nicht nein“, stimmte Brad zu. „Hast du noch eine Flasche übrig? Ich dachte du hättest nur wenige Flaschen damals mitgebracht.“
 

„Für dich habe ich immer eine Flasche“, zwinkerte Gabriele und erhob sich. „Ich lasse sie uns bringen, warte!“

Er hatte schon jemandem im Sinn, der sie ihnen bringen konnte… der perfekt dazu war.

Er ging zur Theke und fing Ran ab, der sich gerade um einen der anderen Tische kümmern wollte.

„Erinnerst du dich an den Wein aus Spanien?“, fragte Gabriele und Ran nickte irgendwie verbissen. „Tust du mir den Gefallen und holst ihn uns? Also deinem Freund und mir?“

Eine rote Augenbraue hob sich für einen Moment, bevor Ausdruckslosigkeit sich über die ehrliche Reaktion legte.

„Ja, gerne“, erwiderte Ran und machte sich auf den Weg in den Keller, wo der Wein fachgerecht lagerte. Michele ging währenddessen zurück zu Brad und ließ sich neben ihm nieder.

„Woher kennst du ihn eigentlich?“
 

Ein Stricher und ich hatte Mitleid mit ihm.

Brad fand Erheiterung an dieser Antwort, allerdings behielt er sowohl das eine als auch das andere für sich.

„Er ist der Freund meines Geschäftspartners und ich trage ein gewisses Verantwortungsgefühl für ihn. Obwohl… wir uns nicht sehr wohlgesonnen sind. Er mag mich nicht besonders und ich ihn nicht besonders. Allerdings…“

Er atmete tief ein und veränderte seine Sitzhaltung. Das legere Hemd erleichterte ihm diese Unternehmung. „… erkenne ich seine Leistungen an und handele oft im Sinne meines Geschäftspartners, wenn es um Ran geht.“
 

Gabriele kam der rothaarige Ausländer in den Sinn, der Ran abgeholt hatte. War das Brads Geschäftspartner?

Schon möglich…

Allerdings überraschte es ihn, dass die beiden sich nicht grün waren, Brad und Ran.

„Du hast ein gutes Herz“, merkte Gabriele an.
 

Währenddessen suchte Aya nach dem Wein, den Gabriele meinte und fand ihn. Ganz hinten natürlich…

Beinahe hätte er eines der vorderen Weinregale umgestoßen bei seiner Suche, aber nur fast, so ungeschickt war er... er hatte fast das Gefühl, nicht wirklich die Kontrolle über seinen Körper zu besitzen, wenn er nicht genau aufpasste, was er tat.

Den Wein in den Händen haltend, erhob sich Aya und starrte auf die Flasche, die ein kleines Vermögen wert war. Seine Hand zitterte leicht, deswegen umfasste er sein kostbares Gut enger.

Das Licht löschend verließ er den Weinkeller, ging den langen Flur zum Treppenhaus entlang und war auf eine der Leuchten konzentriert, als ihm plötzlich eben jene Flasche aus der Hand rutschte und zu Boden fiel. Dort in tausend kleine Scherben zersprang.
 

Sie war teuer gewesen.

Sehr teuer.

Und der Rotwein ergoss sich nun wie Blut über die Steinfliesen.

Aya starrte auf die Scherben, auf das Blut des Weines… auf viel Blut... sehr viel Blut... das Blut Unzähliger...
 

„Ich helfe nur dem Freund eines Freundes“, tat Brad derweil die Bemerkung des Italieners mit einer Handbewegung ab.

Ein gutes Herz.

Ihm wurde schlecht von dieser Bemerkung. Und er wurde wütend darüber, aber er verbarg diese Wut geschickt, in dem er das Thema auf weniger emotionale Gebiete ausweitete.
 

So sprachen sie noch eine Weile über dies und jenes, bis Gabriele einfiel, worauf sie eigentlich warteten.

Wo war Ran?

Er entschuldigte sich bei der nächsten Gesprächspause und suchte in der Küche nach Ran, da dieser im Rest der Bar nicht zu sehen war.

„Ich glaube, er ist noch im Keller“, sagte Satsuki, die gerade Cocktails mixte und Gabriele runzelte die Stirn, folgte aber ihrem Fingerzeig.

Siehe da, Ran stand im Keller, mitten in dem Gang und abgewandt zu ihm. Vor sich auf dem Boden befand sich die zerschellte Flasche Wein.

„Ran? Was ist passiert??“, fragte er und trat an den rothaarigen Japaner heran, doch nichts tat sich. „Ran?“, versuchte er es noch einmal, doch eine Reaktion blieb erneut aus.

„Was ist los mit dir?“ Gabriele schüttelte Ran an der Schulter, doch dessen zu Boden gewandter Blick löste sich mitnichten vom Objekt seines Interesses, er nahm Gabriele gar nicht zur Kenntnis!

„Verdammt, RAN!“ Ein weiteres Schütteln, doch wieder keine Antwort.

Okay, was war hier los? Was zum Teufel war mit dem Mann passiert? Gabriele hatte keinerlei Idee, musste er sich eingestehen, doch Gott sei Dank war jemand da, der vielleicht mit einer Idee aufwarten konnte. Oder der ihm zumindest sagen konnte, ob Ran ärztlicher Hilfe bedurfte!

Doch ersteinmal musste er Ran nach oben bringen… irgendwie.

„Komm mit, Ran. Komm, ich bringe dich nach oben“, sagte er und fasste den anderen am Oberarm, führte ihn vorsichtig vom Ort des Geschehens weg.

Gabriele blickte zurück in Gedenken an den Wein. Rote Fußspuren führten von der Weinlache fort. Das schmatzende Geräusch von Rans nassem Schuhwerk auf dem gefließten Boden hallte von den Wänden wider, während sie den Ausgang anstrebten. Er würde Satsuki bescheid geben, damit diese hier unten aufräumte.

Ran ließ sich ohne Reation mitführen… in den Aufenthaltsraum hinein. Einfach so auf einen Stuhl drücken, als würde es ihn nichts angehen.

Gabriele kam zu Brad und erklärte ihm die Situation.
 

Schon als Gabriele sich entschuldigte und sich erhob, spürte Brad, wie die Aura einer Vision näher kam und ihn einnahm. Bilder von Schuldigs vermeintlichen Tod spulten sich nacheinander ab, in einer Schnelligkeit und in verwirrenden Einzelheiten, dass er seinen Kopf zur Seite drehte, damit niemand das Zusammenkneifen seiner Augen bemerkte und er biss die Zähne zusammen. Heftige Kopfschmerzen breiteten sich in seinem Schädel aus und er hatte sich gerade soweit unter Kontrolle, dass er seine Augen wieder öffnen konnte. Er wusste nicht, was diese Vision ihm eigentlich zeigen sollte. Erst als Gabriele vor ihm stand… da war es klar. Aber weshalb würde Rans Problemchen derart beeinflussen?
 

Er wusste es nicht, aber was er wusste war, dass er nicht zu diesem Kerl gehen würde.

Gabriele irrte sich nämlich gewaltig. Sein Herz war nicht gut, es war schwarz.
 

Brad zog sein Mobiltelefon hervor und wählte Schuldigs Nummer.

„Hallo Raphael. Ich bin es. Ran geht es nicht gut. Hol ihn ab.“ Dann legte er auf.

„Mein Geschäftspartner Raphael wird ihn abholen.“
 

Michele konnte ein Stirnrunzeln nicht ganz unterdrücken. War Raphael der Rothaarige, Rans Freund? Anscheinend…

Warum Brad nicht zu Ran gehen wollte, gab ihm ein weiteres Rätsel auf, sogar das Größere.

„Willst du dich nicht um Ran kümmern, bis er kommt? Ihr kennt euch… vielleicht kommst du besser an ihn heran als ich?“
 

o~
 

Schuldig, der deklarierte Geschäftspartner, starrte das Telefon an als wäre es etwas, das ihm sagte, morgen würde die Welt untergehen.

Eine Mischung aus Unglauben, so etwas wie mit Abstand betrachtetes Entsetzen und der grimmigen Bestätigung, dass das, was er befürchtet hatte, endlich eingetroffen war.

Ging es jetzt los? Das, was er befürchtet hatte?

Ran ging es nicht gut.

Was sollte das heißen?
 

Schuldig löste sich vom Anblick des Telefons und warf es auf die Couch. Er schaltete die Sicherheitsanlage ein und löschte das Licht in der Wohnung, bevor er sich seine Waffe nahm, sie in das Holster auf dem unteren Rücken schob und seine Lederjacke überzog.

Während er dies tat, wunderte er sich, warum er so ruhig war. Gedanken spulten sich in seinem Kopf ab, die allesamt damit zu tun hatten, wie er Ran wohl vorfinden würde. Es gab einige Szenarien, die zur Auswahl standen.

Würde er mit einem tobenden Ran konfrontiert werden? Würde Ran aus dem Laugh geschmissen werden? Machte er sich alles kaputt?
 

Warum zum Teufel hatte Brad ihm nicht mehr erzählt? Dieser Arsch.

Die Antwort war klar: damit er ihm eins reinwürgen konnte. Damit Schuldig sich noch mehr Sorgen machte, bis er dort ankam.
 

Die Tür fiel mit Verve ins Schloss und Schuldig nahm gleich mehrere Treppen auf einmal, er sprang die Stockwerke fast schon hinab. Er hatte es verdammt eilig.
 

o~
 

Brad dagegen hatte es alles andere als eilig. Er machte ein besorgtes Gesicht, beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt und schüttelte den Kopf langsam, als wäre er nach reiflicher Überlegung zu einem Schluss gekommen. „Nein, Gabriele. Es ist besser wir warten auf Raphael. Wenn es das ist, was ich glaube, dann wäre ich nicht der Richtige, den er jetzt sehen möchte. Warten wir, bis Raphael hier ist, er weiß die Situation besser zu händeln. Ich bin der Falsche dafür. Es hat etwas mit Rans Vergangenheit zu tun“, erklärte er halbseiden.
 

Gut, es gab etwas, das Gabriele nicht wusste… und das nun Brad davon abhielt, zu Ran zu gehen. Gabriele hatte das Gefühl, dass er es gar nicht wissen wollte. Dennoch war der rothaarige Japaner einer seiner Angestellten und er tat, was jeder Chef tun musste.

„Kann ich dich für einen Moment hier alleine lassen? Dann kümmere ich mich um Ran, bis dieser Raphael kommt, in Ordnung?“
 

Brad nickte und hatte eine Floskel bereit um seine selbstverständliche Zustimmung auszudrücken.

Als Gabriele gegangen war winkte er die andere Bedienung heran und bestellte sich… einen Wein. Einen guten Wein.
 

Gabriele hatte sich währenddessen in weiteres Mal in den Aufenthaltsraum begeben und den Rest seiner Belegschaft hinausgescheucht.

„Ran, hörst du mich?“, fragte er und kniete sich vor dem apathischen jungen Mann, der immer noch nicht wirklich auf ihn reagierte. Seine Hand lag auf Rans linkem Knie und versuchte den anderen durch Körperkontakt zu ihm zurück zu bringen.

Nichts.

„Was ist los mit dir?“

Nichts. Gar nichts.

Voller Sorge lagen seine Augen auf denen des anderen.
 

o~
 

Schuldig konnte es nicht schnell genug gehen. Der Wagen preschte auf den Bordstein.

Er würde nicht lange bleiben. Schnell rein, Ran einsacken und schnell wieder raus war seine Mission.
 

Er musste innerlich selbst über diesen Gedanken zynisch grinsen. Ihm verging es jedoch, als er durch die Eingangstür des Laughs einfiel wie ein Schwarm finsterer Heuschrecken und zunächst sofort Brads Signatur erkannte. Er warf ihm einen angewiderten Blick zu und verzog den Mund abfällig.

Es waren nicht viele Menschen hier und schnell waren alle Personen im Raum mittels Telepathie registriert und Gabriele geortet. Schuldig durchquerte zügig das Laugh und ging um die Theke herum zu den hinteren Räumlichkeiten.

Zunächst kam er in einen Vorraum, dann in die Küche und schließlich zweigte von dort linker Hand ein weiterer Gang ab der zu… ja da saß Ran und Gabriele harrte neben ihm.

Schuldigs Lederjacke knirschte, als er den Reißverschluss öffnete und sich neben Ran kniete, unbewusst Gabrieles vorhergehende Haltung nachahmend. „Hey… Ran, ich bins.“

Er strich ihm die losen Haarsträhnen mit beiden Händen hinter die Ohren und hob Rans Kopf an.

„Scheiße.“

Rans Augen waren so leer, als wäre er tot.
 

Nichts war in diesem Moment hinter den violetten Augen, keine Regung, keine Emotion, gar nichts. Aya erkannte weder Schuldig noch Gabriele, er erkannte seine Umgebung nicht, seinen Zustand nicht, nichts.

Still saß er da, völlig in sich versunken, völlig in seiner stillen, stummen Welt, in der Blase, die von Minute zu Minute dicker wurde.

Schuldig war nichtexistent für ihn, aber Gabriele nahm den rothaarigen Ausländer wahr, den er schon einmal kennen gelernt hatte.

„Was ist mit ihm?“, fragte er Raphael.
 

Schuldig wandte den Kopf in einer ruckartigen Bewegung zur Seite als würde er jetzt erst - da dieser sprach - Gabriele wirklich wahrnehmen.

„Danke, dass Sie sich um ihn gekümmert haben. Mein Name ist Raphael Laking.“ Er wandte sich wieder Ran zu, sein Daumen strich über die reglose Wange in diesem reglosen Gesicht.

„Er ist…“ Schuldig schüttelte den Kopf, als verstehe er es selbst nicht. „…in einem Zustand, der für ihn scheinbar das Ende dessen ist, wovon er die ganze Zeit weggelaufen ist“, murmelte Schuldig wie zu sich selbst. Er blickte Ran einige Minuten still an, streichelte die warme Wange und sah dann wieder zu Gabriele hinüber.

Er nahm seine Hand wieder herab, fasste Rans Hände mit seinen.

„Um… das vielleicht im Ansatz zu verstehen… müssen Sie einige Dinge wissen…“, er zögerte, weil er Gabrieles Einverständnis wollte um es ihm erzählen zu können. Ran konnte ihm jetzt keine geben.
 

„Was für Dinge?“, gab Gabriele eher unwissentlich sein Einverständnis. Er hätte vielleicht nicht nachfragen sollen, aber er mochte Ran, den stillen, freundlichen Mann, der gut arbeiten konnte und der seiner Frau auf Anhieb sympathisch gewesen war.

Er wollte ihm noch eine Chance geben, er wollte ihn nicht einfach so hinauswerfen, denn das musste er zwangsläufig tun, wenn es Ran weiterhin so schlecht ging. Wenn es zu mehrfachen Aussetzern kam.
 

„Wissen Sie… es geht ihm gut heute. Gerade jetzt ist er so etwas wie… glücklich mit dem, was er hat, oder“, Schuldig lachte zynisch voller Bitterkeit auf. „…was ihm geblieben ist.“ Der kümmerliche Rest des mageren Satzes unten… ganz unten in der Tasse war ihm geblieben: die Schuld. Oder… Schuldig.
 

„Und jetzt… kommt das, was er die Vergangenheit nennt, mit einem Schlag zurück und bricht ihm das Genick.“ Schuldig beobachtete Ran genau, aber nichts… nichts regte sich in den Augen. Kein Erkennen war zu sehen.

„Ran war sechzehn, als er seine Familie bei einem Unfall verlor. Seine Schwester lag seither im Koma. Ich lernte ihn damals schon kennen. Und er hasste mich.“ Schuldig blieb sehr nahe an der Wahrheit, aber schmückendes Beiwerk und einige Auslassungen waren natürlich inbegriffen.
 

„Brad arbeitete als unabhängiger Berater einer großen Firma zu diesem Zeitpunkt. Ich kam durch ihn in die Firma und war so etwas wie sein Sekretär, für die Übersetzungen und den ganzen administrativen Teil zuständig.

Unser Boss plante die feindliche Übernahme der Firma von Rans Vater und wir taten alles um dies durchzusetzen. Sein Vater wehrte sich, aber sie hatten keine wirkliche Chance gegen diesen Hai. Doch sein Mut und vor allem seine Findigkeit hätten ihn tatsächlich durch eine Fusion mit einem anderen Konzern vor unserem Boss gerettet, wenn nicht plötzlich dieser tragische Unfall dazwischen gekommen wäre. Seine Eltern starben sofort und seine Schwester lag über Jahre im Wachkoma.“

Schuldig erhob sich und zog sich einen Stuhl heran, behielt seine Hände mit Rans verschränkt.
 

Gabriele konnte das Unwohlsein nicht wirklich hinter sich lassen, das ihn anhand dieser ehrlichen Worte beschlichen hatte. Sein Blick ruhte auf Ran, dessen Augen auf nichts lagen, das in ihrer Welt verweilte.

So war also die Verbindung zwischen diesen drei Männern, auch zwischen Brad und Ran. Vielleicht passte es jetzt, dass Brad Ran nicht mochte, dass sie sich gegenseitig nicht leiden konnten.

Es war… verständlich, zum gewissen Teil.

„Wie alt ist er jetzt? Er sieht nicht so alt aus…“, fragte Gabriele und hockte sich auf den Boden, setzte sich auf seine Fersen zurück. Wie lange lebte Ran schon mit dieser Trauer, anstelle sie zu verarbeiten?
 

„Er ist gerade erst knapp über zwanzig.“ Schuldig schwieg und sein Blick fiel auf die Haarspange die er Ran erst vor wenigen Tagen geschenkt hatte.

„Ich hatte ihn aus den Augen verloren, bis… bis vor ein paar Monaten, als ich ihn auf dem Nachhauseweg auf einer Brücke erkannt habe. Er wollte springen. Seine Schwester war gestorben. Sein einziger Halt und all die Jahre hatte er gehofft und für sie gearbeitet um das nötige Geld für die Krankenhauskosten aufzubringen. Es war umsonst gewesen, sie starb und ließ ihn zurück. An dem Tag habe ich ihn zu mir geholt. Vermutlich das schlechte Gewissen. Zu… einem Teil.“ Er atmete tief ein. Auch wenn es nur ein kleines Märchen war, so stimmte… die Hälfte hinter der traurigen Fassade und verbarg nur geschickt die schlimmere Wahrheit dahinter.
 

„Anfangs war es sehr schwierig. Er gab mir für vieles die Schuld. Für den Tod seiner Eltern, für den Ruin, für… den Tod seiner Schwester, für das… was aus ihm geworden war. Er war mittellos und er war gebunden an… eine… der Organisationen… sie wissen, wen ich damit meine.“ Natürlich… die bösen Yakuza.
 

„Er blieb bei mir, warum auch immer.“ Schuldig zuckte mit den Schultern. „Sie haben sicher bemerkt, dass uns mehr verbindet als nur bloße Freundschaft, Amerati-san. Irgendwann in den letzten Monaten wandelten sich unsere Gefühle füreinander. Auch wenn unser beider Vorlieben nicht in der Männerwelt anzusiedeln wären.“ Schuldig runzelte die Stirn, als würde er das selbst seltsam finden, schließlich spielte er hier eine Rolle. Vielleicht sollte er über eine Karriere in Hollywood nachdenken…
 

„Er verdrängte viele Dinge, versuchte stark zu sein und schaffte es, dies nach außen hin zu zeigen. Auch wenn ihm die Yakuza im Nacken saß und er meine Wohnung so gut wie nie verließ. Ein Gefangener. Es war schrecklich, für uns beide.

Schließlich… gingen wir einen Handel ein und er kam frei. Ein wenig Luft für uns beide. Der Tod seiner Schwester geriet weiter in den Hintergrund und verkam wie so vieles zu einem Schatten. Einer Bedrohung.“ Er machte eine wirkungsvolle Pause und blickte für einen Moment zu dem gebürtigen Italiener.

„Vor ein paar Wochen… musste ich auf eine Geschäftsreise nach China. Mein Flugzeug stürzte ab, ein kleiner Privatjet und ich galt zwei Wochen als tot. Ich denke… das war der Zeitpunkt, zu dem Sie ihn kennen gelernt haben Amerati-san.“
 

Diese Wahrheit war zugegeben schlimmer als das, was Gabriele selbst vermutet hatte. Viel schlimmer. Es erklärte einiges.

Er dachte zurück an ihr erstes Kennen lernen, an den Mann, der so verschlossen, aber arbeitswillig gewesen war, nie gelächelt hatte. Bis zu den zwei Wochen Urlaub, die er hatte und nach denen er wie geheilt zurückgekehrt war.

„Er war zu diesem Zeitpunkt ehrlicher mit seinen Gefühlen meiner Frau und mir gegenüber als jetzt, habe ich das Gefühl“, mutmaßte Gabriele.

„Er lächelt zwar seit einigen Wochen, aber dieses Lächeln ist unstet. Als würde noch etwas anderes dahinter stecken. Doch nun war ihm klar, was sich dahinter verbarg. Viel Leid, zu wenig Verarbeitung dessen und der endgültige Zusammenbruch.

„Können Sie ihn aus seiner Starre holen?“
 

„Das weiß ich nicht. Ich bin Psychologe… überwiegend in der Wirtschaft tätig. Er braucht Zeit. Wenigstens für die akute Phase um sich zu erholen. Die Verarbeitung wird jedoch Monate in Anspruch nehmen.“ Schuldig las die Gedanken des Mannes.

„Zwei Wochen. Können Sie ihn zwei Wochen entbehren?“ Er blickte auf und fing Ameratis Blick ein. „Er liebt diesen Job und er braucht ihn, damit er das Gefühl hat selbst etwas zu tun.“

Er hatte es nicht nötig, diesen Mann selbst entscheiden zu lassen, er konnte ihm die Entscheidung aufdrängen aber… noch war es offen, noch konnte er dem Mann seinen Willen lassen.

Ran würde den Job behalten… so… oder so.
 

Die Stirn runzelnd, dachte Gabriele über diese besagten zwei Wochen nach. Natürlich spielte da sehr mit hinein, dass Ran diese Arbeit gerne machte, was man auch sah. Er konnte für diesen Zeitraum das Personal umschichten, das war kein Problem... nur was war, wenn es nicht funktionierte? Wenn Ran es schließlich nicht schaffte?

„Zwei Wochen gebe ich ihm. Danach muss er wieder arbeiten, sonst kann ich den Ausfall nicht tragen. Ich muss an meine Bars denken, Laking-san und dass Rans Stelle dann eine vakante Stelle ist, die ich für diesen Moment nicht nachbesetzen kann.

„Denken Sie, dass sie es innerhalb dieses kurzen Zeitraumes hinbekommen, ihn wieder zu sich zu führen?“
 

„Ich hoffe es. Wenn nicht, dann ist es nur zu verständlich, dass er sich, wenn es ihm wieder besser geht, nach einem neuen Job umsehen muss. Das würde er verstehen.“

Schuldig glaubte, dass es durchaus länger dauern würde, aber die ersten Tage entscheidend waren. Nur selbst er konnte in diesem Fall keine Voraussagen treffen und Brad… der es konnte… der würde es mit Sicherheit nicht tun.
 

Schuldig erhob sich und sah sich um. „Wo hat er seine Sachen?“ Rans Jacke entdeckte er an der Garderobe in diesem Raum und er holte sie sich. Jetzt fehlte nur noch Rans Umhängetasche.
 

„Hinter der Theke, ich hol sie Ihnen, warten Sie“, erwiderte Gabriele und verschwand aus dem Aufenthaltsraum nur um ein paar Sekunden wieder mit Rans Tasche bei Laking-san zu stehen. Es war die mit einer Kirsche im typisch japanischen SD-Format, die ihn angrinste.

Warum auch immer Ran diese Tasche besaß… passte sie doch gar nicht zu dem ruhigen, eher biederen Mann… so hatte zumindest Gabriele den Eindruck. Er reichte sie dem Ausländer.

„Warten wir die zwei Wochen ab, dann melden Sie sich noch einmal bei mir.“
 

Schuldig nahm die Tasche an sich und hängte sie sich um. Er spürte allein an der Schwere nach, dass wohl Rans Waffe noch gut verpackt und verborgen in einem der Fächer lag.

„Sie werden von mir Mitte der zweiten Woche hören, damit sie Zeit haben Ersatz zu suchen, falls es nicht klappen sollte“, erklärte Schuldig. Ob er Gabriele nicht doch beeinflussen würde, damit Ran seinen Job weiterhin behalten konnte, wusste er nicht. Er würde es spontan entscheiden, doch jetzt hatten sie erst einmal zwei Wochen um das Beste daraus zu machen.

Schuldig beugte sich zu Ran hinunter und fasste ihn unter dem Oberarm. „Komm, Ran, steh auf, wir gehen nach Hause. Du bist müde und du solltest dich hinlegen.“
 

Mit welcher Liebe Laking-san mit Ran umging…

Gabriele war kein Mann großer Liebesschwüre, auch nicht seiner Frau gegenüber, doch er war alt genug zu wissen, wenn Menschen zueinander gehörten.

„Ich wünsche ihm alles Gute für die Besserung… sagen Sie ihm das bitte, wenn er wieder zu sich kommt“, sagte er mit Sorge in Rans Richtung, in dessen leere Augen, die nichts preis gaben, was hinter ihnen geschah.

Er hielt den beiden die Tür auf.

„Wenn Sie möchten, können Sie durch die Hintertür hinausgehen. Da erregen Sie weniger Aufsehen mit.“
 

Schuldig nickte. Ran war problemlos mit ihm aufgestanden und folgte dem Zug seiner Hand. Als Ran stand löste er die schwarze Schürze von dessen Hüften und reichte sie Amerati weiter.

Sie verließen das Laugh über den Hintereingang und kamen dann wieder zum Eingang. Schuldig platzierte Ran auf dem Sitz, drehte ihn dann und schob die Beine hinein. Erst dann schnallte er ihn an, legte die Ledertasche mit der daraufgestickten Kirsche auf Rans Schoß.

Er griff sich Rans Hand während der Fahrt. Sie war kühl und verschwitzt. Ran hatte Stress. Großen sogar. Aber es zeigte sich nichts.
 

Das war in der Tat der Fall, denn in Ran wirbelte alles, was er in den letzten Monaten und Jahren an Stress und an Trauer angesammelt hatte, einzig und allein durch eine heruntergefallene Flasche Wein ausgelöst, in ihm herum und ließ keinen klaren Gedanken mehr zu.

Keinen Einzigen.

Seine linke Hand bewegte sich in unregelmäßigen Abständen, während seine rechte ruhig in Schuldigs ruhte… anscheinend besänftigt durch den Körperkontakt, der ihr zuteil wurde.

Bilder zogen an ihm vorbei, Gegenwart und Vergangenheit gemischt und stauten sich mehr und mehr zu einem Brei auf, der ihn verschlang und erdrückte, ohne dass er es sich selbst bewusst wurde… ohne dass er je erleben würde, wie sein bewusstes Denken schließlich an dem Overload sterben würde
 

Das Gefühl, dass diese Fahrt ewig dauern würde, ließ Schuldig erst los, als sie auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude ankamen und er den Motor ausstellte. Er gönnte sich einen Moment und legte für zwei Atemzüge den Kopf in den Nacken, bevor er den Gurt löste und ausstieg. Er beförderte Ran genauso aus dem Wagen wie er ihm hineingeholfen hatte, er musste erneut darauf achten, dass Ran sich nicht den Kopf stieß.

„Wir sind da. Jetzt müssen wir nur noch nach oben, Ran.“ Er sprach Rans Namen häufiger aus, als er es vielleicht sonst tat, weil er ihm das Bewusstsein für sich selbst erhalten wollte.

Sie fuhren mit dem Aufzug hinauf und er öffnete die Wohnung. Es roch nach dem was er gekocht hatte und dem vertrauten Geruch ihrer selbst.

Er schaltete die verschiedenen Lichter einer gedämmten Beleuchtung an und schon kurz danach war Banshee bei ihnen im Flur. Schuldig zog Ran mit ins Schlafzimmer und ließ ihn sich hinsetzen, gab ihm fast augenblicklich Banshee auf den Arm. Währenddessen sprach er fast unablässig mit ihm und erklärte ihm was er tat.
 

Weiches Fell umstrich Ayas Rezeptoren und löste Bildfetzen in ihm aus. Erst undeutlich, dann immer deutlicher schwammen Eindrücke von Haaren vor seinem inneren Auge vorbei.

Immer wieder tauchten sie wie das heimelige Leuchten eines Glühwürmchens vor ihm auf und erloschen schnell wieder… oder vielleicht wie das verführerische Licht des Anglerfisches, der seine Beute lockte und sie dann fraß.

Schuldigs Worte erreichten ihn nicht, nur die Laute, die sich irgendwann mit einem Namen verbanden.

Y…Yo…Youj…

„Youji“, flüsterten seine Lippen, angestrengt, als müssten sie lernen, was sie sonst ohne Probleme konnten. „Youji.“ Probierten sie noch einmal, erfolgreicher dieses Mal.

Er dachte diesen Namen und ein Bild zuckte vor seinem inneren Auge.
 

Schuldig blickte von seiner Tätigkeit auf, Ran die Schuhe auszuziehen.

Das war etwas was Schuldig ganz und gar nicht hören wollte. Den Namen des Playboys.

„Yohji?“

Seine Hand strich über Rans Wange und er versuchte eine Regung in dem Gesicht über sich zu erkennen.
 

So unstet, wie Ayas Gedanken in den letzten Minuten waren, waren nun auch seine Handlungen. Der Berührung Schuldigs löste in ihm eine Reaktion aus, die er weder steuern noch aktiv wahrnehmen konnte… so als hätte sein Instinkt das Leben für ihn übernommen… oder seine Erinnerungen, die fehlerhaft und nur noch in Bruchstücken vorhanden war.

Er zuckte zurück, weg von dieser Berührung, die nicht zu dem Namen, zu dem Gesicht zu passen schienen, die Augen immer noch leer.

Sein Körper trat den Rückzug an, wollte sich schützen, ohne sich bewusst zu sein, vor wem.

„Youji…“
 

Ran drehte den Kopf und den Oberkörper seitlich weg. Weg von seiner Hand und weg von ihm. Schuldigs Hand erstarrte und er zog sie zurück, erhob sich und setzte sich neben Ran.

Er ahnte, dass es Ran nach etwas Vertrautem sehnte… und er wusste, dass er nicht dieses Vertraute war. Nicht für Rans Langzeitgedächtnis.

Nichtsdestotrotz tat es ihm weh. Es schmerzte, dass Ran ihn aus seiner Wahrnehmung gelöscht hatte. Vollständig.

„Hey… Blumenkind… Ran… sprich mit mir.“
 

Kein Wort verließ Ayas Lippen. Er schwieg, besänftigt dadurch, dass ihn nichts berührte, nichts anfasste, dass der unmittelbare Reiz nicht da war. Die kleine Rote war schon lange nicht mehr auf seinem Schoß, vertrieben durch sein unzusammenhängendes Wesen. Sie spürte, dass etwas nicht in Ordnung war… und war nun am Rand des Bettes, während ihre grünen Augen beide, sowohl Schuldig als auch Aya betrachteten.

Seine Hände krampften hin und wieder in der Decke, sonst war sein Körper still, vollkommen still.
 

„Ran…“ Schuldig versuchte es erneut, löste die Haarspange aus Rans Haar mit einem Klick und legte sie zur Seite. Er öffnete zwei weitere Knöpfe des weißen Hemdes, damit Ran es bequemer hatte und erhob sich dann.

Er musste Rans Aufmerksamkeit erregen, aber wenn selbst Banshee dazu nicht fähig war? Schuldig stand da und sah auf Ran hinab. Überlegte fieberhaft wie ihm das gelingen konnte.

Ran war gerade vor seiner Berührung geflohen, hatte sich abgewandt. Eine Reaktion. Wenn auch eine negative. Aber es war eine.

Schuldig setzte sich wieder neben Ran und nahm ihn in seine Arme, spürte bereits sofort die Anspannung in dem Körper. Aber er hoffte, dass er nicht zuviel Schaden damit anrichten würde.
 

Die Katastrophe näherte sich, kam und überrollte beide, Schuldig bei vollem Bewusstsein, Aya unbewusst.

Berührung.

Nähe, menschliche.

Schuldig hoffte, dass er nicht zuviel Schaden anrichten würde, doch er tat es in diesem Moment mehr, als er befürchtet hatte. Aus Anspannung wurde unterbewusste Angst und daraus der Instinkt, sich gegen all seine Feinde zu Wehr zu setzen.

Aya kämpfte mit all seiner Kraft, ohne Rücksicht auf das Wissen, dass es Schuldig war, den er hier bekämpfte. Er wehrte sich, versuchte sich, aus diesen Armen zu winden, dem zu entkommen, was ihn festhielt, ihn fesselte.

Neue Bilder drängten sich ihm auf, Bildfetzen über feindliche Berührungen, über Metall.

Sie trugen den Beigeschmack Hilflosigkeit und genau dagegen rebellierte sein Körper nun mit all seiner Macht.
 

Schuldig bekam Rans Ellbogen in die Seite und eine Hand gegen seinen Hals bevor er von Ran weg kam und schlussendlich auf dem Boden landete. Ran lag auf der Seite auf dem Bett und keuchte. Sein Atem beruhigte sich kaum als hätte er Panik.

„Ist gut… Ran. Ich… ich fass dich nicht mehr an.“ Ein Satz der Schuldig sehr schwer über die Lippen kam. Er rutschte zurück zur Wand und blieb dort sitzen, überlegte wieder. Was konnte er tun? Rans Atmung hatte sich wieder etwas… ein wenig normalisiert. Doch die verkrümmte starre seitliche Lage blieb.
 

Nach etlichen Minuten schloss er die Augen und versuchte Kudou mittels Telepathie zu finden.

Kudou war im Koneko und soweit Schuldig das mitbekam lag er auf der Couch und besah sich das vormitternächtliche Fernsehprogramm.

„Kudou. Komm her. Ran geht es nicht gut. Er ruft nach dir.“
 

Etwas weiter in Tokyo entfernt hustete Youji, als ginge es um sein Leben und stellte zitternd das Glas Sherry ab, das er gerade in der Hand gehalten hatte. Er beugte sich zur Seite und blinzelte um den Schock zu vertreiben, der ihn anhand des plötzlichen Überfalls überkommen hatte.

‚Was?!’, dachte er schließlich fassungslos, als ihm bewusst wurde, was Schuldig ihm gerade übermittelt hatte. ‚Was ist mit Ran? Wieso ruft er nach mir?’

Dass Schuldig etwas mit Ran gemacht hatte, drängte sich ihm nur für eine Millisekunde auf, doch der Gedanke war genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war… war er doch zu abstrus.

Aber was dann?
 

Schuldig gönnte sich ein genervtes Augenrollen und setzte zur Erklärung an. Wenigstens DAS blieb beim Alten und er musste sich auf keine Überraschungen mehr gefasst machen.
 

,Nein. Ich habe Ran nichts angetan. Immerhin entschädigt mich dein Fasterstickungstod für diese ständige Verdächtigung.'

Es gab noch so etwas wie Gerechtigkeit auf diesem Planeten. Und das in der Verkleidung von Sherry. Wer hätte es gedacht?
 

,Er hat einen psychischen Zusammenbruch. Und jetzt tu nicht so, als wäre das nicht zu erwarten gewesen. Wenn du da bist, erklär ich dir den Rest. Schwing deinen Hintern her. Park den Wagen einige Straßen weiter unten. Ich hol dich dort an dem kleinen Restaurant ab. Keine Mobiltelefone oder sonstigen Schnickschnack.'
 

Er nannte ihm die Straße und verließ den Weiß Agenten.
 


 

Schuldig erhob sich nach diesem kleinen geistigen Treffen und machte sich daran, Ran den zweiten Schuh vom Fuß zu ziehen. Er deckte ihn zu, ließ die schwache Beleuchtung an und verließ das Schlafzimmer.
 

Als wäre das nicht zu erwarten gewesen…

„Als wäre das nicht zu erwarten gewesen!“, äffte Youji Schuldig nach, als er an besagtem Restaurant stand und sich die Zeit damit vertrieb, die Umgebung zu beobachten und sich zu fragen, ob er auch alle möglichen Verfolger abgehängt hatte.

Normalerweise hätte er es für zu gefährlich erachtet, direkt in die Wohnung der beiden zu fahren, doch angesichts der noch unklaren Umstände…

Für ihn war es nicht wirklich klar gewesen, dass Ran einen Zusammenbruch erleiden würde, dazu schien ihm der andere Mann zu stark gewesen. Doch war es vor ein paar Jahren nicht genau das gleiche gewesen? Von heute auf morgen der Supergau.

Er lehnte an der kühlen Mauer des Lokals und malte sich aus, welche Auswirkungen der Zusammenbruch haben könnte… wie schlimm es war.
 

‚Hat man dir als Kind nicht beigebracht, andere Leute nicht nachzumachen?’ kam die Stimme aus dem schattigen Hintergrund. Schuldig bog gerade um die Ecke und wartete, dass der Blonde sich in Bewegung setzte. Er war den Weg bis hierher gelaufen und sie würden auch den Rückweg zu Fuß zurücklegen. Schuldig trug eine dunkle Mütze und sein „Held“ Shirt, allerdings halb verdeckt von seiner Lederjacke.
 

Auf Schuldig zukommend, verzog Youji spöttisch die Lippen und entließ ein verächtliches Schnauben. Wenigstens sah der Deutsche wieder wohlgenährter aus… ein Vorteil von Rans Küche. Youji erinnerte sich da an das Häufchen Elend, das ins Koneko geschlichen gekommen war um Ran zu suchen, nachdem er diesen herausgeschmissen hatte.

Wochen her war es… wie die Zeit verging.

‚Hat man dir als Kind nicht beigebracht, nicht in den Köpfen anderer herum zu schnüffeln?’, kam es postwendend zurück an den Telepathen und gemeinsam traten sie den Weg durch eine der Seitengassen an.
 

Schuldig konnte nicht behaupten, dass er groß in Stimmung für das Gelabere des Blonden war. Denn dieser war auf dem Besten Weg, ihm auf den Sack zu gehen.

„Nein, hat man tatsächlich nicht. Vielleicht hätte man es tun sollen. Die Frage ist nur wie. Vielleicht hätte meine Mutter mich gleich auch noch mit erhängen sollen. Dann wäre das Problem gar nicht erst groß aufgekommen“, meinte er gelassen, mit einer großen Portion schwarzen Humors.

Er fragte sich tatsächlich, warum Kudou derart schlecht gelaunt war. Schuldig blieb jedoch ruhig, konzentriert und ließ sich nicht provozieren. „Und such dir jemand anderen für deine schlechte Laune.“
 

„Ich bin nie schlecht gelaunt“, erwiderte Youji und zuckte mit den Schultern, steckte sich im Laufen eine Zigarette an. Wenn Schuldigs Mutter ihn mit erhängt hätte, wäre ihnen einiges erspart geblieben, das stimmte, aber Ran hätte jetzt auch keinen Partner, oder vielleicht doch, wer wusste das schon. Oder sie hätten keinen Stress mit unbekannten Feinden, die sie dazu benutzten, Schwarz zu schaden. Mit Schaudern dachte Youji an die Nacht zurück, wo er die Bekanntschaft… in der Jei ihm aus der Klemme geholfen hatte. Die Gegend war ruhig um diese Uhrzeit, so ganz anders als die belebten Viertel.

‚Was ist mit ihm?’
 

Sie waren am Haus angekommen und Schuldig deutete auf den richtigen Eingang.

Sicher. Nie schlecht gelaunt. Vor allem in seiner Nähe war Kudou nie schlecht gelaunt.

Schuldig dachte mit Sarkasmus an einige vergangene Begegnungen zurück, so auch an die vergangenen Minuten, in denen er nichts provoziert, aber dafür einiges geerntet hatte.

‚Das wirst du gleich sehen.’
 

Sie waren am Hauseingang angekommen und Schuldig sperrte auf, ließ das Licht aus und ging die Treppe hinauf.
 

Youji folgte dem anderen und gemeinsam betraten sie schließlich die Wohnung, die, wie die andere auch, groß und geräumig zu sein schien… zumindest von dem, was er beim ersten Anblick an sah.

Leises Maunzen riss ihn aus seiner Betrachtung und er sah sich der kleinen Roten gegenüber, deren grüne Augen erwartungsvoll zu ihm hinaufsahen. Er hob Banshee hoch und schloss die Tür hinter sich.

„Wo ist er?“
 

„Im Schlafzimmer. Zweite Tür rechts. Sieh es dir an, danach komm auf die Terrasse. Ich warte dort auf dich.“ Schuldig ging vor und zur Küche. Dort angekommen holte er aus dem Vorratsschrank einen Sixpack Bier und stellte die Dosen im praktischen Halter auf die Küchenablage. Dann öffnete er die Tür zur Terrasse und ging hinaus.

Sein Blick fiel beinahe sofort auf die Zigarettenschachtel auf dem Tischchen neben der Liege und er griff nach ihr. Er überlegte einen Moment bevor er sich eine Zigarette herausklopfte und sie sich mit dem in der Schachtel verstauten Feuerzeug eine anzündete.
 

Sieh es dir an… das Elend namens Ran.

Youji seufzte innerlich und folgte Schuldigs Wegbeschreibung mit klopfendem Herzen ins Schlafzimmer. In der Wohnung an sich war es ruhig, doch er hätte sich auch gewundert, wenn Ran getobt hätte… das war nicht seine Art, ganz und gar nicht.

Bei ihm kam der Verfall still und leise, so überraschend, dass man kaum Zeit hatte zu reagieren.

Das merkte Youji nun auch, wie er die Tür öffnete und sich einer leblosen, aber zitternden Figur gegenübersah, die verkrampft auf dem Bett lag und weinte.

Stille Tränen rannen dem langhaarigen Mann aus den Augen, tränkten die Matratze unter ihm.

„Nicht schon wieder….“, murmelte Youji liebevoll und kam zu seinem Freund, kniete sich vor das Bett. Rans Augen sahen ihn nicht, sahen gar nichts.

Doch vielleicht erreichte er ihn durch äußere Reize, die penetranter waren.

„Ran. Ran, hörst du mich? Ich bin es, Youji. Hörst du, Youji… dein Freund… Youji“, sagte er wie eine Beschwörung, doch nichts geschah, nichts, bis auf diese verdammten Tränen, die an Youjis Selbstbeherrschung rissen.

„Warum siehst du mich nicht an, Ran, hmm?“, fragte er und berührte den anderen an der Wange, erfuhr jedoch unwissentlich die gleiche Ablehnung wie Schuldig auch. Ran zuckte zurück, weg von dieser Hand.

„You… ji… Youji….“

Der blonde Weiß runzelte die Stirn. Zumindest erinnerte sich Ran noch an ihn.

„Youji ist hier, Ran. Bei dir. Direkt neben dir. Youji ist bei dir…“ Doch noch einmal wagte es Youji nicht, Ran anzufassen… er musste erst mit Schuldig sprechen, was los war.

„Ich komme gleich wieder, keine Sorge, Ran.“

Leise und vor allen Dingen langsam erhob er sich und verließ das puristische Schlafzimmer, kam zu Schuldig auf die Terrasse.
 

Dieser stand auf der stadtzugewandten Seite und bließ den Rauch in den nächtlichen Himmel.

Als er bemerkte wie Kudou auf die Terrasse trat wandte er den Kopf für einen kurzen Blick zu diesem.

„Und… irgendeine Idee, wie du das wieder hinbiegen willst?“, fragte er in ruhigem Tonfall, eher gelangweilt, fern der Problematik.

Er versuchte sich selbst davon abzuschotten. Ran in diesem Zustand zu sehen erinnerte ihn an Vergangenes. Nicht so sehr an die gemeinsame jüngste Vergangenheit mit Ran, sondern eine die länger zurück lag und nur ihn betraf.
 

„Mit Gewalt“, sagte Youji nach einigem Überlegen. „Viel Geduld, keinem Gehör und viel Nähe. Zumindest lautet so mein erster Plan. Wenn das nicht klappt, werde ich mir etwas anderes ausdenken müssen, doch soweit bin ich jetzt noch nicht. Damals war er wenigstens noch ansprechbar gewesen… das ist er heute nicht.“

Youji sah tief in Gedanken versunken hinunter auf den Vorplatz und verschränkte die Arme.

„Wie ist es passiert? Gab es irgendeinen Auslöser?“
 

„Nicht direkt.“ Schuldig schob die Zigaretten mit einem scheinbar achtlosen Schubbs seiner Finger über die gemauerte Brüstung zu Yohji hinüber.

„Er sollte eine Flasche Wein aus dem Keller holen. Eine gute Flasche Wein. Die fiel ihm runter und danach war er nicht mehr ansprechbar. Keine Tränen, kein Geheul, kein Geschrei, kein gar nichts. Sein Boss im Laugh war bei ihm, bis ich dort war und ihn mitnehmen konnte.“

Dass Brad dort auch war und die Flasche wohl für ihn war, behielt er besser für sich.
 

Das war wenig.

Zu wenig, mochte Youji schon fast sagen, dafür, dass Ran nun so apathisch war.

„Hat er sich vorher irgendwie auffällig benommen, irgendetwas getan?“
 

„…irgendetwas …“, flüsterte Schuldig und verengte die Augen, als konzentrierte er sich auf einen Punkt in der Ferne.

„…ist untertrieben.“ Schuldig ließ seine Zigarette im Mundwinkel baumeln während er seine Haare in einem lässigen Zopf zusammenfasste.

Als er damit fertig war, nahm er einen tiefen Zug. „In den zwei Wochen, in denen wir weg waren, bin ich… krank geworden. Ich bin selten krank.“ Er sah kurz zu dem Blonden hinüber um klar zu stellen, dass auch wenn er hier aus dem Nähkästchen plauderte, sie keine dicken Freunde waren.

Für einen dummen Augenblick, dachte er das tatsächlich und dann seufzte er und wischte diesen Gedanken vom Tisch.

„Vermutlich hing es damit zusammen, dass ich zu lange in diesem Rattenloch in China war. Ran hat sich um mich gekümmert, aber es hat ihm wohl den Rest gegeben.“ Die Wunden auf seinem Rücken waren in der Zwischenzeit größtenteils abgeheilt. Jetzt waren dort nur mehr hellrote Streifen zu sehen die neue Hautschichten kennzeichneten.
 

Das war ein Faktor, aber Youji glaubte nicht, dass das alles war… vielleicht war es die verspätete Reaktion auf Schuldigs Tod und Wiederkehr, das konnte sein, aber auch das glaubte Youji nicht. Dafür war Ran trotz allem zu abgebrüht… die Frage war jedoch, was war, wenn sich seine komplette Vergangenheit aufgestaut und entladen hatte…

„Er kümmert sich gerne um dich, das würde ihm nicht den Rest geben“, sagte Youji nachdenklich und griff zur Schachtel Zigaretten, zog sich eine heraus.

„Feuer?“
 

„Das alleine nicht. Stimmt.“ Dieses letzte Wort implizierte, dass es viele Dinge waren, die sich gegen Ran verschworen hatten. Nicht nur dieses eine.

Schuldig kramte aus seiner Hosentasche sein Sturmfeuerzeug, das er sich vorsorglich schon einmal eingesteckt hatte und klappte es auf, gab Yohji Feuer.

„Wir waren allein, Schnüffler. Kein Arzt, kein niemand in der Nähe. Wir saßen in einem Sturm fest und ich war nicht ansprechbar. Es hat ihn mitgenommen. Nachdem er mich ein paar Tage zuvor noch in der Hölle vermutet hatte, war das kein guter Zeitpunkt um halbtoter Mann zu spielen.“
 

Der letzte Rest der Zigarette wurde inhaliert und ihre fasrigen Überreste dem Aschenbecher zugeführt.

„Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, als…“, fing er an und schüttelte den Kopf, da er anders anfangen musste.

„Wir schliefen. Ich wachte durch ein Geräusch auf. Er musste geschrien haben. Als ich ihn ansprach, hat er mich nicht erkannt. Er hatte eine Scheißangst vor mir. Was aber das Charakteristische an der Sache war, war der Hass in seinen Augen. Klingt pathetisch, es war aber… ätzend.“ Er machte eine Pause und griff zur Zigarettenschachtel. Nahm sich eine neue heraus und zündete sie an.

„Ich weiß, dass wir über die letzten Jahre noch nicht hinaus gewachsen sind. Das wird dauern, aber diese Schatten machen mich krank“, gab er bitter zu.
 

„Er stand auf und ging ins Bad. Ich hab gehört wie er sich übergeben musste. Wir haben darüber gesprochen und es schien sich zu geben. Dann kam die Wohnungssuche und die Probleme… mit Crawford, die uns zusetzten. Ran war gut drauf, der Job hat ihm Spaß gemacht. Er hat Berge an Essen in sich hineingestopft nach der Arbeit, war richtig müde und hat gelacht. Dinge, die bei ihm hohen Seltenheitswert haben.

Und dann… seit zwei Wochen hat er angefangen mich anzumachen und dann plötzlich aus fadenscheinigen Gründen keine Lust mehr zu haben. Ab da wusste ich, dass etwas Großes auf ihn zukommen würde. Und es würde nicht schön sein.

Gestern ist er völlig ausgerastet. Es ging um Zigaretten. Er hat mir den Aschenbecher nachgeworfen und herumgeschrieen. Mords Gezeter um nichts veranstaltet.“
 

„Das hat er mir alles nicht erzählt“, war das Erste, was Youji dazu einfiel. Ran und er hatten über viele Dinge gesprochen, auch über das, was passiert war, über ihre Zukunft und Rans Probleme, doch darüber nicht.

„Er hat dich angegriffen“, wiederholte Youji mit einem Ton an Unglauben in der Stimme. Ran würde Schuldig niemals angreifen, wenn er Herr seiner Sinne wäre, dafür liebte er den anderen zu sehr. Ran war außerhalb ihrer Aufträge sowieso kein gewaltbereiter Mensch gewesen. Dann, wenn es notwendig war, ja.

Aber ansonsten nicht.

Zumindest was körperliche Gewalt gegen andere anging, von psychischer Gewalt gegen sich selbst wollte Youji nicht reden… die hatte es in den ersten Jahren genug gegeben.

„Du gibst ihm Normalität und mit der Normalität kommen die Erinnerungen.“ Ein Teufelskreis, doch auch notwendig. Ansonsten würde Ran schlussendlich erkalten.

„Er muss sich da jetzt durchbeißen… das ist sein eigenes Fegefeuer, aus dem er wieder auferstehen kann.“ Wie poetisch, resümierte Youji ironisch und nahm erneut einen tiefen Zug. Aber es stimmte. Entweder das oder Ran ging zugrunde. Doch er hatte es schon einmal geschafft.
 

„Ja, sehr poetisch“, pflichtete Schuldig bei und schmunzelte leicht.

Und Schuldig musste zugeben, dass die Sache mit dem Fegefeuer durchaus sein Verschulden war. Hätten sie dieses Tächtel Mächtel nicht begonnen dann gäbe es dieses Fegefeuer jetzt nicht.

Diese Normalität war gut.

Aber warum musste alles erst immer schlimmer werden bevor es besser werden konnte?
 


 


 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für‘s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Gadreel & Coco
 


 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Der treudoofe Knopfaugentyp

~ Der treudoofe Knopfaugentyp ~
 


 

Weil das Schicksal eine Frau war…

Und Youji verfluchte eben diese Frau gerade.

„Sein Verhalten ist absolut atypisch und wirr… ich denke, eine feste Hand, die ihn führt, wäre momentan genau das Richtige für ihn.“

Es war schon lange her, doch Youji erinnerte sich noch lebhaft an ihren einen Abend im Afterglow. Ran war ebenso unausgeglichen gewesen wie hier, trotzdem sie schon ihre Affäre begonnen hatten. Wo Sex nicht mehr reichte, hatte sich Youji entschlossen, zur Dominanz zu greifen und Ran für diesen Abend keine Wahl gelassen. Weder in der Meinungsfreiheit noch in der Bewegungsfreiheit… und obwohl er gedacht hatte, dass Ran ihn am nächsten Morgen dafür töten würde, hatte dieser das Gegenteil bewiesen und eine Gelassenheit gezeigt, die Youji erstaunt hatte.
 

„Mir hat noch niemand eine zu schwache Hand nachgesagt“, sagte Schuldig und warf Kudou einen gelangweilten Blick zu. „Aber… bei unserer Vergangenheit und… der Sache, wie wir aufeinander getroffen sind, bin ich mir nicht sicher. Ganz und gar nicht mehr. Und das ist atypisch für mich.“ Wo sie gerade bei atypischem Verhalten waren.

„Ich habe kein Problem ihn zu führen, solange er herumtobt, oder zumindest ansprechbar ist. Aber die Kombination aus Tränen und Fluchtinstinkt vor mir bremst meinen Enthusiasmus.“
 

„Nicht nur deinen“, lächelte Youji schräg. Er stand da völlig auf Schuldigs Seite, denn einem hilflosen, weinenden Ran etwas zu tun, stellte sich hier nicht zur Debatte.

„Aber er kann so nicht da liegen bleiben, er muss wieder zu sich kommen und da nützt es nichts, ihn in Watte zu packen.“ Wovon Youji nicht sprach, war Grausamkeit, egal in welcher Hinsicht.
 

Schuldig schwieg für lange Momente, dachte… an…

„…mir fällt ein, dass er etwas Ähnliches schon einmal hatte. Als wir von unserem Urlaub zurückgekommen sind, habe ich ihn zum Grab seiner Eltern und seiner Schwester gefahren. Ich dachte es wäre an der Zeit, dass er sie besucht, mit dem Hintergedanken, dass wir nicht wissen konnten, was uns in Tokyo erwartete und er sie vielleicht zum letzten Mal besuchen würde. Er war geschockt von meiner… zweifelhaften Überraschung. Ich war schon soweit, dass ich dachte, besser wir würden wieder zurückfahren. Aber er hat es hinbekommen und ging zur Gedenkstätte seiner Familie. Ich hab ihn nicht alleine gehen lassen und wartete in Sichtweite. Er… kam nicht. Es war kalt und er kam einfach nicht. Also entschloss ich mich zu ihm zu gehen. Er saß einfach nur da. Ich konnte eine telepathische Verbindung aufbauen, was seltsam genug war und mir sagte, wie mitgenommen er war. Ich hab ihn zurückgeholt.“
 

Vorboten des Sturms…

„Du konntest in seine Gedanken eindringen, einfach so?“ Das war doch ein Hoffnungsschimmer, den Youji vorher nicht gesehen hatte. Wenn Schuldig Zugriff auf Ayas Gedanken hatte, dann konnte er ihm auch so helfen. Zumindest konnte er unterstützend tätig werden.

„Kannst du jetzt zu ihm durchdringen und ihn ein weiteres Mal zurückholen?“
 

Schuldig schnippte die Zigarette über die Brüstung, drehte sich um und warf im Gehen Kudou einen müden Blick zu. Er hatte vor in die Küche zu gehen. „Nein. Nicht im jetzigen Zustand. Seine Blockade ist zu hoch.

Das gewaltsame Eindringen in seinen Geist kommt einer zerstörenden Vergewaltigung gleich. Jedes gewaltsame geistige Eindringen ist eine Vergewaltigung.“

Schuldig ließ den Blonden stehen und betrat die Wohnung, steuerte das Bier an.
 

Youji blieb noch einen Moment länger draußen stehen und zog an den letzten Resten seiner Zigarette.

Schuldig hatte Recht mit dem, was er sagte. Doch ob diese Selbsterkenntnis nun Hohn oder Erleuchtung war, mochte Youji nicht entscheiden. Vielleicht war sie ja wirklich beides.

Er kam schließlich zurück zu Schuldig.

„Dann werde ich mich um ihn kümmern und ihn zurückholen.“
 

Schuldig ließ den Reißverschluss seiner Jacke nach oben gleiten bis unters Kinn, zog sich die Handschuhe über die neben dem Sixpack lagen und sah Kudou währenddessen ununterbrochen an.

„Du kannst ihn ficken“, sagte er langsam. „Du kannst dich von ihm ficken lassen. Aber falls das alles nichts bringen sollte, bist du morgen weg. Ich will nichts davon wissen, was zwischen euch gelaufen ist. Ich wills nicht mal im Ansatz wissen.“

Ansonsten würde er Kudou wohl umbringen.

Er ging an diesem vorbei, mitsamt dem Bier und reichte ihm ein Mobiltelefon weiter. „Hier. Das gehört ihm. Meine Nummer ist die letzte. Ruf an wenn es etwas gibt, ich bin unten am Pier.“

Er konnte nicht in der Wohnung bleiben während er wusste, dass Ran nicht nach ihm rief und nicht ihn wollte sondern den Blonden. Er wollte den Kerl nicht in seinem Bett und nicht an Ran haben. Eine bessere Wahlmöglichkeit hatte er nicht.

Aber es blieb ihm die Wahl, wie er die Sache durchstand. Ran brauchte ihn nicht, wozu sollte er hier bleiben?

„Die Waffen sind auf der Galerie, die Alarmanlage ist aus. Falls du anrufst, geht der Anruf zunächst an Nagis Rechner, der leitet den Anruf um und an mich weiter. Sonst noch Fragen?“

Schuldig stand abwartend im Flur.
 

Nein, Youji hatte keine Fragen mehr… nicht wirklich, schließlich hatte Schuldig jeden einzelnen Punkt abgedeckt, zu dem er hätte Fragen stellen können. Mit Ran schlafen? Sich von ihm ficken lassen?

„Soweit alles klar“, sagte Youji nachdenklich und betrachtete sich den anderen. Was zeigte ihm mehr als dieses hier, wie sehr Schuldig an Ran hing und wie weit er gehen wollte, dass es seinem Partner gut ging.

Er wollte mehr sagen, wusste aber nicht, wie er es in Worte fassen sollte.
 

Schuldig ging den Flur hinunter, samt seiner sechs gut verpackten Freunde und verließ die Wohnung. Er hatte das Gefühl als würde ihm der Brustkorb zusammengequetscht werden und als würde das tiefe Luftholen, das er einleitete als er die Treppen hinabging nicht wirklich Besserung bringen. Im Erdgeschoss begegnete er der älteren Frau die mit ihrem Mann das Apartment ganz unten hatte und er grüßte sie freundlich, was sie wohlerzogen erwiderte. In den nächsten Tagen sollte eine kleine Kennenlernfeier stattfinden, denn alle fünf Parteien waren hier neu in diesem ehemaligen Fabrikgebäude eingezogen. Die Wohnungen waren verschwenderisch großzügig geschnitten. Bis auf eine Wohnung waren alle relativ schnell verkauft gewesen.
 

Schuldig schlenderte über den Parkplatz hinunter und ging dort die befestigte Uferstraße entlang.
 

Youji brauchte währenddessen etwas, um zurück zu Ran in das stille Schlafzimmer zu gehen. Er wusste nicht wirklich, wie er mit dem rothaarigen Japaner umgehen sollte, doch er hatte eine Idee. Eine leise Ahnung, nicht mehr, nicht weniger.

„Hey Ran… erkennst du mich?“, fragte er die weinende Gestalt auf dem Bett, die eben dies nicht tat. Sie erkannte ihn nicht, so setzte er sich auf die weiche Matratze und legte sich ganz langsam, ganz vorsichtig zu Ran. Erst nur gegenüber, sodass der andere ihn erkennen konnte, wenn er dazu in der Lage war, dann jedoch stellte er den ersten Körperkontakt her, berührte Ran am Arm.

Wie zuvor auch wich dieser der Berührung aus, wich zurück, alles mit Tränen in den Augen, die Youjis Inneres beinahe zerrissen.

„Ganz ruhig. Ich bin es, Youji… hörst du, Youji. Niemand anderes… Youji…“, sagte er leise, sanft in seinen Tönen und umfasste Ran stärker, als dieser begann, sich zu wehren. Und… zu wimmern.

Das war das Letzte, was Youji aus dem Mund des anderen hören wollte… das allerletzte.

„Shht, alles in Ordnung, Ran, ich bin bei dir.“

Der körperliche Widerstand gegen seine Berührungen, seine Nähe wurde intensiver, verzweifelter, hatte jedoch letzten Endes gegen Youji keinerlei Chancen, da dieser sich schlussendlich auf Ran legte, ihn mit seinen Armen fesselte und dessen verzweifeltes Gesicht an seine Brust presste… den rothaarigen Mann ganz vereinnahmend.

„Youji, ich bin Youji“, sagte er immer und immer wieder, unablässig wie ein Mantra, eine Beschwörung, ein Gebet. „Du bist Ran… du bist bei mir und du bist in Sicherheit, hörst du mich?“

Nicht, dass es Ran ruhiger machte… er konnte sich nur einfach nicht wehren und seine leisen Schreie wurden durch Youjis Pullover erstickt.

Doch die Reste, die zu ihm empordrangen… grausam.
 

Schuldig hatte unterdessen ein lauschiges Plätzchen für sich gefunden und saß auf einer Mauer, ein wenig geschützt vom Wind der über die Bucht zu ihm drang.

Die erste Dose gab zischend den Startschuss für ein gepflegtes Besäufnis. Allerdings würde es nicht derart ausarten, leider, denn Alkohol beeinflusste seine Fähigkeiten immens und er konnte es sich in der jetzigen Situation nicht leisten, dem Alkohol zu sehr zu frönen. Ran wäre hilflos, er selbst besoffen und… ihr Schutz würde dann einzig und allein dem Schnüffler obliegen. Nein, danke.
 

Youji vermutete, dass Ran heiser war, als die Lautstärke der Schreie abnahm. Er ließ seine Hand um den Hinterkopf des anderen weniger starr ruhen, weniger fest, doch immer noch bestimmend, immer noch mit den Worten auf den Lippen, dass er Youji war, dass er bei Ran war…

Doch als die Laute schließlich gänzlich stoppten und wieder nur die Tränen übrig blieben, die nach und nach versiegten, hatte Youji die leise Ahnung, dass es etwas gebracht hatte und dass Ran ihm langsam glaubte… so sehr, wie er ihm eben glauben konnte.

„Ran, rede mit mir, rede mit Youji, ich bitte dich. Rede mit deinem Beschützer.“ Pathetisch, aber wahr, denn Ran hatte danach verlangt, nach ihm verlangt und nun akzeptierte er ihn auch.

„Ran, erinnerst du dich an mich? An unser erstes Zusammentreffen?“, fing er an, aus der Vergangenheit zu erzählen, als Ran ruhig wurde.
 

Von diesem Drama nichts wissend, aber durchaus etwas ahnend begann Schuldig sich gedanklich treiben zu lassen. Er achtete jedoch penibel darauf, nicht in Kudous Kopf herum zu stöbern. Er wollte nicht wissen was die beiden machten.

Und er hatte Angst zu lesen wie es Ran ging.
 

„Oder erinnerst du dich an deine ersten Tage bei Weiß? Die ersten Wochen?“, fragte Youji weiter, als er ihr erstes Zusammentreffen abgehandelt hatte. Schritt für Schritt ging er ihre Erinnerungen ab, schöne, schreckliche, lustvolle, grausame und erzählte Ran ihre Vergangenheit, immer unterbrochen von dem Mantra, dass er Youji war und dass Ran, Ran war. Immer…

Und schließlich zeigte es Wirkung, wirkliche Wirkung.

Ran schloss die Augen, ruhig in seinen Armen, öffnete sie wieder. Ein erstes ‚Lebenszeichen’.
 

Was Schuldig allmählich abhanden kam. Das Leben. Es war nämlich kalt. Saukalt, aber er wollte nicht gehen. Er wollte weder irgendwohin fahren, noch in die Wohnung zurückkehren. Er hatte bereits daran gedacht ins Blind Kiss zu fahren und sich da bei Kim und Toshi einzuquartieren, aber die Idee dann doch verworfen.

Vermutlich lag es an dem sehr schlechten Gewissen, das er hatte und das sehr schwer auf ihm lastete. Dabei hatte er sich doch einmal hoch gerühmt so etwas wie ein schlechtes Gewissen nicht einmal im Ansatz zu kennen. Tja, so konnte es einem Bösewicht gehen, der sich in einen der Guten verknallt hatte. Dumm gelaufen.

Schön blöd…

Ein mageres Lächeln tauchte auf seinem Gesicht auf wurde aber sofort von einem Schluck Bier gelöscht.
 

„Ran… erinnerst du dich, wie du Schuldig kennen gelernt hast? Wie ihr euch näher gekommen seid?“ Ja, auch das riss Youji an, wusste er doch, dass es immens wichtig war, dass Ran sich an den Gedanken, Schuldig in seiner Nähe zu haben, gewöhnte.

Ein Zucken war die einzige Antwort darauf. Vielleicht aber auch die richtige.

„Du liebst Schuldig, mehr als mich, ihr seid seit in paar Monaten ein Paar… geradezu exorbitant glücklich. Schlimm ist das, Ran!“ Youji lächelte und strich dem anderen über die Wange und dieses Mal wehrte sich Ran nicht dagegen.

„Verstehst du mich… verstehst du, was ich sage?“, fragte Youji und zog Ran an sich… enger als vorher. Sein Freund sagte nichts, aber wurde weich, anschmiegsam… der Durchbruch?
 

Schuldig hatte seinen Platz am Wasser verlassen und streifte durch die Gegend. Mittlerweile waren vier Stunden vergangen. Oder waren es… drei gewesen? Er hatte keine Ahnung, er wusste nur, dass er mittlerweile vom schlechten Gewissen zur Selbstanklage übergegangen war.

Er war ein Feigling. Er hätte das selbst regeln müssen mit Ran und den Schnüffler erst gar nicht herholen sollen. So wurde das nie etwas mit dem…-für-Ran-Dasein Partner. Er hatte sich schändlichst aus dem Staub gemacht. Mit Bier.

Das hatte er unten am Wasser stehen lassen.
 

Stunden, in denen auch Youji nicht untätig gewesen war, in denen er Ran seine Beziehung mit Schuldig erklärte und alles, Detail für Detail, abging. Zumindest das, was er wusste. Er ließ nichts aus, wollte die unangenehmen Seiten gar nicht auslassen… denn sie gehörten mit dazu.

„Schuldig hat sich für dich verändert… er ist nicht mehr grausam, zumindest nicht mehr auf die gleiche Art wie vorher. Und er liebt dich, macht alles für dich. Gerade jetzt ist er nicht da… hat mir angeboten, mit dir zu schlafen… aber das willst du nicht, nicht wahr? Du willst Schuldig. Und eigentlich willst du auch, dass er hier ist und dich in den Arm nimmt, dass er bei dir ist… er und ich. Wir lieben dich beide, Ran, jeder auf seine Art und Weise.“

Was er dem anderen nicht alles für einen Unsinn auftischte. Nötigen Unsinn, wie Youji aber für sich feststellte.

Wo war Schuldig jetzt überhaupt? Noch unten am Pier? Oder war er hoffentlich schon auf dem Weg nach oben, dass Youji seine Theorie austesten konnte?
 

Nein, Schuldig war gut einen Kilometer entfernt. Er stand gerade vor einem Schaufenster und besah sich den neuesten ausgestellten Schnickschnack was das mobile Telefonieren anging. Gleich daneben, die neueste Welt der Spielekonsolen samt zugehöriger Spiele. Davon ließ er sich einfangen und vertrieb sich die kalte Zeit.

Er hatte sich schon längst seine Mütze hervorgekramt und seine Haare daruntergesteckt. Ihm war kalt und er fühlte sich beschissen.
 

Ran hatte in der Zwischenzeit ermattet seine Augen geschlossen und war eingeschlafen, zumindest kündigte das seine gleichmäßige und tiefe Atmung an… doch es war kein ruhiger Schlaf, ganz im Gegenteil.

Auch wenn er sich zumindest in Ansätzen beruhigt hatte.

Youji griff in seine Hosentasche und wählte die besagte Nummer, wartete auf das Freizeichen und darauf, dass Schuldig abnahm.
 

Der Vibrationsalarm riss Schuldig aus seiner Betrachtung und er zog das Mobiltelefon aus seiner Gesäßtasche. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr bevor er abnahm. Es war kurz nach fünf Uhr.

Die Nummer zeigte an, dass sie über Nagis Rechner lief. Entweder es war Nagi oder es war der Schnüffler.

„Ja.“

Schuldig wandte sich von dem Schaufenster ab und machte sich wieder auf den Weg.
 

„Er schläft jetzt, hat sich beruhigt. Ich würde vorschlagen, dass du zurückkommst und wir austesten, wie er auf dich reagiert.“ Ohne Umschweife, eine sachliche Darstellung der Lage.
 

„Gut.“ Die Antwort kam müde, leise, mit rauer Stimme. Selbst in Schuldigs Ohren war sie lasch, doch er legte auf, steckte das Mobiltelefon ein und begann einen nicht zu schnellen Lauf in Richtung Wohnung. Als er das Treppenhaus betrat und das dunkle Treppenhaus hinaufging wurden seine Schritte jedoch weniger enthusiastisch. Schweren Herzens öffnete er die Tür und schloss sie hinter sich leise. Die Wohnung lag im Dunkeln. Es war still.

Er zog sich die Mütze vom Kopf und warf sie auf die schwarze Ledercouch, die hier im Vorraum zum Sitzen einlud. Er zog sich die Stiefel aus und schlüpfte aus der Jacke.
 

Youji löste sich währenddessen langsam von Ran und öffnete leise die Tür. Im Dunkeln erkannte er Schuldigs Umrisse, aber nicht nur daran wusste er, dass es wirklich der Telepath war. Banshee umstrich freudig miauend die Beine ihres Herrchens.

Im Türrahmen stehend, verschränkte er die Arme vor seiner Brust und beobachtete Schuldig.
 

Dieser hatte ihren Teenager bemerkt und strich ihr über den Kopf, dann kam er zu Kudou, den er bereits bemerkt hatte und der augenscheinlich auf ihn wartete.

„Warum sollten wir ihn nicht schlafen lassen und stattdessen austesten wie er auf mich reagiert?“, wiederholte er die Worte des anderen am Telefon.
 

„Vielleicht sogar die bessere Möglichkeit, wenn der Schlaf ihm gut tut.“ Was augenblicklich nicht der Fall zu sein schien, als die schlafende Gestalt auf dem Bett die Stirn runzelte und sich ein leiser Laut des Entsetzens den trockenen Lippen entrang. Doch es steigerte sich nicht in einen deutlichen Alptraum, sondern schien zunächst eine Ausnahmeerscheinung zu sein, so unterließ es Youji, sich zu Ran ein weiteres Mal auf das Bett zu begeben und ihn zu beruhigen.

Er hatte erste Hilfe geleistet und Schuldig war zurückgetreten… er würde nicht über die Liebe des Telepathen spotten, indem er ihm ins Gesicht rieb, dass er es war, nach dem Ran rief.

„Wie sieht deine weitere Planung mit ihm aus?“
 

Diese Frage hörte sich sehr danach an, als würde Kudou über jemanden sprechen, der nicht darüber bestimmen könnte, was mit ihm selbst geschah.
 

Was tatsächlich so war.
 

“Ich leg mich zu ihm.“ Schuldig sah Kudou für einen kurzen nichts sagenden Blick an, bevor er wieder zu Ran und dessen Gestalt blickte.

„Er hat die Beine angezogen, das hat er in letzter Zeit nach meiner Rückkehr immer dann gemacht, wenn ich nicht bei ihm gelegen habe. Vielleicht wird er ruhiger, wenn ich mich jetzt doch zu ihm lege. Wenn nicht, dann braucht er Zeit und...“
 

Der Bär.
 

Der Bär war schon einmal der Auslöser für die Rückkehr in ihre Realität. Wenn auch keine primär hoffnungsvolle.
 


 

Aber wo war die Nervensäge mit den Knopfaugen? Wenn er Glück hatte, dann hatte Banshee den Stoffbären nicht in ihre Krallen bekommen.
 

Schuldig ließ Kudou stehen und durchquerte das Schlafzimmer um in das Ankleidezimmer zu gehen.
 

So wie er Ran kannte hatte er die Nervensäge mit den treudoofen Knopfaugen sorgfältig verräumt. Schuldig begann die Regale zu durchforsten.
 

Youji folgte Schuldig mit einem nachdenklichen Blick auf Aya leise und besah sich den anderen Mann, wie er etwas suchte. Was auch immer…

Youji wusste nicht genau, ob Schuldigs Plan aufgehen würde, doch er hoffte, dass der rothaarige Mann sich an seine Vergangenheit mit dem Schwarz erinnerte, zumindest so weit, dass er sich nicht gegen Schuldig wehrte.

„Was, wenn er sich nicht beruhigt?“
 

Schuldigs Hände befanden sich noch zwischen zwei Shirts, als er sich zu dem Blonden umwandte, von dem er die Umrisse im Türrahmen im Gegenlicht des Schlafzimmers ausmachen konnte.

„Woher soll ich das wissen? Sehe ich aus als wäre ich Hellseher?“

Langsam begann der andere mit seinen Fragen zu nerven.
 

„Nein, aber Telepath.“ Youji schwieg für einen Moment.

„Ich will, dass es ihm besser geht… bald besser geht.“ Deswegen wollte er sich möglichst genau über Schuldigs weiteres Vorgehen informieren.
 

„Und ich nicht, was?“, bemerkte Schuldig zynisch und er wandte sich wieder der Suche zu. Seine Hände tasteten abgegriffenen Cord und danach sogleich Teddystoff.

Darauf hätte er auch gleich kommen können…

Er zog den Stoffbären hervor und betrachtete ihn für einen Moment bevor er zu Kudou ging und an ihm vorbei. „Was haben meine Fähigkeiten damit zu tun, dass ich weiß was ich tue wenn er nicht nach unserer Zeitvorgabe zurück zu sich findet? Ich werde ihm die Zeit lassen, die er braucht. Und wenn es länger dauert, dann dauert es eben länger.“
 

„Und was gedenkst du zu tun, wenn euch diese unbekannte Gruppierung angreift, er aber nicht Herr seiner Sinne ist oder sich richtig wehren kann?“

Youji spürte Schuldigs Anspannung nur zu deutlich und die unterschwellige Aggressivität, die damit einher kam.

„Deine Fähigkeiten haben insofern etwas damit zu tun, dass du auf ihn einwirken könntest, wenn er dich schließlich in seine Gedanken lässt.“

Youji wartete einen Moment lang, bevor er Schuldig durch den stillen Raum folgte.
 

„Ja, und erst dann werde ich ihm damit helfen können. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr hoch, dass ich dort reinkomme. Es sei denn ich ficke ihn, während er so drauf ist wie jetzt und dann habe ich vielleicht Glück.“

Schuldig setzte sich aufs Bett neben Ran und zog sich die Socken aus. Er sah abfällig zu dem Blonden hoch. „Ich habe keine Ahnung was ich machen werde. Geht das in dein Spatzenhirn rein?“

Er erhob sich und ging um das Bett herum. „Im Übrigen kann ich auch jemanden ohne telepathische Fähigkeiten töten. Ich bin durchaus in der Lage dazu. Ich kann ihn beschützen, falls du das wissen willst. Und deine dämlichen Fragen halten mich davon ab, das zu tun was ihm vielleicht helfen könnte.“
 

„Du hast dich selbst davon abgehalten, etwas zu tun, was ihm helfen könnte, als du dich mit einem Sixpack Bier nach draußen verzogen hast“, kam es beißend aus Youjis Mund zurück. Er hatte Unrecht gehabt… es war keine latente Gereiztheit, nein, sie war offensichtlich.

Youji beobachtete, wie Ran das veränderte Gewicht auf der Matratze auch im Schlaf wahrnahm und unruhig wurde, bevor er die Augen aufschlug… die immer noch leeren, nichts sagenden Augen, die weder ihn noch Schuldig aktiv erkannten.
 

Schuldigs Hand führte den Bären zu Ran und bettete diesen in dessen Hand, bevor er sich wieder erhob und zu Kudou kam. „Gut. Dann mach du das, wenn du mehr Ahnung hast. Er braucht dich. Hat er ja nur zu deutlich kundgetan. Ich will eurem Glück nicht im Wege stehen.“ Schuldig ging an Kudou vorbei Richtung Badezimmer und schloss die Tür hinter sich, verschloss sie und ging zum Waschbecken. Seine Hand zitterte als er das Wasser aufdrehte und sich das Gesicht damit benetzte.

Er konnte jetzt keine Vorwürfe ertragen. Davon mal abgesehen, dass er sie nie ertragen konnte, aber jetzt taten sie ihm mehr als weh.
 

Youji rollte mit den Augen und schnaubte abwertend. „Unserem Glück im Weg stehen. Arschloch.“ Als wenn Schuldig nicht genau wüsste, wem Rans Herz gehörte.

Er kniete sich vor das Bett, sodass Ran ihm in die Augen sehen konnte, wenn er wollte… konnte.

Youji sah, wie sich die schlanken Finger des Jüngeren um den Bären schlangen, nachdem sie ihn betastet hatten.

„Das ist sein Bär, Ran. Schuldigs Bär… den hattest du schon einmal bei dir. Weißt du noch, damals?“ Damals, als deine Schwester gestorben ist.

Doch das sagte Youji nicht noch einmal.

Tränen traten in Rans Augen und Youji strich ihm sanft über die Wange, strich ihm eine der langen Strähnen zurück.

„Lass ihn an dich heran, Ran… er will dir helfen…“
 

Der verhinderte Helfer löste sich von seinem Anker - das Waschbecken - und trocknete sich Hände und Gesicht ab, beobachte sich dabei im Spiegel.

Er musste Ruhe bewahren. Ran zuliebe. Wenn es nur nicht so schwer wäre die provozierenden Worte des Schnüfflers außen vor zu lassen.

Ohnehin machte er sich schon genug Vorwürfe und schimpfte sich einen Feigling - auch ohne Anschuldigungen von außen. Er war einfach nicht fähig gewesen mitanzusehen wie Kudou sich zu Ran legte und ihn umarmte, ihm das gab, was Ran von Schuldig nicht wollte.

Deshalb hatte er die Wohnung verlassen müssen.
 

Noch in Gedanken versunken verließ Schuldig das Bad, nachdem er sich erfrischt hatte, und soweit bereit war, dass er Ran und dessen Tränen begegnen konnte und vor allem Kudous anklagenden Augen.

Drecksack.
 

Schuldig kam wieder ins Schlafzimmer, blieb vor dem Bett stehen. „Verschwinde und nimm das Gästebett oben auf der Galerie“, seine Stimme war genauso ausdruckslos wie sein Gesicht.
 

Zwei hellbraune Augenbrauen schossen zweifelnd in die Höhe, als sie Schuldigs Worte wahrnahmen.

Verschwinden und doch hier bleiben? Na da war jemand aber sehr über seinen Schatten gesprungen.

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel lenkte seine Aufmerksamkeit kurzfristig auf Ran, der den Bären langsam zu sich heranzog und… daran roch. Zumindest bewegten sich die Nasenflügel des Mannes, als er an dem verfilzten Plüsch roch.

„Du wirst mich rufen, wenn es Komplikationen gibt“, erwiderte Youji und erhob sich, sah Schuldig fest in die Augen. Er ging an dem Deutschen vorbei, Richtung Flur.
 

„Verpiss dich endlich“, wisperte Schuldig drehte sich aber nicht um, sondern gab der Tür einen sanften Schubs, sodass sie zwar in Richtung Türschloss glitt aber doch noch offen war. Er wollte Banshee die Möglichkeit geben herein zu kommen.

Schuldig hatte mit dem Schließen der Tür dem Raum zwischen ihnen, der so unendlich groß erschien mehr Intimität verliehen.

Er ging um das Bett herum und nahm die gleiche Haltung wie Kudou ein. Er kniete sich vor das Bett. Dann, nach einer Weile, in der er Ran betrachtet hatte, dessen von Verzweiflung zerstörtem Gesicht, legte er seine Hand nahe an Rans und strich mit dem Daumen über dessen Innenfläche der Hand. Mit leichtem Druck, versichernd und ruhig.
 

Die ihn verdeckende Tür bekam einen Mittelfinger, bevor sich Youji das Gästebett suchte… auf der Galerie.

Er hatte zwar weder Sachen zum Schlafen dabei noch zum Frischmachen, doch was tat man nicht alles für Ran?

Falls es wieder Komplikationen geben würde, wäre er da.
 

Ran war währenddessen weniger aktiv als Youji. Er war zurückgezuckt anhand der Berührung, weil sie allem widersprach, was in ihm wirbelte und ihm das Denken unmöglich machte. Doch Gedankenfetzen schwammen an die Oberfläche, blieben einen Moment haften und ließen ihn ein paar Dinge erkennen – den Bären, vertrauten Geruch… Wohltat anstelle von Leid.
 

Schuldigs Kopf sank auf das Bett und er ließ sich auf die Seite gleiten, saß nunmehr auf dem Boden. Er fasste Rans Hand vorsichtig und hielt sie in seiner geborgen, während er die Augen schloss und seinen Geist treiben ließ. Ob das was bringen würde, wusste er natürlich nicht und er würde auch nicht versuchen die hohe Festung, die um Rans Geist aufgebaut war - und die sich vor ihm auftürmte wie ein Bollwerk - anzugreifen.

„Blumenkind… komm zurück zu mir“, sagte er leise.
 

Blumenkind… Blumenkind…

Etwas schwirrte Aya in seinem Gedankenwirrwarr nach oben, ein Gesicht, eine Bezeichnung, ein Wort… Hass, Freude, Vertrautheit…

Er blinzelte. „Blumen…kind…“, wiederholte er langsam für sich und eine Verbindung tauchte in seinem Hirn auf. „Schuldig…“

Ein Name, eine Bezeichnung… Klarheit, die sich auf leisen Sohlen anbahnte.
 

Banshee kam in diesem Moment angespurtet und hopste auf die Decke, tapste leichtfüßig zu Ran und um dessen Kopf herum, schnupperte an dessen Stirn.

„Ich bin hier, Blumenkind.“ Zwar war er keine Katze aber vielleicht half Banshee ganz gut mit. Entweder um ihn komplett zu verwirren oder um ihn zu beruhigen.
 

Das Kitzeln auf seiner Haut schreckte Aya hoch, doch nicht so sehr, um die ihn selbst schützende Panik auszulösen.

Er kannte auch diese Berührung, diesen Geruch, der ihn einen weiteren Namen denken ließ.

„Banshee…“ Leise, beinahe unhörbar, doch er wusste, dass er Recht hatte…

Seine Hand entließ den Teddy und kroch in Richtung Stirn, erfühlte, was er vermutet hatte, während seine andere Hand menschliche Nähe spürte.

Sie waren zu dritt.
 

Banshees Schnurrhaare taxierten Rans Haut, ihr Kopf hob und senkte sich tastend. „Sie hat gestern Abend wieder einmal ein kleines Bad in der Toilette genommen. Du hättest diesen Blick sehen sollen und das dazugehörige nasse Fell.“ Schuldig lächelte und strich mit dem Daumen über Rans Handgelenk.
 

Laute formten sich zu Worten, Worte zu Sätzen, Sätze zum Verständnis. Aya schluchzte leise auf, als ihm bewusst wurde, dass die Stimme jenem Mann gehörte, den er liebte.

Seine Hand griff in einer überrumpelnden Welle des Begreifens, in einem kurzen Aufflackern seines Kurzzeitgedächtnisses nach Schuldigs und klammerte sich an ihr fest… ganz fest, bevor dieser Funken an Erkennen wieder verschwinden konnte.
 

Schuldig hob den Kopf leicht an und auch Rans Hand, legte die Innenseite an seine Wange und ließ Ran fühlen. Seine Haare strichen über die Hand.

„Shht, ist gut, wir sind alle da und du bist nicht allein.“ Das war etwas… das war genau das auf das Schuldig so verzweifelt gewartet hatte. Dieses Zeichen, dass Ran ihn nicht ablehnte.

Die Erleichterung darüber trieb ihm die Tränen in die Augen, die jedoch nur als dünner Tränenfilm sichtbar wurden und die er zurückdrängen konnte. Ebenso den lästigen Kloß im Hals.
 

„Schuldig…“

Der Wust an ungeordneten Eindrücken wurde schlimmer, chaotischer, undurchdringlicher, so als wäre es ein letztes Aufbeben seines geschundenen Geistes vor der Klarheit.

Doch ein kleines Bündel an Emotionen für Schuldig hatte sich zusammengerafft und ließ ihn nun die Stärke aufbringen, seine Augen zu heben, sich in Schuldigs festzukrallen.

„Hilf mir…“
 

Rans Blick hatte sich gefestigt und er war so roh, so hilfesuchend, dass Schuldig einen Moment brauchte um seine Stimme wieder zu finden. Er überlegte einen Moment, ob das gut war… und dann erhob er sich und legte sich aufs Bett, nahe an Ran war er ohnehin schon, doch Ran hatte seine Beine schutzsuchend an sich gezogen und war immer noch wie eine kleine Kugel unter der Decke zusammengerollt. Zärtlich strich Schuldig ihm über den Hinterkopf, strich über die Haare.

„Ich bin hier und ich bleibe hier. Keine Angst. Lass dich fallen und... ich fange dich auf... Ran.“
 

Die körperliche Berührung war schlimmer als jede Folter in diesem Moment für Aya, viel schlimmer. In seinem Innersten schrie und tobte es, wollte sich mit Gewalt seinen Weg nach draußen bahnen, sich durch Fleisch graben und reißen, wo es nicht ging.

Geistiger Schmerz entlud sich in körperlichen, ließ Aya seine Augen starr zusammenpressen und seine Lippen zu einem gequälten Schrei öffnen, der heiser zwischen ihnen hervordrang. Er klammerte sich an Schuldig, bis seine Finger von der Wucht seiner eigenen Verzweiflung schmerzten und starr wurden.
 

So funktionierte das nicht, dachte Schuldig plötzlich, als er bemerkte dass Ran innerlich zerrissen wurde.

„Wehr dich gegen mich Ran. Hör auf, dich dagegen zu stellen, es kann nichts passieren“, wisperte er in Rans Ohr. „Unterdrücke nichts… schrei, tob…“ Er zog Ran näher an sich heran, provozierte eine Eskalation. Banshee hatte sich wohlweißlich verdrückt.
 

Die Eskalation näherte sich leise, aber abrupt, bis sie zum tosenden Orkan wurde und Aya jegliche Kontrolle über sich selbst verlor. Was er tat, wie laut er schrie, was er dem anderen Mann antat, wusste er nicht, denn die Wucht seiner Emotionen überrollte ihn just in dem Moment, in dem Schuldig mit ihm gesprochen hatte, ihm die Befreiung gegeben hatte.
 

Rans Körper war derart angespannt, dass Schuldig die Muskeln wie Stahl unter seinen Händen spüren konnte. Nach dem ersten Schlag kippte er leicht nach hinten und wäre beinahe vom Bett gefallen, wenn er sich nicht an Ran geklammert hätte um ihn ein wenig im Zaum zu halten.

Während Ran schrie und tobte, keuchte und stöhnte Schuldig unter der Wucht.

Ran zu bändigen war schwierig genug, denn Ran wehrte sich als ginge es um sein Leben. Unkontrolliert … und das war gut so, das war Schuldigs einziger Vorteil. Trotzdem wurde ihm das Knie in den Unterbrauch gerammt bevor er es seitlich unter sich bringen und Ran einkesseln konnte. Ein Schlag mit der Faust gegen die Schläfe knockte ihn für Sekunden aus in denen er aufs Bett glitt und nur marginal spürte wie Ran sich weiter wehrte. Er spürte die Schläge für Augenblicke nicht.
 

Das hielt Aya nicht davon ab, weiterhin um sich zu schlagen, noch nicht zu verstehen, dass Schuldig ihn momentan nicht aufhalten konnte in seinem Drang, alles heraus zu lassen.

Doch plötzlich waren da Arme, Hände, die ihn festhielten, die ihn von Schuldig wegzogen und auf die Matratze pressten.

„Hör auf, das ist SCHULDIG!“, schrie Youji, aufgeschreckt durch Ayas Schreie und Schuldigs Stöhnen… natürlich hatte er zunächst gedacht, dass Schuldig seinem Partner etwas antun wollte… doch er wurde beinahe augenblicklich eines besseren belehrt, als er Schuldig wehrlos auf dem Bett liegen sah, blutend. „Komm zu dir, RAN! Verdammt noch mal!“
 

„Lass ihn…“, stöhnte Schuldig und rollte sich zur Seite. „ Er …“ seine Hand ging zu seinem Kopf und er spürte das Hämmern darin. Ran hatte einen ordentlichen Wumms drauf. Das hatte er ganz vergessen.

„…soll sich austoben. Er… braucht es.“ Scheiße, hämmerte das.
 

Youji entkam mit Müh und Not den nach ihm schnappenden Zähnen packte Ayas Kinn, presste seinen Kopf daran gegen die Matratze.

„Bist du bescheuert? Er wird dich umbringen, wenn du so weiter machst!“, zischte Youji und warf sich auf Ran, stillte ihn damit größtenteils.
 

„Wird er nicht. Ich bin immer noch stärker als… er“, murmelte Schuldig und fühlte etwas seine Wange kitzeln. Ran hatte ihm die Haut aufgerissen und als er hinfasste, fühlte es sich nass an. Er brauchte nicht hinzusehen um zu erkennen, dass es Blut war. Eine kleine Platzwunde… „So dramatisch ist das nun auch wieder nicht, Blondie.“

Schuldig setzte sich auf. „Er richtet die Gewalt nicht auf sich, das ist gut, Kudou. Wenn wir das unterdrücken, richtet er die Gewalt irgendwann auf sich und das hat er bereits begonnen. Er hält das auf Dauer nicht durch.“ Schuldig beeilte sich so schnell er konnte und so schnell sein Schwindel es zuließ, Rans Beine zu halten.
 

„Und was gedenkst du zu tun? Ihn toben zu lassen, dich dabei verprügeln zu lassen? Klar bist du stärker als er, aber er ist unkontrolliert wütend… und sieh dir an, wie du aussiehst!“

Feurige, violette Augen trafen ihn mit ihrer vollen Wucht, ihrem vollen Hass. Jedoch ohne Erkennen… einfach mit Wut.

„Du blutest, dir ist schwindelig…“, schnaufte Youji.
 

„Scharfsinnig. Sehr scharfsinnig.“ Schuldig hatte die Beine unter seine Flanke gebracht und hielt Ran mit einem Hebelgriff in Schach. „Er kann nicht ewig so weitermachen. Er wird sich erschöpfen und zwar vor uns. Ich will ihm kein Beruhigungsmittel geben. Das hat das erste Mal auch nichts genützt. Er muss da durch.“

Ran atmete noch, er verletzte sich nicht selbst. Das war gut.
 

„Ich… will das nicht…“, kam es leise und verzweifelt von eben jenem Mann, der aufschluchzte und sich aufbäumte, was in einem Wutschrei endete.

Neben der Trauer, neben dem Beinahewahnsinn stand die bodenlose Wut… Wut, die sich monate- nein jahrelang aufgestaut hatte. Wut auf ALLES! Auf Schuldig, dessen angeblichen Tod, Wut auf seine Schwester, Wut auf sein Leben...

„Wir sind bei dir, Ran… du bist nicht alleine!“, erwiderte Youji scharf.
 

„Er wird müder“, keuchte Schuldig und sie boten Ran Widerstand, den dieser zu brauchen schien.

„Falls es nicht funktioniert… gibt es nur noch eine Option.“
 

Ayas Rücken bog sich unter der Wucht durch, mit der er versuchte, die beiden Männer abzuschütteln und sich seine Freiheit zu erkämpfen… doch weder Schuldig noch Youji ließen ihn.

„Was für eine Option?“, grollte Youji.
 

„Jei.“

Jei würde Ran ruhiger bekommen, ohne große Probleme, ohne ihn zu überfallen, sondern schleichend und unbemerkt.
 

Eine Möglichkeit, an die Youji nicht wirklich gedacht hatte, die aber mehr als nahe lag.

„Mit Jei würdest du ihn genauso beeinflussen wie mit Beruhigungsmitteln und es würde sich wieder in ihm aufstauen.“

Die Muskeln unter seinen Händen wurden weicher, nachgiebiger, Rans Atem wurde schwerer. Der andere Mann war erschöpft, das merkte man.
 

Welch eine Weisheit, die da aus dem Munde des Blonden tropfte, hämte Schuldig in Gedanken.

„In gewisser Weise. Allerdings hat es dir zum Teil auch geholfen. Jei beherrscht Techniken, die auch etwas mit Verarbeitung zu tun haben. Er kann ihn soweit beeinflussen, dass Ran mich reinlässt… allerdings ist es mir lieber, er tobt sich aus.“ Er wiederholte sich nur.
 

„In Ordnung… dann soll er sich austoben…“

Ein letzter, zweifelnder Blick auf Schuldig und Youji brachte sich mit einem uneleganten Satz aus dem Bett in Sicherheit, hinterließ einen für den Moment geschockten Ran, dass er plötzlich frei war und einen Schuldig, der genau drei Sekunden Zeit hatte, um sich eben diese Situation zunutze zu machen.

Er war auf den Boden gefallen und sah nun von dort aus zu Schuldig hoch.
 

Soviel zum Teamwork. Schuldig musste Rans Beine frei geben um sich nach oben zu begeben und dessen Arme festzupinnen. Er hockte auf dessen Unterbauch, so trafen Rans Knie wenn er diese anhob nur marginal an seinen Rücken.

„Ich dachte du hättest Mitleid mit mir armen geplagten Mann.“
 

„Habe ich… nur wenn er sich austoben soll, dann kann er es nicht, wenn wir ihn beide festsetzen. Außerdem… das letzte Mal, als er derart danach verlangt hat, Gewalt auszuüben, habe ich ihn solange gefickt, bis er nicht mehr konnte – das ist jetzt deine Aufgabe, nicht mehr meine.“

Dennoch blieb Youji in der Nähe, um eventuell einzugreifen, wenn Ran zum letzten Stoß ansetzte… zum letzten Aufbäumen.
 

„Das mag sein, Schlaukopf. Wenn er danach verlangt. Aber jetzt… jetzt will er es nicht und egal was ich jetzt tue, ich würde ihn vergewaltigen. Und DAS ist nicht meine Aufgabe, kapiert?“ Schuldig schrie die letzten beiden Sätze fast schon außer sich. „DAS nicht!“, fügte er wieder und wieder an, bis die Worte leiser wurden. „Das nicht…“
 

„Das weiß ich“, sagte Youji in die Aufregung des anderen hinein. Trotz allem Misstrauen, trotz aller Ablehnung wusste er eines… dass Schuldig Ran niemals auf diese Art und Weise wehtun würde. Auch sonst nicht.. „Du liebst ihn“, sagte er schlicht.
 

Aya war währenddessen anhand der lauten Worte zusammengezuckt und ruhiger geworden… erschöpfter.

„Hilf mir…“, bat er Schuldig in einem klaren Moment erneut… sah er doch genau in dessen grüne, verzweifelte Augen.
 

„Ja.“ Schuldig antwortete Ran, er ließ dessen Hände frei und legte sich mit dem Oberkörper auf ihn, zog ihn so nahe an sich, dass Rans Kopf an seiner Brust lag. Er drehte sich auf die Seite und fesselte Rans einen Arm auf dessen Rücken. Der andere Arm war ohnehin bewegungseingeschränkt durch Rans eigenen Körper, da dieser auf der Seite lag. Ein Bein hatte Schuldig zwischen Rans gefädelt. „Ich helfe dir.“
 

Ganz gegensätzlich zu seinem Aufbäumen presste Aya seine Stirn an Schuldigs Brust, akzeptierte dessen Gewalt ihm gegenüber, die Dominanz, die Schuldig zeigte. Er zitterte am ganzen Körper unter der Wucht seines inneren Kampfes.

Youji erhob sich lautlos und sah auf die beiden hinab, wusste, dass es Schuldig schaffen würde und dass alles, was jetzt kam, zwischen den beiden passieren musste. Er hatte seinen Teil geleistet. Es sei denn…

„Brauchst du mich noch?“, fragte er leise an Schuldig gerichtet.
 

"Leg dich hin, nimm dir, was du brauchst", sagte Schuldig abgekämpft, hielt Ran aber immer noch unnachgiebig.
 

"Aber lass das Spielzeug von Banshee in Ruhe", setzte er freundlicherweise hinzu. Schuldigs Wange kam auf Rans Kopf zu liegen. Rans Kleidung war nass geschwitzt und Schuldig fühlte das Zittern des anderen.
 

„Ich denke nicht, dass ich derlei Spielzeug jetzt gebrauchen könnte…“

Youji seufzte mit einem letzten Blick auf die Beiden, besonders auf Ran und hoffte, dass es nun ruhiger werden würde.

Er drehte sich erschöpft um und verließ das Zimmer, lehnte die Tür hinter sich an. Schuldig würde das schaffen, da war er sich sicher.
 

Aya war unterdessen erschöpft durch seinen langen Kampf gegen sein Innerstes, gegen die Emotionen, die ihn gefangen gehalten hatten. Er wusste in Ansätzen, dass Schuldig bei ihm war, er konnte ausmachen, dass der Telepath bei ihm war, doch sein Verstand weigerte sich noch, auf den anderen mit etwas anderem als Gewalt zu reagieren.

Sein Körper schmerzte, auch das nahm er erst jetzt wahr, seine rechte Schulter besonders… was auch daran liegen mochte, dass er seinen rechten Arm nicht bewegen konnte.
 

Als Schuldig so da lag, fiel ihm der Bär auf, der sehr weit abseits am oberen Bettende lag. Verlassen und verloren.

„Jetzt ist der nervige Knopfaugentyp da hinten ganz allein. Magst du ihn denn nicht mehr, hmm?“

Schuldig sprach leise und dennoch mit einer sanft liebevollen Note.
 

Jemand Fremdes?

Ein letzter Rest an Widerstand bäumte sich in Aya auf, ließ ihn seine Muskeln, in einem von vorneherein, verlorenen Kampf anspannen.

„Niemand… Fremdes…“, veräußerte er gepresst, nicht verstehend, was Schuldig meinte.
 

Oh Man. Ran war völlig daneben.

„Den kennst du schon. Der ist braun und hat dunkle Knopfaugen und ein Fell. Ah, und du hast ihn schon einmal genäht mit ein paar Stichen. Er ist ganz weich und gerade mal zwei Hand groß.“
 

Momente lang herrschte Stille zwischen ihnen beiden, dann entspannte sich Aya in Schuldigs Griff. Der Bär.

Der Teddy…

Er hatte ihn genäht… ja, er erinnerte sich.

Aya klammerte sich auch an dieses Stück Erinnerung, aus Angst, es zu verlieren.
 

„Magst du ihn haben, Ran?“, fragte Schuldig und seine Lippen strichen zärtlich über die klamme Stirn, die sich etwas von seiner Brust gelöst hatte.
 

„Ja…“

Er wollte das Stück Erinnerung.

Schuldigs Berührung, die kurz zuvor noch Panik in Aya ausgelöst hatte, beruhigte ihn nun… zum gewissen Teil. Er konnte seinen rechten Arm immer noch nicht bewegen… er musste ihn sich verstaucht haben.
 

Es dauerte ein paar Augenblicke bis Schuldig sich sicher sein konnte, Rans Arm loszulassen und diesen sanft und vor allem vorsichtig nach vorne in eine physiologische Haltung zu bringen. Er strich über die malträtierten Stellen und drehte sich dann langsam mit Ran herum, sodass sie einmal herumrollten und er näher am Bär war. Mit seiner freien Hand hangelte er nach dem Bären und schmiegte ihn Ran an die Wange, bevor er ihn zwischen sie legte und Rans Hand hin führte. „Hier ist er. Der Knopfaugentyp.“
 

Violette Augen suchten aktiv, was ihnen angepriesen wurde und sahen den Bären, den er mit einem Mal anfassen konnte… mit beiden Armen. Schuldig hielt ihn immer noch, dessen war er sich bewusst, doch es machte ihm nichts aus… nicht mehr so viel wie am Anfang. Wann auch immer der Anfang gewesen war… er konnte sich nicht daran erinnern.

Er konnte sich an gar nichts aktiv erinnern…

„Schuldig…“
 

„Ich bin hier, Kirschchen“, sagte er halb lachend und der Kloß in Schuldigs Hals war wie auf Knopfdruck wieder da, als Ran seinen Namen sagte.

„Wie fühlst du dich? Kannst du mir das sagen?“
 

Die Frage überforderte Aya… bei weitem.

Fühlen? Er fühlte das Chaos, die Verzweiflung, das Durcheinander.

Er fühlte alles und nichts… er fühlte sich nicht mehr.

„Ich weiß nicht… ich… weiß nicht…“ Unruhe kam in Aya auf. Er wusste wieder etwas nicht, wie seine Erinnerungen… sie würden verschwinden, alles würde verschwinden, er würde verschwinden…
 

Gerade das erkannte auch Schuldig. Die Frage war von ihm zu früh gestellt worden.

„Es ist alles… durcheinander, nicht? Und… du hast das Gefühl es wird nie mehr in Ordnung kommen, hmmm?“ Er begann Ran ein wenig zu wiegen ihm das Gefühl für sich selbst zu geben in dem er über seinen verschwitzten Rücken strich. „Du bist hier und du wirst hier bleiben. Und ich werde auch hier bleiben. Bei dir. Du wirst dich nicht verlieren, weil wir… wir sind doch verbunden! Weißt du das nicht mehr? Du kannst dich nicht verlieren, weil wir verbunden sind, Ran.“ Das wiederholte er leise und beschwörend. Ran musste ruhiger werden.
 

Durch die durcheinander wirbelnden Eindrücke vernahm Aya Schuldigs Worte, deren Sinn ihn beruhigte… ihn besänftigte, zumindest zum Teil. Er war nicht mehr alleine, er hatte Hilfe, er wurde umsorgt.

Schuldig half ihm, nicht zu vergessen, niemals zu vergessen, niemals Schuldig zu vergessen.

„Ich kann nicht… denken… klar denken…“, brachte er mühevoll hervor und schloss die Augen. Wieso kostete ihn dieser eine Satz soviel Kraft?

„Ich… will nicht… will dich nicht… loslassen… verbunden.“
 

„Das kannst du gar nicht, weil ich dich festhalte. Ganz fest. Du weißt doch… Krake und Klette, hmm? Deine Krakenarme klammern sich an mich.“

Schuldigs Lippen lagen an Rans Stirn und fuhren sanft darüber.
 

Ayas Augen fokussierten sich auf Schuldig, auf dessen Haut, jedoch noch nicht auf die Augen.

„Ich… bin dein… Krake…“, stellte er für sich fest. Er wusste es noch.

„… und du bist… mein Zackelschaf.“
 

„Hmpf. Und ich mag diese Betitelung immer noch nicht“, lächelte Schuldig und seine Finger strichen über Rans Lippen. „Aber… weißt du was es morgen zum Essen gibt? Extra für dich? Einen Kuchen… einen tollen Apfelstrudel, mit Sahne und dazu eine heiße Schokolade!“
 

„Ja… das ist gut… das… schmeckt.“

Ayas Lippen betteten sich an Schuldigs Haut, spürten die Wärme dort. Ruhe floss in sein Wesen, langsam aber stetig.
 

„Vor allem aber ist es extrem süß.“ Schuldig redete noch mehr von diesem belanglosem Zeug, bis er Rans gleichmäßig ruhigen Atem hörte und dessen Brustkorb sich ruhig hob und senkte. Rans Gesicht wirkte entspannt in dem Dämmerlicht.

Irgendwann danach hörte Schuldig auf zu reden und glitt selbst in einen oberflächlichen Schlaf hinüber, eine Art Wachschlaf.
 

Als er aufwachte, hielt er Ran immer noch in der gleichen Haltung. Er bemerkte, dass es Zeit wurde dem Ruf der Natur zu folgen und löste sich sanft von dem noch Schlafenden.

Mit einem verhaltenen Gähnen rutschte er vom Bett und schlich sich auf leisen Sohlen zur Schlafzimmertür. Er öffnete die Tür weiter und ließ den hellen Spalt größer werden sodass er hinaus schlüpfen konnte. Dabei fiel der helle Strahl auf Rans Gesicht, der auf dem Rücken lag. Es war vom Weinen rot und geschwollen.
 

Im Badezimmer bot sich ihm, ein nicht wirklich ansprechendes Gesicht im Spiegel. Das Areal unter der aufgeplatzten Haut war angeschwollen und das ausgetretene Blut verschmiert. Nachdem er dringenderen Dingen nachgekommen war begann er damit sich zu säubern und die Wundränder abzutupfen. Danach kroch er in die Dusche, wusch sich die Haare und achtete darauf etwas mehr Duschgel und Shampoo zu benutzen. Ebenso verfuhr er mit dem After Shave nach dem Rasieren. Zu viel war zwar auch nicht gerade gut, aber er wollte, dass Ran ihn riechen konnte, damit er im Schlaf Sicherheit fühlte.
 

Ein Blick auf die Uhr verriet Schuldig, dass er eine dreiviertel Stunde dafür gebraucht hatte und dass es bereits Mittag war. Er verließ das Badezimmer in Richtung Küche und holte eine Flasche Wasser samt zwei Gläsern heraus. Kudou war nicht in Sicht, er hatte sich am morgen verdrückt, nachdem er einen Kontrollblick ins Schlafzimmer geworfen hatte.
 

Während er für Banshee das Futter richtete… scheinbar hatte Kudou das Frühstück für ihren Katzenteenie schon serviert, wie er sah… füllte er seinen eigenen Wasservorrat auf.

Vermutlich war Banshee ihm solange auf den Geist gegangen bis Kudou sich schweren Herzens von seinem Lager erhoben hatte. Das lockte doch glatt ein kleines gemeines und zufriedenes Lächeln auf Schuldigs Gesicht.
 

Mit einem Glas und einer frischen Flasche Wasser bewaffnet trat er wieder seinen Weg ins Schlafzimmer an. Dort angekommen setzte er sich zu Ran und strich ihm eine zeitlang über den Hinterkopf und über den Rücken, die Hoffnung hegend ihn damit einigermaßen sanft wach zu bekommen. Vor allem wollte er so auch herausfinden wie Ran nach einigen Stunden ruhigem Schlaf emotional drauf war.

„Hey… Blumenkind. Hast du Durst? Trink etwas, hmm was meinst du?“

Er rechnete nicht damit, dass Ran wirklich adäquat wach werden würde, aber vielleicht brachte er ihn dazu ein paar Schlucke zu trinken und vielleicht konnte er ihm die verschwitzten Kleidungsstücke ausziehen.
 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für‘s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Gadreel & Coco
 


 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Scherben und Schokolade

~ Scherben und Schokolade ~
 


 


 

Violette Augen blinzelten verwirrt in das Tageslicht und der Körper des rothaarigen Japaners zuckte aus Reflex zurück, bevor sich andere Eindrücke in seine Sinne brannten, die ihm noch nicht ganz gehorchen wollten. Vertrauter Geruch, vertraute Worte, eine vertraute Stimme…

Schuldig.

Dieser Name schwebte in seinen Gedanken und beruhigte ihn minimal. Er hob den Blick, sah, erkannte und erinnerte sich, war doch unterschwellig unruhig und rastlos auf eine ihm nicht verständliche Art und Weise, da er fühlte, dass er keine Lust hatte. Nicht wollte…dass ihm alles egal war.

Er erinnerte sich an die Frage des anderen und bewegte seine Lippen, die trocken waren. Er öffnete sie, noch nicht wirklich in der Lage zu antworten.
 

„Komm hoch und trink etwas“, versuchte Schuldig den augescheinlich noch nicht ganz zutraulichen Ran zu locken. Er kam sich vor wie ein Raubtierdompteur. Immer schön darauf achten, dass er dich nicht anfällt.

Schuldig stippte einen Finger in das von ihm befüllte Glas und strich damit über Rans trockene Lippen.
 

Dies war eine vage vertraute Geste, sagte etwas in Aya. Nässe lockte ihn, Worte führten ihn zu Schuldig nach oben, als Aya sich aufsetzte und versuchte, seine Umgebung wahrzunehmen. Er wusste nicht wirklich, was passiert war und gleichzeitig wollte er es auch nicht wissen… er wollte zu sich finden.

Seine Augen kehrten zurück zu Schuldig und dem Glas, dem er sich jetzt mit einer Hand nährte. Er zitterte… warum?
 

Schuldig packte die Gelegenheit beim Schopf und setzte Ran das Glas kurzerhand an die Lippen. Rans Hand zitterte ihm viel zu sehr und wie er sah folgte Ran mit Verzögerung dem Glas. Er kippte ihm nach und nach den Inhalt des Glases in den ausgedörrten Mund und beobachtete mit zufriedenem Lächeln wie Ran trank.

„Gleich hast du‘s geschafft“, munterte er auf.
 

„Es tut gut“, sagte Aya schließlich und selbst seine Stimme klang ihm fremd, nicht wirklich wie das, an was er sich erinnerte. Wirklich erklären konnte er auch dieses hier nicht.

Dafür lag seine Hand nun auf Schuldigs Oberschenkel, als er dem anderen dorthin gefolgt war, während dieser das Glas abgesetzt hatte. Er schmeckte dem Wasser nach und sah auf eine Strähne seiner Haare, die sich nach vorne verirrt hatte.
 

Schuldig stellte das Glas ab und strich Ran diese Haarsträhne vom Stirnansatz aus hinters Ohr. „Wir sollten dir deine Klamotten ausziehen und dir etwas Frisches, Sauberes anziehen. Was hältst du davon, hmm? Schön warm und flauschig.“

Wie aufs Stichwort kam auch Banshee angestoben und sprang aufs Bett herauf, tappste zu Ran hin und schnurrte. Dabei rieb sie sich ganz ungeniert mit ihrem Köpfchen an Rans Knie.
 

Wieder wurde Aya überrascht von etwas Neuem und doch Vertrautem.

„Banshee…“, murmelte er und holte sie zu sich heran, lauschte ihrem Schnurren, spürte, wie sie sich an ihn schmiegte.

Doch Schuldig hatte ihn etwas gefragt… schon wieder gefragt.

„Anziehen… ist gut.“ Kleidung war immer gut, sie bedeutete Schutz… vor was auch immer. Er war gerne bekleidet. Doch er musste sich dafür ausziehen… um die Kleidung zu wechseln.

Konzentriert begann er, die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen, während er Banshee streichelte… was nicht wirklich von Erfolg gekrönt war.
 

Zu diesem Schluss gelangte auch Schuldig, der sich erhob und die beiden alleine ließ um Ran einen großen, extraweichen Schlafanzug aus dem Ankleidezimmer nebenan zu holen.

„Ich helfe dir.“

Schuldig begann die restlichen Knöpfe - denn Ran war nicht wirklich weiter gekommen - aufzuknöpfen und schob es ihm über die eine Schulter. Ran schlüpfte mit dem Arm heraus und Schuldig ging zur anderen Körperseite über, da begann Ran schon wieder in das Hemd hineinzuschlüpfen. „Ausziehen, Ran. Dann neu anziehen, ja?“

Es dauerte sein Weilchen, bis auch die Arbeitshose ausgezogen war und Ran sichtlich zitternd mit verwirrten Haaren und verwirrtem Geist vor ihm saß. Schuldig ließ die Kleidungsstücke auf den Boden fallen und half Ran seine ungeschickten Hände zu sortieren und die Schlafanzughose anzuziehen. Mit dem Oberteil verfuhren sie ebenso.

Als sie soweit fertig waren, steckte Schuldig Ran wieder unter die Decke, samt Banshee, die es sich nicht nehmen ließ, zwischen dem Aus- und Anziehen herumzuturnen. Spaßvogel.
 

„Kommst du auch?“, fragte Aya, nachdem das Zittern etwas nachgelassen hatte und er ruhiger war… ruhig genug um zu merken, dass noch jemand fehlte. Er fühlte sich einsam, sehr einsam ohne Schuldig.

Müdes Violett suchte das Blaugrün aus seinen Erinnerungen und fand es schließlich.
 

Ein vernünftiger Satz, wie Schuldigs Gehirn meldete. Er lächelte Ran zu und nickte. „Klar, komm ich auch. Ich lüfte nur noch ein bisschen.“

Er öffnete die Balkontür und ließ frische Luft herein. „Ich komme gleich wieder, bin nur schnell im Bad, schön zugedeckt bleiben.“ Schuldig bemerkte, dass ihn das sanfte Sprechen auf die Dauer anstrengte. Er kam sich schon vor wie einer der durchgeknallten Pfleger in der letzten Klinik, in der er seinen letzten ‚Kuraufenthalt’ genießen durfte.

Er verließ das Schlafzimmer und ging ins Bad um dort nach einer Bürste zu fahnden. Schnell war sie gefunden und ein Haargummi zudem auch. Zurück im Schlafzimmer setzte er sich neben Ran.

„Was hältst du davon, wenn ich dir die Haare bürste? Soll ich das tun, oder willst du deine Ruhe, Ran?“
 

„Nein, Haare bürsten ist gut“, entkam ein weiterer, sinnvoller Satz Ayas Lippen und er sah hoch zu Schuldig. Seine Hand suchte des anderen Oberschenkel und legte sich darauf, als brauche er den Hautkontakt dringend.

„Du tust mir gut…“
 

Schuldig nahm die Hand auf. Zunächst als zufällig platzierte Geste vermutet, schien eine Absicht dahinter. Ran wollte die Nähe zu ihm.

Ein sanfter Kuss erfuhr die Handinnenfläche und Schuldig legte sie wieder auf seinen Oberschenkel ab, da er nun für Rans Haare beide Hände brauchte.

„Es ist Mittag. Hast du Hunger?“

Während er die Haare Strähne für Strähne bürstete und unterteilte um sie lose zu flechten, erzählte er belanglose alltägliche Dinge über Banshee und auch, dass Yohji sie besucht hätte und wie das Wetter draußen war…
 

Hatte Aya gerade noch den Kopf geschüttelt, als Schuldig ihn gefragt hatte, ob er denn Hunger habe, lauschte er nun stumm Schuldigs Worten, die wie ein stetiges Rauschen im Hintergrund waren… und im Vordergrund die leichte Wohltat stand, die ihm hier zuteil wurde.

Leise Geräusche der ihn bürstenden Borsten lullten ihn ein, entspannten ihn.

„Was ist… passiert?“, fragte Aya schließlich und meinte seinen momentanen Zustand damit.
 

Ah… die Vernunft hielt Einzug.

Schuldig befestigte den Zopf mit einem Haargummi und ließ seine Hand auf Rans Rücken liegen.

„Du hattest einen Zusammenbruch. Dir wurde alles zuviel.“

Schuldig wartete einen Augenblick, erhob sich aber dann doch. Zuvor Rans Hand von seinem Oberschenkel nehmend. Er ließ die Jalousien wieder herab, sodass nur noch ein wenig Licht hereinschien und schloss die Tür wieder.

Dann kam er zu Ran, zog das Hemd aus, welches er nach dem Duschen übergestreift hatte und legte sich neben ihn.
 

„Wann? Wieso…?“, fragte Aya verwirrt, als er die Präsenz Schuldigs’ wieder direkt bei sich wahrnahm. Er hatte einen Zusammenbruch gehabt… vielleicht erklärte das seinen Zustand. Aber wann? Und wie?

Was hatte er getan? Warum? Ihm ging es doch gut… die letzten Wochen über.
 

„Gestern. Du hast in den letzten Jahren zu wenig verarbeitet und zu viel in dich hineingefressen. Jetzt warst du entspannt und gelöst und… es kam alles wieder zurück.“

Schuldigs Lippen suchten Rans und küssten sie, strichen über die Mundwinkel sanft zur Wange.

„Schlaf ein wenig. Ich bleib hier.“
 

„Ich möchte nicht schlafen…“

Violette Augen suchten grüne und hielten sich an ihnen fest, während Aya Schuldigs Lippen mit seinen Fingern erfühlte.

„Was habe ich… getan?“, fragte er weiter, alleine schon um das Gefühl der Rastlosigkeit auslöschen zu können.
 

„Nichts. Nur eine Flasche Wein fallen gelassen, das ist alles. Und du warst unruhig.“

Schuldig strich behutsam über Rans Rücken und seine Flanke. „Was möchtest du dann? Hast du Angst zu schlafen, Ran? Es kann nichts passieren.“
 

„Daran erinnere ich mich nicht mehr…“ Aya runzelte die Stirn, versuchte, die Ereignisse zu rekonstruieren, scheiterte jedoch. Alles war ein Wust, ein undurchdringlicher.

„Ich bin… unruhig, ich kann nicht schlafen…“, sagte er schließlich, ehrlich in Mimik und Worten, roh schier, weil er nicht ausschmücken konnte und wollte.
 

„Okay. Ich hol dir etwas. Denn du solltest schlafen. Du musst zur Ruhe kommen Ran, damit du alles verarbeiten kannst. Ist das okay?“ Schuldig streichelte Rans Halsbeuge und hob dessen Kopf vorsichtig zu sich, küsste Ran erneut.
 

Leicht zusammenzuckend, wenngleich er nicht genau wusste, warum, blinzelte Aya verwirrt. Er sollte schlafen?

Vielleicht wäre es nicht schlecht, vielleicht…

„Wann ist es vorbei?“
 

„Es wird dauern. Ein wenig Zeit musst du… müssen wir dir schon geben.“ Es war sinnlos Ran Lügenmärchen aufzutischen, auch wenn es mit der Wahrheit schwerer war. Das war es immer.

„Soll ich dich nicht küssen, Ran?“

Schuldig strich sanft über Rans Schläfe und Wange, lächelte ihm zuversichtlich entgegen. Sie waren in dämmriges Licht gehüllt.
 

„Nein… nein, du sollst nicht aufhören…“ Aya wollte nicht, dass Schuldig ging. Er wollte Schuldig in der Nähe haben.

Er zog sich langsam zu Schuldig und veränderte seine Position. Langsam fühlte er seinen Körper, konnte ihn bis zu einem gewissen Grad koordinieren.

„Wie lange…?“
 

„Shh… okay. Du zitterst wieder Ran. Ganz ruhig. Es kann nichts passieren. Du solltest nur ruhen, dann wird es bald wieder besser. Ich kann dir nicht sagen, wie lange es dauert.“

Er küsste Ran auf die Schläfe und wollte sich von ihm lösen „Ich bin gleich wieder da, ich hol dir nur die Tablette.“
 

Die schmalen Finger krallten sich zunächst an Schuldigs Körper, bevor sie ihn langsam losließen, als Aya sich bewusst wurde, dass er keinen Grund hatte, sich an Schuldig zu klammern.

„Ja… aber du bleibst hier, oder?“
 

„Ja, das bleibe ich, Ran“, sagte Schuldig fast schon feierlich. Er schalt sich selbst über so viel Rührseligkeit und erhob sich behutsam.

Er ging ins Badezimmer und öffnete dort den Schrank, holte sich eines der Pillendöschen, die noch unbenutzt waren hervor und öffnete es. Sie hatten sich nach und nach einen kleinen Vorrat an Tabletten und auch an Medikamenten, die intravenös gegeben werden konnten, angelegt.

Bisher jedoch hatten sie es nicht nötig gehabt darauf zurückgreifen zu müssen.

Zurück bei Ran gab er ihm die Kapsel und hielt ihm das Glas Wasser hin. „Hier, runter damit. Es ist nicht stark. Du wirst nur etwas ruhiger und kannst vielleicht schlafen.“
 

Aya setzte sich etwas auf und schob sich zitternd die kleine Kapsel zwischen die Lippen, trank etwas von dem Wasser und schluckte sie. Danach gab er Schuldig das Glas zurück, ließ sich auf die Matratze fallen und schloss seine Augen.

Er vertraute Schuldig. Mit seinem Leben.

Doch plötzlich öffnete er die Augen.

„Gabriele, ich muss Gabriele Bescheid sagen!“, platzte es plötzlich aus ihm heraus, panisch gar.
 

„Alles gut. Der weiß Bescheid. Du hast jetzt erst einmal Zeit um dich zu erholen. Und dann musst du wieder ran. Überstunden hat er gemeint. Aber das kriegst du schon hin. Jetzt erhol dich erst einmal.“

Schuldig stellte das Glas, während er das sagte, ab und legte sich wieder zu Ran.

„Was hältst du davon… wenn du willst, dann können wir auch ins Haus fahren…“ Stille war eingekehrt und Schuldig glaubte schon Ran hätte seinen letzten Satz nicht mitbekommen. So schnell wirkte die Kapsel nicht. Vermutlich war es das befriedigte Sicherheitsgefühl, welches Ran ruhiger machte und ihm half.
 

Während Aya schon ruhiger wurde und müder, blieb ihm Schuldigs letzter Satz in seinen Gedanken hängen.

In das Haus…

In die Ruhe…

„Ja… das ist… gut…“, erwiderte Aya träge und blinzelte. Gabriele war informiert… das war gut, er wollte seine Arbeit nicht verlieren…

Seine Augen fielen zu und er versuchte sie wieder zu öffnen, doch irgendwie wollte er nicht mehr so recht.
 

o~
 

Die letzten beiden Tage waren für Aya ein undurchdringlicher Nebel gewesen, den er nur langsam durchpflügte und sich in die Welt der Wachen begab. Langsam lernte er, aus dem Bett aufzustehen… am ersten Tag zu Schuldigs Schrecken, als er sich mitten in der Nacht ins Badezimmer begeben hatte und nicht mehr ins Bett zurückgekehrt war, weil er auf der Bank sitzen geblieben und tief in seine Gedanken versunken war.

Als er am nächsten Tag aufgewachte, hatte er langsam wie von neuem die Wohnung erkundet und sich schließlich nahe dem Fenster niedergelassen.

Alles, was in den letzten Monaten, gar Jahren passiert war, ließ er vor seinem geistigen Auge passieren, blind für die Außenwelt und seine Bedürfnisse wie essen oder trinken. Er hatte auch keinen Hunger, wurde jedoch von Schuldig dazu gedrängt, etwas zu sich zu nehmen… so entschloss Aya sich für das Minimum.

Doch daran dachte er gerade jetzt nicht. Nun saß er, beschienen von der warmen Frühlingssonne, auf der Terrasse und lauschte dem Meeresrauschen. Seine Gedanken weilten bei seiner Zeit bei Schuldig, der unfreiwilligen Zeit, bei all dem, was er aus dieser Zeit gelernt hatte, was er in dieser Zeit empfunden hatte.
 

Schuldig hatte derweilen von Ran schon länger nichts mehr gehört und nicht wirklich etwas gesehen. Der Schatten, der hier in der Wohnung herumhuschte, forderte nichts ein.
 

Deshalb hatte Schuldig heute etwas Besonderes vor und dieses Besondere war gerade fertig geworden. Er öffnete den Backofen und holte das Backblech heraus.

Ran saß auf der Terrasse, die Beine angezogen und lauschte auf das Leben um ihn herum. Die letzten Tage hatte Schuldig ihn in Ruhe gelassen, hatte ihn das machen lassen, wozu er Lust gehabt hatte. Auch wenn dies hieß, dass er keinen Hunger hatte - Schuldig ließ ihn damit in Ruhe. Bis er schließlich etwas angenommen und gegessen hatte.
 

Auf dem Blech thronte nun der selbstgemachte Apfelstrudel und Schuldig teilte zwei schmale Stücke davon ab um sie auf einen Teller zu geben. Es folgte Puderzucker auf die knusprige Oberfläche gefolgt von einem ordentlichen Sprüher Sahne. Danach goss er die heiße Schokolade in eine Tasse und stellte beides samt Besteck auf ein Tablett. So bewaffnet ging er nach draußen zu Ran
 

Es war zunächst der Geruch, der sich zu Aya trug, der ihn aus seiner stummen Beobachtung riss… oder vielmehr soweit herausholte, dass er den Kopf zur Seite drehte und sein Blick auf Schuldig traf.

Er kannte den Geruch, seine Augen erkannten auch das, was dort auf dem Tablett thronte, weil er sich in den letzten Minuten an das Gebäck erinnert hatte, das er vergebens für Schuldig gebacken hatte.

Seine Augen wanderten hoch zu Schuldigs und hielten sich stumm an ihnen fest. Sprechen wollte er noch nicht, nur dann, wenn er sich stark genug dazu fühlte.
 

„Hi.“

Guter Einstieg, beschied Schuldig sich selbst und setzte sich auf den Sessel neben Ran, stellte sein Tablett zwischen sie auf das Tischchen.

Er lächelte Ran charmant an. Nein, es war ein Herzensbrecherlächeln, dem normalerweise niemand widerstehen konnte. Man musste mitlächeln.

„Es ist Nachmittag und du hast noch nichts gegessen. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust mit mir einen Apfelstrudel zu essen. Dazu gibt es eine heiße Schokolade mit Milchschaum.“

Er ließ seine Worte bei Ran einsickern, bevor er ihm einen Teller samt Gabel reichte.
 

Der stumme Blick schweifte über die Dinge, die nun in seiner erreichbaren Nähe standen. Tatsächlich… es war ein Apfelstrudel und er roch…

„…besser als meiner…“, veräußerte Aya seine Gedanken alleine um des Veräußerns willen, allerdings mit einem winzigen Lächeln, das unwillkürlich das des anderen spiegelte. Die rechte Hand, die bis gerade eben noch eine Strähne seiner offenen Haare festgehalten hatte, drehte sich nun zusammen mit Aya zum Tisch herum und blieb an der Tasse hängen.

„Heiße Schokolade…“, murmelte er wie eine Beschwörung, jedoch mit einem eindeutig gierigen Einschlag, auch wenn dieser sich noch sehr in Grenzen hielt und nahm die Tasse langsam, vorsichtig auf.
 

Schuldig stellte den Teller vor Ran hin.

„Probier ihn erst einmal, bevor du meine Backkünste lobst. Obwohl… ich muss zugeben, ich hab ihn schon das eine oder andere Mal gemacht.“ Schuldig teilte ein Stück seines Apfelstrudels ab und stellte ihn dann wieder auf den Tisch zurück. „Viel zu heiß… kommt frisch aus dem Ofen. Bin gleich wieder da.“

Er stand auf und ging wieder in die Küche um sich seinen Kaffee zu holen, der dort noch in der Kanne auf ihn wartete.

Sich Zeit damit lassend beobachtete er Ran durch die Distanz der offenen Wohnung. Er sah nur die Rückfront von Ran und dessen bedächtige Bewegungen.

Erst nach einem Weilchen des Trödelns ging er wieder nach draußen. „So…“, seufzend setzte er sich, zog die Beine auf die Liege und stellte seinen Kaffee ab.
 

Violette Augen wanderten von der Schokolade wieder zu Schuldig und der Telepath wurde erneut mit einem kleinen Lächeln belohnt.

Aya stellte langsam den Kakao ab, von dem er in der Zwischenzeit schon etwas getrunken hatte und nahm den vor ihm stehenden Teller auf.

Vereinzelte Dampfschwaden zogen zu ihm herauf und kündigten ihm das, was Schuldig auch schon geäußert hatte, an. Vorsichtig trennte er ein Stück ab und probierte es, aß es langsam, in Gedanken versunken.

„Du backst gut“, sagte er schließlich, gab Schuldig auch eine Rückmeldung, dass er dessen Worte vernommen hatte und auf sie reagierte.
 

Langsam reagierte. Viel zu langsam.

„Da siehst du mal! Ein Backgenie!“

Rans Stimme fehlte die Energie. Doch Schuldig war geduldig, denn er wusste um derartige Auswirkungen seelischer Überlastung. Nur zu gut.

Er erwiderte Rans Lächeln und lehnte sich faul zurück, schob die Arme über die Kopflehne, ließ sein Hemd rechts und links ganz ungeniert flattern und pfläzte sich mit einem zufriedenen Grinsen in die nachmittägliche Sonne.
 

„Er schmeckt besser als meiner. Meiner… hat… war… kalt. Er war matschig und er hat nicht geschmeckt.“

Die Stirn runzelnd sah er Schuldig an, dann den leckeren Apfelstrudel. „Aber Crawford hat ihn gegessen und nicht nur er.“

Ein weiteres Stück folgte dem ersten zwischen die Lippen und dem zweiten ein drittes. „Er hat ihn damals im Backofen aufgewärmt.“
 

Schuldig drehte seinen Kopf zu Ran hinüber und beobachtete dessen Mimik, die durchaus offener als gestern war. Mehr Mienenspiel war zu beobachten. Und das Lächeln, welches Ran ihm geschenkt hatte, lockte einen verliebten Gesichtsausdruck auf Schuldigs Gesicht. Er betrachtete sich Ran, seine Lippen, seine Wangen, die Augen, die teils noch viel zu verloren dreinblickten.

„Ich habe für die Rasselbande schon ein paar Mal einen Apfelstrudel gemacht. Und gelungen ist er mir nicht immer. Deshalb hat sich Brad wohl nicht nur bei dir so beholfen.“
 

„Oh.“

Das wusste er nicht. Das hatte Crawford ihm nicht erzählt, befand Aya für sich und löste seine Beine aus ihrer schützenden Position. Der Teller fand seinen Platz auf seinem Schoß und Aya holte sich den Kakao heran.

„Kann er denn backen? Er scheint… nicht der Typ für so etwas“, sinnierte Aya mit Blick auf Schuldig und dessen Lippen, wie sie den Strudel vertilgten. Die geliebten Lippen, wie Aya sich sagte und erstaunt war, dass es mit dem einfachen Genuss von so etwas... Leckerem viel leichter von der Hand ging, Dinge zu denken und zu veräußern.
 

Die schalkhaften Lippen, die ihr süßen Mahl wieder aufgenommen hatten und nun kauend grinsten.

Der Zusammenbruch hatte wohl bewirkt, dass Rans innere Zurückhaltung, was eine Konversation über Brad anging, reduziert war.

„Nein, er backt nicht. Aber er isst gern gute Dinge. Er lässt sich kulinarisch gerne seinen Bauch bepinseln.“
 

„Aber er hat gekocht… oft… als du nicht da warst. Und Essen bestellt. Das hat er gut gemacht…“ Aya schwieg für einen Moment, bevor er sich bewusst wurde, dass dieser Satz vielleicht etwas missverständlich war. „…das Kochen, meine ich. Er hat gut gekocht. Genauso gut wie du.“

Nicht nur Crawford war ein Thema, das Aya nun mit Ehrlichkeit bedachte und ausplauderte, wie er es meinte.

Er aß weiter, trank hin und wieder seinen Kakao und hing dem Kaffeeduft aus Schuldigs Tasse nach.
 

„Ich liebe dich, Ran.“

Schuldig hatte seinen leeren Teller auf das Tischchen zurückgestellt und lag wieder mit seinem gefährlich lässigen Lächeln auf der Liege und betrachtete sich Ran.
 

Aya spürte den Verlust der Tasse erst, als sie mit einem Scheppern auf dem Steinboden der Terrasse zerschellt war und der übrig gebliebene Kakao sich zwischen den Scherben verteilte.

Er wusste noch nicht einmal, warum Schuldig ihn mit seinen Worten so schockierte, warum seine Augen den anderen so fassungslos anstarrten… so überrumpelt und überfahren.

Warum sie mit der rohen Wahrheit und Bedeutung dieser Worte so dermaßen erschlugen.

Er blinzelte verwirrt, auch vielleicht ob der Träne, die sich aus seinen Augen gelöst hatte und der nun einige nachfolgten.
 

Shit. Zu früh.

Nachdem Schuldig die ersten Gedanken für sich verbucht hatte, erhob er sich schmunzelnd und kam zu Ran. Er umschiffte die Scherben und setzte sich von der anderen Seite zu Ran, strich ihm eine der langen Strähnen aus dem Gesicht. Ein Arm schlich sich um Rans Vorderseite, der andere wurde dazu benutzt um sich abzustützen. „Hey. Ist gut, Ran.“
 

Ein schwaches Lächeln versuchte Schuldig zuzustimmen, doch die Tränen liefen und liefen, egal wie sehr Aya sie sich auch von den Wangen wischte.

Er lehnte sich an die Nähe des anderen, suchte sie.

„Ich… freue mich…“

Er wusste, dass das nicht der momentanen Wahrheit entsprach, denn er empfand aktiv wenig… doch die Worte waren bekannt, er erinnerte sich an sie und er erinnerte sich an sein Gefühl als Reaktion auf diese Worte.
 

„Alles gut“, Schuldig beugte sich vor und küsste Ran auf die trännennasse Wange. Er nahm Ran in seine Arme und strich ihm über den Rücken.

Morgen würde er die Honigbällchen machen. Mal sehen, ob Ran schon für diese bereit war.

Immerhin entlockte er ihm einige Regungen.
 

Sich an Schuldigs Wange lehnend, ließ Aya diese Nähe zu, entspannte sich unwillkürlich und ohne feste Absicht.

„Ja… alles ist gut“, stimmte er Schuldig zu und merkte, dass die Tränen schwächer wurden, weniger auf seinen Wangen. „Ich finde es schön, dass du… das gesagt hast. So schön.“

Seine Hand kehrte zurück zu seinem Apfelstrudel, nicht wissend, was sie sonst machen sollte. Er musste doch noch den Strudel essen… wo er schon seinen Kakao verloren hatte.
 

Schuldig hielt Ran weiter im Arm während dieser sich an dem restlichen Apfelstrudel machte. Es war als bräuchte Ran diesen nahen Kontakt, selbst beim Essen.

Die letzten Nächte war Schuldig stets sehr nahe an Ran gelegen, jedoch hatte dieser sich in sich selbst abgekapselt.

„Möchtest du noch etwas von der Schokolade? Es ist noch etwas auf dem Herd.“
 

„Ja… ich möchte noch Kakao.“ Ayas Lippen streiften Schuldigs Haut, als Zeichen dafür, dass er dankbar war, es aber nicht adäquat äußern konnte. Noch nicht… noch war er zu sehr in sich selbst versunken.
 

o~
 

Das war er auch noch zwei Tage später… doch nicht mehr ganz so fern der Realität, wie noch vor kurzer Zeit. Sein momentanes Bestreben war es, Schuldig zu beobachten… Schuldig und dessen Tun, dessen Macken, die er akribisch für sich auflistete und deren Liste er stetig weiterführte.

Schuldig, wie er immer wieder angefangene Flaschen in der Wohnung verteilte, sie dann suchte und fluchte, wenn er sie nicht fand oder wenn sie schon zu alt waren, als dass er sie austrinken konnte. Schuldig, wie er fluchte, als er das Bad putzte, wie er leise vor sich hin meckerte, dass es nun seine Aufgabe war… und dass Aya es sehr schnell wieder übernehmen würde, wenn es ihm gut ginge. Aya war sich bewusst, dass Schuldig nicht wusste, dass er zuhörte… vielleicht hätte er es sonst nicht gesagt. Aber alleine die Tatsache rang Aya ein Schmunzeln ab… wie ihm vieles in der letzten Zeit ein Schmunzeln abrang… wie ihm auch vieles Tränen abrang, die überraschend kamen und ihn auch überraschend wieder verließen. Sie machten ihn traurig, doch diese Phasen waren nach Minuten schließlich wieder vorbei.

Dafür aß er mehr, hatte mehr Hunger als zuvor. Wie auch jetzt, wo er eine Paprika bei sich hatte, eine grüne, die er sich aus dem Kühlschrank genommen hatte, während Schuldig ihr Badezimmer putzte.

Die Staubmäuse unter dem Bett hatte er aber vergessen.
 

Es war ja schließlich das Badezimmer und nicht das Schlafzimmer welches Schuldig als Schauplatz seines Putzkrieges auserkoren hatte. Ein Pirat stellte ein kümmerliches modisches Püppchen gegen sein Putzoutfit dar. Die ausgefranste Jeans, das Dolce & Gabbana Unterhemd, samt leuchtend grünem Kopftuch mit weißen Totenköpfen darauf, welches pflichtschuldigst in bester Putzmanier zu einem Dreieck gefaltet im Nacken gebunden ward. Dies alles war seine Rüstung gegen den Schmutz.

Putzen musste er allerdings trotzdem noch.
 

Nach einer Stunde glänzte das Bad jedoch und Schuldig schlappte abgekämpft barfüssig in die Küche und öffnete sich eine Dose Bier, die er aus dem Kühlschrank entnommen hatte.

Blieb nur noch der Rest der Wohnung, seufzte er, die kühle Dose an seine geröteten Wangen haltend. Wo war eigentlich Ran?
 

Auf seiner Couch saß Aya und hatte somit einen guten Blick ins Bad gehabt…die Küche konnte er nicht ganz so gut einsehen. Schuldigs Couch wäre nicht so günstig gewesen…

Er knabberte an der Schote, neben sich Banshee, die sich seit langer Zeit wieder auf seinem Schoß eingerollte hatte und zufrieden schnurrte. Seine linke Hand lag auf ihrem kleinen, weichen Körper, der ihn wärmte.

Es roch frisch…nach Reinigungsmitteln.
 

Von denen Schuldig reichlich gebraucht gemacht hatte. Viel half schließlich viel!

Schuldig suchte Ran, den er auf seiner kleinen Couchinsel auf der Meerseite der Wohnung fand und er ging mit seinem Bier zu ihm. Bei ihm angekommen setzte er sich auf die Couchlehne und ächzte theatralisch.

„Alle Keime sind erledigt!“
 

„Gemeiner Pirat… hast du alle Gegner vernichtet“, lächelte Aya, nahm Schuldig leichter zur Kenntnis als vorher. Er konnte sich mittlerweile gänzlich auf ihn einstellen und mit ihm sprechen… er reagierte nicht mehr ganz so emotional auf Schuldigs Taten und Äußerungen.

Seine Hand fand samt Paprika den Weg zu Schuldig, bis Aya bewusst wurde, dass er das Gemüse erst ablegen musste, bevor er seine Hand auf Schuldigs Oberschenkel legen konnte… er brauchte manchmal noch etwas länger für solche Reaktionen. Seine Hand legte die Paprika auf den Teller und kam dann vom grünen Gemüse zurück zum leuchtend grünen… auch Schuldigs Kopftuch genannt und stupste einen der Totenschädel an.

„Beängstigend…“, meinte er, ein kleines Stück altem Humor aus seinen Worten blitzend.
 

„Gruselig, nicht wahr? Dient der Abschreckung!“ Schuldig schmunzelte über Rans Paprikaproblem, sagte jedoch wohlweislich nichts.

Ran übte sich in Humor und er wollte dieses positive Zeichen der Genesung nicht durch eine stichelnde, humoristische Erwiderung zerstören.

„Wie geht’s der Kleinen?“, fragte Schuldig und strich ihrem Katzenteenie über das weiche Fell.
 

Besagter Teenie hob verschlafen ihren Kopf und blinzelte Schuldig aus nicht ganz wachen und empörten Augen an, was Aya zu einem Lächeln brachte… aber auch Schuldigs Wort ließen ihn lächeln.

„Der böse, rothaarige Pirat…“, sinnierte er und seine Gedanken bekamen einen kleinen Schubs, dachten weiter, als sie es bisher getan hatten; sie sponnen sich Dinge zusammen, die außerhalb der Realität lagen und über die er bewusst nachdenken wollte. „Du würdest gut in diese Zeit passen…“
 

„Ja… meinst du?“ Schuldig rutschte zu Ran auf die Sitzfläche der gemütlichen Couch und legte den Kopf in den Nacken.

„Wär schon nicht schlecht. Aber ich glaube… heute ist es viel bequemer als damals. Und wenn ich daran denke, dass ich damals auch telepathische Fähigkeiten gehabt hätte…

Dann wäre ich wohl nicht Pirat sondern König geworden. Hmm… nein, zu auffällig. Vielleicht besser irgendein Graf oder Fürst. Rauschende Feste, interessante Reisen…“

Er ließ den Kopf zur Seite fallen und blickte Ran ins Gesicht. „Ich würde dann mit meinem eigenen Schiff nach Japan segeln und die Japaner ärgern! Da hätte es bestimmt einen rothaarigen Schwertträger gegeben…“
 

Aya brauchte nicht lange um zu wissen, wer damit wohl gemeint sein könnte.

Weniger als eine Sekunde.

„Ich wäre einer der Samurai gewesen, ganz sicher. Und hätte dich schon damals bekämpft...“ Das wäre sicherlich so gewesen, egal zu welcher Zeit, egal an welchem Ort… ihre verschiedenen Einstellungen und Masken, die sie trugen und lebten, hätten sie oberflächlich immer getrennt.

„Wieso haben wir nicht schon eher gemerkt, was wir füreinander empfinden?“
 

Schuldigs Hand samt fingerbewährten Komplizen ärgerten immer noch Banshee. Er hielt inne als er Rans Frage vernahm.

„Das ist eine gute Frage.“ Was konnte er darauf antworten?

„Manchmal dauert es vielleicht ein wenig, bis man das findet, was zu einem gehört und das was zu einem passt. Und oft… bekämpfen wir …“ er stockte in seinen Worten, hielt Rans Blick aber intensiv fest. „… das, was zum Teil in uns steckt und der andere uns spiegelt.“
 

Ayas freie Hand legte sich instinktiv auf seinen Brustkorb, auf das Herz, das hinter den Rippen schlug.

„Wir haben jahrelang uns selbst bekämpft, auch wenn wir uns gehasst haben?“ Sie waren einen Weg gegangen, den fast alle Menschen nicht gingen… sie wechselten vom Hass zur Liebe. Der umgekehrte Weg – schwieriger, steiniger, unmöglicher.

Und doch waren sie hier.

„Was, wenn wir uns… zu Takatoris Zeiten näher kennen gelernt hätten? Wenn du dann… mir dann Urlaub gegönnt hättest?“
 

Schuldig lächelte. Wissend. Alt. Traurig.

„Das hätte ich nicht“, wisperte er. „Das hätte ich damals nicht, Ran.“

Er schloss für einen Moment die Augen.

„Ich brauchte die Zeit um mich zu verändern. Ich machte eine Veränderung durch, lenkte meine Gedanken auf andere Dinge, auf andere Möglichkeiten und ich strebte nach… etwas anderem. Durch dieses Streben änderte sich alles. Für mich und auch… für… dich. Und für alle anderen. Ich habe alles geändert, wenn du so willst, Ran.“ Ohne seine fixe Idee wäre weder Schwarz, noch Weiß, noch Kritiker in der Position, in der sie jetzt waren.
 

Aya brauchte etwas länger, um diese Worte für sich nachzuvollziehen und zu verbuchen.

„Du hast alles zum Guten geändert…“ Auf eine Art und Weise, die schmerzhaft war, die in Aya jetzt noch schmerzhaft nachklang. Die Weiß nun auch noch schmerzhaft zu spüren bekam… doch es würde sich alles bessern. Es kam Bewegung in ihr Leben, es änderte sich.

„Ich fand… und finde nicht immer alles gut, was du getan hast… uns angetan hast, doch letzten Endes…“ Ayas Stimme verklang, als er kurz den Gedankenfaden verlor. „…letzten Endes bist du ein guter Mensch.“
 

„Oder der… Teufel.“

Ja. Oder der.

Der veränderte auch und es war ihm egal, ob zum Guten oder zum Schlechten. Dem Teufel ging es nur um die Veränderung. Um die Bewegung.
 

„Dafür tust du zuviel Gutes… du bist ein Mischwesen.“

Das war Ayas Wahrheit. „Du bist gut zu mir, hast es, seitdem wir uns… näher kennen, immer versucht. Gut zu sein. Du hast mir… Liebe gegeben. Mir.“ Ayas Blick war abwesend, als wäre es für ihn immer noch unverständlich, was es zu manchen Teilen durchaus noch war. „Du bemühst dich, nicht nur um mich…“

Seine Hand legte sich auf die des anderen und drückte sanft zu.
 

Ja, er war der heilige Sankt Martin. Schuldig besah sich Ran immer noch mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Innerlich rollte er mit den Augen und schüttelte er den Kopf.

Ran wirkte die Ehrlichkeit eines Kindes auf ihn und Schuldig erlag dieser Wirkung. „Ich mag es wenn du mir aufzählst was ich alles Gutes getan habe.“ Schuldigs Stimmlage hatte sich um eine Nuance verändert.

Diese entwaffnende Ehrlichkeit eines Jemandes, der nichts zu verlieren hatte oder nicht wusste was es zu verlieren gab. Etwas in Schuldig wusste nur zu genau, was er Ran rauben konnte.

Und doch… gerade jetzt fühlte er die perfekte Zufriedenheit in sich. Er fühlte… Ran gehörte ihm. Nur ihm.
 

Aya schwieg und sein Blick richtete sich auf seine Umgebung.

Seine Gedanken verfolgten Schuldigs Wesen, seine guten und schlechten Aspekte und Taten.

„Deine dunkle Seite…“, fing er schließlich an, völlig in seinen Gedanken versunken. „Sie gehört zu dir… und auch sie ist gut… und böse. Beides.“ Er runzelte die Stirn.
 

Geschmeidig und mit voller Absicht viel zu schnell für Rans momentane Langsamkeit kam Schuldig über Ran und drängte ihn rückseitig auf die Couch.

Dieser Vorgang ging sanft von Statten, denn Schuldig hatte Ran an den Oberarmen gehalten als er ihn in eine liegende Position geleitete. Sein Gesicht drückte Ruhe aus, allerdings waren seine Augen von bezähmtem Frieden durchtränkt. Sie senkten sich dicht über Rans Gesicht, bis in seinem Blickfeld nur mehr geheimnisvoll umrandetes mattes Violett übrig blieb. „Du gehörst mir“, wisperte er an die weichen Lippen. Kaum waren diese Worte laut geworden, nur Bruchstücke drangen an ihre Ohren. Es war mehr ein kalter Hauch mit warmen Lippen hervorgebracht.
 

Der Positionswechsel war in der Tat zu schnell für Aya gewesen, der nun auf dem Rücken lag und sich darüber wunderte, bis seine Gedanken nachzogen von Schuldigs Handlungen bis hin zu seinen Worten. Worte, die er vor allem mit jemandem verband, der mit Schuldig verbunden war.

Er blinzelte langsam ob des Hauches an seinen Lippen und sah in die grünen, schelmischen Augen. Die grünen Augen der anderen Seite.

„Nein… aber das weißt du doch auch…“ Er lächelte. Sie hatten es so oft gehabt, dieses Thema, daran erinnerte er sich. Schuldig hatte immer wieder das gleiche gesagt und er hatte immer wieder das Gleiche geantwortet.
 

In Schuldigs Augen stand die Genugtuung und vor allem war dort abzulesen, wie überlegen er sich Ran fühlte.

„Oh, doch.“

Seine Zungenspitze strich über Rans Lippen, tastete, schmeckte.

„Gerade jetzt, so hilflos, so weich, wie du jetzt bist. Keine Schranken, keine Mechanismen, die dir antrainiert wurden, weder in deiner Kindheit noch von Kritiker, stehen zwischen uns. Nur du und ich. Und du gehörst mir.“
 

Aya ließ sich schmecken, schmeckte schließlich Schuldigs Spuren auf seiner Haut, seinen Lippen, nach. Wie immer schmeckte Schuldig...vertraut und gemocht.

„Gerade jetzt… so hilflos und weich, ohne antrainierte Schutzmechanismen, weiß ich, dass ich dir nicht gehöre“, sagte er bedächtig, mit einer hundertprozentigen Ehrlichkeit in der Stimme. Seine Augen, sein ganzes Wesen war offen für Schuldig und dessen Überlegenheit, die in den grünen Augen stand, denn diese Worte, das war er, das war sein Innerstes.
 

„Du weißt… dass du mir gehörst. Ich werde immer in deinen Gedanken sein, ich werde immer in deinen Gefühlen sein, ich werde entweder der Hass oder die Liebe für dich sein. Ich war es und werde es immer sein. Ich bin in jeder Faser deines Geistes und deines Körpers. Ich fülle dich aus. Ich bin deine Stärke und ich bin deine Schwäche.“

Schuldig griff nach Rans Haaren, wickelte sich eine Strähne um die Hand, ließ seiner Zunge, seine Lippen folgen.

„Selbst wenn ich tot bin, werde ich immer in dir sein und somit gehörst du mir.“
 

Aya runzelte seine Stirn, als er die Logik dieser Worte nachvollziehen wollte. Mit deutlicher Klarheit sah er, dass Schuldig Angst hatte, dass er, Ran, irgendwann einmal Gleichgültigkeit ihm gegenüber empfinden könnte.

„Du bist… ein Teil meines Lebens, meines Geistes, meines Körpers. Doch du bist nicht in meinen Gedanken oder in meinen Gefühlen… du füllst mich nicht aus… du begleitest mich“, erwiderte er schließlich, zu dem Entschluss gekommen, dass das die Wahrheit war. Die übliche Ablehnung, die auf Schuldigs besitzanzeigende Worte folgte, gab es heute nicht.

„Ich werde dich nie vergessen… ein Schatz in mir.“
 

„Ja… ein Schatz in dir. Ein Gift… das du nie wieder los wirst.“

Schuldigs Zunge glitt in Rans Mund, drang tiefer ein und lockte Rans Zunge zu einem zärtlich innigen Spiel.
 

Ganz damit beschäftigt, diese Berührung, dieses Gefühl zu erforschen, vergaß Aya seine Antwort und reagierte auf Schuldigs Spieltrieb mit seinem eigenen, neu entdeckten, der momentan daraus bestand, von seinen Zähnen Gebrauch zu machen und Schuldig in die Zunge zu zwicken. Seltsam das Gefühl dieses feuchten Stück Fleisches zwischen seinen Lippen, das so glitschig und leicht rau war.
 

Irritiert zog Schuldig sich zurück und starrte Ran stumm an. Er sagte eine Weile nichts. Ran hatte ihn noch nie gebissen, hatte ihn noch nie in die Zunge gezwickt, während eines Kusses.

Ran wollte das nicht. Der Japaner fühlte nichts für Schuldig im Augenblick und er hatte keine Ahnung, was er mit diesem Kuss anfangen sollte.
 

„Du fühlst dich interessant an…“, sagte Aya schließlich, nun wieder Herr seiner Stimme und lächelte. Es war ein verträumtes, schwaches Lächeln, doch seine Aufmerksamkeit war definitiv auf den Lippen des anderen. „Ich habe das… noch nie getan. Fühlen, wie deine Zunge sich anfühlt…“
 

„So… nicht? Was hast du denn dann immer getan, während wir uns geküsst haben?“

Schuldig legte den Kopf fragend zur Seite und hob eine Braue.
 

„Dich nicht gebissen…“ Aya lächelte schelmisch und strich Schuldig die hochgehobene Braue nach. Er spürte den Körper des anderen nach, wie er warm und schwer auf seinem lehnte.

„Ich habe dich nur in andere Körperteile gebissen…“ Seine Hand strich dir Kehrseite hinab. „Hier. Zum Beispiel.“
 

„Tatsächlich. Das hast du", schien Schuldig darüber nachsinnen zu müssen, was er im Nachhinein noch als Strafe dafür erheben könnte.
 

Ran wurde langsam aber stetig wieder wie vor seinem Zusammenbruch. Oder. nein, er war der Gleiche, aber dennoch anders. Es besserte sich und das Warten und die Mühe hatte sich gelohnt.
 

“Wenn du schon zu solchen Experimenten fähig bist, hättest du auch das Bad putzen können“, befand er... und das durchaus im Ernst.
 

Vermutlich war es die Nähe des Anderen, die Aya dazu brachte, Schuldig necken zu wollen, eben weil es vertraut und gemocht war. Sie hatten sich schon immer geneckt… früher getriezt, also tat er das, was sein Instinkt ihm sagte.

„Nein“, erwiderte Aya durch diesen Ernst hinweg. „Ich möchte mich auf dich konzentrieren… auf dich, wie du das Bad putzt.“ Offenheit schlug Schuldig hier entgegen… Offenheit und Ehrlichkeit mit einem guten Schuss an altem, schwarzen Humor, der sich jedoch noch gut versteckte.
 

„Klar. Anderen beim Arbeiten zuzusehen ist durchaus unterhaltsam.“ Schuldigs Worte kamen ebenso ernst zurück. Allerdings stand auch ein großes Fragezeichen dahinter. Er wusste nicht, was er mit diesem Ran anfangen sollte. Etwas in ihm hatte sich diesen Mann wie jetzt gewünscht. Ihm ausgeliefert, fügsam. Doch… scheinbar wusste es jetzt nichts damit anzufangen.
 

Eine Melodie drang an sein Ohr und Schuldig wandte den Kopf irritiert. Rans Mobiltelefon auf dem Tresen der Küche verbalisierte einen Anrufer.

Schuldig blickte zu Ran zurück. Dieser schien kein Interesse an dem sonst für ihn so wichtigen Gerät zu haben.

„Ist für dich.“
 

Aya sah langsam auf, lauschte auf den Ton, der ihn sonst zum Aufstehen zwang. „Ich mag nicht“, sagte er mit Blick auf Schuldig. Denn dazu müsste er aufstehen… er müsste sich auf ein Gespräch konzentrieren, das er nicht mit Schuldig führte. Das wollte er nicht. Es war ihm unangenehm… irgendwie. Auch wenn ihm eine kleine, innere Stimme einflüsterte, dass besagtes Handy sonst doch so wichtig für ihn war. Doch diese Stimme verhallte.
 

Schuldig war wichtiger als der vermeintliche Weiß-Anrufer?

Das war neu.

Der in Rans Gunst aufgestiegene Telepath schob sich von Ran herunter und erhob sich. Er kletterte über die Lehne. Mit einem schwungvollen Satz war er auf dem Boden und auf dem Weg zum Mobiltelefon. Die weitläufige Wohnung zu durchqueren hielt den Anrufer nach verstrichener Zeit nicht davon ab es erneut klingeln zu lassen.

Schuldig hob ab.

„Ja?“ Er wandte sich zu Ran um und schlenderte einige Schritte in den großen Raum hinein.
 

Etwas irritiert, dass er anstelle von Ran nun den Deutschen am Telefon hatte, ließ Youji erst einmal zwei Sekunden verstreichen, bevor der Schuldig antwortete.

„Ich bin es… Youji“, sagte er, mit nicht zuviel Freude in der Stimme, den Telepathen zu hören. „Wie geht es Ran?“

Angesichts der Tatsache, dass Ran nicht an sein Telefon ging, ging es ihm wohl noch nicht so gut… auch wenn Youji das Gegenteil gehofft hatte, da nun schon ein paar Tage vergangen waren, seitdem es zu dem Ausbruch gekommen war.
 

„Gut.“

Schuldig war an der quadratischen Vertiefung der Wohnung angekommen, ging die zwei Stufen hinunter und lehnte sich an die Lehne der niedrigen Couch die dort stand und den Mittelpunkt des Raumes darstellte. Sein Blick ging zu Ran hinüber.

„Er ist von meinem Anblick gefesselt… könnte man sagen.“ Schuldigs Stimme hatte einen leicht aufrührerischen und kratzigen Unterton. Spielerisch, gefährlich.

Allerdings bemerkte er es selbst nicht.
 

Violette Augen beobachteten Schuldig genau, hörten auf dessen Worte ohne sie zu kommentieren. Ihm war es egal, wer dort am anderen Ende der Leitung war, doch Schuldig war ihm nicht egal. Das hatte er mittlerweile festgestellt und es war eine gute Feststellung. Ein kleines Schmunzeln lag auf seinen Lippen.
 

„Wie meinst du das?“, fragte Youji, auch wenn er nicht wirklich glaubte, dass Schuldig Ran etwas Böses antun würde… oder? Oder spielten sie gerade eines ihrer Spielchen und Ran war nicht in der Lage, zu antworten? War das denn jetzt schon günstig? Oder war Ran wieder wild geworden? Doch würde Schuldig es dann so ausdrücken?
 

Den Blick Richtung Ran gerichtet, der dort lag und ihm völlig vertraute, ihn machen ließ und… das obwohl dieser genau gehört hatte, was er gesagt hatte.

Mit diesem auf Ran gerichteten Blick begann sich um Schuldigs Mundwinkel ein durchaus lässiges, wenn auch gemeines Lächeln auszubreiten.

„Wie ich es gesagt habe. Er ist mir ganz ergeben und mein Anblick fesselt ihn. Was willst du eigentlich, Kudou?“
 

Ran war Schuldig NIE ganz ergeben… das wusste Youji aus den Gesprächen, die sie geführt hatten. Die sie zuletzt geführt hatten.

„Ich will wissen, ob es ihm gut geht“, kam es nun schon unfreundlicher von Youji und er runzelte die Stirn. „Was machst du gerade mit ihm?“ Ja, als wenn Schuldig ihm darauf eine ehrliche Antwort geben würde. Als wenn… „Ich will ihn sprechen.“
 

„Er möchte aber nicht mit dir sprechen. Oder hast du nicht bemerkt, wie lange es dauerte, bis jemand abgenommen hat? Es interessiert ihn nicht, wer ihn sprechen möchte.“

Schuldig fand Gefallen an diesem Gespräch.

„Mit ihm kann man nichts machen, Kudou. Er ist Wachs in meinen Händen und es würde keinen Spaß machen, mit ihm irgendetwas zu tun.“
 

Ran war immer noch so apathisch wie ganz zu Anfang?

„Heißt das, sein Zustand hat sich in den letzten Tagen nicht verbessert?“, fragte Youji, die beißenden Anspielungen des anderen übergehend. Zumindest in seinen Worten, denn in seinen Gedanken verfluchte der blonde Weiß Schuldig dafür umso mehr. Doch das war nichts Neues und gehörte zum alltäglichen Umgangston zwischen ihnen beiden. Youji kam sich vor wie die ungeliebte Schwiegermutter.
 

Zur gleichen Zeit begab sich jener apathische Mann, der eigentlich gar nicht mehr so apathisch war, auf die Wanderschaft zu Schuldig, getrieben von der kleinen Stimme in seinem Hinterkopf, dass dieses Gespräch vielleicht interessant war.

Er streifte eine der Pflanzen und blieb für einen Augenblick in ihrem Anblick versunken, bevor er sich neben Schuldig niederließ und so seine Neugier, von diesem Gespräch mehr mitzubekommen, nachkam.
 

Ran durchquerte das Wohnzimmer und überwand die bestimmt zehn Meter zu Schuldig.

„Doch der Zustand hat sich verändert… oder gebessert.“ Schuldig wandte sich zu Ran um, der auf der Couch saß und sah auf ihn hinunter.
 

„Wie äußert sich das?“ Auf zur Frage- und Antwortstunde, doch solange Youji seine Antworten bekam…

Sich unbewusst, dass eben jener Mann gerade auf seine Stimme lauschte, da er sich vom Polster der Couch auf die Rückenlehne gehievt hatte und nun neben Schuldig saß, die Augen interessiert auf die Lippen des Telepathen gerichtet, versuchte sich Youji vorzustellen, wie es Ran gerade ging...ob er wieder zu seiner alten Stärke zurückfinden würde. Doch das war vermutlich ein Gedanke, der ganz weit in die Zukunft gehörte.
 

Schuldig lehnte sich samt Mobiltelefon zu Ran hin und gab ihm einen ziemlich feuchten Kuss auf die Lippen. „Das äußert sich in positiven Handlungen und positiver Beteiligung an seiner Umwelt. Vorzugsweise an mir. Und… du nervst, Kudou.“ Der Unterton war alles andere als positiv zu bezeichnen und Schuldigs Gesichtsausdruck war bestenfalls mit ausdrucksloser Langweile zu bezeichnen. Kein gutes Zeichen.
 

Kudou… Kudou…

Youji…

Aya legte leicht den Kopf schief und lauschte auf die Stimme, die so fern klang. Lauschte auf die Erinnerung an Youji in seinen Gedanken und wusste, was diese kleine Stimme versucht hatte ihm zu sagen.

Seine Hand schlängelte sich zu Schuldig, in Schuldigs hinein und dirigierte das Handy zu seinem Ohr.

„Hallo Youji“, sagte er bedächtig, aber dennoch gewillt, Kontakt mit dem anderen Mann zu haben… Kontakt zu ihm und zu Schuldig, dessen Nähe er gerade suchte.
 

„Ran?!“ Etwas verdutzt nahm Youji die Stimme des rothaarigen Japaners zur Kenntnis, die so ganz gegensätzlich zu Schuldigs Worten war und ihn mehr als überraschte. Gut, er hatte schon anhand des eindeutigen Geräusch des Kusses die Nähe der beiden vermutet – und Schuldigs Provokation seiner Person – doch dass Ran sich auch zu Wort melden würde…

„Wie geht es dir?“
 

Schuldig setzte sich rittlings auf die Lehne der Couch und drehte sich zu Ran zu, hielt das Mobiltelefon immer noch in der Hand, während Ran seine Hand samt dem Gerät an sein Ohr hielt.

Schuldig wunderte dies. Es war als könnte Ran diesen Kontakt zu ihm nicht aufgeben. Es stach und schmerzte in seiner Brust und in seinem Bauch, als er diesen Gedanken begriff und ein warmes Lächeln schien durch die geschliffene Kälte seines Blickes. Es taute… das Eis unter der Oberfläche, welches so scharfe Wunden mit einem Satz schneiden konnte… es taute.
 

Wie geht es dir…

Einen Moment lang über die Frage nachdenkend und dabei an Schuldigs Körper lehnend, dessen Nähe suchend, dachte Aya schließlich daran, dass er Youji noch eine Antwort schuldig war.

„Besser“, erwiderte er und wusste, dass es die Wahrheit war. Er fühlte sich ruhiger, gelassener, wenn auch noch etwas fern von der Realität. Doch Schuldig war bei ihm und das war wichtig. „Es wird bald wieder gehen.“ Er schwieg einen Moment lang, den Duft Schuldigs aufnehmend. „Wie geht es dir?“
 

Auch diese Frage überraschte Youji, denn es zeigte ihm, dass Ran sich Gedanken um seine Umwelt machte… aber gleichzeitig zeigte es ihm auch, dass es dem anderen wirklich besser gehen musste, zumindest den Umständen entsprechend.

„Mir geht es gut, Ran. Ich mache mir nur Sorgen um dich, dass es dir auch gut geht!“

Ran blinzelte.

„Nein… mir geht es besser. Es wird wieder.“ Er wusste nicht, was er anderes sagen sollte… und wollte auch nicht mehr sagen, da er spürte, dass es reichte, um Youji zu beruhigen.

„Das freut mich Ran. Behandelt Schuldig dich auch gut?“
 

Schuldig jedoch hörte nicht auf das Gespräch, sondern hielt Ran an sich und fuhr mit seinen Lippen ablenkend über Rans Kopf, platzierte flüchtige Küsse auf die Haare.
 

„Ja… warum sollte er mich nicht gut behandeln?“, schwelgte Aya just in diesem Moment in Schuldigs Berührungen, die er wahrnahm, wenn auch nicht kommentierte.

Wenn nichts Youji beruhigen konnte, so konnte es genau das… denn was zeugte mehr von Ehrlichkeit als eben diese Worte. Und wieder musste er sich für sein Misstrauen schelten, doch Schuldig forderte es ja nahezu heraus.

„Ich freue mich, dass er dir hilft, Ran. Das beruhigt mich.“

„Ja…“

Genau spürend, dass Ran kein weitergehendes Gespräch wollte oder auch führen konnte, verabschiedete sich Youji von seinem Freund und legte mit einer letzten Versicherung, dass es ihm gut ging, auf. Seufzend ließ er sich in seinen Sessel zurückfallen. Es würde also wieder werden… irgendwann.

Währenddessen besah sich Aya das Handy, bevor er den roten Hörer drückte und das Telefon auf die Couch gleiten ließ.
 

Das Telefon glitt wie ein abgestorbener Körper auf die Sitzfläche und Ran ließ sich in Schuldigs Umarmung ziehen.

„Er ist leicht zu ärgern“, stellte Schuldig fest.
 

„Es macht dir Spaß, ihn zu ärgern…“ Das war keine Frage, sondern eine höchst wache Feststellung des rothaarigen Japaners. Ebenso wach lagen die violetten Augen auf ihren blaugrünen Gegenstücken. Aya schmunzelte leicht.

„Es hat dir schon immer Spaß gemacht.“
 

„Jeder braucht ein Hobby.“

Schuldigs Blick sagte aus, dass er dieses Hobby geradezu liebte und es genoss, diese Kunst weiter zu perfektionieren.

Er löste sich von Ran, hangelte sein Bein über die Lehne und erhob sich. „Nächste Woche bist du dran mit Putzen! Soviel ist klar…“, murmelte er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
 

Putzen… Schuldig machte sich gut beim Putzen, befand Aya. ZU gut, als dass er es selbst übernehmen wollen würde, denn so konnte er sich den anderen Mann in aller Ruhe betrachten. In aller Stille und mit Banshee auf seinem Schoß beobachtete er Schuldig dabei, wie er seine ungeliebte Arbeit verrichtete.

Angezogen, wie Aya auffiel. Schuldig lief sonst immer nackt durch ihre Wohnung… öfter nackt. Besonders nach dem Aufstehen schien das Adamskostüm genug für Schuldig zu sein, während Aya selten nackt schlief… oder durch die Wohnung lief.

Doch in letzter Zeit hatte er nicht viel von Schuldigs Haut gesehen, war dieser doch immer bekleidet gewesen.

In den seltenen Momenten, in denen Aya Schuldig ohne Oberteil gesehen hatte, hatte er jedoch bemerkt, dass dessen Wunden zu silbrigen Fäden vernarbt waren, die sich hell von seiner Haut abhoben… fein nur, doch sichtbar. Die Tätowierung einer Folter, die Aya auch jetzt mit Wut durchzog.
 

Er ließ sich den ganzen Tag treiben von Schuldigs Geräuschen, seinem Handeln und stellte fest, dass Schuldig seine Blumen absichtlich missachtete, so wie sie die Blätter hängen ließen. Wieso standen sie dann hier? Schuldig brachte immer neue an, die meisten auf der Meeresseite… bei ihm. Also waren es seine? Sollte er sich darum kümmern? Aber Schuldig ließ sie doch verdursten…
 

Momentan beobachtete Aya jedoch fasziniert, wie Schuldig seine Playstation aufbaute. Er nannte es Macke, Schuldig Entspannung… und die dazugehörigen Motorradrennen auch, dabei verstand Aya diese Faszination nicht wirklich.

Vor allen Dingen verstand er die Konzentration nicht, mit der Schuldig zu Werke ging… wie die Zunge angestrengt durch die Lippen spitzte und Schuldig die Stirn runzelte… dabei sich selbst auch in die Kurven legte.

Doch es war interessant zu sehen.

Sehr interessant.
 

o~
 

Einige Tage später konnte Schuldig behaupten, dass es Ran besser ging. Er schlief zwar die meiste Zeit des Tages, allerdings ließ er sich nicht gehen und nahm Schuldigs Ratschläge, was das Essen anging, größtenteils an.

Auch was die Körperpflege und… das Pflegen seiner Haare anbetraf. So saß Ran nun im Badezimmer und kümmerte sich darum. Schuldig konnte das Gezeter bis in die Küche hören - die mit dem weitläufigen Wohnraum verbunden war.
 

Er selbst hatte sich daran gemacht und bereitete die Honigbällchen zu, wie er sich vorgenommen hatte. Der Duft von Honig und Mandeln verbreitete sich, während aus den Lautsprechern der Boxen die strategisch geschickt angebracht waren die aktuellen Charts trieben.
 

Als Schuldig die Schlagsahne gerührt hatte und die Bällchen samt Pfanne vom Herd genommen und diesen abgeschaltet hatte, ging er mit seiner Schürze in Richtung Badezimmer um dem jammerndem Elend dort etwas Süßes zu bringen. Seine Hand trug nämlich ein Schälchen mit süßer Sahne.
 

Ja, Aya war wieder in der richtigen Stimmung zum Meckern, besonders, wenn es darum ging, seine Haare zu entwirren, die nach Tagen der Nichtpflege ein Vogelnest nach dem anderen aufboten. Er grollte und rupfte sich das letzte Vogelnest aus den langen Zotteln, wie er hier saß… im Handtuch eingewickelt.

Zumindest hatte er eine seiner Kuren benutzt, die Schuldig ihm nach und nach – aus einem schlechten Gewissen heraus? Aya hoffte es – gekauft hatte.

Eben jener stand nun in der Tür und Aya sah auf.

„Deine Schuld!“, tönte es Schuldig entgegen, nach Tagen der Abstinenz nun indigniert.
 

„Sicher“, antwortete Schuldig nüchtern und lächelte amüsiert. Natürlich war es seine Schuld. Das war genauso als würde jemand sagen: Der Himmel ist blau.

Er ging auf den schmollenden Ran zu, der sich die Holzbank zur Fensterfront gezogen hatte und nun dort mit seinen Haaren beschäftigt saß. Eine ganze Weile schon.

Schuldig tauchte einen Finger in die weiße Süßigkeit und stippte damit sowohl Rans Nase als auch seine Lippen an, bevor er sich rittlings hinter Ran auf die Bank setzte. „Probier mal.“
 

Die Zeit der Ruhe, der Versunkenheit in sich selbst hatte Aya gut getan, sehr gut sogar. Es hatte ihn etwas zur Ruhe kommen lassen, wenngleich er auch immer noch nicht in der Lage dazu war, in die Nähe vieler Menschen zu kommen.

Er sah die Dinge um ihn herum jetzt klarer, mit mehr Bewusstsein dafür, sie nicht einfach auf sich einwirken zu lassen, sondern sie zu verarbeiten.

Es würde werden.

Das sagte er sich immer wieder. Es würde wieder werden… er würde wieder der Alte werden. Er hatte schließlich auch keine andere Wahl, oder nicht?

Mit seiner Zunge stippte er die noch unbekannte Substanz auf seiner Nase an und leckte sie sich von seinen Lippen.

Sahne… süße Sahne. Und dazu der schwache Geruch von Honig und Mandeln.

Aya ahnte etwas und es ließ ihn lächeln.

„Warst du fleißig?“, fragte er und drehte sich zu Schuldig herum.
 

„Sicher. Das fleißige Bienchen“, sagte Schuldig unbestimmt und küsste Ran auf die Nase, nahm somit den letzten Rest Sahne von dort weg.

Er erhob sich und reichte Ran das Schälchen.

„Bleib sitzen. Ich kämm sie dir durch.“ Schuldig ging und holte einen Kamm und eine Schere. Damit kam er zu Ran zurück und setzte sich wieder hinter ihn.

„Kudou hat angerufen. Er kommt später vorbei.“ Schuldig bedeutete Ran sich gerade hinzusetzen und ihm den Rücken zuzudrehen. „Willst du mit ihm ein wenig rausgehen?“
 

Aya sah die Schere… eine SCHERE… mit dieser Schere konnte man Haare schneiden…

Er war gespannt, aber nicht wirklich bereit dafür, dass Schuldig ihm die Haare kürzte, jetzt, wo er sie akzeptiert hatte, auch wenn in ihm ein kleiner, feiner Hoffnungsschimmer aufkeimte.

Er setzte sich brav mit der Schüssel mit dem Rücken zu Schuldig und stippte mit dem Finger hinein.

„Youji kommt?“ Aya erinnerte sich daran, dass er mit dem Mann gesprochen hatte und noch schwächer daran, dass er hier gewesen war. „Spazieren gehen wäre sicherlich gut… aber erst, wenn weniger los ist.“
 

„Er kommt ohnehin erst später.“ Schuldig nahm eine der langen Strähnen und kürze fünf Zentimeter weg, denn die Spitzen sahen etwas mitgenommen aus durch die ständige gemeine Behandlung, die Ran ihnen zukommen ließ.

„Aber er ließ sich nicht davon abbringen zu kommen. Möchtest du ihn denn sehen?“
 

Sein Privatfriseur war wieder im Einsatz…

„Ja, ich freue mich, ihn zu sehen. Aber du willst es nicht, oder?“ Aya wusste um Schuldigs Abneigung Youji gegenüber… ebenso wie er wusste, dass Youji dem Telepathen auch unfreundlich gegenüberstand.
 

„Er nervt.“ Das war alles was er dazu zu sagen hatte. Aber ob es Ran reichte, damit er es richtig verstand?

„Ständig diese Verdächtigungen, dir etwas anzutun, nerven. Ich mochte ihn noch nie, stimmt.“ Schuldig kürzte Rans Haare auf die gleiche Höhe während er redete und zwischendurch die Strähnen glatt kämmte.

„Außerdem sehe ich eine Gefahr momentan im Kontakt zu Weiß. Aber das wiederum ist nichts Neues. Ich gehe das Risiko ein, ihn hierher zu holen. Und… irgendwann muss ich vielleicht die Konsequenzen tragen, wenn er uns durch seine Anwesenheit verrät und dir etwas angetan wird. Oder mir.“ Aber das stand auf einem anderen Blatt.
 

Aya seufzte. Schuldig hatte damit Recht, wenngleich es Punkte gab, die ihn zweifeln ließen.

„Er ist nun einmal misstrauisch dir gegenüber. Es wird sich legen mit den Jahren. Irgendwann… davon bin ich überzeugt.“ Sehr sogar. So sehr, dass er sich Jahrzehnte gab, wenn sie überhaupt so lange lebten.

„Meinst du nicht, dass ich ein ebenso großes Sicherheitsrisiko bin? Auch ich habe keine Fähigkeiten, ich gehe arbeiten, sitze auf dem Präsentierteller, wenn ich im Laugh bin…“
 

„Ran… Weiß sitzen im Koneko nicht nur auf dem Präsentierteller. Jede Organisation im Land weiß, wo sie sind. Manx hat sie immer noch nicht abgezogen. Jeder ihrer Schritte wird beobachtet. Und sie stehen mit uns in Verbindung. Irgendwann wird irgendjemand einen Fehler machen und sie werden uns kriegen.“
 

„Und jede Organisation in Japan weiß, dass ich ein Mitglied ihres Teams war und wer es darauf anlegt, wird sicherlich verfolgt haben, wohin ich verschwunden bin. Schuldig, sie waren in deiner Wohnung, während ich schon im Smile gearbeitet habe… wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie wissen, wo ich bin? Und ich bin ebenso eure Schwachstelle wie Weiß auch.“

Wer wusste es, ob sie nicht schon einen Fehler gemacht hatten… irgendwann, auch wenn alles ruhig war.
 

Schuldig legte die Schere weg.

Er umarmte Ran von hinten und bettete seine Wange an dessen Schulter. „Sicher, Ran. Aber glaube mir, so bekannt war Weiß nicht. Und ich kenne mich damit aus. Ihr wart eine Untergrundorganisation, die nur gegen Härtefälle angegangen sind und niemand wusste von euch. Diejenigen, die es wussten, sind tot oder… sind wir.

Nur… diese neuen Jungs… die haben es in sich. Wir sind vorsichtig, weil es uns selbst betrifft. Aber ob Kudou so vorsichtig ist? Es betrifft ihn selbst nicht. Auch wenn es dein Freund ist. Bei sich selbst ist man vorsichtiger.“
 

„Wir waren jahrelang ein Team, Schuldig. Wir sind es gewohnt, aufeinander aufzupassen und uns gegen äußere Gefahren zur Wehr zu setzen. Außerdem war er ein Privatdetektiv, er kennt sich in dem Metier aus. Vielleicht sogar mehr als wir. Außerdem seid nicht nur ihr betroffen… zwei Mitglieder… oder Ehemalige von Weiß wurden körperlich angegriffen, an Schwarz hingegen haben sie sich noch nicht herangetraut… alleine deswegen sind Weiß schon vorsichtig.“

Aya ließ sich zurücksinken und strich über Schuldigs rechte Hand.
 

„Okay“, lenkte Schuldig ein im Hinblick auf den Richtigkeitsgehalt von Rans Worten, aber auch auf Rücksicht auf seine emotionale Verfassung. Er schwieg ein Weilchen, genoss ihre Nähe.

„Hast du Hunger? Ich habe da zufällig etwas vorbereitet…“
 

„Ist es das, was ich meine zu riechen?“, fragte Aya mit geschlossenen Augen und schnupperte dem Duft nach. Seitdem er wieder etwas aktiver an seiner Umwelt teilnahm, hatte er Hunger. Nicht immer, aber wenn, so kam der Hunger in vernünftigen Schüben und vernünftigen Portionen, die er zu sich nahm.

Ganz unschuldig daran war Schuldig ja nicht, wie er anerkennen musste, da dieser sich in den letzten Tagen geradezu darauf spezialisiert hatte, ihm seine Lieblingsspeisen zu kochen.
 

„Tja~a, was meint der Herr Obergourmet denn zu riechen?“

Schuldig hob den Kopf von seiner gemütlichen Ablage und begann damit Rans Haare flüchtig im Nacken zu flechten und klappte dann die röhrenförmige Metallspange um das kurze Geflecht. So würden die Haare besser halten.
 

„Telepathenbällchen“, kam es prompt vom Pseudogourmet, ernst und auf den Punkt gebracht.

Aya zog sich seine Haare nach vorne und betrachtete sich das Stück Spange, das er sehen konnte. Ein schönes Stück… ein passendes Geschenk.

„Habe ich mich eigentlich schon für deine Spange bedankt?“, fragte er schließlich ab vom Thema Schuldigs Bällchen hin zum Thema, dass er sich wahrlich nicht mehr daran erinnern konnte.
 

„Ja… hast du.“ Schuldig gab Ran einen kleinen Kuss auf die Schläfe. „Du bist nackt wie der liebe Gott dich schuf in die Küche gekommen und hast gemosert und dann hast du dich bedankt.“

Schuldig lächelte breit und umschlang Ran etwas fester, zog ihn ganz nah zu sich.
 

Schuldig eine Hand sanft auf die Haare platzierend, erwiderte Aya dessen Nähegesuch. Er hauchte dem anderen einen Kuss auf die Wange.

„Genauso war es…“ Komisch, jetzt, wo Schuldig es sagte, erinnerte er sich auch wieder daran. Vielleicht war es durch den Zusammenbruch in den Hintergrund gerückt, wie so vieles. Doch mit einiger Disziplin und Konzentrationsübungen, die sie beide in den letzten Tagen praktiziert hatten, gewann Aya mehr und mehr Kontrolle über seine Gedanken und Reaktionen.

Genauso verantwortlich dafür waren sicherlich auch die Katas, die er seit einiger Zeit wieder exerzierte und die ihm Ruhe und Kraft gaben. Vor allen Dingen körperliche Kraft, die er langsam wieder aufbaute und dringend benötigte, stärkte sie doch auch seinen emotionalen Zustand.
 

„Wie fühlst du dich heute?“ Schuldig hatte Ran die letzten Tage nur für sich gehabt. Allerdings war dieser gedanklich die meiste Zeit abwesend gewesen. Nur bei den Meditationsübungen, die er ihm gezeigt hatte, genoss Schuldig die absolute Aufmerksamkeit und Konzentration auf seine Stimme, die Ran ihm in dieser Zeit ungeteilt zollte.

Es war bereits Nachmittag und Kudou würde bald mit seinem Luxuskörper hier aufschlagen.
 


 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für's Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Coco & Gadreel
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Kriegsgefangener

~ Kriegsgefangener ~
 


 


 

„Angenehm entspannt und klar im Kopf“, lachte Aya. Wie es sich anhörte… „Allerdings glaube ich nicht, dass ich nächste Woche schon wieder arbeiten kann.“ Leise Nachdenklichkeit schlich sich in Ayas Stimme. Er wusste, dass er bald wieder zurück ins Laugh musste, aber es gab einige Gründe, die noch dagegen sprachen.
 

„Du brauchst noch ein paar Tage länger…“, dachte Schuldig laut. „Ich kann Gabriele anrufen und nachfragen, wie es aussieht. Während du mit Kudou die Gegend unsicher machst, kann ich ja mal durchklingeln lassen.“ Total harmlos - aber nicht übertrieben brachte er seine Worte vor, mit dem Hauch von Nachdenklichkeit. Also eine gute Mischung, damit niemand misstrauisch wurde - vor allem Ran nicht.

Schuldig löste sich von Ran und stand auf.
 

Aya tat Schuldig den Gefallen und wurde ganz und gar nicht misstrauisch, ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Naturell. Er nickte und sah zu seinem Pendant hoch.

„Wäre nicht schlecht… wenn du ihn anrufst.“ Er wollte es selbst noch nicht, wollte noch Abstand haben. Er erhob sich ebenso und streunte an Schuldig vorbei zur Küche, aus der es so feierlich roch.

„Telepathenbällchen…“, murmelte er für sich. „Hunger!“, lauter dann auch für Schuldig, schon einmal Schälchen aus dem Schrank holend.
 

„DAS hab ich gehört!“ schickte Schuldig Ran nach, bevor er sich an die Anrichte stellte und die Honigbällchen - wie sie vor Kudous Verunglimpfung hießen - begutachtete.
 

Die Bällchen gleichmäßig auf beide Schälchen verteilend, hob Aya spielerisch lachend die Augenbrauen. Er griff zum Honigtopf und verfeinerte die schon leckeren Süßigkeiten mit der zähen Flüssigkeit, bevor er Kokosstreusel darübergab. Die frischen Früchte standen schon auf dem Tisch.

„DU hast sie erfunden, also sind es deine!“ Er trug sie zum Tisch und setzte sich. „Gut, der Begriff stammt von Youji.“
 

Sie hatten sich nämlich zusätzlich zur Theke, die die Küche vom Wohnraum trennte einen Esstisch geleistet, samt schwerer Platte und den passenden Stühlen mit rotem Lederbezug. Die Nähte waren weiß und der Kontrast hatte Schuldig auf Anhieb gefallen.

„Eben.“

Schuldig setzte sich Ran gegenüber und pickte sich eines der Bällchen mit den Fingern heraus und ließ eines komplett in seinem Mund verschwinden. Wie immer… lecker.

Sein Blick fiel auf die Uhr der Überwachungsanlage. So wie er den Kerl kannte, kam der ohnehin früher als geplant.
 

Eben genau jetzt.

Kurz nachdem Youji auf dem Überwachungsmonitor auftauchte, klingelte es und Aya sah auf, gerade eine der Erdbeeren aus einem Früchteschälchen im Mund, die Schuldig extra für ihn besorgt hatte.

Er legte seine Stäbchen beiseite und erhob sich mit einem Lächeln zu Schuldig.

Den Türsummer betätigend wartete er an der Tür auf den blonden Weiß.
 

Und Schuldig blieb mit angewinkeltem Bein unflätig am Tisch sitzen und hörte der Begrüßungszeremonie mit einem Ohr zu, während sich sein Gesichtsausdruck etwas abkühlte. Er versüßte sich den unwillkommenen Besuch mit einer Ananas und dem Gedanken an Rans Lächeln. Es war nichts Aufgesetztes, er tat es gern. Ran war ehrlicher mit sich selbst und das tat Schuldig gut. Er hatte von Anfang an gewusst, dass es besser werden würde.
 

Nach der „Begrüßungszeremonie“ plus dazugehöriger Umarmung führte Aya Youji in die Küche, wo sie schon auf Schuldig trafen.

„Setz dich!“

„Hallo“, grüßte Youji nicht wirklich freundlich, aber auch nicht unfreundlich und ließ sich Schuldig schräg gegenüber am Tisch nieder.

„Willst du etwas trinken? Essen?“

„Ein Kaffee wäre nicht schlecht!“
 

Schuldig nickte lediglich gezwungenermaßen und wollte gerade dazu ansetzen zu sagen, dass er sich den Kaffee selber holen solle, verkniff sich aber den Launekillerspruch und aß an seinem Honigbällchen weiter.

Allerdings hatte Ran kaum etwas gegessen und das lag daran, dass Kudou zu früh gekommen war. Schuldig zog seinen Fuß vom Stuhl und erhob sich. Er ging Richtung freistehender Küchenzeile. „Setz dich, ich mach ihm einen Kaffee. Willst du auch einen… oder ist dir Tee lieber?“
 

„Tee!“, lächelte Aya und ließ sich Schuldig gegenüber nieder. „Wie war die Fahrt hierhin?“, fragte er Youji und dieser zuckte mit den Schultern.

„Mir ist niemand gefolgt… aber es war voll! Noch voller als sonst! Wie geht es euch?“

„Gut… die letzte Zeit war ruhig, sehr entspannt.“ Aya bot Youji Bällchen aus seinem Schälchen an und dieser griff sich eins.

Er schob es sich in den Mund und kaute genüsslich. „Sind das die Telepathenbällchen?“

Aya hob spöttisch eine Augenbraue. Das musste jetzt sein, oder?

„Ja, das sind die Honig-Mandel-Bällchen, Youji“, erwiderte er leicht tadelnd.
 

„Und es sind nicht deine, Kudou“, knurrte Schuldig aus dem Hintergrund. ‚Lass ihn essen, er hat heute noch fast nichts zu sich genommen. Wenn du ihm noch eins wegfrisst, dann fliegst du im hohen Bogen raus.’

Das war die Telepathendrohung zu den Telepathenbällchen.
 

Youji hob eine Augenbraue. Schuldig, die Glucke. Aber ausnahmsweise hatte er ja Recht, Aya sollte etwas essen, wieder gut zu Appetit kommen und wenn es selbst durch diese Bällchen war. Zumal er es ja provoziert hatte.

„Jawohl!“, erwiderte er spöttisch, zog sich aber zurück, lehnte dankend ab, als Aya ihm noch eins anbot.

Aya runzelte die Stirn, besah sich Schuldig. „Schuldig…?“ Hier war doch irgendetwas im Busch… das sah er alleine an Youjis Gesichtsausdruck.
 

Schuldig blickte auf. „Ja? Willst du doch keinen Tee mehr?“ Langsam begann Ran ihm zu schlau zu werden, er kam ihm immer schneller auf die Schliche. Weil Kudou auch immer einen Gesichtsausdruck wie ein Mondkalb machen musste wenn er telepathischen Kontakt aufnahm.
 

Genau das war der Grund, warum Aya immer schlauer wurde.

„Doch, will ich… aber warum will er keine Bällchen mehr?“, fragte Aya mit einem zweifelnden Unterton und einem kritischen Blick in Richtung Telepathen, dann in Richtung Essen.

„Ich bin auch anwesend…“, gab Youji zu bedenken und bekam von Aya den gleichen Blick. „Es ist okay… ich habe keinen Hunger.“
 

„Und warum willst du ihm deine Bällchen geben, wo ich sie für dich gemacht habe?“, gab Schuldig mit fragendem Blick zu bedenken und wandte sich zur Kaffeemaschine um, die gerade die frischen Bohnen gemahlen hatte und stellte zwei Tassen unter.

Rans Tee zog bereits in einer Tasse und wurde von Schuldig bewacht.
 

„Ich will Youji doch nicht alle geben… aber ich finde es unhöflich, ihm nichts anzubieten!“

Da war er, der Gerechtigkeitsfanatiker, dachte Youji so bei sich und stopfte Ran den Mund mit einem weiteren Bällchen, sodass dieser erst einmal beschäftigt war, wütend auf ihn zu sein und sich nicht mit Schuldig über unwichtige Dinge wie sein Naschen zu beschäftigen.

„Iss, Ran, damit du groß und stark wirst!“, sagte er mit einem Herzensbrecherlächeln und lehnte sich zurück.
 

„Du hast ihm schon eins gegeben und er hat keinen Hunger. Damit ist der Höflichkeit genüge getan, finde ich“, sagte Schuldig in freundlichem Tonfall, wandte sich jedoch nicht um sondern arrangierte den fertigen Kaffee samt Löffel, Untertasse, Milch und Zucker zu den beiden an den Tisch.

Rans Tee und sein eigener Kaffee gesellten sich hinzu, bevor er wieder Platz nahm. Banshee kam heran und sprang auf seinen Schoß.
 

Youji klemmte sich jeglichen Kommentar bezüglich Schuldig, sondern vergnügte sich mit seinem Kaffee. Er besah sich die Wohnung und den kommenden Sonnenuntergang. Was wäre er froh, wenn er gleich mit Ran alleine spazieren gehen konnte, ohne Schuldig und seine provozierende Gegenwart.

Aya widmete sich währenddessen ebenso schweigend seinen Bällchen. Er fühlte sich nicht wirklich bemüßigt dazu, ein Gespräch zu beginnen oder zwischen den beiden zu vermitteln… was auch schwer werden würde.

Einzig und alleine Banshee war sehr kommunikativ, wie sie mit Schuldig sprach.
 

Und er mit ihr. Schuldig mochte das Fellknäuel nicht mehr missen, außer wenn sie ihre verrückten fünf Minuten hatte in denen sie kreuz und quer durch die Wohnung jagte und sich die, durch die Vorhänge bewegende Schatten fing.

Momentan jedoch war sie unter seiner Hand sehr ruhig und verschmust. So streichelte er sie mit der einen und aß seine Honigbällchen mit der anderen Hand.

Sie mochte den bösen Kudou auch nicht… redete er sich ein. Aber er redete es auch ihr ein, in leisen Zwiegesprächen, die sie gehabt hatten hatte er ihr immer wieder erzählt, wie niederträchtig, böse und gemein der Blonde war. Und wie schlecht er für Ran war.
 

Von alledem nichts wissend, beendete Aya sein Mahl und stellte schließlich alles sorgsam in die Spülmaschine. Die Luft wurde ihm hier bei weitem zu dick für sein Wohlbehagen und er nickte Youji zu.

„Lass uns spazieren gehen.“ Nur raus aus der Wohnung, ganz raus. „Kommst du klar?“, fragte er Schuldig mit einem Augenzwinkern. Natürlich würde der Telepath alleine fertig werden… es sei denn, ihn packte die Eifersucht.

„Gut, lass uns los!“ Auch Youji erhob sich jetzt und ging ohne viel Federlesens zur Garderobe im Flur. So lauschig es in der Küche auch gewesen war, so sehr drängte es ihn jetzt in die sichere Umgebung von Schuldig weg.
 

„Geht nur“, sagte Schuldig leise und winkte den beiden zu, mit Banshee auf dem Schoß. „…bevor ich zum Tier werde, har har har“, witzelte er mit gelangweilter Mimik und blickte wieder auf ihren Katzenteenie hinab. „So, jetzt sind wir alleine und die bösen Weiß sind weg und jetzt sind nur noch wir zwei da um das Schiff vor dem Sinken zu retten.“ Sein Blick kreiste in der Wohnung umher, bis er sich an der Playstation verfing…
 

Schuldig zockte ein kleines Weilchen, bevor ihm einfiel, dass er die ‚Ran-lose’ Zeit nutzen konnte um bei dessen Arbeitgeber vorzusprechen.

Er hangelte sich das Telefon heran, platzierte das Headset ordentlich, bevor er die Nummer wählte, die er über Nagi herausfinden ließ. Die Privatnummer von Gabriele, der, wie er wusste, im Smile war.

Seine Frau jedoch war zuhause, denn sie musste das Bett hüten um ihr Ungeborenes nicht zu gefährden.
 

Schuldig wählte über eine sichere Verbindung die Nummer und wartete bis sich Yuki am Telefon meldete.

Ein wenig den Irritierten mimend meldete sich Schuldig verzögert und entschuldigte sich sogleich…

„… dachte ich, dass es die Nummer des Smiles wäre. Es tut mir wirklich Leid, sie zu stören. Gabriele Amerati ist nicht zufällig zuhause?“
 

Schuldig wusste, dass Gabriele seiner Frau von Rans Zustand erzählt hatte - wie es brave Ehemänner so taten.

„Nein, nein, er müsste im Smile sein. Kann ich ihnen irgendwie helfen? Geht es um Fujimiya Ran?“
 

„Ja. Das tut es tatsächlich. Ihm geht es wesentlich besser, jedoch braucht er noch ein paar Tage länger um auch unter Menschen sein zu können. Ich wollte Gabriele bitten, ihm noch eine Woche zu geben.“
 

Yuki schwieg einen Moment, den Schuldig dafür nutzte in ihre Gedanken zu gelangen. Sie mochte Ran und sie fand ihn gut als Aushängeschild des Laughs.

„Das ist schwierig. Wir können nicht so lange auf ihn verzichten.“
 

Schuldig gab ihr einen kleinen Schubs in die wohltätige, sanfte Richtung. Suggerierte ihr, wie schade es doch wäre, wenn dieser junge Mann auch noch seine Stelle verlieren würde zusätzlich zu seinem jetzigen Zustand.
 

„Ich verstehe, dass er seine Kollegen mit seiner Abstinenz enorm belastet und dass sie die Arbeit für ihn mitmachen müssen. Aber eine Woche wäre wirklich das Maximum.“
 

„Ja… ja… eine Woche wäre wirklich nicht ganz so schlimm. Ich spreche mit meinem Mann.“
 

Sie tauschten noch ein paar höfliche Floskeln aus und Schuldig verabschiedete sich dann mit dem guten Gedanken daran, dass sie die Dinge mit Gabriele schon richten würde. Dennoch musste er natürlich in zwei Tagen bei diesem persönlich anrufen.
 

o~
 

„Ich mag ihn nicht.“

„Ich weiß.“

„Ist ja auch nicht zu übersehen.“

„Nein, das ist es nicht.“

„Aber dir gefällt es nicht.“ Youji seufzte.

„Natürlich nicht, wie denn auch? Ich mag euch beide, nur ihr mögt euch nicht.“ Ayas Blick war ernst, streng gar, auch wenn ein latenter Schimmer Hilflosigkeit durchaus vorhanden war. Wie immer, wenn es um besagte Youji-Schuldig-Thematik ging.

„Er ist der Neue… der zukünftige Schwager, Ran. Da ist man immer strenger, wenn man sich Sorgen macht. Besonders, wenn es sich um Schuldig handelt. Er war unser Feind und er hat dich nicht gut behandelt.“

Nun war es an Aya zu seufzen. Sein Blick schweifte in die Umgebung, die sie auf seinen Wunsch hin bewusst menschenleer gewählt hatten. Gut... nicht ganz so voll wie der Rest von Yokohama. Das machte es für sie beide auch einfacher, wachsam zu sein und auf jede Regung zu achten, die ihnen gefährlich werden konnte. Das machte es für ihn einfacher, den anderen, vereinzelten Menschen zu begegnen.

„Er ist aber nicht mehr unser Feind.“

„Doch er war bereit dazu, dich umzubringen. Und dir wehzutun.“

„Er ist es nicht mehr.“

„Kann man das einfach so auslöschen?“

„Das Thema hatten wir doch schon, Youji… Liebe macht grausame Dingen mit Menschen… aber auch wunderliche. Sieh ihn dir an. Er ist kein Arschloch…“ Aya überdachte es einen Moment lang und fügte dann für Youjis Seelenfrieden versöhnlich an: „Kein so großes mehr. Und er würde mich im Leben nicht verletzen.“

Youji grollte und grub seine Hände in die Hosentaschen.

„Gut… dann ist er eben ein verliebter Trottel!“ Er brauchte diesen Ausdruck, um sich besser zu fühlen, weil ihm ein verliebter Schuldig zu abstrus schien.

Aya schnaubte. „Aber er ist mein verliebter Trottel.“

„Und wo hat uns das hingebracht? Weiß wird angeblich überfallen, weil Schwarz das Ziel einer noch unbekannten Gruppierung ist!“

„Das ist unfair.“

„Ich weiß, aber es STIMMT! Wir wären nie überfallen worden, hätten wir keine Verbindung zu ihnen!“

Aya schwieg für einen Moment. Youji sagte das Gleiche wie Schuldig und zugeben, vermutlich hatten beide Recht. Doch würde sie das auseinandertreiben? Nein.
 

„Wir müssen das gemeinsam durchstehen“, führte Aya etwas schwach an und Youji gab ein zustimmendes Geräusch von sich, das jedoch von Zweifeln durchsetzt war.

„Daran besteht kein Zweifel. Doch wir müssen hier weg, Ran. Zumindest Weiß muss Japan verlassen… und dazu existieren schon Pläne.“

Aya sah überrascht auf. „Was?!“ Das war ihm neu… das war ihm nicht recht, er wollte nicht, dass sie gingen! Er wollte nicht… alleine sein, ohne die Freunde, die mittlerweile seine Familie geworden waren. Doch wie töricht war er, das bis jetzt verdrängt zu haben? Zu ihrer eigenen Sicherheit hätten sie schon längst untertauchen sollen. Schon längst.
 

„Ja. Manx hat letztens eine Andeutung gemacht. Wir sollen Japan ganz verlassen um uns in Sicherheit zu bringen. Anscheinend will sie uns doch nicht opfern.“ Ayas Blick verriet Youji, dass es ihm überhaupt nicht recht war, doch was sollte Youji tun? Hierbleiben und letzten Endes doch noch sein Leben riskieren? Er wollte Aya sehen, ja, aber nicht zum Preis seines Lebens… nicht zum Preis eines himmlischen Wiedersehens.

„Es tut mir Leid, Ran. Aber ich befürworte diese Möglichkeit. Wer weiß, was sie sonst noch mit uns anstellen…“
 

In Ayas Blick schlich sich Sanftheit. „Wie geht es dir, Youji? Ehrlich?“

„Besser als dir, Ran. Es geht schon. Es muss gehen. Wenn wir sie gestellt haben, dann kann ich über eine Verarbeitung nachdenken.“

„Es belastet dich.“

„Ja, das tut es, aber ich konzentriere mich auf das Wesentliche: diese Scheißkerle zu fassen und umzubringen.“

„Wir haben keinen Anhaltspunkt… gar nichts. Nagi hat schon gesucht, Crawford hat auch nichts, Schuldig und ich ebenso nicht. Sie sind unsichtbar.“ Ayas Stimme glitt in die Nachdenklichkeit ab. „Die einzigen vier, die mit dieser Gruppierung Berührungspunkte hatten, waren Schuldig, Jei, du und ich. Ich habe nicht viel erfahren, Schuldig und Jei auch nicht… du ebenso nicht. Oder? Oder hast du etwas vergessen, irgendetwas vielleicht, eine Kleinigkeit, die wichtig sein könnte?“
 

Youji grübelte. „Nein, ich habe nichts an ihnen erkennen könnten, nichts, was sie ausgezeichnet hätte… gar nichts.“

„Was haben sie denn gesagt?“

„Nicht viel… nur unwichtige…“, …verletzende… „Dinge.“

„Kannst du dich an den genauen Wortlaut erinnern? An irgendetwas?“

Eine Weile schwieg Youji, eine sehr lange Weile. Seine Augen huschten über den Asphalt der Straße, als er in Gedanken all das durchging, was Aya verborgen geblieben war.

„Sie waren spöttisch…“, begann er schließlich. „…haben nichts und niemanden ernst genommen und die Anführerin… die Schlampe… sie hat komisch gesprochen, akzentuiertes Japanisch. Sie hatte einen sehr starken Akzent.“
 

Das war… besser als gar nichts. Das war sogar definitiv besser als gar nichts.

„Weißt du, welche Nationalität?“, fragte Aya hoffnungsvoll, die Information bereits abspeichernd.

„Es klang hart vom Klang her. Herrisch und kalt… so ähnlich wie Schuldig damals vor ein paar Jahren. Wo wir ihnen das erste Mal begegnet sind, weißt du noch? Sie klang… ähnlich.“

„Du meinst also eine Deutsche?“

„Keine Ahnung. Ich kann es nicht genau sagen!“ Youji raufte sich verzweifelt die Haare. „Ich kann so wenig genau sagen!“

„Entspann dich, Youji… lass dich davon nicht aus der Ruhe bringen. Denk einfach an das, was dir noch einfällt.“
 

Wieder herrschte für einen Moment lang Schweigen, bevor Youjis Augen sich abrupt hoben. „Gott… Ran… ich habe in der Tat was vergessen, was Wichtiges! Verdammt!“ Seine Augen brannten sich in die des rothaarigen Japaners.
 

„Diese Schlampe… kurz bevor Jei sie getötet hat“, kurz bevor sie ihn vergewaltigt hätte, „...hat sie gesagt: „Bestelle mir schöne Grüße an meinen Ne…“…und da hat Jei sie erschossen. Ich weiß nicht, wen sie damit meint… ich habe es vergessen, einfach vergessen! Wieso vergesse ich so etwas Wichtiges?!“
 

Aya umfasste Youji und zog ihn kurz an sich, ein Bekunden von Freundschaft, das er sich nicht oft in der Öffentlichkeit erlaubte. „Ist in Ordnung, Youji, wirklich… ganz ruhig. Es ist doch gut, dass es dir eingefallen ist! Beruhige dich!“

Was sollte das heißen? ‚Bestelle schöne Grüße an meinen Ne…’ An wen? Wer war das? Wieso kannte sie diese Person? Doch alleine die Tatsache, dass sie einen deutschen Akzent hatte, war AUFFÄLLIG, mehr als das!

„Youji, das sind Informationen, mit denen wir sehr viel anfangen können, egal, wann sie kommen!“
 

„Aber was, wenn es zu spät ist und sie noch jemandem von uns etwas tun?“, fragte Youji verzweifelt und seine Augen suchten Rans, begegneten dort gelassener Ruhe.

„Nein, es ist nicht zu spät. Wir schnappen sie, bevor sie noch weiteren Schaden anrichten können, hörst du?“ Da war mehr Zuversicht in seinen Worten als Aya wirklich fühlte… doch es würde werden, es MUSSTE werden.
 

„Ich habe Angst, Ran, dass sie uns wirklich gefährlich werden können.“

„Ich auch… aber wir haben jahrelang überlebt. Warum sollten wir diese Herausforderung nicht überleben? Vor allen Dingen, da wir jetzt Unterstützung haben.“ Leicht gesagt.

„Du hast Recht…“

Youji wollte sich beruhigen lassen, doch das war in Ordnung so. Aya sah es lieber, wenn der andere Mann einen klaren Kopf behielt, als wenn er völlig neben sich stand.

„Lass uns zurückgehen, Youji. Es wird Abend… und kälter.“

Ein stummes Nicken erfolgte.
 

o~
 

Die Musik gipfelte in stakkatoartigen Beats, bevor sie wieder in sphärenhafte Trance überging. Das Licht folgte und die Atmosphäre wechselte von heftigem Blitzgewitter zu psychedelischem Violett und Rot.

Sie waren alleine auf dem Feld. Zwölf Spieler hatten sie schon ins Aus befördert und nur sie waren als einzige übrig geblieben. Der künstlich aufgeworfene Sandhügel, an dem Nagi lehnte und der ihm Deckung vor dem Feind bot leuchtete in diffusem Rot, bedingt durch das Licht.
 

Nagi hörte ein verdächtiges Geräusch und schob sich weiter über den Sandhügel voran. Seine Schutzmaske schränkte ihn mehr ein, als wenn er sie nicht tragen würde.

Er repertierte den Markierer und schoss.
 

Das Zischen der mit Lebensmittefarbe gefüllten Kugel über seinen Kopf hinweg ließ Omi sich ducken und hinter der metallenen Tonne zurückrollen, von der er gerade einen Sprung hatte wagen wollen.

Exakt zwei Spieler waren sie noch, Nagi und er und sie bekriegten sich in gewohnt professioneller Manier, sich keinen Zentimeter schenkend, keine Gnade zeigend, beide absolut ehrgeizig in ihrem Tun.

Omi sah kurz dem Geschoss hinterher, das sich in einen der Sandhügel gebohrt hatte und warf einen Blick nach links. Dort hatte er ebenso viel Deckung und ein besseres Schussfeld auf den letzten, verbliebenen Opponenten.

Er sprintete über das Dröhnen der Musik hinweg los, seinen Markierer im Anschlag und bereit zu schießen.
 

Allerdings sah Nagi den Angriff kommen, duckte sich nach hinten weg und kroch in eine der halbhohen Röhren.

Die innere Aufregung hielt ihn noch immer wie zu anfang des Spiels gefangen. Das lag aber zum großen Teil daran, dass er Angst hatte, im Eifer des Gefechts die Kontrolle über seine Fähigkeiten zu verlieren.

So war dieses Paintballspiel eine durchaus gute Übung für ihn.

Ihn juckte es sprichtwörtlich in den Fingern, vielmehr Händen einen leichten Sieg herbeizuführen. Allerdings übte er sich in Beherrschung. Es ging schon lange nicht mehr wirklich darum die Hauptaufgabe des Spiels zu lösen, vielmehr bekriegten sie beide sich schon eine geraume Weile ohne einen Treffer zu erzielen.

Nagi hatte den Verdacht, dass die anderen Spieler, die sie hinausbefördert hatten bereits gegangen waren.
 

Den Verdacht hatte Omi auch, doch momentan war er zu sehr damit beschäftigt, einen Schuss auf Nagi abzugeben, den er gerade noch in seinem Blickfeld gehabt hatte. Doch der Schuss ging ins Leere und Omi lud nach.

„Komm zu Papa…“, tschilpte er leise für sich und grinste. Paintball machte Spaß und es machte noch mehr Spaß, es mit Nagi zu spielen, da dieser ebenso gut, wenn nicht sogar besser war als er!
 

Vor allem, wenn bedacht wurde, dass Nagi dieses Spiel noch nie zuvor gespielt hatte, sich aber die Regeln und den Spielablauf wiederholt durchgelesen hatte.

Er fand nur die Ausrüstung etwas lästig – nötig, aber lästig.

Möglichst ruhig und flach lag er im Schatten der Wölbung des Rohres und beobachtete die feindliche Aktivität im Umfeld. Noch hatte Omi Nagi nicht entdecken können.
 

Doch dieser hatte die Röhre, in der sich sein Ziel befand, schon auserkoren und suchte nun einen geeigneten Weg, Nagi aus seinem Versteck zu treiben.

Omi hatte jedoch das Pech auf seiner Seite, denn er konnte sich nicht gefahrlos zur nächsten Deckung begeben, ohne höchste Gefahr zu laufen, dass er sich selbst opferte.

So beschloss er, Nagi mit einer etwas… plumpen Taktik aus seinem Versteck zu treiben und schoss gegen die Röhre.
 

Gerade jetzt war es an Nagi beide Seiten der offenen Röhre in Augenschein zu nehmen. Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig dass Omi entweder von der einen oder von der anderen Seite kam. Jetzt hinauszugehen wo sein Versteck gefunden worden war, wäre glatter Selbstmord.

Er würde abwarten.
 

Für ein paar trancebegleitete Minuten tat sich rein gar nichts… und Omi wartete weiter und weiter… um dann plötzlich wieder vorzupreschen und zu seinem alten Versteck zurück zu kehren. Dadurch war er zwar weiter von Nagi entfernt, hatte aber mehr Möglichkeiten, die er nun auch ausgiebig nutzte, sodass er letzten Endes in schräger Schussbahn zu Nagi stand.
 

Jedoch hatte Nagi einen Schatten wahrgenommen, zu seiner Linken, etwas weiter entfernt. Er musste seinen Platz verlassen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte abgeschossen zu werden.

So robbte er auf dem schattigen Boden der Röhre auf der anderen Seite nach draußen und über den Boden mit einer Rolle hinter den nächsten Sichtschutz der eine mannshohe Kiste darstellte. Dieser schloss sich mehrere übereinandergestapelte Lagerpaletten an, auf die er nun kletterte. Und da war Omi auch schon… er hatte tatsächlich auf ihn gelauert.
 

Nagi wollte sich nicht zu früh freuen, ging wieder in Deckung und machte sich daran eine bessere Schussposition zu erlangen.
 

Omi suchte sich eine erneute Deckung und war nun in direkter Schusslinie zu Nagi, doch dieser hatte sein Versteck verlassen… verwaist lag es vor ihm und Omi fluchte wortgewandt. Wieso hatte er gerade nicht richtig aufgepasst?

Er sah sich um und blieb am nächstmöglichen Versteck des anderen hängen.
 

Nagi hatte sich jedoch gerade von seinen Paletten herabbequemt, als er Omi sich an sein ehemaliges Versteck anpirschen sah und empfing ihn mit einer Ladung Farbe, als dieser sich zu ihm umdrehte.
 

Sich gerade noch selbst für den finalen Schuss vorbereitend, wurde Omi nun von Nagis letztem Schuss getroffen. Die Überraschung tat ihr Übriges und Omi strauchelte rückwärts, setzte sich recht unsanft auf seinen Hosenboden.

Verdammt!

Scheiße!

Er grollte durch den Helm und sah an sich herunter… sah, dass mitten auf seiner Brust ein fröhlich gelber Farbklecks prankte, der wehtat!
 

Was Nagi dazu brachte sich erst zögerlich in Bewegung zu setzen dann jedoch bis zu Omi zu kommen und sich dann den Helm abzuziehen. Seine Haare standen wirr umher, im Nacken verschwitzt, an der Stirn ebenso.

Doch seine Augen leuchteten und seine Wangen waren leicht gerötet. „Ich habe Gefangene gemacht. Einen um genau zu sein“, resümierte er mit einem angedeuteten Lächeln.
 

Durch die Dämmung des Helmes das Gesagte nur dumpf verstehend – aber dennoch zur Kenntnis nehmend – zog Omi seinen Helm ab und grinste schräg, kurz nachdem er geschnaubt hatte.

„So, hast du?“, fragte Omi frech und seine Augen funkelten vor Unternehmungslust. „Welch schreckliches Schicksal erwartet deinen Gefangenen denn nun?“
 

Diese Frage war vorauszusehen. Aber bevor Nagi antworten konnte, machte sich sein Magen bemerkbar und gab die Antwort anstatt seiner.

Ein wenig röter im Gesicht zuckte Nagi mit den Schultern. „Ich denke, das sagt alles, den gut angerichteten Appetitanreger mimst du ja gut.“
 

„Soso… bei dieser Art von Appetit knurrt also dein Magen? Sehr interessant… dann musst du ja jetzt sehr viel Appetit besitzen?“, grinste Omi schelmisch und streckte Nagi eine Hand entgegen. „Du bist wirklich gut in diesem Spiel!“
 

Nagi nahm Omis behandschuhte Hand und half ihm hoch. Durch die Spannung, die sie beide aufbrachten bei diesem Ziehen stand Omi ganz dicht vor ihm und Nagi besah sich dessen Lippen, korrigierte jedoch hin zu den Augen. „Ja? Findest du? Anfängerglück.“

Es dauerte zwei Sekunden, bis sich ihm die Tragweite dieses letzten Wortes offenbarte und sich ein durchaus berechnendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
 

„Wie, ANFÄNGERGLÜCK?!“

Die Tragweite der geäußerten Worte erschloss sich nun auch Omi, der natürlich prompt motzte. Anfängerglück? Hieß das, dass er hier von einem GREENHORN besiegt wurde?

Omi grollte!

Das schrie nach Strafe!

Ganz gewaltig! Rache gar! RACHE! Er, ein absoluter Profi...das ging an seine japanische Mannesehre!

Omis Rechte schlich sich zu Nagis Nacken und packte zu, während er den anderen zu einem innigen Kuss an sich zog, ihn anstelle dessen aber zwickte. „So, Strafe muss sein!“
 

Nagi, ganz Herr der Lage, griente weiter und zog lediglich seine Lippe zwecks Beschwichtigung ein wenig nach innen und sah dabei aus, als könne er sich das lauthalse Lachen nicht mehr verkneifen. Was natürlich nicht der Fall war. Nagi lachte nicht derart ausfallend. Das hatte er noch nie getan und würde er auch nie tun.

„Beim nächsten Mal gewinnst sicher du!“, orakelte er und wagte eine feuchte Berührung seiner Lippen und seiner Zunge mit Omis.
 

„Blödmann“, nuschelte Omi, ließ Nagi jedoch höchst willig in seine heimischen Gefilde, lockte ihn gleich noch tiefer.

„Wir sollten uns etwas zu essen besorgen und uns dann in etwas Bequemeres zurückziehen… was meinst du?“, murmelte er.
 

„Sollten wir.“ Nagi löste sich von Omi und sie strebten die Umkleiden an. Es war Abend und Nagi spürte den Hunger nach etwas zum Essen in sich, aber auch den Hunger nach Nähe.

Er fühlte sich nicht wohl, als er sich aus der Schutzkleidung schälte und seinen Pullover überzog, denn er war völlig verschwitzt.

Hier gab es zwar Duschen, aber er wollte sich hier nicht ausziehen, vor allem, weil bereits die nächsten Spieler hereinströmten und ihnen überhebliche Blicke zugeworfen wurden. Die Gruppe sah aus, als wären sie erfahrene Spieler und sie begrüßten sich überschwenglich. Nagi beeilte sich aus der Umkleide zu kommen.
 

„Lass sie reden, sie haben keine Ahnung“, lächelte Omi Nagi zu, als er sah, dass dieser einen Zahn zulegte und sich von den Neuankömmlingen verunsichern ließ.

Er selbst stieg gemächlich in seine Sachen und packte den Rest in seine Sporttasche. Sollten sie lästern. Sie wussten, was sie voneinander zu halten hatten, ohne Wenn und Aber. Sie wussten, was die anderen nicht wussten, dass sie Killer waren, und das hob sie von den anderen ab, aber ganz gewaltig.

Zumindest sagte das Omis arrogante Seite.

Er schulterte die Tasche und lächelte Nagi zu…seinem nachlässigen Wächter, der es ja gar zu provozieren schien, dass ihm sein Gefangener entwischte.
 

Nagis Gesicht trug die für ihn übliche Ausdruckslosigkeit als Omi zu ihm an die Doppeltür kam und sie die Umkleide verlassen konnten. Am liebsten hätte er einen dieser Spieler gegen die nächste Wand befördert, oder wahlweise eine der schweren Deckenlampen für ihn heruntergeholt.

„Hattest du kein dringendes Bedürfnis nach einer hygienischen Säuberung? Es wäre kein Umstand für mich gewesen auf dich zu warten.“

Er sagte dies mit einem Seitenblick zurück, bevor der Gang eine Biegung machte und sie an der Kasse vorbei zum Ausgang kamen.
 

„Ich dusche lieber im Privaten… man weiß nie, was man sich in solchen Sanitäranlagen holen kann! Wir könnten ja gemeinsam duschen, was hältst du davon? Das spart Wasser!“ Vor allen Dingen, da es ihnen auf das Sparen ankam… doch irgendeinen Grund musste Omi ja vorschieben… nun gut, von müssen war keine Rede.

„Wir könnten wegfahren oder Urlaub machen… irgendwohin… einfach zum Duschen“, lachte er.
 

Sie stießen die Glastüren des Fitness und Sportclubs auf und traten in die milde Abendluft hinaus.

Nagi blieb stehen, machte jedoch einer Frau platz die mit ihrer Sportasche in das Sportzentrum wollte. Er wischte sich die in die Stirn gefallenen feuchten Haare aus der Sicht.

„Ich gehöre nicht gerade zu den spontanen Menschen, Omi“, bemerkte er und sah seinen Gefangenen offen an. Aber… die Verlockung war groß, vor allem im Hinblick darauf, dass er sich… in ihrem neuen Unterschlupf nicht nur durch die Abstinenz von Brad alleine gelassen fühlte.
 

„Denk nur mal daran, dass wir uns ein lauschiges Hotel suchen… nur wir beide in einem gemütlichen Zimmer und nicht in einer so ungemütlichen Kaschemme wie euer Haus! Vielleicht auch noch mit heißen Quellen und den dazugehörigen Affen! Trotz aller Unspontanität!“ Omi seufzte und warf einen Blick zu Nagi… gekonnt von unten, sich dabei zunutze machend, dass der andere größer war als er.
 

„Unser jetziges Domizil…“, fing Nagi an, ohne auf die manipulativen Gesten Omis einzugehen, den einzigen Ort zu verteidigen, an den er momentan gehen konnte, hörte aber mitten im Satz auf.

Es war ungemütlich in ihrem Haus, aber das lag daran, dass sie nicht wussten, wie lange sie dort bleiben konnten. Ein Gefängnis waren diese Wände.

Doch er konnte sich auch nicht seiner Verantwortung entziehen. Er zögerte noch…
 

„Es schadet nicht, ein wenig Abstand zu gewinnen und ein wenig Gemütlichkeit in dein Leben einziehen zu lassen“, lächelte Omi und eine vorwitzige Hand tatschte auf Nagis Hintern, bevor Omi sich umdrehte und ein paar Schritte ging.

„Außerdem würde ich mich freuen, mal länger als nur ein paar Stunden mit dir zu verbringen!“
 

Nagi hatte nicht bemerkt, dass er bei seinen Grübeleien den Kopf leicht gesenkt hatte, doch als er die feste Hand auf seinem Gesäß spürte, blickte er auf und die Hitze, die durch ihn strömte, ließ ihn schlucken. Begehren… es war Begehren, das er bei Omi spüren und sehen konnte. Er wurde begehrt.
 

Nagi setzte sich langsamer in Bewegung, zog sein Mobiltelefon hervor und wählte Brads Nummer. Die Menschen um sie herum nahm er nur marginal wahr, da ihn die Aussicht auf das vielleicht Kommende zu sehr in Aufregung versetzte.

Es war gegen zehn Uhr.

Brad nahm ab und Nagi sagte ihm, dass er bis morgen Abend unterwegs sein würde. Vor allem, dass er nicht in kurzer Zeit zurückkommen konnte, falls ein Notfall eintrat. Brad nahm diesen Umstand zur Kenntnis und Nagi war beruhigt und zugleich erleichtert, dass ihm kein Verbot auferlegt wurde, sondern wegfahren konnte.

Nachdem er aufgelegt hatte, schloss er zu Omi auf, das Mobiltelefon noch in der Hand, der Anhänger kokett daran baumelnd.

„Gut, ich bin bereit“, sagte er eine Spur zu nüchtern.
 

Omi sah zurück und hatte wie eine neugierige Katze den baumelnden Anhänger am Handy des Schwarz ins Auge gefasst. Er musste lächeln, als er sah, was es war.

Ein kleiner Elefant.

Es passte… es passte einfach!

Omi haschte danach und nutzte die Gelegenheit, um Nagi nah zu sein.

Nagi freute sich, das wusste Omi, auch wenn dieser ganz und gar nicht erfreut klang… so zog er den Telekineten schier zu seinem momentanen Mietwagen, einem schnittigen Nissan im guten Alter von 12 Jahren, der alles war, nur nicht leise. Unauffällig, ja. Abgewrackt, ja. Aber die Geräuschkulisse übertönte selbst das Radio.

„Irgendwelche Präferenzen, wohin du mich entführen könntest, oh dunkler, böser Nagi?“
 

„Du schmeichelst mir“, meinte Nagi mit hauchdünnem, ironischem Unterton, ohne eine Miene zu verziehen. Er errettete seinen Mobiltelefonanhänger, der ein Geschenk von Schuldig war, vor dem feindlichen Zugriff und steckte ihn samt dem Telefon in seine Jackentasche.

„Nein“, antwortete er auf Omis ursprüngliche Frage, als sie die Taschen in den Kofferraum des Wagens legten.

Er trat einen Schritt zurück, damit Omi die Klappe schließen konnte. „…ich habe mich stets den anderen angeschlossen. Ich habe keine Präferenzen.“
 

„Gut, dann fahren wir nach Beppu. Das ist ungefähr 400 Kilometer von hier entfernt… ich kenne da ein schönes, ländliches Hotel mit heißen Quellen – und Affen. Sehr entspannend, genau das Richtige für uns beide.“ Ihr Gepäck sicher verstaut, ging Omi zur Fahrertür und stemmte sie auf.

Er hoffte, dass Nagi seine Tür leichter öffnen konnte, hatte aber nicht viel Hoffnung darauf… wurde sie doch auch bald zerstört.

Sie fuhren nach einigen Startschwierigkeiten los und Omi stellte sehr schnell fest, dass er ganz und gar nicht nach Beppu fahren wollte… er wollte fliegen… das wäre weitaus einfacher, würde sie weniger Nerven kosten und kürzer dauern!
 

„Fahren?“

Nagis sanftes „Nachhelfen“ öffnete die Tür ohne große Kraftanstrengung. Er war schon besser geworden, was die subtilen Wirkungsweisen der Telekinese anbetraf.

Er setzte sich in den Wagen, schloss die Tür mit einem lauten Geräusch und schnallte sich an.

„Dahin brauchen wir mindestens sieben Stunden.“ Er überdachte den Zustand des Wagens…

„Wenn wir überhaupt ankommen.“
 

„Ja, wenn!“, orakelte Omi dunkel und grollte. „Ich wäre für’s Fliegen, was meinst du?“ Sehr utopisch, aber auch sehr spontan… so sie denn einen Flug bekamen. Zumindest wären sie sicherer und schneller an ihrem Bestimmungsort.

Sie ruckelten über die schlecht ausgebauten und kaputten Straßen, durchgeschüttelt vom unzähligsten Schlagloch.
 

Nagi zog sein Mobiltelefon - ein kleiner Alleskönner - hervor und ging damit ins Internet um sich die Flüge anzusehen.

„In circa 90 Minuten geht ein Flug… nach… Oita.“ Es dauerte etwas, bis er den richtigen Ort dafür gefunden hatte.

„Danach sollte es noch einen Bus geben, der uns nach Beppu bringt. Sofern noch einer fährt.“
 

Omi grübelte.

„Ansonsten nehmen wir uns ein Taxi… also gebongt?“ Er lächelte schelmisch, große Lust verspürend, verrückte Dinge mit Nagi zu tun… zu fliehen vor ihrem Alltag.

„Schaffen wir es denn bis dahin… aber so verschwitzt wie wir sind? Ohne Klamotten?“ Er rümpfte die Nase. Oh ja… wirklich verschwitzt.
 

Das hatte Nagi nicht bedacht, auch wenn er die Kühle des Abends deutlich fühlte, so war ihm dies noch nicht zu dringlich erschienen. Noch spukte sein schlechtes Gewissen wegen seines Wegganges als Problem im Hintergrund seines Bewusstseins umher.

„Das habe ich nicht bedacht.“ Wenn er jedoch nach hause fuhr… dann. „Wir könnten uns dort etwas kaufen… morgen.“
 

„Oder wir fahren schnell nach Hause, laden unsere Klamotten ein und ab zum Flughafen… kannst du die Tickets damit auch buchen?“

Omi hatte da schon so eine Idee, aber die bedurfte dem heimischen Kleiderschrank… ganz ganz dringend. Er fand immer mehr Gefallen an der Idee ihres Pseudoaufbruches… vielleicht, weil es genau das war, was ihm seit Jahren fehlte.
 

„Ich könnte mit diesem Mobiltelefon die nationale Sicherheit gefährden, oder Daten der Tokyoter Bank entwenden. Ich denke… ich kann auch einen Flug buchen.“ Nagis trockene beiläufige Worte, während er eben dies tat - einen Flug für sie buchen, wurden von ihm gemildert, als er sich bewusst wurde, wie Omi seine Worte auffassen konnte und er aufblickte und ein angedeutetes Lächeln seine Lippen umspielte. „Aber ich habe es noch nicht ausprobiert.“
 

„Was, einen Flug zu buchen oder das andere? Wobei ich dir jetzt völlig frei unterstelle, dass du ersteres definitiv schon einmal getan hast!“

Omi prustete beim Gedanken daran und musste wirklich herzlich lachen.

Herrlich!

Ein Genie im Alltag…ja, das war Nagi. Denn auch den Alltag musste man lernen!

„Du bist eine Marke…“
 

Dies bedurfte nun wirklich keiner Antwort.

„Die Tickets sind reserviert, die Abbuchung findet statt.“ Nagi surfte weiter und suchte nach Bus-verbindungen ab ihrem Landezielort.

„Du kannst mich dann absetzen, ich warte in der Nähe“, sagte er, als er aufblickte und sie in Richtung Koneko fuhren.
 

„Wie wäre es, du holst mich mit dem Taxi von einem bestimmten Treffpunkt ab und wir fahren gemeinsam zum Flughafen?“, schlug Omi vor, in Gedanken bereits bei seinem Vorhaben. Er suchte den Blick des anderen, der schon wieder in recht emotionslose Professionalität gefallen war… doch Omi hatte seine Tricks, wie er Nagi hervorlockte.
 

„Hattest du vor alleine zum Flughafen zu gelangen?“, hakte Nagi nach und wieder spielte dieses Lächeln um seine Mundwinkel.
 

„Möglich, aber dann müsste ich dich ja alleine fahren lassen… das wäre dann nicht gut, nicht wahr. Gar nicht gut.“

Omi schmunzelte gegen das leicht spöttische Lächeln an. „Außerdem würden wir uns ohne deinen kleinen Monstercomputer heillos in Tokyo verirren!“
 

Das Wort Monster störte Nagi und wenn es nicht Omi gewesen wäre, der es gesagt hätte, dann hätte er es ihm bestimmt übel genommen.

So nickte er nur einmal und behielt sein Lächeln bei, behielt Omis Profil, während dieser fuhr, im Blick.

„Nein, gar nicht gut, wäre das…“ Nagi lehnte sich zurück.
 

Omi nickte und schweigend fuhren sie den Rest der Strecke, bis er langsamer wurde und schließlich anhielt. Sie hatten ausgemacht, dass er Nagi hier absetzte und dann selbst zum Koneko weiterfuhr, dort seine Sachen packte und sie sich an einer etwas weiter entfernten Ecke wieder trafen. Nur keine Aufmerksamkeit erregen… nur nicht den Standort preisgeben.

„Beeilen wir uns… wir haben nicht mehr viel Zeit!“, kam es fröhlich von ihm und seine Augen strahlten vor Freude.
 

„Allerdings“, resümierte Nagi und öffnete die Tür, wandte sich jedoch bereits im Aussteigen leicht um. „Bis später.“

Er legte ein nicht ganz unschuldiges Lächeln auf und stieg mit einem letzten Blick aus.
 

Omi hatte diese hochgezogenen, verdorbenen Mundwinkel durchaus gesehen! Durchaus…

Vor sich hinsummend, fuhr er nach Hause, immer darauf bedacht, auf mögliche Verfolger zu achten, die sich jedoch nicht zeigten. Generell kam er gut durch und war innerhalb von fünfzehn Minuten am Blumenladen, wo er die Treppe hochpreschte und in sein Zimmer stob. Ihnen rannte die Zeit weg!

Während Omi einiges einpackte und schließlich innehielt, glitten seine Gedanken zu zwei Ensembles, die Nagi sehr gut stehen würden und die er nach kurzem Zögern mitnahm.

Natürlich war alles jugendfrei… alles… und harmlos.

Omi grinste.

In Windesweile hatte er Toilettenartikel zusammen und einen kleinen Zettel geschrieben, der anzeigte, dass er heute Nacht nicht zuhause sein würde. Wo jedoch… das war sein Geheimnis. Außerdem wollte er eventuelle Einbrecher nicht auf seine Fährte locken.
 

Währenddessen setzte sich Nagi auf den gemauerten Grund einer Umzäunung und begann damit, die unterschiedlichen Unterkünfte ausfindig zu machen. Die Touristeninformation hatte einige Unterkünfte in verschiedenen Preisklassen für ihn und er begann sie nacheinander abzutelefonieren. Die Unterkunft, die Omi noch im Gedächtnis gehabt hatte war leider schon ausgebucht.

Schlussendlich fand er dennoch ein Plätzchen für sie in einem Ryokan, in der Nähe des Buscenters.

Es war etwas schwierig, da sie sehr spät ankommen würden, aber der Besitzer drückte ein Auge zu und würde sie am Abend noch als Gäste aufnehmen.

Jetzt war es kurz nach 18.00 Uhr und in einer Stunde etwa ging ihr Flug.

Ein wenig fühlte er sich, als wäre er auf der Flucht, was ihm ein unbehagliches Gefühl bescherte.

Als nächstes rief er sich ein Taxi, das etwas dauern würde, wie man ihm in der Zentrale mitteilte. So rief er die nächste Taxizentrale an und orderte erneut einen Wagen, der schneller bei ihm sein würde.

Da er einen guten Tag hatte, war er so nett um die erste Order zu stornieren.
 

Die Wartezeit, die er hatte, bis der Wagen kam, vertrieb er sich damit, Informationen über das Buscenter in Oita herauszufinden. Wenn sie Glück hatten erwischten sie den letzten Bus vom Flughafen bis dorthin.
 

Omi machte sich in der Zwischenzeit auf nach draußen… zusammen mit seiner schweren Tasche und stieg in das von ihm bestellte Taxi, das ihn zum Treffpunkt fahren würde.

Er freute sich, sein Herz klopfte schier vor Aufregung. Wie lange war es her, dass er weggeflogen war, einfach so, spontan?

Eigentlich… war es noch nie so gewesen.

Sie fuhren durch die belebte Stadt und schließlich sah Omi die vertraute Gestalt.
 

Nagi wartete samt Taxi auf Omi, der aus dem einen Taxi ausstieg, und schließlich hielt Nagi ihm die Tür auf und sie setzten sich auf den Rücksitz.

„Zum Flughafen“, wies Nagi den Fahrer an.
 

o~
 

„Hmm…“

Mit jeder Minute hier im Rotenburo fiel die Anspannung der letzten Tage von ihm und ließ ihn als puddingweiche, schwerelose, fast schnurrende Masse wieder, die neben Nagi in dem schwach erhellten Bad saß. Nur noch sie befanden sich in dem heißen Wasser, da es schon recht spät war… das letzte Mal, als Omi auf die Uhr gesehen hatte, war es elf Uhr abends gewesen… dann hatte er seine Uhr weggelegt und beschlossen, die Zeit zu vergessen.

Sie hatten den Flug bekommen – in allerletzter Minute und waren dann in schweigendem Einvernehmen, zwischen lauter Geschäftsmännern, den Flug hinter sich gebracht, nur um wieder zum Bus zu hetzen.

Doch der Besitzer des Ryokan hatte sie freundlich empfangen, hatte ihnen freundlich mit der japanischen Höflichkeit das Zimmer zugewiesen.

Die erste Dusche war herrlich gewesen, ebenso wie ihr jetziges Bad, das die beanspruchten Muskeln sehr effektiv entspannte.

Er blinzelte diesig und sah träge den Glühwürmchen zu, die sich über ihnen tummelten und vereinzelt auf das Wasser trafen, während unter ihnen die Wellen des Meeres an den Strand spülten. Der Vollmond stand hoch am Himmel und warf einen lebendigen Schatten auf das Wasser, während die Sterne ohne Beeinträchtigung durch Wolken das Firmament erleuchteten.

Omi kam sich verzaubert vor.

„Das war die richtige Entscheidung.“
 

Nagis Blick ging in den abendlichen Himmel und seine Gliedmaßen trieben im Wasser. „Ja“, meinte er sparsam, er fühlte sich müde, diesig. Aber… es war gut so. Er hätte jetzt die Augen schließen können und einschlafen und niemand würde ihn nerven, ihm verbal zusetzen.

Er spürte, wie er abdriftete und setze sich rascher auf als beabsichtigt. Mit feuchten Fingern fuhr er sich über das erhitzte Gesicht und sah hinüber zu Omi.
 

Sie hatten beide nicht wirklich Muße, sich in ihrem diesigen Zustand zu unterhalten… wenngleich sein Blick nun auf Nagi ruhte, der ihn aus leicht geweiteten Augen ansah.

„Wenn du dich anlehnen würdest, würdest du nicht so schnell untergehen!“, lächelte er träge.
 

„Ich war angelehnt!“, behauptete Nagi wenig enthusiastisch und pitschte ins Wasser vor Omi, dass es nur so platschte und spritzte.

„Ich… glaube ich bin müde“, gestand er ein.
 

Omi blinzelte.

„Merkt man…“, grinste er und schnappte sich Nagis Arme, zog den anderen zu sich. „So, nun kannst du mich nicht mehr nassspritzen!“, behauptete Omi blauäugig, da er Nagis Kräfte einfach mal außer Acht ließ.

Nicht, dass Nagi ganze Gebäude einstürzen lassen könnte… nein.
 

„Glaubst du?“ Nicht wirklich den Elan für interessante Gegenbeweise habend, ließ sich Nagi weich in die Umarmung fallen. Es fiel ihm noch immer nicht ganz so leicht, sich Omi von sich aus zu nähern. In der Zeit, in der Schuldig als tot gegolten hatte, war dies anders gewesen. Es war alles so… unwirklich… gewesen. „Wir sollten aus dem Wasser und ins Zimmer gehen. Es ist schon nach elf Uhr.“

So unwirklich wie… dieser Abend.
 

„Ja, das sollten wir… ein gemütlicher, weicher Futon ist jetzt genau das Richtige.“ Denn sie residierten ja in einem der alten Zimmer. Schlicht eingerichtet im Einklang mit den Zen-Lehren… ganz nach Omis Geschmack, wenn es darum ging, Urlaub zu machen, fühlte er sich doch bei solchen Räumen immer in seine Kindheit versetzt – warum auch immer.

Er erinnerte sich nicht daran, an die ersten fünf Jahre. Er erinnerte sich eigentlich an gar nichts und das, was sie ihm erzählt hatten, war ein Gespenst, das ihn verfolgte, aber keineswegs ein Teil von ihm. Und an das, woran er sich nicht erinnern wollte... erinnerte er sich natürlich auch nicht.

Omi seufzte und stemmte sie beide in die Höhe, lächelte Nagi zu, als er zu den Handtüchern griff und sie beide einschlang.
 

Nagi griff sich sein Handtuch um die Hüften und verließ den Onsen. Er streifte sich seinen Yukata über und schlüpfte in das bereit gestellte Schuhwerk. Über den Steinweg gelangten sie in den älteren Teil des Ryokans und betraten nach kurzem ihr Zimmer.

Nagi ging fast sofort barfuß zu seinem spärlichen Häufchen Kleidung und kramte nach seinem Mobiltelefon.

Das Zimmer war warm beleuchtet und er fand sofort die Taste um das Telefon einzuschalten. Ein komplizierter Code schaltete das Gerät für ihn frei…
 

Omi unterließ es, zu seinem Handy zu greifen. Er wollte nicht gestört werden… wollte so tun, als gäbe es so etwas wie Handys nicht, durch die sie erreichbar waren.

Doch er verstand Nagi und dessen Verbundenheit zum Schwarzschen Teufel. Schwarzhaarigen Teufel, wohlgemerkt.

Omi trocknete sich währenddessen ab und zog sich den bereitgestellten Yukata zum Schlafen über. Er war ihm etwas zu groß, doch das machte nichts.

Während Nagi noch mit seinem Handy beschäftigt war, schnappte sich Omi das Handtuch und rubbelte den dünnen Telekineten trocken und warm.
 

So stand Nagi da und rief seine Mails ab und nicht nur dass, er checkte seinen Server und war somit auf dem Laufenden, auch was diverse Anrufe betraf, die in Schuldig und Rans Haushalt eingingen. Auf Nagis Gesicht bildete sich ein ausgewachsenes Grinsen aus, bevor er sich ein wenig mehr in Omis Obhut gab. Da stand er nun… „Ich komme mir etwas… seltsam vor… nackt mit einem Mobiltelefon samt Elefantenanhänger …“, gab er zu bedenken, das Grinsen eingestellt.
 

„Du bist der zukünftige Businessman, mit deinem persönlichen Betthäschen“, grinste Omi dafür anstelle dessen noch mehr.

„Das sind eben deine zwei Facetten… Kontrolle und Lösen.“ Er seufzte und hauchte Nagi einen Kuss auf die freiliegenden Schulterblätter.
 

Bei diesen Worten musste Nagi an Omis Vergangenheit denken… es drängte sich ihm auf.

Er wandte sich zu Omi um und hielt dessen Blick fest. Er stand stumm da, näher und intimer als zuvor, wie es ihm in diesem Moment vorkam. Omi war angezogen, er nackt und doch… war es nicht verwerflich in seinen Augen.

„Du bist kein Betthäschen.“

Sein Gesicht war ohne Ausdruck, doch die grauen Augen hielten immer noch das Blau unbeirrbar fest. „Mir ist kalt…“, sagte er völlig vom Thema abkommend, in die Stille hinein.

Die Müdigkeit zog mit solcher Macht an ihm…
 

Nein, ein Betthäschen war er sicherlich nicht. Junger Killer, Auftragsmörder, Mann ohne Kindheit… alles Dinge, die ihm einfielen, wenn es um ihn ging. Aber Betthäschen… nein. Er hatte sich seine Partner ausgesucht und war nie wirklich das willige Häschen gewesen.

Nie.

Er kontrollierte IMMER, dazu war er zu sehr Killer.

Omi lächelte Nagi an, dankbar für den Themenwechsel. „Dann habe ich etwas für dich!“

Er griff nach dem zweiten Yukata und zog ihn Nagi über, verschnürte ihn sorgsam.

„Und jetzt ab unter die Decke, damit du dich wenigstens etwas aufwärmst!“ Aus vergangenen Treffen wusste Omi nämlich, dass Nagi ihn als Heizungsradiator im Bett gebrauchte. Was Nagi zu wenig hatte, hatte Omi zuviel.
 

Nagi löschte die Lichter ringsum mit einem dezenten Fingerwink an den entsprechenden Schalter und legte sich anschließend nieder.

Omi tat es ihm gleich und sobald dieser lag wurde Nagi magisch von dessen Wärme angezogen und kuschelte sich an ihn.

„Du… hast mich… ziemlich gut… eingepackt… fast so“, Nagi flüsterte verschwörerisch. „…als würde ich nicht mehr ausgepackt werden.“
 

Omi hob durch die Dunkelheit hinweg eine Augenbraue.

„Wünscht der Herr denn, ausgepackt zu werden?“ Natürlich wünschte es Nagi sich… so lief es immer: Nagi und er zogen sich aus, berührten sich, befriedigten sich, wenn sie wollten, waren sich nahe.

Er schmiegte sich an Nagi.
 

„Mal sehen“, bekannte Nagi nicht unbedingt Farbe. Er fühlte sich in diesem Ryokan zwar wohl allerdings was ihre Privatsphäre anbetraf, so fühlte er sich in dieser Hinsicht eher ungenügend abgeschottet.

„… ob sich mein Körper in irgendeiner Art noch aufwärmt…“
 

„Was schwebt dem Herrn denn so vor?“, grinste Omi schelmisch, schon eine Idee habend, wie er Nagi erwärmen konnte… doch ob das so günstig war, war die Frage. Die Wände waren sehr dünn, wenn Nagi ihn zurückschleuderte, konnte es schon sein, dass er im Nachbarzimmer landete… deswegen hatten sie notdürftig auch schon eine Wand in Nagis Wohnung gepolstert. Damit er nicht so hart aufkam… nach dem Kommen.
 

„Nichts besonderes, lediglich ein wenig Hautkontakt wäre wünschenswert, oder willst du durch die Wände fliegen?“

Sie lagen seitlich zueinandergewandt und Nagi lehnte an Omis Brust, blickte jetzt aber auf und streifte mit seinen Lippen Omis Kiefer. Sich ein wenig nach oben schiebend erreichte er so Omis Lippen besser und küsste sich eher beharrlich, denn forsch in diese Richtung.
 

Omi war begeistert von dieser Regung, ließ Nagi doch mehr und mehr seine Zurückhaltung hinter sich… seine Schüchternheit.

Er kümmerte sich um diese bedürftigen Lippen, umhegte und umsorgte sie zärtlich.

„Nein, will ich nicht, die Nachbarn würden sich bedanken…“ Omi lächelte und schmuste sich an Nagi, zog den anderen eng an sich.
 

Das mit dem Küssen und Schmusen ging schon ganz gut, ohne, dass seine Hände anfingen zu prickeln. Der Rest jedoch war immer noch mit dem Risiko eines telekinetischen Einsatzes behaftet.

Nagis freie Hand hielt sich einen Moment noch an ihrem Platz - Omis Kleidung - fest bevor sie sich löste und auf Wanderschaft ging. Allerdings blieb sie züchtig auf Omis unterem Rücken.

Sein Selbstvertrauen in diesen Dingen stand immer noch auf wackligen Füßen, denn er übte zwar fleißig was seine Selbstkontrolle betraf, dennoch bei emotional wirksamen Ereignissen drohte er die Kontrolle zu verlieren. Und… verlor sie auch.
 

Was Omi auch mit Freuden zu spüren bekommen hatte.

Nun aber schob er seinen Yukata auf und tat mit Nagis das Gleiche, bevor er sie beide Haut und Haut brachte… direkter Körperkontakt.

„Wir sind im Begriff, uns aus dem Geschäft zurückzuziehen“, sagte Omi schließlich. Es musste irgendwann darüber gesprochen werden… da die Pläne von Kritiker langsam konkreter wurden.
 

Nagis Lippen verließen Omis.

„Ja?“ Es war eine Verlegenheitsantwort, da Nagi nicht wusste, was er darauf sagen sollte, denn Omis Satz beinhaltete viele Möglichkeiten.

„Ein notwendiges, da unter Sicherheitsaspekten durchaus akzeptables Vorgehen. Dies impliziert jedoch einen Rückzug aus bekannten Gebieten.“ Er zögerte.

„Ihr verlagert eure Präsenz in ein anderes Gebiet.“
 

„Das tun wir. Angedacht ist es, dass wir schließlich unsere Aktivitäten ganz einstellen.“ Omis Stimme war leise, beinahe schon beruhigend, denn er wusste, dass dies sich zu einem schwierigen Thema entwickeln konnte.

Er selbst wusste, dass sie untertauchen mussten, doch die emotionale Seite in ihm wollte es nicht… partout nicht, denn er hatte ja jetzt Nagi.

Er konnte nicht sagen, dass er Nagi liebte, denn Omi wusste nicht, ob er dazu fähig war, doch der Telekinet bedeutete ihm etwas und dieses etwas wollte er nicht aufgeben.
 

„Ist dieser Ausflug dazu gedacht gewesen mir diese Neuentwicklung möglichst schonend beizubringen?“

Nagis Hände zogen sich von Omis Kleidung ein wenig zurück.

„Ich bin kein Kleinkind mehr, es ist nicht nötig eine derartige Maßnahme einzuleiten um mir zu sagen, dass du in den Untergrund gehst. Es ist notwendig.“

Nagis Stimme klang hellwach, leise, aber klar, ohne erkennbare Emotionen.
 

„Nein, dieser Ausflug war dazu gedacht, uns beide zu entspannen… außerdem war er spontan. Und ebenso spontan wollte ich gerade über diese Thematik sprechen.“

Omi seufzte. „Natürlich ist es notwendig, aber das macht es nicht leicht, garantiert nicht. Außerdem sehe ich dich nicht als Kleinkind.“
 

„Ich könnte dich… entführen. Entkommen würdest du mir nicht“, sagte Nagi nach einer kleinen Weile der Stille. Eine praktische Lösung, wie er fand, nüchtern betrachtet.
 

Omi konnte nicht verhindern, dass sich eine seiner Augenbrauen hob bei diesen Worten. Nagi hatte recht damit, doch kamen in ihm für einen Moment, alles andere als Wohlgefühle auf, als er den letzten Satz hörte.

Doch er schluckte dieses Unwohlsein hinunter. Es war ein Spiel, eine spielerische Idee. Ernst war es nicht mehr, nicht seit ein paar Jahren.

„Und wie lange würde ich dann in deiner Gewalt bleiben müssen?“, schmunzelte er.
 

Nagi hörte das Schmunzeln mehr als er es im Dunkeln sah. Aber anhand dieses Amüsements erkannte er, dass er selbst seine eigenen Worte ernst meinte.

Mit dieser Erkenntnis kamen auch Gedanken daran, dass er nicht das Recht dazu hatte, wie Omi dies schon einmal betont hatte und Omi sich gegen ihn stellen würde… wie ebenfalls dies schon einmal der Fall gewesen war.
 

Warum war ihm das nicht gleich aufgefallen, dass er es tatsächlich machen würde? Omi festhalten. Die Verwerflichkeit, die hinter dieser Idee steckte, kam ihm erst in Omis Worten ins Bewusstsein. Die Verwerflichkeit, die Omi dahinter sah.
 

Nagi nahm seine Hände von Omi und ließ sie locker zwischen ihnen liegen. „Solange du willst.“ Ein Paradoxon.
 

Omi musste lachen. Auch für ihn war es ein Paradoxon.

„Wer will schon entführt werden, hm?“, schmunzelte er schließlich und hauchte Nagi einen Kuss auf die Nasenspitze. „Würdest du es wollen? Ohne Freiheit, gefangen an einem Ort? Wäre das wünschenswert?“

Nein, war es nicht… die Überlebenden litten darunter. Selbst Ran. Wie er auch hatte Ran Angst vor Dingen, die ihm vorher nichts bedeutet hatten, die ihm egal waren.
 

„Du hast Recht.“ Nagi begriff, dass es besser war, wenn er sich distanzierte. Omi war im Begriff ihm zu sagen, dass er gehen würde.

Er schwieg, denn er fühlte sich nicht gut. Und er musste sich einiges durch den Kopf gehen lassen, momentan war es so, als würde jemand ihn demütigen und dieser jemand war Omi. Er hasste Demütigung.
 

Irgendetwas lief hier falsch und Omi konnte es nicht genau betiteln.

„Was ist los mit dir? Du bist angespannt… und ich habe das Gefühl, dass es nicht daran liegt, dass ich vielleicht irgendwann nicht mehr dort wohne.“

Omi setzte sich leicht auf.
 

Nagi traf die Entscheidung in weniger als einer Sekunde. „Es ist nur weil ich Hunger habe und mir kalt ist. Es hat nichts mit dem Gespräch zu tun“, sagte er und setzte sich ebenfalls halb auf.

„Dieses leere Gefühl im Magen verursacht Übelkeit, aber sie ist nicht sehr schlimm.“
 

„Du lügst mich an.“

Omis Stimme war leise, enttäuscht und eine Spur kälter als sonst. Er machte keine Anstalten, sich Nagi zu nähern, sondern setzte sich nun ganz auf und ging zu seiner Reisetasche. Er öffnete sie und nahm eine Packung Kräcker heraus und warf sie zu Nagi auf das Bett.
 

Einem Hund warf man so sein Fressen zu. Einem Straßenhund.

„Ich habe seit heute Mittag nichts gegessen.“ Er fühlte die Unruhe in sich aufkommen. Der Wunsch nach Einsamkeit und Abschottung wurde fast übermächtig, aber er drängte ihn zurück. Seine linke Hand kribbelte und er verbarg sie unter dem Kissen, begann damit sie ein wenig auf dem Futon zu reiben.

Nagi setzte sich gänzlich auf, betrachtete sich das ihm hingeworfene herzhafte Gebäck und nahm es zögerlich in seine Hände.

„Du sorgst gut für mich.“ Deinen Hund.

Er stand damit auf und ging zur Terassentür um sich hinzusetzen, die Beine zu unterschlagen und die Packung zu öffnen. Schräg zum Raum sitzend blickte er nach draußen, als er den ersten Kräcker herausnahm.
 

Das war Ironie… brutale Ironie.

Omi kam zu Nagi und war für kurze Zeit versucht, dem anderen noch einen Spruch zu geben. Doch als er diese Gestalt einsam dort sitzen sah, überkam ihn Traurigkeit.

„Nein, das tue ich nicht, sonst hätte ich dir schon längst etwas zu essen besorgt“, sagte er und nahm Nagi den Kräcker aus der Hand und setzte sich vor ihn.

„Aber ich kann Lügner nicht leiden. Vor allen Dingen will ich von DIR nicht angelogen werden, denn ich MAG dich.“
 

Nagi sah dem dahinschwindenden Essen nach und sah von dem Kräcker auf zu Omi.

„Es war keine Falschheit. Du sorgst für mich. Ich hätte etwas sagen können, aber der Tag war schön und hat Spaß gemacht, ich habe nicht daran gedacht, etwas zu essen. Und jetzt merke ich es. Ich weiß, dass du keine Lügner magst.“

Er sah wieder auf den Kräcker hinab. „Kann ich weiter essen?“
 

„Ich will dich nicht verletzen, Nagi“, grollte Omi und packte den anderen aus einem plötzlichen, verzweifelten Impuls am Hinterkopf, drängte ihm seine Lippen auf und küsste ihn bestimmend. „Du bedeutest mir etwas, mehr als andere.“ Er reichte Nagi den Kräcker.

„Du hast ein Problem damit, dass wir wegziehen werden… nicht wahr?“
 

Nagis Blick hielt Omis fest.

Die Lippen etwas aufeinanderlegend um den harschen Kuss nachzuschmecken nahm er den Kräcker an sich, biss aber nicht davon ab.

Offenbar hatte Takatori junior kein Problem damit. Brad hatte Recht. Und er lag… falsch.

„Dieser Schritt ist nötig. Es ist unabdinglich, dass ihr das Land verlasst. Prioritäten zu setzen gehört zu meinen Primäraufgaben. Ich verstehe die Notwendigkeit.“ Die Worte kamen selbst ihm sehr monoton vor und er senkte den Blick auf den Kräcker.

„Einsamkeit schmerzt umso mehr, wenn man das Gegenteil erfahren hat.“
 

„Ich will dich nicht alleine lassen“, sagte Omi schlicht. „Dazu mag ich dich zu sehr.“

Sein Blick ruhte auf Nagi, schweigend und ruhig.
 

„Ihr tut ständig Dinge, die ihr nicht wollt. Es liegt in dem, was du tust. Deiner Rolle.“

Nagi biss von dem Kräcker ab und schmeckte den würzigen Geschmack auf seiner Zunge nach.

Er hatte keinen Hunger. Es waren nur Ausflüchte und Lügen gewesen, die ihn zu dieser Behauptung gebracht hatten. Doch es fiel ihm leicht sich zu schützen, das hatte es schon immer. Sein Körper schützte ihn vor physischen Gefahren, warum sollte es sein Geist nicht ebenso tun?
 

Nagi machte dicht…

„Meine Rolle“, sinnierte Omi nachdenklich. „Ich bin aber gerade nicht in meiner Rolle.“

Er blieb noch einen Moment schweigend sitzen und erhob sich dann. Ihm war kalt, wirklich kalt, sowohl innerlich als auch äußerlich. Sich in die Decke einmummelnd, legte er sich auf den Futon und wartete… auf was auch immer. Ja, auf was auch immer…
 

Nagi blieb sitzen und aß noch weitere Kräcker. Die Zeit verging, in der wenige Geräusche von draußen zu ihnen hereindrangen, so füllten nur die Laute seines zaghaften und vorsichtigen Essens die Stille.
 

Er dachte nach. Über vieles. Vor allem aber über die Möglichkeiten die ihm zur Verfügung standen.
 

Omi war währenddessen immer wieder weggedöst… im Hintergrund Nagis Geräusche mit der Versicherung, dass der andere noch da war.

Doch er war unruhig und unzufrieden… ja, traurig zum guten Teil.
 

Es war ein untypisches Schlafverhalten, welches Omi in Nagis Beobachtung bot. Als er fertig war mit seinem Imbiss, ließ er die Packung auf den Boden gleiten und erhob sich geräuschlos. Er kam zum Futon und legte sich nach einem kurzen Innehalten nieder. Mit ruhiger Hand griff er zu Omi hinüber und bettete diesen an sich, in dem er ganz nah an ihn heranrutschte und ihn umarmte. Er würde regenerieren.

So schloss er die Augen und begann um sie beide ein Energiefeld zu erschaffen. Es war schwach, nicht zu sehen, nur zu spüren.
 


 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Coco & Gadreel
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Sex nach Plan

~ Sex nach Plan ~
 


 

o~
 


 

Ein sachtes Schnurren kündigte Omis Wachheitsphase an, als er versuchte, sich schlaftrunken zu räkeln. Doch dieses Vorhaben misslang auf ganzer Linie… denn er war an einen warmen, schlanken Körper geschmiegt, der ihn beinahe gänzlich vereinnahmte und ihn in seine Arme gezogen hatte.

Er schlug seine Augen auf und musste lächeln, als er Nagis schlafendes Gesicht sah, das so entspannt aussah.

Deswegen mochte er den Telekineten so… mochte er ihre gemeinsamen Nächte und das Aufwachen danach.

Wenn er gekonnt hätte, hätte er Nagi durch die Haare gestrichen, wie er es immer gerne tat, doch Nagi hatte heute seine Arme an sich gefangen.
 

Die er so schnell nicht hergeben würde, denn der Schlafende bemerkte zwar, dass sich etwas neben ihm regte, doch er dachte nicht daran aufzuwachen.

Zu lange hatte er noch wach gelegen und sich über viele Dinge schier den Kopf zerbrochen und war schlussendlich zu keinem guten Ergebnis gelangt.

Was ihm das Einschlafen nicht wirklich erleichtert hatte.
 

Omi nutzte währenddessen die Zeit, Nagi genau zu beobachten und jeden Zentimeter des anderen in Augenschein. Die fedrigen Haare, die dem anderen auf die Stirn gerutscht waren, die spitze Nase, die schmalen Lippen, die so sanft küssen konnten, die attraktive Kinnpartie… das Schlüsselbein… nicht zu vergessen die langen Wimpern…

Langsam wurschtelte Omi eine Hand hervor und zupfte Nagi an einer der Strähnen.

„Hey Sleeping Beauty!“, wisperte er.
 

Nagis Hand löste sich und schlafwandelte zu der störenden Stelle und rieb sich den Kopf. Dabei öffnete er die Augen einen verschwommenen Spalt und erkannte, dass sich etwas vor ihm bewegte. Er drehte sich auf den Rücken und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht.

„Hmmm“, murmelte er verschlafen. Er fühlte sich wie erschlagen.
 

„Wie geht es dir?“, versuchte sich Omi vorsichtig in Kommunikation, ganz darauf bedacht, was am gestrigen Abend zwischen ihnen vorgefallen war.

Seine Hand ging auf Nagis Brust spazieren.
 

„Ich habe regeneriert, aber bin erst spät eingeschlafen“, brachte Nagi mit schlafesschwerer Stimme heraus.

So richtig wach war er noch nicht.

Er öffnete die Augen, wischte sich den Schlaf aus ihnen und blinzelte gegen die Decke. Sie waren im Ryokan und sie waren im Süden Japans. Nicht in Tokyo.
 

Omis Hand wanderte hoch zum Gesicht des anderen und drehte es leicht zu sich.

„Warum? Konntest du nicht schlafen?“ Seine Stimme war sanft, besänftigend, vielleicht auch um Entschuldigung bittend.
 

„Es gab einige Dinge zu bedenken“, gab Nagi bereitwillig zu, wollte allerdings nicht näher darauf eingehen und schloss die Augen.

„Wie spät ist es?“
 

„Gegen sieben Uhr vermute ich… also noch richtig früh.“ Omi zog seine Hand langsam zurück und rollte sich ebenso auf den Rücken. Die Decke war sehr interessant… ebenso wie Nagis Worte, die eine Barriere zwischen ihnen erschufen.
 

„Um sieben?“ Wenn er genau hinhörte, konnte er leise Gespräche im Flur vernehmen, hin und wieder ein Wort und das langsam erwachende Haus. Das Personal war mit Sicherheit schon wach und bereitete das Frühstück zu.

Nagi setzte sich auf. „Vielleicht sollten wir uns anziehen…“, meinte er zögerlich und sah sich um. Er hatte nichts Frisches zum Wechseln dabei. Aber es würde schon gehen. Er kaufte sich am Besten später etwas.
 

„Warum willst du nicht noch im Bett bleiben?“, fragte Omi mit einem Stirnrunzeln. Er konnte sich die Antwort schon denken, doch er wollte sie aus Nagis Mund hören… höchst persönlich.

Sie waren hier um zu entspannen, aber Nagi schien ihm seit dem gestrigen Abend, als sei er auf der Flucht und Omi sein Verfolger… bloß weg von ihm.
 

„Weil es sicher bald Frühstück gibt und es geziemt sich nicht davon fern zu bleiben…“ Dabei war der Hauptgrund - sein Hunger noch nicht einmal genannt. „Andererseits sind wir im Urlaub“, gab er laut vor seiner eigenen Gerichtssprechung zu bedenken. „…und wenn wir später irgendwo ein wesentlich… luxuriöseres Essen zu uns nehmen würden, wäre ich dem nicht abgeneigt.“ Sein Blick ging zu Omi, der neben ihm lag.

Wenn er sein Kalorienlevel niedrig hielt, war er wesentlich gehemmter in seiner körperlichen, aber auch - und das war das Wichtige dabei - in seiner telekinetischen Aktivität. Somit konnte er sich selbst austricksen. Gefährlich war dabei, dass er sich auch weniger gut im Griff hatte.
 

„Schwebt dir da denn etwas vor?“, fragte Omi und lächelte ein schelmisches Lächeln, das jedoch nur ein Abklatsch seines sonstigen Lächelns war.

Er hatte selbst noch keinen Hunger, wusste aber um Nagis Problem mit dem Essen… von daher war es schon vernünftig, nun essen zu gehen.

Doch bevor er noch weiter über das Problem nachdenken konnte, durchbrach ein unaufdringlicher Klingelton seine Gedanken.
 

„Ich…“

Nagis Kopf ruckte beinahe augenblicklich herum, seine Hand fuhr nach oben und kurz darauf schwebte sein Mobiltelefon zu ihm heran und wurde von selbiger in Empfang genommen.

Er sah auf das Display, erkannte die Nummer und nahm das Gespräch sofort an.

Es war Schuldig. Aber warum rief dieser an? Schuldig rief selten an…
 

Nagi war noch während er sich meldete innerlich in Alarmbereitschaft.

Er erhob sich langsam als ihm Schuldig mitteilte… dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Schuldigs Stimme war plötzlich so leise, so fern. Es rauschte in seinen Ohren und er hatte das Gefühl, dass seine Brust unerwartet eng wurde. Seine Kehle trocken und zugeschnürt.

Ohne darauf zu achten erhob sich Nagi und ging durch das Zimmer, schob die Tür auf und lief zügigen Schrittes den Gang hinab… in den Garten, hinaus.

Nichts wie hinaus… die Wände erdrückten ihn schier. Schuldig sprach eindringlich mit ihm und er konnte nicht antworten, die Kehle war ihm wie zugeschnürt.

Nur hinaus. Weg von den Wänden und dem Dach.
 

Omi runzelte die Stirn ob des plötzlichen Abgangs, hatte er doch nicht mitbekommen, um was es ging. Doch es konnte nichts Positives sein, anhand von Nagis Logik zu schließen.

Langsam erhob sich Omi und zog sich um, folgte Nagi dann den Gang hinunter nach draußen, sah den anderen schon von fern, wagte es jedoch noch nicht, ihn anzusprechen oder ihn zu berühren.
 

Doch Nagi hielt immer noch den Hörer krampfhaft in der Hand und sprach nichts hinein. Er hielt den Kopf leicht gesenkt und die Augen halb geöffnet, doch sein Sichtfeld war eingeschränkt von dunklen Rändern gezeichnet und sein Blick verschwommen.

Er atmete schwer. „… wie…?“ Seine Hand begann zu zittern.
 

Die ganze Gestalt des jungen Telekineten sprach von Entsetzen, von Schock und Verstörung, die Omi selbst lindern musste. Er spürte, wie sich die Luft um ihn herum auflud und wusste, dass er Nagi das Telefon wegnehmen musste, da es sonst zu einer Katastrophe kommen würde.

Omi trat vor und an den Telekineten heran, umarmte diesen vorsichtig und entnahm ihm das Mobiltelefon.

„Ich übernehme“, sagte er ruhig, mit dem Ton des jungen Takatoris, dessen er so oft beschuldigt wurde. „Wer ist da?“
 

„Das könnte ich dich auch fragen“, blaffte Schuldig unfreundlich zurück, denn er hatte Probleme Nagi telepathisch zu finden. Was ihm Sorgen bereitete. Kurz darauf wurde ihm in seiner momentanen Laune bewusst, dass er den jungen Takatori am Telefon hatte.

„Tsukiyono, bist du das? Wo zum Teufel seid ihr?“
 

„Ja, bin ich, Nagi geht es nicht gut. Wir sind nicht in Tokyo… im Süden Japans, circa drei Stunden entfernt“, erwiderte Omi, sofort Schuldigs Stimme erkennend… wie konnte er auch nicht, denn der unfreundliche Ton des anderen war ihm nur zu sehr bekannt… aus sämtlichen, früheren Begegnungen.

„Was ist passiert?“
 

Schuldigs Stimme kam schleppend, überlegend.

„Hör zu Kleiner“, fing er an und ging hinaus auf die Terrasse, er brauchte frische Luft. Dort nahm er seine Zigaretten vom gemauerten Geländer und zündete sich eine an. Seine Tasse samt kaffeehaltigem Inhalt. „…am Besten ihr bleibt, wo ihr seid. Pass auf Nagi auf… er ist etwas labil was das Thema angeht…“
 

„Labil? Was ist passiert?“, fiel Omi Schuldig ins Wort, dabei seine Frage noch einmal wiederholend. Schuldig klang ernst, sehr ernst… es war doch nichts passiert, oder? ODER?
 

„Ich habe vor ein paar Minuten einen Anruf über Nagis Leitung bekommen. Scheinbar ist er nicht rangegangen. Wenn er nicht rangeht, schaltete es automatisch zu mir weiter. Ein Anruf aus dem Krankenhaus. Crawford ist heute Nacht schwer verletzt aufgefunden und dort eingeliefert worden. Über eine seiner Identitäten, die er bei sich hatte, kamen sie an die Nummer. Ich habe sie auf dem Display erkannt.“ Schuldig nahm einen Zug und inhalierte den Rauch tief. Als er zur Seite blickte, da er eine Bewegung im Augenwinkel bemerkte erkannte er, wie Ran vom Flur in den weitläufigen Wohnraum trat.

Auch wenn ihn die innerliche Angst, die Ungewissheit und die große Sorge fest im Griff hatten konnte er aus dem vertrauten Anblick von Ran, der zerzaust mit kleinen verkniffenen Augen, Morgenmantel samt herabhängenden Gürtel und Schlafanzug, Kraft schöpfen.

Er wandte sich zu Ran um und lehnte sich ans Geländer.

„Einer dieser kryptischen Quacksalber meinte, er sei nicht ansprechbar und beatmet.“
 

Sowohl Aya als auch Omi waren mit einem Mal gänzlich Ohr und ließen Schuldig ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen.

„Nicht ansprechbar? Was ist mit ihm passiert? Wer war das?“, fragte Omi und seine Stimme klang gehetzt. War es ein Anschlag der unbekannten Gruppierung gewesen mit dem Ziel, Crawford zu töten?

„Wird er überleben?“ Beatmung klang nicht gut, gar nicht gut!
 

„Weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts.“ Ran war bei Schuldig angekommen. Er drückte die Zigarette aus und machte langsam zwei Schritte auf Ran zu, zog ihn an sich und küsste die warme Stirn.

„Ich hab den Anruf gerade erst bekommen, Kleiner und bin dabei alle zu kontaktieren und zu warnen. Ihr wart die Einzigen, die ich nicht erreicht habe, deshalb musste ich auf die altbewährte Methode zurückgreifen. Ich bin also gerade dabei Schadensbegrenzung zu betreiben.“

Schuldig hielt Ran nah an sich, seine Wange an Rans Schläfe gebettet.

„Wenn es diese Typen waren, dann haben sie heute Nacht bereits zugeschlagen und uns verschont. Falls sie es waren. Bleibt also, wo ihr seid, und haltet die Augen offen.“
 

„Wir sollen nicht nach Tokyo zurückkehren?“, fragte Omi überrascht und nicht im Geringsten überzeugt von dieser Idee. „Was, wenn unsere Teams uns brauchen? Wir können doch nicht einfach hier bleiben!“ Ein Arm hielt immer noch Kontakt zum zitternden Nagi, der absolut abwesend schien.
 

„Kontaktiere dein Team, falls es dir möglich ist und tu was sie sagen. Ich kann dir keine Order geben, Kleiner“, sagte Schuldig im Anführermodus, den er sehr sehr selten übernahm, aber durchaus - wenn es die Umstände erforderten - dazu fähig war.

„Keiner deiner Leute vermeldete ungewöhnliche Vorkommnisse - Manx keine auffälligen Aktivitäten. Genauso gut kann es sein, dass Crawford von einer der Westgruppen erwischt wurde.“
 

„Scheiße!“, fluchte Omi unterdrückt. Es konnte sein, aber wer gab ihnen die Garantie?

„Ich kümmere mich um meine Leute, werde aber mit Nagi erst einmal hier bleiben… reisen ist momentan sowieso schlecht, Flugzeug wäre sehr schlecht! Halte mich auf dem Laufenden!“

Damit legte er auf und besah sich das Handy… danach wanderte sein Blick zu Nagi, dessen ganze Gestalt nach Angst schrie.
 

o~
 

Schuldig legte auf und umarmte Ran mit beiden Armen, das Mobiltelefon krampfhaft in der Hand haltend. „Sieht nicht gut aus, Blumenkind“, murmelte er in Rans Schopf.

Dieser roch noch nach Schlaf, nach Bett und die Haare dufteten herrlich nach Rans Shampoo.

Die Augen für einen Moment schließend, presste Schuldig seine Lippen aufeinander und klammerte sich fast an Ran.

Er wähnte sich bereits im Fadenkreuz eines Gewehres, allerdings hätten sie dann schon längst angegriffen, deshalb hatte ihn eine gewisse Gleichgültigkeit, was ihren Schutz für den Moment betraf, erfasst.

Schuldig hob seinen Kopf und strich Rans Haare aus dem Gesicht, betrachtete sich selbiges ruhig. Das Meer war zu hören, die Stadt auf der anderen Seite. Der Wind hatte heute scharfe Klingen von der Meerseite her.

„Gehst du mit?“
 

„Das glaubst du doch wohl.“ Ayas Stimme war ernst. Er würde den Teufel tun und Schuldig alleine gehen lassen, wo die Gefahr, gerade jetzt angegriffen zu werden, größer war denn je.

Er fuhr mit seiner Hand langsam durch Schuldigs Haare und ließ seinen Blick durch die Wohnung streifen. Man könnte meinen, Crawford machte das extra… doch angesichts der Ernsthaftigkeit der Situation bezweifelte das selbst Ayas emotionale Seite.
 

Ein wenig wollte Schuldig noch in Rans Armen bleiben, denn er scheute sich davor ins Krankenhaus zu fahren. Es war sein absoluter Horror… Brad im Krankenhaus liegen zu sehen. Schwerverletzt. Nicht ansprechbar.

Das war schlicht und ergreifend unmöglich, nicht vorstellbar. Inakzeptabel.

„Es reicht jetzt. Was auch immer geschehen ist, aber es reicht. Ich mache das alles nicht mehr mit“, sagte Schuldig mit ruhiger Stimme nach außen getragen, doch innerlich fühlte er sich dumpf und zugleich aufgewühlt.
 

„Und was willst du machen? Ihn einsperren?“ Ein bitteres Lachen bahnte sich seinen Weg über Ayas Lippen, wurde jedoch dort gestoppt, wo es Schaden anrichten konnte.

Er grollte leise.

„Wenn er wieder bei Bewusstsein ist, werde ICH ihm den Kopf zurechtrücken.“ Er, als Außenstehender… besser als Schuldig oder Nagi, das wusste Aya. Ihm fehlte der Einblick in dieses Team… die Blindheit, die die anderen vielleicht entwickelt hatten.

Was nicht hieß, dass er Crawford nicht weniger emotional eine reinhauen würde.
 

„Kein guter Witz, Ran“, sagte Schuldig im Hinblick auf ihre Vergangenheit und löste sich langsam von Ran. „Ich… du verstehst das nicht… das ist zuvor noch nie passiert.“ Zumindest versuchte er es zu erklären, gestenreich.

„Es ist, als würde der Fuji ausbrechen. Crawford im Krankenhaus.“
 

„Der starke, unbesiegbare Anführer ist gefallen… wurde verletzt, wo er es doch sonst immer ist, der den Überblick behält.“

Aya schüttelte den Kopf. „Ich verstehe sehr wohl, wo das Problem liegt und was dich fertig macht, Schuldig.“ Seine Lippen verirrten sich an die Wange des Telepathen. Einsperren war kein guter Scherz, das stimmte, aber was sollten sie mit Crawford machen? Dieser Mann spielte verrückt und er war nicht nur Schuldig wichtig genug, dass er gleichwohl auch sein Team mit verrückt machte.
 

„Ich geh mich anziehen“, erwiderte Schuldig nach einer Erwiderung des Kusses und verließ die Terrasse.

Mit flauem Gefühl im Magen schlich er unter die Dusche und begann sich fertig zu machen.
 

Währenddessen machte ihnen Aya erst einmal Kaffee und einen kleinen Happen zu essen. Was in aller Welt war passiert? Bisher hatten sie nur die Nachricht erhalten, dass der Amerikaner schwer verletzt und bewusstlos im Krankenhaus lag und dass sich die Angehörigen bald einfinden sollten. Ihm ging es den Umständen entsprechend gut, schwebte nicht in akuter Lebensgefahr.

Ob nun Unfall oder Überfall oder etwas anderes… das wussten sie nicht.
 

Und Schuldig scheute sich davor, gedanklich ins Krankenhauspersonal einzudringen und so etwas mehr über die Lage zu erfahren. Er wollte sich nicht verrückt machen und womöglich etwas Falsches herauslesen.

Es war besser, sie gingen persönlich ins Krankenhaus.
 

Fertig geduscht und rasiert trottete er wenig motiviert ins Schlafzimmer um von dort ins Ankleidezimmer zu gehen und sich anzuziehen. Er wählte einen Anzug, ließ die ersten zwei Knöpfe offen und schlüpfte in seine Schuhe.

So ausstaffiert kehrte er zurück zu Ran in die zum Wohnraum offene Küche und setzte sich an den Tresen.

„Ich hab sowas von keinen Bock“, seufzte er aus vollem Herzen.
 

„Das weiß ich… und genau deswegen wirst du dem Amerikaner auch die Hölle heiß machen, sobald er aufwacht“, grimmte Aya und stellte Schuldig seinen Kaffee hin. Der Rest stand schon auf dem Tresen.

„Ich mache mich eben fertig.“ Er verschwand aus der Küche und duschte sich im Schnelldurchlauf, mit einem ebenso großen Unwohlsein in seiner Brust wie Schuldig auch… doch das rührte eher woanders her.

Er wollte diesen Stress nicht – noch nicht, fühlte er sich doch außerhalb der Arbeit, die er vor kurzem wieder aufgenommen hatte, nicht wirklich in der Lage, anderweitigen Stress zu kompensieren.

Fertig geduscht, die mittlerweile gefährliche nahe an seinem Hinterteil heranwachsenden Haare hochgebunden, wie er sie in der letzten Zeit gerne trug, warf er sich einen Bademantel über und entschwand ebenso ins Ankleidezimmer.

Ganz schwarz.

Danach war ihm heute. Der schwarz Tod… der Crawford ereilen würde.
 

Die Sonnenbrille thronte auf seinem Kopf, der sandfarbene Anzug mit schwarzem Hemd würde zumindest zu Rans Traueranzug passen.

„Sieht aus als gingest du auf eine Beerdigung. Du hast doch nicht vor die Maschinen heimlich abzustellen?“, klang der alte Humor durch Schuldigs Stimme, auch wenn ihm der Witz schier im Hals stecken blieb.

Ran sah sehr gut aus in dem schwarzen Aufzug - seine Lieblingslederhose plus einem schwarzen Shirt.
 

Sie hatten seit längerer Zeit keinen Sex mehr gehabt und Schuldig wollte Ran nicht bedrängen, doch er vermisste Ran… auf diese Art.

Trüben Gedanken nachhängend lümmelte Schuldig auf dem Tresen herum - einen Ellbogen aufgestützt.
 

„Doch, habe ich.“ Ernst schallte aus Ayas Mund, doch seine Augen sprachen von bösem Humor. Crawford hatte einen gnädigen Tod nicht verdient, sondern einen richtig kräftigen Tritt in den Hintern.

Er kam zu Schuldig und besah sich den anderen Mann zweifelnd. Irgendetwas war anders heute Morgen. Irgendetwas hatte sich geändert, aber wenn Aya nur darauf kommen würde, was genau…

Er nahm sich einen Kaffee und stürzte die ersten schlucke schwarz hinunter.

Dann fiel es ihm auf.

Die Stirn runzelnd kam Aya näher und vergessen war Crawford für einen Moment.

„Da sind ganz viele Sommersprossen auf deinem Gesicht… die waren da gestern noch nicht…“, stellte er zweifelnd fest.
 

Mist. Jetzt hatten sie den Salat. Oder er… hatte den Salat.

Schuldig drehte sein Gesicht weg und versenkte es schier in der Kaffeetasse, als er daraus trank.

„Kann sein. Die waren aber vorhin auf der Terrasse auch schon da“, murmelte er wenig begeistert von Rans Feststellung.

Er mochte seine Sommersprossen nicht sonderlich und bei SZ hatte er gelernt sie zu übertünchen.
 

Aya nutzte Schuldigs Trinkpause, um dessen Gesicht zu sich zu drehen und mit sanfter Gewalt festzuhalten, es gleichsam kritisch unter die Lupe zu nehmen.

„Aber ich sehe sie jetzt erst! Kommen sie immer so schnell und alle auf einmal?“ Da war Ayas Neugier geweckt, vor allen Dingen, da sie sich fast ausschließlich um die Nase tummelten um dann auf dem Rest des Gesichtes vereinzelt ihr Unwesen zu treiben.

„Wieso habe ich das früher nie bemerkt?“, runzelte Aya die Stirn. „Das hätte dein Bösen-Image sehr schnell kaputt gemacht…“
 

Schuldig ließ sich begucken und sah mit trotzigem Blick zu Ran auf. Bis sich die Miene erhellte…

„Tja~a…Make up? Getönte Tagescreme?“, auf Schuldigs Gesicht breitete sich ein Lausbubengrinsen aus, ein waschechtes!

„Hab euch alle… verarscht!“
 

Ayas Blick war alles, nur nicht intelligent.

Schuldig veräppelte ihn.

Ganz stark.

„Make-Up? DU?“ Wenngleich es möglich war… war er doch Schuldig desöfteren damals nahe genug gekommen um sie zu sehen. Ein Finger ging mutig auf Wanderschaft und fing an zu zählen. „Glaube ich dir nicht!“, murmelte Aya währenddessen.
 

„Naja… im Winter sind sie eben heller“, Schuldig fing Rans Finger ein, gab einen Kuss darauf und schnappte sich eines der von Ran gezauberten Frühstückshäppchen.

„Und im Sommer haben wir uns selten am Tag getroffen, eigentlich so gut wie gar nicht.“
 

„Ich war noch nicht fertig…“, grollte Aya und stahl sich von Schuldig besagtem Häppchen. Es war ja nicht so, als wäre nicht noch genug da.

Nein.

„Unverschämtheit. Wenngleich es mich damals den Kopf gekostet hätte… dir zu lange ins Gesicht zu starren und den Kampf zu vergessen. Aber wie gut, dass ich jetzt alle Zeit der Welt dazu habe!“
 

„Ja… du kannst sie ja später zählen“, gab Schuldig unbestimmt zurück, lächelte ein wenig mager. Er fragte sich tatsächlich in diesem Moment ob sie auch wirklich alle Zeit der Welt dazu hatten und vor allem, wann Ran diese Zeit endlich wieder nutzen würde, um mit ihm zu schlafen. Er kam sich langsam sehr vernachlässigt vor.
 

„Hast du auch an anderen Stellen deines Körpers Sommersprossen?“, fragte Aya, als hätte er die Gedanken des anderen gelesen… was er definitiv nicht konnte. Doch hinter seiner Frage steckte eine Absicht, die er in den letzten paar Wochen nicht gehabt hatte.
 

„Du kannst ja nachsehen“, zwinkerte Schuldig herausfordernd.

„Doch jetzt sollten wir langsam los. Willst du nicht noch etwas essen?“
 

„Ich sehe heute Abend nach…“, erwiderte Aya und es klang wie ein Versprechen, wenngleich Aya sich nicht gänzlich sicher war. Die letzten Tage und Wochen hatte er in der Sicherheit des Verhülltseins geschwelgt, der Nähe, aber auch Distanz zu dem anderen Mann. Er hatte das Gefühl genossen, zu jeder Tageszeit angezogen zu sein, zu jeder Tageszeit eine Grenze zwischen sich, seiner absoluten Privatsphäre und den anderen zu haben.

Ja, auch Schuldig zählte in diesem Moment zu den anderen, auch wenn der Telepath ihm wesentlich näher als alle anderen war. Doch soweit er sich an die Zeit „davor“ erinnerte, hatte er seine eigene Zurückhaltung zugunsten seiner Verwirrung aufgegeben und hatte sich in einer Weise entblößt, die er sich sonst niemals gestattet hätte.

Doch die Zeit der körperlichen Distanz sollte nun vorbei sein, er wollte, dass sie vorbei war und war bereit, Schuldig wieder gänzlich an sich zu spüren, nicht nur in der von ihm ständig gesuchten partiellen Nähe.

Aya spürte, dass auch Schuldigs Geduld, seine Akzeptanz sich langsam dem Ende neigte… und dass er selbst nicht mehr so weitermachen konnte, selbst wenn er es wirklich gewollt hätte.

Das hatte er gerade an Schuldigs Gesichtsausdruck gesehen, an der Erleichterung in dessen Augen.

Aya hätte noch warten können, doch letzten Endes machte es keinen Unterschied. Er wollte Schuldig glücklich machen.

Er schob sich noch ein kleines Häppchen zwischen die Lippen und küsste Schuldig anschließend auf dessen Schopf.

„Auf zum Gang nach Canossa.“
 

Schuldig erhob sich. „Ich habe nicht vor mich vor Brads Bett auf die Knie zu werfen und ihn um Vergebung zu bitten“, meckerte Schuldig wegen Rans letzten Worten und des sprichwörtlichen, aber historischen Vergleichs.
 

o~
 

Es sah nicht gut aus um den darniedergestreckten Amerikaner… Schuldig hatte einen der herumschwirrenden Ärzte dazu gebracht, ihnen Auskunft über den Zustand des Orakels zu geben und der sah noch schlechter aus als die bewusstlose Gestalt.

Zwei Rippen waren gebrochen, ebenso wie ein Schulterblatt und er hatte einen Schuss in die Flanke bekommen. Das klang verdammt nach einem Überfall.

Aya war froh um die kleine Waffe in seinem rechten Stiefel… zum einen und zum anderen für den Dolch im linken.

Sie hatten viel Schmerzmittel gebraucht und noch war er schutzbeatmet, da sie noch nicht alle Untersuchungen hatten machen können. Sie vermuteten, dass alles in Ordnung war, doch eine Computertomographie stand noch aus.
 

„Er wird wieder werden“, sagte Aya mit einem Zähnknirschen, das man nicht überhören konnte. Verdammter Dreckskerl!
 

Schuldig stand nun mitsamt einer weiblichen Pflegeperson in dem Intensivzimmer. „Der Beatmungsschlauch kann sicher bald entfernt werden.“ Sie lächelte sie zuversichtlich an. „Gehen sie ruhig näher, wenn sie ihn ansprechen, dürfte er wach sein. Er atmet selbst und braucht nur wenig Unterstützung vom Beatmungsgerät.“

Schuldig nickte und mimte den ruhigen, aber besorgen Stiefbruder.
 

„Ich lasse Sie jetzt alleine. Seien Sie unbesorgt, wenn etwas alarmiert, wir sehen dies sofort in der Zentrale.“ Die Schwester ging und ließ sie alleine.

Schuldig stand noch immer drei Schritte vom Bett entfernt und starrte auf die Gestalt Brads. Er konnte nicht näher gehen. Keinen Schritt. Keinen einzigen verdammten Schritt. Durch die dünne Decke, die ihm bis zur Brust gezogen war, konnte man die Silhouette Brads darunter erkennen.
 

Schuldig spielte einige Szenarien im Kopf ab. Angenommen, er würde näher gehen und Brad ansprechen, mit ihm in Gedanken kommunizieren… NEIN. Das ging nicht.

Er konnte nicht mit Brad in Kontakt treten. Brad würde sich aufregen.

Oder war Schuldig selbst nur feige?
 

Doch Aya konnte und würde Schuldig hier nicht helfen… es ging nicht. Diesen Gang musste Schuldig alleine machen, dieser Mann hier war Schuldigs rotes Tuch.

Seines auch, aber nicht sein Wirkungskreis. Schuldig und Crawford empfanden mehr füreinander, er hegte keinerlei Gefühle für den Amerikaner.

Doch eine Hand fand trotz allem verstohlen den Weg an Schuldigs Flanke und munterte ihn auf, näher zu treten.
 

Für Schuldig war das eher ein Signal den Raum zu verlassen. Er ging einen Schritt zurück und strebte die Tür an, verließ die Station mit der Bemerkung an die Schwester, dass er zu einem späteren Zeitpunkt wieder mit dem Arzt in Kontakt treten würde, oder vorbei kommen würde.

Kurz darauf hatte er die Station verlassen. Er musste raus hier. Dringend.

Brad dort liegen zu sehen bedeutete für ihn die Katastrophe. Brad war für sie drei der Halt, ihr Anker und ihr Leitfaden in die Zukunft. Ohne Brad Crawford gab es keine Zukunft mehr für sie.
 

Die Präsenz des anderen Mannes fehlte plötzlich an Ayas Seite und ließ ihn vor dem großen Problem Crawford stehen.

Doch Aya verstand Schuldig, verstand dessen Drang zur Flucht. Er würde ihn gleich suchen… gleich… doch er brauchte noch Antworten.

Antworten, die er nur auf eine Art und Weise bekommen würde. Auf eine langsame… qualvolle… soweit es ihm überhaupt möglich war, mit dem darniedergestreckten Amerikaner zu kommunizieren.

Aya trat einen Schritt näher, noch einen, bis er ganz am Rand stand.

„Bist du wach?“
 

Brad schlief und hörte zwar Stimmen, die er kannte und dann wieder nicht kannte. Er ahnte was passiert war, genaueres jedoch entzog sich seiner Kenntnis.

Was er fürchtete, war das Alleinsein im Augenblick. Die Hilflosigkeit, in der er gefangen war. Er war an den Handgelenken fixiert und jeder, der in dieses Zimmer kam könnte ihn töten.
 

Keine Reaktion.

Es war eher Instinkt, der Aya eine von Crawfords Händen berühren ließ, die an das Bett gebunden waren und den Eindruck der Verletzlichkeit um ein Vielfaches verstärkten. Wie oft hätte Aya in der Vergangenheit beinahe alles dafür gegeben, diesen Moment zu erleben, Brad Crawford verletzt und seiner Gnade ausgeliefert? Doch nun... nun war da nichts außer... Sorge. Ja, es war Sorge, die er zu seiner Wut nun auch noch empfand.

„Crawford, bist du wach?“, wiederholte er lauter und eindringlicher.
 

Brads Hand umschloss bewusst die, die seine berührte. Er nickte langsam, konnte jedoch nicht die Augen öffnen. Sie waren viel zu schwer, er versuchte es, doch es blieb dabei.

Seine Atemfrequenz beschleunigte sich etwas und er wurde etwas unruhiger. Seine Gedanken gingen wild durcheinander, doch es beruhigte ihn, die Hand in seiner zu wissen. War das… Fujimiya? Wo war Schuldig? Nagi… Jei?
 

Alleine diese Hilfe suchende Geste, dieses Greifen nach seiner Hand, die soviel Vertrauen und Verzweiflung barg, ließ Aya für einen Moment seine Wut auf das Orakel vergessen.

„Ganz ruhig, ich bin es, Aya. Lass dir Zeit, du bist hier im Krankenhaus… in Sicherheit. Allen anderen geht es gut.“

Er hätte dieses Gespräch gerne mit seiner Schwester geführt… schoss es Aya durch den Kopf.
 

Brads Stirnrunzeln drückte Sorge und Unsicherheit aus. Er versuchte zu sprechen, doch der Schlauch in seinem Hals hinderte ihn daran.

Allen anderen ging es gut… diese Worte beruhigten ihn und sein Griff wurde etwas weniger dringlicher.
 

„Nicht sprechen, du wirst noch ein wenig unterstützt beim Atmen… wirst aber bald wieder ohne das Gerät atmen können.“

Aya erwiderte die Eindringlichkeit des Händedrucks und seine zweite Hand kam zur ersten. „Nagi ist in Sicherheit, ihm geht es gut, Schuldig auch, wir sind zusammen hierhin gefahren, Jei geht es auch gut.“ Dachte er sich… er glaubte zumindest nicht, dass der Ire tot war.

„War es ein Überfall? Du brauchst einfach nur zu nicken oder mit dem Kopf zu schütteln.“
 

Brad wusste es nicht mehr wirklich. Er konnte sich erinnern, dass er etwas… vorgehabt hatte und dass er sich mit jemandem treffen wollte. Ein Auftrag?

Er schüttelte den Kopf. Sicher war er sich nicht, aber was sollte er antworten?
 

„In Ordnung…“

Kein Überfall? Das beruhigte Aya auf der einen Seite, auf der anderen ließ es jedoch nur einen Verdacht zu… dass Crawford Aufträge ohne Schwarz tätigte, die momentan inaktiv waren.

Warum zum Teufel, wenn seine Visionen ihn vermutlich nicht warnten?

„Hast du einen Auftrag erledigt?“
 

Hatte er das? Er war sich nicht sicher. Aber er konnte sich daran erinnern, ähnliches geplant zu haben. Aufgrund dieser Unsicherheit versuchte er die Arme zu bewegen, doch er scheiterte an der ihm auferlegten Fixierung.
 

Das war keine Antwort gewesen… doch Aya braucht in diesem Moment auch keine. Er stillte beide Arme, indem er seine Hände auf die des Amerikaners legte, dadurch noch näher an Crawford war.

Der andere Mann sah schlimm aus… Schnitte überall im Gesicht, Hämatome… die Wangen eingefallen und Ringe über den Augen.

„Sie werden die Fixierungen bald lösen… wenn es dir besser geht.“
 

Es dauerte bis Brad sich aufgrund der eindringlichen Stimme beruhigte und die Worte in ihn dringen ließ.

Er wusste selbst jetzt, dass er nicht ungeduldig werden durfte.
 

„Willst du wissen, was passiert ist?“, fragte Aya leise und löste sich von beiden Händen um wieder eine zu umsorgen. „Was die anderen genau machen?“
 

Brad nickte. Er machte sich in dieser Ungewissheit Sorgen um ihrer aller Sicherheit und er verdammte sich, dass er derart zur Untätigkeit gezwungen war.
 

„Schuldig geht es gut… er ruht sich momentan aus, macht viel mit Banshee… er liebt sie abgöttisch. Ansonsten macht er wenig. Nagi ist mit Omi im Urlaub… sie sind für ein paar Tage weggeflogen und lassen es sich gut gehen und kommen in zwei oder drei Tagen zurück. Jei geht es sicherlich auch gut… zumindest hätte Schuldig gesagt, wenn es ihm nicht gut gehen würde! Und Schuldig spielt den ganzen Tag Playstation… anscheinend hat er nichts Besseres zu tun.“ Aya lächelte.
 

Brad ließ sich von den Worten beruhigen und seine Atemzüge reduzierten sich, er entspannte sich ein wenig. So weit es seine Nerven zuließen und soweit er Unterstützung durch die minimale Dosierung der Sedierung bekam.

Er drückte die Hand die seine hielt.
 

„Besonders Nagi geht es gut. Omi kümmert sich gerade um ihn… er taut auf. Omi tut ihm gut. Und du würdest Schuldig gut tun, wenn du wieder gesund bist… er macht sich Sorgen um dich.“ Dass Schuldig sauer war, verschwieg… das musste Crawford erst wissen, wenn es ihm besser ging.
 

Wie stets war es auch jetzt so, dass Brad zu diesem Thema den Kopf schüttelte. Er verneinte die Aussagen Rans. Sowohl die was Nagi als auch die was Schuldig und ihn anging.
 

Danach lag er still und fiel wieder in den oberflächlichen Zustand der dem schlafen ähnelte.
 

Wenig später kam dann die betreuende Schwester herein. "Ich möchte Sie jetzt bitten zu gehen, wir müssen bald zur Untersuchung fahren und es sind noch einige Vorkehrungen nötig."
 

Die letzten Minuten in schweigender Eintracht mit dem danieder liegenden Mann verbracht, sah Aya nun auf und in die Augen der Schwester. Er nickte und löste sich vorsichtig von dem schlafenden Mann, der seit geraumer Zeit kein Geräusch mehr von sich gegeben hatte und dessen Gestalt entspannter schien als zuvor.

Eigentlich entspannter, als er ihn jemals in seinem Leben gesehen hatte. Crawfords Gesichtszüge waren gelöst und kein strenger oder spöttischer Zug spielte um seine Lippen, sondern er war einfach... er. Das war Brad hinter dem großen, bösen Crawford, auch nur ein Mensch, der blutete, der verletzbar war und der sich verzweifelt darum bemühte zu leben.

Zumindest jetzt, denn ein Teil in Aya fand es sehr schade, dass der Amerikaner zum Ungeheuer zurückkehren würde, das er aller Welt präsentierte.

Schweigend verabschiedete er sich aus dem Raum und betrat den Flur. Von Schuldig war weit und breit nichts zu sehen… rein gar nichts. Vermutlich war der Telepath draußen.
 

Genau dort fand er ihn auch und Aya fragte sich, was mit seiner Wut war, die er anfangs auf den Amerikaner gehabt hatte. Es konnte doch nicht sein, dass er alleine bei dieser simplen Geste des Orakels, seine Hand zu greifen und sich daran festzuklammern wie ein kleines Kind, alles vergaß, was sich in den letzten Wochen gegen den anderen Mann aufgestaut hatte.

Nein.

Es war zum Einen das Band, das sich zwischen ihnen während Schuldigs Abwesenheit gebildet hatte. Diese menschliche Seite, die er an dem Orakel gesehen hatte. Zum anderen war es die Verletzlichkeit, auf die er ansprach. Mal sehen, wie es war, wenn Crawford aus seinem beinahe komatösen Schlaf wieder erwachte und der Alte wurde.
 

„Hey“, sagte er leise und kam zu Schuldig, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben. „Es geht ihm soweit gut…“
 

Was auch den Tatsachen entsprach.
 

Schuldig saß auf einer Bank und rauchte, obwohl er es an diesem Platz nicht durfte, aber das war ihm herzlich egal. Er hatte seinen neuerlich aufgebrandeten Zigarettenkonsum ohnehin schon wieder eingeschränkt und rauchte nurmehr eine oder maximal zwei Zigaretten am Tag. Doch jetzt war eine fällig. Wenn nicht sogar zwei.
 

Dass seine Hand sich in ihrem Zittern, als er aus der Klinik gekommen war, nicht hatte beruhigen lassen, war ihm erst beim Rauchen einer Zigarette aufgefallen.
 

Düster starrte Schuldig vor sich hin, während um ihn herum die Menschen in die Klinik strebten oder aus ihr heraus.
 

Aya stellte sich vor Schuldig, lehnte sich zu ihm hinunter, sodass er die volle Aufmerksamkeit des Telepathen genoss.

„Du bist vor ihm geflohen. Warum?“
 

Schuldigs Gesicht blieb nach unten gerichtet, seine Augen jedoch schraubten sich zu Ran hoch, was seinem Blick eine gewisse Unheimlichkeit verlieh. Aber davon bekam er nur wenig mit, denn seine Gedanken waren durcheinander.

Er schloss seine Augen und klärte seinen Blick, sah wieder auf seine Hände, die die Zigarette hielten. „Ihn so zu sehen, bedeutet, dass wir auseinander brechen. Brad ist unser Halt. Ich… ich habe alles zerstört.“ Schuldig setzte sich auf und verbarg sein Gesicht in seinen Händen, die Zigarette viel unbeachtet auf den Boden. „Das ist alles meine Schuld.“
 

Das Stimmengewirr der Menschen, die Vögel die im Wettstreit zwitscherten, all das schien ihm so surreal. So weit weg von der Schwärze, die ihn zu befallen drohte.
 

„Warum ist es deine Schuld?“, fragte Aya nach und ging vor Schuldig in die Hocke.

In diesem Augenblick sah man jeglichen Gedanken, der dem Telepathen durch den Kopf ging und auch, dass es kein guter war.

Aya drückte die Zigarette aus, um Schuldig nicht zu berühren. Er wollte es, doch es waren zu viele Leute um sie herum… und Aya war nie jemand gewesen, der in der Öffentlichkeit große Nähe gezeigt hatte.
 

„Weil ich mich von der Gruppe entfernt habe. Ich… ich habe ihn im Stich gelassen und deshalb… deshalb sind wir jetzt an diesem Punkt. Brad…“ Schuldig wusste um den Umstand, dass Brad keine Voraussicht mehr hatte. Dass er nur mehr überlagerte Visionen hatte. Schuldigs Tod überlagerte diese Voraussicht, die für Brad die Lebensversicherung war.
 

„Du hast dich nicht von der Gruppe entfernt. Du bist immer noch ein Teil von Schwarz, ein wichtiger Teil. Er ist es, der sich von euch entfernt hat… wenn überhaupt. Er konnte nicht damit umgehen, dich nicht für sich zu haben.“

Aya seufzte und verschränkte seine Arme. Das Leder seiner Hose knirschte dabei.
 

„Ich weiß nicht“, sagte Schuldig leise und angeschlagen. „Ich weiß gar nichts mehr. Er ist nicht der Böse hier. Er hätte mich jederzeit haben können, aber er hat dagegen entschieden. Er wollte mich nicht zum Preis der Erinnerung an Kitamura. Ist das nicht edelmütig?“ Schuldig schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist einfach zu viel.“ Sein Gesicht war von Sorge geprägt, von beginnender Verzweiflung.

Wieder bettete er die Stirn in die Hände. Er wollte weg von hier, aber sie mussten noch auf Jei warten.
 

Crawford hätte Schuldig haben können? Ja… Aya wusste das, aber es jagte ihm immer noch einen Stich an leiser Eifersucht durch seine Gedanken, eben weil er wusste, dass die beiden eine längere Vergangenheit teilten.

„Willst du ihn, Schuldig?“, fragte Aya ruhig. „Willst du, dass ihr euch näher seid als jetzt?“
 

„Nein!“

Schuldig riss sich die Hände vom Gesicht und Tränen standen in seinen Augen, allerdings verschwanden diese auch so schnell wie sie gekommen waren.

„Nein, verdammt, darum geht es nicht. Ich will, dass er lebt, dass er nicht in diesem Scheiß Krankenhaus liegt und keinen Schutz hat. Ich will, dass er nicht so hilflos ist. Er war nie hilflos. Nie. Ich bin nicht gut darin, auf jemanden aufzupassen. Das ist sein Job, verdammt.“
 

„Ja, ist es. Und wenn er erst einmal aus diesem Krankenhaus wieder entlassen wird, werden wir ihn schon dazu bringen, seine Verantwortung wieder zu übernehmen.“

Ayas Hand wanderte kurz zu Schuldig und drückte diese.

„Ja, wir. Du bist nicht alleine, Schuldig. Du hast mich und ich unterstütze dich dabei.“ Er wollte diese Tränen nicht in den grünen, verzweifelten Augen sehen, er wollte sehen, dass diese Augen lachten… wieder lachten und glücklich waren.

„Er ist nicht tot, Schuldig, er ist in der Lage zu kommunizieren und er wird vermutlich vollkommen genesen.“
 

„Aber was ist das nächste Ma…“ Schuldig verstummte und er lachte auf, allerdings war es kein glückliches Lachen. Eher ein kummervolles. „Ich höre mich an wie du…“
 

Aya spiegelte das unglückliche Lachen mit einem schmalen Lächeln.

„Ja, das tust du, aber es wird kein nächstes Mal geben, das weiß ich. Zumindest werde ich dafür sorgen.“

Er hatte auch schon eine sehr gute Idee, wie er dafür sorgen würde und wie eindrücklich die Spuren bei diesem verdammten Amerikaner wirken würden.
 

„Das hört sich schmerzhaft an für… Brad“, sagte Schuldig und beruhigte sich ein wenig, atmete tief ein. „Sei nicht zu grob“, mahnte er, wenn auch halbherzig. „Du weißt ja… die wichtigen Teile verschonen.“ Das brachte Schuldig nun wieder ein übliches gemeines Lächeln aufs Gesicht.
 

Das sah doch schon mal besser aus, befand Aya und nickte. „Kommt darauf an, was du unter wichtig bezeichnest. Den verbalen Tritt in seine Eier bekommt er gratis, den körperlichen gleich mit dazu. Er hat es nicht besser verdient, aber überlass das ruhig mir.“

Schuldig glaubte ihm nicht, hielt das für einen Spaß, das wusste Aya, doch er meinte es bitterernst. Hier musste sich etwas ändern, und wenn es der Amerikaner war.
 

Wenn er sich da mal nicht verschätzte. „Ran… egal, was du tust, und ich traue dir durchaus zu, DASS du es tust: Keine wichtigen Teile, nicht ins Gesicht und nicht in die Eier. Ja?“ Schuldig lächelte honigsüß.
 

„Ich werde mich bemühen.“ Aya lächelte kurz und erhob sich. Schuldig hatte beide Teile der Crawfordschen Anatomie also noch für weitere Vorgänge verplant?

„Wollen wir? Oder willst du noch zu ihm hinein?“ Wohl eher nicht, wenn er sich den Widerwillen in der Gestalt des anderen Mannes ansah.
 

„Wenn du willst kannst du schon vorgehen. Ich weiß nicht, wann Jei auftaucht, will aber auf ihn warten, okay? Oder hast du Lust noch shoppen zu gehen? Es bringt jetzt ohnehin nichts, Panik zu schieben. Die Kleinen sind in Sicherheit, Jei ist unterwegs und Brad momentan durch uns abgesichert.“
 

„Nein, ich warte mit dir. Zu zweit ist es sicherer als alleine.“

Aya ließ sich neben Schuldig auf die Parkbank nieder und verschränkte die Arme. „Danach können wir immer noch einkaufen. Wir bräuchten sowieso noch gewisse Dinge, die uns abhanden gekommen sind und die wir noch nicht nachgekauft haben.“
 

Schuldig grübelte einige Minuten darüber nach bis ihm ein Licht aufging. „Ah… du meinst die Spielzeugsammlung?“
 

„Genau die. Wir sollten variieren… uns neue Modelle anschaffen.“ Ayas Blick schweifte über die Leute zum Krankenhauseingang.
 

Schuldigs Miene spiegelte ehrliches Interesse wieder. „Du meinst wie vor ein paar Wochen, als wir uns neue Möbel gekauft haben? Möchtest du im Laden auch alles erst einmal durchprobieren? Ginge sicher“, meinte er lapidar.

„Schließlich… kann man ja nicht die Katze im…Sack kaufen.“
 

„Vor allen Dingen die nicht“, bekam Schuldig mit einem schiefen Seitenblick als Antwort. „Du würdest es sogar noch möglich machen, dass wir die Sachen ausprobieren… aber nicht im Laden. Es reicht, wenn wir sie zuhause austesten.“

Aya dachte über ein paar Dinge nach, die er in den letzten Tagen nachgelesen hatte. Dachte auch an die Fesseln, die er in der Hand gehalten hatte und die ihn immer noch anwiderten. Bei Youji war zwar auch Unwillen und Vorsicht mit dabei gewesen, doch diese Angst, die er nun empfand, wollte er loswerden. Konfrontationstherapie? Aya wusste es nicht und hielt es kaum für klug. Es wäre das erste Mal seit langer Zeit und wenn er nun völlig ausflippte, würde sich Schuldig vermutlich nie wieder an ihn herantrauen. Nein... besser, damit warteten sie noch etwas.
 

„Wir könnten aber auch eine kleine Bestellrunde einlegen… ich weiß auch schon wie.“ Schuldig war hellauf begeistert von seiner Idee. „Nachher im Arbeitszimmer können wir die Sachen gleich einmal begutachten. Wir shoppen ne Runde im Internet und bei den Toys, die uns anmachen - ist ja sofort zu sehen - stoppen wir dann und die werden dann gekauft!“
 

„Und wie lange brauchen sie dann, bis wir sie haben? Wenn wir sie heute kaufen, können wir sie auch gleich mitnehmen. Oder willst du noch eine Woche darauf warten?“

Aya runzelte die Stirn.
 

„Guter Einwand. 24 Stunden Service? Wobei es sicher unterhaltsam wäre… in den Shop zu gehen“, wurde Schuldig nachdenklicher und in ihm wirbelten die interessantesten Ideen herum.

„Ich bin für den Shop!“, kam er dann zum Resultat. Eine gelungene Abwechslung zum gegenwärtigen Anlass und dem dazugehörigen Ort.
 

„Sehr unterhaltsam wird es werden… ja.“ Ayas Blick wanderte skeptisch in Schuldigs Richtung. Schuldig plante irgendetwas, das wusste Aya, doch was sollte er machen? Er hatte es ja selbst vorgeschlagen… und es würde Schuldig auf andere Gedanken bringen.
 

„Du opferst dich für meine gute Laune?“ Schuldig hatte den Blick gedeutet und Ran ahnte was ihm blühte, aber er ging dennoch darauf ein… ein eindeutiges Indiz dafür, dass Ran den Samariter spielte und seinen Körper verkaufte… Schuldig fand Gefallen an der Masche.
 

„Nicht wirklich.“ Aya überlegte. „Auch. Ich will ja schließlich ebenso meinen Spaß. Und ich will Spaß mit dir… ich weiß, dass du mich willst. Ich will dich auch… dieses Mal wirklich. Ich möchte wieder mit dir schlafen, Schuldig.“ Ayas Stimme war ernst, genauso wie sein Blick auch. Ein wunderbares Thema war es, mitten in der Öffentlichkeit, wo andere sie hören konnten. Doch irgendwie war es Aya auch egal.
 

Schuldig lehnte sich auf der Bank zurück und breitete die Arme auf der Lehne aus, blickte in die Runde, bis er wie beiläufig bei Ran ankam.

„Das klingt, als hättest du es dir fest vorgenommen und im Kalender rot angestrichen.“
 

„Was wäre so schlimm, wenn?“ Auch Ayas Blick wanderte zu den grünen Iriden und seine roten Augenbrauen hoben sich. „Momentan brauche ich klare Linien, warum soll das nicht dazu gehören?“
 

Den Kopf aufseufzend und wirklich kapitulierend in den Nacken legend öffnete Schuldig die klaren grünen Augen gen Himmel und fragte sich gerade, ob Ran das wirklich eben gesagt hatte.

Er hatte ihm jetzt nicht gerade offenbart, dass er den Sex planen wollte, oder? Er schwieg für lange Momente, schüttelte dann den Kopf und richtete sich wieder etwas auf.

„Ich habe gewartet und ich akzeptiere deine Unlust dem Sex mit mir gegenüber, Ran. Ich verstehe es nicht ganz, aber ich akzeptiere es. Du kannst vor mir aus alles planen, aber das nicht.“ Schuldigs Stimme nahm einen unterschwellig verständnislosen Tonfall an. „Wie kannst du etwas planen, dass für uns beide immer mit Leidenschaft und Spontaneität begonnen hat? Wenn es keinen Sinn und keinen Zweck hat, sondern nur zum Protokoll dazugehört, dann können wir es ebenso gut lassen.“

Schuldig erhob sich, deutlich verstimmt, aber nicht so sehr, dass er wütend geworden wäre. „Ich möchte nicht mit dir schlafen, nur weil es auf der Tagesordnung steht, damit ich zufrieden bin, dann kann ich mir gleich einen runter holen. Solange du keine Lust auf mich hast, können wir es wirklich bleiben lassen.“

Wenn das ein Dauerzustand bleiben sollte… dann würde Schuldig durchdrehen und ihre Beziehung wäre zu Ende. Ohne Sex konnte Schuldig nicht mit Ran zusammen sein, wenn dieser ihm Sex verweigern oder nicht mit der gleichen Leidenschaft dabei sein würde… es wäre eine Katastrophe.
 

„Du hast mich nicht verstanden.“

Aya sah zu Schuldig hoch, immer noch ruhig und verschränkte die Arme, als Schutz vor dieser Situation. Vielleicht war es doch eine absolut falsche Idee gewesen, hier in aller Öffentlichkeit darüber zu sprechen, denn mit einem Mal fühlte sich Aya mehr und mehr entblößt.

Er fühlte sich nicht gefestigt, besonders nicht nach der letzten Zeit und versuchte so, seinen Weg zu seiner eigenen Sexualität zurück zu finden. Doch Schuldig schien da anders darüber zu denken.

„Ich habe es heute nicht geplant, um dich alleine zu befriedigen, sondern um selbst zu unseren alten Sexleben zurück zu finden. Damit es schließlich wieder spontan wird… ich muss wieder einen Anfang finden.“
 

Schuldig bemerkte diese Schutzhaltung und sein Blick - der zuvor Unverständnis und beginnenden Unmut gezeigt hatte, wurde weicher. Rans Augen fanden zwar seine, doch der Blick flirrte, als würde Ran jeden Moment wegsehen wollen. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, nachdem er aufgestanden war und holte sie jetzt hervor sich wieder niedersetzend. Nahe an Ran, eine der Hände nehmend und dessen Haltung somit auflösend. „Dann finden wir den Anfang gemeinsam, planen hilft da gar nichts.“

Er hatte nur Angst, dass Ran keine Lust mehr auf ihn hatte, was nicht nur seinem Ego einen herben Schaden zufügen, sondern was ihn sehr aus dem Gleichgewicht bringen würde.
 

Ayas Haltung war immer noch verkrampft, angespannt, und das nicht nur, weil sie gerade in der Öffentlichkeit Nähe zeigten und über absolute Nähe sprachen.

„Dir hilft planen nicht, das weiß ich, aber ich muss es mir vornehmen, um dir wieder nahe zu sein und nicht in alte Verhaltensmuster zurück zu fallen, wie ich sie in Weiß’ Anfangszeit hatte.“ Ayas Blick schweifte nachdenklich über die Menschen, die ihren Weg kreuzten.

„Ich fange neu an…“

Es war schwer, darüber zu sprechen, da er solche Dinge früher ausschließlich mit sich selbst ausgemacht hatte.

Seine Augen sanken hinab zu ihren Händen, die verbundenen und seine Haltung sackte etwas in sich zusammen.
 

„Entspann dich, Ran.“ Schuldig wandte Ran sein Gesicht zu und schenkte ihm ein waschechtes Lausbubengrinsen. „Die erinnern sich ohnehin nicht mehr an uns. Selbst wenn ich mich nackt ausziehe und Pogo tanze.“ Er wackelte zur Bekräftigung seines Argumentes mit den Augenbrauen und grinste verschmitzt.
 

Das brachte Aya nun doch zum Lachen.

„Ich vergaß…“ Wie so vieles vergaß er die kleinen Details, wenn er mit Schuldig unterwegs war, weil sie einfach schon Alltag waren.

„Wenngleich es eine interessante Aussicht wäre.“ Aya lehnte sich auf der Bank zurück und atmete langsam aus, atmete ein Stück der Anspannung hinaus.

Seine Augen begegneten denen des anderen und er lächelte tatsächlich.
 

Mit diesem Lächeln gefiel ihm Ran schon gleich viel besser.

„Schon klar“, meinte Schuldig wenig überrascht und senkte seine Augen auf Halbmast. „Mich zum Affen zu machen, um dir Unterhaltung zu bieten, ist eine meiner leichtesten Übungen!“, behauptete er siegessicher mit einer Spur Spott.

Er überlegte einen Moment… „Was hältst du davon, wenn wir shoppen gehen, danach etwas zum Essen nach Hause mitnehmen und uns einen gemütlichen Abend machen?“ Er blickte zum Krankenhaus hin. „Es nützt nichts, wenn ich mir den Kopf über ihn zerbreche, das zieht mich nur mehr runter.“
 

„Du kannst ihn aber nicht einfach so aus deinen Gedanken streichen… es sei denn, ich helfe dir dabei. Wie wäre es, ich lasse dich heute Abend sogar Playstation spielen?“

Aya überlegte einen Moment. „Shoppen ist dein neues Lieblingswort. Hast du dich mit Youji unterhalten… er benutzt es auch immer. Shoppen. Das klingt nach Kaufsucht.“

Ayas Stimme war nachdenklich, aber dennoch auch mit Humor getränkt.
 

„Mit diesem… Pseudo-Dressman? Niemals. Never ever.“ Schuldig gab sich pikiert und verschränkte die Arme natürlich mit Rans Hand in seiner, was diesen dazu brachte sich halb an ihn zu lehnen und was Schuldig dazu nutzte um Ran einen kleinen Kuss auf die verblüfften Lippen zu platzieren.
 

Die Lippen waren wirklich verblüfft und Ayas erste Reaktion war es, aus Instinkt zurück zu weichen, wenigstens einen Millimeter, was er mit einem Grollen überspielte.

"Doch, der Pseudodressman. Ihr seid euch gar nicht mal so unähnlich, wirklich nicht. Ihr habt teilweise sogar die gleiche Gestik und Mimik."
 

Schuldigs Züge entglitten ihm ein wenig, bevor er Ran fester an sich zog und knurrte. „Sag noch einmal so etwas Ungezogenes und ich leg dich daheim übers Knie.“

Fast im gleichen Augenblick spürte er die Signatur von Jei.
 

Solange es nur zuhause war und nicht hier..., schoss es Aya durch den Kopf, als er mit menschlichen Augen erfasste, was Schuldig zuvor mit telepathischen wahrgenommen hatte.

Seine Finger gruben sich in Schuldigs Oberschenkel, bevor er sich mit bestimmter, aber wohl kalkulierter Gewalt von Schuldig löste.
 

„Ein wenig sanfter, Cherie und ein weniger weiter in die Mitte und du hast dein Ziel gefunden!“, zirpte Schuldig ganz der versaute Schuljunge, der er im Inneren war, bevor er sich zu Jei umwandte, diesem in einiger Entfernung zunickte und ihm kurz telepathisch einwies.

Nach einigen Minuten erhob er sich. „Wir können gehen, Jei übernimmt.“
 

Aya nickte Jei zu und erhob sich ebenso wie Schuldig. Er steckte seine Hände in die Taschen und bedachte Schuldig mit einem dunklem Blick. Cherie.

Er würde Schuldig helfen.

Cherie.

Wenn sie Zuhause waren.

Ziel gefunden…

„Gehen wir.“ Und wie es wie eine Drohung klang.
 

Schuldig lachte leise, dafür aber dunkel in sich hinein und folgte Ran. Er suggerierte den Schwestern und Ärzten mittels Telepathie, dass Jei ein sehr naher Verwandter von Brad war um diesem die Zugangsberechtigung zu erteilen und gab ihm noch allerlei andere Instruktionen, bevor sie sich vom Klinikgelände machten.

Sie sprachen wenig, sehr wenig auf dem Weg zum Wagen und auf dem Weg nach Hause. Die Drohung… die unterschwellige… lag gewichtig in der Luft.

Und Schuldig freute sich irgendwie darauf, Ran zu triezen.
 

Und Aya freute sich darauf, Schuldig für dieses Getrieze zu bestrafen...wie er es immer tat.

Er saß in dem bequemen Ledersitz ihres Stadtwagens und hatte die Augen geschlossen, sinnierte durch, was passieren konnte und würde.

Trotz aller Planung freute er sich auf das, was überraschend kommen könnte, was Schuldig mit ihm machte… es war also doch noch nicht alles gestorben…

Ayas Augen öffneten sich ruckartig.

„Wir müssen noch einkaufen!“, kam es plötzlich und leicht panisch.
 

Schuldig konnte diese herausklingende „Dringlichkeit“ nicht ganz deuten. Zumindest piesackte ihn eine innere Stimme damit, dass Ran einfach nicht nach Hause wollte, weil er die sexuelle Annäherung zwischen ihnen scheute und deshalb alles mögliche als Entschuldigung in die Waagschale werfen würde.

Schuldig wendete also den Wagen und sie suchten sich ihren Weg Richtung Parkgarage.

Er ließ sich jedoch nichts anmerken. Es war doch völlig egal, ob sie Spielzeuge hatten oder nicht, für Schuldig war Ran völlig ausreichend, das Einzige, was er brauchte. Und zwar seit Tagen dringend brauchte. Er wollte begehrt werden. Er wollte wieder von Ran begehrt werden. Stattdessen… brauchten sie Spielzeuge.

Schuldig fühlte sich so richtig bescheiden.
 

Aya brauchte etwas, um genau zu sein, bis direkt vor dem Laden, bis er in seiner eigenen Vorfreude merkte, dass es kein stilles Lächeln war, das ihn bei Schuldig erwartete, sondern eine ganz bestimmte Art von Niedergeschlagenheit, die ihn alarmierte.

Er wurde langsamer, wandte seine komplette Aufmerksamkeit Schuldig zu und betrachtete sich den anderen stumm. Er sagte nichts, keinen Ton… sondern analysierte mit seinen Augen, was Worte nicht konnten.
 

„Da sind wir schon“, sagte Schuldig und lächelte aufmunternd, wobei er nicht wusste, wen er mehr aufmuntern wollte – Ran oder doch eher sich und seine eigene Frustration.

„Also hinein in die gute Stube.“

Er hatte immer gedacht, er war unwiderstehlich und Ran… Ran würde zumindest nach einiger Zeit wieder auf ihn abfahren, körperlich gesehen.

Gott…

Es war nicht so. Ran begehrte ihn nicht. Nicht mehr.

Schuldig wischte diesen Gedanken komplett weg, als sie den Laden betraten. Nein. Ran… er…
 

Hier gab es ein gewaltiges Problem und Aya wusste nicht, worin es begründet lag. Das machte ihn unruhig, sehr sogar und er versuchte, von selbst darauf zu kommen...scheiterte jedoch an seiner Soziopathie.

Doch Schuldig in einem Sexshop zu fragen, was ihn bedrückte, war grotesk. Entweder, sie verließen dieses Geschäft auf der Stelle oder sie erfüllten die Pflicht, etwas zu kaufen, und sprachen danach über ihr Problem.

„Schuldig, was hältst du hiervon?“, fragte er und deutete auf ein schlichtes Set aus Federn, etwas zum Eingewöhnen und Testen, wie der andere reagierte.
 

„Da kannst du gleich Banshee drüber schicken was ungefähr den gleichen Effekt hat… bis auf die Krallen versteht sich“, kam der fachmännische Rat und Schuldig ging zielstrebig durch die Reihen, griff sich das eine oder andere aus den Regalen, was er für sinnvoll hielt und was edel und teuer genug war.

Er wollte raus aus dem Laden, denn in seiner gegenwärtig labilen, emotionalen Verfassung hatte er keine Lust auf einen ausgedehnten Sexshopeinkauf.
 

Schuldig war auf der Flucht… auf der Flucht vor ihm, das erkannte Aya, wollte jedoch ein letztes Mal austesten, was Sache war… um ganz sicher zu sein.

Er griff sich einen Gegenstand von einem der Regale und kam zu Schuldig.

„Was ist damit?“, fragte er und hielt dem Telepathen Fesseln unter die Nase, Metallfesseln.
 

Schuldigs Atem beschleunigte sich zwei Züge und er spürte, wie sehr ihm genau diese Situation schmerzte. Es stand in seinen Augen. Er runzelte die Stirn für einen Moment.

„Wir haben zwar welche zu Hause, aber du kannst sie gerne mitnehmen. Ich denke, sie passen mir ganz gut.“ Schuldig pflückte sie Ran aus der Hand und legte sie in den kleinen Tragekorb. „Hast du sonst noch etwas gesehen?“
 

„Ja, dich und wie du ein Problem mit dieser Situation hast“, erwiderte Aya hart, nahm Schuldig den Korb weg, stellte ihn achtlos beiseite und zog den anderen mit nach draußen. Hoffentlich erinnerten sich die Besitzer nicht an sie…
 

Was Schuldig ohnehin gleich erledigte in dem er ihre Anwesenheit löschte. Was ihm schon zur Gewohnheit geworden war.
 

„Was hast du?“, fragte Aya schlicht.
 

„Ich… fühl mich nicht gut. Lass uns gehen“, fügte Schuldig an und blickte sich um, an Ran vorbei, die Straße hinunter. Sein Brustkorb schien sich zusammenzudrücken und er hatte das Gefühl, er trauerte ihrer Beziehung nach.
 

„Warum fühlst du dich nicht gut? Sonst war es dir eine Freude, die kleinen Helferlein mit nach Hause zu bringen und sie auszuprobieren. Und jetzt siehst du aus, als würdest du vor mir fliehen.“ Ayas Arme waren verschränkt und sein Blick war rein auf Schuldig fixiert.
 

„Verdammt!“, begehrte Schuldig auf.

„Siehst du nicht, dass es mir scheißegal ist, was wir kaufen oder ob wir etwas kaufen? Du allein reichst mir aus. Aber du bist für mich nicht zu erreichen, was soll ich dann mit diesem Kram? Kannst du mir das sagen?“

Er erhielt keine sofortige Antwort, was ihn dazu veranlasste keine Sekunde länger zu warten und zurück zum Wagen zu eilen. Die Straße erschien endlos lange und die Menschen um ihn herum schienen ihn zu verhöhnen. Mit finsterer Miene löste er das Ticket und erklomm die Stufen ins Parkhaus.
 

Einen Moment lang war Aya stehen geblieben, vor Unglauben gelähmt. Dann jedoch kam er Schuldig nach wie das drohende Unheil im Rücken des Deutschen.

Es reichte.

Alles reichte.

Nicht zu erreichen?

Er wollte Schuldig, was sollte er noch mehr tun um Schuldig zu erreichen, um ihn zu wollen? Verdammt noch mal!

Kaum waren sie beim Wagen, packte Aya Schuldig und wirbelte ihn herum, warf ihn gegen die Wagenseite.

„Was soll das, du Arschloch?“, zischte er dunkel, wütend. Ja, und er war wütend, er platzte schier vor Wut. Wütend über das, was Schuldig ihm vorwarf.
 

Schuldigs Instinkte schlugen nur mäßig bis gar nicht aus, da er Ran hinter sich wusste, aber mit so einer Reaktion hatte er nicht gerechnet.

Die wütende Maske, die ihm begegnete, erstaunte, aber… sie beruhigte ihn auf eine verquere Art und Weise. Ran war ihm nicht gleichgültig gegenüber.

„Was…?“

Er wollte sich von Ran lösen, der ihn immer noch festhielt, scheiterte jedoch an dessen Vehemenz. „Nennst du das Begehren?“ Er ließ die Frage stehen. „Begehrst du mich? Und überleg dir gut, was du sagst. Denn momentan sieht es nicht danach aus. Und ich habe Angst, Ran. Wenn du das nicht verstehst… was soll ich dir sonst noch sagen?“
 

„Wir ficken monatelang miteinander, wir wohnen zusammen, sind durch Dinge gegangen, gewatet, GEKROCHEN, die andere in ihrem Leben nicht durchmachen und dann wagst du es, mir so etwas zu sagen?“ Ayas Stimme wurde immer und immer lauter, bis er das Gefühl hatte, sie nicht mehr richtig kontrollieren zu können. „Du entwertest all die Monate, in denen ich dich nicht zurückgewiesen habe! Du hast Angst? Warum? Dass ich dich nicht mehr will? Wieso sollte ich dich nicht mehr wollen? Wieso hast du das nicht vorher schon gedacht… als unsere Sexspiele hart an der Grenze zum Perversen waren? Wieso JETZT? Nur weil ich Spaß möchte, mit DIR, nicht mit dem Scheißamerikaner, der dich aus der Bahn bringt, noch mit Youji, noch mit irgendwem anders! Mit DIR!“

Ayas Hände hatten sich in Schuldigs Oberarme gegraben.
 

Und Schuldigs brachten sich genauso verzweifelt um Rans Gesicht. Hielten es fest.

„Im Augenblick Ran… im Jetzt und hier… hast du Angst vor dem Sex mit mir. Siehst du das nicht? Was nützt die Vergangenheit in der Gegenwart? Wo ist da dein Begehren wenn du den Sex planst? Du dich daran gewöhnen willst?“ Schuldigs Stimme war verloren.
 

„Frag Youji, wie es nach meinem ersten Zusammenbruch war“, erwiderte Aya brutal, doch es gab keine andere Möglichkeit… zumindest sah er keine.

„Und Youji habe ich begehrt, auch danach. Aber ich muss mir selbst zeigen, dass es SCHÖN ist, mit dir zu schlafen und nicht, dass es schön ist, wenn ich mich in mein Schneckenhaus aus Kleidung und Distanz einhülle! Verdammt! Ich bin nun einmal nicht so offen wie du! War es NIE!“
 

Schuldig rekapitulierte die Worte, die Ran die letzten Augenblicke veräußert hatte, konnte sich aber schlichtweg keinen großen Reim darauf machen.

Was hatten die vergangenen Monate damit zu tun wie Ran ihn im Moment sah? Ran hatte aus besagtem Grund keine Lust auf ihn, auf Sex, was hatte dies mit ihrer Beziehung in der Vergangenheit zu tun?

Er schwieg für Momente in denen er Ran nur ansah, das Gesicht frei gebend. „Ich bin nicht Kudou. Nur weil es bei ihm „danach“ wieder gut war, heißt es nicht, dass es jetzt auch ein temporär begrenzter Zustand ist. Menschen verändern sich durch die simpelsten und auch durch einschneidende Geschehnisse. Und dann… wechseln sie ihr Umfeld, ihre Beziehung. Warum schreist du mich an wenn ich Angst davor habe, dass eben dies passieren könnte? Ist das so abnormal?“
 

„Und wieso gehst du davon aus, dass es bei uns genau andersherum sein muss? Dass das hier das Ende ist? Wo du fast abgekratzt bist… nein, du warst tot und bist von den Toten aufgestanden…

Wo ich auch für dich mit Kritiker gebrochen haben… wo wir durch Feuer gegangen sind, weil unsere Freunde den Partner nicht mögen? Und dann sollte ich dich jetzt fallen lassen?“ Aya war sich bewusst, dass er ausfallend wurde, nein, war und dass das seiner Wut nicht abträglich war.

„Wir haben so viel durchgemacht, soviel vergessen, was wir uns gegenseitig angetan haben dafür, dass jetzt bei so einer dummen Gelegenheit alles aus ist? Niemals!“
 

„Reg dich ab, Ran.“ Schuldigs Stimme war fest und er verstand Rans Wut nicht. „Du wolltest wissen warum ich in keiner guten Stimmung war. Ich habs dir gesagt. Das sind nun mal meine Gefühle, soll ich mich dafür entschuldigen? Oder hätte ich besser den Mund gehalten?“ Wenn er schon seine Klappe so weit aufgerissen hatte und die Gründe für seine zurückhaltende depressive kurze Verstimmung preisgegeben hatte konnte er jetzt auch Klartext sprechen. So ganz verstand er den Aufriss jetzt nicht. Natürlich war er down. Und er fand es auch nicht weiter tragisch, dass er Angst hatte Ran zu verlieren.

Aber… für ihn war diese Angst normal, der ständige Begleiter. War es für Ran so neu, dass er Angst hatte? Die ständige hintergründige Befürchtung, dass Ran aus vielen unterschiedlichen Gründen – aber vor allem wegen ihm selbst – einem verrückten Telepathen - nicht mehr bei ihm bleiben würde…
 

„Nein, hättest du nicht und nein, sollst du nicht“, erwiderte Aya mit zusammengebissenen Zähnen. Die Situation war verfahren… eingefahren und Aya wusste, dass er erst einmal wieder herunterkommen musste um normal zu reagieren.

Er löste sich von Schuldig und ging zur Beifahrerseite.

„Lass uns fahren“, sagte er schlicht und hatte die Hand auf der Türklinke, wartete darauf, dass Schuldig den Wagen öffnete.
 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für‘s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Gadreel & Coco
 


 


 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Saisonbedingte schmutzige Geschäfte

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Rapist

~ Rapist ~
 


 


 

o~
 

Mehr als nur ein bisschen Verstand strotzte Schuldig am nächsten Morgen - bei genauerem Betrachten Mittag - aus dem Spiegel entgegen.

Er war dabei sein Outfit zu vervollkommnen und zog gerade seinen Zopf am Hinterkopf fest – den er als kleinen nachlässigen Knoten trug - wobei ihm malerisch zwei Haarsträhnen entkamen und sich um sein Gesicht legten.

‚Perfekt’, dachte er, die Bescheidenheit in persona und verließ das Badezimmer gen Wohnraum. Er steuerte die offene Küche an und warf dem daniederliegenden, zerstrubbelten Elend auf der Couch einen neugierigen Blick zu. Zwischen all den roten Haaren und den zwei Decken lugte ein wenig blasse Haut hier und da heraus. Ein geheimnisvoller, dazu noch anklagender Blick aus japanischen Augen sezierte ihn.

Sie hatten heute auf der Couch genächtigt, zumindest zwischen ihren orgiastischen Einlagen.
 

Schuldig sah… intelligent aus.

Die Augenbraue hebend, es aber auch dabei belassend, da ihm sonst alles wehtat, besah sich Aya den deutschen Telepathen und murmelte lautlos ein „Collegeboy“. Sehr lautlos, denn er bewegte eigentlich nur die Lippen, wenn überhaupt.

Eine braune Cordhose, ein Hemd, eine Umhängetasche und eine… BRILLE.

„Willst du dich weiterbilden?“, fragte er beißend und räusperte sich. So ganz wach war er noch nicht. Sie waren ja auch erst vor anderthalb Stunden aufgewacht, völlig gerädert, steif und mit Muskelkater an Stellen, die nicht angenehm waren.
 

Der Duft von Kaffee wehte Schuldig um die Nase, als er sich eine Tasse frisch brühte und zu Ran hinüberblickte, den er kaum verstanden hatte, da das Sofa ein gutes Stück weit weg war und Ran einen viel zu müden Eindruck auf ihn machte um deutlich oder gar laut zu sprechen.

„Klar. Die ganze Nacht durchgevögelt und jetzt ne kleine Vorlesung in der Uni. So stelle ich mir den Anfang eines perfekten Tages vor.“ Schuldig fühlte sich immer noch wie gerädert und unter einem perfekten Tag verstand er durchaus etwas anderes.

Viel lieber wäre er jetzt mit Ran in die Badewanne gegangen oder hätte sich mit ihm auf der Terrasse in der Sonne geaalt und die Schiffe auf dem Pazifik gezählt.

Sein Blick sagte, was er von Rans Frage hielt.
 

„Sieh mich nicht so an, ich habe schließlich nicht beschlossen, jetzt ins Krankenhaus zu fahren“, kam es nun schon lauter, da wacher, aus Ayas Mund.

„Aber ich wünsche dir viel Glück mit dem willigen Patienten, der sich sicherlich bereitwillig pflegen lässt!“ Etwas Schadenfreude blitzte da doch durch, alleine schon deswegen, weil Aya nicht richtig sitzen konnte – der Grund, aus dem er auch lag. Die Decke gemütlich um sich herumraffend, lehnte er sich in die Kissen und erwog, in den nächsten zwei Stunden baden zu gehen. Ohne Schuldig, da dieser dann ja beim Amerikaner verweilen würde.
 

„Du weißt sicherlich, dass meine Rache fürchterlich sein wird, wenn du ohne mich baden gehst“, erwiderte Schuldig lieblich. Er wandte sich wieder seinem Kaffee zu, den er aus dem Vollautomaten nahm und kam samt Tasse zu Ran, setzte sich auf den Teppich vor die Couch.

Er bot Ran einen Schluck aus der Tasse an.
 

Den Aya mit Mord in den Augen, aber doch irgendwie dankbar, annahm und laut schlürfte.

„Beweise mir, dass ich ohne dich baden war“, erwiderte er stygisch und reichte den Kaffee an Schuldig weiter.
 

Der ebenfalls einen Schluck des Kaffees nahm. „Wenn dir das Sperma nicht mehr zwischen Hintern und Schenkel klebt, dann warst du baden, ganz klar. Duschen reicht lediglich als Vorwäsche um das eingetrocknete Zeug abzukriegen, das musst du schon länger einweichen.“
 

„Das ist widerlich. Ich werde im Leben nicht auf dich warten und mir solange nicht deine Überbleibsel vom Körper waschen, du Mistkäfer!“

Ayas Blick spiegelte ein wenig der alten Arroganz wieder, die er vor ihrem Näher kommen innehatte. „Ich werde solange schrubben, bis es weg ist – RESTLOS!“
 

„Und dabei habe ich mich so bemüht!“

Schuldig schüttelte bedauernd den Kopf. „Wie wäre es, wenn ich mich beeile und du dafür eine Massage und einen gesunden Spezialcocktail bekommst? Und ein Matchaeis!“
 

„Nettes Angebot, aber wegwaschen werde ich mir die Sauerei, da kannst du mich locken, so viel du willst.“ Ayas Stimme war entschieden, denn es juckte jetzt schon, nur siegte noch seine Faulheit. NOCH.

Doch bald würde sein Reinlichkeitsbedürfnis dem im Wege stehen, sehr sogar.

„Bemüht haben wir uns beide… wo wir gerade beim Thema sind, du hast dich schließlich schon gewaschen und geduscht.“

Aya schnappte sich ein weiteres Mal den Kaffee und trank den zweitletzten Schluck, noch exakt einen für Schuldig übrig lassend.
 

Der dürftig in der Tasse als kleiner Rest dahergeschwappt kam, als Schuldig selbiger wieder habhaft wurde.

„Und wenn ich dir anbiete, dass du mich die nächsten fünf Male bespaßen darfst? Ich leg noch den Cocktail, das Eis und die Massage mit drauf.“

Ran war schon ein harter Brocken, wenns ums Verhandeln ging. Vielleicht lagen die Chancen höher wenn er an sein Mackerdasein oder vielmehr an sein Despotendasein appellierte…
 

Ein Blick aus verengten, violetten Augen traf ihn, ebenso wie Schweigen, langes, ausführliches Schweigen, als müsste sich Aya noch überlegen, was die Antwort war.

Was er definitiv nicht musste.

„Nein. Dazu bin ich zu reinlich. Weißt du doch, das ist Abyssinian.“ Aya lächelte, eiskalt. Schuldig versuchte ihn zu locken, doch das konnte er sich abschminken.
 

„Ran… das heißt also…“

Schuldig erhob sich umständlich und wandte sich Richtung Küche. „…dass Abyssinian sich doch insgeheim lieber bespaßen lässt als es selbst zu tun. Sonst hätte Abyssinian sicher in den Handel eingeschlagen. Ich würde sagen, Freud hätte mit dir sein wahres Vergnügen.“

Schuldig trollte sich. Wohlweislich.

Er stellte die Tasse in den Geschirrspüler.
 

Dass Schuldig sich wohlweislich trollte, hatte seinen Grund, seinen guten Grund, wie Ayas Grollen ankündigte.

„Geh. Ganz Schnell. Zu diesem Amerikaner“, kam es unheilig und dunkel von den schmalen Lippen Abyssinians, der mit dem ernstzunehmenden Gedanken spielte, sein Katana hervor zu holen und ein paar Übungen am lebenden Exempel zu statuieren.

Er ließ sich nicht lieber bespaßen und Abyssinian erst recht nicht! Verdammt! Nur setzte er Prioritäten… auf sein körperliches Wohlbefinden.

Freud!

Dieser deutsche… österreichische… was auch immer Philosoph. Mit dem musste ihm Schuldig nicht kommen.
 

„Ciao“, tönte Schuldig, winkte und grinste lausbubenhaft, als er zum Flur und aus der Wohnung spazierte.

Er mochte es, wenn Ran ein wenig zickte und böse, finstere Drohungen ausspie. Das war ganz nach seinem Geschmack…

Während er in Gedanken Ran schon an sich herumschrubben sah, machte sich Schuldig auf zum Parkplatz um zur Klinik zu fahren. Die Dummerweise in Brads Fall in der Präfektur Chiba in der Stadt Chiba lag. Gefühlt am anderen Ende der Welt und kartographisch östlich von Tokyo gelegen. Offenbar hatte es Brad an der Grenze von Tokyo Stadt zu Chiba erwischt und er wurde in Letztere verfrachtet. Mit viel Glück war es ein Weg von ein bis zwei Stunden. Die morgendlichen Staus auf den Autobahnen in Richtung Tokyo City sollte er abgewartet haben.
 

o~
 

Doch zunächst ließ sich Aya Zeit mit dem Schrubben, denn die nächste Stunde döste er noch auf der Couch herum, den Blick ins Nichts gerichtet, die Gedanken bei der letzten Nacht, den letzten Tagen und Wochen, mal Banshee auf dem Schoß, mal Banshee in seinen Haaren, ganz entspannt also.

Er fühlte sich gestärkt, stärker als zuvor, doch ob er schon bereit dazu war, sich wieder in seine Arbeit zu stürzen, blieb weiterhin fraglich. Allerdings wollte Aya es versuchen.

Er seufzte schließlich, als seine Überlegungen nichts wirklich Fruchtbares ergaben und erhob sich langsam. Langsam ins Bad strauchelnd, löste er sich von der Decke und besah sich im deckenhohen Spiegel die Bescherung.

Er verzog die Lippen.

Nicht baden. Dass er nicht lachte.

Oh ja, sie würden baden, und wenn es bedeutete, dass er zum zweiten Mal in eine viel zu warme Wanne steigen würde, doch er würde sich jetzt Wasser einlassen um das Zeug loszuwerden, das zwischen seinen Schenkeln klebte.

Genau das tat er jetzt und brauchte eine weitere Stunde dafür, bis er nun wirklich gesäubert, geschrubbt, gereinigt und gebadet erneut vor dem Spiegel stand und sich nun besser gefiel.

Seine Haare trocknend und dafür die übliche dreiviertel Stunde benötigend, besah er sich die Pracht, die ihm mittlerweile beinahe über den Hintern ging.

Wie lang denn noch, Rapunzel?, fragte er sein Spiegelbild und nahm eine der Strähnen hoch. Immer noch Teil eines Handels… ansonsten schon kurz, hatte er sich dennoch an sie gewöhnt. Irgendwie.

An das auf ihnen sitzen bleiben, mit ihnen hängen bleiben, an ihnen zurückgezogen werden… daran würde er sich im Leben nicht gewöhnen.

Wenngleich Aya es liebte, dass Schuldig ihm die Kopfhaut massierte, sich um die Zotteln kümmerte, ihm die Haare wusch, sie ihm kämmte...
 

In Gedanken versunken zog er sich an und meldete sich dann bei Gabriele. Der andere freute sich, ihn zu sprechen, was immer wieder etwas war, das Aya verwunderte. Er war einfach zu lange in einer Welt aus Gewalt und Nichtexistenz unterwegs gewesen, dass ihm solche normalen, menschlichen Reaktionen geläufig waren. Aber er übte sich.

Anscheinend übte er sich gut, denn Gabriele hatte absolut nichts dagegen, ihn wieder in sein Team aufzunehmen. Nächste Woche direkt. Aya freute sich wirklich.

Während er mit Gabriele sprach, schnurrte Banshee befriedigt auf seinem Arm. Endlich, ENDLICH hatte sie ihren menschlichen Dosenöffner und persönlichen Sklaven wieder. Endlich nach dieser endlosen Nacht, die sie im Schlafzimmer eingesperrt gewesen war durch den bösen Schuldig. Sie hatten sie bis sie mit dem sehr ausdauernden Sex fertig waren, im Schlafzimmer eingesperrt, was sie zu sehr empörten Protesten getrieben hatte. Bis heute Mittag hatte sie sowohl Schuldig als auch ihn schlichtweg ignoriert und erst als der Telepath die Wohnung verlassen hatte, war sie zu ihm gekommen... und hatte ihn gleich bestraft. Nun gut, ihr gestand er es zu.

„Ich freue mich, Gabriele“, erwiderte er Schuldigs Namensvetter und legte unter ständigen Motorsägenschnurren auf.
 

Es wurde Zeit, dass er wieder arbeitete... er brauchte die Ablenkung.

Kurz kam in Aya der aberwitzige Gedanke auf, dass ihm die Arbeit bei Gabriele nicht reichte. Dass er mehr wollte, mehr Eigenverantwortung: eine eigene Bar. Doch das stand in den Sternen. Er hatte das Geld nicht dazu, ebenso fehlte ihm die Erfahrung.

Aya seufzte und machte sich daran, die Wohnung aufzuräumen und mit Weiß zu telefonieren. Vor allen Dingen mit Youji, denn auch wenn er es niemals zugeben würde, vermisste er den blonden Mann sehr.
 

o~
 

Der Eingang zum Krankenhaus, in dem Crawford lag, war von weitem durch Bäume nicht zu erkennen. Schuldig stand dort und legte seinen Kopf leicht in den Nacken um über die Bäume die Front des Gebäudes zu erspähen.

Im fünften Stockwerk lag Brad, wie er wusste. Einzelzimmer.

Wie praktisch.
 

Ein sparsames Lächeln zirkelte um seine Mundwinkel und die grünen Augen hinter den stärkelosen Gläsern nahmen einen harten Glanz an.

Die Musik seines MP3-Players untermalte die perfide Stimmung, in der er war. Shock rock kroch seine Gehirnwindungen entlang.
 

Er setzte sich in Bewegung, ging den Hauptweg gemächlich entlang der von Gingkobäumen gesäumt war und nahm Kontakt zu Jei auf. Menschen streiften seinen Weg, nahmen jedoch nur marginale bis gar keine Notiz von ihm.

‚Jei. Du kannst die Bewachung abbrechen. Ich übernehme. Klink dich aus, ruh dich aus und iss etwas’, schickte er zu Jei, den er ganz in der Nähe von Brad in einem Aufenthaltsraum ausmachen konnte. Meist jedoch hielt sich Jei außerhalb des Krankenhauses auf um keinen Verdacht zu schöpfen.
 

Schuldig hatte seinen Studentenausweis, so wie einige Studienbriefe in seiner Umhängetasche verstaut. Ebenfalls die Papiere, die ihn als ausländischen Studenten auswiesen, der in der Firma seines älteren Bruders arbeitete.

Sie hatten sich vier Identitäten zugelegt, die sie regelmäßig überprüften und pflegten. Nicht jede verband sie vier miteinander.

Diese hier verband Nagi, Brad und ihn selbst in familiärem Verbund. Eine Tarnung falls jemand von ihnen im Krankenhaus landen sollte und sie es für besser hielten ihn dort zu belassen.

Er selbst besaß eine Tarnung, die ihn als Psychologen auswies. Oftmals hilfreich und zur Not konnte er seine eigene Praxis eröffnen. Falls er irgendwann einmal auf die abwegige Idee kommen sollte eine Umschulung in Erwägung zu ziehen.
 

In der Eingangshalle strebte er die Aufzüge an und stieg ein. Laut Jeis Informationen, hatten sie Brad heute Morgen auf die normale chirurgische Station verlegt, da die Verletzungen, die er noch hatte, weniger gefährlich waren und somit eine intensivmedizinische Therapie nicht mehr notwendig war.
 

Schuldig stieg im fünften Stock aus, orientierte sich kurz anhand der Beschilderung und schlug dann den Flur ein, in dem die Station war, auf die sie Brad verlegt hatten. Seine Sneakers quietschen verhalten auf dem polierten Boden.
 

Sein ruhiger Gang zum Schwesternstützpunkt täuschte. Er hatte eine Stinkwut in sich.

Dennoch lächelte er charmant, als eine Schwester auf ihn aufmerksam geworden war und ihn fragte, ob sie ihm weiterhelfen könne.

„Ich suche meinen Bruder, er müsste heute zu ihnen verlegt worden sein. Sein Name ist Winter Richard.“

„Ja. Dr. Winter Richard. Er ist heute zuverlegt worden. Er liegt auf Zimmer 149.“

Schuldig dankte und machte sich zu diesem Zimmer auf.

Während er den klimatisierten Korridor entlangging und die Zimmernummern absuchte, suggerierte er allen Anwesenden in diesem Stockwerk ein, das Zimmer 149 nicht existierte. Der Herr unten am Informationschalter hatte die gleiche Anweisung telepathisch von ihm erhalten. Dieses Zimmer gab es nicht, ganz davon abgesehen, dass es den Patienten mit Namen Winter, Richard nicht gab. Und da spielte ein Doktortitel wahrlich keine Rolle mehr.
 

Er musste kurz darüber den Kopf schütteln, dass er ganz vergessen hatte, dass Brads Alias einen Doktortitel umfasste. Oder er hatte den Titel erst kürzlich hinzugefügt?

Vermutlich einen in Wirtschaftswissenschaften oder ähnliches wäre ihm zuzutrauen. Nötig hatte er es nicht, denn Brad verfügte tatsächlich über mehrere Doktortitel. Allerdings in ihrer Realität nutzlos.
 

Brad hätte schon sein Aussehen verändern müssen um tatsächlich daraus Nutzen zu ziehen, denn die Fahndungslisten des CIAs beinhalteten auch Brads Konterfei.
 

Brad hatte bisher Nagi verboten, sich dort einzuklinken und sämtliche Daten zu löschen. Ein groß angelegter Angriff wäre vonnöten und das wollte sich Brad bisher ersparen. Oder ihnen etwas vorenthalten, was interessant gewesen wäre.
 

Zimmer 149 war erreicht und Schuldig klopfte - höflich wie immer - an und trat ohne eine Antwort abzuwarten – wie üblich - ein. Er schloss sehr sorgfältig die Tür hinter sich.
 

Als seine Hand den Türgriff verließ hatte Brad ihn bereits im Visier. Schuldig lächelte zur Begrüßung, nur sein blaugrüner Blick sprach von kalter Wut. Diese war zwar vorherrschend, doch so etwas wie Bedauern und Enttäuschung lagen dazwischen, wurden jedoch niedergekämpft.
 

„Wie ich sehe, geht’s dir bereits etwas besser?“

Schuldig konnte den zynischen Ton nicht ganz aus seinen Worten nehmen. Offensichtlich verstand Brad diese Frage als rein rhetorisch – was sie auch war.

Schuldigs Blick ging über die hellblaue Bettwäsche hinauf zum weißen Krankenhaushemd, welches mit Erfolg die Verbände verpackte. Die Infusionen die Brad erhielt baumelten an Haken von einem Infusionsständer. An selbigen war auch noch eine Spritzenpumpe angebracht in dieser eine Spritze eingespannt war.

Brad selber lag mit aufgesetztem Oberkörper im Bett, der Blick glasig, doch seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte Schuldig, so argwöhnisch wie das verhinderte Orakel ihm beim Näher kommen in die Augen zu blicken versuchte. Schuldig gestattete ihm zu sehen, wie diese kalte Wut gleich scharfer Glassplitter aus dem Blaugrün schoss.
 

Den Kopf seitlich auf dem Kissen liegend war Brads Gesicht mit leichter Röte überzogen. Fieber? Brad hatte einen dunkleren Hautton als Schuldig, dennoch erkannte er die zarte Röte, die sonst nicht in Brads Gesicht auftauchte. Niemals. Brad wurde nicht rot oder geriet in irgendwelcher Form in Anstrengung.

Feine Schweißperlen lagen unter dem leicht feuchten Haarspitzen, die dem Amerikaner bis auf die Wangenknochen fielen. „So unfrisiert heute, Brad?“ So unwiderstehlich heute.
 

„Was willst du?“, kam es leise und rau als Erwiderung zurück und Schuldig begriff, dass Brad erkannt hatte, dass Schuldig durchaus etwas von ihm wollte oder - mit ihm vorhatte.
 

„Dich besuchen, mein großer Anführer. Das tut man doch so in einem derartig gut zusammenhaltenden Team, wie unseres eines ist, nicht?“ Schuldigs Lächeln verbreiterte sich und er nahm langsam die Tarnbrille seines Studentenoutfits ab. Er verstaute sie in einem Seitenfach seiner Umhängetasche.
 

„Wenn du mir etwas zu sagen hast dann tu es und zieh hier keines deiner üblichen Spielchen ab, Schuldig.“ Brad hob die Hand und wischte sich zittrig über die Stirn, betrachtete sich seine feuchten Finger. Schuldig konnte dessen Gedanken auch ohne Telepathie erraten als sich die Kiefer aufeinander pressten.

„Ja… du scheinst Fieber zu haben und deine Entlassung rückt somit in weite Ferne. Es könnte sich eine der Wunden entzünden“, lamentierte Schuldig neunmalklug und übertrieb es tatsächlich.
 

Offenbar spürte das auch Brad. „Hast du mir meine Brille mitgebracht?“, wechselte er das Thema.
 

„Was ist mit deinen Linsen?“
 

„Die haben sie mir abgenommen, als sie mich untersuchten in der Notaufnahme.“
 

Brad sah wenig und er hatte weder die Hellsicht noch sein volles Augenlicht? Diese selbstverschuldete Wehrlosigkeit machte ihn fast sprachlos vor Wut.

Sein Blick ruhte lange auf dem Amerikaner und in dessen Augen brannte eine leise Erkenntnis. Es war ein dummer Umstand, dass er während Rans und seiner Meditationsübungen diese brisante Information aus Rans Gedächtnis gefischt hatte. Doch er wusste seit einigen Tagen, dass ihr Anführer ohne die Fähigkeit der Hellsicht zurechtkommen musste. Er hatte gedacht, dass Brad es ihm irgendwann sagen würde, oder dass sich das Problem lösen würde. Von alleine. Dem war nicht so gewesen und Brad hatte sich nicht wie ihr Anführer verhalten. Ganz im Gegenteil. Eine kleine Meuterei war also fällig. Und wer wäre besser geeignet für diese Aufgabe wenn nicht er?
 

Schuldig lächelte und ging näher zu Brad, er hob seine Hand und führte sie zu Brads Schläfe, ließ die Finger warm die feuchte Haut berühren. Er spürte die Anspannung, die Abneigung gegen all das was Brad nun befürchtete und was Schuldig mit ihm vorhatte.

„Ich habe etwas Besseres für dich um deine Sicht zu klären, als deine Brille.“
 

o~
 

Die Hände vom Lenkrad nehmend und sie in den Schoß legend blickte Schuldig durch seine Brillengläser hinaus aufs Wasser des Hafens. Er fühlte sich genauso grau wie die Wellen, die dort an den Kai schwappten.

Er hatte sich kein bisschen besser gefühlt, seit er Brad die kleine Abreibung verpasst hatte. Warum fehlten dieses Gefühl der Genugtuung und der positive Gedanke über die Rechtmäßigkeit seines Handelns?

Es hatte ihm doch früher keine Probleme bereitet, Brad gelegentlich zur persönlichen humoristischen Unterhaltung eins auszuwischen.
 

Schuldig saß noch einige Minuten in dem Wagen, bevor er beschloss, dass er nach oben musste, bevor Ran ihn auf dem Parkplatz sehen konnte. Zu guter Letzt stellte dieser womöglich noch neugierige Fragen, das konnte er jetzt nicht gebrauchen.
 

Er verschloss den Wagen und lief die paar Meter zum Wohnhaus in langsamem Schritt. Erst kurz vor der Wohnung schulte er seine Mimik auf einen hoffnungsvollen, optimistischen Ausdruck und betrat diese.

Sich seiner Schuhe entledigend und die Tasche zur Seite stellend begab er sich zunächst ins Badezimmer, denn es roch nach Badezusätzen und Ran hatte sich mit Sicherheit schön lange eingeweicht.
 

Aya befand sich zwar nicht mehr Bad, aber zumindest seine Fingernägel zeugten in all ihrer Durchsichtigkeit davon, dass er um einiges zu lang im heißen Badewasser gewesen war.

Momentan jedoch spielte er mit Banshee in Schuldigs Bereich des Wohnzimmers und jagte sie mithilfe eines Laserpointers über den Boden, den sie allzu interessant fand.

Sie hatte kurz aufgehorcht, als sie Schuldig die Wohnung betreten hörte, doch was war schon so wichtig, wie ein winziger, roter Punkt, den man quer durch die Wohnung jagen konnte? Nichts! Und schon gar nicht derjenige, der einen die ganze Zeit im Schlafzimmer eingesperrt hatte.

„Wir sind hier“, rief Aya und zischte leise, als seine Hand dieses Mal das Ziel war und die Krallen sich sehr scharf in die Haut bohrten.
 

Schuldig war schon auf dem Weg in den hellen Wohnraum, der zum größten Teil auf der Sonnenseite abgedunkelt war um die beginnende Hitze des nahenden Sommers draußen zu lassen. Den Schlüssel auf die Ablage in der Küche legend holte sich Schuldig ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser. So versorgt kam er zu seinen beiden Hauskatzen und schubste die kleinere der beiden roten Fellknäuele mit dem Fuß über den Boden, was diese gleich zum Anlass nahm seinem Fuß nachzusetzen.

Schuldig lächelte gutmütig und schubste sie wieder über die Steinfliesen davon. Erst nach dieser üblen Tat setzte er sich zu Ran, in einen der Sessel ihm gegenüber.
 

Die Augenbraue hoch erhoben besah sich Aya Banshee, ob diese unverletzt war… war sie. Sie maunzte lediglich empört in Schuldigs Richtung und trollte sich dann zu Aya auf den Schoß.

„Wie war es im Krankenhaus?“, fragte der rothaarige Japaner mit einem prüfenden Blick auf Schuldig.
 

Hach ja, die beiden taten ja schon wieder so als wäre er der Katzenschlächter in persona. Der leibhaftige Katzenmassakrierer. Schuldig setzte ein gelangweilt spöttisches Gesicht auf.

„Lebt sie noch? Alles noch dran?“

Er streckte seine Beine aus und thronte diese auf Rans Schoß.

„Brad geht es besser. In ein paar Tagen kann er entlassen werden. Hat schon wieder seinen üblichen Tonfall drauf.“
 

Schuldig aber nicht, fiel es Aya auf, der gerade mit der Machovariante des Telepathen konfrontiert war…

„Ja, Banshee lebt noch… Was hat Crawford denn gesagt? Kann er sich daran erinnern, was passiert ist?“, hakte Aya genauer nach und kraulte Banshee, unterließ es zunächst, Schuldigs Füßen die gleiche Behandlung zukommen zu lassen, die dieser so selbstverständlich auf ihm platziert hatte.

Anscheinend hatte es Probleme mit Crawford gegeben… doch war das nach der letzten Zeit ein Wunder?
 

„Ja, er kann sich erinnern. Er hat Aufträge ausgeführt. Bereits den Dritten im Alleingang. Und das war das Ergebnis des Ganzen.“

Schuldig setzte das leere Wasserglas einen Tick zu hart auf dem Holztischchen ab und warf Ran einen für ihn harmlosen Blick zu, allerdings steckten zu viele eiskalte Nadeln in dem hellen Grün um es harmlos wirken zu lassen.
 

Genau dieser Blick erinnerte Aya an früher… an Mastermind, an Schuldig kurz vor Aufträgen. An die sadistische Seite des Telepathen.

Er war sauer, sehr sogar und Aya konnte sich den Grund mehr als denken.

„Aufträge angenommen…“, rekapitulierte Aya und spielte in Gedanken die Konsequenzen von Crawfords Handeln durch. Sie waren alle untergetaucht um der Gefahr einer Entdeckung durch die Gruppierung zu entgehen und was machte Crawford? Sie alle gefährden, indem er Aufträge ausführte… und das nur in zweiter Linie. In aller erster Linie gefährdete er sich selbst und sein Team, das durch einen möglichen Tod mehr als geschwächt wäre. Und dann noch…

…ohne seine Visionen?, fragte sich Aya innerlich und seine Miene verhärtete sich. Wie dumm war Crawford?

„Wer hat ihn erwischt?“
 

„Ein Back-up Team der Truppe, in der die Zielperson arbeitet. An mehr konnte er sich nicht erinnern.“

Natürlich konnte er sich nicht erinnern, aber Schuldig war so frei, es aus seinen Gedanken zu ziehen.
 

„Könnten sie auch zu der Gruppierung gehören, die uns angegriffen hat?“ Aya glaubte nicht wirklich daran, es wäre zu einfach… vor allen Dingen, wenn Crawford noch ihre Gesichter in Erinnerung hatte.

„Wieso hat er die Aufträge alleine angenommen?“
 

„Er hätte sie absagen müssen. Denn er wollte keinen von uns noch mal rausschicken.“ Schuldig nahm seine Füße zu sich und zog sie an seinen Körper. Er legte den Kopf seufzend in den Nacken. „Ihn hat wohl mein Verschwinden und mein Scheintod eingeschüchtert.“ Untertrieben gesagt.
 

Einen Moment lang bedachte Aya diese Worte. Ja, das deckte sich mit seinen Beobachtungen. Auch wenn er nicht vermutet hatte, dass Crawford dermaßen unvernünftig handeln würde. „Er hatte Angst, dich zu verlieren… hat auf seine Art gelitten, als du weg warst. Er wollte das vermutlich kein zweites Mal durchmachen.“

Zumindest konnte sich Aya das denken, auch wenn es unverantwortlich war, dass Crawford ohne das Wissen seines Teams und ohne Visionen ihrer Arbeit nachging.
 

„Ja, sicher“, meinte Schuldig abwesend und wenig begeistert, denn Brad hatte das ganze Team und sich selbst gefährdet. Denn seine Fähigkeiten waren ausgeschaltet und überlagert von seinem Tod.

Und Brad und Ran hatten ihr kleines Geheimnis für sich behalten. Schuldig wusste aus Brads Gedanken, dass verletzter Stolz, Scham und eine große Portion Wut damit zusammenhingen. Und das war nur ein kleiner Abriss der Gefühlswelt die Brad seit Wochen mit sich herumschleppte und niemanden sehen ließ. Schuldig interpretierte sie anhand der Gedanken, die er gelesen hatte.
 

Rans Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen.
 

„Wann kann er entlassen werden?“

Aya konnte sich denken, dass Schwarz noch nicht mit ihrem Anführer fertig waren, wenn er entlassen wurde. Vor allen Dingen Schuldig nicht…
 

„In ein paar Tagen. In zwei Tagen finden noch einmal Untersuchungen statt und die Verbände sehen wohl ganz ordentlich aus. Wie gesagt, den bringt so schnell nichts um.“

In Rans Augen konnte er bei seinem großspurigen Spruch jedoch nicht sehen.
 

„Was wird aus seinen gebrochenen Rippen und seinem gebrochenem Schulterblatt?“, fragte Aya skeptisch und versuchte, einen Blick in die blauen Augen zu erlangen, der ihm jedoch verborgen blieb.

„Du machst dir Sorgen um ihn, oder?“
 

„Nein. Nicht wirklich. Eher, dass er seinen Job wieder aufnimmt. Das Anführergeschisse nervt unheimlich. Das ist sein Ding und er soll seinen Job gefälligst wieder machen“, maulte Schuldig unleidig. „Die paar Rippen und das Schulterblatt müssen eben wieder zusammenwachsen. Hatte ich auch schon.“
 

„Wie lange wirft ihn das zurück?“ Besonders in diesen Zeiten war es wichtig, dass sie alle funktionierten. Auch wenn Schwarz in Zukunft keine Aufträge mehr ausführen sollten, mussten sie dennoch bereit für etwaige Angriffe sein.
 

„Woher soll ich das wissen?“, blaffte Schuldig genervt, mäßigte sich aber sogleich wieder und seufzte niedergeschlagen. „Ein paar Wochen. Körperlich.“ Er fand Rans Blick und lächelte für einen Moment nicht gerade freundlich. Aber das Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war.

„Allerdings hat er ja noch seine Fähigkeiten, die kann er ja dann zum Wohl der Gruppe einsetzen, dazu muss er ja körperlich nicht fit sein.“ Der Gedanke daran, dass Ran nicht wusste, wie und vor allem dass er in Erfahrung gebracht hatte, was die beiden Anführer – Ex und momentan außer Dienst – vor ihm geheim halten wollten, amüsierte ihn ungemein. Zu wissen, dass Ran ihn streng genommen belog in dem er in Gesprächen so tat als wäre mit Brads Fähigkeiten alles in Ordnung oder als wüsste er nichts ließen ein warmes Gefühl in Schuldig aufkommen. Ran hatte dem ungeliebten Amerikaner ein Versprechen gegeben und er hielt es eisern. Das war so typisch. So geradlinig und ehrenwert.

Dumm nur, dass Schuldig es herausgefunden hatte und Ran sich umsonst über diesen Punkt Sorgen machte. Aber zum Preis der Ehre würde er wohl weiter leiden müssen, denn Schuldig würde dieses kleine Geheimnis tunlichst für sich behalten.
 

„Willst du ihn dann als ans Bett gefesselten Seher missbrauchen?“, fragte Aya mit einem Schnauben, konnte sich nur allzu gut vorstellen, was Schuldig gerade plante. Alleine schon dessen Blick versprach nichts Gutes.

Wenn Schuldig nur wüsste, dass Crawford seine Visionen nicht mehr hatte. Er seufzte innerlich. Aber er würde es dem Telepathen nicht sagen... das war Crawfords Aufgabe.
 

Schuldigs Blick wurde abwesend und ein breites Lächeln, um nicht zu sagen ein Grinsen, breitete sich auf seinem Gesicht aus. Und es hatte nichts Nettes.

„Warum nicht? Das ist eine gute Idee. Da kann er wenigstens keinen Unsinn mehr machen. Vielleicht sollte ich den Job als Anführer doch so lange übernehmen, bis er wieder völlig hergestellt ist…“

Er lachte.

„Kennst du den Film Misery?“
 

Irgendetwas war zwischen den beiden vorgefallen. Dieses Lächeln war kalt, absolut. Kalt und sadistisch. Etwas in Aya hütete sich davor, Schuldig gerade jetzt zu fragen, irgendetwas hielt ihn zurück.

„Du willst Crawford seine Füße abhacken, damit er dir nicht wegläuft?“ Aya schüttelte den Kopf. Ja, er kannte diesen Film und hatte sich wie nichts vor dem Schicksal des Autors gefürchtet und vor dieser Frau geekelt. Alleine der Gedanke daran verursachte ihm jetzt noch eine Gänsehaut.

„Die Frage ist allerdings, was passiert, wenn er wieder in der Lage ist, Aufträge anzunehmen. Was willst du dann machen?“
 

„Dazu wird es nicht kommen!“ Schuldig lachte in bester Finsterlingmanier, allerdings gefror dieses Lachen nach wenigen Momenten abrupt und er schickte Ran eine verzweifelt komische Grimasse hinüber. „Ich könnte ihn ja erpressen. Oder ich verkaufe meinen Körper an ihn und im Gegenzug darf er keine Aufträge annehmen. Wäre doch… ne gute Möglichkeit. Falls ich mal keinen Job als Killer mehr bekomme.“
 

Der abrupte Umschwung in den Worten des Telepathen war für Aya der letzte Hinweis darauf, dass Schuldig und Crawford sich nicht bloß harmlos unterhalten hatten. Doch er verschob die Frage nach dem Was auf später, wenn Schuldig in ungefährlicherer Stimmung war.

„Bis auf die Tatsache, dass er deinen Körper nicht kaufen würde“, erwiderte er schließlich. Er möchte ihn freiwillig von dir…, fügte Aya in Gedanken hinzu, veräußerte es aber aus guten Gründen nicht.

„Erpressen? Du? Das würde er vorhersehen… und würde dementsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen.“ Aya lachte und stand auf.

„Willst du auch einen Kaffee?“ Das Beste in dieser Situation. Das Ungefährlichste.
 

„Ja“, seufzte Schuldig und drehte sich so in seinem Sessel, dass er seinen Kopf seitlich auf die Rücklehne legen konnte und Ran damit beim Kaffee machen zusehen konnte. Seine Gedanken jedoch waren nicht geordnet.

„Ich könnte mich an jemand anderen verkaufen - an dich beispielsweise und ihn somit ärgern. Und erpressen“, murmelte er verdrossen. „Das würde ohnehin zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Hmm, wobei du könntest dich mich gar nicht wirklich leisten. Mit deinem Gehalt.“ Er grinste.

„Was hältst du davon… ich mach dir nen Sonderrabatt!“
 

„Wie du schon sagtest, kann ich dich mir nicht leisten. Außerdem wäre es Geldverschwendung… wozu sollte ich dich kaufen… das Badezimmer putzt du auch jetzt schon, genauso wie du den Müll herausbringst…“, erwiderte Aya bierernst aus der Küche und kurz übertönte der Lärm der Kaffeemaschine jegliche Kommunikation mit Schuldig, die ins Humorvolle abglitt, sie jedoch nicht weiterbrachte, was die Probleme anging, mit denen sie momentan zu kämpfen hatten.

Aya kam mit zwei vollen Tassen wieder zurück und stellte Schuldig seine hin.

„Ich werde am Montag wieder anfangen zu arbeiten.“
 

„Fühlst du dich gut?“ Schuldig zog Ran auf sich, bevor dieser sich hinsetzen konnte. „Sag?“
 

„Es muss gehen, es wird langsam Zeit, dass ich wieder anfange zu arbeiten. Ich fühle mich nicht ausgelastet hier.“

Es erinnerte ihn an die Zeit in der alten Wohnung, an die Dinge, die er aus Beengung und Langeweile getan hatte.

Aya lächelte kurz und küsste Schuldig auf die rote Mähne.

„Weiß werden untertauchen.“ Und davon musste er seine Gedanken ablenken.
 

„Oh.“

Ja, das war ja mal intelligent.

Schuldig blickte zu Ran auf, hatte den Kopf in den Nacken gelegt. „Ich wollte gerade ansetzen zu meckern, warum du nicht ausgelastet bist und ob ich dir wohl nicht reiche… aber…“, ja der Witz war ihm sozusagen im Hals stecken geblieben.

Schuldig sah lange zu Ran hinauf. Und der Witz wurde in seinem Hals immer dicker.

„Bleibst du bei mir?“, rutschte ihm dann doch heraus und er war sich fast sicher, was Ran antworten würde. Er hoffte es sehr.

Es war gar nicht so einfach so etwas zu fragen. Vor allem… bei Ran erschien ihm das sehr schwer.

Oder war es lediglich so, dass Ran nur solange im Laugh arbeiten wollte, bis Weiß untertauchten?
 

„Ich habe mit Youji gesprochen… sie werden wohl nach Amerika gehen. Weit weg auf jeden Fall“, erwiderte Aya mit einem Blick nach draußen, die Gedanken zulassend, die er seit Stunden unterdrückt hatte, als Youji ihn angerufen und es ihm mitgeteilt hatte. Amerika.

Ausgerechnet.

Sein Blick kehrte zu Schuldig zurück und Ratlosigkeit lag in ihm. Absolute Ratlosigkeit. Er liebte Schuldig und wollte bei ihm bleiben, doch auch Weiß waren seine Familie. Wenn sie plötzlich weg waren...
 

Ran hatte seine Frage nicht beantwortet. Es gab wohl keine schnelle Antwort auf diese Frage. Zumindest keine emotionale.

„Diese Entscheidung solltest du sorgfältig alleine treffen.“

Innerlich sank Schuldig in sich zusammen. Er hatte gehofft, dass Rans Entscheidung unabhängig davon war, ob Weiß weiter weg gingen oder nicht. Im Untergrund waren sie mindestens genauso unzugänglich für Ran, als wenn sie in die Staaten gingen.
 

„Ich werde sie wahrscheinlich für Jahre nicht sehen.“

Alleine der Gedanke war jetzt in seiner laut ausgesprochenen Realisation schrecklich. Jahrelang waren Weiß seine Familie, seine Freunde, sein Zuhause gewesen und nun gingen sie, vermutlich für immer. Denn ein Zurückkommen war unwahrscheinlich, sehr sogar.

Während Schuldig innerlich in sich zusammensank, tat Aya dies körperlich.

„Ich will dich nicht verlassen… aber sie fehlen mir… werden mir fehlen, wenn sie nicht mehr da sind. Sehr sogar.“
 

Schuldig zog Ran zu sich herab und somit an sich und strich mit seinen Lippen über dessen Stirn. Rans Mundwinkel hingen leicht nach unten und sein Blick war nicht einzusehen.

„Warum willst du mich nicht verlassen?“, fragte Schuldig mit ernstlich fragendem Unterton. „Aus Gewohnheit?“
 

„Du kennst die Antwort, warum fragst du danach?“ Aya schnaubte bitter. Liebe war Segen und Fluch zugleich, das wurde ihm jetzt wieder bewusst… nur allzu deutlich.
 

„Weil ich Angst habe. Siehst du das nicht?“, wisperte Schuldig in Rans Ohr.
 

Aya konnte aus Liebe zu Schuldig nicht gehen, wenngleich ihn der Gedanke, ohne Weiß die nächsten Jahre in Japan zu verbringen, schmerzte.

„Aus Gewohnheit müsste ich mit ihnen gehen.“
 

„Manchmal sind Freunde länger da als die Liebe. Du liebst sie schließlich auch.“ Warum hatte Schuldig das sagen müssen?

Damit Ran nicht später bereute?
 

„Soll ich mit ihnen gehen, willst du das?“, fragte Aya und drehte seinen Kopf so, dass er Schuldig in die Augen sehen konnte.

„Ja, ich mag sie, ich liebe sie als Freunde und Familie, aber genau das gleiche gilt für dich… nur dass ich dich auf eine andere Art und Weise liebe.“

Pattsituation? Ja, war es auf jeden Fall.
 

‚Lass ihn gehen, er ist sicherer ohne dich. Jetzt ist die Gelegenheit! Die Gelegenheit kommt so schnell nicht mehr’, wisperte etwas Verrücktes in ihm. Etwas erstaunlich realistisch Verrücktes.

„Du bist sicherer bei ihnen“, würgte Schuldig hervor.
 

„Und unglücklich, weil ich dich zurückgelassen habe.“

Aya strich Schuldig über die Wange. „Ich habe noch etwas Zeit, es ist noch nichts Konkretes geplant, doch in den nächsten Tagen wird es wohl zu einer Entscheidung kommen.“
 

Schuldig schluckte hart. Rans Nähe war ihm jetzt fast zu viel. Ran konnte sich noch nicht entscheiden.

Er konnte nicht spontan sagen, ja ich bleibe bei dir.

Und Schuldig war unfähig sich selbst Ran auszureden. Er konnte nicht sagen: Geh nur, Brad „kümmert“ sich schon um mich. Er fickt mich dann in deinem Namen… oder ähnliches.
 

„Amerika würde wieder einen Neuanfang bedeuten… einen kompletten. Und wenn du nicht mitkämst, würde es bedeuten, dass ich dir nicht mehr nahe wäre, dass wir getrennt leben würden. Ich mag Neuanfänge nicht… Veränderungen sind nicht gut.“
 

„Ja… und zu bedenken gäbe es da auch, dass du einen so tollen Liebhaber wie mich auf keinen Fall in den Staaten finden wirst. Das kann ich dir gleich sagen.“

So, jetzt wollten sie doch mal für ihn argumentieren.

„Dann musst du immer ganz alleine in deinem Bett schlafen - wir reden jetzt nicht von Kudou daneben, klar?!“
 

Aya lachte, doch das Lachen war nur von kurzer Dauer. Genauso würde es laufen… so oder so ähnlich.

„Lass uns das Thema wechseln, ich will jetzt nicht mehr darüber nachdenken.“

Er holte sich seine Kaffeetasse heran und nahm einen Schluck.

„Wie geht es eigentlich Nagi?“
 

„Du sagst nicht nein, Ra~an“, murmelte Schuldig bekümmert. „Das heißt der nächste heiße Fick, nach mir, den würde Kudou bekommen?“ Das war natürlich herb. Ran zu verlieren war das Eine, aber sich vorzustellen…
 

Schuldig ritt der Teufel… Aya wiederum eine ganze Armee.

„Ja, würde er“, erwiderte er grausam, aber Schuldig hatte momentan nichts anderes verdient für diesen Kommentar. „Problem damit?“ Er lächelte dunkel und nahm einen weiteren Schluck. Seine Augen schimmerten dunkel maliziös.
 

„Ja“, fiepte Schuldig wie ein getretener Hund und sein Schmollgesicht wuchs. „Das ist hundsgemein.“ Er ließ seinen Kopf in den Nacken auf die Lehne fallen und starrte mit ernstem Gesicht zur Decke.

Ran.

Er wusste noch nicht einmal was er fühlen sollte. Sollte er besitzgierig sein? Oder sollte er ihn laufen lassen, wie er es schon einmal gemacht hatte.

Ran. Sein Ran.

Was würde werden, wenn er nicht mehr da war?

Wenn er wegging, weil er seine Freunde mehr brauchte.
 

Ayas Finger piekten Schuldig in die Seiten und er drehte sich auf den Oberschenkeln des anderen um, sodass er rittlings Schuldig zugewandt saß.

„Das hast du herausgefordert…Youji wird nie den Stellenwert erlangen, den du hast, das habe ich dir mehrfach gesagt.“ Was jedoch war, wenn er sich von Schuldig trennte… trennen sollte… falls das überhaupt geschah.
 

„Ja, schon klar“, zog der das ganze in die Länge und seufzte theatralisch. Ran würde mit Yohji vögeln, wenn sie sich trennten. Klarer Fall, da brauchten sie eigentlich nicht mehr darüber reden.

Und er selbst?

Er würde sich wohl Brad angeln. Eigentlich wären somit alle Probleme gelöst. Sicherlich.
 

Aya erwiderte nichts. Es war ein altes Thema zwischen ihnen, das sie so nie auflösen konnten. Egal, was er anbrachte, in Schuldig gab es immer Zweifel an seinen Gefühlen.

Dass es letzten Endes Aya schmerzte, schien Schuldig nicht zu bemerken oder nicht zu wissen.
 

Da fiel doch Schuldig glatt noch ein kleines Problem ein. Ihre beiden „Kurzen“ waren ja noch im südlichen Exil und es war wohl nicht ganz verkehrt sich bei Nagi nach dessen Befinden zu erkundigen. Vor allem, nachdem dieser die Nachricht erhalten hatte, dass sein großes Vorbild nicht sehr vorbildhaft im Krankenhaus gelandet war.

Nagi neigte bisweilen zu Angst- und auch zu Wutausbrüchen, die ganze Stadtteile ohne Strom zurücklassen konnten.

Schuldig griff sich Ran schön eng, damit dieser ihm nicht davon laufen konnte und langte einmal quer über das Tischchen um nach einem ihrer Telefone zu angeln.

Er wählte Nagis Mobiltelefonnummer samt Umleitung über ihren Sicherheitsserver.
 

Doch nicht Nagi nahm ab, sondern Omi nach einigem Klingeln und einer gewissen Unsicherheit, wer es am anderen Ende der Leitung war. Doch vielleicht war es wichtig und Nagi konnte er noch nicht dazu überreden, aufzuwachen. Der andere schlief wie tot, tief und anscheinend traumlos.

„Ja?“, fragte er vorsichtig und es war Aya, der, eingequetscht wie er war, hörte, dass es sich um Omi handelte, und misstrauisch das Telefon samt Schuldig betrachtete.
 

„Hey, Kleiner. Wo ist dein Schoßhündchen?“, fragte Schuldig mit einem kratzenden Unterton, allerdings lächelte er dabei und dieses Lächeln war zu hören. „Meins sitzt brav, wo es hingehört, sag mir jetzt nicht, dass deines entlaufen ist oder sich ungehörig benommen hat.“
 

„Ääähm…“

Parallel zu Omis doch recht verwirrtem Laut, erwartete Schuldig seine schmerzhafte Strafe in Form eines noch freundschaftlichen Zwickens… NOCH.

Was für ein Macho! Und dabei hatte er zuhause gar nichts zu sagen! Aber vor anderen den großen Macker geben! Ayas Augen versprachen nichts Gutes und er begann sich bereits, aus der Umklammerung zu schälen.

„Meins ist gut erzogen, es benimmt sich nicht ungehörig, im Gegensatz zu deinem“, hielt Omi schließlich rotzfrech dagegen, wurde dann jedoch ernst. „Er schläft, er hat die Nachricht von eurem Orakel, das im Krankenhaus liegt, nicht ganz so gut verkraftet, aber er ist auf dem Wege der Besserung.“
 

Schuldig schmiegte sich provozierend an Ran, sah ihn von unten herauf mit extrem treuherzigen Augen und einem schnellen Schmollmund an, bevor er antwortete. „Ja, man hat schon manchmal seine liebe Not mit den unfolgsamen Tierchen. Aber ich will meins ja gar nicht brav.“ Schuldig kuschelte wieder mit Ran und ließ ihn nicht aus seinen Fängen auch wenns schwierig war und er ernster wurde. Vor allem besorgter.

„Hat er viel zerstört? Seid ihr von dort abgehauen?“
 

Nicht brav? Das konnte Schuldig haben! Die Hand auf Schuldigs Lippen gepresst, damit dieser nicht schreien konnte, biss Aya in das rechte Ohrläppchen und zwar sehr ungehorsam, sehr fest.

Schuldigs Frage und Omis Antwort darauf ließen ihn jedoch kurz von Schuldig ab.

„Er hat gar nichts zerstört. Er hat sich in sich selbst gekehrt, sich völlig abgeschottet und ist seitdem am Schlafen. Aber all seine Vitalzeichen sehen gut aus, ich checke sie regelmäßig.“
 

Schuldig ließ Ran los, lehnte sich zur Seite und entließ ihn von seinem Schoß. Er spürte, dass wohl einer der kleinen Beißerchen Blut gefordert hatte, aber damit wollte er sich momentan nicht beschäftigten.

„Ich verstehe, Tsukiyono. Gab‘s ne Überlastung der Energieversorgung, irgendetwas Außergewöhnliches, was nicht zu erklären wäre?“
 

„Gar nichts, nicht einmal ein Erdbeben. Er war einfach… still, nicht mehr ansprechbar. Ist das ein schlechtes Zeichen?“ Besorgnis hatte sich in die Stimme des jungen Japaners geschlichen und sein Blick lag prüfend auf dem schlafenden Telekineten.
 

„Nein.“ Schuldig sah flüchtig zu seiner beißwütigen Raubkatze hinüber um sie weit von sich weg und wieder auf ihrem Platz zu wissen. „Nein, das ist okay. Er wird sicher bald wieder aufwachen. Kümmer dich um ihn, ich vertrau ihn dir an. Er ist unsere beste Waffe, wenn wir angegriffen werden. Das Einzige, das uns retten kann.“
 

Die Lefzen, oder auch Mundwinkel, besagter, beißwütiger Raubkatze zogen sich gerade nach oben und zwei Reihen weißer, scharfer Zähne klappten geräuschvoll aufeinander… mehrmals… und gaben Schuldig einen Eindruck davon, was ihn erwarten würde.

„Ich werde mich um ihn kümmern… wie bisher auch. Noch ist er mir nicht weggelaufen“, hörte man Omis Zwinkern schon durch das Telefon, alleine aber auch deswegen, weil er die ernste Stimmung, Schuldigs Ernsthaftigkeit nicht wollte… verdeutlichte es ihm doch die Lage, in der sie alle steckten.
 

„Okay, Kleiner. Du weißt ja, in jeder Stadt gibt’s hier und da so kleine versteckte Shops, die den ganzen Fesselkram verkaufen. Das eine oder andere Halsband wird sich da dann schon finden lassen.“ Schuldig hob eine Augenbraue und schmunzelte.

„Sag ihm Bescheid, dass es dem Amerikaner besser geht und ich alles im Griff habe.“

Schuldig legte auf und besah sich das Telefon, bis ihn etwas Feuchtes am Ohr kitzelte und er es gedankenverloren abwischte.
 

Das Geklapper der Zähne kam näher und machte kurz vor Schuldig Halt, wurde dann zu einem besänftigenden Lecken, als Ayas Zunge über die geschundene Stelle strich.

„Du willst die beiden wohl mit aller Gewalt verderben, was?“, fragte Aya knurrig und saugte leicht an dem gefangenen Ohrläppchen.
 

Schuldigs Miene erhellte sich etwas, allerdings brachte er nur ein etwas missglücktes, da trauriges Lächeln zustande. Dennoch reckte er Ran sein Ohrläppchen entgegen, indem er seinen Kopf neigte. „Das ich nicht lache, was gibt es da bei dem Blondschopf noch zu verderben? Das besorgt er doch schon selbst.“
 

„Omi war unverdorben und rein, bevor ihr beiden euch näher kennen gelernt und die Chance gehabt habt, miteinander zu kommunizieren!“ Ein kleines Zwicken noch im empfindlichen Fleisch, dann ließ er von seinem Gefangenen ab.

„Er hat sich zu schnell ein Beispiel an dir genommen!“ Als wäre er selbst die Unschuld vom Lande… doch von ihm konnte es Omi nicht haben! Youji und er hatten ihre Spiele immer im Verschwiegenen getrieben oder auf Partys.
 

„Ich darf dich da an ein Gespräch erinnern, wo Omi alles andere als unschuldig war und DAS, obwohl ich zuvor gar keinen Kontakt zu ihm gehabt hatte!“

Schuldig schubste Ran mit spitzen Fingern an, der im Loungesessel neben ihm thronte, bevor er sich über dessen Oberschenkel schob und sich über ihn beugte. „Der Kleine ist von dir verdorben worden, denn DU mein Lieber bist sein Vorbild. Falls du das noch nicht bemerkt haben solltest. Und ER ist ein Spiegel deiner Verdorbenheit. So siehts nämlich aus.“ Schuldig streckte Ran die Zungenspitze heraus, zog sie aber gleich in Sicherheit, nicht, dass ihm noch ein Stück abgebissen wurde.
 

Was auch gut so war, denn Aya war gerade in Beißlaune und seine Zähne verfehlten ihr Ziel nur knapp.

„An das Gespräch kann ich mich nicht mehr erinnern!“, grinste Aya unverschämt. „Außerdem habe ich MEINE Verdorbenheit immer vor ihm geheim gehalten, ich kann gar nicht sein Spiegel sein!“
 

„Ah, da ist ja jemand gar nicht ausgelastet?! Tut dir dein kleiner Zuckerarsch nicht mehr weh?“, bohrte Schuldig in der offenen… Wunde herum. Rans Klagelaute waren ihm noch gut im Ohr.
 

„Du hast dich einfach nicht genug angestrengt…machst du langsam schlapp?“, fragte Aya, sich nicht im Geringsten um Schuldigs Kommentar scherend. Irgendein Teufel ritt den Telepathen gerade... vermutlich war es der Sex gewesen, der Schuldig wieder belebt hatte.
 

„Ich kann‘s ja nochmal versuchen, bestimmt klappt‘s jetzt besser und morgen brennt dir der Hintern wenigstens so schlimm, dass du nicht mehr behaupten kannst, ich hätte mich nicht genug angestrengt!“, sprach‘s und wurde fluchs tätig.

Zumindest versuchte es Schuldig…
 


 

o~
 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Coco & Gadreel

Einsam, zweisam, dreisam

~ Einsam, zweisam, dreisam ~
 


 

o~
 

„Oh Verzeihung“, verneigte und entschuldigte sich ein junger Mann, der Crawford scheinbar touchiert hatte und er nickte zurück, konzentrierte sich allerdings sofort wieder auf seinen Weg, den er noch vor sich hatte.

Der Taxistand vor dem Krankenhaus war nur über den Platz vor dem Haupthaus zu erreichen und bot genug Möglichkeiten damit er in seinem noch immer etwas angeschlagenen Zustand der Länge nach hinschlagen konnte.

Ein Wagen im noblen Schwarz stand da.

Brad trug ein Hemd und eine schlichte schwarze Anzughose. Bis vor kurzem hatte er noch einen Beutel mitsamt seinen zerschnittenen Kleidungsstücken besessen. Sie hatten ihm in der Notaufnahme die Kleidung aufgeschnitten um schneller an die Verletzungen kommen zu können. Entsprechend hatte er danach keine vernünftige Kleidung als sein Eigen nennen können. Die zerschnittenen Sachen hatte er jedoch vor wenigen Minuten im nächsten Mülleimer im Krankenhaus entsorgt.
 

Er hatte sich selbst um Ersatzkleidung gekümmert, als es ihm besser ging. Über den Krankenhausservice hatte er sich ein frisches Hemds, samt Unterwäsche, Hose und Jackett besorgen lassen. Es gab schließlich einen privaten Bringservice, den er über den Krankenhausservice kontaktieren konnte. Er hätte Schuldig darum bitten können, allerdings …
 

Nagi war erst vor zwei Tagen wieder aus seinem Kurzurlaub zurückgekehrt und er hatte ihm verboten vorbeizukommen.
 

Die Frage nach seiner Familie, nach seinem Stiefbruder war der Krankenschwester ins Gesicht geschrieben. Offenbar fragte sie sich weshalb dieser Stiefbruder ihm keine Ersatzkleidung brachte. Sie war nicht die Einzige, die sich das fragte, nur hatte Brad eine plausible Erklärung dafür. Schuldig war wütend.

So wütend, dass er gewaltsam in seinen Geist eingedrungen war und ihm seine Fähigkeiten auf eine Art und Weise wiedergegeben hatte, die ihm jetzt immer noch in der Erinnerung daran Übelkeit und einen kalten Schauer bereiteten.
 

Brad strich diese zugegebenermaßen bitteren Gedanken aus seinen jetzigen Überlegungen. Er musste zusehen, dass er nach Hause kam. Ihm wurde jetzt erst gewahr, dass er über den Gedanken an Schuldig stehen geblieben und sein Blick unfokussiert auf eine Anzeigetafel der unterschiedlichen Kliniken, die das Haus beherbergte, gerichtet war.

Seine Sehkraft ohnehin schlecht, machte ihm die grobe Orientierung zwar nicht schwer, jedoch fühlte er sich nicht sicher in seiner Umgebung. Sich der vollen Einsatzfähigkeit seiner hellseherischen Fähigkeiten wieder bewusst ließ ihn dieser Umstand ruhig und gelassen dem Kommenden entgegensehen. Er nahm seinen Weg wieder auf.
 

Die Sonne stand hoch am Himmel von einigen Kumuluswolken flankiert, als er aus dem glasüberdachten Vorgebäude ins Freie trat und sich umsah.

Einige Menschen vertraten sich die Beine im Freien und sahen sehr nach Patienten aus, die in Begleitung ihrer Angehörigen das schöne Wetter für einen Spaziergang nutzten. Noch war es nicht zu heiß. In ein paar Tagen, Wochen würde sich dies ändern. Hinter dem Krankenhaus schloss sich ein kleiner Park an.
 

Es war viel zu hell, viel zu laut, befand Brad und atmete tief ein. Zumindest so tief es ging ob der Schmerzen, die immer noch beim tieferen Einatmen deutlich zu spüren waren. Er hatte nichts weiter bei sich außer der Kleidung, die er auf sich trug und die Papiere, die ihn als Dr. Richard Winter auswiesen.

Sein Gang war vorsichtig, jeder Schritt wohl überlegt und nicht zu hastig. Die Sonnenbrille die er sich hatte besorgen lassen – ein sehr günstiges Modell, wie er bemerkte – schob er sich auf die Nase.

Ein Bild glitt in seine Wahrnehmung. Ein leerer Taxistand.

Als er wieder aufblickte fuhr das schwarze Taxi gerade ab. Ohne ihn.
 

Es wurde immer besser. Aber kam – dank Schuldigs Eingreifen – wenig überraschend. Er hatte seine Vorhersehung wieder. Zu einem hohen Preis. Aber er war nicht zu hoch gewesen. Nicht zu hoch.
 

Sich dies wieder vor Augen haltend, ging er gemächlichen Schrittes zu einer Bank vor dem Taxistand und setzte sich vorsichtig hin.

Es würde schon bald ein Taxi kommen. In ein paar Minuten…

Mit hoher Wahrscheinlichkeit.
 

Solange genoss er es die Bank für sich alleine zu haben und vertrieb sich die Wartezeit damit sich von seinen Gedanken abzulenken, indem er die Leute um sich herum betrachtete, wie sie an ihm vorüber zogen.
 

o~
 

Aya fühlte sich schon seit einer Stunde hellwach und bereit für allerlei Schandtaten.

Woher er diese Energie nahm, konnte er sich denken, denn er ging seit drei Tagen wieder arbeiten und es schadete ihm nicht, ganz im Gegenteil.

Er zog Energie aus seiner Tätigkeit, aus seinen Arbeitskollegen und den Gästen, dem Leben, an dem er wieder teilnahm. Allerdings schonte ihn Gabriele noch, gab ihm nicht so viele Schichten wie vor seinem Zusammenbruch. Daher hatte er auch - entgegen seines Protestes - die nächsten drei Tage frei.

Nun gut… aber es würde schließlich wieder werden.

Momentan war er, voller Energie, damit beschäftigt, Schuldigs Sommersprossen zu zählen, die sich auf der rechten Gesichtshälfte darboten. Die linke knautschte gerade das Kissen zu Tode, während Speichel träge für die nötige Bewässerung sorgte.

Schuldig schnorchelte leise, kräuselte hier und da die Nase, während seine Haare wild auf dem weißen Kopfkissen verteilt waren.
 

Der Telepath hatte es sich wieder angewöhnt, nackt zu schlafen und lag nun, platt wie eine Flunder und so, wie ihn Gott geschaffen hatte, vor ihm auf den Laken. Ayas Blick wanderte nach unten, dort, wo im Sonnenlicht, das gerade Schuldigs Hintern beschien, ganz leichter, roter Flaum in die Spalte zwischen den Pobacken verschwand.

Selbst auf dem Hintern hatte Schuldig ein paar… also war Aya schon bei 103 Sommersprossen. In Betrachtung der muskulösen Oberschenkel versunken, kam Aya eine ganz andere Idee… eine Idee, wie er den anderen Mann aufwecken konnte… da nun das Bedürfnis nach Beschäftigung geradezu drängend wurde.

Unerkannt von Schuldig kroch Aya über den anderen Mann und ließ sich auf ihn fallen… der Länge nach.
 

Schuldig stöhnte und rieb seine Nase im Kissen. So richtig wach war er noch nicht und seine Augenlider klebten noch höllisch am Unterlid fest. Aber er wusste zumindest schon, wer ihn als Unterhaltungsinstrument missbrauchte.

„Ra~an“, quengelte er mit schlafesschwerer Stimme. „Geh… runter“, leierte er und räusperte sich gequält. „Oder soll ich dir dein Flohhalsband wieder umlegen?“, kams noch immer sehr lahm.
 

„Träumst du noch? Wer hat wem denn das symbolische Flohhalsband angelegt, als jemand etwas zu vorlaut angedroht hatte, meinen Hintern zum Brennen zu bringen?“

Aya grinste und ruckelte sich auf Schuldig zurecht, bevor er sich zur Erleichterung des Telepathen auf die Seite rollte und ihm einen feuchten Kuss auf die Nasenspitze drückte.

Er schlängelte gerade einen Arm um Schuldig, als das Telefon klingelte und er mit einem Aufstöhnen den Kopf in die Kissen grub.

Stimmt, heute Morgen war Crawford entlassen worden… und würde jetzt sicherlich mit Schuldig sprechen wollen - die Probleme gingen also weiter.

„Ich geh ran“, knurrte er und kroch soweit an den Rand des großen Bettes, das er nach dem Hörer angeln konnte. „Ja?“, tönte er unfreundlich durch den Hörer, wurde jedoch sofort freundlicher, als es nicht Crawford am anderen Ende der Leitung war, sondern Nagi.

Ein aufgeregter Nagi, der ihm noch aufgeregter das erzählte, was er als letztes an diesem wunderbaren Mittag hatte hören wollen.

„Er ist nicht nach Hause gekommen? Wann wurde er entlassen? Seit fünf Stunden also? Nicht bei euch im Haus? Wo dann?“

Für einen Moment war Stille am anderen Ende der Leitung. Dann eröffnete Nagi ihm, dass es auch eine andere Möglichkeit gab. Doch welche…

Aya hörte schon im Zögern des anderen, dass es besser Schuldig war, der diese Information erhielt.

„Warte, ich reiche dich weiter.“

Aya wandte sich zu Schuldig um, seine Augen ernst. „Hier, Nagi ist am Telefon. Crawford ist vom Krankenhaus aus nicht nach Hause gekommen… er meldet sich weder am Handy noch am Telefon.“
 

„Dieser Arsch“, knurrte Schuldig kaum zu verstehen ins Kissen und öffnete ein Auge probehalber um das Telefon in Augenschein zu nehmen.

Seine Hand unter dem Kissen kroch umständlich hervor und griff sich das Telefon, welches zunächst bleischwer auf Schuldigs Ohr krachte, was ihm ein Stöhnen des Schmerzes einbrachte – seinerseits.

„Morgen, Kleiner. Ich versuch ihn aufzutreiben. Vermutlich ist er beleidigt, weil ihn keiner abgeholt hat“, brummte Schuldig und drehte sich wohl oder übel doch halb zur Seite um seinen Mund zum Sprechen freizulegen.

„Warum hast du ihn nicht abgeholt?!“ fragte Nagi mit eindeutig aufgebrachter Stimme, wobei der Tonfall immer schön gleichmäßig blieb. ‚Nur nicht ausfallend werden…’ meckerte Schuldig für sich in Gedanken.

Allerdings setzte Nagi noch einige hochfremdwörtliche Sätze an, die Schuldig alle als unwichtig abhakte.

„Weil er eine Bestrafung verdient hat, für das, was er abgezogen hat. Und jetzt halt den Rand, Naoe, ich kümmere mich schon drum. Bald.“ Er reichte das Telefon weiter ohne aufgelegt zu haben und versenkte sein Gesicht aufstöhnend im Kissen.
 

Aya schwieg einen Moment lang und hörte nur noch das leise Tut. Er legte an Schuldigs Statt auf und wandte sich an den Deutschen.

„Wo ist er?“, fragte er gepresst, recht unterdrückt, aber definitiv wütend. Und weg war ihre gute Stimmung. Weg war die morgendliche Entspannung, alles weg dank des Amerikaners. Aber warum wunderte sich Aya darüber? Seitdem Schuldig wieder da war, machte Crawford nur Ärger.
 

„Was weiß ich“, murrte Schuldig, hörte jedoch das unterschwellige Brodeln in Rans Stimme, was ihn veranlasste aus seiner Zuflucht aufzublicken und Rans Gesicht zu suchen. Dazu musste er sich aber umdrehen, was zumindest der Oberkörper auf die Reihe bekam, der Rest war schlicht zu faul dazu und blieb, wie er war.

„Entweder er hat keinen Bock ans Telefon zu gehen, oder er liegt in irgendeiner Ecke und sein Leben hängt am seidenen Faden.

Wir können davon ausgehen, dass es ihm nicht sonderlich gut geht und er sich sofort ins Bett gelegt hat, was am Wahrscheinlichsten ist um es mit seinen Worten auszudrücken.“ Schuldig wischte sich die wirren Haare aus dem Gesicht. „Es ist sein gutes Recht, für uns nicht erreichbar zu sein, wenn wir ihn schon so sitzen lassen“, sagte er wesentlich ernster und leiser.

„Allerdings entwickelt sich das Ganze hier zu einem Pingpong Spiel. Und gipfelt wohl bald darin, dass einer den Löffel abgibt.“
 

„Und diesen Gipfel wollen wir verhindern. Nein, will ich verhindern. Ich habe keine LUST mehr auf diese Kleinkriege. Er hat uns alle gefährdet, UNS ALLE. Es reicht, Schuldig. Ich werde ihn suchen und ihm eins in die Fresse hauen, dafür, dass er Nagi und dir Sorgen bereitet und permanent die Stimmung zerstört.“

Ayas Haltung war angespannt, wütend, seine Augen dunkel vor Zorn.
 

Schuldig wandte den Blick ab und setzte sich auf, zog seine Beine aus dem Bett und raffte sich die dünne Decke um die Hüfte.

„Sehe ich aus als wäre ich besorgt?“

Er stand auf und wandte sich zu Ran um, ihm einen reservierten Blick zuwerfend, das genaue Gegenteil zu Rans wütender Aura. Er verharrte einen Moment, mit seiner Telepathie suchte er Nagis, Brads und Jeis Ryokan auf, doch dieses barg kein Individuum.

„Ich denke, es gibt eine Chance, wo er sein könnte. Im Ryokan ist er jedenfalls nicht. Warte einen Moment… ich muss zunächst die Daten abrufen.“
 

„Gut“, grollte Aya und erhob sich ebenso wie Schuldig, strebte das Badezimmer an.

Was bildete sich dieser Amerikaner ein? Verletzt, ohne sich zu melden, sich nicht blicken zu lassen und sich nicht im Haupthaus einzufinden, sie im Unklaren zu lassen. Verdammt!

Er wusch sich das Gesicht und griff zum Rasierer. Das leise Surren beruhigte ihn nicht im Geringsten.

Wenn sie so weiter machten, brachten sie sich selbst um… das brauchte die gegnerische Gruppierung gar nicht zu erledigen.
 

Schuldig stand auf und schloss die Schlafzimmertür, danach setzte er sich wieder aufs Bett und versetzte sich mittels einer Atemtechnik in Trance. Das dauerte bei ihm einige Minuten, aber nicht länger.

Erst dann ging er in seinem Gedächtnis auf die Suche nach den abgespeicherten Adressen, die ihm Brad einmal gegeben hatte, als Rückversicherung.

Brads Rückversicherungsort… ja… er hatte ihn. Eine Wohnung in Roppongi.

Schuldig weilte noch einen Augenblick in seinem Unterbewussten und kam dann langsam wieder in die Realität zurück.

„Roppongi… wo sonst“, schmunzelte er und schüttelte den Kopf.

Mittels seiner Telepathie erforschte er das Stadtviertel, suchte und fand Brad.

Er machte noch ein paar Lockerungsübungen und stand dann auf um Richtung Badezimmer zu gehen. Er öffnete die Tür. „Eine Wohnung in Roppongi, ich schreib dir die Adresse auf… er befindet sich dort.“
 

Aya besah sich Schuldig, doch nicht wirklich registrierend, was dieser schrieb. Viel zu tief war er schon in seinen Plänen versunken, wie er dem Amerikaner das Leben für seine Kaltschnäuzigkeit zur Hölle machen konnte. Schuldig reichte ihm die Adresse und er steckte sie ein, anschließend stieg er unter eine sehr warme Dusche… sehr warm, beinahe schon heiß. Er musste sich entspannen, um sich für das kommende Gespräch zu wappnen, musste innere Stärke erlangen. Crawford würde nicht als Sieger aus diesem Krieg herausgehen.

Zwanzig Minuten später betrat er fertig geduscht den Wohnraum und zog sich an, schwarz in schwarz, Leder und Stoff.

„Ich werde alleine fahren… und ihn schließlich hierhin bringen.“
 

Schuldig lümmelte nackt samt um die Hüfte geschlungenem Leintuch auf dem Sofa herum, die Beine angezogen und seinen Ellbogen darauf abgestützt. Der schwere müde Kopf thronte mittels Kinnstütze in der Handfläche.

Als Ran das sagte, horchte er jedoch auf und seine Augen wurden nur minimal größer. „Meinst du das… ist gut?“
 

„Fällt dir eine bessere Lösung ein?“, fragte Aya. „Du sagtest, du würdest ihn an mich verkaufen. Das ist unwahrscheinlich, aber die Idee dahinter, ihn zu kontrollieren, ist gar nicht mal so falsch. Anscheinend weiß er momentan nichts von der Pflicht, sein Team zusammen zu halten und diese Pflicht muss er erst wieder erlernen. Außerdem gibt es immer noch das Problem, das ihr beiden habt… und für das es irgendeine Lösung zu finden gilt, EGAL welche.“

Aya zog sich seine Schuhe an.
 

„So… aha“, formulierte Schuldig vorsichtig. „Aber du könntest ihn ja trotz allem dort lassen wo er gerade ist oder?“

Seine Überredungskünste waren schon mal besser, aber nach dieser durch… zech… nein durchfickten Nacht, war nicht mehr viel von seinem Elan vorhanden. Selbst im Bezug auf Brad. Oder gerade in Bezug auf Brad.
 

„Damit er sich zurückzieht und wieder die Gelegenheit hat, sich von seinem Team abzusondern und alleine Aufträge anzunehmen, die ihn beinahe umbringen?

Nein, Schuldig, er braucht jemand, der ihm seinen Kopf zurechtrückt und dieser jemand bist am Besten du. Ihr seid euch am Nächsten von eurem Team. Und damit nichts schief geht, bin ich auch noch da.“
 

Ja, gaanz Klasse. Jetzt hatte er sozusagen den Oberlehrer hinter sich stehen, der auch noch dabei war, wenn Schuldig und Brad sich anschwiegen.

„Na, super“, murmelte Schuldig und saß da wie der begossene Pudel, als der er sich fühlte. Ran hatte keinen blassen Schimmer, dass er aus seinem hübschen Köpfchen gelesen hatte, dass Brad seine Fähigkeiten nicht mehr gehabt hatte und er hatte auch keine Ahnung, dass er ihm seine Fähigkeiten zurückgegeben hatte. UND er hatte keine Ahnung wie er… das getan hatte.

Schuldigs Mundwinkel kamen vom Weg ab, als sie lächeln wollten und fielen die Klippen hinab, schlugen auf und zerbröselten zu einem traurigen Etwas.
 

„Fällt dir etwas besseres ein?“, fragte Aya auf diesen wenig begeisterten Kommentar hin. „Die einzige Möglichkeit die sich mir hier erschließt, wäre, ihm eine Gehirnwäsche zu verpassen oder gewaltsam in seinen Geist einzudringen, aber das ist, wie du schon einmal erwähnt hast, eine Vergewaltigung. Außerdem würde er es wenig erfreut aufnehmen.“

Er seufzte schwer.

„Dein angeblicher Tod hat ihn schwer mitgenommen, deine Wiederauferstehung noch mehr. Unsere Abwesenheit ebenso… er weiß nun, was er an dir hat. Das ist das Problem.“
 

Schuldig nickte langsam. Was sollte er dazu sagen?

Ja… er hatte ein wenig mit Brads Gehirnmasse gespielt und einmal kräftig drin rumgerührt?

Nein, das besser nicht…
 

„Also.“ Aya hatte das als Zeichen genommen, dass Schuldig ihm zustimmte und griff sich die Schlüssel zum Geländewagen.

„Ich bin in ein paar Stunden wieder da. Zur Sicherheit habe ich mein Handy dabei.“ Und zwei Waffen, doch das brauchte er Schuldig nicht zu erzählen, das war dem anderen nur allzu bekannt.
 

Ran rauschte ab und Schuldig saß wie die Unschuld vom Lande im weißen Leinentuch auf der roten Couch und starrte der schwarzen Drohung nach.

„Oh man“, murmelte er. Das würde ja was werden. Was sollte er denn mit Brad hier anfangen?

Er konnte doch jetzt nicht mit ihm reden. Vor allem über was sollten sie sprechen? Über das Wetter? Darüber wie mies er ihm seine Fähigkeiten wiedergegeben hatte?

Oder darüber, dass er Aufträge hinter ihrem Rücken vollzogen hatte und sie alle gefährdet hatte? Am meisten sich selbst? Und… dass er hätte sterben können? Und dass er gefälligst auf sich zu achten hatte? Dass er der Schwächste unter ihnen war und sie die Pflicht hatten ihn zu schützen? Dass sie seine kleine Privatarmee waren und er der Kopf dieser Armee war? Dass er ihn nicht alleine lassen konnte, indem er einfach so wegstarb?

Dieser Arsch…
 

Schuldig erhob sich energisch und durchquerte den Wohnraum Richtung Flur und von dort ins Badezimmer. Er würde duschen, sich anziehen und… und… dann was anderes machen. Was wusste er noch nicht, aber nicht dasitzen und dem Henkersbeil beim Fallen zusehen. Es war schließlich sein Kopf, der bald rollen würde…
 

Aya bahnte sich währenddessen seinen Weg durch den Wahnsinn des Stadtverkehrs, der ihn durch die Straßen kriechen ließ.

Er brauchte lange, sehr lange, um bei besagter Adresse in Roppongi anzukommen und festzustellen, dass es eine exklusive und teure Wohngegend war, in der er sich hier befand. Hatte er etwas anderes erwartet?

Aya schnaubte.

Bei diesem eingebildeten Orakel… nein. Definitiv nicht.

Aya parkte seinen Wagen etwas weiter entfernt und lief den Rest des Weges, blieb jedoch schließlich beim Portier des Hauses hängen, der ihn mit einem musternden Blick von oben bis unten betrachtete.

Mit der ihm gegebenen Arroganz nickte er dem Portier zu, der dienstbeflissen in seinem Häuschen saß und betrat die rechts liegenden Fahrstühle. Natürlich gehörte er in dieses Haus, auch wenn er nicht so aussah… so oder so ähnlich.

Er drückte den Knopf der zwanzigsten Etage und ließ sich von dem Fahrstuhl nach oben fahren.
 

Jetzt konnten die Spiele beginnen.
 

An Rans Zielort herrschte zwielichtiges Halbdämmer und Dunkelheit. Die Räumlichkeiten im zwanzigsten Stockwerk waren spärlich eingerichtet. Puristisch würde dem Einrichtungszustand dieser Wohnung nicht gerecht werden. Es wäre schlichtweg übertrieben gewesen.

Brad saß in dem Ledersessel, hatte eine kleine Lampe am Schreibtisch herangezogen und seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt.

Das dunkle Hemd selbst war offen. Die Spritze steckte noch auf der Nadel in seiner Ellbeuge. Sein Kopf lag müde im Nacken und er hatte die Augen halb geschlossen, genoss die Stille um sich herum und das Nachlassen der Schmerzen in seiner Flanke.

Ein mattes Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er ungehindert atmen konnte und ihn keine drückenden Schmerzen plagten.

Er hatte sich ein Medikament gespritzt, welches zur Opiatgruppe gehörte und wahre Wunder wirkte. Stets behielt er sich einen kleinen Vorrat in seiner Wohnung bereit.

Er hatte es bisher lediglich für Schuldig gebraucht. Für sich selbst noch nie.

Für Schuldig… ja…
 

Aya überlegte sich genau, wo er seine Faust hinplatzierte: in welcher Partie von Crawfords Gesicht sie landen würde, mit welcher Intensität und aus welchem Winkel, dass es möglichst sehr wehtat.

Es zerstreute ein wenig seiner Wut, die in ihm brodelte, doch es linderte sie nicht.

Er fand Crawfords Apartment, natürlich unter falschem Namen aber mit der richtigen Nummer und klingelte.

Mal sehen, ob ihm geöffnet wurde.
 

Das Summen der Türklingel riss Brad aus seinem medikamenteninduzierten Halbschlaf und sein Kopf rollte zur Seite und nach vorne. Er wischte sich eine längere Haarsträhne aus der Stirn und hörte das Herabfallen von Plastik auf den Boden, noch bevor er den kurzen Schmerz in seiner Ellbeuge verspürte.

Etwas kitzelte ihn und er besah sich das dünne Blutrinnsaal, welches seinen Arm entlanglief. Müde griff er zu einer Kompresse und presste sie in die Ellbeuge.

Es klingelte erneut.
 

Noch kam keine Vision. Es war also nötig, dass er sich erhob und die Tür öffnen wollte um eine Voraussicht der Person zu empfangen, die auf das Öffnen wartete.

Die Wahrscheinlichkeit lag sehr nahe, dass es jemand aus seinem Team war. Vermutlich Schuldig, der nicht sonderlich begeistert sein durfte. Schließlich hatte er keine der Anrufe angenommen.

Dass Schuldig besorgt um ihn war, konnte er zumindest sofort ausschließen.
 

Mit der Gelassenheit eines Hellsehers nahm er die Kompresse weg und klebte sich ein Pflaster auf die Stelle aus der immer noch Blut trat.

Erst dann erhob er sich und durchquerte die Wohnung. Im Eingangsbereich überkam ihn dann die erste Vision.

Es war also Ran Fujimiya, der Einlass begehrte.
 

Sofort wurde das Bild von einem anderen überlagert. Ran hatte vor ihm eine kleine Abreibung zu verpassen. Er sah einen Schlag mit der Faust kommen.
 

Nun, dem konnte er ausweichen. Selbst mit den Medikamenten, die bereits in ihm herumschwammen und dabei ihre blockierende Wirkung an den Schmerzrezeptoren erfüllten.
 

Brad fasste den Türgriff, öffnete die Tür und …
 

NEIN.
 

Eine weitere Vision, in dem Moment in dem er ausweichen wollte. Erst als er ausweichen wollte, kam diese zweite Vision und sie verstörte ihn zutiefst.
 

Er wurde getroffen, fiel zurück, samt Türgriff, den er immer noch in der Hand hielt und jetzt losließ, als die Wand viel zu schnell seinen Rücken traf und er an selbiger zum Stillstand kam.

„Nghh…“

Der Schmerz schoss ihm in den Kiefer… aber diese zweite Vision war… unmöglich. Wie konnte das geschehen?
 

Crawford war blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen...alles in allem sah er überhaupt nicht gesund aus. Natürlich nicht. Und nun würde eine Verletzung mehr hinzukommen, denn der Schlag hatte hundertprozentig so gesessen, wie Aya es sich gewünscht hatte und die Befriedigung der Rache für alles, was Crawford ihm und Schuldig angetan hatte, wirbelte in seiner Blutzirkulation. Das große, allmächtige Orakel, das meinte, alles alleine machen zu können…
 

Er lächelte und betrat die Wohnung, als wäre er schon oft hier gewesen.

Leise schloss er die Tür hinter sich und sah sich in Ruhe um, bevor sein Blick zum Orakel zurückkehrte und minutiös seinen Zustand aufnahm.

Kein schlauer Kommentar, keine wutentbrannte Replik, keine Gewalt als Antwort auf seine Gewalt, ein Orakel ohne Biss, dem etwas in den Augen stand, das Aya nicht genau beziffern konnte. Irgendwie abwesend… nicht wirklich hier in diesem Moment.
 

„Bist du zufrieden, dein Team an den Rand des Auseinanderbrechens gebracht zu haben?“, fragte Aya, einen zweiten, dieses Mal verbalen Schlag setzend.
 

Den Brad im Augenblick nichts entgegensetzen konnte, denn er war immer noch damit beschäftigt, die Bilder, die ihm absurd vorkamen, aus seiner Sicht zu verbannen. Was gänzlich unmöglich war.

Erneut überlagerte die Realität eine Vision, dieses Mal ausführlicher, detaillierter. Ihm blieb der Atem im Hals stecken. Er keuchte auf, hieb mit der Faust gegen die Wand hinter sich…

„Nein…“, krächzte er mit aufkommender Wut. „Das… existiert nicht…“

Er löste sich von der Wand, Fujimiya komplett ignorierend und ging halb taumelnd, sich an der Wand mit einer Hand tastend Richtung Wohnzimmer. Er musste sich hinsetzen.
 

Das konnte nicht sein. Es musste falsch sein. Schuldig hatte etwas mit seiner Gabe angestellt. Er …hatte ihm den Kopf verdreht.

Darüber musste Brad lachen. Er stoppte, lachte leise zunächst, bis er immer lauter wurde und das Lachen dann verstummte. „Gott… nein“, waren seine letzten Worte bevor er den Kopf wandte und Ran mit einem glasigen Blick direkt ansah.
 

Hier stimmte etwas nicht.

Das sah Aya auch hinter seiner Wut, hinter dem festen Vorsatz, Crawford ein wenig Verstand einzuprügeln… genau das ließ ihn auch ruhiger werden.

Was existierte nicht? Was brachte das beherrschte Orakel dazu, sich so derangiert zu zeigen?

Sehr langsam kam er auf Crawford zu, blieb direkt vor ihm stehen und sah ihm in die Augen, so wie dieser ihm das erste Zusammentreffen, das sie anscheinend unzertrennbar aneinander gekettet hatte, in die Augen gesehen hatte.

Die gleiche Situation, die gleiche Arroganz und Überlegenheit, nur dass sie die Rollen getauscht hatten, dass Aya diese Macht nutzen wollte, Crawford in seinen Händen zerschmettern wollte für einen Moment.

Dann jedoch brachen sich die hellbraunen, stumpfen Augen einen Weg durch den kurz aufgebrandeten Hass und holten ihn in die Realität zurück, ließen ihn sich in dieser großen, weitläufigen Wohnung nur auf einen fixieren.

„Was ist mit dir los?“
 

Übrig geblieben von dem Lachen war ein schmales Lächeln, das vielleicht ein zynisches Lächeln werden hätte können, wenn es nicht so müde gewirkt hätte.

„Was würdest du dazu sagen, wenn ich dir erzähle, dass ich gerade eine Vision davon hatte, dass wir beide zusammen mit unserem heiß geliebten Telepathen ein… nein mehrere Aufenthalte in ein und demselben Bett haben werden? Und das nicht nur zum Kuscheln.“

Brad stieß einen sarkastischen Laut aus, bevor er sich weiter auf den Weg machte, schließlich im Wohnzimmer ankam und sich nach einigen Momenten des haltlosen Laufens in den Sessel gleiten ließ.

„Das Beste daran ist, ohne deine reizende Begrüßung – der natürlich sofort die Frage nach meinem Wohlbefinden gefolgt ist - wäre diese Vision und diese Richtung der Zukunft nie eingetreten…“ Er lachte wieder leise, den Kopf in den Nacken gelegt, die Hand suchte blind nach dem Schmerzmittel auf dem Schreibtisch, welches er noch in einer anderen Spritze aufgezogen bereitgestellt hatte.
 

Das sah Aya zunächst nicht, da er im Eingangsbereich stehen blieb und die Worte des anderen erst einmal für sich selbst verarbeiten.

Sie würden miteinander schlafen? Sie drei?

Im Leben nicht.

Aya lachte auf und es war ein ähnlich bitterer Laut wie Crawfords kurz zuvor. Er kam langsam ins Wohnzimmer. Die Wohnung an sich war zu groß, zu kalt, zu leer… zu unpersönlich und indifferenziert. Crawford eben.

Aya sah die Spritze in den Händen des Orakels, ebenso wie er die zu Boden gefallene Kanüle bemerkte. Was war das? Drogen? War es also soweit mit Crawford, wurde der andere verrückt?

„Deine Fähigkeiten funktionieren nicht richtig“, sagte Aya schlicht, nicht glauben wollend, was ihm gesagt wurde.

„Seit Schuldigs angeblichem Tod sind sie blockiert… wer sagt dir, dass sie dir jetzt nichts vorgaukeln? Dass du dir hier einen Drogenrausch spritzt und fantasierst? Wir werden NIE miteinander schlafen. NIE.“ Und schon gar nicht ausgelöst durch den Schlag. Schon gar nicht dadurch, das war einfach lächerlich!
 

Brad rollte die Spritze zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her als er seinen Kopf aus dem Nacken hob und den Japaner anblickte.

„Das ist ein Schmerzmittel. Es wirkt besser wenn ich es mir spritze, bevor ich warte, bis die Tabletten wirken“, erklärte er nüchtern.
 

Einen Moment blickte er Ran noch mit glasklarem Blick, abwägend an, bevor er den Blick wieder auf die Spritze richtete.

„Ich habe meine Fähigkeiten wieder. Schuldig hat sie mir wiedergegeben. Es funktioniert alles bestens. Keine Sorge“, sagte er langsam und mit einem nur leisen ironischen Unterton. Dieser besagte, dass auch leugnen nichts an der Zukunft ändern würde. Rein gar nichts.
 

„Du könntest Selbstmord begehen. Dann wäre das Problem aus der Welt. Oder… du könntest mich töten. Jetzt. Hier. Dann hätten wir auch eine sofortige Lösung.“

Er sagte nicht, dass die Zukunft fest stand. Denn keiner von ihnen würde diese Art der Problemlösung ausführen. Schuldig… stand dazwischen.
 

Schuldig hatte dem Amerikaner seine Fähigkeiten wiedergegeben? Deswegen war er so neben sich gewesen...hatte er vermutlich gesehen, was Crawford wieder und wieder sah und ihm vermutlich noch nicht mitgeteilt hatte. Was für ein Masochist...und stolzer, arroganter, idiotischer Masochist.

Aya beugte sich so nahe zu Crawford herunter, dass er den Atem des anderen Mannes auf seinem Gesicht spürte und dessen Geruch wahrnehmen konnte, der von der freigelegten Haut der breiten Brust zu ihm hinaufströmte. Normalerweise würde er es ansprechend finden, nun aber waren die Zeichen des Krankenhausaufenthaltes wie Symbole der Wut und des Zorns, die sich gegen Crawford richteten.
 

Ayas Rechte legte sich um den Hals des Orakels und drückte zu, leicht nur, nicht um zu töten, nein, noch nicht, sondern um zu fühlen, wie es sich anfühlte.

„Ich werde keinen Selbstmord begehen. Aber dein Tod ist eine durchaus akzeptable Lösung, wenn Schuldig dadurch Leid erspart wird.“

Natürlich wusste er, dass auch Crawford litt, doch sie hatten dieses Thema sehr oft durchgekaut und der andere hatte es jedes Mal niedergeschlagen und als unwichtig abgetan. Jedes Mal.

Und nun?

Nun war es zu spät, angeblich landeten sie zu dritt im Bett und konnten nichts dagegen tun. Dass Aya nicht lachte. Es gab IMMER eine Möglichkeit.

„Aber sag mir…“, fragte er mit Spott in der Stimme. „…großes Orakel… wie soll das gehen, wenn wir nicht miteinander schlafen wollen? Werden wir uns vergewaltigen?“
 

Brad unterließ den Wunsch danach Rans Hand von seinem Hals zu ziehen. Stattdessen blickte er in die mandelförmigen violetten Augen und sah den Japaner spöttisch an.

„Woher soll ich das wissen? Es sah nicht danach aus, als würden wir das, was wir tun, hassen oder es dem anderen aufzwingen. Es sah nach Spaß aus. Und das für alle Beteiligten.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Du meinst Schuldig wird Leid erspart, wenn ich sterbe?“
 

„Nein, aber ich versuche gerade herauszufinden, ob du ihm mehr Leid zufügst, wenn du weiterhin lebst und dich und dein Team gefährdest, ganz zu seinem Leidwesen, weil ihr seine Familie seid.“ Nein, er war es nicht wert und so ließ Aya angewidert seine Hand sinken.

„Er hat dir deine Gabe wieder gegeben? Sag mir, was an dieser Geste nicht von Freundschaft spricht… er hat dich davon befreit, immer wieder seinen Tod zu sehen!“

Er richtete sich auf und verschränkte die Arme.
 

Eine Augenbraue hob sich in Brads Gesicht, welches ansonsten eine Maske bildete zu dem was dahinter lag. Er blickte diesen aufgeblasenen selbstgerechten Japaner für lange Momente an ohne zu antworten.

Als er dann antwortete erhob er sich, sein Hemd flatterte immer noch leger und offen an ihm herunter.

„Meine Familie? Du meinst, die Familie, die offiziell zwar existiert, aber mir inoffiziell nie neue Kleidung gebracht oder mich aus dem Krankenhaus abgeholt hat? Diese Familie meinst du?“, fragte er ernst mit dem nüchternen Ton eines Menschen, der etwas feststellte ohne es zu werten. Allerdings barg die Frage an sich schon einen gewissen Vorwurf, jedoch lediglich als Replik darauf was Fujimiya ihm hier an den Kopf warf.

Brad begann sein Hemd zuzuknöpfen ohne Ran anzusehen.
 

„Deine Familie, die du gefährdet hast, als du hinter ihrem Rücken und ohne ihr Wissen Aufträge angenommen hast und - seien wir mal ehrlich - kläglich versagt hast. Sonst würdest du dich nicht mit Drogen voll pumpen und dich verkriechen wie ein weidwundes Tier. Aber damit ist jetzt sowieso Schluss. Du wirst mit mir zurückkommen und es werden sich einige Dinge klären.“ Ayas Stimme war entschlossen, keinen Widerspruch zuzulassen. Ebenso wie seine Haltung, denn er war keinen Millimeter gewichen, keinen einzigen.
 

„Sie machen ohnehin was sie wollen“, sagte Brad. „Warum kann ich das dann nicht auch?“

Er wandte sich fragend zu Fujimiya um.

„Im Übrigen verkrieche ich mich nicht.“
 

„Nein? Anstelle ins Ryokan zurück zu kehren, kommst du hierhin, wo sie dich nicht sofort finden. Du antwortest nicht auf Anrufe und bringst Nagi dazu, vor Sorgen schier verrückt zu werden.“

Eine der langen Strähnen war aus Ayas geflochtenem Zopf entkommen und nervte ihn, also schob er sie unwirsch hinter sein Ohr zurück.

„Sie machen, was sie wollen? Sie respektieren dich mehr als du es verdient hast. Sie sehen zu dir als Anführer auf und du lässt sie im Stich, ausgerechnet jetzt. Warum lieferst du sie der unbekannten Gruppierung nicht gleich aus?“
 

Es reichte. Brad griff sich sein Jackett und schlüpfte auf der einen Seite in den Ärmel während er die andere Seite nur umständlich über die Schulter hängte.

„Und… was willst du jetzt hier?“

Danach schob er sich die Spritze mit dem Schmerzmittel in die Jackettasche und löschte das Licht. Das verbliebene hereinfallende Licht des abendlichen Himmels reichte um sie beide als Schemen darzustellen.

Er würde ins Ryokan zurückkehren und Nagi anrufen. Zumindest würde er so diesen nervenansengenden Japaner loswerden. So hoffte er.
 

Hoffte er vergebens, denn Aya folgte ihm auf Schritt und Tritt, darauf bedacht, Crawford zu seinem Auto zu bringen, damit dieser sich schlussendlich mit Schuldig auseinandersetzte.

„Dich zu Schuldig und mir mitnehmen, damit ihr euch die Köpfe einschlagen könnt.“ Ayas dunkle Miene erhellte sich für einen Moment, als er lächelte.

„Ach ja… weigern kannst du dich nicht, wenngleich ich die hier sehr gerne an dir testen würde.“ Das Lächeln war kalt und teuflisch, als er Handschellen aus seiner Tasche zog und sie Crawford vor die Nase hielt.
 

Von den Handschellen in das kalte Lächeln des Japaners hinab blickend behielt Brad seine stoische Miene bei, als er an dem anderen vorbei trat und Richtung Tür ging.

„Hat dir schon jemand gesagt, dass dir dieses Lächeln nicht steht?“ Er fühlte sich immer noch leicht benommen, allerdings konnte er schon wesentlich besser laufen und schwankte nicht mehr wie ein Grashalm im Wind. Die Schmerzen waren leicht in den Hintergrund getreten.

„Ich brauche mich nicht mit ihm auseinandersetzen. Wir haben uns schon alles gesagt“, sagte er als er an der Tür angekommen war, Fujimiya hinter sich wissend.
 

„Habt ihr? Dann wird von nun an ja alles wunderbar laufen“, ätzte Aya und steckte die Handschellen zurück in seine Hosentasche.

Aya öffnete für Crawford die Tür und packte den Oberarm des größeren Mannes, zog ihn mit sich auf den Gang.

„Du wirst mitkommen, ansonsten ist das Lächeln nicht das einzige, was mir nicht stehen wird.“
 

Fujimiya bevorzugte natürlich die Seite seines Körpers, die verletzt war. Natürlich.

Die Tür fiel ins Schloss und Brad befreite sich mit einem Ruck aus dem Griff des Japaners. „Fass mich nicht an“, presste Brad zwischen seinen Zähnen heraus.

„Ich kann alleine laufen.“

Er folgte Ran zu den Aufzügen.
 

Dass Crawford alleine laufen konnte, bezweifelte Aya nicht. Er bezweifelte höchstens, dass Crawford ihm folgen würde.

Doch seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht, denn der Amerikaner stieg wider Erwarten ohne Diskussion ein, wenngleich auch kalkweiß im Gesicht und mit verschlossener, ja beinahe schon feindlicher Miene, die er für den Rest der Fahrt über beibehielt.

Das mochte vielleicht auch daran liegen, dass Aya die automatische Wagenschließung getätigt hatte, sodass Crawford nichts anderes übrig blieb, als bei ihm zu bleiben und ihm schließlich in die Wohnung zu folgen, in der Schuldig wartete.

Oder vielleicht auch nicht, vielleicht war der Telepath ja geflohen, mutmaßte Aya, als sie vor der Tür standen und er den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte.
 

o~
 

Das Tapsen seiner nackten Füße auf den Steinfließen hielt inne als Schuldig erneut auf die Uhr blickte und dann mit einem komisch verzweifelten Gesicht zu Banshee, die das ganze Drama von der Couch aus beobachtete.

„Jetzt sieh mich nicht so vorwurfsvoll und schlau an. Ich… habs vergeigt. Ja… ja… und … was soll ich jetzt machen? Wenn Ran ihn mitbringt…“

Er seufzte theatralisch und setzte sich auf die Couch, schon bereit wieder aufzuspringen.

Sein Gesicht war blass, selbst die Sommersprossen hatten sich dieser Blässe angepasst.
 

Kurz nachdem Ran gegangen war, hatte er sich geduscht und schlussendlich eine Jeans angezogen, darüber trug er ein weißes Hemd. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl.

Was würde werden, wenn Brad hier aufschlug?
 

Schuldig war nervös. Einerseits war er sauer. Immer noch. Andererseits hatte er keinen blassen Schimmer, wie er Brad begegnen sollte… nach den ganzen… Problemen…

Und seit dem Krankenhaus war sein Wutlevel beträchtlich gesunken.
 

Er hörte die Tür… den Schlüssel.
 

Schuldig sah fast schon ängstlich Richtung Flur. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Was sollte er denn hier? Brad hatte bestimmt keinen Bock mit ihm zu reden.
 

Die Tür öffnete sich langsam und Aya trat hinein, hinein in die Höhle des Löwen, den er im Moment nicht ausmachen konnte.

Er wandte sich um und holte Crawford ebenso mit sich hinein und sah Schuldig, wie er auf der Couch saß, das Gesicht bleich und die Augen groß.

Wie ein verängstigtes Reh.

Himmel… das war ja noch schlimmer, als er es befürchtet hatte. Das konnte etwas werden...

Aya bezweifelte plötzlich, ob es eine so gute Idee war.
 

Oh… und Schuldig erhob sich unsicher, gestattete sich schnell eine interne Moralpredigt, samt dazugehörigem Arschtritt und riss sich etwas zusammen.

Er korrigierte seinen Gesichtsausdruck und übte sich in Entschlossenheit. Die Brauen kritisch zueinander gezogen empfing er also die beiden, als diese näher kamen.

Brad sah sich dabei um. Schuldig versuchte seine Stimmung einzuschätzen, versuchte herauszufinden, wie es dem Amerikaner ging. Doch Brad bewegte sich ganz normal und seine Mimik drückte nichts als… als kalte Geringschätzung aus.

Brad kam auf die Couch zu, augenscheinlich wollte er sich setzen. Die Anzugjacke hatte er über die verletzte Schulter gelegt.

„Du hättest anrufen können. Und warum warst du nicht im Ryokan? Nagi hat sich…“

Schuldig sah aus dem Augenwinkel, wie Ran Richtung Küche ging, blickte hin und im nächsten Augenblick wischte im Schatten eine Hand in seine Richtung und traf ihn in der Magengrube.
 

„Hgn…“

Er stöhnte und krümmte sich und ging halb in die Knie… verdammt… keine Luft… Scheiße, das tat weh…
 

Doch viel Zeit blieb ihm nicht um sich damit zu beschäftigten, denn er wurde fast augenblicklich an seinen Haaren zu Brad emporgezogen.

„Nie wieder rührst du mich an. Hast du mich verstanden?“, sagte Brad leise und drohend.

„Wenn du noch einmal so etwas abziehst, dann kannst du dich warm anziehen. Dann ist das, was Fei Long mit dir gemacht hat, noch das kleinere Übel gewesen. Hast du das kapiert?“
 

Schuldig versuchte zu schlucken und es gelang ihm die bittere Magensäure wieder zurückzudrängen. Er zitterte, allerdings nicht von dem Schlag, auch nicht von seiner brennenden Kopfhaut, sondern… weil… Crawford… er war wieder da.
 

Es war verrückt, aber DAS hier war wieder der alte Brad Crawford. Diese Verströmung von Macht und Autorität, dies konnte nur er ihm geben. Ran nicht, sonst niemand, außer Brad.

„Hast du das verstanden?“

Schuldig nickte automatisch und Brad ließ seinen Kopf los, gab ihn einen Schubs Richtung Couch auf der er dann landete.
 

Schuldig wischte sich über den Mund, sah mit finsterem Blick zu Brad hoch und ließ ihn nicht aus den Augen. Brad setzte sich daneben und legte den Kopf wieder in den Nacken, so als habe es diese kleine Szene nicht gegeben.

Schuldig atmete noch schwer, fühlte sich angepisst und wie im Rausch zugleich. Er strich sich fahrig die Haare aus der Sicht, Brad vor sich, der sehr entspannt wirkte. Aber das war ohnehin kein Indiz für eine mögliche Entspannung des Amerikaners und durchaus trügerisch.
 

Schuldigs Stöhnen hatte Aya aus der Küche vertrieben und ihn misstrauisch in den Wohnraum kommen lassen. Er sah, wie Crawford Schuldig an den Haaren zu sich zog, wie er ihm Dinge zuzischte, die Aya misstrauisch machten und ihn stutzen ließen.

Was in aller Welt hatte Schuldig gesagt...oder getan, dass Crawford gewalttätig wurde? Ein leiser Verdacht keimte in Aya auf, als er an Crawfords Worte zurückdachte. Schuldig hatte ihm seine Fähigkeiten wieder gegeben...aber wie?
 

Die Stirn kritisch gerunzelt, verharrte Aya für einen Moment lang, solange, bis er sah, dass die beiden keine Prügelei anfingen, sondern nur schweigend nebeneinander auf der Couch saßen und ging dann zurück in die Küche um sich seine eigenen Gedanken über die Situation zu machen.

Er konnte hier nicht helfen, geschweige denn vermitteln und wollte es auch gar nicht. Schwarz war nicht sein Team, nicht seine Familie, er war nur… Schuldigs Familie. Sicherlich nur ein lästiges Anhängsel für Crawford… er würde sich hier nicht einmischen.

Aya schenkte sich einen Kaffee ein und streichelte gedankenvoll Banshee, die sich zu ihm in die Küche gesellt hatte.
 

Seit Schuldig Brad zum ersten Mal begegnet war, hatte dieser ihn zurück auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, wenn er abgedriftet war.

Und das nicht erst seit Kitamura. Brad hatte ihm Halt gegeben. Eine Art Halt, die Ran ihm niemals geben konnte, nicht in diesem Umfang, nicht mit dieser Ausstrahlung von Macht und Autorität.

Dazu brauchte Brad keine Gewalt, hatte er nie, doch es untermalte die Strenge, die er übte, wenn Schuldig zu weit gegangen war. Wie im Krankenhaus.
 

Schuldig kauerte seitlich angelehnt an die Couchlehne und hielt den Blick auf Brad gerichtet, der mit geschlossenen Augen neben ihm saß, nicht mal einen Meter weit entfernt.

In Schuldig herrschte ein wildes Durcheinander an Gefühlen und vor allem an der Lust Brad zu reizen. Mit was auch immer.
 

Aber er ließ es, denn so wie Brad seine Schulter und seine Flanke hielt hatte er sicher Schmerzen darin.
 

Aya lauschte angespannt in das ihn umgebende Schweigen und kam zu dem Schluss, dass die beiden im Leben nicht miteinander reden würden, wenn sie nicht Input von außen bekamen.

Doch auch jetzt noch fragte er sich, was Schuldig dem Amerikaner angetan hatte, dass dieser so reagierte und ob es nicht hinderlich für das sein könnte, was die beiden endgültig untereinander klären mussten

Zwei Tassen Kaffee fanden ihren Weg in seine Hände, und er den Weg ins Wohnzimmer, direkt zu den beiden Schwarz.

Zu den Männern, mit denen er schlafen würde.

Niemals.

Nie!

„Er hatte eine Vision, dass wir zusammen im Bett landen - wir drei“, warf er in die Stille des Raumes und Banshee umstrich seine Beine, maunzte leise. Mal sehen, ob dieses Statement die beiden aus ihrer Starre brachte.
 

Bei Brad rührte sich nicht viel, denn er kannte die Hiobsbotschaft bereits, schließlich hatte er sie verkündet. Schuldig dagegen drehte den Kopf zu Ran, noch immer seitlich an der Rückenlehne der Couch gelehnt und sah ihn ungläubig und vor allem mit wachsendem Unbehagen und Unsicherheit an.

„Red keinen Scheiß“, murmelte er und wandte seinen Blick zu Brad hinüber. Der saß immer noch entspannt da und rührte sich nicht.

Scheinbar fühlte sich Brad jedoch nach einigen Momenten dazu bemüßigt Schuldig das Gesicht zuzuwenden und ihn ernst anzusehen.

Es stimmte also.

Das war zuviel.

Schuldig schob sich nach hinten und stand abrupt auf. „Ihr habt doch beide nen Knall.“

Er wandte sich ab, das abstruse Bild vor Augen wie Ran die Kaffeetassen hielt und ging auf die Terrasse hinaus. Er brauchte frische Luft.

Was sollte das alles?
 

Er setzte sich auf die gemauerte Brüstung und lehnte sich an die Wand des Hauses an, den Blick in Richtung Stadt gerichtet. Sein Kopf fühlte sich so leer und gleichzeitig so schwer an.
 

Es wäre schön gewesen, wenn es einfach wäre.

Doch nichts war einfach.

Aya setzte die Kaffeetassen ab. Er konnte Schuldigs Flucht gut verstehen, sehr gut. Er würde den Amerikaner auch am Liebsten ganz weit weg wissen.

„Du tust nicht gerade viel, damit deine Vision wahr wird“, richtete er an Crawford.
 

„Ich habe nicht vor sie wahr werden zu lassen, Fujimiya“, gab Brad zurück und seufzte, beugte sich vor und wischte sich über die Augen. Er war müde.

„Oder empfindest du das als angemessen?“, hakte er nach und lehnte sich wieder an, den Arm an sich ziehend, der langsam wieder zu schmerzen begann. Er sah zu Ran hoch.
 

„Ich kann mir nicht vorstellen, mit dir zu schlafen, nein. Von daher halte ich es nicht für angemessen, nein. Aber wenn sie, wie du behauptest, definitiv wahr werden wird, was wäre dann angemessen, sie zu verhindern?“

Aya schnaubte und Enge in seiner Brust schnürte ihm das Atmen zu. Schuldig und er waren glücklich, doch er konnte nicht über das hinwegsehen, was Crawford getan hatte und er konnte schon gar nicht mit ihm im Bett liegen, sich ihm derart wehrlos ausliefern.

Niemals.
 

Schweigen beherrschte die nächsten Minuten, in denen Brad den Japaner ansah. Er kam jedoch zu keinem gedanklichen Abschluss seiner Überlegungen.

„Was willst du das ich tue?“, fragte er während er sich erhob. „Was soll ich deiner Meinung nach unternehmen?“ Sein Blick fiel auf die Kaffeetasse. „Sind die beide für dich?“
 

„Nein.“ Aya schob Crawford eine Tasse zu und nahm aus der anderen einen tiefen Schluck. Viel zu bitter, doch warm und ablenkend.

„Was du tun sollst? Uns in Ruhe lassen, ihn aber glücklich machen. Aufhören, ein Arschloch zu sein. Zum Beispiel.“ Sein Blick glitt auf die Terrasse hinaus.
 

Brad nahm die Tasse und ging zur Frontseite des Wohnraumes der komplett aus Fenstern bestand und blickte auf die Terrasse hinaus.

Er nahm einen Schluck des Kaffees. Man konnte ihn gerade so trinken.

„Euch in Ruhe lassen und ihn glücklich machen, das erklär mir näher, vielleicht hast du einige Tipps für mich“, Brad lächelte kühl und seine Stimmte troff nur so vor Sarkasmus.
 

„Du bist das Orakel, sag du es mir. Du hattest bisher immer alle Antworten.“ Ayas Ironie stand eben jenem Sarkasmus in nichts nach.

„Wir wissen nur, was wir nicht wollen, also uns. Aber wir wissen, wen wir wollen: Schuldig. Wenn es dich und ihn glücklich macht, gibt es wohl nur eine Möglichkeit.“

Und diese auszusprechen, weigerte sich Aya. Er weigerte sich ja auch, den gerade eben in seinen Gedanken erschienenen Vorschlag ganz auszudenken und auszuarbeiten.

Nein…

Es würde viel von ihm fordern, sehr viel.
 

Das würde Brad erledigen. Ganz sicher.

Denn es war nicht schwer zu erahnen, dass Fujimiya Ran eben diese Möglichkeit nicht aussprechen wollte.

„Du meinst, ich soll mit ihm schlafen und endlich würde sich alles finden? Ist das die Lösung?“

Brad war sich nicht sicher.

Er war sich nicht einmal im Klaren darüber wann diese Vision Wirklichkeit werden würde.
 

„Vermutlich ja.“

Diese Worte schmerzten wie die Hölle. Er wollte Schuldig nicht teilen, er hatte Angst ihn zu verlieren, an Crawford zu verlieren, doch wenn es die einzige Möglichkeit war…

Dennoch tobte und schrie es in ihm wie verrückt.

„Er braucht deine Nähe…“
 

Brad stieß einen Laut aus, der sich wie Schnauben und einem tiefen Atemzug gleichzeitig anhörte. „Er braucht nicht meine Nähe. Er braucht das was ich darstelle. Autorität, Grenzen. Das ist alles“, wischte er diesen Punkt zur Seite und nahm einen Schluck des Kaffees.

„Das war schon immer so, seit ich ihn kenne. Er lotete seine Grenzen aus und bei mir… war Schluss.“ Er schüttelte einmal den Kopf.
 

„Das ist auch ein Grund, jemanden zu lieben.“

Eine einfache Aussage, doch schlicht und ergreifend die Wahrheit. Grenzen… Schuldig brauchte Grenzen und die gab ihm Crawford.

„Schuldig braucht das.“ Das war das Schreckliche an der ganzen Sache.
 

„Ich bin nicht sein Vater“, sagte Brad und sein Tonfall war kühl, endgültig. Er wollte nicht Schuldigs Vater sein, er …
 

„…das bist du nicht und das ist das Problem. Und nicht nur der Vater kann Grenzen setzen.“

Crawfords Argumentation schwächelte gewaltig und Aya schlug genau in die Kerbe hinein… warum, das wusste er nicht.

Warum fehlte ihm der gesunde Egoismus?
 

Schuldig kämpfte unterdessen damit ruhig zu bleiben. Doch das Zittern in seinen Händen hatte nicht aufgehört und der Kloß in seinem Hals wurde auch nicht weniger.

Der Druck in seinem Inneren hörte nicht mehr auf, bis er ihm schließlich nachgab und die ersten Tränen in seine Augen traten.

„Verdammt“, zischte er ungehalten. Wut stieg gleichzeitig in ihm auf, doch sie wollte nicht so recht heraus. Viel zu verwirrt war er.

In ihm tobte ein Aufruhr der Gefühle und er wusste noch nicht welche davon die Oberhand gewinnen würden. Er zerbiss sich die Innenseite seiner Lippe um dieses nagende Gefühl des drohenden baldigen Verlustes seiner geistigen Kontrolle loszuwerden.
 

Brad drehte sich zu Ran um und stellte die Kaffeetasse schweigend ab, bevor er sich seiner Anzugjacke entledigte und hinaus auf die Terrasse ging. Er fand Schuldig auf der Mauer an die Wand gelehnt.

Für einen Augenblick genoss Brad den beginnenden Abend bevor er sich zu Schuldig umwandte und auf ihn zuging. Zwei Schritte entfernt hielt er inne und besah sich den anderen genauer.

Schuldig versuchte zu verbergen was in ihm vorging, so verbissen wie er dort saß, das Gesicht ein einziger Ausbund an Trotz. Allerdings erkannte Brad, dass es nicht nur Trotz war, was hinter den Augen schwellte. Schuldig warf ihm einen vermeintlich nichts sagenden Blick zu und wandte sich dann wieder ab. Doch es war genau dieser Zug in Schuldigs Wesen, der ihn für Brad so anziehend machte: dessen offene Art. Schuldig konnte vor ihm nichts verbergen. Nicht was seine Gefühlswelt anbelangte.
 

Es war schwierig für Brad hier verbal kühl zu sein, auch wenn er meinte es zu sein. Doch Schuldigs Anblick in dieser Situation …

„Glaubst du dein Geflenne ist die Lösung?“, fragte er mit ruhiger aber vor allem auch sanfter Stimme. Die Worte jedoch bildeten den Gegensatz dazu.
 

Schuldig zuckte mit den Schultern und das Zittern nahm allerhöchstens noch zu.

„Ich… ich…“, fing Schuldig an, doch Brad unterbrach ihn.
 

„Ja. Du. Du bist der Grund für dieses Problem. Wenn du dich endlich entscheiden könntest, dann hätten wir dieses Problem nicht. Das weißt du doch sicher. Du könntest uns verlassen und mit Ran irgendwo anders hingehen. DAS wäre eine Entscheidung. Oder ich gehe an einen anderen Ort. Es gibt genügend Städte…“
 

Daraufhin schüttelte Schuldig heftig den Kopf und lachte verzweifelt auf. „Nein… ich … ich kann nicht… ich brauche dich doch du verdammter Hurensohn…“ Schuldigs Verzweiflung gipfelte darin, dass er die Hand vor den Mund schlug um das Schluchzen zu dämpfen. Er lachte und heulte gleichzeitig.

Ran… was war mit Ran… er durfte nicht… er… würde ihn verlieren… Ran würde gehen. Verzweiflung breitete sich wie ein Geschwür in ihm aus und er spürte wie das Fass überzulaufen begann. Seine Kiefer pressten sich aufeinander, er festigte den Blick auf den anderen mit dem ausdruckstarken Grün, dass sich langsam verdunkelte.
 

Brad sah sich das Ganze Drama an, bevor er näher ging und Schuldig, der immer noch auf der Brüstung saß an sich zog.

Und zum ersten Mal seit längerem fühlte er ein Lächeln in sich. Man konnte es zwar nicht sehen, aber Brad fühlte es. Dieses gute Gefühl, ihn endlich… im Arm halten zu können. Jahre zogen in seinem Inneren in diesem Augenblick vorüber und er hatte das Gefühl die Zeit würde einfrieren. Pathetisch. Wahr.
 

Schuldig klammerte sich an Brad, er keuchte auf, entließ somit den Druck wie aus einem Kessel und beruhigte sich langsam wieder, er fühlte Brads Körperwärme an seinem Gesicht. „Du bist so ein Arschloch. Das hast du mit Absicht gesagt, damit ich mich in deine Arme verkrieche“, meckerte er, kaum zu verstehen.
 

Die beiden passten zusammen.

Das bemerkte Aya sofort und es tat weh. Es tat sehr weh, so weh, dass er sich wegdrehen musste. Es war, als wäre eine Glaswand zwischen ihm und den beiden, die stetig dicker und undurchsichtiger wurde.

Jetzt schon.

Banshee kam zu ihm und versuchte, seine Hosenbeine hochzuklettern. Er nahm sie hoch und schmiegte sein Gesicht in ihr weiches Fell, das die gleiche Farbe wie Schuldigs Haare hatte.

„Scheiße“, fluchte er leise. Scheiße, was hatte er getan, was in aller Welt hatte er hiermit losgetreten?

Und was, wenn es schief gehen würde, was, wenn seine Freunde weg waren, für immer und die Sache mit Schuldig nicht gut ging? Wenn er sich für Crawford entschied?

Was dann?

Aya ging in die Küche, wollte den beiden ihre Privatsphäre lassen. Das war zumindest der offizielle Grund. Der inoffizielle war, dass er sie sich so nicht ansehen konnte.
 

Unterdessen lehnte Schuldig mit seiner Stirn an Brads Brust und warf ihm einige Dinge an den Kopf, die ihm so einfielen und die ihn ziemlich gestört hatten in letzter Zeit.

Eine Schimpftirade samt ausgefeilter Flüche.

Brad hielt sich währenddessen damit auf ab und zu ein „sicher…“ oder ein „hmm ja“ einzuwerfen, damit der Monolog für ihn nicht ganz so langweilig wurde.

Er wusste um Schuldigs Vorwürfe, hatte sie kommen sehen und konnte das amüsierte angedeutete Lächeln auf seinem Gesicht nicht verleugnen.
 

Nach einiger Zeit in der Brads Hand in Schuldigs Nacken gelegen hatte, griff diese in die sich weich anfühlenden Haare hinein und zog sanft daran bis Schuldig verstand und sein Gesicht hob.

„Was?“, fragte er unwirsch nach, entließ Brads Hemd aus seinen Fingern.

„Bist du fertig?“

Schuldig nickte stumm, wischte sein Gesicht an Brads Hemd noch kurz trocken, was dieser mit einer erhobenen Augenbraue und einem nicht begeisterten Gesichtsausdruck quittierte.

„Gut. Ich sollte Nagi anrufen. Und wo ist Jei?“

Schuldig rutschte endgültig vom Geländer herunter und Brad entließ ihn aus seinem Griff. Beiden tat es fast augenblicklich Leid.
 

„Der ruht sich aus.“

Schuldig fühlte sich noch nicht ganz auf der Höhe und er wischte sich die Haare aus dem Gesicht, atmete ein paar Mal tief ein.

„Willst du… willst du noch hier bleiben? Dich hinlegen? Oben auf der Galerie ist das Gästebett…“, bot er an, die Mundwinkel immer noch trotzig nach unten gebogen, aber der Blick bereits kämpferisch.
 

Brad nickte und zog sein Mobiltelefon heraus, wählte die Nummer aus dem Gedächtnis…
 

Währendessen ging Schuldig hinein und sah sich um. Ran war… in der Küche, stand mit dem Rücken zu ihm mit Banshee auf dem Arm und als wäre es nicht schon besser fühlte sich Schuldig schlecht.

Er schluckte und ging auf Ran zu.

Nicht wissen wie er ihm jetzt begegnen sollte. Er hätte schreien können… er wusste nicht mehr was er machen sollte. Warum zum Teufel hing alles an ihm?
 

Schuldig war hinter ihm, war zu ihm zurückgekehrt, doch Aya fiel es schwer, sich zu dem anderen umzudrehen. Er wusste nicht, warum, aber er wollte es nicht, aus Angst, dass er etwas in den Augen des Telepathen las, das er nicht verwerten konnte, das ihm noch mehr verdeutlichte, welche Richtung diese Katastrophe von nun an nehmen würde.

Dennoch drehte sich Aya schlussendlich Schuldig zu, Banshee noch auf dem Arm und lächelte.

"Du siehst... glücklich aus", sagte er, was er beobachtete. Glücklicher als in der letzten Zeit. Glücklicher als mit ihm alleine.

Er mochte sich nicht sonderlich für den Gedanken, eigentlich überhaupt nicht.
 

In dieser Situation war es schwierig Ran nicht völlig haltlos an sich zu reißen und ihn nicht mehr los zu lassen.

Das Gesicht des Japaners war nicht so ausdrucksstark wie sein eigenes, doch er hatte gelernt in Ran zu lesen. In den violetten Augen zu lesen, in den Gesten in seiner Haltung zu lesen.

Und nach der Begutachtung aller Signale konnte Schuldig sagen, dass Ran vorsichtig war, er klammerte sich gerade zu an Banshee.

Schuldig ging auf Ran zu , fasste sanft dessen Unterarme und küsste Rans Stirn, ließ seine Lippen zu Rans Wange hinabgleiten und traf auf die warmen Lippen, die ihre Liebkosung erhielten, derer sie gebührten.

„Du hörst dich an, als wolltest du eher sagen: du siehst glücklicher aus“, wisperte er an Rans Lippen, sah ihm in die Augen und löste den Hautkontakt für einen Moment. Seine Hände schlichen Rans Arme empor verließen diese und legten sich auf Flanke und Schulterblatt.

„Ist das so? Sei ehrlich.“

Er wollte von Ran wissen, ob dieser sich zurückzog, ob er Angst hatte oder ob er sich Schuldig sicher war.

Wenn nicht, würde Schuldig etwas einfallen müssen um dies zu beweisen oder zu zeigen. Und zwar so, damit Ran es für sich selbst verinnerlichte.

Er war noch nicht vollständig von seinem Zusammenbruch genesen und konnte erneute seelische Last nicht ertragen. Und das sollte er auch nicht.
 

„Das auch. Aber es freut mich für dich.“ Aya lächelte und küsste Schuldig auf die Lippen, eine Spiegelung der Geste des anderen Mannes. Doch es war zögerlich, wie fremd und Aya fragte sich, wohin das noch führen sollte.

Schuldig war nicht seine erste Beziehung, doch die… verletzlichste. Ihre Basis war wacklig… da sie als Feinde gestartet waren und nun eine so intensive Beziehung lebten, als wären sie nie etwas anderes als Partner gewesen.

„Wir können uns Konflikte in dieser Zeit nicht leisten… es ist gut, dass ihr es klärt…“
 

„Das klingt nicht nach dem, was du fühlst, sondern nur nach dem, was du denkst. Und nicht einmal das nehme ich dir ab. Es ist was du denken solltest, was von dir erwartet wird.“

Schuldig strich Ran über die Wange, löste sich von ihm ein wenig und nahm Banshee im Nacken hoch um sie sofort auf den Boden abzusetzen. Was ihr natürlich nicht gefiel, denn sie hatte es sich bei Ran so schön gemütlich eingerichtet.
 

Und hin war seine Ablenkung. Aya seufzte lautlos und sein Blick glitt aus der Fensterfront nach draußen, bevor er wieder zu Schuldig zurückkehrte.

„Ich denke, was nötig ist zu denken, um uns gegen diese Gruppierung zu schützen. Und ich möchte dich glücklich sehen. Du warst vorher nicht glücklich, Schuldig, du hast unter seinem Verhalten gelitten.“

Das war jetzt vorbei. Zumindest schien es so. Es war blauäugig, das anzunehmen, da noch viele Probleme auf sie warteten.

„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wohin uns dieser Weg noch führen wird, doch wenn er unser Überleben sichert, ist es der Richtige.“
 

Schuldig sah Ran in das verschlossene Gesicht, hatte immer noch keine wirklich Antwort auf seine Frage. Das war doch alles nur Gewäsch, was Ran hier rausließ, befand er innerlich aufseufzend und schüttelte den Kopf leicht, ein schmutziges Schmunzeln bildete sich um seine Mundwinkel.

„Komm mit.“

Er griff sich Rans Hand und zog ihn mit sich durch die halbe Wohnung und ins Schlafzimmer, wirbelte ihn einmal um die eigene Achse, ließ die Tür ins Schloss krachen und schubste Ran schlussendlich auf ihre große Liegewiese.
 


 


 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für‘s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Gadreel & Coco

Die rote Hexe

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Revival I

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Revival II

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

FREAK OUT!

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Silence

~ Silence ~
 


 

Schuldigs Hand schmerzte, sie zitterte und doch hörte er die Worte, sie durchdrangen ihn und er wusste, dass er eines nicht mehr sein wollte: allein.

Und nur Ran bewahrte ihn vor dem Alleinsein. Ran gab ihm etwas, dass Brad ihm nie geben konnte. Diese Art von Geborgenheit, Zärtlichkeit, Leidenschaft und Zweisamkeit, die Brads kühlem, kalkulierendem Wesen fehlten.

Schuldig schüttelte den Kopf, er riss Ran zurück und zog ihn mit sich, sodass er selbst auf dem Boden zu liegen kam und Ran mit ihm halb auf ihm zu liegen kam. Noch immer zitterten seine Hände, doch sie pressten Ran fest an sich. Schuldig fühlte Übelkeit in sich, sein Herz raste und sein Atem ging schnell, als hätte er einen heftigen Lauf hinter sich.

Wie war es dazu gekommen? Wie…?

„Du… bist so schwach…“, sagte Schuldig stockend in einer Mischung aus Staunen und Resignation vor dieser Erkenntnis.
 

Fester Boden… ein warmer, bebender Leib…

Aya erschauerte, als der Schock Einzug hielt, als er sich vermeintlich sicher glaubte für den Moment, als er selbst anfing zu zittern.

Er lag auf Schuldig, in Sicherheit vor dem Abgrund und hörte verzögert dessen Worte, die er auf sich bezog. Schwach? Er?

Ja… anscheinend schon und Aya hatte dem nichts, aber überhaupt nichts entgegen zu setzen. Er lag hier, keine Kraft aufzustehen und wegzugehen, wie er es eigentlich sollte. Keine Kraft, irgendetwas zu erwidern, irgendetwas Wütendes oder Schlaues auf Schuldigs Worte zu erwidern.

Er sah Schuldig nicht an, konnte es gar nicht, da dieser ihn so eng an sich presste.
 

Seine Hände schmerzten umso mehr, je mehr er Ran an sich hob, an sich schmiegte. Alles schmerzte. Aber vor allem seine Gedanken, die ihn peinigten, ihn malträtierten. Er kämpfte mit den Tränen der Wut über sich selbst und über das, was letzte Nacht geschehen war, hielt Ran im Arm und spürte dessen Zittern an sich.

„Wir… wir… wir dürfen das nie wieder tun. Nie wieder.“ Seine Stimme anfänglich noch unsicher, wurde mit jedem Wort verzweifelter.
 

Schuldig war wieder da... die gute Seite, die verzweifelte Seite. Sehr verzweifelt, wie Aya es hörte. Resigniert schloss er die Augen. Resigniert vor der ganzen Situation, vor seinem Entsetzen und dem Schock. Resigniert vor der Trostlosigkeit, die sich gerade in ihm ausbreitete.

„Es wird nicht wieder vorkommen“, sagte er tonlos, jedoch deutlich zittrig in der Stimme. Gott…Schuldig hätte ihn fast in den Abgrund stürzen lassen. Er hatte ihn fast umgebracht.
 

Das dämmerte Schuldig auch und seine Hände fielen von Ran ab, gaben ihn frei, als er dessen Stimme und das Zittern darin vernahm.

Ja… es würde vielleicht nicht mehr vorkommen. Nein, es würde mit Sicherheit nicht mehr vorkommen. Ganz sicher nicht mehr. Blind vor aufkommender Verzweiflung löste er sich von Ran, stand fluchtartig auf und strauchelte prompt dabei. Seine Hände fingen den vermeintlichen Sturz noch rechtzeitig ab. Er kam nicht gerade elegant hoch und erreichte die Tür zum Treppenhaus durch die er in seiner übereilten Hast stürzte.

Es würde nie wieder vorkommen. Nie wieder.
 

Eine Sekunde verging, als Aya zur Seite geschoben wurde, auf den kühlen Asphalt. Schuldig floh und eine zweite Sekunde verstrich. Zumindest in Ayas Wahrnehmung, in Wirklichkeit vergingen sie vermutlich schneller.

Er musste Schuldig hinterher! Er durfte ihn nicht so gehen, geschweige denn fahren lassen. Für einen Moment flackerte so etwas wie Kampfgeist in Aya auf, doch dieser Moment reichte aus, um ihm genug Kraft zu geben, Schuldig zu folgen.

Hastig rappelte sich Aya auf und sein Kreislauf machte ihm im ersten Moment fast noch einen Strich durch die Rechnung, doch das war nebensächlich! Auch er strauchelte die Treppen hinunter, fiel ein paar Mal fast, prallte in der Mitte des Treppenhauses gegen die Flurwand.

„Schuldig!“, rief er, aber seine Stimme war zu zittrig um laut zu sein.
 

In diesem Moment, als Schuldig seinen Namen so schwach ausgesprochen hörte, eine Treppe über sich, achtete er nicht auf die letzte Stufe und stolperte, schlitterte auf einem Knie halb auf dem Hintern gegen die Wand, wo er sitzen blieb. Sein schneller Atem brach sich an der bröckelnden Mauer. Seine Hände fanden zu seinem Kopf und pressten sich dagegen, als ihn die Verzweiflung überkam und er erstickt aufschluchzte. Warum war er nur so verrückt, so abgedreht? Warum konnte er sich nicht beherrschen? Er gehörte weggesperrt. Schon lange.

Er lehnte seine Schläfe gegen die Mauer und presste seine Linke auf seinen Mund um verräterische Laute zu verbergen.
 

Aya hatte zumindest das erste Schluchzen schon gehört und an der restlichen Geräuschkulisse bemerkt, dass Schuldig stehen geblieben war. Er raffte sich auf, ein letztes Mal, und stolperte die Treppen hinunter, bis er vor Schuldig stand.

Das war Verzweiflung in Reinform, die hier vor ihm saß. Verzweiflung, die die dunkle Seite zurückgelassen hatte. Aya kam zu Schuldig und sackte auf die Knie, die Arme um den anderen gelegt. Mehr konnte er auch nicht mehr tun, denn seine Kraft war am Ende. Wenn Schuldig jetzt aufstand und ging, würde er zurückbleiben, bis er wieder genug Kraft hatte um aufzustehen. Und dann war Schuldig weg. Völlig weg.

„Bleib bei mir“, wisperte Aya, immer noch im Schockzustand.
 

„Ich werde dir nicht halb dein Gehirn rausficken um dir zu zeigen, zu wem du gehörst und jetzt abhauen!“, schrie Schuldig aufgebracht, keuchte und fluchte unterdrückt. Er sank zusammen an der Wand, ließ sich umarmen und starrte in das Halbdämmer vor sich hin, Rans Geruch in seiner Nase. „Das alles…“, sagte er mit lebloser düsterer Stimme. „... macht mich noch verrückter, als ich schon bin. Ich sollte besser ohne Menschen um mich sein. Es wird nicht besser. Kein Stück.“
 

Aya zuckte zusammen ob der lauten Töne, die Schuldig ihm hier entgegen spie.

„Ich will aber nicht ohne dich sein“, flüsterte Aya durch das Rauschen in seinen Ohren. Er konnte jetzt nicht mit Schuldig diskutieren, geschweige denn, sich ganz auf dessen Worte konzentrieren, wenn er immer wieder das Gefühl hatte, gleich das Bewusstsein zu verlieren und nur für kurze Momente wirklich bei sich zu sein. Seine Arme lagen nur locker um den anderen, aber sie hielten den Kontakt.
 

„Warum… warum willst du mich so unbedingt?“, wisperte Schuldig und wandte sein Gesicht halb Ran zu, fühlte wie die Hände über das Leder streiften und Ran schwankte. Lediglich antrainierter Bewegungsmuster geschuldet, wandte er sich rasch zu Ran und bewahrte ihn vor dem Aufschlag auf dem Boden. Er richtete ihn auf und bettete ihn mit dem Kopf an seine Schulter. Er atmete, lautete die erste Bestandsaufnahme und der Puls seines Partners ging zwar etwas schneller als normal, aber er ging, wie er an Rans Hals fühlen konnte.

„Ich hätte dich beinahe getötet…“

Schuldig strich über Rans Gesicht. Er schämte sich in Grund und Boden, wie es so schön hieß. Etwas war froh in ihm, dass Ran ihn nicht ansah, er hätte den Blick nicht ertragen.
 

Für eine lange Zeit sah Aya Schuldig nicht an, denn sein Körper brauchte Minuten, bis er wieder ansatzweise aus der Bewusstlosigkeit wieder auftauchte. Zumindest so, dass er sich seiner Umgebung wieder bewusst wurde. Er lehnte an etwas Hartem, das sich mit viel Mühe und gutem Willen als Schuldigs Schulter herausstellte. Er war also noch da!

Aya seufzte erleichtert auf und schloss die Augen wieder. Er hatte das Gefühl, als würde er neben sich stehen, als wäre sein Körper schwerelos ohne den Hunger, die Erschöpfung, den Schock, den er zuvor verspürt hatte.

Seine Hand suchte die des anderen und fand sie schließlich auf dessen Oberschenkel. Er bettete seine Finger über Schuldigs, konnte sie jedoch aufgrund mangelnder Koordination nicht wirklich verschränken.
 

Der Seufzer sprach ganze Bände und Schuldig schloss die Augen ob der Scham über sein Verhalten. Nicht, dass er Ran misshandelt hatte in der letzten Nacht, nein, er wollte ihn auch noch töten. Hinzu kam noch, dass er ihn dort oben allein gelassen hatte und abgehauen war, ohne zu merken, wie fertig Ran zu sein schien. Und immer noch sagte Ran, dass er nicht wollte, dass er ging. Ran war definitiv krank. Genauso seelisch krank wie er selbst.

„Hast du… wenig gegessen?“, fragte er kleinlaut, ein paar Worte mit dem Hauch von Stimme und gefärbt mit tiefer Schuld.
 

Die Frage schien so normal zu sein, so liebevoll, dass sie Aya schier schmerzte nach all dem, was die letzten Stunden passiert war.

„Gar nichts“, gestand er schließlich leise ein, leise, weil er für alles andere keine Kraft hatte. Selbst das strengte ihn an. Er wollte Schuldig so viel sagen, musste ihm so viel sagen, doch nicht hier. Er wollte nach Hause, endlich wieder nach Hause.
 

„Du sollst doch essen… sonst mach ich mir…“

Gott…

Schuldig legte den Kopf in den Nacken, presste seine Lider fest aufeinander und öffnete sie wieder. Er starrte an die dunkle, weit entfernte Decke.

‚Gott... darf ich mir Sorgen um ihn machen? Darf ich das überhaupt? Sag es mir verdammt!‘ Verzweiflung ließ ihn diese Worte denken, diese Sätze in Gedanken formulieren. Er schüttelte einmal den Kopf und wandte sich wieder Ran zu.

Durfte er sich Sorgen um Ran machen, wenn er ihn zunächst vergewaltigte und ihn dann einige Stockwerke hinunter auf den Asphalt schicken wollte?

‚Brad… hol uns hier raus. Bitte… hol uns hier raus.’
 

Der so unvermittelt in Gedanken angesprochene hatte gut zu tun, um Nagi in Sicherheit zu lotsen und war wenig erfreut über diese Störung.

‚Wo seid ihr? Haben die örtlichen Behörden euch geschnappt?’
 

‚Nein. Die haben uns nicht gesehen. Aber…’ Schuldig zögerte. ‚Ich… Ran und ich… wir… wir sind… hol uns bitte hier raus.’
 

Das waren keine konkreten und daher keine akzeptablen Angaben für Brad und er pflückte sich nach Rücksprache mit Nagi, der sich nun alleine durchschlagen konnte das Headset vom Ohr und warf es ungewohnt genervt auf die Tastatur vor sich.

‚Wie ist euer Status? Seid ihr noch auf dem Hafengelände?’
 

‚Uns geht es einigermaßen. Ran ist fertig, ich werde ihn vom Gelände schaffen können mit dem Bike, aber hol uns bitte trotzdem mit dem Van ab. Ich will nicht, dass die Bullen sein Gesicht sehen, falls sie uns in die Quere kommen. Ein Treffpunkt wäre nicht schlecht.’
 

„Ich bin erst… heute Abend aufgewacht…“, murmelte Aya wie zur Entschuldigung. Er war mit der dunklen Seite des anderen aufgewacht und hatte in dem Stress nichts zu sich genommen, immer darauf bedacht, Schuldig im Auge zu behalten.

Stille antwortete ihm und er war versucht, sich ein weiteres Mal auszuklinken, doch er versuchte gewaltsam, sich bei Bewusstsein zu halten.

„Ich möchte nach Hause…“
 

„Ich weiß.“ Schuldig strich Ran mit einer behandschuhten Hand über die Wange, strich die Strähnen der roten Haare weg.

„Willst du schlafen? Ich verspreche… ich bringe dich sicher nach Hause, ja?“ kam es wieder sehr leise von Schuldig. „Ich verspreche es dir, ja? Brad wird kommen, er… mit ihm… kann nichts passieren. Ja…? Er passt auf.“
 

Aya brachte gerade mal ein Nicken auf, bevor er seine Augen schloss und ein weiteres Mal erschlaffte, dieses Mal jedoch aus Müdigkeit und nicht Ohnmacht. Sie würden sicher nach Hause kommen… irgendwie… Crawford würde es schon richten.

Zuhause würden sie reden, nicht hier. Zuhause mussten sie reden. Reden gegen das Gefühl der Trostlosigkeit und der Verzweiflung, was ihre Beziehung anbetraf.
 

„Kannst du dich an mir festhalten? Ich bring dich runter.“ Schuldig wartete bis Ran seiner Aufforderung nachkam und entfaltete sich selbst ein wenig bis er ein Bein hochbekam und Ran und sich selbst in die Höhe stemmen konnte. Stemmen war ein wenig übertrieben, denn Ran war nicht wirklich schwer, aber Schuldigs Arme zitterten noch immer. Über das Geschehene konnte er sich wohl immer noch nicht beruhigen, registrierte er selbst als beträfe es ihn nicht.
 

Unten angekommen, verharrte er in der Tür einige Momente und trat dann nach draußen. Keiner war in der Nähe. Von Fern konnte er das Licht der Polizeifahrzeuge in den Himmel zucken sehen.

Weit genug weg.

Er ging zu seiner Maschine. „Ran… meinst du, dass du es schaffst mit der Maschine?“
 

Gerade wieder wach sah sich Aya nun mit einem Problem konfrontiert, das alles nur nicht gering war. Er wusste nicht, ob er sich auf der Maschine halten konnte.

„Ich versuche es.“ Er war schon halb auf der Maschine, die Augen gerade so weit offen, dass er sah, wohin er musste, als ihm etwas einfiel.

„Die Waffe… ich habe meine Waffe verloren, als du…“ ….mich fast vom Dach geworfen hättest, das war es, was er hatte sagen wollen, was er aber nicht äußerte. Später, später würden sie darüber sprechen, aber nicht jetzt. Später.
 

„Ist sie dir runtergefallen?“

Schuldig hatte Ran den Helm aufgesetzt und sich vor diesen auf das Motorrad geschwungen. Er ließ die Maschine an und zog Rans Arme um sich.

„Verschränk die Finger.“
 

„Wir müssen sie finden, sie ist hier irgendwo“, sagte er eindringlich, in diesem Moment vollkommen vergessen, dass der Besitzer der Waffe trotz ihrer Registrierungsnummer nicht aufzufinden wäre, wenn die Polizei Nachforschungen anstellen würde. Eine Schattenidentität eines Verbrechers, der schon lange tot war. Dennoch.

Mit Mühe die Finger verschränkend, wollte er hinter sich sehen, gerade so, als könne er sie in der Dunkelheit hier finden.
 

„Wir finden sie schon. Keine Sorge“, Schuldig strich an seinem Bauch über die verschränkten Finger um sich zu vergewissern, dass diese es auch waren und fuhr dann eine kleine Runde ums Gebäude. Auf den ersten Blick war nichts zu sehen - wie auch, es war finster. Die Straßenbeleuchtung zu weit weg.

„Neuer Plan, Ran. Wir fahren zu Brad und besprechen das weitere Vorgehen, in Ordnung?“ Er musste seinen kleinen Sturkopf auf dem Rücksitz zumindest die Chance lassen eine Entscheidung treffen zu dürfen, auch wenn Schuldig Ran später abladen und diese verfluchte Waffe alleine suchen würde. Aber das würde er Ran natürlich nicht sagen, denn dann wäre das Drama groß. Und mehr Drama als ohnehin schon in ihrem kleinen Theater aufgeführt worden war, wollte er heute Abend nicht mehr heraufbeschwören.
 

„Hmm…“ Irgendetwas passte Aya an diesem Vorschlag nicht, doch was genau, das wollte er momentan nicht für sich entscheiden. Lieber schloss er die Augen und lehnte seinen Kopf so gut es ging an Schuldigs Schulter, ließ sich von diesem durch die Gegend fahren, die Waffe momentan vollkommen vergessen.
 

Die Waffe hatte Schuldig auf den ersten Blick nicht gefunden und da Ran nicht weiter quengelte fuhr er zum vereinbarten Treffpunkt. Er versuchte es, denn immer wieder kamen sie an Stellen, die entweder zu belebt waren, oder bereits Straßensperren erhalten hatten. Es dauerte und schlussendlich bediente sich Schuldig seiner Fähigkeiten, bis er eine dieser Straßensperren passieren konnte und in die Straße einbog, auf der sie sich mit Brad treffen wollten.

Immer wieder versicherte er sich, dass Ran seine Hände um seine Körpermitte geschlungen hielt, weckte ihn, wenn es die Umstände erforderten.

Es dauerte noch gute zehn Minuten, als sie die kleine holprige Seitenstraße erreichten und Schuldig den dunklen Van erkannte. Brad wartete bereits. Schuldig erkannte schon von weitem, dass der Amerikaner telefonierte. Er hätte nicht gedacht, dass ihn dieser Anblick so freuen oder eher erleichtern würde.

Das Motorrad hielt neben Brad. „Hi. Kannst du mir helfen? Er pennt schon halb ein.“

Brad verabschiedete sich von Nagi in seiner üblichen wortkargen Art. Und ebenso wortkarg trat er an das Motorrad heran.
 

Aya merkte in seinem dösigen Zustand, dass Schuldig angehalten hatte und versuchte nun auf eigene Faust, sich den Helm abzunehmen. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, wie lange er schon dafür brauchte, mit seinen zitternden Fingern den Verschluss zu öffnen.

Sich des Amerikaners nur nebenbei bewusst, war er schließlich soweit, dass er den Helm abnehmen und vom Kopf ziehen konnte, das erschöpfte seine spärlichen Kraftreserven vollends und er ließ den Helm kraftlos sinken.
 

Schuldig hatte den Motor abgestellt und wandte sich halb Ran zu um diesem den Helm abzunehmen, doch Brad hatte bereits die Hand daran und pflückte diesen Ran aus den Händen. „Was ist mit ihm?“ Brads Anführermodus war voll eingeschaltet, das hörte Schuldig sofort an dem reservierten, kalten Tonfall.
 

„Ich habs übertrieben, kannst du ihm runterhelfen. Er wird’s alleine nicht schaffen.“ Schuldigs Stimme hörte sich verloren an und auch sein Blick streifte nur marginal Brads Gesicht.
 

Brad nahm Ran unter dem rechten Arm und griff ihn sich vom Rücken her, zog ihn so behände von der Maschine.
 

Es war schon komisch, wie müde Aya war. Ihm war alles egal, Hauptsache, er konnte die Augen schließen und Hauptsache, er hatte Körperkontakt zu Schuldig, der genauso roch wie damals, als er aus der langen Zeit der Einsamkeit und des Hungers wieder zu sich gekommen war. Dass er nun auch noch hochgehoben wurde, nötigte ihm jedoch ein wenig Widerstand ab.

„Es… geht alleine…“, brachte er hervor, ganz gegensätzlich jedoch dazu, dass er seinen Kopf an die Schulter des anderen Mannes legte.
 

Schuldig stieg ab, klappte den Seitenständer der Maschine aus und kam um diese herum, während er Ran in den sicheren Armen des Amerikaners wusste. Schuldig wischte sich die vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht und blickte unglücklich auf das ruhige, dösige Antlitz des Japaners. „Er mag es nicht, wie eine Braut herumgetragen zu werden“, sagte er überflüssigerweise.
 

„Ich glaube nicht, dass er jemals diesen Status innehaben wird. Er kann unbesorgt sein“, spöttelte Brad und sah, dass Schuldig ordentlich durch den Wind war - und das nicht nur im wahrsten Sinne. Es erinnerte ihn an die Zeit vor einem halben Jahr, als der Japaner bei Schuldig das erste Mal gastierte.

Deshalb wählte er seine Fragen mit Bedacht.

Er ging nach vorne um den Wagen herum, Schuldig folgte und öffnete die Beifahrertür auf der linken Seite. „Warum ist er in diesem Zustand?“, hakte Brad nach und setzte Ran auf den Sitz ab.
 

„Er hat wenig gegessen…“, Schuldig zögerte. „Nein, er hat gar nichts gegessen und dann… hatten wir einen Streit und in dessen Folge ein wenig zu heftig Tuchfühlung… und dann ist irgendwie alles so schnell gegangen…“
 

„Hmmm“, knurrte Brad. Wie gut, dass der Rotfuchs und er schon telefoniert hatten.
 

Sie unterhielten sich über ihn. Das war es, was Aya als Erstes bewusst wurde. Als Zweites konnte er identifizieren, wer sie überhaupt waren. Schuldig und Crawford. Crawford war also da.

Aya versuchte sich zur Wachheit zu zwingen und wandte den Kopf zu beiden. Er sah sie verschwommen, aber er sah sie und Erleichterung kolorierte seine Züge.
 

Das Zuhören wurde unterbunden in dem Brad die Tür des Wagens schloss und sich dann zu Schuldig umwandte. Sein Blick drückte aus als wolle er sagen: so mein Lieber, raus mit der Sprache. Jetzt wo die Tür zu ist kann ich jetzt einen ganz anderen Ton anklingen lassen.

Schuldig wartete auf die Standpauke. Die ausblieb.

Also…

„Ich muss nochmal zurück. Er hat seine Waffe verloren.“ Schuldig ging um den Wagen herum zu seiner Maschine.

Brad folgte ihm. „Er hatte Handschuhe an, die Waffe ist unwichtig.“
 

Schuldig nahm den Helm vom Sitz. „Das ist sie nicht“, sagte er nachdenklich, mit gerunzelter Stirn. „Ihm ist es wichtig, dass sie geholt wird, also werde ich sie holen.“
 

Brad war das Ganze nicht geheuer. Schuldig war in einer seltsamen Stimmung und dies ließ ihn misstrauisch werden. Er lehnte am Van und hatte die Hände in den Taschen seiner Jeans verborgen.
 

„Kannst du ihm die Riegel geben, die müssten doch noch im Fach unter dem Sitz sein, oder?“

Schuldig wandte sich zu Brad um. „Damit er wenigstens etwas isst, bis ich wieder da bin. Kümmerst du dich um ihn, ja?“
 

In einer plötzlichen - von Schuldig nicht erwarteten Bewegung - griff Brad nach ihm, zog ihn herum und im nächsten Moment prallte er mit einem dumpfen Geräusch gegen den Van und wurde konfrontiert mit Brads Gesicht, welches zum großen Teil im Schatten lag. Er zog an Schuldigs Haaren im Nacken.

„Hör…“ weiter kam er nicht, denn eine Hand legte sich über seine Lippen.

„Das letzte Mal, als du mir ihn anvertraut hast, bist du hinterher tot gewesen. Gewisse Parallelen drängen sich mir da auf.“ Brads Stimme klang rau, emotional hätte Schuldig sie sogar bezeichnet, hätte jemand ihn in diesem Moment gefragt.

„Ich weiß nicht, was zwischen euch genau vorgefallen ist, aber ich habe eure masochistischen Spielchen satt und ich habe es ebenso satt hinter euch aufzuräumen. Verstanden?“

Schuldig sah ihn mit großen Augen an.

„Hast du mich verstanden?“ Der Zug im Hinterkopf wurde stärker und Schuldig kniff die Augen kindlich zusammen bevor er nickte.

„Gut“, sagte Brad.

„Du wirst mir jetzt genau zuhören. Du fährst dort hin, suchst die Waffe und wenn du sie bei der ersten Besichtigung nicht findest, fährst du wieder. Verstanden?“ Schuldig nickte artig und ein warmes Gefühl beschlich ihn. Er lächelte unter der Hand.

„Hier gibt’s nichts zu grinsen“, blaffte Brad, nur Schuldig nahm ihm die schlechte Laune nicht übel. „Du kommst auf dem schnellsten Weg hierher zurück. Falls etwas schief geht, kontaktierst du mich. Wenn du irgendein Risiko eingehst oder mir kommt sonst eine Unregelmäßigkeit zu Ohren, kannst du was erleben!“

Schuldig nickte wieder.

„Und jetzt ab mit dir.“ Brad ließ Schuldig los, öffnete die Wagentür und nahm die Stablampe auf, die im Fach der Wagentür lag. Er warf sie Schuldig zu.
 

Dieser setzte sich den Helm auf, verstaute die Lampe und fuhr los.

Brad knurrte. „Wegen dieser beschissenen Waffe…“ Fluchen gehörte nicht in seinen Wortschatz. Ab und an jedoch überkam es ihn…
 

Im Wagen hingegen wurde es unruhig, denn Aya hatte wie beabsichtigt nicht viel von der Unterhaltung mitbekommen. Ganz im Gegenteil… alles, was er gehört hatte, war ein dumpfes Poltern gewesen, das ihn sich hatte aufrichten lassen. Irgendetwas passierte da draußen und er wollte wissen, was.

Doch bevor er sich nach draußen quälen musste, ging die Fahrertür auf und Ayas Kopf fiel nach rechts, erblickte Brad.

„Wo ist Schuldig?“, fragte er mit Sorge in der Stimme leise.
 

„Weg. Deine Waffe holen. Dumm genug, dass sie dir aus den Händen gefallen ist, aber sie jetzt auch noch unbedingt zurück zu wollen, wo es dort vor Bullen nur so wimmelt ist nicht wirklich gut durchdacht.“ Eigentlich gar nicht und eigentlich sehr dumm.

Brad setzte sich auf den Fahrersitz und schloss die Tür. Er bückte sich und zog unter Rans Sitz ein Fach hervor, das voll war mit Eiweißriegeln und hochkalorischen Snacks. Diese Rationen hatten sie in jedem Wagen vorrätig, falls gewisse Observationen länger dauerten oder sie sonst aus Gründen unterschiedlichster Art eine Nahrungsquelle brauchten. Oder… sie hatten Ran dabei.

Brad holte zwei Riegel hervor, öffnete einen davon und hielt ihn Ran hin. „Iss das, Schuldig sagte, du hättest nichts gegessen die letzten Tage.“
 

Aya stellte fest, dass ihn nichts so zuverlässig in die Realität zurückbringen konnte wie Crawford und dessen Vorwürfe.

„Sie darf dort nicht gefunden werden… kann uns vielleicht in Verbindung mit den Morden bringen.“ Aus Reflex griff Aya zu dem Riegel und betrachtete ihn sich.

„Ich… konnte sie nicht halten, als ich halb über dem Abgrund hing. Das hättest nicht einmal du geschafft“, gab er zurück und hob müde seine Hand, steckte sich die ersten drei Zentimeter des Riegels in den Mund, biss ab und kaute langsam.
 

Ekelhaft.
 

Er verzog den Mund vor Widerwillen und ließ den Riegel wieder sinken.
 

Brad ließ sich in den Sitz sinken. „Ich weiß, das Zeug schmeckt furchtbar und wird eher mehr statt weniger im Mund. Gegessen wird es trotzdem. Wenn du schon zur Belastung wirst während eines Einsatzes, solltest du nachher auch die Konsequenzen tragen.“ Brads Mundwinkel umspielte ein ironisches Lächeln. „In diesem Fall einen Eiweißriegel zu dir nehmen.“

Er wandte sich nach hinten in den offenen Laderaum um und zog einen schwarzen Pullover hervor, den er sich mitgebracht hatte. Ihm war kalt.
 

„Belastung“, schnaubte Aya abfällig und sah auf den Riegel in seiner Hand nieder. Schuldigs Worte kamen ihm wieder in den Sinn, dass er selbst Schuld an dem Ganzen war.

Vielleicht sollte er doch etwas essen, denn momentan war er völlig hilflos, sollten sie angegriffen werden. Völlig.

Ein weiteres Mal kämpfte sich seine Hand zum Mund und biss die nächsten zwei Zentimeter ab, die er mit einem innerlichen Schütteln hinunterwürgte.
 

Brad beließ das Thema wie es war, obwohl er es gerne noch etwas ausgereizt hätte, doch er sah, dass Ran den Riegel folgsam aufaß und sah gnädig von einer weiteren bohrenden Folter und dem vorbringen von Vorwürfen ab.

„Gib mir einen kurzen Überblick über die Dinge, die passiert sind und warum ihr beide in einer derart desolaten Verfassung seid.“ Einer Verfassung die Schuldig dazu brachte ihn anzuflehen sie abzuholen.
 

„Habe ich doch am Telefon schon“, erwiderte Aya und nahm das als Entschuldigung, den Riegel auf seinem Oberschenkel ruhen und reifen zu lassen. Vielleicht schmeckte er ja mit Sauerstoffzufuhr besser – irgendwann.

„Was willst du denn noch wissen?“
 

„Sage ich dir, sobald der Riegel kleiner wird und zwar ohne, dass du ihn aus dem Fenster wirfst oder anderweitig entsorgst.“

Brad hob abwartend eine Augenbraue. „Das Telefongespräch hat mir gesagt wie es dazu gekommen ist, dass du Schuldig hinterher gegangen bist, aber nicht wie es dazu gekommen ist, dass er mich angefleht hat euch abzuholen und das mehrfach.“
 

„Gilt dir in den Hintern schieben auch als anderweitige Entsorgung?“, fragte Aya mit wenig Hoffnung darauf, dass dem nicht der Fall war, aber mit viel Lust, eben dies zu tun.

Die Worte des Amerikaners ließen ihn dann jedoch nachdenklich werden, soweit es sein Zustand erlaubte. Schuldig hatte ihn angefleht? Sicherlich, Schuldig war verzweifelt gewesen.

„Als er Nagi unterstützt hat, bin ich ihm gefolgt. Als wir dieses Massaker gesehen haben und die Polizei gekommen ist, sind wir beide geflohen… er ist geflohen und ich bin ihm gefolgt. Auf das Dach eines halb eingestürzten Parkhauses. Irgendwie… hat er mich dann…“ Aya stockte, versuchte sich an das zu erinnern, was passiert war und das Zittern nahm wieder zu. Mit Gewalt versuchte er es unter Kontrolle zu bekommen.

„An was ich ich erinnere, ist, dass ich mit dem Unterkörper auf dem Asphalt lag und dass er mich mit dem Oberkörper über den Abgrund gehalten hat.“ Aya schloss seine Augen vor der Angst, die er immer noch spürte.
 

„Das erklärt einiges.“ Brad wandte sich wieder nach hinten und holte aus der Tasche, die dort stand eine Thermoskanne und schraubte diese auf um in den dazugehörigen Becher einen Tee einzuschenken, der mit einem guten Schuss Rum versehen war. Brads Spezialgetränk, wenn er als letzte Reserve in ihrem ‚Planungswagen’ in die Bresche springen musste um Schuldig aus irgendeinem Loch zu ziehen, in dem dieser feststeckte, weil er sich - wieder einmal - zu weit vorgewagt hatte.

„Hier… das wärmt dich vielleicht etwas.“

Schuldig hatte Ran über das Dach eines Parkhauses ‚entsorgen’ wollen. Was beide ordentlich erschreckt hatte.
 

Aya ergriff den Becher, dankbar, den Riegel nun liegen lassen zu können und nahm vorsichtig einen Schluck. Danach einen zweiten und dann hielt er sich ganz an dem Becher fest. Leichter Rumbeigeschmack drängte sich ihm auf und Aya war dankbar über den Alkohol. Vielleicht ließ er ihn ruhiger werden.

„Er meinte, wenn er mich fallen ließe, hätte er ein Problem weniger. Dann würde ihn niemand mehr zwingen zu vergewaltigen.“ Ayas Stimme war leise, bitter sogar und er musste schlucken.
 

Brad beäugte die schmähliche Vernachlässigung des Riegels. „Der Riegel wartet immer noch. Bring mich nicht dazu ihn in den Tee zu werfen damit du ihn trinken kannst“, warnte Brad.

„Denk daran, dass wir dich nicht brauchen können, wenn du hier erneut deine Lider von innen betrachtest.“
 

Aya hasste Crawford dafür, dass dieser Recht hatte mit dem, was er sagte. Er nützte den beiden gar nichts so wie er momentan war.

Also…

Ein weiterer Blick traf auf den Riegel, dieses Mal mit absoluter Verachtung und er schob sich den Rest gänzlich zwischen die Lippen, kaute mit Widerwillen, zermalmte dieses widerliche Zeug und schluckte es kloßweise hinunter um mit dem Tee nachzuspülen. Wenigstens der schmeckte.
 

„Gut.“

Brad lehnte sich im Sitz zurück. „Zurück zu Schuldig und dir. Kannst du mir sagen warum ihr derart masochistisch veranlagt seid? Ihr beide schenkt euch in diesem Punkt nichts“, sagte er mit ruhiger Stimme, der drohende Unterton, der zuvor in der Sache des Eiweißriegels noch vorgeherrscht hatte, fehlte nun gänzlich.
 

„Wenn ich dich schon seit Monaten ficken würde, dann würde ich dir diese Frage beantworten, doch so ist sie etwas zu intim gestellt, meinst du nicht auch?“ Sie brauchten Ehrlichkeit, das stimmte schon, aber Aya hatte nicht vor, Crawford sein Seelenleben auszubreiten.

Er schwieg einen Moment lang.

„Wir haben uns als Feinde getroffen, gelegentlich bei Aufträgen, wie du selbst weiß. Näher haben wir uns kennen gelernt, als ich damals in Gefangenschaft bei ihm war… keine gute Basis, aber es war eine. Als wir uns dann näher gekommen sind, stand das nie im Vordergrund, aber unterbewusst war es da. Und irgendwann war es wichtiger, den anderen nicht zu verlieren. Sehr viel wichtiger. Alles bestimmend, quasi.“

Aya hielt Crawford den Becher hin, damit dieser ihn noch einmal voll machen konnte.
 

Brad nahm den Becher entgegen und reichte Ran den zweiten Riegel hinüber. Ein simpler Schokoriegel mit vielen Kalorien.

Der Becher wanderte in eine der Halterungen und blieb leer.

„Du hast keinen Grund um ausfällig zu werden. Wir sind schon längst bei Intimitäten angekommen, falls dir das entgangen sein sollte.“ Brad blickte zu dem nachdenklich blickenden Japaner hinüber. „Den anderen nicht zu verlieren ist ein guter Ansatz wird bei euch beiden jedoch gelegentlich von euch selbst sabotiert, was mich zu dieser - deinen Unmut erregenden - Frage brachte.“
 

Aya starrte währenddessen den Schokoriegel in seiner Hand an, den er im Verdacht hatte, genauso widerwärtig zu schmecken wie das, was er vorhin bekommen hatte. Also legte er ihm Crawford ohne viel Federlesens wieder auf den Oberschenkel.

„Nicht ohne Tee“, bestimmte er, denn der schmeckte ihm wirklich.

„Wo sind wir intim? Dass wir den jeweils anderen an Teilen unserer Gedanken teilhaben lassen, ist unabdingbar, besonders im Hinblick, dass wir eine Gemeinsamkeit haben: Schuldig. Ich habe allerdings nicht vor, dir meine innersten Gedanken darzulegen. Wofür du Verständnis hast, nehme ich an, denn du scheinst in der Hinsicht genauso zu sein wie ich.“
 

Brad sah das ein wenig anders. Allerdings bargen für ihn ihre Umarmungen in der Zeit, als sie Schuldig tot glaubten, eine gewisse Intimität. Er durfte jedoch nicht den Fehler machen und von sich selbst auf den Japaner schließen.

„Wie du meinst“, sagte er unbestimmt und ließ auch dieses Thema fallen. Seine Gedanken glitten zu Schuldig und er hoffte, dass dieser nicht trotz seiner Warnung Dummheiten machte.

Trotz seines sadistischen Verhaltens im Krankenhaus und der ungeheuren Macht, die Schuldig ihm damals sehr eindrucksvoll demonstriert hatte machte sich Brad Sorgen um ihn. Es war selbst für ihn nicht nachzuvollziehen, warum er seine Wut über den Telepathen hinter sich lassen konnte, sobald die Sorge um ihn Einzug hielt.
 

„Iss den Schokoladenriegel, ansonsten bist du nach dem nächsten Becher betrunken.“
 

Ein Blick traf Crawford, der alles ausdrückte, nur kein Vertrauen.

„Sicherlich“, lächelte Aya schwach. „Und wenn ich dieses eklige Zeug aufgegessen habe, sagst du, dass ich doch keinen Tee mehr bekomme.“ Er streckte seine Hand aus. „Schokoriegel und Tee oder du darfst Schuldig erklären, warum du mich nicht zum Essen bewegen konntest, Orakel von Schwarz.“ Ihm war zwar immer noch latent schwindelig, aber er war schon ruhiger und gelassener.
 

„Oh, ich denke, dass Schuldig genau weiß, wie nervtötend sein Honeybunny sein kann, wenn es etwas will oder nicht will“, erklärte Brad spöttisch und sprach den übertriebenen Kosenamen in ziemlich breitem amerikanischen Akzent aus. „Und falls es dir entgangen ist, du hast bereits einen davon gegessen, mein Auftrag ist ausgeführt.“
 

„Ich denke nicht, dass sich Schuldig mit einem gegessenen Riegel zufrieden geben wird, Big pimp daddy.“ Ayas säuerliche Miene drückte nur zu gut aus, was er von dem Kosenamen hielt, den er sehr wohl verstand.

Er sah sich im Wagen um und suchte die Thermoskanne, die Crawford doch wohl irgendwo hierhin gepackt haben musste. Gerade eben hatte er sie doch noch in der Hand gehalten.

Aufseufzend ließ Aya seine Hand sinken, rührte aber auch den Riegel nicht an.
 

Brad empfand das Gespräch langsam als ermüdend. „Du wirst es ja wissen, schließlich muss sich Schuldig offenbar öfter Sorgen um dein leibliches Wohl machen. Als hätte er nicht schon Sorgen genug“, fügte er seufzend hinzu.

„Auch glaube ich kaum, dass er mir diese Nacht deswegen in irgendeiner Form Schwierigkeiten jeglicher Art machen wird.“ Ganz im Gegenteil. Brad würde ihm Schwierigkeiten machen, wenn er so weiter machte. Schuldig war innerlich aufgelöst und verzweifelt gewesen - seine Augen hatten ihm das gesagt und Brad war sehr unzufrieden damit ihn gehen haben lassen zu müssen. Und das auch noch wegen so einer Dummheit.
 

„Muss er nicht. Ich bin erwachsen genug, um auf mich selbst aufzupassen“, erwiderte Aya und ließ seinen Kopf zur anderen Seite fallen. Ihm war warm und er war entspannt, das zählte für ihn in diesem Moment. Was natürlich auch zählte war der Stolz, der ihn davon abhielt, den zweiten Riegel anzubrechen ohne eine weitere Tasse.

Irgendwie schon latent unerwachsen, sagte er sich selbst, doch er hatte keine Lust, jetzt noch irgendwelche eigenen Hürden zu überwinden.
 

Brad lachte leise auf, enthielt sich aber eines Kommentars. Diese verbohrte Sturheit amüsierte ihn.

Sie schwiegen eine Weile in trauter Zweisamkeit.
 

Brad blickte wiederholt auf seine Armbanduhr.

„Du hast Recht. Ich hätte dir keinen zweiten Becher gegeben, selbst wenn du den Schokoladenriegel gegessen hättest.“ Er lächelte.

„Der zweite Becher ist für Schuldig. Denn so fertig wie er hier angekommen war mit dir hinten drauf hätte ich ihn nicht für viel zurückfahren lassen.“
 

Ayas Kopf wandte sich sehr langsam wieder zurück zu Crawford und bedachte den anderen Mann mit einem wissenden Blick.

„Du bist ein vorhersehbares Orakel, Brad Crawford“, murmelte er und seine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln bei diesem Wortspiel. Er hatte es gewusst, er hatte es wirklich gewusst!

„Was, wenn irgendjemand den Besitzer der Waffe ermitteln kann? Was, wenn doch unsere Fingerabdrücke darauf sind? Wenn sie uns irgendwann einmal zum Verhängnis werden wird?“
 

„Es wäre dumm von euch auf euren Waffen Fingerabdrücke zu hinterlassen. Im Übrigen, wo habt ihr diese Waffe her? Schuldigs Waffen haben keinerlei Registrierungsnummer. Wir pflegen diese zu entfernen.“ Brads Stimme strotzte nur so vor Spott und Skepsis.

Er würde Schuldig den Hals umdrehen, wenn er derart schlampig arbeiten würde.
 

Crawfords Spott wurde mit einem gepflegten Mittelfinger quittiert, den Aya doch noch – und wenn es ihn den letzten Rest seiner Kraft kostete! – langsam emporhob in Richtung Amerikaner. Doch so langsam er hochkam, so schnell sank er auch wieder, weil selbst das Aya anstrengte. Selbst das Reden strengte ihn an.

„Das Wetter ist schön draußen, meinst du nicht auch?“, fragte er grimmend. „Was hat Nagi hier eigentlich zu suchen gehabt? War es eine heiße Spur?“
 

„Nein. Es war lediglich ein Routinecheck. Wir wollten einige Verbindungen zwischen den Familien überwachen - für kurze Zeit. Dass diese harmlose Überwachung auf diese Weise abgebrochen wurde, war mir vorher nicht bewusst, ich habe davon erst kurz bevor Nagi sich bei mir meldete erfahren. Offenbar hat Schuldig sich spontan zu bestimmten Aktionen hinreißen lassen.

Ich hatte kurz hintereinander mehrere Visionen.

Auswerten können wir das Geschehene erst, wenn die Bilder und die Daten der Polizei abrufbar sind, was noch etwas dauern könnte. Schuldig wird mir so einiges erklären können.“
 

„Hm…“

Kurz schloss Aya die Augen, doch kurz bevor er eindöste, rappelte er sich hoch, fuhr schier vor Schreck im Sitz zusammen. Er durfte nicht einschlafen, er musste wach bleiben. Solange wach bleiben, bis Schuldig wieder da war. Wenn er ehrlich war, genoss er die Stille, die im Van herrschte, wozu auch die ruhige Präsenz an seiner Seite beitrug, die ungewöhnlich leger gekleidet war. Jeans, Hemd, Pullover. Das war ja fast sportlich.

„Ich habe früher immer gedacht, du wärst im Anzug geboren worden.“
 

Brad überlegte für einen kurzen Augenblick woher der Japaner dieses Thema gerade nahm. „Wie kommst du darauf, jetzt etwas anderes zu denken?“ Brad bedachte den Mann mit einem gelangweilten Blick.
 

„Ich habe jetzt wiederholt gesehen, dass du keine Anzüge trägst. Das betrachte ich als Fortschritt.“

Fortschritt wohin?, fragte sich Aya im Stillen. Er wollte doch keinen Fortschritt mit dem anderen Mann. Nun, zumindest nicht, was das freundschaftliche Annähern anging. Oder?

Die Zeit vor Schuldigs Wiederkehr hatte ihm anderes gezeigt. Dort waren sie friedlich gewesen. Zueinander. Miteinander…
 

Brads Gesicht trug den Hauch von übertriebenem Zweifel, als er in den Seitenspiegel blickte als könne er Schuldig kommen sehen. Was noch nicht der Fall war.

„Fortschritt? Ich habe nicht vor mich von eurem Lack und Lederstyle assimilieren zu lassen“, knurrte er. Er liebte seine Anzüge. Seine Hemden.
 

Crawford würde sich nicht assimilieren lassen? Aya brachte das zum Schmunzeln. Er konnte sich den anderen allerdings gut in so einer Kluft vorstellen.

„Hast du noch nie Lack und Leder getragen? Auch nicht bei einem Auftrag zur Tarnung?“ Hoffentlich war die Frage nicht zu offensichtlich gestellt, bediente sie ja Ayas dunkle Seite mit Fantasien… dem Amerikaner gehörte ein Halsband angelegt, inklusive Manschetten und Ketten…

Aya runzelte die Stirn.

Wo war das denn jetzt her gekommen?
 

„Ich glaube dein zu niedriger Zuckerspiegel sorgt gerade dafür, dass du diese seltsam wirkenden Fragen stellst.“ Brads Stimme klang unterkühlt.

„Vielleicht hätte ich dir besser doch den ganzen Tee überlassen.“ Dann hätte er jetzt mit Sicherheit seine Ruhe.
 

„Hättest du, ja. Also willst du mir auf meine Frage nicht antworten?“, fragte Aya. Es mochte wirklich der Zuckerspiegel sein, der ihn soviel Spaß haben ließ, den anderen zu triezen und sich nicht durch dessen eiskalten Ton abschrecken zu lassen – der ihn noch nie hatte abschrecken können.

Würde er Crawford doch noch etwas mehr provozieren. Sein Kopf wandte sich nach vorne und er starrte aus der Frontscheibe. „Lack und Leder haben so ihre Vorteile“, begann er mit einem doch recht breiten Lächeln um die Mundwinkel. „Warm, bequem, nicht spießig, Wasser abweisend…“
 

„…schön eng anliegend, wie dieser Schokoladenriegel in deiner Mundhöhle, wenn du ihn komplett hineinschieben würdest.“ Brad hatte genug. Der Monolog konnte lang werden, zu dem Fujimiya angesetzt hatte und Brad hatte keine Möglichkeit zur Flucht, also musste er anderweitig für die gewünschte Ruhe sorgen: der Schokoladenriegel wanderte schnell und effizient zwischen Rans Lippen, mit etwas Nachdruck selbstverständlich.
 

Mit etwas sehr viel Nachdruck, denn plötzlich blockierte ein großes, sperriges Stück Schokolade Ayas Monolog und er grunzte empört über diese rabiate Behandlung. Allerdings blieb ihm auch nun nichts anderes übrig, als dieses Ding zu essen. Das hieße, erst einmal zu kauen und dann zu schlucken, was er jetzt mit einem teuflischen Blick auf Crawford tat.

Es dauerte seine Zeit, bis Aya den Rest des Riegels hinuntergewürgt hatte, der eindeutig besser schmeckte als der vorherige.

„Ich hoffe nicht, dass du immer so rabiat bist, wenn du anderen längliche Dinge in den Mund schiebst“, grollte er.
 

„Wenn ich noch einmal gezwungen sein sollte einen Vortrag über die Vorzüge von Lack und Leder anzuhören sind unter deinem Sitz noch genügend längliche Dinge, die ich dir… in den Mund schieben könnte.“ Brads Blick glitt zu Fujimiya und sagte deutlich, dass er vor einem erneuten Schokoladenriegelanschlag nicht zurückschrecken würde.
 

Aya, der trotz dem besseren Geschmack in seinem Mund nicht darauf versessen war, noch einen Riegel zu sich nehmen zu müssen, schwieg daraufhin natürlich. Schließlich lernte auch er aus seinen Fehlern.

Was nicht hieß, dass es ihm nicht doch gut tat, hier mit Crawford zu… ja… herum zu spaßen.

Aufseufzend drehte er seinen Kopf nach vorne und schloss die Augen ein weiteres Mal, ließ dem Zucker Zeit, sich in seinem Körper breit zu machen.
 

Ja, diese Ruhe war schon wesentlich besser, schwelgte Brad fast schon und rutschte in seinem Sitz ein wenig tiefer. Kurz danach meldete sich Schuldig und kündigte seine baldige Rückkehr an.

„Er ist unterwegs“, gab er die Information weiter.

Wenn er Schuldig wieder in seinen Händen hatte, dann würde sich dieser ein Satz heißer Ohren einfangen und nicht nur das: ein Vortrag über misslungene Einsätze und eigenmächtiges Handeln würden ebenso folgen.

Sofern er dem niedergeschlagenem Telepathen samt seines havarierten Selbstbewusstseins, welches sich in dessen Augen zeigen würde, widerstehen könnte…
 

Aya war erleichtert, dass Schuldig nun zurückkam, denn in seinen Augen war die Gefahr immer noch nicht gebannt… vielleicht trieben sich ja noch andere am Tatort herum, andere, die auch sie schon angegriffen hatten.

„Sei nicht so streng mit ihm“, sagte er leise, hatte er doch Crawfords Gesichtsausdruck gesehen. „Er ist aufgewühlt, sehr sogar. Und wage es ja nicht, ihn zu schlagen. Du hast ihn schon genug geschlagen in der Vergangenheit.“
 

„Schuldig ist kein Kind und wir sind auch kein Ehepaar, auch wenn du dich anhörst wie eine besorgte Ehefrau, Fujimiya.“ Zugegeben nervige Ehefrau.

„Deine Ratschläge behalte für di…“, weiter kam er nicht, da er das Motorengeräusch hörte, welches sich schnell näherte. Brad sah Schuldigs Maschine.

‚Bin da’, kam es in seine Gedanken geschlichen und Brad stieg aus um zur hinteren Ladetür zu gehen und diese zu öffnen. Er war nur ein kurzer, vorsichtiger Gedankenkontakt, den sich Schuldig erlaubte. Als hätte er Angst Brad zu nahe zu treten, hielt er den telepathischen Kontakt auf ein Minimum beschränkt.

Und tatsächlich war es Angst und ein unbeschreibliches Gefühl welches am Besten mit Unwohlsein zu benennen war, welches Brad erfasst hatte, seit Schuldig gewaltsam in seine Gedanken eingedrungen war.

Brad drängte diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Gestalt des Telepathen, die er besser händeln konnte als die sorgenvollen und düsteren Gedanken, die dessen Fähigkeiten und seine Launen betrafen.
 

Schuldig stieg ab, während Brad die kleine Laderampe ausfahren ließ. Den Helm abnehmend versuchte Schuldig zu erkennen in welcher Stimmung Brad war und streifte flüchtig dessen Gesicht mit einem Blick.
 

Aya wusste, dass Schuldig gleich zu ihnen kommen würde, deswegen verbrauchte er jetzt auch keinerlei Kraftreserven, um sich zu Schuldig umzudrehen oder gar zu versuchen, das Auto zu verlassen.

Er sollte seine Ratschläge für sich behalten? Dabei hatte er doch nur zu sehr recht mit dem, was er sagte. Crawford schlug gerne zu, zumindest hatte es den Anschein und das konnte Schuldig im Moment nun gar nicht vertragen.
 

Schuldig fuhr die Maschine über die Laderampe in den Van und Brad schloss die Türen hinter ihm. Während dieser um den Wagen herumkam ging Schuldig nach vorne und kam zu Ran, setzte sich hinter diesen in den dritten Sessel der nachträglich eingebaut worden war.

„Hab sie gefunden, ein paar Kratzer hat sie abbekommen.“ Schuldig sah, dass Ran wesentlich wacher war und seine Hand strich über dessen Oberarm. „Geht’s dir besser?“
 

Ayas Hand wiederum fischte nach Schuldig und er versuchte sich in seinem Sitz umzudrehen. Trotz seiner Wachheit war das aber eine ganz eigene Kraftprobe, die er fast verlor.

Er lächelte leicht und strich nun seinerseits über Schuldigs Hand.

„Ja. Dir auch?“ Aya war erleichtert, dass die Waffe wieder da war, dass nun nichts, aber auch absolut gar nichts auf sie hindeuten würde.
 

Brad rutschte auf den Beifahrersitz, ließ den Wagen an und sie fuhren aus der schmalen Nebenstraße in Richtung Yokohama.

Schuldig lehnte seinen Kopf an Rans Rückenlehne und schloss die Augen. Was für ein Fiasko.

Zumindest hatte er seinen Kopf etwas klären können als er auf der Suche nach der Waffe gewesen war und er hatte den Ermittlern ein wenig auf den Zahn fühlen können wo überall Vorkehrungen zur Absperrung der Straße getroffen worden waren.

Seine Finger und Handinnenflächen stachen im dumpfen Schmerz vor sich hin. Er spürte jetzt erst, wo er zur Ruhe kam, wie das Blut zwischen dem Handschuh und seiner Haut feucht und warm klebte. Ein ekliges Gefühl.
 

Eine Weile fuhren sie schweigend, dann jedoch wurde sich Aya bewusst, was er schon die ganze Zeit unterbewusst wahrgenommen hatte, was sich ihm aber nun schier aufdrängte, je länger er dem nur allzu bekannten Geruch hinterher schnupperte.

Blut.

Kaltes Blut.

Diesen Geruch würde er nicht vergessen, ganz gleich, wie lange er schon nicht mehr getötet hatte.

„Es riecht hier nach Blut“, veräußerte er seine Gedanken und drehte sich halb um, sah alarmiert zu Schuldig.
 

Schuldigs Hand schlich sich automatisch ein wenig hinter den Sitz. „Nur ein tiefer Kratzer an der Hand. Das wird wohl das Blut sein im Handschuh“, sagte Schuldig mit angeschlagener Stimme in den Sitz hinein. Lieber halb gelogen als voll erwischt, meinte Schuldig für sich und richtete sich etwas mehr auf.

„Hast du einen Schokoriegel gegessen?“
 

„Einen und eine Folter für jegliche Geschmackszellen“, sagte Aya leise mit einem kurzen Seitenblick auf Crawford. Gut, wenigstens konnte er dem Orakel nicht vorwerfen, ihn zu diesem ekelhaften ersten Riegel gezwungen zu haben.

Seine Hand fischte nach hinten. „Lass mich den Kratzer sehen.“
 

„Zuhause, okay? Hier haben wir ohnehin nicht das geeignete Zeug um den Kratzer zu reinigen.“

Schuldig lehnte sich seitlich an Rans Sitz an und spürte wie bleierne Müdigkeit an ihm zog. Er gähnte verhalten und als er die Augen aufschlug erblickten diese eine Thermoskanne. „Ist das der gute, alte Spezialtee?“, richtete er an Brad.

„Der gute, alte Spezialtee“, sagte dieser zur Bestätigung und Schuldigs Mundwinkel zierte ein kleines Lächeln. Er sah sich nach dem Becher um, der auf die Kanne gehörte und fand diese in der Halterung vorne zwischen den Sitzen. „Hast du ihm das Zeug gegeben? Ich dachte, das dürfte nur ich trinken?“, empörte sich Schuldig halbherzig mit weichem Spott in Richtung Brad. „Gibst du mir den Becher, Ran?“
 

„Das war eine Ausnahme. Er hat hier angefangen zu winseln und zu zittern, wie ein ausgesetztes Kätzchen. Ein Notfall wenn du so willst“ , räumte Brad ein.
 

„Winseln? Zittern? Das wünschst du dir, Amerikaner, das wünschst du dir!“, schnaubte Aya mit einem letztem, kritischen Blick auf Schuldig und dessen Ausweichmanöver. Er wollte sich die Hand anschauen, wenn sie zuhause waren.

Er drehte sich langsam um und nahm den Becher, gab ihn Schuldig.
 

Brad gönnte sich ein entsprechend zufriedenes Lächeln in Richtung des Japaners. Offenbar hatte er einen wunden Punkt getroffen.
 

Schuldig rollte mit den Augen und nahm den Becher entgegen um sich von dem leckeren Tee einzuschenken. „Ich liebe das Zeug. Das gibt es nur in Einsätzen, wenn Brad mit raus muss.“ Deshalb hatte er es sich früher schon zum Ziel gemacht Brad von seinem Schreibtisch weg zu locken…
 

„Säufer“, murmelte Aya, jedoch nicht erbost über die Zärtlichkeit und den Wehmut in Schuldigs Stimme, die dieser Crawford entgegenbrachte.

„Alle miteinander!“ Dass er selbst auch gerne getrunken hätte, verschwieg er dann mal galant.
 

„Er ist angesäuert, weil ich ihm keinen zweiten Becher gegeben habe.“ Brad wollte dies natürlich nicht verschweigen.
 

„Kann ich mir denken.“ Schuldig nahm einen Schluck und hielt den Becher still und heimlich Ran an die Lippen.
 

Ihr könnt mich beide mal, dachte sich Aya, nahm jedoch ebenso still und heimlich einen kleinen, dankbaren Schluck. Na, vielleicht durfte Schuldig ihn mal ein paar Mal öfter können als Crawford. Also ungefähr hundert Prozent.
 

Sie fuhren über ein paar kleinere Umwege und kamen schließlich nach mehr als einer halben Stunde an Schuldig und Rans Wohnung an.

„Fahr den Wagen in die Garage“, wies Schuldig Brad an und machte Anstalten auszusteigen. Brad hatte angehalten und wartete, bis sie ausgestiegen waren.

Schuldig kam um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür um Ran vom Sitz zu helfen.
 

Was ihnen beiden schließlich auch recht umständlich gelang, denn Aya bestand darauf, nicht getragen zu werden, sondern auf Schuldig gestützt selbst zu laufen.

Komisch… warum erinnerte ihn gerade dieser Moment ganz plötzlich an den allerersten Weg in Schuldigs Wohnung? Den unfreiwilligen Weg damals? Weil er ebenso hilflos gewesen war? Doch auf eine ganz andere Art und Weise. Auch jetzt hatte er die beiden älteren Schwarz an seiner Seite, doch nun…

Nun vertraute er ihnen, wollte er den Gedankengang fortsetzen, doch eine Stimme in ihm, eine kleine Stimme sagte, dass er heute Abend gelehrt worden war, dass selbst der Partner in der Lage dazu war, ihn umzubringen.

Beinahe umzubringen.

Nein… das war die Verzweiflung gewesen.

Dennoch.

Es konnte wieder vorkommen.

Aya erschauerte und konzentrierte sich auf den Weg nach oben, denn das bot ihm wenigstens eine gelungene Abwechslung.
 

Wenig Abwechslung hatte dagegen Schuldig in seinen Gedanken. Er lief mit niedergeschlagenem Gemüt neben Ran her, bis sie in der Wohnung angekommen waren. Brad folgte mit etwas Abstand, denn er telefonierte mit Nagi um dessen Aufenthaltsort und dessen Befinden zu erfahren.

Schuldig dirigierte Ran in Richtung ihres Schlafzimmers, denn dort war es nicht ganz so chaotisch wie im Rest der Wohnung. „Soll ich dir etwas zu trinken holen?“
 

Das Schlafzimmer war Aya nicht so lieb wie der Wohnbereich, in dem er bei den anderen beiden hätte sein können, doch er war auch froh, auf das Bett gelegt zu werden. Er brauchte Ruhe und Schlaf, wollte aber Schuldig bei sich wissen.

„Und etwas zu essen?“, fragte er, seine behandschuhte Hand in Schuldigs lederne schiebend. „Außerdem wollte ich noch nach deinem Schnitt schauen.“

Ein leises Miauen unter dem Bett ließ ihn zusammenfahren, hatte er doch im ersten Moment nicht mit Banshee gerechnet. Doch als er sie rufen wollte, stob sie unter der Matratze hervor und lief in Richtung Wohnraum.
 

„Ich glaube die wird mich mindestens eine Woche mit würdeloser Nichtachtung strafen“, sagte Schuldig und blickte dem fliehenden Fellknäuel hinterher.

Er stand einen Moment untätig vor Ran. „Bin gleich wieder da, ich hol dir nur schnell was zu essen und du kannst es dir ja schon bequemer machen. Die Hand kann ich selber versorgen, bin ja auch selber Schuld dran. Mach dir keine Sorgen, das hast du schon zu Genüge heute.“ Schuldig knipste das kleine Licht in der Ecke an.
 

Bleib!, rief eine Stimme in Aya, eine andere jedoch verbot ihr das Sprechen. Nein, er brauchte Ruhe, noch eine weitere Nacht Schlaf, auf dass er diese Schwäche loswurde, die nun schon seit dem Dach des Parkhauses von ihm Besitz ergriffen hatte.

„Du hättest sie fast getötet…“, murmelte Aya beinahe lautlos, wen er damit meinte, war klar…Banshee, nicht wahr?

Oder sie beide, Banshee und ihn.
 

Schuldig hatte das Schlafzimmer verlassen und war nun in der Küche um Ran etwas zu Essen zuzubereiten. Ein kleiner Imbiss sollte es werden.
 

Brad hatte ähnliche Aussetzer von Schuldig in der Vergangenheit erlebt, schließlich hatte dieser in seiner letzten Wohnung aus gutem Grunde Sicherheitsglas in den Fenstern.

Nach einem kleinen Rundgang kam er zu Schuldig und nahm diesem das Messer aus der Hand. „Setz dich hin, ich übernehme das hier. Das ist doch nicht nur ein Kratzer in diesen Händen, oder irre ich mich.“ Brads Iriden sezierten Schuldigs zusammengesunkene Gestalt, die sich gerade auf dem Hocker platzierte.

„Nein“, sagte Schuldig und verzog die Lippen. „Die Handschuhe auszuziehen wird nicht lustig werden.“

Er zuckte mit den Schultern. „Aber das war der ganze Abend sicher auch nicht.“
 

Brad sagte nichts darauf und machte Ran das Sandwich, reichte es schließlich Schuldig weiter.
 

Kurz darauf wurde Aya das Sandwich gebracht und er stemmte sich umständlich hoch. Nur noch ein wenig Kraft, dann konnte er schlafen, nachdem er gesättigt war.

Sich Schuldig betrachtend, biss er langsam in das Sandwich, legte es auf den Teller. „Du gehst aber nicht weg, oder?“, fragte er misstrauisch, argwöhnisch gar. Nein… wie sollte Schuldig denn auch gehen? Crawford war doch hier.
 

„Mit Crawford hier als dreiköpfigem Cerberus?“, fragte Schuldig tatsächlich erstaunt über Rans Frage. Das schaffte niemand, auch er nicht, sich da davonzuschleichen.

Er hatte auch gar keinen Nerv mehr auf irgendwelche Manöver in diese Richtung. Es tat ihm alles sehr Leid.
 

Das Erstaunen tat gut, zeigte es Aya doch, dass Schuldig tatsächlich hier bleiben würde.

Er nickte leicht und vertilgte mit Mühe den Rest des Sandwiches, das Glas Wasser gleich hinterher. Erst dann legte er sich so, wie er war, auf die noch unordentlichen Decken und sah Schuldig von unten an.

„Lass uns morgen reden.“ Und sie würden viel zu reden haben. Sehr viel. Doch eines musste er heute noch klären.

„Du hast mich nicht vergewaltigt, Schuldig“, sagte er leise, denn er wollte nicht, dass es irgendjemand außer ihnen beiden hörte. Zudem schmerzte es, diese Worte auszusprechen.
 

Schuldig nickte und der Kloß der plötzlich in seinem Hals zu spüren war legte sich in einer feucht schimmernden Schicht über seine Augen. „Ja.“ Das war das einzige was er sagte bevor er das Licht dimmte, das Schlafzimmer verließ und die Tür anlehnte.
 

Vor der Tür atmete er tief ein, straffte sich und ging den breiten Flur entlang, der sich in das weitläufige Wohnzimmer ergoss und einen freien Blick auf die nun zerstörte Fensterfront bot. Schuldig blieb stehen und sah mit einem bedauernden Gesichtsausdruck auf das, was er da in seinem Wahn angerichtet hatte. Am besten, er räumte alles auf bis Ran aufwachte, sodass er sich nicht mehr so ganz schlimm an die letzten beiden Nächte erinnert fühlte. Die Tatsache, dass er ihn umbringen wollte konnte er mit einer kleinen Aufräumaktion jedoch nicht auslöschen oder die Schwere des Vorkommnisses mildern.

Die gazeartigen Vorhänge wogten auf als der Wind vom Meer hereinfegte. Durch die feine Gaze sah er Brads Gestalt auf dem Balkon stehen. Schuldig durchquerte das Trümmerfeld seiner Verzweiflung und kam zu den zerstörten Doppeltüren, die hinaus führten.

Der Mond war zwar nicht zu sehen aber in den Wolken reflektierte sich das Licht der Städte und legte einen kühlen diffusen Schein über alles.

Brad war ihm zugewandt, er lehnte am Geländer, sein Blick ging in Richtung Lichtermeer der Stadt und somit sah Schuldig nur Brads strenges aristokratisches Profil.
 

Schuldig wurde von dieser so ruhig dastehenden Gestalt angezogen und ging auf sie zu, bis Brad sein Gesicht ihm zuwandte und er neben diesem stehen blieb und sich diesen wissenden Augen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert fühlte.

Er sah in Richtung Wasser, welches dort schwarz und grau vor sich hin wogte. „Ich war völlig außer Kontrolle. Ich verstehe nicht warum ich diese Aussetzer habe und sie nicht besser unterbinden kann.“ Brad schwieg für lange Momente und Schuldig glaubte schon er würde diese selbstanklagenden Worte unkommentiert lassen, wollte er doch ein Gespräch, als Brad zu sprechen begann.
 

„Weil du sehr emotional bist. Das ist ein Teil von dir und den kannst du nicht unter Kontrolle zwingen. Es sei denn du gibst einen großen Teil von dir selbst auf. Was bleibt dann noch übrig?“

Das hatte sich Brad oft in den letzten Tagen gefragt. Was bliebe noch von Schuldig ohne seine Telepathie, ohne seine an Genialität grenzende Verrücktheit?
 

Schuldig zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, murmelte er verdrossen und zog eine mitleiderregende Schnute.
 

„Die Frage kann ich dir beantworten und ich denke, dass du selbst weißt, dass dann nicht mehr viel von deiner Persönlichkeit vorhanden wäre. Davon abgesehen, dass du gerade durch deine Emotionalität deine Wut in Bahnen lenken kannst, die weit weniger gefährlich für dich und für alle anderen sind.“
 

Schuldig wandte den Blick Brad zu. Ein zartes mit sich selbst sich versöhnendes Lächeln kreiste um seine Mundwinkel. „Du zählst erst mich auf und dann die anderen? Hört sich an, als gelte meine Sicherheit sehr viel in deinen Augen.“

Brad hob spöttisch die Braue. Schuldig erkannte dies sogar im spärlichen Licht.
 

„Ja. Ich weiß“, sagte Schuldig zerknirscht. Er wusste, was er Brad im Krankenhaus angetan hatte. Wut und Verletztheit hatte ihn beherrscht.
 

Brad sagte nichts dazu.
 

Schuldig machte einen halben Schritt auf Brad zu, fühlte die Arme, die sich um ihn schlossen und senkte die Lider als seine Stirn Brads Schulter berührte. Was bei Ran momentan nicht möglich für ihn war, weil er sich seiner Schuld und der daraus resultierenden Scham noch zu sehr ausgeliefert fühlte, geschah hier bei Brad: Er fühlte sich sicher und angenommen vor dem hohen Gericht seines Selbst. Schuldig hätte heulen können, so schlimm fühlte er sich, doch er riss sich zusammen. Brad und großes Geheule passte nicht zusammen.

Und dabei hatte er es sich mit Brad vor nicht allzu langer Zeit auch verscherzt. Dennoch hatte dieser ihm augenscheinlich verziehen. Doch in dessen Gedanken getraute sich Schuldig nur in Ausnahmen hinein. Er fürchtete dessen Angst vor ihm.
 

Nach ein paar Minuten, es hätte auch länger sein können hörte er und fühlte er Brads leise Stimme. „Was ist mit deinen Händen? Die Glasscheiben?“

Schuldig nickte lediglich und löste sich. Brad gab ihn frei. „Wir gehen ins Bad und ich sehe mir das an.“

„Nein… ich krieg das hin. Es dauert nur länger. Ich will nicht, dass du…“ So schnell wie Schuldig mit seinen Widerworten anfing so schnell wurden sie auch effizient im Keim erstickt. Allerdings mit einer wenig liebevollen Note. Schuldig fing sich eine Ohrfeige ein. Und das auch noch ohne Vorwarnung. Die übliche Brad-Art eben.

Auch wenn es nun absurd klang aber Schuldig rebellierte zwar innerlich gegen diese unfaire Behandlung, doch etwas wünschte sich Bestrafung, Kontrolle. Die Erinnerung an Gewohnheiten.

„Ich sage das nicht noch einmal. Ich seh mir das an. Du hast heute deinen Willen in ausreichender Form kundgetan und durchgesetzt. Verstanden?“
 

Schuldig bewegte seine Kiefer übertrieben und provozierend, sagte jedoch nichts. Er ging voraus in Richtung Badezimmer.
 

„Setz dich.“

Brad sah sich um. „Hinter der Tür, der Koffer dort“, half Schuldig ihm und freute sich diebisch, dass er Brad, dem großen Macher, doch noch helfen musste. Nach der Ohrfeige keimte schon wieder Rebellentum in ihm auf und er tat nichts um Brad zu helfen - dieser hatte ihm ja gesagt er solle sich hinsetzen.
 

Schuldig setzte sich rittlings auf die Bank in ihrem Badezimmer - die laut Ran jedes Bad haben sollte, also auch ihres - und Brad setzte sich ihm in der gleichen Pose gegenüber, ein Handtuch zwischen sie platzierend. Der Koffer war noch geschlossen und stand neben Brad auf dem Boden.

„Erst die Linke“, wies Brad ihn an und Schuldig hob die Hand. Er biss die Zähne zusammen als Brad ihm den Handschuh auszog und das verkrustete Blut welches schon angetrocknet war und sich nun ablöste, erneut die Schnitte aufriss. Seine Hand fing an zu zittern ohne dass er es wollte. Seine Finger sahen übel aus und seine Handinnenfläche nicht minder schlimm.

„Dafür hättest du noch ein paar mehr Ohrfeigen verdient.“ Schuldigs Hand zitterte so schlimm, dass er sie zur Faust bildete, bis Brad einen Weg fand um die glitzernden Glassplitter, die sich festgesetzt hatten aus seiner Haut zu holen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie mit unterschiedlichsten Hilfsmitteln und dem Auswaschen der Wunden die erste Hand versorgt hatten und Brad sich mit Akribie an die zweite machen konnte.
 

Schuldig beobachtete während der Prozedur Brads konzentriertes Gesicht. Er genoss den Anblick der konzentrierten Ruhe, genoss auch die Stimmung zwischen ihnen.

Seine Gedanken glitten zu Ran und er fragte sich ob Brad wohl mit ins Schlafzimmer kommen würde. Ob er dessen Nähe genießen durfte.

„Fährst du wieder?“, fragte er und stand auf, die Hände in weiche Baumwollhandschuhe eingepackt, damit die salbengetränkten Auflagen samt der Mullbinden nicht behinderten und an Ort und Stelle blieben.

Brad verräumte die Utensilien in den Koffer, während Schuldig die Ledermontur öffnete und aus dem Oberteil herausschlüpfte.

Brads Blick glitt kurz - wie zufällig - über Schuldigs freien Oberkörper, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte.

„Soll ich fahren?“
 

„Nein.“ Die Antwort kam schnell. „Ich…“ Schuldig hielt inne, der Reißverschluss seines Overalls bis knapp unter den Bauchnabel gezogen.

„Bleib hier. Ich fänds gut wenn ich dich in meiner Nähe hätte“, sagte Schuldig mit entwaffnender Ehrlichkeit, die ihm auch gleich zurückschoss als Brad den Koffer hochnahm und ihn zurück an seinen angestammten Platz räumte. „Ich bin nicht dein Aufpasser, Schuldig.“

Brad kam zu ihm und blieb eine halbe Armlänge vor ihm stehen, wusch sich die Hände am Waschbecken.
 

Schuldig besah sich den Amerikaner und knurrte missgelaunt. „Was soll ich denn sagen? Dass ich es geil fände, wenn du mit mir im Bett liegen würdest und ich im Schlaf wüsste, dass du bei mir bist? Oder, dass ich dich in meiner Nähe spüren möchte? Ist das besser?“, keifte er.
 

„Ja“, antwortete Brad und ein spöttisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht als er sich zu Schuldig wandte. „Das ist in der Tat besser.“ Schuldig kniff die Lippen beleidigt zusammen und zuckte zusammen als Brad - den er eigentlich nach dem Handtuch greifen sah - an seinem Reißverschluss zog und diesen bis zum Bauchnabel hochzog und zwar möglichst harsch, sodass seine Weichteile darunter auch noch etwas davon hatten…
 

o~
 


 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für's Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Gadreel & Coco

Erzengel

~ Erzengel ~
 


 


 

o~
 

Ayas Schlaf war unruhig gewesen, sehr sogar. Immer wieder war er zwischendurch aufgewacht, schier hochgeschreckt. Ihm war heiß und er schwitzte, kein Wunder, stellte er fest, da er seine Sachen noch trug. Sich in die Senkrechte kämpfend, entledigte er sich seiner Kleidung und pfefferte sie im Halbschlaf in eine Ecke des Raumes, nahm ebenso benommen wahr, dass noch jemand mit ihm im Bett lag.

Schuldig. Erleichterung durchströmte ihn warm.

Crawford. Crawford Aya konnte sich keinen Reim auf die Anwesenheit des Amerikaners in ihrem Bett machen, wenngleich er das Gefühl hatte, dass er es sollte. Demnach war es aber egal.

Sich wieder auf die nun kühlen Laken fallen lassend, glitt er zurück in den Schlaf, nun in einen sehr tiefen Schlaf.

Lange Zeit wurde er nicht wach, vielmehr glitt er in die aktive Traumphase, träumte von Dächern, weit über der Stadt, von Dämonen und Blut, sehr viel Blut. Er war das Blut, er floss, floss den Beton hinunter, die Stufen, das Dach. Er lief über den Abgrund… nein… er fiel, er fiel gen Abgrund, weil Schuldig… Schuldig hieß er, der Dämon, ihn hinuntergestoßen hatte.

Grüne Augen folgten ihm in seinem stummen Fall und er streckte blutige Arme aus, um gehalten zu werden, doch er wurde fallengelassen und Schmerz explodierte in seinem Rücken, in seiner Seite, in seinem ganzen Körper, als…
 

Keuchend kam Aya zu sich, tauchte aus dem Traum auf und fand sich auf dem Boden wieder, die Augen schreckensgeweitet, den Blick für einen Moment wild, bevor er in Ansätzen zur Ruhe kam.

Er war nicht tot.

Er war nicht mehr auf dem Parkdeck.

Er war in Sicherheit.

Sicherheit.

Sein Blick hastete zum Bett. Schuldig. Crawford.
 

Schuldig hatte den Abgang mitverfolgt, als er aus seinem leichten Schlaf hinüber zu Ran gegriffen hatte, dieser jedoch zu schnell über die Kante gerutscht war. Er beugte sich hinüber zu Rans Seite und streckte seine Hand aus um Ran an der Schulter zu berühren.

„Komm wieder rein, es ist alles gut“, wisperte Schuldig und strich Ran sanft über den Hals. Im Raum war es sehr dunkel, nur Brads tiefe Atemzüge zeugten davon, dass dieser schlief. Rans Atemzüge jedoch hasteten wie getriebene Pferde von dessen Lippen und Schuldig schob sich weiter über das Bett zu Ran, dessen Haare völlig zerzaust waren und dessen Blick deutliche Angst zeigte.

„Kommst du zu mir, hmm? Soll ich dir helfen“ Schuldigs Stimme war vom Schlaf rau und schuldbewusst leise.
 

Sicherheit…

Aya atmete tief ein und beruhigte seine schnelle Atmung mit reiner Willenskraft und eisigem Kalkül. Denk nach, denk ruhig und gelassen nach. Du kannst das, du musst nur analysieren, was passiert ist.

Aya stöhnte frustriert auf und raufte sich die Haare, als nun tatsächlich Ruhe und damit auch Wut auf sich selbst Einzug hielt. Sein Blick traf Schuldigs und er versuchte sich erfolgreich an einem Lächeln, während er Schuldigs Hand nahm und sie mit einem Kuss bedecken wollte, als ihm der Baumwollhandschuh auffiel.

Doch alles nacheinander. Den Handschuh mit einem leichten Kuss bedenkend, kroch er zurück ins Bett, zurück zu… den beiden.

Ein langer Blick zu Crawford erfolgte, bevor er sich wieder an Schuldigs Seite bettete und sich züchtig bedeckte.

„Wobei helfen? Sieht eher so aus, als müsste ich dir bei etwas helfen… deinen Händen zum Beispiel.“
 

Die Haare mussten herhalten um den Frust abzubauen, wie Schuldig mit einem kleinen verträumten Lächeln bemerkte.

Schuldig umfasste Rans Mitte, sobald dieser wieder im Bett war, zog ihn von der Bettkante in seine Richtung und an sich heran, bis er spürte, dass er an Brads Flanke mit seinem Ellbogen stieß.

Spätestens jetzt war dieser auch wach und stellte sich nurmehr schlafend.

„Meine Hände sind in Ordnung“, murmelte Schuldig an Rans Oberarm mit seinen Lippen gebettet und schloss die Augen, den Duft der Haut einatmend. Die vertraute Intimität - selbst mit Brad - lullte ihn ein.
 

„Sind sie nicht, du trägst Baumwollhandschuhe. Was da drunter ist, möchte ich gar nicht erst wissen“, grimmte er leise und zupfte an Schuldigs Unterarm, um näher an die Hände heran zu kommen.

Also hatte er gestern doch richtig gerochen. Es war viel Blut gewesen, das er da gerochen hatte.

Ayas Blick kroch über die schlafende Gestalt des Amerikaners, dessen Gesicht ihnen abgewandt lag, als könne dieser ihm Aufschluss darüber geben, was passiert war. Konnte er sicherlich, die Frage war nur, ob er es wollte.

Es war komisch, Crawford hier zu sehen, komisch, weil es so bekannt war.

Fast glaubte Aya, den warmen Körper des Orakels noch an sich zu spüren, der ihn damals gewärmt hatte. Doch jetzt sah er entspannt aus in der weiten, schwarzen Schlafhose, die er trug, mit der Decke, die ihm bis zu den Hüften hinab gerutscht war.
 

„Lass, darunter sind Verbände“, quengelte Schuldig und schob seine Hand aus Rans zupfender Neugierde über dessen festen Bauch um sie dort ruhen zu lassen.

„Ich habe die Scheiben zertrümmert, wie werden meine Hände wohl dann aussehen“, meinte er lapidar und verzog gleichgültig die Lippen.
 

Die rechte, der beiden roten Augenbrauen schoss anhand von Schuldigs Worten in die Höhe und kurze Zeit später folgte ihr auch die linke.

„Du hast WAS?“, fragte er entsetzt. „Wieso?“ Seine eigene Hand strich Schuldig über das Gesicht, die Haare, als müsse er sich versichern, dass noch alles dran und heil war.
 

Wieso…, meckerte Schuldig in Gedanken. Die Fragen aller Fragen.

„Ich dachte, das hättest du mitbekommen… die Scherben liegen immer noch im Wohnzimmer verstreut“, wich er etwas dem Kern der Frage aus.
 

Aya war gnadenlos, was Schuldigs Ausweichen seiner Frage anging. „Das habe ich gesehen, ja. Aber ich weiß nicht, warum du die Scheiben zerschlagen hast.“ Vorsichtig befühlte Aya die Hand, die auf seinem Bauch lag und tastete, ob sie warm war.
 

„Geht das auch etwas leiser“, fragte Brad im Halbschlaf und ein Seufzer war zu hören.
 

Schuldig machte große Augen ob dieses neuen noch nie gehörten Geräusches und lächelte wie ein Kind, das etwas ausgeheckt hatte.
 

„Geht“, flüsterte er und zwinkerte Ran zu. Dann jedoch wurde er wieder ernster und sein Blick verlor sich für lange Augenblicke in den Schatten des Zimmers, bevor er flüsternd antwortete.

„Ich weiß auch nicht, da war so viel Durcheinander in mir. Ich fühlte mich ungerecht behandelt und dann wusste ich, dass ich dir etwas Schreckliches angetan hatte und wollte mich bestrafen. Ich dachte, du könntest es ohnehin nicht und… naja so in etwa eben. Fensterscheiben sind früher oft ein Opfer bestimmter Ausbrüche bei mir geworden. Deshalb waren die in der alten Wohnung auch aus Spezialglas, wie du gut genug weißt.“ Schließlich hatte Ran mit Sicherheit den einen oder anderen Fluchtversuch gestartet.
 

Säuerlich traf Ayas Blick auf Schuldig.

„Ja, weiß ich sehr gut. Die Feldstudie, die ich an deinen Fenstern durchgeführt habe, war – wie soll ich sagen – sehr ausführlich“, wisperte Aya zurück. Er war schließlich verzweifelt gewesen, damals. Damals.

Aya platzierte einen sanften, zärtlichen Kuss auf Schuldigs Stirn, auf die Nasenspitze und dann auf die Lippen. Soviel Zeit musste sein.

Für etwas anderes war die Zeit allerdings genauso reif; und zwar, dass sich die linke Hand des rothaarigen Japaners unheilvoll hob, sich der Zeigefinger aus dem Fingerreigen herauskristallisierte und mit einer Zielsicherheit sondergleichen auf Crawfords ungeschützte Seite traf. Man hätte meinen können, dass Aya Crawford kitzeln wollte. Blitzschnell zog sich das impertinente Subjekt jedoch wieder zurück und versteckte sich bei Schuldig.
 

Schuldig dagegen schmuste mit seinen Lippen über Rans Wange.

„Hör auf ihn zu ärgern. Das krieg nur wieder ich ab“, maulte er, dabei stahl sich seine Hand an Rans empfindliche Seite und opferte zwei seiner angeschlagenen Finger um Ran seinerseits nun zu kitzeln. Noch bevor Ran ausbüchsen konnte und um ein wildes unnützes Herumzucken zu vermeiden legte sich Schuldig halb auf ihn und stellte seine Kitzelattacke ein.
 

Ein Grollen ertönte unter Schuldig und Aya versuchte nun seinerseits, Schuldig zu kitzeln, was nun aber in einem Schaukeln ausartete, von dem das ganze Bett ergriffen war und das Crawford sicherlich wach machte.

„Ich ärgere ihn nicht, das warst doch du!“, grinste Aya von unter Schuldig teuflisch. Oh ja, die Rache des Amerikaners war gewiss und Schuldig verga゚ vielleicht für einen Moment, was gestern geschehen war.
 

Oder dieser dachte da an weitere Ohrfeigen…

„Das glaubt er dir eh nicht, vergiss es. Ich würde ihn nie stören beim Schlafen!“, behauptete Schuldig flüsternd und glaubte sogar damit Recht zu haben. Brad schlafen zu sehen war etwas …nun es hatte Seltenheitswert für ihn.

„Jetzt sei still“, murrte er und sah Ran schmollend an. Die Anklage „Du bist gemein“ war deutlich in seinen Augen zu lesen.
 

Aya verschloss demonstrativ seine Lippen, während in seinen Augen der eindeutige Schalk stand, der durchaus als gemein zu bezeichnen war. Allerdings hielt er sich ruhig, machte keine weiteren Anstalten, den Amerikaner oder Schuldig oder beide zu triezen.

Es war das erste Mal, dass sie zu dritt in einem Bett lagen. Während Schuldig als tot gegolten hatte, hatte sich Aya das oft gewünscht, sehr oft sogar. Nun hatte er das, was er wollte und entgegen der Eifersucht, entgegen der Wut auf Schuldig und Crawford, die er vor zwei Tagen innegehabt hatte, war er nun ruhig und genoss die Persönlichkeiten, die hier aufeinandertrafen.

Seltsam.
 

„Tu nicht so als hättest du Ausdauer im Schweigen“, meinte Schuldig gelassen und streckte Ran die Zungenspitze langsam heraus, bevor er sich halb mit seinem Haupt auf diesen bettete und eines seiner Beine zwischen Rans schob. Die Decke wurde von ihm hochgezogen und seine Hände umschlangen den schlanken Körper. Er machte genießende Geräusche und küsste eine besonders weiche Hautstelle am Hals, als er nach oben blickte.
 

„Zumindest mehr als du“, erwiderte Aya und musste trotz allem lächeln. Schuldig hatte seine Angst ihm gegenüber aufgegeben, wie es schien. Gleichzeitig waren die Arme und Hände jedoch eine wirksame und sanfte Fessel um ihn von weiterem Schabernack abzuhalten, der Crawford aufwecken könnte.

„Nicht so laut… er könnte aufwachen“, reagierte er auf Schuldigs genießenden Laut und lachte leise.
 

„Er ist schon wach, er tut nur so, als ob er schläft“, wisperte Schuldig und schloss ebenfalls die Augen. Sein Ohr lag auf Rans Brust und er hörte den ruhigen Atemzügen ein paar Minuten zu.

„Es tut mir Leid. Alles.“ Er wollte jetzt nicht darüber reden. Nicht jetzt. Doch er fürchtete, dass Ran nicht locker lassen würde. Aber vielleicht hatte er ja Glück und Ran verschob die Standpauke bis später - wenn Brad nicht mehr anwesend war.
 

Das Glück war Schuldig hold, zumindest dieses Mal, denn Aya hatte Gnade mit ihm. Seine Lippen gruben sich in die weichen Haare des Telepathen und bedachten sie mit einem sachten Kuss.

„Ich weiß“, erwiderte er leise. „Mir tut es auch leid, dass ich dich dazu gebracht habe.“

Seltsam, dass es Aya gar nichts ausmachte, dass Crawford in diesem Moment zuhörte. Wirklich nichts. Es war… wie normal.
 

So wirklich hörte Brad allerdings nicht zu, nur die Intonation der Worte hörte er und empfand sie im grünen Bereich, deshalb interessierte ihn das Gespräch nicht mehr, als es sonst getan hätte - also gar nicht.
 

Schuldig dagegen lächelte erleichtert ob der Worte Rans und kuschelte sich noch mehr an, kroch schier in Ran hinein. Er schloss die Augen und ließ sich treiben. Aufstehen stand noch nicht zur Diskussion.
 

o~
 

Aya war gerädert. Nicht so gerädert wie zuvor, aber gerädert.

Gemeinsam hatten sie die Wohnung aufgeräumt, hatten alle Spuren des Exzesses getilgt. Fast alle, denn die Scheiben würden erst in drei Tagen eingesetzt sein. Wie gut, dass es Sommer war. Wie gut.

Schuldig hatte die letzten Stunden über jegliche Gelegenheit genutzt, ihm aus dem Weg zu gehen, einem Gespräch andere Tätigkeiten vorzuziehen, war es nun das Aufräumen oder das Staubwischen oder das Glasscherben aus der Couch puhlen oder oder oder... doch nun war die ganze Wohnung blitzblank und der Telepath würde wenig Gelegenheit haben, ihm zu entkommen.

Aya richtete sich auf und ließ seinen Rücken durchknacksen, sah sich nach Schuldig um, der ebenso schwer wie er auch am Arbeiten war.

Die letzten Scherben aus der Couch gezogen, schloss Aya nun die Mülltüte. „Feierabend für heute.“
 

Schuldigs Hintern ragte gerade - gut verpackt in seine Dolce & Gabbana Jeans - in die Höhe, als er unter Rans Couch die letzten Glassplitter aufsaugte. Er stellte den Staubsauger ab und richtete sich halb auf. Er machte ein fragendes Gesicht, da er nicht die Bohne von Rans Worten verstanden hatte. Doch dieser sah mit seiner Müllsacktrophäe aus, als würde er bald die Segel streichen wollen. „Hast du was gesagt“
 

Mit Schuldigs Hintern zu sprechen war schon schön, aber dessen Gesicht war eindeutig schöner.

Aya lächelte.

„Ja, ich sagte, dass wir Feierabend für heute machen sollten, sobald hier keine Splitter mehr sind. Was meinst du Dann können wir uns gemütlich hinsetzen und reden.“

Das böse Wort, er hatte das böse Wort gesagt. Mal sehen, wie schnell Schuldig ihm davonrannte.
 

Schuldig setzte sich auf seinen gutbekleideten Hintern und nickte. ‚Gemütlich’ und ‚Reden’ passte momentan für Schuldig nicht so gut zusammen, dennoch es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. „Ich räum das Ungetüm hier nur schnell auf.“ Und dann konnten sie reden. Ihm grauste irgendwie davor.

Er raffte sich auf und begann damit den Staubsauger zu verstauen.
 

„In Ordnung.“

Aya machte sich daran, seine Tüte in die Küche zu tragen und dort noch eine Kanne Tee aufzusetzen. Zusätzlich dazu hatte er im Laufe des Tages, aus ihren noch vorhandenen Vorräten, kleine Häppchen geschneidert. Zumindest für ihr leibliches Wohl sollte gesorgt sein, wenn die Themen sie schon belasteten.

Er holte die beiden großen Teller aus dem Kühlschrank und brachte sie ins Wohnzimmer.

„Möchtest du sonst noch etwas“
 

„Bier!“, meldete Schuldig prompt aus dem Flur an und seufzte für sich in der Abstellkammer, stellte den Staubsauger ab und besah sich den Teil ihrer Schuhgalerie, der hier seinen Platz gefunden hatte. Sie hatten viele Schuhe, vor allem ein gut gezimmertes Sortiment an speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Stiefel.

Schuldig zog eine gequälte Grimasse und verließ die Abstellkammer wieder um zu Ran zurückzukehren.
 

Also ging Aya noch einmal zum Kühlschrank und holte für Schuldig eine Flasche Bier heraus. Wenn sich der andere damit wohler fühlte... wer war er, Schuldig dies zu verneinen Schließlich waren die Themen, die sie nun besprechen würden, schlimm genug.

Der Tee war dann auch fertig und Aya ließ sich auf das nun wieder von sämtlichen Glassplittern befreite Sofa fallen, zog ihnen beiden zwei Decken heran.

Es dauerte nicht lange, dann kam Banshee zu ihm, die vor ein paar Stunden von Crawford gefüttert worden war, nachdem sie ein solches Theater veranstaltet hatte, dass ihnen dreien kein Schlaf mehr gegönnt gewesen war.

Interessant, wie sich der Amerikaner in ihre Lebensweise einfügte.

Ein leises Miauen holte ihn aus seinen Gedanken zurück und er hob sie auf seinen Schoß, wo sie sich schnurrend anschmiegte. Mit Schuldig hingegen war es so eine Sache...
 

Schuldig setzte sich zu Ran in seine Lieblingsecke in den Schneidersitz und beugte sich zu den Fressalien. Ein paar Teriyakispieße und ein wenig Glasnudelsalat wanderten auf seinen Teller. Als er sich häuslich und bequem eingerichtet hatte blickte er Ran erwartungsvoll an.
 

Und begegnete erst einmal Banshees Fauchen, die Schuldig momentan weniger leiden konnte als alles andere. Doch das würde sich gegeben.

Aya strich ihr beruhigend über ihr weiches Fell und gemahnte sie flüsternd zur Ruhe.
 

„Hab ich dich jetzt vertrieben“, fragte Schuldig leise.

Der rothaarige Japaner nahm die Tasse zu sich und trank einen Schluck des Tees. Seine Augen taxierten Schuldig genauestens. Daher wehte also der Wind… Schuldig war nicht schüchtern, er hatte ANGST, dass er – Aya – ihn verließ. „Wäre ich hier, wenn du mich vertrieben hättest? Hätte ich nicht noch heute die Gelegenheit genutzt um wegzugehen, wenn ich es gewollt hätte? Außerdem lag es doch in deinem Bestreben, mich zu halten… nicht mich von dir weg zu treiben, oder nicht?“

„Heute Nacht wärst du nicht weggegangen. Es sei denn, du wärst jetzt aufgestanden, hättest geduscht und wärst dann gegangen. Ich …“, Schuldig wandte den Blick von den sezierenden Augen ab, die ihn auseinanderzunehmen schienen.

„…weiß nicht, ob du nicht immer noch gehst. Deine Entscheidung ist noch nicht gefallen. Und das, was ich getan habe, war nicht nach deinem Willen. Ich habe das getan, was Kitamura getan hat, um etwas zu erreichen, was Kitamura auch getan hat.“ Sein Blick ging ins Leere und seine Worte waren ebenso mit wenig Emotion gefüllt.

Aya legte seine Hand um Schuldigs Kinn und zog es in seine Richtung zurück.

„Du hast mich nicht vergewaltigt“, sagte er schlicht, als er Schuldigs großes Problem erkannte. Er verstand, warum Schuldig das dachte, doch er selbst dachte nicht im Leben daran, Schuldigs Vorwürfe zu teilen.

Schuldig schauderte und entzog sich Ran. Er durfte nicht zulassen, dass der Kloß in seinem Hals und die Enge in seiner Brust sich entluden, wenn er länger in Rans Gesicht blickte. Wieder sah er zum Fenster hinaus. „Ich dachte… es wäre nur der Anfang… nur der Anfang wäre schwer und belastend und… später würde ich erkennen können, dass du es magst, aber…“ Er blinzelte, schluckte und setzte sich auf, dabei tief Luft holend. Ja so war es besser. Besser als wenn er heulte. Nichts da!

„…aber es dauerte einfach zu lange. Erst zum Schluss hatte ich den Eindruck gewonnen, dass du es vielleicht gemocht hast. Aber… ich bin mir immer noch nicht sicher. Es hätte auch Resignation sein können. Es war immer das gleiche“, Schuldig schüttelte den Kopf und zupfte an seiner Bandage am Handgelenk herum, sah auf seine in Baumwollstoff gehüllte Hand hinab um sich abzulenken.

„Am Anfang mochtest du es nicht und irgendwann hast du resigniert und dein Körper reagierte unweigerlich darauf und dann kannst du nicht mehr entkommen.“ Er verstummte und runzelte die Stirn. Das waren zwei Dinge… er… vermischte Ran… mit seiner eigenen Vergangenheit. Aber… war es nicht ebenso gewesen Ran hatte nie gesagt, dass er weiter machen sollte, irgendwann… hatte er aufgehört sich zu wehren, aber sagte dies etwas darüber aus, ob er es wollte? Und hier ging es um den freien Willen.

Es spielte keine Rolle ob Ran körperlich darauf reagiert hatte, denn nur der Geist war frei. Der Körper war ihm unterjocht.

Schuldig sah über diesen Gedanken mit Kummer im Gesicht auf. „Ran, ich habe dich vergewaltigt. Das lässt sich nicht weg reden.“

Aya schwieg.

Jede Regung, jedes Anzeichen von sich verändernder Mimik und Gestik beobachtete er und analysierte es. Sie saßen beide auf einem Pulverfass, das in den nächsten Minuten hochgehen konnte, wenn dieses Gespräch falsch verlief.

So wählte er seine Worte bewusst vorsichtig und bedacht, ließ sich nicht von seiner Wut leiten, die Schuldig am liebsten einen Kinnhaken verpasst hätte.

„Als ich mir den Apfel geschnitten habe, wollte ich nicht, dass du mich anfasst. Ich wollte nicht, dass du mich fesselst und mich dominierst. Ich war wütend, weil ich wiederkam und du nicht da warst. Wütend, weil ich von eurem Kuss wusste und in dem Moment Angst hatte, dich zu verlieren.

Hätte ich jedoch letzten Endes durch die Wut hinweg nicht gewollt, dass wir miteinander schlafen, dann hätte ich dir das gesagt. Mehrfach. Du glaubst doch nicht, dass ich einfach so resigniert hätte“

Es war eine dünne Linie zwischen gewaltsamen Sex und Zwang, das wusste auch Aya, doch für ihn hatte trotz allem Zwang, trotz aller Dominanz des anderen immer noch die Möglichkeit bestanden, das Ganze zu einem Halt zu bringen.

Seine Augen suchten die des anderen. „Du wolltest mit deinem Handeln etwas zum Ausdruck bringen und das hast du geschafft.“

Schuldig spürte seine eigene Labilität und sah sie auch als seine Hände sich seinem Gesicht näherten und er es vor Ran verbarg. Er wischte sich über die Stirn, verzog den Mund zu einer schmerzenden Grimasse. „Ich kenne nur die Möglichkeit zu resignieren“, beantwortete er die Frage murmelnd.

Er senkte die unruhigen Hände wieder. Ran… hatte verstanden was er ihm damit hatte sagen wollen Mit dieser von ihm auf den anderen ausgeübten Dominanz…

„Kitamura hat dir andere Dinge angetan als du mir. Du hattest einzig und allein die Möglichkeit zu resignieren.“ Schuldig war von dem älteren Mann aus reinem Sadismus gefoltert worden… beides traf auf den gestrigen Abend nicht zu. Schuldig hatte ihn gequält, das stimmte, aber immer mit dieser einen verzweifelten Absicht dahinter, immer mit dem bindenden Charakter.

Aya brauchte keine telepathischen Fähigkeiten um die Frage in Schuldigs Augen zu lesen.

„Ich denke, dass du mich nicht verlassen wirst und genau das wolltest du mir damit gestern mitteilen.“ Er lächelte und strich Schuldig über die Wange.

„Aber wenn du mich noch einmal fesselst, dann bringe ich dich um, hast du mich verstanden“, fügte er ruhig und ernst an, seine Augen nichtssagend.

Als Schuldig geistesabwesend nickte, wie der verlorene Junge, der einen Kanten Brot gestohlen hatte und versprach das nie wieder zu tun, denn ansonsten würde er seinen Kopf an die Guillotine verlieren.

„Ja, das tust du.“

Ihm war kalt.

Und er wusste mit diesem letzten Satz, den Ran ihm gesagt hatte, dass er einen nicht wieder gut zu machenden Fehler begangen hatte.

Rans Dominanz drückte ihn im hier und jetzt zusammen. Sein Inneres wich vor Ran zurück. Er fühlte sich nicht in der Lage diesem Blick und diesen Worten standzuhalten. Nicht mit diesem schlechten Gewissen, dass ihn plagte. Und nicht mit dem was danach geschehen war.

Wiederum fing Aya Schuldigs Blick ein.

„Ich will nicht, dass du meine Worte nachsprichst, sondern, dass du mir versprichst, es nie wieder zu tun. Denn das heißt, dass du aktiv in diesem Prozess drinsteckst, genauso wie ich selbst.“ Aya rückte etwas näher.

„Zu dem, also zu unserer Bindung, die du mir gestern hast verdeutlichen wollen, mochte es gepasst haben, aber ich mag sie immer noch nicht und ich will nicht, dass es noch einmal dazu kommt, in Ordnung“ Im Gegensatz zu vorher waren seine Augen eindringlich.

„Das heißt nicht, dass ich dir das, was gestern passiert ist, auf alle Ewigkeit vorhalten werde… nein. Ich habe verstanden, dass du mich nicht alleine lassen willst und ich bin dankbar, dass du es auf einem Weg getan hast, den ich verstanden habe. Die Unsicherheit hat mich fertig gemacht.“

„Ich verspreche, dass ich dich nie wieder fesseln werde und dass ich das nie wieder tun werde“, Schuldig nickte erneut zur Bekräftigung. Er hätte jetzt alles getan um die Scham in seinem Inneren und die Schuld Ran gegenüber zu bekämpfen.
 

Er fühlte sich angeschlagen, kraftlos, aber der Kloß im Hals war nicht mehr ganz so drückend. „Ich habe dir schon einmal versprochen es nie wieder zu tun und… damals…“, damals hatte Ran ihm auch gesagt er würde ihn töten.

War es Rans Schutz… diese Drohung

„Ja, das Thema hatten wir schon einmal“, erwiderte Aya nachdenklich und sein Blick glitt auf die Couch. Er schwieg ein paar Momente lang. Doch gestern war es anders gewesen als beim ersten Mal. Beim ersten Mal war es feindliche Gewalt gewesen und negative Dominanz. Sadismus auch… und einfaches Vergessen, doch nun hatte Schuldig sich überwunden und es als Mittel für einen Beweis gebraucht.

Ein Beweis, der für ihrer beider Liebe sprach. Für ihre Verbundenheit.

Zumal Aya ohne Fesseln Schuldig angegriffen hätte im Zuge seiner bodenlosen, ungerechtfertigten Wut. Es war zu verzeihen… dieses eine Mal noch. Ein drittes Mal würde er eine gewaltsame Fesselung jedoch nicht mehr verzeihen.
 

Er seufzte und warf einen Blick hinaus in den beginnenden Abend.

„Bleibt jetzt nur noch der Tag danach.“ Ein bitteres Lächeln umspielte Ayas Lippen.
 

„Ich wollte dich umbringen, was gibt es da zu besprechen, Ran“, fragte Schuldig nach, den Blick immer noch stoisch auf Ran gerichtet, die Stimme wieder gefestigter. Die Sprache kam nun zu dem beinahe geschehenen Kapitalverbrechen und Schuldig fühlte, wie sich die trügerische Kälte in seinem Inneren ausbreitete.
 

„Du sagst es, als würde es dich gar nicht tangieren“, sagte Aya und Schmerz stand deutlich in seinen Augen. Ihn hatte das Ganze sehr wohl schockiert, sehr sogar. Er sah immer noch die Augen über sich, die funkelten, die Hand, welche zitterte und ihn fallen zu lassen drohte.
 

Schuldigs Blick flackerte, doch er konnte sich beherrschen.

„Glaubst du, dass dem so ist?“ Für ihn wog seine Tat sehr schwer und er würde sie sich nie verzeihen. Nie, egal, warum es dazu gekommen war. Für ihn gab es keine Diskussion darüber.
 

„Ich hoffe es nicht. Aber ich will nicht, dass es zwischen uns steht, was passiert ist. Ich will, dass du dir nicht die Schuld dafür gibst. Das warst nicht du, oder zumindest doch, aber dein verzweifelter, hassender Teil.“ Dass Aya eine Weile noch damit zu kämpfen haben würde, war nur wahrscheinlich, doch er wusste, dass er es schaffen konnte, wenn er es nicht wieder in sich hineinfraß.
 

„Darauf hast du keinen Einfluss. Das muss ich mit mir selbst ausmachen.“ Schuldig nahm einen Schluck des kühlen Bieres.

Er hielt Rans Blick für einen Moment noch fest, sah dessen Unsicherheit darin und blickte wieder hinunter zu der Bierflasche, dessen Etikett bereits halb von ihm abgepuhlt war.
 

„Und du denkst, ich bin dadurch nicht betroffen, wenn du es mit dir selbst ausmachst“, fuhr Aya auf, beruhigte sich jedoch wieder. Es brachte nichts, nun laut zu werden, zu schreien oder ähnliches.

Er sah ebenso wie Schuldig auch das Etikett. Wenigstens zeugte das davon, dass Schuldig nicht gänzlich so emotionslos war, wie Aya dachte.

„Was hast du in dem Moment empfunden?“
 

„Oh man“, rief Schuldig plötzlich genervt aus und wandte sich entsprechend ruppig von Ran ab. „Was soll das, Ran? Wie soll ich mich schon gefühlt haben? Halbwahnsinnig Gibt’s das überhaupt als Gefühl? Beschissen habe ich mich gefühlt. Oder sah ich so relaxt aus?“ Seine Hand löste sich von der Flasche und er wischte sich zitternd über das Gesicht, die Haare nach hinten.
 

„Verdammt noch mal!“

Banshee hatte sich schon bevor Aya nun auf Schuldig losging, von seinem Schoß verabschiedet, war in Sicherheit gesprungen.

Aya wiederum kam zu Schuldig, kam über ihn und riss ihn herum, kniete sich über ihn, die Augen vor Wut brennend.

„Nein, das tust du NICHT, aber ich versuche die ganze Scheißsituation zu entwirren und das Beste daraus zu machen, weil ich ANGST hatte, ANGST vor DIR! VERDAMMT!“
 

Schuldigs mühsam aufrecht erhaltene Miene bröckelte und fiel in sich zusammen, als er in Rans Gesicht über sich blickte. Seine Augen füllten sich mit bedauernden Tränen, während er seine Hand an Rans Gesicht schlängelte und dessen Wange berührte.

„Ich… weiß doch“, seine Stimme brach. „Das… das weiß ich doch, Ran.“ Sein Kopf suchte Nähe an Rans Brust, wo er seine Stirn anlehnte und die Tränen dem inneren Druck ein Ventil boten. „Ich weiß… es doch. Ich weiß es doch.“
 

Schuldigs Tränen waren schlimm, doch sie waren auch heilsam, denn das, was der Telepath ihm gerade gezeigt hatte, war nichts als eine Fassade gewesen. Rein gar nichts anderes.

Die aggressive Haltung von gerade aufgebend, setzte sich Aya auf Schuldigs Schenkel und umarmte den anderen, umarmte ihn fest.
 

„Ich weiß nicht mehr was ich tun soll. Ich dreh ab, flippe aus, wenn… früher war das auch so, nur… jetzt bist du in der Schusslinie. Das ist so abgedreht.“ Schuldigs Stimme verlor sich.

Er hatte das Gefühl den Halt zu verlieren und mehr denn je verspürte er den Drang und den Wunsch sich in Gedanken abzuseilen. Dem Problem in sich zu entfliehen. Ran hielt ihn im Hier und Jetzt, hielt ihn in seiner Schuld.
 

„Was hast du früher getan, wenn so etwas passiert ist Hast du dich eingeschlossen, die Leute um dich herum gemieden, was? Was können wir jetzt tun, damit es dir besser geht, Schuldig?“Rans Blick fiel auf den Ring an der Kette, den er nun schon seit beinahe anderthalb Tagen trug und nach dessen Herkunft er Schuldig schon längst hatte fragen wollen, aber bisher nie dazu gekommen war.

„Was kann ich tun“
 

Schuldig schüttelte den Kopf, hob ihn und legte seine Wange an die weiche Struktur von Rans Oberteil.

„Es ist vorbei. Ich hätte vorher weggesperrt gehört. Irgendwohin wo ich keinen Schaden anrichten kann. So etwas wie den stillen Raum, wo mich niemand hört und sieht.“
 

„Es ist nicht vorbei, Schuldig. Wir denken beide noch an das, was geschehen ist und daran müssen wir arbeiten.“

Aya pustete auf Schuldigs Haare und grollte leise.
 

„Ja, aber du kannst doch nichts erzwingen, verdammt! Nur weil es von der psychologischen Seite her das Richtige wäre etwas zu verarbeiten, hei゚t das nicht, dass das sofort nach dem Ereignis am nächsten Tag sein muss. Warum bist du so penetrant und versessen darauf? Du kannst das nicht ‚mal schnell regeln’. Gib mir doch einfach Zeit.“ Schuldig verstand nicht, warum Ran ihn so drängte.
 

Aya schob sich etwas von Schuldig ab und betrachtete den anderen für einen Moment schweigend.

„Ich bin so versessen darauf, weil ich gesehen habe, was passiert, wenn man es aufschiebt“, erwiderte er ruhig und ließ sich nun neben Schuldig auf die Couch sacken. Er hatte gesehen, was er sich selbst antat, wenn er Dinge in die letzte Ecke seines Bewusstseins schob.

„Aber ich kann und will dich nicht zwingen. Wenn du nicht darüber sprechen möchtest, dann reden wir über etwas anderes. Diesen Ring hier zum Beispiel.“
 

Schuldig zog die Beine an und schlang seine Arme darum, das Bier nach wie vor in der Hand. Er ignorierte die Frage nach dem Schmuckstück wohlweislich.

„Was willst du denn von mir hören? Dass es mir leid tut? Klar tut es das. Doch das zu sagen macht diese Tat nicht ungeschehen, oder leichter für dich. Es nimmt dir auch nicht die Unsicherheit oder Angst oder das Misstrauen mir gegenüber. Was also soll ich sagen zur Verarbeitung des Ganzen? Ich wei゚ nicht, was ich sagen soll.“
 

Ja, was genau brauchte Aya?

Er wusste es selbst nicht so ganz genau. Das Einzige, was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass es nicht unausgesprochen zwischen ihnen stehen bleiben konnte. Außerdem... was sollte er Soziopath, der noch nie gut in zwischenmenschlichen Dingen gewesen war, schon einen völlig ausgereiften Plan haben, wie sie die Sache angingen

Aya seufzte schwer.

„Ich habe absolut keine Ahnung“, gestand er nun laut ein und starrte auf die untergehende Sonne.
 

Schuldig hatte das Kinn auf seine Knie gelegt und hob nun den Kopf und wandte sein Gesicht Ran zu. „Wie soll ich dann eine haben“, fragte Schuldig leise.

„Ich weiß überhaupt nicht, was ich jetzt tun soll. Das ist, als würden wir wieder von vorne anfangen“, murmelte er und beugte sich vor um die Flasche abzustellen.
 

„Dann lass uns doch von vorne anfangen“, erwiderte Aya recht hilflos und bedachte Schuldig mit einem Seitenblick. Er zuckte mit den Schultern. „Du hast mir gezeigt, dass du mich nicht verlassen wirst und du hast mir Angst eingejagt... ich weiß nicht, was ich daraus machen soll. Jetzt noch nicht. Vielleicht nie.“
 

„Warum willst du dann von mir genau dieses Wissen erzwingen? Ich weiß auch nicht, was ich daraus machen soll.“ In gewisser Weise wusste er es schon, aber es endete wohl wie so vieles in einer Sackgasse.

Schuldig schwieg betreten. Er fühlte sich nach wie vor scheiße. Sogar fremd in Rans Nähe. Er hatte Angst ihn zu berühren, ihn direkt anzublicken, ihm in die Augen zu sehen. Er schämte sich. Und diese Scham, die aus der Schuld geboren war ließ sich nicht mit ein bisschen Reden wieder auslöschen.
 

Die Resignation in Schuldigs Stimme ließ Aya schweigen.

„Wir waren beide verzweifelt die letzten Wochen über. Es ist verständlich, dass du dich entschlossen hast, eben jenes Mittel der ultimativen Bindung und des Vertrauens zu nutzen… was dich nicht davor retten wird, für die nächsten beiden Monate das Bad zu putzen“, sprach der liebevolle Geschäftsmann aus Aya.

Schuldig sah auf, beinahe hoffnungsvoll, aber nur beinahe. Seine Mundwinkel zuckten. Seine Augenbraue ebenfalls. „Zwei volle Monate“, versuchte er den Fassungslosen zu spielen. Es gelang ihm nicht ganz, denn die Erleichterung war ihm anzuhören und anzusehen. Er sank förmlich in sich zusammen.

Die Angst aus Schuldigs Augen war verschwunden…

Das sah Aya erst jetzt, als er die entspannteren Züge des Mannes vor sich bemerkte. Er hatte ihm gedroht, ihn zu töten, seinen Partner zu töten, wenn er ihm noch einmal Angst machte und Erinnerungen hochkommen ließ, die für Aya immer noch ein Trauma waren.

Youji hatte ihm nicht nur einmal das Wort Soziopath an den Kopf geworfen und Aya hatte es damals angenommen. Damals war er für sich alleine gewesen, nicht zu zweit. Damals war er überzeugt davon, niemanden nahe genug an sich herankommen zu lassen, dass er sich verletzlich zeigen würde.

Doch Schuldig hatte ihn verletzlich gemacht und das nicht ausgenutzt. Was also hatte da aus ihm heraus gesprochen

Der Soziopath.

Aya seufzte. Er hatte seine Drohung ernst gemeint, das wusste er. Doch war sie überhaupt verhältnismäßig Gab es nicht noch andere Wege

„Du klingst erleichtert. Dir reichen also zwei Monate nicht Du kannst auch das ganze nächste Jahr übernehmen“, erwiderte Aya schließlich stirnrunzelnd. Zeit, sie beide aus den dunklen Gedanken heraus zu lösen.

Auch mit dieser „Strafe“ wäre Schuldig zufrieden gewesen, aber wenn er dies zeigte, dann würde Ran vielleicht noch etwas anderes Unangenehmes einfallen. Aber… er konnte nicht anders als erleichtert sein. Sein Gesicht spiegelte nun einmal viel zu oft viel zu viel seines Innenlebens wider.

Er schüttelte den Kopf, brachte aber ein Lächeln zustande.

„Das ist schlimm genug.“ Sein Kopf fühlte sich nach dieser emotionalen Anstrengung leicht und schwerelos beinahe an. Sein Körper dagegen schwer und müde. Die vergangenen zwei Tage waren schlimmer als nach einem Auftrag für ihn gewesen. Jetzt, da die Angst von ihm fiel, leuchteten seine Augen schier und in seinem Bauch kribbelte es vor Aufregung, dass Ran nicht mehr ganz so böse auf ihn war. Dass er bei ihm bleiben würde. Der Dämpfer, der dem Ganzen aufsaß und ihm sagte, dass Ran ihm nicht vertraute, da er diese Drohung nicht ausgesprochen hätte, diesen Dämpfer schob er beiseite. Der Mull aus seinem Verband war stellenweise aufgedröselt und die weißen Flusen hatten sich auf die Couch verteilt, aber er konnte seine Hände nicht ruhig liegen lassen, aus dem einfachen Grund, dass sie nicht liegenbleiben würden.
 

„Komm her… ich möchte dich umarmen“, sagte Aya, aber anstelle schließlich zu warten, kroch er selbst zu Schuldig und zog den Telepathen zu sich. Schuldig hatte ihm Verbundenheit versprochen mit seinem gestrigen Handeln, also würde Aya die auch einfordern.

„Ich hätte gestern nicht wütend sein sollen… ich hätte dir vertrauen sollen“, murmelte er an die Halsbeuge Schuldigs und seufzte.

Schuldig nickte, bettete seine Wange an Rans Haar.

Hatte Ran das schon einmal so gesagt? Dass er ihn umarmen wollte? So bewusst? So direkt?

Schuldigs Dämme brachen und seine Arme legten sich mit den dazugehörigen zitternden Händen um Ran und er klammerte Ran an sich.

Er war glücklich und er bemerkte nicht, wie ihm Tränen in die Augen traten.

Welch ein Kontrast zu Schuldigs gestrigem Verhalten… es zeigte wie nichts zuvor die Verzweiflung, die den anderen erfasst hatte.

Aya bemerkte die Tränen sehr wohl, kommentierte sie aber nicht. Er barg Schuldig an seinem Körper und seine Wange fand ihren Weg auf Schuldigs Haar und bettete sich zur Ruhe dort.

So schwiegen sie einige Zeit, bis Aya durch eine Bewegung an seinem Hals darauf aufmerksam wurde, was er noch vergessen hatte. Aya nahm langsam den Ring ab, samt Kette ab, der um seinen Hals gebaumelt hatte und ließ ihn vor seinem Auge schwingen.
 

„Da ist mein Name eingraviert.“
 

Schuldig holte tief Luft und schob Ran ein wenig von sich weg. „Da steht Ran drauf.“ Ein lausbubenhaftes Grinsen erfasste sein Gesicht und wischte die Verzweiflung weg. Auch wenn es komisch aussah, da das Grinsen zwar echt wirkte, die Tränen auf den Wangen allerdings noch in Restfeuchte vorhanden war.

Er hatte sich wieder gefangen und schnippte gegen den Ring, der von der Kette baumelte.

„Schon probiert ob er passt?“

„Nein, noch nicht.“

Aya fing den Ring ein und betrachtete ihn sich. Er löste den Ring von der Kette, steckte ihn sich an den rechten Ringfinger. Er war zu groß… schlackerte ein wenig.

„Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen“, fragte er mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen.

„Ich fürchte, ein Schlechtes.“

Schuldig zog ein kritisches Gesicht. Er zog einen seiner Handschuhe vorsichtig herunter, schob die schmale Bandage gen Hanggelenk und streckte Ran eine Hand hin. Die Salbe, die er heute Morgen aufgetragen hatte war eingezogen und nun waren lediglich die roten, offenen Schnitte zu sehen. „Probier mal da, einer muss ja passen!“

Er sah Ran breit lächelnd und erwartungsvoll an. Sein Gesicht schrie förmlich: Los mach, mach!

Aya blickte seine Hand an, dann Schuldigs und dann Schuldigs Gesicht und der Groschen fiel. Der Ring war gar nicht für ihn…

Er steckte Schuldig den Ring an seinen rechten Zeigefinger und sah hinauf in höchst freudige, grüne Augen, die ihn anstrahlten.

Aya erwiderte dieses Lächeln. „So… und nun?“

„Und nun…“ Schuldig hob sich leicht und seine Hand schlüpfte in seine Hosentasche, holte den gleichen Ring hervor, nur war dieser etwas kleiner im Durchmesser. Er steckte ihn Ran an den Finger. „Ich glaube, der passt wie angegossen, hmm“ Schuldig konnte den Blick gar nicht von Rans Finger lassen, als er ihn endlich aufgesteckt hatte.

Das ging Aya genauso.

Genauso wie Schuldigs Ring war auch seiner in schlichtem Weißgold, einfach passend… es war...ein Ring. Ringe, die sie sich gerade angesteckt hatten. Sie hatten sich Ringe angesteckt. Aya durchfloss ein derart warmes Gefühl, dass er meinte, gleich in Tränen ausbrechen zu müssen.

„Ja, der passt“, nickte er, zog ihn jedoch gleich darauf ab. Wenn sein Name in Schuldigs Ring graviert war… was stand dann bei ihm

Eine sehr gute Frage.

Das eine war zweifelsohne Deutsch… das andere konnte er nicht wirklich entziffern. Er runzelte die Stirn.

„Was steht hier?“
 

Der Kater war neugierig!

Schuldigs Grinsen milderte sich zu einem Lächeln und er legte sich zurück auf die andere Seite der Couch, Ran die Beine um die Hüfte schlingend.

„Deine Gedanken sind frei.“

Er zuckte die Schultern. „Ein sehr altes Lied aus meiner Heimat. Es heißt eigentlich „Die Gedanken sind frei.““

„Oh.“

Mehr fiel Aya wirklich nicht dazu ein… es stimmte perfekt. Seine Gedanken waren frei, doch genauso wie die seinen waren es auch Schuldigs in seiner Gegenwart, da Schuldig ihn nicht lesen konnte und er… seine Freiheit besaß.

Das Thema hatten sie schon Desöfteren besprochen und es hatte seine Manifestation in dieser kleinen Zeile gefunden, die doch so viel mehr aussagte.

Nun war es an Aya, wirklich gerührt zu sein und zu schlucken.

„Wie schön…“

Sein Blick wanderte weiter zu dem Zeichen was sich dort anschloss… oder als erstes stand… das war kein Kanji, aber auch kein deutscher Buchstabe… ineinander verschlungene Linien.

„Und was heißt das?“

„Ach das…“ Schuldig zögerte. Ran war gerührt, das sah und hörte er an Blick und Stimmlage des Japaners.

„…nur eine Verzierung.“

Das war zu nonchalant um zu stimmen!

Doch nicht nur das!

„Bei dir steht aber MEIN Name… dann kann das doch keine Verzierung sein!“, maulte Aya und rückte Schuldig ein wenig näher. „Außerdem ist dein Ton zu harmlos. Also los, was ist das?“

Vermutlich lag es daran, dass Schuldig eine Spur zu harmlos gewesen war, vermutete er.

„Also gu~ut“, gab er sich geschlagen und seine Mundwinkel hingen trotzig herab und seine Lippen schoben sich entsprechend - auch dem Trotz geschuldet - vor.

„Die Initialen meines Namens.“

„Also sind das Buchstaben“, dachte Aya laut nach und versuchte noch einmal zu entziffern, was sich ihm da bot. Da es kein Japanisch war, konnte es nur Deutsch sein, so ging Aya alle Buchstaben des Alphabetes durch.

„Das erste ist ein D… nein, ein G, oder“, fragte er stirnrunzelnd.

„Oh man“, Schuldigs Kopf schlug auf der Couch auf und er kniff die Augen zusammen. Jetzt hatte er etwas angerichtet. Aus der Sache kam er nie wieder heil raus!

„Ein G.“

„Also zwei Buchstaben. Und das zweite ist ein… W, nein, das ist zu viel, ein V, ja, ein V oder“ Ayas Augen leuchteten interessiert. G.V.

Das hie゚ garantiert nicht Schuldig.

Aber was dann

Also Schuldigs richtiger Name

„Was heißt es denn ausgeschrieben“

„Das ist nicht wichtig, Ran“, meinte Schuldig. Sein Nacken lag entspannt auf der Couch und er blickte gen Decke. „Ich habe es nur der Form halber drauf schreiben lassen. Mach nicht so einen Wirbel drum“, brummte er verlegen.

Das war allerdings ein gefundenes Fressen für Aya.

„Das ist dein Name! Dein richtiger Name! Natürlich ist das wichtig… los, sag, was die Initialen bedeuten!“

Schuldig hatte ihn oft wegen seiner Neugierde aufgezogen und hatte vermutlich jetzt jeden Grund dazu, denn Aya sprühte geradezu davor.

Ohje… nichts wie weg.

„N… ein.“

Schuldig wandte sich flink auf den Bauch und entzog Ran seine Beine, hievte sich auf die Ellbogen und machte Anstalten von der Couch zu flüchten.

Ein fruchtloses Unternehmen, denn Aya warf sich vor Schmerz aufstöhnend der Länge nach auf Schuldig und brachte den Mann so platt wie eine Flunder zum Erliegen.

„Nichts da! Du kannst mir keinen Ring schenken und dich dann in Schweigen hüllen!“ Seine Finger trieben sich gemeinerweise in die Seiten des Telepathen.

Was diesen natürlich erst zum Stöhnen, dann leider zum Lachen brachte. „Hör auf. Ich sag nichts! Weils einfach nicht wichtig ist… Ra~an…

Schuldig ringelte sich zusammen und ging zum Gegenangriff über, versuchte Rans Finger in Schach zu halten.

„Also gut… ich sags! Aber hör auf, ja“

Abrupt hörten Ayas Bemühungen auf und er lauschte gebannt.

„Ja, ich höre“, sagte er gespannt und stützte sich auf seine Unterarme.
 

„Nicht so hastig.“

Schuldig sah die blanke Neugier in Rans Augen und hob die Brauen. „Lass mir erst einmal mehr Platz.“ Er robbte sich unter Ran hervor und setzte sich artig hin.

Dieser beäugte ihn misstrauisch, ließ ihn aber ziehen und hielt den Ring fest verschränkt in seiner Hand.

Seine Augen gruben sich in die des Telepathen und versuchten, sich den Namen vorzustellen, doch so recht wollte sich da kein Vorschlag einstellen.

Aber alles beäugen half nichts als Schuldig plötzlich reißaus nahm und schelmisch lächelte. Er ging Richtung Küche und streckte Ran die Zunge raus.

„Ich hab ihn dir schon einmal gesagt, zumindest den Vornamen.“ Er holte sich noch ein kühles Bier aus dem Kühlschrank. Diese Miniflaschen waren stets viel zu schnell ausgetrunken, murrte er in Gedanken.

Enttäuschung folgte ihn in Form von großen, traurigen violetten Augen, die doch gehofft hatten, dass sie Schuldig vertrauen konnten und nun über den Rand der Couch hinweg Schuldig vorwurfsvoll hinterher sahen.

Schuldig hatte ihm den Namen schon einmal gesagt Aber er erinnerte sich nicht daran…

„Du bist gemein zu mir“, kam es leidend von der Couch.
 

Klar war er das.

Ständig.

„Du weißt doch, dass diese großen Kulleraugen… nicht wirklich bei mir wirken, oder?“ Aber Ran sah trotzdem sehr anbetungswürdig damit aus. Weil es so selten war…

Schuldig stellte seine Bierflasche ab und nahm seinen Teller auf.

„Iss erst einmal etwas. Du hast mir heute Nacht schlapp gemacht, weil du gestern gehungert hast, oder“, sagte er milde und nahm sich auch ein paar der Häppchen.

„Ich habe schlapp gemacht, weil du es drauf angelegt hast, mich in die Bewusstlosigkeit zu treiben“, schmollte Aya und schob sich etwas zu essen zwischen die Lippen. Es schmeckte sehr gut und er merkte, wie groß eigentlich sein Hunger war.

„Aber lenk nicht vom Thema ab, was bedeuten die Initialen“

Er hätte es wissen müssen. „Wenn dus jemanden erzählst, schick ich dich über die Planken, Matrose!“, brummte Schuldig wie ein echtes Raubein.

„Gabriel… Gabriel Villard.“ Er setzte sich und sah Ran für einen Augenblick mit einem Lächeln in den Augen an. „Und keine Sprüche über Engel.“

Genau die schwelten gerade an der Oberfläche von Ayas Lippen und schrieen geradezu danach, hinaus gelassen zu werden.

Gabriel Ja… den Namen kannte er schon… er hatte Schuldig schon einmal gefragt, wie er hie゚.

„Du hast mich damals angelogen!“, sagte er empört und Schuldigs Teller mit den Häppchen wackelte bedrohlich, als sich Aya auf Schuldig warf. „Ich habe den Namen schon erraten, du ERZENGEL!“

Aber Gabriel Villard…

Ein schöner Name.

Gabriel… passte irgendwie… auch wenn Schuldig die meiste Zeit einfach das Gegenteil war.

„Nein, hab ich nicht“, behauptete Schuldig und lachte.

„Ich habe dir nur einige Namen angeboten und dich ganz bestimmt nicht angelogen! Und ich will auch keine Sprüche über ERZengel hören“, drehte er sich zu Ran halb um der ihm im Nacken hing und küsste die quengligen Lippen.

„Sonst darfst du dir einige Sprüche über deinen Namen anhören…“

„Von jetzt ab nenne ich dich nur noch Erzengel! Oder nein, besser noch Erzbengel! Das gefällt mir!“ Aya grinste breit und schaukelte mit Schuldig hin und her.

Er wusste nicht, warum es ihn so glücklich machte, dass er endlich Schuldigs richtigen Namen erfahren hatte, doch es war da… warm und flauschig.

„Aber du musst mir meinen Ring jetzt auch noch anstecken!“
 

„Hab ich doch schon“, brummte Schuldig geplagt und schob sich eines seiner Häppchen in den Mund. „Aber…ich kann ihn dir noch öfter anstecken, einer meiner leichtesten Übungen.“

Er hob die Hand um sich den Ring reichen zu lassen. „Flosse her…“, nuschelte er mit halbvollem Mund.

Er fühlte sich geradezu überschwänglich gut bei Rans Laune. Und das nur… wegen seines ollen Namens. Gerade jetzt in diesem Moment waren die letzten Tage wie weggewischt.

Er konnte sich vieles einreden, aber es freute ihn… sehr.
 

Aya der Fisch reichte Schuldig der Qualle seine Flosse und sah zu, wie dieser ihm den Ring ein zweites Mal ansteckte.

„Dankeschön, mein Erzbengelchen“, schmunzelte er und schmatzte Schuldig einen dicken Kuss auf das noch von ihm malträtierte Ohrläppchen. Gleichwohl stahl er sich eines von Schuldigs Häppchen und kaute es genüsslich.

„Ran!“, rief Schuldig aus und verzog das Gesicht ob des feuchten Schmatzers auf sein Ohr. Er wischte sich darüber und sah Ran vorwurfsvoll an. Dieser wusste genau, wie sehr Schuldig diese Art Kuss auf sein Ohr schätzte. Nämlich gar nicht.
 

Es erinnerte ihn immer an diverse Damen, die ihn im Waisenhaus aufsuchten um ihn vielleicht zu adoptieren. Vielleicht.
 

Schuldig fand Rans Wandlung, seit er ihm den Namen gesagt hatte bemerkenswert. Geradezu ekstatisch gut gelaunt. Oder wars der Ring
 

So genau wusste er es nicht. Oder beides

„Aha? Soll ich dich lieber wieder beißen?“ So wie letzte Nacht, fügte Aya in Gedanken hinzu, veräußerte es jedoch nicht, denn das würde die Stimmung bei Schuldig zerstören. Bei ihm nicht, denn soweit er die letzte Nacht als das in Erinnerung behalten konnte was es war – nämlich ein schlichter Beweis – und die Fesseln verdrängte, dann konnte er damit leben und das, was sich ihm gerade aufgetan hatte, so richtig genießen.

Ein Ring… nein, zwei. Mehr Zeichen konnte Schuldig nicht setzen, befand Aya und verwarf den Gedanken anschließend gleich wieder. Doch, konnte er. Denn jetzt kannte er Schuldigs richtigen Namen.

„Darf ich dich jetzt Gabe nennen?“, fragte er kauend und stieß Schuldig mit seiner Schulter an.
 

„Kannst du gerne machen, allerdings musst du dann mit Seidenräupchen leben.“ Schuldigs Worte waren so beiläufig, dass er sich selbst darüber freute, wie wenig Schadenfreude er in seine Stimme gelegt hatte. Er schob sich eine des Sushis in sich hinein.

Eine rote Augenbraue hob sich zweifelnd langsam und Aya überdachte diese Möglichkeit.

„Warum denn, ich finde den Namen liebevoll und passend.“ Und Schuldig fand SEINEN Namen liebevoll und passend, das konnte sich Aya schon denken.

Seine Finger trieben sich wieder in Schuldigs Seiten und er lehnte sich schwer auf den Rücken des anderen.

Schuldig fing Rans Hände ein und zog dessen Arme um seinen Körper, verschränkte seine mit Rans Fingern. Er lehnte sich nach hinten um Ran zwischen Rücklehne und ihm selbst einzukesseln und reckte das Gesicht zu Ran.

„Siehst du, so sehe ich das auch. Der Name passt irgendwie nicht mehr zu mir. Er ist zu sehr mit Erinnerungen beladen. Und dann doch wieder nicht.“ Schuldig lächelte unschuldig und legte den Kopf in den Nacken sodass dieser auf Rans Schulter lag.

Schon wieder jemand, der seinen wirklichen Namen nicht mehr tragen wollte, weil sich die Dinge im Laufe der Zeit verändert hatten.

Aya verstand das – wie denn auch nicht Er war selbst nicht besser oder schlechter, je nachdem, wie man es nahm.

Er brummte leise an Schuldigs Wange und nickte schlie゚lich. „Also ist Gabriel auch tabu?“

„Mir wäre es lieb, wenn du ihn nur… in deinem Herzen trägst“, schmalzte Schuldig, aber er meinte es trotz der schmalzigen Note tatsächlich ernst.

„Es erschreckt mich und bringt mich aus der Ruhe wenn ich diesen Namen höre. Es macht vieles ernster. Und… ist nicht alles schon ernst genug“

„Warum ernster? Schuldig ist doch der Name, unter dem du Dinge getan hast, die Gabriel zu dem Zeitpunkt sicherlich noch nicht gekannt hatte“, fragte Aya erstaunt nach. Ganz konnte er die Sichtweise des Telepathen nicht nachvollziehen, eigentlich gar nicht.
 

Schuldig brauchte ein paar Momente der Stille zwischen ihnen, in denen er über die Frage nachdenken konnte.

Als er schließlich antwortete, sackte er leicht in sich zusammen und schloss die Augen, den Kopf seitlich mit der Stirn an Rans Wange gelehnt.

„Vielleicht ist es so, weil ich dann traurig werde. Dieser Name mahnt mich über die Unveränderlichkeit des Schicksals an. Von Anfang bis zum jetzigen Zeitpunkt war alles darauf geprägt aus mir den Teufel zu machen, den meine Mutter in mir gesehen hat. Und dabei… habe ich mich sogar dagegen gewehrt.“

Er lachte leise auf, aber es war ein trauriges Lachen. „Sie hat mich Gabriel genannt. Und mir als Schutzpatron einen Engel zugedacht. Doch irgendwie… muss wohl was schief gelaufen sein.“

„Willst du bestreiten, dass unter diesem großen, bösen Mann auch noch eine liebe Seite steckt Würde ich an deiner Stelle nicht, Schuldig, denn sonst wäre ich nicht hier.“ Sondern tot, oder noch als hasserfüllter Killer im Dienste von Kritiker oder Schuldig wäre nicht hier, weil er ihn schließlich getötet hätte oder oder oder. Es gab so viele verschiedene Möglichkeiten, wenn Schuldig nicht der wäre, der er wirklich war.

„Natürlich bist du ein Teufel… aber ein lieber und liebesbedürftiger Teufel. Du hast dich dagegen gewehrt, aber nicht immer kann man erfolgreich damit sein.“

Nein, er … war nie erfolgreich damit. Bis auf… bis auf… als er Ran wollte. „Den Kampf das erste Mal gewonnen hatte ich allerdings erst, als du etwas für mich empfunden hast. Das erste Mal… in meinem langen, langen Leben“, sinnierte er altersweise und grinste.

„Besser spät als gar nicht. Und den Sieg, den du da für dich verbuchen kannst, der ist schon erheblich. Ausgerechnet bei mir… ein leichteres Ziel hast du dir nicht aussuchen können, was?“ Aya zwinkerte und seine Hände drückten Schuldigs.

Schuldig lächelte. „Ich glaube nicht, dass ich mir dich ausgesucht habe. Vielleicht war es anders herum? Wer weiß das schon. Mir hat einmal …“ Schuldig setzte sich auf, es war als… würde er sich an etwas erinnern, etwas dass er… vergessen hatte.

Oder jemand… den er vergessen hatte. Er machte sich von Ran los und fuhr sich nervös geworden übers Gesicht.

„Wer oder was hat dir einmal?“, fragte Aya geduldig und wartete ebenso ruhig ab, ob Schuldig sich wieder beruhigte aus seinem momentanen aufgewühlten Zustand, der so plötzlich gekommen war.

Aya wusste zwar nicht warum, doch vielleicht würde Schuldig sich gleich erklären…

Schuldig stand auf und blickte flüchtig zu Ran, der dort so abwartend saß und ihn ohne Eile anblickte. Es beruhigte Schuldig und half ihm diesen silbernen Faden, der vor ihm im Dunkeln aufblitzte im Auge zu behalten und ihm zu folgen.

„Ich erinnere mich an… jemanden. Ich schien… diesen Jemand vergessen zu haben, aber ich weiß nicht warum.“ Er verstummte und ging hinüber zum Fenster, die Arme verschränkt, die Stirn kritisch in Falten gelegt. „Warum?“, flüsterte er.

„Ich kann mich an sein Gesicht nicht erinnern, es ist verborgen vor mir selbst. Aber er sagte ‚Von jedem, dem viel gegeben wurde, wird viel erwartet werden.’ Ich glaube Lukas… ja das steht in den Schriften von Lukas, einem der Apostel Jesu. Meine Mutter… hat viel von dem Zeug gelesen.“

„Weil deine Fähigkeiten dich Dinge und Personen vergessen lassen“, erwiderte Aya, blieb jedoch sitzen. „Selbst ich ohne deine Telepathie habe Dinge vergessen, die weit in der Vergangenheit zurückliegen. Das ist normal, Schuldig. Vor allen Dingen, wenn du noch klein warst.“

Was die Worte desjenigen nicht weniger wahr machten auf eine gewisse Art und Weise. Aya seufzte.

„Ich erwarte auch viel von dir und hast du mich bisher enttäuscht Nein, denn ich bin immer noch hier.“

Aya schwieg einen Moment lang. „War es vielleicht dein Vater?“ Eine abstruse Idee, da es jeder Mann gewesen sein konnte, aber warum nicht

Es lag nahe diesen Verdacht zu hegen, denn Ran wusste darum, dass er nichts über seinen Erzeuger wusste.

„Hmm, kann sein. Ich weiß es nicht. Er muss mir zumindest so nahe gestanden haben, dass mein Gehirn es für wert gefunden hatte, es emotional derart belastend empfunden hatte um es zu… ‚vergessen’. Somit kann es nicht irgendjemand x-beliebiges gewesen sein. Denn im Gegenzug zu vielen normalen Menschen, bis auf wenige Ausnahmen, vergesse ich nichts. Ich sortiere es ab und kann es bewusst wieder hervorholen. Dinge, die ich jedoch durch Belastung in einen Bereich verschiebe zu dem ich keinen Zugang mehr habe… diese Dinge kann ich nicht bewusst hervorholen. Aber…“

Er wandte sich zu Ran um, der dort immer noch verlassen saß und ihn anblickte. Schuldig lächelte, als seine Augen über die Knutschflecken huschten, die er an vielen Stellen auf Rans Körper hinterlassen hatte - so auch an dessen Kiefer und Hals.

„…was ich eigentlich damit sagen wollte. Dass es durchaus sein kann, dass ich mir dich nicht ausgesucht habe, sondern es durch das Schicksal so gewollt war.“ Er grinste.

Aya wusste, auf was Schuldig sah und weswegen er lächelte.

Na warte, Freundchen…

„Zweieinhalb Monate Schuldig, plus die Küche und drei Wochen Sperre.“ Sein Lächeln war teuflisch, da konnte der Telepath momentan nicht mithalten.

Doch dieser stellte sein Grinsen nur auf eine niedrigere Wattzahl. „Sicher“, meinte er nur und ging zu Ran hinüber um sich zu ihm hinunter zu beugen. „…das tapfere Ran-chan hält diese drei Wochen natürlich locker aus. Vor allem wenn es so ein tolles Halsband geschenkt bekommen hat, nicht“, spöttelte er um Rans Durchhaltevermögen in die Kritik zu bringen.

Ayas Augen lagen ruhig in den spielerisch aufgelegten, grünen, als er seinen Hals emporreckte und kurz vor Schuldigs Lippen anhielt.

„Das Halsband werde ich nur dann tragen, wenn mir auch danach ist und wenn ich dir etwas zu Schauen bieten will. Da dass gestern schon der Fall war, reicht das erst einmal. Du sollst dich schließlich nicht daran gewöhnen. Außerdem… kennst du doch meine Selbstbeherrschung, oder Wenn ich etwas will, dann bekomme ich das… egal, mit welchen Mitteln. Und wenn du Rache verdient hast, dafür, dass ich aussehe wie ein Marienkäfer auf Liquid-X, dann wirst du diese Rache auch bekommen. Gerne sogar.

Dumm nur, dass ich keinerlei Make-up besitze, dass so etwas verdecken könnte… wenn, dann hättest du vielleicht noch eine Chance gehabt. Vielleicht.“

„Ich hab was übrig, kannst was von meinem haben!“

Schuldig knutschte Ran platt auf die Lippen bevor er sich löste und um die Couch herumstolzierte. „Dann werde ich mal gehen und das Halsband verstauen, nicht dass es noch einstaubt, die nächsten Monate…“

Er lächelte in sich hinein und überlegte sich ein gutes Versteck wo es vor allzu neugierigen Augen sicher sein würde.

„Mach das, aber bevor du es einmottest, kannst du es mir noch mal einmal zeigen. Ich möchte mal wissen, wie es bei Tageslicht aussieht“, rief Aya Schuldig hinterher und nahm noch ein Häppchen.

„Und nein, deins ist nicht meins, das zählt nicht!“ Alles Definitionssache, aber man konnte ja immer eine Begründung finden, warum man die nächsten drei Wochen als Strafe für die Knutschflecke am Hals, am Kinn und an der Wange keinen Sex mehr haben wollte!

„Ich bezweifle, dass du überhaupt IRGENDETWAS von diesem Halsband heute Nacht mitbekommen hast“, schickte Schuldig zurück und verschwand um die Ecke in den Flur hinein. Er holte das Schmuckkästchen und setzte sich auf die Kante des Bettes im Schlafzimmer. Er zog die Schatulle auf seinen Schoß, öffnete sie und sah sich wie schon oft zuvor die Edelsteine und die wunderschöne Arbeit an. Seine Finger strichen über die Metallplättchen.

„Wo kann ich dich vor neugierigen Katzen verstecken“

„Ich habe genug mitbekommen… wie du eine der losen Ketten dafür missbrauchst hast, meinen armen Schwanz zu quälen“, kam es laut und deutlich von Aya, sodass Schuldig es auch garantiert am anderen – fernen – Ende der Wohnung hören konnte. „Außerdem habe ich durchaus mitbekommen, wie du es mir angelegt hast und die losen Ketten habe ich ebenso gespürt. Quod erat demonstrandum!“ Das hatten sie immer unter ihre mathematischen Beweise schreiben müssen früher, weil ihr Lehrer ein Deutschlandfan gewesen war.

Ja, Schuldig hatte es gehört, zumindest den interessanten Teil, oder amüsanten Teil, der durch die Wohnung zu ihm schallte. Der Teil mit dem armen, geplagten Geschlechtsteil.
 

Schuldig murmelte spöttische Abfälligkeiten über Rans verwöhnte Körperteile und schloss den Deckel der Schatulle wieder um sich zu erheben und einen geeigneten Platz zu finden um es für die nächste Zeit unsichtbar werden zu lassen.
 

Er würde es natürlich so verstecken, dass Ran es in einer sehnsüchtigen Anwandlung finden und anlegen konnte.
 


 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für's Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Gadreel & Coco

Friends & Foes

~ Friends & Foes ~
 


 


 


 

Der Stau in Tokyo war für Aya immer wieder wunderbar geeignet um zu sich zu finden und über die letzten Tage und Wochen nachzudenken, die er für sich selbst noch nicht reflektiert hatte.

Es war ruhig gewesen seit ihrem… seit den beiden Ereignissen hatten sie zu sich selbst gefunden. Diese Nacht in Verbindung mit dem Tag danach hatte das Band zwischen ihnen verstärkt und Ayas Sorge beinahe gänzlich vernichtet.

Sein Vertrauen in Schuldig war gestärkt worden und Aya arbeitete hart daran, dass er dieses Pflänzchen nicht eingehen ließ.
 

Was nicht hieß, dass Schuldig ihn in den letzten Tagen nicht in luftige Höhen getrieben hatte mit seinen Zettelchen, die er überall in der Wohnung gefunden hatte.

Und das nur, weil er besagtes Halsband gesucht hatte… natürlich nur, wenn Schuldig nicht da war… er wollte ja die Aufmerksamkeit des anderen nicht auf seine Neugier lenken. Warum er danach suchte?

Nun... Schuldig hatte ihn so heiß gemacht, dieses Halsband zu finden, das wertvolle, wunderschöne Stück, dass er nicht davon ablassen konnte, es zu suchen.

Was er anstelle des Halsbandes fand, waren kleine, gelbe Post-Ist mit lustigen Sprüchen wie „Tja, wahr wohl nix!“ oder „Pechvogel!“ oder „Also das wäre ja wohl zu offensichtlich!“ oder „Hier? Ich lach mich tot! Darauf kannst auch nur DU kommen!“ oder der letzte, den er jetzt gefunden hatte: „Seidenräupchen.“.
 

Toll!
 

Dabei hatte Aya versucht, sich in Schuldig hinein zu versetzen. Wie es geklappt hatte, hatte er an den Zetteln gesehen. Es war ja nicht so, dass er nicht alle Verstecke in der Wohnung durchsucht hätte… auch an den unmöglichen Orten, so zum Beispiel auch unter dem Abfluss ihrer Badewanne. Nichts.

Dass er auf den Schrank für Banshees Katzenfutter und Katzenstreu hätte kommen können, hielt Aya für ein Gerücht.

Er war aber darauf gekommen, als er besagtes Katzenstreu ausgewechselt hatte.

Ein wirklich schönes Stück hatte sich ihm erschlossen. Fein gearbeitete Ketten, die sich um den Hals schlängelten und in vier langen, schmalen Ketten endeten. Die Ketten, die seine Haut gereizt hatten…

Den Brillanten hätte er fast übersehen… die Smaragde jedoch nicht, die sich wie kleine, verstohlene Tropfen das ganze Band entlang schlängelten.
 

Aya seufzte laut. Schuldig und seine teuren Geschenke… er hatte den anderen Mann einfach nicht davon abbringen können. Doch er wusste diese Stücke zu schätzen. Sehr sogar.
 

Was ihn jedoch nicht davon abhielt, Schuldig einen Post-It-Zettel an die leere Stelle zu kleben.

„Das war ZU offensichtlich!“
 

Nun gut…
 

Aya konzentrierte sich lächelnd wieder auf den Verkehr. Er war unterwegs zu Crawford, um mit ihm einige Dinge durchzusprechen, während Schuldig auf einem Empfang war. Sie hatten aufgrund der Einladung, die sie bei der Toten gefunden hatten, recherchiert und sich einen Empfang mit ähnlichem Teilnehmerkreis ausgesucht. Ein erster Anhaltspunkt, ebenso, wie es einen zweiten gab. Asami.

Ein verhasster Name für Aya, aber eine Spur.
 

Eine halbe Stunde später stand er vor der Tür des Ryokans und klingelte.
 

„…wird innerhalb des Zeitrahmens bei dir…“, Brad verstummte als er die Türklingel hörte. Seine Augen glitten von der Zeitung, die er gerade wegen der Veranstaltungshinweise durchsah auf ihre Computeranlage. Er ging näher zum Rechner und holte sich ihre Videoüberwachung aufs aktuelle Fenster.

„…dein Schmusetier ist eingetroffen“, gab er über den Kopfhörer an Schuldig weiter, mit dem er in Verbindung stand.

Die Erwiderung legte ein spöttisches Lächeln um seine Mundwinkel und er ging samt Zeitung um die Tür zu öffnen. Allerdings hielt er sich kaum mit Begrüßungsfloskeln auf. Ran bekam den gleichen nichtssagenden Blick wie immer. Das gleiche nichts aussagende Gesicht. Brad wandte sich bereits halb im Öffnen der Tür um, allerdings drückte er Ran die Zeitung vor die Brust, und ging nach: „Such nach einer Privatparty, die die Miwazwillinge ausrichten“, wieder in den Wohnraum.
 

Aya besah sich die Zeitung, die ihm in die Hand – vor die Brust gedrückt worden war. Seine Augenbraue hob sich ob des Kommentares, der ihn so freundlich begrüßt hatte und ging dann in die Küche, die Zeitung beiseite legend und sich einen Kaffee nehmend.

Er wusste nicht, seit wann er zum Team Schwarz gehörte und Crawfords Anführerstatus auch für sich anerkannt hätte. Denn so hatte sich der Ton des Orakels angehört.
 

Arschloch.
 

Wie gut, dass es Dinge gab, die sich nicht änderten… aber irgendetwas musste Schuldig ja an dem Amerikaner finden, dass es ihn immer zu ihm hinzog.

Er nahm einen Schluck von dem viel zu starken Kaffee und kam innerlich erst einmal in diesem Haus an, in dem er eigentlich nicht sein wollte, aber sein musste, wenn sie weiterkommen wollten in ihren Nachforschungen.

Stumm drehte sich Aya zur Tür und sah gerade etwas Kleidhaftes im Flur vorbeihuschen. Er runzelte die Stirn.

Frauenbesuch?

Nein, das konnte nicht sein…

Stirnrunzelnd stieß er sich ab und ging bis zum Flur. Dieses Profil war ihm doch bekannt vorgekommen…

„N.a.o.e.?“, fragte er in den Flur hinein, jeden Vokal einzeln betonend.
 

Nagi hatte seine halbflachen, schwarzen Schuhe in der Hand und sah gerade auf, als er Fujimiyas Stimme hörte. „Ja?“
 

Die zweite Augenbraue hob sich auch noch, als Aya Nagi von oben bis unten musterte. Schuldig hatte zwar schon einmal etwas davon erwähnt, aber live hatte Aya den anderen noch nicht gesehen und war gelinde gesagt überrascht, wie weiblich doch der Junge aussah.

„Weiß Omi davon?“, fragte er das Erste, was ihm in den Sinn kam.
 

Naoe bückte sich und stellte die Schuhe auf den Boden um nacheinander in sie hineinzuschlüpfen.

„Er hat mir dabei geholfen. Es war nicht einfach, die Festivitäten von den üblichen Szenepartys zu separieren. Ich denke, er dürfte unbesorgt sein.“
 

Unbesorgt? Omi war sicherlich eher erfreut gewesen, dass sich Nagi in solche… Kleidung geworfen hatte. Er war das perfekte, asiatische Mädchen, hübsch gar...wenn man nicht wusste, dass er ein Mann war.

„Die Tarnung ist nicht schlecht“, gab er schließlich zu und schmunzelte. „Als was trittst du auf – Schuldigs Freundin?“
 

„Ja.“

Nagi streifte sich die schwarzen Handschuhe mit der edlen Zierstickerei an den Seiten über die Hände und Unterarme und griff nach der zierlichen Handtasche.

„Ich werde Verbindung aufnehmen, sobald ich auf Schuldig treffe.“ Er nickte, strich sich die schwarzen langen Haare über die Schulter, öffnete die Tür und verließ das Ryokan.
 

Eine Weile noch sah Aya Nagi nach und schlürfte seinen Kaffee zu Ende, bevor er sich einen neuen nahm und zu Crawford ins Arbeitszimmer kam.

Ohne Zeitung.

„Wer sind diese Miwazwillinge?“, fragte er den Rücken des Orakels, der ihm abgewandt am PC saß.
 

„Die zwei einflussreichsten Damen, wenn es darum geht, möglichst viele Menschen mit möglichst viel Einfluss und viel Geld auf einem Fleck zusammenzubringen. Sie richten diverse Empfänge aus, kleinere und größere Zusammenkünfte um Spenden für wohltätige Einrichtungen, Stiftungen zu sammeln. Und sie geben auch häufig im Anschluss an steife, formelle Anlässe, private und lockere Partys.“ Brad hatte sich nicht umgedreht, während er gesprochen hatte. Jetzt jedoch erhob er sich und sah Ran an.
 

„Ist das gerade eine Miwa-Party, auf der sich Schuldig und Nagi befinden?“

Dann war die ominöse Tote also ein Gast gewesen, bevor der Ire sie umgebracht hatte. Die Spur war schon einmal gut, grenzte es den Kreis doch vielleicht schon einmal in Ansätzen ein.

Was aber auch gleichzeitig bedeutete, dass sie sich im Kreise der oberen Zehntausend bewegten, vielleicht sogar in Regierungskreisen.
 

„Eine der Schwestern hat ein Gala Dinner organisiert. Es geht um eine Spendenaktion. Im Anschluss daran gibt es in der Stadt eine kleine Privatparty. Manx hat Nagi und Schuldig mittels ihrer Kontakte Einladungen zukommen lassen. Sie wird selbst auch zugegen sein.“ Er lächelte ironisch, bevor er an Ran vorbeiging, Richtung Küche. Er hatte Lust auf ein Glas Wein. Es war nicht zu erwarten, dass es Probleme bei diesen vergleichsweise harmlosen Nachforschungen geben würde. „Und… keine Angst… sie ist nicht zu Schwarz übergelaufen“, rief er zurück. „…sie ist in eigener Sache dort.“ Er kam in die Küche und wählte aus dem Regal einen italienischen Rotwein aus.
 

Aya kam Crawford nachgeschlendert und lehnte sich leicht spöttisch lächelnd an den Türrahmen.

„Wenn jemand nicht überlaufen würde, dann wäre sie das.“

Aya wusste davon, dass sie im Informationsaustausch mit Schwarz stand, besonders im Hinblick darauf, dass Kritiker immer stärker angegriffen wurden.

„Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob sie schon ihren Preis eingelöst hat?“
 

Wie neugierig konnte ein Mensch eigentlich sein?

Brad öffnete die Weinflasche, kostete und schenkte sich ein Glas des schweren Rotweines ein. Er überdachte diese impertinente und indiskrete Frage reiflich bevor er sich zu einer Antwort herab ließ.

„Ich habe ihr geholfen“, Brad nickte ernst. „Sie hat bekommen, was sie wollte.“ Einen Moment später breitete sich auf seinem Gesicht ein wirklich gemeines Lächeln aus. Es war zwar im Zaum gehalten von ihm, aber es war zu sehen.
 

Das Lächeln passte nicht zu Crawfords Worten, befand Aya und sah den anderen unter dem Deckmantel der Gleichgültigkeit zweifelnd an… zumindest er sah die Zweifel, Crawford würde nichts als einen stoischen Gesichtsausdruck zu sehen bekommen.

Er dachte kurz an die Wette, die er mit Schuldig geschlossen hatte und kam mit sich überein, dass genau DAS nicht sein konnte. Manx würde im Leben nicht mit dem Orakel schlafen.

Zumindest war die Vorstellung recht… widerwärtig.

„Ich hoffe nur nicht, dass sie sexuelle Dienste von dir gefordert hat… das dürfte Schuldig doch gar nicht gefallen, oder?“
 

Brad lehnte an der Küchenzeile, betrachtete sich Ran mit einer inneren Gelassenheit und nahm einen Schluck des Weines.

„Nein, gefordert hat sich nichts in dieser Richtung. Dahingehend kann ich dich beruhigen.“ Wieder lächelte er spöttisch und seine Augen funkelten wissend. Das helle Braun seiner Augen glomm im fadenscheinigen Licht der marginalen Küchenbeleuchtung.
 

„Das freut mich… für Schuldig. Sie ist mir egal.“ „Das freut mich… für Schuldig. Sie ist mir egal.“ Aya begegnete dem Lächeln flüchtig mit seinem eigenen spöttischen. Es schien, als hätte der Amerikaner nach seinem kurzen Krankenhausaufenthalt wieder Oberwasser, vermutlich tat ihm Schuldig gut… oder dass sich nun alles wieder fügte.

Doch auch wenn sich Aya geschworen hatte, Crawford als Schuldigs Partner zu akzeptieren, so fiel es ihm doch anhand seines Benehmens recht schwer.

Aber er musste ihm ja nicht näher kommen.

„Was ist mit unserer neuen, heißen Spur Asami?“, kam es triefend vor Sarkasmus aus Ayas Mund.
 

„Was soll mit ihr sein?“ Brad hob eine Augenbraue, nicht wissend worauf der Rothaarige hinaus wollte.
 

„Habt ihr schon Kontakt zu ihm aufgenommen?“, spezifizierte Aya sich und hob eine Augenbraue. Was er gerne tat in letzter Zeit, wie er bemerkte.
 

„Nein. Damit waren wir bis wir einen zweiten Hinweis haben. Asami ist schwierig und wir wollen uns nicht noch mehr Probleme machen, als wir ohnehin schon haben.“
 

Asami war schwierig umzubringen, das stimmte. Weiß war mehrfach gescheitert, als sie es versucht hatten… und das stimmte Ayas Laune nicht wirklich gut.

Aya schwieg und betrachtete sich den Amerikaner. Sie hatten sich wirklich nicht viel zu sagen, doch das störte ihn nicht… vermutlich, weil er auch lieber schwieg.
 

Brad nahm die Weinflasche zur Hand und ging auf Ran zu. Er stellte sie neben Ran ab. „Nimm dir welchen, wenn du willst. Aber sieh mich nicht so mordlüstern an, da kann ich heute Nacht kaum schlafen…“, lächelte er mit der Mischung aus Gelassenheit und mildem Spott, bevor er die Küche verließ und sich wieder Richtung Arbeitszimmer aufmachte.
 

Mordlüstern?

Er?

Das hielt Aya für ein Gerücht.

Trotzdem musste auch er lächeln, verfluchte sich aber auch gleichzeitig für seine offene Mimik, die er sich in Schuldigs Nähe angewöhnt hatte.

Ein Wein war nicht zu verachten, befand er und schenkte sich ebenso ein Glas ein, kam damit zurück ins Arbeitszimmer und ließ sich in einen der Bürosessel gleiten, blieb natürlich automatisch auf seinen Haaren sitzen, die er stumm fluchend unter seinem Hintern hervorzog.

Im Hintergrund liefen die Daten zum aktuellen Auftrag, die Crawford anscheinend schon recherchiert hatte.
 

„Nein.“ Brad lehnte sich in dem hohen Sessel zurück und schüttelte unmerklich den Kopf. Er kommunizierte erneut mit Schuldig.

Sein Gesicht drückte Skepsis und Argwohn aus.

„Nein. Das wirst du nicht. Das war nicht Teil der Besprechung. Halt dich an den Plan.“

Seine Stimme wurde kühler.

„Das Thema ist beendet.“
 

Aya schmunzelte in sich hinein. Auch ohne zu wissen, wer am anderen Ende der Leitung war, konnte er sich denken, um wen es sich handelte.

„Er hört nie auf das, was man ihm sagt“, sagte Aya wie zu sich selbst und nahm einen Schluck Wein. „Was wollte er denn dieses Mal?“
 

„Sich die Erlaubnis einholen um auf eigene Faust etwaigen gefundenen Spuren nachzugehen.“

Brad erlaubte sich ein verächtliches Geräusch. „Das heißt so viel wie ein paar Leute zum Sprechen zu bringen. Was in diesen Kreisen tunlichst zu vermeiden ist. Zumindest, wenn wir uns in Zukunft noch öfter dort umhören wollen. Es ist zu gefährlich. Selbst… oder gerade für ihn.“
 

Aya nickte bedächtig.

Besser, sie sammelten zunächst, bevor sie andere Methoden auffuhren, da hatte Crawford schon ganz recht. Und wie auch schon zuvor, stellte Aya fest, dass sie ähnliche Gedankenstrukturen besaßen, was Aufträge anging.

Youji hatte ihm einmal vorgeworfen, wie Crawford zu sein, kalt und unnahbar und Aya hatte wiederholt festgestellt, dass dem auch teilweise so war…teilweise.

„Du kennst ihn…oder gab es jemals eine Mission, in der er nur das getan hat, was der Plan war?“
 

„Ich gebe ihm nicht umsonst Naoe mit“, sagte Brad mit dem leisen Unterton von Resignation.

„Es ist wie ein Spiel für ihn, mit lebenden Schachfiguren. Er sieht die Gefahr oft nicht mehr. Und wir können uns keine Fehler leisten.“
 

Aya hörte diese feine Nuance heraus und musste schmunzeln. Anführerleid… er konnte es verstehen.

Das hörte man auch in seinen Worten. „Er hat bis jetzt überlebt… irgendwie. Und irgendwie ihr anderen auch. Aber Hongkong wird ihm den Ernst der Lage gezeigt haben.“

Hongkong… das Schuldig und ihn fast auseinandergerissen hätte… das Crawford und ihn auf eine Art und Weise zusammengeführt hatte, die – auch wenn Aya das mit einem Zähneknirschen zugab – einzigartig war. Schuldigs Tod hatte ein Band zwischen ihnen erstehen lassen, dass Aya jetzt schwerlich kappen konnte.
 

Brad drehte sich in seinem Stuhl und nahm sein Weinglas vom Tisch um einen Schluck zu nehmen, während er sein Augenmerk auf Ran lenkte.

„Es bestand in der Vergangenheit keine Absicht uns zu töten. Weder euch noch uns“, gab er zu bedenken. „Die Hongkong-Affäre“, Brad lächelte sparsam, „hat uns genau diesen Punkt aufgezeigt. Irgendjemand hat Schuldig aus China herausgeholt - mittels Asami. Schuldig war also so viel Wert, dass sich jemand mit Asami verbündet hat um ihn nach Japan zurückzuholen - und zwar in einem Stück. Schuldig weiß das und entsprechend verhält er sich auch. Er fährt wie immer volles Risiko - nur wissen wir nicht, wann sich unsere Gegner dazu entschließen und jetzt doch so gefährlich zu werden, dass ihnen unser Tod für sie zum Ziel wird.“
 

„Er hat Angst“, erwiderte Aya schlicht. Das merkte man Schuldig an, wenn er es auch nicht immer sagte. Vielleicht riskierte er deswegen so viel… um einen Sieg zu erlangen und diese Angst endgültig zu töten, indem er ihre Auslöser tötete.
 

„Das ist keine Entschuldigung für Insubordination“, sagte Brad und verzog die Mundwinkel abfällig. „Damit hat er sich schon oft in prekäre Situationen gebracht und damals half ihm seine Telepathie auch nicht mehr weiter.“

Brad stellte das Glas ab.

„Wenn er so weiter macht, muss ich ihn bestrafen.“ Brad drehte sich mit dem Sessel wieder halb zum Rechner hin und schmunzelte in sich hinein. „Du könntest diese Bestrafung übernehmen. Dir fallen doch sicher einige Dinge ein, die ihm nicht behagen.“
 

„Ich habe ihn schon genug bestraft“, sagte Aya zu sich und nahm einen großen Schluck Wein. Alleine mit seiner Anwesenheit hatte er Schuldig schon des Öfteren mehr bestraft als belohnt.

„Zurzeit darf er das Bad putzen. Wenn du ihn jemals wirklich hart bestrafen willst, lass ihn das auch bei dir tun. Er hasst es. Und natürlich ist sexuelle Abstinenz auch nicht sehr erwünscht.“

Ein langer, prüfender Blick traf Crawford und offenbarte, dass hinter der letzten Bemerkung mehr stand.
 

Brad spürte den sezierenden Blick in seine Richtung und er drehte den Kopf, der an der Rücklehne des Sessels lag. „Willst du mich damit fragen, ob er mit mir schon im Bett war?“ Natürlich war es so.
 

„Nun ja, ich möchte nicht fragen, ob ihr zusammen Blümchen pflücken wart.“ Wenn schon ehrlich, dann ganz ehrlich.
 

„Warum willst du es wissen? Macht es für dich einen Unterschied wenn du es weißt?“
 

„Weil es mich interessiert. Einen Unterschied für mich persönlich macht es nicht, nein, da ich nicht vorhabe, euer Bett zu teilen, aber ich kann mich nicht von der Neugier freisprechen.“

Und von einer latenten Eifersucht, die Aya jedoch gut im Zaum halten konnte. Er wusste, dass Schuldig ihn liebte und nichts würde ihm dieses Gefühl nehmen. Doch… da gab es ja auch noch den anderen. Der, auch wenn unabhängig von ihm… trotzdem irgendwie noch Fremdkörper war.
 

„Du… weißt aber schon, dass es dich nichts angeht. In gewisser Weise.“ Brad war gespannt, wie lange Ran noch geduldig war. Immerhin hielt er schon lange durch ohne hochmütig oder trotzig zu werden.
 

Eine hoch erhobene Augenbraue begegnete Crawford. Geduldig war Aya schon lange nicht mehr, aber er hatte durchaus gelernt, es nicht zu zeigen. Vor allen Dingen wer war er denn, dass er seine Ungeduld und Neugierde vor Crawford zeigte?

Nun ja, vielleicht ein wenig.

„In gewisser Weise muss ich aber wissen, was ich Schuldig bieten muss, um dich auszustechen… es kann ja nicht angehen, dass der Hauptmann weniger drauf hat als der Nebenmann.“ Ayas Zähne zeigen hätte man Lächeln nennen können… ein sehr gemeines Lächeln.
 

Das brachte Crawford doch fast dazu Fujimiya eine gewisse Portion Humor zuzurechnen. Vor allem in dieser speziellen Situation. Offenbar hatte der Japaner sich mit ihr arrangiert - zumindest versuchte er es - zu Schuldigs Wohl, was Brad ihm anrechnete.

Er stellte sich die Frage, ob er selbst so großzügig wie Fujimiya wäre, Schuldig zu teilen und er musste verneinen. Wäre er an Stelle des Japaners gäbe es keinen zweiten Partner. Jedoch lagen hier Gegebenheiten vor, die alles andere als der normale Gang der Dinge waren und somit auch ungewöhnliche Lösungen bedurften.

„Ich denke, Schuldig geht es nicht darum wer mehr drauf hat, vielmehr scheint es so zu sein, dass wir ihm Unterschiedlichkeiten bieten.“ Somit war Fujimiyas Frage nicht gänzlich beantwortet, aber Crawford hatte nicht vor preiszugeben, dass zwischen Schuldig und ihm bisher nichts gelaufen war.
 

Ein sehr schiefer Blick traf Crawford. Unterschiedlichkeiten? Da gab es einige, die das nicht so sahen.

„Wenigstens einer, der mir zustimmt.“

Wenngleich sich Aya auch fragte, wo denn wirklich diese Unterschiede lagen… gut, vielleicht war er nicht so ein Arschloch wie Crawford. Wenngleich Crawford ja auch wohlversteckte, menschliche Seiten hatte.
 

Brads Aufmerksamkeit driftete für kurze Momente zum Bildschirm zurück. „Ich sehs mir an.“

Er wechselte die Überwachungskameras, bis er das Überwachungsgebiet der Kamera neun vor sich hatte.

Schuldig hatte einige Neuankömmlinge entdeckt und dazu noch in ungewöhnlicher Kombination.

„Ein Spross der Familie Sakurakawa“, schickte Brad zu Schuldig zurück. „Er stand nicht auf der Einladungsliste, die wir erhalten haben.“

Brad nickte für sich selbst und blickte auf den Monitor, als Schuldig erneut anfragte. „Keine Kontaktaufnahme“, sagte er und seine Stimme klang wie geschmiedeter Stahl. „Und ja, ich meine das ernst.“

Er kappte die Verbindung und schaltete auf eine andere Kamera um, sah Schuldig dabei für Momente dabei zu wie er sich mit einem anderen Gast unterhielt. Natürlich weiblicher Art der Spezies Mensch.
 

Brad wandte sich zurück zu Ran. „Ich stimme dir zu, dass es Unterschiede zwischen uns gibt… wer kommt denn auf die abstruse Idee, es gäbe Gemeinsamkeiten?“, fragte er, die Stimme mit einer Prise Ironie angereichert.
 

Aya hob zunächst das Weinglas an seine Lippen und nahm noch einen weiteren Schluck. Der Wein wärmte ihn schnell, kein Wunder, hatte er doch heute wieder nicht viel gegessen, wieder aus Stress, dass Schuldig nun alleine auf einem Auftrag war… auch wenn es augenscheinlich nur etwas Harmloses war.

Dennoch war genau das auch der Grund, der ihn letzten Endes zu Crawford getrieben hatte. Das letzte Mal, als er mit Crawford in einem Raum gewesen war für längere Zeit, war Schuldig wiedergekommen – wiederauferstanden von den Toten...

Dass diese Logik nicht wirklich logisch war, beachtete Aya nicht… schließlich wollte er diese innerliche Unruhe loswerden.
 

Doch zurück in die Gegenwart, riss sich Aya selbst aus seinen dunklen Gedanken.

„Die Hälfte, wenn nicht sogar dreiviertel deines Teams“, erwiderte er staubtrocken auf die Frage des Amerikaners. „Anscheinend sind sie blind, was das angeht… wir haben keine Gemeinsamkeiten.“ Bis auf den Despotismus, bis auf den Anführerstatus, die Gefühlskälte…
 

„Natürlich haben wir die nicht“, gab Brad im gleichen Tonfall zurück. Ihm war jedoch durchaus klar, dass sie diese Gemeinsamkeiten hatten. Er nahm sein Weinglas vom Tisch vor sich und nahm einen Schluck während er die Bildschirme im Auge behielt. „Was glaubst du findet Schuldig an mir?“ Eine klare Fangfrage.
 

Dass Aya seit neuestem seine Emotionen nicht mehr ganz so gut unter Kontrolle hatte wie noch vor Monaten, zeigte sich jetzt, als Crawford reinstes Erstaunen traf.

Er drehte den Bürosessel leicht und merkte, wie warm seine Ohren waren. Er hätte wirklich etwas essen sollen!

„Was findet Schuldig an dir…“ Aya grübelte nach. Die Frage hatte es wirklich in sich, das konnte Aya nur bestätigen. Er sah an die Decke, als wenn sie ihm eine Antwort geben könnte. „Du hast ihm Stärke gegeben, damals. Selbst, als er versucht hat, dich zu bekommen, hast du ihn abblitzen lassen. Ich vermute, aus einem seiner Spiele ist dann Ernst und aus dem bloßen Habenwollen ist etwas Tieferes geworden. Außerdem steht er auf Arschlöcher. Das kannst du nicht abstreiten.“

Ayas Blick wanderte zurück. „Was glaubst du denn, findet er an mir?“
 

„Er steht auf Arschlöcher, das sagtest du bereits.“ Brad stellte sein Weinglas ab und gab über die Tastatur Befehle ein um einige der anderen Kameras einzusehen.

„Ich wollte nicht darauf hinaus, wie er ‚zu mir’ gekommen ist, sondern was er an mir findet, Fujimiya. Und das ist das Gleiche was er bei dir auch hat nur in einigen Bereichen verstärkt, extremer. Im Umgang mit dir treten an ihm Verhaltensweisen auf, die er bei mir nie zeigen oder ausleben würde.“
 

„Weil er Respekt vor dir hat“, lächelte Aya in sein Weinglas hinein. Wohl eher Angst. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemals auf die Idee kommen würde, dich durch die Wohnung zu jagen.“ Gut, das war seine eigene Idee gewesen, aber Schuldig war darauf eingestiegen!

Aya warf einen Blick auf die Bilder, sezierte für einen Moment lang die Personen, die zu sehen waren. Alles in allem friedlich, doch für wie lange noch?

„Er schätzt an dir deine Stärke und Beständigkeit. Etwas, das er bei mir nicht bekommt.“ Eher Chaos und Soziopathentum…

Aber es war schon interessant, wie Crawford zwischen seinem Vor- und Nachnamen wechselte. Als Schuldig noch als tot gegolten hatte, waren sie beim Vornamen gewesen, zumindest Crawford. Aya hatte den anderen eher stumm bei seinem Vornamen genannt; und jetzt hatten sie ihre alte Feindschaft wieder aufleben lassen.

Es gab ja auch nichts mehr, was sie verband. Nichts, bis auf den lebenden Schuldig. Ob das genug war… er wusste es nicht.
 

Brad versuchte erst gar nicht, die Jagd-Beichte zu kommentieren, er drehte lediglich sein Gesicht zu dem Japaner hinüber und betrachtete sich die leicht geröteten Wangen.

„Du solltest etwas essen.“ Bevor hier noch mehr intime Details zum Vorschein kamen, die er nicht hören oder sich vorstellen wollte.
 

„Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich in deiner Gegenwart so betrinken werde, dass ich dir alle schmutzigen Geheimnisse von Schuldig und meiner Wenigkeit erzähle“, erwiderte Aya zielsicher. Er war nun einmal Japaner und nicht dafür gedacht, größere Mengen Alkohol zu sich zu nehmen.

Es sei denn, es handelte sich um Sake. Und wenn, dann nur in Schuldigs Gegenwart. Oder so.

„Wie wäre es, du stellst dich an den Herd und kochst?“ Woher das nun kam, war Aya ein Rätsel… vielleicht daher, dass er Crawfords Essen wirklich mit Genuss gegessen hätte, wenn er nicht um Schuldig getrauert hätte.
 

„Allein dieser Vorschlag während einer Observation zeugt davon, dass du dringend etwas essen solltest. Wie wäre es, wenn DU etwas kochst?“ Brads Mundwinkel kräuselte sich zu einem angedeuteten spöttischen Lächeln.
 

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass dies hier meine Küche ist“, spiegelte Aya Crawfords Geste. „Aufgrund der Tatsache, dass du dich momentan in einer Observation befindest, halte ich es für angebracht, dass du nachher kochst, da hast du schon Recht.“ Mal sehen, bei wem letzten Endes der schwarze Peter hängen blieb, wenngleich Aya da schon so seine Ahnung hatte.

Ayas Blick fiel auf einen der Bildschirme, als er ein bekanntes Gesicht wahrnahm. Ein Firmenchef, den sie nie wirklich zu fassen bekommen hatten als Weiß. Neben seinen rechtschaffenen Gesetzen verkaufte er auch Waffen an Länder, die alles brauchten – außer Waffen. Im Gegenzug holte er billige Arbeitskräfte nach Japan… moderner Menschenhandel quasi. Ayas Finger zuckten. Ja, in diesem Moment wünschte er sich seine Katana. In diesem Moment wusste er, dass er mit dem Töten immer noch nicht fertig war. In diesem Moment spürte er den Weiß in sich mehr als deutlich.
 

„Memo an mich: Fujimiya keinen Wein mehr anbieten…“, murmelte Brad als er dem mörderischen Blick des Japaners gefolgt war. „Wobei…“, er ließ den Satz mit einem nachdenklichen Gesicht im Raum hängen. Es war amüsant, wie schnell sich ein paar Schluck Wein in dem blassen Gesicht zu einer ansprechenden zarten Röte ausweiten konnten. Es war eine Schwäche, die sich hier offenbarte. „Hast du heute schon etwas gegessen?“
 

„Du hast Humor… ich bin erstaunt“, sagte Aya in Crawfords Richtung und hob die rechte Augenbraue. Seine Augen folgten nur einen Moment später und maßen den Amerikaner schweigend, dessen Belustigung und dessen Verweilen auf seinen Wangen.

„Genug, um in diesem Moment nicht betrunken zu sein.“ Miso zum Frühstück war es gewesen… eine Schale. Gut, nicht genug. Crawfords Frage erinnerte ihn an die Zeit, in der Schuldig als tot gegolten hatte. Dort hatte der Amerikaner ihm diese Frage jeden Tag gestellt. Immer dann, wenn er da gewesen war.

Und immer hatte Aya sie mit nein beantwortet.

„Woher hattest du eigentlich diese Videos von Schuldig?“
 

Brad hatte mit diesem Thema nicht gerechnet und fixierte einen der Monitore, auf dem Schuldig von einem Areal zum anderen ging um dort an der Bar einen neuen Drink zu ordern.

„Halt dich mit den Drinks zurück“, wies Brad Schuldig an. „Es reicht, wenn einer von euch Roten am Rande eines Besäufnisses wankt.“

Zu Ran gewandt sagte er in wesentlich weniger stählernen Tonfall: „Aus früheren Zeiten. Aber was bringt dich auf die Frage?“
 

Am Rande des Besäufnisses?

Aya musste doch wohl sehr bitten, er war noch nicht einmal in Ansätzen betrunken.

Zufrieden betrachtete er sich Schuldigs Gesichtsausdruck, der für einen Moment lang in das völlige Schmollen und absolute Zweifel abglitt. Eine Millisekunde nur, bevor er sich wieder auf den Empfang konzentrierte.

Aya hielt es nicht für notwendig, diese allzu impertinente Anspielung auf sein Trinkverhalten mit etwas anderem als einem weiteren Schluck zu kommentieren und konzentrierte sich auf die nächste Frage.

„Die Erinnerung an die jüngere Vergangenheit“, erwiderte Aya ebenso ehrlich. Information gegen Gegeninformation… warum nicht? „Außerdem findet man diese Art von Videos sicherlich nicht auf der Straße. Die Frage ist auch, warum du sie überhaupt schon so lange gehabt hast.“
 

„Tja… warum hatte ich sie wohl?“, fragte Brad in Richtung Monitor mit nachdenklicher Stimme. Es gab von ihnen allen Videoaufnahmen und er hatte sie schon sehr lange. Seit SZ‘ Untergang und einige Aufnahmen sogar schon wesentlich früher.

„Ich habe sie SZ abgenommen.“
 

„Als Erinnerung an alte Zeiten, nachdem der Sturz der Kathedrale ins Meer euch beinahe getötet hätte?“, wollte Aya wissen und nahm den letzten Schluck aus seinem Glas. Gut, vielleicht hätte er nicht so schnell trinken sollen, wenngleich er von vornherein weniger in seinem Glas gehabt hatte als Crawford selbst.
 

„Eher als Versicherung, dass niemand anderer an die Tapes kommen würde. Ich wollte sie zerstören, aber irgendetwas hat mich davon abgehalten.“

Brad erhob sich und ging um Ran herum um Ran nachzuschenken. Wenigstens konnte er sich während der Operation damit unterhalten, Fujimiya betrunken zu machen.
 

Aya beobachtete Crawfords Tun mit Argusaugen und musste ob der Menge, die nun sein Glas füllte, doch die Stirn runzeln.

„Gibt es einen Grund, warum du mich abfüllst?“, fragte er mit teuflischer Intonation und verschränkte die Arme, drehte sich zu Crawford, der neben ihm stand. Seine Augen waren entgegen der Röte auf seinen Wangen klar und scharf.

„Was hat dich davon abgehalten?“
 

Brad lächelte sparsam. „Der Gedanke an Rache. Ich wollte mir stets vor Augen halten können, was nie wieder sein sollte. Das Gefühl kennst du sicher gut genug.“
 

„Und dennoch hast du dir Schuldigs Videos nicht aus dem Gedanken der Rache angesehen, als er für tot gehalten wurde.“

Natürlich kannte Aya das schöne Gefühl der eiskalten Rache, das sich irgendwann in Leere umwandelte. Er hatte seine Rache gehabt und dann? Nichts.
 

„Was willst du von mir hören?“

Brad stellte die Weinflasche ab und setzte sich wieder auf seinen Platz, die Monitore nicht aus seinem Blick lassend. Rans Fähigkeit, ihm mit seinen Fragen auf die Nerven zu gehen, hatte unter dem vermeintlichen Verlust von Schuldig kaum in ihrer Intensität nachgelassen.
 

„Die Wahrheit, was sonst?“

Aya sah, wie Schuldig schon wieder intensiv mit einer Frau flirtete und nichts unversucht ließ, um sie von seiner Person zu überzeugen.

„Ihm macht das Spaß… seine Umgebung zu triezen.“ Aya hatte „mich“ sagen wollen, doch er hatte nicht vergessen, dass Crawford ebenso ein potenzieller Kandidat war… wäre, wenn Schuldig es sich eingestehen würde.
 

„Ja, es ist eine Art Lebenselixier für ihn. Ohne seine Umgebung dazu anzustacheln, ihre gewohnten Handlungen aufzugeben und sich auf ihn einzustellen, sie zu reizen und anzustacheln, ohne dies würde ihn die Monotonie einholen. Sein Wesen verändert Dinge und trotzdem strebt er nach Beständigkeit, klammert sich daran, an Regeln. Ärgerlich ist es nur, dass er ständig dagegen ankämpft. Schuldig ist ein Paradoxon.“
 

„Eines, das dich fasziniert.“

Aya drehte sich den Bildschirmen zu, dem Subjekt ihres Gespräches. Ja, es stimmte… Schuldig war ein Paradoxon, ein äußerst attraktives, zugegebenermaßen.

„Du hast mir die Frage immer noch nicht beantwortet, warum genau du mich jetzt abfüllen willst.“
 

„Um dich ins Bett zu kriegen, solange Schuldig sich anderweitig beschäftigt“, gab Brad mit gelangweilt spöttischer Miene und Stimme als Antwort zurück.

Als er Rans Blick begegnete, trafen seine allwissenden Augen auf das klare Violett, welches bereits einen weichen Ton angenommen hatte, vermutlich war es die Wirkung des Rotweines, den der Japaner auf nüchternen Magen getrunken hatte. Den Kaffee zählte Brad nicht mit.

Der Zug, um seine Mundwinkel nahm eine Note an, die schwer einzuordnen war. Etwas zwischen kühler Berechnung, der Gelassenheit eines Hellsehers und einem Quäntchen Bedauern, dessen Ursprung er sich selbst nicht sicher war.
 

Der rothaarige Japaner sah diese Mischung in der Mimik des anderen und es ließ ihn einen Moment lang innehalten. Er war ruhig, was durchaus an der Wirkung des Alkohols lag und ebenso sehr auf Details fixiert. Details wie der Zug um Crawfords Mundwinkel oder dessen intonierte Worte.

„Wieso brauchst du dafür Alkohol, wir waren doch schon zusammen im Bett“, gab Aya zweifelnd zurück, mit einem Quäntchen an Enttäuschung, das gerade eben reichte, um seine Worte ernst klingen zu lassen. Das Quäntchen an Sehnsucht war ebenso kalkuliert, auch wenn es einen ernsten Hintergrund hatte. Als er den ersten Schreck der Nähe zum Amerikaner überwunden hatte, hatte er dessen Anwesenheit genossen, auch jetzt noch fand er sie rückwirkend weniger schlimm als gedacht. Zumal Crawford ja nicht gänzlich unattraktiv für ihn war… er war eben nur… Crawford.
 

„Ah… dein Schmusetier macht mir hier amouröse Angebote“, sagte Brad ins Mikro seines Headsets zu Schuldig. Die Antwort ließ ihn leise lachen.

„Nicht ganz so schlimm, aber seine Gesichtsfarbe ähnelt der eines erröteten Mädchens.“ Brad wandte sich von Ran ab und kam zu den Bildschirmen zurück.

„Dein Püppchen müsste in Kürze eintreffen. Es ist noch fünfzehn Minuten vom Eingang entfernt.“
 

So schnell kam die Retourkutsche, musste Aya feststellen, als er Crawfords Worte vernahm und sich wieder einmal vor Augen hielt, warum er den anderen eigentlich nicht leiden konnte.

Das Orakel war und blieb ein Arsch.

„Von den amourösen Angeboten magst du träumen, aber die Realität sieht da doch etwas anders aus… ich stehe da eher auf den langhaarigen Typ, wie du weißt“, kam es zurück, als wieder Ruhe in den Raum einkehrte und Aya seinen Blick auf das eine oder andere Gesicht auf den Monitoren richtete.

„Obwohl dein Hintern sicherlich mal eine nette Abwechslung wäre…“, sinnierte Aya schließlich und runzelte nachdenklich die Stirn, als wenn es tatsächlich eine ernst zunehmende Option für ihn war.
 

Fujimiya erntete dafür jedoch lediglich einen amüsierten Laut. „Er ist auf meinen Hintern scharf. Offenbar hast du dein Schmusetier nicht im Griff“, schmunzelte Brad in Richtung Monitor und Schuldig sah kurz hoch zur Kamera, ein finsteres Gesicht ziehend.

„Das gibt Ärger im Paradies“, verkündete Brad und hob eine Augenbraue in Richtung Fujimiya.
 

Schmusetier?

„Wenn du dich ordentlich beim Sex anstellst, Pimp Daddy, war es das wert gewesen“, lächelte Aya teuflisch und zeigte seine Zähne in Richtung des dunklen Gesichtsausdruckes, der schon längst wieder verschwunden war.

Er wusste, dass er sehr wohl zu leiden hatte, wenn Schuldig wiederkam, doch… nun gut. In der Not fraß der Teufel Fliegen oder behauptete ganz schlicht, dass er auf Hintern stünde, die ihn nicht die Bohne interessierten.
 

Schuldig jedoch fand es offenbar weniger lustig, dass Ran Brad anmachte.

„Du bleibst wo du bist. Das war ein Witz. Du bewegst deinen Hintern kein Stück dort raus, bevor die Operation nicht abgeblasen wird.“

Brads Stimme nahm einen drohenden Unterton an. „Nein und das war nicht doppeldeutig gemeint.“
 

Schuldig nahm es für ernst, was er hier gesagt hatte? Aya zweifelte latent an Schuldigs klarem Denken in diesem Moment und streckte eine Hand in Richtung Amerikaner aus.

„Gib mir das Headset, ich möchte mit ihm reden“, sagte er nach reiflicher Überlegung, dass kurze prägnante Worte Schuldig wirklich davon abhalten konnten, noch mehr Dummheiten zu machen und sich selbst damit zu gefährden. Wie kam dieses ungarisch-deutsche Telepathenzackelschaf eigentlich auf so einen abwegigen Gedanken?, grollte Aya innerlich.
 

„Das würde dir nichts bringen, er antwortet mir per Telepathie. Es wäre auch sehr komisch würde er mit sich selbst sprechen.“ Brad sah Fujimiya an als wäre dieser kognitiv eher suboptimiert.
 

„Habe ich etwas davon gesagt, dass es notwendig ist, dass er MIR antwortet?“, traf Eiseskälte mit einem Stich von Schadenfreude auf diese latente Unterstellung der Vollblödheit. „Hat wohl was für sich, wenn man sich gegen seine Gabe abschirmen kann, was? Also… das Headset bitte.“ Ja, es machte Aya Spaß, sehr großen sogar.
 

Brad rollte mit dem Sessel ein Stück zurück, zog ein anderes Headset heran und reichte es dem Japaner mit gönnerhafter Geste weiter.
 

„Deine Freundlichkeit war das Erste, was ich an dir gemocht habe“, entgegnete Aya auf diese Geste und setzte es sich auf, überprüfte die Verbindung.

„Weißt du, was ich gerade genieße?“, sagte er zu Schuldig. „Dass du den Mund hältst, während dein Schmusetier ein paar deutliche Worte sagt. Also, während du dir die Zeit auf dem Empfang vertreibst, treiben wir es hier wie die Kaninchen. Auf einer Skala von eins bis zehn, wie wahrscheinlich klingt das? Nicht wahrscheinlich? Sehr gut, gut erkannt. Deswegen konzentrierst du dich auf das, was du gerade tust, oder willst du, dass sie dich unvorbereitet erwischen… wie beim letzten Mal?“ Auch in seinen Worten schwang eine leise Drohung mit, die Drohung ging jedoch auch zu Crawford, der Schuldig erst abgelenkt hatte!
 

Selbst Brad empfand diese Worte als unpassend, was sich derart niederschlug, dass Schuldig nichts darauf erwiderte - ein Umstand der sehr ungewöhnlich war. Fujimiya hatte gekonnt wie eh und je die Luft herausgelassen. Brad sagte nichts dazu, er hatte jedoch erwartet, dass Schuldig sich verbal bei ihm revanchierte, was jedoch ausblieb.
 

Aya ließ sich von dieser Stille einen Moment lang treiben, bevor er das Headset absetzte und abschaltete, sodass Schuldig ihn nicht mehr hören konnte.

Er war sich über seine doch recht krasse Wortwahl bewusst gewesen, hatte diese Worte auch bewusst so gewählt, wie er sie ausgesprochen hatte und dennoch hatte er nun das Gefühl, sich gegenüber Crawford erklären zu müssen.

Warum auch immer.

„Ich will nie wieder sehen, wie er in einem Leichenschauhaus liegt. Ich will diesen zweiwöchigen Horror nie wieder durchstehen müssen“, sagte er ernst und erhob sich aus dem Sessel. Jetzt war ein guter Zeitpunkt, sich etwas zu essen zu machen. Ein sehr guter.
 

„Bleib hier“, sagte Brad leise, mit der üblichen Autorität. Er hatte das Headset ebenfalls kurz ausgeschaltet.

„Hast du das Gefühl, dass wir in China nicht gut vorbereitet gewesen wären, oder dass wir unvorsichtig gewesen wären, dass wir uns amüsiert hätten, Spaß hatten? Dass der Zeitplan nicht eingehalten worden wäre? Hast du eine Ahnung wie wir arbeiten? Oder hast du eine Ahnung, dass Schuldig sich gerne nebenher amüsiert? Er ist durchaus Multitaskingfähig. Er macht die Drecksarbeit und braucht diesen Kontakt zum Koordinator. Ich dachte, du würdest ihn gut genug kennen um ihm in einer derartigen Situation keine hässlichen Erinnerungen zu bescheren. Was ist los mit dir?“, wollte er ernsthaft wissen.
 

Schweigen traf auf Crawfords Worte, die in Aya zunächst einmal Widerstand hervorgerufen hatten. Widerstand ob der Autorität, die ihm hier entgegenschlug. Doch auch Crawfords Argumente waren nur allzu verständlich, nur allzu berechtigt.

„Gerade weil ihr in China vorbereitet war, weil alles bis zum Zeitpunkt X nach Plan gelaufen ist, mache ich mir bei so einer einfachen Sache mehr Sorgen als ich es eigentlich tun sollte. Wir haben keinerlei Garantie, dass sie nicht wieder zuschlagen und dass er sich dieses Mal wieder in ihrem Schussfeld befindet. Keinerlei. Wenn er sich jetzt durch etwas Profanes wie einen simplen Spaß vom Wesentlichen ablenkt, dann kann das verdammt schlecht für ihn ausgehen. Und nein, ich weiß nicht, ob er sich einen Spaß erlaubt hat oder nicht. Ich habe nur gesehen, dass er bereit war, die Mission abzubrechen und somit den Verdacht auf sich zu lenken.“ Ayas Worte waren ruhig, jedoch lungerte die Verzweiflung in den Tiefen seines Bewusstseins nur allzu deutlich dahinter.
 

„Er hätte die Mission nie abgebrochen, Ran“, sagte Brad und erhob sich von seinem Platz. „Er gehorcht mir während einer Operation bedingungslos. Sein einziges Bestreben lag darin, in Gedanken bei uns… oder dir zu sein. Das ist alles.“

Brad wollte etwas erwidern, überlegte es sich jedoch anders und änderte seine Worte. „Er ist mein Werkzeug, ebenso wie Jei und Nagi es sind. Er meckert regelmäßig über Tätigkeiten, die er nicht versteht, aber er führt sie aus. Als Operator haben sowohl Nagi als auch ich durch Nagi die Kontrolle über ihn und seine Fähigkeiten. Es funktionierte gut… bisher. Die weiterentwickelte Form dieser Schachfigur wäre somit Jei. Er beschwert sich nicht.“ Brad hob ironisch eine Augenbraue.

„Ich hatte nicht vor ihn ewig dort zu lassen, deshalb wird Nagi ihn ablösen. Sie haben eine gewisse Überlappungszeit von zwei Stunden, in der sie sich zusammen sehen lassen, jedoch wird Schuldig eine Stunde vor Nagi gehen. Jei ist in der Nähe und sichert die Umgebung. Du kennst Nagis Fähigkeiten. Ein Stromausfall in Tokyo ist keine Schwierigkeit für ihn.“ Er lächelte nun sogar etwas. „Du vertraust unseren Fähigkeiten nach all den Jahren immer noch nicht?“
 

Aya ließ diese regelrechte Standpauke, denn nichts anderes waren Crawfords Worte, schweigend über sich ergehen. Schweigend und nachdenklich, vor allem mit der Frage beschäftigt, ob er den Fähigkeiten der PSI-Akteure vertraute oder nicht.

Crawford – Brad – war ehrlich zu ihm gewesen und so beschloss Aya, es ihm gleich zu tun, wieder einmal.

„Für Jahre wart ihr mit euren Fähigkeiten ein Fluch für uns, da wir gegen sie nur schwerlich ankamen. Aber jetzt gibt es da diese Gruppierung, jetzt sind wir untereinander gemischt und haben uns damit selbst geschwächt anstelle uns zu stärken. Ich habe mit angesehen, wie Jei an ihnen gescheitert ist, wie du und Schuldig nicht gegen sie angekommen sind. Ich vertraue euren Fähigkeiten, doch das Risiko, dass trotzdem irgendetwas passiert, ist sehr hoch.

Dass er nicht abbrechen würde, wusste ich jedoch nicht.“ Ein kurzes bitteres Schmunzeln huschte über Ayas Gesicht. Er konnte gut nachvollziehen, was Crawford mit Werkzeug meinte, denn nur so funktionierte ein optimal arbeitendes Team. Aya musste es schließlich wissen, hatte er doch so manches Mal durch eigenmächtige Aktionen alles gefährdet.
 

„Du dachtest, er würde abbrechen um hierher an deine Seite zu eilen und dir eine Strafpredigt zu halten, dass du gefälligst die Hände von meinem Hintern lassen solltest? Wo mittlerweile durchaus jedem klar ist, dass wir uns nur gegenseitig dulden und nicht unbedingt immer mit wohlwollendem Auge.“

Brad machte eine unbedeutende Handbewegung. „Er vertraut dir.“ Es hörte sich zwar fast so an, als müsste jetzt noch: ‚Vertraust du Schuldig?’ kommen. Brad überließ es Rans Fantasie sich diese Frage selbst zu stellen.
 

Genau das geschah nun. Vertraute Aya Schuldig? Ja. Konnte er zum jetzigen Zeitpunkt seine Angst hinter sich lassen, Schuldig noch einmal zu verlieren?

Nein.

Nein, konnte er nicht, dafür war sie immer noch zu groß. Im Alltag ließ sich diese Angst wunderbar verdrängen oder sogar auslöschen, doch in Extremsituationen wie dieser hier war das nicht so einfach und dann reagierte er über.

Aya fuhr sich mit der Hand über die Stirn, dann über das ganze Gesicht. Es war in der Tat heiß.

Ebenso wie er nun etwas sagte, dass er sich bis heute nicht zu träumen gewagt hatte, geschweige denn zugelassen hätte.

„Du hast Recht“, erwiderte er schlicht auf Crawfords Worte, die violetten Augen in ihre braunen Gegenstücke gebohrt.
 

„Und du… bist tatsächlich betrunken.“ Brad zeigte ein kühles Lächeln.

Er warf einen Blick zum Monitor. „Nagi ist eingetroffen.“

Dann nickte er Ran zu. „Lass uns etwas essen, die zwei haben alles im Griff. Unser Püppchen wird nicht zulassen, dass irgendjemand Hand an ihre Begleitung legt.“
 

o~
 

Wie oft hatten sie versucht, so nahe zu kommen wie jetzt und wie oft waren sie gescheitert?

Diese beiden Fragen geisterten Aya schon seit sie das Gebäude betreten hatten, im Kopf herum, während er sich gewisse Eckpunkte wie Notausgänge und ähnliches einprägte, falls sie schnell entkommen mussten.

Sie waren im Dreiergespann hier aufgetaucht und nun auf dem Weg zu Asamis Büro. Schuldig und Crawford trugen Anzüge, jeweils in der gegensätzlichen Farbe – Crawford hell und Schuldig dunkel, während er sich für ein etwas anderes Outfit entschieden hatte… Leder, wo das Auge reichte… oder, wie Schuldig gesagt hatte, Auftragsoutfit.

Zwar hatte Schuldig ihm das Versprechen abgenommen, den anderen Mann nur dann zu töten, wenn dieser von sich aus einen Versuch startete, sie zu überwältigen, dennoch hatte es Aya sich nicht nehmen lassen, sich bis an die Zähne zu bewaffnen. Von einer Waffe im Schulterholster, bis hin zu zweien in seinen Lederstiefeln.

Seine Haare waren auf chinesische Art und Weise mit zwei Stäbchen hochgesteckt… das zumindest meinte Schuldig. Er jedoch hatte sich die Stäbchen als Dolche anfertigen lassen, die er jederzeit aus ihrem haarigen Gefängnis befreien und einem potenziellen Angreifer in die Halsschlagader jagen konnte.

Dass keine seiner Waffen bereits im Eingangsbereich entdeckt worden war, hatte er Schuldig zu verdanken, der durch einen kleinen Einsatz seiner Fähigkeiten die Wachleute getäuscht hatte… aus dem einfachen Grund, dass er selbst bewaffnet war, ebenso wie Crawford auch.

Im Gegensatz zu den beiden Schwarz war er komplett… schwarz… bis auf seine Haare.

Schuldig und Crawford liefen etwas versetzt nach vorne, während er sich nach hinten hatte fallen lassen, jedoch nie soweit, dass er sich mehr als einen Meter von ihnen entfernte.
 

Was er Asami jedoch lassen musste, war, dass der Mann Geschmack hatte… denn wenngleich es ein simples Bürogebäude eines Yakuzabosses war, so war es doch stilvoll eingerichtet. Interessant. Auch der lange, breite Gang, den sie nun entlang schritten und an dessen Ende drei Personen warteten… darunter auch ein recht junger Mann.
 

Schuldig sah schon von weitem diesen jungen Mann und schmunzelte in sich hinein, äußerlich jedoch trug er das übliche amüsierte, wenig beeindruckte Lächeln zur Schau. Als sie näher kamen konnte er die unglückliche Stimme von Akihito hören.

„Hey… Kleiner… na wie läuft's?“
 

Dieser hatte in den letzten Minuten ungeduldig und nervös vor der Tür ausgeharrt… einfach aus dem Grund, da er von Asami höflich vor die Tür komplementiert worden war.

Doch nun… nun sah er ihn und…

„SCHU!“ Trotz der steifen Aufmachung des anderen sprang er ihn an und umarmte ihn stürmisch, zog ihn eng an sich. Er hatte ihn vermisst… nein, hatte nicht mehr daran geglaubt, den anderen jemals wieder zu sehen.

Denjenigen, der ihn gerettet hatte. In doppelter Hinsicht.

Dass ihn dabei ein violettes Augenpaar mit hochgezogenen Augenbrauen kritisch beobachtete, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht.

„Es läuft… wie immer!“, strahlte er den Telepathen zufrieden an. „Wie ist es bei dir?“
 

Ein echtes Lachen erfüllte den Raum und Schuldig drückte den jungen Mann an sich, bevor er ihm über die Haare strubbelte, diese unordentliche Masse noch unordentlicher zurückließ und ihn sich betrachtete. „Alles im grünen Bereich, mit ein paar Abstrichen“, er zwinkerte schelmisch und zog somit seine Aussage ins Ironische.
 

Brad war stehen geblieben, da sie als Einheit auftreten wollten und bei den Bodyguards den Eindruck vermitteln wollten, dass sie ebenso als Einheit agierten, einverstanden waren mit jeder Entscheidung des anderen.
 

„Und wie …“ er zeigte mit dem Kinn zur verschlossenen Tür. „…läuft’s generell mit dem Problem…“ er flüsterte. „...kind? Hat er sich benommen?“
 

„Er lernt, sich zu benehmen…“ Auch Takaba hatte seine Stimme etwas gesenkt und seine Augen verloren für einen kurzen Moment etwas von ihrer Fröhlichkeit.

Das erste Mal, als sie versucht hatten, miteinander zu schlafen, war zu einer Katastrophe geworden. Takaba hatte gedacht, dass er mittlerweile daran gewöhnt sein sollte, über solche Ereignisse hinwegzugehen. Nur anscheinend hatte er sich da getäuscht… dieses Mal ging es nicht. Alles in Takaba hatte sich dem anderen verweigert, wirklich alles. Sex war inzwischen undenkbar zwischen ihnen beiden. Körperliche Nähe weniger, auch wenn sie durchaus ein Problem für Takaba darstellte.

„Er ist anders als vorher… weniger rücksichtslos. Wenn auch immer noch ein Bastard!“
 

Aya erkannte langsam, um wen es sich handeln musste und seine Augen verloren etwas an ihrer Härte. Das war Schuldigs Mitgefangener aus Hongkong… derjenige… an den sich Schuldig so sehr erinnert gefühlt hatte.

Ein leises Lächeln schlich sich über seine Lippen und er entspannte sich. Obwohl er sich nicht denken konnte, warum sich so jemand mit Asami einließ.
 

‚Hey… wenn er kein Bastard wäre, dann wärst du kaum hier, hmm?’ Schuldig zwinkerte, aber sein Gesicht wurde ernster.

„Stimmt doch, oder?“, fragte er leise.

‚So ein bisschen Bastard ist doch nie schlecht? Schau dir die zwei hier an… beides von der Sorte, auch wenn sie nicht danach aussehen.’

„Wir müssen los, Takaba. Halt die Ohren steif“ ‚Und den Rest natürlich auch’, Schuldig grinste anzüglich und er machte sich auf den Weg Richtung Tür samt Bodyguards.
 

Große, braune Augen besahen sich die beiden anderen Männer und blieben schließlich in violetten hängen, die ihm vage bekannt vorkamen… warum…

Der Katzenmensch!

Das war Ran… das war sicherlich Ran, mit seinen violetten Augen und den roten, langen Haaren.

Takabas Neugier war geweckt und er konnte seinen Blick quasi gar nicht mehr von Ran lassen. Das war Schuldigs Partner, der außergewöhnliche Mensch, der eigentlich eine Katze war. Ein Kater…

Böse genug sah er aus… vor allen Dingen erinnerte er ihn leicht an Fei Long… mit seiner Frisur… war es doch eine von Fei Long Lieblingsarten gewesen, seine Haare zu tragen.

Takaba schauderte und begegnete einem schweigenden, violetten Blick, der direkt bis in sein Innerstes zu gehen schien und ihn reflexartig lächeln ließ.

‚Das ist er, oder, Schuldig? Darf ich ihn näher kennen lernen?’, fragte Takaba dennoch hoffnungsvoll. Der Rothaarige schrie aus seiner ganzen Gestalt Kühle, wenn nicht sogar emotionale Kälte. Takaba wollte wissen, ob er wirklich so war… wie er überhaupt war.
 

‚Wir sind Killer, schon vergessen, Kleiner? Wäre das so klug, ihn näher kennen zu lernen? Im Übrigen… schau ihn dir an, das lohnt sich gar nicht…’, schickte Schuldig abwiegelnd zurück, denn sie waren schon weitergegangen und die Bodyguards nickten gerade wohlwollend und öffneten die Tür.
 

‚Und ob sich das lohnt… er ist doch sicherlich ein netter Mensch, sonst wärst du nicht mit ihm zusammen! Außerdem hat er gütige Augen!’

Gut, das Letzte war frei geschwindelt, doch das wusste Schuldig ja sowieso nicht… oder so. Die Augen Rans waren kühl und emotionslos gewesen, ebenso seine Gesichtszüge. Doch was verbarg sich dahinter?
 

Auf der anderen Seite von Takabas Gedanken – nämlich auf Ayas Seite – wurden die Gedanken und Emotionen gerade dunkler, denn er hatte Asami erblickt, wie er hinter seinem Schreibtisch saß, Crawford gar nicht mal so unähnlich.
 

‚Ran guckt nicht gütig und lüg mich nicht so schlecht an…’ war das Letzte was Schuldig zu Akihito schickte, bevor er die Verbindung kappte und sich auf sein Gegenüber einstimmte.
 

Ein Mann nach seinem Geschmack. Die Verströmung von Macht - die Asami quasi förmlich aus jeder Pore quoll - zog ihn erneut - wie schon beim letzten Mal magisch an. Er lächelte für sich über diese Gedanken. Brad begrüßte ihn zuerst und Schuldig schloss sich an, während Brad das Wort führte und sie mehr oder weniger vorstellte.

„…kurzfristig einen Termin finden konnten“, schleimte dieser und Schuldig trug ein Lächeln auf den Lippen, das der Katze aus Alice im Wunderland alle Ehre gemacht hätte.
 

Zwei Anzüge und ein Rebellenoutfit…

Asamis Lippen umspielte ein amüsiertes, kaltes Lächeln, als er die ihm entgegengestreckte Hand einschlug und mit starkem Händedruck schüttelte.

„Setzen Sie sich“, deutete er auf die klar definierte, kalt schwarze Couchgarnitur am Fuße der rechten Wand. Er nahm ohne auf die anderen zu warten Platz und schlug die Beine übereinander, betrachtete sich jeden einzelnen von ihnen.

Das waren sie also, die Legenden. Schwarz, deren Name in der Unterwelt als Gerücht galt, als Schatten. Es hieß, sie hätten besondere Kräfte. Asami hatte das bisher immer als Humbug abgetan, bis ihm sein persönliches Ärgernis in einer wütenden, schwachen Minute etwas an den Kopf geworfen hatte, das ihn nachdenklich gestimmt hatte.

Diese Killer waren außergewöhnlich gut und einen von ihnen hatte er anscheinend vor den Fängen Fei Longs gerettet, interessant, wie sich ein Mensch wandeln konnte. Von hilflosem Gefangenem zu spielerischem Killer. Während der Dritte im Bund…
 

Eine lästige Schmeißfliege. Einer der unfähigen Killer, die schon mehrmals versucht hatten, ihn zu töten. Er hatte seine Leute auf die Gruppierung angesetzt, doch sie waren ihm entkommen. Seitdem hatte es jedoch keine weiteren Zusammenstöße gegeben, bis zum heutigen Tag.

„Was führt Sie zu mir?“
 

Schuldig ergriff das Wort, wie abgestimmt.

„Dank Ihrer Hilfe war mir der glückliche Umstand beschert, heil nach Japan zurückkehren zu dürfen und somit mein Überleben näher an eine hohe Wahrscheinlichkeit gekoppelt.“ Schuldig verflocht die Finger locker ineinander auf seinem Schoß. Den Ring trug er sichtbar am Finger.

„Ihnen dürfte unser bescheidener Broterwerb hinlänglich bekannt sein und bis auf wenige kläglich zu nennende Aufträge hielten wir uns aus dem großen Geschäft heraus um …wie sagt man so schön ‚die Füße still zu halten’.“ Er machte ein bedauerndes Gesicht und nickte, als wäre die Welt ein so verdammt übler und schlechter Ort und sie alle doch so arm und missverstanden. Worauf ein wölfisch und zugleich verrücktes Grinsen folgte. Ein böses.

„Aber… wir wurden nicht in Ruhe gelassen. Ein Überfall ereignete sich, wir wurden erneut gelinkt und… unser Rückzugsort enttarnt.“
 

Schuldig las für einen kurzen Augenblick neben seinen Worten die Gedanken des Yakuza Bosses.

„Es war schon immer besser, unterschätzt als überschätzt zu werden, nicht wahr?“ Sein Grinsen verebbte, als hätte er es sich vom Gesicht genommen und seine Augen nahmen einen gelangweilten Touch an. „Hören Sie… wir sind gelinde gesagt angepisst.“ Genug der schönen Worte. „Wir… wie auch Sie wollen in dieser Stadt unser Scherflein zur Ruhe und zur Ausgeglichenheit beitragen. Jetzt jedoch sind hier ein paar Jungs in der Stadt, die Unruhe stiften. Was glauben Sie, Asami-san, warum sie es zunächst auf uns abgesehen haben… bevor… der Rest dran kommt? Wir sind nämlich nicht die ersten auf der Abschussliste, aber das wissen Sie sicher schon.“ Er hatte nicht vor, Asami mit Unwissenheit über diese Vorgänge zu brüskieren… alles der Reihe nach.
 

Nichts zeigte Asamis Überraschung über die direkte Antwort auf seine Gedanken. Seine Miene war ein Stein aus kalter, lebloser Emotion, an dem alles abprallte.

So, die mächtigen Schwarz hatten Angst, dass die Ruhe in der Stadt gefährdet war und nicht nur sie selbst Ziel der neuen, unbekannten Gruppierung würden.

Denn dass auch andere Ziele der Morde werden konnten, die sich hier und da in Tokyo ereigneten, war eine latente, unterschwellige Drohung, die Asami nur marginal beeindruckte.

Sein Sicherheitssystem stand mit der Dynamik, mit der es floss und sich stetig veränderte.

„Was wollen Sie mir mit Ihren schönen, unverkleideten Worten mitteilen, Schuldig-san?“, fragte Asami unverwandt und lehnte sich zurück, ließ seinen Blick auf die mörderische Gestalt zu seiner Linken gleiten. Lange, blutrote Haare, hochgesteckt wie die einer Frau, ein Blick, der ihn nicht im Mindesten beeindruckte und der gleiche Ring wie der langhaarige Ausländer ihn auch hatte.

Wie zuckersüß und nutzlos.
 

Brad war an der Reihe und Schuldig schwieg, denn die Pause brauchten sie für die Inszenierung. Es sollte den Anschein haben als müssten sie über die Worte des Mannes nachdenken.

„Er möchte Ihnen verdeutlichen, dass wir die Spitze der letalen Maschinerie in dieser Stadt und auf diesem Erdball sind“, sagte Brad ganz ohne Färbung und ganz ohne Größenwahn.

„Die Gruppierung Weiß war nur deshalb bei Ihnen relativ erfolglos, weil sie uns nebenbei zum Ziel hatten und… sagen wir gut beschäftigt waren. Also bilden Sie sich auf Ihre Sicherheit in Ihrem kleinen Turm nicht all zu viel ein. Wenn Sie diese Bemerkung gestatten…“

Brad blickte zum Fenster hinaus.

Er verteidigte Weiß.

Gott… es lag wohl wirklich daran, dass Asami von seinem hohen Ross geholt werden musste.

Nebenbei war es eine Tatsache. Aber das spielte eine Nebenrolle.
 

„Wenn sie uns aus dem Weg geräumt haben, dann gibt es nichts, was ihnen gefährlich werden könnte. Rein gar nichts. Keine Regierung, keine Organisation auf dieser kleinen Kugel Erde. Die Ordnungshüter, deren Geheimdienstabteilung sind jetzt schon machtlos. Abteilungen, die offiziell nie existiert hatten, existieren nun wirklich nicht mehr. Sie wurden ausradiert.“
 

Schuldig verzog den Mund zu einem angetanen Lächeln bei dieser Aussicht und mimte den Erfreuten, was Brad in seiner monotonen und kühlen Erzählweise kurz zu ihm hinübersehen ließ.

„Und nicht einfach liquidiert. Rituelle Morde mit Zerstückelungen und hinterlassenen Botschaften. Es mag…“, er machte eine allumfassende gelangweilte Handbewegung. „…uns nicht weiter stören, denn es waren schließlich Agenten, die Ihnen und uns ein Ärgernis waren, doch sie räumen gezielt Störfaktoren nach einem bestimmten Muster aus dem Weg. Als nächstes werden sie Ihre Geschäfte übernehmen und… sie werden die Stadt in ihren Händen halten.“
 

„Wenn sämtliche unwichtige Störfaktoren wie diese Agenten aus dem Weg geräumt sind, was macht er dann noch hier? Sollte er nicht auch zerstückelt und den Würmern zum Fraß vorgeworfen unter der Erde liegen?“, fragte Asami mit einem amüsierten Lächeln in die Richtung des stummen Japaners und bedachte dessen ausdruckslose Mimik mit Wohlwollen.

Er kannte den Grund, schätzte Überläufer aber so gar nicht.

„Sagen Sie mir, Fujimiya-san, was treibt Sie in die Anwesenheit Ihrer Gegner, die Sie davon abgehalten haben, mich zu töten? Der Wunsch, es heute zu schaffen?“
 

Eine rote Augenbraue hob sich und unter der zwanghaft aufrecht erhaltenen Ruhe schimmerte Wut durch.

„Sie sind nicht mehr wichtig als Gegner, Asami-san“, tönte eine überraschend tiefe Stimme für den schmächtigen Körperbau. „Ein Tiger ohne Zähne.“

Eine in Ansätzen gute Antwort, befand Asami und wandte sich wieder den beiden anderen zu.

„Sie kritisieren mein Sicherheitsgefüge, kommen jedoch zu mir, um mich zu warnen. Das hat einen Grund. Welchen?“
 

So ein gottverdammtes Arschloch.

Aya wusste, dass er wenige Gelegenheiten hatte, den anderen zu töten, doch wenn dieser ihn angreifen würde… wäre er der erste, der zum Zuge käme.

Wenngleich ihn Crawfords Worte überraschten. Lob aus dem Munde des Amerikaners? Das war neu… Besänftigungstaktik vermutlich. Wer wusste schon, was die nähere Zukunft für sie brachte?
 

Schuldig bemerkte Asamis Blick und versprach sich Ran ganz viel zu loben für dessen Zurückhaltung und Selbstkontrolle. Denn er glaubte zu wissen, dass er ihm am liebsten mit fletschenden Zähnen an die Gurgel gesprungen wäre um sie aufzureißen…

„Der junge Mann, der mir so geflissentlich und umsichtig bei der Flucht geholfen hatte, gab vor meinem Boss zuzuarbeiten. Was eine Lüge war. Mit großer Wahrscheinlichkeit gehört er der Gruppierung an, die unseren Auftrag sabotierte um mich Fei Long auszuliefern. Ich…“, er lächelte bescheiden… „…verfüge über ungewöhnliche Fähigkeiten. Fei Long wurde augenscheinlich darüber nicht in Kenntnis gesetzt. Falls dies der Fall gewesen wäre, säße ich mit Sicherheit in einem Labor in den Vereinigten Staaten. Oder er hätte mich behalten … um eine wirksame Waffe gegen seine… Feinde in der Hand zu haben.“ Er machte eine kurze, wirksame Pause.
 

„Diesen jungen Mann kannte ich zuvor nicht. Er hat sowohl Sie als auch mich verarscht. Wir möchten wissen, ob Sie mehr über diesen Mann wissen und wenn ja, was.“
 

„Über welche Fähigkeiten verfügen Sie?“, fragte Asami schlicht, die Augen gelassen, aber auch einen Tick neugierig auf dem anderen liegend.

„Was sollte diesen Mann an Ihnen interessieren, dass er sich in Gefahr begibt, durch mich zu sterben oder auch durch Fei Long?“
 

„Das ist irrelevant.“ Schuldig neigte den Kopf leicht. ‚…sehen sie Ryuichi…niemand nennt Sie so… nicht einmal Akihito… der es sich so sehnlichst wünscht. Aber Sie sollten darüber nachdenken, was Fei Long mit meinen Fähigkeiten anrichten könnte, wenn er Gewalt über mich bekommen hätte. Was er durch eine Droge zeitweise hatte. Wenn nicht Akihito gewesen wäre, dann hätte er vielleicht über kurz oder lang herausbekommen, wie ich ticke…’

Schuldig wollte Asami wiederum nicht brüskieren und so sah war es eine Sache zwischen Ihnen beiden.

Brad klinkte sich in die Unterhaltung ein, doch Schuldig lenkte Asamis Aufmerksamkeit komplett auf sich selbst. Brad wurde von Asami nicht gehört. Aber es kaschierte den Umstand vor Asamis Männern, dass dieser die Aufmerksamkeit verlor.
 

Das, was Asami zuerst bemerkte, war, dass sein Gegenüber seine Lippen nicht bewegte, er dessen Worte aber klar und deutlich vernahm.

Gerücht, Schatten, Wahrheit.

Überraschen konnte Asami nicht vieles, dieses aber schon. Ein Mann, der in seinem Kopf kommunizierte, in seinen Gedanken, der sie lesen konnte.

Eine dunkle Augenbraue hob sich. Lesen?

‚Dann seien Sie dem Jungen dankbar, dass er sie vor dem Schicksal eines Versuchstieres bewahrt hat. Dass Sie aber Fei Long nicht in die Hände gefallen sind, ist kein Anreiz für mich, mit Ihnen zusammen zu arbeiten. Machen Sie die Sache lohnend für mich, dann lasse ich mit mir sprechen.’

Ungewöhnlich, diese Art der Kommunikation, aber nicht unnütz. Ganz und gar nicht unnütz, wenn auch gefährlich.
 

‚Hören wir auf mit den Spielchen. Es gibt nichts Lohnendes. Wenn Sie nicht begreifen, dass ich es war, der Akihito vor weiteren Vergewaltigungen durch ihr Ex-Schätzchen bewahrt hat und dies immer noch eine Art Wiedergutmachung ist, könnte ich Ihnen auch drohen.’ Schuldig begann damit Asamis Geist so zu manipulieren, dass dieser einen dumpfen Kopfschmerz in der hinteren Schädelgrube verspürte, mit marginaler, aber steter Steigerung.

‚Wissen Sie… Asami… es geht nicht ums Lesen der Gedanken… das wäre Fei Long sicher auch nützlich gewesen. Es geht darum Gehirne so weich zu kochen, dass die weiße Masse strohhalmfertig aus der Nase läuft. Und… Sie können nicht einmal ein Taschentuch benutzen um die Sauerei weg zu machen, denn… Sie sterben dabei.’ Schuldig lächelte bedauernd.
 


 


 


 

Fortsetung folgt...

Vielen Dank für's Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter:

http://gadreel-coco.livejournal.com/
 

Gadreel & Coco

Wollen und Haben

~ Wollen und Haben ~
 


 

Ein Blinzeln war das einzige, äußere Anzeichen für den Schmerz, der sich so stetig durch seine Hirnwindungen fraß.

Er war schon oft bedroht worden, doch das war neu. Eigentlich interessant, wäre es nicht so gefährlich… selbst für ihn.

‚Ich habe keinerlei Beweise, dass Sie den Jungen beschützt haben und somit kann ich Ihnen auch keine Wiedergutmachung zusprechen.’ Seine Augen bohrten sich in die des anderen. Worte waren in ihrem Geschäft nichts. Was zählte, waren Tatsachen.
 

Schuldig fühlte sich in diesem Moment bleiern schwer. Weshalb war dieser Typ nur derart halsstarrig?

Er spürte einen stechenden Blick im Nacken und wähnte sich unter Rans Argusaugen… apropos Starrköpfigkeit.

„Glauben Sie Akihito? Oder ist selbst sein Wort nichtig?“ Schuldig lächelte spöttisch. ‚Sagen Sie nichts, ich fürchte, ich kenne die Antwort’, schickte Schuldig in Gedanken zu dem Yakuza Boss.

‚Brad, er rückt nichts raus, wir sollten gehen. Ich habe keinen Bock auf Stress.’ Schuldig wollte sich erheben.
 

‚Warte. Lass ihn. Er ist Geschäftsmann.’
 

‚Wir haben ihm aber nichts anzubieten, wie er sagt.’
 

‚Vielleicht sollten wir ihm unsere Hilfe anbieten, falls die Gruppierung seine Gefilde streift und ihn angreift?’
 

Nein, Akihitos Wort war meist nicht nichtig… aber dazu musste der Junge erst einmal etwas darüber äußern, was passiert war… was er bisher nicht getan hatte. Und Asami würde es von sich aus nicht ansprechen.

Stille breitete sich in dem Raum aus, war ein paar Minuten zwischen ihnen, bevor sich Asami trotz der Schmerzen hinter seiner Schädeldecke aufrichtete und sich straffte.

„Sie wären nicht hier, wenn Sie diese Aufgabe alleine bewältigen könnten oder zumindest davon überzeugt wären. Das heißt, Sie wollen Unterstützung der Unterwelt um ein Netzwerk aufzubauen, das stärker ist als die unbekannte Gruppierung.“ Asami war ruhig, jedoch angespannt.
 

Schuldig hatte die Umklammerung von Asamis Geist gelöst. Brad erhob sich nach einem kurzen Blick auf Asamis Männer und trat mit etwas Abstand an das Fenster heran, wandte dem Raum den Rücken zu.

„Wir sind Schatten in… der sogenannten Unterwelt und möchten… es bleiben. Wir legen keinen Wert auf ein Ranking um den Spitzenplatz im Untergrund. Es geht uns nur darum, zu wissen, wer dieser Mann war, der Sie um Ihre Hilfe gebeten hat. Das ist alles. Ein Name, eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Nicht mehr. Keine groß angelegte Informationssammlung. Das …könnten wir selbst durchführen.“
 

Schuldig blickte zu Asami auf und machte es sich ein wenig gemütlicher auf seinem Platz.

„Ich könnte mir diese Information direkt holen“, er tippte sich an die Schläfe. „…was Sie jedoch ganz und gar nicht erfreut stimmen wird und wir möchten Sie nicht zum Feind haben. Wir wollen unsere Ruhe. Und deshalb sind wir über den normalen Weg zu Ihnen gekommen. Mittels eines Termins, mittels der von ihnen vorgeschriebenen Wartezeit und persönlich. Wir haben es nicht nötig, uns auf diesem ‚normalen’ Weg mit ihnen zu treffen. Dennoch taten wir es, um Ihnen zu zeigen, wie aufrichtig und auch wie ernst wir es meinen. Und… dass diese Bedrohung in Kürze auch Sie betreffen wird und…“
 

„… eine Warnung…“, Brads Stimme klang monoton und kühl aus dem Hintergrund und stand Asamis in Nichts nach.

„Eine Warnung sollte in diesen Zeiten und in unseren Kreisen ein willkommenes Geschenk sein, meinen Sie nicht?“ Brad wandte sich um, sein Blick flüchtig auf die Tür gerichtet.
 

Schuldig sprang auf diesen Zug mit auf und las Brads Gedanken: „Diese Gruppe greift bevorzugt DAS an, was einem lieb und teuer ist. Sie werden nicht Ihr Imperium angreifen, oder das, was Sie sich aufgebaut haben. Dennoch wird es sehr wehtun. Aber… das wissen Sie bereits.“
 

Wehtun…

Asami hatte diesen Begriff vor langer Zeit aufgegeben. Schmerzen waren Schwäche, schon immer gewesen. Schwäche kannte er nicht mehr… zumindest glaubte er das und redete es sich ein, seitdem Akihito mehr für ihn geworden war als ein harmloser Zeitvertreib, den er sich in sein Bett holte, wann er wollte.

Besonders nach China hatte Asami gelernt, dass dies ohne weiteres nicht mehr möglich war, es sei denn, er wollte dem Jungen ernsthafte Schmerzen zufügen. Es war irritierend für ihn, nicht das zu bekommen, was er wollte und wann er es wollte.
 

Eine blasse Hand schob ihm ein paar Bilder über den Tisch und Asami blickte arrogant in kalte, violette Augen.

„Stellen Sie sich vor, Asami, der Mann da draußen würde so zugerichtet werden. Eine schöne Vorstellung, nicht wahr? Das Blut dürfte Ihnen doch gefallen“, drangen Worte aus dem Mund Abyssinians, die Asami laut auflachen ließen.

„Der weiße Ritter. Passen Sie auf, Fujimiya-san, dass Sie nicht irgendwann Opfer Ihres losen Mundwerkes werden und dass es Ihnen nicht eines Tages auf höchst angenehme Art und Weise gestopft wird.“

Er wandte sich zu den beiden anderen.

„Eine Warnung ist ein willkommenes Geschenk, aber die Wahrheit ist willkommener. Ich suche mir meine Geschäftspartner sehr sorgfältig aus… angenommen, ich gebe Ihnen diese Information freiwillig, was passiert dann weiter?“
 

„Passiert?“

Schuldig zog ein fragendes Gesicht.
 

Brad trat einen Schritt näher an Asami und die Bilder heran, hob eine der Fotografien auf.

„Nichts. Wir gehen der Sache nach. Denn augenscheinlich hat er Sie belogen. Schuldig kannte diesen Mann nicht. Er hat sich jedoch als dessen… Besitzer ausgegeben. Eine glatte Lüge. Welche Beweggründe ihn dazu veranlassten, möchten wir von ihm persönlich erfahren. Sie werden nicht in diese Sache mit hineingezogen, falls Sie dies wünschen.“
 

„Ich wünsche mir Ruhe in meinem Imperium, das ist alles.“ Asami erhob sich und schlenderte zu seinem Schreibtisch, legte seine Hand leger auf eine der vielen Akten auf dem Tisch.

„Er hat sich mit Familiennamen vorgestellt und andere Informationen, als dass Ihr Telepath sein Besitz sei, habe ich auch nicht.“

Asami lächelte. „Er war ähnlich aufsässig wie Abyssinian.“

Ein dunkler Blick traf ihn… Beweis für Ayas legendäre Selbstbeherrschung.
 

Ah… Schuldig schmunzelte. „Wir wünschen uns alle das Selbe. Ruhe.“

Offenbar fiel Ran in Asamis Beuteschema. Und das nicht erst seit heute. Interessant…

Warum fand er das nur befriedigend?
 

„Spricht von Ihrer Seite etwas dagegen, wenn wir diesen Familiennamen erfahren? Und…“ Brad lächelte sardonisch in die Skyline der Stadt hinaus. Ein herrlicher Ausblick. Asami spielte in der gleichen Liga wie er, das spürte er. Sie waren sich jedoch zu ähnlich, als dass sie es wagen würden, ins Revier des anderen einzufallen oder dies von dem jeweils anderen zu dulden.

„… hält dieser Name Nachforschungen stand? Oder glauben Sie eher an einen fiktiven Namen?“
 

„Der Name sollte Ihnen nicht unbekannt sein“, lächelte Asami dunkel. „Der Sakurakawa-Clan ist eine der drei Stützen der japanischen Yakuza.“

Langsam schlenderte er zum Tisch zurück und hob ein anderes der Bilder auf, besah es sich ausgiebig.

„Kawamori Satoshi hieß der junge Mann. Ein nichtssagender Japaner. Vom Verhalten arrogant und stur, jedoch opportunistisch.“ Ein amüsierter Blick traf den rothaarigen Japaner, dessen Augen Asami schier aufspießten.
 

Was hatten die beiden doch alles gemein, Crawford und Asami… dachte sich Aya in diesem Moment. Beide großkotzig, arrogant, als läge ihnen die Welt zu Füßen. Und doch waren sie anders, auch wenn Aya den Unterschied nicht genau ausmachen konnte. Die Gemeinsamkeiten stachen da mehr heraus.
 

„Sakurakawa?“

Schuldig stutzte und sein Gesicht drückte deutliches Erstaunen aus.
 

‚Es passt zur Einladung, die wir aus dem Handtäschchen der Frau gezogen haben. Die Kreise, in denen dieser Clan verkehrt, sind die gleichen’, gab ihm Crawford zu verstehen.
 

„Sie sind sehr konservativ angehaucht“, murmelte Schuldig und untertrieb damit gewaltig.
 

„Konservativ und nationalistisch. Sie würden in diesem Clan keinen Fuß fassen. Die Frage ist, warum ausgerechnet dieser Clan Interesse daran hätte, Ihren Telepathen zu befreien…“

Asamis Blick verweilte auf Schuldig. „…und ihn freizulassen.“ Wäre er selbst einer solchen Möglichkeit habhaft geworden, hätte er nicht lange gezögert.
 

Brads Kiefermuskeln arbeiteten. Er hatte sich noch nicht umgedreht, blickte immer noch über die Skyline, sein Blick verfolgte die von der Sonne halbzerfressenen Wolken, die nunmehr in Fetzen ihr Dasein fristeten und dies wohl auch nicht mehr lange.

Es würde ein heißer Tag werden.

„Sie sagten, er sei opportunistisch. Er agiert aus eigenem Interesse“, Brads Blick ging in die Weite, er hatte das Gefühl mit seiner Antwort richtig zu liegen, doch es stellte sich keine Vision dazu sein. Das Gefühl jedoch blieb.
 

Schuldigs Blick ging zu Brad hinüber aufgrund dieser endgültigen Antwort, er zog eine Braue in die Höhe. ‚Eine Vision?’
 

‚Nein.’
 

Schuldig wandte sich an Ran, legte den Kopf ganz der Hofnarr, der er war in den Nacken. „Weißt du etwas von Ihnen, außer dass sie Ausländern eher unfreundlich gesinnt sind?“ Was dafür sprach, dass Schwarz das Ziel waren.
 

„Sie sind im Gegensatz zu anderen Yakuzaspitzen eher ruhig, beteiligen sich mehr an Familienfesten und Wohltätigkeitsorganisationen. Sie sichern sich das Vertrauen und die Sympathie der einfachen Leute, besonders in kleineren Städten und Dörfern. Dort lassen sie jedoch immer wieder einfließen, dass Ausländer in Japan nicht willkommen sind.“ Ein oder zweimal hatte Weiß einen der größeren Köpfe dieser Familie als Ziel gehabt, sie waren jedoch nur ein einziges Mal erfolgreich gewesen. Der Rest war einfach zu unauffällig gewesen.

Für Aya war diese Familie eine der gefährlichsten in Japan, weil sie nach außen hin nicht gefährlich wirkten, jedoch genau die gleichen Geschäfte wie die anderen Familien trieben.
 

Schuldig seufzte unterdrückt. Das war nicht gut.

‚Sie gestatten, dass ich mir das Erscheinungsbild in Ihren Erinnerungen hervorhole. Es ist nicht wie eine Fotographie, aber ähnlich.’ Eine indirekte Frage an Asami.
 

Asami nickte und spürte, wie die fremde Kraft in seinem Kopf wieder zunahm.

Er dachte an das Gespräch, das er mit Kawamori geführt hatte, erinnerte sich an den jungen Japaner. Dieser hatte ihm den entscheidenden Hinweis zu Fei Longs Anwesen gegeben, zum Aufenthaltsort Takabas. Er hatte Asami nach China begleitet.

„Interessant, dass er Sie als sein Eigentum bezeichnet hat, Schuldig-san.“
 

„Ja, das ist durchaus interessant“, erwiderte Schuldig und konzentrierte sich darauf die frakturierten Einzelheiten zu etwas wie der Ahnung einer Person in seinem Kopf zusammen zu setzen.
 

„Hat dieser Clan Ambitionen zur Spitze aufzusteigen?“, fragte Brad Ran.
 

‚Der Letzte, der behauptete, ich sei sein Eigentum, fand den Tod durch meine Hand. Aber ich kann Ihnen versichern, dass in regelmäßigen Zeitabständen gewisse Personen auftauchen und diesen Wunsch hegen.’ Schuldig lächelte keineswegs erfreut. ‚Sagen Sie… was würden Sie mit mir tun, wenn ich Ihr Eigentum wäre?’
 

‚Muss ich Ihnen diese Frage beantworten oder kommen Sie selbst auf die Lösung?’ Spott klang in Asamis Gedanken mit. ‚Sie sind eine Waffe, dazu geschaffen, die Herrschaft über ein Imperium oder ein Land zu sichern. Ich würde das tun, was nötig ist, Sie zu meinem Instrument zu machen. Doch Sie sind eine trügerische Waffe, da Sie auch nur ein Mensch sind. Da baue ich lieber mein Imperium auf meinen Männern und meiner Verantwortung auf.’
 

„Ja, hat er, sehr große sogar“, durchbrach Abyssinians Stimme seine Gedanken. „Durch Infiltration und Zustimmung in der Bevölkerung.“
 

Schuldigs Augen leuchteten ein unwirkliches Leuchten. Etwas glomm unter der Oberfläche der grünblauen Lagune. Etwas Sardonisches.

‚Ein Mensch. Ja… wirklich, ein Mensch.’ Er lächelte interessiert und fast geschmeichelt. Die Worte wisperten durch Asamis Gedankenwelt und gaben wieder, dass derjenige, der sie ausgesandt hatte nicht wirklich überzeugt davon war, dass Schuldig ein Mensch war.
 

„Was sagen Sie dazu?“, richtete Brad das Wort an Asami. Dieser sollte wissen ob der Sakurakawa-Clan Ambitionen hatte um sich an die Spitze der Yakuza zu setzen.
 

‚Ein Mensch, der genauso gefangen und unter Drogen gesetzt werden kann wie ein harmloser Junge.’

Während dieser Worte zu Mastermind gingen, wandte sich Asami an Crawford.

„Die Worte Fujimiya-sans haben etwas Wahres, auch wenn die Absichten des Sakurakawa-Clans nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. Sie bemühen sich im Gegenteil dazu, mit den anderen Familien Bande zu knüpfen.“
 

Schuldig schüttelte den Kopf leise lachend, setzte sich aus seiner bequemen Position auf und erhob sich. Er war wirklich amüsiert, allerdings auf eine dunkle, perverse Art und Weise.

Asami unterschätzte ihn und er spürte hassende Wut in sich. Er musste hier raus, bevor er ihn tötete.

Krallenbewährte Fingernägel zogen sich kreischend nach oben und griffen mittels eines abgrundtief bösen Blickes nach außen, sahen Asami kurz und abschätzend an. Doch das hatte Schuldig nicht gewollt… NEIN!

Er wandte sich zwanghaft ab und verließ ohne ein Wort den Raum.
 

Brad sah ihm nach. Er war irritiert.

Er verschob diese Irritation jedoch nach hinten, vermied einen Blick zu Ran. „Dann dürfen wir gespannt sein, wann sich die Familien zusammenschließen? Es ist also nur eine Frage der Zeit?“
 

DAS war der Blick eines verrückten, teuflischen Killers gewesen, nicht des pseudoharmlosen Besuchers. Asami war zufrieden über diese Demonstration, wandte sich jedoch nun an Crawford.

„Die anderen Familien sind nicht darauf bedacht, sich exakt mit dieser zusammen zu schließen. Sie bestehen auf ihre Unabhängigkeit. Wenn der Fall allerdings eintreten sollte, werden ausländische Gruppierungen, wie Sie es sind, es in Zukunft schwer haben, das sollten Sie bedenken.“
 

Takaba war in angemessener Entfernung zur Tür auf und ab getigert und fuhr nun herum, als er sie sich öffnen hörte. Schu kam heraus und er war mit wenigen Schritten bei ihm, bevor ihm bewusst wurde, dass etwas nicht stimmte.

Er runzelte die Stirn und spürte Vorsicht in sich. Schuldig schien ihm… gefährlich zu sein.

Dieser fixierte sein Augenmerk auf die großen fragenden Augen, die mit Vorsicht durchzogen waren. Er reagierte blitzschnell, griff nach dem Arm des Jungen und zog ihn mit sich, den Flur hinab. „Er hat dich nicht verdient, dieser Wichser“, murmelte er und immer noch zirkelte ein freudig, böses Lächeln um seinen Mund.
 

„Da könnten Sie Recht behalten“, nickte Brad.

„Ich denke wir sind hier fertig. Ein aufschlussreiches Gespräch. Wir sollten uns verabschieden.“ Brad blickte zu Ran und wandte sich diesem zu.

Aya erhob sich mit einem kalten Blick auf Asami und strebte mit Crawford die Tür an, natürlich ohne ein Wort des Grußes. Er öffnete die Flügeltür, in seinem Rücken den Amerikaner wissend und nun sehend, dass Asami auch mit ihnen auf den Flur kam.

Doch auf dem Flur an sich sah er etwas, das ihm noch sehr viel weniger gefiel.
 

„Was?“, fragte Takaba überrumpelt, kam jedoch nicht dazu, seine Frage gänzlich auszuformulieren, als er schier erstickt wurde, seiner Sprache und seiner Wehrhaftigkeit beraubt wurde.

‚Schu!’, verblieben ihm einzig und allein seine Gedanken. ‚Schu… was tust du?’

Er küsste. Küsste Takaba, als gelte es mit diesem Kuss den Jungen vor dem üblen Grauen zu bewahren, welches ihn gefangen hielt.

‚Ich hole dich hier weg. Dieser Typ stinkt, er ist ein Arschloch. Ich hatte unrecht. Du musst hier weg, Kleiner. Bitte. Komm mit mir. Du musst weg hier.’

Schuldigs Lippen kosten zart über Takabas, die sich nur in stummer Frage bewegten, die Augen fragend und nicht wissend. ‚Bitte… du musst hier weg. Bleib nicht bei ihm. Er macht das Gleiche mit dir wie mit mir!’ Schuldig hatte unwissentlich den Jungen völlig eingenommen. Er stand, ihn an die Wand gedrückt, im Flur viele Schritte weit von ihren Zuschauern entfernt.

‚Schu… wie meinst du das? Wie kommst du darauf?’ Takaba war völlig überrumpelt und verwirrt ob des plötzlichen Angriffs auf seine Lippen, auf seine Gedanken und seine Zweifel. ‚Ich… ich dachte, ich sollte es mit ihm versuchen, was ist passiert, das deine Meinung geändert hat?’

Wenige Meter von den beiden entfernt, war die Stimmung jedoch nicht ganz so friedfertig. Ayas Blick ruhte ungläubig und dunkel auf den beiden, sich küssenden Männern, während Wut in seinem Schädel pochte.

Da war doch die Anwesenheit des Yakuza eine willkommene Abwechslung.

„Ich habe gehört, dass der Junge sich nicht von Ihnen anfassen lässt… jetzt wissen Sie auch warum“, spottete er in Richtung Asamis, dessen dunkle, zornige Augen ihm mehr Lohn waren, als es Gewalt in diesem Moment je konnte.

Dass Asami nun eine Waffe zog, hatte er geahnt und schneller als Asami die Waffe auf Schuldig hatte richten können, lag eines seiner verborgenen Messer an der Kehle des älteren Japaners.

„Im Leben nicht, Asami“, zischte Aya boshaft. Er brauchte nur einen Vorwand, um dem Yakuza den Garaus zu machen. Nur einen einzigen Vorwand.
 

Schuldig wurde diesem Techtelmechtel der beiden Japaner gewahr, an das nervöse Handeln der zwei weiteren Bodyguards Asamis, die ebenfalls mit im Korridor standen und leckte über Takabas Lippen als er sich zu dem Störfaktor wandte, Takaba dicht an sich gezogen.

‚Er ist es nicht wert, dass du das alles durchstehst…’, wisperte Schuldig in Takabas Gedanken und leckte sich die Lippen. Sein Blick fokussierte sich jedoch erst verzögert auf die Szene.
 

Brad sah eindringlich mit starrem Blick auf Schuldig. Die Situation drohte zu eskalieren, es knisterte. Schuldig durfte jetzt nicht gereizt werden.

„Er ist immer für eine Überraschung gut“, sagte Brad zu Ran und meinte damit die Unberechenbarkeit von Schuldig, über die er mit Ran schon einmal diskutiert hatte. Jetzt erfuhr Ran am eigenen Leib was er gemeint hatte.

„Macht keine unüberlegten Handlungen, bevor er wieder hier ist.“ Brad sagte nicht, was er damit meinte.

Schuldig spürte immer noch diese immense Wut in sich, sah jedoch von Ran zu Takaba in seinem Arm und schüttelte den Kopf. ‚Ich…bin…’

Er hatte den Schalter umgelegt und jetzt… was hatte er getan? Was würde er tun?

„Das ist er… für wahr.“ Aya grollte und löste sein Messer mit einem bedauernden Blick von Asamis Hals und ging ganz langsam in Richtung Schuldig. Er hatte Schuldig schon einmal außer Kontrolle erlebt… fernab von seinem eigentlichen Wesen und was hatte den eigentlichen Telepathen wieder zurück gebracht? Ruhe.

Er bewegte sich langsam auf Schuldig zu, war schließlich mit ihm auf gleicher Höhe.

„Wir gehen.“ Ruhig, simpel, bestimmt.

Dann trat er an Schuldig vorbei gen Treppe.

‚Schu… er ändert sich… irgendwie. Zumindest versucht er es.’ Takaba seufzte. Ja, irgendwie, war er sich doch fast sicher, dass das hier ein Nachspiel haben würde. Warum also nahm er den anderen in Schutz, wenn er doch vorher Schuldig genau das gesagt hatte… dass Asami böse war.

‚Ich komme nicht von ihm los, wie du es damals schon gesagt hattest…’ Damals, vor ein paar Monaten.
 

Besagtem Japaner gefiel es jedoch ganz und gar nicht, dass der Junge, der IHM gehörte…

Wut schäumte in Asami hoch, Wut auf Takaba, dass er sich dem Schwarz so ohne Widerstand ergab. Dass er wie Butter in dessen Arm war, wenn er selbst auf der anderen Seite um jede Berührung kämpfen musste.

„Komm her, Takaba“, befahl er flach, dunkel.
 

‚Wenn er dir etwas antut, reiß ich ihm seinen Schwanz ab, eigenhändig’, unheilte Schuldig und löste sich von Takaba, gab diesen frei.

Er sah noch einmal in Takabas Gesicht, dieses Mal der Wirklichkeit näher als seiner eigenen Realität. „Machs gut, Kleiner.“

Brad kam auf Schuldig zu und blieb in einigem Abstand vor ihm stehen. Die bernsteinfarbenen Iriden in Schuldigs Gesicht gerichtet trafen unvermittelt auf unsicheres Grünblau.
 

Mit einem letzten Blick auf Schuldig und einem ‚Ich nehme dich beim Wort… vielleicht sogar früher als später.’ Takaba fühlte, wie die bleierne Schwere von Schuldigs Gedanken von ihm abfiel, die bleierne Schwere von Asamis Befehl ihm jedoch neuerliche Fesseln anlegte.

„Pass auf dich auf, Schu“, sagte er laut und kam zu Asami, sein Herz wild klopfend. Er hatte Asami in der letzten Zeit nicht so wütend erlebt wie jetzt und er kannte diese Wut. Sie brachte ihn immer gefesselt unter den Yakuza… mit Schmerzen in seiner Kehrseite.

Kurz vor dem anderen stehen bleibend, sah er zu diesem hoch, die Anspannung deutlich im Gesicht stehend.

Asamis Hand griff nach ihm, nach seinem Hinterkopf und Takaba zuckte zusammen. Doch weit mehr als die erwartete Gewalt schockte ihn die sanfte Berührung seiner Stirn durch Asamis Lippen und das kurze Wuscheln durch seine Haare.

Takaba war nicht oft sprachlos gewesen, zumindest nicht vor Hongkong… doch jetzt hatte es Asami definitiv geschafft.

‚Na, geht doch’, griente Schuldig und es war das Letzte, was er Asami in Gedanken schickte, bevor er sich umdrehte und mit einem Tippen an seine Schläfe und einem Nicken umdrehte und die Etage verließ.
 

Er fühlte sich seltsam aufgewühlt, federleicht, zu gut für die Realität.

Brad holte ihn etwas runter. „Du solltest dich besser im Griff haben.“
 

Ein hinterhältiges Grinsen zierte Schuldigs Lippen zur Antwort, er schmeckte noch Takabas Lippen nach, jedoch dachte er dabei an dessen verlorene Gedanken, an dessen Angst, an dessen Erstaunen in den Augen und er verfolgte in Gedanken immer noch Takabas Reaktion auf Asami.
 

Draußen trafen sie auf Aya, der an der Wand gelehnt, sein Messer wieder ordentlich versteckt, sie mit dunklem Blick erwartete. Besonders Schuldig.

Was hatte dieser Kuss zu bedeuten? Er kannte Schuldigs Sinn für Aktionen ohne nachzudenken, doch das war ihm doch etwas zu viel…
 

Asamis Wut steigerte sich einen Moment lang, doch dieses Mal richtete sie sich gegen den Richtigen, gegen Schuldig.

Niemand sagte ihm, wie er mit seinem Jungen umzugehen hatte. Das wusste er selbst.
 

War dabei, es selbst herauszufinden.

Das Erstaunen in den Augen des Jungen amüsierte ihn jedoch. Takaba erwartete einiges von ihm, das aber nicht… und wenn es viele solcher kleiner Schockmomente bedurfte, um ihn wieder in seine Nähe zu bringen, würde Takaba sie bekommen.
 

Schuldig murmelte vor sich hin als er bei Ran ankam und diesen nicht wirklich registrierte. „Was jetzt?“, fragte er nachdem auch Brad stehen geblieben war. Doch dieser wartete lediglich auf ihren Fahrer – Nagi.

Der Wagen ließ nicht lange auf sich warten und rollte bereits leise an den Bordstein heran.

Brad ging Richtung Wagen, während Schuldig und Ran zurückblieben.
 

„Du und deine unüberlegten Aktionen“, grollte Aya in Richtung Schuldig. „Aber eigentlich muss ich dir ja auch dankbar sein, denn so hatte ich wenigstens die MÖGLICHKEIT, ihn ohne Reue töten zu können…“

Auch er folgte Crawford und stieg ein, wütend auf… irgendwen. Asami, ganz sicherlich, Schuldig, vielleicht…
 

Schuldig stopfte sich die unruhigen Hände in die Hosentaschen und blickte Ran für einen Moment hinterher.

Da war jemand aber angepisst.

Dabei… nun ja das bisschen therapeutisches Herumgeknutsche… so schlimm war das nun auch wieder nicht. Viel wichtiger und interessanter fand er immer noch die Tatsache, dass Asami Ran richtig gut fand. Und das nicht erst seit heute wie er gelesen hatte. Nein, Ran zu vernaschen hatte schon früher kurz in Asamis Gedanken gekreist und daran hatte er sich erinnert… heute.
 

Sich dessen unbewusst, saß Aya neben Schuldig auf dem Rücksitz und brütete innerlich wütend vor sich hin. Wenigstens sah er, dass er noch in der Lage war, die Bösen töten zu können, wenn er es denn wollte… oder konnte. Nur dass er es heute nicht gekonnt hatte und das machte ihn wiederum wütend.

Schweigend rollten sie durch den smogverdichteten Innenstadtverkehr und Aya entledigte sich irgendwann seiner Lederjacke. Trotz Klimaanlage war es ihm zu warm.
 

Brad sprach mit Nagi und sie planten ihre weitere Vorgehensweise in einigen groben Zügen, während Schuldig sich ganz und gar dem Gedanken verschrieben hatte, dass ER Ran für sich hatte und nicht so jemand wie Asami Ran sich einverleibt hatte. Nein, ER Schuldig, himself hatte Ran für sich gewonnen!

Er sonnte sich in dieser ruhmreichen Tat und aalte sich im Gedanken daran, dass er Ran vor so einem wie Asami beschützte. Nicht auszudenken, wenn Asami auf die Idee kam Ran nachzustellen.
 

Es reichte Aya schon, dass er aus dem Augenwinkel das Dauergrinsen des Telepathen im Blickfeld hatte, doch dass dieser nun auch noch dementsprechende Laute von sich gab…

„Was grinst du so?“, fragte er genervt und ein dunkler Blick traf Schuldig.

Schuldig sah von der vorbeihuschenden Stadt zu dem muffig blickenden Gesicht von Ran und strahlte bis über beide Ohren. „Na…er hat dich nicht gekriegt, aber ich. Das finde ich den einen oder anderen Grinser wert.“

Ein Stirnrunzeln aus Ayas Ecke belohnte ihn. „Wer… er?“

„Asami?“ Schuldig schraubte sein Grinsen aufs für sein Gegenüber vermeintlich erträgliche Maß herab. „Das war nun wirklich nicht zu übersehen.“
 

Asami?

Nicht zu übersehen?

Eine Augenbraue schraubte sich in die Höhe, die zweite gesellte sich nach ein paar Augenblicken mit dazu, während der Blick dunkler wurde und Unwetterwolken sich hinter dem Violett zusammenbrauten.

„Natürlich hat er mich nicht gekriegt, wie du dich so schön ausdrückst. Aber darauf brauchst du dir auch gar nichts einzubilden… ich stehe nun einmal nicht auf arrogante, überhebliche Anzugsträger, die meinen, sie wären der Kaiser von Japan!“

Dass es plötzlich sehr still im Wagen geworden war, fiel Aya erst jetzt auf.

„Nicht?“, stellte sich Schuldig unwissend und zog ein – für ihn treuherziges Gesicht. „… stimmt… wer mag die schon. Du stehst ja eher auf diese extrovertierten, egozentrischen verrückten Typ im Zebralook.“ Gut… ein paar Sekunden konnte er das Gesicht noch halten, aber länger nicht bevor er einen Lachanfall bekam. Aber er war tapfer gewesen.

„Verarschen kann ich mich alleine“, grimmte es und Aya sah aus dem Fenster. Asami? Im Leben nicht… obwohl, vielleicht sollte er das ausnutzen, denn wenn er ihm nahe genug kam, konnte er ihn töten, also ein Problem weniger, das die noch nicht korrumpierte Polizei in Japan hatte.

Schuldig gefiel diese Antwort und vor allem das nachfolgende Schweigen nicht besonders. Der Spaß verging ihm und Brad und Nagi begannen eine Unterhaltung über Jei und dessen neue Interessen.

Währenddessen beobachtete Schuldig Ran und ließ ihn nicht einmal aus dem Blick. Da ging doch etwas vor in dem hübschen Kopf.

„Denk nicht einmal daran“, sagte Schuldig leise zu Ran, sein Blick sah ihn eindringlich an, bohrte sich in dessen Profil.
 

Als würde Aya das Feuer dieses Blickes spüren, wandte er seinen Kopf erneut zu Schuldig. „Was meinst du?“ Sie hatten momentan keine Gedankenverbindung… konnte Schuldig ihn schon so gut lesen?

Ah, er hatte richtig gelegen. Der Schuss ins Blaue war also ein Treffer. „Mach keinen Scheiß, Ran. Der Typ ist ein Hai, komm ihm nicht zu nahe.“

„Ich sitze gerade jetzt mit zweieinhalb Haien im Auto…“ Leise Ironie klang bei Ayas Worten mit, die ebenso wahr waren, wie Schuldigs.

Schuldig sorgte sich um ihn und seine Gesundheit, doch er konnte gut auf sich alleine aufpassen. Asami hatte schon früher die Gelegenheit gehabt, zuzuschlagen und er hatte es nicht getan… außerdem war Aya nicht dumm und auch nicht wehrlos.
 

„Merkt ihr was?“, richtete sich Schuldig an die beiden, die vorne saßen. „Er schmiert uns Honig um die Mäulchen.“

„Ich frage mich wer die halbe Portion von uns Dreien ist“, fragte Nagi in Schuldig‘schem Wortlaut.

Er würde mit Ran diese kleine Diskussion zu Hause führen müssen, überlegte sich Schuldig und harrte schon ihrer Wohnung. Vermutlich war er die halbe Portion…

Aya war kein sehr humorvoller Mensch… zumindest redete er sich das ein, als er Schuldig schier mordlustig anstarrte.

„Crawford natürlich.“
 

Autsch. Das konnte ja noch ein vergnüglicher Nachmittag werden. Dabei wollten sie doch abends Essen gehen.

Schuldig versuchte sich an einem Lausbubenlächeln, schob sich jedoch die Sonnenbrille auf den Nasenrücken.

Aber… es war immer wieder ein Vergnügen Ran in Fahrt zu sehen. Das Violett blitzte nur so und die Haltung war gespannt wie ein Flitzebogen. Schön widerspenstig.

So… hätte er sicher auch Asami gefallen… aber er… er der große Schuldig hatte sich den widerspenstigen Abyssinian geschnappt!

„Ich füge mich in die Rolle“, meldete sich dann noch Brad zu Wort um diese leidige Unterhaltung zu beenden. Er hatte einen Laptop auf dem Schoß und begann Kontakte zu beleben, die ihnen mit der Familie Sakurakawa weiterhelfen konnten.
 

Schweigen breitete sich im Wagen zwischen den Insassen aus und Aya widmete sich wieder der Betrachtung der Passanten. Asami, dass er nicht lachte. Asami war genau so widerwärtig wie jeder andere Verbrecher dieser Stadt auch… ein Mensch ohne Seele. Zumindest ohne nennenswerte Seele. Dass er vor einem Jahr Schuldig ähnliches attestiert hätte, konnte er wunderbar damit rechtfertigen, dass Schuldig durchaus auch eine menschliche Seite besaß, auch wenn ihm diese manchmal schlimmer als die unmenschliche zur Weißglut trieb.

Besonders dann, wenn sie wie jetzt schier grinste, ohne sich dessen vermutlich bewusst zu sein.
 

Die dunkle brodelnde giftsprühende Masse neben sich in Ruhe lassend dauerte es noch eine halbe Stunde bis sie von Nagi abgesetzt werden konnten und der Wagen in der Nähe ihrer Wohnung hielt. Sie stiegen aus.

Während Ran voraus ging verabschiedete sich Schuldig noch von den beiden und vereinbarte ein Treffen um alles weitere zu besprechen.

„Bis dann.“

Schuldig legte einen Zahn zu und holte Ran ein. Schweigend ging er einen halben Schritt hinter Ran her.
 

Es war nicht Ayas Art, Dinge auf der Straße zu diskutieren, wo ihnen Fremde zuhören konnten, also sagte er jetzt auch nichts, sondern wartete, bis sie in der Wohnung waren und sich die Tür sicher hinter ihnen geschlossen hatte.

„Ich glaub’s nicht, dass du das amüsant findest!“, grollte er und stemmte die Hände in die Hüften. „Erst knutschst DU seinen Freund ab und kommst dann auch noch damit, dass dieser widerwärtige Yakuza mich will, du Pascha!“
 

Schuldig schob die Sonnenbrille auf sein Haupt und die Hände danach lässig in die Hosentaschen, nur um sich noch lässiger an der nun geschlossenen Tür anzulehnen und schmunzelte schuldbewusst Ran ins Gesicht.

„Es ist so. Er wollte dich. Früher. Und um ein Haar hätte er dich auch bekommen. Wehrlos. Ich hab das bei ihm gefunden. Eine Erinnerung an einen Angriff von euch auf ihn, der gründlich schief gegangen ist. Nur durch glückliche Umstände hast du dich raus winden können. Ansonsten wärst du wohl jetzt sein Betthäschen.“ Beim letzten Satz war Schuldigs Blick schlagartig eindringlich und ernst geworden.
 

Dunkles Lachen wellte aus Ayas Kehle hervor. „Eher wäre einer von uns beiden gestorben, vorzugsweise er.“ Er schnaubte. „Er hätte es vielleicht einmal geschafft, mich in sein Bett zu zwingen… das zweite Mal hätte er nicht überlebt.“

Auch wenn Aya doch dankbar war, dass er nicht alles wusste… dankbar auch, dass er es damals nicht gewusst hatte.

„Lach nicht.“ Schuldig löste sich und kam zu Ran, zog eine Hand aus der Tasche und Ran mit dieser an sich. „…dich in sein Bett gezwungen und dich daraus nicht wieder entlassen.“ Er küsste dessen Schläfe warm und ließ ihn dann wieder los um sich Richtung Wohnraum zu begeben. Er hatte Durst.

Asami hätte Ran gebrochen, darin war sich Schuldig sicher. Todsicher. Das hatte er aus dessen Gedanken lesen können.
 

Nein, definitiv wäre einer von ihnen gestorben in dem Kampf, den es zwangsläufig gegeben hätte. Eine leichte Parallele zu Schuldigs damaligem Urlaub schoss Aya durch den Kopf. Schuldig hatte ähnlich gehandelt, ohne ihn zu vergewaltigen. Aus gutem Grund…

Aber es war noch ein Grund mehr, sich schließlich Asamis zu entledigen, die Gefahr zu bannen.

Er ging Schuldig nach.

„Besteht die Gefahr jetzt immer noch?“, fragte er und besah sich den Telepathen, wie dieser durstig eine der fünf angebrochenen Flaschen halb leer trank und sie prompt wieder irgendwo stehen ließ.
 

Und zwar auf dem Weg zur Terrasse, irgendwo im Niemandsland dazwischen.

„Nein, tut sie nicht“, sagte Schuldig und trat hinaus um sich in einen der Sessel gleiten zu lassen und die Füße hoch zu legen. Er zündete sich eine Zigarette an und genoss das schöne Wetter. Den Kopf in den Nacken gelegt schob er sich die Sonnenbrille wieder auf die Nase und besah sich Ran.

„Sein Interesse liegt jetzt bei dem Kleinen.“

Genau wie Youji auch… der gleiche Spleen mit der Sonnenbrille…

„Und ihn behandelt er gut? Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“ Nein, garantiert nicht, sonst hätte Schuldig nicht so eine Show abgezogen. Aber insgeheim war Aya froh zu hören, dass von dieser Seite aus keine Gefahr mehr bestand.
 

Schuldig lächelte milde in Erinnerung an Takaba. „Er lernt dazu um des Jungen Willen und DAS ist doch ein gutes Zeichen. Das muss selbst du zugeben, oder?“

„Der Böse, der sich um die Liebe eines Jungen willen zum Guten wendet… ich könnte kotzen. Das ist so kitschig, das ist nicht die Realität!“ Aya schnaubte verächtlich und warf einen langen Blick auf die angebrochene Flasche zu seiner Linken.
 

„So wird’s wohl sein“, meinte Schuldig dazu nur, denn was war mit ihm und Ran? Das Gleiche in Grün. Er hatte sich verändert seit Ran bei ihm war und zwar von Anfang an. Extremer ging es nicht mehr. Doch, was sollte er um diesen Punkt mit Ran streiten?

Schuldig inhalierte den Rauch tief und legte den Kopf zur Seite ab um Ran zu beobachten.
 

Und Aya sah weiterhin beinahe schon beschwörend die Saftflasche an, ließ dann seinen Blick zu Schuldig hinüber streifen.

„Als ich das letzte Mal Kakao kochen wollte, ist mir die Milch aus der Packung entgegen gekrochen und hat mir hallo gesagt“, sagte er mit vorwurfsvoll erhobener Braue.

„Dann muss sie dich wohl sehr gern haben“, konterte Schuldig mit einer erhobenen Augenbraue, die sich über den Brillenrand hob, ein spöttisches Lächeln um die Lippen über diesen rabiaten Themenwechsel. „Sie hat sich sicher flauschig angefühlt mit ihrem kuschligen Pelz.“
 

„Kann ich nicht beurteilen… aber wer weiß, was du mit diversen Lebensmitteln anstellst, wenn du wieder einmal nicht ran darfst…“ Rache war süß und Blutwurst, auch wenn Aya alleine die Vorstellung an Schuldig, wie er es mit der flauschigen, kuscheligen Milchtüte trieb, doch recht fragwürdig fand.
 

Schuldig zog am Rest seiner Zigarette und enthielt sich einer Erwiderung. Dieser gehässige Satz hörte sich verdächtig danach an, als wäre er sexsüchtig und als dürfe er nur alle heilige Zeit an seinen Ran…ran! Und es hörte sich danach an als würde es Ran nicht wirklich oft benötigen mit ihm zu schlafen.

Er erhob sich und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, den er in die Wohnung mit hinein nahm. „Ich liebe dich auch, Ran“, sagte er nebenbei und ging Richtung Küche. Die Sonnenbrille fand ihren Weg auf sein Haupt.

Ran war sauer und er der Prellbock.

Schuldig seufzte und leerte den Aschenbecher in den Müll aus, spülte ihn aus.
 

Da hatte jemand aber auch schon einmal mehr Biss gehabt, dachte sich Aya, schon beinahe enttäuscht über die fehlende Reaktion des anderen. Innerlich jedoch zuckte er mit den Schultern und trug Schuldig die Saftflasche in die Küche hinterher.

„Da sind wir ja schon mal zu zweit“, gab er zurück und ging ins Bad. Er wollte sich für den Abend frisch machen, da diese verdammte Lederkluft nicht sehr atmungsaktiv war, schon gar nicht bei diesem Wetter…
 

o~
 

Schuldig war schon eine halbe Stunde vor Ort und wartete in einem kleinen Separee in Begleitung einer netten jungen Dame auf das Eintreffen von Ran. Sein Hemd hatte die Farbe von frischem Grün bei Nacht, schimmerte um die Wette mit seinen Augen in der angenehm beleuchteten Atmosphäre der Party.

Ran hatte das Hemd in einem Laden gefunden und beschlossen, dass es ihm stand. Was Schuldig bestätigen konnte.

Seinen Ring trug er an einer Kette um den Hals sodass dieser vor neugieren Blicken geschützt war.

Lydia war eine Werbemanagerin und schon einige Jahre hier in Tokyo ansässig, pendelte jedoch zwischen London und Tokyo hin und her – stets für ein paar Wochen. Sie hatte ihn angesprochen, während er an der Bar auf seinen Drink gewartet hatte. Offenbar suchte sie neue Talente für ihre Agentur. Alias Hostclub.

Irgendwie fühlte sich Schuldig geschmeichelt.

Außerdem war sie sehr nett und er in Unterhaltungslaune.

Die Party diente eher der Aufklärung als dem Amüsement, aber warum konnten sie nicht beides miteinander in Einklang bringen? Wenn er hier schon als erstes auftreten durfte. Er liebte es neue Gebiete zu erforschen und ganz neu waren ihm derart luxuriöse Partys nicht. Er fühlte sich hier in seinem Element.

„Sie würden wirklich gut zu uns passen, Mr. Freeman“, lockte sie mit einem sympathischen Lächeln.

„Meinen Sie?“
 

In dem Moment betrat ein weiterer Gast die exklusiven Hallen und zog so einige Blick auf sich mit seinen zu einem langen Pferdeschwanz gebundenen Haaren, von denen eine dicke Strähne vorne über dem royalblauen Hemd lag, das in die dunkelblaue Nadelstreifenhose gesteckt war. Den Abschluss bildete eine ebenso farbige Weste, die die Nadelstreifen der Hose widerspiegelten und durch eine goldene Taschenuhr den westlichen Eindruck komplett machten.

Seinen Ring trug er am Finger.
 

Aya ließ seinen Blick kalt und arrogant durch die Menge schweifen und verscheuchte damit so einige Interessenten, ein paar andere blieben jedoch.

Schuldig jedoch sah er noch nicht, so ließ er sich durch die Menge treiben, bis hin zur Bar, wo er einen Whisky bestellte, Suntory natürlich.

Crawford würde erst eine halbe Stunde später eintreffen.

Lässig an die Bar gelehnt, ließ Aya seinen Blick ein weiteres Mal über die Menge schweifen und stellte fest, dass er zumindest aus den Medien einige der Gäste kannte… hochkarätige Prominenz also, wie es sich für eine Party bei den oberen Zehntausend gehörte.
 

„Nun, einen Mann wie Sie haben wir noch nicht…“

„…im Sortiment?“, hakte er lachend nach.

Lydia schüttelte gespielt entrüstet den blonden Schopf. „Nun… im Team, wollte ich sagen.“

„Keine Rothaarigen? Nicht einmal Einen? Kommen Sie…“
 

Es dauerte nicht lange, schon hatte ihn eine der reichen Japanerinnen entdeckt und bemühte sich nun nach Leibeskräften, Aya zu einem Drink einzuladen oder von ihm selbst eingeladen zu werden. Wohl eher letzteres, tippte Aya und wimmelte sie höflich, jedoch bestimmt ab.

Er nippte an seinem Whisky und überlegte, wie groß wohl die Wahrscheinlichkeit war, dass sie hier auf ihre Gegner trafen - wissentlich und unwissentlich.

Aya fragte sich, was Schuldig gerade machte… vermutlich flirtete er. Daran konnte gar kein Zweifel bestehen.
 

„…sie werden doch wohl einen Rothaarigen ihr Eigen nennen können? So nahe bei den Inseln?“

Lydia seufzte gequält.

„Sie haben ja keine Ahnung. Er sollte vielleicht auch noch gut aussehen. So einfach ist das nicht…“

„Da könnten Sie Recht haben, Verehrteste.“

Schuldig ließ seinen Blick schweifen und entdeckte Ran zwischen den umstehenden Gästen an der Bar stehen. Sein Kleinod. Ein zärtlicher Ausdruck huschte durch ihn hindurch, wurde aber auf seinem Gesicht nicht sichtbar. Ganz im Gegenteil zeigte seine Mimik lediglich höfliches Interesse.

„Sehen Sie mal da!“, er neigte den Kopf Richtung Bar und schmunzelte. „Wenn das kein Fang wäre. Ein exotisches Kleinod…“ für ihre Ranch, fügte er in Gedanken hinzu. Wobei Ran nicht mehr eingeritten werden musste.

Schuldig ritt selbst gerade der Teufel und er freute sich diebisch falls Lydia anbeißen würde.

„In der Tat…“ Sie überdachte wohl die Möglichkeiten, die sie mit Ran haben würde. Und Schuldig las in ihren Gedanken allerlei geschäftliche Transaktionen, mögliche Liebhaber für Ran.

Oh Man…

Lydia erhob sich. „Ich werde mich vortasten. Männer wie dieser sind meist schwer zu beeindrucken und noch schwerer zu haben“, sie zwinkerte ihm zu und machte sich auf Richtung Bar.

„Wem sagen Sie das“, wisperte Schuldig und freute sich diebisch.
 

Und schon kam die zweite Dame auf Aya zu, ein edler Vamp, wie er oder sie im Buche stand. Ausländerin, nicht schlecht aussehend. Optisch nicht sein Typ Frau, aber anscheinend war er ihrer. Zumindest las er es kurz in ihren Augen, bis sie bei ihm angekommen war und sich neben ihm an die Bar setzte.

Aya ignorierte sie, bekam jedoch zwangsläufig mit, wie sie sich ebenso einen Whisky bestellte.

„Sie sehen einsam aus…“ Hatte er es doch gewusst. Er wandte den Kopf in ihre Richtung.

„Ihr Auge sieht nicht die Realität“, sagte er kühl, arrogant und Lydia wusste ihren Verdacht bestätigt… ein sehr schwerer, harter Brocken.

„Was würde ich denn sehen, wenn ich die Augen öffnen würde?“ Sie lächelte weich und sah, wie er seine rechte Hand mit seinem Drink zum Mund führte, dass sie den sich daran befindlichen Ring bemerkte.

„Einen vergebenen Mann, so leid es mir tut.“ Ayas Stimme machte deutlich, dass es ihm überhaupt nicht leid tat, aber er hatte eine Rolle zu spielen… Überheblichkeit gehörte dazu.

„Einen vergebenen Mann, der sich jedoch frei in diesen Kreisen bewegt… glauben Sie mir, an Ihre Seite gehört eine edle Dame, eine japanische Lady…“

Nun traf sie die volle Wirkung der dunkelvioletten Augen.

„Was meinen Sie?“
 

„Nun…“

Sie lächelte warm, doch dieses undurchdringliche Violett, welches ihr so einzigartig schien war damit nicht zu erwärmen. Hart wie Kristall.
 

Schuldig beobachtete von seinem Platz aus die Szene und auch wie Ran auf die Frau reagierte. Sie biss sich an ihm die Zähne aus. Irgendwie hatte er gehofft, dass Ran sie nett finden würde. Aber offenbar waren ihre Geschmäcker verschieden.

Er würde noch ein Weilchen zusehen wie er sich machte, wobei er mit dem Hervorzeigen des Ringes zwei Dinge auslöste: Zum Einen strahlte Schuldig innerlich wie ein Honigkuchenpferd und zum Zweiten erlahmte das Interesse der Frau an ihm als ‚Ware’.
 

„Wer sagt Ihnen, dass ich keine edle, japanische Lady an meiner Seite habe? Oder eine andere Lady? Vielleicht ist sie wie Sie eine Ausländerin, mit roten Haaren und grünen Augen, vielleicht aber ziehe ich Japanerinnen vor?“ Aya schmunzelte dunkel und toastete ihr zu.

„Wer sagt Ihnen, dass ich keine Kinder habe?“

„Sie sind nicht der Typ für Kinder.“ Sie legte den Kopf schief und ihre Augen maßen ihn stumm. „Sie sind ungezwungen, wild, ungestüm.“

„Wohl eher ein Langweiler.“

Sie lachte. „Ja, sicherlich… deswegen tragen Sie lange, rote Haare und sind angezogen wie ein Dandy aus den amerikanischen zwanziger Jahren…“ Sie erwiderte den Toaste und er ließ seinen Blick über die Menge schweifen, erkannte dabei die edle Lady mit den grünen Augen und den roten Haaren. Lady… ja klar. Alles, nur das nicht.

Ohne ein Zeichen, dass er Schuldig erkannt hatte, kam sein Blick wieder zu ihr zurück.

Dann wollte er mal etwas spielen…

Er beugte sich zu ihr, nahe genug, dass Schuldig ihn wohl spätestens jetzt von ihr weggezogen hätte.

„Sie scheinen sehr darauf zu pochen, dass ich Ihnen das Gegenteil beweise“, flüsterte er mit Verführung in der Stimme. Er würde jeden einzelnen Yen auf seinem Konto wetten, dass Schuldig spätestens jetzt in ihren Gedanken war und mithörte, was geschah.
 

Da Schuldig eindeutig schuldig an der Tatsache war, dass er die Frau auf Ran gehetzt hatte, war er natürlich bestrebt mit zu verfolgen wie die Dinge so ihren Lauf nahen. Selbstverständlich musste die Situation unter Kontrolle bleiben. Unter seiner Kontrolle.

Deshalb hätte Ran die Wette wohl gewonnen.
 

Er war ihr zu nahe…

Das war der erste Gedanke, der ihr einfiel als sich dieser Japaner ihr näherte. Der Mann war gefährlich. Sie konnte es nicht benennen, aber eine subtile dunkle Gefahr ging von ihm aus, jetzt wo er in ihr persönliches Feld eingedrungen war - auf das sie sehr viel Wert legte und es hütete. Sie mochte es nicht wenn Menschen ihr zu nahe kamen. Natürlich gab es Ausnahmen. Doch dieser Mann hier war so ruhig und handzahm wie ein Wolf.

„Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass sie jemand anderem den Vorzug geben, wo sie doch schon… in festen Händen scheinen…“, sagte sie unbestimmt, zwang sich zu einem Lächeln.
 

„Keine Sorge, dafür können Sie nicht verantwortlich sein, da dieser Fall nie eintritt.“

Er kam noch etwas näher zu ihr, als er ihre Unsicherheit spürte, sodass es von weitem so aussehen musste, als würde er an ihrem Haar riechen.

„Habe ich Sie erschreckt“, lächelte er mit einem gemeinen Einschlag, ganz die Rolle, die er spielte. „Das war nicht meine Absicht…“ Und ob es das nicht wahr… sicherlich. Wem wollte er das weismachen?
 

Der gleiche Gedanke durchfuhr die Werbemanagerin gerade als er diese Worte sprach. Viel zu ruhig, viel zu offen am Ende des Satzes sodass es nicht wie das Gegenteil klang.

„War es nicht?“ Sie drehte den Kopf, sodass sie sich aus seiner unmittelbaren Nähe zurückzog und bestellte einen Drink an der Bar.

Was auch immer dieser Mann für ein Problem hatte, sie mochte ihn nicht. Sie mochte diese Art Männer nicht. Er wirkte nett und umgänglich… aus der Ferne… zumindest.

Schuldig amüsierte sich. Wenn auch auf Kosten der Werbemanagerin und Ran. Die düstere, kalte Aura, die dem Japaner früher angehaftet hatte, hatte offenbar noch eine brisante Note erhalten… vielleicht hatte sich Ran zu viel von ihm abgeschaut?!

Färbte seine unberechenbare, trügerisch sanfte Spielleidenschaft ab? Und das auch noch auf Ran? Das war nicht gut.

Schuldig grübelte über diesen Aspekt nach während er an seinem Getränk nippte und dem Geschehen ab und an einen für Außenstehende uninteressierten Blick zuwarf.
 

Aya hatte sie vergrault… was konnte er stolz auf seine Rolle in dieser Yuppie-Gesellschaft sein.

Er lehnte sich wieder zurück und ließ seinen Blick kalt über die Menge schweifen, warnte jeden, ihm zu nahe zu kommen, der seinen Augen begegnete.

Das musste er noch nicht einmal vortäuschen.

Er nippte an seinem Drink und erhaschte nun auch den Blick auf Crawford, wie er sich durch die Menge bewegte, ein unscheinbarer, ausländischer Geschäftsmann.

Sein Blick glitt kurz zurück zu Schuldig und er bemerkte, dass sich die ausländische Frau nun auf den Telepathen spezialisiert hatte.

Wunderte ihn das?

Und wunderte es ihn, dass Schuldig nach einem kleinen Flirt nun aufstand und ohne einen Blick zurück zu werfen, mit ihr in der Menge verschwand?

Nein.

Nicht wirklich.

Ayas hoch erhobene Augenbraue zeugte von seinem Missfallen aber auch Wissen, dass Schuldig ihn provozierte… wie immer. Doch die Belohnung würde er heute Abend bekommen… Schuldig.
 

Und was wäre Schuldig wenn er sich nicht diebisch darauf freuen würde. Dem Wissen, dass er Ran provozierte, mit seiner Nichtbeachtung, mit dem, dass er wegging mi… einer Frau. Dem Wissen, dass Ran wusste, dass er ihn provozierte.

Schuldig liebte es, wenn sein Macho eifersüchtig war. Allerdings nur dann – das verstand sich von selbst – wenn Ran nicht ernstlich davon überzeugt war, dass Schuldig tatsächlich anderweitig wilderte.

Wer könnte Ran jemals ersetzen…?
 

Während Schuldig sich mit der Werbemanagerin aus Rans unmittelbaren Dunstkreis machte trat Crawford unter dem Namen Wayne Bennington auf der Party auf den Plan.

Er mimte den gelangweilten übersättigten Großverdiener, der die Börse als seinen Spielplatz ansah. Sein Vorteil in dieser Stadt war schon immer sein gänzlich unspektakuläres, nichtssagendes Gesicht gewesen, zumindest so lange er sich unsichtbar machen konnte.

Was ihm meist gelang.

Er hatte die Fähigkeit in einem Raum – natürlich unter Ausländern – zwischen einem Pulk Menschen als uninteressant und belanglos abgehakt zu werden. Wenn er es wollte, konnte er mit der Masse schwimmen.

Ein Punkt, der auch ins Gegenteil umschlagen konnte. Seine Augen spielten dabei eine große Rolle. Gegen dieses kleine Problem trug er jedoch eine Brille, die den stechenden Blick aus den bernsteinfarbenen Iriden milderte.
 

Er bewegte sich zur etwas erhöhten Ebene des Partyareals um zu einer der beiden Bars zu kommen, die nicht von Ran eingenommen war. Nach der Bestellung eines Drinks, den er mehr willkürlich denn zwecks Vorliebe bestellte drehte er sich etwas seitlich, um einen flüchtigen Blick über die Personen in seiner Nähe zu werfen.
 

In der kurzen Zeit, in der er auf sein Getränk wartete spürte er eine Unruhe in sich, eine Ahnung noch bevor er daran dachte, dass es eine Vision sein könnte.
 

Gleisend hell explodierte der Kopfschmerz in seinem Schädel und Bilder zogen an seinem geistigen Auge vorüber. Er senkte den Kopf ein wenig, keuchte.
 

Die Gespräche um ihn herum verkochten zu einem Brei aus Dröhnen und Zischen als die Musik einen neuen Takt vorgab und die Bilder seiner Vorhersehung dabei fast schon obszön spöttisch untermalten.

Als die Vision verklang und er sich wieder gefangen hatte starrte er für Momente, die ihm eine Ewigkeit lang erschienen auf sein Glas, welches ihm der Barkeeper serviert hatte und versuchte die bittere Galle wieder hinunterzuschlucken, die ihm den Rachen hinaufgestiegen war.

Eine derart heftige Vision hatte er seit… seit Schuldigs Tod nicht mehr gehabt… oder besser erlitten. Das hieße, das Ereignis stand unmittelbar bevor und es betraf ihn persönlich.

Der Drink geriet ins Abseits als Brad sich nicht zu rasch umwandte und den Raum absuchte. Er musste sich einen besseren Überblick verschaffen. So ging er auf die Treppe zu um auf die Galerie zu gelangen.
 

Einen kurzen Augenblick konnte Aya einen Blick auf Crawford erhaschen, bevor dieser in der Menschenmenge verschwand und ein weiteres Mal unsichtbar wurde.

Doch irgendetwas stimmte nicht, wenngleich Aya nicht genau sagen konnte, was im Speziellen das war. Körperhaltung vielleicht oder Mimik, vielleicht ein kurzer Augenblick an Unwohlsein, der Aya die Stirn runzeln ließ.

Langsam trank er seinen Drink leer, um kein Aufsehen zu erregen und schlängelte sich dann gemächlich, jedoch mit festem Ziel, sprich Crawford, vor Augen, durch die Menge.
 

Auf der anderen Seite der Lokalität setzte sich nun jemand anderes in Bewegung, steuerte jedoch das gleiche Ziel an, wie der rothaarige Weiß, wenn auch eher unwissentlich.

Sie war weniger langsam, weniger vorsichtig, dass sie nicht auffiel, sondern eher… fest entschlossen.

Fest entschlossen den Mann, den sie gerade erblickt hatte, zu stellen und sei es nur, um ihm eine reinzuhauen.

Die alte Wut war immer noch da, wenn auch abgeschwächt nach all den Jahren. Wut auf den Mann, der ein Gottesgeschenk für Teufelswerk missbrauchte und sie damit alle enttäuscht hatte, sehr sogar. Mehr als dass sie es damals hätte abschätzen können vor zehn Jahren.

Oh ja… sie hatte ihn einmal verehrt und vielleicht tat sie das immer noch, doch ihre Loyalität war von ihm verraten und verkauft worden, mehrfach. Und irgendwann hatte sie begriffen, dass er sich nicht so einfach würde überzeugen lassen, Gutes zu tun. Nicht nachdem, was vorgefallen war.

Sie fuhr sich durch die kurzen Haare und drückte das Kreuz, das an einer kleinen Kette an ihrem Hals baumelte und stieg die Treppe hoch.

Sie fand ihn bei einer Sitzgruppe und lächelte… doch Zornesfalten durchfurchten ihre Stirn.

„Hallo Brad“, grüßte Eve den Mann, der ihr einmal näher als alle anderen gewesen war.

Der Gedanke an eine mögliche Flucht erstarb so schnell wie er in Brad aufgekommen war als er sich einem Menschen gegenüberfand, der einen großen emotionalen Teil seiner Erinnerungen ausmachte aus einer Zeit, die er längst hinter sich gelassen hatte.
 

Er starrte sie für einen Moment an, bevor er sich grußlos umwandte und die Tür mit dem Notausgangschild öffnete und in einen grell beleuchteten Korridor trat. Eine neutrale Zone ohne Zuschauer.
 

Sie würde ihm folgen, das war gewiss, aber es war besser, wenn sie zusammen nicht gesehen wurden. Es sei denn sie war nicht alleine und das war eine Falle. Aber wie konnte sie wissen, dass er hier war?
 


 


 

Fortsetzung folgt...

Wir bedanken uns für's Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Diese und auch unsere anderen Geschichten findet ihr unter:

http://gadreel-coco.livejournal.com/
 

Coco & Gadreel

Eve

~ Eve ~
 


 

Der Zufall war ihr wichtigster Informant gewesen und um diesen Umstand grimmig lächelnd folgte sie ihm in den Flur hinein.

Es könnte auch eine Falle sein, sicherlich, aber er hatte es bisher noch nicht über das Herz gebracht, sich zu seiner Schwester umzudrehen, seinem eigenen Fleisch und Blut. Wenigstens etwas Ehre, die in Ansätzen für ihn sprach. Das war aber auch schon das Einzige.
 

Sie schloss die Tür hinter sich und verschränkte die Arme. „Bist du wieder unterwegs, um jemanden umzubringen, Bradley? Habe ich dich dabei gestört?“ Leicht war sie vom Japanischen ins Englische gefallen, ihrer beider Muttersprache.
 

Brads Haltung war steif, er erkannte wie angespannt er war und hoffte darauf, dass sie es nicht bemerkte. Die Hand, die er zur Faust geballt hatte, öffnete sich nach dieser Erkenntnis. Die so verräterischen Augen richteten sich lauernd auf ihr Gegenüber, als er sich zur ihr umdrehte.

„Was willst du hier, Eve?“, kamen die Worte eher als Anklage, denn als Frage.

„Dich sehen, was denn sonst? Aber wenn ich es mir recht überlege, könnte den CIA deine Anwesenheit in diesen Kreisen auch interessieren."

Sie kam ein wenig näher und betrachtete sich den jüngeren Crawfordspross. Blass war er, aber immer noch feindselig. Das hatte sie einmal geschmerzt, weil sie in ihm immer noch den Jungen gesehen hatte, der er einmal gewesen war, nicht den Mann, der seine Kräfte schändlich missbrauchte, weil ihn jemand vom Gegenteil überzeugt hatte. Weil ihn jemand davon überzeugt hatte, dass seine Gabe kein Gottesgeschenk war, sondern ein Werkzeug des Teufels, um der Welt Zerstörung und Verzweiflung zu bringen.

Es schmerzte sie heute auch noch, wenn sie es zugab, aber längst nicht mehr so.

Nun wusste sie, wo ihr Platz war – auf der Gegenseite ihres einst geliebten Bruders.
 

„Mich sehen.“ Wiederholte Brad monoton und hob eine Augenbraue in der gewohnt spöttisch, kühlen Art. Doch der Spott fehlte in seiner Stimme, darin lag nichts anderes als blanke Resignation und dahinter Wut, die er gut verbarg. Wut und Entsetzen über ihre Anwesenheit hier. Wie hatten sie ihn gefunden? War er so unvorsichtig geworden, dass nicht nur diese unbekannte, hartnäckige Gruppierung ihr Heim okkupierten, sondern nun auch der CIA das Letzte nehmen wollten, was er besaß: ihn selbst?

„Ich dachte nach der letzten Begegnung seist du deiner Jagd müde geworden oder bietet sich dir eine neue Aufstiegschance in der Firma?“

„Du weißt, dass sich mir wegen meiner Verwandtschaft zu dir niemals Aufstiegschancen ergeben werden", grollte sie. „Mein Makel sind du und deine Morde!"

Sie lehnte sich an die Wand, die Rechte in der Nähe ihrer verborgenen Waffe. „Meine Jagd? Oh nein, der werde ich nie müde… irgendwann habe ich dich und dann kann der CIA entscheiden, was mit dir und deinen Kräften passiert, damit du deine gerechte Strafe erhältst für die Morde, die du begangen hast!" Sie sah, wie angespannt er war, wie aufgewühlt, dazu kannte sie ihn zu gut. Das befriedigte sie, denn eine Zeit lang war er es gewesen, der ihr schlaflose Nächte und Wochen der Verzweiflung gebracht hatte.
 

Aya hatte sich währenddessen auf die Plattform begeben und fand Crawford nicht. Da es aber nur eine Treppe hinunter gab, konnte er sich denken, wohin der andere verschwunden war… allerdings konnte er sich nicht denken, warum.

Er hatte ein seltsames Gefühl bei der Sache und folgte diesem Instinkt. Was, wenn irgendetwas mit dem Orakel war? Wenn irgendjemand von ihren Feinden aufgetaucht war?

Aya strebte auf den Notausgang zu und öffnete ihn, kam in einen längeren Flur… wo Crawford stand mit einer Frau.

Oh.

Sein Blick glitt zu dem Amerikaner und bemerkte wiederholt, dass etwas nicht stimmte. Die Tür schloss sich leise hinter ihm.
 

Brad machte ein verächtliches Geräusch und wandte sich so, dass er sie gut im Auge behalten konnte, bemerkte dabei aber auch, dass jemand an der Tür im Schatten stand und sie beobachtete. Er sagte nichts, denn er erkannte die schmale stille Gestalt.

Er konnte nur hoffen, dass er ihr Gespräch nicht hören konnte.

„Gerade wegen deiner…Verbindung zu mir sind deine Aufstiegschancen immens hoch“, sagte er spöttisch.

„Das Gegenteil zu behaupten ist eine glatte Lüge. Oder meinst du, dass deine ‚Freunde’ mich einfach umbringen würden? Sich meines Talentes einfach so entledigen? Wach auf!“

Er wurde wütend und seine Augen hellten sich ob dieser Wut eine Nuance auf.

Sie machte ihn wie stets wütend, diese Gnadenlosigkeit in ihrem fanatischen Eifer für Gerechtigkeit und das Gute in dieser Welt. Wut, die eine alte Wunde aufriss, das zarte Gespinst der Heilung mit Klauen hinwegfegte.

Er hatte in seiner Arroganz tatsächlich gedacht, er hätte diese Wut überwunden, die alte Trauer, die alte Angst vor der Andersartigkeit, vor ihrem… bigotten Glauben überwunden. Doch er hatte sich getäuscht. Kalte, böse Wut, so rein und elementar, dass sie selbst in seinen Augen dermaßen stark zum Ausdruck kam, dass sie seine Aura veränderte und sie düster und unhaltbar… anders erscheinen ließ.

Diese Gefühle erschwerten ihm sein Denken, sie drohten ihn zu überwältigen und seine Kälte zu Nichte zu machen.
 

„Oh, dass sie dich nicht töten wollen, weiß ich nur zu genau. Sie wollen dich um zu morden, natürlich! Weil sie dich dafür brauchen, Massenmörder zu töten, Verbrecher, so was, wie du es jetzt bist! Wie du es früher nie warst!" Ihre Stimme hallte wütend durch den Gang zu Aya und er trat näher an die beiden heran, wurde schließlich auch von ihr bemerkt.

Sie verstummte und wandte Aya ihren Kopf zu, taxierte ihn unfreundlich. Violette Augen maßen sie emotionslos, kamen von einem nicht alltäglichen Japaner. Irgendwoher kam er ihr bekannt vor, doch sie konnte ihn nicht genau einordnen.
 

„Sie sollten weitergehen, diese Unterhaltung ist nichts für Sie", sagte sie in barschem Ton, wechselte, als wäre nichts gewesen, wieder ins Japanische zurück, und sah, wie er kurz die Augenbraue hob.
 

„Tatsächlich nicht? Ich wollte aber zu diesem Gentleman dort." Er deutete auf Crawford und Eve sah den älteren der beiden Männer dunkel an. Ihre Hand lag nun offensichtlich auf ihrer Waffe, da sie nicht wusste, was sie von dem Neuankömmling zu erwarten hatte.
 

„Das ist es also, was dich so beschäftigt. Es ärgert dich maßlos, dass sie jemanden wie mich besser stellen würden als du es je warst. Trotz harter Arbeit, trotz deines strebsamen Eifers nach oben zu kommen, würden sie so einen wie mich schneller empor heben als du es jemals schaffen würdest.“

Der beißende Spott in seiner Stimme war mit spitzer Arroganz getränkt. „Nimm deinen kleinen, strebsamen Hintern und pack ihn aus meiner Sicht, Eve. Oder willst du mich hier niederschießen, vor all den Augen dieser „ehrenwerten Gesellschaft?“ Es kostete ihn einiges an Willenskraft nicht einfach zu gehen. Sie hatte die Hand an der Waffe und vermutlich war seine einzige Rettung Ran, der dort stand und sie nicht aus den Augen ließ.
 

Lachen hallte wie Speerspitzen durch den stillen Gang, direkt auf Crawford gerichtet.

„Du weißt selbst am Besten, dass ich mir nie deine Kräfte gewünscht habe und dass ich nie auf dich eifersüchtig war. Du weißt genauso gut, dass ich deine Art zu töten verachte, wie du deine Gabe einsetzt, die dir von Gott gegeben wurde! Du und dein Team mordet euch durch ganz Japan, hinterlasst eine blutige Spur von Unschuldigen!"Sie wandte sich an den unbekannten Mann. „War Ihnen das bewusst, gehören Sie auch zu ihm?"
 

„In gewisser Weise ja…", erwiderte Aya und kam einen Schritt näher, sah nun auch ihre Waffe. Seine Waffe war in seiner Reichweite und wenn sie etwas versuchen sollte, würde er Crawford schützen. Komisch, denn früher hatte er immer ein gegenteiliges Ziel gehabt.
 

„Dann wissen Sie sicherlich auch, dass er keine Skrupel hätte, mich umzubringen… ganz im Gegensatz zu mir, die durchaus Skrupel hat, diesen Mann umzubringen." Eves Stimme enthielt einen kleinen Stich an Enttäuschung, die neben der Wut korrelierte.

„Wer sind Sie?", fragte Aya misstrauisch und war vorsichtig, als er ihre Waffe bemerkte.

„Eine ehemalige Freundin unseres Orakels. Und Sie?"

„Ein Arbeitskollege."
 

Brad wurde das langsam zu viel. Es war wie immer das gleiche Gerede, die gleichen Phrasen, die sie drosch.

Er spürte den Hass in sich, den er durch kühlen Spott und kalte Arroganz in sich gefesselt hatte, so deutlich wie lange nicht mehr. Als würden Schauer heißer Nadeln in ihn stechen so fühlte er dieses unerträgliche Gefühl des Hasses in sich aufkommen, wo er doch geglaubt hatte diesen Punkt überwunden zu haben.

Nur war die Ursache dafür immer noch in dieser Welt und offenbar hatte sie ihn zumindest zu einem Teil hier gefunden. Es war zu viel.

Zu viel Gerede, zu viele Zuhörer. Er wollte nicht, dass der Japaner hier war und er wollte nicht, dass diese Frau aus seiner Vergangenheit – dieser Schatten – mit ihm redete. Dieses Gespräch entwickelte sich zu einer Farce. Es hätte nie stattfinden dürfen…

Und plötzlich fragte er sich…

„Was willst du hier in Tokyo? Spar dir deine Lügen. Deine Abteilung beschäftigt sich nicht länger mit mir. Nicht vordergründig.“ Jetzt da er seine… Furcht… und sein anfängliches Entsetzen über ihr Hiersein in andere Bahnen lenken konnte… jetzt war er wieder fähig, klarer zu denken.

Vielleicht war es der Rotfuchs, der es möglich machte.
 

„Als wenn es dich etwas angeht, Brad. Ich frage dich schließlich auch nicht nach deinem neuesten Job.“ Sie lächelte kalt und in dem Moment bemerkte Aya etwas, dessen er sich vorher nicht bewusst gewesen war.

Irgendetwas existierte zwischen den beiden, auch wenn er nicht genau greifen konnte, was es war. Die Art, wie sie mühelos in ihre Muttersprache verfielen, wie sie sich zueinander positionierten…

„Crawford, es ist an der Zeit, wir sollten gehen“, sagte Aya in der Hoffnung, sie beide aus dieser Situation zu bringen. Denn er hatte Crawfords Unwohlsein nicht vergessen und auch ihre Waffe zeugte nicht gerade von Ungefährlichkeit… doch er brauchte auch Antworten, denn diese Frau war in der Lage, ihren ganzen Ablaufplan der nahen Zukunft durcheinander zu bringen, je nachdem, welcher Organisation sie angehörte.
 

Brad sagte nichts. Er nickte, während er den Blick unverwandt auf Eve gerichtet hielt, auf diese ihn hart ansehenden Augen, aus denen er nichts lesen konnte.

Warum war sie hier?

Sie war hier erschienen wie ein Racheengel aus der Vergangenheit, die Hand an der Waffe… und doch…

Er konnte den Gedanken, der in ihm Form annahm nicht greifen, zu schemenhaft war er.

Wortlos wandte er sich ab und ging an ihr und dann an Ran vorbei, öffnete die Tür und verließ den Korridor, verließ die klinische Atmosphäre, den Schatten, der ihm gefolgt war. Er war wieder auf der Party, deren summende Geräuschkulisse ihm entgegenschwappte und ihn wieder in die unwirkliche Welt zog, die sich seine Gegenwart nannte. Er verließ den unmittelbaren Raum um den Notausgang.

Das Geländer der Galerie lag vor ihm und er wartete bis Ran neben ihn trat. Sie mussten Schuldig finden. Wenn Eve nicht alleine hier war…
 

Eve sah den beiden hinterher, die Hand immer noch an ihrer Waffe, die sie nun wieder versteckte. Sie hasste ihn, sie hasste ihn… sie hasste ihn dafür, dass sie ihn hasste. Er war schließlich für lange Zeit ihr Vorbild gewesen. Derjenige, den sie als Kind und auch als Jugendliche für seine Stärke und Aufrichtigkeit bewundert hatte, wenngleich er jünger als sie gewesen war. Und nun? Nun war aus ihm ein Monster geworden!

Sie wartete noch einen Moment, dann betrat sie die Party durch den gleichen Notausgang wieder und mischte sich erneut unter die Menschenmenge.
 

Aya stand währenddessen neben Crawford und besah sich das Profil des Älteren, das ihm verschlossen und dennoch angefüllt mit Emotionen schien.

„Wer war das und welche Art von Gefahr stellt sie für uns dar?“, fragte er schließlich ruhig und richtete seinen Blick geradeaus, suchte nach Schuldig und auch nach weiteren Gefahren.
 

Brad wandte sein Gesicht Ran zu, als müsse er wissen, wen er vor sich hatte und ob er diesem trauen könne.

Er setzte sich in Bewegung und sie gingen auf die andere Seite der Galerie, die einen besseren Blick auf die Party bot und eine kleinere Bar hatte. Er ließ sich einen Whiskey geben und nahm einen Schluck.

„Hier ist etwas im Gange“, sagte er unbestimmt und ließ seinen Blick erneut zu Ran schweifen, über ihn hinweg und dem was hinter ihm vorging. „Sie ist eine Agentin des CIA. Sie operiert im asiatischen Sektor. Und ihr Auftauchen lässt den Verdacht zu, dass ihr Standort hier gefährdet ist. Doch durch was… oder wen…?“
 

„Etwa durch unsere Gegner…?“ Es schien alles nur zu logisch, beängstigend einfach logisch. Aya bestellte sich ein simples Wasser mit Eiswürfeln, denn er brauchte einen klaren Kopf und keinen weiteren Alkohol.

„Sie gehört der CIA an? Doch du kanntest sie persönlich… hattest du vorher schon einmal mit ihr Kontakt?“ Das passte zu dem, was Schuldig ihm vor längerer Zeit über den Amerikaner erzählt hatte. „Ich habe gehört, dass der CIA Interesse an dir hat… wie groß ist die Chance, dass sie dich hier überwältigen und für ihre Zwecke missbrauchen?“
 

Brad fand langsam zu sich selbst zurück, aber er war weit mehr von innerer Unruhe erfasst als er nach außen hin zeigte. Ran schien viele Fragen zu haben. Das brachte Brad sogar zu einem müden spöttischen Lächeln.

„Ziemlich viele Fragen auf einmal, Rotfuchs. Gibt es eine, die ich dir als erstes beantworten soll?“

Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen und erkannte Eve wie sie sich mit einem Japaner unterhielt. Zweifellos einer ihrer Kollegen.
 

„Wenn du so nett wärst, BRAD, dann die letzte. Inwieweit ist es möglich, dass du von ihnen entführt wirst und Schwarz als kompetentes Orakel verloren gehst? Dann, wenn du noch genug Kraft hast, wäre die Frage, was sie eigentlich ist – Ehefrau, Geliebte, Mutter, Schwester, Cousine… was auch immer, an der Reihe.“

Aya lächelte charmant mit einem kalten Einschlag, jedoch leicht spöttisch, da er die Unruhe und Erschöpfung des anderen bemerkt hatte.
 

„Ob ich von ihnen entführt werde. Und ob ich Schwarz als Orakel verloren gehe, unterscheidet sich von deiner ersten Frage, die lautete: ob sie mich hier überwältigen. Dazu kann ich sagen, dass dies nicht passieren wird. Was in der näheren oder ferneren Zukunft geschehen wird weiß ich erst, wenn ich eine Vorhersehung derer empfange, oder genügend Daten für eine Wahrscheinlichkeitsrechnung erhalte. Allerdings stehen die Chancen vermutlich höher, dass ich vorher sterbe." Er nahm einen Schluck aus dem Glas. „Meine Ex-Frau und sie ist sauer weil ich sie und die drei Kinder verlassen habe." Er beachtete Ran für einen Moment nicht, weil er Schuldig gesehen hatte und ihm mit dem Blick durch die Menge folgte.
 

„Genau, weil du sie für mich verlassen hast um dein Dasein in meinen exklusiven Gemächern als Fucktoy zu fristen." Aya nickte und lächelte tiefgründig.

„Verarschen kann ich mich alleine, Crawford.“ Es bestand also keine akute Gefahr, das war doch schon mal beruhigend. Was nicht beruhigend war, dass sie Schuldig nicht finden konnten. Hoffentlich war dieser nur mit dieser Frau irgendwo hin verschwunden um ihn eifersüchtig zu machen.

Hoffentlich.

„Ganz davon ab sollten wir aber Schuldig suchen… hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?"
 

Offenbar teilte der Rotfuchs die gleiche Sorge wie er um Schuldigs Wohlbefinden.

„Er ist dort unten und scheint keine großen Ambitionen zu haben uns zu suchen, sonst hätte er längst Kontakt aufgenommen. Er küsst gerade meiner gutherzigen Schwester die Hand“, sagte Brad ruhig.

„Ich denke, er weiß um die Gefahr.“

Brads Lippen verzogen sich zu einem bösartigen Lächeln, welches seine Genugtuung widerspiegelte. Schuldig spielte gern mit dem Feuer, vermutlich hatte er nun auch gelesen, dass dies seine Schwester war und amüsierte sich ein bisschen.
 

Seine Schwester also. Und Agentin der CIA. Was war damals vorgefallen?

Die Tatsache, was sie war, überraschte Aya nicht so, wie es eigentlich der Fall sein sollte, denn darin fand er seinen kurzweiligen Eindruck von vorhin bestätigt, dass die beiden sich intensiv kannten. Er hatte insgeheim auf Freundin oder Ehefrau getippt, doch Schwester entsprach dem auch.

Der rothaarige Japaner folgte dem Blick des anderen und grollte. „Er kann es mal wieder nicht lassen", schüttelte Aya den Kopf und besah sich die Szene, war aber auch stolz auf den Telepathen, wie er die Situation augenscheinlich meisterte und sie an die Wand spielte, ihr keinen Rückzug mehr ließ, was ihr selbst im Dämmerlicht deutliches Unbehagen verursachte.

Auch wenn sie Recht hatte, mit dem, was sie Crawford vorgeworfen hatte. Das Töten von Unschuldigen war schon immer seine größte Kritik an Schwarz gewesen. Sie hatte Recht, doch was, wenn sie ihren eigenen Bruder gejagt hatte? Was, wenn sie diejenige der CIA gewesen war, die Crawford fast als Versuchsobjekt gefangen hätte?

Aya wusste es nicht und hatte das dringende Bedürfnis, Crawford nach Informationen auszufragen, die wichtig sein könnten.
 

Während Brad sein Glas leerte und seinen Blick unverwandt auf die Szenerie zu ihren Füßen gerichtet hielt, tobte in seinen Gedanken ein Kampf um Erinnerungen, die er glaubte losgeworden zu sein. Offenbar hatte er sich getäuscht, wie er zynisch lächelnd feststellte.
 

„Wie kommt man dazu, sich als Geschwister so zu hassen?“, fragte Aya nach einer Weile mit ehrlichem Interesse, da auch seine Neugier durch die Frau geweckt worden war. Es war wenigstens ein Fitzel an Information im dunklen Geheimnis Crawford.

Gut für Aya, dass dieser Mosaikstein an die Oberfläche getreten war, schlecht für Crawford, der ihn lieber gar nicht preisgegeben hätte vermutlich.

„Der Herr Psychologe scheint ja aus den wenigen Gesprächsfetzen - für seine Analyse über mich - sehr viel herausgelesen zu haben. “ Brad lachte leise auf. Ein freudloser Ton.

„Ich hasse sie nicht. Sie ist mir gleichgültig geworden.“ Er stellte sein leeres Glas ab.
 

Aya dagegen hob eine Augenbraue, wandte seinen Blick aber nicht von der Menge ab und schon gar nicht von seiner Schwester. Ein lebendes Stück Vergangenheit des Bradley Crawford.

„Wenn sie dir gleichgültig geworden ist, warum bist du dann so wenig erfreut, sie zu sehen? Warum haben dir dann ihre Worte nicht gepasst?“, fragte er mit einem leicht angedeuteten Lächeln und ließ seinen Blick kurz nach links zu den Augen des Amerikaners schweifen.
 

Brad ließ sich dazu herab Ran einen wirklich kühlen Blick zu zuwerfen, bevor er sich ein neues Getränk geben ließ, dieses Mal mit weniger Alkohol.

„Weil sie gefährlich ist.“ Sie machte ihn schwach und unvorsichtig, rollte Dinge auf, die er vergessen wollte, Menschen, die er vergessen glaubte. Gesinnungen, die er nicht teilte.

Er fand es mehr als merkwürdig, den Japaner so redselig und so wissbegierig neben sich stehen zu haben. „Wieso sollte ich Luftsprünge machen, wenn der CIA mir auf den Fersen ist?“ Es war eine rein rhetorische Frage und er erwartete - nein er wollte keine Antwort darauf.
 

Doch wie es Aya schon immer mit Crawford gehalten hatte, bekam dieser genau das, wonach er nicht verlangte.

„Das ist die Crux mit gefühlsbehafteten Gegnern, nicht wahr? Man kommt nicht von ihnen los, auch wenn man das nur allzu gerne möchte“, erwiderte Aya kryptisch und wandte sich Crawford zu, maß den anderen Mann mit neutralem Blick.

Seltsam, dass ihm ausgerechnet hier noch einmal bewusst wurde, dass auch Crawford eine Vergangenheit besaß, die ihn so geprägt hatte, wie er heute war. Gemäß Ayas Theorie, dass niemand böse zur Welt kam, stellte sich ihm hier die Frage, was alles zur Persona Crawford geführt hatte… unter anderem auch diese Frau.

Das waren Gedanken, die früher völlig unnötig gewesen waren. Selbst dann noch, als er längst mit Schuldig zusammenlebte, hatte er den Amerikaner ignorieren können. Doch nun stellte sich die Option nicht.

Crawford und Schuldig waren sich zu nahe, als dass es weiterhin zu Anfeindungen zwischen ihnen beiden kommen könnte… zumindest zu offenen Anfeindungen. Das, was sie hier betrieben, war Aya willkommen, denn trotz allem vergaß Aya nicht, was Schwarz, im Speziellen Crawford Weiß und damit auch ihm über die Jahre hinweg angetan hatte. Wie sehr er den Amerikaner gehasst hatte schon seit ihrem ersten Zusammentreffen bei dem menschlichen Schachspiel.
 

Doch wenn Schuldig mit dabei war, wurde ihm umso bewusster, dass es auf Dauer nicht zu Anfeindungen kommen konnte… nicht mehr. Es würde Schuldig mehr wehtun als alles andere.

Aber es würde ein langer, harter Weg werden.
 

Brad musste einige Augenblicke über die Worte nachdenken, die ihm mit ruhiger Stimme zugetragen wurden. Sein Blick verlor sich auf dem Gesicht der Frau.

Schuldig entfernte sich von ihr und Brad verfolgte dies mit wachsamem Blick.
 

Augenscheinlich beachtete Aya Schuldig nicht, um es nicht zu auffällig werden zu lassen, dass sie beide den Feuerschopf kannten. Lieber ließ er seinen Blick erneut über die Menge streifen und versuchte Anzeichen einer Gefahr zu erkennen, die sich jedoch immer noch nicht finden ließen.

Crawfords für die CIA arbeitende Schwester... eine ihn hassende Schwester. Das war nicht gut, das konnte zu noch mehr Problemen führen.
 

Der Amerikaner wandte sein Gesicht von der Menge dort unten - wo er gerade mitverfolgt hatte wie Eve den Loungebereich einen Besuch abstattete, mit einem Industriellen im Schlepptau – Schuldig zu, der gerade angekommen war und hob fragend eine Augenbraue. Fragend vor allem ob des nervösen Gezappels, das dieser an den Tag legte. Er lehnte sich an die Absperrung, löste sich wieder von dieser…
 

‚Diese Frau von eben…’, fing Schuldig ein Gespräch per Telepathie an und stellte sich neben Brad, mit einem gewissen Abstand, sodass Ran sich nicht abgedrängt fühlte.

‚Was ist mit ihr…?’

‚Sie… schien wütend zu sein.’

‚Ja und? Wütende Frauen sollten dir doch keine Rätsel aufgeben?’

‚Haha, sehr witzig.’

Schuldig schwieg einen Moment, seine Knöchel traten weiß hervor. ‚Sie ist so wütend weil sie deine Schwester ist. Und sie plant etwas. Offenbar ist sie hier weil sie hinter einer großen Sache her sind. Und sie dachte dabei unter anderem an dich.’
 

Brad glaubte gegen eine Wand gelaufen zu sein. Eine undurchsichtige, übel riechende Wand, die ihm die Luft mit ihrem Gestank nahm. Er stand lediglich da und starrte Schuldigs Profil an.

Es wunderte ihn nicht, dass der CIA hier zugegen war, allerdings irritierte ihn die Tatsache, dass Eve sich der Sache offenbar persönlich angenommen hatte. Und er fragte sich deshalb auch, weshalb nach so langer Zeit ausgerechnet zum jetzigen Zeitpunkt erneut Jagd auf ihn gemacht wurde.

‚Bist du sicher, dass sich dieser wie auch immer geartete Plan gegen mich persönlich richtet?’, fragte Brad kühl nach, sein durchdringender Blick lag kurz auf dem Gesicht des Deutschen, als würde er es vermessen wollen.
 

Schuldig kam sich vor als würde Brad ihn mit diesem Blick auseinandernehmen wollen.

‚Sicher bin ich mir nicht. Die Zeit reichte nicht aus um sie vollständig zu scannen. Es ist nur sicher, dass sie hier ist und du gehörst mit zu ihrem Interessengebiet. Da sie deine Schwester ist und ihr euch vor einigen Augenblicken gesehen habt liegt es nahe, dass sie alte Geschichten neu aufwärmen möchte und du spielst vielleicht keinerlei Rolle in dem was sie hier zu tun beabsichtigt.’
 

Brads Kiefer spannten sich an. Es war besorgniserregend wenn Eve hier aufkreuzte, zu einem Zeitpunkt der denkbar schlechter nicht hätte sein können. Sie war für ihn gefährlich und das aus verschiedenen Gründen.
 

Dass Schuldig und Crawford per Telepathie kommunizierten, sah Aya nur zu deutlich, bevor er das nun leere Glas abstellte und einer der Kellnerinnen einen kühlen Blick zuwarf. Sie lächelte professionell, verbeugte sich leicht und entschwand dann aus der Nähe ihres Dreiergespanns.

Er lehnte sich über die Brüstung.

„Wir sollten gehen“, sagte er leise, jedoch laut genug für seine beiden Begleiter.
 

„Bleibt noch eine Weile, bis ich gegangen bin. Ich treffe euch in der Parallelstraße, vor dem Shop. Holt mich dort ab.“

Brad verließ die Bar und kurz darauf die Galerie. Sie mussten die Party getrennt verlassen. Eve und ihre Kollegen hatten mit Sicherheit ein Auge auf Schuldig und Ran geworfen. Schade, dass sie nicht Nagi mit seinem technischen Know-how dabei hatten. Brad interessierte sich für diejenigen, die ihm folgen würden.
 

Schuldig trat nahe an die Brüstung heran. Sein Blick war geradezu gierig zu nennen, als er über die unter ihm wogende Menge glitt.

Für einen Moment schloss er die Augen, nur um ein geistiges Bild der Menge unter sich zu erstellen. Jeden einzelnen Verstand dort unten suggerierte er, dass Ran und er hier oben nicht vorhanden waren und bei denjenigen, deren Interesse über das übliche Maß hinaus ging verweilte er einen Wimpernschlag länger. Dennoch reichte seine Konzentration nicht aus um mehr als Oberflächliches zu erfahren. Es waren vier CIA Agenten vor Ort und nur Brads Schwester hatte als einzige Kenntnis von Brads Anwesenheit.

Einer der Agenten wollte Brad zur Garderobe folgen, als er ihn erkannt hatte, wurde aber durch Eve abgezogen. Sie waren nicht hinter Brad direkt her…
 

„Lass uns gehen“, sagte Aya nachdem zehn Minuten vergangen waren und wandte sich zum Gehen. „Ich folge ihm nach draußen und du kommst als Letzter nach?“ Sie mussten sich unbedingt an die weitere Planung setzen, besonders jetzt.
 

„Nimm den Ausgang über das Parkdeck, ich folge dir in ein paar Minuten.“ Er wollte lediglich Rans ‚Abreise’ sicherstellen. „Die Jungs vom CIA werden mit Sicherheit im Parkhaus ihre Beobachter haben.“ Wie gut, dass sie ihren Wagen nicht hier geparkt hatten, sondern in einer privaten Tiefgarage, die sie für solcherart Einsätze in dauernder Mietung hatten.

„Ich hol den Wagen.“
 

Aya nickte. „Sei vorsichtig“, wisperte er und folgte Schuldigs Worten. Immer vorsichtig, eine Hand an der gut versteckten Waffe, damit er im Ernstfall wenigstens eine minimale Chance gegen Angreifer hatte. Doch das Parkdeck war ruhig, es kamen ihm nur wenige Menschen entgegen, keiner von ihnen in feindlicher Absicht.

Doch gerade diese Menschen verdeutlichten Aya mehr als alles andere, dass sie von hier weg oder die Gefahr bannen mussten. Aya wusste, dass er niemandem mehr trauen konnte außer seinen Freunden und bedingt auch Schwarz, weil sie den gleichen Feind hatten.

In besagter Parallelstraße traf er im Schatten auf Crawford und nickte ihm schweigend zu. Jetzt fehlte nur noch Schuldig.
 

Sie warteten.

Zehn lange Minuten. Es hätte weniger gebraucht um den Wagen zu holen, es sei denn, Schuldig hatte eine spontane Idee beschlichen. Bevor sich Brad jedoch begann Sorgen zu machen, hielt der Wagen neben ihnen und sie stiegen ein.

„Du bist spät“, sagte Brad als er die Beifahrertür schloss.
 

Schuldigs Blick ging kurz in den Rückspiegel, bevor er losfuhr. Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Ich wollte Rans Abzug sichern.“
 

Brads Blick ging aus dem Fenster. Die beleuchteten Gebäude und Straßenzüge zogen an seinen Augen vorbei, seine Gedanken waren jedoch weit vom hier und jetzt weg. Er dachte grundsätzlich nicht zu viel an die Vergangenheit, sein Spezialgebiet waren die Gegenwart und die Zukunft in Kombination. Jetzt jedoch konnte er sich von dem was war nicht losreißen.

Aya hatte auf dem Rücksitz Platz genommen und nachdem er einen kurzen Blick mit Schuldig gewechselt hatte, blieb er stumm, starrte aus dem Fenster in die Nacht hinein.

„Vielleicht sollten wir Japan verlassen“, sagte er schließlich in die Stille hinein.

Schuldig warf Ran einen fragend, skeptischen Blick zu, der so viel bedeutete wie: schlechte Idee, Honey, zum schlechtmöglichsten Zeitpunkt und überhaupt absolut indiskutabel. Die Lichter der Stadt begleiteten ihren Weg, Songs vom Miami Vice Soundtrack umschmeichelten ihre Ohren. Vor allem die Band Mogwai hatte es ihm darauf angetan. Er hatte sich erst vor ein paar Tagen seinen Player neu bespielt und die alten Songs mit raufgepackt. Schon zu Zeiten als sie Weiß geärgert hatten liebte er es bei ihren Unternehmungen Musik in seinen Ohren zu haben. Soundtracks hatten ihm dabei immer die nötige akustische Untermalung gegeben. Klassik war dabei auch nicht zu verachten. Wobei Schuldig tatsächlich bezweifelte, dass außer ihm irgendjemand hier im Wagen die Musik zu würdigen wusste. Ran dachte ans weggehen, Brad… vermutlich an seine Schwester.

Brad hörte die Worte nicht. Er war bereits damit beschäftigt Nagi gedanklich Anweisungen zu geben, wie dieser seine Nachforschungen gestalten sollte, nur um sie im nächsten Moment wieder zu verwerfen.

Eve war hier. In Tokyo. In seiner Stadt.

Das hatte sie noch nie getan. Sie war noch nie auf seine Seite des Schlachtfeldes getreten.

Sie hatte sich nicht viel verändert. Ein paar Augenfältchen mehr. Lachfalten um den Mund. Sie wurde… ihrer Mutter immer ähnl…

Er brach den Gedanken ab.
 

Aya hatte den Blick sehr wohl gesehen. Er seufzte innerlich. Was sollten sie auch anderes tun? Wenn nun auch noch die CIA auf dem Plan stand, zusätzlich zu ihrem unbekannten Feind, dann wusste er nicht, wie sie zu fünft gegen diesen übermächtigen Gegner ankämpfen sollten.

Schweigend fuhren sie schließlich durch Tokyo und Aya schloss die Augen, versank in seinen eigenen Gedanken.
 

Schuldig kam der Weg bis zu Brads Wohnung lang vor. Er mochte den Gedanken nicht, dass Brad alleine hier nächtigen sollte.

Die Gesprächsstille, die im Wagen während der Fahrt Einzug gehalten hatte hielt auch an als sie in die Tiefgarage einfuhren und Brad ausstieg. Schuldig wollte ihn hochbegleiten.

„Wartest du hier… oder kommst du mit?“, fragte Schuldig leise zu Ran gerichtet, er lehnte sich an die geöffnete hintere Tür an, blickte Brad nach.
 

„Ich komme mit“, erwiderte Aya nach einigem Nachdenken. Er verspürte wenig Lust dazu, hier unten zu warten, besonders nicht aufgrund des unguten Gefühls, das ihn beschlich. Sein Instinkt riet ihm, nicht alleine hier zu bleiben.

Er stieg aus. Diese Wohnung kannte er schon... damals hatte er Crawford zu Schuldig gebracht.

„Außerdem kann der alte Mann sicherlich nicht alleine die Treppe hoch. Alleine schon deswegen müssen wir ihn begleiten.“ Leichter Humor tränkte seine Stimme.
 

„Sag ihm das bloß nicht in seiner jetzigen Stimmung“, knurrte Schuldig gespielt übellaunig und schloss die Tür nachdem Ran ausgestiegen war.

Er öffnete die andere Seite des Wagens, nahm sein Jackett an sich und schloss zu Ran auf, der Brad gefolgt war. Dieser wandte sich am Aufzug um, da er offenbar ihre Schritte gehört hatte. Sein Gesicht gab Schuldig leider keine Auskunft über Zustimmung oder Ablehnung ihres Vorhabens.

„Was wird das? Habt ihr nicht noch etwas Dringendes zu erledigen?“ Brads Tonfall war so klirrend kalt wie Rans Katana scharf war.

Schuldig zuckte mit den Schultern und schulterte sein Jackett. „Du willst uns wohl loswerden, was?“

„Richtig“, sagte Brad mit entwaffnender Ehrlichkeit.
 

„Worin du noch nie sonderlich erfolgreich warst“, kam es nun von Aya und fasste um Crawford herum zum Bedienpult, um den Aufzug zu holen. Dabei lächelte er stygisch, parierte die Kälte des Amerikaners mit seiner eigenen.

„Und nein, wir haben nichts Dringenderes zu erledigen.“
 

Schuldig spitzte hinter Brad die Lippen und machte ein fragendes, geradezu lächerlich komisches Gesicht in Richtung Ran. Seine Lippen formten die Worte: Bist du dir sicher?

Er wackelte mit den Augenbrauen als der Aufzug ankam und Brad ihn betrat. Er betätigte eine der obersten Stockwerke.
 

Aya begegnete Schuldigs Blick mit einem entschuldigenden Schulterzucken. Ja natürlich hatte er gelogen, er könnte sich schließlich zehn bessere Dinge vorstellen, die im Moment dringlicher waren und eines davon war sicherlich Schuldigs Hintern, aber wie dem so war, trug er nun Verantwortung für das Seelenheil seines Zackelschafes auch in die andere Richtung. In die Richtung Crawford, dem es nicht gut ging. Schuldig jetzt von ihm zu lösen, hätte etwas Grausames.

So gab sich Aya jede Mühe, mit dem Aufzug zu verschmelzen um seine Feldstudie „Scheues Menschenmännchen Crawford“ weiter zu betreiben.

Der Aufzug hielt an.

Sie stiegen aus und Brad wandte sich nach links um den Korridor hinab zu gehen. Wie gewohnt tastete Schuldig die Umgebung nach Individuen ab. Doch es war niemand auf dieser Etage.

„Wie viele Wohnungen gibt’s hier?“, fragte er neugierig und sah sich um, während Brad die Sicherheitscodes eingab um seine Wohnung zu öffnen.

„Zwei.“

„Aha“, meinte Schuldig lediglich. Brad ließ es sich also heimlich gut gehen, wenn er die Schnauze voll von ihnen hatte. So war das also.
 

Sie betraten die Wohnung und Brad sah sich zunächst um. Als er die Wohnung für sauber hielt, checkte er die Überwachungsvideos und löschte sie danach. Nagi hatte in allen Räumen aus unterschiedlichen Winkeln Überwachungskameras installiert, die einen geschlossenen Kreislauf hatten und von außen nicht zu hacken waren. Nur Brad selbst konnte sie kontrollieren.

Schuldig sah sich unterdessen ebenfalls um. Er betrat den großen Wohnraum und saugte sich sofort an der großartigen Kulisse der Stadt fest.
 

Aya war gar nicht aufgefallen, dass diese Wohnung so kühl eingerichtet gewesen war. Konnte auch sein, dass er das bei seinem letzten Besuch nicht beachtet hatte, weil es da andere Dinge gab, die wichtiger waren.

„Möchte jemand Kaffee?“, fragte er unverschämt in die Stille hinein, als es absehbar war, dass Crawford ihnen keinen anbieten würde und machte sich auf den Weg in die Küche, in der Hoffnung, dort etwas Trinkbares zu finden.
 

„Ich würde etwas ganz anderes bevorzugen“, erwiderte Schuldig und es war eindeutig, dass er damit nicht unbedingt etwas zu Trinken meinte. Allerdings war es auch nur Geplänkel, ein Flirt. Er war nicht wirklich hinter Ran her. Heute nicht. Aber es machte wie immer Spaß so zu tun, als ob er auf der Jagd wäre.

Es lag ihm im Blut. Irgendwie.

Brad kam aus dem Überwachungsraum heraus und trat zu ihnen. Er öffnete einen der Schränke und holte sich eine Flasche Scotch hervor und ein Glas. Nachdem er sich eingeschenkt hatte, nahm er das Glas mit und verschwand im Badezimmer. Wenig später hörten sie die Dusche.
 

Mit einem äußerst sparsamen Blick auf Crawfords Abgang, grinste Aya schließlich in Schuldigs Richtung.

„Was anderes? Hier? Vor seinen Augen? Das hältst du für eine gute Idee? Lebensmüde, oder was?“, motzte er und drehte sich zur Kaffeemaschine um. Kaffee war da, Milch nicht, Zucker aber wieder. Wenigstens etwas.

Er brühte Kaffee auf – in stillschweigender Bewunderung des Kaffeevollautomaten edelster Herkunft – und kam dann auf Schuldig zu.

„Obwohl... warum nicht? Der gewisse Kick...“ Sein Lächeln war mehr als hinterhältig zu bezeichnen.
 

Während die beiden unverbesserlichen Turteltäubchen ihren verbalen Schabernack weiter trieben, stand Brad unter der Dusche und war in gänzlich anderer Stimmung.

Er ließ sich das warme Nass über den Rücken laufen und versuchte die Gedanken an die Vergangenheit zurückzudrängen. Doch zu wissen, dass seine Schwester hier in seiner Nähe war ließ ihn innerlich frösteln. So lange hatte er seine Familie für sich als Tod erklärt und nun tauchte plötzlich ein Teil von ihr auf. Gedanken an seine Eltern drängten sich ihm auf und er versuchte sie sich vorzustellen, wie sie nun wohl aussehen würden.

Er scheiterte schon beim Versuch. Es war zu lange her. Nicht mehr seine Welt.

Einerlei.

Er unterdrückte einen Fluch und stellte die Dusche ab, nahm einen Schluck Scotch und begann damit sich abzutrocknen und sich leger zu kleiden.

Ihm behagte der Gedanke, dass die zwei ‚Roten’ hier waren und ihm Gesellschaft leisten wollten nicht sonderlich. Er wollte niemanden sehen.
 

Das Duschen im entfernten Badezimmer hatte aufgehört und Aya versetzte Schuldig einen Klaps auf den Allerwertesten, als er vor ihm stand. Dann löste er sich wieder von seinem Partner und suchte nach Tassen, was gar nicht so einfach war in dieser strikten Ordnung.

„Auch einen?“, fragte Aya noch einmal. „Du solltest dich gleich um den alten Mann kümmern. Er wirkte nicht ganz glücklich.“ Wobei Aya vermutete, dass er das durchaus auch zu dreißig Prozent auf ihre Anwesenheit buchen konnte.
 

„Du meinst…“, Schuldig grinste und lugte in Richtung Flur. Doch dort tat sich noch nicht viel. „…je öfter du mich fragst, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich doch einen mittrinke? Nicht heute“, fügte er an und zwinkerte Ran zu.
 

Brad löschte das Licht im Bad und ging ohne Umwege in sein Schlafzimmer. Er beließ das Licht aus und genoss lediglich den Lichtschein der Lichter der Stadt, die in das Dunkel fielen. So stand er an der Fensterfront und blickte hinaus, gelegentlich einen Schluck Scotch zu sich nehmend.

Nach dem heutigen Ereignis war er gewillt, diesen neuen Faktor CIA mit in einen Plan einzubeziehen, doch die Tatsache, dass es Eve war blockierte jede Planung im Moment.
 

Gut... dann nicht heute. Aya nahm sich seinen Kaffee und verfolgte Crawfords Abgang in dessen Schlafzimmer.

Dann fiel sein Blick auf Schuldig und er neigte sein Kinn in die Richtung.
 

Schuldig zog ein skeptisches Gesicht, als würde er nicht wissen was Ran mit dieser Geste meinte.

Doch nur einen Augenblick später seufzte er und ließ den Kopf aufgebend in den Nacken fallen, ließ ihn auf der schwarzen Ledercouch liegen und schloss die Augen. „Ich habe nicht den Eindruck als bedeute eine geschlossene Tür eine Einladung.“

„Den Eindruck könnte man gewinnen, da hast du Recht. Aber andererseits spricht er nicht viele Einladungen aus, findest du nicht?“Aya nahm einen Schluck des Kaffees und befand ihn für gut, sehr gut sogar.

Er ließ sich neben Schuldig auf die Couch fallen und strich mit seiner Hand über Schuldigs Oberschenkel.

„Sicher, dass er dich nicht braucht? Er hat seine Schwester wiedergetroffen, seine SCHWESTER, die er jahrelang nicht gesehen hat. Und sie scheinen sich zu hassen.“ Wie sehr wünschte sich Aya in diesem Moment, dass er seiner Schwester gegenübergestanden hätte. Seiner geliebten, toten Schwester.

Ein Schatten huschte über sein Gesicht, jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde.

„Hmm“

Zu mehr ließ sich Schuldig für den Moment nicht herab. Er dachte nach. Was sollte er Brad schon erzählen, oder fragen? Er tat sich schwer damit Brad in einer Situation zu sehen, in der er ihn trösten sollte, oder musste, oder konnte. Was auch immer. Das war nicht so sein Ding. Das war Rans Job. Irgendwie.

„Vielleicht… ist es besser du gehst zu ihm“, war die Quintessenz der ganzen Grübelei, die aus ihm heraus brach.
 

„Ich?“ Aya war überrascht über diesen Vorschlag. Wieso sollte ausgerechnet er Zugang zum Amerikaner bekommen? Er wollte schließlich nichts von ihm. Schuldig war ihm da schon wesentlich näher.

Wenngleich ihm da gerade ein Gedanke kam...

„Traust du dich nicht?“ Sein Blick bohrte sich in Schuldig. „Keine Angst, wenn er dir eins auf die Mütze gibt, kriegt er von mir zwei zurück.“
 

„Ich und Angst?“, begehrte Schuldig auf und zog ein abfälliges Gesicht. „Vor dem da?“ Er wedelte in Richtung abgedunkelten Flur.

„Nicht direkt“, kam es dann doch kleinlauter. Er seufzte wieder und sein Blick war beinahe als trotzig zu bezeichnen.

Er war nicht derjenige, der Brad helfen konnte, er war stets derjenige der Hilfe von Brad bekam. In irgendeiner Form zumindest.
 

„Vielleicht braucht er jemanden, der einfach da ist. Der noch nicht einmal groß die Klappe aufreißt, sondern einfach Präsenz zeigt.“ Ayas Blick fiel zur Seite auf Schuldig und er hob eine Augenbraue, seufzte schließlich theatralisch.

„Okaaay, das mit dem Klappe halten dürfte dir schwer fallen. Da hast du Recht, da könnte es Probleme geben.“
 

„Ja siehst du!“ Schuldig erhob sich von der Couch, als hätte Ran die bestmögliche Ausrede für das Problem genannt. Er ging ein paar Schritte und kam dann wieder zurück, blieb mit hängenden Armen vor Ran stehen.

„Was ist, wenn wir das alles zu dramatisch sehen? Wenn es ihm völlig egal ist, dass seine Schwester plötzlich hier aufgetaucht ist.“
 

„Klar ist es ihm völlig egal. Deswegen hat er uns auch so bereitwillig hier hineingelassen. Deswegen hat er sich auch so demonstrativ in sein Schlafzimmer zurückgezogen. Deswegen war er auch kalkweiß, als er sie gesehen hat. Ich denke auch, dass sie ihm völlig egal ist.“ Aya nickte und deutete dann mit dem Arm in Richtung Schlafzimmer, streckte schließlich seinen Zeigefinger aus.

„E.T. nach Crawford telefonieren“, sagte er mit der zweiten, hochgezogenen Augenbraue.
 

„Bitte?“ Schuldig sah keinen Bezug zwischen E.T. und ihm. Gar keinen. Er schüttelte unverständig den Kopf und verzog den Mund grüblerisch.
 

„Beweg deinen Arsch in sein Schlafzimmer“, übersetzte Aya für Schuldig und konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Er nahm einen weiteren Schluck des schwarzen Gebräus.

„Ich bleibe hier und horche auf verdächtige Geräusche. Wenn du schreist, komme ich dir zu Hilfe.“

„Gibt es Abstufungen in den Schreien, auf die du hören würdest? Oder würdest du bei jeder Art Schrei kommen? Mir zur Hilfe kommen, meine ich.“

Schuldig bemerkte gar nicht, wie groß der Unsinn war, den er von sich gab, als er seinen Blick wieder auf den Flur lenkte.
 

„Wenn es so klingt, als würde er es dir besser besorgen als ich, werde ich natürlich kommen und zusehen, dass ich meinen Status als unangefochtener King nicht verliere“, gab Aya zu bedenken und verpasste Schuldig einen Tritt in den Allerwertesten. Strafe musste sein.
 

„He~ey“, meckerte Schuldig auf und funkelte Ran böse an. „Dafür räche ich mich bitter… wart‘s nur ab!“, versprach er bevor er sich aufmachte und in Richtung Flur trottete.

Er klopfte wenig zaghaft an und ging dann ins Schlafzimmer, die Tür hinter sich schließend. Brad stand noch immer am Fenster und ließ seinen Blick auch nicht von der Aussicht, als Schuldig eintrat. Schuldig betrachtete sich für einen langen Moment die Silhouette, die sich dunkel vor dem nächtlichen Lichterreigen der Stadt abhob. Er kaute unbewusst auf seiner Unterlippe herum, bevor er dieses unwürdige Zeichen seiner Nervosität bemerkte und es einstellte. Nach einem weiteren Moment des Zauderns ging er zu Brad und stellte sich neben ihn, den Blick ebenfalls ins nächtliche Tokyo richtend.

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie hinter dir im Speziellen her ist“, sagte er und nahm Brad das Glas aus der Hand um sich den letzten Schluck zu gönnen.
 

„Wen meinst du?“, fragte Brad gedankenverloren und die abwesend klingenden Worte zeigten Schuldig wie wenig er seinen Worten zugehört hatte.

„Deine Schwester?“

Brad runzelte die Stirn und seine Hand, die zuvor das Glas gehalten hatte, verschwand in der Tasche seiner Hose.
 

Schuldig setzte sich aufs Bett, stellte das Glas ab und begann damit seine Schuhe und anschließend seine Socken auszuziehen.
 

Währenddessen war Aya weniger ruhig. Er hätte Schuldig nicht gehen lassen sollen, ohne dass er dabei war. Innerlich grollte er, dann schalt er sich für seine Eifersucht. Schuldig liebte ihn, mehr als dass er Crawford liebte. Und selbst wenn, dann gönnte er es den beiden. Schließlich hatte er Schuldig geradewegs in das Schlafzimmer des anderen geschickt.

„Leb damit, du eifersüchtiger Arsch“, sagte er leise zu sich selbst und streckte die Beine auf der Couch aus, löste wenig später seine Schuhe. Schreckliche, westliche Angewohnheiten, die Schuhe anzulassen.

Die Kaffeetasse kam auf dem Boden zur Ruhe und er legte den Kopf auf die Lehne.

Crawford hatte eine Schwester, eine Familie. Doch war Hass zwischen ihnen nicht noch schlimmer als das Alleine sein, so wie er es hatte?

Seine Familie waren Schuldig und die Jungs von Weiß, doch Blutsverwandte hatte er nicht mehr. Es ließ sich Aya manchmal sehr einsam fühlen.
 

Brad sah Schuldig zu, wie dieser sich ans Kopfende des Bettes anlehnte und die Beine ausstreckte.

„Hast du das von ihr?“

„Sie war hinter etwas anderem her und sie hat den Gorilla, der sich deiner annehmen wollte, zurückgepfiffen. Offenbar war sie aus ähnlichen Gründen wie wir auf der Party gewesen.“

Schuldig betrachtete sich Brad, der ihn undurchschaubar anblickte. Die Hälfte des Gesichts lag im Schatten, die andere Hälfte wurde vom einfallenden Licht erhellt. Wenn er ihn nicht kennen würde, dann hätte Schuldig dieser Anblick nicht nur erotisiert, sondern auch geradezu magisch elektrisiert.
 

„Du meinst, das ist der Beweis ihrer außerordentlichen Schwesterliebe?“ Brads Stimme war leise, spöttisch. Doch Schuldig hörte auch eine Nuance Bitterkeit heraus.
 

Aya trieb es unterdessen auf die Toilette und er bestaunte das luxuriöse Bad. Es war ihm immer noch ein Rätsel, wie man so leben konnte. Er hatte das nie gekannt, auch zu Weiß‘ Zeiten nicht. Und nun... sowohl Schuldig als auch Crawford hielten nichts von einfachen Einrichtungen. Nicht, dass er etwas dagegen hatte.

Sein Gegenüber im Spiegel betrachtend, stellte er fest, dass er sich langsam in die waagrechte begeben sollte. Die Augenringe konnte selbst das unaufdringliche, indirekte Licht nicht kaschieren.

Schweigend kehrte er zurück zur Couch und löschte das Licht. Eine Decke brauchte er nicht, dazu war es zu warm mittlerweile. Er zog sich einzig seine Anzugjacke und die Socken aus und löste die Haare aus ihrem Gefängnis.

Das Gesicht zur Couchlehne drehend, schloss er die Augen und nahm sich eines der Kissen, knautschte es unter seinem Kopf zurecht.

Je eher er einschlief, desto weniger würde er sich fragen, was die beiden dahinten trieben.
 

„Ist es nicht?“, fragte Schuldig gespielt erstaunt zurück und er wich Brads Blick aus.

„Eve könnte sich nicht auf ihrem Posten halten würde sie ihrer Familie den Vorzug geben.“
 

„Kann ich mir gut vorstellen“, brummte Schuldig.

Brad beobachtete Schuldig noch einige Momente bevor er sich auf die andere Seite des Bettes legte und einen Arm unter das Kopfkissen schob, die Decke betrachtete.

„Wir brauchen ihre Daten.“

„Ich werde Nagi darauf ansetzen.“
 

Schweigen herrschte zwischen ihnen und Brad schloss die Augen, Schuldig neben sich wissend, der sich in der Zwischenzeit in eine ähnliche Position wie seine begeben hatte. Er hatte gedacht, der andere wäre eingeschlafen als Stoff raschelte.

„Wie befangen bist du in der Sache?“, kam es putzmunter zu ihm geschallt, als hätte Schuldig an nichts anderes denken können als die Verbindung die Crawford zur ‚Firma‘ unterhielt. Oder eben nicht unterhielt.
 

„Das hört sich an als stünde ich vor einem Gericht“, kam die verzögerte Antwort von Brad und eine leise Warnung schwang mit, die Schuldig jedoch geflissentlich überhörte.

Dieser stützte sich auf einen Arm und war auf Armlänge an Brad heran gerutscht.
 

„Nun, das nicht unbedingt, aber findest du nicht, dass diese Eröffnung im Team ein klitzekleines Bedürfnis nach weiterer Erkenntnis über dieses Thema hervorlocken könnte. Ich meine ja nur…“
 

Brad atmete ein, ließ einen Augenblick verstreichen und holte dann beim Ausatmen das neugierige Etwas neben sich an dessen Hemd zu sich, sodass einer der obersten Knöpfe sein Heil in der Flucht suchte.

Schuldigs Hand umfasste zunächst reflexartig fest Brad Handgelenk, bevor er seinen Griff lockerte, ihn jedoch beibehielt.
 

„Ein Bedürfnis? Ich denke wir sind uns einig, dass der einzige, der hier spezielle Bedürfnisse hat und diese vielleicht bei mir einfordern kann, hier in diesem Raum ist. Alle Bedürfnisse anderer oder neugieriger Art gehören bei diesem Thema nicht dazu.“
 

Schuldig verlagerte sein Gewicht leicht, sodass er dem Zug von Brads Hand nachgab und halb auf diesem zum liegen kam. „Das ist…“ Schuldig näherte sich Brads Lippen, berührte diese hauchzart, bevor er sich von dessen Lippen eingenommen und überwältigt fühlte. Er schloss die Augen, konnte den heißhungrigen Blick aus den schwefelgelben Augen nicht erwidern.

„… keine…“ Ein Knurren entkam Brad als sich Schuldig für einen Moment löste. „… Ein-Mann-Show- Brad!“

Schließlich hatte Schuldig nicht vor, dass Thema einfach so fallenzulassen. Nur war die Aufrechterhaltung dieser Konversation unter gegebenen Umständen sehr schwierig. Vor allem wenn Schuldig derart fest im Griff des anderen hing und dieser ihn dominierte, wie eben.
 

Brad gab ihn frei und Schuldig keuchte als er sich aufstützte und grimmig dreinsah.

„Das war nicht nett, mich so zu überfallen!“

Brad hob ob dieser schamlosen Übertreibung lediglich eine Braue.
 

„Du weißt gut genug was passiert, wenn du wieder so ein Ding alleine durchziehst. Informationen bezüglich der Dame wären nicht schlecht, meinst du nicht auch?“
 

Schuldig lockerte Brads Griff um sich und schmiegte dessen Hand an den Übergang zwischen Brust und Hals. Sein Blick war unternehmungslustig, jedoch ernst genug um seine Ansichten Brad mitzuteilen.

Die Hand auf seiner Haut fühlte sich anders an als… Rans. Größer, Kräftiger.

Zusammen mit diesem durchdringenden Blick und dem Daumen, der sich gerade auf seine Kehle zubewegte, fühlte sich Schuldig wie berauscht. Er legte sich in diese Berührung und betastete erneut Brads Lippen, mit seinen eigenen, stippte mit seiner Zunge zwischen die sich ihm öffnenden Lippen. Die Begrüßung verlief dieses Mal weniger beherrschend, sondern warm und einladend.
 

Schuldig grinste als er sich nach einer kleinen Ewigkeit löste, leckte über einen Speichelfaden an Brads Lippen und legte sich nach einem glühenden Blick in die ruhig blickenden Augen auf Brad ab.

Dessen Hände betteten sich auf ihn und Brads Rechte fand ihren Weg in seinen Nacken, lag dort warm und versichernd ruhig, während Schuldigs Augen ins Dunkel des Zimmers blickten. Dort wo er Ran hinter den Wänden und Türen vermutete.
 

„Ich sage euch so viel wie ihr über sie wissen müsst. Und das ist nicht viel“, sagte Brad mit Verspätung.
 

Schuldig schloss die Augen und ein siegessicheres, müdes Lächeln zirkelte um seine Mundwinkel.
 

o~
 


 

Die Hände immer noch am Lenkrad ihres Wagens war Aya sich immer noch nicht sicher, ob er das Richtige tat oder ob er nicht wieder einmal überreagierte. Er musste langsam damit leben, das Schuldig auch Aufträge alleine ausführte und konnte nicht immer wie auf heißen Kohlen zuhause sitzen und darauf hoffen, dass der andere lebend zurückkam.

Er wollte sich schließlich weiterentwickeln, sich von seiner alten Angst lösen.
 

Dennoch stand er hier nun in der Nähe des Ryokans, nur zu bereit, Crawford einen Besuch abzustatten. Vor allen Dingen, einem wahrscheinlich unwissenden Crawford. Wenn das Orakel keine Vision von seinem Besuch erhalten hatte, dann konnte es ihm vielleicht gelingen, den älteren Mann zu überraschen.
 

Ayas Widerwillen, sich in die Nähe des Schwarz zu begeben, war in den letzten Wochen geschrumpft, allerdings nicht verschwunden. Sie hatten sich durch diverse Besprechungen und Missionsausarbeitungen miteinander vertraut gemacht und waren in der Lage, mehr als einen vernünftigen Satz miteinander zu wechseln. Angesichts der Tatsache, dass sich auch Schuldig und Crawford immer näher gekommen waren, ein durchaus positiver Fortschritt, bei dem sich Aya durchaus ertappt hatte, Crawfords Vorzüge für sich herauszustellen.

Nicht, dass sich der andere Mann nicht immer noch wie ein Arschloch benahm, ein kühles Arschloch die meiste Zeit über, aber er war... treu.

Aya wusste nicht, wie er es besser beschreiben sollte, diese Verbindung zwischen Schuldig und Crawford, doch der Amerikaner schien einfach zur Ruhe gekommen zu sein, seitdem Schuldig und er mehr als nur ein paar unpersönliche Worte miteinander teilten.
 

Dass er dadurch ebenso mehr an den Amerikaner gebunden worden war, kam schleichend, aber letzten Endes nicht unwillkommen.
 

Aya grollte und stieg aus dem Wagen. Er schloss hinter sich ab und begab sich zum Haus des besagten Subjektes seiner Gedanken. Dort konnte er warten, bis Schuldig sicher von seinem Auftrag wieder da war. Vielleicht hatte der Amerikaner ja auch etwas zu essen zu Hause. Er war zu faul gewesen, etwas zu kochen und hatte auf dem Weg hierhin festgestellt, wie groß eigentlich sein Hunger war.
 

Den Finger schließlich auf der hochmodernen Sicherheitsanlage, die sich als Klingel tarnte, wartete er darauf, dass er hineingelassen wurde.
 

Und wartete.

Es war nicht so, dass der Hausherr nicht wusste - die Vorhersehung hatte es ihm gezeigt - dass er bald unerwünschten Besuch erhalten würde, trotz dieses Umstandes ließ er besagten Besucher warten.

Erziehungsmaßnahmen, wie er sich sagte, als er den sizilianischen Nudelauflauf in den Ofen schob und noch einmal sein Werk bewunderte.

Unterwegs zur Tür – er hatte nach einigen Minuten ein Einsehen - traf sein Blick sowohl Uhr als auch den Überwachungsbildschirm der Außenkameras und fand seine Voraussicht bestätigt.

Ein Seufzen später öffnete er die Tür weit, lehnte sich an diese an und betrachtete sich den um Einlass Begehrenden stumm.

„Hat deine miese Laune bestimmte Gründe oder liegt es einfach nur daran, dass du zu faul warst dir etwas zu Essen zu machen?“

Mittlerweile kannte auch ER Rans Launen, wenn dieser nichts aß.

Vor einer Stunde hatte Brad eine Vision ereilt, in der Ran Fujimiya ihr Haus eingenommen hatte und derart schlecht gelaunt war, weil er – wie er sagte – es den ganzen Tag nicht geschafft hatte sich etwas zu essen zu kochen. Im Subtext bedeutete dies bei dem Japaner, dass er schlicht zu bequem gewesen war. Oder andere Dinge im Kopf hatte: Schuldig zum Beispiel.
 

Also entweder saß seine ausdruckslose Maske nicht so sehr, wie er es eigentlich erwartet hatte nach einem letzten Blick in den Spiegel oder das vor ihm stehende Orakel hatte seine Verbindung nach Delphi getestet und für gut befunden. Was wahrscheinlicher war, woher sollte Crawford sonst wissen, dass er Hunger hatte?

Aya hatte beschlossen, sich während seiner Wartezeit an die Wand zu lehnen und sich das Warten auf Mr. Crawford selbst mit Gedanken über den Tag, Schuldigs Auftrag und generell ihre Situation zu vertreiben. Es waren keine schönen Gedanken gewesen und dementsprechend dunkel trafen seine Augen nun auf die des Amerikaners.
 

„Ich habe keine schlechte Laune", kam es halbwegs beherrscht zurück, wirklich mit gutem Vorsatz, diese Vision nicht zu erfüllen. „Dir sollte aufgefallen sein, dass ich nie mit einem Lachen durch die Gegend laufe." Vor allen Dingen dann nicht, wenn er Hunger hatte.
 

Der schlanke Japaner lehnte immer noch an der Mauer und es war offenbar sehr bequem, denn er machte keinerlei Anstalten hereinzukommen. Brad maß den anderen, ließ seinen Blick über dessen legere Kleidung schweifen – Jeans und Shirt – und hätte sich einem normalen jungen Japaner im besten Alter gegenüber gesehen, wenn nicht dieser Ausdruck von frostiger Unterkühlung in dessen Augen geherrscht hätte oder der unentspannte Zug um die Mundwinkel gewesen wäre. Brad war kein so guter Beobachter wie Schuldig, aber es gab Dinge an Ran, die er selbst langsam zu erkennen glaubte. Vor allem dessen Stimmungen, obwohl sich auf den ersten Blick die Mimik kaum veränderte. Beim zweiten Hinsehen erkannte er jedoch die angespannte Haltung, leichte Veränderungen in der Mimik aber auch eine gewisse Beherrschtheit in der tiefen, warmen Stimme.

„Der kleine Ran bekommt nur etwas zu Essen wenn er sich auch folgsam an den Tisch setzt. Hier draußen wird nicht gegessen. Und schön die Hände waschen vorher“, sagte Brad knochentrocken und ließ die Tür offen stehen, drehte sich um und ging wieder zurück in die Küche.
 

Jetzt, wo Crawford es gesagt hatte, roch er es. Er ROCH es.

Und es roch gut.

In Windeseile hatte Aya seine schlechte Laune vor der Tür gelassen, selbige hinter sich zugeschlagen, das Bad besucht um sich die Hände zu waschen und sich schließlich brav zu Tisch begeben, den Platz gegenüber Crawford eingenommen.

Es gab Essen, frisches, gerade gekochtes Essen, das dort im Ofen vor sich hin backte.

„Das riecht gut... was ist das?“, fragte er und das Kompliment kam leichter über seine Lippen, als er es vermutet hatte.
 

„Opportunist“, sagte Brad unhörbar und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem angedeuteten amüsierten Lächeln. Offenbar konnte der Japaner auch nett zu ihm sein wenn er etwas wollte.

Er blätterte das Kochbuch durch und schloss es im Augenblick als Ran sich setzte.

„Sizilianischer Tagliatelleauflauf. Ich war heute im Feinkostladen und habe meine Bestellung aus Italien abgeholt. Gabriele hat mich auf den Laden aufmerksam gemacht.“

Brad erhob sich, nahm das Kochbuch mit sich und stellte es ins Regal.

„Darf es etwas zu trinken sein, Wein, Bier, Wasser? Tee?“
 

„Wein natürlich“, erwiderte Aya mit einem Leuchten in den Augen, dass das allzu ruhig ausgesprochene Wort Lügen strafte. Feinkost direkt aus Italien, dazu Wein, das klang doch schon mal wie ein guter Anfang! Ein sehr guter Anfang!

„Gabriele hat überall hin Verbindungen. Manchmal könnte man meinen, er gehöre der Mafia an, wenn man sieht, an was er alles herankommt und zu welchen Preisen.“

Aya zögerte einen Moment lang, dann überwand er seinen Schatten. „Kann ich helfen?“ Er wurde den latenten Verdacht nicht los, dass Crawford für sie beide gekocht hatte. Doch das konnte nicht sein, nicht Crawford... oder?

„Du kannst dich um die Getränke kümmern. Die Abstellkammer den Flur hinunter haben wir zu einem provisorischen Weinlager umfunktioniert. Weißweine habe ich bereits kühlgestellt. Wenn du einen Roten willst such ihn dir aus. Alles andere habe ich hier.“
 

„Weiß ist gut“, erwiderte Aya und musste nach ein paar Augenblicken über die Doppeldeutigkeit lächeln. „Was willst du trinken?“

Er streunte zum Kühlschrank und fischte die Weißweinflasche heraus. Den Korkenzieher in den Korken drehend, beobachtete er Crawfords Tun und erinnerte sich an alte Zeiten. An Schuldig, der als tot gegolten hatte und Crawford, der ihm Essen kochte oder bestellte, damit er überlebte. Und nun bekam er Essen zur Besänftigung... damit er Crawford nicht anfiel.
 

„Ich schließe mich dir an.“

Das Telefon klingelte.

„Entschuldige mich.“ Brad verließ die Küche in Richtung Arbeitszimmer – oder einem der Schlafzimmer, die sie dafür umgebaut hatten.

Es war Nagi, der sich für den heutigen Abend und morgen abmeldete. Er hing an seinem Abschlussexperiment in der Uni fest. Oder dem Takatori Sprössling, wie man es drehte und wendete Nagi würde wohl die nächsten Tage gut beschäftigt sein.

„Pass auf dich auf.“

Brad legte auf. Als er das Telefon auf den Tisch ablegte, fiel sein Blick nach draußen. Die Regenzeit hatte vor ein paar Tagen begonnen und hielt das Land in ihrem festen Griff. Über allem lag ein feuchter klammer Dunst.
 

Aya hatte derweil die Flasche geköpft und ihnen eingeschenkt. Nun hockte er vor dem Backofen und sah der hellgoldenen Kruste schier gierig dabei zu, wie sie dunklere Töne annahm und bald ins Goldbraune abglitt.

Sein Magen knurrte höchst erwartungsvoll angesichts dieses verlockenden Duftes und Aussehens und sagte ihm, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, nichts zu essen. Wer wusste schon, ob er sonst in den Genuss dessen gekommen wäre!

Er hörte, wie Crawford in die Küche zurückkam und erhob sich, die Hand schon griffbereit über den Handtüchern.

„Soll ich ihn herausholen oder braucht er noch etwas?“
 

Aya hatte derweil die Flasche geköpft und ihnen eingeschenkt. Nun hockte er vor dem Backofen und sah der hellgoldenen Kruste schier gierig dabei zu, wie sie dunklere Töne annahm und bald ins Goldbraune abglitt.

Sein Magen knurrte höchst erwartungsvoll angesichts dieses verlockenden Duftes und Aussehens und sagte ihm, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, nichts zu essen. Wer wusste, ob er sonst in den Genuss dessen gekommen wäre!

Er hörte, wie Crawford in die Küche zurückkam und erhob sich, die Hand schon griffbereit über den Küchentüchern.

„Soll ich ihn herausholen oder braucht er noch etwas?“
 

„Ich habe ihn vor genau ...“ Brad warf einen Blick auf die Uhr und dann einen zweifelhaften auf das rothaarige Möchtegern Raubtier, das mit seinem Stuhl in Richtung Backofen gerückt war und nun hungrig dem Ganzen beim gar werden zusah. Brad löschte das Backofenlicht, sodass der Blick auf den Auflauf dem Japaner verwehrt wurde.

„…15 Minuten in den Ofen geschoben. 45 Minuten braucht er. Du kannst dir ausrechnen, wie lange dein Martyrium noch dauern wird. Plus der Zeit, die er braucht zum Ruhen, plus der Zeit, die er braucht um etwas abzukühlen.“
 

„Ich habs verstanden“, murrte es unwillig von besagtem Japaner und er schob seinen Stuhl wieder brav an den Tisch. „Wie sieht es denn mit einer Vorspeise aus?“, kam es nur Sekunden später äußerst dreist hinterher und sein Blick traf schelmisch auf den Crawfords.
 

Brad hob eine Braue und ging zu ihrem Pinboard um einen Zettel abzupflücken, diesen legte er denn Ran vor die Nase. „Tu dir keinen Zwang an.“

Er kostete den Wein. „Ich werde mich in der Zwischenzeit ins Arbeitszimmer begeben, genügsam wie ich bin samt dem Wein.“

Brad lächelte spöttisch und verschwand wie angekündigt. „Und… Finger weg vom Ofen“, riet er dem Japaner im hinausgehen.

Es war bald acht Uhr abends und es stand der tägliche Kontrollanruf von Schuldig an.
 

Aya starrte diesen Zettel an und grollte reflexartig bei der Warnung des anderen. Meinte Crawford etwa, er könne nicht kochen und wüsste nicht, dass man nicht... naschte?

Noch mehr grollte er allerdings, als er sah, was Crawford ihm dorthin gelegt hatte.

Ein Bestellzettel von einem Lieferservice.

„Blödmann“, murmelte er lautlos und schob den Zettel beiseite, nahm sich sein Glas und ging Crawford nach. Vielleicht würde sich Schuldig bei Crawford melden, was Aya nicht verpassen wollte. Schuldig hatte zwar versprochen, sich bei ihm zu melden, doch vielleicht konnten sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
 

Außerdem war Aya gerade nach der Gesellschaft des schweigenden Amerikaners, lenkte sie ihn doch stets ab.

Das Arbeitszimmer betretend nahm Aya Platz auf einem der beiden freien Bürosessel und drehte sich zu Crawford.

„Telefonierst du gleich mit Schuldig?“
 

„Ich warte auf seinen Anruf. Er wollte sich in…“ Das Telefon klingelte und Brad schaltete mit ein paar Tasteneingaben auf dem Rechner auf eine sichere Leitung, die ihnen Nagi eingerichtet hatte.

„Erstaunlich pünktlich“, sagte Brad zu Ran, als er Schuldigs Anruf entgegennahm. Und das es Schuldig war, das war sicher.
 


 


 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für's Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Coco & Gadreel

Ein perfektes Dinner?

„Du bist pünktlich“, meldete sich Brad in kühlem Tonfall.

„Ich vermisse dich auch, Ami“, gab Schuldig den ‚herzlichen’ Willkommensgruß zurück.

Damit wusste Brad jedoch zugleich, dass es Schuldig gut ging, er in keinen Schwierigkeiten steckte, die ihn zu diesem Anruf mittels einer 9 mm Walther, oder seiner eigenen Luger an seiner Schläfe überredet hatten.

Brad entspannte sich etwas, nahm einen Schluck Wein und spürte erst dann wie angespannt er gewesen war. Wenn seine Schwester hier in Tokyo ihm einen Besuch abstattete, wer konnte es ihm schon verwehren, einen Abgesandten in die Staaten zu schicken um nach dem Rechten zu sehen?

„Wie läuft es?“ Brad schaltete auf Lautsprecher, damit Ran mithören konnte.

„Ist Ran bei dir?“

„Eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten ist wenig produktiv.“
 

Aya grinste. Manchmal war es eine wahre Freude, die beiden zu erleben. Er hielt sich erst einmal zurück und bedeutete Crawford mit einem leichten Kopfschütteln, es ebenso zu versuchen. Er war erleichtert, dass Schuldig lebendig klang, sehr erleichtert, vor allen Dingen, da sich der Telepath in Amerika befand für die nächsten Tage um ein paar ihrer Spuren nachzugehen, die sie durch Manx‘ Informationen erlangt hatten. In Ayas Augen gefährlich, aber nicht so sehr, dass er sich nun die gesamten Tage über Sorgen machen müsste.
 

„Soll ich in deinen lausigen Verstand eindringen und mir die Information holen oder sagst du mir freiwillig wo er sich herumtreibt?“, murrte Schuldig gelangweilt. Im Hintergrund hörte Brad, dass Schuldig mit etwas hantierte.

Brad ließ den Kommentar, der sich um das Eindringen in seinen Verstand drehte unkommentiert. Es war ein kritisches Thema zwischen ihnen, über das Schuldig noch nicht ganz hinweg war. Brad selbst…hatte zu großen Respekt vor dieser Thematik um nebst dem Problem seiner Schwester sich auch noch damit auseinander setzen zu müssen. Wie er die Angst überwinden konnte, dass Schuldig wieder in Versuchung geriet um tiefer als nötig in seinen Verstand eindringen zu wollen, wusste er noch nicht.

„Der streunende Kater sitzt neben mir und schüttelt den Kopf. Offenbar möchte er keinen Beitrag zu dieser Unterhaltung leisten. Vielleicht ist ihm eine Maus entwischt. Zumindest hat er ein entsprechendes Gesicht gemacht, als er vorhin hier aufgeschlagen ist.“
 

„Ran… hast du nichts gegessen?“, kam die direkte Anrede an besagten Kater und Brad lehnte sich zurück, toastete Ran spöttisch zu und nahm einen Schluck.
 

Aya stellte fest, dass es vielleicht doch keine so große Freude war, die beiden zu erleben, zumindest, wenn sie es auf ihn abgesehen hatten.

„Konzentrier dich auf deinen Auftrag, Schuldig und nicht darauf, wie ich es mit dem Essen halte!“, knurrte er gespielt böse. „Aber um dich zu beruhigen...“, kam es versöhnlicher hinterher, während er Crawfords Toast erwiderte und einen Schluck nahm. „...Crawford war so nett und hat extra für mich gekocht, einen Auflauf um genau zu sein. Ich denke, er wird meinen Hunger gut stillen.“
 

„Ich bin mir nicht sicher, wen von beiden du damit meinst. Aber ich vermute eher die Sache mit den fleischlichen Genüssen… im Auflauf“, sagte Schuldig ironisch.
 

„Wenn du gerade Fantasien davon hast, wie Crawford mich mit besagtem sizilianischem Auflauf füttert, dann muss ich dich enttäuschen. Das wird er nicht, oder, Crawford?“ Ayas Blick ging mit erhobener Augenbraue zu Crawford selbst.
 

„Ich werde dich enttäuschen müssen“, meinte Brad wenig interessiert an besagter Tat oder vielmehr Untat in Richtung Fujimiya.

„Lass dich nicht von seinem Gerede täuschen, Brad, er steht darauf gefüttert zu werden.“ Schuldig konnte es nicht lassen und musste Ran aufziehen.

Da pochte eine gewisse, japanische Halsschlagader aber ganz gewaltig. Er stand darauf, gefüttert zu werden?

Wenn er Schuldig in die Finger bekam, ihn hier so zu... entblößen!

„Dem kann ich nur beipflichten, Crawford... Schuldig steht drauf, von DIR gefüttert zu werden“, kam es leicht und selbstverständlich von Aya zurück.

Brads Lippen verzogen sich zu einem gut versteckten Lächeln. „Das weiß ich“, erwiderte er dann in Erinnerung an die eine oder andere Krankheitsepisode des Telepathen in der älteren Vergangenheit. Schuldig pflegte dann in den Hungerstreik zu treten.
 

Schuldig enthielt sich vornehm dem Geplänkel. Es war seltsam still in der Leitung und Brad dachte schon, dass dieser die Verbindung gekappt hätte, als er sich wieder meldete. „Leute, ich muss weg. Ich melde mich später wieder. Mein Kontakt hat sich gerade gemeldet. Schön brav bleiben. Ihr wisst sicher, was ich meine…“

Die Verbindung wurde beendet, noch bevor Brad etwas sagen konnte. „Weshalb überrascht mich dieser Abgang nicht wirklich?“ Diese Abfuhr per Telefon würde ein Nachspiel haben. Das drückte Brads Gesicht aus, als er sich das Headset vom Kopf nahm und es auf den Tisch legte. Seine Augen verdunkelten sich als er sich ausmalte, wie er Schuldig zusammenstauchen würde für diesen unsinnigen Telefonanruf, der rein gar nichts über seine Fortschritte ausgesagt hatte. Dann glitt sein dunkler Blick zu Ran hinüber.

„Ein Punkt, der für den Angeklagten spricht ist, dass er sich überhaupt gemeldet hat und dass er wohlauf ist. Der überflüssige Rest…“ ...würde bestraft werden. Brad wusste nur noch nicht wie…
 

Aya schmunzelte. Dieser dunkle Blick kam ihm nur allzu bekannt vor. Der Blick, der viel Tod versprach... viel Leid.

„Man sollte nicht meinen, dass du dich über diesen Anruf freust, so dunkel, wie dein Blick ist.“ Er schüttelte amüsiert seinen Kopf und toastete Crawford zu.

„Ist er nicht immer so rebellisch? Ich wüsste nicht, wann er jemals nach Befehl gehandelt hat.“
 

Brad schlug die Beine übereinander und betrachtete sich sein Gegenüber lange. Da saß er: Fujimiya Ran, Ex-Mitglied und Teamführer von WEISS und sprach hier von Schuldig und dessen disziplinlosem Verhalten ihm gegenüber.
 

„Das klingt als wärst du die letzten Jahre der Leidtragende von Schuldigs disziplinlosem Verhalten gewesen.“ Brad musste über diese Doppeldeutigkeit lächeln. Ein kaltes, dunkles Lächeln.
 

Dem Aya gelassen mit einer erhobenen Augenbraue begegnete.

„Sagen wir es mal so... für fünf Tage plus ein paar danach habe ich das durchaus so gesehen. Du erinnerst dich? Ist schon ein paar Monate her. Doch mittlerweile bin ich eigentlich recht froh darum, also nein, ich war nicht der Leidtragende, sondern bin mir voll bewusst, dass du es bist, der als Anführer unter seinem penetranten Drang zur Selbstverwirklichung gelitten haben muss… zumindest in den Monaten, in denen ich euch beide beobachten konnte. Er hat ja schließlich keine Gelegenheit ausgelassen, dich zu triezen, zumindest in meiner Gegenwart nicht.“

Das Mienenspiel des anderen, faszinierte Aya, verbarg es doch meist geschickt, was der andere wirklich dachte.

Richtige, ausgelassene Freude zeigte Crawford nie, wenn dann nur ein königlich leichtes amüsiert sein. Da waren Kälte und angedeutete Mordlust schon eher zu sehen. Oder Arroganz.

Früher hatte es Aya wütend gemacht, extrem wütend und auch heute noch schaffte Crawford es von Zeit zu Zeit, doch nicht mehr so oft wie früher.

Was vielleicht auch an ihrer gemeinsamen Zeit während Schuldigs Verschwinden lag.

„Wenn Schuldig nur ein wenig mehr Disziplin gehabt hätte damals, dann säßen wir hier heute nicht.“ Ob das nun wirklich negativ in Crawfords Augen war, konnte Aya nicht mit Sicherheit sagen.
 

„Stimmt.“ Brad erhob sich und blieb vor Ran stehen. „Dann wärst du heute ziemlich blass und ziemlich tot“, sagte er langsam. Sein Blick glitt mit sezierender Gründlichkeit über Rans sitzende Person.
 

„Mit blass kann ich dir dienen... mit meinem Tod leider noch nicht.“ Ein weiterer Toast begleitete Ayas Worte. „Wenngleich es sehr amüsant wäre, dich als Poltergeist heimzusuchen und dir deinen Schlaf zu rauben.“ Daran hätte er ganz sicherlich Spaß, das wusste Aya.

„Gefällt dir, was du siehst, wenn du mich schon so gründlich untersuchst?“ Ayas Stimme hatte einen leichten, dunklen Anklang. Nicht viel, nur ein wenig, aber genug, um das Amüsement heraus zu lassen.
 

Brad Blick traf den von Ran als er seinen Satz beendet hatte, als dessen Stimme ein anderes für ihn unbekanntes Timbre annahm. Schwer einzuschätzen, resümierte er.

„Ich mache mir gerade Gedanken darüber, ob ich es heute bedauern würde, wärest du Futter für die Fische geworden.“

„Würdest du, denn ich wage die vorsichtige Prognose, dass Schuldig und du keinen Schritt weitergekommen wärt in euren Zuneigungsbekundungen, wäre ich nicht dagewesen. Was nicht unbedingt an meinen Handlungen liegt, sondern schlicht daran, dass meine Präsenz einiges verändert hat.“ Diese hellbraunen Augen hatten schon etwas für sich, beobachtete Aya. Arroganz, Härte, Kälte... und doch verbarg sich ein Mensch dahinter. Interessant.

„Hattest du das Gefühl, dass ich diese – wie nennst du es – Zuneigungsbekundungen, je gewollt hatte? Hattest du auch nur eine Sekunde nicht das Gefühl, dass ich mich nicht dagegen gewehrt habe?“ Brads Kiefer waren angespannt, sein Tonfall jedoch wie stets, nüchtern und ohne Emotion. Ein Moment der Stille verging, bevor er sich abwandte.

„Ich bin in der Küche.“
 

Aya ließ Crawford ein paar Minuten Vorsprung um in die Küche zu gelangen und dort die Spannung in seiner Mimik loszuwerden, bevor er aufstand und dem Amerikaner folgte. Der Wein tat schon seine Wirkung, musste Aya feststellen, was auch Sinn machte, da er nicht wirklich etwas zu sich genommen hatte heute. Schuldig, der Aufträge alleine erledigte, war immer noch ein recht wunder Punkt bei ihm, vor allen Dingen so weit weg.

„Nein, du hast es nicht gewollt. Aber ja, du hast es gebraucht. Und nein, es sieht momentan nicht so aus, als wärest du unglücklich damit“, erwiderte Aya und streunte zum Backofen, versuchte, hinein zu linsen.
 

Fujimiya verstand nicht, was Unglück bedeutete. In seinem Fall bedeutete.

Brad schob diesen Gedanken für einen Moment zur Seite und schenkte Ran unaufgefordert das Glas erneut halb voll.

„Ich weiß durch dein Profil, dass du deine Nase oft in Dinge steckst, die dich nichts angehen und sehr viel Ärger damit bei anderen verursachst. Aber in Gottes Namen lass das Essen in Ruhe“, brummte Brad und schaltete erneut das Licht des Backofens aus.

„Es ist noch nicht soweit.“
 

„Du bist schon etwas eigen, was das von dir gekochte Essen angeht, kann das sein?“, fragte Aya zweifelnd und runzelte gespielt verzweifelt die Stirn, als er sich zu Crawford umdrehte und eine Hand in die Hüfte stemmte.

„Du kannst außerdem doch nicht allen Ernstes von mir erwarten, dass ich dir glaube, dass so etwas in irgendwelchen Akten steht.“ DASS über sie Akten geführt wurden, konnte er sich denken, doch dass Brad sie in die Hände bekommen hatte...es war, als wäre er gläsern. Gläsern für seine damaligen Feinde und nun...Schuldig hatte viel von ihm gesehen, war ihm näher als jeder andere gekommen. Aber Brad? Er war noch nicht soweit. Würde es vielleicht nie sein.
 

Mit Rans Drehung war dieser Brad sehr nahe gekommen und Brad beugte sich etwas vor, bis er Ran direkt und nah in die Augen blicken konnte. Dessen Atem streifte seine Wange.

„Glaubst du nicht? Dann wäre es angebracht, deine ehemalige Vorgesetzte zu konsultieren.“ Brads Augen lachten vor Belustigung, während seine Mimik nichts über sein Amüsement bekundete.

„Die Neugier ist der Katze…“ Brad verstummte und lehnte sich seitlich an den Schrank an, betrachtete sich den anderen. Woher kannte er diesen Spruch nur? Er hatte ihn zuvor nie benutzt. Etwas aus einer Vision?
 

„...Tod...“, vollendete Aya Crawfords Sprichwort und sinnierte einen Moment lang über ihre Nähe wie auch die Worte des anderen. Seine ehemalige Vorgesetzte? Manx? Was hatte sie mit Crawford zu schaffen? Vor allen Dingen, wenn es um intime und persönliche Dinge über Weiß ging?

Dunkel erinnerte er sich an etwas, das Crawford ihm mal gesagt hatte. Sehr dunkel, denn es war damals nicht wirklich schön gewesen, keine schöne Zeit.

„Ihr habt tatsächlich gemeinsame Sache gemacht. Ich fasse es nicht. Und wahrscheinlich habt ihr dann auch noch miteinander geschlafen.“ Aya schnaubte ungläubig. Sachen gabs. Damals hatte er es gar nicht in dieser Form registriert, doch nun...

„Sie hat dir Akten über mich ausgehändigt?“

Aya war unauffällig näher gerückt und taxierte Crawford nun mit durchdringendem Blick, als könne er in der Bewegungslosigkeit des anderen lesen. In den amüsierten Augen.
 

„Glaubst du, das würde sie tun?“ Brad hob eine Braue, fragend, herausfordernd.

„Was? Mit dir schlafen oder dir die Unterlagen aushändigen?“, stellte sich Aya jetzt sehr dumm, jedoch mit der deutlichen Botschaft, dass Crawford wohl an nichts Rothaarigem vorbeigehen konnte ohne zumindest einmal genascht zu haben.

Warum kam der Japaner im Augenblick fast bei jedem Satz auf das Thema Sex zu sprechen?, fragte sich Brad gerade und einer seiner Mundwinkel hob sich.

„Meine Frage bezog sich auf Letzteres.“

„Wenn dem so ist, dann denke ich, dass sie es nicht tun würde. Warum sollte sie auch? Nur damit du weißt, dass ich scheinbar neugierig bin."Sie waren sich immer noch nahe, so nahe, dass Aya sehr gut den Geruch des anderen aufnehmen konnte. Der Geruch, den er immer mit etwas Angenehmen verband, es seit dem Tag getan hatte, als Crawford ihm Wasser eingeflößt hatte.

Damals hatte er es nicht wahrgenommen, doch mittlerweile wusste Aya recht gut, wer ihn da gefüttert hatte.

Genauso wie er sich sehr gut daran erinnerte, wer ihn daran gehindert hatte, sich selbst aufzugeben, wer ihn bekocht hatte, mit wem er im Bett gelegen hatte, an wen er sich geschmiegt hatte, als Schuldig für tot gegolten hatte.

Genau diese Nachdenklichkeit zeigte sich für einen Moment lang auf seinem Gesicht, bevor er einen weiteren Schluck Wein nahm. „Außerdem bezweifle ich, dass du noch auf Manx‘ Akten angewiesen warst... ihr werdet eure eigenen gehabt haben!"

Brad konnte sich der guten Stimmung, in der er sich gerade zu befinden schien – wie er selbst mit Erstaunen bemerkte – nicht erwehren. Er schob die Ursache auf Schuldigs Wohlbefinden.
 

„Das stimmt nicht ganz“, gab Brad zu bedenken. „Wir haben sie immer noch.“

Irgendwie überraschte das Aya nicht wirklich. Absolut nicht. Er würde mal wetten wollen, dass Weiß auch noch Zugang zu den Akten über Schwarz hatte.

„Zum Nachschlagen, wenn ihr mal wieder Fragen zu einer Verhaltensweise habt?“ Wieso konnte er sich nur allzu gut vorstellen, wie Crawford sich samt Brille und gutem Whisky auf die Couch zurückzog und versuchte, sich anhand der Akten den besten Plan zurecht zu legen, wie er ihn am Besten triezen konnte?

„Nein. Eher dazu, einiges zu ergänzen, was damals nicht bekannt war oder erkannt werden konnte.“

„Das da wäre?“, entsprach Aya nun der ihm unterstellten Neugierde mit einer erhobenen Augenbraue.

„Top secret!“ Brad lächelte nun mit stiller Freude an dem Gespräch und er fand Rans Neugierde wieder einmal bestätigt. War es einer der Wesenheiten an Ran, die Schuldig so faszinierten? Und vermutlich auch amüsierten.

Verengte, violette Augen taxierten den Amerikaner einige Momente lang schweigend. Top secret? Als würde er sich selbst nicht kennen! Allerdings interessierte es ihn, wie andere ihn sahen.

„Jeder ist käuflich“, sagte er schließlich verhandlungsbereit. „Nenn mir deinen Preis.“

„Wie weit würdest du gehen?“ Brad hatte kein Interesse an Devisen. Brads Augen kreuzten den Blick der halb gesenkten Lider, die leuchtendes Violett beschatteten. Rans Augen glommen vor Interesse und Neugierde.
 

„Das wirst du sehen, wenn du mir den Preis nennst.“ Da hatte er harte Verhandlung vor sich, vor allen Dingen würde der Preis vermutlich sehr hoch sein. Sehr sehr hoch.

Ran trat einen feigen Schritt zurück, befand Brad als er die ausweichende Antwort von diesem hörte. Ein spöttisches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.
 

Nun, dann lag es wohl an ihm zu sagen, was er für einen Preis wollte. „Ich werde es dir mitteilen, wenn ich reiflich darüber nachgedacht habe. Aber ich denke, mir schwebt schon etwas vor.“

„Du überlegst noch? Hast du etwa Angst?“, kam es nun ausgerechnet von besagtem Feigling, der herausfordernd die Zähne entblößte und lächelte. „Immer heraus mit dem Preis, ich warte...“

„Angst?“ Brad lehnte sich mit dem Rücken an den Küchenschrank und drehte den Kopf in Richtung seines so neugierigen Gesprächspartners.

„Vor wem? Vor einem Hänfling wie dir?“ Brad hatte tatsächlich Spaß. Seit langem wieder.
 

Früher hätte ihn das ‚Hänfling‘ aufgeregt, fiel Aya auf, doch nun rang es ihm nur ein amüsiertes Lächeln ab.

„Natürlich vor mir, sonst würdest du ja schließlich antworten.“
 

Brad registrierte diese gelassene Erheiterung auf seine Provokation. Anders als früher. Wer hätte das damals gedacht, dass der so hitzköpfige Abyssinian einmal derart gelassen auf ihn reagieren würde?

Er nicht.

Und das wollte etwas heißen.

Nicht in seinen kühnsten Visionen hätte er ein derartiges Gespräch damals auch nur… befürchtet.

„Es würde mich lediglich interessieren was du von mir erwartet hättest, dass ich dir als Preis genannt hätte. Deine Einschätzung meiner Person, wenn du so willst.“
 

„Ich soll dir also einen detaillierten Einblick in meine Ansicht deiner Person geben, quasi, mein persönliches Charakterprofil von dir, ohne gegebenenfalls etwas zurück zu bekommen?“ Kritisches Verhandlungsgeschick traf hier auf Neugierde auf Seiten des Amerikaners.

„Denn dass eine tiefgreifende, psychologische Analyse als Grundlage für eine scheinbar so schlichte Antwort von Nöten ist, weißt du sicherlich besser als ich! Es sei denn, du möchtest eine Antwort aus dem Bauch heraus.“
 

Aus eben diesem Bauch heraus – seinem eigenen nämlich – verspürte Brad gerade jetzt die große Lust Ran für diesen kleinen Vortrag etwas anzutun. Vorzugsweise etwas, das ihn in angenehmer Weise leiden ließ. Brad wusste nicht was – und darüber dachte er auch nicht wirklich groß nach, er wusste nur, dass Ran ihn reizte und das auf erotische Weise. Diese Mischung aus stetem Ärgernis, Herausforderung, die aus jeder Pore sprach, dem attraktiven Aussehen des Japaners und seinem nicht zu unterschätzenden Intellekt stifteten Brad dazu an, sich mehr auf den anderen einzustimmen. Ihn als interessant einzustufen, sich nicht nur mit ihm abgeben zu müssen, weil Schuldig mit ihm liiert war, sondern sich mit ihm abgeben zu wollen, weil er ihn selbst interessierte, weil er ihn selbst … wollte.
 

Nein. Soweit waren sie nicht, zog Brad die Notbremse.

„Falls dein Bauchgefühl knurrende Geräusche macht, würde ich nicht zu viel darauf geben, ansonsten bin ich schon gespannt auf die Antwort.“

„Etwas Gemeines, das sagt mir mein Bauchgefühl“, erwiderte Aya spontan. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was er anderes sagen konnte. Ihm fiel nur das ein. „Irgendetwas, das dir gut gefällt, aber nicht notwendigerweise deiner Umgebung. Irgendetwas, das dich amüsiert oder dich weiterbringt.“

Ein weiterer Schluck Wein folgte und Aya war nun auch soweit, dass er sich anlehnen musste.

„So, und was bekomme ich nun für diese tiefgreifende und neuerliche Erfassung deiner Seele?“

„Meiner Seele?“ Brad lachte auf. Er stieß sich vom Schrank ab und ging um Ran herum um auf die Uhr zu blicken und gleichzeitig den Backofen auszuschalten.

„Du hältst meine Seele also für gemein? Gemein im Sinne von normal oder im Sinne von bösartig?“ Er schlug sich das Küchentuch über die Schulter, nahm sein Weinglas vom Tisch und ließ einen guten Schluck seine Kehle hinunterlaufen.

Gerade in diesem Moment fragte er sich, ob er Ran noch ein Glas einschenken konnte oder ob er das besser unterließ…
 

Das Essen war fertig!

Aya spitzte um Crawford herum und warf einen gierigen Blick auf den Backofen und das legere über die Schulter geworfene Handtuch.

Was hatte ihm Schuldig mal erzählt? Der Amerikaner kochte nur selten? Das konnte er nicht behaupten, zumindest nicht auf seine Person bezogen.

„Nun... ich halte deine Seele für einfach gemein bösartig!“, erfreute sich Aya seines eigenen Wortspiels, das ganz sicher schon dem gestiegenen Promillegehalt zuzuschreiben war.
 

Brad wandte den Kopf und fand sich Auge in Auge und Nase an Nase… an neugieriger Nase mit dem anderen. Sie streiften sich bevor er sich aufrichtete. Für einen Augenblick war ihm dieses Violett dunkler erschienen als zuvor.

„Du schließt von meinem Verhalten auf eine gemein bösartige Seele? Wie kommt‘s zu dieser geistreichen Schlussfolgerung?“

Aya stierte Brad weiterhin an. Auch er hatte die Berührung sehr deutlich wahrgenommen, sehr sehr deutlich. Sie waren sich ja auch nahe gewesen...

„Der Hunger. Es ist der Hunger“, winkte der Zaun samt Pfählen und Garten. „Also, was bekomme ich nun für diese Einschätzung?“

„Du meinst der Hunger ist schuld an deiner akuten zerebralen Minderversorgung und du somit nicht verantwortlich für diese lausige Fehleinschätzung?“ Brad drehte sich mit dem Rücken zum Ofen und verschränkte demonstrativ die Arme. „Nun… dann würde ich sagen bekommst du gar nichts, denn aufgrund dieses „Handicaps“ müssen wir diese Diskussion wohl vertagen, fürchte ich.“ Er hörte sich auch sehr bedauernd an. Beinahe hätte es Schuldig sein können, der dieses Bedauern, äußerst „bedauernd“ ausgesprochen hätte.
 

„Lausige Fehleinschätzung? Genau, deswegen trägst du ja auch einen Heiligenschein mit dir herum!“ Aya wartete brav, konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass der gute Crawford den Zeitpunkt des Essens mutwillig hinaus zögerte, alleine, um ihn zu ärgern.

„Wenn du übrigens nicht willst, dass ich meinen Hunger mit einem zähen Stück Fleisch stille, dann sollten wir in naher Zukunft mit dem Essen beginnen.“
 

„Du würdest dir ohnehin an mir die Zähne ausbeißen. Bisher war dies auch der Fall gewesen.“ Wie oft hatte der Japaner in seiner Rolle als Weiß Agent versucht ihm den Garaus zu machen?

„Wie sagtest du vorhin? Jeder ist käuflich. Was bekomme ich denn dafür, dass ich dich hier durchfüttere?“ Brad wich keinen Millimeter vom Backofen weg.

„Schließlich habe ich mit Liebe gekocht.“
 

„Bisher war ich auch noch nicht ernsthaft an deinem Fleisch interessiert...“

Aya musste schon gestehen, dass er ein wenig ungeduldig wurde, was er allerdings auch dem Alkohol zuschrieb. Nur dem Alkohol zuschrieb.

„Du hast mit Liebe gekocht... extra nur für mich? Dann ist es doch wohl klar, was du bekommst.“ Noch triezender konnte er in der Stimme nicht werden, befand Aya und kam etwas näher. „Genau das, was ein liebendes Weib bekommt, das ihrem Mann Essen gekocht hat....“
 

„Memo an mich selbst: Fujimiya Ran nie wieder Essen kochen.“ Brad lächelte zuvorkommend. Tja, das hatte er nun von seiner Gutmütigkeit, jetzt wurde er auch noch ins klassische Rollenverhalten hineingedacht.

Aber es hatte keinen Zweck, er musste den Auflauf herausholen, denn er selbst hatte auch Hunger. Und bevor der andere sich hier noch um Kopf und Kragen redete oder Dinge tat, die er im nüchternen Zustand nie tun würde – nur um ihm hinter her gehörig auf seine restlichen Nervenzellen zu gehen – die sich gerade in einer Erholungsphase befanden, da beendete er dieses Thema besser.

„Genieß es. Es wird das letzte Mal sein.“ Er drehte sich um und öffnete nun endlich den Backofen. Der Duft von Käse, Kräutern, Fleisch und Gemüse erfüllte ihre Nasen und er musste zugeben, dass er Hunger hatte.
 

Das letzte Mal... daran glaubte Aya nicht, vor allen Dingen, wenn ihm nun der verheißungsvolle Geruch des Essens entgegen schwebte.

Endlich.

Das Weinglas leerend, setzte auch er sich nun in Bewegung. Zum Tisch gehend nahm er einen kleinen Umweg über Crawfords Hintern, als er diesen mit einem freundlichen Schlag bedachte und sich im nächsten Moment fragte, ob er nicht zu viel Alkohol getrunken hatte.

Kurzschlussreaktion, beschloss Aya stumm für sich und streunte, so als wäre nichts gewesen, zum Tisch, setzte sich dort an seinen Platz.

Nein, es war nichts passiert... aber dieses feste Fleisch...
 

Eine Kurzschlussreaktion, die eine wahre Kette an Ereignissen nach sich zog. Zum Einen rechnete Brad nicht mit derlei Dingen, für eine Vision war diese sogenannte Kurzschlussreaktion, doch ein wenig zu kurz gewesen… was auch daran lag, dass sein Verstand mit Alkohol nicht gut zurecht kam und seine Visionen hinauszögern konnte. Also erschrak er sich, kam mit der Hand an die Innenseite des Backofens, zuckte zurück und der Auflauf geriet in schwere Schieflage, was zur Folge hatte, dass er die Form stabilisierte und weiter an der Wand entlang schrammte. Ein Stöhnen in Begleitung eines Zischens verriet das Unglück und einige Sekunden später – der Vorgang kam ihm wie eine Ewigkeit vor – stellte er den Auflauf auf der Anrichte ab…

„Schlechtes Timing um sich im Machosein zu üben… Großer.“ Brad ging hinüber zur Spüle und ließ Wasser über seine Hand laufen.

„Sehr schlechtes Timing“, bestätigte Aya erstaunt über die Schreckhaftigkeit des anderen, machte jedoch keine Anstalten, aufzustehen und Crawford zu Hilfe zu eilen. Vermutlich würde er in diesem Fall gar kein Essen mehr bekommen.

„Beim nächsten Mal achte ich auf ein besseres Timing. Vielleicht, wenn du nicht gerade mit der Essensbeschaffung beschäftigt bist.“

„Höre ich da dein Opportunistenherz sprechen?“ Brads Sarkasmus war gut herauszuhören, vielleicht ein bisschen zu gut.

„Beiße nie die Hand, die dich füttert?“ Er stellte den Wasserhahn ab und ging hinüber zum Tisch, nahm sich Rans Teller und ging hinüber zur Anrichte um seinem „Gast“ den Teller zu füllen. Er stellte Ran den Auflauf vor die Nase und wünschte guten Appetit.

Danach war sein Teller an der Reihe.
 

„Gebissen habe ich dich nicht... das hätte sich dann etwas anders angefühlt“, gab Aya zu bedenken, holte sich aber zur Sicherheit seinen Teller zu sich und wartete brav, bis Crawford sich auch an den Tisch setzte.

„Außerdem bin ich nie opportunistisch, ich bin ehrlich.“
 

„Klugscheißerei gehört zu Nagis Repertoire“, sagte Brad unbeeindruckt von derlei Ausreden. „Wobei, wenn ich…“ Brad setzte sich und nahm einen Schluck Wein. „… es genau bedenke, ist das keine Klugscheißerei sondern vielmehr eine falschverstandene Metapher.“
 

„Klugscheißer!“, kam es prompt zurück und Aya grinste. „Guten Appetit und danke fürs Füttern, du gebissene Hand.“

Es dauerte maximal eine Sekunde, dann war die Gabel im Auflauf und Aya ließ den ersten, dampfenden Happen abkühlen. Es schmeckte selbst ihm sehr gut und das wollte schon etwas heißen, hatte er doch damals die Suppe des anderen mehr als verschmäht.

Darauf gab es nichts weiter zu sagen und Brad sah, währenddessen er selbst aß, zu, wie sein Gegenüber sein Mahl verspeiste. In Windeseile hatte Ran seinen Teller leer.

„Es ist noch reichlich da, du kannst dir ruhig noch nachholen“, sagte Brad bedächtig und fragte sich erneut ob der Japaner die letzte Zeit überhaupt etwas gegessen hatte. Zumindest seit Schuldig weg war hatte sich das wohl mit Sicherheit auf ein Minimum reduziert.
 

Aya nickte, schenkte sich aber zunächst erstmal noch ein zweites Glas Wein ein und trank einen Schluck.

Crawford hatte Recht gehabt, Aya hatte nicht wirklich Hunger gehabt den Tag über und gestern Abend auch nicht. Genau genommen hatte er bis er zu Crawford gefahren war, keinen Hunger gehabt.

Doch nun...

Er erhob sich und strebte den Auflauf an, den Crawford noch vor ein paar Momenten unter Einsatz seiner Haut aus dem Ofen geholt hatte und lud sich eine weitere Fuhre auf den Teller.

Dieses Mal aß er langsamer und genoss die Stille zwischen ihnen.

Vor Monaten wäre das nicht möglich gewesen. Wirklich nicht.

„Hast du eigentlich je für Schuldig gekocht?“ Nicht, dass da noch der Futterneid aufkam.
 

Darüber musste Brad nachdenken.

Wenn er es genau betrachtete…

„Nicht für ihn allein.“
 

„Dann solltest du das nachholen. Sagt mir mein Gefühl.“ Aya prostete Crawford zu und malte sich schon Schuldigs Gesicht aus, wie dieser sich darüber beschwerte, hier eindeutig benachteiligt worden zu sein.
 

„Weshalb sollte ich für ihn kochen?“ Brad erschloss sich die Logik daraus nicht. „Schuldig kann alleine auf sich achten. Vor allem was das Essen angeht.“

Wenn er damit anfangen würde, ihn zu bekochen, würde das den Telepathen zu sehr verweichlichen.
 

Der Blick, den Crawford nun von Aya bekam, war im besten Fall als kritisch zu bezeichnen. Der andere hatte nicht viele Erfahrungen im Zwischenmenschlichen, oder?

„Weil es ihn freuen würde“, kam die entsprechend zweifelnde Antwort. „Weil er drauf steht, bekocht zu werden.“
 

„Dafür hat er dich.“ Auf Brads Gesicht bahnte sich ein versteckt gemeines Lächeln aus. „Schließlich musst du ja zu was gut sein. Wenn ich alles tue…“ Er machte eine ausladende Handbewegung und nahm dann sein Weinglas um damit auf ihn zu deuten. „… dann bleibt für dich nichts mehr.“ Er trank einen Schluck auf seine Worte.
 

Aya nickte beflissen, während sich auf seinem Gesicht teuflisches Vergnügen ausbreitete. Da waren sie, die Gemeinheiten, die Crawford ausmachten.

Nun, er hatte ja auch einiges aufzuholen, wenn sich Aya schon erdreistete, ihm auf den Hintern zu schlagen.

„Hm... du erklärst dich also dazu bereit, für ihn in Zukunft deinen Arsch hinzuhalten? Interessante Vorstellung!“ Vor allen Dingen, da Aya sich das nicht wirklich vorstellen konnte. Dafür war Crawford einfach viel zu dominant, als dass sich Schuldig nur in die Nähe seines Hinterns wagen würde.

„Oder mit ihm fangen zu spielen. Das würde ich gerne sehen wollen. Wirklich.“
 

Brad antwortete während der nächsten Augenblicke nichts. Es lag ein versteckter Vorwurf in Rans erstem Satz. Ein Vorwurf, der nur in seiner verborgenen Weise Brad an die Schuld in seiner und Schuldigs Vergangenheit erinnerte.

Rans Präferenzen waren ihm durchaus bekannt – schließlich standen in Kritikers Akten nicht nur seine „beruflichen“ Fähigkeiten. Zwei Drittel der Akte beschäftigte sich mit Rans Eigenschaften, seinen Verhaltensweisen in bestimmten Situationen, Vorlieben und so weiter.

„Fangen spielen? Ich wüsste nicht, dass Schuldig darauf steht. Das müsste dann eine deiner Vorlieben sein.“ Brad bemühte sich die Dämpfung seiner Laune zu verbergen.
 

Das war es, aber Schuldig machte definitiv gerne mit, das konnte niemand bestreiten. Außerdem brauchte Schuldig durchaus das Gefühl, ihn zu erobern und der Ton angebende Part zu sein.

„Schuldig hat auch seine dunklen Seiten...“, erwiderte Aya kryptisch und musste schmunzeln. „Sehr dunkel..“ Bei Aufträgen vielleicht, aber nicht im Privaten, nicht, wenn er ausgeglichen war.
 

„Ja? Du kannst mir sicher etwas Neues erzählen?“
 

„Nein nein, dann würde ich dir ja die Spannung nehmen, das kannst du sicherlich selbst herausfinden.“ Wenn Crawford es nicht schon längst wusste. Es würde zumindest zum Amerikaner passen, alles über seine Umgebung zu wissen und wissen zu wollen. Crawford wollte kontrollieren, was vermutlich alleine schon durch seine Gabe kam.
 

Brad musste über die Ernsthaftigkeit von Rans Antwort innerlich schmunzeln. Offenbar hatte der andere den feinen Spott in seinen Worten nicht herausgelesen.

„Ich kann auf noch mehr Spannung in meinem Leben gut verzichten.“

Unwillkürlich musste er an den jungen Mann denken, dem er während Schuldigs Urlaub begegnet war, seinem One-Night-Stand. Er konnte damals nicht auf seine Fähigkeiten der Vorhersage zurückgreifen und wusste sich einem tollpatschigen jungen Mann gegenüber, der ihm mit seinen kleinen Katastrophen durchaus unerwarteten Spaß gemacht hatte.

Brad lächelte fast unsichtbar in Erinnerung daran.

„Deine Worte passen gerade nicht zu dem beinahe schon schwelgenden Gesichtsausdruck, weißt du das?“ Aya lächelte, hatte er sehr wohl die minimalen Veränderungen im Gesicht des Amerikaners gesehen.

Es blieb ihm ja auch nichts übrig, als auf die kleinen Dinge zu achten, wenn Crawford ansonsten so schwierig zu lesen war.

„Nichts von Bedeutung“, wischte Brad mit einem Schulterzucken die Erinnerungen an Asugawa weg.

„Nur eine Erinnerung.“

„Anscheinend eine schöne... erzähl!“ Eine unverschämte Forderung, befand Aya, aber was war er, wenn nicht unverschämt? Vor allen Dingen, wenn Crawford hier schon ins Schwärmen geriet – für seine Verhältnisse.

„Ich denke… nicht, dass ich das tun werde.“ Brad beendete sein Mahl und lehnte sich angenehm gesättigt zurück, sein Weinglas zur Hand nehmend.

Brad konnte sich lebhaft vorstellen, wie sehr Ran Schuldig anfänglich mit seiner Fragerei zur Weißglut gebracht hatte.
 

„Wieso habe ich das auch ohne die Gabe der Vorhersehung erkannt?“, fragte Aya mit spöttischem Unterton. Eine Strähne seiner zurückgebundenen Haare hatte sich gelöst und er strich sie genervt zurück.

Warum hatte er sie sich damals nochmal wachsen lassen? Damit er sich von Schuldig einen Handel aufschwatzen lassen konnte, genau.

„Weil du weise bist“, sagte Brad glatt und verbarg den Spott dahinter nicht. Er trank seinen Wein leer und stellte das Glas ab.
 

O ~
 

Nach dem Essen und dem recht zweifelhaften Kompliment von Crawford, hatten sie sich in den Wohnbereich zurückgezogen. Aya hatte sich die aktuelle Tageszeitung gegriffen und blätterte sie lustlos durch, bis ihm etwas ins Auge stach. Er nahm die Anzeige genauer in Augenschein und stellte fest, dass es ihn wirklich interessierte.

„Wie wäre es hiermit?“, drehte er die Zeitung zu Crawford um und zeigte ihm die Werbung für den Kinofilm, die ihm gerade ins Auge gesprungen war.

Brad ließ sich die Zeitung reichen. Der dreißigste James Bond Film. Dieses Mal wollte sich erneut ein neuer Darsteller mit der fiktiven Figur des Geheimagenten des MI6 messen.

„Für mich nicht, danke. Derartigen Vergnügungen kann ich nicht viel abgewinnen.“ Bei dieser Gelegenheit begann er selbst die Zeitung durchzublättern, anstatt sie wieder zurückzureichen.
 

Jetzt war er die Zeitung los und konnte sich vermutlich auch darauf einstellen, alleine ins Kino zu gehen.

„Das kann ich nachvollziehen. Vor drei Jahren habe ich genauso gedacht wie du.“ Aber ein wirkliches Leben war es nicht gewesen.

Aya erhob sich – recht unsicher, wie er selbst befand – und zuckte mit den Schultern. Es war schon später am Tag, wenn er noch in die Stadt wollte, sollte er sich jetzt auf den Weg machen.

Leider mit öffentlichen Verkehrsmitteln, da er sich eine Verhaftung wegen Trunkenheit am Steuer nicht erlauben konnte.
 

„Sieh zu, dass du unterwegs nicht umgebracht wirst“, sagte Brad nebenbei und schien gänzlich in einen Artikel vertieft.

„Ich muss dir den Preis für deine Akte noch nennen und es wäre doch schade, wenn wir beide um diesen Handel kommen würden.“

Überrascht sah Aya zu Crawford. Er hatte das Thema eigentlich für erledigt gehalten, aber anscheinend war der Amerikaner doch zu einem Ergebnis gekommen.

„Dann nenn ihn mir, bevor ich mich aus Versehen unterwegs umbringen lasse.“ Er war mal gespannt, welchen Preis er für seine Akte zahlen musste.

„Wenn du wieder hier bist. Das steigert die Spannung. Und du gibst dir etwas Mühe weder entführt noch sonstwas mit dir veranstalten zu lassen.“ Brad sah immer noch nicht von seiner Zeitung auf.

„Ich werde es unseren potenziellen Feinden mitteilen, falls sie solches planen. Erst nachdem ich wieder hier bin.“ Er nickte zur Bekräftigung und tippte sich als Bestätigung und als Abschiedsgeste an die Schläfe.

„Bis später.“

Damit nahm er sich seine Jacke und verließ das Haus, kam nicht umhin, über den merkwürdigen Tag nachzusinnen. Crawford, der für ihn gekocht hatte, zu dem er wieder zurückkehren würde, wenn er ins Kino gegangen war...

Wenn Schuldig das wüsste.

Nicht ganz sicher auf den Beinen strebte er die nächste Haltestelle an. Doch etwas zu viel Wein...aber der Nieselregen und die damit beginnende Kühle sorgten für einen etwas klareren Kopf.

Es brauchte seine gute halbe Stunde, bis er die Haltestelle erreicht hatte, von der aus er in die Stadt kommen würde. Das Kino würde sich dann noch einmal eine Viertelstunde vom Bahnhof entfernt befinden.

Was Schuldig gerade wohl tat? Ging es ihm gut in Amerika? Sicherlich, er musste nur loslassen, er musste Schuldig auch seine Freiheit lassen.

Denn dass diese Einsätze dem Telepathen gut taten, war unbestreitbar.

Ihm würde jetzt erst einmal gut tun, sich einen Actionfilm anzuschauen, sich darüber zu amüsieren, wie viel davon nicht stimmte und einfach mal seine Gedanken auf Wanderschaft zu schicken, während er sich berieseln ließ.

Genau das tat er nun auch, als er sich mit Cola und Popcorn bewaffnet in den vollen Kinosaal setzte, dabei den Platz neben einer halbstarken Jugendgang erwischte, die ihren männlichen Hormonen anscheinend nur in Form von lautstarken Kommentaren eine Stimme verleihen konnten.

Auch wenn seine langen Haare durchaus den Spott der Gang herausforderten, was ihm ein nicht allzu leiser Kommentar bestätigte, so entspannten Aya doch die Kombination aus Actionfilm, der nicht mehr viel mit Realität zu tun hatte und seitlichen Kommentaren, wie cool und geil doch diverse Actionszenen waren.

Wenn die Jungs wüssten.

Aber das taten sie nicht und das war auch gut so.
 

Zwei Stunden später verließ Aya das Kino und stellte fest, dass es wie aus Kübeln schüttete und extrem windig war. Kein Wunder in der Regenzeit, nur absolut ärgerlich, da er an einen Schirm – aufgrund seiner Kapuze – nicht gedacht hatte. Und die Kapuze half nicht wirklich viel, wusste er spätestens nach dem fünfzehnminütigen Marsch zur Haltestelle, der ihn jetzt schon klatschnass zurückließ. Da hätte er doch gewettet, dass eine Regenjacke wasserdicht war. Aber nein.

Zitternd und die Nase rümpfend, saß er in der Bahn, die ihn in die Vororte brachte, von wo aus er noch eine halbe Stunde laufen musste.

Wunderbar.

Und nein, er würde Crawford nicht anrufen. Nein, nein, nein.

So lief er schließlich.
 

Das Haus lag Dunkel da, nurmehr im oberen Stockwerk in einer der größeren Schlafzimmer brannte schwach Licht. Brad hatte sich mit seinem Notebook dorthin zurückgezogen um auf Ran zu warten. Er wusste, dass dieser die heutige Nacht hier verbringen würde und deshalb hierher zurückkommen würde.

Draußen goss es in Strömen.

Als es klingelte war es kurz nach Mitternacht und er beendete das Gespräch mit Nagi, welches er via Internet führte. Er legte das Notebook zur Seite und erhob sich seufzend. Bereits in Schlafanzughose und Shirt gekleidet, schlüpfte er in einen leichten Morgenmantel um dann hinunterzugehen und nach einem Blick in die Kameras die Tür zu öffnen.

Der potentielle Übernachtungsgast sah aus wie ein potentieller Grippekandidat, so nass und zitternd – was Ran versuchte vergeblich zu verbergen – stand dieser vor der Tür.

„Scheiß Regenzeit“, murmelte Aya und bestätigte damit das Offensichtliche, fluchte, als ihm eine besonders heftige Böe die Kapuze vom Kopf fegte und seine klatschnassen Haare offenbarte, die ihm ins Gesicht schlugen.

Unwirsch wischte er sie weg und ging an Crawford vorbei ins Haus hinein. Ein Gutes hatte das Ganze: er war jetzt wieder nüchtern und konnte nach Hause fahren.

Wenigstens hatte er diesen Tag mit Abwechslung hinter sich gebracht, wo er doch momentan schichtfrei hatte für die nächsten drei Tage. Gutes Timing, Gabriele, murrte er in Gedanken. Musste am Namen liegen... die Gabriels dieser Welt hatten sich gegen ihn verschworen.

„Da hat aber jemand schlechte Laune.“ Brad schloss die Tür und somit das garstige Wetter draußen aus.

„Freust du dich nicht ins Trockene gekommen zu sein? Weshalb die schlechte Laune?“ Brad verschränkte die Arme und blickte die traurige Gestalt vor sich an. Alles an Ran hing irgendwie nass herunter. Seine Haare, seine Arme, seine Kleidung… seine Mundwinkel.

Aya zuckte stumm mit den Schultern und entledigte sich seiner Jacke, die er über die Heizung im Flur hängte. Vielleicht hatte sie da eine Chance, wenigstens ein Bisschen zu trocken, bevor er sich wieder auf den Weg machte.

„Eine dreiviertel Stunde durch den Regen kann jedem die Laune verderben“, sagte er, auch wenn das nicht die ganze Wahrheit war. Die Nässe hatte die Gedanken an den Film vertrieben, an die Szene, die er vor seinem geistigen Auge weggeschoben und verdrängt hatte.

Natürlich war der Held im Film gestorben, galt zumindest als tot. Der Film hatte das Leid der Liebenden durchaus realistisch gezeigt, auch wenn er nachher wiedergekommen war... wie der Phönix aus der Asche. James Bond eben.

ZU realistisch.

„Hast du ein Handtuch und einen heißen Tee für mich?“

„Du kennst den Weg ins Badezimmer. Ich bring dir etwas rauf, dass dir hilft warm zu werden.“ Brad überließ es Ran sich zu entscheiden ob er ihm zunächst in die Küche folgte oder ob er seinen Ratschlag befolgte und hinauf in eines der Badezimmer ging. Sie hatten zwar mehrere im Ryokan, benutzten aber überwiegend das größte Bad für ihre Bedürfnisse, nebst der größeren Badeabteilung im Erdgeschoss, die sie ihr Eigen nennen durften. Und die auch gerade wenn Schuldig hier war gut genutzt war.

Währenddessen kam er tatsächlich dem Wunsch des Japaners nach Tee nach, allerdings war es einer von der Kräutersorte und barg einen kräftigen Schuss Rum in sich.

Tatsächlich dem Vorschlag des anderen folgend, kämpfte sich Aya nach oben und betrat das Bad. Wider besseren Wissens zog er sein Oberteil aus und griff sich eines der weichen, großen Handtüchern, um zumindest seinen Oberkörper trocken zu rubbeln. Danach wickelte er seine Haare darin ein und wrang sie aus. Seinem Blick im Spiegel begegnend, wusste Aya, warum Crawford ihn auf seine schlechte Laune angesprochen hatte. Man sah ihm an, dass er über etwas ganz und gar nicht erfreut war.

Wie denn auch, hatte ihn doch besagte Szene allzu sehr an Schuldigs Tod erinnert, den Tod, der doch keiner war. Und schon war sie zurück, die alte Angst um den Telepathen.

Die Spirale seiner Gedanken drehte sich...

Brad verließ die große Küche, die dafür ausgelegt war für Gäste zu kochen, löschte das Licht und brachte den Tee über die schmale Treppe nach oben. Es war still im zweiten Stockwerk und erst als er den Flur vom Licht ins Dunkel tauchte, erkannte er, dass im Badezimmer noch Licht an war. Er öffnete vorsichtig die Tür zum Badezimmer, den Tee auf das Sideboard dabei stellend. Sein Blick fiel auf Ran und er blieb im Türrahmen stehen.

„Ist etwas passiert?“ Er kannte diesen Gesichtsausdruck von Ran. Sorge spiegelte sich darin wieder. Sorge, Angst und die hässliche Erinnerung an einen schmerzlichen Verlust. Ran hatte viel in seinem Leben verloren. Brad wollte sich deshalb nicht festlegen, ob es sich um die übliche Paranoia um Schuldig handelte, die den Japaner so abwesend hier zurück ließ.

Doch Aya reagierte nicht. Momentan war er viel zu sehr damit beschäftigt, die zwei Wochen von Schuldigs Verschwinden durchzugehen. Er musste sich aktiv damit auseinandersetzen, damit es sich nicht aufstaute, in seinem Inneren. Es musste aktiv verarbeitet werden. Was nicht hieß, dass es angenehm war, ganz im Gegenteil.

Brad nahm einen der beiden Morgenmäntel vom Regal und kam damit zu Ran. Er hängte ihm diesen über die Schultern. Rans Arme hingen herab und so war dieses Unterfangen leichter als gedacht. Brads Linke schob sich nach unten, während er Rans Gesicht im Spiegel beobachtete.

„Du solltest raus aus der nassen Kleidung. Schuldig wird sicher Freude daran haben dich zu pflegen. Oder wie immer hilflos daneben stehen und hoffen, dass sich jemand anderer darum kümmert.“

Brads Worte waren ruhig, seine Hand zupfte am Hosenbund und öffnete daraufhin den obersten Knopf.

Die Hand an seinem Körper brachte Aya aus seinen Gedanken wieder zu sich und sein Blick glitt in Zeitlupe nach unten, blieb dort an der fremden und doch vertrauten Hand hängen, die sich ihm hier bot.

Er versuchte, sich an die Worte zu erinnern, die gerade zwar sein Ohr, aber nicht wirklich seinen Verstand erreicht hatten.

Es gelang ihm nicht wirklich.

„Was machst du?“, fragte er, noch nicht einmal wirklich in Panik, ganz und gar nicht wütend... einfach nur ruhig.

„Versuchen herauszufinden...“, Brad nahm eine Hand vom Bund der Hose und legte sie auf Rans Oberarm, dort wo auf der gegenüberliegenden Seite seine Rechte bereits lag und den Bademantel sicher hielt.

„… ob du dich erneut einem Zusammenbruch näherst, oder ob du einfach nur abwesend bist. In ersterem Fall hättest du meine Hand wohl kaum bemerkt. Zumindest wenn es wie letztes Mal gelaufen wäre.“ Brad sah Ran unverwandt an. „Trotz allem solltest du aus diesen Kleidungsstücken heraus. Denk an Schuldig. Mit einem kranken Japaner tut er sich immer noch sehr schwer.“

Aya nickte und rang sich ein schwaches Lächeln ab.

„Sehr schwer, das stimmt.“ Ein leises Seufzen entrang sich seinen Lippen. „Ich war nur nachdenklich, ein erneuter Zusammenbruch steht nicht zur Diskussion. Es war der Film...“

Weiter sprach Aya nicht, kam er sich doch dumm vor, sehr dumm. Nur wegen eines Films.

Sein Blick begegnete dem Crawfords im Spiegel und er kam nicht umhin zu bemerken, dass er sich in der Gegenwart des anderen wohl fühlte, wohl und sicher.

„Geh duschen…“ Brad hielt inne und zog den Bademantel Rans Nacken leicht nach oben. Er würde seine übliche Anweisung etwas umgestalten müssen.

„Was hältst du davon wenn du zunächst duschen gehst. Währenddessen bringe ich dir warme Kleidung. Der Tee ist bis dahin trinkfertig.“ Er ließ Ran los und wandte sich zum Gehen.

„Wenn du jedoch zu lange in der Dusche vor dich hinbrütest, komme ich und hole dich. Das ist ein Versprechen.“ Er lächelte ironisch und verließ das Badezimmer.

Sein Weg führte ihn zu seinem Kleiderschrank in dem er nach einer geeigneten Schlafgarnitur für Ran suchte und schließlich fündig wurde…

Versprechen? Aya nannte das Drohung. Aber gut, er war müde und wenn er sich noch länger hier aufhielt, dann würde er garantiert einschlafen.

Doch zunächst stahl er sich einen Schluck heißen Tees, der mit ordentlich viel Rum versetzt war, wie er nun feststellte. Wollte Crawford ihn abfüllen?

Wie gut, dass er soweit wieder nüchtern war.

Aya stellte sich unter die Dusche und ließ das Wasser heiß und angenehm entspannend über seinen Körper laufen, seifte sich schließlich ein und spülte den Schaum von seinem Körper und seinen Haaren.

Da er allerdings anscheinend wie immer, wenn er die Gelegenheit nutzte, in der Nähe des Amerikaners zu duschen, in der Gefahr schwebte, dies eben nicht alleine zu tun, verkürzte er seine Duschzeit nun und stieg aus der weitläufigen Kabine, nahm sich besagtes Handtuch und trocknete sich ab. Seine Haare folgten kurz danach. Auf dem Badewannenrand sitzend, begann er mit geschlossenen Augen die langwierige Prozedur des Haareföhnens.

Brad hörte den Föhn, klopfte einmal an und trat dann ohne eine Antwort abzuwarten ins Badezimmer ein - Schlafanzug inklusive.

Er fand Ran nackt vor, lediglich ein Handtuch bedeckte das Nötigste. Malerisch wie stets in diesem Zustand der Blöße saß Ran am Badewannenrand und föhnte sich die Haare.

„Hier. Denn ich gehe nicht davon aus, dass du heute noch nach Hause fährst.“

Überrascht durch die Anwesenheit des anderen fuhr Aya im ersten Moment hoch, bevor er sich bewusst wurde, dass er sich beruhigen konnte.

Sein Blick glitt schließlich von Crawford selbst zum Schlafanzug, der ein dezentes, leuchtend-intensives Giftgrün aufzuweisen hatte.

„Nicht?“, fragte er recht dumm nach, hatte er es doch bis gerade eben noch fest eingeplant. Wenn er ehrlich war, hatte er jedoch durchaus Lust, hier zu schlafen, denn er wollte sich nicht mehr in den Regen begeben.

Auf dem Oberteil prangte, gut von ihm sichtbar, ein Samurai in SD-Form, der sein Katana schwang. Aya hob eine Augenbraue.

„Er passt zu dir. Du kannst ihn behalten. Falls du Gefallen daran finden solltest. UND… ich möchte keine Fragen bezüglich der Herkunft dieses geschmack- und stilvollen Kleidungsstücks.“ Der Tonfall machte klar wie sehr er dieses „Ding“ mochte. Nämlich gar nicht.

Brad hatte durchaus bemerkt wie abwesend Ran erneut war.

„Ich habe schon eine Tasche mit einer SD-Kirsche, die mir Schuldig geschenkt hat. Ich glaube, das stillt meinen Bedarf an japanischem Kitsch“, erwiderte Aya säuerlich und zum ersten Mal traf sein Blick klar auf den Crawfords.

„Nur weil meine Augen etwas schmaler und mandelförmiger sind als deine, heißt es nicht, dass ich auf alles stehe, was klein und niedlich ist. Wäre auch schlimm, wenn.“

Crawford trug auch schon seine Schlafbekleidung, fiel ihm jetzt auf und sie war in dezenten Tönen gehalten. Schlicht, bequem und die wichtigen Muskelpartien betonend.

„Aber er fühlt sich gut an. Besser, als nackt zu schlafen, wie es gewisse andere Rothaarige immer tun.“ Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen.

„Das wäre sicher etwas anderes zum sonstigen Ritus zwischen uns, das muss ich einräumen.“ Brad hob eine Braue und verließ das Badezimmer in Richtung Schlafzimmer. Er setzte sich aufs Bett, unterschlug ein Bein und zog sich sein Notebook heran um es auf neue Nachrichten zu kontrollieren.

Der sonstige Ritus? War es schon ein Ritus geworden?

Aya bejahte das. Ein angenehmer Ritus.

Er machte sich wieder daran, seine Haare zu trocknen und zog schließlich den weichen Schlafanzug über, der zwar mit den roten Haaren harmonierte, aber sonst... nun gut, einem geschenkten Gaul sah man bekanntlich nicht ins Maul.

Sich den Tee nehmend, verließ er das Bad, löschte das Licht und machte sich auf die Suche nach Crawford. Wenn sie dem Ritus schon Rechnung trugen, dann würde er nicht alleine schlafen.

Er fand ihn in seinem Schlafzimmer und setzte sich wortlos neben ihm aufs Bett, lehnte sich an das Kopfende an.

Brad versetzte das Notebook in den Standby Modus, nahm seine Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. Seine Augen brannten. Er legte Notebook und Brille zur Seite und löschte das Licht auf seiner Seite des Bettes. „Ist dir bereits warm geworden?“

Aya nickte schweigend. Die Dusche hatte ihm gut getan und der Tee tat sein Übriges um langsam die Gedanken an den Film zu vertreiben und damit seine Angst, dass doch etwas passierte.

„Hast du keine Probleme damit, dass er alleine unterwegs ist?“, fragte Aya schließlich und trank nachdenklich den Tee.

Es war wie Brad sich gedacht hatte, Ran hatte tatsächlich erneut Befürchtungen wegen Schuldig. Und das offenbar nicht nur in moderatem Maß, wie es schien. Das zeigte sich indem der Japaner so offen über seine „Probleme“ damit sprach und das mit ihm.

Brad lag auf dem Rücken, einen Arm unter den Kopf geschoben. Seine Augen waren geschlossen, er hatte sie heute überanstrengt und sie tränten, wenn er sie jetzt zu lange aufhielt.

„Nein. Er kann auf sich aufpassen.“ Er schwieg einen Moment.

„Wäre ich in China nicht dabei gewesen, wäre es nicht zu dieser katastrophalen Wendung gekommen. Er hat gezögert und dieses Zögern war ihm zum Verhängnis geworden. Dadurch, dass er keinen generalisierten Angriff riskieren konnte um mich nicht zu verletzen versuchte er die Gegner einzeln auszuschalten. Das hat ihn zu viel Zeit gekostet. Alleine ist er sicherer.“

Irgendwie beruhigten ihn die Worte des anderen, wenngleich...

„Und was, wenn ihn Gegner erwischen, die er nicht lesen kann? Die, die auch Jei nicht lesen konnte?“ Doch diese Gefahr bestand immer, sie bestand bei jedem von ihnen. Ein weiterer, kräftiger Schluck folgte. Natürlich konnte Schuldig auf sich aufpassen, nur... es gab eben immer jemanden, der stärker war.
 

Brad sah das Ganze nicht so verbissen. „Schuldig verlässt sich nicht mehr nur auf seine Fähigkeiten. Wir machten Fehler in der Vergangenheit. Deshalb versuchen wir in diesem Punkt keine mehr zu machen. Allerdings kann auch ich nicht sagen ob wir in der Zukunft nicht noch welche machen werden. Schuldig ist besser alleine dran. Er kann besser und effizienter arbeiten.“

Aya seufzte. Was für ein blödes Thema. Vor allen Dingen ein Thema, das er hinter sich lassen wollte, denn er konnte sich nicht immer Sorgen machen, wenn Schuldig weg war.

Das war nicht gut für seinen Seelenfrieden.

„Du wolltest mir noch den Preis für meine Akte nennen“, wechselte er das Thema.

Brad zog seinen Arm unter seinem Kopf hervor und legte ihn sich über die Augen.

„Dein Körper, was sonst?“, sagte er leichthin, doch ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Es war beruhigend, erneut zu hören, dass Schuldig besser auf sich alleine aufpassen konnte als mit jemand anderem zusammen zu arbeiten. Sehr beruhigend.

Gerade deswegen ließ Aya dieses Thema nun auch endgültig fallen und wandte sich dem anderen zu.

Dem wichtigeren.

„Wie... was sonst? Warum meinen Körper?“, fragte Aya verständnislos nach. Er konnte sich nur einen einzigen Reim darauf machen und der erschien ihm als zu unwirklich, zu abnorm. Fühlte sich Crawford von ihm angezogen?

„Warum nicht? Ich wusste gar nicht, dass du dich selbst als so unattraktiv einschätzt. Ist nicht deine Lieblingsbezeichnung für mich „Zuhälter“. Was läge dann näher als den Preis in Naturalien einzufordern?“

Darauf wusste Aya erst einmal nicht wirklich etwas zu entgegnen.

Also doch.

„In Naturalien...“, sinnierte er über diesen Preis nach und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Es war ja nicht so, als hätte er nicht schon darüber nachgedacht, mit Crawford zu schlafen. Doch nun...

„In Ordnung“, stimmte er schließlich zu, doch alleine schon der Ton seiner Stimme verriet, dass die ganze Sache einen großen Haken für Crawford haben würde.

Die Zustimmung kam schnell und Brad ahnte auch warum.

Ein warmer Laut löste sich aus seiner Kehle als Brad lachen musste. „Schlag dir das gleich aus dem Kopf“, musste er Rans Fantasien gleich in Luft auflösen, als er vorhersah, was Ran für ihn angedacht hatte bei diesem Kuhhandel.

Aya erwiderte das Lachen, diesen allzu angenehmen Laut mit seinem eigenen. Natürlich wusste auch er genau, was genau Crawford meinte.

„Dito, Brad Crawford, dito“, schmunzelte er schließlich. Hier hatten sie die klassische Pattsituation, aus der keiner von ihnen beiden auch nur einen Millimeter zurückweichen würde. Entspannter als vorher leerte er die Tasse und platzierte sie neben dem Bett auf dem Nachtschrank.

„Es ist der Preis für die Akten. Das ist alles.“ Brad fühlte sich ungeahnt von Rans Wohlgefühl selbst auch etwas entspannter. Er hätte heute nicht so viel arbeiten dürfen, aber – was er nicht zugegeben hatte – er hatte sich in Arbeit gestürzt um nicht an Schuldig denken zu müssen. Er wagte es kaum die Augen zu öffnen damit sie nicht erneut anfingen zu tränen.

„Könntest du das Licht löschen?“

„Sicher.“ Aya stand auf und tauchte den Raum in ein angenehmes Dunkel, hatte er durchaus schon mitbekommen, dass Crawford anscheinend Probleme mit seinen Augen hatte. Danach kam er zum Bett zurück und grub sich unter die Decken.

„Du hast mir den Preis genannt, ich dir die Konditionen und wir sind nicht überein gekommen. Passiert eben.“ Er drehte sich zu Crawford. „Außerdem kann in den Akten nicht mehr über mich stehen, als ich schon über mich selbst weiß.“

„Wer weiß…“, sagte Brad unbestimmt, ganz der kryptische Geheimniskrämer. Ran war neugierig, das konnte er selbst nicht leugnen. Es war nur eine Frage der Zeit bis Ran Schuldig auf die Akten anspitzte. Brad war gespannt.

„Es gibt Wichtigeres“, schloss Aya auch dieses Thema und zuckte innerlich wie äußerlich mit den Schultern. So zum Beispiel die angenehme Wärme, die seinen Körper nun durchzog.

Aya nieste.

„Oh Nein. Du wirst nicht krank werden. Wiederhol das bitte. Sprich mir nach: Ich werde nicht krank, weil ich zu stolz war Brad Crawford anzurufen, oder mir ein Taxi zu holen.“ Brad hörte jetzt schon das Gequengel in seinen Ohren klingeln.

Erst war es Verwunderung, dann Unglauben, dann Amüsement, die Crawford in der Dunkelheit auf Ayas Gesicht nicht sehen konnte.

„Ich wiederhole: Ich werde krank, weil das stolze Orakel Brad Crawford es nicht für nötig gehalten hat, mich von der Haltestelle abzuholen.“ Ein weiteres Niesen folgte stehenden Fußes.

„Da mich diese Situation offenbar nicht persönlich betrifft habe ich auch keine Information darüber erhalten wann du dich an der benannten Haltestelle befunden haben sollst.“ Brad gähnte verhalten.

„Es wird dich aber persönlich betreffen, wenn ich hier darniederliege und Schuldig dich in zwei Tagen höchstpersönlich dafür verantwortlich machen wird. Vor allen Dingen wird er DICH rufen, wenn es mir schlecht geht. Kennen wir ja schon.“

„Du willst also allen Ernstes die These aufstellen, dass er mir die Schuld geben wird und mich gleichzeitig darum bittet ihm zu helfen?“

Ein amüsierter Laut war zu hören.

„Du unterschätzt seine Fähigkeiten zu bekommen was er will und das nicht mit Schuldzuweisungen. Im Übrigen wird er den Teufel tun und sich mit mir anlegen. Schließlich habe ich sein Betthäschen warm gehalten. Das bisschen Erkältung… alles nur Kollateralschäden.“

„Du glaubst doch nicht etwa, dass er DIR glauben wird, dass du mich warm gehalten hast, wenn ich mit einer Erkältung zurückkomme.

Außerdem wird er dir erst die Schuld geben, wie er es eben immer macht, mit seinem höchst anklagenden Blick und dich kurz darauf mit seinem lieben, berechnenden Blick bitten, ihm zu helfen. So wird‘s laufen.“ Vorausgesetzt, Aya wurde krank und das plante er nicht.

„Du vergisst, dass er dich gut genug kennt um zu wissen, wie stur und stolz du sein kannst. Und das ich der letzte Mensch auf dieser schönen Erde bin, von dem du dir etwas sagen lässt.“ Brad lächelte in sich hinein.

„Wobei du da wiederum bedenken solltest, dass er weiß, dass ich von alleine hierher gekommen bin. Das widerspricht deiner Stolztheorie. Warum sollte ich also zu stolz sein, dich zu fragen ob du mich abholst, aber nicht zu stolz, hierher zu kommen?“

„Das frag dich selbst. Du hast es offensichtlich nicht getan.“

Ein Grollen antwortete Crawford, doch bis auf dieses Grollen wurde es still zwischen ihnen beiden. Natürlich hätte er anrufen und fragen können. Doch er war schließlich kein kleines Kind mehr, sondern ein erwachsener Mann. Er brauchte sich von niemandem abholen lassen.

Das tat er ja noch nicht mal von Schuldig, es sei denn, dieser kam ihm zuvor und tauchte plötzlich dort auf, wo er gerade alleine hatte starten wollen. Dann ließ er sich von Schuldig chauffieren. Kein Grund, Crawford dort ein Vorrecht einzuräumen.
 

Aya wühlte sich noch etwas tiefer in die Decke und schloss die Augen, doch so richtig angenehm war es noch nicht. Vor allen Dingen, da dieser impertinente Amerikaner neben ihm schon nach wenigen Momenten eingeschlafen zu sein schien.
 

Wieso konnte er so schnell schlafen, während Aya selbst hier lag und irgendwie nicht die richtige Position fand.

Vor allen Dingen, da er gerne etwas mehr vom Rand rutschen würde. Natürlich nur, um Abstand zwischen sich und dem Abgrund zu bekommen, zumindest war das die offizielle Version. Die inoffizielle lautete, dass er diesem Geruch einfach näher kommen wollte, der seiner Unsicherheit Schuldig bezüglich ein Labsal war und der ihn beruhigen würde.

Warum also nicht? Crawford würde es sowieso nicht mitbekommen, jetzt, wo er schon schlief.
 

Es brauchte nur ein paar Momente, da startete Aya seinen Vormarsch, vorsichtig und geheim... der perfekte Ninja eben, bis er schließlich ganz nahe an Crawford lag, jedoch ohne ihn zu berühren.
 

So vorsichtig und so geheim, dass Brad seine stille Freude daran hatte. Er schlief noch nicht, wie angenommen von Ran, sondern war noch sehr wach.

Eines seiner Rituale um die Visionen des Tages und die Informationen, die sie mitbrachten zu verarbeiten war, dass er einige Zeit damit zubrachte sie zu analysieren und das tat er, bevor er in den Schlaf sank. Er musst die Informationen, die ihm zufielen mit denen, die er bereits in seinem Gehirn abgespeichert hatte vernetzen und sie wie in eine Art Datei ablegen, sonst würde er Probleme mit einer Überlastung bekommen. So hatten ihn die PSI Lehrer bei SZ geleert einen Zeitpunkt des Tages zu wählen an dem er sich zu einer Art Meditation oder Ruhe begeben konnte, die Atmung vertiefte, verlangsamte und im Wachzustand zu verarbeiten begann. Damit die Verarbeitung in seiner Traumphase nicht zu unliebsamen Überraschungen führen konnte, wie Albträumen oder ähnlichem.

Das Ran Fujimiya annahm, dass er bereits schlief veranlasste ihn zu einem amüsierten Lächeln aufgrund der schutzsuchenden Geste des anderen – die er heimlich vollziehen wollte. Keine Zugeständnisse.

„Jetzt hast du es doch noch geschafft, bevor ich eingeschlafen bin.“ Brad rieb sich über die Augen, gähnte verhalten und beschloss, dass es Zeit war zu schlafen.

Die Jalousien waren bis auf die kleinen Aussparungen zwischen den Lamellen geschlossen, nur die Fenster waren offen und ließen das Prasseln des Regens als stetige Geräuschkulisse herein.

Er legte seinen Arm über den unbenutzten oberen Teil von Rans Kissen.

„Was ist los? Kannst du nicht schlafen?“

Wieso zum Teufel war Crawford noch wach? Er hatte doch genau gehört, dass dessen Atmung den Schlaf angezeigt hatte!

Aya war es nicht so peinlich, wie es vielleicht sein sollte... ganz und gar nicht. Aber es war ihm unangenehm, offenbarte es doch seinen Wunsch nach Nähe und das ausgerechnet vor Crawford. Dabei war dies noch nicht einmal eine Ausnahmesituation.

Der Arm über seinem Kopf sprach jedoch eine andere Sprache.

„Nicht wirklich“, kam es ebenso wach von ihm und er versuchte, Crawford durch die Dunkelheit hinweg auszumachen.

„Warum? Der Rum sollte dir im Regelfall gute Dienst geleistet haben.“ Brad hielt das für ein probates Mittel um Ran von seinen trüben Gedanken wegzubringen, die ihn wie eine schwarze Wolke umgaben und Brad selbst daran erinnerten, dass er mehr Teamleader sein sollte, denn Lover.
 

„Anscheinend braucht er heute etwas länger um zu wirken.“ Und manchmal gab es zudem auch noch viele Dinge, die ihn am Einschlafen hinderten. Sehr viele Dinge. Unter anderem auch seine wie auch ihre gemeinsame Vergangenheit.

„Manchmal... fällt es einem eben nicht leicht, die Vergangenheit loszulassen vor dem Einschlafen“, veräußerte er schließlich seine Gedanken. Für einen Soziopathen, der sich gerade nicht in der Nähe seines telepathischen Psychotherapeuten befand, hielt er sich ganz gut, sagte Aya sich mit einem guten Schuss an Selbstironie.
 

Ein kaum zu hörendes mit Ironie getränktes Lachen füllte den intimen Raum zwischen ihnen. „Das spüre ich. Du suchst förmlich die Nähe deiner Erinnerungen. Aber offensichtlich nur der schlechten.“
 

„So kann man das nicht sagen... du hast schließlich nicht nur schlechte Seiten an dir. Du kannst gut kochen, du riechst angenehm, du...“ Aya überlegte, ob ihm noch mehr gute Seiten an Crawford einfielen, doch viele gab es da tatsächlich nicht. Aber eine... eine wichtige hatte er noch. „...tust Schuldig gut...“
 

„Bei diesen überschwänglichen Komplimenten schätze ich den Promillegehalt in deinem Blut sehr hoch ein und wundere mich tatsächlich warum du noch nicht ausgeknockt neben mir liegst.“

Brad sinnierte noch über die Tatsache, dass er für den Japaner gut roch…
 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für's Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Gadreel & Coco

Wolkig bis heiter

~ Wolkig bis heiter ~
 


 

„Vielleicht bin ich einfach nur trinkfest. Oder du hast dem Tee nicht so viel Rum beigefügt, wie zunächst gedacht.“ Ayas Stimme war durchtränkt von Amüsement.

„Ich würde sagen, Antwort C ist richtig“, erwiderte Brad nüchtern.

„Ja, dem stimme ich zu. Denn ich habe deinen Plan durchschaut, mich abzufüllen und deinen Blumen den Tee zu trinken gegeben!“
 

„Es ist wahrscheinlicher, dass deine stete, krankhafte Angst dich so gefangen hält, dass an Schlaf nicht zu denken ist.“ Brad brachte Ran vom Spielerischen wieder näher an ein Problem, dessen sich der andere durchaus bewusst war, was er aber mit normalen Mitteln kaum unter Kontrolle bekam.
 

Zurück zum Ernst der Situation.

„Nicht immer, aber manchmal holt mich die Vergangenheit einfach ein, ja“, gestand er ihnen beiden schließlich ein. „Zumal ich es nicht als krankhafte Angst, sondern durchaus berechtigte Angst bezeichnen würde.“

Brad stützte sich auf einen Ellbogen und arrangierte sich sein Kissen so, dass er bequemer lag.

„Nicht immer. Nur dann, wenn Schuldig weg ist. Was so viel bedeutet – wie immer. Und es ist eine Art Krankheit wenn diese Angst dich lähmt und du nicht einmal bemerkst wie jemand in den Raum kommt, mit dir spricht und dir einen Bademantel umhängt“, bemerkte Brad gelassen. Brad war sich sicher, dass sie beide um die Tatsache wussten, dass Ran diese Furcht herunter spielte, nach dem Motto: ich habe alles im Griff. Nur war dem nicht so.
 

„Da ich nicht davon ausgegangen bin, dass du eine Gefahr für mich darstellst, habe ich mich meinen Gedanken hingegeben, ja. Aber du glaubst doch wohl, dass ich mir diesen Luxus im Falle von Gefahr nicht erlauben würde, oder?“ Aya war sich nicht sicher, ob Crawford wirklich so wenig über ihn wusste.
 

„Fühltest du dich im „Laugh“ derart sicher?“ Brad kratzte in der Wunde herum, ohne dem Patienten Schmerzmittel verabreicht zu haben.

Er schwieg einen Moment. „Finde einen Weg um damit klar zu kommen, Ran. Meditation, Training… irgendetwas. Das, was wir in Zukunft vorhaben, schließt Alleingänge von Schuldig mit ein. Deine Gedanken bei ihm zu haben, könnte gefährlich werden. Er ist dein Schwachpunkt. Finden unsere Gegner das heraus…“
 

Der Finger in der Wunde schmerzte wirklich, sehr sogar.

„Glaubst du wirklich, sie haben es nicht schon längst herausgefunden? Sie waren in Schuldigs alter Wohnung, sie wussten um unser Sexspielzeug... sie wussten, wer ihr wart, als sie euch in China gelinkt haben. Es wäre dumm zu glauben, dass ihnen das entgangen ist. Dass ihnen entgangen ist, wie sehr ich seiner und er mein Schwachpunkt ist. Und ja, ich arbeite daran, habe es seit der Geschichte im Laugh kontinuierlich getan. Es dauert und schmerzt, aber schließlich werde ich es hinter mir gelassen haben.“
 

„Beruhige dich“, erwiderte Brad auf die Kanonade aus Rechtfertigungen und dem trotzigen, hoffnungsvollen Ausblick in die mögliche Zukunft, in der alles besser werden würde.

Brads Hand lag nahe an Rans Hinterkopf und seine Finger glitten in den Teil der Haarflut, die auf dem Kissen lag.

„Hast du dir schon einmal überlegt, wie es für Schuldig sein würde, wenn er dich verlieren würde? Wie es für ihn war, alleine in China…?“ Er hatte sich diese Frage schon oft gestellt, vor allem, als Schuldig wieder da war, als die Wut über dessen Verhalten erst Wochen später in seine gewohnte Stärke umgewandelt werden konnte.
 

„Natürlich habe ich das“, erwiderte Aya, während er den Weg von Crawfords Hand auf seinen Haaren nachfolgte. „Es wäre für ihn die Hölle, wenn nicht sogar das Ende, auch wenn ich das nicht hoffe, sollte ich sterben. Er hat mir erzählt, dass er ständig um mich besorgt war in China. Dass es mir gut geht, dass ich mich nicht umbringe, dass er nach Hause kommt und ich noch da bin. Ja, er hat gelitten und ja, das weiß ich. Ich möchte nicht, dass er noch einmal leidet.“
 

Worte zu Sätzen zusammen gefügt, die klangen, als hätte sie sich der Japaner schon sehr oft selbst gesagt.

„Er hatte die Hoffnung, dass du noch lebst, auch wenn sie verschwindend gering war. Wir hatten das nicht.“

Während Brad sich seine nächsten Worte gut überlegte, fühlten seine Finger einer Strähne nach, die im Verbund mit anderen auf dem Kissen lag.

„Würdest du als tot gelten, er würde irreparable Schäden davon tragen. Gnade der Welt, wenn es soweit kommen sollte. Es wäre die beste Möglichkeit um einen langsamen Selbstmord zu begehen, für denjenigen, der dich ihm genommen hat.“
 

„Das Gleiche gilt auch für dich. Wenn dich jemand töten würde, würde er diese Person ebenso sehr jagen und töten, von daher solltest auch du auf deine Haut achten.“ Wenn Aya da an Crawfords Alleingänge dachte, war er froh, dass diese Zeit vorbei war.
 

„Es wird nicht so schlimm wie bei dir werden“, kam prompt die Antwort und sie erstaunte selbst Brad etwas, als die Worte seine Lippen verließen.

„Euer Geturtel und euer Unvermögen, lange voneinander getrennt zu sein gibt eurer… sagen wir Beziehung einen dramatisch leidenschaftlichen Touch.“
 

„Was daran liegt, dass wir beide die richtigen Typen dafür sind. Du bist wohl kaum der Mensch für emotionale Ausbrüche verschiedenster Art, von daher ist seine Beziehung zu dir auch anders gelagert, ohne Geturtel und ohne ständige Nähe.

Dass er jedoch in deiner Gegenwart aufblüht, ist unübersehbar. Dass er dich liebt, ist es ebenso. Er würde unter deinem Verlust leiden. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass er und ich einen Beziehungsvorsprung haben. Lass seine Gefühle für dich erst einmal reifen und er wird jeden umbringen, der sich in deiner Nähe befindet und mit dem du mehr hast als ein simples Gespräch.“
 

„Mehr als simple Gespräche habe ich selten. Und umbringen wird er mit Sicherheit niemanden ohne meine Erlaubnis. Er weiß, wie sehr ich es hasse, wenn er sich hängen lässt und er wird sich hüten, nach meinem Ableben selbiges zu tun.“ Brad war fest der Meinung, dass Schuldig sich an ihre Abmachung halten würde, die sie im Team nach dem China Desaster getroffen hatten. Kein Rumgeheule, wenn einer von ihnen im Einsatz fallen würde.

Keiner von ihnen hatte diese Abmachung eingehalten. Nur von Schuldig erwartete er, dass er sich daran hielt. Sie würden diese – zugegeben – für ihn ungewöhnliche Unterhaltung nicht führen, wenn er nicht der Überzeugung wäre, dass Schuldig durchdrehen würde, falls Ran zu Schaden kam.
 

„Wie willst du ihn denn für seinen Ungehorsam bestrafen, wenn du tot bist und er deine möglichen Mörder trotzdem umbringt?“, fragte Aya mit einem leichten Lächeln und ließ sich von Crawfords Geruch beruhigen, der ihn umhüllte.

„Aber wenn wir weiterhin von unserem Ableben sprechen, wird es eher früher als später noch eintreffen. Also gehen wir einfach davon aus, dass wir alle neunzig Jahre alt werden und die Zeit bis zu unserem natürlichen Tod irgendwie überstehen.“
 

„Ich werde keine neunzig. Aber ich verstehe was du damit sagen willst.“ Brad beendete für sich das Thema und legte sich auf den Rücken zurück.

„Und jetzt… halt deinen Mund und schlaf endlich. Es sei denn dir fällt etwas Besseres ein, was du damit anstellen kannst.“

Brad fühlte die Müdigkeit in seinen Knochen und er hörte sich auch in seinen Ohren entsprechend müde an. Er hatte heute zwei Trainingsrunden gedreht und sich nicht nur mit geistiger Arbeit ausgepowert.
 

„Nicht bei dir, alter Mann“, musste Aya dann doch das letzte Wort haben und lachte leise. „Sonst bist du gar nicht mehr einsatzfähig.“

Damit überbrückte er den letzten Abstand zwischen ihnen beiden und bettete seinen Kopf an Crawfords Schulter.
 


 

o~
 


 

‚Du liegst an einem weißen Sandstrand. Die Sonne kitzelt dir die braunen Fußrücken. Das Meer rauscht unweit von dem Ort, an dem du liegst und schläfst.

Langsam dringt dieses Rauschen in deine Wahrnehmung und du driftest vom Ort des Schlafes an den Ort der Dämmerung. Dorthin, wo du das Meer rauschen hörst, das sanfte Wiegen der Palmen im Wind. Neben dir liegt eine attraktive Rothaarige, du drehst dich im Schlaf zu ihr. Du weißt, dass sie neben dir liegt, schläft wie du.

Ihr Schlaf ist tief, ihre Träume ruhig und ereignislos.

Du öffnest blinzelnd deine Augen um ihr beim Schlafen zuzusehen, um ihre Lider über ihren violetten Augen liegen zu sehen.

Du wirst wach.’
 

‚Schuldig!’, blaffte Brad wenig begeistert in Gedanken und rieb sich über die Augen, fand sich in sehr direkter Nähe zu Ran liegend, fast schon auf Tuchfühlung mit seinem Gesicht.

‚Verdammt. Hast du nichts Besseres zu tun, als mich im Schlaf zu stören?’

‚Wenn du es so genau wissen willst. Nein.’ Schuldig trat gerade aus dem Shuttlebus am Flughafen heraus und machte sich auf den Weg um erst einmal ein Plätzchen zu finden, wo er gemütlich eine Zigarette rauchen und sich einen Drink genehmigen konnte. Sein Trolly folgte ihm brav auf Schritt und Tritt.

‚Willst du damit sagen, ich hätte mich nicht wenigstens ein bisschen bemüht, dir einen schönen Traum zu bescheren?’

‚Das hast du lediglich deshalb gemacht um mich so sanft wie möglich zu wecken, damit ich dir bei einer abrupteren Aktion nicht in den Arsch trete.’

‚Du kennst mich zu gut, Brad.’

‚Ich entnehme diesem Geplänkel, dass du keinen Stress, sondern Langeweile hast, oder weshalb beehrst du mich mit deiner geistigen Anwesenheit?’

‚Ich habe vor, dich in Bälde mit meiner körperlichen Anwesenheit zu beehren. Deshalb dachte ich mir, ich informiere dich und…’

Für einen Augenblick dachte Schuldig er hätte die Information, die er zufällig in Brads Gedanken las, falsch interpretiert.

‚Du schläfst mit Ran in einem Bett? So eng? Habt ihr was am Laufen?’, kam es schneller als er seine Zunge hüten konnte.

‚Wann kommst du hier an?’, blockte Brad gemeinerweise einen möglichen Informationsaustausch sofort ab. Im Keim erstickt.

‚Ich bin schon da. In einer Stunde bin ich bei euch.’

„Was?“, zischte Brad und ließ sich aufseufzend wieder in die Kissen sinken. An länger schlafen war also nicht zu denken.
 

Doch Schuldig hatte sich schon ausgeklinkt.
 


 

Die Unruhe neben ihm machte Aya für einen Moment lang auch unruhig, bevor er sich wieder in die Tiefen seines Schlafes zurückzog und sich an die wärmespendende Quelle anschmiegte. Sein Schlaf war traumlos und erholsam, obwohl oder gerade weil er sich neben dem Amerikaner befand.

Doch auch dieser tiefe Schlaf ging vorüber und er drehte sich auf den Rücken, nicht wirklich wach werden wollend.

Doch irgendetwas, das er nicht genau beziffern konnte, warnte ihn. Sein Instinkt vielleicht. Er sagte ihm, dass er aufwachen sollte, aufwachen musste, dass Gefahr bestand.

Auch wenn es schwer fiel, zog sich Aya aus der weichen Dunkelheit und riss die Augen auf, benommen noch vom unterbrochenen Schlaf.

Das Erste, was er bemerkte, war ein schweres Gewicht auf seinem Körper, das ihn auf die Matratze fesselte. Also doch!

Wer war sein Angreifer? Hatten sie Crawford auch schon?

Aya bäumte sich auf, wollte sich mithilfe seiner Hände wehren, die jedoch im nächsten Moment bewegungsunfähig auf der Matratze gehalten wurden. Selbst ein warnender Schrei in Richtung Orakel wurde ihm durch eine Hand auf seinem Mund verwehrt.

Wer in aller Welt war das?!
 

Schuldig hatte sich schon auf dem Weg hierher ausgemalt wie er Ran am Besten begrüßen wollte. Und diese überwältigende, leidenschaftliche Version war als einzig mögliche übrig geblieben.

Nun hatte er gut zu tun um Ran unten zu halten. Er ließ sein ganzes Gewicht auf ihn nieder und versuchte ihn unten zu halten, möglichst ohne zu reden, ohne sich zu verraten. Aber ihm machte es tatsächlich Spaß und er freute sich zu sehr Ran zu sehen und zu fühlen - auch wenn das Fühlen momentan schmerzhaft und später dann sehr blau sein würde – sodass er lachen musste und das nahe an Rans Wange. „Jetzt hör schon auf, wie soll ich denn da der Böse sein, wenn du mich halb vermöbelst dabei?!“, empörte er sich lachend, halb keuchend, denn Ran wehrte sich wirklich erfolgreich.

„Ich gehe und mache Frühstück“, tönte es von neben Schuldig in genervtem Tonfall und stand auf.

„Werdet fertig. Und keine Verunreinigungen jedweder Art auf der Bettwäsche, dem Boden und den Wänden.“
 

Mit der ihn knebelnden Hand noch auf den Mund stierte Aya erst die Gestalt über sich an, als die Erkenntnis dämmerte, wer ihn hier überfallen hatte, dann Crawford, der wie selbstverständlich Frühstück machen ging.

Das war...

...war...

...war...
 

...SO typisch Schuldig!
 

Auch wenn sein Herz noch wie verrückt raste, entspannte er sich unter seinem „Angreifer“ und grollte indigniert. Zumindest war das die erste Warnung, bis er seine Lippen zurückzog in fester Absicht, die impertinente Hand zu beißen.
 

„Nei… ein… nicht beißen!“ Schuldig spürte die Bewegung unter seiner Haut, zog seine Hand zurück, versetzte Ran einen Blitzkuss auf den Mundwinkel und wirbelte mit seinem „Opfer“ einmal herum, sodass dieses besagte Opfer auf ihm lag. „Ich könnte ja jetzt sagen, dass es mir Leid tut und der ganze andere Kram. Nur tut es das nicht, deshalb…“ würde er es lassen und lediglich dreist grinsen.

Seine Hände krochen unter Rans Hemd, strichen behandschuht wie sie noch waren über den unteren Rücken.
 

„Was MACHST du hier?!“, schoss es aus Aya heraus, die erste Frage, die ihm in den Sinn kam. Seine Stimme war etwas atemlos, als sich langsam der Schock des nächtlichen Überfalls legte und er sich durch die Dunkelheit hinweg Schuldig genau beschaute, der vermutlich bis auf seinen gerade ergangenen Angriff keine Verletzungen davongetragen hatte.

Ein erleichtertes Seufzen später folgte auch schon wieder das typische Augenrollen, als sich Aya nun bewusst auf Schuldig zusammensacken ließ und den anderen mit seinem vollen Körpergewicht spürte.

„Du bist jetzt schon wieder hier? Ist etwas schief gelaufen?“
 

„Nein. Alles in Ordnung. Es hab nur keinen Grund, länger dort zu bleiben als nötig. Spontanität ist immer besser und weniger vorherzusehen. Selbst für Brad offensichtlich nicht.“ Schuldig schmiegte Ran an sich, drehte sie beide zur Seite, sodass ihre Beine ineinander verkeilt lagen und er Rans Lippen mit seinen bestreichen konnte. Zart und vorsichtig betastete seine Zunge die Textur der Lippen, fühlte mit seinen nach und bat um Einlass.
 

Den bekam er, leidenschaftlich und auch ein wenig verzweifelt. Ayas Hand fand Schuldigs Hinterkopf und umfasste ihn hart, während er den Telepathen schmeckte und schließlich seufzend die Stirn an die seines Partners lehnte.

„Ja, selbst für ihn nicht. Du kannst froh sein, dass einer von uns beiden dich nicht umgebracht hat!“
 

Schuldig ließ sein Blumenkind gewähren und fühlte sich im Fokus der Sehnsucht des anderen.

„Was meinst du, warum ich Brad vorgewarnt habe? Glaub mir, das ist kein Zuckerschlecken, wenn der Kerl auf dir drauf liegt, dir den Arm verdreht und dir so die Fresse poliert, dass du keine Ahnung mehr hast, wer du bist und was du hier überhaupt wolltest. Nein, danke.“
 

„Ah, da spricht jemand aus Erfahrung... ich muss ja sagen: geschieht dir recht! Wer solche Aktionen startet, hat auch eins auf die Zwölf verdient!“ Aya grollte indigniert. „Was mich aber stört, Herr G.V., ist, dass Sie mich nicht vorgewarnt haben, sprich, mich nicht als adäquaten Gegner akzeptieren...“

Ayas Hände betatschten Schuldigs Körper, so als müssten sie sich sicher sein, dass es wirklich Schuldig war.
 

Schuldig zog ein unschuldiges Gesicht, allerdings versuchte er nicht zu dick aufzutragen, sondern ein Quäntchen mitleidheischende Reue einfließen zu lassen. Was schwer genug war.

„Jetzt hör mal. Wie sollte ich das denn tun? Klar hättest du dir einen runter holen können, damit ich dich telepathisch erreiche, aber das neben Brad? Womöglich als Zuschauer?“

Aya hörte es, dieses Quäntchen an Verarsche und beschloss, dass es seinerseits ein wenig Strafe verdient hatte.

„Wieso? Das habe ich gestern Abend auch gemacht und es hat ihm gefallen.“ Seine Stimme war ernst, mit einem eigenen Quäntchen an Verwunderung, warum Schuldig nicht daran gedacht oder nicht damit gerechnet hatte. So als wäre es das Natürlichste der Welt.

„Du lügst.“ Schuldig lächelte nachsichtig. „Und das wie immer grottenschlecht.“ Er küsste eine der Wangen und versuchte seine Hände aus den verhedderten Haaren herauszubekommen. Ein schwieriges Unterfangen, bei dieser Haarfülle und Länge.
 

„Du wünschst, dass ich lüge!“, lachte Aya und gab Schuldig aus seinen Haaren frei, umfing den Telepathen jedoch gleichzeitig mit seinen Beinen. So schnell würde er diesen impertinenten Deutschen nicht gehen lassen.
 

Und dieser wusste, dass Ran sich niemals vor Brad derart Preis geben würde. Niemals.

Deshalb lächelte er gönnerhaft und schmuste sich an. „Vergiss es, Ran. Deine schlechte Lügerei kannst du nicht besser machen in dem du zur Großspurigkeit übergehst. Du würdest nie… niemals… ich verdeutliche es noch… never ever dich vor Brad so ausliefern.“ Sie waren nicht so weit und es würde auch nicht so weit kommen zwischen den beiden. Sex zwischen Brad und Ran? Das wäre wohl interessant, vermutlich müsste er vorher die beiden auf Waffen kontrollieren, auf versteckte Fisitäten oder ähnliches.
 

„Vielleicht hat er sich auch vor mir einen runtergeholt?“, fragte Aya in der Hoffnung, dass Schuldig ihm wenigstens DAS glaubte.
 

„Ja?“ Auf Schuldigs Gesicht breitete sich ein ausgewachsenes Grinsen aus. „Das muss ich nachprüfen!“ Und flugs ging er dazu über sich von Ran loseisen zu wollen um zu Brad zu kommen. Es würde ein Heidenspaß werden, diesem von Rans Fantasien zu berichten. Das Kind, das er manchmal noch war, freute sich diebisch.
 

Womit Schuldig vermutlich nicht gerechnet hatte, war, dass Aya nun tatsächlich losließ, eben weil auch er sehen wollte, wie Crawford darauf reagierte, dass Schuldig nachprüfte, ob er sich nun wirklich selbst befriedigt hatte.

„Dann beeil dich, bevor er alle Spuren tilgt!“
 

„Wärks“, machte Schuldig abfällig und dreht sich noch im Aufstehen zu Ran um. „Hey… Brad ist nicht wie wir… der würde niemals wie wir zwei hier nach dem Sex in unseren Körperflüssigkeiten liegen bleiben und sich drin aalen.“ Schuldig grinste und war schon aus der Tür. Noch immer trug er seine Kleidung mit der er wieder zurück in die Heimat geflogen war.
 

Er trieb Brad in der Küche auf, der Morgenmantel war offen, der Gurt hing recht uns links an den Seiten herab und sah genauso müde aus wie sein Träger.

Brad machte Eier mit Speck, Toastbrote lagen bereit, nur um ihrer Bestimmung zugeführt werden zu können. Der Tisch war noch nicht gedeckt und Schuldig zog seine Lederjacke aus, warf sie über einen der Stühle und machte sich daran diese Aufgabe auszuführen.
 

Als er damit fertig war ging er hinüber zum Meisterkoch und lehnte sich mit den Unterarmen auf die Anrichte, blickte zu Brad hoch.

„Ran meinte, du hättest dir vor ihm einen runter geholt. Er meinte sozusagen zu seiner persönlichen Erbauung“, führte Schuldig jovial aus.

Brat würzte die Eier und warf einen sehr langsamen, sehr gelangweilten und vor Skepsis nur so triefenden Blick zu Schuldig.
 

Währenddessen hatte sich Aya in aller Ruhe den zweiten Morgenmantel übergestreift, das Nest seiner Haare mit einem genervten Schnauben auf den Rücken geworfen und stand nun im Kücheneingang, betrachtete sich die beiden.

Das teuflische Duo in Aktion. Früher hatte er sie gehasst, jetzt mochte er sie... irgendwie. Also einen liebte er, den anderen... nun... er akzeptierte Crawford in seiner Nähe, so konnte man es wohl ausdrücken.

„Das mit der persönlichen Erbauung stammt nicht von mir.“
 

„Natürlich nicht“, meinte Brad eindeutig spöttisch und kümmerte sich um den Speck.
 

„Ich weiß, dass er lügt. Er ist so schlecht darin, du glaubst es nicht wenn du es nicht selbst erlebt hast.“ Schuldig machte eine theatralische Handbewegung und das Wörtchen „schlecht“ wurde wirklich sehr betont.

„Er wird nie so gut werden wie du, Schuldig, das wissen wir alle.“ Brad blickte Schuldig nicht an und dieser zog unbemerkt von dieser Tat seine Lippen zu einer kleinen Schnute zusammen.

„Das will ich doch hoffen.“
 

„Wenn ihr schon über mich sprecht, als wenn ich nicht anwesend wäre, könnt ihr mir auch einen Kaffee machen“, mischte sich Aya in das Gespräch ein und ließ sich am Tisch nieder, beobachtete beide mit dunklem Blick.
 

Schuldig wandte sich halb um, seine Unterarme lösten sich von der Arbeitsfläche und er lehnte sich an selbige an, die Hände nach hinten auf die Kante aufgestützt.

Für einige Momente beobachtete er Ran, wie diese dunkle Gewitterwolke in ihren zerzausten Haaren dort saß und ihn mit beginnender Entladung Blitze zuwarf.

Er hatte sie vermisst… seine Gewitterwolke.

Nach dieser Erkenntnis ging er hinüber, schaltete das Radio ein. Er füllte Wasser in den Kaffeevollautomaten, startete den Mahlvorgang und zauberte Ran seinen Gutelaunekaffee.
 

Und langsam, aber auch ganz langsam, jedoch immer noch mit starr zusammengepressten Lippen, verzog sich eben diese Gewitterwolke und wurde freundlicher. Sie war zwar immer noch wolkig, aber weißwolkig, nicht mehr dunkel und bedrohend.

Aya taxierte die beiden mit sezierendem Blick, beobachtete Crawford beim Frühstück machen – einer sehr häusliche Tätigkeit – und Schuldig beim... Beobachten. Mal ihn, mal Crawford...

Aya zog ein Bein zu sich auf den Stuhl und stellte die Tasse auf das Knie.

„Wie ist es gelaufen in Amerika?“
 

„Gut. Die Clubs, die ich dort getestet habe, spielten gute Musik, nette Bars, nette Mädels und so…“, Schuldig setzte sich Ran gegenüber und feixte ihn an. Es kam ihm länger als vier Tage vor, dass sie getrennt waren und er konnte seine Augen kaum vom anderen lassen. Es war alles noch genauso wie er ihn verlassen hatte.

„Schade, dass Nagi nicht dabei war, wir hätten in Vegas ziemlich was reißen können“, missmutig rührte Schuldig in seinem eigenen Kaffee herum.
 

„Du warst in Vegas?“, kam es von Brad, der ihm einen eisigen Blick zuwarf, als er Ran seine Portion Eier mit Speck auf den Teller gab.

„Das war unplanmäßig.“

Schuldig fühlte sich in Erklärungsnot. Eigentlich hatte er es nicht erwähnen wollen, aber jetzt war es ihm so herausgerutscht.

„Wenn ich schon mal drüben war, dachte ich mir…“

„…dachtest du dir, du könntest ins Bellagio reinschneien und mal nach dem Rechten sehen. Hast du gespielt?“, fragte Brad und seine Laune sank um ein paar Grade.

„Nein, hab ich nicht“, murmelte Schuldig. „Zu auffällig. Hältst du mich für so verantwortungslos?“

„Du willst keine Antwort darauf?“ Brad stellte die Pfanne auf den Herd zurück und verließ die Küche. Er brauchte die Morgenzeitung noch für sein perfektes Frühstück.
 

„Vegas... und was wolltest du da? Das ist eine Stadt mitten in der Wüste mit lauter Casinos.“ Ayas Stimme enthielt kaum bezähmten Unwillen, die für ihn als Japaner nur natürlich war. Zumindest für ihn als eher traditionellen Japaner.

„Es ist bunt und künstlich...“ Er rümpfte die Nase. „Gefällt dir das?“
 

„Findest du Tokyo weniger bunt und künstlich?“ Schuldig begann zu essen. „Vom Lichterzirkus finde ich die beiden fast gleichauf“, meinte er trocken und zuckte die Schultern.

„Die Menschen dort sind… naja interessant für mich. Ich langweilte mich und brauchte etwas Abwechslung.“
 

„Deswegen liebe ich das Haus, das auf so mysteriöse Weise in meinen Besitz gelangt ist und so gar nichts mit der Großstadt zu tun hat“, schmunzelte Aya und nahm einen großen Schluck schwarzen Kaffees.

„Du hast wohl einen reichen Gönner“, Schuldig lächelte anzüglich, kam aber dann auf Rans Frage zurück.

Reicher Gönner? Er würde Schuldig gleich sonst was seinen reichen Gönnerarsch hochschieben.

Auch Aya fand einen Teller vor sich und bediente sich am Toast. Fast wie in alten Zeiten, befand er, als er noch die Frühschicht im Koneko hatte und der erste war, der im Dunkeln aufgestanden war.

„Was findest du an ihnen interessant?“

„Wie sie ticken. Es gibt wenige Orte auf der Welt wo so viele Gefühle, Begierden, Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen und all der negative Kram zusammen kommen.“
 

„Und das hat dich natürlich angezogen wie die Motto das Licht. Dadurch hast du den Auftrag gefährdet und dich selbst...“ Aya runzelte streng die Stirn.

„Ich sag das nicht gerne, aber ich muss Crawford zustimmen, wenn er das nicht gut heißt.“ Hinter diesem Gestrengen loderte jedoch etwas Teuflisches, das nur darauf wartete, Schuldig seine aus Langeweile geborenen Flausen auszutreiben, während eine andere Seite in Aya sehr gut den Drang des Telepathen verstand, sich mit seiner Gabe in ein Schlaraffenland zu begeben.

„Gar nichts habe ich gefährdet“, verteidigte sich Schuldig etwas lahm.

„Das was wir wissen wollten habe ich erfahren. Und bevor jemand zu viel Wind von mir bekommen hätte, habe ich mich verzogen.“

„Und das nach Vegas, wo an jeder Ecke mindestens zwei Kameras hängen“, kam Brad samt Zeitung wieder herein und strebte den Kaffeeautomaten an um sich sein morgendliches Lebenselixier zu brauen.
 

„Ich habe mich davon ferngehalten, okay?“
 

Brad antwortete nichts, aber er würde Schuldig den Ungehorsam bald austreiben, auf die eine oder andere Art.

Bei diesem Gedanken entspannten sich seine Gesichtszüge wieder etwas.
 

„Man könnte meinen, du hättest das aus Langeweile getan. Hier wiederum könnte man meinen, dass du nicht ausgelastet bist. Was wiederum daran liegen könnte, dass du nicht richtig ausgelastet wirst.“ Ayas Blick bohrte sich in Schuldigs und er lächelte leicht. Gerade so leicht, dass das vorher latent teuflische nun die Oberhand gewann und Schuldig eine sehr gestrenge Hand versprach.
 

„Ich übernachte heute… glaube ich“, er blickte Brad an, dessen Miene ähnliches versprach wie Rans. „… wo anders. Vielleicht hat Kudou noch ein Plätzchen für mich übrig. Vor dem bin ich wenigstens sicher“, fügte er murrend an und begann sein bereits kalt werdendes Frühstück zu essen.

„Nein nein... du übernachtest heute schön bei...“ Aya stockte minimal, war sich nicht sicher, ob er es wirklich aussprechen sollte, eben weil es so ungewohnt klang. Doch nach der letzten Nacht hatte er nicht wirklich das Recht dazu, sich dieses Wort zu verneinen. „...uns. Nicht wahr?“ Sein Blick schweifte zu Crawford.

„Wenn er von Nagi zurück ist und mit ihm die noch ausstehenden Pläne bearbeitet hat, die seit Tagen darauf warten, dann kann er bei „uns“ übernachten.“ Das erinnerte Schuldig irgendwie an die Sache mit Aschenputtel, den Linsen und der Asche. Als hätte Brad ihm die Extraarbeit aufs Auge gedrückt um ihn zu bestrafen.

Seine Mundwinkel zogen sich für einen Moment zu einer geraden unwilligen Linie und kehrten dann in ihre Ausgangsposition zurück.

Wenn er den beiden heute Abend in die Hände fiel hätte er nichts mehr zu lachen. Irgendwie musste er beide etwas milder stimmen. Nur wie?
 

„Wie wäre es, wenn wir heute Abend bei uns essen? Ich schulde dir schließlich noch eine Revanche für deinen Auflauf gestern?“, schlug Aya vor. Außerdem musste er in Schuldigs und seine Wohnung zurückkehren, damit ihre Hausdame ihnen nicht wieder zürnte, wenn sie solange alleine war.

„Außerdem wird der müde Krieger hier Hunger haben, wenn der Jetlag erst einmal zuschlägt. Nicht wahr?“ Seine Hand stahl sich zu Schuldig und drückte dessen kurz, bevor er wieder zu seinem Frühstück zurückkehrte.

Schuldig kniff leicht die Augen zusammen als hätte er eine Verschwörung aufgedeckt. So war das also: Ran spielte den Unschuldsengel und wollte ihn einlullen und nett zu ihm sein und dann…; im Bett würde er den Supermacho raushängen lassen.
 

Während Schuldig sich, in seinen düsteren Theorien, was seine nahe Zukunft betraf erging, hörte er nicht, wie Brad die Einladung annahm.

„Wir müssen die Daten auswerten. Es wäre sinnvoll in ein paar Tagen ein Treffen zu vereinbaren. Gegebenenfalls Manx noch dazu zu holen wäre nicht ganz abwegig“, meinte er nachdenklich.

„Sie könnte etwas über den momentanen Aufenthalt der Sondereinheit hier wissen.“

Aya nickte. „Es wäre sogar notwendig. Sie weiß ganz sicher etwas über die CIA. Glaubst du, es besteht eine Verbindung zwischen den Angriffen und der CIA? Sie könnten dafür verantwortlich sein, falls sie Interesse daran haben, Kritiker zu zerstören. Die Frage ist, warum jetzt?“

„Kritiker zerstören? Der CIA?“, hörte sich in Brads Ohren wirklich sehr unglaubwürdig an. „Wozu?“, fragte Brad beiläufig und blätterte eine Seite der Zeitung um.
 

„Und wenn ich zu müde bin?“, fragte Schuldig aus heiterem Himmel und blickte nach einem Moment auf, da offenbar weder Brad noch Ran etwas erwiderten.
 

Brad knickte die Zeitung um und blickte Schuldig indigniert an.
 

„Wa~as?“, fragte Schuldig. „Sind wir mit dem Abends-Essen-Thema schon durch?“
 

Auch Aya sah irritiert auf und wusste zunächst nichts mit Schuldigs Worten anzufangen.

„Kaum, Schuldig... kaum... vielleicht erst seit einer Stunde. Bist du sicher, dass du noch lange aufbleiben willst?“

Auch wenn es hier gutgemeinter Spott war, der Ayas Worte tränkte, so schlich sich doch auch ehrliche Sorge darunter.
 

„Ich bin nicht müde“, sprachs im Brustton der Überzeugung.

Er hörte Zeitungsrascheln und Brad verschwand wieder hinter dem Papier. „Dann kannst du uns ja noch ein paar Stunden mit überdrehter guter Laune auf die Nerven gehen“, sagte Brad nebenbei und biss in seinen Toast.

Wenn Schuldig es genau bedachte war er schon seit über 46 Stunden wach. Aber das musste er niemandem auf die Nase binden. Am wenigsten Brad.

Vielleicht sollte er sich etwas ausruhen. Nur ein wenig.

„Ich wusste gar nicht, dass diese großen, dunklen Augenringe in Amerika jetzt Mode sind, Schuldig? Zumindest deinen Schlafzimmerblick kann man sehr sexy nennen.“ Aya lächelte und bröselte ein kleines Stückchen Brot von seinem Toast, warf es Schuldig an den Kopf.

„Das Bett oben ist noch warm, leg dich hin und schlaf dich erst einmal aus, was hältst du davon, müder Krieger?“
 

Schuldig hatte das Gefühl ziemlich lange für die Antwort zu brauchen. Schließlich erhob er sich und zuckte mit den Schultern. „Gut, wenn ihr unbedingt alleine sein wollt um euer amouröses Abenteuer fortzuführen, möchte ich nicht stören“, sagte er spielerisch eingeschnappt und verließ die Küche ohne die beiden noch eines Blickes zu würdigen.

Er musste jedoch zugeben, dass er sich ein wenig auf das Bett freute. Er liebte es den Geruch von Brad und Ran in der Nase zu haben. Er ging hinauf ins Badezimmer, ließ die Kleidungsstücke fallen dort wo er sie auszog. Dann streunte er nackt wie er jetzt war hinüber ins Schlafzimmer und warf sich aufs Bett, wälzte sich einmal in den Laken herum und erst dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus.
 

„Ist sicherlich der Jetlag“, brummte Aya und nahm sich das Zeitungsblatt, das Crawford abgelegt hatte. Der allgemeine Teil, nichts wirklich Neues, die üblichen Morde, die üblichen Wohltätigkeitsveranstaltungen...

„Was ist noch älter als die Zeitung von gestern? Die Zeitung von heute, die von einem Orakel gelesen wird“, warf er zu niemandem Bestimmtes in den Raum und biss in seinen Toast, kaute recht müde auf dem Stück getoastetem Brot herum. Das war so typisch Schuldig, sie erst durcheinander bringen und sich dann verziehen.

Aya fühlte sich leicht... gerädert.

Brad lachte leise, was sich wie ein Schnauben anhörte und er klappte seine Zeitung zusammen um sie zur Seite zu legen, damit er essen konnte.

„Ich wusste gar nicht, dass du so kreativ bist.“ Brad hob eine Braue und begann damit in Windeseile sein Frühstück zu essen. Brad warf währenddessen interessierte unauffällige Blicke aus dem Fenster und somit in Richtung Ran. Er fragte sich wie lange der andere aushielt würde bevor er sich zu Schuldig gesellen würde.

„Ich auch nicht.“ Wirklich kreativ war das ja nun nicht gewesen.
 

Aya hat es nicht wirklich eilig, zu Schuldig zu kommen, da dieser sicherlich froh war, wenn er in Ruhe gelassen wurde. Zumindest würde Aya Schuldig im Moment für etwas anderes besuchen als dieser wollte...

Vor seinem inneren Auge liefen da so einige Fantasien ab, die nicht ganz jugendfrei waren. Ganz und gar nicht.

„Man könnte meinen, du hättest Angst, dass ich dir etwas weg esse, so schnell, wie du isst.“ Aya sah hoch und schmunzelte, hatte er die flinken Bewegungen des andere durchaus wahrgenommen.

„Es wird kalt. Und ich möchte die Zeitung weiter lesen.“ Er hätte es eher als zügig denn als schnell bezeichnet.
 

„Willst du da oben nicht nach dem Rechten sehen?“ Brad lehnte sich ein paar Minuten später mit seiner Tasse zurück und fischte sich wieder die Zeitung heran.

„Wer weiß ob er nicht in der Dusche oder in der Badewanne eingeschlafen ist.“

„Da zieht sich jemand aber ganz geschickt aus der Verantwortung. Gleiches Recht für alle, mein lieber Brad Crawford, auch du kannst durchaus nach oben gehen und dich vom Rechten überzeugen.“ Aya hob bedeutungsvoll eine Augenbraue und sein Blick drückte sehr viel Skepsis anhand der Faulheit des anderen aus.

Was nicht bedeutete, dass Aya das nicht auch gerne würde, doch, was er früher nie gedacht hätte, war er der Meinung, dass nicht nur er ein Recht auf Schuldig hätte oder ein Recht darauf, den anderen zu bemuttern.

„Das könnte ich. Doch es wäre ineffizient. Er wartet mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf dich, gemessen an der Häufigkeit der Momente in denen er dich beobachtet hat.“ Brad ließ sich von Rans haltlosen Argumenten nicht täuschen. Vermutlich wäre es weniger gesprächlastig und entspannter für seinen weiteren Morgen wenn er den Japaner hochtrug, ihn ablud und die Zimmertür von außen absperrte. Für die nächsten Stunden.
 

„Du und deine Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Du weißt, dass es einen Faktor gibt, den jede Wahrscheinlichkeitsrechnung fürchtet: Schuldig selbst.“ Aya machte eine dramatische Pause und trank seinen Kaffee leer.

„Was ich damit sagen möchte ist, dass er dich genauso gerne sehen will wie mich auch, und wenn ich gehe, dann gehe ich nicht alleine. Oder willst du ihn etwa traurig machen?“ Nicht, dass es etwas zählen würde in der Rechnung des Brad Crawford.

„Das klingt selbst für dich an den Haaren herbei gezogen“, bemerkte Brad trocken. Und dabei rühmte sich Ran Schuldig zu kennen.

„Bewege deinen Hintern zu ihm hinauf. Du kannst ihm einen schönen Gruß von mir bestellen und ihn dann – wenn der tränenreiche Ausbruch kommen sollte – trösten. Auf die alt bewährte Art.“
 

Gerade weil Aya Schuldig kannte, hielt er es nicht für an den Haaren herbeigezogen. Schuldig sehnte sich nach Crawfords Stärke ebenso sehr wie nach seiner.

„Beweg deinen Hintern doch selbst rauf, du faules Stück“, kam es daher entsprechend indigniert zurück. Natürlich würde er zu Schuldig gehen, aber er würde dem Telepathen erst einmal einen kleinen Schlafvorsprung von... zwanzig Minuten lassen, bevor er über ihn herfiel.

„Hast du ihn denn wenigstens schon richtig begrüßt? Ich würde mal wetten, nein.“

„Wozu?“, fragte Brad und man konnte gut das Desinteresse an der Antwort heraushören, so abwesend klang diese Frage.

„Dafür, dass er mich im Schlaf überfallen hat, mir den Schlaf GERAUBT hat, und dann diesen Zirkus mitten in der Nacht veranstaltet… wie soll da deiner Meinung nach die Begrüßung ausfallen?“
 

„Man sollte nicht meinen, dass ihr mehr als Arbeitskollegen wärt, wenn man dich so sprechen hört. Das ist Schuldig, deswegen empfindest du mehr für ihn.“ Aya machte es Spaß, Crawford zu triezen und dessen Argumentation, die in seinen Augen etwas schwach war und nur auf dem verletzten Anführerstolz fußte – er hatte schließlich auch kein Theater veranstaltet, mitten in der Nacht aus dem Bett geholt zu werden - zu zerschießen. Und den anderen dazu zu bekommen, dass dieser mit ihm nach oben ging. Alles zum Wohle Schuldigs, der sicherlich auf sie beide wartete.

„Zumal, alter Mann, du wirst wohl mal mit zwei Stunden Schlaf weniger auskommen.“

„Du kannst dir die Zeit weiter damit vertreiben meine Multitaskingfähigkeiten zu testen in dem du mir ein Gespräch aufhalst und ich weiterhin Zeitung lese, oder du kannst dieses unsinnige Unterfangen beenden und zu Schuldig hochgehen und dich zu ihm legen. Mit Sicherheit schläft er jetzt und wird deinen Avancen kaum Aufmerksamkeit zollen.“
 

„Wie du schon sagtest: mit Sicherheit schläft er jetzt und ich habe Zeit, mich zu ihm zu legen.“ Aya zuckte mit den Schultern und raffte die Zeitung wieder hoch. Ja, er würde zu Schuldig gehen, aber nicht jetzt. Er hatte noch sein Frühstück auf dem Teller und eine zweite Tasse Kaffee würde er auch noch trinken, bevor er sich bei Schuldig einkuschelte und vermutlich den Rest des Tages dort oben verbringen würde.

Nein, er würde sich nicht hetzen, denn er musste stark bleiben. Auch im Sinne der Angstbekämpfung, der Bewältigung der Trennungsangst.

Das Telefon klingelte und Brad erhob sich.

„Wie du meinst“, fügte er abschließend dazu und ging hinaus in den großen Eingangsbereich.
 

Nein, Aya musste nicht das letzte Wort haben. Deswegen schwieg er auch jetzt und ließ den Amerikaner machen, wie er wollte, bevor er sein Frühstück beendete, noch kurz den Rest der Zeitung überflog und sich dann auf den Weg nach oben machte. Alleine.

Leise schob er die Zimmertür beiseite und trat in den Raum, schob sie dann wieder hinter sich zu.

Da lag er, der unschuldige Telepath und schlief, als könne ihn kein Wässerchen trüben, seinen Hintern halb unter der Decke hervor stibitzend. Aya könnte Schuldig stundenlang ansehen.

Während Brad in die Küche zurückkehrte und damit begann die herrenlos zurückgelassenen Geschirrteile in den Spüler zu räumen, schlief Schuldig den Schlaf der Gerechten. Er war ziemlich schnell eingeschlafen.
 

Was sich Aya zunutze machte, als er sich zu Schuldig auf das Bett legte, jedoch vorsichtig, damit er den anderen nicht aufweckte.

Sein Gesicht war dem des Telepathen zugewandt und er musste über den entspannten Gesichtsausdruck lächeln. Ebenso, über den kleinen Speichelfaden, der das Kissen benetzte.

Das war Entspannung in Reinform.
 

Brad kam tatsächlich nach oben, allerdings wäre es ihm im Traum nicht eingefallen ins Schlafzimmer zurückzukehren, sondern er ging direkt ins Badezimmer um sich zu duschen.

Kommentarlos hob er die zerstreut auf dem Boden liegenden Kleidungsstücke auf und legte sie über den Kleiderständer. Während er sich damit beschäftigte Rasierschaum auf die Stellen, die es nötig hatten, aufzutragen, dachte er an das Gespräch zwischen ihm und Ran in der vergangenen Nacht zurück. Was für verworrene Gedankengänge der Japaner hatte war ihm teils schon ein großes Rätsel. Was die Tendenz betraf Schuldig als Top-Nervensäge zu übertreffen hatte er heute einen grandiosen Vorsprung errungen.

Diese Fragerei bezüglich Schuldig und ihm war hart am Limit zu einem echten Ärgernis zu werden…
 

Eben jenes Ärgernis war nun ganz friedlich, als es neben Schuldig lag und ihm langsam über die ausgestreckten Haarsträhnen strich, während ihm die Idee kam, sich zu rächen. Für diesen impertinenten Überfall zu rächen.

Natürlich auf noch gemeinere Art und Weise.

Das gefiel Aya, sehr gut sogar.

Sanft zog er das Laken von Schuldigs Hinterteil und strich mit seiner Hand über die festen Rundungen, spitzte zwischen sie.
 

Schuldig spürte die Berührungen und da er noch nicht lange schlief driftete er auch schon bald wieder in einen halbduseligen Zustand. Er zog sich das Laken höher und kippte sich selbst mehr auf den Bauch. Da er sehr müde gewesen war – entgegen seiner fadenscheinigen Argumentation – dachte er nicht daran gänzlich wach zu werden. Er seufzte lautlos und rieb seine Nase im Kissen.

Perfekt.

Auch wenn Schuldig ihm schon fast Leid tat ob dessen, was er nun vorhatte, so beschlich Aya doch ein vorfreudiges Grinsen, als er sich weiter über sein Zackelschaf beugte und langsam, bedächtig das Laken hinunterzog, sodass eine Pobacke freigelegt war. Nicht zu viel auf einmal, sonst würde er auffliegen...

Doch auch das spielte nun keine Rolle mehr, als er sich über Schuldig beugte und die besagte Pobacke mit seinen Zähnen bedachte, firm und zärtlich, jedoch durchaus fest!

Das brachte Schuldig dazu das „Übel“ wegstreichen zu wollen und seine Hand klatschte ungebremst gegen ein Hindernis als er in Richtung des störenden „Übels“ wollte. Schlussendlich murmelte er etwas von wegen „hundemüde“ und seine Stimme hörte sich ziemlich verschlafen an.
 

Autsch.

Aya war zurückgezuckt, als Schuldigs Hand auf seine Wange zugesaust gekommen war, doch nicht schnell genug. Nicht wirklich schnell genug, denn nun brannte es ziemlich in seiner linken Gesichtshälfte.

Sich nun – die allerletzte Geheimwaffe – auf Schuldig drauflegend der Länge nach, piekte er den anderen.

„Hey du Brutalo!“
 

Schuldig wischte sich zunächst übers Gesicht um zu sich zu kommen. Sein Herz jagte wie wild und er fühlte sich wie erschlagen. „Was?“, nuschelte er völlig neben sich und räusperte sich.

Aya ließ sich von Schuldig hinunterrollen und strich ihm über die wirren Haare.

„Ich habe Order vom großen Meister, dir Gesellschaft zu leisten.“ Er lächelte und schmatzte Schuldig auf die Lippen.
 

Die Augen noch geschlossen haltend, blinzelte Schuldig und rieb sie sich einmal bevor er wirklich sagen konnte, dass sein Herz weniger raste und er sich wieder etwas normaler fühlte als eben.

„Du… willst damit sagen…, dass du nicht schuld bist mich so geweckt zu haben… sondern, dass Brad die alleinige Schuld trägt, weil er gesagt hat du sollst mir Gesellschaft leisten und du es so ausgelegt hast –praktischerweise – mich aufzuwecken.“ Er sah sich um. „Wie spät ist es eigentlich? Hab ich lange geschlafen? Ich fühl mich wie gerädert.“

„Wie lange? Genau eine Stunde... und es ist genau sechs Uhr morgens.“ Aya legte sich neben Schuldig auf die Matratze und betrachtete sich den anderen Mann.

„Ja, will ich sagen. Er war schuld, er hats befohlen.“ Nicht, dass er die Befehle des anderen annehmen würde.
 

„Wie ich bereits sagte… du bist ein schlechter Lügner, Ran“, Schuldig lachte mit verschlafener und rauer Stimme und lächelte breit.

Als wenn Schuldig das in seinem Zustand noch beurteilen könnte, maulte Aya innerlich über diese infame Unterstellung.

Schuldig lag auf dem Rücken und blickte gen Decke. „Ich bin trotzdem noch müde.“

„Dann solltest du schlafen“, kam es mit teuflischer Zufriedenheit in der Stimme von Aya und er kuschelte sich an Schuldig.

„Um mir das zu sagen hast du mich geweckt? Rieche ich hier den rauchig kalten Duft der Rache, mein Lieber?“, murrte Schuldig und hatte bereits die Augen wieder geschlossen.

„Vielleicht sollte ich dir erzählen was ich alles in Vegas „getrieben“ habe um mich zurückzurächen“, sagte er spitz und konterkarierte die vermeintlich böse verbale Retourkutsche mit einem Gähnen. Nur um sich samt Ran in die Decke einzukuscheln.
 

„Du? Getrieben? Sicherlich.“ Ayas Augenbraue war hoch erhoben, als er sich bereitwillig von Schuldig einkuscheln ließ, selbst an der Grenze zur Müdigkeit.

„Mein Lieber, eher würde Youji die Finger von sämtlichen Frauen und Männern lassen, als wenn du dich in Vegas fremdvergnügen und es mir nachher noch unter die Nase reiben würdest.“ Amüsement tränkte seine Stimme und er hauchte Schuldig einen Kuss auf die Stirn.

Diese gar für Schuldigs Ohren niederschmetternde Antwort ließ ihn sein Gesicht leidend verziehen und seine Mundwinkel schmollend schürzen. „Was soll das denn heißen? Willst du damit sagen, du wärst überhaupt nicht eifersüchtig auf die Heerscharen von Frauen und Männern, die mich haben wollten und um meine Gunst buhlten? Heißt das also, du bist dir meiner SO sicher?“
 

Aya sah verwundert auf Schuldig.

„Ja natürlich“, kam es vermutlich NOCH entmutigender von seinen Lippen. „Außerdem war ich eifersüchtig, du weißt genau, auf wen und du kannst dich ebenso genau auf deine Reaktion darauf erinnern. Warum sollte ich mir nun Sorgen um unbekannte Männer und Frauen machen?“ Seine Stirn hatte sich in tiefe Furchen gelegt und Aya hatte sich mittlerweile auf einen Arm hochgestemmt.

„Hmm“, machte Schuldig und war erst einmal ruhig und vor allem ein bisschen eingeschüchtert. Brad zählte bei dieser Rechnung irgendwie nicht viel, befand er. Denn Brad … „…der zählt doch nicht“, murmelte Schuldig.

„Bei ihm ist es anders als bei dir.“ Schuldig rieb sich übers Gesicht und nahm die Arme unter den Kopf um sie dort zu verschränken.
 

Ayas Gesicht war ein ganz großes Fragezeichen. „Was soll denn da anders sein? Eifersucht ist Eifersucht, ob nun ihm gegenüber oder dir. Und du hast mir gezeigt, dass ich keinen Grund zur Eifersucht habe, nicht nur bei ihm, sondern auch bei allen anderen. Oder machst du da Unterschiede?“ Amüsierter Unglaube schlich sich in Ayas Worte.

„Klar mach ich Unterschiede. Ich mach immer Unterschiede!“, entrüstete sich Schuldig. „Ich kann doch nicht jeden gleich behandeln.“ Schuldig kaute auf der Innenseite seiner Unterlippe herum und betrachtete sich die entfernte Decke des Raumes.

„Die Sache mit Brad habe ich nur wegen deiner… sagen wir Erlaubnis. Wobei… es da ja noch nicht viel gibt. Würde ich jetzt mit jemandem in den Staaten rummachen, hätte ich folglich keine Erlaubnis also könntest du rein hypothetisch ja wohl den Anstand haben und gefälligst wenigstens ein bisschen Eifersucht zeigen.“

Das war schon frustrierend. Jetzt war der eigene Freund noch nicht einmal mehr eifersüchtig. „Ich steh wohl schon zu stark unterm Pantoffel“, sinnierte Schuldig und dachte bereits darüber nach wie er diesen Umstand rückgängig machen konnte. Seine Augen schmälerten sich…

Aya sah diesen Gedankengang genau... dazu musste er noch nicht einmal über telepathische Kräfte verfügen.
 

„Tust du das? Dann steht, jeder, der in einer Beziehung treu ist, unter dem Pantoffel, unter anderem auch ich. Es scheint mir fast, als wäre nur Eifersucht ein für dich schlüssiges Kriterium für Liebe.“ Dafür, dass sie beide eigentlich müde waren, waren ihre Diskussionen schon nahe am Philosophischen.

Schuldig hob eine Braue. „Sagte ich das?“

„Direkt nicht, nein. Deswegen sagte ich ja auch, dass es mir fast so scheint“, entgegnete Aya. „Ich will es aber nicht hoffen“, fügte er schließlich mit einem Lachen hinzu.

„Es war eher ein grundlegender Gedanke. Wenn man sich einer Sache so sicher ist, oder zu sicher ist, schätzt man sie dann auch oder nimmt man sie als gegeben hin mit der Zeit? Beispielsweise unsere Sicherheit. Wir haben unsere Sicherheitsmaßnahmen als ausreichend empfunden und offenbar hat sich eine gewisse Geruhsamkeit und dadurch Schlampigkeit bei uns eingestellt. Wir haben unsere Sicherheit nicht mehr so geschätzt wie früher, sonst hätten wir mehr dafür getan. Oder sehe ich da etwas falsch?“
 

„Du vergleichst gerade unsere Sicherheit und die Maßnahmen, die wir und ihr getroffen oder nicht getroffen habt, mit meiner Liebe zu dir?“ Ein wenig Empörung war schon in Ayas Stimme, als er Schuldig gleichzeitig versöhnlich über das Gesicht strich.

„Das kannst du nicht vergleichen, denn mir wird nie langweilig mit dir und bei uns wird sich nie Gewohnheit einschleichen. Dazu muss man bei dir einfach zu sehr darauf achten, dass du keine Idee bekommst, die deine Umgebung in komplettes Chaos stürzt.“ Diese Aussage war einen Kuss wert, befand Aya und der Chaot bekam einen kleinen auf den Haarschopf.

„Ja, wir waren alle schlampig, was unsere Verteidigung angeht. Und nein, wir werden nie schlampig, was unsere Beziehung angeht.“
 

„Wir haben noch nicht einmal das erste Jahr vollendet und du sprichst schon von Schlamperei in unserer Beziehung?“, entrüstete sich Schuldig gespielt und zog eine Schnute. Vielleicht konnte er mit diesem Gesichtsausdruck noch ein paar Streicheleinheiten und Küsse abfassen.

Dachte Schuldig. Irrte sich aber... gewaltig. Unglauben stand in seinen Augen, als er Schuldig dabei beobachtete, wie dieser eine Schnute zog.

„Schlamperei“, murrte auch er nun und ließ sich auf den Rücken fallen, verschränkte die Arme. „Als ob.“ Er tat für Schuldig mehr, als er jemals in einer anderen Beziehung getan hatte... zumal er es mit Schuldig zum ersten Mal richtig ernst meinte.

Als wenn er da schlampig gewesen wäre!
 

„Hee!“, entrüstete sich nun Schuldig aufgrund der erhofften, aber ausgebliebenen Liebkosung. Er blickte hinunter zu Ran und ein schelmisches Lächeln begann sich seine Mundwinkel entlang zu hangeln.

„Du meinst wir waren sehr akribisch und haben alles richtig gemacht?“, fragte er scheinheilig, sich auf die Seite drehend. Der Finger seiner rechten Hand strich kosend über Rans Wange. Er hatte das Gefühl, dass er sich immer noch nicht an diesem störrischen Japaner satt gesehen hatte. Irgendwann musste sich doch eine Art Sättigungsgefühl einstellen… oder? Momentan jedoch verspürte er eher Heißhunger.
 

Eine Weile lang – zwei Sekunden – ignorierte Aya Schuldigs Berührung, dann kam sein Blick langsam zu dem Telep... hungrigen Wolf, der ihn gierig anstarrte. Überrascht von dem Blick weiteten sich seine eigenen Augen für einen Moment lang, doch dann musste auch er lächeln.

„Nein, das ganz sicher nicht. Aber wir haben das Beste aus der Ausgangssituation gemacht, was wir hätten machen können und darauf sollten wir stolz sein.“

Seine Finger haschten nach Schuldigs und bedachten diese mit einem sanften Kuss, bevor er in den Zeigefinger biss.

„Hungrig?“ Schuldig zupfte spielerisch an seinem Finger, der immer noch ein Gefangener der japanischen Beisserchen und ihres Herrchens war.

„Hat Brad dich etwa nicht ausreichend… bedient? Mit seinen Künsten… Kochkünsten?“, stellte er klar, nicht, dass Ran hier etwas missverstand.
 

„Mit seinen Kochkünsten schon...“, konnte es Aya sich nicht nehmen lassen, Schuldig nun seinerseits herauszufordern. Widerwillig ließ er die Finger des anderen gehen und seufzte schwer. Sehr schwer dafür, dass Crawford und er nur eines getan hatten: zusammen geschlafen. Und zwar nebeneinander und nicht miteinander.

„Was ist los?“, reagierte Schuldig auf das Seufzen, beugte sich hinunter und küsste Rans Ohrmuschel, die wie er wusste für den anderen eine empfindliche Region war.

„Du hast mir gefehlt!“, kam es schließlich zurück und Ran schloss die Augen, wohlig schaudernd.
 

Schuldig lachte leise an Rans Ohr wohlweislich denn Ran schauderte stets wohlig wenn er dies tat. „Du meinst die Enthaltsamkeit vor der Abreise war nicht gerade förderlich für dein Allgemeinbefinden?“

Seine Hand strich über den Stoff von Rans Shirt, blieb in Höhe des Bundes liegen.

Aya verfolgte den Weg der Hand und sein Blick drückte durchaus Skepsis aus.

„Gerade warst du noch müde... wie ich dich kenne, hörst du gemeinerweise mittendrin auf. Und nein, so sexbesessen bin ich nicht, aber schön wär‘s trotzdem!“

„So sexbesessen bist du nicht? Aber du schließt auf das unschuldige Daliegen meiner Hand auf deinem Bauch darauf, dass ich dich flachlegen möchte?“ Schuldig spitzte die Lippen und verengte besserwisserisch die Augen. „Ich finde, da könnte der eine oder andere durchaus von Sexbesessenheit sprechen.“
 

Er wurde hier verarscht, allen Ernstes verarscht.

Aya hob eine Augenbraue.

„Nun, ICH sprach ja von Sexbesessenheit im Vergleich zu dir. Und an deine reiche ich nicht heran.“ Wohlig räkelte er sich und grinste unverschämt.

Schuldigs Hand blieb an ihrem Platz, nur legte Schuldig sein Haupt auf Rans Brust. „Stimmt. Da ist was dran. Deshalb übe ich mich heute in Enthaltsamkeit. Vielleicht sollte ich eine Entzugsklinik besuchen. Ein rascher kalter Entzug“, sinnierte er.

Ohne Ran und ohne Sex. Das war der Tod.

Das wusste auch Aya und man sah es in seinen Augen.

Doch er bettete seinen Kopf auf Schuldigs und zog den Telepathen näher. „Mein deutsches Zackelschaf“, murmelte er zufrieden und grollte besitzergreifend. Schuldig war seiner. Seiner ganz alleine, durchzuckte es ihn plötzlich.

Schuldig ließ sich ziehen und ließ die Lider träge zur Hälfte hinab gleiten.

Ran sollte ihn nicht mehr loslassen wenn es nach Schuldig ging.

Seine Hand schlich sich unter Rans Shirt und er ließ sie flach dort liegen. Er legte sich gemütlich hin und driftete langsam wieder in einen erholsamen Schlummer.
 


 

o ~
 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Coco & Gadreel
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Die Weiblichkeit der Sünde

~ Die Weiblichkeit der Sünde ~
 


 


 

Dieses Ritual wurde zum Zwecke der Huldigung an die Maßlosigkeit vollführt. Das Problem an diesem teuflischen Akt war, dass er auf seine Kosten ging. Wieder einmal.

Was blieb ihm anderes als demütig zu ihr aufzusehen, nachdem sie selbiges von ihm einforderte? Wenn sie so weiter machte würde sie sich seinen Hass zuziehen und die Letzte, der das passiert war, hatte schlussendlich der Tod auf dem kalten Betonboden einer Lagerhalle ereilt. Zugegeben es war ein glücklicher Umstand gewesen, der ihm dieses Problem genommen hatte.
 

„Deine Hände. Sie liegen nicht parallel. Empfindest du dies, als korrekte Umsetzung von dem was ich von dir fordere?“, säuselte ihre mädchenhafte, von ihr inszeniert lockende Stimme an sein Ohr.

Er verschob die linke Hand auf dem Boden einen Zentimeter weiter zu sich her, sodass seine Fingerspitzen eine ungefähre, gedachte Linie bildeten.

„Die heutige Lektion…“, sie richtete sich mit diesen Worten auf und er erlaubte sich einen tieferen gelösteren Atemzug als die, die bisher seine Lungen mit Luft versorgt hatten als sie noch in seiner unmittelbaren Nähe gelauert hatte. Denn nichts anderes tat sie. Sie lauerte darauf, dass er einen Fehler machte. Um diesen dann hart zu bestrafen.
 

„…widmet sich der Behandlung deines Narzissmus. Deiner übersteigerten Selbstliebe.“ Sie ging um ihn herum, setzte sich auf den kniehohen Hocker, der ihm, in den letzten Zusammenkünften, als Sitzgelegenheit gedient hatte. Doch offenbar war ihm heute selbst das nicht gegönnt.

„Du gibst doch zu, dass du ein Narziss bist, oder?“

In seinem Kopf dröhnte es. Er hatte den Blick wieder auf die Dielen gerichtet. Er hatte keine Angst. Und wenn sie ihm nicht das gab wonach er sich sehnte, was er brauchte, würde er nie wieder Angst verspüren müssen. Nie wieder. Und dieser Gedanke brachte ihn fast um. Er förderte grüne Flüssigkeit in seiner Speiseröhre nach oben, hinein in den Rachen, in dem er die bittere Galle schmeckte, die sein ganzes Bewusstsein für Sekunden auszufüllen schien, als er mit aller Selbstbeherrschung, die ihm heute noch zur Verfügung stand zurückdrängte was ihn zu überfallen drohte.
 

Es war still zwischen ihnen und er wusste nachdem ihm dieser Umstand aufgefallen war nicht sofort warum dies so war. Sie wartete. Auf ihn. Aber warum?

Die Frage. Sie hatte ihm eine Frage gestellt, überlegte er hektisch und Schweiß trat ihm auf die Stirn, die auf den Dielenbrettern sanft auflag.

„Ja.“
 

„Ja WAS?“ schrie sie ihn unvermittelt an und sein entblößter Oberkörper zuckte erschrocken zusammen. Er war heute zu sensibel für diesen Scheiß, schrie etwas in ihm als Entschuldigung vor sich selbst über diese Schreckhaftigkeit.

„Ja. Gula“, antwortete er entgegen seines Zorns, in seinem Inneren. Er fühlte jedoch, wie er es nach Wochen des Darbens immer differenzierter betrachtete was sie mit ihm veranstaltete. Ihm fiel auf, dass er nebst der neutralen Betrachtung der Situation – wie er hier halbnackt und hilflos vor ihr auf dem Holzboden kniete – panische Angst vor den Auswirkungen ihres Handels hatte. Er konnte diese Angst nicht abstellen. Sie wechselte sich mit Gleichgültigkeit ab und dieser Umstand machte ihm zu schaffen. Dieser extreme Wechsel machte ihm bewusst, dass er viel zu nahe am Abgrund stand und sie dafür verantwortlich war. Er brauchte das Serum.
 

„Wie schön, dass du dich noch erschrecken kannst. Das ist ein Zeichen. Findest du nicht? Ein Zeichen, dass du heute deine Ration noch nicht brauchst. Ich finde wir können durchaus noch ein, zwei Wochen damit warten.“

Er schloss nach Beherrschung ringend die Augen. Er fühlte, wie er zu zittern begann. Der bloße Gedanke daran, was in den nächsten Wochen passieren konnte, reichte aus um sein Inneres mit eisiger Kälte zu füllen.

„Denkst du daran, dass ich eine Schlampe bin und nicht verdient habe was du ihr zu geben hast? Deine Ängste, dein Hass, deine Lust? Zusammengefasst deine Gefühle?“
 

Er hörte, wie sie ihren Hocker weiter zu ihm herzog. Etwas kühles, Glattes landete auf seinem Rücken. Er wusste was es war. Ihre Peitsche. Und er wusste auch, dass sie hier keine sadomasochistischen Spielchen trieben. Das hier war bitterer Ernst. Es ging hier nicht um seine Lust. Hier ging es nur um ihre Macht über ihn. Um ihre Maßlosigkeit.
 

„Die einzige Schlampe hier im Raum bist du, mein Lieber. Aber das weißt du sicher. Du bietest dich jedem an, der dir nützlich sein kann. Das ist widerlich. Selbst vor dem Feind machst du nicht halt.“
 

Alles in ihm gefror. Dieser Satz fuhr ihm in die Eingeweide und wie glühender Stahl fühlte er fast körperlich den Schmerz, den diese Worte anrichteten. Sie wusste es?

Fieberhaft versuchte sein Gehirn herauszufinden, wo ihm ein Fehler unterlaufen sein könnte. Wirre Gedanken kamen ihm. Er könnte überlaufen. Und dann hätte er beinahe gelacht. Er wäre tot bevor er überhaupt einen derartigen Vorschlag an die Gegenseite richten könnte.
 

Verzweiflung machte sich in ihm breit und spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Er hatte sich an eine Hoffnung geklammert an… irgendetwas.

Er hob den Blick… den Blick auf den Ring, den er trug. Es war ein Knopf auf eine Stoffschlaufe genäht. Das ganze Arrangement war anschließend auf einen Holzring gespannt worden. Er hatte gesagt… dass die Kinder ihm das geschenkt hatten… den Knopf und das Stück Stoff… und er hatte – aus Respekt vor der kindlichen Geste - dieses Schmuckstück anfertigen lassen…
 

Aber wie so vieles in seinem beschissenen Leben war auch das gelogen.
 

Auch wenn er alles gut inszeniert hatte. Mit einer Bastelstunde für die Kinder.

Der Knopf stammte jedoch von einer silbergrauen europäischen Bettwäsche. Der Knopf eines Kopfkissens… das Stück Stoff… von einem bestimmten Kleidungsstück. Beide mochten für Unwissende unscheinbare Utensilien darstellen. Für ihn jedoch… ein Traum… der sich nie erfüllen würde. Sie standen für ein kurzes Glück…für Freiheit und für Sicherheit. Sie gaben ihm Kraft. Er trug sie nur an Tagen wie diesen. An Tagen an denen er, diese Kraft durch nichts anderes bekam, als durch das Stück Holz, welches mit dem Stoff bespannt war auf dem der kleine Knopf thronte.
 

Er hatte geschwiegen, doch er wusste, dass sie hier nur vorwärts kamen wenn er etwas sagte, das hatten ihn frühere „Sitzungen“ mit Gula gelehrt.

„Wovon sprichst du Gula?“, wagte er es unsicher zu fragen und der Hieb mit der Peitsche folgte kaum, dass die Frage einen fragenden Ton angenommen hatte. Er biss die Zähne zusammen und starrte auf den kleinen dunkelgrauen Knopf, der an seinem Ringfinger saß. Er wusste, wie viel er aushalten konnte. Und er wusste mittlerweile auch wann der Punkt kam an dem er zu betteln anfing. Und er wusste auch, dass sie dann nicht aufhören würde. Das hatte er alles bereits in Erfahrung gebracht.

Wie gut, dass man auf seinem Körper nie die Spuren ihrer Werke sah. Darauf achtete Gula mit Akribie. Sie wusste nämlich, dass Superbia ihr ansonsten so dermaßen in den Arsch treten und ihr die hübsche Fresse polieren würde, dass sie danach nicht mal mehr dessen Schwanz lutschen können würde. Was sie wirklich gerne tat. Regelmäßig und ausgiebig. Mit Erfolg.
 

Nach zweiundzwanzig Hieben fing er an unruhig zu werden. Nach vier weiteren ballte er die Hände zur Faust, bis sie ihm darauf auch einen verpasste und sie von ihm verlangte, dass er die Handflächen gefälligst auszustrecken hatte. Er starrte auf seinen Ring und sie verpasste ihm auf die Fingerspitzen einen Hieb, der ihn die Tränen in die Augen trieb.

Gerade in diesem Moment verfluchte er sein Leben. Verfluchte er was aus ihm geworden war und sehnte sich nach seinem Traum. Er hätte Schreien mögen. Nicht in erster Linie vor Schmerzen, sondern als er daran dachte, was er verloren hatte. Was er sich erlogen, gestohlen hatte und was ihm unverzeihbar für immer durch sich selbst genommen war.
 

Er war selbst schuld an seiner Lage. War nicht er es gewesen, der eine Entscheidung getroffen und die unvermeidbaren Konsequenzen daraus in Kauf genommen hatte? Doch was trafen Kinder schon für Entscheidungen? Seine hatte sein Leben zerstört. Sie hatte ihn in diese Knechtschaft gebracht, aus der ihm nur der Tod die Freiheit schenken würde. Oder ein verdammt guter Plan.
 

Er spürte, wie der Schweiß ihm die Oberschenkel befeuchtete, wie er in den Stoff seiner Hose sickerte, die sie ihn heute anbehalten lassen hatte. Offensichtlich hatte sie heute keine Zeit für Sex. Ihm sollte es Recht sein. Er brauchte nur seine Dosis.

„Wovon ich spreche?“, schrie sie ihn in einer kurzen Pause an und ihre Stimme schraubte sich in von ihm noch nicht gehörte Höhen. Und wenn er es genau bedachte - wozu er momentan genug Zeit hatte – fand er ihre Stimme ätzend in seinen Ohren, auch wenn seine halblangen Haare den Großteil des Gekreisches abhielten.

Er hörte wie sie erneut stehen blieb und die Peitsche auf dem Hocker landete. „Ich rede von deinem kleinen Treffen mit Asami. Was wolltest du bei ihm? Hast du ihm deinen kleinen Arsch zur Verfügung gestellt, du dreckige Schlampe?“
 

Das brachte das Fass tatsächlich zum Überlaufen. Und es lag eher an der Erleichterung, die er fühlte, denn der Sorge um sein Wohlergehen. Wie eine Sprungfeder schnellte er mit dem Oberkörper hoch und funkelte sie voller Hass an. „Ja, habe ich. Und? Geht dich mein Sexualleben irgendetwas an, Gula?“ Er hatte genug von diesem Theater.
 

Ihr zarter Rosenmund verzog sich zu einem überlegenen Lächeln. „Oh. Und ob es das tut“, flötete sie und sie beugte ihr Knie, bettete seinen Kopf an ihre Brust und schob ihre Finger der rechten Hand über seine Wange an seinen Hinterkopf. Sanft und Fürsorglich. Doch er wusste, dass sie noch etwas in der Hinterhand hatte und versteifte sich. Er wollte sich vollständig aufsetzen, sie bemerkte es und griff hart in seine Haare. Die Kopfhaut brannte und er schloss für einen Moment die Augen. „Schließlich möchte ich es dir richtig gut besorgen. Wohin soll das denn alles führen, wenn du bei mir keinen mehr hoch bekommst? Apropos besorgen…“

Sie stand schnell auf, gab ihn frei. Er verfolgte dies mit vorsichtigem Blick. Sie ging zu einem kleinen Koffer. Er quittierte das Öffnen mit einem genervten Augenrollen. In diesem Koffer bewahrte sie ihre Spielzeuge auf.
 

„Du bist ein Gesamtkunstwerk, auch wenn du eine Schlampe bist, aber du bist meine Schlampe. Vergiss das nicht.“ Ihre gönnerhaften Worte ließen ihn innerlich stöhnen. Was sie nicht sagte war, dass sie nicht die Einzige war, die an dem „Kunstwerk“ gearbeitet hatte.

„Das was du auf deinem Körper trägst ist ein Zeichen deines Versagens. Es bindet dich an uns. Du bist unser Werk.“

Ein Dreck war er. Er gehörte niemandem. Und er war mit Sicherheit nicht ihr Werk. Das würden sie alle noch früh genug erfahren.
 

„Mein Werk. Und ich finde, es ist noch nicht vollendet. Etwas stört mich. Ich finde…“, sie kam wieder zu ihm und blieb dicht vor ihm stehen, sodass seine Wange an ihrem Oberschenkel zum Aufliegen kam. Er wollte sein Gesicht abwenden, doch sie hielt ihn mit dem gleichen Griff wie zuvor schon in den Haaren fest. Und dann hörte er ein lautes Summen. „Wenn du nicht so eine falsche Schlange wärst, würde ich direkt Gefallen an dir finden. Aber dir ist nicht zu trauen. Selbst Asami würde dich nicht haben wollen. Ich frage mich…“

Er versuchte sich zu drehen, dass er sehen konnte welches ihrer bescheuerten Spielzeuge aus ihrem Sortiment für horizontale Spielweisen sie auserkoren hatte. Als hätte er nicht schon alles durch…

„…wer dich je wollen könnte.“ Seine Kopfhaut brannte. Er erhaschte einen Blick auf einen Scherkopf und kurz danach fühlte er die Kühle des Metalls an seiner Kopfhaut neben seinem Ohr an der Schläfe. „Hör auf damit!“
 

„Womit?“, fragte sie und fuhr einmal mit dem Scherkopf in einem Halbrund um sein Ohr in Richtung Hinterkopf. „Ich finde dich wesentlich attraktiver ohne deine Haarpracht. Superbia würde mir nur zustimmen. Es fällt wesentlich leichter dich zu bändigen und zur Räson zu bringen, wenn du ein wenig unterwürfiger, nackter aussiehst.“

„Du hast einen völligen Dachschaden, Gula!“, sagte er zornig und sie hatte alle Mühe ihn festzuhalten. „Ja. Vielleicht habe ich den. Aber ich weiß was du heute nicht hast… DU bekommst heute deine Dosis nicht.“ Sie rasierte eine zweite Bahn und er bekam plötzlich Panik. Er brauchte seine Haare. Es war Teil seines Kapitals. Er brauchte sein Aussehen…

„Lass mich… ich…“

Würde er tatsächlich auf seine Dosis verzichten können, um das zu retten…was… ja was? Er spürte wie seine Gegenwehr erlahmte. Er würde tatsächlich seine Dosis bevorzugen? Er gab sein Aussehen auf… für die Droge?

Seit wann stellte er den Erhalt seines Selbst über sein Kapital? Wann war das Geschehen?
 

Bevor sie eine dritte Bahn fahren konnte zuckten sie beide zusammen als die Tür aus den Angeln krachte und an ihnen vorbei segelte. Diese Chance sollte nicht ungenutzt vergehen und er stemmte sich gegen Gula, diese jedoch ließ sich von dem Hünen, der in der Tür stand und sie komplett ausfüllte nicht beeindrucken.
 

„Was willst du hier, Acedia?“ Sie rammte ihr Knie in den Oberbauch des Knienden und ihre behandschuhte Faust traf die linke Gesichtshälfte. Finn stöhnte auf und krümmte sich zusammen. Er wurde mit einem Fußtritt auf den Boden befördert, wo er liegen blieb. Ein Schauder durchzog ihn, als der Schmerz langsam nachließ und er keuchend die Lippen öffnete.

Blinzelnd kämpfte er sich auf die Hände und blickte nach oben. Acedia sah ganz und gar nicht glücklich aus. Sein ausdrucksloses Lächeln haftete jedoch nicht auf ihm sondern auf Gula.
 

„Dass du deinen Hintern hierher bequemt hast um dieses Stück Scheiße vor mir zu retten ist wirklich bemerkenswert.“ Ein leises spöttisches Lachen erklang als sie über den Liegenden hinweg trat. Mit einer schnellen Bewegung versuchte er ihr die Beine von den Füßen zu ziehen, was ihm aber misslang. Sie lachte erfreut und er blitzte sie böse an.

„Gula. Wo ist seine Dosis?“, hörte Finn die leidenschaftslose Stimme von der Tür her.

„Was geht es dich an?“, herrschte sie ihn an und ging zum Tisch am Ende des Raumes, wo ihr Koffer stand.

„Superbia schickt mich. Er ist drei Wochen überfällig. Du gefährdest den Plan, wenn ihm etwas geschieht.“

Gula drehte sich wütend um, korrigierte jedoch ihren Gesichtsausdruck und ein listiger Ausdruck veränderte das Minenspiel.
 

Finn kam nun in die Sitzende und wischte sich einen Speichelfaden von den Lippen. Sein Mund verzog sich bösartig, doch selbst das konnte dem Gesicht nicht seine andersartige Schönheit nehmen. Er verfolgte ihren Abgang, den sie einleitete, in dem sie eine Phiole auf den Tisch stellte und ihren Koffer aufnahm, mit Wachsamkeit.
 

„Hier, Schlampe. Das Serum… nur für dich. Nächstes Mal kommst du nicht so leicht davon.“ Seine Augen verharrten für eine Sekunde auf der gelblich schimmernden Flüssigkeit in der Phiole.

Während er zusah wie sie an ihm vorbeiging und aus seinem Augenwinkel verschwand kroch sein Blick wieder zur Phiole zurück. „Verpiss dich, Acedia“, hörte er sie wie aus weiter Ferne.
 

Die gelbliche Flüssigkeit gehörte jetzt Finn. „Du solltest das nächste Mal pünktlich zur Ausgabe erscheinen. Sie wird dir das nächste Mal weitaus mehr antun als lediglich deine Haare zu entfernen.“ Die Stimme kam näher und er spürte wie eine große Hand, die sich um seinen Oberarm schlang, ihn mühelos hochzog und er seine Beine unter den Körper bringen konnte. Schließlich stand er angelehnt an Acedia. Er riss sich vom Anblick der Phiole los und legte den Kopf in den Nacken um aufzusehen. Das ehrliche Lächeln, welches er verspürte tauchte auf seinem Gesicht auf, wie die Erscheinung der Jungfrau Maria. Acedia zeigte keine Gefühlsregung, behielt den gelangweilten Ausdruck auf seinem Gesicht.
 

„Ich war geschäftlich unterwegs. Er muss das Serum Gula gegeben haben.“

„Damit sie Spielchen mit dir treibt?“ Acedia wischte eine feuchte Spur salzigen Wassers über die hohen Wangenknochen fort, die der schmale Mann offenbar nicht bemerkt hatte.

„Um dich im Zaum zu halten? Um dich beschäftigt zu halten, damit du auf keine dummen Ideen kommst?“

„So ungefähr.“

„Wenn du so weiter machst, dann kommen sie noch auf die Idee, du seist gefährlich.“ Ein unzufriedenes Grunzen später, stand der schlanke Mann wieder sicherer auf seinen Beinen. Er hielt sich den Bauch, rieb vorsichtig darüber und ging hinüber zum Tisch. Seine Finger fanden die Phiole und hielten sie gegen das Licht. Schwäche und Machtlosigkeit… das war sein Leben und er sehnte sich nach etwas anderem. Er steckte die Phiole in seine Hosentasche.
 

„Das ist lächerlich. Ich bin der Schwächste von euch“, murrte er und drehte sich suchend um die eigene Achse. Als er gefunden hatte wonach er suchte machte er zwei Schritte in den Raum hinein und ging in die Hocke. Er nahm die Haare zusammen auf und bündelte sie so gut es ging.

„Körperlich gesehen. Sicher.“ Acedia ging zur Tür, während die losen Haare sorgfältig zwischen den feingliedrigen Fingern sortiert wurden.

„Aber wenn selbst Superbia Angst vor dir hat, solltest du deine Aktivitäten langsam auf ein erträgliches Niveau herunterschrauben, damit du nicht in sein Fadenkreuz gerätst. Er hat dir Gula nicht umsonst auf den Hals gehetzt. Und auch die Deutsche Hure nicht. Er will dich in Ketten sehen. Aber er muss dir Freilauf gewähren, was ihm nicht sonderlich schmeckt.“
 

Braune Augen blickten von ihrer Tätigkeit hoch und entdeckten nur mehr den leeren Türrahmen.

„Superbia… Angst?“ Ein geschmeicheltes Lächeln zirkelte um die Mundwinkel. „Vor mir?“ Das Lächeln wurde zu etwas was am besten mit Ironie zu beschreiben war.
 

Er wusste, dass er das was er am sehnlichsten wollte nicht haben konnte. Und wenn er es nicht haben konnte, dann sollte es keiner haben. Er würde die Welt in Schutt und Asche legen. .. und vermutlich dabei dieses Kleinod dabei zerstören. Für seinen Plan, brauchte er Sin. Und nicht nur das… er musste dafür weiter die Füße still halten. Auch wenn es ihm schwer fiel.

Sein Blick glitt zurück zu dem Bündel Haare in seiner Hand und fiel auf den Knopf an seinem Finger. Das Lächeln verblasste und die Lippen pressten sich vor Bitterkeit, die er empfand aufeinander. Er spürte den Schmerz, als wäre er körperlich und nicht nur in seinem Inneren.
 

Er hörte das Lachen von johlenden Kinderstimmen und seufzte. Etwas sagte ihm, dass sein Plan die Weltherrschaft an sich zu reißen von zartem Kindergekreische durchkreuzt werden würde. Er musste also die Kinder loswerden. Dringend.

Sich erhebend ging er hinüber zum Tisch und legte die Haare ab. Er fuhr sich mit den Fingern vorsichtig über die nun kahl rasierte Stelle. Sauber abrasiert.

Er zupfte aus seiner hintern Hosentasche einen Haargummi, drapierte seine Haare über die kahlen Stellen und band den Rest fest im Nacken zu einem Knoten zusammen. Danach sammelte er sein Unterhemd vom Boden auf, zog es sich über den Kopf und steckte es in die Hose. Es folgte der übergroße, weit ausgeschnittene Strickpullover, der ihm fast bis auf die Oberschenkel fiel und seine schlanke Silhouette betonte, anstatt sie zu kaschieren, wie von ihm beabsichtigt. Die geschnürten Stiefel, in denen seine Stiefelhose steckte überprüfte er auf guten Sitz, bevor er samt seiner Haare das Zimmer verließ. Er musste Kisho Bescheid geben, damit sie den Raum in den Ursprungszustand zurückversetzte, bevor noch der Hausherr Wind von der Unordnung bekam.
 

Die schwarz gekleidete Gestalt ging die Galerie entlang. Die schweren Stiefel berührten sanft die marmornen Fliesen, als sie die weitläufige große Haupttreppe hinunter schritten. Seine Sekretärin Rai kam aus den Empfangsräumen zur Linken, des großen Entre. Als sie ihn bemerkte, war er schon fast auf der untersten Stufe angekommen. Sie lächelte erfreut und verneigte sich dann. „Invidia-sama. Ich habe dich gesucht. Du sagtest, ich solle dich an den Zeitplan erinnern. Wir sind eine halbe Stunde überfällig.“ Sie steckte in einem hübschen dunkelblauen Kostüm, das sehr raffiniert geschnitten war. Alles an ihr war tadellos. Ihr Auftreten, ihre Zurückhaltung, ihre Kleidung, ihr Make-up, ihre Frisur. Er mochte sie.

„Ich bin aufgehalten worden“, sagte er leise und streckte seine Hand aus. Sie überreichte ihm einen digitalen Kalender in Padform. Die braunen Augen, die so dramatisch, mit schwarzem Lidschatten hervorgehoben waren richteten sich auf den Terminplan.
 

„Sakurakawa-sama wünscht eine Unterredung in einer Stunde. Und jetzt solltest du bereits im Labor sein.“

Finn gab ihr das Pad zurück. „Ich kann nicht. Geh und entschuldige mich. Es gibt momentan Wichtigeres. Sie sollen mit dem Separationsprozess ohne mich beginnen. Und richte ihnen aus, wenn sie den Zeitpunkt der Initiierung verpassen, werde ich persönlich, ihre Reihen ausdünnen.“ Sie nickte und verneigte sich erneut.

„Bring die Probandin ins Labor. Ich komme in einer halben Stunde für eine Visite nach unten.“

„Verstanden, Invidia-sama.“
 

Sie verließ ihn und er schlug den Weg ein, den sie zuvor gekommen war. Die Empfangshalle war leer. Er durchquerte sie und bog in einen schmalen Flur ab, der an den Gärten entlangführte. Zu einen Seite bot eine Glaswand den Blick in ein atemberaubendes Gartenpanorama. Der Flur öffnete sich in einen offenen Raum und am Ende standen zwei Bodyguards in „unauffälligen“ schwarzen Zwirn. Er stoppte und nickte dem kleineren der beiden zu.

„Kawa. Ist er noch in der Besprechung?“, fragte Finn.
 

„Ja. Invidia-sama. Sollen wir dich informieren, wenn sie beendet ist?“, fragte Kawa. Finn nickte und machte kehrt. Seine weichen Stiefel liebkosten den Holzboden, als er zurückkehrte und das Haupthaus an der großen Empfangstreppe über einen Zugang verließ. Sein Weg führte ihn über einen überdachten Kiesweg hinüber zu dem Bungalow, welchen er sein Refugium nennen durfte. Keiner hatte dort ohne besondere Gründe Zutritt. Ira hatte diese Regel gebrochen. Nun… Ira war Geschichte, aber Gula war die Gegenwart. Er hätte sich gerne selbst um das Problem gekümmert, doch sie brauchten Gula. Was der Grund war, warum er ihre Spielchen ertrug. Der Verlust von Ira war ohnehin schon schwer aufzuwiegen. Auch wenn er nicht verhehlen konnte, dass es beruhigend war, dass Ira das Zeitliche gesegnet hatte. Er war für ihn zur Gefahr geworden. Die Bilder, die auf seinem Nachtkästchen gelandet waren hatten ihm gar nicht geschmeckt. Er würde nicht mehr dahinter kommen, ob Ira von seinem Geheimnis erfahren hatte… es sei denn er hat es mit Gula geteilt. Dann würde er es früher oder später am eigenen Leib erfahren ob sie es wusste.
 

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel lehnte er sich für Augenblicke dagegen. Er tastete nach der Phiole in seiner Hose, zog sie hervor und barg sie in seiner Hand. Nach einem Moment der Unentschlossenheit löste er sich von dem Holz in seinem Rücken und ging in den Raum hinein. Es war nur ein einziger Raum, das Bett lag unter der Bodenfläche und er musste drei Stufen hinab gehen um zu seinem Bett zu kommen. Er setzte sich, legte das Bündel Haare sorgsam auf das Nachtkästchen, zog die Schublade auf und holte eine metallene Schatulle hervor. Er öffnete sie und stellte sie neben sich. Dann zog er einen Stauschlauch aus dem Kästchen. Er zog seinen Pullover aus, stülpte den Stauschlauch über seine Hand, hinauf bis über die Ellbeuge, zog den Schlauch oberhalb fest und arretierte ihn. Dann folgte die obligatorische Hautdesinfektion. Er machte die Hand zur Faust, wischte über die Stelle an der er Blut abnehmen wollte. Seine Venenverhältnisse waren nicht unbedingt vorzeigbar, doch er wusste welche Vene für seine Zwecke hervorragend geeignet war. Mit geübten Fingern griff er hinüber zur vorbereiteten Spritze und Nadel. Mit den Zähnen zog er die Schutzhülle der Nadel herunter und ließ sie fallen.

Er entnahm wenige Tropfen Blut, löste die Stauung wieder und klebte sich ein Pflaster auf den kleinen Einstich. Es waren nur wenige Milliliter Blut, die er entnommen hatte, doch sie reichten völlig aus. In einer automatischen Molekülspritze, deren Zylinder momentan noch leer war füllte er sein Blut ein, brach die Versiegelung der Phiole auf und füllte die gelbliche Flüssigkeit mittels eines Dorns ein. Sofort begann die Reaktion. Er verschloss die Spritze, schaltete die Vorrichtung ein, damit sich im Apparat Druck aufbauen konnte, während er durch das Sichtfenster die Reaktion des Serum beobachten konnte. Er schüttelte das Gemisch einmal.

Es stellte sich langsam eine Verfärbung ein. Nur minimal zu sehen, doch er war zufrieden. Er warf die Molekularspritze zur Seite auf den Pullover. Finn war ein High-tech-fan, auch wenn er das Meiste was er anfasste zu Schrott verarbeitete, oder schlichtweg falsch bediente. Deshalb lebte er auch in einem intelligenten Haus, wo er das Gewünschte lediglich laut äußern musste. Sobald jedoch ein Problem mit der Technik entstand fand er sich bei ihrem Haustechniker, Schrägstrich Informatiker wieder. Wenn er nicht derjenige gewesen wäre, der hier den einen oder anderen über die Klinge springen hatte lassen, bei diversen Zuwiderhandlungen dann wäre ihm wohl nicht jedes Mal bei unsinnigen Technikproblemen sofort geholfen worden.
 

„Computer. Dusche warm Stufe drei. Musik Auswahl zwei. Lautstärke fünf. Hermetische Abriegelung des Gebäudes.“ Beinahe sofort hörte er das sanfte Prasseln von Wasser gedämpft durch die Tür zum Badezimmer. Danach erklang das Trommeln des Schlagzeugers einer japanischen J-Rock Band, die den nötigen Krach verursachte, den er brauchte. Es war zu laut für seine Ohren.

Seine Finger tasteten nach seinem Puls. Desinfizierte die Stelle. Tastete erneut nach dem Puls noch auf feuchter Haut. Dieses Mal brauchte er keine Vene, sondern eine Arterie. Er nahm die Molekülspritze auf, besah sich die Konsistenz seines Blutes, welches wieder normal schien. Keine Verfärbung, die Viskosität schien in Ordnung. Der Schnelltest in der Spritze zeigte grünes Licht für die Applikation und für die Kompatibilität mit seinem Blut.
 

Finn zögerte einen Moment, setzte die Spritze an und die Applikation frei. Fast sofort schoss ein heißer brennender Schmerz von seinem Arm in seine Fingerspitzen, nur um dann zu verhallen. Er ließ die Molekülspritze fallen, drückte eine Kompresse auf die Einstichstelle und legte sich aufs Bett. Hastig kroch er noch etwas weiter hinauf und zog seine Beine in Erwartung dessen an sich, was bisher immer die Folge des Serums gewesen war.
 

Wie ein ihn überfallendes Monster kam Panik über ihn, überschwemmte sein ganzes Wesen und ließ ihn wimmernd zurück. Seine Augen brannten und in dem ganzen Irrsinn wurde ihm bewusst, dass es die Wimperntusche und der Kajal waren, die seine Tränen in ein Gemisch aus Feuer und Pech verwandelten. Schatten tauchten aus den Winkeln seines Blickfeldes auf und er schloss die Augen, als er das Gefühl hatte seine Brust würde zusammengedrückt. Als säße ein Elefant auf ihr. Er wollte Luft holen, doch es war ihm unmöglich. Sein Körper zitterte unkontrolliert, als er sich auf den Rücken zurückrollte und sein Oberkörper sich wand. Und dann… bekam er plötzlich andere Probleme, als simples Luft holen. Lichtblitze feuerten vor seinen geschlossenen Augen. Mit einem ‚Plopp‘ konnte er wieder atmen und ein roher heißerer Laut des Luftholens ging zwischen dem Rockgewitter aus dem Äther unter.
 

Er schrie als irrationale Angst und plötzlich überschäumendes Glück sich in aberwitziger Geschwindigkeit abwechselten. Seine Atmung war langsam, viel zu langsam, seine Augen standen nun offen, die Pupillen viel zu weit, als der Körper immer stiller wurde, die Arme und Beine ausgestreckt.

Zeit spielte nun keine Rolle mehr. Zeit verging bis zum nächsten Atemzug. Und es verging viel Zeit dazwischen. Und dann kamen Schmerzen. Stechende, blitzartige Schmerzen schossen in seinen Kopf, feuerten Kanonaden hinter seinen Augen ab und ließen ihn schreien. Er krampfte sich zu einer Kugel zusammen, seine Hände legten sich um seinen Kopf. Er wippte hin und her, bis die nächste Salve Schmerzen kam. Er wusste, dass der Schmerz nur in seinem Kopf war, dennoch hatte er das Gefühl sowohl Glieder als auch Rumpf würden ihm auseinandergerissen.
 

So ging es bis der nächste Song kam. Dann noch einer und noch einer. Zwanzig Minuten dauerte das Martyrium bis er Erleichterung verspürte. Zitternd nahm er seine Hände vom Kopf, wischte sich über das Gesicht und versuchte sich zu erden. Minutenlang blieb er still liegen, lauschte auf sein Inneres, wagte sich nicht zu bewegen, in der Angst, dass die Schmerzen wiederkommen würden, wenn er sich bewegte um sich aufzusetzen.

Irgendwann wurde es besser. Irgendwann fand er auch seine Stimme in dem Gekrächze wieder, das aus seiner Kehle kam. „Computer. Musik aus.“
 

Sofort verstummte der Lärm. Die ohrenbetäubende Stille, die einsetzte war, wie eine rauschende greifbare Welle in seinem Kopf. Sein Körper fühlte sich bleischwer an. Wie gern wäre er jetzt hier liegen geblieben, oder wahlweise auch an einem weißen Sandstrand unter Palmen. Er würde auch herunterfallende Kokosnüsse in Kauf nehmen, wenn er nur weit weg von hier gewesen wäre. Hier waren die Kokosnüsse, die auf ihn fielen, kleiner und bleihaltiger. Er nahm sich vor, zumindest Prospekte von solchen Reisezielen zu inspizieren. Wer wusste schon, wann er Tickets in eine solche Region nötig hatte?
 

Dieser Gedanke brachte ihn wieder hoch. Er setzte sich vorsichtig auf, lauernd ob nicht doch noch etwas weh tun konnte und entspannte sich erst als er saß und seine Füße den Boden berührten. Sein Unterhemd war feucht vom Schweiß und er zog es sich langsam über den Kopf. Er löste die Schnallen der Stiefel, die Schnürung war wesentlich schwieriger, da seine Hände immer noch viel zu zittrig waren. Nach den Stiefeln folgten die Hose und die Unterwäsche. Dann griff er sich seinen Bademantel, der am Fußende des Bettes bereit lag, schlüpfte in die weiche flauschige Welt von Frottee und machte sich auf in Richtung Badezimmer. Eine warme Dusche würde ihn wieder fit machen.

Allzu lange konnte er sich nicht darin aufhalten.
 

Als er schließlich zwanzig Minuten später aus seinem Domizil heraustrat, hatte sich sein Erscheinungsbild in so weit verändert, dass er jetzt einen Anzug trug, seine frisch gewaschenen Haare sorgfältig zu einem Zopf im Nacken frisiert waren und er seine Kontaktlinsen in eine randlose Brille getauscht hatte.

Die Furcht war verklungen. Ihm ging es besser. Dennoch lauerte die Bedrohung einer ungewissen Zukunft ständig in ihm. Sie hing vom Serum ab.
 

Bevor er zu der Unterredung mit dem Familienoberhaupt ging hatte er noch eine kleine Runde durch die Laboratorien vorgesehen. Er ging in die Küche des Haupthauses. Die Begrüßungen der Küchenmannschaft erwiderte er knapp, als er in Richtung Vorratsräume ging und von dort in den Kühlraum. Er schloss die schwere Stahltür von innen, durchquerte den kalten Raum und gelangte an eine Wand, die augenscheinlich völlig unauffällig war, wäre nicht in einem Metallkasten an der Wand eine Vorrichtung zur Identifikation angebracht worden. Diese Hürde nahm er und die Wand schob sich beiseite. Er trat hindurch und stand auf einer Plattform. Die Wand schloss sich wieder. Die Plattform fuhr mit einem Ruck an und glitt dann sanft in die Tiefe. Ungefähr zwei Minuten später tauchte im Schacht, den er hinunterfuhr erneut ein Paneel auf. Wieder musste er sich identifizieren. Als auch dies geschehen war öffnete sich die Wand und er trat in das matt beleuchtete Entre ihres Labors ein. Ein langer Flur öffnete sich ihm. Rechts und links davon befanden sich Labore, die mit Sicherheitsglas von den anderen abgetrennt waren, jedoch von außen einen guten Einblick auf das Geschehen boten. So konnte jede Einheit im Notfall separiert werden.
 

Er ging den Flur entlang und folgte der linken Abzweigung an dessen Ende. Wieder reihten sich Tür an Tür, diese führten jedoch zu Büroräumen. Am Ende dieses Flurs blieb er an einer dieser Türen stehen, atmete tief ein und klopfte dann einmal an bevor er sie öffnete. Der Raum war abgedunkelt, nur ein Steckdosenlicht sorgte für weiches tröstliches Licht um sich im Raum zu orientieren.

Er schloss die Tür und ging zu dem schmalen Bett, welches zur Linken stand. Die Schlafende Schönheit, die darin in einer halben Bauchlage lag öffnete die Augen und er ging in die Hocke. „Hallo, meine Kleine.“ Seine Stimme war leise. Sie drehte sich auf den Rücken und fing an, sich die Augen zu reiben. Als sie fertig war streckte sie ihm eine Hand hin, die er in seine nahm. „Hats weh getan?“

Sie nickte. Gänzlich anders zu ihrem sonstigen Verhalten sagte sie nichts. Ihre Lebhaftigkeit war weg, weggewischt und zurück war nur mehr Mattigkeit und - wie er nun erkannte - Angst geblieben. Sie blickte ihn mit ihren großen dunklen Augen an und er wusste, dass er sie loswerden musste. Dringend.

„Wo ist…?“, begann sie und er strich ihr über die klamme Stirn, wischte ihr die feuchten braunen Haarsträhnen aus den Augen.

„Mittagsschlaf. Wie du. Nur oben.“ Sie schien zufrieden damit zu sein.

„Willst du zu mir kommen? Kuscheln?“

Anstatt einer Antwort setzte sie sich auf und streckte die Arme aus. Er setzte sich aufs Bett, lehnte sich an die rückwärtige Wand und hob sie auf seinen Schoß. Die Decke um sie herumgeschlungen steckte er sie noch fest bevor er ihr sanft über den Kopf strich und sie ihr Gesicht an seine Brust legte. Und dann erfüllte seine Stimme den Raum als er ihr das Gute-Nacht-Lied vorsang, dass sie so liebte.

Sie war bald wieder eingeschlafen und er konsultierte nachdem er das Zimmer verlassen hatte den Projektleiter.
 

„Meine Zeit ist begrenzt, begleiten Sie mich zur Schleuse“, sagte Finn und der Leiter des Projekts nickte dienstbeflissen.

Sie gingen den Flur entlang und blieben vor einem der Labore stehen. Ein Roboter führte mehrere in einer Halterung eingebrachte Reagenzgläser in ein Gerät ein.

„Es ist nach wie vor sehr schwierig die Substanz zu gewinnen. In neun von zehn Fällen gelingt es uns nicht eine taugliche Version herzustellen.“

„Das Problem?“

„Die Probandin. Ihre Kooperation gerät mit zunehmendem Alter ins Schwanken. Wir sollten zu anderen Maßnahmen greifen um uns ihrer Mithilfe zu versichern.“

Finn nickte verstehend. „Das war zu erwarten. Ich werde ihre Bedenken dem Familienrat mitteilen.“

Der Laborleiter verneigte sich angedeutet. „Natürlich, Invidia-sama.“
 

Dieser verabschiedete sich und fuhr auf dem gleichen Weg wieder nach oben. Das Labor hatte noch zwei andere Ausgänge für den Notfall. Diese waren jedoch nur für diesen einen besonderen Fall eingerichtet.

Oben angekommen wartete bereits Rai im Eingangsbereich auf ihn.

„Kawa teilte mir mit, dass Herr Sakurakawa sein Gespräch beendet hat. Die Videokonferenz wird gerade vorbereitet. Du wirst erwartet.“

Sicher wurde er das. Er machte sich mit Rai im Gefolge auf, das Empfangszimmer des Hausherrn zu betreten. Es folgte das Begrüßungsszenario, ebenso wie ein kurzer Austausch der Befindlichkeiten. Sakurakawa-sama war in den Staaten aufgewachsen und legte viel Wert auf derartige Begrüßungsfloskeln. Finn hatte dafür momentan weniger übrig.
 

Die Videokonferenz begann und er lieferte seinen monatlichen Bericht ab.

„Wie steht es um Operation ‚Macao‘?“

Finn wandte sich zum großen Bildschirm. „Die Vorbereitungen laufen gut. Ich treffe mich in Kürze mit einem der Händler.“

„Solltet ihr nicht die nötige Ausrüstung bereits vor Ort haben?“

„Nein. Die Waffen werden erst kurz vor dem Einsatz geliefert. Das ist sicherer. Ich hatte bereits mehrfach die Gelegenheit mich vor Ort umzusehen und alles Nötige in die Wege zu leiten.“

Der ältere Herr auf dem Monitor sah ihn lange abschätzend an und nickte dann. „Meine Frau hält viel von dir. Wir hätten dir nicht die Leitung des Vorhabens übertragen, wenn sie nicht gedacht hätte, dass du diese Verantwortung tragen könntest. „

Finn verneigte sich tief. „Ich danke für dieses Vertrauen, Sakurakawa-sama.“

„Wie geht es mit den Probanden voran?“

„Gut. Ihre Kooperation ist uns sicher. Jedoch denke ich, dass wir uns mit dem Gedanken tragen sollten, sie in nächster Zeit umzusiedeln. Der Standort hier ist gefährdet.“
 

Der Patriarch sah von Finn zu seinem Sohn, der in einem Sessel an seinem Schreibtisch saß und der Unterredung still beiwohnte. „Er ist nicht gefährdet“, widersprach dieser. Finn hob fragend die Brauen und wandte sich dann aber ohne Ausdruck dieses Erstaunens zurück zum Bildschirm.

„Durch wen ist er gefährdet?“, wollte nun doch der Patriarch von ihm wissen, da er Finn offenbar mehr Urteilsvermögen zutraute als seinem eigenen Sohn. Was die Lage für Finn innerhalb des japanischen Familiengefüges wohl in Zukunft weniger rosig gestalten würde.

„Durch Schwarz. Momentan können sie mit den Informationen, die sie erlangen nicht viel anfangen, aber es wird nicht mehr lange dauern, und sie kommen hier her.“
 

„Schwarz ist keine Gefahr!“, sagte der Patriarch endgültig und Finn nickte. Er wusste wie groß die Gefahr war und er würde Vorkehrungen treffen, auch wenn ihm hier keiner glaubte. Schwarz war weitaus weniger dumm als der Clan dachte und auch weitaus wehrhafter ohne ihre Fähigkeiten als der Clan dachte. Zudem sind zu viele Fehler gemacht worden. Sin war nicht kontrollierbar. Und Superbia, der diese Funktion übernehmen sollte – und dies in der Vergangenheit auch zur vollen Zufriedenheit getan hatte – ließ ihnen hier die Zügel zu locker. Gula war die Zeit, in der sie hier hätte sein sollen wer weiß wo über gewesen. Sie war tagelang nicht in der Stadt gewesen. Wer wusste schon was sie getrieben hatte?
 

„Die Zusammenarbeit mit SIN geht reibungslos?“

Finn nickte. „Ja. Aber wir haben Ira verloren. Er wurde zu leichtsinnig.“

Der Patriarch sagte etwas zu jemandem hinter dem Monitor. „Wir sehen uns nach einem geeigneten Ersatz um.“

Finn bedankte sich und der Patriarch entließ ihn. Er verließ das Zimmer. Kawa und Motoi flankierten die schwere Doppeltür und beobachteten wie er den Vorraum verließ.

Wieder im Flur angekommen machte er vor dem Ausblick in den Garten halt. Es regnete feine Bindfäden und er ließ das Gespräch in seinen Gedanken Revue passieren.
 

Sein Telefon summte leise in seiner Tasche und er tastete danach. Er flippte es auf, sah auf die Nummer und runzelte die Stirn. Die Nummer war ihm nicht vertraut, entsprechend vorsichtig nahm er ab.

„Ich werde nicht lange mit dir sprechen“, sagte eine warme, ältere Frauenstimme zu ihm und er brauchte einen Augenblick bis er sie erkannte. „Sie…?“, entfuhr es ihm.

„Die Frage ist deiner nicht würdig. Offensichtlich bin ICH es, ja“, sagte sie trocken und Finn fuhr es heiß und kalt den Rücken hinunter. Oh. Das war nicht gut. Wenn sie bei diesem Gespräch erwischt oder abgehört werden würden…

Doch noch bevor sich seine Paranoia wie eine überdimensionierte Kaugummiblase ausdehnen konnte zerstreute sie seine Bedenken. „Es ist eine sicherere Leitung.“
 

„Wie… wie kann ich Ihnen helfen?“, brachte er mühsam heraus. Wenn er vor jemandem Respekt hatte dann vor ihr. Für sie würde er alles tun. Vermutlich auch deshalb weil er wusste, dass sie nicht alles von ihm verlangen würde. Nicht mal wenn es hart auf hart kam.

„Wie geht es meinem Enkel?“

Die Frage löste Stille zwischen ihnen aus. Bis er sich besann. Er räusperte sich.

„Ich habe momentan keinen Kontakt. Es war sehr schwierig. Ich musste die Observation abbrechen. Ich denke… dass es ihm gut geht. Er kann auf sich selbst achten, glauben Sie mir.“

„Ich verstehe.“

Sie schwieg und er hatte das Gefühl, dass Gespräch beenden zu müssen, als sie wieder sprach.

„Beschütze ihn.“

„Das kann ich nicht“, sagte er aufgebracht.

„Ich kann es nicht versprechen“, ergänzte er dann etwas ruhiger, schüttelte aber den Kopf über die Unmöglichkeit ihres Ansinnens.

„Wenn es geht… nur wenn es geht… wenn es im Bereich deiner Möglichkeiten ist.“ Sie klang verzweifelt. Auch wenn ihre Stimme alles andere als von der Wärme abwich. Doch er kannte sie. Sie war verzweifelt, sonst würde sie ihn nicht um so etwas bitten.

„Momentan ist es nicht nötig. Später vielleicht. Doch die Anweisungen von Sakurakawa-sama sind für mich bindend.“

„Natürlich sind sie das. Ich rufe dich nicht zur Untreue an deinem Herrn auf. Aber ich weiß, wie findig du bist. Du lässt dir sicher etwas einfallen. Bitte.“

Wie konnte er da nein sagen?

„Ich… denke…“ Er verstummte. Dann: „Später. Wenn es unabwendbar wird. Erst dann.“

„Gut. Damit bin ich einverstanden. Erst dann. Ich danke dir.“ Sie legte auf bevor er etwas sagen konnte. Wieso mussten seine Tage ständig neue Katastrophen offenbaren? Kaum hatte er die erste verdaut tat sich die nächste auf. Als würde er diesen ganzen Mist magisch anziehen.
 

Er klappte das Mobiltelefon zu, warf dem Garten noch einen letzten Blick zu bevor er im Gehen das Telefon in seine Tasche zurückgleiten ließ. Laut seinem Terminplan hatte er jetzt zwei Stunden Spielraum um etwas zu essen, seine Pläne für Morgen durchzusehen und sich um die Umsetzung seiner ganz persönlichen Unternehmungen zu kümmern.
 

Auf dem Weg zurück zu seinem Domizil kam er wieder auf den Kiesweg zurück. Wasser fiel vom Dach der Abdeckung und nässte seine teuren Schuhe, die er nur angezogen hatte um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sie waren bequem, aber nicht eingelaufen. Und er war froh, dass er sie bald wieder gegen anderes Schuhwerk eintauschen konnte. Er blieb stehen und sah in das triste Wetter hinaus. Was zum Teufel hatte er an sich, dass die Frauen in seiner Umgebung dazu veranlasste ihm das Leben schwer zu machen?

Er seufzte, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging den überdachten Kiesweg entlang. Die Eine… hatte ihn leiden sehen wollen. Die andere… wollte Macht über ihn… die Dritte …nun ja… die Dritte… verehrte er… und die vierte… liebte er…

Wieder ein tiefer Seufzer.

Sie machten ihm das Leben schwer. Bürdeten ihm mehr auf als er verkraften konnte und er hatte nicht den blassesten Schimmer wie er alle unter einen Hut bekommen sollte. Nun… die Nummer eins war Geschichte. Tote zählten also in der Rechnung nicht.
 

Er sah in den düsteren Himmel hinauf, der aus seiner Warte umrahmt vom dunklen Blattgrün der Flora des Gartens eine Hommage auf den grauen Ausschnitt seiner nahen Zukunft darstellte. Er zog den Kopf ein und überquerte das kurze Stück freien nieselgrauen feuchten Weg, der nicht überdacht war zu seinem Domizil, öffnete die Tür und schlüpfte hinein. Er kontrollierte wie stets zunächst die Überwachung seiner Behausung, bevor er den Hausagenten bemühte um warmes Licht in einigen Ecken des großen Wohnraumes anzuschalten.
 

Seine Finger fanden die Knöpfe seiner Anzugjacke, drückten sie durch die Knopflöcher. Er ging zu dem weißen Zweisitzer, setzte sich darauf und stützte die Ellbogen auf die Knie, das Kinn in die linke Hand. Sein Blick verriet, dass er mit den Gedanken noch immer bei „seinen“ Frauen war.
 

Nummer Zwei war ein Problem. Nummer Drei… war nicht vor Ort… und Nummer Vier musste er loswerden. Dringend.

Seit einigen Tagen kroch eine Idee in seinem Kopf herum. Aber sie war schwierig, kompliziert. Vielleicht unmöglich in der Durchführung. Aber vor allem war sie gefährlich und würde einige Dinge grundlegend ändern. Es würde diese Dinge für immer unumkehrbar machen. Für diese Idee musste er mehrere Fäden über Wochen im Hintergrund spinnen und sie gespannt halten, bis das Eintrat, was er sich erhoffte.
 

Sein Blick fiel auf sein Notebook. Daneben lag eine flache Stahlkassette. Er zögerte einen Moment bevor er die Kassette zu sich heranzog, sie auf dem Tisch drehte und an einer der Außenkanten entlangfuhr bis er die Stelle fand die er suchte. Es war eine schmale Vertiefung, in der er seinen Daumen einlegte. Es klickte und ein Mechanismus fuhr einen kleinen Monitor neben der Vertiefung aus. Er gab einen zwölfstelligen Code ein und das Touchpad fuhr wieder ein. Der Code gab die Öffnung der Kassette frei und er konnte den Deckel nach oben wegklappen. Ein Monitor war in der Deckklappe zu sehen, der Laptop fuhr sein Programm automatisch hoch sobald der Code eingegeben worden war. Die Satellitenverbindung stand nach einigen Augenblicken und er suchte sich seinen Weg zu dem Postfach, dass er gelegentlich überprüfte. Es lagen zwei Nachrichten darin. Damit hatte er nicht gerechnet. Schließlich war er als Transporter momentan nicht aktiv. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er und seine Talente sehr gefragt gewesen waren um heiße und/oder gefährliche Waren zu transportieren. Seit er für die Sakurakawas arbeitete hatte er diesen Job aufgegeben.
 

Vielleicht… aber doch nicht. Er hatte sich schon gefragt warum ‚Sie‘ ihn für diesen Posten vorgeschlagen hatte… War es wegen der Kinder? Sie hatte ihm drei Schützlinge anvertraut. Und im Endeffekt sollten sie irgendwann bei ihr sein. In ihrer Obhut. Aber bis dorthin war es ein weiter Weg – im übertragenen und tatsächlichen Sinn. Bis dahin gab es viele Widrigkeiten zu beseitigen, viele Lebenden dem Tode zuzuführen und einige Flugmeilen zu sammeln.
 

Er lächelte und rief die erste der beiden Nachrichten auf. Es war an die ‚Weiße Spinne‘ gerichtet, sein alter Ego als Transporter und als Intrigant. Ein Auftrag, den er ohnehin letzte Woche absolviert haben sollte und den er nicht angenommen hatte. Er löschte die Nachricht. Offenbar war dem Auftraggeber entgangen, dass er nicht zur Verfügung stand.
 

Die zweite Nachricht war interessanter. Geradezu erstaunlich. Die Nachricht war von gestern. Der Absender erbat ein Treffen mit ihm am heutigen Abend an genau der Stelle an der er sich mit dem Waffenhändler treffen wollte. Um genau die gleiche Uhrzeit. Was bedeutete, dass sie ein Informationsleck hatten oder der Waffenhändler dieses Leck hatte. Dumm nur, dass der Inhalt dieser Informationen zum CIA gelangt war. Er hatte einen Kontakt dort. Dieser Kontakt wünschte also ein Treffen und sagte ihm gleichzeitig, dass er ein Leck hatte und dass sie die Aktivitäten der Familie beobachteten.

Er starrte auf die Nachricht, griff zu seinem Telefon, tippte eine Nummer ein. Superbia ging augenblicklich ans Telefon.

„Wir haben ein Leck“, sagte er ohne Begrüßung und lehnte sich zurück.

„Wer?“

„Noch unbekannt. Einer meiner Kontakte rät mir vom Treffen heute Abend mit den Lubejow Brüdern ab. Allein die Tatsache, dass er die genauen Umstände und die Uhrzeit des Treffens kennt sagt mir, dass es eine Falle ist.“

„Wer weiß vom Treffen?“

„Der Boss, SIN, die Brüder und Rai.“

„Mögliche Verdächtige?“

„Rai und die Brüder“, sagte Finn.
 

„Rai habe ich selbst überprüft. Sie ist der Familie treu ergeben. Sie ist sauber. Keine Familie, keine Liebschaften, keine Geldnot, keine Gründe. Sie hat selbst einige Zeit als Cleaner gearbeitet und bewundert dich.“

Finn hatte diese Antwort nicht erwartet, freute sich aber darüber. Er mochte Rai. Sie zu töten hätte er selbst übernommen, wäre ihm aber unangenehm gewesen.

„Gut. Dann gehen wir davon aus, dass das Leck bei den Brüdern ist.“

„Wie vertrauensvoll ist dein Kontakt?“

„Gar nicht“, sagte Finn und schnaubte. „Die Tatsache, dass er es weiß allein reicht mir.“

„Irgendjemand kommt uns zu nahe und sagt uns damit, dass er uns auf die Finger sieht. Sie wollen unseren Deal stören.“

„Schick SIN zu den Brüdern und fühl ihnen auf den Zahn. Ich will wissen wo das Leck sitzt. Seid vorsichtig.“

„Du kommst nicht mit?“, hörte er die amüsierte Stimme an sein Ohr dringen. „Nein, ich werde die Verladung der Container überwachen. Rai begleitet mich.“ Sie hatten ihr Equipment als Forschungsausrüstung für pharmazeutische Studien getarnt.
 

„Der Deal platzt?“

„Wir verlegen den Deal vor. Wenn nötig schaltet die Brüder aus und schnappt euch die Ware. Sie am Leben zu lassen wäre von Vorteil um zu sehen wohin sie laufen, wenn sie aufgescheucht worden sind.“

„Falls das Leck bei ihnen ist und nicht bei uns“, gab Superbia zu bedenken.

„Rai geht sorgfältig mit diesen Terminen um. Sie hinterlegt keine brisanten Daten, wo sie gehackt werden könnten. Ihr Kopf ist der einzige Ort wo sie aufbewahrt werden.“

Stille breitete sich in der Leitung aus und noch bevor Superbia etwas sagen konnte…

„Ich glaube nicht, dass ein Telepath der Urheber unseres jetzigen Problems ist.“

„Es gibt nur einen der gut genug wäre um ihr so nahe zu kommen ohne auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen. Es sei denn wir haben nicht gründlich genug gearbeitet und bei unserer ‚Säuberung‘ einige übersehen, die nun wie erwartet zum Problem werden.“
 

Finn schloss müde die Augen. Er wusste was SIN vor seinem Beitritt für die Sakurakawa Familie getan hatten. Sie hatten PSI Akteure aufgespürt, sie gefangen, sie studiert und schließlich wie Müll beseitigt. Er wusste es deshalb, weil er selbst Teil dieser Müllbeseitigung hätte sein sollen. Dummerweise hatte er seinen ersten großen Job in den Sand gesetzt.

„Rai ist in der niedrigsten Abwehrstufe recht talentiert. Sie würde ein Eindringen sofort bemerken.“

„Das vielleicht. Aber würde sie sich auch erinnern, wenn ihr Gedächtnis manipuliert worden wäre?“

„Vermutlich nicht.“

Finn schwieg.

„Wir sind ihnen zu nahe gekommen. Sie persönlich anzugreifen hat uns geschadet“, sagte er kalt.

Superbia antwortete auf seine implizierte Kritik nichts. „Wir machen uns sofort auf den Weg. Falls wir nicht erfolgreich sind bleibt uns nur Rai.“

Finn brauchte noch eine Information. „Gula. Wo war sie die letzten Tage? Hatte sie einen Auftrag? Wenn ja, habe ich ihn nicht autorisiert.“
 

Superbias amüsiertes Lachen drang durch die Verbindung direkt in Finns Vorstellung und er hatte das Gefühl ihn direkt vor sich sitzen zu haben. Der dunkle mitleidlose Blick, mit dem er ihn stets bedachte tauchte vor seinem inneren Auge auf. „Sie war in Osaka. Der Händler, der uns die Pläne anbot hat dort seinen Sitz.“

„Und du bist dir sicher, dass sie sich nicht hinreißen hat lassen etwas Dummes anzustellen?“

„Ich bin nicht ihr Kindermädchen.“
 

„Nein. Das mit Sicherheit nicht. Aber du solltest ihr Wärter sein. Die Schädigung ihres Frontallappens ist bereits soweit fortgeschritten, dass ich bezweifle, dass sie für die kommenden Vorhaben noch zu steuern ist.“

„Erst Ira, jetzt Gula. Der zerebrale Zerfall schreitet in der Reihenfolge voran, in der diese hoffnungsvollen Seelen ihre Plätze als Sünden einnahmen.“ Superbia fand diesen Umstand äußerst amüsant, wie Finn aus den spöttischen Worten entnehmen konnte. Finn dagegen musste zugeben, dass dieser Umstand ihn ganz gewiss nicht so stark erheiterte. Schließlich gehörte er auch zu diesen „hoffnungsvollen Seelen“.

„Ich verstehe, dass dir das keine großen Sorgen bereitet“, erwiderte Finn gelassen, die Wut, die in ihm schwellte aus seiner Stimme lassend. Dass die Nebenwirkungen so gravierend waren hatte ihm zu Anfang keiner gesagt. Im Gegensatz zu den anderen von SIN war ihm die Annahme des Serums als die bessere Wahl erschienen. Seine anderen Möglichkeiten hatten weniger Aussicht auf sein Überleben geboten. Seit Jahren tat er jeden Tag nur eines: den Tod aufschieben.
 

Wenn er die Reihenfolge der Rekrutierung bedachte, war er der übernächste, der damit beginnen würde einen Hang zur Perversion zu entwickeln, wie es Ira getan hatte oder paranoide Wahnvorstellungen, wie Gula sie von Zeit zu Zeit äußerte. Wenn sie einen schlechten Tag hatte. Bei ihm wirkte sich ein Fehlen der Substanz bereits jetzt schon auf den präfrontalen Kortex aus. Er wurde gefühllos.
 

Er beendete das Gespräch und legte das Mobiltelefon neben die Stahlkassette.

Dann schickte er eine Antwort an das Postfach. Einen Code, den nur sie beide kennen sollten, der Uhrzeit und Treffpunkt angab. An diesem Ort würde dieser jedoch nur eine Nachricht finden, die dann zum eigentlichen Treffpunkt führen würde. Er schloss die Stahlkassette, neutralisierte das Schloss und begann mit den Vorbereitungen für das Treffen.
 

Er hatte nicht vor irgendjemanden darüber zu informieren, dass er sich mit einem Agenten treffen würde. Es war seine Rückversicherung für seine Unternehmungen. Eine seiner Rückversicherungen.

Eines seiner heißen Eisen im Feuer, mit denen er spielte. Seufzend erhob er sich, durchquerte die Mitte des großen Raumes und stieg die Stufen hinauf um zu einem Raum zu gehen, der neben dem Badezimmer lag: Sein Ankleidezimmer.

Die Tür glitt automatisch zur Seite und er betrat das Zimmer. Der Raum war groß genug um ein separater Schlafraum zu sein. Für ihn war er jedoch wichtiger als ein Schlafraum. Hier hingen sehr viele Kleidersäcke, die mit Zetteln beschriftet waren. Er ging die Reihe zu seiner Rechten entlang, suchte nach dem Gewünschten und fand es schließlich. Er zog es mittels der ausfahrbaren Schiene heraus, zippte den Reißverschluss nach unten, besah sich die Kleidung und kontrollierte anhand der Beschriftung ob alles vorhanden war.
 

Danach ging sein Blick nach oben zu den Regalen, die die unterschiedlichsten Taschen, Rucksäcke, Tragetaschen, Koffer und anderes beheimateten. Auf ihnen standen Nummern, die ebenfalls einem Zuordnungssystem angehörten. Er zog einen Rucksack und eine Laptoptasche aus weichem Leder hervor, die zusätzlich noch Platz für Geschäftsunterlagen bot. Beides stellte er neben den herausgezogenen Kleidersack. Er besah sich den Zettel erneut und ging dann zum Schuhregal hinüber. Dort waren ebenfalls mit Nummern versehene Schuhpaare aufgereiht. Er nahm die Sneaker an sich, die die gleiche Nummer wie der Rucksack hatten und stellte sie neben den Rucksack.
 

Dann legte er alles auf den Tisch in der Mitte des Raumes und begann den Kleidersack auszuräumen, die Kleidung sehr sorgfältig zusammenzurollen und in einzelnen Rollen in den formellen Aktenkoffer mit integriertem Laptopfach einzuräumen. Als alles verstaut war, fehlten nur mehr zwei Dinge, die er im Regal neben den Schuhen fand. Ein Ausweis, samt Monatsfahrkarte, Schülerausweis und diverse andere Dinge, die er in einem Geldbeutel fand. Er legte ihn auf die Tasche, daneben ein Mobiltelefon samt auffälligem Anhänger, es folgten diverse Schmuckstücke, eine Uhr und eine Mütze. Alles wanderte in die Tasche. Sie war optimal gefüllt. Der dünne Rucksack, der noch leer war wurde obenauf gelegt, die Tasche geschlossen.

Dann ging er zurück um sich im Bad fertig zu machen. „Computer. Verbindung zu Rai herstellen.“ Er begann damit sich das dunkle Augenmakeup zu entfernen. „Invidia-sama“, meldete sich seine Sekretärin fast augenblicklich, nachdem er die Verbindung in Auftrag gegeben hatte.

„Rai, ich werde dich zum Hafen begleiten. In zwanzig Minuten treffen wir uns beim Wagen. Wir nehmen den Landrover mit der Monitorausstattung.“

„Ja. Verstanden.“

Er beendete die Verbindung, wusch sich das Gesicht, nahm sich ein frisches Handtuch und trocknete sich ab, noch während er sich zu dem Hängeschrank umdrehte, der auf der anderen Seite des Badezimmers stand. Dort angekommen öffnete er eines der mittleren Türen und sah sich mehreren mit Nummern beschrifteten Plastikdöschen gegenüber. Er nahm eines heraus, öffnete es und fand was er suchte in der klaren Flüssigkeit schwimmen. Einige Zeit verbrachte er noch im Badezimmer, bis er fertig war und samt dem kleinen Döschen herauskam. Es wanderte ebenso in die Aktentasche, wie der MP3- Player und ein Netbook. Danach war sie voll.
 

Als er den Bungalow verließ, war seine Anzugjacke geschlossen, in seiner linken Hand schmiegte sich das Leder des Griffes der Aktentasche an die Haut seiner Finger. Seine Rechte umfasste das Mobiltelefon, mit dem er sich bei ihrem Mann am Hafen erkundigte wie die Dinge liefen. Es war überflüssig zu sagen, dass sie ihm bald einen Besuch abstatten würden. Das konnte jederzeit geschehen und war obligat.
 

o~
 

Seit einer Stunde hing er im Yoyogi Park herum. Um ihn herum ein Dutzend junger Leute, die sich spontan zu einer Session im Park zusammen gefunden hatten. Einer von ihnen war der Lokalmatador im Breakdance Ishide Takuya. Die Jamsession war weniger spontan als die meisten dachten. Sie war von Finn auf den Plan gerufen worden zum Zwecke der Tarnung. Hin und wieder nieselte es leicht, doch das störte die Umstehenden weniger. Der Regen war warm und für Finn günstig, denn es waren weniger Leute im Park aber immer noch genügend um einen schnellen Abgang zu gewährleisten.

Die Umgebung im Auge behaltend schob er sich die Mütze mehr in die Stirn und wandte den Blick auf den Platz, den er als Treffpunkt auserkoren hatte. Er sah seinen Kontakt kommen. Es ging los.
 

„Sie ist da.“ Neben ihm nickte ein Mädchen von vielleicht fünfzehn und grinste ihn verschwörerisch unter ihrer grüngelben Mütze breit an. „Ist sie nicht etwas spießig? Und naja… sehr viel älter als du, Yun?!“ Er zuckte etwas linkisch mit den Schultern. „Ich bin nicht hinter ihr her.“ Das Mädchen, das von allen nur Mi genannt wurde tippte sich an die Nase und sah zu ihm auf. „Ah… sie hat eine jüngere Schwester?“ Zwinkernd nickte er, ein unwiderstehliches Lächeln präsentierend. „So in die Richtung“, deutete er an. Das schien ihr zu reichen. „Na, dann mal los!“ Sie erwiderte das Zwinkern, trat aus der Gruppe heraus und entfernte sich von ihnen. Der breite Weg machte eine Kurve nach links und am Ende dieser Kurve stand sein Kontakt, in einen unauffälligen blauen, halblangen Trenchcoat gekleidet mit schwarzem Regenschirm.

Finn verfolgte wie Mi seinem Kontakt einen Zettel überreichte. Er konnte erkennen wie sie die Frau angrinste. Danach verzog sich Mi wie verabredet aus dem Park. Sein Kontakt kam in seine Richtung, ging an ihm vorbei und verließ den Park in östlicher Richtung.
 

Er wartete zehn Minuten, es schien ihr niemand zu folgen. Dann verabschiedete er sich aus der Gruppe. Es folgten einige Handschläge, markige Sprüche und gute Wünsche bevor er sich mit einem Tippen mit den Fingerkuppen, der rechten Hand an die Schläfe und einem dankenden Lächeln von Ishide verabschiedete. Der nickte und sah Finn nach, als dieser davoneilte. Er rannte durch den Park, allerdings auf einer anderen Route als die, die sie eingeschlagen hatte. Sie kamen zeitgleich an der Straße an, zu der er sie delegiert hatte. Das Taxi, das er zu diesem Zeitpunkt dorthin bestellt hatte hielt gerade an. Der Fahrer öffnete beide Türen, wie er ihn angewiesen hatte. Finn näherte sich im Laufen dem Wagen. Sie stieg ein. Er trat an den Wagen heran und nahm die andere Seite. Als die Türen sich schlossen und sie sich anblickten, nannte Finn die Adresse zu der er wollte. Der Fahrer musste einmal quer durch die Stadt.
 

Er nahm seine Mütze ab, die ohnehin durchnässt war und schüttelte sie umständlich aus. „Ms. Crawford, womit verdankte ich den zugegebenermaßen unterhaltsamen Ausflug in die Innenstadt? Meine Zeit ist wie stets begrenzt.“

Während sich der Fahrer in den Verkehr einfädelte und sie in Richtung Norden fuhren nahm er seinen Rucksack vom Rücken und machte es sich bequemer. Er sah zu ihr hinüber und konnte die weißen Fingerknöchel sehen, die den Schirm umspannten. „Ist sie das nicht bei uns allen, Spinne?“ Sein Blick fand ihre Augen und die schmale Linie ihres Mundes.
 

„Entspannen Sie sich. Sie wollen etwas von mir, nicht umgekehrt. Sollte deshalb nicht eher ich ein wenig nervös in ihrer Gegenwart sein?“ Er sprach Englisch, mit spanischem Akzent, wie immer im Kontakt mit ihr.

Sie schwieg und sah zum Fenster hinaus. „All die Jahre habe ich auf ein Zeichen, eine Nachricht von ihnen gewartet.“ Die Vorsicht war aus ihrer Stimme zu hören. Sein Blick schweifte über die steife Sitzhaltung, über ihr makelloses Profil, das nur an einigen Stellen das Zeichen des Alterns verriet.

„Ich hatte bisher noch keine Verwendung dafür den Schuldschein einzulösen.“ Er lächelte melancholisch, als er sich an die Vergangenheit erinnerte. Die Zeiten damals waren weniger kompliziert, denn spontaner, trotzdem gefährlich.

„Was wollen Sie?“

„Einen Kontakt. Eine Information.“ Sie sah immer noch auf die Straße hinaus.

„Worüber? Und was macht Sie so sicher, dass ich Ihnen weiterhelfen kann oder werde?“ Er wischte sich durchs feuchte Haar, das ihm strähnig an den Seiten herunter hing. Eine Stunde im Regen hatte ihn aufgeweicht.

„Sie haben mir schon einmal geholfen. Und ich frage mich immer noch weshalb. Sie haben dabei alles verloren. Ihr Ruf wurde beschädigt, ihr Auftraggeber machte Jagd auf sie, das Geld, dass man ihnen versprochen hatte war ihnen versagt und sie mussten fliehen.“

„Das ist richtig. Weshalb sollte also dieser Reputationsverlust von damals dazu führen ihnen heute zu helfen? Sie schulden mir das Leben ihres Bruders, Eve. Nicht mehr und nicht weniger. Oh vielleicht doch etwas mehr. Die zwei Millionen, die mir dabei durch die Lappen gegangen sind.“ Sie schuldete ihm wesentlich mehr. Viel mehr. Sein Leben.
 

„Sie schulden mir ein Leben. Ein Leben für ein Leben. Zu dumm, dass es mit der Umsetzung dieser Schuld etwas schwierig werden wird.“
 

Sie wandte ihr Gesicht ihm zu und der eisige Blick mit dem sie ihn bedachte kam ihm vertraut vor. „Sie arbeiten wieder für die Sakurakawa Corp. So viel ist mir bekannt, ich weiß nur nicht in welchem Umfang. Offensichtlich hat der Verlust ihres Rufes weniger Auswirkung auf das Verhältnis zu ihrem damaligen Arbeitgeber gehabt als ich dachte.“

Die eiskalte Wut, die er aufgrund dieser Worte verspürte zeigte sich nicht nur in seinen Augen. „Sind Sie sich da ganz sicher, Eve?“, fragte er bedrohlich leise.
 

„Nein, das bin ich nicht.“ Sie zögerte, dann wandte sie den Blick ab, als könne sie ihm nicht länger in die Augen blicken. Was er bezweifelte, für derlei Anwandlungen war sie zu abgebrüht. Sie war eine Crawford.

„Ich weiß, dass Sie zu SIN gehören. Sie sind der einzige der Gruppe, der aus dem persönlichen Kader der Firma rekrutiert wurde. Soweit wir wissen geschah das nicht freiwillig. Ich biete Ihnen einen Ausweg. Wenn Sie mir helfen.“

Er lachte. „Sie bieten mir… einen Ausweg an? Selbst wenn ich Ihr Angebot annehmen könnte, was sagt ihnen, dass ich es würde? Einmal davon abgesehen, dass sie mir dann immer noch etwas schulden würden.“

„Das ist richtig.“ Sie schwieg ein paar Minuten. Er ließ es zu und betrachtete sich die Umgebung. Der Wagen fuhr nun über die Schnellstraße.

„Nehmen Sie die nächste Ausfahrt“, wies er den Fahrer an.

„Werden Sie mir helfen?“, fragte Sie erneut.

„Ich kann nicht. Diesmal nicht.“

Der Zug um ihren Mund verhärtete sich. „Weshalb haben Sie sich dann heute mit mir getroffen und meine Zeit verschwendet?“
 

„Um Sie an die Schwere Ihrer Schuld zu erinnern.“

Sie sah ihn wieder an. „Es hatte Konsequenzen, dass Sie den Auftrag damals nicht ausgeführt haben.“

„Alles hat Konsequenzen“, erwiderte er achselzuckend.

„Ich kann Ihnen helfen“, wiederholte Sie, dieses Mal vehementer.

Er wies den Fahrer an in der nächsten Seitenstraße anzuhalten. Finn zog seine Mütze über die feuchten Haare. Dann sah er die Agentin an. „Das können Sie nicht, Eve. Niemand kann das. Nicht mehr.“ Er lächelte als die Tür sich öffnete.

„Kontaktieren Sie mich, falls nötig.“

Er antwortete ihr nicht sondern verließ den Wagen. Dem Taxi nachsehend ging er in Gedanken ihr Gespräch durch. Er hatte sich wieder eine Möglichkeit mehr geschaffen. Und dieser Umstand zauberte ein Lächeln auf seine Lippen.

Wieder eine Frau mehr in seinem Leben, für die er etwas tun sollte. Die Frage war nun lediglich… nützte es ihm auch?
 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!

Coco & Gadreel

Sonderermittler Oniwara

~ Sonderermittler Oniwara ~
 


 


 

Sie, zu dritt, für zwei Tage weg.

Aya wusste nicht so wirklich, was er davon halten sollte, als er seine Sachen packte mit Banshee auf dem Arm, die sich begeistert an ihn schmiegte und schnurrte.

Sie hatte wieder Vertrauen zu Schuldig gefasst, doch der war momentan eher damit beschäftigt, seine Sachen aus dem Chaosbereich, des begehbaren Kleiderschrankes zu ordnen und zu entscheiden, was er mitnehmen sollte.

Aya für seinen Teil war da eher anspruchslos. Regenjacke, legere Kleidung, etwas zum Schlafen und diverse Toilettenartikel.

So ließ er sich nun auf dem Bett nieder und schmuste ausgiebig mit der Kleinen, die in den nächsten Tagen Nagi als Babysitter haben würde.

Ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke, aber besser, als wenn sie alleine blieb.

Banshee hatte sich prächtig entwickelt, sie war groß geworden und fraß ihnen beinahe die Haare vom Kopf. Eine stattliche Katze.

„Meinst du, wir sollten ihr einen Spielgefährten besorgen? Sie ist so oft einsam, dass es vielleicht besser für sie wäre, sie hätte jemanden, mit dem sie, während unserer Abwesenheit spielen kann“, fragte Aya in Schuldigs Richtung und musste zugeben, dass ihm dieser Gedanke sehr gut gefiel.

Schuldig hielt inne.

„Einsam?“, echote er. „Wann denn? Meinst du in der Zeit, in der ich den ganzen Tag zuhause rumlungere, während du in der Arbeit bist oder, während der Zeit, in der du zuhause bist während ich unterwegs bin? Was nicht wirklich häufig der Fall ist.“ Das hörte sich jetzt danach an, als hätte er gegen Rans Vorschlag etwas einzuwenden. So war es nicht… doch… noch ein Tier? Noch etwas, dass Rans Aufmerksamkeit von Schuldig fort zog?

„Du weißt, dass wir in Zukunft öfter beide weg sein werden um Aufträge durchzuführen oder zu arbeiten“, führte Aya an, der durchaus den minimalen Frust aus Schuldigs Worten herausgehört hatte. Schuldig war viel zu lange untätig gewesen, während er selbst arbeiten gegangen war. Er konnte ebenso wenig zuhause sein und nichts tun wie Aya auch.

„Komm schon, ihr würde das gut tun und wir beiden hätten mehr Zeit, wenn sie beschäftigt ist... nicht, dass das heißt, wir würden dich dann weniger lieben“, murmelte Aya zu dem schnurrenden Bündel auf seinem Arm.

„Das will ich auch hoffen, dass ihr mich dann nicht weniger lieb hättet!“, entrüstete sich Schuldig und kam zu seiner Reisetasche, in der er seine „Arbeitskleidung“ verstaute. Überwiegend dunkle Kleidung. Er würde mit einem Anzug nach Osaka fliegen und sich noch etwas zum Ausgehen mitnehmen.
 

Aya hob die Augenbraue.
 

„Du warst gar nicht gemeint, Schuldig. Es dürfte doch wohl klar sein, dass ich dich sowieso abgöttisch liebe, oder nicht?“, fragte er im Brustton der Überzeugung.

„Das klingt jetzt ein wenig überzogen, Ran!“, meinte Schuldig skeptisch. „Wenn du möchtest suchen wir für Banshee einen Spielgefährten. Wie wäre es, wenn du das in die Hände nimmst?“

Aya schmunzelte. „Da bin ich einmal ehrlich und schon wird mir vorgeworfen, ich würde es nicht ernst meinen.“ Gespielt verzweifelt schüttelte er den Kopf.

„Was meinst du Banshee, einen Spielgefährten für dich? Wir können ja schlecht Nagi oder Jei die ganze Zeit hierbehalten, hm? Ich schau mal, ob ich jemanden für dich finde.“
 

„Ehrlich? Du meinst wohl einschmeichlerisch. Manch einer würde das auch „schleimen“ nennen. Aber so etwas liegt dir ja ohnehin fern!“, Schuldig grinste selbstgefällig und ging wieder in das angrenzende Zimmer um sich einen Anzug herauszulegen.

Was Aya dazu brachte, seine Kleidungswahl noch einmal zu überdenken. Immer noch mit der Katze auf dem Arm ging er noch einmal in das Zimmer und nahm nun seinerseits einen schwarzen Anzug mit orangenem Hemd heraus. Man konnte anscheinend nie wissen.

„Ich habe es ernst gemeint“, sagte er schließlich zu Schuldig, nahm sich eine Kleiderhülle und kam ins Schlafzimmer zurück.

Er wusste, dass es eine überschwängliche Äußerung war, für ihn besonders, aber er hatte sie ernst gemeint und im Nachhinein war es ihm fast peinlich.
 

„Echt?“ Eine überflüssige Bemerkung wie Schuldig fand. Er blickte Ran nach.

„Du liebst mich abgöttisch?“ hakte er nach und stand in der Verbindungstür zwischen Ankleide- und Schlafzimmer. Er hatte seine Arme verschränkt und betrachtete sich die geröteten Wangen seines Freundes. Offenbar war es ernst gemeint gewesen, denn sonst wären Rans Wangen nicht derart rot.
 

Und nun wurde es noch peinlicher.

Aya fragte sich allen Ernstes, warum er das gesagt hatte. Schuldig glaubte immer noch an einen Spaß, so wie er hier nachfragte und gerade das tat tief in ihm weh. Doch Aya würde den Teufel tun und das zugeben.

„Vergiss es“, sagte er leise und drehte Schuldig den Rücken zu. Sein Gesicht fühlte sich zu heiß an, als dass es noch die natürlich Blässe hätte und das wollte er sich ersparen.

Banshee absetzend, wollte er sich in Richtung Küche aufmachen.

„Vergiss… was?!“ Schuldig nahm die Verfolgung auf, nachdem er begriffen hatte, dass Ran diese ganze Situation wohl als sehr unangenehm empfand.

„Du spinnst wohl?!“Er pflückte ihn von seinen Füßen, zog ihn an sich und ließ sich mit ihm auf ihr großes Bett fallen, mitten zwischen die Reisetaschen.

Er rollte sich mit seiner Last herum und blickte Ran aufmerksam ins Gesicht. „Sieh mich an“, forderte er leise.
 

„Ach Schuldig...“, ergab sich Aya schließlich dem Drängen, des anderen und sah ihm in die Augen. Und wieder hatte Schuldig es geschafft, ihn zu überraschen, als er ihn hochgehoben hatte. Anscheinend war das Thema doch nicht so scherzhaft für ihn.

Sein Blick war sanft, aber vorsichtig und versuchte die Wahrheit seiner Worte zu verbergen.

„Du hast mich überrumpelt mit dieser beiläufigen Liebeserklärung. Noch dazu eine so… abgöttisch gute“, sagte Schuldig.

„Wie sollte ich davon ausgehen, dass du – Ran, der Liebeserklärungsmuffel – so etwas zu mir, zwischen Tür und Angel sagen würdest? Das ist… irgendwie cool.“ Ein unpassender Begriff, aber es war so. Es war cool. Schuldig fühlte sich cool.

„Ist dir das peinlich? Mir zu sagen, dass du mich liebst?“ Schuldig küsste Ran sanft auf die gerötete Wange.

Aya schmiegte sich an diese Lippen und schloss die Augen.

„Nein, natürlich nicht, nur wenn ich so etwas sage und es wie ein Spaß scheint, dann ist es mir peinlich, ja. Ich sage selten, was ich wirklich fühle, Schuldig.“ Wie intensiv er fühlte, meinte Aya, denn so verschlossen er manchmal war, so emotional konnte er auch sein.

„Wieso ist es... cool?“
 

Gute Frage.

Schuldigs Hände pirschten sich auf der Suche nach Wärme Rans Flanke und Oberarm entlang, den er dem anderen, über den Kopf ausgestreckt hatte.

„Keine Ahnung. Es fühlt sich nur so an. Einfach gut, einfach beruhigend, einfach gelassen und geil. Nicht erklärbar. Glücklich machend. Und jetzt finde ich sollten wir…“

Sex haben.

Schuldig küsste Ran sanft auf die Lippen. Der Kuss wurde tiefer, inniger, Schuldigs Körper rutschte mehr auf Rans.

Ayas Wangen und Ohren glühten vor plötzlichem Feuer und er war froh, dass Schuldig momentan eher damit beschäftigt war, ihn zu küssen.

Schon seltsam, dass er, mit positiven Emotionen konfrontiert, in diesem Moment schier hilflos erschien, während er negative Emotionen spielend bekämpfen konnte.

Die Absicht des Telepathen war eindeutig und Aya konnte nicht sagen, dass er abgeneigt war, ganz im Gegenteil.

Sie waren sehr lange enthaltsam gewesen. Schuldig war unsicher gewesen in der letzten Zeit, wegen ihres letzten, sehr gewalttätigen Sex. Er schien Angst zu haben, Aya zu verletzen. Aya selbst hatte keine Angst davor, doch er wollte Schuldig nicht drängen, sondern ihm die Zeit lassen, die dieser anscheinend brauchte.
 

„Es ist immer wieder faszinierend wie wenig es braucht um mich noch überraschen zu können. Ich wusste gar nicht, dass unser Rotfuchs derart rot im Gesicht werden kann“, drang das angenehme Timbre von Bradley Crawford an Schuldigs Ohr und dieser zuckte kurz zusammen, allerdings bemerkte das wohl nur Ran auf dem er halb lag.

Brads schwer lesbarer Blick haftete auf Rans Wangen. „Ihr solltet euch beeilen, der Flug geht in drei Stunden und wir haben mit Nagi noch eine Besprechung.“

„Ja… schon klar“, meinte Schuldig genervt und schob sich vor Ran, drehte sich dabei halb zu Brad um. „Merkst du nicht wann du störst?“

Brad sah ihn für einen Moment ruhig an, bevor er sich umwandte und aus ihrem Sichtfeld verschwand. Schuldig seufzte. „Tut mir leid“, sagte er und verzog die Lippen. „Ich wusste nicht, dass er schon da ist. Ich hab ihn nicht gehört.“ Irgendwie fühlte er sich schuldig. Warum wusste er nicht genau.
 

Es konnte schlimmer kommen, es konnte immer noch schlimmer kommen!

Aya presste beide Handinnenflächen auf seine Augen und schüttelte wortlos den Kopf. Dazu gab es nichts mehr zu sagen. Vermutlich hatte Crawford auch noch alles mitgehört, als sie beiden beschäftigt gewesen waren. Ganz klasse, ausgerechnet Crawford. Der, der beinahe jegliche Gefühle vor seiner Umwelt verbarg, war nun Spanner Nummer eins.

Als sie beide, so sehr in ihren Tätigkeiten versunken waren, dass jeder hätte kommen können.

Jede Lust, die vorher noch in Ayas zirkuliert hatte, war nun verpufft, vollkommen.

„Ich glaub das nicht, ich glaub das alles nicht.“

Einen Moment später nahm er seine Hände weg und versuchte sich aufzurichten. „Komm lass uns zu Ende packen.“
 

„Nein, warte“, sagte Schuldig fast schon panisch. „Hey, warte doch mal.“ Er ließ Ran halb hochkommen, doch war immer noch mit dessen Beinen verbunden. So ließ er sich neben Ran zur Seite gleiten und zupfte an dessen Armen.

„Du willst mich doch jetzt nicht hier einfach so ohne eine warme Umarmung entlassen? Bloß, weil dieser blöde Brad aufgetaucht ist? Ran… bitte…“, Schuldig sah ihn sehnsüchtig an. Brad hatte ihm alles verdorben. ER wollte Ran an sich spüren und er wollte nicht, dass dieser sich schämte für etwas… Schönes.

Aya betrachtete sich das große Kind, das hier vor ihm lag und verspürte momentan keine große Zuneigung für den Amerikaner.

Das hatte Crawford mit Sicherheit absichtlich gemacht.

„Eine Umarmung, dann wird gepackt“, stimmte Aya schließlich murrend zu und legte sich wieder zurück, doch er war angespannt und diese Anspannung verließ nur langsam seinen Körper. Er seufzte und schlang seine Arme um Schuldig, schloss die Augen.

„Ich liebe dich“, sagte Schuldig und küsste eine der geschlossenen Lider. Um diesen schwergewichtigen Worten, etwas weniger Schwergewichtiges nachfolgen zu lassen, fiel ihm nicht wirklich etwas Besseres ein…

„Ich könnte jetzt sagen: Ich werde das, was du sagtest immer in mir bewahren. Aber das würde zu schmalzig für mich klingen, also lass ich es, ja? Aber du könntest denken, dass ich sowas gesagt hätte, wenn ich der Typ dafür wäre. Was ich nicht bin.“ Schuldigs Gefasel sollte Ran aufmuntern.
 

„Ich bin auch nicht der Typ dafür, das zu hören“, murmelte Aya und öffnete seine Augen, strich Schuldig über die Schläfe hinab zum Kinn.

„Ich mag es, wenn du mir sagst, dass du mich liebst. Das andere jedoch, ich weiß, dass es so ist. Ich weiß es einfach...“

Aya wusste noch nicht so recht, was er davon halten sollte, diese Dinge in Hörweite von Crawford zu besprechen, aber vermutlich würde er sich daran gewöhnen müssen, wenn sie in Zukunft eine Dreierbeziehung führen würden... zumindest etwas Ähnliches.
 

„Entspann dich. Der blöde Ami macht sich gerade einen Kaffee und ist weit weg“, meinte Schuldig beruhigend. Seine Hand strich über Rans Haar am Hinterkopf. „Ich vermisse den Sex, ich vermisse deinen Körper, Ran“, murmelte Schuldig leise. Er hatte nicht vorgehabt etwas zu sagen, aber die Situation bot sich an.

Er brauchte das Gefühl von Ran an sich. Diesen deliziösen Geschmack von Rans salziger, erhitzter Haut, ihrer Körper, das unabdingliche Gefühl, der drängenden rohen Gier, die sich zwischen ihnen aufbaute.
 

„Ich vermisse den Sex zwischen uns auch, Schuldig“, gab Aya zu, doch er sprach immer noch leise, wenngleich Crawford weit weg war. Kamen sie nun zum eigentlichen Problem.

„Ich hätte gerne jetzt mit dir geschlafen, weil wir eben so lange nicht mehr miteinander geschlafen haben, doch...“...er wollte es nicht vor Crawford.

„Vielleicht können wir es nach dem Auftrag probieren, was meinst du?“

„Probieren?“, kiekste Schuldig. „Was heißt hier probieren. Das wird einfach durchgezogen!“ Er kam wie eine aufgezogene Feder auf die Knie und beugte sich über Ran, grinste ihn unternehmungslustig an. „Und jetzt wird gepackt. Wer schneller fertig ist, darf den anderen poppen!“ Und schon war er fast fertig mit der Packerei… fast…
 

Auch Aya kam nun in die Höhe, drehte sich zu seiner Tasche um, die schon fertig auf dem Bett stand, zog den Kleiderschutz unter seinem Hinterteil hervor und legte ihn aus seiner jetzigen Position fein säuberlich und vor allen Dingen schnell auf die Tasche.

„So, fertig“, kam es staubtrocken und Aya legte sich zurück, die Hände hinter seinem Kopf verschränkt und die Beine übereinander geschlagen.

„Pah!“, kam es von Schuldig zurück. Nun ja, wenigstens hatte er ein Mittel gefunden um Ran aufzumuntern: seinen Hintern.
 

o~
 

„Wie... bitte...?“
 

Ayas Blick kam, verengt auf Schuldigs breitem Lächeln zu Ruhen, das ihn begeistert anstrahlte, kam dann zurück zu dessen grünen Augen, die ihn noch begeisterter anstrahlten. Ihn, die schwarzdunkle Gewitterwolke, deren rechte Hand sich um seine Kaffeetasse schloss, als wolle sie sie zerdrücken.

Die Begutachtung abgeschlossen widmete er sich nun Crawford, der in aller Ruhe in einem der bequemen Ledersessel saß und seinen eigenen Kaffee trank und dessen Blick ihm sagte, dass er sich doch gefälligst an den rothaarigen Telepathen zu wenden hatte, der ihn wie eine radioaktiv verseuchte Karotte anstrahlte.

Letztere Beschimpfung stammte aus Ayas momentaner Laune, als er dachte, sich verhört zu haben, hiermit leider im Irrtum war.

Er WUSSTE, dass es einen Haken an der ganzen Sache gegeben hatte, sein Gefühl hatte es ihm schon auf dem Flug gesagt, als Schuldig mehr als bedacht gewesen war, einen zuvorkommenden und entspannten Eindruck zu machen.

„Habt ihr sie noch alle? Wessen Idee war das? Los, wen von euch soll ich als erstes kastrieren?!“
 

Brad fand es amüsant. Er wusste, dass der Rothaarige auf den Deal eingehen würde, allerdings…

„Ich gebe zu, dass es meine Idee war.“ Bevor Ran eine Schimpftirade auf ihn niederprasseln lassen konnte, hob er seine freie Hand, um dieser Einhalt zu gebieten.

„Keiner von uns beiden käme für diese Aufgabe in Frage. Keiner. Schuldigs Fähigkeiten in Puncto Verschleierung sind ohne Frage als meisterlich zu bezeichnen, allerdings eine komplette Polizeieinheit schränkt ihn derart in seiner Aufmerksamkeit ein, dass er sich kaum auf etwas anderes konzentrieren könnte.“

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht“, begehrte Schuldig auf.

„Willst du damit sagen, dass du nicht einen Teil deiner Kräfte für diesen Tag damit einbüßen würdest? Bist du dann noch zu etwas anderem als schlafen geeignet?“

„Ja~a gut, ich gebe zu für eine Massenhypnose brauche ich einen großen Vorrat an Energierese…“

„Ich selbst stehe außer Frage“, beendete Brad Schuldigs Erklärungsversuche. Er nahm einen Schluck Kaffee und wies mit der Tasse auf Schuldig bevor er sie abstellte.
 

„Die hirnrissige Idee dir deinen Part, an diesem kleinen Ausflug erst jetzt mitzuteilen kam von unserem Spaßvogel, dort drüben. Ich war der Ansicht es wäre geschickter und diplomatischer gewesen dir, diesen Vorschlag früher zu unterbreiten.“

„Was die Sache keinen Deut besser macht, das lass dir gesagt sein, Ami! Wie nett, dass ihr mich einfach so in diese Angelegenheit mit einspannt, ohne mir VORHER BESCHEID ZU SAGEN, VERDAMMT!“

Die arme Kaffeetasse in seiner Hand wurde wutentbrannt auf den Tisch neben Aya abgestellt. Blitze entluden sich besonders auf Schuldig, nun aber auch auf das Orakel.

Brad hob fragen eine Braue und sah sich den Ausbruch ungerührt an.

„Es steht dir frei abzulehnen. Ich zwinge dich zu nichts. Ich für meinen Teil hätte, dich auch vor unserem Eintreffen hier über die ‚Möglichkeit’ einer Teilnahme, an dieser Unternehmung informiert. Warum diese Aggression in meine Richtung?“
 

Schuldig erhob sich, mit Wut hatte er zwar gerechnet aber verdrängt, dass sich diese Emotion auf Brad einschießen könnte. „Ist doch kein Problem“, meinte er gelassen. „Ich krieg das schon hin. Dann muss ich eben mit etwas Scharade und Camouflage zusätzlich ran und dann verbrauche ich nicht derart viel Energie!“

„Das könnte funktionieren“, stimmte Brad mit undurchschaubarem Blick zu, nahm die Hälfte eines mit Marmelade bestrichenen Toastbrotes auf und biss hinein.
 

„Ihr wisst beide ganz genau, dass ich bei einer Bedrohung diesen Ausmaßes nicht die Füße hochlegen, und nichts tun werde!“, grimmte Aya. „Ihr wusstet es auch vorher ganz genau, als ihr beschlossen habt, mich nicht darüber zu informieren. Ich mache es, natürlich, aber Informationsweitergabe ist etwas anderes.“

Dunkel ruhte der Blick des Japaners auf den beiden anderen, im Speziellen auf Schuldig.

„Zumal ich noch nicht einmal in Ansätzen verstehe, was dagegen gesprochen hat, mich vorher wenigstens zu informieren, wenn nicht sogar zu fragen.“

Er stand ebenso auf wie Schuldig und tigerte unruhig auf und ab. Aya stellte fest, dass er durchaus Probleme damit hatte, einfach übergangen zu werden, was die Planung betraf, dazu war er einfach zu lange selbst der Anführer eines Teams gewesen.
 

Brad kümmerte sich nun um sein Frühstück. Das Thema war für ihn erledigt, denn der Japaner hatte zugestimmt, was ohnehin für Brad schon länger feststand.

Für Schuldig war das Thema jedoch noch nicht abgehakt. Leider.

„Naja… ich dachte du würdest vielleicht… ausflippen?“, versucht er zaghaft sich dem Kern der Sache zu nähern. „Es war eher eine spontane Eingebung, dass es viel leichter für dich wäre das Ding durchzuziehen, als für uns. Zumal es bessere Einblicke bringt, als wenn ich mich durch die einzelnen Köpfe klinke. Es dauert länger, es kostet mehr Energie…“

Schuldig verstummte.
 

„Ja NATÜRLICH ist das so!“, kam es gewittrig aus der anderen Ecke des Raumes zu, begleitet von einer unwirschen, ungeduldigen Geste, als wolle Aya diese Begründung vom Tisch wischen.

„Und du hast nicht daran gedacht, dass ich HIER ausflippen könnte, noch mehr, wenn ich vorher im Dunkeln gelassen werde, als wenn ihr es mir schon in Tokyo gesteckt hättet?“

„Doch das schon. Aber ich wollte nicht schon vorher deinem ‚Auftragsmodus’ ausgesetzt sein. Das erinnert mich so an früher und so warst du schön entspannt und gelöst… und jetzt bist du…“ Schuldig verstummte und blickte zerknirscht zu Brad hinüber und nahm gedanklichen Kontakt auf.
 

‚Sieh mich nicht so an, Schuldig. Dieser Gesichtsausdruck hatte noch nie eine Wirkung auf mich.’

‚Meinst du es zieht bei ihm?’

‚Kaum.’
 

„Das ist vollkommener Blödsinn, Schuldig, und das weißt du. Auftragsmodus. Als wenn ich bei einer simplen Undercovermission schon Stunden vorher im Auftragsmodus wäre und das noch auf einem Flug! Und was hast du jetzt? Jetzt bin ich sauer UND im Auftragsmodus.“

Aya bemerkte die minimale Stille, die Aufmerksamkeit, die sich die beiden anderen gerade schenkten.

„Sprecht ihr gerade per Telepathie über mich?“, fragte er lauernd.

„Nein. Über Schuldig hatten wir gerade gesprochen“, erwiderte Brad und begann damit sich, etwas von dem Rührei mit Speck auf den Teller zu geben.

„Ran, hör auf so misstrauisch zu sein!“, brummte Schuldig.
 

Brad blickte unterdessen auf seine Armbanduhr. „Ihr solltet langsam zu einem Konsens kommen. In einer Stunde wird Sonderermittler Oniwara am Flughafen landen. Bis dahin sollte einer von euch beiden sich dafür entschieden haben diese Rolle zu spielen.“

„Wie ich schon sagte, ich mache es, aber zufrieden mit eurer Vorgehensweise bin ich nicht.“

Aya ließ sich wieder in den Sessel fallen, schnappte sich seinen Kaffee und starrte aus dem Fenster.

Natürlich hatten sie nicht über Schuldig gesprochen, das WUSSTE Aya, zumal es ihm noch nie so vorgekommen war, als würden die beiden in seiner Gegenwart auf diese Art und Weise miteinander kommunizieren.

Das passte nun auch wunderbar zu dem Gefühl, dass er... kein Mitspracherecht hatte. Wie damals. Doch das war Unsinn, das wusste er selbst, nur es war da und ließ ihn auch nicht los.

„Wie soll der Auftrag ablaufen?“, fragte er schließlich sachlich, keine Spur der vorherigen Wut mehr in seiner Stimme, sondern im Missionsmodus.
 

„Wir haben eine Anfrage an die Sonderermittler in Tokyo abgefangen. Dieser Oniwara kommt erst morgen hier an. Wenn er eintrifft, wird er von mir instruiert und bekommt die Daten, die wir erhalten haben. Je nachdem ob es uns in den Kram passt, werde ich ihm einen kurzen Abriss seines Aufenthaltes hier in den Schädel pflanzen. Er wird nach Tokyo zurückkehren und alles wird in Butter sein.

Für die Bullen hier wird Sonderermittler Oniwara heute schon hier aufschlagen.

Am Flughafen angekommen wartest du, auf einen gewissen Typen mit Namen Kunihide. Er geleitet dich zur Polizeihauptwache. Du sollst dir Tatortbilder und einige Zeugenaussagen anhören und sie mit deinen Daten abgleichen. Nagi hat uns einen Laptop mitgegeben auf dem deine Recherchen zusammengetragen worden sind. Sie vermuten einen Zusammenhang zu den Morden in Tokyo und gehen von einem Serientäter aus.“
 

„Davon gehen wir auch aus“, nahm Brad den Faden auf. „Der Mord ähnelt dem, den ihr beiden am Hafen nur knapp verpasst habt. Gehen wir davon aus, dass Schuldig den Typen kalt gestellt hat, fragen wir uns wer jetzt weiter mordet. Vielleicht ein Nachahmungstäter, oder vielleicht sind wir der Gruppe auf der Spur, die uns schon mehrfach belangt hat? Wer weiß. Für meinen Geschmack ein oder zwei ‚vielleichts‘ zu viel.“

Schuldig setzte sich in die Nähe von Ran. „Nagi kam so schnell nicht an alle Bilder des Tatortes. Das was er gesehen hat deutet jedoch, auf eine weitere makabre Botschaft in unsere Richtung hin. Sicher ist er jedoch nicht. Bevor er sich mehr, um den Datendiebstahl kümmern konnte fing er eine Nachricht an die Sonderermittler, die mit dem letzten Mord betraut waren ab und wir beschlossen hier in Osaka zu erscheinen.“

„Was ist mit Polizeiuniform, Dienstmarke, Waffe und Aussehen? Meine Haare erkennt man zu leicht wieder. Mich erkennt man zu leicht, falls es tatsächlich eine Gruppe ist und diese Gruppe nur auf uns wartet.“

Informationsbeschaffung bei der japanischen Polizei... ein riskantes Spiel, aber mal sehen, ob sie dadurch nicht noch an andere Informationen gelangten.
 

„Alles in dem Koffer dort!“, wedelte Schuldig mit der Hand und stand diensteifrig auf um besagtes Reisegepäck auf das Bett zu legen und zu öffnen.

„Wann genau werde ich am Flughafen sein? Was macht ihr in der Zwischenzeit?“ Aya trank den letzten Schluck aus seiner Tasse und erhob sich dann, um den Koffer genauer zu inspizieren. Es war alles da, angefangen bei der Uniform, bis sogar zu einer Perücke. Sehr gut.
 

„In einer Stunde und 47 Minuten. Du brauchst etwa 20 Minuten zum Flughafen. Dort wirst du dich in der Herrentoilette umziehen. Ich werde dir dabei helfen. Ich bin dein Backup. Ab dem Zeitpunkt in dem du, die Toilette verlässt wirst du, nicht mehr wissen wo ich bin, aber ich werde in deiner Nähe sein.

Brad wird hier warten und mit Nagi in Kontakt bleiben, um bei Schwierigkeiten sofort handeln zu können.“ Schuldig setzte sich eine Brille Marke Bürodrohne auf die Nase.

„Sobald alles abgeschlossen ist, verlasse ich dieses Hotel und wechsle ins Hyatt Regency. Morgen gegen 14.20 landet die Maschine von Oniwara. Schuldig wird sich um ihn kümmern und ihn mit dem Auftrag, am Abend einen Heimflug zu buchen, entlassen.“
 

Aya sagte nichts darauf, sondern ging zu seiner Tasse zurück und füllte sie sich neu. Es war alles soweit durchgeplant, ohne ihn, und er war nur dazu da, es auszuführen.

Ein wenig Wut gestattete sich Aya, doch die wurde der Stadt zuteil, da er dem Hotelraum seinen Rücken zudrehte und einen Blick aus dem Fenster warf. Sie waren hoch über den Dächern der Stadt untergebracht, so hatte Aya einen guten Ausblick.

Doch dieser Ausblick war nur von kurzer Dauer, denn er wandte sich ab und ging erneut zum Koffer, nahm sich Hemd, Krawatte, und Schuhe mit, die er jetzt schon anziehen konnte. Mit diesen Sachen ging er ins Bad und lehnte die Tür an, besah sich die Masse seiner Haare im Spiegel.

In solchen Momenten verfluchte er seine langen Haare, waren sie doch unpraktisch und unhandlich.
 

Schuldig packte unterdessen das ein, was er für seine eigene Verkleidung benötigte. Vor allem mussten seine verräterischen Haare unter eine Baseballmütze gestopft werden. Er band sie zu einem Zopf zusammen, schob sich die Kappe über die Haare und die Sonnenbrille vor die Augen.

„Soll das reichen?“ Brads Stimme klang amüsiert.
 

„Sicher. Wer würde mich unter dieser, exzellenten Verkleidung, schon erkennen?“, meinte Schuldig gelangweilt spöttisch. „Aber damit du keine Angst um mich haben musst werde ich meinen kleinen Trick, den ich so gut beherrsche, zur Anwendung bringen.“ Er vollführte eine kleine spöttische Verbeugung in Richtung Brad.

„Ich habe weniger Angst um dich, als um deine Neugierde.“

Schuldig runzelte die Stirn. „Was soll das jetzt bedeuten?“
 

Aya lauschte der Unterhaltung der beiden eher im Hintergrund, während er sich umkleidete und danach das Bad verließ. Im Koffer selbst fand er schließlich eine Tüte, in der er, die restlichen Sachen verstaute, die er benötigte, um die formalen Anforderungen zu erfüllen. Uniformjacke, Hose, Ausweis... ganz der brave Polizist, wie er mit einem Blick auf die Perücke feststellte, die sich ihm hier mit aparten Kurzhaarschnitt und Seitenscheitel präsentierte.

Aya seufzte, als er sie in seinen Händen hielt, doch das eher unbewusst. Brav, bieder, gesetzestreu. Ja, das war einmal.
 

„Schick!“, behauptete Schuldig beim Anblick der Perücke. „Hab ich selbst ausgesucht. Toll was?!“ Er musste sich zusammennehmen damit er nicht zu dick auftrug. Es war schwierig genug eine Perücke zu finden, die zwar ordentlich aussah und den Anforderungen genügte, aber dennoch genug längeres Haar besaß um Rans Naturfülle, darunter verbergen zu können.

„Ihr solltet euch beeilen“, merkte Brad an und erhob sich um den Koffer zu öffnen, in dem der Laptop verstaut war, mit dem er mit Nagi, die Verbindung halten konnte.

Schuldig nahm einen Rucksack zur Hand und schulterte ihn. Darin befanden sich seine Waffe und für Ran Kleidung zum Wechseln.

Aya verstaute die Tüte in eine Aktentasche, die er, als braver Polizist, dabei haben würde, wenn er das Flugzeug verlassen würde. Darin enthalten waren Laptop, Unterlagen und Ausweis.

Er registrierte Schuldigs Bemerkung und sein Blick streifte den anderen, während er sich seine Regenjacke anzog, die er zur Not auch über die Uniform ziehen konnte. Seine Ablehnung des Vorgehens der beiden konnte er nicht wirklich, aus seinem Blick halten.

„Wie gut, dass ich da kein Mitspracherecht hatte“, kam es auch dementsprechend ausdruckslos und gerade deswegen mit Vorwurf von ihm, während er die Aktentasche griff.

Er wandte sich in Richtung Zimmertür.
 

„Warte mal, Gewitterwölkchen!“, bremste Schuldig Ran aus und schnappte sich dessen Aktentasche gewandt aus Rans Hand. „Den hier werde ich dir bringen.“ Artig öffnete er Ran, die Tür und wartete dienstbeflissen.

Da die Tür sich schon geöffnet hatte und sie somit der Neugier anderer, vorbeikommender Hotelgäste ausgesetzt waren, enthielt sich Aya einer Antwort, sondern ließ sich die Tasche aus der Hand nehmen und wartete im Flur auf Schuldig.

Gewitterwölkchen... jetzt wurde er also schon verniedlicht. Eine kleine, unfaire Stimme in Aya sagte ihm, dass es daher kam, dass er keine Kräfte hatte und sie ihn deswegen als Helfer und nicht als vollwertiges Mitglied eingeplant hatten.

Aya versuchte dagegen zu argumentieren, dass es sicherlich nicht so sei, dass Schwarz ihn oft genug als Abyssinian hatten arbeiten sehen, doch ein Teil blieb in ihm.
 

Sie gingen schweigend hinunter in die Lobby und von dort aus zu den Parkdecks. „Nagi hat uns einen Wagen besorgt und ihn hierher bringen lassen. Lass mal sehen…“

Schuldig blickte sich um und kramte aus seiner Tasche einen Schlüssel hervor um ihn kurz in die Luft fliegen zu lassen. Er zwinkerte Ran kokett zu und grinste. Dann setzte er sich in Bewegung und fand das zum Schlüssel gehörige Fahrzeug, eines Mietwagenanbieters.

Er hielt Ran die Tür galant auf und setzte sich selbst hinters Steuer.
 

Aya wartete, bis sie gestartet waren, dann entspannte er sich willentlich in seinem Sitz.

„Ich finde es zum Kotzen, dass du mir nichts gesagt hast, dass ich überhaupt nicht in eure Planung einbezogen wurde und du dich auch noch darüber lustig machst. Liegt es daran, dass ich keine PSI-Kräfte besitze?“ Seine Stimme war sorgsam ruhig gehalten, auch wenn Wut in ihm schwelte.
 

„Ähm… Nein! Wie kommst du jetzt darauf?“, hakte Schuldig nach und wandte sich halb zu Ran um, bevor er sein Augenmerk nach hinten richtete rückwärts aus der Lücke hinausfuhr.

„Eigentlich sollte ich den Part übernehmen, aber dann… nun dann meinte Brad, dass du besser geeignet wärst. Es würde mich entlasten. Und ich könnte besser als Backup fungieren. Das war eine… spontane Entscheidung. Ebenso spontan dachte ich, dass es besser wäre es dir erst später zu offenbaren. Es gab keinen speziellen Grund, dich nicht in die Pläne einzuweihen. Du warst nur primär nicht eingeplant.“
 

„Du kennst mich mittlerweile gut genug, Schuldig. Du hast mich als Abyssinian erlebt. Hast du jemals allen Ernstes geglaubt, dass ich spontan informiert werden möchte, wenn ich Teil eines Auftrages bin?“

Schuldig antwortete nicht darauf, er empfand diese Frage, als rein rhetorisch. Er parkte aus und fuhr vom Parkdeck. Dann schlug er den Weg zum Flughafen ein. Wie gut, dass es ein Navigationssystem gab. Seine Ortskenntnisse hätte er, als schlecht bezeichnet, wenn er danach gefragt worden wäre.
 

Keine Antwort war auch eine, eine, die Aya sehr viel verriet. So drehte er den Kopf zur Seite und ließ sich schweigend von der höflichen Frauenstimme durch die Stadt leiten.

„Warum bleibt Crawford im Hotelzimmer?“, fragte er schließlich, als er darüber nachdachte, dass er Crawford selten im aktiven Geschehen gesehen hatte. Er schien die Fäden im Hintergrund zu ziehen, was aber vermutlich nicht den Grund der Faulheit hatte, den er manchmal spaßeshalber vorschob.

Schuldig hielt an einer Ampel und warf Ran einen nachdenklichen Blick zu. Dann wurde sein Blick geheimnisvoller, verschwörerisch, bevor er die Scharade aufgab und mit den Schultern zuckte. „Er ist der Schwächste von uns. Er hat keine Offensivkraft, dient lediglich der Defensive. Er kann sich nur mit den üblichen Waffen verteidigen. Seine Kräfte sind nutzlos im offenen Kugelhagel. Er kann ausweichen, sich verteidigen, aber er kann nicht direkt mit seinen Fähigkeiten in den Angriff gehen.“
 

Crawford war der Schwächste von Schwarz.

Das war neu... und das war die Erklärung für sehr vieles, das Crawford betraf. Seine Dominanz, seine Arroganz, die Strenge, mit der er sein Team führte, die Unnachgiebigkeit, wenn sie nicht gehorchten.

Er wusste, wenn er nachlassen würde, wenn er weniger Disziplin und Dominanz an den Tag legen würde, würden ihn die Wölfe des Teams zerfleischen. Schuldig hatte schon bewiesen, dass er in die Gedanken des Orakels eindringen und ihm Schmerz zufügen konnte. Bei Jei war es vermutlich ähnlich gelagert und Nagi bedurfte nur einer einzigen Handbewegung, um ihn umzubringen.

Und was hatte Crawford dem entgegen zu setzen? Nichts, außer seiner Voraussicht. Keine aktive Gabe.

Verständnis für Crawfords Verhalten keimte in Aya auf, zwar keine großartige Akzeptanz, aber ruhiges Verständnis.

„Trotzdem setzt er sich manchmal der Gefahr aus.“

„Natürlich. Er ist zwar der Schwächste, aber auch der Mächtigste von uns. Das ist durchaus ein Unterschied. Ich weiß nicht was die eine oder die andere meiner Handlungen im Gesamtgefüge anrichtet. Er schon. Anfangs mussten wir lernen ihn, als Anführer zu akzeptieren. Er musste nicht viel dafür tun. Wir sind von alleine draufgekommen. Jeder für sich.“ Die Ampel schaltete um und Schuldig fuhr wieder an.

„Allerdings macht er sich nicht oft die Hände schmutzig“, fügte er gemeinerweise hinzu.
 

„In China hat er sich die Hände schmutzig gemacht“, erwiderte Aya schulterzuckend und sah wieder aus dem Fenster. In China hatte er es getan und Schuldig damit abgelenkt... das waren Crawfords eigene Worte gewesen.

Aya schloss das Thema für sich ab und wechselte in seine Rolle als Polizist. Er ging nochmal die einzelnen Details und Verfahrensabläufe der Polizei durch. Es war lange her, dass er eine andere Rolle gespielt hatte und er hoffte, dass nichts schief ging.
 

Wenig später war Schuldig alleine im Wagen und ließ sich Zeit diesen zu parken. Er nahm die Tasche und den Koffer, den er für Ran vorgesehen hatte und machte sich gemächlichen Schrittes auf zum vereinbarten Treffpunkt.

Aya hatte sich währenddessen in den beschriebenen Waschraum mit angeschlossenen Toiletten begeben und ging planmäßig in die mittlere Kabine, schloss hinter sich ab. Ein kurzer Blick in den Raum hinein hatte ihm gezeigt, dass sich momentan fünf Männer hier befanden. Bei keinem von ihnen hatte er große Aufmerksamkeit erweckt. Sehr gut.

Schuldig kam jetzt bei den Toiletten an, ging jedoch nicht hinein, sondern wartete in der Nähe um sich in einen der Männer, die Ran umgaben einzuklinken. Er zählte die Anwesenden unauffällig und wartete bis sie den Waschraum nach der Verrichtung der Dringlichkeiten rasch verließen. Als der Raum sich langsam lehrte stieß er sich, von seiner Stütze – einer Wand – ab und ging hinüber um die Tür zu öffnen. Ein Mann war noch im Raum, der jedoch bereits beim Händewaschen angekommen war. Sehr löblich, bemerkte Schuldig schmunzelnd. Er konzentrierte sich darauf, dass jeder, der die Toilette betreten wollte, von ihm bemerkt und umgeleitet wurde.

„Na… wo ist denn mein kleiner Polizist?“, fragte Schuldig in bester Psychomaniacmanier und blieb schließlich vor Rans Tür stehen.
 

Das war so typisch Schuldig...

Wortlos öffnete Aya die Tür und ließ den anderen hinein, nachdem er mitverfolgt hatte, dass der Waschraum nach und nach leerer wurde. Anscheinend war Schuldig auch schon in seinem Auftragsmodus, gemessen an dem spielerisch sadistischen Einschlag in seinen Worten und seiner Stimme.

In der Mutmaßung von Kameras im Waschbereich der Toilette hatten sie es, in der Planung vorgezogen, dass Ran sich in einer der Kabinen umziehen sollte.

„Hmm… schön eng“, war es natürlich nicht, dennoch musste Schuldig etwas sagen um Ran ein wenig auf Trab zu halten. Er hatte seit gestern das dringende Bedürfnis ihn zu reizen. Was ihm bisher auch bravourös gelungen war.

Woran das lag konnte Schuldig nicht sagen, doch seine innere Stimme glaubte, dass es mit der Nähe zu Brad und zu Ran etwas auf sich hatte.
 

„Hilf mir beim Umziehen“, erwiderte Aya mit einem Augenrollen darauf und schloss die Tür, machte sich daran, den Koffer zu öffnen, den Schuldig mitgebracht hatte und sich die Hose auszuziehen.

Es würde mit der Perücke einfacher gehen, wenn er komplett umgezogen war.

„Das fragst du mich doch nicht im Ernst jetzt?“, blinzelte Schuldig und seine behandschuhten Hände spitzten kurz unter Rans Unterwäschebund. Er lächelte versonnen. So ein entspannender Quickie, während eines Auftrages hatte schon etwas für sich.

„Aber wenn du mich so darum bittest…“, mit einem kleinen Ruck war die Hose unten und Ran an Schuldigs Vorderseite gezogen.

Aya war kleiner als Schuldig, etwas nur, doch es reichte, dass er bei dieser Nähe nach oben sehen musste. Der Blick, der Schuldig traf, war hart und dominant.

„Lass mich los.“ Passend zu seinem Blick war sein Ton mit einer latenten Drohung durchzogen.
 

„Ach? Ja? Und was passiert wenn nicht?“ Schuldigs Hand schob sich, auf Rans warmen Unterbauch, blieb dort mit sanftem Druck liegen.

Seine Lippen strichen über Rans Ohr. „Willst du guter Bulle böser Gefangener mal andersherum spielen?“

Aya pflückte die Hand des Telepathen von seiner nackten Haut und zog seinen Kopf zurück.

„Du hast dir heute genug geleistet. Denkst du, ich bin in Stimmung, dir meinen Arsch für ein kleines Stelldichein hinzuhalten?“ Er versuchte, sich von Schuldig zu lösen und sich wieder seiner Aufgabe zu widmen.

Schuldig sagte nichts darauf, ließ Ran gewähren und lächelte lediglich ein wenig verschlagen vor sich hin. Er würde abwarten bis Ran bekleidet war und den gesetzestreuen und pflichtbewussten Polizisten mimte. Er hatte schon lange keinen Bullen mehr vernascht. Noch dazu einen, der ihm gehörte und einer der so herrlich verführerisch roch und einen, göttlich zu nennenden Körper besaß.

Schuldigs Blick fiel auf die Handschellen, die unter einem nagelneu verpackten Ersatzhemd hervor lugten. Er bückte sich unauffällig um seinen Rucksack zur Seite zu stellen und Ran vermeintlichen Platz zu machen und nahm die Handschellen auf.
 

Mal sehen wie sich der gute Polizist gleich gebärden würde, wenn der böse Teufel anrückte und ihm seine nicht mehr vorhandene aber vorgetäuschte Unschuld rauben wollte. Denn so wie sich Ran hier aufführte hätte Schuldig fast glauben können Ran fürchte sich vor dem Verlust seiner Jungfräulichkeit.

Nun wo er Ruhe hatte, zog sich Aya in schweigender Eile um, entledigte sich zunächst seiner Hose und streifte sich die blaue Uniformhose eines Polizisten über, die er sauber mit einem Gürtel an Ort und Stelle hielt. Die Waffe wurde in die vorgesehene Halterung an seinem Gürtel geschoben, das Magazin in die kleine Ledertasche daneben.

Dann kam der Horror... die Perücke. Aya schaffte es mithilfe eines mitgebrachten Spiegels, sich seine Haare eng an den Kopf zu stecken und auch wirklich ALLE verschwinden zu lassen, als er sich den aparten, biederen Kurzhaarschnitt auf den Kopf stülpte und die Ponyfransen so zurecht zupfte, dass man es nicht als Perücke erkannte.

Schweigend den Koffer durchwühlend, fand er alles, bis auf... die Handschellen.

Langsam sah Aya auf und ein unguter Verdacht keimte in ihm auf. Schuldig war in den letzten Minuten verdächtig still und zurückhaltend gewesen.

Entsetzen schlich sich in seinen Blick und er war dabei, sich ruckartig umzudrehen...
 

„Zu spät“, gurrte Schuldig, drängte Ran mit der Wange und dessen Unterkörper an die Kabinenwand, sodass es rumste. Er drehte ihm den Arm auf den Rücken und schon klickten die Handschellen. Mit einigen Mühen – denn Ran war ganz und gar nicht erfreut und noch weniger handzahm – gelang es ihm den anderen Arm ebenfalls auf den Rücken zu zerren und schon war Ran sauber verschnürt.

„So…“

Schuldig und Rans Keuchen füllte den Raum zwischen ihnen und Schuldig drehte Ran zu sich um, lehnte ihn gönnerhaft lächelnd an die Kabinenwand an. „Jetzt kann ich endlich mal wieder einen biederen pflichtbewussten Polizisten ärgern! Das hatte ich schon seit Jahren nicht mehr“, bemerkte er bedauernd.
 

Aya war in der Tat ganz und gar nicht davon begeistert... absolut nicht. Er war mehr als wütend und seine Wut war überschäumend. Er hatte sich gegen Schuldig gewehrt und dem Mann einiges an Kampf geboten, doch letzten Endes war es zwecklos gewesen, ABSOLUT zwecklos!

Sich nicht um die Worte des anderen scherend trieb er sein Knie nach vorne, in der Absicht, es Schuldig in seine Weichteile zu treiben. Er hatte genug von dessen Sprüchen! Genug davon, dass Schuldig ihm Dinge versprach, die er nachher wieder brach, auch wenn Aya nicht einen Bruchteil der Angst verspürte, die er sonst anhand von Fesseln verspürte, eben weil sie in der Öffentlichkeit waren... eben weil er diese Dinger bald wieder los sein würde.
 

Schuldig schnalzte tadelnd, fing das Knie ein und drängte es zurück. Er zwinkerte Ran zu, bevor er diesen recht unsanft auf den Toilettensitz beförderte.

„Du weißt wie sehr es mich anturnt, wenn dieses Violett derart scharfkantig und Schmerzen versprechend auf mich niederfährt? Du glaubst doch nicht allen Ernstes, das würde mich von etwas abhalten, oder?“, säuselte er in ruhigem Tonfall. Er warf einen Blick auf die Uhr. Sie hatten noch genügend Zeit. Schließlich hatte er die Zeitplanung in der Hand gehabt.
 

Er sah von seiner Uhr auf Ran hinunter, auf dessen braven fedrigen Haarschnitt. „Kurze Haare stehen dir durchaus“, bemerkte er und kam nahe an Ran heran, sodass er breitbeinig vor ihm stand und sich an dessen erst kurz zuvor sorgfältig geschlossenem Gürtel zu schaffen machte. Die Hose zippte auf und Schuldigs Hand fand Rans Glied, koste mit seinen Fingern begrüßend darüber.

„Es kommt mir fast wie eine kleine Ewigkeit vor, dass ich dich berühren durfte“, wisperte er und seine Augen fanden das harte Violett.

Das harte Violett, das keinen Millimeter weicher wurde. Aya konnte sich der körperlichen Reaktionen auf Schuldig nicht erwehren, dafür war es zu lange her, dass sie das letzte Mal Sex gehabt hatten, doch er wollte es nicht.

Er empfand Schuldigs Position, seine eigene, als eine momentane Bedrohung und Ablenkung vom eigentlichen Auftrag.
 

Seine Augen suchten ein weiteres Mal, die des anderen und mit mühsam unterdrückte Rage erwiderte er: „Ich habe es dir nicht erlaubt.“
 

Schuldigs Hand hielt inne, noch bevor sein Gehirn ihm vermeldet hatte was Ran gesagt hatte, was es bedeutete. Er blinzelte und ging in die Hocke, außer Acht lassend, dass Ran sein Knie nur hochschnellen lassen musste um ihn auszuknocken.

Wie sollte er jetzt weitermachen?

Er fühlte sich völlig aus dem Konzept gebracht, mit diesem Satz von Ran. So einfach war es nicht darauf zu reagieren, in dieser Situation.

Er durfte nicht zeigen, wie sehr in diese Abweisung traf, denn Ran sollte nicht abgelenkt werden. Er war selbst Schuld an dieser Situation, hätte voraussehen sollen, dass Ran so reagieren würde. Es war noch zu früh.
 

Obwohl er in Rans Augen deutlich sehen konnte, dass dieser nicht wollte, sagte dessen Körper etwas anderes, dennoch durfte er Ran nicht übergehen. Das war genau der springende Punkt bei ihrem letzten Sex gewesen.

Er beugte sich zu Rans Glied hinab, platzierte einen weichen Kuss auf das halb erigierte Fleisch. Ein schelmisches Lächeln später, zwinkerte er Ran zu, verpackte dessen Männlichkeit und erhob sich.

Es wäre so praktisch gewesen, während des Manövers in Rans Gedanken zu sein, ihn begleiten und absichern zu können. Jetzt musste es auf die herkömmliche Weise von Statten gehen.

„Du hast noch zwanzig Minuten. Das Flugzeug landet in zehn Minuten. In deinem Mobiltelefon ist die oberste Nummer Brad zugeordnet, die darunter Nagi und dann komme ich. Falls es Schwierigkeiten mit den Behörden, den Zuständigkeiten oder Ähnlichem… gibt, dann melde dich bei ihnen. Ansonsten bin ich in der Nähe.

Schuldig zauberte die Schlüssel zu den Handschellen hervor, half Ran beim Aufstehen und fahndete nach dem Schlüsselloch. Währenddessen sah er Ran an, rechnete mit einem Racheakt und sah diesem gelassen entgegen. Die Handschellen öffneten sich.
 

Der Racheakt blieb zunächst aus, denn Aya war sich nicht ganz sicher, ob er dem anderen eine runterhauen sollte oder nicht. Viel in ihm plädierte für ein Ja, einiges jedoch für ein Nein, da er Schuldig kannte.

Nur zu gut kannte.

So sagte er erst einmal gar nichts, sondern schloss nur seine vorher geöffnete Hose und den Gürtel wieder.

Er war froh, dass es keinerlei weiterer Kämpfe bedurft hatte, um seine Hände von den Handschellen zu lösen. Um aufzustehen und ihm zumindest das Gefühl der Bedrohung zu nehmen. Allerdings ein Gutes hatte es... die Wut auf die Missachtung seiner Meinung, bei der Planung des Auftrages war momentan in den Hintergrund getreten.

Er nickte zu Schuldigs Worten und sah kurz hoch, begegnete für den Bruchteil einer Sekunde den grünen Augen, die darauf warteten, dass er auf die Situation gerade reagierte.
 

Schuldig verstand, dass Ran ihn kaum ansehen konnte. Er war wütend und beinahe hätte Schuldig ihm das gleiche angetan wie noch vor wenigen Tagen. Aber dieses Mal hatte er auf Ran gehört, hielt er für sich selbst einen Pluspunkt bereit. Wenn auch nur einen.

Schuldig nahm seinen Rucksack auf. „Ich bin in der Nähe, pass auf dich auf“, lächelte er versöhnlich. Er fühlte das dringende Bedürfnis Ran zu berühren in sich aufkommen. Doch er unterließ es. „Bis später und scheuch die armen Bullen nicht so gemein herum!“

Er löste seine geistige Aversionsblockade für den Toilettenraum und schon kam ein Besucher herein. Schuldig wusch sich die Hände und verließ dann die Toilette um sich in der Nähe ein Plätzchen zu suchen, welches einen guten Überblick bot. Für andere Menschen wurde er zum Nebelgespinst. Ein Namenloser für sie, die sie, für ihn keine Gesichter hatten.
 

Schuldig war gegangen und Aya blieb noch einen Moment lang in der Kabine, atmete tief durch. Es war nicht exakt das, was er vor einem Auftrag brauchte, aber geschadet hatte ihr kleines Intermezzo seiner Konzentration nicht. Dafür war seine Disziplin einfach zu hoch.

Innerhalb weniger Augenblicke war er der biedere, brave Polizist, der die Toilettenkabine verließ. Er zog einige Blicke auf sich, doch die ignorierte er und verließ den Vorraum, trat hinaus in das geschäftige Treiben des Flughafens.

Adrenalin putschte seinen Puls hoch und ließ ihn innerlich lächeln. Ja, er hatte es vermisst.
 

o~
 

„… und niemand hat etwas gesehen“, merkte Nakazawa an. „Geschweige denn etwas gehört. Die drei Opfer waren auf einer Party und sind anschließend für einen kleinen Absacker zur Tatwohnung gefahren. Allesamt Studenten. Studierten Psychologie an der hiesigen Universität.“

Nakazawa kratzte sich nachdenklich durch seinen Drei-Tage-Bart und deutete auf die Bilder, die auf dem großen Bildschirm prangten.

„Wenn sie mich fragen, dann hat man sie gezwungen das Zeug anzuziehen. Oder sie hatten eine ziemlich lustige Party“, fügte er nachdenklicher hinzu. „Wir sind jedoch zu dem Schluss gekommen, dass dies am Unwahrscheinlichsten ist.“

Nakazawas forschender Blick glitt über die Bilder und kurz zu Sonderermittler Oniwara. Sein Vorgesetzter hatte sich nach einer kurzen Vorstellung verabschiedet und ihm die Aufgabe überantwortet Oniwara ins Bild zu setzen. Allerdings hatte man IHM nichts davon berichtet und IHN von seinem wohlverdienten Feierabend – nach wohlgemerkt drei Tagen ohne wirklichen Schlaf – noch die Aufgabe erteilt dem Sonderermittler aus der Hauptstadt ihre Daten zu präsentieren. Entsprechend wenig vorbereitet war er und entsprechend hoch war auch die Beleidigung – in seinen Augen – die man dem Sonderermittler damit entgegenbrachte.
 

Nakazawa wusste um das Zuständigkeitsgerangel der einzelnen Abteilungen, welches hier herrschte. Dennoch hatte er darauf plädiert, die Sonderermittler hinzuziehen und den Fall „zusammen zu lösen“ was auch zu bedeuten hatte, dass sie Daten abglichen und wenn es nötig war den Fall abgaben.

„Das vermute ich auch.“

Oniwara – alias Aya – sah sich die Fotos genau an. Jedes einzelne betrachtete er sich, nahm Details auf, betrachtete sie unter einem anderen Licht als die anderen zwei.

Hier lag Schuldig. In dreifacher Ausführung. Effektheischendes Grün, reines, blutbeschmutztes Weiß, gleißendes Orange. Dazu arrangierte Details, die ihm nur allzu bekannt vorkamen. Es waren Gegenstände aus Schuldigs alter Wohnung, Gegenstände, die sie nur allzu gut kannten. Er erkannte die grottenhässliche, kitschige Kerze in SD-Mecha-Form, er erkannte das aufgeschlagene Deutsch-Japanische-Wörterbuch mit seinem Lesezeichen darin. Aya hatte damals beim Apfelstrudel ein kleines Stück Papier hineingesteckt mit einem Pfeil nach unten... und das war er.
 

Es war arrangiert. Alles und genau das war das Grausame an diesen Fotos. Einer der Jungen war... wie Schuldig auf den damals retuschierten Fotos gestorben, ein Loch in der Brust, die Augen geschlossen, es war wie damals, als er sich die Bilder im Leichenschauhaus angesehen hatte.

Das Mädchen trug eine orangene Perücke, die ihr halb vom Kopf gerutscht war und ein grünes Jackett... giftgrün. Die Sonnenbrille, die sie vorher in den Haaren gehabt hatte, lag zersplittert auf dem Boden. Der weiße Rock war ihr bis kurz über ihre Scham hochgeschoben worden. Jemand hatte ihr mit Blut das Wort „Schlampe“ auf die linke Oberschenkelinnenseite geschrieben.

Die dritte Leiche war... es fehlte etwas und was genau das war, konnte Aya erst nach einem Moment erkennen, da sein Gehirn sich weigerte, das anzuerkennen, was deutlich auf dem Bild zu sehen war.

Der Junge war ganz in Schwarz gekleidet und hielt die Hände wie eine Schale vor sich. In dieser Schale lag... sein Gehirn. Auf dem Gehirn befand sich ein kleiner Käsewürfel, der mit einem kleinen Spieß an das Gehirn gestochen worden war. Dieser Spieß hatte eine Fahne.

Es war die deutsche Fahne.

„Die Berichte des Kriminalpathologen liegen hier vor“, Nakazawa scrollte auf dem Laptop die Berichte herunter und sie erschienen für den Ermittler aus Tokyo auf dem flachen Wandbildschirm.
 

„Wenn sie mich fragen ist das eine Botschaft. Nur von Wem an wen? Einige Mutmaßungen haben wir bereits, allerdings ohne Beweise… wir fanden Fingerabdrücke. Sie finden die Auswertung auf den folgenden Seiten des Berichts.“

Aya lehnte sich zurück und las sich schweigend die Berichte durch, die Mutmaßungen. Es gab Fingerabdrücke, doch die waren nicht bekannt. Entweder sie waren von den namenlosen Unbekannten oder... wie so vieles aus der Wohnung von ihnen.

Es war ein leichtes, Fingerabdrücke zu nehmen und fälschlicherweise auf den Tatort zu projizieren.

Wenn dem so war, müsste sich Nagi in den Polizeicomputer hacken und die Daten ändern... aber erst einmal mussten sie herausfinden, was das für Abdrücke waren.
 

„Welche Mutmaßungen haben Sie, wenn ich fragen darf?“, fragte er schließlich und bedachte Nakazawa mit einem ausdruckslosen Blick.
 

Nakazawa erhob sich aus seiner gemütlichen Position heraus und stand auf. Er ging zum Fenster hinüber und blickte hinaus auf die wenig spektakuläre Aussicht eines gegenüberliegenden Gebäudes.

„Vor ein paar Jahren… vier oder fünf könnten es gewesen sein, gab es ähnliche Vorkommnisse in ihrem Zuständigkeitsbereich. Ich war damals noch nicht hier in Osaka, sondern in Tokyo stationiert. Damals arbeitete ich an einigen Fällen.“ Er machte eine Pause und wandte sich kurz zu Nakazawa um.

„Sie verstehen… an ‚unlösbaren’ Fällen. Kurz nachdem die Akten geschlossen wurden erledigten sich diese Fälle auch in schöner Regelmäßigkeit. Ich vermutete ein Sondereinsatzkommando. Es ging das Gerücht um, dass eine Untergrundgruppe diese speziellen Fälle erledigte. Mit unsauberen Mitteln und unter Umgehung der Gesetze.“ Er räusperte sich.

„Wie dem auch sei.“

Er zuckte elegant mit den Schultern. „Damals gab es ähnliche Morde wie diese. Weniger arrangiert, dennoch die gleiche Art Grausamkeit. Vielleicht sollten wir diese Fälle wieder hervorholen.“

Er drehte sich um und sah sich den Ermittler an. „Möchten Sie noch eine Tasse Tee Herr Oniwara?“
 

Es war interessant zu hören, wie die Polizei über sie dachte.

Aya sah auf und nickte. „Sehr gerne, Herr Nakazawa, das ist sehr freundlich von Ihnen“, lächelte er. Ja, er erinnerte sich an die Morde damals. Sie hatten die Psychopathen, die diese Morde damals begangen hatten, getötet. Mit unsauberen Mitteln und ohne Gesetze.

„Glauben Sie, dass diese Untergrundgruppe diese drei Menschen getötet hat?“, fragte er und lud sich auch diese Daten auf seinen eigenen Laptop, damit sie alle Berichte zusammen hatten.

„Sie sehen müde aus, Herr Nakazawa, aber wäre es Ihnen vielleicht möglich, mich später zum Tatort zu begleiten, damit ich mir ein eigenes Bild von der Lage machen kann?“

„Selbstverständlich. Entschuldigen Sie mich einen Moment.“
 

Nakazawa verließ das Büro und kümmerte sich persönlich um den Tee seines Gastes. Er war hundemüde und er freute sich schon jetzt auf sein Bett. Dennoch musste er die nächsten Stunden noch so gut, als möglich über die Bühne bringen.

Zurück im Büro setzte er sich wieder an den Schreibtisch. Er genoss den Vorzug den Vorführungsraum als momentanes Basislager seiner Ermittlungen zu okkupieren.

„Diese Untergrundgruppe verschwand soweit unsere Unterlagen stimmen. Die letzten Jahre wurden mir über meine noch bestehenden Kontakte nichts über dergleichen wie damals berichtet. Vielleicht lag es am Wechsel der politischen Führung. Wer weiß.“
 

Er blickte erneut auf die Bilder. „Nein, ich glaube dass es einer alleine war, der diese Tat begangen hat. Und er hat keine Skrupel, geschweige denn Berührungsängste mit Blut, Fleisch und… generell Körperteilen. Menschen scheinen ihm nur Mittel zum Zweck.“ Ein grüblerischer Ton hatte sich in seine Stimme gelegt.

Der Polizist hatte Verbindungen, die ihm etwas über diverse Untergrundorganisationen berichten konnten? Das war gar nicht gut, so ganz und gar nicht. Schuldig musste sich den Mann einmal ansehen und ‚Weiß‘ sollte auch über ihn Bescheid wissen. Ärger mit der Polizei konnten sie nicht gebrauchen, ganz und gar nicht.
 

Aya deutete eine Verbeugung an und schlang seine Hände dankbar um den Tee. Warm war es hier nicht.

„Mir scheint es auch ein Einzeltäter zu sein. Das würde auch erklären, warum die Todeszeitpunkte der Opfer sich um ein paar Stunden verschieben.“
 


 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal! ^.^

Coco & Gadreel

Badgeflüster

~ Badgeflüster ~
 

o~
 


 

Schuldigs Aufmerksamkeit lag nicht auf Nakazawa. Zwar streifte er gelegentlich dessen Gedanken, allerdings stets auf der Suche nach einer Bedrohung für Ran.
 

Schuldig hatte in einem nach französischem Vorbild gestalteten Bistro Posten bezogen und gönnte sich ein zweites Frühstück. Von hier hatte er einen guten Blick über den Eingang des Polizeireviers und konnte vorgeben eine Zeitung zu lesen, was er auch mit belesener Emsigkeit tat. Draußen begann es sich einzuregnen und Schuldig war froh, dass er noch mindestens eine Stunde hier verbringen konnte, ohne dass es zu auffällig wurde.
 

Nach dieser Stunde verließ er das Bistro und schlenderte in einen kleinen Geschenkartikelladen und erstand einige Kleinigkeiten für seine beiden ‚Daheimgebliebenen’. Er ließ sie verpacken und verstaute die Mitbringsel in seinem Rucksack.

Während die Zeit dahinzog vertrieb er sich die noch verbleibende indem er die die einzelnen Individuen, die ihn kreuzten und in Rans Nähe gelangten telepathisch beleuchtete. Natürlich musste er sich auch darauf verlassen, dass Ran sich telefonisch meldete, wenn etwas vorfallen würde – was Schuldig weder glaubte noch befürchtete. Dennoch mussten sie auf der Hut sein.

Gelegentlich erlaubte er sich einen gedanklichen Abstecher zurück zur Situation vor einigen Tagen und zu seinen misslungenen Avancen in der Herrentoilette am Flughafen.
 

Die Stadt schlängelte sich langsam an Aya vorbei, als dieser gedankenverloren den Blick aus dem Fenster des Taxis schweifen ließ, das ihn zu seinem Hotel brachte, indem er als Polizist untergebracht wurde.

Er hatte sich bei Nakazawa für die Mitarbeit bedankt und dem Mann Mut zugesprochen, seine Arbeit weiter so gründlich wie bisher zu tun. Mit dem gleichen Eifer und dem Pflichtbewusstsein. Das war es, was Japan brauchte, das waren die Ordnungshüter, die den kleinen Fischen habhaft wurden.

Für alle anderen gab es Kritiker.
 

Aya schloss für einen Moment lang die Augen, als ihm wieder die Bilder der Leichen vor Augen kamen und ungute Erinnerungen weckten.

Warum ausgerechnet Schuldig? War es, weil er einen von ihnen getötet hatte? War da der Zusammenhang? Oder war es ein Vorzeichen auf das, was noch geschehen würde? Auf Schuldigs wirklichen Tod?

Er wäre erst ruhig, wenn er wieder bei Schuldig war und den anderen in Sicherheit wusste, befand Aya für sich und sah auf, als der Fahrer anhielt. Er gab ihm das Geld und stieg aus, checkte ins Hotel ein.

Ein großes Haus, in dem es nicht auffiel, wenn er plötzlich verschwand.

Die Zimmer waren eng, winzige Zellen aus schmalen Betten und einem Waschbereich mit Dusche. Funktional bis ins kleinstes Detail. Doch momentan reichte Aya der Spiegel, in dem er sich betrachten konnte, sich und den Schrecken auf seinem Gesicht, jetzt, wo er die Maske fallen ließ.

Er tat nicht viel die restlichen zwei Stunden über. Zog die Uniform aus, befreite sich von der Perücke und schüttelte seine Haare aus, zog sich schlichte, schwarze Kleidung über, die er zum Wechseln mitgenommen hatte. Schließlich begab er sich auf den Weg nach unten, von wo aus er von Schuldig abgeholt wurde.
 

Dieser war bereits wie verabredet in der Lobby des Hotels und gerade dabei das Gedächtnis des Personals nach seinen Wünschen, bezüglich des Polizisten zu formen. Er lümmelte in einem Sessel und nuckelte an seiner kürzlich erworbenen Cola. Als Ran aus dem Aufzug stieg sezierten Schuldigs Augen die attraktive Gestalt des Japaners. Sie blieben in dem verschlossenen, ihm nichts sagenden Gesichtszügen hängen, die trotz oder gerade wegen ihrer klassischen Schönheit nichts über die Gefühle dahinter preisgaben. Doch dass sich dahinter etwas abspielte zeigte Schuldig die Nachlässigkeit, mit der Ran seine Haare behandelt hatte. Er trug sie offen. Was selten in der Öffentlichkeit um diese Uhrzeit geschah und während einer geschäftlichen Transaktion schon gar nicht vorkam. Es sei denn aus taktischen Gründen. Und Ran war in seinem Team nie der Lockvogel gewesen, eher der Mann fürs Grobe.
 

Inmitten all diesen Schwarzes sah Aya eines: Feuerrot. Und zwar wirklich eins, genau ein Telepath gab sich hier betont lässig, wie er an seinem Getränk nippte und ihn mit stechendem Blick ansah, als wenn er durch ihn hindurch sehen konnte.

Aya behielt die Ausdruckslosigkeit bei, die ihm doch leichter als gedacht fiel und kam zu Schuldig, nickte ihm zu. Dann ließ er sich neben ihn in einen der Sessel fallen.

„Wie ist es gelaufen?“ Schuldig bot Ran seine Cola an. „Willst du?“

„Ja, gerne.“

Aya nahm von Schuldig die Cola an und nahm einen Schluck.

„Reibungslos. Ich habe alles, was wir brauchen, ein paar Zusatzinformationen und womöglich ein Leck im Informationsfluss. Bei dir auch alles gut gelaufen?“

„Jepp. Das Croissant im ‚Petit‘ um die Ecke war lecker, ansonsten habe ich mir die Zeit noch etwas mit dem Shoppen von Zeitschriften vertrieben. Ich hab dir die Times und noch zwei andere mitgebracht. Ansonsten war es ziemlich langweilig und es hat dauernd geregnet“, meinte er mit leidgeprüfter Stimme und Miene. „Sollen wir?“
 

Ein kurzes Lächeln huschte über Ayas Gesicht, als er dem müßigen Bericht lauschte. Er erhob sich, leerte die Cola.

„Je eher, desto besser.“ Damit schloss er seine Regenjacke, die er über seine Kleidung gezogen hatte, denn draußen war es nicht besser geworden, was den Regen anging und er hatte überhaupt keine Lust, sich seine Haare zu föhnen. Schon wieder.

Schuldig setzte seine Baseballkappe wieder auf seinen Schopf, der gebändigt mit einem Haargummi im Nacken gehalten wurde und erhob sich. Im Gegenzug zu Ran konnte er nicht mit regentauglicher Kleidung aufwarten, denn er trug lediglich eine taillierte Lederjacke und darunter ein Shirt.

Sie verließen das Hotel und steuerten den Mietwagen an. Wenig später fuhren sie über die Schnellstraße in Richtung Hyatt Regency. Brad würde sich am nächsten Tag des Wagens annehmen, während er sich um den echten Oniwara kümmerte.
 

Auf dem Weg ins Hotel fielen Schuldig seine Geschenke ein. „Hol dir mal den Rucksack von hinten, ich hab dir was mitgebracht! Das blaue Päckchen ist deins.“

Mit einem überraschten Blick nahm sich Aya schließlich den Rucksack und öffnete ihn. Das blaue Päckchen fand er mühelos und nahm es in seine Hände. Probeweise schüttelte er es leicht und machte schließlich die Schleife ab, öffnete das Päckchen.

Schokokekse enthielt es. Seine Lieblingssorte und Marzipanblumen. Eine Orchidee und zwei Rosen. Ein Lächeln streifte Ayas Gesicht und er wurde überschwemmt von einer Woge von Zuneigung, die aber auch getränkt war von der Sorge anhand der Bilder.

Seine Lieblingskekse... er hatte es in Schuldigs Gegenwart nur ein einziges Mal erwähnt und da waren sie sich noch nicht einmal freundlich gesinnt gewesen und doch behielt der andere es.

„Fahr bei der nächsten Möglichkeit raus und halte an, bitte.“
 

„Hmmm?“ Doch auf seine fragwürdig eindeutig gestellte Frage bekam Schuldig keine Antwort. Er vermutete, dass jetzt eine ordentliche Standpauke bezüglich der Toilettenanmache kommen würde, oder zumindest etwas Ähnliches zu dem Thema.

Er hatte so gar keine Lust dazu, dennoch fügte Schuldig sich und tat wie geheißen. Er nahm die nächste Abfahrt und an einer Ausbuchtung am Straßenrand hielt er an.
 

Aya sah sich prüfend um und schüttelte den Kopf. „Dahinten ist ein Parkplatz... fahr bitte dorthin.“

Da waren sie geschützter und nicht so auf dem Präsentierteller.
 

Schuldig erahnte Rans Absicht der Abgeschiedenheit, als er dessen Wunsch entsprach. „Was hast du vor? Mich heimlich hier zu vernaschen? Sex in der Öffentlichkeit?“ Er blickte zur Seite und blieb an Rans verschlossenem Profil hängen.
 

Zunächst schwieg Aya, denn jetzt, wo sie standen, fiel es ihm schwer, das, was er fühlte, in Worte zu fassen. Die Wut in Worte zu fassen, die er auf Schuldig gehabt hatte, die Fotos, die Entsetzen in ihm hervorgerufen hatten.

Langsam drehte er seinen Kopf zu Schuldig und seine Augen waren einen Moment ein wirbelnder See aus eben diesen Emotionen: Trauer, Verzweiflung, Fassungslosigkeit, Liebe.

„Schuldig, ich...“
 

Offenbar war es keine Standpauke, die jetzt kam, es war viel schlimmer. „Es… es tut mir Leid“, fuhr er Ran schnell dazwischen, als er sah was sich kurz auf Rans Gesicht widerspiegelte.

„Ich weiß, dass es nicht lustig war, obwohl ich mir nicht wirklich viel dabei gedacht habe. Du warst wütend und ich habe diese Wut noch geschürt, aber du sollst wissen, dass ich mich in derartigen Situationen in Zukunft professioneller verhalten werde, okay? Ich werds nicht mehr tun. Ran“, fügte er drängender an.

„Sieh mich nicht so an. Es tut mir wirklich leid.“ Schuldig wusste, dass er Ran verletzt hatte, aber er schaffte es nicht aus dieser Spirale herauszukommen.

„Schuldig... ich bin so froh, dass du lebst“, sagte Aya zunächst einmal vollkommen aus dem Kontext gegriffen und sein Blick änderte sich nicht. Erst nach und nach wurde er ruhiger, als er das ausgesprochen hatte.

„Es ist mir egal, dass du mich gereizt hast, dass du mich wütend gemacht hast, nein, eigentlich nicht, aber ich bin nicht wütend, nicht mehr. Weil es... unwichtig war, wütend zu sein. Das bist eben du... und so mag ich dich.“ Ja, so mochte er Schuldig, so mochte er den Telepathen, der vieles für ihn war: Defibrillator, wenn er wieder dabei war, in Emotionslosigkeit abzurutschen, Therapeut, Sargnagel, Partner, Spielkind...
 

Ran war emotional aufgewühlt. Weshalb?

Schuldig öffnete den Mund um etwas zu sagen. Etwas… Intelligentes oder in Ermangelung dessen vielleicht etwas Beruhigendes, aber er klappte den Mund ungenutzt wieder zu. Sein Gesicht wurde nachdenklich und er fixierte Rans Miene eine Weile.

„Was ist passiert?“, fragte er dann ernst, mit einem auffordernden Lächeln. Seine Hand fand Rans Schulter, den Unterarm auf dessen Rückenlehne gelegt.

Aya schüttelte den Kopf. „Passiert ist nichts, Schuldig. Ich wollte es dir einfach nur sagen.“

Ihm kamen Crawfords Worte in den Sinn. Er musste Schuldig vertrauen, dass dieser durchaus in der Lage war, sein eigenes Leben zu schützen. Aber wie sollte er darauf vertrauen, wenn jemand sie in so deutlicher Weise provozierte?

Eine Weile schwieg er. „Die Fotos vom Tatort...“
 

„Was ist damit?“, hakte Schuldig nach wie ein Pitbull, der ein Stück Schienbein zwischen seinen Kiefern hatte. Er witterte etwas. Etwas, dass Ran so entsetzt hatte, dass er derart emotional wurde und ihm hier im Wagen eine versteckte Liebeserklärung machte. Nun ja, zumindest etwas Ähnliches.

„Es betrifft mich?“
 

„Die Opfer haben dich dargestellt. Und es gab Dinge aus deiner alten Wohnung am Tatort.“ Aya schloss die Augen für einen Moment lang und schüttelte dann den Kopf. Sein Blick schweifte nach draußen.
 

„Sie sind es also wieder“, erwiderte Schuldig im ersten Moment. Sie hatten mehr mitgenommen als nur Sexspielzeug. Und sie wollten Rache weil er ihre Reihen etwas ausgedünnt hatte. „Blöd“, murmelte er und lehnte sich etwas zurück.
 

Blöd.

Ja, blöd war es, sehr sogar, ereiferte sich eine kleine, frustrierte Stimme in Aya. Er hätte es zwar nicht ganz so milde betitelt, aber letzten Endes lief es wohl darauf hinaus.
 

Stille kehrte in den Raum zwischen ihnen ein. Schuldigs forschender Blick suchte in Rans Gesicht die Bestätigung dafür, dass dieser nicht in alte Verhaltensmuster zurück zu fallen drohte.

„Ich bin hier, Ran.“
 

Aya nickte, bevor er ebenfalls zu Schuldigs Blick zurückkehrte.

„Ja, das weiß ich und Crawford hat es auch sehr eindringlich erklärt, dass ich dich spielen lassen soll, dass du sicherer bist, wenn du alleine unterwegs bist anstelle mit uns, aber trotzdem!“

Zugegeben, das hatte jetzt trotzig geklungen.

Aya grollte, als wolle er diese doch recht kindliche Regung damit tilgen.

„Ich finde nicht eher Ruhe, bis wir den letzten von ihnen getötet haben.“
 

Schuldig fand etwas ganz anderes interessant. „Das hat er wirklich gesagt? Wortwörtlich?“, er spitzte in grüblerischer Manier leicht die Lippen.
 

„Er sagte wortwörtlich, dass du alleine konzentrierter bist, weil dich ein Partner auf einem Auftrag ablenkt. Warum?“ Aya hatte gedacht, dass Schuldig und Crawford schon darüber gesprochen hatten, aber anscheinend war dem nicht der Fall.
 

Schuldig lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück und blickte durch die Windschutzscheibe. Es fing heftiger an zu regnen und prasselte auf das Autodach, hüllte sie in abgeschiedene, verschwommene Zweisamkeit.

„Ich wusste nicht, dass er so denkt. Er erweckt mit seinem Kontrollzwang immer den Eindruck als wäre ich unfähig und als müsse man mich überwachen, damit ich keinen Mist mache oder mir etwas passiert. Naja zumindest habe ich diesen Eindruck sehr oft. Aber vielleicht will er mich auch nur ärgern.“
 

„Vielleicht will er das ja auch, weil er nicht mitkommen kann. Er weiß, dass es besser ist, dich aus der Ferne zu überwachen und das tut er nach Leibeskräften. Nichtsdestotrotz hält er sehr viel von dir. Er vertraut dir.“ Wenn Crawford je erfuhr, dass er hier seine Böser-Mann-Masche zerstörte und zwar gründlich, dann würde Aya sehr aufpassen müssen, dass er nicht im Schlaf gemeuchelt wurde – von eben diesem Orakel.
 

„Hmm“, machte Schuldig und er musste daran denken wie Brad wohl reagieren würde, wenn er ihn seinerseits mit derartigen, heißen Informationen aus erster Hand… oder zweiter… konfrontieren würde.

Plötzlich irrlichterte ein unternehmungslustiges Grinsen auf seinen Lippen und ein freudiges Glitzern erschien in seinen Augen. „Es ist ja jetzt nicht so, dass ich nicht beunruhigt wäre, wegen der Bilder… doch momentan können wir kaum etwas anderes machen als die Daten auswerten, an die wir gelangt sind“, sagte er jedoch zurück zum Thema kommend, trotz der verlockenden Aussichten…
 

„Das sollten wir tun.“ Aya nickte und betrachtete sich den anderen nachdenklich. Nach einer Weile wurde sein Blick noch nachdenklicher und seine Lippen kräuselten sich zu einem missbilligenden Zug.

„Du weißt, dass du damit mein Todesurteil unterzeichnest?“, fragte er und wischte sich die etwas zu lang gewordenen, normalerweise jedoch kurzen, ponyartigen Stufen aus den Augen. Es wurde mal wieder Zeit für die Schere.
 

„Ach wirklich?“ Schuldig mimte den Ahnungslosen, grinste aber sehr verschlagen dabei. „Du meinst ich habe kein gutes Druckmittel in der Hand?“
 

„Es gibt unangenehmere Dinge, als von Brad Crawford umgebracht zu werden, also nein, hast du nicht.“ Aya lächelte in diese Verschlagenheit hinein.
 

„Ach du meinst, er tut es schnell und gründlich? Im Gegensatz zu manch anderem der diese Gelüste hätte? Aber du bist doch immer so lieb mein kleiner Polizist, wer könnte dir denn etwas Böses wollen?“ heuchelte Schuldig und zwinkerte Ran zu. „Außerdem sollten wir jetzt los, oder möchtest du noch etwas besprechen?“
 

Aya schauderte. „Nein danke, ich bin bedient.“ Er hatte schon so seine Vorstellungen, was zum Beispiel Schuldig mit einem braven Polizisten machen würde. Natürlich hatte er die, eine dieser Vorstellungen hatte er ja schon bekommen.
 

Schuldig lachte ehrlich amüsiert und ließ den Wagen an um den Parkplatz zu verlassen. Er fuhr wieder zurück zur Schnellstraße und fädelte sich in den Verkehr ein. Zwanzig Minuten später waren sie im Hyatt angekommen und parkten den Wagen. Schuldig schnappte sich den Rucksack und stieg aus.

„Hast du Hunger?“, fragte er Ran, während sie Richtung Hoteleingang schlenderten, ihre Umgebung im Auge behaltend.
 

„Ja. Irgendwie gab es heute nichts zu essen.“ Was Aya nicht sonderlich verwunderte, da sie sich auf den Fall konzentriert hatten und nicht darauf, etwas zu essen. Zumal Nakazawa schließlich auch dazu zu müde gewesen war.

Gemeinsam gingen sie nach oben und betraten das Hotelzimmer, wo Crawford schon auf sie wartete. Aya nickte ihm knapp zu und ließ sich auf die luxuriöse Couch fallen, entledigte sich seiner Jacke und seiner Schuhe.
 

„Wie ist es gelaufen?“, wollte Brad wissen als Schuldig den Rucksack von seiner Schulter auf einen der drei Stühle gleiten ließ und sich Brad gegenüber setzte.

Schuldig sah aus als würde er etwas im Schilde führen, befand Brad und war auf der Hut. „Nichts passiert! Da ich ja gut aufpasse ist ü~überhaupt nichts passiert“, war die Antwort und Schuldig saß breit grinsend vor ihm.
 

Brad verzog keine Miene, hob lediglich ob des impertinenten Grinsens fragend eine Braue. „Was soll das Gegrinse?“, stellte er seine Frage an Schuldig, blickte aber in Richtung Ran. Hatten sie den Auftrag besonders ‚einfallsreich’ gestaltet oder was sollte Schuldigs ‚Freudestrahlendes Gesicht’?
 

Dunkel erwiderte Aya den Blick des anderen, bevor er sanfter wurde, weicher gar und Aya mit den Schultern zuckte.

Er schüttelte den Kopf und erhob sich wieder von der Couch.

„Wollen wir uns etwas zu essen bestellen?“, fragte er, um vom Thema abzulenken und warf Schuldig einen SEHR intensiven, weil warnenden Blick zu.
 

Brad stimmte diesem Vorschlag zu.

„Hast du die Daten bekommen, wie vorgesehen?“, wandte er sich dann an den Japaner. Schuldig hatte sich mitsamt dem Stuhl etwas zurückgelehnt und wippte leicht auf zwei Stuhlbeinen hin und her.

„Hat er“, merkte Schuldig voreilig an bevor Ran etwas antworten konnte. „Und sie sind wenig beruhigend, aber dafür umso aufschlussreicher, wie ich hoffe.“ Er lächelte Ran sonnig an und kippelte weiter auf seinem Stuhl herum.
 

Irgendetwas war anders... was genau, konnte Aya nicht beziffern, doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass sich Schuldigs Drang, sie zu ärgern, proportional zu Crawfords Nähe doch sehr gesteigert hatte.

Aber dafür fand er keine haltbaren Anhaltspunkte.

Stirnrunzelnd betrachtete er den Telepathen, bevor er sich an Crawford wandte. „Wir beide sollten uns ein paar der Fotos vorab anschauen.“ Er konnte jetzt schon das Geschrei Schuldigs hören, aber er wusste nicht, wie Schuldig auf einige der Tatortbilder reagieren würde.
 

Das Stuhlgewippe hörte abrupt auf und Schuldig blickte zu Ran und dann zu Brad hinüber. „Warum denn das? Ich weiß doch um die Bilder, warum soll ich sie nicht auch als erstes sehen dürfen?“, fragte er verstimmter, nörgelnder. „Wie sagst du so schön: Ich bin kein Kleinkind.“ Seine Lippen schoben sich minimal nach vorne als er sich erhob. Er wollte nicht, dass sie etwas ohne ihn besprachen, ihn ausließen, womöglich noch über ihn sprachen – über ihn und seine Verletzlichkeit, die er zwangsläufig manches Mal bereits zur Schau gestellt hatte. Er hatte keinen Bock darauf.
 

Aya erkannte seinen Fehler, als er Schuldigs Reaktion sah. Aber er konnte Schuldig ein paar der Bilder einfach nicht zeigen, es ging nicht. Er seufzte niedergeschlagen.

Wie gut, dass er von Schwarz gelernt hatte, von Schuldig selbst.

„Gut, wir sehen sie uns an, wenn du es unbedingt willst“, lenkte er ein. „Aber ich möchte vorher etwas essen und auf der anderen Straßenseite gibt es ein Restaurant. Kommst du mit, dann können wir uns von dort etwas holen?“
 

Schuldig blickte von Ran zu Brad. Mit einer Drehung umschlossen seine Hände Brads Stuhllehnen rechts und links des Mannes und er beugte sich ganz nahe zu Brad, bis er ihm in die warm glimmenden Iriden blicken konnte. Atemberaubend, resümierte Schuldig kurz bevor ihm wieder einfiel was er eigentlich wollte.

„Du wirst deine Hände schön von den Bildern lassen und wehe du siehst sie dir vorher an.“
 

Brad schmunzelte gelassen. „Willst du mir drohen, Mastermind?“

Schuldig verengte kurz die Augen, als sich Brad erhob und er zwangsläufig diesen freigeben musste. „Und wenn ja?“, mimte er den Unnachgiebigen. Gleichzeitig begann er rückwärts zu gehen, da Brad ihm deutlich auf die Pelle rücken wollte. Sein Unbehagen wuchs als er irritiert bemerkte, wie sich Brad den rechten Ärmel hochkrempelte.
 

Aya, der gerade dabei war, den Koffer auszuräumen und mit halben Auge das Techtelmechtel der Beiden beobachtete, dabei all seine Ersparnisse gegen Schuldig setzte, was besagte Drohung anging, war ebenso verwundert wie Schuldig auch.

Dass Crawford die Ärmel hochkrempelte konnte nichts Gutes verheißen, war es doch meistens ein Anzeichen dafür, dass er im nächsten Moment zuschlagen würde. Der Laptop landete auf der Anrichte, die Sachen des Polizisten auf dem Sofa. Kurzzeitig in Gedanken versunken, betrachtete er sich die Handschellen.

Schuldig hatte sich zwar entschuldigt dafür und Ayas Wut war... nicht mehr da, aber vielleicht...
 

Crawford hatte Schuldig nicht geschlagen, ganz im Gegenteil. Er tat nur mit amüsiertem Gesicht Schritt um Schritt zu Schuldig, dieser trat Schritt für Schritt zurück direkt ins Bad.

Aya folgte den beiden, scheinbar neugierig, was sie da taten und lugte Crawford über die Schulter, während Schuldig motzte und seine Augen nur so vor Spieltrieb blitzten und den Amerikaner triezten.

Gerade noch unsicher ob seiner Idee, gewann Aya nun an Sicherheit.

„Treibts nicht zu doll, ihr beiden. Ich bestelle derweil etwas zu essen“, sagte er und seine Hand steckte Crawford versteckt durch dessen Rücken die Handschellen in die rechte Gesäßtasche.

Dann zog er sich mit einem scheinbar tadelnden Blick zurück und machte sich daran, den Laptop aufzubauen und den Rest der Sachen zu entsorgen.

Währenddessen maulte und meckerte Schuldig ohne Unterlass, wie gemein Crawford doch wäre, wie gemein sie alle beide wären und dass er ja sowieso der Ärmste war und überhaupt... man hätte meinen können, Schuldig forderte die Gefahr nur so heraus.
 

„Jetzt bleib doch mal stehen“, hörte sich Schuldig selbst wie seine Stimme beinahe schon einen panischen Klang bekam.

Es war auch eine kleine Naturgewalt, die ihn hier derart in die Ecke zu drängen versuchte und Schuldig wich nur deshalb stetig nach hinten aus weil er befürchtete wenn es keine Fluchtmöglichkeit mehr geben würde, dann wäre er bestimmt ziemlich gearscht. Brad konnte manchmal eine ziemlich üble Laune entwickeln und irgendetwas sagte Schuldig, dass er es zwar herausgefordert aber mit Sicherheit nicht verdient hätte.

„Lass mich doch erklären… Bra~ad“, zog er den Namen etwas in die Länge um vielleicht mit etwas Effekthascherei doch noch zu entkommen. Vielleicht in Richtung Ran… der gerade über Brads Schulter lugte.

„Hilf mir! Ran… Komm gefälligst zurück!“, keifte er und seine Hände fanden die Wand der Dusche, fanden die schwarzen Fließen unter seiner Haut, fühlten ihre Glätte. Er mochte dieses Badezimmer, aber er mochte nicht hier mit Brad stehen, der etwas ausheckte. Das waren zwei Dinge, die nicht gut waren. Für niemanden. Ganz speziell nicht für Schuldig, der etwas angestellt hatte oder Brad auf den Keks gegangen war. Und das auch noch absichtlich.
 

Schuldig sah Brad mit leichter Nervosität an und kaute auf der Innenseite seiner Lippe, während Brad herausfordernd den Kopf leicht drehte, als würde er auf etwas lauschen.

Schuldig tat ihm nicht den Gefallen und fing erneut an zu plappern, sondern griff an. Er versuchte links an Brad vorbeizukommen, dort wo die Möglichkeit einer erfolgreichen Flucht am Größten war, denn es war schlicht und ergreifend mehr Platz vorhanden, wo er sich durchschieben konnte.

Oder hätte können, in diesem Fall, denn seine Vorderseite schmiegte sich im nächsten Moment gar harsch an besagte Fliesen und irgendwie hörte er ein vertrautes Klickgeräusch.

„Scheiße… Scheiße nochmal! Brad… verdammte Scheiße…!“ Schuldig fluchte und wand sich, versuchte Brad mit seiner freien Hand zu erwischen. Was ihm nur marginal gelang, denn der Schmerz in seinem Arm nahm proportional zu seinen Fluchtversuchen zu und er gab schließlich auf. Brad nutzte seine minimale Aufgabe um sein anderes Handgelenk ebenfalls zu fesseln und das um die Haltestange an der Duschwand, die vertikal in Brusthöhe zum Boden verlief.

„Bist du jetzt völlig bescheuert?“

Schuldig zerrte demonstrativ an den Handschellen. Ein Gefühl des alten Spieltriebes war in ihm aufgekommen, als er Brads Hände auf sich spürte, den festen, harten, bedingungslosen Griff, dem er sich so oft ergeben hatte in den letzten Jahren, den er hingenommen hatte.

Schuldig wünscht sich in diesem Moment mehr. Mehr von Brads Berührung. Doch alles was kam war… Wasser. Kaltes Wasser von oben.

Schuldig keuchte. „Bastard! Mach das aus.“
 

Brad besah sich Schuldig wie dieser sich schüttelte, wie er kämpfte und vor Wut schier zu platzen schien. Es amüsierte ihn und er schloss die Duschkabine in dem er die Glasscheibe sanft zuzog, bis sie von selbst in ihre Arretierung glitt. Er nahm sich ein Handtuch von der Ablage und wischte sich im Hinausgehen – kurz bevor er das Licht löschte – die Hände trocken. Das Handtuch legte er sich auf die Schulter als er wieder in den Wohnraum der Suite kam.

„Hattest du Schwierigkeiten im Revier?“, fragte er Ran.

Aya hatte das ganze Theater nur mit einem mehr als wachen Ohr verfolgt und hatte nun auch ein etwas schlechtes Gewissen, da er Crawford quasi die Möglichkeit zur Hand gegeben hatte, Schuldig zu fesseln, die dieser anscheinend auch ausgiebig genutzt hatte, dem plätschernden Wasser und den jämmerlichen, wütenden Lauten zufolge, die ihnen aus dem Bad entgegenschallten.

„Gar keine, lief alles reibungslos. Der Polizist war übernächtigt und froh, dass ich nachher wieder weg war. Hast du ihn an die Duschstange gefesselt? Und das kalte Wasser aufgedreht? Muss ich jetzt solange warten, bis er ruhig ist, oder kann ich uns jetzt schon mal das Essen bestellen? Ich habe Hunger.“

„Bestell ruhig eine kleine Auswahl, ich habe bis auf das Frühstück nichts zu mir genommen.“ Brad schloss die Badezimmertür. „Ich denke so wird es gehen. Nicht, dass noch das Schlimmste angenommen wird, wenn im Hintergrund dieses Gewinsel zu hören ist.“ Brad machte es sich auf dem Bett bequem, lehnte sich an das Kopfende und setzte sich sein Headset wieder auf, um eine Datenübertragung an Nagi in die Wege zu leiten.

„Ihm geschieht schon nichts. Dort ist er gut aufgehoben. Leise. Sauber. Aufgeräumt.“ Brad lächelte spöttisch.

„Findest du es nicht etwas... gemein... das kalte Wasser aufzudrehen? Ihn im Dunkeln da drin zu lassen und DANN auch noch die Tür zu schließen?“, fragte Aya und verschränkte nachdenklich die Arme. „Dabei hat er dich heute noch gar nicht SO sehr getriezt.“

Sein Blick glitt in Richtung Bad, aus dem nun kein Laut drang und zurück zu Crawford.

„Es reicht dennoch. Im Übrigen finde ich es durchaus bemerkenswert wie sehr er ‚aufdreht’ sobald wir beide in seinem unmittelbaren Dunstkreis zu Gange sind“, meinte Brad wie nebenbei und leitete die Verbindungssequenz ein.
 

„Er riecht eben unsere Dominanz und meint, uns aus der Fassung bringen zu können“, lachte Aya und nahm sich das Telefon zur Hand, bestellte für sie drei eine etwas größere Auswahl an Speisen und Vorspeisen, für Schuldig und Crawford auch noch heißen Kaffee, für sich selbst Tee, das alles in genügend großer Menge.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass Schuldig nun seit exakt fünf Minuten da drin war. Vielleicht...sollte er noch weitere fünf in der Dusche bleiben, bevor Aya ihn holen würde.

Vielmehr...

„Hast du eigentlich geplant, ihn irgendwann da raus zu holen, oder überlässt du fauler Sack das mir?“

„Ich glaube nicht, dass er viele Hoffnungen darauf setzt, dass ich ihn befreie, oh weißer Ritter“, sagte Brad ohne aufzusehen. Er legte den Laptop beiseite und stand auf um sich den von Ran auf der Anrichte zu holen.

„Aber wir können gern ein Spielchen spielen. Der Gewinner des Spiels ist der, der nicht dem Bedürfnis erliegt Schuldig aus der Dusche zu befreien. Verlierer ist der, der aufsteht. Ganz einfach.“
 

Währenddessen fühlte sich Schuldig mies behandelt. Vermutlich hatte Ran Brad die Handschellen zugesteckt. Anders ließ sich das nicht erklären. Es sei denn, Brad hatte noch ein anderes Paar vor ihrem Betreten der Suite an sich genommen. Aber warum sollte er dies getan haben?

Wo war noch mal der Regler für das Wasser? Es war stockfinster im Bad. Er bezweifelte jedoch, dass er mit gefesselten Händen an die Regler kommen würde, dennoch versuchte er es und tastete alles ab, soweit seit beschränkter Radius es zuließ.

Wie erwartet fand er nichts und das kalte Wasser prasselte weiter auf ihn herab. Er setzte sich auf den Boden der Dusche und arrangierte seine Arme so, um bequem seinen Kopf anlehnen zu können. Er konnte sich hinsetzen, allerdings würden die Arme, die hoch über seinem Kopf in den Schellen hingen, mit der Zeit wohl taub werden, denn das kalte Wasser machte die Sache nicht besser.

‚Brad. Hol mich hier raus’, begann er seine verbale Gedankenfolter.

‚Erst wenn du dich etwas abgekühlt hast’

‚Das ha~abe ich bereits’, erwiderte Schuldig genervt.

Und dann kam leider keine Antwort mehr. Brads Gedanken waren zwar vorhanden, allerdings keine an der Oberfläche liegenden. Dieser Ami hatte ihn in gewisser Weise ausgeschlossen. Das konnte Brad ganz gut. Er hatte Übung darin. Und tiefer wollte Schuldig nicht bohren, das hatte er sich verboten seit der Sache mit dem Krankenhaus.

„Ra~aaaan!“, schrie er lauthals. Ran konnte er mit Sicherheit weich kochen.
 

Da war es schon, sein schlechtes Gewissen, das in Form eines schreienden Telepathen zu ihm drang. Zumindest vermutete Aya, dass Schuldig schrie, sein Name wurde ihm gedämpft, beinahe schon sanft zugetragen. Durch die gute Isolierung des Hotels ging einiges an Lautstärke verloren.

Aya beobachtete Crawford dabei, wie dieser seinen Laptop hochfuhr und versuchte sich damit abzulenken, auch wenn ihm das nur mäßig gelang.
 

"Die Frage ist nur, was derjenige gewonnen hat, der nicht aufsteht. Einen kranken, missgelaunten und eingeschnappten Telepathen, der ihn für die nächsten Wochen nicht mehr mit dem Hintern anschaut, vielleicht? Ein sehr guter Gewinn, sehr wünschenswert", erwiderte er schließlich Crawford und seine Stimme war mit Ironie getränkt. "Außerdem wird er wohl kaum an dir seine Rache ausleben, weil er sich nicht traut. Im Falle dessen, dass ich entgegen aller Wahrscheinlichkeit sitzen bleiben werde, werde ich sowieso meines Lebens nicht mehr froh, geschweige denn, meiner Gesundheit." So viel zu seiner Abhandlung zum Thema Schuldig.

Aya verschränkte willensstark die Arme. Nein, er würde hier noch sitzen bleiben. Die zehn Minuten waren noch nicht um. Egal, wie laut Schuldig schrie. Aber wenn das Wasser wirklich kalt war... eiskalt, wie er Crawford einschätzte. Eisig.
 

Brads Mundwinkel kräuselten sich zu einem arroganten Lächeln. „Er traut sich nicht? Weshalb sollte er sich nicht trauen?“

Er verband beide Rechner.
 

Aya sah nachdenklich aus dem Fenster, dann gespielt kritisch zu Crawford zurück.

„Hm, lass mich überlegen. Er verhält sich dir gegenüber – wenn er nicht gerade so ist wie jetzt – geradezu lieb und unterwürfig. Er würde sich im Leben nicht in die Nähe deines Hinterns trauen ohne deine Rache zu fürchten und zu fürchten, deine Autorität zu untergraben. Bei mir ist das anders. Ich schwebe ständig in der Gefahr, meinen Hintern in Sicherheit bringen zu müssen, weil ich nicht das Flair der Gewalttätigkeit ausstrahle, das dir anhaftet.“ Spielerische Worte mit Ernst belegt.
 

Brad sah von seiner Arbeit auf. „Er weiß wie wenig gefallen ich daran finde, wenn er unterwürfig ist und ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass er sich dieses Mittels bedient.“
 

Ein kurzes, schwaches Lächeln huschte über Ayas Lippen, als er den hellen Iriden des anderen begegnete.

„Hattest du es nicht oder bist du es mittlerweile so sehr gewohnt, dass er sich dir gegenüber zahm und brav verhält, dass du es nicht mehr erkennst? Er ist komplett anders, wenn wir beide zusammen sind. Forscher, wagemutiger...“
 

„Unter zahm und brav, verstehe ich nicht Unterwürfigkeit. Er darf gerne zahm und brav sein. Die Momente in denen dies der Fall ist sind rar gesät. Ich genieße es, wenn er mir nicht die Nerven raubt.“ Er wandte sich wieder seiner Tätigkeit zu.

„Ich habe eher das Gefühl, dass er wie ein Tier ist, das sich versucht zu wehren und deshalb so aufgekratzt ist, wenn wir drei aufeinandertreffen. Ich kann mich in diesem Bezug aber auch irren. Meine Kenntnisse was zwischenmenschliche Verhaltensweisen anbetrifft sind verkümmert. Das ist Schuldigs Resort.“
 

Die Worte waren in einem dermaßen ernsthaften Ton ausgesprochen, dass Aya Crawford einen Moment lang einfach nur anstarren konnte. Dann schüttelte er fassungslos den Kopf. Sie waren sich wirklich ähnlich, ähnlicher als gedacht. Auch wenn er nicht mit dieser Art von Seelenstriptease gerechnet hatte, diesem ehrlichen Lippenbekenntnis, das er vor Wochen im Leben nicht erhalten hätte.

Zwei Soziopathen unter sich, in der Mitte den telepathischen Psychotherapeuten.

„Wir haben Schuldig schon verdient“, erwiderte Aya kryptisch und lachte leise, wurde dann jedoch ernst.

„Solange er sicheren Abstand zu dir hat, ist er keinesfalls brav. Sobald du ihm näher kommst, wird er jedoch flatterig und beinahe unsicher. Und er wartet auf dich, was du tust. Er würde dich niemals von sich aus aufs Bett werfen und... nun, du weißt schon. Das hat nicht viel mit wehren zu tun, finde ich.“

Aya schwieg einen Moment lang, als ihnen das Essen und die Getränke gebracht wurden und er beides auf seine Karte schreiben ließ.

Erst als der Page wieder gegangen war, drehte er sich zu Crawford zurück... seinem Pendant in Sachen Menschenkenntnis.
 

„Davon bin ich nicht überzeugt. Vor nicht allzu langer Zeit wirkte er ganz und gar nicht flatterig oder unsicher.“ Brad dachte daran wie Schuldig in seinen Geist eingedrungen war, wie unbeschreiblich niederschmetternd, bloßstellend und schlicht erniedrigend dies gewesen war.

Brad begann mit der Datenübertragung zu Nagi, nachdem dieser seine Zustimmung vermeldet hatte.

Während dieses Gespräches krakeelte Schuldig weiterhin ab und zu nach Ran, hatte aber offenbar wenig Erfolg damit. Er malte sich bereits die wenig erquickliche Situation aus, dass die beiden dort draußen Sex miteinander hatten, oder sich weniger erotisch gegen ihn verschworen – die Bilder zusammen ansahen und sie ihm vorenthalten wollten wie einem unmündigen Kind. Und was er mit Sicherheit wusste, dass es dort draußen trocken war und dass jemand das Zimmer betreten hatte… ein Page mit Essen. Das war mehr als gemein ihn hier drinnen schmoren zu lassen wie einen Schwerverbrecher.

Mutlos ließ er den Kopf sinken.
 

„Was meinst du?“, fragte Aya, hatte er doch eine Nuance aus der Stimme des anderen... Brad Crawford, wie er sich sagte, herausgehört, die nicht zu den neutralen Worten zu passen schien.

Zwei Minuten noch... zwei Minuten, dann würde er sich diesem Bündel an Widerspenstigkeit widmen.
 

Brad versuchte die Abscheu und die Wut aus seinen Worten herauszuhalten, während er die Bilder überflog, die Ran vom Revier mitgebracht hatte. Erinnerungen an Gefühle, die ihn noch vor Wochen fest im Griff gehabt hatten drängten sich in den Vordergrund. Das Gefühl, der Schuld stand ihm nicht besonders gut. Reue ebenso wenig.

„Nichts im Besonderen“, sagte Brad schließlich und legte beide Laptops beiseite, während des Transfers um sich dem Essenswagen zu nähern und sich dann schlussendlich für die Pasta zu entscheiden. Er nahm sich seinen Teller und setzte sich an den Tisch. „Es hat auch Vorteile wenn Schuldig im Badezimmer bleibt. Hier ist es ruhig, keiner isst uns etwas weg, das übliche Chaos bleibt aus. Du solltest dir überlegen ob du wirklich dort hineingehen willst um die Büchse der Pandora zu öffnen und dir das Wehklagen und das Chaos aufzuhalsen“, spielte Brad das teuflische Stimmchen, welches Ran diverse ungute Vorschläge unterbreitete.
 

Das teuflische Stimmchen, dem Aya mit einer hocherhobenen Augenbraue begegnete und aufstand.

Er begab sich Richtung Bad und schaltete zunächst das Licht an um sich Schuldig dann zu betrachten, der äußerst trotzig auf dem Boden der Dusche saß. Aya seufzte und schüttelte den Kopf. Befreien musste er ihn ja nicht... er konnte ja erst mal... die Dusche auf warm stellen. Oder ausmachen.

So schob er mit einem Lächeln ob der tickenden Zeitbombe hier die Duschwand auf und langte angestrengt nach dem Regler um das Wasser auszustellen.
 

Schuldig sah auf, als das Licht anging und blinzelte gepeinigt. Als dann tatsächlich die Möglichkeit zur Rettung vor ihm auftauchte zog er ein Gesicht wie Drei-Tage-Regenwetter. Er verengte die Augen und blickte bissig zu Ran auf.

„Verräter“, murrte er anklagend. „Du hast mich verraten. Du bist schuld, dass ich hier jetzt gefesselt bin und du hast zugesehen wie er das mit mir gemacht hat.“ Er ruckelte an den Handschellen um Ran aufzuzeigen was genau er meinte, nicht, dass diesem vielleicht die Brisanz des Ganzen entging. Sein Blick fixierte Rans Gesicht, als dieser Anstalten machte die Dusche auszustellen.
 

So, aus war sie!

Aya sah auf Schuldig herunter und bedachte sein völlig durchnässtes, blasses Zackelschaf mit einem überraschten Blick. Gut, er hatte keine überschwängliche Dankbarkeit erwartet, dass er derjenige war, der Schuldig befreite, aber das hier...

„Findest du es günstig, mir das jetzt zu sagen und nicht erst, wenn du beide Hände wieder frei hast? Vor allen Dingen, da es Crawford war, der dich hierhin gebracht hat, der das Wasser angestellt und dich gefesselt hat.“
 

„Sicher“, meinte Schuldig sarkastisch. „Und wie ist er so plötzlich an die Handschellen gelangt? Und war das nicht dein Schopf, der sich neugierig um die Ecke geschoben hatte um zu sehen was gerade mit mir passierte? Hmm?“
 

„Undankbares Stück“, murmelte Aya nun seinerseits, verließ das Bad wieder, augenscheinlich, weil er eingeschnappt war, in Wirklichkeit jedoch nur, weil er die Schlüssel zu den Handschellen brauchte, die noch in der Tasche waren.
 

Schuldig fand das gar nicht witzig. Er begann unkontrolliert zu zittern, da jetzt der Reiz des prasselnden Wassers fehlte und er nun wirklich anfing erbärmlich zu frieren. Es war nass und kalt und das war die unangenehmste Kombination für ihn. Er nieste unterdrückt.
 

„Ich habe es ihm gesagt, dass du krank wirst, ich habe es ihm gesagt“, kam es erneut von der Tür und Ayas unleserlicher Blick ruhte einen Augenblick lang auf Schuldig, bevor er sich zu diesem begab und sich neben ihn kniete, sich an den Handschellen zu schaffen machte und die aufgeweichten und kalten Hände in seine legte und sie rubbelte, so als wäre ER nicht der Hauptschuldige.

„Das ist DEM doch egal“, meinte Schuldig und schob trotzig seinen Mund vor, beäugte Ran und sein Tun mit Misstrauen. Noch während Ran dabei war sich bei ihm einzukratzen zog er ihn vollends in die Dusche, an seinen nassen kalten Körper und mit dem Rücken gegen die ebenso nassen Fliesen.

„So… du weißt ja was dir jetzt blüht, hmm?“, fragte er mit trotzigem, rachsüchtigem Blick. Seine Hand fand den Regler. Er griff hinauf und schaltete warmes und kaltes Wasser an. Schauer rannen durch ihn, als das warme Wasser auf ihn niederprasselte und er legte seine Stirn an Rans Schulter um das warme Nass richtig auskosten zu können, das auf sie niederprasselte.
 

Zu beschäftigt, sich so auf dem rutschigen Boden der Dusche zurechtzufinden, damit er raus kriechen konnte, wurde Aya nun von einem Schwall an Wasser getroffen, dem er lieber ausgewichen wäre.

Reflexartig riss er seine Arme nach oben auf seinen Kopf und vergrub sich so gut es ging an der Wand um seine gerade frisch gewaschenen und... geföhnten Haare zu schützen und aus der Dusche zu kriechen, doch beides wollte ihm nicht so recht gelingen... eigentlich gar nicht, also blieb er so gekauert, in der Hoffnung, das Gröbste abwenden zu können.

„Schuldig, du ARSCHLOCH!“, fluchte er lieber anstelle dessen herzhaft, jedoch gedämpft durch seine eigene Kleidung.
 

„Jaja… jetzt rumwinseln, aber zuvor genießen wie ich hier drin im kalten Wasser versauere“, klagte das Arschloch an. Er griff um Ran herum und pinnte diesen erneut an die Fliesen, wischte dessen bereits feuchte Haare aus dem Gesicht und bestürmte die warmen Lippen mit seinen ausgekühlten. Schuldig stöhnte wohlig und brach den Kuss ab als er erneut schauderte.

„Wenn mir nicht so scheißkalt wäre, dann hätte ich nicht übel Lust das kalte Wasser aufzudrehen.“
 

Das hatte er nun von seiner Gutmütigkeit. Man hätte meinen können, dass das blöde Orakel alles schon vorhergesehen hatte.

„Mit ihm da draußen hättest du das nicht gemacht“, grimmte es von der rothaarigen, schwarzen Gewitterwolke neben Schuldig, die alles, nur nicht glücklich darüber war, den Telepathen befreit zu haben.

„Dank mir hast du, ja jetzt die Chance, warm zu werden“, kam es vom klatschnassen Japaner, dem alleine schon deswegen warm war, weil er vor Wut köchelte.
 

Schuldig hob den Kopf. „Du bist doch der größte …“ Schuldig blickte Ran bedauernd an, bevor er zu lachen begann. „In dem Moment, in dem er die Idee für das hier hatte, wusste er, wie die Sache ausgehen würde. Er wusste, dass du hier sitzen würdest. Du hast dir dein eigenes Grab geschaufelt, Schlaukopf.“ Schuldig küsste Ran auf die wütenden Lippen, schmiegte diesen an sich und umarmte ihn. „Du bist heute den ganzen Tag schon sauer auf mich“, seufzte er niedergeschlagen.
 

Du gibst mir auch allen Grund dazu, wetterte das kleine Männchen direkt hinter Ayas Stirn, das nun Schuldig die Zunge herausstreckte, eben weil er wusste, dass dieser ihn nicht hören konnte. Gerade deswegen!

Aya befand sich noch im Schmollstadium.

„Sauer könnte man es nicht nennen. Frustriert wohl eher, dass ich jetzt schon WIEDER EINE STUNDE IM BAD VERBRINGEN DARF!“ Zugegeben, er war SEHR frustriert. „Du könntest zur Abwechslung Crawford triezen, weißt du das? Er mag dich, wenn du widerspenstig bist. Er mag es, wenn du ihn ärgerst.“
 

Nun lachte Schuldig aus vollem Hals. „Die Taktik geht nicht auf, Gewitterwölkchen. Ich würde nicht hier sitzen wenn er es so gerne hätte.“ Als er sich wieder etwas beruhigt hatte schmuste er, sich mit seinem Gesicht an Rans Wange und stupste mit seiner Nase Rans an.
 

Aya schloss geschlagen die Augen und ließ sich beschmusen, fügte sich in sein Schicksal, während immer noch kleine Blitze hier und da an Schuldig leckten, als sie seine Gefühlswelt verließen.
 

Schuldig grinste vor sich hin, als Ran langsam anschmiegsamer wurde. „Ich koch dich weich… ich koch dich weich, warts nur ab“, sang Schuldig leise, für sie beide in die plätschernde Geräuschkulisse hinein.
 

„Niemals“, kam es zurück und schließlich öffnete Aya seine Augen wieder. Eine Weile schwieg er, dann kam er auf etwas zurück, was Crawford ihm gerade gesagt hatte.
 

„Was hast du eigentlich mit Crawford gemacht, dass er dich, als nicht zahm beschreibt? Er hat da so eine Anspielung gemacht...“
 

„Nicht zahm? Wie seid ihr denn auf das Thema zahm und mich in Verbindung gekommen?“, wollte Schuldig wissen und furchte nachdenklich die Stirn. Dann gab er Ran frei und setzte sich auf die andere Seite der Dusche um sich anzulehnen.
 

Für einen Moment lang spielte Aya mit dem Gedanken, das Wasser abzustellen, doch dann wäre es erst recht kalt geworden und das... nein.

„Er hat es eher flatterig und unsicher genannt, als zahm... aber wir sind so auf das Thema gekommen, weil du so artig unter der Dusche warst.“
 

„ER hat gesagt, ich wäre flatterig und unsicher?“, echote Schuldig und grübelte über diese Aussage nach. Es brachte ihn zum Schweigen.

Dachte Brad wirklich so über ihn? Jetzt fühlte er sich wirklich unsicher. Vielleicht war es an der Zeit neue Seiten aufzuziehen!
 

„Nein, er hat gesagt, dass du es NICHT warst... zu einem gewissen Zeitpunkt. Was meinte er denn damit?“ Ayas Blick lag intensiv auf Schuldig.

„Dann meint er aber, dass ich es sonst immer bin.“ Schuldig kam nicht drüber hinweg, dass Brad von ihm glaubte er wäre … derart.

„In seiner Gegenwart bist du es auch. Du flatterst um ihn herum und ärgerst ihn, wo du nur kannst, du großer, böser Telepath.“ Aya strich Schuldig zärtlich über die Wange.
 

„Hmm“, Schuldig verfiel in Grübelei. Das hörte sich an wie ein Kind, das Aufmerksamkeit wollte. So wollte er sich Brad gegenüber nicht benehmen. Ganz im Gegenteil. Er musste etwas ändern.
 

„Wie dem auch sei, wenn wir nicht bald aufstehen, brauchst du dir da keine Sorgen mehr zu machen, weil ich dich dann aufgefressen habe. Ich habe Hunger, um es mal ganz unromantisch zu sagen, weil ich den ganzen Tag nichts gegessen habe. Draußen wartet auf uns Essbares und wenn wir uns nicht beeilen, hat uns besagter Amerikaner alles weggegessen. Also hoch mit dir!“

Aya für seinen Teil zog sich an der Duschstange nach oben und fluchte unterdrückt. Komplett durchnässt. Unwirsch stellte er das Wasser ab und reichte Schuldig eine Hand, um diesem aufzuhelfen.
 

Schuldig blickte verspätet zu Ran hoch, lächelte sparsam und ergriff die ihm gereichte Hand. Ran hatte ihm einiges zum Nachdenken gegeben und er würde sich wohl damit befassen müssen. Und damit wie er sich bei Brad dafür rächen konnte. „Du hast nicht eine gute Idee wie ich mich dafür rächen könnte?“
 

„Viele, aber die Tatsache, dass du hier der Fantasievollere bist, überlasse ich dir die Wahl deiner eigenen Rache.“ Aya lächelte charmant und griff sich zwei Handtücher, von denen er eines Schuldig auf den Kopf stülpte und die Haare des Telepathen so fest rubbelte, dass es diesen nur so schüttelte.

„He!“, maulte Schuldig.

Ayas eigenes Handtuch fand etwas gesitteter den Weg um seine Haare, die nachher eine langwierige Begegnung mit dem Föhn haben würden.

Zunächst mussten sie sich allerdings noch umziehen und Aya betrachtete sich für einen Moment lang die sauber aufgereihten, kleineren Handtücher. Eines von ihnen tränkte er mit kaltem Wasser und nahm es mit in den Raum hinaus. Crawford sollte schließlich auch etwas von ihrem Vergnügen haben.
 

Dieser vermutete, dass der so umsichtige Japaner nicht damit gerechnet hatte, dass sein Opfer neben der Tür in der Nähe des Eingangs wartete, ihm das Handtuch abnahm und ihn in den offenen Raum schubste, sodass Brad bequem das Badezimmer betreten, es schließen und verschließen konnte. Währenddessen bedachte er Ran noch mit einem guten Tipp: „Die Pasta schmeckt hervorragend.“ Als der Schlüssel sich im Schloss drehte hatte sich Schuldig ausgezogen und hielt mit dem Handtuch, mit dem er sich gerade das Gesicht abtrocknete inne. Sein Blick ruckte vom Anblick seines blassen Spiegelbildes zu Brad hinüber dann zur verschlossenen Tür.

„Du hattest eine Beschwerde vorzubringen, Mastermind?“, hörte er da die kühle, spöttische Note an sein Ohr schallen.
 

Ayas Körperbeherrschung hatte währenddessen verhindert, dass er zu weit in den Raum stolperte, so hatte er sich dann schon wieder gefangen, als die Tür hinter ihm zufiel und das Schloss nur zu deutlich umgedreht wurde.

Natürlich hätte Aya das für die Hotelsicherheit übliche Einsteckschloss mit einer Geldmünze leicht öffnen können, oder mit einem Messer, doch wo wäre da denn der Spaß geblieben, auch wenn ihm Schuldig durchaus leid tat... Schuldig, der schon wieder in diesem schicksalsträchtigen Raum gefangen war. Dieses Mal mit dem zweiten Teufel in persona.
 

Sich an den Rat besagten Teufels haltend, nahm sich Aya etwas der vorzüglichen Pasta, lud sie sich auf einen Teller und begab sich schließlich wieder zu seinem Platz an der Badezimmertür. Nicht, um als weißer Ritter das Bad zu stürmen und die holde, in Bedrängnis geratene Maid zu retten, nein, sondern um zu lauschen.

Wenngleich er vermutete, dass er nicht viel hören würde.

Wenn es sich Aya allerdings ehrlich eingestand, so machte er sich doch im Hinblick auf seinen Wortwechsel mit Crawford doch einige Sorgen um Schuldig. Dass das Orakel sich allerdings erneuter Gewalt bedienen würde... nein.
 

Vielleicht war es auch diese Erkenntnis, die ihn schließlich dazu bewog, sich wieder von der Tür zu entfernen und sich auf die Couch zu setzen. Er musste von Zeit zu Zeit loslassen... die beiden loslassen. Crawford war ein Teil von Schuldigs Leben, also auch ein Teil des seinigen. Privatsphäre war da unabdingbar.
 

Schuldig, der sich seiner Nacktheit zwar bewusst war sich ihrer aber weder schämte, noch sich vor Brad genierte, wandte sich diesem zu, das Handtuch fand seinen Weg zu seinen Haaren und rubbelte sanft darüber. Währenddessen ließ er Brad und dessen abwartende Gestalt nicht aus den aufmerksamen Augen.

„In der Tat“, sagte er aufgeräumt, als säßen sie sich bei einem guten Glas Wein gegenüber und nicht in dieser Aufmachung im Badezimmer eines Hotels.

„Das geschwätzige biedere Polizistchen dort draußen“, er wedelte in Richtung angrenzender Suite. „…berichtete mir, dass du geäußert hättest ich wäre in deiner Gegenwart… wie war das noch gleich… unsicher und flatterig. Was kannst du zu deiner Verteidigung vorbringen?“ Schuldigs Blick hatte sich an den bernsteinfarbenen Iriden festgebissen. Er machte noch keine Anstalten auf den anderen zuzugehen, keine Zugeständnisse.

Brad blieb ebenfalls auf seinem Territorium. Es wunderte ihn, dass Schuldig diesen Punkt als ersten von vermutlich vielen Vorwürfen ins Feld führte. Offenbarte dies einen wunden Punkt?

„Falls ich eine Verteidigung nötig hätte würde ich sagen: Es waren Fujimiyas Worte gewesen. Ich sagte lediglich, dass ich dich durchaus auch in anderen Stimmungen und zu weit mehr, als nur Flatterhaftigkeit und Unsicherheit in meiner Gegenwart bereit, kenne.“

Schuldig wickelte sich ein frisches Handtuch um die so exponierten Teile seiner Männlichkeit und ging auf Brad zu. Er sah ihn immer noch forschend an, denn er ahnte was Brad damit meinte. Unmittelbar vor ihm blieb er stehen.
 

Er fühlte sich ganz und gar nicht unsicher im Moment. Lediglich schuldig.
 

Seine rechte Hand hob sich in Richtung Brads Schläfe und seine feuchten Finger, die zuvor noch seine Haare bearbeitet hatten berührten die warme Haut.

„Empfängst du problemlos Visionen?“ Die Besorgnis aus seiner Frage bewusst heraushaltend.
 

Brad nahm die Hand des anderen nach einer gewissen Toleranzzeit herunter, sanft und nicht abweisend.

„Dank dir.“
 

Schuldig behielt den Blick für einen Moment mit Brads verschlungen, bevor er ihn auf einen Punkt an dessen Hals vorbei auf die Fliesen senkte. Seine Lippen bildeten einen schmalen Strich. Er wollte etwas sagen, aber welche Bedeutung hätten diese Worte?
 

„Bist du deshalb derart ‚unsicher’ und ‚flatterig’ in meiner Nähe? Wie unser Hobbypsychologe meinte?“
 

Schuldig schüttelte langsam den Kopf. „Unsinn. Das bin ich überhaupt nicht. Ich will dich lediglich aus der Reserve locken. Es macht Spaß dir auf die Eier zu gehen. Das ist alles. Ein Hobby. Das habe ich früher getan, also warum jetzt nicht auch?“
 

Brad schien mit seiner Antwort nicht zufrieden zu sein. „Was willst du denn noch hören?“, murrte Schuldig und lehnte seine Stirn auf Brad Schulter, stützte seine Hände an dessen Flanken ab.

Brad löste seine Haltung um ihm mittels eines umgelegten Arms die Sicherheit zu geben, die Schuldig mit seiner körperlichen Annäherung suchte.

„Ich war enttäuscht und wütend. Ich hatte eine verdammte Scheißangst, dass du…“
 

„Um was geht es hier jetzt, Schuldig?“
 

„Darum, dass du mir Angst gemacht hast. Dass du mich… uns verraten hattest, mit deinen verdammten Alleingängen. Dass du mir nichts über deine fehlenden Visionen gesagt hast. Du hast dich derart weit von mir entfernt… ich wusste mir nicht anders zu helfen, als dir zu zeigen, dass du gefälligst bei mir bleiben solltest.“
 

„In deinem Einflussbereich?“
 

„Ja, verdammt, von mir aus auch das.“
 

„Dafür musstest du alles aus mir herausbrechen?“, fragte Brad erneut ruhig und gelassen nach. Schuldig hob das Gesicht zu dem des anderen weil er nicht glauben konnte, dass Brad ihm nichts vorspielte. Dennoch war der Ausdruck der Augen, die auf ihn herabblickten, milde, warm aber auch mit etwas durchzogen, das er nicht einordnen konnte. Etwas Dunkles, Unbefriedigtes, Schwarzes.
 

Aya hörte nicht viel vom Gespräch der Beiden, eigentlich gar nichts, bis auf ein paar gedämpfte Laute. Er bemühte sich, sich auf die Pasta zu konzentrieren, und als er damit fertig war, sich eine große Tasse grünen Tee zu nehmen, mit der er nun über die Skyline von Osaka schaute und seine Gedanken schweifen ließ.

Es war Wahnsinn, wie schnell sie sich in den letzten Monaten entwickelt hatten. Wie sehr sie sich verändert hatten um sich näher zu kommen. Crawford hatte ihm einmal vorgeworfen, dass er diese Nähe nicht gewollt hatte, doch das bezweifelte Aya in jeder Minute mehr, die der andere im Bad und sowieso in der Nähe des Deutschen verbrachte.
 

Schuldig wusste um den Vertrauensbruch, den seine Tat nachgezogen hatte, um die Verletzung, die Erniedrigung, in die er Brad überantwortet hatte. Er war kein Empath, er konnte keine verletzten Gefühle kitten, sie nicht wieder ausmerzen, ihnen kein neues Gewand geben und seine Tat so kaschieren.

Und er wusste, sie alle wussten, dass Brad am Verletzlichsten von ihnen war. Von dem Punkt einmal abgesehen, dass er Schuldig gegenüber am Wehrlosesten war.

Dennoch fühlte Schuldig sich dem anderen keineswegs überlegen. Nur dort in der Klinik, dort wollte er Rache, wollte er, dass Brad sah wie stark er ihn verletzt hatte und es war Schuldig egal gewesen, dass Brad keine Voraussicht gehabt hatte, dass er körperlich eingeschränkt gewesen war und sich nicht wehren hatte können.
 

Schuldig fühlte wie Finger seine Haare im Nacken umschlossen, wie ein fester Griff den Zug auf seine Kopfhaut verstärkte und er diesem nachgeben musste. Er blickte wieder auf, da er sein Gesicht von Brad zuvor abgewandt hatte.
 

Brad blickte in das ihm so verletzlich präsentierte helle Gesicht, die Lippen, die im Augenblick weit davon entfernt waren ein provozierendes Grinsen zu vollführen, die Augen, die ihn abwartend, und reuevoll anblickten.

War es tatsächlich dieser Punkt, der Schuldig dazu veranlasste einen Schritt zurückzugehen, wenn er einen vor tat und das nicht nur aus rein spielerischen Zwecken?

„Hör auf damit.“
 

Schuldig legte die Stirn in Falten.
 

„Hör auf damit“, wiederholte Brad. „Reue oder Schuld zu fühlen. Das macht dich schwach und angreifbar“, ordnete er kühl an.
 

Schuldigs Hände krallten sich in Brads Hemd, fühlten die Wärme der Haut darunter.

„Ich kann das nicht abstellen, wie einen Lichtschalter“, bemerkte Schuldig und der Hauch eines spöttischen Lächelns irrlichterte über die blassen Gesichtszüge.
 

„Dazu war der Bruch zu groß, den ich begangen habe.“
 

„Du… oder ich?“, fragte Brad und die Frage schwebte im Äther wie Giftgas.
 

Schuldigs blaugrüne Augen suchten stumm die von Brad. Nach einer Weile, die ewig schien, versuchte der Telepath sich an einer Antwort, auch wenn sie für ihn sehr schwierig war, denn er wusste nicht, ob er ins Schwarze traf. Aufgrund Brads wortkarger Rückfrage jedoch…

„Du hattest keine Schuld an Kitamuras Verhalten mir gegenüber“, sagte er die Worte betont neutral gehalten.

Etwas in Brads Blick wurde härter, unnachgiebiger, dennoch spürte Schuldig wie sich diese Emotionen nicht gegen ihn richteten.
 

Warum fühlte er dies? Die Stirn runzelnd war sein Gesicht nun ein Ausbund an Konzentration, als er diesen Gefühlen versuchte nachzuspüren. Seine Lider fielen herab und ihn traf die plötzliche Erkenntnis genauso plötzlich wie ihn Brads Hände an den Schultern packten und ihn heftig schüttelten.

„Raus aus meinem Kopf, Schuldig“, hörte er Brads Stimme etwas weiter entfernt, als er sie eigentlich hören sollte und öffnete erschrocken die Augen. Schuldig zuckte regelrecht zusammen unter dem Gefühlsansturm, der auf ihn eingeprasselt war. Bleich schüttelte er den Kopf. „Ich… ich“, er befeuchtete sich die trockenen Lippen und seine Finger zogen sich näher an Brad heran, der ihn jedoch seinerseits auf Abstand halten wollte. So starrten sie sich an und verhielten still.

„Das…“, stotterte er und schüttelte erneut den Kopf.
 

Brad sah sich dieses Schauspiel an. Seine Laune war weit unter den Nullpunkt gesunken, als er einen Eingriff in seinen Geist vermutet hatte. Doch irgendetwas hatte Schuldig erschüttert. Was hatte er gelesen?

Brad hätte Schuldig für diesen erneuten Bruch seines Versprechens am liebsten eine harte Lektion erteilt. Nur die fahle Farbe in diesem attraktiven Gesicht und Schuldigs Unvermögen sich zu artikulieren hinderten ihn an dergleichen.
 

„Was ist los?“, verlangte er zu wissen und seine Stimme hörte sich wie das Knurren eines Wolfes an.
 

„Ich war nicht in deinen Gedanken“, wiederlegte Schuldig Brads Verdacht hastig. „Ich empfing empathische Potenziale.“ Er starrte seine Hände an.

„Von dir.“ Brad war angefüllt mit Emotionen der unterschiedlichsten Art gewesen. Ganz anders als Schuldig vermutet hatte, denn es war konfus, nicht geordnet, sondern… wie eine Art… Rausch der Farben. Unwillkürlich musste Schuldig an Jei denken.

Als könne er diese Farben fühlen und nicht sehen. Er hatte einen kleinen Ausschnitt darüber erhalten, wie sich diese Gefühle anfühlten und ihm fiel nur ein, dass sie ihm wie eine große Farbpalette erschienen.
 

„Eine Weiterentwicklung?“ Brads Stimme verlor ihren eisigen, wütenden Tonfall, milderte sich etwas ab. Er ließ es zu, dass sich Schuldig ihm nähern konnte, wenn er wollte und er registrierte tatsächlich eine Art Flucht zu ihm hin.
 

„In letzter Zeit übte ich viel mit Ran. Die ganzen alten Sachen. Grundübungen, Aufbau, Erweiterung… vielleicht deshalb“, sagte er nachdenklich immer noch mit dem Hauch von Unsicherheit durchwirkt.
 

„Ich bin mir nicht sicher, ob das gut ist.“
 

Schuldig verzog das Gesicht. „Mit Sicherheit nicht. Vor allem nicht, wenn ich es nicht steuern kann. Meine Schilde scheinen im Moment nicht sehr gut zu sein.“
 

„Du solltest an ihnen arbeiten. Und rede mit Jei“, mahnte Brad und wusste selbst nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Schuldig und empathische Fähigkeiten? Das war so etwas wie eine kleine Katastrophe.
 

„Ja… mach ich“, murmelte Schuldig und er legte seine Stirn erneut an Brad Schulter.

Er spürte wie Brads Arme sich mehr um ihn schlossen, wie dessen Hände sich warm auf seinen Rücken legten. Diese Umarmungen waren sehr selten und Schuldig schloss ob des seltenen Glücks seine Augen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Erzähl bloß nichts dem Polizistchen dort draußen. Er weiß zwar, dass ich latente Fähigkeiten in diese Richtung habe, allerdings eher als begleitende Erscheinung zur Telepathie, denn als separierte Fähigkeit.“
 

„Das ist deine Entscheidung.“ Brads Hand fand ihren Weg in Schuldigs Nacken, lag dort ruhig und sicherheitsversprechend.

„Und was Kitamura anbetrifft…“, kam er auf das Thema zurück.
 

Schuldig hörte ein Zögern heraus. Er schwieg, denn er wollte Brad aussprechen lassen. Es war eine seltene Gelegenheit für sie beide um diese Dinge mit etwas Abstand anzusprechen. Dinge, die für sie beide elementar waren um sich vertrauen zu können. Um sich wieder vertrauen zu können.
 

„… die Entscheidung, dir deine Amnesie zu lassen, war keine, die ich leichtfertig getroffen habe.“
 

Schuldig hob seinen Kopf und blickte Brad an, seine Hand ruckte zu dessen Lippen und die Spitzen seiner Finger legten sich über diese. „Ich weiß. Ich habe es in deinen Gedanken gelesen, Brad. Ich weiß um diese Vision. Ich weiß darum… um deine…“ Schuldig stoppte.

Brad… hatte keine Angst… so eine Umschreibung würde diesen vor den Kopf stoßen und Schuldig war im Moment nicht danach. Vielleicht nach dem Gespräch, nach dem sie diesen Raum der Nähe, der Verbundenheit wieder verlassen hatten. Dann konnte er Brad wieder auf die Nerven gehen, doch jetzt nicht.

„… deine Bedenken darüber, dass ich unser Arbeitsverhältnis beenden würde, zum Anlass genommen hattest. Ich weiß das alles. Und es ist in Ordnung.“
 

Brads Lippen kräuselten sich zu einem leisen Lächeln unter den Fingern. Seine Hand löste sich von dort wo sie an Schuldigs Flanke ruhte und er pflückte Schuldigs Finger von seinen Lippen.

„Du warst so gänzlich anders, Schuldig. Ich fühlte mich verantwortlich für dich. Und trotz deiner beschönigenden Worte – die ich dir hoch anrechne – war es Angst, du könntest von SZ abgezogen und mir entzogen werden. Es hätte meine Rache an Kitamura und SZ, die ich mir geschworen habe wesentlich erschwert.“
 

Er schwieg für Augenblicke.
 

„Wir sind quitt“, sagte er dann.

Schuldig nickte. „Wir sind quitt.“ Wenn Brad das brauchte, dann würde er ihm diese ‚Begleichung der Schuld’ geben. Auch wenn Schuldig es ganz und gar nicht so sah. Er hatte Brad aus Verletztheit, Wut und Verzweiflung geistig geschändet. Er wusste nicht wie das alles mit Brads Schweigen in Bezug auf Kitamura verrechnet werden sollte.
 

„Ich brauche einen geistigen Führer, jemanden der mich lehrt. All die Jahre wäre es dringend nötig gewesen. Nur… ich wüsste nicht wer dies sein sollte.“
 

Brads Lippen berührten Schuldigs Stirn, der seinen Kopf wieder angelehnt hatte. „Vielleicht sollten wir uns bald auf die Suche machen. Nach Gleichgesinnten in den Archiven suchen.“
 

„Nach Europa reisen? Hältst du das für klug?“
 

„Es wäre ein Anfang. Zu lange haben wir uns nicht mehr darum gekümmert was die Weiterentwicklung, die Verfeinerung unserer Sinne und die Arbeit damit angeht.“
 

Schuldig lachte freudlos auf. „Das wolltest du doch gar nicht“, sagte er brummend. „Zumindest bei dir selbst nicht.“
 

„Es reicht durchaus, wenn ich mich um wirtschaftliche Vorhersagen bemühe, sie sind weniger belastend, Schuldig.“
 

Weniger belastend als zu sehen wie täglich Menschen auf bestialische Weise dem Tode überführt wurden, wie Katastrophen geschahen oder ähnliche, emotional aufwühlende Dinge. Früher hatten sie ihn fast verrückt gemacht. Heute blockte er sie ab, wie Schuldig wusste. War Brad deshalb so kühl geworden? Und hatte der kleine empathische Exkurs ihm gezeigt, dass diese Kühle nicht ständig vorhanden war? Unter Umständen nur ein Schutzschild?
 

„Geldgeschäfte können auch emotional belastend sein“, grinste Schuldig zu Brad hoch.

„Nicht wenn ich dabei der Gewinner bin.“

Brad betrachtete sich Schuldigs Gesicht, die gerade Nase, die feinen Wimpern, der helle Teint. Er lehnte noch an Brad und hielt seine Augen halb geschlossen, schien es zu genießen. „Wie wäre es, wenn du dich fertig machst, wir mit dem Rotfuchs essen und danach etwas trinken gehen?“
 

Schuldig legte den Kopf leicht in den Nacken und seine Lippen verzogen sich zu einem unternehmungslustigen Lächeln. „Du meinst also, dass wir heute noch einen drauf machen können?“
 

Brad löste sich von Schuldig, zupfte ihm das Handtuch von den Hüften und warf es ihm zu. „Beeil dich.“ Er schloss das Badezimmer auf und verließ es.
 

Schuldig hätte sich gerne von Brad küssen lassen, aber dieser …

Aufseufzend machte er sich daran seine Haare zu trocknen.
 

Mit der Zeit war Aya unruhig geworden, sehr unruhig. Es drang fast kein Laut aus dem Bad, bis auf ein einziges Mal, bei dem Aya glaubte, Crawfords Stimme vernommen zu haben.

Doch nun stand der Amerikaner gelassen im Raum, scheinbar gelassen, denn Aya meinte, eine latente Spannung in der Statur des Orakels ausmachen zu können.

„Brauche ich Verbandszeug für Schuldig? Oder muss ich ihn noch einmal von der Duschstange lösen?“, kam es mit Verdächtigungen beladen von Aya.
 

„Es muss schon ein schlimmer Zwang sein, von mir ständig als bösen Unhold zu denken“, merkte Brad an und öffnete die Flasche Wasser, die Ran mitbestellt hatte.
 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…
 

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal! ^.^

Coco & Gadreel

Flirting with Disaster

~ Flirting with Disaster ~
 


 

Trotz dieser recht unheilvollen Kommunikation, verlief das Abendessen der drei ohne weitere Komplikationen. Schuldig war entspannter aus dem Bad gekommen ohne ein Anzeichen von Schlägen oder sonstigen Misshandlungen, die Ayas Verdacht verstärkt hätten. So lehnte er sich relativ zufrieden zurück und nahm sich zusammen mit den anderen beiden eine zweite Runde. Sein Appetit hatte sich mittlerweile auf ein gutes Maß eingependelt, mehr als vorher, wenn nicht gerade Schuldig bei einem Auftrag verweilte und er aus Anspannung nichts aß.

Erwünschter Nebeneffekt war es, dass er zunahm, dieses Mal sowohl an Muskel- als auch an Fettgewebe, das ihm den einen oder anderen dummen Spruch des Telepathen einbrachte.

Wie auch heute, was Aya allerdings nur mit einer hoch gehobenen Augenbraue quittierte. Ebenso wie die Sprüche, die Brad zwar nicht in der gleichen Intensität, jedoch ähnlich stichelnd bekam.

Nach dem Essen machten sie sich fertig und gingen hinauf in die Bar um sich noch einen Drink oder zwei zu gönnen, bevor morgen der letzte Teil des Auftrags anbrach.
 

An der Fensterfront der Bar hatten sie einen wunderbaren Blick über das nächtliche Osaka. Es herrschte einvernehmliches Schweigen, zumindest, seit Schuldig sie verlassen hatte um bei dem Kellner die Getränke zu bestellen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Deswegen hatte er freundlicherweise den Weg zur Bartheke auf sich genommen und ließ Crawford und Aya nun in trauter Friedfertigkeit zurück.
 

Es war immer wieder spannend, wie viele Ausländer den Weg in ihr Hotel fanden und wie interessant sich diese Begegnungen gestalteten.

Fudo fand immer wieder Begeisterung darin, sich die Fremden anzusehen, vor allen Dingen denjenigen, der ihn nun schon seit ein paar Minuten unterhielt, vielmehr sich mit ihm unterhielt, aber irgendwie noch nicht dazu gekommen war, zu bestellen. Seltsam...

„Was treibt Sie in diesen Teil der Stadt? Geschäfte?“, fragte er mit der höflichen Geschäftsmäßigkeit eines Obers und ließ seinen Blick unauffällig von den hohen Wangenknochen in die grünen Augen des Ausländers schweifen.
 

„Ja. In der Tat. Wir sind auf Einladung unseres Kollegen aus Osaka hier.“Schuldig setzte sich auf den Barhocker. „Ich denke ich nehme einen Suntory mit Eis“, ließ Schuldig in ihr laufendes Gespräch einfließen und beobachtete den Barmann dabei wie er einen Cocktail für ein Pärchen mixte, welches unweit von Brad und Ran saß. Ran war natürlich der ‚Kollege aus Osaka’ obwohl er eher wie ein Tokyoter aussah und sich ebenso verhielt.

„Natürlich, gerne.“ Fudos Stimme war leiser, getragen und er machte das Tablett für seinen Arbeitskollegen fertig. Dann widmete er sich dem Wunsch seines Gastes und platzierte in gekonnter Eleganz den gewünschten Whisky auf die sie trennende Bartheke.

„Gefällt Ihnen unsere Stadt?“

„Oh ja. Ich mag das Essen!“, Schuldig lächelte sein umwerfendes Sunnyboylächeln und wusste die dolchstichartigen Blicke, die auf sein Profil prallten durchaus zu… schätzen.
 

Brad saß mit dem Rücken zu dem Verhängnis auf zwei Beinen und mutmaßte anhand der minimalen Veränderung des Gesichtsausdrucks seines Gegenübers, dass sich Schuldig köstlich amüsierte, bei was auch immer. Brad wandte den ruhigen Blick zum Kellner, der ihre Wünsche entgegennahm.

„Offenbar findet er es an der Bar gemütlicher“, sagte Brad zu Ran in ironischem Tonfall.
 

Aya wandte sich nach seiner Bestellung anschließend an das Orakel, erwiderte dessen Ironie mit einer erhobenen Augenbraue.

„So kann man das nicht sagen. Er findet den Barmann momentan faszinierender, als uns beide. Vielleicht die späte Rache dafür, dass du ihn ins Bad gesperrt hast.“ Dunkler als zuvor ruhte sein Blick auf Schuldig, der es sich in diesem Moment RICHTIG gemütlich machte. „Vermutlich kommt er den ganzen Abend nicht mehr zu uns.“
 

„Haben Sie sich denn schon die Stadt angeschaut? Ich könnte Ihnen einige Sehenswürdigkeiten empfehlen.“ Ganz untypisch japanisch, aber wie er in den letzten Jahren gelernt hatte, durchaus westlich, zwinkerte Fudo einmal. Nur kurz, sehr zurückhaltend, aber es war oft sehr gut angekommen. Vor allen Dingen wenn jemand auch körperlich interessanter war als der Rest der schwarz gekleideten Geschäftsmänner.
 

„Der Abend dauert gemessen an der langen Zeit der Nacht nur einen Wimpernschlag lang.“ Brads Blick glitt unauffällig über Rans Gestalt. „Er ist den ganzen Tag schon aufgekratzt wie… eine Katze in einem Raum voller Schaukelstühle. Ich denke ihm fehlt Struktur und Ordnung…“ Brad verstummte, denn er dachte über seine Worte nach, die ihm im Nachhinein sehr zweideutig erschienen.
 

Damit gab er Aya Zeit, seine Überraschung in den Griff zu bekommen. Das, was der Amerikaner gerade hatte verlauten lassen, klang... dominant. Sehr dominant.

Genauso so dominant, als würde er Schuldig heute Nacht an ein Bett fesseln und ihm Verstand ins Hirn vögeln.

Auch er betrachtete sich Crawford, dessen in den Anzug gehüllte Gestalt. Ein heißer Schauer durchlief ihn, als er daran dachte, was Crawford Schuldig antun könnte.

„Und du willst ihm Struktur und Ordnung geben, indem du was machst?“, fragte er, als der Ober kam und ihnen ihre Getränke brachte. Die sie eigentlich von Schuldig hätten bekommen sollen!
 

„Im Normalfall hatte ich ihn in der Vergangenheit einen Aufenthalt in einer psychotherapeutischen Einrichtung spendiert. Bis er wieder klar denken konnte. Allerdings waren es andere Ursachen, als die Nachwirkungen von zu viel emotionalem Einfluss. Positivem emotionalem Einfluss. Die negative Problematik hatten wir bereits.“ Brad nahm seinen Drink auf und toastete Ran zu.
 

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass dein Pragmatismus dir manchmal das Denken erschweren könnte?“, fragte Aya und prostete Crawford mit seinem Suntory zu.

„Und da dies kein Normalfall ist, sondern Schuldig in seiner Bestform, solltest du dir etwas überlegen, was er mehr verlangt – wenn auch unbewusst – als einen Aufenthalt in der geschlossenen Anstalt. Wer weiß, vielleicht wird er dann entführt... von irgendwelchen komischen Agenten.“ In Selbstironie lächelte Aya und wackelte kurz mit seinen Augenbrauen.
 

Brad hob ebenfalls eine Braue, allerdings sah es eher nach Spott als nach Ironie aus. Er schwieg einen Moment dazu. „Du meinst er, verlangt unbewusst danach, dass ich ihn auf die einzige Art zur Räson rufe, die ihn einst zu dem machte was er heute ist?“ Sein stahlharter Blick traf Ran bevor er ihn einen Moment später abwandte und sich unbewusst bequemer hinsetzte. Er lockerte seine Krawatte etwas.

Das Verhältnis zwischen Schuldig und Brad würde schwierig werden. Es WAR bereits schwierig und Schuldigs Unruhe war lediglich der Vorbote, den Brad nun erkannte. Er wusste selbst nicht, was er tun, was er davon halten sollte.

Schuldig an sich zu reißen, ihm körperlich, sexuell zu zeigen was er fühlte, ihn besitzen zu wollen, war der eine Punkt, was das in Schuldig anrichten könnte der andere.
 

Mit seinem Glas spielend, sinnierte Aya für einen Augenblick lang über die allzu bitteren Worte Crawfords. Sein Blick glitt von Schuldig wieder zurück zu seinem Gegenüber.

„Ja, genau das meine ich. Denkst du nicht, dass er zwischen dir und Kitamura unterscheiden kann? Denkst du nicht, dass er, gesetzt dem Fall, er würde dich auf Teufel komm raus nicht herausfordern wollen, sich dann anders verhalten würde? Er reizt dich, wo er nur kann. Er reizt deine Grenzen aus. Er übersteigt sie, in der Hoffnung, dass eine Reaktion von dir kommt. In seiner Definition heißt das dann vermutlich „auf die Eier gehen“.“

Brad lehnte sich in dem Sessel zurück und ließ die Panoramaaussicht des nächtlichen Osakas auf sich wirken.

„Kitamura hat ihn konditioniert. In vielerlei Hinsicht. Ich habe vielen Momenten beigewohnt in denen sich Schuldig gegen seinen Willen automatisch verhalten hatte wie ein… konditioniertes Tier, er konnte nichts dagegen tun.“ Es war Jahre her, doch er weigerte sich diese Bilder zu vergessen, er konnte sie nicht vergessen. Ebenso wenig wollte er Schuldig in ähnlichen Situationen erleben, womöglich noch durch ihn ausgelöst.
 

„Ich hatte die gleichen Befürchtungen wie du auch.“
 

Für eine Weile ließ Aya das so im Raum stehen, gab Crawford Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

„Du sagst es selbst: gegen seinen Willen. Damals hatte er keine Wahl. Er hatte keine Wahl, weil die Organisation es so wollte. Du warst nur der Überbringer. Der Überbringer und sein Lebensretter. Ohne dich wäre er gestorben.“ Ein kurzes Lächeln huschte über Ayas Gesicht und es war ehrlich. Ein Funken Dankbarkeit lag darin, doch schnell war dieser Anflug von Emotion hinter einer neutralen Maske verborgen.

„Heute hat er die Wahl und diese Möglichkeit nutzt er. Nicht oft, aber er genießt es. Er braucht es manchmal. Doch dann ist es auch wieder gut.“
 

„Wir hatten früher des Öfteren körperliche Auseinandersetzungen…“, sagte Brad leise. Sein Blick ging nach draußen.

Nur damals hätte er nie ehrliches Interesse von Seitens des verrückten Telepathen in Absicht gestellt.

Wie oft waren sie sich nahe gekommen und wie oft hatten seine Hände sich gegen Schuldig erhoben ohne auf signifikante Gegenwehr zu stoßen.
 

Aya wurde sich bewusst, dass er hier mehr von Crawford... Brad... erfuhr, als in den letzten Monaten. Der andere Mann öffnete sich ihm in seinen Maßstäben.

„Körperliche Auseinandersetzungen sind auch eine Form der Nähe und des Stressabbaus. Die Einzigen, die er damals von dir bekommen hat.“

Brad schwieg dazu. Musste er nun davon ausgehen, dass Schuldig schon seit Jahren von ihm … nun… angetan war?

Weshalb zum Teufel verunsicherten derlei Dinge ihn plötzlich? Ohne es zu bemerken verschlossen sich seine Züge, wurden härter. Er konnte mit jeder Situation umgehen und hatte das auch einmal davon gedacht, dies über Schuldig sagen zu können. Er hatte geglaubt ihn im Griff zu haben und doch war er ihm von der Sekunde an entglitten seit er in seine Nähe gekommen war.
 

„Aber wen interessiert die Vergangenheit? Wenn sie uns interessieren würde, dann säßen wir alle nicht hier“, fügte Aya an, als Brad schwieg. „Gewisse Dinge außer Acht zu lassen, ist nicht ratsam, aber immer in den Geschehnissen von damals zu hängen, ist grob fahrlässig.“

Er schwieg, ließ seinen Blick zu Schuldig streifen, der nun äußerst... intensiv mit dem Mann flirtete. Einem Mann.

Bisher waren es nur Frauen gewesen.

Nun war es ein Mann.

„Wie dem auch sei, werter Brad, wir haben heute Nacht einen Auftrag“, schloss er dunkel, äußerst dunkel.

„Einen Auftrag?“ Brad war wohl sehr tief in Gedanken versunken gewesen. Er wandte sein Gesicht in Richtung Schuldig und hob eine Braue.

„Du meinst einen Erziehungsauftrag?“ Ginge man davon aus, dass Haie lächelten, so hatte Brads Gesichtsausdruck frappierende Ähnlichkeit mit einem, der gerade Appetit auf flauschige kleine Robben bekommen hatte. Sogenannten Blutdurst.
 

„Ist er nicht putzig, der kleine Racker... die Jugend von heute, einfach süß.“ Mochten Ayas Worte Zucker sein, so war die Intonation eine kleine, rote Chilischote mit etwas Wasabipaste serviert.

„Also, schon eine Idee?“
 

„Teeren und Federn ist out, oder?“
 

„Ebenso wie Vierteilen, die Streckbank und die eiserne Jungfrau, ja“, nickte Aya.
 

Fudo wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Mann mit ihm flirtete, so wie er manchmal seinen Blick abschweifen ließ, mal auf seine Lippen, mal nach etwas weiter unten. Auch die Stimme des Fremden hatte sich verändert, minimal nur, aber dennoch.

„Kann ich Ihnen noch einen Drink machen?“, fragte er, als er sah, dass dessen Glas leer war.
 

„Das Gleiche noch einmal“ Schuldig nickte einmal. „…sie spielen selbst auch?“, führte er ihr Gespräch über Baseball fort, während er darüber nachdachte wie lange er sich wohl hier in der Bar herumdrücken konnte, ohne dass es den beiden anderen großartig auffiel. Er seufzte innerlich und gestand sich seine Feigheit sogar ein. Was war er nur für ein Hasenfuß.
 

„Ein wenig. Nicht viel... ich arbeite viel. Aber wenn die Arbeit dann vorbei ist, schaffe ich es manchmal, im hiesigen Verein zu spielen.“

Fudo erledigte eine andere Bestellung, kehrte dann zu seinem aufmerksamen Gast zurück.

„Dürfte ich fragen, aus welchem Land Sie kommen?“

„Irland, von der grünen Insel sozusagen. Und ich denke, sie sind bestimmt ein guter Spieler, sie sehen aus, als würden sie es öfter zum Training schaffen.“
 

„Ich danke Ihnen, aber dem ist leider nicht so.“ Kurzes Bedauern huschte über Fudos Gesicht. „Irland... ist es so kalt und regnerisch, wie man allgemein sagt?“

„Die herrliche Landschaft macht das alles wieder wett!“, und alle haben rote Haare und Sommersprossen, meldete sich Schuldigs spöttische Stimme aus der Versenkung und er amüsierte sich ungemein über den ehrlichen jungen Mann, der Konversation übte mit einem sehr gut japanisch sprechenden ‚Ausländer’.
 

So.

Es war nun anderthalb Stunden später. Brad Crawford hatte sich vor 45 Minuten mit einem leicht teuflisch angehauchten Lächeln auf ihr Zimmer verabschiedet. Er müsse noch mit Nagi telefonieren. Sollte er.

Sollte er...

Nur dass Schuldig sich in der vergangenen Zeit nicht die Mühe gemacht hatte, wieder zu ihm zurück zu kehren.

Also erhob sich Aya – ihre Drinks liefen auf die hausinterne Kreditkarte – und kam zur Bar. Dem Barkeeper höflich zunickend, stellte er sich neben Schuldig und sagte leise und sehr langsam.

„Ich. Fahre. Jetzt. Nach. Unten.“

Dabei erreichten seine Augen gerade mal das Glas Whisky des Telepathen, seine Stimme drückte aber nicht im Mindesten Desinteresse aus. Eher im Gegenteil.
 

„Ah Shin-san! Natürlich. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Morgen Früh treffen wir uns beim Frühstück?“, mimte er den Kollegen, und lächelte seinem Kollegen gutmeinend ins Gesicht.

Ran würde nach unten fahren… und …

Schuldig linste an Ran vorbei zur Sitzgruppe – die leer war. Wo war Brad? Bereits im Zimmer? Würden sie beide auf ihn warten? Wann war Brad gegangen? Viel früher?
 

„Verschlafen Sie nicht, Edison-san. Sie wissen, das sieht unser Geschäftspartner nicht gerne. Eine gute Nacht wünsche ich.“ Aya vollführte eine leichte Verbeugung und verließ die Bar, innerlich blutige Rache schwörend.

Schuldig tat der Höflichkeit genüge und widmete sich wieder dem Flirten, dem Trinken und seinen düsteren Zukunftsvorhersagen für diese Nacht.

Ran kochte vor Wut… und Brad… den konnte er wie immer schlecht einschätzen. Er verspürte jedoch keine gesteigerte Lust heute Abend die Spielwiese für diese beiden Machos zu geben.

Vor allem beide zusammen… und so wie er sie herausgefordert hatte schwante ihm Übles. Vielleicht hatte er es doch zu weit getrieben. Er konnte sich vor Brads Augen nicht von Ran flachlegen lassen. Das… es ging nicht.
 

Diese und ähnliche Gedanken schwirrten ihm im Kopf herum, während er sich mit Fudo unterhielt und sich schließlich eine halbe Stunde später verabschiedete.
 

Zunächst hatte er die feste Absicht nach unten zu fahren um noch eine Zigarette zu rauchen. Er verwarf die Idee noch im Aufzug und stieg auf ihrem Stockwerk aus. Sein inneres Ich lachte hämisch über seine Befürchtungen, allerdings nahm er ihm diesen Spott nicht ganz ab.

Seine Schritte wurden vom dicken Teppich im Flur verschluckt als er selbigen entlangging um schließlich vor Brads Zimmertür – zu halten. Sie hatten drei Zimmer reserviert. Zwei davon waren Standardzimmer, eines davon war eine der Luxussuiten.

Schuldig kündigte seine Anwesenheit bei Brad mittels einer leichten Berührung an dessen gedanklicher Schwelle an und öffnete die Tür. Bereits als die Tür nach innen schwang nahm er eine andere Person im Raum wahr, noch bevor er sie sah oder hörte. Es war seine gut ausgeprägte Intuition gepaart mit der Tatsache, dass er es gewohnt war Individuen im geistigen Sinne zu erspüren. Auch ohne dies willentlich einzuleiten. Im Zimmer empfingen ihn nur mehr das Licht der indirekten Beleuchtung, der Monitor vom Fernsehgerät in dem CNN lautlos sein Programm abspulte und der Monitor vom Bildschirm des Notebooks. Obwohl er Ran nicht lesen konnte, wusste er doch wenn dieser in einem Raum war, oder in der Nähe. Ein Umstand, der hier nicht zutraf.

Ran war nicht da. Doch jemand anderes war es. Und Brad.
 

Diese Tatsache verwirrte Schuldig und ließ ihn wachsam näher treten. Der Eingangsbereich bildete eine Nische, die sich drei Schritte weiter in einen offenen Raum öffnete. Schuldig ging näher und sein vorsichtiger Blick traf auf freien Raum und…
 


 

Die Schlüsselkarte, die er noch in der Hand trug bohrte sich in seine Handfläche als er die malerische Szenerie optisch erfasste. Gedanklich jedoch blieb sie ihm verwehrt. Es wollte ihm einfach nicht in den Kopf warum die rothaarige Zicke gerade hier auftauchte – zu diesem Zeitpunkt.
 

Manx stand im Türrahmen. Ihre langen Beine steckten in Stiefeln, mit hohem Absatz, danach kam etwas attraktives Bein und dann schloss sich ein Rock an, der unter eine passende Kostümjacke verschwand. Ihr rotes Haar war kunstvoll hochgesteckt und sie stand halb zum offenen Badezimmer an den Türrahmen gelehnt, in der Hand ein Glas roten Weines, welches zur Hälfte gefüllt war.
 

Schuldigs Mund wurde trocken, als er sah wie Brad dem ganzen Geschehen gegenüberstand: nämlich halbnackt. Er schien sich an der Besucherin nicht zu stören, denn er stand lediglich mit einem Badetuch um seine Hüften bekleidet am Waschbecken und fuhr sich mit einem Handtuch durch das noch feuchte Haar, während er ihr offensichtlich etwas erklärte. Schuldig hörte kaum die Worte, die er sagte, so aufgebracht war er innerlich.
 

Er stand stumm im Raum und betrachtete sich die beiden für einen langen Augenblick. Die Tatsache, dass er nichts sagte, sondern dort stand und Brad anblickte, als hätte dieser gerade von ihm verlangt sich auszuziehen und Pogo zu tanzen, war für Brad Beweis genug wie sehr Schuldig diese Situation verstören musste. Brad war jedoch nicht geneigt Schuldig aus seinem Schockzustand zu erlösen, so wie dieser sich den Abend über aufgeführt hatte. Auch wenn sich Brad etwas an Schuldigs Gesicht erinnert fühlte als Fei Long ihn in der Mangel gehabt hatte. Blass, mit offenem verletzlichem Blick. Brad wandte das Gesicht wieder seinem Spiegelbild zu, während Manx sich dem Neuankömmling zuwandte.
 

Manx grüßte den Telepathen mit einem höflichen Nicken. "Schuldig-san", sagt sie und wandte sich wieder ihrem eigentlichen Gesprächspartner zu.

Die Verstörtheit des Deutschen hatten sie sehr wohl wahrgenommen, wusste sie auch zu werten, doch sie hatte andere Sorgen.

"Ich nehme an, über die CIA-Informationen haben Sie noch nicht verfügt, Crawford-san?"
 

Sie war geschäftlich hier, morsten vernünftige Teile von Schuldigs Gehirn an sein empörtes Gefühlszentrum und er fuhr die negativen Gefühle, die sich bereits in ihm breit gemacht hatten und eine Revolte in seinem Inneren ausbrechen lassen wollten, herunter. Trotzdem war er vorsichtig und ging einige Schritte auf die beiden zu um zumindest vom Eingangsbereich weg zu kommen. Er traute der Japanerin nicht besonders, sehr wohl aber traute er ihr zu, dass sie ihre „Geschäftspartner“ hinterging.

Wo zum Teufel war Ran?
 

Brads Antwort fiel wie stets in solchen Situationen leidenschaftslos sachlich aus.

„Nein, Manx-san, dafür waren schließlich sie zuständig, ich überprüfe Daten nur dann nach, wenn sie mir unseriös erscheinen“, oder wenn er nicht schon vorausgesehen hätte, dass der CIA sich gerne in ihre Unternehmung einklinken würde. Die Hintergründe jedoch entzogen sich seiner bisherigen Kenntnis.
 

"Nun, die CIA zeigt ein deutliches Interesse daran, das momentan herrschende... Ungleichgewicht in Japan zu beseitigen. Ihnen ist es anscheinend ein Dorn im Auge, dass unsere Agenten abgeschlachtet werden. Sie haben mir Hilfe angeboten." Manx machte es sich trotz gegnerischer Präsenz in ihrem Rücken am Türrahmen gemütlich.

"Hilfe bei den Ungereimtheiten, die es im Sakurakawa-Clan gibt nach dem Tod der Ehefrau eines der wichtigen Mitglieder."
 

„Der Ehefrau, die einer plötzlichen Hirnblutung zum Opfer fiel?“, Brads Mundwinkel zuckten spöttisch, als er das Handtuch zur Seite legte und nach seinem Weinglas griff um einen Schluck vom Inhalt zu genießen.
 

„Sie fiel Jei zum Opfer“, wandte Schuldig neunmalklug ein um die Aufmerksamkeit der rothaarigen Schlampe von Brad abzulenken.
 

Dieser hob aufgrund dieses unnützen Einwandes lediglich eine Augenbraue. Schuldig schien ziemlich betrunken zu sein, wenn er seinen feinen Spott nicht bemerkte.
 

Schuldig hatte Erfolg mit seinem Tun. Manx wandte sich ihm zu, weg von Crawford.

"So. Und was wissen Sie noch, Schuldig-san?" Ihre Augen maßen den unfreundlichen Telepathen, der nie ihre Sympathie erlangt hatte. Nie. Auch nicht als Gegner, dazu war er zu verrückt.
 

Der Verrückte entledigte sich gerade seiner Anzugjacke, fühlte sich, da die Aufmerksamkeit nun auf ihm lag und er damit besser umgehen konnte, als wenn sie Brad zu nahe kam, wesentlich besser. Weder Jei, noch Nagi oder er selbst mochten es, wenn jemand sich zu sehr mit Brad beschäftigte und dabei spielten Schuldigs persönliche Vorlieben eine eher nachgeordnete Rolle.

„Ich stellte lediglich richtig, dass nicht eine Hirnblutung, wie vom Sakurakawa-Clan veröffentlicht, der Grund ihres Ablebens war, sondern eine oder mehrere Kugeln eines unserer fähigsten Mitarbeiter. Die Frage, die ich mir stellte, war… was geschah mit der Leiche? Gelang es Ihnen, sie zu obduzieren, oder nahm sich der Clan ihrer an? Denn offenbar haben die Männer, die Kudou in der Mangel hatten einen Mangel an Sorgfalt an den Tag gelegt, denn die Leiche, das Beweisstück ließen sie am Tatort zurück. Warum auch immer.“
 

Brad lächelte marginal. Schuldig war nicht so betrunken wie er zunächst vermutet hatte.

„Vielleicht waren sie sich zu selbstsicher, was ihre Tote angeht.“ Manx ließ ihren Blick prüfend über die Person des Deutschen gleiten, kam mit sich zu dem Ergebnis, dass es gar nicht mal so falsch war, diese Information weiter zu geben.

„Es gelang uns, nach den Informationen die Balinese uns übergab, das Leichenschauhaus zu orten, in dem sie aufgebahrt worden ist und eine DNA-Probe zu entnehmen, sowie Bilder von ihr zu machen.“

Brad seufzte, da er die Zukunft kommen sah…

Er nahm sich einen Bademantel vom Bügel und schlüpfte hinein, nur um sich wieder seinem Wein nach dem Gürten des weichen Gewands zu widmen. Er warf Schuldig einen warnenden Blick zu, den dieser wohl deutete und bewegte sich im Raum so, dass er zwischen Schuldig und Manx kam.

„Und sie haben WAS herausgefunden?“, spielte Schuldig seine Rolle als Frageonkel weiter, da Manx ohne eine Frage wohl keine Antwort herausrücken würde. Und Brad schien diese Antwort, die er schon zu kennen schien nicht zu gefallen.
 

Manx nahm einen Schluck Wein aus ihrem Glas zur Stärkung und stellte es ab. Besser, so rieten es ihre Instinkte und vielmehr, als dass ihr Wissen um die Gefährlichkeit des Telepathen, dass sie die Hände frei hatte. Sie löste sich vom Türrahmen und wandte sich ihm zu.

„Was wir ohne Probleme erkennen konnten, ist, dass sie Ausländerin ist. Oder war. Vermutlich Europäerin oder Amerikanerin, je nachdem. Ihre DNA, die wir untersucht haben, haben wir auf Verdacht mit einer verglichen, die wir bereits vorliegen hatten.“

Ihr Blick ruhte für einen Moment auf Crawford, der halb zwischen ihr und Schuldig stand um schließlich wieder zu ihrem Gesprächspartner zurück zu kehren.

„Mit Ihrer, Schuldig-san.“

„Was bezwecken sie mit ihren dramaturgischen Pausen? Sollen sie die Dramatik steigern oder haben sie noch keine Ergebnisse dieses Vergleichs vorliegen?“ Schuldig war langsam angepisst, vor allem wenn er daran dachte, dass sie DNA Proben von ihm hatten und diese wohl schon seit längerem. Er hatte das Gefühl, dass hier etwas total falsch lief und starrte Manx nicht gerade freundlich an.
 

Brad schwieg, blickte Schuldig für einen Moment taxierend an bevor er hinüber zum Tisch ging und sich dort aus einer Zigarettenschachtel einen der Glimmstängel hervorholte und ihn sich anzündete. Er rauchte nicht oft, aber das was noch kommen sollte, würde schwierig werden und es hatte auch ihn überrascht.
 

„Der Test ergab eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Sie mit ihr verwandt sind oder es waren. Woraufhin wir nachgeforscht haben, versucht haben, etwas über die Vergangenheit der Toten heraus zu finden. Es ist nur zu wahrscheinlich, dass sie Ihre Tante war, Schuldig-san.“ Noch verschwieg sie, woher sie die Probe hatte, wenn es überhaupt noch notwendig war, dies preiszugeben und wenn der Telepath diese Information nicht schon längst aus ihren Gedanken gezogen hatte.

Hatte der Telepath nicht.
 

„Woher haben sie die DNA Probe?“, wollte nun Brad leise wissen. Er wusste, wie sensibel es für ganz Schwarz, aber vor allem für Schuldig war, dass sein Erbgut in irgendwelchen Datenbanken herumschwirrte, für jeden zugänglich gemacht.
 

Schuldig war unterdessen damit beschäftigt alles zu verdauen. Seine Tante? Wie kam seine Tante… hierher nach Japan und weshalb? Und wie kamen sie zum Teufel noch mal an seine DNA?
 

„Als wir Sie damals aus der psychiatrischen Anstalt befreit haben, haben wir Ihnen eine Blut- und damit auch DNA-Probe entnommen. Sie waren zu dem Zeitpunkt völlig weggetreten.“ Ruhig in Stimme und in ihrer Mimik trug Manx das vor, was anscheinend Ran seinem Partner die ganze Zeit über verschwiegen hatte.

„Befreit?“, höhnte Schuldig und er trat einen Schritt vor. „Ich wüsste nicht, dass man Befreite an ein Bett fesselt und ihnen Blutproben ohne ihr Wissen abnimmt.“
 

Schuldig wollte noch viele andere Dinge sagen, wurde jedoch von Brads kühler Stimme unterbrochen. „Am besten du suchst Ran, wir haben einiges zu besprechen.“

Brad hatte in seiner Voraussicht gesehen, dass Schuldig losstürmen würde um das Gedankenchaos zu sortieren. Brad wollte ihm ein Ziel geben, an dass er sich halten konnte, denn einen ziellos schlecht gelaunten umherwandernden Schuldig brauchte weder Osaka noch der Rest der Welt.
 

Schuldig verstummte, sah Brad unentschlossen an, bevor er sich dafür entschied Ran zu suchen. Er stürmte aus dem Zimmer und vergaß dabei sowohl die Schlüsselkarte als auch sein Jackett.
 

Das war noch... glimpflich gewesen, sagte sich Manx, hatte jedoch das Gefühl, dass sie das einzig und alleine Crawfords ruhigem Vorschlag zu verdanken hatte. Dass nun Ran den gröbsten Ärger abbekommen würde, verursachte ihr kein schlechtes Gewissen. Dafür war Ran der Partner dieses unberechenbaren Kochkessels.

Dennoch.

„Er wusste nichts von einer Tante?“, stellte sie in den Raum und sah Crawford in die Augen.

„Es war nicht gerade geschickt, diese Information ihm gegenüber verlauten zu lassen. Es wäre durchaus sinnvoller und vielleicht… weniger kompliziert gewesen, wenn sie es mir zuerst gesagt hätten. Er ist zu labil für Überraschungen. Und er überrascht seine Umgebung dann ganz gerne mit Aktionen, die wie soll ich sagen… schwierig sein können. Nur so als Ratschlag für zukünftige Besprechungen“, sagte Brad verärgert. Schließlich hatte die Agentin keine Ahnung, und es war ihr auch völlig egal, so vermutete Brad, was diese Hiobsbotschaft in Schuldig anrichten würde. Selbst Brad wusste es nicht, er ahnte nur nichts Gutes. Und… es war ihm nicht egal.
 

„Diese Information musste ausgesprochen werden. Doch Sie haben Recht, Crawford-san, das nächste Mal werde ich sie in das Vertrauen mit einbeziehen.“ Vertrauen, ja klar. Als wenn sie jemanden in diesem Raum freiwillig vertrauen würde. Sie war heute hier, weil ihr die Möglichkeiten ausgegangen waren.

„Ich hoffe für ihn, dass Ihr Teampartner Ran findet.“

Schuldig stand unterdessen im Hotelflur und starrte auf die Anzeige des Lifts. Er hatte den Aufzug noch nicht geholt, denn die Gefühle, die mit den Gedanken über das was Manx ihnen gerade gesagt hatte einhergingen blockierten ihn. Er konnte die Gedanken noch nicht sortieren, es war zu chaotisch in seinem Kopf. Seine Tante? Die Schwester seiner Mutter?

Wer war sie und… Jei hatte sie getötet. Was hatte sie mit dem Clan zu schaffen… und Kudou… Kudou… er… sie hatte ihn bedroht…

Er stand immer noch so da bis jemand kam und auf den Knopf für den Lift drückte. Er wusste nicht wie lange er so dagestanden hatte, bis ihn der Liftboy, der im Aufzug stand auf Japanisch ansprach, welches er im ersten Moment gar nicht registrierte, da er zu sehr damit beschäftigt war in seinem Kopf nach Erinnerungen an seine deutsche Heimat zu wühlen.
 

Er bedankte sich und stieg mit ein, benannte sein Ziel, das erste Stockwerk und sie fuhren hinunter. Vielleicht war Ran zum Kai gegangen, denn das Hotel lag in der Nähe der Uferpromenade. Einige Zwischenstopps später öffneten sich die Türen und mit ihm stiegen noch andere Fahrgäste geschäftig aus. Es war zwar schon sehr spät aber das hieß in Osaka nicht viel.
 

Schuldig ließ seinen Blick über die mit Teppich ausgekleidete Eingangshalle gleiten, konnte jedoch kein Anzeichen dafür entdecken, dass Manx in Begleitung gekommen war. Bis auf den Portier, der einem Touristenpärchen europäischer Natur etwas erläuterte, den Rezeptionisten, der geschäftig Unterlagen sortierte und einem arbeitslosen Kofferträger, der sich trotz allem Nichtstun dienstbeflissen geben wollte – was zugegeben schwierig war – war nichts los in der Eingangshalle. Ran war also nicht hier unten und in die Hotelbar nach ganz oben wäre er nicht zurück gefahren. Es sei denn er wollte an dem Barkeeper Fudo tödliche Rache nehmen.

Diese amüsante Vorstellung brachte ihn auf andere Gedanken und legte ein Lächeln auf seine Lippen.

Die Freude hielt nicht lange an, denn als Schuldig vor die Tür trat, die Hände in die Hosentaschen gegraben erkannte er, dass Ran in unmittelbarer Umgebung des Hotels auch nicht zu finden war.

Die kühle Luft klärte sein alkoholgeschwängertes Gehirn etwas und er atmete tief durch. Wirklich intelligent war es nicht gewesen, sich einen Rausch anzutrinken, denn so waren seine Fähigkeiten stark beeinträchtigt.

Zwar merkte man ihm den betrunkenen Zustand äußerlich nicht an, doch er selbst wusste gut genug, dass es ab einem bestimmten Promillegehalt unmöglich für ihn war genug Konzentration aufzubringen um eine andere Person geistig zu lesen, zu beeinflussen, geschweige denn zu kontrollieren.
 

Er blickte zur rechten Seite und traf auf die dunkle See, die dort an den Kai schwappte. Kühler Wind zog an seinem Hemd und seinen Haaren. Die Scheinwerfer der Straßenlampen legten ihre Lichtkegel auf die Wellen.

Wieder besah er sich die Umgebung, doch hier stand weder ein auffällig geparkter Wagen des Auslandsnachrichtendienst der USA, noch lungerten hier potentielle übriggebliebene Kritikeragenten herum, oder trieben sich vermeintlich harmlose Touristenpärchen oder Jugendliche in der Nähe herum. Kritiker unterstanden der PSIA dem japanischen Nachrichtendienst und Schuldig war sich fast sicher, dass es Kritiker aufgrund ihrer Verluste und des scharfen Bombardement unter dem sie standen schlecht ging was das Thema Unabhängigkeit und Rechtfertigung vor der großen Mutter anging.
 

Für seinen Geschmack mischten momentan zu viele Geheimdienste mit und selbst wenn sich ‚Schwarz‘ rühmen konnte nicht ganz bescheuert zu sein, so wurde Schuldig doch ein wenig unruhig bei dem Gedanken, dass sowohl CIA als auch Kritiker um die Gunst Brads rangen. Wer war schon so verzweifelt einen Hellseher in die engere Wahl bei seinen Spionageangelegenheiten zu ziehen?

Früher hätte man wohl so gedacht. Vor allem wenn die Existenz eines solchen Individuums angezweifelt würde. Was der Großteil der Menschheit glücklicherweise tat.

Nicht so Brads Schwester…
 

Er seufzte und zog seine Hände aus den Taschen. Am linken Handgelenk trug er einen Haargummi, den er sich nun abstreifte und seine Haare so zusammenknotete, dass sie ihn durch den Wind nicht ins Gesicht geweht wurden und ihn behindern konnten.
 

Brads Schwester…
 

Der Gedanke ließ ihn inne halten, denn er war in Richtung Wasser gegangen. Nachdem er die Straße überquert hatte, blieb er stehen und blickte zu dem kleinen 7 Eleven Einkaufsladen hinüber, der 24 Stunden geöffnet hatte. Vielleicht sollte er sich einen Kaffee gönnen. Das würde zumindest die Chance erhöhen heute noch in Manx Kopf herumstöbern zu können. Es war ein magerer Hoffnungsschimmer, denn so schnell baute sich auch bei einem PSI Akteur der Alkohol nicht ab.
 

Wenigstens war seine Wut etwas verraucht. Seine Wut auf Manx, auf Brad und auf Ran. Bei genauerer Betrachtung folglich auf alle.
 

Schuldig steuerte den 7 Eleven an. Es war schon seltsam, dass fast zur gleichen Zeit Brads Schwester auf den Plan trat wie auch eines seiner Familienmitglieder wichtig oder viel mehr interessant wurde.
 

Er betrat den Laden und fand gleich am Eingang Zeitschriften und Zeitungen. Nachdem er sich für eine aktuelle Tageszeitung entschieden hatte ging er weiter zu den Kühlfächern. Zwei vegetarische Reissnacks gesellten sich zur Tageszeitung, denn er hatte die dunkle Ahnung, dass diese Nacht länger und anstrengender wurde, als er sich noch vorhin in der Bar ausgemalt hatte. Er ließ sich noch zwei Kaffee im großen Becher geben, einen schwarz, den anderen mit Zucker und Milch und bezahlte dann. Alles hübsch verpackt in eine fadenscheinig wirkende weiße Tüte verließ er den Laden und ging zum Kai.
 

Er versuchte sich daran zu erinnern was Kudou über die Frau gesagt hatte, die ihn dieser überflüssigen sexuellen Folter unterziehen wollte. War das wirklich seine Tante gewesen? Waren in dieser Familie alle übergeschnappt?
 

Er wanderte in Richtung Wasser, ging auf das Glucksen der Wellen zu. Ran mochte diese Stimmung, in der Ruhe der Nacht am Wasser zu stehen.
 

Auf den ersten Blick sah er niemanden, also setzte er sich auf eine Bank und nahm sich einen der beiden Kaffebecher. Er öffnete den Deckel und nahm einen Schluck. Es tat gut. Hinaus in die Dunkelheit über dem Wasser blickend fragte er sich warum er es nicht eiliger hatte Ran zu suchen, schließlich machte es ihn sonst verrückt, wenn er nicht wusste wo der Japaner sich herumtrieb.
 

Jetzt allerdings gab es zu viel zu bedenken. Hatte Ran von Manx Besuch gewusst? Warum hatte er ihm nichts von der Blutabnahme erzählt, wo er doch genau wusste wie paranoid und sensibel Schuldig – ja ganz Schwarz auf das Thema reagierte? Und genau dies war eingetreten, jetzt schwirrten in irgendwelchen internationalen Datenbanken DNA-Proben von ihnen herum. Gott. Das war übel.

Er selbst hatte nichts von Einstichen an seinem Körper bemerkt, auch Tage danach nicht. Wobei er da zeitweise nicht ganz er selbst gewesen war.

Schuldig presste die Lippen zusammen und wusste nicht wie sie diesen Schlamassel wieder bereinigen sollten. Und das mussten sie. Sie würden Nagi und Omi darauf ansetzen, falls der Takatori Sprössling sich darauf einließ.
 

Er bekam Angst, wenn er daran dachte, dass Forschungen mit ihren Daten betrieben wurden und wozu das führen würde. Egal was sie damit anstellten, nichts war so gut wie das Original selbst, aber man konnte dennoch nah genug herankommen um das Original in die Finger zu bekommen und davor graute Schuldig.

Lieber wäre er tot.
 

Er nahm wieder einen Schluck des warmen Getränks. Es erinnerte ihn an Brad und damit verbunden an Sicherheit und Wohlbehagen. Und an Nähe, an dunkle, seidige Wärme, an Ran. Wo zum Henker war dieser beleidigte Japaner, wenn er ihn brauchte?
 

Nicht da, eben weil er beleidigt war. Nun, beleidigt war nicht das richtige Wort, eher angesäuert, wenngleich er es eigentlich besser wissen sollte. Eigentlich. Schuldig wollte ihn nur reizen, das war klar, ihn triezen und Brad ebenso. Warum er dann so unvernünftig war und abends das Hotel verlassen hatte um sich abzukühlen, stand auf einem anderen Blatt.

Es war gefährlich alleine draußen, selbst für ihn. Gerade für ihn, durch seine Verbindungen zu Schwarz. Allerdings brauchte Aya in diesem Moment die kühle Brise der Seeluft, die Wellen, die ans Ufer schwappten und die Stille, wie er hier am befestigten Ufer entlang lief, immer einen wachsamen Blick auf seine Umgebung.

So entging ihm auch nicht die einsame Gestalt, die dort auf der Promenade saß und die Aya im ersten Moment, in dem er nicht erkannte, wer es war, nach seiner Waffe greifen ließ. Ruhig und bedächtig ging er näher, all seine Sinne geschärft auf die mögliche Gefahr, bevor er sah, um wenn es sich da handelte.

Den Stein des Anstoßes.

Dem deutschen Kobold, der es nicht lassen konnte.

Dem Mann, dem er sein Leben und seine Liebe gegeben hatte.

Aya blieb stehen und seufzte tief.

Sein Herzinfarkt und Schrittmacher zugleich.

Langsam kam er auf Schuldig zu, löste sich aus der Dunkelheit in die laternenbeschienene Helligkeit der Promenade.

"Hast du genug vom Flirten mit dem Kellner?", fragte er, als er in Hörweite war und lächelte leicht.
 

Schuldig hatte bereits intuitiv – trotz seiner alkoholbenebelten Sinne – gespürt, dass sich jemand näherte und nur Rans Gang hatte ihn verraten. Erleichtert verzog Schuldig den Mundwinkel zu einem müden Lächeln. Er blickte zur Seite und kramte aus der Tüte den zweiten Kaffee hervor. „Möchtest du? Heiß und schwarz“, bot er an und hielt ihn Ran hin.

„Es wäre besser gewesen ich hätte mich weiterhin dem Flirten zugewandt. Fudo ist besser, als alles was danach kam.“
 

Aya griff sich den Kaffee und nahm einen dankbaren Schluck. Lecker. Schwarz und lecker.

Er runzelte die Stirn.

"Was kam denn danach?" In seiner Fantasie malte er sich das Schlimmste aus, blieb aber schlussendlich dabei, dass Brad vermutlich ein solches Machtwort gesprochen hatte, dass Schuldig geflüchtet war. Kluger Junge, lobte Aya ihn innerlich. Nach der Show, die er ihnen geboten hatte, war nicht nur er sehr bestrafungsbereit gewesen.
 

Schuldig schloss sich Ran an und nahm einen Schluck seinerseits von dem guten Kaffee. Sein linker Arm lag ausgestreckt auf der Rückenlehne der Bank. Er sah zu Ran hoch.

„Warum hast du mir nie erzählt, dass ihr mir damals nach der Entführung aus der Psychiatrie Blutproben entnommen habt?“

Er fragte sich ob es wichtig war was Ran jetzt antwortete. Ob es überhaupt eine Rolle spielte. Selbst wenn Ran jetzt sagen würde, dass alles inszeniert war, dass er das ganze restliche Jahr für Manx gearbeitet hatte, dass dies alles nur eine große Show war. Schuldig spürte wie sein Mund trocken wurde und er suchte Rans Augen. Nein. Ran war echt. Er war das wahrste und echteste was es in seinem Leben gab.
 

In dem Moment, in dem Schuldig das letzte Wort seiner Frage ausgesprochen hatte, fiel es Aya wie Schuppen von den Augen und er starrte Schuldig entsetzt an.

Ja, sie hatten Schuldig damals Blut abgenommen.

Ja, er hatte es Schuldig damals verschwiegen, aus Rache an seiner Gefangennahme und in der Hoffnung, dass wenigstens DAS Erfolg hatte.

Als seine Schwester gestorben war, hatte er es... vergessen. Er hatte es schlicht vergessen.

Und nun, natürlich hätte er sich denken können. Nun war...

"Woher weißt du das?", war das erste Ungeschickte, das er fragte, bevor er sich selbst für diese Antwort umbringen konnte.

"Ich habe es vergessen damals. Erst wollte ich es dir nicht sagen, weil du mich gefangen gehalten hast. Dann habe ich es über den Tod meiner Schwester vergessen."
 

Schuldig schwieg im ersten Moment. Dann besann er sich, denn Rans entsetztes Gesicht sagte ihm, dass es ehrliches Erstaunen darüber war was Schuldig ihn gefragt hatte. Ran war stets kontrolliert und wäre Ran nicht der, der er vorgab zu sein, dann wäre die Maske, die Ran oft zur Schau trug jetzt ebenfalls in Erscheinung getreten.

Doch dieses Gesicht war Rans. Etwas, dass er in seiner Gegenwart erst gelernt hatte, Emotionen zu zeigen. Sie ihm zu zeigen. Und das unbewusst.

Schuldig lächelte bei diesem Gedanken. Auch wenn es ein trauriges Lächeln war.

Ran konnte über seine Schwester schon etwas ruhiger, sicherer sprechen. Das war auch ein Fortschritt, den sie gemeinsam gemacht hatten. Ran hatte es also vergessen ihm zu sagen. Er konnte das verstehen. Sehr gut sogar.

Er hatte in seinem Leben schon Wichtigeres vergessen.

Schuldig sah wieder aufs Wasser hinaus. „Manx ist oben. Sie hatte eine kleine Unterredung mit Brad, in die ich hineingeplatzt bin“, sagte er tonlos.
 

"Manx?!"

Aya kam sich recht dumm vor mit seinen dummen Nachfragen und versuchte sich zu fangen. Den Kaffee noch in der Hand ging er auf Schuldig zu und vor ihm in die Hocke.

Ihm die Hände auf die Knie legend, sah er ihm in die Augen. "Es tut mir leid. Schu, es tut mir so leid."
 

Es dauerte bis Schuldig seinen Blick zu Ran wendete um diesen zu erwidern. Er war nicht beleidigt, oder nachtragend. Aber er versuchte in diesem Moment zu unterdrücken was nach außen wollte. Ein gemeines Lächeln trat in seine Gesichtszüge und er nahm den Kaffeebecher um es zu tarnen. Was ihm schlecht gelang, wie er zugeben musste. „Das hört sich fast so an, als ständest du in meiner Schuld?!“ Er neigte den Kopf, beugte sich etwas vor und zog seinen Arm von der Lehne um Rans Schläfe zu berühren, bevor er ihm einen Kuss auf die Stirn gab.
 

Einerseits sah er Ran gerne in dieser Pose, ihn trösten wollend, um Verzeihung bittend mit dieser Geste, denn es kam gar nicht bis sehr selten vor, dass dies geschah. Andererseits schmeckte es ihm zu sehr nach dem Verlust von etwas, dass er mochte, nämlich Rans Stärke. Wenn er jedoch genau darüber nachsann, war es gerade diese Stärke, die es Ran möglich machte ihm Trost zu spenden.
 

"Schon wieder? Mein Schuldenberg wird ja bald so hoch wie unsere Staatsverschuldung", gab Aya einen kleinen Witz von sich zum Besten. Er stellte seinen Kaffee neben sich auf den Boden und griff sich die Hand.

"Wobei die Frage ist, was ich dir für deinen Flirt mit dem Barkeeper anrechne." Er hob die Augenbraue, wurde dann aber ernst.

"Was macht Manx bei Brad?", fragte er. "Was macht sie HIER?"
 

Schuldig nahm seine Hand zurück, strich ein letztes Mal über Rans warme Haut bevor er seine Unterarme auf die Knie stützte, den Kaffeebecher zwischen den Fingern. Er blickte wieder hinaus aufs Wasser.

„Keine Ahnung. Ich kam rein, in der Erwartung, dass Brad mich mies gelaunt empfängt… was in gewisser Weise Absicht gewesen wäre“, räumte er schmal lächelnd ein.

„Und da stand er, nur mit Handtuch um die Hüfte, wie aus einem Werbespot von Paco Rabanne. Vor ihm hatte er ein Weinglas stehen und er war gerade dabei seine Haare zu trocknen. In der Tür stand Manx, in einem ihrer üblichen perfekten Outfits, ebenfalls mit Weinglas bewaffnet. Ein harmonisches Bild. Ich platzte mitten in das Gespräch. Ich war noch mitten im Schock, als sie mir eröffnete, dass die Leiche der Frau, die Jei kalt gemacht hat meine Tante zu sein scheint. Als ich fragte woher sie das wisse, faselte sie etwas von DNA, und Blutabnahme.

Ich weiß nicht mehr über was ich mich zuerst aufregen soll. Die Tatsache, dass sie hier ist, dass sie Brad in Beschlag nimmt, dass sie Blutproben entnommen hat, dass ein Familienmitglied von mir etwas mit dem Sakurakawa-Clan zu schaffen hat, die mich umbringen wollen, oder dass dieses Mitglied, genauso verrückt wie ich ist, wenn man die Praktik bedenkt, die Kudou erfahren hat. Oder beinahe erfahren hat. Oder… sollte ich mich darüber aufregen, dass der einzige vielleicht noch lebende Teil meiner Vergangenheit tot ist und ich es noch nicht einmal betrauere.“ Er schwieg.

„Ich habe keine Ahnung mehr, was ich denken soll.“ Schuldig fuhr sich mit der Hand über die zurückgebundenen Haare und nahm den letzten Schluck Kaffee. „Zudem, bin ich so voller Alkohol, dass ich niemanden in irgendeiner Form gefährlich werden kann. Was für ein toller Abend.“
 

Das wusste Aya auch nicht mehr. Schuldigs TANTE? Tante... wie Schuldigs Tante war die Tote?

"Das ist doch nicht ihr Ernst", sagte Aya fassungslos und setzte sich auf seinen Hosenboden, nahm einen großen Schluck Kaffee.

"Wusstest du von dieser... deiner Tante?" Familie, Schuldig hatte Familie! Vielleicht lag sogar die Betonung auf hatte, wenn Jei sie umgebracht hatte. Doch das hieß, dass Schuldig mit dem Clan verwandt war. Oder der Clan mit Schuldig. Das war... kein Zufall. Nein, konnte es nicht sein.
 

„Sie sah nicht aus als würde sie scherzen“, bemerkte Schuldig auf Rans erste Worte.

„Und… nun… ich wusste schon, dass meine Mutter noch eine Schwester hatte. Sie hat schließlich abgelehnt mich aufzunehmen. Weil ich ein Problemkind war, schien das auch nicht schwierig zu sein. Zumindest glaube ich das. Es ist…“ Er stöhnte und nahm sich eines der Reissnacks. Hielt ihn fragend Ran hin. „Vegetarisch.“
 

"Wenn… alles so wäre, wie wir es uns bisher dachten, dann hasst sie dich. Euch, Schwarz, dich..." Aya nahm ihn an und biss hinein, frustriert an Schuldigs statt.
 

„Hasste… sie ist tot. So viel Zeit muss ein“, korrigierte Schuldig ironisch Rans Vergangenheitsfehler in der Grammatik.

Er nahm sich den zweiten Snack und wickelte die Folie ab, den leeren Kaffeebecher in die Tüte zurück stellend.

„Nein, ich glaube auch nicht, dass sie mir wohl gesonnen war, wenn ich daran denke, dass sie Kudou mit unseren Spielzeugen bekannt machen wollte. Ich denke, man kann da durchaus von Hass sprechen. Die Frage ist warum. Und was hatte sie mit dem Clan zu schaffen?“ Er biss von dem Reis und dem Gemüse ab. Sie schwiegen eine Weile.

„Sie kannte mich nicht. Warum sollte sie einen solchen Hass auf mich entwickelt haben? Vor allem… wenn diese Typen mit der Familie im Zusammenhang stehen… meine Tante ebenfalls… alle machen Jagd auf Schwarz… was bedeutet das? Vor allem die Tatsache, dass wir sie mit unseren Fähigkeiten nicht erfassen können…“ Sein Blick glitt zu Ran.

„Wir brauchen meine DNA, Ran. Ich kann nicht zulassen, dass damit etwas geschieht. Egal wie, aber wir müssen diese Daten vernichten. Allein die Tatsache, dass ich weiß, dass ein Familienmitglied mit ähnlicher Signatur mit den Typen die uns vernichten wollen und dem Clan zusammen gearbeitet hat stellt mir die Haare auf. Und davon habe ich viele, Ran“, witzelte er, allerdings lachte er dabei nicht.
 

Aya auch nicht. "Es ist vermutlich schon zu spät. Kritiker hat deine DNA, eine unbekannte Gruppierung vernichtet Kritiker. Wer weiß, wie viel sie schon wissen? Wer weiß, wie viel schon mit dieser DNA angestellt wurde?

Vielleicht hängt es ja damit zusammen? Die Entnahme deiner DNA mit dieser Resistenz der Gruppe gegen eure Fähigkeiten?"

Aya senkte den Kopf und stützte ihn auf seine Hände. Das durfte doch alles nicht wahr sein.

"Kannst du deine Spuren nach Deutschland zurückverfolgen? Denkst du, es war damals ein Zufall, dass dich SZ aufgegriffen haben?"
 

„Damals dachte ich es.“ Schuldig biss von seinem Reissnack ab. Er hatte zwar keinen Hunger aber er musste seinen Magen etwas zu tun geben.

„Ich sollte in meinen Erinnerungen nach Anhaltspunkten suchen. Dafür brauche ich eine andere Umgebung, Ruhe und die nötige Absicherung. Es kann lange dauern bis ich dort hin zurückfinde. Tage. Ich weiß nicht wo ich suchen muss. Ein anderer Akteur sollte in der Nähe sein und ich brauche eine Möglichkeit wohin ich mich zurückziehen kann, einen Ort an den ich zurückkommen möchte.“ Sein Blick kehrte zu Ran. „Machst du mit?“

Brad wäre nicht begeistert von dieser Idee und Ran musste nicht wissen, wie gefährlich es für Schuldig war eine derartige Suche an sich selbst durchzuführen. Die Frage war nur wie er zu Ran zurückkommen sollte, wenn dieser ihn nicht einließ. Er konnte nicht sagen wie lange es dauerte, bis er die Informationen hatte, die er brauchte, die sie suchten.

Vielleicht war es auch gar nicht nötig, dass er ausgerechnet zu Ran zurückkehren musste, vielleicht reichte es allein zu wissen, dass er da war. Es musste vielleicht gar kein geistiger Fixpunkt nötig sein.
 

Er wusste es nicht, denn er hatte keinen Mentor, der ihm in diesem Fall Ratschläge geben konnte. Ihre Mentoren hatten sie in der Kathedrale beseitigt. Fragwürdige Mentoren, zugegeben, aber solange Schwarz ihnen nützlich war halfen sie ihnen.
 

Aya sah hoch. "Natürlich mache ich mit, wenn es dir hilft. Aber ist es nicht gefährlich?" Ungeachtet Schuldigs Absicht, Aya zu schonen, stellte dieser die Frage, die ihn selbst beschäftigte. Natürlich würde er ihm helfen, doch Schuldig hatte ihm schon einmal die Gefahren eines tiefen Eindringens in eine andere Psyche erläutert, wieso also sollte es bei ihm selbst anders sein?

Oder er lag hier vollkommen falsch, aufgrund falscher und lückenhafter Informationen.
 

Schuldig biss in den Reissnack in Ermangelung einer schnellen Antwort. Denn würde er zu schnell antworten, wäre es sicherlich verdächtig. Also kaute er ausführlich, schluckte und zog ein gewichtiges Gesicht.

„Nein, ist es nicht. Keine Sorge. Das ist wie eine Rückführung, oder Hypnose, also nichts wirklich Dramatisches.“ Er seufzte. „Ich brauche nur Ruhe und die Gewissheit, dass ich in Sicherheit bin, da ich keine Verbindung zur Realität haben werde.“
 

Die Antwort sorgfältig abwägend, erhob sich Aya schließlich und legte Schuldig eine Hand auf die Schulter.

"Also gut. Komm mit hoch. Es wird frisch und dort oben wartet noch eine Herausforderung auf uns." Selbst seine Stimme klang nicht wirklich überzeugt davon, doch Schuldig folgte ihm. Niedergeschlagen, müde, in sich gekehrt.

Aya konnte es verstehen und kurz nachdem sie im Aufzug waren, bedachte er den Rücken des Telepathen mit einem aufmunternden Streicheln. Der jetzige Kampf würde vermutlich hart genug werden.
 

Er öffnete die Zimmertür und sah sich einem angezogenen Crawford gegenüber, der mit Manx auf der Sitzgruppe saß, die Gläser Wein immer noch vor ihnen.

Soweit zur Gemütlichkeit.

Ihr Bick traf den seinen, als er den weitläufigen Raum betrat und maß ihn wie immer abschätzend, durchbohrend, analysierend. So wie sie es immer getan hatte.

"Manx", grüßte er höflich und sie erhob sich.

"Ran, ich freue mich zu sehen, dass du wohlauf bist." In der Gegenwart von Schwarz, schwebte es zwischen ihnen, doch Aya ging nicht auf die Provokation ein.

"Das gleiche gilt für dich. Ich freue mich zu sehen, dass du es dir hier gemütlich gemacht hast", erwiderte er und kam zu ihr. Manx' Blick ging derweil zu Schuldig.

"Ich würde gerne ein paar Dinge über Ihre Tante erfahren, Schuldig-san."
 

„Ach würden sie? Ich würde auch gerne viele Dinge…“, fing er in dem Tonfall an, der Brad sagte, dass dabei nichts Gutes heraus kam.

„Schuldig…“, mahnte dieser auch prompt.

„Ich würde zum Beispiel Ihnen gerne das Hirn weich kochen. Aber da mein Boss etwas dagegen hat, werde ich wohl darauf verzichten müssen, so leid es mir tut“, meinte Schuldig bedauernd.

„Gehen Sie und sterben Sie an einem anderen Ort. Aber ich empfehle Ihnen es bald zu tun, und zwar bevor ich wieder aus der Dusche komme.“ Ihm war es sehr ernst. Der Spaß war sowohl aus Stimme, als auch aus seiner Mimik gewischt. Was selten genug vor kam.

Schuldig würdigte sie keinen Blickes mehr, sondern ging ohne Umschweife ins angrenzende Badezimmer, schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Das Licht war angesprungen, er zog die Schuhe aus, und pflückte sein Hemd aus der Hose… er brauchte eine Dusche. Eine kalte lange Dusche.
 

Unterdessen hatte Brad für einen winzigen Moment die Sorge überfallen, dass der nächtliche Besuch des rothaarigen Vamps ein unschönes Ende finden würde.

Sein Blick war zu Ran gegangen, der sowohl Manx als auch Schuldig erreichen hätte können, aber da keine Vision die mögliche Katastrophe angekündigt hatte, blieb alles im grünen Bereich. Nur die Stimmung war gekippt. Was natürlich Manx schuld war.
 

"Das war nicht das Beste, was du sagen konntest", sagte Aya ungerührt und schüttelte mit dem Kopf.

"Es ist mit der einzige Strohhalm, den ich noch habe, Ran", kam es hart zurück, hart in Worten und hart in ihrer Mimik, als sie sich erhob. "Meine Agenten sterben. Hättest du nicht aufgegeben für das Gute zu kämpfen, wüsstest du, was es heißt, sich zu sorgen, also sage mir nicht, dass es falsch war, das zu fragen. Sage mir das nicht, Ran Fujimiya."

Seine Augen verengten sich.

Aufgegeben? Er hatte AUFGEGEBEN? Er hatte es NIEMALS aufgegeben, für das Gute zu kämpfen.

"Vielleicht solltest du wirklich gehen, Manx. Schnell gehen, wenn das Einzige, womit du schießen kannst, haltlose Verleumdungen sind."

"Du weißt, dass ich Recht habe."

"Geh."

Manx wandte sich an Crawford und deutete ein leichtes Nicken an. "Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich einen neuen Sachstand habe. Oder wenn weitere Agenten getötet werden." Aya einen intensiven, kalten Blick zuwerfend, verließ sie das Hotelzimmer.
 

Aya hatte dagegen einen brennenden Blick für Crawford übrig, als sei ER persönlich dafür verantwortlich.

„Möchtest du mir etwas sagen?“, fragte Brad aufgrund des intensiven Blicks, der auf ihn niederstach. Er entsorgte den Rest der Zigarette im Aschenbecher.

"Wusstest du, dass sie kommen würde? Wusstest du, dass Schuldig auf sie treffen würde? Hältst du das nicht für etwas... ungeschickt?", kamen auch schon die Anschuldigungen.

„Ja. Ja. Und nein.“ Brad legte den Kopf in den Nacken und sah sich den personifizierten Racheengel aus halbgeschlossenen Augen an.
 

"Du willst mir also ernsthaft weismachen, dass ein wütender Schuldig deine Absicht war? Ein Schuldig, der aus heiterem Himmel erfährt, noch ein Familienmitglied gehabt zu haben. Ein psychopathisches Familienmitglied."
 

„Was haben denn meine Absichten mit der Tatsache zu tun, dass Manx hier war, dass ich davon wusste und dass sie auf Schuldig treffen würde?“ Brad hob den Kopf wieder aus dem Nacken, stellte sein Glas ab, das nun leer war und erhob sich. Er ging auf Ran zu. „Wie kommst DU zu der Annahme, dass ich wusste, mit welchen Informationen sie hier aufschlagen würde? Und wie kommst DU auf die Idee mir vorzuwerfen, dass dies meine Absicht war?“

Er stand vor Ran, sehr nah, fast auf Tuchfühlung.
 

"Weil du immer alles weißt." Auf diese nahe Entfernung hin musste Aya zu Brad aufsehen, während der Duft des Aftershaves mit seinen Zungen an Ayas Geruchssinn leckte und ihn narrte, dass er dieses Aftershave doch sehr gut kannte. Und dass es in ihm wie immer ein Gefühl von Erleichterung hervorrief.
 

Die Dusche fing an zu rauschen, während Stille den schmalen Raum zwischen ihnen füllte.

„Die Annahme ist falsch. Und sich darauf zu verlassen kann gefährlich sein.“ Brad beugte sich etwas näher zu Ran, streifte mit den Lippen hauchzart über die Wange, während er ihm die Tüte abnehmen wollte, die augenscheinlich mit etwas gefüllt war. Wenn auch nicht sonderlich schwer, wie sich herausstellte. Dann richtete er sich auf.

„Verzeihung“, sagte er aalglatt, leckte sich wie beiläufig über die Unterlippe und lugte in die weiße Tüte. „Ihr habt mir nichts mitgebracht.“
 

„Doch, haben wir“, kam es ruhig von Aya, ruhig, aber dunkel in Worten und Gestik. Brad sah nicht alles voraus? Er täuschte sich in seiner Annahme?

Das würde er doch gleich sehen.

Aya trat einen energischen Schritt vor und packte Brads Pullover, zog den anderen zu sich heran und ließ ihre Lippen gewaltsam kollidieren. Die Berührung gerade war fast zu viel gewesen in diesem Moment. Warum, das konnte Aya noch nicht einmal wirklich sagen, doch... zu viel. Er musste Energie loswerden.

In dem Moment, in dem sich Brad wegdrehen wollte, fand er sich bereits in intimen Kontakt zu dem Japaner und Brad wusste nur eines mit Sicherheit, dass der Japaner definitiv zu viel getrunken hatte. Eine derartige Herausforderung quittierte sein Körper zunächst mit einer jahrelang trainierten Abwehrreaktion. Seine Hand schnellte vor und legte sich um die Kehle des anderen. Schnell jedoch wurde der Griff nachsichtig, sanft. Trotz dem diese Lippen, die ihn gerade etwas verwirrten meist einen verkniffenen Zug an ihren Rändern trugen, waren sie nun einladend weich und in ihrer Versiertheit alles andere als verkniffen. Nun, wo Ran, die Büchse der Pandora geöffnet hatte, war Brad gespannt ob er das was nach draußen kroch auch beherrschen konnte. Brads Hand lag fest auf Rans Kehle und Brad forcierte das was eher als Hautkontakt angefangen hatte zu einem energischen Schlagabtausch
 

Aya genoss den harten Widerstand, die rohe Begierde, die ihm hier entgegen strahlte. Brad zwickte ihn, wollte ihn dominieren, ihn niederringen, doch Aya ließ ihn nicht.

Dort, wo die Hand an seiner Kehle zu einer Drohung wurde, wurde seine eigene Hand an Brads Gürtelschnalle zur selben Drohung.

Aya biss leicht in die unnachgiebigen Lippen.
 

Brad ließ sich dadurch nicht stören, er drang zwischen Rans Lippen, touchierte das spitzzüngige Pendant und zog sich ebenso schnell zurück, nur um die Tüte fallen zu lassen und Rans Hand von seiner Gürtelschnalle zu ziehen. Abschließend kosten seine Lippen feucht über die des Japaners bevor er sich zurück zog.

„Er wartet auf dich.“ Schlug er vor, die Stimme wie stets beherrscht, die Augen fixierten die violetten Iriden.
 

"Und er sehnt sich nach dir", lächelte Aya dunkel und schmeckte Brad auf seinen Lippen nach. Er drehte sich um und ging in Richtung Bad, öffnete die Tür. Garantiert hatte Schuldig etwas mitbekommen von ihrem… Kampf, denn nichts anderes war es gewesen. Das, was sie früher mit Worten ausgetragen hatten, war heute zum ersten Mal in einer extremen Form der Körperlichkeit ausgebrochen.

Sein Blick wanderte auf Schuldig und er musste lächeln.
 

Das Wasser rauschte nun nicht mehr kalt wie zu Beginn seiner Duschsession, die er dazu benutzt hatte um etwas runter zu kommen, um nachzudenken. Andere hatten Sessions bei ihrem Therapeuten. Aber wo gingen Telepathen hin wenn sie ein wenig Ruhe und die Gelegenheit brauchten um ihre Gedanken zu sortieren, sie hin und her zu wälzen und sie schlussendlich als Bull shit abzuhaken? Kalt duschen. Das half.

Er hatte durch das Rauschen des Wassers hindurch gehört, wie die Tür sich geöffnet hatte und wie jemand hereingekommen war. Brad… war sehr unwahrscheinlich, er würde ihn in Ruhe lassen, bis Schuldig zu ihm kommen würde.

Ran. Es konnte nur Ran sein. Schuldig hatte dem offenen Raum, der offenen Dusche den halben Rücken zu gekehrt, die Stirn auf seine gekreuzten Unterarme an die Fliesen gelehnt. Das Wasser prasselte warm auf seinen Rücken.

Er wandte das Gesicht leicht zur Seite, sah die Schuhe und erkannte an ihnen, dass er mit seiner Vermutung Recht behalten hatte.

„Glaubst du, es wäre anders gelaufen, wenn sie nicht in die Psychiatrie gekommen wäre? Wenn sie in mir nicht den Teufel gesehen hätte? Wäre dann alles anders gelaufen?“, fragte er mit halb geschlossenen Lidern.

Das waren Gedanken, die er sich geschworen hatte, dass sie ihn nie wieder belästigen würden, doch sie waren aufgetaucht, mit dem Wissen um seine Tante, dem Wissen, dass sie existiert hatte und dass sie ihn gehasst hatte. Schon wieder jemand, der das was er war, sein Wesen hasste. Er wusste, dass das alles nicht wichtig war. Wichtig waren andere Dinge. Ran, Brad, Schwarz, waren wichtig. Ihre Sicherheit.

Er war trotz dem Wissen um die elementaren, die wichtigen Dinge, verwirrt. Nein, nicht verwirrt, er fühlte sich kurzum beschissen.
 

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. SZ hätten dich wahrscheinlich so oder so gefunden durch ihre anderen PSI-Akteure.“ Vielleicht hätte Schuldig aber auch eine glückliche Kindheit und ein sorgloses Leben führen können, meldete sich Ayas naiver Teil zu Wort, den er insgeheim auslachte. Nein, diese Möglichkeit bestand nicht.

Einen Schritt vortretend und sich an den marmornen Waschtisch anlehnend, verschränkte Aya die Arme. „Doch diese Gedanken sind müßig, Schu. Es ist die Vergangenheit und es gibt niemanden, der die Zeit zurückdrehen kann. Niemanden.“ Ein trauriges Lächeln trat auf seine Lippen. Natürlich wäre es zu wünschen, dass von Zeit zu Zeit mal jemand eben jenes Rad zurückdrehte und einfach alles gut machte.

Utopie.

Aya wollte etwas Tröstliches sagen über den Verlust von Schuldigs Familie, doch er konnte es nicht. Alles, aber auch wirklich alles, schien zu kitschig zu sein.
 

„Was wollte sie hier? Mir reindrücken, dass meine komplette Familie verrückt ist?“ Schuldig verzog den Mund abfällig, sah Ran immer noch nicht an.

„Oder gabs noch etwas Sinnvolles was dein Boss uns mit ihrer Anwesenheit mitteilen wollte?“

"Nein, sie befürchtet vermutlich, nun auch ihren letzten Einfluss zu verlieren und Kritiker vollkommen zerschlagen zu sehen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Außerdem ist der Zufall zu groß, als dass sie ihn verschweigen könnte." Dass Manx durchaus Genugtuung daran empfinden könnte, Schuldig eben dies mitzuteilen, war für ihn klar.

"Übrigens, wenn sie mein Boss wäre, Schuldig, dann würde ich hier nicht so seelenruhig stehen."
 

„Wer weiß… wer weiß das schon“, sagte Schuldig nachdenklich leise. Er fühlte sich verlassen. Von allen verlassen und er fühlte sich verletzt. Es deprimierte ihn, dass er die Vergangenheit nicht abhaken konnte, dass er kurz davor stand in sie eintauchen zu müssen. Aktiv und bewusst. Es graute ihm davor.
 

Aya stemmte sich von dem Waschbecken ab, kam zu Schuldig. Präzise und schnell zog er sich aus, band sich die Haare hoch und wagte sich in das warme Nass.

"Wer weiß was schon?", fragte er nach, während er Schuldig umarmte.
 

Schuldig hörte das Rascheln von Kleidung und er ahnte, dass Ran gleich zu ihm kommen würde. Hatte er das provoziert? Vermutlich.

Er spürte Rans Körper an seiner Rückseite. „Nichts. Vergiss es. Ich… weiß auch nicht was ich damit sagen wollte. Vielleicht wollte ich dich nur provozieren“, gab er zu. „Zu irgendetwas. Zu Streit, zu dem dass du gehst, damit ich mich so schlecht fühle, wie ich es tun sollte und es nicht tun kann, oder vielleicht einfach nur zu dem, was du jetzt tust.“
 

"Und das ist vollkommen in Ordnung", erwiderte Aya leise und lehnte sich an den größeren Mann. Ja, das war es wirklich. Dieses Mal. Er hatte vollstes Verständnis für Schuldig.

"Aber mir das in ein paar Tagen zu unterstellen, wäre schlecht."
 

Minutenlang rauschte die Dusche ohne, dass sie etwas sagten.

Bis Schuldig das Schweigen brach. „Was machen wir jetzt? Ich hätte sie nicht wegschicken sollen. Sie hätte uns sicher noch mehr erzählt.“
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Coco & Gadreel
 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Observation

~ Observation ~
 


 


 

"Dann vereinbaren wir ein weiteres Treffen mit ihr. Oder Brad macht es. Er scheint einen besseren Draht zu ihr zu haben als wir beide."

Manx würde nicht riskieren, auf die Hilfe von Schwarz zu verzichten, nicht aus reinem Stolz.
 

Plötzlich spürte Schuldig ein Lachen in sich hoch steigen. Leise sprudelte es hervor und er drehte sich zu Ran um. „Ich bin… wirklich bescheuert.“
 

"Unter anderem auch, ja", gab Aya grinsend zurück.
 

„Na… Brad! Brad hätte sie nie gehen lassen, wenn sie ihm nicht alles erzählt hätte. Und er hat mit Sicherheit Informationen von ihr erhalten, die sie mir nicht offenbarte. Er wusste, dass ich sie hinausbefördern würde. Vielleicht hat sie ihn genervt, sonst hätte er sie darauf aufmerksam gemacht, dass ich gleich schlecht gelaunt ankomme.“ So ähnlich war es mit Sicherheit gewesen. Das Problem war…Brad würde ihnen nur das erzählen was er wollte.
 

"Brad weiß, dass sie wiederkommt. Er weiß, WANN sie wiederkommt. Er hat wie immer alles im Griff, schätze ich." Das war der tapfere Versuch von Optimismus, den Aya hier an den Tag legte.

"Wir sollten uns gleich in aller Ruhe mit ihm darüber unterhalten."
 

„… das „schätze ich“ war jetzt nicht gerade überzeugend, Honey“, meinte Schuldig ironisch. „Und du meinst, dass er mit dir redet, und dir alles sagt was du wissen willst?"

Wenn ich eins mit Sicherheit weiß, dann, dass er DAS nicht tun wird." Ein Schnauben entkam Aya und er schmuste mit seinen Lippen über Schuldigs Wange.

Dieser fing die zärtlich umtriebigen Lippen ein und schob seine Zunge besitzergreifend zwischen sie hindurch.
 

Das war doch ganz anders als der niedergeschlagene Schuldig von vorhin. So er des Öfteren Widerstand leistete und es Schuldig nicht ganz so leicht machte, so ließ er Schuldig nun seinen Willen und den Drang, der Stärkere von ihnen beiden zu sein.

Nicht, dass es Aya im Speziellen etwas ausmachte. Er stöhnte leise in den Kuss und schloss die Augen.

Schuldigs Arme schoben sich während des zärtlichen Kontakts unter Rans Armen hindurch. Seine Unterarme legten sich auf die Fliesen, zogen so den anderen mit und hielten ihn fest. Er drängte sich während des Kusses an den warmen Körper, der nun vom Wasser ebenso wie seiner berieselt wurde. Sie hatten seit dem Vorfall vor zwei Wochen keinen Sex mehr gehabt und Schuldig war sich auch jetzt nicht sicher ob es ein guter Augenblick war. Aber wenn nicht jetzt, wann dann?
 

Wenn nicht jetzt, wann dann, fragte sich auch Aya und ergab sich dem Kuss, ergab sich Schuldigs Nähe ersuchen. Dass er natürlich jetzt schon wieder seine Haare waschen durfte, nun...
 

Nun...
 

NUN...
 

Für Schuldig tat er vieles.
 

Nur marginal hörte er die Geräusche außerhalb der Dusche, wohl aber Brads Rumoren im anderen Zimmer. Was ihm, so hätte er es niemals von sich gedacht, durchaus Probleme bereitete. Schuldig und er hatten seit der S/M-Session keinen Sex mehr gehabt. Sie hatten es beide wieder nötig, eigentlich war es auch viel zu lange gewesen, doch etwas in Aya sagte ihm, dass es nicht fair war, den Amerikaner draußen darben zu lassen, während sie hier ihren Spaß hatten.
 

Was war schon fair?!, maulte seine egoistische Seite dagegen an und schmiegte sich enger an Schuldig.
 

„Schuldig...", murmelte er, und öffnete die Augen, der fairen, WEISSEN Seite Tribut zollend. „Was ist mit deinem Orakel drüben... wir können doch nicht einfach… während er im anderen Raum ist. Von wollen kann hier keine Rede sein, aber können?"

Schuldig schmiegte seine Wange an Rans, rieb mit seiner Nase über die warme nasse Haut des Japaners. Als er jedoch hörte was die so samtig dunkle Stimme durch das Rauschen des Wassers an sein Ohr schallen ließ stöhnte er frustriert. Seine Stirn legte sich auf Rans Schulter ab.

„Man, Ran. Ich weiß wie groß deine Abneigung ihm gegenüber ist, willst du ihm damit nicht eins auswischen? Wäre doch ‘ne tolle Gelegenheit!“, versuchte Schuldig in altbewährter Bad Guy Manier sein Glück beim weißen Rächer.

"Und du hättest kein, aber absolut gar kein Problem damit, dass er zwischenzeitlich hereinkommen könnte? Oder dass er uns hört, dass er auf uns wartet, obwohl wir beide beschlossen haben, dich heute Abend für deine Unverschämtheit nicht so einfach davonkommen zu lassen, dass er eine Vision von uns hat... das stört dich alles nicht?", grimmte Aya ungläubig. "Das wäre ja mal was ganz Neues, Herr Raubtierdompteur."

„Er hat nur dann eine Vision von uns, wenn er tatsächlich hereinkommt, was noch nicht gesagt ist. Außerdem können wir die Duschkabine schließen und…“ Dumm war nur, dass bei seiner ganzen Überlegung nicht einberechnet war, dass besagte Duschkabine komplett aus Glas war. Und es war nicht satiniertes Glas.

Als er den Fehler in seiner Argumentation erkannte seufzte er ergeben. „Gut… dann eben nicht. Dann aber später?!“ Er hob seinen Kopf und sah Ran halb schmollend an. Dabei brachte er es fertig das Grinsen welches sich auf seinem Gesicht zeigen wollte erfolgreich einzudämmen. „Ran… ich will mich mal wieder austoben… an dir?! Was kann denn daran schon verkehrt sein?“

"Daran ist gar nichts verkehrt", lachte Aya. "Mir gefällt der Gedanke sogar, aber mir gefällt der Gedanke nicht, dass wir es HIER tun, vor Brads Ohren und Augen."
 

Aya küsste Schuldig stürmisch auf die Lippen und rieb sich lasziv an ihm, nur um mit einem leisen Stöhnen ihr Vorspiel zu beenden.

"Ja... später."

„Super“, raunte Schuldig frustriert und halb stöhnend, als Rans Männlichkeit sich an seine drängte und diese zum Mitmachen animieren wollte. Nur um dann das Weite zu suchen.

„Sadist“, murrte Schuldig abschließend Ran hart auf die Lippen küssend, als der sich dann von ihm wegschob und aus der Dusche trat. „Wenn du dich traust, dann kannst du ja in das Zimmer kommen, das ein Stockwerk höher ist.“
 

Schuldig zog ein düsteres Gesicht, schnappte sich zwei Handtücher aus dem Regal und verließ nackt wie er war das Badezimmer. Und stand vor Brad, der sich umdrehte und ihn fragend anblickte. Er hatte die Fernbedienung in der Hand.

„Suchst du den pay-tv-Kanal?“, maulte Schuldig missgelaunt, hatte aber nicht ganz den Biss wie früher im Umgang mit Brad.

„Weshalb sollte ich für nacktes Fleisch bezahlen?“ Brad wandte sich nun komplett zu Schuldig um, ein wirklich gemeines Lächeln um die Mundwinkel spielend. „Wenn es mir so bereit… willig - oder sollte ich sagen bereit und willig – dargeboten wird?“

Schuldig fühlte wie seine Hände, die Handtücher sinken ließen, ungefähr auf Höhe seiner Leistengegend. Er hatte sie jedoch noch nicht ausgebreitet. Ihm war gerade aufgefallen, dass seine Kleidung noch im Bad war. Irgendwie war ihm entfallen, dass Brad hier draußen lauerte.
 

Durch die offene Tür bekam Aya die Diskussion - so man sie denn so nennen wollte - der beiden mit und musste grinsen. Schuldig hatte schlechte Laune und Brad wie immer Oberwasser. Das konnte nur schief gehen. Er trocknete sich rasch ab und steckte dann den Kopf zur Tür hinaus. "Keine Schweinereien, wenn ich nicht dabei bin", mahnte er und zog sich dabei an, halb von der Tür verdeckt.

„Dafür ist Schuldig zuständig.“ Brad drehte sich wieder zu den Nachrichten um. „Für die Schweinereien meine ich. Schließlich ist er es der, den Boden mit Wasser voll tropft. Oder mit anderen Körperflüssigkeiten, deren genauen Definition ich euch überlasse.“

Schuldig stand tatsächlich klatschnass und tropfend an der Tür. Er trat einen Schritt zur Seite und riss die Tür auf, sodass sein neugieriger Freund hindurch fallen konnte. Möglichst auf seine neugierige Nase.

So ganz tat Aya ihm nicht den Gefallen, auch wenn er den Anstand besaß, wenigstens die ersten Zentimeter in den Raum zu stolpern. Grollend richtete er sich auf und zog sich die Hose zu.

"Brad die Jungfrau", erwiderte er kryptisch.

Brad enthielt sich ob dieses Kommentars, der wie alle hier im Raum wussten an den Haaren herbeigezogen war. „Ich denke, dass hier nur einer im Raum aufgrund seiner Attribute an eine junge Frau erinnert.“ Schuldig wandte den Kopf zu Ran und grinste. Er zuckte mit den Schultern und ging ins Bad zurück. Zunächst trocknete er sich die Haare rasch ab, band die feuchten Strähnen zusammen und widmete sich dann der Trockenlegung seines Körpers.
 

"Oh es ging mir nicht um die junge Frau, sondern die Prüderie, die hier im Raum steht." Aya schüttelte den Kopf und verließ mit einem letzten Blick auf Schuldig die Suite. Er würde nach oben gehen und Schuldig das geben, was er brauchte, wonach er mit seinen Worten verlangt und mit seiner Frechheit verdient hatte.

Ein entschlossener und wasserdichter Plan reifte in seinen Hirnwindungen, als er den Aufzug nahm und sich zu seinem Zimmer bringen ließ.

Schuldig würde nicht lange Oberwasser haben.

Oben angekommen suchte er in der Bar nach etwaigen Hilfsmitteln, genauso wie im Bad und platzierte sie unauffällig neben und unter dem Bett…
 


 

o ~
 


 

Tokyo – einige Stunden zuvor…
 

Wäre Youji nicht so gerne ein Mann gewesen, so wäre er sicherlich als Frau geboren worden. Ganz bestimmt, wenn er sich seine heutige Beute ansah, die nun hinter ihm an dem kleinen Tisch lehnte und darauf wartete, angezogen zu werden.

Alibiaktivitäten. Alles Alibiaktivitäten um seine Unruhe zu beruhigen, die ihn seit Wochen nun befallen hatte. Sie würden bald untertauchen und Japan verlassen, wahrscheinlich für immer.

Er würde Ran zurücklassen.

Aber er wollte nicht.

Youji seufzte innerlich. Es war ein großes Opfer, das sie bringen mussten, fand er, denn es war ausgeschlossen, dass der rothaarige Mann mitkam. Nicht, wenn Schuldig nicht auch noch mitkam. Und mit Schuldig ganz Schwarz.

Da konnten sie auch gleich hierbleiben.

„Einmal Miso mit Chasshu-Schinken und extra Gemüse“, bestellte er an der Theke. Einen Blick auf die Auswahl musste er nicht mehr werfen, nahm er doch wie so oft das Gleiche. Der Mensch war eben ein Gewohnheitstier.

Sich wieder umdrehend, sah er sich seinem Tisch gegenüber, an dem nun jemand saß.

Jemand sehr bekanntes.

Der leicht erschrockene Gesichtsausdruck, dem sich Jei ausgesetzt sah war ein Stück weit vorherzusehen gewesen, auch wenn er selbst diesen Umstand als logischen Schluss auf das Fehlen seiner Teamkollegen ansah und wenig Überraschendes in ihm fand. Jeis unleserlicher Blick ruhte an diesem Tag nicht zum ersten Mal auf dem hellen Gesicht des Japaners, allerdings war es wohl die Nähe, die seinem Gegenüber einen kleinen überraschten Gesichtsausdruck beschert hatte.

Das aufgewühlte Innere des Blonden war ein stetiger Farbreigen, den Jei faszinierend fand, dennoch musste er sich eingestehen, dass bei diesem Individuum sein Gefühl für die Farben immer öfter in den Hintergrund trat und vom äußeren Erscheinungsbild und vom Wesen allgemein überlagert wurde. Was auf Jei befremdlich wirkte…

Der geschockte Gesichtsausdruck war nicht gänzlich auf Jeis Erscheinen zurück zu führen. Sicherlich... es war hauptsächlich darauf zurück zu führen, aber mehr erstaunte Youji Jeis Erscheinung.

Irgendwie zerrupft sah der Schwarz aus und… verwahrlost. Die Haare standen ab und die Kleidung saß auch nicht wirklich richtig. Sie war schmutzig.

Langsam drehte sich Youji zur Bedienung um.
 

„ZWEIMAL Miso mit Chasshu-Schinken...“, änderte er seine Bestellung ab. Wasser bekamen sie sowieso, das musste reichen. Den Alkohol konnte er sich nachher zuführen.

Youji kam zu dem kleinen Tisch und schob seine Tüten unter den Tisch.

„Was machst du hier?“

Jei hörte die Frage kaum, er war zum großen Teil damit beschäftigt eine Bestandsaufnahme der Umgebung zu machen, sich selbst und seinem Gegenüber in diesem Areal seiner Wahrnehmung einen Platz zu sichern in dem Eindringlinge mit negativen Absichten schnell auffallen würden.

Ganz davon abgesehen hatte ihm Crawford ein Verbot auferlegt, weder den Blumenladen näher in Augenschein zu nehmen, ihn gar zu betreten noch mit dem ‚Playboy’ zu sprechen.

Schweigend wurde er hier angestarrt, was Youji für einen Moment lang blinzeln ließ. Kein Ton kam über die Lippen des Iren, der sehr jung aussah, wie er hier saß. Mit dezenten Schmutzspuren im Gesicht als hätte er wie ein Dreijähriger im Dreck gespielt. Das grauweiße Haar wirkte feucht. Zwei Strähnen waren dem pinselartigen kurzen, strengen Zopf am Hinterkopf entkommen und hingen ihm ins Gesicht. Was den Iren nicht zu stören schien, da sie über die schwarze Augenklappe fielen. Die Lederjacke war bis unters spitze Kinn zugezogen, so als hätte es nicht feuchtwarme Temperaturen draußen. Das goldene Auge starrte ihn unfokussiert an. Eine seltsame Mischung dieses helle irritierende Gold des Auges in Verbindung mit den silberfarbenen Haaren.

Sehr, sehr jung.

Wie alt war er eigentlich? So alt, wie es die Kritikerakten vermuteten? Youji hatte noch nie über die Frage nachgedacht und spürte auch nicht den Wunsch, das jetzt zu tun, besonders nicht, als nun das Essen kam. Er hatte HUNGER!

Wie ein Wolf stürzte er sich auf seine Stäbchen und wünschte dem anderen einen guten Appetit, als dieser immer noch wie der Ölgötze dort saß.

„Willst du nichts essen?“, fragte er stirnrunzelnd, änderte nach ein paar Momenten jedoch seine Fragestellung. „Hast du Hunger?“

Jei hörte die Schlüsselworte und riss sich aus der Betrachtung der Farbzusammensetzung der emotionalen Lage seines Gegenübers los. Er nickte auf die Frage und legte den Kopf schief. Die feuchte Haarsträhne kitzelte ihn an seiner Wange.

Zum ersten Mal blickte er sich in dem Raum um in den er dem anderen gefolgt war und erkannte das Restaurant. Jetzt ließ er auch zu, dass in sein Gehirn der Duft von Essen wahrgenommen wurde.

So als ob Jei bis eben geträumt hätte... so sah es zumindest aus, als er sich dem Hier und Jetzt widmete. Zumindest war es das Letzte, was Youji mitbekam, bevor er sich an sein Essen machte und sich tief in der guten, heißen Suppe verkroch.

„Du siehst durcheinander aus. Wo warst du?“, fragte er in einem erneuten Versuch, Konversation zu betreiben. Und er hatte Erfahrung darin! Schließlich hatte er Ran auch erst einmal dazu überreden müssen, mit ihm zu sprechen... so unähnlich waren sich die beiden also gar nicht...

Himmel, was für ein Vergleich!

Jei empfand die Frage als unwichtig und widmete sich der Betrachtung des offenen Gesichts, der leuchtend tiefgrünen Augen und deren Ausdruckskraft im Verhältnis zur emotionalen Situation des Japaners.

Wie viel er doch aus ihnen lesen konnte…
 

Wieder war da nur Schweigen.

Youji grimmte zwischen zwei Stäbchen Nudeln in Richtung Jei und schluckte seinen Frust über die fehlende Kommunikation mit einem Glas Wasser hinunter.

„Voll heute, nicht wahr? Die Läden waren brechend voll, also noch voller als sonst. Man könnte meinen, morgen gäb‘s nichts mehr“, fing er einfach an, widmete sich dann allerdings wieder seinem Essen. Einfach reden. Das hatte bei Ran auch geholfen. Zermürbungstaktik.

Jei sah dem Geplapper eher zu, als es tatsächlich zu hören. Die Lippen des Mannes waren sehenswert. Da er sich nicht aktiv beteiligen musste, weil er es nicht durfte, beschränkte er sich auf Beobachtung.

Der Blonde schien aufgeregt zu sein. Jei ließ minimal seine Fähigkeiten zum Einsatz kommen, sorgte dafür, dass sein Gegenüber eine gewisse innere Zufriedenheit verspürte. Es war nicht nötig ein unerreichbares Ziel anstreben zu wollen, denn Jei würde sich am Gespräch nicht beteiligen. Also warum stellte der andere ihm ständig Fragen?

Youjis Bedürfnis zum Erzählen war mit der Zeit schwächer geworden, da er mehr und mehr damit beschäftigt war, sich in der Situation hier wohl zu fühlen. Richtig gut zu fühlen, wie ihm die Entspannung in ihm selbst mitteilte.

Doch irgendwie... er hatte doch einen Plan gehabt, einen festen, wieso war er jetzt davon abgewichen? Er war zufrieden, ja, aber...
 

„Hör auf“, sagte er leise, sanft, mit einem kurzen Blick in Jeis Auge.
 

Auch wenn er es bereuen würde, aber er wollte nicht diese... zugegebenermaßen sehr ansprechende, persönliche Droge. Er wollte... er selbst sein.

Wie ein Vogel ruckte Jeis Kopf den Hauch einer Bewegung zur Seite als wolle er genauer hinhören, als hätte er nicht verstanden. Der unfähige, plappernde Playboy, wie ihn Crawford früher benannt hatte, war nicht so unfähig, er hatte gespürt, dass Jei Einfluss geübt hatte.

Jeis Auge weitete sich in fragender und doch in erstaunter, hoffender Art.

Youji sah kurz hoch, dann wieder auf seine Suppe. In der nächsten Sekunde dann jedoch wieder ganz schnell in das Auge, das ihn nun in seiner... Überraschung... fixierte. Da, da war... die Lippen... da...

Youji dachte, er schaute nicht richtig. Das war doch ein minimales Lächeln auf den Lippen des Iren! Ein LÄCHELN!

Youji spiegelte es einen Moment lang, dann widmete er sich wieder seinem Essen. Er hatte den anderen überrascht. Vielleicht beeindruckt? Ein wenig stolz war er schon!
 

Wie weit würde er wohl mit dieser Art der Kommunikation bei dem Weiß Agenten gehen können?

Jei empfand es als äußerst interessant und sogar spannend was sich ihm hier auftat. Für einen Augenblick löste er ein Gefühl der Einsamkeit in dem anderen aus, nur kurz, nur schwach, dann einen Augenblick später, separierter ein Gefühl der Besorgnis.
 

Einsamkeit hatte Youji schon oft verspürt, besonders, nachdem Ran zu Schuldig gezogen war, Besorgnis ob ihrer Zukunft auch, doch beides stand in so abruptem Gegensatz zu der Entspannung oder seinem Normalzustand, dass auch dies noch ein weiterer Test war.

War es das wirklich? Testete Jei ihn? Spielte er Emotionen ein, wie andere Worte? Waren das seine Worte?

Aber was bedeuteten die „Worte“? Bedeuteten sie überhaupt etwas?

Du bist paranoid und zu lange Privatdetektiv gewesen, Youji, schalt er sich selbst und grimmte innerlich.

Wenngleich... wie wäre es damit, wenn er selbst versuchte, etwas zu senden? Wie bei Schuldig? Aber wie machte man das?

Youji versuchte, Freude in sich zu erzeugen, Freude über seine Einkäufe, über das Essen, über interessante Gesellschaft.

Jei beobachtete das Farbspiel, jedoch nahm er lediglich das wahr, was den Blonden in der letzten Zeit umtrieb: Einsamkeit, Sorge, Unzufriedenheit, Angst, Verletzlichkeit. Und das in verschiedenen Schattierungen. Dennoch passte das nicht zur Stärke vermittelnden Statur, Haltung und zum positiv vermittelnden Ausdruck in den grünen Augen. Warum war diese Stärke, die durchaus vorhanden war nur so beherrschend von destruktiven Gefühlen überlagert?
 

Nun war er wieder er selbst. Interessant. Sehr interessant. Aber auch gefährlich. Es waren nur feine Nuancen, die ihm in größeren Stresszeiten nicht auffallen würden. Doch jetzt, wo er Jei gegenübersaß, bemerkte er sie.

Ebenso wie er bemerkte, dass der Ire nicht aß. Youji nickte mit dem Kinn in Richtung Suppe.

„Sie ist gut... iss. Du hast Hunger.“

Jei nahm seine Hände unter dem Tisch hervor und besah sich die Stäbchen, nahm sie vom Tisch und fing an die Suppe zu essen.

Ein Zittern überlief ihn ob der Hitze.
 

Wo war der andere gewesen?, schoss es Youji erneut durch den Kopf, als er sich die Hände des Iren besah, deren Finger und Oberflächen vollkommen verschmutzt waren und danach schrien, gesäubert zu werden. Der ganze Mann schrie danach, gereinigt zu werden.

Ein paar interessante Gedanken huschten durch Youjis Hirnwindungen und einen Moment lang freute er sich, dass Jei kein Telepath war. Dann jedoch erinnerte er sich daran, dass der andere durchaus die Lust hatte verspüren können...

Lästig, das mit den PSI-Talenten. Sehr lästig.

Was auch zu einer etwas unüblichen Szene führte. Jei blickte auf, noch während er die Nudeln zum Mund führte. Er runzelte die Stirn, vergaß die Nudeln und die Suppe für den Augenblick. Gerade jetzt empfand er es als Fluch nicht mit dem anderen sprechen zu dürfen. So hätte er doch zu gerne herausgefunden warum er ein fluktuativ auftretendes Gefühl empfing, welches er in den erotischen Sektor einstufen würde.

Gerade beim Essen… hätte er nicht auf Lust stoßen dürfen, zumindest nicht bei seinem Gegenüber.

Jei fühlte sich seltsam. Die Hitze der Suppe wärmte offenbar auch sein Gesicht. War er so lange dort draußen gewesen, dass ein bisschen warme Nahrung gleich ein Gefühl der Hitze auslösen konnte?
 

Es konnte das Essen sein. Könnte. Hätte sein können. Was auch immer. Aber die Wangen waren rot, die Wangen des Iren waren rot!

Youji stellte sich insgeheim vor, wie diese durchaus lohnenswerte Ansicht durch ihn hervorgerufen wurde, dass er das mit seinen Gefühlen bewerkstelligt hatte. Es war eine gute Vorstellung, sogar eine, die spontan noch mehr Bilder des Iren in anderen Positionen mit anderen Tätigkeiten als dem Essen hervorrief.

Youji schüttelte sich aus diesen Gedanken wie ein nasser Hund. Zu lange keinen Sex mehr gehabt! Aber warum sprach er ausgerechnet auf den Iren so an?
 

Jei nahm sein Essen nach einigen Momenten des Betrachtens selbstständig wieder auf. Er versuchte unterdessen zu ergründen weshalb er sich fühlte als wäre er krank. Etwas stimmte nicht mit ihm. Offenbar war er zu lange mit der Observation beschäftigt gewesen und hatte seine körperlichen Bedürfnisse nach Schlaf, Erholung, Wärme und Nahrung vernachlässigt. Doch das war nicht das erste Mal und es fühlte sich auch unterschiedlich zu sonstigen Nachwirkungen ähnlicher Eskapaden an.
 

Sich der Gedanken des anderen unbewusst, beendete Youji sein Mahl, wartete dann auf Jei, auch wenn er sich bewusst war, dass sie vermutlich getrennte Wege gehen würden, sobald sie das Lokal verlassen hatten.

Diese und ähnliche Gedanken schwirrten in Youjis Kopf, als plötzlich ein Klingeln in seiner Nähe ihn in die Realität zurückzog. Verwirrt sah er auf den Iren, da es eindeutig von ihm kam. Sehr eindeutig.

Jeis hielt den Blick auf den anderen gerichtet, die Finger der linken Hand glitten automatisch in die eng anliegende Lederjacke und zogen ein Mobiltelefon hervor. Mit der anderen Hand behielt er die Stäbchen gerade dabei die letzten Streifen Gemüse aufzunehmen.

Er nahm ab und hörte Crawfords Stimme.

„Empfindest du es angemessen, wie du meine Anweisung in die Tat umsetzt?“

Jeis Blick hatte sich mit Yohjis verschränkt, der gerade den Kontakt brach um nach seiner Geldbörse zu suchen.

„Ja. Wortgetreu“, antwortete er mit brüchiger, rauer, da seit drei Tagen nicht benutzten Stimme.

Es war einen Moment ruhig in der Leitung.

„Gibt es Ergebnisse der Observation?“

„Ja. Aber keine signifikanten.“

„Du hast Freizeit. Es ist dir überlassen mit wem du sie verbringst. Und da du augenscheinlich eine schlechte Wahl getroffen hast und ich dich kaum davon abhalten kann ist meine Anweisung diesbezüglich hinfällig.“ Jei erwiderte nichts darauf, er blickte nur auf, verfolgte mit seinem verbliebenen Auge wie sein Gegenüber sich erhob.

„Und Jei… ich will keine zusätzlichen Komplikationen. Denk daran, er ist der zerbrechlichste von ihnen. Brichst du ihn, brichst du uns.“

Kurz darauf verstaute Jei sein Mobiltelefon ebenso schnell wie er es hervorgeholt hatte in der Jacke und nahm sein Essen wieder auf.
 

Währenddessen hatte Yohji das Essen bezahlt. Er griff sich nun seine Jacke, streifte sie sich über und nahm seine Tüten auf.

„Geh nach Hause und wasch dich. Du kannst ein Bad gebrauchen“, sagte er zu Jei gewandt, der ebenso wortkarg am Telefon wie im sonstigen Gespräch war.

Jei erhob sich und wartete bis der andere sich in Bewegung setzte. Er strebte eine andere Richtung an und verließ augenscheinlich den Blonden. Kudou jedoch ständig im Auge behaltend folgte er ihm schlussendlich doch.
 

Youji lief ein gutes Stück, in Gedanken immer noch bei dem Iren, der sich gerade von ihm hatte füttern lassen... zumindest Essen hinstellen lassen und dann wieder verschwunden war.

Seltsam, aber überaus interessant. Youji wusste nicht, ob dieses Interesse wirklich gut war, geschweige denn gesund. Der Ire war gefährlich, das hatte er bei vergangenen Aufträgen nur zu genau gesehen.

Und nun hatte er das Bild des friedlichen Mannes vor sich, der aß, trank, wieder ging... ihn mit positiven Gefühlen reizte, aber auch mit negativen.

Youji ließ sich mit den Menschenmassen mitziehen, kam schließlich in eine weniger dicht belaufene Gegend.

Erst dann sah er sich verstohlen um und sah in der Ferne... Jei.

Er wurde verfolgt.

Hartnäckig.

Eisern.

Beharrlich.

Youji blieb stehen und wartete.
 

Der Moment der Erkenntnis kam später als erwartet, sodass Jei erst jetzt der unausgesprochenen Aufforderung nachkommen und aufschließen konnte und wenige Meter vor dem anderen stehen blieb. Er sah den Mann ruhig an, wartete auf eine Reaktion, die unweigerlich kommen würde.
 

„Du willst bei mir duschen?“, kam das Unweigerliche in Form einer ungläubigen Frage zu Jei geschallt und Youji hob die Augenbraue.

„Will ich das?“, fragte Jei, seiner Stimme nicht genügend Vertrauen in ihre Kraft zusprechend. Sein Blick ging an Kudous Gesicht vorbei, er behielt die Menschen im Blick, die sich in ihrer Nähe aufhielten.
 

Er spricht mit mir, dachte sich Youji erstaunt, was sich aber nach außen hin nur in ein Lächeln umwandelte.

„Was würdest du sonst wollen, wenn du mich verfolgst?“

Jei antwortete nicht auf diese offenbar rein der Rhetorik geschuldeten Frage, er beschäftigte sich in diesem Fall mit der Absicherung der Umgebung und klinkte sich aus ihrer Unterhaltung aus. Es war wichtiger aufmerksam zu sein, als Small Talk zu betreiben. Es war wichtiger den Blonden abzusichern und sich mit ihm später ausführlicher zu beschäftigten, als seiner jetzt verlustig zu werden.
 

Und wieder wurde er mit Schweigen bedacht. Youji zuckte mit den Schultern und drehte sich um, lief einfach weiter. Jei würde ihm schon folgen, das wusste er. Und er würde ihm auch weiterhin folgen... hinein ins Hotelzimmer, das Youji stundenweise für ihn anmieten würde, damit er sich säubern könnte. Denn so, wie er aussah, war gerade niemand von Schwarz vor Ort, der für ihn diesen Part übernehmen könnte.

Youji seufzte innerlich. Aber er wollte es ja so.

Irgendwie... er fühlte sich verantwortlich.

Jeis Interesse galt nur der Umgebung und er folgte dem Blonden ohne zu wissen welches Ziel sie haben würden, wie ein ausgesetztes Hündchen, das sich seinen neuen Besitzer selbst auserkoren hatte.
 

Dieser führte sie nun in eins der günstigen, aber noch relativ guten Hotels und mietete für sie ein Zimmer für fünf Stunden an. Das durfte reichen um den Iren sauber zu bekommen.

Wohl wissend, wie das aussehen musste, hier mit einem anderen Mann einzukehren, noch dazu mit Jei, noch dazu mit den Einkaufstüten, nahm er sich den Zimmerschlüssel und ging den engen Flur entlang.

Platz war Mangelware hier in Tokio.

Genauso sah das Zimmer aus. Vielleicht neun Quadratmeter... oder weniger. Ein kleines Badezimmer, aber es reichte.

Youji wartete, bis der Ire ihm nachkam.
 

Jei hatte nichts übrig für seine menschliche Umgebung. Als sie aus dem Aufzug traten sah er sich aufmerksam um. Der Fluchtweg war nur wenige Meter weit entfernt. Im Zimmer angekommen ging er zunächst zum Fenster hinüber, schob den Vorhang ein Stück zur Seite und blickte sich um. Kein Gebäude war ihnen zu nahe, die ersten folgten gegenüber der viel befahrenen Straße, unter ihnen war eine Baustelle. Er war zufrieden und entließ den Vorhang aus seinen Fingern.
 

So schloss sich die Tür hinter Jei und Youji drehte den Schlüssel um... damit sie auch ungestört waren.

Er besah sich den Iren, ließ seinen Blick über dessen muskulöse Gestalt gleiten. Jei war etwas kleiner als er, schmaler auch, aber ganz gewiss nicht schwächer. Schließlich konnte dieser Mann mit seinen Händen töten.

Youji kam zu ihm an das Fenster und sah hinunter.

„Die Dusche ist in dem kleinen Raum. Geh duschen“, sagte er in die Stille hinein.
 

„Warum?“, wandte sich Jei vom Fenster ab zu dem Blonden, der gerade seine Einkäufe neben dem Bett deponierte. Seine Stimme hörte sich in seinen Ohren seltsam fremd an. Er war zu lange unterwegs gewesen. Nun klang sie als gehörte sie ihm nicht – rauchig, heiser, defekt.
 

„Du bist schmutzig.“

Youji drehte sich anhand der Stimme um, die bei anderen Menschen sehr vielversprechend gewesen wäre. Bei Jei war sie vermutlich... normal. Einfach normal.

„Wo warst du?“, fragte er erneut.

„Eine Observation durchführen.“ Jei blickte an sich herab als wurde er sich zum ersten Mal bewusst, dass er ein menschliches Wesen war. Seine Hände hoben sich und er besah sie sich genauer. Er hatte keine Handschuhe an. Sie waren ohne Handschuhe tatsächlich schmutzig, die silbern feinen Schnitte an seinen Händen waren unter dem Schmutz verborgen.
 

„Beim Sakurakawa-Clan?“

Youji wusste über Ran und Manx, dass dieser Clan in der engeren Beobachtung stand. Anscheinend nahm der Verdacht nun dichtere Formen an. „Hast du etwas herausgefunden?“
 

Jei dachte an die interessanten Beobachtungen, die er gemacht hatte, an die Farbkonstellationen, an viele Dinge, die ihn die Zeit vergessen hatten lassen. Aber sie würden den Blonden nicht interessieren und Jei war sich nicht sicher, ob sie für Crawford wichtig waren.

„Ich denke nicht, dass etwas von dem was ich gesehen habe zum jetzigen Zeitpunkt von Interesse wäre. Die Aktivitäten lagen im normalen täglichen Bereich.“
 

Also nichts Verdächtiges.

„Wie lange warst du da?“ Jei sah schon beinahe verwahrlost aus... gemäß dem sonstigen Standard.
 

„57 Stunden und 26 Minuten“, sagte Jei und zog sich die Jacke aus, der Reißverschluss seiner Lederjacke glitt fast geräuschlos hinab. Er öffnete die untere Schließe und zog sich die Jacke aus. Sie kam mit dem unteren Ende, dem Saum auf dem Boden auf und blieb oben von ihm gehalten an seinen Fingern hängen.
 

Fast schon fragend blieb sie da hängen, als müsse Jei Youji fragen, ob er sich ausziehen dürfe.

Was Youji anbelangte, so hatte er nichts dagegen.

„Du hast die ganze Zeit nichts gegessen und getrunken?“, fragte Youji und legte seine Hand auf die Jacke, wartete ab und sah Jei in das ihn beobachtende Auge.
 

Jei blickte hinab auf die Hand, die die Jacke berührte und ließ sie los als er aufsah. „Es war nicht wichtig. Ich war beschäftigt.“
 

„Jetzt ist es aber wichtig. Du hast mehr als zwei Tage dort verbracht, ohne dich um deine Bedürfnisse zu kümmern. Zieh dich aus und dusch dich.“ Youji nahm die gewärmte Jacke an sich und legte sie bedächtig auf das Bett.
 

„Warum?“
 

„Weil...“ Youji kam Jei näher und lächelte leicht. „...ich es will.“

Jei sah sein Gegenüber fragend an. Er konnte den sanften Hauch des Atems an seiner Schläfe fühlen. Es kitzelte.

„Du glaubst dein Wille ist für mich absolut?“

„Brauchst du einen absoluten Grund um zu duschen oder reicht ein simpler Wunsch?“, hielt Youji dagegen und trat einen Schritt zurück.

Ein Wunsch war kein Wille und das war der springende Punkt in Jeis Überlegung. Auf seinem Gesicht erschien ein schmales gut verstecktes Lächeln. Der Blonde amüsierte ihn. Dennoch musste er sich waschen. Er drehte sich und sah hinaus. Es war noch nicht dunkel, der Tag dauerte noch an und somit war noch Zeit. Die Geschäfte hatten gerade erst geschlossen.

Ohne ein Wort zu sagen ging er in das Badezimmer und schloss die Tür. Er ließ die Dusche an und begann damit sich auszuziehen.
 

Das war einfach... fast schon zu einfach gewesen.

Während er dem Rauschen der Dusche lauschte, legte er sich auf das unbequeme Bett und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.

So einsam war er also schon, dass er mit fremden Männern auf Hotelzimmer ging und sie hier duschen ließ.

Nun gut, so ganz fremd war Jei nicht, aber Youji hatte nicht wirklich das Gefühl, ihn zu kennen. Er war zum guten Teil unruhig in dessen Gegenwart, auch wenn er interessiert war. Unruhig, weil er die dämonische Seite des anderen kannte.
 

Diese und andere Gedanken umgaben Youji wie einen bittersüßen Hauch... bis er sich schließlich bewusst wurde, dass das Wasser unnatürlich lange rauschte.

Es waren mehr als zwanzig Minuten vergangen, als Jei in die Dusche gestiegen war. Youji runzelte die Stirn. War etwas passiert? Er wusste es nicht. Aber dennoch ließ ihn eine gewisse Unruhe nicht los.

Also was blieb ihm anderes übrig als sich zu erheben und nachzusehen? Aber was würde er sehen, außer einem nackten Iren? Wie würde dieser darauf reagieren, wenn Youji ihn störte?
 

Drauf geschissen.
 

Youji stand auf und ging zum Bad, schob vorsichtig die Tür auf.
 

Das kalte Wasser rauschte über Jei hinweg und seine Aufmerksamkeit wähnte sich nicht in seiner unmittelbaren Umgebung sondern ein paar Stockwerke weiter unten. Er vertrieb sich die Zeit damit, die sein Körper damit zubrachte sauber gespült zu werden indem er die unterschiedlichen Emotionen der Hotelgäste bespannte. Dabei bemerkte er nicht wie die Tür aufging.
 

Somit hatte Youji genügend Zeit, sich den Oberkörper des anderen genau zu beschauen und festzustellen, dass ihm die dort abgebildeten Muskeln doch recht gut gefielen. Zudem das Wasser malerisch darüber prasselte. Die Haut war über und über mit Narben übersät, die an manchen Stellen ein Muster darzustellen schienen.

Schaurig schön, so sah es aus.

Allerdings war auf Höhe des Hosenbundes Schluss, denn die Hose hatte der Ire noch angelassen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Youji schließlich, als Jei ihn nicht einmal beim Eintreten und Beobachten zu bemerken schien.

Jei war momentan eher anderen Dingen zugeneigt, als sich von dem Japaner in seiner kontemplativen Stimmung stören zu lassen. Das Pärchen vier Zimmer weiter war in faszinierende Stimmungsschwankungen verstrickt…
 

Immer noch keine Reaktion. Was erst als einfache Frage begonnen hatte, wurde nun zur Sorge und schließlich überbrückte er die Distanz zu Jei, schob den Duschvorhang zur Seite und stellte sich seitlich hinter den anderen, dass dieser ihn sehen konnte, wenn er wollte.

Es regte sich auch hier nichts, also fasste er um Jei herum an den Schalter der Dusche und stellte sie ab, fasste den anderen schließlich sanft am Oberarm.
 

Etwas zupfte an Jeis Aufmerksamkeit und zog ihn dann sofort ins Hier zurück. Es war eine sorgenvolle Stimmung, die ihn von dem Pärchen sich losreißen und ihn reagieren ließ.

Er spürte die Berührung und die Sorge des anderen übertrug sich um ein Vielfaches wie der Inhalt eines übervollen Gefäßes in ein Leeres. Im gleichen Moment zuckte er innerlich vor dieser Intensität zurück, kontrollierte aber sogleich ebenfalls die Umgebung. Sein Blick fokussierte sich auf sein Gegenüber.

Seine Hand griff zielsicher zu der Brücke, die Kudous Gefühle mit seiner Empathie koppelte.

„Gibt es ein Problem?“
 

„Das könnte ich dich fragen. Alles in Ordnung? Du schienst abwesend zu sein.“ Jeis kalte Hand ruhte auf seiner und hielt sie fest, so blieb Youji in aller Ruhe hier stehen.

Bei anderen Männern hätte er gewusst, wie er sich zu Verhalten gehabt hätte, doch der Ire machte ihn vorsichtig, wusste er doch nicht, aus welcher Stimmung er den vernarbten Mann herausgeholt hatte.

Jeis Gesichtsausdruck wandelte sich in Unverständnis.

„Deine Besorgnis galt… mir?“ Er spürte die Wärme der Hand auf seiner kalten Haut, wie ein Glüheisen so heiß. Seine Hand war nicht im Stande die andere zu entfernen.

„Ich war abgelenkt.“
 

„Ja sicher galt sie dir. Wem sonst? Was hat dich abgelenkt? Sind wir in Gefahr?“ Immer noch hielten sie sich gegenseitig fest und keiner machte Anstalten, den anderen freizugeben. Youji für seinen Teil genoss die kalte Hand, die ein wenig hart schien, ein wenig rau.

„Deiner Sicherheit. Emotionen in dieser Umgebung. Nein, sofern meine Fähigkeiten die potentiellen Angreifer enttarnen können“, beantwortete er alle Fragen nacheinander.

„In Ermangelung der Fähigkeit unsere gegenwärtigen Feinde zu entlarven solltest du unsere Rückversicherung sein. Ich bin nutzlos was das anbelangt.“
 

„Du bist eine tödliche Waffe und weit davon entfernt, nutzlos zu sein.“ Aber in einigen Punkten hatte Jei vermutlich recht. Youjis Job war es jahrelang gewesen, nur das Schlimmste zu vermuten und jedem kleinen Hinweis nachzugehen. Das hatte ihn geschult, ebenso wie die Jahre des Kampfes als Weiß.

Er hatte nie Kräfte gehabt, die ihn im Kampf unterstützten, also brauchte er sie auch jetzt nicht, sondern verließ sich auf das, was er jahrelang geschult hatte.

„Willst du dich nicht ausziehen und richtig duschen?“

„Richtig?“ Jei erkannte anhand der Verbindung, die sie innehatten, dass die Sorge des anderen verblasst war und das übliche hintergründige Gefühlschaos, der sonstige Normalzustand einkehrte. Er ließ die Hand des anderen los.
 

„Dich einseifen, den Schaum abwaschen, dich abtrocknen...“ Youjis Hand sank an seine Seite, doch er bewegte sich noch nicht zurück. Noch blieb er in dessen Nähe, sich für einen Moment lang überlegend, wie es wäre, wenn er den Iren hier in der Wanne gegen die Wand vögeln würde, wie dieses ausdruckslose Gesicht sich nur für ihn rot färbte und die bleichen Lippen mit der tiefen Stimme sich nur...

Himmel, was war nur los?

„Es gibt interessantere Dinge, die mich fesseln als die körperliche Reinigung… mein… Kör…pers.“ Und schon in den letzten Worten hatte sich Jei wieder ausgeklinkt. Er konzentrierte sich lieber wieder auf die Farbspiele des Pärchens, welches ihn vorhin schon gefesselt hatte. Zusammen mit ihren Gefühlen bildete dies eine ansprechende Unterhaltung. Die Frau verspürte so etwas wie Hass… der Mann… Lust und Gier…

Er fragte sich wie lange es noch dauerte bis sie ihn tötete…
 

Und damit war er schon wieder abgeschrieben.

Youji runzelte die Stirn. Wenn er so weitermachte, blieben sie ewig hier und ewig war keine Zeitspanne, die Youji übrig hatte. Er musste zurück zu Weiß und durch seine kleine Eskapade würde er sowieso schon zu spät kommen. Aber er konnte Jei auch nicht alleine hier stehen lassen. Wer wusste schon, was aus dem Hotelpersonal wurde, wenn es dieses Zimmer betreten würde und Jei unvorbereitet zuschlug.

Youji war sehr ungerne schuld am Tod eines Unschuldigen.
 

Was also blieb ihm anderes übrig als den Iren selbst zu waschen?
 

Youji grollte und trat einen Schritt zurück, zog sich unwirsch sein Shirt über den Kopf. „Nun gut, dann wollen wir mal... Beschwerden nehme ich später entgegen!“ Die Hose folgte auch und schon war er in die Duschbadekombination gestiegen und hatte den Vorhang hinter sich zugezogen.

Er hatte noch NIE einen Mann gewaschen... zumindest nicht so dermaßen asexuell, wie er es jetzt gerade tat. Wie ein Baby. Fast…

Er überlegte kurz, dann legte er seine Hände an die Hose des Iren und knöpfte sie auf, zog sie hinunter, löste sie mit einigen Mühen von seinen Beinen. Die schwarze Unterhose würde an bleiben, denn er würde zumindest den LETZTEN Funken Anstand sichern, den er selbst im Leibe hatte.

Nicht, dass es diesen Iren hier kümmerte.
 

„Die Hose kannst du dir nachher selbst ausziehen, hast du das gehört?“, knurrte er und stellte die Dusche wieder an, schauderte ob des kalten Wassers, das er nur zu gerne und zu schnell gegen warmes austauschte. Die kleine Duschgelprobe verteilte er auf seine Hände und diese nun auf dem Körper des Iren, der sich ebenso hart anfühlte, wie dessen Hände. Hier gab es kein Gramm Fett, nur Muskeln und Narben. Youji bemühte sich, keine von ihnen nachzufahren und sei es nur aus Neugierde. Bis auf Jeis attraktive Körpermitte, die er komplett ausließ.
 

Seltsam. Sehr seltsam kam er sich dabei vor und seufzte.
 

Unterdessen ging die Farbshow für Jei weiter. Allerdings bekam er nach ein paar Augenblicken, in denen er zu dem Pärchen gefühlsmäßig und geistig zurückgekehrt war Probleme. Ihre Emotionen gerieten durcheinander. Etwas überlagerte ständig seine Verbindung zu ihnen. Gefühle, die nicht zu dem Pärchen passten…

Jei knurrte einmal kurz auf ob der Unstimmigkeit und hatte vor sich nur kurz von dem Pärchen zu lösen um…

Seine Hände hoben sich so plötzlich, so schnell als er noch im Begriff war sich auf seine Umgebung einzustellen und griffen sich die fremden Handgelenke, die so umtriebig die Hände über seinen Körper schickten. In dem winzigen Bruchteil einer Sekunde hatte er den Blonden mit seinem Körper an die Wand gedrückt, dessen Hände hinter dessen Rücken gezogen. „Du bist das?“ Er wirkte weder außer Atem noch wütend. Lediglich erstaunt und irritiert. Er hatte nicht damit gerechnet den anderen hier so nahe bei sich vorzufinden. Dessen Gesicht so nahe an seinem zu sehen.
 

Überrascht und mit wild klopfendem Herzen starrte Youji Jei in das ruhige Auge, der Körper wie ein Bogen zum Zerreißen gespannt.

Da hatte er seinen tödlichen Killer, der in der Lage war, ohne Probleme zu töten.

„Natürlich bin ich das“, knurrte er ungehalten. „Wenn du dich nicht regst und dich säuberst, sollte ich das wohl übernehmen!“

Jeis Hände gaben ihre Gefangenen frei, er selbst jedoch blieb wo er war und seine Hände fanden ihre Wege zum einen auf Höhe Yohjis Herz auf seine Rückseite. Zum anderen auf dessen Bauch, dem Ort des Sonnengeflechts. „Deine Interferenzen stören meine Observation.“ Er blickte nach wie vor leicht nach oben in die grünen, aufgebrachten Iriden.
 

Interferenzen? Was für...

„Ich kann meine Gefühle nicht unterdrücken oder steuern“, erwiderte Youji, als er begriff, was Jei meinte. Als er begriff, wo die Hände des anderen lagen.

Am liebsten hätte er, sich aus der Berührung gewunden, doch er konnte... und wollte nicht.

„Eine interessante und weise Feststellung, meine ich“, erwiderte Jei für sich.

„Das heißt ich muss mich mit dir beschäftigen.“ Er übte leichten Druck auf das Sonnengeflecht aus, sog Yohjis Gefühle wie ein Schwamm in sich auf und schmeckte sie als würden sie auf seiner Zunge liegen. „Du bist aufgeregt.“

Kudous Herz machte immer noch einen HundertMeter Lauf.
 

Wo Youji zunächst befürchtet hatte, dass Jei ihn angreifen würde, so fühlte der Empath nur. Nur...

Youji spürte nichts, nur den Druck der Hand. Der warmen rauen Hand.

„Bin ich das?“, entgegnete er nach einiger Zeit des stillen Betrachtens. Was für eine Frage, natürlich war er aufgeregt und angespannt.

„Willst du dir nicht die Haare waschen?“, versuchte er vom Thema abzulenken und zu seinen normalen Tätigkeiten zurück zu finden.

„Willst du mir nicht die Haare waschen?“, echote es fast haargenau von Jei zurück, entgegen seiner sonstigen stoischen Art, die oft nichts mit der Realität anfangen konnte. Der Tonfall war völlig identisch.
 

Wollte Youji es?

Er hatte schon lange niemandem mehr die Haare gewaschen. Schon sehr lange nicht mehr... schon gar keinem Mann. Doch mit Jei war vieles anders, vor allen Dingen wurden sehr sexuelle Dinge sehr schnell sehr asexuell. So auch das Haare waschen.

„Ja, will ich.“ Warum auch nicht?

Jei stand immer noch sehr nahe an Yohji, lehnte sich nun aber an diesen an, da er mehr von dem schnellen Herzschlag, mehr von den wirbelnden Farbstrom wollte. Diese ungefilterten Emotionen von Yohji empfangen zu können war entspannend. Jei vergrub sich mit seinem Selbst darin und klinkte sich für seine Umgebung unempfänglich aus.
 

Youji nahm diese Annäherung mit einem kurzen Überraschungsmoment zur Kenntnis, denn so nahe waren sie sich bisher noch nicht oft gewesen.

Nichtsdestotrotz besann sich Youji pflichtbewusst auf seinen Auftrag und griff nach dem dünnen Haargummi, löste dies aus Jeis Haaren. Anschließend nahm er sich das Shampoo und verteilte es großzügig auf dessen Zotteln, die unter den letzten Tagen sehr gelitten hatten.

Während er sich zur besseren Ausbalancierung an die Wand lehnte, griff er mit beiden Händen in die Haare und massierte die Kopfhaut unter dem lauwarmen Wasserstrahl, massierte das Shampoo in die Haare und ließ es soweit es ging einwirken.
 

Währenddessen merkte Youji nur allzu gut, dass sein eigener, sexhungriger, da vernachlässigter Körper, auf Jei ansprach, so wie er hier lehnte und vollkommen still war. Er sprach sogar sehr darauf an... sehr stark. So stark, dass es sich bei ihm tief unten körperlich bemerkbar machte... was aber nicht schlimm war.

Nicht wirklich.

Fertig mit dem Ausspülen der Haare blieb Youji für einen Moment an der Schläfe des Iren.

Warum eigentlich nicht? Warum kein kleines Stelldichein ohne nennenswerte Bindungen? Sie hatten Lust und Youji konnte sich ausmalen, dass die gefährliche Wildheit des anderen sich auch auf das Bett übertrug.
 

„Ich will dich“, raunte Youji schließlich.

Jeis aktives Bewusstsein bekam die Frage mit, während ein anderer Teil von ihm geradezu gefangen war von der Lust, die so nah und so ungefiltert auf ihn einströmte. Es war alles viel zu viel, zu nahe.

„Wofür?“, fragte er trunken und blinzelte träge.
 

Wie... bitte?!

Wofür sollte er ihn in dieser Situation schon wollen? Spürte Jei nicht die Lust in ihm? Konnte er nicht die Lust AN ihm spüren?

Herrje!

„Formulieren wir es anders... ich möchte mit dir schlafen“, sagte er schließlich rau, leise.
 

„Ich brauche nicht zu schlafen… du kannst…“, fing Jei an, bevor ihn etwas an seiner Antwort störte.

Jeis Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. Der Blonde war erregt. Jeis Hand wanderte von der Hüfte hinab zu dessen Bauch, über den Stoff der Unterhose hinab zu dessen Männlichkeit. Er ertastete die Erregung.

Jei konnte keine Verbindung zu sich als Objekt der Lust ziehen, sodass er andere Ursachen für diesen Umstand suchen musste.

„Woran denkst du?“ Jei konnte nicht wie Schuldig die Gedanken des Mannes lesen, aber er ging davon aus, dass das Haare waschen Erinnerungen an jemanden oder etwas hervorbrachte.
 

War der andere... ungeküsst? Also keine einfache Jungfrau, sondern ungeküsst?

Nein, Youji, du HAST ihn schon geküsst, erinnerte er sich... also ungeküsst nicht, aber Jungfrau?

Also was antwortete man auf so eine Frage? Die Wahrheit? Vielleicht verstand Jei wirklich nicht, was er hier wollte... was er von IHM wollte.

„Ich denke daran, mit dir zu schlafen, hier, auf dem Bett, irgendwo, weil du mich erregst, so wie du hier stehst.“

Also... die Wahrheit.

„Ich? Weshalb?“ Jei löste sich vom anderen um ihn ins Gesicht zu sehen. Dem anderen war es ernst. Er wollte also sexuell tätig werden? Das war absurd.

Jei schüttelte einmal den Kopf, die Hände behielt er an dessen Brustkorb gelegt. „Das kann nicht sein. Offenbar habe ich zu viel Einfluss geübt.“ Sein Blick ging auf seine Hände hinab. Aber er hatte nichts davon gespürt, keine Absicht hatte seinerseits dahintergestanden.
 

Youji wollte dagegenhalten, wollte Jei versichern, dass dem nicht so war, doch die Entschlossenheit in der Stimme und im Auge des anderen belehrte ihn eines Besseren. Jei dachte es wirklich und es brachte zu diesem Zeitpunkt nichts, ihn vom Gegenteil überzeugen zu wollen.

„Ja, das hast du wohl“, erwiderte Youji, sich schmerzlich der Härte zwischen seinen Beinen bewusst. Sich schmerzlich bewusst, dass dieses Problem nicht, so schnell abschwellen würde.

Jeis Hände lösten sich vom anderen und er wandte sich ab.

„Warum hast du nichts gesagt? Künstlich erzeugte Emotionen sind dir zuwider.“ Jei verstand nicht ganz. Er war verwirrt. Seine Hände griffen sich ein Handtuch. Er stand unschlüssig da, hielt dieses in der Hand und zog sich seine nasse Unterhose aus.
 

‚Halt ihn auf, halt ihn auf! Verdammt, schau ihn dir an, halt ihn auf!‘, schrie es wütend in Youji, als er sah, wie sich der Ire von ihm entfernte und sich auszog.

Was bist du blöd, ein wenig länger und er hätte dir schon geglaubt! Verdammt noch mal!

Youji schluckte den allzu großen Kloß hinunter, der sich in seinen Hals gestohlen hatte und gab sich alle Mühe, NICHT auf die nackte Seitenansicht des anderen zu starren und ihn dabei gleich über irgendetwas beugen und ficken zu wollen.
 

„Nun... ich...“, fing er an, räusperte sich dann. „Also... so künstlich...“ Und wieder verstummte er.

Jei sah den anderen unschlüssig an, drehte sich nur halb zu diesem um, während er sich abtrocknete, durchaus in der Lage dies selbst zu tun.

Danach wanderte sein Blick nochmals über die Gestalt des Blonden, vor allem über dessen Gesicht, die feuchten Haare, die unsicher blickenden grünen Augen.

Für einen Moment wusste er nicht warum diese Unsicherheit dort zu finden war, dann drehte er sich um, ließ das Handtuch los und verließ das Badezimmer.
 

Das war doch mal ein leichter Ausweg gewesen, stöhnte Youji innerlich auf und vergrub seine Hände in seinen Haaren. Wie wunderbar... da versuchte er sich dem ersten Mann seit Wochen zu nähern und der hatte keine Ahnung, wie er auf ihn wirkte, vor allen Dingen keine Ahnung, was Youji von ihm wollte. Wunderbar!

Aber erst einmal musste er sich abreagieren... Haare waschen!

Und hoffen, dass sein Ständer mit der Zeit wegging.
 

Erst danach, als seine Haare vollkommen sauber waren, trocknete er sich rabiat ab, verließ denn das Bad. Von Jei fand er keine Spur... anscheinend hatte der Ire ihn schon verlassen. Kein Wunder nach der Aktion.

Youji stöhnte auf. Er musste heute Abend raus, irgendjemanden vögeln. Egal wen, einfach Dampf ablassen.
 

Doch dazu musste er jetzt erst mal nach Hause, was er nun mit grimmiger Anspannung erledigte. Ab durch die langsam weniger werdenden Menschenmassen zurück zum Koneko, dort sofort in sein Zimmer.

Nur um festzustellen, dass Jei keinesfalls nackt oder in nassen Sachen weggegangen war, nein, das wäre ja ZU schön gewesen.
 

Neeein, er hatte sich seine neuen Sachen ausgeliehen und angezogen. SEINE gekauften, neuen Sachen!

„Verfluchter Schwarz!“
 


 

o~
 


 

Schuldig stopfte sich während er aus dem Bad kam das Hemd unelegant in die Hose und sah sich um. „Is er schon weg?“ Schuldig verzog den Mund missgelaunt.
 

„Hast du schon Angst?“ Brad lächelte, während auf CNN gerade der neueste Kriegsschauplatz in Afrika eingeblendet wurde.
 

Schuldig spitzte die Lippen und kam zu Brad. „Ich? Nie!“ Er blieb nahe an Brad stehen und legte seine Hände an dessen Seiten, die Stirn an den muskulösen Rücken gelehnt.

„Hey… meinst du ich könnte heute Nacht…“ Er schwieg, fühlte der Hand nach, die sich auf seinen Unterarm legte.

Wie sollte er das aussprechen? Und Brad schien ihm dabei kaum eine große Hilfe.

„Meinst du ich könnte… heute Nacht bei dir… sein?“
 

Brad furchte die Stirn. „Ich bin prüde, schon vergessen?“
 

Schuldig verstärkte seine Umarmung, während er CNN lauschte. „Nein, das meinte ich nicht. Ich meine klar bist du das!“, sagte er etwas lahm. „Würdest du es erlauben, wenn ich heute Nacht in deinen Gedanken bin? Nicht tief… nur oberflächlich.“
 

Brads Haltung versteifte sich etwas. „Vor oder nach dem Sex mit Fujimiya?“
 

Schuldig seufzte, atmete den Duft Brads ein. „Weit danach.“
 

Brad schwieg.
 

Schuldig spürte wie seine Brust enger wurde. „Bitte Brad. Es tut mir leid was damals in der Klinik passiert ist“, flüsterte er.
 

„Dass du mich vergewaltigt hast? Ich dachte mit dem Thema wären wir durch.“ Brads Stimme machte deutlich, dass sie mit dem Thema noch nicht durch waren. Sie war emotionslos. Ein Zeichen, dass etwas in Brad vorging.
 

„Nein, das sind wir nicht.“ Schuldig hatte damit noch nicht abgeschlossen. Und er ahnte, dass es bei Brad ebenso war. „Wir kommunizieren… bei Einsätzen. Warum sollte ich also nicht für eine kurze überschaubare Zeit in deinen Gedanken verweilen? Dabei passiert nichts.“
 

„Ich bin nicht wach dabei. Das ist das Problem.“
 

Schuldig kaute auf der Innenseite seiner Unterlippe herum. Selbst wenn Brad wach gewesen wäre, hätte er keinen allzu großen Einfluss auf die Tiefe des Eindringens oder auf die Tatsache, dass Schuldig in Brads Gedankenwelt wollte und das auch ohne große Gegenwehr tun könnte.
 

Da Schuldig schwieg und sich einen Weg überlegte wie er mit Brad in Verbindung kommen konnte, fühlte sich dieser aufgrund des Schweigens dazu verpflichtet weitere Gründe für seine Ablehnung vorzubringen. „Du warst kein einziges Mal in meinen Gedanken, während ich keine Kontrolle über meine Träume, oder Gedanken hatte.“
 

Schuldig sah auf und rutschte zur Seite, sodass er Brads Profil ansehen konnte. „Doch! War ich! Letztens erst. Als ich aus den Staaten zurückgekommen bin. Du weißt schon… der Sandstrand… die Rothaarige…“
 

Brad schaltete CNN aus und entließ Schuldig aus der Umarmung. Er ging zum Bett hinüber und setzte sich aufs Bett. Die Fernbedienung wanderte auf das kleine Tischchen neben dem Bett.

„Du warst kurz in meinen Gedanken, richtig?“
 

Schuldig kam näher und kniete sich vor Brad, seine Hände fanden ihren Platz auf jeweils einem Knie.

„Ja, nur kurz, zur Hypnose.“
 

„Und nun willst du länger bleiben. Das ist der Unterschied, Schuldig. Ich weiß nicht, ob das gut ist. Du warst noch nie so lange… bei mir.“ Brad schien unsicher.

Schuldig schob Brads Beine auseinander, sodass er sich dazwischen platzieren konnte. Brad ließ zu, dass er ihm die Brille abnahm und sie auf das Tischchen ablegte.

„Ich weiß.“
 

Schuldig hob sein Gesicht Brads entgegen und berührte die Lippen mit seinen, ließ sich küssen, sich vereinnahmen von einem hungrigen Kuss, einem ausgehungerten Brad.
 

„Hör zu… Brad… warte“, Schuldig löste sich keuchend, seine Hände in Brads Hemd geschlagen. „Es hat Gründe warum ich das möchte. Das mit meiner Tante… mit dieser Frau…“, fing er an, doch Brad unterbrach ihn.

„Sie hätte es mir zuerst sagen müssen. Sie hatte es vor, doch sie hat ihre Entscheidung kurzfristig geändert.“
 

Schuldigs Kiefer mahlten. „Ist gut.“ Er schüttelte einmal den Kopf, sah auf seine Hände, die vor ihm lagen. „Ich muss eine Rückführung machen. Ich denke, dass in mir einige Informationen über sie zu finden sind, an die ich mich nicht erinnern kann.“
 

Brads Augen wurden dunkel, sein Gesicht verdüsterte sich. „Nein. Das verbiete ich dir. Du wirst nichts dergleichen tun, Schuldig.“
 

„Ich wusste, dass du so reagierst!“, rief Schuldig aus, sein Blick hetzte nach oben zu Brads dunklen Orben. „Bitte! Verwehr mir das nicht. Es ist die einzige Möglichkeit um herauszufinden ob ich sie von früher kenne.“
 

Brads Lippen pressten sich zu einer schmalen Linie zusammen. „Nein. Es gibt auch noch andere Möglichkeiten.“ Er schwieg und schüttelte den Kopf. Nach einer Weile legte er sich nach hinten auf das Bett, rieb sich die Nasenwurzel. „Du müsstest an einigen unschönen Erinnerungen vorbei, Schuldig.“
 

„Ein Teil meiner positiven Erinnerungen hat mit dir erst richtig begonnen. Du hast mir Halt gegeben.“
 

„Ich habe einen Teil begonnen und einen Teil davon komplett ausgelöscht. Hätte ich früher gehandelt, wäre vieles nicht so gekommen wie es schlussendlich eingetreten ist“, sagte Brad leise.
 

Schuldig kam auf das Bett, seine Knie landeten zu beiden Seiten Brads und er stützte sich mit den Händen neben Brads Kopf ab.

„Das weißt du nicht. Und es ist vorbei. Ich brauche jemanden, der mit mir verbunden ist während der Aktion. Ran taugt dazu nur bedingt. Ich kann ihn nicht uneingeschränkt erreichen. Zwar habe ich mit ihm trainiert, aber er kann die Barriere nicht ständig offen halten. Irgendwann ist sie zu. Zwei Dinge müssten die Sache vereinfach. Erstens brauche ich eine ständige Verbindung zu dir wenn es los geht, damit ich zurückfinde. Und dann…“, Schuldig zögerte, suchte den Blick in Brads Augen.
 

„Zweitens?“, hakte Brad misstrauisch nach.
 

Schuldig ließ sich auf Brad nieder und vereinnahmte Brads Lippen zu einem sanften Kuss. „Zweitens wäre es geschickt, wenn wir vorher Sex gehabt hätten.“

Brad hob fragend die Brauen und lachte dann, was Schuldig zu einem Murren veranlasste.

„Das ist dein Plan? Weshalb der Sex?“

Weil wir noch keinen hatten?, fragte Schuldig mürrisch, allerdings behielt er diesen Gedankengang für sich.

„Weil ich dann eine bessere Verbindung zu dir und der jetzigen Situation ziehen kann, in dem Augenblick in dem du Kitamura behilflich bist an mir seine Spielzeuge zu testen.“
 

Brads Hand strich Schuldigs Nacken entlang, bis zur Kieferlinie vor und dann über die Wange, mit dem Daumen koste er über die weichen Lippen. Er konnte seinen Blick kaum von den Lippen lassen, doch seine Augen krochen weiter über die gerade Nase bis hin zu den grünen Augen. Eine gefühlte Ewigkeit versank er darin.

„Es hat mir weh getan, dich dort so zu sehen. Damals habe ich mir geschworen SZ dafür zu vernichten. Ich wollte die Welt brennen sehen, dafür was sie dir und uns angetan hatte. Sie war es nicht wert, dass wir in ihr lebten. Sie hatte uns nicht verdient.“ Brads Augen waren eine Nuance heller. So wütend hatte Schuldig ihn lange nicht mehr erlebt. Echte, reine Wut.
 

Schuldig fand diesen Brad faszinierend. Er war nicht ständig kontrolliert, kalkulierend, beherrscht. „Nein. Das tut sie immer noch nicht. Das liegt daran, dass sie noch nicht bereit für uns ist. Wir sind Mutationen, die sich noch nicht durchgesetzt haben.“ Schuldig nahm die Finger in seine Hand, die seine Lippen berührt hatten.
 

„Oh… sie sind bereit für uns. Zumindest hat das meine Familie einmal behauptet. Doch ihre Bereitschaft gipfelt darin, dass sie uns gerne beschützen wollen und uns damit in Einrichtungen sperren, die für uns am besten geeignet wären.“
 

„Du hast nie über deine Vergangenheit gesprochen.“
 

„Ich werde jetzt nicht damit beginnen.“ Brad blockte ab und Schuldig ließ ihn. Er hatte einiges in Brads Gedanken in der Klinik gelesen. Allerdings gab es trotzdem noch Erinnerungen, die Brad gut versteckt hielt. Schuldig sah mit Erleichterung, dass er nicht alles von Brad wusste.

„Hilfst du mir?“
 

Brad ließ seine Hand sinken, Schuldig hielt sie immer noch fest. „Ich helfe dir. Willst du deshalb heute in meine Gedanken?“ Schuldig nickte zur Antwort.

„Gut. Dann tu es. Aber sei vorsichtig.“
 

„Ja.“ Schuldig küsste Brad erneut und blieb für einige Augenblicke auf ihm liegen.
 

„Wie lange willst du ihn warten lassen?“, fragte Brad mit Belustigung in der Stimme.
 

„Das heizt die Stimmung an.“
 

„Welche? Die Negative?“ Brad schubste Schuldig von sich herunter. „Jetzt geh schon, ich will ins Bett.“
 

Schuldig rutschte zur Seite und besah sich das große Doppelbett.
 

Brad sah diesen Blick, als er sich aufsetzte und sein Hemd aufknöpfte. „Denk nicht einmal daran. Ich gedenke hier alleine zu schlafen.“
 

„Ich habe an gar nichts in diese Richtung gedacht“, entrüstete sich Schuldig wenig glaubhaft und stand auf. „Also dann… bis später.“
 

Er schlüpfte in seine Schuhe, die er zuvor ausgezogen hatte und verließ wie Ran Minuten zuvor das Zimmer.

Mit nachdenklich zerfurchter Stirn ging er in Richtung Aufzug und fuhr hinauf zu ihrem zweiten Zimmer, das sie gebucht hatten. Nicht ganz bei der Sache klopfte er an, vermied die obligatorische Zimmerklingel dabei geflissentlich…
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Coco & Gadreel ^.^
 


 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!

Traumseher

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

The Good...

~ The Good… ~
 


 

Aya hielt Schuldig fest, bis er weggedöst war und legte ihn dann vorsichtig auf das Bett. "Wenn wir beide tot wären, würde er verrückt werden und die ganze Welt vernichten. Ich glaube nicht, dass ihn etwas aufhalten könnte."

Aya sah von Schuldigs friedlich ruhender Gestalt zu Brad.
 

„Die Vernunft hält ihn am Leben, nicht der Irrsinn.“ Brad griff zur Spritze, schaltete sie ab und ging hinüber zum Tisch, wo er sie in den Koffer zurück legte.

„Gesetz dem Fall dir passiert etwas, hast du dir schon Gedanken darüber gemacht wer außer mir ein Fixpunkt für ihn darstellen könnte?“
 

So abstrus es auch klingen mochte, Aya musste keine Sekunde darüber nachdenken.

"Youji."

Er schwieg einen Moment lang, fühlte sich dann bemüßigt, Brad eben dies zu erklären. „Youji steht mir am Nächsten. Und er ist oft genug mit ihm aneinander gerasselt; oft genug haben sie sich dann aber irgendwie zusammengerauft. So wie wir beide, als wir ihn für... tot gehalten haben." Aya seufzte, als er auf Schuldig blickte.
 

„Kudou?“ Brad amüsierte dieser Gedanke. Er drehte sich zu Ran um die Ernsthaftigkeit der Worte zu bemessen. „Du meinst es Ernst?“ Brad schloss das unterste Fach des Koffers, dann verriegelte er es mittels eines Codes. Schuldig ein Sedativum zu verabreichen, und wenn nur sehr niedrig dosiert war zwar eine heikle Angelegenheit, aber es war von Schuldig selbst ausgewählt und getestet, es in andere, fremde Hände fallen zu lassen kam nicht in Frage.

Er löschte das Licht.

Im von den Lichtern der Stadt erleuchteten Zimmer ging er hinüber zu seinem Glas und nahm einen Schluck. „Kudou hat selbst genug Probleme.“
 

„Wer dann?" Aya zuckte mit den Schultern. Er wüsste niemand anderen, der für Schuldig ein steter Fixpunkt sein könnte, wenn er mal nicht mehr wäre. „Omi vielleicht, er ähnelt dir. Aber es wäre eher unwahrscheinlich, dass er sich dazu bereiterklärt."
 

„Nein, wohl kaum. Ich meine, es wäre unerheblich ob sich der Kleine bereit erklärt oder nicht. Sie verlassen Japan bald. Und Schuldig wird hier bleiben. Würde hier bleiben.“ Brad schenkte sich und Ran nach, reicht das Glas dem Japaner. „Er hat Freunde erwähnt in Tokyo. Hat er dir etwas davon erzählt?“
 

„Ja, hat er. Ich kenne sie." Aber ob sie ihm helfen konnten, war die andere Sache. Kim und Toshi hatten den bösen Schuldig ausgeglichen, aber würden sie auch einen verzweifelten Schuldig ausgleichen können? Aya bezweifelte es stark.
 

Brad stellte sein Glas ab, beugte sich wieder aufs Bett und kam näher zu Schuldig. Er knöpfte ihm die Hose auf, zog den Reißverschluss auf und zog ihm die Hose von den Hüften. „Zieht der Kerl eigentlich irgendwann einmal Unterwäsche an?“, fragte Brad leise und werkelte an der Aufgabe herum Schuldig die Hose auszuziehen. Der murrte nur etwas und drehte sich leicht, aber halbherzig.
 

„Nein, das wird er sich auch nicht mehr angewöhnen", lächelte Aya und schloss für einen Moment lang die Augen.
 

Nach getanem Werk deckte Brad den nackten Mann zu und setze sich daneben ans Fußende.

„Asami?“
 

„Asami würde ihn für sich nutzen. Schuldig würde daran zerbrechen. Oder Asami töten, wobei ich eher auf Letzteres tippe." Aya öffnete die Augen und sah Brad zu wie er sich sein Glas holte, sich danach wieder setzte.
 

„Asami… das war ein Scherz. Ich dachte ich könnte dich damit ein wenig aufheitern.“ Brad nahm einen Schluck. „Manx?“
 

Aya sah zweifelnd zu Brad. Er? Ihn aufheitern? Wo gab es denn so etwas? Gab es so etwas überhaupt? Das war eine verkehrte Welt, aber sehr verkehrt! Dennoch musste er leicht bei dem Gedanken schmunzeln, dass Brad ihn versuchte mit Humor hervor zu locken.

„Manx. Du Sadist. Sie würden sich umbringen."
 

Brad hatte diesen Vorschlag im ersten Moment jedoch weniger ernst, sondern spöttisch gemeint. Was aufgrund einer gewissen Nachdenklichkeit in seiner nicht ganz wie gewünscht angekommen war. Bei genauerer Betrachtung schien sein nicht ganz ernst gemeinter Vorschlag seine Vorzüge zu haben.
 

„Glaubst du? Ist dir schon aufgefallen, dass er ihr ständig droht, sie aber noch nie angerührt hat? Er hat sie schon mit Schmähungen aller Art überhäuft, doch etwas scheint ihn abzuhalten. Und das bin nicht ich. Sie mögen sich nicht, aber er vertraut dem was sie tut. Manx ist echt in seinen Augen.“
 

„Ja, echt in ihrer Anziehung zu dir, was ihn wiederum fuchst. Er hätte ihr schon längst etwas angetan, wenn er nicht wüsste, dass sie mit dir in die Kiste springt und meine ehemalige Vorgesetzte ist. Er weiß, dass wir beide das nicht tolerieren würden, deswegen macht er nichts." Aya schnaubte vergnügt.
 

Brad hob eine Braue aufgrund so viel Freude. „Dann haben wir nichts? Niemanden, außer …Kudou? Das ist unsere beste Wahl?“ Er war nicht zufrieden damit.
 

„Es sei denn, du zauberst noch jemanden aus dem Ärmel, den ich bisher übersehen habe." Aya sah Brad fragend an, dann fiel sein Blick zurück auf den sauber eingemummelten Schuldig. „Oder... die beste Wahl ist, dass ich einfach nicht sterbe." Ein tapferes Vorhaben.
 

Auf so viel Kreativität in ihrer Wunschbesetzung wusste Brad vorerst nichts zu antworten. Er beugte sich halb über Ran um an sein Mobiltelefon zu kommen. Die Anzeige leuchtete auf und zeigte ihm, die aktuelle Uhrzeit. Es war halb fünf morgens. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Er rieb sich übers Gesicht, legte das Mobiltelefon wieder zurück.

„Halb fünf.“ Er lehnte sich zurück, den Hinterkopf bettete er wie selbstverständlich auf Schuldigs Oberschenkel ab, schließlich wusste er, dass sich sein neu auserkorenes Kissen aufgrund der chemischen Keule so schnell nicht bewegen würde.

„Der Plan sieht eine Abreise um 8.00 Uhr vor. Das werden wir nicht mehr einhalten können. Die Dosis hält zwei bis drei Stunden an und wenn wir Glück haben schläft er danach noch einige Stunden erholsam.“ Sein Tonfall machte klar wie wenig ihm das in seine Pläne passte.

Sie hatten die Zimmer für zwei weitere Tage gebucht, damit sie genügend Spielraum für eine Abreise zur Verfügung hatten, ohne auffällig zu werden, und ohne berechenbar zu sein.

„Ich muss Nagi über die Änderung unserer Abreise informieren. Nagi wird unruhig, wenn er keine Rückmeldung bekommt. Und ein unruhiger Telekinet ist ungefähr genauso effektiv wie ein übermüdeter, oder überdrehter Telepath.“
 

Aya glaubte, nicht richtig zu sehen, als sich Brad auf Schuldig legte. Dies war der erste zärtliche Körperkontakt, den er Brad in Richtung Schuldig ausüben sah. Zumal es eine gewisse Art der Schwäche war, sich selbst anzulehnen, und nicht als starker Fels in der Brandung zu dienen. Doch nein... Schwäche traf es nicht. Eingeständnis, ja, das war das bessere Wort, beschied Aya.

Aya wurde in diesem Moment eines klar. Brad öffnete sich.

Nicht Crawford, nicht das Orakel, sondern Brad, freiwillig, aus eigenen Antrieb und ohne den spöttischen Unterton.

Natürlich würde er den Amerikaner nie, auch jetzt nicht, als offen bezeichnen. Brad Crawford war und blieb ein kalter Arsch, nur jetzt gerade war er ein entspannter, weniger kalter Arsch.

Aya musste innerlich über den Vergleich lächeln.

„Wie hast du es eigentlich geschafft, dein Team all die Jahre so ruhig zu halten, ohne dabei verrückt zu werden oder zusammen zu brechen?", schmunzelte er. „Du hast meinen Respekt!"
 

Brad musste nach links zu dem vorlauten Japaner sehen um zu begutachten ob dieser Satz ernst gemeint oder dazu diente ihn zu verspotten. Nach dem Lächeln zu urteilen, dass ihm entgegenschlug war es wohl Letzteres. Brad begnügte sich daraufhin mit der Aussicht aus dem Hotelzimmer und einem gebrummten: „Psychopharmaka, Alkohol und Drill.“
 

Aya schüttelte den Kopf, ein amüsiertes Lachen hören lassend.

„Für wen ist der Alkohol? Für dich?" Nach einem kleinen Moment tat er es Brad gleich, missbrauchte den schlafenden Telepathen ebenso als Kissen. Dort, wo Brad den Oberschenkel okkupierte, tat er es nun dicht an dem anderen mit Schuldigs Brustkorb.
 

„Ich denke, die Frage kannst du dir selbst beantworten. Da sich das sogenannte Team wohl in nächster Zeit weder ruhiger verhalten noch von selbst zusammenhalten wird werde ich wohl irgendwann an Leberversagen sterben. Wenn ich nicht vorher dem Irrsinn verfalle.“
 

„Schlimmes Schicksal", bestätigte Aya und ließ seinen Blick zu Brad und über das Profil des Amerikaners gleiten. Schweigend verharrte er für einige Augenblicke, an das denkend, was zwischen den beiden vorgefallen sein mochte. Sie würden darüber sprechen, wenn Schuldig aufgewacht war... vielleicht... und nicht jetzt. Dennoch, was vermochte es zu schaffen, dass Brad so wütend wurde?
 

Brad tolerierte die Inspektion ein paar Minuten.

„Ich schätze es nicht angestarrt zu werden.“
 

„Warum nicht?"
 

Eine halbe Stunde auf engstem Raum mit dem neugieren Japaner und Crawford hegte bereits den Hauch von Selbstmordgedanken. Wenn Weiß ihre Taktik früher in die Tat umgesetzt hätten wären Schwarz schon vor Jahren ausgerottet worden.

„Stell dir die Frage selbst. Ich denke, die Antwort wird die gleiche sein.“
 

„Erschreckend, wie ähnlich wir uns sind, findest du nicht auch?" Ja, was war seine Antwort auf diese Frage? Das Gefühl, analysiert zu werden, behagte ihm nicht. Ganz und gar nicht. Gemessen zu werden.
 

„Nein. Das sind wir nicht.“ Sie waren sich nicht ähnlich, denn dass was er bei Fujimiya als inneres Feuer bezeichnen würde, konnte er selbst bei sich nicht finden. Er kalkulierte zu sehr… fühlte der Kälte als Vertrauten in seiner Gegenwart nach. Er brauchte diese Kälte um das im Zaum zu halten was in dem Bereich lag, der ihn nicht interessiert: Die Vergangenheit. Die Zukunft war seine Welt und sie war gefühllos. Ein bisschen von diesen Gefühlen erlebte er in der Gegenwart.

Doch die Zukunft war das was er haben wollte, wonach er gierte: Kälte.

Absolute Kälte, absolute Kontrolle. Er sah zu Fujimiya hinüber, drehte den Kopf langsam.

„Wir sind uns nicht ähnlich.“
 

„Wir sind beide ähnlich kontrolliert und kalt, so wir es denn sein müssen. Wir sind beide introvertiert, ganz im Gegensatz zu unserem Kissen hier. In uns gekehrt, der Welt feindlich gegenüber gestellt. Willst du das leugnen?"
 

„Ja. Das will ich.“ Er war der Welt nicht feindlich gegenüber gestellt. Er brauchte die Welt um seine Fähigkeiten für sich zu nutzen. Er brauchte die Veränderung, ohne sie war er wertlos. Er war ohnehin wertlos ohne seine Fähigkeiten. So hatte er früher bereits gedacht. Ohne diese Fähigkeit, ohne diese Macht was war er da schon? Schließlich wäre er ohne sie nicht das was er heute war.

In die Stille hinein wagte Aya dennoch einen kurzen Blick zu Brad. „Warum?“, fragte er schlicht, eben weil ihn die Gründe interessierten. Eben weil es ihn interessierte, wie es möglich war, dass sie sich plötzlich über diese Art der Dinge unterhielten.

Leben, Chaos, Bewegung. Stagnation, so wie er sie sich immer ersehnt hatte, war anscheinend unmöglich. Hätte ihm auch nie sein Glück gebracht.

Brad erhob sich. Zunächst auf die Ellbogen, dann setzte er sich auf. Nach einem Blick hinüber zu dem Japaner stand er auf. „Leg dich hin und leiste ihm Gesellschaft.“ Ein warmer Ausdruck erreichte seine Augen ausgehend von dem winzigen Lächeln um seine Mundwinkel.

Er ging zum Fenster hinüber. Sein Blick verlor sich im Wettstreit des bunten Lichtertreibens dem sich die Hochhäuser ausgesetzt fühlten.

„Verschiedene Ausgangspositionen, verschiedene Leben, verschiedene Ansichten. Wo soll es da noch ein ‚Warum‘ geben, das einen Sinn macht?“
 

„Hm.“ Brad hatte es alleine dem warmen Ausdruck und dem Lächeln zu verdanken, dass ihm keine weitere Diskussion ins Haus stand. Denn beides hatte Aya viel zu perplex zurückgelassen, als das sein Gehirn es auch nur wagte, Widerspruch zu leisten.

Lieber wanderte sein Blick zu seinem schlafenden Kissen, das selig vor sich hin träumte. Ja, auch er war müde. Schließlich war es anstrengend gewesen und der Schock des Beihnahetodes kam nun mit der Ruhe der Situation zurück, mit der Ruhe von Brads Worten.

So legte er sich widerstandslos neben Schuldig.

„Du solltest ihm aber auch Gesellschaft leisten. Würde ihm gut tun, wenn er aufwacht.“

„Sicher würde es das.“ Brads Stimme verlor sich im Äther, auf ihrem Weg in Rans Gehör. Er war in Gedanken. In Gedanken bereits in der Zukunft…
 

Diese Zukunft. Diese unmittelbare Zukunft trat genauso ein, wie Crawford es befürchtet hatte. Er war im Sessel eingeschlafen, der schräg zum Fenster stand. Die Vorhänge waren halb geschlossen, sodass ihm ein schmaler Spalt den Blick auf die Stadt gewährte. Es wurde Tag. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er nur eine Stunde eingeschlafen war. Zu lange wenn es um ihre Sicherheit ging. Ein Blick hinüber zum Bett zeigte ihm das Schuldig und Ran noch schliefen. Er hob den Kopf an, rieb sich die verspannten Nackenmuskeln und gähnte verhalten. Er fühlte sich wie erschlagen. Auf dem kleinen Tischchen vor sich lag griffbereit seine Waffe.

Er lehnte seinen Kopf wieder an und schloss seine Augen zur Hälfte, den Blick wieder auf den schmalen Spalt, der ihm die erwachende Stadt zeigte gerichtet.

Intuition sagte Aya, dass er nicht alleine in diesem Raum war, Intuition sagte ihm, dass ein anderes waches Bewusstsein sich in seiner Nähe befand.

Etwas sagte ihm aber auch, dass es sich bei diesem Bewusstsein nicht um ein feindliches handelte. Dennoch zwang Aya seine Augen kurz auf, nur um sich zu versichern und sah sich träge um. Schuldig. Schlafend. Crawford. Wach. Sessel.

Alles bestens.

Er brummte leise und legte seinen Kopf wieder zurück. Die Lider schlossen sich nur allzu bereitwillig wieder. Zu früh. Er war müde.

„... ns... Bett... komm...“

Brad erwiderte etwas Zustimmendes um diesem unverständlichen Genuschel ein Ende zu bereiten. Der Japaner schlief wieder ein.

Das Hotel erwachte zum Leben. Koffer wurden zur Abholung bereit vor die Tür gestellt. Gäste verließen auf dem Weg zum Frühstück ihre Zimmer.
 

Der nächste, der erwachte war gar nicht begeistert von diesem Umstand. Schuldig seufzte, als er nicht mehr so tun konnte als schliefe er, um den Schlaf auch davon zu überzeugen. Er murrte und wollte sich umdrehen als er spürte, dass die Wärmequelle in seinem Rücken von der Klammerhaltung eines gewissen Japaners stammte. Vorsichtig löste er die Arme, flüsterte Ran beruhigende Worte ins Ohr und rutschte auf die Seite. Ohne dies würde er nur erreichen, dass Ran wie von der Tarantel gestochen aufwachte. Das hatten sie alles schon durch.

So kuschelte sich Ran wieder ein und Schuldig stieg vorsichtig über ihn hinweg. Das Zimmer lag in einer Art Dämmerzustand. Brad saß bewegungslos im Sessel. Die blickdichten schweren Vorhänge waren fast vollständig zugezogen. Er schlief offensichtlich nicht. Schuldig ging ins Badezimmer, schaltete das Licht ein, schloss leise die Tür und versuchte wach zu werden. Was war nachts eigentlich los gewesen?

Er konnte sich nicht erinnern. Die Stirn runzelnd drehte er das Wasser auf und wusch sich das Gesicht. Danach kamen die Zähne dran und der obligatorische Toilettengang. Das alles tat er wie in Trance. Selbst als er die Hände erneut unter dem Wasser hatte, die Seife über seine Haut glitt tat er dies als würde er Schlafwandeln. Tatsächlich aber suchte er in seinen Gedanken nach den letzten Stunden. Als er sie gefunden hatte war er wenig begeistert davon.
 

Er verließ das Badezimmer und wandte sich zum Sessel hin. Brads Gesichtszüge waren entspannt, doch Schuldig sah ihm die Müdigkeit an. Er beugte sich über ihn. „Was hält dich vom Schlafen ab?“, fragte er leise.
 

Brad hatte Schuldigs wache Anwesenheit bemerkt, war jedoch zu sehr im Strom der Vorhersehung gefangen, als dass es aktiv auf seine Aufmerksamkeit eine Auswirkung gehabt hätte. Jetzt jedoch…

Schuldigs Stimme hatte einen gänzlich anderen Unterton. Fremde Stimme. Fremder Geist.
 

„Eine Ahnung“, sagte Brad mit abwesender Stimme.
 

„Eine Ahnung ist keine Vorhersehung. Waren das nicht einmal deine Worte gewesen?“ Schuldigs Finger strichen Brad eine Strähne aus der Stirn.
 

„Das spielt keine Rolle. Ahnungen sind gefährlicher. Sie sind wie ihr Name schon sagt unspezifisch.“ Brad öffnete die Augen ganz. Seine Stimme wurde wieder fester. Sein Blick traf auf kühles blaugrün über sich, das ihn musterte.
 

„Habe ich dich gestern dabei gestört herauszufinden was hinter dieser Ahnung steckt? Waren es diese Bilder, die diese Ahnung eingeleitet haben? Oder ist es nur ein Nachhall?“ Schuldig hatte ein schlechtes Gewissen weil er Brad in seine Vision ‚geplatzt‘ war. „Es tut mir Leid.“
 

Brad hob eine Braue. „Dann tu es nicht mehr. Es ist irritierend.“
 

„Ich wollte doch nur…“
 

„Ich weiß was du wolltest. Aber diese … Verbindung können wir nie haben. Diese Art der Nähe kann ich dir nicht bieten. Es ist zu gefährlich.“
 

Schuldig nickte. „Gut. Was ist mit der Rückführung? Hilfst du uns dabei?“
 

„Du weichst nicht davon ab?“
 

„Nein. Es sei denn wir finden die Informationen auf anderem Weg.“ Schuldig veränderte seine Haltung und trat von Brad weg.
 

„Du weißt, dass es Irrsinn ist das zu wagen“, sagte Brad und streckte sich. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen, gähnte verhalten. Er brauchte eine Dusche. Etwas zu essen…“
 

„…du brauchst Schlaf“, sagte Schuldig und Brad sah rasch auf. „Ich habe nichts gespürt…“, sagte er erstaunt.

„Was gespürt?“ Schuldig schien irritiert, wandte das Gesicht halb zu ihm um.
 

„Dein Eindringen in meine Gedanken.“
 

„Das liegt daran, dass ich nicht in deinen Gedanken bin“, sagte Schuldig amüsiert.
 

„Und wie… konntest du meinen Satz beenden?“ Brad fuhr sich übers Gesicht, rieb sich die brennenden Augen. „Sag nicht ich sehe so beschissen aus.“
 

„Ein Blick in den Spiegel Brad und du weißt sofort, dass ich dafür weder Telepathie brauche noch etwas anderes außer meinen Augen und Ohren und dem gesunden Menschenverstand.“
 

Brad quittierte das Ganze mit einem undefinierbaren Laut, der zwischen einem Grunzen und einem Knurren lag.
 

Durch die Unterhaltung der beiden Männer nun deutlicher wacher als vor Schuldigs Aufstehen, hatte sich Aya ruhig gehalten und sich seine Wachheit nicht anmerken lassen. Dieser Moment gehörte den Beiden, sie brauchten diese Zeit für sich.

Sie brauchten darüber hinaus noch mehr Zeit für sich, stellte er für sich fest. Er musste beiden diese Zeit lassen, denn ohne seine Billigung würde Schuldig es nie tun. Doch Schuldig brauchte den Amerikaner und Brad brauchte Schuldig.

Aya musste dennoch lächeln. Es war selten, dass Schuldig sich um Brad sorgte und noch seltener, dass dieser es so derart handzahm kommentierte.

„Ich gehe mich duschen.“ Brad erhob sich und ging ins Badezimmer. Kurz darauf hörte Schuldig die Dusche.
 

Unschlüssig sah er zum Bett hin. Das Lächeln, das sich jetzt auf seinen Zügen ausbreitete war bestenfalls als hinterhältig zu beschreiben.

Er ging zum Bett hinüber, zwickte Ran in den Hintern unter der Decke und setzte sich neben den Liegenden. „Selbst dein Körper ist ein schlechter Lügner. Gib‘s auf, du kannst es eben nicht. Irgendwann muss man einsehen, dass man‘s nicht bringt.“
 

Aya schnaubte empört und drehte sich zu dem wachen Telepathen um, der ihn auch ohne Telepathie recht gut lesen konnte.

Seine Augen taxierten die grünen des Deutschen und er lächelte. „Ich wollte euch den Augenblick nicht zerstören, ihr wart gerade so in eurem Element.“ Ehrliche, diebische Freude war auf seinem Gesicht zu lesen.

Neckend hob er die Hand und zupfte Schuldig an der Nase.

„Bekomme ich keinen Guten Morgen Kuss mehr?“

„Den hast du schon verschlafen. Es ist fast Mittag, Herr Langschläfer!“, tadelte Schuldig und sah lehrmeisterhaft auf den Taugenichts hinab.
 

Besagter Taugenichts, der von dieser Bezeichnung nichts ahnte, zum Segen seines telepathischen Partners, verzog erst schmollend, dann streng die Lippen.

„Wohl gesprochen, Herr Frühaufsteher. Ich werde es mir merken.“ Die Hand zog sich zurück, unterstützte den anderen Arm dabei, sich hochzustemmen. Sich ans Kopfende anlehnend, warf er einen Blick auf die dem Interieur angepasste Wanduhr. Der Frühaufsteher hatte Recht.

Irgendwie hatte Schuldig den unguten Verdacht, dass er sich hier ein Eigentor geschossen hatte. Schließlich war es fast immer Ran, der vor ihm aufstand.

„Nein… besser du merkst es dir nicht“, winkte Schuldig ab. Er kletterte aufs Bett, kroch über Ran bis sich ihre Nasen fast berührten. Sein Knie war unglücklicherweise zwischen Rans Beine geraten und zwängte sich jetzt zwecks besserer Position in dessen Schritt. „Oh, da ist ja jemand schon munter…“, Schuldig grinste anzüglich.

Nach unten schielend - als wenn das etwas bringen würde – fand Aya nicht den geringsten Beweis für diese These. Brauchte er auch gar nicht, er FÜHLTE den Beweis bemerkenswert eindringlich.

Seine Schenkel schoben sich automatisch auseinander, als Schuldig den Druck erhöhte. „Erst soll ich mir etwas merken, dann nicht. Das verwirrt mich, ich brauche da klare Ansagen“, kam es kritisch von Aya, der die Lippen gerade prophylaktisch für einen Angriff mit seinen Zähnen zurückzog.

„Hey du kleines Anfänger-Alien… zieh deine Fangzähne ja zurück“, warnte Schuldig. „Ich dachte du wolltest einen Gute-Morgen-Kuss. In dieser Lauerstellung gibt’s keinen Kuss… verstanden?“

„Ja, aber den bekomme ich ja nicht. Eben weil es nicht mehr Morgen ist, sondern Mittag. Und in Japan ist mittags das Küssen anscheinend verboten.“ Grimmend schloss Aya seine Lippen, doch seine Hand wanderte zum Hinterkopf des anderen, packte die Haare dort.

„Das hast DU gesagt.“

Schuldig veränderte seine Position etwas wodurch das Knie sowohl Druck als auch Reibung verstärkte.
 

Ein leises Stöhnen war der Erfolg für Schuldigs Bemühungen, Aya für seine Sache zu gewinnen. Doch schon pressten sich die Lippen aufeinander. Der Amerikaner duschte im Nebenraum.

„So. Und nun sind meine Zähne nicht mehr sichtbar und du küsst mich trotzdem nicht... warum?“

„Weil ich gemein bin?“, riet Schuldig ins Blaue hinein und seine Lippen berührten, während er das sagte die verführerischen Lippen. „Weil ich dich zappeln lassen möchte?“ Schuldigs Hände suchten nach dem Rand von Rans Hose, ergriffen ihn und zogen ihn mit einem Ruck über die schmalen Hüften. Seine warme Hand strich einmal sanft über Rans Glied, ergriff es und brachte es dazu sich in seiner Hand wohl zu fühlen.

Schuldig lächelte erwartungsvoll mit einer diebischen Freude. „Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffst zu kommen bevor er wieder ins Zimmer kommt. Seine Hand hatte Rans Glied vollständig umschlossen, lediglich die Spitze lugte wie eine sanfte Hügelkuppe heraus. Seine Zungenspitze berührte die empfindliche Spitze, befeuchtete sie und blies seinen Atem darauf.
 

„Schuldig“, knurrte Aya, nun ernstlich besorgt über den Spieltrieb des Telepathen. „Schuldig... hörst du auf!“ Seine Lippen verzogen sich zu einer Grimasse... ein Großteil aus Wollust, aber auch Unwillen, mit Schuldig vor Brad zu schlafen. Sich vielmehr von ihm in morgendliche Höhen zu treiben.

Doch sein verräterischer Körper, sein verdammter, verräterischer Körper...

„Ich verfluche dich, Schuldig!“, zischte er und schloss die Augen. Wenn es sich nicht so gut anfühlen würde. Wobei er noch nicht mal genau sagen konnte, was sich daran alles gut anfühlte... die Berührung, der Kick, vielleicht von Brad erwischt zu werden... alles...

„Sicher tust du das. Du hast auch allen Grund dazu“, lächelte Schuldig sonnig und widmete sich wieder seinem Vorhaben. Und er war wirklich sehr bestrebt darin Ran in Richtung Klippe zu treiben. Dummerweise hörte er wie Brad die Tür öffnete und er ließ von Ran ab…

Brachial zusammenzuckend, angelte Aya verzweifelt nach der Decke, die er mit roher Gewalt über seine doch recht unbedeckte Körpermitte zog.

Wütend grollte er, während sich sein Gesicht verdächtig heiß anfühlte.

„Telepath zu verschenken", grimmte er an niemand bestimmten.

Schuldig kniete immer noch über Ran, seine Hände neben Rans Hüfte wurden nun von der Decke halb verdeckt, die über Rans Mitte lag. Er wandte den Kopf zur Seite um zu sehen was Brad wollte. „Er will mich nicht mehr, hörst du?!“, klagte er in Richtung Amerikaner. Der schien sich um seine Belange wenig zu kümmern, denn er ging um das Bett herum zu dem doppeltürigen Schrank. Das abfällige Lächeln, das er auf den Lippen trug sagte Schuldig, dass Brad ganz genau gewusst hatte wann er aus dem Bad kommen musste um Ran leiden zu lassen. Schuldig verfeinerte sein eigenes Lächeln zu einem teuflischen Grinsen. „Er weiß, dass du ne ordentlich schmerzende Latte hast, Honey“, eröffnete er.

Die Decke war interessant. Keine einzige Macke zu sehen. Keine. Perfekt.

„Das ist schön, dass er das weiß", knurrte er und starrte Schuldig schlussendlich mit Feuer in den Augen an. Versengendem Feuer, das nur zu bereit war, auf Crawford überzuspringen.

„Er weiß ja auch, wo sie herkommt."

Das Telefon klingelte und Brad drehte sich um, das weiße Hemd über die Schulter ziehend. Er blickte zu den Beiden sexsüchtigen Männern auf dem Bett. Seine Augen fixierten für einen langen Augenblick die Bettdecke, die mehr offenbarte als versteckte und beschloss selbst den Anrufer entgegen zu nehmen. Nagi wie ihm gerade klar wurde.

Das Hemd schließend ging er hinüber zum Telefon. „Mach das weg, Schuldig. So kann er nicht herumlaufen. Manx wird sicher den einen oder anderen Kommentar auf den roten Lippen haben wenn sie gleich ins Zimmer kommt.“ Brad lächelte befriedigt, als er das Mobiltelefon hob und Nagi begrüßte.

Schuldig machte große Augen und sah Ran mit dem Hauch von Entsetzen in den grünen Augen an. Was nun? Ins Bad?

Ayas Blick spiegelte das gleiche Entsetzen. Dann jedoch trat eindeutig die Mordlust mit in den Blick. Große Mordlust!

Eine Faust traf Schuldig am Oberarm. „Willst du zusehen, wie ich Manx in die Kissen vögle oder willst du, das selbst übernehmen?", zischte er und schlug nochmal zu.

Schuldig runzelte die Stirn. Er versuchte die Logik hinter diesem Satz zu verstehen und quittierte nur gedankenverloren die Attacke mit einem lahmen: „Au. Wieso sollte ich Manx vögeln, wenn ich dich schon…?“ Er schüttelte unverständig den Kopf. „Vor allem… was soll ich mit der blöden Kuh?“

Schuldig rutschte vom Bett und griff sich eine von Rans Händen. „Los mitkommen…“

Ja, was sollten sie mit Manx? Nichts und es wäre auch KEIN Problem gewesen, hätte Schuldig auf ihn gehört! Aber nein... und jetzt hatten sie den Salat.

Dennoch folgte er Schuldig... wenn auch widerwillig.

„Dafür werde ich mich rächen, das glaub mal", grollte es hinter Schuldig, der von einer schwarzen Gewitterwolke verfolgt wurde.
 

Schuldig öffnete die Tür des Badezimmers und ließ Ran vorangehen. Es war feuchtwarm im Raum. „Ich glaub fast alles…“, er drängte Ran ans marmorne Waschbecken, sperrte ihn zwischen seinen Händen ein, die auf dem kühlen, glatten Material lagen. Seine Stimme ließ das leise Lächeln erkennen, welches er in sich fühlte. „…was diese zornigen Lippen verlässt.“
 

„Solltest du!"

Aya erschauerte ob der leichten Kühle, die durch seine dünne Hose drang. Mistkerl! Aber das war schließlich nichts Neues, ganz und gar nicht!

„Mach dir Tür zu oder ich bring dich um!"

Schuldig konnte die Worte gerade so verstehen, die da zwischen den zusammengepressten Kiefern ihren mordlustigen Weg nach draußen fanden. Aber er verstand auf alle Fälle, dass der Tod… vor allem SEIN Tod im Zusammenhang damit stand.

Er gab der Tür also einen Schubs, ohne Ran aus dem Augen zu lassen und drückte sie mit seinem Fuß ins Schloss. „Dass ihr Japaner immer gleich mit dem Katana rasseln müsst…“

„Dann entschärfe es doch endlich, anstelle große Töne zu spucken", grollte Aya dieses Mal sehr deutlich. Ja, er war bedürftig. Ja, er wollte, musste kommen. Und ja, Schuldig würde diese Aufgabe für ihn übernehmen, wenn er ihn schon in diese verdrießliche Lage brachte.

„Das hört sich jetzt doch sehr nach betteln an?“, veräußerte Schuldig tadelnd. Seine Lippen fuhren zärtlich über die gerötete Wange, raunten die Worte in das so empfindliche Ohr. Durch die geschlossene Tür hörten sie Brad mit Nagi reden.

Aya zog scharf die Luft zwischen die Zähne. Verdammt. Verdammt. Verdammt.

„Als wenn ich betteln würde. Ich kann auch Manx flachlegen, da komme ich auch zu meinem Spaß!" Vielleicht war es nicht das Klügste, was er je gesagt hatte. Ganz sicher sogar.

Schuldig tauchte aus dem lauschigen Plätzchen an Rans Ohr und suchte die Konfrontation mit dem aufgewühlten Violett. „Du glaubst dem Scharlatan und Betrüger dort draußen wohl nicht! Das hat er doch nur gesagt um dich unter Druck zu setzen. Und uns aus dem Zimmer zu befördern. Im Übrigen… was will Manx schon mit dir anfangen? Bei der endest du ohnehin nur als Boytoy ans Bett gefesselt. Die hat doch bestimmt…“ Schuldig küsste Rans Lippen, die eher wie ein schmaler Strich erschienen, als an das was sie eigentlich waren, sündig, rosig, weich.

„…einen Dominakurs absolviert… sieh dir doch nur ihr Kostümchen und ihre High heels an. Und außerdem, umgibt sie sich am liebsten mit jungen Männern, die auf sie angewiesen sind und die sie herumkommandieren kann, erpressen trifft's besser.“ Schuldig küsste sich einen Weg in Richtung Halsansatz.

Ein sprachloses Schaudern antwortete ihm. Dazu hatten Youji und er viel zu oft Witze mit einem kleinen Hauch an Realität gemacht, als dass ihn diese Worte jetzt kalt ließen. Manx, die Domina, die sie alle beherrschte.

„Ist das denn so schlimm?", lachte er dunkel und bog seinen Hals nach hinten, Schuldig entgegen.

Mittlerweile kannte Schuldig viele von Rans Reaktionen. Vor allem, die körperlicher Art. Während er darüber nachdachte ob seine geschickte Zunge dieses wohlige Schaudern hervorgerufen hatte oder doch vielmehr der verbotene Gedanken Manx Lustsklave zu mimen, leckte er über Rans Kehle, biss zart in die Haut unter seinen Lippen.

„Erpresst zu werden? Oder dich mit anderen jungen Männern zu vergnügen? Oder ihr Lustsklave zu sein? Was genau meint mein unersättlicher Freund? Wir könnten natürlich bestimmt etwas arrangieren.“ Schuldigs Hände schoben sich um Rans Hintern, hoben ihn etwas an und Ran half ihm dabei ihn auf die marmorne Ablage zu setzen. Sie zog sich über die komplette Wandseite und hatte genügend Fläche… nun Rans Kopf würde halb im Waschbecken landen… aber was scherte das Schuldig? Doch noch war es nicht soweit…

„Vor allen Dingen ihr... und vor allen Dingen du. Du würdest sie mich doch im Leben nicht anfassen lassen!", lachte Aya dunkel und bohrte seine Augen in die des anderen. Nein, niemals würde er das.

Er ließ sich leiten, ließ sich von Schuldig führen. Hatte Crawford das wirklich nur erfunden? Er konnte es sich fast nicht vorstellen... oder nun gut. Vielleicht doch.

Schuldig drängte Ran nach hinten. „Leg dich hin“, sagte er rau und winkelte eines von Rans Beinen an, sodass Ran nun seitlich auf dem Marmor saß. Ein Bein hing nach wie vor nach unten. Als Ran sich umständlich hinlegte und Schuldig nach wie vor an dessen Kehle hing, wie ein Vampir im Unterzucker, sinnierte Schuldig über dessen Worte nach. „So gesehen würde ich ihr lieber alle zehn Fingernägel langsam und genießerisch ausreißen bevor ich ihr erlaube dich anzufassen. Aber das gilt so ungefähr für den Rest der Menschheit.“

„Eifersüchtiger Angeber!"

Die Position war nicht wirklich entspannt, aber gerade die Anspannung förderte die Lust in Aya noch ein wenig mehr. Schuldigs Lippen trieben ihre sinnliche Folter mit ihm, wollten ihn schier verrückt machen.

„Doch wenn du mir noch mehr solcher Dinge erzählst, bin ich ganz schnell ganz abgekühlt."
 

Die warme Haut küssend lächelte Schuldig, nachdem er diese Ankündigung gehört hatte. Er blickte auf. Ran hatte seine Augen geschlossen, er wirkte entspannt.

Schuldig wusste, dass die äußerlich sichtbare Entspannung nicht die innere Anspannung bei diesem Mann verriet. Schuldig hatte bereits früher stets den Ehrgeiz besessen die Gefühle des Japaners für alle und vor allem für sich selbst sichtbar werden zu lassen. Er wollte der Zauberer sein, der das unsichtbare sichtbar machte, der aus purer trockener Kälte angenehme Wärme, Hitze zauberte. Er wollte Macht über den anderen haben. Und das hatte er auch. Er hatte diese Macht über ihn. Anders als gedacht, als erwartet.
 

Über diese Gedanken hinweg berührten Schuldigs Lippen wieder die feste warme Textur und er machte sich daran seine Macht auszuspielen…
 


 

o~
 


 

Nach ihrem kleinen Intermezzo im Badezimmer waren Schuldig und Ran in ihre Zimmer zurückgekehrt und hatten sich in frische Kleidung gehüllt, während Brad bereits in der Lobby auf sie wartete. Er hatte veranlasst, dass die Autovermietung in Osaka ihren Wagen im Parkhaus abholte. Zwischen den Loungesesseln der kleinen Oase der Lobby befanden sich genug Vertreter der Pflanzenwelt, dass er nicht sofort gesehen wurde, er aber von seiner Position den Eingangsbereich und das Areal um die Aufzüge im Blick hatte. Sie würden nicht zusammen zum Flughafen fahren, auch würden sie nicht eine Maschine nehmen.

Schuldig würde die Maschine nehmen, die den Ermittler aus Tokyo herbrachte und sich dementsprechend sofort auf den Weg zum Flughafen zu machen. Ran ließ sich nicht davon abbringen ihn zu begleiten und als Back-up zu fungieren. Brad würde eine Zugverbindung nach Tokyo nehmen, mit einem kleinen Umweg über Kyoto. Von dort würde er – sobald er einige Dinge überprüft hätte – den Shin-kann-sen nach Tokyo nehmen.

Sein Mobiltelefon machte sich mit einem Vibrieren in seiner Anzugjacke bemerkbar. Er zog es hervor und nahm ab.

„Ja.“

„Ich habe ein Gespräch für dich in der Leitung. Sie ließ sich nicht davon abbringen.“

Es war Nagi. Und Brad fühlte eine innere Gereiztheit aufkommen bei diesem Personalpronomen. „Woher kommt die Verbindung?“

„Osaka.“

Brad schwieg. „Ich bezweifle, dass sie tatsächlich in Osaka ist. Es sieht für mich eher so aus als würden sie das Signal lediglich in Osaka ansiedeln, damit wir glauben sie seien dort.“ Nagi hörte sich nicht gerade beeindruckt an. „Ziemlich dilettantisch. Von den Amerikanern bin ich anderes gewohnt. Soll ich sie durchstellen?“

„Ja.“

Brad fragte sich gerade was Nagi in seiner Freizeit trieb und welche Spionagedienste er nur allein zum Privatvergnügen an der Nase herum führte. Wie sagte Schuldig so oft: Jeder brauchte ein Hobby. Aber musste es gerade ein derart unangenehm gefährliches sein?

Alte Gewohnheiten legte man schwer ab. Das wusste keiner besser als er.

Als Nagi aus der Leitung ging, hörte Brad jemanden lediglich schwer atmen was ihn dazu veranlasste eine Braue zu heben. In der Tat war er etwas zu alt für sexuelle Belästigungsanrufe, wobei wenn er sich Schuldig so ansah wäre das der potentielle Kandidat für derlei „lustige“ Späße.

„Eve? Womit habe ich das Vergnügen. Ich dachte wir hätten bei unserem letzten Gespräch geklärt, dass ich dir nichts zu sagen hätte.“

„…du…!... ein Problem…“

Er verstand tatsächlich nur die Hälfte, von dem was sie sagte. Die eine Hälfte bestand aus einer gehetzten Stimme, die trotz aller Dringlichkeit nichts von ihrem stahlharten Timbre verlor, die andere Hälfte war ein Konglomerat aus Rauschen, schnellen Atemzügen und einer beeindruckend langen Stille dazwischen.
 

„Ich habe mit deinen Problemen nichts zu tun, Eve. Das liegt in der Natur der Sache. Es sind DEINE Probleme.“

Er sah auf die Uhr und trotz der offensichtlich unangenehmen Lage in der seine Blutsverwandte steckte verspürte er nicht die leiseste Anwandlung ihr zu helfen. Er fühlte nichts in Bezug auf sie.

Zum gewissen Teil erstaunte ihn das, er hätte mehr erwartet. Zumindest einen inneren Konflikt.

Er wartete auf die Antwort und wollte bereits die Verbindung unterbrechen…

„Brad… wir…“ sie musste stehen geblieben sein, denn ihre Stimme hatte sich gefestigt, der Ton wurde eindringlicher. „…hör mir verdammt noch mal zu.“

Brad wollte sie fragen seit wann sie derlei schmutzige Wörter in den Mund nahm, aber er ließ es. Sie interessierte ihn nicht genug um sie zu ärgern.

„Ich brauche dich hier… sie …“

„Du hast mich die letzten Jahre gejagt, Eve. Was glaubst du könnte mich jetzt dazu bringen zu dir zu kommen?“

Brad beobachtete wie Schuldig und Ran den Aufzug verließen. Schuldig sah etwas blass aus, offensichtlich steckte ihm die nächtliche Traumsequenz noch in den Knochen. Entsprechend wachsam war der Japaner. Wenn es um Schuldig ging schien dieser keine Kompromisse zu machen. Einen besseren Bodyguard für ihren Verrückten im Team hätte sich Brad gar nicht wünschen können.

Brad lächelte.

„…Eve. Es gibt nichts, was ich für dich tun würde.“

„…Brad!...Brad….“

Er unterbrach die Verbindung zu seinem alten Leben nur zu gern, erhob sich und steckte das Mobiltelefon ein.
 

Schuldig und Ran kamen auf ihn zu. Noch bevor Schuldig bei ihm war machte sich sein Mobiltelefon erneut bemerkbar. Brad zog es hervor. Es war Naoe. „Ja?“

„Die gleiche Verbindung wie eben.“

„Kapp diese Verbindung.“

„Sie ist in Kyoto. Das Signal lässt sich bis nach Kyoto zurückverfolgen. Es ist keine Umleitung. Wolltest du nicht nach Kyoto?“

„Naoe, das ist ein Befehl.“ Er legte auf.

Schuldig hatte diesen neugierigen Blick in den blaugrünen Augen, der Brad nicht gefiel.

„Befehlsverweigerung vom Nesthäkchen? Wie kann das nur passieren?“, spöttelte es ihm schon entgegen.

„Ihr solltet euch auf den Weg machen.“

„Was wollte Nagi?“, fragte Ran.

„Nichts.“

„Bra~ad!“ Schuldig stellte sein Gepäck ab und verschränkte die Arme. „Ich dachte wir wären über diese Geheimniskrämerei hinweg. Da kommt nichts Gutes bei raus.“ Er sah ihn auffordernd an.

„Es war Eve. Sie steckt in Schwierigkeiten.“

Fujimiya wandte den Blick zur Seite und sah auf die belebte Straße vor dem Hotel hinaus.

„Ja. Ich denke auch dass es eine Falle ist“, erwiderte Brad auf die erhöhte Wachsamkeit vor sich.

„Und wenn nicht?“, hakte Schuldig nach.

„Dann geht sie zum Teufel.“ Brad nahm seine Tasche auf. „Wir sehen uns heute Abend.“

Er ging um Schuldig herum und in Richtung Ausgang.

„Was ist mit deinem kleinen Abstecher?“, rief Schuldig ihm mit verbissener Miene hinterher. Er war auf unerklärliche Weise angepisst.

„Ist gestrichen!“ Brad blickte nicht zurück, sondern verließ das Hotel und nahm sich ein Taxi zum Bahnhof.
 

„Wir müssen los.“

Ran folgte Brad und Schuldig sah seinem Freund mit fragendem Gesicht nach, bevor er ebenfalls folgte. Sie stiegen in ein Taxi zum Flughafen um irgendeinem armen Teufel die Gehirnwindungen zu verdrehen.

Der Japaner war sehr schweigsam, was nichts Ungewöhnliches war wenn man bedachte, dass Schuldig ihn übers Ohr gehauen hatte was seine Rolle während ihres Aufenthalts in Osaka anbetraf. Auch wenn Ran ihm verziehen hatte, hieß das noch lange nicht, dass Schuldig langfristig ungeschoren davon kam.

„Wäre es nicht dein Ding gewesen zu sagen ‚Du musst ihr helfen!‘ oder ‚Du kannst sie nicht im Stich lassen‘ oder ‚Sie ist deine Schwester‘ oder Ähnliches? Es ist nicht dein Stil zu sagen: Wir müssen los.“

Schuldig hatte da schon so eine Ahnung. Rans Schwesterkomplex lief wieder auf Hochtouren und der Japaner wusste das.
 

Ja, besagter Japaner wusste es und hatte nicht das Bedürfnis Schuldig die ewig gleichen Gedanken zu präsentieren. Aya sah zu Schuldig hinüber und zuckte mit den Schultern. Es war ihm gleichzeitig heiß und kalt geworden als er von Brad gehört hatte, dass seine Schwester in Schwierigkeiten war. Es hatte ihn zurück geworfen in die Zeit, als er nur für seine Schwester gelebt hatte.

„Was willst du hören? Es ist Brads Sache. Was erwartest du von mir?“ Rans Stimme war belegt und er räusperte sich, sah an Schuldig vorbei hinaus.
 

Schuldig sah diesen speziellen Blick, der Zugleich Schmerz und Resignation, Aufgabe und Verlust beinhaltete, der ihn daran erinnerte, wie tot diese Augen aussehen konnten.

„Du bist der Gute hier! Ich erwarte von dir, dass du dich etwas mehr für Recht und Ordnung einbringst. Ein bisschen mehr Engagement bitte!“
 

Das brachte Ran tatsächlich zu einem winzigen Lächeln. Er seufzte, entspannte sich leicht. Schuldig hatte also etwas vor und er sollte ihm dabei helfen? Wo sollte das nur hinführen?!

„Was hast du vor?“

Schuldig hob die Brauen. „Ich?“
 

Ran ersparte sich die Replik und rollte seinen Kopf, der auf der Kopfstütze des Wagens lag in Richtung Schuldig. Sein Blick sagte so viel wie: Wenn du nicht sofort dieses Unnütze Gerede einstellst werde ich sehr sauer.
 

Ein Grinsen blitzte auf bevor Schuldig einlenkend die Hände hob. „Schon gut, schon gut. Ich kontaktiere unser Nesthäkchen um abzuchecken ob Brad nicht doch einen kleinen Abstecher nach Kyoto macht. Falls er dort ist finden wir ihn per GPS. Ganz einfach.“
 

„Ganz einfach, hmm?“ Rans Worte sagten deutlich, dass er nicht an die Simplizität dieses Plans glaubte.

„Yepp.“
 

Schuldig kontaktierte Naoe, der wie er feststellte nichts Spannenderes zu tun hatte als zu lernen. Irgendein Mist über Quantenphysik.

‚Hey Kleiner‘

‚Was willst du Schuldig?‘

‚Nicht so unhöflich. Wir könnten in Schwierigkeiten stecken und ich muss mich an einen missgelaunten Telekineten wenden.‘

‚Falls ihr in Schwierigkeiten wärt hätte Brad etwas davon erwähnt. Außerdem zeigt euer GPS an, dass ihr auf dem Weg zum Flughafen seid.‘

‚Ja, richtig. Kannst du mich auf dem Laufenden halten was Brads Signal angeht? Er sagte, er würde den geplanten Zwischenstopp in Kyoto canceln. Falls er in Kyoto aussteigt schick mir ‘ne Nachricht. Weißt du was er in Kyoto wollte?‘

‚Nein. Eve Crawford hat aus Kyoto angerufen. Und jetzt will er nicht nach dort hin. Er hatte vielleicht eine Vision einer ihm gestellten Falle. Könnte sein, dass er aufgrund des Anrufs seine Pläne geändert hat.‘

‚Könnte sein. Okay Kleiner, wir sehen uns heute Abend.‘
 

„Eine Vision, hmmm?“, murmelte Schuldig und sah zum Fenster hinaus, wie Ran zuvor.

„Was hat Nagi gesagt?“

„Das er uns hilft falls Brad Extratouren macht. Und, dass er vermutet, dass Brad aufgrund einer Vorhersehung seine Pläne geändert hat.“
 

Ran dachte darüber nach und konnte sich nicht daran erinnern, dass Brad etwas über eine Planänderung gesagt hatte, bevor er hinunter in die Lobby gefahren ist. „Eine Vision? Hat Brad ihm etwas darüber erzählt?“
 

„Nein. Ich habe da so eine Ahnung. Aber es passt nicht zusammen. Es sei denn der Bastard hat mich angelogen.“
 

„Brad?“
 

Schuldig nickte. Was wenn es die Traumvision war, in die Schuldig geplatzt war? Was wenn er herausgefunden hatte, dass die Vision in Kyoto wahr werden würde? Und was wenn er Ran und ihn angelogen hatte was den Ort anbetraf? Hatte er nicht gesagt, dass sie Osaka betraf?

Dieser verdammte Lügner.

Schuldig presste die Lippen zusammen.
 

„Du meinst also, dass Brad in einer Vision gesehen hat, dass etwas in Kyoto vor sich geht und deshalb beschlossen hat dieser Sache auf den Grund zu gehen?“ Ran setzte sich auf und wandte sich Schuldig zu, dessen Miene grimmig wirkte.
 

„Ja. Und ich fürchte, dass ich genau die Vision mitverfolgt habe über die wir hier sprechen. Ich weiß es nicht genau, aber ich habe so ein dummes Gefühl. Ich kann mich zwar daran erinnern, aber die Bilder und Wortfetzen ergeben keinen Sinn. Ich erkenne niemanden in den Szenen.“ Brad hatte ihm versprochen keine Alleingänge mehr zu machen. Also was sollte das jetzt?

„Er hat es mir versprochen.“
 

Aya ahnte um was es hier eigentlich ging. „Er hält sein Versprechen. Er sagte, dass er nicht nach Kyoto fährt. Die Gründe dafür kennt nur er.“
 

„Die hat er uns mehr oder weniger genannt. Sofern ich alles richtig zusammen setze. Er will nicht dort hin, weil seine Schwester dort ist. Ob sie nun Probleme hat oder nicht“, sagte Schuldig nachdenklich.
 

Aya besah sich Schuldigs Gesicht, die blaugrünen Augen, die zum Fenster hinaus sahen, blind für das was dort an ihnen vorüberzog. Schuldig machte sich Sorgen.
 

„Was können wir tun?“, fragte er deshalb, denn er glaubte nicht, dass Brad ihre Einmischung gut heißen würde. Aber bei genauerer Betrachtung konnte es ihnen egal sein.

Ayas Mundwinkel zuckten schwach für ein kleines Lächeln. Auch wenn ihm nicht danach zumute war, weil er seid Brad seine Schwester erwähnt hatte zurückgerissen worden war in eine Zeit in der er nur für sie gekämpft hatte. Nur für Aya. Für ihr Leben. Gegen Schwarz.

Alles hatte sich verkehrt. Sie war gestorben. Weiß löste sich in der Ursprungsfassung auf. Manx und Brad hatten Sex. Schwarz war zu seinem neuen Team geworden. Er fickte Schuldig.
 

Aya kniff die Augen zusammen. Jetzt in diesem Moment, in diesem Taxi fühlte er wie niederschmetternd das alles war. Warum war sein Leben nur so verkorkst? Warum er? Was hatte er getan um das alles zu verdienen? Was hatte seine Familie verbrochen… um das zu verdienen?
 

Ran öffnete vorsichtig seine Augen. Irgendetwas war ihm bisher entgangen. Warum war Schwarz, warum war Takatori hinter seinem Vater, hinter seiner Familie her gewesen? Warum war das alles passiert?

Sein Puls beschleunigte sich. Was hatte ihm Manx damals erzählt? Wieso hatte er ihr nochmal vertraut? Warum ihr geglaubt?

Weil er keine Wahl gehabt hatte?

Nein. Weil er glaubte keine zu haben. Weil sie wusste wie sehr er auf Rache sann, wie sehr er sich ihr verschrieben hatte.

Aya sah zu Schuldig hinüber und traf auf ein besorgt blickendes Gesicht.
 

„Was ist los?“
 

Aya hörte es in den Worten. Die Besorgnis, die Wachsamkeit, ihre Vertrautheit, ihre Nähe zueinander.
 

Im ersten Moment wollte Aya ihm ‚nichts‘ Antworten. Ihm sagen, dass alles in Ordnung sei, dass er nur in Gedanken war. In Gedanken an seine Schwester. Diese Lüge würde Schuldig ihm abkaufen, auch wenn Aya angeblich der schlechteste Lügner auf diesem Planeten war – laut Schuldig. Diese Lüge würde er ihm abkaufen.

Aber bei all dem… diesem harten Weg den sie gegangen waren, bis zu diesem Punkt hier, hatte er es verdient angelogen zu werden? Hatte der Lügenbaron es verdient angelogen zu werden?

Trotz der düsteren Gedanken musste Aya schmunzeln.

Ja. Er hatte es verdient. Aber nicht jetzt.
 

„Später. Lass uns später darüber sprechen.“
 

Schuldig nickte.

Den Rest der Fahrt über schwiegen sie. Am Flughafen angekommen stiegen sie aus, bezahlten den Fahrer und gingen mitsamt ihrem Gepäck ins Gebäude hinein.

Sie warteten im Eingangsbereich auf Oniwara, denn sie waren später dran als geplant. Schuldig setzte sich auf eine Bank, rutschte etwas nach unten und legte den Kopf bequem ab. Er schloss die Augen und tauchte in die Welt die Aya weder ein Begriff war, noch die er jemals verstehen würde.

Aya beobachtete ihn mit einem warmen Gefühl im Bauch. Schuldig vertraute darauf, dass Aya ihn schützte. Und das würde er. Weil… Schuldig ein Stück seines Herzen, seiner Gedanken und vermutlich mittlerweile ein Teil seiner Seele besaß.

Aya schnaubte leise. Wie war das passiert?
 

Er hob seinen Blick von der ruhig da sitzenden Gestalt, als Oniwara wenige Meter von ihnen entfernt vorüber ging, dem Ausgang entgegen. Aya lehnte an einer Säule, Schuldig gegenüber und trat nun einen Schritt zurück um Oniwara hinterher zu sehen, als dieser ihre Position passierte. Schien alles in Ordnung zu sein.

„Hast du ihn…“
 

Schuldig öffnete die Augen. „Wie geplant. Ich habe ihn markiert und werde ihn von Zeit zu Zeit überprüfen ob er nicht aus der Reihe tanzt. Er soll seinen Wellnesstag genießen. Außerdem musste ich noch ein, zwei Leute hier bezüglich des zeitlichen Ablaufs korrigieren. Schließlich hat Oniwara wesentlich früher mit unserem Polizisten hier in Osaka gesprochen, als es den Ordnungshütern in Tokyo bekannt war. Aber wer, wenn nicht Schuldig würde ihnen allen eine neue, eine bessere Realität schaffen?
 

„Markiert?“, fragte Aya und sah Schuldig zu, der sich wie eine Katze träge streckte und schließlich aufstand.
 

„Ja. So finde ich ihn wieder. Schneller als auf dem üblichen Weg.“ Schuldig schnippte mit den Fingern und seine Schultern hoben sich in gleichgültiger Eleganz.
 

„Warum tust du das nicht mit… sagen wir mal mit Brad? Mit deinem Team? Mit deinen Gegnern? Mit Manx?“

Aya nahm seine Tasche auf und lud sie sich auf die Schulter.
 

„Weil es demjenigen Kopfschmerzen beschert. Zumindest gelegentlich. Empfindliche Menschen reagieren darauf, weil sie fühlen können, dass sie nicht allein sind. Ein Gefühl, dass sie jemand beobachtet, oder jemand in ihrer Nähe ist, den sie nicht sehen können. Brad, Nagi und Jei würden wissen, dass ich es bin. Ich könnte sie nicht unbemerkt markieren, falls es das ist was du meinst.“ Schuldig griff sich sein eigenes Gepäck und verzog den Mund zweifelnd.

„Während eines wichtigen Jobs markiere ich sie, aber sie hassen es.“
 

„Verständlich.“ Aya konnte das verstehen, allerdings… war es doch recht nützlich. Er dachte daran, dass es vielleicht interessant wäre Manx zu markieren um zu sehen wo und vor allem mit wem sie sich herumtrieb. Sie tauchte immer dort auf wo sie es am wenigsten erwarteten. Gut, er wusste dass sie viele Kontakte hatte, dass hatte sie bei Kritiker ausgezeichnet. Aya seufzte erneut und schüttelte innerlich den Kopf. Wieso war er nur in so düsterer Stimmung?

Er bemerkte nicht wie Schuldig so nah gekommen war, dass er beinahe seine Stirn an dessen Schulter legen konnte. Aber er roch das After Shave von Bulgari und sah auf. Schuldig war ihm so nahe, dass er unvermittelt den Atem anhielt.

„Du träumst mit offenen Augen. Deine Gedanken beschäftigen sich mit deiner Schwester?“, fragte Schuldig und strich ihm in der Öffentlichkeit zärtlich über die linke Schläfe, als könne er dort die Antwort auf seine Frage finden.

„Nein“, flüsterte Aya. Ein einzelner rauer Ton, beinahe kein Wort.

„Ich denke nicht mehr ständig an sie. Es ist etwas anderes. Obwohl ich Brad die Chance neide seiner Schwester aus Schwierigkeiten heraus zu helfen. Ich neide ihm das Gefühl etwas dafür tun zu können, um sie am Leben zu halten. Mit ihr reden zu können.“
 

„Ich denke nicht, dass Brad scharf darauf ist mit ihr zu reden. Er hasst sie.“ Ran schien das zu bezweifeln. Nach diesem Augenblick in dem er Schuldigs Berührung genossen hatte war die Zeit der Toleranz vorbei und er trat einen Schritt zurück. Er sah verlegen zur Seite.
 

Schuldig lächelte nachsichtig. Sein Blick glitt langsam über die Menschen um sie herum, die sie nicht beachteten. Selbst wenn er keinen Aversionsbereich errichtet hätte, würde es diese Menschen kaum interessieren was ihre Nachbarn taten. „Sie nehmen uns nicht wahr, Ran. Dafür habe ich gesorgt. Im Umkreis von hundert Meter nimmt uns keiner wahr. Ihre Augen sehen uns, aber ihr Gehirn kann es nicht verarbeiten. Und das gilt auch für…“ Er sah in die Kamera über ihnen. „… das Sicherheitspersonal. Sie werden die Aufnahmen löschen, die uns zeigen.“
 

Aya hätte es sich denken können. Er hob die Hand, immer noch zwischen der Säule und Schuldig stehend, doch nun lehnte er wieder daran. Aya legte seine Finger um Schuldigs Griff der Tasche, die über seiner Schulter hing und zog ihn daran zu sich her. Der angenehm frische Geruch des After Shaves drang in seine Nase, erinnerte ihn an den Sex im Badezimmer, an Schuldig, der manchmal wie eine chaotische Naturgewalt über ihn hereinbrechen konnte und alles zerriss was logisch und geordnet war. Aya löste sich von den herrlich weichen Lippen, berührte sie aber mit jedem weiteren Wort.

„Ich bin mir nicht sicher ob er nur Hass für sie empfindet. Als ich sie reden hörte waren da mehr als Gleichgültigkeit oder Hass herauszuhören.“
 

Schuldig fing die einladenden Lippen zu einem weichen Kuss ein, gab Ran dann aber frei. „Irgendetwas bedrückt dich, Ran. Und es ist so elementar, dass du diesen melancholischen Blick bekommst. Willst du darüber reden? Jetzt?“
 

„Zuhause.“
 

„Gut. Dann lass uns hier verschwinden.“ Ran in dieser Stimmung war noch nie ein gutes Zeichen gewesen. Sie checkten ein und während sie auf ihren Flug warteten beschäftigte sich Schuldig damit mittels Kontakt zu Nagi zu überprüfen ob ihr Teamleader nicht doch noch einen Zwischenstopp in Kyoto einlegte. Es war nicht der Fall.
 

Schuldig saß am Fenster, während der Flieger abhob. Ran hob die Augenbrauen als er Schuldigs grimmige Miene sah.

„Und?“
 

„Und was?“ murmelte Schuldig zurück. „Du lässt mich doch nur nicht außen sitzen, weil ich nicht mit der hübschen Dunkelhaarigen dort flirten soll.“ Dabei war der dritte Platz neben Ran leer. Er wedelte mit der Hand in Richtung Mittelgang.

„Oh das!“Aya ließ sich zu einem fast unsichtbaren Lächeln hinreißen, dass vor allem in seinen Augen zu sehen war.

„DAS hat dir die Laune verhagelt?“ Ein wenig Salz in die Wunde…
 

„Nein“, kam es verspätet und widerborstig zurück.

„Was dann?“ Aya befand sich schon fast auf der Zielgeraden, denn, dass Schuldig derart mies gelaunt war, nur weil ihm eine Möglichkeit zum Flirten genommen war, das wagte Aya stark zu bezweifeln. Es kamen schließlich noch sehr viele dieser Gelegenheiten.

Er seufzte innerlich.

Nein. Es war etwas anderes.
 

Schuldig sah ihn an und zuckte mit den Schultern. „Brad fährt nach Tokyo, wie er gesagt hat.“ Es war nur ein schneller Einblick in diese unsicheren blaugrünen Augen, der Aya gewährt wurde bevor Schuldig sein Heil in der Flucht sah und den Blick durch das Fenster nach draußen wandte.
 

Er spürte, dass Ran auf eine bessere Antwort wartete. Ran konnte geduldig sein, wenn er hinter seiner Beute her war. Sehr geduldig.

„Ich weiß auch nicht“, gab er verdrossen zu. „Ich war der wirklich sicheren Ansicht, er hätte uns angelogen. Das ist irgendwie… enttäuschend.“
 

„Das er uns nicht angelogen hat?“
 

„Nein, verdammt!“, brummte Schuldig.

„Dass er nicht nachsieht, wenn ein Teil seiner Familie vielleicht in Gefahr ist.“
 

„Sagtest du nicht, dass ihm seine Schwester egal ist?“
 

„Ja… schon…“, gab Schuldig unwirsch zu.
 

„Außerdem, sagtest du nicht, dass ihr seine Familie seid? Wozu sollte er einem Hinweis folgen, der vielleicht eine Falle ist?“
 

„Oh, man, Ran! Hör auf den Advocatus Diaboli zu spielen.“
 

„Nein. Tue ich nicht.“
 

„Und ob du das tust.“
 

„Nein. Ich meine damit aufhören, werde ich nicht.“
 

Schuldig stöhnte und er konnte hier nicht einmal flüchten. Warum waren sie nicht mit dem Wagen gefahren? Da hätte er wenigstens die Möglichkeit Ran aus dem Wagen zu werfen oder ihn auszusetzen, angeleint auf der Autobahn.

Schuldig spürte wie ihm dieses Bild ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.
 

„Will ich wissen warum dich das plötzlich derart erheitert?“
 

„Ich glaube nicht.“ Schuldig grinste ihn zweideutig an.
 

Zurück zum Thema, dachte sich Aya und spiegelte Schuldigs Grinsen in einer etwas weniger aufblendenden Art.

„Du weißt so gut wie ich, dass Brad der Umstand, dass es eine Falle sein könnte, nicht davon abhalten würde euch aus Schwierigkeiten zu befreien. Gib zu, dass es dich beunruhigt, dass er ihren Hilfeschrei ignoriert.“
 

„Es war kein Hilfeschrei. Du dramatisierst das Ganze.“
 

„Sie war voller Wut als sie und Crawford das letzte Mal aufeinander getroffen sind. Die Art Wut, die man fühlt wenn man enttäuscht wurde, wenn man jedoch immer noch auf eine Wendung hofft. Sie hat ihn nicht aufgegeben. Und wenn du mich fragst, dann ist das der Grund für die Angst, die er vor ihr hat.“ Ran dachte an die Begegnung, die er mitverfolgt hatte. Brad war blass gewesen. Nichts hatte den Amerikaner zuvor mehr einen Schock versetzt als das Zusammentreffen mit seiner Schwester. Die große Frage stellte das Warum dar.
 

Schuldig schwieg eine Weile. „Du meinst, sie hätte ihn nicht angerufen, wenn sie eine Wahl gehabt hätte?“
 

„Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber wir machen einen Fehler, wenn… Crawford macht einen Fehler, der nicht wieder reparabel ist, wenn es sich so verhält.“
 

„Schlussendlich ist es seine Sache, Ran.“ Schuldig legte den Kopf in den Nacken, doch Aya konnte trotz der so endgültig klingenden Worte heraushören, dass es für ihn noch nicht abgeschlossen war und ganz bestimmt ließ Schuldig es nicht zu, dass es nur allein Crawfords Sache blieb.
 

Es war nur so lange Crawfords Sache bis es zu spät sein würde. Manchmal hatte man nur einmal im Leben eine Chance um es richtig zu machen.
 


 

o~
 


 

Schuldig war schneller fertig mit seinen Haaren und erhob sich von dem kleinen Holzhocker. „Erster!“, tönte er prahlend und zog sein Handtuch fester um die Hüfte. Ran, der neben ihm saß – halb abgetrennt durch einen weich fließenden Mauervorsprung war noch dabei seine Haare zu waschen. „Ich geh dann schon mal vor, ja?!“, meinte Schuldig scheinheilig und klapste Ran auf den halb hervor spitzenden nackten Hintern. Er verließ den Waschraum des Ryokans durch eine gläserne Tür in den Raum, der zwei große Badebecken im alten Stil beheimatete. Das eine Becken sah eher wie ein überdimensionierter Waschzuber aus, das andere war ein Steinbecken mit Ornamenten in Mosaikform an der Außenwand des Beckens. Jei saß im Steinbecken, wofür sich Schuldig dann auch entschied. Sie hatten auch ein Außenbecken, das jedoch aus Sicherheitsgründen von ihnen nicht benutzt wurde.
 

„Gerne... und ich gehe morgen zum Frisör zum Kahlschnitt“, tönte es äußerst dunkel hinter Schuldig her, als Aya seine Haare wusch... und wusch... und wusch...
 

Schuldig ließ sich ins heiße Nass hinein und seufzte. Brad war nach ihnen eingetroffen und hatte sich in ihr Konferenzzimmer hinauf begeben. Er war nicht sonderlich gesprächig gewesen. Vermutlich hatte Ran mit seinen Ansichten was Eve betraf nicht ganz so unrecht. Sie würden ihm dies bezüglich noch auf den Zahn fühlen müssen, versprach sich Schuldig.
 

Jeis Auge beobachtete seine Antwort dabei, wie sie sich zu ihm ins Becken begab, in dem er sich nun seit Minuten der Hitze hingab. Doch diese war Nebensache angesichts dessen, was ihn beschäftigte und seine Gedanken mehr als einmal auf sich zog.

Warum das so war, wusste Jei nicht, aber es war so.

Eine Weile betrachtete er sich die Wirbel an Farben, die ihm gegenübersaßen und die so gut zum Feuer des Haares passten. Dann jedoch beschloss er zu sprechen.
 

„Bin ich attraktiv für dich?“, fragte er emotionslos, versuchte zu verstehen, was ihn beschäftigte.

Schuldig war noch damit beschäftigt, die wohlig heißen Schauer über sich rieseln zu lassen, welche das heiße Wasser in seinem Körper auslöste, als ihn diese Attentat-verdächtige Frage mitleidlos und kalt überfiel. Schuldig hatte eher den Eindruck eines Granateneinschlags in sein Bewusstsein und sah mehr als dümmlich in Richtung Jei.

In seinen Augen standen viele Fragezeichen, aber vor allem erkannte er auch die Ehrlichkeit und die Ernsthaftigkeit mit der Jei ihm gegenübersaß und offenbar … ja… ein Problem zu haben schien. Weshalb sollte er sonst eine derartige Frage stellen?
 

Schuldigs Blick ging für den Bruchteil von Wimpernschlägen zur Glasfront der linken Seite wo sich Ran noch mit seinen Haaren abmühte und ihm einen attraktiv gerundeten Rücken zudrehte. Bei Jeis Antlitz wieder angekommen wusste er nicht wirklich was zu antworten gut war.

„Attraktivität bedeutet für jeden etwas anderes. Du bist für mich nicht attraktiv, zumindest in ein paar Aspekten nicht“, antwortete er ebenso ernst. Jei sah auf eine exotische Art sogar faszinierend schön aus. Aber wie sollte er es dem Iren erklären, so dass er es verstand? Jei war wie ein Kunstwerk, ein Kunstprodukt.
 

Schuldig war ehrlich.

Dennoch bedachte er die Worte des anderen mit Sorgfalt und langen Überlegungen, in denen er am Rande einen weiteren Gefühlsquell das Bad betreten spürte.

„In welchen Aspekten bin ich es?“
 

Aya war nun endlich auch soweit, dass er sich zu den beiden gesellen konnte und kam kopfschüttelnd ins Bad. Schuldig würde leiden das nächste Mal... wenn er ihn zu fassen bekam, doch nun wollte Aya erst einmal heiß baden. Mit Jei... ein wenig unsicher war er schon, aber mit der Zeit war es normaler geworden, sich mit dem Rest von Schwarz zu umgeben.

Seltsam... die Zeit veränderte so vieles. Und er hatte noch nicht mit Schuldig gesprochen, über das was ihn am Flughafen beschäftigt hatte…
 

Schaudernd stieg er in die heiße Labsal und wurde sich mit einem Mal der seltsamen Stille bewusst und Schuldigs Blick.

Schlechtes Timing, brummte Schuldig innerlich was Jeis Frage anbetraf. Er hätte diese ‚Problematik’ gerne mit Jei unter vier Augen besprochen, vor allem weil er einen bestimmten Verdacht hegte warum Jei derartige Fragen stellte.

Sicher konnte er sich jedoch bei dem Iren nicht sein. Nie.

„Für mich ist es deine Empathie, Jei.“ Er schwieg einen Moment lang, sich Rans Nacktheit nur zu gut neben sich bewusst.

„Im Grunde genommen kannst du nur das Gesamtwerk betrachten. Du kannst keinen Aspekt außen vorlassen, wie ein Kunstwerk, welches nur mit allen Farben und Formen zu betrachten ist. Einzeln betrachtet sind es lediglich Fragmente. Zusammengeführt jedoch zeigen sie ein einzigartiges Bild. Oft ist es diese Einzigartigkeit, die für den Betrachter, Schönheit und Attraktivität ausmachen.“ Schuldig dachte nach. Er hoffte, dass für Jei verständlich erklärt zu haben.
 

Hoffte er... vergebens. Denn trotz der illustren Erklärung musste Jei überlegen. Er legte den Kopf schief und ließ seinen Blick in sich gehen, drehte und wendete die Worte in seinem Inneren. Schuldig hatte oft Recht, doch das half ihm bei diesem Problem nicht weiter. Bei dieser Unklarheit.

Sein Blick kam auf dem rothaarigen Dämon zum Ruhen und er tauchte in dessen Farben ab, die neben Neugier und Verwunderung vor allen Dingen Ruhe widerspiegelten.

Wenn er ihn fragte... war er näher an dem Blonden als Schuldig. Vielleicht war dann auch die Antwort näher zu der des Weiß, als es Schuldigs war.

„Findest du mich sexuell... attraktiv?“, richtete er an den Ex-Weiß, dessen Gefühlswelt ähnlich wie Schuldigs zuvor in ein buntes Chaos gestürzt wurde. Seltsam, wie ähnlich sie sich waren in den Gefühlen. Seltsam.
 

Aya glaubte nicht richtig zu hören und war im ersten Moment sicher, sich verhört zu haben. Doch anscheinend... denn so wie das Auge auf ihn gerichtet war, konnte er sich gar nicht vertun.

Sein Blick ging zu Schuldig.

Dieser verbiss sich das Grinsen gerade mal so, allerdings war es in seinen Augen zu sehen, sagte aber auch durch die Tatsache, dass er seinen Mund ein wenig verzog, dass er mit Ran und dessen Erklärungsnot mitfühlte. Leicht war die Frage nicht. Ebenso die Antwort. Das hatte etwas von Ausfragen in der Schule und zwar über unvorhersehbaren Lernstoff. Wie gut, dass er seine Prüfung schon hinter sich hatte.

‚Hey Kleiner, kannst du uns schon mal den Sake vorbeibringen?’, schickte Schuldig zu Nagi, der noch vor seinen Rechnern hockte und erst später zu ihnen stoßen wollte.

‚Moment’, kams zurück.

„Wieso fragst du das?“, einigte sich Aya schließlich auf eine neutrale Antwort, nämlich gar keine und bekam dafür prompt die Quittung.

„Es ist unhöflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.“, erwiderte Jei ruhig, sein Blick wich jedoch nicht von seinem Gesicht. Wartete immer noch auf Antwort.

War es möglich, dass sich sein Erstaunen noch weiter steigerte? Ja, war es. Aya gab sich geschlagen. Wenngleich er nicht viel anderes, als Schuldig auch zu dem Thema zu sagen hatte.
 

„Dein Körper ist attraktiv, weil er durchtrainiert ist. Du hast klar definierte Muskeln. Über deinen Geist kann ich nichts sagen, dazu kenne ich dich nicht gut genug.“ Aya verstummte. Er hatte verschwiegen, dass Jeis Narben für ihn nicht attraktiv waren, und das aus gutem Grunde. Er wusste nicht, was dahinter stand und wie der ruhige Ire reagieren würde, wenn er es erwähnte. Aber anscheinend war das auch gar nicht nötig, denn seine Worte wurden gerade genauestens bedacht, bevor Jei erneut zum Sprechen ansetzte.
 

„Ich will dich“, sagte er und sah Aya in die Augen.
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen. ^.^

Bis zum nächsten Mal!
 

Coco & Gadreel

...the bad...

~…the bad…~
 


 

Schuldig, der gerade noch Rans Profil aufgrund dessen Antwort mit einem ungläubigen Blick bedacht hatte, blickte jetzt nach Jeis Satz vorsichtig und sparsam zu Jei hinüber. Langsam dämmerte es ihm, dennoch sagte er erst einmal nichts dazu und war sehr gespannt wie sich Ran hier aus der Affäre ziehen würde. Zeit, dass der Sake kam, denn jetzt wurde das hier zu einem durchaus interessanten Schauspiel.
 

Aya erinnerte sich nach ein paar Sekunden daran, dass er sein Herz zum Schlagen und nicht zum Stillstehen brauchte und holte tief Luft. Was in aller Welt wurde hier gespielt?

War er gerade noch zu der Überzeugung gelangt, dass er sich an Schwarz gewöhnt hatte, so war dies hier ein neuerlicher Schock und zwar kein zu kleiner.

Jei... wollte ihn?! Er WOLLTE ihn?

„Also... ich...“, begann er, nicht wirklich wissend, was er sagen sollte, wie er sich am besten aus dieser speziellen Affäre ziehen sollte ohne fluchtartig das Bad zu verlassen oder ein Blutbad zu riskieren oder...
 

„Das hat er zu mir gesagt.“
 

Wie... bitte...?
 

Ruhig waren Jeis Worte gewesen und sein Blick wurde nachdenklich.

„Sagt man das, wenn man sexuell interessiert ist?“, ging die Frage nun an Schuldig, weil er dachte, dass dieser in diesem Punkt mehr Erfahrung hatte, als der emotional aufgeregt wirkende Ex-Weiß. Schuldig wollte immer.
 

Vielleicht hätte er doch Brads Platz als Stellvertretender Hellseherboss einnehmen sollen, denn er hatte wirklich darauf getippt, dass etwas Ähnliches nun von Jei zu ihnen geschalt wäre. Was nun eingetroffen war.

„Unter anderem könnte ‚man’ das sagen, wenn ‚man’ sexuell interessiert ist“, sagte Schuldig langsam, weil mit nachdenklichem Unterton.

„Welcher ‚Mann’ ist denn sexuell an dir interessiert?“, schickte er beiläufig hinterher und blickte zur Seite, da gerade Nagi im Yukatta hereinschneite und ihnen ihr kleines Tablett mit Sake ins Wasser schob.

„Danke, Kleiner“, sagte er und wollte gerade zum Fläschchen greifen, als es von ihm in Richtung Ran glitt. „Hee!“, maulte er Nagi an, der schon an der Glastür war um die Baderäumlichkeiten zu verlassen.

„Wer faul ist, braucht auch nicht den ersten Schluck zu tun“, schallte es gar unfreundlich zu ihm und entschwand über den Waschraum.
 

Oh das Tablett kam ihm gerade richtig. Auch Aya hatte sich bedankt und griff nun zu dem Sakefläschchen, schenkte sich ein und stürzte den ersten Becher herunter, bevor er sich den zweiten einschenkte und das Tablett dann erst Richtung Schuldig schickte. Er musste trinken. Anders würde er dieses Gespräch hier nicht überstehen.
 

„Kudou Youji“, erwiderte Jei ruhig.
 

Aya hatte gerade einen Schluck Sake genommen und sich und sich in Richtung Schuldig gewandt um diesen mit einem Lächeln zu necken, als er auch schon die allzu klaren Worte hörte und den sich noch im Mund befindenden Sake in fein säuberlichem Sprühregen über Schuldig verteilte und sich schließlich wild zu Jei zurückdrehte.
 

„WIE BITTE?“
 

Jei blieb ungerührt; sein Auge bohrte sich in Schuldigs grüne Gegenstücke, dann in die des Ex-Weiß, da dieser dem Blonden am nächsten stand. Brad hatte es gesagt, dass der Rote mit dem Blonden geschlafen hatte. Zumindest stand das in den Akten. Hatte Brad gesagt.

Demnach musste er wissen, was Jei über Kudou wissen wollte. Auch wenn das Ausmaß der Verwirrung und der Ungläubigkeit schon erstaunlich war. Interessant.

Schuldig stieß einen gespielt angeekelten Laut aus und wischte sich übertrieben den guten Sake vom Gesicht, vor allem seiner Wange. Danach wandte er sich wieder den wichtigen Dingen zu. Aber nicht bevor er sich zwei Becher Sake füllte und einen davon zu Jei hinüberschob.

„Trink“

Er lehnte sich zurück, sank mehr ins Wasser hinein und sezierte Jei mit seinem Blick. Es dauerte Minuten bevor er sich bemüßigte zu antworten.

„Was genau willst du wissen, Jei?“
 

„Er... schien sexuell erregt zu sein, als er in der Dusche stand. Meine Nähe erreget ihn“, begann Jei das wieder zu geben, was sein Problem darstellte und legte den Kopf schief, um das bunte Chaos im Innern des roten Japaners zu verfolgen.

„Deine Emotionen sind chaotisch... du fühlst Wut. Erhebst du Ansprüche auf Kudou?“, fragte er Ran, der nur mit dem Kopf schüttelte.
 

„Nein, das nicht, aber...“ Wieder verstummte der Ex-Weiß, was Jei nicht verstand. Er war verwirrt, doch warum war der Japaner so emotional unausgeglichen?
 

„Wieso standet ihr unter der Dusche?“, fragte Aya völlig verständnislos.
 

Diese Frage war für Jei unerheblich. So wandte er sich an Schuldig. Vielleicht konnte dieser ihm effektiver antworten.
 

Schuldig sonnte sich in der Verwirrung seines Blumenkindes und freute sich jetzt schon diebisch auf den Zeitpunkt an dem sie eingekuschelt auf ihren Betten in ihrem Zimmer lagen und sich darüber ausführlich unterhalten konnten. Ran würde toben, er würde lachen. Perfekt.

„Du hast immer noch keine Frage gestellt, Jei“, bemerkte Schuldig und machte Anstalten aus dem Becken auszusteigen. Er kletterte hinaus, behielt jedoch den Blick auf Jei gerichtet, als er sich auf die niedrige Bank setzte und die Seife aufnahm um sich erneut einzuseifen und mit Wasser nach und nach abzuspülen.
 

Jei blickte verwirrt auf. Ja, hatte er nicht. Aber... er wusste auch nicht genau, wie er es formulieren sollte.

„Wie...“, begann er nach ein paar Minuten des Stillschweigens, verstummte aber wieder. „Wieso errege ich ihn? War er denn von mir erregt? Habe ich zu stark auf ihn projiziert?“, veräußerte er dann nachdenklich. Ja... so konnte man es ausdrücken.
 

„Bevor du an die Stärke der Projektion denkst, frage ich dich, hast du überhaupt auf ihn projiziert? Aktiv?“
 

Jei runzelte die Stirn. „Ich... nein... ich war abwesend. Ich habe nicht auf ihn projiziert. Ich habe eine Frau und einen Mann beobachtet, sie waren interessant. Währenddessen hat er mich… und meine Haare gewaschen. Vielleicht... hat ihn das erregt?“ Es war warm hier in dem Raum, zumindest legte sich die Hitze auf Jeis Wangen.

„Erregt es dich, wenn er dir die Haare wäscht?“, fragte er Schuldig.
 

Dieser blickte zu Ran, suchte den Augenkontakt, den er fand. Eine stumme Zwiesprache, bevor Schuldig zu Jei und dessen rote Wangen sah. Jei wurde vor Verlegenheit rot?

Zweifel breiteten sich in Schuldig aus. Mit Sicherheit nur die Hitze des Bades.

„Das ist nicht pauschal zu sagen, Jei. Es entspannt mich eher. Der Kontakt am Kopf ist sehr intim für manche Menschen. Allerdings…“, räumte er ein und legte sein Handtuch über seinen Schritt um es sich am Beckenrand auf der Bank bequemer zu machen. „… kann in der Anfangsphase des Kennenlernens zweier Menschen fast jeder Kontakt eine erregende Wirkung besitzen. Das hängt vom Grad des Interesses ab.“
 

Stumm die Stirn runzelnd, bedachte Jei Schuldigs Worte.

Wenn Kontakt erregende Wirkung hatte, dann war es kein Wunder, wenn Youji die äußeren Anzeichen einer Erregung besessen hatte. Sie hatten sich geküsst, erinnerte sich Jei. Sie hatten sich berührt, er hatte sich an den anderen angelehnt.

Nur weil sie sich berührt hatten.

„Mag er es, geküsst zu werden?“, richtete er nun an Ran, dessen Gefühlswelt sich immer noch nicht signifikant geändert hatte.
 

„Ja. Wer mag das nicht?“, sagte der Japaner äußerlich ruhig.
 

Jei schwieg. „Gefiel ihm etwas besonders, als du mit ihm geschlafen hast?“
 

Die violetten Augen starrten ihn sprachlos an, die roten Wangen dazu bildeten einen hübschen Kontrast.

„Woher... weißt du...?“ Wieso stellte der Ex-Weiß nur immerzu solche unerheblichen Fragen? Es war schlicht nicht wichtig.
 

Auch wenn Schuldig seinen hauseigenen Rotschopf gerne in dieser Art misslicher Lage sah hatte er Mitleid.

„Wäre es nicht effektiver du würdest es selbst herausfinden, als jemanden zu fragen, der womöglich ungenügende bis fehlerhafte Informationen liefern könnte? Schließlich unterscheidest du dich von ihm hier“, Schuldig nickte mit dem Kopf hinüber zu Ran.

„Du kannst ihm diese Frage nicht stellen wenn du eine hundertprozentig richtige Antwort willst. Kudou gefällt vielleicht DAS was ihm mit Ran gefallen hat mit dir oder jemand anderem nicht. Die Menschen sind nicht beliebig austauschbar, Jei. Diese Frage kannst du nur mit ihm zusammen beantworten.“
 

Wieder herrschte Schweigen, nur unterbrochen durch Ayas hektischen Herzschlag, der sich zusammen mit der Hitze des Bades nun exponentiell steigerte. Auch er schälte sich nun aus dem Bad und kam zur Bank, legte sich ein Handtuch über die Körpermitte. Die Kühle der Bank tat gut. Sehr gut.

Er betrachtete sich den ruhigen, nachdenklichen Iren, der sein Interesse an Youji entdeckt hatte. Ob das gut war, Aya wusste es nicht, konnte sich die Konsequenzen dessen auch nicht ausmalen. So rein gar nicht. Seit wann lief das so? Warum hatte Youji ihm nichts davon erzählt? Wollte er ihm überhaupt etwas erzählen?

Aya vertagte es auf später, dann, wenn er in Ruhe darüber nachdenken konnte.
 

„Als du ihn mir damals gegeben hast, hattest du diese Art von Komplikationen nicht erwähnt“, richtete Jei an Schuldig, die Stirn gerunzelt.
 

„Willst du ihn loswerden?“, fragte Schuldig ironisch, seine Linke legte sich auf Rans Oberschenkel, blieb dort Kontaktsuchend liegen.
 

Was auch gut so war, denn Aya glaubte in diesem Moment, nicht richtig zu hören. Gegeben? Loswerden? Sie sprachen über YOUJI! Schuldig hatte Youji VERHÖKERT! Ungläubig ruckte Ayas Blick zu seinem nach Kontakt suchenden Telepathen und er grollte.
 

„Nein“, erwiderte Jei nach einem Moment intensiven Überlegens. „Er ist interessant. Aber er ist... so voller Emotionen, die ich nicht verstehe.“ Doch er würde Schuldigs Rat befolgen und Youji fragen. Vielleicht würde er dann wissen, wieso er den Weiß erregte oder ob er es überhaupt war. Also... waren diese Emotionen vielleicht nicht künstlich gewesen. Vielleicht hatte er sie selbst gar nicht hervorgerufen. Seltsam. Interessant.

Neu...
 

„Bist du fertig mit deinen Fragen an mich?“, hakte Schuldig nach.
 

Jei überlegte, nickte dann und erhob sich. „Ja.“
 

„Gut. Denn jetzt habe ich Fragen an dich.“ Schuldig blickte zu Jei auf. „In welcher emotionalen Verfassung hast du Kudou angetroffen?“
 

Die Hände ruhig neben seinem Körper hängend kam Jei zur Bank und nahm sich das dritte Handtuch.

„Er war... verwirrt, als er mich sah. Vorher war er... einsam. Rastlos. Unruhig. Aber... dann wurde er... erregt.“
 

„Ja. Das sagtest du.“ Schuldig wollte das leidige Kapitel um Kudous Libido abschließen. „Du schließt eine depressive, melancholische oder gar suizidale Stimmung aus?“
 

„Erstes und letztes definitiv. Er war melancholisch.“ Jei antwortete wahrheitsgemäß wie immer und war nicht überrascht, dass er Sorge von dem rothaarigen Japaner verspürte.
 

Das empfand Schuldig nicht als besorgniserregend. Eine gewisse Grundmelancholie umschwirrte den Blonden stets. Das machte seinen unwiderstehlichen Charme aus, wie Schuldig zugeben musste. Damit zog er die Frauen in Scharen an.
 

„Pass gut auf ihn auf“, meinte Schuldig leise und lächelte minimal, jedoch blickten seine Augen ernst und in stummer Zwiesprache mit dem Empathen. „Er zerbricht leicht.“
 

„Das sagte mir Brad bereits. Wenn er zerbricht, zerbricht das Team. Das liegt nicht in meinem Interesse.“ Er schlang sich das Handtuch um die Hüften und betrachtete sich den Telepathen.
 

Jei wartete ab ob er noch Fragen an ihn hatte, doch Schuldig musste erst das verarbeiten was er gerade erfahren hatte. „Ich habe keine Fragen mehr an dich. Du kannst gehen, wenn du möchtest.“
 

Der Ire nickte und verließ das Bad, ließ einen perplexen Aya zurück, der ihm sprachlos hinterher starrte und dessen Gedanken Amok liefen.

Youji und Jei... deswegen waren sie damals gemeinsam in der Wohnung aufgetaucht. Und Youji suizidal? Nein, das glaubte er nicht... oder war es vielmehr, dass er es nicht glauben wollte? Er wollte sich dem nicht stellen, dass Weiß nach Amerika gingen, dass Youji unter der Einsamkeit litt, dass er ihn nicht mehr so häufig zu sehen bekam.

Aya vermisste seinen Freund, war jedoch glücklich mit Schuldig. Sollte er nun Schuldgefühle haben? Schuldgefühle, weil er keine hatte?

Schuldigs Arme fanden Rans Körpermitte und zogen den stummen Japaner an seinen Oberkörper. Einen sanften Kuss erfuhr die warme Ohrmuschel. „Rede mit mir“, bot er den Einstieg in eine sicherlich ausufernde Unterhaltung. Jedoch war sie ihm lieber als dieses mahnende Schweigen.

„Du bist so voller Zweifel. Erst in Osaka, als Brad seine Schwester erwähnte, dann am Flughafen, jetzt. Ich habs zwar zeitweise etwas geschafft dich abzulenken, aber irgendetwas Grundlegendes beschäftigt dich.“
 

Was sollte er denn sagen? Es gab so vieles, was er zu sagen hatte, so vieles, was er sagen musste und wollte.

Aya blieb an Schuldig gelehnt. Am besten, sie begannen beim Aktuellen.

„Du hast ihn Jei gegeben? Wieso?“, fragte er ruhig, leise. Wir sind nicht auf einem Basar, hatte er selbst Schuldig gesagt, hatte er mehrfach gedacht und diese Erinnerungen bargen nichts Gutes.
 

Schuldig schwieg einen Moment. Sein Kinn ruhte auf Rans Schulter, bevor er den Kopf seitlich legte und seine Wange folgen ließ. Er pustete spielerisch in Rans Haar das zu einem wilden Zopf zusammengefasst war. Die ersten feinen Haare an den Schläfen trockneten bereits zaghaft.

„Wenn ich sage: es war so ein Gefühl, klingt das sicherlich zu einfach für dich oder?“

„Ja“, erwiderte Aya ehrlich. „Ich kann dieses Besitzdenken nicht nachvollziehen, Schuldig. Mit welchem Recht verkaufst du ihn... an einen unberechenbaren Empathen?“ Aya lehnte sich an Schuldigs Wange an, ganz gegensätzlich zu seinen zweifelnden Worten.

Schuldig seufzte und lange Minuten blieb es still zwischen ihnen.
 

„Kudou ist innerlich sehr zerbrochen“, sagte er schweren Herzens. Er hatte nicht vorgehabt das Seelenleben des Playboys vor seinem Freund auszupacken.

„Er trägt die Fassade mit sich herum, die wir sehen. Nichts davon ist echt. Das was ihm erst kürzlich widerfahren ist - durch einen weiteren Zweig einer irren Blutlinie, der ich auch angehöre - zermalmt lediglich die Splitter in kleine Brösel, die sein Selbst darstellen. Ehrlich gesagt habe ich nicht großartig nachgedacht, als ich den Handel mit Jei eingegangen bin. Für mich stand das als logischer Schluss in Anbetracht der Situation fest. Ebenso wie Omi Nagi gut tut. Die passende Komponente. Auch wenn es unerwünscht ist, oder war. Schieb es auf meine Telepathie. Was weiß ich“, seufzte er selbst zweifelnd. „Jei kann ihn heilen, Ran.“
 

Schlimmer, als Aya erwartet hatte. Schlimmer, als er Youjis Zustand eingeschätzt hatte. Aya durchfuhr trotz der Hitze ein Kälteschauer, der ihn erzittern ließ.

„Omi und Nagi haben sich freiwillig gefunden. Aber du hast Youji an euren Empathen verkauft. Er sieht ihn als sein Eigentum an, Schuldig. Und was passiert, wenn er ihn heilt, indem er seine Emotionen umkehrt? Ist das Heilung oder umprogrammieren? Ich nenne das nicht Heilung. Wieso hast du sie sich nicht einfach so kennenlernen lassen?“
 

„Hey…“, raunte Schuldig sanft, umarmte Ran sanft. „Beruhige dich. Das Interesse von Seitens Jei bestand schon vorher. Weshalb sollte ich ihm sonst etwas vorschlagen was nicht von Interesse für ihn ist? Kudou ist nicht abgeneigt, das hast du doch gerade eben erfahren. Vergiss das nicht.“ Er schloss die Augen.

„Jei kennt sich mit zerbrochenen Seelen aus und er weiß wie vernichtend die Illusion einer heilen Welt sein kann. Er selbst kann keine Lügen mehr leben, oder Lügen schenken. Dazu ist er selbst zu zerbrochen, Ran. Er würde Kudou keine heile Welt schenken und ihn wie eine kaputte Puppe reparieren. Jei… könnte für den Blonden zu etwas …Neuem … werden.“ Er schmunzelte. „Entschuldige das Wortspiel. Nur… könnte Jei ihm Stabilität geben. So seltsam das klingen mag, aber Jei tut das bereits. Kudou nimmt sich seiner an. Er kümmert sich freiwillig um ihn. Keiner zwingt ihn dazu. Warum tut er das? Will er sich verantwortlich fühlen? Für irgendetwas, dass ihm sinnvoll erscheint?“
 

„Er sucht Nähe, wo ich ihm sie nicht geben kann. Früher hat er mich unterstützt, mir geholfen, wenn es mir schlecht ging. Doch ich bin nicht mehr da, werde es in Zukunft noch weniger sein, wenn er in die Staaten geht und ich ihm... ihnen nicht folge.“ Verzweiflung schlich sich in Ayas Stimme. „Es scheint nur logisch, dass er sich an denjenigen wendet, der ihm gegenüber Interesse zeigt. Anscheinend so viel Interesse, dass er weiß, mit wem Youji geschlafen hat und dass er sich mit ihm schon nackt in der Dusche befunden hat! Ich wusste... nichts davon. Gar nichts.“

„Weshalb sollte er dir diese Details erzählen, wenn er vielleicht selbst noch nicht weiß wohin das laufen wird oder könnte? Hast du denn Kudou Einzelheiten unseres Sexlebens berichtet? Mal abgesehen von der Größe des Vibrators, die ihn durchaus erstaunt hatte“, offenbarte Schuldig, dass er von dem kleinen Gesprächsdetails wusste, welches die beiden Weiß Agenten ausgetauscht hatten.
 

„Wenn er sich selbst unsicher ist, weshalb sollte er dir etwas erzählen was dir in deiner momentanen Verfassung – die zugegeben jetzt sehr gut ist im Vergleich zu vor ein paar Wochen – zusätzliche Sorgen aufbürden?“

„Du weißt ganz genau, was ich ihm erzählt habe und was nicht, Schuldig“, erwiderte Aya ruhig. Natürlich hatte Schuldig Youjis Gedanken gelesen... das war die Natur des Telepathen. Doch es gefiel ihm nicht.

„Ich...“, begann er, verstummte dann jedoch. Es war ihm nicht gut gegangen, das stimmte. Doch Youji und er waren befreundet. „Ich will nicht, dass ihm etwas passiert... ich will aber auch nicht, dass er zerbricht. Doch was ist mit Jei? Wie unberechenbar ist er in einer solchen Situation?“

„Wie unberechenbar bin ich in manch einer Situation, die derer ähnlich ist und war?“, schickte er zurück. „Wir sind alle nicht berechenbar, Ran. Nicht einmal Brad. Wir sind unseren Fähigkeiten ausgeliefert und wir versuchen uns von Strohhalm zu Strohhalm zu hangeln in der Hoffnung, dass wir einmal einen erwischen, der uns stabiler als der vorherige erscheint.“ Keine zufriedenstellende Antwort, aber spontan hatte er nichts Besseres.
 

Aya lächelte und das Lächeln war ernst gemeint. Schuldig versuchte, es ihm zu erklären, ihn zu beruhigen, doch wirklicher Erfolg wollte sich damit nicht einstellen.

„Er könnte sterben dabei, Schuldig. Er kann sich doch nicht wehren. Nicht gegen Jei.“ Aya seufzte und schüttelte dann den Kopf. Was er hier betrieb, war Schwarzmalerei im großen Stil.
 

„Er könnte sterben? Der Arme“, sagte Schuldig mit mildem Spott in der Stimme. „Sag mir wie oft hattest du schon die Klinge an deiner Kehle?“ Er schob Ran soweit von sich, dass er in das verschlossene Gesicht des Japaners sehen konnte, dessen Augen ihm die aufgewühlte Gefühlswelt hinter der antrainierten Maske zeigten. „Kannst du dich noch an den gemütlichen Keller erinnern, als ich dir den Deal mit den Haaren unterbreitete?“
 

Aya verzog missmutig den Mund, eine Winzigkeit nach unten. „Deal? Das war Erpressung.“
 

Schuldig winkte großmütig ab. „Haarspalterei. Ich habe dich allein gelassen. Dir ging’s Scheiße. Wie oft haben wir uns das Leben schwer gemacht? Wie oft waren wir dem anderen ausgeliefert?“
 

Er sah dem roten Haarschopf zu wie er vehement geschüttelt wurde. „Gut, das mag sein. Aber ich kann für die beiden nicht in die Zukunft sehen. Wann kommt der Augenblick in dem Jei genug vom Künstlerdasein hat und er seine Messer interessanter findet?“
 

Schuldig furchte die Stirn. „Er lässt sich freiwillig darauf ein. Und er ist erwachsen.“
 

Aya atmete tief ein und sein Blick ging durch die gläserne Abtrennung nach draußen zu den Waschplätzen, die für die Gäste des Ryokans eingerichtet wurden.

„Jei sagte er sei nicht suizidal.“
 

„Ja. Das sagte er.“ Schuldigs Lippen berührten Rans Schläfen.
 

„Ich mache mir zu viele Sorgen.“ Verlustängste, nannten sie sich, seine Sorgen.
 

Schuldig fragte sich gerade ob Ran tatsächlich auch nur eine Sekunde lang glaubte, sich gegen ihn wehren zu können.

„Sollen wir noch einmal hinein ins warme Nass? Nagi unser kleiner Misanthrop sollte auch bald kommen.“
 

o~
 

Es war früher Abend als Crawford beschloss in seine Stadtwohnung zu fahren. Ihn erdrückte die familiäre Stimmung im Ryokan. Seit er zurück war aus Osaka fühlte er sich rastlos und brauchte etwas Luft zum Atmen. Eine Runde Schwimmen und etwas Training im Dojo würden ihm gut tun, den Kopf frei machen.

Er knöpfte sich sein Hemd zu, nahm seine Anzugjacke auf und ging ein Stockwerk nach unten um nach Naoe zu sehen. Der war nicht in seinem Zimmer. Die Bildschirme der Rechner gaben ihr Licht in ein menschenleeres Zimmer ab.

Sein Weg führte ihn in die große Restaurantküche, dort sah er ihren Jüngsten wie er vor einem der beiden Herde stand. „Ich bin in der Stadt.“
 

Naoe drehte den Kopf. „Wie können wir dich erreichen?“
 

Brad atmete tief ein, verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen an. „Gar nicht. Ich gehe trainieren.“
 

„Trainieren?“ echote der Junge und Brad rückte seine Brille zurecht, bevor er seine Tasche aufnahm.
 

„Ja. Wir sehen uns morgen.“
 

Brad wollte die Küche verlassen, als er das Tapsen nackter Füße auf dem Boden hörte. „Warte!“
 

Doch Brad tat ihm nicht den Gefallen und ging in Richtung Eingangshalle um sich dort seine Schuhe anzuziehen. Er sah davon auf, als er Naoe ihm nacheilen sah.
 

„Du fährst nicht nach Kyoto, oder?“, hakte der Telekinet unsicher nach.
 

Brad hörte die Besorgnis in der jugendlichen Stimme. „Nein. Warum sollte ich?“
 

„Eine rein logistische Frage, der zeitlichen Einsatzp…“ Naoes Satz verlief ins Leere, als er zusah wie Brad die Tür hinter sich schloss.
 


 

o ~
 

Er war nicht wirklich angemeldet und hatte auch wenig Hoffnung, dass Nagi da war oder ihm die Tür öffnete.

Dennoch war Omi typisch für seine Abstammung starrköpfig und stur und hatte nicht vor, diese kleine Insel Glück einfach so aufzugeben, nur weil sie sich in dem Ryokan in Beppu nicht gut verstanden hatten und weil es Crawford mehr als schlecht gegangen war.

Eine Kombination aus beidem war es wahrscheinlich gewesen, die Nagi dazu getrieben hatte sich noch mehr in sich zurück zu ziehen.

Das würde Omi allerdings nicht mehr länger mit ansehen. Er wollte den Telekineten zurück, der bereit war, aus sich heraus zu gehen. Er wollte denjenigen zurück, der schüchtern und doch durchtrieben lächelte und der so oft einfach nur die Weisheit mit Löffeln gefressen hatte.
 

„Ich kümmer mich drum“, rief Schuldig über die Schulter in Richtung Ran, der nach dem Baden hinauf in den zweiten Stock in eines der Zimmer gegangen war.

Schuldig ging über die Flure zum Eingangsbereich und erkannte bereits währenddessen, wer dort draußen auf Einlass wartete.

„Oh man… schon wieder einer von denen. Reicht es nicht wenn wir ständig über sie quatschen müssen? Nein, jetzt stehen die auch noch vor der Tür“, brummte er seufzend und wechselte das Schuhwerk auf der schwarzen Marmorplatte um danach mit wenig Elan zur Eingangstür zu schlurfen und zu öffnen.

„Na… wen haben wir denn da? Hausieren und betteln verboten.“
 

„Warum haben sie dich dann nicht schon längst eingebuchtet?“, kam es prompt mit keckem Lächeln zurück und Omi schmiss sich in die beste Angeberpose, eine Hand lässig in seiner Hosentasche, mit der anderen tippte er sich gegen die Schläfe.

Man hätte ihm diese Fassade fast abnehmen können, fast. Wären da nicht die sorgenvollen Gedanken gewesen.

Schuldig tastete die Umgebung ab, sah sich um, während er im Türrahmen lehnte und ließ den Weiß Agenten eintreten.

„Dein Make up war auch schon mal besser“, meinte Schuldig zweideutig und schloss die schwere Eingangstür. Erneut wechselte er das Schuhwerk und ging zu dem kleinen Bereich in dem sich die Gäste des früheren Ryokans an kleinen Tischchen niederlassen konnten.

Er nahm die auf einem Tisch liegenden Zigaretten auf und zündete sich eine an.

„Was ist los?“, fragte er diplomatischer und setzte sich im Yukatta in einen Sessel und beobachtete den Blondschopf wie er sich die Schuhe auszog.
 

„Ich wollte nach Nagi sehen und schauen, wie es ihm geht“, sagte Omi ehrlich und trat in den ehemaligen Eingangs- und Empfangsbereich des Ryokan. „Nun... primär nach Nagi, allerdings kann Ran nicht weit sein, wenn du auch hier bist.“ Er grinste frech, wurde dann jedoch aber wieder ernst.

„Nagi ging es nicht gut... vor ein paar Tagen… Wochen. Gar nicht gut.“

„Ran ist nicht hier. Ich vergnüge mich zurzeit mit jemand anderem“, meinte Schuldig lapidar und wischte ‚Ran’ mit einer abwertenden Handbewegung beiseite.

Sein schmutzig beiläufiges Lächeln untermalte seine Aussage. Allerdings beschäftigten sich seine Gedanken mit der Tatsache, dass Nagi, die Sache mit Brads Alleingang und dem anschließenden Aufenthalt im Krankenhaus weniger gut weggesteckt hat. Seither war Nagi noch wortkarger als ohnehin schon und arbeitete wie ein Besessener.

„Was Nagi betrifft. Ihn hat die Eskapade mit Crawford ziemlich mitgenommen. Es ist zwar besser geworden, aber er traut dem Frieden nicht. Er arbeitet viel.“ Schuldig drückte die Zigarette nach drei Zügen wieder aus, nahm den Aschenbecher auf und ging damit Richtung Küche, die über einen schmalen Flur zu erreichen war. Dort entsorgte er den Rest der Zigarette. Er sah für einen Moment zur Seite, als er den Mülleimer schloss und den Aschenbecher ausspülte, denn auf eine Predigt bezüglich der Ordnung im Ryokan konnte er dankend verzichten.

„Wir können ihm in diesem Punkt keine Vorschriften machen.“ Das war eines der unausgesprochenen Gesetze bei Schwarz. Keine Kritik was den Arbeitseifer anbelangte, sofern dieser keine negativen Auswirkungen auf das Team hatte.

„Du verstehst?“
 

„Natürlich verstehe ich das“, erwiderte Omi nach einer kleinen Weile des Nachdenkens. „Aber ich bin nicht ihr, wenngleich auch ich nicht das Bedürfnis verspüre, ihm Vorschriften zu machen. Ich möchte nur, dass es ihm nicht schlecht geht.“

Schritte auf der Treppe lenkten seine Aufmerksamkeit ab und wenig später erhellte Freude sein Gesicht.

„Ah... du bist also derjenige, mit dem Schuldig Ran betrügt... werde ich ihm weitergeben“, grinste er Ran an, der ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue umarmte.

„Was machst du denn hier?“, kam ein seltenes Grinsen zurück, vollkommen entspannt, wie Omi bemerkte.

„Dich besuchen und sehen, ob er dich auch gut behandelt...“
 

Ran lachte und wuschelte Omi durch die Haare.

„So, mit wem betrügt mich Schuldig?“

„Mit so einem rothaarigen Teufel... auch Japaner... ganz schlimmer Mensch.“

Schuldig rollte mit den Augen, ließ die Schultern sinken und drückte sich an den beiden vorbei um hinauf in ihr Zimmer zu gehen. Zwei von denen auf einem Haufen und der liebste Telepath war kurz davor Amok zu laufen.

Er nahm den Aschenbecher mit, stellte ihn an seinen Platz zurück, ging die Treppe hinauf, die sich im Flur neben dem Aufenthaltsraum anschloss und in ihr Zimmer in den zweiten Stock und dort direkt in das winzige Badezimmer um sich für die Nacht fertig zu machen.
 

Währenddessen war Nagi bereits halb am Einschlafen, allerdings musste er noch einen Upload tätigen. Das neue Programm war noch nicht fertig geschrieben und er wollte heute noch daran arbeiten. Aber war da nicht noch etwas gewesen was er noch tun wollte…

Er wischte sich über die Augen und ließ seinen Kopf in den Computersessel gleiten um ihn an den Seitenstützen anzulehnen. Schnell schob er sich die digitale Brille wieder auf die Nase um in der von ihm geschaffenen virtuellen Welt ungestört an einem aktuellen Programm arbeiten zu können.

Ah jetzt wusste er wieder… er sollte die Daten aus Osaka noch sichten. Wie hatte er das vergessen können? Sie brauchten einen Abgleich, der bisherigen Informationen, die sie gesammelt hatten.
 

„Wie wäre es, wenn du Nagi eine Tasse Kakao mitbringst, hm? Darüber würde er sich doch sicherlich freuen.“

Omi seufzte. „Ich hoffe es. Wo finde ich ihn denn?“

„Erster Stock, links hinten.“

„Danke dir, Ran... aber wie geht‘s dir?“

Nun war es an Aya, zu lächeln. „Soweit gut, wenn ich nicht daran denke, dass ihr bald weg seid.“

„Ich will nicht daran denken...“

„Es ist besser so. Ihr seid hier in Gefahr.“

„Und du nicht?“

„Ich schlage mich schon durch.“

„Ran, wenn es stimmt und sie Schwarz wollen, dann bist du sicherer bei uns!“

Überrascht sah Aya Omi an und musste schmunzeln. „Willst du mich etwa überzeugen, mitzukommen?“

„Ja!“, kam es inbrünstig und Aya schüttelte den Kopf.

„Lass uns jetzt nicht darüber reden... jemand anderes braucht deine Unterstützung!“

„Raa~aan...“, quengelte Omi.

„Und jemand Telepathisches braucht jetzt MEINE Unterstützung! Also... viel Spaß!“ Sprachs und war nach oben verschwunden, ließ Omi alleine. Er seufzte. Gut... zurück zum Wesentlichen. Kakao. Nagi.
 

Omi machte sich daran, das Friedensangebot zu kochen und schlich sich schließlich nach oben, betrat ganz vorsichtig besagte Tür hinten links.

Da saß er, der Telekinet, völlig versunken in seiner Welt und beim Näherkommen deutlich erschöpft. Omi seufzte und stellte sich neben Nagi, setzte die Tasse Kakao in weiser Voraussicht ab, bevor er an die nächste Wand gepresst wurde und das Heißgetränk sich über ihn, die Wand und das zugegeben übersichtliche Interieur goss.

„Erschöpfungskontrolle. Wie ich sehe, halten Sie Ihr Ruhepensum nicht ein!“, sagte er bestimmt.
 

Nagi zuckte heftig zusammen, seine Hände pressten sich auf die Oberschenkel, für einen Bruchteil von Sekunden noch wollten diese ihn verteidigen. Doch er hatte die Stimme erkannt, die Stimme, die nicht ins Ryokan gehörte, die ihn überraschte, sein Herz rasen ließ.

Schon in der nächsten Sekunde rief er sich zur Ordnung und nahm sich die Brille von den Augen, die ihn von der Umgebung abschottete, um sie auf den Tisch zu legen. Er wandte den Kopf zur Seite und sah nach oben.

„Ist etwas passiert?“, fragte er ehrlich besorgt. Seine Stimme hörte sich selbst in seinen Ohren ein wenig uninteressiert an.

Omi kam ganz nah zu Nagi, stützte beide Hände auf die Lehnen des Stuhls. Sein Blick war ernst. „Ja, sehr viel, wie ich sehe.“ Er schüttelte den Kopf. „Muss ich erst wieder kommen, damit du dir etwas Gutes tust?“
 

Nagi blickte den anderen - dessen Augen fast auf gleicher Höhe mit seinen waren - an und wusste nicht sofort eine Antwort auf die Frage.

Was sollte er sagen? Dass er sich gerne fallen lassen würde, dass er müde war, so dermaßen müde, dass er Angst hatte sich hinzulegen mit dem Wissen, dass er noch so viel zu tun hatte und sein ihm selbst auferlegtes Pensum nicht mehr schaffte.

Es gab so viel zu antworten auf die Worte des anderen. Er wollte, dass Omi bei ihm war, aber … es war schmerzhaft, es war auch so sinnlos geworden. Weiß würden Japan bald verlassen. Wozu sollten sie sich treffen?

„Ich.. habe… verfolge einen strengen Arbeitsplan.“ Wie blau diese Augen doch waren. Nagis glasig müder Blick versank in dem kräftigen Blau von Omis Augen. Omi musste wohl erst vorhin geduscht haben, er roch nach seinem Shampoo, nach dem Duschgel, das Nagi kannte und mochte.
 

„Das sieht man. Ich auch. Und mein nächster Punkt ist, dich von deinem Schreibtisch in dein Bett zu befördern und dir eine Tasse heißen Kakao einzuflößen, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Also, was sagt deine Nase zu diesem Vorschlag?“ Omi lächelte und hauchte Nagi einen schnellen, kleinen Kuss auf die glatte Stirn, bevor er sich mit einem Zwinkern auf seinen Hosenboden zu Nagis Füßen plumpsen ließ, ganz der Zwanzigjährige, der doch so manches Mal verloren ging.

Der Jüngere hob seinen Kopf, seine Beine lagen etwas erhöht und ausgestreckt auf dem ledernen, ergonomischen Liegesessel, die Arme lässig auf den Lehnen. Der Kuss prickelte noch an seiner Stirn, er fühlte die Wärme, dem Druck nach und lächelte innerlich darüber, weil es seiner Sehnsucht nach mehr Nahrung gab.

Obwohl ihm der Besuch nicht recht war. „Du musst nicht hier herkommen, wenn du viel zu tun hast“, sagte Nagi leise und ließ den Kopf wieder sinken. Nur einen Moment, dann würde er sich aufsetzen. Aber…

Wie von selbst bewegte sich die Tasse zu seiner Rechten, die schließlich das warme Gefäß umfassten. „Danke“, sagte er und nahm einen Schluck. Süß und warm. „Er schmeckt wie er.“
 

Anscheinend war sich Nagi nicht bewusst gewesen, dass er den letzten Satz ausgesprochen hatte, so nachdenklich und offen, wie er ihn veräußert hatte.

Mit einem Lächeln auf den Lippen legte Omi sein Kinn in der Höhe von Nagis Knie auf dessen Oberschenkel, schaute mit großen, blauen Augen zu seinem Telekineten empor.

„Wie schmecke ich denn?“
 

„Wie bitte?“, Nagi sah irritiert hinunter zu dem frechen Gesicht, welches ihm zugewandt war.
 

„Du sagtest, dass der Kakao wie ich schmecke. Wie schmecke ich denn?“, spezifizierte Omi die Frage und die Finger seiner linken Hand krochen Nagis Bein entlang zum Oberschenkel.

Nagi bemerkte die sich anschleichende Gefahr nicht, er fühlte nur wie sich plötzlich Hitze in ihm ausbreitete, vor allem in sein Gesicht kroch. „Oh“, hauchte er peinlich berührt. „Ähm… ich hatte nur so ein Gefühl… als“, stotterte er, seufzte dann aufgebend, als er in die vertrauensvoll blickenden Augen zurücksah. „Süß und warm“, sagte er und seine Linke fand den blonden Haarschopf, seine Finger glitten in die weichen Strähnen. Er fühlte sich ausgebrannt.
 

Omi schmiegte sich dieser Hand entgegen und schloss die Augen. Es tat so gut, Nagi nahe zu sein, den anderen bei sich zu spüren.

Seine Kopfhaut prickelte, wo Nagi sie berührte.

„Du veräußerst wenig, was du denkst. Das ist schade.“
 

Nagi beobachtete wie sich Omi dieser Berührung entgegen schob, als würde er sie brauchen. Sie von ihm brauchen. Das war merkwürdig. Brauchte Omi ihn genauso wie er ihn brauchte? War es für Omi genauso schwer weg zu gehen, wie es schwer war für ihn selbst hier zu bleiben?

„Brauchst du es?“
 

„Was meinst du?“, murmelte Omi durch die Wohltat hindurch, die Nagi ihm hier angedeihen ließ. Es war schon viel zu lange her, dass sie sich einander nahe gewesen waren. Vor allen Dingen Crawfords Eskapade im Krankenhaus hatte Nagi in sich zurückgetrieben, nebst ihrem kleinen Disput in Beppu.
 

„Ob du die Berührung brauchst. Es sieht aus, als wärst du, wie soll ich sagen, ausgehungert, danach. Und ich wollte fragen, ob du es brauchst, dass ich veräußere was ich denke.“ Nagi nahm einen Schluck von seinem Kakao.
 

„Ich bin ausgehungert danach. Ich möchte dich berühren, dich anfassen, dir nahe sein. Ja, ich brauche dich. Und ich brauche es, dass du mir sagst was du denkst. Du hast dich in den letzten Tagen und Wochen in dich zurück gezogen... du hast Augenringe und siehst beinahe ausgezehrt aus. Das macht mir Sorgen, weil du dich über das ausschweigst, was dich belastet.“
 

Ein einziger großer Vorwurf klang aus den Worten heraus. Nagis Mund bildete eine gerade Linie als er seine Hand aus dem Haar nahm und sich aufsetzte. Er glitt auf der anderen Seite aus dem Sessel und blieb mit dem Rücken zu Omi sitzen. Die Tasse hielt er immer noch in der Hand und er blickte in die dunkle Flüssigkeit.

„Du weißt was mich belastet, das habe ich dir gesagt. Du brauchst mich auf eine Weise, die mir Angst macht. Vor allem jetzt, wo ich weiß, dass es lediglich eine reine Terminsache ist. Zeitlich terminiert. Begrenzt und sinnlos.“ Nagi wischte sich über die Augen. Sie brannten vor Müdigkeit.
 

Omi starrte auf Nagis leeren Platz. „Sinnlos?“, echote er langsam. „Was ist sinnlos? Die verbleibende Zeit sinnvoll zu nutzen? Die verbleibende Zeit dazu zu nutzen, sie so schön wie möglich zu verbringen oder zu verdrängen, dass wir uns gut tun? Denkst du, ich habe vor, dich zu vergessen, wenn wir in… den Staaten sind? Denkst du das von mir?“

Fern lag die Frage nicht, denn Omi hatte schon einmal vergessen um nicht weiter verletzt zu werden. Er hatte schon einmal alles beiseitegeschoben. Er würde es wieder tun, wenn es keinen Ausweg gab, doch noch hoffte er darauf.
 

Schweigen hüllte sie ein. Mehrere Minuten lang herrschte in Nagi einfach nur dumpfe Leere. Sein Kopf war wie leergefegt. Wo waren all die klugen Worte hin?

„Als Crawford im Krankenhaus lag dachte ich, dass ich fallen würde, in ein Loch ohne Grund. Ich habe sonst niemanden außer… ihn. Ich kann nicht allein sein. Ich verliere den Halt, die Bodenhaftung, die Kontrolle in der Einsamkeit. Das habe ich erst bemerkt, als… als er in Gefahr war“, sagte er tonlos.

„Das ist noch nie passiert. Er… ist derjenige, der sich um uns sorgt. Er hat immer auf mich geachtet. “
 

Omi schwieg zunächst, den Blick auf Nagis Rücken gerichtet. Er lehnte sich zurück und seufzte schwer. „Du hast nicht nur ihn. Er gibt dir Halt und Stärke, aber es gibt noch andere. Die geben dir anderes. Mehr als das.“ Omi spielte auf Schuldig an und auch den Iren... und auf ihn. Ja, auf ihn, denn er fühlte sich dafür verantwortlich, dass es dem schmalen Japaner gut ging und dieser eben nicht in der Einsamkeit ertrank und unterging.
 

„Vielleicht. Doch er war derjenige, der mir einen Rahmen gab, Halt und auch ein Zuhause. Er holte mich von SZ weg. Und Schuldig… Schuldig ist unberechenbar. Zumindest in einigen Abständen. Er ist anders als Brad, unstet. Jei dagegen ist nicht kommunikativ, er handelt und lebt nach eigenen Gesetzen, auch wenn es scheint, als würde er auf Brad hören. Es ist kompliziert mit ihm. Und du… du gehst.“

‚Du bist richtig für mich’, wollte er sagen, schwieg aber.

Es hörte sich zu sehr nach Schwäche an, die er im Augenblick nicht bereit war zuzugeben. Er verachtete sie. Obwohl es klar war, dass er alles andere als stark in dieser Situation war. Allerhöchstens starrsinnig oder trotzig. Das war keine Stärke.
 

„Ja... ich gehe. Weil ich gehen muss.“ Aber nicht gehen wollte. Er wollte niemanden hier in Japan zurücklassen. In allererster Linie Ran nicht, aber in der letzten Zeit war in Omi immer mehr der Gedanke aufgekommen, dass er Nagi ebenso wenig alleine lassen wollte.

Und das bei ihm, dem gefühlskalten Takatorisprössling. Gefühlskälte, die nicht nur Reiji gezeigt hatte sondern auch Persha. Es war ein Familienfluch. Wer bürdete schon seinem eigenen Kind ein solches Leben auf? Omis Kiefer malten. Vergiss es. Lass es nicht nach oben kommen.

Er schnaubte innerlich. Vieles war bei Kritikers Erziehung draufgegangen, in allererster Linie seine Fähigkeit, mit Leidenschaft zu lieben und festzuhalten. Doch langsam schien eben das wieder zu kommen.

Langsam aber zu spät. Sie würden fliegen und vielleicht würden sie niemals wieder nach Japan zurückkehren.

„Hast du ihm das gesagt, was du mir jetzt gesagt hast? Weiß er, was er für dich ist?“

„Glaubst du allen Ernstes Brad wüsste das nicht?“, fragte Nagi und erhob sich. „Er weiß was wichtig für mich ist.“ Nagi wandte sich zu Omi um, sein Gesicht bar jeder Emotion, doch in den Augen tobte ein Gewitter.

„Sonst wärst du jetzt wohl kaum hier. Meinst du nicht?“ Er verzog den Mund missbilligend.
 

„Schuldig hat mich rein gelassen, nicht er. Und zumindest euer Telepath scheint von meiner Wichtigkeit, was deine Person betrifft, überzeugt zu sein.“ Omi hob seine Hand Nagi entgegen.

„Glaubst du nicht eher, dass es heißen muss: er weiß, wie wichtig er für dich ist?“
 

„Das ist unerheblich.“ Nagi ging um die Liege herum auf die Seite auf der Omi am Boden saß und blickte zu ihm hinunter.

„Er hat dich akzeptiert und das nur um meinetwillen, damit du mir gut tust. Er weiß, dass er alleine für meine Entwicklung seelischer, geistiger und spiritueller Art nicht ausreichen wird. Er achtet auf mich.“ Nagi verstummte. „Wir feiern jedes Jahr Weihnachten zu Zweit“, sagte er leise und setzte sich auf sein Bett, damit er nicht so weit von Omi entfernt war. Er wurde seiner Tasse gewahr, die er immer noch in der Hand hielt und nahm jetzt einen Schluck von dem Kakao.
 

Sich auf die Liege hievend, damit er nicht mehr ganz so starr nach oben sehen musste, schüttelte Omi lächelnd den Kopf. „Wer hätte jemals gedacht, dass Crawford ein so liebevoller Mensch ist. Ich nicht. Du hast anscheinend eine bessere Kindheit gehabt als ich.“ Das Lächeln glitt trotz des Zwinkerns in eine bittere Richtung.

„Also sollten wir doch das Beste daraus machen. Und er hätte mich sicherlich nicht in deine Nähe gelassen, wenn ich dir nicht trotz unseres Umzuges gut tun würde.“
 

„W…“, Nagi runzelte irritiert die Stirn und verstummte. „Ich… denke… das könnte stimmen…oder?“, völlig verunsichert hob er die Augen zu Omis Gesicht und sah ihn zweifelnd an. Und dann schüttelte er den Kopf. „Das stimmt.“ Brad hätte niemals der Verbindung zugestimmt, wenn er vorausgesehen hätte, dass Nagi unglücklich dadurch werden würde.

„Siehst du. Lass uns doch einfach auf euer Orakel vertrauen. Er wird schon die richtige Entscheidung getroffen haben“, erwiderte Omi und grinste.

„Ich bin froh, hier zu sein und hier sein zu dürfen. Ich möchte deine Gegenwart nicht missen, Nagi.“ Fast schon sachlich hatte er diese Worte veräußert, aber eben nur fast. Ein Stich an Zuneigung war gut zu hören.
 

Nagi hatte nur mit halbem Ohr zugehört, er nickte Omis letzten Satz ab, war jedoch in Gedanken immer noch bei seiner Argumentation.

Wenn aber Brad zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war, hätte er Nagi vor beginnendem Kummer gewarnt? Er war schließlich selbst zu Schaden gekommen, Schwarz dadurch bedroht.

Doch… damals, als sie sich vor ein paar Monaten näher gekommen waren, da hatte Brad sich nicht negativ geäußert zum jungen Takatori.
 

Nagi war einen Moment lang von ihrem Gespräch abgelenkt und das nutzte Omi natürlich – gemäß seiner Abstammung – augenblicklich aus, als er mit einem Satz bei Nagi war und diesen rücklings auf das Bett geschubst hatte.

Natürlich war der andere stärker als er, natürlich könnte er ihn mit einer bloßen Handbewegung zerquetschen, doch damit rechnete Omi nicht. Nicht mehr.
 

„So... und was mache ich nun mit unaufmerksamen Telekineten?“, fragte er anstelle dessen dunkel, schnurrend beinahe.

Nagis Hände hielten sich an Omis Oberarmen fest und er ließ von seinen grüblerischen Gedanken ab. „Du siehst unternehmungslustig aus.“ Er sah in die blauen Augen, die von Sicherheit und von Beständigkeit sprachen. Nagis Lippen zitterten. Er wollte, dass Omi bei ihm blieb, dass diese Beständigkeit für ihn von Dauer war.
 

„Meinst du, sie würden uns hören?“, grinste Omi verschlagen und warf einen kurzen Blick zur Tür. „Wenn nein, bin ich SEHR unternehmungslustig!“ Seine Lippen bedeckten die bebenden Nagis und lockten sie, sich zu öffnen.
 

„Was willst du vor einem Telepathen verbergen?“, fragte Nagi ernsthaft nach. „Wenn Schuldig neugierig ist, kann ihn niemand davon abhalten nachzuforschen. Selbst Ran nicht, der bekommt es nicht mit. Es ist wie atmen für Schuldig die Gedanken anderer zu lesen. Es geschieht fast ständig. Die einzige Möglichkeit um ihn abzuwehren ist sich so langweilig wie möglich zu präsentieren. Wenn es dir nichts ausmacht, dass Schuldig deine Gedanken liest, dann ist es mir ebenso gleich.“ Dann als hätte er bemerkt wie ernst er all das behandelte versuchte er sich an einem Lächeln. Er öffnete leicht seine Lippen, berührte die des anderen und fühlte in sich etwas Drängendes, was die letzten Tage von ihm unterdrückt worden war. „Wenn wir leise sind, dann hört niemand etwas…“, wisperte er an die Sanftheit der Textur von Omis Lippen. Er wollte Sex mit Omi, allerdings war es so schwer für ihn geworden nicht daran zu denken, dass es nur mehr Sex war. Dass Omi ihn verlassen würde.
 

„Schuldig könnte uns überall hören, außerdem wird er gerade von Ran auf Trab gehalten – hoffe ich“, schob Omi nach. „Ansonsten bin ich Exhibitionist genug, um das durchzustehen, weil ich ja nicht IHN beachten will, sondern DICH. Dafür bin ich dann auch leise.“ Er zwinkerte und bedachte Nagis Lippen erneut mit einem zarten Kuss, wanderte dann zur Nase und zwickte hinein.

„Du bist hungrig? Hast du noch nichts gegessen?“, fragte Nagi mit Vorwurf in der Stimme. Die Tonlosigkeit, die zuvor in seiner Stimme zu hören gewesen war verlor sich langsam.
 

„Sehe ich aus wie dein Appetithäppchen?“ Nagi zierte sich noch ein wenig, entzog dem Älteren seine Nase. Das Grau seiner Augen richtete sich auf die fedrig geschnittenen Haare des anderen. Omi war offenbar beim Friseur gewesen. ‚Sie sind nachgeschnitten worden’, dachte er und berührte eine Haarsträhne an Omis Schläfe.

„Oh ja... wie ein knuspriges, appetitanregendes Häppchen... an dem ich mich satt knabbern könnte“, gurrte Omi und bewegte seine Hüften gegen Nagis.

„Weißt du eigentlich, dass du dich mit Schlagsahne und Schokosauce sehr gut machen würdest?“

„Das liegt einzig und alleine daran, dass ich einen hellbraunen Yukatta mit weißem Kreismuster trage. Das impliziert eine derart verwerfliche Assoziation in deinem von Sex geprägten Kosmos, dort oben“, Nagi tippte dem anderen an die Schläfe und hob eine Augenbraue.
 

Empörung machte sich in den blauen Augen breit. „Du bist frech heute! Sehr frech! Warst wohl zu lange mit Schuldig unterwegs, was?“, neckte er den anderen und trieb seine Finger in Nagis Seiten.

„Natürlich nicht“, kam die Antwort und Nagi begann bereits sich aus den gemeinen Händen winden zu wollen.

„Im Übrigen bin ich intelligent genug um einen Sexbesessenen auch ohne ein Vorbild zu erkennen“, begann sich langsam ein leises Lachen seine Kehle empor zu bahnen. Doch ganz konnte er die Anspannung und Angst nicht loslassen.
 

Und genau die versuchte Omi jetzt aus Nagi mit aller Macht heraus zu kitzeln, als er durch geschickte Gewichtsverlagerung etwas mehr über den anderen kam und diesen festsetzte.

„An deiner Intelligenz habe ich überhaupt keinen Zweifel... aber ich hatte gehofft, dass du nicht GANZ so schlecht von mir denkst!“

Die Finger, die Nagi so grausam peinigten schienen überall dort zu sein, wo sie immensen Schaden anrichten konnten. Nagi konnte die nächste Lachsalve nicht unterdrücken und lachte dieses Mal laut und gelöst, bis ihm die Tränen kamen. Es glich einer Befreiung, als die Tränen liefen. Bis es keine Lachtränen mehr waren, bis er spürte wie das Lachen in Weinkrämpfe überging und er nicht mehr wusste, ob er noch immer lachte wegen dem Kitzeln oder ob er bereits weinte, weil die seelische Anspannung der letzten Tage ihn verließ. Er wandte das Gesicht ab, blieb liegen wie er war und versuchte sein Gesicht vor dem anderen trotz dem Gewicht auf sich zu verbergen.
 

Zunächst war da Erstaunen gewesen, dass Nagi lachte... wirklich lachte. Dann waren da Zweifel gewesen, als Omi die Tränen gesehen hatte. Schließlich jedoch hatte er aufgehört, den anderen seiner grausamen Folter zu unterziehen und hatte ihn nunmehr gehalten, still und besänftigend, den zitternden Schopf mit seinen Händen berührend.

Er sagte nichts, keinen Ton, sondern war einfach für ihn da.
 

Es war erniedrigend und beschämend wie er sich hier in Anwesenheit des Älteren aufführte, rief sich Nagi - nach respektive lang erscheinenden Momenten im Tal der Tränen - zur Ordnung. Er zwang sich zur Ruhe und als die letzten Tränen verebbten, der Strom versiegte, wischte er sich über die Wangen und versuchte sich aufzusetzen. Ihm war es, als hätte er immer noch seine eigenen Schluchzer in den Ohren, die unnatürlich laut und hässlich geklungen hatten. Erbärmlich.

„Ich bin wirklich das Letzte“, sagte er leise. Er war schwach. Er brauchte Brad. Er brauchte jemanden der ihm Stärke gab, denn er war nicht lebensfähig ohne einen festgesteckten Rahmen, ohne Halt.

„Wieso?“, fragte Omi schlicht, hielt Nagi aber sicher in seinen Armen und war darauf aus, möglichst viel von dem Telekineten zu spüren.
 

Nagi atmete tief ein, machte sich umständlich aber bestimmt vom anderen los, blieb jedoch auf seinem Platz neben Omi sitzen. Die ständige verständnisvolle Gegenwart machte ihm langsam zu schaffen. „Ich heule hier herum, dabei gibt es keinen Grund, es ist peinlich und beschämend, wie ich mich hier aufführe.“

„Gibt es denn nicht? Du erlebst gerade, wie deine Welt auf den Kopf gestellt wird. Die Sicherheit, die vorher ein Schild für Schwarz war, ist mit Auftauchen dieser neuen, unbekannten Gruppierung weg, die anscheinend uns beide bedroht. Erst stirbt Schuldig, dann ersteht er wieder von den Toten auf. Anschließend wird dein Halt und deine Stärke verletzt, kommt ins Krankenhaus, schwer verletzt. Und du willst mir sagen, dass es keinen Grund gibt? Nagi... ich habe wegen weitaus geringerer Tragödien Tränen vergossen. Und... es tut GUT. Es BEFREIT.“ Omi überlegte einen Moment lang. „Außerdem ist es menschlich.“ Er lächelte leicht und streifte mit seinen Fingern das Nass auf Nagis Wangen.

Dessen herabhängende Mundwinkel wollten nicht so recht zur vorherigen Form zurückkehren. Nagi zuckte mit den Schultern. Er ließ sich wie ein nasser Sack auf das Bett zurückfallen, seine Haare verteilten sich fedrig um seinen Kopf und er wischte sich mit der Hand über die heiße Stirn.

„Was für eine unnötige Aufregung.“ Ein leiser Seufzer entschlüpfte seinen Lippen. „Es gab früher durchaus schlimmere Momente. Doch früher… da war etwas anders.“ Er wusste nur nicht was.

„Was war denn anders?“, fragte Omi, sich der Unwissenheit des anderen nicht bewusst. War es die Kälte gewesen, mit der Nagi sich umgeben hatte? Die Rücksichtslosigkeit, mit der Schwarz gegen ihre Gegner vorgegangen war?

Vor Jahren hätten sie nicht die Chance gehabt, sich so nahe zu sein, wusste Omi. Sie hätten sich umgebracht. Ohne zu zögern.

„Ich bin schwächer geworden“, sagte er nach einer kleinen Weile, in der er selbst keine Antwort auf diese Frage erhalten hatte.

„Inwiefern schwächer?“
 

Nagi richtete seinen Blick von der Zimmerdecke zu Omis Gesicht, welches für ihn schwer lesbar war. Wie sehr sich dieser stetig gute Laune mimende Takatori Sprössling doch von eben diesem zu demjenigen welchen unterschied, den Nagi kannte und auch ein Stück weit brauchte.

„Sieh mich doch an“, sagte Nagi leise, mit einer gewissen Dringlichkeit in der Stimme. „Ich erkenne, dass ich dich brauche. Dass ich Crawford brauche. Geradezu auf euch angewiesen bin, damit ich… funktionieren kann. Ich fühle mich getrieben, als hätte mich jemand von der Kette gelassen und ich wüsste nicht wohin es zu rennen gilt.“ Er brauchte die Kette. Die Kette, die ihn früher gehalten hatte.
 

„Du hast dir Zeit gelassen mit dem Ausbrechen... und nun ist es umso schwerer für dich. Lass mich raten, du hast dein ganzes Leben unter Führung verbracht? Unter starken Persönlichkeiten, die dir gesagt haben, was du tun sollst? Und nun entscheidest du zum ersten Mal Dinge selbst, die dich persönlich betreffen. Himmel, was meinst du, was ich damals für einen Schiss hatte, Nagi? Und ich verfüge nicht über Kräfte, die ganze Häuser einstürzen lassen können. Es ist NORMAL, dass alles ätzend ist, scheiße und ungewohnt... unsicher.“

Omi strich in aller Ruhe über Nagis Wangen. „Und ich brauche dich ebenso.“

„Warum?“

Nagi erstaunte der letzte Satz von Omi. „Warum gerade ich? Ich verstehe diese Hartnäckigkeit der letzten Zeit mir gegenüber nicht. Unsere Auseinandersetzung sollte dir doch gezeigt haben, dass…“, er verstummte, denn er verstand es nicht.

„Du könntest jeden anderen haben, der dir zusagt. Ich… mein einziger Vorzug ist es diese Art Fähigkeit zu haben, meine Intelligenz, ansonsten gibt es nichts was mich anziehend für dich macht. Mein Aussehen ist bestenfalls mittelmäßig, meine soziale Kompetenz verkümmert. Ebenso meine körperliche Statur.“
 

Omi schraubte sich langsam über Nagi und betrachtete sich den anderen für einen langen Moment schweigend. Härte schlich sich in seine Züge.

„Hör auf damit“, sagte er ernst. „Du bist dein eigenes Gesamtpaket. Und dein eigenes Gesamtpaket hat mich fasziniert. Deine Kräfte... interessieren mich nicht, es sei denn, du benutzt sie für interessante Dinge.“ Er zwinkerte, wurde dann jedoch wieder ernst. „Du bist so stark, dass du einer der gefährlichsten Menschen bist, die ich kenne. Aber das hat mich garantiert nicht gereizt. Deine menschliche Seite, die hat mich gereizt. Die Art, wie du mit Fremdwörtern um dich wirfst, wenn du wütend bist, die Art, wie du die Nase hochziehst, wenn dir etwas gegen den Strich geht, die Art, wie du mich ansiehst, wenn dir etwas besonders gut gefällt, die Art, wie du mich ansiehst, wenn du mich willst. Die Art, wie du kleine Geräusche von dir gibst, wenn ich dich anmache, oh man. Du bist so viel mehr als Telekinet, Soziopath und schmalhüftiger Jüngling!“
 

Nagi hatte der Zurechtweisung mit reduzierter Atemtätigkeit gelauscht und ihrer verdutzt geharrt. Nun jedoch musste er dem Drängen seiner Lachmuskeln nachgeben. Es platzte förmlich aus ihm heraus. Sein rechtes Bein fädelte sich unter Omis und brachte ihn zur anderen Seite zu Fall, er setzte sich über ihn, kopierte dann dessen vorherige Stellung.

„Und du sagst das nicht alles, weil du den schmalhüftigen Jüngling nackt und… erregt sehen möchtest?“ Nagis Hände führten Omis Arme über dessen Kopf und hielten sie dort locker über den blonden Schopf auf dem Bett fest, während er sich zu Omis Lippen beugte und diese zögerlich zart mit seinen berührte. Während er sich damit beschäftigte und er darauf wartete, dass Omi sich seiner annahm, begann er eines seiner erlernten Kunststücke aufzuführen und öffnete mittels der feineren Sinne, die ihm zur Verfügung standen, die kleinen durchsichtigen Knöpfe an Omis Hemd.
 

Nagi... überrumpelte ihn. Er hatte ihn überrumpelt! Verdammt nochmal! Omi war begeistert, hellauf begeistert! Und… also wenn Nagi keine dritte Hand gewachsen war, so war es seine Telekinese, die ihm so sanft das Hemd öffnete, beinahe schon kitzelte.

Omi grinste und schnappte nach Nagis Lippen um sie mit sanften Küssen zu bedenken.

Die Art, wie Nagi ihn hier hielt, wie er Dominanz ausübte, war berauschend.

„Würde mir im Leben nicht einfallen!“

„Diese defensiven Worte sind lediglich einer gewissen Angst geschuldet, dass ich jetzt machen könnte was ich wollte, denn ich habe dich in meiner Hand und du bist klug genug um mir Komplimente zu machen, um dir meine Gunst zu sichern“, meinte Nagi und öffnete ebenso wie zuvor die Hemdknöpfe nun auch Omis Gürtel samt Knöpfen und Reißverschluss. Noch immer kniete er zu beiden Seiten des Beckens des ihm Ausgelieferten und gab die Arme nicht frei, die er mit sanftem Streicheleinheiten bedachte.

Omi stöhnte und wölbte sich Nagi entgegen. Egal, was es war, das den anderen ritt... es war GUT.

„Ja... sehr klug bin ich...“, raunte er und reckte seinen Hals empor, entblößten ihn.
 

Doch so recht wusste Nagi nicht wie er nun diesen unterschwellig gefügigen Takatori Sprössling nun behandeln sollte. Macht über andere war schön und gut, aber Macht über jemanden den man nicht verletzten, sondern erregen wollte, das war nicht gut… für so etwas wie ihn. Was ihm ein wenig seine Unsicherheit nahm, war das eindeutig geäußerte Wohlgefallen, dass er Omi zu bescheren schien. Seine Lippen fanden ihren Weg über die Wärme der Wange zum Ohr. „Du überlässt deinen empfindsamen Körper, jemanden wie mir?“ Mittels unsichtbarer Hände zerriss er die Unterwäsche des anderen und übte sanften Druck auf das weiche Gewebe darunter aus. Seine Zungenspitze stippte entlang der Ohrmuschel über die Haut bevor sich seine Lippen darum bemühten die Feuchte weg zu küssen.
 

Omi zischte, doch keinesfalls aus Missfallen... eher im Gegenteil. Ihm gefiel es außerordentlich, wie Nagi mehr und mehr Selbstvertrauen dazu erlangte.

„Ja... dir. Das ist meine Risikofreude, weißt du doch!“, erwiderte er etwas atemlos.

Nagi entledigte sich des Haltebandes seines Yukattas, während er sich auf den anderen bettete, sodass sich ihre bloße Haut berührte. Seine Linke streichelte sich über die Arme einen Weg auf Omis Brust, schob das geöffnete Hemd auf einer Seite beiseite um die warme Haut darunter zu berühren.

Ein Glitzern stahl sich in Omis Augen und er schmunzelte. Der Andere hielt ihn nicht mehr ganz so starr, so nutzte Omi die Gelegenheit um sich die Vormachtstellung zurück zu erobern. Einfach um zu spielen. Leise keuchend vollzogen sie den Stellungswechsel, Nagi überrascht, Omi glücklich über die Überrumpelungstaktik.

Er grollte leise und vergrub seine Hände in den Haaren des Telekineten.
 

Sein Ausflug in die Welt der Dominanz hatte Nagi genossen, dennoch war er froh darüber Omi dort zu wissen wo er hingehörte, über ihn, ihn haltend, ihn führend und ihn vereinnahmend. Nagi spürte den rauen Stoff der Jeans auf seiner Haut, fühlte die Erregung des Älteren an seiner.

Seine Hand stahl sich über Omis Flanke zu dessen Bauch, über die geöffnete Hose bis hin zu der halb erstarkten Männlichkeit, die er wie immer etwas scheu umfasste.
 

Omi zischte erneut und streckte sich Nagi entgegen, den Kopf in den Nacken legend. Einen Moment lang genoss er die elektrisierenden Berührungen, einen Moment lang ließ er Lust in seinen Unterleib schießen.

„Nagi...“, gurrte er und ließ seine Hand über dessen nackte Brust gleiten.

„Ich habe dich vermisst“, wisperte Nagi und küsste die Stellen derer er über sich habhaft werden konnte, in diesem Fall das Schlüsselbein, während seine Hand damit begann Omis sanft aber nachdrücklich zu stimulieren.

Er spürte wie von Omi verschwenderisch Hitze zwischen seinen Fingern hindurch auf seine Haut strömte.
 

„Gott... du sprichst mir aus der Seele“, wisperte Omi und ließ sich von Nagi treiben, überließ diesem im Moment die Regie. Nun würde er erst einmal fühlen... würde erst einmal fahrig über den Oberkörper des anderen streichen, hinunter zur Körpermitte.
 

„Ich möchte mehr von dir.“ Nagis Stimme kroch über Omis erhitzten Körper als sich seine Lippen an dessen Hals gütlich taten. „Das reicht mir nicht… nicht mehr… ich will mehr.“ Er steigerte seine Bemühungen, fühlte wie Omis Erregung hart und prall in seiner Hand lag.
 

Kaum mehr in der Lage zu denken, geschweige denn, den Worten des anderen zu folgen und sie zu verstehen. Mehr? Wie... mehr?

Mehr als sie sonst hatten? Hier?

Aber... was wäre...

„Du willst mit mir schlafen... hier?“, fragte er, schaudernd ob der Reizung. Aber was... wenn es erneut zu einer telekinetischen Entladung kam? Wenn es dieses Mal um einiges stärker wurde?
 

„Ja…“, noch bevor er zu einer Erklärung ansetzen konnte klingelte das Telefon und er hielt für einen Augenblick inne in seinem Tun. In zweitem Moment jedoch streckte er die Hand aus, die zuvor Omis Oberarm in Beschlag genommen hatte und nahm seine Handreichung mit der Rechten wieder auf.

Er nahm ab und blickte in das gerötete Gesicht, welches über ihm schwebte, lächelte ein wenig atemlos aber auch fast schon gemeingefährlich zu nennen.

„Crawford?“, meldete er sich.
 

„Urrgs“, kam es ausgesprochen leise von Omi und er schmollte, stillte jedoch seine Berührungen, um Nagi nicht in prekäre Situationen zu bringen, zumindest nicht vor dem sadistischen Orakel. Was diesen anscheinend aber nicht tangierte, so wie er ihn hier reizte und Omi schaudern ließ. Die Zähne in die Unterlippe getrieben, versuchte er sich an vollkommener Stille, als Nagi sein empfindliches Fleisch wahrlich unter Druck setzte.
 

Der sich entgegen seiner Absicht darüber amüsierte und das Gespräch hinauszögerte. Vermutlich einem just auftretenden sadistischen Anfall geschuldet. Brad dagegen hatte klare Anweisungen für ihn: „… könnte ernsthafte Schwierigkeiten nach sich ziehen.“

„Mit Sicherheit könnte es das“, sagte Nagi darauf, als Erwiderung tonlos und kühl wie stets.

„Dann siehst du die Notwendigkeit einer Ortsverlagerung oder der Einstellung eures momentanen Vorhabens ein?“

„Ich sehe die Notwendigkeit ein“, vermeldete Nagi pflichtbewusst und legte auf.

„Ich denke, der Mann ist ein Hellseher... wie kommt es, dass er immer in den unpassendsten Momenten stört?“, grollte Omi und drängte sich Nagi entgegen, senkte seine Lippen auf die des anderen.

„Der unpassende Moment liegt im Auge des Betrachters. Für ihn ist der Moment so passend wie jeder andere, wenn wir uns entschließen einen Anschlag auf das Haus auszuüben“, meinte Nagi uns verlor wieder etwas seiner Kühle. Die Kuppen seiner Finger touchierten die pralle Spitze, pumpten harsch das heiße Fleisch in seiner Hand. Er genoss den Atem den Omi an seine Haut entließ.

„Wenn du so weiter machst... bin ich auf dem besten Weg, dass mir das egal ist...“, keuchte Omi und vergrub seine Stirn auf Nagis Brust.
 

„Da fällt mir ohnehin noch etwas ein…“ mit einem vorgeblich zuvorkommenden Lächeln löste sich Nagi von Omi, wischte sich den Yukatta samt Bindeband um den Körper und lief leichtfüßig zu einen seiner Rechner, nur um nach einem Blick auf die Versorgungskurve zurück zum Bett zu hasten. Er küsste Omi harsch auf die Lippen. „Nicht davon laufen und auch nicht ohne mich weitermachen. Ich muss mich nur schnell um etwas kümmern.“ Omi auf dem Bett zurücklassend, holte er aus dem Wandschrank auf dem Flur einen weiteren Yukatta in ähnlicher Größe wie seiner und kehrte ins Zimmer zurück. „Zieh das an. Ich bin gleich wieder da.“ Er wischte wieder aus dem Zimmer und eilte hinab…
 

Wie... bitte?

Was zum Teufel war denn jetzt los? Himmel Herr Gott nochmal, Nagi konnte ihn doch verdammt nochmal nicht einfach so hier liegen lassen! Er... er war scharf bis in die Haarspitzen und MUSSTE kommen!

Omi überlegte allen Ernstes, dem ein Ende zu bereiten, doch er hielt sich davor zurück. Nein... dafür war er doch zu gut... zu Weiß. Er wollte Nagi ja schließlich seinen Spaß nicht verderben. Seinen sadistischen, bösen Spaß.
 

Dieser suchte den Waschraum im Erdgeschoss auf, durchquerte ihn und erreichte somit den Raum, der den hauseigenen Generator beheimatete. Er startete ihn und wischte hinüber zum Computerraum, indem sie ihre Einsätze abstimmten und ausführten und schaltete den Strom auf den Generator um. Es dauerte einen Wimpernschlag lang dann schalteten sich die unwichtigen Geräte, das Licht in Einzelfällen und die Rechner deren Wichtigkeit von niederer Rangfolge waren ab.

Dann musste er noch in ihren Raum mit den Einsatzgerätschaften, ihren Waffen…
 

„Was zum Teufel“, wisperte Schuldig und fand sich im Dunkeln wieder, nur beschienen vom Licht, der Straßenlaterne auf der anderen Straßenseite und dem Schein der Himmelskörpern, der durchs andere Fenster fiel. Er war gerade dabei Massageöl auf die Haut des Mannes zu träufeln, der ohnehin schon weich wie Wachs in seinen Händen war. Schuldig stöhnte frustriert und richtete sich auf, stellte das Fläschchen zur Seite und massierte im Halbdämmer Rans Oberarm zu Ende. Schade um das vergeudete Öl. Er konnte keine Angreifer um das Haus oder in der Nähe ausmachen, was nichts zu bedeuten hatte.

Denn das Licht war nicht ohne das Zutun feindlich gesinnter Individuen ausgegangen. Und wer würde ihm schon die Aussicht auf diesen so malerisch hingegossenen Mann verwehren? Welcher böse, hinterhältige Übeltäter? Das konnten nur sehr böse Menschen sein!
 

Omi blinzelte verwirrt und wartete nun ebenso im Dunkeln wie die beiden anderen auch, nur dass er sich größte Mühe gab, mit seinen Fingern von seinem Gemächt wegzubleiben und auf Nagi zu warten, der... irgendetwas machte.
 

Was in aller Welt hatte Crawford Nagi gesagt?
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Coco & Gadreel

…and the ugly.

„Was ist passiert?“, fragte Aya vollkommen entspannt. Schuldig tat gerade sein Bestes um ihn von seinem vor ein paar Stunden erworbenen Wissen über den Iren und Yohji abzulenken und Aya wusste Schuldigs Bemühungen durchaus zu schätzen.

„Keine Ahnung. Aufregend nicht wahr?“, flüsterte der verschwörerisch und war gerade dabei sich aufzusetzen. Er zog das Leintuch heran und legte es über seinen nackten Ran, küsste ihn auf die Wange bevor er aufstand und zur Tür ging.
 

„Sehr aufregend...“, grollte Aya. „Untersteh dich und gehe jetzt weg. Ich bin gerade dabei, mich zu entspannen!“ Wohlig räkelte er sich unter dem Laken. Doch was, wenn es ein Angriff war? Nein... sicher nicht. Dann wäre Schuldig nicht so gelassen und zu Witzen aufgelegt. Nur… es war Schuldig, da galten normale Verhaltensweisen nicht.
 

„Na du bist mir ja ein schöner Freund“, spöttelte Schuldig und mimte den Beleidigten.

Er wandte sich zum Nachtisch griff sich die dort liegende Waffe, entsicherte sie rein zu schauspielerischen Zwecken und ging Richtung Tür.

„Warte hier auf mich, Babe, ich erledige schnell die bösen Buben und bin dann sofort wieder an deiner Seite“, sprachs und wollte die Tür öffnen, als es plötzlich leise klopfte. Schuldig sicherte die Waffe, seufze und öffnete die Tür, da er Nagis Signatur telepathisch erfasst hatte.
 

„Ich… wollte nicht stören…entschuldigt.“

„Was…zur Hölle… ist los?“, fragte Schuldig ungehalten, nur mühsam die aufkommende Verstimmung unterdrückend.
 

„Nichts. Ich habe den Strom auf den Genera…“, weiter kam Nagi nicht, da Schuldig ihn am Saum seines Yukattas fasste, ihn hochhob und ihn aufs Bett warf, danach die Tür schloss.

Er hörte nur noch ein verhaltenes Ächzen, als Nagi federnden Kontakt mit der Matratze schloss.
 

„Du hast was?“
 

„Den Generator eingeschaltet“, sagte Nagi kühl, die Hand umklammerte Stahlbänder, er wurde sich gerade in diesem Moment des nackten Rothaarigen neben sich bewusst und schluckte.
 

„Weshalb?“, wollte Schuldig wissen.
 

Das Bett senkte sich, doch es war nicht Schuldig, sondern... sondern...

Aya war SEHR froh über die Dunkelheit, während er sich auf die Seite drehte, überrascht zu Nagi sah. Was in aller Welt geschah hier denn jetzt schon wieder?

„Schuldig...“, knurrte Aya warnend. „...du hättest mir auch gleich sagen können, dass du mit ihm schlafen willst.“

Doch Schuldig ignorierte seine sogenannte bessere - in diesem Fall vorlaute - Hälfte und widmete sich dem bereits vom Bett hastenden Telekineten.

Schuldig schloss die Tür und schubste Nagi wieder aufs Bett. „Schön hier geblieben, junger Mann“, mahnte er streng und stand mit verschränkten Armen vor Nagi, der etwas nervös vor ihm saß.

„Was willst du mit den Handschellen? Und weshalb ist der Strom auf den Generator…“, noch bevor er es ausgesprochen hatte, verstummte er.

„Du willst doch nicht hier? Seid ihr verrückt?“, ächzte er und wartete auf eine Antwort. Die ausblieb.

Er konnte Nagis Gesicht nicht einsehen, aber er hätte schwören können, dass die Wangen gerötet und die Lippen trotzig verzogen waren. Zumindest wäre das sein Gesichtsausdruck gewesen wenn jemand ihn derart bloß gestellt hätte.

„Ihr könnt hier nicht vögeln!“
 

Aya glaubte, nicht richtig zu hören und zu sehen, als der junge Telekinet klugerweise floh, aber nicht ganz mit Schuldig gerechnet hatte, der ihn augenscheinlich auf diesem Bett haben wollte.

„Schuldig“, stöhnte Aya auf. Er hatte doch noch nicht einmal richtig verdaut, dass sich Youji und der Ire annäherten, dann musste er jetzt nicht noch Nagi neben sich im Bett haben, der sich von Schuldig eine Moralpredigt anhören durfte, was sein Sexualleben anging.

„Lass ihn doch... Omi wird schon nicht schwanger werden“, verkannte Aya das Problem schlicht aus Nichtwissen heraus.

„Wenn‘s nur das wär!“, schnaubte Schuldig resignierend und wedelte gelassen mit der Rechten in Richtung Ran.

„Was bringst du zu deiner Verteidigung vor? Wie willst du verhindern, dass uns hier gleich die Bretter um die Ohren fliegen?“, fragte er Nagi.

Dieser blickte ihn weiter stoisch an, als wäre er die Ruhe selbst, seine Finger jedoch verrieten die Unruhe im Inneren, sie spielten emsig mit den Handschellen.

„Fang nicht an zu heulen, Kleiner“, warnte Schuldig.
 

Nagi sprach immer noch nicht und Schuldig atmete tief ein, als er eine kühle Stimme vernahm, die jedoch ein minimales Zittern beinhaltete, welches darauf deutete, dass Nagi mit seiner Selbstbeherrschung zu kämpfen hatte.

„Es gibt immer noch die Möglichkeit einer Implosion.“
 

„Bullshit…“
 

„Das ist mein Problem… und ich WILL DAS. Hast du verstanden, MASTERMIND?“, schrie Nagi die letzten Worte. „Er geht weg. Du kennst das Problem nicht. Also halt dich da raus.“
 

Er stürmte zur Tür hinaus und schlug diese derart heftig hinter sich zu, sodass sie zu - und wieder aufflog. Schuldig pfiff leise über diesen dramatischen Abgang ihres kleines Prinzchen.
 

Aya hatte Nagi noch nie so dermaßen emotional gesehen wie gerade eben und es erstaunte ihn. Der sonst so kühle Japaner war gerade schier explodiert und das aus lauter Verzweiflung.

„Das war ja gelungen“, murmelte Aya und legte sich auf das Bett zurück. Nagi ließ das Haus einstürzen, wenn er Sex hatte? Vorstellen konnte Aya es sich nicht, aber... wer wusste ob es nicht doch so war?

Nun gut, dann warteten sie eben darauf, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fiel.
 

„Willst du etwa meine Fähigkeiten als Berater in Liebesdingen in Frage stellen?“ Schuldigs Stimme troff förmlich vor resignierendem Sarkasmus. Er wandte sich nach einem Moment um, schloss die Tür leise und fragte sich ob es noch Sinn machte die Tür für die nächsten Minuten noch zu schließen.

„Der führt sich wie ein pubertierendes Gör auf.“
 

„Ich würde schätzen, dass er verliebt ist. Und denk dran, wie du dich aufführst, wenn du verliebt bist. Wenn er sich ein Beispiel an dir genommen hat, können wir uns warm anziehen.“ Aya sagte es mit tödlichem Ernst, vergrub sein Gesicht jedoch unauffällig ins Kissen, damit Schuldig sein breites Grinsen nicht sah.

„Sehr witzig“, erwiderte Schuldig missvergnügt. Er hatte durchaus die ‚humorige’ Note von Rans Gesagtem zwischen den Worten heraus gehört.

„Und was heißt hier eigentlich aufführen? Wie führe ich mich denn auf?“, wollte er jetzt in gestrengem Ton wissen. Mit demonstrativ vor der Brust verschränkten Armen, blickte er in Oberlehrermanier hinunter auf die mit kühlem Licht beschienene Silhouette der Rückenpartie, die sich ihm einladend präsentierte und ihm zurief, dass sie gestreichelt werden wollte.
 

„Sag ich nicht“, kam es impertinent von dem ungehorsamen Schüler zurück. „Du musst ja schließlich nicht alles wissen!“

Oh das würde eine sehr strenge Strafe nach sich ziehen, aber Aya nahm die mit Freuden entgegen. Ihm war danach die Stimmung etwas aufzulockern, indem er Schuldig triezte.
 

Rans Stimme klang gedämpft, doch dessen unverschämt zu nennende, gar herausfordernde Replik schrie nach Rache.

„Und ob ich das muss!“, ereiferte sich Schuldig und kam wieder aufs Bett, kroch zu Ran und legte sein Kinn auf dessen Flanke. Mit spitzen Fingern, zog er aufreizend langsam das dünne Leintuch hinunter und streichelte die warme Haut darunter…
 

Währenddessen eilte Nagi zurück zu Omi, stürmte das Zimmer, in welchem die Monitore seiner drei Rechner den Raum mit Licht erhellten und blickte den anderen ein wenig außer Atem und vor allem mit zu allem entschlossenem Gesichtsausdruck an.

Er machte einen Schritt auf ihn zu, nahm seine Hand und wischte mit ihm aus dem Raum hinaus.
 

Omi hatte das Gefühl, dass sein Gehirn noch oben in dem Zimmer verweilte und ab dem Zeitpunkt, an dem Nagi ihn dermaßen wütend angeschaut hatte, nicht mehr arbeitete.
 

Sie gingen hinunter ins Erdgeschoss, über die Waschküche nach draußen. Dort durchquerten sie den Garten, dessen Umrandung hohe Hecken und einen hohen Holzzaun aufwies. Es regnete stärker. Nagi zog Omi zu dem Unterstand, mit zwei geschlossenen Seiten, der ihren Fuhrpark beheimatete. Unter den drei Fahrzeugen war auch ihr Einsatzwagen. Nagi lehnte sich an die Tür an, zog Omi an sich und küsste ihn erstickend, machte dem Frust Luft, der ihn quälte.
 

Omi versuchte nachzuvollziehen, was hier geschehen war, warum Nagi so erbost schien, doch es brachte ihm nichts... er musste auf Erklärungen warten, die ihm erst einmal in Form eines Kusses gegeben wurden, in den Omi sich hinein lehnte. Wut war es, die diesen Kuss kolorierte und Nagi weniger vorsichtig sein ließ als sonst, doch Omi begrüßte das sogar sehr.
 

Der Regen rauschte in seinen Ohren und Nagis umher flirrende Gefühle taten es in seinem Inneren ebenso, als er den etwas kleineren Takatori Sprössling gierig küsste, ihn wie ausgehungert bestürmte, als müsste er sich selbst und vor allem allen anderen etwas beweisen. Seine Linke drückte Omi die Handschellen an die Brust, während er an dessen Lippen keuchte, die Augen geschlossen hielt.

„Hier draußen ist es ungefährlicher. Entweder hier oder im Wagen.“
 

Omi starrte dümmlich auf die Handschellen, noch dümmlicher dann zum Wagen und Nagi bekam die volle Dosis seines Unglaubens.

Wie? Draußen? Handschellen? Er?

Es war schwül hier draußen und unromantisch, es roch nach Benzin und Autos... und Rücksitze waren für das erste Mal mit einem Telekineten sicherlich nicht das Richtige. Nicht wirklich...

Omi schluckte.

„Ich... soll sie mir anlegen? Für... hier?“, fragte er schließlich, die Stimme ungläubig.
 

Nagis Finger hatten sich in Verzweiflung um den Stahl geschlungen, als er in Omis Gesicht blickte. Die Innenseite seiner Unterlippe war bereits gehörig von seinen Zähnen malträtiert zwecks Kompensation der beginnenden Frustration aufgrund der befürchteten Ablehnung.

Und dann kamen die Worte, die den Knoten in seinem Magen ein wenig lösten.

„Du? Wieso du?“, Nagi schüttelte den Kopf. „Wie kommst du darauf?“
 

„Nicht? Ich dachte... dass ich...“ Omi verstummte und lächelte.

„Also soll ich dich fesseln, ja? Hier? Im Wagen?“ Seine Hand hob sich und strich Nagi zärtlich über die Wange. „Warum?“
 

Warum?

Warum kam Nagi das Lächeln nur mitleidig vor? Er verzog das Gesicht, fieberhaft darum bemüht Omis Stimme als nicht zu sanft, nicht zu liebevoll zu werten. Es war als würde der andere mit ihm wie mit etwas Zerbrechlichem umgehen. Und das wollte Nagi nicht. Er ließ seine Hand mit dem Stahl sinken und wandte sich seitlich an den Van an, blickte hinaus in den Regenguss.

„Weil es so ungefährlicher ist“, erklärte er lahm.

„Ich dachte, ich könnte schnell alles vorbereiten und habe den Notstrom umgeschaltet, habe die Dinge geholt, die wir brauchen und hier draußen ist es besser. Die Energie kann sich verteilen. Es ist nicht schlimm, wenn der Wagen zu Bruch geht, aber das Haus sollte dies nicht tun. Ich weiß nicht was passiert… wenn es zu… heftig wird“, sagte er peinlich berührt.
 

„Woher sollst du es auch wissen?“, erwiderte Omi wie selbstverständlich. Genauso fühlte er sich auch. Es war okay, dass Nagi es nicht wusste. Er wusste es auch nicht. Also...

„Da hilft nur eines: ausprobieren und sehen, was passiert“, grinste er in das abgewandte Gesicht und drehte es zu sich herum. „Ich würde mich freuen, die Ehre zu haben.“ Ernst hatte sich in seine Worte geschlichen.
 

Nagi spürte die immense Last, die von ihm abfiel, dennoch fühlte er auch eine Bekümmertheit, die sich nicht abstreifen ließ. Er lächelte ein verunglücktes Lächeln und lehnte den Kopf an die Wagenwand. „Ich wünschte, das wäre alles nicht nötig. Ich wünschte ich wäre normal.“ Er blinzelte und schloss die Augen. Stets war er stolz darauf gewesen nicht normal zu sein. Anders als die übrigen, die Normalen zu sein, nicht in ihrer Welt leben zu müssen. Und das seit damals, seit sie ihn ausgestoßen hatten, seit er als Kind zwischen dem Dreck und dem zurückgelassenem Nippes weggeworfen worden war. Verdammt, er wusste noch nicht einmal wer seine Eltern waren. Er wusste nicht wo er geboren worden war. Er wusste gar nichts. Er wusste nur, dass irgendwann Brad kam und ihn in seine Welt holte.
 

„Normal ist langweilig. Du bist außergewöhnlich... etwas Besonderes. Darauf kannst du stolz sein.“ Omi veränderte ihre Position und presste Nagi gegen den Van.
 

Nagi sah Omi an. Er war schon zu lange aus den falschen Gründen auf die falschen Dinge stolz gewesen. Warum brauchte es diesen… Menschen, der ihm das klar machte? Nagi schwieg zu seinen Gedanken.
 

„Also...Van oder Luxuskarosse? Oder gleich auf dem… feuchten Rasen?“ Omis Knie stahl sich zwischen Nagis Beine und rieb leicht.

„Wie soll ich denn in dieser ‚Zwangslage’ nachdenken können?“, Nagi erschauerte, verdrängte das Selbstmitleid, ließ den Sturm zu, fühlte sich gewollt und begehrt.

Sein Gesicht legte sich auf Omis Schulter, während seine freie Hand den Weg durch eine Stofffalte auf die warme Haut des Älteren fand. Er mochte den sehnigen, warmen Körper an seinem und zog Omi näher.
 

„So etwas nennt man dann eine Entscheidung aus Instinkt getroffen...“ Omi grollte und haschte nach den Lippen des Telekineten. Er verstärkte den Druck auf Nagis Unterleib. „Sag mir, wo du mit mir schlafen willst...“

„Ich habe die passende Umgebung für uns.“ Nagi wandte sich um, lehnte sich leicht an Omi und öffnete mittels einer Schlosskombination den Van. Ein Schalter am Eingang betätigte die Elektronik des Inneren ihres Überwachungswagens. Dutzende kleine farbige Lämpchen an den unterschiedlichen Geräten sprangen an. Zwei Monitore begannen zum Leben zu erwachen. Einige der Eingabegeräte leuchteten in blauen und grünen Farbnuancen. Nagi stieg in den Van, ging nach hinten bis er zu einer Liegefläche kam unter der einige Koffer verstaut waren. Die Liegefläche ging über die gesamte Breite des Wagens. Ein Futon war über dem kühlen Material ausgebreitet worden.
 

Omi folgte Nagi und schloss die Tür hinter sich. Ja... hier konnten sie es aushalten. Es war nicht ganz so steril von der Atmosphäre, aber dennoch verrucht.

„Soso...“, schnurrte er und folgte Nagi, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

„Jetzt bleibt nur noch die Frage des Wies. Wie willst du mich?“, fragte er Nagi im Näherkommen, ihn an sich ziehend.
 

Nun sah sich Nagi in einer Lage, die er nicht mehr so ganz überschauen konnte. Die Handschellen in seinen Händen erfuhren eine bedachtsame aber auch rege Fingerfertigkeit.

„Nun… das übliche, oder?“, fragte er unsicher nach. „In Anbetracht der Unkenntnis über derartige intime…“, Nagi verstummte.
 

Wie... das Übliche? Was war denn das Übliche?

„Möchtest du mir dabei in die Augen sehen... oder möchtest du meinen Körper spüren, wie er an dich geschmiegt liegt und sich in dir bewegt... möchtest du mich von hinten...leidenschaftlich... Wie willst du mich?“
 

Ach DAS meinte Omi.

Nagi spürte augenblicklich wie ihm die Worte in den Unterleib fuhren, direkt ohne Umwege. Er stöhnte verhalten.

Zu viele Entscheidungen, die er nicht treffen konnte, oder wollte. „Was wäre denn besser?“, fand er zu seiner Stimme zurück, die zugegebenermaßen viel zu leise in seinen Ohren klang. Er hatte das Gefühl, dass ihre Intimität hier in diesem kleinen Raum, der ihm so vertraut war, ihn einschüchterte.
 

„Alles nacheinander! Das ist das Beste!“, machte Omi hier klar, dass Nagi mit einem Mal nicht davonkommen würde. Auch wenn es nur spielerisch war. Nagi war unberührt und hatte anscheinend noch nie mit einem anderen Mann geschlafen. Er würde ihn nicht über Gebühr ausschöpfen, ganz abseits der Tatsache, dass er vermutlich quer durch den Van fliegen würde, wenn Nagi seinen Höhepunkt erreichte.

„Wie wäre es für den Anfang mit der guten, alten Löffelchenstellung? Die macht es uns am Einfachsten.“

„Gut.“

Nagi nickte und suchte in der eingenähten Innentasche des Kleidungsstücks, das er trug nach seinen Mitbringsel. Er drückte beide Packungen Omi in die Hand und kümmerte sich selbst darum sich auszuziehen. Wenige Augenblicke später lag sein Oberkörper frei, der Stoff nur gehalten vom Gürtel des Kleidungsstücks. Die Handschellen klickten um seine mageren Handgelenke. Als er fertig war sah er Omi an und kletterte auf das Lager, die Schöße des Yukattas um ihn gebreitet, nur marginal etwas verdeckend.

Nagi war...

„..schön“, sagte Omi und kam langsam nach. Genauso langsam ließ er sich vor Nagi nieder und hob dessen gefesselte Hände zu seinen Lippen, setzte erst auf die Finger einen Kuss, dann auf die Handrücken, schließlich auf die eisernen Bänder der Handschellen. Nagi begab sich in Fesseln... für ihn. Einzig für ihn.

Omi kam sich wie ein verdorbenes Stück vor, das sich der reinen, weißen Unschuld bemächtigen wollte. Er kam sich schmutzig vor... und dennoch absolut geehrt, dass Nagi IHM Vertrauen schenkte ihm das zu nehmen, was er nun beinahe zwei Jahrzehnte bewahrt hatte.

Er löste mit einer Hand den Yukatta und legte sich nackt neben Nagi.
 

Sich Omis Gedanken und dem dazugehörigen Brimborium nicht bewusst gab Nagi seine halb sitzende Position auf und lehnte sich mit seinen Händen auf Omis Brust, beugte sich zu ihm hinunter und küsste sich einen Weg über den Bauch. Seine Hände und Arme lagen ausgestreckt auf dem Körper des Blonden, während er das vernachlässigte heiße Fleisch mit Küssen und Lecken zu mehr Leben zu überreden suchte.
 

Omis nur zu gerne erwachende Männlichkeit ließ sich SEHR schnell überreden. Guttural stöhnte er auf und hob seine Hüfte, bat um mehr.

„Nagi...“, seufzte Omi selig und holte den anderen schließlich wieder zu sich hoch. „Lass mich dich verwöhnen“, raunte er und zupfte spielerisch durch die fedrigen Haare.

Nagi schmirgelte ihre Körper aneinander, als er dem Zug seiner Haare folgte und sich der Länge nach halb auf den anderen legte. Ein Zittern ging durch ihn, als sich ihre Geschlechter berührten, er den Drang nach mehr Reibung nachgeben wollte und schlussendlich in einem tiefen Zungenkuss Kompensation suchte.
 

Diesen Kuss nutzte Omi, um sich nun seinerseits zu Nagis noch nicht ganz wachem Fleisch zu stehlen und es zu streicheln, es mit harten Strichen zu verwöhnen.
 

„Mach…“, wisperte Nagi an Omis Lippen, seine Lider auf halber Höhe. „Ich bin nicht zerbrechlich“, grimmte er dann schon fast, zwickte den anderen sanft in die frechen Lippen.
 

„Gut...“, veräußerte Omi unheilschwanger und griff zum Gleitgel, benetzte seine Finger und kam dann wieder zu seinem eigentlichen Ziel zurück. Er folgte Nagis Drängen und umspielte den engen Muskelring vorsichtig, bevor er einen Finger ganz vorsichtig hinein gleiten ließ.

Nagis schneller Atem brach sich an der erhitzten Haut unter seinen Lippen, er presste seine Stirn an die Schulter unter sich, keuchte vor beginnender Lust, versuchte sorgenvolle Gedankensprünge zu verdrängen, die ihm einreden wollten, dass er trotz allem die Kontrolle verlieren würde.

Er wollte sie verlieren, wollte alle Fesseln in sich sprengen und hatte gleichzeitig große Angst vor den möglichen Konsequenzen.

„Komm... dreh dich“, gurrte Omi beruhigend, als er spürte, dass er Nagi fast soweit hatte, dass dieser nun mehr wollte, nicht verschreckt war.

Er selbst war hoch erregt, begierig darauf, sich in den schmalen Körper zu versenken.

Nagi hielt sich an dem kühlen Metall der Fesseln fest, drehte sich an der erhitzten Haut, überließ sich den fürsorglichen Administrationen. Zu behaupten die Gedanken, die Sorgen wären weggewischt, wie er es in blumigen Beschreibungen über den Sex zwischen Menschen gelesen hatte wäre glatt gelogen gewesen. Sie waren keineswegs weg, er schwankte zwischen An-und Entspannung.

Ein beruhigendes Grollen ertönte hinter ihm. So nahe, wie sie sich waren, spürte Omi nur zu gut den Wechsel in dem anderen. Und wieder kam er sich vor wie das verdorbene böse Stück, wie ein Zerstörer.

Doch was zerstörte er denn? Nagis Unantastbarkeit? Das war Unsinn. Sie beide wollten es auf diese Weise, sie beide waren sich nahe, er zerstörte nichts. Er gab. Er bekam. Er nahm.

„Sag mir, wenn es dir zu viel wird“, wisperte er leise und positionierte sich, drängte langsam nach vorne. Auch sein Atem ging schneller, auch sein Herz schlug rasend schnell, als wolle es aus seiner Brust springen.
 

„Hör auf zu reden“, erwiderte Nagi und wandte das Gesicht leicht nach hinten um es Omi zuzuwenden. Nicht zu wissen, ob er sich verstecken oder den Blick des anderen suchen sollte war belanglos, erkannte er im gleichen Augenblick. „Mach es nicht schwerer, als es ist.“
 

Wäre Omi nicht schon so rot gewesen, wäre sein Gesicht in flammender Röte aufgegangen. Natürlich, durch sein Reden machte er Nagi nur noch nervöser.

Sanft küsste er sich seinen Weg den zerbrechlich erscheinenden Hals entlang, als er Zentimeter für Zentimeter tiefer sank, immer wieder einhielt, bis er schließlich tief in ihm war, bis sie vollständig miteinander verbunden waren, schwer atmend.

Es geht. Das war das einzige was Nagi spontan in den Kopf kam und kurz darauf wusste er, dass es besser war sich völlig zu entspannen. Was er seinem Körper auch befahl und dieser nach und nach befolgen konnte. Es war das Gefühl der absoluten Intimität, der völligen Auslieferung dem anderen gegenüber, die ihn für einige Momente erneut verunsicherten, doch die Röte im Gesicht des anderen sagte ihm, dass er nicht der Einzige war, der sich hier auslieferte. Sein Atem floh über die trockenen Lippen, brach sich an der Stirn des anderen, kam zu ihm zurück und erschuf eine warme Intimität zwischen dieser kurzen Distanz. Er konnte nicht viel unternehmen, auch wenn es ihn drängte Omi zu berühren hinderten ihn die Fesseln daran. Das was sie alle schützen sollte, dass einzige dass ihn dazu gebracht hatte, diese Intimität zu wagen störte ihn immens. „Ich habe nie verstanden warum Schuldig und Ran Gefallen an diesen Spielchen finden konnten… und können… im Augenblick…“, er keuchte. „…verstehe ich es noch weniger. Es stört…es nervt…“
 

"Soll... ich dich befreien? Soll ich dir die Handschellen abnehmen?", fragte Omi alarmiert, sich im nächsten Moment jedoch wieder beruhigend. Wer, wenn nicht Nagi, würde sich im Ernstfall der Panik daraus befreien. Zudem Nagi nicht panisch klang, eher... genervt. Ja, wirklich genervt.

Omi lachte leise.

"Die beiden sind eben... anders. Anders als wir." Und das war auch gut so. Omi wagte es und bewegte sich leicht.
 

Was Nagi sowohl ein leises Stöhnen aus Unbehagen, als auch aus Erregung bescherte. „Das ist keine Option…“, fiel ihm noch ein, bevor er die Augen schloss, sich den Bewegungen des anderen ergab. Er musste sich ergeben, ihm ergeben. Das konnte er.
 

Die zuvor noch unangenehme Reibung wurde zur drängenden Hitze, die eine Unruhe in ihm auslöste, die sich aufbaute und derer er sich nicht entziehen konnte. Seine Hände ballten sich um das kühle Metall. Er fühlte wie Omi über seine Hüfte strich, seine Finger streichelten über die Haut seines Unterbauchs, fanden den Bereich, der seiner Berührung bedurfte und Nagis Blick verschwamm im Gefühl der körperlichen Lust, die über ihn hereinbrach.
 

o~
 

„Unggh…“, stöhnte Aya genüsslich ins Kissen, den Kopf seitlich gedreht, die Arme bequem darunter geschoben. „Du machst das wirklich hervorragend“, sagte er genießerisch. Die Massage war eine Entschädigung für seinen Part in Osaka, besser dafür, dass dieser Part ihm Verschwiegen worden war.
 

„Ja?“ Schuldig grinste verschlagen und hauchte einen Kuss auf die Fußsohle, die er gerade massierte. Sein Blick labte sich an der im Licht der Laterne kühl schimmernden Haut, an den wie ein seidiger dunkler Schleier darauf liegenden Haaren…

Die Laterne flackerte vor dem Haus auf der Straße.

Während er verfolgte wie Nagi unweigerlich auf seinen Höhepunkt zusteuerte ließ er plötzlich das Objekt seiner Begierde wie eine heiße Kartoffel fallen. Behände aufstehend, nahm er den Yukatta auf, der am Rande des Bettes lag und warf ihn Ran zu, der noch zu träge war um überhaupt zu registrieren, dass Schuldig – alias ‚der Masseur‘ – nicht mehr seine Füße bearbeitete.

Als jedoch das Kleidungsstück über ihn fiel bewegte sich etwas darunter. Etwas gar ungehaltenes.

„Was ist jetzt schon wieder?“, murrte Aya einen Tick gereizter, als bei Naoes kurzweiligem Besuch zuvor.
 

Schuldig hastete zur Tür, riss sie auf. „Los jetzt mach schon, nicht trödeln, verdammt! Wir müssen raus!“
 

Aya schien sich der Dringlichkeit nicht bewusst zu sein, denn im schieren Zeitlupentempo schälte sich der Japaner aus der Decke, robbte ans Bettende und griff sich den Yukatta, den er umständlich anzog um ihn schließlich zu gürten und aufzustehen. „Die Russen kommen! Ich weiß. Oder waren es Ufos? Jetzt sag schon was los is!“ Aya gähnte verhalten und schlüpfte in seine Hausschuhe. Er tastete mit einer Seelenruhe nach seiner Waffe.
 

Schuldig griff sich den Tagträumenden an der Hand und zog ihn mit sich nach unten. Einen Großteil dieser Lethargie hatte er zu verschulden. „Du siehst zu viele Filme, Ran! Es ist Nagi der kommt und das ist wahrhaftig unangenehmer als Russen, Chinesen oder sonst etwas auf diesem Planeten, oder von außerhalb, das da kommen könnte!“
 

Plötzlich war Aya hellwach. „Du hast sie bespitzelt? Wie kannst du das machen? Es ist ihre Privatsphäre! Außerdem ist Kudou an meinem Filmwissen schuld!“, verteidigte er sich und bremste ihre Flucht im Eingangsbereich des Ryokan, in dem er abrupt stehen blieb.
 

Schuldig wechselte sein Schuhwerk, hastete zur Tür, riss die Eingangstür auf. Es regnete noch immer Bindfäden. „Na herrlich! Was auch sonst“, brummte er. Er mochte den Sommer hier nicht besonders. Zu heiß, zu feucht, zu stickig, zu… einfach alles. Resignierend stand er im Eingang und wandte sich zu Ran um, der ihn erbost ansah.
 

„Wieso sollte es während wir die Treppen hinunter gehen aufgehört haben zu regnen?“, fragte der Japaner Neunmalklug.
 

Schuldig schätzte diesen Schlaubinismus nicht unbedingt. Jeder wusste was am Ende jeder Folge der Schlümpfe geschah. Schuldig würde jetzt aber großzügig eine Ausnahme machen.

„Tu mir einen Gefallen und komm her, ja? Ich erklär dir alles, aber komm her. Bitte. Jetzt. Gleich“, rang er mit Rans Sturheit.
 

Aya kam. Wenn auch wenig motiviert. Er sah der dunklen Gestalt im offenen Türrahmen entgegen, die umrahmt von Bindfäden war. Mit verschlossener Miene ließ er sich ins Freie ziehen. Ein stechender Geruch drang ihm in die Nase. „Was…? Ist das…?“

Schuldig riss Ran an sich und zog ihn mit sich in den Porsche Cayenne.

„Ja, das ist Ozon. Nagi hat die Kontrolle verloren. Sieh dir deine Haare an.“
 

Ayas Haare waren elektrisch aufgeladen, bis sie ins Freie liefen und seine Haare sich nässten. Die Laternen knisterten und zuckten noch einmal im Todeskampf bevor sie ausgingen.

Sie schlugen die Türen des Wagens zu.
 

„Kannst du ihn nicht aufhalten?“
 

Schuldig sah skeptisch zu ihm hinüber. „Ich habe es versucht.“
 

„Was wird passieren?“ Aya wischte sich die feuchten Haare aus den Augen.
 

„Du erinnerst dich an die Sache mit Tot?“
 

Ja. Er erinnerte sich.

An die „Sache“. Ein euphemistischer Begriff für: Damals als ich deine Schwester als Druckmittel einsetzte, als der verrückte Sohn von Takatori durchdrehte.

„Ja. Mir war da so, als erinnere ich mich dunkel an die „Sache““, merkte Aya an, in einem Tonfall, der Schuldig klar machte an was er sich noch erinnerte.
 

„Ähm. Ja. Also damals legte Nagi das komplette Anwesen in Schutt und Asche. Das würde hier ein paar Häuser miteinschließen. Wenn‘s dumm läuft vielleicht einen oder zwei Quadratkilometer.“

„Wenn‘s dumm läuft?“ echote Aya ungläubig. Schuldig bagatellisierte in seinen Worten die Zerstörung von einem Quadratkilometer dicht besiedelten Lebensraums, oder vielleicht zwei, fügte Aya ironisch in Gedanken hinzu.

„Damals war er verletzt und zornig. Er hatte die Kontrolle und wollte, dass alle seinen Schmerz fühlen und ihn erleiden, deshalb hat er nur das Gebäude zerstört. Es geschah willentlich. Hier… regiert nur mehr das Verlangen und die Gier nach dem Höhepunkt.“
 

Aya sah zweifelnd zu Schuldig hinüber. „Und Omi weiß worauf er sich eingelassen hat?“
 

„Das hoffe ich für ihn. Denn jetzt ist es ohnehin zu spät, findest du nicht?“ Schuldig erwiderte Rans Blick leicht zweifelnd. „Aus der Nummer kommt er jetzt nämlich nicht mehr raus.“ Darüber musste Schuldig Lachen.
 

„Nicht witzig, Schuldig“, mahnte Aya in strengem Ton. Doch auch er musste zugeben, dass es eine gewisse Komik barg. Aber er durfte nicht zulassen, dass Schuldigs schräger Humor den Ernst der Lage kaschierte.
 

„Es geht los.“ Schuldig wies auf den Van, der ein Wagen weiterstand und der sich langsam in die Höhe hob. Elektrische Entladungen leckten an den Straßenlaternen.

„Macht das nicht Leute auf euch aufmerksam, die speziell nach solcherart Vorkommnisse Ausschau halten?“ Aya starrte auf den Van. Seine Stirn war umwölkt.
 

Schuldig wischte sich eine Haarsträhne hinter das linke Ohr und stützte seinen Ellbogen am Fenster ab. „Sicher. Falls der Kleine jetzt völlig durchdreht, haben wir ein Problem“, seufzte er.

„Es gibt viele Leute, die sich für einen Flügge gewordenen Telekineten interessieren, der es gerade mit dem einzig noch lebenden Spross von Takatori Reiji treibt.“ Er lachte auf. „Ich weiß nicht was Schlimmer ist. Die Tatsache, dass er ein Spätzünder ist oder dass er es mit einem Takatori…“

„Schuldig! Du weißt so gut wie ich, dass Shuichi sein Vater…“ Aya rollte mit den Augen, als er zu Schuldig und dessen auf böse getrimmtes Grinsen sah. Schuldig wollte ihn also nur hochnehmen. Warum fiel er noch immer darauf herein?

„Ich denke die Boulevardpresse wird sich ganz sicher auf seine Verbindung zum organisierten Verbrechen stürzen. Telekinese ist schließlich ein alter Hut. Wer will sowas noch lesen?“ lamentierte Aya und konterkarierte so Schuldigs Vorstoß.
 

„Pah!“, machte der.

„Immerhin habe ICH einen lieben Freund. Keinen Sohn von irgendwelchen Bösewichten“, heuchelte er.

„Persha gehörte zu den Guten. Bloß noch einmal zur Erinnerung.“

„Sicher?“ Schuldig lachte amüsiert auf, ließ den Van aber nicht aus dem Blick. Nachdem das Ding herunter krachte, wie eine überreife Melone und es ordentlich rumpelte, sah er zu Ran hinüber, zog ihn an seinem Yukatta zu sich her… „Weil wir gerade von den Guten sprechen. Also von dir…“ Er lächelte freundlich, musste aber Ran dabei beobachten, wie der eher gelangweilt auf seine Eröffnung reagierte. Dass er nicht die Augen verdrehte war wirklich alles was jetzt noch fehlte.

Schuldig kümmerte sich nebenher per Telepathie, dass die Nachbarn schön in ihren Betten und Träumen blieben und von dem Krach nichts mitbekamen.

„Was?“, meinte Aya langsam.
 

„Wolltest du mir nicht etwas erzählen? Über das was dich beschäftigt? Ich habe es nicht vergessen.“
 

Schade. Aya seufzte lautlos. Er wusste nicht wie er es in Worte fassen sollte. Was er auch Schuldig mitteilte.
 

„Versuch es einfach.“ Schuldig stupste Rans Nase an, lehnte sich zurück und beschäftigte sich damit den Van im Auge zu behalten. Ein lohnenswerter Anblick den Weiß Agenten aus dem Wagen torkeln zu sehen mit einem debilen zufriedenen Grinsen im Gesicht.
 

Aya verzog den Mund unwirsch. Es regnete und war schwül. Schuldig mochte dieses Wetter nicht sonderlich, wie er wusste. Es würde noch richtig heiß werden.

„Was weißt du über… die Verbindung zwischen Takatori und meinem Vater?“
 

Oha.

Damit hatte Schuldig nicht gerechnet. Das brachte ihn lange zum Schweigen.

Er hatte das Gefühl, dass mit dieser Frage Antworten gefunden wurden, die das letzte halbe Jahr in Sekundenbruchteilen ausradieren würden.
 

„Zum damaligen Zeitpunkt war dein Vater erst kurz für die Mitsubishi Group, als Bankmanager im Segment der Unternehmensfinanzierung tätig. So traten die beiden zum ersten Mal in Kontakt. Soweit ich weiß, fand dein Vater im Laufe der Jahre heraus, dass Takatori illegal erwirtschaftete Gelder über seine Firmen gewaschen hat. Als dein Vater das zur Sprache brachte war er kurz davor seine Stelle bei der Bank zu verlieren. Der Vorstand bat ihn von einer Denunzierung Abstand zu nehmen und dieses ‚Missverständnis‘ ihnen zu überlasen.
 

Offenbar hatte Takatori Angst davor, dass dein Vater dieses Missverständnis womöglich doch noch an anderer Stelle zur Sprache bringen könnte und das wäre vielleicht das frühe Aus für seine politischen Ziele gewesen. Er erpresste deinen Vater, doch der wollte sich das nicht gefallen lassen.“
 

„Mit was konnte er meinen Vater erpressen?“
 

„Keine Ahnung. Es muss etwas gewesen sein, dass dein Vater in arge Bedrängnis bringen sollte. Aber der Plan schien nicht aufzugehen. Er gab den Auftrag den guten Ruf deines Vaters zu beschädigen.“
 

Aya erinnerte sich an den Streit den er, als Jugendlicher mitbekommen hatte, was von seinen Eltern nicht beabsichtigt gewesen war. Seine Mutter wollte sich eine Arbeit suchen und sein Vater wollte das nicht zulassen. Er lehnte es strikt ab.

Seine Mutter war eine Frau, die ihren Mann respektierte, aber sie wusste was sie wollte und das tat sie dann auch. Doch dieses Mal akzeptierte sie seine Ablehnung.

Er war damals auf der Treppe stehen geblieben, als er sich abends leise vom Training hereingeschlichen hatte, weil er die aufgebrachte Stimme seiner Mutter zum ersten Mal in einem schneidenden, harten Tonfall hörte.

Im Nachhinein betrachtet war es die Zeit gewesen in der Takatori bereits damit angefangen hatte seine Familie langsam, schleichend zu töten.
 

Aya wartete ein paar Wochen ab und suchte sich dann einen Job, den er neben der Schule und seinen sonstigen Verpflichtungen leisten konnte. Die Schwertkampfkunst trainierte er seit er ein Übungsschwert aus Bambus halten konnte. Erst war seine Mutter ihm eine Lehrerin, dann wechselten die privaten Lehrer. Am Schulunterricht durfte er nicht teilnehmen, auch an keinem der Wettkämpfe.
 

Die zusätzliche Arbeit im Café bewirkte jedoch, dass er sein Training aussetze und es schließlich einstellte. Es vergingen zwei Jahre bis er zur Klinge seiner ermordeten Mutter griff und sie mit Blut fütterte. Er hatte ihre Klingen noch, in einem Bankschließfach, wie alle anderen Gegenstände, die ihm wichtig erschienen.
 

Schuldig hatte Ran die Stille gegeben, die dieser nach den Informationen benötigt hatte, fuhr nun fort: „Dummerweise hörte dein Vater nicht auf. Er setzte mehrere Privatdetektive auf Takatori an und fand einige unschöne Dinge heraus.

Vor allem über diverse Forschungsgelder, die dieser dazu benutzte um seinen verrückten Sohn zu unterstützen. Du erinnerst dich an den Organhandel, an die Kinder, die entführt wurden, an verschiedene Testläufe, deren Auswirkungen ihr zu spüren bekamt und oft bereinigt habt.“
 

Aya nickte die Worte ab und versuchte seine eigene Vergangenheit mit der nüchternen Beobachtungsgabe eines Fremden zu sehen. „Masafumi.“
 

„Wir wurden von Takatori nach Tokyo gerufen als Masafumi anfing seine Testläufe in der Öffentlichkeit durchzuziehen. Brad erhielt die Anweisung von Takatori seinen Sohn im Auge zu behalten. Falls sich das wiederholen sollte erteilte er uns den Befehl ihn zu eliminieren. Takatori legte Wert darauf nicht mit den Forschungen in Verbindung gebracht zu werden. Er wollte sie geheim halten.“
 

„Masafumi war das offenbar egal.“
 

Schuldig lachte auf. „Masafumi hatte zu diesem Zeitpunkt schon zu viel an sich selbst herum gepfuscht, dass ihm jeder Sinn für die Realität fehlte. Zwischen Masafumi und seinem Vater entbrannte ein Kampf. Masafumi nutzte seine Zellreproduktionsforschung, die er im Korin Konzern unterhielt um sich selbst eine schlagkräftige Truppe zu erschaffen, die uns ebenbürtig sein sollte.“
 

„Schreiend“, sagte Aya nachdenklich.
 

„Ja, Schreiend.“ Schuldig. Er starrte blicklos aus dem Fenster. Masafumi war ein armer, verblendeter Trottel, der zum Größenwahn neigte, im steten Bestreben nach der Aufmerksamkeit seines Vaters, wollte er schlussendlich das der ganzen Welt. Und bekommen hat er nur die des Todes. Voll und ganz.

Das Experiment eines Menschen bleibt ein Experiment. Die Evolution hat uns geschaffen, nicht perfekt und mit einigen Macken, aber sie hatte viele Jahrtausende Zeit. Masafumi ein paar Jahre. Was soll dabei schon groß rauskommen? Im Endeffekt hat er es in den Sand gesetzt. Ihr habt uns den Job den Typen kalt zu machen abgenommen. Takatori war es Leid hinter seinem Sohn aufzuwischen. Er entsorgte ihn über euch und mit ihm seine Puppen.“
 

„Es waren Frauen, Schuldig“, sagte Aya tadelnd und sah Augenbrauenhebend zu Schuldig hinüber.
 

„Sicher waren sie das. Irgendwann einmal. Aber als Masafumi sie sich in der Schönheitsfarm und an anderen Orten krallte waren sie zum letzten Mal Menschen gewesen.“ Schuldig zuckte mit den Schultern und verzog die Mundwinkel bedauernd.

„Der Typ hatte einen völligen Dachschaden. Und das nur weil er besser, als wir sein wollte.“
 

„Ja. Ich hatte das Vergnügen mit dem selbst ernannten „Gott““, sagte Aya in Erinnerung daran wie sie gegen das Monster gekämpft hatten. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre drauf gegangen. Yohji litt immer noch unter der Vergangenheit. Es hatte den Anschein als würde sie ihn zerstören. Die Gedanken daran, dass Asuka zuerst getötet, dann manipuliert, als Zombie zurückgekehrt und dann von ihm, der sie liebte getötet worden war, fraß das Gute, das Positive in ihm auf.

Er selbst war nur davor bewahrt worden, weil Schuldig ihn nicht in Ruhe gelassen hatte. Ihn als Eigentum betrachtete, dachte Aya innerlich schnaubend.

Woher kam nur dieses Denken?
 

„SZ hatten auch diesen Spleen mit dem Gott-sein-wollen. Die haben zumindest eines begriffen. Das Wichtigste ist die Kontrolle über die Macht zu behalten, die man besitzt. Ohne diese Kontrolle sind wir nicht besser als Masafumi. Und genau das ist es was uns unterscheidet. Takatori Masafumi hatte nie die Kontrolle über irgendetwas. Weder über das Geld, dass ihm zwischen den Fingern versickerte, noch über seine Experimente oder über sich und seinen Größenwahn. SZ waren deshalb auch schwieriger zu beseitigen. Sie hatten Kontrolle über alles. Eine lange Zeit auch über uns.“
 

„Während Masafumi also seinem Hobby frönte räumte Hirofumi die Widersacher seines Vaters im Kabinett aus dem Weg.“
 

„Naja, zeitweise hat er ihm böse dazwischengefunkt, aber Hirofumi war ein feiges sadistisches Schwein“, sagte Schuldig und Aya sah Ekel im Gesicht des Deutschen aufblitzen.
 

Schuldig erinnerte sich noch gut daran, als er Omi entführte, ihn zu Hirofumi brachte um dem Kleinen klar zu machen, dass er nicht zu dieser Drecksfamilie gehörte. Und er war es auch gewesen, der Kritiker gesteckt hatte wo er sich aufhielt. Mit etwas Unterstützung hatten Weiß sich also auch um Hirofumi gekümmert. Danach… nun danach hatte er selbst ein wenig Spaß. Man musste schließlich sehen wo man bleibt.

„Sollen wir reingehen? Ich denke, die beiden bleiben noch ein Weilchen hier draußen.“ Nagi war sicher in einen Regenerationsschlaf gefallen.
 

Aya öffnete die Tür des Wagens und sah zu, dass er im Nieselregen zügig zum Vordach des Hauses kam. Er öffnete die Tür und wartete auf Schuldig. Sie gingen wieder hinauf in ihr Zimmer und Aya setzte sich aufs Bett.

Die ganze Misere wieder aufzurollen war unbequem aber nötig. Er hatte einen gewissen Abstand zur damaligen Zeit, zumindest in einigen Aspekten. Sein Blick fiel auf Schuldig, der die Tür schloss und sich auf die wenige Zentimeter betragende Erhöhung am Fenster zu setzen, wo zwei niedrige Sessel und ein passender Tisch standen.
 

„Wir wussten damals nicht, dass ihr den Befehl von Takatori erhalten hattet, seinen Sohn auszuschalten falls nötig. Das bestätigt mir wieder einmal, dass Takatori…das eigentliche Monster war.“

Er fühlte, dem Hass nach, der kalt, alt und schal schmeckte. Zu Vergleichen mit einem schlecht gelüfteten Raum in dem früher oft geraucht wurde. Trotz der Zeit, der Umstände, die sich verändert haben mochten war der Geruch immer noch da. Er hing in den Vorhängen, im Mobiliar, in den Wänden.

Aya unterschlug ein Bein, er sah zu Schuldig, der seinerseits nach draußen blickte. So saßen sie eine Weile da, im Dunkel.
 

Das Schweigen war einvernehmlich, daher willkommen. Sie hingen beide mit ihren Gedanken in der Vergangenheit fest. Obwohl Schuldig weniger gern dort hingezogen wurde, begab er sich ins Damals für Ran.

„Der Regen wird heftiger. Ich frage mich wo sich Jei herumtreibt.“ Schuldig ließ seinen Kopf gegen die Wand lehnen und schloss für einen Moment die Augen.
 

Aya betrachtete sich die melancholische Gestalt, die sich trotz der fehlenden künstlichen Beleuchtung in ihrem Yukatta vom offenen Fenster abhob und musste trotz ihres weniger erbaulichen Themas lächeln. „Vermutlich auf dem Weg zu Youji.“
 

Schuldig schnaubte amüsiert, sagte jedoch nichts.
 

Nach einer Weile legte sich Aya in die Mitte des Bettes, die Arme unter dem Kopf verschränkt, sein Zopf störte, wieder einmal, also löste er ihn. Er starrte an die Decke, während seine Finger mit dem Haargummi beschäftigt waren.

„Ich frage mich immer noch warum ich überlebt habe“, sagte Aya leise.
 

„Glaubst du an Zufälle?“, fragte Schuldig lapidar. Er beugte sich über den niedrigen Tisch und öffnete die beiden Fenster einen Spalt weit. Das Geräusch des Regens füllte die Stille zwischen ihnen.
 

„Nicht wirklich“, antwortete Aya leise.
 

„Gut. Denn es war keiner.“ Schuldig erhob sich, ordnete seine Yukatta und stand auf. Er kam zu Aya, der sich aufgrund von Schuldigs gesagtem fühlte, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er setzte sich auf und stützte sich mit den Händen nach hinten auf dem Futon ab.

„Wie meinst du das?“, fragte er ahnungsvoll.
 

Schuldig setzte sich neben Aya, ihm zugewandt. „Es war egal…“ Er fand die Augen des Japaners aufmerksam auf sich gerichtet. In ihnen lesen konnte er bei diesen spärlichen Lichtverhältnissen nicht. „… was mit deinen Eltern passierte, aber es war wichtig, dass euch nichts geschehen sollte. Das Aya verletzt wurde war so nicht vorgesehen.“
 

„Warum?“
 

„Keine Ahnung. Das war ein Punkt, den Takatori in dem Plan hasste, es war ihm nicht Recht, dass ihr überleben solltet. Er wollte die Fujimiyas auslöschen. Er tobte, als er uns den Befehl gab. Allerdings musste er die Drecksarbeit dieses Mal selbst erledigen, da wir von SZ zurückgepfiffen wurden. Irgendjemand legte Wert darauf, dass das Erbe der Fujimiyas die Zukunft erleben sollte und es war ganz bestimmt nicht Takatori.“
 

„Können wir jetzt noch herausfinden wer?“
 

Schuldig betrachtete sich Ayas Gesicht. Das sicherlich stürmische Violett in den Augen, die Lippen, die sich vor Bitterkeit schmälerten. Das dunkelrote Haar, das er aus dem hohen losen Zopf befreit hatte und ungeordnet das attraktive Gesicht umschmeichelte. Schuldig lächelte warm. Der ungeordnete out of bed look hätte den einen oder anderen sicher getäuscht, Mädchenherzen höher schlagen lassen und Gegner Ran unterschätzen lassen.

„Soll ichs versuchen?“
 

Aya nickte wortlos.
 

„Gut. Beantwortest du mir eine Frage, Ran?“
 

Als Aya nichts sagte, verstand Schuldig das als Zustimmung.

„Wie kommst du auf all das jetzt?“
 

„Manx. Sie taucht auf. Sie verschwindet. Sie erzählt uns Dinge und wir haben sie zu glauben.“ Aya hatte Schuldig nicht aus den Augen gelassen.

„Ich habs satt. Ich habs satt von allen angelogen zu werden. Ich will wissen warum meine Eltern sterben mussten, warum Aya das passierte und warum ich als einziger noch am Leben bin. Damals bin ich hinter Takatori her gewesen. Ich wollte ihn tot sehen. Ich habe nicht tiefer gebohrt. Nicht jeden nach dem Warum gefragt. Manx hat mir gesagt was ich wissen wollte oder musste.“
 

„Mutierst du wieder zum Racheengel, Ran?“
 

„Mal sehen“, sagte Ran tatsächlich und Schuldig legte den Kopf schief. Er streckte die Hand aus, fuhr mit den Fingern Rans Schläfen entlang, strich ihm dabei eine der langen Haarsträhnen an ihren Platz hinter eine zarte Ohrmuschel.
 

„Mal sehen? Ein bisschen untypisch, diese Antwort für den jungen Herrn Fujimiya.“
 

Aya sah Schuldig lange an, nahm seine Hand herunter, strich über die eleganten, schlanken Finger, über die Hand, hinauf zum Arm. Schuldig trug den Ring, fiel ihm auf. Er nahm Schuldigs Arm und legte ihn sich um den Bauch, bettete seine Wange an Schuldigs Schulter.

„Eher eine Antwort, die Gabrielle Villard zum Besten geben würde?“
 

Schuldig grinste an Rans Ohr. „Jepp. So ungefähr. Vielleicht eher Crawford. Wir kriegen das hin. Ich finde heraus was damals los war und wenn ich Manx das Gehirn dafür weich kochen muss.“
 

„Übertreibs nicht.“
 

„Ich finde sie hat eine Abreibung verdient. Schon allein wegen der Tatsache, dass sie Brad gevögelt hat.“
 

Aya lachte auf. „Da spricht nur deine Eifersucht, mein Lieber, denn Brad war sicher nicht abgeneigt.“
 

Schuldig brummte nur etwas Beleidigendes über manipulative, japanische rothaarige Teufel, darüber hinaus noch über arme amerikanische dumme Männer und streckte seinen müden Körper neben Ran aus, der das Ganze von seiner sitzenden Position amüsiert verfolgte.

Ran versicherte sich der Tatsache, dass seine Waffe in der Nähe war und legte sich zu Schuldig. Er brauchte nach dem heutigen Tag das Wissen um die Nähe des anderen.
 

Schuldig sah zum Fenster hin. „Brad tut nichts ohne Grund, nichts ohne Lohn.“
 

Aya öffnete für einen Moment die Augen bevor er sie wieder schloss. „Außer bei dir.“
 

o~
 

Es war einige Stunden später, als Aya aufwachte. Er hob den Kopf von Schuldigs Brust, orientierte sich, ein Blick nach oben zeigte ihm, dass der Telepath nicht schlief. Was hatte ihn geweckt? Stimmte was nicht?

„Schuldig?“, krächzte Aya noch mit schlafrauer Stimme.
 

Schuldig lächelte verträumt, öffnete die leer wirkenden Augen. Aya hatte sich so vertrauensselig an ihn geschmiegt und solange Schuldig nicht weg ging schlief er tief und fest, doch sobald sich Schuldig bewegte schoss Aya förmlich von der Tiefschlafphase in einen wachen Zustand.

Seine Finger begannen Ayas Nacken zu streicheln.

„Schlaf weiter. Jei ist nicht da, deshalb überwache ich die Umgebung“, sagte er mit abwesendem, hölzernen Tonfall, denn so ganz und gar war er nicht bei Ran. Nur ein Teil seines Bewusstseins war bei Ran.
 

Aya kannte diesen Zustand. Es war zwar merkwürdig, aber, da er wusste, dass es nötig war konnte er es akzeptieren. Schuldig konnte Sin zwar nicht mit seinen Sinnen entlarven, aber falls andere Menschen im Umkreis verdächtige Geräusche hörten oder Menschen sahen hatte Schuldig die Möglichkeit über diese zu sehen was sie sahen. Es war mühsam, wie er von Schuldig wusste.

Er legte sich so, dass er Schuldig nicht zu stark beeinträchtigte, denn wenn der Telepath ‚beschäftigt‘ war, dann kümmerte der sich weniger um sein körperliches Wohl.
 

Aya deckte sie beide zu, lauschte noch ein Weilchen dem noch nicht nach lassenden Regen und schlief wieder ein.
 


 

o~
 


 

„Wo zum Teufel ist der Winzling, wenn man ihn mal braucht?“, fauchte Yohji genervt seine Besorgnis kaschierend und warf sein Mobiltelefon zum dritten Mal aufs Bett. Dort landete es in trauriger Zweisamkeit neben einer leeren Zigarettenschachtel. Manx hatte ihm zwar verboten Omi zu kontaktieren, da für die Sicherheit ihrer Leitungen nicht mehr garantiert werden konnte… aber…

Oh verdammt, er war kein Anfänger mehr.
 

Es war dunkel im Haus, kurz nach halb drei. Yohji ging zum Fenster und spähte durch die Lamellen der Jalousie nach draußen. Nichts rührte sich. Er ließ die Lamellen in ihre ursprüngliche Position zurückgleiten und entfernte sich vom Fenster. Draußen plätscherte das Wasser, das sich in den Dachrinnen sammelte vor seinem Fenster in die Tiefe. Fernes Donnergrollen hatte beinahe eine beruhigende Wirkung auf seine Nervosität. Es hatte etwas von Normalität.

„Der geht doch immer an sein Telefon“, murmelte er und ging hinüber zu seinem Kleiderschrank. Er beschloss sich umzuziehen und schlüpfte in robuste dunkle Kleidung, zog seinen Mantel an, zippte den Reißverschluss zu.

Danach waren die Stiefel dran. Nachdem er sich die Handschuhe übergestreift hatte, die wie eine zweite Haut anlagen, überprüfte er den geschliffenen Metalldraht aus einer speziellen Legierung, in der kleinen Vorrichtung.

Ken und er hatten sich vor einiger Zeit in die Haare bekommen, weil Yohji ihn Freddie getauft hatte. Der Kinderliebe nette junge Mann von Nebenan – wie er sich selbst am liebsten sah – fand den Vergleich mit Freddy Krueger gar nicht komisch. Und Yohji schoss sich ein übles Eigentor. Ken schoss sich daraufhin auf das Thema ein und spielte auf seine offenbar weniger geheimen Treffen mit Jei an, der wohl eher Freddy Krueger einer Horrorfilmfigur aus dem 20 Jahrhundert ähnelte, als Ken mit seinen Bugnucks.
 

Sie hätten den Abend nicht mit Horrorfilmklassikern und Pizzas verbringen sollen. Yohji zeigte es nicht, aber er fiel in ein tiefes Loch. Sie wussten von Berserker, dass er das Kind einer katholischen Ordensschwester war, dass er sich selbst verletzt hatte… die beiden Dinge ähnelten sich auf frappierende Weise. Und diese Albtraumgestalt hatte er angefasst? Das… DAS war es was er wollte? Dieses Ding?
 

Yohji fand sich immer noch in der Betrachtung des Drahtes, als er von seinen Gedanken zurück fand. Ken bemerkte seine Stimmung und taufte ihn den „dunklen“ Spiderman um ihn aufzumuntern. Was nur zur Folge hatte, dass sich Yohji mieser als zuvor fühlte. Der dunkle Spiderman war nichts anderes als ein Symbiont. Etwas das einen Wirt brauchte um zu überleben.

Er hatte damals einen schlechten Tag gehabt. Er ließ den Draht zurückgleiten und verzog die Lippen im Versuch eines gut gelaunten Lächelns.
 

„Spiderman ist wieder unterwegs und er hatte ein paar neue Tricks drauf.“
 

Er wusste nicht wie Recht er damit hatte.
 

o~
 


 

Das Motorrad wurde langsamer und hielt auf der dreispurigen Hauptstraße an. Feine Bindfäden ließen sich auf das verspiegelte Visier des schwarzen Helms nieder.

Der Motor der Sportmaschine erstarb. Der Fahrer setzte sich auf, klappte mit der behandschuhten Linken das Visier nach oben und betrachtete sich die Straße vor sich.

Ein paar Autos waren unterwegs. Drei schwarze Rover jedoch erregten seine Aufmerksamkeit. Sie hielten einige hundert Meter vor ihm, er konnte sie nur deshalb mit bloßem Auge erahnen, weil er das Farbspektrum ihrer Emotionen in seinem Gehirn verarbeitete und zum Schluss kam, dass die Insassen… nicht fühlten. Es waren zum jetzigen Augenblick emotionslose Kreaturen.

Das war interessant.
 

Um feststellen zu können ob diese Emotionslosigkeit natürlichen Ursprungs oder ein Eingriff in organische Strukturen war musste er näher gehen.

Er startete den Motor, parkte es in einer Seitenstraße und legte den Helm in eine Tasche, die er in einem dichten Gebüsch unterwegs verbarg. Schuldigs Emotionen kochten jedes Mal hoch, wenn er wieder einmal einen Helm ‚irgendwo herumliegen‘ ließ. Es reichte schon wenn Jei ihm nicht mehr sagte wo er seine Motorräder abgestellt hatte. Entweder er sagte es ihm nicht, oder er erklärte ihm auf möglichst umständliche Art und Weise, dass sie nicht mehr an der Stelle standen wo er sie abgestellt hatte. Was für Schuldig hieß, dass sie gestohlen worden waren.

Auf diese Weise hatte Jei ihm bereits zwei abgenommen, die er als Transportmittel in der Stadt an bestimmten Stellen postiert hatte. Jei war sich fast sicher, dass der Telepath von seinem ‚Diebstahl‘ wusste, es aber für nötig hielt den Ahnungslosen zu spielen. Aber was die Helme betraf…
 

Schuldig war in einigen Belangen sehr seltsam.
 

Jei beschleunigte seine Schritte und folgte den Männern in einigem Abstand. Seine Schritte verklangen ungehört auf dem nassen Asphalt. Als er erkannte in welche Richtung sie gingen hielt er inne. Sie gingen zum ‚Savehouse‘ der Weiß Agenten. Ein Savehouse, das längst keines mehr war. Trotzdem hielt sich dort…
 

Jei konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das entfernte Gebiet in dem der Blumenladen lag.

Derjenige, der dort anwesend war stellte ihn vor ein Problem. Er hatte nicht vor einzugreifen, aber der Blonde, hatte etwas zu ihm gesagt was er erst vor einer Stunde mit Schuldig und dem rothaarigen Teufel besprochen hatte. Er gehörte ihm.

Der Schluss lag nahe, dass das was ihm gehörte auch von ihm beschützt werden musste.
 

Wenig später beobachtete er wie sich zwei der Männer an dem Wagen des Blonden zu schaffen machten, der zwar nicht am koneko geparkt war sondern in der Nähe. Kudou hatte den Wagen gewechselt und fuhr ein unauffälliges Model wie Jei beim letzten Mal festgestellt hatte. Trotzdem wussten die Männer in den akkurat sitzenden schwarzen Anzügen von dieser Änderung.

Nach den Anzügen und den Mienen, der Männer zu schließen waren das gedungene Auftragskiller, der örtlichen Yakuza.
 

Sie waren zu sechst. Zwei am Wagen, der Rest bereits auf dem Weg zum Laden. Er versuchte auf ihr limbisches System zuzugreifen, was ihm kolossal misslang. Es war schlicht nicht vorhanden für ihn. Aber trotzdem konnte er sie ausmachen. War es nun Sin oder nicht?
 

Zeit für derlei Überlegung hatte er nicht mehr als er sich näherte, seine Messer zog und noch während der eine sich aufrichtete dessen Kehlkopf mit einem gezielten Wurf traf. Gurgelnd ging er zu Boden, doch noch während er das tat zog er sich das Messer heraus. Er schleuderte es davon und stand wieder auf, er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass das hervorquellende Blut seine Atmung beeinträchtigen würde, denn er torkelte. Jei bekam das nur am Rande seines ohnehin schon eingeschränkten Blickradius mit, da er mit dem zweiten Widersacher beschäftigt war, der sich trotz aller Mühe nicht so leicht umbringen lassen wollte, obwohl er ohnehin nur dafür gemacht war. Ohne limbisches System war es unmöglich lange zu überleben. Vor allem nicht in dieser Branche.

Jei nahm an, dass dies hier lediglich Kanonenfutter war, sicherlich teures Kanonenfutter aber wenn nötig höchst effizient. Ohne Angst, ohne Bedauern, ohne Gnade, ohne Ekel, ohne diese Gefühle war vieles möglich. Keine Gier, keine Freude, nichts was einen braven Soldaten von seinem Weg abbringen mochte.
 

Es war wirklich schwer jemanden ohne Angst, ohne Überheblichkeit oder Freude zu töten. Es gab kein Zögern, es gab keinen Moment der Überlegung, nichts, nur den Auftrag. Er hatte in der Vergangenheit bereits öfter Kontakt mit gut ausgebildeten Killern gehabt. Es war immer schwierig gewesen sie zu töten. Bis er seine speziellen Fähigkeiten zum Einsatz brachte.
 

Jei hatte bereits zwei Messer in den größeren Mann versenkt, doch er war immer noch auf den Beinen und schützte sich zu gut.

Jei wich einem Tritt aus und konnte mit einem Sprung über den Angreifer verhindern, dass dieser seine Waffe wieder in die Finger bekam, die er ihm zuvor aus der Hand getreten hatte. Er rammte ihm seine Faust in die Leber, zog ein Messer mit der anderen Hand und ersetzte seine Faust damit. Der Mann zuckte nicht einmal zusammen.

Jei wich dem Konter mit einem Sprung aus, warf eines der beiden größeren Messer und traf die Seite des Halses in der Hoffnung einen Treffer auf die Halsschlagader zu erzielen. Tatsächlich wurde er nach zwei Schritten, die er auf ihn zu machte um einen Angriff zu starten langsamer, sank dabei in die Knie…
 

Jei wollte sich abwenden um die vier, die auf dem Weg zum Laden waren einzuholen als Schmerz in seinem Gehirn explodierte. Er brachte sich mit einem Sprung zur Seite aus der Schusslinie.

Im Gegensatz zu den Männern, die er gerade ausgeschaltet hatte, schätzte er die Informationen seines Körpers über etwaige Systembeschädigungen. Sie waren wichtig, aber nachdem er über den Status der Verletzung Bescheid wusste, denn es betraf eine Schussverletzung an seiner Flanke und vermutlich eine ähnliche Verletzung seines Oberschenkels unterbrach er die Koppelung des limbischen Systems an die Schmerzverarbeitung. Er drückte sich an einen Getränkeautomaten und spähte hinter ihm hervor um zu sehen wer ihn angeschossen hatte, denn er konnte niemanden in seiner ganz speziellen Wahrnehmung ausmachen. Sin.
 

Zwei Männer standen mitten auf der Straße. Damit waren es mit den Vieren, die er auf dem Weg zum Blumenladen wähnte tatsächlich acht Männer. Zwei hatte er ausgeschaltet. Zwei waren hier und vier unterwegs. Einer von denen, die hier vor ihm standen war bestimmt an die zwei Meter groß und gut trainiert. Der Zweite war schmal gebaut und kleiner, vielleicht etwas kleiner als Brad oder Schuldig. Der Hüne drehte ihm den Rücken zu und Jei sah das breite Kreuz, die abgesägte Schrotflinte in der Hand, die er neben seinem Oberschenkel hielt.
 

Jei fühlte den Schwindel, als er sich zurücklehnte um tief einatmen zu können und er sah auf seinen Oberschenkel hinunter. Blut sickerte hervor und er wickelte sich von seinem Hals das Tuch ab, das er während einer Motoradfahrt trug und band es sich um den Oberschenkel.
 

„Berserker.“
 

Jei sah von seiner Tätigkeit auf. Das Wort… hatte er lange nicht mehr so gehört. Wer hatte es zuletzt … zu ihm gesagt? Offenbar hatten sie ihn erkannt. Die Stimme hörte sich an, als wüsste der Besitzer, wie man das Wort richtig aussprach.

Er lehnte sich vor und nahm den schlankeren der Beiden in Augenschein. Im Gegensatz zu dem Großen trug er seine Haare in einer wilden Frisur, die ihm halb ins Gesicht hing. Er hielt eine Katana in den Händen, die noch in der Scheide steckte, die er sich lässig über die Schulter gelegt hatte.

Beide trugen Anzüge, er bemerkte nur bei dem Schlankeren, die roten Schuhe… Chucks von Converse.
 

„Sehr passend, wie ich finde. Wer kam auf die Idee?“
 

Die Stimme klang redegewandt, erweckte den Eindruck von Vertrautheit und Harmlosigkeit. Ein geübter Redner, der sich vermutlich schnell auf sein Gegenüber einstellen konnte. Wie Schuldig.

Nur war hier etwas anderes im Gange. Er sprach walisisches Englisch.

Jei zog seine Handschuhe aus, betastete seine Flanke und fühlte warme Nässe. Er griff in die Wunde. Nicht tief, urteilte er. Er zog seine Handschuhe wieder an und stand auf. Wieder erfasste ihn Schwindel und schwarze Punkte tanzten ihren hässlichen Reigen in seinem Sichtfeld. Er blinzelte sie weg und richtete sich auf. Im normalen Schritt trat er aus seiner Deckung auf die Straße.

Ihm fiel wieder ein warum er hier war und dass er sich keine Zeitverzögerung leisten konnte. Nur wie sollte er Sin das klar machen?

Er wusste wie, aber das würde ihm für die Zukunft mehr Probleme bringen, als er hier augenblicklich lösen würde. Zum Berserker zu werden war einfach, vielleicht zu einfach, aber der Weg zurück würde für ihn vielleicht nicht mehr möglich sein.
 

Jei schwieg, er wartete ruhig darauf, dass eine Reaktion kam, denn er rechnete nicht damit, dass sie ihn töten wollten. Jetzt sah er, dass der Schmale eine Handfeuerwaffe in seiner anderen Hand trug. Die Schüsse waren nicht tödlich gewesen obwohl sie es hätten sein können.
 

„Kein gesprächiger Killer, wie ich sehe. Ihr PSI seid so eigen, so… speziell. Ganz anders als wir. Wir sind nun wie soll ich es sagen…“ Er steckte die Waffe in den Holster unter seiner Anzugjacke.
 

„… künstlich“, sagte Jei mit der für ihn so typischen unbenutzten und deshalb rauen Stimme.
 

Darauf erkannte er ein entspanntes Lächeln bei dem schlanken Mann. „Sie haben Recht, Berserker.“

Er trat einen Schritt nach vorne, während der Hüne zurückblieb. Jei machte einen Schritt zurück.

„Wir haben Ihnen ein Angebot zu machen.“

In seiner Umgebung sammelten sich vier der übrig gebliebenen Männer, die er auf dem Weg zum Blumenladen gewähnt hatte.
 

Jei legte den Kopf schief als würde er seine Aufmerksamkeit auf den Mann richten. Stattdessen orientierte er sich an den vier Männern, die ihn umkreist hatten und auf vier bis sechs Meter näher gekommen waren. Er hatte noch drei Klingen und über ein Duzend Nadeln zur Verfügung.
 

Jei stand still.

Während der Mann sprach - und er nicht das Geringste davon hielt dem zuzuhören, denn er beschäftigte sich damit herauszufinden wie er am schnellsten von hier wegkam - fiel ihm auf, dass einer der Männer, die ihn umkreist hatten näher kam.

Jei warf das Messer noch ehe der Schrei des Anführers, den Mann daran hindern konnte näher an ihn heran zu rücken. Ein Regen aus Nadeln ging auf die anderen nieder. Jei benutzte den Mann mit dem Messer in der Stirn als Kugelfänger, bevor er dessen Waffe an sich nahm und einen Schuss auf den Redner absetzte. Er sah nicht ob er getroffen hatte sondern machte sich aus dem Staub.
 

Was ihm zur Flucht verholfen hatte war die bloße Tatsache, dass sie etwas von ihm wollten, nicht sein kämpferisches Geschick. Das war ihm bewusst und so hoffte er, dass sie ihm folgten. Er ließ sie von Zeit zu Zeit näher heran rücken um in ihnen den Gedanken einer möglichen Erreichbarkeit seiner Person aufkeimen zu lassen, nur um den Abstand dann zu vergrößern. Er kannte die Gegend um den Blumenladen in einem größeren Radius sehr gut. Die Schritte der Verfolger hallten von den hohen Steinmauern und Zäunen mit denen sich die Häuser umgaben wider. Er musste nicht lange überlegen um zu entscheiden, dass ein Richtungswechsel sinnvoll war. Mit akrobatischem Geschick erklomm er eine hohe Mauer und verbarg sich im Geäst der darüber hängenden Äste. Die Männer liefen an ihm vorbei.
 

Die beiden Anführer fehlten. Jei konzentrierte sich auf den Blumenladen und entdeckte, dass sich Kudou in Bewegung setzte.

Jei saß auf einem Ast, ein Bein angezogen, das andere hing nach unten. Völlige Stille umgab ihn.

Er verfolgte Kudou mit seiner besonderen Wahrnehmung, sah wie sich die für den Blonden so typische emotionale Signatur entfernte und vor allem in welche Richtung sie dies tat. Er wartete und wog die Konsequenzen ab.
 

Jei öffnete sein Auge. Er entschied, dass er Kudou folgen musste. Also kletterte er lautlos auf die Mauer zurück umrundete darauf das Gebäude und ließ sich im Schatten auf der anderen Seite in einem Nachbargarten nach unten gleiten. Sein Motorrad war zwei Straßen weit entfernt. Er würde Zeit gut machen müssen wenn er den Blonden einholen wollte…
 


 

o~
 


 

Es bestand eine gute Chance Omi zu finden. Yohji musste nur zu Ran. Ihn anzurufen war momentan viel zu gefährlich. Das lag aber daran, dass er Ran misstraute ruhig zu bleiben. Also musste er zu den beiden fahren.
 

Seinen Wagen hatte er eine Straße weiter geparkt. Auf dem Weg dorthin streckte er seine Fühler aus, spürte jedoch nicht das was sonst oft der Fall war wenn sein persönlicher irischer Stalker anwesend war. Also beeilte er sich zu seinem Wagen zu kommen und fuhr in Richtung Yokohama. Der Regen ließ während der Fahrt etwas nach.

Er überquerte die breiten Kanäle, die die Stadtgrenze darstellten, dank der späten Uhrzeit war in Yokohama und in dieser Gegend nur wenig los.
 

Als er am Wohnsitz der beiden Turteltäubchen ankam, parkte er seinen Wagen in einiger Entfernung und legte den Weg durch die Parkanlange zurück, die an der Uferpromenade entlang führte.

Er kam an einem Laden für Sportartikel vorbei, sein Blick fiel auf Surfbretter, die in der Auslage standen. Wann war er das letzte Mal auf einem Brett draußen gewesen?

Er konnte sich nicht erinnern. Das war noch vor Asuka gewesen.
 

Er wich von seinem Weg über die Uferpromenade ab und verkürzte durch den Park. Am Gebäude angekommen sah er nach oben. Kein Licht. Die Rollladen waren unten.

Das obere Stockwerk gehörte den Beiden. Er stand immer noch im Schatten eines Baumes, sondierte die Umgebung, bevor er die Straße überquerte, den etwas versteckt liegenden Hauseingang anvisierte und klingelte. Es machte keiner auf. Sie waren nicht da.

Verdammt.

Er bezweifelte, dass Schuldig in der Wohnung war und ihm nicht öffnen würde, denn der Telepath stand zu sehr unter dem Pantoffel ihres rothaarigen Samurais. Wo sollte er jetzt hin? Der Blumenladen stand außer Diskussion, dort fühlte er sich schon seit Wochen nicht mehr sicher. Das hieß, dass er in ein Hotel gehen würde. Er sah auf sein kürzlich erworbenes Prepaid Handy.

In ein billiges Hotel.

„Kurz vor Drei Uhr.“ Yohji schnaubte frustriert, als plötzlich seine inneren Alarmglocken zu schrillen begannen.
 

Jemand war hinter ihm.
 


 


 


 

Vielen Dank fürs Lesen.

Fortsetzung folgt…

Bis zum nächsten Mal! ^.^
 

Gadreel & Coco

dead end

Er steckte ruhig sein Handy ein um zu tarnen, dass er den potentiellen Angreifer bemerkt hatte. In einer Wohngegend wie dieser war nicht jeder Mensch hinter ihm ein Killer. Bei seinem Lebenswandel standen die Chancen aber verdammt hoch. Deshalb war es besser auf Nummer sicher zu gehen.

Yohji drehte sich um, den Draht an seinem linken Arm mit der Rechten geräuschlos gezogen und unsichtbar für unaufmerksame Beobachter gespannt.

In dem Moment in dem ihm ins Bewusstsein sickerte, dass es nur der übliche Stalker war, der sich zu erkennen gab ließ er den Draht mit einer Handbewegung verschwinden und seufzte um zu kaschieren wie sehr sein Körper auf Autopilot gestellt hatte.

„Du weißt schon, dass diese Art des Nachstellens in der jetzigen Situation tödlich ausgehen hätte können?“
 

Jei wartete geduldig ab, bis der Japaner sich beruhigt hatte. Sie achteten beide darauf, dass sie nicht von den Straßenlaternen ins Visier genommen wurden. Seine Aufmerksamkeit lag primär auf der Umgebung.

„Für wen?“, fragte er wenig an der Antwort interessiert. Er fragte sich wie lange Sin brauchten um hier her zu finden.
 

Yohji hörte die Worte, aber er hörte zwischen ihnen heraus: Du wärst zu langsam gewesen. Du bist unaufmerksam. Du bist verbraucht und kaputt.
 

„Wie lange bist du schon hier?“
 

„Ich bin gerade erst angekommen.“
 

Jeis Stimme hörte sich abwesend an. Vermutlich lag seine Konzentration auf interessanteren Individuen als ihn.

Wieder musste Yohji an Freddy Krueger denken. Es machte ihn wütend. Er war verrückt. Jei war verrückt und gefährlich. Irre.
 

Yohji hatte diese Frage und Antwortspielchen satt. Aber was blieb ihm anderes übrig? Gewalt anzuwenden bei „Berserker“ war wohl doch ein zu blutrünstiger unsauberer Selbstmord. Wobei einige der Narben, die der Ire auf dem Körper trug hatte mit Sicherheit sein Draht zu verschulden. Sie waren sich bei der einen oder anderen Gelegenheit doch schon sehr nahe gekommen. Auf weniger erotischer, denn tödlicher Art. Naja… die Geschichte unter der Dusche vorgestern, war vielleicht…

Yohji atmete tief ein, besah sich sein Gegenüber, wie er dort im Schatten stand.

„Und was führt dich hier her? Die schöne Aussicht? Der Klang der Wellen wie sie an den Kai platschen?“, fragte er zynisch nach und schlug den Weg zu seinem Wagen ein. Er konnte die Angst, die Wut, die Ablehnung, die mit all seinen beschissenen Gedanken einherging nicht abstellen. Seit er von seinem Einkauf und der Begegnung mit Jei zurückgekommen war kreisten seine Gedanken unermüdlich darum. Seit ihm bewusst geworden war was er beinahe getan hätte und mit wem. Er hatte sich der Faszination nicht entziehen können. Das war selbst jetzt schwer. Wut half ganz gut um dieses Problem in Angriff zu nehmen.
 

Vielleicht sollte er etwas tun was eher der Symbiont, getan hätte. Um sich unliebsame Widersacher vom Leib zu halten. Etwas das Sin tun würden. Vielleicht sollte er sich bewerben. Es war sicher die eine oder andere Stelle frei. Dafür hatte sowohl Jei als auch Schuldig gesorgt.
 

„Das ist die falsche Richtung“, hörte er den Iren hinter sich. Yohji stapfte unerschrocken weiter, bis er den Spielplatz erreicht hatte. Erst da drehte er sich um mit der Wut im Bauch, die er in der Anwesenheit eines Schwarz haben sollte. Er sollte wütend sein, er sollte sie hassen, nicht auf Schmusekurs gehen wie Aya, oder Omi. Was war nur in sie gefahren?

„Was? WAS verdammt noch mal? Welche Richtung ist denn die richtige? Deine Richtung? Zu dir?“, schrie er außer sich.
 

Jei blieb stehen, sah ihn nun aufmerksamer an. Das goldene Auge schmälerte sich leicht. Offenbar forderte der Blonde Aufmerksamkeit ein, auch wenn es in einer Situation wie dieser risikoreich und deshalb dumm war. Jei versuchte sich wieder auszuklinken und erkannte, dass sich ihnen jemand näherte...
 

„Frisst du dich wieder an meinen Gefühlen satt? Ist das der perverse Grund dafür, weil du selbst keine hast? Ist es das?“

Er ging auf den stoisch dastehenden Mann einen Schritt zu, im selben Moment ließ er seine Drähte durch die Luft sirren. Er erkannte, dass der Ire mit seinem Angriff nicht gerechnet hatte, denn seine Ausweichtechnik hatte er schon besser gesehen. Nur eines der Messer streifte den dünnen scharfen Metallfaden, winzige Funken zeugten davon. Einer von ihnen traf die Flanke, auf der Seite auf der das Messer nicht schnell genug ihr Ziel zur Abwehr fand. Er hörte keinen Laut, doch der Ire ging zu Boden und blieb verdreht im sandigen Matsch des durchfeuchteten Spielplatzes liegen.
 

Jei keuchte. Für einen nachlässigen Augenblick hatte er die Blockierung der Schmerzweiterleitung unterbrochen. Er hatte sich überraschen lassen. Weshalb reagierte der Blonde nur so unlogisch?
 

Yohji ging näher zu Jei und beobachtete mit widerstreitenden Gefühlen wie sich der Jüngere zur Seite drehte und Schmerzlaute von sich gab. Yohji stand über ihm, heiße Tränen schossen ihm in die Augen. Das Prasseln des Regens auf dem Leder seiner Kleidung und das Rauschen der Wellen drang unnatürlich Laut an seine Ohren. Überall war Wasser. Und er hatte das Gefühl darin zu ertrinken. „Du bist das kranke Kind einer fehlgeleiteten, verlogenen Frau, die ihr Leben einem Gott gewidmet hat, den es nicht mehr gibt. Sie war zu schwach um ihr eigenes Kind zu schützen“, sagte er mit stählerner Stimme in der jedes Gefühl ausgeblendet war. Seine Augen waren weit als könne er es nicht fassen was er sagte, was er getan hatte. Er stand neben sich. Wie in einem Film beobachtete er was er tat als könne er nicht anders.

Komm schon… komm schon! Yohjis Atem ging schneller während er in das goldene Auge sah, dass ihn abwesend, verschleiert anstarrte. Ohne Vorwarnung durch eine Bewegung, durch einen Blick oder irgendein anderes Anzeichen zog ihm, der Ire die Füße weg.
 

Er hatte alle Reizwörter genannt. Los tu es. Tu es.
 

Jei kämpfte nur halbherzig. Er hatte die Worte gehört, aber auch die Emotionen dahinter erkannt. Verzweiflung, Ausweglosigkeit und ganz gewiss keine Achtsamkeit seiner Umgebung gegenüber. Es war das Beste, wenn er den Blonden ausschaltete und er ihn von hier wegbrachte, bevor dieser noch mehr Unsinn von sich gab, oder schlimmer: die Schläger von Sin kamen und ihre „Unterhaltung“ störten. Nur das mit dem Ausschalten gestaltete sich zunehmend schwieriger, denn Jeis Körper wollte nicht so wie er sich das vorgestellt hatte. Er war zu langsam, sein Blickfeld grenzte sich ein, die Ränder verdunkelten sich, es war zu anstrengend...
 

Yohji trat gegen die Seite des Jüngeren, doch der wich aus. Sie kämpften auf dem matschigen Untergrund, während von oben sauberer kühler Regen auf sie fiel. „Du…“ Yohji schrie auf als Jei einen empfindlichen Treffer in seinen Magen landete.

Yohji klappte leicht zusammen und versuchte sich aus der Reichweite des anderen zu begeben, um seinen Draht ziehen zu können. Was er damit vorhatte war ihm im Augenblick egal. Er sah, von wütender Verzweiflung geblendet, dass Jei förmlich in den Draht, den er durch die Luft schickte hineinlief. „Du hättest sie retten müssen!“, schrie Yohji, so außer sich, dass seine Stimme heißer war, brach und er schließlich zitternd verstummte. Er sah wie durch einen Filter wie Jei zur Seite knickte und schließlich zusammensackte.
 

Stille.

Nur sein Atem. Sein schrecklich schmerzhaftes Atemholen in der Brust, die ihm so verdammt eng war.

Der Regen verkam zu einem sanften nieseln. Als hätte das Nass gespürt, dass die Verzweiflung, die Wut verklungen waren. Mit dem verblassten Widerstand des Gegners gegangen war.
 

„Du hättest sie retten müssen“, wiederholte Yohji stockend. Er war verwirrt. Von wem sprach er?

Er stand Minuten da ohne sich zu bewegen. Sein Kopf war leer.

Als er sich bewegte tat er dies wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte, die zum ersten Mal selbst durch die Welt wandelte. Müdigkeit bemächtige sich ihm erneut. Sie war zurück. Diese schwere bleierne Müdigkeit, die auf ihm lag.
 

„Lass mich endlich in Ruhe“, sagte er zu niemand bestimmten. Unsicher sah er auf den jüngeren Mann, der immer noch still dort lag, während die feinen Regentropfen auf seine Wangen fielen. Yohji legte den Kopf in den Nacken, öffnete seinen Mund, ließ Regenwasser seine aufgeplatzte Lippe nässen und spuckte zur Seite das Blut in seinem Mund aus. Sein Kiefer schmerzte.
 

„Vielleicht sollte ich überlaufen. Die richtige Tätowierung hätte ich schon vorzuweisen. Schließlich hat Schuldig einen von denen kalt gemacht. Die brauchen sicher Nachschub“, sagte er müde und drehte sich um. Er schlug nicht den Weg zu seinem Wagen ein sondern trottete zur Uferpromenade. Er ging sie entlang, bis er zu einem Stück Strand kam, das er über eine Treppe erreichen konnte. Die Luft tat ihm gut. Die Weite des Meeres lag als schwarze Masse vor ihm.

Er lehnte an der befestigten Mauer, neben der Treppe, rutschte diese mit einem schmerzgeplagten Stöhnen hinunter und zündete sich eine Zigarette an. Nach mehrmaligen Versuchen klappte es, trotz Wind, trotz Regen. Er inhalierte den Rauch tief.
 

Sie wussten nicht wo Ken war, Omi ging nicht an sein Mobiltelefon, Aya… war hoffentlich bei Schuldig und er hatte sich mit dem Berserker angelegt.

Wollte er nicht…

Ja was eigentlich?

Hatte er nicht gehofft, dass der Ire sich zu erkennen gab um ihn zu fragen ob er wusste wo Aya war? Wollten sie nicht nach Osaka um die Morde zu untersuchen? Waren sie noch dort?

Was war nur in ihn gefahren?

Was für ein Chaos.
 

Die Zigarette ging aus. Er seufzte und schnippte sie weg und… erhob sich. Er musste nach oben, zurück, zu dem was er hinterlassen hatte. Wie war er dazu gekommen diese Worte zu sagen? Welcher hässliche Teil von ihm hatte das getan?

Der verzweifelte Teil, beantwortete er sich selbst die Frage. Er konnte nicht ertragen, dass er sich von Jei angezogen fühlte.
 

Der Draht war zwar extrem scharf, aber Yohji hatte nur oberflächliche Kratzer verursacht. Er musste nach dem anderen sehen. Zur Vernunft kommen. Sich vermutlich einige Messerstiche einfangen. Taub für diese Warnung betrat er die erste Stufe der Treppe.
 

„Ah… haben Sie sich endlich dazu durchgerungen ihrem sicherlich schlechten Gewissen nachzugeben?“, hörte er da eine samtene Stimme über sich. Er zog den Draht und noch bevor er etwas anderes tat, sah er eine Bewegung aus dem Augenwinkel und etwas schweres Dunkles fiel von oben herunter. Plastik rutschte mit einem schleifenden Geräusch die Kaimauer entlang.

„Es ist schwer an Sie heran zu kommen, Kudou-san. Ihr Aufpasser leistet gute Arbeit – Korrektur: wenn Sie ihn nicht sabotieren!“ Er hörte ein amüsiertes Lachen und trat einen Schritt zurück, blieb den Lichtkegeln der Promenadenbeleuchtung aber möglichst fern.
 

Es war ein Sack mit menschlichen Umrissen. Yohji erkannte einen Leichensack wenn er einen vor sich hatte.
 

„Den Einsatz ihrer Waffe würde ich Ihnen in Anbetracht Ihrer Lage nicht empfehlen, Kudou-san. Sehen Sie im Grunde genommen bin ich ein umgänglicher Mensch.“
 

„Das sagen die Bösen in den Filmen auch immer...“, brummte ein Riese mit träger Stimme neben dem Sprecher. Woraufhin kurzes Schweigen eintrat.

„Halt den Rand“, war die wenig begeisterte Replik.
 

Yohji trat noch einen Schritt zurück, erkannte fünf Männer im Gegenlicht der Laterne. Leider keine Gesichter. Zwei der Männer trugen Masken. Filigrane Masken. Und er kannte diese Kabuki-Masken wieder. Die Maske des Sprechers hatte einen Riss und ein Einschussloch. Sie wurde noch vor kurzem von der Frau getragen, die ihn gequält und die Jei erschossen hatte.

Der schmalere der Anzugträger war der Redner, mit der kultivierten sanften Stimme. Die anderen vermutlich seine Schläger. Die zwei Männer mit den Masken gehörten zu Sin.

Er hatte seinen Fuß auf dem Seil, sodass der wirkungsvolle Eindruck entstand, dass er Jeis Körper vor dem Fall bewahrte. Sie mussten es aber irgendwo festgemacht haben, denn der Mann war zu schlank um mit einem lässig abgestellten Fuß einen bewusstlosen Körper vor den Auswirkungen der Schwerkraft zu bewahren.

Yohji überlegte fieberhaft wie sie aus der Sache wieder herauskamen. Wenn es Sin war...

Die anderen Typen sahen eher so aus als gehörten sie zu einer der lokalen Gruppen.
 

„Aber?“
 

„Aber Ihre Unfähigkeit macht mich ein klein wenig wütend. Ich sehe mich daher gezwungen zu diesen unfeinen Maßnahmen zu greifen um mir Gehör zu verschaffen.“
 

„Was haben Sie mit ihm gemacht?“
 

„Das meiste davon hat er sich selbst zuzuschreiben, ein Bisschen davon waren wir Kudou-san und dann haben Sie noch nachgeholfen. Sie haben uns Arbeit erspart. Sie wissen doch: Der erste Eindruck sollte perfekt sein und vor allem möchte ich nicht, dass Sie mich missverstehen.“
 

Yohji verzog die Lippen angeekelt. „Sie meinen, Sie wollten mir den Ernst der Lage klar machen?“, sagte er mit mühsam unterdrückter Wut.
 

„So ist es“, kam es begeistert, so als habe er eine schwierige Frage auf Anhieb bei einem Quiz beantwortet.
 

Der Typ war verrückt, schoss Yohji ein Gedanke durch den Kopf. Wie alle von ihnen. Sie waren alle verrückt. Das hatte er damals in der Lagerhalle gedacht und es bestätigte sich wieder.

„Meinen Sie nicht, dass mir der Ernst der Lage nach der letzten Begegnung klar wurde?“, antwortete er gemäßigt. Mit Verrückten musste er vorsichtig sein. Er neigte dazu sie zu provozieren.
 

Einen Moment lang war ohrenbetäubende Stille um sie herum, selbst das Meer war für Yohji in den Hintergrund getreten. Er sah nur Jei vor sich, der dort im Leichensack verborgen hing.
 

„Dafür möchte ich mich entschuldigen“, sagte der Mann mit der zersprungenen Maske im ernsten Tonfall. „Die Verursacherin ist bereits zur Rechenschaft gezogen worden. Wenn ich mich Recht entsinne war es dieser hier, oder nicht?“ Er tippte mit einem Schuh - einem auffälligen, weil roten Sportschuh - an das Seil.
 

„Was wollen Sie von mir? Soll ich wieder eine Botschaft überbringen?“, knurrte Yohji.
 

„Warum nicht? Wir hatten kurz die Idee, diesem hier einen Job anzuvertrauen, aber er wollte uns kein Gehör schenken. Ich vermute, dass er Sie um Hilfe bitten wollte, als wir ihm ein wenig zu sehr zugesetzt haben. Sie sollten übrigens nicht wieder in Ihren Blumenladen zurückkehren. Ein kleiner, gut gemeinter Rat von mir, um Ihnen mein Wohlwollen zu zeigen.“
 

Yohji starrte den Sack an. Seine Atmung wurde schneller, ihm wurde schwindlig. Jei war auf dem Weg zu ihm gewesen? Er war auf dem Weg zu ihm weil er Hilfe gebrauchte hatte?

Sollte er das glauben?

Und wenn ja, warum zum Teufel konnte der Ire das ihm nicht einfach sagen? Und warum war er unfähig in dem Empathen zu lesen?
 

Konzentriere dich auf das Wesentliche, mahnte eine resolute Stimme in ihm.
 

„Was wollen Sie von mir?“, wiederholte er und richtete den Blick hinauf in die weißen Gesichter der beiden Masken.
 

„Ich möchte, dass Sie, Ihre Kollegen und Ihre ... wie soll ich sagen... „Partnerorganisation“ einer Freundin helfen.“
 

„Warum glauben Sie sollte ich oder sollten wir das tun?“
 

„Oh Sie werden es tun. Glauben Sie mir. Nur sind sie alle mehr damit beschäftigt unterzutauchen, als Ihren Arsch zu bewegen. Sie wurden nicht dafür geboren um unterzutauchen. Das ist nicht ihre Natur“, sagte der schmale Mann, mit der zerbrochenen Maske in ungehaltenem Tonfall.
 

„Ganz ruhig!“, mahnte die brummige Stimme des Hünen, neben dem schmalen Mann.
 

„Schon gut, schon gut. Ich rege mich nur schon wieder auf, du hast Recht“, beschwichtigte der und wandte sich wieder dem eigentlichen Problem zu.
 

„Der Anreiz, der Ihre Entscheidung sicher erleichtern wird ist in diesem hübschen Leichensack inbegriffen. Also nichts wegwerfen, Kudou-san. Wer weiß für wen das Teil noch nützlich sein wird. Das Ding ist weit gereist und viel benutzt.“

Yohji hörte das Lächeln förmlich durch die Worte tropfen, wie vergifteter Sirup.
 

„Jungs!“, rief er und nahm seinen Fuß vom Seil. Es surrte die Kante hinab und Yohji sprang vor um den Fall abzubremsen. Während er das tat hörte er das sich entfernende Gespräch mit.

„Solltest du sie derart gegen dich aufbringen?“
 

Ein kurzes Schnauben war zu hören. „Was soll’s. Es wird ohnehin nur auf ein Ende hinaus laufen…“
 

Mehr war nicht zu hören.

Yohji suchte den Reißverschluss und öffnete den Sack. Für einen kurzen Moment hatte er die Hoffnung besessen, dass der Anzugträger nicht von Jei gesprochen hatte. Aber diese Hoffnung war wirklich kaum als solche zu bezeichnen, vielleicht eher als Wunschdenken zu benennen.

Aufgrund der spärlichen Lichtverhältnisse konnte er wenig erkennen. Das Licht der Straßenlaterne war unzureichend hier unten.

Das für ihn so faszinierende graue Haar klebte an der rechten Kopfseite und im Gesicht des Iren. Seine Augen waren geschlossen. Die obligatorische Augenbinde war weggerissen worden, die Narbe, die vertikal über das geschlossene und etwas eingefallene Auge lief deutlich zu sehen. Während sein Gehirn eine schwere Verletzung registrierte zog sich Yohji seine Handschuhe von den Händen und tastete nach dem Puls. Er fühlte sich etwas schneller als normal unter seinen Fingern, aber stark an. „Jei!“ hauchte er wenig hilfreich und entsetzt über das was so schnell geschehen war. Seine Hand fuhr über die Wange, legte sich unter die Nase und versuchte zu fühlen ob Jei atmete. Die andere Hand legte er auf den Brustkorb.

Er fühlte den warmen Atem, an seiner feuchten Haut.

Soweit so gut.
 

Er setzte sich auf seine Fersen zurück, die vermeintlich blutigen Hände auf den Oberschenkeln und starrte auf das schlafend wirkende Gesicht. Seine Hände zitterten. Seine Gedanken wollten nicht mehr stillstehen.

Er fühlte wie Panik sich seiner annehmen wollte, diese unterdrückend griffen seine Hände nach dem Reißverschluss, zogen ihn ganz nach unten, wickelten das Seil von den zusammengebundenen Knöcheln. Er pellte Jei aus der makabren Ummantelung, tastete in dem Ding herum, bis er einen Beutel aus Stoff fand, den er zusammen mit dem Seil wieder hineinstopfte und den Reißverschluss wieder nach oben zog um ihn zu verschließen. Das alles machte er so hastig um bloß nicht darüber nachdenken zu müssen, wie viel Schuld er vor seiner inneren Rechtsprechung auf sich geladen hatte

Dann tastete er, den Iren nach äußerlichen Verletzungen ab, immer mit einem Ohr auf die Umgebung lauschend. Sie waren an einem ungünstigen Ort, zwar konnte sie von der Promenade keiner sehen, es sei denn er stellte sich direkt an die Mauer, oder er kam die Treppe hinunter, dennoch wussten die Typen von vorhin wo sie waren. Sie mussten weg hier.
 

Unter dem dunklen Shirt fühlte er ebenso eine klebrige Nässe, die er als Blut einstufte und auf seinen Angriff zurückführte. Sie brauchten einen Arzt, etwas zum Nähen, Verbandsmaterial, Schutz, ein Dach über dem Kopf.
 

Manx war die nächsten 12 Stunden nicht zu erreichen, wie er wusste. Er zog sein Telefon aus dem Mantel, wählte erneut Omis Nummer. Mit dem gleichen Misserfolg wie zuvor. Wenn er Aya anrufen würde, dann wäre diese innerhalb einer halben Stunde hier. Und ebenfalls in Gefahr. Zumal er mit seiner Dummheit vermutlich deren Wohnung enttarnt hatte. In den Blumenladen konnte er nicht zurück. Die Vermutung lag nahe, dass sein Wagen verwanzt war.
 

In seiner Not begann er Jeis Jackentaschen zu untersuchen und fand dessen Mobiltelefon. Die PIN Nummer, die einzugeben war brachte seine Finger zum Stillstand. „Verdammt“, rief er aus. Er gab trotz allem irgendeine Nummer ein, nur um eine Reaktion von dem Ding zu bekommen. Mit ein wenig Glück war das Mobiltelefon so aufgerüstet, dass es Nagi eine Meldung schickte über einen unerlaubten Nutzer. Er versuchte es erneut, gab wieder eine Nummer ein und beließ es dann jedoch dabei. Er nahm das Telefon an sich.

Dann kniete er sich zu Jei, faltete dessen Arme über der Brust und richtete den Oberkörper auf. Der Körper des Iren war zwar ohne eigene Bewegung, aber die Muskeln hatten Tonus. Er zog ihn zur Kaimauer und lehnte ihn an. „Jei…“ Seine klammen, feuchten Finger strichen die Haare aus dem Gesicht, tasteten erneut nach dem Puls, kontrollierten die Atmung. Unverändert, als würde er schlafen.
 

Yohji atmete tief ein, zog sein Prepaid Mobiltelefon aus dem Mantel und wählte Rans Nummer. Vielleicht konnte er ihn davon abhalten, sofort zu kommen und wusste eine andere Möglichkeit wie sie aus der Sache herauskamen. Er selbst hatte nicht den Eindruck als würde er in nächster Zeit zu einem Entschluss, oder zu einer Lösung kommen. Und Jei musste sowohl aus diesem Nieselregen heraus, als auch zu einem Arzt und das schnell.

Oder… eine bessere Möglichkeit wäre…
 

Er hörte auf das Freizeichen und hoffte inständig, dass mit Ran alles in Ordnung war. Dieser nahm ab und hörte sich sehr verschlafen an. Gott sei Dank.

„Ja?“

„Aya? Ist…“ seine Stimme brach ab und er räusperte sich. Die Erleichterung die Stimme des anderen in einem so normalen Kontext wie der nächtlichen Ruhestörung zu hören löste in ihm den Knoten der Verzweiflung.

„…alles in Ordnung? Wo bist du? Seid ihr noch in Osaka?“
 

Aya musste sich aufgesetzt haben, denn er hörte, wie Stoff raschelte.
 

„…Ja…Nein ich meine, wir sind nicht mehr in Osaka. Ich bin bei Schuldig. Ist alles okay bei dir? Du hörst dich nicht danach an“, hörte Yohji die aufgeraute so charakteristisch dunkle Stimme des Jüngeren.
 

„Es geht um… Jei… um Berserker. Ich… kannst du mir Schuldig geben. Ich … brauch ihn kurz.“
 

„Hat er dir was getan? Gott, Yohji. Du hättest dich von ihm fernhalten sollen. Welcher Teufel hat dich geritten, dass du dich mit ihm eingelassen hast? Wo bist du?“

Aya war jetzt hellwach, wie Yohji feststellte, gut an Vorwürfen, die der Besorgnis geschuldet waren und der gefestigten Stimme zu hören.
 

Yohjis Finger ruhten immer noch an Jeis blutverschmierten Hals. Er lachte düster auf.

„Nein. Unsinn. Er hat mich nicht verletzt. Ich brauche nur einen Ratschlag.“
 

Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung. „Jetzt sag nicht, es geht um einen Ratschlag wie du ihn am besten flachlegen kannst. Es ist mitten in der Nacht, Youji. Und glaub mir, mich nervt das Thema Sex heute schon so sehr, dass ich es mir genau überlege ob ich überhaupt noch…“ zu mehr kam der Japaner nicht, denn es raschelte kurz und nach mehrmaligem Gezeter hatte Yohji den offenbar sehr erzürnten Schuldig in der Leitung.

„Blondie. Ich sag dir das nur einmal. Wenn du Ran in diese Null-Bock-auf-Sex-Stimmung bringst, dann knöpf ich mir dich vor. Also was willst du? Machs kurz“, bellte der Deutsche ungehalten in die Leitung.
 

Yohji versuchte sich zusammenzureißen und sich nicht provozieren zu lassen. Auch wenn er in einer beschissenen Situation war hatten Aya und Schuldig wenig damit zu tun. Er hatte sie mitten in der Nacht geweckt, vermutlich ihren neuen Aufenthaltsort enttarnt, Jei verletzt…

Was sollte er anderes erwarten?
 

„Ich… habe Jei schwer verletzt. Er ist bewusstlos. Ich weiß nicht wie wir von hier wegkommen sollen.“
 

Es war totenstill in der Leitung. Yohji schluckte und erwartete den Blitz, der vom Himmel geschossen kommen würde.
 

„Wo seid ihr?“ Wollte Schuldig beinahe beiläufig wissen, doch Yohji ließ sich von derart harmlos formuliert und vorgetragenen Frage nicht hinters Licht führen.
 

„Warum willst du das wissen? Damit du mir das Gehirn weich kochen kannst?“ blaffte Yohji zurück. Seine Finger strichen behutsam über die Haut unter seinen Fingern, die ihm warm schien. Aber vielleicht lag das einfach daran, dass seine Finger so kalt waren.
 

„Das besorgst du schon ganz alleine, Kudou. Dein Gehirn ist bereits weich wie Weißbrot, wenn du glaubst Jei so stark verletzen zu können, dass er bewusstlos ist. Denn das muss er offenbar sein, wenn wir hier das zweifelhafte Vergnügen eines Telefongesprächs haben“, giftete Schuldig.

„Entweder du erzählst mir jetzt die ganze Story…“, begann Schuldig mit einer Drohung.
 

„Schon gut. Hör auf.“ Yohji nickte, strich Jei übers Gesicht. Gott. Er hatte einem schrecklich, schönen, einzigartigen Wesen etwas angetan, was er sich nicht verzeihen konnte: Er hatte ihm misstraut als es ihn schützen, warnen wollte. Warum hatte Jei sich nicht klarer ausgedrückt? Warum war er immer so wortkarg? Warum… hatte er ihm nicht zugehört? Warum konnte Yohji nicht verstehen wann Jei ihm etwas Wichtiges mitteilen wollte?
 

„Das ist eine längere Geschichte. Geht es schneller wenn du dich bei mir einklinkst?“

Yohji hatte zwar Angst davor, aber er wollte weg hier.
 

„Das tut es. Es ist präzise. Dazu muss ich wissen wo ihr seid“, wiederholte Schuldig spöttisch.
 

„Bei euch. In Yokohama. Der Kai, unten am Strand, nach dem Park.“
 

Yohji griff hektisch mit seiner freien Hand eine von Jeis, hielt sich an ihr fest und noch während er daran dachte, dass er einem Albtraum die Hand reichte und einem Verrückten seinen Geist freiwillig öffnete hatte er das Gefühl, jeden Halt und jeden bewussten Gedanken zu verlieren…
 


 

o~
 


 

Aya hatte sich kurz nachdem sich Schuldig das Telefon erkämpft hatte ins Badezimmer geflüchtet. Er wusch und rasierte sich, putzte sich die Zähne, stahl sich von Schuldig ein Haargummi und fasste seine Haare in einen losen Zopf zusammen.

Als er danach ins Zimmer zurückkam warf er einen flüchtigen Blick zu Schuldig der am Fenster saß und immer noch telefonierte. Es war inzwischen kurz nach halb vier und ihm war nicht mehr nach schlafen zumute. Vor allen Dingen, weil er immer noch nicht wusste was los war. Er schob einen der Wandschränke auf, suchte sich eine blaue Jeans, klaute sich von Schuldig ein weißes Shirt – dieses Mal ohne Aufdruck und streifte es sich noch während er näher kam über. Sie mussten heute unbedingt zu Banshee nach Yokohama fahren. Die Kleine hatte seit gestern keinen Besuch und folglich auch keine Streicheleinheiten mehr bekommen. Nagi hatte ihnen versichert sich um sie gekümmert zu haben – im positiven Sinne – bemerkte Aya zynisch. Außerdem fühlte er sich ohne seine Klinge halb nackt.

Der Alltag kam wieder näher und dieser beinhaltete auch seine Arbeit im Laugh. Seine freien Tage waren um.
 

Schuldig sah zu Ran hoch, der sich angezogen hatte. „Hier“, er hielt ihm das Telefon entgegen. Kudou will dir was sagen.“
 

Aya hob eine Braue. „Was? Das er mit Jei durchbrennen will?“, brummte er und nahm das Telefon an sich.

„Youj?“
 

Schuldig stand auf, küsste Rans auf die Schläfe. Er wollte nach unten gehen und Brad kontaktieren, wo auch immer der stecken mochte. Sie brauchten ihn.
 

„Aya. Wir haben den Kontakt zu Ken verloren. Er hat sich freiwillig für einen Job gemeldet.“
 

„Wo? Und Wann?“
 

„Kyoto. Gestern Abend.“
 

Da hatte er gedacht, er hätte den Aufprall auf die Ziegelsteinmauer nach dem Gespräch mit Schuldig hinter sich gebracht, da rannte er tatsächlich gegen das nächste gemauerte Stück Wand.

„Sieh an. Kyoto also“, murmelte Aya. Jetzt wurde ihm klar, dass sie Crawford besser und härter auf den Zahn hätten fühlen müssen.
 

„Ist das alles?“, riss ihn Youjis fassungslose Stimme aus seinen Gedanken.
 

„Nein…“, Aya schüttelte den Kopf. „Nein. Es tut mir Leid, Youji. Es ist nur so, dass Crawford… können wir später darüber sprechen? Wo steckst du? Und was ist überhaupt los?“
 

Einen Moment knackte es in der Leitung und Aya umfasste das Mobiltelefon fester, die Angst im Nacken, dass die Verbindung unterbrochen werden könnte. „…kann dir Schuldig erklären, okay? Ich… muss mich um Jei kümmern. Wir kommen zu euch. Schuldig sagte, dass wir abgeholt werden.“
 

„Wo seid ihr, Youji?“
 

„Bei euch in der Nähe. Ich erklärs dir später. Weißt du wo Omi ist? Ich konnte ihn nicht erreichen und befürchte das Schlimmste. Er geht immer an sein Handy.“
 

„Omi?“, fragte Aya verdutzt nach. „Der ist hier.“ Aya griff sich an die Stirn und rieb sich die Sorgenfalten. „Oh man, das ist ein ziemlich bescheuerter Tag, Nacht … was auch immer.“

Aya ging barfuß über die Tatamimatten, öffnete die Tür vollständig und trat auf den Flur hinaus als Youji auflachte. „Das kannst du laut sagen.“

Das Lachen hörte sich fast wie ein Schluchzer an. Aya blieb aufhorchend im dunklen Flur stehen. Was war nur passiert?
 

„Youji. Sag mir was los ist. Und bevor du wieder darauf hinweist, dass ich Schuldig fragen soll – ich will es von dir hören.“ Ayas Stimme war leise, aber eindringlich.
 

Aya hörte Youji tief Luft holen, dann ein leises, fast schon trauriges Lachen. „Ich…“ Er brach wieder ab.

„Youji!“, mahnte Aya. Er ging langsam die Stufen in die unteren Stockwerke hinunter um ins Erdgeschoss zu gelangen.
 

„Ich war zu Hause. Ken war seit ein paar Tagen vielleicht schon Wochen mit irgendwas beschäftigt, dass ihm Manx aufgehalst hat. Er sagt freiwillig. Ich sage: Er hatte keine Wahl. Aber lassen wir das. Die Stimmung war mies als er ging. Omi war nicht da, als ich gestern ins Hauptquartier kam. Ich hab mir nichts dabei gedacht, doch als Manx anrief und erzählte, dass sich Ken nicht zur vereinbarten Zeit gemeldet hatte und danach auch nicht begann ich mir Sorgen zu machen.
 

Während Aya telefonierte stand Schuldig in der Küche und setzte gerade eine Kanne Kaffee auf. Es war noch dunkel, aber ihr Generator tuckerte fleißig vor sich hin und produzierte ihnen etwas Licht in die Küche, unter einem der Küchenschränke über der Spüle. Rans Tee war schon vorbereitet. Er lehnte an der Küchenzeile und wählte wiederholt Brads Nummer. Als das nicht sofort zum Erfolg führte stellte er sich auf mehrere Versuche ein, stemmte sich hoch auf die Anrichte und ließ die nackten Füße baumeln.

„Wieder nichts“, brummte er. Kaffeeduft zog an ihm vorbei und lockte hoffentlich sein Blumenkind von oben herunter.

Diese Weiß Agenten waren wirklich die Pest. Schuldig verzog das Gesicht. Naja. Eine Ausnahme gab es ja.
 

Diese zuvor gedanklich benannte Ausnahme kam gerade den quadratisch angelegten Treppenaufgang herunter und ging in den hinteren Bereich in Richtung Küche, wo Aya Schuldig vermutete, da ein matter Lichtschimmer und der Duft von frisch gebrühten Kaffee ihn führte.
 

Schuldig wählte erneut Brads Nummer. Er hatte Glück, der Amerikaner ging an sein verdammtes Telefon. „Na, endlich“, seufzte Schuldig.

„Wo treibst du dich herum?“, denn Schuldig hatte zur Begrüßung ein eher nüchternes gar alertes „Ja?“ erhalten, dass ihm sagte, dass der Amerikaner nicht im Bett weilte und geschlafen hatte.

„Ich bin auf dem Weg. Im Wagen.“

„Auf welchem Weg?“, Schuldig wischte sich über die müden Augen und gähnte. „Hab ich was nicht mitgekriegt? Wolltest du nicht in Roppongi bleiben?“
 

„Wollte ich. Aber ich dachte mir, da du mich ohnehin bald anrufen und mit ungeheurer Ausdauer Nerven würdest, dass ich dringend nach Yokohama fahren sollte um Jei aus den Klauen eines vielköpfigen Ungeheuers zu retten, warum also nicht gleich losfahren und mir das Ganze Drama ersparen?“, sagte Brad so kalt und gefühllos als würde er mit jemand anderem reden. Jemand den er nicht kannte, jemand den er nicht mochte, jemand der ihn nicht kümmerte. Aber das war für Schuldig nur das Zeichen, dass alles in Ordnung war. Ein Lächeln schlich sich auf seine müden Gesichtszüge. Es war die spezielle eisige Tonlage, die ihn zur Hochform trieb um ihr etwas Wärme, etwas Gefühl zu verleihen auch wenn es Wut oder Zorn und Verachtung waren, die statt dessen für ihn heraussprangen.
 

„Hmm“, brummte er deshalb, holte tief Luft und ließ sie entweichen. „Also. Ja. Genau. Das wollte ich in etwa sagen. Natürlich viel ausdauernder… und auch nerviger selbstverständlich“, fügte er sarkastisch hinzu.

„Du hast offenbar gerade einen guten Lauf was die Zukunft angeht, hmm?“
 

„Ja, es bewegt sich etwas. Irgendetwas oder Jemand bringt Impulse rein, die eine rasche Veränderung bewirken, bei zuvor schwer veränderbaren Abfolgen.“
 

„Geht’s genauer? Was läuft da in Kyoto?“ Schuldig verstand nur Bahnhof.
 

„Später. Genaues weiß ich nicht.“
 

„Wo bringst du Jei hin?“
 

„Zum Doktor meines Vertrauens.“
 

„Vergiss das vielköpfige Ungeheuer nicht mitzunehmen“, murrte Schuldig unwillig. Was für ein Schlamassel. Er wusste wo Brad Jei hin bringen würde. Es gab nur einen Ort an dem er sicher sein konnte, dass Jei in ...vernünftiger Obhut war.
 

„Ich habe einige Möglichkeiten durchgespielt. Ihn einzutüten und per Flaschenpost zu verschicken würde nicht sonderlich viel bringen. Auch die Sache mit dem Kopfabschlagen wäre nutzlos. Das Problem ist nicht Kudou.“
 

„Ich weiß. Ich weiß“, wiegelte Schuldig ab. „Es ist Jei. Wir warten auf euch. Pass…auf dich auf.“
 

„Sicher. Bis dann.“
 

Schuldig flippte das Handy zu und warf es auf die Anrichte neben sich. Er hopste von seinem erhöhten Sitzplatz herunter, als er Ran dabei beobachtete wie er in typischer Schwertkämpfermanier in die Küche tappte, das Telefon wie ein Rettungsanker am Ohr. Sein Blick war wachsam, die Linie über den weichen Lippen ein Tick zu gerade. Ran hatte diesen ganz typischen Gang drauf, den nur Schwertkämpfer hatten, geschmeidig, fest, lautlos. Obwohl der Japaner von sich selbst behauptete, er wäre kein Schwertkämpfer, sondern nur jemand, der sich einer Klinge bediente, wenn er sie brauchte.

Ein Stümper.

Schuldig wagte die Gegenthese. Er musste jedoch zugeben, so wie ihnen ein Lehrer, ein Mentor fehlte, so wünschte er sich für Ran ebenso einen. Er sah ihm oft nach seinem eigenen, oder ihrem gemeinschaftlichen Aufwärmtraining zu und liebte dies zu tun. Aber er sah auch wie unzufrieden Ran mit sich war. Und das lag daran, dass er niemanden hatte, der ihn leitete. Ran hatte eine bewundernswerte Disziplin, aber das ersetzte keinen Mentor.
 

Kein Tee, sagte Schuldig die Körperhaltung, der minimal angespannte Kiefer und holte eine große Kaffeetasse aus dem Schrank auf der anderen Seite der Küche und schenkte ihm heißen Kaffee ein. Er stellte die Tasse neben den zuvor eingeschenkten Tee in Rans Nähe, der sich zu ihm an die Anrichte gesellt hatte.
 

„Was war das für ein Auftrag?“ Aya griff zu dem frischen Kaffe, warf Schuldig einen flüchtigen Blick zu, der ihn mit der üblichen machohaften Genugtuung beobachtete. Trotz der Situation tauchte ein Lächeln in den violetten Augen auf, das sich nur dort zeigte, bevor sich Aya wieder ihrem aktuellen Problem widmete. Er wollte Youji in der Leitung behalten, solange bis derjenige kam, der ihn von dort wegholte. Derjenige welcher Brad sein würde, so wie er Schuldig kannte.
 

Dieser nahm den Tee an sich und ging hinüber zum Kühlschrank, öffnete beide Türen und kam zum Schluss, dass es für eine Miso und Sushi zum Frühstück reichen würde. Er schloss die Türen nacheinander wieder, nahm einen Schluck des heißen Tees in seiner Hand und kam wieder zu Ran um sein Mobiltelefon und die Uhr darauf zu inspizieren. Er würde den ‚Kindern‘ noch genau zwei Stunden geben, bevor er sie aus dem Van trieb.

Sich wieder auf die Anrichte hievend vertrieb er sich die Zeit damit Ran dabei zuzusehen wie er Kudou auseinandernahm. Er ließ die Hände um die Tasse Tee gleiten und behielt sie in seinem Schoß, während er sich an einen Hochschrank anlehnte, der sich an die Arbeitsplatte anschloss.
 

Yohji war nicht sonderlich versessen darauf Ran Rede und Antwort zu stehen, aber es tat gut ihn zu hören. Es lag nicht daran, dass er es nicht wollte, sondern, dass er so gut wie nichts wusste über das er etwas erzählen konnte und Ran war manchmal wie ein Bluthund wenn es darum ging jemanden Informationen zu entlocken. Er war beharrlich und sehr geduldig.

Das Erlebnis, das er mit Jei gehabt hatte in dem Lagerhaus war noch zu gegenwärtig, als das er nicht an die Parallelen denken konnte.
 

Yohji versuchte trotzdem Ran so viele Informationen wie möglich zu geben. „Genau weiß ich es nicht. Als die Sache hier brenzliger wurde und andere Teams ausradiert wurden hat Manx uns gefragt ob wir einen Spezialjob annehmen könnten. Sie brauchte nur einen von uns um ein anderes Team einzuarbeiten. Der, der den Job annehmen sollte würde als eine Art Berater fungieren.“
 

„Berater“, wiederholte Ran. „Ein dehnbarer Begriff.“
 

„Ja, wir dachten uns, dass sie etwas mit den Amerikanern oder anderen ‚Interessenten‘ am Laufen hatte.“
 

„Agenten?“
 

„Vielleicht. Sie sagte, dass nur derjenige, der den Job machen würde auch Informationen erhalten würde. Ken nahm den Job sofort an. Er hatte ein Problem mit der Fallakte Schuldig und dir. Dann war da noch Nagi, der sich an Omi ranwarf.“ Yohji lachte bitter auf.

„Das Ganze hier machte es nicht besser. Er hatte wohl das Gefühl, dass wir nicht mehr auf derselben Seite stehen.“
 

„Hat er das so gesagt?“
 

„Nein. Nein, hat er nicht. Er war wie immer.“ Yohji setzte sich neben Jei, bettete dessen Kopf an seine Schulter und nahm ein Handgelenk in seine Hand, versuchte in der verdrehten Haltung den Puls zu fühlen. Der Daumen war dafür nicht sonderlich gut geeignet, denn er hegte den Verdacht, dass er nur seinen eigenen Puls darunter fühlte.

Während er telefonierte, versuchte er ein besseres Ergebnis zu erreichen und strich mit etwas Druck zart über die Haut.
 

„Wenn ich mich zurückerinnere war ich wohl zu sehr mit mir selbst beschäftigt um zu sehen, dass er reizbarer war und für seine Verhältnisse schweigsam.“
 

„Ich hätte euch nicht allein lassen dürfen“, sagte Ran plötzlich und die Stimme klang selbstanklagend.
 

„Ran. Das ist Unsinn und das weißt du. Die Zeit war einfach reif. Sieh dir an was aus den Weiß- und Schwarz Agenten von damals geworden ist. Die Zeit hat uns verändert und vielleicht wird es jetzt Zeit für etwas Neues. Keine Ahnung was“, lachte Yohji spöttisch auf.
 

Es war still in der Leitung.
 

„Ran?“
 

„Ich bin noch da. Du sagst es könnten Amerikaner gewesen sein, die mit Manx gemeinsame Sache machen?“
 

„Könnte sein. Kann auch sein, dass Manx sie erst mit ins Boot geholt hat.“
 

„Manx und der CIA? Ich weiß nicht.“ Ran bezweifelte das offenbar.
 

„Wenn sie verzweifelt genug ist…“
 

„…würde sie sogar mit dem Teufel höchstpersönlich ins Bett gehen, ja… so etwas dachte ich auch schon.“
 

Yohji musste unwillkürlich lachen, wenn auch leise und ein wenig zynisch. „Ich hoffe nur, dass sie Ken dafür nicht geopfert hat – für ihr Stell-dich-ein mit dem Teufel.“
 

„Sie weiß, dass jede Verbindung gefährlich ist, egal zu welcher Organisation. Selbst innerhalb von Kritiker gab es undichte Stellen zu den lokalen Gruppen der Yakuza.“
 

Yohji hörte Schritte näher kommen. Er ließ Jeis Handgelenk los.

„Kudou. Dein Taxi ist hier“, hörte er die kalte Stimme des Orakels von Schwarz. Und auch wenn er den Amerikaner lange nicht gesehen hatte, er erkannte die kalte Verachtung. Er schloss für einen kurzen Moment vor Erleichterung, die Verantwortung nicht mehr allein tragen zu müssen die Augen.

„Ran. Crawford ist da. Ich leg auf, wir sehen uns später.“
 

Während Ran sich mit einem nüchternen „Beeilt euch“, verabschiedete hörte Yohji wie das Orakel die Treppe hinunter kam. Er sah flüchtig auf und drehte sich dann zu Jei um, die Hand an dem schnellen Puls des Halses gelegt.

„Wohin?“, fragte Yohji wortkarg.
 

„Zu einem Arzt“, bekam er die Antwort.
 

Brad nahm das Stück Plastik hoch, faltete es und sah währenddessen zu Kudou. „Worauf wartest du?“
 

Yohji hatte nicht erwartet, dass er noch ein Anrecht auf den Verletzten hatte. Er kam auf die Beine und nahm Jei mit hoch, hievte ihn sich über die Schulter.

Das Orakel tat immer das was er nicht erwartete und das hasste Yohji. Er konnte ihn nicht einschätzen. „Ich hätte von dir erwartet, dass du mir verbietest ihn überhaupt anzufassen“, brachte Yohji spöttisch hervor.

„Das hätte die Konsequenz einer feurig, leidenschaftlichen Ansprache gehabt, die mir eine derartige Übelkeit verursacht hätte, dass ich unfähig gewesen wäre die Lenkung meines Wagens zu übernehmen. Darauf will ich verzichten. Davon einmal abgesehen hast du das Ganze zu verantworten, also liegt der Schluss nahe, dass du auch die Konsequenzen trägst.“
 

Brad ließ ihn voran gehen und besah sich den Sack, den er in der Hand trug. Ein Leichensack. Wie originell, bemerkte er in Gedanken.

Sie gingen zum Wagen - einem alten Toyota - und legten Jei auf den Rücksitz ab.

„Setz dich neben ihn.“
 

Yohji runzelte die Stirn. Er kam sich verschaukelt vor, denn er hatte eher erwartet hier zurück gelassen zu werden, anstatt beteiligt.

„Warum?“, fragte er mehr aus Gewohnheit misstrauisch nach, denn aus wirklicher Neugierde.
 

Brad sah in den Rückspiegel. Das Hellbraun seiner wissenden Augen traf Yohji bis ins Mark. Er wandte den Blick ab.

„Falls er aufwachen sollte, braucht er etwas auf dass er einstechen kann. Ich fahre den Wagen.“
 

Yohji wusste beim besten Willen nicht wie er das Gesagte einordnen sollte also schwieg er dazu. Er lehnte seinen Kopf auf die Rücklehne, tastete nach dem Gesicht des Iren und verhalf dem Oberkörper zu einem bequemen Liegeplatz in seinem Schoß. Er schloss die Augen, die Hand wieder am Handgelenk des anderen.

Er hatte immer noch den erstaunten oder war es ein ungläubiger Blick des Jüngeren Iren vor sich, als er ihn angegriffen hatte. Jei hatte damit nicht gerechnet. Er hatte von ihm keinen Hinterhalt erwartet. Er hatte ihm vertraut.
 

„Wo fahren wir hin?“ Yohji öffnete die Augen, da er dieses Bild nicht mehr sehen wollte, dass ihm im Kopf herum spukte.
 

„Shinjuku. Erzähl mir was passiert ist.“
 

„Weißt du das nicht schon längst?“, erwiderte Yohji spöttisch.
 

„An deiner Stelle würde ich den Rand halten, Kudou. Ich weiß genug, um dir die Schuld an diesem riesigen Haufen Scheiße zu geben. Du hast keine Ahnung was du angerichtet hast. Du hast vielleicht die Arbeit von Jahren zunichte gemacht. Und du wirst es ausbaden. Ich werde dich an ihn ketten und zusehen wie er dir die Knochen vom Leib kaut wenn er durchdreht.“
 

„Warum sollte er das?“, blaffte Yohji überheblich.
 

„Hast du ihn schon einmal schlafend gesehen?“
 

Yohji konnte sich nicht erinnern, ob das schon einmal der Fall gewesen war. Er überlegte noch während ihm das Orakel die Antwort gab.

„Er hat seit über drei Jahren nicht mehr geschlafen. Kein Schlaf wie man ihn kennt. Er erholt sich auf andere Weise und das reicht ihm. Eine tiefe Bewusstlosigkeit ist gleich bedeutend mit einem möglichen Kontrollverlust und dem Rückfall in alte Verhaltensmuster.“
 

„Deshalb ist er euer Wachhund?“
 

„Es gibt keinen Besseren.“
 

„Das heißt er flippt wieder aus, wenn er aufwacht?“ Jetzt erklärte sich einiges. Warum der Ire mehr als über fünfzig Stunden observieren konnte und danach lediglich aussah wie unter der Brücke wohnend, aber nicht wie Yohji aussehen würde, wenn er dieselbe Zeitspanne wach wäre.
 

„Ja.“
 

Er wusste nicht was er davon halten sollte, was er denken sollte. Sie schwiegen während der restlichen Fahrt und er erwischte seine Hand dabei wie sie die behandschuhten Finger des Iren umfasst hielt. Er musste die Suppe auslöffeln, nur schmeckte diese bitter und war vermutlich vergiftet. Ein Vorkoster wurde ihm nicht gestellt. Leider.
 

Crawford hielt vor einer Tiefgarageneinfahrt mit Gegensprechanlage an. Das Tor war geschlossen. Er fuhr das Fenster runter, drückte auf den Knopf und wartete.

„Gibt es ein Problem?“, fragte eine Dame höflich. Yohji vermutete eine Sicherheitsfirma welche die Garagen überwachte.

„Ja.“

„Welcher Art?“

„Schussverletzung, Blutverlust, Bewusstlosigkeit.“

„Wie viel Personen?“

„Eine. Zwei Begleitpersonen.“

„Waffen?“

„Vorhanden.“

„Fall bekannt?“

„Ja.“

„Nummer?“

„XUJ“

Es herrschte Stille in der Leitung. Crawford wartete.

„Sie werden erwartet. Verzeihen Sie die Verzögerung. Bitte fahren sie zum ersten Kontrollpunkt und geben Sie dort Ihre Waffen ab.“
 

Yohji staunte nicht schlecht. Oberhalb dieser Parkgarage war ein Hochhaus mit Bars, Diskotheken und anderen Vergnügungstempeln.

„Ist das nicht Asami Ryuichis Revier?“
 

„Ist es.“
 

Sie fuhren die Rampe hinunter, das Tor ging langsam auf und Yohji erwartete, dass sie in das Parkhaus hinunterfuhren, einige Wagen parkten in den abgegrenzten Bereichen, doch Brad blieb direkt hinter dem Tor stehen.

Das Tor ging knapp hinter dem Wagen zu, als der Boden plötzlich ruckte und sie nach unten transportiert wurden. Es ging zwei Stockwerke nach unten, dann fuhr Brad weiter einen Tunnel entlang, bis zu dessen Ende. Yohji drehte sich um und sah wie der Aufzug wieder nach oben fuhr. Sie hielten wenige Minuten später an. Brad stieg aus. Männer kamen an und er übergab ihnen zwei Waffen und ließ sich klaglos abtasten.

Yohji tat es ihm gleich, auch wenn er seinen Draht nicht preisgab.

„Sind das alle Waffen meine Herren?“, fragte einer der drei Männer höflich.

Crawford sah zu Kudou hinüber, als dieser sich bereits in den Wagen beugte um Jei herauszuholen. Der Japaner hatte seinen Draht nicht abgegeben. Crawford verzog keine Miene, amüsierte sich aber über so viel Misstrauen. „Der Verletzte könnte noch Waffen bei sich tragen.“
 

„Das ist kein Problem.“
 

Der Mann ging einen Flur entlang und brachte eine Liege mit sich, auf die Yohji Jei ablegte. Sie fuhren diesen langen schwach beleuchteten Korridor entlang.

„Benötigen Sie einen Rundumservice?“

Brad ging hinter Yohji und den Männern. Einer dieser Männer war bei ihm und notierte etwas auf einem Pad.

„Ja. Im Wagen ist ein Plastiksack. Entfernen Sie bitte alle Spuren, die ihn verunreinigen und überprüfen Sie den Inhalt. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Und die Entsorgung eines Wagens, der vermutlich verwanzt ist.“

„Nennen Sie mir bitte den Standort.“
 

Yohji lauschte den Angaben und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Wo waren sie hier? Im Verbrecher-Wünsch-Dir-Was-Land?

Sie gelangten in einen Raum, in dem grelles Licht ansprang als sie ihn betraten. In der Mitte angekommen, verschlossen sich beide Türen und sie fuhren eine Etage nach unten.
 

Dann jedoch gelangten sie in eine Umgebung, die ihn fast schon an ein Krankenhaus erinnerte. Zumindest eine Station davon.

Ein Mann trat ihnen entgegen. Er trug blaue OP Kleidung und war um die Vierzig.

„Ich hatte nicht erwartet je wieder etwas von Schwarz zu hören, geschweige denn zu sehen, Mr. Crawford“, sagte der Mann.

„Wir haben uns bedeckt gehalten, Doktor.“
 

„Das ist ihnen offenbar nicht gut gelungen.“ Er trat um den Tisch herum, inspizierte die Wunden. Dann sah er zu Crawford. „Und wer ist der junge Mann hier zu meiner Rechten?“ Er deutete auf Yohji, während er sich das blutgetränkte Tuch am Oberschenkel besah.

„Ein Mitglied von Weiß.“
 

Der Doktor stoppte in seiner Arbeit, sah von Crawford zu Yohji und lachte auf. Es klang nicht erfreut.

„Ach wirklich? Es ist lange her, dass ich Jungs von Kritiker behandelt habe. Bringt ihn in die drei“, wies er die Männer an.

Yohji fragte sich warum Crawford so brav Rede und Antwort stand, wo war die Überheblichkeit hin?

„Ich brauche Fuma und Yume.“ Die Männer brachten Jei weg und Crawford und Yohji folgten ihnen und dem Doktor in ein Zimmer mit der Nummer Drei.

Es war eher ein großer Saal und Yohji fühlte sich an einen Operationssaal oder an eine Leichenhalle erinnert. Aber es war nicht kalt, nur durch glatte Wände gut abwaschbar und zweckmäßig.

Zwei große OP Lampen waren von der Decke mit schwenkbaren Teleskopstangen befestigt. Die Männer fuhren ihn darunter, justierten die Lampen in die gewünschte Richtung und verließen sie.
 

„Schwarz tauchen immer dann auf wenn die Zeiten schwierig werden.“

Der Doktor, dessen Name Yohji nicht kannte und wohl auch nie erfahren würde, nahm eine Schere in die Hand und begann damit Jeis Kleidung zu zerschneiden, um an die Verletzungen zu kommen.

Eine Frau und ein Mann kamen herein. Sie rollten eine Überwachungseinheit vor sich her, die sie an Jeis Kopfende stellte und ihn untersuchte. Bald schon erfüllte das akustische Signal von Jeis Herzschlag den Raum.

„Sättigung 88 Prozent.“
 

„Geben Sie ihm sechs Liter Sauerstoff, das sollte vorerst genügen. Sichern Sie Kreislauf und Atmung, wenn nötig werden wir eine Narkose einleiten“, sagte er zu der Frau, die wohl Yume war.
 

Fuma war der Mann, der einen Tisch zu dem Arzt rollte, er deckte das Grüne Tuch ab, Instrumente in verschiedener Ausführung und Größe kamen zum Vorschein. Fuma half dem Doktor Jei zu untersuchen, sie drehten ihn auf die Seite, während sich Yume um den Kopf kümmerte, den sie in den Händen hielt.
 

„Er hat zwei Schussverletzungen. Ein glatter Durchschuss, der den Oberschenkel betrifft und ein Streifschuss an der Flanke. Oberhalb davon hat er eine Schnittverletzung, die relativ tief ist. Wir müssen beides operativ versorgen. Das sieht nicht frisch aus, wie lange ist es her?“ Er wies Fuma an Jei zurück auf den Rücken zu legen.
 

„Die obere Schnittwunde eine Stunde. Die beiden Schusswunden kann ich nicht sagen, vielleicht zwei, drei Stunden.“ Yohji starrte auf Jeis Gesicht, das zart und verletzlich wirkte. Er sah so verdammt viel jünger aus als Yohji. Die unnatürliche Blässe wurde durch das blutgetränkte Haar verstärkt.

„Hat er am Kopf auch noch eine Verletzung?“
 

Die Frau, die am Kopf stand untersuchte Jei. „Eine Kopfplatzwunde. In der Regel bluten diese stark, sind aber vorerst nicht lebensbedrohlich. Ich werde mich darum kümmern“, sagte sie leise und ihr taxierender Blick verharrte kurz auf Yohji.
 

„Fuma, lege ihm drei Zugänge, er braucht Volumen. Seht euch die Blutgasanalyse an und wir brauchen eine Computertomographie. Ich bereite alles vor. Bringt ihn dann rüber. Meine Herren…“, bedeutete der Doktor ihm zu folgen.
 

„Wir legen ihm zunächst provisorisch Verbände an, bis wir geklärt haben ob die Kopfplatzwunde nur eine Begleiterscheinung zu einem Schädel-Hirn-Trauma darstellt. Wie sieht es mit der Gabe von Transfusionen aus, Mr. Crawford?“
 

„Immer noch schlecht. Ich weiß nicht was passiert.“

Sie waren im Vorraum zum Computertomographen angekommen und der Doktor setzte sich außerhalb des Raumes vor das Sichtfenster um die Einstellungen vorzunehmen.

„Am besten Sie setzen sich in den Raum nebenan, trinken Sie etwas und ruhen Sie sich aus. Das wird lange dauern. Ich weiß was zu tun ist wenn er aufwachen sollte.“
 

Brad wandte sich ab, denn er wusste, dass Jei beim Doc in den besten Händen war. Er kannte die Problematik, die Jei hatte, wenn er das Bewusstsein verlor und er wusste um ihre speziellen Fähigkeiten, die einer besonderen Behandlung bedurften.
 

Yohji jedoch stand immer noch wie angewurzelt hinter dem Arzt. Er hatte nicht vor sich ‚auszuruhen‘ oder ‚etwas zu trinken‘, er musste hier bleiben. Er wusste nicht was er sonst tun sollte. Und er musste etwas tun.
 

Doch er hatte nicht mit Crawford gerechnet, der ihm derart hart in den Nacken griff, dass er sich vor Überraschung fast auf die Zunge biss. Er war zu sehr auf die zerbrechlich wirkende Gestalt fixiert, sodass er den heimtückischen Angriff nicht hatte kommen sehen.

Wie eine Katze im Nacken hatte Crawford ihn gepackt, wirbelte ihn herum und schubste ihn aus dem Raum hinaus. „Wenn der Doc sagt ‚raus‘ dann gehen wir raus. Verstanden?“, er fand sich an der Wand wieder, das Orakel an der gegenüberliegenden Seite des Flurs neben der offenen Tür zum Vorraum. Yohji musste sich zusammenreißen um nicht einen Gegenangriff zu starten. Crawford gab ihm nichts was darauf schließen ließ, dass der Amerikaner sich um Jei sorgte, er war nur das arrogante eiskalte Arschloch wie er es von früher kannte. Nur, dass er… höflich und folgsam das tat was der Arzt ihm auferlegte. Das passte nicht zusammen. Crawford beugte sich niemanden, war das nicht einmal so der Fall gewesen?

Ja war es, es sei denn er tat es aus einem bestimmten Grund: Damit der Arzt Jei wieder zusammenflicken konnte ohne dass er gestört wurde.
 

Yohji griff sich in den Nacken und massierte ihn. „Das wäre nicht nötig gewesen“, knurrte Yohji.
 

In Brads bernsteinfarbenen Augen flackerte kalte Verachtung auf. „Oh, das war es. Und noch viel mehr wäre nötig.“

Brad ging vor und Yohji folgte ihm in einigem Abstand. Offenbar kannte sich Crawford hier sehr gut aus, sie gingen einen Flur entlang, der sich zu einem hellen Raum öffnete. Angenehmes Licht flutete die breite Wand vor ihnen. Es sah eher nach einem Raum aus ‚schöner Wohnen‘ als einem Warteraum in einer Klinik aus. Weiche Teppiche, zwei riesige Couchlandschaften, sogar ein Kamin, eine offene Küche, Steinboden, ebensolche Fließen an den Wänden, die den Raum Wärme und dem Betrachter das Gefühl von Heimeligkeit gaben. Yohji blieb im Eingang stehen.
 

Crawford lief die drei Stufen in den weitläufigen Raum hinunter und in Richtung Kaffeeautomat. Er lockerte seine Krawatte, öffnete den Knoten und zog sie sich vom Hemd um sie neben die Kaffeemaschine zu legen. Danach zog er sich das Jackett aus und warf es dazu. Crawford hätte gut als Schläger durchgehen können was Körperbau und Muskelmasse anbelangte. Die Brille verpasste ihm leider einen intellektuellen Touch, was durch die irritierenden wissenden Augen verstärkt wurde.

Yohji schnaubte und rieb sich den Nacken. „Bastard“, murmelte er der Form halber und ging die Stufen hinunter, den Teppich vermeidend. Seine Stiefel waren voller Schmutz und seine Kleidung hatte etwas von Jeis Blut abbekommen. Das erinnerte ihn an die Schlammschlacht auf dem Spielplatz, die er veranstaltet hatte. Wenn Jei schon verletzt gewesen war dann erschwerte der Dreck, der in die Wunden gekommen war Jeis Überlebenschancen.
 

Als er am Tresen ankam suchte sich Crawford eine Tasse aus den Schränken und stellte sie unter den Vollautomaten.

Yohji drehte sich um als einer der Männer in den Raum kam, der sie abgetastet hatte. Er trug eine Tasche in der Hand.

„Mr. Crawford. Kein Sender, nur ein Datenträger.“
 

Er stellte die Tasche auf dem Tresen ab und ging.
 

„Du hast veranlasst, dass die das Zeug überprüfen?“, fragte Yohji und griff zur Tasche. Er öffnete den Verschluss und fand sich konfrontiert mit dem Leichensack, obenauf lag der Stoffbeutel mit noch unbekanntem Inhalt, vermutlich der zuvor erwähnte Datenträger. Beides gereinigt.
 

Crawford fand es nicht nötig zu antworten also zog Yohji den Stoffbeutel hervor und öffnete ihn. Ein Datenkristall fiel heraus.

„Wow!“ entfuhr es Yohji und er nahm ihn auf. „Da muss ziemlich fiel drauf sein. Haben wir hier eine Möglichkeit ihn zu lesen?“
 

„Selbst wenn wäre es nicht sehr ratsam. Der Doc wünscht das nicht. Wir werden das respektieren.“
 

„Was ist das hier alles?“ Yohji legte den Datenkristall zurück und ging zum Waschbecken um sich die Handschuhe zu reinigen. Noch bevor er den Wasserhahn öffnen konnte, tauchte Crawfords Pranke in seinem Sichtfeld auf und hinderte ihn daran.

„Wir werden das professionell machen, nicht wahr?“ Das war keine Frage, soviel stand fest.
 

„Werden WIR?“

Yohji sah ihn genervt an.

„Meinst du ich bin selbst zum Putzen nicht tauglich?“
 

„Oh ich denke DAFÜR bist du gerade gut genug.“ Crawford nahm seinen Kaffee und den Datenkristall an sich. Letzteren ließ er in seiner Hosentasche verschwinden.

„Komm mit.“
 

Yohji fühlte sich gegängelt, aber in Anbetracht der Tatsache, dass er nichts tun konnte, da er sich zu sehr in den Fängen dieser seltsamen Untergrundwelt befand gab er nach und folgte wieder einmal dem Amerikaner.

Auf dem Flur, der sie zurück zu den Behandlungsräumen führte kam ihnen wieder der Mann entgegen, der sie gefilzt hatte. Yohji legte die Vermutung nahe, dass er ihr Ansprechpartner war und da überall Kameras in den Ecken auf sie starrten wusste er wann sein Auftritt von Nöten schien.

„Mr. Crawford?“
 

„Wir benötigen Ihre Unterstützung bei einer Säuberung. Ich möchte keine DNS mehr an der Kleidung sehen, wenn Sie mit ihm fertig sind. Tilgen Sie alle Spuren.“
 

„Natürlich“, sagte der Mann Typ Aufpasser. „Würden Sie mir bitte folgen?“
 

Und das tat Yohji. Wieder einmal. Doch erneut wurde er aufgehalten. Und wieder von diesem verdammten Orakel. Jetzt tat er doch schon alles was von ihm verlangt wurde, also was war denn jetzt noch?

Yohji wandte sich wütend um. „Was?“
 

Das Orakel stand geduldig da, die Tasse Kaffee in der Hand und krempelte sich vorsichtig damit er nichts verschüttete, die Ärmel nach oben. „Dein Armband. Es ist sauber. Es wäre sicher schade wenn es nass werden würde.“

Amüsement blitzte in den bebrillten Augen auf und Yohji hätte vor Wut kotzen können über so viel Arroganz.

Aber er löste beide Armbänder, sodass der Mann hinter ihm es nicht deutlich sehen konnte und warf sie dem Amerikaner zu. So hatte er zumindest die Chance sie wieder zu bekommen. Wenn der Typ sie ihm abnahm, dann bestimmt nicht mehr.
 

Crawford fing beide auf und wandte sich ab um zurück in den Aufenthaltsraum zu gehen. Er ließ die Vorrichtungen auf seine Anzugjacke fallen und stellte seine Tasse ab um sie näher in Augenschein zu nehmen. Auf den ersten Blick Schmuckbänder aus Stahl für einen selbstverliebten Playboy. Aber es war kein Stahl, eher eine Edelmetalllegierung. Wie die Dinger zu einer Waffe wurden war so nicht festzustellen. Es musste einen Mechanismus geben, der auf den ersten Blick nicht zu sehen war. Er legte sie wieder zurück.
 

Sie mussten herausfinden was auf diesem Datenkristall war und er musste das Team zusammenrufen. Es wäre wirklich interessant gewesen was Jei zu dem Ganzen zu sagen gehabt hätte. Das würde er so schnell nicht erfahren, wenn er es denn je erfuhr. Kudou war ein Vollidiot, das war ihm bekannt, aber was er sich hier geleistet hatte war mit nichts mehr zu toppen.

Nun ja, es war noch nicht klar ob Kudou die nächsten Tage überlebte, also wozu sich aufregen? Vielleicht erledigte sich das Problem von ganz allein. Da Jeis Erinnerungsvermögen momentan ein reset erfuhr würde sich die weitere Beeinflussung durch den Weiß Agenten bald erledigt haben. Und wenn Jei ihn dabei in einem unglückseligen Moment tötete war das zwar bedauerlich aber schnell vorbei. Er hatte im Augenblick keine Sicht auf diese Zukunft da andere Dinge wichtiger waren.
 

Er wartete noch eine halbe Stunde bis der hochgewachsene, blonde Japaner zurück kam. Sie hatten ihm seine Kleidung abgenommen und er fühlte sich sichtlich nackt unter dem was er jetzt trug. Das Leder war ersetzt worden durch ein langärmliges Shirt, darüber ein Kassack- Oberteil und eine Hose mit Stoffband zum schnüren. Dazu frische Socken und OP schuhe. Das ganze Ensemble in Weiß gehalten. Wie passend.
 

Crawford lächelte spöttisch in seine zweite Kaffeetasse hinein.
 

„War das deine Idee?“, schnarrte es ihm missgelaunt entgegen. Kudou verschränkte während er näher kam die Arme vor der Brust.
 

„Was genau?“
 

„Die FARBE! Oder das Fehlen selbiger.“
 

„Nein, diese geniale Idee kann ich nicht für mich verbuchen. Das Personal trägt Blau. Die Patienten Weiß, ansonsten unterscheiden sich weder Schnitt, noch Stoff.“
 

Yohji stützte die Hände auf die Anrichte zwischen ihnen und beugte sich vor. „Und was willst du jetzt mit mir hier machen? Mich in eine Zelle sperren? Auf einer Liege festbinden und mich mit Medikamenten ausschalten?“ Seine Kiefer mahlten, die grünen Augen leuchteten vor unterdrückter Wut.
 

„Ja. Das würde ich gern“, sagte Brad langsam und betrachtete sich das zornige Bündel attraktiver Mann.

„Aber da ich den Datenkristall zu Schuldig und Nagi bringen muss und ich sonst niemanden habe dem genug daran liegen könnte, dass Jei überlebt werde ich wohl auf dich zurückgreifen müssen. Ich frage mich, wie du es geschafft hast, dass jemand wie Jei, der einzige mir und SZ bekannte Empath, der bisher je existierte und der bisher noch keine nennenswerten Verletzungen davon getragen hat hier liegt und sich einer Operation unterziehen muss, die sein Leben vielleicht rettet. Vielleicht. Kannst du mir sagen wie das passiert ist? Jei ist nicht nachlässig.“
 

Yohji hielt den sezierenden Blick stand, auch wenn es schwer war in diese schwefelgelben Augen zu blicken und die Worte dazu in sich sickern zu lassen.

„Ken ist verschwunden“, eröffnete er.

„Manx hat ihn auf eine Mission geschickt, anders gesagt, er hat sich freiwillig gemeldet, weil ihm unser Kontakt zu euch auf den Magen geschlagen ist. Er hätte sich gestern melden müssen, doch dazu kam es nicht. Auch zu den anderen vereinbarten Zeiten meldete er sich nicht. Zuletzt war der Kontakt in Kyoto zustande gekommen.“
 

„Weiter“, sagte Crawford zu ihm, seine Miene unbewegt, aber etwas in den Augen hatte sich verändert. Ein Schatten hatte sich über sie gelegt.
 

„Ich versuchte vergeblich Omi zu erreichen. Nichts. Also fuhr ich zu Ran und Schuldig. Sie waren nicht da. Ich drehte mich um und da stand Jei. Er stand einfach da. Ich war sauer, weil er mich schon seit Wochen stalkt.“ Yohji seufzte, wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich seitlich, eine Hand auf dem Tresen abgestützt.
 

„Es… es machte mir meistens nichts aus. Aber heute… ich war sauer und wollte das er verschwindet.“
 

„Was er nicht tat.“
 

„Nein. Er ging mir nach, als ich zurück zum Wagen wollte.“
 

„Hat er irgendetwas gesagt? Über das was vorher vorgefallen war?“
 

„Nein, nichts. Er sagte nur: Das ist die falsche Richtung. Und das war alles. Das machte mich rasend. Er drückt sich nie klar aus. Dann flippte ich aus und… ja… wir kämpften. Er lag am Boden, als ich ging aber er war wach. Ich wollte mich abreagieren und ging runter zum Kai an den Strand. Ich rauchte eine, dann kamen diese Typen. Fünf. Vier Schlägertypen, wie diese hier und einer, der sich als der Boss der Truppe rausgestellt hat. Schlank, groß, der Sprache nach hier in Japan geboren. Keinerlei Akzent. Die Männer ohne Masken waren Japaner. Alle trugen die typischen Yakuzauniformen. Der Boss der Truppe und ein anderer trugen Kabuki Masken. Dieselben die sie in dem Lagerhaus beim Angriff auf mich getragen hatten. Die Maske des Anführers hatte sogar noch das Einschussloch, dass Jei der letzten Trägerin verpasst hatte. Die Maske war fein säuberlich in Stand gesetzt worden. Offenbar hängt der Typ an dem Teil.“
 

„Verstehe.“

Brad entsann sich an die Tatsache, dass das Schuldigs Verwandte gewesen war. Wer steckte jetzt hinter der Maske? Eines war dadurch klar geworden: Es war Sin.
 

Yohji drehte sich wieder zu dem Amerikaner um. „Der Typ war angepisst weil wir unseren Job nicht machen. Er meinte, dass er sauer wäre weil wir uns lieber aus dem Staub machen, als dass zu tun was unser Job wäre. Es sei nicht unsere Natur ruhig zu halten.

Dann sagte er noch, dass es schwer wäre an mich heranzukommen und mein Aufpasser – Jei gute Arbeit leistete – wenn ich ihn nicht sabotieren würde.“

Yohji verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse.
 

„Je mehr Details du mir lieferst, desto besser kann ich damit arbeiten, Kudou“, forderte Crawford Kudou auf weiter zu sprechen. Der ehemalige Schnüffler war eine gute Informationsquelle.
 

Eine Quelle die hier unten sprudeln oder versiegen würde. Für Kudou war das hier eine Sackgasse. Oder sein Grab.
 


 


 


 

Fortsetzung folgt…
 

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Gadreel

Dr. Doom

Dr. Doom
 


 

„Er entschuldigte sich für den Angriff im Lagerhaus, denn er wusste, dass Jei einen ihrer Leute ausgeschaltet hatte, als er mir half dort raus zu kommen. Sie fanden es offenbar witzig die gleiche Aktion wieder durchzuziehen.“
 

„Sie haben Sinn für Humor“, erwiderte Brad nachdenklich. „Gehen wir davon aus, dass sie es waren, dann wäre es interessant Jei dazu befragen zu können. Wie hat er auf dich gewirkt?“
 

„Wortkarg.“
 

Brad wartete auf etwas Besseres. „Kudou.“
 

„Wir standen beide im Schatten, falls er zu dem Zeitpunkt bereits eine Verletzung hatte, habe ich sie nicht bemerkt. Ich hätte ihn sonst nicht angegriffen“, versuchte er sich genervt zu verteidigen.

Was sollte er denn noch sagen?
 

Brad hob eine Braue und sah ihn abwartend an.

„Erzähl mir alles was du an ihm beobachtet hast.“
 

Nach einem abschätzenden Blick in die beunruhigend hellbraunen Augen, schürzte er die Lippen und atmete tief ein.

Also gut, verdammt.

„Er stand vor mir, vielleicht zwei Meter. Ich ging an ihm vorbei, sein Gesicht wirkte wie immer, vielleicht sah er etwas abwesend aus. Sein Auge… es…“ Yohji warf dem Amerikaner einen flüchtigen, unsicheren Blick zu. „… er sieht mich immer auf eine Art an, die… ich kanns schlecht erklären.“
 

„Intensiv?“, half ihm Brad auf die Sprünge.
 

Nachdem er keine spöttische Bemerkung als Antwort bekam, nickte Yohji ebenso ernst.

„Ja. Intensiv. Forschend. Das war nicht so, er sah durch mich durch. Ich ging an ihm vorbei, ich war... wütend. Dann sagte er mir ich würde in die falsche Richtung laufen. Ich war schon einige Schritte von ihm weg. Ich schrie ihn an und ging weiter. Wir waren am Spielplatz, als ich die Drähte auf ihn zufliegen ließ. Einen wehrte er ab, den Zweiten – auf der Seite über dem Streifschuss – nicht. Wir kämpften, danach ging ich weg.“
 

„Ihr kämpftet? Wenn Jei kämpft dann stirbt meist jemand. Sehr oft sogar.“ Immer, fügte Brad in Gedanken hinzu.
 

„Ja. Sicher, es war kein richtiger Kampf“, stöhnte Yohji aufgrund der pingeligen Nachfragerei.

„Wir balgten uns. Ich ließ Wut ab, er spielte den Prellbock.“ Das war ihm jetzt auch klar.
 

„Er ließ es also zu, dass du ihn verletzt“, stellte Crawford fest und Yohji kam sich nach diesen Worten noch schlechter vor als ohnehin schon.

Yohji schwieg.

Crawford drehte sich um und spülte seine Tasse aus.
 

„Ich habe nichts von ihm gespürt, rein gar nichts“, sagte Yohji dann. Ihm war das aufgefallen. Nach ihrer letzten Begegnung unter der Dusche, hätte er etwas anderes erwartet. Er wusste aber nicht was. Jei war kein normaler Mensch, hier galten im Umgang keine normalen Maßstäbe. Er wusste nicht, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte.
 

Crawford hielt für einen Moment inne, bevor er ein Trockentuch in den Schränken suchte und damit begann die Tasse abzutrocknen.

„Ist das für gewöhnlich bei euren ‚Treffen‘ anders?“
 

„Was heißt hier Treffen?“, maulte Yohji genervt. „Er lauert mir auf, wenn du das als Treffen bezeichnen möchtest…“
 

„Im weitläufigen Sinne…“, Brad lächelte ungesehen und stellte die Tasse in den Schrank zurück.
 

„Ja, es ist üblich. Er testet an mir herum. Vor ein paar Tagen… vorgestern, ihr wart in Osaka. Ich war shoppen, plötzlich sitzt er mir völlig verdreckt gegenüber…“
 

„Ich erinnere mich. Er hatte vor, so meine Anweisungen zu missachten, denn ich habe ihm verboten mit dir zu sprechen.“
 

Yohji lachte schnaubend. „Deshalb saß er stumm vor mir. Danke auch, das war strange.“
 

Crawford entsorgte das Küchentuch und nahm die Armbänder an sich, sah dabei fragend zu Kudou.
 

Dieser griff sich eines der Bänder, strich vorsichtig mit dem Daumen über einen Lesestreifen, der aktiv wurde und drückte sanft auf den Rand. Aus dem Band schob sich ein weicher Draht, der nur millimeterdick war, mit dem Auge im Flug kaum zu sehen. „Er ist so dünn, dass er von den meisten Menschen nicht oder zu spät wahr genommen wird.

Er sagte, dass er die Sakurakawas observiert hat, dabei sei nichts Interessantes rausgekommen.“
 

Crawford nickte. „Was nichts heißt. Vielleicht war es das falsche Anwesen, die falsche Stelle an der wir suchen.“
 

„Was für eine Scheiße“, murmelte Yohji.
 

„Er war abwesend, weil er verletzt war.“
 

„Das weiß ich nicht. Es kann gut sein, dass sie ihn angegriffen haben, während er von mir geschwächt am Boden lag.“
 

„Oh bitte, Kudou, das ist ein Witz. Jei filetiert dich bevor du mitbekommst, dass du angegriffen wurdest. Vergiss den Gedanken, dass du ihn besiegen könntest.“ Crawford beobachtete das zerknirschte Gesicht.
 

„Wahrscheinlicher ist, dass er bereits verletzt war. Das erklärt die Abwesenheit. Er war darauf konzentriert herauszufinden wer euch gefolgt war und damit beschäftigt Schmerzen, die ihn behindern konnten zu unterbinden. Jei arbeitet hauptsächlich mit dem limbischen System, der Ort im Gehirn der für die Verarbeitung von Gefühlen verantwortlich ist. Unter anderem auch ein Ort der für die Schmerzverarbeitung zuständig ist. Kämpft er ohne Gefühl - und das tut er seit ein, zwei Jahren - kann ihn niemand mehr aufhalten. Ich vermute, dass er in deiner Nähe diesen Umstand vermeiden wollte, zuließ, dass Schmerzsignale aus der Peripherie in sein zentrales Bewusstsein gelangen konnten und ihn zum Teil behinderten.“
 

Das erklärte das erstaunte Gesicht. Jei war überrascht gewesen.

„Er kann also fühlen?“, murmelte Yohji eher für sich als für den Amerikaner gedacht.
 

Crawford nahm die Brille ab, schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. „Er ist ein Empath. Wie zum Teufel kommst du auf die Idee er könne nicht fühlen?“
 

Yohji nahm das zweite Armband an sich und befestigte es sich um das Handgelenk, möglichst weiter oben, sodass es nicht sofort sichtbar unter dem Shirt herauslugte.

„Ich hatte den Eindruck.“
 

„Sein Problem ist, dass er seine von den Gefühlen der anderen nicht separieren kann. Es gibt keinen Filter, keine Grenze dafür.“ Crawford setzte die Brille wieder auf.

Er dachte einen Moment nach, denn es musste sorgfältig überlegt werden ob er diese Dinge, die sonst keiner wusste, mit diesem blonden Schönling teilen sollte. Es waren Informationen, die Jei in der Zukunft helfen würden. Sicher war das nicht.

Er wusste es nicht. Er konnte weder die Zukunft von Jei noch von Kudou sehen. Ein Zeichen dass es vielleicht keine gab.

Ein paar ‚Vielleichts‘ zu viel. Nur sah er nicht, dass was er wissen wollte. Er empfing andere Bilder, Standbilder von Szenerien, die ihn indirekt selbst betrafen.

Kudou schien zu bemerken, dass er ihm Zeit geben musste. So ganz dämlich konnte der Blonde also nicht sein, auch wenn man es aufgrund der attraktiven, unbekümmerten Maske annehmen könnte.
 

Yohji wartete.

Die härteste Währung waren Informationen in der heutigen Zeit und der beste Dealer war Crawford, dafür musste man geduldig sein.
 

Crawford nahm sein Jackett auf und legte es zur Seite um sich den Plastiksack anzusehen, in den sie Jei gesteckt hatten.

„SZ hatten sich das zunutze gemacht. Sie warteten nicht bis er sich an etwas Bekanntes erinnerte, an eine Zugehörigkeit, an ein Gefühl der Zuneigung. Es war effizienter sein Bewusstsein auszuschalten, ihn in eine Zwangsjacke zu stecken und ihn aufwachen zu lassen, wenn man ihn brauchte. Sie ließen keine Entwicklung zu, die es ihm erlaubte ein Leben ohne ihre Kette zu führen. Er war nicht besser als ein bissiger, wahnsinniger Hofhund an der Kette. Wir wissen viel zu wenig über ihn, wie intelligent er wirklich ist, was er versteht und was nicht. Es gibt Zeiten in denen er sich nicht anziehen kann oder will.“
 

Yohji wusste, dass er all das konnte, aber andere Dinge für Jei wichtiger schienen.
 

„Hatten sie Angst vor ihm?“
 

„SZ?“
 

Yohji nickte. „Weil er ihnen zu befremdlich war. Er kommt mir oft losgelöst von all den Menschen vor, überirdisch wenn du so willst. Vielleicht war er ihnen zu stark.“
 

Crawford lächelte in kaltem Spott. „Du siehst zu viele Filme, Kudou. Jei ist kein ‚Gott’. Auch wenn er sich wie einer verhält, dem die irdischen Belange nichts angehen. Er kann ohne Nahrung und Gefühle nicht überleben.

Jei ist nicht zu kontrollieren – von keinem wenn er durchdreht. Er nimmt keine Befehle an, keine Ratschläge und ist blind für die Not anderer. Nagi kann ihn mit roher Gewalt in die Schranken weisen, Schuldig ihn im bestimmten Maß beeinflussen und ich kann ihm allerhöchstens ausweichen, aber wenn er anfängt uns zu beeinflussen, haben auch wir keine Chance.“
 

„Aber warum?“ fragte Yohji, nach wie vor nicht verstehend. „Ich kapiers nicht.“
 

„Ja. Das steht fest.“ Crawford gähnte verhalten und ging hinüber zu einer der Couchen. Er legte seine Jacke hin und setzte sich.

„Wenn er aufwacht ist er in einem Stadium der Reizüberflutung. Er empfindet jede Emotion als extrem. Wut, Angst, Gier oder auch Freude, alles dringt extrem auf ihn ein. Wenn ihm dann niemand sagt, dass er die Fähigkeit hat die Lautstärke nach unten zu regulieren, verliert er sich. Dann wird es schwerer zu ihm durchzudringen.“
 

„Wer sagt ihm das, wenn er im Wahn ist?“
 

„Schuldig. Er ist derjenige, dem dieser Job zufällt. Ich kann mir gut vorstellen wie begeistert er von der Tatsache sein wird, dass wir bei Jei wieder bei Null angekommen sind.“
 

„Kann ich etwas tun?“
 

Crawford sah von seiner sitzenden Position zu Yohji der an der Küchentheke mit verschränkten Armen lehnte.

„Er wird dich früher oder später umbringen, wenn du diese seltsame, wie auch immer geartete Beziehung zu ihm weiterhin unterhältst.“
 

Yohji erstarrte. „Ist das eine Prophezeiung?“
 

„Ja.“
 

Crawford verlor den Fokus nach dieser Antwort und sein Blick verschwamm. Er riss sich die Brille vom Gesicht, warf sie auf die Couch neben sich und griff sich an die Schläfe, denn plötzlich einsetzender Kopfschmerz kündigte eine Vision elementaren Ausmaßes an.

Bilder schlugen so schnell auf ihn ein, dass er sie kaum kognitiv erfassen, denn verarbeiten konnte. Als er die Augen wieder aufschlug, schwebte das Gesicht des Weiß Agenten vor seinem Blickfeld.
 

Er holte keuchend Luft, bäumte sich auf und versuchte sich zu orientieren. Als er das Gefühl hatte, dass er sich wieder unter Kontrolle hatte, wischte sich über die Augen und tat erst ein paar Atemzüge. Er musste sich zwingen Luft zu holen, so nebensächlich kam es seinem Körper vor.
 

„Crawford. Was war das? Du hast zu Atmen aufgehört.“ Kudou setzte sich auf den niedrigen Tisch vor der Couch. Den großen Kerl hilflos zu sehen war schrecklich und faszinierend zugleich.
 

Brad blinzelte heftig. Er hatte Durst. Die Trockenheit in seinem Mund schmeckte nach Staub, eine Erinnerung an Knochenstaub.

„Die Konsequenz einer Lüge“, krächzte Brad und blickte hinüber zur Küche. Verschwommen sah er den Wasserhahn.
 

„Das heißt es war keine Prophezeiung und du hast mich angelogen?“ hoffte Yohji.
 

„Es war ein Test.“
 

Crawford rutschte an den Rand der Couch, suchte nach seiner Brille neben sich und setzte sie auf. Die verräterischen, kalten Augen verschwanden hinter der Fassade des harmlosen Anzugträgers, der jeden Morgen brav seiner Arbeit im Büro nachging.
 

Er erhob sich und ging erst unsicher, dann immer sicherer werdend zum Kühlschrank und nahm sich eine kleine Wasserflasche hervor, um sie zu öffnen und einen Schluck zu nehmen.
 

„Warum zum Henker seid ihr alle so verdammt wortkarg, wenn es darum geht, dass wir verstehen, was in euch vorgeht?“, platzte Yohji der Kragen und er erhob sich.

„Was war das eben?“
 

„Weil wir es nicht gewohnt sind uns zu erklären. Schuldig redet für uns alle schon genug.“
 

„Gut, dann tu es jetzt trotzdem. “ Yohji konnte auch das Argument der Sicherheit verstehen, aber… „Selbst wenn du jetzt sagen würdest: es dient der Sicherheit sich in Schweigen zu hüllen, ist es zu spät dafür. Hätte ich gewusst, dass Jei… ich meine… wie Jei tickt, wäre das Problem jetzt nicht vorhanden.“
 

„Du hättest dich von ihm fernhalten sollen! Anstatt ihn zu ermutigen“, knurrte Crawford jetzt aggressiv.
 

„Ach? Und euch ist es ja prima gelungen ihn von mir fernzuhalten! Wie sollte ich das bitte tun? Ihn erschießen?“
 

Crawford musste Schuldig fragen warum die Sache mit Jei so derart schief gelaufen war. Er konnte sich sogar vorstellen, dass der Deutsche seine Finger im Spiel hatte. Erstaunen würde es ihn nicht.
 

„Halte ich dich von ihm mit einer Lüge oder etwas anderem fern, hat das weitreichende Konsequenzen für alle von uns. Das ist alles was die Vision mir zeigte. Es war eindrucksvoll.“
 

Yohji starrte den Amerikaner an. „Was? So einfach?“ Er lachte freudlos auf.
 

„Du findest es einfach, dich von ihm fernzuhalten? Sagtest du nicht gerade etwas anderes?“ Crawford erstaunte so viel Dummheit auf einem Haufen.
 

Yohji runzelte die Stirn und hob die Hände, um etwas Schlaues zu sagen, ließ sie dann nach einem Moment der Überlegung, enttäuscht über die vertane Gelegenheit seinen überragenden Intellekt zu beweisen, sinken.

„Das ist bei genauerer Betrachtung… ziemlich beschissen. Gehen wir davon aus, dass die Sache für mich tödlich laufen wird und er mich um die Ecke bringt, überlebst wenigstens du die Angelegenheit. Versuchst du mich zu retten – was schon per se zweifelhaft ist – gehst du drauf, wie auch immer. Richtig?“
 

„Falsch.“
 

Yohji stemmte die Hände in die Hüften und sah Crawford fragend an.
 

„Falls ich eingreifen und die Zukunft manipulieren sollte, wird sich das rächen und schlecht auf mich und die Menschen die mir Nahe stehen auswirken. Lasse ich alles so laufen wie es gerade läuft weiß keiner was passiert.“
 

„Gut. Also… falls du mich anlügen und mir eine falsche Prophezeiung nennen solltest, um mich von ihm fernzuhalten, stirbst du oder jemand von uns?“
 

Crawford sagte nichts. Ganz so einfach war es nicht. Er hatte nicht seinen eigenen Tod gesehen, denn er tat sich schwer damit Visionen, die ihn selbst betrafen direkt zu sehen. Es war viel mehr so, als könne er es in einer Vision aus dem Augenwinkel erahnen, dass es ihn selbst mit betraf. Das war etwas, dass er erst lernen hatte müssen.

„Der Tod ist nicht immer das Schlimmste was uns im Leben ereilen kann, Kudou.“
 

„Wie?“, hakte Kudou nach und Crawford empfand den gleichen quälenden Kopfschmerz wie mit einem Gespräch gleicher Art mit Fujimiya.
 

„Das ist unerheblich. Die Ereignisse sind ineinander verwoben, schubse ich dich in eine andere Richtung gerät alles in Bewegung und das Resultat habe ich dir gerade erläutert. Eigennützigerweise möchte ich das verhindern, also lasse ich alles so laufen wie es läuft.“
 

„Solltest du nicht eine Vision davon erhalten wie jetzt alles wieder seinen geordneten Gang geht?“
 

„Nicht unbedingt.“ Crawford nahm erneut einen Schluck Wasser. Der Blonde hatte wirklich nicht die Spur einer Ahnung, was er überhaupt da von sich gab. Dieser hübsche Mund plapperte einfach so vor sich hin, ohne Kontrolle und Zensur durch die Schaltzentrale weiter oben.
 

„Das heißt du sitzt auf heißen Kohlen, nicht wissend ob es dich nicht doch irgendwann dahinrafft?“ Yohji sah skeptisch aus.
 

Crawford lachte ehrlich amüsiert auf. „Langsam verstehe ich warum Jei dich so faszinierend findet. Er ist wie ein Kind mit seinem ersten Haustier. So gesehen sitzen wir alle auf heißen Kohlen und warten darauf, dass es uns dahin rafft.“ Ganz stimmte die Aussage mit dem ersten Haustier nicht. Jei hatte schon einmal ein Faible für einen Menschen gehabt. Und damals hatte er damit Schwarz in große Schwierigkeiten gebracht.
 

Einem Haustier das ihn gebissen hatte, als er es nicht erwartete. Schönes Haustier, bemerkte Yohji in Gedanken.

„Toller Vergleich. Da fühle ich mich doch sofort in der Familie Schwarz aufgenommen. Was bin ich? Der tollwütige Kater?“
 

Crawford wollte etwas antworten, als der Doktor den Gang entlang kam und zu ihnen stieß. Er blieb jedoch in der Umrahmung des Einganges stehen.

„Er hat keine nennenswerte Schädelverletzung, nur eine leichte Gehirnerschütterung. Wir beginnen jetzt mit der Operation. Das Hämoglobin in seinem Blut ist momentan in einem niedrigen aber noch nicht lebensbedrohlichen Bereich, sodass von einer Bluttransfusion Abstand genommen werden kann. Ich werde ihm ein anderes Präparat verabreichen, das die Bildung der roten Blutkörperchen beschleunigt. Trotzdem wird er einige Zeit brauchen bis er sich erholt hat.“
 

„Von welchem Zeitraum sprechen wir hier?“, hakte Crawford nach.
 

„Wochen. Das betrifft nur die körperliche Unpässlichkeit und die Wundheilung. Das Infektionsrisiko ist bei Ihnen und ihrem Team geringer, wie wir bereits in der Vergangenheit herausgefunden haben. Er hat gutes Gewebe, sodass die Wunden gut verheilen werden. Natürlich nur wenn er die Nähte nicht sabotiert. Haben Sie noch Fragen?“
 

„Dieser Herr hier wird so lange bleiben, bis sie etwas Gegenteiliges von mir hören. Können Sie ihm ein Zimmer einrichten?“

„Sehr gern. Ich bin im OP. Falls Sie etwas brauchen wenden Sie sich bitte an Hisoka.“
 

„Ich werde nicht hier bleiben.“

Yohji sah dem Arzt nach und wandte sein Gesicht dann dem Amerikaner zu. In diesem stand deutlich geschrieben wie wenig er von dieser Idee hielt.
 

Crawford hatte mit diesem Widerstand gerechnet.

Er nahm den letzten Schluck aus der PET Flasche und warf sie in den Müll.

Zwang brachte ihn hier kein Stück weiter, also wie war das störrische Blondchen, hier vor ihm, rumzukriegen?
 

„Wie stellst du dir das hier vor? Sollen wir ihn allein lassen? Ist das bei euch, bei Weiß, so üblich?“
 

Yohji kniff die Lippen zusammen.

„Nein, das ist bei uns nicht üblich, aber ich habe mit ihm nichts zu tun. Wieso muss ich also hier bleiben? Er gehört schließlich deinem Team an, solltest du nicht deshalb als Teamleader hier bei ihm bleiben? Du kennst sein Problem am Besten.“

Er konnte nicht hier bleiben, er würde hier unten ausrasten. Ein paar Tage vielleicht, aber keine Wochen, denn wer wusste schon wie lange Jei brauchte um sich zu erholen?

Das ging einfach nicht. Er brauchte Luft zum Atmen.
 

Der Blonde wurde regelrecht blass im Gesicht.

„Ich bin der Teamleader meines Teams und entscheide, dass du hier bei ihm bleibst...“ Kudou wollte dazu ansetzen um ihm zu erklären, dass er sich sein Teamleader sonst wohin stecken solle, als Crawford diese Absicht voraussah und weitersprach. „...während ich Nagi und Omi diesen Datenkristall bringe.“ Er hob die Hand um dem beginnenden Protest Einhalt zu gebieten. „Ja. Ich weiß bereits, dass Omi bei Nagi ist, denn ich weiß, wem ich das Ding übergeben werde. Warum du nicht der Überbringer sein kannst, ist dir hoffentlich auch mit deinem Spatzenhirn klar geworden.“
 

Ja das war ihm klar geworden. Yohji vermutete, dass dies auch der Punkt war warum Crawford ihn von der Straße haben wollte. Aber hier unten?
 

„Deine Beleidigungen kannst du dir sparen. Ich weiß warum ich von der Bildfläche verschwinden muss. Sin klebt mir offenbar sehr gern am Hintern“, sagte er zynisch, im Gedenken an die Lagerhalle, und er erlaubte sich einen angewiderten Blick in das Paar schwefelgelber Augen ihm gegenüber.
 

„Ich weiß noch nicht ob Schuldig und Fujimiyas Wohnung enttarnt ist, wenn ja, geht das auch auf dein Konto. Bis wir wissen was auf diesem Datenkristall ist und weitere Maßnahmen planen, bleibst du hier.“
 

„Was ist mit Ken?“
 

„Darum werden wir uns kümmern. Manx hat ihre Verbindungen zu den Amerikanern spielen lassen und das war eine sehr schlechte Entscheidung.“

Crawford hatte die Ahnung einer Katastrophe, die vor allem ihn selbst betreffen würde.
 

„Wie kann ich Kontakt zu euch halten?“
 

„Gar nicht. Dieser Trakt ist autark. Es gibt keine Möglichkeit der Kommunikation nach draußen, es sei denn, du übergibst Hisoka eine Nachricht, die er dann per Internet außerhalb von hier verschickt.“
 

Für Yohji schwebte zwischen den Worten: und hier wird dich niemand je wieder finden.

Er versuchte die aufkommende Panik im Zaum zu halten. Was ihm nur ansatzweise gelang. Seine Hände waren unangenehm feucht und kalt.

„Wie… wie hast du das hier gefunden?“
 

„Gar nicht. Ich habe es ins Leben gerufen.“
 

„Dann bist du hier der Boss?“
 

„Nein. Ich bezahle wie jeder andere für diese Dienstleistungen.“
 

Natürlich, höhnte Yohji. Mit ein paar Extrazulagen, für den Begründer. Vermutlich gab es hier irgendwo ein Denkmal mit einer Büste.

„Wann?“
 

„Wir können dieses Frage und Antwortspielchen noch ein wenig weiter treiben, aber das wird mich nicht davon abhalten hier hinaus zu spazieren und dich hier zurück zu lassen, Kudou.“
 

Arschloch, fiel Yohji daraufhin nur ein.
 

„Falls er dazu in der Lage sein sollte sie zu beantworten, kannst du alle weiteren Fragen Jei stellen. Wenn dies der Fall sein wird, dann ist dir deine Wiedergutmachung an Schwarz geglückt.“
 

„Wiedergutmachung?“, echote Yohji.

Spinnt der komplett?, zerfaserten Yohjis Gedanken ins Unbegreifliche und er sah Crawford zu, wie dieser an ihm vorbei zur Couch ging, seine Anzugjacke aufnahm und zur Tasche zurückkam. Er nahm sie samt Leichensack an sich.
 

„Zwei, vielleicht drei Tage“, sagte Brad ohne auf das blonde Echo einzugehen.
 

Yohji folgte dem Amerikaner wie das ausgesetzte Haustier, als dass er sich fühlte. Er würde hier schon rauskommen, wäre doch gelacht, fasste er wieder Mut.

Im Anmeldebereich angekommen wurden sie von Hisoka empfangen, und dieser geleitete Crawford in Richtung seines fahrbaren Untersatzes. Seines hässlichen fahrbaren Untersatzes.
 

„Wenn Jei stirbt, bist du der nächste, also halte ihn schon aus eigenem Interesse am Leben, Kudou, wenn nicht um seinetwillen.“
 

Crawford drehte sich für diese Drohung nicht einmal um, so wenig hielt er von ihm.
 

„Fick dich, Orakel.“
 

Er würde hier rauskommen, egal wie.
 

Als die Türen sich schlossen und er alleine in dem zentralen Flur stand, in dem mehrere Gänge sich abteilten, fühlte er sich von allen verlassen. Er orientierte sich und ging zur Tür Nummer drei im Gang geradeaus und spähte durch ein Sichtfenster hinein. Drei vermummte Gestalten, vermutlich Fuma, Yume und der Doc waren noch mit Jei beschäftigt. In der Zwischenzeit hatten sie ihn offenbar unter Narkose setzen müssen, denn die OP war in vollem Gange. Wie er da so stand, bemerkte er nicht wie Hisoka zurückgekommen war und nun schräg hinter ihm stand. Erst ein höfliches Hüsteln machte ihn aufmerksam.
 

„Ich habe Ihnen ihr Quartier für Ihren Aufenthalt vorbereitet. Wenn Sie mir bitte folgen möchten?“
 

Yohji wandte den Blick aus dem OP nur allzu bereit ab und folgte dem „Sicherheitsbeauftragten“ Hisoka. Wenn er sich länger ansah wie sie Jei zusammenflickten, wurde er noch verrückt. Er konnte die sorgenvollen Gedanken nicht loswerden, die seit ihrem Kampf an ihm hingen wie übler Geruch, denn er hatte immer noch das erstaunte Gesicht vor seinen Augen.
 

Sie gingen den Korridor entlang und Yohji zählte außer der Nummer drei noch weitere vier Räume, die ähnlich ausgerüstet waren wie der OP Saal, die metallenen Schiebetüren standen offen. Yohji folgte Hisoka in eine Schleuse.

Die nächste Tür öffnete sich erst als die, durch die sie gekommen waren verschlossen war. Der Korridor durch den sie nun kamen hatte Hotelcharakter und stellte einen krassen Gegensatz zum Klinikcharme von zuvor dar.
 

Er fühlte sich beschissen. Das Einzige was ihn davon abhielt gleich einen Ausbruchsversuch zu starten war die Tatsache, dass er seine Waffen noch hatte und diese wohlgehütet an seinen Unterarmen lagen. Hinzu kam der leidliche Umstand, dass Crawford mit dem was er gesagt hatte gar nicht so Unrecht hatte. Sin waren ihm irgendwie immer auf der Spur und er fragte sich warum. Warum nicht Omi?

Oder Ken?

Ran fiel aus, da dieser von Schuldig überwacht wurde. Wobei Ran auch von ihnen angegriffen worden war und, soweit er in Erfahrung hatte bringen können, war es Jei gewesen, der ihn aufgesammelt hatte. Wieder Jei. Er war immer dort wo… Sin… waren…
 

Hisoka blieb stehen, berührte eine der Türen mit der flachen Hand und Yohji staunte nicht schlecht, denn die komplette Wand, mitsamt der Tapete und der Tür, entpuppte sich als Hologramm. Die standen vor einer Plexiglaswand, deren Tür von Hisoka zuvorkommend geöffnet wurde. Yohji sah eine Fensterfront, eine Terrasse und ein Fenster direkt neben dem Bett. Die Jalousien waren herabgelassen, sodass die strahlende Sonne das Zimmer zwar in ihr warmes, weiches Licht tauchte, es aber nicht flutete.

„Das ist eine Tageslichtsimulation. Unser Zimmer für traumatisierte Patienten. Es gehört Ihnen für die nächste Zeit. Sie dürften in den Wandschränken alles was sie benötigen finden.“
 

Yohji lugte hinein, tat aber keinen Schritt in den gemütlich eingerichteten Raum. Er sah es durch die durchsichtigen Wände. Das reichte völlig aus. Das war also sein Gefängnis für die nächste Zeit. Hübsche Zelle.

„Ich…bin kein traumatisierter Patient“, brachte er bärbeißig lächelnd hervor, obwohl er das am Liebsten geschrien hätte.
 

Hisoka drehte sich von seiner Erklärung des Zimmers, und der Bedienelemente des in die Wand eingelassenen Paneels um, und sein rundes Gesicht das in dem bullig, massigen Körper etwas debil wirkte, sah ihn freundlich an. Yohji machte nicht den Fehler den Mann zu unterschätzen. Die gewählte Ausdrucksweise und das freundliche Lächeln täuschten ihn nicht darüber hinweg, dass Hisoka eine Revolte unter den Patienten schnell blutig enden lassen konnte.
 

„Mr Crawford unterrichtete mich darüber, dass Sie das so sehen würden. Aber seien Sie versichert, dass dies keine Rolle bei der Auswahl des Zimmers spielte. Es gibt fünf dieser Zimmer und ein Spezialzimmer. Treten Sie näher, ich zeige es Ihnen.“
 

„Ich denke ich kann es von hier… draußen ganz gut erkennen.“

Yohji hatte nicht vor dieses Zimmer zu betreten.
 

„Sie haben freien Zugang in der ganzen Anlage. Es ist Ihnen nur nicht angeraten sie zu verlassen. Die Türen können nicht verriegelt werden. Außer diese eine.“

Das sollte ihn wohl vom Gedanken abbringen ein Gefangener zu sein. Sollte es – tat es aber nicht.
 

Hisoka tippte auf das Paneel neben der Tür und sämtliche angrenzenden Räume wurden sichtbar. Yohji konnte durch alle Räume sehen, die sich nebeneinander in derselben Ausstattung anschlossen. Hisoka gab erneut etwas ein und die Wände wurden wieder sichtbar.

Nur ein Raum, der sich an Yohjis anschloss war einsehbar. Keine Einrichtung, nur Lichtleisten, unten dort wo die Seitenwände auf den Boden trafen. In der Mitte des Raumes hing eine runde Auflagefläche von der Decke, sie sah aus wie ein Luftkissenbett. Sie hing an dicken Seilen die an die vier oberen Ecken des Raumes befestigt waren, ungefähr einem Meter über dem Boden.

Sonst gab es nichts in dem Raum, keine Tageslichtsimulation, kein Schrank, kein gar nichts.

„Was ist das?“
 

„Hat Ihnen Mr Crawford nichts erzählt?“ Hisoka wartete einen Moment, doch als Yohji nichts antwortete, aber zumindest näher trat, fühlte er sich wohl aufgefordert eine Erklärung abzugeben.

„Dieser Raum ist eigens für Schwarz angefertigt worden. Ursprünglich für… ein Mitglied, das an einer bipolaren Störung, an affektiver Schizophrenie leidet, dann verwendeten wir es für das Mitglied welches nun im OP weilt. Als Schwarz unsere Dienstleistung nicht mehr benötigten, verwendeten wir den Raum für schwer zu kontrollierende Patienten nach Traumata.“
 

Aha. Also erst für den gestörten Schuldig und dann für den gestörten Jei. Yohji fragte sich warum sie Schuldig dann in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie aufgestöbert hatten, wenn es hier doch eine praktische Einrichtung gab, wo er niemals hätte gefunden werden können.
 

„Mr Crawford hat das alles hier finanziert?“ Yohji wandte sich von dem Raum ab, er machte ihm Angst, und ging wieder auf den sicheren Flur hinaus. Hisoka folgte ihm.

„Ja, es war sein Wunsch, danach übergab er diese Anlage dem Doktor.“
 

„Das war sehr nett von ihm“, heuchelte Yohji und lächelte aufmerksam wie der gute Japaner, der er doch war.

Bullshit.
 

„Ja, das war es.“
 

„Sind hier keine anderen Patienten?“
 

Hisoka ging an ihm vorbei und Yohji sah verwundert den wulstigen Nacken an. „Nein. Wir nehmen keine weiteren Patienten an, wenn Schwarz hier ist. Das würde die eine oder andere Situation vielleicht eskalieren lassen. Mr Crawford gleicht den finanziellen Verlust sicher aus. Der Doktor macht sich darüber keine großen Sorgen.“
 

„Warum auch?“, stimmte Yohji zu. Crawford musste nur kurz an der Börse spekulieren, oder mal ganz schnell eine Wette abschließen, oder die Lotterie bemühen. Ein Spielkasino war für den Hellseher auch nichts anderes als eine Kreditkarte ohne Limit. Das stimmte auch nicht so ganz, eher so etwas wie seine persönliche Gelddruckmaschine.
 

„Wenn Sie dann noch etwas benötigen, ich bin über das Paneel in ihrem Zimmer zu erreichen. Ansonsten brauchen Sie nur in eine der Kameras zu winken.“
 

Er ließ Yohji allein im Flur, vor der breiten Schiebetür mit der Nummer drei darauf, stehen. Sich an die gegenüberliegende Wand lehnend begann er damit zu warten. Früher in seinem Job in der Detektei war er es gewohnt zu warten, geduldig zu sein, seit Asukas Tod war das schwieriger geworden. Die Mädchen, die sie entführt und zu Killern gemacht hatten...

Mit dem Auftauchen von Neu hatte sein Weltbild einen weiteren Riss bekommen. Er hatte gedacht zu wissen wie er selbst tickte, dass er der Gute war und dass er wusste zu was er fähig und zu was er auf keinen Fall fähig war. Und doch war es ihm gelungen Neu zu töten.

Die Sache hatte ihn verkorkst.
 

Er schnaubte in gespielter Entrüstung, denn trotz allem - traumatisiert war ER nicht!

Seufzend ließ er sich die Wand hinab gleiten und zog die Knie an die Brust, den Kopf nach hinten angelehnt und die Unterarme auf seine Knie abgelegt. So schloss er die Augen und wartete.
 

Asuka ließ ihn nicht los, sie verfolgte ihn, sie brachte ihn dazu, dass er Menschen, die ihm scheinbar arglos vertrauten, betrog und verletzte.
 

Er öffnete die Augen und starrte in die Oberlichter.
 

Nein.
 

Nicht Asuka war es.
 

Er.
 

Er ließ sie nicht los. Er zog sie mit sich herum, wie einen alten geliebten Teddy, bei dem schon das Auge heraushing, die Füllung hervorquoll, das Fell abgenutzt, die Farbe verblichen war und der stank als wäre er zu oft in den Dreck gefallen.

Er war blind für die Realität geworden, denn sie war tot. Er suhlte sich darin, immer noch um sie zu trauern, er wälzte sich in dem Wunsch, nein der Obsession, nach Vergebung, die er von keinem je erlangen würde.
 

Sie war tot.
 

Sie konnte ihm nicht mehr verzeihen. Wer also sollte es tun? Das war es... das war es was ihn zerriss. Diese endlose Suche nach Vergebung.
 

Genau dadurch… war das alles passiert. Es war nicht einfach passiert. ER hatte es getan. Er hatte zugelassen, dass es passierte.
 

Yohji schloss die Augen.
 

Er musste das in Ordnung bringen, denn aus diesem Sumpf kam er nur heraus wenn er sich Hilfe holte. Rache hatte ihm keine Genugtuung gebracht.
 

Nichts hatte das.
 

Seine Knöchel traten weiß hervor als er seine Hände zu Fäusten ballte. Es war ihm, als fühlte er immer noch wie der Draht sich um ihren Hals legte und sie auf seinem Rücken im Todeskampf zuckte.
 

Jetzt hatte er es wieder geschafft. Diesmal war Jei an der Reihe und nicht Asuka, nur

musste er es dieses Mal dringend verhindern, dass sich die Geschichte wiederholte. So wie Asuka zur lebenden Toten wurde, durfte Jei jetzt nicht zum Berserker werden.
 

Wenn er das auf die Reihe bekam, war er vielleicht doch noch kein hoffnungsloser Fall.
 

Viele Gedanken gingen ihm im Kopf herum während er wartete, und er schlief darüber ein. Die letzten, schlaflosen Nächte forderten ihren Tribut. Auf eine verquere Art und Weise fühlte er sich hier sicher.
 

o~
 


 

Der Doktor fuhr den Patienten auf dem OP Tisch in den speziellen Raum mit dem schwebenden Bett.
 

Fuma und Yume packten die Instrumente zusammen um sie zu reinigen und für den Sterilisator vorzubereiten. Die Tür stand noch offen und Yume zog den Mundschutz herunter und warf ihn in den Müll. Sie deutete mit dem Kopf auf die zusammengesunkene Gestalt, die im Sichtfeld der Tür saß. Fuma warf ihr einen bedeutsamen Blick zu.
 

„Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Tag jemals kommen würde“, sagte er.
 

Yume nahm das Sieb mit den benutzten, blutigen Instrumenten und schob es auf einen fahrbaren Metallwagen. Sie zog die Handschuhe aus und ließ sie in den übervollen Müll fallen, den sie mit dem Fuß wegschob.
 

„Ja. Der Tag an dem wir uns an Balinese rächen können.“ Sie grinste.
 


 

o~
 


 

„Los… raus da!“

Schuldig schlug zwei Mal auf die Schiebetür des Vans und wartete mit verschränkten Armen, an die Tür der Beifahrerseite gelehnt, bis die beiden Jüngsten heraus gepurzelt kamen. Er verzog das Gesicht über diesen Gedanken.
 

Es dauerte ein paar Augenblicke bis er hektische Betriebsamkeit hörte und die Tür des Vans geöffnet wurde.
 

„Ähm…“, sagte Omi in das Morgengrauen hinein. Wohl eher Grauen des Morgens, das rote Haare hatte und rachsüchtig grinste. Er hielt sich am Rahmen fest und warf einen Blick zurück zu Nagi, der sich gerade aufsetzte und in seinen Yukata schlüpfte. Das tat er so, als hätte er nicht vor fünf Minuten noch tief und fest wie ein Toter geschlafen. Routiniert, leidenschaftslos, zweckmäßig.

Omi seufzte innerlich.
 

„Spars dir. Sie zu, dass Nagi fit und einsatzbereit ist. Wir brauchen euch. Und zwar euch beide. Also, Dusche und dann ab in die Küche. Wenn es geht… bevor Brad hier auftaucht, denn wenn er mitbekommt, dass ihr hier gevögelt habt…“
 

Omi trat aus dem Van und sah zu Schuldig hoch, einen gelangweilten Gesichtsausdruck präsentierend. „Das hat er doch schon, denke ich. Er hat Nagi angerufen.“
 

Na klar, brummte Schuldig in Gedanken. Big Daddy is watching you.

“Gut. Dann schwingt euch hier raus und lüftete diesen Karnickelstall aus. Es könnte sein, dass wir den Wagen bald brauchen.“

Schuldig löste sich vom Van und wandte sich ab um ins Haus zu kommen.
 

An ihm vorbei stolzierte schließlich Nagi, noch bevor er das Haus erreichte. „Vergnügst du dich, in Ermangelung besserer Unterhaltung, jetzt damit unschuldige Menschen beim Schlafen zu stören?“, zischte ihm - offenbar ein sehr verärgerter - Nagi zu, während er ihn überholte. Schuldig blieb im Eingang stehen und sah dem Jüngeren zu wie er davon eilte.

„WER ist hier UNSCHULDIG?“, rief ihm Schuldig ungläubig nach.
 

„Er denkt nur schlecht von dir, was?“, hörte er da die nächste Plage spöttisch hinter sich und betrat den Eingangsbereich.

Omi wechselte das Schuhwerk und Schuldig schloss die Tür hinter dem Satansbraten.
 

„Jeder tut das.“ Schuldig schüttelte, mit gespielter Tragik in Geste und Mimik, den Kopf.
 

Omi wollte hinter Nagi her um zu sehen ob mit ihm alles in Ordnung war, blieb dann doch stehen und sah Schuldig dabei zu, wie er sich die Zigaretten vom Tischchen im Aufenthaltsbereich der ehemaligen Rezeption nahm und wieder in Richtung Vordertür ging. Vermutlich um den ‚Karnickelstall‘ zu inspizieren.

„Warum die morgendliche Weckaktion? Nur um Nagi zu ärgern?“ Omi konnte sich nichts anderes vorstellen.
 

„Ran ist in der Küche und macht Frühstück“, sagte Schuldig im Vorbeigehen. „Brad hat Jei und die Blondine gerade zu einem Arzt gebracht und Ken… euer lieber Ken hat sich mit Jemandem oder Etwas eingelassen, dass es ihm unmöglich macht sich zur vereinbarten Zeit bei der Familie zu melden.“
 

Welche Blondine? Fragte sich Omi.
 

Schuldig war an der Tür angekommen, hielt inne und sah für einen Moment mit einem amüsierten Lächeln zurück.

„Ach… und bevor ich es vergesse: Während ihr zwei im Van gevögelt habt, hat Blondie versucht dich verzweifelt auf dem Handy zu erreichen. Der Arme war ganz allein, als sie ihn erwischten. Ach...“, fiel ihm ein. „... kann auch sein, dass die Umschreibung ‚verzweifelt’ nicht nur für die Dringlichkeit des Anrufs galt, sondern auch für das Blondchen selbst. Ging dem Jungen ganz schön an die Nieren.“ Die Scheiße die er gebaut hat, fügte Schuldig in Gedanken hinzu.
 

Omi hatte das Gefühl mit eiskaltem Wasser übergossen zu werden. Die Blondine war Blondie… und Blondie Youji.

Er starrte das falsche Lächeln an, das definitiv nicht zu den bedauernden Worten passte. Die Augen des Telepathen spießten ihn förmlich vor boshafter Belustigung auf. Youji war verletzt? Ken verschwunden?

Er wandte sich um und rannte die Treppen nach oben, in Nagis Zimmer. Die Dusche lief. Auf dem Bett lagen seine Kleidung und sein Rucksack. Sein Handy war in seiner Hose. Es waren fast über zehn Anrufe darauf. Alle von Yohji. Keiner von Ken. Keiner von ihrem Operator Manx.
 

„Nein.“ Er ließ das Mobiltelefon sinken, ihm wurde unangenehm heiß und er versuchte die Übelkeit, die in ihm hochstieg, hinunter zu schlucken.

Es mussten ein paar Minuten vergangen sein, als er sich aufgrund einer sich schließenden Tür umdrehte.
 

Nagi stand vor der geschlossenen Badezimmertür, eines ehemaligen Gästezimmers, im fahlen Licht der Bildschirme war sein Blick unleserlich. Seine Haltung abwartend, steif. Er war unsicher, wartete darauf wie Omi reagierte um seinerseits eine Reaktion zu bieten.

Die Haare des Telekineten waren feucht und standen in alle Richtungen ab, offenbar hatte er sich beeilt.
 

„Du hast nichts gesagt. Warum bist du einfach an mir vorbei ins Haus gegangen?“, hakte Omi nach, das Mobiltelefon in seiner Hand halb zerdrückend. Es gab jetzt andere Probleme, aber er hatte hier Nagi vor sich, der so unsicher in sich gekehrt schien, dass er zunächst dafür Sorgen tragen musste, dass er hier ein sicheres Fundament hatte auf dem er bauen konnte.
 

Diese Frage hatte Nagi nicht erwartet. Er sah aufmerksam auf und erkannte Sorge in den blauen Augen. „Schuldig hat mich daran erinnert, was ich beinahe getan hätte. Es war gefährlich. Ich denke, es lag an seiner Gegenwart. Es lag keine Absicht darin“, bot er in kurzen emotionslosen Sätzen eine Erklärung, die vom anderen akzeptiert werden würde.
 

„Lüg mich nicht an.“ Omis klare feste Stimme machte deutlich was er von dieser angebotenen Erklärung hielt.

Er wollte Nagi nicht in die Ecke drängen, nicht jetzt. Er ging auf ihn zu, nahm ihn in den Arm und hauchte einen zarten Kuss auf die Lippen.

„Hör auf zu glauben, dass ich schöne Lügen brauche.“
 

Nagi kniff die Augen zusammen und ließ seine Stirn auf Omis Schulter fallen. „Ich hatte Bedenken, wie ich mich richtig verhalten sollte und dann stand Schuldig da. Er war wie ein Mahnmal.“
 

„Das nächste Mal wenn dieses Mahnmal so dermaßen unverschämt grinsend vor mir steht, tret ich es in den Arsch.“

Omi kraulte die Haare im Nacken des Jüngeren.

„Wir sollten runter gehen. Es ist etwas passiert und außer, dass Schuldig mir ein schlechtes Gewissen eingetrichtert hat, weiß ich noch nichts Genaues, was mich … sehr beunruhigt.“
 

„Er heißt nicht umsonst Schuldig. Er hat sich den Namen nicht selbst gegeben. Das kam, weil er die Schuld in anderen hervorruft. Er zeigt sie ihnen auf, lässt sie sie fühlen und er bringt sie dazu sich schuldig zu fühlen“, murmelte Nagi an Omis Hals.
 

Sie blieben noch ein Weilchen so und Omi ließ Nagi die Zeit, die er brauchte.
 

Nagi genoss diese Nähe und hob erst als er sich sicherer fühlte den Kopf. „Du solltest duschen gehen. Wenn du sagst, dass etwas passiert ist und Schuldig und Ran noch so ruhig im Haus agieren, dann können wir zwei an der Tatsache nichts ändern. Schuldig sagte, dass er uns beide braucht, wir sollten dann angemessen gekleidet und bereit sein.“
 

Omi hatte nicht das Bedürfnis nach Körperpflege wenn in ihm der Gedanke hauste, dass Youji verletzt war und er mit Schuld daran trug. Aber…

„Du hast Recht. Ich geh kurz duschen.“ Er küsste Nagi noch bevor dieser die Tür zum winzigen Badezimmer frei gab.
 

„Ich ziehe mich an und gehe runter“, hörte er Nagi noch bevor er die Tür schloss.
 

Nagi öffnete einen der Wandschränke auf und zog bequeme Kleidung an. Danach ging er an den Rechnern vorbei, kontrollierte die Energieversorgung und beschloss, dass er den Generator ausschalten konnte. Im Vorbeigehen nahm er die Tasse vom Vorabend auf und mit sich hinunter in die Küche, wo er Fujimiya vorfand. Es war seltsam ihn dort zu sehen. Genauso merkwürdig wie es vor ein paar Stunden war den ehemaligen Weiß Agenten nackt neben sich zu spüren. Er musste sich erst daran gewöhnen sie nicht als Eindringlinge zu sehen.
 

Fujimiya war für ihn immer das Sinnbild, die Triebfeder von Hass und Wut gegen Schwarz gewesen, gegen ihre Art. Und jetzt lag er oben in Schuldigs Bett mit nur einem dünnen Leintuch, dass seine Nacktheit verhüllte und hatte so gar nichts mehr von dem wütenden rachsüchtigen Mann von früher an sich.
 

„Wo ist Omi?“
 

Nagi stellte die Tasse in den Spülautomaten. „Duschen.“ Er drehte sich um und sah dem Älteren dabei zu wie er Gemüse schnitt.

„Was ist passiert?“
 

Aya sah auf. Der Telekinet wahrte einen Abstand von einigen Metern zu ihm. „Hat Schuldig euch nichts gesagt?“
 

„Er sagte ich solle mich duschen gehen.“
 

Folgsam wie er war hatte der Junge das wohl getan. Er stand sehr unter der Herrschaft der beiden Ältesten von Schwarz, wie Aya bemerkte, doch das war nicht seine Angelegenheit und er besann sich wieder auf seine Tätigkeit.

„Youji und Jei hatten Kontakt zu – wie Youji vermutete - Sin. Jei wurde schwer verletzt, sodass Crawford sich gezwungen sah ihn zu einem Arzt zu bringen.“
 

Nagi überbrückte ihre Entfernung rasch und stellte sich Fujimiya gegenüber. „Jei? Und Kudou? Omis sagte, dass er auch verletzt ist.“
 

„Nur Jei.“
 

Nagi schüttelte den Kopf. „Das ist inakzeptabel. Jei muss nie zu einem Arzt gebracht werden. Er… wir können selbst eine ausreichende Versorgung gewährleisten.“
 

Aya sah wieder auf und erkannte die Angst in den Augen des anderen.
 

„Er ist schwer verletzt, Naoe. Als ich mit Youji telefonierte war er bewusstlos.“
 

„Nein. Nein!“ Nagi schüttelte den Kopf. „Das ist… „

…meine Schuld, wollte Nagi sagen. Er hatte Jei vernachlässigt.
 

„…eine Katastrophe. Ja, so weit war ich auch schon“, hörte er Schuldig, der zur Küchentür hereinkam. Der Telepath wusste um Nagis Schuldgefühle, aber er hielt sie für ungerechtfertigt, denn Nagi konnte nicht ständig auf Jei aufpassen, das war nur möglich, wenn Jei es zuließ. Und das hatte er in diesem Fall nicht.

„Wir besprechen das später, wenn Brad da ist, Kleiner. Beruhige dich.“ Schuldig sah die Angst in dem Jungen. Sie war nicht das Schlechteste in ihnen, denn sie ließ sie vorsichtig werden, aber die Zweifel und die Unsicherheit waren es, die sie mitbrachte. „Geh und richte das Besprechungszimmer so ein, dass wir beide Bildschirme zur Verfügung haben. Wir müssen einen Datenabgleich vornehmen und planen was wir jetzt tun. Außerdem haben die beiden herrschsüchtigen Herren mir in Osaka den Blick auf gewisse Bilder und Daten verwehrt, die ich zwar durch die Observierung von Oniwara in etwa erahnen kann, aber ich will sie trotzdem sehen. Ich schick dir Tsukiyono wenn er hier unten aufschlägt.“
 

Nagi eilte davon, die Gedanken völlig konfus. Jei war bewusstlos? So schwer verletzt, dass er zu einem Arzt musste?

Er hätte ihn… wo war er gestern gewesen? Er war doch im Haus… und dann war Omi gekommen… er hatte gestern Banshee, die Katze in Schuldigs Wohnung, eine Stunde betreut und dann war er nach dem Einkaufen ins Ryokan gefahren und hatte am Rechner gearbeitet. Jei war doch noch im Bad bei Schuldig und Fujimiya gewesen. Er musste danach weggegangen sein.
 

Nachdem Nagi hinausgestürmt war begann Schuldig, Ran dabei zu helfen das Frühstück für sie alle vorzubereiten. Es wurde langsam hell und der Regen hatte aufgehört vom Himmel zu gießen.

„Wenn ich daran denke, dass du dir darüber Sorgen gemacht hast, dass Jei Yohji verletzen könnte...“ meinte Schuldig mit Ironie in den Worten, während er einen Topf für die Miso hervorholte.
 

Aya hielt im Schneiden inne und wandte sich um. „Wie meinst du das?“, denn Schuldig sagte so gut wie nichts, ohne einen verbalen Hinterhalt zu planen. Aya ahnte, dass da noch etwas kam so provozierend wie dieser unvollendete Satz in der Luft zwischen ihnen hing. Es gefiel ihm ohnehin nicht, dass Schuldig ihn an die Horrorbilder des letzten grausamen Mordes in Osaka erinnert hatte. Bisher hatten sie ihm die Bilder vorenthalten können...
 

„Hat er dir nichts davon erzählt?“ Schuldig ging hinüber zu Ran und sah in das umwölkte Gesicht.
 

„Hat er mir von was nicht erzählt?“ Aya musste sich seit dem Telefonat wirklich zusammenreißen um ruhig zu bleiben. Ihn machte die ganze Sache nervös und vor allem ungehalten.
 

„Er hat Jei verletzt. Nun, nicht alleine, aber er hat seinen Teil beigetragen um eine wirklich schwierige Situation herbeizurufen“, erwiderte Schuldig, trat neben Ran und nahm sich einen Teil des noch nicht verarbeiteten Gemüses um es zu säubern.

Wenn er daran dachte wie dumm dieser Frauenversteher Kudou war, dann wurde ihm übel.
 

Aya betrachtete sich Schuldigs Profil und er erkannte in dem eifrigen Aktionismus Wut.

„Du hattest geistigen Kontakt zu ihm, deshalb weißt du auch warum er dies oder jenes gemacht hat. Youji würde nie etwas tun, um jemand anderen hinterhältig oder aus Profitgier zu schaden. Warum also bist du wütend?“
 

Schuldig hielt inne, sah aber Ran nicht an.

„Ich bin nicht wütend“, sagte er mit mehr Ruhe als er innerlich spürte.
 

Ayas Hand rammte sein Messer in das arme, unschuldige Holzbrett und wartete bis hektisches Grünblau sein Violett traf. „Sehr wütend sogar. Du kannst kaum atmen vor Wut. Aber warum? Warst nicht DU es der ihn an Jei verkauft hat?“, zischte Aya und machte sich Luft.
 

„Du hast WAS?“, donnerte es vom Eingang der Küche und Schuldig rollte mit den Augen.

„Könnt ihr euch nicht irgendwie nacheinander auf mich stürzen?“
 

„War das wieder einer deiner tollen Strategien, Mastermind?“, höhnte nun Brad und Aya fühlte sich in einer misslichen Lage. Er wollte sich Schuldig selbst vornehmen, aber zu seinen Konditionen und nicht zu Brads, denn diesen hatte Aya nicht unter Kontrolle. Und diese brauchte er heute dringend.
 

Schuldigs elegante Finger schlossen sich, auf der mittleren Anrichte, zur Faust. „Hör mit diesem Scheiß auf, Brad. Das war vor x Monaten gewesen. Ich sagte, er könne Kudou haben, wenn er mir dafür auf Ran aufpasst. Was er auch tat. Das habe ich nur gesagt, weil zwischen den beiden bereits Kontakte stattgefunden hatten.“ Schuldigs Lippen bildeten eine schmale Linie.
 

Aya spürte wie sich die Atmosphäre in der Küche in etwas Giftiges verwandelt hatte. Da Brad den Ankläger spielte, hielt sich Aya zurück. Zwei Ankläger vertrug Schuldig extrem schlecht. Zumindest wenn es sich dabei um sie beide handelte. Außerdem neigte Aya dazu, zu sehr Schuldig zu helfen wenn die Vorwürfe von Brad Crawford kamen.
 

„Erzähl du mir nichts von Strategien. Du warst es, der nicht nach Kyoto wollte. Ich würde meinen Kopf darauf verwetten, dass du weißt was dort abgeht“, sagte Schuldig wütend.
 

„Du meinst, dein K…“, wollte Brad gerade in eisig, spöttischen Tonfall darauf hinweisen, dass Schuldigs Kopf kein sehr lohnender Wetteinsatz war, als Fujimiya ihren Schlagabtausch unterbrach.
 

„Kein Wort mehr, Crawford“, warnte Aya. „Was soll das jetzt bringen?“, fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme. „Das Kind ist in den Brunnen gefallen, wir sollten uns jetzt überlegen wie wir es bergen.“
 

Schuldig kannte diesen Tonfall bei seinem Ran. Zu ruhig, zu langsam gesprochen, zu dunkel. Er vermutete, dass sich der Japaner momentan auf unsicherem Terrain befand. Ran hatte zu wenig zu tun, zu wenig Informationen und zu wenig das Gefühl die Kontrolle über das alles zu haben – die er brauchte – im Gegensatz zu Schuldig, denn der mochte es wenn sich alles der Kontrolle entzog.
 

Brad dagegen verzog nur minimal, verächtlich die Lippen bevor er entschied, dass er Durst hatte. Er ging in ihren Lagerraum, der sich an die Küche anschloss und holte sich eine Flasche Wasser.
 

Aya starrte unterdessen Schuldig an, der die Kiefer immer noch so fest aufeinander presste, dass er das Gefühl hatte dem Deutschen müssten gleich ein paar Zähne herausbrechen. Ayas Mundwinkel zuckte als er sich vorstellte wie das geschah.

Er hob die Hand und strich besänftigend über die Kieferlinie. „Entspann dich.“
 

Schuldig war so starr in seiner angespannten Haltung verharrt gewesen, dass er Ran fast völlig ausgeblendet hatte. Die kühle Hand an seiner Wange brachte ihn tatsächlich dazu sich zu beruhigen. Der gestrige Tag war anstrengend gewesen. Die Beeinflussung des Flughafenpersonals, von Oniwara, einiger Polizeibeamten und zwei Reportern. Dazu noch die ständige geistige Verbindung die er zu Oniwara unterhielt, und der ganze Rest des Tages und der Nacht setzten seinem Nervenkostüm offenbar zu. Aber das war nichts Ungewöhnliches, denn früher hatte er mehr Fäden gleichzeitig gesponnen und in der Hand gehalten.

„Ich glaube… ich werde alt“, brummte Schuldig und ließ langsam seinen angehaltenen Atem aus.
 

Aya hob eine Augenbraue, einer seiner Mundwinkel hob sich in seinem ironischen Lächeln.

„So? Das glaubst du nur?“
 

Brad war wieder in der Küche und kam zu ihnen. Die mittlere Konsole trennte sie vom Hellseher, der gerade seine Brille abnahm und sie nachlässig auf die Oberfläche warf.
 

„Er ist müde“, sagte Brad. „…und um das Ganze abzukürzen. Ja, er fühlt sich durch die letzten Jahre verbraucht und leer und ja er braucht Urlaub, eine Luftveränderung und nein, er wird sich nicht schonen. Noch Fragen?“
 

„Das hast du jetzt alles erfunden“, Schuldig sah Brad mit gelangweilter Skepsis an.
 

„Hat er?“, Aya hob beide Brauen, zog das Messer aus dem Brett und nahm seine Arbeit wieder auf. Die aufgeladene Spannung hatte sich gelegt. Aber er war geneigt Brads „Erfindung“ zuzustimmen.
 

„Woher willst du das wissen?“, meinte Brad und grinste sein Wolfsgrinsen in Richtung Schuldig.
 

Schuldig schnaubte, raffte die Schalen mit Gemüse an sich und drehte ihnen den Rücken zu. Aya sah zu Brad. „Wie geht’s Jei?“
 

„Sie operieren ihn. Das dauert eine Weile. Ruf bitte Naoe und den Takatori Jungen. Ich habe keine Lust das noch öfter zu erzählen.“
 

Aya versetzte der Name immer noch einen leichten Stich. Es erinnerte ihn daran wie verzweifelt Omi einst gewesen war als er in das Intrigenspiel von Schuldig und Takatoris Söhnen geraten war.
 

Schuldig klinkte sich bei Nagi ein und wies ihn an in die Küche zu kommen und seinen Lover mitzubringen.

„Die Nerds sind informiert“, sagte Schuldig und drehte sich mit einem aufgesetzten Haifischgrinsen halb um. Es war eher Zähne zeigen als ein aus seiner Seele kommendes freudiges Lächeln, dass oft dann erschien wenn er etwas wirklich teuflisches vorhatte. Die Nerds zu informieren war natürlich völlig unter seiner Würde – unter seiner verbrecherischen Würde.
 

Kurz darauf kamen Omi und Nagi in die Küche. Sie setzten sich an die Barhocker der mittleren Anrichtenkonsole und sahen dabei zu wie gekocht wurde. Die kleinen Racker, kommentierte Schuldig bissig.
 

„Schuldig, du hattest Kontakt zu Kudou, hast du ihn gelesen?“ Brad ließ sich auf einen Barhocker nieder, die Beine leicht gespreizt, die Arme vor der muskulösen Brust verschränkt.
 

Während Schuldig und Aya die Suppe fertig stellten gab Schuldig einen lückenlosen Rapport ab, dem Aya intensiv zuhörte.

„… natürlich entstand ein gewisser innerer Konflikt bei Kudou wegen der wütenden und völlig divenhaften und überzogenen Midlifecrisisaktion, die er sich geleistet hat…“, plapperte er munter darauf los.

Bisher war der Bericht von Schuldig detailgetreu, auf Fakten bezogen und straff gehalten worden jetzt aber gab es nichts Vernünftiges mehr zu sagen, denn offensichtlich hatte Schuldig genug von Fakten.

Aya hob stumm eine Augenbraue.
 

„Schuldig“, mahnte Brad.
 

„…das dient lediglich der Untermauerung der These, dass Kudou zur Zeit der Tat unzurechnungsfähig war. In seinem gefühlsduseligen Zustand übersah er Jeis Verletzungen und er übersah, dass Jei noch keine stark blutende Wunde am Kopf hatte. Was mich dazu führt die Behauptung aufzustellen, dass sie Jei zuvor dran gekriegt haben. Dann kam unsere blonde Furie und dann griffen ihn sich Sin.“
 

„Dann war es tatsächlich Sin?“, hakte Omi ein und Aya bemerkte wohlwollend wie sich Omis Arm zu Nagi bewegte. Ihn würde es nicht wundern wenn sie, ungesehen von ihnen, Händchen hielten.

Nagi schien verschreckt, und Aya kannte Omi, er würde den Telekineten mit diesem Gefühl nicht alleine lassen. Der Junge war empfindsamer als sie bisher gedacht hatten. War denn hier alles nur Fassade?
 

„Zunächst sei bemerkt…“
 

Aya drehte sich zu Schuldig um und dieser reichte ihm den Topf mit dem Sushireis. Dabei streifte er den Mann mit dem Wolfsblick und erwiderte den stoischen Blick, der aussagte, dass ihnen nichts übrig blieb als die Show hinter sich zu bringen.

Aya seufzte innerlich und Crawford sah mit seinen Wolfsaugen zu Schuldig hinüber.
 

„… dass sich die Angreifer nicht explizit zu ihrer Zugehörigkeit geäußert haben, aber es gilt anzunehmen, dass nur Sin etwas über den Angriff in der Lagerhalle wissen konnten. Trotz seiner…“ er drehte sich um und griff nach einem Küchentuch das neben Ran lag. „…eingeschränkten Sichtverhältnisse habe ich in Kudous Erinnerung eine Parallele zu der Aktion in China ziehen können. Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich fürchte es ist der Typ, der mich mit Asami aus Fei Longs Machtbereich holte.“
 

„Die gleiche Ratte?“, fragte Crawford und der Tonfall glitt fast unmerklich vom Gelangweilten zu etwas Bedrohlichem.
 

„Jepp. Die gleiche Ratte. Ich habe kein Wiedererkennen in Kudous Gedanken gelesen, das schließt also aus, dass der Typ in der Lagerhalle dabei war. Außerdem gilt es zu bemerken, dass zwei der Angreifer Masken trugen. Die gleichen Masken wie damals in der Lagerhalle. “
 

„Kudou kann ihn damals vielleicht nur nicht gesehen oder gehört haben“, wandte Nagi ein.
 

„Richtig. Oder so.“ Schuldig drehte sich um, überließ die Miso sich selbst und half Ran bei den Sushirollen.

„Aber… der Typ entschuldigte sich für die Lagerhalle und er wusste dass Jei damals der Ritter in glänzender Rüstung war. Er sagte etwas von einer Botschaft.“
 

„Ja, eine Botschaft auf einem Datenkristall. Die Tasche steht drüben, im Besprechungsraum.“
 

„Ein Datenkristall?“, murmelte Nagi interessiert. „Ich habe ein Lesegerät oben.“
 

„Wir sollten das in Ruhe angehen. Erst essen wir etwas, dann sehen wir uns an was darauf ist.“ Crawford wusste in etwa was sie sehen würden.
 

„Okay“, sagte Omi langsam. Er sah Nagi zu wie er sich erhob. „Willst du Tee oder Kaffee?“, fragte der Telekinet höflich und Omi hätte ihm am Liebsten die feuchten Strähnen aus der Stirn gestrichen. „Tee, danke.“

Er erinnerte sich an den Duft der Haarsträhnen, an den Geruch der warmen Haut unter seinen Lippen.
 

„Wo ist Youji jetzt?“, sagte er während er Nagi dabei beobachtete wie er ihm in der großen Küche, auf seine Weise, einen Tee machte. Hier schwebte eine Tasse, dort der Tee in der Dose und gegenüber an der Kaffeemaschine wurde das heiße Wasser aus dem Menü des Vollautomaten gewählt.
 

„Beim Doc.“
 

„Nagi, wir brauchen Geschirr“, erwiderte Schuldig darauf in einem angespannten Tonfall. Er hatte die Hände auf die Ablage gestützt und sah Brad direkt in die Augen.
 

Während die Schränke sich öffneten und sich Geschirr, Besteck und Gläser zu jedem verteilten, bemerkte Aya, dass zwischen den Beiden etwas lief. Ob sie per Telepathie kommunizierten konnte er nicht sagen, aber etwas stimmte nicht.
 

„Zum Doc? Zu diesem gierigen Opportunisten?“, fragte Schuldig und er haderte mit sich selbst. Warum hatte Brad diese Entscheidung getroffen?
 

„Sind sie dort nicht sicher?“, hakte nun auch Aya nach.
 

„Solange Brad den Doc bezahlt, sind sie es.“
 

Sie schwiegen und Omi blickte von einem zum anderen. „Also was ist jetzt los? Jei ist verletzt. Was haben sie mit Youji gemacht?“
 

Crawford unterbrach den irritierenden Blickkontakt zu Schuldig und sah zum letzten lebenden Spross des Takatori Clans hinüber.

„Nichts. Er ist bei Jei geblieben um ein Auge auf ihn zu haben. Da Sin nun schon zum zweiten Mal hinter ihm her waren erklärte er sich damit einverstanden auf Jei aufzupassen, während wir die Daten sichten. Er war kaum von Jei zu trennen, schweren Herzen ließ ich ihn dort.“
 

Das Geschirr krachte so plötzlich die letzten Zentimeter auf den Tisch vor ihnen, dass Omi zusammenzuckte, während Schuldig einen halben Lachanfall bekam.

„Brad, das ist… das ist wirklich gut. Wer soll das glauben?“
 

„Fujimiya und Takatori junior“, sagte der Hellseher eiskalt.
 

„Schuldig?“, hakte Aya nach. Irgendetwas wurde hier von Schwarz verschwiegen.
 

„Der Doc ist ein opportunistisches Schwein. Er flickt jeden für Geld zusammen. Jeden. Das heißt unser Blondchen könnte auf Menschen treffen, denen er in der Vergangenheit vielleicht einmal zugesetzt hat. Das zum Einen, dann…“
 

„…wir haben niemandem am Leben gelassen bei unseren Missionen“, warf Omi ein.
 

„Gut für ihn“, meinte Schuldig nicht ganz überzeugt. „…zum anderen… ist Jei noch das Problem. Hast du ihn deshalb dort runter in dieses scheiß Grab gebracht?“
 

„Grab?“, echoten Omi und Aya gleichzeitig.
 

Schuldig runzelte die Stirn über diese unwillkommene Unterbrechung, ignorierte sie aber für den Moment und wollte mit Brad über die Tatsache sprechen, dass es vielleicht doch etwas unglücklich war, dass er Kudou dort gelassen hatte. Nur gestattete es ihm Ayas Hang und Geschick mit scharfen Klingen, und dem momentanen Zugang zu einem solchen Werkzeug, nicht weiterzusprechen. „Schuldig…“
 

„Es ist kein Grab für die Jungs… sondern … für jeden anderen der dort unten mit Jei ist“, versuchte sich Schuldig an einer Erklärung, an einer leicht zu schluckenden Erklärung für Aya.
 

„Was ist mit Youji? Ich will sofort wissen wo dieser Arzt ist“, Aya knallte das Messer hin. „Ich lasse ihn keine weitere Minute dort“, knurrte er warnend. Sein eiskalter Blick traf den Wolf, der ihm gegenüber stand.
 

„Es war die einzige Möglichkeit, die uns, und ich betone dieses ‚uns‘, geblieben ist um die Situation unter Kontrolle zu halten.“

Das klang verdammt nach einer Rechtfertigung, die er nicht nötig hatte, befand Brad und schluckte die aufkommende Wut hinunter, solange sie die Lüge dahinter schluckten.
 

„Du hast alle Möglichkeiten in Betracht gezogen?“, fand sich Schuldig in der Pflicht als Schlichter.
 

„Ja, auch die einer Lüge. Aber Kudou sprang nicht darauf an. Er wollte unter allen Umständen seinen kleinen Fehler wieder gut machen und dort bei Jei bleiben. Ich habe ihn gewarnt.“
 

„Unter allen Umständen? Er weiß also was… passieren könnte?“, fragte Schuldig langsamen Wortes nach. Er konnte nicht glauben, dass Kudou derart dämlich war, eher glaubte er, dass Crawford ihn gezwungen hatte dort zu bleiben.
 

„Ja, er weiß es.“
 

„Dann ist er wohl doch suizidgefährdet“, zischte Aya und sah Schuldig vorwurfsvoll an.
 

Schuldig hob beide Hände von der Arbeitsfläche und machte eine beschwichtigende Geste in Richtung beider potentieller Zeitbomben im Raum.
 

„Brad, ich will von dir wissen was du dir dabei gedacht hast? Dort unten sind keine Waffen erlaubt. Das Personal allerdings hat…“
 

„…Kudou hat seine Drähte behalten. Sie haben seine schicken Armreifen nicht als solche erkannt. Außerdem weiß niemand wie Jei wieder aufwacht. Es kann durchaus sein, dass er sich an den Schnüffler erinnert.“
 

„Könntet ihr bitte von Anfang an und in ganzen Sätzen sprechen! Ich habe das Gefühl nicht die Hälfte von dem zu verstehen, was Youji in Gefahr bringt“, mischte sich nun Omi wütend ein.
 

„Es ist Jei“, sagte Nagi und brachte Omi sein Essgeschirr und stellte es ihm mit Sorgfalt und Bedacht hin.
 

„Du erinnerst dich, wie er früher war?“, wollte der Telekinet wissen.
 

Aya ließ sich von Schuldig das Messer unter den Fingern entwenden und warf ihm einen mörderischen Blick zu, den der Deutsche mit einem entschuldigenden Lächeln erwiderte. Statt das Messer in jemanden zu versenken, beschäftigte sich Aya damit das Essen zu verteilen und zuzuhören.
 

„Ja. Sicher. Berserker. Er war nicht zu besiegen wenn er in seinem Blutrausch war, deshalb ja der Name.“
 

„Nun… sicher, das stimmt… zum Teil“, zögerte Nagi und sah zu Brad hinüber. Der hob nur minimal die Augenbraue und zuckte ebenso sparsam mit den Schultern. Das hieße also, dass es ohnehin nichts ausmachte bestimmte Informationen zu verlautbaren. Informationen, die sie für gewöhnlich für sich behielten...
 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…
 


 

Das Beta übernahm Beatrice. Vielen Dank dafür! ^.^
 


 

Bis zum nächsten Mal!
 

Gadreel

Sinister fate

Sinister fate
 


 

„Jei ist ein Empath, für ihn ist es ein Leichtes alle ANDEREN in Berserker – in einen Zustand des Blutrausches zu versetzen“, kürzte Schuldig das Gestammel ab. Deshalb haben ihm SZ diesen Namen gegeben.“
 

„Wie oft hat er das getan?“, fragte Aya ging hinüber zu Brad und reichte ihm die Miso, der sie mit einem direkten Blick in seine Augen entgegennahm.
 

„Ein, vielleicht zwei Mal“, meinte Schuldig.
 

„Nein. Es waren zwei Mal“, korrigierte Brad und setzte die Schale mit der Miso an die Lippen, um einen Schluck zu nehmen.

„Als Nagi in Gefahr war und einmal bei Schuldig.“
 

„Was spielt das für eine Rolle?“ fragte Omi, als Aya ihm die Suppe reichte.
 

„Warte Omi“, meinte Aya dazu, wies Nagi mittels der Miso, die er an seinen Platz stellte, an sich zu setzen. Er bemerkte wie nervös der Junge war.
 

Schuldig zog sich selbst und Aya einen Barhocker heran.
 

„Bei diesem Problem muss ich eines voraus schicken: Wir wissen nicht genau, warum er das tut. Wir haben bisher vermutet, dass es eine seiner stärksten Fähigkeiten ist. Die letzte Möglichkeit.“
 

„Klarer Fall: Wenn die Familie bedroht ist“, zuckte Omi mit den Schultern. „Was ist also passiert als er es bei euch einsetzte?“
 

Schuldig nahm seine Essstäbchen und fischte Gemüse aus der Suppe, die so herrlich duftend vor ihm stand.

Er brauchte lange für die Antwort. Dummerweise half ihm niemand dabei. Erst als Ran sich neben ihn setzte und ihm als einzigen ein kleines Tablett zuschob, dass liebevoll mit acht Sushi bestückt war, die nur aus seinen Lieblingen bestanden, fand er Worte zur Umschreibung der Situation von...
 

„Damals… als ich wieder zu mir kam hatte ich keine Ahnung wer, oder wo ich war, noch was ich getan hatte. Aber es lebte keiner mehr, der die Situation zuvor ausgelöst hatte…“
 

Brad sah der öffentlichen Geiselung zu und beschloss dem ein Ende zu setzen. „Wir brauchten zwei Wochen um das Chaos zu beseitigen. Bei Nagis Berserkerzustand konnten wir nicht mehr viel machen, wir bauschten es als Erdrutsch auf, legten ein paar Brände… es war schwierig.“
 

„Ich verstehe“, sagte Aya. „Mir leuchtet aber nicht ein warum du Jei dann mit Yohji zu diesem Arzt gebracht hast, wenn du davon ausgehst, dass er Yohji möglicherweise damit einen Schutz bietet. Er hätte diesen zweifelhaften Schutz überhaupt nicht nötig, wenn du ihn nicht dort runter gebracht hättest.“
 

„Ich konnte Jei nicht in irgendeine Klinik bringen, er brauchte eine Operation. Das war die schnellste Möglichkeit und ich wollte ihn nicht alleine dort lassen. Wir brauchten einen Kontakt dort unten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre es eine Katastrophe ihn in ein anderes Krankenhaus zu bringen.“
 

„Der Doc mag keine Kommunikation nach außen. Sie sind von der Außenwelt abgeschnitten, wenn ihr so wollt. Kudou ist meine Verbindung“, fügte Schuldig hinzu.
 

„Ich habe nicht vor zuzulassen, dass Yohji ein Massaker begeht. Das würde er nicht verkraften“, sagte Aya. Ihm war nicht egal was Yohji mit diesen Männern vielleicht tun würde. Er hatte keinen Einfluss darauf, was Jei mit seiner Umgebung anrichtete, aber er hatte die Befürchtung, dass Yohji sich Vorwürfe machen würde.
 

„Oh bitte, Ran“, murmelte Schuldig seufzend. „Bevor du Partei für diese Ratten ergreifst will ich dir sagen, dass deren Vorstrafenregister so lang wie meine Psychopharmakaschublade voll ist.“
 

Aya hob eine Augenbraue. Er rutschte vom Hocker und nahm seine Kaffeetasse an sich um sich nachzuschenken. Benannte Schublade war einmal sehr voll gewesen, wie er sich erinnerte. Das war noch in Schuldigs alter Wohnung gewesen.
 

„Ich weiß nicht was passieren wird. Ich sehe nichts über die beiden“, sagte Crawford und tat es Ran gleich, um sich von ihm Kaffee einschenken zu lassen.
 

„Und das ist mit Sicherheit kein gutes Zeichen“, seufzte Aya.
 

„Nicht unbedingt. Es gibt nur Wichtigeres, das ist alles“, erwiderte Brad und ging zu seinem Platz zurück.
 

Aya kam zurück zum Tisch und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Also gut. Machen wir weiter.“
 

„Weiter?“ fragte Omi fassungslos und verharrte darin sich sein Sushi zum Mund zu führen. „Du willst Yohji einfach dort lassen?“
 

Aya runzelte minimal die Stirn, sein Blick glitt durch verirrte Haarsträhnen zu Omi hinüber. Das Violett war scharf und dunkel in seiner Intensität als es auf Omis unbedarftes Blau traf.

„Ja, einfach so.“ Allein durch die Betonung der Worte drückte er aus, wie wenig einfach er das alles fand.

„Es ist keine Situation die ich mir wünsche Omi, aber sie haben Yohji zum zweiten Mal aufgelauert. Ich will ihn aus der Schusslinie haben. Und wenn er selbst entschieden hat bei Jei zu bleiben, dann ist es jetzt so. Wir bräuchten jetzt beide.“
 

„Das Problem ist auch, dass wir nicht wissen wie Jei reagiert wenn er aufwacht. Das wird sich zeigen, aber auch wenn Kudou verdammt blond ist, ich trau ihm zu, dass er die Situation in den Griff bekommt“, brummte Schuldig als Zugeständnis an Kudous Restgehirnzellen.
 

„Ich werde ihm ausrichten, dass du große Stücke auf ihn hältst“, meinte Omi säuerlich dazu und schob sich das Sushi in den Mund. Auf der großen Platte vor ihnen lagen noch viele Teile die es zu verschlingen galt. Ein Blick hinüber zu Nagis Teller zeigte ihm gähnende Leere. Nagi musste etwas essen.
 

„Wenn es stimmt was ihr erzählt habt… dann betrachtet Jei Kudou vielleicht als Familie…“, begann Nagi und wurde prompt von Schuldig unterbrochen.
 

„Nein…schlimmer, Kleiner. Er betrachtet ihn als Eigentum.“ Er hob die Hand in Richtung Ran, da dieser schon anheben wollte um Einspruch zu erheben.
 

„Lassen Sie mich diesen Punkt näher ausführen, Euer Ehren.“
 

„Iss lieber dein Frühstück“, sagte Aya düster und stöhnte innerlich. Er fing einen grinsenden Blick von Omi auf, der sich offenbar darüber freute, dass Aya einen bösen, nervigen Freund hatte.
 

„Was soll das denn jetzt heißen?“, fühlte sich Schuldig ungerecht behandelt.
 

„Dass du den Mund halten sollst“, knurrte Aya.
 

Schuldig hob dazu an, etwas zu sagen und schob sich stattdessen ein Sushi in den Mund. Dann eben nicht.
 

Nagi sah zu Aya. Er fand, dass der Ältere mit Schuldig wirklich ein schweres Los gezogen hatte. Er konnte nur hoffen, dass Fujimiya von ihnen beiden nicht so dachte. Nagi sah zu Omi, der seinen Blick aufmunternd erwiderte, obwohl er darin Sorge las.

„Jei hat keinen Besitz“, sagte Nagi zu Aya.
 

Dieser hob fragend eine Braue.
 

„Och Mensch, Nagi, was soll das?“, meckerte Schuldig.
 

Doch Nagi warf Schuldig nur einen abschätzigen Blick zu, bevor er wieder zu Ran sah.

„Er betrachtet Eigentum nicht so wie wir es verstehen, oder Schuldig dies vielleicht tut.“ Nagi lächelte ein feines aber hinterhältiges Lächeln in Richtung Schuldig.

Schuldig schnaubte, hielt sich aber zurück.

„Jei besitzt nicht einmal ein T-Shirt, oder einen Wagen, oder ein Konto. Nicht in seiner Vorstellung. Im Grunde genommen kann er sich alles nehmen, denn es kümmert ihn nicht ob ihm etwas gehört oder nicht“, sagte er nur etwas lahm.
 

„Das kann auch bedeuten, dass er sich einfach alles nimmt weil er davon ausgeht, dass es ihm ohnehin schon gehört“, wandte Omi ein.
 

„Nein“, Nagi schüttelte einmal den Kopf. „Dazu ist er zu passiv.“
 

Schuldig grinste in sich hinein. Ja, sicher … passiv. Am Arsch. So passiv, dass ihm schon zwei Rennmaschinen fehlten, die Jei dummerweise irgendwo hingestellt aber leider, leider vergessen hatte wo genau. Zu dumm.

Jei war ein Dieb. Aber wer war ER, dass er das an die große Glocke hing?

Jei wusste sehr wohl was Eigentum anderer war und was nicht. Nagi hatte da eine etwas verklärte Sichtweise, fürchtete Schuldig. Das lag wohl daran, dass Jei und der Telekinet eine engere Beziehung hatten. Nagi hatte sich in der Vergangenheit sehr viel um Jei gekümmert, wenn dieser das nicht getan hatte.

Ganz durchschaut hatte Schuldig Jei immer noch nicht, auch wenn er fest davon überzeugt war, dass der Empath nicht so entrückt und unselbstständig war wie er es ihnen präsentierte. Sehr oft, jedoch nicht immer.
 

„Du erwähntest, dass diese Ratte, die der in China verdammt ähnelt, sagte dass wir einer Freundin helfen sollten. Wie war der genaue Wortlaut?“, fragte Brad.
 

„Ich möchte dass Sie einer Freundin helfen“, gab Schuldig das wider was er bei Kudou gelesen hatte.
 

„Er sagte nicht ‚meiner Freundin‘, sondern ‚einer Freundin‘“, sagte Brad nachdenklich.
 

„Inwiefern spielt das eine Rolle? Wir wissen ohnehin noch nicht, um wen es sich handelt“, gab Aya zu Bedenken. „Mich würde es aber nicht wundern wenn wir sie kennen würden.“ Er starrte Brad an, der seinen Blick nach einem Schluck aus der Tasse ebenso intensiv erwiderte.
 

„Manx?“ riet Omi.
 

„Nein. Es könnte Eve sein. Aber wenn es tatsächlich sie ist, die hinter dieser Botschaft steckt, dann hat sie etwas mit diesem Typen von Sin zu tun.“
 

„Gut, nehmen wir das einmal an. Das hieße dann, dass unsere Jungs aus Langley mit Sin und der Sakurakawa Gruppe etwas am Laufen halten und wir sollen mitmischen. Denn der Typ meinte zu Yohji, dass wir gefälligst unseren Job machen sollen. Wie auch immer der auszusehen hat. Ich frage mich immer noch warum der Kerl mich aus China zurückgeholt hat“, zuckte Schuldig mit den Schultern.
 

„Er hat dir übrigens ein kleines Souvenir zur Erinnerung an diese Sache mitgeschickt. Es ist zumindest anzunehmen, dass es daran erinnern soll“, sagte Brad.
 

„Was ist es?“ Aya konnte sich diese Frage nicht verbieten, auch wenn er davor zurückschreckte benanntes Souvenir sehen zu wollen.
 

„Der Leichensack , in den sie Schuldig steckten als sie die gefakten Fotos machten. Der Spaßvogel hat sogar die Identifikationsnummer mit reingeworfen und auf die Rückseite hat er in großen roten Lettern: made in china geschrieben.“
 

„Damit auch der letzte Vollidiot das versteht, schon klar. Das könnte eine Mahnung sein: Ich habe dir damals den Arsch gerettet, jetzt tu etwas für mich“, sinnierte Schuldig.
 

Schuldig suchte nach dem Namen in seinem Gedächtnis. „Der Typ hat sich mir als Kawamori vorgestellt. Kawamori Satoshi. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Name echt ist, aber er kommt vom Clan. Das war eindeutig in Asamis Gedanken zu lesen und das hat er uns auch erzählt.“
 

„Er sagte aber auch, dass dieser Kawamori nicht wollte, dass beim Sakurakawa Clan bekannt werden sollte dass er Schuldig aus China herausgeholt hat“, wandte Nagi ein. Denn er hatte sich damals schuldig gefühlt, als der Auftrag schief gelaufen war und er fühlte die gleiche Schuld in sich wenn er daran dachte, dass Jei jetzt in einer ähnlichen Lage war.

Dieser Gedanke nistete sich in ihm ein.
 

Das fiel auch Schuldig auf. ‚Hör auf damit, Kleiner. Das ist ungerechtfertigt‘, mahnte er Nagi an.

Der nickte ihm nur stumm zu und schob sich gesäuerten Reis mit Fisch obenauf in den Mund.
 

„Vielleicht spielt er ein doppeltes Spiel und arbeitet für die Amerikaner“, sagte Ran, und Schuldig fand die Idee gar nicht mal so schlecht.
 

„Egal was er ist, ob Spion, Agent, Yakuza oder nur ein einfaches, dummes Arschloch. Falls er mir in die Hände fällt spiele ich ein Spiel mit ihm und das wird sein letztes sein“, sagte Schuldig gut gelaunt.
 

„Dumm ist er nicht“, wandte Brad nachdenklich ein.
 

„Doch ist er. Er hat sich mit uns angelegt. Die Frage ist, in wessen Namen er das tut und warum.“
 

„Was vermuten wir, was alles auf sein Konto geht?“, fragte Omi und holte sich noch mehr der leckeren Reis-Fisch-Kombinationen auf seinen Teller. Er liebte es wenn Ran Sushi machte. Sie waren immer zu faul dazu gewesen. Nur Ran war die Arbeit nicht zu viel.
 

„Er muss überall seine Finger drin haben, sonst wüsste er nicht was läuft. Die Frage ist nur ob er tatsächlich zum harten Kern von Sin gehört. Solange wir nicht wissen welche Funktion er genau hat, ist es sinnlos zu spekulieren. Außerdem wissen wir nicht, ob er alleine arbeitet oder ob er nur eines der ausführenden Organe der Organisation ist. In China konnte ich durch die Droge, die ich von Fei Long bekommen habe, niemanden lesen. Ob er damals für mich schon unsichtbar war oder nicht, kann ich nicht sagen. Ebenso wenig jetzt. Jei ist für uns nicht zugänglich. Wenn er aufwacht, wäre es interessant zu erfahren ob er diesen Typen einschätzen kann.“
 

„Die Option steht uns momentan nicht zur Verfügung“, sagte Brad. „Ich kann, was ihn angeht, keine Berechnungen anstellen, er entzieht sich komplett meiner Wahrnehmung.“
 

„Gut, also wo ist Manx?“, fragte Aya Omi. „Youji erzählte, dass sie Ken auf eine One-Man-Show geschickt hat. Warum? War nicht der Plan bald zu verschwinden? Und jetzt das?“
 

Omi schüttelte nur den Kopf. „Ich habe keine Ahnung. Wir sollten die Abreise vorbereiten, unsere Papiere hätte sie bereits. Am Ende der Woche sollten wir los.“
 

So bald schon?

Nagi vermied den Blick an seine Seite, um nicht zu zeigen wie sehr ihn dieser Gedanke traf. Natürlich war er nicht neu, er war nicht mehr fremd, aber er schmerzte trotz allem.
 

„Der Typ – Kawamori will also, dass wir einer Freundin helfen und er will dass wir unseren Job machen, wie auch immer er sich diesen vorstellt. Wo wir doch eigentlich in zwei gegensätzlichen Lagern arbeiten“, fasste Schuldig zusammen.
 

Nagi erhob sich, nachdem er so viel gegessen hatte wie Fujimiya ihm hingestellt hatte. Er hatte keinen Hunger mehr auch wenn es viel zu wenig war. Bekümmert sah er auf seinen leeren Teller. Er brauchte Energie, aber ihm war der Appetit vergangen.

„Ich werde mir das Lesegerät holen. Wir treffen uns drüben“, empfahl er sich und entfernte sich aus der Küche, mit einem lächelnden Blick zu Omi, der noch mit Genuss aß.
 

Omi hatte gesehen wie wenig der Jüngere gegessen hatte und er wusste um dessen Mangel an ausreichender Ernährung. Aber er wollte das Thema jetzt nicht ansprechen, er würde ihm später etwas bringen.
 

„Gute Idee“, sagte Schuldig und Omi fühlte sich einem aufmunternden, wissenden Blick ausgesetzt und war sich fast sicher, dass das nicht auf das Lesegerät bezogen war.
 

„Außerdem sollten wir uns vor dieser Droge in Acht nehmen. Ich weiß nicht wie viele Injektionen nötig sind, um mir die Fähigkeiten zu nehmen“, sagte Schuldig.
 

Brad erhob sich. „Ich muss einige Telefonate führen“, verabschiedete er sich und folgte Nagi. Er brauchte einige dieser Spezialanzüge aus künstlicher Spinnenseide. Dafür brauchte er viel Geld, ein paar Leute und zwei Tage Zeit.
 

„Du hast noch fast nichts gegessen“, bemerkte Aya als sein Augenmerk auf Schuldigs Teller fiel. Der Deutsche schien in Gedanken zu sein, aber so genau war das bei Schuldig ohnehin nicht von außen fest zu stellen. Aya war besser darin geworden zu erkennen wann Schuldig telepathisch aktiv war und wann er ‚es‘ nur laufen ließ, die Hintergrundberieselung wie ein angestelltes Radio ausblendete. Momentan allerdings steuerte Schuldig auf den Status eines übermüdeten Kindes zu: schwer zu händeln.
 

Schuldig drehte sich zu Ran und betrachtete ihn sich. Besah sich das herrlich dunkelrote Haar in dem fantastisch unordentlichen Zopf und die helle, samtige Haut. Ran hätte ein Mädchen werden sollen, grinste Schuldig innerlich. Die dunkle, kehlige Stimme, der gar nicht mädchenhafte Körper, das alles war die Verpackung für einen Mann, dem er wohl verfallen war. Schuldig seufzte. Er hatte gedacht er könne ihn aus allem herausholen. Ihm ein neues Leben ermöglichen, aber natürlich war das nicht drin. Er war gescheitert.

„Ich musste hier den Alleinunterhalter spielen. Da war nicht an Essen zu denken!“, spielte er den unverstandenen Künstler.
 

„Das schwere, leidende Seufzen passt nicht ganz zum Alleinunterhalter“, sagte Aya und sah Schuldig gelangweilt an, während er weiter aß, den Alleinunterhalter aber nicht aus dem Blick ließ. „An was hast du gedacht? Oder bist du nur müde?“
 

„Nein… nicht nur“, sagte Schuldig und schob sich Sushi in den Mund damit er nicht sofort reden musste. Aya hatte diesen gnadenlosen Blick drauf, der ihm sagte, dass er ihm gefälligst zu gehorchen hatte wenn ihm sein Leben und sein Seelenheil lieb waren.
 

Schuldig sah zur offenen Küchentür und starrte vor sich hin, während er darüber nachsann welches Sushi er als nächstes töten würde.

„Die Einschläge kommen näher. Ich hab kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Und ich kann nichts machen um zu verhindern, dass du mit rein gezogen wirst“, sprach er schließlich laut aus was ihn beschäftigte.
 

Aya hatte tatsächlich die Gedanken gehabt, ja sogar die Hoffnung besessen dass er etwas anderes tun könnte. Dass er nichts mehr mit Manx zu tun haben müsste, dass er einen normalen Job haben würde. Es hätte klappen können… ja… vielleicht… in einer anderen Realität. Aber nicht in seiner. Sie haben beide versucht etwas zu basteln, eine Verkleidung die er tragen konnte, und vielleicht wäre er langsam in sie hinein gewachsen. Nur funktionierte dieser Betrug offensichtlich nicht.

„Nein, das kannst du nicht. Das liegt aber nicht daran, dass ich in Gefahr bin. Es ist die alleinige Tatsache, dass ich dich nicht alleine gehen lasse. Nie wieder. Ich bleibe nicht hier sitzen und warte darauf, dass du von irgendwoher zurückkommst.“ Er hatte die letzten Jahre in vielen verschiedenen Teams gearbeitet, zuletzt und am konstantesten mit Weiß zusammen, seiner Basis, seiner... Familie. Vielleicht konnte er den Job nicht einfach so hinschmeißen, auch wenn er es einst für seine Schwester Aya getan hatte, diese Ausrede konnte er jetzt nicht mehr anführen. Und wie hatte Schuldig einmal so schön gesagt: Tu dir einen Gefallen und denk darüber nach ob du für deine Schwester mordest oder für deine eigene Rache.
 

„Das… war jetzt ne klare Ansage“, meinte Schuldig wenig begeistert. Er hegte den nicht unbegründeten Verdacht, dass es momentan keine Rolle spielte ob er begeistert war oder nicht. Ran war das egal. Er würde sich anziehen, seine Klinge nehmen und er würde ihm keinen Meter von der Seite weichen. Schuldig steckte sich Fisch und Reis in den Mund, bevor er noch mehr sagte.

Vielleicht war es besser wenn Ran in seiner Nähe war. Er hätte ohnehin keine Ruhe ohne ihn bei sich zu wissen. Vom Punkt abgesehen, dass es den Faktor Sicherheit um einiges erhöhte wenn Abyssinian mitmischte.
 

„Naja… vielleicht bist du ja ganz nützlich. Ich meine… du könntest unterwegs Kaffee kochen, meine Waffen putzen, mich massieren und so n Zeug…“, bot Schuldig sinnierend mit ganz und gar unschuldiger Miene an und sah fragend zu Ran, der gerade langsam zu ihm blickte.
 

Ein geradezu unheimliches Lächeln bildete sich auf den attraktiven Gesichtszügen aus. Aya glaubte sich verhört zu haben. Kaffee kochen und so Zeug?
 

„Oder auch nicht“, zog Schuldig zurück und sah das böse, dunkle Lächeln auf den Lippen seines Blumenkindes. Von wegen… eher eine fleischfressende Pflanze, die ihn ganz oben auf der Speisekarte hatte.
 

„Nützlich?“, fragte Aya lauernd.
 

Schuldigs Augen huschten von dem missgelaunten Violett zu dem leichten Aufblitzen der weißen Zähne in dem … unternehmungslustigen Lächeln seiner … fleischfressenden Pflanze. Ähm…

„Hatte ich nützlich gesagt?“, rutschte Schuldigs Stimme etwas höher als beabsichtigt. Das lag wohl an der aufkommenden Angst vor dem Raubtier vor sich.

„Ich glaube ich habe nicht nützlich gesagt…“, sinnierte er.
 

„Mir war so als hätte ich …nützlich gehört“, sagte Aya mit nachdenklicher Skepsis, in die sich eine falsche Freundlichkeit gemischt hatte.

Aya beugte sich zu Schuldig, die Augenbrauen kritisch zusammengezogen, ein feines Lächeln auf den Lippen.

Noch bevor Aya dazu ansetzen konnte eine Drohung zu verbalisieren, drehte sich Schuldig um und hatte den Ausgang der Küche zum Ziel.
 

Ayas Hand schnellte vor und pflückte sich die im Zopf zusammengefassten Haare, mit einem kurzen schmerzhaften Ruck in entgegengesetzter Richtung zur Küche.

Ein gequältes Autsch war der Lohn.

„Hiergeblieben. Ich weiß wer sich hier und jetzt schon nützlich machen kann“, lächelte Aya rachsüchtig.
 

Schuldig verzog den Mund unleidig und rieb sich die schmerzende Kopfhaut. „Ja? Wer? Nagi?“, erdreistete er sich, gab jedoch mit dem mürrisch, zynischen Tonfall die Niederlage offiziell bekannt.
 

Er machte sich daran die Küche wieder in Schuss zu bringen, unter den Argusaugen des rothaarigen, rachsüchtigen Kochs.

Es gab natürlich den einen oder anderen Anhalt dafür, dass er selbst schuld an seiner Misere war aber wer konnte das schon beweisen?
 

Der rachsüchtige Koch aß in Ruhe zu Ende, dabei beobachtete er den unwilligen, aber in vielen Bereichen sehr nützlichen Küchensklaven. Ab und an traf ihn ein mitleiderregender Blick, den er jedoch mitleidlos erwiderte. Nach dem Essen nahm er sich eine frische Tasse Kaffee und verließ mit einem zufriedenen Lächeln und einem kräftigen Klapps auf den frechen Hintern des Küchensklaven den Arbeitsbereich desselbigen.

Er ging in den Besprechungsraum. Während der Telekinet die gesammelten Daten sortierte und auf die sechs Bildschirme verteilte war Omi dabei den Datenkristall in das Lesegerät zu installieren.
 

„Wir sind gleich fertig“, sagte Omi in Richtung Ran, als er diesen im Türrahmen bemerkte.

„ Schuldig?“, fragte Brad, ebenso wie Ran untätig, aber im Sessel sitzend an seiner Tasse nippend.
 

„Wollte unbedingt noch die Küche aufräumen“, erwiderte Ran mit einem angedeuteten Schulterzucken als könne er dieses Vorhaben überhaupt nicht nachvollziehen.
 

Brad nahm erneut einen Schluck Kaffee. Seine Gedanken kreisten um Eve. Er hatte ein drängendes, dumpfes Gefühl in seinem Kopf. Hinzu kam die Unruhe vor dem was noch kommen würde, die Angst vor der Vision einer möglichen Zukunft für sie beide. Etwas Katastrophales bahnte sich an. Noch kam keine Voraussicht darauf. Aber wenn Eve es war, die hier eine Rolle spielte, dann war das nicht gut. Niemand durfte erfahren was früher geschehen war. Was damals war. Niemand.

Nur... wie konnte er das verhindern?
 

„Fangen wir an“, verkündete Nagi.
 

„Abschließend lässt sich aufgrund der vorliegenden Datenlage sagen, dass die Sakurakawas eindeutig als die Verursacher der Angriffe angesehen werden können.“

Nagi erhob sich und ging zu den Bildschirmen, die von der Decke fuhren.
 

„Der Erste Auftrag, den wir erhielten und der bereits in deren Wirkungskreis zählen dürfte, war die Liquidation eines chinesischen Großindustriellen, den Brad und Schuldig ausführen sollten. Im Laufe des Auftrags stellten sich gewisse Ungereimtheiten heraus, die dazu führten, dass das angegebene Ziel falsch, die für den Auftrag erforderlichen Daten fehlerhaft und somit zum Scheitern des Auftrags führten. Fei Long, der Boss der Triade Hongkong war das Ziel, die Bewachung höher als zuvor ermittelt.“
 

Nagi hielt inne als Schuldig samt Abtrockentuch über der Schulter neben Ran im Türrahmen ankam. „Ich hab die verdammte Hütte zuvor gecheckt. Alles wie es unser Auftraggeber – wer auch immer das damals gewesen war – es angegeben hatte, doch dann hatten die plötzlich diese Droge. Es war also kein Zufall, dass wir dort waren und das alles schief ging. Vielleicht eingefädelt von diesem Kawamori.“
 

„Der Auftraggeber war nach eingehender Überprüfung seriös. Wir hatten bereits mehrfach für ihn gearbeitet. Allerdings stellte sich nach einer späteren Überprüfung heraus, dass er diesen Auftrag nie an uns erteilt hatte. Er hatte zum damaligen Zeitpunkt keinerlei Kontakt zu Schwarz unterhalten, da die politische Situation es ihm nicht erlaubte.

Und das heißt, dass wir bereits zum Zeitpunkt der Planung einen Mr. X als Kontakt hatten der sich für unseren bekannten Auftraggeber ausgegeben hat. Das tat er mit einem hohem Maß an Hintergrundwissen sodass ich keinen Verdacht schöpfte.“

Was im Nachhinein erschwerend hinzu kam war die Tatsache, dass - soweit er sich erinnerte - auch keine Voraussicht einer möglichen katastrophalen Entwicklung geschehen war.
 

Nagi blendete ein Gesicht, ein Phantombild aus dem Gedächtnis von Schuldig auf dem Bildschirm ein. Es war das typische, japanische Allerweltsgesicht, keine Kanten, keine Ecken, keine Merkmale, die ihm in Erinnerung geblieben waren.
 

„Der Angriff auf Fujimiya an dem Tag als wir aus Shanghai wieder zurückgekommen sind und nach China kam der Angriff auf Kudou, der den Zweck einer Botschaftsübermittlung trug. Eine Warnung, dass sie uns auf der Spur waren. Jei erschoss dabei eine Frau. Elisabeth Sakurakawa, wie wir später herausfanden. Sie trug eine weiße Kabukimaske, die Jei zerstörte.“
 

„Nicht ganz. Das Ding ist wieder aufgetaucht. Auf dem Gesicht eines Typen der Kudou gestern Jei in einem Plastiksack überreichte.“

Schuldig fixierte das Gesicht der Frau, die ihm völlig unbekannt aber wohl eine Verwandte von ihm war. Seine Tante vielleicht... sie hatte zum Zeitpunkt des Todes seiner Mutter existiert, sie konnte oder wollte aber nicht die Vormundschaft für ihn übernehmen, also wanderte er ins Heim.

Kein Zufall also, dass seine Verwandte hier auftauchte.
 

„Die Frau...“, er räusperte sich. „Nagi mach dir nen Vermerk, dass sie vermutlich meine Tante ist. Zumindest eine sehr nahe Verwandte. Vom Alter her könnte es die Schwester meiner Mutter sein.“
 

„Woher weißt du das?“ Omi sah auf und war ebenso wie Nagi geschockt.
 

„Manx. Sie hat uns einen kleinen Besuch in Osaka abgestattet.“
 

„Wie sicher ist diese Information?“, hakte Nagi bei Omi nach.
 

„Manx würde diese Art Bombe nicht einfach so loslassen wenn sie nicht sicher wäre“, mischte sich Aya ein.
 

„Gut. Aber was fangen wir damit an? Hat deine Verwandte denn diese Art Fähigkeiten besessen? Gedanken lesen oder Telekinese?“
 

Schuldig verzog die Lippen zweifelnd. „Keine Ahnung Kleiner. Ich kann ja noch nicht einmal sagen ob meine Mutter frei davon war. Die Umstände meiner Vergangenheit sagen mir, dass sie allerdings entweder frei davon war oder es einfach nicht wusste. Ich weiß noch nicht einmal wie der Name meiner Tante war. Du könntest dich in der Datenbank des Deutschen Nachrichtendienstes umsehen. Vielleicht findest du etwas“, wandte sich Schuldig an Nagi. Der machte einen Vermerk.
 

Aya musste daran denken wie Schuldig ihm erzählte, dass seine Mutter sich in der Psychiatrie erhängt hatte, nachdem sie in ihrem Kind den Teufel gesehen hatte. Er wusste noch genau wie Schuldig vor ihm gesessen hatte, auf dieser Couch in seiner alten Wohnung, die psychopathensicher gebaut war. Ausbruchssichere Fenster, eine Schublade voller Tabletten, einen Stilleraum für durchdrehende Psychopathen. Und jetzt? Was brauchte Schuldig davon noch?

Nichts mehr, außer einer Moralpredigt, seiner strengen Hand und ein wenig... naja die paar Streicheleinheiten zwischendurch durften nicht fehlen. Aya sah mit unbewegter Miene zu Schuldig, der leicht hinter ihm stand und nippte an seinem Kaffee, um das zärtliche Lächeln zu verbergen das sich auf sein Gesicht stahl.
 

„Falls es sich jedoch so verhält, dass deine Verwandte eine PSI ist, dann hätten wir hier eine völlig neue Betrachtungsweise der Lage. Denn dann hat Sin oder der Clan mit PSI Befähigten zu tun. Was vielleicht erklärt wie diese Sin dazu kommen gegen uns resistent zu sein. Sie müssen etwas - eine Fähigkeit oder eine Droge – entwickelt haben, welche es ihnen ermöglicht für uns nicht sichtbar zu sein“, sagte Brad.
 

„Aber über diesen Punkt können wir uns noch nicht völlig klar sein, also sollten wir ihn zunächst als unsicher einstufen“, sagte Nagi und färbte die Datei blau ein.
 

„Die Kabukimaske taucht also erneut auf. Alle Mitglieder dieser Gruppierung tragen eine. Sie wollten also nicht erkannt werden weil sie im Alltag Posten bekleiden, mit denen sie dann leicht in Verbindung gebracht werden können. Das heißt also, dass Sin vielleicht offizielle Familienmitglieder sind und bis auf ihre Aktivitäten als Sin normaler Arbeit im Clan nachgehen.“
 

„Ein Detail fiel mir beim Lesen der Gedanken von Kudou auf. Die Maske war beim ersten Kontakt durch einen Riss und dann beim zweiten Kontakt durch ein Einschussloch stark beschädigt worden. Beim ersten Mal als Kudou angegriffen wurde die Maske von Elisabeth Sakurakawa getragen, die die Truppe anführte. Gestern wurde sie erneut von demjenigen geführt der die Redegewalt hatte. Also einen Anführerstatus innehielt. Dieser sagte gestern, dass wir unseren Job nicht machen würden und er uns auffordere einer Freundin zu helfen.“
 

Nagi zog mit einer Handbewegung und der Verdichtung der Moleküle in der Luft unmittelbar vor dem Touchscreen das Bild der Maske in die Mitte des Gedankenmodells.

„Wenn wir ihn oder sie in die Finger kriegen wissen wir mit Sicherheit mehr.“
 

„Wie passt Eve da rein?“, fragte Schuldig und Nagi holte das Bild der CIA Agentin auf den Monitor.

Omi pfiff leise durch die Zähne. Yohji hätte sich mit Sicherheit sofort an die Frau rangemacht. Sie war heiß. Braune wellige Haare, verdammt hübsches Gesicht und diese hellbraunen Augen, die Brad Crawfords Blick unangenehm machten. Bei ihr schien es nicht so derart irritierend zu sein. Vielleicht weil es nur ein Bild war.
 

‚Sie trägt Linsen’, mischte sich Schuldig in Omis Gedanken.
 

‚Musst du immer meine Gedanken lesen, verdammt?’, begehrte dieser auf und presste die Lippen wütend zusammen.
 

‚Ja, stell dir vor, muss ich. Das ist nämlich das Blöde an der Sache. Also denk gefälligst intelligente und weniger pubertierende Sachen. Du denkst hier von Brads Schwester Schweinkram. Wer kann da wegehören?’
 

‚Schon klar, dass DU da nicht weghören kannst. Was heißt hier schweinische Sachen? Sie ist einfach nur wow!’
 

‚Das ist ER auch und denk ich den ganzen Tag so n Kram?’
 

‚Jede Wette, JA!’ Omis Haarschopf wandte sich ihm zu und das Gesicht zeigte ihm eine herausgestreckte, rosa Zunge, die auf ihn zeigte.
 

‚Du... Kind!’, schimpfte Schuldig in Ermangelung an eine schlimmere Beleidigung, denn er wusste wie wenig Takatori junior es mochte noch als Kind durchzugehen. In Aufträgen war das praktisch, aber im Alltag nicht für voll genommen zu werden war für den Kleinen hart.
 

Nagi bewegte sanft die Luft der Haarsträhnen an Omis Ohr, kitzelte aus der Ferne die weiche Haut, um ihn zu besänftigen. Wer wusste schon was Schuldig wieder von ihm wollte. Er wollte den Telepathen bereits zur Ordnung rufen als das von anderer Seite schon erledigt wurde. Fujimiya hatte alles im Griff. Wie immer. Nagi fand das mehr als gut und lächelte still in sich hinein.
 

Schuldig bekam nämlich von seinem persönlichen Oberlehrer einen spitzen Ellbogen in die Rippen als dieser seine kurze Unaufmerksamkeit beim Unterricht bemerkte und seine Unterhaltung mit einem ebenso unaufmerksamen Mitschüler sofort ahndete. Also zurück zum Ernst der Lage...
 

„Wir trafen Eve auf der Benefizveranstaltung, deren Einladung Elisabeth Sakurakawa in der Tasche hatte. Die Sakurakawas waren vertreten“, sagte Brad.
 

„Hübscher Zufall“, sagte Aya düster.
 

„Die Frage ist, ob sie den Kontakt zum Clan oder zu mir gesucht hat“, erwiderte Brad.
 

„Sie wollte deine Hilfe. Aber es ist ihr misslungen die richtigen Worte zu treffen, wie ihr später auffiel“, sagte Schuldig und verzog bedauernd das Gesicht.

Sie war wirklich hübsch.
 

„Meine Hilfe? Sie hat eine merkwürdige Art danach zu fragen.“
 

Das musste Aya bestätigen. Von Hilfe war in keiner Silbe die Rede gewesen. Sie hatte ihre Waffe gezogen.

Wie Menschen sich nach außen hin gaben, und ihre Intention dahinter eine völlig gegensätzliche war, verkettet in ihren Gefühlen und Gedanken.

Schuldig hatte die Fähigkeit die Masken zu durchdringen.
 

„Die Morde in Tokyo, Osaka und Nagoya waren nur kurze Zwischengeplänkel, die uns herausfordern sollten. Bei einem davon hat Schuldig einen von Sin erledigt.“
 

„Es kann auch sein, dass sie die Polizei auf uns lenken wollten. Denn ein Ermittler in Osaka weiß mehr von Kritiker als uns lieb sein könnte. Wir sollten ihn im Auge behalten.“
 

„Aber was wollen sie?“ stellte Omi die alles entscheidende Frage auf die es wohl noch keine endgültige befriedigende Antwort gab.
 

„Sie jagen PSI. Wir waren bisher wohl immer durch die Maschen geschlüpft, durch SZ geschützt, danach zu mächtig, was weiß ich...“, brummte Schuldig.
 

Brad kannte sich damit aus verfolgt zu werden. Dennoch gab es Dinge, die er nicht offenbaren wollte und konnte.

„Tsukiyono, wie sieht es mit dem Datenkristall aus?“
 

„Dauert noch. Die Daten sind gesichert. Zwar nicht außergewöhnlich hoch aber dennoch wird es eine Stunde dauern bis wir einen kleinen Teil davon entschlüsselt haben.“
 

„Haben wir sonst noch etwas?“, fragte Aya.
 

„Momentan nicht. Nur was ich über die Sakurakawas herausgefunden habe. Ihre Geschichte reicht weit zurück bis in die Zeit der Shogune. Ein alter Clan, mit viel Einfluss und Macht in Politik und Wirtschaft, und das nicht nur hier in Japan.“
 

Crawford warf einen Blick zu Schuldig, der diesen Blick einen Augenblick zu lange erwiderte, als dass er flüchtig und nichtssagend gewesen war, wie Aya bemerkte.

„Raus mit der Sprache. An was denkt ihr?“
 

Schuldig seufzte. „Keine Ahnung ob es in irgendeiner Weise mit dem hier eine Rolle spielt, aber Nagi was ist die über die Geschichte der PSI bekannt?“
 

„Du meinst diese Geschichte über die Legende Strigo Orloff?“ Schuldig nickte und Nagi wandte sich an Aya und Omi. „Strigo Orloff gründete eine Akademie für Hochbegabte Schüler, im Grunde genommen war es nichts anderes als ein Auffanglager für PSI. Er schulte jedoch nicht ihre Fähigkeiten sondern ließ die Dinge laufen wie sie liefen. Für ihn war das Zusammenleben mit den PSI und den Nichtaktiven wichtiger als die Ausbildung der PSI.

Eine Gruppe spaltete sich ab und ging nach Deutschland, wo sie mehr auf die Schulung der Fähigkeiten Wert legte und die Kontrolle dieser. Daraus entstand dann SZ.“
 

„Klingt doch erst einmal harmlos“, meinte Omi.
 

„SZ reichte es nicht, Kinder auf normalem Wege anzuwerben. Sie begannen, um ihr Erbgut zu verfeinern, Kinder zu entführen und unterzogen sie einer Gehirnwäsche. Es gab bei SZ Unterricht in Eugenik speziell im Fall der psychosensorischen Bereiche. Eine ähnliche Gruppierung gibt es immer noch – die Rosenkreuzer. Wobei ich von ihnen lange nichts mehr gehört habe.“
 

„SIN?“, sagte Aya.
 

„Kann sein. Nicht alle von ihnen waren radikal, vor allem als SZ den Bach runter ging. Wir haben uns kurz überlegt vorrübergehend das Angebot anzunehmen und zu ihnen zu wechseln, haben es aber aufgrund unserer Freiheitsliebe und anderer Unvereinbarkeiten gelassen.“
 

„Was geschah mit der Strigo Akademie?“
 

„Zerstört.“
 

„Die Kinder?“
 

„Getötet.“
 

„Wann war das?“, fragte Aya.
 

„Lange vor unserer Zeit, Ran. Vor über hundert Jahren.“
 

„Aber wer hat diese Akademie ... die Kinder getötet? Damals schon SZ? Und warum?“
 

„Angeblich eine Art Machtübernahme, ein Streit um Gelder und Aufträge. Wer weiß das heute schon noch. Es gibt so weit uns bekannt ist keine Aufzeichnungen über die Schule. Niemandem war daran gelegen etwas an die Öffentlichkeit durchsickern zu lassen.“
 

„Aber es muss doch irgendetwas geben...“, murmelte Omi.
 

„Ich habe mein halbes Leben damit verbracht, danach zu suchen“, sagte Nagi und ihre Blicke trafen sich. Nagis unleserlich, Omis voller Unverständnis. Er selbst konnte nachfühlen wie Nagi sich fühlte. Nichts über seine Herkunft zu wissen war furchtbar. Es klaffte eine schrecklich fahles Loch in einem, dass nichts füllen konnte. Eine Suche die ins Nirgendwo führte.
 

Alle schwiegen für Minuten.
 

„Das hilft uns alles nichts weiter. Mit Sicherheit ist was dran an der Story um Strigo, aber warum die Sakurakawas heute Jagd auf uns machen bekommen wir damit nicht heraus. Und vor allem wissen wir nicht warum der Mann in der Maske - Kawamori -will, dass wir uns einmischen“, sagte Brad und starrte das Bild seiner Schwester an.
 

Schuldig seufzte. „Keinen Plan, ehrlich. Bis auf die Tatsache, dass es eine Falle ist. Davon müssen wir ausgehen.“
 

„Das heißt wir machen gar nichts?“, begehrte Omi auf und drehte sich von seiner Arbeit weg wieder zu ihnen hin.
 

Aya sah von ihm zu Brad, der immer noch wie hypnotisiert von dem Bild schien. Er glaubte nicht, dass Brad nichts unternehmen würde, nur ob es ihnen gefallen würde und sie es nachvollziehen konnten bezweifelte Aya. Sein Gespür für ungesagte Dinge sagte ihm, dass Brad etwas verbarg und Aya war gespannt wann und wie er die Katze aus dem Sack lassen würde. Apropos Katze... fiel Aya bei diesem gedanklichen Vergleich ein. Sie mussten heute unbedingt nach Hause und sich etwas für Banshees Zukunft überlegen.
 

„Das haben wir nicht gesagt, Kleiner“, sagte Schuldig nachdenklich.

„Wessen bescheuerte Idee es auch immer war Ken allein auf Mission zu schicken, und ich schwöre euch ... ich verwette meinen Arsch darauf, dass Eve mit drin hängt.“
 

Aya musste innerlich spöttisch lächeln. Schuldig tat sich leicht damit Körperteile von sich zu verwetten, die längst nicht mehr ihm allein gehörten. Als hätte Schuldig das gespürt wandte sich der Deutsche zu ihm und sah ihn fragend an. Doch Ayas Miene war wie stets verschlossen und ernst.
 

Schuldig hatte dasselbe Phänomen befallen wie er in Osaka bei Brad gehabt hatte, er hatte Emotionen, die nicht seine waren gefühlt. Dieses Mal von Ran. Es war Amüsement mit einem dunklen Stich. Schuldig versuchte nachzuvollziehen was das ausgelöst haben konnte und fand es wie immer faszinierend wie verschlossen Rans Gesichtsausdruck wirkte und wie amüsiert er innerlich war. Über was... ah über seinen Hintern...
 

„Wir haben also drei vermisste Agenten“, sagte Omi.
 

„Inkorrekt“, sagte Nagi sofort. „Wir wissen nicht ob Eve Crawford vermisst wird. Momentan können wir nur davon ausgehen, dass Manx und Ken sich nicht zur vereinbarten Zeit gemeldet haben.“
 

Brad spürte eine dumpfe Ahnung, die sich zunehmend verstärkte. Er stand abrupt auf, versuchte seine Sicht zu klären.

„Wir...“ weiter kam er nicht, denn er sah seine Schwester vor seinen Augen, zerschlagen, die Lippen aufgeplatzt, gequält und zerstört auf einem Stuhl sitzen, gefesselt, die Hände... ihre Hände waren blutig... ihre Finger waren blutig... Gott... bitte, ihre Hände... nein... das...
 

Schuldig reagierte sofort, als Brad ruckartig aufstand und fixierte seinen Blick auf den Amerikaner. Er war sofort in seinen Gedanken und wusste in diesem Moment eines mit Sicherheit, dass es eine Vision war die er weder sehen wollte noch sollte."
 

Er zog sich telepathisch zurück und noch bevor Brad nach unten sackte, hatte Nagi den Fall abgebremst. Schuldig konnte Brad vorsichtig auf die Knie gleiten lassen, auf die er gekracht wäre wenn Nagi nicht so umsichtig reagiert hätte. Es war totenstill als Brad keuchte und einen markerschütternden Schrei ausstieß, der selbst Schuldig ängstigte, so unmittelbar nahe er ihm jetzt war.

Minuten vergingen in denen niemand sprach und alle dort blieben wo sie waren. Schuldig nahm ihm vorsichtig die Brille ab und reichte sie Ran weiter, der die Hand danach ausstreckte. Aya sah wie hell die Augen des Hellseher waren, unnatürlich hell.
 

Brad wurde sich seiner Umgebung wieder bewusst, die Spitzen seiner Finger hatten sich in Schuldigs Schulter verkrallt als er den Kopf hob und in die blaugrünen Augen sah. Er sah zur Seite zu dem jungen Takatori. „Seht zu das ihr euch mit dem Datenkristall beeilt. Es ist sicher, dass sie Eve haben.“ Er schmeckte den galligen Geschmack von Magensäure im Rachen.
 

Schuldig sah das Glitzern von Feuchtigkeit auf Brads Stirn. Das passierte nicht sehr oft wenn Brad Visionen einer möglichen Zukunft hatte. Es sei denn er war selbst stark in diese involviert. „Hast du ihren Tod gesehen?“
 

Brad verengte die Augen für einen Moment und wandte den Blick wieder zu Schuldig zurück. Er wurde sich gewahr wie haltlos er sich im Moment verhielt – und das aufgrund der Tatsache, dass er sich genauso fühlte – ließ Schuldig los und setzte sich auf die Fersen zurück. „Nein. Ihren nicht“, sagte er bedeutungsschwer. Momentan musste er zugestehen, dass er der Wahrscheinlichkeit seines eigenen Ablebens sehr nahe kam. Zweimal hatte er jetzt schon eine Ahnung davon bekommen. Offenbar wurde der Grat immer schmaler auf dem er hier wandelte.
 

Omi sah zu Nagi, der seinen Blick unverwandt auf Crawford gerichtet hielt, die Haltung des jungen Telekineten war sehr angespannt, wie er jetzt erkannte. Das war untrüglich ein Zeichen seiner inneren Aufgewühltheit. „Sprechen wir hier von einer möglichen Zukunft oder dem Eintreten deines Todes mit hoher Wahrscheinlichkeit?“

Brachte es der Telekinet auf den Punkt, die Stimme fest und jegliches Fehlen von Emotionen. Doch Omi erkannte die trügerische Gefasstheit. Jetzt... da er ihn etwas kannte wusste er wie er diese Art der Sensibilität erkannte.
 

Als Brad nichts antwortete, denn er streckte die Hand nach seiner Brille aus, die ihm Aya aushändigte, schüttelte Schuldig den Kopf.

„Quatsch. Red keinen Scheiß, Naoe. Brad?“
 

Dieser atmete tief ein, mied den Blick in die aufgewühlten, blaugrünen Augen und stand auf. Sein Hemd fühlte sich feucht an. Er brauchte eine Dusche. Und neue Kleidung.
 

Der immer noch halb kniende Schuldig sah stirnrunzelnd nach oben. „Du gehst hier nicht weg ohne uns eine Antwort zu geben“, sagte er ruhig.
 

Brad hörte eine Drohung aus den Worten, geboren aus Angst. Er sah mit der üblichen zurückgekehrten Arroganz auf den Telepathen hinunter. „Was willst du dagegen unternehmen?“. Sein Blick brannte sich in den Mann mit den orangeroten Haaren, die so malerisch das blasse Gesicht umgaben und die rebellischen Augen hervorstechen ließen. Er versuchte sich gegen diesen Blick zu wehren, bot alle Schutzmechanismen auf, die er hatte und würde im Moment auch vor körperlicher Gewalt nicht zurückschrecken.
 

Aya musste eingreifen. Die Spannung zwischen den beiden Schwarz war fast schon sichtbar. Er sah auch die Wand an die Schuldig Crawford gedrängt hatte.

„Ich fahre in die Wohnung um unsere Waffen zu holen. Ich bin in einer bis zwei Stunden zurück, das dürfte für die Daten reichen“, sagte er mit der üblichen kühlen, dunklen Stimme, drehte sich um und wollte den Raum verlassen.

Er wollte doch mal sehen ob er Schuldig nicht wieder auf Kurs brachte.
 

„Du kannst nicht alleine gehen!“, fand Schuldig zu seinen Prioritäten zurück und sprang auf. Hatten jetzt alle einen Knall?
 

„Was willst du dagegen unternehmen?“, fragte Ran im gleichen Wortlaut, nur etwas gelangweilter zurück, drehte sich aber nicht um sondern trat auf den Flur hinaus um nach oben zu gehen und sich Socken zu holen, ein Holster und eine Waffe.
 

Schuldig starrte Ran nach und biss sich auf die Unterlippe. „Wir sind noch nicht fertig“, knurrte er Brad an und verließ den Raum.
 

Omi grinste nur in sich hinein. Aya hatte die Raubtiere getrennt und das mit Sicherheit mit vollster Absicht.
 

Eines der Raubtiere eilte Ran nach um sich etwas zivilisierter zu kleiden. Oben angekommen saß Ran auf dem Bett und zog sich Socken an. „Biest“, knurrte Schuldig, knallte die Tür zu und starrte das sogenannte Ungeheuer ungeheuerlich böse an.

„Jetzt ist er uns davon gekommen! Meinst du er erzählt uns jetzt noch etwas davon was er gesehen hat?“
 

„Zieh dich um, wenn du mitwillst und schrei mich nicht an. Was soll er dir schon sagen? Wie er seinen Tod gesehen hat? Willst du das wirklich wissen?“ Aya stand auf und öffnete den Schrank, um eines der Schulterholster herauszuholen und es sich anzulegen.
 

„Ja, verdammt! Nur so können wir es verhindern.“ Außerdem konnte Brad seinen eigenen Tod nicht sehen, aber bestimmte Umstände ließen eine hohe Wahrscheinlichkeit des eigenen Ablebens zu.
 

„Das glaubst du doch selbst nicht“, erwiderte Aya und prüfte die Waffe um sie ins Holster zu schieben. „Der einzige, der es verhindern kann – wenn überhaupt – ist er selbst. Ach und du meinst ihm auf die Eier zu gehen ist ein guter Weg um ihn das gerade Gesehene verarbeiten zu lassen?“
 

„Seit wann bist du hier pro-Crawford?“
 

„Bin ich nicht. Aber etwas stimmt hier nicht und er wird sich nicht selbst in Gefahr bringen wenn er es verhindern kann, soweit ich ihn kenne ist Crawford ein Opportunist. Was also soll die Aufregung?“ Aya sah zu Schuldig hin, der immer noch wie ein bockiges Kind im Zimmer stand. Untätig und mit gefurchter Stirn.
 

„Wenn du dich nicht bald umziehst dann fahre ich tatsächlich alleine. Oder willst du das ich alleine losziehe?“ Er erlaubte sich ein teuflisches, kleines angedeutetes Lächeln.
 

Was Schuldig nur zum Schnauben brachte und in hektischen Aktionismus verfallen ließ.
 

Später im Wagen sprachen sie nichts bis sie an den Rand von Kawasaki kamen. „Ich frage mich ohnehin wie du einem Schrank von Crawford körperlich etwas entgegen setzen willst. Jedes Mal wieder legst du es darauf an, spürst du nicht wenn du zu weit gehst?“
 

Schuldig hatte seinen Kopf ans Fenster gelehnt und hing mit geschlossenen Augen seinen Gedanken nach. Er hatte auf dem Weg Kontakt zu Nagi aufgenommen um zu fragen ob Brad noch im Haus war und dieser hatte ihm versichert, dass sie alle auf Hochdruck am Kristall arbeiten würden und Brad seine Kontakte angerufen hatte um einiges zu organisieren.
 

„Das ist mir in diesem Moment egal. Ich hasse diese Geheimniskrämerei. Um herauszufinden was in seinem Schädel vorgeht, stecke ich gerne ein paar Schläge ein“, brummte Schuldig
 

„Deine bisherigen Versuche sind fehlgeschlagen. Vielleicht solltest du einfach warten bis er dir etwas erzählt.“ Aya erinnerte sich da an diesen missglückten Kontakt während einer Traumvision in Osaka.
 

„Ja klar... das mache ich zwischen den Fehlversuchen“, sagte Schuldig etwas lahm. Sie waren noch gute zwanzig Kilometer weit entfernt und Schuldig begann damit die Umgebung ihrer Wohnung zu scannen. Die Nachbarn hatten nichts ungewöhnliches bemerkt, die Leute die im Haus arbeiteten, Reinigung, Hausmeisterfirma, nichts war irgendwie ungewöhnlich während der letzten Tage gewesen. Von der Nachbarin ein Stockwerk weiter unten war ein Besucher registriert worden – ein junger Mann, Nagi – der Banshee beaufsichtigt hatte.
 

Die war wirklich Gold wert, diese Frau. Besser als jede Überwachungskamera. Kein Spürhund schlug schneller an, sobald die Tür im Eingang aufging. Sie verließ das Haus kaum, malte und zeichnete Bilder für einen Verlag.
 

„Nichts los, keiner hat was gesehen, falls die Wohnung enttarnt worden ist. Nagi hat die Satellitenüberwachung ausgewertet und keine auffälligen Personen ins Haus gehen sehen.“ Eine Weile blieben sie im Wagen sitzen, beobachteten die Umgebung, bis es Schuldig zu lange wurde und er Ran mit dem Finger in die Seite stach. Der trug sein Holster verborgen unter einer Lederjacke und war die Ruhe selbst. „Sollen wir?“, fragte Schuldig und Ran nickte, startete den Wagen.
 

Sie nahmen ihre Tasche mit hinauf.
 

Als sie die Tür öffneten, zogen sie ihre Waffen und Ran ging voraus um die rechte Seite der großen Wohnung zu kontrollieren. Schuldig ließ die Tür leise ins Schloss gleiten und übernahm die linke Seite.
 

Aya stieß im Schlafzimmer auf Banshee, die es sich in ihrem Bett gemütlich gemacht hatte. Sie machte sich sofort auf ihre Pfoten und kam ihm begeistert schnurrend entgegen.

Aya ging in die Hocke und nahm sie hoch. Er sprach nichts und ließ sie nach ein paar Streicheleinheiten wieder nach unten gleiten. Es dauerte seine Minuten bis sie die Wohnung durchsucht hatten, dann wollten sie die Gegenstände zusammenzutragen, die sie mitnehmen wollten. Doch zuvor mussten sie sehen ob die Wohnung nicht verwanzt war.

Nagi hatte ihnen ein Gerät mitgegeben das es ihnen ermöglichte sämtliche Räume und Geräte eines Hauses, die Signale übertrugen zu entlarven. Schuldig nahm den Koffer und stellte ihn ins Wohnzimmer während Aya dabei zusah, wie er die Parameter einstellte kraulte er Banshee. Sie war die ganze Zeit alleine gewesen.
 

Schuldig nahm das Pad in die Hand und stellte die Verbindung zu dem Gerät her. Während der Abtastung, die sieben Minuten dauerte blieb ihnen nicht viel zu tun außer abwarten.
 

Schuldig ging zu Ran, der sich mit Banshee zur Bar in die Küche zurückgezogen hatte. Die Rollladen waren immer noch unten und das würden sie die nächste Zeit wohl auch bleiben. Er fragte sich nur ob sie diese Wohnung ebenfalls aufgeben mussten.
 

Banshee mochte ihn immer noch nicht wirklich, seit seinem letzten Aussetzer, so wie sie ihn belauerte sobald er ihr und Ran näher kam. Schuldig betrachtete sich seine zwei ‚Biester’ wie sie einträglich aneinander hingen und sich beschmusten. Und ihn ausschlossen.

Er zog ein säuerliches Gesicht und fing sich einen gleichgültigen Blick ein, der ihn wohl abstrafen sollte. Was er nicht tat. Schuldig setzte sich auf einen Barhocker, nahm seine Waffe und legte sie neben sich auf die Bar, die die Küche zum offenen Wohnraum hin optisch abgrenzte.
 

Er dachte darüber nach ob Ran Gabrielle anrufen würde und darüber was er sagen wollte. So langsam konnte er diesen normalen Job tatsächlich an den Nagel hängen. Schuldig kaute auf der Innenseite seiner Lippe herum. Vielleicht konnte er Einfluss auf den Italiener nehmen auf irgendeine Art und Weise um Ran den Job zu sichern, damit er später leichter rein kam. Aber je mehr er das Ehepaar Gabrielle beeinflusste desto schwieriger würde es später werden. Er müsste eine permanente Beeinflussung zum Einsatz bringen und sie ständig nachprüfen. Nichts was er sich aufhalsen wollte. Während er darüber nachgrübelte wie dieses Problem zu lösen war, ging Ran zu dem Scanner und wartete die letzten Augenblicke am Gerät ab, bis dieses anzeigte, dass die Wohnung momentan frei von möglichen Übertragungen jedwelcher Art war.
 

„Wir lassen das Teil besser an“, sagte Aya und drehte sich zu Schuldig um der vertieft in Gedanken sich ihn betrachtete.

„Woran denkst du?“
 

Schuldig nahm die Waffe und steckte sie sich ins Holster. Er seufzte verhalten und zuckte mit den Schultern. „An deinen derzeitigen Arbeitgeber. Ich werde dich nicht hierlassen – selbst wenn du es wolltest – um zu arbeiten. Die Situation ist viel zu gefährlich, Ran.“
 

Aya hob eine Augenbraue und konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. „Ich bin schon gespannt wie du mich daran hindern willst“, sagte er und beobachtete wie Schuldigs Augen etwas weiter wurden und er zum Protest anheben wollte.

„Ich habe doch bereits gesagt, dass ich mitkommen werde. Du wirst nicht alleine gehen. Und daran kannst du mich nicht hindern. Auch wenn du noch Stunden darüber nachdenkst wirst du zu keinem besseren Ergebnis kommen. Ich werde bei Gabrielle kündigen.“
 

Schuldig schmälerte die Lippen, presste sie zusammen. Sie sahen sich an. Und Schuldig sah, dass es eine unumstößliche Entscheidung war.
 

„Du wirst dich nicht einmischen, Schuldig. Falls das hier alles gut ausgeht, wird wieder Ruhe einkehren und ich suche mir etwas anderes. Oder nicht. Mal sehen. Ich finde schon etwas.“
 

Schuldig spürte wieder die alte Verzweiflung in sich. Er konnte diesen Mann nicht retten. War es so? Waren sie beide unrettbar? In diesem verrotten Sumpf ohne Boden, der aus Gewalt und Tod bestand gefangen?

Schuldig kämpfte mit sich, er drehte sich zur Seite damit er nicht in dieses ruhige Gesicht blicken musste, das seine Entscheidung offenbart hatte.
 

„Ich wollte dich rausbringen aus diesem ganzen Mist“, sagte Schuldig leise. „Ich krieg es nicht hin. Ganz im Gegenteil, ich hab dich in eine noch größere Scheiße hineingezogen.“
 

Aya sah wie Schuldig darunter litt, dass er sich ein Ziel gesetzt hatte das so nicht zu erfüllen war. Er machte einen Schritt näher, ließ Banshee zu Boden und zog Schuldig zu sich herum.

„Ja. Durch dich ist vieles für mich komplizierter geworden. Vor allem weil ich mich endlich mit mir selbst auseinandersetzen musste. Nichts ist einfach mit dir.“ Außer die Liebe zu Schuldig war es. Sie war schlicht und einfach, schnörkellos.
 

Schuldig hörte aus diesen Worten eine Menge heraus. Er sah in die violetten geheimnisvollen Augen und ließ diesen Blick nicht mehr los, erst als Ran sich an ihn lehnte und seine Lippen mit seinen berührte und ihn zart küsste. „Nur das... ist einfach“, wisperte Schuldig an die köstlichen Lippen.
 

„Ja...“, ebenso leise, rau drang die Stimme an seine Ohren. Während Banshee um seine Beine streifte und um Aufmerksamkeit heischte hatte Aya ganz anderes im Sinn. Er hatte viel mehr Lust sich ausgiebig Schuldig zu widmen, trotzdem löste er sich von ihm. „Ich sollte Banshee etwas zu fressen geben und dann sollten wir hier abhauen.“
 

Schweren Herzens musste Schuldig zustimmen. „Gut. Ich kümmere mich um die Koffer.“ Er küsste Ran noch einmal bevor er sich löste und hinauf zu ihren Waffen ging. Dort begann er damit die Waffen die sie vielleicht benötigen würden in die dafür vorgesehenen Koffer zu packen.
 

Aya kümmerte sich unterdessen um Banshee. Er stellte ihr Fressen in ihre Box, ließ sie aber noch offen und ging dann ins Schlafzimmer um zwei Reisetaschen hervorzuholen. In diese verstaute er Kleidung, die sie beide vorzugsweise trugen wenn sie vorhatten jemanden in den Hintern zu treten.
 

o
 

Während die beiden Roten aus dem Haus waren entspannte sich die Lage deutlich. Crawford verschwand in die oberen Etagen um zu duschen.

Er stand unter dem Rauschen des Wassers und hatte den Kopf, der hämmerte als hätte ein Presslufthammer ihn bearbeitet unter den warmen Strahl. Warum war das Schicksal nur so grausam zu ihnen? Wie oft hatte er sich das früher oft gefragt? Wie oft hatte er es sich von der Seele geschrien bis ihm die Stimme weggeblieben war? Er war gegangen um dem ein Ende zu setzen. Aber die Vergangenheit holte ihn immer ein. War es nicht das was seine Schwester verkörperte? Ein Mahnmal, ein Schatten dem er nicht entfliehen konnte. Er spürte wie seine Schilde langsam zu bröckeln anfingen, der Putz blätterte ab und die ersten Risse klafften im Mauerwerk...

Er beeilte sich um fertig zu werden, denn er musste noch einiges organisieren.
 

Omi stand vor dem großen Bildschirm und besah sich Nagis Arbeit, der am Rechner saß und die Datei die sie separiert hatten entschlüsselte.

„Sieht gut aus“, sagte Omi und lehnte sich an den Schreibtisch.

„Ich weiß nicht. Für mich sieht es so aus als sollten wir nur diese Datei öffnen. Der Rest ... eine derartige Verschlüsselung habe ich bisher nicht zu sehen bekommen. Das ist nur ein Bruchteil dessen was wir bekommen haben.“
 

„Ich frage mich auch was zum Teufel da drauf ist“, stimmte Omi nachdenklich zu.
 

Nagi besah sich die Datei genauer. „Eine Videodatei.“
 

„Das ist kein gutes Zeichen. Sollen wir warten?“
 

Nagi sah zu ihm auf. „Ich frage Brad.“ Er wählte Brads Nummer. „Wir haben ein Video separiert. Willst du warten bis Schuldig und Fujimiya wieder hier sind?“
 

Nagi nickte und legte auf. „Er will warten.“
 

War klar, sagte Omi zu sich selbst. Wahrscheinlich wusste Crawford schon was sie sehen würden. Er selbst war neugierig und angespannt genug um es jetzt gleich wissen zu wollen. Aber er wollte Ran nicht außen vor lassen. Was war nur mit Ken?
 


 

Tage zuvor...
 


 

Sie saßen seit zwei Stunden in diesem Besprechungsraum, der in einem Büro einer Versicherung lag. Es war eines von vielen in diesem Bürohauskomplex und lag im 44. Stockwerk. Ein überdimensionierter Schreibtisch bot Platz für 21 willige Bürodrohnen. Seitlich des Tisches die grandiose Aussicht über Tokyo und den Sonnenuntergang.
 

Manx hatte ihren Platz an der Kopfseite des Tisches gewählt und die Finger ihrer Rechten trommelten von Zeit zu Zeit auf die glatte Tischoberfläche. Sie hatte sich die Fingernägel kurz geschnitten, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie in nächster Zeit Dinge vorhatte bei denen lange Fingernägel hinderlich waren. Sie hasste es.

Sie saß immer noch in tadelloser Haltung am Tisch. Vor sich Dokumente und ein Datenpad. Bis auf das gelegentliche, dumpfe Trommeln war es totenstill im Raum. Selbst das stete Hintergrundgeräusch der Klimaanlage war verstummt.
 

Sie wandte ihren Blick von der Tür zu dem jungen Mann, der einsam an der Fensterfront lehnte. Sein Gesicht lag halb im Schatten der schwarzen Kapuze die unter seiner orangeroten Motorradjacke hervorkam. Die fedrigen, braunen Haarsträhnen berührten die Wange und verdeckten somit die einzige noch offene Möglichkeit einen Blick in die dunlen Augen zu erlangen. Doch der Mund zeigte ihr ein Lächeln als die Sonne hinter dem kalten metallenen Meer der Hochhäusern versank und es in warme Farbe tauchte.
 

Seine bevorzugten Waffen waren fast unsichtbar in den fingerlosen Handschuhen. Die Stahlklingen hatten ein Upgrade erfahren und waren auf einem modernen technischen Stand. Sie hatte sie ebenso spezialanfertigen lassen wie Kudous Draht. Unauffälligkeit war das Gebot der Stunde – teuer aber sicherer, und damit effektiver.

Trotzdem trug Ken eine Schusswaffe unter seiner Jacke im Holster. Die Zeiten erforderten nicht nur Schutz bei verdeckten Missionen, sondern leider zu jeder Sekunde.
 

Sie waren da in etwas sehr unangenehmes hineinmanövriert. Selbst sie, die alles im Griff hatte und anderen oft viele Schritte voraus war, hatte nicht mit dieser intriganten Tiefe und Komplexität der Machenschaften gerechnet. Sie hatte nicht mit einer derartigen weitreichenden Katastrophe gerechnet.

„Ich verstehe nicht warum Schwarz nicht eingreifen. Sie verhalten sich zu passiv“, grübelte sie laut für sich.
 

Ken hörte die Worte, sie waren nicht für ihn bestimmt also erwiderte er nichts. Das was er zu sagen hätte würde hier nichts zur Sache tun. Er fühlte sich im Stich gelassen und verraten. Vielleicht weil er ausgeschlossen wurde. Er war im Club der schwulen Attentäter nicht erwünscht.
 

Er schloss die Augen für einen Moment und rief sich zur Ordnung. Diese gemeinen Gedanken waren nicht er. Ken Hidaka dachte nicht so von seinen Freunden.
 

War er deshalb hier? Er war sich da nicht sicher. Er hatte sich früher schon im Grenzbereich zwischen Gut und Böse, Weiß und Schwarz, legal und illegal bewegt. Er mochte es nicht, denn war der Typ Mensch, der klare Ansagen brauchte, keine verschachtelten Manöver, keine Intrigen. Er war der Typ fürs Grobe. Töte diesen oder jenen. Gut, damit kam er klar. Irgendwie.

Bisher konnte er sich immer rechtfertigen, dass es um das große Ganze ging, die gute Sache.
 

Aber das wurde immer schwieriger.
 

Er hatte das Gefühl als hätte ihm jemand sein Lachen gestohlen. Er tat es immer seltener, irgendwann dann hatte er bemerkt, dass es weg war. Es fiel ihm so schwer etwas Schönes in seinem Leben zu finden. Die Dunkelheit verschluckte ihn nach und nach, zehrte ihn auf bis nichts mehr von ihm da war.
 

Das Telefon klingelte. Ken wurde aus seinen Gedanken gerissen, er wandte das im Halbschatten liegende, attraktiv gefällige Gesicht zu Manx.

„Das werden sie sein“, sagte sie und flippte ihr Mobiltelefon auf. Sie nahm ab.

„Ja. Behaltet sie im Auge.“
 

Manx steckte das flache Gerät in ihre Kostümjacke. „Das war ‚Maneater’. Sie sind auf dem Weg nach oben.“

Ken richtete seinen Blick wieder aus dem Fenster. Sie Sonne war weg und das trübe Dämmern hing wie eine drohende, blasse Dunstwolke über der Stadt. ‚Maneater’ war die Anführerin einer Gruppe von Assasinen unter Kritiker, die von Sin empfindlich dezimiert wurde. Es waren nur mehr drei Einheiten übrig. Weiß miteingerechnet. Maneater war im Augenblick, wo die Zeiten sehr schlecht waren, Manx persönliche Einheit, die sie überall hin begleitete.
 

Sie warteten.
 

Dann ein Klopfen und die Tür öffnete sich. Ken drehte sich nicht um, er hatte seinen Blick weiterhin auf die Stadt gerichtet.

Das Rascheln von Kleidung sagt ihm, dass sich Manx von ihrem Platz erhob. Sie sahen sich kurz an bevor Manx ihren Blick zu den Eintretenden richtete.
 

„Manx, es ist schön Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?“

Eine Frauenstimme. Warm, Freundlich, Routiniert. Amerikanischer Akzent. „Ihr könnt gehen.“ Jemand verließ den Raum.

Die beiden Frauen tauschten die üblich gepflogenen Begrüßungsrituale aus.
 

„Darf ich ihnen ihren Kontakt und Begleiter für ihre Untersuchung vorstellen?“

Er rührte sich erst verspätet. Unhöflich. Egal.
 

Die Hände in den Taschen seiner Jacke wurde er mit einer brünetten großen Frau im Hosenanzug konfrontiert. Ihre Hände waren behandschuht. Sie hatte bemerkenswerte Haare von einem weichen Braun, das in wilden Wellen auf ihre Schultern fiel. Ihr Gesicht kam ihm vage bekannt vor. Ihre Augen waren in dem strengen aber attraktiven Gesicht das auffallendste: ein heller Braunton.
 

Er starrte sie völlig überrumpelt an und dachte daran, dass sie älter als er war und atemberaubend schön. Bis zu dem Punkt als Manx sprach.
 

„Eve Crawford, das ist Ken Hidaka. Er wird Sie bei der Lösung Ihres Problems unterstützen.“
 


 


 

Fortsetzung folgt…
 

Das Beta machte Beatrice, vielen Dank dafür! ^.^
 

Bis zum nächsten Mal!

Gadreel

Verblendung

„Du hast mir nicht gesagt, dass sie...“

Ken war wie erschlagen von der Möglichkeit die sich ihm hier bot.
 

„Nein. Das habe ich nicht. Ich weiß schließlich wie groß deine Abneigung gegen Crawford ist.“
 

„Ah...ja?“ Er war noch immer nicht bereit das volle Ausmaß, der Katastrophe, die ihn ereilt hatte gedanklich zu bemessen und sie angemessen verbal zu kommentieren.
 

„Mr. Hidaka... glauben Sie mir die Abneigung gegen meinen Bruder könnte auf meiner Seite nicht größer sein. Er steht auf der falschen Seite, das heißt aber nicht, dass ich dies gut heiße oder es ihm nachtue.“
 

Ken antwortete nicht, suchte in dem Gesicht, in der Haltung den eiskalten, arroganten, berechnenden Killer. Und er fand ihn in Teilen. In der Haltung, in dem strengen Zug um die Mundwinkel und vor allem in diesen stechenden Blick, der alles zu durchleuchten schien. Der ihm suggerierte wie unbedeutend und nutzlos er war.
 

„Was wollen Sie von mir? Sie sehen aus als könnten Sie die meisten Probleme gut alleine lösen“, sagte er zögernd.
 

„Das täuscht. Ich leite ein Außeneinsatzteam, aber in diesem speziellen Fall spiele ich eher eine ermittelnde Rolle. Ich brauche ihre Ortskenntnisse“, sagte sie und ein zurückhaltendes Lächeln milderte den strengen Zug um die Mundwinkel.

Sie sah ihrem Bruder verdammt ähnlich. Wie alt war sie? Älter oder jünger?
 

Manx hatte ihnen ihren Frage und Antwortpart gelassen und mischte sich jetzt ein.
 

„Du hast den Auftrag ihr zur Seite zu stehen und sie uneingeschränkt zu unterstützen. Ihr operiert ohne Unterstützung und Erlaubnis der örtlichen Behörden. Ihr seid auf euch gestellt.
 

Alles wie immer, also, kommentierte er in Gedanken.

„Die Rahmenbedingungen?“, hakte er trotzdem nach.
 

Manx brauchte einen Moment um die Worte aus der leisen Stimme herauszuhören. Es war eher ein ahnen, denn ein hören. Ken Hidaka war offenbar im Schock über die Tatsache, dass er hier einem Spross der Crawfords gegenüberstand.

Vermutlich hatte er nicht in seinen kühnsten, wildesten Albträumen damit gerechnet, dass diese Art Katastrophe auf ihn zurollen würde. Und es kein entkommen für ihn gab.

Manx lächelte zuvorkommend.

„In den Dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts war es der Russe Olof Strigo der Menschen mit latenten...“, sie schaltete den Bildschirm ihnen gegenüber an.

Ein fensterloses Gebäude war zu sehen.

„... PSI-fähigkeiten versammelte. Er bevorzugte Kinder, nahm aber auch Erwachsene in seine kleine Arche auf. Olof Strigos Forschungen wurden zunächst von vielen Staaten verdeckt finanziell unterstützt, bis die Weltwirtschaftskrise den Geldhahn zudrehte. Strigo stand kurz davor das Heim schließen zu müssen. Zum damaligen Zeitpunkt existierte es seit wenigen Jahren. Er selbst hatte schwache Fähigkeiten in Bezug auf die Empathie.
 

Um den Kindern weiterhin einen geeigneten Platz zum Leben bieten zu können begann er sie an verschiedene Institutionen für bestimmte Aufträge zu vermieten.“
 

Ken sah auf dem Monitor einen gut gelaunten alten Herrn, der eine Schaar von Halbwüchsigen, Kindern und Erwachsenen um sich versammelt hatte. Sie sahen nicht gerade so aus als würden sie zu etwas gezwungen werden.
 

„Was für Aufträge?“, fragte er leise.

Er konnte es sich schon vorstellen: Attentate, Spionage, internationale Intrigen.
 

Manx erkannte die Gedanken des Mannes nur zu gut. Aber sie konnte seine düsteren Ahnungen vorerst zerstreuen.

„Er vermittelte sie als Berater in Kinderheime, Psychiatrien, Krankenhäuser, Erholungszentren, je nach ihren Fähigkeiten wurden die PSI Befähigten eingesetzt und konnten so einen Platz in der Gesellschaft erhalten. Natürlich wurde nicht offen darüber gesprochen, aber viele der Mitarbeiten gerade in Psychiatrischen Anstalten verfassten in ihren Berichten nur positive Bewertungen über diese besonders einfühlsamen, befähigten Mitarbeiter. Sie wurden auch zur Verbrechensaufklärung herangezogen.“
 

„Zu gut um wahr zu sein“, meinte Ken vorsichtig und sein Blick traf Eve Crawford. Sie sah ihn unverwandt an und lenkte dann ihr Augenmerk wieder auf den Film.
 

„Einige Jahrzehnte ging es gut. Vielleicht lag es daran, dass die Fähigkeiten noch nicht so ausgeprägt waren wie sie heute bei Schwarz zu finden sind.“
 

„Sie wurden nicht als gefährlich eingestuft?“, Ken sah in dem Werbefilm des Internats, ein Film aus den siebziger Jahren, wie universitäre Anlagen und ein großer neuer Wohn- und Forschungskomplex für die Menschen dort gebaut wurde.
 

„Ja.“

Manx öffnete eine weitere Datei.

„Lange blieb es nicht dabei. Etwa fünfzig Jahre nach Eröffnung des Zentrums für Spezielle Sinnesbefähigte, dem ZSS starb Strigo an Altersschwäche friedlich im Kreis seiner Schüler im Internat in dem auch er lebte.

Er hatte fünf Schüler, die inzwischen die Schule leiteten. Noch immer gab es das Problem der Finanzierung und es wurden Pläne wegen einer Umstrukturierung gemacht. Sheela Ram und Sakura Kawamori, eine Inderin und eine Japanerin wollten Strigos Erbe weiterführen während die drei anderen einen etwas radikaleren Weg einschlagen wollten. Sie hatten vor mit Gentechnologie ihre Fähigkeiten zu steigern um effektiver zu arbeiten. Der Gesellschaft mehr Nutzen zu bringen. Und zwar durch gezieltes Zusammenbringen der unterschiedlich ausgeprägten PSI Befähigten.
 

Strigo hatte es untersagt, dass PSI Befähigte untereinander ihr Erbgut mischten. Er sagte, dass sei ein nicht zu kontrollierbarer Faktor. Strigo selbst hatte sich einst nicht daran gehalten und zusammen mit einer Telepathiebegabten Frau einen Sohn gezeugt. Das Ergebnis war ein Junge, der im Heranwachsen mehr als zwanzig seiner Mitschüler in einem Akt der Raserei tötete. Keiner wollte geistig geschädigten Nachwuchs, also herrschte die Meinung unter den PSI, dass es gefährlich war sein Potential so zu verstärken. Die meisten hielten sich daran.
 

Aber nicht alle. Vienno, Malezza und Miller – die drei Schüler von Strigo, die einen radikaleren Kurs propagierten nahmen die Schüler mit sich, die sich nicht mehr den alten Geboten von Strigo unterordnen wollten. Sie züchteten sich durch gezielte Genetik über Jahrzehnte starke PSI heran. Ihrer Meinung nach waren sie die nächste Stufe der Evolution und waren nicht mehr bereit sich zu verstecken.“
 

Manx schwieg. Sie hatte die Informationen von Eve Crawford erhalten im Tausch gegen ihre Hilfe vor Ort. Kein zu geringer Preis wie sie fand, für das Chaos das auf sie zurollte.
 

Eve sah zu Manx und nickte ihr zu. Ihre warme Stimme drang an Kens Ohr und nistete sich dort ein.

„Es begann ein Wettrennen zwischen Strigo Verfechtern und den Abtrünnigen. Wobei ich betonen sollte, dass diese für ihr Handeln anfangs gute Argumente hatten. Denn sie forschten mehr in Richtung der Kontrolle der PSI. Sie gaben ihren Schülern durch strenges Training etwas in die Hand um sich selbst kontrollieren zu können. Strigo hielt nichts davon, er wollte seinen Schülern zu seinen Lebzeiten vermitteln, dass sie nur mit Nichtbefähigten eine reelle Chance auf Entwicklung hatten, vor allem was das soziale Zusammenleben, Kompetenzen auf diesem Gebiet, Herzensbildung, Moral, Charakterbildung anbetraf.

Die Gegenseite vertrat das Argument, dass sich ihre PSI Fähigkeiten wieder auswaschen uns schwächer werden würden wenn sich die PSI mit Nichtbefähigten genetisch vermischen würden. Sie sehen, dass diese Diskussion mit Sicherheit auf beiden Seiten ihre Berechtigung hatte.
 

Unglücklicherweise entwickelte sich die Abtrünnigen immer weiter von ihrem Ursprung weg und begannen Kinder mit latenten Fähigkeiten nicht nur gezielt anzuwerben, sondern zu entführen.

Die Strigo Schule bekam Wind davon und versuchte ihre Schützlinge zu schützen was sehr schwierig war. Aber Sakura Kawamori ließ aus ihrer Heimat drei ihrer Familienangehörigen einfliegen und teilte sie besonders gefährdeten Schützlingen zu. Sie sollten sie Tag und Nacht beschützen. Ebenso verfuhren Sheela und noch zwei andere Lehrer. Alle hatten besondere Fähigkeiten in Kampf und Verteidigung.

In Deutschland war es die Familie Martín, in der Nähe der französischen Grenze, die zwei ihrer Söhne schickte um zwei PSI zu beschützen. Aus Indien kamen sogar fünf aus der Sheela Familie. Aus Südamerika schickte die Tonya- Clan Oberin vier ihrer Söhne.
 

Fortan bildeten diese vier Familien ihre Kinder dazu aus am Ende dieser Ausbildung PSI Schützlinge zu betreuen. Sie nahmen Kinder in ihre Clans auf und stellten es ihnen frei, wie sie ihre berufliche Laufbahn angehen wollten. Finanziert wurde das Ganze durch verschiedenste Missionen in alle Länder. Von Botengängen, schwierigen wirtschaftlichen Verhandlungen bis hin zu Transportbegleitungen heikler Güter verdingten sich die PSI und ihre Beschützer ihren Lebensunterhalt. Bis zu dem Tag an dem ein verheerender Angriff die Strigo Schule bis auf ihre Grundfesten auslöschte.
 

Die PSI die mit Aufträgen unterwegs waren wurden gnadenlos gejagt. Nur wenige überlebten und zogen sich in den Untergrund zurück. Sie gerieten über ihre Fastauslöschung in Vergessenheit.“
 

„Das heißt, dass SZ diese Abtrünnigen waren und sie weiter gemacht haben um SuperPSI zu züchten?“
 

Sie blinzelte irritiert über seinen vermutlich ungeschliffenen Ausdruck. „So... könnte man es auch ausdrücken. Und um dabei zu bleiben, haben sie SuperPSI gezüchtet. In der Tat... das haben sie“, ihr Blick ging von ihm weg wieder zum Bildschirm hin.
 

„Und was hat sie schlussendlich davon abgehalten die Weltherrschaft an sich zu reißen oder alles zu vernichten? Wir vor drei Jahren? Was sollte sie daran hindern es wieder zu versuchen?“
 

Eve ging einen Schritt zur Seite und wandte sich ihm zu.

„Nichts kann das verhindern, wenn sie es darauf anlegen. Selbst ihr heroischer Einsatz vor einiger Zeit kann das nur zeitlich begrenzt aufhalten. Wer sollte sich Schuldig entgegenstellen, wenn er sich einbildete unsere Präsidentin zu beeinflussen? Wer?“

Die Frage hing lose im Raum bis Ken sie sich griff.

„Niemand. Niemand kann das.“
 

Eve seufzte und Ken sah auf. Er musste sich mit ihrem Profil zufrieden geben, denn sie sah mit nachdenklichem Gesicht auf den Bildschirm.

„Strigo hatte Recht, wissen Sie? Je stärker ein PSI Akteur ist desto mehr ist er auf die Spiegelung seiner Taten angewiesen, ansonsten entfernt er sich immer mehr von dem was er sein sollte: menschlich. Ein Mensch unter Menschen.
 

Nachdem die Führung unter SZ an Boden verloren hatte und durch Schwarz zerschlagen wurde, diese aber die Führung nicht anstrebten zerstreuten sich die Schüler und verloren sich in der Welt. Einige der früheren Strigo Schüler suchten sie um ihnen einen Weg, eine Möglichkeit zu geben um sich selbst zu finden, aber sie blieben in ihren Verstecken. Manche von ihnen wurden wahnsinnig und traten mit grausamen Taten an die Öffentlichkeit. Serienmörder, die hunderte von Menschen töteten, Regierungen wurden in den Bürgerkrieg getrieben, Selbstmorde verübt, dort wo noch ein Gewissen der Gesellschaft gegenüber herrschte... vieles konnte vertuscht werden aber nicht alles.
 

Eine der Familien hatte ihr Erbe weitergetragen, doch es wurde aus der Not geboren missverstanden. Anstatt zu beschützen und zu leiten verstand die jüngere Generation der Sakurakawas es, dass es ihre Aufgabe sei die wahnsinnigen PSI vom Antlitz der Welt zu löschen. Sie bildeten nach wie vor ihre Ninjutsus aus und gründeten SIN eine Gruppe, die seit einigen Jahren PSI aufspürt und liquidiert.“
 

„Okay... DAS hatte ich nun nicht dahinter vermutet. Scheint als sollten wir ihnen einen Orden anhängen anstatt sie zu jagen. Wo ist das Problem?“, sagte Ken und sah Eve Crawford ruhig an.
 

„Ich verstehe ihren Standpunkt hinsichtlich der negativen Erfahrungen, die sie bisher machten. Aber... kaum zu glauben, es gibt auch nette PSI... unschuldige PSI Akteure. So viele wurden getötet ohne auch nur irgendjemanden ein Leid zugefügt zu haben. So viele Kinder.“
 

„Kinder?“
 

„Die eleganteste Art PSI zu töten ist dann wenn sie am verletzlichsten sind und am anfälligsten gegen Einflüsse. In Kindergärten, Schulen...“
 

Jetzt verstand Ken ihre Argumentation. Diese PSI hatten gar nicht die Chance jemanden zu verletzen und auf die schiefe Bahn zu geraten.

„Und Schwarz sind jetzt dran?“
 

„Nein. Die Mitglieder von Schwarz waren schon früher das Ziel solcher Angriffe. Vor allem ihr Anführer, mein Bruder. Wir haben in der Vergangenheit, in der mein Bruder im Kindesalter und später im Jugendalter war den einen oder anderen Angriff vereiteln können.“
 

„Sie möchten ihren Lieblingsbruder immer noch beschützen? Nach allem was er der Welt angetan hat?“ Kaum zu glauben, dass Crawford mal ein Kind war. Vermutlich ein schlecht gelauntes, immer mürrisches.
 

„Das ist... tatsächlich nicht mehr meine Aufgabe. Vielleicht war es das nie. Er lehnte mich schon vor vielen Jahren als seinen Guard ab – so wurden damals die Beschützer der PSI genannt.“
 

Sie sah diesen Mann an, dessen rechte Gesichtshälfte im Schatten lag, dessen Blick sie auseinanderzunehmen schien und dachte daran, dass Brad mit einem Guard niemals das geworden wäre was er heute war: ein Raubtier. Einst hatte sie darum gebetet, dass jemand kommen möge um ihren Bruder vor diesen perfiden Angriffen auf sein Leben zu schützen. Allerdings kam dieser rettende Engel nicht. Es war ein Todesengel der schlussendlich am Bett ihres Bruders saß mit unschuldigen braunen großen Kinderaugen. Der Todesengel vertrieb sich die Zeit bis zum Eintreten des Ablebens ihres Bruders damit seine Tagebücher zu durchstöbern. Bis sie hereinkam, ihn überraschte, selbst überrascht war und es nicht glauben konnte, wie ein Kind einem anderen derartiges antun konnte. Und dann begann sie mit dem Tod zu verhandeln.

Ein Leben für ein Leben...
 

Ken bemerkte, dass das Thema ihr zu persönlich war, denn ein kurzes Flackern in den warmen Braun ihrer Augen zeigte ihm, dass dies viel zu nahe war.

Also wechselte er das Thema.

„Schwarz sind ein zu großer Brocken um ihn zu schlucken?“
 

„So ist es. Also musste wohl ein neuer Plan her. Die Resistenz gegen PSI Beeinflussung? Die Angriffe auf Schwarz und die Kontakte mit Sin lassen den Schluss zu, dass sie von Schuldig und Berserker mit ihren Sinnen nicht zu erfassen sind“, sagte Manx.
 

„Schuldig tötete einen der Mitglieder eher zufällig bei einer Observation unseres Wizzkids Naoe. Berserker hat ein anderes Mitglied ausgeschaltet, eine Frau. Ihr Mädchenname lautet Elisabet Villard, sie heiratete vor einigen Jahren in den Clan ein. Das bemerkenswerteste an der Sache ist, dass in ihrer DNS hohes PSI Potential vorhanden ist.“ Manx unterließ es Ken Hidaka die Verwandtschaftsverhältnisse von Schuldig und Elisabeth Villard näher zu bringen. Das war nicht relevant.
 

Noch nicht.
 

„Ich dachte sie sind gegen PSI?“
 

„Vielleicht heiligt der Zweck die Mittel. Das wissen wir nicht. Ich habe einen Kontakt innerhalb der Familie hergestellt. Um diesen zu treffen brauche ich sie. Wenn wir wissen was dort vorgeht können wir Zugang zur Familie erlangen und uns überlegen wie wir sie entweder ausschalten oder zum umdenken bewegen. Es gibt einige Familienmitglieder in der Hierarchie weit oben, die gerne ein Ende dieses Irrweges einschlagen würden, aber nicht die Mittel und Wege kennen wie dies zu bewerkstelligen wäre. Die Familie ist sehr mächtig, vor allem in den Staaten.“
 

„Wissen Schwarz davon?“
 

„Mein Bruder weiß von Strigo und der Abspaltung, aber ich bezweifle, dass sie wissen, dass der Sakurakawa Clan einer derer war, die die PSI eigentlich schützen sollten – zumindest in der Vergangenheit.“ Ihr Bruder hatte es nicht so mit der Vergangenheit. Für ihn war lediglich die Zukunft von existentieller Wichtigkeit. Alles andere interessierte ihn nicht. Sie selbst gehörte zu dem Teil seiner Vergangenheit die er am liebsten auslöschen würde.
 

„Ich könnte mir vorstellen, dass ihr Bruder diesen Clan zerschmettern wird wenn sich ihm die Möglichkeit bietet.“
 

„Glauben Sie mir. Das wäre auch in meinem Sinne. Entweder das oder eine radikale Kehrwende. Nur müssten dazu die verdorrten Äste abgeschnitten werden.“
 

Ken sagte nichts dazu. Er sah zu Manx hinüber und nickte. „Gut. Ich bin dabei.“
 

Manx war erleichtert. Ken war freiwillig hier und sie war froh, dass er trotz seiner Abneigung gegen die Crawfords mitmachte. Sie brauchte diesen stets gut gelaunten Haudegen für diesen Job. Mehr als dieser wohl ahnte.
 

„Wir treffen uns in einigen Stunden...“, Manx warf ihm einen digitalen Planer zu, den er in die Innentasche seiner Jacke verstaute. „... am vermerkten Treffpunkt. Ich bringe den Überwachungswagen mit, bis dahin habt ihr Zeit euch zu besprechen und dort aufzukreuzen.
 

Ken nickte und ging zur Tür. Er musste an Eve vorbei und hielt ihr die Tür auf. Sie verabschiedete sich von Manx und sah ihn mit diesem sezierenden Blick an, als würde sie ihn bemessen. Tja..., murmelte er in Gedanken... er war einfach kleiner als sie, da gab es nichts zu deuteln. Vor der Tür standen zwei Agency Gorillas, extrem unauffällige Typen, Marke Schrankwand. Immerhin hatten sie keine schwarzen „Uniformen“ angelegt, sondern neutrale Anzüge im Businesslook. Was ihnen trotz allem einen Bodyguard Status verlieh. Ken hatte die Hände in den Taschen seiner Jacke, trottete hinter dem Grüppchen als Letzter her und tat so als wäre er völlig zufällig hier. Alles an ihm sagte: Lasst mich in Ruhe, verpisst euch.
 

Am Aufzug angekommen drückte Eve Crawford mit ihren behandschuhten Fingern die gewünschte Fahrtrichtung ins Erdgeschoss und wandte ihren Blick leicht nach hinten um einen Blick zu dem Killer mit speziellen Fähigkeiten zu werfen.
 

Er stammte aus dem Team, dass ihren Bruder beinahe zur Strecke gebracht hatte. Vielleicht war er der richtige für diesen Job. Sie wandte den Blick nach vorne, als die Türen aufgingen.

Er fühlte sich nicht unwohl mit dem Rücken zu ihnen zu stehen, das spürte sie. Selbstsicher mit drei Waffen im Rücken, so verdammt selbstsicher.
 

Sie betrachtete sich seine Statur, die breiten Schultern, den knackigen Hintern in der Lederhose und rief sich fast augenblicklich zur Ordnung. Sex während des Jobs war indiskutabel, vor allem nicht wenn so viel auf dem Spiel stand.
 

Die Türen öffneten sich und sie traten in die verdunkelte Eingangshalle, in die nur das spärliche Licht der Straßenbeleuchtung von draußen durch die Scheiben viel.

„Hey Siberian...“, begrüßte ihn Maneater. „Als Einziger noch auf der richtigen Seite zu stehen ist ziemlich einsam, hmm?“, kam der Satz zu ihm geschallt. Das Team von Maneater besaß noch fünf Mitglieder. Maneater war eine braunhaarige um zwei Jahre jüngere Frau und ihre Stimme klang wie pure Erotik in seinen Ohren.
 

„So ungefähr“, sagte er, ein wirklich unanständiges Lächeln auf den Lippen, zog er beide Hände aus den Taschen, griff nach ihr, schleuderte sie auf den Tisch und kam samt ausgefahrener Krallen auf dem Glastisch auf.

„Hör mal zu meine Liebe... nur weil ich dich im Bett hatte heißt das nicht, das du mein Team verunglimpfen kannst. Wir stecken euch noch immer locker in die Tasche“, sagte er lächelnd. Er mochte das attraktive Gesicht der Teamführerin, aber sie hatte manchmal ein zu loses Mundwerk.
 

„Mach mal halblang Siberian, bist ein wenig nervös, was? Du kennst doch ihre vorlaute Klappe...“, versuchte Sineater ihr Vize die Wogen zu glätten.

Ken hielt die zierlichen Handgelenke neben ihrem Kopf zwischen den scharfen Klingen gefangen ohne sie zu berühren und Maneater war schlau genug um sich nicht zu bewegen.

Ihre zarten Lippen kamen seinen näher und sie platzierte einen versöhnenden Kuss auf seine. Er erwiderte diese Offerte. Sie lächelte zufrieden als sie ihren Kopf mit dem Lockenschopf auf das Glas legte, ganz die erlegte Beute, die sie so gern war...

„Und jetzt?“, fragte sie kokett.

Ken seufzte. Seine Krallen klickten auf dem Glas als er sich abstieß und mit einem Sprung absetzte. Seine Krallen versetzten ihr als Denkzettel einen dünnen Strich am linken Handgelenk.

„Du hast mich geschnitten, Catboy“, brummte sie und leckte sich das Handgelenk.
 

„Hey Siberian“, rief ihm Sineater hinterher, als Ken dem Ausgang entgegenstrebte ein gut gelauntes Lächeln auf den Lippen. „Grüß mir Abyssinian! Hey ich meins ernst. Er hält uns Schwarz vom Hals. Wie auch immer deine Jungs das machen...!“
 

Ken war sich da nicht so sicher ob sie genau wussten was seine Jungs da machten. Er bezweifelte, dass selbst die Jungs wussten was sie machten.
 

o∼
 

Die innere Unruhe trieb, Manx dazu im Büro auf und ab zu gehen. Sie blieb schließlich am gleichen Punkt wie zuvor Hidaka stehen. Nur war die Aussicht weniger lohnenswert. Statt eines Sonnenuntergangs sah sie nur die trübe Dämmerung der beginnenden Nacht.

Sie atmete tief ein und stand noch eine Weile in Gedanken versunken da als ihr Mobiltelefon einen Anrufer ankündigte. Sie vermutete Maneater, der es langweilig wurde und die nun neue Anweisungen wollte. Sie nahm ab ohne auf ihr Display zu sehen.

„Ja?“, meldete sie sich etwas unwirsch.
 

„Wir haben uns lange nicht mehr gehört, Hiya Nanami.“ Die ältere Frauenstimme ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Das lag nicht daran, dass es Angst war die ihr nun den Hals zuschnürte, oder unangenehme Erinnerungen, die ihre Sicht verklärten. Nein, es war die stete Freundlichkeit, die nicht zu dieser Situation passte, nicht in diese Zeit gehörte und ganz bestimmt nicht zu dieser Frau, die sie als Kawamori Chiyo kannte, obwohl ihr öffentlicher Name ein anderer war.

Und die sie nun daran erinnerte was für ein doppeltes Leben sie selbst führte.

„Kawamori-sama. Es ist... mir stets eine Ehre mit Euch zu sprechen“, kam es etwas stotternd aus ihr heraus. Jahre waren vergangen ohne eine einzige Nachricht, oder ein Anruf von ihr, dagegen war es in letzter Zeit bereits drei Mal vorgekommen, dass die unscheinbare ältere Frau sie kontaktiert hatte.
 

„Ich bringe dich durcheinander, Nanami.“ Fast hörte Manx ein Lächeln aus den kalkuliert gewählten Worten heraus. Sie tat der Frau den Gefallen und sprang darauf an.

„Ein wenig. Es ist vieles im Umbruch im... Augenblick.“ Sie musste vorsichtig sein was sie ihr erzählte, obwohl die alte Kawamori vermutlich ohnehin schon alles wusste.
 

„Ja, ich weiß. Und ich habe vor diesen Umbruch mitzugestalten. Es ist jetzt an der Zeit, Nanami die Schuld, die ich mir aufgeladen habe zu büßen. Ich werde ein nötiges Opfer bringen um meinen Ahnen zu zeigen, dass ich ihr Bemühen nicht vergessen habe. Ich erwarte deine Unterstützung.“
 

Manx erlaubte sich einen tiefen Atemzug. Das Dunkel, dass die Nacht einläutete drohte sie zu verschlucken.
 

„Ich beschreite den Pfad ohne Wiederkehr Nanami. Wirst du mich begleiten?“

Manx hörte die Frage und verstand ihren Sinn. Die Zeit der Rache war für Kawamori Chiyo gekommen.

„Ich werde Euch begleiten, wie ich es immer tat, Chiyo.“
 

Es entstand eine Pause, die Worte hingen wie ein Versprechen aus der Vergangenheit zwischen ihnen und sie sah die starke, ältere Frau vor sich, als wäre sie hier im Raum doch sie war viele tausende Kilometer entfernt in New York.
 

„Was kann ich tun?“
 

„Eleminiere Masahiro. In den nächsten Stunden wird er in einem Club sein, dem East Ash. Er trifft sich dort mit seiner Geliebten.“
 

Manx presste die Lippen zusammen. Das war nicht gut, es würde eine Lawine lostreten, aber sie vermutete, dass es genau das war was Chiyo wollte.
 

„Warum? Warum jetzt?“
 

„Um ein Anrecht auf meine Trauer zu bekommen, Nanami. Die Zeit ist reif dafür. Melde dich bei mir wenn es erledigt ist.“

Ihre Stimme war so kalt und beherrscht, dass es Manx betroffen machte.

Die Verbindung wurde unterbrochen und Manx starrte auf das Display. Sie brauchte einige Minuten um Nachzudenken. Das Treffen mit Hidaka und Crawford konnte sie mit diesem Auftrag nicht einhalten. Die beiden waren auf sich gestellt. Und das in einer gefährlichen Situation, die sich durch ihr Eingreifen noch verschlimmern würde.
 

Sie wählte die Nummer von Maneater.

„Macht euch fertig, es gibt eine Planänderung, wir fahren ins East Ash dort gibt es Arbeit.“
 

Kawamori Chiyo riss die verfaulten Wurzeln heraus, aber was das in Gang setzte blieb abzuwarten. Sie kannte diese Frau nur als beherrschte, in sich gekehrte Ehefrau, die ihrem Mann weder widersprach noch ihren eigenen Willen gehabt zu haben schien. Doch Manx wusste es besser, denn diese Frau war es, die sie ausgebildet hatte, die ihr die Familie ersetzt hatte als sie an die Sakurakawas verkauft worden war und diese Frau war es auch, die sie in die Freiheit entlassen hatte als es an der Zeit gewesen war. Sie war ihr etwas schuldig. Und sie beglich ihre Schulden immer.
 

Manx nahm ihre Daten mit sich und verließ die Büroräume.
 


 

o∼
 

Eve Crawford saß im Wagen und ließ die letzten Minuten Revue passieren. Sie hatte dem Treiben von Hidaka mit Irritation zugesehen, nicht dass sie in ihrem Job Gewalt nicht ausüben oder gesehen hätte, aber... diese spielerische, erotische Art im nahtlosen Übergang in dieser Geschwindigkeit...

Noch dazu erkannte sie jetzt welche Waffe er benutzte. Er kämpfte mit Krallen an seinen Händen...

War das ein Omen?
 

Ein Zeichen, dass es die Theorie der Selektion gab? Dass es eine Suche gab?

Während der Fahrt zum Hotel beobachtete sie das Motorrad im Rückspiegel das ihnen folgte. Sie saß auf der Rückbank.
 

„Mitch, was halten sie von ihm?“
 

Der angesprochene lenkte den Wagen. „Kann ich noch nicht sagen, Eve. So normal wie die anderen Freaks.“
 

„Ein Freak, hmm?“, hakte sie leise nach und sie sah nach draußen als das Motorrad sie überholte.
 

„Es sind freakige Zeiten“, mischte sich Gregg ein, der daneben saß. „Also... nach meiner Rechnung wer wäre dazu besser geeignet als ein Freak?“
 

Sie sah ihn immer noch wie er ohne Vorwarnung mit einer Kraft und einer Schnelligkeit über diese Frau herfiel... und doch so ruhig und ohne dass er außer Atem war, ohne Anstrengung über ihr kauerte wie ein Tier.

Das war so... anders... so roh und nicht ihre Welt.
 

Ihre Welt war so starr, geprägt von Strukturen und Ordnung. Es gab Regeln, Vorschriften. Warum hatte ihr Bruder ihr den Zugang zu sich verwehrt? Warum wollte er sie nicht bei sich haben?

Und warum hatte sie wieder den alten Streit begonnen als sie ihn gesehen hatte? Sie hatte sich vorgenommen ihn zu fragen wie es ihm geht, was ihn bewegte hier in Tokyo zu bleiben, warum er nicht fortging?

Nicht ihm die ewig gleichen Vorwürfe machen. Aber dann hatte sie sein kaltes unbewegtes Gesicht gesehen, die gefühllosen Augen, der unbarmherzige, verächtliche Blick. Das war nicht ihr Brad.

Es tat ihr in der Seele weh was aus ihm geworden war.
 

Sie hielten in der Nähe des Hotels. Von Siberian und dem Motorrad war nichts zu sehen. Sie betraten das Hotel über einen Notausgang, den sie präpariert hatten. Ihre Zimmer waren schnell überprüft.
 

„Gregg“, wies sie ihren Kollegen an. Mitch und er begannen die mitgebrachten Geräte zu einer Kommunikationszentrale aufzubauen. Es dauerte nicht lange und ihr Boss in Langley tauchte auf dem Bildschirm auf. „Crawford. Sie sind vor Ort.“ Er sah auf die Uhr. „Ich hatte mit Ihrem Anruf erst in einigen Stunden gerechnet.“
 

„Das Treffen mit dem Operator der Spezialeinheit Kritiker kam pünktlich zu Stande. Unterstützung wurde uns zugesagt, aber wir agieren in rechtsfreiem Raum... sozusagen.“
 

„Dafür ist Kritiker bekannt. Ich bin immer noch nicht überzeugt davon, dass Sie bei dieser Mission dabei sein sollten, Eve.“
 

Eve sah ihn kühl lächelnd an. „Das hatten nie Sie zu entscheiden, Tom.“ Er verzog das Gesicht unwillig. „Sie sind für den Außendienst nicht ausreichend gewappnet. Nicht für diese Art Außendienst. Es ist als hätten wir Sie an die Front geschickt, mit nichts als Ihren... Ihren Händen bewaffnet. Das ist eine Farce.“
 

„Diplomat...“
 

„Ich bitte Sie, Eve, dort ist mit Diplomatie nichts mehr zu machen. Der Clan hat hier bereits die Schotten dicht gemacht und uns nach den letzten Angriffen auf unsere Agenten deutlich gemacht was er von Einmischung hält.“
 

Mitch stand an der Tür und Gregg saß neben dem Monitor, zuckte nur mit den Schultern ungesehen von ihrem Boss.
 

„Was ist mit Schwarz?“, fragte dieser nun. „Konnten Sie den Kontakt herstellen?“
 

„Wie erwartet kein Interesse von dieser Seite. Solange sie sich verteidigen können sehen sie es nicht als Notwendigkeit an sich einzumischen.“
 

„Das Interesse könnte steigen wenn eine persönliche Note hinzukommt...“, ließ er den Satz offen im Raum hängen. Die Antwort auf die unausgesprochene Frage kam prompt von ihr mit der für sie so typischen Kälte.
 

„Falls Sie glauben meinen Bruder ließe sich hervorlocken indem ich, vom Feind als Geisel gehalten werde irren Sie sich. Das wäre reine Zeitverschwendung.

Mein Kontakt innerhalb der Familie hat sich mit mir in Verbindung gesetzt und mir eine Möglichkeit aufgezeigt, wie wir die Familie empfindlich treffen könnten. Diese Daten werde ich – sofern alles glatt geht – bald in Empfang nehmen können.
 

„Sie werden nicht alleine gehen.“
 

„Ich habe Unterstützung von Kritiker erhalten.“
 

„Von diesen grobschlächtigen Verrückten? Das sind doch selbst nichts anderes als psychopathische Killer mit der Erlaubnis zu morden und das von zweifelhafter Stelle.“
 

„Sagen Sie bloß? Und Sie möchten abstreiten, dass es diese Art nichtoffizielle Organisation bei uns je gegeben und noch immer nicht gibt, nehme ich an.“
 

Er sah sie gelangweilt an. „Selbstverständlich.“ Er grunzte unwirsch. „Nur sind das ausgebildete Soldaten. Keine soziopathischen Kinder, die nichts als Töten kennen und das auf möglichst blutrünstige unprofessionelle Art, sodass es hinterher aussieht wie ein Schlachtfeld. Die Liquidationen, die Weiß, Crasher, Maneater und andere Teams durchführten stehen dem Wahnsinn, den sie beenden sollten in nichts nach. Ich wiederhole mich aber Sie sind für diese Art Wahnsinn völlig fehl besetzt.“
 

„Ich nehme das zur Kenntnis. Ihr Boss sicher auch.“
 

Das nahm dem Sektionsleiter den Wind aus den Segeln.
 

„Sie wissen warum Sie dort sind.“
 

„Ja“, gab sie knapp zurück.
 

„Passen Sie auf sich auf. Wir hören uns wenn Sie die Daten haben.“
 

Sie wusste warum sie hier war. Um Schwarz in Schach zu halten. Denn ihr Bruder würde einen Bogen um sie machen als hätte sie die Pest. Das hatte er schon immer.
 

Die Verbindung wurde getrennt und Mitch begann damit das Equipment abzubauen. Sie schwiegen, nur Gregg beobachtete ihre reglose Miene.
 

„Ihren Bruder kenne ich nur aus unserer Datensammlung, es ist jedoch schwer zu leugnen, dass sie verwandt sind. Falls diese Typen Sie erwischen, wäre es sicher sinnvoll darauf zu drängen Schwarz zu kontaktieren.“
 

Sie hielt einen Moment damit inne, die Jacke halb ausgezogen und sah eisig lächelnd zu ihm hinüber.

„Keine gute Idee. Wenn wir Schwarz involvieren, könnten die Daten verloren gehen. Es ist beinahe unmöglich zu kontrollieren was ihr Telepath unternimmt. Er kann uns trotz der angelernten Mechanismen lesen wie Bücher. Das klappt nicht immer so wie gedacht, Gregg. Der Kerl ist verrückt. Verrückter als der Typ den wir von Kritiker geliehen bekommen haben.“ Der würde sie lediglich filetieren, das Schwarzmitglied könnte sie in den Wahnsinn treiben.
 

Die Welt war verrückt. Um sie herum nichts logisch, nichts mehr in Ordnung. Es wurde Zeit für eine grundlegende Veränderung. Zur Rückkehr zu einer alten Ordnung. Und dafür brauchte es Opfer. Nur wer diese Opfer sein würden war noch nicht klar.
 

Während die Agenten ihren Statusbericht ablieferten saß Ken Hidaka auf dem Dach des fünfzigsten Stockwerks. Er genoss die Dunkelheit, die Lichtpunkte dazwischen. Es regnete im Moment nicht dafür war es schwül und drückend. Endlich hatte er wieder etwas zu tun. Die Untätigkeit hatte ihn unruhig werden lassen, die Unzufriedenheit über die Entwicklung der Dinge hatte ihn wütend werden lassen.
 

Er spürte wie wenig Beherrschung in letzter Zeit von ihm ausgegangen war. Die Wutanfälle hatten sich gehäuft und für kurze Zeit hatte er sich sogar Maneater angeschlossen. Nur um in einem intakten Team sein zu können. Weiß war seine Familie gewesen. Bis zu dem Zeitpunkt als Aya sie verlassen hatte.
 

Er hatte sich auch vorhin nicht beherrschen können als Maneater ihre lose Zunge nicht hinter ihren hübschen rosa Lippen halten konnte.
 

Seine Familie war auseinandergebrochen, wo er diesen Halt doch so dringend brauchte. Äußerlich ruhig und beherrscht hatte er doch innerlich das Gefühl zu explodieren und er fand kein Ventil dafür. Es zerriss ihn, dieses Gefühl. Halsbrecherische Fahrten mit dem Motorrad brachten etwas Erleichterung, aber keine Befriedigung.
 

Der letzte Mord war zu lange her.
 

Dieser Gedanke brachte ihn zum lachen. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. Da war es wieder sein Lachen. Krank und spröde, künstlich und gequält. Er wurde verrückt. Oder war es bereits.
 

Es begann zu nieseln.

Und er saß wie eine Krähe auf dem Dachfirst, lauernd auf eine Gelegenheit.

Er zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und verfiel in Grübelei. Bis zu dem Zeitpunkt als ein sanftes Ping eine ankommende Nachricht übermittelte.
 

Zögernd griff er in die Tasche und zog das Pad hervor, das er von Manx erhalten hatte. Das Display ließ sein Gesicht in einem kranken fahlen Licht erscheinen. Er holte sich die Nachricht.

Eve Crawford verlangte zu wissen wo er sich herumtrieb.
 

Er beorderte sie aufs Dach.
 

Wenig später hörte er von seinem Platz aus wie sich in einiger Entfernung die Sicherheitstür öffnete und wieder ins Schloss fiel.

Es dauerte noch einige Minuten bis er die warme Frauenstimme vernahm. „Sind Sie lebensmüde? Oder ist das nur der Ausdruck Ihrer machohaften Art wie zuvor mit dieser Frau im Bürogebäude?“, alles andere als warm. Eher kühl, gereizt.
 

„Suchen Sie sich etwas aus. Oder lassen Sie es und nehmen Sie beide Antworten“, sagte er leise.

„Ich mag es nicht wenn das Team beleidigt wird“, fühlte er sich dennoch gezwungen sich zu rechtfertigen, für seinen Ausrutscher zuvor.
 

„Abyssinian, Bombay und Balinese haben der Welt den Arsch gerettet und sie würden es wieder tun falls es notwendig wäre. Nur weil Manx sie abgezogen hat und sie sich bedeckt halten heißt das nicht, dass wir nicht mehr auf der gleichen Seite stehen.“ Sie sollten in den nächsten Tagen abtauchen, aus dem Land verschwinden, aber offenbar war etwas dazwischengekommen, denn Manx war urplötzlich total beschäftigt mit irgendeiner Sache. Dreck. Es war die einzige Chance gewesen Omi und Yohji von Schwarz fern zu halten. Gescheitert.
 

Eve sah die einsame schattenhafte Gestalt an der zweimeterhohen Brüstung sitzen, eine schmale Sitzfläche von vielleicht zehn, fünfzehn Zentimetern in luftiger Höhe. Nieselnder warmer Regen und die hohe Luftfeuchtigkeit pappten ihr das Haar an die Schläfen und in den Nacken und kringelten die welligen Haare noch mehr ein als ohnehin unerwünscht von ihr war.
 

„Wir haben vier Stunden Zeit um den Treffpunkt zu erreichen. Es bleibt also noch genügend um einige Dinge klarzustellen. Sie tun das was ich Ihnen sage. Wenn Sie das nicht schaffen sind Sie draußen. Mir ist es egal wie viele Freiheiten Sie bei Kritiker genießen, wenn wir dort draußen sind tanzen Sie nach meiner Pfeife und ich halte nicht viel von Alleingängen. Wenn ich sage, dass Sie springen sollen, fragen Sie mich allerhöchstens wie hoch. Haben Sie das verstanden?“
 

„Meinen Sie jetzt gleich?“, fragte er amüsiert zurück und grinste in den Abgrund hinunter.
 

Sie hörte das Grinsen aus den Worten, wenn sie es auch nicht sah und runzelte die Stirn.
 

„Hören Sie auf mit diesem Blödsinn“, brummte sie gelassen und breitete die Arme aus. „Ich bin auf Sie angewiesen, Sie Komiker und Sie wollen hier gleich einen Abgang hinlegen?“
 

Das brachte Ken dazu sich zumindest in ihre Richtung zu drehen, sich schließlich nach unten fallen zu lassen und vor ihr zu landen.

„Was ist mit ihren Kollegen? Sind die nicht für ihre Sicherheit verantwortlich?“
 

„Nein. Sie begleiten uns nur bis zum Treffpunkt mit Manx. Dann sind wir auf uns selbst angewiesen.“
 

„Sie haben Angst, dass sie die Kontrolle über mich verlieren? Eine Kontrolle, die sie nie besessen haben?“ Er lachte leise.
 

„Unsinn. Ich habe lediglich die Befürchtung, dass Sie die Kontrolle über sich selbst verlieren.“

Es war ein gnadenloser Peitschenhieb auf den Rücken seiner Duldsamkeit sich selbst gegenüber.
 

„Das werde ich nicht“, antwortete er versöhnlicher. Er musste sie unterstützen, das war wichtiger als seine Wut auf Schwarz oder Ran oder sonst jemanden. Der Job zählte. Wenn er das nicht mehr hinbekam, zu was war er sonst noch nütze?
 

Er konnte sich schon vorstellen warum Kontrolle für die Crawford so wichtig war. Ihr Bruder war ein eiskalter Kontrollfreak. Warum sollte seine Schwester anders sein? Er würde ihr schon zeigen wie wenig Kontrolle sie hier in diesem Land auf die Ereignisse hatte. Keine.

Und über ihn. Niemand kontrollierte ihn.
 

Sie verließen das Dach und während Eve sich ausruhte begab sich Ken nach unten, inspizierte sein Motorrad, tankte nach, überprüfte und reinigte seine Waffen in dem Zimmer, dass er bezogen hatte. Er wartete auf Nachricht von Eve Crawford. Als diese kam ging er hinunter und wartete in der Lobby auf sie.
 

Als sie kam war er etwas erstaunt. Sie trug die volle Motorradkluft in schwarz. Ihre braunen welligen Haare wippten auf ihren Schultern.

Ihre Augen leuchteten geradezu in hellem Braun. Ihm waren ihre Augen vorhin nicht so hell erschienen.

So sah sie noch mehr aus wie eine weibliche Ausgabe ihres Bruders. Er verzog das Gesicht mürrisch.
 

„Ich kann verstehen, dass Ihnen das nicht gefällt. Trotzdem werde ich später mit Ihnen mitfahren. Es kann sein, dass wir uns aufteilen müssen. Einwände?“
 

„Nicht im Geringsten“, sagte er notgedrungen. Tatsächlich jedoch verspürte er kein großes Bedürfnis sie nahe bei sich zu haben. Er traute ihr nicht. Aber eine bessere Wahl gab es nicht.
 

Die beiden anderen Agenten gingen mit ihr zum Wagen und sie fuhren in Richtung Treffpunkt mit Manx.
 

Während sie Tokyo verließen und in Richtung Westen fuhren kreisten seine Gedanken nur um ein einziges Thema: die Crawfords. Jetzt waren es Zwei von der Sorte und das sagte ihm, dass ihre momentane Lage nur schlimmer werden würde. Dort wo der Hellseher und der zwielichtige Dunstkreis, der ihn umgab auftauchten geschah nichts Gutes. Es änderte auch nichts, dass seine Schwester angeblich nichts für ihn übrig hatte. Blutsbande waren schwer zu leugnen und schlussendlich ging die Familie immer vor, selbst wenn man in verschiedenen oder gar gegensätzlichen Lagern lebte.

Wusste Crawford davon, dass seine Schwester hier war und mit Manx eine Kooperation bildete?
 

Er war Hellseher. Natürlich wusste er das. Oder?
 

Aber warum verhielt sich Schwarz so passiv? Sie hielten sich raus, weil sie gejagt wurden?

Nein. Ken war der Überzeugung, dass es sie schlicht nicht interessierte was um sie herum geschah solange es sie nicht persönlich ankratzte scherten sie sich einen Dreck um andere.

Es war ihm ein Rätsel wie dreiviertel von Weiß dem gefährlichen Gift von Schwarz erliegen konnte.
 

Ken beschleunigte und raste mitten durch die Stadt, vorbei an Leuchtreklamen, beleuchteten Läden, dem pulsierenden Leben in Tokyos Herz, als ein Anruf hereinkam. „Ein Anruf vom Operator“, meldete sein Systemagent. „Annehmen.“
 

„Es gibt eine Änderung. Ich werde euch nicht unterstützen können. Wenn ihr die Daten habt kontaktiert mich um ein Treffen zu vereinbaren. Ihr müsst das Treffen mit dem Informanten so schnell wie möglich hinter euch bringen, denn Maneater und ich haben eine Zielperson der Familie im Visier.“
 

„Warum jetzt? Warte bis wir die Daten haben, das könnte das Treffen mit dem Informanten gefährden.“
 

„Das ist mir klar, Ken. Aber das kann nicht warten, es muss jetzt geschehen, die Gelegenheit kommt nicht wieder. Melde dich, wenn ihr die Daten habt.“

Sie legte auf und ließ Ken wie so oft in der Vergangenheit ohne konkrete Informationen zurück.

Er fuhr die nächste Ausfahrt an und hielt am Bordstein bis der Wagen der Agenten hinter ihnen hielt. Crawford und einer der Agenten stiegen aus. „Was ist los?“
 

„Manx rief gerade an, sie kann nicht zum Treffpunkt kommen da sie eine Zielperson der Familie im Visier haben. Mehr Informationen habe ich nicht, wir sollten uns also schnell mit ihrem Informanten treffen um an die Daten zu gelangen, bevor die Situation zu brenzlig wird.“
 

„Wie viel Zeit bleibt noch?“
 

Eve Crawford sah auf die Uhr. „Drei Stunden und zwanzig Minuten.“

Der zweite Agent kam nun auch aus dem Wagen. Die beiden Männer sahen sich an. „Dann sollten wir uns beeilen damit wir den Treffpunkt noch etwas beleuchten können.“
 

„Wir teilen uns besser auf“, sagte Eve und beugte sich in den Wagen um ihren Helm herauszunehmen. Sie legte ihn auf dem Wagendach ab und fädelte ihren Rucksack auf den Rücken.

„Jungs, bis gleich“, sagte sie und kam zu Ken, der das Treiben mit gemischten Gefühlen verfolgt hatte. Natürlich war es sinnvoller sich aufzuteilen, aber er hatte nicht gern einen Crawford im Rücken. Er stöhnte innerlich und schwang sich auf sein Motorrad. Wenige Augenblicke später spürte er das leichte Gewicht der Brünetten und ihre Arme, die sich kaum spürbar um seine Mitte schlangen.

„Halten Sie sich fest“, brummte er etwas ungehaltener als beabsichtigt und fuhr los. Ihr Ziel war der Nakana Autosalon im Westen der Stadt. Warum gerade dort war im schleierhaft. Ihm gefiel der Gedanke nicht besonders, dass Manx den Plan, den sie ihm vor nicht mal mehr als einer Stunde mitgeteilt hatte umwarf. Das war nicht ihr Stil. Es musste etwas passiert sein. Vielleicht waren Schwarz involviert. Und wenn ja betraf das auch Weiß.
 


 

o∼
 


 

Etwas gelassener sah Finn Fuchoin alias Finn Asugawa alias Satoshi Kawamori dem Abend entgegen. In seinem Leben hatte er schon viele Namen benutzt. Sein wahrer Name aber war so tief in ihm verborgen wie das Wissen um seine eigentlichen Pläne in den nächsten Stunden. Kiguchi sein treuer Wegbegleiter seit Kindertagen wusste von seinem Vorhaben.

Er schob sich einen Lolly zwischen die Lippen schmeckte die säuerliche Süße der zuckerhaltigen Süßigkeit auf seiner Zunge und grinste den Hünen Kiguchi an der am Eingang seines Domizils auf ihn wartete. Ehemals war es ein Teehaus gewesen, das auf dem Gartengelände des Anwesens der Vorbesitzer errichtet worden war. Als die Sakurakawa Gruppe das Anwesen samt eines überaus großen Grundstücks erworben hatte und Sakurakawa Masahiro hier als Galionsfigur des Tokyo-Standortes eingesetzt wurde, bezog Finn das Teehaus und baute es nach seinen Bedürfnissen um.
 

„Gute Laune?“ wurde er mit weitaus weniger Begeisterung empfangen, als er selbst sie in Anbetracht wie die Dinge sich entwickelten empfand.
 

„Wie könnte ich keine gute Laune haben? Alles läuft hervorragend!“ Er trabte mit beschwingtem Schritt an Kiguchi vorbei, der seine massige Gestalt zur Seite bewegte um ihm den Zugang zu seinem gegenwärtigen Heim zu gewähren. Finn öffnete die Tür und ließ den anderen hinein.
 

„Wie viel Zeit bleibt?“
 

Finn wandte sich um, öffnete sein Hemd um es gegen ein neues zu wechseln und schlüpfte aus seinen teuren Schuhen. „Zwei Stunden, bis dahin müssen wir dort sein“, sagte er und ging in seinen begehbaren Kleiderschrank. Kiguchi kam ihm nach und blieb am Entree zu dem überfüllten Raum stehen. Finn suchte sich ein frisches blütenweißes Hemd heraus und zog es sich über den tätowierten Körper. Er spürte wie stets den stoischen Blick seines Mitstreiters über seine gezeichnete Haut streifen. Er wandte sich halb zu ihm um, als er die Knöpfe des Hemdes verschloss und sich bückte um in seine roten Chucks zu schlüpfen.
 

„Wo ist Lilli?“, ging die Fragerunde weiter. Kiguchi war sonst nicht gerade ein Mensch der gerne oder gar viel redete.
 

„Beim Kinderturnen. Sie hat heute ein Vorturnen und die anschließende Feier dürfte bald zu Ende sein. Wir werden sie abholen.“
 

„Gabe?“
 

Finn seufzte. Dem Jungen ging es gar nicht gut. Die Regenzeit machte ihm dieses Jahr zu schaffen. Das schwülfeuchte Wetter war nichts für den Kleinen. Letztes Jahr hatte er diese Zeit besser durchgestanden. Finn glaubte zu wissen woran es in diesem Jahr lag, aber er würde dem Ganzen bald Abhilfe schaffen. Nicht mehr lange und Gabe würde es besser gehen.

„Er ist bei Lilli. Sie bestand darauf, dass er sie begleitete. Sie spürt seine Labilität.“
 

Kiguchi brummte etwas Unverständliches und Finn richtete sich mit Skepsis im Blick auf.

„Das hat ihr Vater erlaubt?“
 

Finn zuckte mit den Schultern. „Was hätte er tun sollen? Viel Einfluss hat er nicht auf die Beiden. Und sie mitzunehmen zu Mia wäre wohl doch etwas billig geworden. Sein Interesse an seinen eigenen Kindern hält sich seit dem Tag ihrer Geburt in wirklich sehr engen Grenzen.“
 

„Masahiro ist bei Mia?“
 

„Er kanns eben nicht lassen, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen. Kaum ist seine ach so geliebte Frau zu Asche verarbeitet geht er mit Mias ins Bett. Das hat er zuvor schon getan, allerdings nicht so unbekümmert und derart gedankenlos. Jetzt ist nicht die Zeit für Ausschweifungen. Er ist frustriert, dass der Alte ihn nicht für voll nimmt. Soll nicht mein Problem sein.“
 

Finn wollte noch etwas sagen als Kiguchis Mobiltelefon vibrierte. „Ja“, meldete sich der Große mit sonorer Stimme. Finn hörte die aufgeregte Stimme des Anrufers bis zu sich herüber und runzelte die Stirn. „Gut, ich suche ihn“, hörte er Kiguchi antworten während er die letzten Knöpfe seines Hemdes schloss.
 

„Wo ist dein Telefon, Boss?“, brummte Kiguchi als er die Verbindung getrennt hatte und zog ein finsteres Gesicht.

„Warum?“ rollte Finn mit den Augen und nestelte in seiner Hosentasche. Akku leer diagnostizierte er.

„Weil wir ein Problem haben.“
 

Finn sah von seinem Mobiltelefon auf.
 

„Jemand hat Masahiro erledigt.“
 

„Wann?“
 

„Vor einer Stunde.“

Kiguchi atmete tief ein. Das brachte Finns Pläne zum Erliegen und das wiederum mochte sein filigraner teuflischer Freund – wie er aus Erfahrung wusste – gar nicht. Die sonst so vielschichtigen braunen Iriden verkamen zu dunklen Murmeln und starrten ihn an.
 

„Scheiße“, fuhr es aus Finn heraus und das Mobiltelefon ächzte geplagt auf als sich seine Finger darum krallten. Er stützte sich auf die Mittelkonsole im Ankleidezimmer ab. „Dieser verdammte Wichser. Nicht jetzt“, brach es unflätig voller Wut aus ihm heraus und sein lodernder Blick traf Kiguchi.
 

„Du musst dem Alten die Neuigkeit berichten“, gestatte dieser sich eine Bemerkung.
 

Finn musste nicht nur seine Pläne von Grund auf ändern, er hatte jetzt vermutlich noch Anwesenheitspflicht und die Oberaufsicht über die unangenehme Rasselbande dort draußen. So war er jetzt nicht nur unter der Beobachtung von Superbia, dem persönlichen Schoßhund von Sakurakawa Yoshio, sondern war auch noch unabkömmlich bis sie herausgefunden hatten welcher Idiot ihm in die Parade gefahren war.
 

Er warf das Mobiltelefon auf die Konsole und atmete tief ein. „Geh und hol die Kinder ab“, knurrte er. Tränen der Wut brannten ihm, in den Augenwinkeln. Er war so nah dran gewesen. Die ganze jahrelange Arbeit für die Katz! Was sollte er jetzt tun? Der Plan war in der jetzigen Lage nicht mehr einzuhalten.

„Bring sie hier her. Verdammte Scheiße!“ Er warf das Telefon in die sorgfältig nummerierten, hängenden Kleidungsstücke. Es brachte ihm nicht die erhoffte Genugtuung als es verhalten raschelte anstatt in tausend Teile zu zersplittert – wie seine Pläne es gerade getan hatten.
 

Kiguchi stand immer noch im Eingang. Finn war selten derart ausfallend in seiner Wortwahl. Der Hüne sah es ungern wenn sein langjähriger Weggefährte auf diese Weise zeigte wie sehr ihn eine Situation aus der Bahn warf. Finn neigte dann dazu Dinge zu tun die er später bereute oder auf noch verrücktere Art versuchte zu kitten. Das nahm dann sehr oft ungute, wirklich irre Züge an. Aber es gab nichts, wirklich nichts was Finn nicht schaffte.

Ein Umstand den Kiguchi mit Sorge sah. Finn zog die Fäden an so vielen Enden, dass Kiguchi immer wieder darüber staunen konnte, dass nicht einer davon riss. Irgendwann jedoch... irgendwann würde das künstliche Kartenhaus über dem Intriganten, dem Strippenzieher, dem Chamäleon zusammenbrechen. Aber vielleicht würde auch der Tag kommen an dem Finn kein Berater, kein Spielball von Sin, kein Sklave der Sakurakawas mehr sein würde, sondern nur noch das wozu er ausgebildet worden war und was er seit Jahren im Verborgenen tat.

Kiguchi wünschte es dem Windhund wirklich. Er hatte nur die Befürchtung, dass alles was Finn jetzt – nach dem Tod von Masahiro – einfiel und er deshalb gezwungen war zu tun ihn von dem wegbrachte was er sich sehnlichst wünschte: frei zu sein.
 

„Geh endlich. Verschwinde und lass mich allein!“, schrie Finn außer sich vor Wut. Er wandte sich ab und atmete tief ein. Fieberhaft überlegend zog er sich erneut um. Offizielles Outfit.

Während er in die Rolle des Finn Asugawa schlüpfte formte sich ein Bild vor seinem geistigen Auge. Es war hässlich, schmutzig, schäbig, verdorben, und bei Gott nicht unblutig aber es würde funktionieren. Dessen war er sich sicher. Fast sicher.
 

Er hechtete ins Badezimmer und streifte sein erschrecktes Abbild im Spiegel. Das brachte ihn zum innehalten.

‚Ruhe. Du brauchst Ruhe.’ Er schloss die Augen, fand seinen inneren Kern und spulte die Sätze gedanklich ab die ihm halfen sein Gleichgewicht wiederzufinden. Dann öffnete er die Augen wieder und konzentrierte sich darauf den Schreck aus seiner Mimik und seinen Augen zu entfernen. Es dauerte einige Augenblicke bis der vertraute, alerte Blick des getreuen Sakurakawa Handlangers ihm entgegenblickte. Die reservierte Miene des Organisationstalents ihm sagte, dass er nun der Boss der japanischen Vertretung war und dem Oberhaupt Bericht erstatten musste. Seine letzte Tat war es den Ring aus Stoff mit dem Knopf vom Finger zu nehmen, ihn an ein Lederband um den Hals zu binden sodass er nicht zu sehen war.
 

Er verließ seine Wohnung auf dem Gelände und ging hinüber ins Haupthaus. Dort warteten Sin auf ihn. Kiguchi stand bei ihnen. „Ich fahre die Kinder abholen.“
 

„Bring sie hinunter ins Labor wenn du zurück bist“, verlangte Finn und Superbia hatte ein spöttisches Lächeln auf den Lippen.

„So schnell steigt man zum Boss auf, Invidia.“
 

Finn erlaubte sich lediglich einen langen Blick in die Augen des älteren Mannes erwiderte jedoch nichts darauf. Er sah zu Kiguchi und dieser hob beschwichtigend eine Hand. „Bin schon weg.“
 

Seine Sekretärin Rai folgte ihm, als er sich durch die vier übriggebliebenen Mitglieder von Sin hindurchdrängte um in Masahiros Büro zu gelangen. „Stell eine Verbindung nach New York her. Was haben wir für Informationen über das was passiert ist?“ Sie gingen durch das verwinkelte Haupthaus, schritten den Korridor entlang, der ihnen einen wunderschönen Blick in den Garten gewährte.
 

„Masahiro ging zu Mia und hatte die übliche Bewachung dabei. Er war gerade vielleicht eine oder zwei Stunden dort bevor sie angegriffen wurden. Die Überwachungskameras weisen fünf Angreifer auf.“
 

„Also nicht Schwarz?“
 

„Es hatte eher den Stil von Kritiker. Sie starben durch Kugeln. Keine PSI Aktivität am Tatort. Die Angreifer trugen Sturmmasken. Ich gehe davon aus, dass Schwarz ihre Identität nicht verbergen würden.“
 

„Das denke ich auch. Also waren es Kritiker“, wisperte Finn und er lächelte minimal. Das war ein Wehrmutstropfen in dem Chaos.
 

Sie waren am Büro angekommen und Rai setzte sich an den Schreibtisch um die Verbindung herzustellen. Superbia blieb an der Tür stehen, Gula setzte sich auf einen der Stühle und schlug die Beine übereinander.
 

Die anderen – Avaritia und Luxuria verteilten sich im Raum. Finn hatte nicht vor bei Sakurakawa Yoshio zu Kreuze zu kriechen, sie waren nicht für die Bewachung Masahiros nach Japan gekommen und hatten somit auch nicht die Verantwortung für die Sicherheit seines nutzlosen Sohnes zu tragen.
 

Minuten vergingen bis die Verbindung stand und Finn musste sich von Superbia gefallen lassen, dass dieser ihn anstarrte und nicht mehr aus dem höhnischen Blick ließ.
 

Als der Patriarch endlich erschien war er von der Störung offensichtlich nicht angetan, nach seiner Begrüßung zu urteilen.

„Asugawa ich hoffe du hast eine ausreichende Begründung für diese Störung.“
 

„Die habe ich Sakurakawa-sama. Uns erreichte soeben die Nachricht, dass Kritiker und Schwarz Masahiro angegriffen haben. Bei diesem Angriff starb Masahiro.“

Der Patriarch verzog keine Miene. Er verzog nur minimal den Mund, presste die Lippen zusammen. „Wo fand dieser Angriff statt?“
 

„In einem Etablissement im Norden Tokyos. Er besuchte Mia. Die Bewachung war ausreichend. Wir haben noch keine Details.“
 

„Offensichtlich war sie das nicht. Die Kinder?“
 

„Ich habe veranlasst sie vom Unterricht abzuholen.“
 

„Gut. Trennt sie. Bringt den Jungen nach Kyoto. Ich komme in fünf Tagen nach Kyoto um einen Gegenschlag zu überwachen. Die Kinder haben oberste Priorität.“
 

„Was ist mit dem Mädchen?“, fragte Finn in geschäftigem Tonfall. Ihm missfiel die Splittung der Zwillinge. Das würde weder Lilly noch Gabe gefallen.
 

„Sie bleibt im Labor in Tokyo. Wo sind die sterblichen Überreste meines Sohnes?“
 

„Wir werden uns darum kümmern. Noch wissen wir nichts Genaues. Wir werden ihn nach Kyoto überführen.“
 

Das Oberhaupt der Sakurakawa Gruppe nickte. „Gut. So soll es sein. Um 8.00 Tokioter Zeit findest du dich zu einer Videokonferenz mit Kyoto ein um mir den neuesten Stand der Dinge zu übermitteln. Ich will, dass du die Leitung übernimmst bis ich dort eintreffe. Ich bringe meine Männer mit.“
 

„Wie viele?“
 

„Drei Sektionen. Bereite ihnen Unterkünfte in Tokyo und Kyoto vor. Und ich möchte ein oder zwei Pläne von dir für einen Vergeltungsakt vorgelegt bekommen. Falls dir vorher etwas dazu einfällt hast du meine Genehmigung für die Umsetzung. Ich vertraue auf deine Kreativität.“
 

„Natürlich, Sakurakawa-sama.“
 

Das Zeichen der Sakurakawa Corp. Erschien auf dem Bildschirm als die Verbindung beendet wurde.
 

Finn starrte einen langen Moment darauf, bevor er sich an Rai wandte.
 

„Veranlasse eine Versammlung der Belegschaft inklusive der Wachen und Fahrer. Darüber hinaus schalte mir eine Verbindung nach Kyoto. Außerdem brauche ich jemanden der den Jungen dorthin bringt.“

Er sah ihren Planer an.

„Kiguchi? Er hat einen guten Draht zu Gabe.“
 

„Nein, ich brauche Kiguchi hier, mir schwebt da etwas vor... ich denke wir könnten...“, er ließ seine Gedanken im Raum schweben und ein unternehmungslustiges Lächeln blitzte auf.

Es diente zur Tarnung und nur ausschließlich dazu. Ihm war nicht zum Lächeln zumute.
 

„Wir könnten den Jungen dorthin bringen“, meldete sich Gula zu Wort.
 

Finn sah auf und wurde mit Superbias spöttischem Lächeln konfrontiert. Das war nicht das was er bevorzugte. Gabe mochte Gula ganz und gar nicht. Aber mit Superbia kam er klar und Finn wusste woran das lag. Superbia hatte da so seine Methoden...
 

„Du und wer noch?“ Eine rein rhetorische Frage, denn Gula würde nur mit Superbia nach Kyoto fahren. Es war gut den älteren Mann, der als Bewacher für ihn vom alten Sakurakawa eingesetzt war los zu werden. Später würde es schwierig werden aber momentan war es geradezu perfekt.
 

„Superbia.“
 

Finn sah den Mann Mitte Vierzig an und nickte. „Gut. Ich übertrage euch die Verantwortung für den Jungen und bis zur Ankunft vom Boss die Geschicke in Kyoto. Bereitet alles für die drei Sektionen vor. Ich breche hier die Zelte ab und komme nach sobald hier alles geregelt ist.“
 

„Was hast du vor, Intrigant?“, fragte Superbia und der Spott war ehrlichem Interesse gewichen.
 

Finn lächelte träge.

„Da dieser Standort offensichtlich aufgeben wird kann ich ihn als Spielwiese benutzen. Ich habe in den vergangen Tagen eine Möglichkeit gefunden um Schwarz und Kritiker einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Unglücklicherweise ging die erste Runde in dieser Kampferöffnung auf sie. Die Zweite Runde allerdings... kann ich für uns verbuchen.“
 

„Die Kurzfassung?“ fragte Avaritia.
 

„Ich locke Schwarz in die Labors, riegle sie hermetisch ab und töte alle mit dem Sicherheitsprogramm. Ganz einfach“, sagte er ebenso einfach.
 

„Hört sich simpel an aber so wie ich dich kenne ist die Sache nicht ganz so einfach wie du sie uns verkaufen willst“, sagte Luxuria und nestelte an seinem zum Zopf geflochtenen Haar.
 

„Wir haben noch genug separiertes Serum um die Männer hier vor Ort damit zu versorgen.“
 

„Du willst ihnen die volle Dosis verabreichen?“, fragte Superbia mit so etwas wie Amüsement in der Stimme. Er schien gefallen daran zu finden die Männer süchtig zu machen, wie Sin es nach der Droge war.
 

„Nein, dafür reicht es nicht, aber dafür, dass ihr Telepath und ihr Empath nur schwer Einfluss nehmen können. Bei der Masse an Männern werden sie ausreichend beschäftigt sein um Fehler zu machen.“
 

„Wie willst du sie hierher locken?“

Superbia sah ihn durchdringend an und versuchte zu erahnen was er vorhatte.

Was ihm aber offenbar nicht gut gelang.
 

„Mit einem wirklich vorzüglichen Köder...!“
 

„Ein Köder, hmm?“, fragte Gula. „Viele Unsicherheiten bei diesem Spiel. Bist du sicher, dass auch alle bei deinem kleinen Spiel mitspielen werden?“
 

Finn wandte ihr sein Gesicht zu. Seine Augen hatten den Glanz von blank polierten Murmeln angenommen. Das Lächeln welches seine Lippen verzog hatte offenbar etwas an sich, dass sie einen Schritt zurück treten ließ.

„Die...meine Liebe, die nicht mitspielen wollen werde ich aus dem Spiel entfernen“, sagte er freundlich, die Stimme so klar und geschliffen hart, dass sie Stahl durchtrennt hätte.
 


 

o∼
 


 

Ken fuhr von der Hauptstraße runter und bog in eine schmale Seitenstraße ein von wo ihr Zielort zu sehen war. Er fuhr zunächst eine Runde und sie machten sich ein Bild. Der Schauraum des Autohauses war beleuchtet, die Pforten geschlossen.
 

Eve nahm Kontakt zu Gregg auf. „Was ist mit dem Satelliten?“
 

„Wir haben Zugang bekommen. Alles unauffällig. Die Aufnahmen der letzten Stunden zeigen keine abnorme Aktivität.
 

Sie hielten auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe der Auffahrt zur Schnellstraße. Eve zog ihren flachen Rucksack nach vorne und holte eine Wärmebildkamera hervor.
 

Minuten vergingen und Ken lotete Möglichkeiten für eine schnelle Flucht aus.
 

„Momentan alles sauber. Wir sollten uns einen Platz suchen um zu warten“, meldete sich Eve leise bei ihm nach einigen Minuten die vergangen waren.
 

Sie warteten in gebührendem Abstand zum Gebäude von wo der Parkplatz gut einsehbar war und sie die Möglichkeit auf einen schnellen Abgang hatten falls es unsauber ablaufen sollte. Nach einer Stunde kam ein Motorrad die Straße herunter und fuhr ohne die Sicherheitsmaßnahmen, die sie zuvor exerziert hatten sofort auf den spärlich beleuchteten Parkplatz. Ken fand das ziemlich unvorsichtig, wenn nicht gar dreist in Anbetracht der Lage.
 

„Sie kennen diesen Informanten?“
 

Eve zuckte mit den Schultern. „Kennen ist zu viel gesagt. Wir haben... eine etwas unschöne Vergangenheit zusammen, könnte man sagen. Ich schulde ihm etwas... und mein Schuldenberg wird immer größer, je öfter er mir hilft, fürchte ich.“
 

„Ein Doppelagent?“
 

Eve lachte zynisch. „Nein, leider nicht. Ihm ist nicht zu trauen. Er dreht gern sein eigenes Ding, solange er etwas davon hat hilft er einem.“
 

„Und was könnte er hiervon haben?“
 

„Er sucht einen Ausweg und wir geben ihm diesen.“
 

Sie warteten. Der Mann stieg von seinem Motorrad und bockte es auf. Er schien nicht nervös zu sein. Ken besah sich den Mann durch die Fernsichtbrille. Mitte, Ende Zwanzig, schwer einzuschätzen, die Haare in einem lässigen kurzen Zopf im Nacken, Jeans, enges Shirt, keine Waffen auf den ersten Blick zu sehen und einen Lolly zwischen den Lippen. Stress hatte der offenbar keinen.

Er lehnte sich an seinen Bock und wartete.
 

Als Gregg das Signal per Funk gab, dass niemand im Umkreis zu sehen war startete er die Maschine und sie fuhren auf den Parkplatz. Einige Meter vor ihm hielten sie an. Ken konnte es sich nicht erlauben auf der Maschine sitzen zu bleiben, wenn er sicher gehen wollte, dass Eve nichts passierte, also stieg er ab, nahm den Helm ab wie Eve es bereits getan hatte.
 

Der Mann hatte ihr ankommen verfolgt und lehnte immer noch gelassen an seiner Maschine. Eve ging näher an ihn heran, blieb aber in einem Sicherheitsabstand von fünf Metern stehen. Er nahm den Lolly aus dem Mund und zeigte auf Ken.
 

Eve ließ ihn nicht aus den Augen. „Eine nötige Versicherung, Sie werden hoffentlich nachsichtig mit mir sein“, sagte sie emotionslos und Ken fühlte sich wieder an ihren Bruder erinnert. Dieses kalte arrogante Stück Dreck.
 

Er ging zu ihr blieb aber in einem Meter Abstand halb hinter ihr stehen.
 

„Was haben Sie für mich?“
 

„Der große Zampano kommt in einigen Tagen nach Kyoto.“
 

„Aus welchem Anlass?“ Sie hatte seine Stimme schon früher gemocht. Nur heute war etwas anders, irgendetwas fehlte. Sie runzelte die Stirn. Der spanische Akzent fehlte völlig.

Sie tat den Gedanken als unwichtig ab und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.
 

„Oh, das wissen Sie nicht, Eve?“ Er führte die Hand wieder zum Mund um den Lolly für Sekunden zu bearbeiten bevor er weitersprach.

Er deutete mit dem Lolly auf Ken „Kritiker haben Masahiro kalt gemacht und das erst vor einigen Stunden.“ Ken sah zu ihr und sie wandte sich halb um. Was zur Hölle hatte Manx getan?

„Wir...“, setzte sie dazu an, als sie etwas metallisches im Augenwinkel aufblitzen sah, das an ihr vorbeiflog und Ken im Auge traf. Sie wandte sich in einem Atemzug um, zog ihre Waffe und spürte den Luftzug eines zweiten Geschosses, das erneut an ihr vorbei auf Ken zuflog.
 

Ken keuchte auf, tastete nach der Waffe, fühlte seine taub werdenden Finger nicht mehr. Er taumelte zurück, hörte Eve einen Schuss abgeben bevor seine Beine nachgaben und er bis auf das Gefühl seines taub werdenden Körpers nichts mehr fühlte, hörte und sah.
 

Eve hatte keine Chance, die Nadeln trafen sie am Hals, als sie nach ihrer Waffe griff, die ihr schlussendlich aus den kribbelnden, tauben Fingern glitt und während sie auftraf einen Schuss abgab. Hände griffen nach ihr und ließen sie zu Boden gleiten. Die Spinne erschien in ihrem kleiner werdenden Sichtfeld.

„Ach und was ich noch sagen wollte, Eve. Es gibt eine kleine Änderung im Plan. Das haben Sie Kritiker zu verdanken. Sie schulden mir ein Leben. Ich habe mich nun entschieden, Ihres zu nehmen...“, hörte sie als ihr Körper tauber wurde, ihr Körpergrenzen zu einer breiigen Masse verschwammen. Sie begann zu schweben, hörte die Worte wie aus weiter Ferne. Ihre Augen waren offen, aber sie sah nichts mehr von ihrer Umgebung.
 

‚Ein Leben für ein Leben’, waren die Gedanken die sie bewusst denken konnte, bevor sich auch diese ins Unendliche zerfaserten und schließlich verstummten.
 


 


 


 


 


 

WIRD FORTGESETZT!

VIELEN DANK FÜRS LESEN.

GADREEL ^__^

Die Motte, die im Licht verglüht

Der Doc. schrieb den Behandlungsbericht über seinen Patienten. Sie hatten ihm den Ruheraum angedacht, der eigens für ihn vor einigen Jahren geschaffen worden war. Im Augenblick war er der einzige Patient, den er betreute, denn wie immer genossen ‚Schwarz’ Priorität. Ein Resultat unterschiedlicher Ereignisse aus der Vergangenheit.

Der Anführer von Schwarz hatte ihm die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt um diese Klinik zu eröffnen und ihm damit gleichzeitig eine Zuflucht, eine Art Ausweg aus einer Situation geboten die für ihn das Ende bedeutet hätte. Es hatte ihn am Leben gehalten als er auf der Abschussliste einer der einflussreichsten Familien gelandet war.

Und das aus Gründen, die Mr Crawford nicht bekannt waren und die der Killere nie erfragt hatte. Vielleicht wusste er es, doch der Doc bezweifelte es.

Damals als er die Klink eröffnet hatte waren diese Gründe nie ein Thema gewesen, doch jetzt hatte sich die Situation verändert.

Radikal verändert.

Was dazu führen könnte, dass er nun auf eine ganz andere Abschussliste geraten könnte und das sehr schnell. Wenn Mr Crawford herausfand warum er den Sakurakawas vor einigen Jahren ein Dorn im Auge gewesen und das vermutlich heute noch war würde er ins Visier von Schwarz rücken und aus dieser Nummer würde er so schnell nicht mehr herauskommen.
 

Der Doc. starrte den Bildschirm an und hielt für einen Moment inne.
 

Erinnerungen drängten sich ihm auf. Sie waren nicht willkommen, erinnerten sie ihn doch an das, was er verloren hatte, an das Versprechen, dass er gegeben hatte, um sein Gewissen zu beruhigen.

Sein Gewissen, dass wie eine wilde Bestie immer und immer wieder beruhigt werden musste, es musste gefüttert, befriedigt werden, um es verstummen zu lassen.
 

Wie lange war es her, seit er ihn getroffen hatte? Ein paar Jahre vielleicht?

Und wie stolz war er auf ihn gewesen, als er ihn gesehen hatte... ja... seinen Sohn. Er lebte, er hatte seine Erwartungen übertroffen. Er hatte selbst seine Mutter und viele Generationen vor ihm weit übertroffen.
 

Nur was hatte er aufgeben müssen, um zu werden, was er war? Er hatte es in seinen Augen gesehen, wie verloren sein Sohn war. Eine getriebene Seele auf einer Suche, die niemals zu einem glücklichen Ende gelangen würde.
 

Damals hatte er die Sorge, dass sein Sohn den falschen Weg eingeschlagen hatte, dass er zu Nahe ans Licht gekommen war und nun daran zugrunde gehen würde. Wie hatten die Sakurakawas es soweit kommen lassen können? Wie war es dazu gekommen, dass sein Sohn all die Werte und Überzeugungen, die die Familie ihn hatte lehren sollen so verdreht und falsch anwendete?
 

Der Doc atmete tief durch und fasste sich wieder. Es gab andere Dinge zu erledigen, als sich über sein Erbe Gedanken zu machen. Keine wichtigeren, aber dringendere.
 

Sein Augenmerk fiel auf einen der Bildschirme, der ihm die Bilder der Überwachungskamera Drei anzeigten.

Zum augenblicklichen Zeitpunkt hielten die sedativen Medikamente den jungen Mann noch im Schlaf, doch dieser Zustand würde bald in eine Aufwachphase übergehen. Was dann geschah konnte niemand voraussehen. Deshalb war das Mitglied von Schwarz, Jei Farfarello, mit Manschetten an Handgelenken, Fußgelenken, Becken und Bauch an sein Bett fixiert.
 

Der Doc. gab per Spracheingabe die letzten Zeilen in den Bericht ein und stand dann von seinem Sessel auf. Sein Blick fiel auf sein Zigarettenetui. Er nahm es zu sich, klappte es auf und entnahm eine Zigarette. Nachdem er sie entzündet hatte, inhalierte er tief und betrachtete sich die übrigen Überwachungsmonitore, die den ganzen Komplex bis in den kleinsten Winkel ausspähten.
 

Sein Augenmerk fesselten nun zwei seiner Mitarbeiter, die es auffällig oft in die Nähe ihres Gastes, der Begleitperson von Jei Farfarello zog. Nur minimal schmälerten sich seine Augen, das einzige Anzeichen seines Missfallens.
 

Er nahm den nächsten Zug, tippte mit einem Finger auf einen Knopf an der Konsole neben dem Rechner. „Hisoka, ich möchte dich sprechen“, sagte er leise, blies dabei den Rauch aus seinen Lungen.
 

Es kam keine Antwort. Das war nicht nötig. Während er auf Hisoka wartete, nahm er wieder in seinem Sessel platz, aschte die Zigarette in das dafür vorgesehene Behältnis ab – eine metallene Nierenschale – und legte entspannt beide Arme seitlich auf den Lehnen ab.
 

Hisoka kam wenige Augenblicke später, nachdem er höflich wie stets angeklopft hatte, durch die Tür.

„Doc.“
 

Dieser sah ihn einen Moment nachdenklich an. „Es gibt ein Problem.“

Er hob minimal die Hand, in der er die Zigarette hielt und deutete fahrig auf die Monitore.

Hisoka warf diesen nur einen höflichen Blick zu, konnte kaum gesehen haben, worauf er ihn hatte aufmerksam machen wollen, und dennoch...

„Sie haben eine alte Rechnung mit dem jungen Weiß zu begleichen.“
 

„So... haben sie das?“, murmelte der Doc.
 

Hisoka schwieg und wartete.
 

„Und... wie viele Rechnungen haben wir noch mit ihnen zu begleichen?“, fragte der Doc und nahm erneut einen Zug, legte den Kopf schief. Er war müde, der Tag war lange gewesen.
 

„Vier, um genau zu sein.“
 

„Vier... sehr viele Rechnungen, die noch offen stehen.“
 

„Das stimmt, Doc.“
 

„Weswegen lassen wir sie hier arbeiten? Könntest du mir das liebenswürdigerweise wiederholen? Nur noch einmal zur Erinnerung für mein müdes Gehirn.“
 

„Sie erpressen uns.“
 

„Ah, richtig“, sagte er und nickte langsam. Ein melancholisches Lächeln erschien auf seinen Lippen, erreichte jedoch nicht die kalten Augen.

„Das tun sie“, sagte er sinnierend und nahm erneut einen tiefen Zug.

„Erpressung also. Finden wir das gut?“
 

„Nein, nicht so richtig“, erwiderte Hisoka, das Gesicht zeigte tiefes Bedauern. Tiefes, falsches Bedauern.
 

Der Doc nickte zustimmend und schien in Gedanken zu sein, bis er den letzten Zug nahm, den Stummel in der Nierenschale ausdrückte und den Rauch gegen die Monitore entließ.

„Ich hätte da eine Idee, wie wir alle diese Rechnungen auf einen Schlag begleichen könnten.“

Das Licht der Monitore tauchte die weißen Zähne des Docs in kaltes Licht, als sich die Melancholie in Mordlust wandelte.
 


 

o∼
 


 

Zeit verging, während Yohji sich mit Kaffee wach hielt. Er war so müde, dass er sich dabei erwischte, wie er zeitweise einen Punkt anstarrte und nicht mehr wusste, wie lange er das schon getan hatte. Er saß im Aufenthaltsraum und hörte einem tropfenden Wasserhahn zu, der ihn seit geschlagenen zwanzig Minuten ärgerte.

Es wäre so einfach gewesen, dieses Ärgernis abzustellen, er hätte sich nur von der bequemen Couch erheben, rüber zur Küchenzeile schlurfen und das verdammte Ding richtig zudrehen müssen.
 

Frustriert führte er seufzend seine Tasse an den Mund und stellte dann erst fest, dass sie leer war.

„War klar“, brummte er und beschloss, sich zu erheben. Mit der Tasse im Schlepptau, die er am Henkel an einem Finger baumeln ließ, ging er mit wenig Elan hinüber zur Küche und räumte sie in die Spülmaschine.
 

Was nun?
 

Es war wieder Zeit, nach Jei zu sehen. Also verließ er den in mondänen Weiß und Beige gehaltenen Aufenthaltsraum und trat in den Korridor, der ihn zu Jeis Zimmer führte.

Wobei er nicht vorhatte, dieses Zimmer zu betreten. Dazu hatte er zu großen Respekt vor dem, was ihn dort erwartete. Oder seiner eigenen Angst vor dem, was er angerichtet hatte.
 

Er hatte ihm nicht vertraut.
 

Das war die größte Schande an der Geschichte. Aber jetzt war das Kind in den Brunnen gefallen und er musste zusehen, dass er es heil dort wieder raus bekam.
 

Am Empfang stand der bullige Krankenpfleger, oder wie Yohji ihn nannte: das Mädchen für Alles: Hisoka – die Rechte Hand des Docs. Ein nicht zu unterschätzender, höflicher Zeitgenosse, der ein Auge auf ihn hatte. Was Yohji im Moment gar nicht so schlimm fand. In Anbetracht der Tatsache, dass der Rest der Belegschaft weniger redselig oder freundlich auf ihn zu sprechen war. Sie versuchten möglichst wenig Kontakt zu ihm herzustellen und ihn störte diese Tatsache nicht im Geringsten. Ein paar Stunden hatte er nun schon hier unten totgeschlagen.

Er hatte sie damit verbracht, die Ausgänge und die Belegschaft zu zählen. Es gab nur einen Ausgang, soweit er mitbekommen hatte, was für ihn ungünstig war. Er bezweifelte jedoch stark, dass dieser Doc, keinen Notfallplan zur Hand hatte und sich für den Fall der Fälle ein Hintertürchen offen hielt.
 

Die Belegschaft wechselte regelmäßig, im Moment jedoch waren es fünf Männer, der Doc inklusive, und eine Frau, soweit er sagen konnte. Er hatte versucht, sie einzuschätzen und war zu dem Schluss gekommen, dass sie entweder kleinere Fische im großen Teich der organisierten Kriminalität waren oder anderweitig einiges auf dem Kerbholz hatten.

Crawford hatte das gewusst und hatte ihm wohl deshalb seine Drähte gelassen. Dieses Schwein...
 

Yohji schritt gemächlich am Empfang vorbei, nickte Hisoka zu und ging in das Zimmer, das ihm zugedacht war, um in den Nebenraum zu blicken, in dem Jei lag. Nachdem er die Tür geschlossen hatte spähte er hinüber zu Jei. Die durchsichtige Wand offenbarte ihm ein unverändertes Bild der Lage. Jei hatte sich kaum bewegt, die Augen waren geschlossen, die Gestalt des Empathen wirkte entspannt und schlafend.
 

Die Farbe seiner Haut sah wächsern aus, fast weiß wie das Lacken, auf dem er lag, doch die Parameter auf dem Monitor im Zimmer zeigten normale Werte. Der Doc sagte, dass es aufgrund der Höhe des Blutverlusts Wochen dauern konnte, bis sich die Blutwerte des Empathen normalisieren würden.

Yohji verzog missmutig das Gesicht. Wochen waren definitiv zu lange. Und er bezweifelte immer noch, dass das hier der beste Ort für eine Genesung war.
 

Yohji wandte sich von Jei ab und ging zu dem Paneel an der Tür, um nach der Uhrzeit zu sehen. Es war fast Mittag. Hunger hatte er keinen, aber er fühlte sich müde und ausgelaugt.

Er musste endlich schlafen.
 

Nach einem weiteren Blick zu Jei verließ er den Raum und ging zu Hisoka am Empfang, der an einem der Rechner arbeitete und einen Berg an Akten vor sich hatte. Sah nach einem langen Arbeitstag aus.
 

„Ich... werde mich hinlegen. Gibt es eine Möglichkeit, das Zimmer von innen zu verriegeln?“

Hisoka hatte ihm das zwar bei seiner Führung schon verneint, aber es konnte nicht schaden, noch einmal nachzuhaken.
 

Der Riese sah von seinem Arbeitsplatz auf und erhob sich. „Das tut mir leid, das ist leider nicht möglich. Aber wenn es Sie beruhigt, werde ich ein Auge auf die Tür haben.“
 

Sicher doch, murmelte Yohji. In Gedanken allerdings wenig überzeugt von der Effektivität dieser Maßnahme.

„Ja, tun Sie das bitte“, sagte er ohne seine Gedanken auszusprechen und machte wieder kehrt.

Zurück im Zimmer lupfte er den Futon von der hohen Liege, die an der Wand stand, und schob ihn darunter. Zumindest hätte er einem möglichen Angreifer dann das Überraschungsmoment voraus. Das würde ihm hoffentlich reichen, um den ersten Schlag abzufangen.
 

Er dimmte die Tageslichtsimulation auf ein Minimum herunter. Danach legte er sich auf den vorbereiteten Futon und versuchte etwas Schlaf zu finden.
 


 


 

o∼
 


 


 

Es war schwer sich zurückzuhalten und die Datei mit der Videosequenz nicht anzuschauen. Omi lümmelte in dem ledernen, luxuriösen Sessel mit verstellbarer Lehne und Sitzhöhe und hatte es sich gemütlich eingerichtet. Nagi hatte ihm dabei zugesehen, wie er sich mit dem Luxusteil ausführlich auseinandergesetzt hatte, sich aber eines Kommentars enthalten.
 

Omi vermutete ja schwer, dass es sich um Crawfords Lieblingssitzmöglichkeit handelte, und fand deshalb besonders Gefallen daran, das Ding seinem ausgesprochen sensiblen Körper anzupassen. Zugegeben, er machte sich einen Spaß daraus, den Stuhl möglichst so zu verstellen, dass Crawford es ungemütlich darin finden würde. In Ermangelung einer anderen Tätigkeit als des Wartens auf Ran und seines bisweilen anstrengenden Anhangs musste er eben erfinderisch sein.
 

Crawford hatte sich noch nicht blicken lassen, war in die oberen Stockwerke verschwunden und bisher nicht aufgetaucht. Sie hatten die Dusche gehört als Nagi sich vergewisserte, dass der Amerikaner noch im Haus war.

Verständlich, wenn Omi daran dachte, wie schwer die Zeit für ihn gewesen war, als Crawford Alleingänge unternommen hatte.

Von der Tatsache einmal abgesehen, dass er danach auch noch schwer verletzt im Krankenhaus gelandet war.
 

Omi drehte sich im Stuhl mit einer Teetasse in der Hand, die Nagi ihm gebracht hatte, und studierte den Jüngeren. Nagi sezierte förmlich die Bilder auf den übergroßen Monitoren. Er betrachtete sich Crawfords Schwester seit über fünf Minuten.

Was ging in ihm vor?
 

Er kostete einen Schluck des gekühlten Grüntees und nahm eine Bestandsaufnahme von Nagis schmaler Gestalt auf: Er hatte die Arme vor sich verschränkt und wirkte, als wäre ihm kalt. Und das bei über 35 Grad Außentemperatur. Das Ryokan war zwar gut isoliert und die hölzernen Rollläden taten ihr Bestes, um die Hitze draußen zu lassen, doch im Gegensatz zu Nagi war ihm trotz allem viel zu warm. Aber wenigstens hatte es inzwischen aufgehört zu regnen. Welch Glück!
 

Es war Sommer und zu heiß, zu nass und daher zu klebrig. Normalerweise genoss er diese Zeit, für gewöhnlich konnte es ihm gar nicht warm genug sein, doch jetzt, in ihrer augenblicklich vertrackten Situation, ging ihm die schwüle Hitze nur noch auf die Nerven.

Trotzdem musste er zugeben, dass er sich hier einigermaßen sicher fühlte. Jedenfalls sicherer als im Blumenladen, was jedoch bei genauerer Betrachtung auch nicht allzu schwer war.
 

Wieder nahm er einen Schluck und Nagi hatte sich immer noch nicht von den Monitoren gelöst.

„Woran denkst du?“, wagte er sich vor. „Wenn du weiter so auf Crawfords Schwester starrst, werde ich vielleicht noch eifersüchtig...“, brummte er gespielt verstimmt.
 

Nagi zuckte minimal zusammen, ihm war nicht bewusst gewesen, dass Omi ihn beobachtete, so enthusiastisch wie sich dieser an Crawfords Ledersessel vergangen hatte.
 

Ein minimales Lächeln zuckte an seinen Mundwinkeln, als er Omis Worte hörte.

Er antwortete nicht gleich, denn er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Crawford hatte eine Schwester. Gut, das hatten sie gewusst, seit er ihr auf der Benefizveranstaltung begegnet war. Aber ihr Bild zu sehen war noch einmal etwas anderes.

„Sie ähnelt ihm sehr“, sagte er letztlich leise in Ermangelung einer wirklichen Antwort.
 

Jei, Schuldig und ihm war bewusst gewesen, dass es da einen Teil in Brads Vergangenheit gab, über den er nicht sprach. Ob Schuldig davon gewusst hatte?
 

Omi schien abzuwarten und Nagi mochte die Stille nicht, denn er hatte das Gefühl, dass er noch etwas mehr sagen musste. Dass der andere noch nicht zufrieden mit dieser Antwort war.

Er war verwirrt. Was passierte, wenn sie Eve Crawford tatsächlich in einer haarsträubenden und vermutlich äußerst gefährlichen Aktion befreien mussten und diese Crawford dann verriet?

Oder wenn Crawford sich seiner familiären Gefühle erinnerte und sie –Schwarz - verließ?

Er kannte sich gut genug um sich einzugestehen, dass er Brads Aufmerksamkeit ungern mit jemand anderem teilte.
 

Ihm ging das alles zu schnell.
 

Omi wollte den Jüngeren nicht dazu drängen, seine Gedanken zu offenbaren, auch wenn er gelernt hatte, dass das gefährlich sein konnte. Er erhob sich von seinem Platz, verließ den Raum und ging in die Küche hinüber. Er sah sich um, öffnete dann den Kühlschrank und nahm einige Zutaten heraus, die sich für einen kalorienhaltigen Shake eignen würden. Ein paar Früchte, die noch übrig waren, gesellten sich dazu, etwas Milch, ein paar Eiswürfel und Eiweißpulver mit Pistaziengeschmack bildeten die Basis. Ein Mixer musste dafür herhalten, um das alles zu einem leckeren Drink zu vermischen.

Der Lärm, den er in der Küche veranstaltete, lockte Nagi an, der – als sich Omi umdrehte um ein großes Glas hervorzuholen – im Türrahmen auftauchte. Die Arme noch immer vor sich an der Brust bergend, als müsste er sich festhalten, bevor ein Sturm ihn mit sich riss. Omi fand den Vergleich passend und traurig zugleich. Es würde ein Sturm kommen und Nagi ahnte es.
 

Dessen Blick glitt von ihm zu dem Mixer, als Omi sich streckte und ein großes Glas aus einem der oberen Schränke holte.

„Meinst du Crawford hat schon eine Idee, wann wir zuschlagen wollen?“, stellte Omi in den Raum.
 

Nagi löste sich vom Türrahmen und kam in die Küche. „Bei dieser Frage gibt es zwei Aspekte, die wohl überlegt werden müssen.“
 

„Die da wären?“ Omi füllte den Shake in das Glas und ging zu Nagi, der ihm gegenüber vor dem Tisch stand. Er schob ihm den Shake zu.
 

„Es sind zwei Fragen, die sich dahinter verbergen. Die eine Frage sollte lauten, ob er angreifen wird und die andere, ob ihr dabei sein werdet.“ Nagi besah sich das Getränk und seufzte innerlich. Er hatte keinen Hunger. Warum also tat Omi das? Wenn er nur an Essen dachte, wurde ihm übel.

Ein Blick in dessen ruhiges Gesicht, in die kornblumenblauen Augen, die ihm Vertrauen entgegen brachten und die Hoffnung ausstrahlten, sagte ihm, dass er wusste, wie es Nagi ging.
 

Und er hatte dies offenbar verstanden.
 

„Du brauchst in den nächsten Tagen so viel Energie wie du bekommen kannst, sehe ich das richtig?“
 

Nagi schwieg zunächst. Er hatte vor dem Einsatz Angst. Das war selten und er kannte dieses Gefühl nicht wirklich. Seit Schuldig einmal nicht zurückgekehrt war, wusste er, dass jeder Einsatz ein Loch in ihre Familie reißen konnte.
 

Einer fehlte bereits. Jei war nicht da.
 

„Ich bin nicht gut vorbereitet auf einen größeren telekinetischen Einsatz. Ich habe dafür trainiert meine Fähigkeiten so auszurichten, dass ich mit anderen Menschen sensibler agiere. Nun soll ich Energien mobilisieren, die mich dorthin zurückführen, an den Ort, an dem Tot starb. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
 

„Trink das.“ Omi lächelte zuversichtlich. „Wenn das vorbei ist, trainieren wir zusammen.“

Omi ging um den Tisch herum. „Wenn du deine Fähigkeiten im Kleinen beherrschst, die Finessen der Telekinetik beherrschst, minimale Dinge steuern kannst, was sollte dich davon abhalten, dies bei einem größeren Energielevel nicht auch tun zu können?“

Nagi setzte sich auf einen Barhocker und nahm das Glas zu sich. Er trank einen kleinen Schluck und musste lächeln, als der süße Geschmack auf seiner Zunge seinen Magen zum Knurren brachte. Es war kühl, süß und schmeckte nach Frucht.
 

„Ich komme mit dir. Ich lasse dich nicht alleine gehen, egal was du sagst. Ken ist bei diesem Clan und keiner weiß, was sie mit ihm anstellen werden. Er gehört zum Team und wir sind es ihm schuldig, dass wir ihn zurückholen. Als einer von uns kann er sich darauf verlassen, dass wir alles dafür tun werden, denn wir lassen niemanden zurück. Vielleicht sind wir Schuld an dem... wie sich die Dinge entwickelten. Wir sind bei euch gewesen, er ... vielleicht haben wir ihn allein gelassen.

Ich weiß nicht, was Manx vorhatte, aber das sicher nicht.“

Omi sah mit Genugtuung, wie Nagi das Glas langsam leerte. Es schmeckte ihm. Das Lächeln auf dem blanken, verschlossenen Gesicht hatte ihm das gezeigt. Seit dem er den Kuchen gebacken hatte - damals in Schuldigs alter Wohnung – wusste er, wie sehr der Jüngere auf Süßes abfuhr. Vermutlich wegen der schnellen, hohen Kalorienzufuhr.
 

„Wir sollten unbedingt ein paar Eiweißriegel und hochkalorische Riegel mitnehmen“, sagte Omi. Er beugte sich zu Nagi und küsste ihn überraschend auf die Lippen, die einen Rest der Süße des Shakes an sich hatten.
 

„Und wann gedenkst du ist der richtige Zeitpunkt, sie zu essen? Während oder nachdem ich jemanden eliminiert habe?“

Nagi nahm einen weiteren Schluck und sah ihn aus seinen grauen Augen fragend an.
 

Omi verzog den Mund ob dieser ketzerischen Frage. „Vorher, mein Lieber, vorher! Und wenn du weiterhin solche aufmüpfigen Fragen stellst, mache ich dir jede Stunde einen von diesen Shakes.“
 

„Es gibt Mittel und Wege sie zu entsorgen“, sagte Nagi leise, den anderen nicht aus den Augen lassend, während er den letzten Schluck tat, wobei ein Lächeln seine Lippen zierte.
 

„Das glaube ich dir gern“, murmelte Omi und kniff die Augen bis auf einen Spalt zusammen.

Es sollte drohend wirken, aber es veranlasste Nagi nur dazu, etwas mehr zu lächeln. Er stellte das Glas ab und rutschte vom Barhocker in die Lücke, die Omi freigelassen hatte. Dieser legte seine Hände an die schmalen Seiten, fühlte die zarte Gestalt in seiner Umarmung. Die Schulterblätter waren deutlich zu fühlen, die einzelnen Wirbel durch das dünne Langarmshirt bestens nachzuzählen. Viel zu dünn. Wenn sie die nächste Zeit heil überstanden, würde er...
 

Ja, was würde er? Nagi aufpäppeln? Mit ihm in den Urlaub fahren? Nagi würde immer dieser schmale, zu dünne Mensch bleiben. Ihn zu etwas anderes machen zu wollen wäre genauso, als würde er Nagi dazu auffordern, keine PSI Kräfte mehr anzuwenden. Ein normaler Mensch zu sein. Was ihn wieder zur Frage führte, was denn schon normal war?

Nagi war eben anders und er kam ganz gut damit klar.

Und wer sagte denn, dass in ein paar Tagen Ken wieder bei ihnen sein und alles Blümchen werden würde? Vielleicht wurde alles viel schlimmer. Vielleicht überlebten sie die ganze Sache nicht und der Clan trat ihnen in den Arsch. Sie liefen in eine aufgestellte Falle und das mit dem Wissen, dass sie da war und auf sie wartete.
 

„Hast du deine Waffe dabei, Tsukiyono?“, brach die Stimme des Schwarz-Anführers in ihre Zweisamkeit und Nagi fuhr hastig zurück und wäre beinahe über den hinter ihn stehenden Barhocker gefallen, hätte Omi ihn nicht im Nacken gepackt und an sich gezogen. Er ließ ihn sanft aus seiner Umarmung, lächelte sparsam in die verunsicherten grauen Augen hinauf und drehte sich halb um.

„Sicher doch“, sagte er und wartete schon auf einen dummen Spruch, denn er wusste ja, wie wenig Crawford es schätzte, dass er seinen Pflegesohn in Beschlag genommen hatte. Aber der Spruch blieb überraschend aus und daher verschonte auch Omi sie alle mit einer passenden Replik. Crawford sah müde aus, wie Omi feststellte, und das bewirkte bei ihm, dass er ob dieses brüsken Überfalls Milde walten ließ. Sein legeres Outfit, das eine Jeans und ein – man beachte – T-Shirt umfasste, ließ Omi den Amerikaner für einen Moment voll innerem Staunen betrachten. Was musste geschehen, um Crawford in diesen normal-sterblichen Aufzug zu befördern? Die Apokalypse? Armageddon?
 

Er entließ Nagi aus seiner Umarmung und ging um den Tisch herum, nahm das Glas auf dem Weg mit zum Mixer. „Weshalb?“
 

„Wir brauchen jemanden, der Nagi schützt, ich halte ein Energiefeld für sinnvoll. Um das aufrecht zu erhalten, muss sich Nagi darauf konzentrieren und auf nichts anderes. Das macht ihn angreifbar.“
 

„Ein Energiefeld?“, fragte Nagi vorsichtig nach. Omi hatte sich abgewandt, um den Mixer zu reinigen. Für ihn hörte sich das so an, als wäre sich Nagi nicht sicher, ob er das leisten konnte.
 

„Auf die Art haben Schuldig und Fujimiya einen gewissen Schutz vor Fernkampfwaffen. Dort wird die Luft sehr bleihaltig werden. Jei und Kudou fallen aus. Manx ist im Augenblick nicht zu erreichen. Es verbleiben, Schuldig, Fujimiya, du und Tsukiyono.“
 

Ein Himmelfahrtskommando, fiel Omi dazu gedanklich ein und schnaubte. „Und du?“
 

„Ich nehme an dieser... Unternehmung nicht teil.“
 

„Wir brauchen dich“, sagte Nagi erstaunt und mit einem Hauch von Unverständnis.
 

„Ich habe etwas anderes zu erledigen.“
 

Natürlich, ätzte Omi in Gedanken. Wenn’s brenzlig wurde, verduftete der große Boss.

„Es geht hier nicht gerade um einen Ausflug nach Disneyworld, oder sehe ich da etwas falsch?“
 

Wie immer war Crawfords Gesichtsausdruck bestenfalls mit reserviert zu beschreiben. Außerdem glaubte Omi in dessen Augen Wut zu erkennen und einen angespannten Zug um seine Mundwinkel auszumachen. „Das ist ein Befehl, Naoe.“ Kurz, prägnant, kalt. Ein Arschloch eben. Kleider machten eben doch keine Leute. Ein eiskalter, berechnender Bastard blieb eben das, was er war, auch wenn er heute keinen Anzug trug.
 

Omi blickte zu Nagi, der wie angewurzelt dastand und Crawford nachstarrte, der längst aus ihrem Sichtfeld verschwunden war.
 

„Er schickt uns gegen diese Übermacht alleine dorthin?“ Schöner Boss, fiel Omi dazu ein, sagte es aber nicht. Er wollte zwischen ihnen keinen Streit provozieren, denn er wusste schließlich, wie sehr Nagi darauf bedacht war, das Verhältnis zwischen seinem Ziehvater und sich im Reinen zu halten.
 

Nagi legte den Kopf leicht zur Seite, als wolle er lauschen. Seine Gedanken gingen in eine andere Richtung. Warum wollte Brad nicht mit?

Er entsann sich der Tatsache, dass Omi etwas gesagt hatte und wandte sich ihm zu.

„Nein...“ Er hob die Hand und winkte sparsam ab.

„Ich meine ‚Ja’. Wir hätten ihn ohnehin nicht mit ins Hauptgeschehen mitgenommen. Er ist zu wertvoll für uns, als dass wir es riskiert hätten, ihn an die Front mitzunehmen. Ich denke der Plan hätte vorgesehen, dass er uns von einem sicheren Ort koordiniert.“ Er spitzte die Lippen leicht und sah nachdenklich wieder in die Richtung, in die Brad verschwunden war. „Ich frage mich, was er stattdessen zu erledigen hat...“
 

Omi schnaubte gereizt. Er spülte den Mixer aus und hielt ihn unter den Wasserstrahl. „Was soll das denn heißen? Ich meine, jeder von euch ist wertvoll. Warum soll gerade er in einem Ü-Wagen hocken und sich die Show gemütlich ansehen und ihr steckt mitten...“

„Omi...“, setzte Nagi an und unterbrach ihn ruhig, aber mit einem mahnenden Unterton.

„Du weißt doch sicher selbst aus eigener Erfahrung, wie wenig es mit Einfachheit zu tun hat, ein Team zu koordinieren oder ruhig sitzen zu bleiben und einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn das Team unter Beschuss gerät oder man den Kontakt verliert.“
 

Na sicher wusste er das, zu gut. Aber...
 

Er seufzte und stellte das Glas und den gereinigten Mixer auf die Ablagefläche. War er nur ungerecht, weil es sich um den Amerikaner handelte? Den Erzfeind?
 

Nagi sah, wie die Schultern, die zuvor so angespannt gewesen waren, herabsanken, und ging vom anderen unbemerkt um den Tisch herum, um ihm mit der Hand über die Wirbelsäule zu streichen. Er berührte nicht das Shirt, verdichtete nur etwas die Energie unter seinen Händen.
 

Omi spürte das warme Kribbeln und es jagte einen Schauer über seinen Körper. Er schüttelte sich und drehte sich zur Seite, nur um einem lächelnden Nagi gegenüberzustehen. Nachdem er sich die Hände abgetrocknet hatte schnappte sich Omi das übermütige Kind und zog es an sich.
 

„Jeder von euch ist wertvoll, oder irre ich mich?“
 

„Nein, das tust du nicht, aber für das Überleben des Teams ist er der Wichtigste. Mich könnte man mit Feuerkraft ersetzen.“
 

„Im Leben nicht“, sagte Omi.

Sie sahen sich an und Omi erkannte den Widerspruch bereits, bevor Nagi etwas sagen wollte. „Keiner von ihnen könnte ein Energiefeld erzeugen, sehe ich das richtig?“
 

Nagi wich seinem Blick aus. „Korrekt. Keiner von ihnen kann es. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich das generieren kann. Dazu ist sehr viel Energie nötig. Davon abgesehen brauche ich ein gewisses Maß an Konzentration und innerer Stabilität, um es zu halten. Ich kann mich in Trance versetzen, aber dann kann ich es nicht mehr steuern, es würde sich ausdehnen und die Möglichkeit bestünde, dass es außer Kontrolle gerät.“
 

Omi hörte aus diesen Worten auch noch etwas anderes heraus. „Du meinst, dass du außer Kontrolle geraten könntest?“
 

Sie hätten dann vermutlich ein viel größeres Problem als SIN am Hals.
 


 

o~
 


 

Er spürte die Dunkelheit beinahe körperlich um sich herum, wie eine alles verschluckende Substanz. Yohji tastete umher und fand die Decke unter seinen Fingern. Danach machte sich Panik in ihm breit und seine Finger huschten zu seinen Augen. Die Luft im Raum war schal und verbraucht, was bedeutete, dass die Klimaanlage ausgefallen war.
 

Die Drähte wieder sicher in ihrer Vorrichtung, schlich er sich barfüßig zur Tür hinüber. Er tastete sich an das Paneel heran, doch das war nicht zum Leben zu erwecken. Seine Hand fand den Türgriff und drückte ihn nieder. Die Beleuchtung lag auf dem Sterbebett, wie er an den flackernden, zuckenden Leuchten erkannte.
 

Es stank.
 

Der Geruch war beißend. Er verzog angeekelt den Mund und ihm stellten sich die Nackenhaare auf. In Windeseile überzog eine Gänsehaut seinen Körper.
 

Es stank nach Blut und anderem.
 

Er war sich nicht mehr ganz sicher, ob er nicht doch träumte, als er an der gegenüberliegenden Wand dunkle, verwischte Spuren bemerkte. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, um es als Blut zu identifizieren. Das stroboskopartige Zucken der Beleuchtung, die nur mehr teilweise funktionstüchtig war, narrte sein Gehirn noch zusätzlich.
 

Er trat aus dem Türrahmen heraus, als ein martialischer Schrei seine Alarmglocken zum Dauerläuten brachte. Er drehte sich rasch um und zog gleichzeitig die Drähte, als ein Mann mit einem zu einer wilden Grimasse verzerrten Gesichtsausdruck auf ihn zu rannte. Er hielt etwas Glänzendes in beiden Händen, die mit einer dunklen Flüssigkeit bedeckt waren. Yohji hätte gewettet, dass es das gleiche Blut war, das er auch zwischen seinen Zehen fühlte. Diese sämige Flüssigkeit auf der Haut war unverkennbar.
 

Während er auf ihn zuraste, lotete Yohji blitzschnell seine Möglichkeiten aus. Zunächst wickelte sich der dickere Draht um die Beine des völlig außer Kontrolle geratenen Mannes. Der Gegenstand, den er in der linken Hand gehalten hatte, fiel ihm mit einem klingenden Geräusch aus selbiger und prallte an der Korridorwand ab. Yohji setzte sofort nach, sprang über den Liegenden hinweg und schnappte sich das zu Boden gefallene Messer, während sein Gegner rasend vor Wut mit einem weiteren Gegenstand nach ihm stach. Dann schoss Yohji einen weiteren, diesmal dünneren Draht auf den sich aufrappelnden Mann. Dieser wickelte sich um dessen Hals. Ein aufjaulender Schrei, gefolgt von einem röchelnden Krächzen sagte Yohji, dass der Draht am Bestimmungsort angekommen war. Er warf das Messer – ein Skalpell - und versenkte es im Auge seines Angreifers.
 

Aber das hieß offenbar nicht, dass dieser genug hatte. Noch immer wälzte er sich halb irre vor Wut, vielleicht auch vor Schmerzen auf dem Boden. Blut lief ihm übers halbe Gesicht und trotzdem versuchte er noch, wie von Sinnen die Drähte zu durchschneiden. Yohji keuchte vor Kraftanstrengung, reduzierte die Spannung via Knopfdruck, veränderte den Winkel, zog mit einem Ruck an dem dünnen Draht, der um den Hals des Mannes geschlungen war, und trennte den Kopf teilweise vom Rumpf. Er hing noch an den oberen Wirbeln.
 

Er keuchte in die Stille des Korridors, das zuckende Licht ließ diese Tat in einem unwirklichen Licht erscheinen. Er richtete sich auf die Knie auf, nachdem er verschnauft hatte, nahm sich von dem Toten ein Stück Kleidung zur Hand und wischte den Draht sauber, als dieser langsam in die Vorrichtung zurückglitt. Er hatte nicht vor, die Drähte zu kappen, solange er nicht wusste, wer ihn hier alles töten wollte.
 

Er wischte sich die Hände an den Stellen der Kleidung des Toten ab, die noch trocken waren. Als nächstes sammelte er die Skalpelle ein. Er wog sie in der Hand und erinnerte sich daran, dass es sehr viele scharfe Instrumente auf dem Tisch des Operateurs gegeben hatte. Größere, Längere und daher Tödlichere.

Er sah sich um.
 

Es war still um ihn herum. Das Blut an den Wänden war nicht von diesem Mann gekommen. Wo waren also die Verletzten oder die Leichen von denen es kam?
 

Im nächsten Raum von ihm aus gesehen lag Jei. Steckte er dahinter?
 


 

o~
 


 

Schuldig fuhr mit seinem Motorrad voraus, während Ran die Viper durch die Stadt heizte. Sie hatten sich für die schnellere Variante entschlossen. Das wenige Gepäck, das sie mit sich führten, hatten sie in der Viper untergebracht. Schuldig hatte seine Waffen an sich, Rans Schwerter in den Scheiden, die wiederum in Schutzhüllen auf dem Rücken. Munition, Kleidung und Nahkampfwaffen fanden in dem kleinen Stauraum der Viper bequem Platz.
 

Ran amüsierte es, als er wieder einmal ein waghalsiges Überholmanöver Schuldigs bewundern durfte. Offenbar hatte der Deutsche einen Heidenspaß, sich von ihm verfolgen zu lassen, denn nichts anderes taten sie hier. Zwei Polizisten hatte Schuldig so telepathisch beeinflusst, dass sie abdrehten und sich wichtigeren Aufgaben widmeten, als sich eine Verfolgungsjagd mit zwei verrückten Rasern zu liefern.

Es war nicht so, dass Ran keinen Spaß bei der Sache hatte, trotzdem fühlte er sich im Nachteil. Dieses Rennen konnte er nicht gewinnen, vor allem nicht bei dem Verkehr. Auch wenn Schuldig sich einen Spaß daraus zu machen schien, die anderen Autos kurzfristig auf nur einer Fahrbahnspur fahren zu lassen. Wie gnädig.
 

Mit säuerlicher Miene stieg er aus dem Wagen aus, als sie am Ryokan ankamen, und blitzte Schuldig mit funkelnden Augen an. „Was war daran bitte ausgeglichen? Mitten im Großstadtverkehr!“, brummte er.
 

Schuldig nahm den Helm ab und grinste ihn gut gelaunt an. „Nichts. Hat ja auch niemand behauptet!“ Er stieg ab und kam zu Ran, um ihm die zwei Koffer abzunehmen. Banshee durfte Beifahrer spielen und hatte mit Sicherheit ihre eigene Meinung zu dieser rasanten Fahrt.

„Wehe sie hat in die Viper gekotzt“, spähte Schuldig über Rans Schulter in den Wagen.

„Hat sie nicht und jetzt geh rein“, lächelte Ran zuckersüß und nahm Banshee samt ihrer Transportbox auf. „Aber wenn du weiter hier faul herumstehst, überlege ich mir es vielleicht und vergesse sie im Wagen.“
 

„Das würdest du nicht wagen!“, rief Schuldig entrüstet aus und ging zum Eingang.
 

Nein, natürlich würde Aya es nicht wagen, aber aus dem alleinigen Grund, dass er Banshee dort nicht einsperren würde - um Banshees Willen - und nicht, um das Interieur der Viper zu schonen, an der die Katze mit Sicherheit ihren Zorn auslassen würde.
 

Schuldig wechselte seine Schuhe im Entree und bog dann nach rechts in den schmalen Korridor ab, der zu ihrer Großküche führte. Dort standen Nagi und Omi. Er trat an den freien Tisch und er fädelte die Hüllen vom Rücken, die Rans Klingen beheimateten, um sie darauf abzulegen.

„Habt ihr den Kristall entschlüsselt?“

Schuldig ging zum Kühlschrank, um sich eine Wasserflasche hervorzuholen. Die Hitze brachte ihn noch um. Er hatte dieses Wetter noch nie gut vertragen. Auf dem Motorrad war es angenehm gewesen, allerdings hatte er jetzt in der Kluft das Gefühl, zu ersticken.
 

„Teile davon“, erwiderte Omi. Nagi, der neben ihm auf dem Hocker saß, grübelte offenbar immer noch über das Kraftfeldproblem nach.
 

Schuldig hörte wie die Eingangstür ins Schloss fiel und stellte die Flasche ab, um zu Ran zu eilen. Er nahm ihm die zwei flachen Koffer und ihre Reisetasche ab. Letztere ließ er im Flur stehen, während er die Koffer in die Küche trug, wo sie sich neben die Katanas gesellten.
 

Ran nahm Banshee aus ihrer Box, die er neben den Tisch stellte. Er würde sie mit dem Gepäck nach oben bringen.

„Haben wir genügend Munition?“ Ran griff sich die Wasserflasche, die Schuldig ihm reichte.

Er hielt weiter Banshee im Arm.
 

„Brad hat dafür gesorgt, dass wir von dieser Seite her gut abgedeckt sind“, sagte Nagi und ging zum Kühlschrank. Er brauchte mehr Energie, auch wenn er nach dem Eiweißshake leichte Übelkeit verspürte.
 

„Also was habt ihr?“
 

„Nichts Großartiges. Einige kleinere Dateien, eine Videodatei. Wobei die Definition von klein nur in Anbetracht der schieren Datengröße, die der Kristall in sich trägt, zu sehen ist.“
 

„Wo ist Brad?“, fragte Schuldig.

„Oben.“
 

„Ich gehe ihn holen“, sagte Schuldig und schälte sich aus seiner Motorradjacke während er nach oben ging. Er wollte Brad selbst holen gehen.

Schuldig hatte ein ungutes Gefühl. Es war nicht direkt, dass er Angst hatte, aber es kam diesem Gefühl sehr nahe.
 

Banshee hatte offenbar nichts dagegen, ein paar Streicheleinheiten abzufassen, nachdem sie solange alleine gewesen war, und hatte es sich auf Ayas Arm gemütlich gemacht. Er nahm sie mit hinüber ins Besprechungszimmer.

Noch immer prangten dort die Bilder von Eve Crawford und dem unbekannten Mann mit der Maske.
 

Wie schon zuvor setzte sich Omi in den Sessel an einen der Rechner, während Nagi sich an den zweiten setzte.
 

Schuldig ging währenddessen durch die oberen Räume und fand Brad auf seinem Bett sitzend, den Kopf in die Hände gestützt. Er sah nicht auf, als Schuldig hereinkam. Schuldig ging zu ihm, begab sich in die Hocke und berührte seine Hände.

„Hey...“, sagte er leise. „Hast du Kopfschmerzen?“
 

Brad zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass jemand in den Raum gekommen war. Er war zu zerstreut und unaufmerksam.

„Es geht schon“, sagte er nüchtern. Die Bilder, die ich sehe, kommen im Moment schneller und ohne jeden Zusammenhang. Sie kommen schneller als jemals zuvor - zu schnell, um sie sofort verarbeiten zu können. Ich fühle mich... blockiert.“

Er wusste, dass es an ihr lag. An Eve.
 

„Kann ich dir helfen?“
 

„Nein.“ Brad schüttelte den Kopf, griff neben sich, um seine Brille aufzunehmen und erhob sich. „Ich komme gleich.“
 

Damit war Schuldig entlassen und musste zusehen, wie Brad ins Badezimmer ging, um seine Kontaktlinsen einzusetzen. Schuldig sah ihm dabei zu. Selbst bei dieser alltäglichen Handlung wirkte Brad, als hätte er ein Schutzschild aus Unnahbarkeit um sich herum, das niemand in seiner Nähe duldete. Schuldig seufzte und machte sich wieder auf den Weg zu den anderen.
 

Er blieb an der Tür zu ihrem Besprechungsraum stehen und der Rest der Truppe wartete, bis Brad kam. Als dieser dann erschien, fiel Schuldig auf, dass er sich umgezogen hatte. Er trug eine Stoffhose und ein schwarzes Hemd. Je mehr Chaos in Brad herrschte, desto größer wurde sein Bedürfnis nach Ordnung, und das zeigte sich entweder in der Wahl seiner Kleidung oder dem Wunsch, sämtliches Geschehen um ihn herum zu kontrollieren.
 

Als alle da waren, startete Omi das Video.
 

Zunächst waren nur Stimmen zu hören, bis das Bild hinzugeschaltet wurde. Die Kamera war in einer Ecke des Raumes befestigt worden, sodass sie von schräg oben auf die Frau sehen konnten, die dort auf einem Stuhl gefesselt saß. Ihre Hände ruhten auf einem Holzbrett vor ihr. Zumindest in Teilen. Es war zu sehen, dass einige ihrer Finger abgetrennt vor ihr lagen. Blut tropfte vom Holzbrett auf den Boden und hatte sich dort zu einer Pfütze gesammelt.
 

Zwei Männer und eine Frau, alle trugen Masken, waren mit im Raum. Weiter hinten, kaum zu erkennen, hing ein weiterer Gefangener mit den Armen über dem Kopf an der Decke aufgehängt. Er bewegte sich nicht.

Einer der Männer ging um die Frau herum. Sie hörten Wasser rauschen, wie von einem geöffneten Wasserhahn. Der Mann sprach leise, fast zu leise, sie verstanden nur wenig und die Stimme schien obendrein leicht verzerrt zu sein.
 

„Das könnte Asugawa sein“, murmelte Schuldig.
 

„Ich versuche, die Stimme hervorzuheben und zu isolieren“, sagte Nagi und kurz darauf hörten sie die Stimme etwas lauter. „Es liegt nicht an der Aufnahme, sondern an ihm.“
 

Brad ging näher.
 

Schuldig beobachtete ihn, doch er konnte nicht erkennen, wie sehr es den Amerikaner belastete, seine Schwester in dieser Lage zu sehen. Sein Blick war versteinert und kalt, was jedoch keine Besonderheit war.
 

Trotz der Verzerrung konnten sie die Worte verstehen. Eves Augen waren verbunden. Ihr Gesicht war stark mitgenommen. Blut tropfte von ihrer Lippe und sie war leicht zusammengesunken. „Schwer zu sagen, ob sie bei Bewusstsein ist“, sagte Ran.
 

„Mr. Crawford!“, wandte sich der Redner mit der Kabuki Maske zu ihnen um, als hätte er sie gerade eben entdeckt. Ein vertikaler Riss zog sich durch die Maske, in der Mitte der Stirn prangte ein Einschussloch, viele kleine Risse gingen von diesem aus, dennoch war die Maske gekittet und offensichtlich tragbar, jedenfalls verbarg sie genügend vom Gesicht des Mannes.
 

Dieser hob den Kopf und blickte nun direkt in die Kamera.

„Wie Sie sehen, haben wir uns einen Gast in unser bescheidenes Etablissement geladen. Noch dazu ist er mir regelrecht in die Hände gefallen, ohne großen Aufwand möchte ich hinzufügen“, er hob tadelnd einen behandschuhten Zeigefinger.

„Von ihrer Schwester und diesem Kritiker Agenten habe ich tatsächlich mehr erwartet. Sie waren geradezu tölpelhaft in die Falle getappt. Aber wie sagt man so schön: Dumm gelaufen.“
 

Er ging um Eve herum, beugte sich zu ihr hinunter, wischte das lange Haar etwas zur Seite und streichelte ihr die Wange. Die Frau regte sich nicht.

„Viel Zeit zum Reden bleibt uns nicht Mr Crawford. Ihre Schwester wird sicher bald aus ihrer kurzen Bewusstlosigkeit aufwachen, in die sie sich geflüchtet hat, und wir haben noch viele Fragen an sie. Wir freuen uns schon auf Ihr Kommen. Es sei denn...“
 

Er richtete sich wieder auf und breitete die Arme in einer tragischen Geste aus. „... sie verzichten auf eine Rettungsmission. Ich würde es sehr bedauerlich finden, wenn ich Ihnen nicht einmal persönlich begegnen dürfte.“
 

Er verbeugte sich wie der Darsteller auf der großen Bühne, auf der er sich offensichtlich wähnte.
 

Danach sahen sie nur mehr wie einer der Drei Eve einen Eimer Wasser ins Gesicht kippte und sie sich langsam regte. Dann wurde der Bildschirm schwarz.
 

„Was haben sie mit ihren Fingern gemacht?“, wisperte Omi.
 

„Offensichtlich durchtrennt.“ Brad drehte sich zu ihnen um. Sein Blick war so dunkel, dass es für Ran klar war, dass sich sehr viel Emotionales dahinter anstaute.

„Überprüft, ob es echt ist, sofern das mit diesem Band möglich ist.“
 

„Die Datei enthält noch einen Anhang...“, sagte Nagi.
 

Omi sah auf. „Stimmt, da ist noch ein kleiner Rest. Ein weiterer Film.“
 

Nagi spielte ihn ab.
 

Es tauchten Fotos von Gebäuden auf. Das Ganze war mit einer Audiospur unterlegt.
 

„Mr Crawford, geschätztes Team Weiß, außerordentlich geschätztes Team Schwarz. Mein Name tut nichts zur Sache, doch nennen Sie mich Asugawa, um der Höflichkeit willen. Dieser Name dürfte Schuldig bekannt sein. Ich habe einen Auftrag für Sie. Ihnen dürfte nach dem Betrachten des vorangegangen Videos hinlänglich bekannt sein, dass sich ein Mitglied des Teams Weiß und SSA Eve Crawford in unserer Obhut befinden.“ Die Stimme hörte sich angenehm weich an, die Worte waren jedoch von Spott durchzogen.
 

„Ich möchte, dass Sie ein Objekt aus diesem Anwesen entwenden. Wie Sie sehen, ist dies hier das Sakurakawa Anwesen in Tokyo. Einer der vielen Nebensitze der Firma. Ich habe Ihnen alle Bilder zusätzlich zu den Blaupausen aller Gänge und der Laboratorien in die Datei gepackt. So sollte es Ihnen ein Leichtes sein, ins Anwesen einzudringen – trotz der guten Bewachung.

Ich gebe zu, dass ich mich einer kleinen Entführung bediente, um Ihnen einen gewissen Ansporn zu geben, meinen Auftrag auszuführen. Mir liegt wirklich viel an diesem Objekt. Da das Tokyoter Oberhaupt der Japanvertretung von Kritiker ermordet wurde, sehe ich mich außerstande, mich selbst um dieses wertvolle Objekt zu kümmern. Sie können gerne Kritiker die Schuld für die Entführung geben. Streng genommen ist es ihre. Sie haben mich in diese Lage gezwungen, weshalb ich mich nun meinerseits dazu gezwungen sehe, zu derartigen Mitteln zu greifen. Auch sollten Sie sich nicht allzu viel Zeit lassen, denn Ihre Schwester, Mr Crawford, ist tatsächlich in Gefahr. Was SIN mit ihr tun, wenn Sie zu viel Zeit verstreichen lassen, haben Sie in der Vergangenheit der Presse entnehmen können. Sie sind manchmal zu verspielt und nicht zu bändigen. Ich habe darauf nicht den geringsten Einfluss. In den anhängenden Dateien finden Sie alles, was Sie brauchen. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
 

Akribisch genau war eine Liste der vielen Dateien aufgeführt, die im Einzelnen alle Eingänge, Stockwerke und unterirdische Anlagen aufführten.
 

„Wenn ich ihn erwische, bringe ich ihn um“, knurrte Schuldig.

„Ich helfe dir dabei“, fügte Ran hinzu und sein Tonfall machte klar, dass man ihm dabei nicht in die Quere kommen sollte.
 

„Keiner von euch bringt ihn um“, sagte Brad und drehte sich zu ihnen um, die Arme verschränkt. „Er gehört mir.“
 

„So gesehen hast du das größte Anrecht auf ihn, da muss ich dir zustimmen“, sagte Schuldig. Omi und Ran sahen sich an. War das bei Schwarz so üblich? Ein Anrecht auf ... Rache, Vergeltung? Gab es dabei so etwas wie eine Rangordnung?
 

„Also machen wir's?“, hakte Omi nach.
 

Brad nickte. „Wir machen es. Ich komme mit euch, werde euch aber im Laufe des Einsatzes verlassen. Ihr seid ab einem gewissen Punkt auf euch gestellt.“
 

Schuldig legte den Kopf schief. „Hat es etwas mit dem hier zu tun?“
 

Brad sah zu ihm und ihre Blicke verschränkten sich. „Ja, ich denke schon. Es ist schwierig, die momentane Bilderflut auszuwerten. Ihr müsst mir einfach vertrauen“, räumte er ein und räusperte sich. Er drehte sich wieder zu dem Bildern um, die in schneller Abfolge über den Bildschirm huschten. Eine der Blaupausen beinhaltete eine Markierung. „Halt hier an Tsukiyono. Fahr zurück...“
 

Omi setzte den langsamen Rücklauf ein und sie fanden sich mit einer Blaupause konfrontiert, die, einer Schatzkarte gleich, einen Weg mit durchbrochener Linie aufwies, an deren Ende ein X den Punkt markierte, zu dem sie wohl gelangen sollten.
 

Omi befand, dass Crawford manchmal - eher immer im Umgang mit anderen Menschen - ziemlich daneben griff. Warum war er vorhin in der Küche so schroff zu Nagi gewesen? Hätte er nicht wie jetzt einfach um Vertrauen bitten können? Jetzt hörte sich der Alleingang doch etwas besser an als vorhin.

Angesichts der Tatsache, dass der Amerikaner mit den abgeschnittenen Fingern seiner Schwester konfrontiert wurde, blieb er relativ ruhig. Aber wer wusste schon, was in diesem Gehirn vor sich ging.
 

„Wir kaufen ihm die Geschichte mit dem sogenannten Objekt ab?“, fragte Ran und entließ Banshee aus seinen Armen, die auf Erkundungstour gehen wollte. Er lehnte sich an den Tisch, an dem Omi saß.
 

„Bleibt uns etwas anderes übrig?“, erwiderte Schuldig und ging zu Ran hinüber.
 

„Was für Möglichkeiten haben wir?“ sinnierte Omi.
 

„Keine“, sagte Ran darauf mit nüchterner Stimme in die Stille hinein, die sich aus der Frage ergeben hatte.
 

„Nagi, du baust mit Tsukiyono den Planungstisch auf. Wenn ihr damit fertig seid, möchte ich jede verfügbare Datei des Kristalls auf dem Tisch haben. Schuldig, du kümmerst dich um unseren Überwachungswagen und die Waffen. Munition findest du im dritten Stock. Bring alles, was du findest, runter. Aus meinem Zimmer kannst du die Einsatzkleidung und die Rucksäcke mit Equipment holen.“

Schuldig nickte, beugte sich zu Ran und küsste ihn auf die Schläfe.
 

„Ran, wir sollten uns die Daten ansehen und sie vorsortieren“, sagte Brad.
 

Brad hatte sich wieder zu dem großen Bildschirm gedreht. Sein Gesicht wirkte wie versteinert.
 

Ran konnte es nicht besonders gut leiden, wenn er bevormundet wurde, aber er musste zustimmen. Es war sicher gut, wenn sie beide den Einsatz ausarbeiteten, denn Brad verdrückte sich ab einem bestimmten Zeitpunkt aus der Geschichte. Außerdem hatte er nicht vor, derlei Fußvolkarbeit wie Schuldig zu verrichten. Ein amüsanter Gedanke. Wobei, er erinnerte sich, dass Schuldig das „Planungsgedöns“, wie er es nannte, ohnehin nicht sonderlich gern mochte.
 

Nagi führte Omi in einen Lagerraum und zeigte auf einen großen Karton in der hintersten Ecke. „Wir müssen nur das kleine Zeug davor wegräumen.“ Omi und er machten sich an die Arbeit, und kurze Zeit später war der Karton befreit. Omi ging aus dem Raum und wartete draußen. „Wir hatten ihn früher in Brads Besprechungszimmer im Einsatz.“ Er hob den Karton mittels telekinetischer Kräfte an und bugsierte ihn mit Richtungsunterstützung von Omi in den früheren Bankettsaal des Ryokans.
 

Während Omi und Nagi an der ihnen zugeteilten Aufgabe arbeiteten, sortierten Brad und Ran die Pläne. Viel zu tun gab es in diesem Punkt nicht, denn dieser Asugawa hatte gute Arbeit geleistet. Er hatte ihnen auf einer Liste sämtliche Wachen, ihre Standorte und die Wechselzeiten der Wachen zuammengefasst.

Natürlich schützte ihn dieses unausgesprochene Lob nicht davor als Staatsfeind Nummer 1 deklariert zu werden. Es galt dringend davon auszugehen, dass dieser Asugawa mehr von ihnen wusste, als sämtliche Menschen vor ihm, die ihnen bei der einen oder anderen Gelegenheit begegnet waren. Was ihn zu einer akuten Bedrohung machte – für Schwarz und Weiß. Dumm war nur, dass Ran das Gefühl hatte, er wäre ihnen mehr als nur einen Schritt voraus. Und das schon seit einiger Zeit. Die Frage war jedoch: Warum hatte er sie nicht schon längst erledigt? Warum spielte er mit ihnen? Tat er das überhaupt? Und wenn ja, diente dieses Spiel dazu, Machtverhältnisse klarzustellen?
 

„Wenn das alles stimmt, wird das weniger ein Himmelfahrtskommando als von mir angenommen“, sagte Ran leise und besah sich das Untergeschossareal.

„Das wage ich zu bezweifeln. Das Ganze stinkt. Er hat uns keine Übergabezeit, geschweige denn einen Ort genannt“, gab Brad zu bedenken.
 

„Aber ein Ausweg von dort unten“, Ran tippte auf dem Bildschirm an der Wand auf einen hell gestrichelten Gang, der von der mit X markierten Stelle wegführte und in einen weiteren Gang oder Tunnel mündete. Wohin man durch diesen gelangte, blieb jedoch ein Rätsel, denn die Karte hörte dort auf.

„Mit dem Objekt ... diesen Weg entlang. Er könnte am Ende dieses Weges warten und das Objekt in Empfang nehmen. Es wäre töricht, den Weg mit dem Objekt zurück zu gehen. Was auch immer das sein mag... Zumal hier Schleusen eingezeichnet sind.“

Die jeweiligen Schleusentüren hatte jemand von Hand mit Ziffernfolgen versehen. „Die Codes für die Türen. Wir speichern sie in unsere Pads, die wir bei uns tragen, ein.“
 

„Zwei bleiben draußen, zwei gehen rein“, sagte Brad und besah sich den Plan.

„Unsere offensivste Kraft ist Nagi, deshalb sollte er draußen bleiben. Tsukiyono ist mit seinem Bogen bestens geeignet, um ihm Schutz zu gewähren und Ärger von euch abzuhalten, bis ihr drinnen seid. Schuldig und du gehen rein?“, fragte er halb zu Ran.
 

Der sah hoch und nickte. Er hätte bestimmt nicht draußen für Ablenkung gesorgt, um andere den Job machen zu lassen. Und Schuldig ging ohne ihn alleine nirgendwohin. Ihn einmal an diese Dreckskerle zu verlieren... aber zweimal – ausgeschlossen.
 

„Gut. Tsukiyono und Naoe decken euren Einstieg und veranstalten bei Entdeckung genügend Ablenkung um euch die Wachen vom Hals zu halten. Dazu sollten beide in der Lage sein. Wenn nötig, kann Naoe auch einen etwas größeren Wirbel veranstalten.
 

„Sobald wir im Untergeschoss sind, interessiert es uns nicht mehr, was oben läuft. Selbst wenn er das Haus über unseren Köpfen einstürzen lässt.“
 

„Das sollte vermieden werden, bis ihr das Signal gebt, dass die Gefangenen in Sicherheit sind“, sagte Omi, als Nagi und er mit dem schwebenden Karton an ihnen vorbeikamen.
 

„Wenn der Plan hier stimmt, sind die Gefangenen unten im Labor untergebracht. Wir kommen also auf diesem vorgegebenen Weg direkt an ihnen vorbei.“
 

„Dieser Asugawa hat viel Zeit darauf verwendet, sich das alles auszudenken.“
 

„Wenn ich ihn in die Hände bekomme, drehe ich ihm den Hals um“, sagte Brad nachdenklich und mit einer von ihm so bekannten kalkulierenden Seelenruhe, dass Ran eine düstere Ahnung davon hatte was Brad mit Asugawa machen würde, wenn sie seiner habhaft werden würden. Und das würden sie früher oder später daran zweifelte Ran keineswegs.

„Falls sie nicht dort sein sollten, besteht immer noch die Möglichkeit, dass unser Freund Asugawa sie uns im Tausch gegen das Objekt übergibt.“
 

„Unwahrscheinlich“, sagte Brad leise.
 

„Warum? Hattest du eine Vorrausicht über einen möglichen Ausgang der Situation?“, hakte Ran nach und hob das Gesicht zu Brad um seine Reaktion auf die Frage zu sehen. Nur in den braunen Augen war ein kurzes Flackern zu erkennen. Offensichtlich trug der Amerikaner seine Kontaktlinsen, denn dass sonst so warme Bernstein war besser dazu geeignet eine Einschätzung darüber abzugeben was in dem Mann vor sich ging.
 

„Ich bin mir nicht sicher. Asugawa und der Einfluss von SIN und deren Handlungsweise beeinflussen eine sichere Voraussage.“
 

Ran glaubte diese Antwort nur zur Hälfte. Er sagte aber nichts dazu und sie beide überließen den Jüngsten das Feld, die die letzten Details der Planung ausarbeiten sollten.
 

„Ich versuche Manx zu erreichen“, sagte Brad.

Ran ging zu Omi. „Ich geh kurz zu Schuldig um nachzusehen, ob es so läuft, wie wir uns das vorstellen, oder ob er sich gerade einen kühlen Cocktail mixt und die Beine hochlegt.“
 

Omi winkte ab und Ran verschwand auf der Suche nach Schuldig. Dieser stand in der Küche und besah sich den Inhalt einer Tasche.

„Brad hat es tatsächlich geschafft. Sieh dir das an!“
 

Ran trat näher um sich den Grund für die Begeisterung seines Freundes anzusehen, indem er in die Tasche spähte. „Aha. Und was soll an diesem Stück Stoff so toll sein? Was ist das überhaupt?“
 

„Anzüge aus Spinnenseide“, grinste Schuldig ihn an wie ein Honigkuchenpferd.
 

„Ich dachte, die ständen nur den oberen Spitzenrängen der Geheimdienste zur Verfügung.“ Ran griff in die Tasche hinein und zog einen Anzug heraus.

„Fühlt sich gut an. Wie viele hat er?“
 

Schuldig wühlte in der Tasche. „Vier.“
 

„Zu wenige. Aber sie dürften für unsere Strategie reichen.“ Er wusste, wie wenig ihr Plan als Strategie zu bezeichnen war, aber ihnen blieb angesichts der Umstände wenig Spielraum für Abweichungen in Asugawas Vorgaben.
 

„Im Rückenprotektor gibt es Platz für zehn Magazine. Also für jeden zehn. Wir müssen beweglich bleiben. Soll heißen, keine Sturmgewehre, nichts was ordentlich Krach macht. Zudem müssen wir damit rechnen, dass wir in eine Falle laufen, sofern wir davon ausgehen, dass dieser Asugawa mehr für uns geplant hat, als er uns mitgeteilt hat.“
 

„Was sehr wahrscheinlich ist“, sagte Brad mit der typischen kühlen Note in der Stimme, als er zu ihnen stieß.
 

„Meinst du das als bloße Floskel, oder hast du das errechnet?“, Schuldig hob die Brauen und spähte neben dem Oberteil aus Spinnenseide vorbei.
 

„Mir fehlen die nötigen Informationen, um eine Berechnung anzustellen. Ich neige dazu, die vage These anzustellen, dass dieser Asugawa das Körnchen Sand im Getriebe ist, das die Zahnräder meiner Fähigkeit, die Zukunft exakt vorauszusehen, stark beeinflusst.“
 

„Das klingt eher wie etwas, das Naoe von sich geben würde!“ Schuldig verzog das Gesicht in gequälter Manier und verschwand wieder hinter dem Stück Stoff.
 

„Was heißt das konkret?“, hakte Aya nach. Er verstand ohnehin sehr wenig davon, wie Crawford seine Voraussichten deutete.
 

„Er verändert Dinge, die in der Zukunft für mich festgeschrieben stehen. Das heißt, dass ich Visionen habe über Ereignisse, die so oder anders geschehen werden aufgrund unseres Handelns. Dummerweise kann ich die Variable „Asugawa“ nicht miteinbeziehen, da sie nicht voraussehbar ist. Ich habe keine Ahnung, wie sich die Zukunft verändert, weil er das große X in der Gleichung ist, die ich nicht lösen kann. Wir wissen nicht, warum er bestimmte Dinge tut und wo er als nächstes auftaucht. Die Sache mit Kudou und Jei ist eines der Beispiele. Warum zum Teufel will er, dass wir ausgerechnet jetzt in dieses Gebäude einfallen und ihm dieses sogenannte Objekt oder was auch immer das ist bringen?“
 

„Hmm“, brummte Schuldig und steckte das Oberteil säuberlich gefaltet in die Tasche zurück. „Eindeutig eine Falle.“
 

„Sie kidnappen zwei Leute. Jeder davon steht einem der Teams nahe, und sie zwingen beide Teams zu einer Befreiungsaktion. Klingt wie eine Falle.“
 

„Und ist vermutlich eine.“ Brad verstummte einen Moment und rieb sich mit der Rechten über die Augen. Er war müde.

„Trotzdem stört mich die Sache mit dem Objekt. Was soll das? Er könnte es leichter haben. Warum das Ganze dann? Er hätte es schon früher einfacher haben können.“
 

„Er spielt gerne Spielchen. Ich kenne das. Es macht Spaß, die Puppen tanzen zu lassen und alle in Verwirrung zu stürzen, das gibt ihm ein Gefühl der Macht. Er kann dieses Gefühl noch steigern, indem er seine eigene Gruppe hinters Licht führt“, sagte Schuldig und zuckte mit den Schultern.

„Denk an das Video. Er liebt die Inszenierung. Und was ich viel interessanter finde, er spricht Crawford direkt an. Das lässt für mich den Schluss nahe, dass die Einladung vor allem dir gilt.“

Crawford nickte. „Das ist einer der Gründe warum es gefährlich werden könnte, wenn ich dort auftauche. Es verkompliziert die Angelegenheit zusätzlich.“
 

Etwas hatte sich in Schuldig festgeklammert. Ein Gefühl, dass Brad ihnen etwas Wichtiges vorenthielt. Was nichts Neues war, nur könnte dieses „Etwas“ fatale Folgen für sie alle haben.
 

„Du willst bei seinem Machtspielchen nicht mitspielen? Das ist aber nicht nett, Brad!“, sagte Schuldig und grinste.
 

„Ihr habt schon einmal nicht bei diesen Spielchen mitgespielt, und das Ergebnis eurer mangelnden Kooperation und eures Desinteresses hat man in Osaka gesehen.“

Aya schüttelte den Kopf. „Diese Morde erinnern mich stark an unsere früheren Einsätze, das ist krank. Die Mitglieder von SIN scheinen sich an keine Regeln zu halten. Was sagt euch, dass dieser Asugawa anders ist? Sie ermorden unschuldige junge Studenten, um ‚Schwarz’ eine Botschaft zu hinterlassen.“

„Er deutete das an, was aber nicht heißt, dass er das war“, erwiderte Omi, der in die Küche kam. „Wir sind soweit...“ Nagi und er hatten eine Satellitenverbindung eingerichtet, die es ihnen ermöglichte, aktuelle Bilder vom Zielort zu generieren.

„Das nicht. Aber er hat es auch nicht verhindert. Was dazu führt, dass es für mich aussieht, als wäre er der Kopf von SIN.“
 

„Was würde ich also tun, wenn ich in einer Gruppierung wäre, etwas wollte und es nicht bekommen konnte, ohne dass der Verdacht auf mich fiele? Ich schiebe es einem anderen in die Schuhe und komme fein dabei raus, indem ich diesen Jemand beauftrage und dann mit dem Finger auf ihn zeige. Ich habe was ich will, gerate dabei aber nicht unter Verdacht und kann hinterher gemütlich Jagd auf die Räuber machen“, sagte Schuldig.
 

„Klingt einleuchtend.“
 

„Zu einfach“, sagte Crawford. „Sehen wir uns die Pläne an.“
 

Sie gingen alle in den ehemaligen Bankettsaal und verteilten sich um den Planungstisch. Nagi öffnete zunächst eine Satellitenaufnahme des Anwesens. „Diese Aufnahme habe ich vorhin erst gemacht. Es ist wenig Aktivität auf dem Grundstück zu erkennen. Wir sehen das Hauptgebäude und fünf Nebengebäude auf dem Gelände. Es gibt eine Zufahrtsstraße, zwei kleine Wege und eine Hauptstraße, über die das Anwesen zu erreichen ist.“
 

„Check die Angaben über die Stärke der Bewachung, Naoe.“ Während Nagi die Angaben von Asugawa mit der aktuellen Besetzung der Wachen abglich, fuhr Brad fort.
 

„Wir fahren bis zu diesem Punkt. Parken den Wagen hier“, er deutete auf den Punkt an der Hauptstraße.“
 

„Wir sollten davon ausgehen, dass Ken und Eve verletzt sind. Eine schnelle Flucht ist somit kaum gewährleistet“, sagte Ran.
 

„Wenn wir näher fahren, könnte uns das verraten. Und zwar bevor wir überhaupt drin sind.“ Schuldig lehnt sich auf den Tisch.
 

„Das heißt wenig Equipment, schnelle Fortbewegung und in Zeit gemessen eine Strecke von... vielleicht zwanzig Minuten. Kurze Stopps um die Lage abzuchecken mit einbegriffen. Ich muss davon ausgehen, dass ich keinen von ihnen lesen kann. Im schlechtesten Fall.“
 

„Sobald Schuldig und Ran drin sind, zieht ihr beiden euch zurück und geht zu diesem Punkt hier.“ Brad deutete auf den Ort, an dem die angebliche Übergabe stattfinden sollte. „Haltet euch bedeckt bis Asugawa auftaucht und sichert den Rückzug von Schuldig und Ran.“
 

„Es wäre wirklich von Vorteil, wenn wir jemanden hätten, der uns dort abholt, Crawford“, sagte Ran und suchte Augenkontakt zu dem Amerikaner.
 

„Ich weiß, Manx ist nicht erreichbar. Ich werde es weiter versuchen. Was ist mit Kudou?“ Brad sah zu Schuldig auf.
 

„Ich werde ihn kontaktieren.“ Schuldig verließ den Raum. Er brauchte Abgeschiedenheit um nachzusehen, ob Kudou noch beim Doc in der Klinik war und ob er ihn überreden konnte, von dort abzuhauen. Schuldig hatte kein gutes Gefühl dabei. Er hatte bei keinem der Dinge, die sie im Moment planten oder ausführten ein Gefühl der Befriedigung. Vieles hatte sich geändert seit... ‚Weiß’ in ihr Leben geraten war. Er verschob die Richtung, in der seine Gedanken abdriften wollten und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Herstellung einer Verbindung zu Kudous geistiger Signatur.
 

Er ging in eines der Zimmer nach oben und setzte sich aufs Bett. Er war erst wenige Male bei diesem Arzt gewesen, aber er kannte die Lage des unterirdischen Komplexes.

Obwohl es Routine war, musste Schuldig vorsichtig an die Sache ran gehen, denn er hatte noch keine Ahnung, in welcher Verfassung sich der Blonde befand. Er konnte sich gut vorstellen, dass er die Wände hochlief, so eingesperrt, wie ihn Brad dort zurückgelassen hatte.

Es dauerte einige Suchfrequenzen, bevor er Kudou letztlich gefunden hatte. Zunächst versuchte Schuldig herauszufinden, in welcher Situation sich der Blonde befand, und geriet in eine Stressreaktion der ganz besonderen Art. Er zog sich wieder etwas zurück und wartete einige Augenblicke ab, bevor er sich erneut einklinkte.
 

Kudou betrachtete sich offenbar gerade eine Wand, die mit Blut überzogen war, was ihn dazu veranlasste, einige Vermutungen über Jei anzustellen.

‚Hey... Blondie, in was bist du jetzt schon wieder reingeraten?’

‚Schuldig?’

‚Wen hast du erwartet? Charles Francis Xavier?’ Schuldig las die folgende konfuse Aneinanderreihung von herabwürdigenden Adjektiven mit einem Gefühl der Befriedigung. Ach, ‚Weiß’ waren doch nicht so schlecht...
 

‚Crawford dieses Schwein hat mich in diese Lage gebracht.’

‚Klar, das tut er immer. Was regst du dich noch drüber auf? Also was ist los bei euch, erklär's mir, Blondie!’

‚Kannst du es nicht aus meinem Kopf ziehen?’

‚Hältst du das für klug?’

‚Hör mal gut zu, Klugscheißer, ich bin vorhin aufgewacht, wurde angegriffen, hier sind die Wände mit Blut und anderem tapeziert und ich habe immer noch keine Ahnung, wer das meiste davon dorthin gebracht hat. Ich habe jetzt keine Zeit, mich von dir ablenken zu lassen.’

‚Schon klar. Ich seh mich um, bleib, wo du bist’

‚Witzig’, schallte es noch bevor Schuldig sich von Kudou zurückzog.
 

Schuldig ließ sich weiter treiben, spürte dabei zwei weitere Männer und eine Frau auf, die wie Berserker gegeneinander kämpften. Er versuchte eine Art Kontrolle über einen der Männer zu erlangen, was aber misslang. In ihren Gehirnen regierte Blutdurst und sie waren in keiner Weise zugänglich für seine Manipulationen.

Er kannte das Problem und es hatte einen Namen: Jei.
 


 


 


 

WIRD FORTGESETZT!

VIELEN DANK FÜRS LESEN.
 

Das Beta übernahm snabel!

Herzlichen Dank dafür.
 

GADREEL ^__^

Falling Mask I

Falling Mask
 


 


 

Schuldig fand die verursachende Noxe sehr schnell, bekam jedoch nicht sofort einen Zugang. Als er eine Möglichkeit fand, begab er sich zunächst in die Tiefen von Jeis Geist, um eine Verbindung zu sich herzustellen mittels der Erinnerungen, die Schuldig mit dem Empathen teilte. Wenn Jei sich in diesem träumenden Zustand befand, war es für Schuldig leichter, dessen mentale Schranken zu überwinden, als wenn er wach war. Ein großer Vorteil war im Moment sogar die räumliche Entfernung.

Schuldig hatte aus früheren Situationen gelernt, dass es sinnvoll war, Jei am Besten in eine Wachphase zu überführen, wenn er sich daran erinnern konnte, was er einmal gewesen war.
 

Von SZ hatte er dagegen gelernt wie es möglich war, den Iren in eine instabile, aber von ihm gut steuerbare Wachphase zu überführen. Dazu hatte er früher bei Jei möglichst die Erinnerungen aktiviert, die ihn zu dem gemacht hatten, was für SZ nützlich gewesen war – einen Berserker.
 

Heute hätte ein solches Vorhaben einen sehr nachteiligen Effekt für Kudou. Er wäre soweit gegangen zu sagen, einen endgültigen Effekt.
 

Schuldig ließ die Erinnerungen von ihm unbeachtet an seiner geistigen Anwesenheit vorbeiziehen. Jei war noch nicht wach, wie er an seinen Gehirnaktivitäten feststellen konnte, bei ihm lief immer noch eine Art Traumphase ab, nur weshalb spielten die Männer dort draußen dann derart verrückt und befanden sich in einem Zustand, den Schuldig sonst eigentlich von Jei her kannte? Hatte Jei eine Möglichkeit gefunden, eine Verbindung zu ihnen zu halten und zu träumen? Aber wie?

Das würde bedeuten, dass sich ein Teil seines Bewusstseins abgespalten hatte und autonom für die emotionale Übersteuerung der Personen, die Kudou angegriffen hatten, verantwortlich war.
 

Und die noch viel interessantere Frage lautete: Warum war Kudou davon nicht betroffen?
 

Schuldig wusste nicht, nach was er suchen musste, was es ihm erschwerte die Ursache des Problems herauszufinden. Schlussendlich überließ er sich dem Sog, der seinen Willen zurück in seinen Geist beförderte.

Was also tun?
 

Schuldig richtete sich auf. Sein Nacken schmerzte und seine Schultern ebenfalls. Er bewegte sich vorsichtig, stand auf und ging im Zimmer umher. So ging das nicht. Er brauchte mehr Zeit und da war noch... Ran...

Er musste näher an Jei ran, mehr in die Tiefe gehen, dazu war ein größerer Abstand zu sich Selbst von Nöten und das sah für ein ungeschultes Auge wie Rans meist immer nach einem Halbtoten aus. Wenn Ran ihn hier in einer Stunde oder mehr in diesem Zustand fand, war die Panik in dem Japaner vorprogrammiert. Seit der Geschichte in China ertrug Ran diesen Zustand bei ihm nur schwer.

Eine geistige Kontrolle auf dieser tiefen Ebene bei einem PSI war eine andere Nummer als bei einem Menschen mit normaler Abwehr. Manche hatten überhaupt keine abwehrenden Mechanismen. Es war auch nicht nötig, diese zu entwickeln, schließlich gab es so etwas wie Telepathen bestenfalls in Büchern oder Filmen.
 

Schuldig raufte sich die Haare und ging nach unten. Als er in den Planungsraum kam, verstummten Brad und Ran. Letzterer drehte sich um und sein Gesicht drückte keine Gefühle aus, doch die Augen sprachen Bände. Er war in Sorge gewesen.

Schuldig konnte den Übergang von Sorge in Wut in den violetten Augen genau mitverfolgen.

„Du warst lange weg“, übernahm Brad das Reden und sah wieder auf den Tisch, um eine Datei zu öffnen.

„Wie viel Zeit ist vergangen?“ Er blickte auf die Uhr. „Eine Stunde?“

Er ging zu Ran an den Tisch und zog ihn seitlich an sich. „Alles gut“, Er drückte ihn einmal beruhigend, bevor er das unwillige Bündel mit der sauren Miene wieder losließ.

„Nein, eigentlich ist gar nichts gut.“ Damit hatte er die Aufmerksamkeit von allen.
 

„Wie befürchtet hat sich Jei zu einem Problem entwickelt.“

Ayas Kiefer pressten sich aufeinander und sein Blick ging zu Brad hinüber.

„Ich hole Yohji sofort raus da.“

„Kudou ist nicht in Gefahr, zumindest nicht durch Jei“, erwiderte Brad und richtete sich auf.
 

Schuldig runzelte die Stirn und hob die Hände, um den Vulkan vor sich etwas zu beschwichtigen.
 

„Jei beschützt ihn vor den Angreifern. Seine Methoden mögen unorthodox sein, aber durchaus wirksam.“
 

„Bitte?“, echoten Aya und Schuldig.
 

„Im Augenblick ist das zumindest noch der Stand der Dinge. Ich habe es gesehen und solange Asugawa mir nicht die Vorhersage manipuliert und die Zeitlinien verändert bleibt es dabei.“
 

„Aber er ist nicht wach dabei, Brad“, sagte Schuldig energischer als beabsichtigt, da ihm der Amerikaner noch immer viel zu gelassen schien.
 

„Nicht?“, fragte nun Nagi, der an der Tafel stand, um sich eine Verbindung zusammenzureimen, die zwischen Asugawa und Eve bestehen könnte.
 

Schuldig schüttelte den Kopf und hob die Hände. „Nicht so weit ich ermitteln konnte. Es kann sein, dass er im Übergang ist, aber ich konnte nicht tiefer gehen, dafür brauche ich mehr Zeit, sonst erreiche ich ihn nicht.“
 

„Wer sind die Angreifer?“, hakte Aya nach und verschränkte die Arme.
 

„Mitarbeiter aus der Klinik, zumindest waren sie in den Erinnerungsfetzen, die ich erhaschen konnte, dort angestellt, aber sie sind kaum zu beeinflussen, da sie von Jei gesteuert werden. Ich kann sie telepathisch nicht übernehmen, solange er ihre Emotionen hochheizt und sie dadurch aggressiv auf jeden und alles um sich herum reagieren. Sie sind für manipulative, gedankliche Stimulation von außen nicht mehr empfänglich. Davon abgesehen, dass keiner von ihnen die mentale und körperliche Stärke besitzt, um diese Mengen an Stresshormonen auf Dauer zu überleben. Ihr Herz wird schlapp machen, wenn nicht Kudou sie vorher erwischt. Er hat seine Drähte und damit war er schon einmal erfolgreich.“
 

„Ich frage mich, warum Kudou nicht auch unter dieser Kontrolle steht, wenn Jei noch nicht wach ist. Wie hat er Kudou und die Angreifer von einander unterschieden?“, fragte Nagi.
 

„Er hat ihn doch genau studiert, vielleicht ist das eine Erklärung dafür?“, gab Schuldig zu bedenken.
 

„Eine Signatur?“ Brad fand die Idee nicht einmal schlecht. Für Jei waren Emotionen sichtbarer als für andere Menschen. Und er sah sie nicht mit seinen Augen, er nahm sie als Farben in seinem Cortex wahr.

„Er träumt?“
 

Schuldig nickte. „Ja, aber ich war mir nicht sicher, ob ich tiefer gehen kann. Wie gesagt - dafür brauche ich Zeit und ich hielt es für besser, euch darüber zu informieren. Das kann Stunden dauern.“
 

„Eine Möglichkeit wäre“, sagte Nagi „dass er Kudou in seinen Traum eingebaut hat, weil dieser eine letzte Intervention mit ihm durchlebte. Es beschäftigte ihn solange, dass ihn als festen Anker eingerichtet hat. Wisst ihr noch damals ... SZ hatten uns geraten, einen Anker einzurichten. Bei dir, Schuldig, war es noch dramatischer, wenn du keinen hattest.“
 

„Sicher, erinnere ich mich.“ Er hatte nie einen Anker besessen und niemand hatte das je nachprüfen können. Sein Blick streifte zu Ran. Jetzt... hatte er einen. Auch wenn dieser nur unter bestimmten Unständen für ihn zu erreichen war.
 

„Was bedeutet, dass Kudou der einzige ist, der sicher in diesem Komplex ist“, sagte Brad und sah Ran dabei an.
 

„Hast du ihn deshalb dort in dieses Verließ gebracht?“, knurrte Aya wenig überzeugt von diesem Argument.
 

„Zunächst ja. Als ich gesehen habe, dass die Zukunft bedrohlich für beide werden würde und der Ausgang der Geschichte ungewiss war, blieb ich noch eine Weile dort. Als Kudou die Drähte behielt, änderte sich die Zukunft und im Augenblick gibt es wieder eine Zukunft für den Schnüffler.“
 

„Aha“, brummte Aya immer noch nicht ganz überzeugt. Was er aber wusste, war, dass er zum jetzigen Zeitpunkt nicht dorthin konnte, um Yohji rauszuholen.
 

„Aber warum...“, fing Aya an und wollte zu Schuldig blicken, doch Brad unterbrach ihn.
 

„...wir nicht Schuldig dort ließen? Wenn Schuldig dort geblieben wäre, dann hätten wir den einzigen verloren, der Jei in eine geordnete Wachphase überführen kann. Schuldig ist nicht immun gegen Jeis Angriffe. Da sie jedoch einer gewissen räumlichen Begrenzung unterliegen, ist es für Schuldig immer besser, Abstand zu gewinnen, solange Jei nicht ganz wach ist. Wenn er wach ist und sich unter Kontrolle hat, spielt es keine Rolle mehr. Schutz genießt im Augenblick nur Kudou. Wir können nur hoffen, dass der Blonde nicht eine Dummheit begeht, die diesen Zustand verändern könnte.“
 

„Wenn das stimmt, warum ist SIN dann auch eine Bedrohung für ihn?“, fragte Omi.
 

„Solange wir nicht genau erforschen können, wie SIN das bewerkstelligen, können wir nur spekulieren. Ich vermute, dass Jei sie empathisch nicht erfassen kann, aber mit der nötigen Zeit und dem Wissen, wie er es angehen muss, dürften SIN auch kein Problem sein“, erwiderte Nagi.

„Zeit, die wir nicht haben“, stimmte Aya zu.
 

„Um zu verhindern, dass Jei in eine instabile Situation hinein aufwacht, muss ich nochmal zu ihm. Es wird etwas dauern, also rechnet in der nächsten Zeit nicht mit mir.“

Schuldig drehte sich um und ging wieder hinauf. Er hörte hinter sich leise Schritte.

Erst als er oben war, ließ er Ran an sich vorbei und schloss die Tür hinter ihnen.
 

„Hier drin ist es verdammt warm“, ächzte Schuldig und löste den Gummi aus seinen Haaren. Er zog sich die Schuhe aus und ließ sich auf den Futon nieder.
 

Aya hielt die Arme wieder vor sich verschränkt und sah zu Schuldig, der sich mit den Händen nach hinten aufgestützt hatte und ihn abwartend anblickte. In den blaugrünen Augen, die so entspannt wirkten, war ein Lächeln für ihn abzuholen.

Aya konnte es im Augenblick nur schwer erwidern. Er war zu sehr in Sorge um Yohji und... auch um Schuldig.

„Was brauchst du?“, fragte er um Sachlichkeit bemüht. Was seine Stimme nicht im Geringsten beeinflusste. Sie war rau und brach am Ende der Frage.
 

„Hey...“, Schuldig nahm eine Hand vom Futon und streckte sie ihm entgegen, woraufhin Ran widerwillig seine abwehrende Haltung löste. Er reichte Schuldig seine rechte Hand und ließ sich von ihm nach unten ziehen. Er kniete vor dem Futon fast auf Augenhöhe mit Schuldig.

„Ich will, dass du dich entspannst. Schaffst du das?“
 

Aya hob die Hand an Schuldigs Schläfe und wischte eine verirrte Haarsträhne, die ihm in die Augen hing, sanft zur Seite.

„Du... bist nur mir zur Liebe runter gekommen.“
 

Schuldigs Miene wurde weicher. „Bin ich das?“
 

„Ja“, sagte Aya.
 

„Du hast immer noch die Bilder der angeblichen Autopsie vor Augen. Jedes Mal wenn ich bei dir bin, dabei im Halbschlaf neben dir liege und mich in deinen Gedanken treiben lasse, streifen mich diese Bilder. Sie haben sich wie ein Foto auf der Netzhaut bei dir ins Gedächtnis eingebrannt und deine Ängste, verlassen zu werden, verschlimmert.“
 

Aya schwieg, er fühlte sich bloßgestellt. „Wie kannst du damit leben, alles von denen zu wissen, die um dich herum sind, und es nicht ständig gegen sie zu verwenden?“, sagte Aya leise und verlor den Augenkontakt zu Schuldig, um auf seine Hände zu starren, die vor ihm lagen. Schuldig hatte sich in seinem Wesen verändert. Aya konnte beinahe daran glauben, dass er das bewirkt hatte. Es wäre ein schöner Gedanke, wenn er sich ihn zugestehen würde.
 

Schuldig richtete sich auf und beugte sich vor, um die verlockenden Lippen vor sich sanft mit einem Kuss zu belegen.

„Ich weiß nicht alles.“ Er küsste Ran erneut, beobachtete dabei das ruhige Gesicht des Japaners, die Augen, die ihm im Moment so fern schienen.

„Von dir schon gar nicht.“ Wieder ein zarter Hautkontakt.

„Außerdem wird es auf Dauer langweilig. Und du weißt, dass es nichts Gefährlicheres gibt, als einen gelangweilten Telepathen.“ Er lächelte in den Kuss hinein, als sich Rans Anspannung soweit löste, dass er die zarte Berührung erwidern konnte.
 

„Ich würde mich besser fühlen, wenn ein Teil von mir bei dir sein könnte“, sagte Aya leise, als er sich zurückzog. „Das schaffe ich nicht, denn dafür bin nicht entspannt genug.“
 

Schuldig küsste Ran auf den hängenden Mundwinkel und lächelte aufmunternd, bevor er sich zurück auf das Bett setzte. „Ich weiß“, sagte er, während er auf dem Futon weiter nach hinten rutschte.

„Das wäre auch nicht sonderlich intelligent von mir, würde ich das in Erwägung ziehen. Jei reagiert nicht gut auf mentale Gäste. Mit dir in der Verbindung wäre ich sowohl unkonzentriert als auch abgelenkt. Ich müsste dich gleichzeitig abschirmen und mich um ihn kümmern. Viel zu gefährlich für dich.“
 

„Was soll ich tun?“

Aya gefiel es nicht. Er war nicht dafür gemacht worden, Dingen ihren Lauf zu lassen.
 

„Wärm mich ein bisschen, wenn ich weg bin. Wenn meine körperlichen Funktionen sich auf ein Minimum herunterfahren, sinkt meine Körpertemperatur. Es ist nicht bedrohlich, dazu ist es hier zu warm, trotzdem versuch mich warmzuhalten. Das erleichtert mir das zurückkommen, vor allem wenn Jei mich unsanft zurückschickt. Ich werde mich beeilen, aber Zeit ist relativ bei dieser Arbeit.“ Außerdem brauchte er die Gewissheit, dass Ran bei ihm war und keine dummen Sachen anstellte – wie die spontane Entscheidung treffen, doch in die Klinik zu fahren.
 

„Störe ich dich nicht?“ Aya erhob sich und stand am Ende des Futons, dabei zusehend, wie Schuldig eine bequeme Liegeposition einnahm und die Hände nebeneinander auf dem Bauch ablegte.
 

„Nein. Niemand kann das. Ich würde nicht mitbekommen, wenn das Haus über mir zusammenfällt. Ich weiß nicht, wie tief ich in Jeis Geist hinein muss, im üblichen Fall kümmert das meinen Körper nicht sonderlich und alle Funktionen laufen auf Normalbetrieb weiter, Ran. Mach dir keine allzu großen Sorgen.“
 

Aya starrte ihn an. Schuldig sah, wie sich seine Atmung beschleunigt hatte - nur minimal zwar, aber er hatte Stress.

„Soll ich Brad fragen?“
 

„Nein. Fang an.“ Aya schüttelte den Kopf einmal und setzte sich aufs Bett.
 

Schuldig schloss die Augen.
 

„Leg dich kurz zu mir, Ran, bitte“, sagte er leise. Er wollte ihn riechen. Es raschelte leise und Ran kam neben ihn. Er bettete sich der Länge nach an seine Seite, den Kopf auf seine Brust. Der Duft des Shampoos, Rans Eigenduft zusammen mit dem Aftershave, dem Geruch des Waschmittels ihrer Kleidung, ein wenig salziger Schweiß auf der so köstlichen Hau...
 

Schuldig zog sich langsam aus seiner Realität und kehrte zu Jeis Signatur zurück. Zunächst ging das sehr vorsichtig von Statten, nur um dann an Geschwindigkeit zuzunehmen. Eine Welt formte sich um ihn herum. Er sah nach unten und spürte zwischen seinen Zehen warme Gischt, die sich gerade zurückzog. Salzige Meeresluft kitzelte seine Sinne. Die Sonne brannte heiß auf seiner Haut.

Soweit so gut. Er musste lächeln. Diese Erinnerung kannte er.

Es war ein Auftrag auf Hawaii vor ein paar Jahren gewesen. Sie erholten sich von dem unrühmlichen Ende, dass Weiß ihnen beschert hatte. Dabei verbanden sie das angenehme mit dem nützlichen, schließlich brauchten sie Geld. Mit dem Fall von SZ hatten sich ihre finanziellen Mittel stark limitiert, also halfen sie den örtlichen Kopfgeldjägern ein wenig bei ihrer Arbeit.
 

Schuldig drehte sich um und fand Jei im weißen Sand sitzen. Er trug eine Badehose und ein Shirt ohne Ärmel. Seine Narben waren nicht vorhanden, was bedeutete, dass er sich in Jeis Erinnerungen aufhielt.
 

„Haben wir heute einen Job?“, fragte Schuldig und schlenderte in seiner eigenen Bermuda und dem farbenfrohen Hemd zu Jei hinüber. Er setzte sich neben ihn und streckte die Beine von sich.

„Hast du noch nicht genug vom Morden, Mastermind?“
 

Schuldig fingerte sich seine Zigaretten aus der Hemdtasche und klopfte sich einen der Glimmstängel heraus, zündete ihn an und nahm einen tiefen Zug.

„Ist deine Frage eher philosophischer oder praktischer Natur?“
 

Jei blieb ihm eine rhetorische Erwiderung schuldig. Er wartete offensichtlich auf eine Antwort. „Wir brauchen Geld, Jei“, sagte er ernst. „Ich wüsste nicht, was ich sonst mit mir anfangen sollte.“
 

Sie saßen eine Weile da und beobachteten die Wellen, als Schuldig aus dem Augenwinkeln bemerkte, dass Jei ihn direkt ansah.

„Ist das echt?“
 

„Was meinst du?“, fragte Schuldig, lächelte aber wissend.
 

„Das ist nicht real, ich träume...?“
 

„Wie kommst du darauf? Sieht doch real genug aus“, Schuldig tat so, als würde er sich genau umsehen.
 

„Du bist farblos, wie eine weiße Leinwand. Das ist unmöglich.“
 

„Okay, gegen diese Argumentation kann ich nichts einwenden.“
 

„Warum bist du hier, Mastermind?“
 

„Das sollte ich dich fragen, Jei. Überleg selbst, warum ich mir die Mühe mache, hierher zu kommen. Schließlich habe ich wichtigeres zu tun.“
 

„Du meinst...“
 

Die Szene änderte sich extrem schnell und Schuldig blieb nichts anderes übrig, als zu folgen. Diesmal trug er einen Anzug, einen, den er früher gern gemocht hatte. Er saß am Bett eines Mädchens mit braunrotem Haar und vornehm blasser Haut. Ihr weißes Kleid war viel zu dünn für die kühle Nachtluft. Er strich ihr das geflochtene Haar zur Seite und deckte sie bis unters Kinn zu. Sie schlief. Und ihr Schlaf würde endlos sein. Er erinnerte sich daran, wie er hier gesessen und sie betrachtet hatte, wie er in ihrem Geist nach einer Antwort gesucht hatte. Es war keine gekommen.
 

Wenn Jei so weit weg war, würde es lange dauern, bis er ihn von Brotkrummen zu Brotkrummen in die Gegenwart führen konnte. Jei musste den Weg selbst finden. Er musste die Fragen wählen und Jei auf die Antworten kommen.
 

Die Tür öffnete sich und Jei tauchte im Rahmen auf.

Er erkannte ihn, nicht sein Traumalias.
 

„Meinst du sie?“ Jei stand im Gegenlicht der Tür und war für Schuldig nur als schwarze Silhouette zu erkennen.
 

„Nicht ganz. Erinnerst du dich daran, warum ich sie entführt habe?“ Schuldig überschlug die Beine und lehnte sich an die Wand zurück, die die Nische umgab, in der das Bett stand.
 

„Wegen ihrem Bruder... den...“
 

Sie sprangen wieder.
 

Dieses Mal stand er Ran gegenüber, emotional zunächst völlig unbeteiligt, dennoch grinsend. Er spürte, wie die Gier nach dem Leid des anderen ihn völlig vereinnahmte. Nein. Nein. Das war nicht im Hier und Jetzt. Das waren lediglich Erinnerungen, Schuldig musste Abstand gewinnen.

Er sagte sich, dass dies nur eine Erinnerung war.

Ran kniete auf einem Bein vor ihm, seine Klinge kratzte misstönend über den Asphalt, als er sich auf die Beine in die Senkrechte stemmen wollte, es ihm aber nicht gelang. Eine Verletzung am Oberschenkel hinderte ihn offenbar daran. Schweiß lief ihm die Schläfen hinab und sein Atem ging schwer, als hätte er Schmerzen. Die Gesichtsfarbe des Japaners wurde zu einem blassen Grau und Schuldig stand immer noch dort, grinsend und beobachtend.

„Steh auf, mein kleiner Killer. Du schaffst es, du musst dich nur ein wenig mehr anstrengen.“ Er sagte noch mehr, nur Schuldig spürte, dass er hier nicht sein wollte. Jei war irgendwo in der Nähe, das war nicht seine Erinnerung, oder doch? Panik breitete sich in ihm aus. Wenn das seine Erinnerung war, dann hatte er Jei verloren, oder er selbst hatte diese Szene vergessen. Er erinnerte sich nicht daran. Wann war das gewesen? Wann hatte er Ran so schwer verletzt?
 

„Jei?“, fragte er leise. „Ja, ihn meine ich, er sollte leiden“, sie kamen hier vom Weg ab, wenn er in diese Gewaltschiene rutschte. Sie mussten bei den harmlosen Erinnerungen bleiben.

Schuldig starrte auf das mit Blut verschmierte, ihm so vertraute Gesicht. Die violetten Augen, die voller verzweifelter Wut waren...

„... etwas hat sich verändert, Jei. Kannst du mir sagen, was?“ Schuldig hörte sich selbst wie aus der Ferne. Er verlor sich in der Erinnerung Jeis. Es war Zeit, dass Jei einen Weg von hier weg fand.
 

Sie wechselten tatsächlich das Terrain und Schuldig war heilfroh darum. Der Gedanke daran, wie gern er Rans blutverschmierte Haut berührt hätte, hatte begonnen, sich in ihm zu manifestieren. Er wollte nicht dorthin zurück, in die Zeit des Bluts, des Hasses und der Gewalt zwischen ihnen. Sie hatten zu hart dafür gekämpft, dass es anders wurde.
 

Nun standen sie in seiner alten Wohnung. Jei kam gerade mit einem großen Paket an. Er selbst war nicht da. Ran besah sich das Paket skeptisch.
 

In der nächsten Erinnerung verfolgte Jei den Japaner in einer Seitenstraße und dieser wurde angegriffen. Sie spielten mit ihm und Schuldig erkannte, dass er hier einmalige Einblicke in ein Geschehen von außen bekam, dass er so nie von Jei erlangt hätte.

„Bleiben wir einen Moment hier“, sagte Schuldig und sah sich um. Während SIN – denn das war nun offensichtlich, dass es Mitglieder dieser Gruppe waren – Ran verprügelten, besah sich Jei das Umfeld. Sein Blick glitt hinauf zu einem Vordach, auf dem ein Mann stand. Er trug eine Kabuki-Maske. Loses, halblanges Haar löste sich aus seinem Zopf, wehte vom Wind auf und wurde über dem Weiß der Maske sichtbar. Er griff in das Geschehen nicht ein, sondern sah lediglich zu, pfiff einmal und wandte sich dann ab, um das Dach zu verlassen. Er verließ es nicht auf herkömmliche Weise, er sprang vielleicht sieben Meter hinunter, drehte sich in der Luft um genügend Energie des Falles zu absorbieren, und landete schlussendlich mit einer Rolle auf dem Asphalt. Der Pfiff hatte das Ende des Angriffs eingeleitet und SIN verschwand in der Nacht. Offenbar hatte Jei sie gesehen, aber die Details des Angriffs für nicht wichtig empfunden, um es von sich aus zu äußern.
 

„Ich habe ihm geholfen, weil er jetzt dir gehört.“

Jei beugte sich hinunter zu Ran und sah zu ihm auf.
 

„Ja. Das war die Veränderung, die ich meinte. Er gehört mir.“ Schuldigs Blick verlor sich auf Rans hustender Gestalt. Er spuckte Blut aus.

Weg hier. Nichts wie weg hier.
 

o∼
 


 

Aya hielt Schuldig im Arm. Die Wange ruhte auf dem feurigen Haarschopf, seine Hand auf der sich langsam hebenden und senkenden Brust. Er hatte sie beide zugedeckt und er wusste nicht, wie viel Zeit bereits vergangen war, als einmal angeklopft wurde und die Tür sich öffnete. Brad kam herein.

„Er ist lange weg.“
 

„Hm...“ Aya räusperte sich. „Ja... ich denke schon. Ich habe keine Uhr hier oben.“ Er löste sich von Schuldig und lehnte sich gegen das Bettende. Er hatte etwas gedöst, war aber alle paar Minuten aufgeschreckt, nur um festzustellen, dass alles noch so wie zuvor war. Er klammerte sich an einer lebenden Leiche fest.
 

„Zweieinhalb Stunden.“ Brad schloss die Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen.

„Wir sollten es heute Nacht durchziehen. Am besten in den Stunden vor dem Morgengrauen.“
 

Aya setzte sich an die Bettkante und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. Er schüttelte den Kopf. „Haben wir nicht mehr Zeit?“
 

„Nein“, sagte Brad abrupt. „Die haben wir nicht“, etwas niedergeschlagener. Er drehte sich um, öffnete die Tür.
 

„Schafft er es, wenn er sich hier mit Jei so verausgabt? Er braucht Ruhe und Schlaf, bis wir dort rein gehen. Du weißt, wie instabil er ist, wenn...“ Aya erhob sich und starrte Brads Rücken an.
 

„Deshalb erst in ein paar Stunden. Es muss reichen“, unterbrach Brad Ran und öffnete die Tür.
 

„Warum sagst du keinem, wo du hin willst? Warum zum Teufel sagst du nicht, was du siehst? Hast du Angst, wenn du es aussprichst trifft, es nicht ein? Oder hast du Angst, dass es eintritt, wenn du es laut aussprichst?“ Ayas Stimme war messerscharf.
 

„Ich versuche, uns zu helfen. Deshalb kann ich nicht mitgehen. Ich muss an einem anderen Ort sein. Das ist alles, was ich dir sagen kann.“

Brad ging und schloss die Tür. Aya wollte ihm aus einem plötzlichen Impuls folgen. So leicht würde er ihm nicht davon kommen, wenn ihm nicht diese Unsicherheit in der Stimme des Amerikaners aufgefallen wäre.
 

Etwas bedächtiger folgte er Brad hinunter und holte sich ein Glas Wasser. Durch die fast unerträgliche Hitze in dem Zimmer unterm Dach war es ihm, als hätte er seit Tagen nichts mehr getrunken. Er brauchte eine Abkühlung.

Nach einem Blick ins Planungszimmer und einem Besuch in der Vorratskammer, um dort eine Flasche Wasser für Schuldig mitzunehmen, ging er wieder hinauf. Schuldig hatte sich nicht gerührt, Atmung und Puls waren immer noch verlangsamt aber gleichmäßig.

Er beugte sich zu Schuldig, küsste die trockenen Lippen zart und bettete sich wieder an den stummen Leib. Vor einem Jahr hatte er sich sein Leben anders vorgestellt. Tatsächlich hatte es für ihn keine Zukunft gegeben. Und jetzt?
 

Aya schloss die Augen und konzentrierte sich auf den bedächtigen Herzschlag unter seinem Ohr.
 


 

o∼
 


 

Von wegen... bleib wo du bist...ich seh mich um...
 

Yohji war sauer. Schuldig hatte sich verpisst, so viel war klar. Er hatte ihm zwar kurz mitgeteilt, dass noch weitere Personen vor Ort waren, die nicht mehr normal tickten, aber das half ihm in der jetzigen Situation nur marginal weiter.

Zwei davon waren ihm schon über den Weg gelaufen. Zwar war es mit der 9 mm Browning die er sich von dem letzten Angreifer besorgt hatte etwas bequemer, weil schneller und sicherer gewesen, sie auszuschalten, aber ihm entzog sich immer noch die Erkenntnis, was hier eigentlich los war. Und ob er der nächste sein würde, der hier durchdrehte.
 

Yohji begann, systematisch vorzugehen. Er durchsuchte jeden Raum, der geöffnet werden konnte, und arbeitete sich sukzessive durch die ganze Klinik, bis er wieder vor jener Tür angelangt war, hinter der sich das verursachende Übel verbarg. Neben dieser Tür lag das Zimmer welches ihm Hisoka zugeteilt hatte. Sein Weg führte ihn zunächst dorthin.

Er ging zu der Glaswand, die ihm eigentlich einen ungehinderten Blick ins angrenzende Zimmer gewähren sollte. Dummerweise fehlte ihm die nötige Beleuchtung dazu. Trotzdem versuchte er im Dunkel auszumachen, ob Jei noch an seinem Platz auf dem Bett fixiert war. Dort erkannte er schemenhaft eine Gestalt.
 

Allerdings sah er noch zwei Schatten, die sich bewegten, und zwar auf Jei zu. Sie hatten scharfe Instrumente in der Hand, die aufblitzten, wenn das zuckende Licht vom Flur durch sein Zimmer und die Glasscheibe in den Nebenraum fiel.

Yohji schlug gegen die Glaswand, um die Typen auf sich aufmerksam zu machen. Jei war gefesselt und verletzt, er hatte nicht den Hauch einer Chance, sich gegen sie zu wehren. Er dagegen schon.
 

Er stürzte aus dem Zimmer und trat die Tür nebenan ein, und fiel regelrecht in den Raum hinein. Das zuckende Licht ließ die Bewegungen der Frau und des Mannes bizarr langsam erscheinen, aber sie waren schnell, verdammt schnell. Und Yohji schoss mehrmals, bis er keine Munition mehr hatte und einer der Durchgedrehten die Segel strich. Ein einziger Schuss aus einer 9mm Pistole hätte diesem Mann reichen müssen um ihn für immer außer Gefecht zu setzen.

Dummerweise konnte Yohji das auch nicht von der Frau sagen, die er zwar einmal getroffen hatte, die sich dadurch aber nicht aus ihrem Wahn bringen ließ und ihn ansprang. Er hatte keine Zeit mehr, die Drähte zu ziehen und spürte den scharfen kalten Stahl in sich eindringen...
 

o∼
 


 

„Kannst du dich an das erinnern, was ich dir geschenkt habe? Das kleine Geschenk mit den blonden Haaren und den grünen Augen?“
 

Jei und Schuldigs Traumalias wechselten in das Haus, das Brad und Nagi bewohnt hatten, bevor sie ins Ryokan gezogen waren. Schuldig hatte Jei Kudou als Belohnung versprochen, wenn er während ihrer Abwesenheit auf Ran achtete. Danach wurde er Zeuge einer Szene zwischen Kudou und Jei unter einer Dusche und Schuldig fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Ja den meine ich.“ Der Telepath staunte nicht schlecht...
 

„Hast du ihm weh getan, Jei?“, fragte Schuldig.
 

„Nein. Er gehört mir, ich mag seine Farben.“
 

„Gut. Wo ist er jetzt?“
 

„Ich weiß nicht.“
 

Das war nicht gut.
 

„Willst du ihn behalten?“
 

„Ja.“
 

„Er hat dich verletzt.“
 

„Ja.“
 

„Macht dich das nicht wütend?“
 

„Es macht gerade andere wütend.“ Jei grinste ihn an, während er ihn aus der Dusche anblickte.
 

„Jei... du träumst. Du liegst in einer Klinik. Und der Blonde sieht sich dieser Wut in Form von Berserkern ausgeliefert. Es sind zu viele für einen einzigen, Jei.“
 

„Sie wollten ihm schaden. Er gehört mir. Niemand schadet ihm.“
 

„DU schadest ihm gerade.“
 

„Das tue ich nicht“, kam die trotzige Erwiderung und Jei zog den nackten Kudou nah an sich heran. Da sie sich in der Erinnerung unterhielten, musste es mehr eine manipulierte Traumversion sein, denn eine reine Erinnerung.
 

„Wach auf, dann wirst du es sehen. Hilf ihm, wenn du ihn behalten willst. Ansonsten erlöschen seine Farben für immer und auch das, was sie bei dir bewirken.“
 

Schuldig wurde mit einem Ruck hinausbefördert und zurück in seinen Körper geschleudert. Er riss die Augen auf und fasste sich an den Hals, als er einen Schrei unterdrückte und nur ein Krächzen herauskam. „Schei...“ mehr ging nicht. Er hielt sich die Stirn und versuchte, sich zu beruhigen.
 

Ayas Herz schlug doppelt so schnell wie zuvor, als er mit einem Ruck von Schuldig herunterrollte und sich aufsetzte. Schuldigs Hände zitterten, er versuchte Luft zu holen.

„Ist gut, du bist wieder hier...“, murmelte Aya und strich Schuldig über den Rücken. Er griff zur Wasserflasche, deren Inhalt inzwischen warm war, aber es musste für den schlimmsten Durst im Augenblick ausreichen.
 

Schuldig nahm die Wasserflasche, doch er zitterte so stark, dass Ran ihm helfen musste. Nach den ersten Schlucken kam wieder mehr Ruhe in den Telepathen und er setzte sich zurück, raffte die Decke an sich heran und sah zum ersten Mal Ran an. Ihm war übel.

„Jei hat mich rausgeworfen.“ Schuldig strich sich fahrig über die Augen.
 

„Brauchst du eine Kopfschmerztablette?“ Aya kannte die Anzeichen. Schuldig war nicht ganz in Ordnung. Er wartete die Antwort nicht ab, da Schuldig sich die Schläfen rieb und die Augen geschlossen hielt.
 

Aya stand vom Bett auf und verließ eilig das Zimmer, um ihre Reisetasche und frisches Wasser zu holen. Er hatte eine Packung Kopfschmerztabletten eingepackt und reichte nun mitsamt dem Wasser eine an Schuldig weiter. Nachdem er ihm geholfen hatte, sie einzunehmen, überredete er Schuldig, sich wieder hinzulegen.
 

„Komm schon, du brauchst Ruhe. In einigen Stunden bist du fitter und wir müssen dann los.“

Schuldig war zu aufgekratzt, aber er wusste, dass Ran Recht hatte. „Jei träumt jetzt nicht mehr. Ich hoffe, er kann Kudou helfen. Ich bin mir dessen nicht so sicher, Ran. Wenn du hinfahren willst, kann ich das verstehen.“
 

Aya wusste, dass er fahren sollte. Aber Yohji hatte sich mit Jei eingelassen, obwohl er ihn oft genug davor gewarnt hatte. Er musste darauf hoffen, dass alles gut werden würde. Er musste darauf vertrauen, dass die Chemie der beiden zumindest in Sachen Farben übereinstimmen würde.
 

Schuldig schlief ein und Aya überwachte diesen Vorgang. Erst als er sicher war, dass der Telepath ruhig schlief, ging er hinunter zu den anderen.
 

Brad holte sich gerade einen Kaffee aus der Küche, als Aya dort ankam. Er ging zur Tasche, die immer noch auf dem Tisch stand, und fischte sich einen Anzug in seiner Größe heraus.

„Am Besten, ihr zieht sie unter eure übliche Kleidung. Das lässt euch mehr Handlungsspielraum.“

„Für den Fall, dass wir uns tot stellen müssen?“, fragte Aya und seine Mundwinkel deuteten ein spöttisches Lächeln an.
 

„Schläft er?“, fragte Brad und lehnte sich an die Küchenzeile, den Kaffee in der Hand.

„Ja“, seufzte Aya und holte sich noch eine der Sturmmasken aus der Tasche.

„Wir lassen ihn drei Stunden schlafen, das muss genügen, damit er sich erholt. Hat er etwas über Jei gesagt?“
 

„Er hat ihn aus dem Traum geholt, aber alles Weitere liegt in den Händen von Yohji und eurem Empathen. Ich habe kurz erwogen, hinzufahren“, sagte er und verstummte, ließ die rechte Hand mit der Gesichtsmaske aus feinem Gewebe auf den Tisch sinken.

Er sah auf und begegnete dem forschenden Blick des Amerikaners, der gerade einen Schluck seines Kaffees nahm.

„Und bist zu dem Schluss gelangt, dass es sinnvoller wäre, hier zu bleiben?“
 

„Nicht sinnvoller. Vielleicht... egoistischer. Ich lasse ihn nicht alleine gehen“, sagte Aya.
 

„Du bist der Meinung, dass du besser auf ihn achten kannst, als ich?“, fragte Crawford mit neutraler Stimmlage aber brennendem Blick in Ayas Richtung.
 

Dieser schwieg für die Sekunden, in denen sie sich maßen, sich taxierten und schließlich beide zu einem stummen Konsens zu kommen schienen.

„Ja, dieser Meinung bin ich“, sagte Aya langsam. „Immer noch.“ Sie hatten dieses Thema bereits diskutiert.
 

Crawford starrte ihn an wie der Habicht das Kaninchen, nur um dann im nächsten Moment ein eiskaltes Lächeln zustande zu bringen. „Gut. Ich sehe das genauso.“
 

Der Japaner musste sich nicht mit eigenen PSI Fähigkeiten herumplagen, während er einem Anderen Deckung gab. Während er selbst Visionen hatte, unabhängig, wie ausufernd diese waren, war das schnelle Fällen von Entscheidungen schwieriger.
 

Brad löste sich von der Anrichte und verließ die Küche. Aya sah Brad nach und setzte sich schlussendlich auf den Barhocker. Er ließ seinen Blick über die verschiedenen Waffen auf dem Tisch gleiten und blieb an Omis Bögen hängen. Omi hatte zwei Compoundbögen und eine Armbrust mitgebracht, die er in Teilen bereits zusammengebaut hatte. Die Bögen waren auf schnelle Ortswechsel eingestellt, sodass Omi sie schnell zusammen- und wieder auseinanderbauen konnte. Aya holte sich seine beiden Klingen heran, die noch immer verpackt waren, und begann die Umhüllung zu lösen. Es war Zeit, sich vorzubereiten...
 


 

o∼
 


 

Jei schlug die Augen auf und wollte sich aufrichten, musste aber feststellen, dass ihm das durch einen Gurt über der Brust verwehrt wurde. Er riss an den Fesseln und stemmte sich gegen die Fixierung. Als das alles nichts half, gab er sein zweckloses Unterfangen auf und versuchte stattdessen, sich zu orientieren.

Er hatte den wagen Geschmack von Schuldigs Essenz auf seiner Zunge. Es dauerte jedoch nur wenige verwirrende Momente, bis er sich darüber klar wurde, dass es nur eine Erinnerung an einen Traum war.

Es war dunkel im Raum und er hörte Kampfgeräusche. Den Kopf von der Unterlage hebend sah er jemanden, der sich auf einen Mann stürzte, und dieser Jemand – das wurde ihm schnell klar - stand unter seiner Kontrolle. Er griff sich diesen Strang der Verbindung und kappte sie. Die Frau fiel plötzlich in sich zusammen, als hätte man ihr jeden Lebenswillen genommen. Das gurgelnde Geräusch kam aus ihrer Kehle, als sie an der Vielzahl ihrer Verletzungen zugrunde ging. Ein Keuchen drang nach ein paar Sekunden an seine Ohren und er fixierte sein inneres empathisches Auge auf die Person, die es erzeugte. Grüngolden mit rasend rotschwarzen Schlieren, die sich wie fiebrige Schlangen durch die schillernede Grundierung wanden, schob sich unter der Toten hervor und versuchte aufzustehen.
 

Yohji war immer noch auf den Knien und versuchte, sich im Halbdunkel der zuckenden Beleuchtung, die vom Flur hereindrang, einen Überblick zu verschaffen. Er kam keuchend in die Senkrechte – zumindest stand er auf seinen Beinen – was ihm jedoch erst auf den zweiten Anlauf gelungen war. Das Miststück hatte ihm die Flanke aufgeschlitzt. Fahrig wischte er sich mit einer Hand die klebrigen, verschwitzten Haarsträhnen zur Seite, damit sie ihm nicht die Sicht nahmen. Er hielt sich mit der anderen Hand die Flanke, um die Wunde abzudrücken und hangelte sich an dem Bett entlang zu Jei. Dieser lag ruhig da und hatte ihm das Gesicht zugewandt. „Kannst du noch irgendjemanden hier ausmachen, der am Leben ist?“, fragte er Jei.
 

Der Angesprochene sah ihn verständnislos an, als wäre das eine sehr seltsame Frage, erweiterte aber am Ende doch sein mentales Spektrum, um der Frage nachzukommen. Er tat es, weil er erkannte, dass der Blonde in keiner guten emotionalen Verfassung war. „Nein.“
 

„Hervorragend“, sagte Yohji spöttisch. „So weit so gut.“
 

„Weißt du, wer ich bin?“ Yohjis Finger zögerten noch, die Fesseln zu lösen. Sie waren bei den Beingurten angelangt, zogen aber die Schlaufen noch nicht durch die Bettgurte.
 

„Ja. Du bist der Grund, warum ich aufgewacht bin.“
 

Yohji runzelte die Stirn. „Das ist mir jetzt zu anstrengend“, brummte er und schüttelte verständnislos den Kopf.
 

„Gib mir ne klare Antwort, Jei. Ich muss wissen, ob ich dich losmachen kann oder ob du ausflippst wie diese Zombies hier.“
 

„Du bist Kudou.“
 

Da hatte er seine klare Antwort. Yohji seufzte. Er starrte für einen langen Moment den Empathen an und entschloss sich dann, das Risiko einzugehen. Heute hatte er seinen risikoreichen Tag wie es schien.
 

„Ja. Richtig. Das bin ich“, er lächelte ein müdes Lächeln und begann dann, die Fixierungen zu lösen.

Jei setzte sich ruckartig auf. „Hey, mach langsam, du hast noch zu viele Wunden, die noch nicht ganz verheilt sind.“ Nach ein paar Augenblicken in denen er sicher war, dass Jei sich nicht mehr bewegte als für dessen Wunden gut war, wandte er sich der Frage zu, deren Beantwortung ihn am brennendsten interessierte.

„Warum hast du die Typen in diesen Zustand versetzt?“
 

Jei sah ihn ruhig an, antwortete jedoch erst als er sich der Antwort sicher war. Er erinnerte sich an den Traum, den er von Schuldig gehabt hatte.

„Sie wollten dich töten. Es war eine Möglichkeit sie davon abzuhalten. Eine zeitlich begrenzte Intervention, die es mir ermöglicht einen schnellen Tod bei anderen Lebenwesen hervorzurufen, sofern mir die direkte Kontrolle verwehrt bleibt. Ein menschliches Wesen mit durchschnittlichen Organfunktionen hält diesen Zustand nicht lange stand. Es geht zugrunde. Dein Eingreifen war riskant und... überflüssig.“
 

Yohji schüttelte den Kopf. Er begriff es nicht. Er hätte einfach nur abwarten sollen? Ein humorloses Lachen perlte über seine Lippen. „Gibt es für euch so etwas wie eine Anleitung? Ein Handbuch? Damit wäre mir sehr geholfen...“ Er fühlte sich verarscht und sein Lachen verstummte. Eine Frage blieb jedoch. Warum hatten ihn das Personal angegriffen?
 

„Wo sind die anderen?“, fragte Jei und ließ die Füße langsam vom Bett gleiten.
 

„An was kannst du dich noch erinnern?“, fragte Yohji und zog harsch die Luft ein. Er griff sich Jeis Bettdecke, um sie auf seine Flanke zu drücken. Der brennende Schmerz mischte sich mit einem dumpfen, drückenden Pochen.
 

Jei sah ihn stoisch an, als Yohji von seiner Tätigkeit hochblickte. „Du hast mich angegriffen.“
 

Yohjis mittlerweile blutig-klebrigen Hände wurden ruhiger und hörten auf, an der weißen dünnen Bettdecke, die er sich auf die Wunde drückte, herumzunesteln. „Ich war wütend... ich wollte das nicht...“, würgte er hervor.

Die Schuldgefühle in ihm ließen ihn verstummen.
 

„Dafür, dass du es nicht wolltest, hast du es gut gemacht.“ Jei legte den Kopf schief und starrte ihn immer noch an. Er schwieg eine Weile, in der sich Yohji nach etwas umsah, dass er sich auf die Wunde drücken konnte, bis sie einen Weg gefunden hatten, hier raus zu kommen.

Jei sah ihm dabei von seiner Position aus zu und studierte dessen Gefühlsleben. Nach einer Weile sagte er: „Gut. Aber nicht so gut wie SIN.“

Yohji nickte lediglich. Ja, er war schon auf die Idee gekommen, dass er nicht allein dafür verantwortlich war, was Jei hierher gebracht hatte.

„Ich... habe dir nicht vertraut. Ich hätte dir besser zuhören müssen.“ Yohji atmete angestrengter als zuvor, wie ihm gerade auffiel. „Ich versteh dich manchmal nicht“, versuchte er sich zu erklären.

„Wir müssen hier raus“, sagte er dann als ihn Schwindel überfiel, er sich aber noch am Bett festhalten konnte. Er wartete ab, in der Hoffnung, der Schwindel würde sich verflüchtigen. Was er auch prompt tat.
 

Jeis Aufmerksamkeit glitt von ihm ab und seine ganze Gestalt wandte sich ruckartig der Tür zu. Irgendjemand war dort, dessen war sich Yohji sicher.

Er hörte, wie die automatische Tür im Eingangsbereich geöffnet wurde.

„Wa...“ Yohji wollt etwas sagen, doch Jei war wohl anderer Meinung, denn er schüttelte einmal kurz den Kopf.
 

Der Doc erschien im Türrahmen begleitet von seiner helfenden Hand Hisoka. „Meine Herren. Es ist erfreulich zu sehen, dass sie leben.“
 

Yohji blinzelte ein paar Mal. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erfreut WIR darüber sind.“ Er verzog das Gesicht schmerzerfüllt und lächelte dieses Mal wesentlich unfreundlicher. „Und jetzt sagen Sie uns bitte, lieber Herr Doctor, was ihr Personal dazu veranlasste, mich anzugreifen. Wenn Sie nicht wollen, dass Ihnen Schwarz und Weiß den Arsch aufreißen sollen, bitte ich um eine Erklärung, falls sie eine parat haben sollten.“
 

Jei fixierte den Arzt wie eine Schlange die Maus. Yohji hatte sich schon des öfteren in dem gleichen brennenden Fokus gewähnt und er wusste, wie unangenehm das sein konnte. Er war ganz froh, dass Jei auf seiner Seite stand. Hoffte er zumindest.
 

„Darf ich mir das kurz ansehen?“, fragte der Doc und trat einen Schritt näher, doch Yohji machte einen Schritt zurück um das Bett herum, sodass er halb hinter Jei stand. „Momentan eher nicht.“
 

„Es war nicht vorgesehen, dass sie ihr Zimmer verlassen. Die Tür ihres Zimmers sollte ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zu öffnen gewesen sein. Wir kennen die Aufwachphase dieses Patienten. Aufgrund langjähriger Erfahrung damit und derzeit einiger personeller Probleme haben wir eine Lösung für ein unschönes Beispiel von untragbaren Mitarbeitern gefunden. Es ist – war - keine saubere Lösung, aber es kann als Unfall verbucht werden. Solche Dinge geschehen eben.“ Er zuckte mit den Schultern und zog ein bedauerndes Gesicht.
 

„Personelle Probleme?“ Yohji schüttelte den Kopf.
 

„Sie haben uns erpresst, das war nicht mehr tragbar. Eine Gefahr, vor allem auch für Schwarz. Und dieser Gefahr mussten wir begegnen.“
 

„Da hat sich aber eine ganze Menge Wut angestaut, wenn Sie dieses sogenannte Personal auf diese Weise beseitigen.“
 

„Sie hätten sich gegenseitig vernichtet. Das, was ihnen zusteht, haben sie bekommen. Es ... tut mir außerordentlich leid, dass Sie dem ausgesetzt waren.“
 

Der Doc sah nicht so aus, als würde es ihn im Besonderen Maße emotional belasten.

„Und das soll ich Ihnen jetzt glauben?“
 

„Es ist so, wie er es sagt. Es tut ihm leid. Er ist in Sorge“, sagte Jei.
 

„Die Frage ist nur, um was er besorgt ist“, sagte Yohji.
 

„Das kann ich nicht sagen. Aber diese Sorge reicht aus, um dich zu behandeln.“
 

„Wenn Sie mir nicht glauben, dann vielleicht ihm, denn es ist, wie er sagt. Es wird ihnen nichts geschehen.“
 

„Ich sehe nach, ob ich die Stromversorgung wiederherstellen kann“, sagte Hisoka und verließ ihr Blickfeld.

„Ich bitte Sie in den Behandlungsraum. Bis Sie sich entschieden haben, werde ich mich um das Personalmanagement kümmern. Entscheiden Sie sich schnell, bevor ihr Körper Ihnen dies abnimmt.“
 

Der Doc ging und Yohji stand halb auf das Bett gestützt da. Der Schwindel kam wieder. Er seufzte. Er hatte von all dem genug.

Müde hiefte er sich aufs Bett und legte sich hin. Das war um vieles besser. „Jei. Weck mich, wenn ich sterbe“, sagte er mit rauer Stimme und sah mit halbgeschlossenen Lidern, wie dieser die Hand hob und ihm die strähnigen Haare aus dem Gesicht wischte.

Dann schloss er die Augen und fühlte nur noch innere Ruhe. Er lächelte, als er eindöste.
 


 

o∼
 

Schuldig ließ sich über die Leitplanke gleiten und rutschte dann den Abhang durch eine Böschung hinunter. Es war dunkel, doch die Nachtsichtgeräte, die sie trugen, halfen ungemein, den Weg durch dieses vermaledeite Dickicht zu finden. Schuldig fluchte in den blumigsten Worten, die ihm geläufig waren, vor sich hin. Leider hörte es keiner, was den Effekt der Erleichterung schmälerte, denn er blieb stumm dabei. Brad blieb im Wagen und verfolgte anhand der von den Nachtsichtgeräten gesendeten Bilder den Weg, den sie nahmen.

„Seht auf die Pads“, sagte er ins Headset. „Der Weg ist dort eingezeichnet.“ Er besah sich die Route. „Ich warte bis ihr die Hälfte der Wegstrecke hinter euch habt, danach seid ihr auf euch gestellt.“
 

„Alles klar“, murmelte Schuldig in sein Headset und sie trabten los. Als das niedere Gestrüpp sich lichtete, kamen sie schneller voran und verfielen in ein gutes Tempo.
 

Nagi trug einen von Omis Bögen und ein paar Explosivgeschosse auf dem Rücken. Er war die ganze Zeit während ihrer Fahrt zum Grundstück still gewesen. Lediglich die Hand, die Omis umklammert hielt, erzählte von der Anspannung, unter der der schmale Körper des Telekineten stand.
 

Schuldig hatte sich lang und breit während der Fahrt darüber ausgelassen, dass es für ihn eine Zumutung war, in einer Nacht und Nebel-Aktion in dieses Gebäude einzufallen. Er stand eher auf den dramatischen Auftritt, der gut in Szene gesetzt war und selbstverständlich mit ihm als Mittelpunkt. Das ganze Gerede hatte jedoch nur einen einzigen Zweck gehabt, nämlich den, die angespannte Atmosphäre auf der Fahrt ein wenig aufzulockern.
 

Was zur Folge gehabt hatte, dass Aya sich dazu bemüßigt fühlte, Schuldigs Haarschopf zu packen und diesen in den Nacken zu ziehen, um ganz dicht an sein Gesicht heranzukommen, bis Schuldig den Atem anhielt und große Augen machte.
 

„Halt den Rand“, kam der Befehl und Schuldigs Körper überrieselte ein Schauer ob der tiefen Stimme, die Schuldig eher aufstachelte, als einschüchterte.

„Weil du es bist“, hauchte Schuldig in seidig weichem Tonfall. Er war aufgekratzt. Der Schlaf hatte ihm gut getan und nun war er zu allerlei Schandtaten bereit.

Er grinste diabolisch zu Ran auf und hätte die missbilligend verzogene Linie gerne geküsst, die sich nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht befand. Allerdings war die Spannung dadurch nur um weitere Ellen angestiegen und hatte seine Vorfreude auf die Unternehmung sogar noch vergrößert.
 

Ran hatte ihn angesehen und das Violett hatte ihm viele Versprechungen gemacht – dunkle, strafende und auch erotische. Aber vor allem die dunklen Versprechungen waren aus diesem Blick zu lesen gewesen.
 

Schuldig grinste in Erinnerung daran, als sie durch den Wald liefen. Vielleicht hatte er sich den Rest nur eingebildet und Ran hatte ihm tatsächlich nur einen kurzen, gnädigen Tod versprochen. Er hätte ihn am liebsten auf der Stelle die Kehle durchgeschnitten, so wie er ihn angesehen hatte.

Er konnte den Japaner immer noch schnell und effizient auf die Palme bringen. Was konnte jetzt noch schief gehen?

Falling Mask II

Falling Mask II
 


 

Finn Asugawa, wohl der Mann, an den in den vergangenen Stunden und im Augenblick am meisten gedacht wurde und sich dessen voll bewusst, betrat von Masahiros Privaträumen kommend das große Entree, in denen er den großen Zampano – Sakurakawa Yoshio – höflich darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass er sich seine dritte Sektion in den Allerwertesten schieben konnte, da sie einem Angriff von Schwarz und Weiß ausgesetzt waren. Er musste wohl alle drei Sektionen in Kyoto unterbringen. Welch ein Dilemma.

Für den Moment günstig würde das zu einem späteren Zeitpunkt enorme Schwierigkeiten mit sich bringen. Im Augenblick zählte nur das Überleben. Später konnte er sich über dieses nicht zu kleine Problem Gedanken machen.

Er durchquerte das Entree, bog dann in die Versorgungs- und Lagerräume ab und kam über ein paar hinabführende Treppen zu dem Raum, den sie für ihre Gefangenen umfunktioniert hatten. Früher war es einmal ein Lagerraum für Labormittel gewesen. Sie hatten nicht viel Zeit.

Er fand Kiguchi vor der Tür stehen. „Sie haben deine Einladung angenommen“, sagte dieser.
 

„Ja. Sie sind da“, erwiderte Finn und öffnete die Tür zum ehemaligen Lagerraum.

Sein Blick viel auf Averitia, der sich im hinteren Bereich des unmöblierten Raumes mit dem Kritikeragenten beschäftigte. Er trat ihm gerade in den Bauch, was lediglich noch ein verhaltenes Stöhnen auslöste. Zu mehr war der malträtierte Körper des halb weggetretenen Kritikeragenten nicht mehr fähig. Das Seil war von der Decke gelöst worden und der Gefangene an zwei Punkten auf dem Boden gefesselt. Ausweichen konnte er den Schlägen daher kaum.

„Bring ihn in die unteren Labore. Kiguchi steht draußen und wird dir behilflich sein.“
 

„Warum das?“, fragte Averitia unwirsch nach. Er atmete schwer, wohl aufgrund der körperlichen Anstrengung des Folterns. Oh Ja - Folterer hatten es auch nicht leicht. Finns Augenmerk erfassten die Wunden, die Averitia dem Kritikeragenten zugefügt hatte, dagegen würde diesen ein relativ schneller Tod ereilen. Unverhofft kommt oft.
 

„Weil wir Besuch haben“, antwortete Finn einen wohl überlegten Tick zu spät. Er stand lässig mit den Händen in den Hosentaschen da und wartete gelassen, bis Averitia in seiner Tätigkeit innehielt und zu ihm aufblickte. Als hätte er alle Zeit der Welt und könnte es sich leisten, darauf zu warten, dass Averitia ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ.

„Diese hier werden wir “, er nahm seine Linke aus der Hosentasche und deutete auf die Frau, die noch immer im Stuhl saß „nach Kyoto bringen. Deinen Zeitvertreib hier brauchen wir als kleinen Anreiz für unsere Freunde dort draußen.“

Averitia nickte und band den Agenten los, bevor er ihn an der Kette um seine Beine durch den Raum zog. Finn öffnete den beiden zuvorkommend die Tür und schenkte Kiguchi ein aufmunterndes Lächeln, während er sie wieder schloss.
 

Eve hob den Kopf ein Stück an. Sie hatte Durst, ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie zu viel geraucht und zu viel getrunken. Die Zunge klebte ihr wie ein totes Stück Fleisch am Gaumen. Ihr Blickfeld hatte sich zu makellosen, schwarzen Schuhen und der Anzughose eines Mannes erweitert, als ihr Kinn angehoben wurde und ihr sich die Welt der Spinne erschloss und deren Antlitz, das sie freundlich anblickte.

„Es wird Zeit, meine Liebe.“

„Wofür?“, krächzte sie.
 

„Wir unternehmen eine kleine Fahrt nach Kyoto. Das dürfte ihnen gefallen. Sie kommen etwas raus, schnappen frische Luft, sehen andere Menschen“, meinte er jovial.
 

Sie trug keine Kontaktlinsen und er verlor sich für einen langen Moment in den Augen ihres Bruders. Abrupt wandte er sich ab.

„Sie kennen das Procedere. Stehen Sie auf und benehmen Sie sich. Alles, was Sie jetzt unternehmen um sich zu retten, würde das Unvermeidliche nur abkürzen oder es qualvoll verlängern. Und wer weiß, mit etwas mehr Zeit bietet sich Ihnen vielleicht die eine oder andere Gelegenheit...“
 

Den Satz hoffnungsvoll im Raum schweben lassend löste er ihre Fesseln, die sie an den Stuhl fixierten und hielt sie am Oberarm, um ihr die Richtung vorzugeben. Sie tat sich schwer mit dem Aufstehen, ihre Muskeln waren steif. Sie ballte die Hände zur Faust, biss die Zähne zusammen um zu verbergen, wie sehr ihre Finger sie schmerzten, die seit Stunden an dem Brett auf dem Stuhl fixiert gewesen waren.

„Ich brauche meine Handschuhe“, sagte sie leise mit unsicherer Stimme.
 

Er dirigierte sie zur Tür. „Diese sind in den Besitz unserer allseits geschätzten Gula geraten. Glauben Sie mir, da möchten Sie im Augenblick nicht einmal mit dem kleinen Finger hineinschlüpfen.“
 

Sie blieb stehen und sah zu ihm auf. Sie waren auf Augenhöhe. Wusste er etwas? Wie konnte das sein?
 

Sie sah es in seinen Augen. Er wusste es. Der Schock über diese Tatsache ließ ihre Augen groß werden. Er zeigte ihr sein Wissen über ihre gut gehütete Besonderheit in seinem ruhigen Blick. Dieses perfekt modellierte, schöne, fast schon androgyne Gesicht hatte seit sie ihm begegnet war noch nie etwas offenbart, was es nicht offenbaren wollte. Doch sie kannte seine Vergangenheit. Konnte sie es sich denn leisten, dieser hinterhältigen Person zu vertrauen? Wohl kaum. Er hatte ihren Deal verraten, hatte sie an die Familie verkauft. Aber für was? Für diese Informationen, die Daten, die sie über die Familie erhalten sollte? Was war so wichtig daran, dass er ihren Pakt verraten hatte?

Und trotz der Gefangennahme hatte er sie von den Foltermethoden SINs verschont.
 

„Sagen Sie nichts, dann werde ich es auch nicht tun. Zwingen Sie mich nicht dazu, Eve, wie Sie mich dazu gezwungen haben, diese Farce hier zu veranstalten, indem Sie Masahiro ausgeschaltet haben.“

Er öffnete die Tür und sie trat raus. Ihre Hände waren vor ihr gefesselt und sie hielt die Finger ineinander verschränkt. Sie würde den Teufel tun und irgendetwas in diesem Haus anfassen.

„Sie wissen, dass ich nichts mit Masahiros Tod zu tun habe...“, sagte sie aufgebracht und sträubte sich gegen die Hand, die ihren Oberarm umfasst hielt und ihr die Richtung vorgab. Er hielt kurz an und sah ihr ins Gesicht. Sein halblanges Haar verdeckte sein Gesicht wie ein düsteres, zerschlissenes Leichentuch und ließ ihn nicht nur bedrohlich, sondern unheimlich wirken.

„Ich bin sehr wütend über diese... beschissene Aktion, Eve“, sagte er leise und sie konnte die mühsam im Zaum gehaltene Wut in der Stimme vibrieren hören.
 

„Jemand, der auf mich angewiesen ist, leidet wegen ihrer Inkompetenz. Wer auch immer diesen Befehl gegeben hat - er hat offenbar keine Skrupel und nimmt die darauf folgenden Ereignisse billigend in Kauf. Viele werden dafür leiden. Wollen Sie dazu gehören?“

Er wartete einen kurzen Moment ab, ob sie antworten würde, doch sie erwiderte seinen Blick mit der ihr innewohnenden eisigen Ruhe und der dazu gehörenden Arroganz.
 

Irgendetwas erschütterte das Haus und im ersten Moment ging sie von einem Erdbeben aus, als der eiskalte Mann vor ihr, den sie nur ruhig, gelassen und mit einer geradezu perfiden Effizienz bei der Arbeit gesehen hatte, mit den Augen rollte und genervt aufstöhnte.

Das passte so gar nicht zu dem Bild, das sie von Asugawa hatte – oder sich zurechtgebastelte hatte. Es passte noch nicht einmal zu den letzten Sätzen, die Asugawa auf sie abgefeuert hatte.
 

Sein Blick richtete sich im Halbdunkel auf ihre Haare und er neigte leicht den Kopf, als würde er auf etwas lauschen.

Sie folgte seinen Augen mit den ihren und erkannte, was er versuchte, herauszufinden. Ihre und seine Haare bewegten sich. Und zwar nicht der der Schwerkraft folgend, sondern in die andere Richtung.
 

„Wir müssen weiter, ansonsten fällt uns noch das Haus auf den Kopf bei dem Krach, der dort draußen veranstaltet wird.

Dass das auch nie unauffällig bei denen von Statten gehen kann. Da macht man Pläne und steckt einen Haufen Zeit und Gehirnschmalz in die Sache und keiner hält sich dran...“
 

Sie setzten sich wieder in Bewegung und Eve folgte ihm nun etwas braver. Er schimpfte noch leise vor sich hin, aber sie verstand den Zusammenhang mit ihrer Situation nicht wirklich, sodass sie sich eher Gedanken um seine Beweggründe und ihre Rolle dabei machte.

Trotz seines Verrates hatte sie aus zwei Gründen Vertrauen zu ihm – Grund eins war die Tatsache, dass er ihre Finger mit Farbe übergossen hatte, das hatte sie an dem Geruch und an den Farbresten auf dem Brett sehen können. Die letzten Stunden hatte sie Zeit gehabt, darüber nachzudenken, warum er das getan haben könnte. Die Vorbereitung auf einen provozierten Angriff durch Schwarz auf dieses Anwesen mittels eines gefakten Foltervideos? Sie war nur halbwach dabei gewesen, aber die Berührung ihrer eigenen Finger hatte ihr gezeigt, was genau geschehen sein musste.

Der zweite Grund fand sich in ihrer beider Vergangenheit...
 

Sie gingen einen Flur entlang und dann ein paar Treppen nach oben. Es war nur wenig Beleuchtung an, aber die Tatsache alleine sagte ihr, dass es abends oder nachts war. Es war ein schönes Haus, das sie durchquerten, vor allem war es groß und kein Hinterhof, wie sie zunächst aufgrund ihrer kargen Unterbringung vermutet hatte.

Eine Frau kam ihnen schnellen Schrittes entgegen. Sie trug ein Datenpad in der Hand. Von draußen waren Schreie und Befehle zu hören. Ein gleißendes Licht erhellte für einen Moment die Frontscheiben.

Ein Blitz?

„Kiguchi wartet auf dich im Labor. Er wird alles Weitere mit dir besprechen.“

Sie nickte und ging dann neben der großen Treppe in einen anderen Bereich des Hauses.
 

Eve wurde von Asugawa in die gleiche Richtung geführt. Als sie aus dem Entree in einen anderen Bereich des Hauses wechseln wollten, fühlte Eve ein Prickeln auf ihrer Haut, dass ihr eine Gänsehaut bescherte. Ein unangenehmer Druck baute sich in ihren Ohren auf. Es ließ sie langsamer werden und schließlich stehen bleiben. Sie sahen sich beide um. Sie hatte es schon im Ansatz gemerkt, als sie die unteren Räume verlassen hatten. Der Druck wurde größer und sie spürte ihn in jeder Zelle ihres Körpers.

Das Haus ächzte, es leistete Widerstand gegen das, was es bedrängte. Sie standen gerade vor der großen Glasfront, als etwas leise knirschte. Der Widerstand brach. Sie starrte die Risse an, die wie ein Geflecht aus silbernen Fäden in Windeseile über die Seiten in die Mitte der Glasfläche krochen. Asugawa riss sie plötzlich auf die Rückseite der großen Treppe zurück. Er presste seine Hände auf ihre Ohren und drückte ihr Gesicht in seine Halsbeuge. Mit ohrenbetäubendem Knall splitterte die komplette Glasfront des Hauses und die Luft wurde ihr aus den Lungen gedrückt. Sie klammerte sich an Asugawa und presste ihr Gesicht an seine Haut. Er hielt sie währenddessen gegen die Wandvertäfelung unter der Treppe gepresst, schützte sie mit seinem Körper vor den tödlichen, gläsernen Geschossen, die für kurze Zeit, trotz ihrer Deckung, überall zu sein schienen. Noch immer an Asugawa gedrückt holte sie keuchend Luft und hustete. Wind fegte nun in das Haus und wirbelte die Trümmer herum. Sie bewegten sich, als hätten sie ein Eigenleben.

Ihre Augen begannen zu tränen und ein stechend scharfer Geruch lag in der Luft. Sie hustete wieder.

Die Glassplitter hingen ihnen teilweise in den Haaren und sahen auf Asugawas Anzug wie geschliffene Diamanten aus. Sie verlor sich für einen Moment, in dem die Zeit still zu stehen schien in diesem Anblick. Der Druck in ihren Ohren hatte kurzzeitig nachgelassen, aber er baute sich stetig wieder auf. Sie schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen, als sich dort dumpfe Kopfschmerzen breit machten. Es geschah alles wie in Zeitlupe, was unmöglich war. Für einen kurzen Moment hörte sie fast nichts mehr, sondern sah Asugawa nur an, bis sie wieder reagierte und erneut husten musste.
 

Asugawa zog die Frau wieder hervor, als sie gerade dabei war, eine Bestandsaufnahme von sich oder vermeintlichen Verletzungen zu machen. Dafür war aber keine Zeit.
 

Sie war damit beschäftigt, im gefesselten Zustand Asugawa zu folgen, der sie über zersplittertes Glas hinter die Treppe zu einem Flur und einem anderen Ausgang führte. Teilweise war das Glas so fein wie Sand.

Es war zwar dunkel, aber das Gelände war von Scheinwerfern und anderen Lichtquellen erhellt, wütende, aber auch schmerzerfüllte Schreie waren zu hören, dazwischen immer wieder Salven von automatischen Pistolen.
 

Das war ein Krieg. Sie hörte ihren eigenen Puls in ihrem Kopf hämmern, Ozon lag in der Luft und ließ sie flach atmen. Dächer vibrierten, Ziegel lösten und erhoben sich, flogen wie Geschosse in die oberen Stockwerke, ließen wiederum Glas splittern und auf die Untenstehenden herabregnen.

Während sie über einen Platz hinter einem der Nebengebäude rannten, erhaschte sie einen Blick auf eines der Dächer, von dem ein heller, gleißender Lichtkegel in den nächtlichen Himmel brach. Sie sah eine schmale Person. Sie schwebte im Licht, die Hände seitlich von sich gestreckt, ein Bein leicht angezogen. Die Augen wie lodernde, gleißende Öffnungen der Hölle auf die, unten im Hof auf ihn schießenden Männer gerichtet. Eve stand im tobenden Wind und war wie geblendet von dem, was sie sah. Er legte den Kopf in den Nacken, ekstatisch und überirdisch. Eine zerstörerische Schönheit, die alles vernichtete, was ihr zu nahe kam. Und das tat sie jetzt. Erneut krachte ein Donnern heran und Energie entlud sich peitschenartig. Der Wind konzentrierte sich nun um die Gestalt und nahm zu. Er war nicht natürlichen Ursprungs. Es fühlte sich falsch an. Eve wusste nicht, was jetzt in die Luft geflogen war, aber sie spürte die Vibrationen durch den Boden in ihren Körper dringen. Danach war es für eine Weile ruhig und kein einziger Schuss fiel.
 

„Laufen Sie“, schrie Asugawa sie an, um den Wind zu übertönen, und zerrte an ihrem Arm. Sie verließen den Hauptschauplatz der kriegerischen Begegnung und erreichten den großen Fuhrpark. Einer der SUVs mit verdunkelten Scheiben wurde anvisiert und Asugawa öffnete die hintere Tür der Beifahrerseite. Sie stieg ein und er befestigte die Handfesseln am Rücksitz des Beifahrers.

Danach ging er in einer anderen Richtung als der, aus der sie gekommen waren, davon.
 

Eve versuchte sich umzusehen, sah jedoch nur hin und wieder ein grelles Aufblitzen und vernahm ein ohrenbetäubendes, peitschendes Geräusch, als würde ein Blitz einschlagen.
 

Kurze Zeit später kam Asugawa wieder. Er hatte sich offensichtlich umgezogen. Nun trug er robuste Hosen und ein schlichtes, schwarzes Shirt. Die obere Hälfte seines Gesichts war halb von einem Tuch bedeckt, die untere ebenso. Er sah aus wie ein Ninja und war vermutlich auch einer. Diesem Mann war tatsächlich alles zuzutrauen. Er hatte einen Rucksack locker über eine Schulter gehängt und warf diesen auf den Beifahrersitz. Dann stieg er ein und sie fuhren los.
 

„Ich hätte nicht gedacht, dass sie kommen“, sagte Eve und ihr Blick war nach hinten gerichtet, bis große Bäume nur noch das Licht hindurchließen, aber keine Details des Angriffs. Es war die Arbeit eines mächtigen Telekineten. Sie kannte das aus den Lehrbüchern. Nur ein wirklich geübter und disziplinierter Telekinet konnte derartige Mengen an Energie konzentrieren und wieder entladen, um einen derartigen Aufruhr zu veranstalten.
 

Finn sah in den Rückspiegel, erkannte aber nur die Hälfte ihres Gesichts.

Er fand das Ganze ein wenig übertrieben. Er war eher der Mann fürs Heimliche. Aber das war das Problem mit den Höllenhunden. Wenn man sie einmal von der Kette ließ, musste selbst der Teufel sehen, dass er ihnen einen guten Knochen zuwarf, an dem sie gefallen finden würden, wenn er nicht selbst als Futter herhalten wollte.
 

Eve konnte es nicht glauben. Ihr Bruder war tatsächlich gekommen um sie rauszuholen? Er hätte es nie in ihre Nähe geschafft. Und wo war Manx und ihr Team?

Sie versuchte, den Kopf nach hinten zu drehen, um doch noch etwas zu sehen, und tatsächlich, eine Explosion im hinteren Teil eines Nebengebäudes erschütterte sowohl den Boden als auch ihren Wagen. Eine große Explosionswolke schleuderte Teile des Hauses in die Luft und kochte zu einer wütenden, schwarzgrauen Wolke hoch in den nächtlichen Himmel hinauf.

Tränen der Wut traten ihr in die Augen. Sie beugte sich zu ihren Händen hinunter und wischte sich Staub und Schweiß von der Stirn. Ihre Haare verfingen sich in den Schellen und sie keuchte kurz auf, um ihre Fassung wieder zu gewinnen, während sie die Strähnen befreite. Es waren nur Sekunden gewesen und sie wären nicht mehr weggekommen. Sie hätte gerettet werden können oder wäre dabei umgekommen. So wie es aussah, machten Schwarz keine Gefangenen.

„Du wusstest, dass sie kommen. Du verdammter Mistkerl“, wisperte sie. Durch das Ozon, dass ihr Körper aufgenommen hatte tränten ihre Augen, ihre Nase lief und ihr Mund fühlte sich an, als wäre die Schleimhaut so stark gereizt, dass es zu Mikroläsionen gekommen war. Sie fühlte die kleinen Risse in ihrem Mund.
 

Finn hörte nicht auf sie sondern sah zu, dass er vom weitläufigen Gelände kam. Er wischte sich über die tränenden Augen. Der Effekt würde bald verfliegen. Ein davonfahrender Wagen war nicht das Ziel von Weiß und Schwarz, aber wer wusste schon, wohin dieser kleine Kritikeragent seine unangenehmen Explosivgeschosse noch so hin abfeuerte...
 

Besagter Kritikeragent fühlte sich im Moment ganz und gar nicht klein. Im Gegenteil. Omi befand sich auf seinem Posten, dem höchsten Dach des Anwesens, in bester Position, um alles gut im Blick zu haben und Nagi zu schützen. Und vor dessen Angriff geschützt zu sein. Obwohl dieser nur am Anfang Schutz benötigte, wie Omi schnell feststellen musste. Der Telekinet hatte sich auf einem niedrigeren Dach positioniert, direkt unterhalb von Omi, um diesem die Möglichkeit zu geben, die rückwärtigen Areale mit seinen Geschossen abzudecken, damit sich Nagi wegen Omis Position keine Gedanken machen musste.
 

Doch jetzt bekam Omi Angst. Nagis Kopf war in den Nacken geglitten und die Spannung aus dem schmalen Körper gewichen, nichtsdestotrotz vibrierte das Haus unter ihnen in kürzeren Abständen. Es war nicht geplant gewesen, dass Nagi eine derartige Zerstörung veranstaltete. Omi hatte früher bereits Kostproben von Nagis Fähigkeiten erhalten – am eigenen Leib – aber dieses Ausmaß hätte er nun nicht erwartet.

Dann krachte plötzlich eines der Nebengebäude wie ein Kartenhaus zusammen, als wäre es implodiert. Omi feuerte noch ein Explosivgeschoss auf eine Fahrzeughalle ab und und bemühte sich über das Pad, das er trug, um zeitliche Orientierung. Noch vier Minuten, dann konnten sie hier abhauen.
 

Er legte einen Pfeil ein und sah wieder zu Nagi. Er kannte diese Körperhaltung. War er in Regeneration gefallen? Er musste zu ihm. Auf dem Vorplatz wimmelte es von Männern mit Maschinengewehren, doch da er hinter Nagi und dem ihn umgebenden Energieschild stand, war er vor den Schüssen abgeschirmt. Omi musste sich etwas einfallen lassen...
 


 

o∼
 


 

Eve erkannte, dass sie nicht auf die Schnellstraße abbogen, sondern einen schmalen Weg entlangfuhren, der nicht befestigt war. Es war der kleine Wald, der das Anwesen der Sakurakawas umgab. Sie fuhren noch ein Stück, dann wendete Finn auf dem schmalen Weg und ließ die Schlüssel im Wagen stecken. Er öffnete die Türen, ging um den Wagen herum und griff sich im Schein der Wagenbeleuchtung den Rucksack. Eve sah zu, wie er zwei Nummernschilder heraus zog. Er tauschte sie aus und warf die alten Nummernschilder ins Gebüsch. Währenddessen hörte Eve eine Folge von Explosionen.
 

Dann kam er zu ihr, löste die Fesseln an ihren Händen und zog sie aus dem Wagen.

„Was tust du da, Asugawa?“, schrie sie ihn an. Die Luft war aufgeladen, als wären sämtliche Moleküle der Welt in Aufruhr geraten.
 

„Hören Sie mir gut zu, Crawford“, sagte Asugawa entgegen ihrer Stimmung sehr ruhig. „Wir werden jetzt durch diesen Wald laufen und Sie werden meinen Anweisungen genau folgen.“

Er ging zur hinteren Tür des SUVs, öffnete sie und nahm zwei Kurzschwerter vom Sitz. Diese steckte er in zwei Scheiden auf seinem Rücken. An den Waffengurt seines rechten Oberschenkels steckte er eine Halbautomatik. Sie konnte zusehen, wie er sich in Windeseile bewaffnete und sie schließlich an der Hand nahm. Kurz zuckten Bilder durch ihr Bewusstsein, aber sie waren nicht von Bedeutung und so nahm sie die behandschuhte Hand und folgte ihm. Als er ihr die Richtung vorgegeben hatte und sie wusste, wohin er wollte, ließ er sie los und sie rannten durch den Wald, die Detonationen der Explosivgeschosse und der Schein der lodernden Feuer im Rücken.
 

Während sie aufgrund mangelnder Sicht bald an Tempo einbüßte und öfter stürzte, als ihr lieb war, fand sich Asugawa ganz gut zurecht. Ihre Augen gewöhnten sich an das Dunkel und der Wald war nicht so dicht, so dass sie durch die klare Nacht sogar den Umriss seines Gesichts im Schein der nächtlichen Himmelskörper erkennen konnte. Er wartete auf sie, bis sie ihm weiter folgte und gab ihr die Richtung vor. Sie war außer Atem, als er anhielt und sie neben sich zog.

Er sah sich um, bis auf das dumpfe Dröhnen aus der Ferne war es still. „Was ist...?“, fing sie leise an.

„Seien Sie ruhig“, er sah nach oben und wandte den Kopf, bis er sie plötzlich an einen der Zedernstämme schob und sich vor sie postierte. Er zog eines der Schwerter und hielt es nach unten gerichtet vor sich.
 

Etwas kam auf sie zu. Eve hörte minimales Rascheln und dann Bewegung in der Dunkelheit. Es waren mehrere, die in raschem Tempo auf sie zu rannten. Als erstes erkannte sie eine schemenhafte Gestalt, die in vorderster Front lief, daneben, weit gestreut, sah sie aus dem Dunkeln weitere Schatten folgen. Alle hielten an, als der Schatten in vorderster Reihe hielt. Er kam auf sie beide zu und blieb außer Reichweite der Klinge Asugawas stehen, was einige Meter waren.

„Wer seid ihr?“, forderte die weibliche Stimme zu wissen.
 

Und sie kannte sie.

„Manx?“, fragte Eve. Das war doch Manx!
 

„Crawford? Crawford Eve?“, fragte Manx und schob den Stoff, der ihr Gesicht verbarg, nach hinten über ihren Kopf weg.
 

„Wo ist Siberian?“, wollte sie wissen.
 

„Noch drin“, antwortete Asugawa plötzlich.
 

„Und wer ist das?“
 

„Haben Sie den Auftrag erteilt, Masahiro zu eliminieren?“, wollte er wissen.
 

„Das ist...“, funkte Eve dazwischen. Sie kam aber nicht weit, als Manx die Hand hob und sie damit zum Schweigen bringen wollte.

„Ein Shinobi... wie interessant “, sagte Manx.

„Asugawa, wollte ich sagen“, ließ sich Eve mit eiserner Stimme und mehr Kraft darin, als sie es ihrem Körper noch zutraute, vernehmen.
 

„Und Herr Asugawa, was haben Sie nun mit ihrer Gefangenen vor? Sie glauben doch nicht, dass ich sie hier einfach davon kommen lasse?“
 

Eve sah sich um und erwartete, dass die Männer sie zumindest einkreisten, aber jeder verharrte in seiner Position.
 

„Sie sind mir immer noch eine Antwort schuldig, Manx“, sagte Asugawa ruhig.
 

„Sie ebenfalls.“ Manx Zähne leuchteten weiß auf als sie lächelte.
 

Sekunden vergingen, in denen nichts zu hören war und Eve hatte das Gefühl, als hätte sie selbst die Luft angehalten, denn die Stimmung war so angespannt, dass sie nicht wusste, was als nächstes passieren würde. Aus der Ferne war der Lärm des Angriffs von Weiß oder Schwarz nur noch dumpf zu hören.
 

Asugawa hatte die Chance zu fliehen. Manx würde ihn nicht verfolgen, wenn sie Siberian befreien wollte.
 

„Ich bringe die Frau an einen sicheren Ort.“
 

„Sicher vor Ihnen? Vor der Familie? Vor wem?“
 

„Vor jedem.“
 

„Und dann?“, fragte Manx und trat einen Schritt näher in die Erreichbarkeit seiner Klinge. Die Schatten, die wie die Perlen einer Schnur immer noch in einer Linie im Wald verharrten, traten geschlossen einen Schritt näher.
 

„Dann wird sie von ihrer Familie gefunden werden.“
 

Manx machte noch einen Schritt auf sie zu. Und ebenso taten es ihre Männer.
 

„An welche Familie? An die in Langley?“
 

„Nein, an ihre wahre Familie.“
 

Sie kam so nahe heran, dass Eve Teile ihres Gesichts erkennen konnte. Sie hob die Hand.

„Geht. Seht zu, ob es noch etwas für uns zu tun gibt. Und findet Bombay, damit ihr nicht in sein Visier geratet. Ich komme nach.“
 

Die Männer setzten sich in Bewegung und zwei Sekunden später war nichts mehr von ihnen zu sehen.
 

„Sie sprechen vom Orakel?“
 

Asugawa nickte einmal.
 

Sie kam noch einen Schritt näher und stand nun lediglich einen Meter vor ihnen. Die Spitze der Klinge fast berührend, die Asugawa vor sich hielt.
 

„Du bist es, oder?“ Asugawa antwortete nicht, sondern wartete ab.
 

Eve verstand nicht ganz, wovon Manx da redete.
 

Ganz im Gegenteil zu Finn, der ahnte, um was es Manx ging, war sich aber noch nicht sicher.
 

Manx neigte den Kopf leicht zur Seite. „Chiyo hat mir von dir erzählt. Sie sagte, dass sie einen Schüler hätte. Jemand, der würdig sei, dem ein Ende zu bereiten. Jemand, der bereits nach den Regeln lebte.“
 

„Regeln?“ fragte Eve.
 

„Die einem Guardian auferlegt sind“, wandte sich Manx zwar mit ihrer Antwort an Eve, blickte aber Asugawa ins Gesicht.
 

„Es gibt keine Guards mehr“, sagte Eve. Sie hätte es gewusst. Sie hatte Jahre damit verbracht, nach ihnen zu suchen. Um ihrem Bruder die Sicherheit geben zu können, die er brauchte, aber von ihr nie angenommen hatte. „Die Sakurakawas können keine Guards ausgebildet haben. Sie sind so grundfalsch von ihrer Ideologie, dass es unmöglich ist.“
 

„Es ist nicht unmöglich, nur schwierig. Außerdem reden wir hier nicht von der Familie, sondern von Chiyo. Du bist kein Guard, vielmehr bist du ein Guardian. Habe ich nicht recht, Asugawa?“

Manx wollte eine Antwort. Es gab Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen, wie sie von Chiyo erfahren hatte. Ein Guard kümmerte sich vor allem um die Unvesehrtheit des Schützlings, während ein Guardian auch dann eingriff wenn das seelische Wohl gefährdet war. Und das nicht immer in Übereinkunft mit dem Schützling. Was zu Konflikten führte, die der Guardian aushalten musste. Er musste emotional stabil sein und den Fokus nicht aus den Augen verlieren: den allumfassenden Schutz des PSI.

Diesem den nötigen Freiraum zu gewährleisten und ihn angemessen zu schützen war selbst für erfahrene Guardian eine Herausforderung, wie Chiyo ihr erzählt hatte.
 

Finn sagte nichts, sondern steckte das Schwert wieder dorthin zurück, wo es seinen Platz hatte. „Wir müssen gehen.“
 

Er trat an Manx vorbei und sah ihr für einen Moment in die Augen. Er war etwas größer als sie, sodass sie zu ihm aufsehen musste.
 

Eve wusste nicht, was sie tun sollte, aber sie war nicht für den offenen Kampf trainiert. Sie war Diplomatin, Ermittlerin. Ihr Sektionschef hatte Recht mit dem, was er gesagt hatte, sie war hier fehl am Platz. Mit Asugawa mitzugehen bedeutete ein Risiko. Er hielt ihr die Hand hin und wartete, die Augen verschränkt mit Manx.
 

„Einst glaubte ich, dass ich diejenige sei, die sein Guard wird. Aber das Schicksal hat sich gegen mich entschieden. Er wählte nicht mich.“
 

Asugawa ergriff Eves Hand.

„Der Guardian erwählt den, den er beschützt. Nicht andersherum. Dazu kommt, dass sie sich eines der schwierigsten Ziele erwählt haben. Einen Prokognitiven als Schützling zu haben bedeutet, sein eigenes Leben aufzugeben und es bedeutet ferner, dass er sie nie akzeptieren wird. Sie werden stets mit seiner zerstörerischen Abneigung gegen sie leben müssen. Waren Sie dazu bereit?“
 

Manx starrte ihn an. Chiyo hatte ihr die einzelnen Besonderheiten der PSI erklärt. Ihr erklärt, dass jeder PSI seine Eigenheiten hatte und jede Begabung einer gesonderten Behandlung bedurfte, nach einem besonderen Schutz verlangte. Sie hatte jedoch nie von Hellsehern gesprochen.
 

„Chiyo hat nie von präkognitiv Begabten gesprochen.“
 

„Weil diese nie einen einzigen Guardian hatten. Sie wurden im Verborgenen wie Gefangene gehalten. Versteckt, von vielen Guards beschützt, die schneller starben als Eintagsfliegen. Einen Hellseher zum Schützling hat die Folge, dass er den Guardian austricksen und ihn schneller abschütteln kann als diesem lieb sein kann.“
 

Asugawa setzte sich in Bewegung und Eve folgte ihm.

Chiyo also.

War sie es, die den Auftrag gegeben hatte, Masahiro zu eliminieren? Warum jetzt? Oder hatte Manx den Auftrag in eigener Verantwortung erteilt?
 

„Er wollte keinen Schutz, Shinobi“, rief Manx ihm nach.
 

„Das hatte nie ER zu entscheiden“, antwortete Asugawa leise, sodass nur Eve ihn hören konnte.
 

Eve nahm nach diesem Gespräch ihren Lauf unvermindert mit mehr Motivation wieder auf.
 

o∼
 


 

Eine ganz andere Art der Motivation sah gerade Schuldig auf sich zukommen, als Staub auf Ran und ihn niederrieselte und sich mit einem Ruck die Decke senkte. Sie liefen beide wie auf Kommando los und erreichten den nächsten Abschnitt mit einem Sprung. Hinter ihnen versuchte sich gerade die erste Schleuse zu schließen, was ihr aufgrund eines Betonpfeilers, der in Stücken zwischen den beiden Hälften lag, nicht recht gelingen wollte. Schuldig hustete den eingeatmeten Staub aus seiner Lunge und sah in gebückter Haltung auf.

Die Schleuse bestand aus zwei Türen, als die erste sich aufgrund des Hindernisses nicht schließen wollte, öffnete die zweite nicht wie vorgesehen.
 

„Das war knapp“, ächzte Schuldig und blickte zurück, während er sich aus der Hocke hochraffte und sich das Problem ansah. Schuldig zog seine Halbautomatik und schoss auf das Tableau. Die Tür öffnete sich mit einem pneumatischen Zischen und blieb dann einen Spalt breit offen stehen. Sie öffneten sie per Hand, was einiges an Kraftanstrengung bedeutete. Sie schlüpften hindurch, Ran zuerst, dann liefen sie den langen Gang entlang zur nächsten Schleuse. Sie rannten an leeren Räumen vorbei, deren verglaste Türen und Fronten mit langen Gitterstäben verstärkt waren. Schuldig zählte zehn auf jeder Seite, bis sie zur nächsten Tür gelangten. Sie gaben die Codes ein und öffneten die nächste, gläserne Schleuse.
 

„Was haben die hier unten gemacht?“ Aya verzog das Gesicht, was hinter der Gesichtsmaske, die er trug, nicht zu sehen war.
 

Schuldig hörte die Abscheu aus seiner Stimme heraus.
 

„Vermutlich Tiere gequält um herauszufinden, wie sie uns quälen können. Wenn es Tiere waren.“
 

Aya sah zu ihm hinüber. Menschenversuche?
 

Schuldig schob sich als erstes durch den sich öffnenden Spalt. Hier unten waren nur dumpfe Erschütterungen von dem sogenannten Ablenkungsspektakel zu spüren. Wieder dröhnte der ganze Komplex.

„Das was die beiden da oben veranstalten, führt bald Japans sämtliche Armeereserven hierher. Wir müssen uns beeilen. In zehn Minuten müssen wir hier raus sein, sonst dreht der Kleine völlig ab, wenn dann noch die Polizei hier aufkreuzt. Denen das zu erklären dürfte schwierig werden.“
 

„Das ist dein Resort“, sagte Aya, als sie an der nächsten Schleuse ankamen. Es dauerte nicht lange und sie waren durch. Ran warf einen Blick auf das schmale Pad am Handgelenk. „Nur noch ein paar Meter und wir sind da.“

Er sah neben sich, aber Schuldig war nicht wie erwartet dort zu sehen. Schnell drehte er sich in Erwartung eines Angriffs um, doch Schuldig stand nur da und sah auf die Schleuse, die vielleicht zehn Meter vor ihnen lag.
 

„Was ist?“

Aya sah sich die Schleuse an. Doch er konnte nichts Offensichtliches hinter den beiden Glastüren feststellen. Dahinter war nur leerer Flur.
 

„Irgendetwas ist da.“ Schuldig ging langsam auf Ran zu und nahm den Kopfschutz aus Spinnenseide ab. Er wischte sich die Haare aus den Augen, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten. Schuldigs Jagdtrieb schien verpufft zu sein.
 

Aya nahm sich das Gewebe ebenfalls vom Kopf und stopfte es sich in die Oberschenkeltasche seiner Hose. Er zog sein Schwert. Er atmete tief ein und sah Schuldigs Profil an, während dieser immer noch den Gang entlangstarrte.
 

„Ein Rückweg war nicht vorgesehen, Schuldig“, gab er zu bedenken und sah zu, wie Schuldig weiterging.
 

„Schon klar, also gehen wir weiter“, sagte der nachdenklich. Hinter dieser Schleuse war eine Präsenz, die er zwar auf irgendeine Weise ausmachen konnte, aber dabei gab es ein Problem: Es war nicht Telepathie mit der er sagen konnte, dass dort etwas war, sondern er... fühlte es nur.
 

Schuldigs Miene war besorgt, sein Gesicht aschfahl, als sie an der Schleuse angekommen waren und hindurchspähten. In einiger Entfernung lag ein Mann reglos am Boden.

„Ich wage zu bezweifeln, dass er eines natürlichen Todes gestorben ist“, meinte Aya und atmete die zuvor angehaltene Luft aus. Es war stickig und warm hier unten. Durch den Angriff war vermutlich die Belüftung ausgefallen, oder sie war ausgeschaltet worden, denn Licht hatten sie hier unten noch immer. Vermutlich war die Versorgung vom Rest des Anwesens abgekoppelt, denn so wie Nagi dort oben wütete, bezweifelte Aya, dass es weiter oben noch Strom gab.
 

Schuldig lächelte und lehnte sich mit einer Hand, die er über Kopfhöhe an das Glas legte an die erste Schleusentür. „Unwahrscheinlich um es mit Brads Worten zu formulieren.“
 

Ran sah auf das Pad. Noch acht Minuten.
 

Schuldig hatte die Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen. Er versuchte, Kontakt zu Omi aufzunehmen, was komplett scheiterte. „Ich bekomme keinen Kontakt zu Omi.
 

Aya sah zu ihm.
 

„Ich bekomme keinen Kontakt zu irgendeinem lausigen Lebewesen auf diesem Planeten, Ran“, sagte Schuldig und seine Augen schmälerten sich, als würde er sich auf irgendetwas hinter der Glasscheibe konzentrieren.
 

Ran entspannte sich wieder etwas – soweit es ihre jetzige Lage zuließ. Es war also nicht Omis Ableben, das Schuldig den Zugriff zu Omis Gedanken verwehrte, sondern etwas, das hinter diesen beiden Scheiben lag.
 

Schuldig löste sich vom Sicherheitsglas und sah sich um. Keine Warnzeichen auf den Türen, oder an den Wänden.

„Gehen wir weiter, wir werden ja sehen, ob wir die nächsten Minuten überleben.“
 

„Der Typ ist immerhin bis zum Ende des Ganges gekommen, bevor er starb, wenn er denn tot ist“, sagte Ran und gab den Code ein und die erste Schleuse öffnete sich. Sie schloss sich hinter ihnen und Schuldig zog seine Waffen. Aya hatte kein gutes Gefühl dabei, aber ihnen blieb das Risiko, einen unschönen Tod durch Biokampfstoffe zu sterben oder hier unten zu versauern. Keine gute Auswahl.
 

Sie gingen zügig, aber mit der nötigen Vorsicht weiter und kamen bei dem Mann an. Ran ging vor und Schuldig gab ihm Deckung.
 

Bereits beim näherkommen erkannte Aya die Todesursache. „Kopfschuss“, resümierte er und Schuldig kam näher. Aya sah auf sein Pad und deutete auf die Tür. Ein riesiges, rotes X war auf die Tür gemalt. Er gab den Code an der Tür ein und sie sprang auf. Bereits während sie sich öffnete hörten sie beide ein schnüffelndes Geräusch. Sie konnten es beide nicht recht einordnen, bis die Tür vollends aufgegangen war...
 


 

o∼
 


 

Finn hatte keine Zeit eingeplant für nächtliche Unterhaltungen im Wald, die ihn aufwühlten. Trotzdem konnte er davon nicht loskommen. Manx?

Chiyo hatte Manx für ihre Sache gewinnen können? Wie lange ging das schon? Monate, Jahre?
 

Und wenn ja, was hatte Chiyo mit ihr vorgehabt? Wollte sie Finn testen? Hatte sie nicht mehr daran geglaubt, dass er seine Aufgabe erfüllen konnte und Manx ins Rennen geschickt?

Oder war es viel komplizierter? War Manx...

Sie war derjenige, der in der alten Zeit die Verbindung zwischen den beiden Parteien herstellte. Zwischen dem Guard oder Guardian und dem PSI. Was eigentlich Chiyos Aufgabe gewesen war. Aber da diese nur aus der Versenkung heraus operieren konnte, hatte sie umdenken müssen. Sie hatte diese Aufgabe an jemand anderen übertragen. Und zog die Fäden im Hintergrund.

Irgendwann würde er Manx einen Besuch abstatten und sie danach fragen. Und wieder kam er zu der Überzeugung, dass es eindeutig zu viele Frauen in seinem Leben gab, die ihm seine Pläne durchkreuzten oder sie verkomplizierten. Als hätte er nicht schon genug damit zu tun, seine laufenden Unternehmungen zu koordinieren.
 

Eve sah das Ende des Waldes und sie brachen durch Gestrüpp auf eine befestigte Straße. Vor ihnen stand das Motorrad, mit dem sie sich an dem Autohaus getroffen hatten. Die Helme lagen fein säuberlich obenauf. Sie griffen sie sich, saßen auf und Asugawa startete den Motor.
 

„Wenn wir verfolgt werden, nehmen sie meine Waffe und schießen Sie. Zögern Sie nicht.“ Ihr Blick viel auf die Halbautomatik an seinem Oberschenkel. Gut positioniert, weil für sie gut erreichbar.
 

Offenbar hatte es Asugawa verdammt eilig, denn sie war gut damit beschäftigt, sich festzuhalten, als sie im Affenzahn über die Schnellstraße fuhren. Als sie näher an die Stadtmitte kamen, um sie zu durchfahren, fuhr er sehr angepasst, um nicht aufzufallen. Sie blieben unbehelligt und das hielt sich so, bis sie in eine ruhigere Gegend kamen, in der gut betuchte Menschen in ihren luxuriösen Häusern wohnten. Die Grundstücke lagen relativ weit auseinander, Sicherheit wurde offenbar groß geschrieben, den Überwachungskameras an den Toren nach zu schließen. Sie waren umzäunt und verboten den Blick auf die Anwesen.
 

Sie hielten an und Asugawa bedeutete ihr, abzusteigen.

„Wo sind wir hier?“
 

Er antwortete nicht, sondern deutete die Straße hinauf. Er erinnerte sich gut an diese Straße. „Da entlang.“
 

Nach zehn Minuten kamen sie an eine abweisend aussehende Toreinfahrt. Er holte einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche hervor und öffnete die Tür neben der Toreinfahrt. Sie trat hindurch und er ließ die Tür offen. Er sah sich für einen Moment um. Alles schien in Ordnung zu sein.

Sie gingen die Einfahrt nach oben und Asugawa öffnete die Tür des L-förmig gebauten Hauses. Er ließ sie hinein und ließ wieder die Tür offen stehen. Das Haus stand leer. Einige wenige Möbel waren mit Folie bedeckt, auf der Staub lag. Eines dieser Möbelstücke weckte Erinnerungen in ihm, die ihm im Augenblick nicht sonderlich willkommen waren.
 

„Sie warten am Besten hier, bis sie abgeholt werden.“ Finn geleitete die Frau vom Eingangsbereich, der sich in einen großen Wohnraum hinein öffnete. Er spürte ihr Zittern durch die Handschuhe hindurch, die er trug. Es war still im Haus. Er wollte sich gerade umdrehen, als das Licht ansprang und er seine Waffe zog.
 

Crawford stand im Eingang zur Küche und hatte auf diese Begegnung gewartet. Er wusste, dass Eve hier sein würde, nur nicht, dass sie in Begleitung sein würde. Lautlos zog er seine halbautomatische Waffe und knipste das Licht an. Eve stand zwischen ihm und einem Mann, der ihm den Rücken zugedreht und ebenfalls bewaffnet war. Vermutlich war das Asugawa.

„Asugawa nehme ich an.“ Crawford trat in den Raum. Eve stand trotzdem zwischen ihnen.

„Unnötig zu erwähnen, dass jede ihrer Bewegungen, die ich nicht für gut befinde, mit einer Kugel geahndet werden wird. Eve, geh aus der Schusslinie.“
 

Eve stand wie angewurzelt da und sah Brad forschend an. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Gesicht sah nicht gut aus und die Augen flackerten. Die Hand, mit der er die Waffe hielt, zitterte. Er sah zu viele Bilder.

Sie lockerte die Hände und ließ sie sinken.
 

„Eve. Verschwinde da.“
 

„Brad, beruhige dich. Er hat mir geholfen“, versuchte sie auf ihren Bruder einzureden.
 

Finn dagegen kam sich vor wie in einem Horrorfilm, wenn das Böse plötzlich in Persona auftauchte und man nicht damit gerechnet hatte, so früh im Film schon den Löffel abzugeben.

Es war nicht so geplant gewesen. Es war nicht geplant, dass Crawford hier auftauchte. Er sollte bei der Befreiungsaktion im Sakurakawa-Anwesen sein. Er musste versuchen, abzuhauen. Nur war das unter diesen Umständen sehr schwer. Sein Herz raste. Seine Gedanken jedoch waren blockiert. Er hatte keine Ahnung, wie er aus der Sache lebend herauskommen sollte. Er hatte das Gefühl, dass sein Brustkorb zerquetscht wurde. Trotzdem war er äußerlich ruhig. Er hielt die Waffe noch immer auf Höhe seines Oberschenkels locker in der Hand. Er würde niemals die Waffe gegen Brad erheben.
 

Eve überlegte fieberhaft, wie sie das hier beenden konnte. Sie trat einen Schritt zurück und gab Brad das freie Schussfeld, das er brauchte.

Dabei ging sie zu ihm hin, langsam.
 

„Und jetzt Asugawa, legen Sie die Waffe auf den Boden.“
 

Finn zögerte, aber tat, was Crawford wollte.
 

„Schieben Sie die Waffe langsam zu uns herüber.“
 

Auch diese Anweisung führte Finn aus.

Das würde nicht gut enden, sagte er sich in einem ständigen Mantra vor sich hin. Er biss sich auf die Lippen. Jetzt holte ihn der Schrecken ein, dessen Schatten er stets mit sich herum getragen hatte. Kiguchi hatte es ihm prophezeit, dass es dazu kommen würde. Früher oder später. Und später war jetzt.
 

„Drehen Sie sich um.“
 

Finn schloss die Augen.

Er konnte dieser Situation nicht entfliehen, es sei denn, er riskierte einen Kopfschuss oder zumindest eine schwerwiegende Verletzung. Und dann konnte er seine Aufgabe nicht mehr erfüllen. Wenn er sich umdrehte... hatte er vielleicht eine Chance, den Augenblick der Erkenntnis zu nutzen...
 

Er öffnete die Augen und drehte sich langsam um. Die braunen Augen, denen er einmal sehr nahe gekommen war, glommen nun in ihrer unverfälschten Pracht wie kostbarer Bernstein.
 

„Ich will ihr Gesicht sehen.“
 

Finn zögerte. Er stand da und sah Brad ins Gesicht. Es ging ihm nicht gut.

Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte...

Langsam schob er sich das obere Tuch über den Kopf, das untere nach unten.
 

Crawford blinzelte. Versuchte zu begreifen, was er da sah.

Das war...

Die Erkenntnis tropfte wie Pech in sein Gehirn und stank wie Schwefel.

„Ich kenne dich...“, sagte er langsam und schüttelte einmal den Kopf. „Was...?“ Er versuchte seinen Blick zu klären und die überlagernden Bilder zu verdrängen. War das... Kimura?
 

Finn erkannte Eves Absicht, als sie sich seitlich hinter Brad stellte und entlang des Arms, der die Waffe hielt, nach vorne griff und dabei sowohl die Waffe als auch seine Hand berührte.

Brad und er starrten sich immer noch an. Finns Augen weiteten sich für Sekundenbruchteile als der Finger des Amerikaners sich am Abzug bewegte. Er würde schießen. Er würde ihn hier wie der räudige, streunende Hund, der er, war erschießen...
 

Brads Gehirn kam mit der Flut der Bilder, die ihn in rasender Geschwindigkeit überfielen, nicht mehr zurecht. Er hörte den Schuss, der sich aus seiner Waffe löste, wie aus weiter Ferne noch während seine Sicht verwischte, und der Boden auf ihn zuraste. Sein Bewusstsein fiel in bodenlose Schwärze und er brach zusammen.
 


 


 

Fortsetzung folgt…
 


 

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Für das Beta zeichnet sich snabel verantwortlich.

Herzlichen Dank! ^__^
 

Gadreel

Devils Playground

Devils Playground
 


 

Brad wurde von dem Sog der Erinnerungen in die Tiefen seines Bewusstseins gezogen. Die sich einstellende Verwirrung löste in ihm ein Gefühl der Vertrautheit aus und er wehrte sich nicht dagegen. Er spürte die vertraute Verbindung zu seiner Schwester, die er in ihrer Nähe und die der Kontakt zu ihr stets ausgelöst hatte.

Er erinnerte sich...

Erinnerte sich an den Tag...

An den Tag an dem er sich mit jemanden treffen wollte um einen Auftrag abzuschließen, den sie noch offen hatten seit Schuldig in China umgekommen war...

Umgekommen... nein...

Er war am Leben.

Und er war zurückgekommen... nur hatte er das Gefühl nicht, dass Schuldig wieder am Leben war...

Er war zurück... aber für ihn noch tot.

Hatte er deshalb diesen Fehler gemacht? War es deshalb dazu gekommen?
 

Er ließ sich durch die Erinnerung treiben und öffnete die Augen in den geschäftigen Alltag eines Cafes in Tokyo hinein...
 


 

„Schön festhalten, hörst du?“

„Jaaa!“

Finn lachte ob der aufgeregten, blauen Augen, die ihm von unten entgegenstrahlten und den Lippen, die sich sogleich ins Eis versenkten. Eine der kleinen Hände schob sich währenddessen in die seine und machte es ihm umso einfacher, den Flohzirkus - Lilly und Gabriel - gebändigt zu halten, mit dem er heute unterwegs war. Es stand nichts an, keine Termine, keine Aufträge, nichts, so konnte er wenigstens heute mit den beiden Kleinen, die er in der letzten Zeit sowieso sehr vernachlässigt hatte, etwas unternehmen.

Er musste sich ja auch immer das Schwierigste aussuchen. Und wenn Finn ehrlich war, so war ein kleiner Auftragskill hier oder ein Betrug dort nichts gegen diese beiden Rabauken, besonders…

„LILLY!“

Sich überhaupt nicht schuldbewusst, drehte der dunkelhaarige Wirbelwind sich zu ihm um und lachte vergnügt, wollte sie doch gerade die andere Richtung anstreben, wieder zurück zur Eistheke.

„Du bekommst kein anderes Eis, ich hab deins hier!“ Mit gutem Grund…Finn wusste genau, dass es irgendwo anders landen würde nur nicht da, wo es sollte. Ihr Bruder war da anders. Gabe war vorsichtig, beflissen mit allem, was er tat und wenn es nur das tragen eines kleinen Hörnchens war.

Selbst die Sache in Hongkong war einfacher gewesen. Chaos zu stiften war für ihn eine Leichtigkeit, dabei die Fäden im Hintergrund zu ziehen und dieses Chaos dort hin zu führen, wo er den größten Nutzen für seine Unternehmungen daraus ziehen konnte, ebenso. Es lag ihm im Blut sozusagen.
 

„Finni, Finni!“, krähte die Kleine vergnügt und heftete sich an sein Bein, ließ sich von ihm mitziehen. Wie gut, dass sie es nicht weit hatten und er die Kinder ordentlich auf die Bank platzieren konnte, dabei keinen Blick für einzelne Gesichter hatte wie manchmal sonst. Es war voll heute, voll von lauter Tokyotern und Touristen, die nichts besseres zu tun hatten, als sich diese Stadt anzuschauen... und mittendrin die Kinder und er.

„Finni! Gabe kleckert!“ Das wusste jetzt auch die ganze Umgebung anhand von Lillys Lautstärke.

Finns Blick ruckte dennoch zu ihrem Zwillingsbruder, dessen unglücklicher Blick auf dem großen Eisfleck auf seinem T-Shirt ruhte.

„Finni…“ Ah je, da war das Drama aber wieder groß.

„Warte… er ist gleich wieder weg!“, versuchte eben dieser Mut zu machen und rückte dem Fleckenzwerg mit einem Taschentuch und etwas Spucke zuleibe, ebenso wie dem tropfenden Eis, das über Gabes Finger tropfte, auf die Hose… „…och nein…“ Es schien, als wäre er wirklich außer Übung.

„Macht nichts Gabe, macht nichts“, sagte er liebevoll und strahlte den schüchternen Augen zuversichtlich entgegen, der kleinen Patschehand, die versuchte, den Fleck wegzumachen.

Dass Lilly sich währenddessen selbstständig gemacht hatte, da ihr langweilig war und sie ein weitaus interessanteres Objekt als ihren Bruder gefunden hatte, bemerkte er nicht. Sie rutschte auf der Bank nach links, hinter Finns Rücken zu dem großen Ausländer, der dort saß.

„Guck…Eis!“, sagte sie strahlend und das Eis, das auch schon bei ihr Spuren hinterlassen hatte, verlor in diesem Moment die Balance und fiel auf die Hose.
 

Der Mann hatte die strahlenden Augen gerade erst mit seinen eingefangen, als auch schon das Unvermeidliche geschah. Die ungeschickte, unaufmerksame Kinderhand hielt das Eis möglichst schräg, als wäre es pure Absicht gewesen, die kalte, hellgrüne Süßspeise zur Aufhellung auf der trüben, anthrazitfarbenen Hose zu verteilen.

„Eis ist aber nicht zum… Gucken… Kleines, sondern zum Essen“, schmunzelte der Mann nachsichtig, innerlich sehr schwer seufzend, sich bereits eine Serviette nehmend.
 

Lilly starrte den großen Fremden mit noch größeren Augen an. Dann wanderte ihr Blick auf das Eis, das sich nicht mehr im Hörnchen befand und anschließend abrupt zu ihrem Begleiter. „FINNII! Mein Eiiiis!“, schallte es durch das ganze Eiscafé und Finn fuhr blitzartig herum, das Schlimmste ahnend und nur ein leeres Hörnchen und tief verzweifelte Augen wahrnehmend. Er seufzte tief und sah ein Stück nach links, um festzustellen, dass das Eis nicht auf dem Boden gelandet war, wie erst angenommen… nein, ausgerechnet auf einer Hose… Finn sah hoch.

Er blinzelte.

Ausgerechnet auf DER Hose.

DIE Hose. Oh nein. Oh Gott.

Finns Augenlid zuckte.

„Finni, mein Eiiis!“

Ja, das sah er!

Musste es ausgerechnet diese Hose sein? In ganz Tokyo ausgerechnet…

„FINNI!“

„Ja ist gut, Kleines… sofort“, lächelte er und sein Blick huschte in die braunen Augen, huschte wieder zurück auf das Eis, zur Hose.

„Serviette…?“, fragte er nervös. Er erkannte ihn nicht, oder? Brad Crawford wusste nicht, dass er es war, oder? ODER? Sie kannten sich offiziell nicht. Wo war der Rest von Schwarz? Hier? Alle? War er alleine?

Ach du Scheiße, schoss es Finn durch den Kopf. Ach du heilige Scheiße.
 

Mit innerlich hilfloser Skepsis betrachtete Brad sich das unglücklich blickende Gesicht der Kleinen und winkte der Kellnerin.

Sein Finger stippte in das Eis und er schmeckte kurz nach. „Bringen sie der jungen Dame noch einmal ein Eis mit einer Kugel Waldmeister“, bestellte er und nahm dankend die Serviette des Mannes an, um sich des Eises zu entledigen. Dank seines dunklen Anzuges würde wenig zurückbleiben, so hoffte er und er hatte heute keine weiteren Termine mehr.
 

Ja aber… oh Gott, er hatte ihn erkannt, das konnte nicht anders sein!

Woher sollte er?, hielt schließlich - endlich - Finns rationale Seite dagegen und verschaffte ihm etwas Beruhigung. Woher sollte dieser Mann hier ihn mit Sophie in Verbindung bringen?

TROTZDEM!, kreischte es in ihm.

Beruhige dich!, mahnte seine innere Stimme. Weshalb musst du in seiner Gegenwart derart nervös sein? Schön cool, wie immer...

„Das… das ist aber nicht nötig, also ich meine, das hätte ich auch getan, nachdem ich der guten Dame hier einen ordentliche Standpauke gehalten habe!“, kam er zum momentan Wesentlichen. „Los, hinsetzen, Lilly, aber brav und OHNE Widerrede! Da siehst du, was passiert, wenn du stiften gehst! Dein Eis hast du verloren und nun auch noch die Hose dieses Mannes hier...“ …Brad Crawford, hätte er auch sagen können. Seines Zeichens Orakel und Anführer von Schwarz. „…bekleckert! Und nur, weil du nicht auf mich gehört hast!“

So nahe war er ihm in den letzten Jahren nur als Sophie gekommen. Aber Sophie war nicht hier. Hier war nur er selbst und DAS war das Problem. Das war nicht der Plan.
 

„Schade um das Eis ist es schon, es schmeckt köstlich“, schmunzelte Brad während er abschließend über seine Hose rieb und die Serviette, nachdem er sich die Finger daran abgewischt hatte, in einer elegant lässigen Geste auf den Tisch ablegte.

Er wandte sich leicht zur Seite und fing den Mann samt der Kinder mit seinen aufmerksamen Augen ein. „Sie sind sehr lebhaft, oder?“

Wenn er sich das Mädchen so ansah, vielleicht so fünf Jahre alt, dann war das eine himmelschreiende Untertreibung.
 

Finn starrte den anderen Mann an, als würde er vom Mars kommen. Jetzt begann er auch noch eine Konversation mit ihm? DER Crawford?

Er blinzelte.

„Lebhaft…ja“, lachte er unsicher und war für einen Moment von Gabe abgelenkt, der schüchtern an seinem Pullover - dem Ältesten, den er in seinem Kleiderschrank hatte, wohlgemerkt - zupfte.

„Finni…mein Eis. Hilfst du mir?“

Der um Hilfe gebetene seufzte. „Warte, Spatz.“ Wie gut, dass es hier noch mehr Servietten gab, zusätzlich zu denen, die er sich schon wohlweißlich mitgenommen hatte und er putzte die Finger den Jungen sauber, umschlang dessen Hörnchen mit einer sauberen Serviette und leckte es am Rand sauber. Alles unter dem beleidigten, schmollenden Blick Lillys, die sich zwar fügte, der aber der Schalk quasi auf der Stirn stand.

„Hier, Gabe, schön schlecken, okay? Kein Eis mehr verkleckern!“ Erst jetzt wandte er sich wieder zu Crawford.

„Was….“ …machen Sie hier, hatte er fragen wollen, stellte aber fest, dass das KEINE gute Frage war. „…kostet die Reinigung für Ihre Hose?“, platzte es dafür umso eiliger und im Nachhinein auch unüberlegter aus ihm heraus. Er hatte nicht soviel Bargeld bei. Verdammt!
 

„Lassen sie nur. Ich habe heute keine Termine mehr und meine Geschäfte sind für heute erledigt.“ Brad nahm einen Schluck seines Kaffees, als die Bedienung an ihren Tisch kam und sie mit einem Lächeln dem Mädchen das Eis hinhielt.
 

Geschäfte… jahaha, er wusste ganz genau, was für Geschäfte!, hielt Finn stumm dagegen und sah mit Argusaugen zu, wie Lilly das Eis in Empfang nahm.

„Bleib ja brav!“, brummte er nicht wirklich böse und sie kicherte, streckte ihm die Zunge heraus.

„Freches Ding…“

Finn sah zur Seite und stellte mit Erleichterung fest, dass auch bei Gabe alles soweit klappte. Liebevoll wuschelte er dem rotblonden Schopf durch die schon längst wieder überreifen Haare. Sie mussten zum Frisör. Gabe lächelte, alles um den Mund voller Schokolade.

Momentan schien keine Bedrohung von dem Amerikaner auszugehen, geschweige denn von jemandem seines Teams, so hoffte Finn, denn er war unbewaffnet und hatte zwei Kinder, die er koordinieren musste. An eine effektive Flucht war nicht zu denken.

Unruhig ließ er sich neben Gabe auf einen Stuhl nieder und wagte einen Blick zu Crawford.
 

Brad sah diesen Blick und fixierte die dunklen Augen des Mannes, dessen Aufmerksamkeit kurz von den Kindern zu ihm glitt.

„Sie scheinen nervös zu sein“, sagte er mit unlesbarem Blick wie stets, auf dem man nur reservierte Freundlichkeit erkennen konnte. „…doch ich denke, dass das Eis nun seinen Bestimmungsort finden wird…“, prophezeite er ins Blaue hinein, denn seine Fähigkeiten waren noch immer stark beeinträchtigt.

Schuldig war zwar wieder da - momentan im Erholungsurlaub mit seinem Rotfuchs – aber deshalb blieb er dennoch nicht verschont von den Visionen.

Den Visionen von Schuldigs Tod, die noch immer erfolgreich jede andere Vorhersage überblendeten.
 

„Ich? Ja… das Eis. Das Eis…sollte dableiben, wo es jetzt ist!“, versuchte Finn sich möglichst unelegant herauszureden. Nun, eigentlich versuchte er es nicht absichtlich, es rutschte ihm in Gegenwart dieses Mannes einfach so heraus. Er wollte nur zusehen, dass er möglichst schnell von hier wegkam. Was musste der blöde Amerikaner auch hier einfach aufkreuzen, wenn er in seinen Alltagssachen, ohne drum und dran, sogar noch mit zusammengebundenen Haaren hier mit den Kindern unterwegs war? Ausgerechnet hier! Das konnte kein Zufall sein…
 

Erfrischend chaotisch dieser junge Mann, resümierte Brads Verstand verspätet, denn die ganze Art seines Gesprächspartners wirkte so natürlich und ihr fehlte so gänzlich das Affektierte.

„Es war nur Eis. Das lässt sich leicht entfernen“, sagte Brad leise lachend über den verhaltenen Ärger in der Stimme des Mannes.
 

Crawford lachte.

Er tat es nicht nur bei Aufträgen als Tarnung, er tat es auch so im normalen Leben. Finn stierte den anderen Mann mit großen Augen an, bevor er den Blick abwandte.

„Und… was treibt Sie hierher?“, fragte er nun dennoch, Lilly einen Moment lang mit ihrem Eis helfend, das sich wieder auf den Weg bergab begeben wollte.

„Halt es gerade, Lilly-Schatz!“, mahnte er liebevoll.
 

„Ins Icebreak? Ich denke der Kaffee und die angenehme Atmosphäre. Heute scheint einiges los zu sein.“ Brad warf einen zufällig erscheinenden Blick auf seine Uhr.

Er musste noch an die Daten im Safe herankommen und dafür hatte er noch etwas Zeit, die er vertrödeln musste.

„Verzeihen Sie die Unhöflichkeit. Mein Name ist Christopher Bradford.“
 

Gelogen, gelogen!, schrie es in ihm und Finn verdammte die Höflichkeit des Schwarz. Nun war er zwangsläufig auch dazu verpflichtet, sich selbst vorzustellen. Wie gut, dass er zumindest mit seinem Nachnamen kreativ sein konnte.

„Sehr erfreut, Cr….Bradford-san. Mein Name ist Kimura….Kimura Finn.“
 

„Ich darf annehmen Kimura-san, dass sie den ersten wärmeren Tag dieses Jahres dazu genutzt haben, um hier her zu kommen?“

Die Kinder schienen ihrer Unterhaltung mit plötzlich aufmerksamer Neugierde zu folgen. Sie aßen geschäftig ihr Eis, nur hin und wieder wurde Brad mit großen fragenden Kinderaugen bedacht.

Er wusste… dass er auf Kinder eine magische Anziehung ausübte. Und er dieser auch nicht Herr werden konnte. Warum dies so war, hatte er nicht herausgefunden, aber er hatte dies schon in seiner Jugend bemerkt.
 

Auch Finn bemerkte dieses Interesse der Kinder und wollte damit gar nicht zurechtkommen. Auch wenn es sich für später vielleicht als nützlich herausstellen könnte.

„Ja, die beiden kleinen Wichte hier müssen auch mal frische Luft tanken.“

Gabes Blick schoss vorsichtig zu Crawford, bevor er zu Finn kam und ihm das halb fertig gegessene Hörnchen hinhielt. „Mag nicht mehr.“ Finn nahm es ihm mit einem Lächeln ab und zückte aus seiner Tasche ein Frischetuch, putzte dem Jungen die Hände ab.

„Aber heute ist es einfach zu chaotisch.“
 

Brads Adlerblick kreiste kurz über die Gäste. „Da haben sie Recht.“

Ihm passte das sehr gut ins Konzept. Die einzige Unsicherheit stellte der Verlust seiner Fähigkeiten dar, den es auf normalem Wege auszuschalten galt – so fern möglich.
 

Dass es aufgrund des erlebten Verlustes von Schuldig zu einem inneren Konflikt gekommen, dem er aber immer noch nicht wirklich Herr geworden war …dass verdrängte er.
 

Er war risikoreich geworden seit Schuldig plötzlich wieder aufgetaucht war. Die Schuld in ihm, dass er ihn auf irgendeine Weise im Stich gelassen hatte, quälte ihn.

„Passen Sie auf die beiden nur auf, oder sind es Ihre eigenen Kinder, Kimura-san?“, fragte er, den Blick wieder zu dem Mann wendend.
 

„Ich bin der Babysitter sozusagen…“, erwiderte Finn.

„Er ist Finni-chan! Und ganz lieb!“, krähte ihm Lilly dazwischen und Finn hätte sie am Liebsten in die Botanik gesteckt. Das ist Crawford…da sagt man sowas nicht!, meckerte er in Gedanken, augenscheinlich immer noch nervös. „Er geht raus mit uns und lässt uns gaanz viele tolle Dinge tun!“

„Pshht Lilly, das interessiert Bradford-san sicherlich nicht!“

„Doch!“ Sie schmollte. „Guck!“

Nein, das wollte Finn nicht.
 

Lässig und tatsächlich bis auf das übliche Maß an Vorsicht entspannt hatte Brad seinen Arm auf die Rücklehne der Bank gelegt, die Uhr halb im Blick.

„Natürlich interessiert mich das, da muss ich der jungen Dame beipflichten“, lächelte er und das gemeine Funkeln in seinen Augen blitzte amüsiert hindurch.

Er konnte die Nervosität des Mannes beinahe schmecken, wie ein Raubtier die Angst der Beute roch.
 

„GUCK!“

Ja, rottet euch zusammen, ihr beiden, treibt mich in mein Verderben!, grollte Finn innerlich, nach außen hin trug er aber ein Lächeln.

„Wir haben Spaß“, entschied Finn sich letzten Endes für die harmloseste Variante.
 

Wieder ließ Brad seinen Blick über die Leute gleiten, bis er an einer Frau hängen blieb, die ihm flüchtig zulächelte und sich dann wieder ihrem Gespräch am Mobiltelefon widmete.

Das Päckchen war also geliefert. Er würde noch ein paar Minuten warten und dann zum Safe gehen.

„Waren Sie schon im großen Sea-Aquarium? Das würde den beiden Herrschaften sicher gefallen“, schlug er vor, seine Aufmerksamkeit auf den Mann gerichtet.
 

„Da waren wir in der Tat noch nicht…Sie etwa?“ Wollen wir zusammen hingehen?, fragte Finns innere, teuflische Seite, die er niemals veräußern würde - so dachte er. De facto hatte er just diese Worte gerade freimütig ausgeplaudert, wie er entsetzt feststellte.

„Also… ich…“, versuchte er zu einer Erklärung anzusetzen, die Augen weit und schier verzweifelt. Warum sagte er nur derlei unvernünftige Dinge in der Nähe des Amerikaners? Er war doch sonst nicht so... bescheuert.
 

Das war nun wirklich herzerfrischend spontan und… ein wenig selbstüberrumpelnd. Brad schmunzelte amüsiert.

Da war wohl der Mund schneller gewesen als der hübsche Kopf, so erschreckt wie der junge Mann ihn nun ansah.

„Ich war zwar dort schon einmal, aber es ist immer einen Besuch wert. Heißt das, Sie laden mich ein?“
 

Er war schon mal dort?, fragte sich Finn um sich gleich zu schelten, dass das NICHT die erste Frage war, die er sich in dieser Situation stellen sollte! Und erst dieses Lächeln.

Ein Zupfen an seinem Ärmel ließ ihn zu Gabe sehen, der mit schüchternen Blick auf Crawford zu ihm kam und ihm ins Ohr flüsterte: „Was ist ein Aquarium?“

„Das sind große Becken, in denen Fische schwimmen… große Fisch, kleine Fische, Haie…“ so welche wie Crawford… „und ganz bunte Pflanzen gibt es dort.“

„Zeigst du uns die Fische?“, kam die hoffnungsvolle Antwort mit leuchtenden Augen, denen Finn ja so gar nichts abschlagen konnte. Verdammt.

„Ja, das werde ich…“ Und nun zum Amerikaner… was machte er jetzt? Nein sagen wäre das Beste… und wie sich danach herausreden? Finn schlug innerlich verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen.

„Er kommt mit! Er kommt mit!“, krähte es begeistert von der Seite und Finns Augen wurden noch einen Tacken größer.

„Lilly! So etwas macht man nicht! Vielleicht möchte Bradford-san gar nicht mit Wildfremden ins Sea-Aquarium!“ Die feurige Betonung lag auf Wildfremden, so als wolle Finn geradewegs betonen, dass sie eben nicht fremd waren.

„Aber Sie sind natürlich gerne eingeladen!“ Wie gut, dass das Zähneknirschen aufschiebbar war, das diesen Satz begleitete, und sich erst heute Abend vor dem Schlafen gehen bemerkbar machen würde. Wenn sie irgendjemand der Familie dort sehen würde, wäre er geliefert… es könnte natürlich auch sein, dass er schon so geliefert war, wie er hier saß, denn alleine mit zwei Kindern…

Und dabei war er momentan gar nicht darauf aus, mit dem Feuer zu spielen, nicht nach der Sache mit Fei-Long in Hongkong, verdammt!
 

Ein sanftes Vibrieren und ein flüchtiger Blick auf seine Uhr später musste er ihr Gespräch kurz unterbrechen. Mit einem „Einen Moment bitte“, zog er aus seiner Innentasche sein Mobiltelefon heraus.

„Ja“, drang seine Stimme schwer wie Blei und kalt wie Eis zu seinem Gesprächspartner.

Sein Freundlicher-Mitbürger-Modus perlte an ihm ab wie Wassertropfen.

„Ich komme.“

Er legte auf und verstaute das Mobiltelefon wieder in der Innentasche seines Jackets und wandte sich wieder zu den Dreien um.

„Leider kann ich Sie heute Nachmittag nicht begleiten, auch wenn die Einladung der reizenden Dame und ihrer Begleiter durchaus lohnend ist. Ich stehe wohl erst heute Abend wieder zur Verfügung und zu so später Stunde werden die beiden jungen Herrschaften sicher schon sehr müde sein und im Bett liegen, um zu schlafen. Nicht wahr?“

Die Kellnerin kam und er verlangte die Rechnung.
 

Da war er gewesen, der Crawford, der besser zu diesem Menschen passte als die äußerliche Maske der Höflichkeit. Gewisse Dinge konnte man nicht verneinen und diese enorme Emotionskälte erst recht nicht.

Ein leichter Zug an seinem Ärmel ließ ihn auf Gabe sehen, der sich an ihn gedrückt hatte, dessen kleine Händchen sich in den Stoff seines Pullovers krallten. Der Kleine war sensibel genug für solche Töne.

„Nicht du, Schatz“, schmatzte er Gabriel einen Kuss auf die rotblonde Mähne und wuschelte ihm durch die Haare.

Es war, als schien diese dunkle Seite seinen Spieltrieb zu locken, denn er erwog für einen kurzen Moment die Möglichkeit, das Treffen auf heute Abend zu verschieben.

Im zweiten Moment fragte er sich, warum er es nur erwog… wenn sie sich an einem neutralen Ort trafen, den er vorher aussuchen und überblicken konnte, so war das ganz sicher ein netter Nervenkitzel… aber es war Crawford!

Und?

Sophie hatte ihn soweit gehabt und sie hatte Spaß daran gehabt…

„Wie wäre es mit einem Abendessen?“ Da war sie gefallen, seine Entscheidung.
 

Es war kein verstecktes Angebot hinter dieser Frage, die in intimere Zweisamkeiten enden sollten. Nein, lediglich eine höfliche Frage.

„Sie kochen?“

Ein Abendessen also, resümierte Brad für kurze Augenblicke den Ausgang des Gesprächs seiner flüchtigen Bekanntschaft.

Der junge Mann entsprach nicht ganz seinem sonstigen Beuteschema, dass durchweg weiblich war, wenn man mal von Schuldig absah, der außer Konkurrenz lief.

Das Outfit des Mannes - Cargohosen, Boots und ein weiter Pulli der schon bessere Tage gehabt hatte - war auch nicht gerade dass, was ihn magisch anzog. Nur… die Augen, dieses offene Gesicht waren etwas, das ihn einnahm.

Brad ging selten mit anderen Menschen Essen. Geschweige denn mit Männern, es sei denn es waren Geschäftsessen.
 

„Ich?“, fragte Finn eine Tonlage höher als eigentlich beabsichtigt. Genau… am Besten er lud Crawford noch zu sich nach HAUSE ein.

„Finnis Essen schmeckt doof!“, kam ihm prompt auch Lilly zu Hilfe, die über das ganze Gesicht strahlte. Finn wusste nicht, ob er sie schimpfen oder ihr dankbar sein sollte.

„Sie hören es… nein, ich dachte an Essen gehen.“
 

Die Rechnung kam und Brad bezahlte seine Getränke und Lillys Eis. „Haben Sie an etwas Bestimmtes gedacht?“, fragte er, nachdem die Kellnerin seinen Tisch verlassen hatte.

Das Mädchen erinnerte ihn da an jemand ganz bestimmten, der ebenfalls zu den unmöglichsten Zeitpunkten seinen Mund kaum halten konnte.
 

Etwas Überschaubares, leicht zu Überwachendes, Offenes, das ihm die Möglichkeit zur Flucht gewährte, wenn etwas schief laufen sollte.

„Wie wäre es mit der Alpha Lounge, dort kann man sehr gut essen“, schlug Finn vor.
 

Unwissend bedachte auch Crawford dieselben Gesichtspunkte und nickte zustimmend einmal, mit einem undurchschaubaren angedeuteten Lächeln. Er erhob sich.

„Ist Ihnen 20.30 Recht?“
 

„Das ist eine gute Zeit. Ich werde da sein.“ Und da hatte er seine Verabredung für den heutigen Abend… Finn schlug erneut die Hände über seinem Kopf zusammen - innerlich.

„Kommst du wieder?“, fragte Lilly an Crawford gewandt und Finn lächelte. Kinder und ihre vorlauten Mündchen.
 

Brad zwinkerte der jungen Dame zu. „Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir uns noch einmal sehen werden, ja“, prophezeite er das Blaue vom Himmel herunter. In Wirklichkeit hatte er keinen blassen Schimmer, ob er die beiden noch einmal wiedersehen würde. Seine Voraussicht schwieg sich dazu aus, denn auch wenn er jetzt gerade eine Überlagerung zweier Realitäten vor Augen hatte und Schuldigs Tod sich ihm wieder vor Augen schob, behielt er seinen ruhigen Gesichtsausdruck bei, nur seine Augen flackerten kurz, ohne dass er blinzelte. Die eigentliche Vision wurde wie schon oft zuvor von Schuldig überlagert. Er wusste somit nicht, ob er die Kinder oder Kimura-san wiedersehen würde.

Er verabschiedete sich von dem Trio. „Bis heute Abend Kimura-san.“
 

Das unbestimmte Gefühl.

Finn wollte heute Abend da nicht hingehen… denn was sagte ihm, dass dieser gefährliche Killer - und nichts anderes war Crawford - keine Vision hatte. Nicht von ihm, sondern von den Kindern, die nicht mit seiner Fähigkeit ausgestattet waren? Gab es irgendetwas in der Zukunft zur Zufriedenheit des Orakels und zu seinem Verderben?

Vielleicht war er schon viel zu weit im Feuer und es gab nur noch den Weg zurück oder seinen Untergang.

Finn sah Crawford hinterher, überdachte dessen Blick, der nur für den Bruchteil einer Sekunde in dessen Augen gestanden hatte.

„Das ist ein toller Onkel!“, proklamierte Lilly begeistert.

„Find ich nicht…“, kam es von seiner Seite.

„Er ist ein seltsamer Onkel“, sagte Finn in Gedanken versunken.

„Was bedeutet seltsam?“, fragte die Kleine und sie kam auch zu ihm.

„Onkel Kiguchi ist auch seltsam.“

Ein zweifaches „Oooh!“ kommentierte seinen Vergleich und Finn musste schmunzeln, über die Kids wie auch über sich selbst. Was hatte er sich nur eingebrockt?
 


 

o∼
 


 

Trotz der noch nicht wiederhergestellten Fähigkeit der Voraussicht hatte Brad beschlossen die noch ausstehenden Aufträge auszuführen.

Auf eigene Faust.

Schuldig und Ran waren irgendwo im Urlaub wie sie sagten und seit Schuldigs Wiederauferstehung waren ein paar Tage vergangen, in denen er sich seine Gedanken hinsichtlich ihrer Teamstruktur machen konnte. Vor allem auch in Hinblick auf einen Umzug und der Neuerstellung möglicher neuer Zweitidentitäten. Darauf hatte er Nagi angesetzt.

Er selbst hatte in zwei Tagen einen Auftrag auszuführen. Allein. Ohne seine Fähigkeiten, was einen erhöhten Schwierigkeitsgrad zur Folge hatte.

Doch etwas in ihm verbat ihn sein Team momentan zu fordern. Und da er die Aufträge nicht abgeben wollte, würde er sie alleine ausführen.
 

Heute Abend jedoch hatte er etwas anderes vor. Ein angenehmes Abendessen mit einem interessanten jungen Mann, der ihn nicht nur wegen seiner Attraktivität anzog, sondern auch wegen seiner Ausstrahlung. Hinzu kam die erfrischende Natürlichkeit und seine gestresst wirkende und daher unfreiwillig komische Art, wobei er dennoch die Ruhe selbst war im Umgang mit den Kindern.

Ein netter Zeitvertreib, redete er sich ein und verdrängte die Gedanken an Schuldig.

Crawford lächelte, als er aus dem Taxi stieg und die Alpha Lounge bereits in angenehm intimer Beleuchtung ein Stück weit die Straße hinab sehen konnte.
 


 

o~
 


 

Finn stand vor seinem Kleiderschrank und war schier am Verzweifeln. Das, was er heute Mittag angehabt hatte, lag auf seinem Bett und wartete darauf, das abendliche Spiegelbild zu bekommen. Nur… sein Kleiderschrank gab dazu nichts her! Die Sachen, die ihm entgegen sprangen, waren schreiend auffällig. Nichts im Vergleich zu den bequemen Sachen von heute.

Das durfte doch wohl nicht wahr sein!

Da war er mit den Kindern unterwegs… OHNE eine seiner Masken wohlgemerkt, nur als er selbst und schon wurde er vom Orakel erwischt. Und das Beste… er lud ihn auch noch zum Essen ein. Verdammt.

Finn zog nach und nach Kleidungsstücke aus dem Schrank und stopfte sie wieder hinein, bis er einen schlichten, schwarzen Pullover erwischte, der etwas enger als der Rollkragenpullover anlag. Dazu noch eine passende, schwarze Hose - außer der Cargohose, die auf dem Bett lag - das einzig legere Kleidungsstück, das er zu bieten hatte. Zumindest Crawford zu bieten hatte, ohne dass der andere Mann misstrauisch wurde.

Die Schuhe jedoch waren eine einzige Katastrophe.

Er hatte einfach keine!

Außer…

Finn schielte zu seinen Chucks. Nicht einfach in Schwarz, nein. Das wäre ja zu langweilig. BUNT. Sehr bunt.

Aber zu schwarz würden sie passen. Dazu zog er sie noch gerne an, eigentlich jeden Tag, wenn er nicht gerade in Lederstiefel oder schwarzen Schuhen passend zu irgendeinem Anzug herumlief. Aber das waren Stunden, in denen er nicht er selbst war. Er verkörperte Rollen und dazu brauchte er passende Kleidung.
 

„Gehst du weg?“, fragte es hinter ihm und er fuhr herum.

„ONKEL Kiguchi“, lächelte er dem Hünen spöttisch entgegen und dieser hob eine seiner buschigen Augenbrauen. Der große Mann marke Schrankwand hatte die Tür zu seinem Domizil geöffnet und kam nun herein.

„Hast du was genommen?“

Finn schnaubte und zog sich seine Sachen über. Es wurde doch langsam kalt hier, frisch nach der Dusche nur in Unterwäsche und dicken Socken.

„Ja, ich habe ein Date.“ Kiguchi ließ die Antwort in sich wirken und sah ihm zu, wie er sich anzog.

„Und da gehst du SO hin?“, fragte Kiguchi, nachdem der fertig angezogen war und Finn knurrte.

„Was dagegen?“
 

Schweigen. In den schwarzen Augen stand, dass da noch etwas Entscheidendes fehlte. Finn zuckte mit den Schultern.

„Erklär ich dir später. Wenn du mich suchen solltest oder suchen möchtest… ich bin in der Stadt, Großer!“ Er warf sich einen grünen Mantel über.
 

„Warum bist du derart aufgekratzt?“
 

Finn warf ihm einen Blick zu, der nichts mit ihm selbst zu tun hatte.

„Halt dich aus meinen Angelegenheiten heraus, Großer“, sagte er ruhig und sah den langjährigen Gefährten an.

Kiguchi zeigte ein träges Lächeln.

„Nicht, wenn du dich in etwas hineinmanövrierst, aus dem du nicht mehr herauskommst. Mit wem triffst du dich?“

„Mit einem Schulfreund“, sagte Finn langsam und er erwiderte das Lächeln, spiegelte es mit der gleichen Trägheit.

Er drehte sich um und verschwand aus seinem Domizil.
 

Kiguchi starrte die Tür an, durch die Finn gerade sein kleines Reich verlassen hatte. Ein Schulfreund? Es gab keinen Schulfreund im Leben eines intrigierenden, Chaos stiftenden Killers, wie Finn einer war.
 

o∼
 

Finn machte sich auf in Richtung Stadt. Er fuhr mit dem Zug, dort konnte er Verfolger einfacher abhängen.
 

Brad ließ sich Zeit, sich der Alpha Lounge zu nähern. Er war circa eine Stunde zu früh dran und hielt sich für eine kleine Weile in einer Nebenstraße auf, beobachtete die Lokalität aus dem Schatten. Zwei mal während dieser Zeit überfielen ihn Visionen, noch immer überlagert von Schuldigs Tod.

Er fühlte sich miserabel und die Kopfschmerzen, die ihn die Kiefer zusammenpressen ließen, jagten ihm Schauer über den Rücken.
 

Von dem allem nichts ahnend, wartete Finn genau in der entgegengesetzten Richtung und sah sich um. Als sich jedoch zehn Minuten vor der verabredeten Zeit immer noch kein Schwarz blicken ließ, machte er einen kleinen Bogen und kam dann auf dem direkten Weg zur Lounge, sein grellgrüner Wollmantel ein leuchtendes Signal in der Dunkelheit. Er betrat die gemütlich beleuchtete und offene Lounge, deren Tische durch weiße Gazevorhänge voneinander abgetrennt waren… dahinter die große Liegefläche mit kleinen Holztischen auf den Kissen.

„Ich habe einen Tisch reserviert, für Kimura“, sagte er dem ihn anstierenden Kellner kalt, die innere Nervosität überspielend. Crawford war noch nicht da…. würde aber gleich hier sein.

Was hast du dir nur dabei gedacht? Wo hast du dein Hirn gelassen, eh?
 

Der Grund von Kimura-sans Nervosität wartete noch einige Augenblicke ab um sicher zu gehen, dass dem Mann niemand gefolgt war, bevor er selbst die Alpha Lounge betrat und sich mit gewohnt ruhigem Blick umsah.

Er fand den jungen Mann noch bevor ihm ein hilfreicher Kellner zur Seite eilen konnte. Dennoch entledigte er sich seines Mantels und drückte ihm diesen in die Hand.

„Vielen Dank“, lächelte er mit einer Mischung aus Selbstverständlichkeit und dem Hauch von Souveränität, bevor er sich zu Kimura-san begab.
 

Er war da.

Finn fühlte sich, als wenn gerade seine Schlachtbank zu ihm gelaufen kam, doch Angst war nicht wirklich das, was seinen Zustand beschrieb. Es war eher… völlige Aufregung vor dem, was noch kommen mochte.

Zumindest konnte er sich JETZT sicher sein, dass er Crawfords seherische Kräfte blockierte und der andere Mann nichts auf ihn bezogen sehen würde.

Er lächelte und erhob sich, warf dabei fast seinen Stuhl um.

„Hallo!“, huschte es über Finns Lippen, gefolgt von einem Lächeln
 

„Guten Abend, Kimura-san“, begrüßte Brad den langhaarigen jungen Mann, dessen Lächeln das ganze, aparte Gesicht zu erhellen schien.

„Aber setzen Sie sich doch bitte wieder“, Crawford deutete die übliche Begrüßung an und sie setzten sich.

„Warten Sie schon lange? Ich muss mich entschuldigen, dass ich mich um ein paar Minuten verspätet habe.“

Er war überpünktlich.
 

Auch Finn wusste das, doch sie blieben bei ihren Höflichkeiten.

„Macht nichts!“, lachte er und setzte sich wieder auf seinen Platz, nachdem er sich fast daneben gesetzt hätte. Reiß dich zusammen, verdammt!, herrschte er sich selbst an und knurrte innerlich. Das ist nur Crawford.

Nur.

Ihr habt euch doch schon mal kennen gelernt.

Haha.

„Ich bin auch erst seit wenigen Minuten hier!“
 

„Wissen Sie dann schon, was sie möchten?“

Brad fragte sich gerade, warum dieser Mann derart… nicht direkt nervös… aber doch angespannt wirkte.

Seine Augen lächelten sein Gegenüber warm an, sodass er hoffte, er würde sich etwas entspannen. Unbemerkt jedoch über diesen Umstand ließ sich Brad die Karte vom Kellner reichen.
 

Dass eben dieses warme Lächeln die Nervosität in Finn um eine kleine Idee anheizte, wusste er ebenso nicht. Denn dieses Lächeln war das Letzte, was er von diesem Mann erwartet hatte. Gut, als Keith Martinez… sehr kreativ der Name… hatte er einen ähnlichen Gesichtsausdruck, doch so wie hier… nicht.

Finn atmete tief ein und lächelte selbst. Langsam könntest du dich wieder beruhigen, als Sophie hat es schließlich auch geklappt, ihn zu becircen.

„Ich warte noch auf Sie“, erwiderte Finn und schloss seine Karte. Er war gespannt, was Crawford nehmen würde.
 

Dieser hielt sich an italienische Pasta, die hier in der Alpha Lounge sehr gut zubereitet wurde. Dazu noch eine wirklich raffinierte Soße. Und die italienische Vorspeise durfte natürlich nicht fehlen.

„Trinken Sie ein Glas Rotwein mit?“

Brad schloss seine Karte und legte sie ab.
 

„Gerne!“

Langsam bildete sich in Finn der feste Vorsatz, sich das zu gönnen, was auch Sophie sich ihrerzeit gegönnt hatte. Denn die Anwesenheit des anderen Mannes war durchaus angenehm, das hatte er schon in Shanghai erkannt, so gefährlich das Orakel auch war.

Er wurde von sich aus nun wirklich ruhiger und stand nicht mehr ganz so stark unter Strom.

Finn bestellte sich das Känguru-Steak mit frischem Salat und einen kleinen, erlesenen Vorspeisenteller aus ziemlich allem, was diese Lokalität hier zu bieten hatte. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und war dementsprechend hungrig.

„Sie sehen mir gar nicht so wie der italienische Typ aus“, merkte Finn an, als der Kellner verschwunden war.
 

„So? Und wie sieht der italienische Typ aus? Oder bezieht sich Ihre Frage lediglich auf das Essen?“
 

„Ja… eigentlich nein!“

Finn zuckte etwas ratlos mit den Schultern. „Sie selbst sehen nicht italienisch aus, aber das ist für einen Japaner wie mich sowieso schwer zu beurteilen. Es hat mich sowieso verwundert, dass Sie derart fließend Japanisch sprechen.“
 

Das weich aussehende dunkle Haar schien die Textur von Seide zu haben, so weich schmiegte es sich bei diesem ratlosen Schulterzucken um die Wange des Mannes.

„Ich lebe schon seit einigen Jahren hier. Und habe zugegebenermaßen ein Faible für Sprachen.“
 

Das glaubte Finn doch aufs Wort.

„Was hat Sie denn nach Japan getrieben? Das Land? Dass sie hier der Größte sind?“, spielte er mit einem frechen Lächeln auf die Größe des anderen an und nahm die Gelegenheit wahr, sich Crawford einmal genauer anzusehen. Natürlich trug dieser Mann wie immer einen Anzug, doch im Gegensatz zu heute Mittag war er leger und nahezu lässig mit dem leicht aufgeknöpften, weißen Hemd zum schwarzen Jackett. Es kam nicht ganz an das heran, was ihm Keith Martinez in Shanghai hatte vorspielen wollen, war dem aber schon ziemlich nahe. Zumal es einen leichten Einblick auf die Muskeln gewährte.

Oh ja, Crawford WAR gut gebaut, das hatte schon Sophie zu spüren bekommen.
 

Charmant dieses Lächeln, bemerkte Brad. Jungenhaft und natürlich frech.

„Ich fürchte es war doch etwas Unspektakuläres wie lukrative Geschäftsangebote, die mich hier her getrieben haben.“ Die Frage sollte eher lauten, warum er von dort, wo er ursprünglich zuhause gewesen war, abgehauen war. Aber solche Fragen würde Kimura-san nicht stellen und wenn, dann nur in harmloser Weise.

„Und Sie? Kümmern Sie sich hauptberuflich um die Kinder, oder sind es die Zöglinge eines befreundeten Ehepaares?“
 

Finn lachte.

„Eigentlich sind es die Kinder meiner Chefin, auf die ich ab und zu aufpassen darf, wenn die Bagage zu wild wird. Dann darf Onkel Finni für Ordnung sorgen!“

Er schwieg, als der Kellner den Rotwein brachte und ihn ihnen zum Kosten reichte. Er war genehm.

Finn nickte dem Ober zu und wandte sich schließlich wieder an Crawford. „Haben Sie Kinder, Bradford-san?“ Sehr einfallsreich, der Tarnname, und sehr tückisch.
 

„Nein. Dazu ist mein Leben zu ungemütlich. Zuviel Stress, zu viele Reisen, zu wenig Zeit“, zu viel bleihaltige Luft, fügte er in Gedanken an und lächelte zynisch.

„Kinder brauchen Ruhe, einen festen Ort, eine Heimat und Zeit. Das alles kann ich ihnen nicht bieten, also keine Kinder.“

Crawford stellte sein Weinglas ab und sein Blick verlor sich für kurze Momente auf dem dunklen Schimmer des langen Haars seines Gegenübers.

„Und wie sieht es bei Ihnen aus? Die Kinder mochten Sie sehr gern. Sie scheinen oft auf sie aufpassen zu müssen.“
 

„Mittlerweile mach ich es freiwillig. Die Beiden sind ja auch herzallerliebst, wenn auch etwas anstrengend.“

Finns Blick streifte die hinter der randlosen Brille verborgenen Augen, so als ob sie sich zum ersten Mal ansehen würden. Und irgendwie war es das ja auch…

Irgendwie.

Jahre hatte er ihn aus der Ferne beobachtet. Gelegentlich waren sie sich begegnet aber Finn war nie er selbst gewesen. Verborgen hinter Masken, hinter erfundenen Figuren, gespielt von ihm wie in einem Theaterstück.

Und die alles entscheidende Frage die bitter wie Galle in seinem Rachen schmeckte: War er jetzt er selbst? Konnte er es sich leisten? Es war doch so, dass nicht einmal dieser Name, den er momentan trug sein richtiger war. Hatte er sich schon in seinen Rollen verloren?

Seine Lippen zogen sich schon wieder nach oben. „Kinder sind etwas Wunderbares, sie sind so rein. Sie haben ja gesehen, dass sie im Gegensatz zu uns nicht wirklich ein Blatt vor den Mund nehmen.“ Das war nicht gelogen, denn so dachte Finn wirklich über die beiden.
 

„Ja und nur das Kindchenschema hält uns davon ab, sie für diese Wahrheiten zu bestrafen.“ Brad schüttelte amüsiert den Kopf. Schuldig dagegen machte das heute noch und manch einer hätte ihn dafür schon oft gerne getötet. Davon abgesehen, dass er mit vielen der Zielpersonen spielte und ihnen gerne ihre Gedanken vorhielt, ihnen die Wahrheit um die Ohren schlug und sie so innerlich verzweifeln ließ.

Schuldig fiel nicht mehr unters Kindchenschema, höchsten unter Artenschutz.
 

Bestrafen? Oh ja für ihn stand auch noch eine Bestrafung an, wenn Schwarz ihn zu fassen bekam. Finn wollte lieber nicht daran denken, sonst würde er keinen BISSEN mehr hinunterbekommen.

„Das nicht unbedingt, es tut auch mal gut, die Wahrheit gesagt zu bekommen.“
 

„Da gebe ich ihnen Recht. Aber ständig? Stellen Sie sich jemanden vor, der ihre Gedanken kennen und Ihnen auf Schritt und Tritt die Wahrheit vor Augen führen wollen würde? Unser Gehirn braucht ab und an etwas Schein, um Ruhen zu können“, meinte Brad und nahm einen Schluck seines Weines, als auch schon die Vorspeisen kamen.
 

„Deswegen habe ich die Kleinen auch nicht 24 Sunden, sieben Tage die Woche“, lächelte Finn und toastete Crawford zu. „Es gibt ja Menschen, die behaupten, dass es so etwas wie Gedankenleser gäbe. Ich halte das für Humbug. Die Gedanken eines anderen Menschen lesen - das geht doch gar nicht!“
 

„Nein, es wäre auch zu grausam, wenn es jemanden gäbe, der dies könnte und diesen ganzen Unsinn aushalten müsste. Ich denke dieser Mensch würde wahnsinnig werden“, sagte Brad leichthin in einem Ton, der dem seines Gegenübers ähnlich war. Sie redeten hier über Fantastereien und entsprechend war auch der Wahrheitsgehalt des Themas.
 

Wahnsinnig? So schien ihm Mastermind zwar nicht gewesen, aber das musste die Folter gewesen sein, die den Schwarz so ruhig hatte werden lassen, so vorsichtig ihm gegenüber.

„Da haben Sie wohl Recht, mit all den Gedanken um ihn herum, die nur er kennen würde. Nein, eine schreckliche Vorstellung!“ Finn lachte auf. „Auf seltsame Themen kommen wir hier, Bradford-san!“
 

„Dann lassen Sie uns essen, Kimura-san. Ich wünsche guten Appetit“, Brad hob das Weinglas und toastete Kimura zu, als dessen Vorspeisenteller kurz nach seinem kam. Er zog seine Serviette auf seinen Schoß und brach etwas von dem Weißbrot, das zu seinen Antipasti gereicht wurde, ab.

„Was arbeiten Sie, wenn sie nicht gerade für Ihre Chefin die Kinder hüten?“
 

Finn überlegte sich, was genau er auf diese Frage antworten sollte. Er konnte ja kaum sagen, dass er Menschen betrog, belog, mit ihnen spielte und sie nach seinem Gutdünken lenkte.

„Ich arbeite als freier Mitarbeiter, Mädchen für alles, könnte man auch sagen. Meistens mache ich Kurierfahrten, dann aber auch Buchhaltung, je nachdem, was gerade anfällt.“ Er nahm ein Häppchen und schwelgte für einen Moment in dem reichhaltigen Geschmack.
 

Brad ließ sich gerade die gefüllten Pilze auf der Zunge zergehen, zupfte mit zwei Fingern Weißbrot ab. „Schmeckt Ihnen der Wein?“, fragte Brad, als die weich aussehenden Lippen das Glas verließen und eine vorwitzige Zunge dem Wein nachschmeckte und kurz über den inneren Rand der Lippen fuhr.

Dies war ein wirklich guter Wein, nicht zu teuer aber gut, und er hatte es in sich. Nicht, dass er das bezweckte …

…aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er Lust, es sich heute gut gehen zu lassen.

Schuldig war gerade erst wieder von den Toten auferstanden und er hatte ihn erst zweimal gesehen, als dieser schon wieder in den Urlaub aufgebrochen war.

Wer wusste schon, ob die nachfolgenden Aufträge gut ausgingen, wenn er sich doch meist auf seine Gabe verlassen hatte. Und diese jetzt nicht zur Verfügung stand.

Also konnte er doch heute von seinem üblichen Credo abweichen und etwas Spaß haben.
 

„Er ist sehr bekömmlich und vollmundig“, lächelte Finn und spürte, wie sich der starke Alkohol in seinem Magen setzte. Zuviel würde er nicht von dem Zeug trinken können, ansonsten würde er sich womöglich noch in Gegenwart dieses Wolfes gehen lassen.

„Sie sehen aus, als würden Sie das Essen genießen?“ Die Zähne des Wolfes, diese weißen, strahlenden Zähne, umrahmt von den Lippen, die so gut küssen konnten.

Finn verschluckte sich dezent an seinem Wein und tupfte sich die Mundwinkel mit der Serviette ab.
 

„Auch wenn ich italienisches Essen selten außerhalb von Italien genieße, muss ich zugeben, dass sie hier einen sehr guten Koch haben, der es versteht, italienische Genussart in die Gerichte zu zaubern. Waren Sie schon einmal in Italien, Kimura-san?“

Brad fragte sich langsam, woher diese erneute Unsicherheit beim anderen kam. Sollte er sich trotz aller Unwahrscheinlichkeit sorgen darüber machen, ob der andere sauber war, oder nicht?

Sich mittels Kinder an einen Observanten heranzumachen war keine neue Masche. Eine dreckige aber keine neue.
 

„Einmal, ja!“

Finn nahm einen kleinen Bissen, in den er sich vertiefte, während er sich die wahre und doch gelogene Antwort zurechtlegte.

„Für die Firma... in der ich arbeite. Ich habe eine Ware begleitet, die geliefert werden sollte. Ein tolles Land, sehr offene Menschen.“
 

„Ware? Das klingt, als hätten sie jemanden in einer Kiste dorthin transportiert“, lächelte Brad leise in sich hinein. „Sie waren doch nicht in Sizilien?“
 

„Warum nicht?“, zwinkerte Finn. „Dort ist der Beton so schön günstig, den man an die Füße der 'Ware' hängt.“ Er lachte amüsiert, als hätte der Amerikaner nicht gerade sehr richtig gelegen mit dem, was er sagte. Wieder ein Anzeichen dafür, dass er wusste, wen er vor sich hatte.

„Nein, Bradford-san, ich fürchte, für so etwas bin ich nicht der Richtige. Ich habe lediglich ein paar Schmuckstücke für eine italienische Dame begleitet, die ihrem neuen Besitzer übergeben werden sollten. Derlei Geschäfte würden mir niemals in den Sinn kommen!“

In seiner Stimme schwamm die Ungläubigkeit mit, die die Worte des Amerikaners in ihm auslösen sollten - wäre er ein unbescholtener Bürger gewesen.
 

„Schon gut, schon gut“, lachte Brad nun wirklich überzeugt von seinem Gegenüber, mit der sizilianischen Mafia nichts zu tun zu haben.

Dieses verwirrt entrüstete Gesicht war wirklich nicht mit Gold aufzuwiegen. „Wie lange waren sie dort? Konnten sie wenigstens Land und Leute auf sich wirken lassen. Oder mussten sie nach Beendigung der Transaktion wieder zurück?“
 

„Ein wenig war ich noch da, aber nicht viel! Ich hatte leider auch nur die Gelegenheit, den Strand von Ostia zu sehen, nicht viel mehr. Ein schönes Fleckchen, so wie man es aus den Filmen kennt! Aber die Dame war sehr einnehmend.“ Ihr Transportgut hatte ihnen Probleme bereitet... „Aber dann war es wirklich Zeit, zu gehen. Leider.“ Ihr Transportgut hatte schließlich das Zeitliche gesegnet, auf Wunsch besagter Dame im echt sizilianischen Stil.
 

„Ja…Rom hat viel zu bieten. Ich habe es immer noch nicht geschafft, alle Museen, Kirchen und sonstige Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, dabei war ich schon sehr oft in Italien. Falls ich mich einmal zur Ruhe setze, dann sicher dort.“

Brad legte die Serviette beiseite und nahm einen Schluck seines Weines.

„An einem lauen Sommerabend dem Rauschen der Blätter im Wind zuzuhören und einen guten Tropfen Wein zu trinken, hat schon etwas. Dabei ist noch nicht einmal viel Geld von Nöten, um so etwas genießen zu können.“
 

Fast, ja fast hätte Finn das Gefühl gehabt, dass der andere Mann es ernst meinte, was er hier sagte. Das klang nicht nach einem eiskalten Killer, doch man hatte ja seine Fassade nach außen hin zu tragen und zu wahren.

Doch was, wenn es ernst war?

Was, wenn das wirklich Crawfords Vorstellung von Glück war? Interessant und angenehm.

„Da haben Sie wohl Recht und es ist ein ansprechendes Ziel im hohen Alter..." Wenn er soweit kam und nicht vorher Schwarz zum Opfer fiel. Doch soweit würde es nicht kommen. Das würde er zu verhindern wissen. Er hatte schließlich noch viel vor. Außerdem hatte er eine Aufgabe – eine Lebensaufgabe. Er würde seine Pflicht erfüllen. Dieses Treffen war eine nette Auszeit davon und Finn fragte sich in diesem Moment, ob das hier nur ein Wink des Schicksals war auf die Bremse zu drücken, was seine Unternehmungen anbelangte.

„Was machen Sie eigentlich beruflich, Bradford-san?“
 

Brad stellte das Weinglas ab und griff nach der Weinflasche, hob sie fragend, um seinem Gegenüber das leere Glas bei Bedarf zu füllen.

„Ich bin in der Versicherungsbranche tätig. Lebensversicherungen. Nichts Spannendes.“
 

Lebensversicherungen?

Finn musste sich zusammenreißen, um über diesen Scherz nicht laut loszulachen. Versichern Sie sich bei uns - wir bringen Sie zuverlässig um die Ecke. So oder so ähnlich könnte ein etwaiger Werbespruch von Schwarz lauten.

Anstelle dessen lächelte er und strich sich eine vorwitzige Strähne aus seiner Stirn.

„Aber doch sehr spannend, wenn man die Schicksale, die dahinter stehen, betrachtet, oder?“, fragte Finn, sein Glück herausfordernd, während Crawford ihm nachschenkte. Der Wein war wirklich gut.
 

„Nicht wirklich. Ich habe mit den Kunden nicht viel zu tun. Meine Arbeit läuft meist im Hintergrund ab. Und dafür bin ich dankbar. Außerdem haben wir generell bei der Auszahlung der Versicherungssumme nur kurzen Kontakt mit den Hinterbliebenen, wenn überhaupt. Spannend wird es eher dann, wenn wir Nachforschungen anstellen müssen und die Polizei eingeschaltet wird. Aber damit habe ich, wie gesagt, wenig zu tun.“

Mit der Polizei wohlgemerkt, fügte er in Gedanken zu und lächelte nach außen hin gelassen, als er den Wein wieder abstellte.
 

Finn machte sich für einen Moment einen Spaß daraus, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn der andere Mann nur die Hälfte von dem ernst meinen würde, was er sagte. Doch dem war nicht so - mit hoher Wahrscheinlichkeit, dafür hatte er Schwarz zu genau beobachtet - im Privaten wie im Beruflichen.

Aber dass es spannend wurde, wenn die Polizei mit hinzukam, das konnte Finn sich vorstellen. Aber wohl eher für die Polizei als für Schwarz selbst. Wozu hatten sie schließlich einen Telepathen?

Gut, vielleicht mochte der Mann etwas angeschlagen sein nach dem, was in Hongkong passiert war, aber seine Stärke büßte er dadurch nicht ein, höchstens seine Fähigkeiten.

Finn fragte sich, ob die Drogen immer noch wirkten, die Mastermind verabreicht worden waren.
 

„Das klingt nach einem gut bezahlten, aber langweiligen Job“, lächelte Finn und nahm etwas Wein zu sich. „Warum haben Sie sich ausgerechnet den ausgesucht und nicht etwa...“, er überlegte. „...Modell oder ein Fernsehstar?“, meinte er nicht ganz ernst.

Denn schlecht sah der Mann hier vor ihm bei weitem nicht aus. Das war das Problem.
 

„Das schmeichelt natürlich ungemein, Kimura-san, allerdings stehe ich nicht gerne im Mittelpunkt. Ich pflege lieber hinter den Kulissen zu arbeiten. Wenn im Showbiz, dann doch eher als Kabelträger oder als Platzanweiser“, hob Brad vielsagend eine Braue und die Andeutung eines Lächelns kappte den Ernst dieser Jobvarianten.
 

Platzanweiser mit Knarre und tödlichem Ernst.

Finn lehnte sich zurück, als ihre leeren Vorspeisenteller abgeräumt wurden und nippte an seinem Wein. Noch ein Glas durfte er nicht davon trinken, das würde ihm nicht bekommen.

„Dann wären Kinder wirklich nichts für Sie, nicht wahr? Denn dort stehen Sie auch immer im Mittelpunkt, wenn sie einmal Vertrauen zu Ihnen gefasst haben.“
 

„Wobei das zwei verschiedene Dinge sind, die man miteinander nicht - oder sagen wir, die ich miteinander nicht vergleichen möchte. Im Showbusiness wären mir die Menschen, die mir zusehen, völlig egal. Mir liegt nicht viel daran, was andere von mir denken, Kimura-san. Allerdings wäre das bei meinen Kindern anders. Sonst hätte ich mir wohl keine Kinder zugelegt. Aber das ist alles rein hypothetisch, schließlich sind bei meinem momentanen Job Kinder ohnehin nicht geplant.“

Wie kam der junge Bursche nur ständig auf das Thema Kinder? Brad lachte innerlich über seine Paranoia, der auch ein wenig seine Unsicherheit geschuldet war. Ohne seine Fähigkeiten war er nur halb er selbst. Als fehlten ihm seine Augen.

„Außerdem sagen Sie es schon richtig. Sie können Ihre beiden Kleinen wieder abgeben, aber eigene Kinder fordern einen 24 Stunden am Tag. Da sollte man sich schon gut überlegen, was man sich da antut.“ Brad nickte gewichtig, in seinen Augen jedoch blitzte es amüsiert.
 

„Antut! Sie sagen es, ganz meine Rede! Lieb sind sie, die kleinen Racker. Aber wehe, man hat sie mehr als ein paar Stunden am Tag unter den Fittichen.“ Oder bei ihm, wenn plötzlich ein Amerikaner auftauchte. Dann konnte sehr schnell sehr viel schief gehen.

„Sagen Sie, was haben Sie für Hobbys?“, fragte Finn mit abrupten Schwung im Themenwechsel. Er hatte genug über das Thema Kinder erfahren.
 

„Keine, deshalb würde mich interessieren, wie sie es damit halten? Ihr Job hört sich stressig an, da gibt es doch bestimmt das eine oder andere, dass sie tun, um einen Ausgleich dazu zu finden…?“, stellte Brad in den Raum und lehnte sich entspannt zurück.
 

Langweiler!, schrie es in Finn, doch das glaubte er nicht. Ein Mann wie Crawford musste Hobbys haben, und wenn es nur war, dass er seine Beretta pflegte und hegte oder dass er jeden Morgen die Zeitung las - wenngleich sich da bei einem Orakel vermutlich erübrigte.

„Ich treibe ein Bisschen Kampfsport nebenher - Kyudo, Judo, eigentlich nicht viel und nur, wenn ich dafür Zeit habe.“ Also jeden Tag, exakt sieben Uhr zwei Stunden lang, um sich in Form zu halten. Nahkampf war schließlich seine Stärke. Es sei denn, er traf sich wie heute mit dem Feind.

„Ansonsten entspanne ich mich eigentlich gerne vor dem Fernseher, ganz in Ruhe für mich alleine.“
 

Der letzte Satz…

Den ließ sich Crawford extra langsam durch den Kopf gehen. Seine Rechte fand das Weinglas und er nahm einen Schluck, den Blick immer auf die dunklen Augen gerichtet, die so harmlos verführerisch auf ihn wirkten.

„So“, resümierte er leise mit einem eindeutig – zumindest für die, die ihn kannten – hintergründigen Lächeln auf den Lippen. Nur ein kleiner Zug um die Mundwinkel, der alles beherrschend, alles sagend war und doch nichts preisgab. „…ganz alleine machen sie das. Nun…ab und an muss man sich auch alleine etwas Gutes tun, nicht?“, fragte er wie nebenbei und stellte das Weinglas ab, da der Kellner mit dem Hauptgang nahte.
 

...aber zu zweit konnte man noch viel mehr tun. Genau DAS und nichts anderes schwebte hier zwischen ihnen und Finns leicht geweitete Augen verrieten seine Schlussfolgerungen, ebenso wie seine leicht getönten Wangen, wobei man diese Schatten auch dem Alkohol hätte zuschreiben können.

Dieses Lächeln...

DIESES LÄCHELN...

Finn fühlte sich vom Raubtier eingekreist, das ihn nun gleich verspei... vernaschen würde. JA, vernaschen. Wenn da nicht Lust und Gier durchschimmerte, dann wusste er es auch nicht.

Und was jetzt?, fragte er seine innere Rationalität, die eigentlich nur mit den Schultern zuckte. Und? Hast du etwas dagegen? Jetzt bist du du selbst und nicht Sophie. Jetzt kannst du ihn ficken, schon mal darüber nachgedacht?

Finn griff unwirsch zu seinem Weinglas und stürzte noch einen Schluck hinunter, „Sie sind ein Schelm! Das weiß ich genau!“, behauptete Finn und nickte gewichtig.
 

Lachend schüttelte der Amerikaner den Kopf leicht und der Kellner servierte ihnen den Hauptgang.

Brad war tatsächlich ehrlich amüsiert. Herzerfrischend offen und einfach nur köstlich anzuschauen, diese geröteten Wangen. Da hatte er scheinbar ins Schwarze getroffen.

„Sie scheinen durstig zu sein Kimura-san. Vielleicht noch ein Glas Wein? Oder möchten Sie lieber etwas anderes?“
 

„Wasser!“, platzte es aus Finn heraus. Er würde den Teufel tun und noch ein Glas trinken, da konnte er sich besser gleich ausziehen und schmutzige Lieder singen, während er auf dem Tisch tanzte. Und wer wusste es schon, was er hier ausplauderte, wenn er von diesem Wein lahmgelegt war, und was Crawford damit bezweckte, ihn abzufüllen.

„Sie lachen doch nicht über mich, oder, Bradford-san?"
 

Diese Entrüstung brachte Crawford dazu, wieder zum Ernst des Lebens zurückzufinden und sein Amüsement auf ein minimales Lächeln in seinen Augen zu reduzieren.

„Nein, Kimura-san. Das würde ich nicht wagen. Ich lache über ihre sichere Annahme, ich wäre ein Schelm.“

Er bestellte noch eine Flasche Wasser für sie beide. „Ich hoffe ihr Steak schmeckt Ihnen!“, wünschte er dem anderen noch einen Guten Appetit bevor er sich über seine Nudeln hermachte.
 

„Es schmeckt sehr vorzüglich! Und Ihr Gericht? Sind Sie zufrieden?" Und ob du ein Schelm bist, meckerte Finn innerlich. Wenn auch ein böser, kalter, ruchloser...
 

„Ja Inoubu-san hat den Dreh heraus, was die italienische Küche anbetrifft. Und Ihr Steak? Ist das ihr Lieblingsgericht? Arme, süße kleine Kängurus verspeisen?“, Brad lachte leise über sein vertrauliches Sticheln.

Warum dies so war, dass er das Bedürfnis hatte, die braunen Augen zum Glimmen zu bringen, das ahnte er, aber momentan konnte er nur sagen, dass es ihm Spaß machte und dass es Schuldig verdrängte. Wann hatte er sich das letzte Mal so gut amüsiert? Wann das letzte Mal so oft gelacht? Die letzten Jahre nicht.
 

Wäre da nicht der Sarkasmus gewesen, der leicht durch diese doch sehr irritierenden Worte klang, hätte Finn den anderen Mann wirklich für voll genommen.

Jetzt lachte er nur und nahm sich zur Belohnung gleich nochmal ein Stück Känguru.

„Vermutlich ist an mir ein halber Australier verloren gegangen und ich esse es deswegen so gerne!“, spaßte er, auch wenn an diesem Spaß etwas Ernstes dran war. Er war nicht reinen Blutes wie ihm die Familie gerne vor Augen hielt. Ein Mischling.

„Sie kennen den Koch persönlich?"
 

„Ich hatte kurz das Vergnügen.“

Irgendetwas in dem Gesicht des anderen zog Brad an, vielleicht waren es die Augen, die nicht nur japanisches Blut erkennen ließen, oder der sanft geschwungene Mund, der sich in Verbindung mit einem frechen Blick zu einem unternehmungslustigen, aber nichts versprechenden Lächeln verziehen konnte.

„Sagen Sie, Kimura-san, leben Sie schon immer in Tokyo? Sind Sie hier aufgewachsen?“
 

Finn überlegte. Die Wahrheit oder eine galante Lüge, die nicht noch mehr entblößte als ihn selbst, wie er hier vor Crawford saß, ohne Verkleidung, nur er selbst. Er war nicht sehr gern er selbst. In Crawfords Nähe schien dieses Selbst zu einem furchtbar nervösen Bündel zu verkommen.

„Schon immer, ja. Ich wurde hier geboren, habe aber eine ausländische Mutter.“

Dass er viele Jahre seines Lebens in Amerika verbracht hatte, erwähnte er nicht.

Viel lieber beobachtete er sich jedwede Regung auf diesem ebenmäßigen Gesicht, auf den kleinen Lachfalten, die sich um die Augen kräuselten, wenn Crawford lachte. Diese Lippen, die gut küssen konnten.

‚Was würde passieren, wenn ich dich jetzt einfach über den Tisch ziehe und wir hier miteinander schlafen?’, fragte er Crawford in Gedanken und lächelte.

Wie gut, dass der Amerikaner kein Gedankenleser war. Wie gut, dass selbst Mastermind im Normalzustand seine Gedanken nicht lesen konnte.
 

Brad betrachtete sich für einen Moment das Gesicht vor sich. Diese gelassene, in sich ruhende Äußerlichkeit, während die Augen eine andere Sprache sprachen. Sie leuchteten geradezu und Brad war sich nicht sicher, ob es der Wein war, der dieses Leuchten in die braunen Augen gezaubert hatte.

Er begegnete diesem Blick und wusste, dass es nicht nur bloßes Interesse an ihm war. Es war noch etwas anderes, was dieses Glimmen hervorbrachte.

Bei dunklen Augen verkam ein Leuchten stets zu einem Glimmen.
 

„Haben Sie etwas gefunden, das Ihnen gefällt?“, fragte Finn und lachte vergnügt, konnte die Lust auf Crawford nicht ganz aus seiner Stimme tilgen, wenngleich sie nur ein schwaches Nachglimmen der ursprünglichen Empfindung war. Ich will dich, schrie es in ihm. Ich will das, was Sophie nicht haben durfte!

Wieso kam es, dass dieses Gefühl von Minute zu Minute stärker wurde?
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Mein Beta-Dank geht an ‚snabel’! ^____
 

Coco & Gadreel
 


 


 

(Dieser und die zwei folgenden Teile wurden von Coco und mir vor ein paar Jahren verfasst. Sie mussten bis zu diesem Zeitpunkt warten.^^)

Devil's Tomb

Devil's Tomb
 

Brads Lippen umspielte ein angedeutetes Lächeln, während seine Augen einen Tick dunkler wurden als er das Weinglas an seine Lippen setzte und einen Schluck nahm, es wieder abstellte und erneut Kimuras Blick begegnete.

„Ich habe mich gerade gefragt…“ Ein lang verschollener Teil in ihm sprang auf die Stimme und das unterschwellige Vibrieren im Lachen seines Gesprächspartners an, was ihn reizte. Zugleich jedoch wollte er Kimura etwas bremsen. Deshalb ignorierte er die Anspielung auf sein Beobachten.

„…ob sie zweisprachig aufgewachsen sind.“

Er war heute aber wieder unehrlich, tadelte er sich selbst halbherzig, während er sein Mahl weiter fortsetzte und in sich hinein schmunzelte. Es war nicht schlecht, auch hier Prioritäten zu setzen. Erst die Energie aufnehmen, sie einsetzen und dann... lustvoll verschwenden.
 

Diese Stimme entsprach verdammt noch mal nicht den Worten, die sie veräußert hatten! Wen interessiert es, ob er ZWEISPRACHIG aufgewachsen war, eh?, motzte es lautstark in Finn. Ihn würde viel lieber interessieren, wie gut Crawford Französisch sprach.
 

Oh Gott… ich will dich endlich ins Bett kriegen, geisterte es klagend in Finns Gedanken und er furchte die Stirn aufgrund dieser geistigen Ausfallerscheinungen.

„Sind Sie es?“, stellte er die erstbeste, sinnentleerte Gegenfrage, die sein Gehirn ohne Zensur ‚rausgeschickt’ hatte, und machte aus seiner Zweisprachigkeit ein groß gehütetes Geheimnis.
 

Das brachte Brad nun wirklich dazu, leise zu lachen und er widmete sich einen Moment den Nudeln, bevor er, den Mund noch immer zu einem ironischen Lächeln verzogen, aufblickte.

„Nein, Kimura-san. Das bin ich nicht. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich keinen anderen Einfluss in meinem Blut. Was ich als Nachteil empfinde.“

Innehaltend neigte er das Kinn etwas, sodass seine Haltung eindeutig fragend war. „Oder sehe ich aus, als würde ich spanischen oder… französischen Einfluss in mir tragen?“ lächelte er hintergründig mit seinen Augen, seine Miene jedoch blank und sonst kaum zu lesen.
 

„Na ich hoffe doch, dass es französischer ist!“, platzte es aus Finn heraus, ohne dass er wirklich diese Worte hatte veräußern wollen. Wieso mussten sich seine Gedanken auch immer verselbstständigen und er… sie ausplaudern? Was war nur los mit ihm?

Finn hätte innerlich schreien können, äußerlich jedoch kroch blitzschnell eine ausgewachsene Röte seine Wangen entlang und er lächelte verlegen…nahm zwecks Tarnung noch einen schnellen Schluck.

Er konnte doch sonst so gut in eine seine Rollen flüchten! Wieso kam es, dass ausgerechnet Crawford ihn ohne Maske erwischt hatte? Und dass er nun verrückt spielte?
 

Brads Augen krochen förmlich über die Röte seines Gegenübers, die ihm verriet, was dieser dachte, und es amüsierte ihn. Nicht nur das… es lockte ihn, mehr als es eine souveräne Antwort getan hätte.

„Daraus schließe ich, dass sie eine Vorliebe für die französische Sprache haben“, sagte er im Plauderton, jedoch war das winzige Lächeln einen Tick zu schmutzig, bevor er sein Weinglas an die Lippen setzte und einen Schluck nahm, Kimura-san nicht aus den Augen lassend.
 

Die Röte kroch weiter bis zu den Ohren und ließ diese in einem feurigen Glanz erglühen. „Sie haben mich durchschaut!“ lächelte Finn in einer Mischung aus Verlegenheit, Verschlagenheit, wie auch Lust.

„Sie müssen mir doch zustimmen, dass das Französische sehr erotisch klingt.“
 

„Ja“, stimmte Brad nüchtern zu und nickte, abwägend. Er spürte die Spannung in sich, die ihm sagte, dass er heute Nacht nicht alleine in einem Bett schlafen würde. Und er wusste auch – ohne Weitsicht – dass er nicht viel schlafen würde.

„… vor allem wenn man es in den Mund…“… Brad blickte auf, als der Kellner an ihren Tisch trat und sich nach dem Befinden und ihren Wünschen erkundigte.
 

In den Mund nehmen, in den Mund nehmen! Dieser Mund konnte sicherlich gut…

Während er abwesend dem Kellner zunickte, als dieser ihn fragte, ob es ihm schmeckte, starrte er auf Crawfords Lippen, die sich sicherlich geschickt um etwas Längeres und Dickeres als diese Gabel legen würden, um…

Finn hätte den Kellner zum Teufel wünschen können und war nun erleichtert, als dieser verschwand.

„Was wollten Sie gerade sagen?“, fragte er mit einem eindeutig doppeldeutigen Lächeln.
 

„Dass diese Sprache durchaus erotisch klingt, wenn jemand sie beherrscht. Mein Französisch dagegen ist lausig“, funkelte zwischen den ernsten Worten das Amüsement hindurch. „Die Sprache, die ich am wenigsten beherrsche.“

Brad beendete sein Mahl, nahm abrundend seinen letzten Schluck Wein aus dem Glas und war gespannt, wie Kimura darauf reagierte.
 

Lausig? Das glaubte Finn nicht. Denn wer so gut küssen konnte, der konnte nicht schlecht sein, wenn es DARUM ging.

„Was liegt Ihnen dann? Das Englische?“ Rohe Fleischeslust, Leidenschaft…

Auch das würde sich Finn wünschen. Alles… eigentlich.
 

„Japanisch, Deutsch, Spanisch und ja… Englisch natürlich auch.“ Sie waren immer noch beim Thema Sprachen, wie Brad damit kundtat. Wobei er sich bei Kimura-san da nicht mehr so sicher war.
 

„Jede Sprache hat so ihre Qualitäten“, kam es von Crawfords Gegenüber und Finn hob sein Glas zum Toast.

„Sagen Sie, Bradford-san… haben Sie eine Vorliebe für Männer?“ Diese Frage war Finn weder herausgerutscht, noch hatten sich da seine Gedanken verplappert. Er stellte sie, weil er sie aktiv stellen wollt, denn er wollte endlich hören, dass dieser Mann etwas Eindeutiges sagte.
 

Für einen Augenblick blitzte etwas Kalte, Hartes in seinen Augen auf und Brad verschloss seinen Blick sogleich vor dem anderen, als er bemerkte, dass er zuviel zeigte.

„Nein. Habe ich nicht, Kimura-san“, sagte er ruhig. „Ich habe weder eine Vorliebe noch eine Abneigung“, schloss er etwas offener an. „Und Sie?“
 

Genau jetzt hatte sich der wahre Crawford gezeigt und das kühlte Finn etwas ab, holte es ihn doch in die Realität zurück, von der er sich gerade so schnell entfernt hatte.

Crawford war das Orakel, der Anführer von Schwarz und ein gefährlicher Killer. Wie er auch, doch auf eine andere Art und Weise. Die gleiche Branche, mehr oder weniger. Nur war Finn eher in der ‚Abwehr’ tätig.

Weitaus interessanter für Finn war die Tatsache, dass dieses Orakel weitaus mehr war als es den Anschein hatte. Die Frage war ob es das auch wusste.

Inwieweit wusste Crawford von seiner Wichtigkeit? Keine Frage für wichtig hielt er sich, nur fragte sich Finn ob sich das Orakel aus gutem Grund hier in Japan verkrochen hatte. Viele gute Möglichkeiten um sich im Gewimmel der Menschen zu verbergen und die Gelegenheit auch in die Abgeschiedenheit abzutauchen.

Oder war es viel simpler: War ihm keine andere Möglichkeit mehr geblieben?

Finn verdrängte diese Fragen, er hatte sie sich in der Vergangenheit zu oft gestellt und war zu keinem klaren Ergebnis gekommen. Er kannte den Mann vor sich zu wenig um sie zu beantworten. Früher oder später würde er die Antworten auf seine Fragen erhalten und er würde mitten drin im Geschehen sein. Und es würde ihm nicht gefallen, das wusste er jetzt bereits.
 

Finns Aufmerksamkeit widmete sich wieder dem Objekt seiner... Gedanken.

Keine Vorliebe, aber auch keine Abneigung. Brad Crawford stand also auf Frauen UND Männer.

„Ich genieße die Vorteile beider Geschlechter“, lächelte Finn und neigte den Kopf in einem versöhnlichen Nicken.
 

„Das…“, noch bevor Brad weitersprechen konnte, kam der Kellner und erkundigte sich, ob sie noch etwas wünschten. Brad verneinte und sah Finn abwartend an. „Hätten Sie noch Lust auf etwas Süßes? Eine Nachspeise?“
 

Eleganter Themenwechsel!

Finn lächelte den Kellner an, als würde er hinter seinem Rücken ein Messer halten, um es ihm in die Brust zu rammen. „Vielleicht in einer anderen Lokalität? Eine Bar?“, fragte Finn mit einem Lächeln zurück. Keine Vorliebe, aber auch keine Abneigung, das versprach viel…viel mehr, als er es sich je erhofft hatte. Vielleicht…

Ja, er wollte.

Er wollte mit Crawford schlafen. Heute Nacht, wollte sich das gönnen, was Sophie versagt geblieben war.

„Oder was meinen…“

„Hallo~ooo“, zwitscherte plötzlich eine charmant fröhliche, zirpende Männerstimme in seine Worte hinein und Finn verstummte abrupt. Oh nein. „Hier spricht das Arschlooo~ooch. Geh an dein Telefo~oon… das Arschloch ist am Telefo~oon…“

OH NEIN.

Finn schluckte und fing wie wild an, sein Handy zu suchen.

„Das allergrößte Arschloch ist am Telefoo~ooon…nimm aa~aab…“

Nein. Nein. Wieso hatte er das verdammte Ding nicht auf lautlos gestellt oder wenigstens einen anderen Klingelton eingestellt? Wie er es sonst immer tat? Was zum Teufel war heute anders? Er hatte ihn doch umändern wollen, wieso… hatte er nicht das wenigstens getan?

Stille waberte um sie herum und Finns Blick ruckte erst zum Kellner, dann zu Crawford, die ihn beide erwartungsvoll ansahen. Er schluckte mühsam.

„…geh ran… ich bin das….“

„Entschuldigung!“, übertönte Finn lautstark den Klingelton, der ihm die Schamesröte ins Gesicht trieb und sprang auf. Er kam dabei ungeschickt an den Tisch und sah in Zeitlupe, wie die Gläser wackelten…

„...Arschloch….“

….umfielen… auf Crawfords Hose… oh nein… oh nein…
 

Es war doch sehr irritierend, was da durch den Raum schallte und im ersten Moment, in der ersten Sekunde, in der Brad dem Kellner wegschickte, um ihnen die Rechnung zu bringen und dieser sich mit suchendem Blick umwandte, war sich selbst Brad nicht ganz bewusst gewesen, woher diese Stimme kam. Doch in der zweiten Sekunde hob er missbilligend eine Braue, genoss jedoch die dunkle Röte auf dem Gesicht seines Gegenübers, der mehr als peinlich berührt war.

Einen kurzen Moment später, als Brad spürte, wie sich die Missbilligung in stilles Amüsement wandelte, kam Leben in den jungen Mann und die Gläser fielen. Und diesem Fallen fiel auch seine Hose zum Opfer. Nun…

Während er sehen konnte, wie Kimura hektisch nach dem Mobiltelefon angelte, dabei aufsprang, um besser an seine Hosentasche zu gelangen und dabei halb den Tisch lupfte… hoben sich Brads beider Augenbrauen, bevor er zur Serviette griff und damit begann, den gröbsten Schaden zu beheben.
 

„Ah… oh. Oh nein! Entschuldigung, das tut mir leid, Entschuldigung, ich muss… ich komme gleich wieder, in Ordnung? Warten Sie hier, bis ich wieder komme, dann mache ich den Schaden wieder gut! Und ich bezahle!!“, platzte es aus Finn heraus und er war schon in Richtung Waschräume unterwegs. Im Laufen nahm er ab.

„Was?!“, blaffte er ins Telefon und schloss recht unwirsch die Tür hinter sich. Fast hätte er sie zugeknallt. Aber nur fast.
 

Die während der Aktion eingetretene Stille hatte sich wenige Augenblicke, nach Kimuras Fortgang, verflüchtigt und die Tischgespräche hatten wieder ihren alten Geräuschpegel erreicht, als der Kellner ihm eine weitere Stoffserviette brachte und die Tischdecke erneuern wollte. „Lassen Sie nur“, bedeutete Brad dem aufmerksamen Mann freundlich. „Bringen Sie mir die Rechnung, vermutlich wird meine Begleitung einen wichtigen Termin vergessen haben, so wie es den Anschein hat, bei all der Aufregung.“ Der Kellner fand ein paar höfliche Worte und ging, um die Rechnung zu holen.

Brad musste innerlich lachen. Kimura schien leicht nervös zu sein.
 

Wenig später kam Finn - immer noch mit hochrotem Gesicht - wieder aus der Örtlichkeit heraus und schlich wie ein gebranntes Kind zu Crawford zurück. Nein, es hatte ja nicht gereicht, dass er sich hier mit seinem Feind traf und das vor der Familie verheimlichte, nein, eben jene musste auch noch anrufen! Vielmehr…das größte Arschloch von ihnen, nach dem auch besagter Klingelton benannt war, musste anrufen und ihm mitteilen, dass er sich morgen gefälligst wieder einzufinden hatte. Spätestens morgen Nachmittag.

Wie gut, dass niemand etwas davon mitbekommen hatte, mit wem er sich hier traf. Wie GUT. Wie gut, dass auch Crawford nicht mitbekommen hatte, wer am anderen Ende der Leitung war und dass dieser jemand ihm den Tod wünschte - und Mastermind fast dorthin geschickt hatte. Verdammt.
 

Wenn es kam, dann kam es dreifach, vierfach - einfach alles auf einmal. Das hatte Finn nicht verdient! Zumindest fand er das.
 

„Verzeihen Sie die Unterbrechung!“, sagte er mit hochrotem Kopf und lautlos gestelltem Handy, das er in seine Hosentasche zurückschob, während er unschlüssig dastand, eine Serviette in der Hand, nach der er zuvor hastig gegriffen hatte.
 

Brad sah die Unsicherheit des anderen und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. „War das ihr Exfreund? Oder ihr Boss?“, schmunzelte er und schüttelte innerlich immer noch den Kopf über diese Aktion. „Lassen Sie nur, ich mach das schon.“
 

Hätte sich Finns Gesicht noch heißer anfühlen können?

Wohl kaum.

„Ex-Freund? Schön wär’s!“ murmelte er halb betreten, halb angesäuert. „Das war mein Chef. Aber sagen Sie ihm nichts von dem Klingelton!“

Finn sah die Rechnung auf dem Tisch liegen.

„Aber… das wollte ich doch machen.“
 

„Sie schienen in Eile“, lächelte Brad ironisch.

„Was halten sie davon, wenn wir den Nachtisch bei mir einnehmen? Einen Kaffee oder ein Glas Wein zum Abschluss könnte ich anbieten. Denn zuhause hätte ich Hosen, die weniger teuer sind.“
 

„Gerne!“, lächelte Finn.

Und lächelte. Gerne? GERNE?

BIST DU BESCHEUERT?! hallte es so laut in ihm wider, dass Finn meinte, dass es eigentlich auch bei Crawford angekommen sein musste. Er hat dich gerade zu sich NACH HAUSE eingeladen. SCHWARZ. Was, wenn Mastermind da ist? Was, wenn es doch eine Falle ist? Bist du wahnsinnig? Lebensmüde? Du kannst dich auch anders umbringen! Nicht SO!

Außerdem willst du noch nicht sterben!

„Also Kaffee, keinen Wein mehr.“ Du sollst ihm absagen! ABSAGEN! Was machst du hier? Gott, was mache ich hier? fragte Finn sich nun selbst und schlug innerlich die Hände über dem Kopf zusammen. Er konnte doch nicht mit zu Crawford fahren… er… es ging nicht…

Aber Crawford wollte ihn, das sah er.

Ja UND?

Wer weiß, wozu er dich will? Da gab es vielfältige Möglichkeiten, die schier unerschöpflich waren.

Finn lächelte nervös.
 

Das bemerkte auch Brad, aber er beschloss, es zu ignorieren. Er hatte eine Zusage und wusste somit, wie der Abend sich entwickeln würde. Zumindest hoffte er es.

Visionen blieben vorerst aus, was dies betraf.

„Nun, dann lassen Sie uns gehen“, sagte Brad und erhob sich, die Serviette auf den Tisch legend.
 

Gehen? Gehen klang gut… aber die falsche Richtung! Finn jaulte innerlich auf, auch wenn der Spieler in ihm sich die Hände rieb.

DAS war doch mal Adrenalin pur.

Aber doch nicht mit Crawford, winselte Finn dagegen, erntete jedoch nur ein müdes Lächeln von besagter Seite. Als ob du das nicht provoziert hättest!

Finn besah sich den Amerikaner vor sich noch ein weiteres Mal, bevor er sich - seinem Schicksal ergebend - auf den Weg nach draußen machte. Den Kellner, der sie verabschiedete, ignorierte er geflissentlich.

Wenn er wieder fliehen würde, dann hätte er GAR keine Chance mehr auf den anderen Mann, das wusste Finn. Ihr Zusammentreffen war Zufall gewesen, Schicksal, davon war er überzeugt. Ein drittes Mal würde es nicht geben.

Jetzt oder nie, hieß die Devise und Finn schluckte.

Er wollte Crawford.

Auch zum Preis des Adrenalins. Und auch zum Preis der unvermeidlichen Komplikationen, die sich später daraus ergeben würden. Er mochte die Dinge kompliziert, er selbst machte sie dazu. Nur... in diesem Fall war das vielleicht einer seiner dümmsten Entschlüsse, die er je in seinem Leben getroffen hatte.

Mastermind würde ihn nicht erkennen, wenn er da war, wenn er nicht bei seinem Weiß war. Dafür hatte er in Hongkong vorgesorgt…und Crawford wusste nicht, dass er Sophie war. Er hatte bisher offenkundig keinen Verdacht geschöpft. Trotz der vielen Jahre, in denen er Crawford beobachtet hatte, kannte er ihn kaum. Er wusste nicht, wie gut Crawford seine Gedanken verbergen konnte oder würde.
 

Finn drehte sich draußen um und erwartete Crawford.
 

Dieser hatte die Rückpartie des anderen, während sie das Restaurant verließen, mit einem taxierenden Blick bedacht. Selbst in dem lässigen Outfit war Kimuras Körper genau das, was perfekt in Brads Beuteschema passte. Lediglich der kleine Haken - der Männlichkeit - passte nicht gerade in dieses Schema. Heute aber würde er eine Ausnahme machen.

Kimuras Art weckte Erinnerungen in Brad an einen jungen Mann mit roten Haaren, wie er in Tokyo angekommen war. Große Abenteuerlust, ein weiches Herz, warme Augen und ein offenes Gesicht.

Brad trat an Kimura heran und seine Augen fingen das Braun von Kimuras ein. „Mein Wagen steht in einem Parkhaus einige Straßen von hier entfernt. Ich wohne nicht im Zentrum.“
 

Das weiß ich, nickte Finn innerlich geschäftig. Und ob er das wusste…Schwarz’ Aufenthaltsorte waren ihm bekannt. Und nur ihm.

Dass er jetzt aber Gelegenheit haben würde, das Schlafzimmer des anderen genauer unter die Lupe zu nehmen, oder auch die Dusche… oder, wenn er sich täuschte, vermutlich den Keller samt Ketten und Folterinstrumenten...

Doch Finn hatte beschlossen, mit dem Feuer zu spielen um das Feuer als Belohnung zu erhalten.

„Wie es sich für einen Versicherungsmann gehört, in einer gehobenen Wohngegend, richtig?“
 

Brad lachte und bedeutete, dass sie die Straße überqueren würden. „Nein. Nicht so nobel wie sie glauben.“

Sie würden ohnehin morgen oder übermorgen nicht mehr in diesem Haus sein. Der Umzug war soweit in die Wege geleitet worden, dass innerhalb von fünf Stunden das Haus leergeräumt werden konnte. Sie hatten diese Aktionen schon mehrfach durchgeführt und bisher war stets alles reibungslos verlaufen.

Und es gab einen Platz in seinem Innern, da war es ihm egal, ob dieser Mann sah, wo sie wohnten. Dieser Platz beinhaltete seinen Egoismus, aber auch seine Müdigkeit und eine Kränkung wegen Schuldigs Verhalten, seit er wieder da war.

Er hatte ihn kaum zu Gesicht bekommen. Eine kurze Umarmung und schon war er für zwei Wochen weg. Dabei hatte Brad ihn tot gewähnt. Tot.

Für immer weg.

Und dann kam er zurück wie der Phönix aus der Asche. Nur für ihn war er immer noch nicht greifbar, war Schuldig immer noch wie ein Nebelgespinnst. Noch nicht wirklich lebendig.
 

„Sie scheinen Ihren Boss nicht sonderlich zu mögen?“
 

Finn hatte diese Nachdenklichkeit für einen Moment über das Gesicht des Amerikaners huschen sehen und es hatte ihn mehr als alles andere darin bestärkt, mit Crawford mitzukommen.

Gemeinsam überquerten sie die Straße und gingen den immer noch mit Fußgängern gesäumten Bürgersteig entlang.

„Er ist, wie soll ich sagen, ein nicht sehr netter Mensch? Aber welche Chefs sind das schon? Die Meisten sind Despoten, andere Sadisten“, wie Crawford sicherlich auch einer war. Oder vielleicht auch nicht - Finn hoffte es. „Aber es gibt auch Schätze unter ihnen, doch die sind meistens leider schon ‚vergeben’, sie brauchen dann keine Angestellten mehr.“
 

Dieser Mann brachte Brad zum Lachen. Es erheiterte ihn, diese so einfachen Sichtweisen zu hören, die so naiv aber auch so wahr schienen.

„Ja, die sind meist schon vergeben und so schnell werden sie meist nicht frei - diese Stellen. Denn wer gibt schon freiwillig einen so guten Boss auf?“
 

„Ich würde es ganz sicherlich nicht tun!“, lachte Finn und musste unwillkürlich an die Familie denken. Da hatte er wohl ins Klo gegriffen bei seiner Wahl. Aber die Wahl war nur zu einem bestimmten Zweck von ihm getroffen worden und hatte sich bis jetzt bezahlt gemacht, wie er neben sich sehen konnte...

„Sind Sie ein guter Boss?“, fragte er schließlich mit einem Blick in die hellen, braunen Augen.
 

Über diese unerwartete Frage musste Brad zunächst nachdenken. Die Hände hatte er in die Taschen seines Kurzmantels versenkt. „Ich denke nicht.“

Sein Mund verzog sich zu einem ironischen Lächeln. „Eine richtige Beurteilung könnten da wohl nur meine Angestellten vornehmen.“
 

Ein vergnügtes Schmunzeln traf auf Crawfords Augen.

„Haben Sie ihre Mitarbeiter noch nie gefragt, ob sie zufrieden sind? Solange sie arbeiten und das auch noch gut, ist das auch nicht nötig, wie?“ zwinkerte Finn und fand, dass er eine durchaus schlechtere Wahl als seinen heutigen Bettpartner hätte treffen können und schon oft getroffen hatte. Aber was tat man nicht alles für das Weiterkommen, für seine Ziele?
 

„Solange sie sich keinen neuen Boss suchen - wäre wohl eher die passendere Begründung.“

Brads Hand löste sich aus seiner Tasche und dirigierte Kimura in eine der schmalen Seitengassen, tippte nur sanft dessen Flanke an, bevor er seine Hand wieder in seine Tasche wandern ließ. „Hier hinein und keine Angst, ich habe nichts Unehrenhaftes vor, auch wenn diese Gasse durchaus darauf schließen ließe.“
 

HA! Das glaube ich dir nicht, das glaube ich dir nicht! Verdammt noch mal, dies ist eine dunkle Seitengasse und…

Wenn Finn es ehrlich zugab, schlug ihm das Herz bis zum Hals, als er Crawford folgte, als er der Berührung des anderen nachspürte, die auf seiner Haut brannte.

Er sah Crawford für einen Moment mit großen Augen an - verfluchte dabei die Abwesenheit sämtlicher seiner Masken - und ging neben dem Amerikaner durch diese… wenig bis gar nicht beleuchtete Gasse.

„Aber kommen Sie mir nicht mit ‚Ehrenhaftigkeit liegt im Auge des Betrachters’!“
 

So ganz verstand Brad nicht, was Kimura ihm da sagen wollte, aber er konnte dessen Angst fast schon riechen. Die großen Augen erzählten ihm einiges davon. Von Misstrauen und Unsicherheit.

Seine Hand kam aus der Tasche und schob sich in Kimuras, hielt die kühlen, schlanken Finger in den Seinen.

„Sie haben Recht. Vor der Dunkelheit sollte man sich nicht fürchten, nur vor dem, was sich in ihr versteckt.“ Er lächelte schmal ob dieses Gedankens und zog den jüngeren Mann weiter.
 

Finn starrte seine Hand an. Nein, ihrer ‚beider’ Hände, und seine Finger griffen sich die ihn haltende Hand, als wollten sie sie nie wieder loslassen.

Jetzt, in diesem Moment, löste diese simple Geste ein so warmes Gefühl in seiner Brust aus, dass es wirklich schmerzte. Sein Brustkorb zog sich beengend zusammen. Er blickte wieder auf ihre verbundenen Hände hinunter und fragte sich, was geschehen würde, wenn Crawford je herausbekam, was er ihm bereits angetan hatte? Welche Rolle er in dessen Leben spielte. ‚Präge dir dieses paradoxe Symbol eurer Verbundenheit gut ein, mein Lieber. Es wird das letzte sein, an das du dich erinnern wirst, wenn er dich zur Strecke bringt.’ Denn dass es irgendwann soweit sein würde, hatte Finn nicht eine Sekunde seines Lebens bezweifelt. Wenn es jemand schaffen sollte, Finn so nahe zu kommen, um ihn töten zu können, dann wäre es wohl Crawford und zwar aus einem einzigen Grund: er würde sich nicht verteidigen.

„Und da Sie sich nicht verstecken, gehören Sie zu den Guten!“ lächelte Finn maskenhaft. Er versuchte, die bitteren Gedanken zu vertreiben und seine Mimik dahingehend zu korrigieren, dass sie das zeigte, was er wollte, sobald sie wieder ins Licht treten würden.
 

„Sagen Sie das nicht, Kimura-san“, schüttelte Brad einmal den Kopf und sah bereits die Querstraße, die in einiger Entfernung mit ihren Lichtern auf sie wartete.

„Die Schlimmsten sind die, die sich im Licht befinden. Auf die muss man achten und sich vor ihnen fürchten. Die, die im Dunkeln stehen, sind meist nur Handlanger derer, die im Licht stehen und es genießen.“
 

„Sie machen mir Angst, Bradford-san!“ sagte Finn und er meinte es in diesem Moment wirklich ehrlich, da er sich nicht sicher war, ob dies nun sein Verderben sein würde. Finn war angespannt, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Er fühlte eine Mischung aus Erwartung, Furcht, Resignation und einer unbestimmten Melancholie, geboren aus dem, was ihm heute zuteil werden würde und dann für immer verlor.
 

Brad blieb stehen und wandte sich zu dem Mann um. „Nichts liegt mir ferner als das, Kimura“, sagte er mit der für ihn so typischen Ruhe. "Ich könnte den Versuch wagen meine Worte wieder gutzumachen?“ bot er an.
 

Finn nickte stumm, die Kehle zugeschnürt vor dieser Zärtlichkeit, die unterschwellig in Crawfords Stimme schwelte. Das hier… lief anders, als er es sich gedacht hatte. Crawford war nicht halb so kalt, er selbst nicht halb so cool, wie er es eigentlich geplant hatte. Es ging nicht halb so schnell und nicht halb so reibungslos vonstatten, wie er es sich wünschte.

Doch er wollte jetzt nicht aufhören.
 

Strebst du nach diesem normalen Leben?

Fragte sich Brad gerade, als er in diese großen Augen blickte, die ihn so unschuldig ansahen, so voller Erwartung.

Er konnte diese Frage nicht beantworten. Alles, was er wusste, als er die weichen Lippen mit seinen berührte, war, dass er selbst nicht ins normale Leben passte. Aber die Ahnung des Wunsches nach Normalität war da. Wenn auch nach all den Jahren tief verborgen.
 

Brad tastete sich sanft voran, die eine Hand noch immer mit der von Kimura verbunden, während seine andere Kimuras Kinnlinie entlangstrich hinter zu dessen Nacken und dort warm lag. Zunächst berührten sich nur ihre Lippen, den warmen Atem tauschend in dieser kalten Nacht, bevor neckend und auffordernd seine Zungenspitze über die weiche Textur glitt.
 

Himmel. Hölle. Alles. Alles, nur nicht das, was Finn sich vorgestellt hatte. Nein viel besser, viel viel besser.

Er erschauerte unter den Berührungen des anderen Mannes, unter der Nähe und Intimität, die sie hier teilten. Und was konnte er tun außer Crawford Einlass zu gewähren, als ihn zu sich einzuladen und ihn willkommen zu heißen, ihn zu sich zu ziehen.
 

Kimura schmeckte verführerisch und Brad erkundete jeden Winkel dieses süßen Mundes, umgarnte diese spielerisch aufgelegte Zunge, bis in der Nähe eine Autotür zugeschlagen wurde und er den Kuss sanft löste, um sich dem Geräusch zuzuwenden, Kimura an sich und in seinen Arm ziehend. Reiner Reflex, der sagte, dass das, was er küsste, auch ihm gehörte und sei es für die Zeit von wenigen Stunden.

Doch es war nichts, der Beifahrer verabschiedete sich vom Fahrer und verschwand aus Brads Sicht. „Sollen wir gehen?“
 

„Ja“, erwiderte Finn ein wenig atemlos, ein wenig verträumt, aber mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, das davon sprach, dass ihm das, was er gerade eben erhalten hatte, sehr gefiel.

Ganz zu schweigen von der beschützenden und dominanten Geste des anderen. So wie Crawford seinen Arm um ihn geschlungen hatte - wann es das letzte Mal gewesen war, dass das jemand getan hatte, wusste er nicht.
 

Brad mochte dieses Grinsen. Es drückte Freude und Spaß aus. Durchweg positive Gefühle. Noch einmal küsste er Kimura, dieses Mal jedoch weniger erkundend, sondern versichernd und löste sich dann. „Wir müssen noch eine Straße weiter.“
 

Wäre es nach Finn gegangen, hätte jeder sehen können, dass er sich wohl fühlte…doch Crawford wollte das nicht und das war auch gut so. Sah ihn jetzt jemand von der Familie, so war er geliefert. Er seufzte träumerisch und stopfte seine Hände in die Taschen seines Mantels.
 

Zehn weitere Minuten, in denen sie schweigend nebeneinander hergingen, in denen Brad unauffällig die Gegend checkte. Als er sich daran erinnerte, wie pikiert der Kellner ausgesehen hatte, als der Klingelton angesprungen war, musste Brad innerlich schmunzeln.

Das hatte er so auch noch nicht erlebt. „Hier hinein“, deutete er an und zeigte auf die Einfahrt zu den Mietgaragen. Jeder dieser Garagen lag innerhalb des Parkhauses in das sie gingen und abschließbar. Er hätte sich auch einen der Stellplätze mieten können was ihm aber zu unsicher war.
 

Auto - Mietgarage. Sie würden also zu Crawford fahren.

Ja, Finn wollte es. Wollte die nächsten Stunden in der Nähe dieses Mannes verbringen.

„Und Sie sind sich sicher, dass Sie mich wirklich mitnehmen möchten?“ fragte Finn, vielmehr der kleine Teufel in ihm. „Vielleicht bin ich ja einer von denjenigen, die im Licht stehen!“
 

„Da haben Sie nicht unrecht.“ Brad hielt inne und besah sich Finn mit augenscheinlich kühlem Blick. Er sagte nichts, sondern fixierte die braunen, schokoladenfarbenen Augen mit Seinen. „Und Sie meinen, dass hinter dieser warmblickenden, lächelnden, tollpatschigen Fassade ein ruchloser und eiskalter Serienmörder sein Unwesen treiben könnte? So alla Jekyll und Hyde? Wann töten Sie? Vor oder nachdem Sie Ihrem Opfer den Wein über die Hose gekippt haben?“ Brad verzog keine Miene. Als wäre dies ein Gespräch unter Fachmännern. Von…Killer zu Killer.
 

Und da war sie wieder, die Hitze, die verfluchte, die geradewegs auf sein Gesicht schlich, während er Crawford mit großen Augen anstarrte.

Warm… blickend…? War er das in Crawfords Augen?

Aber…TOLLPATSCHIG?

„Ich bin nicht tollpatschig! Ich hab Ihnen auch nicht mit Absicht den Wein über die Hose geschüttet!“ Was wieder für die Tollpatschigkeit sprach… „Also…das liegt alles an Ihnen!“ behauptete er. Warmblickend…das klang liebevoll. Brad Crawford war NICHT liebevoll.
 

„Verzeihen Sie Kimura-san“, Brad kam nicht umhin festzustellen, dass er sich sehr amüsierte. Vermutlich auf Kosten des Mannes. Oder auf Kosten dessen Unschuld.

„Natürlich sind Sie nicht tollpatschig. Es war ein Missgeschick. Und dieses Missgeschick hätte sicher jedem geschehen können.“ Er beugte sich zu Kimura und küsste die warme Haut der Wange. „Aber sagen Sie, weshalb liegt das an mir?“
 

Wenn er nicht so standhaft gewesen wäre, wäre Finn dem Charme des anderen Mannes sicherlich erlegen! Aber er konnte dem widerstehen!

Für den ersten Moment nicht wissend, was er sagen sollte, blinzelte er zu Crawford hoch und zog eine Schnute, nur ganz leicht, bevor er sich besann, was er da tat.

„Weil… Sie... Sie… schuld sind! Sie und Ihr Charme! Sie sollten sich mal überlegen, was Sie Ihrer Umgebung damit antun!“
 

Brad lachte auf, ein tiefer, voller Laut, schüttelte den Kopf und nahm Kimuras Hand, damit sie hier wegkamen, denn dieser schien gut dort zu stehen, wo er stand. „Sie meinen wohl, was ich mir damit letztendlich antue. Schließlich fiel das negative Endprodukt auf mich zurück. Da wäre es sinnvoll, die Zukunft zu kennen, oder nicht?“ Er führte Kimura zu den Aufzügen und betätigte einen der Knöpfe.
 

„Wenn Sie an das Schicksal glauben, wird Ihnen die Zukunft nichts nützen, denn sie tritt so oder so ein!“ Ein leises Ping kündigte den Aufzug an und die Türen öffneten sich. Die Hand des Amerikaners war warm in seiner eigenen.

„Außerdem habe ich Ihnen ja angeboten, für die Reinigung zu bezahlen!“
 

Brad drückte das Stockwerk, in das er seinen Wagen geparkt hatte. „Nennen Sie mich Chris… damit fühle ich mich wohler. Es sei denn, Sie bestehen auf Förmlichkeiten.“

Er wandte sich zu Kimura um und zwinkerte charmant - wie er vorhin beschrieben worden war, oder vielmehr angeklagt wurde, zu sein.

In gewisser Weise spielte er hier sein eigenes kleines Spiel, doch ein Stück seines entspannten Selbst war mit dabei. Ein kleines Stück. Auch trügerische Sorglosigkeit… und auch Verletzlichkeit durch Schuldigs Abstinenz.
 

Ich will dich aber Brad nennen! gellte es in Finn, doch er nickte nur und lächelte. „Freut mich Chris, ich bin Finn. Förmlichkeiten müssen nicht sein, ich möchte sogar so weit gehen und Ihnen das Du anbieten, was halten Sie davon?“

Man hätte sich in dieses Zwinkern verlieben können - hätte man.
 

„Viel“, Brad wollte gerade Finn an sich ziehen, und diesen weichen Lippen, diesem Mund, der so herrlich lachen konnte, einen Kuss rauben, als die Aufzugtüren sich öffneten, ein Pärchen eintrat und die Gelegenheit verstrich. Allerdings mussten sie im nächsten Stockwerk ohnehin schon aussteigen, und als sie oben angekommen waren, wandte sich Brad nach links und fand seinen Wagen verwaist und alleine auf dem Deck stehen. Soweit das kleine Gerät in seiner Tasche nichts bemerkte und vibrierte, befanden sich keine Wanzen oder andere Geräte an seinem XKr.

„Steig ein.“
 

Nichts lieber oder schrecklicher als das! Doch Finn trat seinem Schicksal mit hoch erhobenem Kopf entgegen und begab sich in die Gefangenschaft von Brads- Chris’ Wagen, schnallte sich artig an.

Er wollte den anderen küssen, wollte gleichzeitig einfach nur weglaufen…

Sich der Fahrerseite zuwendend, richtete er seinen Blick auf Brad. „Bekomme ich noch einen Kuss, bevor wir losfahren?“
 

„Lediglich… einen?“

Sich zur Seite drehend sah Brad den anderen gespielt erstaunt an, eine Braue skeptisch erhoben. Allerdings nur solange, bis er sich hinübergebeugt und die verschmähten Lippen mit seinen eingefangen hatte. Seidig glatt war dieses schwere, braune Haar, als seine Finger darüber fuhren, um Finn sich ihm näher zu bringen. Seine Rechte strich die Seite hinab, den schlanken Körper entlang, wurde sich erneut bewusst, dass er einen Mann vor sich hatte, trotz aller Schlankheit.
 

„Viele… “ murmelte Finn an diese verführerischen Lippen und schnappte sie sich ein weiteres Mal, wie ein Süchtiger, ein Ertrinkender… ein Geretteter. „Ich will dich…“ seufzte er in vielerlei Hinsicht. Dies hier war anders als das Geschäftliche, was er manchmal trieb. Dies hier war… rein privat.

Jetzt, genau in diesem Moment, wagten sich seine Hände zum Gesicht des Amerikaners und umschmeichelten es, fühlten die Haare, die weichen, fühlten die markanten Knochen.
 

Wie oft hatte sich Crawford vorgestellt, dass Schuldig dies zu ihm sagen würde?

„Dann… werde ich mich fügen müssen…“, erwiderte Brad und beendete langsam den Kuss, lächelte sein typisch überlegenes Lächeln, welches seine Umgebung so oft zu sehen bekam und so oft nicht zu schätzen wusste.

Als er sich dessen mit Verspätung bewusst wurde, wandte er sich von Kimura ab und startete den Wagen. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass dies hier nicht Schuldig war und er sich nicht wie diesem gegenüber verhalten durfte. Obschon er Kontrolle liebte und mit sich selbst hart in diesem Punkt ins Gericht ging, so musste er sich bei diesem jungen Mann eingestehen, dass er hier ein Stück seines Selbst in die Waagschale warf. Es machte Spaß und Kimura ähnelte Schuldig, war aber weniger wehrhaft und sprach genau die Seite in ihm an, die gerne Dominanz ausübte und dies auch genoss.

Kimura machte auf ihn den Eindruck, dass es genau diese Dominanz war, die diesen anzog. Brad war neugierig, wie sich die Dinge noch entwickeln würden, denn seine Voraussicht fehlte ihm und daher fuhr er volles Risiko. Ein Aspekt, der ihm in seiner kontrollbewährten Welt in gewisser Weise fremd war.
 

Fügen…Brad Crawford würde sich fügen…

Entgegen den Gedanken des Amerikaners keimte bei Finn anhand dieser Vorstellung Lust auf, nein, vielmehr brandete sie auf und hinterließ kleine, züngelnde Flammen in seinem Unterleib, als Finn sich die passende Szenerie dazu ausmalte. Alleine der Stolz, diese Kraft, die Dominanz, die sich beugte, freiwillig beugte, machte Finn scharf.

Das Lächeln, das ihm nun zuteil wurde, das durch und durch boshaft war und Finn schon auf so vielen Bildern des Orakels gesehen hatte, gab seinen Rest und heizte die Vorfreude auf das Kommende noch mehr an, unterdrückte noch mehr die Angst davor, dass doch etwas schief gehen würde.

Finn schwieg für ein Stück des Weges, dann ließ er es sich jedoch nicht nehmen, an einer roten, recht unbelebten Ampel den Kopf des anderen zu sich herum zu ziehen und ihm einen weiteren Kuss zu rauben.
 

Was Brad dazu brachte, sich zu fragen, wie schüchtern der junge Mann tatsächlich war und wie viel dieser jetzige Mut der drängenden Libido geschuldet sein mochte. Er hörte das lustvolle, minimale Geräusch eines Keuchens nur zu gern in seinen Ohren.
 

Die Ampel war bereits längst umgesprungen, als sie sich lösten und Brad den Weg zu ihrem Noch-Aufenthaltsort einschlug.

Während ihrer Fahrt beschäftigte sich jeder von ihnen mit seinen eigenen Gedanken, Brad vorzugsweise über die weitere Vorgehensweise. Er war dabei – ohne seine Fähigkeiten – ein Gebiet zu betreten, welches er schon lange Zeit nicht mehr betreten hatte und die letzte „Exkursion“ in diese Richtung hatte er mit Schuldig und Kitamura beschritten und sollte heute nicht als Beispiel dienen. Also musste er sich einen Plan zurechtlegen…wie er am besten und für alle Beteiligten profitabelsten …tja…wie er am besten diesen jungen Mann hier flachlegte.

Die Frage war, die er sich stellte: wie sehr konnte er sich austoben? Denn das hatte er vor.
 

Wenn es nach Finn ginge, konnte Crawford alles mit ihm machen, wenn es nicht gerade auf Folter hinauslief. An diesem Abend würde er alles mitmachen, nur um diesem Mann nahe zu sein, der ihn so anzog.

Ja, wie die Motte vom Licht angezogen wurde, so drängte auch Finn zu Crawfords starker Präsenz und war dabei, sich zu verbrennen, wenn er sich zu sehr mit dem Orakel auf dieser Ebene einließ. Denn tatsächlich war es so, dass er sich bereits vor Jahren auf den Amerikaner eingelassen hatte.

Zunächst einmal würde er jetzt durchstehen müssen, das Schwarzanwesen zu betreten, was nun vor ihnen emporragte. Düster gegen den dunklen Nachthimmel, schwarz und bedrohlich, dass es Finn innerlich wie äußerlich für einen kurzen Moment fröstelte. Das ist kein Spukschloss, reiß dich zusammen!, maßregelte die Vernunft.

Natürlich war es kein Spukschloss und er sicher kein Weichei, allerdings... die Geister die ihn verfolgten hatten durchaus ihre schlagkräftigen Argumente um ihn das fürchten zu lehren.

„Hier wohnst du also“, sagte er leise, als wenn er nicht schon längst wüsste, wo das Orakel zuhause war, wo auch noch der Rest dieser unseligen Gruppierung zuhause war.

Im Normalfall hatte er keine Angst vor Schwarz – nur war er ihnen aus nachvollziehbaren Gründen noch nie so nahe gekommen.
 

Brad hatte die Alarmanlage bereits am Tor unten in der Auffahrt auf Tarnung aktiviert, und so ließ sich weder eine Kamera blicken, noch aktivierte sich sonst ein Mechanismus, doch Brad wusste, dass im Haus ein stummer Alarm angegangen war und davon berichtete, dass die Kameras nebst Brad eine unbekannte Person erfasst hatten und diese das Anwesen nun betreten würde.

In der Garage angekommen schloss sich das Tor wie von Zauberhand und Brad öffnete die Wagentür, das Gesicht bar jeder Emotion, wie stets eigentlich. Er wartete auf Kimura an der Fahrertür, bis dieser um den Wagen herumgekommen war, denn sie konnten auf diesem Weg nur mittels einer Codeeingabe ins Hausinnere gelangen. Es gab die Möglichkeit eines Schlüssels, den jedoch keiner von ihnen benutzte.
 

Ein Hochsicherheitstrakt, aus dem es, einmal gefangen, kein Entkommen gab. Seinem Blick entging weder die hochtechnisierte Ausstattung noch die Schlösser an den Türen.

Finn schluckte beim Aussteigen, drehte sich dann jedoch fröhlich zu Crawford um und kam zu ihm.

„Beeindruckend“, gab er zum Besten, während sich seine Nervosität erneut steigerte und ihn unruhig werden ließ. Unruhig und ungeschickt, als er beim ersten Schritt gen Ausgang über seinen offenen Schnürsenkel stolperte und gegen Crawford prallte.
 

Was mehr als ungeschickt war, wie Brad befand, allerdings verging sein innerliches Amüsement, als er Kimura mit seiner Hand ergriff und das leichte Zittern in dessen Hand spürte, diese war eiskalt.

Während sich der Mann noch fing, hatte Brad dessen Nacken bereits mit seiner Linken bedeckt und die fedrigen Haare im Nacken in leichten Zug versetzt, sodass Kimuras Kopf leicht in den Nacken sank und er ihm zur Aufmunterung für diese plumpe Anmache doch tatsächlich eine Belohnung gab. Ein einnehmender Kuss, der ihn von den ganzen Sicherheitsanlagen und dem Pomp des Hauses ablenken sollte.

„Dir ist kalt, gehen wir rein“, sagte Brad, als er sich gelöst hatte und Kimura mit sich führte.
 

Ich will nicht, ich will nicht, ich komm hier nie und nimmer lebend raus! gellte es ein letztes Mal rational durch Finns Gedanken, bevor er ins Haus gezogen wurde und die Tür sich hinter ihnen schloss.

Die Lippen noch brennend von Crawfords Kuss, dessen Dominanz, kam er ins Warme, zitterte jedoch immer noch, bis er sich mit Gewalt dazu zwang, ruhig zu werden. Gott, wieso diese Angst? Oder war es sein Gewissen, dass ihm im Augenblick derart übel zusetzte?

Doch die Lust wurde er ebenso wenig los, und das war gut so.

Staunend in der Eingangshalle des Anwesens stehend, lauschte Finn auf jedes Geräusch, auf jede Bewegung, die ihm hätten sagen können, ob noch jemand hier war und ob das Ganze eine Falle war.
 

„Bis auf einen Hausangestellten sind wir alleine…“, Brad führte Kimura mit sich Richtung Wohnzimmer. „… aber keine Sorge, dieser geht Früh zu Bett und schläft in einem Nebentrakt.“

Im Wohnraum angekommen, tauchte er die wenigen Einrichtungsgegenstände in warmes Licht. „Möchtest du etwas trinken? Wein?“ Ein amüsiertes Lächeln kreiste um Brads Mundwinkel.
 

Ein säuerlicher, ja beinahe schon schmollender Ausdruck traf Brad, wie Finn den anderen in Gedanken aufmüpfig nannte. So, das hatte er jetzt davon!

„Du willst mich abfüllen, um mir dann nachher GANZ schreckliche Dinge anzutun“, erwiderte Finn und konnte die Vorfreude auf eben diese gar schrecklichen Dinge nicht wirklich aus seinen Worten fernhalten.

„Aber ja, ich hätte gerne ein Glas.“ Eins vertrug er noch.

Währenddessen sah sich Finn verstohlen um. Das Haus schien puristisch eingerichtet worden zu sein, denn viel fand das Auge hier nicht, anhand dessen es etwas über die Besitzer herausfinden konnte.
 

Brad wandte sich Kimura zu, kam nah an diesen heran. Der junge Mann sah wirklich verführerisch aus, wie der dort stand, sich vorsichtig umblickte und versuchte, sein Frösteln und seine Aufgeregtheit, aber offensichtlich auch seine Lust in den Griff zu bekommen. Brads Linke umfasste den Jackenaufschlag, zog Kimura damit zu sich her, um einen Kuss zu erhalten, die einladenden Lippen zu schmecken, während er langsam dessen Jacke öffnete.

„Eins der beiden stimmt natürlich“, erwiderte Brad auf Kimuras Vorwürfe, als er sich löste und sich seines Jackets entledigte. „Ich hole den Wein, mach es dir bequem.“

Brad verließ den Wohnraum in Richtung Weinkeller.
 

Eins der beiden?

Hoffentlich letzteres, auch wenn Finn dafür war, dass es ihm auch gefallen sollte… woran kein Zweifel bestand, wenn Crawford nicht gerade mit Schuldig oder dem Iren wiederkam, sondern nur mit dem Wein.

Finn schlüpfte aus seiner Jacke und ließ sich zurückfallen. Angespannt wartete er in dem hart gepolsterten Sessel auf Crawfords Rückkehr, genoss die Stille und das Gefühl, sich direkt in der Höhle des Löwen zu befinden und nicht erkannt worden zu sein. Sein Spieltrieb heizte die Lust in seinem Inneren noch etwas mehr an und er schloss für einen Moment die Augen.
 

Sich bewusst Zeit lassend, kam Brad erst nach zehn Minuten wieder, allerdings mit zwei Gläsern und der besagten Flasche Wein in Händen.

Als Brad in den Wohnraum kam, fragte er sich kurz, wie weit der junge Mann gehen würde, bisher war er erstaunlich anschmiegsam und fügsam gewesen.

Er kam zu Finn, schenkte diesem etwas ins Glas und reichte es ihm. „Probier bitte, ob er dir schmeckt.“
 

Höflichkeit sprang ihm hier entgegen und wer wäre Finn, dass er nun seinerseits nicht vollends darauf ansprang?

Finn schwenkte den Wein und schwelgte in dem fruchtigen, aber nicht süßlichem Aroma des trockenen Weißen aus Australien. Ein teurer Wein, den er schon oft für das Miststück von einer Deutschen besorgt hatte. Interessant, dass Crawford und sie den gleichen Geschmack teilten.

Finn nahm einen Schluck und ließ sich diesen auf der Zunge zergehen. Sehr trocken.

Zögernd nickte er und kam schließlich zu einem positiven Urteil. „Passt zu dir“, lächelte er hoch.
 

Brad beugte sich zu Finn. „Du meinst zu einem langweiligen, trockenen Anzugträger?“

Er küsste die einladend geröteten Lippen. Er fühlte diese nachgiebige Wärme, die ihm von Finn entgegenströmte, allerdings auch eine gewisse Anspannung, die nach wie vor vorhanden war und die fast erfolgreich unterbunden wurde.
 

„Nein, zu einem frischen Mann mit trockenem Humor, der uns ein paar süße Stunden verschafft. Apropos Anzug…“
 

Der störte.
 

Finn kratzte das, was sich in ihm Mut - oder auch Torheit - nannte, in sich zusammen und leerte in einem Zug sein Weinglas. Raubtiergleich glitt er aus dem Sessel und zu Crawford empor.

„…sag mir, Chris, siehst du ohne Anzug genauso gut aus wie mit?“ Finn redete sich ein, dass es ihm egal war, ob nun jemand kam oder nicht, er konzentrierte sich einzig und alleine auf diese hellbraunen Augen, die in dieser Nacht nur ihn ansehen würden.

Nur ihn.

Niemanden sonst.
 

Brad lachte auf, bevor er endlich einen Schluck des Weines genießen konnte. Der Junge machte ihm Spaß. Bei genauerer Betrachtung jedoch war die Betitelung ‚Junge’ doch etwas verharmlost, denn Finns Augen erzählten von etwas mehr Erfahrung, als seine Tollpatschigkeit vermuten ließ. Erfahrung in vielerlei Hinsicht.

„Du meinst genauso uninteressant, angepasst und unspektakulär? Ich denke das trifft es.“
 

Finn holte tief Luft und zog genießend den Duft des anderen ein. So hatte Crawford auch schon in Bangkok gerochen, Sicherheit versprechend, Stärke, Dominanz, Abenteuer und Nervenkitzel.

Der Halbjapaner zupfte spielerisch an der Anzugjacke und sah hoch. Es erleichterte ihn, dass der Amerikaner nun doch noch ein Stück größer war als er.

„Der Teufel liegt im Detail, so zum Beispiel in den Nähten, in der Schnittform, die bestimmte Bereiche durchaus wirksam betont. Angepasst…das stimmt. Maßgeschneidert ist wohl eher der richtige Begriff.“ Finn lächelte wissend. „Unspektakulär - nein, dafür ist der Inhalt zu aufregend.“

Damit glitt Finns Hand über die breite Brust des Orakels nach unten. Hätte Finn noch so etwas wie Schamgefühl besessen, wäre er puterrot geworden, so war er nur innerlich nervös wie sonst was. Gott, er fasste gerade DEN Crawford an, den EINZIG WAHREN CRAWFORD. Er - Finn. Himmel…
 

Von dieser Aufgeregtheit um seine wahre Identität bekam Brad nichts mit. Er hatte mit kühlem Amüsement beobachtet, wie Kimura sich den teuren Wein in die Kehle geschüttet hatte und er vermutete, das dieser bereits seine offensichtlich schnelle Wirkung zeigte, so mutig wie die Hände über seinen Körper streiften.

„Was hältst du davon, wenn wir die Flasche Wein mit nach oben nehmen und dort diesen guten Tropfen bei ein bisschen Aktivität genießen?“
 

„Ich könnte ihn aus deinem Bauchnabel lecken“, sinnierte Finn für sich, eigentlich innerlich aber uneigentlich wurde er sich im nächsten Moment bewusst, dass er es laut ausgesprochen hatte.

Eine der schmalen Hände klatschte laut und nachhaltig an die Stirn und Finn schloss seine Augen.

„Oh nein…das wollte ich jetzt gar nicht sagen!“, stöhnte er verzweifelt auf und errötete nun wirklich. Wenngleich er schon machen wollte, was er angekündigt hatte.
 

„Könntest du…und wirst du“, erwiderte Brad und diese Unabdingbarkeit, der Umstand, dass dies ein Fakt war, als kenne er die Zukunft lag, mit in seinen Worten und in der Betonung.

„Doch…ich hätte danach noch eine bessere Idee, wie dieser Wein zu genießen wäre.“ Seine Hände umfingen den schmäleren, sehnigen Körper, die Linke legte sich auf Finns Nacken, strich von dort nach oben zum Hinterkopf, während er die einladenden Lippen zu einem dominanten Kuss einnahm, der lange anhielt und der durchaus Brads Charakter teilweise wiederspiegelte. Jede aufmüpfige Gegenwehr von Finns spielerischer Zunge wurde in die Flucht geschlagen und nach diesem Sieg mit bestimmender Sanftheit belohnt.

Doch Kimura gab den aussichtslosen Kampf nicht auf, sodass sich dieses Spielchen hinzog, bis Brad die Laute ihrer beider Lust aufeinander wahrnahm und er sich löste, in das gerötete Gesicht blickte, dem er so nah war. Er leckte abschließend über die geröteten Lippen.
 

Wäre Finn kein Mensch, sondern ein Stück Butter oder Schokolade oder was auch immer…er wäre zerflossen, als Brad mit ihm fertig war. Ja, das wollte er, diese Dominanz brauchte er, die ihm zeigte, dass er keine Wahl hatte und dass seine Spiele hier nicht durchkamen.

Instinktgetrieben schmiegte er sich an Brad, sagte nichts für einen Moment. Dann jedoch löste er sich aus dieser allzu sentimentalen Pose und schielte nach oben.

„Ob wir so vor dem Morgengrauen den Wein ausgetrunken haben?“, fragte er lächelnd.
 

Brad löste sich und nahm die Flasche Wein vom Tisch auf, schenkte Finn angemessen ein und reichte ihm das gute Tröpfchen. Er selbst nahm sein Glas auf und ließ die Flasche stehen. „Werden wir.“ Wirst du, fügte er in Gedanken hinzu und die Tätigkeit, bei der Kimura diesen teuren Wein zu schätzen lernen würde, erfüllte ihn mit Lust und vor allem mit Begehren auf diese Kombination.

Er führte Kimura nach oben in sein Schlafzimmer, das eher an das kühles Designer ‚Gemach’ eines Fürsten erinnerte, mit der breiten Fensterfront und den stilistisch einfachen, in dunklen Farben und klaren Linien gehaltenen Möbeln.

Als sie eintraten zog Brad den Mann an sich, nippte an dessen Lippen und sah in die warmen Augen seines Gegenübers. „Wenn du dich frisch machen möchtest, dort drüben grenzt das Badezimmer an…“ bot er an – ganz der umsichtige Gastgeber, der er doch war…
 

Stück für Stück entdeckte Finn mehr über den Amerikaner, über dessen Geschmack, dessen Einrichtung, auch wenn es ihm ehrlich gesagt schwer fiel.

Auf dem Weg in Crawfords Zimmer hatten sie sich wieder und wieder geküsst, berührt, hatten innegehalten, und oben angekommen hatte Brad Finn soweit, dass dieser angenehm erregt und bereit für weitere Schandtaten war.

Da kam ihm doch das Badezimmer nur recht!

Mit einem Lächeln nahm Finn das Angebot an und ging ins Badezimmer, die Tür sperrangelweit offen lassend. Einladung? Natürlich, was denn sonst!

Sorgsam achtlos ließ er seine Kleidungsstücke auf die marmorne Bank fallen und stieg schließlich unter die Dusche, benetzte sich mit warmem Wasser aus der Regendusche.

Sein Blick fiel auf die Tätowierungen, die seinen ganzen Körper bedeckten. Wem hatte er sie alles schon gezeigt? Nicht vielen, denjenigen, mit denen er geschlafen hatte, sicherlich. Dem deutschen Miststück. Und nun Crawford, Finns Herz pochte unangenehm hart in seiner Brust, als er daran dachte, dass der Amerikaner ihn hier ungeschminkt und in nichts als der nackten Wahrheit sehen würde.

Was würde er wohl dazu sagen? Es waren nicht die typischen Körperzeichnungen, die den Familien nachgesagt wurden.
 

Brad hatte Kimura sein Weinglas abgenommen und stellte nun beide neben das Bett auf ein niedriges Tischchen, bestehend aus Glas und Aluminium.

Das angrenzende Schlafzimmer zur anderen Seite des Bades hatte früher Schuldig gehört, bevor er ausgezogen war, und blieb stets für ihn reserviert. Aus diesen aber auch aus zweckmäßigen anderen Gründen gab es im Badezimmer einen stets aufgefüllten Kondomvorrat, den Brad hin und wieder dezimierte. Nicht oft natürlich.

Brad zog sich das Hemd aus, nahm einen Schluck seines Weines, während er ins Badezimmer schlenderte. Das sanfte Prasseln des Wassers lockte ihn an.

Die gläsernen Wände der ebenerdigen, großen Dusche ließen durch die Wassertropfen und den feuchten Beschlag nackte Haut erkennen.

Aus einer Glasvase fischte er drei der farbenfroh verpackten Tütchen und warf sie kurzerhand aufs Bett.

Danach entledigte er sich seiner Socken. Den Rest beließ er, wie er war. Kimura hatte den Lichtschalter für die indirekte Beleuchtung in den Bodenleisten angeknipst und nicht den helleren für die Deckenbeleuchtung, was Brad nun gut in seinen Plan passte, denn als er die Glastür zur Dusche öffnete, traf das kühle, bläulich-grüne Licht auf Kimura und brach sich in den unzähligen Wassertropfen. Verführung und perfekt in Szene gesetzte Unschuld trafen ihn direkt…nun es war nicht sein schwarzes Herz, in das sie trafen…
 

Finn drehte sich langsam zu Brad hin.

Er wollte den Mund öffnen um etwas zu sagen, verstummte aber.

Wie unwirklich, wie dämonisch gar Crawford in dem gedämpften Licht aussah. Wie absolut begehrenswert. Alleine dieser Oberkörper, muskulös, aber kein Schläger, breit, aber kein Bodybuilder. Hier war kein Gramm Fett zuviel und selbst wenn, wäre es Finn in diesem Moment herzlich egal gewesen!

Er wollte mehr sehen, wollte ALLES sehen!
 

Brad stand immer noch im Eingang zur Dusche betrachtete sich Kimura. Er ließ sich Zeit damit, ließ die Tür ohne sich umzudrehen zugleiten und ließ auch seinen Blick dabei über die schlanke Gestalt kriechen, fing sowohl das Vorhandensein einer Taille, als auch das bereits lebendig gewordene Glied mit seinem stechenden Blick ein. Nackte Haut in der Tat.

Brad war fasziniert von diesem Anblick. Denn es war nicht bloß nackte Haut… es war ein Kunstwerk. Hätte er diesen Menschen in einem bestimmten Winkel betrachtet, er hätte nicht sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau war. Der Hintern war perfekt geformt, die Gliedmaßen waren trainiert, aber nicht so sehr, dass die Muskeln zu sehr hervorstachen. Aber das erstaunlichste...

Kimura war von den Knien aufwärts bis hinauf zum Oberkörper tätowiert. Sicheln, die in diesem Licht zu schimmern schienen als würden sie vibrieren, doch beim Näherkommen erkannte er, dass sie unterbrochen waren… Es waren Schriftzeichen, die untereinander und so eng geschrieben waren, dass man sie nur schwer als solche erkannte. Sie zogen sich über den ganzen Leib. Brad betrachtete sich die warmen Iriden, ergriff mit Verspätung die Hand, die Kimura ihm entgegenhielt und zog ihn mit einem kleinen Ruck an sich. „Das traut man einem Babysitter gar nicht zu, dass er derart künstlerisch aktiv ist…?“ Brad ließ seine Lippen die feuchten Schläfen berühren. Seine Hand strich über den Rücken, die Wirbelsäule nach unten bis zu dem wohlgeformten Gesäß.
 

Künstlerisch tätig. Wohl ehr künstlerisch vergewaltigt. Er hatte diese Tätowierungen nicht gewollt, dafür jedoch das Miststück, das ihn unter Kontrolle hatte.

Und doch lächelte er, als wäre es sein Werk, sein Wollen. „Gefallen sie dir?“ fragte er leise, sanft. Vielleicht war ja ausgerechnet Crawford einer der ersten, die nicht darüber spotteten. Wie denn auch? Er wusste ja wohl kaum, dass sie ihn mit dieser Folter als das Ihre gebrandmarkt hatte. Zwar nicht in Worten, aber mit Taten. Er konnte es noch nicht einmal richtig lesen was dort stand. Die Schriftzeichen waren alt.
 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt…
 


 

Vielen Dank für’s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Das Beta übernahm snabel. Vielen Dank dafür! ^_^
 

Coco & Gadreel

Sympathy for the devil

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Soul Crack

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Ein kuschliges Gefühl

Ein kuschliges Gefühl
 


 


 

o∼
 


 

„Ehm...“ war alles, was Schuldig im Moment vernünftiges einfiel, als sich ein graubraunes Etwas mit schwarzweißem Gesicht an Hidaka drängte und schniefende Geräusche von sich gab. Sie hatten es bis hier runter geschafft und ihm fiel tatsächlich nichts Schlaueres ein als diese paar Buchstaben? Wo war seine große Klappe hin wenn er sie mal brauchte?
 

Ran stieß die Tür komplett auf und sah sich um, erst dann trat er vorsichtig in den Raum ein. „Ken, kannst du mich hören?“
 

Ken hob beide Hände, die zwar noch gefesselt waren, aber durch das Öffnen der Tür einen Mechanismus aktivierten, so von ihrer Wandfessel abgefallen waren und nun in seinem Schoß lagen. „A...ya?“
 

„Ja, wir sind’s...“ sagte Aya und erkannte im gleichen Augenblick... „Das ist nur ein Kostüm“, an Schuldig gerichtet. Er steckte sein Schwert in die Scheide und kam näher. Schuldig blieb weiterhin in der Tür stehen. Jetzt sah er auch das Fell, die Ohren eines Waschbären. Ran trat näher und das schniefende Etwas drehte ihnen das kleine Gesicht zu.

„Hey... wer bist du denn?“ fragte Aya leise und mit sanfter Stimme, als er die Kinderaugen auf sich gerichtet sah.

Das Kind, dessen Gesicht schwarz bemalt war, mit weißen Gesichtszeichnungen um die Augen, weinte leise vor sich hin. Das bemalte Gesicht war tränennass und aus der Nase lief ihm Rotz, den es hin und wieder wegwischte.

Es schüttelte den Kopf und schniefte wieder herzerweichend. Wo kam dieses Kind her?

„Das ist Lilli, der Waschbär“ stellte Ken sie mit brüchiger Stimme, aber einem Lächeln vor und hob vorsichtig den Kopf. „Lilli, darf ich dir Ran vorstellen? Er wird uns hier rausholen.“ Ken bewegte sich vorsichtig und stöhnte vor Schmerz auf.
 

„Kannst du laufen?“ fragte Ran in Richtung Ken, sah aber das Mädchen dabei an.
 

Das Kind nickte im Glauben daran, dass ihr die Frage galt.
 

„Hilf mir auf.“ Ken konnte es nicht genau sagen, er hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, um das unter Beweis zu stellen. Ran half dem knienden, an der Wand lehnenden Freund auf die Beine, die jedoch einzuknicken drohten. „Schuldig kannst du das Kind nehmen?“
 

„Ich denke nicht“, sagte dieser langsam aber entschieden und starrte immer noch wie hypnotisiert das kniende Fellknäuel mit dem verheulten Gesicht an, das nun aufstand und sich ihm zuwandte. Es schniefte noch einmal und sah ihn dann aufmerksam an.
 

Ran sah, dass zwischen den beiden etwas lief. „Wir haben nicht viel Zeit, Schuldig, ich nehme das Kind, du Ken, los jetzt“, sagte Ran ruhiger als er sich fühlte.

„Ken... gibt es hier etwas... dass wir abholen sollten? Daten, ein Paket, irgendetwas?“

Ken schüttelte den Kopf und versuchte den Schmerz weg zu atmen, der in seinem Magen herrschte... und seinem linken Knie, sowie seinem linken Knöchel.

„Das Kind... es ist das Kind... so ein großer Typ sagte mir, dass ihr kommen würdet, um das Kind abzuholen. Es soll zu Schwarz“, er wandte den Kopf und nahm Schuldig in Augenschein. Schwarz waren gekommen, um ihnen hier herauszuhelfen?

„Ich... Crawfords Schwester... ich bin mit ihr hier... ich weiß nicht, wo sie ist. Aber der Typ sagte, wenn wir das Kind raus bringen, wäre sie in Sicherheit. Wie kommt ihr überhaupt hierher?“
 

„Lange Geschichte“, murmelte Schuldig und kam auf sie zu. Er packte sich Ken kurzerhand unter der Schulter und nahm ihn auf seine eigene. Ken ächzte geplagt weil sein Magen nun erhöhtem Druck ausgesetzt war. „Kotz ja nicht, Weiß“, drohte Schuldig.

Ran konzentrierte sich auf das Kind. „Du musst mit uns mitkommen, Lilli, ist das okay?“
 

Das Mädchen nickte, obwohl man es als solches nicht erkannte bei all dem Kunstfell und der Schminke. Sie hatte einen kleinen, schwarzen Kinderrucksack auf dem Rücken und eine rosafarbene Umhängetasche in Form eines Pudels. Wie alt war sie? Fünf, sechs, sieben Jahre alt?

„Finni hat gesagt, dass ich mitgehen soll“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme.

„Du bist sehr tapfer, Lilli. Gibst du mir deine Waschbärenpfote?“ er hielt ihr seine Hand hin und sie streckte die Fellpfote aus. Er ergriff sie und richtete sich dann auf.
 

Ran wies ihnen den Weg und sie gingen den Flur weiter, bis sie auf eine offene Tür stießen. Sie gingen hindurch ein paar Stufen weiter nach oben, dann durch eine weitere offene Tür bis sie einen langen schmalen Gang entlangsehen konnten, dessen Ende nicht zu erkennen war. Es roch nach Erde. Ein Fluchttunnel?

„Los“, sagte Ran und sie gingen zügig, soweit das möglich, war weiter.
 

Das war das Paket? Ein Kind?

Aber was für ein Kind? Es war nicht normal, soviel stand fest. Genauso wenig normal wie Schuldig und der Rest von Schwarz. Und wieder stellte er sich die Frage, was dieser Asugawa damit bezweckte, und wer er war.
 

Auf halber Strecke brauchten Ken und auch Schuldig eine Pause. „Wir ruhen uns hier etwas aus“, sagte Ran zu dem Kind im Waschbärenkostüm und sie sah zu ihm hoch. Sie nickte und ließ sich auf den Boden plumpsen. Als Ran bemerkte, dass sie sich mit ihrem rosa farbenen Pudel beschäftigte, ging er zu Ken hinüber. „Schaffst du es?“

Kens Gesicht war vor Anstrengung weiß, aber er nickte. „Wird gehen. Ich versuch jetzt zu laufen.“

Schuldigs Gesichtsfarbe sah nicht besser aus und er war zutiefst beunruhigt. Das erkannte Ran daran, dass er viel zu ernst und zu still war. Er sah das Mädchen an, als wäre es der Teufel höchstpersönlich.

Ran versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, indem er ihm über die Wange strich. „Sie ist eine von euch?“

Schuldig nickte und seufzte niedergeschlagen. „Ich... ich denke...“ er wandte ihm die aufgewühlten, grünen Augen zu. „das ... aber wenn ja, dann ist sie das Problem, dass wir mit SIN haben. Ich fühle mich in ihrer Nähe... extrem seltsam.“ Er fühlte sich bedroht.

„Wie mit der Droge in China? Oder wenn du versuchst, mich zu lesen?“
 

„Nein. Es ist, als wäre ich nie ein Telepath gewesen.“ Schuldig schluckte und blinzelte.
 

Schuldig hatte Angst.

„Wir sollten weiter“, sagte Ran dann. Sie mussten raus hier und Schuldig etwas Abstand zu dem Kind gewinnen lassen, damit er sich wieder in den Griff bekam.

Schuldig stützte Ken und humpelnd kamen sie wieder voran. Am Ende des Tunnels war eine Tür. Ran blieb bei Ken und Lilli, während Schuldig versuchte, sie zu öffnen. Was ganz gut gelang mit etwas Nachdruck und schieben, denn wie er bemerkte, war ziemlich viel Gestrüpp und Erdreich vor der Tür. Sie kamen in einem Gebüsch heraus. Schuldig sah sich draußen um und fand einen Wagen direkt vor dem Eingang stehen. Die Schlüssel steckten und auf dem Beifahrersitz lag ein Zettel auf dem stand:

-Keine Wanzen, Kein Sender, Nummernschilder ausgetauscht, vollgetankt -A.-
 

Asugawa hatte wirklich an alles gedacht und langsam keimte in Schuldig der Verdacht auf, dass das tatsächlich alles nur wegen dem Kind veranstaltet wurde. Sollte er glauben, dass Asugawa das Kind von hier wegbringen wollte, weil es ein PSI war?

Schuldig schnaubte und kehrte zu Ran zurück. „Draußen steht ein Wagen.“

Ran nickte und sie kletterten ins Freie, setzten Ken auf den Rücksitz und schnallten ihn an.

Ebenso das Kind, das sich in den Kindersitz setzte und bereits nach dem Sicherheitsgurt fahndete. Ran half ihr dabei, war aber nicht eben gerade ein Experte für derlei Dinge. Das Mädchen konnte es wesentlich besser.
 

„Ran. Fahr du mit ihnen ins Ryokan. Ich suche Nagi und Omi. Wir kommen mit dem Van nach.“

„Das gefällt mir nicht“, erwiderte Ran und starrte die schwarze Silhouette vor sich an. Er wollte Schuldig nicht alleine lassen. Dabei konnte zu viel schief gehen.
 

„Ich weiß, aber ich brauche etwas Abstand von dem Kind und Nagi vielleicht meine Hilfe. Vertrau mir.“
 

Vertrauen war nicht das Problem. Er selbst brauchte Schuldig jetzt.

„Okay.“ Ran küsste ihn harsch auf die Lippen und stieg dann ein. Er ließ den Wagen an und sie fuhren davon. Er blickte nicht zurück. Schuldig würde keinen Unsinn machen, der ihn Ran nicht mehr zurückbrachte.
 

Schuldig machte sich daran, auf oberirdischem Weg wieder auf das Gelände zu gelangen. Seine Gedanken waren wirr, zerfaserten bereits im Ansatz, ließen Gefühle überhand nehmen, die einer Panik sehr ähnlich waren. Er blieb stehen, schüttelte den Kopf und wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. Beruhige dich, beruhige dich doch, sagte er sich selbst immer wieder.

Es war viel zu still in seinem Kopf. Ohrenbetäubend still, denn das Hintergrundgemurmel war verstummt und er kam sich verloren vor. Nicht mehr Herr der Lage. Wo war Ran zum Teufel? Wieso hatte er ihn im Stich gelassen?

Er holte tief Luft und sah zurück. Idiot, denk nach.
 

Er hätte ihn nicht fahren lassen sollen. Er brauchte ihn.
 

Nein. Ran hatte sich besorgt gezeigt, wenn er ihn nicht fahren gelassen hätte wäre er bei ihm. Reiß dich zusammen, wies er sich selbst zurecht. Du hast so etwas Ähnliches schon einmal erlebt und hast es geschafft.
 

Seine Beine setzten sich wie von selbst wieder in Bewegung. Dann, als er ein Stück gelaufen war und der Abstand sich offenbar vergrößert hatte, erschloss sich ihm seine Welt, die er kannte und brauchte. Es kam so abrupt, dass ihm Tränen der Erleichterung in die Augen schossen und er erneut stehen blieb. Für einen kurzen Moment hatte er gedacht, das Kind hätte ihm seine Fähigkeiten genommen.
 

Er versuchte, Kontakt zu Omi aufzunehmen, was ihm dieses Mal sofort gelang.

‚Omi, was ist bei euch los?’

‚Schuldig! Ich brauche Hilfe, Manx ist hier und gibt mir Deckung, aber ich weiß nicht, was mit ihm los ist, ich glaube er ist bewusstlos.’

‚Regeneriert er? Kennst du diesen Zustand bei ihm?’

‚Ja, könnte sein, aber er hat sich abgeschottet.’

‚Dann ist er nicht bewusstlos, er ist nur in einer Regenerationsphase. Ich komme zu euch.’

Schuldig fing an zu laufen. Das Anwesen aber vor allem das Hauptgebäude brannte inzwischen zum größten Teil.

Noch während er lief vibrierte plötzlich sein Handgelenk und er blieb stehen und sah auf sein Pad. Brad rief an.
 

Er nahm ab und hörte eine Frauenstimme.

„Hallo, wer ist da?“

Er kannte die Stimme, hatte sie auf einem Empfang in diesem Jahr kennen gelernt. Der scharfe Ton konnte ihre brüchige Stimme nicht festigen.

„Sind Sie es, Eve?“

„... wer ist da?“

„Schuldig. Wir sind uns bei der Benefizveranstaltung kurz begegnet, als sie Ihren Bruder observieren wollten.“

„Er braucht ihre Hilfe.“ Die Besorgnis drang selbst durch ihre kühlen Worte.

„Sind Sie noch auf dem Gelände?“

„Nein. Jemand... hat mich... weggebracht, als der Angriff von Schwarz begann. Wir sind nach Tokyo reingefahren und ich bin in einer Gegend... einem Haus...“

„Ist Brad bei Ihnen?“

„Ja, aber er ist bewusstlos und ich kann nicht bei ihm bleiben, damit mache ich die Sache nur schlimmer. Ich... bin...“

„Hören Sie gut zu, Eve. Sie werden sich nicht vom Fleck bewegen. Wenn er bewusstlos ist, können Sie es durch ihre bloße Anwesenheit nicht mehr schlimmer machen. Sie rufen vom Pad aus an?“

„Ja... ja das tue ich.“

„Gut, ich orte Sie.“

Er gab die Daten ein und sah zu, wie das Gerät das andere Pad ortete. Währenddessen sondierte er die Umgebung. Momentan blieb er noch unbehelligt, doch wer wusste schon, wie viele von den Wachleuten hier den Angriffen entkommen waren?

Die Ortung war beendet und Schuldig starrte auf die Adresse. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er da sah.

„Sie sind auf unserem Grundstück, das wir einmal erworben hatten. Bleiben Sie in dem Haus. Das Schlimmste und wirklich Dümmste, das sie jetzt unternehmen könnten, wäre ihren Bruder allein zu lassen. Verstehen Sie das?“

„Ja...“ sagte sie leise.

„Gut. Wir kommen zu Ihnen.“
 

Schuldig beendete die Verbindung und sah zu, dass er sich beeilte. Beißender qualmender Rauch trieb ihm die Tränen beim Näherkommen in die Augen und erschwerte die Orientierung. Er hustete verhalten versucht sich einen Überblick zu verschaffen. Viele Gebäude brannten, das Dach des Hauptgebäudes knirschte bedrohlich. Ohrenbetäubender Krach hüllte ihn ein je näher er kam. Sein Gang wurde langsamer und in der nächsten Sekunde ging ein Ruck über das Gelände und fegte ihn von den Füßen. Er landete zwei Meter weiter und sah sich um. In einiger Entfernung war eine niedrige Halle explodiert. Trümmer von gesplittertem Holz regneten auf ihn herab.

Er versuchte Luft zu holen, atmete flacher und musste erneut husten als der Rauch in seiner aufgeraute Kehle kratzte. Blaugrüner Rauch stieg über dem Gelände empor. Was zur Hölle war dort in die Luft geflogen? Labormittel? Schuldig rappelte sich rasch auf und duckte sich als weitere Holzteile auf ihn niederregneten. Nagis Signatur leuchtete hell in seinen Gedanken und führte ihn über das Gelände. Er war konzentriert darauf den herabfallenden Trümmern auszuweichen und mögliche Angreifer zu scannen, sodass er die vermummte Gestalt die seinen Weg kreuzte frühzeitig bemerkte. Seine Ruger fühlte sich vertraut in seiner Hand an als er sie aus ihrer Wartehaltung an seinem Oberschenkel löste, währenddessen bereits entsicherte und auf die Gestalt richtete. Diese blieb stehen und musterte ihn scheinbar gelassen. Schuldig war bereits in ihren Gedanken. Eine junge Frau, die zu Kritiker gehörte, schloss er aus den Gedankenfetzen die sie ihm schier entgegen zu werfen . Die Frau nahm ihr Tuch ab und sah ihn neugierig an. „Maneater, Mr Schuldig. Das Gelände ist gesäubert. Manx erwartet sie vor dem Gebäude des Nebentraktes, das Feuer hat es noch nicht erreicht.“
 

Schuldig steckte die Waffe weg und folgte der Frau. Als er das helle Schimmern schon von weitem erkannte, begann er zu rennen. Er wich brennenden herabstürzenden Gebäudeteilen weiträumig aus, sprang über einen niedrigen Zierzaun des Gartens und kam auf dem Kies rutschend vor Nagi an. Sie hatten ihn vom Dach geholt und Omi hielt ihn am Boden in seinen Armen. Das Gesicht des jungen Takatori war mit Rus verschmutzt, die hellen Haare klebten im verschwitzt auf der Stirn, ein Kontrast welcher die blauen Augen schier zum Leuchten brachte. Schuldig wünschte, dass Nagis Schild im selben kräftigen Blau leuchtete. Aber es schimmerte nur kränklich und sehr schwach. Hinzu kam dass der Schild besorgniserregend flackerte. „Er ist schwach. Das Licht ist zu blass, es müsste lebendiger an Farbe und kompakter sein.“

Schuldig fasste vorsichtig an das Halo aus knisternder Energie, das sich um Omi und Nagi gebildet hatte. Er nahm beide Hände zur Hilfe und versuchte, zu Nagi einen Kontakt zu finden. Seine Augen richteten sich auf das blasse Gesicht, das durch den flackernden Schild grau wirkte.
 

Omi hatte Angst. Nagis Körper fühlte sich wie ausgezehrt an, als wäre er in den letzten Minuten in sich zusammengefallen. Sein Gesicht lag erschöpft an seinem Arm, die feinen Wimpern ruhten auf den blassen, grauen Wangen.

Er sah zu Manx auf, die ihn besorgt anblickte. „Sineater... die örtlichen Behörden haben uns einen Aufschub gegeben, bis sie hier eintreffen, aber der währt nur noch wenige Minuten. Maneater bleibt hier während ihr euch langsam an die äußeren Ränder des Geländes zurückzieht.“

Der angesprochene Mann nickte und das Team um Manx, das ihnen zugesehen hatte, verschwand.
 

Schuldig fand keinen Zugang zu Nagi.

Er schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht zu ihm durch, du musst ihn tragen, Omi.“ Omi nickte. Manx nahm einen der Bögen, Schuldig den Rest und Omi fasste den viel zu leichten Körper unter, bis er ihn bequem tragen konnte. Sie verließen den Schauplatz ihres Angriffs auf dem gleichen Weg den sie zuvor genommen hatten – durch den Wald. Untermalt wurde ihr Rückzug durch Polizeisirenen, die sich dem Grundstück näherten. Als sie beim Van ankamen, verabschiedeten sich Manx und Maneater.

„Wir müssen ein Treffen vereinbaren, Schuldig“, sagte Manx im Weggehen.

„Wenn sich alles beruhigt hat“, erwiderte Schuldig unverbindlich und schloss die Tür. Nagi lag auf der Bank und Omi strich ihm über die Stirn. Seine rußigen Hände wirkten fehl platziert und viel zu grob auf den zarten Gesichtszügen, die in ihrer Farbe und Zerbrechlichkeit eher an feinstes Porzellan erinnerte. Er hatte Angst dass es zerbrach wenn er es nur anhauchte.
 

Schuldig setzte sich ans Steuer und sie fuhren los. „Rede mit ihm und halte Körperkontakt, solange du mit im Regenerationsschild bist. Er kann Energie von dir beziehen. Wenn es ihm so schlecht geht, wie ich vermute, bist du der Einzige, der ihn jetzt noch am Leben halten kann.“
 

Omi starrte für einen langen Moment Schuldigs Hinterkopf an. Seine Armbeuge winkelte sich mit ihrer verletzlichen Last noch mehr an zog Nagi weiter zu sich. Er sah auf ihn hinab. „Bleib bei mir, hörst du?“, wisperte er. „Ich gehe nicht weg. Ich werde nicht weggehen, aber bleib bei mir...“
 


 

o∼
 


 

Eve öffnete die Augen, als ein heller wiederkehrender Schein an ihre geschlossenen Lider drang. Das Datenpad, dass neben der Waffe lag und dass sie Brad abgenommen hatte, blinkte und zeigte einen Anrufer. Sie atmete tief ein und wieder aus und nahm sich räuspernd das Pad zur Hand.

Nach einem erneuten Räuspern ging sie das Risiko ein und wählte auf dem Touchpad den Anrufer an.

„Ja“, meldete sie sich mit kühler Stimme. Zumindest hatte sie das vor, allerdings missglückte dies, als sie ihre kleine, kümmerliche Stimme hörte, die so voller Tränen war, dass sie brach.

„Eve. Wie geht es Ihnen?“ Es war Schuldig, der Telepath von Schwarz, mit dem sie vorhin schon gesprochen hatte.

Seine Stimme klang besorgt.

„Unverändert. Der Status meines Bruders macht mir Sorgen.“

„Hat sich etwas verändert?“

„Nein.“

„In wenigen Minuten wird ein Weiß-Agent zu Ihnen kommen. Vertrauen Sie ihm. Er hat Siberian dabei.“

„Gut.“ Er legte auf und Eve legte das Pad zur Seite. Sie nahm die Waffe, die daneben lag und behielt sie in der Hand, den Arm auf Brads Flanke gelegt. Es war besser, sie war auf Überraschungen gefasst.

Endlose Zeit später vernahm sie einen Wagen, der die Auffahrt des Grundstücks heraufkam und anhielt. Sie hörte ihn wenden. Dann eine Tür, die geöffnet wurde.
 

Dann öffnet sich die Eingangstür und sie hob automatisch Brads Waffe und entsicherte sie, damit ihr Gast mitbekam, dass sie es durchaus ernst meinte.

„Crawford?“ hörte sie eine Stimme, deren dunkle Note samtig und beruhigend auf ihr Nervenkostüm wirkte, als hätte jemand eine Decke aus Trost über ihr ausgebreitet.

„Ja?“

„Hat Schuldig Sie informiert, dass ich komme?“

„Sie sind der Weiß-Agent?“

Er zögerte einen Moment, was ihr nicht gerade Vertrauen einflößte.

„Abyssinian“, sagte er schnell, trat jedoch keinen Schritt näher. „Deuten Sie mein Zögern nicht falsch. Ich gehöre nicht mehr zu Weiß. Ich bin ausgestiegen.“

„Und wem gehören Sie jetzt an, Abyssinian?“ Die Waffe war immer noch auf ihn gerichtet. Sie sah das Schwert in der Scheide in seiner Hand.

„Ich lebe bei Schwarz.“

Sie nickte, war sich aber noch immer nicht sicher. Trotzdem senkte sie die Waffe und sicherte sie.

Sie konnte das Zittern ihrer Hand nicht verhindern, als sie die Waffe wieder neben sich legte.
 

Aya entspannte sich ein klein wenig und machte sich auf, um das Haus zu durchsuchen. Er wollte sicher gehen, dass niemand sonst sich hier aufhielt. Das dauerte, aber es war von Vorteil, dass er hier bereits den Babysitter für Jei gemimt hatte. Anschließend ging er zu den Gechwistern und kniete sich vor Brad. Er schien zu schlafen.

„Was ist mit ihm. Er sieht nicht so aus, als wäre er verletzt.“
 

Während der Japaner sich offensichtlich genau umgesehen hatte, war Eve zu dem gleichen Schluss gekommen. „Sein Zustand hat sich verändert... seine Atmung ist jetzt anders. Er schläft, denke ich.“
 

„Was ist passiert?“
 

Eve mied den Blick des anderen. „Er ist in einer Art Vision gefangen gewesen, bis eben...“, sagte sie unbestimmt.
 

„Gefangen?“ Aya roch förmlich, dass das nicht alles war. Soweit er wusste, war das bisher nie mit Brad geschehen. Was er auch vor Eve veräußerte. Er machte in seiner Stimme deutlich, dass er ihr das nicht abkaufte.
 

„Ich... er...“, sie brach ab.
 

Aya sah in das verweinte Gesicht und erkannte in den bernsteinfarbenen Augen einen alten Schmerz, der Eve Crawford daran hinderte, zu sprechen.

„Wovor haben Sie Angst?“ fragte er ruhig.
 

Sie schüttelte den Kopf. Es dauerte einige Minuten, bis sie ihren Blick wieder zu ihm hob und tief einatmete.
 

„Er war in der Vergangenheit gefangen“, sagte sie leise.
 

„Soweit ich weiß, hat ihr Bruder andere Fähigkeiten“, sagte Aya vorsichtig.
 

Sie nickte und strich Brad mit zitternden Fingern über den Kopf. „Ja so ist es. Ich bin sein Gegenstück. Ich beherrsche die Psychometrie und kann durch Berührung einer Oberfläche die Erinnerungen, die damit zusammenhängen, sehen. Das ... funktioniert seit geraumer Zeit auch bei Menschen.“
 

Aya lächelte in sich hinein. Das war also das Geheimnis, das Brad vor ihnen verborgen hatte. Seine Schwester war auch eine PSI.

„Und was macht sie glauben, dass ihr Bruder diesem Einfluss ausgesetzt war?“
 

„Komme ich in seine Nähe, empfängt er die Bilder, die ich sehe. Wir sind auf einer geistigen Ebene miteinander verbunden, aber das ist nur in eine Richtung möglich. Umgekehrt funktioniert es nicht. Er sieht dann sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit, was sein Gehirn nur bedingt verkraftet. Ich habe ihn vorhin berührt, dann ist er zusammengebrochen.“
 

„Und haben Sie gesehen, was er gesehen hat, solange dieser Zustand anhält?“
 

„Nur wenn ich den Kontakt halte. Und es ist verworren, ich kann daraus nichts selektieren, keine Schlüsse ziehen.“
 

Aya verkniff sich die Frage, ob sie den Kontakt gehalten hatte. Sie hatte geweint und sah nicht aus, als könne sie einer weiteren Fragerunde standhalten. Das konnte auf später verschoben werden.

Er besah sich Brad erneut. „War das früher auch schon so gewesen?“
 

Er sah auf, als sie den Kopf schüttelte. „Wir haben zusammen genau diesen Aspekt trainiert. Er konnte es gut abschirmen. Dennoch kann es sein, dass sich seine Fähigkeiten stark erweitert haben. Aber auch die fehlende Möglichkeit, mit mir das Training fortzuführen, könnte der Grund für diese Reaktion sein. Ich weiß es nicht. Mir ist aber klar, dass er durch meine Anwesenheit in seiner Nähe Probleme hat, einen klaren Gedanken zu fassen. Er sieht zu viele Bilder, vor allem, wenn ich keine Handschuhe trage. Ich übertrage alles an ihn und kann das nicht verhindern. Sein Gehirn kann damit nicht umgehen“, wiederholte sie, als müsse sie die Dringlichkeit des Problems klarstellen.
 

Aya sah auf ihre Hände. Die Rechte lag auf Brads Flanke, die Linke hatte sie an seinen Hinterkopf gelegt. „Sehen Sie im Augenblick etwas aus seiner Vergangenheit?“ Er deutete auf ihre Hände.

Als hätte sie sich verbrannt zog sie ihre Hände weg. Dann runzelte sie die Stirn, berührte mit der linken Hand Brads Gesicht und schüttelte langsam den Kopf. „Nein?“ Sie schien es nicht zu verstehen, doch Aya war einiges klarer. Das Mädchen, das im Wagen saß: Lilli steckte dahinter.
 

„Das... ist noch nie passiert. Wie...?“ Sie ließ ihren Satz unvollendet und starrte auf ihre Hände.

„Ich glaube, ich kenne die Ursache.“ Sie sah zu ihm auf und sah ihn ungläubig an.
 

„Vielleicht bessert sich daher der Zustand ihres Bruders.“
 

„Er... Wir ... als Kinder geschah uns das öfter, als sich unsere Fähigkeiten sprunghaft entwickelten. Wir mieden damals räumliche Nähe und ihm ging es besser. Wir lernten damit umzugehen. Ich lernte Handschuhe zu tragen... Aber jetzt... ich bin ihm so nahe... Ich müsste die Situation eigentlich verschlimmern...“ Sie spürte, wie ihr die Stimme wegblieb, als der Kloß im Hals sie am sprechen hinderte. Wieder traten ihr diese lächerlichen Tränen in die Augen.
 

Aya ahnte, dass er das Ausmaß der Problematik der beiden Geschwister wohl nicht mal im Ansatz erfassen konnte.
 

„Schuldig sagte, wir sollten zunächst hier bleiben. Ich werde mich um den Wagen kümmern und Siberian holen.“ Sie nickte und strich Brad unablässig über die Haare, ganz so, als müsse sie diese Geste nachholen, die sie lange nicht mehr hatte ausführen können.

Aya ließ die Geschwister alleine und ging zum Wagen zurück. Er öffnete Kens Tür, weckte ihn auf und half ihm aus dem Auto. „Geht es alleine?“, fragte Aya, da Ken sich bereits humpelnd und sich den Arm haltend in Richtung Eingangstür aufmachte. Er nickte, sagte jedoch nichts und Ran schob sich auf Kens Sitz, um sich dem Mädchen zuzuwenden.

Er sah sich von wachen Kinderaugen beäugt und lächelte in das kleine, ernste Gesicht.

„Wie geht’s dem tapferen Lilly Waschbär?“

Sie überlegte einen Moment, ließ ihn aber nicht aus dem Blick. „Immer noch tapfer“, nickte sie schließlich übertrieben. „Auch wenn der Lilly Waschbär nach Hause will.“

Aya nickte gewichtig. „Das glaub ich dem Lilly Waschbär“, sagte er bedauernd.

„Weißt du, wo das ist? Dein Zuhause?“

Sie runzelte übertrieben die Stirn und streckte ihre Pfote aus, um ihn an der Stirn zu berühren. „Du Dummerchen, da wart ihr doch.“

„Und deine Eltern, sind die auch dort gewesen?“

„Eltern?“

Oh je. Aya wusste nicht, wie er sagen sollte, was er wollte.

„Jemand, der dich lieb hat.“

„Finni“, sie nickte verstehend, noch immer mit ernster, gewichtiger Miene. „Er hat gesagt, ich soll bei euch bleiben. Mir gefällts hier im Auto nicht“, brummte sie und zog die Stirn gewittrig zusammen.

Aya tat so, als sehe er sich das Innere des Wagens genau an.

„Oh. Das ist auch nicht schön hier, das stimmt. Willst du mit mir kommen? Wir gehen in das Haus und ruhen uns etwas aus. Wenn es allen besser geht, gehen wir in unser richtiges Zuhause und da ist es etwas schöner.“

„Krieg ich dann ein Eis?“
 

„Das ist sicher eine gute Idee. Also wenn wir zuhause sind, gibt’s ein Eis für alle, ja?“

Sie nickte versöhnlich. „Gibst du mir deinen Rucksack?“ Sie reichte ihm den Kinderrucksack, den sie neben sich positioniert hatte und er schnallte sie umständlich aus dem Sitz ab, um ihr aus dem Wagen zu helfen. Sie hob ihre Waschbärenpfote hoheitsvoll und er nahm sie an der Hand, um hineinzugehen.
 

Als er die Tür schloss löste sich Lilly von ihm und ging in den Raum hinein. Sie blieb vor den Crawfordgeschwistern stehen, hob ihre Pfote und deutete auf die beiden. „Hier sind so viele wie ich und Gabe“, sie grinste und wandte sich zu Aya um. Sie erkannte also ihre Artverwandtschaft, resümierte Aya und lächelte dem frohen Kindergesicht entgegen, das von braunem Plüsch gesäumt war.
 


 

o
 


 

„Wo fahren wir hin?“
 

Schuldig sah sich für einen kurzen Moment nach hinten um, während er den Van mit angepasster Geschwindigkeit über die Schnellstraße lenkte.

„In die Klinik“, sagte er kurz angebunden. Er selbst fand die Idee auch nicht gerade berauschend, aber der Schnüffler, der mit Jei noch in der Klinik seinen tabakfreien Aufenthalt in den Katakomben genoss hatte ihm versichert dass sich die Dinge dort beruhigt hätten.
 

„Spinnst du?“ blaffte der junge Takatori von hinten. „Warst du es nicht, der erst vor kurzem eine eher etwas unschöne Szenerie von dort gezeichnet hat? Ich bringe Nagi nicht dort hin!“
 

Schuldig seufzte verhalten. „Ich wüsste nicht, was du da mitzureden hättest!“ versetzte er ungehalten. Er war gereizt und müde. Keine gute Ausgangslage, um mit ihm zu diskutieren.

„Ich habe gerade den Playboy kontaktiert und der hat mir versichert, dass die Lage sicher sei. Du kannst also wieder runterkommen.“
 

„Ich verstehe trotzdem nicht, warum Nagi nicht nach Hause kann.“ Omi blickte auf das eingefallene Gesicht, die tiefen Schatten unter den Augen. Er sah aus, als hätte man ihm sein Leben ausgesaugt. Fest hielt er dessen Hand, strich ihm wiederholt über die Stirn und versuchte vergeblich die Schmutzspuren, die er ständig hinterließ wieder zu beseitigen.
 

„Weil es sicherer für ihn ist. Wenn Nagis Regenerationsphase unterbrochen wird, kann das seinen Tod bedeuten. Wir brauchen einen sicheren Ort für ihn und das für Wochen, wenn es nötig ist.“
 

„Das erklärt nicht, warum er nicht nach Hause kann“, beharrte Omi.
 

„Nach Hause? Und wo meinst du, dass dieser ominöse Ort sein sollte?“ fragte Schuldig spöttisch.
 

Omi sah auf Nagi hinunter. Das Ryokan war eine Übergangslösung, wie Ran ihm erzählt hatte. Aber waren nicht alle Behausungen von Schwarz auf die eine oder andere Art Übergangslösungen?

Sie alle – Weiß und Schwarz - hatten sich mehr oder weniger für dieses Leben entschieden, für dieses Leben im Übergang. Omi grinste freudlos. Ja, diese Umschreibung traf es wohl haargenau. Ein Leben im Übergang.

Er hatte es gründlich satt dieses Leben.
 

„Es gibt keinen festen Ort für uns, Kleiner“, sagte Schuldig und hoffte damit, dass das Thema beendet war.

„Im Labor haben wir Hidaka gefunden, aber auch noch etwas anderes. Ein Mädchen... sie ist vielleicht, naja keine Ahnung, fünf, sechs Jahre alt? Ich denke sie ist die Ursache dafür, dass SIN für uns nicht greifbar ist. Als ich in ihre Nähe gekommen bin, hatte ich nicht mehr die Möglichkeit, telepathischen Einfluss auszuüben. Gar nichts mehr. Erst als sich der Abstand zu ihr wieder vergrößerte, löste sich das Problem.“
 

„Bringen wir also das Mädchen und Nagi zusammen...“
 

„Richtig.“
 

Omi schüttelte den Kopf.
 

„Das klingt wie eine Falle. Wenn das Mädchen nun bei euch ist und keiner von euch kann seine Fähigkeiten einsetzen, ist es doch ein leichtes für SIN und die Familie, euch dran zu kriegen.“
 

Schuldig lachte freudlos auf. „Tja. Die Nummer ist durch, Kleiner.“
 

Omi wollte etwas sagen, klappte jedoch seinen Mund wieder zu, als er einen Blick auf Nagis regloses Gesicht warf. Seine Atmung ging tief und war viel zu langsam. Omi hatte bei jedem Atemzug Angst, dass kein weiterer folgen würde.
 

Sie fuhren eine Weile schweigend.
 

„Keine Ahnung“, murmelte Schuldig dann.

„Ich weigere mich zu glauben, dass sie Kinder einschleusen, um uns dranzukriegen.“
 

„Wäre nicht das erste Mal“, behauptete Omi nüchtern.
 

Schuldig schwieg desillusioniert. „Ja“, sagte er im gleichen Tonfall. Sie waren beide Kinder gewesen, als sie in diese Welt eintraten. Der junge Takatori jünger als er selbst und Nagi? Nagi hatte man einfach weggeworfen. Brad hatte ihn damals auf der Straße aufgelesen. Wo er geboren wurde und was er zuvor erlebt hatte bis er in die Fänge von SZ gelangte war immer noch ein Rätsel, was daran lag, dass selbst Schuldig die verschollenen Erinnerungen des Jungen nicht wieder hervorholen hatte können. Bis heute war es Nagi und ihm nicht möglich gewesen, daran etwas zu ändern. Vielleicht war das auch besser so.
 

„Wie geht es Ken?“ fragte Omi.
 

„Relativ gut, sieht man von den Blessuren der Behandlung ab, die sie ihm zukommen haben lassen. Er braucht trotzdem einen Arzt und ich denke, wir sollten ihn unterwegs einsammeln und mitnehmen.“ Er würde dafür bei Ran sicher Pluspunkte einheimsen.

Mit dem Pad an seinem Handgelenk stellte er eine Verbindung zu Ran her.

„Hey...“ sagte er als sich das so vertraute raue „Ja“ an sein Ohr schmiegte. Schuldig war froh Rans Stimme zu hören und sein Herz tat darüber einen ungebührlichen Hüpfer vor Erleichterung.

„Wie kommt ihr klar?“
 

„Gut. Sie sind alle müde und Brad schläft noch. Sobald er wach ist, kann ich seinen Zustand besser einschätzen.“

Schuldig seufzte verhalten. Klar, alle anderen waren erschöpft nur Ran hielt die Stellung und war keineswegs in ähnlicher Verfassung. Wer sollte das glauben? Vielleicht aber projezierte er nur seine eigene Müdigkeit auf den Japaner.
 

„Was hältst du davon, wenn wir Hidaka mitnehmen? Wir müssen Nagi in die Klinik bringen. Laut Kudou ist die Lage dort entspannt und wir brauchen einen sicheren Ort für ihn.“
 

„Wäre gut. Was ist mit Nagi?“
 

„Er hat sich zu sehr verausgabt, schätze ich mal, und regeneriert – allerdings auf einem sehr niedrigen Level. Ich befürchte, ihm geht die Kraft aus, und wenn das passiert, sollte ein Arzt vor Ort sein, der die nötigen Maßnahmen ergreifen kann.“
 

„Wieso ist er in diesem Zustand? Er kennt sein Limit, oder nicht?“, hörte Schuldig die Stimme des Jüngeren so nüchtern und kühl wie stets wenn er besorgt war und andere seine Worte hören konnten. Schuldig grinste milde in sich hinein. Die Tatsache, dass er Ran mittlerweile so gut kannte, um auch zwischen den Zeilen lesen zu können verschaffte ihm ein unglaublich gutes Gefühl in der Magengegend.
 

Während die beiden weiter über die möglichen Gründe philosophierten, hatte Omi seine eigene Theorie im hinteren Teil des Vans. Nagi hatte Spaß daran, das hatte er ihm gesagt, und deshalb hatte er diese große Angst vor dem Einsatz besessen. Er hatte Angst gehabt, die Kontrolle zu verlieren. Was sich bestätigt hatte. Furcht vor dem was in ihm steckte und was ihm Freude bereitete. Deshalb tat er sich schwer damit die kleinen Dinge zu bewegen. Er wollte es krachen lassen.

Was wäre passiert, wenn er sich nicht erschöpft hätte? Wer hätte ihn stoppen können? Schuldig? Es war jedoch nicht geplant gewesen, Schuldig zu involvieren. Dieser hätte schon längst auf dem Rückweg sein sollen. Und hätte Schuldig ihn überhaupt aufhalten können?
 

Wie konnte Nagi das Problem in den Griff bekommen, dass für ihn selbst offenbar kein Problem darstellte? Und das nur weil er Spaß daran hatte. Omi stellte sich auch die Frage wie elementar wichtig es für Nagi war diesen ‚Spaß’ zu haben. War es vielleicht nötig, dass Nagi von Zeit zu Zeit mal Dampf abließ?
 

Es war still im Van geworden, als Omi sich aus seinen Gedanken losriss. Ran und Schuldig hatten ihr Gespräch beendet. „Wir holen Ken ab“, sagte Schuldig, als hätte er gewusst, dass Omi jetzt nicht mehr in seinen Gedanken festhing, die ihn ohne Nagi als Gesprächspartner an keinen Punkt führten, der eine befriedigende Lösung für sie bereithielt. „Alles klar“, murmelte er.

Wenn er daran dachte, dass er jetzt nicht mehr hier wäre, sondern in den Staaten und von alledem nichts erfahren hätte, wurde ihm schlecht. Wie oft war Nagi in der Vergangenheit an ähnliche Punkte gestoßen und Schwarz war für ihn dagewesen?

„Ist das schon oft mit Nagi passiert? Ich meine, dass er sich derart verausgabt hat?“
 

„Seit SZ Untergang eher selten. Als wir noch für SZ die Handlanger spielten und als Babysitter für Takatori herhalten mussten, geschah das sehr oft. Er war teilweise nur damit beschäftigt, sich zwischen den Einsätzen zu erholen und hockte deshalb meist vor seinem Rechner, bis er soweit war, dass wir ihn mit raus nehmen konnten.“
 

Omi schwieg den Rest des Weges und Schuldig schien nicht das Bedürfnis zu haben, das Gespräch wieder aufzunehmen. Einmal hielt Schuldig am Straßenrand an und holte aus einem Vorratsfach eine Wasserflasche und einige Energieriegel heraus und brachte sie ihm kommentarlos. Omi nickte zum Dank und öffnete einen der Riegel. Er vertrieb sich die Zeit damit, die undefinierbare Masse in seinen Magen zu befördern und mit Wasser hinterher zu spülen.
 

o
 


 

Aya verließ das Haus mit Ken und platzierte diesen auf den Beifahrersitz. „Wir fahren etwas früher los, ich möchte noch in den Laden ein paar Straßen weiter, um etwas zu essen und Getränke zu organisieren.“

Ken nickte nur und legte seinen Kopf in den Nacken. Die Schmerzen waren erträglicher, wenn er sich nicht großartig bewegte. Er bekam kaum mit, wie Ran den Wagen wieder anhielt, ausstieg und einige Minuten später wieder einstieg.
 

Sie warteten bereits seit zehn Minuten an der vereinbarten Stelle, als der dunkle Van hinter ihnen hielt und Ran den leuchtenden Haarschopf erkannte. Er stieg aus und ging um den Wagen herum, um Ken herauszuhelfen. Sie setzten ihn im Van auf den Beifahrersitz, schnallten ihn an und konnten fast zusehen, wie er einschlief. „Ken?“ fragte Aya besorgt.

„Ich will nur schlafen, Ran...“ brummte dieser. "Alles in Ordnung.“
 

Aya sah das anders, aber von Kens Warte aus betrachtet, schien es wohl folgerichtig, das zu sagen.

Als er sich umdrehte, wurde er von Schuldig in den Arm gezogen und dieser suchte die Nähe für einen Kuss. Was ihm auch gnädig gewährt wurde.
 

Schuldig seufzte, als er Ran endlich wieder in seiner Nähe hatte. Er berührte die köstlichen Lippen für einen zarten Kuss und löste sich wieder. „Ich muss los“, sagte er leise.

Ran nickte. Er dachte daran, dass er Schuldig noch etwas sagen sollte. Etwas, das ihnen ganz und gar nicht gefallen würde, vor allem dem Telepathen nicht. Aber etwas in seinem Inneren warnte ihn, dass Schuldig dafür ausgeruht sein sollte, damit er es besser aufnahm. Vor allem im Hinblick darauf, dass Schuldig schon viel zu lange wach war. Sie mussten das empfindliche Gleichgewicht des Telepathen halten, das hatte Ran am eigenen Leib erfahren müssen – Schuldig brauchte seine Ruhephasen um vernünftig handeln zu können. „Pass auf dich auf. Und sieh zu, dass du bald ins Ryokan kommst.“
 

Schuldig verzog den Mund abwehrend. „Vielleicht ruhe ich mich in der Klinik besser etwas aus“, erwiderte er zögernd.
 

„Soll das jetzt so weitergehen, Schuldig?“ fragte Aya etwas schärfer als beabsichtigt. Er fasste Schuldig am Arm und strich am Unterarm hinab, um dessen Hand zu nehmen.

„Willst du dich wegen des Mädchens abseilen?“
 

Schuldig machte große Augen. „Nein. Ich... ich will bei dir sein“, stotterte er. „Nur... Ran, die Situation ist noch zu unsicher und Brad, Nagi und Jei sind außer Gefecht gesetzt. Wenn ich mich jetzt auch noch in eine Lage bringe, in der ich nichts ausrichten kann, wäre das nicht gerade clever von mir, oder?“
 

Aya hatte daran noch gar nicht gedacht. Fast ganz Schwarz war in irgendeiner Form nicht fähig, ihre Kräfte einzusetzen. Sie waren fast ausgeschaltet. Wenn das ihre Feinde wüssten...

Aya sah Schuldig aber trotzdem kritisch an, weil er ahnte, dass das nicht der alleinige Grund war.
 

„Wenn das Mädchen bei euch bleibt, seid ihr auf Dauer dem Fehlen eurer Fähigkeiten ausgesetzt.“
 

„Wieso sollte sie bei uns bleiben?“ fragte Schuldig erstaunt. Ihnen beiden war bewusst, dass Ran ein Familienmensch war, sich irgendwann Kinder wünschte, aber ihm war doch sicher klar, dass das Mädchen eine Familie hatte und sie dort am Besten aufgehoben war. Sie war keine ausgesetztes Kätzchen dass Ran aufnehmen konnte. Vor allem nicht bei ihrem Lebenswandel. Das hatten sie bereits zu genüge durchgekaut.
 

Aya sah ihn einen Augenblick forschend an, blickte dann aber weg. „Das besprechen wir besser mit allen anderen, wenn du wieder da bist. Crawford weiß vielleicht eine Lösung.“
 

Schuldig zog Ran noch einmal an sich, platzierte einen Kuss auf dessen Schläfe bevor er sich von ihm löste. „Besser ich fahre jetzt, sonst bekomme ich vom Doc Ärger, wenn ich Ken zu spät in die Klinik bringe.“ Er grinste frech, wieder der Alte und um Ayas Mundwinkel bildete sich ein missbilligender Zug.

„Nicht nur mit ihm!“ unheilte er nicht wirklich ernst gemeint, angesteckt von diesem frechen Grinsen.
 

Schuldig schnaubte gespielt. „Wer hat mich denn gerade aufgehalten?“ Er schloss die Tür und ließ den Motor an. Aya verfolgte, wie der Van wendete und stieg selbst mit einem kleinen Lächeln ein.
 

Er vermisste Schuldig jetzt schon und fühlte dem kleinen Stich in seinem Herzen nach der ihm sagte, dass er ihn bald wieder sah und er auf sich alleine achten konnte. Er tat sich immer noch schwer damit ihn aus seinen Klauen zu lassen und trotzdem er sich einredete, dass Schuldig älter, erfahren in diesen Situationen war und gemeingefährlich für den Rest der Menschheit so hatte ihn die Erfahrung der letzten Monate gelehrt, dass er ebenso verletzlich wie gefährlich war. Er selbst nicht minder geworden seit dieses manchmal selbstzerstörerische Band der Liebe, dass sich um sie geschlungen hatte mit jedem Augenblick den sie zusammen waren enger wurde. Es raubte ihm manchmal fast den Atem wenn er daran dachte wie extrem ihre Beziehung seit ihren Anfängen war. Aber wie konnte es anders sein bei einem Soziopathen und einem Psychopathen? So gesehen hatten sie eine harmonische normale Beziehung. Eben auf einer etwas anderen normalen Ebenen. Alles relativ gesehen. Aya musste darüber schmunzeln als er den Wagen in die Garage fuhr, ihn parkte und ausstieg.
 

Er betrat das Haus und war positiv überrascht und zugegebenermaßen erleichtert zugleich, als er Brad neben seiner Schwester auf dem Boden an die Wand angelehnt sitzen sah. Sie unterhielten sich leise. Der Amerikaner sah mitgenommen und müde aus. Das Mädchen saß vor ihnen und sah von einem zum anderen wie bei einem Tennisspiel.

Aya kam zu Brad und ließ sich auf ein Knie. „Was war los?“
 

Brad sah zu seiner Schwester. „Sie hat mich ausgetrickst“, sagte er und Aya runzelte die Stirn. Diese Umschreibung hatte er so noch nicht von dem Amerikaner gehört.

„Hat jemand Hunger?“ fragte Aya, da alle schwiegen und offenbar nicht mehr zu dem Thema zu sagen hatten.

„Ich denke schon“, sagte Brad mit Blick auf das Kind, das sich still auf dem Boden hielt und sie alle neugierig betrachtete.

Aya erhob sich und ging mit seinen Einkäufen in die Küche. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du das Haus hier nicht verkauft hast und es sich immer noch in deinem Besitz befindet?“
 

Brad legte den Kopf in den Nacken, die Kopfschmerzen dort hielten sich hartnäckig. „Ja“, sagte er lediglich.
 

„Warum?“, kam die Frage prompt zurück und Brad verwünschte gerade denjenigen, der ihm den Weiß-Agenten - wenn auch Ex - aufs Auge gedrückt hatte, um sie hier bei Laune zu halten. Fujimiya fragte einfach viel zu gerne und zu viel.

„Eine Ahnung, dass es hier noch einmal interessant werden könnte?“, wagte er eine Antwort, die dem Japaner vielleicht gefallen würde.

Es war damals tatsächlich eine Ahnung gewesen, dass etwas Entscheidendes hier geschehen würde, allerdings hatte er eher Negatives im Sinn vermutet.

Und dass er hier mit seiner Schwester sitzen würde, ohne die Kontrolle über sein Bewusstsein zu verlieren, war tatsächlich etwas Positives. Es hatte bisher nur selten Augenblicke in seinem Leben gegeben, in denen ihn keine schemenhaften Bilder befallen hatten, in denen er keiner Überlagerung der Realität mit einem Blick in die Zukunft ausgesetzt gewesen war. Er konnte das entspannte, losgelöste Gefühl das er im Moment hatte nicht mit Worten beschreiben.

Aber was wohl genau der Grund dafür war und wie dieser Grund hier vor ihnen sitzen konnte, war ihm noch nicht ganz klar. Ihm war gar nichts mehr klar. Was neu war.

Eve streckte sich und rappelte sich auf. „Wo ist das Bad?“
 

„Die Treppe nach oben, den Flur entlang auf der rechten Seite. Handtücher sind in der großen Sporttasche.“ Er hatte nicht gewusst, was ihn hier genau erwarten würde und sicherheitshalber ein paar Dinge eingepackt. Zu den Handtüchern und Waschutensilien hatten sich auch Verbandsmaterialien gesellt.
 

Aya suchte die Schränke nach etwas ab, auf dem er das Mitgebrachte abstellen konnte und fand neben einem kleinen Vorrat Wasserflaschen ein großes Holzbrett. Er belegte es mit Reishäppchen und brachte sie ins Wohnzimmer.

„Du heißt Lilli?“, fragte Brad das Mädchen und dieses nickte, als Aya ihr gerade eine geöffnete kleine Wasserflasche hinhielt, die sie mit beiden Händen nahm und daraus trank.

Brad schüttelte den Kopf und ein ungläubiges Lächeln zierte die Mundwinkel, während das Mädchen sich darauf konzentrierte, ordentlich aus der Flasche zu trinken. Als sie fertig war gab sie die Flasche an Aya zurück. „Mag nicht mehr.“

„Und wie alt bist du Lilli?“

„Fünf Jahre!“, sagte sie stolz. Sie umarmte ihren rosafarbenen Pudel und wippte verlegen hin und her. Ihr Gesicht verschwand rasch im Plüsch des Stoffes und sie grinste verschämt.
 

Die Frage, die sich Brad jetzt stellte, war, ob er preisgeben konnte, dass er sowohl Asugawa als auch das Mädchen bereits kennen gelernt hatte.

„Du hast einen Bruder, nicht?“, hakte er nach und griff nach dem Sandwich, das ihm Ran reichte. Der Blick, den dieser ihm zuwarf, zeugte davon, dass der Japaner ahnte, dass er mehr wusste, als er preisgab. Der Blick sagte ihm auch, dass Ran nicht locker lassen würde, zwar nicht in Gegenwart des Mädchens, aber doch sicher danach.

Sie nickte wieder. „Gabe!“

Ran puhlte die Folie zur Hälfte von dem süßen Reissnack ab und reichte ihn der Kleinen. Sie nahm ihn in beide Hände und biss vorsichtig ab. Nach einem Moment hellte sich ihr Gesicht wieder auf und sie nickte Ran zu.

„Und ist Gabe auch fünf Jahre alt?“

Sie nickte wieder und irgendwie waren sie beide danach abgemeldet, da sich das Mädchen um ihr Essen kümmerte.

Brad hatte das Kind weit weniger brav kennen gelernt, aber das lag vielleicht daran, dass sie sich weniger sicher hier bei ihnen fühlte als ... bei Asugawa. Aus seiner Erinnerung tauchten Bilder von dem Mann auf und dieses Mal waren es nicht seine Fähigkeiten die ihm einen Streich spielten, sondern seine eigenen Gedanken.

Brad seufzte und packte sein Sandwich aus, um es zu essen. Sie saßen eine Weile schweigend da und hingen ihren Gedanken nach.
 

„Kannst du mir einen groben Überblick geben?“, fragte Brad nachdem er sein Sandwich in Rekordzeit vernichtet hatte.
 

Aya nickte. „Nagi hat sich zu sehr verausgabt, er regeneriert. Schuldig ist besorgt weil er auf einem niedrigen Level regeneriert. Er bringt ihn in die Klinik. Schuldig ist unverletzt, aber aufgrund der Situation...“ Er warf einen Blick auf das Mädchen. „... irritiert.“ Das war wohl der beste Ausdruck für Schuldigs Gefühlschaos, der es wohl annähernd traf.

„Omi ist unverletzt. Er fährt mit Nagi in die Klinik, in der es laut Yohji wieder sicher sein soll. Ken ist mit ihnen dorthin unterwegs.“

„Jei?“, fragte Brad zwischen zwei Bissen nach.

„Keine Informationen bisher. Ich schätze jedoch, dass Yohji Schuldig über eine Verschlechterung seines Zustandes unterrichtet hätte, oder?“
 

Brad blieb ihm eine Antwort schuldig, als seine Schwester wiederkam und er aufblickte.

Sie setzte sich wieder neben ihn. Es war sehr gewöhnungsbedürftig, sie neben sich zu wissen und keinerlei Beeinträchtigung seiner Psyche zu bemerken. Sie hatte keine Handschuhe an und berührte die Gegenstände um sich herum – den Boden unter sich, ihre Hose, ihre Hände...

Er seufzte innerlich und aß ein weiteres Sandwich, obwohl er keinen wirklichen Hunger hatte. Aber er brauchte die verlorene Energie wieder zurück, die ihn der Blackout gekostet hatte. Die Farce der letzten Jahre löste sich wohl langsam in Wohlgefallen auf. Er sah wieder zu ihr hinüber und bemerkte, dass sie ihn beobachtete. Wie vertraut sie ihm immer noch war. Er hatte sie vermisst. Aus ihren Augen war die Anklage, der Zorn verschwunden und hatte eine unbestimmte Trauer dort zurückgelassen.
 

„Ich muss dir etwas erzählen...“, fing sie an und er hob die Hand, um sie zu unterbrechen. „Du scheinst Asugawa zu kennen“, half er ihr auf die Sprünge.

Aya blickte von Brad zu seiner Schwester. Das schien interessant zu werden. Aya hatte sein Schwert über seine Beine gelegt und hatte zum ersten Mal das Gefühl, in diesem ganzen Wirrwarr und Versteckspiel etwas zu erfahren. Brad beugte sich vor und nahm eines der Sandwiches, um es Aya zu reichen. Dieser sah ihn missmutig an und schüttelte den Kopf.
 

Brad lächelte berechnend. „Du willst doch nicht, dass ich Schuldig von deiner Appetitlosigkeit berichte, oder?“

Aya nahm das Sandwich unfreundlich entgegen – riss es ihm fast aus der Hand - und erwiderte Crawfords Blick mit mörderischer Gelassenheit.

Nein, Ran wollte sich keine besorgte Predigt der orangehaarigen Glucke anhören, wenn es ums Thema Essen ging. Brad sah wohlwollend, wie der Japaner das Papier abpulte und hinein biss, fast schon aggressiv auf dem Sandwich herumkaute. Zufrieden mit sich lehnte er sich wieder zurück.
 

Eve hatte dieses unterhaltsame Intermezzo mit einem Schmunzeln beobachtet, befleißigte sich jedoch kurz darauf eines neutralen Gesichtsausdrucks. Die Bande zwischen den einzelnen Mitgliedern von Weiß und Schwarz schienen verflochtener zu sein, als sie dachte. Offenbar lag es diesem Schuldig – dem Telepathen von Schwarz – am Herzen, dass der Anführer von Weiß genügend aß. Und dessen Reaktion gerade sagte ihr, dass sie sich nahe stehen mussten.

„Eve?“ rief sich Brad bei seiner Schwester wieder in Erinnerung.
 

Sie wandte ihm den Blick zu und hob die Braue. „Die Frage kann ich nur zurückgeben, Brad. Wenn es denn eine Frage war.“ Sie lächelte überlegen und blinzelte übertrieben mit ihren Wimpern.

Aya verschluckte sich beinahe an seinem fade schmeckenden Sandwich und schluckte hart das Stück hinunter, das ihm quer lag.

Es gab doch tatsächlich ein menschliches Wesen auf diesem Planeten, dass Bradley Crawford mit einem Augenaufschlag Paroli bieten konnte. Ayas Blick glitt zu Brad hinüber, der gelangweilt den Kopf an die Wand gelehnt hatte.

„Es war eine Frage, meine Liebe“, betonte er. Kurz danach raufte er sich die Haare und rieb sich die Augen. Seine mangelnde Umsichtigkeit hatte ihm einen Fehler beschert, dessen Auswirkungen noch lange in ihm wuchern würden. Er war nicht bereit dazu, diese Wucherung zuzulassen. Denn dazu hatte er keine Energie übrig, wenn er Asugawa jagte und ihn zur Strecke brachte. Und dafür gab es nur eine Lösung. Er musste sich der Schande seines Versagens stellen.

„Ich habe... mit ihm geschlafen“, sagte er in einem beiläufigen Tonfall, als würde er einen Kaffee bestellen oder der Möglichkeit Ausdruck verleihen, dass es morgen vielleicht Regen geben würde.

Das ohrenbetäubende Schweigen kurz nach seiner Offenbarung war tatsächlich vorhersehbar gewesen.
 

„Du hast was?“ brach es dann doch noch aus Aya heraus. Er sah zu Eve, bekam jedoch nur einen nachdenklichen Gesichtsausdruck präsentiert. Weit gefehlt von dem Schock, der sich in Ayas Eingeweiden breitmachen wollte.

„Ich meine... wie?“
 

„Das WIE sollte dir ein Begriff sein, meinst du nicht Fujimiya?“, kam auch schon die zynische Breitseite vom Amerikaner.
 

„Ich denke er meint, wie es dazu gekommen war, und das würde mich tatsächlich auch interessieren“, sagte Eve rasch, bevor dem ehemaligen Weiß-Agenten eine passende Replik dafür einfallen konnte. Brad hatte mit dem Feind kollaboriert... oder so ähnlich?!

„Gott...“ keuchte Aya. Wenn Schuldig das erfuhr.
 

„Der hat wenig damit zu tun“, sagte Brad. Er setzte sich aufrechter hin und griff sich eine der Wasserflaschen, öffnete sie und nahm einen Schluck.

„Wann?“ wollte Aya wissen, der versuchte, die ganze Angelegenheit nüchtern zu sehen. Wenn man das so sagen konnte. Sie mühten sich die ganze Zeit ab, herauszufinden, wer der Typ war und was er vorhatte und Brad Crawford schlief mit ihm.

„Vor allem, wie lange geht das schon...“
 

Brad setzte die Flasche ab und fasste den Japaner genau ins Auge.

„Ich habe ein einziges Mal mit ihm geschlafen und...“
 

„Ich schlafe oft mit Finni“, krähte das Mädchen dazwischen und Brad ließ die Flasche langsam sinken. Alle Augen huschten zu dem Mädchen mit den Reiskrümeln an der Wange hinüber, sich plötzlich ihrer Gegenwart wieder bewusst.
 

„Ja das...“ setzte Aya zu einer unverfänglichen Erklärung an, als Eve ihm schon zur Hilfe kam.

„Ja? Und ist es schön?“, fragte sie ebenso unverfänglich, doch Aya hatte den dringenden Verdacht, dass dies ein kleiner, gemeiner Seitenhieb in Richtung ihres Bruders war.

„Japp. Warm und kuschelig und er passt immer auf, dass ich genug Platz hab!“ Sie nickte eifrig. Ayas Blick glitt zu dem verhinderten Hellseher in ihrer illustren Runde.

„Und Brad... war es bei dir auch warm und kuschelig? Der Platz... ausreichend?“, fragte er beiläufig nach und stocherte mit einem imaginären Stock im Hornissennest herum.

„Nicht ganz“, erwiderte Brad gedehnt und Aya bemerkte, dass er dessen Geduld auf eine äußerst heikle Probe stellte.

Aya konnte sich gut vorstellen, dass Platzprobleme bei dieser Begegnung nicht im Vordergrund gestanden hatten. Was aber ein Vorteil war: Brad wusste genau wie der Mann aussah – auch ohne Kleidung oder Verkleidung. Aya starrte den Amerikaner immer noch wie einen Außerirdischen an.
 

Das Mädchen bemerkte den unterschwelligen Tonfall zwischen den beiden Männern und sah rasch von einem zum anderen.

„Hat Finn auf euch acht gegeben? Auf dich und deinen Bruder?“ fragte Eve und wandte sich dem Mädchen zu.

„Japp“, Lilli nickte wieder übertrieben und alberte herum, indem sie den Pudel in die Luft warf.

„Und wie lange hat er das getan?“
 

Lilli hob die Hände und schüttelte den Kopf. „Schon immer. Weiß nicht.“
 

„Was ist mit deiner Mama?“, fragte sie nach.
 

Lilli ahmte wieder das Schulterzucken eines Erwachsenen nach. Ihr Gesicht wandte sich kurz nach unten, sie zog einen trotzigen Mund und ihre Mundwinkel hingen schmollend nach unten. „Finni hat gesagt, dass sie keine echte Mama ist und sie war nicht oft bei uns“, sagte sie plötzlich heftig.

„Und dein Papa?“, beschloss Eve das Thema zu wechseln.

„Finni?“

„Finni ist dein Papa?“

„Japp!“

Eve sah zu dem Japaner, der zuvor schon die Geburtsurkunde und Pässe von dem Mädchen erhalten hatte, die sie ihm feierlich aus ihrem kleinen Kinderrucksack überreicht hatte mit den Worten: „Finni hat gesagt, ich soll das einem der Männer geben, die so rote Haare haben wie du.“ In dieser Geburtsurkunde war der biologische Vater mit Sakurakawa Masahiro benannt und die Mutter mit Sakurakawa Elisabeth, geborene Villard. Einer Europäerin. Mit Brad hatten sie das noch nicht besprochen, da dieser zu dem Zeitpunkt noch geschlafen hatte. Es war sicher vernünftiger – im Hinblick auf das Mädchen – das Thema auf später zu verschieben.
 

„Fühlst du dich fit genug, damit wir ins Ryokan zurückfahren können? Es wird bald Tag.“ Ran war ganz und gar nicht in Stimmung, hier noch länger zu bleiben. Er hatte Fragen über das kuschelige und warme Gefühl, das Crawford mit Asugawa geteilt hatte. Vor allem das ‚Wo?’und das ‚Wann?’ und vor allem die Umstände, die dazu geführt hatten, hinzu kam noch das verdammte ‚Warum?’! Er konnte gar nicht sagen, wie sehr ihn das wütend machte. Da heuchelte der Amerikaner zärtliche Gefühle für Schuldig und vergnügte sich mit einem Mitglied von SIN.
 

Während sich Brad dem mörderischen Blick von seinem Gegenüber ausgesetzt fühlte und diesen Blick nur müde erwidern konnte, waren seine Gedanken nicht davon abzubringen, sich mit Asugawa oder Kimura oder Finn auseinanderzusetzen.

Wie zum Teufel war es diesem Mann gelungen, so nahe an ihn heranzukommen, ohne, dass seine Alarmglocken angesprungen waren? Warum war er so unvorsichtig geworden?

Er konnte sich daran erinnern, wie er sich darüber an diesem Abend noch Gedanken gemacht, sie aber zugunsten von ein bisschen Spaß über Bord geworfen hatte.

Brad hatte die Beine angezogen und die Unterarme darüber gelegt. Er wischte sich mit der Rechten über die Stirn. „Wir sollten fahren. Wir müssen einiges besprechen.“
 

Aya stand auf.

„Vor oder nachdem Schuldig ausgeschlafen hat?“ fragte Aya und konnte seine Missbilligung nicht aus seinem Tonfall heraushalten.

Brad legte den Kopf in den Nacken und lehnte ihn an die Wand an, um zu dem Japaner aufzusehen. „Wenn wir alle ausgeschlafen sind“, sagte er kühl.
 

Brad hatte keine Ahnung, wie Schuldig darauf reagieren würde. Er verstand selbst die Zusammenhänge nicht wirklich. Sein Blick glitt zu dem Mädchen. Und er wusste auch nicht, was noch auf sie alle zukommen würde.
 

„Lilli?“ Aya kniete sich wieder zu der Kleinen. „Wir fahren jetzt zu unserem Zuhause, dort wo es ein Eis gibt. Hilfst du mir beim Zusammenpacken?“

Das Mädchen nickte, aber es war klar, dass es steinmüde war, doch Aya wollte verhindern, dass sie sich vielleicht weigerte, mitzufahren oder sonst etwas. Er kannte sich mit Kindern nicht wirklich aus.
 

Sie brauchten nicht lange, um das Haus zu verlassen. Eve half ihrem Bruder in den Wagen und sie setzten ihn zusammen mit dem Mädchen auf den Rücksitz. Als Brad im Wagen verstaut war und Aya die Kleine auf dem Kindersitz anschnallte, sah er hinüber zu dem Amerikaner. Er hielt für einen Augenblick inne. Der Mann war fertig. Er lag mehr im Sitz, als dass er saß, und sein Kopf lag auf der Seite von ihm abgewandt, die Augen waren nur zur Hälfte geschlossen, die Haare unordentlich. Er hatte lediglich schwarze, robuste Hosen an und ein schwarzes Shirt. Sehr unüblich für das Modell im Business-look. Es machte ihn um zehn Jahre jünger. Der Waffenholster mit der Pistole darin ließ ihn eher wie ein Mann aus einem Spezialkommando wirken, vor allem weil die Muskelproportionen durch das Shirt mehr zu sehen waren als unter seinen sonstigen Anzügen. Alles nur Fassade?

Er hatte schon viele Eindrücke vom Amerikaners gewinnen können, die genau das bestätigten.
 

Aya schloss die Tür und ging um den Wagen herum, setzte sich auf den Fahrersitz und ließ den Wagen an.

War es genau dieser Aspekt, den Crawford zum Anlass genommen hatte, um aus seinem eigenen eingemauerten Gefängnis auszubrechen?

Da passten seine Alleingänge vor einiger Zeit auch perfekt ins Bild. Mutete sein Team ihm zu viel zu? Er versuchte alle zusammen zu halten und das schon seit Jahren oder Jahrzehnten? Zerbrach Crawford daran?
 

Aya sah zu Eve Crawford hinüber, die ihre Hände in ihrem Schoß gefaltet hatte und starr nach draußen blickte.

Sie fuhren eine Weile, bis er im darüber huschenden Licht der Straßenlaternen Tränen auf den Wangen der Frau sah.

„Alles in Ordnung?“ fragte Aya, nachdem er sich dazu durchgerungen hatte. Sie hatte einiges mitgemacht in letzter Zeit, aber sie war eine Agentin und vorhin hatte sie entspannt gewirkt, stark.
 

„Ich muss mich bei meinem Team melden. Es könnte sonst weitreichende Folgen auf internationaler Ebene geben, wenn ich verschwunden bleibe.“

Sie wischte sich mit einer beiläufigen Handbewegung die Wangen ab, aber ihre Stimme klang, als würde sie einen Bericht verfassen.

„Verstehe. Manx hat sicher alles in die Wege geleitet. Sie ist gut darin, solche Art von „Komplikationen“ zu vermeiden. Ich kontaktiere sie, wenn wir ankommen.“

Was aber nicht der Grund dafür schien, Tränen zu vergießen, wie Aya befand.
 

„Danke.“
 

Sie waren bereits über eine halbe Stunde gefahren und Aya behielt den rückwärtigen Verkehr im Auge, der überschaubar um diese Uhrzeit war, als sie beide ein Stöhnen vom Rücksitz aufmerksam werden ließ.

„Brad?“ fragte Eve eindeutig besorgt, allerdings mit einer dringenden Note.
 

Crawford hatte einen Ellbogen aufgestützt und die Hand über sein Gesicht gelegt, seine Augen bedeckt und die Kiefer zusammengepresst.

„Zu viel... “, presste er zwischen den Zähnen heraus.

Ayas Blick ruckte im Rückspiegel zu dem Mädchen.
 

„Sie schläft.“

„Das heißt, wenn sie schläft, wirken ihre Fähigkeiten nicht. Das lässt den Schluss zu, dass sie keine Kontrolle darüber hat. Was wiederum bedeutet, dass sie es vielleicht lernen kann.“ Sie drehte sich wieder nach vorne und blickte Aya an. „Lassen Sie mich irgendwo hier raus.“
 

„Vergiss es“, brummte Crawford von hinten. „Komm runter, Eve. Es ist nicht schlimm, ich komme klar damit“, sagte dieser auf Englisch.

Brad verhielt sich anders seiner Schwester gegenüber. Weicher. Vielleicht auch vertrauter, trotz der Jahre, die sie sich nicht gesehen hatten. Das hatte Konfliktpotential in ganz neuem Ausmaß, befand Aya und trotz der Wut, die er auf den Amerikaner hatte, amüsierte ihn dieser Gedanke.

Auch wenn er wütend war so fehlte dem Gefühl die brennende, verzehrende und hassende Leidenschaft, die es sonst in ihm entfesselt hatte. Zu viel beschäftigte ihn gerade und forderte seine Aufmerksamkeit.
 

Im Ryokan angekommen ging Brad voraus und öffnete die Tür, um seine Schwester und Aya mit dem Mädchen im Waschbärenoutfit einzulassen. Das Mädchen hing ihm schlafend vor der Brust und ihr Kopf lag müde auf seiner Schulter.

Brad ging in die Vorratskammer und trank eine Flasche Wasser leer, bevor er sich eine Schmerztablette nahm und diese ebenfalls mit der gleichen Menge Wasser schluckte.

Brad brachte seine Schwester in den ersten Stock hinauf und wies ihr eines der Gästezimmer zu. Sie hatten genügend Zimmer, die noch nicht belegt waren. Danach legte er sich hin. An Schlaf war nicht zu denken, solange seine Schwester ihre Handschuhe nicht trug.

Dennoch legte er sich wie er war hin und schloss die Augen, um in eine Art Dämmerzustand zu fallen, er ließ sich in den Bildern treiben und sie zu einem Mischmasch verkommen, so dass er keine Einzelheiten mehr filtern konnte und daher auch nicht musste. Schuldig machte es ähnlich. Dennoch zuckte er körperlich permanent zusammen, wenn einzelne Fragmente zu vordergründig hervorblitzten. Denn das taten sie tatsächlich. Lichtblitze zuckten vor seinem inneren Auge in den Vordergrund und machten es ihm schwer, in irgendeiner Weise Ruhe davor zu finden.
 

Aya brachte die Kleine hinauf in ihr Schlafzimmer. Er hätte ihr gerne die Farbe aus dem Gesicht gewaschen, wollte sie aber nicht wecken. So legte er sie aufs Bett und zippte den Reißverschluss des Kostüms auf. Er schälte sie behutsam aus dem künstlichen Fell. Sie war vollkommen verschwitzt. Das Mädchen wachte währenddessen wieder auf und sah ihm halbschlafend dabei zu, wie er sie auszog und ihr ein Shirt von Schuldig überstreifte, relativ neutral mit einer Kirsche vornedrauf. Er deckte sie ordentlich zu und gab ihr den Pudel in die Arme.

Das Nachtlicht auf der abgewandten Seite des Bettes, ließ er an und die Tür offen, als er das Zimmer wieder verließ. Er musste noch Manx anrufen.
 

Er wählte ihre Nummer und schilderte ihr knapp, dass Eve und Ken in Sicherheit waren und sie sich um Eves Team und deren Benachrichtigung über ihren Verbleib kümmern sollte. Danach legte er auf, ohne auf die Fragen, die sie auf ihn abschoss, zu reagieren.

Müde lehnte er sich an die Wand vor dem Zimmer und blickte auf das schlafende Mädchen durch die offene Tür. Was kam nun wieder auf sie zu?

Er kramte den Pass hervor und betrachtete sich das Kinderbild des Mädchens.

Sie sah seiner Schwester ähnlich, als diese im gleichen Alter war. Er ließ sich an der Wand hinuntergleiten und versuchte dem Druck in seiner Brust Herr zu werden. Bei all der Schminke hatte er die große Ähnlichkeit nicht gesehen, aber dieses Bild löste in ihm ein Gefühl aus, als wäre Aya wieder bei ihm.

Warum war das nicht endlich vorbei?

Er war doch auf einem ganz guten Weg gewesen. Warum ließ sie ihn nicht los?

Wieso tauchte das Mädchen jetzt gerade auf und sah ihr so ähnlich?
 

Er keuchte, als er die Tränen zurückhalten wollte und sie ihn überrumpelten, als das erdrückende Gefühl zu stark wurde. Er hielt die Hände vors Gesicht, den Blick aufs Bett gerichtet, in dem das Mädchen schlief.
 


 


 

Fortsetzung folgt…
 


 


 


 


 


 

Vielen Dank für’s Lesen.
 

Mein Dank fürs Beta geht an ‚snabel’! ^__^
 


 

Gadreel

Vaterliebe

Vaterliebe
 


 

Gegen Mittag kam Schuldig im Ryokan an. Er fühlte sich ausgelaugt und das Zittern seiner Hände war kaum zu bändigen. Es fiel ihm schwer, sich auf etwas richtig zu konzentrieren. Das Hintergrundrauschen der Gedanken der Menschen war lauter geworden, als forderten alle seine Aufmerksamkeit, als schrien sie ihm zu, er solle sich ihrer endlich annehmen. Er wollte nur noch zu Ran und war sich sicher, dass er dann zur Ruhe kommen und diese innere Unruhe dadurch verschwinden würde.

Zunächst aber sondierte er die Lage und fand keine großen Auffälligkeiten. Er schlich sich in die Gedanken der Nachbarn, die ihre Höfe und auf den Gassen kehrten, die ihre Blumen umpflanzten. Sie waren dabei die Wäsche aufzuhängen, die Futons, die zum Lüften draußen hingen hereinzuholen. Alles sehr beschaulich und ruhig in dieser Gegend. Die Kinder jedoch interessierten ihn am meisten. Sie spielten in der Umgebung und waren stets aufmerksam, wenn es darum ging, Neuigkeiten zu erfahren – beispielsweise unbekannte Menschen, die ihnen auffielen.
 

Erst, als er näher an das mehrstöckige, unauffällige Haus mit dem hohen Zaun heranfuhr und erneut anhielt, um seine Observation wieder aufzunehmen, bemerkte er, dass er seine Fähigkeiten uneingeschränkt anwenden konnte. War das Kind nicht mehr im Ryokan?

Er brauchte eine halbe Stunde dafür, um einen genauen Status der letzten Stunden über die Vorgänge um ihren temporären Aufenthaltsort zu bekommen, bevor er den Van in die Einfahrt fuhr und im hinteren Teil des kleinen Grundstücks parkte. Danach ging er auf dem Kiesweg um das Haus herum und schloss die Tür auf.
 

Er ließ sich Zeit damit, das Haus zu betreten, wechselte sein Schuhwerk im Eingangsbereich und ging zunächst in die Küche, um etwas zu trinken. Alles war still, als er dann die Treppe hinaufging und zunächst Brads Zimmer anpeilte. Die Signatur des Hellsehers war unverkennbar, schimmerte wie ein metallener Faden in der Dunkelheit. Er schickte ihm einen vertrauten Gedanken und klopfte mental bei Brad an. Nur wurde er rüde zurückgewiesen.

Schuldig runzelte vor der Tür die Stirn und sein Mund verzog sich aufmüpfig. „Von wegen ich soll draußen bleiben“, brummte er und drückte die Klinke nach unten. Er schlüpfte ins Halbdämmer des Zimmers und ließ das Grell des Tages hinter sich zurück. Es war stickig und viel zu warm in dem Raum.

Brad lag auf dem Rücken, den Kopf seitlich von der Tür abgewandt.

Schuldig ging näher und kniete sich vor das Bett, er streckte seine Hand aus und berührte Brads Stirn. „Hallo Prinzessin...“, sagte er sanft. „Dein Prinz ist da.“
 

Brad zuckte zunächst zurück, als hätte er sich erschrocken, stöhnte dann frustriert und verzog das Gesicht. Die Läden waren geschlossen, trotzdem drang etwas Helligkeit herein, was Schuldig ausreichte, um die Mimik des Mannes deuten zu können.

„Will der Prinz einen Arschtritt für diese Störung?“ erwiderte Brad mit aufgerauter Stimme.

„Nein?“ sagte Schuldig und zog ein Gesicht wie Drei-Tage-Regenwetter.

„Was ist mit Nagi?“ brachte Brad heraus und wandte ihm langsam den Kopf zu, ließ jedoch die Augen geschlossen. Seine Stimme hörte sich für Schuldig an als, würde der andere schlafen, so fern und träumerisch klang sie.

„Stabil. Der Schild hält und wird langsam kräftiger“, log er.
 

„Wie geht’s dir?“ Die Frage war überflüssig wie er nach einem Blick in das müde Gesicht erkannte.
 

„Eve ist hier im Haus und das Mädchen schläft. Wir waren der Meinung, so lange sie das tut, bin ich Eves Fähigkeiten ausgesetzt.“

„Sie ist eine von uns?“

„Ja. Psychometrie. Sie sieht die Vergangenheit von...“

„Ich weiß, was Psychometrie ist“, unterbrach Schuldig Brad genervt über den vermeintlich beginnenden Vortrag. Er setzte sich zurück und starrte Brad an. Minuten lang starrte er ihn an und war sprachlos.

„Du siehst beides.“ Er sagte es, als wäre das völlig klar, als gäbe es keinen Zweifel.

„Du siehst alles. Deshalb hältst du dich von ihr fern.“
 

Brad wandte sein Gesicht wieder ab. „Wenn ich ihr zu nahe komme, kann ich nicht mehr filtern, es läuft alles in einander über und wird zu einem Film. Einem Film von Hieronymus Bosch. Wenn sie ihre Handschuhe trägt ist es wesentlich besser.“ Brad öffnete seine Augen und Schuldig wich etwas zurück. Die weiße Bindehaut war blutunterlaufen, das schwefelige Braun schimmerte golden. „Aber wirklich am Besten ist es, wenn die Kleine wach ist. Das ist ein Segen, Schuldig.“

Brad schloss die Augen wieder. Ein Segen und ein Fluch. Sie konnten sich somit schlecht gegen Angriffe schützen.
 

Schuldig legte seine Hand wieder auf Brads Stirn. „Kannst du schlafen in diesem Zustand?“

„Nein.“

„Du warst die ganze Zeit wach, wenn ich mir deine Augen so ansehe, hmm?“

„Ich sehe aus wie...“

Schuldig kletterte über Brad. Er stützte sich mit den Händen neben dessen Schultern auf und sah auf den Mann hinunter. Er ahnte, dass Brad Vergleiche zog, die jeder Grundlage entbehrten.
 

„Nein. Das tust du nicht!“ Schuldig schüttelte vehement den Kopf. „Sie wollten sich in Rans Schwester zu einem Wesen reinkarnieren, das war alles, was diese Augen bewirkt hatte – eine Überlastung. Niemand hatte daran geglaubt, dass dieses Mädchen als Gefäß wirklich hätte herhalten können. Es hätte nie geklappt. Sie hatte nicht die körperlichen oder geistigen Voraussetzungen dafür, sie wäre gestorben dabei. Das weißt du.“

Brad schnaubte und lachte zynisch auf, verstummte dann aber wieder. „Ich hatte einmal braune Augen, Schuldig. Stinknormale braune Augen. Und jetzt? Sieh dir an, was bei einer sogenannten Überlastung passiert? Sie sehen aus wie bei der kleinen Fujimiya.“
 

Schuldig strich Brad behutsam die Haare aus der Stirn. Er war mit seinem Latein am Ende und er befürchtete, dass Brad Recht hatte, wie so oft.
 

„Sie wollten ihre Macht damit stärken , weil sie wussten, dass wir ihnen irgendwann überlegen gewesen wären“, sagte Brad.

„Natürlich. Das ist der Lauf der Dinge. Das Monster frisst seinen Schöpfer“, meinte Schuldig lapidar und Brad musste unfreiwillig über diese nonchalanten Worte lachen.

„Mach dir nicht zu viele Gedanken darum. Jedem von uns sieht man die PSI Aktivität an den Augen mal mehr, mal weniger an. Meine wechseln von Blau auf Grün in verschiedenen Varianten, Nagis werden bisweilen weiß, Jeis waren rot ... na ja früher, wenn er rot gesehen hat und deine, na ja, deine leuchten eben golden.“
 

„Ich hoffe du behältst Recht.“
 

„Soll ich dir helfen, damit du schlafen kannst?“
 

Brad nickte.

„Wir müssen reden, Schuldig.“

Dieser sah ihn aufmerksam an. „Das werden wir. Ich habe beunruhigende Neuigkeiten, die du hören musst. Es hat noch Zeit, denn erst müssen wir uns ausruhen“, sagte Schuldig und Brad schloss die Augen. „Schlaf jetzt...“ wisperte er.
 

Als Brad mit seiner Hilfe eingeschlafen war blieb er noch ein paar Minuten bei ihm liegen und erhob sich dann, um Ran zu suchen.
 


 

o
 


 

Schuldig überprüfte kurz, wie es ihrem Gast ging, während er die Stufen hinauf in die oberen Stockwerke hochstieg. Er klopfte mental bei Eve Crawford an.

‚Eve, wie geht es ihnen?’

‚Gut, ich versuche zu schlafen, es will mir nicht wirklich gelingen.’

‚Versuchen sie es weiter, um ihren Bruder brauchen Sie sich nicht mehr zu sorgen, ich habe ihm geholfen, einzuschlafen.’

‚Danke’

Schuldig klinkte sich wieder aus und erklomm das nächste Stockwerk, als er um die Ecke bog, blieb aufgrund des Anblicks, der ihn erwartete, stehen. Ran saß zusammengekauert auf der obersten Stufe und schien zu schlafen, so hoffte Schuldig. Er ging besorgt näher, kniete sich auf die Stufe unter Ran und hob den halb schlafenden auf seinen Schoß. Dieser regte sich langsam und Schuldig bettete dessen Gesicht auf seine Schulter. „Hey... Blumenkind, es gibt doch sicher bessere Schlafmöglichkeiten als diese alte Treppe, meinst du nicht?“ schlug er zärtlich vor.
 

Aya seufzte und zog Schuldig nahe an sich heran, er atmete tief dessen Geruch nach Desinfektionsmitteln ein und rümpfte die Nase. „Sie sieht Aya schrecklich ähnlich, Schuldig“, flüsterte er in Schuldigs Halsbeuge, sodass dieser es fast nicht verstanden hätte.

„Das wächst sich sicher aus“, wisperte er an Rans Ohr und lächelte. „Halt dich fest.“ Ran schlang einen Arm um seinen Nacken und Schuldig hob das in Leder gehüllte Bündel Verzweiflung vom Boden hoch. Ran hasste es, getragen zu werden, schien es sich aber für den Moment gefallen zu lassen, ansonsten hätte Schuldig sicher etwas zu hören bekommen.

Er trug ihn in das Zimmer nebenan und legte ihn auf das Bett. Schuldig kam über ihn und suchte die violetten Augen, um wie so oft den miserablen Versuch zu starten, in ihnen zu lesen. Stumm sahen sie ihn an, voller Vertrauen und altem Schmerz. Er beugte sich unendlich langsam nach unten, küsste die angespannten Lippen zart, nippte, trank von ihnen, versicherte ihnen mit lockender Zärtlichkeit, dass alles gut werden würde.

Schuldig hob den Kopf und suchte wieder den stummen Blick. „Und wenn noch so sehr alles außer Kontrolle gerät, wenn ich bei dir bin, verstummt das Chaos.“
 

Aya strich Schuldig die Haare aus dem Gesicht. „Du willst mir damit sagen, dass wir das alles hinkriegen?“

Er sah in das Lächeln hoch, das ihm geschenkt wurde.
 

„Sicher.“
 

„Und was, wenn nicht? Wenn einer von uns...“
 

Schuldig legte ihm einen Finger auf die Lippen. „Sag es nicht, Ran. Wenn dich jemand von mir wegholen sollte, gibt es niemanden, der das Chaos mehr aufhalten könnte“, er lächelte wieder. „Das ist doch die logische Schlussfolgerung dessen, was ich vorhin sagte.“ Er sah Ran ernst an. Und dieser wusste, dass Schuldigs Lächeln ihm Trost spenden sollte, es aber ernst gemeint war. Todernst.

Er war aus China wiedergekehrt, weil er an Ran geglaubt hatte, an ihrer Verbindung nicht gezweifelt hatte. Was er von sich selbst nicht behaupten konnte.
 

Sie sprachen ein Weilchen nicht mehr und Schuldig hatte seinen Kopf auf Rans Brust gelegt. Rans Finger strichen über seine Schläfe, sein Ohr, seinen Kopf und er seufzte verhalten.

„Bist du nicht müde?“ fragte Ran schläfrig.
 

„Bin ich. Ich habe in der Klinik geschlafen und bleibe auf, bis du oder Brad ausgeschlafen haben. Mach die Augen zu und träum was Schönes, ich übernehme die erste Wache“, sagte Schuldig mit einem Grinsen.
 

„Was ist mit Nagi?“
 

„Sein Zustand hat sich stabilisiert auf einem sehr niedrigen Niveau. Sein Lover ist bei ihm.“
 

Aya hob diese Bezeichnung missbilligend eine Augenbraue. „Was ist mit Ken?“
 

„Der Doc hat ihn in eine andere Klink gebracht, um seine Knochenbrüche operieren zu lassen. Er kommt nach den Operationen wieder in die Klinik zurück. Es war wohl weniger schlimm als erwartet, aber er hat einen Bruch am Arm, das Sprunggelenk war nicht gebrochen. Sein Wachhund Hisoka begleitet ihn. Und Hisoka sollte man sich besser nicht in den Weg stellen. Der Typ beherrscht eine Kampfkunst, die ich nicht kenne und wird aufgrund seiner Masse unterschätzt. Der bewegt sich erschreckend schnell wenn es sein muss.“
 

„Einer von euch?“
 

„Nein. Aber er muss ein wirklich gut trainiertes Chi haben“, Schuldig zuckte mit den Schultern. „Wie ne Festung.“
 

„Dieser Doc...“ Ran zögerte. „Vertraut ihr ihm?“
 

„Nicht die Bohne. Na ja, Brad hat ihm wohl in der Vergangenheit aus der Patsche geholfen. Aus einem spontanen Impuls heraus.“ Schuldig lachte leise.

„Wohl eher weil er wieder irgendetwas gesehen hatte, was sich in der Zukunft als günstig erweisen würde.“
 

„Hast du mit ihm schon gesprochen?“
 

„Nö. Er wollte schlafen und sah ziemlich fertig aus. Da die Kleine jetzt schläft und seine Schwester wohl keine ihrer Spezialhandschuhe trägt, ist er am Limit zu dem, was er verkraften kann. Ich habe ihn noch nie so...“
 

„...verletzlich gesehen?“ half Ran ihm auf die Sprünge und erntete damit ein Seufzen.
 

„Könnte man so sagen. Es ist irgendwie beängstigend, ich würde sogar so weit gehen und sagen: erschütternd. Auf eine andere Weise schlimmer als damals im Krankenhaus.“
 

„Und dieser Doc hilft euch wegen des Umstandes, dass Brad ihm geholfen hat? Bindet ihn sonst noch etwas an seine ‚Treue’?“
 

„Geld?“ Schuldig zögerte einen Augenblick. „Außerdem habe ich Nachforschungen angestellt. Nachdem dieser kleine Vorfall in der Klinik Kudou und Jei fast das Leben gekostet hätte, hat sich dieser Arzt einer Überprüfung seiner Aussagen durch mich unterzogen. Was ich dort gefunden habe, war wirklich erstaunlich und wie soll ich sagen... in gewisser Weise verblüffend...“ Er hätte ihm beinahe den Kopf vom Rumpf gerissen, als er das herausgefunden hatte...
 


 

o
 

Einige Stunden zuvor in der Klinik...
 

Es war noch einiges aufzuräumen und zu putzen und da Kudou nichts anderes im Sinn hatte, außer darauf zu warten, dass Jeis Genesungsprozess weiter so gut wie bisher voranschritt, hatte er Hisoka gesagt, er würde dabei helfen, die Klinik zu säubern. Die Leichen waren von dem Riesen weggeschafft worden und nun galt es, die unschönen Überbleibsel von Wänden und Boden zu entfernen.

Viel durfte er laut dem Doc noch nicht machen. Seine Wunde war genäht worden und heilte gut. Er hatte sie unter dem viel zu breiten Verband bisher noch nicht selbst begutachtet. Aber er befand ihn als viel zu übertrieben.

Die letzten Tage waren die Schmerzen weniger geworden und sein Kreislauf hatte sich normalisiert, sodass er kleinere Aufgaben übernehmen konnte. Jei war stets in seiner Nähe und beobachtete das, was er tat. Er hatte sich bereits daran gewöhnt, den stillen Begleiter in seiner Nähe zu haben und empfand es nicht mehr als Einschränkung oder Beschneidung seiner Freiheit. Was auch daran liegen konnte, dass er hier unten ohnehin in seiner Freiheit beschränkt war.
 

Er wischte gerade mit einem Lappen die Fliesen in langsamen Bewegungen ab, da er die Naht nicht gefährden wollte. Dann tauchte er den Lappen in das Wasser, das auf einem Tischchen in Armhöhe stand. „Ich frage mich, wann wir hier raus kommen? Es nervt mich, dass ich nichts über die anderen weiß. Und es nervt mich, dass ich ihnen nicht helfen kann. Und es nervt mich...“ fing er eher gelangweilt und wenig enthusiastisch damit an, sein Leid Jei zu klagen.
 

„... dass du keine Zigarette rauchen kannst?“ kam dann doch prompt eine Veräußerung des stillen Mannes.
 

Yohji ließ den Lappen wieder ins Wasser plumpsen und drehte sich um. Sie standen in dem langen Flur, in dem er den Mann erledigt hatte. Moderne rockige, poppige Songs drangen durch die unterirdische Klinik mit einem Hauch der 70iger Jahre aus dem letzten Jahrhundert. Der Sound gefiel ihm und Hisoka hatte ihm beschieden, dass es eine Band aus Europa war und in den Zwanzigern dieses Jahrhunderts Erfolge feierte.

Jei saß auf dem Boden und sah ihn aufmerksam an, wie stets eigentlich.

„Das auch, aber daran dachte ich nicht. Ich weiß nicht wie es ihnen geht. Das kotzt mich an.“
 

„Es geht ihnen gut.“
 

„Ahja? Und das weißt du woher?“ Kudou rückte mit seinem Handgelenk das Kopftuch marginal zurecht, das er sich umgebunden hatte, zum Schutz seiner blonden Mähne. Er musste mal wieder dringend zum Friseur.
 

Jei betrachtete ihn sich für einen Moment lang ausgiebig und Kudou hatte den seltsamen Eindruck, der andere würde ihn halb ausziehen dabei.

„Ich weiß es“, erwiderte er langsam.
 

Kudou gönnte sich ein zynisches Lächeln. „Klar, was sonst.“
 

Er wandte sich wieder seiner Tätigkeit zu, tauchte mit behandschuhten Händen den Lappen ein letztes Mal in den Eimer. Hisoka hatte ihm aufgetragen, nur die Bereiche zu wischen, an die er bequem gelangen konnte, ohne sich zu bücken oder zu strecken.

Nach einer Weile kam Hisoka des Weges, einen Schrubber in der Hand und nur mit einem geöffneten Hemd bekleidet, dass seinen massigen Oberkörper frei ließ. Kudou registrierte die Tätowierungen mit einer gelupften Augenbraue.
 

„Was bedeuten sie?“ fragte er wie stets aufdringlich, wenn er etwas wissen wollte.
 

Hisoka blieb stehen und stellte den Schrubber ab. Er sah ihn für einen Moment stoisch an.
 

„Die Schriftzeichen auf ihrem Körper.“ Yohji machte weiter, als hätte er kein gesteigertes Interesse daran, was natürlich nicht stimmte. Die sichelförmig angeordneten Zeichen waren eindeutig Schriftzeichen, wenn auch so winzig angeordnet, dass man sie erst bei näherem Hinsehen als solche erkannte.
 

„Wenn ich Ihnen das sagen sollte, müsste ich Sie hinterher töten und da der Doc sicher etwas dagegen hat, nachdem er Sie zusammen geflickt hat, sollten Sie von weiteren Fragen absehen.“ Hisoka lächelte freundlich. „Zu Ihrem eigenen Wohl“, sagte er fürsorglich und freundlich ohne den Hauch von Spott.

Er nahm den Schrubber wieder hoch und trabte davon. Yohji sah ihm nach und fing dann einen Blick von Jei ein, der dem Hünen ebenfalls nachsah.

„Was hältst du davon?“ fragte Yohji den sitzenden Empathen.
 

„Interessant.“
 

„Interessanter als ich?“ Yohji lächelte heimtückisch und wischte mit nur mäßigem Erfolg an einer getrockneten Blutspur herum.
 

Es kam keine Antwort. Auch nach Minuten nicht und Yohji behielt sein Lächeln bei. Vielleicht wurde er seinen persönlichen Stalker doch noch los.

Die Frage war nur, ob er das nach all dem, was sie erlebt hatten, noch wollte. Jei in seiner Nähe zu haben, auch ohne, dass dieser auf ihn empathisch einwirkte, löste in ihm ein Gefühl der Sicherheit aus. Offenbar ein Umstand, der ihm bisher gefehlt hatte, wie es schien.
 

Jei beobachtete den Rest des Vormittags den Hünen, sobald dieser des Weges kam, wich aber nicht von Yohjis Seite.

Mittags aßen sie im Aufenthaltsraum des Personals und Yohji schob Jei Soba Nudeln in einer schmackhaften Suppe mit Gemüse zu. „Du hast Hunger, also iss“, sagte er, schon daran gewöhnt, Jei in einem Zustand der Unaufmerksamkeit für seine Bedürfnisse und Umgebung zu dirigieren.
 

Nach dem Essen legte sich Yohji in sein Zimmer und schlief. Wo Jei war, wusste er nicht, aber weit sicher nicht.

Der Doc ließ sich am Nachmittag blicken, als er wieder nach ihren Wunden sah und danach waren sie sich wieder selbst überlassen. Bis plötzlich nachts ein Anruf eintraf und Hisoka sie weckte. Jei hatte in einem anderen Raum geschlafen und stand bereits angezogen vor Yohji, als dieser geweckt wurde. Yohji war sich fast sicher, dass dieser sich überhaupt nicht ausgezogen hatte, so zerknittert, wie die Klamotten aussahen. Sie trugen immer noch die Klinikkleidung.

„Was ist los?“ murmelte Yohji und war sofort alarmiert, als Hisoka im Zimmer stand.
 

„Mr Schuldig hat angerufen und bringt zwei Verletzte rein. Sie kommen in wenigen Minuten an. Ich dachte, Sie würden das wissen wollen.“
 

„Wer ist es?“ Yohji setzte sich plötzlich hellwach auf und rutschte vom Bett in seine Schuhe hinein.
 

„Der Telekinet und einer aus ihrem Team. Wir sollten alles vorbereiten, bis sie hier sind. Der Doc ist schon wach und bereitet die Säle mit den Geräten vor.“
 

Sie gingen in den Eingangsbereich der Klinik und Hisoka gab den Code ein, der die Tür öffnete. Danach folgte er dem Mann durch einen breiten, gut beleuchteten Korridor in den Tiefgaragenbereich, den er von seiner Anreise hierher kannte. Sie warteten mit einer Liege und wenig später fuhr der Van herein. Schuldig saß am Steuer, neben ihm Ken.
 

Der Wagen verstummte und Schuldig stieg aus. Er öffnete den Van und Yohji half Ken beim Aussteigen. Hisoka stützte ihn und bedeutete ihm, sich auf die Liege zu legen. Ken murmelte etwas davon, dass er laufen könnte, doch Hisokas Pranke bedeutete ihm, dass es besser wäre, sich seiner ‚Bitte’ zu fügen. Ken gab klein bei und legte sich auf die Seite. „Kommen Sie klar?“ wandte sich Hisoka an Schuldig und dieser winkte ab. Yohji wollte in das Wageninnere steigen, wurde aber von Schuldig am Arm zurückgehalten.

„Fass ihn nicht an, Kudou“, warnte der Telepath. Omi sah furchtbar aus. Seine Augen sahen aus, als hätte er geweint und sein Gesicht war blass, als hätte er einen Schock.

„Gib ihn mir, der Schild ist nahezu ungefährlich momentan.“ Schuldig übernahm Naoe in seine Arme und Omi fiel beinahe aus dem Wagen, als er aussteigen wollte. Yohji fing ihn ab und setzte ihn erst einmal hin. Schuldig brachte den Jungen hinein, der mehr tot als lebendig aussah.

„Er wird sterben“, sagte Omi tonlos.
 

„Was ist passiert?“ Kudou lehnte mit dem Arm am Van abgestützt an dem kühlen Metall und sah dem am Boden sitzenden Jungen forschend ins Gesicht.
 

„Er hat sich überfordert, sagt Schuldig. Wir sollten nur für Ablenkung sorgen, was auch anfangs gut lief und dann wurde es immer mehr. Nagi... er...“ Omi brach ab und sah zu ihm hoch. „... er hat einfach nicht mehr aufgehört. Alles hat vibriert und ich konnte die aufgeladene Luft in mir spüren, als wären meine Atome selbst in Aufruhr. Blitze zuckten über das Gelände und ständig entluden sich ohrenbetäubende Kracher. Das Gelände liegt brach, Yohji. Und immer noch konnte oder wollte er nicht aufhören. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Schuldig sagt, dass er nicht weiß, ob er sich davon erholt, er ist sehr schwach.“
 

„Dann gehen wir besser rein“, sagte Yohji und half Omi, der nur unwesentlich besser als der junge Telekinet aussah, der gerade an ihm vorbei getragen worden war. Am liebsten hätte er jetzt darauf hingewiesen, wie gefährlich Schwarz waren, aber vernünftig war das zum jetzigen Zeitpunkt sicher nicht. Außerdem war er der Letzte, der eine derartige Moralpredigt von sich geben durfte, sah er ein, als sein Blick auf Jei fiel, der ihn beobachtete.
 

Er brachte Omi hinein und sie folgten Schuldig, der ihn in eines der Zimmer brachte, vor dem der Doc bereits wartete.

„Wir sollten ihm die Möglichkeit zur Regeneration geben. Danach sehen wir weiter.“

Schuldig legte Nagi auf dem Bett ab und sortierte dessen Beine bequem. Er deckte ihn zu, da er sich eiskalt anfühlte.

Omi kam in das Zimmer und wollte sich dazusetzen. „Warte. Du lässt dich erst einmal vom Doc untersuchen. Dann isst und trinkst du etwas und tust das, was der Doc sagt. Du brauchst deine Energie für dich selbst, Kleiner.“

Omi sah ihn missmutig mit dem Hauch von Trotz an. Kudou sah in Schuldigs Gesicht, das auf Omi gerichtet war und erkannte dort den Ernst der Lage.

„Komm mit Omichi, wir verziehen uns hier. Du nützt hier niemandem, wenn du gleich umfällst“, half er Schuldig.

Omi ließ sich von Kudou aus dem Zimmer ziehen und Schuldig setzte sich aufs Bett. Vorsichtig strich er Nagi über die klamme Stirn. „Du lässt mich immer noch nicht rein, was?“
 

Hisoka erschien im Türrahmen. „Brauchen Sie etwas?“
 

„Nein. Schließen Sie die Tür, ich bleibe eine Weile hier.“

Er hörte, wie die Tür sich schloss und zog sich die Jacke aus. Dann legte er sich samt Stiefel auf das Bett und schob seinen Arm unter Nagis Nacken. Er zog ihn näher an sich, nahm die Hand in seine und legte ihm seine Wange an die Stirn.

„Brad wäre besser, hmm? Das hat damals gut funktioniert, Kleiner. Er hat viel zu tun, du kennst ihn ja - immer beschäftigt, der Boss. Er leitet noch den Einsatz, kümmert sich um die Aufräumarbeiten... dann kommt er sicher zu dir, solange musst du mit mir aushalten.“ Das entsprach nicht der Wahrheit, aber es entsprach der Vorstellung, die Nagi von Brad hatte: der unerschütterliche Anführer, der Macher, der Boss und Vater, der alles im Griff hatte.
 

Als Nagi wieder bewusst Gedanken formen konnte und diese auch für ihn begreiflich wurden, öffnete er langsam die Augen. Ein Akt, der ihm schwer fiel. Er wusste nicht, wo er war, aber er fühlte sich geborgen und warm. Er wandte das Gesicht und sah blasse Haut und orangefarbenes Haar darauf liegen. Warmer Atem streifte sein Gesicht.

„Schuldig?“ krächzte er und seufzte schwer.

„Ja?“

„Omi?“

„Ruht sich aus. Hat keinen Kratzer abbekommen. Du bist der Einzige, um den wir uns momentan Sorgen machen.“

„Ich hab es nicht stoppen können.“

„Schon gut. Ruh dich aus. Du bist noch viel zu schwach.“

„Du bist so warm.“ Nagi schloss die Lider wieder.
 

Schuldig versuchte erneut in Nagis Gedanken vorzudringen und dieses Mal gelang es ihm sogar. Er besah sich dessen Barrieren. Sie waren kaum mehr vorhanden und er begann damit, das Konstrukt wieder zu errichten. Zumindest das Gerüst, mit Energie musste Nagi es selbst füllen, was mit der Zeit kommen würde. Er versorgte ihn noch mit positiven Gedanken und zog sich wieder zurück.

Er schlief nun selbst ein und wachte erst wieder auf, als sich die Tür öffnete. Viel zu wenig Schlaf, resümierte er. Kudou stand im Rahmen. Er hob die Hand und löste sich von Nagi. Er streckte sich und rieb sich den verspannten Nacken. Dann erhob er sich und verließ mit Kudou das Zimmer. „Für einen guten Kaffee könnte ich jetzt jemanden töten“, brummte er und bemerkte, wie Kudou ihm einen skeptischen Blick zuwandte.

„Witzig“, erwiderte der und bedeutete ihm zu folgen. „Du kriegst ihn auch so unter einer Bedingung.“

Sie kamen in dem riesigen Warteraum an und Yohji enterte die Küche, um ihnen beiden einen Kaffee zu machen.

„Die da wäre?“
 

„Überprüf die Aussage des Docs bezüglich seiner Behauptung, er wollte euch nur schützen, in dem er hier ein kleines Massaker mit Jeis und meiner Hilfe veranstaltet hat.“

Schuldig setzte sich auf die weiße Couch und fragte sich erneut, wie hier eine weiße Ledercouch stehen konnte, die immer noch so tadellos aussah.

Er legte den Kopf in den Nacken und seufzte. „Das war also die Begründung?“
 

Yohji brachte die Kaffees zu der Sitzgruppe und reichte dem angeschlagen und müde wirkenden Telepathen einen Kaffee. „Ja, das war sie. Und du siehst Scheiße aus.“
 

Schuldig nahm die Tasse entgegen und nahm einen Schluck. Er lächelte und lehnte sich zurück. „Dito.“
 

„Was ist mit Ran?“
 

„Geht’s gut. Kümmert sich um den Rest.“
 

„Also machst du’s?“
 

„Sicher.“ Sie hatten zwar eine Abmachung zwischen Brad und dem Doc, die er gefälligst einzuhalten hatte – laut Brad, aber der musste kaum davon erfahren. Außerdem war er jetzt der Chef im Ring, solange Brad ausgeknockt war.

Er machte den Doc ausfindig. Er war gerade in ein Gespräch mit Hisoka über Kens Zustand vertieft, als er damit begann, dessen Gedanken zu durchpflügen und er musste zugeben, aufgrund einer gewissen Müdigkeit ging er wenig umsichtig zu Werke. Aber er fand das, was er suchte und mehr...
 

Yohji hörte die schnellen Schritte, ehe er Hisoka und dessen Gesichtsausdruck sah. Er stürzte auf Schuldig zu, der seinen Kopf auf das Sofa gelegt hatte und wohl seine Bitte ausführte. Als er den Angriff kommen sah, wandte er sich um, fuhr blitzschnell seine Drähte aus und brachte den großen Mann zu Fall. Schuldig hob den Kopf und blinzelte. Er sah zu dem am Boden liegenden Mann, dessen Fesseln ihm tief in die Haut schnitten. „Lass ihn los, Kudou. Ich bin fertig.“
 

„Dafür sind die Dinger nicht gemacht“, sagte Yohji keuchend. „Halt still, verdammt...“ keifte er Hisoka an.
 

Der Doc erschien im Eingang des Wartezimmers. Er schien sauer zu sein. „Dazu hatten Sie kein Recht.“
 

Schuldig saß gemütlich auf der Couch, ein Bein überschlagen und einen Arm über die Rücklehne gelegt. Die fleischgewordene Entsprechung der Entspannung. Er nahm einen genießenden Schluck aus seiner Tasse und fasste den Doc, der ihn wütend ansah, ins Auge.

„Schaff ihm die Drähte vom Körper, Kudou, es stimmt, was er sagt, sie haben gute Arbeit geleistet. Die Typen waren vom Clan hier abgestellt, um Sie im Auge zu behalten. Warum haben Sie uns das nicht mitgeteilt, Doc? Crawford hätte das sicher interessiert. Und dieses unleidige Problem aus der Welt geschafft.“
 

„Weil ich damit gut klar gekommen bin.“
 

Schuldig sah zu, wie Kudou mit Mühe die beiden Drähte von Hisoka löste, der sich nur dann bewegte, wenn Kudou es ihm ausdrücklich sagte.
 

„Das sehe ich“, sagte Schuldig spöttisch.
 

„Wie lange haben Sie sich hier schon eingenistet?“
 

„Einige Jahre. Ich bin ihnen nicht entkommen trotz Crawfords Hilfe“, sagte der Doc, noch immer sehr angespannt. Schuldig wusste nun warum, und die täuschende Ruhe, die er nach außen hin überzeugend schauspielerte, herrschte nicht in seinem Inneren. Er war sauer. Sauer und was noch erschwerend hinzu kam und viel schlimmer für jedermann in seinem Umfeld war: neugierig.

„Weshalb wollten Sie ihnen entkommen, Doc?“ Hisoka muckte erneut auf, als die Drähte fast entfernt waren.

Schuldig richtete sein Augenmerk auf den Großen. „Pflanz deinen Arsch auf die Couch und halt den Rand, Hisoka. Ich bin nicht in Stimmung für dein Herumgezicke. Oder glaubst du, dass du nur den Hauch einer Chance gegen mich hättest?“
 

„Nein“, sagte Hisoka mit rauer Stimme und unterdrückter Wut.
 

Schuldig lehnte sich wieder zurück und lächelte zufrieden. „Dann sind wir uns einig.“
 

Er sah den Doc an, der näher gekommen war, aber immer noch genügend Abstand zu ihm hielt. „Ich warte, Doc.“
 

Dieser schien mit sich zu ringen und starrte ihm in die Augen - etwas, das nur wenige länger durchhalten konnten.

„Meine Familie ist mit den Sakuras eng verbunden. Ich hatte etwas, was sie wollten. Ich wollte es ihnen nicht geben. Sie nahmen es sich trotzdem. Ich sah dabei untätig zu. Dann wollte ich es nicht mehr ihnen überlassen und unternahm den Versuch, es ihnen zu stehlen. Sie jagten mich. Crawford half mir und so kommen wir nun heute hier zusammen.“
 

Schuldig hatte sein spöttisches Lächeln noch nicht aufgegeben. Das war köstlich.

„Klingt nett, aber mir fehlen die Details, Doc.“ Er nahm einen Schluck Kaffee.
 

„Nach einiger Zeit entlarvten sie meinen Aufenthaltsort und boten mir an, mich der Tradition wegen am Leben zu lassen, sofern ich einige ihrer Männer hier unten arbeiten lasse. Zum Zweck der Spionage. Nicht gegen Schwarz, sondern andere Clans, die ihre Verletzten zu mir bringen. Trotzdem haben sie Informationen von ihnen weitergegeben, dessen bin ich mir sicher. Einen Kawamori zu töten überstieg wohl selbst ihre Niederträchtigkeit.“
 

„Warum haben Sie uns nicht gewarnt, Doc?“
 

Kudou hatte sich von Hisoka zurückgezogen, der langsam aufstand und tat, was Schuldig ihm gesagt hatte. Er setzte sich ihm genau gegenüber. Brav.
 

„Und riskiert...“

Er verstummte und Schuldig sah mit innerer Freude, wie der andere Mann mit sich rang. „Geben Sie es auf Doc, sie verlieren den Kampf mit ihrem Gewissen.“
 

„Ich hätte das Leben meines Sohnes riskiert.“
 

„Oh ja. Jetzt kommen wir der Sache schon näher.“ Schuldig grinste und Kudou starrte ihn an, als wäre er die blutrünstige Hyäne, die gerade über die altersschwache Gazelle herfiel. Na ja, ein bisschen fühlte es sich danach an. Aber er musste schließlich das Rudel durchfüttern und ein bisschen Brad Crawford schlummerte schließlich auch in ihm.
 

„Ihr Sohn. Interessant. Sprechen wir von diesem hier?“ Schuldig wedelte mit der Hand, die immer noch gemütlich auf der Couchlehne lag, in Richtung Hisoka.
 

Yohji sah von Schuldig, der im Augenblick sehr dem Schuldig von früher glich und ihm alle Nackenhaare zu Berge stehen ließ, zu Hisoka. Der Hüne war der Sohn vom Doc?

Schuldig auf seiner Seite zu haben barg ungeahnte Möglichkeiten, seine eigene perfide Neugierde zu befriedigen. Er spürte so etwas wie Entdeckergeist in sich und im Türrahmen erschien wie auf Abruf Jei. Er sah zu ihm und kam dann direkt auf ihn zu. So direkt, dass Yohji einen Schritt zurücktrat.

Doch Jei näherte sich ihm lediglich zügig und zog ihn aus der Sichtlinie des Docs zu Schuldig. Er drängte ihn zurück bis Yohji an einen Barhocker stieß. Jei wandte sich so abrupt um, dass dessen Lippen nur noch Zentimeter von ihm entfernt waren. „Setzen“, wies ihn Jei an und dessen Auge bannte ihn förmlich. Yohji wollte schon wiedersprechen, entschied sich aber anders, als Jei dieses Auge schmälerte und wartete. Er setzte sich folgsam und Jei blieb vor ihm stehen. Was zur Hölle hatte Jei gespürt?

Schuldig? Dessen Gefühlslage, die eindeutiger nicht hätte sein können. Schuldig spielte nicht nur den teuflischen Bösewicht. Er war es im Moment auch.

Doch Yohji fragte sich, ob das nicht im Augenblick eher ein Vorteil war.
 

„Nein?“ fragte Schuldig, als keine Antwort kam.
 

„Er war ein KIND!“ schrie der Arzt außer sich vor Wut. Gar nicht mehr so der beherrschte Japaner wie sonst.
 

Yohji spürte, wie Jei sich anspannte und legte beide Hände auf dessen Schultern. Er zog ihn zu sich heran, auch wenn es ihm widerstrebte, aber Jei würde die Situation höchstens eskalieren lassen und er wollte hören, was der Doc sagte.
 

„Das ist er jetzt nicht mehr. Wir ALLE sind keine Kinder mehr, Doc“, lehrmeisterte Schuldig und trank erneut einen Schluck des Kaffees.
 

„Nein. Das sind wir nicht mehr. Aber er bleibt mein Sohn. Und ihnen mitzuteilen, dass die Sakuras meine Tarnung aufgedeckt und mich infiltrierten, hätte meinen Sohn gefährdet.“
 

„Blut ist dicker als Wasser, Doc, nicht wahr?“ Schuldig stellte die Tasse auf dem Tischchen ab und lehnte sich wieder zurück. Er sah erneut auf und lächelte wieder dieses pseudoharmlose Lächeln. Yohji kannte das von ihm. Jeder, der dieses Lächeln in diesem Gesicht sah, wusste, dass es alles andere als harmlos war. Es war grausam.

„Schuldig!“ rief Yohji aus. „Hör auf damit ihm...“ weiter kam er nicht, denn Jei stellte sich zwischen ihn und Schuldigs sengenden Blick.
 

Schuldig wollte diese Nervensäge zum Stillschweigen bringen, denn sie störte ihn bei seinem Spielchen mit dem Doc ungemein. Doch Jei trat ihm in den Weg und er kam gar nicht zu dem Burschen durch. Eine massive Aura aus dem, was Jeis Barriere bildete, stand zwischen ihnen. Jei legte den Kopf herausfordernd schief und Schuldigs Lippen formten sich zu einem beleidigten Kräuseln. „Schon gut. Reg dich ab“, sagte er widerwillig zu Jei und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Doc zu. Jei hatte ihn nicht angegriffen, denn dann wäre der Spaß vorbei gewesen. Der Empath war nicht nur schneller als er, sondern auch wesentlich einflussreicher. Zumal Schuldig nur begrenzten Zugang zu dessen Geist hatte. Er hatte nur dafür gesorgt, dass Schuldig ihm nicht sein Spielzeug kaputt machte. Diesen Gedankengang konnte er nachvollziehen und respektieren. Zurück zum Doc, denn dieser war auch wesentlich unterhaltsamer als Kudou.
 

Yohji schien hier gerade etwas sehr... Übles verpasst zu haben. Seine Hände glitten auf Jeis Rücken hinab und hakten sich dort in dessen Hosenbund ein. Der schien sich nicht daran zu stören.
 

„Ja. Blut ist tatsächlich dicker als Wasser, Mr Schuldig.“
 

Mut hatte er, das musste Schuldig dem Mann lassen. Aber das hatte Brad wohl an dem Typen gemocht. Und vielleicht hatte Brad mit dem Mann ja noch was vor, weswegen er ihn nicht zu hart anfassen durfte, sonst könnte es Ärger ungeahnten Ausmaßes geben. Und Schuldig wollte seinen Kater behalten...
 

Er legte den Kopf schief. Seinen Kater...? Wo war dieser noch gleich? Warum... war... wer...?

Er hatte den Faden verloren.

Zurück zum Wesentlichen.
 

„Wann haben Sie ihren Sohn zuletzt gesehen?“
 

„Das wissen sie doch in der Zwischenzeit sicher genau. Seit Jahren nicht mehr.“ Die Gesichtszüge des Arztes blieben neutral bei diesen Worten, aber sein Tonfall machte klar, wie sehr er dieses Verhör missbilligte.
 

„Wissen Sie Doc, ihr geliebter Sohn macht uns seit Neuestem das Leben sehr schwer. Er hätte mich beinahe über den Jordan geschickt. Jei hat er übel zugerichtet, davon abgesehen, dass er... etwas, das mir gehört, betatscht und verprügelt hat. Oder zumindest den Auftrag dazu gegeben hat.“
 

Yohji wurde hellhörig. Was war nur los mit Schuldig? Sprach er von Ran? Und wen meinte er mit diesem Sohn? Unbedacht wie er war, wollte er erneut seinen Mund aufmachen, fühlte aber plötzlich eine Gleichgültigkeit dem Thema gegenüber. Wen kümmerten schon diese Dinge? Ihn sicher nicht.

Er hörte noch einen Moment den Aufzählungen der Verbrechen an Schwarz zu, die dieser ominöse Sohn verbrochen haben sollte, bevor ihm ein Punkt ins Auge stach. Stand er dieser Situation denn tatsächlich mit einem derartig gleichgültigen Gefühl gegenüber?
 

Er zwickte Jei in den Hintern als Warnung, enthielt sich aber sonst etwas zu verbalisieren. Jei hatte ihm vermutlich etwas ‚nachgeholfen’, die Klappe zu halten, und das auf simple, zweckmäßige Art. Auch wenn er es ganz und gar nicht gut hieß.
 

„Mein Sohn ist der Beste seiner Art. Er weiß, was er tut. Und so weit mir bekannt ist, liegt es ihm fern, ihrem Team zu schaden. Sicher gibt es dafür eine gute Erklärung. Die mir aber nicht bekannt ist. Wie sie sicher festgestellt haben werden.“ Er trat näher und war nun auf Höhe des auf dem Sofa sitzenden Hisokas. „Ich frage mich, ob es nicht noch schlimmer gekommen wäre, wenn er nicht eingegriffen hätte. Sie haben doch keine Ahnung, was dort draußen in der Welt vor sich geht. Sie haben sich hier in Japan verkrochen. Mein SOHN kämpft für sie ihre Kämpfe aus und sie beschweren sich über ein paar Blessuren?“
 

Schuldig seufzte und erhob sich fast schon schwerfällig. „Ihr Sohn hat sich für Schwarz zum Staatsfeind Nummer Eins hochgemausert, Doc. Wir suchen ihn, machen ihn ausfindig, jagen ihn und dann erledigen wir ihn. Vielleicht stellen wir ihm zuvor noch ein paar Fragen.“
 

Der Doc ließ sich auf die Knie fallen und verbeugte sich bis seine Stirn den Boden erreichte. „Verschonen Sie ihn. Ich bitte Sie, verschonen Sie ihn.“
 

Yohji wurde übel. Schuldig stand über dem Mann und genoss den Anblick des knienden Mannes von seinem gemütlichen Platz aus.

„Hör auf“, sagte er und kämpfte gegen die Gefühle an, die ihm sagten, dass es unwichtig sei. „Hör auf! Hör auf!“ schrie er und rutschte vom Barhocker. Er wusste nicht, ob er damit Jeis Einfluss meinte oder Schuldigs Tun – oder beides. Dabei hielt er sich an Jei fest, der ihn ebenfalls fest umklammerte, Schuldig dabei aber nicht aus dem Blick ließ.

„Wenn Ran hier wäre, würde er sich vor Ekel abwenden. Meinst du ihm gefällt, was du hier machst? Willst du ihm nachher mit dem Wissen, diesen Mann derart gequält zu haben, unter die Augen treten? Sieh mich an!“ forderte er mit wutschwangerer und gezähmter Stimme.

Schuldig wandte ihm sein Gesicht zu.

„Sag mir Schuldig. Glaubst du nur eine Sekunde daran, dass er nicht sieht, was du getan hast?“ Und dann, als das letzte Wort des Satzes fiel und das Puzzle vervollkommnete, das wohl in den letzten Minuten aus Schuldigs Gehirn geworden war, änderte sich Schuldigs Gesichtsausdruck. Er blinzelte, das Lächeln verblasste und er wirkte unsicherer als noch zuvor. Das war tatsächlich so, als hätte ihm jemand das bösartige Grinsen aus dem Gesicht gewischt.
 

Yohji zitterte gegen das an, was Jei noch immer versuchte, in ihm aufrecht zu erhalten. Er spürte, wie dieser es manipulierte und ihn in etwas überführte, was Genugtuung war und von dort in eine Phase der Ruhe. Das war er alles nicht selbst gewesen, ließ ihn aber zittrig und haltlos zurück. Seine Knie knickten ein und Jei fing ihn problemlos auf. Was ihm wieder zeigte, wie viel Kraft in dem schlanken, sehnigen Körper steckte. Er setzte ihn auf den Barhocker hinauf und stellte sich vor ihn. Yohji fühlte sich so matt, dass ihm halb die Augen zufielen.
 

„Stehen Sie auf, Doc.“ Schuldigs Stimme hörte sich ausgelaugt an.
 

Er sah dem Mann dabei zu und sie sahen sich Auge in Auge an. „Ich bin müde. Der Tag war lang“, sagte er monoton.

„Nachdem, was Crawford für Sie getan hat, wäre es Ihre Pflicht gewesen, es uns zu sagen. Und meine Pflicht ist es jetzt, Crawford davon in Kenntnis zu setzen. Ob wir ihren Sohn verschonen oder nicht liegt nicht in meiner sondern in der alleinigen Hand von Crawford.“
 

Der Doc nickte.
 

„Ich fahre besser...“ sagte Schuldig leise und ging an den beiden vorbei.
 

„Ach Kudou ... pfleg den Bereich um deine Narbe gut, so tiefe Stiche tun noch ein paar Tage schmerzlich weh.“ Er grinste halbherzig und verließ den Raum.
 

„Kann er fahren?“ fragte Yohji und holte tief Luft. Die Anspannung im Raum verlief sich und alle entspannten sich wieder. Selbst Jei wurde wieder lockerer. Na ja so locker, wie er eben werden konnte.
 

„Kann er.“ Kam die Antwort von Jei.

Yohji dachte nur daran, dass es ganz gut war, dass Omi noch schlief und das ganze Drama nicht mitbekommen hatte.
 

„Warum ist er so ausgeflippt?“ fragte Yohji in die Runde.
 

„Er muss Naoe sehr viel Energie gegeben haben, zudem die Sache mit Brad und dem, was er hier herausgefunden hat“, nahm Jei die Frage auf.
 

„Ah, die Nummer mit dem Sohn.“
 

„Ja... die Nummer mit Asugawa“, gab Jei ihm endlich etwas, um Schuldigs Wandlung von Rans Geliebtem in das Monster zu verstehen. Asugawa war der Sohn des Docs? Yohjis Augen verengten sich.
 

Er fasste den Doc ins Auge. Das war also der Vater von dem Typen, der Jei über die Kaimauer baumeln hatte lassen. Nettes Früchtchen. Nette Familie. Sein Blick wanderte zu Hisoka hinüber. Riesengroßer Bruder.

„Ist er das schwarze Schaf der Familie?“ wagte sich Yohji aus der Deckung und hopste vom Barhocker.

Hisoka sah ihn für einen Moment an, bevor er plötzlich lauthals loslachte.
 

Jei wandte sich um und Yohji sah Hisoka finster an. Er wurde zur Couch geführt und Jei gab ihm einen Schubs, bis er auf dieser lag. Jei stand davor und sah die beiden anderen Männer im Raum stumm an.
 

Hisoka lachte noch immer, hob dann beide Hände in einer friedfertigen Geste. „Wir gehen ja schon.“
 

Der Doc und Hisoka verließen den Raum. Als sie im Korridor angekommen waren, um in Richtung ihres Verletzten zu gehen, sah Hisoka ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht seines Vaters. „Ist doch einigermaßen gut gelaufen.“
 

„Ja, das empfinde ich auch so. Es war knapp, aber wir haben die Hürde gemeistert.“
 

„Der Blonde ist wirklich nicht schlecht“, resümierte Hisoka und streckte sich. Er gähnte, denn er war hundemüde.
 

„Ja. Er hat die Kontrolle durchbrochen, die Berserker geübt hat. Damit ist Kaito entlastet. Er muss nicht mehr auf alle achten.“
 

„Chiyo hat gute Arbeit geleistet.“
 

„Wie viel hat er gesehen?“
 

„Nur das, was ich ihn sehen lassen wollte. Deiner schnellen Reaktion geschuldet hatte er nicht genug Zeit, um tiefer zu forschen.“
 

„Ich mache mir Sorgen“, veräußerte Hisoka, als er die Metalltür zu ihrem Op Raum öffnete. Er musste dort noch aufräumen. Sein Vater blieb auf dem Korridor stehen und erwiderte seinen Blick.

Er nickte einmal.

„Ja. Zu viele sind hinter ihm her.“

„Sie machen Jagd auf ihn.“

„Das ist nicht das Problem. Es gibt nur einen Jäger, der ihm gefährlich werden kann“, seufzte der Doc und wandte sich ab, um nach dem verletzten Weiß Agenten zu sehen.
 

Hisoka machte sich daran, aufzuräumen. Wenn dieser Jäger nur endlich seinen Arsch hochbewegen würde. Kaito würde über kurz oder lang die Puste ausgehen. Und Hisoka hatte die Befürchtung, dass andere Verfolger ihn vor Crawford finden würden. Was nicht hieß, dass es gut für ihn ausgehen würde.
 

Der Amerikaner war trotz seiner zivilisierten Umgangsformen gefährlich, vor allem, da er langsam in die Enge getrieben wurde und Kaito tat gut daran, ihm so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen. Nur zog sich die Schlinge langsam zu und sein Bruder war früher schon erfinderisch gewesen, sich daraus herauszuwinden. Dummerweise beging er dabei Fehler.
 


 

o
 


 

Brad erwachte ruckartig aus seinem Traum und fühlte sich trotz des plötzlichen Erwachens bedeutsam wohler als noch zuvor. Ein Geräusch hatte ihn aus dem Schlaf geholt und er stöhnte, als er sich auf die Unterarme hochstemmte und sich den verspannten Nacken rieb. Er tastete nach dem Pad, dass er neben sich gelegt hatte und fahndete im Dämmerlicht der heruntergelassenen Rollläden nach dem blinkenden Ding. Es gab hin und wieder einen leisen Ton von sich, dass ihn auf einen Anrufer aufmerksam machen wollte.
 

Ein schneller Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es kurz vor sechs Uhr abends war und, wie er feststellte, hatte er im Moment keine einzige Vision. Das Mädchen war also wach. Er ließ es blinken und die leisen unaufdringlichen Töne von sich geben und sank ermattet und erleichtert zurück. Nach ein paar Augenblicken, in denen er versuchte, den Anschein von völliger Wachheit zu erzeugen, rieb er sich über die Augen, setzte sich auf und zog seine Beine vom Bett. Er griff sich das Pad und erkannte die Nummer.

Er räusperte sich und nahm ab. „Ja“, meldete er sich mit der üblichen, neutralen Kälte in der Stimme. Lang geübt und perfektioniert. Es hielt seine Feinde davon ab, zu denken, er sei schwach und auf irgendjemanden auf diesem Planeten zu seinem Schutz angewiesen. Er brauchte niemanden, um sich zu schützen. Und er war alles andere als schwach.
 

„Manx hier. Wir müssen uns sehen. Ich muss mit dir reden. In drei Stunden an der Stelle, wo Aya begraben liegt. Du findest den Weg?“
 

Crawford hob eine Braue. „Du willst, dass ich alleine komme, nehme ich an?“ sagte er mit spöttischer Arroganz in der Stimme.
 

„Es ist nicht zwingend notwendig. Nur lass Fujimiya außen vor“, sagte die Frau zögerlich.
 

„In drei Stunden.“ Er beendete die Verbindung und ließ das Pad neben sich auf das Bett fallen.

Es war nicht zwingend notwendig. Crawford ließ sich diesen Satz auf der Zunge zergehen und schloss daraus, dass es aber offensichtlich besser wäre, er würde es tun. Was Schuldig dazu sagen würde, war ihm klar.

Er rieb sich die Augen. Sie brannten leicht und er legte die Stirn auf seine Handflächen. Einige verschwenderische Minuten lang saß er so da und versuchte, die Informationen, die er erhalten hatte in Einklang zu bringen. Doch ihm fehlten ebenso viele, um das Rätsel zu lösen. Es waren Bruchstücke und die Visionen, die er hin und wieder hatte, waren nicht hilfreich, hinter dieses Wirrwarr zu kommen. Er brauchte handfeste Informationen, um Schlüsse ziehen zu können und verständlichere Visionen zu erhalten.

Er atmete tief ein, ließ seine Hände fallen und erhob sich. Er sah sich in dem kargen Raum um. Er hasste dieses Haus.
 

Zwar hatte er es sich nicht anmerken lassen, aber er wollte nicht an diesem Ort sein. Das Ryokan war ein besseres Versteck und er hatte es satt, wegzulaufen.

Er wandte sich zur Tür, öffnete sie und lauschte auf die Geräusche. Irgendwo unterhielten sich Fujimiya und seine Schwester, dazwischen hörte er das Kind quietschen. Brad seufzte.

Jetzt hatten sie also auch noch ein Kind am Bein. Er fühlte sich zurückversetzt in die Zeit, als er Nagi aufgenommen hatte. Nagi war damals so verängstigt gewesen und nur ihm hatte er gezeigt, dass Brad Crawford die Kälte und Härte als Schild der Welt vorhielt, um nicht von ihr gefressen zu werden. Der Junge hatte es ihm nachgetan. Er war der einzige gewesen, der Nagi damals Nähe geben konnte, einen Bezug zu seiner Umwelt. Das war lange her und erschien ihm jetzt wie ein anderes Leben. Aber etwas hatte sich nicht geändert: Er selbst war immer noch auf der Flucht. Solange er diese Fähigkeiten hatte und noch lebte, würde sich das nicht ändern.
 

Brad schlug den Weg zu ihrer Küche ein und ging die Stufen hinunter ins Erdgeschoss. Er traf Schuldig dort an, der sich kurz von seiner Tätigkeit am Herd löste und sich zu ihm umblickte.

Der temporäre Koch wischte sich die Hände an dem Spültuch ab, dass er sich über die Schulter geworfen hatte und stellte ihm ein Glas hin. Dann schenkte er ihm Wasser ein und schob es in seine Richtung. Schuldigs Blick war neutral, aber er erkannte die Neugierde in den blauen Augen. Brad ging hinüber zur Maschine, die ihm seinen geliebten Kaffee ausspucken würde und ließ sich von Schuldig eine Tasse reichen.
 

„Weswegen hast du den Doc damals gerettet?“ eröffnete dieser die hinter der Neugierde stehende Fragerunde, um die Brad wohl nicht herum kommen würde. Nicht, wenn er dem Treiben nicht ein striktes, befehlsgewohntes Ende setzte.

Aber sie waren ohnehin schon von so vielen Fallstricken umgeben, dass es töricht gewesen wäre, diejenigen, die sein Leben schützten, im Unklaren zu lassen. Er spürte, wie ihm die Macht über seine eigene Zukunft langsam abhanden kam. Niemals wieder würde er sie in die Hände von anderen legen. Diese Macht gehörte alleinig ihm. Die Macht über sich selbst, sein Handeln und vor allem seine Visionen einer möglichen Zukunft. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, gehörten nur ihm. Keinem anderen. Er würde sie verteidigen bis zu dem Punkt, an dem es nur eine Lösung gab: seinen Tod.
 

Brad nahm den Kaffee an sich und setzte sich. Er zog das Wasser zu sich heran und trank das Glas halb leer. Die in Blut getauchten, schwefelgelben Iriden, die nur mehr dunkel und weniger aus dem Rot herausstachen, fassten den Mann ins Auge, der ihm den Rücken zugedreht hatte und den Topf mit Miso beaufsichtigte.

„Eine Vision davon, dass er uns unterstützen würde.“
 

„Das ist alles?“
 

„Als ich ihn von den Sakurakawas freikaufte, hatte ich ständig diesen Mann in den Bildern vor Augen. Das Ganze zog sich über Wochen hin. Ich wäre dumm gewesen, es zu ignorieren.“
 

„Du hast ihn freigekauft?“ Schuldig schaltete die Hitze der Miso etwas herunter, bevor er sich zu ihm drehte und sich an die Anrichte lehnte. Er stützte sich mit den Händen nach hinten ab und legte den Kopf schief. Schuldig war ruhig, wie das Blau seiner Augen bewies und sein Gesicht wirkte entspannt.

„Ich gab ihm das Geld und ein Versteck. Eine Möglichkeit, dem nachzugehen, was seine Berufung war und er nahm es an.“
 

„Was weißt du von ihm?“
 

„Er ist das Oberhaupt der Kawamoris, dem Teil der Sakurakawa-Gruppe, der ihnen in früheren Zeiten ihre Kampfkraft stellte. Er stammt direkt aus der Linie der Kawamoris um Sakura Kawamori ab. Sie half damals die PSI von Strigo zu schützen.

Aus ihnen entstammen die besten Kämpfer der Gruppe. Ob das allerdings immer noch der Fall ist, wage ich zu bezweifeln. Dass SIN daraus hervorgehen könnten war mir bis zuletzt nicht ganz klar, vor allem das ‚Warum’ störte mich etwas. Die Gruppe hatte in der Vergangenheit keine Ambitionen, eine Spezialeinheit zu bilden, um Schwarz zu jagen. Es erschien mir absurd.“
 

„Ich habe im Oberstübchen von unserer Super-Nervensäge Hidaka einiges gefunden, was das aber bestätigt. Er hat sich mit deiner Schwester und Manx getroffen, die ihm die alte Story von Olof und SZ erzählten.“
 

„Du meinst die alte Geschichte um die... Guards?“ Brad hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.

Schuldig nickte aber.

„Richtig, diese Story. Darin geht es um die ehrenwerte Aufgabe, PSI zu schützen. Was die neue Führung der Gruppe offensichtlich allzu ernst genommen hat. Aus der guten Sache verirrte PSI zur Vernunft zu bringen wurde über die Jahre eine Jagd auf alle PSI. Irgendwie bastelten sie dann SIN daraus. Überaus effektiv, da sie für uns schwer zu entdecken sind.“
 

Brad knurrte. „Könnte hinhauen.“
 

„Hat es“, erwiderte Schuldig und sah zur Tür. Brad wandte den Blick und sah seine Schwester reinkommen. Sie trug keine Handschuhe. Ihr Blick lag sorgenvoll auf ihm, doch sie ging nicht zu ihm, sondern blieb am Tisch stehen.
 

„Ich habe einen Teil eures Gesprächs mitbekommen“, gestand sie. Sie hatte ihre Haare zu einem Zopf im Nacken gebunden was ihr Gesicht besser zur Geltung brachte.
 

„Ich weiß nicht, wie sich die Dinge noch entwickeln werden und deshalb muss ich euch einiges erzählen...“
 

„Willst du zurück?“ unterbrach Brad sie und sie wandte den Blick für einen Moment auf ihre Hände, die auf dem Tisch lagen. Konnte sie es denn? Wollte sie es?

Sie schüttelte den Kopf.

„Du weißt, was ich will“, sagte sie dann langsam und hob den Blick, um in seine Augen zu sehen.
 

„Das klappt nie, Eve“, sagte er nachdenklich. Hatte sie seine Taktik durchschaut? Sie zurückzulassen, um sie zu retten? Vor dem, was ihn sein Leben lang verfolgen würde? Er sah sie für lange Momente an.
 

Sie holte tief Luft und hob die Hand, wie um seine weiteren Gedanken zu stoppen.

„Längst tobt ein weltweiter Krieg zwischen Rosenkreuz und den versprengten Gruppen von Olof-Anhängern. Die Spezialeinheit hat mich hierher entsandt, um mit Kritiker an einer Lösung des Problems zu arbeiten. Ich soll die Schnittstellte zwischen den Staaten und Kritiker bilden. Dass Kritiker nur mehr ein kleiner Haufen ist, war uns nicht bekannt. Sie entsandten mich, um euch ins Boot zu holen.“
 

„Ein Krieg?“ flüsterte Schuldig völlig irritiert.
 

„Warum glaubst du, entsenden sie mich, um mit Kritiker zu verhandeln? Ich bin im Außendienst nur selten tätig. Zumindest nicht auf diese Art.“ Sie trommelte einmal kurz mit ihren Fingern auf dem Tisch herum.
 

„Rosenkreuz konvertiert die Olof PSI massenweise. Es ist eine Jagd entbrannt und die Olof-Anhänger haben keine Chance. Ich selbst bin nie konvertiert worden, weil die ‚Familie’ mich beschützte. Meine Fähigkeiten sind subtiler und vielschichtiger als eure. Da ich nicht gezielt auf eine Fähigkeit trainiert wurde, haben sich bei mir auch latente, empathische Fähigkeiten gebildet...“
 

Während Eve weiter darüber sprach, welche Auswirkungen das auf ihre Arbeit hatte, sahen sich Brad und Schuldig an.
 

Schuldigs Atmung war schneller geworden und er verlor sich in den Augen, die ihn zu durchleuchten schienen. Er selbst hatte in Osaka bereits eine Kostprobe von empathischen Fähigkeiten erhalten. Sie hatten also tatsächlich mit dem Tod von SZ ein Stückchen ihres früheren Ichs zurück erhalten? Entwickelte er sich weiter? Heilte der Teil seiner Seele, den sie bei SZ einst in Stücke zerhackten?

Er schluckte, um den Kloß in seiner Kehle hinunterzuwürgen.

Langsam drehte er sich um und holte einen Deckel aus einem unteren Schrank, um ihn auf den Topf zu legen. Seine Hände zitterten wie Espenlaub.
 

„Wo ist Ran?“ fragte Brad, als seine Schwester eine Redepause einlegte.
 

„Oben. Er sieht sich mit dem Mädchen eine Kindersendung an, die sie regelmäßig ansieht. Ich habe ihm das alles bereits erzählt. Er bat mich, es euch zu sagen.“

Sie sah einen Moment zu Schuldig und setzte sich dann neben ihren Bruder.

„Ihr habt die Konvertierung gebrochen?“ schickte sie ins Blaue.
 

„Ja, das haben wir, teilweise“, sagte Brad und trank einen Schluck Kaffee.
 

„Und euch dann abgesetzt, damit ihr nicht erneut in die Spielchen um die Machtansprüche im Orden geratet?“
 

Brad nickte. „Wir hatten alle keine Lust darauf, erneut an die Kette gelegt zu werden.“
 

Eve kaute auf ihrer Unterlippe herum, eine Unart, die Brad ein Schmunzeln entlockte. Das hatte sie in seiner Erinnerung immer dann getan, wenn sie nachdachte.

„An die Kette gelegt? Aber Brad... deine Ansprüche auf die Führung des Ordens wären legitim gewesen...“
 

„Und was ist diese Führung anderes, als eine nette, hübsch anzuschauende Kette?“ erwiderte er milde. „Nein, Eve. Freiheit sieht anders aus.“
 

Sie zuckte fast zusammen bei diesem Wort. „Ich...“ fing sie an, wusste aber nicht, wie es weitergehen sollte, also verstummte sie.
 

„Wir sind alle Gefangene, aber wir sollten selbst entscheiden, von wem oder was wir uns einfangen lassen, Eve.“
 

„Es gibt also wieder eine Dreierspitze im Orden?“ klinkte sich Schuldig wieder mit gefasster Stimme ins Gespräch.
 

„Ja. Somi, De la Croix und eine Frau - Tristian. Allerdings herrscht nicht die gleiche universelle Einigkeit wie bei dem alten Dreiergespann. Sie kämpfen um Macht und Einfluss und das nicht nur innerhalb des Ordens. Eine Spaltung zeichnet sich ab. Und sie haben ihre Hände bereits nach Japan ausgestreckt.“
 

„De la Croix?“ spie Schuldig voller Abscheu aus und seine Augen wurden dunkel vor Zorn. Er hatte noch eine alte Rechnung mit dem Mann offen. Das Problem war, dass er genauso viel Angst vor ihm hatte, wie er Hass auf ihn in sich trug.

Er hatte die Vergangenheit begraben wollen und er fürchtete sich davor, dass sie ihn jetzt einholte. Rosenkreuz, De la Croix... es würde niemals enden, solange sie lebten. Es würde nie aufhören. Die Jahre, in denen sie sich versteckt hatten, waren die guten Jahre in seinem Leben gewesen. Und jetzt begann die ganze Scheiße wieder von vorne. Selbst die Zeit, als sie Takatori beaufsichtigt hatten, war besser gewesen als das Training bei De la Croix.
 

Eve sah ihren Bruder fragend an.
 

„De la Croix war sein Trainer bei SZ gewesen. Er hat ihn damals konvertiert, das was ihn ausmachte aus ihm gezogen und es vernichtet. Wir entwickelten eine Art Abhängigkeit zu unseren Trainern.“
 

„Als ich damals nach Japan versetzt wurde, war es die Hölle für mich von ihm weg zu müssen. Aber als ich aus seinem Einfluss getreten bin und hier ankam, war es, als könne ich wieder frei atmen. Ich wäre für keinen Preis der Welt wieder zurückgegangen.“
 

„Ich weiß“, sagte Brad schlicht. Und hinter diesem Grund lag damals das ganze Problem. Schuldig hat sich Kitamura unterworfen, weil er nicht zurück wollte zu De la croix. Die Wahl zwischen Pest und Cholera machte eine Entscheidung meist nicht leicht oder all zu einfach.
 

„Warum nach Japan?“
 

„Ich bin mittlerweile zum Schluss gekommen, dass die Sakurakawas eine Bedrohung darstellen und sie diese vernichten wollen. Sie haben in den Staaten großen Einfluss und liefern sich ständig Kämpfe mit den Rosenkreuzern, dabei geraten Nicht-Konvertierte wie ich ständig zwischen die Fronten und werden niedergemetzelt oder eingefangen wie Wildtiere, die es zu zähmen gilt. Außerdem gibt es noch eine Bedrohung, derer sie habhaft werden wollen.“ Sie sah ihren Bruder an. Er war die Bedrohung.
 

Brad lachte zynisch auf. „Ein logischer Schluss.“
 

Schuldig sah ihn an und er spürte diesen stechenden Blick bis ins Mark.

„Du wirst uns nicht los, Brad. Überleg dir gar nicht erst, wie du den Märtyrer spielen sollst“, sagte Schuldig fiel zu ruhig für seinen Geschmack. Brad sah auf und begegnete dem intensiven Blick aus grünen Augen mit kalter Arroganz.

„Ich weiß Schuldig, dass du mich eher fesseln und in einen Raum sperren würdest, als zuzulassen, dass ich mich als Geschenk dem Orden präsentiere. Aber du kannst versichert sein, dass ich darauf vertraue, dass du es tun wirst. Ich habe nicht vor, freiwillig dem Orden beizutreten, eher vernichte ich ihn.“ Oder sich selbst. Das war eine logische Möglichkeit, die er in Betracht zog.
 

Schuldig nickte beruhigt. Brad hätte das nicht gesagt, wenn er es nicht so meinen würde. Er vertraute ihm in dieser Hinsicht, denn dazu hatten sie zu viel bei SZ erlebt, um noch einmal freiwillig Sklaven dieser Herren zu werden.
 

„Das heißt also, dass du hier bleiben wirst?“ entnahm Brad den vorangegangen Worten seiner Schwester.
 

„Ich denke, dass der CIA großes Interesse daran hat, mich mit einem Bein in der Tür zu wissen, sozusagen“, sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin ihnen wichtig genug, schätze ich.“
 

„Schätzt du?“ hakte Brad nach und verzog die Mundwinkel zu einem zynischen Lächeln.
 

„Mehr kann ich mir nicht leisten, fürchte ich.“
 

„Zurück zum Doc, Brad“, schwenkte Schuldig wieder zu ihrem ursprünglichen Thema.
 

„Was gibt es da noch zu sagen?“
 

„Einiges.“ Schuldig seufzte. „Ich habe die Aussagen überprüft – Kudou hat mich nach der Aktion in der Klink darum gebeten – und bin dabei auf ein paar nette Informationen gestoßen, die dich sicher nicht erfreuen, soviel sei dir versichert.“
 

„Ich habe dir ausdrücklich verboten, das zu tun“, Brad sagte das mit der fehlenden Schärfe, was Schuldig verunsicherte. Wusste Brad das vom Doc?
 

„Warum?“
 

„Es war Teil des Deals mit ihm.“
 

Seit wann hielt sich Brad an so etwas? Schuldig zog eine skeptische Miene. „Super Brad, gerade in diesem Punkt hättest du die Ehre Ehre sein lassen können.“
 

Brad runzelte die Stirn.
 

„Der gute Doc ist der Vater von unserem liebreizenden Asugawa.“ So, die Bombe war hochgegangen.

Eve sah zu ihrem Bruder und fühlte das Entsetzen in sich hochsteigen. Gott, dieser Mann, über den die beiden sprachen, war was? Sie wusste jetzt nicht mehr, ob sie Brad alles erzählen sollte oder nicht. Wenn dieser Doc, von dem die beiden gesprochen hatten, ein Kawamori war, dann Asugawa ebenfalls. Was das Gespräch mit Manx im Wald in ein verständlicheres Licht rückte. Asugawa war ein Guardian. Und das schon seit langer Zeit. Ihre Gedanken gingen zu dem Gespräch zurück...
 

„Er ist ... was?“ wisperte Brad mit rauer Stimme. Er starrte auf das Wasserglas und sah dann nach endlosen Minuten zu Schuldig auf.
 

„Sein Vater. Wie wir wissen, gehört der Bursche zu SIN und er war auch der Grund, weswegen der Doc bei den Sakurakawas in Ungnade gefallen ist. Er hat ihnen seinen Sohn überlassen und warum auch immer wollte er ihn dann zurück. Was natürlich der Familie nicht geschmeckt hat. Zu dem Zeitpunkt bist du wohl auf den Plan gerückt und hast ihn ihnen vor der Nase weggeschnappt.
 

Brad fühlte sich wie erschlagen. Wieso hatte er das nicht gesehen? Es war wohl wichtig gewesen, diesem Mann einen sicheren Hafen zu bieten, aber...
 

„Auf welcher Seite steht er?“
 

„Die Sakurakawas haben ihn wohl gefunden und einige der Helfer dort waren Mitglieder der Familie. Ihm kamen Jei und Kudou ganz recht, um sie zu beseitigen.“
 

„Die Möglichkeit hatte er bereits früher, also warum jetzt?“
 

Schuldig zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich. So tief habe ich nicht geforscht. Die Situation wurde kurz etwas... unentspannt“, sagte er und zog ein leidiges Gesicht. „Könnte sein, dass ich kurz ausgerastet bin. Ich war müde“, versuchte er sich an einer Begründung. Irgendwie klang sie selbst in seinen Ohren etwas zu lahm.
 

In Brads Ohren klang sie jedoch gar nicht lahm. Er akzeptierte sie, denn für Schuldig waren die letzten Stunden anstrengend gewesen, die Ruhephasen kurz und die Stabilisierung von Nagis Zustand hatte an seinen Kräften gezehrt.
 

„Irgendetwas muss ihn dazu veranlasst haben.“
 

„Sein Sohn vielleicht?“, wandte Eve ein und beide sahen sie an.
 

Schuldig schnaubte. „Klar, dieser kleine Wichser. Wenn ich den in die Finger kriege...“
 

Brad räusperte sich und griff nach seinem Wasserglas. Er leerte es in einem Zug, denn er hatte einen extrem schalen Geschmack auf der Zunge. Er wollte etwas sagen, als Eve ihm dazwischenging. „Warte... ich... ich muss dir zuvor etwas erzählen.“
 

„Asugawa hat die Finger überall drin, er könnte leicht...“ fing Eve an und während Schuldig und sie sowohl für als auch gegen Asugawa Beweggründe lamentierten, brachte dieser Satz erneut ungewollt Bilder in Brad nach oben, die ihm lieber erspart geblieben wären. Wie lebendig tauchte dieser geschmeidige Körper vor seinem inneren Auge auf. Die ungeschützte Leidenschaft in dessen Gesicht, die Sehnsucht in diesen braunen Augen. Wie konnte dieser Mann nur so hingebungsvoll und voller Vertrauen in seinen Armen gelegen haben und ihn im Gegenzug...

Er schnitt weitere Gedanken in diese Richtung rigoros ab.

„Seid still“, sagte er leise und der eisige Tonfall bescherte ihm sofort Schweigen von beiden Seiten her.

„Das bringt uns nicht weiter.“
 

Er wandte sich Eve zu und wartete.
 

„Vertraust du mir?“ fragte sie und hielt unbewusst die Luft an. Sie sah ihren Bruder so dringlich an, dass sie das Gefühl hatte, seine Antwort würde sie in den nächsten Sekunden zerplatzen lassen.
 

„Wenn meine Schwester zu mir spricht, tue ich das. Der Agentin jedoch traue ich keinen noch so kleinen Jota.“

Sie starrte ihn an und atmete leise aus. „Eve komm zur Sache, ich habe später noch ein Treffen.“
 

„Mit wem?“ fragte Schuldig misstrauisch.
 

„Manx.“
 

„Sie wollte sich mit uns allen treffen nach der Nacht.“
 

„Ich würde davon vielleicht absehen...“ bemerkte seine Schwester und Brad hob die Brauen.
 

„Ehm... sie...“ dann überlegte sie es sich anders. „Von Anfang an...“
 


 


 

Fortsetzung folgt…
 

Vielen Dank für’s Lesen.

Mein Dank für die Korrektur geht wie stets an snabel! ^__^
 

Bis zum nächsten Mal!
 

Gadreel

Ein Leben für ein Leben

Jetzt wurde es interessant, dachte sich Schuldig und sah von Brad zu Eve. Die Frau wusste so einiges wie ihm schien. Und ihm wurde jetzt auch klar, warum er sie zuvor nur in Teilbereichen lesen konnte – ihre Schilde waren als PSI zu stark und sie hatte ihn stets nur das lesen lassen, was ihr passend schien, um den Schein zu wahren. Ein anerkennendes, schmales Lächeln breitete sich auf seinen Gesichtszügen aus.

Wenn er nicht bereits vergeben wäre, würde er sich an Eve ranwerfen – der weiblichen Ausgabe von Brad... nur so zum Spaß, schränkte er ein, als er den lauernden und warnenden Blick von Brad gewahr wurde, der wohl seinem eigenen verräterischen Lächeln geschuldet war.

Denk nicht mal dran, besagte dieser Blick.

Er stellte es sofort ein und erwiderte stumm mit fragend gelupften Augenbrauen in etwa: jetzt schau nicht so, sie ist halt zum Anbeißen!
 

„Ich... ich kenne Asugawa.“ Bevor einer der beiden Männer etwas sagen konnte, hob sie die Hand. Schuldig war noch geistig mit seiner nonverbalen Unterhaltung beschäftigt, als ihn diese Meldung einholte und aufgrund ihrer Brisanz wieder zum Thema zurück brachte.

„Lasst mich zu Ende erzählen. Kennen ist vielleicht zu viel gesagt, ich bin ihm ein paar Mal begegnet und es war bis heute immer eine unangenehme Begegnung, das kann ich euch sagen.“
 

„Bei dem Typen nicht verwunderlich“, sagte Schuldig großspurig und dachte danach daran, dass sicher viele Leute – sofern sie sich an eine Begegnung mit ihm selbst erinnern konnten – wohl das gleiche sagen mochten.
 

„Erinnerst du dich an das Schulfest, nachdem du eine Lebensmittelvergiftung hattest und ins Krankenhaus musstest?“
 

„Das war... wie alt war ich da... fünfzehn?“ fragte Brad, nicht ahnend, worauf sie hinaus wollte.
 

Eve fühlte die Aufregung in sich und schluckte. Sie stand auf und ging nervös auf und ab. Ab und an warf sie Brad und Schuldig einen verunsicherten Blick zu. Für Letzteren schien eine kleine Ewigkeit zu vergehen, bis sie weitersprach.

„Es war keine... also keine Lebensmittelvergiftung.“
 

Brad seufzte und drehte sich auf seinem Stuhl, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. Er hatte die Beine vom Barhocker gespreizt abgestellt und die Hände locker auf den Oberschenkeln liegen. „Das dachte ich mir damals, Eve.“
 

„Du hast nie etwas gesagt...“, Eve sah ihn an. Sie fühlte die Nervosität in sich wie etwas Lebendiges, dass unter ihrer Haut entlang kroch. Brad war ihr nicht mehr so vertraut wie früher. Vieles trennte sie und sie wollte die verlorenen Jahre aufholen – ungeschehen konnte sie sie nicht mehr machen.
 

„Diese Art Anschlag war damals an der Tagesordnung gewesen. Ich wollte dich nicht beunruhigen, aber ich bin erst im Krankenhaus darauf gekommen, als die Ärzte immer ratloser wurden und ich plötzlich und unerwartet geheilt war.“
 

„Ich kam an diesem Abend erst sehr spät nach Hause, weil ich im Komitee dafür zuständig war, nach dem Schulfest aufzuräumen. Es war schon weit nach Mitternacht und Samy... erinnerst du dich an ihn? Er war der Boss der Sicherheit, die das Haus bewachte, meinte, du hättest dich hingelegt weil dir nicht gut war. Er hatte nach dir gesehen, du hättest ihm aber gesagt, es sei alles in Ordnung und ihn beruhigt.

Ich bin also rein ins Haus und zu dir hoch. Ich habe das Nachtlicht bei dir brennen sehen und wollte dich zunächst nicht stören, also bin ich runter und hab dir einen Tee gemacht. Dann bin ich wieder hoch und habe leise angeklopft. Als keine Antwort kam bin ich rein und sehe da dieses Kind sitzen.“
 

Schuldig keuchte und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Er wollte das jetzt nicht hören. Das war absurd. Er sah Brads Profil an, der wie versteinert dort saß.
 

„Zunächst wusste ich nicht, ob es Junge oder Mädchen war, das dort saß und konnte die Szene nicht gleich einordnen. Das Rätselraten hatte sich aber bald verflüchtigt. Es war ein Junge. Er saß oberhalb deines Kopfes an die Wand gelehnt und hatte eine Hand auf deinen Kopf gelegt. Er strich dir darüber und las in einem Buch. Es war so surreal.

Ich fragte, wie er reingekommen und ob er ein Freund von dir sei. Samy allerdings hatte von einem Gast nichts erwähnt und das alarmierte mich. Auch die Waffe, die auf mich gerichtet war und die ich zu spät erkannte, sagte mir, dass das kein Freund war.
 

Er begrüßte mich freundlich und sagte, ich solle die Tür schließen. Ich tat es und hatte Todesangst. Er war so ruhig. Das war gespenstisch und jagte mir eine höllische Angst ein. Ich dachte, du bist tot.
 

Ich wollte etwas sagen, doch der Junge schüttelte nur den Kopf und zeigte mit der Waffe auf deinen Sessel. Ich setzte mich und starrte immer wieder auf dich. Du lagst auf dem Bauch und ich konnte dein abgewandtes Gesicht nicht sehen.“
 

Sie blinzelte Tränen weg und wischte sich unwirsch über die Augen. Es war, als wäre es erst heute Nacht gewesen.
 

„Er sagte, dass du nicht tot seist aber bald und er mir Gelegenheit geben wollte, um mich zu verabschieden. Das war so unbegreiflich, dass ich vor lauter Panik laut auflachte. Ich fragte ihn, ob er verrückt sei und was das sollte. Wenn er ein Killer war - und das war offensichtlich - dann solle er mit diesen grausamen Spielchen aufhören und uns erledigen. Ich beschimpfte ihn und zählte die letzten Attentate auf, die auf dich verübt worden waren und fragte ihn, ob einer seiner Auftraggeber dafür verantwortlich waren und ob sie jetzt Kinder dafür einsetzten, um dich zu töten – ein Kind. Er sah mich nur an, mit diesen geweiteten Augen, so als würde er mich jetzt erst wahrnehmen. So hübsch, mit diesen asiatischen Gesichtszügen und den großen Augen, dabei aber so kalt und nüchtern. Er machte mir damals Angst und tut es heute noch.

Dann plötzlich, noch während ich auf ihn einschimpfte, fragte er mich ob das deine Bücher wären, die dort im Regal standen. Er deutete auf deine Tagebücher.

Er sah zu den Regalreihen und ich dachte, ich könnte mich auf ihn werfen oder irgendetwas tun, als er ohne hinzusehen die Waffe hob und entsicherte. Er sah mich nicht mal an dabei, als er mich warnte und mich bat, mich wieder zu setzen. Er hatte den Blick immer noch auf deine Tagebücher gerichtet. Das war, als wäre er ein eiskalter Killer, der... naja, er war ein Kind. Ich verstehe es bis heute nicht...“
 

Eve schüttelte den Kopf.
 

Brad und Schuldig hörten schweigend zu. Aber in Brad stoben Funken der Wut auf, die Nahrung suchten. Er hatte den absurden Gedanken, dass er niemandem seine Tagebücher zu lesen erlaubt hätte. Bevor er gegangen war, hatte er sie verbrannt. Und dieser Bastard hatte sie in seinen Fingern gehabt? Seine neugierigen Augen darüber wandern lassen? Er wusste Dinge von ihm, die er nie jemandem anvertraut hatte? Natürlich waren es Probleme, die Kinder und Jugendliche so hatten – hauptsächlich Dinge über seine langsam erwachenden Fähigkeiten. Daraus resultierende alltägliche Probleme mit seiner Umwelt. Wie sie ihn oft für geistig gestört gehalten hatten, seine Blackouts dann mit einer organischen cerebralen Erkrankung erklärten. Trotzdem hatte er Freunde.
 

„Ich beantwortete ihm all seine Fragen zu dir. Seine rechte Hand hatte er wieder auf deinem Kopf abgelegt. Hin und wieder fuhren die Finger zu deinem Hals, als würden sie fühlen wollen, ob du noch lebst. Es machte mich halb wahnsinnig, ihn das tun zu sehen. Er wollte alles über dein Leben wissen und über deine Fähigkeiten. Während ich erzählte, sicherte er die Waffe wieder, hielt sie aber immer noch über eines deiner Tagebücher auf mich gerichtet.

Ich wusste nicht, wann das war, aber irgendwann nahm er die Hand von dir, rutschte flink vom Bett und warf mir das Tagebuch zu.

‚Ich muss eine Entscheidung fällen’, sagte er. ‚Das Leben deines Bruders bedeutet dir sehr viel und deshalb wirst du sicher ein wenig Geduld dafür aufbringen.’

Er sprach in Rätseln für mich.

Ich saß in meinem Sessel und sah dieses Kind an, das mit der Waffe dort stand und sich gebärdete wie ein Erwachsener.

‚Ich werde gehen und in ein paar Stunden wieder zurück sein. Das Gift in dem Muffin – den ich übrigens selbst gebacken habe – wirkt langsam. Du hast also Zeit, um dir zu überlegen, ob er leben oder sterben soll.’
 

‚Er soll leben’, sagte ich ihm hastig und ohne nachzudenken und er nickte. ‚Sicher soll er das’, sagte er nachdenklich, ‚deshalb wirst du auf mich warten. Wenn ich zurückkehre wird er leben. Wenn du vergebens wartest oder jemandem von dem, was hier passiert ist, erzählst, wird er sterben.’
 

Er löschte das Licht und öffnete ein Fenster. Dann war er weg. Für Stunden. Die längsten Stunden meines Lebens, Brad. Ich dachte, ich würde dich verlieren, du warst so blass und schweißgebadet. Ich hab versucht, deinen Körper zu kühlen und ich war mittlerweile der Verzweiflung nahe. Ich wusste nicht, ob dieser Junge zurückkehrt oder nicht und ob ich Sam was sagen sollte oder nicht. Dein Leben hing davon ab und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Dann irgendwann war er wieder da, so lautlos und still wie er gegangen war. Er kam zu mir und bedeutete, dass ich Platz an deinem Bett machen sollte.

Er stand vor mir und sah zu mir auf.
 

‚Ein Leben für ein Leben, Eve Crawford. Seines für deines. Bist du bereit dafür?’
 

Ich sah ihn voller Entsetzen an, aber mir war zu dem Zeitpunkt vieles egal. Ich hatte so schreckliche Angst davor, dich sterben zu sehen.

Ich stotterte irgendetwas vor mich hin, fragte ihn, ober er mich gleich töten würde.

Er schüttelte langsam den Kopf.

‚Nein’, sagte er. ‚Irgendwann, wenn es nützt, nicht jetzt. Irgendwann werde ich zu dir kommen und du wirst deine Schuld einlösen.’

Eine Schuld? Wofür... dass er dich in die Nähe des Todes brachte und dann rettete?

Er staute eine Vene, zog eine Spritze samt Kanüle hervor und spritzte dir irgendetwas. Ich stand da und sah ihm tatenlos dabei zu. Ich war wie gelähmt. Seine Hände waren ruhig, arbeiteten mit einer Präzision, die ich einem Kind bei einer solchen Tätigkeit nie zugetraut hätte, während ich am ganzen Leib zitterte.
 

Dann erhob er sich und ging zum Fenster.

‚Ich werde ihn beschützen, Eve. Ich habe ihn mir ausgesucht und werde meine Aufgabe erfüllen.’ Er verneigte sich und weg war er.“
 

Eve verstummte und hatte die Arme vor sich verschränkt. Sie sah zum Fenster hinaus.
 

In Brad war eine entsetzliche Kälte aufgestiegen. Er konnte nichts sagen. Warum sie ihm nichts davon erzählt hatte lag auf der Hand. Er wäre wütend geworden so wie jetzt. Er hätte sich gesorgt um seine Schwester so wie jetzt. Sie hatten sich oft in dieser Zeit gestritten und dann war er gegangen. Er hatte beschlossen, dass sie ohne ihn besser dran wäre. Die Attentate hatten stets ihm gegolten und sie wäre nur ein nüchterner Kollateralschaden gewesen. Er wollte ihr das nicht mehr aufbürden und wollte sie in Sicherheit wissen.
 

„Dann Jahre später habe ich ihn erneut gesehen. Immer wenn ich dir zu nahe gekommen bin auf meiner Jagd nach dir funkte er mir dazwischen. Zwei Mal bekam ich Besuch von ihm. Er drohte mir zwar nicht, ‚riet’ mir aber, dich in Frieden zu lassen... zu meiner eigenen Sicherheit. Du würdest dich mit Menschen umgeben, die mir schaden würden, das könne er nicht verantworten. Vermutlich meinte er SZ. Er befürchtete wohl, ich würde in ihre Fänge geraten.“
 

Sie lachte laut auf. „Er war damals älter, so um die zwanzig, und dann noch einmal ein paar Jahre später. Ich dachte, die Sache wäre damals abgehakt gewesen. Aber nein, er war immer bestens über deine Aktivitäten informiert.
 

Brad stand auf. „Du hättest es mir erzählen müssen“, sagte er und starrte blind vor eisiger Wut ihren Rücken an. Sie nickte und er nahm dieses Nicken mit auf seinem Weg nach draußen. Er musste Abstand zu dem gewinnen, was Eve ihm erzählt hatte.

Er ging durch den Wohnraum, den sie zum Besprechungsraum umfunktioniert hatten, öffnete die Tür zur Holzterrasse und setzte sich hin. Er lehnte sich an die Stützbalken der Überdachung und starrte in den Kies.

Wieso hatte er ihn all die Jahre nicht gesehen? Keine Vision, kein gar nichts. Wer war dieser Schatten, der ihn offensichtlich stets begleitet hatte? Wenn es denn so war. Was war noch echt? Was Trugbild?

Und was hatte Asugawa dazu bewegt, sich ihm zu nähern? Sein Tod offensichtlich nicht. Die Entlarvung, als Eve befreit wurde – von ihm befreit wurde – war so nicht geplant gewesen, das war ihm klar. Er hatte das nicht offenbaren wollen. Er versuchte, das Kind mit dem Ninjutsu und dem Mann in seinen Armen in Einklang zu bringen, schaffte es aber nicht. Das waren drei verschiedene Gestalten. Und es waren noch so viele andere...
 

Sein Gesicht verhärtete sich. Er würde ihn jagen und finden und dann das vollenden, was dieser Killer nicht geschafft hat. Er würde ihn töten. Er brauchte keinen Schatten in seinem Leben, davon hatte er genug. Und er würde sich nie wieder an eine Kette legen lassen. Er würde diese unsichtbare Kette zerschlagen in tausend Glieder.
 


 

o
 


 

Schuldig sah Brad hinterher. Keiner von ihnen rührte sich, um ihm zu folgen. Dass einer ihrer Gegenspieler derart nahe an sie herangekommen war und das zu einer Zeit, in derkeiner von ihnen auch nur etwas geahnt hatte... war furchteinflößend. Es war persönlich. Ein persönlicher Angriff auf Brad. Keiner der Angriffe zuvor hatte diese persönliche Note besessen, wie die bloße Existenz dieses Mannes – Asugawa. Oder wie auch immer er heißen mochte. Sie konnten sich kaum vorstellen, was in Brad vorgehen mochte.
 

Eve dachte daran, dass Brad ihr und Fujimiya erzählt hatte, dass er mit Asugawa geschlafen hatte. Sie konnte sich nicht ausmalen, was er jetzt fühlte. Sie schwiegen für ein Weilchen, es war auch nicht nötig, etwas zu sagen.
 

„Habt ihr Alkohol hier?“ fragte Eve leise an Schuldig gewandt. Dieser ging zu einem Hängeschrank, zog Whiskey und drei Gläser hervor und füllte diese zu einem Drittel. Eines davon reichte er Eve. Mit den beiden anderen ging er Brad nach. Er fand ihn auf der Veranda.

Er brachte das Glas in das Blickfeld des Amerikaners, der es ohne aufzusehen annahm. Schuldig setzte sich ihm gegenüber.
 

Sie sprachen lange nichts und er sah, wie Ran mit dem Mädchen kurz zu ihnen ins Besprechungszimmer kam. Die Türen zur Terrasse standen weit offen und er lächelte seinen Freund an, winkte dem Mädchen, dass schüchtern und verschämt zurück winkte. Ran sah kurz zu Brad und führte das Mädchen dann in die Küche. „Kommt ihr zum Essen?“
 

„Später, Ran. Fangt schon mal an. Eve hat sicher auch Hunger“, schickte er zurück und hob das Glas an. „Wir sind momentan versorgt.“ Er grinste schief. Aber Ran sah ihn nur ernst an bevor er sich endgültig abwandte.

Sie saßen noch lange so da. Es war heiß, aber die Veranda spendete ihnen Schatten. Brad legte den Kopf in den Nacken und hatte die Augen geschlossen.

„Ich habe mit ihm geschlafen, Schuldig.“
 

Schuldig hatte gerade einen Schluck genommen und musste sich zwingen, den Alkohol in die richtige Richtung zu bringen. Dabei war ihm noch nicht klar, wohin es gehen sollte: raus und wenn raus, dann über die Nase oder den Mund? Runter und wenn runter, in welche Röhre?

„Was?“ krächzte er und sah Brad verständnislos an. Der öffnete die Augen, sah ihn mit diesem stechenden schwefelgelben Blick für einen Moment an.

Er stellte sein unberührtes Glas ab und wandte sich dann seitlich so, dass Schuldig nur sein Profil sehen konnte.

„Sind wir schon soweit gekommen, dass du mir Dinge verschweigst, die derartige Brisanz haben? Wir versuchen seit Wochen herauszufinden, wer SIN sind und...“
 

„Ich wusste es nicht“, fiel ihm Brad leise dazwischen.
 

Schuldig verstand wirklich wenig davon, was Brad ihm da sagte. Also mit seinem Gehör war alles in Ordnung, nur sein Verstand blockierte.
 

„Du warst gerade aus China zurück und hast dich mit Fujiimya davon gestohlen...ich...“
 

„Dann ist es jetzt meine Schuld?“ fragte Schuldig verbittert und stürzte den Rest Alkohol hinunter. Er wollte wütend aufstehen.

„Setz dich und hör mir zu“, befahl Brad und Schuldig schmälerte seinen Blick. Er blieb aber wo er war.
 

„Es ist nicht deine Schuld. Du warst für mich noch nicht greifbar. Ich dachte, ich hätte versagt, dich verloren. Dein Wiederauftauchen war für mich noch nicht real. Ich war wütend und verletzt, dass du dich lieber an diesen Weiß hängst als an mich. Ich erledigte einen Auftrag, der noch ausstand und traf mich mit einem Informanten im Icebreak. Dort bin ich ihm und den Kindern begegnet. Einem Jungen und dem Mädchen. Er hat sie beaufsichtigt. Am Abend habe ich mich mit ihm verabredet und wir waren die ganze Nacht zusammen. Er stellte sich als Finn Kimura vor. Es war eine Nacht, mehr nicht.“
 

Schuldig musste diese nüchterne Beichte erst verdauen und die Eifersucht, die er in sich fühlte, machte die Verdauung dessen nicht besser.

„War es wenigstens befriedigend gewesen?“ ätzte er. Er hatte das dringende Bedürfnis ihn, dafür eine Weile auf die Nerven zu gehen, aber der niedergeschlagene Ausdruck in der ganzen Gestalt, die ihm stets Stärke und Halt vermittelt hatte, ließ ihn davon Abstand nehmen. Schuldig hatte sich verändert. Früher hätte ihn das kaum davon abgehalten, Brad verbal anzugehen. Aber auch die zur Abwechslung einmal offene Art, wie sich Brad hier präsentierte, hielt ihn davon ab – zugegeben. Es war zu selten, um es zu zerstören.
 

„Spielt das irgendeine Rolle, Schuldig?“ fragte Brad und wandte ihm sein Gesicht zu. Es sah müde und so verletzlich aus, dass Schuldigs Zorn zu einem weiteren Stück verrauchte. Er sank in sich zusammen und seufzte.

„Wohl nicht“, brummte er und verzog das Gesicht gequält. Scheiße. Brad hatte Asugawa gefickt. Das wollte ihm irgendwie nicht ins Hirn sickern. Wohl eher hatte Asugawa sie alle gefickt, mehrfach, immer wieder, wohl schon seit Jahren.

Er würde ihn umbringen, sobald er ihn in den Fingern hatte.
 

Sie schwiegen wieder.
 

„Aber was soll das alles? Er will dich töten. Dann wieder nicht. Und das zieht sich offenbar durch die letzten Jahre. Vorausgesetzt wir glauben, was deine Schwester uns erzählt.“
 

„Was hätte sie davon, uns etwas derartig Abstruses zu erzählen?“
 

„Außer, dass wir Asugawa mehr hassen als zuvor, was kaum vorstellbar ist.“ Schuldig zuckte mit den Schultern.
 

„Ich hasse ihn nicht, Schuldig. Ich will ihn nur beseitigen, das ist alles. Ich bin wütend, das ist richtig - ich kann kaum atmen vor Wut. Nur weiß ich noch nicht alles, was mich umso wütender macht. Zumal dieses Mädchen, dass er uns aufgezwungen hat, unsere Situation eher verschlimmert als verbessert. Er hat uns in diese Situation hineingezwungen, wie offenbar in viele davor auch schon. Ich will diesen Mann haben. Ich will Informationen von ihm und ich werde sie bekommen.“ Seine Stimme war düster und sein Blick weit weg.
 

„Ich treffe mich später mit Manx. Bleib hier und behalte alles im Auge. Wir sollten zusehen, dass wir eine schnelle Lösung für das Kind finden. Es kann nicht hier bleiben. Hast du ihren Ausweis und den Pass schon gesehen?“
 

„Ihren Pass?“
 

„Asugawa hat Ausweise, Pässe und Geburtsurkunden mitgegeben, die sie als Fujimiyas Tochter ausgeben. Der andere Pass beläuft sich auf Gabriel Villard. Laut Pass bist du sein Vater. Die Geburtsurkunden sprechen aber davon, dass es die Kinder von Masahiro Sakurakawa und Elisabeth Villard sind.“
 

„Bitte? Wenn das stimmt ist die Kleine meine Cousine?“ In Schuldig breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Das konnte kein Zufall sein.
 

„Tja. Asugawa scheint an alles gedacht zu haben“, sagte Brad leise. Zu leise, wie Schuldig befand. Die knisternde Wut war fast in jeder Faser des Körpers vorhanden und vibrierte in der Stimme an Schuldigs Ohr, was ihn vorsichtig werden ließ.

„Er manipuliert uns und ich weiß nicht wie lange schon. Das werde ich ändern. Ich spiele dieses Spiel ungern zu Bedingungen die mir andere aufdiktieren. Wenn dann geht es nach meinen Spielregeln.“ Brads Hand schloss sich zu einer Faust, öffnete sich wieder und schloss sich wieder... als er es bemerkte und hinuntersah, stellte er dieses verräterische Zeichen seiner Wut ein und stand auf, dabei überließ er sein Glas Schuldig, der es entgegennahm. Er blieb noch sitzen und sah Brad nach.
 

Dieser ging hinauf in sein Zimmer. Er zog sich aus und beschloss zu duschen. Dann zog er sich an. Nach einer Stunde, in der er sich in einen perfekt sitzenden Anzug gekleidet und darüber gebrütet hatte, welche Optionen ihm offen standen, verließ er sein Zimmer wieder. Er hatte noch nichts gegessen und ihm war auch nicht danach. Er verließ das Ryokan, stieg in seinen Jaguar und fuhr in Richtung Treffpunkt. Bereits auf der Hinfahrt hatte er eine Vision über ihr Treffen, konnte sich aber noch keinen Reim darauf machen.
 

Es dauerte eine Stunde, bis er am Friedhof der kleinen Fujimiya angekommen war
 

Er stieg aus und sah sich um. Einige Autos standen auf dem kleinen Parkplatz. Der Friedhof war nicht sehr groß und er würde nach der rothaarigen Operateurin Ausschau halten müssen, weil er nicht wusste, wo sie ihre letzte Ruhestätte gefunden hatte.

Auf dem Weg dorthin ging er einen Pfad entlang und fand den roten Haarschopf in der Sonne leuchten.

Neben ihr stand eine ältere Dame im Hosenanzug, wie es aussah betete sie. Brad blieb in einigem Abstand stehen, als Manx ihn kommen sah.

Sie nickte ihm zu. Brad sah sich um und die Augen hinter der Sonnenbrille taxierten die Umgebung.
 

Ihm war klar, dass er sich hier nicht mit Manx traf sondern mit dieser Frau. Allerdings entzog es sich noch seiner Kenntnis, wer diese Frau war.

Es dauerte noch einige Minuten, bis sie ihr Gebet beendet hatte. Sie erhob sich und verneigte sich mit gefalteten Händen, bevor sie einen Schritt zurück trat und Manx zunickte. Diese sagte etwas zu ihr und die Frau drehte sich zu ihm um. Sie maß ihn für endlose Augenblicke, bevor sie zu ihm kam.

„Mr Crawford“, sagte Manx. In diesem Augenblick hatte er eine Vision davon, wie ihr Gespräch enden würde und wusste auch, wen er vor sich hatte.
 

„Darf ich Ihnen Sakura Chiyo vorstellen?“ sagte sie auf Englisch.
 

Noch bevor er zur üblichen Begrüßungszeremonie mit Verbeugung und dem ganzen anderen Brimborium, dass er im Augenblick wenig schätzte, kommen konnte, reichte sie ihm ganz westlich die Hand.

„Mr Crawford. Ich freue mich Ihnen endlich persönlich zu begegnen“, sagte sie in akzentfreiem Amerikanisch. Er nahm ihre Hand und drückte sie angemessen für einen Moment, bevor er die schmale Hand wieder freigab. Alles an dieser zierlichen Dame, die vielleicht in den Fünfzigern oder Sechzigern war, wirkte zerbrechlich. Bis auf die Härte in ihren Augen vielleicht.
 

„Das kann ich mir schwer vorstellen“, sagte er unverbindlich und sehr neutral.
 

„Doch... glauben Sie mir. Ich habe schon sehr viel von Ihnen gehört.“
 

„DIES wiederum liegt durchaus im Bereich meiner Vorstellungskraft.“
 

„Sie fragen sich sicher, warum ich Manx bat, dieses Treffen zu vereinbaren. Und warum ausgerechnet an diesem Ort?“ sie lächelte ein winziges Lächeln, das nicht ihre Augen erreichte.
 

„Was wollen Sie von Schwarz?“ kam er zum Thema.
 

Sie nickte Manx zu und bedeutete ihm, ein Stück mit ihr zu gehen. Er seufzte innerlich, ohne, dass ein Laut nach außen drang.

„Es interessiert Sie gar nicht warum ich ausgerechnet hier vor Ihnen stehe?“
 

„Ich konnte gerade noch verhindern, Ihnen einen neugierigen Telepathen auf den Hals zu hetzen, Mrs Sakura. Seien Sie gewiss, es interessiert mich, aber ich lasse die Dinge gerne auf mich zukommen.“
 

„Sie sind ein kluger, junger Mann, Mr Crawford und sehr gut aussehend, wie ich bemerken darf.“ Sie lächelte verschmitzt und er warf einen irritierten Seitenblick zu der Frau an seiner Seite.
 

„Und Sie verheiratet wie uns beiden bekannt sein dürfte“, erwiderte er trocken und erntete ein vornehmes Lächeln.
 

„Ah...“ sagte sie, als wäre ihr gerade ein Licht aufgegangen, und nickte. „Das ist richtig. Das bin ich. Schon viele Jahre. Und jung verheiratet worden. Eine gute Partie wie es damals hieß. Gut situiert mit viel Einfluss. Gerade für meine Familie war das sehr wichtig.“

Er sah ihre weiteren Worte schon kommen.

„Ist er das immer noch? Eine gute Partie?“
 

Sie blieb stehen und sah ihn lange an. „Sehr subtil Mr Crawford. Wohl der Hellsicht zu verdanken, über die Sie verfügen. Sie sehen kommen, was ich von Ihnen will. Nun gehen wir die Dinge wie normale Menschen an. Der Reihe nach.“
 

Er sagte nichts dazu. Er wusste noch nicht genau, was sie von ihm wollte, aber er wusste, DASS sie etwas von ihm wollte.
 

Sie begann wieder zu gehen. „Tatsächlich ist er keine gute Partie mehr. Das war er nie. Es hat aber einige Jahre gedauert, bis ich es verstanden habe.“
 

„Wollen Sie von mir, dass wir Ihnen das Problem abnehmen. Endgültig?“
 

„Nein. Das übernehme ich selbst. Aber der Gedanke ist in dieser jetzigen vertrackten Situation durchaus verführerisch.“
 

Crawford traute seinen Ohren kaum. War Sie die Komponente, die Ihnen bisher in dem verworrenen Konstrukt fehlte?
 

Sie schwieg lange bevor sie fortfuhr und betrachtete die hohen, dicken Zedernstämme, die den Weg säumten. „Vor einigen Jahren starb meine Tochter auf tragische Weise. Sie wurde ermordet. Mit ihr starb auch der Mann an ihrer Seite und meine Enkelin wurde so schwer verletzt, dass sie sich nie mehr von diesem heimtückischen Anschlag erholte und schlussendlich ebenfalls verstarb. Ich fand erst sehr spät heraus, dass mein eigener Ehemann und ihr Vater diesen Mordauftrag erteilte.

Sie hatte die Regeln gebrochen, die in unserer Familie lange währten. In meiner Familie möchte ich betonen. Mein Mann hatte nie das Recht, dies zu tun. Lange hatte ich tatenlos zugesehen, wie er die Werte unserer Familie mit Füßen trat, vielleicht auch, weil ich blind vor Liebe und daher machtlos war.
 

Ich möchte eine Reform, Mr Crawford. Während mein Mann seine eigene, kleine Armee hegte, war ich selbst nicht untätig. Es gibt einen kleinen Kreis an Getreuen, die ich um mich versammelt habe und die im Verborgenen arbeiten. Dazu darf ich auch Manx zählen.“
 

Crawford verzog den Mund spöttisch. Das war interessant und selbst von Schuldig nicht zu erkennen gewesen.
 

„Viele meiner Gelder flossen in der Vergangenheit in Kritikers Aktionen und Persha war ein fähiger Mann, wie sie sicher erfahren durften.“
 

„Es gab da so ein paar Momente“, erwiderte er kryptisch.
 

„Takatori war mir ein Dorn im Auge und Persha sah das ebenso. Takatori war gefährlich und ich war nicht bereit meine Heimat von diesem Mann regieren zu lassen. Außerdem hatte Persha genug persönliche Abneigung gegen ihn, um sein Engagement nicht verebben zu lassen. Vor allem nachdem mir bekannt war, dass er mit SZ paktierte. Ich sandte Persha Manx zur Unterstützung. Nebenbei finanzierte ich Kritiker und ihre Aktionen zum Preis einer Jagd gegen einen Mörder und dessen wahnwitzige Visionen einer grausamen Zukunft.“
 

Die Frau blieb wieder stehen.
 

„Mein Mann allerdings finanzierte Takatori und dessen Machenschaften auf wissenschaftlicher Basis nur, um sie sich nach dessen Tod unter den Nagel zu reißen.“ Sie war jetzt wütend, nur zu erkennen an dem harten Zug um ihre Mundwinkel. Sie lächelte kalt und sah ihn für einen Moment an, bevor sie wieder den Weg aufnahm. Das Lächeln gefiel ihm.
 

„Meine Familie kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, in denen sie Ihresgleichen schützte, Mr Crawford“, fing sie unmittelbar an und Crawford blieb dieses Mal stehen.

„Sie erzählen mir jetzt nicht etwas von Olof oder den Guards, Mrs Sakura?“ sagte er zynisch.

„Doch, Mr Crawford, das versuche ich gerade. Nur entwickelten sich die Dinge in den letzten fünfzig Jahren entgegen unserer eigentlichen Maxime. Schon zuvor waren wir auf einem Irrweg und mein Mann vollendete diese Irrfahrt bis zu dieser Sackgasse, vor der wir heute stehen. Mit meiner Hilfe.“

Sie verstummte für einen Augenblick, als müsste sie sich dieser Erkenntnis erneut stellen.

„Ich war untätig und habe gedacht, dass dies nun einmal der Lauf der Dinge sei. Dabei habe ich meine Fähigkeiten verleugnet und sie begraben. Erst der Tod meiner Tochter rüttelte mich wach. Und jetzt bin ich wach, Mr Crawford. So wach wie noch nie.“
 

Ein Vorteil hatte die jahrelange Untätigkeit: Ihr Mann unterschätzte sie.

Crawford mochte diese Frau. Sie schien ihm ebenbürtig. Und er wagte es zu sagen: er konnte von ihr noch ein paar Dinge lernen. Wie sie jedoch ihre Aktionen hinter dem Rücken ihres Mannes bewerkstelligte, konnte er nicht einmal ahnen.
 

„Sie trauern sicher noch um Ihren erst kürzlich verstorbenen Sohn, Mrs Sakura“, sagte er ohne Bedauern.

„Ich trauere schon seit dem Moment an, als ich den Befehl für seine Tötung in Auftrag gegeben habe, Mr Crawford“, sagte sie schlicht. Diese Frau war lange über Hass hinaus. Den eigenen Sohn töten zu lassen sprach von kalter Rache.

„Ich möchte mich jetzt nicht über seine Verfehlungen auslassen, jeder begeht Fehler in seinem Leben. Ich weiß das nur zu gut. Nur hat er das, was ich ihn gelehrt habe, in den Schmutz gezogen und sich seinem Vater verschrieben. Es war an der Zeit, ihn daraus zu erlösen.“
 

Sicher, dachte Crawford. Jemanden zu ‚erlösen’ war stets eine elegante Berechtigung, um ihn aus dem Diesseits ins Jenseits zu befördern.
 

„Nun komme ich zum eigentlichen Teil unserer kleinen, durchaus angenehmen Unterhaltung. Auch wenn die meiste Zeit ich rede und Sie ein sehr schweigsamer Mann sind.“ Sie lächelte wieder dieses aufmerksame, freundliche Lächeln.
 

„Einer meiner...“ sie fand nicht gleich das richtige Wort. „... sagen wir Schützlinge ist abtrünnig geworden. Ich möchte, dass Schwarz ihn findet und zu mir bringt. Er hat etwas gestohlen, das für mich sehr wichtig ist. Es könnte bereits in Ihren Besitz übergegangen sein. Und ich bezweifle, dass es unter Ihrer Obhut die angemessene Behandlung erfährt, die ihm zusteht.“
 

„Drücken Sie sich klar aus“, forderte Brad kühl.
 

„Sie haben meine Enkelin, Mr Crawford, und ich will sie zurück.“ Sie blieb wieder stehen und sah ihn an. „Es ist für mich unbegreiflich wie... K... „ sie runzelte die Stirn. „... sie kennen ihn unter dem Namen Asugawa, das Kind entführen und es Ihnen überlassen konnte. Was hat er sich nur dabei gedacht!“ sagte sie wütend, war aber viel zu beherrscht, als dass sie diese Wut übergebührlich nach außen trug.
 

„Und Sie meinen, dass dieses Kind besser bei Ihnen aufgehoben wäre? Warum ausgerechnet jetzt?“ Er verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln.

„Was unterscheidet jetzt von letzter Woche?“
 

Sie sagte nichts dazu. Er hatte den Finger wohl in eine offene Wunde gelegt.
 

„Werden Sie Asugawa nun für mich finden? Sie haben doch sicher auch noch die eine oder andere Rechnung mit ihm offen, oder irre ich mich?“
 

„Das lassen Sie meine Sorge sein, Mrs Sakura. Was bieten Sie mir für diesen Auftrag?“
 

„Loyalität Ihrem Team und Ihren Unterstützern gegenüber, sobald die Führung in der Familie an mich übergeht. Ich möchte Sie nicht beleidigen, indem ich Ihnen finanzielle Unterstützung zusichere, für Sie sind sicher anderweitige Werte viel interessanter.“
 

Er brauchte nicht allzu lange überlegen, zögerte jedoch dennoch. Die Sakurakawa Gruppe hatte sehr großen Einfluss in die höchsten politischen Kreise der Staaten. Sogar soweit, dass er wieder in seine Heimat reisen konnte ohne Gefahr zu laufen, dort von Agenten umzingelt zu werden.
 

„Wer garantiert dies?“
 

„Sie haben immer noch meine Enkelin als Pfand. Und ich selbst, Mr Crawford. Ein Versprechen, das bereits vor langer Zeit gegeben wurde und ich jetzt vor Ihnen erneuere. Sobald Sie mir Asugawa bringen.“
 

„In welchem Zustand?“

„Lebend. Falls es sich nicht vermeiden lässt auch tot. Er ist von mir persönlich ausgebildet worden und ich befürchte, dass es unvermeidlich sein wird, ihn zu töten. Er ist zu gefährlich geworden und gehorcht nicht mehr meinen Befehlen. Das ist unverzeihlich und muss geahndet werden.

Er hat seinen Tod vorgetäuscht. Meinen Mann konnte er täuschen – mich nicht. Asugawa hat Ihnen meine Enkelin überlassen und hat seinen Tod nur fingiert. Was er weiterhin plant ist mir nicht bekannt. Finden Sie ihn, bevor er meine Pläne durchkreuzt. Und er ist gut darin, dass kann ich Ihnen versichern. Er ist der beste Mann, den ich habe. Trotzdem ist sein Versagen für ihn sein Todesurteil.“
 

Von ihr persönlich? Hat Asugawa damals von ihr oder von ihrem Mann den Tötungsbefehl für ihn erhalten? Hat Sie dieses Kind damals bereits zum Killer ausgebildet? Hat Asugawa damals, als er ihn am Leben ließ, schon nicht gespurt?

Er wagte nicht, diesen Gedanken weiter zu führen. Das hätte Asugawa vielleicht in ein positives Licht gerückt und das gestand er ihm nicht zu.
 

„Sind wir im Geschäft, Mr Crawford?“

Sie reichte ihm ihre Hand und Brad nahm sie. „Das sind wir.“
 

Sie würden über Manx in Kontakt bleiben. Brad verließ die beiden Frauen und sah das berechnende Lächeln nicht mehr, das die ältere Frau der Jüngeren schenkte. Diese verneigte sich.
 

Und er hörte auch nicht mehr ihre Worte. „Scheint doch ganz umgänglich zu sein“, sagte sie.
 

„Glauben Sie, er hat es geschluckt?“
 

„Schwierig zu sagen, meine Liebe. Die Gedanken dieser PSI sind nicht so einfach zu erahnen. Sie denken in anderen Bahnen. Dieser Mann ganz speziell in völlig anderen. Aber ich denke... wir haben ihn am Haken.“

Sie sahen beide dem Mann nach.
 

„Was ist mit Asugawa?“
 

„Er hat vor langer Zeit eine Entscheidung getroffen. Er ist für mich verloren.“
 

„Er ist gefährlich und unberechenbar.“
 

„Nein, in einer Sache ist er berechenbar. Und das ist sein Schwachpunkt. Es wird ihn zu Fall bringen. Wir müssen nur abwarten, meine Liebe. Und jetzt lass uns gehen. Ich möchte nicht zu spät zur Trauerfeier kommen.“
 


 

o
 


 

Als er ging, hatte Brad viele Dinge über die er nachdenken musste. Vor allem über die Vision, die er hatte, als er in seinen Wagen stieg. Er starrte für Sekunden sein Lenkrad an und keuchte über die Intensität. Der Zusammenhang war ihm nun klarer, aber er war nicht begeistert von diesen Aussichten. Er beschloss, das zunächst für sich zu behalten.
 

Er fuhr zurück zum Ryokan.
 

Die alte Sakurakawa wollte also ihren besten Mann im Feld aus dem Weg räumen. So wie sie ihren Sohn ausgeschaltet hatte.

„Was hast du nur vor?“ fragte er laut in Gedanken diesen besten Mann, der ihm selbst mehr als einmal vorgeführt hatte. Sein Entschluss stand ohnehin schon fest, seiner habhaft zu werden. Jetzt mehr denn je. Er brauchte Antworten und er musste ihn aus diesem Spiel entfernen, denn dieser Spieler manipulierte ihre Handlungen nach belieben wie es schien.

Er fragte sich aber ob ihn die Antworten die er von Asugawa erhalten würde zufrieden stellen konnten.

Welche Fragen würde er ihm stellen? Wo sollte er anfangen? Es war ein komplettes Leben, das neben seinem parallel gelebt worden war – in seinem Schatten? Bei all der Wut in sich fragte er sich, wie Asugawa das fertig gebracht hatte, ohne sich zu zeigen? Ohne nur einmal nachlässig geworden zu sein. Zeugten die jüngsten Ereignisse davon, dass er müde war? Was hatte sich verändert?
 

Es juckte ihn in den Fingern seiner habhaft zu werden. Er musste ihn in die Finger kriegen. Dabei spürte er wie unruhig und unausgeglichen er sich bei dem Gedanken daran fühlte.
 

Und einen Punkt hatte die alte Chiyo nicht angesprochen: Die Tatsache, dass sie am Grab ihrer Enkelin stand und betete. Sie hatte ihren Enkel mit keinem Wort erwähnt. Weil sie annahm, dass er bereits wusste, dass Ran Fujimiya in Wahrheit Mitglied des Sakurakawa Clans und der Erbe dessen war? Es war so offensichtlich. Sie stand am Grab von Aya, sie spazierten über den Friedhof und sie erzählte ihm, wie ihr Mann unter Zuhilfenahme Takatoris ihre Tochter samt Familie ausradiert hatte.
 

Es sei denn, Manx hatte ihr nicht verraten, dass Ran noch lebte. Was er aber für unwahrscheinlich hielt. Diese doppelzüngige Schlange... das war es gewesen, dass er immer an ihr interessant gefunden hatte. Dieser Schatten, dieses Geheimnis, das um diese rothaarige Frau waberte.
 

Natürlich konnte er sich immer noch täuschen. Aber woher kannte die Frau Aya Fujimiya und deren Familie? Vor allem, wenn das stimmte, dann war das Kind sowohl Fujimiyas als auch Schuldigs Cousine. Mit Sicherheit kein Zufall.

Er würde Nagi oder Omi darauf ansetzen. Wenn sich bestätigte, dass Ran der Enkel der Sakurakawas war, barg das ungeahnte Möglichkeiten. Dann hatten sie nicht nur das Mädchen, sondern auch noch einen männlichen Erben als Faustpfand für mögliche Verhandlungen mit der Familie. Das war interessant, aber auch problematisch. Vor allem, weil dieses Problem orangerote Haare hatte und sicher wenig erbaut darüber wäre. Das war vorerst nichts, was Schuldig wissen musste. Der geeignete Zeitpunkt dafür würde sicher kommen – früher oder später.
 

Er überlegte kurz zum Doc zu fahren, verschob aber diesen Besuch. Stattdessen fuhr er zu Asami. Er traf sich mit ihm und schlug ihm ein Geschäft vor. Eine Jagd auf den Mann, der ihnen ein Dorn im Auge war.
 

Im Gegenzug versorgte er ihn mit Informationen über die Sakurakawa Gruppe und deren interne Probleme. Das war Asami neu, wie es schien. Er versicherte, Augen und Ohren offenzuhalten und seine Leute auf Asugawa verstärkt anzusetzen.
 

Zufrieden fuhr Brad ins Ryokan und hörte bereits, als er die Tür öffnete, lautes Gekreische und Lachen. Er ging in die Küche, wo er Ruhe davor hatte. Aus dem Besprechungszimmer drangen diese fröhlichen Klänge, die er so gar nicht hören wollte, weder im Moment noch sonst an einem Tag. Schuldig kam in die Küche.

„Wie wars?“

Er lehnte an der Türumrandung und hatte die Arme verschränkt. Brad machte sich einen Kaffee. Sein Magen rebellierte schon seit der Autofahrt von Asami ins Ryokan, dass er gefälligst gefüllt werden wollte. Eine leichte Übelkeit hatte ihn befallen und er war sich nicht sicher, ob es tatsächlich daher kam, dass er nichts gegessen hatte.

„Wir hatten lediglich eine Nachbesprechung des Einsatzes. Sie stellt uns weiterhin ihre Informationen und Unterstützung zur Verfügung. Das Mädchen bleibt vorerst hier.“
 

Er nippte an seinem Kaffee, dann nahm er die Sonnenbrille ab und legte sie neben die Kaffeemaschine.
 

„Ist das gut?“ Woher der Sinneswandel, fragte sich Schuldig.
 

„Besser als die Alternative.“
 

„Die wäre?“
 

„Zurück zum Clan oder ein Versteck irgendwo bei irgendjemandem, der keine Ahnung von ihrem PSI Status hat.“
 

Schuldig war klar, dass das nicht drin war. Er seufzte und kam näher, um sich auf einen der Barhocker zu setzen.

„Übrigens hat mir Eve noch erzählt, als Asugawa sie rausgeholt hat, ist ihnen Manx über den Weg gelaufen. Sie hatte ihre persönliche Truppe dabei, um uns zu helfen. Offenbar hat sie dabei ein interessantes Gespräch mitbekommen. Ich habe Eve gefragt, ob ich das Gespräch von ihr lesen kann und sie hat zugestimmt. Heute Abend ziehen wir’s durch, sobald das Kind schläft. Manx scheint eine größere Rolle in dem Ganzen zu spielen, als wir bisher dachten. Sie kennt zwar Asugawa nicht persönlich, hat aber von ihm gehört. Und dabei ging es ums Thema Guards und um dich.“
 

Brad rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Er hatte keine Ambitionen dahingehend, wieder der Dreh- und Angelpunkt für Kämpfe und Gefechte zu werden. Er wollte nur in Ruhe gelassen werden. Das hatte doch die letzten Jahre gut funktioniert. Vielleicht sollte er sich mit dem Gedanken beschäftigen, einfach wieder abzuhauen, wie er es schon einmal getan hatte. Die Verbindungen zu anderen kappen und verschwinden.

Aber Ruhe und Freiheit waren nicht vereinbar. Waren es niemals gewesen. Wenn er Ruhe wollte, musste er sich den Rosenkreuzern ergeben. Dann brauchte er sich um nichts mehr zu kümmern. Nicht einmal denken musste er dann noch. Zog er jedoch die Freiheit vor, würde er nie Ruhe haben. Niemals.
 

Er wich Schuldigs Blick aus und nahm einen Schluck seines Kaffees.

„Ich muss noch nach Nagi sehen und ein paar Dinge erledigen...“ setzte er an.

„Ruh dich aus“, unterbrach Schuldig ihn und kam näher. Er nahm ihm die Tasse aus der Hand und strich ihm über den Arm. „Du bist fertig und solange das Kind wach ist, solltest du die Zeit nutzen, um zu regenerieren. Später kannst du immer noch zu Nagi.“

Brad wollte sich nicht von Schuldig befehlen lassen, aber er erkannte, wenn dieser Recht hatte. Deshalb ließ er seinen Kaffee stehen und löste sich von Schuldig. Er verließ die Küche und ging hinauf in sein Zimmer. Er zog sich aus, verstaute seine Kleidung und legte sich aufs Bett.

Das Kind war Segen und Fluch zugleich. Im Augenblick empfand er es jedoch als Segen. Er schloss die Augen und versuchte, Ruhe vor dem Schatten zu finden, der jetzt nicht nur ein bloßer Gedanke war, sondern eine ganze Geschichte. Ein Mann, dessen Augen er kannte, dessen Gesicht er berührt hatte und dessen Stimme er noch hören konnte. Dieser Schatten war lebendig geworden und ließ ihn nicht mehr los. Eine Kette, die ihn band und über die er keinen Einfluss hatte. Er hatte Angst vor dieser Kette und er würde sie zerschlagen. Irgendwie...
 

An diesem Gedanken hielt er fest bis er einschlief, denn er hatte sich bisher von keinem anderen derart bedroht gefühlt wie von diesem Mann. Es war ihm auch keiner so nahe gekommen. Er dachte daran, wie dieser laut seiner Schwester an seinem Bett gesessen hatte, um seinen Puls zu fühlen.
 

Die darauf folgenden Träume waren wirr, und das kam nicht von Traumvisionen. Rache und Wut spielten in ihnen eine tragende Rolle und waren gezeichnet von seiner Angst, an diesen Schatten gebunden zu werden, der ihn offenbar den größten Teil seines Lebens begleitet hatte.
 

o
 


 

Ein paar Tage waren ins Land gezogen. Die Hitze war drückend und das Objekt dieser Rache wähnte sich im Moment in Sicherheit, war aber auf der Hut.

Finn observierte das Anwesen der Familie in Kyoto. Dort waren die Sektionen eingetroffen und das Gelände wuselte nur so von Männern und Frauen. Er hatte es sich gemütlich eingerichtet auf seinem Beobachtungsposten an der Hügelkuppe. Zwei mal hatte er sich vor Patrouillen unsichtbar machen müssen und war nur um ein Haar nicht entdeckt worden. Aber da er dort blieb, wo er war und sie ihn dort nicht sehen konnten, da er sich mit einem Seil hinuntergelassen hatte und dieses geschickt verborgen war, hatten sie ihn bisher nicht bemerkt. Die Kontaktaufnahme zu Chiyo war noch nicht möglich gewesen. Es schien, als hätte sie die Nummer gewechselt. Er hatte somit keine Möglichkeit mehr, sie zu kontaktieren. Hatte sie ihn fallen gelassen? Warum ausgerechnet jetzt?
 

Heute Abend wollte er sich mit Kiguchi in einem Bordell treffen. Das war unauffällig und verschaffte ihm einen guten Grund, das Anwesen zu verlassen. Finn würde als Hure gut durchgehen, dachte er sich und lächelte schmal. Er hatte bereits alles klar gemacht in dem Etablissement und er war nicht zum ersten Mal dort, um derlei durchzuziehen.
 

Es war Asamis Herrschaftsgebiet und der Clan hatte dort nichts zu melden. Besser ging’s nicht.

Nach einer Weile packte er seine Sachen zusammen, verstaute alles in dem mitgebrachten Rucksack, der schmal an seinem Rücken lag und begann den Aufstieg wieder. Er zog sich über die Kante, flach an den erdigen Boden gedrückt, und wartete dort endlose Minuten geduldig in dieser Lage. Nichts rührte sich. Die Patrouille war noch weit entfernt, sie waren erst vor Kurzem auf ihrer Runde hier vorbeigekommen. Schnell erhob er sich und zog sich weiße Kleidung an, schlüpfte in einfache Sandalen und schob sich einen weiten aus Bambus gefertigten Pilgerhut über den Kopf. Seine nur mehr kurzen Haare verschwanden darunter. Der Undercut, den Gula ihm verpasst hatte, war im Moment tatsächlich sogar nützlich. Sein Körper trug einen dunklen Hautton und ein dezenter angeklebter Dreitagebart kündete von seiner entbehrungsreichen Pilgerreise. Na ja, so entbehrungsreich, wie sie in der heutigen Zeit eben war. Er griff sich den Wanderstock neben sich, verstaute das Seil in dem Loch, das er zuvor gegraben hatte und bedeckte es mit Erde, einem Stein und dahingeworfenen Zweigen.

Dann schlüpfte er auf den Weg hinaus und machte sich davon. Er eilte zum Zug, schließlich musste er heute Abend eine Nutte spielen. Vom Pilger zur Hure – welch ein Wandel und welch herausragende Flexibilität! Nur was er dazwischen war, das war ihm mittlerweile ein Rätsel, vor dem er zu großen Respekt hatte, als es lösen zu wollen.
 

Er ging zügig voran, imitierte aber einen hinkenden Mann, der mit seiner Einschränkung gut zurecht kam. So gelangte er schließlich nach einer Stunde zum Bahnhof. Er betrat ihn und sprang auf die Welle der Businessleute auf, die von einem Bahnsteig zum anderen schwappten. Dort bestieg er nach einer Weile des Wartens den Shin-kan-sen nach Tokyo.
 

In Tokyo angekommen ging er in einer der Toiletten und zog sich um. Den Pilgerhut ließ er auf der Toilette zurück und verschwand im Getümmel der Menge.
 

o
 

Es war bereits später Abend, als er sich in einen Kimono kleiden ließ. Sowohl Langhaarperücke als auch Frisur und Make-up saßen perfekt. Als Edelnutte sah er wirklich atemberaubend aus, wie ihm die Chefin versicherte. Sie hatte ihm nicht nur einmal bereits einen Job in diese Richtung angeboten und beteuert, dass er viel Geld damit verdienen könne und sicher heiß begehrt sein würde. Vor allem wegen seiner Andersartigkeit – das sagte sie natürlich nicht, aber es war oft interessanter für Finn, was die Leute NICHT sagten und welche Sätze sie offen im Raum hingen ließen und an welchen Stellen sie zu aufmerksam lächelten.
 

Seine braunen Augen maßen sich selbst eher unbeeindruckt und sachlich im Spiegel, während die Frau ihm den Obi umlegte. Die Hochsteckfrisur ließ seinen Nacken frei, nur ein paar verirrte Strähnen blitzten vorwitzig daraus hervor. Vorne bildeten zwei schwarze Strähnen einen Rahmen um das schöne Gesicht – wie sie ihm wiederholt versicherte. Finn seufzte innerlich.

Wie oft hatte er das schon gehört?

Und es bedeutete ihm immer noch nichts.
 

Als er fertig war führte sie ihn zu dem freien Zimmer, das für ihn reserviert war. Sie waren hier in einem Hochhaus oberhalb einer Diskothek und unterhalb eines Restaurants. Der Treffpunkt, den er gewählt hatte, war gewagt, denn der ganze Komplex gehörte Asami.

Das Zimmer, welches sie betraten, bot ihnen zwei Sitzmöglichkeiten auf dem Boden. Eine Trennwand aus Seidenpapier verbarg das Bett. Er ging zu den beiden Zeishu und besah sich das Arrangement, das auf dem Tisch stand. Er ließ sich anmutig nieder, als die Frau ihn alleine ließ und vermutlich direkt dazu überging, das Geld zu zählen, das er ihr zum Dank für ihre ‚Mühe’ und diesen kleinen Gefallen überlassen hatte.
 

Kiguchi würde erst in einer halben Stunde eintreffen, also hatte er noch Zeit. Er erhob sich und zog aus dem Gürtel um seinen Oberschenkel eine der fünf Klingen aus ihrer Schutzhülle und versteckte sie am Kopfende zwischen Bett und Matratze, sodass nur eine Spitze hervorstach, die niemandem ins Auge fiel. Er trug noch weitere Waffen an sich, die sich zum großen Teil als Accessoires tarnten.

Dann ließ er sich wieder an dem niedrigen Tisch nieder und beschloss etwas zu meditieren. So saß er noch lange da bis er hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Er saß reglos mit gesenktem Kopf da und wartete. Die Tür schloss sich wieder. Er spürte jemanden näher kommen, spürte eine warme große Hand, die ihn am Nacken, sowie Lippen, die seine Schläfe berührten.

„Du bist spät“, sagte er leise mit einem bezirzenden Lächeln und sah auf. Kiguchi hob die Brauen.

Es war merkwürdig, dass er ihn küsste. Sehr merkwürdig und es fühlte sich nicht richtig an.

„Ich konnte nicht sofort weg.“
 

Er neigte zum Verständnis den Kopf. „Nimm doch Platz“, er lächelte aufmerksam.

Kiguchi seufzte. Er war erleichtert, Finn hier so unbekümmert sitzen zu sehen.

Er setzte sich. Sie konnten noch nicht offen sprechen, erst, wenn er näher an Finn herankam. Denn wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob Asami seine Etablissements nicht verwanzt hatte?

„Sind die Sektionen schon einsatzbereit?“, fragte dann dieser plötzlich unverblümt, jedoch immer noch mit dieser leisen und warmen Stimme.

Kiguchi glotzte ihn an und Finn lachte leise.

„Alles überprüft“, winkte er die Besorgnis über mögliche Abhörmanöver ab.

Finn musste streng genommen nicht danach fragen, was auf dem Anwesen vor sich ging, er hatte sich diese Informationen selbst geholt, aber wenn Kiguchi erfuhr, dass er sich in der Nähe des Grundstücks herumdrückte, machte er sich mehr Sorgen als nötig wäre. Und das wollte Finn nicht.
 

„Nein, sind sie nicht. Es dauert noch ein paar Tage. Da du nun nicht mehr zur Verfügung stehst fehlen ihnen auch deine Raffinesse und dein Einfallsreichtum. Nicht zu vergessen deine Kontakte. Sie haben keine Ahnung, wo sich Schwarz aufhalten. Noch nicht. Superbia wird unruhig. Ich bin mir fast sicher, dass er nichts mehr von dem Serum zu sich nimmt. Er plant etwas und ich...“
 

Sie hörten Stimmen auf dem langen Flur und Finn horchte auf. Die Stimmen wurden lauter. Er sprang auf und ging zum Bett hinüber. Kiguchi folgte ihm augenblicklich. Finn legte sich auf die Seite, zog Kiguchi an sich, sodass dieser ihn halb verdeckte und der breite Rücken von der Tür zu sehen war. Dann schob er die Stofffalten zur Seite, dass ein nacktes Bein von ihm zu sehen war, griff sich Kiguchis Hand und schob sie unter die Stofffalten auf seinen Schritt. Kaum war das Arrangement fertig und Kiguchis Lippen an seinem dramatisch lasziv gestreckten Hals, als die Tür aufflog. Kiguchi wandte den Kopf langsam nach hinten um und Finn barg halb das Gesicht an dessen Schulter, aber eben nur halb. Verschämt schlug er die Augen nieder und wandte das Gesicht ab.

Kiguchi gab ihn frei und erhob sich langsam vom Bett. Finn legte sich eine Hand über die Augen und hörte wie... Gula... diese Schlampe ihn ankeifte, was er hier trieb.

„Das geht dich nichts an“, sagte Kiguchi ruhig und Finn hörte einen Schlag und einen dumpfen Aufprall. Er rollte sich zur Seite zu einem Ball zusammen und linste zwischen seinen Händen hervor, die er sich vors Gesicht hielt, um diesen furchtbaren Akt der Gewalt nicht ansehen zu müssen, obwohl er eigentlich sehr gern hingesehen hätte – nur zu gern. Er hätte auch gern mitgemacht. Wenn er daran dachte, wie oft sie ihn zu ihren perversen Spielchen gezwungen hatte, wurde ihm noch im Nachhinein schlecht davon. Sie hatte dafür gesorgt, dass er Sexspielzeuge mit anderen Augen sah und nicht nur Lust darin fand. Er gab es vor sich selbst ungern zu, aber er hatte so etwas wie Angst vor Superbia und ihr. Superbia war nicht das, was er vorgab zu sein – wie er selbst auch - und Gula war einfach nur verrückt, verspürte weder Mitgefühl noch Skrupel. Und sie war viel zu spontan in ihren Handlungen. Konsequenzen ließ sie außer Acht und kümmerte sich später darum. Er hasste sie.
 

Finn sah, wie Kiguchi Gula - die so perplex war, dass sie verspätet reagierte - an ihrem dürren Hals packte und an der Wand hochschob. Sie röchelte und strampelte und versuchte mit ihren Händen Kiguchi zu erreichen, der jedoch nicht nur wesentlich größer, breiter und kompakter war sondern schlicht stärker. „Du willst mir beim vögeln zusehen?“ fragte er sie lauernd.

Sie kickste etwas und versuchte den Kopf zu schütteln.

„Meinst du, du überlebst es, wenn ich dich so runtertrage und dich vor die Tür werfe? Meinst du, du kannst so lange die Luft anhalten?“ fragte er sie wieder mit völlig gelangweilter Stimme. Ihr Gesicht war rot, sie bekam keine Luft mehr.

Er warf sie wie einen Waschlappen nach draußen gegen die Wand im Flur, wo sie abprallte und auf den Boden fiel. „Verschwinde oder ich vergesse mich. Wenn ich dich noch einmal in meiner Nähe sehe, war es das letzte Mal.“ Er schloss die Tür wieder als einer der Bodyguards den Gang entlang kam, die Chefin im Schlepptau. Er hörte die Stimmen gedämpft, die die Frau befragten, wie sie hereingekommen war und noch einiges mehr. Als der Name Asami fiel keifte Gula zurück und offenbar reichte das aus, um sie zum Gehen zu bewegen.
 

Kiguchi sah auf das Bett und fing einen anerkennenden Blick von Finn ein. „Du kostest mich echt Nerven, Kleiner.“

„Ich tu was ich kann“, erwiderte der mit einem lasziven Lächeln und winkelte ein Bein an, ließ den Stoff zurück auf seinen Oberschenkel rutschen, offenbarte dabei seine Klingen. Er lächelte und wackelte auffordernd mit den Augenbrauen.
 

„Ich hätte ihr beinahe ihre verlogene Kehle zerdrückt. Es wäre so leicht gewesen, weißt du?“ sagte Kiguchi brummig und kam wieder näher. Er setzte sich neben Finn auf das Bett und strich ihm die falsche Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich weiß, sie löste bei mir Ähnliches aus.“
 

Kiguchi betrachtete ihn lange. „Du hast dies alles auf dich genommen wegen diesem...“ Finn legte ihm einen Finger auf die Lippen, bevor er weiter sprechen konnte.

„Darüber haben wir schon so oft gesprochen“, tadelte er sanft.
 

Kiguchi nahm die Hand weg.

„Wie oft hat sie dich gezwungen, bei ihren Spielen mitzuspielen? Kannst du es noch zählen?“

Er sah zu, wie Finn sich nach hinten fallen ließ, die Arme lagen neben seinem Kopf und er starrte an die Decke.
 

„Sie behandeln mich so, weil sie glauben, was ich ihnen vorspiele.“
 

„Sag das nicht.“ Kiguchi schüttelte den Kopf und sein Blick richtete sich auf den Stoff der Bettwäsche. Er versank in Gedanken, den beobachtenden Blick des anderen auf sich wissend.

„Wenn man einmal anfängt kann man nicht mehr aufhören, hast du mal gesagt. Schmeiß alles hin und hau ab“, riet er frustriert. Er wollte seinen kleinen Halbbruder nicht so sehen. Nicht in Frauenklamotten, nicht in der Nähe von Gula und schon gar nicht in der Nähe des Amerikaners. Irgendwann musste es doch gut sein. Irgendwann musste es genügen. Es war jetzt soweit. Es war genug.
 

Finn schloss die Augen.
 

„Ich gehöre ihm ich kann nicht weglaufen, solange er lebt nicht. Mein Platz ist in seinem Schatten“, flüsterte er und Kiguchi nickte ergeben. Natürlich war das so. Es würde immer so sein bis Finn starb.
 

„Du wirst daran zerbrechen.“
 

„Dann ist es so.“ Das war er schon.
 


 

o
 


 

Brad betrat die Klinik in Begleitung von Hisoka, der ihn zum Doc führte. Es waren zwei Tage vergangen und er hatte den kurzen Anflug von Feigheit und Flucht überwunden.

„Ich möchte zunächst zu Naoe.“ Hisoka bog in einen Korridor ab und blieb vor einer Tür stehen. Es war später Abend und Brad hatte sich den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, ob sie einen Ortswechsel in Betracht ziehen sollten. Zurück in ihr altes Haus ziehen, nachdem sie von Eve erfahren hatten, dass Asugawa ihr gesagt hatte, dass das Haus sicher sei, dass das Ryokan allerdings höchst gefährdet war und der Clan verstärkt im umliegenden Viertel nach ihnen suchte. Das Haus war besser zu verteidigen, die Nachbarschaft beherbergte hohe Tiere mit hohem Sicherheitsstandard und war sehr einflussreich. Ein offener Angriff war risikoreich. Ihr Haus war besser gesichert als das Ryokan.

Er war noch zu keinem Schluss gekommen, schon allein deshalb nicht, weil Asugawa ihnen diese Information gegeben hatte.
 

Er dachte an die letzten Visionen in dieser Angelegenheit und er schüttelte den Kopf über sein Misstrauen. Sie wurden im Haus angegriffen, aber sie wehrten den Angriff ab.

Er hatte auch Visionen über das Ryokan bekommen. Düstere und von Tod gezeichnete. Ran und das Mädchen starben dabei. Also, was galt es noch zu überlegen?
 

Er betrat den Raum und sah Omi am Bett sitzen. Nagi hatte die Augen geschlossen. „Lass uns allein“, wies Brad den Jungen an und sah auf dessen Gesicht bereits die Revolte kommen, als Nagi die Augen aufschlug. „Bitte Omi“, sagte dieser schwach und lächelte zaghaft.

Als die Tür sich hinter ihnen schloss sah Brad auf den Jungen hinunter. „Du hast dich nicht an den Plan gehalten, Naoe.“
 

„Das war vorherzusehen gewesen“, sagte dieser neutral aber mit brüchiger Stimme.
 

„Ich kann dich nicht mehr einsetzen. Das Risiko ist zu hoch, dass derartiges noch einmal geschieht. Du ziehst Aufmerksamkeit auf dich. Und du gefährdest nicht nur den Einsatz selbst sondern auch diejenigen, die ihn begleiten.“
 

„Ja.“
 

„Bis auf weiteres bist du von Einsätzen ausgeschlossen. Solange bis wir eine dauerhafte Lösung gefunden haben“, sagte Brad nachdenklich und sein abschätzender Blick lag auf dem jungen Gesicht. Er sah, wie er versuchte, seinen Schock über diese Worte vor ihm zu verbergen, aber er konnte keine Milde walten lassen. Nicht bei ihm. Nicht von ihm.
 

„Hast du mich verstanden?“
 

„Ja, Crawford“, sagte Nagi mit fester Stimme und nickte einmal.
 

Er wandte sich ab und wollte die Tür öffnen als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel sah und die ausgestreckten Hände, die ihn zu erreichen versuchten. „Bitte...“ flehte Nagi und Brad sah ihn abschätzig an.
 

„Gibt es noch etwas zu sagen?“
 

„Was für eine Lösung?“ Nagi sah ihn sichtlich verstört an. Ein Gesichtsausdruck, den er nur selten in seinem Leben gezeigt hatte. Brad lächelte innerlich. Es war gut, dass Nagi langsam menschlicher wurde. Aber das bedeutete auch, dass er ihn gehen lassen musste.
 

„Du brauchst etwas, dass ich dir nicht geben kann. Solange wirst du deine Fähigkeiten nicht mehr in diesem Ausmaß einsetzen.“

Nagis Hände sanken nach unten und er legte sich wieder zurück.

„Ja, ich verstehe.“
 

„Das hoffe ich für dich.“ Brad ging und ließ den jungen Weiß Agenten wieder ins Zimmer. Hisoka erwartete ihn erneut und sie gingen zum Doc.

Über kurz oder lang musste er den Jungen wegschicken.
 


 

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„Er war fies zu dir, ich sehe es dir an“, sagte Omi, als er an Nagis Bett trat.

Der blickte ihn nicht an, sondern hatte den Kopf zur Seite gedreht. Er sah immer noch viel zu mager aus. Die Haut spannte sich um die spitzen Knochen und wirkte so dünn wie Pergament. Er zog sich die Schuhe aus, schob die Infusionsleitungen beiseite, die aus Nagis Hals in den Zentralen Venenkatether liefen und schlüpfte unter dessen Bettdecke. Als Belohnung für seine frevelhafte Tat entlockte dies dem anderen ein Seufzen.

„Er hat Recht. Brad sagte, ich soll mich von Einsätzen fernhalten. Ich kann ohnehin nichts ausrichten im Moment. Ich habe mich selbst ins Aus befördert und das Team gefährdet, dich gefährdet.“
 

Gar keine Fremdwörter? Wunderte sich Omi, bemerkte aber auch, wie fertig Nagi noch war. Er küsste die Wange, pustete sanft die Haarsträhnen zur Seite und dirigierte das spitze Kinn zu sich herum.

„Ja und dafür wirst du von mir höchst persönlich bestraft“, drohte er mit einem nicht ganz jugendfreien Grinsen.

Nagi sah ihn mit einer Mischung aus Erleichterung, Sehnsucht und Verzweiflung an.

„Du gehst nicht weg? Ich habe dich nicht vertrieben?“ krächzte er und seine Stimme brach.
 

Omi sah ihn ernst an.

„Nein. Ich bleibe bei dir. Du kannst dich gegen diesen Rausch nicht wehren, das habe ich gesehen. Dich trifft keine Schuld, Nagi. Aber wir müssen uns etwas überlegen.“

Nagi nickte hektisch. „Ja... das... das ist gut“, sagte er und Tränen glitzerten in den Augen. Es war Erleichterung und Freude.

Die Einsamkeit war Nagis wunder Punkt und er verströmte sie mit jeder Faser seines schwachen Körpers.
 

Sobald er etwas nicht richtig machte, einen Schritt fehlging, sich nicht an die Regeln hielt, hatte er Angst, verlassen zu werden. Das hatte jemand so stark in ihn hineingebrannt, dass er diesem Stigma nicht mehr entkommen konnte. Er war hilflos diesem Gefühl ausgeliefert.
 

Omi küsste die zitternden Lippen zart und bettete Nagis Kopf an seine Schulter. Er streichelte über dessen Gesicht, ließ seine Hand an dessen Halsbeuge liegen und lauschte auf die gleichmäßigen Atemzüge. Der Schild erschien als er schlief, flackerte aber immer noch gespenstisch.

Omi schloss die Augen, um es nicht sehen zu müssen. Es reichte, den dünnen Körper an sich zu spüren, um zu wissen, dass Nagis Lebensenergie am seidenen Faden hing.
 


 

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Fortsetzung folgt in Kürze...
 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Ein Dankeschön fürs Beta geht an 'snabel'! ^__^
 

Gadreel

Brennendes Eis

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

GAME OVER I

GAME OVER
 

Erst, als Brad über eine Stunde gelaufen war, klärten sich seine Gedanken und er stellte das Laufband ab. Er fühlte sich ruhiger, verließ den Raum, der mit Übungsmatten ausgelegt war, um das gegenüberliegende Badezimmer zu betreten. Nachdem er sich entkleidet hatte, stellte er das Wasser der Dusche an. Eiskalt rann es über seinen Kopf und er streckte das Gesicht dem kalten Strahl entgegen. Hatte er zugelassen, dass sie vom Jäger zum Gejagten wurden? Mit seinem Wunsch nach Ruhe und Frieden?

Er lehnte seine Stirn an die kalten Fliesen und schlug mit der Faust dagegen. Er hätte sie ausrotten sollen. Er hätte jeden einzelnen von ihnen jagen und vernichten sollen. Aber er hatte es nicht. Sie waren zu angeschlagen gewesen und er hatte ihnen glaubhaft versichert, dass der Orden nicht mehr erstarken würde, dass sie nun die Herren wären. Sie waren es nie gewesen. Wenn er die Macht ergriffen hätte, die sich ihm damals so offen dargeboten hatte, dann wären sie nun nicht in dieser Situation. Er hätte die Geschicke des Ordens lenken können, sie gegen die Sakurakawa Gruppe richten können.

Nichts davon hatte er getan. Er verdrängte diese Gedanken und konzentrierte sich stattdessen lieber auf ein Problem, das er lösen konnte.
 

Das Ryokan war nicht sicher genug. Die umstehenden Häuser zu nahe, die Straße zu nahe. Sollten sie tatsächlich zurück in das Haus ziehen?
 

Die Vision hatte es ihm gezeigt, also was galt es noch zu überlegen? Woher kam diese plötzliche Unsicherheit gegenüber der Fähigkeit, die sich stets als sicher und zuverlässig erwiesen hatte? Und das seit er denken konnte.

Doch so sicher und zuverlässig sie war, so trügerisch konnte sie werden, wenn er sie falsch deutete. Er hatte gelernt, die Visionen mit der Realität zu verknüpfen, ihnen die Wahrheit zu entlocken, die sie in sich trugen. Doch gab es viele Realitäten in seiner Welt und ihm oblag es, welche er wählte. Nur um welchen Preis?
 

Er hatte das Haus damals aus verschiedenen Gründen erworben. Zum einen war es riesig und zum anderen gehörte ein unverschämt großes Grundstück dazu. Die Sicherheitsanlagen waren auf dem neuesten Stand. Zuvor hatte ein Makler dieses Haus sein Eigen genannt und als Hauptsitz für seine Firma genutzt. Sollte sein Alter Ego - Keith Martinez - seine Firma dort ebenfalls unterbringen?

Eine gute Tarnung samt seiner Scheinfirma.
 

Brad stellte das Wasser schließlich auf warm und griff zum Duschgel. Die Sorgen ließen ihn jedoch auch nicht los, als er mit dem Waschen fertig war und sich abtrocknete. Er schlang sich das Badetuch um die Mitte und begann damit, sich zu rasieren. Er musste wieder zum Friseur, wie ihm die etwas überlangen Strähnen bewusst werden ließen.

Er sah sein Spiegelbild an. Rasierschaum bedeckte die untere Hälfte. Seine Augen waren immer noch rot, doch der erhöhte Stoffwechsel ließ das Rot der Bindehaut langsam zu einem kränklichen gelb verblassen. Er würde nicht das werden, was die dahingeschiedene Trias in ihm damals gesehen hatte und was sie selbst zu werden hofften, indem sie ihre Seelen vereinen wollten. Lieber würde er dem ganzen ein Ende bereiten. Der Gedanke war verführerisch wie stets. Doch zunächst galt es Schuldig, Jei und Nagi die Sicherheit zu geben, die sie verdienten. Schuldig war bei Fujimiya gut aufgehoben, nur Jei und Nagi machten ihm Sorgen.

Er musste sich selbst aus dem Spiel um die Macht herausnehmen. Eine Flucht schied aus, die war in der Vergangenheit mehrmals gescheitert, wie sich jetzt wieder bewies. Wie oft war er davor geflohen, eingespannt zu werden? Wie oft hatte er versucht, das zu schützen was er liebte, bis er dazu übergegangen war, nichts mehr zu lieben.

Er war nicht lebensmüde, er hatte es nur satt, dass sich alles um ihn drehte. Strategisch betrachtet war es sinnvoll, sich aus dem Spiel zu nehmen, indem er starb.
 

Die Rosenkreuzer hatten dann keinen Grund mehr, Schuldig, Jei und Nagi zu verfolgen. Seine Schwester würde irgendwie damit klar kommen, besser mit seinem Tod als mit der Tatsache, dass er irgendwo war und sie nicht zu ihm gelangen konnte. Es wäre endgültig.

Und vielleicht war er deshalb doch seines Lebens müde. Es war kurz gewesen und er hatte es genossen, das musste reichen.

Er trat nur die endlose Tradition vieler Hellseher an, die in der Vergangenheit mit ihrem Dasein nicht klar kamen, die der Bürde nicht gewachsen waren. Er befand sich also in guter Gesellschaft. Und er musste sich eingestehen, dass er älter geworden war als viele vor ihm. Zeitlebens hatte er die Kette um seinen Hals gespürt, mal war sie länger und locker gewesen, mal kurz und erdrückend. Letztendlich hatte er sie zerschlagen. Die letzten drei Jahre hatte ihn die Illusion von Freiheit verweichlicht, ihn glauben lassen, dass ihm nie wieder ein anderes Wesen an die Leine nehmen konnte. Nur um jetzt zu erfahren, dass Finn Asugawa sich längst an ihn gebunden hatte. Diese neue Kette, die er nicht verstand und nicht kannte, war ihm zu eng, zu bezwingend.
 

Der Druck, der auf ihm lastete, war immer Teil seines Lebens gewesen. Die Beherrschung seines Selbst. Einem Selbst, das er nicht mehr kannte und nur hin und wieder ausbrach, wenn Schuldig sich zu weit vorgewagt hatte.
 

Mit dem Schaum im Gesicht ging er in sein Büro und wählte dort Schuldigs Nummer. Dieser nahm nicht ab – was für diese Uhrzeit auch undenkbar war.

„Wir ziehen ins Haus zurück. Fang mit den Vorbereitungen an. Ich kontaktiere die Säuberungstruppe.“ Nach dieser knappen Anweisung legte er wieder auf.
 

Wenn sie einem Angriff ausgesetzt werden würden, dann war das Haus am besten zu verteidigen. Es wäre einfacher diesem Land den Rücken zu kehren, aber er würde nicht mehr weglaufen. Schuldig, Jei und Nagi mussten selbst entscheiden, was sie mit ihrem Leben anfingen, er würde sich daraus zurückziehen.
 

Wieder im Badezimmer begann er die Rasur.

Die Baugenehmigung für einen Anbau wäre mit Schuldigs Intervention sogar offiziell zu erlangen und sie konnten den Einflussradius des Mädchens separieren, den Wirkbereich Schuldigs und Jeis wieder erhöhen. Ob sie bei ihnen blieb war noch nicht ersichtlich. Aber wo sollte sie hin?
 

In der Nachbarschaft wohnten Politiker, aber auch hochrangige Polizeibeamte und auch einige Clanfamilien. Ein Angriff musste im Verborgenen ablaufen und kam ihnen somit entgegen.
 

Zudem würde es keinem merkwürdig auffallen, wenn viele Menschen dort wohnten, wenn es sich um eine Firma handelte.
 

Als er fertig war schlüpfte er in einen Bademantel und ging den Flur entlang, der sich zu einem großen Wohnraum mit Glasfront öffnete. Er brauchte diesen weiten Blick über die Stadt, der ihm das Gefühl von Freiheit vermittelte. Mit diesem Bedürfnis ähnelte er Schuldig. Zielgerichtet ging er zu seiner kleinen Bar, griff nach der Flasche Scotch und entsann sich, dass er sie gestern Abend geleert hatte. Wann hatte er das letzte Mal etwas gegessen? Noch war es nicht soweit, sich gehen zu lassen.
 

Er stellte die Flasche zurück, ignorierte den Rest seiner gut gefüllten Bar und ging in die Küche.

Während er sich ein amerikanisches Frühstück bereitete, stellte er das Radio an und hörte dem Nachrichtensprecher zu, der im Prinzip nichts außergewöhnlich Wichtiges zu sagen hatte.
 

Nach dem Essen mixte er sich einen Fruchtcocktail zusammen und ging barfüßig auf den seine Wohnung umrundenden Balkon hinaus. Er trank einen Schluck und lauschte auf die erwachende Stadt. Es gab für ihn noch viel zu tun in nächster Zeit. Sie würden erneut umziehen und Nagi aus der Klinik holen. Dabei kam ihm der flüchtige Gedanke, den Doc bei ihnen einzuquartieren. Übergangsweise mit einer kleineren Ausstattung an Equipment. Dafür brauchten sie unter anderem Geld. Was kein Problem darstellte, nur eines Termins bedurfte. Er hatte heute noch viel vor.
 

Er gönnte sich noch einige Minuten, bevor er sich daran machte, das benutzte Geschirr zu spülen und es wegzuräumen. Danach zog er sich an und verließ, die Sonnenbrille aufsetzend, sein Refugium.
 

Zunächst führte ihn sein Weg zu dem Ort, an dem Asami seinem Schatten in einigen Tagen habhaft werden würde.

Er hatte viele Kontakte und die Zeichen standen auf Sturm. Die Frage war, wie viel von ihm nach diesem Sturm noch übrig sein würde. Und wen es kümmerte?
 


 

o
 


 

„Wie weit seid ihr?“ fragte Crawford und warf einen Blick zu den Aufzügen, die ihm seinen Geschäftspartner in das oberste Stockwerk des Hochhauses transportieren sollten, in dem das Restaurant lag, in dem sie sich verabredet hatten.

Sein gegenwärtiger Gesprächspartner allerdings gab lediglich ein entrüstetes Schnauben von sich.

„Dir auch einen schönen guten Morgen...“ fing Schuldig in diesem typischen quengligen Tonfall an, den Brad immer besonders schnell auf die Palme brachte. Dessen Gedanken waren allerdings mit einer anderen Person beschäftigt.

„Es ist Mittag, Schuldig“, unterbrach er deshalb ruhig den Telepathen.

„Von mir aus. Für mich ist jedenfalls erst kurz nach dem Aufstehen. Und dein ‚Befehl’ wieder zurück ins Haus zu ziehen rührt nicht vielleicht daher, dass es dir ein dreckiges kleines Vögelchen gezwitschert hat?“ fragte Schuldig in ätzendem Tonfall. Für den Brad momentan wenig übrig hatte.

„Wo von sprichst du?“ fragte Brad abwesend.

„Von Asugawa oder dem kleinen Kawamori-Fratz.“

Das brachte Brad, der in Gedanken bei dem bevorstehenden Treffen mit Asamit war, zurück zu seinem nervigen Gesprächspartner. „Fratz? Er ist älter als du, wenn sein Vater nicht gelogen hat“, sagte er trocken.

„Wie auch immer. Spielst du hier auf Zeit oder warum willst du mir meine Frage nicht beantworten?“ Schuldig gähnte ihm ins Ohr und Brad seufzte ungehört, wartete das dramatisch klingende, akustische Intermezzo ab, bevor er seine Kaffeetasse an sich heranzog und einen Schluck nahm.
 

„Die Information stammt tatsächlich von dem ‚Fratz’ über den kleinen Umweg meiner Schwester...“

„Du vertraust dem Kerl?“ Schuldig hörte sich an, als hätte er seinen eigenen Kaffee gerade ausgespuckt.

Brad hörte ein Husten und hielt sein Mobiltelefon etwas von seinem Ohr weg. Als er Worte vernehmen konnte wähnte er sein Gehör wieder in Sicherheit und wagte eine Annäherung an das Gesagte.

„... was mit China war? Und als sie Ran verprügelten, da war er schließlich auch dabei. Außerdem nicht zu vergessen Jei...“

Brad holte tief Luft und sein Blick verlor sich kurz auf der weißen Tischdecke. Er ließ Schuldigs Aufzählung durch sich hindurch rauschen und pickte sich schließlich das, was ihn am meisten interessierte heraus.

„Er war dabei, als Ran verprügelt wurde? Wie kommst du zu dieser Information? Du warst schließlich nicht dabei, oder irre ich mich?“

Schuldig verstummte. Aber nur kurz.

„Witzig Brad. Sehr witzig. Natürlich war ich nicht dabei.“ Wieder war nur Stille zu vernehmen. Brad lächelte kühl. Das war interessant. Schuldig hatte Geheimnisse vor ihm. Sehr selten war das. Der Telepath konnte sich doch meistens kaum zügeln wenn es darum ging, etwas auszuplaudern.

Brad wartete.

„Als ich Jei aus seinem Traum geholt habe bin ich mit ihm zurück gegangen.“

Jetzt ließ er sich alles aus der Nase ziehen. Auch sehr untypisch für den Deutschen.

„Warum?“

„Um ihn an den Schnüffler zu erinnern.“

„Was hat unser Schönling mit Ran zu tun?“

„Nichts. Also... oh man Brad... das spielt doch keine Rolle.“
 

Brad schwieg. Er wusste schließlich wie sehr es Schuldig hasste, wenn er das tat. Und wie stets hatte er Erfolg mit diesem stoischen Schweigen.

„Ich musste ihm die Verbindung aufzeigen, die er mit Kudou hat, eine Parallele, wenn du so willst. Wir sind zufällig an diese Erinnerung gelangt und ich habe mich dabei umgesehen.“

„Dein Eindruck?“

„Ein Typ mit der Maske, die wir schon kennen, hat SIN zurückgepfiffen. Vermutlich war es Asugawa. Naja, ich gehe mal schwer davon aus, aber ich weiß es nicht. Er hat die Maske nicht abgenommen. Daraufhin sind sie verschwunden.“

„Dann war er nicht direkt an der Tat beteiligt?“

„Was spielt das für eine Rolle? Er hat sie vielleicht beaufsichtigt, die Pläne hierzu gemacht...!“ Schuldig schnaubte wieder. „Suchst du etwa Pluspunkte für diesen Kerl? Er ist nicht vertrauenswürdig und er hält sich stets im Hintergrund, was definitiv dafür spricht, dass er einiges zu sagen hat und uns nur noch tiefer reinreiten kann als ohnehin schon. Wieso vertraust du ihm, was den Umzug anbetrifft?“

„Ich vertraue ihm nicht. Aber ich vertraue mir selbst und den Bildern deines toten Schätzchens im Ryokan wenn wir dort bleiben. In die Offensive zu gehen ohne Nagi halte ich für falsch, im Hinblick darauf, dass wir nicht wissen, wie die Fußtruppen mental ausgerüstet sind. Jei hatte keinen Zugriff auf ihr limbisches System. Sie sind schwer zu töten, zwar zu lokalisieren aber weder Jei noch du können sie beeinflussen. Das Haus ist besser zu verteidigen.“
 

„Ran stirbt wenn wir hier bleiben?“ Schuldigs Stimme war rau und kaum zu hören.

„Ja. Wir hätten nie wegziehen sollen. Ich habe mich beeinflussen lassen. Von SIN. Das hätte nie geschehen dürfen. Etwas hat sich damals verändert, ist nicht dem Ursprung gefolgt. Dadurch hat sich eine neue Zeitlinie ergeben der ich gefolgt bin. Ich hätte sie ignorieren sollen.“

„Ich bereite alles vor.“

Schuldig legte auf.
 

Brad seufzte und steckte das Mobiltelefon wieder in seine Jackentasche. Er sah auf seine Armbanduhr. Asami würde in einer Minute... die Türen des Aufzugs öffneten sich und Asami samt Entourage betraten das Restaurant und wurden von dem Oberkellner begrüßt. Während dessen rechte Hand und die beiden Bodyguards unauffällig zurückblieben, kam Asami näher. Sie begrüßten sich und nahmen wieder Platz, tauschten Höflichkeiten aus und kamen schließlich zu dem eigentlich Thema.

„Wir haben heute Abend ein mögliches Ziel. Nach ihrer Beschreibung trifft er sich heute in Sowas Club um an Informationen zu gelangen. Das tut er wohl hin und wieder, wie mir sein Sohn versichert hat.“

„Was hat sein Sohn davon, wenn er Ihnen dies versichert?“

„Ich halte Sowa von Steam fern, indem ich ihm meinen Club anvertraue. Die beiden haben, sagen wir... unüberwindbare Differenzen. Solange dieses kleine Arrangement gut funktioniert habe ich einen getreuen Vasallen und einen Fuß im Geschäft, das Sowa betreibt.“
 

Brads Blick verdunkelte sich. Sowa handelte mit jungen Frauen und Männern, vor allem aus Thailand und China. Er verschacherte sie an reiche Japaner oder nach Übersee, dort verschwanden sie in die Zwangsprostitution. Russland war nicht sein bevorzugtes Gebiet denn dort hatte Fei Long seine Finger im Spiel. Die beiden waren Konkurrenten in diesem Geschäft, da Sowa in Fei Longs Revier wilderte, gab es hin und wieder kleine kriegerische Scharmützel, die unter dem Radar der Behörden ausgetragen wurden oder mit deren blinder Billigung. Brad konnte sich gut vorstellen, warum die Sakurakawagruppe Fei Long von der Bildfläche tilgen wollte – Sowas Geschäft könnte damit gut nach China expandieren, zumindest solange Fei Long noch keinen Nachfolger hatte, der die Geschäfte nach seinem Ableben übernehmen würde.
 

„Sowas Geschäfte gehen gut?“ hörte sich Brad höflich fragen.

„Für meinen Geschmack zu gut. Ich versuche die Kontrolle zu behalten, aber Sowa liebäugelt mit den Tetsuras. Wenn Sakurakawa noch mehr Macht in dieser Stadt bekommt, verliere ich Sowa und die Kontrolle über diesen Sektor.“

„Sowa vermittelt den Tetsuras Männer?“ fragte Brad.

„Er hält es für sinnvoll die Machtverhältnisse ausgeglichen zu halten. Ich stimme dem zu, nur bezweifle, ich dass dem so ist.“
 

Brad neigte leicht den Kopf. Sowa war ein widerwärtiges Schwein, der alleine stand, keinem Clan zugehörig war und doch überall mitmischte.

„Rein hypothetisch: was wäre, wenn Sowa das Zeitliche segnete, an wen würde dieser Sektor fallen?“

„Zunächst würde es Chaos geben, die Unterhändler würden sich an die Familien wenden. Die Sakurakawas kauften Sowa in den vergangenen Monaten eine große Menge Ware ab.“

Vermutlich für die Versuchslabore oder ihr manipuliertes Kanonenfutter, überlegte Brad.

„Dann liegt die Vermutung nahe, dass Asugawa der Vermittler für diese Transaktionen war? Er wandte sich an sie, als er um Unterstützung gegen Fei Long bat. Er kennt die Wege, auf denen Sowa seine Ware bezieht. Soweit mir bekannt ist gehen die Geschäftsbeziehungen des Clans mit Sowa erst seit Kurzem diese innigen Wege.“ Asami hob eine Braue und sah ihn skeptisch an.

„Über meinen Club, der von Sowas Sohn geleitet wird? Nein. Aber es wäre ein leichtes über seinen Sohn an Sowa heranzukommen. Über Steam ist Asugawa an mich gekommen, um mich für seine Sache gegen Fei Long einzunehmen. So könnte Asugawa durchaus an Sowa geraten sein, um den Clan mit ‚Freiwilligen’ zu versorgen.“

Asugawa als Vermittler für Menschenhandel? Was würde sein Vater dazu sagen?

Crawford lächelte eisig. Er schätzte diesen Geschäftszweig nicht. Zu Zeiten von Takatori und dessen Sohn Masafumi hatten sie nicht nur einmal Kontakt zu dieser Sparte gehabt und Crawford hatte es schon damals widerwärtig gefunden. Und Asugawa mischte kräftig mit. Brad hatte sich über Sowa informiert. Es war der Mann, der ihm aus seiner Traumvision als Sozu bekannt geworden war. Er war ihm in seiner Karriere bei SZ nicht begegnet. Brad ahnte, wie nun die Verbindung zwischen Sowa und Asugawa zustande gekommen war. Entweder hatte der Mann noch eine Rechnung mit Asugawa offen – wie so viele – oder er hatte ein anderes zweifelhafteres Interesse an dem Halbjapaner. Was es auch immer sein mochte, Brad würde nicht zulassen, dass ihm jemand seine Beute vor der Nase wegschnappte.
 

Crawford sah Asami lange an, bevor er etwas sagte.

„Ich denke, ich werde mich heute Abend gut amüsieren...“
 


 

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Bereits als die Tür sich für ihn öffnete, plärrten ihm die Lautsprecher ihren Sound um die Ohren und rüttelten sich über den Boden in seinen Körper. Der Tanztempel erstreckte sich über zwei Etagen und war zum Bersten voll. Genau das was Finn jetzt brauchte – eine kurzweilige Ablenkung vom tödlichen Alltagsgeschäft und das mitten in einer brandgefährlichen Phase. Aber wer war er, wenn er nicht wusste, wann er sich ein bisschen Entspannung vom alltäglichen Einerlei aus umherfliegenden Kugeln, Intrigen, dem ein oder anderen Mord und dem liebkosenden Klang einer nach Blut lechzenden Klinge genehmigen musste?

Finn hatte sich in Schale geworfen: Eine Jeans die gewollt so aussah, als hätte sie schon bessere Tage gesehen, die jedoch seinen Hintern auf perfekte Weise betonte – nicht zuviel, gerade locker genug um perfekten Sitz zu gewährleisten. Ein weißes Shirt, dass seinen Oberkörper gerade einladend umschmeichelte. Um seine Körperzeichnungen zu verbergen hatte er zwei übereinander angezogen. Wie stets waren seine Augen mit einem dramatischen Hauch von Lidschatten versehen. Man hätte ihn tatsächlich für einen der japanischen Rocksänger halten können, mit der überlangen Haarsträhne, die ihn im Nacken kitzelte und dem Undercut, den Gula ihm beschert hatte. Die Haare waren nachgewachsen und er hatte sie sich erneut kurz rasiert – eine Warnung an sich selbst, nicht mehr so leichtsinnig in ihrer Gegenwart zu sein. Er war ihr zwar nicht mehr so unmittelbar wie früher ausgeliefert, aber die Begegnung vor nicht allzulanger Zeit hatte ihm wieder eingeschärft, dass diese Wahnsinnige ihm dicht auf den Fersen war. Wie ein Bluthund würde sie nicht eher ruhen, bis einer von ihnen das Zeitliche segnete. Sie hatte ein geradezu perverses Interesse an ihm gezeigt. Der Hauptgrund, warum er dem Clan gerade zum jetzigen Zeitpunkt entsagt hatte. Zu lange schon hatte er ihre Spielchen mitgespielt und sich unterworfen. Er hatte sich von ihr benutzen lassen und das auf so viele Arten, dass diese Angst, es könnte wieder geschehen, ihm kalten Schweiß auf die Stirn trieb.
 

Er kämpfte sich zur Bar durch und musste nicht lange warten, bis er einen Drink in der Hand hielt. Er nahm einen Schluck des Cocktails, um die Gedanken an Gula fortzuspülen und wandte sich um. Nur kurz wunderte er sich über seinen Leichtsinn, gerade jetzt Alkohol trinken zu müssen, aber die Irritation währte nicht lange und er ließ sich treiben.

Mit seiner Größe und seinem Aussehen hatte er leichtes Spiel bei einigen Anwesenden. Finn genoss die unbeschwerte Stimmung, drehte sich wieder um und trank seinen Cocktail aus, während er mit der Barkeeperin flirtete. Wenig später – er hatte seinen dritten Cocktail bestellt - steckte sie ihm einen Zettel zu und deutete mit dem Kopf nach oben. Das hatte ja nicht lange gedauert und dazu hatte er sich heute noch nicht einmal groß anstrengen müssen.
 

Er faltete den Zettel auseinander. „Komm hoch“, stand dort und daneben sein kleines, dahingekritzeltes Konterfei mit grimmiger Miene, das dem Betrachter die Zunge herausstreckte. Finn verzog das Gesicht, zunächst halb beleidigt, dann grinste er. Er nahm sein Getränk an sich, nickte der Barfrau zu und glitt von seinem Barhocker, um sich postwendend dem nächsten Stockwerk zuzuwenden. Aggressive Klänge schallten ihm im nächsten Bereich entgegen, als er die Tür passierte. Hier passte seine punkige Frisur besser her, zwar war das Shirt ein leuchtender Farbklecks zwischen all den düsteren und grellen Farben, aber hier hielt sich keiner mit der Frage nach der richtigen Kleiderwahl auf.

Er ging die Treppe nach oben, umrundete die Galerie und kam an eine Sitzgruppe, die von zwielichtigem Gesindel ursupiert worden war. Ihm bekannt als Autoschrauber und Veranstalter illegaler Straßenrennen. Er ließ seinen Blick über das dreckige Dutzend wandern, bevor einer der Männer, die der Tür – seinem Ziel - am nächsten waren, seinen Kopf aus dem Nacken nahm und ihn sparsam lächelnd durchwinkte. Er nahm diese letzte Hürde und wurde von einem Bodyguard abgetastet, bevor ihm zuvorkommend die Tür in einen Raum mit Glasfront geöffnet wurde. Er ließ seinen Blick über den Raum gleiten als die Tür hinter ihm geschlossen wurde. Ein ihm nur zu bekannter Mann saß im Halbdunkel mit dem Rücken zu ihm in einem Sessel. „Reichlich viel Aufwand für dich...“ sagte Finn und nahm einen Schluck seines Getränks.

„Meinst du? Schwierige Zeiten sind das geworden...“ hörte er die Stimme leise vor sich und Finn lachte. „Wem sagst du das...“
 

Er ging näher, lehnte sich gegen den Sessel, sodass er den gleichen Blick hinunter auf die Band und die tanzende Menge hatte wie sein Gastgeber. Seine Hand fand ihren Weg in das weiche blonde Haar des Halbrussen. „Weswegen bist du hier?“

Hier oben war es absolut still, surreal wenn Finn bedachte, dass dort unten ein Hexenkessel tobte.

„Entspannung, Abwechslung... dein Hintern?“ erwiderte Finn sanft lächelnd.

„Nicht beruflich?“ Der Haarschopf entzog sich seiner Hand, als der Kopf sich bewegte und seine Augen die Seinen suchten.

Finn löste sich vom Anblick der tanzenden Meute und sah hinunter. „Nein. Es gibt nur noch wenige Plätze in dieser Stadt, die ich privat betreten kann.“

„Dann bringst du die Gefahr zu mir?“, fragte er Finn.

„Soll ich gehen?“ Finn stellte seinen Mochito ab und setzte sich rittlings auf den Schoß des anderen. Dieser sah ihn ernst an.

„Sie sind hinter dir her.“

„Wer?“

„Die ganze beschissene Stadt.“ Der Mann lächelte träge. „Und da bist du nun... auf meinem Schoß... leicht verdientes Geld würde ich sagen.“ Er strich Finn mit zwei Fingern über die Wange hin zu den sich öffnenden Lippen. Sanft, fast schon zart touchierten sie die Lippen, verließen sie wieder und er zog seine Hand zurück.

„Wie viel?“ Finn mochte dieses kantige Gesicht, die Spuren des harten Lebens das Steam gezeichnet hatte. Es barg nichts Schönes, hatte seine Attraktivität, die es irgendwann gehabt hatte durch die wulstige Narbe, die ein Auge beschädigt hatte längst eingebüßt. Steam hatte ihm bei einer ihrer früheren Begegnungen einmal gesagt, dass seine Schönheit süchtig machte, dass er sich an ihm nicht satt sehen konnte. Er dagegen konnte sich an den feinen Linien um die Augen und der Narbe nicht satt sehen. Sie erzählten ihrem Betrachter so viel wenn er genau hinsah und sich nicht davon abwandte.

„Zwei Millionen...“

Finn hob die Brauen.

„Wer?“

„Asami himself. Und da kommst du einfach so hereinspaziert und präsentierst dich auf dem Silbertablett.“

„Asami? Weshalb?“ Finn war alarmiert. Weshalb sollte Asami gerade jetzt seine Hände nach ihm ausstrecken? Weshalb das Interesse des Mannes?
 

„Das müsstest du am Besten wissen. Es wird darüber gesprochen, dass Asami nicht der Ursprung des Ganzen ist. Hinter vorgehaltener Hand wird darüber diskutiert, dass Schwarz hinter dir her sind. Er tut ihnen offenbar einen Gefallen. Sehr großzügig von ihm, wie ich finde. Mein alter Herr ist ganz scharf darauf dich in seine Hände zu bekommen. Ich denke, dass ich zwei Millionen habe, um dich ihm abzukaufen...“ er lächelte wieder sein anzügliches, träges Lächeln.

„Dein Vater...“ murmelte Finn. Dieser Mann war nur schwer zu ertragen. Er hatte in der Vergangenheit das eine oder andere Geschäft mit ihm abwickeln müssen und er hatte nie einen Hehl aus seiner Abneigung gemacht. Was auf der Gegenseite stets mit noch mehr Angeboten und Interessenbekundung beantwortet worden war. Dieser Mann wollte ihn haben und er hatte sogar dem Clan eine Anfrage über eine Abwerbung geschickt. Um die geschäftlichen Beziehungen zu festigen. Er hatte dem Clan somit offen angeboten, einen Spion bei sich einzulassen. Aber Finn wusste welcher Arbeit er bei Sowa nachgehen würde. Und er war nicht interessiert gewesen – immer noch nicht. Für den Clan war Finn zu wertvoll geworden – schon allein wegen des Aspektes, dass er ein erfolgreicher Aspirant des Serums war – um ihn einfach so gehen zu lassen. Auch wenn das Angebot selbstredend verlockend für den Clan gewesen war.

„Mein Vater ist schon lange hinter deinem Hintern her, meine kleine Spinne. Er ist fasziniert von dir. Von deiner Kunst zu töten, deinem Führungsstil innerhalb des Clans, deiner erotischen Ausstrahlung, dem betörenden Augenaufschlag, wenn du dich in eine Frau verwandelst...“
 

„Meiner erotischen Ausstrahlung? Leidet dein Vater an geistiger Umnachtung? Ich hätte ihn weit klüger eingeschätzt. Weshalb sollte er sich seinen Tod ins Haus holen?“ fragte Finn mit einem süßen Lächeln, das eher in das Gesicht eines jungen Mädchens gepasst hätte als in seines.

Ein Schulterzucken war sein Lohn. „Deine Schönheit ist dein Fluch, Spinne. Du weckst Begehrlichkeiten von Leuten, die keine Skrupel kennen. Irgendeiner dieser Leute wird dich kriegen. Du bist nicht in der Position, um aus jeder Situation fliehen zu können. Ab und an braucht jeder Freunde oder zumindest Beziehungen. Nichts davon kannst du aufweisen in deiner Lage.“
 

Finn stutze. Woher wusste Steam so viel über ihn? Irgendetwas war hier seltsam. Aber er hinterfragte diese Worte nicht.

„Und du? Was würdest DU mit mir anfangen...?“ fragte Finn und legte den Kopf schief. Wobei er noch besser dran wäre wenn Steam – so sein Künstlernahme – ihn kaufen würde. Völlig absurd das Ganze. Crawford machte Jagd in großem Stil auf ihn und er war beinah am Arsch wenn er hier weiter herumlief.

Und dabei machte sich Crawford nicht einmal die Hände schmutzig. Finn lächelte leise in sich hinein. Wenn er es genau betrachtete war das genau die Arbeitsmoral, die er an dem Amerikaner so schätzte. Objektiv betrachtet natürlich. Streng genommen fand er es nicht wirklich erbaulich.

Finn beugte sich zu dem anderen und sah ihm tief in die Augen. „Und was hast du jetzt vor mit deiner Beute?“
 

„Du willst mir also sagen, dass ich mir keine Sorgen machen muss, weil du dich brav von mir fangen lässt und ich nicht in kürzester Zeit mit durchschnittener Kehle den Fußboden vollsaue?“

Finn lächelte dieses mal weniger warm. Es war ein kaltes Grinsen, das sich auf den aparten Gesichtszügen ausbreitete.

„Nein.“

„Nein?“

„Hast du denn Angst?“

„Ich habe andere Sorgen“, sagte die Stimme des anderen, die rau und leise zu ihm drang.

„Die da wären?“

„Meine Hose spannt und mein Schwanz wird immer praller, je länger wir hier reden. Das sind die einzigen Sorgen, die mich im Augenblick umtreiben.“

Finn lachte schallend als er die trockenen Worte hörte.

Er erhob sich, stellte die Beine rechts und links neben dem Sessel auf. Steam hob die Hände, löste zunächst den Gürtel und öffnete mit einem gelangweilten Blick nach oben langsam die Knöpfe. Währenddessen griff sich Finn die Zigarettenschachtel vom Tisch, pflückte sich einen Glimmstengel heraus und zündete ihn an, den Kopf in den Nacken legend als er die festen Lippen auf seiner Haut spürte. Das war Entspannung pur.

Nachdem Finn die Schachtel wieder auf den Tisch warf nahm er sich als nächstes die 9 mm Waffe vom Tisch und hielt sie locker im Nacken des Mannes.
 

Er war so richtig schön in Fahrt und gerade dabei zu kommen, als es an der Tür klopfte. Er spürte wie die Hände seinen Hintern packten und ihn dichter in den unersättlichen Rachen zogen. Finn wähnte sich noch in den Nachwehen eines Höhepunktes als Steam ihn entließ und ein „Ja“ krächzte.

Die Tür ging auf und einer der Bodyguards öffnete einen Spalt, er sah nicht herein. „Wir haben ein Problem.“

„Welcher Art?“

„Unerwünschte Gäste.“

Steam verpackte Finns Glied fürsorglich hinter dem Stoff und schloss die Jeans ebenso akribisch, bevor er den Gürtel schloss. „Geht’s genauer?“ fragte Steam.

„Sieh es dir selbst an.“

„Wie viele?“

„Drei...“

Die Tür schloss sich wieder und Finn ging rückwärts, drehte sich dabei um und lehnte sich mit den Händen an die leicht gekippte Glasscheibe. „Mal sehen...“
 

Steam ging zur Tür und sperrte sie ab. Finn horchte auf, er hatte jedoch immer noch die Waffe in der Hand. Und in dem Moment, als er ihn sah und das Gesicht zu ihm hinauf lächelte, drehte er sich um und starrte Steam an, der sich gerade selbst eine Zigarette aus der Schachtel klopfte. Er zündete sie an, blies den Rauch durch die Nase und seufzte. „Ziemlich einseitige Geschichte“, sagte er bedauernd.

Finn war sich verdammt unsicher, wer von den beiden Männern nun zu ihm sprach. Steam oder Schuldig von Schwarz, der dort unten einen auf amüsierten Gast machte. Amüsiert war er sicherlich – über ihn.

„Wie bitte?“ versuchte sich Finn unverfänglich zu geben. Doch als Steam ihn anblickte und das Gesicht so untypisch für ihn zu einem Grinsen verzog, war Finn klar, mit wem er das zweifelhafte Vergnügen hatte.

„Er steht auf die Nummer, ich seh schon. Hatte es auch nicht leicht im Leben.“ Er seufzte wieder.

„Was wollt ihr hier?“, fragte Finn atemlos. Während er sich mit ihm unterhielt konnten sie schon auf dem Weg nach oben sein. Er musste raus hier. Er bewegte sich Richtung Tür, doch Steam, der seinen Körper Schuldig lieh, schnalzte tadelnd. „Du kommst nicht weit, bemüh dich nicht. Noch weiß keiner, dass du hier oben bist, außer mir natürlich.“

„Was hast du davon, wenn du es nicht sagst?“

„Spaß?“

Das war immer sein größter Albtraum gewesen. Schwarz in die Hände zu fallen und dann auch noch Mastermind.

„Was willst du hier?“

„Dich abschleppen... wir könnten viel Spaß miteinander haben... oder ich könnte es zumindest“, räumte Schuldig ein.

„Komm zu mir... komm her...“ Steam streckte die Hand aus und lächelte ihn harmlos an. Er fühlte wie die Ränder seiner Sicht zu etwas Dunklem wurden, sein Sichtfeld sich einschränkte, er nur mehr die Stimme in seinem Kopf hörte... nur noch diese Stimme. Ein Geräusch erregte seine Aufmerksamkeit, aber er konnte sich nur sehr langsam bewegen und als er es endlich geschafft hatte, seinen Blick darauf zu wenden, stand Schuldig vor ihm und sagte etwas zu ihm. Er kam immer näher... Steam fiel wie eine Puppe in sich zusammen während Finn verwirrt und verzweifelt Schuldig ansah, der immer noch näher kam bis er so nah bei ihm war, dass er seinen Atem auf der Wange spüren konnte. Die hellen Augen waren ihm so nahe... und er musste schießen... heb deine Waffe... Schieß endlich... schieß...schieß...
 

Und Finn schoss... genau in diesem Moment aus dem Bett in die Höhe. Er keuchte erschrocken, griff sich an seinen Kopf und sah sich um. Bis auf eine blaue Hose, die er zum Schlafen trug, war er nackt, also alles wie üblich, alles wie es sein sollte.

Er ließ sich wieder zurück fallen und starrte an die bereits abblätternde Decke.

Ähnliche Albträume hatte er bereits oft gehabt und stets spielte der deutsche Telepath eine nicht zu geringe Rolle dabei. Dicht gefolgt von bizarren Begegnungen mit Crawford. Immer endete das Ganze schlecht für ihn. Und immer wirkte es so verdammt echt.
 

Was sollte er tun?

Heute zu diesem Treffen mit dem Sowa Spross gehen?

Er war sein Kontakt innerhalb der Sowa Familie, einem Zweig von Asamis Geschäftsresort. Über Sowas Sohn war er an Asami gekommen. Er traf sich hin und wieder mit Steam um herauszufinden, wie viel Nachschub Sowa den Sakurakawas lieferte. Die konnten schließlich nicht genug williges, manipuliertes Fußvolk besitzen. Vorzugsweise junge kräftige Männer, denen sie dann die Droge in minimaler Form verabreichten, um sie steuerbar zu machen. Falls sie weiter Nachschub lieferten würde es immer schwerer werden, den Jungen aus dem Anwesen herauszubekommen. Und Finn hatte immer noch keinen Plan ausgearbeitet, den er alleine durchführen konnte. Auf Kiguchi konnte er nur im ersten Teil zählen. Ein Plan wie bei Lillis Flucht war kaum möglich. In einigen Tagen wollte er sich noch einmal mit Kiguchi treffen, bis dahin musste er eine Idee haben wie er es anstellen wollte.
 

Er setzte sich auf und sah sich um. Bis auf ein Futon, zwei Umhängetaschen und zwei große Reisetaschen war das Zimmer leer. Trotzdem kostete es ein Heidengeld. In den Taschen befanden sich exakt einmal Kleidung für Sophie Fuchoin und seine eigenen Sachen zum Wechseln. Die Reisetaschen beinhalteten seine Waffen, darunter seine beiden Katanas und zwei kurze Dolche, einige Handfeuerwaffen und diverses spitzes Kleinwerk zur Verteidigung.

In einer Woche musste er sich endlich darum kümmern, dass er sich das Serum wieder verabreichte. Dieses lagerte noch in den Schließfächern. Er pendelte hin und wieder dort hin, um das Material auszutauschen, das er brauchte. Er lief schon Gefahr, bald unter den Wirkspiegel zu fallen. Die Auswirkungen könnten verheerend für ihn sein. Nicht auszudenken, wenn Schwarz ihn dann finden sollten. Schuldig würde sein ganzes Ich auseinandernehmen und dabei auf die eine oder andere Sache stoßen, die ihm sicher nicht gefallen würde.

Wirklich kannte er die einzelnen Mitglieder von Schwarz nicht, aus der Ferne konnte er sie kaum kennen lernen. Aber er wusste, dass der Telepath verrückt und seine Handlungen nicht nachvollziehbar waren. Was würde er mit ihm machen, wenn er erfuhr, was Finn einst getan hatte?

Crawford würde lächelnd dabei zusehen, wie sie ihn folterten. Das war sein schlimmster Albtraum – Crawford , der zusah, wie er gefoltert wurde und dabei genießerisch lächelte.
 

Finn erhob sich weniger geschmeidig als sonst vom Bett und ging in das angrenzende, kleine Badezimmer. Entgegen dem Zustand des Zimmers war es einigermaßen sauber. Der Traum oder vielmehr Albtraum hing ihm immer noch im Nacken. Es hatte sich so echt angefühlt.

Während er noch darüber nachdachte, schlüpfte er aus der Hose und stieg in die kleine Badewanne, um sich abzuduschen. Was für ein Schlamassel.

Er hatte keine Kontrolle mehr über die Ereignisse. Das hatte er damals befürchtet, als er vor der Entscheidung gestanden war, sich dem Clan anzuschließen oder zu verschwinden und von außen die Ereignisse zu überwachen – Crawford von außen zu schützen. Das war schwierig und er sah ja jetzt wohin das führte. Warum hatte er die Entscheidung getroffen, den Clan zu verlassen? Weil es zunehmend schwieriger geworden war, Schwarz nicht ernstlich zu schaden. Und weil er sich zunehmend Gula ausgeliefert fühlte. Ohne sich und seine Fähigkeiten zu verraten, hätte er sich ihr häufiger unterwerfen müssen, um seine Rolle als Schwächling der Truppe nicht zu gefährden.
 

Er wusch sich die Haare und stellte danach das Wasser ab.

Und wenn er Hisoka aufsuchte? Vielleicht konnte er ihnen helfen. Er hatte zwar für derlei nicht viel übrig, aber wenn er ihm erklärte, dass Kiguchi in Gefahr war?

Streng genommen war er das ja auch...

Nur hatten sie sich selbst hineingeritten und Hisoka hatte ihnen klar gemacht, wohin das führen würde.
 

Finn griff sich das Handtuch, nachdem er tatenlos einige Momente in der Badewanne gestanden hatte und die Kälte nun Einzug hielt.

Er trocknete sich ab und stieg aus der Wanne auf den nackten Boden.

In den letzten Jahren hatte er hin und wieder Kontakt mit Hisoka gehabt. Zwar nur selten, aber sein Halbbruder hatte ihm deutlich gemacht, dass er es für den falschen Weg hielt, keinen Kontakt zu Schwarz aufzunehmen. Aber Hisoka kannte Schwarz nicht so wie er, die hätten ihn auseinandergenommen und Crawford hätte ihm nie soweit vertraut, dass er... es zugelassen hätte, dass Finn für ihn in der Familie spionierte.
 

Finn sah in den Spiegel. Seine Augen sahen ihn nicht gerade glücklich an. Hatte Hisoka Recht und war er im Unrecht gewesen? Hätte er Schwarz kontaktieren sollen, bevor es soweit gekommen war?

Schließlich hatte er sein Ziel nicht erreicht und das Übel – SIN - von Schwarz abzuhalten war kaum von Erfolg gekrönt gewesen. Chiyo hatte es für zu früh gehalten. Sie hatte zu Bedenken gegeben, dass Schwarz noch nicht bereit dafür waren, zuzuhören. Das war vor Jahren gewesen und Schwarz noch mit SZ beschäftigt. Aber immerhin konnte er sich zugute halten, dass er es geschafft hatte, zwei bis drei Jahre Aufschub zu schaffen, in denen Schwarz ihre Ruhe hatten. Das war doch keine ganz so schlechte Bilanz, oder?
 

Bevor er sich jedoch entschied in den Club zu gehen um zu hören, was Steam ihm über die Transaktionen seines Vaters mitzuteilen hatte, wollte er sich etwas umhören und so herausfinden, was mit Chiyo passiert war und warum sie sich nicht mehr bei ihm meldete. Der Verdacht, dass sie ihn fallen gelassen hatte, lag sehr nahe. Manx auf die Füße zu steigen bot auch seinen Reiz, aber wo trieb sich die Agentin herum?
 

Das musste er wohl auf später verschieben.
 

Trotz des Albtraumes würde er hingehen und er hatte auch schon einen todsicheren Plan für heute Abend...

GAME OVER II

Brad hatte sich bereits vor Asamis Leuten in Position gebracht. Er traute dem Mann nicht. Bereits zwei Stunden, bevor der Club öffnete, saß in einem Appartement im Gebäude gegenüber im dritten Stock und beobachtete das Treiben sowohl am Vordereingang, der weniger frequentiert war, als auch den Nebeneingang. Händler brachten kleinere Getränkelieferungen und hin und wieder öffnete sich der Eingang um Menschen hinein oder hinauszulassen.

Brad beobachtete durch das Fernglas die Personen, die sich dem niedrigen Gebäude näherten und blieb an einer Frau hängen. Sie trug unverschämt hohe Stiefel, eine hellblaue Jeans und eine schwarze Bluse. Eine taillierte Lederjacke rundete das Outfit ab. Was ihm aber am meisten auffiel, waren die langen schwarzen Haare und das überaus attraktive Gesicht. Er zoomte heran. War sie das?
 

Das war doch... wie hatte sie geheißen... Fuchoin... Sophie... Shanghai...
 

War das Zufall?
 

Zufälle gab es in seinem Weltbild nicht.
 

Er verfolgte, wie sie in die Seitenstraße einbog, die große schwarze Handtasche von ihrer Schulter nahm und an die Tür klopfte. Es dauerte etwas bis ihr geöffnet wurde. Die Tür fiel wieder ins Schloss und sie wartete. Sie ging einige Schritte auf und ab und Brad hatte Zeit, sie zu beobachten. Was machte eine Unternehmerin in diesem Club? Heute...?

Wenig später öffnete sich die Tür und sie wurde eingelassen.
 

Brad überlegte kurz und warf schließlich das Fernglas hin, bevor er das Apartment verließ.

Steckte sie mit Asugawa unter einer Decke? Oder aber arbeitete sie ebenso für den Clan?

Auf jeden Fall war sie nicht das, was wie vorgegeben hatte zu sein.
 

Brad stieß die Tür zum Treppenhaus auf und rannte die Stufen hinunter. Er überquerte die Straße und trat in die Seitenstraße ein. Wie die Frau zuvor klopfte er mit der Faust an der Tür. Kurz darauf öffnete sie sich.

Ein junger Japaner sah ihn ruhig an. „Wo ist die Frau, die gerade hier rein ist?“
 

„Welche Frau?“ fragte der Mann und wollte die Tür bereits wieder schließen. Crawfords Vorraussicht zeigte ihm, dass er als zweiten Schritt eine Waffe ziehen würde. Dem kam Crawford zuvor. Er zog seine eigene, trat den Mann mit einem gezielten Tritt in die Flanke zur Seite und beugte sich samt Waffe an dessen Schläfe hinunter. „Wohin? Ich frage kein zweites Mal“, sagte er ruhig.
 

„Sie...sie... zum Boss... gehören sie zu Asamis Leuten?“
 

„Nicht ganz... Wo ist dein Boss?“
 

„Durch den Club und dann die Treppe rauf.“
 

„Steh auf...“ Brad zog ihn an seinem Shirt nach oben und schubste ihn vor sich her. „Du gehst vor.“ Brad hielt seine Waffe an seinem Oberschenkel. Der Club war nicht voll ausgeleuchtet. Der Mann hielt sich die Flanke, tat aber, was Brad von ihm wollte.

Keiner der anderen Angestellten fand es ungewöhnlich, dass der Mann einen Besucher zu seinem Boss führte.

Sie durchquerten zwei Tanzbereiche und zwei Bars bevor sie eine Treppe nach oben gingen. Sitzmöglichkeiten aus bequem aussehenden Sofas luden hier zum Verweilen ein. Aber Brad war nicht deshalb hier. Er hatte gesehen, dass es hier eine Glasscheibe, gab die einen guten Blick auf die Tanzfläche bot. Wenn es noch einen anderen Weg hier raus gab, war die Frau bereits weg, soviel war sicher. Wenn sie überhaupt hier war.
 

Der Mann klopfte an und Brad öffnete die Tür. Er schubste ihn in den Raum hinein und fand sich konfrontiert mit einem Mann, der wohl Sowas Sohn war. Brad hatte von Sowas jähzorniger, gewalttätiger Ader gehört und man erzählte sich sein Sohn hatte stets darunter zu leiden gehabt. Die Narbe, die über dessen rechte Gesichtshälfte verlief und das Auge nach unten zog zeugte von dieser Gewalt. „Wo ist die Frau...?“
 

Steam deutete mit dem Kopf auf eine andere Tür. „Irre ich mich oder wollten sie erst zu späterer Stunde hier einfallen?“ fragte Sowas Sohn ihn gelassen.

„Asami wollte später kommen... ich wüsste nicht, dass ich mein Kommen angekündigt hätte.“

„Zu schade...“ sagte der Mann und lächelte anzüglich.
 

Brads Blick fiel wieder auf die Tür. „Ist das der einzige Ausgang?“
 

Steam setzte zu einer Antwort an, aber der Amerikaner war schon auf dem Weg zur Tür.

„Für Sie schon, Mr. Crawford“, flüsterte Steam als der Mann durch die Tür verschwand.

„Mach das Blitzlicht an und die Musik darf auch nicht fehlen“, wies Steam seinen Mitarbeiter an und verriegelte mittels eines Schalters hydraulisch die Tür.
 


 

o
 


 

Finn fand das alles andere als spaßig. Er hatte nicht gesehen, wer ihm auf den Fersen war. Als er das Büro betreten hatte konnte er kaum mit Steam sprechen. Sie waren gerade dabei zu erörtern, wie viele neue Rekruten sein Vater eingekauft hatte, als ihr Gespräch abrupt endete. „Du wirst verfolgt“ war das Einzige, was er sagte, bevor er Finn einen Fluchtweg bot.

Gut, es war nicht das erste Mal, dass er diesen Weg nahm, aber nicht mit dieser Dringlichkeit im Nacken. Er rannte den langen Flur entlang, nahm eine Abzweigung zu seiner linken und entledigte sich seiner hohen Stiefel. Diese steckte er sich in die Umhängetasche. Seine Augen hatten sich noch nicht an die spärlichen Lichtverhältnisse angepasst, deshalb beschloss er zunächst auf seinen Verfolger zu warten. Hinter der nächsten Biegung des schlauchartigen Flures wartete er. Eines der Notausgangsschilder warf sein kaltes Licht in den Gang. Ein Schatten bewegte sich auf ihn zu und Finn ging zum Angriff über.

Er war neugierig, wer es auf ihn abgesehen hatte. Ein einzelner Mann um diese Zeit ohne ein Heer von Handlangern?

Er verpasste ihm einen Kinnhaken, der ihm die Nase gebrochen hätte, wäre er nicht geblockt worden. Die langen Haare der Perrücke störten ihn ein bisschen, aber es war nicht das erste Mal, dass er mit derlei Widrigkeiten zurechtkommen musste.
 

Der Mann war definitiv kräftiger gebaut als er, vielleicht etwas größer. Deshalb war es klüger, ihn auf Abstand zu halten und seinen eigenen Vorteil geltend zu machen: Geschwindigkeit und eine fast schon an Akrobatik anmutende Wendigkeit. Er sprang außer Reichweite, drehte sich noch während des Sprungs und trat den Angreifer gegen die Brust, was dieser mit einem Ächzen und einem Aufprall an der gegenüberliegenden Mauer quittierte. Doch das setzte ihn nicht außer Gefecht. Er kam wieder hoch und kam ihm nach. Jetzt hatte Finn aber genug – beschloss er, als der Mann ihn mit einem Magenschwinger die Luft aus den Lungen presste. Er war ihm an Kraft überlegen. Finn spuckte die brennende Galle in seinem Mund aus. Der Mann wollte ihn am Hals packen. Dann setzte zu allem Überfluss noch die Musik ein und Finn konnte sich nicht mehr auf sein Gehör verlassen. Das stroboskopartige Zucken des Schwarzlichts war wirklich nicht sehr hilfreich. Trotzdem war es noch nicht an der Zeit, ernst zu machen. Wer war der Kerl? Sich mit Finn alleine anzulegen war wahrlich keine intelligente Leistung. Vor allem, warum hatte er keine Waffen dabei? Wusste er überhaupt, mit wem er sich angelegt hatte? Innerlich rollte Finn mit den Augen. Entweder er hatte keinen blassen Schimmer oder er besaß die Vermessenheit, ihn lebend gefangen nehmen zu wollen.
 

Er machte sich mit einem Rückwärtssprung und einem Fußtritt frei und traf ihn dabei an der Schläfe, was seinen Angreifer zu Boden sinken ließ. Er war widerstandsfähig, dass musste ihm Finn lassen. Der Mann taumelte, ließ sich auf die Hände sinken und Finn holte zum finalen Schlag aus. Er kippte auf die Seite und es war Ruhe. Sich aufrichtend sah Finn sich um. Das zuckende Licht machte es schwer, den Mann zu erkennen. Ein kleiner Fisch, der von Sowa angeheuert worden war? Aber Sowa begnügte sich nicht damit, einen einzelnen Mann ins Feld zu führen. Ebenso wenig hielt es Asami. Und der Clan hielt ihn für tot. Selbst wenn nicht, dann hätte er wohl eher die restlichen Mitglieder von SIN am Hals, als einen einzelnen Mann. Ihm kam der flüchtige Gedanke, dass sich die Polizei für ihn interessieren könnte, verwarf ihn jedoch. Das war lächerlich und unter seiner Würde. Ein Spezialkommando hätte ihm dann doch eher geschmeichelt, aber nur ein Mann? Für wen hielten sie ihn denn?
 

Während er sich darüber den Kopf zerbrach, ging er zu seiner Tasche zurück. Auf dem Weg dort hin verfluchte er leise meckernd das zuckende Schwarzlicht und die Musik und fischte in der übergroßen Handtasche nach seinen Sneakers. Er griff sie sich und noch während er hineinschlüpfte spürte er, wie sich ihm jemand näherte. Er wirbelte noch in der Hocke herum in der Absicht, den Angreifer von den Füßen zu ziehen, als dieser auswich und seinerseits zum Gegenangriff überging. Er drängte seinen Verfolger in den langen Gang zurück. Er hörte kaum seinen eigenen Atem durch die Dauerbeschallung der Lautsprecher. Das zuckende Licht zeigte ihm lediglich, wo genau das weiße Hemd des anderen war. Finn zog aus den überlangen Ärmeln seiner Jacke zwei Stilette und rannte auf den Mann zu. Dieser griff in einen der Dolche, während der zweite noch immer auf seine Leber zielte, jedoch abgefälscht wurde, als der Mann sich drehte und Finn einen platzierten Hieb gegen den Kiefer versetzte, was ihn an die gegenüberliegende Wand schleuderte. Der Kerl hatte einen harten Schlag, stellte er fest und duckte sich intuitiv vor dem nächsten Schwinger zur Seite. Trotzdem prallte sein Kopf unsanft gegen die Mauer.

Das Licht sprang an und er rutschte die Wand hinunter, rollte sich sofort von dem Mann weg, der ihm nachsetzen wollte. Jemand rief etwas und Finn sprang auf die Füße, drehte sich um und fand sich mit Steam konfrontiert, der gerade eine Waffe sinken ließ.

„Was...?“ Finn hob fragend und vielleicht auch vorwurfsvoll die Hände. „Was sollte das? Glaubst du, ich werde mit dem nicht fertig?“, fuhr er Steam entrüstet an.

„Lang genug hat’s ja gedauert“, kam die lapidare Replik.

„Ich hatte nicht vor ihn gleich auszuschalten. Schließlich will ich wissen, wer mir auf den Fersen ist.“ Finn ging zu dem Mann, der auf dem Bauch lag. Das Gesicht war ihm abgewandt.

„Das kann ich dir sagen. Crawford... falls du ihn nicht kennst: Er gehört zu ner Gruppe, die sich Schwarz nennen. Erledigen besonders heikle Aufträge wie man so hört. Wende dich nur an die, wenn du wirklich Asche hast. Die machen nix, ohne dafür ordentlich zu kassieren.“

Noch während Finn dem Gesagten zuhörte, fror er innerlich ein. Brad... Nein NEIN! Nur einer konnte so... wütend oder so ... bescheuert sein, sich ihm allein zu stellen.

Er drehte ihn schnell auf die Seite. „Scheiße...NEIN.“ Seine Hand zitterte, als er den Puls zu fühlen versuchte. Immer noch kräftig. Er untersuchte ihn akribisch auf die Wunde, fand aber nur einen... „Was...? Hast du ihn betäubt?“

„Klar!“ Finn sah anhand dieser gut gelaunten Antwort auf. Ihm selber war seine gute Laune abhanden gekommen. „Es gibt einige Leute, die für den da ziemlich viel bezahlen würden“, hörte er durch das Rauschen in seinem Kopf, das an Intensität nach diesen Worten sprunghaft zugenommen hatte. „Wenn ich euch beide abliefere, gehören meine Geldsorgen der Vergangenheit an.“
 

Finn stützte seine Hand auf sein Knie und legte seine Stirn hinein. Er lachte leise. Aber es war kein frohes Lachen. Er sah durch seine gespreizten Finger hindurch Steam an.

Der hob einlenkend die Hand. „Sieh mich nicht so an. Ich meine ja nur. Sicher bin ich nicht der Einzige in dieser Stadt, der auf diesen Gedanken kommen könnte. Du musst zugeben, dass die Gelegenheit so schnell nicht wieder kommt.“ Steam wackelte mit den Augenbrauen.

Steam kam näher, während Finn sich aufraffte und begutachtete, was er selbst angerichtet hatte. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken, dass er es jetzt endlich geschafft hatte, sich mit Brad persönlich anzulegen.

Die Hand blutete stark, ebenso die Flanke. Er riss Brads Hemd auf und besah sich die Wunde genauer. Das Stilett hatte ihm die Flanke aufgeschnitten, aber das sollte wieder zu flicken sein. Er konnte es sich zumindest schön reden – den Schlamassel, in dem er steckte – nein, den er angerichtet hatte.

„Ich wusste ja, dass die ganze verdammte Stadt hinter dir her ist, aber nicht, dass jemand Schwarz angeheuert hat. Wem hast du in die Suppe gespuckt, hmm?“

Finn verwirrten die Worte, sie kollidierten mit seinem Traum. Aber das hier war kein Traum, es war bittere Realität.

Es verunsicherte ihn dennoch, denn er war sich nicht sicher, ob Steam tatsächlich das unwissende Lämmchen war, das er vorgab zu sein, aber das spielte jetzt keine entscheidende Rolle mehr.

„Ich brauch einen Wagen.“ Finn stand auf und ging zu seiner Tasche. Er kramte sich sein Shirt heraus, griff sich das Stilett und schnitt lange Bahnen aus dem Stoff. Danach band er diese um die blutende Hand des Amerikaners.

„Wozu?“

„Um ihn hier weg zu bringen.“

„Der bleibt schön hier. Dich laufen zu lassen... nun... ich schulde dir noch etwas..., aber...“

Noch ehe er es bemerkte, war Finn aufgestanden und drückte ihm mit dem Fuß beinahe den Kehlkopf ein. Er röchelte und versuchte mit seinen Händen den Fuß von sich wegzuschieben. „Probier es ruhig, aber jeder Versuch bringt dich einem jämmerlichen Erstickungstod näher.“ Steam ließ seine Waffe nicht fallen, aber Finn würde ihm schneller einen Strich durch die Rechnung machen als Steam sie gegen ihn richten konnte. Seine Hand wurde ruhiger und Finn nahm den Druck etwas zurück.

„Lassen wir die Nettigkeiten doch für einen Moment außen vor. Ich brauche einen Wagen. Und ich werde ihn mitnehmen. Und du wirst mir dabei helfen. Ist das bei dir angekommen?“ Finn lächelte ihn aufmunternd an.
 

„Das Röcheln werte ich jetzt als Zustimmung.“ Er nahm seinen Fuß zurück und wartete noch einen Augenblick, bevor er Steam die Waffe aus der Hand nahm und sie innerhalb von Sekunden zerlegte. Die Einzelteile lagen vor Steam verstreut. Die zweite Patrone steckte er ein.

„Was willst du von ihm?“ Steam warf ihm Autoschlüssel zu, die Finn auffing und einsteckte. „Fass mit an.“

„Wir müssen hinten raus“, wies Steam ihn mürrisch an, während Finn ihm Crawford auf die Schulter hievte. Gott war der schwer.

„Ich hab gehört, wenn Schwarz einem auf den Fersen sind, dann kann man sein Testament aufsetzen. Das überlebt keiner“, faselte Steam, während sie den Gang entlanggingen. Unterwegs sammelte Finn seine Sneakers samt Tasche ein und schlüpfte endlich hinein. Das war viel besser.

„Das ist doch ihr Anführer oder nicht?“

„Kann schon sein“, brummte Finn, nicht wirklich an einem Gespräch interessiert.

„Ist dann der ganze Trupp nicht irgendwo hier? Das sind doch vier oder nicht?“

„Wenn sie hier wären, hätten sie ihn nicht allein gelassen und es wäre nicht soweit gekommen.“

„Versteh ich nicht.“

„Er macht wieder mal einen kleinen Alleingang“, entfuhr es Finn angesäuert. „Und siehst du nun, wo dich das hinführt, hä?“ Er schnickte Crawford mit den Fingern ans Ohr. Steam bekam davon nichts mit. Sie gingen so schnell es ihnen möglich war in Richtung Notausgang. Finn öffnete ihnen die Tür.

„Nimm den Landrover. Wir legen ihn hinten rein.“

Sie passierten zwei Lieferwagen und Finn schloss den Wagen auf. Es dauerte etwas, bis sie Crawford hinein gelegt hatten.

Finn schlug die Tür zu. „Was ist jetzt mit deinem Vater?“

„Er schickt dem Clan zwanzig Mann, verteilt über vier Wochen. Die erste Lieferung in vier Tagen. Sie schiffen sie ein und verladen sie gleich vor Ort über die Pharmacontainer.“

„Sind sie schon vorbereitet?“

„Ja. Sie werden in Kälteboxen geliefert.“

„Keine Rohware mehr?“

„Nein, zu heikel.“

Finn warf seine Tasche auf den Beifahrersitz und stieg ein. Er ließ den Motor an und fuhr aus dem Hinterhof in eine Seitenstraße. Erst einmal weg. An einer roten Ampel hangelte er nach seinem Mobiltelefon und warf einen Blick auf den Rücksitz. Da rührte sich noch nicht viel.
 

Er blätterte die Telefonnummern durch. Einen Moment zögerte er, bevor er die Wähltaste drückte.

Er brauchte Hilfe. Aber es war mehr als nur peinlich und beschämend, gerade diese Nummer wählen zu müssen. Nicht nur das, er scheute diese Konfrontation, weil sie mit Gefühlen einherging, die er lange verdrängt hatte, um sie zu vergessen. Um alles hinter sich zu lassen. Er seufzte geplagt. Das Telefon steckte er in eine Halterung an der Konsole.

„Ja“, meldete sich die strenge Stimme seines Vaters. Schneidend, hart wie Stahl. Finn hatte sie lange nicht mehr gehört. Er zögerte einen Moment.

„V...Vater? Ich bin' s... ähm Kaito. Ich...“

„Kaito. Was ist passiert?“ kam die barsche Replik und Finn schloss in der Schlange auf.

„Wie...wieso sollte etwas passiert sein...?“

„Mein Sohn, wo bist du?“

Mein Sohn? Jetzt plötzlich erinnerte er sich daran, dass er noch einen Sohn hatte? „Ich..? Im Wagen... ich bin unterwegs.“ Gott, wieso stellte er sich so dämlich an.

„Ich brauche deine Hilfe. Du... in deiner Vergangenheit warst du doch medizinisch tätig.“

„Ich bin Arzt. Was ist los? Bist du verletzt?“
 

Hörte er aus der barschen Stimme Besorgnis heraus, oder war das Wunschdenken?

„Nein. Nein. Aber ein Bekannter von mir. Ich... ich...“

„Kaito, hör auf zu stammeln.“

„Mein Schützling ist verletzt. Er braucht medizinische Hilfe. Er muss genäht werden und ist betäubt.“

Finn hörte im Hintergrund Stimmen. Wo war sein Vater?

„Warte einen Moment. Ich rufe dich unter der Nummer sofort zurück.“

„Nein...“ rief Finn aus, aber sein Vater hatte aufgelegt. Na herrlich. Falls sein Vater nicht auf seiner Seite stand, dann konnten sie jetzt das Signal verfolgen und wer auch immer seinen Vater unter Druck setzen mochte, würde ihn bald finden. Mit der nächsten Ampelschaltung schaffte er es über die Kreuzung und bog ab.

Er kaute sich halb die Nägel ab, bis ein Anrufer angekündigt wurde und er abnahm.

„Fahr nach Roppongi. Dort gibt es eine Wohnung für derlei Fälle. Ich treffe dich dort. Ich schicke dir die Adresse auf dein Mobiltelefon. Fahr in die Tiefgarage unter dem Komplex. Wir treffen dich dort.“

„Wir?“

„Hisoka und ich.“

„Hisoka ist da?“ Sein großer Bruder war da? Er hatte Hisoka schon so lange nicht mehr gesehen. Aber was würde sein Bruder über seinen Aufzug sagen? Und sein Versagen?

Er schämte sich schon jetzt in Grund und Boden. Und doch war Scham besser als die alte Wut, der verzehrende Hass, den er einmal auf seinen Vater gehegt hatte.

„Sei vorsichtig.“

Sein Vater legte auf. Schon der Gedanke an das Wort ‚Vater’ wühlte in ihm etwas Unaussprechliches auf. Er konnte dieses Gefühl nicht benennen, dass zu einer Vergangenheit gehörte, die ihn immer noch verfolgte. Respekt vor dem Mann, den er als Kind angehimmelt hatte, aber auch Wut darüber, was er aus reinem Pflichtgefühl heraus getan hatte, konkurrierten um die Vorherrschaft.

Er verdrängte diese unnützen Gedanken und die damit einhergehenden Gefühle, denn es gab im Augenblick wichtigeres zu tun. Er wusste nur zu gut, wie sprunghaft er manchmal war und wie sehr er sich von Gefühlen ablenken ließ. Manchmal fragte er sich, wie er so lange in diesem Geschäft hatte überleben können.
 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis er sich durch den Verkehr gewühlt hatte und in die Tiefgarage einfahren konnte. Er parkte nahe dem Aufzug auf einem freien, aber wohl vermieteten Parkplatz. Er stieg aus und sah sich zunächst um. Er besah sich die Ein- und Ausgänge, kontrollierte die Feuertreppe und checkte die wenigen Wagen, die hier abgestellt waren. Vier Kameras leuchteten die Korridore und die Parkplätze aus. Das gefiel ihm zwar nicht sonderlich, aber er tröstete sich mit dem Gedanken daran, dass sie nur eine Frau mit langen, schwarzen Haaren aufzeichneten.
 

Mit seinem Rundgang deshalb nur marginal zufrieden öffnete er die Tür zum Rücksitz und kletterte vorsichtig über den liegenden Körper. Er strich Crawford die Haare zur Seite.

Sein Gesicht war blass, ein Blick unter die Lider verriet, dass die Pupillen viel zu eng waren. Was war in der Betäubungspatrone gewesen?

Er wusste, dass Sedativa bei PSI erheblichen Schaden anrichten konnten, mehr noch als Stichverletzungen.

Seine Hände waren blutig davon, als er Brad die Hand und die Flanke verbunden hatte. Das Blut klebte in der Zwischenzeit unangenehm an seinen Händen und er wischte es sich etwas gründlicher an der dunklen Hose ab. Die Blutungen schienen wenigstens zum Stillstand gekommen zu sein.

Sanft strich er über die entspannten Gesichtszüge. Er hatte für ihn getötet und er würde für ihn in den Tod gehen, wenn es nötig sein sollte. Falls er jemals in die Hände ihres Telepathen fallen sollte, oder ihres Empathen, dann gab es nur einen Ausweg – er musste dafür sorgen, dass gewisse Informationen sein eigen blieben. Bisher war es ihm gelungen, seine Gedanken für sich zu behalten. Kein Telepath würde in seine Gedanken dringen und sein Innerstes nach außen kehren.
 

Er berührte mit seinen blutigen Fingern die leicht geöffneten Lippen, nahm dann seine Hand wieder zurück. „Würdest du lachen, wenn sie mich foltern? Würdest du es genießen?“ Er sah in das schlafende Gesicht, das ihm keine Antwort gab. Er wusste nicht, wie Brad reagieren würde, aber er kannte Schuldigs Arbeiten, die diese spezielle spielerische Note hatten, mit denen er seine Opfer tötete. Er wusste auch um die Grausamkeit von Berserkers Vorgehen. Und er hatte gedacht, Crawford zu kennen, den eiskalten Bastard, der kalkulierende Kopf der Gruppe. Aber er hatte sich getäuscht. Kälte hatte er an diesem Abend und in dieser Nacht nicht verspürt, nur ein alles verzehrendes Feuer, dessen Keim er in ihm hinterlassen hatte. Die Saat war aufgegangen, seither hatte es keine Nacht gegeben, in dem ihn keine Albträume heimgesucht hatten. Immer wiederkehrende Variationen ein und der gleichen Situation – er fiel in die Hände von Schwarz – Schuldig spielte mit ihm und Crawford wohnte diesem grausamen Spiel bei und amüsierte sich mit kalter Verachtung an seinen Schmerzen, an seiner Verzweiflung und dem Flehen nach Gnade. Jeder der Träume endete mit seinem Flehen und einem grässlichen Lachen, dass ihn bis ins Mark traf. Das die Träume nicht der Wahrheit entsprachen, wurde ihm erst nach dem Erwachen bewusst, schon allein der Tatsache wegen, dass er niemals flehen würde und schon gleich gar nicht um Gnade.
 

Ihnen in die Hände zu fallen und Schwarz’ Folter ausgesetzt zu sein, die er geistig nicht überstehen würde, versetzte ihn seit einiger Zeit in eine irrationale Angst, die ihn selbst aus seinen Albträumen in den Tag folgte. Es gab eine Zeit, in der er sich allen überlegen gefühlt hatte, aus dem Gedanken heraus, dass er der einzige war, der die Fäden im Hintergrund zog, dass er Schwarz kannte, dass er wusste, wie sie tickten. Und doch wurde ihm nach der Nacht, in der er mit Crawford geschlafen hatte klar, dass er gar nichts wusste. Er war zu nahe ans Licht geflogen und er brannte seither lichterloh. Vorbei war die Selbstsicherheit, vorbei die Arroganz.
 

Er verharrte über Brad gebeugt bis er einen Wagen hörte, erst dann sah er über die Rücklehne und das Heckfenster nach draußen. Der Wagen hielt und er konnte sehen, wie sein Bruder ausstieg und sein Vater folgte. Er hatte immer noch diesen strengen Blick drauf und trug einen Anzug, sein Bruder Shirt und Jeans. Sie öffneten den Kofferraum. Finn sah metallene Koffer und er krabbelte über Crawford zurück nach draußen.

Er sah sich vorsichtig um bevor er näher ging. Hisoka bemerkte ihn als erstes. Er drehte sich zu ihm und legte den Kopf schief. Sein Vater bemerkte dies und wandte sich ebenso in seine Richtung. Seine Lippen bildeten einen missbilligenden Strich. Finn sackte das Herz in die Hose.

Er kniete sich auf ein Bein hinunter und senkte den Kopf. „Vater. Bruder.“

Er hörte wie sein Vater näher kam. Seine Schritte waren im Gegenzug zu denen seines Bruders zu hören.

Er spürte eine Hand auf seinem Kopf. „Steh auf, mein Sohn. Wir haben uns jetzt um etwas Wichtigeres zu kümmern als um alte Rituale. Dafür ist später noch Zeit“, sagte er milde.

Finn erhob sich und sah sich mit seinem Bruder konfrontiert. Er zögerte keine Sekunde, sondern ließ sich in eine harsche Umarmung ziehen. „Gott was zum Teufel hast du nur an?“

„Tarnung. Ich war unterwegs...“

„Siehst scharf aus!“

Finn fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sein Bruder, der höflich und so zurückhaltend in diesen Dingen war, das sagte. Manche Dinge hatten sich wohl doch geändert.

„Hisoka“, tadelte sein Vater.

„Er ist im Wagen. Könntest du ihn nehmen?“ kam Finn wieder zu dem zurück, was sie hier so unerwartet zusammengeführt hatte.

Finn ging, nachdem sein Vater ihn angewiesen hatte, zu ihrem Wagen, hängte sich die Umhängetasche um und nahm zwei der Aluminiumkoffer an sich. Sein Vater griff sich auch eine Tasche und schlang sich eine zweite über die Schulter. Er schloss den Wagen ab. Finn kam zu ihnen, stellte die Koffer am Aufzug ab und ging zurück zu dem Geländewagen, wo sich Hisoka mit Crawford abmühte. Er schnappte sich noch seine Handtasche und verschloss den Wagen.

Finns Blick lag besorgt auf Crawfords Schopf. Er kaute auf seiner Unterlippe herum, als sie in den Aufzug stiegen. Sein Blick fokussierte sich auf Brads Gesicht, es juckte ihn in den Fingern, es zu berühren. Als er aufsah und sich mit dem forschenden Blick seines Vaters konfrontiert sah, richtete er sein Augenmerk auf die verschlossenen Aufzugtüren.
 

Offensichtlich wusste sein Vater genau, wohin sie mussten.

„Wer hat ihn erwischt?“

Finn blinzelte.

„Ich... ich hab ihn erwischt.“

„Das gibt Ärger“, brummte Hisoka.

„Du hast ja keine Ahnung“, wisperte Finn.

„Oh ich glaube, die haben wir schon, mein Sohn. Mr Crawford war schon das eine oder andere Mal bei uns in Behandlung, könnte man sagen. Warum hast du ihn angegriffen?“

Sie stiegen aus dem Aufzug aus und gingen einen kurzen Flur entlang.

Sein Vater öffnete die Tür mittels einer Karte und gab einen Code ein.

„Er hat mich angegriffen. Es war dunkel. Wenn ich gewusst hätte, dass er es ist, hätte ich ihn nicht verletzt.“ Frustriert sah Finn sich um.

Wo waren sie hier? Eine Wohnung? Er hatte sich etwas weniger Nobles als Behelfsversorgungszentrum für verwundete Killer vorgestellt.

Hisoka sah sich kurz um und ging dann vom Eingang aus nach Links. Sie kamen in einen offenen Wohnraum und legten Crawford auf einer ausladenden Couch ab.

Finn trug seine Last ebenfalls dorthin und legte die Koffer auf den Tisch ab. Er machte Platz für Hisoka.

Sein Vater öffnete die Koffer, während Hisoka die erste Untersuchung vornahm. Finn wandte den Blick ab. Crawford in dieser hilflosen Lage zu sehen, quälte ihn.

„Die ganze Geschichte“, wies sein Vater an während Finn unruhig vor der Fensterfront auf und ab tigerte.

„Ich war auf Asamigebiet. Eine Stippvisite bei Sowa, um...“

„Du bist zu Sowa gegangen? Diesen Dreckskerl? Was... hast du mit Sowa zu schaffen?“
 

„Nein. Ich stehe in Kontakt mit seinem Sohn. Er liefert mir Informationen über den Nachschub an Männern, die sie an die Sakurakawas liefern. In einigen Tagen geht wieder eine Lieferung über die Bühne. Ich plane, ihnen den Nachschub abzuschneiden. Es sind bereits zwei Sektionen in Kyoto. Das sind zu viele.“
 

„Gut, und weiter?“
 

„Keine Ahnung. Steam dreht sich plötzlich um und sagt, ich solle abhauen, weil mir jemand auf den Fersen ist. Also bin ich raus in den Darkroom und kurz darauf ist mir wohl Crawford gefolgt. Es war dunkel, nur Schwarzlicht und Steam, dieser Idiot, hat die Musik so laut aufgedreht, dass ich nichts verstanden hätte, selbst wenn Crawford mir etwas zugebrüllt hätte.

Er griff mich unentwegt an und schließlich bin ich zum Gegenangriff übergegangen. Er wehrte das Stilett mit der Rechten ab und griff voll rein. Gott, ich hätte ihn töten können. Ich zielte auf seine Leber, aber ich bin abgerutscht und es hat die Flanke getroffen.

Aber er ließ immer noch nicht ab. Dann ging das Licht an und Crawford lag da. Steam hat ihn betäubt.“ Er kramte die zweite Patrone aus seiner Hose hervor und legte sie auf den Tisch neben die Koffer.

„Er sagte, für ihn würde man momentan viel bekommen.“ Finn verstummte.
 

„Er wollte ihn verkaufen?“
 

Finn holte tief Luft und wandte sich dem Fenster zu. Sie würden ihn kriegen, wenn er ihn nicht davor bewahren konnte. Aber wie sollte er das jetzt noch schaffen? Er hatte sich selbst ins Aus befördert und das nur, weil er Gefühle für diesen Mann hegte, die ihn selbst verletzlich machten. Das konnte er sich nicht leisten. Er war nie der emotionslose Killer gewesen, zu dem Chiyo ihn heranzüchten wollte. Nicht wenn es um Bradley Crawford ging. Dieser Mann war seine Achillesferse und nur durch ihn war er imstande zu tun, was nötig war, und nur durch ihn war er zu Fall zu bringen. Sein ganzes Leben drehte sich um diesen Mann und auch sein Tod würde sich wohl darum drehen.

„Ja“, sagte er tonlos.

„Sie sind bereits in der Stadt.“
 

„Sie sind hier? Seit wann?“ Sein Vater schien geschockt.
 

„Seit Jahren. Ich konnte ihren Spion einige Jahre ablenken, aber das geht jetzt nicht mehr. Ich bin raus.“
 

„Warum bist du dann nicht gleich zu uns gekommen?“
 

Warum nicht? Konnte sich das sein Vater nicht denken? Er hatte ihn vor Jahren im Stich gelassen – er war noch ein Kind gewesen. Und was war aus ihm geworden? Er prostituierte sich, um andere zu manipulieren und seine Ziele zu erreichen. Er tötete wie eine giftige Spinne, die ihre Opfer in ein Netz verwob, aus dem sie nicht mehr entkamen. Sein Vater trug mit Schuld daran, aber ihm das jetzt zu sagen trug nicht dazu bei, Hilfe für Brad von ihm zu bekommen. Die Hand, die einen fütterte zu beißen war nicht gerade klug. Wie oft hatte er daran gedacht, seinen Vater zu töten, als Chiyo ihn für Ungehorsam oder nicht korrekt ausgeführte Aufträge bestraft hatte? Wie oft hatte er sich vorgestellt, alle dafür zu töten – später, wenn er älter sein würde, hatte er sie alle dafür betrafen wollen.
 

Doch als er dann endlich älter geworden war, hatte er nicht mehr an Rache gedacht, sondern nur noch an seinen Schützling, den es zu bewahren galt. Denn der Moment, an dem er Crawford begegnet war, diesem Jungen, der mit Problemen gekämpft hatte, derer er kaum Herr geworden war und der Dinge gesehen hatte, die ihn nach außen hin ebenso einsam gemacht hatten wie Finn zum damaligen Zeitpunkt selbst, hatte den Hass auf die Welt in den Hintergrund treten lassen. Diese Begegnung hatte sein Denken verändert und den Wunsch geprägt, stärker zu werden, hatte seinen Willen gefestigt, alles dafür zu tun, dieses Wesen zu beschützen. Er hatte die Ausbildung ertragen, denn er hatte ein Ziel vor Augen gehabt. Nicht der Wunsch, diesem Jungen nahe zu sein, war damals wichtig gewesen sondern alleinig sein Wohl. Das hatte sich über die Jahre geändert.
 

Jetzt wollte er ihm nahe sein, wollte auf sich aufmerksam machen. Chiyo hatte ihn davor gewarnt. Vielleicht wäre es gelungen, wenn er weniger Emotionen in sich tragen würde, wenn sie es geschafft hätte, sie ihm auszutreiben. Dann hätte er sich nicht so nahe an ihn geschlichen, wie ein hungriger Lakai an die reich gedeckte Tafel seines Herrn. Dabei hielt er sich zumindest eines zu gute: er hatte nie auch nur im Ansatz die Hoffnung besessen, dass Crawford seine Gefühle erwidern würde. So viel war ihm immer bewusst gewesen. Deshalb war es auch zu verlockend gewesen, als sie sich im Cafe begegnet waren und der Amerikaner Interesse bekundet hatte. Keine großen Gefühle, aber dennoch körperliche Annäherung, die seinen Hunger etwas stillen konnte. Die Falle, die sich vor ihm aufgetan hatte, war unübersehbar gewesen, und trotzdem war er mit Freude hineingetappt. Als wäre er blind gewesen – denn der Hunger, den er danach verspürt hatte, konnte seither nicht mehr gestillt werden. Er war verloren in diesem Sehnen und es gab für ihn keinen Ausweg, denn er kannte sich selbst zu gut, er würde Brad Crawford nicht ziehen lassen, ihn nicht der Übermacht von Rosenkreuz überlassen. Dazu war er zu geduldig und wenn die Droge seinen Geist vernebeln würde, wenn er verrückt wurde wie die anderen vor ihm, die dem Serum zu lange ausgesetzt waren, dann würde er sich Crawford nehmen und ihn nicht mehr aus seinen Händen lassen. Bevor dies geschah, musste er dafür sorgen, dass Crawford vor ihm sicher war und das würde bedeuten, dass er sich selbst töten musste. Liebe konnte nicht erzwungen werden, jetzt wusste er das, aber wenn die Droge sich seiner bemächtigte, gab es keine Ratio mehr. Er würde ihn zerstören.
 

„Kaito?“ unterbrach Hisoka die düsteren Überlegungen seines Halbbruders.
 

Finn sah durch die Fensterfront und ihm kam die Höhe im Moment sehr verlockend vor. Vielleicht wäre es gar nicht so unklug, es gleich jetzt hinter sich zu bringen. Sein Vater konnte sich vor Augen führen, was aus ihm geworden war, und wenn noch ein Funken eines liebenden Vaters in ihm steckte, würde er genauso leiden, wie er all die Jahre gelitten hatte. Hinzu kam natürlich noch die Schande eines derartigen Selbstmordes.
 

Er wandte sich nicht um aber er antwortete, wenn auch mit leiser Stimme.

„Weil ich euch nicht mit reinziehen will. Kiguchi ist immer noch drin. Er versucht, den Jungen im Auge zu behalten. Ich habe momentan keinen Kontakt zu ihm.“
 

„Wer ist dieser Spion?“
 

„Somis rechte Hand. Er nennt sich Superbia und war schon vor mir für SIN rekrutiert worden. Sein Name unter Somi ist mir nicht bekannt. Aber er gehört schon lange zu Rosenkreuz. Er hat auch unter SZ Furore gemacht, wie mir meine Kontakte zugetragen haben.“
 

„Wie lange ist er schon beim Clan?“
 

„Lange Zeit. Dass er ein Telepath ist habe ich erst vor ein paar Jahren entdeckt. Das war auch der Grund, warum ich mich dem Risiko des Serums ausgesetzt habe.“
 

„Du hast es genommen?“, hakte Hisoka nach und sein Tonfall barg einen versteckten Vorwurf über diese Tatsache.
 

„Ich nehme es immer noch“, gestand er. „Nur dadurch war ich für ihn nicht lesbar. Ohne das Serum hätte ich niemals in seine Nähe kommen können. Anfangs war es Superbia, den ich täuschen wollte, dann war es taktisch sinnvoll, dass ich mich vor Schwarz verbergen konnte. Wenn Superbia meine Gedanken lesen könnte...“
 

„Was würde er dann wohl wissen...?“ hörte Finn eine Stimme in seinem Rücken, die so sanft und neutral klang, dass es ihm beinahe noch übler wurde. Er erstarrte und fühlte sich wie mit Eiswasser übergossen. Er wagte sich nicht umzudrehen, denn er wollte seinen wahr gewordenen Albtraum nicht in die grünen Augen blicken.
 

Eine Falle. Er stand immer noch dort, sein Körper taub, und starrte in die Nacht hinaus. Die Lichter waren so schön, so verlockend von hier aus. Ein schöner Ort zum Sterben. Hoch über der Stadt, die Wohnung gehörte dem Mann, den er sein Leben lang begleitet hatte, wie ihm jetzt bewusst wurde. Das war keine x-beliebige Wohnung, nein, sie gehörte dem Mann, den er verletzt hatte. Er hatte ihn nach Hause gebracht. Und hier stand er nun mit dem Rücken zur Wand.

Das war es also. Sein Ende.

Seine Familie, wenn man das so nennen konnte, hatte ihn verraten. War das nicht ein passender Schluss für sein Leben? Es fing mit dem Verrat an dem Kind an und hörte mit dem an dem Mann auf. Sein Schützling von ihm selbst verletzt, vielleicht trug er für immer Schäden davon. Er selbst sah sich Folter gegenüber.
 

Er spürte einen Druck in seinem Kopf wie von tausend Messern. Schmerz, der gleißend hell hinter seiner Schädeldecke explodierte, ließ Tränen in seine Augen schießen. Wie viele Lügen hatte er in seinem Leben gehört, wie viele geglaubt und noch mehr eingeflüstert? Blinzelnd presste er die Kiefer zusammen und öffnete mit einer schnellen Bewegung die Tür zur Terrasse. Hinter sich vernahm er hektische Betriebsamkeit, die ihn zum ersten Mal in seinem Leben nichts mehr anging. Er sprang auf das Geländer und hörte nur die harschen Rufe seines Vaters und seines Bruders. Sie wussten, was er tun würde. Aber ein letztes Mal würde er noch...

Und wieder beging er einen Fehler, er verschenkte kostbare Zeit und das nur, weil er einen letzten Blick auf sein Leben werfen wollte.
 

Er drehte sich auf dem Geländer herum und sah Brad auf der Couch liegen. Seine Augen waren geschlossen. Finn lächelte.

Er erhob sich und sprang. So viele Momente nicht gelebt, so viele Augenblicke, denen er nachtrauerte. Arme, die sich um ihn schlangen, ihm Schutz und Geborgenheit gespendet hatten. Einmal hatte er fühlen dürfen, wie es war, nicht einsam zu sein, einmal genießen dürfen, einmal es leben.
 

Und einige Dinge, die nie seine Gedanken verlassen durften.
 

Er spürte die raue Luft um sich, als er den Zenit überschritt und den Fall antrat, als sich schmerzhafte Klauen um seinen Körper schlossen und er ruckartig zurückgerissen wurde. Sie schnitten in sein Fleisch, rissen an ihm, als wollten sie mit brachialer Gewalt vermeiden, dass er so einfach davon kam. Er prallte hart gegen einen Widerstand und wurde in die Dunkelheit gerissen.
 


 


 

Wird fortgesetzt...
 

Vielen Dank fürs Lesen!

Ich bedanke mich fürs Beta bei ‚snabel’ ^__^
 

Gadreel

Friends & Foes 2.0

Friends & Foes 2.0
 


 

Schuldig starrte immer noch auf Kudou, der mit Jeis und Hisokas Hilfe den Kawamori über die Kante zogen. Dünne blutige Rinsaale blieben auf dem Metall zurück. Schuldigs Blick haftete daran wie das Blut an dem Material klebte.

Er war gesprungen. Einfach so. Ohne zu kämpfen. Warum?
 

Jei hatte ihm übermittelt, dass er Todesangst hatte. Vor ihm? Vor ihnen allen? Warum? Jetzt so plötzlich? Schon immer? Wie passte das zu dem Mann, den er in China getroffen hatte?
 

Den Blick jedoch, dieser letzte Blick hatte Brad gegolten. Er hatte gelächelt wie jemand der sich verabschiedete, der ging, ohne zurück zu kommen und dies bedauerte.

Sie hatten alles gehört was er erzählt hatte, ihm eine Falle gestellt, um ihn endlich in die Finger zu bekommen, was er unter allen Umständen verhindern wollte.
 

Schuldig blinzelte und sah zu, wie Kudou ihm die Drähte durchschnitt. Die Kleidung färbte sich rot. Jemand sprach ihn an. Er reagierte nicht darauf. Wie viele Menschen hatte er selbst über die Kante geschickt?

Und wenige hatten dieses traurige Lächeln auf den Lippen getragen.
 

Ran trat in sein Blickfeld und versuchte Augenkontakt zu ihm aufzunehmen.

„Schuldig.“ Er spürte eine Hand an seiner Wange, die sein Gesicht wegdrehte hin zu violetten Augen, die ihn fragend ansahen.
 

„Warum?“
 

„Das müssen wir ihn fragen.“
 

„Er hat nicht gekämpft. Warum? Er ist einfach gesprungen.“
 

„Seine Familie hat ihn verraten. Es gab nur einen Ausweg für ihn.“
 

„Wir sind nicht hierher gekommen, um ihn zu töten.“
 

„Ich denke nicht, dass er auf diese Idee gekommen ist.“
 

Hisoka trug ihn hinein. „Wo ist das Schlafzimmer?“
 

Schuldig holte tief Luft. „Ich zeig es dir.“ Er ging voran, öffnete die Türen.
 

Ran folgte ihnen. Im Schlafzimmer ging er zum Fenster und sah hinaus, während Schuldig sich an die Wand lehnte und Hisoka dabei zusah, wie er seinen Halbbruder untersuchte und ihn dabei die Kleidung vom Körper schnitt. Die Schnitte der Drähte gingen nicht so tief wie zunächst vermutet.

„Rufen Sie meinen Vater.“
 

Schuldig rief ihn in seinen Gedanken und schilderte kurz die Lage.
 

Es dauerte lange bis alle Schichten genäht waren. In der Zwischenzeit lag Finn Kawamori nackt auf dem Bett und Schuldig starrte auf die Tätowierungen am ganzen Körper. Hisoka hatte ihm die Silikoneinlagen an Hüften, Brust und teilweise an Stirn, Kiefer und Wangen entfernt. Es waren nur flache Streifen des Materials und veränderten dabei nur minimal das Gesicht. Hisoka machte sich daran, ihm das Make-up zu entfernen und ihn zu waschen.
 

Schuldig ließ Ran und die Kawamoris alleine. Er brauchte frische Luft. Kudou und Jei waren unterwegs, um ihnen etwas zu essen zu besorgen. Als er ins Wohnzimmer kam saß Brad auf der Couch und rieb sich vorsichtig über die verbundene Hand. Er sah ihn verwirrt an, dabei sah er verletzlich für Schuldig aus, was er gar nicht mochte. Er musste an Asugawas Worte denken, dass Rosenkreuz bereits hier waren. Sie waren nicht davon gekommen wie sie es zunächst gehofft und dann schließlich geglaubt hatten.

„Wie geht’s dir?“ Schuldig setzte sich auf den niedrigen Tisch vor ihn.
 

„Wie...?“ Brad hatte einige Bilder in seinem Kopf, die ihn verworren daran erinnerten, was geschehen sein musste. Aber wie war er hierher gekommen?
 

„Asugawa hat dich hergebracht. Vielmehr der missratene Kawamori Spross.“
 

„Finn?“ fragte er irritiert. Sein Körper meldete einige Bereiche, die wohl mehr unter Beschuss gestanden hatten als andere. Er besah sich den Verband an seiner rechten Flanke. Das dürfte wohl ein paar Tage dauern, bis das verheilt war. Seine Hand war da das größere Problem, die Heilung würde an dieser Stelle, die er häufig bewegte, bestimmt mehr Zeit benötigen.

„Ich verstehe nicht ganz“, gab er unumwunden zu.
 

„An was kannst du dich erinnern?“
 

„An einen Kampf. Ich... ich bin einer Frau gefolgt... ich dachte es wäre die... du weißt schon in Shanghai... Fuchoin. Es konnte unmöglich ein Zufall sein. Wir kämpften...“
 

Das Techtelmechtel in Shanghai war Schuldig noch ein Begriff. Er verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. „Das war Finn.“
 

Brad schüttelte den Kopf, als wolle er es nicht glauben.

„Hast du da oben schon wieder etwas Platz für einen Lagebericht der besonderen Art?“ fragte Schuldig.
 

Brad nickte. Er hatte Kopfschmerzen und war noch nicht vollständig auf der Höhe, aber eine telepathische Übertragung war aufgrund ihrer Detailgenauigkeit wesentlich sinnvoller als eine mündliche Erzählung.
 

Schuldig übermittelte ihm, was in den letzten Stunden geschehen war und er hielt sich den Kopf und starrte auf den Boden des Wohnzimmers, während die Bilder und das Gesprochene vor seinen geöffneten Augen vorbeizogen.
 

Als er Finn nackt im Blut liegen sah, wie sie ihn aus der Verkleidung schälten und zusammenflickten, hob er die Hand und die Bilder brachen abrupt ab. Er keuchte und wandte sich ab.

Er bekam kaum mehr Luft.
 

Etwas drückte heftig auf seinen Brustkorb und er versuchte aufzustehen, um besser atmen zu können. Vielleicht waren es wieder seine Rippen, die er sich vor Monaten bei seinem letzten Alleingang gebrochen hatte. Vermutlich waren sie bei ihrem Kampf zu Schaden gekommen.

„Ich muss raus hier“, brachte er mühsam hervor.
 

Schuldig stützte ihn und sie gingen auf den Balkon.
 

„Wird er überleben?“ Brad stützte seine Hände auf die Umrandung und versuchte keine allzu tiefen Atemzüge zu tätigen.
 

„Der Doc sagt ja. Die Schnitte sind nicht das Problem, sie sahen auf den ersten Blick schlimmer aus als sie tatsächlich sind. Allerdings wissen wir nicht, wie schwer er gegen das Dach geknallt ist. Kann sein, dass er schräg aufgekommen ist und es zunächst die Schulter und dann erst seinen Kopf erwischt hat. Wäre von Vorteil.“
 

„Gut. Ich habe noch einiges mit ihm zu besprechen“, sagte Crawford eisig.
 

Schuldig lehnte sich an die Umrandung und sah Brad besorgt an. Er seufzte und fuhr sich durch die Haare.

„Ich denke wir sollten das Ganze etwas langsamer angehen. Er wird uns sonst bei der nächsten Gelegenheit entwischen oder wieder so ne Nummer abziehen.“
 

„Irgendetwas will er um jeden Preis vor uns verbergen. Die Frage ist, was und ob wir es nicht schon längst wissen.“
 

Schuldig verschränkte die Arme. „Du meinst, dass er dich schon als Jugendlichen um die Ecke bringen wollte?“
 

„Kann sein.“
 

„Dann wäre die Show vorhin völlig umsonst gewesen“, meinte Schuldig ironisch.
 

„Das war keine Show, Schuldig. Er ist zu allem fähig.“ Und es hatte ihn erschrocken wie einfach sich der Mann aus dem Leben entfernen konnte. Er selbst brachte es nicht auf die Reihe, dabei trug er den Gedanken schon sein Jahren mit sich herum. Es hatte Phasen gegeben, da hatte er nicht einmal im Traum daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Die letzten drei Jahre und auch, als sie darum kämpften, von SZ loszukommen, hatte er keinen Gedanken daran verschwendet. Davor und auch jetzt war der Wunsch wieder da. Abzuhauen und alles hinter sich zu lassen war verlockend, aber er brachte es nicht fertig. Nicht so lange es jemanden gab, der auf ihn zählte. Er sah Schuldig an. So lange sein Team nicht den Halt fand, den es brauchte, war es für ihn nicht angebracht, sich auszuklinken.
 

„Und wie geht’s jetzt weiter?“ hörte er Schuldig fragen.
 

„Er kommt aus dieser Wohnung nicht mehr raus, ohne dass ich alles von ihm weiß. Und wenn ich ihn dafür fesseln muss. Ich halte ihn solange am Leben bis ich sicher bin, dass er mir alles erzählt hat.“
 

Schuldig runzelte die Stirn. „Scheint wohl das vernünftigste in dieser Situation zu sein“, sagte Schuldig nachdenklich. Ob es den Erfolg mit sich brachte, den sich Brad vorstellte wagte Schuldig zu bezweifeln.

„Er wird dich anlügen. Das, was er seinem Vater erzählt hat, nehme ich ihm ab – muss ich zugeben. Aber du kannst dir nie sicher sein ob es stimmt, was er dir erzählt. Ich kann ihn nicht knacken. Ich hab's probiert, was zur Folge hatte, dass er den Engel ohne Flügel spielen wollte.“
 

„Sehr poethisch“, erwiderte Brad und trat den Rückzug nach drinnen an. Die Enge in seiner Brust hatte sich gegeben.
 

„Ich habe es dir gezeigt.“ Schuldig half Brad sich hinzulegen. Er holte ihm aus der Küchenzeile ein Glas Wasser.
 

Ja, und die Bilder wurde Brad so schnell nicht mehr los.
 

„Was hältst du davon, wenn wir eine neue Taktik versuchen?“
 

Brad hatte den Unterarm über die Augen gelegt und stöhnte leise. „Welche neue Taktik? Bisher hatten wir noch keine, an die ich mich erinnern könnte.“
 

„Du hast ihn gejagt, das nenne ich tatsächlich eine Taktik.“ Schuldig kam näher und sah skeptisch auf die Wunde, die mit ihrem Verband wohl nicht zufrieden war, so durchtränkt wie dieser bereits wieder aussah.
 

„Eine kurze Jagd. Es war ja nicht so, als wenn er freiwillig zu uns gekommen wäre. Ich hätte lange darauf warten können.“
 

Ach so war das: BRAD hätte lange darauf warten können. Nicht sie: Schwarz. Das war interessant, resümierte Schuldig und lächelte schmal.

„Dein Verband braucht einen Wechsel. Ich hol das Zeug eben schnell.“ Er stellte Brad das Wasser auf den Tisch neben sich und ging durch das Wohnzimmer in den Flur und ins Schlafzimmer. Es roch nach Blut.

Das Bett wurde gerade von Ran frisch bezogen während Hisoka sich um seinen Halbbruder kümmerte, der auf der anderen Seite lag. Hisoka deckte ihn gerade zu als Schuldig hereinkam.

Die Matratze schien nichts davon abbekommen zu haben. Der verletzte Mann war dick in Decken eingepackt und nur das blasse Gesicht lugte daraus hervor. Hisoka kontrollierte gerade seine Pupillen, während sein Vater das Fenster öffnete um frische Luft in den Raum zu lassen.
 

Schuldig kniete sich vor den Koffer mit dem Verbandszeug. Er hatte leidliche Erfahrung darin, Verbände zu machen. Er suchte sich die nötigen Dinge heraus.

„Durchgeblutet?“ fragte Hisoka, ohne seinen Blick von seinem Halbbruder zu nehmen.

„Hmm... ist aufgestanden. Seine Rippen machen ihm zu schaffen.“
 

„Ich sehe mir das an“, sagte der Doc und überließ Ran das Feld. Schuldig hörte wie das Türschloss im Flur sich öffnete. Jei hatte sich ihnen vor kurzem schon angemeldet, als er überprüft hatte, wo die beiden solange blieben.

Schuldig nahm sich die Sachen, die er brauchte und trat auf den Flur hinaus. „Habt ihr das Zeug selbst gekocht?“
 

„Is viel los gewesen“, brummte Kudou. Er war nicht glücklich über das Ausmaß der Verletzung seiner Drähte gewesen. Aber ohne seine schnelle Reaktion wäre Asugawa jetzt Geschichte.

Schuldig ließ die beiden voran gehen und das Essen in den Wohnraum bringen.

Unterdessen hörte der Doc Brad mit dem Stethoskop ab. Schuldig ging zu ihnen.
 

„Jei konntest du...“ fing Brad an.
 

„Nein. Keine Beeinflussung möglich. Eine Wahrnehmung durchaus“, gab der Ire zurück, scherte sich aber sonst nicht sonderlich um sie. Er saß auf einem Hocker und sah augenscheinlich Kudou dabei zu, wie der das Essen auspackte.
 

„Wie ist das möglich?“ fragte Schuldig und half Brad beim Aufsetzen, als der Doc ihnen Platz machte.
 

„Sie haben eine Verbindung.“
 

„Eine Verbindung?“ echote Schuldig und sah Brad an. Dieser schüttelte nur den Kopf. Er wich seinem Blick dabei aber aus.
 

„Wie hat es in ihm ausgesehen?“ fragte Brad und nahm das Wasser von Schuldig entgegen.
 

„Angst, Verlust, Zuneigung, Trauer, aber das waren nur marginale Komponenten des großen Ganzen“, spulte Jei ab.
 

„Und was war das große Ganze?“ fragte Schuldig und drehte sich zu Jei um.
 

Jei blieb ihnen die Antwort schuldig, denn er antwortete nicht und erweckte auch nicht den Anschein, als wenn er Lust darauf hätte, so abwesend, wie er ihnen schien.

Schuldig sah nach dieser inpertinenten Verweigerung jeglicher Kommunikation mit ihm zum großen Anführer hin, der Jei schon dazu bringen würde ihm eine ausführliche Antwort zu geben, doch der hob nur eine Augenbraue als würde er sagen: du kennst ihn doch!
 

Aber so abwesend war er nicht, denn er sah zu Kudou auf, der vor ihm an der Theke – die den Wohnraum von der Küche trennte - stand und das Essen verteilte. Sie sahen sich an und Yohji hob einen Mundwinkel zu einem Lächeln. Er ahnte, was dieses große Ganze war und er ahnte auch, warum Jei den beiden nicht auf die Sprünge half.
 

„Hey Kudou, was gibt’s da zu grinsen?“ blaffte Schuldig.
 

„Hmm?“ fragte Yohji, als hätte er sich eben erst der anderen im Raum erinnert. „Ich freu mich nur tierisch aufs Essen. Mann, reg dich ab.“
 

Er stellte Jei die Nudeln mit Gemüse hin und reichte ihm sein Essbesteck. „Iss das bitte auf. Du hast heute noch nichts gegessen.“ Sie waren mit dem Umzug beschäftigt gewesen. Er hatte nicht nur einmal darüber geflucht, dass er Schwarz den Umzug machte. Der Doc und Hisoka hatten sich mit ihnen in der Klinik getroffen um das Vorgehen mit Naoe zu besprechen, denn der lag immer noch in der Klinik und wurde von Omi bewacht. Wenn Naoe hier gewesen wäre, dann hätten sie jetzt ein Problem weniger.
 

Brad saß währenddessen auf der Couch, die Beine auf der Chaiselongue ausgestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt und darüber nachgrübelnd, wie er an die Informationen heran kommen sollte, die er brauchte. Er hatte die Augen geschlossen als sich in seine seherische Wahrnehmung etwas Helles schob. Im ersten Moment glaubte er, dass der Doc ihn wieder einem Pupillenreaktionstest unterziehen wollte und seine kleine Taschenlampe vor seinen geschlossenen Augen angeknipst hatte. Er öffnete die Augen, um dem Arzt zu sagen, dass dies nicht nötig sei, als er sich auf einer Bühne wähnte. Die Ränder seines Blickfelds waren mit schwarzen Schlieren verzerrt. Er sah sich um. Kannte er diesen Ort?

Eine Konzertbühne? Die Sitze waren leer, die Lichter der modernen Theaterhalle bis auf einige Spots aus. Er drehte sich um und fand sich mit Somi konfrontiert . Der Mann war die Pest. Etwas besseres fiel Brad im Moment nicht ein und er wusste auch, dass dies nicht seine eigenen Gedanken waren. Es waren Schuldigs, der auf dem Boden gefesselt vor ihm kniete und in dessen Haare sich Somis Hand geschlungen hatte. Somi lächelte auf Schuldig hinunter, der Brad mit mühsam aufrecht erhaltener Beherrschung angrinste. Das dreiste Lächeln war nur gespielt, die Angst, die von Schuldig ausging, vordergründiger für Brad.

Im Schatten konnte Brad weitere Rosenkreuzer ausmachen. Er wandte den Blick wieder zu Somi, da dieser etwas zu sagen hatte.

Brad musste sich stark darauf konzentrieren was genau, denn er hörte sehr schlecht. Noch bevor er verstehen konnte, was Somi sagte, hörte er sich selbst sprechen. „Lassen Sie ihn gehen.“

Somi lächelte. „Er gehört zu ihrem persönlichen Kreis, Mr Crawford. Ihre gesamte Entourage ist in unserem Gewahrsam. Ihnen bleibt keine Wahl“, sagte er bedauernd.

„Ihr kleiner Hofstaat, Hellseher.“

„Ich wüsste nicht, dass ich einen hätte.“

Somi lachte. Es war eher das Zerspringen von Glas als ein angenehmer Laut.

Schuldig zuckte zusammen und sein Grinsen verkam zu einem hilfesuchenden Blick in Brads Richtung.

„Ihr Telepath, ihr Empath, ihr Telekinet. Der innere Schutzring, den Sie sich so mühsam aufgebaut haben. Nicht viele Hellseher konnten in der Vergangenheit einen ihr eigen nennen. Hinzu kommen vier Guards, ihr äußerer Schutzring samt ihrem Leibarzt und ihrer retrokognitiven Schwester.“
 

„Welche fünf Guards?“ hörte er Schuldig fragen, dem Somi jetzt einen Dolch an die Kehle legte.

„Habe ich dir erlaubt zu sprechen?“

„De la Croix wird dich auseinander nehmen wenn du mir etwas tust“, flüsterte Schuldig und brachte ein dreckiges Grinsen zustande.

„Er wird nicht erfahren, dass ich seinem Liebling weh getan habe.“

„Welche fünf Guards?“ hörte sich Brad erneut fragen.

„Eure vier Kritiker-Zugänge und einer der Kawamoris. Hätte nicht gedacht, jemals einem zu begegnen.“

Brad fühlte, wie ihn Erleichterung in der Zukunft erfasste. Warum konnte er nicht sagen. Schuldig sah ihn grimmig lächelnd an.

„Knieen Sie sich hin Mr Crawford. Wir wollen ihren Eintritt in meine Gefolgschaft offiziell machen.“

„Ich knie vor niemanden, Somi. Vor Ihnen schon gar nicht.“

Somi sah ihn spöttisch an bevor er den Kopf vor sich packte und das Messer mit einem Schnitt über Schuldigs Kehle führte. Dessen Augen wurden groß und Brad hörte nur mehr, wie Somi etwas davon sagte, dass sie genug Telepathen hatten, bevor Brad einen wütend verzweifelten Schrei hörte und er auf die Knie fiel. Danach verdunkelten sich die Ränder seines Gesichtsfeldes bis nur noch das Rot des Blutes übrig blieb das aus Schuldigs Kehle lief. Es dauerte nur Bruchteile eines Wimpernschlags bis sich auch dieses Bild verdunkelte.
 

Er riss die Augen auf und starrte blinzelnd gegen die Decke. ‚Beruhige dich’ sagte er sich wiederholt, um sein hämmerndes Herz zu beruhigen.
 

Brad sah sich nach Schuldig um. Er fand ihn an der Küchenzeile auf Jei einreden.

„Schuldig.“

Dieser drehte sich zu ihm um. ‚Was gibt’s?’, fragte Schuldig ausnahmsweise telepathisch, da Brad gerade so aussah als hätte er eine Vision der besonderen Art gehabt. Er war kreideweiß im Gesicht.

‚Fahr auf dem schnellsten Weg... nach Hause... bring mir einen AI-Sender. Ich will sicher gehen, dass wir wissen wo sich Asugawa herumtreibt wenn ich ihn verlieren sollte.’
 

Schuldig hob einen Mundwinkel und lächelte spöttisch. Wenn Brad ihn verlieren sollte?

‚Klar, mach ich. Ich bring den ganzen Koffer mit.’ Er ging zu Ran und sagte ihm wohin er wollte, was mit einem knappen Nicken genehmigt wurde. „Sei vorsichtig.“

„Klar, bin ich doch immer“, tönte Schuldig zurück.

Ran schnaubte und drohte mit harten Sanktionen falls er sich erdreisten sollte und es zuließ, dass die Bösen ihn erwischten – oder er sich hinreißen ließ und Dummheiten machte.

Schuldig hätte dieses Gespräch gerne fortgesetzt aber er hatte einen Auftrag und wollte den großen Boss nicht lange warten lassen, nicht wenn dieser aussah als hätte er Gevatter Tod persönlich getroffen. Folglich ging er schweren Herzens, aber nicht ohne Ran eine Fortsetzung ihres Geplänkels zu versprechen.
 


 

o
 


 


 

Ran sah zu wie Hisoka die Abfälle in große Mülltüten stopfte und sie nach draußen schleppte. „Kann ich das kurz entsorgen?“ fragte der Hüne ihn und Ran sah zu ihm auf. Ran nickte kurz. Hisoka warf einen besorgten Blick auf seinen Bruder, bevor er eher widerstrebend, wie Ran es schien, das Schlafzimmer verließ.

Er war nicht einverstanden damit gewesen, dass Brad und Schuldig dem Mann einen Sender unter die Haut implantiert hatten. In Anbetracht der Lage jedoch war es keine ganz so schlechte Idee wie Ran schließlich für sich befunden hatte, weswegen er sich auch nicht laut zu seinen Bedenken geäußert hatte als Schuldig mit dem Koffer ins Schlafzimmer gekommen war. Die fiebrige Erleichterung die Brad verströmt hatte fiel sowohl Schuldig als auch ihm auf als der Sender im Nacken des Schlafenden platziert wurde. Schuldig hatte ihm erklärt, dass sie die Sender ursprünglich für sich selbst angeschafft hatten, falls einer von ihnen ‚verloren’ ging.
 

Jetzt war das Schlafzimmer bis auf Ran und Asugawa leer. Er stand noch eine Weile so da, bis eine Bewegung vom Bett her seine Aufmerksamkeit erregte. Der Mann bewegte sich zunächst auf die Seite, stöhnte verhalten und blieb dann mit einer Hand abgestützt halb auf dem Bauch liegen. Er atmete schwer. Ran kniff die Lippen zusammen und stöhnte frustriert. Jetzt musste er sich wohl kümmern. Es half ja nichts.
 

Er ließ sein Katana am Fenster zurück und ging zum Bett, legte seine Hand unter die Brust des anderen und drehte ihn wieder zurück. Nichts leichter als das, denn der Körper spannte sich an und wehrte sich. Zwar nur halbherzig, aber Ran erkannte lang geübte und verinnerlichte Abwehrgriffe. „Du hast keine Kraft um dich gegen mich zu wehren. Dein Vater hat dich gerade erst zusammengeflickt, reiss die Wunden nicht wieder auf.“
 

Finn ließ es zu, dass er auf den Rücken gedreht wurde und öffnete langsam die Augen. Er hatte starke Kopfschmerzen und ihm war schlecht. So richtig.

Sein Bauch und seine Oberschenkel schmerzten, auch seine Oberarme. Seine Schulter ebenfalls. Er schloss die Augen als eine erneute Übelkeitswelle ihn gefangen hielt, aber sie ging vorüber, wäre ohnehin nichts drin, was er auskotzen konnte. Er befreite sich langsam aus den Decken, besah sich die Verbände und raffte die Decke wieder halbherzig um sich herum. Probleme mit Nacktheit hatte er keine, sie war schließlich das größte Kapital, das er in den Kreisen, in denen er verkehrte, hatte.
 

„Hast du Durst?“ Sie hatten ihm zwar eine Infusion gegeben, aber sein Vater hatte beschlossen, dass eine ausreichen würde, da die Schnitte aufgrund der robusten Kleidung, die er trug nicht ganz so tief waren wie anfangs befürchtet und auch weniger bluteten.
 

Finn sah auf. So nahe war er Ran Fujimiya noch nie gewesen. Er konnte vor Kopfschmerzen kaum sprechen, deshalb schüttelte er nur den Kopf – obwohl er Durst hatte. Er würde jetzt nichts runterbekommen und wenn, dann würde er es wohl nicht lange behalten. Er schloss die Augen als er mit einem Mal das Gefühl hatte, seine Schulter würde ihm ausgerissen werden. Er verbiss sich ein Stöhnen und verkrampfte sich derart, dass er vergaß, Luft zu holen.
 

Ran stand unschlüssig da aber er erkannte, wenn jemand Schmerzen hatte und zu stolz war, dies zuzugeben. Und wie lästig das war. Aber Beschweren kam nicht in Frage, er war schließlich aus dem gleichen Holz geschnitzt. Weswegen er auch sein Katana mitnahm und das Schlafzimmer verließ. Er würde seinen Vater informieren, dass sein Sohn wach war.
 

Derselbige wähnte sich nun alleine und schälte sich erneut aus den Decken. Er rutschte seine Beine an den Bettrand und ließ sie nach unten auf den Boden gleiten. Dann griff er sich die Bettkante und zog sich mit der weniger schmerzenden Schulter nach oben. Schwindel erfasste ihn und er keuchte. Ihm war speiübel. Er hatte das Gefühl, als würde ihm die Galle bereits im Rachen sitzen. Wahrscheinlich war das nicht nur so ein Gefühl. Er musste nicht nur deshalb dringend auf die Toilette.
 

Er blieb einen Moment so sitzen. Die Verbände saßen alle noch an Ort und Stelle. Als er glaubte, genug Kraft gesammelt zu haben, straffte er sich und stand auf. Er blinzelte und tapste weniger elegant als sonst über den teuren Holzboden. Er hielt sich seinen Arm und atmete die Schmerzen weg so gut es ging. Mit der richtigen Atmung war es erträglicher. So schaffte er es bis zur Schlafzimmertür, die offen stand. Wohin jetzt?

Von rechts hörte er die Stimmen seines Vaters und Fujimiyas, dazwischen Schuldig.
 

Also nach links.
 

Er tappte den Flur entlang, warf einen interessierten Blick in den Eingangsbereich, der ihn aufgrund der Konsole sagte, dass er hier nicht so einfach rauskommen würde. Er grinste zynisch. Das wär's jetzt: Einfach abhauen, nackt wie er war und auch noch davonkommen...

Träumen konnte er ja noch.
 

Weitere drei Türen kamen in seine Blickrichtung. Eine davon stand offen und war das Badezimmer. Na das lief ja alles nach Plan, ganz nach seinem Geschmack. Kleine Erfolge waren auch wichtig.
 

Es klappte nur nicht ganz bis zum Schluss, so wie er sich das gedacht hatte. Kurz vor der Ziellinie ging ihm die Puste aus. Der Schwindel setzte wieder ein und er stützte sich an der Wand ab. Sein Sichtfeld schränkte sich ein und er ließ sich langsam nach unten gleiten. Er kauerte an der Wand mit Blick ins Badezimmer.

Kurz mussten ihm wohl die Lichter ausgegangen sein, denn als er seine Augen wieder öffnete sah er seinen Vater vor sich, der sein Gesicht hielt.
 

„Sag mir deinen Namen“, forderte er ihn auf.
 

Finn tat ihm den Gefallen, aber sein Vater schien nicht glücklich mit dieser Antwort zu sein. Was hatte er gefragt? Seinen Namen.

„Kawamori Finn“, wisperte er.
 

Sein Vater lächelte minimal. „Wo wolltest du hin?“
 

Er schielte mit den Augen in Richtung Badezimmer.
 

„Sag es mir. Du musst mit mir sprechen, Finn.“
 

„Bad. Ins Bad.“
 

Sein Vater schickte sich an, ihm aufzuhelfen.
 

Finn würgte, schluckte die Galle wieder hinunter, doch ihm lief der Speichel samt dem grünen Zeug aus dem Mundwinkel. Dann ging alles irgendwie durcheinander. Er spürte kräftige Hände unter seinem Hintern und an seiner Schulter und dann sah er nur mehr die Decke und kurz darauf wurde er vor der Toilette abgesetzt. Beim Geruch der Reinigungsmittel würgte es ihn wieder. Eine Tür knallte irgendwo hinter ihm zu und eine Hand drückte sich warm an seine Stirn, während er der Toilette seine grünen Grüße entgegenspie.
 

Irgendwann endete das ganze Intermezzo und ihm wurde ein Glas mit Wasser gereicht. Er spülte seinen Mund aus und das ganze verschwand dank der helfenden Hand auf Nimmerwidersehen. Er sank zurück und ihm wurde Stoff um die Schultern gelegt. Er zitterte stark als ihn jemand zurückzog. Hisoka oder sein Vater vielleicht. Er hatte die Augen immer noch geschlossen, als er sich zurücklehnte. Schon wieder diese lästigen schwarzen Punkte vor dem unvermeidlichen Abklappen. Er schloss die Lider und spürte, wie er fiel. Als er sie wieder öffnete sah ihn jedoch weder Hisoka noch sein Vater an.

Die Augen waren blaugrün und stachen aus dem Gesicht gar leuchtend hervor. Und er fürchtete sie.

„Warum bist du gesprungen?“, fragte ihn Schuldig leise.
 

Er war gesprungen? Wohin?

„Gesprungen?“
 

„Du kannst dich nicht erinnern? Du bist über die Brüstung des Hochhauses gesprungen. Und soweit wir erkennen konnten, ohne Absicht einen Fallschirm zu öffnen.“
 

Finn schüttelte langsam den Kopf, ließ den anderen aber nicht aus seinem Blick.

„Kurzschluss?“ versuchte er sich an einer Erklärung.
 

„Bin mir nicht sicher“, gab Schuldig lapidar zu. „Scheinst eher der große Planer zu

sein, als der Typ für unüberlegte Handlungen.“
 

„Pläne scheitern“, erwiderte Finn nüchtern. Nach einem Moment des Zögerns sah er wieder in die jetzt grünen Augen. War er so stark am Kopf verletzt, dass er schon Augenfarben nicht mehr richtig sehen konnte? Vorhin waren sie noch blaugrün gewesen, da war er sich sicher. Wechselten sie ihre Farbe? Er scheute den Blick, ganz anders als bei Crawford, dessen Augen ihm trotz ihrer Andersartigkeit Sicherheit gaben. „Wie geht’s ihm?“ fragte er möglichst neutral.
 

„Er ist schwer zu töten. Wenn ich bedenke, wie oft er in der Vergangenheit Ziel derartigen Angriffen ausgesetzt war wundert es mich hin und wieder schon, wie gut seine Konstitution ist.“ Schuldig lächelte schief. Brad war gut trainiert, ein Muskelpaket, wenn es auch nicht sofort zu sehen war. Dennoch war sich Schuldig sicher, dass er schlussendlich Asugawa unterlegen gewesen wäre.
 

„Es war nicht eingeplant, dass Crawford mich verfolgt“, sagte der und wurde wütend. „Was hat er sich dabei gedacht zu Sowas Sohn zu gehen? Außerdem, wo wart ihr? War er wieder allein unterwegs? Habt ihr ihm das nicht endlich ausgetrieben? Es ist zu gefährlich für ihn... momentan. Seht ihr nicht die Gefahr?“
 

Schuldig lächelte leise.
 

„Du weißt, dass er schon einmal alleine unterwegs war?“
 

Finn verzog den Mund leidend. Natürlich pickte sich Schuldig diese Frage aus dem möglichen Katalog heraus. „Ja. Aber ich konnte nichts machen. Sonst wäre die Sache sicher anders gelaufen.“
 

„Woher wusstest du das?“
 

„Der Auftrag lief indirekt über mich“, gab er zu und seufzte.

„Was wird das hier? Nutzt du meine Schwäche aus, um an Informationen zu gelangen?“ fragte Finn, ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht.
 

Schuldig lachte auf. „Natürlich. Was glaubst du denn? Anders komm ich ja nicht ran. Da oben komm ich nicht rein und sobald du wieder fit bist, springst du von der nächsten Brücke, sobald du mich siehst.“
 

Finn sah ihn einen Moment lang an bevor er sich einen Ruck gab.

„Ein Kunde von mir hatte ein Problem und ich riet ihm, sich an euch zu wenden. Liegt ja auf der Hand, dass ich das überwache“, meinte er verteidigend.

„Nur hat sich Brad offensichtlich nicht richtig um die Recherche gekümmert. Da mischten noch mehr Leute mit und ich hätte nie gedacht, dass er das allein durchziehen will. Dafür ist er nicht gemacht.“
 

Schuldig hob die Augenbrauen. Wollte er wissen, was für ein Kunde das war? Nein. „Er ist nicht schwach...“
 

„Natürlich ist er das nicht!“ ereiferte sich Finn empört über diese Unterstellung. Seine Augen blitzten aufgebracht. Crawford und schwach! „Das habe ich nie behauptet. Und bisher lief ja auch alles glatt. Mit SZ seid ihr spielend fertig geworden, sieht man mal von der marginalen Unterstützung von Weiß ab. Nur jetzt... jetzt braucht er Schutz.“

Finn versuchte hochzukommen und Schuldig ließ ihn. Er fädelte seinen unverletzten Arm in den Ärmel des Yukattas und half ihm mit dem anderen Arm. Was nicht leicht war.
 

„Warum?“ Schuldig fragte sich im Moment gerade, warum er nicht wütender auf den Halbjapaner sein konnte. Er runzelte die Stirn. Keiner von ihnen – nicht einmal Ran – hatte sich zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen. Es war, als wären alle in eine Starre verfallen, die keine Rachegedanken zuließ. Was war mit China? Das war doch noch nicht so lange her. Wo war seine Wut hin? Wut darauf, dass er damit beinahe Ran verloren hätte.

Er sah dem Mann zu, wie er sich abmühte, nicht zu schwanken und sah dann in das Gesicht. War es seine unverfängliche, ja fast schon unschuldige Art? Es war schwer zu beschreiben und Schuldig konnte es nicht klar erfassen. Die Ausstrahlung des Mannes hatte nichts von einem Killer und doch war er wohl der Schlimmste von ihnen in dieser Wohnung. Was ihn nur umso gefährlicher machte, denn offenbar war er ein guter Schauspieler.
 

Finn setzte sich mit der Unterstützung von Schuldig auf die Bank. „Warum?“
 

Schuldig sah ihn auffordernd an.
 

„Weil Rosenkreuz Jagd auf ihn machen. Das hast du doch vorhin gehört. Wann auch immer vorhin war. Wie spät ist es?“
 

„Nach elf.“
 

„Die Trias ist gespalten. Sie brauchen einen Machtbeweis, um sie zu einen. Wir haben bereits einen Abweichler – die dritte Spitze hat sich für Unabhängig erklärt. Das lässt zwei zurück, die um die Macht kämpfen. Das heißt nicht, dass die Fraktion, die sich abgespalten hat, aus dem Rennen ist.“
 

„Was hat das mit Brad zu tun?“
 

„Sollten wir das nicht mit ihm besprechen?“
 

„Später.“
 

„War das dann alles?“ hakte Finn misstrauisch nach.
 

„Das war es noch lange nicht.“ Schuldigs Blick ließ ihn nicht aus den Augen.
 

„Können wir dann mit dem Verhör später weiter machen?“
 

„Wenn du dann noch lebst, sehr gern“, sagte Schuldig ernst.

„Mal sehen, ob ich nicht doch noch Lust auf eine zweite Flugrunde habe“, brummte Finn zur Antwort und seufzte frustriert. Ende Gelände.
 

Schuldig lachte, als er die Tür öffnete und Ran vorfand. „Knall mir noch einmal die Tür vor der Nase zu und...“, schallte es ihm dunkel entgegen. Das Lachen fiel ihm aus dem Gesicht, als er Rans finsteren Blick begegnete. Da musste er dringend Gegenmaßnahmen einleiten, bevor sich das ausweiten konnte.
 

„Niemals wieder“, versprach Schuldig und küsste Ran auf die Lippen. Was diesem unangenehm war, wie Finn bemerkte. Er senkte den Blick und spürte der Hitze auf seinen Wangen nach. Na Hoppla, wo kam denn das jetzt her? Er, die Edelhure schlechthin, wurde rot, wenn sich zwei küssten? Vielen hatte er bisher noch keinen Kuss geschenkt. Und er musste schon schwer was an den Augen haben, um zu übersehen, dass sich hier zwei liebten.
 

Finn raffte sich auf und wickelte sich den Stoff behelfsmäßig um, gürtete ihn und stützte sich ab, als er aufstand. Dabei fiel ihm ein, dass er noch etwas zu erledigen hatte.

Er sah die Beiden im Türrahmen auffordernd an.

„Was?“ Schuldig erwiderte fragend seinen Blick.
 

„Könnte ich etwas Privatsphäre haben?“
 

„Gefangene haben kein Recht auf Ansprüche, aber ich bin heute großzügig. Großzügiger als Fei Long es gewesen war“, sagte Schuldig und trat aus der Tür, er lehnte sie an, schloss sie aber nicht. Das musste wohl reichen, befand Finn. Fei Long... ja da hatte er wohl daneben gegriffen. Wieder ein Plan, der nicht ganz funktioniert hatte. Zumindest nicht bis ins kleinste Detail.
 

Schuldig zuckte mit den Schultern, als Ran ihm einen bösen Blick zuwarf. Er zog ihn von der Tür weg und wieder ins Wohnzimmer zurück.

Ran hatte Hisoka und den Doc vom Badezimmer verscheucht, als er sicher war, dass Schuldig keinen Unsinn machte. Er hatte es am Lachen erkannt und den Gesprächsfetzen, die er durch die geschlossene Tür aufgeschnappt hatte.
 

Ran setzte sich an den Tresen und holte sich eine der Schalen mit seinen Nudeln heran. Sie hatten die Speisen warm gehalten bis Schuldig wieder zurück gekommen war. Jei bildete hier wie stets eine Ausnahme.

Sie aßen alle gemeinsam, beäugten nur einmal misstrauisch – unisono – wie sich Brad von seinem Lager erhob und den Wohnraum verließ.

„Ist das gut?“ fragte Yohji nach.
 

„Werden wir gleich sehen“, erwiderte Schuldig selbst unentschlossen. „Sie sind alt genug.“ Ja, die Befürchtung hatte Schuldig auch.

Sie aßen weiter schweigend und lauschten weniger auf das Radio denn auf mögliche, verbale Attacken oder Kämpfe aus Richtung Flur.

Irgendwie schienen sie alle auf dem Sprung zu sein, befand Schuldig und musste in seine Nudeln hineingrinsen. „Jei... behalt die beiden im Auge“, wies er an.
 

Finn stand gerade mehr schlecht als recht am Waschbecken und wusch sich sein Gesicht, fuhr sich mit dem Wasser über die verschwitzten Haarsträhnen im Nacken, da er dort ein leichtes schmerzendes Ziehen verspürte. Er vermutete einen kleinen Kratzer an dieser Stelle und war noch damit beschäftigt im Spiegel zu erkunden wie groß diese Verletzung war als die Tür aufging. „Keine Angst, ich spring nicht aus dem Fenster“, murmelte er verdrossen und trocknete sich sein Gesicht vorsichtig ab. Mit einer Hand war das irgendwie schwierig.
 

Brad sah die schmale Gestalt sich mühsam auf den langen Beinen halten. Ihm hing immer noch seine Vision in den Knochen, die Wut über seine Machtlosigkeit in so vielen Belangen zehrte an ihm. Seine Voraussicht sagte ihm, dass es nicht nur Kopfschmerzen waren, die den Mann lähmte sondern auch eine halb herausgerutschtes Schultergelenk. Die Röntgenaufnahmen konnte sich sein Vater ersparen...
 

Finn hängte das Handtuch sorgfältig wieder auf, zupfte es noch zurecht und drehte sich langsam um, nur um nicht gerade vorsichtig am Hals gepackt zu werden und gegen die nächste Wand zu prallen. Er schrie halb auf, als seine Schulter ein seltsames Geräusch von sich gab, ihm wurde schwarz vor Augen und er versuchte hektisch Luft zu holen. Mit einer Hand hielt er sich an seinem Angreifer fest.

„Du wirst zu keiner Sekunde deines Lebens mehr etwas tun, dass ich nicht weiß. Du gehörst mir. Verstehst du das? Kein Schritt, ohne dass ich es weiß...!“ zischte Brad. Und Finn rang noch immer krampfhaft nach Atem, Tränen traten in seine Augen.

„Lass mir... lass mir Luft zum Atmen...“ er sah ihn an und Brad ließ seinen Hals los, fasste ihn unter dem Arm. Er zog ihn an sich.
 

„Ich kann dir keine Luft zum Atmen lassen, wenn ich selbst das Gefühl habe, durch dich zu ersticken.“ Brad wusste nicht warum, aber es war für ihn im Augenblick unabdinglich, dass er ihn fest an sich drückte, wie das Stofftier eines Kindes, das es nicht mehr hergeben würde.

Er strich beruhigend über Finns Rücken.
 

Wie gegensätzlich war dieses Verhalten? Er fügte Finn Schmerzen zu, bedrohte ihn und berührte ihn dann, als wäre er etwas kostbares, dass es zu bewahren galt. Was sollte Finn davon halten? Sollte er es ignorieren? Vermutlich.

„Wir...wir hätten diese Nacht... es hätte nie passieren dürfen“, krächzte Finn gepresst.

„Du hättest es nie erfahren“, fauchte er mit mehr Biss als noch vor ein paar Augenblicken. Trotz seiner Zweifel würde er diese Nacht nicht verleugnen und das dunkle Geschenk, das er erhalten hatte, nicht missen wollen, auch wenn es ihn schmerzte.
 

„War das der Plan gewesen?“
 

„Ja. Solange bis...“ Finn verstummte. Es wäre wohl nicht zielführend gewesen, was er da sagen wollte.
 

„Bis?“ Eine Hand fuhr in seinen Nacken und wickelte sich die überlange Strähne dort um die Hand, er konnte es genau fühlen wie sich der Zug verschärfte und sein Kopf in den Nacken glitt.

„Wie lange? Bis wann?“
 

Schuldig versuchte herauszufinden, warum sie eher besorgt um Asugawa waren als um Brad. Das war verrückt. Asugawa war eine verlogene kleine Natter und hatte sich jedwedes positive Gefühl, das sie ihm entgegenbrachten in keiner Weise verdient. Dennoch war das, was er seinem Vater erzählt hatte, als sie ihn belauscht hatten, plausibel und im Wissen ausgesprochen, dass er sich ehrlich um Brad sorgte.

Sie aßen alle still bis es einen Moment gab, als sich Jei ruckartig umdrehte. Alle hörten auf zu essen und dann hörten sie einen Schrei. Wie auf Kommando stellten sie das Essen ein. Schuldig war schon mit einem Bein auf dem Boden als Jei sich wieder dem Essen zuwandte. „Ich dachte nur...“ sagte er uninteressiert.
 

„Du DACHTEST NUR?“ kiekste Schuldig empört.
 

„Nichts passiert. Sie haben sich wieder lieb“, murmelte Jei und alle starrten ihn völlig konsterniert an.
 

„Lieb?“ echote Kudou.
 

„Die... wir...“ Finn befeuchtete seine Lippen mit der Zunge.

„Die Droge muss alle paar Wochen aufgefrischt werden. Ich nehme das Zeug seit ein paar Jahren. Das ist nicht gesund. Ein paar Jahre geht der Spaß noch, dann ist Schluss.“
 

„Dann setz es ab“, forderte Crawford und Finn sah ihn misstrauisch an. Warum sollte er das? Was spielte es für eine Rolle, ob er den Löffel abgab oder nicht?

„Die Entzugssymptome können tödlich sein“, sagte er langsam.
 

„Und warum das Ganze? Nur, um von uns nicht entdeckt zu werden? Von mir nicht entdeckt zu werden, ist es das?“ fragte Brad zornig.
 

„Auch aber nicht nur. Sie haben einen Spion im Clan. Ein Spion der Rosenkreuzer. Er hätte gewusst, wer ich bin, wenn ich mich nicht dem Experiment mit der Droge ausgesetzt hätte. Du wärst in Gefahr gewesen.“
 

„Nur durch dich.“
 

Finn verstummte.

Was sollte er darauf sagen. Ja. Wahrscheinlich.
 

Brad näherte sich seinem Gesicht und Finn wurde unruhig in seinen Armen, bis er die Lippen auf den Seinen spürte. Er öffnete sich für den anderen, ließ ihn für einen räuberischen, wütenden, besitzanzeigenden Kuss ein. Brad riss sich abrupt von seinen Lippen los und ließ ihn keuchend zurück. Was sollte das alles? Eine Demonstration seiner Überlegenheit? Warum verprügelte er ihn nicht einfach? Das wäre weitaus weniger schmerzhaft als ein Kuss, der ihm fast den Verstand raubte.
 

„Deine Droge ist Geschichte. Sobald möglich, wird Schuldig deine Gedanken danach absuchen, wann und wo du mich manipuliert hast. Danach werfe ich dich persönlich von diesem Gebäude.“ Brad machte sich von ihm los und schubste ihn vor die Tür. Er schloss die Tür und sperrte hinter sich ab. Finn stand Halt suchend an der Wand im Flur und sah den Korridor entlang. Der Empath stand im Türrahmen zum offenen Wohnraum.
 

Hinter ihm der Rest der Bande.
 

Er gab sich keine Blöße und hangelte sich an der Wand entlang bis zum Schlafzimmer, in das er trat und die Tür hinter sich leise schloss.
 

„Habt ihr das Fenster abgeschlossen?“, fragte Jei.
 

Ran hielt den Schlüssel hoch.
 

„Was hat er angestellt?“, fragte Ran düster und Schuldig ahnte, dass Ran nicht Asugawa damit meinte.
 

Jei starrte den Flur entlang und bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck. Hisoka drängte sich an ihm vorbei. „Ich sehe nach seinen Verbänden.“
 

Schuldig hätte erwartet, dass er zu seinem Halbbruder ging, aber er ging geradeaus und klopfte am Bad an. Ihm wurde sogar geöffnet.
 

Ran sah zu Schuldig als Hisoka im Badezimmer verschwand. Der zog nur ein fragendes Gesicht und rollte dann mit den Augen.

„Sollte er sich nicht eher um seinen Bruder kümmern als um unseren missgelaunten Boss?“
 

Ran sah ihn an als hätte er etwas Saures gegessen. „Ihr mit eurer...“ brummte Schuldig daraufhin, riss dem Doc das Verbandszeug aus der Hand und stapfte in Richtung Schlafzimmer. Er riss die Tür auf und knallte sie ins Schloss. Deutlicher konnte die Botschaft hoffentlich nicht sein.

„Als wenn ich es nicht wüsste“, frotzelte er und zog ein Gesicht wie Drei-Tage-Regenwetter gegen die unschuldige Tür.
 

Er drehte sich um und fand seinen Patienten auf dem Bett sitzend, die schöne Aussicht genießend. Das Licht war aus, die Vorhänge zur Seite gezogen, um die Lichter der Nacht hereinzulassen.

„Ich sag dir eins, deine Familie ist Scheiße. Bei uns hier läuft die Nummer etwas anders ab. Da spaziert doch dein Bruderherz schnurstracks zum Griesgram da rein und bietet ihm einen kleinen Verbandswechsel an. Und lässt dich links liegen. Tja das stimmt sogar... von unserer Warte aus lag das Schlafzimmer tatsächlich links.“
 

„Du redest Unsinn“, schnaubte der Ältere. Ein schiefes und ziemlich verunglücktes Lächeln empfing ihn. Es waren wohl die Tränen in seinen Augen, die ihn verrieten.

„Wieso? Weil die Familie immer Vorrang hat? Er hätte erst zu dir gehen müssen.“
 

„Ich habe Crawford verletzt...“ fing Finn an und Schuldig konnte sich die Litanei schon ausmalen.
 

„Halt die Luft an“, wies Schuldig ihn schlecht gelaunt an. Naja, er gab sich zumindest so.

„Ich brauche keinen Vortrag über Ehre und Moral. Da bist du bei mir wirklich an der falschen Stelle. Crawford hätte diesen Alleingang besser nicht gemacht. Schon gewusst, dass er dich von Asami jagen lässt? Nein? Das Gesocks der halben Stadt ist hinter deinem Arsch her. Wusstest du das?“
 

Finn sah vorsichtig zu ihm auf, seine Lippen öffneten sich für einen Satz, schlossen sich aber wieder. „Er... das ist völlige Zeitverschwendung. Warum konzentriert ihr euch nicht endlich auf den Clan?“

Er senkte den Blick wieder und sah nach draußen. „Ganz davon abgesehen, dass einige tatsächlich hinter meinem Arsch her sein werden. Scheiße“, sagte er ernst.
 

„Er will nicht mehr kämpfen. Er hat es satt, denke ich. Das sagt er nicht, aber ich habe da so ein dumpfes Gefühl.“
 

„Ein dumpfes Gefühl, hmm?“ Finn lachte bitter auf und verstummte für einige Augenblicke in denen er seinen Gedanken nachhing.

„Das habe ich jetzt auch. Es wäre wirklich besser gewesen, ich hätte den kurzen Flug genießen dürfen. Wenn Sowa seine Hunde ausschickt - und das wird er tun, wenn Asami zur Jagd geblasen hat – dann habe ich ein Problem.“ Er runzelte nachdenklich seine Stirn. Er hatte eine lädierte Schulter, ein paar genähte Schnittwunden, eine Gehirnerschütterung... naja, das machte seine Chancen nicht gerade besser.

Vorsichtig bewegte er seine Schulter und das Ergebnis war positiver als gedacht. Hatte Brad die Schulter wieder ins Gelenk zurück befördert?
 

Schuldig konnte förmlich sehen was hinter dem hübschen Köpfchen vorging. „Das kannst du vergessen.“ Schuldig warf das Verbandszeug auf das Bett, als die Tür sich öffnete und sein neugieriger Freund Ran hereinschlich. Da war wohl jemand eifersüchtig, hmm? Schuldig grinste und sah wieder auf den Mann auf dem Bett hinunter. Er selbst lehnte seitlich am Fenster.

„Gut, angenommen du würdest hier raus kommen, abgesehen davon, dass Crawford dich hier nie rauslassen wird...“
 

„Er kommt raus“, sagte Ran ruhig aus dem Hintergrund und Finn drehte seinen Kopf zur Seite. Ran befand den Einfall mit dem Sender immer besser, jetzt gab es keinen Grund mehr den Mann hier festzuhalten.
 

„Kommt er nicht, wie denn? Die Tür ist...“ fing Schuldig an, Ran zu erklären, dass dies völlig unmöglich war, als er Ran ansah.
 

„Du weißt, dass er raus kommt“, sagte Ran mit samtiger Stimme und Schuldig seufzte und sah Ran lange an.
 

„Klar kommt er raus“, sagte er schließlich in Angedenken an ihrer beider Vergangenheit.
 

Er holte tief Luft und sah Kawamori an, der ihrem Gespräch aufmerksam gelauscht hatte.

„Also gut du...“, Schuldig seufzte. „Wenn du raus kommst, was würdest du als nächstes tun?“
 

„Verletzt oder unverletzt?“
 

„Sagen wir unverletzt, um bei der Hypothetik zu bleiben.“
 

„Zunächst hätte ich kontrolliert, ob ihr auch wirklich aus dem Ryokan auszieht. Seit dort erneut ein EMP aufgetreten ist seid ihr enttarnt. Sie planen einen Angriff auf das Ryokan. Kiguchi soll mir in ein paar Tagen berichten, wann dieser Angriff stattfinden wird. Ich hatte vor, dort auf sie zu warten. Das wäre interessant geworden. Ein paar Fallen aufstellen, das ganze Haus nur für mich ein großer Spielplatz. Ich hätte mir sogar neue Sachen einfallen lassen können. Ihr seid verdammt spät dran.“
 

„Der große Träumer im Badezimmer hatte eine Vision und die kam eben erst vor Kurzem.“
 

„Will ich wissen, was sie zeigt?“ fragte Finn unbestimmt nach.
 

„Nein.“
 

„Aber ich will's wissen“, meldete sich Ran und kam näher. Er nahm das Verbandszeug vom Bett und deutete mit dem Finger auf das Fußende. Finn sah ihn mit großen, fragenden Augen an. Er zog seine Beine aufs Bett.

„Hinlegen“, bekräftige Ran seine Anweisung knapp.
 

„Schuldig“, forderte Ran ihn auf und hörte das unwillige Stöhnen mit Missfallen was er Schuldig zeigte, bevor er sich seiner Aufgabe widmete und die Verbandsmaterialen aus ihrer Verpackung holte.
 

„Brad hat gesehen, wie du und das Mädchen sterben. Das gab dann doch den Ausschlag.“
 

Finn hob beide Hände. „Ran und Lilli?“ Schuldig nickte, er sah sich mit einem ernst blickenden Mann konfrontiert, dessen Gesicht ganz anders als noch vor wenigen Augenblicken aussah. Konzentriert und voll da.

Er erhob sich trotz Rans wütenden Blicken und ging ein paar Schritte zum Fenster, wo Schuldig stand. Dieser schmale Körper schien mehr auszuhalten, als Schuldig angenommen hatte.
 

Finn blieb vor Schuldig stehen. „Wenn...“ Finn sah zu Ran, der auf dem Bett saß.

„Wenn sie dich und Lilli ausschalten wollen... und das wollen sie, denn ihr seid keine Kollateralschäden, läuft hier noch eine andere Sache als bisher vermutet. Dann weiß Yoshio Sakurakawa bereits von Chiyos Plänen. Chiyo braucht Crawford, dich und die Kinder für ihren Plan. Ihr Mann wäre besser bedient damit, wenn alle genannten ausgeschaltet würden – außer Ran. Er würde dir nie etwas tun, er braucht dich als offiziellen Erben. Rosenkreuz brauchen nur Crawford und den Jungen. Alle anderen stören nur. Und wenn du tot bist, gibt es keinen Erben mehr. Dann stecken Rosenkreuz hinter dem Angriff auf das Ryokan. Vermutlich mischte sich Superbia mehr ein als ich dachte. Das liegt nahe und würde erklären, warum Yoshio sein Enkel nicht mehr wichtig ist. Interessant.“
 

„Wenn er ein Telepath ist, wie von dir behauptet, kann er Yoshio jederzeit lenken“, gab Schuldig zu bedenken.

Er sah zu Ran, der ihn schockiert ansah. Ran wollte gerade etwas sagen, als Schuldig den Kopf schüttelte. „Schön hört sich nach ner Therorie an... nur ... warte mal kurz... habe ich da grade etwas nicht richtig mitbekommen? Erläutere uns doch bitte noch einmal die Sache mit dem Erben und dem Clan und dem „du“.“

Finn war noch in Gedanken und sah jetzt auf. Er sah erst Schuldig an und dann Ran. „Hat die aschfahle Farbe in deinem Gesicht jetzt etwas mit einem plötzlichen Blutverlust zu tun oder der Tatsache, dass du hier etwas ausgeplaudert hast, dass du eher mit ins Erdgeschoss nehmen wolltest? Vorhin meine ich.“
 

Finn sah schnell zu Schuldig auf. „Klar vorhin...“ murmelte er.
 

Er ging wieder zurück zum Bett und setzte sich vorsichtig.
 

„Erzähl mir deine Familiengeschichte“, bat Finn und Ran hob die Verbände wieder auf. Er brauchte etwas, das seine Hände tun konnten. Er war nervös. Ran schwieg jedoch beharrlich, seine Finger zitterten.
 

Finn hievte seine Beine auf das Bett und ließ sich von Ran die Verbände erneuern.
 

Als Finn verbunden war besah sich Ran die Schulter. Als Ran immer noch nichts sagte, begann Finn...
 

„Deine Mutter war eine Kawamori. Ebenso wie deine Großmutter eine ist. Ich bin ihr Schüler, wie deine Mutter, die eine Kawamori und ebenso Schülerin ihrer Mutter war. Dies ist Chiyo Sakurakawa. Dieser Clan ist kein Clan mit Blutsverwandschaft. Die Sakurakawas hatten einst eine wichtige Aufgabe. Aber dazu irgendwann einmal mehr.“
 

„Ich kenn die Story“, sagte Schuldig.
 

„Hätte mich auch gewundert wenn nicht.“ Finn sah wieder Ran an, der ihm half, seinen Yukatta zu schließen.

„Deine Mutter lernte einen jungen Mann kennen, deinen Vater. Ihr Vater war mit dieser Verbindung anfangs einverstanden, dann jedoch ergaben sich immer mehr Differenzen. Sie verließ die Familie, heiratete deinen Vater und bekam dich und dann deine Schwester. Sie verschwand einfach, tauchte ab und war nicht mehr gesehen. Jeder Versuch, sie zurück in die Familie zu bringen, scheiterte. Sie wehrte sich, denn die Methoden ihres Vaters waren nicht gerade nett.“

Es war nicht die ganze Wahrheit, die er da verkündete, aber es war ein Teil davon. Mit einer Halbwahrheit kam er besser hin, als wenn er eine komplette Lüge erzählte und schließlich ließ er nur etwas aus, das war ja nicht direkt gelogen oder?
 

Ran saß wie versteinert da. Er versuchte Erinnerungen aus seiner Kindheit hervorzukramen um nach verräterischen Anzeichen zu suchen, nach Hinweisen auf das, was ihm hier erzählt wurde. Und er fand sie auch. Er durfte nicht ins Kendotraining gehen, sie hatte ihn selbst unterrichtet. Die Streitigkeiten...die er mitbekommen hatte.
 

„Siehst du deshalb ist es besser, manche Dinge mit ins Erdgeschoss zu nehmen“, sagte Finn zu Schuldig, wenig begeistert davon, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein.
 

„Nein, das ist es nicht“, sagte Schuldig. „Und das weißt du auch. Es macht alles nur schlimmer.“
 

Finn seufzte schwer, griff sich die Decke und wickelte sich darin ein. Er sah missmutig zu Ran und verzog mitfühlend den Mund.

„Eines Abends fanden deine Großeltern den Kopf ihres Sektionsbosses aufgespießt vor ihrer Tür. Er hatte den Auftrag erhalten, euch unter allen Umständen zu den Großeltern zu bringen. Ihr wart damals noch klein. Deine Familie tauchte ab. Danach war ein paar Jahre Ruhe.“
 

Ran spürte eine tröstende Hand in seinem Nacken. Sie war ihm nicht recht. Er wusste nicht, ob er Trost wollte. Er wäre am Liebsten aufgestanden und gegangen, irgendwohin, wo er niemanden um sich hatte. Aber das hätte Schwäche bedeutet und Schuldig... wäre ihm nachgekommen. Also blieb er sitzen, wenn auch eine Kälte in ihn Einzug gehalten hatte, die ihn körperlich taub machte.
 

„Dann, an einem schönen, lauen Abend gab es einen neuen Attentäter. Yoshio beauftragte Takatori, der damals noch Geld für seinen Wahlkampf benötigte, ihm einen kleinen Gefallen zu tun.

Als Geschäftsfreund ließen deine Eltern ihn in ihr Haus. Sie luden ihn zum Essen ein, während ihr beiden beim Fest wart. Ganz unverfänglich. Perfide nicht wahr? Ihr war nicht in Gefahr. Eure Eltern tot, ihr beide Waisen. Eure Großeltern die einzigen Verwandten weit und breit. Wie tragisch“, sagte Finn mit leiser Stimme und sah in die Ferne, ganz so, als würde er sich die Tragweite der Geschichte noch einmal vor Augen holen wollen.
 

Ran erhob sich und sah Schuldig an. „Ich wusste... ahnte... dass da etwas nicht stimmte. Ich habe dir doch...“ versuchte Ran seine Gedanken zu sortieren.

„Du hast mir gesagt, dass du Manx nicht traust... sie habe dir nicht alles erzählt.“
 

„Und was ist mit ihr?“
 

„Chiyo? Oder meinst du Manx?“ fragte Finn.
 

„Chiyo.“
 

„Sie hat deine Mutter geliebt. Nie hätte sie euch etwas tun können. Sie hat mich immer wieder darum gebeten, dich zu schützen.“ Er sah weg. „Wen denn noch alles? Schwarz, Fujimiya, die Kinder, Eve... ja klar, die ganze Welt am Besten!“ rief er aus und Schuldig musste unfreiwillig über diese Entrüstung schmunzeln.
 

Rans Gesicht wirkte wie versteinert.
 

„Was ist mit Manx?“, hakte Schuldig an seiner Stelle nach.
 

„Wie ich herausgefunden habe, arbeitet sie für Chiyo. Chiyo war Kritikers Geldquelle. Die öffentlichen Gelder hätten für einen Feldzug, wie Persha ihn ins Leben gerufen hat nie ausgereicht, dazu hat ihn sein Bruder zu kurz gehalten. Chiyo steht auf der richtigen Seite, aber sie hat fragwürdige Methoden, wie Kritiker auch. Das gefiel ihr so gut an dieser Organisation. Manx hat dich eingesammelt als Chiyo Wind von Crashers erhalten hat.

Sie wollte ein Auge auf dich haben und deine Rache in die richtige Richtung lenken, bei Crashers wäre es dir nicht gelungen an Takatori heran zu kommen. Die Mittel hatten nur Kritiker, durch Chiyo. Und Persha natürlich, der ohnehin eine persönliche Rechnung mit Takatori zu begleichen hatte. Manx hat dich zu Kritiker geholt, weil Chiyo das so wollte.

Was ihr ein Dorn im Auge war, war die Tatsache, dass ihr PSI jagtet. Das hat ihr nie besonders gut gefallen. Aber sie sagte immer, dass die Zeit noch nicht reif dafür war, dass Schwarz Hilfe bräuchten. In den letzten Jahren jedoch hat sich das Blatt gewendet. Informationen über Angriffe auf PSI in der ganzen Welt drangen zu ihr. Ihr waren nur leider die Hände gebunden. Sie hat getan, was sie tun konnte, aber hat sich eher in den USA betätigt. Das Feld hier hat sie größtenteils mir überlassen.“
 

Ran sagte nichts dazu, er musste das alles erst einmal verdauen.
 

„Was ist mit der rothaarigen Amazone?“
 

„Manx?“ Finn dachte einen Augenblick nach, wie viel er von der Frau wusste. Das war nicht viel, aber er hatte sich nach ihrer Begegnung im Wald des Anwesens erkundigt.

„Sie ist eine von Chiyos Kindern, wie ich auch. Sie wurde an die Familie verkauft. Sie hatte nur Glück, dass Chiyo in ihr etwas sah, was ihren Zwecken dienlich war. Sie suchte sie sich für ihren persönlichen Kader aus. Andere Kinder hatten weniger Glück, sie landen bei ihrem Mann, der sie zu seiner Schutztruppe ausgebildet hatte.“
 

„Kennst du Manx von früher?“
 

„Nein. Die meisten ihrer Kinder zieht sie selbst bis zu einem bestimmten Alter mit heran, bevor sie sie wegschickt zu anderen Meistern.“
 

„Und du?“ fragte Ran.
 

Finn seufzte und sah zu Schuldig, bevor er den Blick senkte.
 

„Sie hat mich bei sich behalten und mich das gelehrt, was sie wusste.“ Vermutlich die härteste Schule für ein Kind. Er dachte immer noch an das eine Jahr zurück, in dem er als Mädchen leben musste. Das hatte sie später, als er siebzehn war, noch einmal wiederholt. Er hatte es gehasst.
 

„Hattest du andere Lehrer?“
 

„Sicher, aber sie hat diese überwacht“, und seine Ausbildung war auch nicht so korrekt und vorbildlich verlaufen wie die beiden sich das vielleicht vorstellen mochten. Die Jahre waren vergangen und Heimlichkeit stand auf der Tagesordnung. Er war emotional, seelisch lange nicht so gefestigt wie manch ein Guardian aus früheren Zeiten. Er war der Beste, den sie unter diesen Umständen heranzüchten konnte und das war beileibe nicht gut genug. Er war zu emotional, gehorchte nicht immer und dachte zu viel nach. Er änderte ihre Pläne zu seinen Gunsten, fragte zu viel und war zu aufmüpfig... gelegentlich. Nur wenn es um Bradley Crawford ging versagte all sein Widerstand. Der Hellseher war seine seelische Rettung gewesen, ihm all sein Denken, sein Handeln zu widmen war das, was ihn nach vorne getrieben hatte und Chiyo war dabei nur noch das Mittel zu seinen Zwecken gewesen. Er hatte sich immer ausgemalt, wie es sein würde, wenn Brad von ihm wusste. Dabei waren verschiedene Szenarien entstanden, wenige davon waren gut ausgegangen. Jetzt war er hier und keine dieser kleinen Träume war wie die Wirklichkeit.
 

„Und all das da... was ist damit?“ Schuldig deutete auf die Zeichnungen an seinem Körper, die jetzt unter der Decke verborgen lagen. Finn ließ den Kopf in den Nacken fallen. Er war müde.

Aber was machte das jetzt schon.

„Ist das die letzte Frage?“
 

„Für den Augenblick... schon“, gab Schuldig nach.
 

„Eine Bestrafung von... deiner Tante... und danach fand Gula das lustig und machte weiter damit.“
 

„Meine Tante...“ Schuldig lachte bitter auf. „Könnten wir uns auf einen anderen Namen einigen?“
 

Finn rollte den Kopf herum und lächelte trostlos, als er Schuldig ansah. „Du meinst eher so etwas wie Biest, oder Psychopathin oder Wahnsinnige, aber wie wäre es mit Psychopathin, der Folter gefällt?“ Er verzog angewidert das Gesicht.

„Wenn es zutreffend ist?“ sagte Schuldig und er sah nach draußen.

Ran wandte sich zu ihm um.
 

„Sie hat dir die Zeichnungen machen lassen?“ fragte Ran dann.
 

„Für Verfehlungen. Jede Sichel stellt einen Fluch dar. Sie fand es unterhaltsam, mich auf einen Tisch zu ketten und ihren hofeigenen Tätowierer einfliegen zu lassen, um mir ein neues Souvenir einzuzeichnen.“
 

„Warum hast du dich nicht gewehrt?“ Die Frage lag nahe.

Finns Blick rutschte auf die Bettdecke und heftete sich dort fest. Seine Tarnung wäre aufgeflogen und war es nicht seine Philosophie gewesen, alles für die Sicherheit von Brad zu tun? Nur daran hatte er sich festgehalten. Nur die Gedanken an ihn hatten ihn vor dem Untergang bewahrt. Lächerlich bei genauer Betrachtung. Lächerlich wie sein Leben.
 

„Das war eure letzte Frage für heute, ich bin müde. Darf der Gefangene jetzt schlafen?“ fragte Finn erschöpft und schloss die Augen.
 

Ran und Schuldig sahen sich an. Schuldig schüttelte den Kopf und Ran erhob sich.

Sie verließen das Schlafzimmer. Vor der Tür wartete Crawford mit verschränkten Armen. Er war allein im Flur. Hisoka stand etwas weiter entfernt. Sie gingen alle in den Wohnraum. Jei und Kudou waren nicht mehr da.
 

Crawford war mit Schuldig in Verbindung gestanden und hatte das Gespräch so mitverfolgt. Schuldig war geradezu prädestiniert dafür, Verhöre zu führen. Brad neigte dazu, wenig auf den Befragten einzugehen und schüchterte diesen eher ein. Was in der Vergangenheit oft dazu geführt hatte, dass etwaige Gefangene von Takatori gar nichts mehr sagten. Schuldig war dagegen ein hervorragender Folterknecht, wenn man so wollte.
 

Ran ging zunächst zu der kleinen Bar und schenkte sich ein Glas Scotch ein. Nicht das Getränk der ersten Wahl für ihn aber in Anbetracht des betäubenden Gefühls das er verspürte war es ihm fast egal was ihm dabei half seinen tauben Körper wieder zu spüren. Als er in die Runde blickte, kramte er weitere Gläser hervor und schenkte den anderen ebenso ein.
 

„Gibt es einen Grund für dieses Schweigen?“ fragte Hisoka und sie setzten sich bis auf Brad auf die beiden gegenüberliegenden Sofas. Brad stand am Fenster und sah hinaus.
 

„Wie oft haben Sie versucht, Ihren Sohn aus Chiyos Händen zurückzubekommen?“ fragte Brad und Schuldig sah zu ihm auf. Ihm wurde jedoch nur die Rückfront präsentiert.

Brad war so angepisst wie schon lange nicht mehr, befand Schuldig, als er die angespannte Haltung des Amerikaners sah. Eine tiefsitzende Wut, die nicht an die Oberfläche kam. Schuldig gefiel es besser, wenn Brad um sich schlug.
 

„Einige Male. Die letzte Unternehmung in diese Richtung dürfte Ihnen noch im Gedächtnis sein.“
 

„Was hat es mit den Tätowierungen auf sich?“ Erneut eine so kalt gestellte Frage ohne Emotion oder Klang.
 

„Das haben wir bereits besprochen. Traditionell gelten diese Worte als Zeichen für besondere Leistungen.“
 

„Besonders gute oder besonders schlechte?“ hakte Ran nach.
 

„Gute natürlich. Jede Sichel beschreibt die Tat des Guardians, als er das Leben seines Schützlings positiv beeinflusst oder gerettet hat. Sowohl Seelenleben als auch Physis werden berücksichtigt. Es gibt Taten die mehrere Sicheln nach sich ziehen können. Jeder Guard oder Guardian ist stolz darauf.“
 

„Ihr Sohn nicht.“
 

„Aber...“ Hisoka sah sie verständnislos an.
 

„Ihr Sohn wurde dazu gezwungen. Ein Clanmitglied... hat ihn gefesselt und sie ihm mittels eines eingeflogenen Tätowierers eingestanzt. Die Erklärung dafür war, dass die Sicheln Flüche wären, Zeichen seiner Verfehlungen. Er schien mir nicht gerade stolz darauf zu sein.“
 

„Nicht stolz?“ Hisoka schüttelte den Kopf und stand auf. Er ging ein paar Schritte und sah sie dann nur ruhig an.
 

„Nein. Das ist er nicht“, sagte Brad. Er konnte sich noch daran erinnern, wie unsicher der Mann in der Dusche gestanden hatte. Er hatte damals von ihm wissen wollen, ob sie Brad gefallen und es war pure Unsicherheit und kein Stolz in der Stimme gewesen. Jetzt wusste er warum.
 

„Warum hat sie das getan?“ Hisoka wandte sich an seinen Vater. Der nahm einen Schluck und sah in sein Glas.

„Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, er wäre ein Guardian. Das ist das Einzige, was ich mir vorstellen kann. Aber sie hätte es ihm sagen müssen. Es ist ein gut gehütetes Geheimnis der Familie Kawamori. Die Zeichnungen wurden stets verborgen getragen, aber ich bezweifle, dass es heute noch jemanden gibt, der sie zuordnen kann und weiß, was er vor sich hat wenn er eine sieht.
 

„Dann ging das von Chiyo aus? Nicht von...“
 

„Nein. Es ging mit Sicherheit von Chiyo aus. Es gibt nur einen Tätowierer der das macht und das ist ein Kawamori, er hat es von seinem Vater und dieser von seinem, eine lange Tradition in unserer Familie. Die Anordnung der Worte, die Auswahl und der Übergang zur nächsten Sichel. Sie haben alle eine Bedeutung und stehen in Verbindung.“
 

„Chiyo hat es deiner Tante so verkauft, dass es nach Bestrafung aussieht, nicht nach Belohnung“, sagte Ran. Sie hingen ihren Gedanken nach und tranken ihre Gläser leer.
 

„Wie jetzt weiter?“
 

„Wie geplant. Wir ziehen ins Haus zurück. Doc... ich möchte, dass Sie für kurze Zeit ihr Lager bei uns aufschlagen.“
 

„Warum?“
 

„Naoe. Er kann nicht länger in der Klinik bleiben. Angesichts der Aussicht, dass Rosenkreuzer bald einfallen werden, muss er bei uns sein.“
 

„Das kostet extra fürchte ich“, sagte der Doc und Ran sah das Lächeln in seinen Augen.
 

„Das sollte kein Problem sein. Ich kürze Schuldigs Taschengeld.“
 

„Was?“ ereiferte sich Schuldig.
 

„Du bist derjenige, der auf schnellstem Weg an Geld kommt“, kappte Brad den Einwand, der da kommen mochte.
 

„Pfft“, machte Schuldig und ertränkte seinen Frust in Alkohol. Reine Show, er hatte schließlich genug Geld, nur es schien Brad Spaß zu machen anderen zu zeigen, dass er ihn an der kurzen Leine hielt, Schuldig ging wie immer gerne darauf ein. Er grinste innerlich während er den beleidigten Untertan mimte.
 

„Was ist mit der Tatsache, dass Chiyo meine Großmutter ist? Falls es denn stimmt.“
 

„Mich sorgt eher der Umstand, dass nicht nur wir davon wissen und die Aussicht auf ein milliardenschweres Erbe. Viele werden hinter dir her sein“, wandte Schuldig ein.
 

„Es stimmt“, sagte Brad.
 

„Hast du das gesehen?“
 

„Ja“, log Brad frei heraus. Er würde sich hüten und sein Treffen mit Chiyo offenbaren.

„Und jetzt verschwindet, treibt den Umzug voran. Ich komme morgen...“
 

„Du kommst morgen nicht. Du kümmerst dich um deine Wunde, außerdem hast du einen Gast“, murrte Schuldig.
 

„Wir nehmen Kaito mit“, sagte Hisoka.
 

„Ich fürchte das geht nicht. Die Fluchtgefahr ist zu hoch. Sobald er den Fuß auf den Asphalt setzt, ist er weg. Noch weiß ich nicht alles, was ich wissen will, ich habe noch ein paar Fragen an ihn“, erwiderte Brad.
 

Der Doc stellte sein Glas ab und sah Hisoka an. „Wir gehen, kommen morgen aber wieder, um nach den Verletzungen zu sehen.“
 

Das Machtwort war gesprochen und Hisoka fügte sich, wenn auch widerwillig, wie Ran bemerkte.

Schuldig und er erhoben sich auch und zwanzig Minuten später war Brad allein. Brad machte sich daran, die Wohnung aufzuräumen, was nicht gerade förderlich für seine Hand und seine frisch versorgte Flanke war. Er warf sich zwei Tabletten ein und ging ins Schlafzimmer. Und erinnerte sich daran, dass er es nicht länger für sich allein zur Verfügung hatte.

Er legte sich hin, nahm die Brille ab, legte sie zur Seite und rieb sich seine müden Augen. „Bringt es etwas, dich zu fesseln, damit ich morgen früh aufwache?“ fragte er in den stillen Raum hinein. Kein Mucks war vom anderen zu hören, als hätte er den Atem angehalten.

„Kommt auf die Fesselung an“, hörte er dann vernuschelt aus den Decken heraus.

„Standard reicht wohl nicht“, erwiderte Brad und schloss die Augen. Sie brannten unangenehm.

„Eher nicht“, sagte Finn unbestimmt.

„Prahlerei?“

„Du kannst es ja darauf ankommen lassen.“

„Muss ich wohl. In jeder Hinsicht.“

„Wie sieht es mit deiner Absicht aus, mir Flugstunden zu spendieren?“

„Nach deiner Mitleidsgeschichte von vorhin würde mir wohl so gut wie jeder, der sie kennt, den Hals umdrehen, wenn ich etwas in dieser Richtung vorhabe. Das heißt aber nicht, dass du so ohne weiteres davon kommst.“

Er hörte Geraschel und leise ausgestoßene Flüche, bevor er einen Schatten vor dem Fenster sehen konnte. „Leg dich wieder hin Kawamori“, sagte er und seufzte. Er wollte Ruhe und Frieden. Zumindest für den Augenblick.

„Finn. Mein Name ist Finn. Finn Asugawa.“

„Warum? Hast du auch ein Trauma mit deinem wirklichen Namen wie unser Milliardenerbe?“

Finn sah zu ihm hinüber. „Nein?“ Er schüttelte verständnislos den Kopf.

„Meine Mutter wollte, dass ich Finn heiße und an Asugawa habe ich mich einfach gewöhnt. Ich bin kein Kawamori mehr, das ist alles. Keine tragische Geschichte.“
 

„Du hast den Namen abgelegt, als du verkauft wurdest?“
 

„Du hat gelauscht“, stellte Finn fest.
 

„Kunststück wenn du meiner rechten Hand – einem Telepathen - etwas erzählst.“
 

Finn schnaubte.
 

„Leg dich hin.“
 

„Ich habe Schmerzen, ich kann nicht mehr liegen.“ Er ging langsam auf und ab. Seine Schulter schmerzte, aber wenn er lief oder stand war es besser. Für die Nähte war es jedoch nicht gut. Na ja, einen Tod musste man sterben.
 

Brad ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie langsam wieder. Er hätte ihn am Liebsten in einen anderen Raum gezerrt und dort verschnürt, nur um nicht ständig mit seiner Anwesenheit konfrontiert zu sein. Er war innerlich unruhig, an Schlaf war nicht zu denken, im Wissen, dass dieser Mann mehr von ihm wusste als jeder andere, den er kannte, Schuldig eingeschlossen.

Seine Gefühle fuhren Karussell und Angst – musste er zugeben – war nur eines davon. Ihm war es fremd und es stellte seine lang antrainierte Selbstbeherrschung auf die Probe. Dieser Mann stellte alles in Frage, was ihn ausmachte. Er sann dem Drang nach, ihn von sich zu stoßen und ihn zu töten, nur um dieser Angst zu entkommen oder ihn an sich zu ziehen und ihn so stark an sich zu binden, dass er nie wieder auch nur einen Schritt von ihm wich. Er verstand es nicht und das machte ihn halb verrückt.
 

Sie schwiegen lange und Brad schien eingeschlafen zu sein. Finn verließ leise das Schlafzimmer und atmete vor der Tür auf. Brad schien sich beruhigt zu haben. Er war so erleichtert, dass er heulen hätte können. Aber alles, was passierte war, dass er zufrieden lächelte. Er ging auf die Toilette, sah sich sein zerkratztes Gesicht an und kämpfte den erneut aufkommenden Schwindel nieder.

Dann tapste er in den Wohnraum, schenkte sich Wasser ein und besah sich die Wohnung. Er stolperte halb über seine Tasche, die immer noch im Wohnzimmer stand. Da fiel ihm ein...

„Scheiße...“ entfuhr es ihm.
 

Er tigerte zurück ins Schlafzimmer.

„Hey“, wisperte er. „Brad...“ etwas lauter und vertraulicher.

„Ich wüsste nicht, dass ich dir erlaubt hätte, mich beim Vornamen zu nennen.“

„Ist dir Bradford lieber?“

„Wie hast du es eigentlich geschafft, dich nicht zu verplappern?“

„Tja, erstaunlich nicht war... angesichts der Umstände. Ich gebe zu, es war höllisch schwer und ich bin immer noch stolz auf meine Leistung“, sagte er in die Stille hinein.

Finn ging näher ans Bett und setzte sich auf die Kante neben Brad. Er keuchte als er das Brennen der Wunde spürte. „Ich glaube, ich muss echt was einwerfen.“

„Tu das und lass mich schlafen.“

„Geht nicht. Wir haben ein Problem.“

Brad stöhnte. „Du weißt gar nicht wie ich diesen Satz hasse.“

„Kann ich mir vorstellen“, murmelte Finn.

„Was ist?“ entfuhr es Brad gereizt.

„Der Wagen mit dem ich dich hergebracht habe, steht immer noch in der Tiefgarage. Er muss weg. Er kann über das GPS geortet werden und mich würde es nicht wundern, hätte Steam einen Sender angebracht.“

Brad tastete nach dem Lichtschalter und griff sich seine Brille. „Das sagst du mir jetzt?“

Er sah Finn an, dessen Gesichtsfarbe kränklich grau wirkte. Die braunen Augen erwiderten trüb seinen Blick. Das Lächeln auf den verführerischen Lippen sah jedoch spitzbübisch aus. „Ich könnte ihn wegfahren!“ bot er an und wedelte mit dem Schlüssel.

„Und wiederkommen? Wem willst du das verkaufen?“
 

Finns Lächeln verblasste. „Ich komme wieder“, sagte er ernst.
 

„Die Frage ist wann! Abgesehen davon, dass ich dir in dieser Sache nicht traue, verliere ich deinen Vater als getreuen Mitarbeiter, wenn ich dich so rausschicke.“

„Ich schaffe das schon“, behauptete Finn und sah ihn fast schon schmollend an.

„Nein. Gib mir die Schlüssel.“

Finn dachte einen Moment darüber nach, ob er das „Hol sie dir doch“-Spielchen spielen sollte, aber...

„Wenn du jetzt an das denkst, was ich glaube, dann schmeiß ich dich wirklich noch von diesem Stockwerk. Und zwar unmittelbar nachdem ich mir die Schlüssel geholt habe.“

Finn sah ertappt auf. Er legte den Schlüssel in die wartende Hand.

„Wohin?“

„Ein Parkhaus, aber ich würde ihn, wenn ich du wäre, einfach weit weg von hier abstellen. Du musst irgendwie wieder zurückkommen. Oder willst du ein Taxi nehmen, das ist zu unsicher. Es kann rückverfolgt werden.“
 

Brad antwortete nicht. Er schlüpfte aus seiner Hose und ging nackt wie er war aus seinem Schlafzimmer. Finn glotzte ungeniert und legte sich dann zurück. Er schloss die Augen und versuchte seine erregte Libido zu bekämpfen. Ein Blick auf diesen nackten Hintern und die Männlichkeit, deren samtige Oberfläche er noch genau in Erinnerung hatte, brachten ihn hier völlig aus dem Konzept. Er rollte zur Seite, sodass er die Tür im Blick hatte und das Licht des Flurs auf ihn fiel. Er hatte Schmerzen und trotzdem war er erregt. Schrecklich war das. Er seufzte und schloss die Augen, hörte die Hintergrundgeräusche im Bad und dann weiter entfernt. In Gedanken fuhr er mit den Händen über die festen Bauchmuskeln, hinunter zu den Leisten...

Dann verdunkelte sich hinter seinen geschlossenen Lider der Lichtschein etwas und er öffnete verträumt die Augen.

„Schon wieder da?“
 

„Ich war noch nicht weg.“
 

„Du weißt, dass ich auf dich stehe und trotzdem tanzt du nackt hier vor mir herum.“
 

„Weiß ich das?“
 

„Ja.“
 

„Dann verstehst du ja, was ich damit meinte, dass du nicht ungestraft damit davon kommst.“
 

„Was habe ich denn getan?“, fragte er wenig enthusiastisch nach.
 

„Was war mit China? Und Shanghai? Und wenn ich mich nicht schwer täusche, hast du mich vergiftet.“
 

„Du weißt das?“ Finn setzte sich auf.
 

„Bis später.“
 

Finn blieb allein zurück. Das war also seine Strafe? Wann hatte sich Crawford das ausgedacht? Und warum?
 

Weil es grausamer für ihn war. Crawford würde ihn nicht einmal mehr die Hand geben, geschweige denn ihn küssen. Er würde ihn in seiner Nähe lassen aber nicht weiter. Der Sprung wurde immer verlockender. Finn legte sich wieder hin, robbte an die Stelle wo Brad zuvor gelegen hatte und kuschelte sich in Kopfkissen und Decke ein.
 

Als es morgen wurde wachte er auf. Es war hell und er fühlte sich wie erschlagen. Bis er aufgestanden war dauerte es eine gefühlte Ewigkeit. Das Bett war bis auf ihn leer. Er ging die Wohnung ab, aber Brad war nicht da.

Es war sieben Uhr. Er ging zu seinem Telefon, kramte es aus der Tasche hervor und wählte die Nummer seines Vaters.

„Crawford...er hat den Wagen zurückgefahren und ist nicht mehr zurückgekommen.“

„Er hat hier geschlafen. Er trifft sich heute noch einmal mit Asami, um die Suche nach dir abzubrechen.“

„Das ist zu gefährlich.“

„Ihm das auszureden ist unmöglich.“

„Warum hat er bei euch geschlafen?“

„Er braucht seine Ruhe. Er stand kurz vor dem Zusammenbruch.“

„Das... habe ich nicht bemerkt.“

„Du kennst ihn nicht...“

„Nein. Wohl nicht.“ Finn legte auf.

Er sah nur den Mann, nicht den übersinnlich Begabten Hellseher. Ein Fehler.
 


 

o
 


 

Manx lag nun schon seit drei Stunden und genau zehn Minuten flach auf dem Dach eines Seven-Eleven Shops und spähte das Lagerhaus gegenüber aus. Sie legte das Fernglas zur Seite und stöhnte, als sie sich auf den Rücken drehte.

„Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob das der richtige Ort ist, Boss“, gab Maneater ihre Zweifel endlich bekannt, nachdem sie schon die letzte halbe Stunde einfach nur genervt hatte mit ihrem Gezappel.

„Chiyos Kontakt im Orden ist zuverlässig. Sie werden kommen, die Frage ist nur wann.“

Maneater übernahm das Fernglas und gab ihr ein bisschen Zeit, um sich auszuruhen.

Manx hatte ein paar Minuten die Augen ruhen lassen, bevor sie von Maneater ein leises Lachen vernahm. „Sieh mal einer an, da tut sich was“, flüsterte sie, was Manx dazu veranlasste, sich auf den Bauch zu drehen und über die niedrige Kante zu spähen. Sie nahm das Fernglas, das ihr gereicht wurde und überzeugte sich selbst davon, was sich auf dem großen Areal vor dem Lagerhaus tat.
 

Ein halbes Dutzend schwarzer Limousinen wurde durch das Tor eingelassen. Sie parkten im Halbkreis und hielten dann. Aus dem dritten Wagen stieg ein Mann vom Beifahrersitz und öffnete die Tür im Fond des Wagens. Ein Schwarzer stieg aus, er trug einen langen Mantel mit Fellbesatz am Kragen. Seine langen Haare waren zu Dreadlocks frisiert. Sie bauschten sich in den Kragen hinein obwohl sie zu einem Zopf zusammengehalten wurden. Das weiße Fell des Kragens leuchtete um die dunkle Gestalt. Als er sich umsah und seinen Mantel öffnete bot ihm der Mann, der ihm die Tür geöffnet hatte ein Zigarettenetui an und er entnahm eine Zigarette aus ihr. Er ließ sie sich anzünden und inhalierte genüsslich. Als er den Kopf in den Nacken legte und den Rauch ausstieß öffneten sich wie einstudiert die hinteren Wagentüren der anderen Autos und zeitgleich stiegen Personen aus. Insgesamt fünf, davon zwei Frauen und drei Männer. Sie sahen sich um als wären sie gerade eben erst auf diese Welt gekommen und müssten sich zunächst orientieren, oder als warteten sie auf ein Kommando.

„Der Typ im Mantel scheint mir der Boss zu sein“, wisperte Maneater.

„Still“, wies Manx sie an.

Wer war es? De la Croix oder Somi? Oder einer ihrer Lakaien. De la Croix würde nicht selbst kommen, oder? Er hatte eine exponierte Position eingenommen, alle anderen standen einen Schritt weit hinter ihm. Sie holte ihr Pad hervor und rief sich die mickrigen Daten auf, die sie von der Trias hatten. Tatsächlich, es könnte De la Croix himself sein. Schwarzafrikanische Abstammung mit französischen Einflüssen, ein Mischling. Sie zoomte sein Gesicht heran. Es zeugte von eurasischen Einflüssen. Die Nase war sehr gerade, das Gesicht eher fein geschnitten, der Mund schmaler, die Hautfarbe zeigte keine so starke dunkle Pigmentierung, wie zunächst vermutet. „Scheiße“, entfuhr es ihr. Das WAR De la Croix.

„Boss?“
 

Manx antwortete nicht. Sie schickte Chiyo eine Nachricht. Als sie hoch sah bekam sie gerade noch mit, wie sich das Rolltor des Lagerhauses öffnete und mehrere Gestalten herauskamen. Sie machten ein paar Schritte auf die Wartenden zu, dann verbeugten sie sich und traten zurück. De la Croix ließ die Zigarette fallen und ging mitsamt seiner Entourage in die Lagerhalle.
 

„Wir müssen näher ran.“
 

„Ganz im Gegenteil: Wir müssen hier weg“, versetzte Manx im Kommandoton.
 

Sie zogen sich zurück. Was wollte De la Croix hier? Wo war Somi? In den Staaten? Längst auch hier? Sie mussten schnell zurück zu Chiyo und sie mussten mit Schwarz zusammenarbeiten, wenn sie nicht wollten, dass der Hellseher von der Gegenseite umgedreht wurde.
 

Fortsetzung folgt...
 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Für das Beta zeichnet sich 'snabel' verantwortlich. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken! ^__^
 

Gadreel

Secrets

Secrets
 


 

Finn schlich müde ins Badezimmer und wusch sich sorgfältig, danach tappte er barfüßig ins Ankleidezimmer. Nur Anzüge wo das Auge hin fiel. Nach kurzer Inspektion der Kollektion musste er zugeben, dass Brad in jedem Anzug sicher umwerfend aussehen musste. Ausgehend von der ihm zugrunde liegenden Attraktivität war dies auch keine Kunst. Seine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit, als er das letzte Mal in Brads Kleiderschrank geschnüffelt hatte. Er hatte damals augenscheinlich schon ein Faible für eher konservative Kleidung besessen, etwas farbenfroher zugegeben. Finn pickte sich eine Trainingshose in schwarz heraus und ein weißes Hemd. Es war ihm zwar an einigen Stellen, vor allem den Schultern zu groß, aber es war schließlich nur ein Hemd. Es würde seinen Zweck erfüllen – und es war Brads Hemd. Nichts hätte er jetzt lieber getragen. Darunter zog er ein Unterhemd an. Sein Weg führte ihn dann ins Wohnzimmer und dort steuerte er direkt den noch offenen Koffer mit den Verbandsmaterialien und Medikamenten an.
 

Er wühlte in den Döschen und entschied sich schließlich für ein Medikament, welches ihm ein Begriff war und nahm zwei Tabletten davon. Dann durchsuchte er die Schränke in der Küchenzeile und entschied sich mangels Alternative für einen Kaffee. Er warf die Maschine an und wartete geduldig bis sie ihren Selbsttest beendet hatte, bevor er sich eine Tasse herausließ. Er konnte sich nicht erinnern, wann er jemals so viel Zeit damit verbracht hatte, sich um sich selbst zu kümmern, oder das gewollt hatte. Ihm war auch schleierhaft, ob er diesen erzwungenen Müßiggang nun schätzen oder die trügerische Ruhe verteufeln sollte. Ihm blieb jedoch nichts anderes übrig und so schaltete er den Fernseher ein und machte es sich mit einer Decke davor gemütlich...
 

Nach einer Weile zog er seine Tasse wieder zu sich heran und bemerkte, dass er sie wohl geleert haben musste. Er beschloss eine weitere folgen zu lassen und erhob sich zum Zweck der Neubeschaffung. Während seiner Aufenthalte in Europa hatte er Kaffee für sich entdeckt und war seither stets auf der Suche nach einem guten Tröpfchen davon. Sein Gehör meldete ihm, dass die Sicherheitstür sich öffnete und seine Hand hielt vor der Wahltaste inne. Erst als er Crawford im Rahmen zum Wohnraum sah, betätigte er sie.

„Habe ich dir erlaubt meine Sachen zu tragen?“ hörte er die Stimme durch das Mahlgeräusch hindurch.

Finn wandte den Kopf erneut in Richtung Tür und sah Brad an. Er konnte sein Gesicht nicht wirklich gut erkennen. Finn rieb sich mit der Hand über die Augen. War er so müde?

„Nein“, hörte sich Finn antworten.

„Dann zieh sie aus.“

Warum sagte Crawford das? Was bezweckte er mit diesen Worten?

Finn ging um die Küchenzeile herum und wollte an ihm vorbei, als Crawford ihn festhielt. „Hier und Jetzt. Alles.“
 

Finn sah ihn einen Moment an bevor er sich auszog.
 

„Knie dich hin.“
 

Finn kniete sich hin. Warum tat er das? Er hatte das nicht nötig. Wehr dich gegen ihn! Es war Brad Crawford, Finn schuldete ihm Gehorsam.

Crawford packte sich seine Haare und zog ihn an seinen Schritt. „Das wird dir gefallen, Invidia. Hol dir was du willst. Du stehst drauf, du kannst doch nichts anderes.“
 

Er hob die Hände, öffnete die Hose und griff hinein. Crawfords Glied zuckte bereits vor Erregung, als er es umschloss und es zu seinem Mund führte. Er ließ ihm kaum Zeit sich daran zu gewöhnen, stieß nach vorne und in seinen Rachen. Finn würgte aber Crawford zog sich nicht zurück. Er stieß weiter in ihn. Finn liefen die Tränen die Wangen herunter. Verwundert fuhr sich Finn über die Augen, wischte sich hektisch die Tränen ab.
 

„Invidia“, er sah auf, aber Crawford war kaum zu sehen. Er blinzelte den Tränenfilm weg und versuchte Luft zu holen aber das war nicht möglich. Die Augen aufreißend kämpfte er um Atem.

„Sieh mich an.“
 

Er keuchte, zog sich zurück, sah immer noch verschwommen.

„Ich kann nicht. Ich bekomme keine Luft.“
 

„Warum?“
 

„Weil du mich mit deinem Schwanz erstickst...“ keuchte Finn, bis er einen Schlag auf seiner Wange spürte und er herumgerissen wurde. Er blinzelte.
 

Er wischte sich seine Wangen sauber und sah sich um. Brad saß vor ihm auf dem Couchtisch und hielt ihn an der Schulter fest.

„Nur... ein Traum“ stellte Finn erleichtert fest und mied den Blick des anderen. Sexuelle Folter hatte er in seinem Leben nicht nur einmal am eigenen Leib erfahren und es war stets ein probates Mittel, um ihn zu strafen und in der Rangordnung unten zu halten.

Der Traum verblasste langsam und Finn holte tief Luft, fuhr sich über das Gesicht.
 

„Kein Guter.“
 

„Nein. Kein Guter.“ Crawford würde nicht dieses Mittel anwenden um Finn an die Leine zu nehmen. Wenn er sich in vielem was diesen Mann betraf nicht sicher war so wusste er, dass dieser sich ihm nicht aufdrängen würde.

Finn sah nach draußen, seine Hand lag auf Crawfords Unterarm, dessen Hände hielten immer noch seine Schultern fest. Der Druck war angenehm, vertrieb den verlogenen Traum vollständig. Es regnete feine Bindfäden, trotzdem die Sonne schien. Finn hasste dieses Wetter, es war ebenso verlogen wie sein Traum. Es gaukelte Wärme vor wo nur unangenehme Nässe war.
 

Brad ging nicht weiter darauf ein, ließ ihn aber auch nicht los.

„Welche Rolle spieltest du beim Clan?“ Finn schluckte und schniefte noch einmal. Er konnte Brad kaum ansehen. Dieser ließ ihn endlich los und Finn nutzte die Gelegenheit, um sich aufrechter hinzusetzen, dabei griff er nach der Decke und zog sie höher.

„Sieh mich an.“
 

Finn hob das Gesicht an und zuckte mit den Schultern.

„Kindermädchen, Hure und Chefstratege“, erwiderte Finn langsam.
 

„Du hast auf die Zwillinge aufgepasst?“ fragte Crawford ruhig.
 

Finn nickte. „Ihre Eltern waren als rein biologisch zu betrachten, ohne ernsten Erziehungsauftrag. Als euer Empath Elisabeth Villard ausgeschaltet hat, wurde mein Part dabei immer wichtiger. Ich habe dir das nicht vorgespielt, das war... kein Trick, falls du das glaubst“, fühlte er sich genötigt, ihr Aufeinandertreffen im Café - vor ein paar Monaten - zu verteidigen. Doch Brad schien kein Interesse an dieser Verteidigung zu haben, denn er überging seine Worte, er hatte offenbar schon ein klares Bild von ihm.
 

„Warum Hure?“
 

Es war logisch für Finn, dass diese Frage kam, er hatte sie schließlich provoziert.
 

„Ich habe mit allen geschlafen, die es wollten, um das zu erreichen, was ICH wollte. In den letzten Jahren ging es darum, mich bei Sin zu halten und das um jeden Preis. Meine besten Kontakte in der Stadt sind so zustande gekommen.“ Er beobachtete Brad genau, um Abscheu in den braunen Augen erkennen zu können, aber dessen Gesicht blieb regungslos, keine Emotion zeigte sich darauf. Die hellbraunen Augen sahen ihn unverwandt mit Interesse darin an.
 

„Chefstratege?“

„Bis auf Neueinkäufe erledigte ich für Masahiro sämtliche Transfers, alle labortechnischen Entscheidungen und plante die Aktionen was euch betraf.“
 

„China?“
 

„Unter anderem.“
 

„Die Morde in Osaka zum Beispiel?“
 

Finn setzte sich gerader hin, schälte seine Beine unter der Decke hervor und stand langsam auf. Wer wusste schon, ob Brad sich gleich auf ihn stürzen würde, um seinem Anliegen eines Verhörs Nachdruck zu verleihen. Finn war ihm durch die Wirkung des Serums überlegen und Brad wusste nicht, dass er ihm nie schaden würde. Also waren seine Bewegungen langsam und überschaubar. Ruckartige Bewegungen mochten Raubtiere nicht sonderlich, dass weckte ihren Jagdinstinkt. Brad war ein Raubtier, so wie er ruhig dort saß und jede Regung von ihm beobachtete. Finn beugte sich vor und nahm seine Tasse vom Tisch. Er sah hinein und stellte fest, dass der Kaffee kalt war. Ein neuer musste her, also ging er hinüber zur Küche.

„Nein.“
 

„Es war aber eindeutig eine Botschaft von euch an uns.“

Crawford war ihm nachgekommen und holte sich selbst eine Tasse heraus. Er fragte sich gerade, mit wem Asugawa alles im Bett gewesen war, um seine Ziele zu erreichen, doch er verdrängte diesen aufkeimenden Gedanken rasch wieder. Er konnte daraus später vielleicht einen Nutzen ziehen.
 

„Eine Botschaft?“ Finn lachte bitter auf. Er stellte den Kaffee in den Automaten und wischte sich eine der vorderen, langen Strähnen über dem Undercut hinters Ohr. Er hielt einen Moment inne und erinnerte sich an diese Nacht.
 

„Es kam für mich aus heiterem Himmel. Ich lag im Bett, als ich das untrügliche Gefühl hatte, dass jemand in meiner Unterkunft war. Als ich das Licht anmachte lagen neben mir auf dem Tisch Präsente vom neuesten Einfall der Rasselbande. Es waren Bilder vom Tatort. Ein Opfer hatte hellbraune Augen.“

Finn suchte Brads Blick. Das helle Braun war mit nichts anderem zu vergleichen und er fragte sich jetzt, warum er damals dieser irrationalen Angst verfallen gewesen war, Brad könnte tot sein. Finn konzentrierte sich wieder darauf, weswegen er von der Couch aufgestanden war und drückte die Taste, um sich erneut dieses köstliche, warme Getränk in seine Tasse zu befördern.
 

„Aber das hatte nicht gereicht. Ira – ich vermutete, dass es er war - hat mir diese Augen, die in einem Behälter schwammen, mitgebracht. Im ersten Moment dachte ich...“

„... dass es meine sind?“
 

Finn nickte langsam.

„... dass sie mir auf der Spur sind. Dass jemand davon wusste, dass ich mich mit dir eingelassen habe. Dass mich jemand beobachtet und euren Aufenthaltsort entdeckt hat.“

Er verstummte und gestatte sich einen Moment, um über seine nächsten Worte nachzudenken.

„Sie machten ihr eigenes Ding. Und Kyoto ging auch auf ihre Kosten, Ira hat schließlich das Zeitliche gesegnet und ich habe nie herausgefunden, wie viel er wusste und ob er sein Wissen mit Gula oder Superbia geteilt hatte. Diese Morde waren weder von mir geplant, noch hatte ich im Vorfeld Kenntnis davon. Das Serum macht sie verrückt.“
 

„Was war mit Kudou gewesen?“
 

„Das war ebenfalls nicht von mir autorisiert gewesen, da hat Villard alleine mitgemischt.“
 

„Sie waren in Schuldigs Wohnung.“
 

„Wie das?“ Finns Augen weiteten sich, er fuhr herum.

„Gula hat so etwas angedeutet, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie zum damaligen Zeitpunkt schon die offene Konfrontation suchten.“
 

„Offensichtlich doch.“
 

„Fand ein EMP bei euch statt oder andere Aktivität?“
 

„Nicht auszuschließen.“
 

„Aber wie macht Superbia das... er hat das Serum regelmäßig genommen. Seine Werte waren im Wirkbereich. Es sei denn, er hat die Daten frisiert“, grübelte Finn und sah Brad an.

„Ich weiß es nicht“, gestand er schließlich ein.
 

„Wie gut ist er?“
 

„Wie meinst du das?“
 

„Kann er die Gedanken nur lesen, oder sie manipulieren? Kann er organische Veränderungen bewirken?“
 

Brad stand vor ihm am Küchenblock und nahm einen Schluck seines Kaffees, ließ ihn dabei nicht aus dem Blick.

„Das weiß ich nicht. Ich kann das nicht differenzieren. Ich weiß nur, dass er jemanden einmal schlafen geschickt hat. Und den Jungen – Gabriel – kann er schnell beruhigen wenn er aufgeregt ist.“
 

„Dann kann er lesen und manipulieren“, resümierte Brad.
 

„Somi hat als rechte Hand sicher keinen Anfänger ins Feld geschickt“, stimmte Finn nachdenklich zu.
 

„Warst du mit ihm im Bett?“
 

Wo kam denn diese Frage jetzt her? „Warum interessiert dich das?“, fragte Finn misstrauisch.

Er bemerkte eine Bewegung in seinem Rücken und kurz darauf packte ihn eine große Hand im Nacken. Er spürte, wie sich die Finger um seine Kehle schlossen. Er gab dem Winkel nach und ließ sich umdrehen.

„Warum? Weil du mir gehörst und bis zu deinem Tod das tun wirst, was ich dir sage“, Brads Stimme war ein raues Flüstern, ein unangenehmes Kratzen in seinen Ohren. Die braunen Augen waren heller als er sie je gesehen hatte. Sie leuchteten wie wertvoller Bernstein aus seinem Gesicht heraus.
 

Finn zögerte die Antwort hinaus. Aber er ließ sich nur zu gern von dem Mann einschüchtern. Die Erregung, die sich in ihm ausbreitete, war nicht zu ignorieren und ganz bestimmt nicht von der Hand zu weisen. Er starrte wie hypnotisiert in diese Augen und spürte nur zu gern den harten Griff in seinem Nacken.

„Nein“, wisperte er und räusperte sich. „Ich hatte es vor. In dieser Nacht, als ich zu ihm gegangen bin und ihm die Bilder der Leichen aufs Bett geworfen habe. Er wirkte misstrauisch und ich fand mich plötzlich in der Defensive wieder. Er bestrafte Ira und rückte mir auf die Pelle. Ich... gebe zu, ich hatte und habe eine Scheißangst vor ihm. Ich dachte mir, wenn ich mich ihm anbiete, dann würde er vom Gedanken abkommen, dass ich ein Verräter bin. Er schickte mich weg.“

Brad ließ ihn los und machte einen Schritt zurück. Er lehnte sich wieder an die Küchenzeile, als wäre nichts gewesen. Finn griff sich seine Tasse, um etwas in den Händen zu haben, was die Kälte in der Atmosphäre etwas mildern würde.
 

„Was hat er gesagt?“ Brad sah ihn immer noch mit diesem ernsten Blick an, diesen alles durchleuchtenden Iriden. Es war nicht gerade beängstigend, aber entlarvend, als würde ein heller Strahl sein gesamtes Sein treffen und es vor ihm ausbreiten. Finn seufzte.

„Übersetzt, dass ich ihm zu missbraucht, zu schmutzig, zu gierig und zu verbraucht bin. Darüber hinaus noch ein Lügner und ich würde ihn anwidern. Im Endeffekt würde er mich nie anfassen und wenn doch, dann würde er sich wohl eher sofort danach die Hände waschen müssen.“

Finn lächelte schräg und nahm einen Schluck seines Kaffees. Er zuckte mit den Schultern.

„Aber er ist von dem Gedanken des Verräters abgekommen. Nach seiner Beschreibung meinerseits passte ich wohl in seinen Augen ganz gut zu Sin. Was nicht hieß, dass er mich nicht im Auge behalten würde, er traute mir nie ganz über den Weg.“
 

„Bist du ein Verräter?“
 

„Ich habe dich niemals verraten“, murmelte Finn mehr zu sich selbst.
 

„Was war mit China?“
 

„Das war ein... Unfall“, gab Finn kleinlaut zu.
 

Brad lachte und es war kein freundliches Lachen. „Das trifft es nicht ganz, fürchte ich.“
 

Finn hörte am Tonfall, dass er besser mit einer guten Erklärung aufwartete, wenn er nicht wollte, dass Brads unterschwellige Wut, die ihm aus jeder Pore tropfte, auf ihn niederprasselte. Und wenn er eines nicht wollte, war es, Brad dazu zu zwingen, Gewalt gegen ihn als Mittel einzusetzen. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Er wollte, dass Brad gut über ihn dachte. In Anbetracht der Umstände ein utopisches Ziel. Er war derart in den Mann verschossen, dass er alles dafür gegeben hätte, wenn Brad stolz auf ihn wäre, wenn er ihn mögen würde. Lieben war als Wunsch zu hoch gegriffen – er wollte nicht zu viel erwarten – aber vielleicht konnte er irgendwann auf etwas Respekt hoffen.

So wie Chiyo es gehalten hatte. Es gab niemanden, der ihn in seinem Leben bisher mit echtem Wohlwollen entgegen getreten war, denn stets hatte sich hinter dem äußeren Schein des Gutmeinens eine Hinterhältigkeit oder ein Ziel verborgen. Es war nicht so gewesen, dass er darum nicht immer gewusst und diese Tatsache für sich genutzt hätte, denn so blauäugig war er nie gewesen.
 

„Sie wollten einen Beweis meiner Fähigkeiten. Meine Feuertaufe als Graue Eminenz hinter Masahiro – dem Unfähigen hier in Japan. Ich sagte ihnen, dass ich es fertig bringe und einen ersten Testlauf der Droge an euch teste. Sie planten, den PSI ihre Fähigkeiten zu nehmen, um zukünftige Kämpfe zu erleichtern. Der Kampf gegen die PSI wurde auf Dauer kostspielig.

Ich organisierte einen gefakten Auftrag an euch im Glauben daran, dass du dich im Hintergrund halten und euer Telekinet ohnehin davon nicht betroffen sein würde. Ihr hättet leichtes Spiel gehabt.“

Er sah kurz auf und ging dann zu Brad. Behutsam nahm er auf einem der Barhocker platz und stellte seine Tasse vor sich hin. Es ziepte noch an einigen Stellen und er wollte schnell wieder komplett einsatzfähig sein, denn wenn es erforderlich sein sollte, musste er Brad Schutz geben können.
 

„Ich sollte es nicht auf japanischem Boden ausführen. Fei Long war an der Droge interessiert. Wir handelten einen Deal aus, allerdings war ich nicht ganz ehrlich, was die Wirkung der Droge betraf. Er bekam die Droge und falls er Gefangene machte, sollte er sie dann für Laborversuche am Leben lassen. Ich ging nicht davon aus, dass Fei Long oder einer auf dem Grundstück überleben würde. Uns war Fei Long schon länger ein Dorn im Auge. Vor allem Sowa – die Familie kauft von ihm neue Rekruten – steht Fei Long im Weg. Ihm kam es gelegen, dass er Aussicht auf eine Expansion nach China hatte.

Der alte Clan-Patriarch Yoshio setzte mir Superbia plötzlich vor die Nase, um mein Vorgehen zu überwachen. Superbia schlug Fei Long vor, die Bewachung seines Grundstücks zu erhöhen. Ich teilte ihm dies – gehorsam wie ich war – mit.

Was Fei Long auch beherzigte, aber mit Superbia im Hintergrund wurde es mir immer unmöglicher, Einfluss zu nehmen. Zumindest konnte ich verhindern, dass Fei Long die Droge seinen Männern gab. Was ich nicht bedacht habe war, dass ihr beide alleine dort aufkreuzen könntet. Trotzdem verstehe ich bis heute nicht, warum einer von euch geschnappt wurde. Was ist schief gelaufen?“
 

„Schuldig hat sich zu stark auf mich konzentriert.“ Brad erwähnte nicht das angespannte Verhältnis, das er damals zu Schuldig und dessen Liebschaft Fujimiya gehabt hatte. Das war einer der Hauptgründe, weshalb er überhaupt mit Schuldig allein dort gewesen war. Ein fataler Fehler und es hatte ihm erneut gezeigt, wie wenig er für den Außeneinsatz taugte, aber eine Lehre daraus wollte er bis heute nicht schließen. Er wollte nicht eingesperrt von der Welt leben, denn das war der Grund, warum er als Jugendlicher davon gelaufen war.
 

„Hmm“, brummte Finn und er sah auf einen Punkt an der Wand in Erinnerung an die Nachricht, dass Schuldig tatsächlich von Fei Long gefangen genommen worden war. Es wunderte ihn, dass er ihm – obwohl sehr knapp gehalten – eine Auskunft gab, die Brad ihm nicht geben musste.
 

„Weiter.“
 

„Ich reiste sofort zurück und kontaktierte Asami, über Sowa kannte ich seine Abneigung gegen Fei Long und ich fand zuvor heraus, dass dessen, sagen wir einmal ‚neuestes Interesse’ an Fei Long übergeben worden war. Sowa hatte damals die Finger mit im Spiel, dessen bin ich mir sicher. Aber das weiß Asami nicht und ich habe keine Beweise dafür. Sowa steht auf feingliedrige, junge Männer und hält sie sich gerne zum Privatvergnügen.

Ich konnte Asami davon überzeugen, dass sein Betthäschen bei Fei Long ist und ich meinen Geliebten ebenso befreit sehen wollte. Und dann plante Asami einen Großangriff und wir holten Schuldig und Takaba raus.“
 

„Was ist mit den Bildern aus der Autopsie?“

Für Brads Geschmack mischte dieser Sowa mehr mit als anfänglich gedacht. Er wanderte immer höher auf der Unbeliebtheitsskala, die Brad führte.
 

„Darüber weiß ich nichts, dafür bin ich ausnahmsweise nicht verantwortlich.“
 

„Was hattet ihr in Shanghai vor?“
 

Finn verzog das Gesicht. „Gar nichts“, nuschelte er und sank halb in sich zusammen.
 

„Bis jetzt lief' s doch ganz gut“, sagte Brad kühl.
 

„Da war nichts“, beharrte Finn.
 

„Erzähl mir nicht du hattest gerade Zeit und wolltest mal vorbeischauen, was wir so treiben.“
 

Finn schwieg beharrlich und zog ein finsteres Gesicht, bis er herumgedreht wurde und zu Brad aufsah. „Und wenn?“ Tatsächlich hatte er das in der Vergangenheit öfter getan, um auf dem Laufenden zu bleiben, nur so nahe und so dreist hatte er sich nie herangewagt.

Finn seufzte. War seine Sehnsucht nach dem Mann so groß geworden, dass er alles, was er gelernt hatte, über Bord geworfen hatte? Vermutlich. Sie zog immer noch an ihm, obwohl er neben ihm war. Sie war zu einem immanenten Schmerz geworden, einem unangenehmen Ziehen in seinem Bauch.
 

Brad sah ihn ruhig an. „Präziser.“
 

Finn fuhr auf und bereute es schon wieder. Er zischte, weil er die Nähte mit einem grellen Schmerz protestieren fühlte und verzog das Gesicht. „Was denn präziser? Ich hatte meine freien Tage und ich... wollte sehen, was ihr so macht. Mir war langweilig. Ich habe mich an euren Auftrag rangehängt, aber ich habe nichts gemacht und da ich schon mal da war...“
 

„Da dachtest du, du könntest uns verarschen?“ Gott, der war ja schlimmer als Schuldig wenn er Langeweile hatte und das hieß etwas, dachte sich Brad und hob eine Braue.
 

„Nein... ich...“
 

„Du spielst gern mit dem Feuer?“
 

Hörte Finn da Belustigung heraus?

„Gehört zur Grundvoraussetzung in dem Job“, murmelte er mürrisch und sah Brad von unten herauf durch seine Haarsträhnen an um sicher zu gehen, dass er den Tonfall richtig interpretierte. Aber er musste sich wohl verhört haben, denn Brads Mimik blieb kühl und reserviert.
 

„Hat es dir Spaß gemacht?“ fragte Brad kühl, musste aber zugeben, dass er amüsiert war. Die Unsicherheit, die Zerknirschtheit, die der andere zur Schau trug, war belustigend.
 

Eine Fangfrage, definitiv.

„Ja, hat es bis zu dem Punkt, als ich bemerkt habe, dass ich ein Mann bin und keine Frau. Da war dann leider der Spaß vorbei.“
 

„Du hast mich heiß gemacht und mich dann fallen gelassen“, resümierte Crawford und Finn hörte jetzt definitiv Untertöne eines verletzten Egos heraus.
 

„Unter diesen Umständen ist das doch verständlich“, bastelte Finn an einer Erklärung.
 

„Wie konntest du dich an unseren Auftrag hängen?“
 

Flirten war heute wohl nicht drin, seufzte Finn. Das war ein Verhör, seit Brad hier eingetrudelt war.
 

„Haust du mir eine runter, wenn ich es dir sage?“
 

„Ich schlage keine Huren.“ Brad fragte sich, wie Asugawa mit dieser unschuldigen Masche bei ihm weiterkommen wollte. Was sollte es ihm ausmachen, wenn Brad ihn körperlich attackierte? Er brauchte ihm kaum erzählen, dass er sich nicht verteidigen könnte, das hatte er am eigenen Leib erfahren.
 

Finn wurde kurz bewegungsunfähig, nickte dann aber. „Ah, so ist das, ich verstehe. Dann habe ich ja Glück.“
 

Crawford wartete immer noch. Die Tasse war längst nicht mehr in seiner Hand und Finn die Nähe momentan definitiv zu viel. Aber er bezweifelte, dass Brad ihn gehen lassen würde.

„Ich habe euch einen Auftrag erteilt. Ihr... ihr habt für mich eine Formel gestohlen, die wir für die Modifikation des Serums brauchten. Seither bin ich in eurem Netzwerk.“
 

„Wir haben die Formel für euch gestohlen, die euch für uns unsichtbar macht?“ fragte Crawford bedrohlich leise. Finn nickte ergeben. Momentan war es besser zu schweigen, befand er. Für diese und andere Neuigkeiten war er bereit in den Tod zu springen. Aber warum? War doch alles gar nicht so schlimm. Dennoch, irgendwie schämte er sich Schwarz ... nein Brad zu erzählen, dass sie die Formel gestohlen hatten, die ihnen den eigentlichen Schaden zugefügt hatte.
 

„Wie bist du in unser Netzwerk gelangt?“
 

„Nicht ich selbst. Ein Hacker. Und nur was die Aufträge angeht, der Server wird von euch nur selten benutzt. Ich sehe nur die Anfragen an euch und prüfe schließlich, ob ihr mit dem Auftraggeber in Kontakt tretet.“
 

Brad sah ihn wütend an. Er packte ihn an der verletzten Schulter und zerrte ihn vom Barhocker hinaus aus dem Wohnraum und den Flur entlang bis ins Schlafzimmer. Er warf ihn aufs Bett und Finns Augen wurden immer größer. Sein kurzer unangenehmer Abstecher ins Traumland saß ihm noch in den Knochen. Bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel und abgeschlossen wurde, glaubte er fast noch daran, dass Brad nun genug von ihm hatte und seine Wut an ihm auslassen würde. „Warum sperrst du mich ein?“ schrie er nach draußen. Ein wenig naiv, wie er sogleich befand und verstummte.

„Damit ich dich nicht umbringe“, wisperte Crawford von draußen gegen die Tür.

Er lehnte sich an und kontaktierte sofort Omi.

„Jemand hat unser Netzwerk infiltriert. Naoe soll den Server für unsere Aufträge überprüfen.“

„Ich weiß, dass er das jetzt nicht kann. Erledige du das für ihn, zu irgendetwas musst du schließlich gut sein.“

Während er die Verbindung beendete bemerkte er die unangenehme Nässe an seiner Hand und befand, dass der Verband gewechselt werden musste. Entnervt lehnte er für einen Augenblick an der Tür, um sich zu beruhigen und entschied, dass es viel mehr Sinn hatte sich körperlich auszupowern, um dieses Ziel zu erreichen.
 

Brad zog sich um und trainierte eine Zeit lang bis er sich im Badezimmer frisch machte und dann die Wohnung wieder verließ. Er blieb bis Abends weg, überwachte den Umzug, hielt den Doc davon ab, seinen Sohn zu sehen indem er ihm erklärte, dass die Verbände gut ausgesehen hatten und Asugawa wohlauf war. Der Doc hatte wohl morgens mit ihm gesprochen und kaufte ihm die Information ohne Zweifel zu äußern ab.
 

Brad ließ Asugawa bis Abends schmoren, erst dann beschloss er, dass es genug war und kehrte zurück. Er hatte eingekauft und verstaute die Einkäufe in Ruhe.

Dann schloss er das Schlafzimmer auf und öffnete die Tür. Er fand den Mann auf dem Bett liegen, natürlich auf seiner Seite des Bettes, was nicht anders zu erwarten gewesen war. Brad ließ ihn in Ruhe und ging wieder in die Küche zurück. Finn kam irgendwann herausgeschlichen und ging zügig zur Toilette.
 

Brad drehte sich um und besah sich den Zustand des anderen, der ziemlich zerknittert aussah, sowohl Gesicht als auch das Hemd – sein Hemd wie ihm auffiel – trugen die Spuren eines tiefen Schlafs. Der ihm sonst anhaftende Elan fehlte und Brad wandte sich wieder ab, als Asugawa sich an den Schmerztabletten gütlich tat. Brad begann damit das Abendessen zu kochen.
 

Asugawa gesellte sich zu ihm und betrachtete sein Profil. Die Miene war wie immer verschlossen, seine Handlungen ruhig und besonnen. „Bekomme ich auch etwas?“ wagte es Finn nach ein paar Minuten zu fragen.
 

„Ich wüsste nicht, dass du es dir verdient hast“, erwiderte er mit dieser Ruhe, die Finn so magisch anzog.
 

Brad trocknete sich seine Hände ab, als ihn eine Bewegung aus dem Augenwinkel dazu brachte, sich umzudrehen. Finn kniete vor ihm.

„Bitte, bekomme ich etwas zu essen?“ Es war sicher klüger, den Ball flach zu halten und sich demütig zu geben. In Anbetracht der Lage, in der er sich befand, musste er kleine Brötchen backen.
 

Crawford starrte den Mann an. Damit hatte er jetzt nicht gerechnet.

Irritiert wandte er sich ab.

„Hast du keinen Stolz?“, fragte er mäßig interessiert und ruhiger als er sich augenblicklich fühlte. „Was soll das?“
 

„Als Schlange meines Kalibers ist das eher hinderlich“, erdreistete sich es hinter ihm.

Brad sah zu Asugawa hinüber. Er hatte sich auf die Fersen gesetzt und lehnte in der Küchenecke.
 

Brad kramte in der Einkaufstüte und wusch eine Birne ab. Er trocknete sie und warf sie ihm zu.
 

„Danke“, sagte Finn und lächelte die gefangene Frucht an.

Crawford riss sich von diesem Lächeln los, das ohnehin nicht für ihn gedacht schien und schüttelte den Kopf innerlich.

„Hast du deshalb bisher überlebt?“
 

„Meinst du mit kriechen, schleimen, prostituieren, stehlen, lügen, betrügen, intrigieren und morden?“

Brad ließ sich zu keiner Reaktion hinreißen. „Ja, so meine ich das.“
 

„Nein“, sagte Finn hart. „So hast DU bisher überlebt.“

Crawford wusste im ersten Moment nicht, was das bedeuten sollte, aber der Tonfall machte klar worauf Asugawa abzielte.
 

„Ich habe dich nicht darum gebeten, deinen Arsch für mich hinzuhalten.“
 

„Nein, das ist richtig. Ich habe dir auch keinen Vorwurf gemacht. Wie könnte ich auch?“, erwiderte Finn freundlich, biss in die Birne und leckte den hervor perlenden Saft von der Frucht. Er kaute langsam. Das schmeckte himmlisch süß.

Er hatte heute noch nichts gegessen, aber das machte ihm nichts aus. Er stand gut im Futter und es hatte schon Tage gegeben, an denen er sich nur von Nüssen ernährt hatte. Zugegeben, die Nüsse waren in Energieriegeln gewesen...

Er freute sich über die Birne und sah einigermaßen zufrieden zu seinem Gönner auf, als er die Reste verspeiste. Da fiel ihm auf...
 

„Machst du dir Vorwürfe?“, kam Finn plötzlich ein abwegiger Gedanke.

War es das? War DAS das ganze Problem? Das wäre ja... sehr untypisch für den Brad, den er bisher glaubte, zu kennen.

Dieser antwortete nicht und Finn runzelte die Stirn in Argwohn. Wie konnte er sich Vorwürfe machen? Der Anführer von Schwarz scherte sich einen Dreck um andere – so das Bild, das er sich von dem Mann über die Jahre gemacht hatte. Oder war noch ein Rest von dem fürsorglichen Jungen in ihm übrig, den SZ nicht hatte ausmerzen können?
 

Finn überlegte sich gerade, was er mit dem Rest der Birne anfangen beziehungsweise ob er den Kern gleich mit verspachteln sollte, als Crawford das Messer in das Holz des Schneidebretts rammte. Das erweckte Finns Aufmerksamkeit.

Die innewohnende Ruhe, die Brad umweht hatte, war dahin, denn seine Hand lag verkrampft um das Messer.

DAS war das Problem? Crawford machte sich Vorwürfe weil ER...
 

Finn warf den Rest der Birne in hohem Bogen in die Spüle, kam blitzschnell nach oben, fegte Crawford von den Beinen, setzte ihm nach und pinnte ihn an den Unterschränken der Küche fest. Dieser keuchte und sah ihn zornig an.

„Sag mir jetzt nicht, dass du dir Gedanken um den Umstand machst, dass ich...“ Er sah ihm in die zornig... nein, verletzten Augen. DAS war es. „Das ist ausgemachter Blödsinn. ICH habe es mir ausgesucht! Nur ICH, sonst niemand. DAS war MEINE Entscheidung.“
 

„Die Entscheidung mich am Leben zu lassen? Und wohin hat dich diese Entscheidung gebracht?“ schrie Brad ihn an. Der Mann wechselte die Emotionen... oder war er zu beherrscht, um seine Gefühle nach außen dringen zu lassen? War das ständig so? Verbarg er alles vor den Menschen um sich herum?
 

Finn hatte mit soviel Zorn nicht gerechnet und es war eine Überraschung für ihn, dass der Mann diese Emotionen so freigiebig mit ihm teilte. Finn nahm ihm die Brille vorsichtig ab, mehr als würde er eine Bombe entschärfen, und legte sie auf die Anrichte. Brad war ihm an schierer Kraft überlegen, dies hatte er während ihres kleinen Kampfes in Erfahrung bringen dürfen. Finn war zwar schneller, aber so nahe an dem Mann hatte er wenig Chancen der geballten Muskelkraft etwas Effektives entgegen zu setzen. Brad wehrte sich nicht, und Finn blieb in der trügerischen Sicherheit sitzen, dass er ihm nichts tun würde.
 

Er sah ihn lange an, sah in das wässrige Gold, das zornig und gleichzeitig verloren zu ihm aufblickte. Kannte ihn jemand so? Hatte ihn jemand von seinem Team je so gesehen? Gestattete Crawford es ihm, weil er ihm bald das Licht ausknipsen würde? Spielte es eine Rolle?

Finn seufzte unglücklich und setzte sich vollends auf Crawfords Schoß. Seine Hände waren auf die Schultern des Liegenden gestützt. Es war eine intime Nähe, die er dem anderen hier aufzwang und doch verspürte er die erdrückende Stimmung zwischen ihnen lasten und verdrängte das berauschende Gefühl der Erregung in seinem Inneren. Wie gern hätte er ihn jetzt im Gesicht berührt, seine Lippen geküsst, sich an ihn geschmiegt.

„Warum tust du mir das an?“ fragte Brad und Finn biss sich auf die Innenseite seiner Lippe, um nicht dem Wunsch zu erliegen, Brads verletzlich wirkenden Gesichtsausdruck mit einer Berührung wegwischen zu wollen.
 

„Ich sage dir jetzt etwas und ich möchte, dass du mir genau zuhörst.“ Das Gesicht des Mannes, der Finn mehr als sein Leben bedeutete, wurde bereits wieder neutraler, interessierter, kühler, auch ein wenig spöttischer als noch vor wenigen Augenblicken – zurück zum Üblichen also.

„Ich bin nicht Schuldig. Und du hast das, was aus mir geworden ist, nicht auf dem Gewissen. Mir geht’s gut. Naja momentan eher nicht so, aber das wird wieder und gut, es kann steil bergab gehen in nächster Zukunft, aber das kann jedem passieren.“ Er zuckte mit den Schultern.
 

„Warum glaubst du, dass ich dich mit Schuldig gleichsetze?“ fragte Brad.
 

„Weil du es tust. Das ist für mich offensichtlich. Deine Reaktion auf meine Provokationen und Anspielungen auf dieses Thema bringen dich auf. Was war mit Kitamura? Du hast dich halb zerfressen wegen diesem Mann. Ich habe dich in dieser Zeit beobachtet. Dir waren die Hände gebunden, du musstest tatenlos dabei zusehen, wie dieser Dreckskerl...“
 

„Sei still...“, unterbrach Brad ihn mit einer Kälte in der Stimme, die ganz und gar nicht zum Rest des momentanen Gesichtsausdrucks passten, denn dort spiegelte sich Entsetzen ab.

Crawfords Finger zitterten, als er Finns Hände von seinen eigenen Schultern pflückte. Er wollte sich frei machen, doch Finn ließ das nicht zu, er beugte sich vor bis er in das grelle Bernstein sehen konnte. Das Hellbraun seiner Augen wurde noch einen Tick heller. Finn hatte diesen erschrockenen Gesichtsausdruck noch nie bei dem Mann gesehen. Bradley Crawford schreckte nichts. Wieder ein Irrtum, wie ihm auffiel. Er wusste nichts von diesem Mann, rein gar nichts. In wen oder besser in was hatte er sich verliebt? In ein Trugbild, seinen Helden, den er sich zurechtgebastelt hatte? Hatte er überhaupt ein Anrecht auf diesen Mann?
 

„Du... warst es!“ behauptete Brad und sah ihn mit diesem stechenden Blick an, vor dem wohl die meisten Menschen davon gerannt wären, denn er sah einfach zu unmenschlich aus. Er irritierte auch ihn, aber er hatte die Neigung, davon fasziniert zu sein. Er liebte diese Augen, liebte Brads Geruch...

„Ich war... vieles...“ behauptete Finn kryptisch, noch nicht sicher, auf was der Mann hinauswollte.

„Du hast ihn enthauptet“, sagte er ungläubig. „Warum?“

Finn hatte die Hände neben Brads Kopf aufgestützt und sah ihn immer noch aus dieser kurzen Distanz in die Augen. Kleine hellbraune, fast gelbe Sprenkel bewirkten dieses helle Leuchten in ihnen. Wunderschön.
 

Finn nahm die Hände herunter und strich sich eine Strähne hinter das Ohr. Er seufzte und rang mit sich selbst.

„Du willst wissen, warum?“ Finn lächelte sein bestes zufriedenes Lächeln.

„Ich will wissen, wie du uns so nahe kommen konntest, um...“

Finn legte Brad einen Finger auf die Lippen und brachte sie damit erfolgreich zum Verstummen. Sofort verschwand der erstaunte Ausdruck aus dem Gesicht und machte Unwillen platz. Finn lächelte spöttisch und zog seinen in Ungnade gefallenen Finger zurück.
 

„Ich habe dich aus den Augen verloren, während du bei SZ warst. Ich war selbst mit meiner Ausbildung beschäftigt und mein Informant bei SZ übermittelte mir hin und wieder Informationen über Aufträge, die dir erteilt worden waren. Aber du warst immer noch zu weit weg für eine genauere Überwachung. Erst als du direkt nach Japan versetzt worden bist hatte ich dich wieder auf dem Schirm.

Ich nahm mir eine Auszeit und Chiyo gewährte sie mir, da sie den Grund dafür billigte. Ich wusste um Kitamura und seine neuen „Berater“. Ich habe euch beobachtet und festgestellt, dass Schuldig krank aussah, er baute körperlich ab. Schließlich fand ich heraus warum, zunächst jedoch mischte ich mich nicht ein.

Es war nicht meine Angelegenheit, aber... es war für mich offensichtlich, als ich euch beobachtete, dass es dich schließlich auch betraf. Ihr habt euch in die Haare bekommen und ich beschloss mir Kitamuras Machenschaften genauer zu betrachten. Dieses widerliche Schwein...“
 

Brads Blick flackerte.

„Was hast du gesehen?“ fragte er tonlos, was Finn die Augen schmälern ließ. Er legte den Kopf schief als müsse er etwas zwischen den Zeilen heraushören, was Brad nicht gesagt hatte.

Er wagte es, Brads Gesicht wieder zu sich zu drehen. „Was hat er mit dir gemacht?“ wollte er leise wissen.
 

Brad hatte diesen Tonfall bisher von dem anderen noch nicht gehört, es war fast schon ein Knurren, wenn man das so beschreiben konnte. Er sah ihn mit einem Blick an, der von altem Hass durchtränkt war. Einer Regung die gefährlich war weil sie kalkuliert und frei von Gefühlen jederzeit abrufbar in Erscheinung treten konnte – mit tödlichem Resultat bei jenen die sich ihr ausgesetzt sahen. Die dunklen Augen wurden fast schwarz und waren auf ihn geheftet und Brad spürte den unnachgiebigen Druck der Hand an seinem Kiefer. Die Ausstrahlung des Halbjapaners hatte sich von spielerischer, freigiebiger Plauderlaune in etwas Düsteres verwandelt. Er lauerte auf seine Antwort und Brad saß jetzt dem Killer gegenüber, der sich ihm bisher noch nicht gezeigt hatte.
 

Unsicherheit zog in ihm ein. Dieser Mann war kein Junge mehr, er kannte ihn aus einer Zeit, in der er ein relativ normales Leben geführt hatte. Es war ein Leben, das er hinter sich gelassen hatte und er wollte nicht daran erinnert werden, wer er einmal gewesen war, was er damals empfunden hatte. Er wollte nicht an die ohnmächtige Machtlosigkeit erinnert werden – trotz einer Gabe, die von unschätzbarem Wert war. Was nutzte die Gabe, wenn man sie nicht einsetzen konnte oder durfte, wenn man es für richtig hielt? Wie oft hatte er sich früher gefragt, was richtig und falsch war? Schon lange hatte er sich diese Frage nicht mehr gestellt. Und dieser Mann brachte all diese Zweifel von früher zurück. Seine Schwester war der erste Fixpunkt in seiner Vergangenheit, die schöne Seite daran, dieser Mann verkörperte die dunkle Seite dieser Zeit. Warum musste er sich jetzt damit auseinandersetzen?

„Das spielt keine Rolle. Du hast ihn enthauptet, nicht Schuldig wie von uns angenommen, oder irre ich mich?“, fragte er in normalem Tonfall und Asugawa schien zu überlegen, ob er noch weiter in ihn dringen oder es dabei belassen sollte. Er beließ es dabei – kluges Köpfchen, befand Brad.
 

„Oh ja, und wie ich es habe. Ich gebe zu, ich habe mich etwas hinreißen lassen, aber ich hatte genug, ich war... sauer“, sagte Finn ruhig und untertrieb maßlos. Kitamura hatte Brad Leid zugefügt und er hatte es nicht mitbekommen, eine Schande war das.

Finn lächelte sanft. Das würde nie wieder geschehen.
 

Brad sah ihn immer noch ruhig an, seine Hände hielten sich in der Zwischenzeit an seinem Hemd fest. Sie starrten sich lange an und Finn gewann den Eindruck, als würde Brad ihn jetzt erst richtig wahrnehmen.
 

„Schuldig darf das nie erfahren. Ich habe es so hingestellt, als hätte er sich selbst von diesem Mann befreit, das soll so bleiben.“

Brad fasste sich wieder. „Ist es das, was du vor ihm verbergen wolltest? Deshalb der Sprung?“
 

Finn zog ein verkniffenes Gesicht. „Unter anderem“, gab er zögernd zu. „Ich habe ihm seine Rache genommen.“
 

„Schuldig...“ Brad setzte sich auf. Schuldig hatte kein Interesse an Rache. Er sah zu, wie Asugawa die Aura des Meuchelmörders verlor und zu seinem lockeren Plauderton zurück fand.
 

„Und da waren ja auch noch die Sache mit der Formel und die China-Affäre, außerdem sind meine Gedanken noch jungfräulich im Gegenzug zu meinem Körper, der schon ziemlich durchgereicht wurde. Es gibt nichts, was mit ihm noch nicht angestellt wurde, mein Oberstübchen soll dagegen unangetastet bleiben. Und wenn ich das nur erreichen kann, indem ich eine ziemlich unrühmliche Flatter mache, dann ist es eben so. Manchmal kann auch der Abschied aus dieser schnöden Welt ein Ausweg sein, es ist zwar kein besonders tapferer, aber es ist einer. Und erzähl mir nicht, dass du dich noch nie mit diesem Gedanken beschäftigt hast.“
 

Crawfords Blick verlor für einen Moment den Fokus, bevor er sich von Finn befreien wollte. Dieser legte den Kopf schief und lächelte verstehend.

„Überleg dir gut, ob du mir nicht doch noch einen Freiflugschein gönnen willst, denn eines kann ich dir versprechen, solange ich atme kannst du dir diese Freiheit abschminken.“
 

Brad sagte nichts dazu sondern wollte aufstehen, was Finn ihm zugestand. Er blieb auf dem Boden sitzen, während Brad wieder zu seinem Brett und dem Messer ging. Er stützte sich für einen Moment ab, griff nach seiner Brille und setzte sie wieder auf, dann fuhr er schweigend fort, das Gemüse vorzubereiten.
 

Finn blieb wo er war und fing eine halbe Karotte auf, die ihm zugeworfen wurde und an der er dann genüsslich knabberte, während Brad an ihrem Abendessen feilte. Offenbar war die Fragerunde für den Moment beendet. Finn hatte dem Mann auch einiges zum Nachdenken gegeben, wie er befand.

Für Finn war es seltsam, so nahe bei dem anderen zu sein und noch seltsamer, dass dieser seine Nähe mit dieser Ruhe akzeptierte. Er gewann immer mehr den Eindruck, dass Brad nicht wusste, wie er mit ihm umgehen sollte.
 

Irgendwann schaltete Brad den Fernseher ein und berieselte sie beide mit einer Dauerschleife der Nachrichten. Finn war im Augenblick recht zufrieden mit seinem Dasein. Er fühlte einer neuen Ruhe in sich nach, die ihm unheimlich vorkam.
 

Irgendwann nahm der brennende Wundschmerz überhand und er rappelte sich umständlich auf, um zur Couch zu gehen. Er stellte die Lautstärke des Fernsehers ein wenig leiser und legte sich nieder. Das Hemd war in der Zwischenzeit feucht geworden und voller Wundsekret. Er musste es wechseln, die Verbände ebenso, aber er war zu müde. Der kleine Schlagabtausch vorhin, die ungemütliche Haltung auf dem Boden, machte das nicht besser.

Seine Verbände waren zwar zusätzlich noch mit einer Klebebinde fixiert – vermutlich weil sein Bruder wusste, dass sie sich sonst schnell lösen würden – dennoch waren sie jetzt durchweicht.
 

Er war wohl eingedöst, als da plötzlich mehr Leben als bisher in seiner Nähe herrschte und seine Aufmerksamkeit erforderte. Er ließ die Augen geschlossen und hörte Fujimiya und Schuldig, die sich unterhielten und Bericht vom Fortschreiten des Umzugs abgaben.
 

Er war zufrieden, wie alles seine Ordnung hatte. Brad fragte hin und wieder einzelne Punkte ab. Finn lächelte, denn er war zufrieden, wie die Dinge bei Schwarz liefen.

Brad hatte sein Gefolge im Griff. Das hatte Finn auch nicht anders erwartet, aber es war dennoch beruhigend, dass das so gut von Statten ging.
 

Er hörte wildes Säbelrasseln in Form von Geschirrgeklapper und fragte sich, ob er zu dem kulinarischen Festmahl geladen wurde. Naja, wenn nicht setzte er sich eben wieder auf seinen Platz in der Ecke. Mit diesem unterwürfigen Verhalten würde er Brad entweder weich kochen oder ihn aufregen. Beides hatte seinen Reiz für Finn.
 

Tatsächlich roch es sehr gut und niemand holte ihn zum Essen. Nach einer Weile schälte er sich aus der Decke und erhob sich eher gebeugt als graziös. Er ging hinüber zur Küche und faltete sich in der Ecke zusammen. Das hatte zweierlei zur Folge: Zum Einen wurde er aus violetten Augen genau verfolgt, die sich gar finster verdunkelten, als er sich auf den Boden kniete, und zum Zweiten seufzte Brad genervt, als er Rans Blick gewahr wurde.

„Was?“ fragte Finn halb beleidigt, als er die lautlose Kommunikation der Beiden beobachtete. „Ich will auch essen, ich habe Hunger“, protestierte Finn.
 

„Dann setz dich zu uns.“

Brad schien wohl erst jetzt etwas gegen seinen Platz einzuwenden zu haben, als Fujimiya seine Aufwartung gab, zuvor hatte er nichts dagegen gehabt. Finn grinste in sich hinein.

„Danke!“ gab sich Finn begeistert, kam wieder hoch und schob sich neben Brad. Er wartete geduldig, bis dieser aufstand und ihm einen vollen Teller reichte.

Finn lächelte das Essen an, bevor er nach seinem Besteck griff, kurz innehielt, im Stillen für die Mahlzeit dankte und anschließend zu essen begann. Es gab Udon Nudeln mit Gemüse kredenzt in einer schmackhaften Suppe.
 

Sie aßen schweigend und friedlich, was Finn sehr gelegen kam, denn er harrte der nächsten Frage, die da bestimmt kommen mochte. Tatsächlich jedoch blieben Fragen aus. Kein weiteres Verhör störte das scheinbar friedliche Abendessen, ein Umstand, der ihn misstrauisch machte. Bisher war er noch glimpflich davon gekommen.

Er hatte sich seinen Aufenthalt etwas schmerzhafter und irgendwie endgültiger vorgestellt.

So wie es sich gehörte, wenn man den Feind zu „Gast“ hatte. Hunger, Folter, Missbrauch... so oder so ähnlich hatte er es sich all die Jahre ausgemalt. Und jetzt war es ganz anders: sie gaben ihm etwas zu essen, verbanden seine Wunden und keiner von Schwarz folterte ihn.

Weshalb waren sie so nett zu ihm?
 

Er hätte sich früher offenbaren sollen. Innerlich seufzend sah er von seinem Mahl auf und betrachtete sich die beiden jüngeren Männer. Fujimiya war in sich gekehrt und sprach eher weniger, wie er gestern festgestellt hatte. Diesen Umstand glich Schuldig jedoch aus: er war offen und lebhaft und scherte sich nicht um Konventionen oder um Benehmen im Allgemeinen. Er war unangepasst, selbst nach all den Jahren, die er in diesem Land verbracht hatte. Finn tat sich schwer damit, ihn einzuschätzen.

Er hatte damit gerechnet, dass Schuldig sich in perfider Mordlust auf ihn stürzen würde. Seinen Beobachtungen der letzten Jahre nach hätte es so sein müssen. War das der Einfluss des Mannes, der neben ihm saß? Finn war es nur recht, aber was würde jetzt kommen?
 

Sein Leben bisher war klar umrissen gewesen, seine Aufgabe stets im Blick. Jetzt saß das Objekt seiner schlaflosen Nächte neben ihm und gebärdete sich anders als gedacht. Außerdem wusste er nicht, wie er mit ihm umzugehen hatte. Er kannte ihn nicht, auch wenn er es immer sich selbst gegenüber behauptet hatte.

Finn ließ seinen Blick von Schuldig, der gerade aufsah, zu Brad gleiten und sah ihn stumm an. Nein, er kannte ihn nicht, er war ein Fremder, den er liebte. Finn seufzte innerlich und widmete sich wieder der Suppe. Es kam ihm merkwürdig vor, eine Suppe zu essen, die Brad gekocht hatte. Finn lächelte verstohlen und konzentrierte sich darauf, seine Gedanken gefälligst für sich zu behalten.
 

Als sie mit dem Essen fertig waren erhob sich Finn, stellte seine Schale auf die Anrichte, bedankte sich artig für die Mahlzeit und ging ins Badezimmer. Er musste die alten Verbände entfernen und zwar dringend.
 

Während ihr Gast verschwand, räumte Brad das restliche Geschirr weg.

„Sieht aus, als würde er bekommen, was er will“, resümierte Schuldig in gedehntem Tonfall.

„Er ist sich für nichts zu schade“, entgegnete Brad, die Stirn in Falten gelegt. „Für wirklich gar nichts.“
 

„Das heißt nicht, dass er kein Benehmen hat, wie gewisse andere Menschen“, sagte Ran beiläufig und Schuldig fühlte sich angesprochen.

„Was soll das heißen?“, brummte der.

„Damit meine ich nicht dich. Wer sagt denn, dass ich von dir spreche?“ erwiderte Ran wieder mit diesem typisch beiläufigen, uninteressierten Tonfall.

„Das sehe ich dir an der Nasenspitze an, Pinocchio.“
 

„Hat er etwas ausgeplaudert?“ hakte Schuldig nach, um das Thema zu wechseln, denn Rans Gesichtsausdruck versprach Haue.
 

Fujimiya und Schuldig sahen Brad an.
 

„Dazu komme ich gleich. Habt ihr Nagis Zimmer vorbereitet?“
 

Schuldig verzog leidend das Gesicht. Klar, die interessanten Sachen kamen erst nach der Pflicht. Hatten sie das Thema Umzug nicht vorhin schon zur Genüge durchgekaut?

„Takatori junior hat damit begonnen, Naoes Räume herzurichten. Wir können ihn morgen abholen. Der Rest sichert das Anwesen und kümmert sich um die „wohnliche Gestaltung“ und „etwas mehr Gemütlichkeit“, sagte Schuldig, als hätte er etwas Saures gegessen.

Brad sah zu Ran, der nur die Schultern zuckte. „Eve macht es ihnen nicht leicht. Sie hat das Regiment in der Casa Schwarz übernommen und scheucht das „unnütze Pack“ – um es mit ihren Worten zu sagen – durch das Haus“, murmelte Schuldig.
 

„Was ist mit ihren Kontakten nach Langley?“ hakte Brad nach.
 

„Bisher keine neuen Informationen. Sie lassen sie in Ruhe“, erwiderte Ran.
 

„Vorläufig“, pflichtete Schuldig bei.

„Sie soll sich in den nächsten Tagen bei ihren Kollegen hier vor Ort melden.“
 

„Überwach sie weiter.“
 

Schuldig nickte.

„Und was hat er nun ausgeplaudert?“
 

Brad sah ihn lange an, bevor er nickte. „Das Serum, das Sin vor uns verbirgt, benötigte eine Formel, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, wir haben sie ihnen beschafft. Du erinnerst dich sicherlich, der Auftrag vor einigen Monaten.“
 

Schuldig stützte die Stirn in eine Hand und sah zu Ran hinüber, der nur wieder mit den Schultern zuckte – was so viel hieß wie: habt ihr euch selbst eingebrockt.

„Das hat er eingefädelt?“
 

Brad nickte und erzählte ihnen das, was Asugawa ihm gesagt hatte.
 

„Ihm war also langweilig...“ resümierte Schuldig und verzog das Gesicht skeptisch, als Brad ihm den Grund für den Auftritt von Sophie Fuchoin in Shanghai erklärt hatte.
 

„Das sagte er zumindest. Allerdings können wir auch davon ausgehen, dass er mich sehen wollte, bevor er stirbt.“
 

Ran fühlte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Brad sagte das in einem so beiläufigen Tonfall, dass ihm innerlich kalt wurde. Er wusste um die Gefühle des Mannes? Und es interessierte ihn nicht?

„Was machen wir mit ihm?“ verlautbarte Ran dass größte Problem in der Runde, um sachlich bleiben zu können.
 

„Wir können ihm nicht vertrauen“, erwiderte Schuldig.
 

„Und ihn nicht kontrollieren“, stimmte Brad zu.
 

„Er weiß zu viel und steht auf der Abschussliste mehrerer Parteien. Ihn laufen zu lassen bedeutet früher oder eher später – gemessen an seinen Fähigkeiten – seinen Tod.“
 

„Und? Wen kümmert es?“ meinte Schuldig lapidar und Brad fühlte den sezierenden Blick aus violetten Augen auf sich gerichtet. Der Japaner las für seinen Geschmack viel zu viel und zu gut in ihm.
 

Schuldig wollte von Brad eindeutige Antworten, wie er zu Asugawa stand, wusste aber gleichzeitig auch, dass er sie nicht bekommen würde.
 

„Dich sollte es kümmern. Du schuldest ihm dein Leben, zumindest den Rest deines gesunden Verstands. Und ich... ich habe keine Ahnung, wie hoch meine Schulden bei ihm sind“, gestand er und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Es machte ihn halb verrückt nicht zu wissen, wie schwer er in der Schuld dieses Intriganten stand. Es weckte in ihm den Wunsch, ihn zu beseitigen, aber damit wäre das Problem dieser Schuld nicht vom Tisch. Ganz im Gegenteil. Er war hin und hergerissen in seinen Gefühlen, dass er nicht wusste, wie er mit ihm umgehen sollte.
 

Schuldig wurde hellhörig, er sah ihn verwirrt an. „Könntest du dich etwas genauer ausdrücken, Hellseher?“
 

Brad hörte diesen lauernden Tonfall, der Schuldigs Stimmung kippen konnte und das innerhalb eines Wimpernschlags. Sein Blick ging hinüber zu Ran, der eine Hand auf Schuldigs Arm legte.

„Asugawa hat Kitamura enthauptet und es so gedreht, dass es danach aussieht, dass du es warst.“
 

Schuldig schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war blass geworden, die Augen waren aufgerissen, die Mundwinkel nach unten gerichtet und sie zitterten leicht. „Wie...?“
 

„Unter anderem ist das der Grund, warum er nicht wollte, dass du ihn liest. Er befürchtete, dass du ihn zur Rechenschaft ziehen würdest, weil er dir das Anrecht auf deine Rache genommen hat.“
 

„Deshalb diese übersteigerte Angst vor Schuldig?“ fragte Ran nach.
 

„Vermutlich. Er hat sich in den letzten Jahren ein Bild von uns gemacht und dazu gehörte wohl auch dieser Punkt.“
 

„Hätten wir die Rückführung gemacht wie von mir vorgeschlagen, dann hätte ich gewusst, dass nicht ich es war“, sagte Schuldig immer noch leise, aber nicht mehr ganz so schockiert.
 

Er ließ sich vom Hocker gleiten und ging in Richtung Flur. Ran wollte ihn aufhalten aber er wandte sich wieder Brad zu.

Er hob fragend eine Braue und Brad schüttelte nur den Kopf. Das war nicht seine Angelegenheit. Er war nicht bereit, Asugawa nachzugeben und dieses Geheimnis vor Schuldig zu wahren. Brads Loyalität galt Schuldig, nicht Asugawa, er hatte sie sich nicht verdient.
 

Schuldig ging den Flur entlang und hörte Wasser rauschen, Musik trällerte aus dem Radio im Bad, als er die Badezimmertür öffnete. Er fand hinter dem Wasserdampfschwaden den schlanken Mann, wie er an den Fliesen lehnte und sich das heiße Wasser über den tätowierten Rücken rinnen ließ. Asugawa hatte ihn noch nicht bemerkt, zumindest tat er so. Schuldig schüttelte über so viel Vertrauen den Kopf.

Schuldig grinste, während er sich die Schuhe abstreifte, aus seiner Kleidung schlüpfte und sich die Haare im Nacken zusammenband.
 

Asugawas Kopf wandte sich etwas, er musste ihn gehört haben. Seine Augen weiteten sich, als er Schuldig nackt vor sich sah. Die Regendusche plätscherte weiter, als Schuldig sich ihm näherte und ihn aus dem quadratischen Areal des Regenfalls drängte.
 

Schuldig musterte den Mann, der ihm stumm aber mit großen Augen entgegenblickte. Er konnte das Chaos in dem hübschen Köpfchen förmlich sehen.

„Wieso hast du ihn getötet?“ fragte Schuldig und starrte ihm in die dunklen Augen.

„Wen?“ fragte Finn vorsichtig und wandte seinen Blick von Schuldig in Richtung Fluchtweg, den dieser erfolgreich versperrte.

„Kitamura.“

Finns Gesicht ruckte zu ihm hin. Schuldig konnte in den blanken, dunklen Murmeln nichts lesen. Die Augen wirkten fast schwarz in dem diffusen Licht.
 

„Euer Hellseher hat ein loses Mundwerk“, sagte Finn langsam und seine Mundwinkel verzogen sich für den Moment trotzig.
 

Auf Schuldig wirkte das tatsächlich niedlich.

„Wir schlafen miteinander, was erwartest du, wenn du ihm eine derartige Offenbarung machst?“ Schoss Schuldig den Pfeil ab und anhand des geschockten Gesichts, das noch blasser als sonst wurde, hatte er ins Schwarze getroffen. Das Kerlchen war in Brad verschossen und die pure Verzweiflung auf dem Gesicht machte deutlich, was Schuldigs Worte in dem anderen auslösten. Eifersucht kochte in dem Mann und das nicht erst seit heute. Bisher war zwischen ihm und Brad noch nichts richtiges gelaufen, bis auf Umarmungen und leidenschaftliche Küsse war nichts drin gewesen, aber wer war er, dass er das ihrem Meisterspion auf die Nase band?
 


 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Fortsetzung folgt...
 

Beta-Dank geht an 'snabel'! ^__^

Lifelines

Lifelines
 


 

„Also warum?“
 

„I...Ich“, fing Finn stotternd an. Damit hatte er nicht gerechnet. Brad war mit Schuldig zusammen? Aber er war doch mit Fujimiya liiert, oder etwa nicht? Hatte er das falsch interpretiert? Falsch... das war alles falsch...

Verdammt, herrschte sich Finn innerlich an. Benimm dich endlich professionell!
 

War das eine Lüge, um ihn aus der Reserve zu locken?

Doch selbst die mentale Zurechtweisung seiner Ratio bewirkte nicht, dass er dem anderen in die Augen sehen konnte. Er schämte sich dafür, dass er überhaupt in Erwägung gezogen hatte, sich in Brad Crawford den einzigen Hellseher, der diese ausgeprägten Fähigkeiten hatte, verliebt zu haben. Die Fakten sprachen nicht für ihn. Es stand ihm nicht zu und bei all dem, was er in der Vergangenheit bewältigt hatte, war er bestimmt nicht der richtige für den Hellseher. Er war ein Schutzschild wenn es hart auf hart kam, mehr aber auch nicht. Er war nicht stark genug. Jemand wie Schuldig war es.

Seine Aufgabe war es für den Hellseher der erste starke Schild zu sein, zu brechen wenn nötig, zu bluten und für ihn zu sterben.
 

Er war verdorben und hinterhältig und er hatte sich körperliche Nähe und Sex heimtückisch erschlichen. Was konnte er Schuldig entgegensetzen, in dem er besser als der andere war?

Er war kein PSI und würde auch nie einer sein. Crawford brauchte einen gleichwertigen Partner, jemand der ihm ebenbürtig war... Wie hatte er sich jemals anmaßen können, auch nur den Gedanken zu hegen...

Trotzdem hüllte eben genau diese unsägliche Hoffnung ihn in eine schützende Wattewolke, die ihn vor den vernichtenden schweren Gedanken schützte und ihn zu dem Hellseher aufsehen ließ wie zu einem rettenden Schutzengel. Diese Sehnsucht, die sich die letzten Jahre aufgebaut hatte war krankhaft, beinahe schon wahnhaft, aber sie war es die ihn davor bewahrt hatte in dem Sumpf in dem er stand zu versinken und zu ersticken.
 

Er spürte die Hand an seiner Wange, die sein Gesicht wieder zu seinem Gegenüber dirigierte erst verspätet und schalt sich selbst über so viel Nachlässigkeit und Tagträumerei.

„Ich... wollte nicht mehr mit ansehen, wie er leidet“, entfuhr es ihm plötzlich verteidigend mit einer gehörigen Portion Trotz.

„Wer litt?“
 

„Crawford. Es war meine Aufgabe ihn vor Schaden zu bewahren. Ihr wart gefangen bei Kitamura. Von SZ kam keine Hilfe wie es aussah. Und... daher war es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass er sich nicht mehr an dir vergreift.“
 

Schuldig wischte sich über das nasse Gesicht. Er ließ seinen Blick über das Gesicht vor sich schweifen, über die Brust und den Bauch. An der verletzten Flanke blieb er hängen.

Für einen Moment sprachlos, weil nachdenklich, drehte er das Wasser ab und schritt aus der Dusche. Er griff sich zwei der Badetücher und warf eines davon Asugawa zu. Das verbleibende benutzte er zunächst, um sich das Gesicht abzutrocknen und setzte sich auf den gemauerten Vorsprung, der die Badewanne umrundete.

„Wie hast du es angestellt?“
 

Finn war vorsichtig geworden, er hielt das Handtuch vor sich und wischte sich mit einem Zipfel davon das Gesicht ab. Er war in der Dusche zurück geblieben, trat jedoch jetzt hinaus.

„Kitamura bestellte sich gelegentlich Frauen in seine Privaträume. Es erregte ihn wenn sie sich wie Meikos kleideten. Kein Problem für mich in diese Rolle zu schlüpfen“, sagte Finn mit einer Spur Zynismus.

Schuldig hatte sich das Handtuch über den Schritt gelegt und stützte seine Unterarme auf seine Knie ab. Er sah zu ihm auf.

„Kein Problem für dich?“
 

Finn kniff die Lippen zusammen und wich dem Blick aus den blauen Augen aus. Er zuckte mit den Schultern und setzte dann zu einer Erklärung an, verstummte aber dann. Es fiel ihm leichter, Brad sein Leben um die Ohren zu schlagen als Schuldig, dessen Gesicht und die darauf abgebildeten Emotionen so offen vor ihm lagen. Abscheu würde darauf zu lesen sein. Sein Leben war so unauslöschlich mit Schwarz verbunden, dass er die Ablehnung darauf nicht sehen wollte.

Er hätte es auch nicht sehen müssen, wenn er sich nicht so nahe an Brad begeben hatte, dieser düsteren Sonne, die ihn langsam verzehrte. Außerdem erregte es ihn wenn er es schaffte Crawford aus der Reserve zu locken. Jede Reaktion war besser als das völlige Ausbleiben einer solchen.
 

Um Zeit zu schinden wischte er sich mit dem Handtuchzipfel erneut über das Gesicht, da ihn kleine Rinnsale Wasser von seinen Haaren ins Gesicht liefen. Was sollte er antworten?
 

„Es war nicht das erste und das letzte Mal, dass ich in diese Rolle geschlüpft bin“, sagte er schließlich.
 

„Dein Körper und dein Aussehen helfen dir dabei?“
 

Finn nickte, er lachte freudlos auf. „Sicher.“
 

„Magst du es?“
 

Finn verzog das Gesicht abfällig. Sein Blick verdüsterte sich. „Mögen? Meinen Hintern dafür hinzuhalten, um an Informationen zu kommen oder meinen Stand innerhalb der Organisation zu festigen?“
 

Schuldig sah ihn aufmerksam an. „Ja, genau das meine ich. Magst du es, wenn du Macht über sie hast und deine Ziele damit erreichst, sie zu manipulieren? Wenn sie dich ficken und du genau weißt, dass nicht sie dich benutzen sondern du sie?“ fragte Schuldig und Finn glaubte sich verhört zu haben. Er fühlte Hitze in sich aufsteigen. Scham brannte in ihm gleißend rot. Wie nur konnte dieser Telepath dieses längst begraben geglaubte Gefühl wieder an die Oberfläche zerren? Er war längst über Scham und Entehrung hinaus in seinem Dasein als...
 

‚Nein. Hör auf damit’, wies er sich selbst zurecht.
 

„In diesen Momenten ist es das Einzige, dass...“ fing er hitzig an und machte einen Schritt nach vorne. Schuldig hob die Hand gelassen. „Ho... Stopp. Ich hatte nicht vor dich zu verurteilen. In diesen Momenten ist es das Einzige, was dich davon abhält, sie gleich zu töten oder ihnen vor die Füße zu kotzen? Hmm verständlich“, sinnierte Schuldig und sah auf. Asugawa sah ihn perplex an.
 

Schuldig betrachtete ihn sich eine Weile. „Also magst du es?“ Er konnte sehen, wie mühsam der Mann um Beherrschung rang.
 

„Was zum Teufel sollte ich daran mögen?“ zischte Finn hitzig.
 

„In Frauenklamotten herum zu laufen?“
 

„Nein VERDAMMT“, schrie Finn und seine Augen brannten vor Zorn. „ICH HASSE ES. ICH HABE ES IMMER GEHASST!“ Er atmete schwer und wandte sich seitlich, sodass Schuldig einen guten Ausblick auf die perfekt geformte Silhouette des Mannes hatte. Schuldig ließ seinen taxierenden Blick über die schmalen Schultern gleiten über die wirklich schön geformte Linie der Wirbelsäule und den aparten Hintern. Der ganze Körper war makellos. Nur wenn er sich bewegte konnte man die Muskel arbeiten sehen, kein Gramm Fett zu viel. Schuldig fragte sich im Moment, wie er diese Taille hinbekam, die er bei Sophie Fuchoin gesehen hatte. Mit diesen Silikonteilen vermutete Schuldig. Dieser Mann war ein Kunstwerk, ein Produkt verschiedener Begehrlichkeiten der Menschen um ihn herum.
 

„Warum tust du es dann?“
 

„Weil ich es muss“, nuschelte Finn unglücklich über seinen Wutausbruch in das Handtuch hinein.

„Es ist praktisch. Chiyo hat mich ein Jahr lang als Mädchen aufgezogen. Später dann noch einmal ein paar Monate als Frau.“
 

„Das ist krank“, sagte Schuldig und runzelte die Stirn.
 

„Hmm... Mag sein. Aber es half mir an Crawford dran zu bleiben. Damals, als ich auf ihn angesetzt wurde... ich war vierzehn...“ er streckte in einer ganz und gar unjapanischen Geste seine Hand aus, gestikulierte, als müsse er dem anderen begreiflich machen, dass es wert war, ihm zuzuhören. „... damals lebte ich als Mädchen und wusste noch nicht einmal nach wem ich suchen musste. Als ich ihn dann als PSI entdeckte, hatte ich gehofft, dass er mich irgendwie erkennen würde, dass ich auffliegen würde. Dass seine Fähigkeiten mich entlarven würden. Aber das geschah nicht. Jeden Tag ging ich in diese verdammte Schule und beobachtete ihn. Irgendwann schwärmte ich für ihn und verheimlichte Informationen. Ich hatte mich in ihn verknallt. Ich war ein Kind.“
 

„Ein verkauftes Kind“, fügte Schuldig hinzu. Noch dazu in der Pubertät und Brad war der erste Schwarm, auf den Asugawa abgefahren war. Ein Schwarm, der auf seiner kleinen Todesliste stand.
 

„Ja vielleicht.“

„Wenn du für ihn geschwärmt hast, warum dann das Gift? Warum hast du dich nicht dazu entschlossen, es sein zu lassen?“
 

Finn sah ihn an und schnaubte schließlich. „Yoshio sagte, dass das meine Bewährungsprobe wäre, wenn ich sie vermassle hätte ich keine Daseinsberechtigung mehr im Clan. Sie würden mich nach Thailand verkaufen.“
 

„Dein erster Auftrag?“
 

Finn sah kurz auf. „Nein. Aber der erste starke PSI.“
 

Mehr sagte er nicht und Schuldig malte sich schon aus, wie ein Junge in dem Alter und mit dem Aussehen eines Mädchens leichtes Spiel bei seinen Opfern gehabt hatte.
 

„Deine Belohnung für den Tod des Hellsehers?“
 

„Viel Geld und der Aufstieg in den Kader der Sieben.“
 

„Sin?“
 

Finn nickte. „Damals hießen sie noch nicht Sin. Das kam erst später, als sie offensiver gegen die PSI in den Staaten vorgegangen sind. Sie fühlten sich unbesiegbar und zelebrierten ihre Anschläge wie einen heiligen Krieg gegen das Böse in der Welt. Das es keine Heldentat war, Kinder hinzurichten, übersahen sie geflissentlich in ihrem Feldzug.

Die Sieben waren neben der Securityfirma von Yoshio seine persönliche Leibgarde, wenn du so willst. Chiyo hat mich ihrem Mann gelegentlich für kleinere Aufträge überlassen, damit er nicht misstrauisch wurde. Dabei lag es mir wirklich fern zu den Sieben gehören zu wollen. Sie bekamen eine Spezialausbildung und waren damals schon abgedreht.“
 

„Wie erklärte Chiyo ihrem Mann dein exklusives Trainingsprogramm bei ihr?“
 

„Gar nicht. Ich war ein Geschenk von ihm an sie. Ihr persönlicher Bodyguard, den sie ausbilden und über den sie verfügen konnte, wie sie wollte. Kiguchi und Hisoka sollten ursprünglich an sie übergeben werden, aber sie wählte mich. Yoshio hat gelacht, als er mich zum ersten Mal gesehen hat. Er hat mich nie für ganz voll genommen, was ihr wohl gerade Recht kam.“
 

„Das heißt die Mitglieder von Sin sind lange dabei?“
 

„Nein, sie werden ausgetauscht. Wenn einer fällt wird der nächste gesucht und rekrutiert.“
 

„Ihre Motivation?“
 

„Geld und Ansehen im Clan.“
 

„Wie viel hättest du für Brads Tod bekommen?“
 

„Der Betrag ging in die Millionenhöhe.“
 

„Und das mit vierzehn Jahren? Dir hätte doch sicher weniger auch gereicht?“
 

„Das spielt beim Clan keine Rolle. Der Auftrag wird mit einer bestimmten Summe ausgezeichnet. Wer ihn erledigt bekommt das Geld. In diesem Fall hatte Yoshio ihn mir speziell als Erstes angeboten, um mich zu beweisen.“
 

„Als du den Auftrag in den Sand gesetzt hattest, was passierte dann?“
 

Finn presste die Lippen zusammen, wischte sich erneut übers Gesicht und sah hoch. Sein Spiegelbild zeigte ihm Augenringe und ein viel zu fahles Abbild seines Selbst. Gruslig, befand er.
 

„Als ich entschieden hatte, dass ich es irgendwie wieder rückgängig machen wollte, holte ich das Gegengift und ging zu Chiyo. Ich dachte sie würde mir den Kopf abreißen, aber sie sagte nur, dass es meine Entscheidung wäre und ich auch mit den weitreichenden Konsequenzen leben müsste. Ich war überrascht, denn entgegen ihrer Androhung mich zu verkaufen, hörte sich diese Antwort etwas milder, wenn auch weitaus vager an.

Nachdem ich das Gegengift abgeliefert hatte ging ich wieder zurück und tat so, als wäre nichts gewesen. Ich hatte meinen Auftrag vermeintlich erfüllt, mein Bericht bei Yoshio fiel dementsprechend positiv aus.

Erst Tage später wurde ich erneut zu ihm zitiert. Er teilte mir mit, dass ich versagt hätte.“
 

„Und das war' s dann gewesen?“
 

Finn mied den entlarvenden Blick aus dem Blau der Augen. „Ja, das war' s. Ich bekam das Geld nicht und fertig. Und ich wurde auch nicht verkauft.“
 

Schuldig lächelte. „Ganz ehrlich, bei all dem, was du die letzten Wochen und Monate, oder Jahre so veranstaltet hast hätte ich dir mehr Können im Fach ‚Wie lüge ich jemanden an’ zugetraut."
 

Finns Kopf ruckte hektisch hoch und wurde mit diesem ganz speziellen spöttischen Lächeln konfrontiert. Ja, er konnte lügen. Aber aus einem dummen Grund konnte er es bei den Mitgliedern von Schwarz nicht. Wie es den Anschein für ihn hatte. Was war das Problem? Zuviel Respekt? Oder doch Angst? Scham? Wollte er zu ihnen gehören?
 

„Was dann? Wieso die Entscheidung, ihn am Leben zu lassen, wenn du noch kurz davor seinen Tod entschieden hast?“
 

Finn haderte mit sich selbst, ob er das Verhör jetzt abbrechen sollte. Aber was nützte das schon? Es war vielleicht wichtig, dass er alles erzählte, wenn doch nur noch so wenig Zeit blieb.
 

„Damals war mein Hass auf meinen Vater, den Clan und Chiyo so groß, dass ich keinen Ausweg sah, ich sah nur mein schlimmes Leben und die Tatsache, dass ich keine Wahl hatte. Bis ich dann in diesem Zimmer saß und in seinen Sachen wühlte. Da fand ich etwas... ich sah plötzlich den Ausweg vor mir. Er war der Ausweg. Er war die Wahl.“
 

„Du meinst die Tagebücher?“
 

Finn drehte sich wieder und sah ihn an. „Woher weißt du das?“ Er runzelte die Stirn und Schuldig lächelte schräg. „Eve.“
 

„Ah“, machte Finn und nickte.
 

Schuldig betrachtete sich den verdrossen drein blickenden Mann und schüttelte nachsichtig den Kopf.

„Brad ist ganz schön durch den Wind seit er weiß, dass du ihn sein Leben lang im Schatten begleitet hast und er nichts von dir wusste. Er mag es nicht, wenn ihm etwas verschwiegen wird, vor allem, wenn er nicht schon vorher Bescheid weiß. Erst die Eröffnung, dass Eve es ihm verschwiegen hat, dann die Häppchenweise offenbarten Geheimnisse. Das lässt ihn unberechenbar werden.“
 

„Und was macht das mit dir? Wolltest du mich nicht wegen Kitamura ausquetschen?“ fragte Finn ungehalten. Er hatte schon gedacht, dass Schuldig wütend sein würde - bestenfalls - wenn nicht sogar außer sich vor Zorn. Aber das war er nicht.
 

„Nein. Kitamura ist Geschichte.“ Schuldig seufzte und wischte sich mit dem Handtuch über die nassen Haare. Ohne Ran hätte er nicht mal davon erfahren und ohne Finn Asugawa hätte er immer diese Ungewissheit gehabt, ob er es gewesen war, der Kitamura beseitigt hatte.

„Wie hast du es angestellt?“
 

„Ich habe mich als Meiko verkleidet und habe mich ihm angeboten, aber er schien kein Interesse an mir zu haben, sagte mir, dass ich warten solle, er hätte noch etwas anderes zu erledigen und würde mich rufen. Ich habe ihn verfolgt und habe dich da völlig zugedröhnt und gefesselt auf dem Bett liegen sehen. Er war nicht im Raum, also bin ich zu dir hin und habe mit dir gesprochen. Ich hab dir die Fesseln durchschnitten als der Kerl zurückkam. Er war wütend und ich tat so, als wolle ich mitspielen bei seinen kleinen perversen Spielchen. Zunächst schien ihm das zu gefallen, aber dann überlegte er es sich anders. Er kam zum Bett und sah die durchschnittenen Fesseln, was ihn noch mehr aufbrachte.

Ich hatte genug.

Ich zog meine Klingen und trennte ihm auf dem Bett stehend den Kopf vom Rumpf.“ Das war deutlich genug und passte perfekt zu den Umständen. Natürlich etwas dramatisch, aber die Botschaft sollte verstanden werden. Von SZ und den anderen Schmeißfliegen, die Schwarz an der Kandarre hatten.
 

„Du stehst auf dramatische Auftritte. Das kann ich gut nachvollziehen...“ murmelte Schuldig und grinste schräg.

„Du hast eine der Klingen zurück gelassen“, fügte er etwas ernster hinzu.
 

„Sicher, sonst wäre es wohl nicht glaubhaft gewesen. Du warst völlig neben dir, bist aufgestanden und hast mich mit diesem Grinsen auf dem Gesicht angesehen. Ich dachte du würdest mich angreifen. Im ersten Moment warst du noch völlig weggetreten und im nächsten Augenblick hast du mich klar und deutlich angesehen als wüsstest du, wer ich bin. Ich zog mich zurück, die Klinge in deiner Hand belassend.“
 

Finn begann damit sich abzutrocknen. Er fror allmählich und das nicht, weil es kalt im Badezimmer war.

Schuldig sah ihm dabei zu, aber Finn fühlte sich nicht unwohl dabei. Es war eben so und er hatte den Mann schon in weit ausliefernder Situation gesehen.
 

„Du hättest dich damals schon bei uns melden können. Es wäre der richtige Zeitpunkt gewesen.“
 

Finn sah auf. „Nein. Das wäre es nicht. Dafür hätte es nie den richtigen Zeitpunkt gegeben. Nicht für ihn.

Ich hätte ihn davon abhalten sollen zu SZ zu gehen. Ich hätte ihn wegsperren sollen...“ knirschte er mit den Zähnen, ballte die Faust um das Handtuch, nur um dann seufzend die Schultern zu zucken.

„Dann wäre ich nicht besser gewesen als seine Wärter in Langley oder SZ. Ich habe ihn nie gelenkt, ihn frei das tun lassen, was er wollte, auch wenn dies das Schlimmste war, was ihm hätte passieren können.“
 

„SZ?“
 

Finn legte das Handtuch beiseite und nahm sich den Bademantel, der so herrlich nach Brad roch, um hineinzuschlüpfen. Er lächelte in sich hinein.
 

„Sie haben ihn verändert, wie euch alle vermutlich. Als ich ihn wiedergesehen habe war er ein anderer. Der Junge war fort und der Mann mordete im Auftrag von SZ. Ich war verzweifelt. Wie hatte das passieren können? Wie hatte er so werden können wie ich?

Wieso konnte ich seine Seele nicht davor bewahren? Chiyo hat mir alles beigebracht über die Seele eines PSI, seine Kraftquelle, den Anker. SZ war schädlich für ihn. Ich hatte versagt. Ich musste das wieder gut machen. Also musste ich Opfer bringen, ich musste ihm folgen. Egal wohin, egal wie weit.“
 

Schuldig grübelte. Was war ihm Freiheit wert? Ihm war es ähnlich gegangen, er war fortgelaufen und direkt in SZ' Hände. Und die reichten ihn weiter an Kitamura.

Hätte er Ran die Freiheit gewährt, die er so dringend gewollt hatte, um jeden Preis? Hätte er ihn gehen lassen, nur weil es seine freie Entscheidung gewesen wäre? Nein, niemals. Er hätte ihn nicht um der Freiheit willen in sein Verderben rennen lassen. Oder doch? Weil er ihn liebte hatte er ihn frei gelassen und ihn zurück zu Kritiker gehen lassen. War das nicht das Gleiche? Aber auch er hatte ihn beobachtet, ihn verfolgt. Schuldig sah zu Asugawa auf und bekam Verständnis für seine Beweggründe.
 

„Wie alt war er da?“
 

„Das Ganze trug sich ein Jahr später zu. Ich war immer noch zu verschossen in ihn. Mit weniger Gefühl in dieser ganzen Geschichte hätte ich ihn zurück zu seiner Schwester geschleift. Das wäre kein Problem gewesen. Aber ich war zu geblendet von seinem Wunsch nach Freiheit.“
 

Schuldig schüttelte den Kopf. Gott, wann war er in diese üble Lovestory geschliddert und ab genau welchem Zeitpunkt hatte er begonnen, das alles zu glauben?

Er wickelte sich das Handtuch um die Hüfte und stand auf. Er ging auf Finn zu und zupfte am Gurt des Bademantels. „Gehen wir rüber, ich verbinde dir die Wunden.“

„Das kann ich selbst.“
 

Schuldig packte ihn am Kiefer und zog seinen Kopf zu sich heran. „Ja, das ist mir klar, aber ich schulde dir etwas und ich hasse es abgrundtief. Und das war ja eine schöne Märchenstunde, aber wer soll dir den ganzen Scheiß abkaufen?“ Er verzog voller Abscheu das Gesicht und ließ ihn los.

„Du bist jetzt in unserem Revier und hier gelten unsere Regeln. Wenn du hier von den Raubtieren nicht gefressen werden willst, dann zeig keine Schwäche. Du bist Brad überlegen, das ist uns klar, aber zeig ihm das auch. Du ordnest dich unter und wirst so nie seinen Respekt gewinnen. Er hat noch nicht entschieden wie er mit dir umgehen soll, aber wenn er es entschieden hat, dann gibt es kein zurück mehr.“
 

„Er ist der Einzige, dem ich nie schaden würde“, erwiderte Finn ungehalten.
 

„Ach ja?“
 

„Ja.“
 

Schuldig lächelte. „Und was, wenn es das Einzige wäre, das er braucht?“
 

Finn blickte ihn irritiert an. Dieses Lächeln war ein zweischneidiges Schwert wie Finn auffiel. Dahinter lauerte keine Freundlichkeit. Sie sahen sich für den Augenblick prüfend an.
 

„Willst du ihn?“ fragte Schuldig schließlich nach einer endlos scheinenden Zeit die verstrichen war.
 

Finn runzelte die Stirn und Schuldig konnte erkennen, wie er versuchte, hinter die Frage zu sehen.

„Ja, ich will ihn. Ist das bei dem ganzen Palaver bisher nicht zu dir durchgedrungen?“ Wenn er ein Raubtier gewesen wäre, dann hätte er jetzt die Zähne gefletscht.
 

„Aber es scheint, als wenn er schon vergeben wäre“, knirschte er mit den Zähnen.
 

„Scheint das so?“ Schuldigs Lächeln vertiefte sich, wurde zu etwas Spöttischem. „Und das war' s dann? Du gibst einfach auf? Das ganze Blabla doch nur heiße Luft? Was soll ich von einer Nutte schon mehr erwarten?“
 

Finn spürte, wie der kalte Griff um sein Herz stärker wurde. Er sah Schuldig nach dieser Beleidigung resignierend an und wollte sich abwenden, als er ein Seufzen hörte.
 

„Wenn du' s nicht versaust hast du eine Chance“, ließ sich Schuldig herab. Er war tatsächlich der offensichtlich irrigen Annahme verfallen der Kerl hätte mehr Biss.
 

„Woher...?“
 

Schuldig raffte seine Klamotten zusammen und ging zur Tür. „Du sprichst mit einem Telepathen, schon vergessen?“ Er zwinkerte Finn zu und ließ diesen zurück im Bad. Finn stand immer noch grübelnd da als Schuldig erneut die Tür öffnete. „Beeil dich.“
 

„Halt“, Finn eilte zur Tür. Ihm lag noch eine Frage quer.
 

„Warum... warum behandelt ihr mich so... gut?“ Er suchte in dem offenen Gesicht nach einer Antwort.
 

Schuldig lehnte sich gegen den Türrahmen.
 

„Das hat mehrere Gründe. Und keinen davon werde ich dir jetzt auf die Nase binden. Finde es selbst heraus.“
 

Damit war das Gespräch beendet und Schuldig stieß sich von seiner Stütze ab und ließ ihn allein.
 

Finn schloss die Tür. Also gab es tatsächlich einen Grund und er hatte Schwarz in diesem Punkt nicht gänzlich falsch eingeschätzt.

Schuldig hatte von mehreren Gründen gesprochen, welche mochten das sein?
 

Wenig später war Finn aus dem Badezimmer geschlichen, die Haare noch feucht und in Unordnung und hatte sich erneut an Brads Kleidern gütlich getan. Er hatte ein weißes Longshirt an, dass seine Körperzeichnungen leider viel zu gut sichtbar machte, da es fast transparent zu sein schien. Darunter hatte er ein dünnes Handtuch gewickelt, um es nicht gleich wieder vollzusauen. Ihm ging langsam Brads Wäsche aus.

Finn seufzte.

Er suchte sich erneut Unterwäsche heraus, die nicht wirklich gut saß und wieder die obligatorische schwarze Trainingshose. Er ging ins Schlafzimmer und kurz darauf kam Schuldig herein, einen Koffer in der Hand, der verdächtig nach dem seines Vaters aussah und Verbandsmaterialien beinhaltete.
 

Finn seufzte erneut und verzog das Gesicht unwillig, ergab sich aber dem auffordernden Blick aus blauen Augen, die ihn abwartend anfunkelten.

Er zog sich das Shirt wieder über den Kopf und wickelte das Handtuch von seiner Flanke, dass er provisorisch darüber gerollt hatte. Dann legte er sich aufs Bett und zog seine Hose bis knapp über seinen Intimbereich herunter. Währenddessen kramte Schuldig in dem Verbandskoffer nach Material. Finn beobachtete ihn dabei.

„Ich verstehe es nicht.“
 

Schuldig sah zu ihm auf, antwortete jedoch nicht. Erst als er sich zu ihm setzte und sich die Nähte besah, begann er zu sprechen. „Du solltest nicht so lange duschen, das ist nicht gut für die Heilung.“ Er nahm ein Spray und desinfizierte die Nähte auf beiden Seiten seiner Flanke.

„Das ist unerheblich“, sagte Finn und als keine Antwort kam sah, er von Schuldigs Tun auf in dessen forschend blickende Augen.

„Warum ist es das?“, fragte Schuldig nach, sein Tonfall schien aber wenig wirkliches Interesse an einer Antwort zu signalisieren.

Finn wandte den Blick ab in Richtung Fenster. Es war dunkel draußen und er konnte von seiner Lage aus die Lichter der Stadt nicht sehen. Was schade war, denn er mochte den Anblick der kleinen Lichtpunkte in der Dunkelheit.

„Ihr müsst mich gehen lassen, Schuldig“, sagte er leise und selbst in seinen Ohren klang das müde.

„Zwecklos dir zu sagen, dass wir das nicht werden?“

Sie schwiegen während Schuldig die Verbandsmaterialen sortierte, um das Mittel auf den Nähten einwirken zu lassen.

„Ich muss mich mit Kiguchi treffen. Dieses eine muss ich noch machen, bis...“er biss sich auf die Unterlippe und grübelte, wie er es sagen sollte.

„Bis was passiert?“

„Ich muss ihm eine Lösung an die Hand geben, er kann nicht die ganze Zeit dort ohne Unterstützung bleiben. Ich muss Gabriel dort raus holen.“

„Gabriel? Wer hat ihm diesen Namen gegeben?“ Schuldig legte den Kopf schief.

„Das war meine Idee. Elisabeth Villard fand sie gut, aber aus anderen Gründen. Sie hasste dich und auch ihre Kinder. Die Familie fand es unwichtig, wie die Kinder heißen, sie wurden nur geboren, um an ihnen zu forschen.“

„Weshalb fandest du es gut?“

„Spielt es eine Rolle?“

„Ja, für mich spielt es eine Rolle.“

„Weil ich so hoffte, dass es dich irgendwann, wenn die Zeit gekommen wäre, daran erinnern würde, dass du einen Namen hattest, dass du ein Kind wie Gabriel gewesen warst, das Hilfe brauchte und sie nicht erhalten hat.“

Schuldig schnaubte und lachte dann freudlos. „Das hätte mein Herz erweichen sollen?“ sagte er spöttisch.

Finn sah ihm in die Augen. „Ja, so war der Plan.“

„Hat nicht ganz funktioniert.“

„Nein, hat es bisher nicht. Aber für Lilliy...“

„Wir kamen nicht für das Mädchen, denn du hast uns diesen kleinen Auftrag gänzlich anders geschildert.“

„Wärt ihr denn gekommen, wenn ich gesagt hätte, dass die zwei wie Laborratten gehalten werden?“ blaffte Finn zurück.

„Nein.“

„Ihr seid wegen Eve gekommen, soweit war mir das bewusst. Deshalb diese Farce. Nur Gabriel ist immer noch dort und ich werde ihm nicht mehr helfen können. Aber ich kann Kiguchi noch einmal treffen.“

„Warum nur einmal? Was passiert danach?“

Finn wandte den Blick ab.

Schuldig klebte die Pflaster auf und befestigte diese mit einer Folie für den besseren Halt an den Rändern.

Finn spürte die unnachgiebigen Finger an seinem Kiefer und gab ihrem Zug nach, indem er das Gesicht wieder Schuldig zuwandte. „Du stehst drauf mich anzufassen, was?“ fragte er provozierend mit einem trägen, lasziven Blick.

Schuldig hob die Brauen und sprang nicht darauf an.

„Ich bin nicht der Einzige und ganz bestimmt in schlechter Gesellschaft was das Anfassen anbelangt.“

Darauf sagte Finn nichts mehr, nur das Lächeln erstarb.
 

Finn hatte diese laszive Ausstrahlungskraft, diese verbotene Aura des Verführerischen, die ihn umgab. Jede Bewegung war von dieser Aura durchtränkt und das auf ganz natürliche Art. Dabei wirkte es weder feminin noch aufgesetzt. Schuldig wandte sich abrupt ab, viel zu irritierend befand er.

„Falls du es nicht bemerkt hast, du befindest dich in einer Gerichtsverhandlung, alles was du sagst spricht für oder gegen dich. Und es nützt dir nichts, dass du mit dem Richter schon mal in der Kiste warst.“
 

Finn blinzelte ungläubig und lachte dann ehrlich amüsiert, bis ihm die Tränen kamen. Wann hatte er das letzte Mal so befreit gelacht?

Er verstummte und grinste noch etwas, als er sich die Lachtränen aus den Augen wischte. „Na dann solltet ihr euch mit der Anklageverlesung etwas beeilen.“

„Wieder sind wir beim Kern der ganzen Sache. Warum?“, fragte Schuldig.

Er bemerkte ein angedeutetes Lächeln um die Mundwinkel des anderen zirkeln, das aber bei aller Schauspielerei erzwungen wirkte.

„Was spielst du für eine Rolle? Die meines Anwaltes?“
 

„Wenn wir dabei bleiben wollen, wohl eher dein Pflichtverteidiger.“

„Nun wenn das so ist, unterstehst du wohl dem Anwaltsgeheimnis.“

Schuldig hob fragend die Augenbrauen.

„Stehst du im Kontakt mit dem Richter?“

„Immer“, bestätigte Schuldig sofort den Einsatz telepathischer Verhörmethoden und die sofortige Übermittlung an den Richter.

„Und wer ist mein Ankläger?“

„Der Richter natürlich.“

„Ankläger, Richter und Henker in einem? Euch fehlt Personal wie mir scheint“, erwiderte Finn lapidar und setzte sich noch immer ein Schmunzeln auf den Lippen auf. Er zog sich Brads Shirt heran und sein Blick verlor sich auf dem Stoff. Unwillkürlich führte er es sich an die Nase. Es roch nach frischer Wäsche und nach Brad. Ertappt zog er es sich etwas ruppiger über und sein Blick flackerte unsicher zu Schuldig hinüber. Der schien davon keine Notiz genommen zu haben, da er damit beschäftigt war, das Verbandsmaterial zu verstauen.
 

Schien... aber Schuldig hatte diese verräterischen kleinen Gesten durchaus bemerkt. Das kurze Schnüffeln am Revers des Bademantels, ebenso wie die Blicke, die Finn Brad zuwarf, wenn dieser es nicht bemerkte.
 

„Hast du... das was wir im Badezimmer besprochen haben...ihm...“

„Nein. Das kannst du ihm alles selbst erzählen.“

Finn zog sich das Shirt runter und stand dann auf, um sich die Hose auf die Hüften zu ziehen.

„Ich möchte nicht, dass er hört... warum...“

Schuldig hob eine Braue und verzog dann das Gesicht. „Gut.“

„Ich habe das Serum lange nicht genommen und bin bereits unter dem Wirkbereich, du solltest mich jetzt lesen können.“ Vielleicht... wenn er dieses Opfer brachte... dann ließ Schuldig davon ab...

Noch bevor er es gänzlich ausgesprochen hatte fühlte er sich nicht mehr allein. Es war ein schräges Gefühl, da er ja tatsächlich nicht allein im Raum war, aber es war als berührte ihn jemand in seinem Innern. Ein merkwürdiges, unangenehmes Gefühl. Er wollte es nicht mehr, wollte einen Rückzieher machen, doch er konnte nicht mehr sprechen. Blinzelnd versuchte er sich zu Schuldig umzudrehen und streckte seine Hand Hilfe suchend aus um Schuldig zu bitten damit aufzuhören. Es war zu viel auf einmal, Gedanken rasten in seinem Bewusstsein vorbei und er konnte sie nicht fassen, detaillierte Erinnerungen ließen seinen Atem stocken. Erlebnisse die er nicht so lebhaft so detailgetreu in Erinnerung hatte quollen aus seinem Inneren heraus. Rachegeister die ihre Genugtuung forderten, in dem sie ihren Geschmack des Todes auf seine Zunge legten. Er konnte beinahe die toten Körper riechen. Er schmeckte noch das Blut auf seiner Zunge. Seine Lungen bekamen nicht genug Atem, er röchelte und taumelte.
 

Seine Lider flattern als er sich noch gegen die Geister der Vergangenheit wehrte, die ihn überflossen wie zäher schwarzer Teer. Genauso zäh, stinkend und von einer quälenden Hitze die ihn nicht aus ihren Klauen ließ.

Er spürte einen Druck hinter seinem Kopf und brach auf die Knie, seine verzweifleten, panischen Schreie hörte er nicht mehr. Auch entging ihm wie Personen ins Zimmer kamen und er auf das Bett gelegt wurde, wie sie Mühe hatten, ihn festzuhalten und er schließlich das Bewusstein verlor.
 

„Ich komme nicht rein.“

„Versuch es jetzt noch einmal, solange er bewusstlos ist“, schlug Brad nüchtern vor und Schuldig sah zu Ran.

„Nein!“ Ran sah Schuldig eindringlich an.

„Warum zum Teufel willst du das so dringend?“ Ran sah Brad wütend an.

„Das geht dich nichts...“, fing Brad an.

„Weil er ihm vertrauen will. So dringend, dass er dafür alles tun würde“, sagte Schuldig leise und seine Finger strichen über die schweißnasse Stirn des Liegenden. Er glühte. Schuldig war sich nicht sicher woher diese Hitze so plötzlich kam. War es das gewaltsame Eindringen und die daraufhin erfolgte Abwehrreaktion des Serums, die noch schwach vorhanden war?

Ran stand auf und verließ das Schlafzimmer, er verließ die Wohnung, wie Schuldig hörte. Darum musste er sich später kümmern.
 

Er seufzte und versuchte noch einmal in Finns Geist einzudringen. Vorsichtig und sehr sanft, trotzdem hörte er ein Wimmern, dass von dem Mann kam. Die hohe, undurchdringliche Mauer vor der er stand hatte Risse, durch die er sich schob. Das Konstrukt seines Geistes kränkelte, die Substanz war porös. Das Wimmern wurde lauter, aber er ließ sich davon nicht abhalten. Er ließ sich treiben und fing einige Erinnerungsfetzen auf, die ihm ganz und gar nicht schmeckten, sie verstörten Schuldig und erinnerten ihn selbst viel zu gut an Kitamuras Machenschaften.

Aber er war auf der Suche nach...

Dann, als er die Information gefunden hatte, klinkte er sich wieder langsam aus. Auf dem Rückweg rekonstruierte er einige der gröbsten Schäden an dem bröckelnden Gerüst. Doch er kam nicht weit, denn durch das Gerüst zogen sich immer wieder silberne Fäden. Sie wirkten wie ein Netz, ein Kit der die gröbsten Schäden reparierte. Dieser Kit war stark, aber es war nur ein Notbehelf und er war überall, viel war von der Grundsubstanz die Asugawas Seele ausmachte nicht mehr übrig. An einigen Stellen fransten diese Fäden bereits aus, hingen lose und ohne Verbindung herab, verliefen ins Nichts. Schuldig berührte eine dieser losen Enden und zog sie zu sich, sie nahm einen goldenen Schimmer an. Er ließ sie zur Erinnerung mit Kitamura gleiten. Hart und scharf wie eine Klinge schoss der Faden zu dieser Erinnerung. Sofort zog sich ein Netz aus goldenen Fäden um diese Erinnerung, festigte sie. Schuldig zog sich zurück und hinterließ Asugawa noch ein kleines Geschenk über dessen Verwendung er frei entscheiden konnte. So wie er es auch Brad frei entscheiden hatte lassen, was er mit seinem Leben machen wollte. Und ein Geschenk dafür, dass er Kitamura vom Antlitz dieser Welt entfernt hatte.
 

Asugawa lag schweißnass auf dem Bett und gab hilflose Geräusche von sich, wie sie nur von einer sehr verletzten Seele herrühren konnten. Schuldig wagte nicht noch einmal ein Eindringen.

„Hast du was wir brauchen?“, wurde er von der kalten unberührten Stimme aus seinen entsetzten Gedanken gerissen. Er hing wie es schien immer noch in Asugawas Gedanken fest. Er schüttelte den Kopf um seine Gedanken von diesem Grauen zu befreien.

„Dann geh noch einmal rein!“, wies Brad ihn an, da er sein Kopfschütteln misszuverstehen schien.

„Das ist... es nicht“, sagte Schuldig leise, stockend. „Ich habe alles.“ Er wandte sein Gesicht dem anderen zu.

Ihre Blicke trafen sich und Brad erkannte in Schuldigs Gesicht unaussprechliches Grauen. Vermutlich hatte er Kitamura in den Erinnerungen des Mannes getroffen.

„Kitamura?“

Schuldig antwortete nicht gleich, er wandte sich wieder Asugawa zu, der nun zu schlafen schien.

„Kitamura?“, echote er und sah wieder auf den Liegenden. Wenn es einzig und allein Kitamura gewesen wäre, dann wäre es...

Schuldigs Gedanken kreisten um die Erinnerungen des Mannes der hier wehrlos lag. Nein es war nicht Kitamura gewesen der Schuldig verwirrte.
 

Schuldig wischte sich selbst über die Stirn, denn ihn hatte das schlussendlich doch erzwungene Eindringen angestrengt, körperlich aber vor allem emotional.

Er hatte einige Dinge gesehen... die nicht zu dem passten oder viel zu gut zu dem passten, wovon er ihnen erzählt hatte. Er hatte sie Brad verschwiegen, da sie noch keine Rolle spielten – vielleicht würden sie das nie. Er hatte nicht alles gelesen, dafür hätte er länger in Asugawas Gedanken verweilen müssen aber das was er erfahren hatte drehte ihm den Magen um. Unzählige Male hatte dieser Mann Dinge getan die er verabscheut hatte, sich mit dem Gedanken aufrecht erhalten, dass er es für Brad Crawford den großen Hellseher tat. Schuldig hatte sich neben den Bewusstlosen gesetzt, ließ seine Hand sanft an den Hals gleiten um den Puls zu fühlen und zog seine Hand rasch wieder zurück als wüsste er, dass Finn Asugawa im Augenblick keine Berührung tolerieren würde – so er den wach wäre.

Sie alle hatten in ihrem Leben durch die eine oder andere Hölle gehen müssen, sowohl Weiß als auch Schwarz. Doch es hatte immer wieder Phasen besserer Zeiten gegeben. Für Asugawa ging diese Hölle los als seine Mutter starb und sein Vater ihn kurz darauf in die Hände von Yoshio gegeben hatte und hatte seither nie aufgehört. Ein einziges Fegefeuer aus dem es für ihn kein Entkommen gegeben hatte. Als Yoshio und die Vorgänger dieser Sin-Gruppe ihn als Spielzeug herumreichten um mit ihm ihre Psychospielchen zu treiben, als unterhaltsamen Zeitvertreib.

Schuldig schluckte die Abscheu hinunter. Er hatte selbst diese Spiele an Opfern verübt, aber Kinder, Teammitglieder?
 

Brad stand am Fenster und hielt ruhig ein Glas Scotch in der Hand - sogar erstaunlich ruhig , wie Schuldig bemerkte. Kein Anzeichen für Besorgnis oder etwaige andere Gefühle bei Brad, die darauf schließen ließen, dass er irgendetwas für ihren Gefangenen fühlte, das nicht aus Berechnung und Zorn bestand.

„Er hat bisher in allen Punkten die Wahrheit gesagt.“ Schuldig erhob sich, er musste weg von diesem Bett. Das was dort lag war in seinen Grundfesten zerstört und nur ein einziger silberner Faden hielt dieses Wesen im hier und jetzt. Schuldig hatte die Verbindung gesehen, von der Jei berichtet hatte. Sie hatte silbern geschimmert. Das bröckelnde Konstrukt war vollständig damit stabilisert worden, es reichte um zu überleben.

Brad hatte eine Verbindung zu Asugawa und diese war stärker als er jemals erfahren würde. Wenn er Asugawa abwies würde dieser brechen wie ein morscher Zweig im Wind. Falls Asugawa diesen Faden losließ den er so fest umklammerte würde er wahnsinnig werden und dann... irgendwann sterben.

Brad reichte ihm das Glas und Schuldig schüttete sich den Rest in den Rachen.

„Er ist kurz davor auseinanderzubrechen.“

„Das ist nicht das, was ich hören wollte“, erwiderte Brad kühl.

„Und was ist es, das du hören wolltest?“

„Das WARUM will ich hören.“

„Weil er stirbt.“

Er sah wie Brad sich verspannte. „Er ist mit dem Serum längst überfällig. Er hat noch einen kleinen Vorrat in irgendwelchen Schließfächern. Wenn die aufgebraucht sind ist Schluss, dann wird er so wie der Rest von Sin - und du hast ihre Hinterlassenschaften in Osaka gesehen. Er weiß das und deshalb wollte er die Kinder jetzt wegschaffen.“
 

„Seine Reaktion auf dein Eindringen...“

„Ja, vermutlich war der selbstmörderische Sprung in die Tiefe etwas, dass er ohnehin bald vorhatte, bevor sein geistiger Verfall dem ein Ende bereitet hätte.“

„Das erklärt einiges.“

„Es erklärt auf jeden Fall, warum er sich dir ausgerechnet jetzt genähert hat, warum er in Shanghai einfach mal „reinschauen“ wollte und warum er sich auf eine Nacht mit dir eingelassen hat.“

„Er wird nicht sterben“, sagte Brad gelassen.

Schuldig sah ihn zweifelnd an. „Ah ja? Und das weißt du woher? Hast du es gesehen?“

„Nein. Aber ich entscheide, wann und wo er sterben wird und jetzt wird es nicht dazu kommen.“
 

Oh Wow, Brad wurde größenwahnsinnig. Schuldig hatte in den letzten Jahren geglaubt, diese Anwandlungen hatten sie alle überwunden, offenbar war Brad zurück in alte Zeiten verfallen.

Er sah Brad skeptischen Blickes an und wollte gerade etwas sagen als diser ihm zuvor kam. Seine Stimme hatte die Patina aus alten Zeiten: kalt, unbeteiligt und berechnend. Einem Teil in Schuldig gefiel das, einem anderen bereitete dies Sorgen.

„Hol das Zeug aus den Schließfächern her, alles“, hörte Schuldig mit halbem Ohr, während er Brads Profil ausgiebig musterte.
 

Das war ein Befehl. Etwas, das er lange nicht mehr von dem Mann gehört hatte.
 

„Geht klar.“ Schuldig ließ ihn allein mit Asugawa zurück und ging ins Wohnzimmer, wo immer noch dessen Tasche stand. Er nahm sie an sich und suchte darin herum bis er einen Schlüssel fand. Er wusste jetzt, wo dieser untergetaucht war und nahm die Tasche samt dem Inhalt mit sich auf den Weg hinunter ins Untergeschoss. Halb glaubte er Ran wäre im Zorn mit dem Wagen weg, aber dieser wartete mit ziemlich mieser Laune auf ihn...
 


 

o
 


 

Brad löste sich immer noch nicht von dem Fenster. Die Geräusche im Hintergrund, die von Kummer herrührten, hatte er bisher erfolgreich ignorieren können. Auch wenn es ihn wütend machte und der Zorn in ihm so unermesslich war, dass er jetzt jemanden dafür umbringen könnte, denn er wusste um die Schuld, in die er hineingezwungen worden war. ER war für das Leben das dort vor ihm lag verantwortlich. Es war ihm aufgezwungen worden. Dieser Mann hatte sich in sein Leben gezwungen und Brad konnte der Wut die in seinem Hals hing und ihm die Luft abschnürte keinen Namen geben. Sie war zu elementar. Wie konnte es jemand wagen IHM dies anzutun? Wie konnte dieser schwache Mensch es wagen sich in sein Leben, sein Denken, sein Handeln, sich in sein gesamtes Sein zu drängen?

Er ging auf das Bett zu packte den Bewusstlosen an den Schultern, riss ihn nach oben und schrie ihn an. Dann warf er den nachgiebigen Leib wieder zurück aufs Bett. Er wischte sich über die Stirn und verließ das Schlafzimmer.
 

Besonnener als zuvor schloss er die Tür hinter den Geräuschen, schloss sie aus seinen Gedanken und ging in seinen Trainingsraum.
 

Schuldigs kalkweißes Gesicht, seine heimgesuchter Blick hatten Bände gesprochen. Brad fragte sich was er gesehen hatte als er in Asugawas Gedankenwelt war. Was konnte Schuldig so derart aus der Fassung bringen? Kitamura sicherlich, aber er schien damit abgeschlossen zu haben. Brad beschloss Schuldig darüber zu befragen. Im Nachhinein kam es ihm suspekt vor warum er ihm nicht mehr erzählt hatte. Schuldig hatte sich kurz gehalten was ohnehin schon merkwürdig war. Was hatte er gesehen?
 

Eine Stunde später hatte er wieder etwas von seiner Ruhe zurückgewonnen. Er duschte, löschte die Lichter und hielt sich noch in der Küche auf, um aufzuräumen, bevor er wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte. Dort hatte sich die Situation nicht wirklich verbessert. Das hektische Atmen und die wimmernden Laute, die hin und wieder durchdrangen, zerrten an seinen Nerven. Er schnappte sich sein Kissen und wandte sich zur Tür. Erneut schloss er das Problem aus und ging ins dunkle Wohnzimmer. Das Kissen immer noch in der Hand nahm er sich ein Glas und füllte es randvoll mit Scotch. Das Gluckern der Flüssigkeit drang übernatürlich laut an sein Ohr.

Er starrte darauf und nahm einen großen Schluck, fluchte ungehalten und knallte das Glas auf die Bar. Er atmete tief ein und ging zurück ins Schlafzimmer. „Verdammt“, fluchte er in seiner Heimatsprache erneut und warf das Kissen wütend an seinen Platz zurück. Er löschte das Oberlicht und begnügte sich mit dem Nachtlicht, um sich hinzulegen. Er legte seine Brille auf die Ablage und betrachtete sich den Mann neben sich.

Sie hatten alle ihre Albträume, aber das war einfach nur unbeherrscht und schwach, was sich neben ihm abspielte. Er rückte an den anderen heran. „Wach auf...“ sagte er laut. Nichts rührte sich. Die geschlossenen Lider zuckten, die zu Fäusten geballten Hände verkrampften sich.

Er schüttelte ihn vorsichtig an den Schultern, was keinerlei Effekt hatte.
 

Selbst, als er sich überwand und Asugawa an sich zog und ihn festhielt, tat sich nichts. „Hör auf damit...“ flüsterte er leise. Was hatte Schuldig so entsetzt?

Was war in diesem Kopf dass einen verrückten Telepathen in Schrecken versetzte?

Er strich Asugawa über den Rücken und das Ohr, berührte mit seinen Lippen den verschwitzten Haarschopf. Was für eine erbärmliche Ausrede das doch war, um ihn berühren zu können, geisterte ein versprengter Fetzen Moral durch seine Gedanken.

Irgendwann lösten sich die verkrampften Hände und lagen still. Brad legte den Kopf in den Nacken und rieb sich mit der freien Hand die Augen. Was machte er sich vor, er mochte es zu sehr diesen Körper an seinem spüren.

Er neigte zu Untertreibungen, was diesen Mann anging, denn es erregte ihn. Gott, es erregte ihn ihn auch nur anzusehen. Er beugte sich zu der feuchten Stirn hinunter und berührte sie mit seinen Lippen. Und wie er seinen Geruch liebte.
 

Der frische Schweiß erinnerte ihn an die einzige Nacht, die sie miteinander verbracht hatten. Brad löschte das Licht und versuchte seine aufkommenden sexuellen Empfindungen, die sich gar nachdrücklich in seinem Schritt bemerkbar machten, auszublenden. Asugawas Schopf lag auf seiner Schulter und er spürte den warmen, ruhigen Atem an seinem Kinn. Wie verrückt musste der Mann sein, um sich von ihm beruhigen zu lassen und das, obwohl er noch in den Nachwehen eines telepathischen Übergriffs festhing? Oder war es pure Verzweiflung?

Brad strich mit der Hand, die Asugawa halb im Arm hielt, über seinen Rücken und schlich sich wie ein dreister Dieb zu dem festen, gerundeten Hintern. Dort ließ er seine Hand ruhen und driftete über weniger trübe Gedanken selbst in ein erholsames Halbdämmer.
 

Als Finn erwachte lag er wenig erstaunlich allein im Bett. Das war nichts neues, er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt neben jemandem eingeschlafen war. Brad war der erste gewesen, neben dem er sich erlaubt hatte einzuschlafen und er war auch der letzte gewesen.
 

Er hatte beißende Kopfschmerzen und setzte sich ächzend auf, um sich zu orientieren. Dabei bemerkte er ächzend, dass ihm jeder Knochen im Leib schmerzte.

Schuldig mehr oder weniger die Erlaubnis erteilt zu haben, sich bei ihm im Oberstübchen umzusehen hatte dazu geführt, dass er, schlussendlich doch etwas hasenfüßig geworden war. Danach... tja, danach gab es nicht mehr. Etwas kitzelte an seinem Bauch und er sah, dass die Verbände sich langsam auf und davon gemacht hatten. Er roch nach Schweiß. Die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen, aber sie war nicht verschlossen, wie er feststellte.
 

Zunächst ging er ins Badezimmer und wusch sich, er durchwühlte die Schränke nach einer Zahnbürste und wurde in einer Schublade auch fündig. Dort lagen ungefähr ein halbes Dutzend davon frisch verpackt.

Er wusch sich die Haare und warf die Kleidung in den Wäschekorb, der in einer Ecke des Badezimmers stand. Nackt tappte er wieder in das Ankleidezimmer und fischte sich frische Kleidung heraus, allerdings gab es kein Longsleeve mehr für ihn. Er musste sich mit einem Unterhemd und einem blütenweißen Hemd begnügen. Schien teuer gewesen zu sein, für ihn gerade gut genug. Nun, es würde seinen Zwecken dienlich sein, näselte er in Gedanken affektiert und grinste. Er ließ das Hemd offen und suchte seinen Gastgeber. Den er schließlich im Trainingsraum fand. Er betrachtete ihn sich, wie er auf dem Laufband Strecke machte und löste sich zugegebenermaßen schweren Herzens von dem ansprechenden Anblick.
 

Als würde er hier wohnen ging er ins Schlafzimmer, kippte dort das Fenster, um zu lüften und kramte in dem Wandschrank nach neuer Bettwäsche. Er begann damit, das Bett frisch zu beziehen. Dann führte ihn sein nächster Gang in Richtung Küche. Als er den Flur passierte und sein Blick die verschlossene Eingangstür mit dem Zahlencode streifte, tauchten Zahlen in seinem Gedächtnis auf. Es waren nur kurze Momente gewesen, aber es ließ ihn inne halten. Er ging auf die Tür zu und besah sich erneut den Zahlenblock. Er wusste genau, welche Zahlen er eingeben musste. Sein Blick ging zurück in Richtung Trainingsraum und er hätte nicht mehr sagen können, wie die Ziffern lauteten. Er sah wieder zu dem Zahlenblock und wieder wusste er genau, was er eingeben musste. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er lehnte sich an die Tür und lachte leise.

Schuldig.

Er hatte ihm diese Fluchtmöglichkeit gegeben, durch etwas anderes war diese spontane Eingebung kaum zu erklären. Als Entschuldigung, dass er in seinen Geist eingedrungen war? Als Wiedergutmachung? Oder als Danke für die Ermordung von Kitamura?

Wer wusste schon, was in diesem Rotschopf vor sich ging? Er mit Sicherheit nicht und er würde sich über dieses Geschenk in keiner Weise beschweren, auch wenn er nicht wusste, was genau er damit bezwecken wollte.

Er würde dieses Geschenk still schweigend an sich nehmen und sich darüber freuen. Aber wie nutzen? Und wann?
 

Er ging in die Küche, ließ sich einen Kaffee aus dem Automaten und betrat den um das Gebäude laufenden Balkon. Er lehnte sich mit den Unterarmen auf die Brüstung und sah zu, wie die Sonne sich über den Horizont schob. Er trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse in die Spüle, bevor er wieder zurück ins Trainingszimmer ging. Brad bearbeitete in der Zwischenzeit einen Sandsack, der wirklich sehr büßen musste.

Finn grübelte darüber nach, wie er jetzt mit diesem Ass im Ärmel vorgehen wollte, dabei vertrieb er sich die Zeit damit, Brads Körper in Aktion zu bewundern.
 

Wenn er jetzt abhaute, war Brad binnen weniger Minuten hinter ihm her und das war nicht hilfreich. Er musste ihn in Sicherheit wissen, damit er sich keine Sorgen um ihn machen musste. Wenn er sich die arbeitenden Muskeln so ansah, fragte er sich beiläufig, warum er sich überhaupt um irgendetwas sorgte. Das Problem war Rosenkreuz und ihre Telepathen. Er wusste nicht, wie stark Schuldig war. Eine kleine Kostprobe hatte er erhalten, aber er war kein Maßstab, wenn es um geistige Einflussnahme ging. Was konnte Brad einem Telepathen vom Kaliber De la Croix entgegensetzen? Chiyo hatte ihm alles mitgeteilt, was ihre Kontakte ihr zugetragen hatten, und De la Croixs Fähigkeiten waren in diesen Kreisen hinlänglich bekannt. Sie hätten ihn in Kürze umgedreht. Nein, Crawford musste geschützt werden, da musste er eben zu härteren Mitteln greifen. Aber erwartete Brad nicht irgendetwas in diese Richtung? Er mochte ihn doch ohnehin nicht und wünschte sich vermutlich jede Minute seines Lebens ihm den dünnen Hals umdrehen zu dürfen. Irgendetwas hinderte ihn jedoch daran. Finn war in seinen Augen nicht vertrauenswürdig – also warum nicht dabei bleiben?
 

Brad warf ihm einen Blick zu bevor er einen Schlag austeilte. „Und wie lange hast du noch?“ riss er Finn aus seinen Überlegungen, die zu einem Ergebnis gekommen waren.

Finn presste die Lippen zusammen und holte tief Luft, entließ sie langsam. Er hatte keine Lust dazu, aber es musste sein. Also los.

„Spielt es eine Rolle?“ gab er sich aufmüpfig.

„Nein wozu auch? Du hast dich wie eine Klette an mein Leben geheftet, nur weil du dein eigenes nicht auf die Reihe bekommen hast und jetzt verpisst du dich nachdem du dieses Chaos angerichtet hast.“

Finns Kiefer mahlten, er wurde nun langsam wirklich wütend. Aber noch beherrschte er sich. Kühlen Kopf bewahren, er will dich nur provozieren.

„Daran wirst du wohl kaum etwas ändern können“, erwiderte er spöttisch.
 

„Irrtum. Du stirbst erst wenn ich es sage“, kam die nüchterne Replik sofort zurück und Finn hatte den Eindruck, dass hinter der kühlen Fassade eine ordentliche Portion Zorn steckte.

Er lachte. Er war der Meinung gewesen, Brad wollte ihn bald über den Jordan schicken.

„Ja, sicher“, sagte er dann als das Lachen in ihm abebbte.

„Als wenn du hier den Tod betrügen könntest. Du überschätzt dich.“

„Nicht den Tod. Die Zeit. Ich kann mich noch gut an dein Gesicht erinnern, in das der alte Russe sein Sperma gespritzt hat und du mich angefleht hast, das nicht geschehen zu lassen.“

Finn schüttelte den Kopf. Wann war DAS denn gewesen?

„Das ist nicht passiert...“ er runzelte die Stirn und versuchte, sich an eine solche Gegebenheit zu erinnern.

„Nein, das ist es nicht. Weil ich es verhindert habe. Bis jetzt. Was nicht heißt, dass ähnliches dir nicht noch blüht.“

Finn versuchte nicht an die Bilder zu denken, die sich ihm aufdrängen wollten.

„Wer hat mich erwischt?“

„Asami und in dessen Auftrag Sowa.“
 

Sowa? Der tauchte Finn momentan zu oft namentlich auf und entwickelte sich langsam zu einem Ärgernis. Vielleicht sollte er den örtlichen Behörden einen kleinen Gefallen tun und einen Rachefeldzug durchführen. Vielleicht mit einer kleinen Liste zum Abhaken, um einige unliebsame Gestalten aus dem Weg zu schaffen.
 

Brad hielt inne und besah sich das vor Abscheu verzogene Gesicht. „Er hatte vor, dich dem Meistbietenden zu verkaufen.“

„Die da gewesen wären?“

„Ein Südamerikaner, ein Russe, eine Frau, ich denke das war jemand vom Clan deiner Reaktion nach. Und meine Wenigkeit.“
 

„Gula.“

Finn wandte sich ab und stütze sich mit der Hand an den Türrahmen. Diese Information zog ihm beinahe den Boden unter den Füßen fort. Wenn er in ihre Hände geraten sollte... jemals... dann nützte auch das Training nichts mehr, dass er all die Jahre auf sich genommen hatte, um seinen Geist zu beruhigen, um sich vor der Welt abzuschotten, Schmerzen an sich vorüberziehen zu lassen, sie nieder zu ringen. Er war nie besonders gut darin gewesen, dazu war die Ausbildung von Chiyo nicht weitreichend und intensiv genug gewesen. Wie hätte sie es auch bewerkstelligen können in der kurzen Zeit, die ihnen für das Training geblieben war? Er war ein Intrigant, ja ein Spion, er hatte ein paar hübsche Tricks drauf und ganz unsportlich war er auch nicht, aber er war kein Meisterkrieger.
 

Er bemerkte, wie Brad näher kam, aber es kümmerte ihn nicht. Niemals würde er ihn als Bedrohung ansehen. Vielleicht war es ja das, was ihm irgendwann einmal zum Verhängnis werden sollte.

„Wer bekam den Zuschlag?“ fragte er und sah direkt in goldenen Bernstein, der ihm viel zu nahe war. Er spürte eine ziehende Sehnsucht in sich nach dieser Nähe, fürchtete sie aber gleichzeitig.

Brads Gesicht drückte Kälte aus. „Was glaubst du wohl? Ich habe dich Sowa für ein paar Tage überlassen, um mich daran zu erfreuen.“

Finn verlor den Kampf um die Beherrschung seiner Wut, wo er doch sonst so darum bemüht war seine Gefühle nicht seinen Verstand kontrollieren zu lassen. Die Wirkung des Serums ließ langsam nach und es fiel ihm schwerer seine Emotionen unter Kontrolle zu halten.
 

„Ach ja? Und hat' s dir gefallen? Muss ja wirklich erhebend für dich gewesen sein...“
 

„Das war es...“ fing Brad an und das eiskalte Lächeln in dem Gesicht brachte das Fass zum überlaufen. Finn holte aus und zielte auf Brads Vorderseite, allerdings blockte dieser seinen Schlag rechtzeitig ab. Finn brachte sich außer Reichweite und streifte sich sein Hemd ab. „Wenn du so scharf bist deine Wut abzulassen, dann probier’s mal mit mir, der arme Kerl dort drüben wehrt sich schließlich nicht.“ Finn wies mit dem Kinn auf den Sandsack der neben Brad im Raum hing.
 

Sie taxierten sich, umrundeten sich und testeten hin und wieder die Reaktionen des anderen, indem sie Scheinangriffe starteten. Finn jedoch hatte die Schnelligkeit auf seiner Seite. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass Brads Kickbox-Fähigkeiten gar nicht so schlecht waren. Das hieß, dass er nicht zimperlich sein musste.
 

Schlussendlich lag Brad am Boden und war nicht mehr ansprechbar. Finn sah auf die Uhr. Hatte doch tatsächlich ne gute Stunde gedauert, nicht schlecht. Er atmete sogar schwer. Er nahm das Handtuch vom Laufband und wischte sich über Nacken und Gesicht. Er grinste, als er Brad so beobachtete und sich die Kette ansah, mit welcher der Sandsack an der Decke gehalten wurde. Da kam ihm doch eine grandiose Idee...
 


 


 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank fürs Lesen!

Mein Beta-Dank gilt snabel.
 

Der nächste Teil kommt etwas schneller, da ich jetzt hoffentlich keine Probleme mehr mit meiner Internetverbindung haben werde. ^_^
 

Liebe Grüße an alle die noch lesen!
 

Gadreel

Kinderseele

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

sacrifice

sacrifice
 


 

Die Stadt brannte.

Seine Stadt glühte in seiner Rache hellrot, weiß, voller Zorn, voller Genugtuung. Keiner hatte das Recht zu überleben, keiner von Ihnen würde seinem Zorn entkommen. Es wurde Zeit ihnen das zu geben was sie wollten, ein Zeichen seiner Macht, seines Könnens. Brad wandte den Kopf inmitten des Infernos das um ihn Menschen und Gebäude zerfraß. Er sah hinab auf die Last in seinen Armen. Schmutzig, geschändet, blutbesudelt und hingerichtet, eine Botschaft in seinen Armen, die er erhalten und gewürdigt hatte – mit Vergeltung. Er trug den toten Körper einige Schritte bevor ein Schatten zu ihm trat und ihm seine Last abnahm. Er gab sie ab und ging weiter, er ließ sie zurück um das zu werden was sie von ihm wollten, ein Vernichter, ein Richter, ein Henker, ein despotischer Herrscher.

Brad sah sich nicht mehr um. Er ließ zurück was er war um etwas Neues zu werden.

Dann verblassten die Ränder seiner Wahrnehmung und die wohltuende Dunkelheit schickte ihm neue unschöne Fakten.
 

Er wurde wach und das auf sehr unangenehme Art und Weise. Die Vision verblasste und verging in dem unangenehmen trockenen Kratzen in seinem Hals, in dem qualvollen Hustenreiz in seiner Brust, der seinerseits wie Feuer brannte. Als wäre dies die reale Reaktion auf den beißenden Rauch der Flammen die ihn in der Vision nicht beeinträchtigt hatten. Stöhnend ließ er den Kopf sinken, die noch unverheilte Verletzung an seiner Flanke brannte zwar oberflächlich war aber zu vernachlässigen. Die Rippenbrüche, die er vor einigen Monaten davon getragen hatte und jetzt durch die Konfrontation mit Asugawa erneut in Mitleidenschaft gezogen worden waren machten ihm mehr Probleme.

Asugawa.

Der Gedanke an diesen Mann lenkte ihn von den Schmerzen ab und ließ ihn den Kopf heben. Er versuchte sich zu orientieren, zumindest war er noch in seiner Wohnung, nur hatten sich die Gegebenheiten geringfügig geändert.
 

Dieser kleine Teufel.

Als die Erinnerung kam wie Asugawa ihn vorgeführt hatte wurde er wütend. Was bildete er sich ein wen er hier vor sich hatte? Erniedrigung und Schmach brannten in ihm, denn Niemand sprang auf diese Weise mit ihm um, schon gar nicht diese Witzfigur. Er brüllte vor Zorn auf.

„Asugawa!“

Wozu trieb ihn dieser...

Es kam keine Antwort. Die Stille die ihm nach seiner verbalisierten Wut entgegenschlug dröhnte in seinen Ohren. Asugawa hatte ihn allein und in Fesseln zurückgelassen. Brads Augen schlossen sich für einen Moment und sie waren unheilverkündend dunkel als sich seine Lider hoben.
 

Asugawa würde wieder kommen und Brads Vergeltung würde unangenehm für ihn werden.
 

Seine angeknacksten Rippen machten sich nach kurzer Zeit erneut bemerkbar und er fand keine gute Lage um den dumpfen Schmerz zu entkommen. Er mühte sich auf die Beine um eine Möglichkeit zu finden sich zu befreien, aber ohne einen scharfen Gegenstand war es ihm nicht möglich die Kabelbinder zu durchtrennen.
 

Später ließ er seine Hände wieder über seinen Kopf und sank auf die Fersen um sich etwas Ruhe zu gönnen, was seinen Rippen nicht gerade gut bekam, die schmerzende Haltung schränkte seine Atmung ein und machte es ihm schwer Ruhe zu finden. Sein Kopf dröhnte mit einem ebenso vehementen dumpfen Schmerz und ließ ihm neben dem üblichen bildlichen Blitzgewitter diverser Visionen einer möglichen Zukunft nicht zur Ruhe kommen, damit er seine Lage überdenken konnte. Er war wehrlos, so viel wusste er und es gefiel ihm kein bisschen.
 

Er war noch nie in seinem gesamten Dasein auf diese Weise behandelt worden. Niemand hatte bisher gewagt ihn zu fixieren auf jedwede Weise. Selbst seine Feinde nicht.
 

Inakzeptabel.
 

Es war dunkel im Raum und seine Wut erreichte Dimensionen die er von sich bisher nicht gekannt hatte. Zorn glühte in ihm so gleißend hell, als er sich bewusst wurde wie hilflos er war, wie ausgeliefert und er zog mit einem Ruck an der Kette die seine Arme über seinem Kopf festhielt. Er konnte nicht warten bis jemand hier auftauchte um sich seiner Fähigkeiten anzunehmen. Niemals. Völlig außer sich schrie er auf, die Sehnen an seinem Hals traten hervor, sein schwefelgelber Blick versprach höllische Qualen als er an der Kette riss...
 


 

o
 


 

Kaitos nackte Füße strichen nur mehr ziellos über den Betonboden, seine rechte Hand tastete sich zum wiederholten Mal über die Ziegel der Mauern, fanden jedoch keinen Halt.

Er sah wieder nach oben zu der fleckigen Glühbirne und dem Lüftungsschacht gleich daneben. Die Fliegen mussten schließlich irgendwoher kommen und sie kamen zahlreich wie er beobachtet hatte. Auch die frische Luft kam irgendwoher, hatte er festgestellt, nachdem er lange Zeit dachte er müsste hier zusammen mit den frischen Maden ersticken. Er wollte nicht, dass sie erstickten, sie würden sicher bald schlüpfen. Sein Blick glitt erneut zu den Körpern, zu dem hektischen flatterhaften Treiben um die besten Plätze. Neues Leben aus altem geboren.

Wozu wurde er geboren? Um hier zu sein? Warum hatte ihn sein Vater weggegeben? War ein alter Vertrag wichtiger als das eigene Kind? Hatte er nicht auch ein bisschen Wärme verdient? Was hatte er falsch gemacht?

Das hatte er sich so oft schon gefragt, aber nichts gefunden was diese Frage mit Vernunft beantwortet hätte. Hier gab es keine Vernunft, hier gabt es nur noch die Verrückten die ihn für sich haben wollten. Er wusste sie wollten ihn, aber er wollte nicht zu ihnen. Er wollte er selbst bleiben. Aber das ging nicht, nicht mehr.

Er atmete hektisch die aufkommenden Tränen weg. Sein Vater war schuld. Alle anderen waren schuld, dass er hier sein musste, dass er mit diesem Gestank überzogen war, dass er von Mauern umgeben war, die ihn an den Tod fesseln wollten. Er stand allein.

Selbst Kiguchi war nicht hier um ihm zu helfen, sie hatten ihn alle verlassen.
 

Kaito wandte den Blick zum Lüftungsschacht hin.

Dieser war groß genug für ihn, er war zierlich für sein Alter, noch nicht hochgeschossen, die Pubertät noch nicht erreicht. Er würde noch wachsen, so sagten ihm alle.

Er sah zurück. In diesem Raum gab es nichts was ihm helfen konnte den Schacht zu erreichen, die Ziegel zu glatt, keine Vorsprünge.
 

Er ließ sich an der Wand hinabsinken und starrte auf die Leichen. Etwas gab es, das ihm hier heraushelfen würde. Er weigerte sich seit langem daran zu denken. Er hatte Hunger, er würde schwächer werden. Schwäche war Vergänglichkeit und bedeutete den Tod.
 

Er musste hier raus.
 

Der Raum hatte keine Tür, nur frische Ziegel, an einer Stelle, die von den anderen abwich. Sie hatten ihn also eingemauert, mit den frischen Maden. Ein Grinsen breitete sich auf dem jungen Gesicht aus, es irrlichterte so lange auf dem Gesicht umher bis sein Magen zu knurren begann, erst dann fiel es in sich zusammen und Schmerz und Trostlosigkeit glommen in den Augen auf.
 

Maden gab es genug, er brauchte sie nur einzusammeln.
 

Er weigerte sich diesen Gedanken weiter zuzulassen und er schlief darüber ein.
 

An seiner Situation hatte sich nichts geändert als er wieder aufwachte. Er wusste nicht wie spät es war, wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, nur die Fliegen und die Maden waren noch da. Aber es waren weniger geworden. Er musste etwas essen sie durften nicht weniger werden...

Panisch kroch er hinüber und ein schwarzer Schwarm Fliegen stob auf. Er bedeckte Mund und Nase und kroch wieder zurück. Er musste hier raus.
 

Wütend über seine eigene Untätigkeit begann er damit die besser erhaltenen Leichen zu inspizieren. Er zog an einem Bein und ächzte aufgrund des Gewichts. Die nächste Zeit verbrachte er damit eine Leiche nach der anderen, unter den Schacht zu befördern. Er stank nach ihnen und fühlte sich wie einer von ihnen – tot und verdorben - als er fertig war. Er hatte es nur geschafft eine auf eine zweite zu legen, dabei war ihm ein Arm abgerissen und er hatte geweint, das hatte ihn Zeit gekostet. Das nächste Mal würde er nicht mehr weinen.

Er stapelte gerade das dritte Ding darauf und hatte so einen kleinen stabilen Turm gebaut. Danach ruhte er und beobachtete die Fliegen die in Aufruhr geraten waren, als er ihre Brutstätten durcheinander gebracht hatte.
 

Zurecht waren sie über die rüde Störung nicht begeistert.
 

Er schlief wieder und die Übelkeit die ihn begrüßte, als er erwachte ließ ihn die Lippen zusammenpressen.

Er sah dem Lüftungsschacht entgegen.
 

Dann hievte er sich auf die Knie und steckte sich zwei Finger in den Rachen. Er erbrach Galle, würgte noch einige Zeit, doch sein Magen gab schließlich Ruhe. Die Übelkeit verschwand nach und nach.

Sein Blick suchte wieder den Lüftungsschacht, seine Rettung.
 

Er erhob sich und ging hinüber, prüfte mit einem Fuß den wackeligen Untergrund. Schnell musste er sein, das Gewicht gut verteilen, nicht zu viel Druck ausüben, wie er es gelernt hatte. Er schaffte es und seine Unterarme schoben sich über die Kante. Er zog sich hinauf und schob sich vorwärts. Der Schacht war gerade so schmal wie er selbst, nach oben hatte er nicht viel Platz, er konnte sich nicht hinknien. Also zog er sich weiter, bis er an eine Biegung kam. Seine Finger waren bereits blutig. Licht drang an die Wand vor ihm, er schob sich an sie heran und zog sich um die Kante, wo er sich seine Oberschenkel aufkratzte, er verbat sich jeden Laut und biss sich auf die Lippen.
 

Es dauerte noch etwas aber es war ein Ende in Sicht, das sich hell vor ihm erstreckte. Er schob den Kopf hindurch und erkannte eine Lagerhalle mit Kisten, auf ihnen saßen diejenigen die ihn hierhereingebracht hatten. Er schob sich soweit hinaus bis er seinen Oberkörper nach oben nehmen konnte und er sich an dem Dach des Raumes festklammern konnte. Er zog seine Beine an sich und sprang vier Meter hinunter. Das brachte die Männer dazu aufzusehen.

„Na, sieh mal einer an.“
 

„Das war so nicht geplant“, sagte einer der Größeren.
 

„Nein, war es nicht“, erwiderte einer mit einer Glatze.
 

„Und was jetzt?“
 

„Wir bringen ihn zum Boss.“
 

Der Mann, der sich als Anführer der Verrückten sah – wie Kaito sie nannte – kam zu ihm. Kaito wich bis zur Wand zurück, seine braunen Augen sahen dem Mann stur entgegen, der auf ihn zu kam als würde er ihn in Fetzen reißen wollen.

Er packte ihn an der Kehle und zog ihn auf Augenhöhe hoch.

Tränen schossen Kaito in die Augen und er versuchte die Pranken von seinem Hals zu lösen, er kämpfte um Halt. Der Mann drückte nicht seine Kehle zu, viel mehr hob er ihn an seinem Nacken und dem Unterkiefer nach oben.

„Du kleines Stück Dreck, hast es also geschafft. Gratulation.“

Er warf ihn wie einen alten Lumpen zur Seite. Kaito konnte sich abfangen und kam auf den Füßen jedoch nah am Boden zum Stillstand.

Zeige Demut, wiederholte er Worte die ihm eingetrichtert worden waren. Sein Knöchel schmerzte. Bring sie nicht gegen dich auf.

„Luxuria, hilf ihm beim waschen.“

Alle lachten und Kaito schluckte.
 

Der kleinere Mann mit der Glatze kam näher und Kaito stand auf nach einem Blick in die mitleidlosen Augen. Sie gingen in ein anderes Stockwerk, kein anderer Mensch war hier, nur sie beide. Als sie einen Waschraum erreichten, bedeutete der Mann, dass er sich unter die Dusche stellen sollte. Aber als er die Handgelenke ausstrecken sollte begann sich Kaito zu wehren. Er wollte nicht wieder gefesselt werden, der Mann war stärker und ein Schlag ins Gesicht rief ihm die Rangordnung wieder in den Sinn, als er aus der kurzen Benommenheit aufwachte stand er mit nach oben gefesselten Armen unter der Dusche, heißes Wasser rann über seine Haut und er schrie auf.

Aber es war nicht das Wasser das schmerzte sondern die Bürste, mit der seine Haut bearbeitet wurde. Er schrie als sie über seine Geschlechtsteile fuhr, als sie über seinen Hintern fuhr und seine Haut in eine Wunde verwandelte. Er schrie und schrie bis er nur mehr schluchzte. Und dann als er glaubte es nicht mehr aushalten zu können schüttete der Mann etwas darauf und Kaito erfuhr eine neue Dimension von Schmerz.

„Damit alles schön desinfiziert ist“, sagte der Mann an sein Ohr während er abgehakte, schrille Schreie von sich gab...

Er starb... er starb...
 

Die Dunkelheit erlöste ihn und nahm ihn auf in ein partielles Vergessen, in eine stete Stille wo es keine Schmerzen, keine Scham, keine Erniedrigung gab, nur die bloße Existenz.
 

Er wachte auf. Seine Augen nahmen aber keine Ziegel war sondern mit Stoff bezogene Wände, gedämpfte Farben, ein Holzboden, Ordnung, Sauberkeit, reine Luft. Finn setzte sich auf den allgegenwärtigen Schmerz ignorierend und sah sich um. Er hatte auf auf einem bequemen Sofa gelegen und die Erinnerung an die letzten Stunden - oder waren es Tage gewesen? – schienen so weit entfernt. War es wirklich geschehen?

Er fühlte etwas Glitschiges in seiner Unterhose. Blut? Er sah sich um und linste nach, ja es war alles wund und eine Salbe bildete eine Reibungshemmung für seine geschundene Haut.

Eine Tür öffnete sich und sein Herr kam herein. Er trug einen Anzug und hatte einen anderen Mann im Schlepptau. Dieser warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu.

„Wir sollten das unter vier Augen besprechen.“
 

Yoshio sah kurz auf. „Ich sehe nichts was dem entgegensprechen könnte.“

„Aber ich denke Sie haben Recht. Ich sehe mich hier dringenderen Dingen ausgesetzt, die es klären gibt. Wir verschieben den Termin um zwei Stunden.“

„Aber Sakurakawa-sama, es geht um die Transaktion der...“

Sein Herr sah den Mann an und dieser nickte einmal sich danach verbeugend. Dann ging dieser hinaus.

Es dauerte noch eine Weile bis sein Herr ihn herbeiwinkte ohne den Kopf zu heben oder seine Arbeit zu vernachlässigen.

Kaito erhob sich, trat in den freien Raum zwischen sie und kniete sich auf den Holzboden, er wollte folgsam und gelehrig sein, er wollte nie wieder in diesen Raum, er wollte nie wieder eingemauert werden.

Er wollte wirklich alles tun damit das nicht noch einmal... vorkommen musste.
 

„Du hast den Test bestanden?“
 

„Ja, mein Herr“, sagte er mit fester Stimme, auch wenn sie immer noch viel zu hell klang. Wann wurde er denn endlich ein Mann?
 

„Anders als gedacht, wie ich hörte.“
 

„Ja, mein Herr.“
 

„Warum hast du nicht abgewartet, wie all die anderen, die diesen Test absolvieren mussten?“
 

Kaito wurde unsicher, was wurde von ihm erwartet?

„Mein Herr? Mir war nicht bewusst, dass ihr erwartet habt ich würde ausharren. Ich sah die Gelegenheit und nutzte sie, wie mich meine Herrin gelehrt hat.“
 

„Was hat dich dazu getrieben einen Ausweg zu suchen?“
 

Kaito fühlte sich in Bedrängnis. Wie lange hätte er denn dort ausharren sollen? Was sollte er sagen?
 

„Antworte mir.“
 

„Hunger und Angst“, gab er kleinlaut zu. Das war nicht ganz und gar nicht gut, denn er sollte, keine Angst fühlen, keinen Hunger verspüren, das war schlecht.
 

„Hunger und Angst, soso...“, resümierte sein Herr und er hörte wie er seinen Stuhl zurück schob und sich erhob.

Er ging zum Fenster hinüber.

Kaito linste zu ihm hinüber, korrigierte aber sogleich seine Haltung und sah wieder geradeaus.

Sein Herr hatte nachdenklich ausgesehen.
 

„Wie viele Auswege hast du gefunden?“
 

„Drei, mein Herr.“
 

„Welche?“
 

„Abwarten, Fliehen, Sterben.“
 

„Du hast nicht in Erwägung gezogen zu kämpfen?“
 

„Die Menschen im Raum waren bereits tot, mein Herr.“
 

„Du bist entkommen, den Kampf jedoch hast du verloren.“
 

„Mein Herr?“
 

„Gegen deine Ängste.“
 

„Jawohl mein Herr.“ Kaito ließ sich von diesen Worten einschüchtern, aber ein kleines Stimmchen in ihm schnaubte nur und streckte diesem Mann die Zunge heraus. Er würde doch nicht mit verwesenden Leichen in einem eingemauerten Viereck bleiben, wenn es sich ergab, dass er entkommen konnte. Aber diese Stimme war klein und mickrig und verstummte sogleich wieder.
 

„Wer hat den Test gestaltet?“
 

„I...Ich weiß nicht meiner Herr.“
 

„Wie war er angeordnet?“
 

Kaito berichtete was er nach dem Aufwachen vorgefunden hatte und ließ seine Gefühle außen vor. Sein Herr mochte es nicht wenn er unsachlich wurde.
 

„Ich verstehe. Ich habe mir schon gedacht, dass es Zeit für einen Wechsel wird“, sagte er leise und Kaito verstand nicht was er meinte.

Er drehte sich um und sah ihn an. Kaito wandte nicht den Kopf aber er sah aus dem Augenwinkel wie er taxiert wurde.

„Ich biete dir einen Auftrag an. Er ist wie geschaffen für dich, nicht dein Erster, aber gewiss ein sehr wichtiger. Du hast Zeit dafür, es...“, er räusperte sich. „schadet sicher nicht, wenn du hier rauskommst. Ich entziehe dich meiner Frau für einige Zeit und du kannst beweisen was du gelernt hast. Hast du deine Studien über die PSI begonnen?“
 

„Ja mein Herr.“
 

„Gut. Der Auftrag beinhaltet das Aufspüren und Eleminieren eines mächtigen PSI. Er sollte etwa in deinem Alter sein, wir sind uns jedoch nicht sicher ob unsere Informationen richtig sind. Er steht noch am Anfang daher sei unbesorgt, sobald du ihn ausfindig gemacht hast, wird es ein Kinderspiel für dich werden ihn auszuschalten. Wir besorgen dir eine passende Identität, meine Frau wird dich unterstützen.
 

Kaito nickte. „Ja, mein Herr.“
 

„Wenn du es schaffst bekommst du die Prämie, die ich dafür aussetze, du allein. Du könntest mit einem Schlag deine Freiheit erkaufen. Viele die diesen Weg einschlugen sind noch hier oder aber sie jagen auf eigene Faust. Du kannst frei entscheiden, was du damit machst. Du bist jung und wir könnten dich noch viel lehren, aber du entscheidest, das ist vertraglich so festgelegt, ich werde und muss mich daran halten, gemäß den alten Regeln.“
 

Kaito sah auf als er...
 

Etwas klingelte und Schuldig ließ sich zurücktreiben in seine eigenen Erinnerungen mit Ran. Ran der ihn umarmte, Ran der die Suppe nicht Essen wollte, Ran der wütend auf ihn war, Ran der...

Als Schuldig sich sicher fühlte glitt er in einen Halbschlaf hinüber und erwachte schließlich.

Er hustete und schob das Kissen etwas zur Seite. Diese frevelhafte Tat brachte ihm ein Knurren ein. Langsam öffnete er die Augen und stützte sich auf die Ellbogen auf. Sein Mobiltelefon klingelte. Das Licht war an, wie ihm gerade auffiel und Banshee stromerte zwischen ihnen herum. Was war los? Konnte Ran nicht schlafen?

Er griff zu dem surrenden Telefon und nahm ab. Brad schallte ihm gar schlecht gelaunt entgegen und Schuldig wischte sich immer noch den Schlaf aus den Augen. Er gähnte herzhaft und wurde dafür natürlich sogleich gerügt. Dann legte er auf.

„Asugawa ist abgehauen“, Schuldig gähnte wieder. Gott, war er fertig. Er lag da und starrte an die Decke.
 

„Schuldig“, sagte Ran und Schuldig drehte den Kopf zur Seite, Ran sah ihn forschend an. „Ist alles in Ordnung?

„Mmh, ja sicher, nur müde, warum?“

„Du hast geträumt“, fing Ran vorsichtig an.

„Hab ich was gesagt?“

„Das nicht“, Ran setzte sich auf.

„Aber?“ Hatte er sich komisch benommen? Er hatte den Horrorthriller doch weggepackt und sich den Abspann angesehen damit er nicht aus eben jenem heraus in das hier und jetzt rutschte. Denn dann hätte er mit Sicherheit etwas davon mitgebracht.

„Wir haben auch geträumt“, sagte Ran mühsam seine Wut unterdrückend, denn das war das Beste was Ran sagen konnte ohne ihn anzuschreien.

„Was?“

„Der Keller, die Ziegelsteine, die Leichen, die Fliegen... der Junge...“, Ran schüttelte den Kopf.

Schuldig setzte sich auf und schoss aus dem Bett, er begann auf und ab zu laufen. Oh, das war Scheiße... so scheiße...

„Wer alles?“

„Alle im Haus.“ Sie schwiegen eine lange Zeit und Schuldig kaute auf seiner Unterlippe herum. Warum war das passiert?

„Lebt er noch?“

„Wer?“ Schuldig blieb stehen.

„Der Junge.“

Schuldig runzelte die Stirn. „Ja, klar... denke ich, wer weiß schon wo er sich herumtreibt, der alte Stromer.“

„Wer ist es?“

„Na...“, Schuldig atmete tief ein und fuhr sich die Haare aus dem Gesicht. „Das solltet ihr gar nicht erfahren, keiner von euch. Ich denke nicht dass er das will.“

„Wer?“

„Asugawa.“
 

„Wer hat das mit ihm gemacht?“
 

„Ich war gerade dabei es herauszufinden, aber es schien als hätte Yoshio weniger damit zu tun. Kaito hat damals nicht viel mitbekommen über das große Ganze. Er war ja nur ein kleiner Spielball, der von einem zum anderen geworfen wurde.

Wer auch immer, die alte Truppe von Sin hat es ausgeführt, kann auch sein, dass sie es selbstständig taten.“

„Egal wer es getan hat ich will ihn tot sehen“, sagte Ran und Schuldig sah auf, seine Augen trafen auf Rans, die ihm klar entgegenblickten.

„Lässt sich sicher einrichten. Aber jetzt kümmern wir uns erst einmal um einen angepissten Hellseher, der von seinem Gefangenen vorgeführt und gedemütigt worden ist.“
 

Ran hob die Brauen.
 

Sie standen beide auf und kurz darauf klingelte erneut das Telefon. Brad hatte keine guten Neuigkeiten und Schuldig schwante Übles. Sie packten zusammen und alle fuhren zu Brad, das würde eine lange Nacht werden und für einen von Ihnen – für denjenigen unter ihnen der bisher das Meiste hatte einstecken müssen – würde es eine finstere Nacht werden.
 

o
 


 

Finn saß erneut vor dem Spiegel und wurde gerade darüber befragt woher er die schlimmen Schrammen im Gesicht hatte die ein ordentliches Make-up schier unmöglich machten.

Es wurde keine Antwort erwartet also musste er sich auch keine zurechtzimmern. Seine Gedanken kreisten während des gesamten Aufputzes um sein Vorhaben, das ihm mehr und mehr hirnrissiger erschien. Er hätte einen anderen Ort auswählen müssen, aber auf die Schnelle... wo hätten sie sich treffen können ohne dass Kiguchi in Gefahr geraten wäre? Ein verlassenes Lagerhaus wäre sicher abgeschiedener gewesen, aber der Clan hätte gerochen, dass es sich um ein Treffen mit jemandem handeln könnte. So hatte Kiguchi eine gute Ausrede und Gula hatte nach ihrem letzten Besuch sicher keine weiteren Verdachtsmomente schöpfen können. Schließlich hatte sie die Hure gesehen mit der sich Kiguchi das letzte Mal getroffen hatte.

Trotzdem es gefiel ihm nicht, er war unruhig und wusste nicht warum. Vielleicht das fehlende Serum, beschied er sich eine Ausrede.

Er musste mit Kiguchi eine Auswegstrategie für planen, am Besten heute noch. Gabriel hin oder her, aber es wurde zu gefährlich für den Großen.

Und ihm selbst waren eindeutig zu viele Arschlöcher auf den Fersen als dass er so frei agieren konnte wie er gern gewollt hätte. Und das einzige Arschloch dem er selbst auf den Fersen war hing gerade in Fesseln in seiner eigenen Wohnung und würde ihm wohl die Gedärme aus dem Leib reißen wenn er zurückkam.

Und zurück musste er, ob er wollte oder nicht. Das Serum war dort und es gab noch zu viel zu tun als dass er sich der Bestrafung des Orakels nicht aussetzen konnte. Wenn er sich beeilte konnte er in einer Stunde wieder zurück sein und Brad würde vielleicht nicht ganz so wütend sein wie er glaubte oder befürchtete.
 

Finn erging sich in diverser unschöner möglicher Bestrafungsmethoden und ihm wurde ganz anders dabei. Angst spielte dabei eine große Rolle und ohne das Serum viel es ihm schwer ihrer rational Herr zu werden. Vor allem wenn die Bedrohung so real war. Er warf im Spiegel einen Blick nach hinten und sah der Frau dabei zu wie sie ihm die Perücke glättete.
 

Dieses Mal durfte er einen dunklen Kimono tragen und eine Perücke die seidenweich an ihm herabfiel. Keine kunstvolle Hochsteckfrisur, trotzdem ohne ein paar Haarnadeln ging auch hier das Aufputzen nicht von statten. Alles in allem sah das Ergebnis vorzeigbar und vor allem sehr anregend aus.

Sich zwei Mal am gleichen Ort zu treffen war nicht gerade einer seiner schlauesten Ideen bisher gewesen, doch der Mangel an Zeit war der fruchtbare Nährboden für risikoreiche Aktionen.

Er trat in den Flur hinaus und ging nach hinten in das Zimmer dass sie ihm wies. Dort erschrak er leicht als Kiguchi bereits auf ihn wartete. „Na endlich“, verkündete der Hüne und zog ihn an sich. Er besah ihn sich genau von oben nach unten, drehte sein Gesicht mehr ins Licht und fixierte die zerschrammte Gesichtshälfte. „Wer war das?“
 

„Lass dich von dem hübschen Gesicht und der aparten Gestalt nicht täuschen, ich bin kein Mädchen“, gab Finn sarkastisch zurück. Warum benahm sich Kiguchi so nervös, das war unüblich für seinen Halbbruder.
 

„Warum bist du schon hier?“
 

„Wir müssen weg, sie sind mir gefolgt, ich bin mir aber sicher, dass sie mich hier noch nicht gesehen haben.“
 

„Wer?“
 

„Unsere EX-Kollegen.“
 

„Scheiße.“ Finn brach der Schweiß aus. Er spürte wie die Angst seinen Magen zu einem harten Klumpen formte.

Für einen Moment verfluchte er die Tatsache, dass er sich nicht dafür entschieden hatte eine Ration des Serums zu spritzen. Mit dem Serum in sich war er wesentlich unempfindlicher gegen diese Art von emotionalen Überraschungen.
 

Kiguchi ließ ihn los und Finn öffnete die Tür einen Spalt breit um hinaus zu linsen. Der Flur war frei an der Rezeption saß niemand. Er gab ihm ein Zeichen und sie gingen zügig den Flur entlang, öffneten die Außentür und verschwanden lautlos aus dem Etablissement.
 

„Aufzug“, sagte Finn und sie gesellten sich zu den paar wartenden Menschen, blieben aber außer Hörweite der anderen. Falls ihre Verfolger hier hochkamen würden sie den Teufel tun und sie sofort angreifen, das würde zu viele Fragen aufwerfen. Zumindest hoffte Finn darauf, dass sie nicht so verzweifelt waren. Als alle bis auf sie beide im Restaurant auf der obersten Ebene ausstiegen und sie nach unten fahren konnten wandte sich Finn Kiguchi zu.

„Wie nahe?“
 

„Ich konnte sie entdecken als ich ins Gebäude rein bin. Sicherer wäre es gewesen, wenn ich gar nicht erst hier rauf wäre, aber ich war mir in einem Punkt nicht klar: ob sie hinter dir oder mir her waren. Ich bin mir nämlich sehr sicher darüber, dass sie mir nicht vom Anwesen aus gefolgt sind. Das lässt den Schluss zu, dass sie von dir und deinem kleinen amourösen Treffpunkt wissen. Die Frage ist nur wieso.“
 

Finn schob diese lästige Frage tatsächlich beiseite. Vielleicht hatte er der Chefin des Etablissements nicht genug bezahlt. Was auch immer, es spielte keine Rolle mehr.

„Was tut sich beim Clan? Warum kontaktiert mich Chiyo nicht mehr?“, fragte Finn rasch um an die Informationen zu gelangen, bevor sie nicht mehr dazu kommen würden wenn sie getrennt wurden.
 

„Sie spielt das Spielchen mit dass du tot bist. Davon abgesehen hat sie sich abgesetzt.“
 

„Was?“, entfuhr es Finn und sein Blick ruckte von der Anzeigetafel hin zu Kiguchi. Chiyo spielte also das Spielchen mit. Das hatte nur eins zu bedeuten, dass Kiguchi nicht der Meinung war, das Chiyo ihm sein Toter-Mann-Nummer abgekauft hatte.
 

„Sie ist von einem Tag auf den anderen trotz Bewachung abgehauen. Am Abend war sie noch in ihren Räumen und am nächsten Morgen verschwunden. Zudem hat sie den Jungen mitgenommen. Die Labormitarbeiter die ihn bewacht haben hat sie kalt gemacht. Sie hat’s immer noch drauf, die alte Chiyo. Und bevor du fragst: Nein es war ihre Handschrift, ich denke nicht, dass sie Hilfe von außen hatte.“
 

„Dann hat sie den Jungen jetzt.“
 

„Sieht so aus. Yoshijo hat getobt.“
 

„Hört sich danach an, als hätten wir jetzt ein Problem weniger“, sinnierte Finn in düstere Gedanken verstrickt. Wo war Chiyo jetzt? Mit Manx zusammen? Was plante sie? In der Lobby hakte sich Finn aufgrund seines labilen Schuhwerks bei Kiguchi unter. Sie blieben stehen als Finn Gula entdeckte die sich gerade in ihre Richtung bewegte, sie aber noch nicht bemerkt hatte.

„Zurück. Hinten raus.“
 

Kiguchi drehte sich um und sie gingen zügig aber unauffällig zurück zu den Aufzügen und weiter zu den Notausgängen wo ihnen Luxuria entgegenkam. Finn zog Kiguchi in einen Seitengang und stieß dort die Treppe auf. Er entledigte sich seiner Gettas samt der Socken und warf sie das Treppenhaus hinunter um nicht sofort eine Spur zu ihnen zu legen. Sie liefen die Stufen nach unten.

Der Kimono war wirklich keine Hilfe dabei, aber seine Kleidung zum Wechseln war noch im Bordell. Er hatte zumindest seine Stillette dabei, mehr hatte er nicht anzulegen gewagt.
 

Sie waren auf der untersten Ebene des Komplexes angekommen als Finn die Tür zwei Stockwerke weiter oben sich öffnen hörte. Beide verharrten und starrten sich an. Auf Kiguchis Gesicht konnte Finn den ernst der Lage erkennen, es war angespannt und ein dünner Schweißfilm hatte sich auf seine Haut gelegt. Die Zeit schien sich auszudehnen bis sie sich gleichzeitig in Bewegung setzten. Sie rannten durch die Kellerkorridore in der die Heizungstechnik verlief. Dicke Rohre flankierten ihren Fluchtweg. Finn hatte diesen Weg eingehend studiert als er Asamis Gebäude für seine Treffen mit Kiguchi ausgewählt hatte. Der Gang war lang, schlecht beleuchtet und stickig. Sie rannten ihn mitsamt Verfolger entlang, der ihnen zuschrie sie sollten stehen bleiben. Hatte Luxuria zu viel von dem Serum genommen, dass er glaubte sie würden auf ihn hören?

Plötzlich versperrte Finn ein Schatten den Weg der sich vor den Ausgang stellte. Gula. Er war nicht der Einzige der seine Hausaufgaben gemacht hatte.

Abrupt blieb er stehen und versuchte sich zu sammeln. Wo war Kiguchi? Er sah sich rasch um. Kiguchi wähnte sich der Mündung einer geladenen Pistole ausgesetzt.
 

Finn schob seinen Kimono soweit auseinander dass er mehr Beinfreiheit besaß und zog seine Waffen. Gula brachte sich in Pose als würde sie einen Werbespot für ein neues In-Getränk drehen und hielt sich die Hand vor den Mund als sie kicherte.

„Wusste ich doch, dass ihr Zwei zusammen arbeitet und dass unser kleiner Stratege nicht tot ist.“ Gula lächelte süß und Finn wurde schlecht. Der emetischen Wirkung dieses Lächelns konnte er sich nicht entziehen.

„Geh uns aus dem Weg“, sagte Finn ruhiger als er sich fühlte.

Sie tippte mit einem Finger an ihre rosa Lippen und zog einen Schmollmund als müsse sie es sich wirklich scharf überlegen ob sie seinem Wunsch nachkommen wollte – oder sollte.

„Tolle Show, Gula. Bist du deinem Klein-Mädchen-Image so sehr verfallen, dass es dir noch nicht aufgefallen ist wie bescheuert es auf andere wirkt?“ Wenn er sie wütend machte hatte er vielleicht eine Chance, dass sie Fehler beging.

Sie legte den Kopf schief, sodass ihre Zöpfe wippten. Es hatte etwas Unwirkliches an sich, es war zu ruckartig, zu unmenschlich – sie war weit im toxischen Bereich angekommen wie es ihm schien.

Hier war mit gutem Zureden nichts mehr zu machen.

Finn drehte beide Klingen sodass sie nach hinten zeigten. Seine blanken Füße schabten über den betonierten Boden als er seinen Stand korrigierte.
 

Sie nahm beide Arme auf den Rücken und wippte auf den Fersen auf und ab. Je kindlicher sie sich verhielt, desto unberechenbarer wurde sie, desto sprunghafter ihre Gedankengänge und umso gefährlicher ihre Handlungen.

„Du gefällst mir in dieser Kleidung.“ Gula sah ihn mit einem gierigen Blick an, kroch damit über seinen Körper und verhielt zwischen seinen Schenkeln, die nun zum Teil sehr viel Haut zeigten. Er ließ sie nicht aus den Augen, registrierte jede noch so kleine Bewegung die einen möglichen Angriff voraussagen konnten. Denn wenn Gula angriff tat sie es schnell. Und er war sich nicht sicher ob er seinerseits schnell genug war um ihr auszuweichen. Sein Körper lief noch nicht ganz rund .

„Warum habe ich das noch nie an dir bemerkt?“, sinnierte sie als wären sie nicht in diesem Keller und würden in wenigen Augenblicken aufeinander losgehen um sich kalt zu machen.
 

„Du meinst wir hätten ein schönes Paar abgegeben?“, fragte Finn spöttisch nach. Ihr Blick verhielt weiter zwischen seinen frei gelegten Oberschenkeln, zum Glück war der Rest durch einen kleinen Teil des Stoffes verborgen.
 

„Oh, wir sind doch ein Paar!“, behauptete sie und sah von seiner nackten Haut nach oben, streifte sein Gesicht, kehrte zurück zur nackten Haut nur um ihm dann konsterniert in die Augen zu blicken. „Deshalb bin ich doch hier. Ich will dich zurück zu mir holen. Siehst du das nicht?“
 

War das ihr ernst? „Sind bei dir ein paar Sicherungen durchgebrannt...?“, fragte er und schüttelte langsam den Kopf. Er sah ihre Körperhaltung sich verändern, sie würde angreifen.
 

Es gab keinen Ausweg hier. Nur der lange Gang - auf der einen Seite die Rohre auf der anderen Seite eine Mauer. Luxuria kam näher. „Geh zur Seite Acedia. Wir befassen uns später mit dir.“
 

„Wenn du zu ihm willst musst du erst an mir vorbei“, sagte Kiguchi leise und rannte auf Luxuria zu. Finn hörte die Schüsse und Tränen traten ihm in die Augen als er seinerseits Gula angriff. Sie hatte keine Schusswaffe – sie fand es zu profan, nicht nah genug am Objekt - am Opfer - wie sie stets ihre Abneigung gegen Schusswaffen begründet hatte.

Sie war eine harte Gegnerin, ihre Sprungtechnik glich seiner, nur war hier wenig Platz dafür, ihre Schnelligkeit seiner gleich. Sie verhakten sich ineinander und schrammten an der Wand entlang. Er hatte ihren Dolch mit seinem Stilett zur Seite gedrängt da er mehr Kraft besaß. Sie stieß sich von ihm ab und tauchte unter seinem nächsten Angriff vorbei. Ein gezielter Sprung von ihr und er musste in die Defensive gehen um ihn zu blocken was ihn trotz allem nach hinten warf wo er sich mit einem federnden Sprung aus ihrer Reichweite brachte. Es war ein schneller hitziger Kampf bis er einen Fehler beging und zu Kiguchi blickte der sich augenscheinlich verletzt zu der Wand kämpfte. Ein Tritt warf ihn um und er war sogleich mit Gula konfrontiert die ihren Dolch an seine Kehle setzte. Sein Hass wurde in seinen Augen sichtbar, als sie keuchend lächelte. „Keine Angst ich töte dich nicht sofort, du bist mir zu wertvoll dafür. Ich halte dich als Haustier mit einer hübschen Kette. Keiner weiß dass du noch lebst, keiner interessiert sich für dich...“
 

„Nur für dich auch nicht mehr... Püppchen“, sagte er ruhig und schob ihr langsam sein Stilett seitlich zwischen den Rippen hindurch in den Brustkorb.

Sie keuchte und ihre Augen wurden groß. In ihrer unglaublichen Arroganz war das Erstaunen über seinen Frevel größer als die momentane Vergeltung. Das Messer an seiner Kehle drang nur schwach in seine Haut ein bevor sie die Kraft verlor und die Atemnot größer wurde als der Wille ihn zu töten. Er zog das Stilett wieder heraus und trat sie von sich. Roten Schaum hustend versuchte sie sich aufzusetzen. Feine Sprenkel benetzen wie ein Sprühregen sein Gesicht und er hörte wie sie, pfeifend und schäumend, versuchte Luft zu holen. Sie schien immer weniger davon zu bekommen. Finn kümmerte sich nicht um sie sondern stand auf, und rannte den Gang zurück zu Kiguchi. In dem fahlen Licht sah sein Gesicht grau aus. Er schlug die Augen auf als Finn ihn ansprach.

„Geh. Du... musst gehen.“ Finn wandte sich wieder zu Gula um, die röchelnd nach vorne gebeugt da saß und zu ihnen sah. Sie lebte noch. Schade eigentlich.
 

Kiguchis Worte rissen seine Aufmerksamkeit von der vermeintlich Sterbenden.

„Nein. Ich schaff dich zu Vater. Er wird dir helfen.“ Wo war sein Mobiltelefon? Er kramte danach. Kein Netz. Sicher sie waren viel zu weit unten.
 

„Das kann er nicht mehr.“
 

„Doch kann er. Er kann alles“, sagte Finn im festen Glauben daran und bemerkte nicht wie ihm haltlos die Tränen über die Wangen liefen.

Dieses verdammte Serum, fluchte er lautlos. Er war nicht mehr weit genug im Wirkbereich, daran zu erkennen wie emotional er reagierte. Derart offen gezeigte Gefühle halfen ihm hier nicht weiter, sie überschwemmten ihn, drohten ihn zu überwältigen und machten ihn handlungsunfähig. Seine Stimmung kippte viel zu schnell.
 

„Wie viele?“
 

„Vier mal hat er mich... erwischt.“
 

Alle Treffer gingen in den Bauchraum. Ein potentiell langsamer qualvoller Tod, wenn kein großes Gefäß erwischt wurde. „Los, steh auf ich helfe dir“, sagte Finn. „LOS, mach schon“, trieb er ihn an, doch Kiguchi sah ihn nur ausdruckslos an und machte keinerlei Anstalten sich in irgendeiner Weise zu bewegen. Es sah aus, als würde ihm, selbst das Atmen schon über Gebühr beanspruchen.
 

„Nein, mein Weg endet hier kleiner Bruder.“
 

„Nein. NEIN“, außer sich vor Zorn starrte Finn Kiguchi mit weit aufgerissenen Augen an. „Nein, das wird er nicht.“
 

Kiguchi hob die Hand und keuchte matt, da selbst diese Geste anstrengend für ihn schien. Er erbrach Blut im selben Moment. Finn sah sich um... irgendjemand musste doch...

Außer Gula, die gurgelnde Geräusche machte während sie in ihre Richtung kroch war niemand hier, der helfen konnte. Wie eine Schlange die sich noch im Todeskampf um sein Bein wickeln wollte als letzten bösartigen Racheakt.
 

Kiguchi richtete sich wieder auf. „Hör mir zu“, sagte er mit kraftloser Stimme, die immer noch so klang als würde Flüssigkeit in seiner Kehle nach oben steigen.
 

„Du kannst es mir später erzählen...“, fing Finn wieder an.
 

„Du Dummkopf. Ich sterbe... und du willst... nicht hören was ich zu sagen... habe?“, sagte Kiguchi mühsam und lehnte seinen Kopf an die Wand. Ein wissendes Lächeln kroch auf seine Lippen.
 

Finn glaubte wahnsinnig zu werden. Er kniete im Blut seines Bruders und konnte ihn nicht retten. „Was ist... ich ... ich höre dir zu“, krächzte er und die Verzweiflung die sich in seinem gesamte Körper manifestiert hatte kroch nun auch in seine Stimme, wie die Schlange, die sich ihnen unaufhörlich blutigen Speichel spritzend näherte.
 

„Sag Vater und Hisoka dass ich sie liebe. Dass ich meinen Schwur bis zum heutigen Tage erfüllt habe. Sie wollen das Ryokan morgen Nacht angreifen. Eine Sektion plus Gula... und Superbia. Sie sollen den Einsatz leiten... Luxuria war für mich abkommandiert worden. Wir sollten...“, er hustete qualvoll. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis er die Kraft fand um weiter zu sprechen. „... wir sollten die Neuzugänge am Pier sichten. Die neue... Lieferung... sie kommt in drei Tagen an.“
 

„Ich bring dich hier weg“, rief Finn entschlossen auf.
 

„Kleiner Bruder ich bin innerlich zerfetzt. Wenn mich die Kugeln nicht umbringen wird es das Organversagen später tun. Du weißt das. Wir haben es zu oft gesehen um jetzt die Augen davor...“ Er übergab sich wieder, das Blut füllte zu schnell seinen Magen. „davor zu verschließen. Außerdem... geben sie mir seit Wochen kein Serum mehr, ich bin auf dem Trockenen. Superbia... ich weiß, dass er..., dass er einen Versuch gestartet hat mich zu... lesen, aber er ist stümperhaft... vorgegangen, sodass ich es bemerkt hab... Hab ihn rausgeschmissen, wie die alte Chiyo es uns beigebracht hat...“ Er lachte trostlos auf. „Hatte was Gutes... irgendwie. Hat funktioniert.“ Er sah Finn an, versuchte seinen Blick zu fokussieren, scheiterte aber, wie es aussah als er wiederholt blinzelte. „Geh... geh endlich. Es ist nur eine Frage der Zeit...“
 

Finns Kopf ruckte herum als er ein Geräusch hörte und wenig später in einiger Entfernung die Tür aufgestoßen wurde. Er erstarrte als er Superbia dort stehen sah. Selbst aus dieser Entfernung konnte er das gelangweilte spöttische Lächeln erkennen.
 

„Verschwinde, kleiner Bruder. Es wird Zeit... Zeit mich gehen zu lassen. Gib mir das Ding.“ Er sah auf die Halbautomatik neben Finn.
 

Dieser zögerte kurz, tat dann wie ihm geheißen wurde und reichte Hisoka die Waffe, betäubt von seiner Angst und Verzweiflung.
 

„Er wird dich lesen“, keuchte Finn. Und ihn selbst auch wenn er hier nicht wegkam. Aber vielleicht war das hier sein Ende. Vielleicht sollte er hier mit Kiguchi zusammen sterben.
 

„Er ist nicht gut genug... aber wenn ich schwach genug bin...“ Er sah Finn aufmerksam an. „Denk nicht einmal daran. Was ist mit Crawford? Du lässt ihn im Stich?“, appellierte Kiguchi an sein Gewissen etwas das Finns Aufmerksamkeit auf das Wesentliche lenkte.

„Geh endlich. Ich liebe dich, kleiner Bruder.“
 

Superbia kam näher und Finn presste seine Hände in Kiguchis Hemd, klammerte sich ein letztes Mal an ihn, an seinen Fels, bevor er davon abrutschte und die tosende See ihn mitnahm. „Ich will das nicht, das weißt du. Ich...l...“ Er presste seine Stirn an die seines Bruders.
 

„Das weiß ich, habe ich immer gewusst. Nun geh und lass mich noch etwas hier für dich tun.“ Kiguchi lächelte träge.

„Ich verschaffe dir die Sicherheit die du brauchst.“
 

Finn riss sich los und rannte davon. Er würde Superbia etwas beschäftigten, vielleicht sogar einen Treffer versenken, damit Finn ent...

Noch während dieser Gedanke aufkeimte hörte er auf halber Strecke einen Schuss und wandte sich noch im Laufen um. Der Körper seines Bruders war in sich zusammengesackt, die Hand mit der Waffe zur Seite gesunken.
 

Superbia hatte seine Schritte beschleunigt, und Finn stürzte durch die Tür in einen Korridor der zu einem Treppenhaus führte. Er rannte hinein, nahm die nächste Tür nicht zum Treppenaufgang sondern durch ein weiteres verzweigtes Tunnelsystem das ihn zur anderen Seite des Komplexes führen würde. Dort angekommen stieß er die Tür auf und hetzte die Treppe nach oben. Sie führte ihn an eine Glastür und von dort aus über eine Fluchttür ins Freie. Das Öffnen selbiger würde zwar den Alarm auslösen aber das war ihm gerade herzlich egal. Als er auf die öffentliche Straße kam und sich den Menschen gegenübersah die ihn ansahen vermied er es zu rennen und überquerte zügig die Straße, schlüpfte in die nächste Seitenstraße.
 

Dort legte er eine Pause ein und sah sich um. Sein keuchender Atem prallte von der Hauswand ab, zeigte ihm wie derangiert er war, wie gejagt. Superbia kam erst nach einigen Minuten ins Freie sah sich flüchtig um und ging dann wieder zurück. Er verfolgte ihn nicht, suchte nicht in den Köpfen der Menschen nach einem der ihn gesehen haben könnte. Warum nicht? Finn schüttelte den Kopf, lehnte sich an die Wand an und atmete für den Moment auf. Erst nach Minuten machte er sich auf den Weg. Wohin...? Wo sollte er jetzt hin?

Finn hielt sich in den Schatten, nahm Seitenstraßen, aber das war ein Weg ohne Ziel.

Zunächst lief er ziellos herum, versuchte seine Gedanken zu sortieren, wo waren seine Sachen? In der Wohnung. Nein, bei...

Er brauchte das Serum, deshalb musste er zurück zu Brad.
 

Sein Herz war schwer als er durch die Straßen ging. Die Verzweiflung wollte ihn schreien lassen, aber nichts kam ihm über die Lippen. Er musste ruhig bleiben, im Verborgenen für Crawford und nur für ihn. Im Augenblick hatte er mehr und mehr das Gefühl, dass sein Selbst zerfaserte.
 

Er fühlte sich wie in Watte gepackt, sein Kiguchi war weg. Er war gegangen und nun war er... allein. Er war vollkommen allein, niemand stand ihm mehr zur Seite. Er hatte das die vergangenen Jahre viel zu wenig geschätzt, wie ihm auffiel.

Vielleicht war das nur eine Finte von Kiguchi gewesen und er hatte seinen Tod vorgetäuscht...
 

Finn sah kaum auf den Boden vor sich den er barfuß beschritt. Die Socken hatte er ausgezogen um besseren Halt in den Gängen zu haben, wie er sich erinnerte als er sich fragte warum seine Füße nackt und voller Blut waren.
 


 


 

...und es geht wieder weiter!
 


 

Vielen Dank fürs Lesen!

Bis zum nächsten Mal

(Dieser Teil ist nicht beta gelesen)

Gadreel ^_^

Graue Eminenz

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Bad Feeling

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Resistance

Resistance
 

Brads Versuch ein paar Stunden zu schlafen war nur marginal von Erfolg gekrönt. Entsprechend gerädert fühlte er sich als ihn ein störendes Gefühl im Gesicht weckte.

Er wischte es weg, was jedoch wenig erfolgreich schien, da es wieder kehrte. Die Augen öffnend sah er gerade noch Banshees Schnurrhaare wie sie an seiner Nase vorbei nach oben tapste um sich ein bequemes Plätzchen über seinem Kopf zu suchen.

Wie zum Teufel war das unnütze Tier hier her gekommen? Türen öffnen konnte sie seines Wissens nicht. Er richtete sich auf einen Ellbogen auf und strich ihr sanft über den Kopf, was ihr zu gefallen schien. „Wer hat dir dieses Kunststück beigebracht?“ Er nahm sie hoch, setzte sich mit ihr auf und beschäftigte sich einige Augenblicke damit sie zu kraulen.

Es war stickig und schwül im Raum, er hatte nicht daran gedacht die Klimaanlage des Hauses wieder einzuschalten. Nagi kümmerte sich um die Systeme des Hauses. Da Nagi nun ausfiel, sollte er sich selbst darum kümmern.

Was er nicht getan hatte.

Banshees beruhigende Gegenwart genießend gönnte er sich diesen entspannenden Augenblick bis er aufstand um sie vor die Tür zu setzen. Irgendwie kam es ihm so vor als würde sie ihn vorwurfsvoll anblicken.

„Mein Haus, meine Regeln, Kitty“, eröffnete er ihr um seine frevelhafte Tat zu rechtfertigen, was sie nicht im Mindesten zu interessieren schien, sie setzte sich und sah ihn unbeeindruckt an.

Jetzt wurde schon die Katze ihm gegenüber aufmüpfig. Aber wie sollte dieses Tier Respekt vor ihm haben wenn sie von Schuldig und Fujimiya auf Rebellion und Meuterei getrimmt worden war? Wo sollte das enden?

Mitleidlos schloss er die Tür von innen und wähnte sich nunmehr allein.
 

Mit einem amüsierten Schmunzeln über seine eigenen Gedanken ging er wieder zum Bett, dort wurde er auf einen Schatten aufmerksam, der halb verdeckt vom Bett in der Ecke am Fenster saß. Er ging näher und erkannte Asugawa mit der Waffe im Schoss augenscheinlich tief schlafend.

„Du hast sie herein gelassen“, sagte er und bezog es nicht auf den Schlafenden sondern auf die Person die gleich sein Zimmer entern würde.

Als er so dastand und erwog Asugawa aus seinem Zimmer zu werfen, öffnete sich die Tür und Jei tauchte hinter ihm auf. Brad brauchte sich nicht umzudrehen um den Geruch von Farbe zu interpretieren und sie einer Person zuzuordnen. Davon abgesehen, dass er ihn ohnehin schon hatte... kommen sehen.

„Jei? Ich will das Tier nicht in meiner Nähe haben.“

„Sie mag dich.“

„Das ist nicht mein Problem.“
 

„Sie wollte trösten. Es gefällt ihr nicht wenn ein Herz bricht.“

Jei wandte sich ab und ging zur Tür um nach wie vor mit der Katze konfrontiert zu sein. Banshee wartete auf ihn ungewöhnlich folgsam für eine Katze. Jei legte den Kopf schief. Nun sie war keine gewöhnliche Katze musste er zugeben. Schließlich lebte sie in ihrem Haushalt!

Seine Aufmerksamkeit wurde von Banshee abgelenkt als er Crawfords Worte hörte.
 

„Es ist mir völlig egal ob sein Herz bricht“, sagte Brad und Wut vibrierte zwischen den Worten. Er zweifelte Jeis Interpretation der Situation nicht an, diese pathetischen Worte kamen von Jei, einem Empathen. Aber was kümmerten sie ihn?
 

Jei wandte den Kopf leicht und er sah nur das Profil im Gegenschein des Lichts auf dem Flur. „Wer spricht von seinem?“ Dann schloss sich die Tür leise und Brad stand im Dunkeln.
 

Er hielt einen Moment inne. Jei war kein Lügner, er würde dieses ethische Problem eher umgehen indem er ihm keine konkrete oder lediglich eine unvollständige Antwort gab.

Brad ging um das Bett herum.
 

„Ich will es nicht... “, flüsterte er zu dem Schlafenden und die Dringlichkeit dieser Worte ließ ihn erneut zögern. Jahrelang hatte er gewusst was zu tun war, wohin der Weg führen würde. Nun schien diese illusionäre Sicherheit zu schwinden und er wurde unsicher auf dem Weg den er für sie eingeschlagen hatte. Viele Unwägbarkeiten kamen in letzter Zeit hinzu, die Visionen waren vielfältiger geworden, schwieriger einzuschätzen und noch kannte er nicht alle Gegebenheiten. Wie sollte er da eine Einschätzung vornehmen können um sie alle zu schützen?

Und jetzt noch einer mehr, den er in seine Einschätzung aufnehmen sollte? Einer der ihn dazu zwingen wollte, mit allem was er war, mit seinem ganzen Wesen...?
 

Falls er Schuldig glauben schenken wollte.

Schuldig hatte zudem den Vorschlag unterbreitet, dass sie aus der Deckung kommen sollten. Nur was war die Konsequenz daraus? Einen Totalausfall wie Nagi ihn hingelegt hatte? Ihre Fähigkeiten waren instabil, weniger gut geschult, weniger kontrolliert als sie allen glauben machen wollten. Nachdem sie SZ vernichtet hatten waren sie in kurzen Abständen anderen PSI begegnet, allesamt waren ihre Fähigkeiten zwar schwächer, aber sie hatten sie besser im Griff und sie waren flexibler und versierter in ihrer Anwendung.
 

Er näherte sich ihm wieder, kniete sich hin und hob den zur Seite gesunkenen Kopf an. Die Lippen öffneten sich, die Augen blieben geschlossen. Brad konnte sich kaum von diesem Bild losreißen. Hingebungsvoll, verletzlich, erotisch... dennoch für einen Attentäter, einen intriganten Spion, der stets auf der Hut sein sollte ein unnatürlich tiefer Schlaf.

‚Schuldig’, hegte Brad einen Verdacht in den stillen Äther hinein.

‚Jepp, zur Stelle!’, antwortete dieser eilfertig - eine Spur zu beflissen für Brads Geschmack. Was die Vermutung nahe legte, dass Schuldig sich bereits in seinen Gedanken aufgehalten hatte.

‚Du brichst die Vereinbarung, die wir getroffen haben bezüglich des Aufenthaltes in meinen Gedanken.‘

‚Ich war nur um dein Wohl besorgt.‘

Brad bezweifelte das, ließ es jedoch für den Moment gut sein. Neugierde war wohl eher der Beweggrund. Zu gegebener Zeit würde er darauf zurückkommen.

‚Was ist mit ihm, er wacht nicht auf.’

‚Oha höre ich da Besorgnis...?’

‚Treibs nicht zu weit...’, grimmte Brad und spürte einen Hauch von Resignation in sich aufkommen. Die Zeit... in der er Schuldig dafür sanktionieren konnte wenn er ihn ärgerte war leider vorbei. Er hatte diese befriedigende Verantwortung an Fujimiya abgetreten, was ihm geblieben war, waren simple Worte der Warnung, die ihre Schärfe verloren hatten. Wann war das passiert?

Seit ihre beider Vergangenheit mit Kitamura ans Licht gekommen war, gab er sich selbst die Antwort.
 

‚Ich hab ihn schlafen geschickt, er war fertig und er wollte nicht schlafen solange Euer Hochwohlgeboren noch schläft, damit Eure Eminenz nicht von einem Attentäter gemeuchelt wird.‘

‚Das ganze verdammte Haus ist voller Attentäter!‘ fühlte sich Brad verpflichtet darauf hinzuweisen. ‚Haben wir keine Gästezimmer mehr?’

‚Keine die frei wären.’

‚Was ist mit der Couch?’

‚Die habe ich gerade angezündet, wieso?’, fragte er tatsächlich.

‚Er kann hier nicht schlafen.’

‚Weshalb? Dein Bett ist das größte im Haus.’

‚Weil ich Ruhe brauche.’

‚Er schläft, wie soll dich ein schlafender Mann der dich nicht die Bohne interessiert von deinem rechtschaffenen Schlaf abhalten?’

‚Weil ich allein sein möchte, verstanden?’

‚Es gibt nichts was er noch nicht an deinem Astralkörper gesehen oder berührt hätte, also tu dir keinen Zwang an, Boss. Und wenn du so erpicht darauf bist deinen Luxuskörper in einem überdimensionalen Bett zu wälzen und das allein, dann lass ihn gefälligst dort sitzen wo er jetzt sitzt und nerv mich nicht länger, ich will schlafen. Du kannst ihn auch Jei übergeben, er hat ohnehin Interesse an ihm bekundet. Adieu.’
 

‚Was heißt hier ich nerve dich?‘ Es kam keine Antwort mehr.

„Dammit!“

In der Heimatsprache zu fluchen barg noch immer die größte Befriedigung.

Er setzte sich zu Asugawa.

„Was soll ich mit dir machen?“

Schuldig sagte, dass er sich an den Mann gebunden und dieser die Bindung angenommen hatte. War es wirklich damals geschehen? Oder erst dieses Jahr? War seine Gemütslage derart derangiert gewesen, dass er sich dem nächstbesten an den Hals geworfen hatte?

Er verwarf diesen Gedankengang im Hinblick auf Schuldigs Schilderung von Asugawas Seelengerüst. Es hatte den Anschein, dass es tatsächlich in der Zeit gewesen sein musste als er jünger und verletzlicher gewesen war.
 

„Es wäre leichter dich hier und jetzt zu töten, als dich dort hinaus zu schicken“, sagte er leise.

War es das?

Hatte er Angst ihn zu verlieren? Wo er doch noch gar nicht sicher war ob er ihn aufnehmen wollte. Er war verwirrt und es störte ihn immens.

Brad seufzte. Ein verwirrter Hellseher… war langfristig gesehen keine positive Entwicklung.

War es wie bei Schuldig und Ran? Diese Art extremer Bindung war ihm fremd, sie existierte nicht in seiner Vorstellung. Er wusste nicht wie es war einen Menschen näher als Schuldig, Nagi oder Jei an sich heran zu lassen. Und gerade vor ihnen musste er seine Gedanken, Gefühle und seine Absichten verbergen um Handlungsfähig zu bleiben. Er war es der zwischen dem Irrsinn, der unkontrollierten Wut und ihren Fähigkeiten einen klaren Weg fand und sie stets darauf gehalten hatte um zu überleben und um ihre Freiheit zu wahren. War es nicht immer er gewesen, der sich mit den Konsequenzen ihrer Taten auseinander gesetzt hatte?

Nur diesen klaren Weg fand er zurzeit nicht. Zu viele Einflüsse, zu viele Hindernisse, die nicht einfach wie es ihm beliebte aus dem Weg geräumt werden konnten. Die Schlinge zog sich zu und es war sein Hals der in ihr steckte. Er war derjenige der am Meisten dabei verlieren würde wenn sie untergingen. Denn wenn er sie alle verlor, wer sollte dann auf dem Weg gehen, den er in die Zukunft weisen konnte? Dann wäre das was ihn ausmachte nutzlos geworden. Die Welt definierte ihn über seine Hellsicht, was war er anderes als ein Hellseher? Sein gesamtes Team hatte sich um ihn geschart weil er war was er war, nicht weil er ein so liebenswürdiger Zeitgenosse war.

Er selbst definierte sich über seine Hellsicht. Was war er ohne sie?
 

Brad blieb noch einen Moment dort sitzen bevor er sich dazu entschloss endlich schlafen zu gehen. Er hob Asugawa hoch, legte ihn auf dem Bett ab und zog ihm die Stiefel aus. Nachdem er ihn zugedeckt hatte legte er sich daneben und versuchte ebenfalls zu schlafen. Was ihm nur schwer gelang, doch irgendwann musste er eingeschlafen sein, denn als er aufwachte war es Mittag.

Er sah neben sich, das Bett war bis auf ihn leer, das Zimmer ebenso. Er stand auf und ging wie er war – mit einer leichten Schlafanzughose in mondänem Schwarz ins Badezimmer um sich zu erleichtern. Ein leichter Bartschatten zeugte von der fälligen Rasur, seine Haare standen in alle Richtungen ab, was auch das bisschen Sortieren mit den Fingern nicht in Ordnung brachte. Er ließ sich Zeit damit sein Gesicht zu waschen und sich abzutrocknen.
 

Sein Weg führte ihn wieder ins Schlafzimmer zurück, dort öffnete er die Fenster, im Glauben daran, dass er frische kühle Luft hereinlassen würde. Doch die drückende Schwüle, die durch die geöffneten Fenster waberte, ließ ihn sehr schnell die Rollläden wieder hinunter fahren. Auf dem Weg nach unten ging er am Besprechungsraum vorbei und fuhr alle Systeme der Rechner hoch. Unten angekommen bemerkte er mit Zufriedenheit, dass der Umzug weiter voranschritt.

Nachdem die Spülmaschine lief hatte das Mittagessen wohl schon stattgefunden. Fujimiya saß am Küchentisch und war damit beschäftigt Schuldigs Luger zu reinigen. Er hatte auch Finns Messer vor sich liegen.

„Wo ist er?“
 

Ran sah auf als er den Raum betrat. „Wen meinst du?“, fragte Ran beiläufig und täuschte Desinteresse vor. Er vermutete, dass es nur einen Menschen gab, der momentan in Brads Fokus lag, verkniff sich dabei aber eine Bemerkung über seine legere Aufmachung. Mit Crawfords Maßstäben gesehen war diese modische Entgleisung ein Zeichen von Disziplinlosigkeit.

Es war schwül heute und eine drückende Hitze lag über der ganzen Stadt. Nur war das Grund genug für den stets korrekt gekleideten Amerikaner hier halb nackt in der Küche herumzulaufen? Wer hatte hier einen derart schlechten Einfluss auf Crawford?
 

„Asugawa.“

Brad lieferte unbeabsichtigt die Antwort auf Rans unausgesprochene Frage.

„In der Garage.“ Ran zierte sich mit der bereitwilligen Freigabe von Informationen. Schuldig hätte gesagt: Hellseher-like. Ran schmunzelte ungesehen von Brad, da dieser gerade den Kühlschrank inspizierte.
 

Brad schloss ihn nun langsam. „Um was dort zu tun?“
 

„Schlafen.“

Brad schien die eigene Medizin nicht zu schmecken und Ran gefiel es, den Hellseher aufzuzeigen wie wenig befriedigend es war einsilbige Antworten auf drängende Fragen zu erhalten.
 

Offenbar war Fujimiya nicht sehr gesprächig heute.

„Und warum schläft er in der Garage?“
 

„Weil es sonst keinen Platz für ihn im Haus gibt. Auf der Couch hat er es nicht lange ausgehalten. Das lag daran, dass Schuldig und Jei sich das Erdgeschoss vorgenommen haben. Es war zu laut, dann ist er auf einer der Liegen am Pool ausgewichen.“

„Lass mich raten, ihr habt den Pool eingelassen?“, wagte Brad eine Prognose.

„Yohji wollte deiner Schwester etwas Abkühlung verschaffen“, konnte sich Ran diese Bemerkung nicht verkneifen.

Brad lehnte sich an die Anrichte und verschränkte die Arme.

„Ganz selbstlos, natürlich“, fügte Ran an und musste sich beherrschen um nicht zu grinsen. Yohji flirtete auf Teufel komm raus mit des Teufels Schwester.

„Natürlich“, antwortete Brad spöttisch.

„Schlussendlich habe ich ihn dann in der Speisekammer auf dem Boden entdeckt.“

Brads Miene verfinsterte sich ob dieser Schilderung. Was versuchte Asugawa mit diesem Verhalten zu bezwecken? Wollte er sein nicht vorhandenes Mitleid wecken?

Ran hielt es für das Beste zum ursprünglichen Thema zurückzukehren, denn wenn er sich die düstere Miene des Amerikaners so ansah fürchtete er bereits jetzt schon um Yohjis Leben.

„Ich schlug ihm die Garage vor, dort ist es dunkel, der Ü-Wagen ist bequem, es ist zwar eng für seine Größe aber er schläft dort immerhin schon seit zwei Stunden am Stück. Ein Fortschritt wenn man bedenkt, dass er zuvor wenig Ruhe hatte.“ Ran legte eines der Messer vor sich auf die Unterlage ab, stand auf und holte sich einen neues Tuch. „Und bevor du fragst, ich habe es überprüft, er hat mich nicht einmal kommen hören, so weggetreten war er.“

Brad gefiel nicht, dass Asugawa nicht greifbar in seiner Nähe war.

„Hat er sich dazu geäußert was diese Suche nach einem neuen Schlafplatz anbelangt?“
 

„Er möchte nicht bei dir schlafen, ebenso wenig in einem der anderen Betten.“
 

„Gibt es dafür eine Erklärung?“
 

Fujimiya setzte sich wieder und sah ihn ruhig an. „Er sagte es macht ihm nichts aus, er sei es gewohnt und müsse nicht in einem Bett schlafen. Zumal ohnehin kein Platz ist. Dieses Haus hat acht Schlafzimmer, in Anbetracht der jetzigen Lage ist keines davon frei. Er ist nicht dumm, Brad; ihm war dieser Umstand wohl klar.

Für nähere Informationen wende dich an ihn. Wir müssen heute besprechen wie wir weiter vorgehen“, brachte Ran das Gespräch auf ein anderes Thema.
 

„Wann sind alle da?“ Brad ging auf den Themenwechsel nur zu gern ein, musste er sich so nicht mit unangenehmen Gefühlen herumschlagen, die er ohnehin lieber ignorieren würde.
 

„Abends; Lilliy und Omi sind noch bei Nagi und leisten ihm Gesellschaft. Sollen wir ihn herholen?“
 

„Ja, der Gedanke kam mir auch“, sagte Brad in Gedanken versunken.

„Wie geht es Schuldig?“
 

„Er ist ausgeschlafen.“
 

Brad nickte und nahm sich einen Kaffee. „Wo ist er?“
 

„Im Ryokan und organisiert die Säuberung desselbigen und deiner Wohnung.“
 

„Es läuft also alles“, resümierte Brad.
 

„Auch ohne dich, ja“, Ran sah auf. „Falls es das ist was deine Laune trübt.“
 

„Sicher nicht.“
 

„Gut, dann kümmere dich um das Problem.“
 

„Welches meinst du genau?“, hakte Brad nach, denn für ihn gab es viele Probleme um die er sich kümmern musste, oder wollte.
 

„Der Straßenkater der dir seit einiger Zeit hinterher läuft und am Verhungern ist.“
 

Brad sagte nichts, nahm sich seinen Kaffee und seine Zeitung und ging in Richtung Garage.
 

Ran sah ihm nach und das Schmunzeln weitete sich zu einem düsteren Grinsen aus. Schuldig wäre von dieser Zurschaustellung von sadistischer Zufriedenheit begeistert gewesen.
 

Brad enterte den Überwachungswagen, stellte den Kaffee auf die nächste Abstellmöglichkeit, räumte Pads, flexible Tastaturen und sonstiges auf die Seite und legte seine mitgebrachte Tageszeitung in digitaler Form vor sich ab. Ein Blick hinüber zur Liege zeugte davon dass Finn Asugawa aufgewacht war.

„Schlaf weiter“, sagte Brad in befehlendem Tonfall und nahm einen Schluck Kaffee.

„Ein guter Schlafplatz, beengt, aber dennoch kühler als im Rest des Hauses.“
 

Asugawa schloss langsam die Augen wieder, dankbar dafür, dass ihm jemand seinen Schlaf gönnte. Nur um sie dann wieder aufzureißen und sich aufzusetzen als er bemerkte wer ihn mit seiner Anwesenheit beehrte.

„Ich... bin... wach“, murmelte er reichlich verschlafen und versuchte Brads nackten Oberkörper zu ignorieren. Das hatte er schon versucht als er aus dem Bett gekrochen war. Bei dem Versuch war es geblieben als er sich dabei erwischte wie er Brad sehr lange beim Schlafen beobachtet hatte.
 

„Natürlich bist du das, aber ich habe angeordnet, dass du schlafen sollst.“
 

„... du bist nicht umsonst hier. Was soll ich tun?“ Finn wischte sich den Schlaf aus den Augen. Er fühlte sich wie ausgekotzt und wagte nicht zu fragen ob Brad ihm beim Schlafen zusehen wollte. Was außer einer Aufgabe die Brad ihm zuteilen wollte konnte dieser sonst von ihm wollen?
 

„Schlafen.“

Brad lächelte milde, dieser Anblick hatte etwas für sich, ein heruntergerutschter Pullover in Übergröße, der eine halbe Schulter offerierte und ein Schlüsselbein freilegte. Der Verband um den Hals saß zu locker, er sollte bald erneuert werden. Dieser Umstand zeugte von nachlässigem Umgang mit seinen Wunden. Was inakzeptabel für Brad war.

Das Arrangement krönte ein sehr verschlafener Blick und die Bemühung selbigen zu kaschieren um Wachheit vorzutäuschen. Dazu noch die glatten halblangen Haare, die ihm ins müde blickende Gesicht fielen.

„Ich bin hier um Zeitung zu lesen und meinen Kaffee zu trinken ohne den Trubel in diesem Haus. Und du bist hier um zu schlafen. Also tu es.“
 

„Aber...“ Finn hatte dieses Lächeln gesehen, aber er hatte auch erkannt, dass es nicht die Augen erreichte. Diese fantastischen Augen, die ihn magisch anzogen. Wenn Brad ihn ansah, dann hatte er den Eindruck als würde dieser Blick in sein Innerstes gehen, als würde sein ganzes mickriges Leben vor diesem Mann ausgebreitet liegen. Von ihm ging eine Ausstrahlung aus die ihn auf gewisse Weise einschüchterte, ihn aber auch anzog.

Bei Schuldig, einem Telepathen, vor dem er zuvor die größten Ängste besessen hatte, fühlte er sich nicht derart bloß gestellt. Und das obwohl Schuldig alles von ihm wusste.
 

„Warum bist du nicht liegen geblieben?“
 

Finn legte sich wieder zur Seite knüllte sein Kissen zusammen und zog die Beine an, es war sonst unmöglich bequem zu liegen. Er lag jetzt auf dem Rücken und sah an die Wagendecke. „Wie kann ich dort schlafen wenn...“
 

„... wir dort gefickt haben?“
 

„Nein, wir haben miteinander geschlafen“, sagte Finn ruhig. „Ficken würde ich das nicht mehr nennen. Es spielt keine Rolle mehr. Warum sollte ich mich freiwillig an das erinnern wollen was ich nicht mehr haben kann?“, fragte er und zuckte mit den Schultern. Sie hatten gut zueinander gepasst, als wären sie füreinander geschaffen worden. Kein einziges Zeichen der Unsicherheit, jede Berührung wie sie hatte sein sollen, als würden sie sich schon ewig kennen.
 

Mit dem gleichen Dilemma schlug sich Brad ebenfalls herum, denn er würde den unbeschwerten unschuldigen Mann von damals nicht zurückholen können.

„Diese Lüge bekommen wir nicht zurück, heute Nacht war lediglich ein Echo dieser Lüge.“
 

„Es war keine Lüge, ich habe jede Berührung so gemeint wie ich sie gemacht habe“, sagte Finn. Er wusste wie sich eine Lüge anfühlte. Sein Leben war eine Lüge. „Und ich habe die Berührungen bekommen wie ich sie mir erhofft hatte.“
 

Ich kann dich nicht aufnehmen, dachte Brad plötzlich und stellte seine Tasse ab. Es war einer dieser Momente in denen man etwas erkannte, was bereits längst eingetreten war. Er konnte ihn nicht reinlassen, wenn er es tat... er war sich nicht sicher wie es enden würde, denn er sah das Ende nicht. Er hatte Nagi reingelassen und Schuldig...

Tja was und? Dafür hatte er seine Schwester mit der Vergangenheit zurück gelassen um sie zu schützen.

Welche Konsequenz hatte es diesen Mann näher an sich heran zu lassen?

Es war zeitweise schmerzhaft gewesen, für sie alle. Warum sträubte er sich bei diesem hier so sehr? Was war er anderes als ein weiteres ausgesetztes Kätzchen um bei diesem bildhaften von Fujimiya angeregten Vergleich zu bleiben, dass...
 

Brad verdrängte den Vergleich. Jeder seiner Feinde könnte diese Beziehung gegen ihn verwenden. Und selbst wenn er dies außer Acht lassen würde, was sollte er eine Beziehung zu... was? Er wurde wütend auf seine Gedankengänge. Auf was? Einer manipulativen, verräterischen Schlampe?

‚Weißt du nichts über ihn außer das?’, keimte ein Gedanke in ihm auf und es war nicht Schuldig den er zu Gast hatte.

Ja, tatsächlich wusste er nicht mehr als das.

Brad ließ seinen Blick wieder über die müde Gestalt gleiten.
 

„Es gibt einen Platz im Haus den ich dir anbieten kann - falls du ihn willst. Es sei denn dir gefällt dieser Wagen hier.

Es spricht einiges dafür hier zu schlafen, er ist geschützt vor Blicken, du könntest leicht fliehen und dabei hättest du sogar einen fahrbaren Untersatz, der auf dem neuesten Stand ist“, räumte er ein.

Finn sah ihn bar jeder Emotion an und Brad konnte absolut nichts, rein gar nichts auf diesem Gesicht ablesen, was sich dahinter abspielte.
 

Finn verspürte Widerwillen gegen den Gedanken an Flucht. Wo sollte er hin?

Wollte Brad ihm damit sagen, dass er abhauen sollte? Oder war das eine Prüfung seiner Loyalität ihm gegenüber? Finn fühlte sich ratlos.
 

Brad verglich diesen Mann heute erneut mit dem Mann der ihm damals so offen und warmherzig erschienen war. Nun hatte er jemanden vor sich sitzen, den er nicht einschätzen konnte, obwohl er kein Serum bekommen hatte.
 

Finn war sich nicht sicher wohin dieses Gespräch führen würde. Brad sah ihn mit diesen schimmernden Augen an und Finn war klar, dass er in alles einwilligen würde, was dieser ihm anbot.

„Wo ist dieser Platz?“
 

„Im Keller.“

Vielleicht doch nicht in alles.

Finns Mundwinkel zuckten als er plötzlich ein Lachen in sich spürte und es herausließ. „Im Keller? Ist das dein Ernst? Ist das nicht ein bisschen zu sehr Cosa Nostra-mäßig?“
 

„Was ist so komisch daran?“ Brad fühlte sich nicht ganz ernst genommen und entsprechend verschnupft reagierte er auch. „Komm mit.“ Er mochte dieses Lachen, es klang ehrlich amüsiert. Es erinnerte ihn an… Sophie Fuchoin.
 

„Nein, ich komme nicht mit“, Finn winkte ab und lag halb lachend verdreht auf der Liege.
 

Brad war bereits mit einem Bein aus dem Van und drehte sich nun wieder um. Wieso zog er immer nur die kratzbürstigen, eigensinnigen Menschen an? Er seufzte innerlich und stellte die von ihm erwartete Frage.

„Weshalb nicht?“
 

„Ich will nicht in euer... Folterstudio... oder wie auch immer ihr diese Art Raum bezeichnen würdet.“ Finn hatte sich aufgesetzt und sah ihn an.
 

„Du meinst einen ähnlichen Raum wie den in dem du meine Schwester angeblich gefoltert hast. Mit nur einem Stuhl, viel Platz und abgeschottet um mögliche Schreie vor der Außenwelt zu verbergen? Einen Raum der gut zu reinigen ist?“
 

Finns Schultern sanken etwas herab. „Ja... so einen Raum meinte ich“, erwiderte er mit wesentlich weniger Elan als zuvor. Er fühlte sich unwohl unter dem ruhigen Blick. Ihre Unterhaltungen bezüglich seiner Aktivitäten in den letzten Jahren waren bisher nicht sehr erfreulich oder gar konstruktiv verlaufen.

„Ich war in einer... schwierigen Lage. Es war nicht gerade einer meiner Glanzleistungen... aber ich wusste nicht wie ich alle unter einen Hut bringen sollte“, begann er mit einer Rechtfertigung, war sich aber nicht sicher ob sie Gehör finden würde.
 

Nüchtern betrachtet war es eine Glanzleistung, das zuzugeben empfand Brad jedoch als unzweckmäßig. Schließlich waren sie das Opfer dieser sogenannten Glanzleistung.

Bei all dieser nüchternen Betrachtungsweise musste er zugeben, dass es ihm gefiel wenn dieser Intrigant etwas kleinlaut wurde. Das schlechte Gewissen schien an dem Mann zu nagen, ein Umstand den Brad begrüßte: Asugawa besaß ein Gewissen. Brad könnte daran Geschmack finden.

„Kommst du nun, mein Kaffee wird kalt. Und ich werde... wie sagt Schuldig so schön... unleidig wenn mein Kaffee kalt wird.“ Das stimmte nicht ganz, denn Schuldig hatte dafür drastischere Beschreibungen angeführt.
 

„Offenbar ist das ein Zustand, in dem dich keiner deines Teams gerne um sich hat.“ Finn zog die Beine von der Liege und folgte Brad aus dem Wagen, samt seiner Decke und dem Kissen. Sie durchquerten die weitläufige Garage, deren Inhalt zum gegenwärtigen Zeitpunkt vier Wagen inklusive dreier Motorräder zählte. Die Größe zeugte jedoch davon, dass der Platz für mehr als zehn Wagen reichen würde.

In der Küche fanden sie noch immer Fujimiya vor wie er am Tisch saß, eine Reihe von unterschiedlichen Waffen vor sich. Dieses Mal hatte er Messer in verschiedenen Größen zur Pflege. Finn blieb stehen.

„Sind das meine?“

Fujimiya trug gerade eine Schicht Öl auf eine der Klingen auf.

„Ja. Hast du etwas dagegen?“

Finn unterdrückte den Impuls Zuspruch bei Crawford zu suchen. Fujimiya war gefährlich und auf Finn machte es den Eindruck als ströme diese Gefahr aus jeder Pore des vor ihm sitzenden Japaners aus. Und Chiyo hatte von ihm verlangt diesen Mann hier zu beschützen? Das war geradezu lächerlich.

„Nein, nein. Ich meine nur... dass ich das selbst erledigen kann“, beeilte er sich zu versichern.

„Davon gehe ich aus. Ich habe Zeit und wir sollten vorbereitet sein“, kam die Antwort. Finn wusste durchaus wann ein Gespräch beendet war, also sah er zu, dass er Crawford einholte.
 

Finn fühlte sich nicht mehr ganz so müde, aber immer noch nicht fit. Die Verletzungen die Kudous Draht angerichtet hatten als sie ihn gerettet hatten waren längst nicht verheilt. Eine zusätzlich kleine Dosis Schlaf wäre sicher nicht verkehrt.

Er folgte Brad durch die Küche, in einen kleinen Gang, an dessen Ende eine Treppe nach unten führte.

„Unter dem Hauptgebäude gibt es mehrere Räume, unter anderem einen Trainingsraum, einen für Waffenübungen und dann noch diesen hier. Er war für andere Zwecke vorgesehen, aber er genügt vielleicht deinen Ansprüchen.“

Brad öffnete eine schwere Tür und knipste das Licht an.

Finn trat ein und erspähte ein Bett für eine Person, antiquierte Büromöbel, Karteischränke und leere Regale. Für Finn sahen sie aus wie Überbleibsel eines Büros, die niemand mehr brauchte. Der Raum war größer als Brads Schlafzimmer. Es war also nicht nur eine Besenkammer.

„Gut, ich nehme ihn dankbar an“, sagte Finn höflich, aufgrund der Offerte, die Brad ihm bot. Er hatte schon an widrigeren Orten genächtigt und er durfte ein Geschenk nicht ausschlagen, wenn es ihm gegeben wurde.

„Du hast ihn zur freien Verfügung. Schade niemandem der hier lebt.“
 

„Dann darf ich keine Bomben basteln?“, fragte Finn scheinheilig als Brad sich zum gehen wandte. Er war nicht so der Bombenbastler...eher der Giftmischer. Er mochte den heimlichen Tod ohne Aufsehen lieber.

„Nimm es ernst.“

„Das tu ich“, rief er noch nach, als die Tür ins Schloss fiel. Finn hastete hinterher und riss die Tür wieder auf. Sie ging mühelos auf und Brad drehte sich mit einem Lächeln halb zu ihm um. Für Finn hatte es einen spöttischen Beigeschmack. „Ich sperre dich nicht ein, du hast ein Versprechen gegeben. Ich… vertraue darauf, dass du es hältst.“

Finn nickte.

„Kümmere dich um deine Wunden.“

Finn hob fragend die Augenbrauen. „Ist das so etwas wie eine... Anweisung?“

Finn wollte nicht das Wort Befehl in den Mund nehmen, aber es klang fast so.

„Es ist ein Befehl.“ Brad neigte den Kopf als wolle er fragen ob Finn etwas dagegen einzuwenden habe.

„Und – nur einmal angenommen – ich würde darauf antworten, dass sie wesentlich besser heilen würden, wenn du mir dabei helfen würdest?“

Finn lächelte.

„Dann würde ich dir antworten, dass du dir dieses Privileg nicht verdient hast.“

In Brads Gesicht bewegte sich kein Gesichtsmuskel, nichts nur Ausdruckslosigkeit brachte er Finn entgegen.

„War es nicht so, dass du es... vor ein paar Stunden getan hast?“

„Eine Notwendigkeit.“

Finn spürte wie die Kälte in Brads Stimme auf ihn überzugreifen schien.

„Ich verstehe.“ Er schloss die Tür wieder, entschied sich aber dafür sie etwas offen zu lassen.

Brad war wirklich nicht der humorige Typ. Aber er war auch nicht der Typ der Spielchen mochte, keine verbale Hinterlist, keine Fallstricke, vor denen er aufpassen musste und die ihm das Genick brechen konnten. Klare Regeln... vielleicht ohne Hintergedanken. Vielleicht ein ganz anderes Leben als bisher.

Trotz allem war er schwierig zu knacken. Aber Finn war geduldig und auch wenn die Situation nicht gerade rosig aussah – das tat sie bei genauerer Betrachtung sowieso selten – würde er so schnell nicht aufgeben. Da war allerdings noch die Kleinigkeit, dass Brad ihm das Serum nicht geben wollte.
 

Freiheit war etwas Neues für ihn, so ohne örtliche Begrenzung durch jemanden der ihn jederzeit töten lassen konnte wenn er nutzlos geworden war. Nun, Brad hatte dies jederzeit in der Hand, leichter als Chiyo es je vermocht hätte. Jeder in diesem Haus könnte dies bewerkstelligen. Und nutzlos war er allemal für Schwarz geworden – Schuldig hatte alle Informationen die er brauchte.

Chiyo hatte ihn stets an der kurzen Leine gehalten. Es gab Regeln für jeden Fall in seinem bisherigen Leben. Regeln wie er sich im Haus verhalten musste, wie er sich gegenüber diesem oder jenem Menschen verhalten musste. Die wichtigsten Regeln jedoch lautete: Nimm dir was du kriegen kannst und am Besten so, dass niemand bemerkt, dass du etwas genommen hast. Schieb anderen deine Fehler in die Schuhe damit du eine weiße Weste hast. Und jetzt? Jetzt war er umgeben von Menschen die ihn durchleuchten konnten wie sie wollten. Das hier war vielleicht weniger Freiheit als bisher. Aber es fühlte sich noch nicht schlimm an.
 

Finn löschte das Licht und warf das Kissen auf das Bett, dann schlug er die Decke über sich und hoffte auf Schlaf. Er atmete tief ein und lauschte auf seine Umgebung.

Es war ruhig hier, von den beiden geöffneten Kellerfenstern aus, hörte er entfernt Stimmen. Das Bett muffelte etwas, es war staubig hier unten, aber kühler als sonst an einem Platz in diesem riesigen Haus, was es schon wieder angenehm machte.

Ab und an öffnete er noch seine Augen um den Lichtspalt im Auge zu behalten, er hegte die Befürchtung, dass die Tür doch noch abgesperrt wurde...
 

Als Brad wieder in der Küche ankam schenkte sich Ran gerade einen Tee ein.

„Dann lebt dein Haustier jetzt im Keller?“
 

Brad hob nur eine Braue ob der Titulierung ihres Gastes, er enthielt sich eines Kommentares, er war nur der Provokation gedacht.

Er setzte sich an den Tisch, stellte Pad und Tasse ab und fuhr sich durch die Haare. „Vorerst.“
 

„Warum?“
 

„Warum nicht?“
 

„Weil es der Keller ist“, fühlte sich Ran genötigt, explizit darauf hinzuweisen.
 

„Wir alle müssen uns erst daran gewöhnen, dass er hier ist. Ihm zu viele Privilegien zu gestatten ist nicht für alle nachzuvollziehen. Vor allem nicht für Nagi. Ich möchte ihn im Auge behalten ohne ihn einzusperren, aber weit genug von einem wütenden, rachsüchtigen Telekineten entfernt.“
 

Ran schätzte, dass sich einer hier im Haus zuallererst daran gewöhnen musste. „Habt ihr schon... geredet?“
 

Brad nahm einen Schluck des lauwarmen Kaffees. Er verzog das Gesicht und stand auf. „Worüber? Es gibt vieles was wir besprechen müssen.“ Er kippte den Kaffee weg und begann damit sich einen neuen zu machen. Schade drum.
 

„Über seine Vergangenheit.“
 

„Nein. Das spielt auch keine Rolle zumindest im Augenblick nicht. Das fehlende Vertrauen dagegen schon. Was nützt es wenn er behauptet all die Jahre nur um unser... um mein Wohlergehen besorgt gewesen zu sein, wenn wir ihm nicht vertrauen können? Vor allem wenn er dasselbe Spielchen spielt, dass er all die Jahre mit dem Clan spielte.“
 

„Schuldig sagt wir können ihm vertrauen.“

„Ja, nur wegen Schuldigs Expertise ist er hier“, räumte Brad ein.

Er trank seinen Kaffee und sah Ran dabei zu wie dieser mit seiner Arbeit fortfuhr.

„Was hältst du davon wenn wir deinem geschätzten Großvater einen Besuch abstatten?“, fragte Brad plötzlich.

Ran sah von seiner Arbeit auf. „Du fragst mich?“

Brad machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es ist dein Großvater.“

Ran antwortete nicht sofort und Brad ließ ihm die Zeit.

„Gibt es andere Optionen?“

Ran scheute sich davor diese Tür zu einer Vergangenheit aufzustoßen die vielleicht eine Veränderung herbeiführen würde. Schuldig hatte Recht damit, dass seine Mutter wahrscheinlich einen guten Grund dafür gehabt hatte den Kontakt zu ihren Eltern abzubrechen. Aber er wollte immer noch Antworten und er wollte sie alle. Nur... öffnete er die Büchse der Pandora dann konnte er das was daraus entwich nicht einfach so wieder hineinstopfen. Was würde noch auf sie zukommen? War dieses Wissen es wert alles was sie bisher erreicht hatten aufs Spiel zu setzen – um der Wahrheit willen?
 

„Die gibt es.“

Brad legte das Pad zur Seite, zog sich seinen Kaffee heran und setzte sich seitlich an den Tisch. „Asugawa könnte zurück zu Chiyo gehen, wir folgen ihm und finden sie auf diesem Weg. Ich habe noch einen Deal mit ihr, über einen alten Vertrag.“

Brad pokerte hoch dem Weiß Anführer hier seine Machenschaften zu offenbaren. In Anbetracht der momentanen Lage jedoch war es nutzlos geworden es geheim zu halten.

„Was für ein Deal?“

„Sie sichert mir einen alten Vertrag zu, dafür bekommt sie Asugawa, das Mädchen und dich.“
 

Rans Augen schmälerten sich. „Zunächst... um was geht es in diesem Vertrag?“
 

Brad lächelte minimal. Ihm war bewusst was nach dieser Frage kommen sollte.

„Um die Zusicherung von Waffen, Männern und Support.“

„Von wem?“

„Der Sakurakawa Organisation und somit Kritiker.“
 

„Du bist dir sicher, dass wir Unterstützung nötig haben werden?“
 

„Ja.“
 

„Warum?“
 

„Das kann ich dir nicht sagen.“
 

„Du kannst nicht oder du willst nicht? Ich bin…“ Ran verstummte. „wir sind keine kleinen Kinder, die du schonen musst vor der großen hässlichen Wahrheit in dieser weiten, kalten Welt.“
 

„Das ist mir durchaus bewusst.“ Brad lehnte sich auf dem Stuhl zurück und betrachtete sich sein Gegenüber für einige Minuten. „Eine Vorhersage ist primär unsicher, ihr Muster festigt sich sobald mehrere Gegebenheiten eintreffen. Die Vorhersage gewinnt dann mehr und mehr an Festigkeit.“

„Hmm, du willst solange es noch nebulös ist nichts sagen? Damit wir nichts unternehmen um die Zukunft weiter zu verändern.“

„So ähnlich. Jede Veränderung benötigt erneut mehrere Gegebenheiten um sich erneut zu festigen, ein ewiges Spiel. Außerdem verändert ihr aufgrund einer Aussage von mir erneut das Ereignis, könnte dies auch Auswirkungen auf die Vergangenheit haben.“

„Ist das schon einmal vorgekommen?“

„Das herauszufinden ist mir bisher noch nicht gelungen. Wird die Vergangenheit geändert verändern sich auch unsere Erinnerungen daran. Für uns erscheint sie logisch und plausibel.“
 

„Hast du etwas Konkretes gesehen?“
 

„Ich kann dir nur sagen, dass wir in etwas verwickelt sind, dass es nötig werden lässt, dass wir Unterstützung brauchen werden. Nur: wen wir zur Unterstützung benötigen werden ist mir noch nicht klar.“

„Weshalb will sie Asugawa?“
 

„Um ihn für seine Subordination zu bestrafen, oder anderer Dinge. Vielleicht will sie ihn auch nur um Sowa einen besseren Handel anbieten zu können, wer weiß?“
 

„Du wolltest ihn Sowa überlassen?“ fuhr Ran auf. Die Waffe in seiner Hand war noch nicht abgelegt und Brad lächelte spöttisch ob dieser gewollten oder auch ungewollten subtilen Drohung.
 

„Die Dinge haben sich geändert, aber ja, ich hätte ihn Chiyo überlassen. Wie sie mit ihm verfahren wäre... nun das war schließlich nicht mein Problem.“ Es waren seine Worte, die seinen Mund verließen, aber er stand nicht ganz dahinter. Nicht mehr.
 

„Und was ist mit mir?“ Ran fand diese Ehrlichkeit geradezu erfrischend von dem Mann, ihm war jedoch auch bewusst, dass sie hier über Dinge sprachen, die so nicht mehr stattfinden würden. Zumindest nicht auf diesem Weg.
 

„Das lag und liegt kaum in meinem Ermessen, sie aber in dem Glauben zu lassen es wäre so war von Vorteil. Ich wollte nur herausfinden warum sie dich so dringend haben will.“
 

„Ich bin ihr Enkel... wenn das denn alles so stimmt.“
 

„Das war keine alte Dame, die sich nach ihrer Familie sehnt, die ich getroffen habe. Sie ist kalt und berechnend. Sie will etwas anderes von dir als Zuneigung. Und was genau, das weiß ich immer noch nicht. Ich dachte das große Geheimnis war, dass du ihr Enkel bist, aber da ist noch etwas anderes und vielleicht kann dein Großvater uns mehr dazu sagen.“
 

„Und wie sollen wir dort einfallen? Das letzte Mal wurde das ganze Gelände zerstört. Da Nagi nicht zur Verfügung steht können wir selbst das nicht zustande bringen.“
 

„Ein offizieller Termin?“
 

„Wie bei Asami?“
 

„Warum nicht?“
 

„Was haben wir ihm anzubieten?“
 

„Dich.“
 

Ran legte das Messer ab, rückte den Stuhl etwas zurück und zog ein Bein auf den Stuhl. Er nahm sich die Tasse Tee und nahm einen Schluck.

„Jei sagte, dass er die Männer des Clans nicht beeinflussen konnte, Schuldig hat also ebenfalls keine Möglichkeit.“
 

„Das ist nicht gesagt. Wir sollten das ausführlicher mit Jei besprechen.“
 

Ran nickte.

„Wen haben wir also?“
 

„Uns beide, Schuldig und Jei als Nahkämpfer, Omi, Ken und Yohji. Asugawa als Köder?“
 

„Nicht nur als Köder, Asugawa kennt sich in Kyoto aus, er weiß wie viele Männer zurzeit dort sind. Wir bräuchten ein Backup-Team und einen Ausweichplan, falls sich der alte Herr nicht an die Gastregeln hält.“
 

„Uns stehen nicht genug Männer zur Verfügung, auch wenn wir ihnen – gemessen an unserer Gesamtkapazität - überlegen sein könnten.“
 

„Du spielst auf unsere Fähigkeiten an?“
 

Ran brummte zustimmend. „Allerdings wollen wir nicht entdeckt werden, was ein subtileres Vorgehen nötig machen wird.“
 

„Richtig. Manx könnte uns unterstützen, wenn wir die Möglichkeit hätten sie zu fragen.“
 

„Sie hat nicht mehr viele Leute und sie unterstützt Chiyo.“
 

Sie gingen wohl beide gedanklich möglicher Strategien nach, bemerkte Ran, denn Brad sagte einige Minuten nichts.

„Oder wir fangen bei Sowa an. Er ist der Lieferant dieser unseligen Truppen. Graben wir ihnen den Nachschub ab können sowohl Chiyo als auch Yoshio ihre Reihen nicht mehr füllen.“
 

„Das wäre für den Anfang die bessere Variante.“

„Wir sollten das heute Abend mit allen besprechen.“
 

„Ich denke wir sollten Nagi hinzuziehen.“
 

„Dann solltest du ihn selbst abholen.“
 

„Das macht Sinn. Es wäre von Vorteil Asugawa mitzunehmen, er wird sich um das Mädchen kümmern.“
 

„Ein Babysitter?“
 

„Damit kennt er sich aus.“

Brad trank den letzten Schluck und erhob sich, er stellte seine Tasse in die Spülmaschine und ging nach oben. Er wollte sich duschen und rasieren. Gegen Abend würden sie dann Nagi abholen.
 


 


 

o
 


 

Zürich
 


 

Fabienne hatte das Treffen vor Sabin geheim gehalten. Sabin wäre wenig begeistert davon wäre wenn er wüsste, dass sie sich mit dem ehemaligen Archivar der alten Trias treffen würde. Sie war heute am Morgen bei ihm gewesen um Normalität vorzutäuschen hatte sich dann einen halben Tag ins Auto gesetzt und war nach Zürich gefahren um sich mit Peter Stiller zu treffen. Es hatte bereits zu dämmern begonnen als sie vor wenigen Minuten in dem Haus angekommen war, das sie unter falschem Namen vor einigen Monaten angemietet hatte.

Sie seufzte und strich den figurbetonten Bleistiftrock glatt, obwohl dieser es kaum nötig hatte. Als sie bemerkte was sie tat stillte sie ihre Hand, sie wollte keine verräterischen Anzeichen ihrer Nervosität dem Archivar vorführen.
 

Peter Stiller war ein Mann in ihrem Alter und sie hatten stets ein freundliches Verhältnis zueinander gepflegt. Die neue Trias hatte ihn verschont bei dem Machtwechsel vor ein paar Jahren, doch sie hatten ihn auch aufs Abstellgleis gestellt und Fabienne wusste wie wenig ihm das behagte.
 

Er war ein Empath, wenn auch ein wenig begabter, diesen Umstand jedoch machte er mit seinem Informationsnetzwerk wieder wett, das er seit Jahrzehnten unterhielt und immer noch zu schätzen wusste.
 

Es klingelte und Fabienne stillte ihre Gedanken. Sie ging hinaus in den Eingangsbereich und vergewisserte sich, dass es Peter war bevor sie öffnete.
 

„Fabienne“, grüßte Peter sie und schloss die Tür. Er kam auf sie zu, nahm ihre Hände in seine und küsste sie auf beide Wangen. „Wie geht es Ihnen?“ Sie tauschten Befindlichkeiten aus, während sie ins Wohnzimmer gingen.
 

Sie erwiderte sein freundliches Lächeln, mit einer feinen Note Traurigkeit, die ihr stets einen Hauch von Melancholie verlieh.

„Ich bin in Sorge, Peter“, kam sie unumwunden zu dem Punkt, der sie beschäftigte.
 

„Das zeichnet sie aus, Fabienne“, sagte er milde. Er bedeutete ihr sich zu setzen, bevor er selbst Platz nahm.
 

„Geht es um Sabin?“
 

Sie nickte. „Indirekt.“

Ihr Blick verlor sich in der Silhouette eines Baumes der nur einer von unzähligen auf dem weitläufigen Anwesen war.

Er schwieg und wartete bis sie mehr von sich preisgeben würde als nur ein Wort. Nach einigen Momenten sprach sie und ihre Stimme wurde brüchig.
 

„Ich brauche Informationen darüber was SZ meinem Sohn angetan haben.“
 

„Wissen Sie denn wo er sich aufhält?“
 

Fabienne nickte. „Ja, er ist in Japan. Sabin möchte keinen direkten Kontakt herstellen, er scheut sich davor. Und vielleicht ist es auch der richtige Weg Vergangenes nicht erneut aufzurühren, dennoch glaube ich nicht daran.“
 

„Sie kennen meine Einstellung zu Sabins selbstgewählter Geißelung. Sie allein führte dazu, dass wir jetzt erneut diese Missstände innerhalb des Ordens haben.“
 

„Ich kann ihn nicht dazu bewegen es zu beenden. Ich brauche einen Grund, einen Grund ihn ins Leben zurück zu bringen. Etwas das ihn aufrüttelt. Gibt es Videos von den Sitzungen? Irgendetwas, das ich ihm zeigen kann, etwas, dass er seinen Sohn sieht?“
 

„Nein. Bradley Crawford hat sie gestohlen, ich konnte ihn bei seinem Tun keinen Einhalt gebieten. Als Archivar hatte ich damals keine große Handhabe um ihn aufzuhalten.“

Er schwieg einen Augenblick.

„Fabienne ich will ehrlich sein, ich hatte damals die Hoffnung Crawford würde die Trias vereinen, sie vielleicht aussöhnen und dem Ganzen eine andere Richtung geben. Meine Hoffnung wurde enttäuscht.“
 

„Er ist nicht konvertiert?“, fragte sie, als wüsste sie es schon und wollte sich noch einmal bei jemand anderem die Sicherheit holen.

„Nein. Crawford wurde... und das wissen wirklich wenige... niemals einer Konvertierung unterzogen. Er tat und tut das was er tut aus freien Stücken.

Was seine Intention nur noch schrecklicher erscheinen lässt.

Ganz Schwarz mittlerweile ebenso, sie brachen die Konvertierung, allerdings wird vermutet, das sie Schwierigkeiten mit ihren Fähigkeiten bekommen haben sollen. Es wird behauptet, dass sie dem Irrsinn verfallen sind. Ein Umstand der sie brandgefährlich erscheinen lässt.“
 

„Sie wissen wer mein Sohn ist?“, fragte sie neutral, doch innerlich war sie aufgewühlt.

„Ja, ich weiß es.“

„Wer noch?“

„Niemand sonst.“

„Erzählen Sie keinen Unsinn, Peter. Weiß De la Croix es?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass er es weiß.“

„Sind sie deshalb in Japan? Um ihn gegen Sabin einzusetzen?“
 

Sie erhob sich und wandte sich dem Fenster zu. Er folgte ihr und trat neben sie. Er fasste sie sanft am Arm. Sie wandte sich ihm zu und sah ihn an.

„Das ist nur eine Möglichkeit von vielen. Eine die Sie sicher schon selbst in Erfahrung gebracht haben. Fabienne was wollen Sie von mir?“
 

„Sagen Sie mir die Wahrheit darüber, was sie mit ihm gemacht haben um ihn derart zu zerstören. Sabin sagt er sei so zerbrechlich... so... zerbrechlich wie Glas...was... was haben sie ihm angetan?“
 

Peter ließ ihren Arm los. Er schien zu überlegen.
 

„Diese Information gibt es nicht umsonst, Fabienne.“
 

„Warum nicht? Weil die Welt danach brennen wird?“
 

Er schnaubte belustigt. „Das wird sie. Und ich möchte diesem Brand nicht zum Opfer fallen.“
 

„Ich biete Ihnen an, dass sie Sabins rechte Hand werden, falls er ausbrechen wird.“
 

„Sind das nicht schon längst, Sie Fabienne?“
 

Sie lachte nun und schmunzelte leise. „Nein, ich bin seine Frau. Eine von vielen in der Vergangenheit und nun in der Gegenwart die Einzige, die für ihn zählt.“

„Wenige konnten das sicher bisher behaupten“, erwiderte er und spiegelte ihr Lächeln.
 

„Ja, das dachte ich auch immer, aber... ich war die Einzige der er ein Kind schenkte. Ein Kind, dass wir beide im Stich ließen.“
 

„Sie wollen das ändern. Wieso jetzt?“
 

„Weil die Fessel tot ist und Sabin nun weggehen könnte. Aber er ist diese Fessel schon so gewohnt, dass er die Freiheit nicht mehr zu schätzen weiß. Jahrelang haben sie ihn mit unserem Sohn an der kurzen Leine gehalten.“

„Vor drei Jahren hätte alles enden können“, sinnierte Peter.
 

„Ja. Er wurde eine der drei Spitzen, doch er wusste nicht, was er mit dieser neuen Macht anfangen sollte und gab sie ab. Thomas hat ihm das eingeredet. Ich war dabei als er sich anbot Sabins Sprachrohr zu sein und in seinem Sinne die Geschäfte zu führen. Er hat sich sein Vertrauen erschlichen.“

Sie verstummte und war in Gedanken bei dieser Begegnung, die zunächst so harmlos erschienen war. Thomas hatte versprochen einen Weg zu finden um Sabin aus seinem Gefängnis zu befreien. Er hatte es aufgeschoben, ihm versichert die Suche nach einem Weg schreite nur schleppend voran, da es im Orden Probleme geben würde. Sabin hatte ihm gestattet sich Zeit zu lassen, bis Thomas Besuche immer seltener kamen und schließlich ausblieben.

„Er blieb lieber dort wo er war im Glauben daran, dass es nobel und uneigennützig wäre sich von der Welt zurückzuziehen, alles so zu belassen wie es war. Die Welt vor dem was er war zu schützen.“ Nicht nur das, er ließ sich in dieses Gefängnis sperren, das seinen Körper dort hielt, nur sie allein hatte Zugang zu ihm. Durch ein teuflisches Kraftfeld geschützt, dass die Alten der Trias errichtet hatten, umgeben von Tonnen von Gestein. Und nur sie ließ dieses Kraftfeld eintreten.

Wie oft hatte sie versucht den Ursprung des Feldes zu ermitteln, doch sie war bisher stets gescheitert. Was sie dazu brachte, davon auszugehen, dass er selbst dieses Kraftfeld errichtet haben könnte.
 

„Wenn ich Ihnen dieses gefährliche Wissen gebe, Fabienne, sollten Sie sich sicher sein, was sie entfesseln.“
 

„Ich hätte es nicht nötig, wenn De la Croix sich meinem Sohn nicht nähern würde. Sie wissen, Peter, dass ich nur ein normaler Mensch bin, mir bleibt nur die Möglichkeit...“
 

„... die Bestie... die sie ihren Geliebten nennen mit einem Köder vor den Bau zu lotsen um alles zu vernichten was ihre Brut bedroht?“
 

Fabienne verzog den Mund zu einem halben Lächeln. „Wo haben Sie nur immer diese Vergleiche her, Pete?“
 

„Stimmt es nicht?“
 

„Sie haben ganz Recht“, gab sie zu. „Ich werde älter. Was habe ich zu verlieren?“
 

„Sabin und Gabriel?“
 

„Richtig.“
 

„Sehen Sie Peter, während ich altere bleibt Sabin so wie er ist. Mein Sohn wird ebenfalls langsamer altern. Ich werde irgendwann vergehen. Ich bin die Einzige, deren Zeit bald abgelaufen ist. Was glauben Sie wird geschehen wenn das passiert?“
 

„Sabin...“ Er verstummte.
 

„Er wäre allein, ohne das moralische Vorbild, zu dem er mich ernannte.“
 

„Es wird Zeit ihm jemanden zu suchen, der ihn ebenso fest verankern kann wie ich.“
 

„Sie wollen die Verankerung lösen? Tun Sie das nicht, Fabienne, das würde ihn zerstören!“ Er sah sie einigermaßen entsetzt an.
 

Sie runzelte die Stirn und lächelte milde. „Nein, noch nicht. Ich habe noch niemandem gefunden den ich für geeignet erachte meinen Platz einzunehmen.“

Niemanden der stark genug war.

„Ich selbst war es damals nicht und bin an diesem Mann... an diesem Wesen zugrunde gegangen. Er hat mich aus den Armen des Todes gerissen und...“ Sie sah ihn für einen hastigen Moment in die Augen. „ich übertreibe nicht.“
 

„Glauben Sie mir Fabienne, dessen bin ich mir bewusst. Sie mussten in ihre Rolle hineinwachsen, sie mussten stärker werden ob sie wollten oder nicht.“
 

Sie nickte. „Ja, aber heute... heute kann ich ihm jemanden suchen, der von Anfang an stark ist, der ihn halten kann wenn ich nicht mehr bin.“
 

„Sie könnten dabei umkommen.“
 

„Ich war schon einmal tot. Das ist meine zweite Chance. Ich habe sie bisher gut genutzt, so gut es eben ging“, fügte sie an.

Ihre Gedanken schweiften für einen Moment ab zu dem kleinen Trupp Sabin-Getreuer die sie um sich geschart hatte. Und von denen Sabin selbst nicht viel hielt, er nahm sie nicht ernst. Peter gehörte zu ihrem kleinen Kreis und noch einige andere.

Wenn sie Tristian auf ihre Seite ziehen hätte können... aber diese hatte ihre eigenen Pläne und war in Aktion getreten bevor Fabienne es hatte tun können.
 

„Vielleicht sollten Sie den Rat eines Schmiedes in Erwägung ziehen.“

Sie seufzte. „Chiyo hat sich zurückgezogen, nachdem sie Sabin verloren glaubte. Sie ist daran zerbrochen, fürchte ich und spielt nun die Hausfrau an der Seite dieses PSI Jägers Yoshio.“
 

Peter lachte leise und sie sah ihn an, er zeigte ihr nur sein Profil, denn er blickte nachdenklich nach draußen. „Fabienne, ein Schmied setzt sich nicht zur Ruhe. Er stirbt, er arbeitet im Verborgenen oder er versteckt sich beim Feind, all dies sind Möglichkeiten, aber zur Ruhe setzen... nein. Dazu ist Chiyo zu gut. Sie war und ist immer noch eine der besten Schmiede. Ein gerissenes, hinterhältiges, brutales Miststück, aber der beste Schmied, den die Welt je gesehen hat.“
 

„Ich... dachte...“, sie verstummte.
 

„Hatten Sie mit ihr Kontakt?“
 

„Vor ein paar Jahren, als sie Sabin so zusetzten, habe ich sie gebeten ein Auge auf unseren Sohn zu haben. Ich habe sie unter Tränen angefleht Sabins Sohn zu schützen, wenn sie es schon nicht um meinetwillen tun würde so doch um seinetwillen. Sie legte einfach auf. Sie hat weder ja noch nein gesagt, sie sagte gar nichts.“
 

„Sie schätzt diese Art der Zurschaustellung von Gefühlen nicht sonderlich“, lachte Peter leise.

„Nein, das tut sie nicht.“ Fabienne ging hinüber zu der kleinen Bar und holte zwei Gläser hervor. Sie bot ihm einen Scotch an und er nahm an.
 

„Sie wollen etwas, dass Sabin wachrüttelt? Dann trinken Sie, Fabienne, denn die Ereignisse vor sieben Jahren waren keineswegs Etwas, das man nüchtern hören möchte.“ Er kam zu ihr und nahm das Glas entgegen.
 

War es so schlimm gewesen?, fragte sich Fabienne gerade als sie einen großen Schluck nahm.

„Bevor Sie mir etwas erzählen möchte ich Sie fragen woher Sie die Informationen haben.“
 

Er nahm selbst einen Schluck. „Ich war der Kontakt zu Crawford. Sie wollten damals nicht selbst mit dem Hellseher sprechen. Ich durfte die Befehle übermitteln.“
 

Sie nickte.

„Fangen Sie an, Peter.“
 

„Sie schickten Gabriel nach Tokyo um die dortige Generalvertretung Crawford zu unterstützen. Er hatte den Auftrag Japan unter seine Kontrolle zu bringen. Sowohl die Finanzwelt als auch die politischen Strukturen sollten unterwandert werden.“
 

„Der Hellseher war nach Japan versetzt worden?“
 

„Ja, sie wollten ihn weit weg von Sabin haben. In der Angst, dass Sabin sich an den Hellseher binden würde. Das hätte ihr Ende bedeutet. Aber Crawford hatte soweit ich weiß nie Kontakt zu Sabin.“
 

„Was würde denn geschehen, wenn sich Sabin an ihn bindet?“, fragte sie nachdenklich. Sabin war an sie gebunden. Sie hätte die Bindung aufgeben müssen, damit sich Sabin an jemand anderes binden konnte. Freiwillig hätte sie das nie getan, aber es hätte sich Mittel und Wege gegeben um sie dazu zu zwingen. Gabriel wäre sicher eines dieser Mittel gewesen.
 

„Keine gute Idee, Fabienne. Crawford war einmal ein liebenswürdiger, fürsorglicher, warmherziger junger Mann. Mit der Zeit entwickelte er Schutzmechanismen und wurde zu einem eiskalten, gefühllosen, berechnenden Killer. Er bemerkte schnell, dass er keine Chance in dieser Welt hatte wenn er so blieb wie er war. Er begann eine Entwicklung vom Gejagten zum Jäger. Keine guten Voraussetzungen um Sabin an ihn zu binden. Mit Ausnahme von Gabriel schien er die schwierigsten PSI um sich zu scharen.“
 

„Was passierte dort?“
 

Er sah sie fragend an.
 

„In Japan... was ist dort geschehen?“
 

„Sie erinnern sich wie Sabin hier seine kleine Rebellion startete? Sie schickten Gabriel damals nach Japan um ihn von hier wegzubringen. Danach warnten sie Sabin und drohten damit seinen Sohn zu verletzen wenn er sein Tun nicht sofort einstellte.“
 

„Ja, aber Sabin hat aufgegeben, er hat seither keinen einzigen Fluchtversuch mehr unternommen.“
 

„Ja, aber Sabin hatte bis dato mehrere hunderte PSI getötet. Sie wollten Rache.“

Peter presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
 

„Was haben sie getan?“
 

„Kurzum... überließen sie Gabriel ein halbes Jahr lang einem perversen Sadisten. Er hieß Kitamura Tohai. Crawford berichtete mir vom Verfall des jungen Mannes, er flehte uns an, Gabriel abzuziehen. Doch die alten Herrschaften hatten noch nicht genug ihre Rache ausgekostet.“
 

Fabiennes Hand zitterte als sie das Glas zum Mund führte und einen Schluck trank.

Ihre Augen verschwammen, sie blinzelte um ihre Sicht zu klären, aber es hörte nicht auf. Nach ein paar Augenblicken fand sie sich in dem Sessel wieder.
 

„Wir... wir haben das nie erfahren.“
 

„Nein, sie haben wohl auf den richtigen Moment gewartet.“
 

„Der nicht mehr kam.“
 

„Nein, denn ich vermute... dass Crawford blutige Rache schwor.“ Peter füllte ihr leeres Glas erneut. „Und eines hat mich diese Geschichte gelehrt, erzürne nie einen Hellseher. Ich denke die Fürsorglichkeit ist dem Killer noch geblieben. Wie auch immer es geschehen war, sie stürzten mit Hilfe von Weiß – einer gegnerischen Gruppierung - ihre Herren.“
 

„Wir haben... ihn im Stich gelassen“, flüsterte sie mit tränenschwerer Stimme.
 

Peter sah sie besorgt an. „Chiyo würde jetzt...“
 

„...sie würde sagen: Deine Tränen kommen zu spät.“ Sie lachte bitter auf und wischte sich mit den Fingerspitzen die Tränen unter den Augen fort, dann trank sie einen weiteren Schluck und nickte. „Ja... das würde sie sagen und sie hätte Recht damit. Sie kommen viel zu spät.“
 

„Das heißt nicht, dass sie nicht jetzt etwas unternehmen können. Ihre Hauptsorge sollte Sabin gelten. Gabriel kann in der Zwischenzeit gut auf sich selbst achten. Er ist immer noch am Leben und soweit ich weiß ist er dick im Geschäft.“
 

Sie hörte die Worte kaum, als sie sagte: „Zu welchem Preis, kann er jetzt auf sich selbst achten…“, wisperte sie und ihre Stimme hörte sich weit entfernt an. Sie sah den kleinen Jungen vor sich, den sie damals im Stich gelassen hatte. Ihren kleinen Jungen.

„Ich wüsste gar nicht was ich ihm sagen sollte, wenn ich ihm gegenüberstehen sollte. Was sagt man seinem Kind, dass glaubt seine Mutter sei tot, dass nie seinen Vater gekannt hatte? Was soll ich ihm sagen?“

Kurz wallte panische Angst in ihr auf. Welche Mutter ließ ihr Kind im Stich?

Der Gedanke überwältige sie fast, sie brauchte einige Momente um sich über eines klar zu werden: Sie war schon lange keine Mutter mehr.
 

„Was ist mit diesem... Mann geschehen, der Gabriel gequält hatte?“
 

Peter schwieg eine Weile und sah hinaus.

„Kitamura Tohai starb. Wie... kann ich Ihnen nicht sagen.“

Sie schwieg eine Weile und nahm erneut einen Schluck.
 

„Könnten Sie Ihre Kontakte dazu benutzen um Chiyo zu finden? Über die Firma will ich sie nicht kontaktieren.“
 

„Ich will es versuchen.“
 

„Wenn ich vor Ort bin muss sie mit mir sprechen, sie muss mich anhören.“
 

Peters Gesicht versteinerte, er blickte hinaus um seine Gefühle vor ihr zu verbergen. „Sie wollen Chiyo treffen?“

Er bezweifelte ob dies eine gute Idee war. Ein telefonischer Kontakt würde er noch unterstützen, aber ein Treffen?

„Wir haben Chiyo aus den Augen verloren, vielleicht war mein Ratschlag sie zu kontaktieren doch kein so glücklicher, Fabienne.“
 

„Sie trauen ihr nicht?“
 

„Ich bin mir nicht sicher, Fabienne. Lassen Sie mich zunächst ein paar Fäden ziehen, bevor Sie etwas auf eigene Faust unternehmen.“
 

„Mir bleibt nichts anderes, Peter. Sabins Gefängnis ist zu gut gesichert, ich wüsste nicht wie ich allein befreien sollte. Zumal er immer noch die Befürchtung hegt, dass Gabriel wieder in Gefahr geraten könnte, wenn er es erneut versuchen sollte. Es ist in ihn eingebrannt was damals geschehen ist.“
 

„Das Steingefängnis birgt einige Sicherheitsmaßnahmen, die so leicht nicht zu überwinden sind. Ganz zu schweigen von diesem Kraftfeld, dessen Ursprung wir nicht kennen. Es sei denn er hätte genug Ansporn um sich daraus selbst zu befreien. Sabin war noch nie zimperlich wenn es darum ging sich aus schwierigen Situationen zu befreien.“
 

„Er ist eingemauert, Peter. Um daraus zu entkommen bräuchte er einen physischen Kontakt zu einem Telekineten. Was nicht passieren wird. Das Kraftfeld gestattet nur mir hinab zu ihm zu gelangen. Seine Fähigkeiten im telepathischen Bereich sind zwar vorhanden aber mit großer Anstrengung verbunden. Zum Teil mindert das Kraftfeld eine umfassende Anwendung seiner Fähigkeiten. Er kann einen Kontakt nur sehr kurz Aufrecht erhalten.“
 

„Kommunikation und Manipulation sind nicht seine primären Fähigkeiten“, resümierte Peter.
 

„Nein, er vertreibt sich die meiste Zeit damit Menschen zu lesen und treibt in diesen Gedanken umher. Manchmal gibt es Tage in denen er hauptsächlich an anderen Orten ist. Erst vor kurzem hat er einen Kontakt hergestellt, das war ihm schon seit langer Zeit nicht mehr gelungen. Ich will dieses Kraftfeld vernichten.“
 

Peter nickte. „Er ist zu tief unter der Erde, umgeben von Kilometern harten Gesteins. Der Einsatz von Sprengungen würde ihn gefährden.“
 

„Ja, aber wenn sein Wille groß genug wäre, dann würde er es zumindest in Erwägung ziehen fliehen zu wollen. Er würde Hilfe akzeptieren.“
 

„Wir sind bereit, Fabienne. Nur ohne einen Plan und seine Mithilfe wäre ein derartiges Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt.“
 

„Ich habe mich schon oft gefragt warum sie ihn nicht einfach erschossen haben oder mir den Zutritt verweigern?“ Sie seufzte erneut und hielt ihr Glas Peter hin. Dieser nahm es ihr ab und schenkte ihr nach.

Sie sah ihm dabei zu.
 

Peter lachte freudlos. „Weil sie Angst haben. Er ist im Moment noch an seinen Körper gebunden, Fabienne. Aber was wäre, wenn er diesen nicht mehr bräuchte? Ohne das Kraftfeld, könnte er telepathisch an jeden Ort der Welt gelangen, könnte dort jeden Menschen manipulieren und auf seine Seite ziehen. Er kann aus einer Laune heraus Seelen heilen oder vernichten, mit nur einer Berührung. Das obliegt nur ihm, niemand wird ihn je aufhalten können. Bisher wollten sie dieses Risiko nicht eingehen. Im Endeffekt kann nur Sabin sich selbst zügeln, ich bin mir fast sicher, dass seine Macht grenzenlos wäre, wenn er sie freien Lauf ließe.

Warum rekrutieren sie derart viele PSI? Sie wollen ihn töten, Fabienne und dann sicher gehen, dass seine Seele sich nicht davon machen kann. Sie wollen ihn auslöschen. Sie suchen nach starken PSI. Ein Zusammenschluss mehrerer starker PSI oder gar einer Heerschaar würde selbst Sabin vernichten. Ich bin mir sicher, dass sie den Ursprung des Kraftfeldes kennen und nur vortäuschen nach einem Weg zu suchen. Thomas Straud würde alles tun um Sabin zu vernichten um mehr als nur sein Stellvertreter zu sein.“

„Aber er ist es doch. Was will er mehr? Es gibt nur eine Handvoll Menschen die wissen, dass er nicht der wahre Somi ist.“

„Das spielt für ihn keine Rolle denke ich.“

Peter fragte sich gerade was die Hälfte der Trias in Japan machte. Warum waren sie dort? Er hoffte nicht weil sie starke PSI rekrutieren wollten um einen gemeinsamen Feind niederzuschlagen. Er würde es De la Croix zutrauen Sabins Sohn für diese schmutzige Arbeit einzuspannen. Der Sohn, der den Vater tötete weil er zu gefährlich geworden war. Gabriel wüsste nicht einmal wen er da angriff. Armselig aber durchaus machbar, resümierte Peter. Aber eher etwas, dass er Thomas Straud zutrauen würde. De la Croix war ein Jugde, derlei Hinterlist war selbst ihm fremd und soweit Peter ihn kennen gelernt hatte zuwider.

Seine Gedanken konnte er jetzt noch nicht Fabienne mitteilen, das würde sie verunsichern und noch mehr in Sorge stürzen. Vielleicht fantasierte er sich auch nur das Schlimmste zusammen. Er würde erst abwarten was seine Informanten über die Situation in Japan zu berichten wussten.
 

„Dann drängt es umso mehr“, sagte Fabienne und riss Peter damit aus seinen Überlegungen.
 

„Ich wäre meine Kontakte aktivieren und Ihnen Bescheid geben, sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe.“
 

Fabienne nickte. „Er ist der Einzige seiner Art, ich wollte ihn damals bewahren und will es heute noch.“
 

Peter berührte ihre Schulter, er betrachtete ihr Profil. Und ihm kam etwas an diesem Satz falsch vor.

Er war zwar der EINZGE seiner Art... doch seine Spione hatten ihm berichtet, dass es in Las Vegas jemanden gab, der dem was Sabin war am Nächsten kam und dabei weniger Kontrolle über sich hatte. Schlimmer noch... er war in Thomas Miller Hand.
 


 


 


 

Fortsetzung folgt…
 

Vielen Dank fürs Lesen!

Gadreel

Ein Sturm zieht auf

Ein Sturm zieht auf
 


 

Tokyo
 


 

Das Erwachen war wie stets abrupt und unangenehm. Seine Handlungsfähigkeit während dieser speziellen Art von Vision unbeschränkt, so lange wie er sie nicht löste zumindest. Die längste Zeitabfolge, die er in einer Vision je zustande gebracht hatte waren vier durchlebte Tage gewesen in der er versucht hatte den Ausgang einer bestimmten Handlung herauszufinden.

Er war flexibel, denn Zeit spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Er hatte viel Zeit in einer Vision. Unendlich viel Zeit. Wie immer wenn er diese spezielle Vision bekam versuchte er seine Handlungen zu ändern um einen anderen Ausgang der Situation herbeizuführen und... scheiterte dieses Mal aufs Neue.

Brad setzte sich auf, nahm seine Brille vom Nachttisch und befühlte nachdenklich die Bügel. Was konnte er ändern?

Er drehte die Frage hin und her und doch wollte keine der möglichen Antworten sich als die Richtige herausstellen.

Vielleicht war alles falsch? Er ging immer von der jetzigen Konstellation mit den jetzigen Akteuren aus. Wäre es möglich, dass weniger Akteure... weniger Variablen...

Brad begann zu rechnen, während er sich langsam erhob und sich die Brille aufsetzte. Es war weniger als dreißig Minuten vergangen und doch hatte er während der Vision zwei Tage einer möglichen Zukunft erlebt, die so nie eintreten durfte.

Er ging ins Badezimmer um sich das Gesicht frisch zu machen. Währenddessen schob er Wahrscheinlichkeiten in seinen Gedanken hin und her und plötzlich... ganz plötzlich... gab es eine Möglichkeit...
 


 

o
 


 

Es war früher Nachmittag als Finn aus dem Badezimmer im Erdgeschoss frisch geduscht hinunter in den Keller ging. Seine Verbände hatte er sorgsam erneuert, nachdem Schuldig ihm demonstrativ einen Verbandskoffer in den Keller gebracht hatte. Die Stunde Schlaf hatte ihm gut getan, danach hatte er geduscht und die Verbände artig erneuert. Die Wunden sahen zwar gut aus, dennoch trat aus einigen der Nahtstellen klare, leicht blutige Flüssigkeit aus, woraufhin er sich für frische Verbände entschieden hatte – obwohl er generell etwas gegen diese ziepende klebrige Wundabdeckung hatte.

Zu seinem Leidwesen fühlte er sich immer noch kraftlos und ausgezehrt. Hinzu kam ein unwohles Gefühl, dessen Ursprung er nicht ganz ergründen konnte, gelegentlich zitterte und schwitzte er bei jeder noch so kleinen Anstrengung.

Er trug erneut die Kleidung wie zuvor, da er sich noch nicht auf die Suche nach seinen Taschen gemacht hatte. Vor seiner Tür stand nun eine davon. Er nahm sie auf und betrat den Raum im Keller der ihm von Brad zugedacht worden war und legte die Tasche auf dem Bett ab.

Er zog die frisch verpackten schwarzen Hemden hervor, und seinen Anzug, den er nur zu besonderen Einsätzen gebraucht hatte. Seine Chucks waren ebenfalls darin, sowohl sie als auch der Anzug waren gereinigt worden.

Er freute sich darüber und zog sich an, denn er musste heute zu seinem Vater um ihm von Kiguchis Tod zu berichten.
 

Umgezogen beschloss er den Keller genau unter die Lupe zu nehmen. Seine ihm zugedachte Räumlichkeit lag am Ende eines Ganges. Er schätzte, dass er unter dem großen Wohnbereich lag. Er trat aus seinem Raum und fand links davon eine Stahltür, die einen Spalt offen stand. Er öffnete sie, suchte den Lichtschalter in dem dunklen Raum und staunte nicht schlecht als er einen komplett eingerichteten Trainingsraum vorfand. Er war mit Tatamis ausgelegt und an den Wänden hingen unterschiedliche Übungswaffen. Es gab keine Fenster. Zu seiner Rechten war eine Doppeltür aus Holz, eine Verbindung in einen anderen Raum, wie es schien.

Die Türen öffnend kam er in einen Raum dessen Wände mit knallroten Schaumstoffmatten schallgeschützt ausgekleidet waren. Er würde eine Wette darauf abschließen, dass Schuldig hier die Auswahl der Farbe getroffen hatte. In einiger Entfernung waren Ziele aufgestellt worden. Auf einem Tisch lagen Handfeuerwaffen und auf der linken Seite sah es aus wie eine Wandvertäfelung, die sich über die ganze Seite erstreckte. Er vermutete ein ganzes Arsenal an kleineren und größeren Feuerwaffen dahinter.

Rechts von ihm gab es eine Tür, die allem Anschein nach in den Gang zurückführte.

Er trat den Rückzug an, schloss die Doppeltür und verließ den mit Matten ausgelegten Raum. Wieder im Gang angekommen richtete er sein Augenmerk wieder nach vorne und schlenderte ein wenig herum als wäre er in einer Ausstellung. Dabei ließ er seinen Blick über die Wandvertäfelung gleiten, bemerkte das Fehlen von Kameras und empfand die Ausstattung der Böden und Decken als sehr hochwertig für einen simplen Keller. Rechts vor sich tat sich die Treppe nach oben auf, weiter vorne zwei weitere Türen.

Eine der Räume beinhaltete den Technikraum. Den würde er sich bei Gelegenheit noch einmal genauer ansehen. Er öffnete den letzten Raum und knipste das Licht an. Ein Vorratslager wie es schien, hohe Wandregale, in denen nicht viel stand, ein paar Kisten mit Verbandsmaterialen, Nahtmaterial und Haushaltswaren. In der Ecke standen Wasserkanister. Die Vorräte sollten aufgefüllt werden, grübelte Finn und machte sich in Gedanken eine Notiz Brad darauf anzusprechen.

Halb versteckt von der Kellertreppe gab es noch eine Tür, die aber abgesperrt war. Naja, um dieses lächerliche Schloss würde er sich später kümmern müssen. So machte er sich auf den Weg ins obere Stockwerk und ignorierte dabei geflissentlich die Geräusche aus der Küche. Er verspürte schon wieder nagenden Hunger, dieses elende Gefühl war verschmerzbar, wusste er doch, dass es Wichtigeres gab.
 

Als er auf der Suche nach dem Rest seiner Habseligkeiten das Schlafzimmer vom Objekt seiner unerwiderten Begierde passierte hörte er Jenes im Bad hantieren. Ob er dem Drang nachgeben sollte und einen kleinen voyeuristischen Blick riskieren sollte? Er blieb stehen, lehnte sich an die Wand und versuchte der Versuchung zu widerstehen. Noch immer war es als könne er Brads Lippen auf seinen spüren, als könne er die Hände auf seiner Haut fühlen.

Leise seufzend entschied er sich Brad in Ruhe zu lassen und ging den Korridor weiter bis er auf eine offene Tür stieß. Ein großer Raum, ein langer Tisch, mehrere Rechner und noch mehr Bildschirme offenbarten sich ihm als eine Art Planungsraum. Auf dem Tisch fand er seine Taschen. Er lugte zurück in den Flur, keiner war zu sehen, so betrat er den Raum und ging zu seinen mageren Arsenal an Habseligkeiten und zog das Notebook hervor, das er sein eigen nennen durfte.
 

Er nahm es an sich und ging nach unten, den Geräuschen nach in die Küche. Dort begegnete er Fujimiya Ran, dem mysteriösen Etwas, dass er nicht durchschauen konnte. Die violetten Augen verfolgten wie er sich an den ausladenden Tisch setzte und das Notebook ablegte.

Ran war erneut dabei Schusswaffen zu zerlegen und sie zu reinigen. Dieses Mal waren es drei Sonderanfertigungen wie Finn nach einem Blick auffiel. Metallgriff, Gravur, längerer Lauf. Auf der Anrichte warteten Lebensmittel darauf für das Abendessen vorbereitet zu werden.

„Wem gehören sie?“, fragte Finn und wartete bis sein Rechner zum Leben erwachte.

„Schuldig.“

Das musste wirklich Liebe sein, wenn Schuldig Ran gestattete seine Waffen zu reinigen... Finn schmunzelte innerlich.

Ran besah sich den Mann, der hier in einem passgenauen Anzug Platz nahm. Nun sah er tatsächlich so aus, wie einer aus dem Clan. Asugawa strich sich die glatten Haarsträhnen hinter ein Ohr.

„Gehört zu diesem Outfit nicht eine Maske?“
 

Finn sah auf. „Nicht zwangsläufig“, sagte er beiläufig und nicht ganz bei der Sache scheinend. Ran erwiderte nichts darauf, davon ausgehend, dass sein vermeintlicher Gesprächspartner an einem Gespräch nicht sonderlich interessiert schien.
 

„Wo ist sie denn?“, fragte Finn, während er die komplizierte Verriegelung der Kassette einleitete.
 

„Sichergestellt in Crawfords Asservatenkammer“, bot Ran eine zugegebenermaßen haarsträubende Möglichkeit an. Da niemand ihn für den humorigen Typ Mensch hielt konnte Ran fast alles mit ernster Mine vortragen und es wurde selten angezweifelt wie es... den Anschein hatte. Was ihn persönlich sehr amüsierte. Innerlich verstand sich...
 

„Hat er so etwas?“, fragte Finn erstaunt und sah nun zum ersten Mal seit er sich mit seinem Rechner beschäftigt hatte auf.
 

Ran hatte den anderen nicht aus den Augen gelassen und fragte sich gerade ob Finn das tatsächlich für bare Münze nahm. Er wollte etwas sagen, schwieg aber dann. Besser, diesen Mann und sein Verhalten noch ein wenig länger zu beobachten. Dann jedoch...

„Hat er. Er bewahrt dort seltene und wertvolle Objekte auf, die ihm irgendwann noch nützlich sein können.“

„Und wo ist diese Kammer?“ Der Raum der im Keller abgesperrt war? Finns Neugierde wuchs gerade um ein Vielfaches an.

„Weshalb dieses Interesse?“

„Nur so...“

„Hast du die Befürchtung dort zu landen?“

„Nein, ich bin nicht selten oder gar wertvoll genug, fürchte ich…“, murmelte Finn.

Ran bezweifelte dies, sagte aber ein Weilchen nichts mehr.

Währenddessen vertuschte Finn seine Spuren im Netz. Er wartete gerade auf ein Signal als er aufsah und Ran dabei zusah wie er den Lauf einer Browning HP reinigte.

„Bedeutet sie dir etwas?“, fragte Ran und Finn zuckte mit den Schultern.

„Die Maske?“, hakte Finn nach, nicht sicher ob sie noch beim gleichen Thema waren.

„Sie bot Schutz.“
 

„Nicht vor einer Kugel.“
 

„Nein... das nun nicht.“ Finn dachte an die Male, in denen sie PSI gejagt hatten und sie mit ihrer Maskerade eingeschüchtert hatten. Es waren normale Menschen gewesen, die normale Jobs gehabt hatten, mit Familie, mit einem… Leben.

Finn ballte eine Hand zur Faust.

Normale Menschen mit nicht normalen Talenten, die deshalb sterben mussten weil sie anders waren. So wie er. Warum lebte er noch? Weil er auf der anderen Seite des Laufs gestanden hatte, gab er sich selbst die Antwort.

Wussten Schwarz, dass sie die einzigen Überlebenden in Japan waren? Dass der Rest der PSI Gesellschaft geflohen oder ermordet worden war?

Hatte Schuldig es in seinen Gedanken gelesen?

Würden sie wütend werden? Endlich wütend werden und etwas unternehmen? Und wollte er das noch? Hatte er noch eine Chance auf Brad wenn sie in diesen Krieg hineingezogen würden? In den er sie alle hineinziehen wollte? Wenn er sich hier so umsah wusste er nicht mehr ob er das alles noch wollte.

Hatte er nur Kontakt aufnehmen wollen weil es sonst keine Gelegenheit gegeben hätte ihnen näher zu kommen? Brad näher zu kommen?
 

Finn loggte sich ein um nachzusehen um sich seinen Kontostand anzeigen zu lassen. Sie hatten mehrere Konten – er und Kiguchi, etwas an Bargeld in zwei Verstecken, aber...

Er runzelte die Stirn. Es war nichts mehr da. Das konnte doch nicht sein. Er kontrollierte erneut.

Er kaute auf seiner Unterlippe herum und versuchte nachzuvollziehen wohin das Geld gegangen war. Laut dem Protokoll hatte Kiguchi vor ein paar Tagen die Konten leer geräumt.

Freiwillig oder unfreiwillig? Und wenn so oder so wo war das Geld jetzt? Sie hatten nie viel besessen, aber es war ein gutes Polster gewesen für den Fall dass sie den Clan verließen. Irgendwie hatte er seine Nebentätigkeiten ja finanzieren müssen.
 

„Probleme?“, fragte Fujimiya, Finn sah auf und beobachtete ihn wie er ein Magazin mit Munition bestückte.
 

„Ich...“, fing Finn an. Er war mittellos. Das Einzige was er jetzt noch besaß war in den Taschen. Ein paar Verstecke gab es vielleicht noch... Vielleicht sollte er die „Spinne“ wieder beleben. Der eine oder andere Auftrag neben zu würde ihm wieder Geld in die Taschen spülen. Aber sie... er hatte gerade wesentlich größere Probleme zu bewältigen. Da war der Clan, Chiyo, Gabe noch verschollen... Er totgeweiht... und dann war da noch Bradley Crawford.
 

„Er... ist... pleite“, hörte er Schuldig hinter sich und sein Kopf ruckte herum. Er streifte mit seinen Lippen die Wange des anderen, da dieser so nahe an ihm klebte. Erschrocken rutschte er samt Stuhl zur Seite und sein Blick fuhr zu Fujimiya herum. Gott, konnte das als Kuss gewertet werden?

Fujimiyas Augen wurden eine Spur dunkler als er die Waffe fertig zusammensetzte. Er lächelte schmal, die andersartigen... Augen erreichte dieses Lächeln nicht.

„Lass das nicht zur Gewohnheit werden.“

Finn runzelte die Stirn. Er starrte den Mann vor sich an. Blinzelte. Wie hatte er das übersehen können? Finn wagte es noch nicht den Gedanken deutlicher zu fassen, er hatte einen Verdacht...
 

„Wer will schon aus Gewohnheit pleite sein?“, fragte Schuldig gänzlich am Thema vorbei noch immer auf den Bildschirm konzentriert.

Finn starrte diesen Ausbund an Nachdenklichkeit und gleichzeitiger Naivität an und Ran legte die Waffe auf den Tisch, dass Geräusch des Carbonstahls wie es auf den Tisch aufkam war nicht laut aber er verstand eine Drohung auch wenn sie auf leisen Sohlen daher kam.
 

Finn sah wieder zu Ran und erhaschte einen milden Gesichtsausdruck, liebevoll auf Schuldig gerichtet, als dieser aufsah war er vorbei. Finn fühlte aufgrund dieses kleinen Einblicks in Fujimiyas und Schuldigs Verbindung was er vermisste. Es war das Gefühl der Annahme, des Verstehens.

Er rief sich sogleich zur Ordnung. Du hast etwas gewonnen, freu dich darüber und hör auf heulen.
 

„Das ist kein Problem.“ Er sah auf und der leidenschaftslose Blick des langhaarigen Japaners, sagte bereits alles. Er trug seine Haare nur nachlässig in einem Zopf, daher fielen ihm teilweise ein paar der Haarsträhnen ins Gesicht, was den Blick der dahinter hervorlugte nur umso aussagekräftiger für Finn machte.

Fujimiya zweifelte seine Worte an. Nicht nur das, Finn senkte rasch seinen Blick auf den Bildschirm, denn er hatte soeben erkannt, dass Fujimiya Ran eine ganz besonders süße dunkle Frucht war. Köstlich aber giftig und daher tödlich. Ein bisschen wie er selbst.

„Ich habe mich nur gewundert, das ist alles.“
 

Ran sagte nichts und Schuldig hatte die Arme verschränkt. Er löste diese Haltung und ging hinüber zur Anrichte. Den Kühlschrank öffnend sammelte er die restlichen Zutaten für das Abendessen zusammen. Offenbar war er es gewesen, der sich zuvor schon um die Lebensmittel auf der Anrichte gekümmert hatte.

„Hast du nichts in Reserve?“, hörte er als Finn den Rechner herunterfuhr um ihn auszuschalten.
 

„Habe ich“, sagte Finn sorgloser als er sich fühlte. Kiguchi sein Bruder, sein Halt war gegangen, er hatte keine finanziellen Mittel mehr und sein Handlungsspielraum war begrenzt. Sie hatten ihn festgesetzt in dem sie ihm alles genommen hatten. Wenn er Kiguchi doch wenigstens einer angemessenen Beerdigungen zuführen hätte können. So hatte er gar nichts tun können. Er musste seinem Halbbruder Hisoka und seinem Vater noch von seinem Tod unterrichten.

Betäubung setzte in seinen Verstand ein. Zudem war er abhängig von einem Koffer mit blauen Phiolen und einem Mann der ihn nicht wollte. Doch er wollte ihn schon, korrigierte Finn gedanklich, nur nicht wie Finn es gerne gehabt hätte.

Aber würde das einen Unterschied machen wenn er starb?
 

Während er über diesen Umstand nachgrübelte und zu dem Ergebnis kam, dass es tatsächlich einen Unterschied machen würde bekam er nicht mit wie Schuldig und Ran lautlos kommunizierten. Es waren Blicke die das Paar tauschte und die nur sie verstanden.
 

Der Unterschied lag darin, dass es nur umso schlimmer schmerzen würde, wenn Brad etwas für ihn empfinden würde wenn er in den letzten Atemzügen lag. Für die Romeo und Julia Nummer war er doch etwas zu… desillusioniert.

Ohnehin musste er sich für diesen letzten Gang einen Platz suchen an dem er in Ruhe abtreten konnte. Er würde es nicht ertragen können wenn einer von ihnen es mitbekommen würde, oder Brad. Das wäre das Sahnehäubchen in seinem Leben in der Scheiße.

Obwohl, so ein bisschen Held spielen zum Schluss hätte schon etwas für sich. Er würde dann zumindest in guter Erinnerung bleiben. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass er für Theatralik und Schauspiel ein Faible hatte.

Aber wie bemerkte er wenn er starb? Schließlich fühlte er sich im Augenblick gar nicht so schlecht. Er hatte nur momentan nahe am Wasser gebaut und fühlte sich in manchen Augenblicken etwas… zerbrechlich. Was gänzlich neu für ihn war – sich ständig um irgendetwas zu Sorgen. Er war es der Pläne machte, der Ränke schmiedete… nicht einer, der sich sorgte was werden würde.
 

„Kannst du kochen?“, hörte er eine Frage, war aber zu beschäftigt damit einen Ausweg aus seinem Dilemma zu finden.

„Nein“, antwortete er deshalb abwesend. „Nie gelernt.“ So gesehen war er noch nie auf sich allein gestellt gewesen. Er hatte noch nie alleine gelebt, oder war für einen anderen Menschen verantwortlich gewesen. Nicht in dem Umfang in dem es normale Menschen taten. Er musste arbeiten für seinen Lebensunterhalt, nur war diese Arbeit vorausgesetzt gewesen, er hatte zu Essen und Kleidung bekommen, ihm war gesagt worden was er wo und wann zu tun hatte. Erforderlich war nur ein positives Endergebnis gewesen.

Jetzt schien es anders zu sein. Er hatte kein Ziel mehr. Zuvor musste er sich Zeit erschleichen, oder erlügen um Schwarz zu observieren. Es war unterhaltsam gewesen auf beiden Hochzeiten tanzen zu können. Jetzt... wusste er nicht wohin mit sich.
 

„Hmm“, brummte Schuldig und zuckte in Rans Richtung mit den Schultern. Dieser winkte unauffällig ab.

„Gibt es etwas dass du gut kannst?“

Finn furchte die Stirn. Vielleicht sollte er das Portal mit den offenen Aufträgen noch einmal einsehen.

„Verführen, ficken, töten“, sagte er etwas genervt über dieses Gespräch und schob das schmale Notebook wieder in seine Kassette ein.

„Na ist doch prima! Du wirst unsere Hausnutte!“, begeisterte sich Schuldig, aber der zynische, scharfe Tonfall und das Messer das sich gerade fast schon brutal in das Schneidebrett rammte weckte seine Aufmerksamkeit. Finn sah mit großen Augen auf und fand sich mit Schuldig, einem zornigen Blick und verschränkten Armen konfrontiert. „Jeder darf mal ran, so oft er will und damit ist die Kost und Logis bezahlt.“
 

Finn sah von einem zum anderen und war sich nicht sicher was das zu bedeuten hatte.
 

Ran fühlte Ärger in sich aufkommen. „Schu der Witz geht gerade nach hinten los“, sagte er bedächtig.
 

„Ja...“, sagte Schuldig ebenso langsam. „Scheint mir so.“

Ein Witz? Oh, das war gut. Er hatte schon kurz die Sorge besessen es werde wie im Clan mit ihm verfahren.

Schuldig wollte gerade etwas sagen als Brad zu ihnen stieß und Finn fast in sich zusammenfiel vor weichender Anspannung. Sowohl Ran als auch Schuldig bemerkten diese Reaktion und Schuldig hob fragend die Augenbrauen während Ran einen Mundwinkel zu einem milden Lächeln hob.
 

Brad trug einen Anzug und Finn erhob sich sofort.

„Wir fahren los und reden mit Naoe. So wie es aussieht wird er noch dort bleiben. Bist du soweit?“, richtete er an Finn und dieser wähnte sich im Fokus der ungewöhnlichen Augen. Eine Braue hob sich ob des unpassenden Schuhwerks – seiner knallroten Converse – kommentierte es jedoch nicht.
 

„Wir essen wenn ihr hier seid“, sagte Ran und Finn erhob sich, dankbar dafür diesem Gespräch das vor Brads Erscheinen stattgefunden hatte entkommen zu können.
 

„Ich treffe dich am Wagen“, sagte Brad zu ihm und verschwand nach draußen. Finn nickte und blieb unschlüssig in der Küche stehen. „Kann ich... kann ich noch eine Birne haben?“ Er hatte einen Mordshunger.
 

Schuldig nahm eine aus der Schüssel, die er fürs Abendessen bereits gewaschen hatte und warf sie ihm zu. „Bis später.“

Ran sah ihnen nach.

„In Brads Gegenwart…“ Ran verstummte.

„Hmm… ja… er entspannt sich sichtlich. Als wäre ihm die Last dieser Unterhaltung genommen worden.“

„Er hat das Gefühl sich beweisen zu müssen?“

„Unser persönlicher Stalker muss sich beweisen. Das Gefühl hat er offenbar bei Brad nicht.“
 

Finn ging nach draußen, stieg in den Jaguar und setzte sich auf den Beifahrersitz. Das Grundstück war hoch mit Mauern eingefasst. Bäume standen zudem gut verteilt auf dem Grundstück was vor Blicken zusätzlich schützte. Ein zweischneidiges Schwert, mit einem Telepathen und einem Empathen im Haus jedoch verschmerzbar. Er sah die Bewegungsmelder und die Kameras.
 

„Bist du bewaffnet?“
 

„Ja, der Situation angepasst“, erwiderte Finn und betrachtete sich die Gegend. Gut ausgewählt, fand er damals schon.
 

Finn machte gerade Anstalten aus...

„Im Wagen wird nicht gegessen“, wurde er angewiesen, just in dem Moment als seine Finger, die von ihm erbeutete Frucht hervorziehen wollten.

Er hatte noch nichts gegessen und da heute im Haus so viel Betrieb war und er offensichtlich das Mittagessen verschlafen hatte musste er darben bis sie wieder zurück waren. Er hoffte, dass er dann etwas zu Essen bekam. Vielleicht konnte er Brad überreden irgendwo anzuhalten...

Sein Plan den Mitgliedern beider Teams möglichst nicht auf die Zehen zu treten, einen Kontakt wenn es ging zu umgehen um das Konfliktpotential zu verringern konnte er bisher gut in die Tat umsetzen.

„Nein, je schneller wir das hinter uns bringen, desto schneller kannst du etwas Vernünftiges essen.“
 

Finn blickte missmutig aus dem Fenster. So war das also mit einem Hellseher.
 

„Dann...“, er wartete einen Moment, schließlich wusste Brad schon was er sagen wollte, oder?
 

„Ja?“
 

„Dann weißt du schon was ich sagen will?“
 

„Nicht immer.“
 

„Wann?“
 

„Zufallsprinzip“, erwiderte Brad und hielt an einer Ampel. Das stimmte nicht ganz, aber er war nicht bereit alles preiszugeben, nur weil neben ihm ein neugieriger Mensch saß. Und irgendwie ganz weit hinten in seinem Herzen machte es ihm Spaß ihren Spion zu ärgern.
 

DAS glaubte Finn nicht eine Sekunde lang. „Findest du dieses Leben nicht langweilig?“, rutschte ihm heraus. Er fand es immer besser sich das Serum zu verabreichen. Noch ein Punkt mehr auf seiner Pro-Liste.

Um für Brad interessant zu bleiben sollte er möglichst unvorhersehbar sein.
 

„Nein, ich mag es langweilig, übersichtlich, keine Überraschungen, schön geordnet. Was hat uns dieses Serum bisher gebracht? Unkalkulierbare Begebenheiten und daraus resultierende Katastrophen. Darauf kann ich verzichten.“
 

Nach dieser endgültig scheinenden Antwort schwieg sich Finn erneut aus. Er gehörte wohl auch zu diesen unkalkulierbaren Dingen, auf die Brad verzichten konnte. Finn würde nicht soweit gehen und sich selbst als Katastrophe bezeichnen, aber… nichtsdestotrotz musste er zugeben aus einem gewissen Blickwinkel könnte ein kritischer Betrachter geneigt sein ihn als solche zu bezeichnen.
 

Ihm graute vor dem Abend, wenn sie sich alle „unterhalten“ wollten. Seine einzige Hoffnung war, dass diese sogenannte Unterhaltung - oder noch geschönter: Besprechung - nach dem Abendessen stattfinden würde. In ihren Kreisen hieß das eher Befragung.

Er hatte nicht vor etwas zu verschweigen, diese Zeit wollte er hinter sich lassen. Kiguchi hatte gesagt, er müsse vertrauen haben. Wenn das nur so leicht für ihn wäre, hatte er doch sein Leben lang etwas anderes gelernt.

Finn schielte unauffällig zu Brad. Zu dem Mann neben sich hatte er allerdings Vertrauen. Warum war das nur so?

Er kannte ihn nur von seinen Beobachtungen, war ihm nur drei Mal in seinem Leben für einige Stunden näher gekommen – und jedes einzige Mal war es unter falschen Voraussetzungen und einer Lüge geschehen.

Das Schlimme daran war, dass sein Gehirn oft aussetzte wenn es Brad Crawford ansichtig wurde. Entweder benahm er sich total daneben, obwohl er ihn beeindrucken wollte oder er heulte und mutierte zu einem totalen Schwächling. Wenn er das Serum hätte, dann würde er wieder wie früher sein, mit allen Wassern gewaschen, cool, souverän, Brad würde ihm gehören.
 

„Bist du noch sauer?“, huschte die Frage plötzlich hervor und Finn machte große Augen. Wo war denn das bitte hergekommen? Weshalb plapperte er in der Gegenwart dieses Mannes derart unnützes Zeug?
 

Brad schloss in der Schlange auf und war ebenso verblüfft wie Finn über diese Frage. Tatsächlich hatte er sie nicht kommen sehen.

Er regelte die Lautstärke der Anlage etwas nach unten.

„Worüber?“ Fragte er ruhig.

Er war NIE sauer über irgendetwas, fühlte er sich bemüßigt, das in Gedanken klar zu stellen.

„Was bedeutet das eigentlich? Sauer? Ich bin höchstens über etwas wütend oder ungehalten.“

„Über Sophie. Ich musste gerade daran denken.“ Finn sah aus dem Fenster.
 

„Was hast du dir damals eigentlich dabei gedacht?“ fragte Brad etwas… ungehalten. „Die Begründung, dass du neugierig warst und… Zeit hattest… ist lächerlich.“
 

Finn schmunzelte. „Kiguchi hat das Gleiche gesagt. ‚Was denkst du dir dabei? Denkst du überhaupt? Oder denkst du nur mit deinem Schwanz?‘ Er war wirklich angepisst, das kannst du dir nicht vorstellen.“ Finn musste breit grinsen, was sich nach ein paar Momenten verlor.
 

Und wie Brad sich das vorstellen konnte. Er hatte den Riesen nicht kennen gelernt, aber wenn er wie Hisoka war dann fragte sich Brad wie Finn ihn so sehr im Griff gehabt hatte um für so eine Aktion Unterstützung zu finden.
 

„Wenn er dagegen war, warum hat er dich dann unterstützt?“
 

„Das hat er immer getan“, Finn blinzelte einmal und sagte dann nichts mehr. Er hing während der restlichen Fahrt seinen Gedanken nach und Brad ließ ihn.
 

Hisokas riesige Gestalt, die Kiguchi ähnlich an Masse und Größe war kam als Erste in ihr Sichtfeld als das Rolltor hochfuhr und sie den Wagen ein paar Meter weiter vor fuhren. Finn war diese Klinik nicht neu, aber er konnte sich nicht entsinnen sie je betreten zu haben. Der Doc genoss so etwas wie einen Status der Unantastbarkeit in der Unterwelt dieser Stadt.

Brad stieg aus dem Wagen, Finn sah zur Seite und Brad nach. Er zuckte fast schon zusammen als die Wagentür zufiel. Für einen Meuchelmörder war er heute aber wieder sehr schreckhaft, tadelte er sich ironisch selbst.

Er fürchtete sich davor seinem Vater und Hisoka mitzuteilen dass Sohn und Bruder ... sein geliebtes Kind und der Bruder tot waren. Und das nur wegen ihm. Kiguchi hatte ihn so oft davor gewarnt nicht zu kopflos zu sein. Dabei...

Erneut atmete er tief ein, schloss die Augen für einen Moment bevor er bemerkte, dass Hisoka ihm die Tür geöffnet hatte. Er öffnete seine Augen und ließ sich vom Sitz gleiten.

„Würdest du mich bitte zu Vater bringen?“, fragte er leise, er mied den Blick in die warmen Augen nicht und fühlte dem Schmerz nach der sich in seiner Brust ausbreitete. Er hatte dieses drückende, ziehende Gefühl das ihm die Luft abschnürte verdient.
 

„Natürlich“, erwiderte Hisoka freundlich und Finn nickte. Er sah sich nach Brad um, der auf sie beide wartete, damit Hisoka ihm öffnen konnte.

„Er macht gerade einen Hausbesuch, ich erwarte ihn aber bald zurück.“

Finn hörte dies nicht gerade gerne, er hätte seinem Vater lieber früher als später vom Tod seines Sohnes berichtet und er hätte es am Liebsten selbst getan.

Aber er wusste, dass Brad noch Großes mit ihm vorhatte und die Zeit reichte sicher nicht dafür, dass er auf seinen Vater wartete.

Hisoka begleitete sie bis zu einer Zimmertür, er klopfte an und nachdem die Tür sich geöffnet hatte und sie eingetreten waren wandte sich Brad dem Jungen zu, der noch immer Bettruhe hatte. Somit war der Blick auf Finn freigegeben und er fühlte sich unter dem Starren der beiden anderen Personen im Raum nicht so unwohl wie er vor dieser Begegnung befürchtet hatte denn eine davon war...
 

„Finni! Finni!“, hörte er die zarte Stimme, die sich gerade aus einem Stuhl kämpfte und zu ihm gerannt kam. „Lilli“, sagte er und die Freude darüber sie sehen zu dürfen wischte seine Sorgen für den Moment beiseite. Er ging auf die Knie und schloss sie in die Arme. Er zog sie fest an sich, ihre Füße streiften über seine Knie und sie fing an zu weinen.

„Waren sie gemein zu dir, Lilli?“, fragte er sanft und strich ihr über den Kopf.

Sie schüttelte ihn, nahm aber ihr Gesicht nicht von seiner Schulter.

„Nein? Hast du Heimweh?“

„Ja“, nuschelte sie verdrossen.

„Gefällt dir dein neues Zuhause nicht?“

„Ich mag nicht hier sein.“

„Wo willst du denn dann sein?“

„Bei Gabe!“

Finn erhob sich geschmeidig mit seiner Last und ging ein paar Schritte mit ihr um sich auf den Stuhl zu setzen. Sie richtete sich auf und sah ihn mit zitternden Lippen an. Er wischte ihr mit einem Lächeln die Tränen von den Wangen.

„Brad und ich fahren jetzt und dann versuche ich Gabe zu dir zu bringen, ja?“

Sie nickte, aber nicht ganz überzeugt. Sie sah zu Brad hinüber, der Finns Blick erwiderte, jedoch konnte Finn ihn nicht einschätzen.

Die blaugrauen Augen des jungen Mannes jedoch versprachen eindeutig eine Abreibung für Finn, falls der Telekinet wieder zu Kräften kam.

Finn wandte den Blick wieder zu Lilli.

„Hey, Kleines... aber das wird dauern, denn Gabe ist nicht mehr Zuhause, wie du auch nicht. Er hat ein neues Zuhause und ich muss dieses Zuhause erst finden. Verstehst du?“

Sie schüttelte den Kopf.

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich weiß, dass du es verstehst, aber nicht magst. Schau mal, dass hier sind meine Freunde und sie passen sehr gut auf dich auf. Deshalb habe ich sie gebeten auf dich zu achten.“
 

Es war still im Raum und Finn fühlte einige Augenpaare auf sich gerichtet und fragte sich gerade was in deren Köpfen vorging. Und er fühlte sich ganz und gar nicht wie unter Freunden. Vom Punkt einmal abgesehen, dass er nie welche besessen hatte. In ihrer Branche pflegte man vielleicht ein Verhältnis zu einem Supporter, oder einem Kollegen, aber gewiss zu keinen Freunden. Sein einziger Freund war durch seine Schuld gestorben.

Sie sah ihn schmollend an, er behielt sein zuversichtliches Lächeln bei obwohl es gelogen war. Er fühlte keine Zuversicht in sich.

„Wie geht es dir?“

Sie zuckte ungelenk mit den Schultern, hob ihre Arme dabei leicht an. Er strich über sie, konnte die Narben gut spüren, diese kleinen Knubbel in ihrer Ellenbeuge, und ihren Handrücken wo die Venen derart verhärtet waren, dass sie in der Vergangenheit bereits Probleme bei Probenentnahmen gehabt hatten.

„Ehrlich“, wies er sie mit einem schelmischen Schmunzeln an und tippte ihr auf die Nase.

„Och Finni... es ist langweilig hier“, jammerte sie und warf sich ihm theatralisch an die Brust. Er lachte leise und schloss sie wieder in die Arme. „Och... das schaffst du schon...hmm?“ Er roch an ihrem Haar und schloss die Augen. „Sie beschützen dich, Kleines, das ist nun mal langweilig für dich. Die Familie war böse, Lilli. Ich wollte nicht, dass du bei ihnen bleibst, es ist meine Schuld.“

„Nein“, nuschelte sie und seufzte müde. Sie strich von seinem Hals zu seiner Wange hoch und streichelte sie. „Sie waren immer böse zu dir gewesen, hat Gabe gesagt.“

„Hat er das?“ Ihn durchfuhr es eiskalt. Hatte Gabe bei seinen heimlichen Streifzügen mehr gesehen als er hätte sollen? Gabe war schüchtern und viel zu zurückhaltend für ein Kind in seinem Alter, aber er war dummerweise dabei noch neugierig.

„Ja.“ Sie sagte nichts mehr und Finn hatte Angst zu fragen.

„Sollen wir einen kleinen Spaziergang machen, dann kann Onkel Brad mit Nagi sprechen und wir stören die beiden nicht, hmm? Was hältst du davon?“

„Du kannst ein Matcha Eis haben wenn du möchtest“, bot Hisoka ihr an und sie drehte sich alert um. Ein heftiges Nicken erfolgte und Finn wollte sie zu Boden gleiten lassen, was das Klammeräffchen jedoch mit einem quengelnden Laut zunichte machte.

„Na gut“, brummte er gespielt unwillig, freute sich aber, wer wusste schon wann und ob er sie jemals wieder im Arm halten würde.

Finn ersparte sich einen kleinen Witz auf das Eis und Brads frisch angezogener Hose, dazu war die Lage zu ernst, dennoch geisterte die Erinnerung in seinem Kopf herum als sie nach draußen gingen und die Tür leise ins Schloss zogen.
 

„Ist er das?“, fragte Omi, der auf dem anderen Stuhl saß in der Nähe der Tageslichtsimulation.

„Ja, er arbeitet jetzt für mich.“

Heißes Gerät, dachte sich Omi und legte den Kopf schief. Zu heiß. Verdammt heiß. Gefährlich heiß. Genau das richtige für das Orakel. Noch einer den er unter Kontrolle bringen musste. Irgendwie zog er derlei Individuen offensichtlich an.
 

„Lasst ihr das Kind hier?“, fragte Nagi.
 

„Wir sind hier um euch abzuholen.“
 

„Ich würde es vorziehen, wenn sie und ich noch hier bleiben könnten. Es wäre sicherer. Ich habe bemerkt, dass ihre Nähe meine Fähigkeiten insoweit blockiert, dass die Nährstoffe die ich zu mir nehme, sofort von meinem Körper aufgenommen werden.“
 

„Sie blockiert alles?“
 

„Ja.“
 

„Wie lange denkst du brauchst du noch?“
 

„Ein paar Tage.“
 

„Ich denke nicht, dass es für sie förderlich wäre noch weitere Tage hier unten zu verbringen.“ Sie hatten keine Tage mehr...
 

„Spielt das eine Rolle?“
 

„Durchaus“, erwiderte Brad mit der üblichen kühlen Note. „Du bist der Nutznießer ihrer Fähigkeiten. Dankbarkeit wäre angemessen.“

Zu Omi sagte er:

„Tsukiyono ich erwarte dich heute Abend.“
 

„Schön für dich“, erwiderte Omi. „Kannst du dir abschminken, Orakel.“
 

Brads überhebliches Lächeln brachte ihn schon wieder gegen den anderen auf.

„Würdest du uns bitte allein lassen?“, entgegnete Brad dem jugendlichen Trotz mit ausgesuchter Höflichkeit.

Was Omi nur noch mehr ärgerte, da der Ältere nicht auf seine Provokation ansprang.

Er drückte Nagis Hand und verließ dann den Raum, nicht ohne dem Orakel hinter dessen Rücken die Zunge herauszustrecken. Nagi brachte die Kraft auf um diese frevelhafte Tat mit einem Lächeln zu honorieren.
 

Brads Blick wurde weicher nachdem sie endlich alleine waren.

Er ging näher zu Nagi und setzte sich auf das Bett. Nagi war blass, die fedrigen braunen Haare lagen wie ein Halo um sein Gesicht, die graublauen Augen sahen ihn vertrauensvoll an. Ein Vertrauen, dass so tiefgreifend, so allumfassend war, dass es Brad zu Anfang ihrer Beziehung erschreckt hatte. Jetzt war es nur noch tröstlich zu wissen, dass es jemanden gab der stets auf das Vertraute was er tat im Wissen, dass es gut war. Und das war es bist jetzt immer gewesen. Bis jetzt. Sie standen am Scheideweg und er – derjenige der es wissen sollte, ja sogar wissen musste – wusste nicht wie es weitergehen sollte.

„Du hast bald Geburtstag“, sagte Brad.

Er sah auf seine Uhr. Nagi verfolgte seinen Blick. Er war wohl einer der wenigen Menschen, die diese Geste nicht als eine Aufforderung oder als schlechte Angewohnheit einstuften.

„Unabänderlich“, kam die Antwort, getragen durch eine müde, zarte Stimme, die Crawford an eine finstere Vergangenheit erinnerte.

„Nicht ganz“, erwiderte Crawford.

„Abänderlich wäre dieser Umstand nur durch mein Ableben“, sagte Nagi daraufhin und Brad sah ihm lange in die Augen.
 

„Ich sehe dich in meiner Zukunft nicht mehr.“
 

Nagi sah ihn still an und Brad konnte zusehen wie sich das sanfte Graublau mit Tränen füllte. Brads Hand kam dem Jungen entgegen als er sich ihm in die Arme warf.

Brad empfing ihn und bettete den braunen Schopf an seine Schulter. Er hielt ihn fest und strich ihm über den Rücken. Er wiegte den jungen Mann, der ihm wie ein eigenes Kind am Herzen lag dessen Seele stets fest mit seiner verbunden sein würde.

Irgendjemand öffnete die Tür, schloss sie jedoch ohne einzutreten wieder.

Sie saßen lange so da und Brad... sah nicht mehr auf seine Uhr.

„Was passiert mit den anderen?“, fragte Nagi nach einer Weile, Brad verstand ihn kaum, so tränenschwer war seine Stimme.

„Ich weiß es nicht“, gab Brad zu und seufzte. Er schwieg wieder. Seine Sicht war teilweise von massiver Dunkelheit verzerrt. So opak, dass er davor zurückschreckte und sich daraus hervorriss. Er wollte nicht weitersehen, wollte diese umfassende Dunkelheit nicht in sich kriechen spüren. Sie war erschreckend allumfassend und geprägt von einer elementaren Einsamkeit, die er selbst in der Gegenwart zu fühlen begann.

„Manchmal sterben sie, manchmal nicht, es sind zu viele Einflüsse, ständig ändern sich die Bilder vollständig, verkehren sich ins Gegenteil um. Das ist bisher noch nicht vorgekommen, Nagi.“ Es gab jedoch einen Fixpunkt, den er nicht verändern konnte. In keiner der Visionen, die er durchlebt hatte konnte er dieses Ereignis verändern.

Nagi schniefte leise.

„Du weißt es, es ist dir nur unangenehm.“

Brad lachte leise und strich durch die fedrigen Haare seines Schützlings. Wie gern hätte er noch mehr Zeit gehabt um diesen Jungen vor dem was kommen würde vorzubereiten. Aber ihre gemeinsame Zeit schien schneller abzulaufen als ihm bewusst gewesen war.

„Wie gut du mich kennst.“

Nagi klammerte sich an ihn und Brad ließ ihn so lange er wollte.

„Ich wünschte...“

Nagi verstummte.

„Nun sag schon.“

„Ich wünschte du wärst mein wirklicher... Vater...“, er schniefte erneut. Ein Geräusch, dass er von dem Junge bisher eher selten gehört hatte. Viel zu beherrscht war er schon als Kind gewesen. „Das klingt... merkwürdig“, schob Nagi nach.

„Ausgesprochen tut es das, in der Tat.“ Brad lächelte.
 

Wieder wurde es still zwischen ihnen.
 

Beide erinnerten sich an Vergangenes, an ausgesprochene Worte, an Zuneigungsbekundungen von beiden Seiten, an Vertrauensbeweise, an Situationen die sie beide zusammengeschweißt hatten.

In einem Beziehungsverhältnis das sie beide als Vater und Sohn auswies.

„Was wünscht du dir zum Geburtstag?“, fragte Brad leise.

„Sicherheit“, kam sehr schnell als Antwort.

„Und weiter?“

Nagi brauchte nun schon länger um zu überlegen.

„Wenn ich auf ein Wunder hoffen kann, dann wünsche ich mir, dass ich nie wieder diese Art der Energieentladung...“, begann Nagi ungehalten. Brad stoppte ihn und schob ihn an den Schultern ein wenig von sich um ihm ins Gesicht sehen zu können.

„Nagi, dies ist ein Teil von dir, ihn zu verleugnen bedeutet sich selbst zu verleugnen.“

„Dann ist das meine Destination“, erwiderte Nagi mit einer Niedergeschlagenheit, die Brad bis dato noch nicht von dem Jungen kannte. Wo war nur der überhebliche, weltfremde und zu schlaue Junge geblieben? Brad schätzte, dass der Kontakt zu dem jungen Tsukiyono der Grund für das Aufbrechen alter Verhaltensweisen war.

„Nein. Das ist nicht das endgültige Ziel, Nagi. Du bist zu so viel mehr fähig, als das zu negieren was du bist. Ich habe von dir stets viel verlangt. Kontrolle, Disziplin, Beherrschung. Das ist dir nicht immer gelungen. Du hast dich bemüht, dir alles abverlangt, es ist genug. Es ist Zeit einzusehen, dass es nicht Kontrolle ist was dir fehlt.“
 

Er zog Nagi wieder an sich.

„Wir sind alle noch sehr jung, Nagi. Viel zu stark, mit Gaben beschenkt, die wir nicht wollten und noch immer nicht gänzlich begreifen.“

„Vielleicht hätten wir bei ihnen bleiben sollen, bei Rosenkreuz meine ich.“

„Vielleicht“, erwiderte Brad. „Das war jedoch nicht die Zukunft die ich für dich und die anderen wollte. Erfüllt von Intrigen, Verrat und einer gierigen Machtpolitik in die wir alle direkt eingebunden gewesen wären. Ich wollte eine andere Zukunft für dich.“ Nagi war leicht zu manipulieren, denn er war ein gefährliches und williges Werkzeug - in schmutzigen Händen eine mächtige Waffe die manch einen unbesiegbar machen würde. Das waren sie alle, nur konnten sie sich gegen leere Versprechungen, falsche Ideale und verlogene Zuneigung wehren. Nagi sehnte sich so dringend nach einem Gefühl der Annahme, dass er Misstrauen schnell über Bord werfen würde. Und doch... hatte er versagt, denn er musste erkennen, dass Nagi einer dieser Fixpunkte war. Er musste ihn loslassen.

„Habe ich denn eine?“, fragte Nagi mit einem Hauch Vorwurf in der Stimme. Brad strich ihm über den Rücken.

„Ja, sie wird hart erkauft werden müssen.“

„Du sagtest... dass...“, fiel ihm Nagi ungeduldig ins Wort.

„Ja, ich sagte, dass ich dich in meiner Zukunft nicht mehr sehen kann. Aber ich sehe dich in einer anderen Zukunft. Ich sehe dich in einer Zukunft in der du stirbst. In vielen dieser Variablen sehe ich nur dieses Ende. Und dann sehe ich dich wieder in einer...“

„In welcher?“

„Nagi... diese Zukunft ist vielleicht das alles wert, was kommen wird. Dort wirst du Stärke, Annahme, Verständnis und Liebe finden. Dort wirst du deinen Platz finden. Aber ich weiß nicht ob du es von hier bis dorthin schaffen wirst. Es ist schwer sich das vorzustellen.“ Selbst dieses Gespräch war schwer.

Es fühlte sich fremd an diese Worte in Sätze zu verpacken, die Nagi das Gefühl geben sollten, dass Brad ihn liebte. Und er selbst fühlte sich wie ein Schauspieler in einem Stück. Konnte er mit Sicherheit sagen, dass er für den Jungen so fühlte? Er wusste, dass er es sollte. Und mit Sicherheit konnte er sagen, dass er sich verantwortlich fühlte und dies stets seine oberste Priorität gewesen war.

„Kannst du es mir nicht beschreiben?“

„Nein, das ändert vielleicht dein Verhalten. Nur so viel kann ich dir sagen, du musst an diesen Punkt kommen, vieles hängt davon ab. Ich wünsche mir, dass du dort hin gelangst.“

„Mit Omi?“

Brad schwieg einen Augenblick. „Omi?“, sagte er dann nachdenklich.

Hier war Fingerspitzengefühl gefordert und er bemüßigte einmal mehr den kryptischen Hellseher für diese Antwort.

„Dein Wesen braucht Schutz, Nagi, es braucht Annahme, es braucht seelische Stärke, Verständnis und vor allem was braucht es noch?“

„Das alles kann Omi mir geben“, behauptete Nagi.

„Sag mir was es noch braucht?“, fragte Brad geduldig.

„Omi liebt mich!“, sagte Nagi davon absolut überzeugt und Brad musste darüber nachsichtig lächeln. „Natürlich tut er das“, erwiderte er milde. Er strich Nagi durch die Haare. „Denk nach.“

„Reicht das nicht?“, fragte Nagi nach einigen Minuten des Schweigens.

„Es wäre schön, nicht wahr?“

Nagi nickte an seine Brust.

„Es reicht nicht...Nagi... für uns reicht es nicht“, sagte er leise. Es würde niemals reichen.

Omi war eine gute Übung gewesen, eine Zwischenstation für Nagi, das konnte er dem Jungen so jedoch nicht vermitteln. Selbst für den Takatori Jungen wäre diese Beziehung über kurz oder lang zur Qual geworden.

„Dein Wesen braucht Freiheit, Nagi. Eine Freiheit, die dir nicht jeder geben kann, denn sie wird zweischneidig sein. Einerseits brauchst du Halt und Sicherheit, eine Richtung, die dir jemand weist. Ich bin mir sicher, dass Tsukiyono sie dir geben kann, die Freiheit deine Fähigkeiten in dem Maß auszuleben, wie du es tun willst kann er nicht.“

„Das kann keiner“, murmelte Nagi bestimmt. „Ich muss mich besser kontrollieren, ich habe versagt.“

„Und warum hast du das?“

Nagi gab einen frustrierten Laut von sich und Brad strich ihm über den Haarschopf.

„Du hattest Angst vor diesem Einsatz weil du wusstest, dass du dich nicht beherrschen kannst. Das kann keiner von uns auf Dauer. Es zerstört uns. Das ist das was Rosenkreuz produzieren, sie mischen unsere Gene, stellen Absonderliches her und regulieren dann wie und wann sie es einsetzen. Sie beschneiden diese Freiheit die sie uns einst schenkten. Sie fesseln deine Seele in einem Maß, welches sie einem langsamen Tod zuführen wird.“ Brad musste an Jei denken, dessen Seele bereits ihre Reise an einen Ort angetreten hatte, den nur sie kannte. SZ hatten sie zerstört, so in ihren Grundfesten erschüttert, dass es kein zurück mehr gab. Jei war zu einem dauerhaften Verweilen in der Realität nicht mehr fähig. Den größten Teil seines Daseins verbrachte er damit sich seinen Fähigkeiten hinzugeben. Es wurde immer schwerer seine Aufmerksamkeit zu erregen.

„Du meinst, ich brauche jemanden der mich frei sein lässt? Der daneben steht und zusieht wenn ich alles zerstöre? Hast du das gesehen?“

„Nein. Ich habe gesehen, dass du jemandem helfen wirst. Offenbar braucht jemand ganz dringend deine Hilfe. Du wirst frei sein, Nagi, dein gesamtes Sein wird frei sein.“

Brad wusste nicht, ob es tatsächlich diese Situation war die ausschlaggebend sein würde, denn die Vision hatte ihm nur vage gezeigt, dass Nagi in eine Lage gelangen würde da er eine Entscheidung treffen musste.
 

„Und wie wahrscheinlich ist es, dass ich diese Zukunft erlebe?“

Brad schätzte sie unter zehn Prozent. „Neunzig Prozent.“

„Du lügst.“ Nagi grinste, über seine Wangen liefen erneut Tränen.

Brad sagte nichts, er fasste Nagi fester. „Hör mir genau zu. Kämpfe wenn du glaubst einen Kampf gewinnen zu können. Gib nach wenn es aussichtslos scheint und warte auf eine neue Gelegenheit. Ertrage die Erniedrigung, auch wenn deine Fähigkeiten dir ein viel zu großes Ego beschert haben. Überlebe Nagi, du musst auf jeden Fall überleben. Scheu dich nicht dafür zu kämpfen, tu alles dafür. Such dir Menschen die dir dabei helfen. Die gibt es an Orten und an Positionen, die du zunächst nicht dafür gehalten hast. Bei all dem was wir taten habe ich dich immer gelehrt was richtig und falsch war. Nutze dieses Wissen.“
 

Nagi nickte wieder.

„Alles bricht auseinander“, sagte der Junge erstickt.

„Ja, das tut es. Nur manchmal ist es besser neue Wege zu gehen.“

„Ich will mit dir zusammen diese Wege gehen.“

„Ich weiß.“ Für Nagi war es besser einen eigenen Weg zu finden, er musste den Jungen loslassen. Nur wollte er ihn nicht dem Tod überlassen. Er wollte ihn in dieser Zukunft sehen, nur fragte er sich wie sie je zustande kommen würde.
 

„Er ist schuld“, sagte Nagi plötzlich in kaltem Zorn.

Brad strich ihm über den Rücken, der so zerbrechlich wirkte.

„Wen meinst du?“

„Ihn. Asugawa.“

Brad schloss die Augen. „Nein. Er hat keinen Einfluss auf die Dinge die kommen werden.“

„Trotzdem ist er schuld an so vielem.“

„Das sind wir alle, Naoe.“

Sie schwiegen eine Weile.
 

„Haben wir noch etwas Zeit?“, fragte Nagi.

„Ja. Aber genau kann ich es dir nicht sagen. Ich habe dir beigebracht nicht in Angst zu leben. Das ist mir manchmal besser, manchmal schlechter gelungen. Ihr hattet den Vorteil einen Hellseher in eurem Kreis zu haben, das sollte euch nie davor schützen jederzeit auf alles vorbereitet zu sein.“

„Ich weiß, du hast stets gesagt, dass du nicht willst, dass wir nachlässig werden nur weil du da bist. Deshalb teilst du nicht jede Information mit uns.“

„Und weil eure Handlungen Einfluss üben“, erinnerte er ihn.

Nagi nickte.
 

Sie unterhielten sich noch über ihre Sicherheitsanlage, über Dinge, die sonst Nagi übernahm.

Dies würde das letzte Gespräch mit Nagi Naoe sein, das er für unbestimmte Zeit führen würde. Es war ein Abschied.
 

Als Brad gegangen war, kam Omi wieder herein. Nagi suchte in dem offenen Gesicht, das was Brad gesagt hatte. Er weigerte sich an diese mögliche Zukunft zu glauben. Für ihn stand fest, dass er sterben würde. Brad hatte sich von ihm verabschiedet. Und Nagi war dankbar dafür, es zu wissen. Brad hatte ein Versprechen eingelöst, das er ihm einst abgerungen hatte. Wenn Brad je sehen würde, dass er sterben würde, dann wollte er es wissen.

Nagi lächelte als Omi zu ihm kam.
 

Omi fühlte schmale kühle Finger an seinen eigenen und ergriff sie. „Sie brauchen dich für die Daten wenn ich hierbleibe“, sagte Nagi.

Er hatte ein schlechtes Gewissen weil Omi hier bei ihm sitzen musste. Er freute sich natürlich darüber aber es war ihm auch unangenehm. Es gab viel zu tun und er konnte nicht helfen.
 

Omi brummte unzufrieden. „So ein Arsch. Kann er das nicht sagen?“
 

„Der Kristall ist noch nicht einmal annähernd entschlüsselt. Sicher will er von Asugawa auch erfahren was noch drauf ist. Du könntest weiter daran arbeiten.“ Nagi wollte ihm die Sache wohl schmackhaft machen, dachte Omi versöhnt. „Ich will dich trotzdem hier unten nicht alleine lassen.“
 

„Ich komme zurecht.“ Nagis Blick ging zur Tür. „Ich traue dieser Schlange Asugawa nicht. Sie nistet sich nahe an unserem Herzen ein und wird uns zerstören wenn wir es zulassen, das macht mir größere Sorgen. Ich denke er ist schuld daran, dass wir jetzt in dieser Lage sind.“
 

Omi folgte Nagis düsterem Blick und wollte nicht in Asugawas Haut stecken wenn der Telekinet wieder gesund war...
 


 

o
 


 

Finn hatte nach einiger Zeit Lilli wieder bei Naoe und dem Weiß Agenten abgeliefert und ihr versichert sie bald wieder zu besuchen, sobald er konnte. Sie hatten eine halbe Stunde Zeit miteinander verbracht bis Hisoka ihm mitteilte, dass ihr Vater von seinem Hausbesuch zurück war.

Nun stand Finn vor der Tür und klopfte, er wurde hereingebeten.
 

Hisoka war nicht da. Sein Vater saß an seinem Schreibtisch. Finn näherte sich und sein Vater wurde auf ihn aufmerksam. Finn blieb einige Schritte von ihm stehen und beugte ein Knie, er neigte den Kopf.

„Vater. Dein Sohn Kiguchi ist heute Nacht im Einsatz getötet worden. Er starb als er mich schützen wollte.“ Seine Stimme klang fest aber hohl in seinen Ohren.

„Er gab mir den Auftrag dir zu sagen: ‚Sag ihm dass ich Hisoka und Vater liebe. Sag ihm dass ich meinen Schwur bis zum heutigen Tage erfüllt habe.’“

Er versuchte alle Gefühle außen vor zu lassen und er hoffte, dass seine Stimme nichts von seinen Gefühlen preisgab. Er wollte sich vor seinem Vater nicht blamieren.

„Sein Tod erfüllt mich mit Schmerz, aber auch mit Stolz, mein Sohn. Er ist ehrenvoll gestorben und hat dem Haus Kawamori Ehre gemacht. Er wird in die Reihe der Ahnen eintreten die für ihre Aufgabe ihr Leben gegeben haben.“
 

Sein Vater kam zu ihm und bedeutete ihm aufzustehen. „Aufgabe? Ich verstehe nicht Vater.“

„Kiguchi war dein Guard, mein Sohn. Ich habe ihn dir an die Seite gestellt als ich nicht für dich da sein konnte, als er mir berichtete, welche große Aufgabe du dir auferlegt hattest. Auch wenn ich deine Fähigkeiten für überragend halte, so braucht ein Hellseher mehr als du ihm geben kannst. Du kannst ihn nicht allein schützen.“
 

„Wie... meinst du das?“ Finn fühlte sich hilflos. Er sah seinen Vater an. Ein derartiges persönliches Gespräch hatte er mit seinem Vater lange nicht gehabt, die daraus entstandene täuschende Nähe fühlte sich fremd an und brachte ihm keineswegs Trost vielmehr Unbehagen.
 

„Du brauchst ebenso – wenn nicht sogar mehr – Unterstützung als der Seher selbst. In der Vergangenheit gab es Seher die mehrere Beschützer hatten. Der Guardian selbst hatte sie, um sich auf seine Aufgabe konzentrieren zu können. Er war derjenige der die Verantwortung, die Last dieses Unterfangens zu tragen hatte. Es alleine zu versuchen ist unmöglich. Du hast diese Last nur tragen können in dem du zu dem geworden bist was heute vor mir steht. Chiyo hat dich benutzt und zerstört.“

Finn schwieg und sein Vater kramte auf seinem Schreibtisch herum. Er fand einen Stift und einen Zettel. Rasch schrieb er etwas darauf.

„Wenn etwas schief geht und nach meiner Erfahrung wird es das früher oder später, dann wende dich an diese Adresse.“

Er riss das Papier vom Block und reichte ihn an Finn weiter.

„Wo ist das?“

„Im Norden. Es sind Kawamoris. Geh zu ihnen falls der Hellseher dich nicht mehr brauchen sollte. Du bist dort sicher.“

Finn wollte nicht sicher sein. Sein zweiter Vorname war unsicher, bemerkte er trotzig in Gedanken. Sah er so schwach aus?
 

Er stand mit dem Zettel in der Hand da und fühlte sich wie mit Eiswasser übergossen. Sein Vater hielt ihn für ETWAS, dass vor ihm stand und das zerstört war?

Aber er hatte es doch bis hierher geschafft und das war doch eine gute Leistung, oder nicht? Er hatte... nun bis auf einige Missgeschicke die Bande am Leben gehalten. War er in den Augen seines Vaters trotz seiner Mühen ein Versager? Hatte er versagt weil er Kiguchi verloren hatte? Hätte er besser auf ihn achten müssen?

Er beantwortete sich selbst die Frage und hörte wie aus weiter ferne, wie sein Vater nach Kiguchi frage.
 

Finn berichtete ihm die näheren Umstände und dass es ihm nicht gelungen war seinen Leichnam zu bergen. Sein Vater versicherte ihm, dass Hisoka sich darum kümmern würde. Finn spulte die Worte lediglich kurz und knapp herunter. Enttäuschung und ein alter Schmerz quälten ihn durch unwillkommene Gedanken, durch Schuld, alt wie neu. Nur zögerlich steckte er den Zettel ein.
 

Als sein Vater ihn entließ verließ er beinahe fluchtartig den Raum. In seinen Ohren dröhnte es als er in den nächsten Raum stolperte und die Tür hinter sich zuschlug. Finsternis umgab ihn und er atmete hektisch ein und aus. Er stützte sich mit einer Hand und ausgestrecktem Arm an der Wand ab, den Blick nach unten gerichtet versuchte er seinen Körper unter Kontrolle zu bringen. Er keuchte, schlug mit der Faust gegen die Wand. Er wusste, dass er die Verzweiflung die ihn haltlos werden ließ zurückhalten musste. Brennend heiß sammelten sich Tränen in seinen Augen.

Es gelang ihm irgendwann, die Gedanken an die Schuld, die er seinem Vater für all dies geben wollte zurückzudrängen.

„Bruder...“, wisperte er und holte tief Luft, er konzentrierte sich auf seine Atmung und verdrängte damit den schweren Stein in seiner Brust, löste die Schlinge um seine Kehle.

Kiguchi hatte ihm nicht immer helfen können aber oft genug und er war somit nie allein gewesen. Zumindest wusste er dass sein Halbbruder irgendwo mit ihm in dieser Misere gesteckt hatte. Zusammen waren sie bis an diesen Punkt gekommen. An dem Scheideweg an dem nur einer von ihnen weitergehen konnte.
 

Finn ordnete sich und verließ den Raum, er suchte nach Brad und fand ihn im Aufenthaltsraum.

Der Fernseher lief.
 

Brad wartete auf die Nachrichten.

Der Wetterbericht vorneweg ließ ihn Resignation verspürten. Ein schwerer Sturm war im Anmarsch. Ein Taifun.

In der Tür erschien Finn. Brad blickte unverwandt auf die Ausläufer die aus dem Süden kamen.
 

„Wie sieht’s aus?“, hörte er.
 

„Ein Sturm kommt“, sagte Brad nachdenklich. Es war nicht das erste Mal, dass er in visionären Bildern einen ähnlichen Sturm gesehen hatte. War es nun soweit? Unsicherheit und eine unangenehme Spannung machte sich in ihm breit. Brad wusste wie es laufen würde... alles... alle Ereignisse, alle Bewegungen, alle Vorhaben... würden auf einen Punkt, das Zentrum, den entscheidenden Augenblick hinauslaufen. Aber wann war er? Bald? Und dann musste er reagieren. Dann durfte er keinen Fehler machen. Er musste Vorbereitungen treffen um sie alle zu retten, bevor der Punkt Null kam und die Dunkelheit ihn vereinnahmte. Bisher waren alle Visionen gänzlich sichtbar gewesen nun jedoch mehrten sich jene, die abrupt ins Dunkel stürzten.
 

„Metaphorisch oder real?“, unterbrach das sanfte warme Timbre seine Gedanken.
 

Brad hob den Blick zu dem anderen und sie hielten sich beide daran fest.

„Was glaubst du?“

Asugawa wirkte blass, seine Augen, die sonst Brads suchten huschten überall hin nur nicht dorthin wo Brad sie gerne gehabt hätte um in ihnen lesen zu können.
 

„Was ich glaube ist nicht wichtig“, erwiderte Finn und wich diesem forschenden Blick aus. Was war noch wichtig? Außer dieser Mann vor ihm, der ihn nicht wollte und den Finn mit jeder Faser seines Seins ersehnte. Er hätte nur die Hand ausstrecken müssen um ihn berühren zu können... nur um abgewiesen zu werden. Dieser heiße brennende Schmerz, den er über eine Ablehnung empfinden würde wollte er sich jetzt nicht aussetzen. Er würde diese Erniedrigung nie ertragen können.
 

Brad schmälerte seinen Blick. Was hatte der Doc seinem Sohn gesagt, dass dieser so niedergeschlagen vor ihm stand? Sicher hatte das Gespräch keinen erheiternden Charakter besäßen und sicher lastete auf beiden eine tragische Vergangenheit, dennoch wirkte Asugawas Gestalt als wäre ihm all die übrige Energie genommen worden. Die tiefschwarzen glatten Strähnen hingen ihm halb ins Gesicht als wollte er es vor ihm verbergen. Die Lippen mit diesem perfekten Amorbogen waren zu blass und zusammengepresst. Über ihnen hatte sich ein dünner Film aus Schweiß gebildet.

„Hast du mit deinem Vater alles geklärt?“, fragte Brad und wandte sich betont beiläufig ab. Er ging zum Ausgang da er die Antwort ohnehin schon kannte. Eine rein der Konversation geschuldeten Frage. Er furchte die Stirn ob dieser Anwandlung. Seit wann versuchte er sinnlose Fragen zu stellen nur um in ein Gespräch zu kommen?

Er hörte das betont versichernde Ja, mit einem spöttischen Lächeln, dass Asugawa nicht sehen konnte.
 

Sie kamen am Wagen an und Brad bemerkte, dass sich Asugawa kurz am Heck des Wagens abstützte. Sie setzten sich und warteten bis der Wagen von der Plattform gedreht wurde. Das Tor ging auf und sie fuhren in das Parkhaus um es dann zu verlassen.

„Wir fahren eines deiner Verstecke an und du wirst eines davon auflösen. Danach werden wir dir Kleidung und das was du brauchst einkaufen.“

Finn fühlte sich bedrängt. Er wusste im Moment nicht ob es sinnvoll war eines der sicheren Häuser zu plündern aber er hatte nichts mehr...

Dennoch stimmte er zu. Er fühlte sich ganz und gar nicht mehr gut, die Unruhe die ihn erfasst hatte stammte wohl von dem feuchten Gefühl unter den Verbänden. Verstohlen wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er fror, trotz der feucht-schwülen Temperaturen.

Es würde schon gehen. Er brauchte die Sachen schließlich.
 


 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank fürs Lesen! ^_^
 

Gadreel

Chain

Chain
 


 

Finn fühlte sich hundeelend, er spürte wie sein Herz gegen den Brustkorb hämmerte, wie jeder dieser Schläge in Kopf und Bauch widerhallte.

Ihm war kalt, dennoch schwitzte er wie verrückt. Seine Kleidung klebte bereits unangenehm am Körper und seine Haare fühlten sich feucht im Nacken an. Er kramte einen Haargummi aus seiner Hosentasche hervor und band sie zusammen. Von sich selbst angewidert fuhr er sich mit der rechten Hand über den Nacken und wischte sich den feuchten Film an der Hose ab. Ihm fielen dabei seine bläulichen Fingerspitzen auf.

Das war neu. Er hatte sich noch nie derart krank gefühlt. Zittrig ballte er seine Hände zu Fäusten um die Durchblutung anzuregen was aber nur einen kurzen Effekt zur Folge hatte.

Müde ließ er sich auf den Stuhl in der Umkleidekabine sinken, versuchte die Druckpunkte zu finden um seinen Kreislauf wieder in Ordnung zu bringen. Das funktionierte nur bedingt und hatte lediglich zur Folge, dass ihm nun auch noch eine heftige Übelkeit zuzusetzen begann. Er beugte sich nach vorne um das lähmende Gefühl sich übergeben zu müssen in den Griff zu bekommen. Der Würgereiz und der Geschmack der Galle in seinem Rachen ließen ihn sich vergeblich nach einem geeigneten Gefäß für den Inhalt seines Magens umsehen. Er schluckte Galle und Speichel, der sich im Übermaß zu produzieren schien und konzentrierte sich auf sein Atemtraining. Eine gefühlte Ewigkeit später beruhigte sich sein Körper und Finn lehnte sich vorsichtig an die Kabinenwand. Er legte den Kopf in den Nacken und sah in das grelle Licht nach oben, langsam schloss er die Augen und genoss die momentane Beschwerdefreiheit.
 

„...to. Kaito!“ Erschrocken öffnete er die Augen, nur um sie aufgrund der Helligkeit schnell wieder halb zu schließen. Brad stand in der Tür um ihn einer kritischen Musterung zu unterziehen. Das was ihm geboten wurde schien ihm nicht zu gefallen so gewittrig wie dessen Stirn gefurcht war.

„Du wartest hier“, wurde er angewiesen und Finn fühlte sich noch elender. Wollte er nicht eine Entlastung für den Hellseher sein? Eine Unterstützung auf die er bauen konnte?

Und die viel drängendere Frage war doch: brauchte der Hellseher überhaupt seine Hilfe? Er hatte sich in sein Leben gedrängt und war ihm nur eine Last. Das was Finn gewollt hatte war so nicht eingetreten. Gar nichts davon. Kiguchi war gestorben, er selbst weit von seiner früheren Form entfernt, die Kinder getrennt, der Clan nicht zerschlagen, Rosenkreuz auf dem Vormarsch...
 

Zwischenzeitlich hatte Finn nicht viel zu tun, er hing seinen trüben Gedanken nach und kam zu keiner schnellen Lösung um der Vielzahl von Problemen Herr zu werden. Ihm drängte sich immer mehr der Gedanke auf, dass er keine Lust mehr hatte. Was wäre es schön mit Brad auf eine einsame Insel abzuhauen und sich nur um sie beide kümmern zu müssen. Um ihr Verhältnis zueinander – so es denn eins geben würde...

Er neigte den Kopf zur Seite und traf auf sein Spiegelbild. Sein Gesicht wirkte fahl und einige schwarze Strähnen hingen wie traurige Kontraste um sein Gesicht herum. Er schwitzte und mit Sicherheit begann dieser Schweiß langsam unangenehm zu riechen.

Nie waren ihm sein Auftreten und sein Aussehen offenbar gleichgültiger gewesen als in der Nähe des Amerikaners. Als ihm das bewusst wurde verzog er das Gesicht zu einem ironischen Lächeln. Vielleicht lag es daran? Fand Brad ihn nicht mehr attraktiv genug? Oder war es nur weil er bisher nur Ärger gemacht hatte? Weil er zu schwach war um ihm nützlich zu sein.
 

Es dauerte bis Brad zurückkam. Finn hob die Lider einen Spalt breit und sah nur verschwommen dessen Beine, die in diesem fantastisch aussehenden Anzug steckten. Die Schuhe gefielen ihm. Finn schloss nach dieser Bestandaufnahme die Augen wieder.

Die körperliche Erschöpfung wollte ihn mit aller Macht in den Schlaf ziehen, als er das bemerkte öffnete er sie schnell wieder. Brad stand nun vor ihm.

„Du siehst krank aus, Kaito.“

Die Worte kamen mit der für ihn so typischen Gefühlskälte aus dem Mund des Amerikaners, aber die Berührung der Hand an seiner Wange löste wärmende Geborgenheit in ihm aus. Kaito ließ seinen Kopf in dieses Gefühl fallen und schloss die Augen wieder.

„Mir geht’s nicht gut. Tunnelblick“, flüsterte Finn.

„Sieht danach aus als müsste ich einen Krankenwagen rufen.“

Eine schlichte Feststellung die Finn die Augen komplett öffnen ließ. Er hob eine Hand und legte sie auf das Handgelenk welches zu der Hand gehörte die immer noch seine Wange hielt. „Nein.“

Er packte das Handgelenk fester und machte Anstalten sich aufzurichten. Schwindel erfasste ihn wieder und er verhielt einen Moment. Brad ließ ihm Zeit und sich jeden Laut verbietend stand er mit seiner Hilfe auf.

Sie gingen in angemessenem Tempo zum Wagen und Finn ließ sich in den Beifahrersitz fallen. Erneut senkten sich seine Lider und er schloss das grelle Licht des Tages aus. Er bekam nur am Rande mit wie Brad ihn anschnallte. Retrospektiv betrachtet war es also doch nicht gegangen....
 


 

o
 


 

Brad ließ den Wagen an und fuhr aus dem Parkhaus. Der schnellste aber längere Weg nach Hause würde über die innerstädtische Autobahn führen die mit einer moderaten Geschwindigkeitsbegrenzung aufwartete.

Er stellte das Radio aus und betrachtete sich Asugawa hin und wieder während er sich in den laufenden Verkehr einfädelte.

Der Anblick des Mannes in der Kabine hatte ihm erneut aufgezeigt wie sehr er sich von ihm beeinflussen ließ. Er wollte keine Nähe zulassen, oder sie auf ein Minimum des Notwendigen begrenzen, was ihm aber nicht zu gelingen schien. Ganz im Gegenteil tat er Vieles um ihn in seiner Nähe zu wissen. Er hätte ihn Schuldig überlassen können, aber er hegte die Befürchtung dann nicht mehr genügend Kontrolle über die Situation zu besitzen.

Wie er sich vertrauensvoll in seine Hand begeben hatte war für Brad ein überraschend intensiver Moment gewesen. Es war ihm schwer gefallen ihn zu unterbrechen.

Er wusste um seine Schwäche, denn Menschen die ihm vorbehaltlos vertrauten zogen ihn magisch an.
 

Er wies den Bordcomputer an Schuldigs Nummer zu wählen, der ging auch sofort ran.

„Probleme?“

„Nicht wirklich.“

Was hieß, dass er Schuldig aus seinem Kopf heraushalten konnte, vor allem weil dieser nicht wusste wo genau Brad unterwegs war.

„Wir kommen zurück. Asugawa ist zusammengeklappt.“

„Warum bringst du ihn nicht in die Klinik?“

Brad wollte aus verschiedenen Gründen diesem Vorschlag nicht nachkommen. Er wollte keinen außer Nagi in der Klinik haben, das würde die kommende Lage nur komplizierter machen als sie ohnehin werden würde. Wobei...

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Kluft zwischen den beiden Kawamoris und dem verlorenen Sohn überwunden wäre.“

„In Bezug auf?“

„Es herrscht eine gewisse emotionale Distanz zwischen den beiden.“

„Das ist nicht verwunderlich.“

Schuldig schnaubte.

„Warum gehst du darauf ein? Du bezahlst ihn dafür, dass er Asugawa behandelt, wenn er es denn nicht freiwillig tut. Was ich stark in Zweifel ziehe.“

„Der Doc ist mir hierbei nicht wichtig.“

„Du willst Asugawa vor seinem Vater schützen?“

„Ich vermeide lediglich einen Interessenkonflikt.“

„Welcher Interessen? Deiner?“ Schuldigs Worte hörten sich geradezu hoffnungsvoll an. Brad wusste in der Tat nicht warum das so war.

„Ich traue diesem Mann nur bedingt. Ich glaube ihm, dass er es bereut seinen Sohn an Chiyo abgetreten zu haben, aber er hat wenig dafür getan um diesen Umstand zu verändern.“

„Du kaufst ihm sein Rumgeheule nicht ganz ab“, sagte Schuldig.

„Nicht im Geringsten. Er verschweigt uns immer noch etwas und das so gut, dass selbst du ihm nicht dahinter kommst.“

„Ich habe ihn gelesen, allerdings nur das was uns brennend interessiert hat.“

„Und das ist der Knackpunkt an der Geschichte.“

„Du bist scheinbar über das familiäre Verhältnis zwischen dem Doc und Asugawa gestolpert.“

„Und habe dabei nicht weiter nachgeforscht.“

„Weil es deine Neugier für den Moment befriedigt hat.“

„Du unterstellst ein absichtliches Ablenkungsmanöver?“

„Ein auf dich zugeschnittenes noch dazu.“

„Kann sein. Soll ich den Doc noch einmal lesen?“

„Nein, solange Nagi dort ist halte ich das für zu unsicher.“

„Aber du lässt Nagi dort und verweigerst Asugawa Hilfe von diesem Arzt weil du diesem nicht gänzlich traust?“ Unglaube waberte durch Schuldigs Stimme.

„Ich habe meine Gründe.“

Schuldig schwieg einen Moment. Er hörte wie der Telepath tief einatmete als müsse er jemandem der schwer von Begriff war eine Tatsache zum wiederholten Mal erklären.

„Brad sag doch einfach, dass du nicht willst, dass ein anderer Mensch ihn anfasst oder ihn auch nur ansieht. So etwas nennt man dann Eifersucht und Verlustangst, oder auch Besitzgier. Hast du Angst, dass er sich seiner Familie zuwendet und sich darauf besinnt, dass es besser wäre zu Vater und Bruder zurückzugehen als dich vergeblich anzuhimmeln und sich deiner Launen und Gefühlskälte auszusetzen?“

„Du hast so ein Glück, dass wir nur telefonieren“, presste Brad zwischen den Zähnen hervor.

„Hör ich da ein Zähneknirschen?“

„Mir zu unterstellen ich hätte Launen, Schuldig, ist eine äußerst lachhafte Behauptung.“

„Aber eine gewisse Gefühlskälte ist nicht ganz so abwegig?“

Brad meinte eine andere Stimme zu vernehmen, die davor warnte ihn weiter zu reizen. Das konnte nur Fujimiya gewesen sein – Schuldigs Außenstelle für Vernunft.

Brad sah zu Asugawa hinüber, der schien von dem absurden Gesprächsverlauf nichts mitzubekommen. Es barg eine trügerische Sicherheit in der Nähe eines Spions zu glauben dass dieser schlief. Brad lächelte schmal über diesen Gedanken und richtete seinen Blick wieder nach vorne.

„Beurteilst du meinen Charakter nachdem was ich wie und wann äußere?“

„Nein. Durch deine Taten, oh großes Orakel“, salbte Schuldig seine Worte mit einer geradezu lächerlich unterwürfigen Färbung.

„Und welche Taten weisen mich ihm gegenüber als Gefühlskalt aus?“

Schuldig schien zu überlegen und das lange. Auf Brads Gesicht erschien ein ironisches Lächeln.

„Naja... du hast ihn in den Keller gesteckt, da unten ist es... ungemütlich.“

„Ich habe dir erklärt warum das nötig war. Weitere Gründe?“

„Ach keine Ahnung“, platzte Schuldig dann der Kragen, der Telepath hörte sich erneut ungeduldig an. „Fick ihn doch endlich!“

„Geschlechtsverkehr ist nicht die Lösung für jedes Problem“, erwiderte Brad ungerührt über diesen Lösungsvorschlag.

„Es würde seine...momentane Verfassung nur verschlimmern.“

„So ein Quark. Durch was denn bitte?“

„Durch den falschen Eindruck, den eine körperliche Annäherung dieser Art hervorrufen würde.“

„Körperliche Annäherung?“, fragte Schuldig eindeutig angewidert von dieser Umschreibung.

Brad knurrte ungehalten. „Schuldig, Sex würde das falsche Signal senden, geht das in deinen lustorientierten Schädel endlich rein?“

„Welches Signal denn? Dass du scharf auf ihn bist? Dass du ihn kaum ansehen kannst ohne ihn verschlingen zu wollen? Du bist so voller Zorn, und Wut auf ihn und gleichzeitig willst du ihn dir greifen, ihn in die nächste Wand ficken. Du willst ihn würgen und ficken gleichzeitig. Brad du willst sein Inneres nach außen kehren...du...willst alles von ihm, denn...“

„Sei still. Ich verstehe was du mir sagen willst. Und es heißt an die Wand ficken, nicht in die Wand ficken“, unterbrach ihn Brad mit einem sardonischen Lächeln.

Schuldig schnaubte.

„Ich meinte IN die...“, fing Schuldig dann an. „Lenk nicht ab, Brad!“, bemerkte Schuldig die nur zu offensichtliche Finte. Zu schade, dass Schuldig sich dadurch nicht von dem eigentlichen Thema ablenken ließ. Er wusste um sein Unvermögen positive Gefühle zuzulassen oder sie so zu zeigen, dass der Verursacher diesen Umstand für sich verbuchen konnte.

„Ist Fujimiya in deiner Nähe?“, fragte er Schuldig.

„Nein. Er ist raus zu Kudou. Warum?“, fragte dieser unwirsch.

„Hat die Empathie seit Osaka das nächste Level erreicht?“

Für einige lange Augenblicke war es still zwischen ihnen.

„Ich...ich... bin mir nicht sicher“, holperte Schuldig die Worte hervor und Brad ahnte Unsicherheit in dem Mann aufkommen. Seine Empörung von vorhin war wie weggeblasen.

„Was fühlst du in Asugawas und meiner Gegenwart?“

Schuldig ließ sich Zeit mit der Antwort.

„Ähm... ich weiß nicht ob es Gedanken sind, ob ich Gestik und Mimik interpretiere oder ob es tatsächlich empathische Signale sind.“

Brad schwieg, seine Frage war noch nicht beantwortet und Ausflüchte würden dem plötzlich hasenfüßig gewordenen Mann jetzt nicht zur Flucht verhelfen.

Doch vielleicht war es keine Feigheit von Schuldig sondern der Mangel an der Fähigkeit, dass was er mit der Empathie aufzunehmen schien in Worte zu fassen.

Jei sah Farben, vielleicht war es bei Schuldig anders.

„Beschreib es mir“, forderte er deshalb.

Schuldig seufzte geplagt auf und Brad schmunzelte.

„Sexuelle Lust auf beiden Seiten. Deine grenzt an Besitzgier, seine zeigt sich mir sinnlicher. Deine ist scharfkantig, gerade und seine sehr verschlungen, vielschichtiger. Während bei dir nur eine Ebene vorhanden ist sind es bei ihm viele.“

„Ebenen?“

„Keine Ahnung, ich kann es nicht anders sagen. Brad, das sind keine visuellen Eindrücke eher sensorische, allerdings gekoppelt mit meinen kognitiven Fähigkeiten. Als würde sich etwas anderes als mein telepathisches Verständnis nach einem anderen Individuum ausstrecken, es ist eine Art Auflagerung.“

Brad spürte Ärger in sich.

„Brad... kann auch sein, dass ich es projiziere, ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass es zwischen euch heftig knistert.“

„Eine Projektion deiner Gefühle für Fujimiya auf uns?“

„Kann sein.“

„Dann stell es ab. Eine Beeinflussung durch einen ungeübten Empathen mit höherklassigen telepathischen Fähigkeiten ist gefährlich. Es würde dich destabilisieren.“

„Wenn ich wüsste ob es das ist würde ich es abstellen, zumal ich keine Ahnung hätte wie ich es anstellen sollte. Wir reden hier über eine Möglichkeit, Brad.“

„Kann Jei dir weiterhelfen?“

„Das bezweifle ich. Er kann sich selbst nicht abschirmen, wie soll er mir dabei helfen etwas bewusst zu steuern?“

Brad schwieg.

„Überprüf die Systeme“, wechselte Brad das Thema.

„Ja, sicher doch“, meinte Schuldig über diesen Wechsel wenig erbaut.

Brad unterbrach die Verbindung und streifte dabei mit einem Blick die zusammengesunkene Gestalt neben sich. Wenn Asugawa in der Klinik war, wie hoch lagen dann die Überlebenschancen von Nagi?

Vielleicht im gesunden Zustand, nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Er wäre ein weiteres Opfer. Und er war nicht bereit noch jemanden den Hunden zum Fraß vorzuwerfen. Nicht ihn. Strategisch gesehen wäre es ein billiges Opfer, da er kaum in der Lage war zu kämpfen, er war nutzlos für sie im Augenblick.

Nagis Vergangenheit und sein Status verhalfen ihm zu einer Überlebenschance. Asugawa hatte diese nicht.

Persönlich gesehen wäre dieses Opfer nicht nur unnütz sondern in seiner eigenen Moralvorstellung nicht hinzunehmen. Der Mann war krank und Brad konnte nicht einschätzen ob es die Auswirkungen der fehlenden Substanz war oder die Verletzungen der letzten Tage die ihm zusetzten.

Ein Opfer und einen Verlust konnte er hinnehmen, jede weitere Schwächung ihrer Gruppe käme einer möglichen Kapitulation sehr nahe. Und soweit war es noch nicht. Sie hatten ihn in dieses Spiel gezwungen, selbst Schuldig wollte auf die große Bühne, hatte dabei aber nicht bedacht wie hässlich es werden würde. Er würde die Verluste so gering wie möglich halten, aber ob es reichen würde?
 

Brad brauchte über eine halbe Stunde um am Grundstück anzukommen und den Wagen in die Garage zu fahren.

Er stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. Schuldig kam gerade in die Garage als er den Gurt öffnete und Asugawas Beine aus dem Auto hob. „Er ist richtig zusammengeklappt?“

„Nein. Aber er war nahe dran. Er war wohl weniger bereit für einen Ausflug als ich dachte“, gab Brad zu.

„Kunststück, die letzten Tage waren für unseren Spion kein Zuckerschlecken gewesen. Die Schnitte von Kudou sind frisch, dazu die Verletzungen die diese kranke Tussi von Sin ihm beigebracht hat und das fehlende Zeug...“

Brad brummte etwas Zustimmendes, aber für Schuldig hörte es sich eher grimmig an. „Brad... das war erst vor Kurzem gewesen!“, fühlte sich Schuldig bemüßigt, diesen Punkt noch einmal zu verdeutlichen.

Schuldig sah zu wie Brad nach dem Puls tastete. „Zu schnell“, sagte er.

„Höre ich da Besorgnis?“

Schuldig konnte es nicht lassen den Amerikaner zu ärgern, doch dieser schien seine Worte entweder nicht gehört oder einfach ignoriert zu haben. Offenbar war er besorgt, auch wenn sich Brads Stimme wie so oft unterkühlt anhörte. Schuldig hatte gelernt zwischen den Zeilen zu lesen.

Zügig öffnete Brad die Anzugjacke, das schwarze Hemd war feucht. „Die Verbände sind durch und er schwitzt, er ist eiskalt. Das Hemd ist klatschnass.“

„Bring ihn rein, ich komm gleich nach“, sagte Schuldig versöhnlich und ging zum Kofferraum um ihn zu öffnen.

Brad richtete Asugawa auf und hob ihn vom Sitz. Sein Kopf fiel teilnahmslos auf Brads Schulter, der linke Arm glitt nach außen weg. Schuldig sortierte im Vorbeigehen diesen auf Asugawas Schoß und Brad trug ihn ins Haus.
 

Vom Flur aus kam ihnen Ran mit einem Küchentuch auf der Schulter entgegen.

Er sah Brad und Asugawa nach. „Nicht in den... “, brüllte Schuldig den beiden nach, verstummte dann aber, als er sah wie Brad nach unten in den Keller abbog.

„Unbelehrbar“, nuschelte Schuldig, bevor er Ran einen Kuss auf die Schläfe gab, da dieser schon wieder ein finsteres Gesicht zog. Unwetterwarnung der höchsten Stufe war das für Schuldig. „Was hat er mit ihm gemacht?“, kam auch schon der erste Ausläufer daher.

Schuldig wähnte sich in der Pflicht der Schadensbegrenzung.

„Nichts, Asugawa ist in einem Laden halb zusammengeklappt, war wohl doch nicht so fit wie wir dachten.“

Schuldig stellte die Papiertüten auf dem Esstisch ab.

„Er kann es gut verbergen, wenn sein Vater noch nicht einmal etwas davon mitbekommen hat.“

Ran ging wieder zum Herd um die Temperatur zu regulieren.

„Er hat uns beiden weisgemacht er sei eine scharfe Frau auf ellenlangen Beinen und hat mit Brad auf Teufel komm raus geflirtet. Klar kann er jedem alles vormachen, wenn er will.“ Schuldig lugte in die Tüten.

„Für dich ist wohl nichts dabei, hmm?“ Ran klapste ihm auf den Hintern und lehnte sich an ihn.

Schuldig spürte Rans Sehnsucht nach körperlicher Nähe bereits seit Tagen, er suchte sie nur viel zu selten derart Offensiv wie jetzt. Viel zu schweigsam war er selbst wenn sie nur zu Zweit waren.

„Nein, leider nicht“, sagte Schuldig mit hängenden Mundwinkeln. „Ich bring die Klamotten mal runter...’, verkündete er dann mit plötzlich besserer Laune.

„Mach das später, lass die beiden allein. Crawford steht drauf angeschlagene Männer zu pflegen.“

Schuldig grinste und hob stattdessen Banshee hoch, der das gar nicht zu gefallen schien, wie sie ihre Krallen nach ihm ausstreckte.
 

Brad legte Asugawa auf dessen Bett und begann damit ihn auszuziehen. Diesem Mann wieder so nahe zu kommen und ihn derart willenlos auf diesem Bett liegen zu haben war für ihn erneut eine Belastungsprobe.

Es erinnerte ihn viel zu sehr daran wie er ihn fast nackt an sich gespürt hatte kurz nachdem er Superbia ins Jenseits geschickt hatte. Diese Augen die tiefschwarz vor Lust ihn in seinen Bann gezogen hatten...

Brads Hand lag an der blassen Wange und er zog seinen Daumen von den trockenen Lippen, sowie er bemerkte wie er darüber streichen wollte.

Er wollte so viel mehr tun als nur über diese samtige jetzt kühle Textur zu streichen. Diese Lippen waren...

Er atmete tief durch, riss sich von dem verführerischen Anblick los und stand auf um den Raum in Richtung ihres kleinen Waffenarsenals zu verlassen. Dort angekommen öffnete er die Paneele und zog zwei Aluminiumkoffer hervor.

Damit ging er zurück zu Asugawa. Rasch zog er ihn aus und sah zu wie sich sofort eine Gänsehaut über den Körper ausbreitete. Finn bewegte sich unruhig, wachte aber nicht auf.

Als er ihn ausgezogen hatte und bemerkte wie er erneut in der Betrachtung der Haut versank und die Schriftzeichen berührten wollte, riss er sich von dem Anblick los und hob die schmutzige Kleidung auf. Selbst der Kragen der Jacke war feucht, die Haare im Nacken waren nass geschwitzt.
 

Er ging ins Badezimmer im Erdgeschoss, ignorierte Schuldigs neugieriges Gesicht im Flur und wurde Tsukiyono gewahr der gerade das Haus mit zwei Farbeimern betreten hatte und auf die Treppe zusteuerte. Er musste endlich mit dem Jungen über ein paar grundlegende Dinge reden. Und er musste sich eine Endlösung für dieses Problem einfallen lassen...
 

Im Badezimmer öffnete er einen der Schränke und zog eine Plastikwanne hervor. Diese füllte er mit warmem Wasser und nahm einige Waschlappen und Handtücher mit sich. Sämtliche Schränke waren im Haus in die Wände integriert und lediglich mit Glas oder Holzpaneelen zu schließen. Das ersparte ihnen bei einem Umzug Schränke auseinanderbauen zu müssen. Und es verschaffte zusätzlichen Raum. Er liebte dieses Haus, es aufzugeben würde ihm schwer fallen.

Zurück bei Asugawa öffnete er die Koffer, und begann zunächst die feuchten Verbände abzulösen, die Nahtstellen waren in Ordnung vom Punkt abgesehen, dass zu viel Feuchtigkeit über ihnen lag.

Brad setzte sich neben Asugawa, beugte sich über ihn und drehte das Gesicht zu sich. Sanft wusch er Asugawa den Schweiß von der Stirn, strich ihm mit den Fingerspitzen die Haare zur Seite. Lange, dunkle Wimpern lagen auf der blassen Haut.

War es nur ein dämlicher Zufall gewesen, der sie in diesem Café aufeinander treffen hatte lassen? Nur ein Zufall, dass sie nebeneinander gesessen hatten? Nur ein Zufall, dass das Mädchen sein Eis ausgerechnet auf seiner Hose verloren hatte?

Brad schmunzelte, während er daran zurück dachte. Dem Gesicht welches in seiner Attraktivität nun vor ihm lag war der Schreck deutlich anzusehen gewesen. Heute wusste er, dass es nicht das Eis auf der falschen Hose der Grund für die riesigen Augen gewesen war.

Er hatte sich diesen Mann aufgrund der Unvereinbarkeit ihrer beider Welten aus dem Kopf geschlagen. Und jetzt hatte sich herausgestellt, dass sie beide in der gleichen Welt zuhause waren. Welche Ausrede hatte er jetzt?

Er kniff die Lippen zusammen und seine Augen ließen das Gesicht aus ihrem Fokus.
 

Er begann seine Arbeit erneut und wechselte die Verbände, wusch Asugawa vorsichtig und ermahnte sich währenddessen nicht ständig in der Betrachtung des einen oder anderen Körperteils zu versinken. Er sagte sich dabei, dass es nur die Schriftzeichen waren die ihn interessierten. Denn...

Brad betrachtete sich eine Sichel genauer. Sie schienen unterbrochen zu sein. Jede Silbe schien wiederholt unterbrochen zu sein. Ein Muster?

Er verbat sich ihn über Gebühr zu berühren, dennoch strich er über eine Sichel am Oberschenkel und zog die Haut dabei leicht auseinander. Was war das für eine Tätowierung?

Einige der Worte, die er entziffern konnte meinte er in ihrer Bedeutung zu erkennen, aber sie wirkten falsch. Was genau falsch daran war konnte er nicht sagen.

Über diesen Punkt nachdenkend deckte er Asugawa mit einer Decke zu und brachte die Schüssel ins Badezimmer zurück um sie zu säubern und zu verstauen.

Sein Weg führte ihn danach in die Küche. „Holst du mir von Jei Kleidung für ihn?“

Schuldig sah auf als er gerade dabei war den Tisch zu decken. „Klar, aber wart ihr nicht gerade einkaufen?“

„Nicht ausreichend.“

Schuldig verzog das Gesicht skeptisch ob dieser dürftigen Antwort.
 

Brad ging wieder hinunter. Er sah sich um. Der Raum, den er Asugawa zugeteilt hatte war karg und staubig und er warf seine Anzugjacke eher achtlos über eines der Regale. Der perfekte Raum für einen Teil seiner Vergangenheit die er besser im Staub gelassen hätte. Aber so war das eben – sie holte einen immer ein ob man wollte oder nicht.

Nur... war es kein Zufall, dass er gerade diesen Raum ausgewählt hatte, es war der perfekte Ort um etwas, dass einem wichtig war zu verstecken.
 

Sein Blick fiel wieder auf Asugawa und er stand so lange dort und betrachtete ihn. Bis Schuldig kam und die nur angelehnte Tür öffnete hatte er seine rechte Hand neu verbunden, die durch die Waschaktion nass geworden war. Die Wunde schmerzte hin und wieder, war jedoch in einem guten Zustand.

Schuldig reichte ihm ein Shirt und eine kurze Schlafanzughose mit Herzchen darauf. Brad hob nur eine Braue, dieses Kleidungsstück gehörte mit Sicherheit nicht Jei.

„Ran hasst sie“, Schuldig zog ein unschuldiges Gesicht und zuckte mit den Schultern.

„Unnötig das zu erwähnen.“

Er erwiderte diese zur Schau getragene Unschuldsmine mit einem Blick in Richtung Tür. Schuldig hob einlenkend die Hände und schlich wieder hinaus.

„Ruf mich wenn das Essen fertig ist“, rief Brad ihm nach und Schuldig winkte nur.
 

Die Tür fiel ins Schloss und Brad ging wieder zum Bett. Asugawa hatte die Beine angezogen und fror augenscheinlich. Nun mit dieser erlesen ausgewählten Bekleidung würde das sicher nicht besser werden. Er fädelte die Arme in das Shirt und zog es ihm dann über den Kopf. Brad hielt Asugawas Kopf im Nacken und als er den Stoff über das Gesicht führte, mit der anderen Hand übernahm, musste Asugawa aufgewacht sein, denn er befand sich im Fokus zweier dunkler Augen die ihn beobachteten. Dann sagte er etwas und Brad verstand die halb verschlafene Stimme kaum. „Was meinst du?“, fragte Brad sich zu ihm hinunterbeugend.

„Aus...zieh..n... nicht an...ziehn...“, murmelte Finn und schloss die Augen wieder. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln.

Brad hob die Augenbrauen. „Ist dir zu warm?“ Hatte er Fieber? Brads Hand tastete über die Stirn und die Brust. Zu heiß fühlte sich der Körper nicht an.

Asugawa seufzte zufrieden als Brads Hand zu seinem Bauch strich und schließlich den Kontakt unterbrach.

Asugawas Hand hielt seine auf, die sich die Hose greifen wollte. „Nicht...geh...“, murmelte er und drehte sich dann auf die Seite als hätte er nichts gesagt. Brad befreite seine Hand und fädelte die Hose über die langen Beine. Dann zog er sie über die Hüfte.

Schwarzer Grund und rote Herzchen in unterschiedlichen Größen, nicht Brads Geschmack. Er deckte den Mann wieder zu, löschte das Licht und verließ den Raum. Danach schloss er die Tür von außen und ging ein paar Schritte bis er anhielt.

Er hatte noch Zeit bis zum Essen. Und er hatte noch Zeit bis er mit Tsukiyono reden wollte. Und Zeit bis sie sich besprechen wollten.

Vielleicht zehn Minuten?

Seine Anzugjacke war noch in diesem Raum. Er sollte sie holen.

Unschlüssig stand er da und schloss für einen Moment die Augen.

Wer würde es schon bemerken?

Er kümmerte sich nur um ihren Gast, der noch verletzt war.

Er hatte eine Verpflichtung ihm gegenüber.
 

Brad ging wieder zurück, er ließ das Licht aus und schloss die Tür. Seine Schritte trugen ihn zu dem Bett, er entledigte sich seiner Schuhe, lupfte die Decke und schob sich hinter Asugawa. Fürsorglich dirigierte er Asugawas Kopf auf seinen Oberarm. Seine linke Hand legte sich behutsam auf die Flanke, von dort kroch sie über die kühle Haut um unter den Körper zu kommen, er hob ihn leicht an und schob ihn etwas zur Seite um mehr Platz auf dem Bett zu haben. Seine Hand strich sanft über den Bauch, die Verbände hinauf bis zur Mitte der Brust dort blieb sie liegen. Ein Schaudern ging durch den Körper und Asugawa drängte sich leicht an ihn, drehte den Kopf um ihm näher zu kommen. Brad bettete sein Gesicht an Asugawas Schopf.

Er schloss die Augen und genoss den unterschwelligen Duft nach Minze, den dieser verströmte. Fujimiyas Shampoo und Finns eigener Geruch waren eine verführerische Kombination. Er zog ihn dichter an sich. Sein Körper reagierte trotz der auferlegten Disziplin auf dieses unbewusste anschmiegen, auch wenn er sich sagte, dass Asugawa nur nach Wärme suchte. Diese konnte er ihm geben.

Die Hitze, die er gerade in sich fühlte würde er nur zu gern mit ihm teilen.

Seine Nase strich über die Schläfe und blieb dort liegen. Brads Augen öffneten sich leicht und mit diesen halb geschlossenen Lidern blieb er liegen, wachte über Asugawa, lauschte den langsam tiefer werdenden Atemzügen und spürte den sich beruhigenden Herzschlag unter seiner Hand nach. Immer noch viel zu schnell, aber nicht mehr ganz so flattrig.

„Wir haben keine Zeit mehr“, sagte er leise. Er sollte ihm ein oder zwei Abschiedsgeschenke geben. Eines, dass Asugawa zu schätzen wusste... eines, das ihm eine Option einen Ausweg bereit hielt.
 


 

o
 


 


 

Sie fanden sich alle zum Essen ein. Zum ersten Mal saßen Schwarz und Weiß an einem Tisch und es ging hoch her. Brad sah sich das Spektakel, das Tsukiyono mit Kudou veranstaltete mit einem Stirnrunzeln an. Irgendwann kamen sie dann zu einer Diskussion über den Clan, wenig produktiv befand Brad, der eher auf konstruktive Besprechungen stand als sinnloses und ineffektives Geplänkel während des Essens. Er hielt sich raus.

Seit er aus dem Keller gekommen war fühlte er sich viel zu entspannt, als dass ihn irgendetwas im Moment negativ belangen konnte.

„Hast du etwas von Manx gehört?“, fragte Fujimiya dazwischen, an ihn gerichtet. Der Japaner saß neben Eve, die sich gerade etwas Suppe nachholte und an den Herd trat.

Brad dachte über die Frage nach. „Nein. Sie hätte sich längst melden sollen.“

„Wo ist diese Mistratte Asugawa?“, fragte Kudou, der ihre Ankunft nicht mitbekommen hatte. Entgegen der Worte, war die Färbung der Frage weit weniger gehässig.

„Er schläft“, beeilte sich Schuldig. „Und... Blondie, bevor du fragst, ja er ist hinüber... und ja... wir gönnen ihm die Auszeit.“

„Schon gut, schon gut...“, lenkte Kudou ein und stopfte sich seine Nudeln in den Mund.

„Ich frag ja nur“, brabbelte er mit halb vollem Mund. „... weil ich immer davon ausgegangen bin, dass ein Gefangener von Schwarz weit weniger Nachsicht zu erwarten hätte.“

„Wir machen keine Gefangenen“, sagte Brad.

„Und was ist er dann?“

„Freier Mitarbeiter?“, bot Schuldig an.

Omi schnaubte. „Er hat Nagi dazu getrieben sich zu verausgaben...“, fing er an.

„Naoe hat das selbst zu verschulden“, berichtigte Brad.

Keiner hielt dagegen. Omi schien noch nicht fertig zu sein.

„Und was war mit Schuldig und China? Er wäre beinahe draufgegangen. Und jetzt ist alles verziehen?“

„Er wird eine Woche den Hausputz übernehmen, das wird ihn lehren etwas sorgfältiger in seiner Planung vorzugehen“, gab Ran den Oberlehrer und sah Omi mit diesem speziellen Blick an, der ihm sagen sollte, dass er es gut sein lassen sollte und er zu wenig von der Thematik wusste um darüber reden zu können.

Omi sah die Älteren am Tisch an und wurde sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie tatsächlich mehr wussten als Nagi und er.

„Was ist passiert während wir beim Doc waren?“

Schuldig wollte gerade antworten als Brad ihm dazwischen fiel, er klappte den Mund wieder zu.

„Das besprechen wir später.“ Er erhob sich und ging hinüber zu den Schränken, er holte eine Schale heraus und stellte sie auf einen der freien Plätze. Kurz darauf erschien eine abgerissene Gestalt im Türrahmen. Alle Augen richteten sich auf die traurig ins Gesicht hängenden Haare, auf das müde wirkende zerknautschte Gesicht und auf die Shorts.

Schuldig erfuhr einen bösen Klapps auf den Hinterkopf von seinem persönlichen Folterer zu seiner Linken. Ein wimmernder Klagelaut löste sich aus seinem Mund und verließ seine Lippen.
 

„Gehört das Teil dir?“, flüsterte es zerbrochen über die blassen Lippen des Mannes, der immer noch im Türrahmen stand. Lasziv, dahingegossen, zum Anbeißen, befand Schuldig. Irgendwie war dieser Mann – neutral betrachtet - eine permanente Versuchung. Wie konnte Brad da nur widerstehen?

Schuldig korrigierte seine Gedanken als er eine Hand auf seinem Oberschenkel spürte die ihn warnend drückte. Oha, da hatte wohl jemand Lunte gerochen. Sein Daumen hob sich und zeigte hinter sich. „Seine“, erwiderte er verspätet auf Asugawas Frage. Vielleicht lehnte Asugawa doch nicht lasziv am Türrahmen, aber er hatte eben eine unnachahmliche Art sich in seiner Umgebung zu bewegen, die irgendwie katzenhaft und weder hölzern noch typisch aufgesetzt wirkte. Er sah einfach überall... zum Anknabbern aus.
 

„Setz dich“, kam es kühl von Crawford und alle sahen zu ihm, sodass Schuldig das Gefühl überkam die Temperatur würde gerade um ein paar Grad nach unten fallen. Er musste etwas gegen diese unangenehme Stille tun, die sich ausgebreitet hatte und fing damit an Tsukiyono und Kudou auf die Nerven zu gehen. Ran ließ es zu, da er wohl die Maßnahme für ebenso angebracht hielt. Er stand auf und stellte Asugawa eine Flasche Wasser und ein Glas hin.

Brad füllte die Schale mit der Miso und stellte sie Asugawa hin. Schuldig reichte ihm ein Paar Essstäbchen. Finn bedankte sich im Stillen für das Mahl und fing unter den auf ihn gerichteten Augen an langsam zu essen. Er fühlte sich extrem unwohl unter diesen Blicken, erwiderte sie aber nicht. Er aß still vor sich hin und irgendwann nahmen sie die Gespräche wieder auf und schienen das Interesse an einem müden Mann zu verlieren, der seine Suppe in Zeitlupengeschwindigkeit aß. Selbst das machte ihn müde. Er hörte ihren Theorien über den Clan nur mit halbem Ohr zu, viel zu interessant fand er das Essen, das in Schalen und Platten vor ihm stand.

Sehnsüchtig sah er auf die leckeren Nudeln, mit dem Fleisch und dem Gemüse. Und da waren auch noch Wan-tan...

‚Hey, was ist los, Herzchen?’, erdreistete sich Schuldig, während er seine Nudeln in sich schaufelte.

Finn ignorierte die Anspielung auf seine Beinbekleidung.

‚Ich hab Hunger’, jammerte Finn und schielte zu Schuldig und dessen riesig erscheinenden Nudelberg.

‚Dann iss.’

‚Ich bin zu müde.’

‚Du bist ziemlich hinüber und... gierig.’

Finn trank einen Schluck der Suppe. Sie war sehr schmackhaft und sie tat ihm gut. Trotzdem sah er... gierig auf den Nudelberg, den Schuldig gerade dezimierte. Er hatte das Gefühl seit einer kleinen Ewigkeit nichts Ordentliches mehr gegessen zu haben.

Schuldig linste zu Brad, der sich gerade wieder setzte. ‚Hey Großer, dein Fohlen hat Kohldampf, ist aber zu fertig um sich die Nudeln einzuverleiben...’

Schuldig grinste.

‚Und was soll mir das jetzt sagen, Schuldig?’

‚Was habt ihr im Keller gemacht?’

‚Nichts.’

‚Du warst lange dort unten.’

‚Die Erneuerung der Verbände hat einiges an Zeit beansprucht.’

‚Glaub ich nicht.’

‚Ist mir egal.’

‚Huch, so nachsichtig mit mir und meiner Neugierde?’

Schuldig war ehrlich erstaunt.

‚Sag ihm er soll bei der Suppe bleiben, wenn er heute Abend nicht mit dem Kopf dauerhaft über einer Toilettenschüssel hängen möchte.’

Schuldig richtete es Finn aus und dieser verzog traurig einen Mundwinkel. Das hatte er befürchtet. Aber wenigstens hatte er durch einen Hellseher Gewissheit, dass es so kommen würde. Ein tröstlicher Umstand.

Nach und nach zerstreuten sich alle wieder, Schuldig und Ran hatten wohl das Küchenregiment übernommen, also begannen sie abzuräumen, während Finn immerhin bei seiner zweiten Portion Suppe war.

Von irgendwoher hörte er Gelächter und das Plätschern von Wasser. Musik wurde laut und Finn vermutete den Rest der Meute am Pool.
 

Brad hörte es auch, beschloss aber den Teams eine Auszeit zu gönnen. Heute Abend würde es ohnehin ein Ende haben und morgen würden sie ein paar Dinge, die sie besprechen würden in die Tat umsetzen.

Brad saß weiter am Tisch und beobachtete Asugawa. Er hätte das Stunden lang tun können, wie ihm auffiel. Es beruhigte ihn zu wissen wo dieser Mann sich herumtrieb. Am besten in seiner Nähe und am besten so handzahm wie jetzt. Seine Gesichtsfarbe war immer noch blass, sah aber nicht mehr ganz so fahl aus.
 

Finn hatte unterschätzt wie aufreibend es sein konnte von diesen schwefelgelben Augen beobachtet zu werden. Warum trug er nicht diese braunen Kontaktlinsen? Der simple Akt der Nahrungsaufnahme konnte verdammt anstrengend werden wenn dieser Mann einen im Visier hatte.

Finn räusperte sich unwohl. „Hast... hast du nicht etwas zu tun?“, fragte er als die Stille endlich durch Schuldigs und Fujimiyas verbalen Schlagabtausch abgelöst wurde. Schuldig hatte wohl etwas verbrochen, was geahndet werden musste. Finn hatte nicht alles mitbekommen, da er zu sehr damit beschäftigt war, diesen sezierenden Blick auszuhalten. Wie es wohl war wenn diese dämonischen Augen seinen nackten Körper betrachteten? Er wusste nicht ob er diesem Blick lange standhalten würde.

Nachdem er Superbia über die Klinge springen hatte lassen, war er so aufgeputscht gewesen, dass er sich darüber kaum Gedanken gemacht hatte, jetzt jedoch in der Normalität des Alltäglichen schlug sein Herz einen Tick zu schnell wenn er in diese Augen sah.

„Nein, habe ich nicht.“

Brads Mundwinkel verzogen sich zu einem gemeinen, wissenden Lächeln.
 

Finn trank gerade den letzten Rest seiner Suppe leer, ließ dabei den anderen nicht aus den Augen. Dieser wusste offenbar genau was er in ihm anrichtete.

Das schwarze Haar fiel dem Hellseher leicht in die Stirn, das linke Auge wurde durch eine der dunklen Haarsträhnen geteilt und wirkte darum nur umso dämonischer auf ihn. Finns Gedanken drohten in eindeutig sexueller Absicht abzudriften.

Er erinnerte sich an den Geschmack seiner warmen Haut, die den Teint eines Südländers besaß. Lateinamerika vielleicht? Dazu dieser fantastische Körper, den nur ein Mann haben konnte der regelmäßig mehrere unterschiedliche Sportarten pflegte. Kickboxen, wie er schon am eigenen Leib erfahren durfte. Und Laufen... oder doch Schwimmen, wenn er den Schultergürtel betrachtete, der sich unter dem Hemd abzeichnete. Wieso trug Brad nur gerade jetzt dieses perfekt sitzende weiße Hemd? Finn unterband ein leises Seufzen und sah wieder in seine leere Schüssel hinein. Seine Hände hatte er aus einem guten Grund in seinen Schoß gelegt, denn dort regte sich bereits ein sichtbares Zeichen seiner Begierde nach diesem Mann.

Begierde? Pah, das war eindeutig reine Gier, mach dir doch nichts vor, meckerte er sich selbst an.

Du kannst doch kaum mehr atmen in seiner Gegenwart. Du willst dich ihm mit allem was du hast entgegenwerfen und hoffst dabei noch während du abhebst dass er dich auffängt. Wider besseren Wissens. Du wirst ins Leere springen und tief fallen.

Finn seufzte unterdrückt über so viel Selbstmitleid und kaschierte diesen laut gewordenen langen, tiefen Atemzug mit einem Räuspern. Das hörte sich selbst in seinen Ohren frustriert an.

Diszipliniert wie er war hatte er zwar nicht seine Gedanken, aber dieses verräterische Stück in seinem Schritt gut unter Kontrolle, auch wenn es im Augenblick einen hinterhältigen Aufstand probte.
 

Die Sehnsucht diesen Mann näher zu kommen war ungebrochen, ihn nicht berühren zu können war schmerzhaft.

Wenn das hier alles so weiter geht sterbe ich noch an gebrochenem Herzen, dachte er geplagt.

Nachdem er Superbia getötet hatte war es so einfach gewesen zu ihm zu gehen und ihn für sich zu beanspruchen, doch jetzt schien es unüberwindbare Barrieren zu geben. Alle in diesem Haus hatten ein Auge auf ihn. Wie konnte er es sich erlauben dem Hellseher näher kommen zu wollen? Seine übliche Masche um jemanden zu verführen wagte er nicht abzuziehen, zumal sie unehrlich war und Brad sie sicher durchschauen würde. Finn wollte keine billige Abwechslung für ihn sein, oder nur jemand bei dem er Druck abbauen konnte. Wenn er sich derart frivol an Brad heranmachen würde, dann war klar was er bekommen würde: Sex. Bestimmt guten Sex, so viel wusste er schon. Nur war es nicht das was er eigentlich wollte.

Das was er wollte...

Er sah wieder hoch in die auf ihn gerichteten Augen.

Er wollte in diesem Blick ertrinken, wollte, dass diese Augen ihn begehrten, dass er der Einzige war, den sie sahen. Wie hatte er all die Jahre im Hintergrund bleiben können? Allein Brads Gefährlichkeit hatte ihn davon abgehalten. Sein Ruf hielt viele davon ab sich dem Hellseher zu nähern.

War er deshalb zu SZ gegangen um nicht die Nachfolge derer anzutreten, die manipuliert, erpresst und getötet worden waren, nur für einen Blick in die Zukunft?

Chiyo hatte ihm damals viele Geschichten der Hellseher und ihrer Schicksale erzählt. Er hatte sich geschworen, dass Brad niemals in Ketten in absoluter Finsternis gehalten werden würde um seine Hellsicht zu verstärken. Brad selbst hatte sich fast unnahbar gemacht. Nur kamen jetzt Rosenkreuzer um ihn zu jagen. Das war eine gänzlich andere Herausforderung und Finn befand das Verhalten des Hellsehers als viel zu ruhig. Er sorgte sich um ihn, um diese Ruhe, die für ihn so falsch wirkte. Wie gerne würde er jetzt aufstehen und um den Tisch gehen, sich zu ihm beugen und ihn küssen.
 

Doch er musste warten bis Brad zu ihm kam. Aber wann würde das sein? Vielleicht nie.

Finn erhob sich umständlich von seinem Platz und kam sich elend vor.
 

„Zieh dich an, wir treffen uns in einer Stunde oben“, sagte Brad und Finn nickte.

Er verließ die Küche und ging in den Keller zurück, er brauchte noch eine Mütze voll Schlaf bis die große Fragerunde anstehen würde. Vielleicht würde er wieder davon träumen, dass Brad bei ihm lag und er sich an diese Wärme schmiegen konnte.
 

Schuldig hatte unterdessen das kleine Blickduell beobachtet und war seiner Arbeit nur abgelenkt nachgekommen, was Ran sehr gestört hatte.

Brad saß noch ein Weilchen am Tisch und trank seinen Kaffee aus.

„Ihn so anzuheizen und dann wegzuschicken scheint dir zu gefallen“, konnte sich Schuldig nicht verkneifen.

„Ist das deine kleine Rache für Sophie?“

„Ich weiß nicht wovon zu redest“, behauptete Brad ernsthaft und stand auf. Er verließ die Küche und Schuldig brummte nur ein „arroganter Arsch“ hinter ihm her.

„Ach, und wenn du es sagst ist es okay?“, fragte Ran müßig und lächelte in sich hinein, während er die Spülmaschine anwarf.

„Naja...“, versuchte sich Schuldig zu rechtfertigen und fing eine lamentierende Argumentation über sein näheres Verhältnis zu Brad an, er konnte sich jedoch des Verdachts nicht erwehren, dass Ran ihm gar nicht mehr zuhörte...
 

Brad ging zunächst zum Pool an dem es sich der Rest der Truppe mit ein paar Getränken gemütlich gemacht hatte. Seine Schwester wurde als erste auf ihn aufmerksam.

„Wir müssen das Grundstück für einen Taifun rüsten, die ersten Ausläufer bekommen wir heute Nacht zu spüren. Es wird gelegentlich heftig regnen. Könnt ihr das übernehmen, ich muss kurz mit Tsukiyono sprechen.“

Eve stimmte zu und Brad trat den Rückzug an.

Er sah im Eingangsbereich Omi auf der Treppe sitzen.

„Ich muss mit dir sprechen. Komm mit“, wies Crawford ihn an und Omi musste seine Wut zähmen um ihn nicht anzuschreien. Omi fühlte sich rastlos und unruhig, weil mit Nagi nichts vorwärts ging. Sie wollten ihn doch abholen und nun?

Und was wollte der arrogante Arsch schon wieder von ihm? Er hatte das Geplänkel zwischen Ran und Schuldig natürlich mitverfolgt. Wie treffend die Aussage von Schuldig doch war.
 

Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch erhob er sich und folgte Crawford in das Zimmer das Nagi und ihm als Koordinatoren zur Verfügung gestellt worden war. Mehrere Monitore spulten ihre Programme zur Entschlüsselung des Kristalls ab und Omi stellte mit einem schnellen Blick fest, dass alles zu seiner Zufriedenheit lief. Der langgestreckte Raum beheimatete im hinteren Teil einen riesigen Tisch an dem alle Platz fanden. Brad ging zu der Fensterfront aus kugelsicherem Glas und sah durch die Lamellen hinunter in den Garten. Omi kam näher und fläzte sich in einen der Sessel vor seinem Hauptrechner.

Nagis spezieller Sessel samt Visus lag seinem Gegenüber.
 

„Was willst du?“
 

Brad ließ sich Zeit mit seiner Antwort.
 

„Ist es so wie du es dir mit Nagi vorgestellt hast?“, fragte er dann und Omi sah mürrisch auf. Der Amerikaner hatte ihm den Rücken zugedreht und er durchbohrte diesen mit einem bösen Blick.
 

„Ach du meinst wir tollen nicht über die mit Blumen übersäte Wiese und halten uns an den Händen während die Sonne hoch vom Himmel strahlt? Ja klar das stört mich schon“, ätzte er.
 

„Ich will eine ernste Antwort.“
 

„Was du willst geht mir am Arsch vorbei, Crawford“, fuhr Omi auf und der Frust über die Situation mit Nagi und seine Besorgnis brachen sich bahn.
 

„Ich will wissen ob du dich nach dieser Aktion weiter an ihn binden willst oder ob du dich besser gleich von ihm fern hältst wie ich dir bereits zu Beginn dieser unseeligen Liaison vorgeschlagen habe.“
 

Omi sprang auf und sein Zorn traf auf Crawfords entspannte Miene.

„Hast du das etwa kommen sehen und ihn trotzdem für diesen Einsatz DAS auferlegt?“

Omi wurde mit dem wolfsähnlichen Lächeln bedacht das er von früher kannte und verabscheute.

Er starrte ihn in plötzlich bitterer Erkenntnis an. „Du hast es kommen sehen“, stellte er fest. „Und es nicht verhindert?“, fragte er leise.
 

Brad ging auf ihn zu, eine Hand lässig in der Hosentasche verborgen und blieb vor ihm stehen. Omi rührte sich nicht. Wie grausam war der Kerl eigentlich?
 

„Hättest du es denn verhindern können?“, fragte Brad in diesem einschmeichelnden harmlosen Tonfall.
 

„Ich hätte es verhindert!“, sagte Omi voller Abscheu.
 

Brad hob eine Braue und atmete tief ein. Dann schüttelte er fast schon nachsichtig den Kopf. Das konnte der Junge doch nicht wirklich annehmen. Oder doch? Nagi war eine teuflische, infernalische Waffe in den falschen Händen. Nach allem was Tsukiyono mit Naoe erlebt hatte wagte er es immer noch diese Behauptung aufzustellen?

„Das ist geradezu lächerlich dumm“, sagte Brad und trat wieder ans Fenster zurück. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und wandte sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung – neuerdings- dem Beobachten seiner Schwester zu. Der Junge musste endlich begreifen, dass Nagi kein normaler Mensch war und auch nicht so zu behandeln. Weshalb war es so schwierig das zu akzeptieren?

Brad versuchte es auf eine andere Weise.
 

„Setz dich wieder“, sagte er ruhig.
 

„Einen feuchten Dreck werde ich tun! Warum soll ich das? Damit du mich mit deiner großkotzigen Art auf mich herabsehen kannst?“, hob sich Omis Stimme erneut über den normalen Gesprächston und die blauen Augen blitzten voller Zorn. „Setz du dich doch!“
 

„Ich bevorzuge es zu stehen...“, sagte Brad abgelenkt als er zusah wie Kudou und seine Schwester einen der Sonnenschirme schloss und sie ihn abtransportierten.

„... denn ich möchte meiner Schwester zusehen“, erwiderte Brad in Gedanken der vergangen Zeit mit ihr nachtrauernd. Er würde sie bald wieder verlassen.
 

Omis Wut verpuffte fast gänzlich als er die ruhigen Worte hörte und den Mann dort wie hypnotisiert in den Garten blicken sah. Der Amerikaner ließ sich von seiner Wut nicht provozieren, sondern stand nur gelassen da und lächelte in den Garten hinunter.

Er ließ ihn aussehen wie ein bockiges Kind mit dem man ruhig und besonnen zu Werke gehen musste. Führte er sich so auf?
 

Ohne es wirklich zu bemerken saß er wieder und wäre beinahe aufgesprungen als er diesen Umstand erkannte, doch Crawford fing bereits mit seiner vermeintlich kleinen Rede an. Weshalb zum Teufel verströmte dieser bescheuerte Amerikaner nur das Flair eines ultimativen autoritären Anführers? Warum taten die Menschen was er von ihnen wollte?

„Was weißt du von Naoe?“

Omi sah auf. Nach einer Ansprache hörte sich das nicht an. Eher nach einer Frage. Einem richtigen Gespräch.
 

Damit hatte er nun nicht gerechnet. Ganz und gar nicht. Und Omi zog die Beine auf den Sessel und presste die Sohlen seiner Sneaker aneinander. „Nicht viel. Du hast ihn irgendwo aufgelesen, ihn dann naja...“, druckste er herum. Meine Herren was für ein Gespräch würde das hier werden? Wieder die Überprüfung seiner Fähigkeiten als Schwiegersohn?

„... wie einen Vater aufgezogen. Naja er war bei SZ und die Kathedrale stürzte ein...“, er stockte wieder. Ja, was wusste er denn von Nagi? Und war das wichtig?
 

„Was ist so wichtig an der Vergangenheit? Was zählt ist doch das Jetzt und die Zukunft. Siehst du das anders?“
 

„Nein. Aber ich hätte es anders sehen sollen.“
 

Ach, doch nicht unfehlbar, der Herr Hellseher, frotzelte Omi in Gedanken.

„Ich könnte dir noch erzählen, dass er keine Freunde hat und was er genau studiert und dass sein Projekt Geschichte ist nach dem Ganzen was hier abgeht. Aber darauf willst du sicher nicht hinaus“, schloss er selbst etwas frustriert.

Er fuhr sich durch die blonden Haare und stützte den Kopf auf seine Hand.

„Weißt du denn mehr?“, fragte er betont gelangweilt um nicht den Anschein zu erwecken er wäre neugierig. Aber das wäre eine unzulängliche Umschreibung seines Gemütszustandes. Er war frustriert, sauer, hilflos und er wollte Nagi einfach nur berühren, ihn in den Arm nehmen. Er sehnte sich nach ihm.
 

Der Amerikaner hatte sich an die dekorative Stahlstrebe des breiten Fensters gelehnt, die Arme immer noch verschränkt, die Ärmel seines makellosen weißen Hemdes ohne Knitterfalten hochgekrempelt und sah noch immer hinunter in den Garten. Es war drückend heiß draußen und dieser Kerl zog stets Anzughosen und langärmlige Hemden an. Schwitzte der Typ eigentlich nie? Die Stimme des Amerikaners jedoch ließ darauf schließen dass seine Gedanken jetzt nicht mehr bei seiner Schwester weilten, sondern weit in der Vergangenheit.
 

„Ich war damals selbst noch nicht alt. Gerade zwanzig und mein Mentor bei SZ schickte mich zu einem Einsatz. Ich sollte einen der führenden Köpfe von SZ zu einer außerordentlichen Inspektion seines Außensitzes in Rio de Janeiro begleiten. Reine Routine und ich war eher so etwas wie eine nette Begleitung denn ernste Schutzfunktion. Er schmückte sich mit mir und meinen Fähigkeiten und er wollte mich im Auge behalten.“
 

„Wer war dieser ER?“
 

„Such dir einen der drei aus die ihr kalt gemacht habt“, sagte Brad immer noch mit dieser ruhigen Erzählstimme.
 

Omi hob die Brauen und verzog das Gesicht nachdenklich. Es war also nicht wichtig wer es war, schon klar.

„Ihr wart also beide in Rio...“
 

„Im Endeffekt spielt es keine Rolle wo wir waren. Es hätte jede große Stadt sein können“, fuhr Brad fort.

„Sie sind alle gleich.

Der Besuch sollte über eine Woche dauern. Mir gefiel es dort. Bereits am ersten Tag kam es zu Unstimmigkeiten.“ Brad entsann sich seines Zuhörers und wandte das Gesicht ihm zu, sah ihn für einen Moment aufmerksam an und setzte sich dann in einen großen Ledersessel.
 

„Damit du das verstehst muss ich...“
 

„Ich kapiers schon Schwarz, ich bin entgegen der geläufigen Meinung deinesgleichen intelligent“, murrte Omi bei dieser Eröffnung.
 

„Halt deinen vorlauten Schnabel. Du hast nicht die geringste Ahnung“, sagte Brad mit wenig Enthusiasmus hinter seiner Rüge. Er hatte seinen Unterarm auf den Tisch gelegt und spielte mit einem Kugelschreiber zwischen den Fingern herum, sah aber zum Fenster hinaus.
 

Omi bemerkte die Müdigkeit und auch die Brisanz hinter diesem letzten Satz. Er bezog sich nicht auf ihn... nein er bezog sich auf so vieles das den Amerikaner umwehte.
 

„Damals rivalisierte SZ mit einer anderen großen Gruppe PSI. Es gab strenge Regeln, doch bei der Rekrutierung neuer Mitglieder verbog SZ diese Regeln gerne und wenn es nicht bemerkt wurde war es ohnehin einerlei wer sich wen einverleibte. Der in Südamerika postierte Handlager von SZ war für diesen Zone zuständig um neue Mitglieder zu... sagen wir werben.“
 

„Werben? Hört sich an als wären sie eher gefangen genommen worden“, sagte Omi scharf und fühlte sich an seine eigene Vergangenheit erinnert.
 

„Dem war auch so. Sie wurden durch Späher ausfindig gemacht, ihre Familien ausradiert, ihre Vergangenheit gelöscht und sie SZ in den Rachen geworfen. Ihre neue Familie nahm sie mit offenen Armen auf und sorgte für sie. Von den Kindern abgesehen deren Familien ohnehin nichts mit ihnen anfangen konnten. Selbst diese löschte SZ aus um die Neulinge nicht auf dumme Gedanken zu bringen. Es waren schließlich alles Gottes Kinder und sie waren in seinem Auftrag auf dieser Erde.“
 

Omi fiel dazu nichts ein. Er wusste wirklich nichts wie Crawford gesagt hatte. Das war grausam. Diese Welt war grausam in der Schwarz gelebt hatten. Aber es war leider auch nichts Neues. Die Geschichte hatte ihnen gezeigt, dass Kinder ohne Schutz Freiwild waren.
 

„Thomas Straud war ein erfahrener Telepath und schon lange im Orden. Eine berüchtigte Vergangenheit rankte sich um ihn, doch nur mehr die Alten wussten genau um was es wirklich gegangen war. Eines dieser Gerüchte besagte, dass er der Sohn von Richard Miller war, einem der drei Spitzen des Ordens. Allerdings hatte Miller nie eine Verwandtschaft bestätigt und so verlief sich auch dieses Gerücht. Ein anderes besagte er hätte einst einen Gefangenenaufstand angeführt.
 

Er war der Gebietsleiter der Sektion Südamerika und dort für die Rekrutierung zuständig. Ich war Richard Miller zugeteilt und Straud war nervös als wir dort eintrafen. Zunächst dachte ich es wäre die Anwesenheit von Miller die Straud ungehalten und zornig gegenüber seinen Angestellten agieren ließ. Doch am Tag darauf war mir klar warum er sich die Blöße gab und seine Nervosität nur schlecht verbergen konnte.

Straud hielt sich einige der PSI, die er rekrutierte als persönliche Diener. Er war ein starker Telepath und somit auch in der Lage PSI problemlos zu unterwerfen. Allerdings war es seine Aufgabe alle Neulinge sofort nach Europa weiterzuleiten.

Er hatte sich aber zur persönlichen Erbauung einige behalten.“
 

„Will ich wissen was diese persönliche Erbauung beinhaltete?“, fragte Omi mit erstickter Stimme.
 

„Nein, das willst du nicht. Nicht von mir. Deine Fantasie reicht sicher dafür aus, mehr als meine. Straud hatte jedoch kein sexuelles Interesse an den männlichen Kindern“, erwiderte Brad und zerstreute die Befürchtungen des jungen Mannes in diese Richtung. Sicher war es sich in diesem Punkt bis heute nicht. Straud war ein Sadist, ob dieser Wesenszug von ihm auch sexuell ausgelebt wurde konnte Brad nicht mit Bestimmtheit sagen, es lag jedoch nahe.
 

„Straud kennzeichnet außergewöhnlicher Ehrgeiz und der Hunger nach Macht. Er ist intelligent, hat aber kein Gefühl für die Belange anderer. Und seine Frustrationstoleranz ist extrem niedrig anzusiedeln. Weshalb der unangekündigte Besuch von Miller ihn fast schon haltlos machte. Er prügelte einen Angestellten halb tot weil er ihm nicht rechtzeitig die Tür öffnete als er Miller und mich im Schlepptau durch das Anwesen führte. Miller schickte ihm einen telepathischen Befehl von dem Angestellten abzulassen um nicht noch mehr Zeit mit diesem sinnlosen Beispiel seiner eigenen Unzulänglichkeit zu verschwenden. Straud hat den Mann mehrmals getreten als er bereits bewusstlos am Boden lag. Ich konnte damals auf Millers Gesicht Abscheu und Enttäuschung erkennen als wir weitergingen.“
 

„Und ich dachte immer Schuldig sei der Psychopath“, sagte Omi als Brad eine Pause machte.

„Schuldig?“ Brad veränderte seine Haltung und sah Omi an.

„Schuldig ist gegen Thomas Straud ein Unschuldslamm. “ Brad lächelte spöttisch über diesen Vergleich.

„Straud kam mir vor wie ein unbeherrschtes Kind, dem seine Spielzeuge weggenommen wurden. Wenn wir es nicht verhindert hätten dann wäre der ganze Komplex samt der noch vorhandenen Kinder in Flammen aufgegangen so jähzornig war er. Straud hatte sich einen kleinen Hofstaat aufgebaut ohne eine Kontrollinstanz und herrschte tyrannisch über sein kleines Reich. Als Richard Miller herausfand, dass er auf eigene Faust die Kinder manipulierte zog er alle Informationen aus Strauds Gedächtnis und schickte ihn nach Europa zurück. Miller hatte die Befürchtung, dass Straud sich seine eigene kleine Armee aus PSI aufbauen und einen Aufstand anzetteln wollte. Ob dem so war weiß ich nicht.

Der Alte fand heraus, dass eines der Kinder von Straud aus der Gruppe entfernt worden war. Und auch als welchen Gründen dies geschehen war. Straud hatte versucht ihn unter Kontrolle zu bringen und der Junge hatte diese Kontrolle nach kurzer Zeit stets durchbrochen. Was dazu geführt hatte, dass Straud andere Mittel einsetzte und der Junge sich immer stärker dagegen gewehrt hatte. Was anfangs nur simple einfache Telekinese war wurde durch andauernde Erniedrigung und Misshandlung zu etwas erschreckend Starkem. Schlussendlich konnte er mit dem Kind nichts mehr anfangen und die Behandlung die er ihm angedeihen hat lassen hätte sein Todesurteil bedeutet. Unser Kommen musste ihm kurz vor unserer Ankunft angekündigt worden sein und so wollte er das Problem schnell loswerden, er setzte ihn auf einem der Müllberge aus. Er hatte ihn halbnackt und gefesselt weggeworfen. Sein Zustand war wohl so miserabel, sodass Straud davon ausgegangen war der Junge würde binnen Kürze sterben. Miller sagte, es sei ein starker Telekinet und ich solle mich auf die Suche nach ihm machen. Er würde nicht lange unentdeckt bleiben und wir mussten diese Chance nutzen um als Erste zum Zug zu kommen.“
 

Brad sah wieder nach draußen. Er schwieg einige Augenblicke lang und Omi hielt den Atem an und entließ ihn langsam.
 

„Ich fand das Kind mittels meiner Fähigkeiten genau an dem Platz an dem ich ihn Tage zuvor in einer Vision gesehen hatte. In der Zwischenzeit war Richard Miller zusammen mit Straud abgereist. Ich sollte mich um das Kind kümmern und mit ihm nachreisen.“
 

Omi hatte Entsetzen ergriffen. Sie steuerten hier auf etwas zu von dem er sich nicht sicher war ob er es hören wollte, oder sich damit auseinandersetzen wollte und konnte. Sein Magen rebellierte. Er saß wie versteinert auf seinem Sitz, die Hände in seine Fußknöchel geklammert und starrte blind vor Tränen auf den Amerikaner. Seine eigene Vergangenheit drohte sich mit Erinnerungen in dieses Gespräch zu drängen.
 

„Nagi hatte nur ein langes Shirt an, das wie ein schmutziges Kleid an ihm wirkte, als ich ihn im strömenden Regen mitten in der Nacht in einer Gasse fand. Er saß dort zusammengekauert und verschmutzt und hob nicht einmal den Kopf als ich vor ihm stehen blieb. Jeder Wirbel stach deutlich sichtbar auf seinem Rücken durch das nasse weiße Stück Stoff heraus. Sein Kopf wirkte auf dem ausgemergelten Körper viel zu groß.

Ich war mir damals nicht im Klaren darüber wie stark Nagi tatsächlich war aber ich ahnte dass ich behutsam mit ihm umgehen musste. Ich wusste nichts über ihn und vor allem nicht wie stark der Schaden den Straud angerichtet hatte war. Noch bevor ich ihn ansprechen konnte packte seine Hand meinen Fußknöchel.

‚Wirst du mir weh tun?’, fragte er mich ruhig, mit einer Kälte in der Stimme die selbst ich damals noch nicht mein eigen nennen konnte. Ich wollte antworten aber noch bevor ich das erste Wort sprechen konnte fand ich mich an der anderen Hauswand wieder. So ging das eine Zeitlang bis ich dachte mir jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen zu haben. Irgendwann ließ er mich nicht mehr aufstehen.
 

In der Zwischenzeit konnte ich es auch nicht mehr. Ich lag dort und blutete eine unbekannte Zeit vor mich hin bis er mich aus seiner geistig abwesenden Beobachtung ließ, aufstand und wegging. Ich wählte den Notruf und kam in ein Krankenhaus. Von dort aus in eine Privatklinik bis ich erst nach einigen Wochen genesen war und die Klinik verlassen konnte.

Miller zeigte sich unbeeindruckt und sagte ich solle ihm das Kind bringen. Egal wie.

Nachdem ich wieder hergerichtet war ging die Suche von vorne los. Doch dieses Mal war es etwas einfacher, denn ich wurde verfolgt.

Als ich es bemerkte suchte ich mir einen ruhigen unbelebten Ort und wartete. Ich hatte etwas zu Trinken und zu Essen dabei und machte es mir auf meiner Decke bequem.

Es dauerte mehrere Stunden als er sich herangetraut hatte. Er sah mich nur an. Sein Blick war mit dieser dumpfen, kränklichen fast schon toten Leere gefüllt. Er trug lediglich zerschlissene kurze Hosen, sein Oberkörper war schmutzig, ebenso seine Füße, sein Körper stank nach Dreck und Schlimmerem. Der Körper glich einem verhungernden Kind, das lange keine Nahrung mehr zu sich genommen hatte. Er war in dieser Welt verloren gegangen und keiner außer mir machte sich die Mühe ihn zu suchen.

„‚Wirst du mir weh tun?’, fragte ich ihn.“
 

Crawford musste in Erinnerung daran schmunzeln.
 

„Er schüttelte langsam den Kopf, blieb aber wo er war.

‚Sagst du was ich tun muss?’

‚Um etwas zu Essen zu bekommen?’, fragte ich ihn in meiner grenzenlosen Naivität, da ich damals so wenig von ihm wusste, beinahe nur etwas weniger als jetzt.“ Brad fuhr sich in einer unbewusst zerstreuten Geste über die Stirn.
 

„Er antwortete nicht, sondern sah mich nur mit diesem Blick an, der seinen Hunger verriet. Ich dachte es wäre der Hunger nach Essen, nach Schutz.

‚Sag mir was ich tun muss’, wiederholte er im gleichen Tonfall. Ich versuchte mit ihm zu sprechen aber er blieb wo er war und tat gar nichts.

Also sagte ich ihm was er tun sollte. Ich sagte ihm er solle zu mir kommen und sich hinsetzen, was er ohne zu zögern tat. Er griff nicht nach dem Essen sondern starrte mich nur an. Es war gleichzeitig beängstigend und verwirrend. Erst als ich ihm sagte, er solle essen tat er es. Er tat alles was ich ihm sagte. Und nur das.
 

Ich war überfordert mit der Situation. Ich dachte mir, dass der Job für mich erledigt wäre wenn ich ihn nach Europa mitnehmen würde. Was ich tat, aber selbst SZ konnten an seinem Verhalten nichts ändern. Er aß, badete, schlief, wann immer ich es ihm auftrug. Du kennst ein ähnliches Verhalten von Jei. Nagis Zustand war damals erschreckend für mich gewesen. Was Straud ihm damals angetan hat und danach geschehen war weiß weder Schuldig noch ich bis heute. Ob die Trias es gewusst haben? Ob Richard Miller Straud bestrafte? Könnte sein, vor allem im Hinblick darauf, dass sie Nagi ab diesem Zeitpunkt mit Samthandschuhen angefasst und seinen Verstand bis auf gelegentliche Scans in Ruhe gelassen haben.
 


 


 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank!
 

Gadreel

Anchor

Anchor
 


 


 

„Was ist mit Straud?“
 

„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht wieder gesehen.“ Brad hatte nicht viel Kontakt mit diesem Mann in der Vergangenheit, aber er hatte ihn aufgrund der Geschehnisse als machtgierigen, unangenehmen Mann in Erinnerung. Straud musste sich in der Zwischenzeit zu einer der neuen Spitzen der Trias hochgearbeitet haben, denn er hatte ihn in vielen Visionen der jüngsten Zeit erkannt. Einst hatte er gedacht mit dem Fall von SZ war sichergestellt, dass Nagi nie wieder Kontakt mit diesem Mann haben musste.
 

„Während der Zeit bei SZ sah ich Nagi selten aber er ließ sich von niemandem dort etwas sagen. Nur von mir. Was die Bosse dazu brachte die Befehle an ihn über mich zu regeln. Befehle wie: Wenn ich nicht hier bin dann gehorchst du diesem oder jenem. Ein Manöver, dass eine verstärkte Bewachung meinerseits auslöste, denn ein Hellseher der einen derart starken Telekineten befehligte bot Potential für eine mögliche Rebellion. Sie trennten uns wenn es ihnen irgend möglich war. Schlussendlich wurden wir beide den Bossen persönlich unterstellt. Das Ende kennst du.“
 

Er machte eine Pause, stand auf und ging hinüber zu dem Tisch auf dem mehrere Gläser und eine Flasche Talisker stand. Er schenkte ihnen beiden ein, für sich mehr als für den Jungen, nahm dieses Glas auf und ging zu Omi. Er drückte es ihm in die Hand. „Du wirst es nicht mögen, aber es ist das Beste das ich dir bieten kann um den schalen Geschmack zu vertreiben“, sagte er nach dem er einen Blick auf das heimgesuchte Gesicht geworfen hatte.
 

Er ging wieder zurück und nahm sich sein eigenes Glas. Er blieb am Fenster stehen und sah wieder hinunter. Der Garten war verwaist.

Sie schwiegen eine sehr lange Zeit, bis Omi sein Glas mit dem furchtbaren Alkohol geleert hatte. Die Wärme jedoch die sich in seinem Magen ausbreitete hieß er Willkommen denn sie beruhigte sein in Aufruhr geratenes Nervenkostüm.
 

„Glaubst du ich trinke nur Cola und Wasser? Und warum erzählst du mir das alles?“, krächzte er und räusperte sich sogleich darauf.
 

„Nagi funktioniert immer noch nach diesem Muster. Es ist um vieles besser geworden. Er hat einiges von unserer Begegnung vergessen, vermutlich verdrängt, was auch besser für ihn ist. Er schiebt die Schuld für sein Verhalten den Methoden von SZ zu, was im Groben natürlich stimmt. Aber es war nicht das Training wie Schuldig es absolviert, das dazu geführt hatte. Er selbst hat entschieden, dass andere für ihn bestimmen sollen. Über ihn bestimmen sollen. Der Grund dafür liegt in dem was er erlebte. Aber wie er dazu kam sich so zu verhalten wissen wir nicht. Ich hätte gerne Straud dazu befragt.“
 

Omi sah von seinem Glas auf und der Tonfall und auch die ganze Ausstrahlung des Amerikaners machten klar, dass er diese Befragung genossen hätte. Und er hätte sich gern selbst zu Crawford gesellt und dieser Befragung die nötige Vehemenz verliehen.
 

„Warum er sich ausgerechnet mich ausgesucht hat weiß ich bis heute nicht. Und zu dem Punkt zurückzukommen ich hätte ihn wie einen Vater aufgezogen. Davon waren wir beide anfangs weit entfernt. Vermutlich wuchsen wir beide irgendwann in diese Rollen hinein. Die Situation beruhigte sich als SZ tot waren und wir hier unsere Ruhe hatten. Es war tatsächlich für uns alle eine Befreiung. Bis auf wenige Momente erweckte er den Anschein eines normalen jungen Mannes. Doch tief in ihm steckt immer noch das Bedürfnis danach...“
 

„Ein Sklave zu sein“, schloss Omi tonlos und sah wieder in sein Glas hinein.

„Wir...“, fing er stockend an. Hätte er noch vor Wochen gedacht mit Crawford über das hier zu sprechen?

„... wir hatten ähnliche Situationen. Er wirkte fast verloren als ich ihm sagte er solle frei entscheiden was er möchte.“
 

Crawford lachte leise.

„Und er hat dich nicht gegen die nächst beste Wand geworfen?“
 

Omi erinnerte sich.

„Nicht direkt. Ich denke ich habe ihn damit erpresst zu gehen wenn er es doch getan hätte. Streng genommen.“
 

Crawford nickte.
 

„Ja, das ist einer der Umwege um ihm seine Grenzen aufzuzeigen. Seit du hier bei mir warst und um Erlaubnis gebeten hast dich mit ihm treffen zu können steht er unter ständigem Stress. Zuvor vermutlich auch schon.“ Brad hob den Blick und lächelte kühl in das junge Gesicht vor sich. Es war eine Möglichkeit Nagi einzuschränken, aber keine um ihn zu fördern. Omi konnte sich Nagi niemals in den Weg stellen, ihn niemals in die Knie zwingen, ihn niemals sein lassen wie er war, nicht wenn er in dieser Beziehung überleben wollte. Nagi war noch jung, er würde wachsen, würde stärker werden, er würde sich an Omi binden und ihn schlussendlich töten. Vermutlich versehentlich.
 

„Das war mir damals bereits bewusst und ich bin das Risiko eingegangen, in der Hoffnung, dass er sich von mir lösen würde. Sich von dieser Kette die er mir in die Hand gegeben hat befreien würde. Meine Befürchtung jedoch, dass er diese in deine Hand weiterreichen würde liegt nahe. Ich würde sie nur jemandem anvertrauen der stark genug ist“, sagte Brad lapidar und nahm erneut einen Schluck des schottischen Wiskeys.
 

Tsukiyono war es nicht.
 

Omi drehte das leere Glas in seinen Händen. Deshalb also diese ständige Gängelung seinerseits? Diese genaue Prüfung? Dieses gluckenhafte Verhalten? Crawford hatte ihn genau im Auge behalten um zu sehen ob er für Nagi geeignet war ob er ihn nicht ausnutzte, ihn vielleicht sogar benutzte und seinen Zustand damit verschlimmerte. Ob er verantwortungsvoll mit ihm umging. Aber wollte er das alles?
 

Er hatte damals ohne dieses Wissen aus voller Kehle ja geschrien.
 

„Und wenn ich diese Kette nicht will?“, fragte er leise.
 

Brad stellte das Glas auf den Tisch an dem er seitlich saß, die Beine überschlagen und spielte mit den Fingern über den Rand.

„Du bist stark, Tsukiyono Omi. Du könntest ihn leiten, ihm ethische Grundregeln vermitteln und du würdest ihm Grenzen setzen innerhalb dieser er sich bewegen könnte.“

Er schwieg ein Weilchen, betrachtete sich den nachdenklich gewordenen jungen Mann.
 

„Ich denke nicht, dass es derart gravierend sein wird wie damals. Er ist fast über dem Berg, wie es so schön heißt. Aber die Grundzüge dieses Verhaltens werden sich nicht ändern. Dessen solltest du dir bewusst sein.“
 

„Aber... ich will doch keinen... treuen Hund...oder einen Sklaven der...“, Omi verstummte in seiner Verzweiflung.
 

Brad schwieg einen Moment.
 

„Ist er das für dich?“
 

„Nein, natürlich nicht!“, fuhr Omi auf, aber es fehlte ihm der Elan, denn in seinem Kopf kreisten Crawfords Worte, seine Erzählung.
 

„Was willst du dann?“
 

„Wie kannst du das fragen?“, sagte Omi und erkannte im gleichen Moment als er den wissenden Blick auf sich gerichtet sah dass dies eine Fangfrage war.

„Ich will einen Partner der mir gleich ist. Gleichgestellt. Mit eigenen Wünschen und...“
 

„Die hat er. Reduziere ihn nicht auf das was ich dir aus seiner Vergangenheit erzählt habe. Im Gegensatz zu ihm bist du aus deinen Erlebnissen gestärkt hervorgegangen. Er dagegen ist zerbrochen und klammert sich an diese Kette – um bei diesem Vergleich zu bleiben. Nimm sie ihm nicht weg.“
 

„Ich will sie aber nicht!“, schrie Omi nun und feuerte das Glas in eine Ecke. Das dicke Glas zerbrach lediglich in zwei Teile und Omi sah es wuterfüllt an.
 

Brad nahm sein eigenes Glas gelassen auf und wartete diesen kleinen aber unnützen Ausbruch ab. Immerhin war das Glas leer und der 30 Jahre alte Talisker damit nicht verschwendet.
 

Er legte den Kopf in den Nacken und schloss für einen Moment die Augen, seine Augen brannten und er musste die farblosen Kontaktlinsen, die er heute trug bald wieder gegen seine Brille tauschen.

„Er wird dir nie gleichgestellt sein. Er wird sich für dich einschränken, sich für dich verbiegen, sich für dich selbst die Luft zum Atmen nehmen.“ Brad öffnete die Augen wieder und sah an die Decke.

Omi sah immer noch auf das geteilte Glas am Boden.

„Ich habe dir einen kleinen Einblick in unsere Welt – wenn du so willst gegeben – so viel anders als deine ist sie nicht. Es ist nur eine andere Gesetzmäßigkeit, Tsukiyono“, sagte er dann und sah den Jungen wieder an.

Omi erwiderte den ernsten Blick, staunte aber über die laxe Haltung des Älteren. Brad Crawford war stets korrekt gekleidet, er saß immer aufrecht am Tisch und jetzt legte er den Kopf in seiner Anwesenheit in den Nacken und ließ diesen bequem liegen? Gab es einen anderen Mann hinter dem Typen mit dem Stock im Arsch?
 

„Regeln die uns unsere Fähigkeiten diktieren. Sie machen uns aus, denn über sie definieren wir uns. Du wirst es nicht glauben, aber für viele von uns sind sie ein Makel. Es gibt bei jedem von uns einen Zeitpunkt an dem wir uns nichts sehnlicher wünschen als normal zu sein. Einem einfachen Leben nachzugehen, eine normale Familie zu haben, von Mutter und Vater geliebt oder akzeptiert zu werden. Einige glorifizieren diese Utopie geradezu. Und wenn nicht die Gefühle eine Rolle spielen, dann ist es zumindest der ureigene Wunsch zu wissen woher man kommt. Viele von uns – wenn nicht alle – kennen ihre Eltern nicht, wissen nicht woher sie abstammen.“

Omi sah auf. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut. „Alle von euch?“, fragte er betroffen.

„Viele wissen nicht wie es zu ihrer Geburt kam. War es Leidenschaft? Ein Versehen, Vergewaltigung oder schlicht nur ein Experiment? Eine gezielte Züchtung? Welchen Zweck sollten sie in diesem Leben erfüllen? Der Wunsch zu jemandem zu gehören, sich vielleicht auch mit einer Anschauung zu identifizieren ist so ausgeprägt und elementar dass wir über Leichen gehen würden um diesen Funken zu schützen.“

„Deshalb die Orden?“

Brad nickte.

„Deshalb auch unsere kleine Familie hier.“ Brad ließ sein Glas los und machte eine Handbewegung die in Richtung Tür ging.

„Der Rosenkreuz Orden ist nur einer von vielen. Sie sind so etwas wie ein Reinigungstrupp wenn etwas nicht so läuft wie es laufen sollte. SZ’s Spezialtruppe und selbst innerhalb dieses Ordens gibt es strenge hierarchische Strukturen.“

„Aber du kannst doch nicht andeuten, dass Nagi gerade deshalb dort besser aufgehoben wäre als hier bei euch!“, entrüstete sich Omi.
 

„Nein, er ist zu leicht zu beeinflussen. Ich würde dem nur zustimmen wenn ich ein Auge auf ihn haben könnte. Er ist noch viel zu jung um alleine dort bestehen zu können. Zu jung und viel zu verletzlich für diesen Moloch.“

Omi schwieg und ahnte, dass Schwarz vor etwas geflohen waren, dass Weiß nicht einmal im Ansatz verstanden hatten.
 

Brad fühlte mit diesem Jungen mit. Er war verliebt und er war ihm dankbar, dass er sich Nagis Gefühlwelt angenommen hatte und um ihn kämpfen wollte. Auch wenn dieser Kampf aussichtslos sein würde. Und nur für diese Hartnäckigkeit wollte er ihm dankbar sein und allein dafür zollte er ihm Respekt.

„Eure Verbindung hat keine Zukunft, Tsukiyono. Die hatte sie nie“, sagte Brad neutral und ruhig. „Es liegt nicht an dir, nicht an deiner Treue zu ihm, an fehlendem Engagement oder an mangelnder Charakterstärke. Diese Werte habe ich nie in Zweifel gezogen. Es liegt an ihm. Und keiner von uns kann daran etwas ändern. Nicht einmal er selbst. Nicht einmal wenn er es sich von Herzen wünschen würde. Er wird an diesem Wunsch zugrunde gehen. Und selbst das kannst du nicht aufhalten, so sehr du es wollen wirst. Es wird euch beide zerstören.“

Brad ließ den Jungen, der vor sich hinstarrte nicht aus den Augen.
 

„Ich habe eure Zukunft gesehen.“
 

Omi sah vorsichtig auf.
 

„Du wirst der neue Boss von Kritiker, ein neuer Persha wenn du so willst.“

Omi sah ihn nur an und Brad sah in dem Gesicht Zweifel. „Nagi wird bei dir sein.“

Brad wandte den Blick in das nun wässrige Blau dieser Augen, dessen Hoffnung er gerade vertrocknen ließ.

„Er wir ein Vollstrecker, ein Beschützer, du wirst unantastbar für viele werden. Und doch werden es unzählige versuchen diese unüberwindbare Mauer eines furchtbaren Walls zu überwinden. Nagi wird zu deinem Schild. Er wird deine rechte Hand, die auf dein Verlangen hin tötet. Und er wird es gerne tun.“
 

Omi wusste nicht ob er genau diesen letzten Punkt wollte. Es war schrecklich zu wissen was kommen würde.
 

„Es ist eine Möglichkeit unter vielen. Noch sind wir nicht an diesem Punkt angekommen, von dem es kein zurück mehr vor dieser Zukunft geben wird.“

Brad setzte sich etwas auf und lehnte sich dann wieder an die Rückenlehne an.

Minuten vergingen ohne dass sie beide etwas sagten.
 

„Es wird wohl Zeit für etwas Grundlegendes“, bekannte Brad nach einer Weile.
 

„Noch mehr von diesen düsteren Aussichten? Oder willst du mich darauf hinweisen, dass ich dein Eigentum nicht zerstören darf?“, sagte Omi im Hinblick auf das Glas am Boden. Er schälte sich aus seinem Sessel und hob die Teile vom Boden auf. Mit einem bedauernden Blick auf die Wut, die er empfunden hatte legte er die Überreste auf dem Tisch ab. Er war sehr selten so wütend, dass er unbeherrscht etwas zerstörte.
 

„Das auch. Aber das Glas meinte ich nicht. Hat Manx dir etwas über uns PSI erzählt?“

Omi setzte sich wieder.

„Nein, wir bekamen von Persha nur unsere Aufträge. Es ging eher um Takatori und ihr wart lediglich störende Handlanger, Wachhunde, die es zu überwinden galt. Alles drehte sich nur um dieses eine Ziel, mit einigen einzelnen Aufträgen dazwischen, die schlussendlich immer nur auf diesen Mann hindeuteten.“
 

„Sie hat euch also im Unklaren darüber gelassen“, resümierte Brad nachdenklich und nickte daraufhin, als wäre das die Bestätigung für Vieles was in seinen Gedanken vor sich ging. Omi zuckte frustriert mit den Schultern.

„Ein Umstand – der bei genauerer Betrachtung fahrlässig von der guten Manx war“, bemerkte Brad angesichts dessen was er bisher über die Rothaarige wusste. Sie hatte Weiß knapp mit Informationen gehalten und sie ins offene Messer rennen lassen.
 

„Dem kann ich momentan kaum widersprechen“, gab Omi düster zu.
 

„PSI brauchen enge Bindungen zu anderen und dabei spielt es eher eine untergeordnete Rolle ob diese befähigt oder nichtbefähigt sind. Über diesen Unterschied streiten sich heute noch die Fraktionen innerhalb der Orden. Aus einer besonders engen Verbindung, einer Freundschaft, einer Liebesbeziehung oder einem Familienzusammenschluss entsteht eine seelische Verbindung, stell es dir als Band vor. Wir knüpfen zu vielen anderen Menschen diese Art Verbindung, aber oft ist nur eines davon ein wirklich starkes unzerstörbares Band, zumindest bei uns PSI. Wir sind davon abhängig um unser seelisches Gleichgewicht zu wahren. Nennen wir es zum besseren Verständnis dieser Allegorie einen Anker. Diesen Anker setzen wir bei dieser Person.“
 

„Wie bei Ran und Schuldig? Haben die zwei so etwas?“
 

Brad merkte auf. Flüchtig fühlte er sich an seinen Unterricht bei SZ erinnert. Er war nie ein guter Schüler gewesen und wäre mit Sicherheit kein guter Lehrer. Dennoch kam er sich gerade wie einer vor.
 

„Ich denke, dass du damit gar nicht so falsch liegst. Ob es tatsächlich so ist das musst du Schuldig fragen. Es würde erklären warum er sich langsam verändert. Ran erdet ihn und die Verbindung zu ihm stabilisiert ihn.“
 

„Hatte Schuldig sich schon einmal so gebunden?“
 

„Nein. Das geschieht nicht bewusst. Es muss eine gewisse Neugierde vorhanden sein.“
 

„Auf was genau?“, fragte Omi stirnrunzelnd. Dass Ran gut aussah war klar, auch dass er diese gewisse mystische Ausstrahlung besaß, aber ihr zusammentreffen war mehr als fürchterlich.
 

„Auf den anderen. Auf das was ihn ausmacht, auf sein gesamtes Selbst. Auf seine Seele. Es ist als würden wir plötzlich erkennen, dass wir nur ihn oder sie zum Überleben und zum Leben benötigen. Tatsache ist, dass wir nichts aktiv tun um diese Verbindung zu knüpfen. Wir suchen uns diesen Partner nicht gezielt.“
 

Omi sah Crawford skeptisch an.
 

„Seele?“, murmelte Omi. „Und dann klappt das?“
 

„Das kommt im Speziellen auf die Bedürfnisse des PSI an. Es kommt nicht darauf an was er will, sondern auf das was er braucht. Das führte in der Vergangenheit zu Konflikten, die oftmals dramatische Ausmaße bis hin zum Tod annahmen.

Was mich spontan zur Frage bringt warum ihr damals Schuldig aus diesem Sanatorium entführt habt.“
 

Omi fing damit an auf seiner Unterlippe herumzukauen. „Manx wollte ihn. Sie sagte für ein Experiment.“
 

„Und steckte ihn dann mit Fujimiya in diesen Keller um was genau zu tun?“
 

„Wir sollten abwarten, mehr wussten wir nicht.“
 

Brad nahm sein Glas wieder auf und trank den letzten Schluck. Klar, abwarten. Chiyo hatte damals ihre Finger mit im Spiel das ahnte er. Und es war eine ungute Ahnung. Aber darüber würden sie später sprechen.
 

„Was passiert wenn naja wenn diese Verankerung gelöst wird? Ich meine wenn derjenige der diesen Anker trägt in Gefahr ist oder stirbt oder einfach naja... keine Lust mehr hat und die Beziehung am Ende ist.“
 

„Der PSI würde jeden ausradieren der ihn gefährdet. Seine Stabilität ist bedroht. Davon abgesehen hegt der PSI für den anderen schließlich auch tiefere Gefühle. Er ist von diesem Anker abhängig. Wir schenken ihn instinktiv wenn wir erkennen, dass der andere ihn tragen kann.“ Oder ihn gar ertragen konnte. Die negativen Auswirkungen wollte er hier nicht behandeln, sie würden einen zu fatalistischen Grundzug in die Thematik einfließen lassen. Die wechselseitige Abhängigkeit der beide Parteien unterlagen war definitiv kein Aspekt, den er heute behandeln wollte.
 

„Ist Schuldig deshalb hinter Ran so her gewesen?“

Omi dachte über die Worte nach. Zwischen Schuldig und Ran hatte sich diese Situation tatsächlich dramatisch entwickelt und der Tod war wie ein Halo um sie gelegen. Selbst Ran hatte sich selbstzerstörerisch verhalten, vor allem als Schuldig aus China nicht mehr zurückgekommen war. Ran hatte auf ihn wie zerstört gewirkt, abgeschnitten von einer Lebensader, deren Ursprung keiner von ihnen verstanden hatte.
 

Brad verzog einen Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln.

„Das kann sein, aber wenn, dann hat er es nicht beabsichtigt. Ich denke er ist hinter Fujimiya her gewesen weil er schlicht und ergreifend verknallt war. Aber Schuldig ist ein Telepath, wenn auch ein etwas verschrobener. Wir unterscheiden uns alle auf gravierende Weise was unsere Bedürfnisse angeht – auf unsere Fähigkeiten bezogen.

Wie gesagt, wir bemerken diesen Anker nicht. Es geschieht einfach und dann ist es so und das ohne unser zu tun. Worauf ich hinaus will: Nagi hat sich vermutlich so sehr mit mir beschäftigt als ich im Krankenhaus lag und darüber hinaus, dass er mir anstatt dieses Ankers diese... sagen wir eine Kette gegeben hat. In ihm war so viel zerstört, dass er diesen Anker nicht mehr setzen konnte. Er hat mir einen Ersatz gegeben. Etwas Ähnliches, dennoch etwas Starkes und Unzerstörbares. Aber es ist nicht dasselbe.“
 

„Weil er wusste dass du dieses Etwas halten kannst. Etwas Unzerstörbares aber gleichzeitig auch Zerstörerisches“, sagte Omi leise.
 

„Was Nagi betrifft mit Sicherheit. Er selbst hat entschieden, dass ich die Person sein sollte. Er hätte mich sehr leicht töten können.“
 

„Und was passiert wenn es nicht erwidert wird? Ich meine dieses Band oder der Anker?“
 

„Es kann nur ein Anker gesetzt werden wenn...“ Brad stockte. Er wollte das eigentlich vermeiden, es war zu viel PSI – Latein. Außerdem war es schwierig für ihn einige Begriffe für den Jungen zu übersetzen. Er besah sich für einen Moment Omi. Der Junge von einst war zu einem jungen Mann geworden, der sogar noch ein Stück gewachsen war. Mamoru Tsukiyono.

Sie alle trugen nicht mehr ihre Geburtsnamen, zumindest viele von ihnen. Und viele von ihnen wechselten in ihrer Welt ihre Namen. Vielleicht lag das daran, dass sie alle nicht wussten wo ihr Ursprung war und eine Heimat ohnehin nie existiert hatte. Sie wandelten auf dieser Welt ohne festen Grund. Der Anker bedeutete für viele ihrer Art das Gefühl von Heimat.

„Wenn?“, hakte Omi nach und Brad sah auf.
 

„Es entsteht eine Art Verständnis für das Wesen des anderen. Beide Seelen sollten im Einklang sein.“ Tatsächlich war es wohl komplizierter, aber mit der Bindungsphilosophie kannte er sich nicht aus, dafür waren andere zuständig. Einen Bindungsspezialisten hatte er nur zu gut im Gedächtnis – Schuldigs ehemaliger Mentor Alexandré De la Croix. Er stammt aus einer ahnenreichen Familie von PSI ab, die bis zu ihrer Konvertierung durch die Trias reich und adlig in der Welt herrschten. Sein Vater hatte Ende des 19 Jahrhunderts einen eigenen Orden gegründet, den des goldenen Kreuzes. Für die übrige Bevölkerung eine Art verschworener Geheimbund – in PSI Kreisen und das noch vor Oloff – waren sie Jäger für die PSI die sich daneben benahmen.

Alexandré hatte nie über seine Familie gesprochen, wenn sie sich begegnet waren, dazu waren sie sich nie nahe genug gestanden. Der Franzose war konvertiert worden, aber was aus seiner Familie geworden war wusste Brad nicht. Dennoch trug er stolz seinen Familiennamen, wie viele der hochrangigen PSI. Andere wiederum legten ihren Familiennamen ab oder kannten ihn schlicht nicht.
 

Brad selbst hatte nie eine Notwendigkeit gesehen seinen abzulegen, obwohl seine Familie noch existierte. Sein Vater war in den Staaten der Sentinel über die gesamte Ostküste, zumal er im Kongress war. Brad hütete sich davor allzu genau über die Wut und mit Sicherheit auch Enttäuschung nachzudenken, die er seinem Vater und seiner Familie beschert hatte als er der Trias beigetreten war – und das freiwillig.

Einen Teil dieser Enttäuschung hatte er durch Eve gespürt als sie hier aufeinander getroffen waren.
 

Es gab auch noch eine andere Situation in der diese Art Anker gesetzt wurde, aber das geschah nur bei sehr starken PSI und auch nur in Ausnahmesituationen, wenn sich der PSI in einer ausweglosen Lage befand und er keine andere Möglichkeit mehr sah als sich zu binden um zu überleben. Er hatte darauf keinen Einfluss mehr. Aber das würde er dem Jungen nicht erzählen, es gehörte nicht hierher und betraf ein Kapitel in ihrer Welt das düster und verwerflich war. Es stand selbst im Orden unter Strafe und wurde mit sofortigem Tod durch die Richter geahndet. Und keiner im Orden riskierte es, dass er die Aufmerksamkeit eines Judges erregte. Direkt dem Rat unterstellt ahndeten diese Mitglieder eines separaten Ordens grobe Verfehlungen innerhalb der PSI. Rosenkreuz und die Mitglieder des Ordens des goldenen Kreuzes standen stets in Rivalität zueinander. Judges waren jedoch unantastbar und ihre Mitglieder wurden vom Rat persönlich erwählt. Selbst die alte Trias fürchtete hinter verschlossenen Türen diesen Orden.
 

Omi sah am Zögern des Älteren, dass ihm dieses Thema unangenehm zu sein schien. Oder er ihm nicht alles darüber erzählen wollte und abwog was er wissen musste und was nicht.

„Und was wenn sie es nicht mehr sind?“
 

Brad wurde mit diesen Worten aus seinen Gedanken gerissen und er wandte sich wieder dem Jungen zu. „Sie werden es immer sein.“
 

„Wie kannst du das so einfach behaupten? Bei dir klingt es als wäre dies ein unumstößlicher Fakt.“
 

„Weißt du überhaupt was PSI bedeutet?“
 

„Naja ihr habt dank der Kraft eurer Gedanken Fähigkeiten, die unsere Normalsterbliche weit übersteigen“, versuchte sich Omi an einer – selbst in seinen Ohren - ungeschliffenen Umschreibung.
 

„Wir sind auch normalsterblich. Zugegeben unter bestimmten Vorrausetzungen leben wir länger als andere. Aber du liegst falsch. Zwar nicht gänzlich aber zum großen Teil. Mit unseren Gedanken regeln wir nur das was wir tun wollen. Aber die Energie dafür beziehen wir aus unseren Seelen.“ Er betrachtete sich einige Augenblicke den Takatori Sprössling. „Genug davon.“
 

Omi musste das erst einmal setzen lassen und es schüchterte ihn mehr ein als eine verbale oder körperliche Drohung des Amerikaners. Er sah auf und maß den Mann vor sich mit völlig neuen Augen. Auf ihn erweckte diese Eröffnung mehr denn je das Gefühl, dass in Crawford etwas Diabolisches schlummerte.

Der Gedanke kam ihm dass diese vier von Schwarz so komplett anders waren. Sie waren etwas völlig anderes. Nicht bösartig, nur so unbegreiflich anders, dass es für ihn schwer zu verstehen war. Und doch wenn er sich Schuldig ansah mit all seinen Launen, mit diesem furchtbaren Schalk, der ihm dauernd im Nacken saß...

War das nur eine Fassade um von seiner Andersartigkeit abzulenken oder gehörte dieser menschlich wirkende Aspekt ebenso dazu?
 

„Glaubst du, dass Nagi diesen Anker in mich gesetzt hat?“
 

„Nein.“
 

„Nein?“ Die Antwort kam schnell. Zu schnell für ihn. Omi wusste nicht was er fühlen sollte... war es Erleichterung oder Enttäuschung?
 

„Es ist unleugbar, dass du ihm gut tust, aber du hast nicht die Kraft ihm das geben, was er braucht.“
 

„Und das wäre?“
 

„Freiheit. Sich gehen lassen, seine Fähigkeiten auf diese extreme Art auszuleben wie du es gesehen hast. Es ist als würde jemand ihm verbieten tief durchzuatmen, oder laut zu schreien wenn er es möchte.“
 

Omi senkte den Kopf und sah auf den Teppich, seine Lippen pressten sich aufeinander. Er wusste, dass Nagi es brauchte, er hatte es gesehen wie sehr er es gewollt hatte, wie glücklich er in diesem Moment gewirkt hatte. Aber er konnte nichts dagegen unternehmen, rein gar nichts. Selbst ihm zu Liebe hätte Nagi sich nicht mehr bremsen können.
 

„Er wird stärker werden, Tsukiyono. Das geht noch ein paar Jahre bis er volles Potential erreicht hat, wenn er bis dahin nicht kontrolliert wird oder einen anderen Weg findet dann wird er die größte Plage dieses Planeten werden oder sterben.“ Oder beides was wahrscheinlicher war, Gesetz dem Fall er überlebte die nächsten Tage.
 

Omi schwieg eine Weile und Brad ließ ihn.
 

„Und Jei?“
 

„Was soll mit ihm sein?“

Natürlich wusste Brad auf was der Junge hinauswollte. Aber wozu es ihm einfach machen?
 

„Hatte er so einen Anker irgendwann?“ Vermutlich nicht so wie er diesen Berserker erlebt hatte. Er hatte seine Halbschwester getötet und es viel ihm immer noch schwer hier zu sein. Er ging ihm aus dem Weg und konnte ihm kaum ins Gesicht sehen. Er mied den Mann wo es nur ging. Der Kontakt zu Yohji half ihm diese Nähe zu ertragen.
 

„Ein starker Empath knüpft früh ein Band und ich denke dass Jei diesen Anker auch früh setzte. Er hat ihn selbst zerstört.“

Den Anker bei seiner eigenen Mutter zu setzen war sicher unzweckmäßig und konnte nur tragisch enden. Um das zu überleben hätte Jeis Mutter ihr Kind töten müssen. Und zwar wesentlich früher als sie es dann versucht hatte. Jei vor der Welt verstecken zu wollen war selten dämlich gewesen. Aber offensichtlich hatte sie sich selbst versteckt. Keiner wusste, ob sie selbst eine PSI gewesen war und ob Jei Geschwister hatte und wo der Vater dazu war. Und die Frage ob diese Nonne tatsächlich seine Mutter gewesen war hatte SZ ihm bisher nicht beantwortet. Die Unterlagen die Brad aus dem Archiv mitgehen hatte lassen waren zu knapp für einen Lebenslauf gewesen und hatten damals für ihn ausgesehen als hätte sich jemand ziemlich schnell etwas einfallen lassen müssen. Zu ungenau und dilettantisch waren die Daten gewesen.

Allerdings hatte sich Brad immer gefragt warum Jei das alles mit sich hatte machen lassen. Jei war intelligent, er hatte sich freiwillig so stark manipulieren lassen, dass Brad oft daran gedacht hatte, dass er trauerte. Dass das was ihn ausmachte – seine Seele – trauerte und sie das Leben in ihrer jetzigen Existenz bereits aufgegeben hatte.
 

„Ist das deshalb aus ihm geworden?“
 

„Es war der Auslöser dafür, dass er diverse Probleme hat, ja.“ Brad stand dem Jungen nur zu gerne Rede und Antwort, dafür dass er sich von dem Gedanken löste Nagis Partner werden oder sein zu wollen.

„Kann er wieder einen Anker setzen?“
 

„Das weiß ich nicht, es liegt bei ihm. Der Anker kann bewusst gelöst werden, das geschieht aber meines Wissens so gut wie nie. Wie das vor sich geht weiß ich nicht. Aber eines weiß ich: geschieht dieser Akt brachial ist es als würde ein Teil deines Selbst mit herausgerissen werden und passiert das in jungen Jahren sind die Folgen verheerend für einen PSI. Soweit mir bekannt ist wird diese Art Verbindung erst später gesetzt um solcherart Schäden zu vermeiden. Es ist genetisch so angelegt.“

Ihm waren Berichte über katatonische Zustände, von übersteigerter Angst vor der Umwelt, völliger Selbstaufgabe bis hin zu wahnhaftem Verhalten zu Ohren gekommen. Aber es war nicht nur der plötzliche in ihren Kreisen oft gewaltsame Tod des Bindungspartners sondern auch eine permanente räumliche Trennung die einen der Partner ins Unglück stürzen konnte. Sie brauchten körperliche Nähe.
 

„Hat er deshalb Oaka umgebracht um uns das zu nehmen was er selbst zerstört hat?“, fragte er mit Bitterkeit in der Stimme.
 

„Das musst du ihn selbst fragen. Ich denke nicht, dass es einen triftigen Grund dafür gegeben hat. Den Großteil der damaligen Zeit verbrachte er in einem Rausch der Gefühle. Warum er wie reagierte konnte damals keiner sagen. Ich denke es fiel ihm schwer fremde und seine eigenen Gefühle auseinanderzuhalten. Er kann sie nicht separieren. SZ hatten keine Ambitionen dahingehend ihm zu helfen. Er war effektiv in diesem Zustand.“
 

„Und was ist mit dir?“, wagte sich Omi aus der Deckung. Aber der Hellseher schien ihm diese Frage nicht übel zu nehmen. Er schwieg zunächst.

„Bist du mit deiner Schwester auf diese Art verbunden?“
 

Brad stand auf und schenkte sich nach.
 

Omi winkte ab als Crawford ihm ein zweites Glas anbot, er ließ ihm Zeit und verfolgte sein Tun.
 

„Nein. Uns verbindet ein starkes Band, aber kein Anker“, antwortete er schließlich geduldig.

„Und bevor du weiterfragst: Ich brauche keinen Anker. Er würde mich nur behindern.“
 

„Dann willst du auch keinen?“, hakte Omi nach.
 

„Nein. Hellseher haben nicht das Bedürfnis nach Bindung jedweder Art. Sie funktionieren gut ohne diesen Anker und haben auch keine negativen Auswirkungen wie Schuldig, Jei und Nagi es erkennen lassen.“ Er hatte auch bei Schuldig keinen Anker gesetzt. Das wäre für einem Präkognitiven kaum sinnvoll bei einem anderen PSI gewesen, vor allem nicht bei Schuldig, dessen ganzes Wesen unstet und die Instabilität in ihrer Reinform darstellte. Es war jedoch keine Unmöglichkeit sich an einen anderen PSI zu binden, es war nur komplizierter, denn es musste ein Ausgleich zwischen den Fähigkeiten stattfinden können.
 

Außer extremer Gefühlskälte, dachte sich Omi und erkannte die Schwachstelle in der Argumentation. Aber vielleicht schien Crawford das gar nicht mehr zu sehen, dass er selbst wohl auch diesen Anker brauchte und längst über den Punkt hinaus war um dies zu bemerken. Omi hatte ihn berechnend, kalt, taktierend, paktierend, kalkulierend und beherrscht kennen gelernt. Wo waren Crawfords Gefühle für jemand anderen? Für seine Schwester, für Schuldig, für Nagi?

Sie waren da, natürlich. Vorhin in der Klinik als er in Nagis Zimmer gekommen war... die Umarmung war so innig, so vertraut gewesen und zum ersten Mal hatte Omi die Beziehung der Beiden verstanden.

Brad konnte tatsächlich liebevoll mit Nagi umgehen.

Oder war das nur um anderen das zu geben was sie sich vom ihm erwarteten?
 

In den wenigen Augenblicken die er sie der Welt zeigte schienen sie tatsächlich vorhanden oder spielte er ihnen etwas vor? Der Amerikaner war stets beherrscht. Nie war er wirklich ausgeflippt, nie hatte er große Freude gezeigt, wenn er lächelte, dann stets nur zynisch, oder verächtlich spöttisch. Was ging in dem anderen vor? Und war es tatsächlich das was er durch die Worte glaubte herauszuhören? Fehlte dem Mann tatsächliche diese Art starke Bindung zu einem anderen Individuum?
 

Omi saß stirnrunzelnd da und Brad schüttelte innerlich den Kopf über diese Unterhaltung. „Hast du eine Ahnung was du mich gerade gefragt hast?“
 

Omi sah auf.

„Ähm sicher oder? Die Sache mit dem Anker“, erwiderte Omi verwirrt über diese Rückfrage.
 

Brad wollte etwas erwidern, nahm aber sein Glas und trank milde lächelnd einen Schluck.

„Ich denke das reicht erst einmal.“
 

Omi stand auf, denn offensichtlich war er entlassen. Er war auch nicht böse drum. Sein Kopf und sein Herz schwirrten von dieser Flut an neuen Informationen.

Er war bereits an der Tür.
 

„Behalte das für dich.“
 

Omi nickte. Er würde auch nicht wollen, dass Nagis Vergangenheit Tischgespräch wurde.
 

Er schloss die Tür von draußen und ging den Flur zum Badezimmer entlang. Dort angekommen ging er zum Waschbecken um sich das Gesicht zu waschen.

Die Sache mit dem Anker, was hatte Crawford gemeint damit ob er wisse was er ihn gerade gefragt hatte.
 

„Ach du Scheiße“, entfuhr es ihm nach einem Moment in dem er sich im Spiegel betrachtet hatte.

Hatte er gerade Brad Crawford gefragt ob er jemanden wolle der ihn liebte? Nicht die Liebe einer Schwester, sondern die zu einer Frau oder einem Mann?

DAS war es? Dreck.

War es das? Vor lauter Band und Anker und Kette hatte er das Wesentliche dabei völlig außen vor gelassen. Warum konnte der Typ nicht einfach sagen was er meinte?
 

Jetzt wurden die Dinge auch klarer. Crawfords Misstrauen gegenüber Rans und Schuldigs Verbindung. Es würde Schuldig zerstören wenn Ran - wenn dieser Anker - verschwinden würde. Aber sollte das Ran nicht wissen? Und wäre das aber gut?
 

Und wollte Crawford deshalb keinen Anker weil naja es ihn behinderte... oder eben schaden würde wenn dieser verschwand? War es das?

Es war nichts anderes als Bindungsangst wie bei Normalsterblichen. Angst davor einen geliebten Menschen zu verlieren. Nur, dass diese PSI mit mehr oder weniger üblen Folgen zu rechnen hatten, da sie Fähigkeiten hatten die fest in ihrer Seele ver... ankert waren.
 

„Oh man“, seufzte Omi und schüttete sich erneut kaltes Wasser ins Gesicht.

Mal davon abgesehen, dass er glauben würde, dass es so etwas wie eine Seele gab. Er hatte in seinem Leben oft Zweifel über diese Glaubensfrage gehabt. Für Schwarz war dieser Punkt wohl Fakt. Sie brauchten sich keine Gedanken darum machen ob sie eine Seele besaßen oder wohin diese ging wenn sie starben. Oder doch?

Omi stützte sich auf dem Waschbecken ab und sah dem Wasser zu wie es davonrann. Eine lohnenswerte Frage, die er vielleicht Schuldig stellen sollte. Wohin gingen Seelen wenn ihre Heimat verloren ging? Omi grinste matt. Er war nicht so der gläubige Typ. Dennoch war die Frage interessant.
 

Aber was bedeutete dieser Anker für einen PSI? War es das Gefühl geliebt zu werden? Die Hoffnung darauf, dass es immer einen Platz gab an dem er angenommen werden würde? Die Zuversicht diesen Platz im Herzen eines anderen nie zu verlieren?
 

Und war es das was Crawford fürchtete? Diese Hoffnung konnte trügerisch sein. Aber was gab es Schöneres wenn es einen Menschen gab der einem vertraute und an einen glaubte? Und der einen kannte.

Crawford war ein Kontrollfreak und ihn ängstigte vermutlich nichts mehr als die Kontrolle zu verlieren. Eine derartige Verbindung zu einem anderen nahm ihm einen Teil seiner Kontrolle über das was ihn ausmachte. PSI definierten sich offenbar sehr über ihre Fähigkeiten, verständlich wenn er den Ausführungen des Mannes glauben wollte.
 

Er war erleichtert, dass er nach diesem Gespräch nicht gleich zu Nagi musste und erst einmal ihre Besprechung anstand.

Sie wussten nicht woher er gekommen war, welcher Familie er entrissen worden war und was dieser Straud ihm angetan hatte.
 

Er trocknete sich das Gesicht ab. Aber war das wichtig?

Er selbst hatte mit Nagi ein Gespräch über die imaginäre Kette geführt derer er sich langsam entledigte. Er hatte ihm Mut machen wollen sich dieser Aufgabe zu stellen. Wie nahe oder fern er der Wahrheit damals gekommen war machte ihm deutlich wie schwerwiegend das Problem tatsächlich war. Im Grunde genommen hatte Omi keine Ahnung davon besessen was da auf ihn zukommen würde.
 

Crawford hatte es gewusst und ihn gewarnt. Nur war diese Warnung, die eines Hellsehers gewesen – kryptisch und unverständlich. In Kombination mit einem sardonisch kalten Einschlag eines Brad Crawfords.
 

Er verließ das Badezimmer und ging den langen Flur entlang um die Treppe nach unten zu nehmen.

Auf der letzten Stufe angekommen sah er wie Berserk an der Treppe in Richtung Poolhaus ging. Er zögerte. Der Name schien ihm unpassender den je geworden. Jei hieß er also. Mehr nicht, nur Jei. Ohne Vergangenheit und vielleicht ohne Zukunft, nur Jei.

Omi ging die letzte Stufe hinunter und sah ihm nach. Er wollte ihm eigentlich aus dem Weg gehen...
 

o
 


 

Yohji saß auf der dem Poolhaus angrenzenden Terrasse und sah wie Jei an ihm vorbei spazierte. Der Blonde zog an seiner Zigarette und verfolgte den katzenhaften Schritt des Iren über die Wiese, durch die Bäume hindurch um dann aus seinem Blickfeld zu verschwinden.

Erstaunlich seltsam hatte er sich benommen, als das Kind noch hier war. Sehr still und in sich gekehrt, dabei aber nicht abwesend wie sonst wirkend. Fast schreckhaft wenn Yohji ihn angesprochen hatte, was er mit Vorsicht getan hatte – wer wollte schon den Zorn von Berserk auf sich ziehen?
 

Yohji sah auf als Omi neben ihm auftauchte. Er trug eine knielange Cargohose in schwarz, seine grünen Sneaker und ein schwarzes Shirt mit dem Logo einer J-Rock Band. Auf der Stirn hatte er seine spezielle Brille, die eher wie die eines Schweißers aussah. Er benutzte sie zum Motorradfahren und sie beinhaltete einige Features – wie Nachtsicht und andere nützliche Spielereien, die Yohji für total überflüssig hielt. Noch vor ein paar Minuten hatte er sich hier alleine gewähnt und jetzt herrschte verdammt viel Betrieb um ihn herum. Es war drückend heiß, trotz der Wolken, die sich langsam am Himmel tummelten.
 

„Na Kleiner?“, begrüßte Yohji den Jungen und zog sich seinen Cocktail heran.

„Hi Yohji. Siehst beschäftigt aus...“, murmelte Omi in Gedanken bei dem Iren, der gerade in die Bäume verschwunden war.

„Findest du es nicht ein wenig früh für einen Cocktail?“, fragte Omi immer noch mit dieser Stimme, die Yohji sagte, dass der Junge gedanklich mit etwas ganz anderem beschäftigt war.

Er überhörte die ketzerische Frage geflissentlich und zuckte mit den Schultern.

„Hat es Ärger gegeben?“, fragte Yohji.

Und da hatte er die Aufmerksamkeit des kleinen Rebellen.

„Ärger?“ Omi sah zu ihm runter.

Yohji deutete mit dem Zeigefinger in die Richtung in der Jei verschwunden war.

Omi sah dem Wink nach. „Nein“, sagte er grüblerisch.

„Nein, hat es nicht.“

Omi stapfte los, Jei hinterher.

„Aber vielleicht... gleich.“

Yohji stellte den Cocktail ab und verschluckte sich halb als er sich gleichzeitig aufsetzte.

„Hältst du das für eine gute Idee?“, rief er dem Jüngeren nach.

Der hob nur Ratlosigkeit vorgebend die Hände.

„Was...?“

Yohji setzte sich von der Liege auf und stellte seine Füße rechts und links daneben ab. Ob das mal gut ging?

„Hey...!“, begrüßte ihn Eve kurz darauf und Yohji sah auf, ein anzügliches Grinsen auf sein Gesicht zaubernd. Eve sah wieder zum Anbeißen aus. Hellgraue Shorts, die allerdings nicht zu knapp waren sondern lediglich ihre ellenlangen Beine betonten, Sandalen mit einem angemessenen Absatz und eine hübsche weiße Bluse, die in ihrer schlichten Eleganz ihre Anmut unterstrichen. Ihre dunklen üppigen Locken hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengefasst.

Wie stets trug sie hauchdünne Lederhandschuhe, die knapp am Handgelenk aufhörten und heute in einem knalligen Rot leuchteten. Alles in allem eigentlich nicht sein Geschmack, sehr züchtig, ordentlich, bloß nicht zu gewagt. Dennoch sah diese Frau in allem was sie trug vortrefflich aus.

Sie nahm seinen Cocktail vom Tisch und kostete.

„Hmm... gut, aber stark“, urteilte sie, stellte ihn jedoch nicht wieder hin. „Wolltest du mir nicht helfen die Einkäufe aus dem Wagen zu räumen, wenn ich wieder da bin?“, fragte sie, machte auf dem Absatz kehrt und ging hinein.

Yohji schmunzelte. Die Frau wusste wirklich wie sie hier alle Männer um den Finger wickeln konnte. Sie sagte nicht ‚wir’, denn Ken war schließlich beim Einkauf mit dabei gewesen. Dennoch... wer war er, dass er Ken das Feld alleine überließ?
 

Yohji sah Omi nach und konnte sich nur schwer entscheiden wem er nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken wollte. Nun... Omi hatte ihn nicht um Hilfe gebeten, Eve dagegen schon.

Er erhob sich geschwind und folgte seinem Cocktail ins Haus hinein.
 


 

o
 


 


 

Omi fand den Iren an einen Baum gelehnt, Banshee auf seinem Schoß, eine vernarbte Hand lag ruhig auf ihrem Körper.

Er hatte das Auge nur halb geschlossen, Omi konnte die gelbe Iris matt glimmen sehen. Unschlüssig stand er in sicherem Abstand und wartete bis der Mann seine Anwesenheit bemerkte.

Drei Meter sollten wohl ausreichen um einen schnellen Abgang zu gewährleisten.

Er wartete und setzte sich auf die Wiese.

Wie sollte er mit diesem Mann reden? Sollte er einfache Worte wählen um ihn nicht zu verwirren?

„Sich hinzusetzen macht einen Rückzug um ein Vielfaches schwieriger.“

Omi hob die Augenbrauen. Nach gut einer halben Stunden des Wartens war DAS der Satz der ihn nun fast aus den Latschen kippen ließ. Ein Satz der so normal klang als würde er mit Crawford sprechen.

„Vielleicht will ich mich auch nicht zurückziehen“, gab Omi mutig zu bedenken.

„Deine Angst spricht eine andere Sprache.“

„Wundert dich das?“, begehrte Omi auf und zuckte kurz zusammen. Nicht aufregen, Omi. Das ist ein Empath. Er hat seine Mutter getötet – in Rage. Er kann Gefühle nicht separieren, wie Brad betont hatte. Er malte Bilder vermutlich zu therapeutischen Zwecken. Und er hatte vielleicht heute besonders schlechte Laune und seine Tabletten einfach aus Trotz weggelassen.

Sein Blick ging zurück zum Haus. Und die anderen waren verdammt weit weg, gemessen an der Schnelligkeit des Iren.

Hektisch sah er wieder zurück. Gut, der Mann saß immer noch wie in einem impressionistischen Bild in aller Seelenruhe an den Baum gelehnt da, ohne den kleinen Finger gerührt zu haben. Irgendwie war Omi plötzlich sehr nervös geworden, weniger mutig als noch vor seinem spontanen hirnrissigen Entschluss dem Berserker einige Fragen stellen zu wollen.
 

„Warum störst du mich?“, hörte Omi die leise gestellte Frage. Noch immer hatte Jei sich nicht gerührt und sah ihn auch nicht an.
 

„Du schuldest mir etwas.“ Omi sah zu wie sich nun das Gesicht des Mannes hob und ihn anblickte, das unversehrte Auge öffnete sich vollständig und das dämonische Gelb sah ihn mit unverhohlenem Interesse an.

Er legte den Kopf schief und Banshee hob ebenfalls ihren Kopf. Sie fauchte in seine Richtung und Omi sah sie verwundert an.

Jei strich ihr behutsam über den Kopf und sie schmiegte sich in die streichelnde Hand.
 

„Was schulde ich dir?“, fragte der Mann mit dieser kratzigen tiefen Stimme.
 

„Antworten.“ Omi kniff die Lippen zusammen. Das würde ein schwieriges Gespräch werden.
 

„Warum sollte ich das tun. Dir antworten.“
 

„Du hast Ouka getötet.“
 

„Deine Halbschwester. Ouka. Brad sagte sie war deine Halbschwester. Schuldig fand gefallen an dem Gedanken, dass sie deine Halbschwester war und du sie dennoch vögeln wolltest“, sinnierte Jei. Sein Kopf glitt wieder in die Gerade und er starrte ihn unverwandt an. Gott, Omi fühlte sich mehr und mehr im Blick eines Raubtieres. Mehr als bei den anderen von Schwarz wenn sie einen im Fokus hatten. Und es war sonnenklar, dass Schuldig das spaßig gefunden hatte. Dieses verrückte Dilemma aus dem es keinen Ausweg gegeben hätte.

Und dieser Mann vor sich hatte in seinem Wortschatz das Wort ‚vögeln’. Bestimmt von Schuldig entlehnt.
 

„Ich wusste nicht, dass sie meine Halbschwester war als ich sie kennengelernt habe. Ich hatte tiefe Gefühle für sie. Und du hast sie mir genommen.“
 

„Das ist richtig.“
 

Omi brachte diese bedächtige nachdenkliche Antwort beinahe erneut auf die Palme. Aufmerksam sah ihn der andere weiterhin an, als würde er ihn durchleuchten. Mit Sicherheit war es so.
 

„Du bist interessant.“
 

Omi wurde flau im Magen. Er wusste von Ran, dass es nicht gut war, wenn Berserk irgendjemanden als interessant bezeichnete. Yohji war schließlich superinteressant für den Iren. Aber trotz der Befürchtungen er würde ihn vor lauter Interesse zerstückeln und ausweiden war nichts passiert. Er tummelte sich nur gelegentlich in seiner Nähe als würde er sie suchen und für gut befinden.
 

„Bin ich nicht“, behauptete Omi.
 

Jeis Gesicht erhellte sich und sein vernarbter Mund breitete sich zu einem Lächeln aus. Grußelig... ES lächelte.

Und das war mit Sicherheit nicht gut für ihn – oder irgendjemanden.
 

„Ich fühle mich nicht... schuldig.“
 

„Du fühlst gar nichts.“ Omi sah ihn fest an, jeden Moment aufspringen wollend um aus der unmittelbaren Reichweite des Mannes gelangen zu können.
 

Jeis Lächeln verblasste. Omi sah jedoch wie die Mundwinkel noch zuckten. Er hatte den Iren immer für einen debilen, gestörten Typen gehalten. Nur jetzt war eine fast schon angstmachende Intelligenz in dessen Blick zu erkennen. Gut, ein intelligenter, gestörter Typ. Definitiv übel.
 

„Unerheblich ob du dich schuldig fühlst oder nicht, du bist es.“
 

„In welcher Rechtsprechung?“
 

„In meiner, verdammt noch mal!“, sagte Omi und fühlte sich nicht mehr so ängstlich wie zuvor. Trotzdem das flaue Gefühl wollte noch nicht weichen.
 

„Und du gedenkst was zu wollen um diese Schuld zu begleichen?“
 

Beinahe fühlte sich Omi fasziniert von diesem Gespräch. Redete Jei mit den restlichen Mitgliedern auch so viel? Und drückte er sich sonst auch so gewählt aus? Wusste Yohji das? War ihm deshalb der Nähe des Iren nicht unangenehm?
 

„Antworten.“
 

„Auf welche Fragen?“

„Ich will alles von dir wissen!“, platzte Omi heraus.
 

Banshee sprang plötzlich fauchend auf und sträubte ihr Nackenfell. Sie war plötzlich auf 180 was nur Berserk bewirkt haben könnte.

Sie wich zurück vor Omi, nicht vor dem Mann. Dieser saß nur ruhig da, dann hob er die Hand langsam und zog sich die Augenklappe herunter.

„Wirklich...alles?“, fragte er in einem Tonfall der in seiner Harmlosigkeit nicht falscher hätte sein können. In dieser Frage steckte viel, vor allem steckte darin, ob Omi sich sicher war wirklich alle grausigen Details wissen zu wollen.
 

Und das war er nicht mehr so ganz, wenn er das vernarbte und zerstörte Auge des Mannes betrachtete.

Banshee beruhigte sich wieder und ging zu der Augenklappe, ihre Pfoten hoben sich tastend durch das Gras.
 

„Warum glaubst du, dass ich dir erzählen sollte was ich bisher vor einem Hellseher und einem Telepathen verborgen habe?“
 

„Weil du es mir schuldest!“
 

„Ich empfinde keine Schuld“, sagte er noch einmal und sah ihn unverwandt an.
 

Omi schwieg. Hier kam er so nicht mehr weiter.

Jei schien das zu bemerken.
 

„Um diese Schuld, wie du es bezeichnest zu begleichen müsste ich dir einen geeigneten Ersatz überreichen. Eine Halbschwester, die du lieben kannst. Habe ich Recht? Würde dich eine Schwester oder ein Bruder auch zufrieden stellen? Es ist nicht das Gleiche, aber das Blut ist weniger verwaschen. Keine halben Sachen. Was ist wenn du sie oder ihn aber nicht lieben kannst? Es wäre sogar die perfekte Wiedergutmachung. Bevorzugst du Frauen?“

Dann schien er einen Moment nachzudenken. „Nein, Nagi ist keine Frau.“
 

„Ähm...“ Naja, das war ja wohl unmöglich. Und der Mann schien mehr als nur interessiert an dieser Möglichkeit zu sein.

„Das ist nicht möglich. Das wird ja kaum eintreten. Und überhaupt... das ist total irre.“
 

„Ist es das?“
 

„Ja ist es. Liebe geht nicht auf Knopfdruck.“
 

„Nicht?“ Jei lächelte wieder. Omi hob rasch die Hände.
 

„Hör bloß auf und fang gar nicht erst an dieses Gefühl in mir zu erzeugen.“
 

„Liebe ist kompliziert. Viele Farbschichten über- und nebeneinander, so in ihrer chemischen Substanz ineinandergreifend, dass sie nicht einfach zu trennen sind. Sie vermischen sich und sie tun es über eine lange Zeit. Nicht einmal ich kann diese Farbe malen. Ich kann nur die Facetten herausziehen, die für mich erkennbar sind. Wenn sie verblasst, dann verschwinden nicht die einzelnen Farben sondern das gesamte Bild.“
 

Omi musste zugeben, dass es faszinierend war über dieses Thema mit dem Mann zu sprechen. Aber nur über dieses Thema. Das andere hatte irgendwie etwas von Menschenhandel. Total irre.
 

„Du kannst nur Fragmente sehen? So wie ein Kenner Gewürze in einem Gericht herausschmeckt? Aber du kannst Zuneigung erzeugen.“
 

„Zuneigung ist nur ein Teil des Ganzen. Ärger ist auch Teil des Ganzen, ebenso wie die Verhaltensweisen Geduld und Nachsicht.“
 

„Und Hass? Verhält es sich ebenso damit?“
 

„Hass ist ebenso eine Komposition aus verschiedenen Farben und braucht ebenso Zeit um zu entstehen. Er kann ebenso nicht in seine Elemente gespalten und getrennt werden. Ebenso verschwindet dieses Bild nicht in Fragmenten, es verblasst zur Gänze.“
 

„Hast du Ouka gehasst?“
 

„Nein, nicht Ouka.“
 

„Dann mich?“

Hier kam er dem Ganzen vielleicht etwas näher. Er wollte es verstehen, endlich verstehen warum.
 

„Nein.“
 

„Was dann?“
 

„Warum fragst du?“
 

„Ich will verstehen warum sie sterben musste. Warum also?“
 

Jei hatte Banshee zugesehen wie sie spielte und sah nun zu ihm. Sie sahen sich lange an und Omi versuchte tapfer dem Blick standzuhalten.

„Es war eine Erinnerung.“

Jei sah wieder zu Banshee.
 

Omi wollte zuhören, er würde diese Tat nie verzeihen können aber er konnte erfahren warum. Denn dieses warum war das was ihn so quälte.

Er schwieg lange und sagte nichts.

Dann spürte Omi wie er traurig wurde als er Jei dort so sitzen sah und die Katze mit den Bändern der Augenklappe triezte. Plötzlich fluteten so viele Gefühle in ihn sodass er aufkeuchte. Er wollte etwas sagen, doch ihm blieben die Worte im Hals stecken. Mühsam hob er die Hand und wollte dass Jei aufhörte, doch der sah langsam und still zu ihm hin. Er fühlte einen großen Verlust, einen Trennungsschmerz, den er empfunden hatte als Ouka gestorben war, als wäre etwas aus ihm herausgerissen worden. Und da waren noch andere Gefühle, eine elementare bedrohliche Angst, Scham und eine tief gehende Einsamkeit. Dann hörte es auf und Omi saß da und keuchte. Minutenlang saß er da und weinte.
 

Jei spielte derweil weiter mit der Katze und Omi fühlte sich von dieser beschaulichen Szene losgelöst. Für ihn fühlte es sich an als wäre eine Welt zersplittert. Er beruhigte sich nur langsam.
 

„Waren das deine Gefühle?“, fragte er innerlich noch aufgebracht.
 

„Ich weiß es nicht.“
 

„Dann hast du sie nur zusammengekramt um sie mir entgegenzuschleudern?“
 

„Nein.“
 

„Waren das Oukas Gefühle oder meine damals?“
 

„Nein. Weder noch.“ Jei ließ seine Hand mit dem Spielzeug sinken.
 

Gut, anders rangehen, überlegte Omi und wischte sich die restlichen Tränen von den Wangen. Er holte ein paar Mal tief Luft und schloss kurz die Augen. Danach brauchte er etwas Hochprozentiges, vielleicht das brennende Zeug von Crawford.
 

„An was fühltest du dich erinnert?“
 

„An...“, Jei runzelte die Stirn. „An die Trennung. Die Sünde, derer wir bezichtigt wurden. Gott sagte, dass es eine Sünde war. Sie zerschnitten das Band weil es sündhaft war.“
 

Omi verzog den Mund. „Bisher liefs doch ganz gut“, sagte er leise für sich selbst. Und jetzt kam Gott ins Spiel. Gott war kein gutes Thema bei dem Iren. Vielleicht sollte er seine Glückssträhne nicht überstrapazieren...
 

„Und deshalb hasst du Gott?“
 

Okay vielleicht auf diesem Weg, aber er war sehr steinig, scharfkantig und brannte – und er selbst war barfuß unterwegs.
 

„Gott?“
 

„Äh ja.“
 

„Gott ist menschengemacht. Ich hasse Menschen. Sie geben dem was sie nicht verstehen einen Namen und in diesem Namen handeln sie.“

Okay... jetzt glitten sie langsam zu dem Mann den er bislang als Psycho kennengelernt hatte.
 

Zurück zu den Infos die er hatte...

Er wollte gerade ansetzen etwas zu sagen als der andere Psycho plötzlich sein Gehör verlangte.

‚Hey Knirps, was treibst du da eigentlich? Du hast einen Stock gefunden und popelst damit in einem Hornissennest herum, hast du Langeweile? Ich kann das nachvollziehen, wenn ich Langweile habe mache ich auch dumme Sachen, kann Ran dir bestätigen...’

‚Hat Yohji dich angeheuert?’

‚Er hat angedeutet, dass du selbstmordgefährdet bist.’

‚Ich unterhalte mich lediglich mit eurem Hauseigenen Irren. Was dagegen?’
 

‚Ja... Jei ist gerade etwas seltsam drauf könnte man sagen.’

Was hast du ihm gesagt?’
 

‚Krams dir selbst zusammen, hab keinen Bock alles noch mal durchzukauen.’
 

Omi spürte diesen Druck im Kopf und kurz darauf war Schuldig wohl im Bilde. ‚Oh Wow, soweit bin ich nie gekommen’, meinte er lahm.
 

‚Witzig’ Omi wusste genau, dass Schuldig auf die Gott-Thematik anspielte.
 

‚Trotzdem muss ich sagen ein paar Sachen sind interessant. Ob er wohl die Geschichte mit der Sünde auf seine Mutter bezieht?’
 

‚Was fragst du mich?’
 

‚Kann ich mich dranhängen?’
 

‚Hat Ran nicht irgendetwas Tolles für dich, dass du machen kannst? Ihn vögeln zum Beispiel oder so?’
 

‚Nein, er putzt.’
 

‚Höre ich Bedauern heraus?’

Omi hob einen Mundwinkel anzüglich grinsend und formte ein paar Bilder von Ran in lasziver eindeutig sexuellen Szenen. Möglichst leidenschaftlich, lustverhangen...

‚Stell das sofort ab!’, wurde er angewiesen und Omi grinste. Wenn er das früher gewusst hätte, dann hätte er mit Sicherheit im Kampf einen Vorteil gehabt.

‚Lustig, lustig, Knirps.’
 

‚Wenn du zuhören willst, dann halt den Rand.’
 

‚Ich nehme keine Befehle von Knirpsen entgegen!’
 

‚Aber von Ran. Und wenn ich jetzt...’
 

‚Schon gut... los mach weiter, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.’

‚Deine Neugierde und deine Angst vor der düsteren Rache des unvergleichlichen Ran-chans macht dich so was von berechenbar, Mastermind!’

Omi grinste.

‚Schnauze!’
 

Omi konzentrierte sich also wieder auf Jei, der wieder tief in sich versunken schien.
 

„Die Trennung von wem? Von deiner Mutter?“
 

„Nein“, erwiderte er.
 

„Von deinem Vater?“
 

„Nein.“
 

Omi stutzte.
 

„Die Trennung von wem?“
 

Lange sagte keiner etwas, selbst Schuldig hielt die Klappe.
 

„Die Trennung von einem Teil meiner selbst.“
 

‚Was meint er Schuldig? Ist das so ein PSI Ding?’
 

‚Die Konvertierung vielleicht. Keine Ahnung.’
 

„Ich liebte diesen Teil. Er war immer bei mir, ein Teil in mir und mit mir. Dieser Teil war sanft, strahlend hell, verletzlich und zart. Und er war schwach und er war es wert beschützt zu werden. Ein mich spiegelndes Abbild.“
 

‚Vermutlich meint er die Konvertierung’, resümierte er in Gedanken.
 

„Nein, tut er nicht.“ Schuldig tauchte einen Schritt hinter ihm auf und Omi wandte sich zu ihm um. „Er meint eine... Person“, sagte Schuldig und Omi sah den ernsten Blick – der eher selten auf diesem Gesicht zu sehen war. Und er sah auch das Erstaunen auf Schuldigs Gesicht.
 

„Jei... warum hast du nie etwas gesagt?“
 

Omi sah von einem zum anderen und hatte das Gefühl zu stören. Einerseits war er froh drum, dass Schuldig hier war damit er nicht Gefahr lief erwürgt zu werden, dennoch fühlte er sich als würde gerade etwas von großer Wichtigkeit offenbart werden. Schuldig schien fast schockiert zu sein. Und wenn Schuldig schockiert war sollte das seine Umgebung auf jeden Fall auch sein.

„Ich fühle diesen Teil immer.“
 

Jei stand auf, sah sie nicht mehr an und drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Zusammen mit seiner treuen Begleiterin, die ihre Beute zwischen ihren Zähnen gesichert trug entfernte er sich von ihnen in den hinteren Teil des Gartens. Schuldig sah ihm nachdenklich nach und Omi befand, dass wenn Schuldig ihn ziehen ließ er das besser auch tat und nicht weiter in den Mann zu dringen versuchte.
 

„Scheiße.“
 

„Was, verdammt?“, wollte Omi wissen.
 

Schuldig schüttelte den Kopf. „Das geht uns eigentlich nichts an. Jei will offenbar nichts unternehmen, sonst hätte er es bereits längst.“
 

„Klartext Möhre!“, forderte Omi ihn auf.
 

Schuldig hing in Gedanken fest und gab dem Kleineren lediglich eine halbherzige Kopfnuss für diese Frechheit.
 

„Offenbar hat Jei eine Schwester oder einen Bruder, ein Zwilling, wenn ich es richtig verstehe. Er sagte ein spiegelndes Abbild.“
 

„Das hat er vielleicht nur so gesagt.“
 

Schuldig sah ihn skeptisch an. „Jei? Nur so gesagt? Ja, sicher, Jei plappert auch pausenlos herum und da weiß man ja nie wenn er nur so etwas dahinsagt...“
 

„Habs kapiert.“
 

Schuldig wandte sich zum Haus hin und Omi folgte ihm.

„Vielleicht ist er oder sie tot?“, grübelte Schuldig.

„Er sagte, dass er diesen Teil immer fühlt. Keine Vergangenheitsform.“ War das vielleicht der herausgerissene Anker, der den Iren zerstört hatte?
 

„Ja, vielleicht hat er das nur metaphorisch gemeint“, brummte Schuldig wenig aufschlussreich.
 

„Metaphorisch...“ Omi sah ihn an als wäre Schuldig ein drittes Auge gewachsen. „Willst du mich verarschen?“
 

„Na, ich meine wie in: Sie ist tot, aber ich fühle ihre Präsenz immer noch.“
 

Okay, das verstand Omi. „Gut, Klar, das kann so sein.“
 

Schuldig blieb stehen. „Das Rätsel kann wohl nicht gelöst werden.“
 

„Soll ich’s später noch einmal probieren?“
 

„Besser nicht. Er war schon ziemlich pissig als ich zu euch gekommen bin.“
 

„Davon hab ich nichts bemerkt. Banshee war ganz friedlich.“
 

„Hättest du aber bald und dann wäre es zu spät gewesen. Jei ist nicht dämlich, er hat sicher forciert, dass du seine Gefühlslage anhand von Banshees Reaktionen bewertest. Den Schlag hättest du nie im Leben kommen sehen. Lass ihn lieber in Ruhe. Vielleicht ist es ein Teil seiner Vergangenheit, die er lieber begraben möchte, auch wenn ich verdammt noch mal übelst neugierig bin.“
 

„Die Vergangenheit holt uns immer ein.“
 

„Aha. Schlaubi.“
 

„Is aber so.“ Omi streckte ihm die Zunge raus und verdünnisierte sich ins Haus bevor Schuldig Lust hatte ihn zu maßregeln - und ihm Ran auf den Hals hetzen konnte.
 

„Dann pass mal gut auf, dass sie es bei dir nicht tut!“, brüllte Schuldig hinterher und sah noch wie Omi sich zu ihm umdrehte und ihm mit bösen Gesichtsausdruck den Mittelfinger zeigte.
 

Schuldig folgte dem Dreikäsehoch ins Haus und bog in die Küche ab. Kudou und Eve waren gerade dabei massenhaft Zeug das Eve mit Ken gekauft hatte in den Vorratskeller, in ihren Abstellraum und in den Kühlschrank zu räumen. Glücklicherweise hatten sie mehrere Kühlschränke und Kühltruhen im Haus.

Ran war unten und absolvierte sein tägliches Trainingsprogramm. Mittlerweile waren alle scharf darauf mindestens einmal am Tag ihren Trainingsraum aufzusuchen. Zu viele Meuchelmörder unter einem Dach, die etwas auf ihre Kondition und ihre Figur hielten. Wie sollte man es bloß mit diesen rattenscharfen Typen und dem einen nicht minder scharfen Mädel in einem Haus aushalten? Vielleicht wäre eine Soap mit dem Namen ‚Killer in the house’ einen Sendeplatz wert? Schuldig grinste über diesen Gedanken.
 

„Wie geht’s eigentlich der Kleinen?“, fragte Schuldig gut gelaunt und schenkte sich ein Glas Saft ein.

„Sie leidet unter der Trennung von ihrem Bruder. Nagi kann sie eine Zeit lang ablenken. Sie malen und spielen zusammen, aber es hält nicht lange an.“

„Nagi spielt?“ Schuldigs Grinsen minimierte sich zu einem aufrichtigen Lächeln.

Eve sah ihn schmunzelnd an.

„Ja, er sagt zwar es wäre unter seinem Niveau und vor allem seiner Würde, aber in Ermangelung einer anderen Beschäftigung hat er sich gefügt. Und das sind die Worte die er benutzte.“ Sie betonte jedes dieser Worte als hätte sie Nagi selbst gesprochen.

Schuldig lachte leise. „Der Junge hat noch nie gespielt.“

„Naja, das stimmt nicht so ganz“, sagte Kudou der gerade einen Karton von den Garagen hereinbrachte und auf dem Tisch abstellte.

„Ich finde schon, dass er einen Mordsspaß damit hatte uns arme Menschen zu ärgern.“

„Was kann er denn dafür wenn er Freude an der Arbeit hat?“

Schuldig grinste ihn an.

Kudou verzog nur das Gesicht zu einer spöttischen Replik.
 

Eve sah auf ihre Uhr. „Könnt ihr das alleine fertig machen? Ich muss kurz zu Brad.“

„Klar“, beeilte sich Kudou und Schuldig grinste ihn wieder mit diesem wissenden Lächeln an.

Yohji sah ihr nach und begann dann Eves Arbeit zu übernehmen.

„Du hast Konkurrenz, Blondie, also halt dich ran.“

„Von dir?“ Yohji lachte ungläubig.

„Nein ich bin zufrieden und glücklich.“

Kudou sah auf. „Selten in unserer Branche das zu hören.“

Schuldig zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck seines Getränks.

„Nein, Hidaka hat einen guten Draht zu ihr. Pass bloß auf“, warnte Schuldig mit einem Grinsen in sein Glas hinein.

„Der ist ihr zu klein“, zählte Yohji einen Makel auf.

„Dafür ist er weniger flatterhaft, mehr...“, fing Schuldig an.

„Sag jetzt nicht bodenständiger.“

„Irgendwie schon.“

Kudou seufzte. „Im Ernst, Schuldig. Glaubst du, dass sie Interesse an irgendeinem von uns gestörten Typen hat? Sie hat definitiv etwas Besseres verdient, sie ist für jeden Einzelnen von uns zu gut. Und mich wundert es nicht, dass Brad sie von diesem Dunstkreis fernhalten wollte. Ein Punkt für das fiese Orakel.“

Schuldig sah zu Kudou hinüber. Oha, hatte sich da jemand ernsthaft verguckt? Keine anzüglichen Sprüche?

Sollte er ihren hauseigenen düsteren Amor mit der scharfen Klinge mal auf die Idee bringen, dass Eve und Kudou super zusammenpassen würden?
 

„Es ist nie gut wenn du die Klappe hältst“, meinte Kudou argwöhnisch und Schuldig machte ein fragendes, harmloses Gesicht. Er deutete auf seine unschuldig dreinschauende Miene. Konterkarierte jedoch jedwede Harmlosigkeit mit seinen nächsten Worten.

„Ich dachte gerade an Asuka.“

Yohji ließ die Hand in der Papiertüte sinken und knickte sie dabei ein. Er sagte einen Augenblick nichts und nahm seine Arbeit wieder auf. Schuldig wartete und nippte an seinem Saft.

„Echt jetzt? Du willst das jetzt durchkauen?“

„Ich will gar nichts durchkauen“, betonte Schuldig.

Ken kam in diesem Augenblick herein, sein Bein lag noch in einer halben Schiene und er schonte es beim Laufen. Er ging grußlos an ihnen vorbei. Schuldig sah ihm nach. Was wollte der denn bei Brad und Eve?

„Und was willst du dann?“

„Nichts, ich dachte nur gerade an sie“, wurde Schuldig von Kudou abgelenkt.

„Du kanntest sie überhaupt nicht, wie kommst du darauf gerade jetzt an sie zu denken?“

„Vermutlich weil du gerade an sie gedacht hast.“

„Hab ich das?“

„Japp, hast du.“

Kudou runzelte die Stirn. Er hatte es nicht bemerkt. Wie lange er darüber grübelte und sich nicht mehr mit Schuldig unterhielt wusste er nicht, als er alles im Kühlschrank hatte und sich umdrehte war er allein in der Küche.
 


 


 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank!

Gadreel ^.^

Point of no return I

Point of no return
 


 


 

Einige Tage zuvor...
 


 

Tokyo

Neuer Campus der Universität Tokyo
 


 


 

Der prüfende, weil abschließende Blick in den Spiegel war mitnichten übertriebene Eitelkeit sondern der Akkuratesse geschuldet mit der er sich stets kleidete. Sein hellbraunes, welliges Haar war mit einem Band sorgfältig im Nacken zusammengebunden. Der uniformierte Anzug war mit einem Stehkragen versehen und war von tiefroter Farbe, sodass er fast schwarz wirkte. Am Revers waren zwei kleine goldene Kreuz-Applikationen eingestickt. Er hatte sich diese Auszeichnung hart verdient.

Einem Impuls nachgebend strich er über den goldenen Zwirn und lächelte als er sich in die hellgrauen Augen sah. Er konnte und durfte sich erlauben stolz auf das Erreichte sein.

Zufrieden mit dem Ergebnis nahm er sich das oberste Datenpad vom Stapel seines Schreibtisches und verließ die ihm zugewiesenen Räumlichkeiten im neunten Obergeschoss.
 

Während er in Richtung der Aufzüge eilte kamen ihm Ordensmitglieder von Rosenkreuz entgegen. Sie grüßten höflich und er erwiderte diesen Gruß mit einem knappen Nicken. Es war keine Freundlichkeit die darin begründet lag, sondern die zwei eingestickten Kreuze an seinem Revers nötigten sie diese offizielle Förmlichkeit einzuhalten. Mistral warf einen Blick auf das Pad und auf die geschätzte Ankunftszeit seines Herrn. Trotz der guten Vorbereitung wurde er langsam nervös, denn es waren immer die kleinen Dinge, die einen noch so guten Plan zum Scheitern bringen konnten.

Er musste noch das Appartement einer Endkontrolle unterziehen und sich dann im Fuhrpark zur Begrüßung einfinden. Noch während er im Aufzug nach oben in die zehnte Etage fuhr spürte er ein telepathisches Anklopfen gleichzeitig meldete sich sein Pad mit einer Anfrage.

Die Signatur gehörte zu Judge Stream, er erkannte sie an der Übertragungsgeschwindigkeit und dem völligen Ignorieren seiner Schilde. Er hatte schon in der Vergangenheit Kontakt mit diesem Judge und daher wusste er wie sinnlos der Versuch einer Abschottung war.

Mistral blieb vor den Aufzügen stehen und musste die Daten zunächst sortieren, denn es fühlte sich merkwürdig an, als wären sie schon immer in seiner Erinnerung gewesen und gerade im Moment abrufbar und für ihn begreifbar gemacht worden. Eine eher sanfte Methode um viele Informationen kompakt und schonend für den Empfänger zu übertragen.

Mistral lächelte und sah auf sein Pad während er auf den Aufzug wartete.
 

Stream hatte ihm die Daten auch auf sein Pad geschickt, er erwartete wohl einen gewissen Schwund an Informationen und schätzte sein Erinnerungsvermögen als nicht gerade verlässlich ein, so wie es schien. Die genaue, weil korrigierte Ankunftszeit, Terminierungen für den morgigen Tag, spezielle Wünsche der Judges über Nahrungsgewohnheiten, Regenerationszyklen und Besonderheiten im Umgang mit ihnen waren genauestens festgehalten.

Er mochte diese Übersichtlichkeit und lief so weniger Gefahr einen Fehler zu begehen.
 

Danach wähnte sich Mistral wieder allein in seinen Gedanken. Es war ein Rausch an Daten verabreicht worden einer Injektion gleich, ohne Begrüßung oder Abschied. Zugegebenermaßen schätzte er diese Art der Kommunikation wenn ihn nicht stets ein Gefühl der Machtlosigkeit überkommen würde, was Stream abmilderte indem er die telepathische Übertragung möglichst kurz hielt. Er hatte ihn noch nie gesehen, denn Stream überwachte in den Staaten das Treiben der PSI innerhalb der dort ansässigen Ordensmitglieder. Er selbst hatte in Europa speziell in Frankreich zu tun und war dort für den Orden des Schwarzen Kreuzes tätig. Im Besonderen für die Familie De la Croix.
 

Ihm war bewusst, dass seine Anwesenheit nicht unbedingt von allen Familienmitgliedern geschätzt wurde, da er auf Anweisung des Oberhauptes dieses Ordens hier involviert worden war.

Alexandré De la Croix, Erstgeborener des Hauses De la Croix, Triasmitglied und Herr über die Judges war über seine Anwesenheit wenig begeistert als er es erfahren hatte. Das hatte er ihm unmissverständlich mitgeteilt. Dennoch hätte es den Sprössling einer der einflussreichsten Familien auf diesem Planeten härter treffen können. Er hätte sich mit Priest herumschlagen können, seinem persönlichen Wächter, den hatte sein Vater jedoch mit einem ganz eigenen Auftrag betraut. Was das gewesen war darüber war Mistral nicht informiert worden. Er sollte nur Priest sonstige Aufgaben, die er erfüllte übernehmen. Eine Schutzfunktion schloss sich bei diesem Aufkommen von Judges aus, was Mistral nur gelegen kam, er war weit weniger gut darin PSI mit Waffengewalt zu verteidigen als ihnen anderweitig Unterstützung zukommen zu lassen. Priest dagegen war ein hinterlistiger, mysteriöser Butler – wenn man so wollte – der nicht davor zurückschreckte seinen Schützling mit allen ihm bekannten Mitteln zu verteidigen. Er konnte jedoch auch sehr charmant sein – man durfte ihm bei der Ausübung seiner Pflicht nur nicht im Weg stehen.

Mistral dagegen war ein Agent, der für die Familie weltliche Dinge regelte und wenn es nur die Abholung der Kleidung aus der Reinigung war. Er war der persönliche Assistent von Alexandrés kleinem Bruder Laurent, der zurzeit noch in den Staaten weilte um sein Studium abzuschließen. Mistral hatte dort wenig zu tun und so war ihm mitgeteilt worden, dass er sich hier einzufinden hatte. Mitten im Krisengebiet so war ihm bewusst geworden als er hier angekommen war. Er hatte wenig Einblicke in die Geschehnisse der letzten Zeit erhalten, dennoch war ihm klar geworden, dass Jean Michel De la Croix ihn hier her beordert hatte um seinen Sohn zu unterstützen, wie auch immer dies auszusehen hatte.
 

Er öffnete das Apartment im zehnten Stock und kontrollierte dessen Zustand, überprüfte die korrekte Ausführung der Funktionen der technischen Möglichkeiten, die das Zimmer ihrem Bewohner offerieren sollte und wagte einen Blick durch die Fensterfront nach draußen. Die Stadt lag in einiger Entfernung zu seinen Füßen und erstreckte sich über den gesamten Sichtbereich. Eine schöne Aussicht und dem Herrn der Judge würdig.

Er ordnete die Datenpads auf dem ausladenden Schreibtisch nach ihrer Dringlichkeit an bevor er das Apartment wieder verließ.
 

Dann ging er zu den Aufzügen und musst nur kurz warten. Die laufenden Gespräche der Ordensmitglieder verstummten als er den Aufzug betrat. Ein Umstand, den er bereits gewohnt war seit er hier vor einigen Tagen eingetroffen war. Aufgrund seiner Uniform wurde er von allen als Mitglied des goldenen Kreuzes erkannt und es gab im Allgemeinen zwei Reaktionen darauf. Respekt und Angst.

Beide möglichen Reaktionen geschahen aus Misstrauen seinem Amt und seiner Zugehörigkeit gegenüber. Da der Orden des goldenen Kreuzes dem Rat nahe stand und die persönliche Garde des Rates verkörperte wurden dessen Mitglieder stets zwar mit Hochachtung aber auch mit Skepsis beäugt. Sie unterstanden keiner höheren Institution als dem Rat und rangierten in der Rangfolge somit weit über den anderen Orden, wie den Rosenkreuzern.

Diese stellten zwar eine Triasspitze unterstanden aber wie alle anderen Orden ihren jeweiligen Gebietsleitern. Ein außerordentliches Mandat wie dieses hier einte jedoch alle Mitglieder des Ordens und unterstellte sie direkt der Triasspitze. Viel Macht in einer Hand. Was die Judges auf den Plan gerufen hatte um hier für einen geordneten und ihren Gesetzen entsprechenden Ablauf zu sorgen. Direkt vom Rat abkommandiert hatte dieser Umstand am wenigsten Somi gefallen. Er hatte ein Veto eingelegt, war aber damit gescheitert.
 

Der Aufzug leerte sich im Erdgeschoss und wartete auf eine neue Eingabe. Er wiederholte erneut das gewünschte Stockwerk und gab seine Kennung in das Tableau ein. Im fünften Untergeschoss stieg er aus.

Dort überprüfte er alle Zugangsberechtigungen für die Judges am Terminal wies ihnen eine neue Kennung zu und ging den Korridor entlang. Hier unten war der Fels kaum bearbeitet worden. Er kam an einem Schott an, das er unter Zuhilfenahme seiner Kennung an einem Terminal öffnete. Er überließ einem Scanner ihn zu überprüfen und nach wenigen Augenblicken öffnete sich das Schott mit einem Ruck. Licht sprang dahinter an und Mistral betrat die Räumlichkeiten der Judges.
 

Es gab einen freundlich eingerichteten Empfangsraum, den er zügig durchschritt. Danach teilte sich das Areal in verschiedene Richtungen auf. Links ging es zu den persönlichen Räumen, rechts zu eher funktionell ausgestatteten Räumlichkeiten.

Er bog zunächst nach links ab, kontrollierte Raum für Raum dessen Ausstattung und Zustand. Er hatte eine Liste von Stream erhalten, die die individuellen Bedürfnisse der Judges beinhaltete und kontrollierte sie entsprechend. Alles war zu seiner Zufriedenheit und er ging in den Kommunikationsraum.

Als er den Raum betrat fiel ihm eine Liegeeinheit inmitten des Raumes auf, sie forderte seine Aufmerksamkeit.

Mehrere Monitore hingen an der Decke in Bereitschaft, allerdings waren sie noch nicht eingeschaltet.

Er ging sein Protokoll durch, hier stand nichts davon die Anlage einzuschalten. Mistral stand unschlüssig da und sah sich um. Es würde Stunden dauern das System hochzufahren und die nötigen Änderungen anzupassen. Vielleicht sollte er eine Anfrage an Stream schicken...

Und weshalb hatten die Techniker hier nichts eingeschaltet? Hatten sie hier unten keine Zugangsberechtigung mehr?
 

Er verließ den Raum, arbeitete das Protokoll weiter ab und gelangte schließlich in den Fuhrpark, der zugleich einen separaten Ein- und Ausgang für die Judges darstellte. Ein vier Kilometer langer Tunnel führte nach draußen.

Er hakte auf seinem Display zehn Kraftfahrräder, zwei mobile Einsatzwagen, und vier Kraftfahrzeuge ab.
 

Danach war seine Arbeit getan und er machte sich daran das temporäre Domizil der Judges wieder zu verlassen.

Am Ausgang angekommen blieb er stehen. Unerledigte Aufgaben bereiteten ihm Bauchschmerzen.

Er machte kehrt und ging zurück in den Raum mit der Liegeeinheit.

Im Technikraum angekommen tippte er eine kurze Nachricht an Stream. Das gefiel ihm nicht besonders, denn er hatte noch nie Kontakt von sich aus zu dem Judge aufgenommen. Wenn er es nicht besser wüsste hätte er schwören können, dass dieser Judge nicht als Lebewesen existierte, sondern dass dies hier lediglich ein Programm war, dass ihm Nachrichten schrieb. Es ging dem anderen nur um einen Informationsweitergabe, nichts Persönliches konnte man dem Datenfluss entnehmen. Trotzdem war es Mistral stets merkwürdig erschienen, wenn Stream in seine Gedanken drang. Es war rücksichtsvoll wie er es tat und zeugte von empathischem Verständnis.
 

Er zögerte die Nachricht abzuschicken.
 

Es war nicht dass was oder wie Stream die Daten entsandte. Es war seine eigene Reaktion darauf, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. Er hatte mittlerweile ein Faible für diesen Judge entwickelt. Obwohl der Kontakt stets nur wenige Augenblicke in Anspruch nahm war es als konnte er eine fühlende, denkende Wesenheit darin ausmachen. Eine ausgesprochen freundliche Wesenheit. So freundlich gesonnen, dass Mistral bisweilen davon mehr als nur angezogen wurde. Es gab keine Aufzeichnungen über die Judges, keine Bilder, keine Daten, lediglich Gerüchte.
 

Mistral hätte niemals jemandem anvertraut, dass er sich für einen Judge im Besonderen interessierte. Vor allem wenn man wusste, dass sie mysteriös, unheimlich, mächtig und brutal waren. Kompromisslos war auch eine gängige Umschreibung für sie. Keine Gefühle, keine überflüssigen Geplänkel, nur ihre Aufgabe standen im Fokus ihres Denkens. Düstere Gestalten, schwer zu durchschauen und noch schwerer zu händeln.

Natürlich standen sie im Zentrum von Geschichten die mitunter wenig Wahrheitsgehalt besaßen und meist ihre Absonderlichkeiten oder ihre Grausamkeit in den Mittelpunkt stellten.
 

Er selbst hegte keinen Kontakt außerhalb des Ordens mit Menschen und innerhalb des Ordens herrschte eine strikte Hierarchie, die wenig Spielraum für soziale Kontakte zuließ. Jemand anderen – egal wen – in seinen Kopf, in seine Gedanken zu lassen bildete eine Gefahr, derer er sich ungern aussetzte.

Er war Empath, wenn auch kein sehr begabter, dennoch hatte ihn die Familie De la Croix – im Speziellen Alexandre aufgenommen. Sie hatten ihm Obdach, Nahrung eine Aufgabe und Schutz gewährt. Dinge, die er davor nicht als sein Eigen gekannt hatte. Seither war er unangreifbar für Willkür und Boshaftigkeit stärkerer PSI geworden.
 

Als er noch jünger gewesen war wurden ihm viele Gerüchte über den Erstgeborenen des Hauses De la Croix zugetragen. Vorsichtig gesagt für dessen Vorliebe für jüngere Männer. Mistral war jung gewesen als die Familie ihn aufgenommen hatte, aber hatte dieses Gerücht nicht bestätigen können. Das lag vielleicht auch daran, dass er nicht dem Typ jung und zierlich entsprochen hatte. Er selbst war groß und konnte behaupten gut trainiert zu sein, auch wenn er eher schüchtern und zurückhaltend im Umgang mit anderen war so wurde er stets anders eingeschätzt. Noch dazu in der Uniform des schwarzen Kreuzes machte er wohl eine ganz gute Figur. Dennoch fühlte er sich so einsam, dass er sich in einen Judge verliebte dessen einziger Kontakt die Datenübertragung in seine Gedanken war. Das war krank und er war sich dieses Umstandes genauso bewusst wie der Tatsache, dass er hier möglichst wenig Kontakt zu den Judges haben durfte. Er musste ihnen aus dem Weg gehen, vor allem Stream. Es war gefährlich sich ihnen auf sozialer Ebene zu nähern. Sie wurden als gescheiterte Experimente der vergangenen Trias angesehen. Biomechanisch, biogenetische Mutationen, zu höchsten Leistungen getriebene Individuen, die dadurch ihre Menschlichkeit eingebüßt hatten. Alexandré hatte sie gegen den Willen seines Vaters in den Orden aufgenommen.

Gerüchten zufolge wirkten sie zivilisiert, waren aber Argumenten nur wenig oder gar nicht zugänglich wenn sie zur Strafverfolgung auf einen Abtrünnigen oder Gesetzesbrecher innerhalb ihrer Gesellschaft angesetzt wurden.
 

Mistrals graue Augen blickten erneut aufs Display und er schickte die Nachricht ab.

Er hatte kaum den Kopf erhoben um auf eine Antwort zu warten als er schon den

leichten Druck im Kopf verspürte. Er wappnete sich gegen eine Datenflut, doch es kam zunächst nichts. Er fühlte sich als würde er auf einen blinkenden Cursor starren und wurde unruhig. In ihm wuchs der Gedanke, dass es ein Fehler gewesen war so direkt Kontakt aufzunehmen.

‚Judge Stream?’

‚Ja.’

Mistral wartete erneut geduldig. Tatsächlich war er nervös.

Es dauerte noch ein paar Minuten, die er auf sein Pad starrte, da er dachte eine Nachricht dort lesen zu können ob er die Rechner einschalten sollte.

‚Bist du dafür verantwortlich?’, kam dann die Frage und Mistral fühlte sich dazu veranlasst sich zu verteidigen.

‚Ja, ich bin verantwortlich. Deshalb frage ich nach ob ich die Rechner einschalten soll. Es dauert sicher die Systeme hochzufahren. Es stand nicht auf den Anweisungen, die ich erhalten habe.’

‚Bist du der Verantwortliche?’ Erneut diese Frage und Mistral seufzte. Wenn er bejahte war er dann einer möglichen Bestrafung ausgesetzt? Hätte er gleich nachdem er die Anweisungen erhalten hatte nachfragen sollen?

‚Ja das bin ich.’

‚Dein Name? Deine Kennung?’

Mistrals Augen weiteten sich, er ließ das Pad sinken. Das fragte ein Judge meist vor einer offiziellen Befragung.

‚Es tut mir Leid. Ich... ich...’, seine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Sie würden bald hier sein und er war den Anforderungen nicht gerecht worden. Warum hatte Jean Michel nicht Priest geschickt? Er hätte sicher besser gewusst was er tun musste.

‚..iel Traffic’, abgehackte Worte trafen auf seine besorgten Gedanken. Er setzte sich bedrückt.

Dann dauerte es einige Momente.

‚Dein Name? Deine Kennung?’ wurde es wieder klarer.

Er gab sie in das Pad ein und schickte die Nachricht ab. Alexandré würde sicher enttäuscht von ihm sein.

Dann wurde es wieder still.
 

Einige Augenblicke später...

‚Du sitzt in der Einheit.’

Mistral sprang augenblicklich auf. Offenbar war Stream so weit in seine Gedanken gedrungen, dass er seine Wahrnehmung mitverfolgen konnte.

‚Setz dich in die Einheit.’

Klang das amüsiert? Oder empfand nur er selbst es so?
 

Mistral legte das Pad auf eine Ablage in der Einheit und setzte sich dann auf den Sessel. Seine Beine mussten in die Einheit, doch war er zu groß dafür und er fühlte sich eingequetscht. Sie musste für Stream gefertigt sein, der kleiner als er selbst zu sein schien. Kontaktfelder an den Armlehnen bemerkte er erst als er seine Hände darauf ablegen wollte.

‚Du hast keine relevanten Aufgaben mehr zu tätigen.’ Er sah wie sein Pad die einzelnen Punkte von selbst löschte.

Das war wohl so etwas wie ein Befehl.

‚Ich habe Weisung von der Familie De la Croix das Protokoll...’, fing er an.

‚Alex ist bei mir. Du bekommst ab jetzt Weisung von mir. Er überlässt dich mir.’

Das hieß, dass er aus dem Verantwortungsbereich von Alexandre in den eines Judges gefallen war? Eines Menschen dessen moralische Vorstellungen vielleicht etwas von der Ethik ihrer Gesellschaft abwichen?

Weshalb fühlte er sich nur mehr wie ein lebloses Ding, das man zum Gebrauch weiterreichen konnte? Es erinnerte ihn an die Zeit vor seiner Aufnahme in die Familie.

‚Gib mir Zugangsberechtigung.’

Was hieß das? Wollte der Telepath in seine Gedanken dringen und seine Handlungen übernehmen?

‚Nein’, keuchte Mistral verunsichert.

‚Du weigerst dich?’

‚Ja.’

‚Warum?’

‚Weil ich Angst habe.’

‚Wovor?’

Mistral setzte alles daran seine Schilde wieder hochzubringen, was schwierig war. Schließlich gab er es auf und blieb resigniert sitzen.

‚Vor mir’, wurde die Frage beantwortet und Mistral erwiderte nichts darauf. Er hatte Angst.

Irgendetwas piepte in seine düsteren Gedanken hinein und er streckte seine Hand nach dem Pad aus. Er nahm das Gespräch umgehend an, denn es war Alexandre De la Croix.

„Gib ihm deine verdammte Zugangsberechtigung für das System. Du hast alle Berechtigungen neu vergeben. Laut Protokoll solltest du das bereits erledigt haben“, sagte sein Herr mit dieser für ihn so typischen Gelassenheit.

„Ja, Sir.“

„Wo ist dann das Problem?“

„Ich...“

„Das ist keine Bitte.“ Die Stimme war nicht bedrohlich, sie wirkte ruhig und frei von Arglist, aber Mistral wusste um die Gefährlichkeit hinter dieser Ruhe. Alexandre wurde nie wirklich wütend, zumindest war er nicht jähzornig, sondern vielmehr wohlüberlegt in seinen Handlungen.

Das glatte Gegenteil von Somi, dessen Ausbrüche legendär und bisweilen tödlich endeten. Wenn Alexandré De la Croix die Nacht war, dann war Thomas Straud der Tag. Den Vergleich hatte einst Alexandrés Vater Jean Michel angeführt und er hätte nicht zutreffender sein können. Er hatte den Zusammenhang nicht ganz verstanden, da er nicht das ganze Gespräch mitbekommen hatte, aber die anderen Gäste im Raum hatten dem zugestimmt.

Was auch immer das bedeuten sollte, eines stand fest, diese beiden Männer hätten nicht unterschiedlicher sein können. Alexandrés Hautkolorit war das von dunkler Schokolade, afroamerikanischen Einflüssen gemischt mit sicherlich auch asiatischen Zügen im Genpool seiner Ahnen geschuldet, sein Gesicht scharf geschnitten mit hohen Wangenknochen, einer geraden Nase und einschüchternden Augen, die sich in einem hellen Blau und einem hellen Grün zeigten. Das aristokratische geradlinige Gesamtbild wurde durch einen Wust an dünnen Dreadlocks konterkariert und war stets ein Dorn im Auge seines Vaters. Mit seinem für viele im Orden provozierendem Aussehen, seiner exotischen Schönheit und einiger extravaganter Freizeitbeschäftigungen war er oft das Gesprächsthema unter den Ordensmitgliedern. Sein Faible für Gift- und Würgeschlagen allerdings schätzte Mistral ganz und gar nicht und er hatte jetzt schon Angst falls Alexandré sich in den Kopf gesetzt hatte ein oder zwei seiner Giftschlangen mitzubringen.
 

Das letzte Mal als er dieses Bedürfnis verspürt hatte war um seinen Hals eine hellgrüne, schwarz gebänderte Baumschlange gelegen. Auf Nachfrage eines Freundes der Familie hin begründete Alexandré seine Entscheidung damit, dass die Färbung gut zu seinem linken Auge passen würde. Außerdem wäre es der Wunsch der Schlange gewesen ihn zu begleiten um ein oder zwei Augen auf ihn haben zu können.
 

Mistral war an diesem Abend beim Empfang zugegen gewesen und hatte wie hypnotisiert die Schlange angestarrt. Aus Furcht vor dem Tier und ihrem Besitzer hatte er einen großen Bogen um Alexandré gemacht – wie die meisten Gäste. Ihm die Hand zu reichen barg meist ein großes Risiko sich dem Anblick eines farbigen Schlangenkopfs am Handrücken auszusetzen. Er hatte es zwar noch nie gesehen doch es kursierten Geschichten, dass sich einmal eine Begebenheit zugetragen hatte in der Alexandré unter diesen Umständen einen Mann getötet haben sollte. Die Schlange sei unter seiner Kleidung am Unterarm verborgen gewesen und hätte sich in diesem Augenblick auf sein Gegenüber gestürzt. Mistral konnte dies kaum bestätigen, aber hielt es für möglich.
 

Er hatte keine Anweisung für ein Terrarium oder sonstige baulichen Veränderungen von Stream erhalten und hoffte, dass Alexandré keines seiner geliebten „Haustiere“ mitgebracht hatte. Er wäre dann nämlich derjenige, der sich darum kümmern müsste. Und ihn ließ der bloße Gedanke daran schaudern. Das war einzig und allein die Aufgabe von Priest. Er wüsste wirklich nicht was er tun sollte wenn dies von ihm verlangt werden sollte.
 

Thomas Straud im Gegenzug erlaubte sich keine extravaganten Absonderlichkeiten. Der groß gewachsene Mann war stets akkurat - vom Scheitel bis zur Sohle. Sein charmantes Lächeln zeugte stets von Aufmerksamkeit seinem Gesprächspartner gegenüber. Er war höflich, hielt sich an die Etikette ihrer Gesellschaft an zeremonielle Protokolle und Normen. Er unterhielt viele Projekte zur Minderung der Armut, eine eigene Stiftung und engagierte sich sehr für die Umwelt.

Auf sein Erscheinungsbild hätte das Prädikat makellos am Treffendsten gepasst. Dennoch hatte Mistral Angst vor diesen blauen Augen, die mehr Kälte offenbarten als sein herzliches Lächeln je kaschieren konnte.

Während Thomas Straud, den Ruf eines Gutmenschen innehielt so war Alexandre De la Croix der verwöhnte aristokratische Exot dessen launische Ideen und Spleens wenig linientreu und mehr aufrührerisch wirkten.

Eines einte sie jedoch dieser Tage: die Jagd auf abtrünnige Mitglieder deren Flucht bereits zu lange dauerte als dass der Rat sie noch tolerieren konnte. Die Gefahr einer Denunzierung und einer Entdeckung ihrer Gesellschaft durch die Allgemeinheit war in den vergangenen drei Jahren eine ständige Bedrohung gewesen.
 

Er gab in sein Pad seine Berechtigung ein. Auf dem Bildschirm erschien eine Mitteilung darüber, dass er den Datenträger in eine Steckverbindung einfügen sollte, was mitunter besser zu bewerkstelligen war wenn er in der Einheit saß musste er zugeben. Er verband sie mit der Einheit.

‚Setz den Visus auf.’

Stream war also noch da und das beruhigte Mistral. Er hatte das ganze Gespräch falsch verstanden, aus Ängsten heraus die wohl andere geschürt hatten. Mistral atmete tief ein und dann wesentlich ruhiger wieder aus und tat dann was von ihm verlangt wurde. Das Display wurde zunächst dunkel, doch kurz darauf sprang es an und ihm wurden weitere Anweisungen darauf erteilt. Wenig geschickt stellte er sich in seinen Augen an wie er zugeben musste und es war ihm peinlich vor Stream so unfähig zu erscheinen.

Alles in allem jedoch konnten sie das System zusammen starten. Stream war dabei konzentriert und vor allem geduldig. Da Mistral nun wusste, dass Streams Anweisungen dem Zweck dienten das System zu starten und nicht ihm persönlich zu schaden oder ihn zu kränken war er wesentlich entspannter und eilfertiger dabei.
 

‚Entferne den Visus.’

Mistral nahm ihn ab und steckte ihn in die dafür vorgesehene Halterung.

‚Die Protokolle laufen.’

Was sollte Mistral darauf antworten?

‚Ja das tun sie.’

‚Das ist gut.’

Mistral erhob sich aus der Einheit und wollte nach seinem Pad greifen, zögerte jedoch. Stellte dies den Versuch einer Konversation dar?

‚Ich brauche das Pad’, sagte er behutsam, da er nicht einschätzen konnte welche Reaktion er erhalten würde.

Sofort sprang der Bildschirm um und öffnete seinen Planer. Bis auf das Pad zeigten alle anderen Bildschirme im Raum das gleiche und sogar die Tableaus an den Eingängen und Ausgängen spulten ihre Testprotokolle ab. Auf seinem Pad prangten die von ihm zuletzt aufgerufenen Programme.

‚Kann ich es nehmen?’

‚Ja.’

‚Darf ich gehen?’

‚Nein.’

Oh. Mistrals Unsicherheit kehrte wieder zurück.

‚Ich brauche dich.’

‚Wofür?’, fragte er prompt und schalt sich sogleich für seine freche Frage. Es ging ihn nichts an wofür.

‚Geh in den Serverraum.’
 

Mistral wechselte vom Planer auf die Grundrisse des Komplexes und rief seinen genauen Standort auf. Auf die Schnelle fand er den Serverraum in den Plänen nicht, als sein Pad sich wieder selbstständig machte und einen anderen Grundriss aufrief.

‚Ich leite dich.’
 

Mistral warf noch einen Blick auf die Bildschirme bevor er den Raum verließ und schließlich wieder im Eingangsbereich eintraf. Er verließ die Räumlichkeiten schloss das Schott und begab sich hinauf ins Erdgeschoss. Von dort aus brauchte er über zehn Minuten um zur Ostseite des Gebäudes zu gelangen und mit dem Aufzug nach unten zu fahren.

Er stieg aus und traf nach einigen Metern, die er um eine Biegung schritt auf zwei Wachen. Sie standen vor einer schweren Stahltür.

„Dies hier ist ein gesicherter Bereich“, sagte einer der Männer und sah ihn forschend in die Augen.

„Mistral. Zugangsberechtigung Alpha sieben. Agent des goldenen Kreuzes.“

„Bitte“, wies die Wache an und zeigte auf das Tableau an der Wand. Ein Abtaster fuhr mittels eines sichtbaren Lichtstreifens über seine Gestalt.

„Sind sie schon da?“, fragte die andere Wache neugierig in Plauderstimmung.

Mistral stellte sich vor die Linse und gab seine Zugangsberechtigung auf der Eingabekonsole ein.

Er sah in die Linse während er seine Hände auf die Konsole legte. Ein kurzer Stich erfolgte in seinem Handgelenk und er schloss für einen Bruchteil von Sekunden die Augen. Es schmerzte egal wie oft er das schon gemacht hatte.

„Nein“, sagte Mistral. „Sie sind noch unterwegs. Es herrscht wegen der Unwetterwarnung viel Verkehr.“

„Vier Punkte Verifizierung. Überprüfe Zugangsdaten. Willkommen Mistral. Mein Name ist Miriam. Bitte beachte, dass du einen sensiblen Bereich betrittst. Die Sicherheitsvorkehrungen werden für deinen Besuch abgeschaltet. Ist das in deinem Sinn?“, fragte die weibliche Stimme.

„Ja, bitte abschalten.“

„Sehr gerne.“

Die Tür öffnete sich mit einem Klicken und fuhr in die Wand.

Er betrat den Raum und die spärliche Beleuchtung sprang an Leisten an den hohen Wänden an.

„Genügt dir das Licht, Mistral?“, fragte die Stimme.

‚Stream?’, fragte er bei dem Judge nach, denn er hatte keine Ahnung was er hier tun musste.

‚Ja’

‚Wie viel Licht brauche ich?’

‚Deinem letzten Besuch beim Augenarzt nach zu urteilen reicht es dir aus.’

‚Das war nicht das was ich wissen wollte.’

Mistral seufzte.

„Das Licht reicht aus“, sagte er zur KI.

„Mistral, ich möchte dich darauf hinweisen dich an die Regeln zu halten, dieser Raum unterliegt einem sensiblen Klima. Gestalte deinen Aufenthalt so kurz es dir möglich ist.“

„Ich verstehe, Miriam.“

Die KI des Systems wünschte ihm einen schönen Aufenthalt. Mistral musste darüber schmunzeln.
 

Der Raum war groß und er konnte die Servereinheiten erkennen, riesige Türme, die vom Boden bis zur Decke reichten. Eine bläuliche Flüssigkeit schlängelte sich in flexiblen Röhren innerhalb der Türme bis zur Decke empor und verschwand in ihr.

Eine fast schon sakrale Stimmung herrschte hier.

‚Finde diesen Abschnitt. Geh zum hinteren Teil des Clusters.’

Auf seinem Pad erschien eine Reihe von Zahlen und Buchstaben. Es dauerte eine Weile bis er das System der Anordnung verstanden hatte. Als er den gesuchten Abschnitt gefunden hatte meldete sich Stream erneut bei ihm.

‚Nimm die Abdeckung ab.’

‚Wie?’ Mistral sah nichts was darauf hindeutete, dass es eine Möglichkeit zur Öffnung gab.

‚Taste über die Naht zwischen den einzelnen Platten, dort solltest du eine Bruchkante spüren.’

Tatsächlich spürte er eine kleine Unebenheit.

‚Drück darauf.’

Er tat es und die Abdeckung sprang ihm mit einem verhaltenen Klicken auf einer Seite entgegen, er öffnete sie ganz und matt glimmende Lichter mit gläsernen Steckplatten offenbarten sich ihm.

‚Warum sind sie aus Glas?’ Es sah zumindest hübsch aus.

‚Das ist kein Glas.’

‚Kristall?’

‚Ja einige bestehen aus Nanokristallen und andere aus Kristallkernen.’

‚Was soll ich jetzt tun?’

‚Berühre eines der Nanoblades’

‚Wie sehen diese aus?’

‚Zweite Reihe von oben. Das zweite Blade.’

Mistral berührte es und es fuhr ihm einige Zentimeter entgegen.

‚Nimm es vorsichtig heraus.’

Er kam sich vor als würde er eine Bombe entschärfen, seine Finger fühlten sich feucht an.

‚Nächstes Mal zieh Handschuhe an.’

‚Ich wusste nicht...’

‚Nimm dein Pad zunächst in die Hand.’

Er nahm sein Pad wieder auf.

‚An der Seite findest du eine kleine Klappe. Drück darauf und zieh das Kabel heraus. Steck es in den Port des Blades.’

Mistral runzelte die Stirn.

‚Tue ich hier etwas Verbotenes?’, fragte er unsicher.

‚Nein, nur etwas Unübliches.’

‚Aha’, damit konnte er nicht wirklich etwas anfangen. Er fragte sich was das hier für eine Maßnahme war, denn sicherlich konnte Stream problemlos in diesen Raum gelangen ohne dass ihm jemand neugierige Fragen stellte oder seine Anwesenheit in ein falsches Licht rückte. Wer würde schon einen Judge hinterfragen?’

Er verband das Kabel mit der kristallinen Platte und wartete erneut.

Auf dem Bildschirm des Pads wechselten sich in schneller Abfolge Daten ab und es dauerte einige Minuten bis sich Stream wieder meldete.

‚Entferne das Kabel. Der Rückzugmechanismus zieht es selbstständig wieder ein, halt es fest bis du es sorgsam aus dem Blade entfernt hast. Dann füge das Blade wieder auf seinem Platz ein.’

‚Und meine Fingerabdrücke?’

Es wurde kurz still.

‚Was soll mit ihnen sein?’

‚Kann man nicht zurückverfolgen was ich getan habe?’

‚Natürlich kann man das. Du bist der Einzige der heute in diesen Raum gegangen ist. Es sollte nicht schwer sein zur Strafverfolgung die Protokolle auszulesen.’

Mistral setzte die Abdeckung wieder ein und schloss sie mit einem sanften Klick wieder.

‚Du bist sehr geschickt in der Umsetzung meiner Anweisungen.’

In Anbetracht der Worte zuvor fiel ihm keine passende Replik ein.

‚Weiß Alexandrè was ich hier getan habe?’

‚Ja. Er hat es mir aufgetragen.’

Das erleichterte Mistral ungemein. Er war zwar neugierig was genau er hier getan hatte aber er hütete sich das zu denken oder zu äußern.

‚Ich behalte mir vor dich in Zukunft noch häufiger für derlei zu verwenden.’

Mistral erhob dich um sich dem Ausgang zuzuwenden. Ihre hierarchisch unterschiedlichen Positionen ließen nicht zu, dass er sich verweigerte. Er konnte Beschwerde einlegen, aber was hätte dies zum Zweck? Dass sie ihn zurückschickten und er zugeben musste für den Außendienst nicht geeignet zu sein? Dabei war es das was er wollte.

Er musste sich eben mit den Besonderheiten im Umgang mit den Judges anfreunden und das ob er wollte oder nicht. Es war eben ein rauer Verein und er ein vielleicht zu zartes Pflänzchen.

Zügig schritt er zur Tür und sie öffnete sich automatisch. Er nickte einem der Wache zu und verließ den Korridor wieder.
 

‚Geh in den Fuhrpark, wir sind gleich da.’

‚So schnell?’

‚Ich veranschlagte eine Stunde und fünfundzwanzig Minuten. Bis du dort bist werden neun Minuten vergangen sein.’

War schon über eine Stunde vergangen?

Er sah auf seine Uhr auf dem Pad und tatsächlich. Er begann seine Schritte zu beschleunigen und wartete auf den Aufzug. Dieses Mal war er allein und er war erleichtert keinem Ordensmitglied von Rosenkreuz zu begegnen. Er war nervös und konnte das immer schlechter kaschieren.
 

Alexandre war mit Sicherheit nicht guter Stimmung und er hatte dazu beigetragen.

Point of no return II

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Firan und der weiße König

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Firan und der schwarze König

Firan und der schwarze König
 


 


 

Das kalte Licht der Taschenlampe zeigte Alexandré zu beiden Seiten des ein Meter breiten Tunnels nur rohen Fels. Über ihm bot sich nur wenig Platz, vielleicht eine Handbreit über seinem Kopf. Es war warm und stickig, eine Tatsache die ihn erneut innehalten ließ.

Das war keine Umgebung die ihm sonderlich behagte. Es war zu eng und er war bereits eine halbe Stunde unterwegs, ein sanfter Luftzug auf seiner Haut bewog ihn weiterzugehen. Trotz der leichten Klaustrophobie unter der er bei dieser Art Umgebung zu leiden begann führte er seinen Weg fort. Er hätte diese Erkundung jemand anderen übertragen können doch er wollte sich bewegen, er fühlte seit ihrer Ankunft eine unangenehme Unruhe in sich und schob dies auf die Unternehmung im Allgemeinen.
 

Da die anderen Judges alle ihre Aufgaben hatten und unterwegs waren hatte er beschlossen sich von seinem Schreibtisch fortzubewegen und auf Erkundung zu gehen. Es konnte nicht schaden zu wissen welche Zugänge ihre neue Behausung vorweisen konnte. Er hatte den gesamten Komplex mitsamt des öffentlichen Campusareals erkundet und war auf einen provisorisch angelegten Bereich gestoßen, der südöstlich ihres Areals lag der den Bauarbeitern in der Anfangsphase des Baus wohl als Nebentunnel gedient hatte und jetzt nicht mehr genutzt werden musste.
 

‚Stream, wie viel Grad hat es in unserem Bereich?’, fragte er leise über die Verbindung. Er versuchte sich mit dem Kontakt zu Stream etwas von seiner Klaustrophobie abzulenken.

‚20 Grad’, kam prompt die Antwort. Es war tröstlich, dass er mit Stream telepathisch kommunizieren konnte ohne auf Technik angewiesen zu sein, die hier wohl ohnehin nicht funktionieren würde.

‚Sind alle da?’

‚Viper fehlt. Kimera und Grid sind am Hafen. Sie haben mir mitgeteilt, dass sie in einer Stunde wieder hier sind. Bolder ist hier geblieben, er wohnt der zweiten Verhandlung bei. Es ist bei den Vorverhandlungen nicht nötig, dass ein Judge zugegen ist, aber er ist wie immer misstrauisch.’

‚Gibt es ungewöhnliche Bewegungen?’ Alexandré ging weiter die Stufen hinab. Die Taschenlampe, die ihr kaltes Licht auf die Umgebung warf offenbarte ihm schließlich eine Höhle, deren Ursprung wohl eher natürlich denn bearbeitet wirkte. Sie wurde an ihrem Ende etwas abschüssig, das Licht reichte nicht bis dorthin. Er trat in die Höhle und atmete etwas freier ein und aus. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gesammelt. Er sollte wieder zurück, sonst würde ihn Bolder holen müssen und das wäre eine sehr entwürdigende Maßnahme. Alex beschloss die vollständige Erkundung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

‚Am Hafen ist viel Betrieb der Familie zu verzeichnen. Sie erwarten eine große Lieferung ihrer Fußsoldaten.’

Alex trat den Rückzug an, es war zu still um ihn herum und die Wände zu nah. Er begann seine Schritte zu beschleunigen.

‚Dafür sind Somis Männer zuständig.’

‚Bolder traut Somis Männern nicht’, sagte Stream.

‚Bolder traut niemandem.’

Alexander verzog den Mund zu einem wissenden Lächeln.

‚Er traut dir. Und Mia. Und sich selbst.’

‚Bist du müde?’, fragte Alex.

‚Es geht schon. Die anderen regenerieren. Ich bin aufgewacht.’

‚Weshalb?’

Wenn Stream aus dem Schlaf erwachte ohne dass ihn einer von ihnen weckte, dann stimmte in der Regel etwas nicht.

‚Etwas läuft nicht richtig.’

‚Das haben wir erwartet, wir sind deshalb hier.’

‚Sind es die Systeme?’, hakte er dennoch nach, denn Streams Schweigen beunruhigte ihn.

‚Nein, die Systeme laufen.’

‚Was beunruhigt dich?’

‚Ich kann es nicht erfassen. Whisper fühlt sich zunehmend unwohl. Mia sagt es gäbe viel, dass sie nähren würde.’

Alex Fuß blieb auf der nächsten oberen Stufe stehen. ‚Hat Whisper etwas geäußert?’

‚Ja.’

‚Hast du den genauen Wortlaut für mich?’

‚Sie sagte: Es fühlt sich nicht richtig an. Wir sind hier damit es richtig wird. Aber wir können es nicht richtig machen. Sie bringen uns dazu es falsch zu machen. Dann haben wir es falsch gemacht. Sie werden uns dafür richten, dass wir es waren die es falsch gemacht haben.’

‚Wie ist ihr Level?’ Alex setzte seinen Weg fort.

‚Stabil. Keine Änderungen.’

Alex dachte über Whisper nach, denn sie hatte bisher keine präkognitiven Fähigkeiten erkennen lassen. Vielleicht waren ihre Worte nur der Ausdruck ihrer Sorge.

‚Hat sie noch etwas gesagt?’

‚Jasper hat sich um sie gekümmert. Bevor sie ruhiger wurde hat sie Mia angesehen und gesagt: Arglist und Bosheit liegen unter dem Schleier scheinbarer Redlichkeit.’

‚Danke Stream.’

Es war für ihn nicht sonderlich schwierig zu erraten wen Whisper meinen könnte, dennoch fragte er sich ob sie nicht etwas überreagierte.

Sie war sensibel und anfällig für ‚Störungen’ ihrer Fähigkeiten wenn sie zu lange Wachphasen überstehen musste. Der lange Flug und die letzten Tage hatten sie sehr mitgenommen. Er hatte sie nur deshalb mitgenommen weil Jasper ohne Whisper keinen Schritt vor die Tür setzte und er war ein sehr guter Kombinierer wenn es darum ging mit Empathen und Telekineten zusammenzuarbeiten. Whisper war hervorragend darin wenn es darum ging mehrere Angreifer aufzuspüren. Sie beide waren unschlagbar wenn man jemanden ausfindig machen wollte.
 

Alex ging weiter hinauf, bis er wieder an die Tür kam, die er zuvor passiert hatte. Er trat in den Versorgungsbereich und schloss die Holztür wieder.

Das war interessant, denn er hatte die Tür erst entdeckt als sie die schweren Waffenpakete zur Seite geräumt hatten. Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie übersehen worden war. Doch die Waffen waren allesamt noch eingepackt gewesen, frisch angeliefert und nicht angerührt worden. Bolder hatte die großen Kisten erst heute aufgestemmt und ihren Inhalt inspiziert. Da waren Handfeuerwaffen, die auf keiner der Listen standen, die Somi oder er selbst angefordert hatten. Alex war sich sicher, dass Somi sie geordert hatte und irgendwie war dieses Paket wohl hierher geliefert worden. Mit Sicherheit ein Fehler, den Somis Assistent und Beltrami seine rechte Hand hatte bisher keine Anfrage geschickt.

Stream hatte ihm versichert, dass dieser Gang nur in den früheren Plänen existierte und Alex hatte ihn darum gebeten dessen Existenz aus allen Plänen zu entfernen. Eine zusätzliche Absicherung konnte nicht schaden, sie mussten nur herausfinden wohin er führte.

Alex schob die schweren Kisten, die hier noch leer herumstanden vor die Tür aus Holz, die sonst nur auf dem Bau dazu diente den Rohbau provisorisch zu schließen.

Dann verließ er den Versorgungsraum und ging zu Stream.

Stream war mit der digitalen Welt verbunden und lag teilnahmslos in der Einheit.

Alex legte eine Hand auf Streams Schulter, dieser berührte sie mit seiner, um ihm zu zeigen, dass er nicht gänzlich der Realität entrückt war. Dann rutschte die Hand hinab und blieb in seinem Schoß liegen. Alex nahm sie und legte sie auf die Seitenlehne des Sessels. Dann verließ er den Raum wieder.

„Die KI hat ein paar verdächtige Beobachtungen gemacht“, sagte Stream über den Kommunikator, denn Alex war bereits auf der Suche nach Mia.

„Du bist die KI, Stream“, sagte Alex schmunzelnd.

„Im Augenblick.“

„Was hast du beobachtet?“

„Verletzungen der Individualrechte.“

„Wessen Verantwortungsbereich?“

„Somis.“

„Gibt es eine Anzeige?“

„Nein.“

„In Somis Verantwortungsbereich herrscht eine strikte und bisweilen auch archaische Hierarchie. Ohne Anzeige keine Untersuchung.“

„Eine Anzeige in Somis Verantwortungsbereich würde heikel werden.“

„Zum jetzigen Zeitpunkt wäre eine Anzeige ohnehin kaum zu verfolgen. Eine Untersuchung würde seine Kooperation erfordern. Und wir können davon ausgehen, dass er sie uns verweigern wird im Hinblick auf die bevorstehende Operation.
 

Somis Hang zum Größenwahn war ihm bekannt ebenso sein Wunsch nach Macht. Alex konnte sich die daraus resultierenden Persönlichkeitsmerkmale und deren Ausprägung als Führungsperson im Orden ausmalen.

Trotzdem war er dafür nicht zuständig, es musste zumindest eine Anzeige vorliegen damit er handeln konnte.
 

Die neue Ordnung nachdem die Trias gefallen war hatte keine Verbesserungen mit sich gebracht, ganz im Gegenteil - ein Rückschritt war eingetreten. Kleinere Orden waren in größere integriert worden. Alex bezeichnete diesen Vorgang als soziologische Assimilation. Schwächeren Ordensmitgliedern wurden Aufgaben übertragen die sie eher zu rechtlosen Sklaven denn zu Assistenten machten. Gerade bei Rosenkreuz wurde das mehr und mehr deutlich.

Mit der radikalen Expansion von Rosenkreuz und der Konvertierung vieler PSI hatte die alte Trias Rosenkreuz Macht und Stärke verliehen, die sie zuvor nie besessen hatten. Die letzten drei Jahre war es schlimmer geworden und es schien kein Ende in Sicht. Alex fragte sich immer häufiger wohin das führen würde. Keiner von ihnen – nicht einmal Thomas Straud wollte, dass publik wurde, dass es Menschen mit Fähigkeiten wie ihren gab. Das würde nur zu Unsicherheiten führen. Und wozu die Menschen, die von ihnen bereits seit Jahrhunderten gelenkt wurden verunsichern?

Es lebte sich ganz gut im Hintergrund.
 

Sie waren bereits die Herrscher der Welt.
 

Dennoch war Rosenkreuz ein wucherndes Geschwür und es breitete sich aus. Aus einem kleinen überschaubaren Zusammenschluss von fähigen PSI war ein militärisch strukturierter Machtapparat entstanden, der weiter wuchs. Niemand bot dieser Institution Einhalt, weil der Rat kein entsprechendes Signal sandte. Sie waren die Besten der verschiedenen Orden, vereint zu einer schlagkräftigen Einheit, die immer dann gerufen wurde wenn es schmutzig wurde. Es existierte eine Kerngruppe, die aufgewertet wurde durch temporär hinzugezogene Mitglieder, aus anderen Orden. Mittlerweile jedoch waren kleinere Orden komplett integriert worden – zum Wohle und zum Schutz der PSI unter dem Mantel der Trias von SZ. Eine strenge Hand als Führungsfigur war da natürlich obligat. Die alte Trias hatte aus falschen Überzeugungen mit grausamen Methoden ihren eigenen Weg und auch ihren eigenen Untergang eingeleitet und auch jetzt gab es noch Mitglieder die dem alten Regime nachtrauerten.
 

Sie alle waren Relikte einer vergangen Zeit, zerbrochene Spielzeuge der alten Trias. Genetisch verändert, körperlich gebrandmarkt, seelisch zerstört. Straud war stark, er selbst schwach. Eine Galionsfigur nicht mehr. Er selbst wollte nie das werden was er jetzt war – er hatte nie die Führung angestrebt. Er klammerte sich an sein Leben und er hatte Angst zu sterben. Das war der Einzige feige Grund warum er sich dazu entschlossen hatte den Judges den Schutz seines Ordens zu offerieren. Er umgab sich mit Stärkeren um nicht als schwach zu gelten, um geschützt zu sein. Wie erbärmlich war das? Mia wusste es, Bolder ahnte es. Die anderen Judges hielten ihn hoffentlich für das was er darstellen sollte.

Er hatte gelernt zu töten, obwohl es allem widersprach was ihn ausmachte und der Tod jedes Einzelnen den er zu verantworten hatte nahm ein Stück seiner Seele mit sich.

Er musste endlich Erlösung finden, endlich einen Ausweg...

Mit diesen trübsinnigen Gedanken im Gepäck ging er durch die Räume und Korridore ihren Aufenthaltsraum zum Ziel.

„Hast du etwas über Kritiker?“, fragte er dann Stream über den Kommunikator.

„Standortverlagerungen ihrer Teams.“

„Die Familie?“

„Sie haben neue Angriffsziele. Neue Lieferungen.“

„Schwarz?“

„Nichts.“

Alex betrat einen größeren Raum, ihren Aufenthaltsraum, der mit bequemen Sitzgelegenheiten, einem ausladenden Tisch und einer Küchenzeile ausgestattet war. Ihr Essen bekamen sie von ihren eigenen Leuten in der Küche zubereitet und geliefert. Mistral hatte dort die Aufsicht, was Alex nicht unbedingt beruhigte. Keiner von den Judges – außer ihm - beherrschte das Kochen.
 

Alex lächelte als er sah wie Mia, die großgewachsene Judge sich an dem Kochen von Wasser die Finger verbrühte. Ihr fiel es momentan offenbar schwer im Hier und Jetzt zu bleiben. Sie starrte konzentriert in das kochende Wasser.

Er ging hinüber, drehte den Herd ab, nahm ihre Hand vom Rand des Topfes und ihre Finger aus dem kochenden Wasser.

„Laut Anweisung deines Vorgesetzten sind Experimente wie diese hier untersagt. Hast du das vergessen?“

Sie betrachtete sich ihre stark verbrühten, rot geschwollenen Fingerspitzen. „Ich wollte Tee.“

Er nahm ihre Fingerspitzen in seine Hand und bedeckte sie mit seiner anderen Hand. Heftiger Schmerz setzte in seinem Kopf ein als er damit begann die Wundheilung zu beschleunigen. Sie hob das Gesicht und legte den Kopf schief.

„Ich nehme ihn dir“, sagte sie und noch bevor er protestieren konnte spürte er wie er ruckartig ins Dunkel fiel. Seine Realität verschob sich so plötzlich als wischte sie jemand zur Seite. Der Schmerz verblasste, allerdings auch alles andere.

Im nächsten Augenblick stand sie immer noch unverändert vor ihm, die Augen jetzt jedoch pechschwarz.

Sie entzog ihm die Finger ihrer Hand und hielt sie hoch um sie in Augenschein zu nehmen.

‚Gute Arbeit’, sagte sie in seine Gedanken, sich weder um seine Schilde noch um sonst eine Barriere kümmernd. Das war auch nicht nötig, für Mia gab es keine Schranken in der Welt der Gedanken. Ihre Stimme in seinem Kopf formte sich eher durch seine eigenen Gedanken, denn durch ihre. Die Telepathie war nur ein Nebenprodukt ihrer eigentlichen Fähigkeit. Dennoch hatte er bisher nicht wirklich herausgefunden was sie war. Mia war ein Rätsel, das es noch zu lösen galt.

In Alex Wahrnehmung trat Streams Stimme.
 

„Sie sind da.“

„Wer?“ Alex war einen Augenblick lang desorientiert.

„Kimera und Grid. Unterwegs haben sie Viper mitgenommen.“

„Sagtest du nicht sie brauchen eine Stunde bis hierher?“ Wo war Viper gewesen? Dieser Mann war bisweilen undurchsichtig was seine Intentionen anbelangte. Alex sorgte sich nicht übermäßig darum, denn Viper war wie alle Judges von ihm ausgewählt worden und über jeden Zweifel erhaben. Er teilte sich nur ungern mit. Alex kam damit klar und bedrängte ihn nicht. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass es von Vorteil war den Kanadier einfach machen zu lassen.

Alex sah Mia an, die sich ruckartig von ihm abwandte und sich setzte.

„Du solltest regenerieren.“

Dann hat die Heilung eine Stunde gedauert. Und Stream hat ihn eine Stunde lang dabei zugehört wie er...

„Hast du die Schreie gedämpft?“, fragte er Mia und ging zu dem Regal neben dem Herd.

„Ich konnte viele mit mir nehmen.“ Nicht alle - implizierten diese Worte.

Er stockte als er die losen Teeblätter in das Sieb füllte. Nachdenklich übergoss er die Teeblätter und brachte schließlich Mia ihren Tee.

‚Stream?’

‚Ja’

‚War es unangenehm für dich?’

‚Gemäß deiner Anweisung habe ich mich zurückgezogen.’

Da sich Stream den größten Teil des Tages mit ihm telepathisch verband hatten sie eine Vereinbarung getroffen in diesen Situationen die Kommunikationsbrücke zu unterbrechen. Er konnte nur darauf hoffen, dass sich Stream daran hielt.’

Alex setzte sich Mia gegenüber an den Tisch.

„Lass ihn stehen, ich sage dir wenn er bereit zum Trinken ist.“

Sie besah sich die Tasse und ließ den Dampf nicht aus dem Blick.

„Warum hast du nicht den automatischen...“, fing er an, doch sie winkte ab.

„Ich wollte sehen wie es sich verändert. Wie es wütend wird.“

„Wasser wird nicht wütend, Mia.“

„Woher weißt du das?“

Tja, was sollte man darauf antworten?

„Dann hast du es mit Absicht geärgert? Und es hat dich gebissen? Du hast dich beißen lassen. Warum?“

Sie sah ihn plötzlich an und ihre Mundwinkel zuckten, dann fing sie schallend an zu lachen.

Er war sich noch nicht sicher ob er lachen wollte. Dann fing er leise an und schüttelte den Kopf.

„Ich bin auf dem besten Weg dahin verrückt zu werden, Alex. Noch bin ich es jedoch nicht.“

„Schön. Trink den Tee trotzdem erst wenn ich es dir sage“, sagte er und stand kopfschüttelnd auf.

„Du solltest dich hinlegen und etwas schlafen.“

„Das sollte ich wohl“, gab er unumwunden zu. Er musste jedoch noch in seine Räumlichkeiten, die nicht hier im Trakt der Judges lagen sondern in den obersten Stockwerken des Komplexes. Mistral hatte ihm einige Daten überreicht, die durchgesehen und vor allem abgesegnet werden mussten. Es ging um wenig spannende Themen, aber vor allem um Personalfragen, Ausgaben und derlei Dinge, die er übermitteln musste. Er musste vor allem regelmäßig Berichte dem Rat zukommen lassen.

„Ich habe dir die Schmerzen nicht genommen...“, durchbrach Mias leise Stimme seine Gedanken und wandte sich ihr wieder zu.

„Nein, ich weiß. Du hast meine Wahrnehmung nur verzerrt.“

Er fühlte die übliche bleierne Müdigkeit nach einer Heilung. Die körperlichen Unpässlichkeiten konnte er nach all der Zeit gut überspielen.

Stream meldete sich wieder.

„Wir haben eine Anklage.“

„Welcher Art?“

„Diebstahl.“

„Ich kümmere mich darum“, sagte Zeed, der gerade in die Küche kam. Er streckte sich und gähnte. Seine Regeneration schien abgeschlossen zu sein, so munter wie er wirkte. Zeed war ein Telepath, von der wortkargen und eher untypischen Sorte. Er hatte keine Ambitionen in den Köpfen der Menschen herumzuschnüffeln und er war kein bisschen neugierig. Ein eher unauffälliger Mann, dessen Äußeres alles andere als unscheinbar war. Tätowierungen, Piercings und eine Punkfrisur lösten bei Rosenkreuz- Mitgliedern meist abfällige Blicke aus. Alex empfand dieses Verhalten als ungebührlich und ärgerte sich darüber. Zeed war noch nicht lange ein Judge – ihr jüngster Zugang – und noch nicht genügend mit den Fallstricken der politischen Ränkespiele innerhalb der Orden vertraut.

„Sorg dich nicht, Alex“, sagte Zeed und durchquerte den Raum. Er musste Alex Blick richtig gedeutet haben.

„Du gehst persönlich?“, fragte Mia, sah aber nicht von der Betrachtung ihres Tees auf. Sie schien trotz aller Nicht-Verrücktheit gefallen an dem Anblick gefunden zu haben.

„Ich seh mir das lieber an. Es sind zu viele unterschiedliche Ordensmitglieder hier. Die wenigen, die nicht von Somi Handverlesen wurden scheinen mir in der Minderzahl zu sein. Ein ungleiches Machtverhältnis.“

Alex sah ihm nach. Sie alle hatten ein ungutes Gefühl.

Es war ihnen von Anfang an bewusst gewesen, dass es nicht einfach werden würde, aber es war Alex nicht klar gewesen, dass es sich auf den Orden selbst beziehen könnte. Dass Schwarz Schwierigkeiten machen würde, das ja. Nur... war es der Orden selbst, der hier Probleme bereiten könnte? Seine Gedanken glitten zu Schwarz.

„Warum hier?“, fragte Alex nach ein paar Minuten des Schweigens.

„Die Frage habe ich mir oft gestellt.“

„Straud denkt, dass es die Masse an Menschen ist in der es sich leicht verstecken lässt was sie sind.“

„Nein. Das Land ist ein blinder Fleck. Es ist schwierig etwas wahrzunehmen“, erklärte Mia.

„Einen Schild? Wir haben bisher keinen Schild erkennen können.“

„Ich... es ist einfacher wenn man hier ist. Je näher man kommt desto transparenter werden die Strukturen um einen PSI zu ermitteln. Ihre Signaturen werden verwischt. Es ist ein perfekter Ort um etwas oder jemanden zu verbergen.“

„Ein Psychogenisch generiertes Feld?“

„Ja.“

„Wie kann das möglich sein?“

„Technisch möglich. Nur ein PSI kann es erzeugen. Oder – weitaus abwegiger: Es ist natürlichen Ursprungs.“

Alex verwarf die zweite Möglichkeit. Bisher war etwas derartiges noch nicht vorgekommen – oder erforscht worden.

„Aber welcher PSI? Der gleiche, der das Kraftfeld um Sabin erzeugt?“

„Die gleiche Profession.“

„Nicht konvertiert?“

„Ein Runner wäre dazu in der Lage. Allerdings nur wenn er entsprechend befähigt ist.“

Ihr Wissen über diese seltene Profession war dürftig.

„Dann weiß Crawford um diesen Schild und ist deshalb hier geblieben?“, murmelte Alex.

„Welche Beweggründe der Hellseher hatte um hier zu bleiben ist mir nicht bekannt.“

„Wer weiß schon was in diesem Kopf vorgeht.“ Alex lehnte sich an die Küchenzeile und verschränkte die Arme.

„Du hattest Kontakt.“

„Mastermind schützte ihn. Ich hatte keine Gelegenheit ihm meine Beweggründe mitzuteilen. Nicht mit Superbia als Vermittler.“

„Weil er ein gemeinsamer Spion von Somi und dir war?“

„Ich habe meinen Apell allgemein gehalten. Dass Superbia in eine Falle gelaufen war habe ich nicht kommen sehen. Es hätte mich auch gewundert, wenn Crawford nicht davon gewusst hätte. Crawfords eigener Spion im Clan hat mich überrascht. Es war ein Lockvogel und Superbia lief ihm in die Falle. Zugelassen hatte das der Hellseher nur um mir mitzuteilen, dass ich ihn in Ruhe lassen soll.“

„Wir können sie nicht in Ruhe lassen.“

„Nein, können wir nicht.“

„Das Mandat ist für mich eindeutig. Ich habe den Auftrag verstanden. Die anderen Judges auch. Wir folgen dir.“

„Die Umsetzung ist trotzdem schwierig, ich fürchte eine Abspaltung.“

„Du fürchtest sie? Oder erhoffst sie?“

Er sah auf und ihre dunklen Augen wurden bereits an den Rändern wieder heller.

„Beides. Auf diesem Weg wird es keine Zukunft für uns geben.“

„Wir können ihn nicht zur Führung zwingen.“

„Ich weiß nicht was geschieht wenn er sich weigert. Es wäre bedauerlich.“

„Der Rat ist unantastbar. Sie finanzieren die Orden. Sie schützen unsere Identitäten.“

„Keiner weiß wer diese Frauen und Männer sind, Mia. Wir sind ihre Augen und wir sind ihre Hände. Wir setzen ihre Ideen in die Tat um. Wir wurden ausgewählt um in dieser schwierigen Zeit zu führen und dennoch sind wir nicht ihre erste Wahl gewesen. Straud ist charakterlich nicht geeignet, ich bin es ebenfalls nicht.“ Zumal er sich nicht sicher war ob sie noch mit einer Stimme sprachen, er fürchtete einen Disput innerhalb des Rates und die Auswirkungen auf sie alle.

„Und Crawford soll es sein? Er ist ein Auftragsmörder.“

„Dazu hat ihn die Trias getrieben.“

„Nein, er sollte lediglich Kitamura und dann Takatori überwachen. Zum Mörder wurde er erst danach.“

„Aber warum ausgerechnet hier? Warum wollten die Alten hierher? In diesem Land hatten sie den meisten Gegenwind. Es muss einen Grund gegeben haben.“

„Vielleicht weiß es der Hellseher.“

„Du kannst den Tee trinken, Mia“, sagte dann Alex. Mia nahm die Tasse in die Hand und nahm einen Schluck.

Sie schwiegen wieder.
 

„Du kannst ihn nicht zwingen.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und sah ihn forschend an.

„Nein, das kann ich nicht.“

Mia stellte die leere Tasse ab.

„Ich spreche nicht vom Hellseher.“

„Ich weiß von wem du sprichst.“

„Wie willst du ihn überzeugen? Du könntest dich öffnen.“

Alex seufzte ungehört. „Das wird zwangsläufig darauf hinauslaufen. Ich kann es nicht verhindern.“

„Warum? Weil deine Verzweiflung so groß ist?“

Er wich ihrem Blick aus.

„Er ist ein Kind, Alex.“

„Wir wissen zu wenig von ihm. Die Unterlagen sind alle verschwunden, es existiert kein Bericht mehr im Archiv. Ich weiß nur noch, dass er im Kindesalter von SZ aufgesammelt wurde. Später wurde er mit Crawford zusammen hierher beordert. Ich schätze ihn auf fünfzehn Jahre.“

„Jung.“

Alex lehnte sich vor. Er stützte die verschränkten Arme auf dem Tisch ab. Dann fuhr er sich frustriert übers Gesicht.

„Ich weiß“, sagte er resigniert und stand auf um sich selbst einen Tee aufzugießen.

Während dieser zog lehnte er sich an die Anrichte und betrachtete sich Mias Hinterkopf.

„Er wird nicht kooperieren, ist nicht mehr formbar genug, ich kann keine Veränderungen mehr bewirken, dazu ist er trotz seiner jungen Jahre zu alt.“

Mia schüttelte bedauernd den Kopf und nahm erneut einen Schluck aus ihrer Tasse.

„Er ist zu jung für eine Bindung. Hast du die Ausschläge gesehen?“

„Ja.“

„Er wird dich zerschmettern. Ein Kind der Zerstörung, ich fürchte er hat keine moralische Erziehung genossen, weder bei der alten Trias noch bei Schwarz.“

„Ich werde es dennoch versuchen.“

„Wie willst du das bewerkstelligen?“

Er schwieg. Was sollte er sagen?

„Er ist die Hoffnung auf die du diese ganze Jagd aufgebaut hast. Dein ganzes Bestreben seit die Trias das Zeitliche gesegnet hat lief darauf hinaus. Wie viele Telekineten hast du seither in Augenschein genommen?“, fragte sie ihn und er fühlte sich einer Predigt ausgesetzt, oder war es ein Apell an seine Vernunft? Er lächelte müde.

„Viele. Es waren zu viele gewesen. Darunter eine ganze Reihe Destroyer.“

„Du hast dich ihren Angriffen ausgesetzt in der Hoffnung sie könnten dich von der Fessel befreien.“

„Armselig, ich weiß.“

„Nein, es wirkt verzweifelt.“

„Er ist der Einzige, dem ich es zutraue.“

„Straud kennt deine Beweggründe nicht.“

„Und dabei sollte es bleiben.“

„Gemessen an ihrer Zerstörungsmacht hat der Hellseher die gefährlichsten PSI die es seit... langer Zeit gegeben hat um sich versammelt. Prodigys Fähigkeiten sind enorm. Unsere Späher haben den letzten Ausschlag als verheerend bezeichnet. Das Gebiet ist zerstört. Wie willst du etwas das solche Verheerung anrichten kann und nicht auf unserer Seite steht von deinem Anliegen überzeugen? Und das mit moralisch unbedenklichen Mitteln?“

„Ich versuche es.“

„Und wirst dabei sterben.“

Alex schwieg. Er trug Verantwortung, wenn er aus eigennützigen Gründen starb riss er andere mit sich in den Tod.

„Eine Bindung dieser Art wird für dich nicht einfach sein. Du willst dich dem Gutdünken eines unreifen Kindes mit einem zu großen Ego aussetzen? Er weiß vermutlich überhaupt nicht was du ihm anbietest. Willst du wirklich der Sklave eines Kindes werden, das über die Macht verfügt Städte dem Untergang zu weihen?

Mastermind hat sicher seinen Teil beigetragen um dich in keinem positiven Licht darzustellen.“

„Das hat er mit Sicherheit. Wenn ich zurückdenke, dann nicht zu unrecht. Ich muss es versuchen, ich kann in diesem ‚Zustand’ nicht mehr leben.“

„Sterben auch nicht“, gab Mia im Hinblick auf seine Fähigkeiten zu bedenken.

Mia erhob sich. Sie ließ ihre Tasse zurück.

„Wohin gehst du?“, fragte Alex, nicht wirklich neugierig, die Judges wussten was sie taten.

„Eine alte Sache klären.“

Bevor sie den Raum verließ blieb sie stehen und wandte sich ihm halb zu.

„Das wird... hässlich.“

„Ich vertraue dir“, erwiderte er.

„Ich brauche eine Verbindung zum Rat.“

„Geh zu Stream.“

Sie nickte.

„Wirst du es mir erzählen?“

„Das wird unumgänglich werden.“
 


 

o
 


 

Firan fürchtete vieles in der Zwischenzeit, vor allem aber fürchtete er es aufzuwachen. Es blieb jedoch nicht aus, dass er die Lider vorsichtig hob und durch das schattenhafte Zwielicht seiner Wimpern hindurch sein verschwommenes Umfeld sondierte. Unverändert meldete sein verschlafener Verstand ihn noch immer in Gefahr. Er schloss die Augen wieder und drängte sich näher an die Wand.

Er war nicht nur dumm und unfähig, sondern auch viel zu zäh die letzten Jahre geworden. Vorsichtig versuchte er sich zu bewegen, scheiterte aber kläglich an der Kette die ihn band. Sein Hals lag dicht an einer Wand und er konnte sich nicht hinlegen, er musste in einer kauernden hockenden Haltung bleiben. Er spürte sein Haar, wie es tröstlich um ihn floss, und ihn etwas wärmte. Noch immer war er in diesem seltsamen Zimmer, ihn dass ihn Beltrami mitgenommen hatte. Seine Hände waren zusammengebunden. Er wischte sich den Speichel von seinem Kinn und schluckte vorsichtig den Rest hinunter. Alles an seinem Körper schmerzte ihn, selbst die mühsamen Atemzüge.

Er versuchte wieder in den Schlaf zu finden, denn er war müde, so entsetzlich müde. Seine Knie taten ihm weh, seine Kehle fühlte sich wund an. Das schlimmste jedoch war das unbändige Verlangen nach Wasser, er hatte entsetzlichen Durst.

Lange saß er dort und dachte an gar nichts, denn in seinem Leben brachten Gedanken nur Schwierigkeiten, bis er zusammenzuckte als von nebenan Lärm zu hören war. Eine Tür wurde zugeschlagen, dann Stimmen laut.

„... dieser Erlass trat vor vier Stunden in Kraft!“

„Ich war in die Verhandlungen eingebunde...“

„Das ist unerheblich und kein Argument. Die Durchsuchung eurer Räumlichkeiten nun unvermeidbar.“

„Was bildest...“

Dann wurde es kurz still und Firan lauschte angespannt.

„Wir mussten ihn disziplinieren. Seine Dienste sind untragbar.“

„Das ist bedeutungslos für meine Rechtsprechung. Er gehört ab jetzt den Judges.“

„De la Croix hat hier keine Handhabe.“

„Der Erlass kam vom Rat. Ich habe übergeordnete Handhabe in diesem Fall.“

„Vom...Rat?“

„Möchtet Ihr mich an der Ausübung meiner Pflicht hindern?“

„Nein... ich...“

Schwere Stiefelabsätze durchquerten den Raum, dann flogen beide Flügel der Tür auf als hätte jemand dagegengetreten.

Firan sah durch seine Haare hindurch und erkannte wie jemand Großes mit schweren Stiefeln das Zimmer durchquerte und auf ihn zukam. Ein paar Meter vor ihm blieb die Gestalt stehen.

„Macht ihn los.“

Firan blinzelte und bewegte den Kopf um besser sehen zu können. Das war doch Judge Mia. Und sie war wütend. Ihre Stimme vibrierte vor dunkler Wut.

Beltramis Assistentin kam herbei, ließ sich aber Zeit damit. Sie war die letzten Stunden bei der Disziplinierung durch Beltrami dabei gewesen und Firan hatte den Eindruck gehabt, dass sie es genossen hatte ihn leiden zu sehen.

Judge Mia packte die Frau im Nacken und zog ihren Kopf dicht heran. „Seine Kleidung. Hol sie.“

Die Frau löste die Kette und entfernte alle Dinge, die ihn banden. Dann ging sie rasch aus dem Raum.

„Ihr – Beltrami – bekommt eine Verwarnung. Eine Bewährung. Finde ich erneut ein Mitglied des Rabenordens in eurer Obhut werdet ihr dem sofortigen Tod überantwortet. Entlasst die Frau aus euren Diensten, sie gehört ebenso dem Rabenorden an.“

„Dieser hier ist der Unfähigste von allen. Was wollt ihr bloß mit ihm?“

„Über ihn wird geurteilt werden.“

„Was wird ihm zur Last gelegt?“

„Unerlaubtes Eindringen in einen gesicherten Bereich. Diebstahl von Informationen, deren Weitergabe an Außenstehende und somit Verrat an der Institution und ihren Werten.“

Firan wurde kalt.

„Ein Spion?“

„Der Cluster hat einen unerlaubten Zugriff verzeichnet. Ohne unsere Anwesenheit wäre dieser Vorfall nicht entdeckt worden.“

„Dann war mein Werk nur der Anfang. Ich wusste doch, dass es eine kleine verlogene Ratte ist.“

Die Frau kam wieder und warf ihm seine Kleidung hin. „Hilf ihm.“

Er wollte protestieren, denn er wollte ihre Hände nicht mehr auf seiner Haut spüren, doch er schwieg, wie so oft in der Vergangenheit kam kein Laut über seine Lippen.

Wie einer Puppe zog sie ihm sein Hemd und seine Hose an, und Firan konnte ihr kaum dabei helfen so ruppig ging sie zu Werke. Er stand gebückt auf, sein Körper war steif und ungelenk. Er kämpfte den Schwindel nieder bis er endlich vor Judge Mia stand. Zögerlich und ehrfürchtig sah er zu ihr auf und wurde mit einem grimmigen Blick konfrontiert. In der Dunkelheit des Zimmers konnte er die Düsternis, die sie verströmte auf seiner Haut spüren, oder war es seine Angst vor dem Mann und der Frau?

Judge Mia kam zu ihm und zog aus ihrer Manteltasche Fesseln und einen Kontrollring. Sie legte ihm beides ruppig an und packte ihn im Nacken.

Er ging, wobei sie ihn eher stützte als behinderte.
 

Sie verließen die Räumlichkeiten und auf ihrem Weg hinunter zu den Judges begegneten sie vielen Mitgliedern, die ihn gefesselt und geschändet sahen. Er schämte sich bis tief in seine Seele hinein.

Unten angekommen traten sie in den Trakt der Judges ein. Er sah kaum wohin sie gingen, so betäubt fühlte er sich.

Dann blieben sie stehen und Judge Mia öffnete eine Tür.

Eine spartanische Einrichtung empfing sie. Firan erkannte ein großes frisch bezogenes Bett und eine Tageslichtsimulation suggerierte eine Szenerie von einem Wildbach im Wald.

Sie löste die Fesseln.

„Das Bad ist links von dir. Du bleibst hier, bis ich ein Urteil gesprochen habe.“

Er drehte sich rasch um, da sie bereits auf dem Weg nach draußen war.

„Bitte... verehrte Judge Mia. Ich...“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Schweig“, sagte sie milde. „Ruhe und iss etwas. Genese. Du bist hier sicher.“

Die Tür fiel ins Schloss, die Verriegelung fuhr in die Wand ein.

Für ihn brauchten sie keine solchen Maßnahmen. Er war doch harmlos.

Firan ging zunächst nach nebenan um sich endlich erleichtern zu können. Dann sah er zu dem Bett. Er wollte sich nur hinlegen, aber die Bezüge sahen neu sauber und weich aus. Er war schmutzig.

Also legte er seine Kleidung ab und wusch sich unter der Dusche gründlich. Er füllte ein Glas Wasser, löschte seinen Durst damit. Dann wickelte er seine langen Haare in ein Badetuch, schlüpfte in den Bademantel der im Badezimmer hing und ging mehr schlecht als recht zum Bett. Er krabbelte mühsam unter die Decke und schloss die Augen. Er löschte das Licht mit einem verbalen Befehl und die Nachtsimulation sprang an. Eine Eule war zu hören und der Bach rauschte leiser. Es war tröstlich.
 

Er hatte fest geschlafen, als er erwachte stand eine Person im Zimmer, er bemerkte sie sofort. Erschreckt fuhr er hoch, das Handtuch rutschte von seinem Kopf und er krächzte um das Licht ein paar Nuancen zu erhellen. Der Computer erkannte wohl keine Stimme, denn von seinem Besucher hörte er ein kühles „Licht, Stufe vier.“

Firan beschattete seine Augen. Er erkannte die Stimme und noch bevor das Licht sanft auf die gewünschte Helligkeit hochfuhr krabbelte er geschwind aus dem Bett, ließ sich auf die Knie sinken und legte die Stirn auf den Boden. „Hochverehrter Judge De la Croix. Ich grüße euch.“

Er sagte nichts und Firan wartete. Er fürchtete sich nicht vor ihm, denn er war ein Judge und daher über alle Untaten erhaben. Er würde ihn verurteilen, aber nach ihren Gesetzen, er würde nicht ungerecht über ihn richten. Und er würde das Urteil schnell vollziehen. Firan vertraute und verehrte die Judges. Er wollte immer zu ihnen gehören dürfen, aber dafür war er nicht stark genug. So wartete er geduldig.

„Steh auf und leg den Bademantel ab.“

Firan stand so schnell es ihm möglich war auf und zog sich aus.

„Sieh mich an.“

Firan hob den Kopf und hob seine Lider. Wie stets wenn er den Obersten der Judges sah empfand er ihn als unheimlich und außerhalb jedweder Norm. Seine verschiedenfarbigen Augen, die europäisch anmutende Gesichtszüge, dagegen stand die dunkle Hautfarbe, die ihn exotisch aussehen ließ. Er trug eine schwarze Hose und ein schwarzes enganliegendes Shirt, eher lässig in ihren Kreisen, wenn da nicht der Waffenrock ab der Hüfte wäre, der bis zu seinen Knien reichte.

Er kam auf ihn zu. „Ich untersuche dich jetzt, dafür werde ich dich berühren. Antworte mir auf meine Fragen ehrlich.“

„Ja, Sir. Das werde ich“, sagte Firan und sah ihn vertrauensvoll an.

„Neige den Kopf nach hinten.“

Judge de la Croix legte seine Hand an die Stirn und Firan spürte Bedauern und Wut als Übertragung. Sein Hinterkopf lag in der Hand des Judges. Er strich über seine Stirn, berührte jedes Fleckchen Haut. Sogar seine Lider, seine Lippen, seine Wangen.

Er richtete seinen Kopf wieder auf. „Leg dich bitte aufs Bett.“

Jeder freie Fleck seiner Haut wurde sanft aber fest berührt und bestrichen. Firan bekam eine Gänsehaut. Und etwas geschah in seinem Unterleib. Dort zog sich alles zusammen. Mit Entsetzen erkannte Firan, dass er erregt war.

„Was... was macht ihr, Sir?“, fragte er unsicher geworden. Der Judge hatte das Handtuch seiner Haare über seinen Schritt gelegt, dort hatte sich ein kleiner Hügel gebildet.

„Ich berühre dich.“

„Ich fühle mich komisch.“

De la Corix Blick ging in seine Körpermitte und dann sah er in Firans Gesicht. Es fühlte sich heiß an.

„Wie lange bist du in Somis Diensten?“

„Seit ich neun bin, Sir. Seit zehn Jahren.“

„Hast du Freunde?“

„Nein, Sir. Mein Herr wollte das nicht.“

„Dann hattest du bisher keinen Geschlechtsverkehr?“

„Doch Sir. Mein Herr hat mich in diese Fertigkeit eingewiesen. Ich hatte zahlreichen Geschlechts...ver...kehr“, brachte er etwas ungelenk heraus.

„Und dann warst du nicht erregt dabei?“

„Nein. Sir. Mein Herr wünscht das nicht.“

„Hast du dir nie selbst Erleichterung verschafft?“

Firan überlegte um Gewissenhaft antworten zu können. „Doch vor ein paar Jahren, mein Herr hat mich dafür gerügt und mir verboten es erneut zu tun. In regelmäßigen Abständen las er meine Gedanken um mich vor einer Lüge zu schützen, Sir.“

„Hat er das gesagt?“

„Ja, Sir.“
 

Der Judge erhob sich als er fertig war.

„Du hast zwei Rippenbrüche, ein paar Prellungen, eine Gehirnerschütterung und viele Hämatome.“

„Ja, Sir.“

Firan fragte nicht nach wie der Judge das herausgefunden hatte, womöglich hatte er es irgendwie durch die Berührung gelesen. Niemand wusste genau welche Fähigkeiten der Erste der Judges hatte, aber es war über jeden Zweifel hinaus der Stärkste von ihnen. Sonst wäre er kaum der Erste geworden und die anderen Judges folgten ihm ohne zu zögern.

„Judge Mia und ich haben ein gemeinsames Urteil gefällt. Der Rat missbilligt das Verhalten deines Herrn aufs Schärfste. Dennoch bist du derjenige der ein Urteil erhalten wird. Wir exkommunizieren dich. Du wirst bis auf Weiteres aus dem Orden ausgeschlossen.“

Firan durchfuhr es eiskalt, mit geweiteten Augen setzte er sich auf. „Sir... ich... würde den Tod vorziehen, bitte.“ Er bemühte sich laut zu sprechen, aber es war immer noch sehr dürftig.

Der Judge wandte sich ab. „Du hast keine Möglichkeit auf Widerspruch. Das Urteil wird in ein paar Stunden vollstreckt.“

„Darf ich fragen wie, verehrter Judge?“

„Nein, du musst es abwarten.“

„Ich... ich weiß nicht was ich tun soll“, flüsterte er mehr zu sich.

Er war geschockt. Exkommunikation bedeutete die grausamste aller Strafen. Er wurde auf unbestimmte Zeit eingesperrt ohne Kontakt, ohne Freiheit, ohne... alles, bei vollem Bewusstsein. Warum hatte er das verdient? Womit? Was hatte er falsch gemacht? Und es würde vor Zeugen stattfinden.

„Schlaf noch ein wenig. Wir werden dir angemessene Kleidung bringen.“

„Ja, Sir.“ Firans Stimme war nur mehr ein Hauch als er auf seine Hände starrte und hörte wie die Tür zufiel. Er fing an zu weinen, heiße Tränen rollten über seine Wangen und tropften von seinem Kiefer auf seine ineinander verkrampften Hände.
 

Er hörte den markerschütternden Schrei vor der Tür nicht mehr, dazu war die Abriegelung zu hermetisch.

Bolder löste sich aus seinem Alkoven und setzte sich auf. Die hellen Augen richteten sich auf die offene Tür und er erhob sich. Er ging mit langsamen Schritten in den Korridor. Dort sah er De la Croix mit wutverzerrtem Gesicht stehen, nur mühsam um Fassung ringend.

„Boss?“

„Dieses widerliche Schwein“, zischte De la Croix. „Vor unseren Augen, vor unser aller Augen...“, fuhr er fort.

„Teile deine Gedanken, Judge“, forderte Bolder ein. Und ihrem Gesetz nach musste selbst Alex dem folgen. Es war unerlässlich um ein gewisses Maß an Sachlichkeit aufrecht zu erhalten. Alex nickte und senkte seine Schilde, er hatte ohnehin kaum Geheimnisse vor dem engen Kreis der sich um ihn scharte. Bolder las die Gedanken und die Erinnerungen die er die letzten Minuten gesammelt hatte und zog sich dann zurück.

„Du beugst dich dem Rat?“

„Ich vertraue dem Rat.“

„Sie kennen nicht alle Fakten.“

„Nein, aber die Mitglieder des Rates vertrauen den Spielern.“

„Den Spielern?“

„Ja. Uns.“

„Das ist ein Spiel?“

„Für den Rat ist es das.“

„Sie gaben Mia zu verstehen, dass es für diese Taten keine Rechtfertigung gibt, sie aber auf Straud im Augenblick nicht verzichten können. Straud intrigiert gegen mich. Sie überließen uns die Wahl des Urteils weil sie uns vertrauen und sie wissen das wir gerecht urteilen werden.“

„Das ist kein gerechtes Urteil.“

„Nein, gerecht wäre es Straud den Kopf abzuschlagen.“

„Das wäre eine Möglichkeit, sie wäre jedoch zu schnell.“

Alex sah Bolder an, der ihn ernst und sachlich anblickte.

„Wir können nur diesen Weg gehen. Der Junge wird exkommuniziert.“

„Wann?“

„In ein paar Stunden.“

„Wie lange?“

„Auf unbestimmte Zeit.“

„Vor Zeugen?“

„Ja.“

„Wer?“

„Beltrami, Straud und Salou.“

„Geschickt.“

„Hmm... vielleicht.“

„Der Junge ist eine Figur in diesem Spiel.“

„Dieses Spiel geht schon zu lange. Ich habe es nicht begonnen.“

„Du bist ein guter Spieler.“

„Nicht der Beste. Die Besten haben sich davongemacht, Bolder.“

„Du weißt nicht ob du es gewinnen kannst“, stellte der Hüne mit einer feinen Note Erstaunen fest.

„Ich werde es nicht gewinnen. Das steht fest.“

„Zeed und ich werden dir helfen.“

„Helft Mia. Sie bereitet die Exkommunikationskammer vor.“

„Dann ist sie in den Tiefen?“

„Ja.“

Bolder schritt an ihm vorbei, zog Zeed unterwegs aus seiner Regeneration, was dem Schlankeren Mann zwar nicht behagte, denn er schlief noch halb, aber er brachte seine Beine unter sich und Bolder ließ ihn los als er sich den Schlaf aus den Augen reibend neben ihm her trottete.“
 

Alex sah ihnen nach. Zeed hatte noch nicht einmal gefragt um was es ging.
 


 

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Firan wurde Stunden später erneut wach und sah sich um. Das Licht war aus, nächtliche Waldgeräusche begleiteten sein gänzliches Wachwerden und er schwang die Beine aus dem Bett. Kurz dachte er, er hätte verschlafen und sein Herr würde gleich zornig über ihn herfallen, aber nichts geschah und eine seltsame Erleichterung hatte ihn erfasst. Trotz dem was die nächsten Stunden auf ihn zukommen würde fühlte er sich gelöst. Dieses Martyrium würde ein Ende haben, auch wenn ein anderes es ablöste. Vielleicht würden sie gnädig sein und ihn schlafen lassen, dann musste er die Strafe nicht wach erdulden.
 

Er erhellte das Zimmer und sanftes Vogelgezwitscher erklang. Neben dem Bett stand ein Stuhl und auf diesem lag ein Bündel Kleider.

Zunächst ging er ins Badezimmer und besah sich sein Gesicht. Sein linkes Auge war fast zugeschwollen und hatte sich dunkelrot verfärbt, am ganzen Körper hatte er rote Striemen und dunkelrote Flächen, die teilweise aufgeplatzte Haut war trocken und geschwollen. Seine Haare, die er sonst glatt zu tragen hatte, wie sein Herr sagte, wallten in unordentlichen dicken Wellen bis zu seinem unteren Rücken. Er band sie sich zusammen um sie nicht erneut zu nässen und duschte sich dann.

Nachdem er fertig war besah er sich die Kleidung und schlüpfte in die etwas ungewohnten Stücke. Er hatte noch nie eine Lederhose getragen und die Stiefel die neben dem Stuhl standen hatte er auch noch nie besessen. Sie waren aus dünnem Leder gearbeitet und besaßen Schnallen an den Seiten und reichten ihm bis über seine Waden.

Dann zog er sich das Oberteil an, es lag eng an und wurde über der Hose und um den Schritt gezogen und erst am unteren Rücken mit Riegeln verschlossen. Das war Judge-Kleidung, er kannte sie vom Sehen. Er rückte den Rollkragen über seinen Halsreif zurecht und zog die seitlichen Riegel an seinen Flanken enger. Das Oberteil hatte an einigen Stellen mit Leder verstärkte Einsätze, vor allem an Bauch, Flanke, dem Oberkörper und der Wirbelsäule.

Dann lag dort noch eine Jacke, es war ein anderes Material als Leder, Metallfäden und schwerer Stoff fühlten seine Hände. Er zog die Jacke an, die ihm bis zur Hüfte ging und tailliert war. Die Jacke ging jedoch nicht ganz zu, Lange Riegel reihten sich aneinander, sie bildeten wohl den vorderen Teil der Jacke. Er verschloss sie nacheinander und so ergab sich eine Art Brustpanzer. Wozu brauchte er eine derartige Kleidung wenn er doch ohnehin nur eine lange Strafe antreten würde? Ihm kam der Gedanke, dass die Judges vermutlich keine andere Kleidung besaßen und sie ihm nur das gegeben hatten was sie hatten.
 

Die Entriegelung der Tür sprang an und er straffte seine Gestalt, sah ihr mutig und gefasst entgegen.

Judge Mia trat ein und besah sich ihn. „Binde dein Haar zusammen.“

Er eilte ins Badezimmer und spürte wie die Jacke, die zuvor noch steif war langsam durch seine Körperwärme flexibler wurde. Er band seine Haare in einen schnellen Zopf. Dann kam er wieder in den Raum.

„Begleite mich.“

Er ging hinter Mia her und besah sich das goldene Emblem auf ihrer eigenen Kleidung. Das Zeichen der Judges, ein goldenes, stilisiertes Kreuz.

Sie gingen Treppen hinunter, dann in einen Aufzug der hinab führte, dann wieder einige Stufen bevor sie in eine riesige Höhle gelangten. Es war gespenstisch. Ein unwirkliches kühles Licht ging von einem Platz aus, der wie ein Landeplatz für Helikopter beleuchtet war. Die Beleuchtung kam von Lichtleisten um das Areal. Am Rand des Platzes standen drei Gestalten. Firan schluckte als er sie erkannte. Sie kamen den drei Gestalten näher.

„Ich verlange Genugtuung!“, bellte Somi. Sein Gesicht war gerötet, der Blick hasserfüllt auf ihn gerichtet.

„Ihr hattet eure Genugtuung. Ganze vier Stunden lang, möchtet ihr das bestreiten?“

Er erwiderte nichts auf Mias Zurechtweisung.

„Wem hat er Informationen zugespielt? Woher wusstet ihr das?“

„Es ist meine Aufgabe dies zu wissen“, entgegnete Mia unbeeindruckt.

„Sein Kontakt wurde heute im Laufe der letzten Stunden von mir verurteilt. Deshalb die Verzögerung des Rituals.“

Was redeten sie nur? Es hörte sich an als ginge es um ihn. Aber er hatte niemanden etwas erzählt. Wem auch? Bekümmert stand er da und ließ den Kopf demütig sinken.

„Er war mein Assistent. Er hatte viele Möglichkeiten Informationen zu sammeln und sie weiterzugeben!“

„Nun. Dann seid ab jetzt vorsichtiger mit der Wahl eures Stabes.“

Mia ließ ihn stehen und ging ein paar Schritte um ein Tableau zu bedienen. Plötzlich fühlte sich Firan schutzlos vor den Dreien die in einigen Metern Abstand vor ihm standen.

„Wem hat er Informationen zugespielt?“

„Ich denke, dass der Mann, den ich verurteilte Kritiker angehört hat.“

„Diese lästigen...“, fing Beltrami an.

„Du wirst dich darum kümmern“, wies Somi ihn an.

„Sofort, sobald wir dieses kleine Ding unter die Erde gebracht haben.“

Firan zuckte kurz zusammen, verhielt sich aber still.
 

Die Bodenplatten fuhren zur Seite und ein länglicher Behälter kam nach oben. Die obere Abdeckung glitt nach oben weg und der Behälter kippte leicht nach vorne.

„Ich fordere immer noch eine endgültige Lösung!“ Das war Somi.

Mia kam zu Firan zurück. Sie blieb neben ihm stehen.

„Möchtet ihr das Urteil anfechten?“

Somi sah von Firan hoch zu Mia, die ihn unverwandt anblickte.

Firan bekam große Augen.

Niemand focht ein Urteil von Mia an. Es sei denn er wollte ernstlich in Erwägung ziehen dem Tod ins Auge zu blicken.

„Nein. Dennoch lege ich beim Rat Protest ein.“

„Das steht euch frei.“
 

„Geh und leg dich in die Kammer“, sagte Mia.

Firan sah zu wie seine Beine sich in Bewegung setzten. Er war wie betäubt. Sie musste ihm helfen sich in die Kammer zu legen. Es fühlte sich seltsam weich an. Der Kunststoff, der wie Silikon aussah begann sich zu bewegen als er lag und umschloss langsam die Silhouette seines Körpers. Es dauerte einige Momente bis die obere Abdeckung wieder nach unten fuhr und sich sein Gefängnis verdunkelte. Er wurde nach unten gefahren und sonst wo hin. Er fuhr lange bis es erneut ruckelte und dann alles stillstand.
 

Dunkelheit und absolute Stille umhüllten ihn. Sein geschwollenes Auge wollte nicht mehr aufgehen, er befühlte es. Alles war taub. Firan begann wieder zu weinen.

Und er weinte lange bis er schließlich einschlief.
 

Mia sah den zwei Männern und der Frau nach als sie die tiefste Kammer verließen.

Sie stellte einen künstlichen Schlafmodus in Firans Kammer ein und folgte dann den anderen nach oben. Sie geleitete sie aus den Gefilden der Judges hinaus und wartete bis die Tür hinter ihnen zufiel.
 

Bolder und Stream traten neben sie.

„Ich verstehe nun warum der Rat darauf bestanden hat die obersten Judges hier zusammen zu finden“, sagte Zeed.

„Der Hellseher ist in Gefahr“, stimmte Bolder ein.

„Nicht nur er“, sagte Mia düster.

„Teile dich mit“, forderte Bolder.

Mia neigte den Kopf und verzog den Mundwinkel zu einem eisigen Lächeln.

„Das willst du nicht, glaube mir.“

„Ich sagte nicht, dass du mir deinen Geist öffnen sollst, verehrte Mia“, sagte er mit einem höflichen Lächeln.

Sie nickte.

„Seit wir hier eingetroffen sind habe ich mir die Listen der Mitglieder angesehen. Straud hat primär seine eigenen Getreuen mit in dieses Land gebracht. Mehr als 150 Mann, die ihm treu folgen. Alex ist ihm ein Dorn im Auge. Seit achtsam, ich bezweifle, dass er Schwarz öffentlich befragen wird.“

„Was soll mit ihnen geschehen?“

„Der Rat will sie persönlich befragen. Nur deshalb wird diese Jagd veranstaltet. Und wir sollten dafür Sorge tragen, dass Straud sich an die Regeln hält.“

„Was er nicht tun wird.“

„Was zu bezweifeln ist“, pflichtete Mia Bolder bei.
 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Gadreel ^_^

Wicked Game

Wicked Game
 


 

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Zur selben Zeit...
 

Das kalte Licht der Monitore war Brads einzige Lichtquelle. Er saß im Halbdunkel in der Nähe der Fensterfront und hielt die Augen geschlossen. Vor ihm standen mehrere Döschen, aus denen er sich jeweils zwei Tabletten entnahm, die er mit gutem schottischen Wiskey seine Kehle hinunterspülte. Er hatte die Kontaktlinsen gegen seine Brille getauscht, was seinen Sehorganen etwas Ruhe verschafft und ihm somit etwas Erleichterung geschenkt hatte. Das Brennen seiner Augen war dadurch nicht mehr ganz so prägnant. Die lästige Sehhilfe legte er auf den Schreibtisch ab und lehnte sich dann zurück in das weiche Leder.

Eve würde in ein paar Momenten anklopfen und er würde sie hereinbeten. Sie würden nicht streiten, sie würde gehen, weil er sie darum bitten würde, nicht weil sie es gerne tat. Hidaka würde sie begleiten.
 

Es wurde immer schwerer seine eigene Anspannung vor Jei zu verbergen. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, das Mädchen im Augenblick im Haus zu behalten, doch dann wäre er selbst ebenso eingeschränkt gewesen und das konnte er sich gerade jetzt nicht leisten.

Ohnehin schritten die Ereignisse immer schneller voran. Warum das so war wusste er nicht. Irgendjemand hatte eine Handlung getätigt oder sie unterlassen um diese Ereigniskette in Gang zu setzen. Aber was war das gewesen? Es musste vor kurzem gewesen sein.

Hatte er selbst einen Fehler begangen? Weshalb diese schnelle Entwicklung zum jetzigen Zeitpunkt? Er hatte gedacht, dass er noch Zeit hatte.
 

Er musste sich eingestehen, dass die wenigen Momente, die er bei Asugawa verweilte die einzigen waren die ihm im Augenblick Entspannung schenkten. Auch wenn er bisher darauf geachtet hatte, dass dieser weder seine Berührungen geschweige denn seine bloße Anwesenheit während des Schlafes bewusst bemerkte. Und wenn, dann glaubte er wohl an einen Traum, denn er versuchte keine aktive Annäherung an ihn. Dabei war es für Brad sinnlos geworden sich zu weigern diese Nähe zuzulassen.
 

Den Rest des Tages verbrachte er damit Visionen in seinem Kopf zu sortieren und sie zu bewerten. Immer mehr von ihnen kippten in eine leere, für ihn einsame Dunkelheit ab. Er fragte sich wie er etwas fühlen konnte wenn er in diesen Visionen seinen Tod vor Augen hatte? Hatten alle Seher aus vergangen Zeiten ihr Ende in dieser Plastizität vor Augen gehabt? Wie konnte er fühlen wenn sein Gehirn tot war? Rein anatomisch und physiologisch ein unmöglicher Vorgang, selbst für einen PSI. Fühlte er in diesen Visionen real etwas, oder löste die Dunkelheit der Zukunft das Gefühl der Einsamkeit im Hier und Jetzt in ihm aus? War es das Bedauern über seine Unfähigkeit Gefühle für seine Mitmenschen zu zeigen, das ihn jetzt in seinen letzten Stunden zu quälen begann?

Angst war es und Einsamkeit, doch diese zu zeigen, jetzt wo noch so viel zu tun war, was sollte das bringen? Seine Gefühle zu teilen barg nur Spielraum für Abweichungen und diese konnte er sich nicht leisten wenn er wollte, dass er beruhigt gehen konnte. Eben weil er wusste, dass für alle gesorgt war und sie in Sicherheit waren. Eve, Hidaka, Tsukiyono, Lilli, sie würden in die Staaten fliegen. Schuldig, Jei, Kudou und Fujimiya in Richtung Norden aufbrechen. Asugawa... er würde nicht gehen, egal was er ihm auftrug, so musste er dessen Sicherheit mit anderen Mitteln erreichen.
 

Oder war es nicht sein Tod der ihm hier gezeigt wurde, sondern eine perfide Strafe, die ihm Rosenkreuz auferlegten?

Sein Tod würde keinerlei Sinn machen. Rache als Motiv würde er Straud zutrauen.
 

Nagi und er selbst bildeten Fixpunkte, die in ihrer jetzigen Konstellation Ursache und Wirkung darstellten. Ihre Position im Gesamtgefüge der Zeit konnte zwar manipuliert werden setzte jedoch eine weitere Ereigniskette in Gang.

Zu schnell um handeln zu können.

Die Vision in der Chiyo starb, war die in der Asugawa ihn verraten hatte. Die darauffolgende in der er den toten Körper in seinen Armen hielt und die Stadt in Flammen stand war für ihn eindeutig die Auswirkung dieser Tat gewesen. Es schien keine Rolle zu spielen wann es geschah, Nagi und er scheiterten im Endeffekt immer an der gleichen Kausalität.

Einer der ihm nahe stand würde ihn verraten. Keiner dieser Menschen würde es freiwillig tun, da war er sich sicher und dieser Umstand löste in ihm erneut ein befriedigendes Gefühl aus. Ein kuriose Emotion, die zwischen Trost, Zuneigung Trauer und Bedauern wankte.

Zunächst hatte es ausgesehen als wäre es Asugawa, doch die rasante Entwicklung hatte ihm gezeigt, dass es Nagi sein würde. Wen also würde er opfern wollen? Nagi hatte größere Überlebenschancen, denn Asugawas lagen bei Null.
 

Ein Ereignis welches ihm bisher unbekannt geblieben war hatte stets zur Folge, dass Nagi und er selbst in den unmittelbaren Fokus von Rosenkreuz gerieten. Je näher dieser Moment rückte, desto schwieriger wurde es vor den anderen den Schein aufrecht zu erhalten.

Eine einzige Vision jedoch bereitete ihm die größten Sorgen. Sie war schemenhaft und undeutlich, doch die zeigte ihm etwas, dass er nicht verstand. Sie war erst vor wenigen Tagen zum ersten Mal aufgetreten. War das die Lösung?

Um an diesen Punkt zu gelangen wurden Maßnahmen nötig, die zur Folge hatten, dass er sich Rosenkreuz stellen musste.
 

Er setzte sich auf und nahm die drei Döschen vor sich, öffnete eine Schublade und verstaute sie. Dann lehnte er sich zurück, legte den Kopf an die Rücklehne und schloss für ein paar wertvolle Augenblicke die Augen.
 


 


 

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Die Tür öffnend trat Eve in den Besprechungsraum ein. Leise schloss sie sie wieder und entdeckte ihren Bruder im hinteren Bereich in einem Ledersessel sitzen.

Er hatte seinen Kopf entspannt abgelegt und hielt die Augen geschlossen. Wenn er sie nicht um ein Gespräch gebeten hätte wäre sie gegangen um ihm die nötige Ruhe zu lassen. Er wirkte angespannt und müde. Sie trat näher. „Brad?“

Er räusperte sich und setzte sich auf. „Hey“, begrüßte er sie mit belegter Stimme.

„Schläfst du schlecht?“

„So gut wie gar nicht.“ Er sah nicht so aus als würde er das Thema vertiefen wollen und sie ahnte, dass er sich ihr was seine eigene Unpässlichkeit betraf kaum offenbaren würde.

„Du wolltest etwas mit mir besprechen?“

„Das Kind ist hier nicht mehr sicher, Eve. Ich möchte, dass du es mit dir mitnimmst, wenn du dieses Land morgen verlässt.“

Eve hob die Brauen an. Ihre hellbraunen Augen fassten ihren Bruder genau ins Auge.

„Und das liegt nicht daran, dass du mich nicht mehr um dich haben willst?“

„Nein, ganz und gar nicht.“

„Es ist ernst?“

„Verdammt ernst.“

„Du lässt alle in dem Glauben die Bedrohung sei noch weit entfernt, du siehst aber aus als wäre sie unmittelbar. Wieso... sagst du niemandem etwas?“

„Nichts ändert sich dabei zu einem positiven Ergebnis wenn ich es tue.“

„Du hast alles berechnet?“

„Mehrmals.“

„Keine Änderung?“

„Nein. Ich kann es nicht beeinflussen. Nur dahingehend nichts zu tun in diese Richtung.“

Sie starrte ihn an. „Wir könnten einfach wegfahren in eine andere Stadt.“

„Nein. Ihr seid zu wichtig. Das Kind ist zu wertvoll um es hier zu lassen und vor allem um es Rosenkreuz zu überlassen, dabei...“

Es klopfte und Brad verstummte.

Ken kam herein und nickte Eve zu. „Was willst du?“, kam recht unfreundlich von dem Kritikeragenten und Eve sah wieder zu Brad.

„Schließ die Tür.“

„Du hast einen neugierigen Telepathen im Haus und glaubst vor ihm etwas geheim halten zu können?“

„Kann ich, jahrelange Übung, bei euch bin ich mir nicht so sicher.“

„Ich habe gute Schilde“, sagte Eve.

„Und ich bemerke wenn er herumschnüffelt, er geht dabei vor wie ein Elefant im Porzellanladen.“

Brad ließ das unkommentiert.

„Ich habe dich hierher gebeten weil ich alle, die Gefahr laufen die nächste Zeit unter die Räder zu kommen von hier entfernen möchte. Rosenkreuz sind bereits in der Stadt eingetroffen. Die neuen Gebäude, die hier seit einigen Monaten entstehen wurden von Rosenkreuz errichtet. Angeblich ein neuer Campus der Uni.“

„Manx hat nichts davon erzählt.“

„Weil du es als Befehlsempfänger wohl nicht wissen musstest oder weil sie selbst keine Ahnung davon hatte.“

Ken schwieg.

„Ich möchte, dass ihr beide morgen in die Staaten fliegt.“

„Das möchtest du, also?“

„Ich bin davon ausgegangen, dass es in deinem Interesse ist.“

Ken sagte nichts, aber Eve spürte wie der Mann innerlich brodelte. Brad musste dem Mann etwas mehr geben als nur diese paar Brocken.

„Das Kind kann nicht hier bleiben, Hidaka. Wenn Rosenkreuz ihrer habhaft werden, ist das mit Sicherheit etwas, dass du nicht wollen würdest. Wir können sie nicht schützen.“

Brad sah seine Schwester einen Moment an.

„Nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Asugawa wollte sie ursprünglich Eve übergeben und Eve wäre bereits lange weg. Manx wollte das Weiß das Land verlässt, das wäre in der Zwischenzeit ebenso längst geschehen. Die Dinge haben sich anders entwickelt, dennoch können wir sie korrigieren. Wir folgen dem ursprünglichen Plan die Kinder in die Staaten zu schicken. Eine Korrektur wenn du so willst.“

„Das andere Kind ist nicht greifbar, oder hast du andere Informationen?“

„Die habe ich noch nicht. Ich erwarte einen Anruf. Schicke ich das Mädchen in die Staaten erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Null auf Hundert Prozent, dass mir Chiyo bei diesem Anruf zusichert den Jungen mitzuschicken. Tue ich nichts bleibt der Junge wo er ist und sie werden getrennt bleiben.

Ken dachte einen Augenblick nach, dann nickte er. „Ich erkläre mich einverstanden.“

Brad und er maßen sich stumm.

„Sonst noch etwas?“

„Vorerst nicht“, sagte Brad und Eve blickte Hidaka nach der sie zwar kurz anblickte dann aber den Raum verließ. Sie ging zu ihrem Bruder um den Schreibtisch herum und sah ihn an.

„Du willst ihn mitschicken? Ich komme schon alleine klar.“

Brad erhob sich und lockerte möglichst unauffällig seine Schultermuskulatur. Besorgt sah sie ihm in die Augen. Er sah müde aus, verdammt müde.

„Darum geht es nicht. Ich werde Tsukiyono ebenfalls mitschicken, auch wenn er nicht will.“

Eve runzelte die Stirn. „Gegen seinen Willen?“

„Wenn es sein muss, gegen seinen Willen.“

„Warum?“

„Um die Überlebenschancen von Naoe zu erhöhen.“

Er wich ihrem Blick aus.

Ihre Augen weiteten sich. „Du weißt dass ich unter diesen Umständen nicht gehen will.“

„Ja, das weiß ich, aber du musst.“

„Weil es leichter für dich wird?“

Er schwieg und wandte sich ab, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Warum kam er sich plötzlich wieder wie damals vor als sie gestritten hatten, als er Angst um sie gehabt hatte und das schließlich zu seinem Fortgang geführt hatte?

„Gut, dann gehe ich“, sagte sie nach endlos erscheinenden Augenblicken und Brad fühlte wie Erleichterung in ihn Einzug hielt - trotzdem er gewusst hatte wie dieses Gespräch ausgehen würde. Mit dieser bedrückenden Stille hatte er nicht gerechnet.

Sie schmerzte ihn. Er hatte für Jei, Schuldig und vor allem für Nagi ein Leben weitab von der verkommenen Gesellschaft der PSI geplant, doch es war ihnen nicht möglich. Es gab nur einen Ausweg aus der jetzigen Situation, der vernünftig erschien. Er musste diesen Weg gehen.

Er nickte und sie streckte die Hand aus, berührte ihn an der Ellenbeuge. Sie drehte ihn leicht zu sich und lehnte sich an ihn. Minutenlang ertrug sie seine Ablehnung, seine Weigerung, doch dann zog er seine Hände aus den Taschen und wandte sich ihr zögerlich zu.

Sie hatte die Anspannung bemerkt und sie hatte ihm die Erleichterung deutlich angesehen nach ihrer Zustimmung. Sie waren erwachsen was sie nicht davor schützte Angst um ihn zu haben.

Sie lehnte sich an seine Schulter an. Dann spannten sich die Arme ihres Bruders fester um sie und zogen sie in eine beschützende Umarmung.

„Wenigstens Jetzt möchte ich einen Abschied, der diesen Namen verdient“, sagte sie leise und spürte wie er seinen Kopf an ihren bettete. Sie atmete auf und spürte dem Gefühl von erneuter Trennung und Verlust nach.
 


 


 

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Finn hatte sich im ersten Stock des Hauses eingefunden und suchte sich einen Platz am Fenster. Verhalten gähnend hievte er sich dort in einen der Ledersessel, schlüpfte aus den Stiefeln und zog die Beine an. Er schloss die Augen und hörte zu wie sich alle langsam einfanden. Irgendwie fühlte er sich nach seinem kleinen Schläfchen noch beschissener als zuvor, er schwitzte wieder und gleichzeitig fror er erbärmlich. Obwohl es draußen mittlerweile regnete war es nicht kalt. Die Sonne war schon kurz nach dem Essen untergegangen, was er wohl verschlafen hatte. Schuldig hatte ihn wecken müssen und er musste fürchterlich ausgesehen haben, da der Telepath ihn gefragt hatte ob er sich im Stande fühlte nach oben zu kommen. Nein, fühlte er nicht, er würde trotzdem kommen. Er war also in seine Lederhose geschlüpft, hatte sich seine Stiefel übergezogen, sie aber nur halb geschnürt und sich in seinen übergroßen Pullover gekämpft. Dennoch fror er.
 

Sie saßen alle mehr oder weniger um den Tisch herum, als Brad begann die Lage zu schildern. Sie brachten sich alle auf den gleichen Stand der vergangen Ereignisse.

„Was ist mit dem Ryokan, der Angriff schien ausgeblieben zu sein“, bemerkte Schuldig.

„Ich erwarte in den nächsten Tagen mehrere Anschläge auf Kritiker- Verstecke.“

„Wann genau?“, wurde Fujimiya aufmerksam. Seit er den Raum betreten und Platz genommen hatte schien er in Gedanken versunken gewesen zu sein.

„Manx hat ihre Teams in den Untergrund geschickt aus genau diesem Grund“, sagte Brad.

„Was hast du gesehen?“, fragte Schuldig.

„Nichts aufschlussreiches, nur die Nachrichten von Übermorgen.“

„Das heißt morgen Nacht?“, fragte Ken.

„So sieht es bisher aus. Ein geeigneter Zeitpunkt, bedenkt man die momentane Wetterlage, die chaotischen Zustände tun ihr übriges um die Behörden zu lähmen.“

Fujimiya lehnte sich zurück und sein Blick war düster ins Nichts gerichtet.

„Was können wir tun?“, fragte Ken.

„Rein gar nichts“, verkündete Ran. „Oder kennst du eines der Verstecke?“

Ken verneinte.

„Die Frage ist... wer greift sie an?“, mischte sich Finn ein.

„Na der Clan!“, hörte er Omi.

„Und was hätte der davon? Kritiker steht zwar als Organisation dem Clan nicht nahe, aber sie verfolgen eine Philosophie die dem Clan in die Hände spielt. Warum also Kritiker vernichten? Sie auf Abstand zu halten war eine logische Maßnahme, sie jedoch auszuradieren eine unnötige Verschwendung von Resourcen.“

Finn ließ die Beine aus dem Sessel gleiten und sah sich den Blicken aller ausgesetzt und das bei jeder Bewegung seiner morschen Knochen.

Er griff sich von einer der Wandtafeln einen Marker. „Folgendes...“, fing er an.

Der Stift zitterte in seiner Hand als er aufsetzte, er versuchte es einzustellen und war erfolgreich damit. Schuldig und Fujimiya hatten ihm Platz gemacht und sich nach hinten auf den Tisch gesetzt.

Brad sah diese Schwäche, er sah auch, dass Asugawa ausgezehrt wirkte, er fror trotz der schwülen Temperaturen.

„Mir ist klar, dass der Einblick... und für diesen Ausdruck möchte ich mich auch gleich bei allen Anwesenden entschuldigen... fürs Fußvolk meist sehr beschränkt ist. Da ich mich im Clan glücklich schätzen konnte und einen rasanten Aufstieg vom Fußabstreifer in die höheren Ränge hingelegt habe kann ich euch mit Informationen versorgen über die wohl die wenigsten im Clan verfügen. Über die Jahre sind mir gewisse Verbindungen zu Ohren gekommen, die es so nicht geben sollte.“

Er malte einige Kreise auf, zog Verbindungen über die Länge der Wand, schrieb aber noch nichts hinein.

Seine Kehle war trocken und er hustete kurz darauf.

Er ging zum Schreibtisch, mopste sich das Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die Brads Augen so ähnlich war und stürzte den Rest des Getränks seinen protestierenden Rachen hinunter. Ihre Blicke verschränkten sich während er das tat und wären nicht vierzehn Augenpaare auf ihn gerichtet dann hätte er wohl bei diesem Blick den Tisch umrundet und wäre Brad auf die Pelle gerückt. Dieser sah ihn nämlich an als würde er ihn hier sofort flachlegen wollen. Die Augen hatten eine derart brennende Intensität angenommen, dass Finn nur mehr das Glas mit einem lauten Geräusch auf den Tisch aufkommen ließ, sich rasch umdrehte und wieder zur Tafel stapfte.
 

„Wo fange ich an?“, murmelte er noch halb von diesem Blick gefangen.

„Am Anfang“, antwortete ihm Schuldig und sah ihn auffordernd an.
 

„Gut also dort...“

Er drehte sich um. „Einen Teil von euch kenne ich schon lange, ich habe den Fall der Kathedrale mitangesehen. Ich stand am Ufer und konnte nicht mehr tun als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Einen von euch habe ich damals aus dem Wasser gezogen...wenigstens etwas...“

Brad fühlte plötzlich erneut Entsetzen in sich. Nagi... er hatte Nagi vor dem Ertrinken gerettet, er war ihm damals schon so nah gewesen und hatte nichts von ihm bemerkt. Er verfluchte im Stillen seine Hellsicht, die launisch und wenig steuerbar war. Wozu hatte er diese Fähigkeiten wenn er nicht Vorteile daraus ziehen konnte? Wozu diese sogenannte Gabe, wenn er...

Er stoppte seine Gedanken, da sie ihn zu sehr an sich selbst als Jugendlichen erinnerten. In die Vergangenheit zurückzukehren brachte nur das Gefühl der Hoffnungslosigkeit mit sich, der unbändigen Wut über seine Hilflosigkeit in so vielen Situationen. Sie glaubten an ihn als allwissenden Hellseher und doch war er es nicht. Welche Sicherheit konnte er ihnen geben? Es gab keine.

„Ich fange dort mit meiner Erzählung an damit ihr versteht, dass ich kein Interesse habe euch anzulügen. Ich stand stets auf eurer Seite.“

„Das haben wir verstanden“, sagte Schuldig ernst. Er hatte bereits von diesem Geheimnis gewusst, aber es war nicht an ihm gewesen es zu erzählen.
 

„Nur grob umrissen von Chiyo wusste ich um was es SZ eigentlich ging als sie Aya entführten. Ich habe nicht verstanden warum SZ plötzlich Interesse an einem Mädchen haben sollten. Chiyo hat sich dazu ausgeschwiegen. Ich vermutete, dass sie eine PSI war und ihre Fähigkeiten zu subtil waren um sie zu auf Anhieb zu erkennen. Oder dass es einfach ihr komatöser Zustand war der sie interessant für die Trias machen ließ, aber davon gibt es genügend in den Krankenhäusern und Reha-zentren, das konnte nicht der Grund dafür sein. Ich war neugierig also folgte ich den Entwicklungen. Habt ihr jemals herausgefunden warum die Trias sie wollten?“
 

„Nicht wirklich“, sagte Fujimiya.

Finn sah Schuldig an, der zuckte nur mit den Schultern.

„Wir haben uns damals unsere Gedanken gemacht, aber warum ausgerechnet Rans Schwester auf dem Opfertisch landete hat uns in der damaligen Situation nur zweitrangig interessiert.“

„Unser Ziel war es SZ zu vernichten“, übernahm Brad und fing einen Blick von Hidaka ein, den diese Aussage wohl zum Nachdenken brachte. Er sah auf und sah erstaunt aus. Nicht alle hier im Raum wussten das. Brad setzte sich aufrechter.

„Wir hatten genug davon benutzt zu werden“, richtete er eher an Hidaka. „Ihr wart nicht mehr als lästig, in Schuldigs Fall eine willkommene Abwechslung. Meine Pläne die Trias zu zerschlagen störtet ihr jedoch permanent, bis ich erkannte, dass ihr uns einen guten Grund lieferten um aus ihrem Wirkungskreis zu treten. Ihr kamt der Trias immer näher und wir ließen euch. Ihr wart im Endeffekt eine gute Unterstützung, denn dieser legendäre Endkampf hat die Trias verwirrt und sie abgelenkt von ihrem Vorhaben Aya in Irgendetwas zu transformieren. Ich vermute heute, dass sie ihre Seelen in das Mädchen transferieren wollten um ihre Fähigkeiten zu steigern, wie jedoch dieses Gefäß alle aufnehmen sollte ist mir immer noch schleierhaft.“

Alle schwiegen obwohl er in den Gesichtern erkennen konnte, dass sie viele Fragen hatten. Brad sah wieder zu Finn.
 

Dieser nahm den Faden wieder auf.

„Noch als ich dort stand und mir das Wasser aus den Haaren wischte und sicher ging dass Naoe lebte wurde ich von Chiyo kontaktiert. Ich solle umgehend ins Hauptquartier zurückkehren, ihr Ehemann erwartete einen ausführlichen Bericht über die von mir beobachteten Ereignisse. Sie wusste wo ich war und was ich dort wollte. Sie sagte auch, dass ich ihm keine Ausreden auftischen sollte, sie hatten die Kathedrale im Blick und über die Satellitenverbindung den Untergang selbiger mitverfolgt.

Ich kehrte zurück und erstattete Bericht. Yoshyo war auf dem Bildschirm zu sehen, aber ich konnte den Arm eines Mannes neben ihm erkennen, der mithörte. Ich erzählte von den Geschehnissen und dem Tod der PSI. Die Kritikeragenten hätten überlebt. Damit war er zufrieden. Der Mann neben Yoshyo wollte mit Superbia sprechen und ich wurde aus dem Gespräch entlassen. Er trug die Kleidung eines Rosenkreuzers. Eine weiße Uniform mit roten stilisierten Kreuzen darauf, zumindest den Ärmel davon konnte ich erkennen, aber es war unverkennbar, es sei denn Yoshyo traf sich heimlich mit Cosplayern. Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit.
 

Finn setzte Kritiker in die leeren Blasen auf der Wand und auch den Clan. Als er den Namen Chiyo schrieb setzte er ihn in Richtung der PSI am anderen Ende zwischen Kritiker und den Clan und noch leeren Blasen. Sie stand mitten zwischen ihnen.

„Chiyo ist eine Kawamori. Eine ehrwürdige, traditionsreiche Familie im Geschäft des Schutzes von PSI. Mein Vater ist der derzeitige Primus der Familie. Damals war er es noch nicht.“

„Damals?“, fragte Eve nach.

Finn seufzte und sah zu Brad hinüber, der in seinem Sessel saß und ihn ohne Gesichtsregung beobachtete.

„Damals als ich an den Clan verkauft wurde.“

„Das verstehe ich nicht“, hakte Ken nach.

„Ihr habt erzählt, dass sie eine Kawamori ist und dein Vater auch. Weshalb war es nötig dich an den Clan zu verkaufen?“
 

Finn zeichnete schematisch die Strukturen des Clans auf die Tafel.

„Der Sakurakawa Clan ist nichts anderes als eine große Maschinerie zum Schutz von PSI. Er schließt sich zusammen aus zwei Teilen. Dem offiziellen Familienteil und dem inoffiziellen Ausbildungsteil.

Kawamori Sakura rief mit ihrem Engagement die Tradition und die Maxime dieser Familie ins Leben. Die nachfolgenden Generationen hielten es aufrecht. Chiyo jedoch brach damit und heiratete den Großindustriellen Yoshio. Sie brach mit dem Clan der Kawamoris und der Clan spaltete sich von der Familie ab. Mein Vater übernahm als neues Oberhaupt die Fortführung der Idee die Sakura Kawamori einst hatte. Dann nahm Chiyo erneut Kontakt zum Clan auf und verlangte mich. Ich sollte wohl ein Geschenk ihres Mannes an sie sein und sie wollte sich dieses selbst wählen.“

„Und warum machte der Clan dann mit seiner Idee weiter PSI zu jagen?“

„Ich weiß nicht wie es dazu gekommen ist. Es muss etwas passiert sein, dass sich Chiyo so gegen die ursprüngliche Idee stellte. Ihr Mann Yoshio befürwortete den Gedanken daran PSI zu verfolgen und sie auszumerzen. Er hielt nichts davon – wie er stets betonte – dass sich diese verkommenen Subjekte hier in seinem Land ausbreiteten.

Über die Jahre hinweg gab es immer weniger Kandidaten die dem Clan beitreten konnten. Vater sagte, dass es keinen weiteren Kawamori mehr geben würde, der Teil ihrer neuen Philosophie sein würde. Wir versagten ihnen weitere Zugänge.

Der Clan wurde größer, die Zeiten änderten sich und die PSI wurden von dem Orden gejagt, sie richteten verheerenden Schaden in der Welt an und der Clan wollte diese PSI in die Schranken weisen. Ihre ursprüngliche Maxime des Schutzes verkehrte sich ins Gegenteil um. Irgendetwas musste vor circa 20 Jahren mit Chiyo geschehen sein, denn sie hielt ihren Mann nicht auf. Sie tat gar nichts.

„Und trotzdem hat sie dich ausgebildet“, bemerkte Ken.

Finn nickte. „Ich weiß nicht warum sie die Lager wechselte. Für mich sieht es so aus als hätte sie die Idee von Sakura Kawamori verraten. Sie nahm sich einen vermögenden Mann, legte ihm eine Aufgabe zugrunde und tat dann gar nichts mehr.“

„Aber sie hat nicht dich allein ausgebildet? Wusste ihr Mann davon?“, fragte Ken erneut.

„Nein, ich denke nicht. Es waren wenige. Vielleicht ein Tribut an alte Zeiten. Vielleicht konnte sie es aber auch einfach nicht lassen. Es waren nicht mehr als Spione.

Chiyo war eine Ausbilderin und bei inoffiziellen Treffen mit Fremden, die ich nicht einordnen konnten wurde sie als Schmied angesprochen, was auch immer das heißen mag...“

„Ein Schmied?“, merkte Eve auf und Brad sah zu ihr hinüber.

„Sie nannten sie einen Schmied?“, fragte sie nachdenklich zu Finn hinüber.

„Ja, hat sie.“

„Sie schmiedet...“, fing Eve an.

„Paare“, schloss Brad.

„Ne obskure Partnervermittlung...“, murmelte Kudou, fand es aber selbst nicht besonders witzig.
 

Brad erhob sich plötzlich und trat ans Fenster. Er hatte von Anfang an ein beschissenes Gefühl gehabt. „Von wem bezieht Kritiker seine Gelder?“, fragte er.

„Naja... von Persha früher... jetzt... ich denke die Regierung unterstützt diese Sache...irgendwie. Wir verschlingen schließlich ordentlich Kohle“, erwiderte Omi.
 

Finn sah von Brads Rückansicht langsam hinüber zu dem jungen Takatori und sah ihn an. Glaubte der das wirklich?

„Ich muss dich enttäuschen. Chiyo hat Kritiker gegründet. Sie hat Persha und seinen kleinen Rachefeldzug befeuert und finanziert. Ich vermute, dass sie auf ihre Weise den falschen Weg den ihr Mann eingeschlagen und den sie zugelassen hat vor fünf Jahren wieder gut machen wollte. Einen Teil zumindest. Unter dem Mantel, der sich Kritiker nannte unterhielt Chiyo eine nicht zu verachtende Anzahl an Teams, in verschiedenen Ländern. Ihr seit und wart beileibe nicht die Einzigen. In Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, um nur die Teams in Europa zu nennen. Nach Persha ist Manx nun die Gebietsleiterin für Japan. Sie hat sich darauf verlegt ein bisschen Ungerechtigkeit in dieser Welt zu mildern.“
 

„Und warum gab es hier in Japan derart viele Teams unter Kritiker? Die Insel ist gemessen am Rest der Welt klein.“
 

„Weil es ihre Heimat ist und Takatori diese bedrohte. Weiß ist relativ spät auf den Plan getreten.

Manx war eines der ausgebildeten Kinder wie ich erst kürzlich von ihr selbst erfahren durfte. Deshalb steht sie loyal zu Chiyo. Ich weiß von Chiyo selbst, dass Manx ihre Enkelkinder suchen sollte – und eines davon fand sie auch. Sie rekrutierte Ran und hetzte eben dieses Team auf Takatori. Aus gutem Grund. Takatori hatte einst ihre Tochter und dessen Mann auf dem Gewissen. Zudem erfuhr sie spät von dem Zustand ihrer Enkeltochter.“
 

„Dann hat sie sich doch nicht ganz abgekehrt“, sagte Ran nachdenklich.

Finn setzte sich für den Augenblick. Er brauchte Wasser.

‚Ich hol dir was...’, sickerte es in seinen Verstand und er sah auf. Schuldig durchquerte den Raum.

‚Bist du immer in meinen Gedanken?’

‚Naja, is wie atmen... wenn es interessant wird atme ich schneller.’

Finn rollte mit den Augen.

„Er kann es nicht einfach so abstellen“, fügte Ran erklärend hinzu und sah ihn an. Offenbar hatte er erkannt, dass sie lautlos kommuniziert hatten und seine Reaktion auf Schuldigs Worte gesehen.

Finn zuckte mit den Schultern.

Er wartete bis Schuldig wieder bei ihnen war und fuhr dann fort. Dankbar sah er zu wie Schuldig ihm ein Glas füllte. Seine Hand zitterte stark als er trank und er war dankbar, dass Schuldig vor ihm stehen blieb und niemand außer Brad sah wie stark dieses Zittern war. Vorsichtig stellte er das Glas ab und nickte Schuldig zu.
 

„Es war kein Zufall, dass ihr beide in diesem Keller gelandet seid“, schloss Brad.

„Das Gefühl hatten wir schon länger.“

„Ja, aber was bezweckte sie damit?“, fragte Ken. „Selbst wenn sie was auch immer schmiedet... sie kann doch nicht DAS vorhergesehen haben, oder?“

Finn wischte sich fahrig über die Stirn. „Keine Ahnung wie das läuft, aber Manx hat ihr bestimmt gesteckt, dass ihr wiederholt auf Schwarz getroffen seid und sie euch nicht töteten. Was ohnehin schon seltsam war“, fügte er ironisch hinzu. „Ich zumindest wunderte mich über diese Ausnahme von der Regel.“

Er sah zu Fujimiya hinüber der nachdenklich vor sich hin grübelte.

„Chiyo muss etwas wissen wovon selbst ich keine Ahnung habe. Es hat schließlich funktioniert.“

Schuldig schüttelte den Kopf. „Das kann ja nicht so einfach sein! Das ist...“ Schuldig verstummte.

Finn sah sie alle noch einmal an. „Das ist kein Hexenwerk, es basiert auf Timing, Studium der Individuen und sehr viel Information und vermutlich auch Glück. Kein Voodoo, kapiert? Sie weiß viel über die PSI.“
 

„Und was ist wenn sie eine PSI ist?“, fragte Brad ihnen immer noch den Rücken zugewandt. Alle sahen zu ihm.

„Das würde zwar einiges erklären, aber ich habe nie etwas in diese Richtung bemerkt“, erwiderte Finn.

„Die Schüler von Strigo Oloff...“, sagte Eve nachdenklich „... Sheela Ram und Sakura... und... ich brauch meinen Rechner...“ Aufgeregt verließ sie den Raum.

„Das ist viel zu lange her...“, winkte Schuldig ab. „Über hundert Jahre...“

„Manche PSI leben sehr lange“, erwiderte Brad nachdenklich. „Die Trias war mit Sicherheit weit über hundert, so weit ich weiß.“

„Uralt sahen sie jedenfalls aus“, brummte Omi.

„Das lag daran, dass sie ihre Fähigkeiten extrem gesteigert hatten, ihre Energie hatte sich in den letzten Jahren rasch verbraucht. Zuvor hatten sie nicht älter als vierzig ausgesehen.“

„Ach du Scheiße“, entfuhr es Kudou und er rutschte in seinem Sitz nach unten.

„Ihr seid aber alle normal alt, oder?“

„Keine Angst Spatzenhirn... wir sind so vermurkst, dass wir vermutlich eher schneller altern...“, beruhigte ihn Schuldig zynisch, sein Blick flackerte unsicher als er auf Rans traf, der ihn unverwandt anblickte.

Schuldig zog ein missglücktes Grinsen.

Eve kam zurück, fuhr ihren Rechner hoch. „Könnt ihr das auf einen der großen Bildschirme schieben?“

Omi nahm ihr den Rechner ab und setzte sich in seinen Sessel. Kurz darauf prangte eine Datei auf einem der großen Bildschirme. Sie öffnete sie und Ken konnte die Bilder von Strigo und der Akademie erkennen. Sie klickte zügig weiter bis sie ein Gruppenbild fand.

„Da müssten sie drauf sein... Sheela Ram... Sakura... Asugawa sie dir das an...“, winkte sie ihn heran.

„Zoom das ran...“, wie sie Omi an und zeigte auf eine Frau neben Strigo.

Finn sah auf den großen Bildschirm. „Die Qualität ist nicht die Beste, das Bild ist zu körnig, aber sie sieht Chiyo ähnlich. Sie sieht jünger aus und Chiyo ist soweit ich erkennen konnte normal gealtert.“ Er hob die Brauen. Konnte das wirklich sein?

„Hat sie sich inmitten ihrer Jäger versteckt?“, fragte er leise. „Das würde erklären warum sie sich nicht direkt gegen ihren Mann gewandt hatte und warum sie kaum in die Öffentlichkeit ging.“

„Wäre krass, wenn es stimmt“, hauchte Kudou. Er sah zu Ran der immer noch auf seinem Stuhl saß. „Sieh mich nicht so an ich habe keine Fähigkeiten vorzuweisen“, erwiderte dieser düster.

„Kann ich bestätigen, da oben ist nichts los“, gab Schuldig bei und bekam einen halbherzigen Schlag in den Bauch. Er klappte theatralisch zusammen.

„Na ein bisschen ist schon los da oben“, gab er halb lachend zu und wanderte einen Schritt von Ran weg. Bis auf unüberwindbare Schilde, grübelte Schuldig, verbat sich aber diesen Gedanken laut auszusprechen oder sich anmerken zu lassen, dass er skeptisch war. Ran war ohnehin in keiner guten Stimmung, er war ihm zu nachdenklich und zu wortkarg. Ein wenig zu in sich gekehrt.

„Gehen wir also davon aus, dass es sein könnte, dass Chiyo in Wahrheit Kawamori Sakura ist?“, fasste Schuldig zusammen.

„Ich weiß nicht“, brummte Kudou. „Scheint mir sehr weit hergeholt zu sein.“

Keiner widersprach. Die folgende Stille wurde durch Brad nach einigen Minuten unterbrochen.

„Wie passt Sowa in die Geschichte?“

Finn kritzelte den Namen unter Chiyo, zwischen PSI und den Clan.

„Sowa ist irgendwann auf den Plan getreten als Takatori verschied und ein Machtvakuum in der Stadt entstand. Er hat früher Geschäfte mit Takatori gemacht. Nachdem Ryuichi, Tetsura und der Sakurakawa Clan die Hinterlassenschaften von Takatori mehr oder weniger unter sich aufteilten klemmte sich Sowa an die Clans. Der alte Tetsura wollte nichts mit ihm zu tun haben, Ryuichi nur am Rande, wenn es ihm in den Kram passte, aber der Clan wollte in Japan mehr Macht und so tätigten sie mehr und mehr Geschäfte mit Sowa.“

Finn setzte sich wieder.

„Vor zwei Jahren wurden SIN offiziell nach Japan geschickt um es zu reinigen, wie es hieß. Wir jagten, verfolgten und töteten PSI. Einige Male trafen wir bei diesen Aktionen auf Kritikerteams zogen uns aber unentdeckt zurück. Das waren vermutlich die Schutzaufträge, die ihr erhalten hattet.“

„Das waren keine PSI, nur normale Leute“, sagte Ken und zuckte mit den Schultern.

„PSI, die nicht konvertiert wurden haben subtilere Fähigkeiten, ihnen ist gar nichts anzumerken. Ihre Fähigkeiten sind anders, wilder, verschlungener“, sagte Brad und trank einen Schluck.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Manx davon gewusst hatte“, sagte Ran leise.

„Chiyo brauchte Persha oder ihr nur eine Liste von Namen gegeben haben, die sie aus Japan rausbringen sollte, mehr nicht“, zuckte Finn mit den Schultern. „Sie hätte nicht einmal Kontakt zu Chiyo aufnehmen müssen. Kritiker unterhielten viele Teams, es reichte wenn sie jedem Team hin und wieder einen Auftrag gab. Fragen wurden vermutlich von euch wenige gestellt.“

„Das war nicht der Deal“, stimmte Ken zu.
 

„Und du hast dabei mitgemacht?“

Finn sah auf und traf auf Omis anklagenden Blick. „Ja. Die Wahl die ich damals hatte bestand nicht gerade aus besseren Optionen, wenn ich dort bleiben wollte, wo ich war. Von dem Punkt abgesehen, dass ich ohnehin nicht weg konnte.“

„Und warum nicht? Für mich hört sich das eher nach einer schwachen Ausrede an.“
 

Finn griff sich mit beiden Händen das Glas und trank, er stellte es danach in seinen Schoß ab und hielt die Hände um das Glas gewickelt.

„Wegen der Kinder.“

Er sah verdrießlich drein, als er daran dachte.

„Ich bekam die Forschungsabteilung in den Staaten nicht mit, aber als wir nach Japan kamen, wurden die Kinder plötzlich ihrer Kinderzimmer entrissen und immer öfter in die Labore gebracht. Zuvor hat Chiyo mich in ihre Erziehung miteingebunden, warum auch immer. Yoshyo teilte mir die Verantwortung für diesen Punkt zu. Ich sollte darauf achten, dass die Kinder keine Schwierigkeiten machten.“ Er schnaubte. „Wie sollten Zweijährige Schwierigkeit machen?“ Er schwieg wieder.
 

„Dann waren irgendwann alle PSI entweder tot oder verschwunden und es kehrte etwas Ruhe in den Clan ein. SIN hatte nicht besonders viel zu tun, ich frönte meinem Hobby euch zu beobachten und befand die Situation als zufriedenstellend. Keiner belangte euch. Nur die Kinder machten mir zunehmend Sorgen.

Ich wollte wissen an was genau da geforscht wurde. In der Zwischenzeit wusste ich auch, dass sie PSI waren und wunderte mich deshalb auch nicht mehr über das fehlende Mutter- und Vatergefühl ihrer Eltern. Sie waren lediglich produziert worden, weiter nichts.

Ich fand heraus, dass eine Art Formel entwickelt worden war um PSI Schachmatt zu setzen. Die Substanz unterbricht die Kommunikation zwischen Energie und Steuerung könnte man sagen. Sie können ihre Fähigkeiten nicht einsetzen. Es war ein Ableger von dem Serum dass SIN jahrelang erhalten hatten um unsichtbar für PSI zu werden.“

„Wie funktioniert es?“, fragte Brad.

„Das weiß ich nicht. Es wurde aus Lilliys Blut gewonnen. Ich habe euch die Formeln auf den Kristall gezogen.“

„Großes Datenvolumen, sehr gute Verschlüsselung“, erwiderte Omi.

„Kiguchi hat es gemacht, ich kann euch dabei nicht helfen.“

„Lilly hat eine Art Kraftfeld in deren Radius keine Aktivitäten funktionieren, im Prinzip haben wir auch dieses Kraftfeld; es ist wesentlich kleiner und auf uns beschränkt. Wir werden unsichtbar für euch.“

Finn lehnte sich zurück und rieb sich über die brennenden Augen, er war hundemüde.

„Und irgendwie war es dann vorbei mit der Gemütlichkeit, plötzlich trat Kritiker nach jahrelanger Vermeidung erneut Schwarz auf die Zehen. Chiyo kontaktierte mich und sagte ich solle mich raushalten.“ Mehr wusste ich nicht, da ich euch nicht permanent unter Beobachtung hatte. Sie weckte meine Neugierde und ich sah, dass Schuldig entführt wurde. Ich beobachtete das Geschehen und bekam mit wie Ran abtransportiert wurde. Erneut lebend, was mich erstaunte. Gerade jetzt hätte ich seinen Tod erwartet.

Ich zog mich zurück, versuchte Chiyo zu kontaktieren, aber sie war nicht zu erreichen. Und als wäre damit der Startschuss gefallen begannen SIN, allen voran Superbia unruhig zu werden. Sie wollten Schwarz aufmerksam auf sich machen. Ab da geriet vieles aus den Fugen. Ich hatte wenig Einfluss auf die nachfolgenden Ereignisse. Als dann Yoshyo mir den Auftrag erteilte das Serum an euch zu testen war ich kurz davor alles hinzuschmeißen. Aber... ich hätte die Kinder dort lassen müssen und ich wäre dem Clan niemals wieder so nahe gekommen. Ich musste es durchziehen, egal wie, nur saß mir plötzlich Superbia im Nacken. Ich vermutete, dass Superbia ein PSI war und ein täglicher Spießrutenlauf begann. Zudem ich mir nicht wirklich sicher war, ich schob es auf eine gewisse Paranoia, dass ich ihn verdächtigte. Ein Plan musste her um meinen Abgang hinzulegen und die Kinder mitzunehmen, dafür brauchte ich eure Hilfe. Kiguchi sollte noch etwas länger beim Clan bleiben und Augen und Ohren offen halten.“
 

„Manx arbeitet also für Chiyo“, resümierte Ken.

„So sieht’s wohl aus“, stimmte Schuldig zu.

„Sie hat Masahiro durch Manx aus dem Weg räumen lassen und mein ganzer schöner Plan löste sich in Luft auf.“

„Du wolltest die Kinder mir geben bei unserem Treffen?“, fragte Eve erstaunt.

„Wem denn sonst? Deine Anfrage kam genau zum richtigen Zeitpunkt“, sagte Finn frustriert, weil nicht glücklich mit den Entwicklungen. „Ich konnte sie nicht mit mir nehmen wenn ich meinen Tod inszeniert hätte, wie hätte ich gleichzeitig fliehen und ihnen ein gutes Zuhause bieten können? Das wäre nicht gegangen“, seufzte er und wischte sich über die müden Augen.

„Dann kam die Nachricht über Masahiros Tod und der Boss hat sich plötzlich in Japan angekündigt. Super Sache. Ich war nun für die Japan Sektionen verantwortlich und mein Plan war dahin, ich musste innerhalb von Minuten improvisieren. Leider konnte ich somit nicht beide Kinder rausbringen. Yoshyo wollte den Jungen unbedingt in Kyoto. Ihm zu widersprechen wäre untypisch gewesen und hätte Superbia noch misstrauischer als er ohnehin schon war gemacht.

Im Nachhinein wundere ich mich über die Tatsache, dass Yoshyo mich zwar mittels Superbia überwachen ließ, aber mir und nicht ihm die Verantwortung übertragen hatte.“
 

„Aber ein PSI in den Reihen der PSI Jäger? Für wen hat er gearbeitet?“

„Somi und De la Croix. Zwei Spitzen der neuen Trias“, sagte Brad.

„Und was wollen die hier im kleinen Japan?“, fragte Kudou.

„Ihn“, Finn zeigte mit dem Daumen nach rechts zu Brad.

„Warum?“

„Weil er ein Hellseher ist? Ich meine so was ist schon toll...“, meinte Finn spöttisch, in Anbetracht dessen, dass Ken zu vergessen schien, dass Brads Fähigkeiten eigentlich eine tolle wundervolle Sache war.

„Er ist einzigartig“, Finn verzog den Mundwinkel voll kaltem Spott. „Wer hat schon einen Wahrsager in seiner Firma wenn man an Expansion, Gewinnmaximierung und generell an die Weltherrschaft denkt? Im Übrigen hat mir Chiyo gesteckt, dass Rosenkreuz hinter Schwarz her sind, da sie einiger Verbrechen angeklagt werden.“

„Großartig, und wir gleich mit“, murmelte Omi.

„Du kannst gerne gehen“, erwiderte Finn leise. „Es zwingt dich keiner hier zu bleiben, oder sehe ich das falsch?“

„Es ist nicht nur das...“, meldete sich Eve leise zu Wort und sah ihren Bruder über den Tisch hinweg an. Er presste für einen Moment die Lippen zusammen. Wollte er das hier zur Sprache bringen? Eher nicht. Aber es ließ sich nicht verhindern.

„Sein Anspruch auf den „Thron“ ist legitim. Rosenkreuz ist nur ein Teil von SZ. Hinter den Kulissen regiert ein liberaler Zusammenschluss aus ein paar elitären Köpfen, die sich in einer Art Ältestenrat zusammengeschlossen haben.

„Ein Rat der Weisen?“, spöttelte Kudou.

Eve erwiderte das Lächeln nachsichtig. „So in der Art.“

„Und was tut dieser Rat?“, hakte Schuldig nach. Er hatte davon nichts mitbekommen.

„Gar nichts“, sagte Brad abfällig. „Sie tun gar nichts.“

„Und welche Funktion haben sie dann?“, wunderte sich Ken.

„Keiner kennt ihre Gesichter. Ich war einmal dabei als Malezza zu einer Unterredung gebeten wurde. Wir traten in einen Raum und waren umgeben von Hologrammen, gesichtslose Figuren, sie sprachen stets mit nur einer Stimme, es gab keine Besonderheiten, bis auf die unterschiedlichen Akzente und selbst diese waren nur schwach vorhanden. Elf gesichtslose Individuen, die sich stets einig zu sein schienen.“

„Um was ging es dabei?“

Brad sah zu Schuldig, der die Frage gestellt hatte. „Es ging um mich.“

Er schwieg einen Moment und erinnerte sich an die Situation damals. „Es war surreal. Malezza wirkte trotz ihres hohen Alters und ihrer herausragenden telepathischen Fähigkeiten angespannt. Was mich sehr verwunderte. Sie fragten Malezza nach meinen Primärfähigkeiten, wie weit ich in die Zukunft sehen könne und noch mehr Details über die Techniken, die ich nutzte. Es dauerte lange, bis diese Hologramme sich an Malezza wandten und sagten, ich solle ausgebildet werden. Nur für was genau, kann ich bis heute nicht sagen. Malezza wirkte nach dieser Unterredung sehr ungehalten. Es war zu dem Zeitpunkt als sie mich nach Japan schickten.“

„In was solltest du ausgebildet werden?“

„Das weiß ich nicht, ich hatte danach nur sehr wenig Kontakt zur Trias und keinen Kontakt mehr zum Rat.“
 

„Manx... wir müssen Manx kontaktieren und dann herausfinden wo sich Chiyo aufhält“, sagte Kudou nachdenklich. „Wir brauchen mehr Informationen.“
 

Finn nutzte die eingetretene Stille dazu um das ursprüngliche Thema wieder aufzunehmen.

„Schlussendlich hat Chiyo die Sache selbst in die Hand genommen, die Mitarbeiter im Labor waren ihr wohl im Weg gewesen als sie Gabriel an sich genommen hat. Wo sie jetzt ist weiß ich nicht.“

„Sie will dich und Fujimiya für einen uralten Vertrag, der die Familie Kawamori an mich bindet.“

„Die ganze Familie? Dieses Recht hat sie gar nicht. Mein Vater müsste darüber bestimmen. Außerdem würde er das nicht tun... ich meine... wer zum Teufel ist sie, um so eine Entscheidung treffen zu können?“ Finn verstummte.

„Ich habe keine Ahnung was die alte Chiyo vorhat“, gab er zu. Er verstand es kein bisschen mehr.

„Ich will wissen was dein Vater dazu zu sagen hat“, sagte Brad.

Brad ging zu der Flasche Bourbon und schenkte sich nach.

Finn versuchte sich seinen verstohlenen Blick nicht anmerken zu lassen. Er sorgte sich um den Mann, der Alkohol wie Wasser zu trinken schien und dabei weder alkoholisiert wirkte noch irgendwie kognitiv eingeschränkt. Die dunklen Schatten unter den Augen sprachen jedoch ihre eigene Sprache.

„Die Frage ist, wie wir Chiyo finden“, fragte sich Brad nachdenklich.

„Und ich frage mich was sie von mir will und von dir“, sagte Ran.

„Naja... du bist ihr Enkel.“ Finn verzog den Mundwinkel zu einem halbherzigen Lächeln. „Ihr Interesse an deiner Gesundheit und deinem Wohl im Allgemeinen schien echt zu sein.“

„Hat sie nicht davon abgehalten aus Aya einen mordenden Killer zu machen. So viel zu seinem Wohl“, sagte Ken und Finn musste ihm Recht geben.

„Bis auf diese Tatsache selbstverständlich“, räumte er ein. Er trank das Glas leer und stellte es auf dem Tisch ab.

„Und was sie von mir will kann ich nicht sagen, ich habe ihr nicht gehorcht. Vielleicht ist sie sauer? Mit Sicherheit ist sie das“, meinte er verdrießlich.

„Ich bin nicht so scharf drauf in ihre Finger zu geraten“, gab er zu.

„Kann ich mir denken“, sagte Ran in Gedenken an Chiyos vermeintlich gute Erziehungsmethoden.
 

„Ich könnte Sowa dazu befragen“, sagte Finn und grübelte darüber nach wie er das am Besten anstellen konnte. „Morgen Nacht sollte laut Kiguchi eine Lieferung präparierter Drohnen ankommen.“

„Drohnen?“, fragte Kudou.

„Ja, so bezeichnen sie die Männer die für euch nicht lesbar sind. Sie bekommen eine sehr hohe Dosis von diesem Serum. Takatoris Sprössling hatte damals bereits mit Ähnlichem hantiert. Ich habe Schreiend eine Zeitlang observiert, allerdings waren es Versuche, die zum Scheitern verurteilt waren. Im Prinzip hat der Clan seine Arbeit in ihre involviert. Takatori Masafumi muss damals an PSI Proben gelangt sein. Woher er die hatte ist mir ein Rätsel.“

„Seine... Ergebnisse waren instabil“, sagte Brad nachdenklich.

„Er hat keine Blutproben von uns erhalten“, sagte Brad.

„Soweit ihr wisst“, meinte Finn.

„Soweit wir wissen“, stimmte Brad zu.

„Sie waren tot“, sagte Kudou in die Stille hinein.

„Wen meinst du?“, sah Finn auf.

„Schreiend. Sie waren tot. Und dann... lebten sie wieder. Wobei...“, Kudou verstummte.

„Sie hatten sich verändert, sie waren nicht mehr die gleichen“, half Ran aus.

Finn nickte. „Deshalb nennen wir sie Drohnen. Kürzlich verstorbene Menschen werden dafür verwendet.“

„Wo werden sie produziert?“, fragte Brad.

„In Thailand. Sowa bezieht sie über einen Mittelsmann, er nennt sich Sola. Ich weiß, dass das nicht sein richtiger Name ist, aber wenn er mit Sowa Geschäfte macht, dann sagte er immer: Nennen sie mich Sola. So verschieden sind wir nicht. Meist lacht er dann so schrill, als hätte er einen guten Witz gemacht. Der Typ ist irre.“

„Die Männer sahen nicht asiatisch aus“, hörten sie eine ungeübte Stimme. Jei meldete sich zum ersten Mal zu Wort.

Finn merkte auf. „Es sind Männer unterschiedlicher, ethnischer Herkunft. Er bezieht diese „Rohware“ überall rund um den Erdball her. Vor allem in den Staaten.“
 

Brad stellte sein Glas ab und sah in die Runde. „Wir zerschlagen dieses Netzwerk.“

„Dann arrangiere ich ein gefaktes Treffen mit...“, fing Finn an.

„Du wirst dich sowohl von Sowa als auch von Sola fernhalten.“

„Aber... das Kopfgeld ist erloschen, du hast es zurückgezogen.“

„Spielt keine Rolle. Ich will dich nicht in der Nähe dieser Männer haben. Ist das klar?“

Finn zog ein unzufriedenes Gesicht, sein Mund verzog sich störrisch. Crawford amüsierte es aber er ließ dieses Gefühl nicht auf seinem Gesicht erscheinen.

„Ja, ist es“, lenkte Finn ein, nicht ganz überzeugt.

„Ganz in der Tradition von unseren weißen Rächern möchte ich von euch wissen wer alles bei dieser kleinen Unternehmung dabei ist?“, fragte Brad ironisch in die Runde.

„Witzig, Orakel“, erwiderte Kudou und sah ihn gelangweilt an.

„Aber ich bin dabei, mir reicht’s schon lange.“

„Mir ebenfalls“, sagte Ran. „Allerdings sollten wir den Clan nicht aus den Augen verlieren.“

„Tun wir nicht“, sagte Brad.

„Ich bin auch dabei.“ Das war Omi.

Ken sah Brad eine Zeit lang an, nickte jedoch dann, er sagte aber nichts.

Brad war damit zufrieden, Ken hielt sich an den Plan.

„Und was ist mit uns? Fragst du uns nicht?“, empörte sich Schuldig.

„Alternativen?“

„Keine“, brummte Schuldig.

„Deshalb frage ich nicht. Wir können den Clan nicht zerschlagen wenn wir ihnen den Nachschub nicht abdrehen. Allerdings wäre ein Abstecher nach Kyoto lohnenswert.“
 

Brad ließ sich in den Sessel gleiten und überschlug die Beine. „Wir haben noch ein Problem. Das Mädchen muss weg.“

Finn sah zu ihm hinüber. „Wohin?“

„Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht.“

„Sie macht euch für Rosenkreuz unsichtbar, sie können euch nicht finden, wenn sie in eurer Nähe ist“, begründete er seine Maßnahme sie zu Schwarz zu bringen. „Deshalb habe ich sie...“, er verstummte.

„Das ist mir klar, nur behindert sie uns im Moment eher“, gab Brad zu Bedenken. „Bei dem was wir vorhaben ist sie hinderlich. Wer schützt ein Kind wenn wir unterwegs sind? Und wir brauchen jeden den wir involvieren können.“

Eve wusste was ihr Bruder hier tat. Er spielte ein perfides Spiel, denn er ließ alle im Glauben daran, dass sie alles im Griff hatten, dass mit einem guten Plan alles gut werden würde. Doch das wurde es nicht mehr. Sie waren auf verlorenem Posten und er allein wusste wie schlimm es werden würde. Sie räusperte sich.

„Bevor du es sagst möchte ich es anbieten. Ich nehme sie mit mir in die Staaten.“

Sie würde mitspielen.

Finn richtete sich in dem Sessel auf. „Aber das... war nicht das was ich für die Kinder wollte. Gabriel und sie müssen zusammen sein. Und wo soll sie dort aufwachsen...?“

„An dem Ort wo Brad und ich aufgewachsen sind. Ich hatte ein gutes Leben dort, keine Versuche, die mir wehtaten, keine Konvertierung, keine Verfolgung, keine Laboraufenthalte, nichts dergleichen.“

Eve sah ihren Bruder lange an. Er nickte, weil er ahnte wohin sie Lilli bringen würde, da keine Einwände von seiner Seite kamen billigte er ihre Entscheidung wohl.

„Trotzdem wollte Crawford weg, war wohl doch nicht so gut dort?“, meinte Kudou.

„Es wurden Anschläge auf mich verübt und ich gefährdete das Leben meiner Schwester, deshalb bin ich gegangen. Es ist ein guter Ort für PSI. Sie werden beschützt“, erklärte Brad kurz.
 

„Dabei wäre es mit Sicherheit auch kein falscher Ansatz in den Staaten Erkundigungen einzuziehen ob Sola dort rekrutiert.“

„Nimm Kontakt zu deinem Boss auf, vielleicht könnt ihr das vor Ort operierende Kritiker Team ausfindig machen – so es noch existent ist.“

„Mache ich“, stimmte Eve zu.

Sie ging zu Omi hinüber. „Stellst du mir eine Verbindung zu meinen Leuten her?“ Sie nannte ihm die Nummer, nahm das Headset und bald darauf hatte sie Mitch am Telefon. Sie erläuterte ihm nur marginal den Sachverhalt und wollte sich morgen mit ihm im Hotel treffen.
 

„Können wir irgendjemanden zur Unterstützung rekrutieren?“, fragte Schuldig. „Was ist mit Asami?“

„Könnte klappen, wir müssten ihm die Sache nur schmackhaft machen.“

„Optimal wäre es, Asami, Chiyo und Manx in ein Boot zu holen um den Clan in die Schranken zu weisen, so fern noch Teams übrig sind und Manx sie rechtzeitig warnen und evakuieren konnte“, sagte Kudou.

„Was ist mit den örtlichen Behörden?“, fragte Omi.

Schweigen hielt Einzug.

„Höchstens als Kanonenfutter“, sagte Schuldig nachdenklich. „Manx wüsste wie das zu bewerkstelligen wäre. Die richtigen Hinweise an der einen oder anderen Stelle. Allerdings sind mit Sicherheit viele Schmiergelder aus Richtung Clan geflossen um den einen oder anderen wegschauen zu lassen.“

„Als Ablenkung trotzdem eine Überlegung wert“, räumte Brad nüchtern ein.

„Nicht wenn sie von Anfang an zum Tode verurteilt werden“, hielt Ran dagegen.

Brad erwiderte nichts, sein Blick blieb jedoch für einige Momente mit Rans verschränkt.

„Habt ihr noch etwas, dass besprochen werden sollte?“, fragte Brad.

Keiner antwortete.
 

Schuldig streckte sich und gähnte verhalten. Er musste mit Ran reden, aber das hatte noch Zeit. Jetzt galt es das Gehörte zu verdauen.

„Ich mix uns noch ein paar Drinks“, verkündete er dann und verschwand aus dem Raum.

Es regnete zwar, aber es war warm und nach diesen ganzen Offenbarungen war es sicher angenehm damit nicht ins Bett zu gehen. Sie zerstreuten sich alle.
 

Finn lümmelte noch in seinem Sessel und sah dem Abzug nach. Seine Augen fielen ihm zu und er suchte sich eine bequeme Position.
 

Ken blieb noch, er schien unschlüssig zu sein.

Brad fasste den Mann genauer ins Auge. „Warte einen Moment.“ Ken drehte sich halb um und sah ihn mit fragendem Blick an.

„Soll das ein Gespräch unter vier Augen werden?“, fragte Ken mit einem Wink in Richtung Finn.

Brad ließ sich zu einem milden Lächeln hinreißen. „Machen wir es dem Spion heute leicht...“

„Also was willst du?“

„Nimm Tsukiyono mit. Ihn erwartet hier keine Zukunft.“

„Was?“ Kens Haltung drückte Ablehnung aus, Brad wäre geneigt es als Widerstand zu bezeichnen.

„Omi entscheidet selbst was er tun möchte.“
 

„Das mag sein, aber es wäre besser für ihn, wenn er nicht hier ist.“

„Was heißt das? Es ist unverkennbar, dass du die Verbindung zwischen Naoe und ihm nicht billigst, ist das deine Art sich zwischen sie zu drängen?“

Brad steckte die Hände in die Taschen und wandte sich zur Seite. Er schwieg einige Momente. „Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass Nagi beim Versuch Omi zu retten stirbt. Und Omi mit ihm, wenn er hier bleibt. Ich kann nur diesen einen Versuch unternehmen und dieses Risiko ausschließen. Sie sterben zusammen, wenn nicht einer geht. Nagi kann nicht gehen, Omi dagegen schon.“

Ken sah ihn mit Entsetzen in den Augen an. „Wenn das eine Verarsche ist...“

Brad hob eine Hand. „Ist es nicht“, sagte Brad und er sah ihn eindringlich an.

„Ich schaffe es nicht“, gab er zu. „Ich bin nicht allwissend, Hidaka“, gab er einen Teil seines Unmuts preis. „Ich wäre es gern, aber es ist nicht so. Und ich bin nicht in der Stimmung erklären zu wollen was ich bereits getan habe um diesen Jungen, der wie ein Sohn für mich ist zu schützen. Es gelingt mir nicht“, sagte Brad und die bisher gut verborgene Wut über diesen Umstand drang nun hindurch.

Sie starrten sich an und Ken schüttelte den Kopf als würde er etwas nicht ganz begreifen. Oder es nicht begreifen wollen. Dann sah er wieder auf.

„Warum die Heimlichtuerei? Das geht schief. Das tut es immer.“

„Weil er sonst hier bleibt. Er wird nicht gehen, dazu ist er zu loyal.“

Ken nickte.

„Er wird nicht freiwillig mitgehen.“

„Wenn dem so ist werde ich mir etwas einfallen lassen, ich sage dir Bescheid. Nimm ihn mit, es steht ihm frei zurückzukommen falls er es nach alldem...“, Brad verstummte für einen Augenblick. „...was noch kommen wird will. Was ich in Zweifel ziehe.“
 

Ken nickte wieder und verließ den Raum.
 

Brad stand da und sah auf die verschlossene Tür. Seine Augen glommen mit einem matt goldenen Schimmer. Morgen würde er einen Anruf erhalten und dann konnte er einen weiteren Teil seines Plans umsetzen.

Er musste unter allen Umständen verhindern, dass Nagi die Klinik verließ. Nur von diesem Punkt aus würde er an einen weiteren Knotenpunkt kommen von wo aus er die Kehrtwende in diesem Spiel erreichen würde. Aber es war knapp, viel zu unsicher. Es blieb nicht aus, dass er den Doc involvierte, wenn Brad wollte, dass dieser überlebte. Brad ging wieder in den hinteren Teil des Zimmers und nahm das Telefon auf. Er sollte das Gespräch sofort hinter sich bringen.
 

Finn hörte dem Gespräch nur müde zu, er hatte das Gefühl nicht alles mitzubekommen, so leise wie Brad sprach. Er schwitzte wieder und kalt war ihm immer noch. Trotzdem fühlte er sich gar nicht so übel, er hatte diese komische Besprechung heil überstanden. Keiner hatte ihn gefressen.

Er legte den Kopf zurück und schloss wieder die Augen. Und jetzt schlafen. Himmlisch.
 

Das Gespräch mit dem Arzt verlief einerseits gut, da es vieles von dem was Asugawa gesagt hatte bestätigte, andererseits war die von Brad gewünschte Nichteinmischung der Kawamoris was Nagis Status betraf schwieriger...

Er klärte ihn über die kommenden Ereignisse teilweise auf und der Doc stimmte einigen Punkten zu. Mehr konnte er nicht verlangen.
 

Brad betrachtete sich die nächste Stunde die Datei, die seine Schwester ihm zur Ansicht dagelassen hatte und komplettierte sein dürftig zu bezeichnendes Wissen über Oloff.

Er hatte gewusst, dass PSI älter wurden als nichtbefähigte, was für ihn nicht wirklich interessant war, da er sich ohnehin nur mit PSI umgeben hatte. Es spielte in der rauen Welt der PSI eine eher untergeordnete Rolle. Die meisten starben eines unnatürlichen Todes.
 

Er sinnierte noch eine Weile über diesen Punkt, bis er bemerkte, dass Finn halb von seinem Sessel rutschte. Er stand auf und wollte den Mann aufwecken, was mit einer halbherzigen Abwehrbewegung quittiert wurde.

Brad spürte ein amüsiertes Lächeln auf seinem Gesicht. Er nahm ihn hoch. „Nun komm schon, ich bring dich rüber“, sagte er leise. Wie oft hatte er diesen Mann schon von A nach B getragen?

„Ich dachte du wolltest mich beschützen? So wird das aber nicht nächster Zeit wohl nichts werden.“

Er schmunzelte und brachte ihn in sein Schlafzimmer. Erneut spürte er wie feucht die Kleidung des Mannes war.

Er holte eines der Telefone aus dem Besprechungszimmer und rief Asugawas Vater erneut an.

„Asugawa hat Probleme mit dem Kreislauf, er schwitzt“, sagte Brad ohne Umschweife.

„Wie fühlt sich seine Haut an?“

Brad fuhr den Arm entlang, die Stirn, strich ihm die feuchten Haare von der Wange. „Kalt.“

„Können Sie ihm einen venösen Zugang legen?“, fragte der Doc.

Brad bejahte.

„Haben Sie ihn heute untersucht?“, fragte Brad neutral, allerdings fühlte er sich weit weniger neutral, als er sein sollte.

„Nein.“

Nein. Brads Mundwinkel umspielte ein missbilligender Zug.

„Kommt Tsukiyono heute noch vorbei?“

„Darüber habe ich keine Kenntnis.“

„Wenn ja, dann nehmen sie Kaito Blut ab und bringen sie die Proben vorbei. Sie müssten in ihrem Koffer noch einige Röhrchen haben. Von jeder Sorte eines. Geben sie ihm das Breitspektrumantibiotika und danach einen Liter Flüssigkeit.“
 

Nach dem Gespräch ging Brad hinunter in die Küche, wo Schuldig mit Kudou gerade irgendetwas Hochprozentiges in Gläser füllte.

„Wo ist Tsukiyono?“

„Draußen“, sagte Kudou.

Brad sah den Jungen auf der Terrasse, wie dieser in eine Diskussion mit Fujimiya involviert war. Tsukiyono aufmüpfig und rebellisch, Fujimiya gelassen und strikt.

„Fährst du heute noch in die Klinik?“

„Will er, ich habe es untersagt“, antwortete ihm Ran.

„Es ist doch egal wo ich schlafe...“, fing der Jüngere sogleich an.

„Es geht nicht darum wo du schläfst...“, begann Ran.

„Falls die Entscheidung zu deinen Gunsten ausfällt hätte ich Blutproben die zum Doc müssen.“

Brad ließ die beiden zurück und ging wieder nach oben, nicht ohne einen der Verbandskoffer die im Keller deponiert waren mitzunehmen.

Er setzte sich aufs Bett und drehte den Kopf zu sich, fuhr mit der Hand über die feuchte Stirn des Halbjapaners und betrachtete sich eine Weile das Gesicht. „Kaito...wach auf...“ Die müden Lider hoben sich zögerlich.

„Ich habe mit deinem Vater telefoniert und nehme dir Blut ab.“

Asugawa wollte sich aufrichten, scheiterte jedoch schon im Ansatz und ließ sich wieder zurückfallen. In Zeitlupengeschwindigkeit entfaltete sich sein Arm, der zuvor auf seinem Bauch gelegen hatte und er offerierte ihn.

Ein mattes Lächeln huschte über die Züge wie Brad bemerkte als er kurz in das ihm zugewandte Gesicht sah.

„Was ist?“

„Der Name...“

„Welcher Name?“

„Mein Name.“

„Was ist damit?“

„Ich...“, er räusperte sich.

„... ich dachte immer ich würde ihn beerdigt haben. Auf die eine oder andere Weise“, flüsterte er rau. „... aber ich denke... ich habe ihn nur aufbewahrt.“

„Für mich?“ Brad hob spöttisch einen Mundwinkel. Eine versteckte Liebeserklärung, die es in ihrer Tragweite in sich hatte. Er war nicht bereit sie anzunehmen. „Du bist müde und... krank...“, fing Brad an wurde aber durch eine matte Stimme unterbrochen. „... und daher rede ich wirres Zeug, meinst du?“

„So ist es.“

Brad staute eine Vene und sah zu Asugawa, der ihn aus halbgesenkten Lidern beobachtete. „Geht... es mir so schlecht?“, fragte er leise, das Thema über das sie gerade gesprochen hatten fallenlassend.

„Gut ist anders.“

Brad nahm den Adapter und punktierte die Vene und füllte sechs Röhrchen. Dann ließ er das letzte Röhrchen auf dem Adapter, wandte sich dem Koffer zu und bereitete die Infusion mit dem Antibiotika vor. Asugawa beobachtete ihn dabei. Brad entfernte das letzte Röhrchen und schloss die Infusion an.

„Du... hast...deinen Beruf verfehlt...“, meinte Asugawa schlau und lächelte ein verunglücktes Lächeln. Brad erwiderte es ironisch.

Brad erhob sich und verließ kurz das Zimmer, als er wiederkam ließ er eine Phiole in eines der Beutel gleiten, die als Transport für Blutproben gedacht waren. Asugawa schien nichts davon bemerkt zu haben.

„Ich habe Erfahrung“, nahm Brad den Faden wieder auf. „Bei SZ gehörte die Versorgung eines Ordensmitgliedes zur Grundausbildung. Und dazu habe ich noch ein Sorgenkind das sich Schuldig nennt. Wie es scheint habe ich dieses abgegeben und mir ein neues Findelkind angelacht.“

„Trotzdem könnte ich mir dich gut als Mediziner vorstellen.“

„Ärzte üben ihren Beruf unter anderem deshalb aus, weil sie daran glauben ein Leben retten zu können. Was wäre ich für ein Arzt wenn ich von vornherein wüsste, dass es nicht mehr zu retten ist?“, sagte er leise.

Brad sah auf als er den Zugang mit einem Pflaster befestigte, Tsukiyono stand im Türrahmen.

„Zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?“
 

„Ich darf hinfahren und soll über Nacht dort bleiben, allerdings war wohl der Job als Bote der ausschlaggebende Punkt dabei. Außerdem hat es wieder zu regnen begonnen und Ran meinte deshalb ich solle nicht noch mal raus, als wenn ich nicht mit etwas Regen klar kommen würde...“ Omi grinste halbherzig als er näher kam. Das freudige Lächeln erlosch als er Asugawa betrachtete. Der sah echt fertig aus, ziemlich grau im Gesicht und verschwitzt. Omi bemerkte die Infusion und den Verbandskoffer. Die Genugtuung die ihm ein solcher Anblick wohl bescheren sollte blieb gänzlich aus. Die fiebrig glänzenden braunen Murmeln mieden seinen Blick als Asugawa den Kopf abwandte, der Arm hing immer noch bereitwillig und willenlos über der Bettkante. Er bemerkte die Hand des Hellsehers, die auf dessen Unterarm lag.

Omi wollte Asugawa nicht mehr seinen neugierigen Blicken aussetzen, die ihm augenscheinlich unangenehm waren und trat näher an Brad heran. Dieser gab ihm eine Tüte in die Hand und Omi verließ das Zimmer.
 

Brad machte sich daran, Finn die nur locker geschnürten Stiefel auszuziehen. „Du musst das nicht machen...“, wandte Finn kleinlaut ein und fühlte sich beschämt.

„Das weiß ich“, erwiderte Brad lediglich.

Er beugte sich über ihn, öffnete den Knopf der Lederhose, zog den Reißverschluss langsam auf.

Finn dröhnte dieses Geräusch geradezu in den Ohren, er hielt den Atem an. Brads Finger streiften sein Geschlecht. Er schloss die Augen und spürte der Berührung der Hand nach die den Rand der Lederhose nachfuhr und sie dann hinunterzog. Finn hob seinen Hintern an und ließ sie sich abstreifen. Danach deckte Brad ihn zu. Wie krank musste er werden um nicht mehr scharf auf diesen Mann und seine Berührung zu sein?

„Schlaf etwas.“

Brad löschte das Licht, schloss die Tür und setzte sich an den Tisch.

Er ließ seine Augen etwas ruhen.
 

Nach einer guten Stunde wurde es ruhig im Haus. Er selbst blieb im Sessel sitzen und schlief nur oberflächlich ein.
 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Gadreel ^.^

machtlos

machtlos
 


 


 


 

Als Schuldig die Tür zur Terrasse schloss und die Rollläden herunterfuhr war es kurz nach Mitternacht.

Er löschte das Licht im Poolhaus und ging durch den Flur in Richtung Küche. Ran war wohl schon nach oben gegangen, vermutete er.

Er verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Sein Bedürfnis nach der Nähe des anderen war wie immer groß und ließ ihn stets dessen Aufenthaltsort suchen. Visuell oder telepathisch machte da keinen wirklich großen Unterschied. Es beruhigte ihn zu wissen wo Ran war.

Auf seinem Weg in das obere Stockwerk kontrollierte er die Signaturen der Anwesenden auf ihren Aufenthaltsort. Ran zu lokalisieren gelang ihm nicht.

In ihrem Zimmer war es dunkel, Ran war nicht hier wie ihm nach einem kurzen Moment der Irritation bewusst wurde. Wo zum Teufel war er?
 

Für ihn war es nicht schwer gewesen zu erkennen, dass die neuen Informationen Ran stark zusetzten. Die letzten Tage war er zunehmend stiller geworden, das war nichts Ungewöhnliches wenn man sein Verhalten in Anwesenheit der anderen kannte. Dennoch machte er sich Sorgen da Ran selbst in Schuldigs Gegenwart in sich gekehrt wirkte.

Sein kritischer Blick suchte das Zimmer ab und fand Rans Katana auf der Kommode liegen. Er verließ das Schlafzimmer und machte sich nach unten auf.

Es war still in der Dunkelheit um ihn herum. Etwas Licht spendeten die Displays an einigen Stellen im Haus.

Im Erdgeschoss bog er in den kurzen Korridor ab der in den Keller führte und ging die Stufen hinunter.

Der Korridor war unbeleuchtet, jedoch drang Licht durch einen schmalen Spalt unter der Tür die zum Trainingsraum führte hindurch.

Schuldig atmete frustriert aus und ging darauf zu. Wann war er so dermaßen abhängig von diesem Mann geworden?

Er öffnete die Tür leise und lehnte sich mit verschränkten Armen am Türrahmen an. Erst jetzt durchflutete ihn Erleichterung und erst jetzt erkannte er wie angespannt er offenbar war wenn er nicht wusste wo Ran sich herumtrieb. Das lag nicht unbedingt an seiner dominanten Seite oder daran, dass die Besitzgier in ihm überhand nahm, es lag schlicht daran, dass es unruhige Zeiten waren und er Angst um diesen sturen, stillen Mann hatte.

Für Schuldig war es immer wieder erschreckend festzustellen welche Wirkung Ran auf ihn hatte. Es gab Momente, da musste er sich zusammenreißen um Ran nicht sofort gegen die nächste Wand zu pinnen und ihn ficken zu wollen. Das hier war so ein Moment. Gut, vielleicht hatte sich doch ein wenig Besitzgier eingeschlichen...
 

Schuldig verließ seinen Beobachtungsposten lautlos, ging über den Flur in den Raum in dem ihr Waffenarsenal gelagert wurde, kramte ein wenig in einem der Koffer herum und ging mit einem Paar Fesselbändern aus Kunststoff zurück.
 

Ran hatte eine Trainingshose an, ein Unterhemd und seine Haare klebten ihn am verschwitzten Rücken.

Das Unterhemd war nass geschwitzt, die Muskeln, die nicht so ausgeprägt wie bei Brad oder Schuldig waren zeugten von Kraft und Geschmeidigkeit, arbeiteten die Katas ab. Ran stand mit dem Rücken zu ihm und schien ihn noch nicht bemerkt zu haben, zumindest zeigte Ran es nicht. Sicher sein konnte er sich bei ihm nicht.
 

Gerade jetzt konnte Schuldig sehen, wie sehr es in Ran arbeitete, er war nicht ganz bei der Sache. Seine Konzentration litt, die Bewegungen wurden perfekt ausgeführt, dennoch nicht wie sonst mit einer Leichtigkeit anzusehen, sie schienen Schuldig hölzern und erzwungen.

Ran drehte sich leicht seitlich und Schuldig geriet wohl in seinen Fokus als er sich vollends zu ihm umdrehte. Er atmete schwerer als sonst.

Ein Schweißtropfen lief Ran die Schläfe herunter und wurde von einer Haarsträhne aufgenommen. Die violetten Augen blitzten in altbekannter Wut. Sie wirkten wie geschliffenes Glas, facettenreich in unterschiedlicher Intensität als gäbe es verschiedene Varianten von Violett, die es zu zeigen gab.

Es wurde Zeit Ran eine Möglichkeit zu geben um sich abzureagieren. Besser jetzt, als später wenn er wieder in einen der beiden möglichen Zustände verfiel, die es Schuldig unmöglich machen würde an ihn heranzukommen. Schuldig wollte keinen handlungsunfähigen Ran der entweder fast katatonisch war oder so voller blindem Hass dass er alles angriff was in sein Umfeld geriet.
 

Schuldig lächelte und fast sofort veränderte sich das Violett zu etwas Gefährlichem. „Ich brauche noch ein paar Augenblicke. Schlafen die anderen?“

Schuldig ignorierte die Frage. „Für was?“

Damit brachte er Ran aus dem Konzept, vor allem weil Schuldig seine Frage nicht erklärte oder vielleicht auch weil sich sein Tonfall verändert hatte. Ran spannte die Schultern an, seine Haltung änderte sich kaum merklich.

Er ließ das Übungsschwert langsam sinken und sah ihn an.

„Ist das nicht zu sehen?“

Unsicherheit lag unter den herausfordernden Worten. Sie war subtil, doch Schuldig erkannte es in dem schnellen Seitenblick, den Ran ihm zuwarf.

Schuldig sah ihn noch immer milde lächelnd an, löste sich jedoch von dem Rahmen und schloss die Tür ohne Ran aus den Augen zu lassen.

„Nein, das ist es nicht.“

Schuldig konnte sehen wie es in Ran arbeitete als er versuchte herauszufinden in was für einer Stimmungslage sich Schuldig befand und wie er selbst damit – in seiner eigenen Gemütslage – umgehen konnte oder sollte.
 

Ran hatte sich wohl entschieden ruhig zu bleiben – so wie die letzten Stunden auch – obwohl er vermutlich eher ausrasten und jemanden den Kopf abreißen wollte.

Er wandte sich ab und ging zu dem Rack auf der Seite und legte das Übungsschwert in die Halterung. „Was meinst du?“, fragte er verhalten aber deutlich verstimmt wie Schuldig an der Tonlage erkennen konnte. Rans Stimme war distanziert und kühl, ein eindeutiges Anzeichen dafür wie sehr er versuchte seine Wut im Zaum zu halten.

„Ich weiß nicht was du hier getrieben hast aber es war vollkommen sinnlos. Deine Bewegungen waren hölzern und erzwungen. Willst du unseren Feinden so das Fürchten leeren?“, fragte Schuldig und legte dabei eine gehörige Portion Spott in seine Stimme.

Ran drehte sich überrascht halb zu ihm um. „Leck mich, Schuldig“, knurrte er und ging an ihm vorbei. Schuldigs spöttisches Lächeln weitete sich zu einem waschechten Grinsen aus und er griff nach Rans Oberarm, zerrte ihn herum und schubste ihn in die Mitte des Raums. Rans Augen weiteten sich erstaunt ob dieser groben Behandlung, er fing sich ab und blieb nach wie vor passiv im Raum stehen. „Was soll das? Stiftet der Alkohol noch mehr Chaos in deinem ohnehin schon verdrehten Gehirn?“, blaffte Ran ungewöhnlich aggressiv.

„Autsch“, erwiderte Schuldig mit einem lasziven Lächeln, das Ran an vergangene Zeiten erinnern sollte. An einen Schuldig, der Angriffe von Ran stets mit Spott erwidert hatte.

Die Dunkelheit griff nach Ran. Das konnte Schuldig nur zu deutlich erkennen. Es war die gleiche Macht, die Schuldig in sich trug und vor der sich Ran fürchtete. Verzweiflung war ihr Name und Ran hatte ihr nicht viel entgegenzusetzen.

Schuldig ging ihm nach und blieb auf Abstand stehen.

„Das erklär du besser mir.“

Ran machte die Schotten dich, um sich immer noch nicht ernsthaft auf Schuldig einlassen zu müssen. Schuldig konnte die Unsicherheit immer noch in seinen Augen flackern sehen. Ran hatte Angst vor Schuldig. Nicht vor ihm selbst, sondern vor dem was er ansprechen könnte. Und Ran wusste, dass hier und jetzt etwas aus Schuldigs Mund purzeln könnte, das er nicht hören wollte. Ran hatte nur zwei Möglichkeiten dem zu entkommen: Gegenwehr oder Flucht.

„Keine Ahnung was du meinst“, er schüttelte den Kopf einmal. Eine abgehakte Bewegung, die Endgültigkeit unter dieses Thema setzen sollte. Jeden anderen hätte Rans Gesichtsausdruck, der überwiegend von diesem speziellen unerbittlichen Blick dominiert wurde abgeschreckt. Schuldig war immun dagegen. Ran wusste, dass Schuldig nicht aufgeben würde. Darauf konnte sich Ran verlassen.
 

Ran ging wieder an Schuldig vorbei. Auf gleicher Höhe schnappte sich Schuldig erneut Ran am Arm drehte diesen auf Rans Rücken und packte ihn an seiner Kehle. Er musste sich bereits gegen die Muskeln des Japaners anstrengen als er ihn mit der Front gegen die Wand schleuderte. Ran stöhnte als er unsanft damit in Kontakt kam.

„Die verspeisen dich zum Frühstück, Honey“, wisperte Schuldig sanft in Rans Ohr und er spürte wie Ran sich anspannte und er sich endlich zu wehren begann. „Schwach, einfach zu besiegen, leicht zu ficken, simpel zu töten. Du bist naiv. Du hast keine Ahnung was dich erwartet.“

Ran knurrte als der Druck auf seinem Arm zunahm. Das Knurren wurde lauter und mündete schließlich in einen heiseren Schrei, der voller Zorn der Anfang einer Explosion war die Schuldig so dringend für Ran wollte. Dieser warf sich überraschend hart nach hinten, traf mit seinem Hinterkopf Schuldig Nase woraufhin Schuldig seinen Griff lockerte. Ran nutzte diesen kurzen Augenblick aus um sich zu befreien. Er verpasste Schuldig einen Schlag auf sein Brustbein was Schuldig kurz zum Taumeln brachte. Er stabilisierte seinen Stand und grinste Ran herausfordernd an, während er sich aufreizend die lädierte Nase rieb. Dabei vergrößerte er den Abstand zu ihm und behielt ihn im Auge.

Ran ließ ihm keine Zeit um sich zu erholen, mit einem heiseren dunklen Schrei ging er auf Schuldig los.

Dieser blockte den nächsten Schlag ab und begann sich selbst zu wehren und auszuteilen.

Sie schenkten sich nichts während der nächsten Minuten, auch wenn Ran schmaler gebaut war, sein Körper jedoch war hart wie eine Stahlsehne, Schuldig dagegen war etwas größer und im Nahkampf geübter als Ran. Dessen unterdrückte Wut brachte Schuldig jedoch oft in die Defensive. Schuldig stabilisierte seinen Stand als Ran erneut angriff. Er hob sein Bein um zu einem Frontkick anzusetzen, verstärkte diesen als sein Fuß auftraf indem er seine Hüfte weiter nach vorne brachte. Mit dieser schnellen und harten Antwort hatte Ran nicht gerechnet. Er prallte gegen die Matten an der Wand und landete auf dem Boden.

Schuldig befühlte seine Nase, die zwar nicht gebrochen war dennoch fühlte sich alles taub an. Er hatte sich bei Rans brachialem Manöver auf die Lippe gebissen, das Blut ableckend wartete er darauf, dass Ran sich wieder erhob.

Was dann auch geschah, denn Ran prügelte auf Schuldig mit einer Vehemenz ein, dass Schuldig ahnte, dass das Problem mit dem er sich innerlich auseinandersetzte weit tiefer ging als Schuldig geglaubt hatte. Seine Hände wurden zwar durch die dünnen fingerlosen Handschuhe etwas geschützt, doch Schuldig bezweifelte, dass sie alles abfangen konnten. Er selbst trug keine Handschuhe und seine Haut trug ein paar Blessuren an den Knöcheln davon.

Schuldig Rippen schmerzten vom letzten Schlag den er zwar mildern aber nicht ganz abwehren konnte. Er brach halb auf ein Knie nachdem er Ran an der Schläfe traf und ihn zu Boden geschickt hatte. Erneut. Er ahnte, dass Ran so weiter machen würde bis die Erschöpfung ihn erledigte.

Ran wollte sich mühsam wieder erheben. Er sah auf Schuldigs nackte Füße, seine Lippen bildeten einen trotzigen Strich, während seine Nasenflügel bebten. „Bleib liegen oder ich schick dich wieder runter“, sagte Schuldig sich langsam erholend. Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu auch wenn sie leise war.

Er sah wie Rans Arme zitterten.

„Einen Dreck wirst du“, grimmte Ran. Schuldig fühlte sich selbst wie durch die Mangel gedreht und konnte gerade noch verhindert dass er genervt stöhnte. Auf diese Weise gerieten sie in Gefahr einander ernsthaft wehzutun. Und das konnten sie sich im Augenblick nicht leisten.
 

Ran lag seitlich und hatte sich auf die Ellbogen gestemmt, Schuldigs Blick glitt über seinen Körper. „Du bist geil, Honey. Magst du es wenn ich dich schlage?“, sagte Schuldig in provozierendem Tonfall, was Ran noch mehr aufbrachte, als er aufschrie und sich auf ihn warf.

Sie rangelten noch eine Zeitlang und Schuldig hatte gut zu tun um Ran keine Treffer mehr zu gönnen. Nicht nur Ran schien die Lust auf dieses Spielchen auszugehen, er selbst war müde.

Hier auf dem Boden war er leicht im Vorteil. Ran wurde das selbst in seinem von heller Wut umnebelten Gehirn klar, als er seine Taktik änderte und sich plötzlich befreien wollte um auf die Beine zu kommen.

Schuldig ließ ihn nicht, hielt ihn mit seinem Gewicht weiter unten und presste Ran die Luft aus den Lungen. Wieder bog er Ran einen Arm auf den Rücken, doch Ran wollte nicht nachgeben, er schrie erneut bockig und zornig auf. „Gib nach!“, knurrte Schuldig ihm nun seinerseits wütend über Rans Trotz ins Ohr. Er keuchte ob der gespannten Bogensehen die unter ihm lag. „Nein“, keuchte Ran. „Niemals...“

„Das werden wir sehen.“

„Wir werden überhaupt nichts sehen. Was bin ich?“, brachte er gepresst hervor. „Ihr lügt mich an! Alle haben mich belogen. Bin ich es nicht wert die Wahrheit zu erfahren?“ Ran versuchte frei zu kommen und Schuldig machte sich auf einen Ausbruch gefasst, der auch sofort kam.

Schuldig brachte trotz der Kraftanstrengung das Fesselband um eines der Handgelenke an, kniete sich in Rans Kreuz, was diesen wütend aufstöhnen ließ und presste Rans anderen Arm mit einem gemeinen Schmerzdruckpunkt in die gewünschte Haltung. Er zog den Arm nach hinten und spürte wie Rans Körper stärker zu zittern begann. Schnell fesselte er Rans Handgelenk mit dem anderen zusammen und atmete auf. Er zog Rans Kopf an seinen Haaren in den Nacken, kauerte über ihm. „Du machst es mir wirklich nie leicht, was?“

„Fick mich“, knurrte Ran drängend.

Schuldig hielt inne. Das würde er ganz bestimmt nicht tun. Sie wussten beide, dass Ran mit diesem Sex nur seine Wut kanalisieren wollte und darauf hatte Schuldig jetzt gerade keine gesteigerte Lust. Ran wie ein wildes Tier zu sehen, gefangen in seinen düsteren Gedanken und widerstreitenden Gefühlen ließ jeden Sinn für Sex in ihm ersterben. Ohne Ran in seinem Leben, in diesem früheren Leben wäre er darauf eingegangen. Aber heute war er auf einem anderen Weg. Er wollte nicht auf diesen anderen Weg zurück. Nur zu gut konnte er sich an eine ähnliche Situation erinnern. Sie hatten beide nichts gegen diese Art Druckabbau, nur war dies der falsche Zeitpunkt in Schuldigs Augen. Der falsche Grund.

„Nein, Ran.“

Ran renkte sich halb die Schulter aus als er komplett ausrastete und sich vor Wut brüllend aufbäumte. „NEIN!“ Schuldig versuchte ihm auf die Knie zu helfen, wurde von Ran in seiner Raserei halb umgeworfen.

Schuldig ließ ihn sich austoben, ihn schreien und ihn verfluchen. Bis er schließlich langsam in sich zusammensank, das Kinn auf die Brust gesenkt und heftig atmend. Erst als sich Rans Atmung beruhigt hatte wischte Schuldig mit Rans Unterhemd über das Gesicht, nahm Tränen und Speichel der Wut mit sich. Dann hielt er Ran fest an sich gedrückt, wiegte sie beide in der Stille, die zwischen ihnen entstanden war.

„Ich weiß, dass du nicht gegen mich kämpfst“, sagte er. Er rutschte herum, nahm Ran zwischen seine gespreizten Schenkel und bettete ihn seitlich an sich, zog den willenlosen Kopf an seine Schulter und streichelte sanft über Rans Kopf.

„Geht’s besser?“, fragte Schuldig leise.

Ran zuckte mit den Schultern. Er suchte mit seinen Lippen die Nähe von Schuldigs Haut und ließ sie dort ruhen. Noch immer ging seine Atmung schnell wovon die hastigen Atemzüge an seinem Hals kündeten.

„Ich löse die Fesseln...“, setzte Schuldig an, doch das raue „Nein, nicht“, ließ ihn innehalten. Ran hasste Fesseln, akzeptierte sie in gewissen Situationen, in dieser jedoch hätte Schuldig nicht damit gerechnet. Es war also noch nicht ausgestanden? Schuldig seufzte ungehört. Sie schwiegen. Dabei bemerkte Schuldig eine Signatur, die sich ihnen näherte.

‚Hey Blondie, so spät noch unterwegs?’

‚Was ist los bei euch? Ich hatte Durst und höre Ran schreien.’

‚Bleib draußen. Kein guter Zeitpunkt.’

‚Hattet ihr Streit?’

‚Gewissermaßen.’

‚Was heißt das? Weihe mich in deine bösen Absichten ein, Schurke!’, verlangte Kudou, der vor der Tür stehen geblieben war. Schuldig erkannte den altbekannten Humor, dahinter steckte jedoch ernste Sorge.

‚Ich habe mich dazu genötigt gefühlt ihn zu provozieren. Er war zu ruhig in den letzten Tagen.’

‚Wegen der Sache mit Chiyo?’

‚Auch. Aber vor allem weil er sich wohl nutzlos fühlt.’

‚Das sind Altlasten. Er schleppt sie immer noch mit sich herum.’

‚Ja. Ich dachte wir hätten sie zumindest ein Stück weit aufgearbeitet. Sie kommen immer wieder hoch, als würde er sie irgendwo horten.’

‚Wie meinst du das?’

‚Keine Ahnung, aber manchmal ist es wie eine Endlosschleife. Ich bringe sie nach außen...’

‚Du meinst, du brichst sie aus ihm heraus.’

‚Von mir aus. Aber dann wenn ich glaube er hat seinen Frieden damit gemacht, ist es die gleiche Intensität, die gleichen verhassten Gefühle. Er ist wie ein Tier. Du solltest ihn sehen. Sein ganzer Körper kämpft dagegen an. In diesem einen Augenblick wenn er mich dann ansieht habe ich das Gefühl er sieht Takatori vor sich.’

‚Greift er dich ernsthaft an?’

‚Nein, er zügelt sich. Dennoch spüre ich selbst in dieser Beherrschung, dass er eher etwas anderes will.’

‚Er will jemanden töten?’

‚Ja. Dummerweise stehe ich vor ihm. Das macht ihn noch wütender.’

‚Kann ich dir helfen?’

‚Vielleicht wäre ein nächtlicher Ausflug in die Bars der Stadt eine geeignete Maßnahme. Nur ihr Zwei. Du könntest ihm auf den Zahn fühlen.’

‚Du erlaubst mir ihn dir zu entführen?’

‚Träum weiter, Kudou. Ich folge euch selbstverständlich. Aber bleibe außer Sichtweite. Irgendetwas schürt diese brachiale Wut immer wieder. Sie... schmeckt wie damals. Als wäre er wieder dort – Takatori gegenüber stehend.’

‚Du meinst er erlebt es wieder?’

‚Nein, nur die Gefühle. Sie blenden auf sobald ich ihn reize.’

‚Vielleicht ist er einfach so?’

‚Nein. Ich kann es dir nicht erklären, nicht gut genug, jedenfalls. Ich verstehe es selbst nicht.’

‚Interpretierst du zu viel hinein?’

‚Kann sein. Ich mache mir Sorgen.’

‚Sorgen?’

‚Ich habe Angst, dass er sich in diesen Gefühlen erneut verliert oder wieder in einen Zustand gerät wo er nicht mehr ansprechbar für... uns sein wird.’

‚Kann das wieder passieren?’

‚Weiß ich nicht. Ich weiß nicht was dann mit ihm los ist. Warum sein Bewusstsein so weit weg driftet.’

‚Kommst du klar?’

‚Ja.’

‚Ruf mich wenn es schlimmer wird.’

‚Mach ich.’

Kudou ging und Schuldig sah auf das Bündel Verzweiflung in seinen Armen. Warum wollte Ran die Fesseln an Ort und Stelle lassen? Er hasste sie.

„Warum?“ Schuldig hatte das Gefühl sich auf dünnem Eis zu bewegen, ein Fehltritt und sie würden beide einbrechen.

„Ich...“, Rans Stimme brach.

„...ich... muss etwas tun. Alle erwarten das. Ich kann nichts tun. Aber ich muss. Ich muss das alles aufhalten. Wenn... wenn...“, er brach erneut ab und verkrampfte sich, kroch halb in Schuldig hinein.

„Schon gut. Ich verstehe... ganz ruhig, Ran.“ Er zog die Arme fester um Ran.

„Die Fesseln geben dir die Möglichkeit von dieser Bürde eine Auszeit zu nehmen.“

Ran nickte schwach.

„Keiner erwartet von dir die Rettung der Welt, Ran. Nur du selbst tust das.“

„Wir haben sie schon mal gerettet“, brummte Ran trotzig und Schuldig musste schmunzeln.

„Mag sein. Aber du warst es nicht allein. Da war ganz Kritiker am Werk. Alle von Kritiker, die Informationen sammelten, die eine gewisse Vorarbeit leisteten damit ihr an die Arbeit gehen konntet. Unsere Manipulation nicht zu vergessen damit ihr in die richtige Richtung gelangen konntet. Viele Dinge spielten euch in die Hände. Du warst es nicht allein, Ran“, wiederholte Schuldig in der Hoffnung, dass es dann besser in diesen Dickschädel hineingehen würde. „Trag nicht die ganze Last der Welt auf deinen Schultern.“

Schuldig schwieg für einen Augenblick.

„Ich fühle mich machtlos.“

Schuldig nickte. Das Gefühl der Machtlosigkeit kannte er nur zu gut. Und es hatte in ihm etwas hervorgebracht, das für Menschen in seiner Umgebung gefährlich war. Erst seit Ran in sein Leben getreten war hatte er dies erkannt.

„Es macht mich wütend Ran zu sehen wie du dich aufreibst. Es... verleitet mich dazu mir zu wünschen ich könnte dich wegsperren, dich vor dieser Welt verstecken, dich ihr zu entziehen und dir nicht die Möglichkeit zu geben auch nur daran zu denken, dass du sie retten könntest. Kein Einzelner kann das schaffen, Generationen von Vielen sind dazu nötig.“

Ran regte sich und neigte den Kopf in den Nacken um ihn anzusehen. Ihr Blick verschränkte sich und Rans Mundwinkel zuckten. Das müde Lächeln war kaum zu erahnen. „Urlaub?“, krächzte er.

Schuldig sah Ran mit einem Gefühl der Trauer an. „Ja, Urlaub“, sagte er mit rauer Stimme. „Meinst du nicht, dass ich von diesem ganzen Mist weg will? Es gibt Tage an denen ich weg von mir selbst will. Ich kann nicht aus meiner Haut, Ran.

Ich bin wie ich bin. Keiner der mir zeigt wie ich sein sollte, wie ich die Dinge in mir regeln könnte. Wir bauchen jemanden der uns führt, der uns... mir zeigt wie wir weniger zu einer Belastung für uns und andere werden können. Kettenhunde die sich von ihrer Kette losgebissen haben, ihren Besitzer totgebissen und seither durchs Land streifen auf der Suche nach einer neuen Kette.“

Ran runzelte leicht die Stirn.

„Blöder Vergleich?“, fragte Schuldig schmunzelnd. Er musste dabei an Brad, an Jei und allen voran an Nagi denken.

Ran nickte.

„Wir wissen nicht wohin mit uns selbst. Zu was sind wir gut? Elementare Fragen, die selbst Brad sich nicht beantworten kann. Gerade er nicht. Es gibt keinen Platz in dieser Welt für solche wie uns.“

Rans Gesicht verzog sich und er wandte es von ihm ab, keuchte an seine Halsbeuge.

Sie schwiegen Minuten. Bis Schuldig Nässe auf seiner Haut fühlte.

„Du hast Angst vor dieser Möglichkeit so zu sein wie ich es bin?“

Rans Körper erzitterte und er öffnete den Mund, er schluchzte auf und ein Heulkrampf erschütterte ihn.

Schuldig schwieg betroffen und wiegte Ran eine Weile in seinen Armen, strich ihm sanft die Haarsträhnen aus dem glühenden Gesicht.

„So schlimm ist das nicht“, sagte er tröstend. „Es sind nicht alle wie wir, Ran. Du kennst nur uns. Es gibt ganz nette, harmlose PSI. Es sind nicht alle mordende Monster.“

„Red keinen Unsinn“, flüsterte es rau an seine Haut.

„Ich brauche deine Stärke Ran, deinen kühlen Kopf. Du bist nicht mehr allein, du bist nicht mehr der Anführer eines Teams, du trägst nicht mehr die Verantwortung für das Leben deiner Schwester. Du bist Teil eines Teams und du hast Fähigkeiten wie jeder andere von uns die ihren Teil dazu beitragen. Es geht darum uns zu schützen, nicht mehr darum das Böse in der Welt zu bekriegen. Es geht um dich selbst. Kämpfe um dich selbst. Wenn du willst: um deine Freunde. Du bist wie du bist – und wenn es stimmt was wir bisher nur vermuten können, dann warst du schon immer ein PSI. Aber davon kann momentan noch nicht sicher ausgegangen werden, stimmst du mir da zu?“

„Ja“, kam leise.

Ran seufzte. Er wischte sich die Nase an Schuldigs Hals, schniefte und schluckte. „Es passt... so gut zusammen.“

„Ja, das tut es.“ Schuldig schmunzelte gerührt über Rans Vertrautheit und er war ein bisschen stolz auf sich, dass er diesen Mann für sich gewonnen hatte. Diese vertraute Nähe war ihm vor Ran gänzlich unbekannt gewesen. Jetzt jedoch fühlte er sich als hielte er den größten Schatz der Welt in seinen Armen. Die Tatsache, dass er wusste, dass Ran ihn liebte, dass er sich ihm anvertraute und sich in seinen Schutz begab ließ ihn sich weniger böse, ihn weniger verrückt fühlen. Er hatte kaum mehr Interesse daran Menschen auszuspionieren oder sie zu seinem persönlichen Vergnügen zu manipulieren.

Schuldig löste die Fesseln an Rans Handgelenken und Ran nahm seine Arme langsam nach vorne. Er lehnte sich etwas zurück, legte seine Hände an Schuldigs Brust um sich abzustützen und sah ihn an.

„Alles Lug und Trug? Mein ganzes Leben?“

„Es macht keinen Unterschied. Es kann auch nicht verändert werden.“

„Aber...“ Ran wirkte leicht verzweifelt. Er strich sich mit beiden Händen ungelenk die Haare hinter die Ohren und ließ sie dann in einer resignierenden Geste fallen. „Es würde alles verändern. Meine Sicht auf die Dinge, meine...“

Schuldig sah Ran für Augenblicke nur an, er wartete darauf, dass noch mehr von Ran kam, doch dieser führte seinen Satz nicht weiter.

„Für mich nicht, Ran. Für mich würde sich nichts ändern. Du weißt wer du bist. Und selbst wenn es deine Sicht auf die Dinge verändern würde, wäre diese Sicht denn schlecht? Klar ist es wichtig die Erinnerung in Einklang mit der Wahrheit zu bringen, aber spielt es eine Rolle an dem Punkt an dem wir stehen? Deine Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern, die Zukunft ist noch nicht geschrieben. Es gibt Lücken in unserer Vergangenheit, die wir nun schließen können. Trotzdem wissen wir wer wir sind. Wir werden damit umgehen können.“

Ran machte sich von ihm los und setzte sich seitlich. „Du verstehst nicht was ich meine...“, sagte Ran mit einem unglücklichen Unterton.

„Alles wird sich verändern“, sagte er nach einer Weile düster.

„Ich will nicht, dass sich etwas verändert“, gab Schuldig missmutig zu.

„Hat es je eine Rolle gespielt was wir wollten?“, hielt Ran dagegen.

„Wenn wir es zulassen, dass andere über uns bestimmen und für uns entscheiden wohl nicht.“ Schuldig veränderte seine Haltung.

„Das haben wir schon oft durchgekaut“, brummte Ran.

„Ja, haben wir. Unsere Gesellschaft wird geprägt von strengen Regeln und Fesseln, die uns unsere Fähigkeiten diktieren. Das führt dazu, dass sich manche von uns davon freimachen wollen. Sie wollen diese Ketten sprengen um nur einmal frei durchatmen zu können. Dabei ist es ihnen egal, dass ein solcher Atemzug die Auslöschung Vieler bedeuten könnte.“

„Denkst du an Nagi?“

„Ja, der Kleine muss sich stets beherrschen. Dabei strebt er nach Aufmerksamkeit, nach Beachtung. Seine Telekinese strebt nach Freiheit. Du hast gesehen was passiert wenn er sich dem Wunsch nach Freiheit ergibt.“

Ran schwieg. Sie hingen beide ihren Gedanken nach.

„Und wer sagt, dass eine Veränderung schlecht sein muss?“, sagte Schuldig nach einer Weile. „Dein Leben wurde vor ein paar Monaten gehörig auf den Kopf gestellt. War diese Veränderung schlecht?“

Ran sah ihn an.

„Sag jetzt nichts Falsches“, sagte Schuldig ironisch und hob eine Augenbraue.

Ran berührte seine Schläfe und neigte sich für einen zarten Kuss zu ihm. „Nein, diese Veränderung war gut, auch wenn sie schmerzhaft war“, sagte er leise.
 

Sie blieben noch eine Weile so sitzen bis sie sich voneinander lösten und aufstanden.

In einvernehmlichem Schweigen wandten sie sich der Tür zu, löschten das Licht und gingen nach oben. Sie duschten schweigend, hielten sich im Arm und hingen ihren Gedanken nach. Erst als sie beide eng aneinander lagen und Schuldig die Augen schloss sagte Ran etwas. Offenbar ließ ihn das Thema noch nicht los, für Schuldig war das ein gutes Zeichen.

„Es würde nur mit einem Druckmittel funktionieren“, sagte Ran nachdenklich.

„Oder wenn sie uns in eine Lage versetzen, in der wir keinen anderen Ausweg sehen – auch eine Art der Lenkung.“

Schuldig drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. „Denkst du darüber nach wie sie an unsere hübschen Ärsche kommen könnten?“

„Du hast keinen hübschen Arsch“, sagte Ran mit indigniertem Spott.

„Hab ich wohl!“, hielt Schuldig dagegen und schnaubte. Er kam auf die Ellbogen hoch und schaute Ran im Halbdunkel vorwurfsvoll an.

„Wenn sie schlauer sind als wir...“, grübelte Schuldig dann und ließ sich wieder in die Kissen fallen.

Ran antwortete nur mit einem Brummen.

„Schwer nicht schlauer zu sein, wenn der andere nur zehn Prozent der ganzen Geschichte weiß – und selbst die gelogen waren“, sagte Ran mit Bitterkeit in der Stimme.

„Das weißt du nicht, Ran.“

„Ich hab ein beschissenes Gefühl.“

Schuldig verzog das Gesicht unglücklich. Er drehte sich zu Ran und schob seinen Arm unter diesem vorbei um ihn an sich zu ziehen. Rans Herzschlag war langsam und Schuldig lächelte beruhigt.

„Wir fahren heute zu Chiyo.“

„Ich will nicht dorthin fahren.“

„Schon klar. Du hast ja mich“, sagte Schuldig zuversichtlich und grinste plötzlich unternehmungslustig. „Dabei fällt mir ein... wir könnten...“

„Nein“, sagte Ran rigoros. Das war der Ran den er brauchte.

„Wie nein? Du weißt überhaupt nicht was ich mir gerade ausgedacht habe?“

„Egal, es ist bestimmt etwas Dämliches“, behauptete Ran gelassen.

„Stimmt doch überhaupt nicht, mir werden hier schon wieder furchtbare Dinge unterstellt...“, entrüstete sich Schuldig halbherzig und zog einen Flunsch. Dann zwickte er Ran in eine der Brustwaren, woraufhin er von Ran an den Handgelenken gepackt und auf den Rücken geworfen wurde.

Ran thronte über ihm, das Gesicht im Schatten seiner Haare verborgen. „Also gut, dann erzähl mal von den tollen Dingen.“

Schuldig sah ihn kritisch an. „Ähm, naja, wir könnten Guter Cop – Böser Cop spielen.“

Ran sagte erst nichts, dann hörte Schuldig ein leises Lachen. „Ich wusste doch, dass es etwas Blödes sein würde.“

Ran setzte sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wie soll das deiner Meinung nach aussehen?“

„Du bist der Böse ich bin der Gute!“

„Verkehrte Welt?“

„So in etwa.“

„Und du meinst du bist dem gewachsen?“

„Logisch.“ Schuldig lächelte treuherzig. Was Ran wieder zum Lachen brachte. Er beugte sich über Schuldig und küsste ihn zart auf die Lippen und die lädierte Nase. Ran war es offensichtlich nicht entgangen, dass er ihm zielsicher eins auf die Nase gegeben hatte.

„Was hältst du davon wenn wir die Rollen je nach Anforderung wechseln? Wenn wir beide sauer werden – Pech gehabt. Dann gibt’s nur zwei Böse Cops.“

„Auch recht.“
 


 


 


 


 


 


 

o
 


 

Finn schlich wieder zurück ins Schlafzimmer. Unschlüssig stand er da und betrachtete den Mann im Sessel. Brads saß aufrecht im Sessel, die Arme lagen entspannt auf den Seitenlehnen, die Augen wurden nur zur Hälfte von den Lidern beschattet. Er regte sich nicht.

Finn fröstelte etwas und rieb sich über die Arme, als er den venösen Zugang in seiner Ellenbeuge spürte. Der dünne kurze Schlauch, der vielleicht drei Zentimeter in seiner Vene steckte nervte trotz seiner minimalistischen Zweckmäßigkeit ungemein. Er pulte an dem Pflaster herum...

„Zieh ihn bitte nicht heraus, es könnte sein, dass du noch eine Infusion benötigst.“

Finn hörte abrupt auf damit sich des Dings entledigen zu wollen und sah auf. Brad hatte seine Haltung nicht verändert, nur den Kopf minimal in seine Richtung gedreht. Es wirkte etwas gespenstisch, da Finn aber ahnte, dass Brad Visionen empfing und abgelenkt war konnte er mit diesem Anblick leben. Finn beugte sich über das Bett um an seinen Pullover zu kommen. Er zog ihn umständlich über, dann streifte er sich die Haare hinter die Ohren. Was sollte er jetzt tun?

Er war zwar noch müde, aber irgendwie fühlte er sich jetzt nicht mehr danach weiterschlafen zu können.

„Ich... ich geh wieder runter.“

„Nimm den Verbandskoffer mit“, wies Brad ihn mit schleppender Stimme an.

Finn nickte und hob ihn am Griff auf. Er verließ das Schlafzimmer schweren Herzens, aber es gab auch keinen Grund um zu bleiben.
 

Brad hatte das laute Magenknurren deutlich vernommen, jedoch nichts gesagt. Asugawa musste sich selbst um sein Wohl kümmern.

Er blieb noch eine Weile dort sitzen, nur um dann mit einem knurrenden Laut aufzustehen. Er sah aus Gewohnheit auf seine Uhr. Kurz nach halb Zwei.

Seine Konzentration hatte nachgelassen. Er streckte die verspannten Glieder und begab sich ins Badezimmer. Nebenan war es endlich ruhig geworden und die beiden Rotschöpfe waren hoffentlich eingeschlafen.
 

Nachdem er sich frisch gemacht hatte ging Brad hinunter und machte sich einen Kaffee. Er setzte Wasser für Tee auf und stellte die Suppe auf den Herd. Mit seinem Kaffee ging er in den Keller. Er suchte Asugawa in seinem Raum, der war jedoch verwaist. Er fand ihn schließlich im Trainingsraum auf dem Boden liegend vor. Brad lehnte sich an den Türrahmen an und ließ seinen Blick über die liegende Gestalt streifen. Finn regte sich nach einigen Momenten und setzte sich vorsichtig auf.

„Was sollte das werden?“, fragte Brad spöttisch.

„Ich dachte ich könnte ein paar leichtere Übungen machen.“

„Dachtest du.“

Finn nickte zur Bekräftigung mit ernster aber schuldbewusster Miene. Brad musste ein amüsiertes Lächeln verbergen in dem er einen Schluck aus seiner Tasse nahm.

„Komm hoch in die Küche.“
 

Finn witterte erneut eine Chance auf Annäherung woraufhin er sich etwas zu schnell erhob und Schwindel ihn für einen unangenehmen Augenblick taumeln ließ. Er sah schnell hoch und war froh, dass Brad ihn nicht dabei gesehen hatte.

Seine Stiefel waren noch oben wie ihm gerade auffiel, so ging er barfuß die Treppe nach oben und enterte die Küche. Brad stand am Herd und trug diese tief sitzende schwarze Schlafanzughose. Ein blütenweißes, offen gelassenes Hemd offenbarte die ausgeprägten Brust- und Bauchmuskeln. Finn verzog einen Mundwinkel bedauernd als er den Mann sah.

„Du torpedierst meine Bemühungen was die Widerherstellung deines Kreislaufes betrifft. Von den Verbänden möchte ich gar nicht erst anfangen. Steht eine bestimmte Absicht dahinter, die sich mir nicht wirklich erschließen will?“ Finn schlich schuldbewusst näher und lugte in den Topf. Brad sah ihn nicht an, sondern holte die Nudeln hervor um sie aufzuwärmen. Dann deckte er den Tisch für Zwei.

Finn zog sich auf die Anrichte hinauf und ließ die Beine baumeln. Er verbat sich bei dieser Aktion jeden Laut, denn die Nähte zogen herrisch an seiner Bauchdecke und wollten ihn dafür rügen warum er gerade jetzt eine Streckung selbiger vornehmen musste.

„Dein Vater wird mir bald eine Nachricht schicken in der steht, dass du eine leichte Entzündungsreaktion auf deine Verletzungen zeigst. Du solltest die Antibiose weiternehmen. Tsukiyono bringt dir Tabletten mit wenn er heute zurückkommt. Eine Gabe werde ich dir jedoch noch intravenös verabreichen müssen. Wenn du weiter so nachlässig mit deiner Gesundheit umgehst zwingst du mich dazu härtere Maßnahmen zu ergreifen.“

Finn nickte ergeben. Er war kein PSI. Er war normal und seine Wunden heilten eben aus diesem Grund in normaler Geschwindigkeit. „Und die wären?“

Brad kam näher, stellte sich dicht an ihn heran und sah ihn drohend an. Finn schmolz fast dahin, er hielt die Luft an und ließ sich in den Bann dieser wunderbaren Augen ziehen. „Ich hetze Fujimiya auf dich und überlasse ihm den Rest.“

Finn schluckte und ließ die Mundwinkel noch tiefer sinken.
 

Brad konnte das finstere Gesicht nur kurz aufrecht erhalten als er den Mann vor sich sah, der wie ein Welpe der etwas verbrochen hatte den Kopf sinken ließ. Er fragte sich ob das nur eine schauspielerische Glanzleistung war oder der andere tatsächlich so fühlte, wie es den Anschein hatte. Brad lachte leise, hob Finns Kinn an und berührte die traurigen Lippen mit seinen. Es war egal, es funktionierte.

Finn machte Crawford Platz um sich zwischen seine Beine zu begeben. Finns Hände lagen noch in seinem Schoß stahlen sich aber nun an Brads Flanken und blieben dort geduldig liegen. Sie zitterten vor Aufregung. Brad unterbrach die Berührung nach kurzem Kontakt und sah ihm in die Augen. Dieser Moment war einzigartig in Finns Leben. Er spürte Brads Atem auf seiner Haut, seine Wärme, die von ihm abstrahlte, dieser wissende Blick, der alles von ihm forderte. Er spürte den inneren Ansturm wie er sich näherte, diese Nähe kaum aushaltend. Brad hielt den Blickkontakt küsste ihn wieder und brachte Finn halb um den Verstand mit dieser erotischen Langsamkeit.

Er musste sich anstrengen um dem Gefühlsansturm in seinem Inneren Herr zu werden. Er begann zu schwitzen und ihm wurde unangenehm heiß.

Brad küsste ihn! So sanft, dass er nicht wusste ob er weinen oder es einfach genießen sollte. Er hieß Brad willkommen und obwohl er es nicht wollte tropfte eine Träne von seinen geschlossenen Lidern. Der Kuss war sanft und zärtlich, was er kaum aushielt. Zu viel tobte in ihm und wollte heraus.
 

Brad löste sich von seinen Lippen und küsste seine Wange, Finn schmuste sich an sein Gesicht. Er legte seinen Kopf für einen Moment auf die Schulter des Mannes der seine Erfüllung sein könnte, wenn dieser es denn zulassen würde.

„Du bist ein Narr, Kaito“, sagte Brad leise.

Finn zuckte gleichgültig mit den Schultern, sagte aber nichts.

„Wie kannst du dich auf mich einlassen wollen?“

„Diese Entscheidung habe ich vor langer Zeit getroffen. Ich war...“, Finn stockte. Wollte er Brad das erzählen?
 

Brad strich ihm über den Nacken, fühlte aber nur ein Stück Mull unter seinen Händen. Die Verbände störten ihn. Aber er schwieg, denn vielleicht würde er endlich mehr über diesen Mann erfahren. Was wusste er schon über ihn?

Er hatte ihn nicht in sein Herz lassen wollen und nicht bemerkt, dass er darin schon lange war. Jetzt war es zu spät. Dann wollte er wenigstens ihm ein Geschenk machen uns sich so verhalten wie er es sich von ihm wünschte.

„Du warst...?“
 

„Jung und verletzt. Vielleicht kann man es so am Besten beschreiben.“

Finn nuschelte in seine Haare hinein und hoffte Brad würde nur die Hälfte verstehen.

„Nach dem Ganzen... Herumgeschubse...“, eine milde Version von Misshandlung. „...sollte ich dich observieren und dich dann ausschalten sobald ich erfahren hatte welcher Profession du genau angehörst. Es sollte eine Belohnung sein. Yoshyo hat mich SIN entzogen weil sie es zu bunt mit mir getrieben hatten also schickte er mich auf diese Eliteschule um dem Gerücht, dort gäbe es einen jungen gefährlichen PSI nachzugehen. Ich durfte mir Zeit lassen hieß es. Also verbrachte ich ein paar Monate dort und fühlte mich zum ersten Mal fast normal. Ich schmeckte so etwas wie Freiheit. Anfangs fiel es mir schwer mit Gleichaltrigen auszukommen, ich war wohl zu still, aber nach und nach passte ich mich an. Vor allem weil ich diese Zeit als Mädchen dort verbringen musste. Es sollte es mir einfacher machen an dich heran zu kommen. Ich beobachtete dich ein Jahr lang und erkannte nicht wirklich welche Fähigkeiten du hattest. Das Einzige was ich sah war wie beliebt du bei anderen warst. Deine charismatische Ausstrahlung, deine höfliche zurückhaltende Art nahmen viele für dich ein. Eine Rolle dabei spielte wohl auch, dass du geradezu phantastisch aussahst. Das hat bis heute nicht nachgelassen, wenn ich das so bemerken darf.“ Finn musste breit lächeln.

„Du meinst ich habe mich gut gehalten?“

Finn grinste wieder als er sich etwas von Brad löste und ihm dabei in die Augen sah.

„Besser, viel besser“, sagte Finn ernst.

Brad lächelte spöttisch über so viel Ernst. Wie viel von dem was Asugawa sagte meinte er auch so?

„Mein Aussehen ist mir nicht wichtig, auch wenn es den Anschein hat. Ich halte ein gewisses Bild von mir aufrecht, das von mir erwartet wird und an das sich alle halten können, das ist alles.“

Brad löste sich von Finn und nahm die Suppe vom Herd.

Er füllte die Schalen und stellte sie auf den Tisch. Finn ließ sich von der Anrichte gleiten und setze sich links neben Brad, der sich an die Stirnseite gesetzt hatte. Er saß mit dem Rücken zum Flur.
 

Brad drängte es nach Antworten auf viele Fragen, aber er ließ Finn essen und beobachtete ihn dabei.

Und Finn wähnte sich wieder im Fokus des Hellsehers und seufzte innerlich. Es machte ihn ganz wuschig wenn der Mann ihn ständig beäugte.
 

Als Brad fertig war besah er sich die Nudeln und teilte den Rest zwischen ihnen auf, wobei er Finn die größere Portion gab. Er lächelte in Gedanken daran wie Kaito gestern nach ihnen geschmachtet hatte.

Er stellte ihm die Portion hin. „Danke“, sagte Finn und verleibte sich die Nudeln ein, etwas gesitteter als beabsichtigt, denn er wollte sich vor Brad nicht blamieren.
 

„Wie ging es weiter?“
 

Finn sah auf. „Du hast mich nicht beachtet, so oft ich auch näher an dich ran wollte, kam mir entweder jemand zuvor, oder ich wurde als kleines Mädchen von deinen Freunden weggeschickt. Ich war ein Kurs unter dir.“

Finn zuckte mit den Schultern. „Der Clan wollte nun doch langsam Ergebnisse meiner Nachforschungen und so kam ich in Zugzwang. Ich beschloss bei dir zuhause etwas herumzuschnüffeln.“
 

„Du bist zuvor schon eingebrochen?“
 

„Ja, zwei Mal. Ziemlich gut bewacht, aber nicht gut genug für einen Winzling in schwarz. Ich fand nichts Ausschlaggebendes, nur säuberlich aufgereihte Notizbücher im Regal.“
 

Brad stöhnte und schüttelte den Kopf. Er erhob sich ungehalten und räumte sein benutztes Geschirr in die Spülmaschine. „Du hast sie gelesen?“

Finn bemerkte die Stimmungsänderung sofort und hörte auf zu Essen.

„Ja. Somit wusste ich, dass du so etwas wie die Zukunft sehen konntest und ich wusste, dass ich dir aufgefallen bin.“ Finn feixte und sah auf als Brad neben ihn trat. „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern“, sagte dieser ausweichend.

Er stellte Finn eine Tasse Tee hin die herrlich nach Gewürzen duftete. Finn runzelte die Stirn.

„Du sagst es in ein paar Minuten.“

„Dass ich Tee möchte?“

„Ja.“

„Ah.“

„Und wenn ich doch etwas anderes möchte? So spontan meine ich?“

„Dann holst du es dir besser selbst“, erwiderte Brad gelassen.

„Die Zukunft existiert nicht wirklich. Ein Konstrukt das wir uns ausgedacht haben. Tatsächlich existierte sie parallel. Wenn du dich im letzten Augenblick anders entschieden hättest hätte ich dieses Ergebnis gesehen. Da sich das Ergebnis nicht anders dargestellt hat willst du Tee. Entscheidest du dich eine Sekunde später für etwas anderes hätte ich eine Sekunde später dieses gesehen. Entscheidungen und die Folgen daraus befinden sich auf einer Ebene. Das Vergehen von Zeit ist nur eine menschliche Wahrnehmung. Ich bin dieser Wahrnehmung ebenfalls unterlegen und benötige daher auch einen zeitlichen Maßstab.“

Er setzte sich wieder mit einer frischen Tasse Kaffee.

Finn aß den Rest seiner Nudeln langsam auf und stand dann auf um die Spülmaschine mit seinem Geschirr zu bestücken und sie zu schließen, dann setzte er sich wieder zu Brad an den Tisch und zog seinen Tee an sich.

„Du blätterst also einen Katalog durch in dem Entscheidungen und ihre Ergebnisse aufgelistet sind? Ohne die Zeit zu berücksichtigen?“

„Nein, diese Dimension sollte ich auf jeden Fall berücksichtigen, aber sie ist nicht linear angeordnet. Eine Änderung in der Zukunft bedeutet eine Änderung in der Vergangenheit, eben weil sie nicht linear ‚fort schreitet’.

Finn runzelte die Stirn. Er verstand nicht einmal die Hälfte.

„Erzähl weiter“, forderte Brad ihn auf.

„Ich habe natürlich Bericht erstattet und war in gewisser Weise stolz auf mich endlich etwas vorweisen zu können. Und ich war auch neidisch auf dich und dein Leben. Auch auf das der anderen Kinder und Jugendlichen. Sie hatten all das was ich nie haben konnte.“

„Hast du es mir und den anderen missgönnt?“

Finn sah auf. „Nein. Ich wollte dieses Leben auch für mich leben dürfen.“

„Dann war es kein Neid. Wir benutzen dieses Wort viel zu schnell. Bist du deshalb zu Invidia geworden?“

„Ja. Sie sagten es würde perfekt passen.“

„Das tut es nicht“, sagte Brad ruhig.
 

Finn sah ihn lange an bevor er sich wieder auf sein Essen konzentrierte. Brad ließ ihn bis er fertig war.

„Während meines ersten Aufenthaltes bei euch las ich ein paar Bücher, dann als ich wieder kam, die Nächsten. Ich begriff, dass es nicht so einfach war mit dieser Gabe umzugehen und wie du dich zeitweise gequält hast. Ich las über die Anschläge, über deine Sorgen bezüglich deiner Schwester und dass du glaubtest nie enge Bindungen eingehen zu können. Ich... ich glaube ich verliebte mich dann in dich als ich die Bücher las“, gab Finn kleinlaut zu.
 

„Ich würde sagen, dass Tagebücher lesen definitiv als Betrug gewertet werden kann. Und genau deshalb...“, begann Brad und wurde von Finn unterbrochen.

„Ich weiß... ich weiß“, sagte Finn und schüttelte den Kopf. „Ich bin dir voraus... ich weiß, dass dich das wütend macht.“

Brad sah ihn an und sah auch die Bekümmertheit in den dunklen Augen.

„Es macht mich sogar sehr wütend. Ich kann es nicht mehr aufholen, Kaito. Ich werde dir deine Taten immer schuldig bleiben.“

Finn kämpfte also gegen verletzten Stolz an. Diesen Kampf würde er wohl nicht gewinnen können.

„Aber warum verstehst du denn nicht, dass du es warst, der mich gerettet und irgendwie auch befreit hast, ich habe dir nur zurückgegeben was du für mich getan hast, auch wenn es unwissentlich war – spielt das doch keine Rolle.“
 

„Vor was habe ich dich gerettet?“
 

Finn starrte ihn an. Die Falle war aufgestellt worden und er dümmlich hineingetappt und jetzt war sie zugeschnappt. Mist.

„Ich...hat Schuldig dir nichts erzählt?“, versuchte er einen letzten Rettungsversuch dieser Frage und ihrer zahlreichen Antworten auszuweichen.

„Teilweise. Ich will es von dir hören.“

„Was soll ich dir erzählen?“

„Details. Ich will alles wissen. Wenn du dich daran erinnern kannst dann an jeden verdammten Atemzug den du je in deinem Leben getätigt hast.“ Brad sah ihn ernst an und Finn konnte zwar Wut aber auch etwas anderes dahinter sehen. Er konnte es nur nicht recht deuten.

Finn atmete tief ein. Verstehen zu wollen wie dieser Mann tickte war schwieriger als er gedacht hatte. „Es ist vorbei, ich habe diese Zeit so gut es ging verdrängt.“

„Du erlaubst dir meine Tagebücher zu lesen, indem intime Dinge standen und mir willst einen ähnlichen Einblick in deine Gedanken verwehren?“

Finn schluckte. Naja, das war ein Argument, das nicht von der Hand zu weisen war.

„Ich kann mich nur an... manches erinnern.“ Er schwieg einen Moment.

„Versuch es.“
 

„Sie trieben Späße mit mir, wie sie stets sagten. Alles war nur ein großer Spaß. Unterhaltung für sie – nicht für mich - immer dann wenn der Hausherr auf einer Auslandsreise war. Chiyo begleitete ihn anfangs oft, sodass ich alleine mit dem irren Haufen war. Kiguchi war mit seiner Ausbildung beschäftigt und unterwegs oder hatte Unterricht. Ich war in einer anderen Gruppe eingeteilt, deshalb sahen wir uns zwar aber nicht lange und auch nicht oft.

Einmal haben sie mich aus dem Bett gezerrt, es war mitten in der Nacht und mich auf den Boden gefesselt, dann strich Bozz, Teile meines Körpers mit irgendetwas ein. Sie ließen zwei Katzen auf mich los die meinen Intimbereich und mein Gesicht ableckten. Sie saßen um mich herum und fanden es sehr komisch wie ich schrie und weinte. Hin und wieder holten sie die Katzen zurück wenn diese es zu bunt trieben. Es waren zahnlose Viecher, dennoch schmerzte diese Demütigung. Sie sagten sie würden erst aufhören wenn ich heute Nacht Bozz ein wenig ‚zur Hand’ gehen würde. Natürlich sagte ich zu, ich hatte zu viel Angst. Ich wurde losgemacht und bin mit Bozz mitgegangen. Von da ab lernte ich jede Nacht was einen guten Blowjob alles ausmachte. Er sagte ab da nur noch Kätzchen zu mir. Wie du dir denken kannst blieb es nicht dabei. Aber ich lernte schnell wenn ich tat was sie wollten, dann würden diese gemeinen Spiele vielleicht aufhören und ich könnte mich ins Bett legen ohne permanent Angst haben zu müssen herausgezerrt zu werden. So war es mein Job den einen oder anderen mich benutzen zu lassen bevor die Nachtruhe einkehrte und ich dann nach Mitternacht auch gehen konnte. Manchmal klappte das nicht wirklich weil ich gefesselt war oder zwei mich in Bearbeitung hatten.

Ich kam mit diesem Arrangement gut durch diese Zeit. Ich sah die Gefahr kommen. Wenn ich tat was sie wollten glaubte ich mich sicher. Alles drehte sich bei mir um meine Sicherheit. Um die Einschätzung bestimmter Situationen. Wann war ich sicher und wie lange.“

Brad nahm einen Schluck seines Kaffees und bemerkte wie kurz die Sätze geworden waren, wie die Stimme fest wurde, die Finger aber rasch den Tee an sich nahmen, sodass er fast über die Tasse schwappte. Er stellte seine eigene ab. Das Geräusch klang hart in die eingetretene Stille hinein. Finn sah auf die Tasse und blinzelte für einen Moment. Er hielt den Blick darauf fixiert.

„In dem Jahr als ich auf dich angesetzt wurde war es wieder soweit, dass sie etwas verrückter wurden und sie ließen sich während des Sexes perverse Spielchen einfallen.

Als meine Not größer wurde traute ich mich Chiyo endlich zu sagen was passierte und sie unterband diese Sache. Die Folge war, dass ich den Unmut der Gruppe zunehmend auf mich zog, eine Befürchtung die mich zuvor davon abgehalten hatte sie zu denunzieren.“

Er verstummte wieder. Brad konnte keine einzige Gefühlsregung in dem Gesicht erkennen.

„Eines Abends holten sie mich für einen Test aus meinem Bett. Sie hatten mich betäubt denn ich habe nicht bemerkt, wie sie mich aus dem Bett geholt und mich in den Keller getragen haben. Ich wachte auf, gefesselt an eine Leiche, in einem Haufen von Leichen. Überall waren Fliegen um mich herum. Es stank. Ich konnte kaum atmen.“
 

Brad kam der Gedanke wie er wohl mit dieser Geschichte umgegangen wäre wenn er sie damals gehört hätte. Wäre er stark genug gewesen um diesem Jungen seinen Schutz anzubieten? Wäre er überhaupt auf diese Idee gekommen? Hätte sie sein damaliges heiles Weltbild erschüttert? Was wäre gewesen, wenn er Asugawa damals kennen gelernt hätte? Wie wäre es weitergegangen? Brad riss sich aus diesen Möglichkeiten einer Zeit die für ihn nicht mehr erreichbar war los.

„Ich sah mich um und erkannte, dass sie mich eingemauert hatten. Nur ein Lüftungsschacht war zu erkennen. Ich beschloss dort hinauf zu gelangen um raus zu kommen.

Also stapelte ich ein paar verwesende Körper aufeinander, kletterte hinauf und kroch durch den Schacht nach draußen. Damit hatten sie nicht gerechnet. Sie schleppten mich in eine der Duschen, schrubbten mich wütend mit einer harten Bürste ab und übergossen mich dann mit Desinfektionsmittel. Daraufhin hatte ich einen kleinen Blackout.“
 

Brad nahm einen Schluck seines Kaffees. Das Gefühl der Machtlosigkeit, das ihn sein ganzes Leben begleitete drängte wieder mehr in den Vordergrund. Es schmeckte Bitter und brannte in ihm wie eine noch immer glimmende Glut. Es brauchte nicht viel um diese Glut erneut zu entfachen.
 

„Dann wurde ich zu Yoshyo gerufen und der sagte er müsse mich Chiyo entziehen und schickte mich dir hinterher. Ich weiß noch wie ich im Zug saß, meine Hose war voll von Creme um meine Hoden und meinen Schwanz, weil die Haut komplett offen war und am liebsten hätte ich geheult. Ich war allein und auf mich gestellt. Ständig beschlich mich der Gedanke, dass jeder wusste was sie mit mir gemacht hatten. Es dauerte lange bis ich begriff, dass man es mir nicht ansah und schon gar keinen interessierte.

Ich betrat das Wohnheim und richtete mich dort ein. Am Nachmittag ging ich hinunter und erkundete den Komplex als ich eine Traube von Menschen sah die einem Spiel der Basketballmannschaft zusah. Ich stellte mich dazu und verfolgte das Spiel. Ein Mädchen neben mir unterhielt sich tuschelnd mit ihrer Nachbarin über dich. Sie schwärmten für dich und ich suchte mit den Augen nach diesem tollen Jungen. Durch ihre Spielbeschreibung fand ich dich schließlich und befand dass sie Recht hatten. Und dort stand ich also, die Hosen voller Wundcreme, mein Schwanz unbequem eingeklemmt, in ein Mädchenoutfit gezwungen. Und das nach einer Nacht voller verwesender Leichen und Maden. Alle schienen gute Laune zu haben, hin und wieder war gelöstes Lachen zu hören. Die Sonne schien so hell. Es kam mir beinahe unwirklich vor. Und ich kam mir dreckig und falsch am Platz vor. Ich wusste nicht dass du ein PSI warst, das war mir egal, du warst der Erste den ich dort wirklich beachtet habe.“
 

„Was hattest du an?“
 

Finn sah von seinem Tee auf. DAS wollte Brad jetzt wissen? Er runzelte die Stirn und sah wieder in seinen Tee.

„Keine Ahnung, ähm... ich glaube eine enge Hose, Chucks und ein kurzes Shirt, meine Haare waren damals länger, Chiyo sagte mir, dass ich sie die meiste Zeit offen tragen sollte. Es war meine bevorzugte Kleidung zu dieser Zeit. Genau weiß ich es nicht mehr.“
 

Brad fühlte beginnende Abscheu und grellen Zorn in sich, dass es ihn die Kehle abschnürte.

Er wollte Kaito dort stehen sehen. Und wenn es nur für einen flüchtigen Augenblick sein würde. Doch was machte das alles noch für einen Sinn?
 

„Lebt noch einer von ihnen?“
 

„Nein. Sie wurden bereits ersetzt, durch die jetzige Truppe, die nun ja auch fast ausgelöscht ist. Bis auf Gula.“

Er schwieg einen Moment. Brad ließ ihn und drängte ihn nicht zu sprechen.

„Ich hatte Angst so zu werden wie sie“, gab er schließlich zu.
 

„Trotzdem hast du das Serum genommen.“
 

„Ich... wollte nicht entdeckt werden. Ich wollte nicht sterben, nur weil ich mich mit allem was ich hatte an dich klammerte.“
 

„An einen Helden den es nicht gab.“
 

„Das war mir egal. Ich träumte so viel Unsinn zusammen, den ich mit dir erlebt hatte, das bot mir Trost. Es war als würde ich dich kennen und ich verschrieb mich der Aufgabe dich vor dem Bösen zu schützen. Es war eine gute Aufgabe.“

Sie schwiegen eine Weile und Finn fühlte diesen sezierenden Blick auf sich gerichtet. Dann kam Bewegung in den anderen und Finn sah auf als Brad sich erhob.

„Ich gehe nach unten.“
 

„Kann ich mit?“ Finn spürte wie es in dem Mann arbeitete. Die Muskeln unter dem Hemd waren angespannt.

„Kann ich dich davon abhalten?“, fragte Brad wie nebenbei und Finn zuckte mit den Schultern. Eher nicht, erwiderte er für sich selbst.

Brad nahm ihre Tassen und räumte sie in die Spülmaschine. Dann ging er in den Keller hinunter um zu trainieren. Finn folgte ihm.
 


 


 

o
 


 


 


 

‚Schuldig?’

‚Ja.’

‚Bist du da?’

‚Könnte ich dir sonst antworten?’

‚Du siehst aus als würdest du schlafen. Ich wollte dich nicht wecken.’

‚Mein Körper... schläft.’

‚Hast du etwas gelesen?’

‚Nein.’

Ran strich Schuldig mit Zeige- und Mittelfinger über die Lippen. Er seufzte und bettete seinen Kopf wieder nah an Schuldig Brust. Er hatte seine Hand wieder vor sich gelegt und seine Finger spielten um Schuldigs Brustwarze, neckten sie zärtlich.

‚Soll ich aufwachen?’

‚Nein’, Ran stillte seine Finger und ließ sie liegen.

Es war noch dunkel, er hatte nicht lange geschlafen fühlte sich aber seit Tagen ruhiger und erholter. Vermutlich lag das an ihrem Schlagabtausch und ein bisschen schämte er sich dafür, dass es immer soweit kommen und Schuldig dafür herhalten musste. Er schloss die Augen wieder und trieb in diesem sagenhaft guten Gefühl umher, welches Schuldigs Anwesenheit in seiner Gedankenwelt ihm bescherte. Er seufzte leise.

Sein Kopf war angenehm leer, keine Gedanken die ungewollt umherirrten und ihn in eine Ecke treiben wollten.

‚Ich bin so wütend auf meine Mutter’, schickte Ran in seine Gedanken. ‚Es scheint als wäre ich über meine Familie belogen worden und ich bin wütend auf so Vieles.’

‚Glaubst du sie hat dich geliebt?’

Ran schwieg ein Weilchen.

‚Ich weiß worauf deine Frage abzielt, Mr. Psychologe.’

Ran schnippte sanft an Schuldigs Brust. ‚Ja, ich hab die Liebe meiner Eltern und meiner Schwester gefühlt. Sie war echt und ohne Lüge. Das weiß ich. Egal was meine Mutter vor mir verborgen hielt.’

Ran hatte den Eindruck Schuldig lachte ihn aus, es fühlte sich zumindest so an.

‚Blödmann’, gab Ran zurück.

‚Ich will diese Chiyo treffen und ich will endlich Antworten. Von ihr. Wenn sie eine PSI ist, liegt es nahe, dass ich vielleicht auch... aber was bin ich dann? Du hast nichts bemerkt bei mir oder?’

‚Bis auf deine außergewöhnlich guten Schilde’, antwortete Schuldig und Ran hatte schon gedacht Schuldig wäre auch in seinem Bewusstsein eingeschlafen. Was er nicht war.

‚Als ich auf dem Friedhof zusammengeklappt bin, da bist du in mein Bewusstsein eingedrungen und...’

‚Ich habe nichts Außergewöhnliches entdeckt.’

Ran schwieg wieder.

‚Sorg dich nicht, eine derartige genetische Disposition wird nicht immer weitervererbt. Deine Augen sind jedoch nicht unbedingt normal Ran. Und rothaarige Japaner gibt es auch nicht Zuhauf, zumindest kenne ich keinen außer dir. Hast du schon einmal daran gedacht?’

‚Früher war es mir immer peinlich gewesen. Wer hat schon violette Augen? Meine Mitschüler und die Lehrer hielten mich für exzentrisch. Sie glaubten, ich würde mir die Haare färben und Kontaktlinsen tragen. Ich hatte nicht viele Freunde. Die Mädchen liefen mir hinterher und auch ein paar Jungs. Allerdings bekam ich eher die Verrückten ab.’

Ran schmunzelte.

‚Ich fühle mich keineswegs angesprochen’, meinte Schuldig lapidar. ‚Meinst du das Mädchen mit dem du deine ersten Erfahrungen gemacht hast?’

‚Weiß nicht. Keiner hat herausgefunden, dass ich keine natürlichen violetten Augen habe. Nicht mal sie.’

‚Mit einem roten Einschlag, sehr dämonisch.’

‚Hmm. Ich dachte es ist eine Anomalie, wie meine Haare auch.’ Ran seufzte wieder. Er fühlte Schwermut in sich aufkommen.

‚Nun es ist eine.’

‚Aber was wenn doch?’

‚Was soll sich ändern?’

‚Ich weiß nicht’, meinte Ran verdrossen.

‚Hast du daran gedacht, dass es dich besser machen könnte? Eine Verbesserung bringen könnte?’

‚Eher nicht.’

‚Es spielt keine Rolle. Ständig ändert sich etwas in einem Leben... in unserem Leben. Ich werde deine Konstante sein. Du bist meine. Daran sollten wir uns orientieren.’

‚Das klingt zu leicht.’

‚Vielleicht hat deine Mutter gar nichts davon gewusst, oder nicht gewusst wie sie damit umgehen soll und dich deshalb von deiner Großmutter entfernt. Vielleicht – wenn es denn zutrifft – wäre es besser gewesen du wärst bei ihr geblieben.’

‚Wir müssen sie treffen.’

‚Ja.’

Ran küsste das Stückchen Haut an dem seine Lippen lagen und er spürte wie Leben in den Körper kam an dem er lag. Schuldig wurde wach und gab ein wohliges Geräusch von sich. Ran musste lächeln.

„Wie geht’s dir?“, kam auch sogleich die vom Schlaf raue Stimme.

„Nicht gut. Ich fühl mich verprügelt.“

Schuldig räusperte sich. Er hatte Durst, seine Kehle war trocken. Wie musste es da Ran gehen, der sich halb die Seele aus dem Leib geschrien hatte.

„Keine Rachegedanken?“

Ran spürte das Grinsen an seiner Schläfe, als Schuldig ihn dort küsste.

„Noch nicht, ich bin noch groggy.“

„Kommt also noch“, resümierte Schuldig.

„Mit Sicherheit.“

Ran würde wohl noch die nächsten Tage etwas von dieser Nacht haben...

„Geht’s dir jetzt etwas besser?“, noch bevor Schuldig seine Frage nach Rans Gemütsverfassung spezifizieren konnte bekam er eine Antwort.

‚Ja.’

‚Die letzten Tage warst du mir zu still gewesen, Ran. Wenn wir alleine waren hast du kaum persönliche Sorgen geäußert. Ich hab geahnt, dass es dazu kommen würde. Ich verstehe auch wie schwierig es ist unter einem Dach mit den anderen zu leben. Die ganze Situation ist für uns beide schwierig, vielleicht für jeden von uns.’

‚Ist dir aufgefallen, dass wir uns kaum auf die Nerven gehen obwohl wir ständig zusammen sind?’

‚Nein, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.’

Schuldig lachte leise.

Sie blieben noch ein Weilchen liegen und Schuldig überwachte Haus, Hof und Umgebung.

Brad und sein Kuschelhäschen waren bereits im Haus zugange. Sollten sie doch, Ran und er würden noch etwas ihre Zweisamkeit genießen.
 


 


 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank fürs Lesen!
 


 

Gadreel ^_^

Kitchentalk

Kitchentalk
 


 


 

Präfektur Iwate
 

In den Bergen waren die spätsommerlichen Temperaturen besser zu bewältigen als in den Städten. Es war ein idyllischer Ort fernab vom Lärm und der Hektik dieser Zeit.

Chiyo Kawamori ließ sich ihren morgendlichen Tee bringen und saß bereits angezogen an dem niedrigen Tisch um den Sonnenaufgang nicht zu verpassen. Sie hatte ihr tägliches Morgentraining bereits beendet. Ein neuer Tag war angebrochen und sie fragte sich was er bringen mochte.
 

In letzter Zeit machte sie sich zunehmend Sorgen. Die Zeit ohne dieses Gefühl neigte sich wieder dem Ende, wie sie es hin und wieder tat.

Die Schiebetüren in den Garten waren gänzlich geöffnet worden und sie genoss die frische Luft. Ihr gegenüber saß eine Frau, deren loses Haar ihr in wilden dunkelroten Wellen um die Schultern floss. Sie saß ganz und gar nicht wie es sich für sie geziemte auf dem Kissen, sondern hatte ein Bein aufgestellt, das andere unterschlagen und sah aus als wäre sie gerade aus dem Bett gestiegen. Flegelhaft und unordentlich. Ihr Verhalten glich eher dem eines Mannes als dem einer Frau. Aber sie war wohl schon längst über die Erwartungen anderer hinausgewachsen. Chiyo seufzte und lächelte leicht.

Die augenscheinlich Jüngere der beiden Frauen hatte ihre Teeschale in der Hand, nippte leicht daran und besah sich den Sonnenaufgang mit nachdenklichem Gesicht.

Seit ein paar Augenblicken jedoch... hatte sich eine Veränderung eingestellt, die Luft war voller, vielleicht weniger klarer als zuvor. Chiyo neigte den Kopf, nahm ihre irdene Schale auf und nippte an dem Tee. Für einen Moment schloss sie die Augen.

„Du kannst näher treten“, sagte die Jüngere leise und stellte ihre Tasse ab. Hinter ihr ließ sich ein Mann vom Dach gleiten. Er kam näher und trat in einigen Metern Abstand vor sie, er kniete nieder. „Großmeister“, grüßte er sie.

„Wie war deine Reise?“ fragte Chiyo freundlich.

„Entbehrungsreich“, gestand er und sie musste lächeln.

„Dann stärke dich zunächst.“

„Vielen Dank, Großmeisterin, Ihr seid zu großzügig.“ Er neigte den Kopf.

„Ich komme jedoch in dringender Angelegenheit.“

„Sag schon“, murmelte nun die Rothaarige ungeduldig.

„Der Orden hat in sieben Städten Position bezogen. Und das sind nur die von denen wir wissen.“

„Unbemerkt?“

„Sie tarnen die Standorte als wissenschaftliche Einrichtungen.“

„Wo ist das Zentrum?“, fragte Chiyo weiter.

„In der Hauptstadt. Wir haben Neubauten in allen Städten beobachtet, die nun fertig gestellt sind. Wir konnten sie zunächst nicht zuordnen, nun ist klar wer dort der neue Hausherr ist. Ihr Hauptsitz befindet sich als neuer Campus getarnt thronend über der Stadt.“

„Der neue Campus der Universität Tokyo?“, fragte Chiyo.

„Ja. Großmeisterin.“

„Der ist schon seit Jahren im Bau“, hielt sie mit einer großen Portion Ungläubigkeit dagegen.

„Wir haben die Investoren letztes Jahr erneut überprüft“, sagte die Rothaarige nachdenklich. „Keiner von ihnen wies Verbindungen zum Orden auf.“

„Eine telepathische Beeinflussung ist immer möglich. Auch ohne persönlichen Kontakt“, bemerkte Chiyo.

Die Rothaarige nickte lediglich.

„Woher hat der Orden die finanziellen Mittel?“, fragte sich Chiyo leise. Die Jüngere hob ihren Blick für einen Moment von ihrer Teetasse und sah Chiyo an. Dann richtete sie ihren Blick wieder nach draußen.

„Wie meint ihr?“ fragte der Mann unsicher.

„Ich habe nur laut gedacht“, beruhigte Chiyo den Mann. Und er beugte den Kopf erneut ehrerbietig. Er wartete.

Chiyo nahm einen Schluck Tee und schmeckte die verschiedenen Aromen des frischen Grüns heraus.

„Was tut sich in Kyoto?“, fragte Chiyo nach einer Weile.

„Die Männer werden an verschiedene Standorte umverteilt.“

„Korrelieren diese Standorte mit denen des Ordens?“

„Ja, das tun sie.“

„Woher hat er seine Informationen?“, fragte Chiyo.

„Das ist uns unbekannt“, erwiderte der Mann rasch.

„Er muss einen Kontakt im Orden haben“, sagte die Rothaarige leise.

„Seine Informanten hätten diese Information leicht selbst gewinnen können“, erwiderte der Mann.

„Ich gebe dir Recht.“ Nur hatte es einen Spion in SINs Mitte gegeben. Und damit meinte sie nicht ihren Liebling Asugawa. Wer hatte ihn entsandt?

„Ich fürchte er arbeitet mit dem Orden zusammen oder ist ihr Handlanger.

„Wie stehen die Dinge in Übersee?“, fragte die rothaarige Frau.

„Die Abtrünnige schart ihre kleine Gruppe Nicht-konvertierter um sich, Großmeisterin.“

„Beobachtet sie weiter.“

„Unsere Kräfte sind nach einem Angriff geschwächt.“

„Lass mir Zeit, Sano. Ich werde eine Lösung finden. Ich bin nicht überzeugt, dass uns von dieser Seite noch keine Gefahr droht. Behaltet sie im Auge. Das hat oberste Priorität. Zieh die Teams zusammen. Wie viele sind es noch?“

„Drei Einheiten.“

„So wenige...“, sagte Chiyo mit Bedauern.

„Wurden ihre Familien benachrichtig?“

„Nahestehende Menschen wurden informiert und soweit möglich in die Zeremonie eingebunden.“
 

Sie schwieg wieder ein Weilchen.
 

Die Kontaktaufnahme ließ sich nicht länger hinauszögern, viel zu viel war in Bewegung. „Das passt alles nicht zusammen“, sagte Chiyo beunruhigt.
 

„Chiyo...“, sagte die Rothaarige plötzlich.

„Ja?“ Chiyo lächelte, das besorgt aussehende Gesicht vor sich an. „Wärst du so freundlich mir das Telefon zu bringen, bitte“, sagte diese leise und in Gedanken versunken.

Chiyo verbeugte sich. „Sehr gern, Sakura-dono.“

Wenig später überreichte Chiyo Sakura Kawamori das Telefon.

Sakura wählte.

Nur wenige Augenblicke später wurde abgenommen. Chiyo und Sano lauschten dem Gespräch.

„Mr. Crawford.“

Ein Lächeln erhellte das sonst so strenge Gesicht. Chiyo hatte den Hellseher bereits kennen gelernt und wusste um dessen Charme und Ausstrahlung.

„Sind Sie zu einer Entscheidung gekommen?“ Ihr Blick ging hinüber zur Bergspitze die in einem Meer aus Rottönen gebadet wurde. Frühnebel ließ das Rot weniger grell wirken.

„Dem stimme ich zu.“ Sie lauschte eine Weile.

„Eine schwierige Frage, Mr. Crawford.“

Seine nächste Frage ließ sie schmunzeln. „Ja, Mr. Crawford das bin ich.“

Die folgende Frage war nur logisch.

„Ja, das ist er.“

Dann stellte er eine Frage, die offenbar schwieriger zu beantworten war. Sakura zögerte einen Augenblick.

„Ich habe Vertrauen in ihre Fähigkeiten, in ihr Urteilsvermögen und ihre Führungsqualitäten.“

Ihr Lächeln erlosch bei den nächsten Sätzen des Hellsehers. Ihre Miene versteinerte.

„Sie haben alle Alternativen bedacht?“

Sie schloss die Augen bei seiner Antwort. Stille herrschte zwischen ihnen, als sie die Augen öffnete war die Sonne an der Bergspitze angekommen.

Ihr Blick verfing sich erneut im Nebel. Chiyo sah zu Sano hinüber. Er erwiderte ihren Blick besorgt.

„Ich entsende Ihnen Manx“, bot sie aufgrund seiner Ausführungen an.

„Halten Sie eine Ablehnung dieses Angebots für klug?“

Chiyo hörte erneut Wut aus den Worten, es war wie das satte Rot am Himmel. Nur zu gut kannte sie diese schier unbändige Wut.

„Weiß Asugawa über diese Sachlage Bescheid?“

Die Antwort war selbst Chiyo klar.

„Dann schicken Sie ihn mir zurück“, forderte Sakura und Chiyo wusste selbst, dass dieses sture Kind sich nicht aufhalten ließe. Er würde sich nirgends hinschicken lassen, selbst vom Hellseher nicht.

„Ich verstehe.“

Chiyo sah wie Sano seinen Blick auf Sakura richtete. Er war ihr seit Jahrzehnten ergeben und ein treuer Weggefährte. Doch Chiyo kam es so vor als wüsste selbst er manchmal nicht was Sakura dachte. Ob sie wusste, dass seine Treue tiefer ging als er zu zeigen bereit war? Er hatte sich nie an jemanden gebunden. Seine Loyalität galt stets nur Sakura. Und trotz der Ehrerbietung die er ihr entgegenbrachte war er der Einzige, der sie kritisieren durfte. Sakura nahm es klaglos an, was sonst kaum der Fall war. Ein Blick von ihr genügte um die Zweifler verstummen zu lassen. Sano jedoch... er hielt diesem Blick stand. Es war als könne er ihn durchdringen.

„Noch eins, Mr. Crawford. Der Vertrag gilt ab jetzt. Wir unterstützen Sie falls sich die Dinge doch anders entwickeln sollten.“
 

Chiyo hörte den Worten nur mit halbem Ohr zu, sie beobachtete Sano.

Augenscheinlich jung wie Sakura, doch selbst er zählte bereits über siebzig Jahre, die er mit sich herumtrug. Und dass er etwas mit sich herum trug war für Chiyo in manchen Momenten deutlich. Wie sie sich wohl begegnet waren? Chiyo hatte sich das immer wieder gefragt, doch weder Sano noch Sakura gaben darauf ausführlich Auskunft. Erst vor dreizehn Jahren war Sano zu ihnen gestoßen. Und seid diesem Augenblick war Sano eine der Klingen des Schmiedes geworden. Nicht irgendeine. Nein Sano war des Schmiedes Lieblingsklinge.

Sie schickte ihn auf die wichtigsten aber auch gefährlichsten Missionen. Und dabei schien es sie nicht zu kümmern wie lange er wegblieb und was ihm widerfuhr. An manchen Tagen wenn er überfällig war bemerkte Chiyo wie Sakura nachts auf dem Anwesen umherlief. Ob das aus Sorge geschah konnte Chiyo nicht sagen.
 

„Ja, das ist er. Ich jedoch habe die älteren Rechte, da ich selbst diesen Vertrag aufsetzte. Er ist einer meiner Schüler, ich selbst habe ihn ausgebildet. Die Klink stellt einen der wichtigsten Knotenpunkte in unserem Informationsnetz dar.“

Eine erneute Stille setzte ein.

„Das können sie. Er ist vertrauenswürdig, auch wenn er mir immer noch zürnt.“

Chiyo konnte sehen wie Sakura die weiteren Worte des Mannes betroffen machte.

„Ich werde alles veranlassen.“

Sie legte auf. Sie reichte Chiyo das Telefon zurück.

„Schläft der Junge noch?“

Chiyo bejahte. „Dann weck ihn und geh etwas mit ihm spazieren, er soll sich ein bisschen austoben. Danach gibst du ihm etwas zu essen. Beunruhige ihn nicht. Er wird abreisen. Sano, du wirst ihn zum Flughafen bringen. Dort übergibst du ihn Eve Crawford. Sie wird den Jungen mit in die Staaten nehmen. Bereitet alles vor.“ Es war zu spät um Lilli zu sich zu holen. Die Kinder gehörten jedoch zusammen, also musste sie nachgeben. Auch wenn sie das sehr ungern tat.
 

Chiyo verbeugte sich und verließ sie. Sano wartete.

„Nachdem du den Jungen zum Flughafen gebracht hast heftest du dich an die Fersen meines Enkels. Wir bleiben während dieser Mission in ständigem Kontakt.“

„Sehr wohl, Sensei. Haben sich unsere Pläne geändert?“

Sakura nahm erneut einen Schluck Tee. „Das haben sie, Sano. Etwas geschieht und unser Einfluss schwindet. Jetzt gilt es zu retten was zu retten ist. Der Orden steht mehr unter Druck als ich dachte. Sie handeln schneller als vorausgesehen.“

Sano sah auf.

„Aber warum ist das so?“, sagte sie in Gedanken versunken.

„Vor welcher Bedrohung haben sie derartige Angst, dass sie jetzt eine Entdeckung riskieren?“

„Es muss etwas sehr Mächtiges sein. Oder nur die üblichen Machtkämpfe?“, fragte er.

„Die üblichen Machtkämpfe...“, resümierte sie. „Dafür Schwarz zu jagen ist gewagt und gegen ihre so sauber aufgestellten Regeln. Nein, es ist etwas anderes. Warum wollen sie so unbedingt die Mitglieder von Schwarz?“, hielt sie dagegen.

Dann stellte sie die Tasse ab und sah plötzlich auf. „Nein, das kann nicht sein...“,

fuhr sie auf. „... er ist doch tot... oder?“

„Sensei?“

„Haben wir jemanden vor Ort?“

„Ja. Die Sache ist noch ungeklärt. Sensei, Ihr habt euch offen gehalten ob ihr auf seine Bedingungen für die Informationen die er liefern würde eingehen wolltet.“

„Ach...ja, ich erinnere mich dunkel“, sagte Sakura.

„Es gab eine Zeit, in der ich es ohne zu zögern getan hätte. Erzähl mir etwas über ihn.“

„Wir haben ihn in New York aufgegriffen als wir auf dem Kongress waren.“

„Ich erinnere mich. Das ist fünf Jahre her...“, sagte Sakura. Hatte sie sich solange Zeit gelassen um eine Antwort zu geben?

„Von ihm kam die Information, dass die Trias hierher kommen würde, von ihm kam auch die Information über die Geschäfte in Übersee.“

„Das waren wertvolle Informationen. Dadurch kam mir der Gedanke Kritiker zu gründen... Warte...“, sagte Sakura und ihr Blick wurde leer. Sie ließ sich in ihre Erinnerungen fallen. Das war ein Gefühl als würde sie die Arme ausbreiten und sich rücklings von einer großen Klippe fallen lassen. Sie brauchte nicht lange um das Gesicht vor sich zu haben.“

„Ich habe ihn.“ Sakuras Stimme hatte einen abwesenden Klang. Ein hübsches Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge. Karamell und Sahne mit einem tiefschwarzen Schokoladentopping. Seine Haut hatte die Farbe von Wüstenbewohnern, wirkte jedoch etwas kränklich, die langen schwarzen Haare und die... da waren sie: die Raubtieraugen. Helles Bernstein mit blauen und grünen Einschlüssen darin. Wie selten.

„Ich verstehe warum wir gerade auf ihn aufmerksam wurden. Aber ist das eine gute Idee?“

Sano antwortete nicht.

„Das macht alles komplizierter als es ist. Er ist atemberaubend schön.“

„Sind wir das nicht alle, Sensei?“, fragte Sano. Sakura sah auf weil sie seinen Tonfall nicht einordnen konnte. Er erinnerte sie an eine andere Zeit. Sie spürte die alte Unsicherheit in sich wieder hochkommen. Sie schmunzelte als sie den Blick wieder nach vorne richtete.

„Raubtiere, schön, verlockend und tödlich.“ Sie sah wieder zu Sano auf und lächelte ironisch. „Wir sind eine Spezies, die durch die Evolution geschaffen wurde um den Menschen etwas entgegen zu setzen. Eine neue Gattung der Natur, um ein Gleichgewicht zu schaffen. Längst sind nicht mehr die Menschen die Spitze der Nahrungskette. Stets gefällig im Auge des Betrachters“, sagte sie leise in Gedanken versunken. „Diejenigen, die sich vor Sehnsucht selbst verstümmeln sind es jedoch nicht, Sano.“

Er schwieg. Beide wussten warum er nichts dazu sagte.

„Wie nahe ist er dran?“

„Zu nahe.“

„Weshalb will er weg?“

„Vor fünf Jahren führte er persönliche Gründe an.“

Das war eine Auskunft die Sakura nicht weiterbrachte in ihren Erwägungen.

„Ich habe ihm keine Antwort gegeben“, sagte sie bedauernd.

„Bisher nicht, Sensei.“

„Kannst du Kontakt aufnehmen?“

„Es wird schwierig, ich werde es versuchen. Die Frage ist, ob er noch einen Ausweg sucht. Es ist lange her.“

„Und ich habe ihm seine Dienste nicht entlohnt. Ich habe sein Vertrauen vielleicht verloren.“

„Wenn er noch lebt.“

Sakura ließ sich wieder an die Oberfläche treiben und sah Sano an.

„Finde es heraus und berichte mir. Schick Seki mit Gabriel zum Flughafen und kümmere dich selbst um die Kontaktaufnahme.“

„Sensei.“
 


 


 

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Nagi sah zu Hisoka auf, der ihm den venösen Katheter aus dem Hals zog und eine Kompresse auf die Einstichstelle drückte.

„Es ist sicher, dass ich ihn nicht mehr benötige?“

Hisoka lächelte zuversichtlich. „Der Doc sagt, dass sich deine Werte stabilisiert haben und eine... normale Ernährung, mit der du schon begonnen hast ausreicht um verlorene Energie aufzufüllen.“

Nagi nickte wenig überzeugt. Er fühlte sich noch immer matt. Das teilte er Hisoka mit und dieser wandte sich von dem kleinen Tischchen um, das er zuvor in den Raum gefahren hatte.

Seit das Mädchen vor einer halben Stunde abgeholt worden war und Omi, Eve und Ken zum Flughafen begleitet hatte war er allein und fühlte sich unnütz.

Sie hatten eine schöne Nacht zusammen verbracht, es war nichts passiert, aber die Fürsorge und Nähe von Omi hatten ihn gewärmt. Lilli hatte bei ihnen im Zimmer geschlafen. Nagi hatte sich morgens gefragt warum sie so schnell von hier fort musste und Eve hatte ihm nur gesagt, dass es der letzte Flug vor dem Sturm wäre und sie heute noch fliegen mussten. Brad hatte das veranlasst.

Nagi hing seinen Gedanken nach und Hisoka riss ihn aus trüben Zukunftsvisionen hervor. Er sah auf.

„Nun, es ist vielleicht an der Zeit aus dem Bett aufzustehen. Du hast gestern bereits eine längere Zeit außerhalb des Bettes verbracht. Wie ist es dir dabei ergangen?“

„Gut. Kein Schwindel, nichts.“

„Dann sollten wir diese Übung fortsetzen. Was hältst du davon wenn du mir heute hilfst? Wenn du es möchtest natürlich. Es gibt sonst wenig, dass du hier tun könntest um dich zu beschäftigen.“

Nagi blickte auf das Pad, das neben ihm lag. Er hatte hier kein Netz und die Artikel, die Omi ihm aus dem Netz geladen hatte schenkten ihm keine Entspannung mehr. Es hatte seinen Reiz verloren sich um seine Studien zu kümmern.

„In Ordnung, ich kann es versuchen.“

Hisoka nickte. „Gut. Ich bringe dir Kleidung, damit du deine eigene nicht beschmutzt. Aber zunächst bringe ich dir ein leichtes Frühstück.“

Er werkelte auf dem Tisch herum.

„Wir werden ab heute wieder Patienten aufnehmen, da sich dein Zustand gebessert hat und Mr. Crawford uns sein Einverständnis gegeben hat. Ist das auch in deinem Sinne, Naoe?“

„Wenn Crawford dem zugestimmt hat ist es das“, pflichtete Nagi bei.

„Du wirst noch zwei Aufbauspritzen pro Tag erhalten. Das hilft deinem Körper schneller leere Speicher aufzufüllen.“

Er hob ein Fläschchen empor und schüttelte es leicht, die gelbliche Flüssigkeit wirkte etwas ölig.

„Dreh dich bitte auf den Bauch. Dein Oberarm wäre für eine intramuskuläre Verabreichung ausreichend, da sich aber wenig Muskelmasse dort befindet wähle ich in deinem Fall den Glutealmuskel.“

Nagi tat wie ihm aufgetragen und Hisoka zog ihm die Hose sanft herunter und nur soweit wie er musste. Es war nicht wirklich schlimm, es drückte nur etwas und schon war es vorbei. Er gehörte einer Gruppe Meuchelmörder an und trotzdem war er ein kleiner Waschlappen wenn es um Nadeln ging.

Hisoka ordnete seine Kleidung wieder und Nagi drehte sich wieder herum. Vorsichtig setzte er sich auf. Ihm war kalt wie stets.

„Keine Sorge, du bist auf einem guten Weg, Naoe.“

Da war sich Nagi nicht ganz so sicher, er wusste in etwa welchem Weg er entgegensah. Wenigstens waren seine Fähigkeiten auf einem besseren Niveau. Er konnte bereits kleine Gegenstände emporheben und sie in Schwingung bringen. Das war ein gutes Zeichen.
 

Der Vormittag verlief sehr entspannt und er lernte einige Dinge über Instrumente und deren Benutzung. Er trug Dienstkleidung der Klinik und half Hisoka Instrumente für die Sterilisation vorzubereiten. Eine leichte aber schmutzige Aufgabe. Gegen Mittag half er beim Kochen und da kamen schon die ersten Patienten. Während er in der Küche stand und eine Suppe zubereitete, fragte er sich ob er nicht schon nach Hause konnte... da fielen ihm Brads Worte wieder ein. Er musste hier warten... auf etwas das kam und ihn töten wollte.
 


 


 

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Yohji gähnte herzhaft als er Banshee an sich schmiegte und schließlich nach unten entließ. Sie strich weiter um seine Beine. „Ah, Kitty ich weiß...“, murmelte er und ging die Treppen hinunter.

„Gegen ein bisschen kuscheln hätte ich jetzt auch nichts einzuwenden.“

Vom Flur aus ging er in die Küche. Dort saßen bereits Schuldig, Crawford, Ran und Asugawa.

Er wurde nebenbei begrüßt und Ran stand auf. „Willst du Kaffee?“

„Wäre gut“, brummte Yohji und nahm Ran eine Tasse ab.

„... können wir machen, nur ist es so schlau uns zu trennen?“, fragte Schuldig gerade nach, als er den ersten Schluck nahm und dem Gespräch folgte.

„Nein, von diesem Standpunkt sicher nicht. Wir können nur den Clan nicht ohne Observierung lassen.“
 

„Jei sagte, dass sie das Ryokan nicht angegriffen haben“, wandte Yohji ein und setzte sich an den Tisch. Ran und Schuldig frühstückten während Asugawa und Crawford nur Tee und Kaffee tranken.

„Nein, sie sind nicht aufgetaucht.“

„Eine Fehlinformation?“, fragte Kudou und sah zu Asugawa rüber der in seine Tasse starrte.

Er sah auf und schüttelte langsam den Kopf.

„Nein.“ Dann kniff er die Lippen zusammen. „Ich weiß es nicht. Es war ihr Plan, aber alles hat sich verändert. Wenn wir davon ausgehen, dass Superbia ein PSI war und sie vielleicht mit Rosenkreuz oder einem anderen Orden zusammenarbeiten, dann kann ich ihre Züge nicht mehr vorausahnen. Ich verstehe diese Konstellation nicht im Ansatz. Da läuft etwas, dass wir nicht verstehen, zumindest blicke ich nicht mehr durch. Superbia war ein Ordensmitglied, sie haben den Clan infiltriert, vor meinen Augen.“

„Superbia war nicht stark genug um eine Manipulation dieser Größenordnung zu bewerkstelligen“, wandte Schuldig ein.

„Das nicht. Er hätte aber die Tür für einen mächtigen Telepathen darstellen können“, sagte Brad.

„Ein Gefäß?“, fragte Schuldig und sah ungläubig zu Brad hinüber.

Dieser nickte langsam und hielt seinen Blick mit Schuldigs verschränkt.

„Dauerhaft?“ Schuldig schüttelte den Kopf. „Das wäre....“

„Diabolisch?“, fragte Brad ironisch.

„Naja... eher anstrengend“, erwiderte Schuldig lapidar und hob beide Hände in einer frustrierten Geste. „Wer sollte so etwas mit sich machen lassen?“, fragte er wenig überzeugt von dieser Theorie.

Alle sahen Brad an.

„Freiwillig? Keiner.“

„Du meinst Superbia war eine Marionette?“, fragte Ran in Richtung Brad.

„Es ist nur eine Theorie.“

„Er war mir unheimlich, so viel steht fest“, sagte Asugawa und Schuldig sah ihn an.

„Genauer gesagt hatte ich Angst vor ihm. Mit ihm stimmte etwas nicht. Aber was kann ich im Nachhinein nicht sagen. Es könnte genau so gut sein, dass ich seine Fähigkeiten dafür verantwortlich machte. Von denen ich nichts wusste. Ihr alle...“ Er sah Brad, Schuldig und Jei an. „... habt eine besondere Ausstrahlung. Und ihr...“, er deutete auf Yohji und Ran. „Bemerkt sie nicht mehr, weil ihr zu nahe dran seid.“

„Die Frage ist wer ihn gelenkt hat“, sagte Brad.

„De la Croix ist dazu fähig“, sagte Schuldig und es klang sehr überzeugt.

„Nein. De la Croix ist dazu nicht in der Lage. Du überschätzt ihn.“

Schuldig sah ihn ernst an.

Brad erwiderte diesen Blick. „Er ist ein Telekinet.“

„Wie erklärst du dir dann seine anderen Fähigkeiten?“ Schuldig wurde wütend.

„Sekundärfähigkeiten, die ihm helfen eine Bindung herzustellen. Ohne herausragende Primärfähigkeiten im telepathischen Bereich ist er niemals in der Lage eine derartige Manipulation zu bewerkstelligen.“

„Dann hatte er Hilfe“, beharrte Schuldig.

„Vielleicht. Oder es ist jemand anderes. Straud zum Beispiel.“

„Straud? Dieser Speichellecker?“

„Unterschätz ihn nicht, Schuldig. Sein Hunger nach Macht war stets unersättlich. Damals schon.“

„Wer ist dieser Mann?“, fragte Yohji.

„Mittlerweile eine der drei Spitzen der Trias. Damals... ein sadistischer Gebietsleiter, der in Ungnade gefallen war. Er rangierte nach einem Fehltritt ziemlich weit unten in der Ordenshierarchie.“

„Dann hat er sich ja sehr schnell von seinem Fall erholt...“, resümierte Yohji.

„Ihm wäre es zuzutrauen“, pflichtete Brad bei.

„Weshalb unterstützt der Orden eine Ratte wie Straud?“, fragte Schuldig aufgebracht.

„Weils Arschlöcher sind?“, schlug Yohji eine Möglichkeit vor.

„Nein. Eher weil sie manipuliert wurden. Es gibt strenge Regeln. Was glaubt ihr warum PSI solange in Verborgenheit ohne Entdeckung bleiben konnten? Ganz bestimmt nicht weil sie sich in der Vergangenheit jemandem wie Straud angeschlossen haben. Straud hatte schon einmal den Wunsch nach Veränderung geäußert.“

„Veränderung?“

„Soweit mir bekannt war hatte er an einem Umsturz teilgenommen und wurde degradiert. Er wurde zum Gebietsleiter von Südamerika bestimmt.“

„Umsturz? Eine klassische Revolte?“, fragte Yohji interessiert nach.

„Ja. Er unterstützte den Versuch die Trias zu stürzen. Sie vertraten die Ansicht, dass PSI in die Öffentlichkeit treten sollten.“

„X-Men mäßig?“ hakte Yohji nach.

Alle sahen zu ihm hin.

Er zuckte nur mit den Schultern. „Hey Leute, ich kann nichts dafür, der Gedanke drängt sich einem förmlich auf.“

Ran hob skeptisch eine Augenbraue.

Brad verbarg sein Lächeln hinter seiner Tasse. Yohji kniff die Augen zusammen, er hatte dieses Grinsen gesehen!

„Sag nicht, dass die Comics von PSI gezeichnet wurden!“

Brad zuckte nichtssagend oder doch alles sagend mit den Schultern.

Nun sahen alle Brad an.

„Kein Kommentar“, sagte er noch ein halbes Lächeln auf den Lippen.

„Alle Comics?“, fragte Yohji verblüfft und ließ den Kopf in den Nacken fallen.

„Mein Weltbild gerät gerade ins Wanken!“, stöhnte er theatralisch.

„Die Filme auch? Was ist mit der Serie?!“, kam ihm da ein Gedanke und er sah wieder in die Runde.

„Die Serie? Die war Schrott. Die Zeichnungen waren...“, sagte Ran plötzlich und hatte sofort die Aufmerksamkeit aller. Sogar Yohji hob erstaunt beide Augenbrauen. „Du hast X-Men angesehen?“, fragte er ungläubig.

Ran spürte den interessierten Blick von Schuldig und wandte ihm langsam sein Gesicht zu. „Was?“, fragte Ran knurrend.

Schuldig hob grinsend die Hände um seine arglosen Absichten kundzutun. „Oh nichts. Dein Geheimnis oh düsterer, unnahbarer Anführer wird diesen Raum niemals verlassen!“

Ran sah zu Brad hinüber. „Das geht endlos so weiter.“

„Es ist amüsant“, erwiderte dieser ungerührt.

„Nicht für mich.“

„Och komm schon, Ran. Was ist mit Spiderman oder mit dem Silversurfer?“

Ran schnaubte, schob abrupt seinen Stuhl zurück und ging zur Anrichte um sich sein Getränk aufzufüllen.

Schuldig zog eine Schnute. Er würde jedoch nicht so leicht aufgeben. Ran hatte Comics gelesen! Von den X-Men! Er grinste immer noch still vor sich hin als Brad sich räusperte.

„Nach dieser netten unterhaltsamen Einlage sollten wir auf unser Problem zurückkommen. Jei, Schuldig, bringt in Kyoto in Erfahrung was dort läuft“, wies Crawford an.

Alle sahen Brad an. „Jei ist...“, fing Ran an. Doch Brad zeigte gerade hinter sich. Dort kam gerade Jei zur Tür herein, Banshee auf dem Arm, die es sich dort gemütlich gemacht hatte. Er setzte sich auf einen freien Platz.

„Ich fahre nach Kyoto“, bestätigte Jei, sah aber von Banshee nicht auf.

„Du fährst nicht alleine, dieses Mal nicht“, beschloss Brad. „Du wirst entweder Asugawa oder Schuldig mitnehmen, er kennt sich auf dem Gelände aus. Wenn nötig quetscht den alten Yoshyo persönlich aus.

„Ich fahre mit“, sagte Ran plötzlich. Crawford sah ihn an.

„Je nachdem wie du dich entscheidest wäre das unzweckmäßig.“

Ran sah auf.

„Chiyo hat mich heute Morgen kontaktiert. Sie will eine Zusammenarbeit mit uns. Sie will mich sehen um die Details zu verhandeln. Und sie hat Informationen über Rosenkreuz. Ich hege jedoch kein persönliches Interesse an diesem Treffen. Du vielleicht schon. Kudou und du könntet hinfahren.“

Schuldig legte seinen Löffel zur Seite.

„Nein, ich fahre mit Ran, Kudou nichts für ungut“, sagte Schuldig und der Blonde winkte ab.

„Habe ich auch etwas zu sagen?“, knurrte Ran düster.

Alle sahen ihn an. „Willst du nicht?“, fragte Schuldig etwas erstaunt.

Ran schwieg einen Augenblick.

„Ich bin mir nicht sicher. Sie hat etwas vor und wenn sie hinter Kritiker steckt war sie es die uns manipuliert, wie auch immer sie das bewerkstelligt hat.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihr traue“, bemerkte Brad ruhig. „Fahr hin und hör dir an was sie zu sagen hat, wenn es dir nicht gefällt dann kommt ihr zurück.“

Ran nickte langsam, aber schien noch nicht überzeugt zu sein.

„Sie erwartet mich am späten Nachmittag. Nach Morioka sind es ein paar Stunden mit dem Wagen. Ihr müsst bald aufbrechen.“
 

„Dann begleite ich Jei, hab eh nichts zu tun seit Eve weg ist“, seufzte Yohji bekümmert.

„Sie ist schon weg?“, fragte Ran.

Brad nickte.

„In den frühen Morgenstunden. Sie wollte noch zu ihrem Team, bevor sie Lilli abholt. Ein Taifun wird die nächsten zwei Tage den Flugbetrieb lahmlegen. Heute Nachmittag wird es die letzte Gelegenheit geben um an einen regulären Flug zu gelangen. Omi und Ken begleiten sie bis zum Flughafen, damit ich etwas beruhigter bin.“
 

Jei hob den Blick vom Fell der Katze und sah ihn lange an. Dann stand er auf und ging.

„Und was soll ich machen?“, fragte Asugawa.

„Wenn Kudou dich nicht dabei haben will dann wirst du dich um deine Wunden kümmern, etwas essen und schlafen.“

„Ich trau dir nicht, ich will dich nicht dabei haben“, bestätigte Yohji und zuckte mit den Schultern.

„Ich habe dich nicht darum gebeten mich ins Leben zurück zu zwingen“, gab Finn dem Blonden zu bedenken.

„Du nicht.“
 

Schuldig rollte mit den Augen und zu Asugawa sagte er:

„Hey ist doch prima! Das ist wie Krank-geschrieben zu sein“, grinste Schuldig.

„Ha, ha“, meinte Finn wenig begeistert.

Ran sah von Brad zu Finn und er konnte sich das Schmunzeln nicht verbeißen. Brad hatte das Haus für sich wenn sie alle weg waren, nur um mit Asugawa allein zu sein.

Fast hätte er Lust hier zu bleiben um seinen Telepathen zur Bespitzelung anzustiften.
 

Brad stand auf. „Ich bin oben.“
 

Sie unterhielten sich noch während Brad den Weg in sein Schlafzimmer antrat. Er nahm das Telefon zur Hand.

„Ist alles vorbereitet?“

„...“

„Nein, Hidaka es ist keine gute Idee. Aber es ist die einzige Option im Augenblick.“

„...“

„Schöpft er Verdacht?“

„...“

„Gut.“

„...“

„Ich habe Eve instruiert.“

„...“

„Ich erwarte euren Anruf.“
 

Brad legte das Telefon auf den Tisch und setzte seine Brille ab. Er rieb sich die brennenden Augen und legte sich aufs Bett. Er hatte kaum geschlafen, etwas Ruhe würde ihm guttun, wenn er denn Schlaf finden würde. Es war alles geregelt, bis auf Kleinigkeiten konnte er nur abwarten.
 

Brad musste fest eingeschlafen sein, denn irgendwann klopfte es an seiner Tür und er öffnete die Augen.

Schuldig steckte den Kopf herein. „Wir fahren.“

„Wie spät ist es?“

„Gegen sieben.“

Brad setzte sich auf und rieb sich über das Gesicht, er fühlte sich wie erschlagen.

„Ich habe zu lange geschlafen.“

„Kudou und Jei fahren mit uns los.“

„Ich dachte ihr wärt schon unterwegs?“ räusperte sich Brad.

Schuldig machte die Tür auf und trat ein.

„Ran wollte nicht zu früh los, er sagte, er würde bestimmen wann er dort ankam.“

Brad erhob sich. „Pass auf dich auf“, sagte er. Schuldig sah ihn an.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ich bin müde.“

„Kaum zu übersehen. Also bis morgen, wir kommen so schnell es geht zurück.“

„Haltet Kontakt.“

„Sowieso.“

„Und ich meine über das Telefon.“

„Warum? Bist du heute Nacht mit Asugawa zugange?“, feixte Schuldig.

Brad sagte nichts, sondern wandte den Blick ab.

„Verzieh dich Schuldig“, brummte er missgelaunt.

Schuldig winkte spöttisch und verließ das Schlafzimmer, Brad schloss die Tür und lehnte sich an.

Das war es also? Ihr Abschied?

Er hatte es sich nicht leisten können anders zu reagieren, Schuldig war zu aufmerksam was seine Stimmungen anging. Ebenso Jei und Jei war bereits misstrauisch, so wie er ihn am Tisch angesehen hatte.

Er hätte sich gerne anders von Schuldig verabschiedet.
 

Er ging nach unten und sah zu wie sie ihr Equipment in die Wagen luden. Dann fuhren sie ab.
 


 


 

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Nagi hatte nach dem Mittagessen einiges zu tun und Hisoka empfahl ihm eine Pause zu machen. Also setzte er sich in den Aufenthaltsraum der Belegschaft, die seit heute Mittag Zuwachs bekommen hatte. Drei junge Männer halfen dem Doc und Hisoka. Sie waren alle in Nagis Alter und hatten eine ähnliche Ausbildung wie Hisoka. Mittlerweile gab es drei Patienten. Einen mit einer Schussverletzung, der Zweite war so volltrunken gewesen, dass er nicht mehr wusste wer ihm die Platzwunde auf seinem Hinterkopf beigebracht hatte. Seine Kumpel hatten ihn zum Doc gebracht und schwuren sich im Aufenthaltsraum lautstark auf Rache ein.

Soviel Nagi mitbekommen hatte waren es Mitglieder des Tetsuraclans. Hisoka mahnte sie bereits zum zweiten Mal um etwas mehr Ruhe an. Beim dritten Mal würden sie rausfliegen, doch das schien nicht nötig zu sein, sie verhielten sich ab der Standpauke wesentlich gesitteter.

Der dritte Patient war ein Mann der wohl in der Nacht zusammengeschlagen worden war, er war übel zugerichtet worden. Ein Mitglied von Ryuichi Asami. Man hatte ihn auf der Toilette eines seiner Spielcasinos gefunden. Asamis rechte Hand war hier persönlich aufgetaucht um ihn abzuliefern. Das Haus war also voll und sie hatten alle Hände voll zu tun, denn das waren alles schwere Verletzungen.

Nagi hatte sich versichert, dass er momentan nicht gebraucht wurde und hatte sich dann zurückgezogen um, wie von Hisoka angeordnet, etwas zu essen. Die Gemüsesuppe schmeckte ihm und er freute sich auf die Nudeln darin, als er jemanden in der Küchentür stehen sah. Es war der Doc.

Er streifte sich seinen Kittel ab und hängte ihn an einen Haken, dann nahm er sich von der Suppe und setzte sich ihm gegenüber.

„Die Männer die heute aushelfen... sind sie vertrauenswürdiger als die, die Yohji und Jei töten wollten?“, fragte Nagi nach einer Weile einträchtigen Schweigens in der sie ihr Mahl aßen.

Der Doc sah auf und Nagi konnte den Blick hinter den Brillengläsern nicht ganz deuten.

„Sie sind es. Es sind Kawamoris. Sie entstammen meinem Clan.“

„Warum...“, fing Nagi an.

„Wir hielten es für nötig eine Abspaltung von unserem Clan bei Tetsura, Sakurakawa und Ryuichi zu inszenieren um an mehr Informationen über laufende Geschäfte zu erhalten.“

„Ihr habt Brad getäuscht?“

„Glaubst du das?“

Darüber musste Nagi nachdenken. „Ich weiß nicht.“

„Ich glaube nicht, dass ich Mr. Crawford täuschen kann.“

„Nur sein Augenmerk auf etwas anderes lenken?“, fragte Nagi.

Der Doc schwieg. Für Nagi war dies Antwort genug.
 

Er widmete sich wieder seinem Essen und dachte wieder an Brads Worte. Sie würden sich vielleicht nicht wieder sehen. Er fühlte sich... alleingelassen. Von allen verlassen.

Schuldig meldete sich hin und wieder und erkundigte sich nach seinem Befinden, das machte es erträglich von ihnen getrennt zu sein. Dennoch... fühlte er sich allein.

Eine Betäubung hatte sich in ihm eingestellt.

Die kleinen Tätigkeiten die ihm hier aufgetragen wurden halfen ihm ein wenig seine Gedanken mit etwas anderem zu beschäftigen. Sie waren eine gute Übung um seinen Körper wieder etwas an normale Bewegungen zu gewöhnen.

Heute Abend würde Omi wieder vorbeikommen und er freute sich schon darauf.
 

„Kommen deine Fähigkeiten langsam zurück? Bemerkst du eine Erholung?

Nagi sah auf.

„Ein wenig. Ich habe Angst, dass sie nicht vollständig zurückkehren werden.“

Der Doc sah ihn lange an.

„Verständlich. Es ist nicht sicher. Zumindest was ich von Mr. Crawford über eure Fähigkeiten weiß.“

Nagi sah ihn bedrückt an.

„Du hast einen schweren Einschnitt in das erlitten was ihr euren Schild nennt. Eine Narbe, die vielleicht verhindern wird, dass du zur alten Größe zurück findest. Mr. Crawford sagte mir, dass der Schild unbedingt intakt sein sollte.“

Nagi nickte. „Damit ist nicht der Regenerationsschild gemeint“, sagte er leise.

„Es ist deine Seele.“

Nagi sah auf den Tisch zurück. „Ja. Dieser innere Schild macht uns als PSI aus. Er soll aus vielen metaphysischen Schichten bestehen.“ Er wollte noch etwas sagen schwieg aber dann.

„Bist du müde?“

Nagi sah auf.

„Ein wenig.“

„Leg dich bitte nach dem Essen etwas hin, du solltest dich ausruhen.“

Nagi wollte zunächst protestieren, nickte dann ergeben. Er konnte nicht leugnen, dass er müde war.

Sie aßen schweigend weiter. Der Doc erhob sich schließlich und nahm ihr Geschirr um es in die Spülmaschine zu räumen. Dann verließ er mitsamt seinem Kittel die Küche.
 


 


 

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Brad ging sofort nachdem Schuldig und Ran gefahren waren ins Besprechungszimmer und begann damit Dateien auf Datenträger zu sichern. Als er fertig war initiierte er das Programm um die noch vorhandenen Daten auf den Rechnern zu überschreiben. Das würde den Rest des Abends dauern und er verließ den Besprechungsraum. Schuldig rief ihn in der Zwischenzeit einmal an, ebenso Kudou. Es verlief alles nach Plan. Kudou und Jei hatten Posten bezogen und würden sich in den nächsten Stunden wieder melden.

Eve hatte sich gemeldet. Der Junge war wie von Sakura Kawamori versprochen zum Flughafen gebracht worden. Sie waren alle zusammen abgereist. Omi hatten sie betäubt, da er einen Riesenaufstand verursacht hatte. Brad war erleichtert gewesen zu wissen, dass wenigstens diese Menschen nicht mehr in Gefahr waren.

Jei war ein Unsicherheitsfaktor. Er musste ihn von Kyoto weiter nach Morioka schicken um ganz sicher zu gehen.
 

Brad verließ das Besprechungszimmer und ging sich duschen. Danach schlüpfte er in bequeme Kleidung und ging hinunter. Es war bereits zehn Uhr abends.

Finn war nirgends zu sehen. Das Haus lag still da. Er löschte die Lichter und begab sich in das Untergeschoss um nach ihm zu sehen.
 

Dort war es dunkel und Brad ließ davon ab das Licht anzumachen. Er ging den Flur entlang und stieß auf einen weichen Körper der sich plötzlich an ihn schmiegte. Er ließ es zu. Sehnsüchtige Lippen drängten sich an seine, offenbar mutig geworden durch ihr Gespräch in der Küche.
 

Sie ließen beide ihre Zurückhaltung unterschiedlicher Ursache fallen und prallten derart heftig aufeinander, dass Brad sich fragte wie sie sich solange zurückhalten konnten. Er riss Finn fast das Oberteil vom Körper drängte ihn an die Wand und hielt dessen Handgelenke über seinem Kopf fest. Keuchend drängte sich Finn ihm entgegen, versuchte ein Stückchen Haut zu erreichen, was Brad ihm versagte.

Er wartete auf Abstand bis er sich etwas beruhigt hatte. Ihr Atem war das Einzige was zu hören war.

Finn wollte sich ihm wieder nähern, Brad hielt ihn erneut davon ab.
 

Erst als Finn ruhiger wurde löste er langsam seine Hand von der Brust des Mannes und strich sanft zu dessen Halsbeuge.

Er küsste ihn erneut, drang tief in seinen Mund ein. Brad ließ seine Handgelenke los und Finns Arme schmiegten sich an seine Schultern. Brad hielt einen Moment an den warmen Lippen inne.

„Bleib bei mir...“, sagte er. ‚... in der Dunkelheit.’

Finn küsste ihn zart. „Ich bin bei dir.“

Brad ließ den Kopf auf Finns Schulter gleiten. Wusste der andere was er damit sagte? Was er damit meinte?
 

Das was kommen würde, war bereits geschehen.
 

„Hör nicht auf“, bat Finn.

Brad zog ihn näher an sich und hielt ihn fest. Diese Dunkelheit die um sie herum herrschte hatte Konturen, sie hatte Schatten und er spürte Finns Herzschlag. Das was kommen würde war formlos, ohne Leben. Er wollte sich an diese Lebendigkeit, an dieses Gefühl der Nähe zurückerinnern können und von ihr zehren.
 

„Dazu ist es zu spät.“
 


 


 

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Es war bereits zehn Uhr durch als alle Patienten auf die eine oder andere Art versorgt waren und Nagi den Kawamoris dabei half die Klinik auf Vordermann zu bringen. Einer der Patienten war gestorben, es war der Mann mit der Platzwunde. Die beiden anderen lagen in ihren Zimmern und schienen versorgt und stabil zu sein, wie Hisoka ihm erzählte.

Sie aßen alle zusammen zu Abend, Nagi beobachtete die drei Männer, die er nicht kannte, alle schwiegen und schienen etwas angespannt zu sein. Sie sprachen über den Sturm der bereits über Tokyo war. Während Hisoka und der Doc die Patienten betreuten waren die drei anderen dazu abkommandiert worden um die Klinik vor eintretendem Wasser zu schützen.

Die Männer würden heute Nacht hierbleiben, da es draußen zunehmend ungemütlich wurde. Wassermassen entleerten sich über der Stadt und der Sturm hatte an Intensität deutlich zugenommen.

„Die Behörden gehen von großen Schäden aus“, berichtete Hisoka.

„Der Taifun bringt zu

Sie wollten noch den Bereich der Klinik vor eindringenden Wasser sichern und würden die Nacht über damit beschäftigt sein. Er solle sich aber keine Sorgen machen.

Nach dem Essen, duschte er sich und Hisoka verabreichte ihm eine Aufbauspritze. Nach dieser jedoch hatte er sich komisch gefühlt, ihm war schwindlig geworden und Hisoka hatte ihm helfen müssen sich hinzulegen. Vielleicht hatte er es doch übertrieben... heute... es war viel... los gewesen...

Mühsam deckte er sich zu.

Hisoka räumte die Spritze zur Seite.

„Vielleicht hast du dich heute überanstrengt“, sprach Hisoka seine Vermutung laut aus und der große Mann sah ihn forschend an.

„Bisher habe ich mich gut gefühlt, jetzt... bin ich sehr müde“, murmelte Nagi und seine Augen fielen ihm bereits zu.

Er hörte noch wie Hisoka mit jemandem sprach und dann war da nichts mehr.
 


 

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Sano wartete im Dickicht welches eine einsame Waldstraße säumte. Er wartete bereits über eine Stunde und nichts regte sich auf dem Weg, bis ganz plötzlich alles um ihn herum unnatürlich still wurde. Keine Zikade war mehr zu hören. Ihr Gesang brach abrupt ab, kein Vogel der Nacht und kein Geräusch der nachtaktiven Nager war mehr zu vernehmen.

Er fragte sich warum, denn er selbst hatte keine Annäherung durch ein Fahrzeug oder einen Menschen registriert. Dann verspürte er ein unangenehmes Gefühl als würde sich jemand nähern, nur konnten seine anderen Sinne nichts wahrnehmen. Plötzlich spürte er einen Atemhauch an seinem Ohr und er zuckte zurück, brachte sich außer unmittelbarer Reichweite. Ein leises Lachen war zu hören und ein Schatten stand dort wo er noch zuvor gestanden hatte.

„Du bist sehr geduldig. Vielleicht zu geduldig“, hörte er und er konnte allein anhand der Stimme nicht einordnen ob diese Gestalt ein Mann oder eine Frau war. Sie war hochgewachsen, hatte seine Größe und war schlank.

„Wer bist du?“

Die Gestalt ging einen Schritt auf ihn zu, machte jedoch kein einziges Geräusch auf dem Boden.

„Ich bin... dein Kontakt.“

„Ich habe jemand anderen erwartet.“

„Ja, den hast du. Deine Herrin hat diesen Einen für seine Dienste nicht entlohnt. Sie scheint ihn vergessen zu haben. Ich kannte sie als eine sehr gerechte Seele. Sie begleicht eine Schuld immer. Warum hat sich dies geändert?“

„Diese Frage kann nur sie beantworten“, fand Sano schnell eine Antwort.

Er sah das schnelle Kopfbewegen, das eher einem Vogel glich, so ruckartig wie der Kopf seitlich gewandt wurde. Er spürte, dass er sich in Gefahr befand.

Sein Kontakt wurde augenscheinlich entdeckt und das war nur eine Falle für ihn um seine Herrin zu entlarven. Er musste sehen, dass er hier weg kam. Er sprang nach hinten, überquerte die Waldstraße und rannte durch den Wald. Rechts von ihm spürte er wieder diese düstere Anwesenheit wie zuvor schon, also wandte er sich nach links. Er wollte nicht mit diesem... Etwas in Kontakt kommen. Das passierte noch ein paar Mal und er änderte stets seine Richtung, bis er stehen blieb. Er wurde gelenkt, fiel ihm plötzlich auf. Aber wohin?

„Geh weiter“, flüsterte es plötzlich wieder nah in seinem Rücken und er wandte sich hektisch um. Er war nicht schreckhaft, aber dieses Gefühl, das von ihm Besitz zu ergreifen schien jagte ihm Schauer über den Rücken.

„Wohin?“, flüsterte er.

„Dorthin wo ich dich haben will“, kam die Stimme von irgendwoher. Er ahnte, dass sie in seinen Gedanken war, dennoch hörte er sie mit seinem Gehör. Es war verwirrend.

Wieder dieses leise amüsierte Lachen. Er rührte sich keinen Meter.

Dann hörte er einen ungehaltenen Laut, der menschlich klang. „Genug der Spiele. Ich will dir etwas zeigen. Wähle, Gehilfe. Geh oder ich zerfetze deine Seele in tausend Splitter.“

Das war keine leere Drohung so sachlich wie die Worte zwischen sie beide fielen.

Er ging weiter und fragte sich wer oder was das hinter ihm war.

„Könntest du das was dich umweht zurücknehmen?“, fragte er.

„Die leere Finsternis?“

„Wenn du es so bezeichnen willst.“

„Es schützt diese Unternehmung, es schützt uns beide.“

Das hieße, dass dort wo sie hingingen keine Gefahr für ihn selbst und seine Herrin lauern würde? Er bezweifelte es.
 

Es dauerte noch einige Zeit, Sano schätzte zwanzig Minuten bis sie zu einer Straße kamen. Dort sah er gegenüberliegend einen Wagen stehen. Würde er gleich im Kofferraum verschwinden?

Sie überquerten die Straße und Sano sah, dass es eine Frau war als ihre Silhouette im kühlen Licht der Himmelskörper zu erkennen war. Sie war größer als er und ihr Gesicht war schwarz bemalt. Sie hatte ihre Haare bis auf wenige Millimeter kurz geschoren.

„Der Schlüssel steckt. Fahr damit an einen Ort deiner Wahl, lade die Fracht, die sich im Kofferraum befindet in ein Fahrzeug deiner Wahl. Ich fordere für meine und seine geleisteten Dienste etwas vom Schmied.“

„Was ist dort drin?“

„Deine Erwartung.“

„Mit diesen kryptischen Worten kann ich nichts anfangen.“

„Geschändete Unschuld in ihrer reinsten Form.“

„Eine Forderung an den Schmied muss mit einem Namen hinterlegt werden“, sagte Sano und kam auf die Spielregeln zurück.

„Der scilt fordert Wiedergutmachung. Und der scilt“, sie sprach die einzelnen Buchstaben, die Sano noch nie gehört hatte überdeutlich aus. Der letzte Buchstabe wurde so deutlich mit der Zunge angeschlagen, dass Sano den Eindruck hatte die Frau war wütend und sie würde zischen.

„... fordert sie jetzt.“ Sie war näher gekommen.

„Dich verbindet offenbar mehr mit meiner Herrin als ich erfassen kann. Aber ich kann dir diese Forderung nicht bestätigen noch sie dir verweigern.“

„Das, junger Sano ist mir bewusst.“

Jung? Sano war fast vierzig Jahre alt. Er ahnte, dass seine Herrin und diese Frau länger bekannt waren als er bereits lebte.

„Gib mir mehr in die Hand“, bat Sano.

Sie schwieg. „Du forderst den scilt heraus?“ Irgendwie schien sie sich geändert zu haben, ihre Haltung und ihre Sprache hatten sich eine Nuance verändert. Zu etwas animalischem.

„Nein. Ich bitte den scilt um mehr Informationen.“ Er blieb ruhig. Trotzdem hatte er Angst. Seine Schilde waren stark ausgeprägt, aber er konnte sich nicht gegen ihre Einflussnahme wehren. Was war sie nur? Das hier war eine ganz andere Liga. Mit Telepathen hatte er in der Vergangenheit bereits Kontakt. Sie war definitiv kein Telepath. „Eine Bitte...“, sagte er respektvoll.
 

Sie schien zu überlegen.
 

„Ich war euer Kontakt, ich bezog meine Informationen von ihm, dem, den du erwartet hast. Er war in Gefahr. Ich entfernte ihn aus der unmittelbaren Gefahr. Nun fordere ich den Schmied auf seine Arbeit aufzunehmen.“
 

Jetzt war natürlich klar was in dem Kofferraum war.

„Das verstehe ich nun.“ Er verneigte sich angemessen. „Aber ist der scilt nicht selbst in Gefahr?“
 

„Mein Rang ist hoch. Ich brauchte Köder und Sündenbock. Nun ist kein Platz mehr für derlei Fallstricke. Das Spiel endet bald. Die Unschuldigen müssen vom Platz genommen werden.“
 

„Verzeih die Frage“, fing Sano umsichtig an. „... warum wendest du dich an den Schmied und nicht an die Frau? Sie wird den Jungen schützen.“
 

„Weil es nicht ausreichen wird. Er braucht die Arbeit des Schmiedes.“
 

„Ist er so stark?“
 

„Nein. Er gehört zur untersten Klasse und ist ein zarter und gebrochener Rabe.“
 

„Der Schmied nimmt nur Arbeiten an, die nötig sind“, sagte er vorsichtig.

Sie machte einige Schritte von ihm weg.
 

„Junger Sano, erzähl mir nicht wie der Schmied arbeitet. Ich kenne seine Arbeit, aber sie misslingt bisweilen auch. Und dann... dann...“ Sie zog sich weiter zurück am Rand des Waldes spürte er wie sie in seinen Kopf flüsterte. „... dann zerbrechen Welten. Sollte ich den Schmied folglich Weltenzerstörer nennen?“
 

Dann verschwand sie in den Schatten der Bäume und er stand allein am Wagen. Er öffnete den Kofferraum nicht, sondern stieg ein und fuhr davon.
 


 

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Chiyo sah Sakura ruhig am Stützbalken angelehnt warten. Sie hatte ihr Schwert zwischen ihre Beine gestellt und es an ihre Schulter gelehnt. Sie war besorgt und das wiederum war Chiyo eine Warnung.

Dann hörten sie wie das Tor geöffnet wurde und ein Wagen auf das Grundstück über den Kies fuhr. Der Wagen hielt einige Meter vor dem Haus an. Sakura sah auf und sah wie Sano ausstieg und zu ihnen eilte.

Er kniete nieder und Sakura sah auf ihn herab mit einem beinah resignierenden Blick.

„Ist er tot?“
 

„Nein, Sensei. Die Begegnung ist nur anders verlaufen als gedacht.“

„Berichte.“

Sano erzählte ihr davon und gab den genauen Wortlaut wieder.

„Sie hat scilt gesagt?“ Sakura stand auf, ihre Klinge in der Scheide in der rechten Hand.

„Das waren ihre Worte.“
 

Sakura trat die Stufen hinunter und ging auf den Wagen zu.

Weltenzerstörer...

Dieses Wort hatte sie lange nicht mehr mit sich selbst in Verbindung gebracht. In ihren Erinnerungen gefangen spürte sie der Vergangenheit nach und fand nur Verzweiflung vor. Sie war so elementar, dass sie sich zurückversetzt fühlte in jene Tage die sie an den Rand des Todes geführt hatten. Damals wäre sie beinahe gestorben. Sie hatten sich so hart bekämpft, dass sie sich gegenseitig ausgelöscht hätten.
 

Du kannst nur zerstören, alles was du berührst zerfällt zu Asche, du vernichtest jede Welt, jede Seele die deinen Weg kreuzt...

Nichts von alledem wäre je geschehen, wenn du dich nicht eingemischt hättest!
 

Aim hatte ihr diese Worte unter wütenden Tränen entgegengeschrien, so verzweifelt... und so einsam.

Nie zuvor und nie mehr danach hatte sich Sakura so hilflos gefühlt, so schuldig. Es waren die dunkelsten aller Tage gewesen. Und sie wollte sie vergessen, für immer, doch ein Runner vergaß nicht.
 

Sie ging näher, ihre Gedanken noch halb in der Vergangenheit.

„Etwas Abgespaltenes... dann...“

Sie stoppte am Wagen und Sano öffnete den Kofferraum. Der junge Mann der darin lag war in eine Decke gewickelt, ein Kissen lag unter seinem Kopf. Er schien zu schlafen. Sein Gesicht war stark mitgenommen.

„Beschreibe mir die Frau.“

Sano tat es und Sakura beugte sich über den Jungen und strich ihm über die Stirn.
 

„... dann lebt er also“, resümierte seine Herrin wie in Gedanken versunken.
 

„Ich habe unterwegs angehalten und seine Lebenszeichen überprüft. Es sieht für mich nach einem künstlichen Schlaf aus.“

„Sano, bring ihn in eines der Zimmer und wache über ihn. Sobald er aufwacht möchte ich darüber informiert werden.“

„Ja, Sensei.“

Drei Männer, die als Wache eingeteilt waren eilten herbei und Sano warf einem davon die Schlüssel des Wagens zu.

„Sensei.“

Sakura stand immer noch dort und betrachtete sich den Jungen. Sie sah zu wie Sano den Jungen aus dem Wagen hob.

„Ja, Takeru?“

„Wir würden die Überwachung ausweiten.“

„Wie weit?“

„Zufahrtstraßen, einen Kilometer Radius um die Besitztümer.“

„Danke Takeru. Hast du das mit allen besprochen?“

„Ja, Sensei. Es war die allgemeine Meinung.“

Sakura nickte. „Dann verlasse ich mich auf diese.“

Sie hatte wohl die ergebensten und treuesten Gefolgsleute auf diesem Erdenrund.

Stets hatte sie ihnen erlaubt mitdenken zu dürfen und sie hatte sie stets vor Gefahr beschützt. Ihre Väter und Mütter und deren Väter und Mütter.

Sakura wandte sich ab, dann fiel ihr noch etwas ein, sie kümmerte sich sonst nicht um derlei, aber jetzt war es ihr ein Bedürfnis.

„Takeru“, sprach sie den bereits davon Eilenden an.

„Sensei.“

„Bitte unterrichte deine Mutter davon, dass wir in nächster Zeit Besucher empfangen werden. Wenn es ihr keine Bürde ist wäre es angemessen eines der Gästehäuser vorzubereiten.“

„Sie wird es gerne tun.“
 

Chiyo begleitete Sakura hinein und sie gingen durch das weitläufige Anwesen zu den Räumen, die etwas spezieller waren.

Sakura schien in Gedanken zu sein.

„Wie kannst du so sicher sein, dass er lebt?“

„Ich bin es nicht. Aber nur Aim hat sich selbst scilt genannt.“

Chiyo blieb stehen und Sakura drehte sich zu der älteren Frau um. „Was bedeutet es?“

„Es bedeutet Schild.“ Und es bedeutete Abspaltung und Sakura ahnte was Aim ihm damit sagen wollte. Er hatte jemandem etwas genommen was ihm nicht gehörte. Und der Beschreibung die Sano ihr geben konnte ahnte Sakura um was es sich dabei handelte. Sie verstand es jedoch nicht.

„Wann hat Stiller die Anfrage geschickt?“

„Gestern.“

„Ich werde ihn kontaktieren.“

„Jetzt?“

„Ja, Chiyo, am Besten jetzt.“

Sie gingen weiter und waren in ihrer Informationszentrale angelangt. Dort lungerten drei Männer und eine Frau herum und unterhielten sich während ihrer Observation von ein paar Objekten. Die Frau kicherte gerade über etwas dass einer der Männer gesagt hatte. Sakura schmunzelte ungesehen, bevor einer der Männer sich rasch erhob und sie mit einem erstaunten „Sensei“, ehrfürchtig ansprach. Zugegeben sie kam fast nie hierher.

„Kato“, grüßte sie. „...stell mir bitte einen Kontakt zu Peter Stiller her. Seine Anfrage müsste gestern eingegangen sein. Wenn du den Kontakt hergestellt hast verbinde bitte in meine Räumlichkeiten. Stell sicher, dass er nicht zurückverfolgt werden kann. Ich werde mich im Gespräch kurz halten. Wie viel Minuten kannst du mir geben?“

„Während des Gesprächs können wir zusammen das Signal endlos umleiten. Wir bereiten alles vor.“

Sie nickte und verließ die vier wieder, Chiyo blieb bei ihnen.

Zurück in ihren privaten Räumlichkeiten legte sie zunächst ihr Schwert auf dem Tisch ab. Ihr Blick verlor sich darauf. Wie lange hatte sie danach gesucht?

Fast vierzig Jahre. In der Zwischenzeit war es über dreihundert Jahre alt. Zum Nationalschatz erklärt und nie gefunden.

War die Zeit gekommen um es los zu lassen?

Wie stets wenn sie es betrachtete löste es in ihr Schuld und Reue aus über die Vergangenheit aus.

Hatte sie Aim im Stich gelassen? Aber es war sein Wunsch gewesen dort zu bleiben. Nur warum hatte sie nie verstanden. Vielleicht konnte Stiller ihr etwas dazu erzählen.
 

Sie setzte sich an den niedrigen Tisch das Telefon vor sich gelegt und schenkte sich Tee ein. Dann wartete sie.

Es dauerte eine Stunde bis das Telefon klingelte. Sie nahm ab.

„Stiller“, hörte sie und sie erkannte die Stimme des Archivars sofort wieder. Sie lächelte. „Peter. Ich gebe zu, es ist angenehm Ihre Stimme zu hören“, sagte sie auf deutsch.“

„Eine lange Zeit ist vergangen und sie hat auch mir nicht immer gut getan.“

„Ich höre es an Ihrer Stimme, Peter.“

„Ich habe viel meiner Energie investiert um zu verbergen was verborgen bleiben sollte.“

„Ich verstehe.“

Sie schwieg einen Moment.

„Was kann ich für Sie tun, Peter?“

„Die Lage ist kompliziert geworden, Sakura. Chiyo rückt mehr und mehr in den Fokus. Ihre jetzige Maske scheint zu bröckeln.“

„Ich weiß, Peter. Deshalb habe ich sie zurückgezogen. Ich komme nicht mehr umhin selbst das Feld zu betreten.“

„Das wirft Fragen auf.“

„Nun, das tut es in ähnlichen Situationen immer.“

„Ja, nur hatten wir eine ähnliche noch nicht.“

„Was meinen Sie?“

Er schwieg einen Moment und Sakura ließ ihm Zeit.
 

„Fabienne Villard ersucht Sie um Unterstützung.“

„Fabienne?“

„Sie nennt sich Fabienne seit damals. Es ist der Name ihrer Mutter.“

„Nun gut, Fabienne also.“

Sie dachte über die Frau nach, holte das Bild der Frau aus ihrem Gedächtnis.

„Sie sind nicht gut auf Sie zu sprechen.“

„Das ist lange her, Peter.“

Er schwieg wieder.

„Was möchte Sie von mir?“

„Das ist kompliziert.“

„Das erwähnten Sie bereits.“

„Sabin...“

„Hat Sie seinen Tod noch nicht überwunden? Es ist Jahrzehnte her. Ich habe versucht ihren Sohn zu schützen, gemäß ihrem Wunsch und in Anbetracht ihrer Hilflosigkeit und ihrer... Unfähigkeit.“

„Sakura... Sabin lebt.“

Ihr Herz schien sich zusammenzuziehen. „WAS?“, keuchte sie betroffen. Sie spürte wie ihr das Telefon aus der Hand gleiten wollte.

„Aber wie? Ich habe das Gefängnis selbst entworfen. Ich war am Bau mitbeteiligt. Und Aim...“ Sie schwieg und dann fielen alle Teile zu einem großen Ganzen zusammen.

„Aim.“

„Ja, Aim hat den Reaper aufgenommen und speist seither die Abriegelung.“

Sakura stand auf und griff sich an die Stirn. Der Schild. Aim war der Schild.

„Das ist Wahnsinn!“, keuchte sie ob dieser Ungeheuerlichkeit. Sie spürte wie die alte Wut von ihr Besitz ergreifen wollte. Tränen schossen ihr in die Augen und sie blinzelte. Es war lange her, dass sie dieses salzige Nass aufgrund von Gefühlen auf ihrer Haut spürte.

„Aim schützt Sabin, keiner gelangt zu ihm. Er gestattet nur Fabienne ihm näher zu kommen. Der Rat weiß davon, leugnet aber dieses Wissen vor der Trias. Sie trauen Straud nicht. Und wir wissen immer noch nicht wie dieses Gefängnis funktioniert. Etwas fehlt um es zu öffnen. Sie haben es erbaut, Aim sichert es ab, dennoch fehlt etwas.“

„Wie lange schon?“

„Seit damals.“

„Das sind Jahrzehnte. Wie kann Aim den Reaper so lange halten?“

„Aim hat sich verändert. Er ist nicht mehr er selbst.“

Sakura spürte eine so immense Trauer in sich, dass sie kaum etwas sprechen konnte. Minuten der Stille vergingen.

„Wie kann Sabin das zulassen?“, krächzte sie, ihre Stimme voll von Kummer.

„Er weiß es nicht. Er hält Sie für die Ursache des Gefängnisses und damit kommen wir zum Grund für Fabiennes Kontaktaufnahme. Sie braucht Hilfe um ihn zu befreien. Er selbst hegt keine Ambitionen dahingehend.“

„Er will dort bleiben?“, fragte sie fassungslos. Sabin war dem Wahnsinn nahe gewesen als sie ihn dort eingesperrt hatten an diesem unsäglichen Ort. ...als sie und Aim diese Festung erschaffen hatten. Aber Aim hatte sich nicht an ihre Absprache gehalten. Aim hatte ihn nicht sterben lassen. Wie fatal. Aim hatte immer an das Gute in ihm geglaubt. Aim hatte ihn mehr geliebt als jemand sonst. Vermutlich hatte sie zu viel erwartet.

Sie hatte einst gedacht der Reaper würde sich in seinem Gefängnis aufreiben und schließlich zugrunde gehen, was ihre Absicht gewesen war.
 

„Nachdem der Reaper aufgenommen worden war und Aim ihm damals damit seine Gefährlichkeit genommen hatte beruhigte sich Sabin und seither ist er in seinem Gefängnis fast machtlos. Reste des Reapers bescheren ihm eine gewisse Wehrhaftigkeit, dennoch keine relevante Bedrohlichkeit. Der Rat möchte ihn als Spitze der Trias. Sein Stellvertreter entwickelt sich langsam zu einem Problem.“
 

„Langsam? Straud ist bereits hier und er IST ein Problem. Ich denke ich weiß jetzt warum er so aggressiv geworden ist. Sabin will raus. Er bedroht damit seine Pläne.“

„Ich denke der Gedanke formt sich langsam in seinem Kopf. Fabienne nährt diesen Gedanken. Er will seinen Sohn sehen.“

„Was tut der Rat?“

„Sie platzieren ihre Figuren auf dem Feld. Und sie suchen eine Möglichkeit das Gefängnis zu öffnen.“
 

Sakura lachte leise. Sie wusste, dass Peter Stiller eines der Ratsmitglieder und Gründer des Ordens war. Er war einer der wenigen im Rat die sich noch an der Basis tummelten. Nur mit diesen Mitgliedern konnte der Rat sicherstellen, dass die Informationen die sie erhielten der Wahrheit entsprachen. Nur Sakura wusste davon und sie würde es dabei belassen.
 

„Peter, das Gefängnis braucht nunmehr drei Komponenten um es zu öffnen und ich weiß nicht ob ich gewillt bin dem zuzustimmen.“

„Straud ist zu weit gegangen. Er intrigiert im Orden und er macht durch Fehlverhalten aufmerksam. Wir brauchen jedoch Ersatz.“

„Deshalb die Jagd auf Schwarz?“

„Ich schätze den Hellseher immer noch für den besten Kandidaten ein.“

„Sie können sich kein Machtvakuum wie beim letzten Mal leisten.“

„Nein, das können wir nicht. Das würde die Welt ins Chaos stürzen. Wir können uns keinen zweiten Fehler leisten. Beim ersten Mal waren wir fast zu spät. Das hier haben wir selbst zu verschulden.“

„Immer noch die Nachwehen und Nachlässigkeiten der alten Trias.“

„Wir haben sie zu lange gewähren lassen. Sabins Macht hat uns zu sehr verängstigt als dass wir eine andere – weniger brutale Lösung – in Erwägung gezogen hätten.“

„Wie steht Aim dazu?“

„Ich hatte lange keinen Kontakt mehr. Aim ist in Japan.“

Dann war es tatsächlich Aim gewesen, der ihr den Jungen gebracht und sie die letzten Jahre aus dem Orden mit Informationen versorgt hatte. Er war noch auf der Seite der Guten.

„Er ist ein Judge, Sakura.“
 

„Ein Judge“, wiederholte sie leise. Das hieße sie hielten ihn für zerstört, nicht reparabel, seine Fähigkeiten so groß, dass sie überwacht und gebunden werden mussten und es keine Hoffnung auf Besserung geben würde. Er hatte sich vom Menschlichen entfernt.

„Um das Gefängnis zu öffnen brauche ich den Schmied, Sakura.“

„Den Schmied, den Schild und den Schlüssel, Peter.“

„Den Schlüssel?“

„Ich habe eine zusätzliche Sicherheit eingebaut. Dieser Schlüssel ist unerreichbar für jeden und für mich insbesondere.“

„Dann gibt es keine Möglichkeit?“

„Zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Und der wäre auch nicht glücklich gewählt, Peter. Straud bekam vom Rat die Weisung Kritiker zu jagen. Das tut er.“

„Dieses Format hat ausgedient, Sakura. Wir müssen zu den Wurzeln zurückkehren.“

„Ich weiß, Peter. Das ist jedoch nicht einfach zu bewerkstelligen. Ich habe bereits mit einer Umstrukturierung begonnen.“

„Der Schmied arbeitet wieder?“

„Ja, das tut er.“

„Gut. Dann warten wir.“

„Ohne den Schlüssel wird Sabin bleiben wo er ist.“

„Das habe ich verstanden.“

„Der Schlüssel wird erst in greifbare Nähe kommen wenn sich die Lage beruhigt und der Hellseher nicht in Gefahr ist.“

„Wenn der Hellseher in unserem Gewahrsam ist, dann wird Straud verschwinden und dem Hellseher droht keine Gefahr.“

„Der Hellseher braucht Schwarz um genügend Schutz zu erhalten. Aber der Orden bricht Schwarz auf.“

„Das ist nötig. Gabriel ist zu gefährlich um ihn nicht an der Kette zu lassen. Er könnte wie Sabin werden. Ich halte es für keine gute Idee Sabin an die Spitze der Trias zu setzen. Ich bin jedoch überstimmt worden.“

Sakura schwieg. Gabriel war bereits an einer Kette. Sie hatte sie selbst im Feuer geschmiedet.

„Richten Sie Fabienne aus, dass ich ihrem Wunsch nicht nachkommen kann. Allerdings wäre ich über eine persönliche Aussprache erfreut.“

„Danke.“ Er legte auf und Sakura ließ das Telefon auf den Tisch fallen.
 

Sabin lebte also noch? Wie er wohl jetzt war? Wütend auf sie? Und Aim? Sie mochte gar nicht daran denken wie es Aim ging. Sano hatte die Frau als düster und animalisch bezeichnet. Wie konnten sie das alles wieder geraderücken? Gab es eine Möglichkeit um vergangenes Unrecht ungeschehen zu machen? Wohl kaum. Konnte es aber geheilt werden?

Aim.

Sie setzte sich wieder und stützte ihre Stirn in ihre Hände. Wie konnte er den Reaper halten? Sie hatten Sabin beide geliebt auf ihre eigene Weise. Er hatte sich für Fabienne entschieden und sie alle damit ins Unglück gestürzt. Zu viele Gefühle waren damals im Spiel gewesen, zu viele verletzte Seelen. Drei Menschen, die einen einzigen Mann lieben wollten. Auf unterschiedliche Weise. Nur, dass er diese Liebe nicht zulassen konnte, oder wollte. Das konnte nicht gut gehen.

Sie verzog den Mund zu einem wehmütigen Lächeln.

Es konnte nur tragisch enden. Die größte Strafe jedoch trug Aim seither in sich und Sakura konnte sich nicht einmal im Entferntesten vorstellen was es bedeutete. Selbst wenn Aim den Reaper loslassen, wenn er ihn hochladen und seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben würde, selbst dann wäre Aims Existenz zerstört. Wie mochte sich Sabin fühlen? Fühlte er überhaupt etwas?

Wie hatte er je diese Grausamkeit zulassen können? Er musste es doch in seinem Herzen fühlen, in seiner Seele. Billigte er es als Teil seiner Rache an ihnen?
 

Sabin hatte allen Grund dazu rachsüchtig zu sein, er hatte ihnen beiden sein Leben anvertraut und sie hatten ihn verraten. Nur, das war nie Sabins Natur gewesen. Er war kein feindseliges Wesen. Warum war er damals instabil geworden?

Eine Frage, die sie sich damals schon nicht beantworten konnten.
 


 


 


 

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Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Gadreel ^.^

Der Tod von Naoe Nagi

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Lurking in the dark

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

split

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Soulwhisperer

Soulwhisperer
 


 


 

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„Geht es allen gut?“, fragte Sakura als der Angriff vorbei war.

Alle gaben ihr Zeichen dafür, dass es ihnen gut ging. Jene, die es auf die Knie gedrückt hatte erhoben sich langsam. Bis auf Kopfschmerzen gab es keine gravierenden Schäden an den Schilden. „Lasst euch trotzdem untersuchen.“
 

Sie ging zu Chiyo, die mit Hilfe von Sano Sabins Sohn zur Seite legte.

„Der Angriff hat plötzlich aufgehört“, sagte Sano erstaunt.

Sakura hob Gabriels Lider an. Seine Skleren waren Blau.

„Etwas in ihm hat für einen Ausgleich gesorgt“, sagte Sano.

„Nicht ganz. Er ist noch nicht ausgeglichen und wird nur vom Schild stabilisiert.“

Sano sah sie fragend an, doch Sakura schüttelte den Kopf. Sie wollte jetzt nicht darüber sprechen.

Sie lehnten Gabriel an den Van an.
 

Sakura beugte ihr Knie und sah zum ersten Mal ihren Enkel aus nächster Nähe. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Er sah ihr ziemlich ähnlich.

„Scheint als wären sie in einen Kampf geraten“, sagte Sano. Sakura sah den Schlamm auf Rans Kleidung, das Blut an seiner Kopfseite und an seiner Flanke.

„Er ist verletzt“, hörte sie Chiyo und Sakura sah zu ihr auf, sagte jedoch nichts.

„Deshalb war der Reaper so aggressiv“, schloss Chiyo weiter.

„Sano, bringt ihn bitte hinein, trennt die beiden nicht, sonst haben wir das gleiche Problem wie zuvor, sobald er aufwacht. Sasuke soll sich um meinen Enkel kümmern“, sagte Sakura und erhob sich.

Ran und Gabriel wurden fortgebracht. Sakura sah ihnen nach, während Chiyo bereits den Van öffnete. Sakuras Gesicht verfinsterte sich, als sie die beiden Leichensäcke registrierte. Sie kletterte in den Van und besah sich die Inhalte.

„Das ist der Grund“, sagte Sakura leise. „Deshalb der Anruf und deshalb wollten sie zurück“, stimmte Chiyo zu.

Sakura setzte sich auf die Liege und starrte auf die toten Gesichter. Sie hörte wie Chiyo Anweisungen gab, hörte jedoch nur mit halbem Ohr hin.

„Kein Wunder..., dass der Reaper so nahe war“, sagte sie mehr zu sich selbst, als zu Chiyo.

Minuten vergingen bevor sie sich bereit fühlte den Van zu verlassen. Erinnerungen begannen sich zu regen, ohne dass sie aktiv von ihr hervorgeholt wurden. Das Sterben begann erneut. Und dass obwohl sie geglaubt hatte mit ihrem Rückzug aus dem aktiven Geschäft dem entkommen zu sein.

Aus dem Haus kamen mehrere Menschen und Sakura ging an ihnen vorbei um zu Gabriel Villard und ihrem Enkel zu gelangen. Als ihr Momo entgegenkam blieb sie stehen. „Überprüf mit einem Team ob sie verfolgt wurden. Zieh die restlichen Teams nicht zurück. Sie sollen nicht eingreifen, nur beobachten. Habt ihr in der Zwischenzeit Kontakt zu Manx?“

„Ja, aber nur kurz. Die Verbindung war schlecht und brach dann komplett ab. So viel wie wir verstanden haben zieht sie die noch verbliebenen Teams ab und schickt sie in den Untergrund. Sie hat gesagt, dass sie gejagt werden.“

Sakura schmälerte ihren Blick und nickte dann. „Verstehe.“

Momo zögerte.

„Sprich“, forderte Sakura mit einem schmalen Lächeln auf. Momo traf des Öfteren Entscheidungen aus eigenem Ermessen, manchmal war das gut, manchmal jedoch nicht.

„Ich... habe Manx gesagt sie soll herkommen.“

„War es eine sichere Verbindung?“

Momo nickte eilig.

„Was hat sie geantwortet?“

„Dass sie es momentan nicht verantworten könne, diesen Standort zu gefährden. Sie würde es zu gegebener Zeit in Erwägung ziehen.“

Sakura schüttelte lächelnd den Kopf.

„Wenigstens einer von euch beiden hat mitgedacht.“

Momo sah betreten zu Boden. Sakura legte der kleineren Frau eine Hand auf die Schulter. „Ich weiß du bist aufgeregt weil du Angst um deine Schwester hast. Trotzdem solltest du vorher mit Sano, Chiyo oder mir sprechen, damit wir das Risiko abwägen können.“

Momo nickte.

„Ich verstehe auch, dass du nicht viel Zeit für eine Entscheidung hattest – aufgrund der schlechten Verbindung. Denk daran, dass jeder Schritt einer in die falsche Richtung sein könnte.“

„Jawohl, Sensei.“

Sie verbeugte sich und Sakura folgte den anderen ins Haus hinein um zur Krankenstation zu kommen.
 

Gabriel lag in der Zwischenzeit in einem Bett und Ken war gerade dabei ihm seine Jacke auszuziehen und ihn rasch auf Verletzungen zu untersuchen. Sakura wandte sich ihrem Enkel Ran zu. Dort war es hektisch geworden, alle arbeiteten zügig und Sakura trat bis an die Wand zurück um nicht im Weg zu stehen. Sie betrachtete sich ihren Enkel und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihrem Brustkorb aus.

Sie blinzelte, als der Druck in ihrer Kehle zu groß wurde. Dieses Gefühl...

Sie hatte es lange nicht mehr gespürt.

Es war Angst. Sie musste sich erst wieder an dieses Gefühl gewöhnen. Zulange hatte sie die Verantwortung für ihre Familie von sich geschoben. Weil sie geglaubt hatte sie verloren zu haben. Kam jetzt die Chance auf die sie gehofft hatte?

Sie verdrängte diese Gedanken und konzentrierte sich wieder auf Ran. Ihr Blick richtete sich auf sein Gesicht und die geschlossenen Lider. Alles wurde nach und nach zu einem Brei aus Stimmen und Geräuschen. Sie hielt ihren Blick weiterhin auf Ran gerichtet und das Bild verschwamm zunehmend bis aus dem verwischten Bild ein Gebilde hervortrat. Sakura besah es sich. Sein Energiekörper leerte sich langsam aber stetig.

„Er fällt“, flüsterte sie und sie zog sich zurück. Sie fokussierte sich wieder auf ihre Umgebung und atmete tief ein.

Ihr Enkel war schwer verletzt. Sasuke sah sie mit diesem speziellen Blick eines Arztes an, den sie in der Vergangenheit oft gesehen hatte. „Wir müssen operieren.“

Sie nickte. „Ich möchte dir nicht noch mehr Druck machen, aber... er fällt.“

Sasuke richtete sein Augenmerk wieder auf Ran und erteilte Anweisungen.
 

Sakura ging hinüber zu Gabriel. Sein Gesicht wirkte blass und angespannt. „Er kämpft gegen den Schild.“

Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, dann wies sie eines der Clanmitglieder – Ken - an ihm ein Medikament zur Beruhigung zu geben.

„Er hat ihn gerettet“, sagte Ken als er die Spritze vorbereitete. Gabriel sollte schlafen bis Ran außer Gefahr war. Alles andere würde zu gefährlich sein. Für sie alle.

„Der Fall ist im Moment sehr ungünstig“, sagte Sasuke. Ken sah besorgt hinüber. „Die Narkose wird schwierig“, sagte er. Sasuke überließ den anderen Clanmitgliedern Ran für die Operation vorzubereiten und nahm sein Telefon zur Hand.

Sakura sah hinüber zu Ran. Sie entfernten ihm gerade einen Teil seiner Haare um an die Wunde an seinem Kopf zu kommen, während ein zweites Team die restliche Kleidung auszog um sich einen Überblick zu verschaffen. Sie beschwerten sich gerade, dass sie die Kleidung nicht zerschneiden konnten.

„Euer Band ist stark. Das ist gut“, sagte Sakura leise zu Gabriel.

„Wartet“, sagte Sasuke und Ken nickte. Sasuke beendete sein Gespräch und kam zu ihnen. „Wie geht es ihm?“, fragte Sasuke Ken.

„Er hat nur ein paar kleine Schrammen im Gesicht und er hat auch dieses Zeug hier an.“ Er hob das dunkle Material an das Schuldig unter seiner Motorradkleidung trug.

„Interessant“, bemerkte Sakura.

„Gut“, sagte Sasuke. „Ken, geh bitte in den Saal hinüber und bereite alles für die Op vor. Du machst die Narkose.“ Ken nickte, überreichte Jin das Sedativum und verließ den Raum. „Jin, du hilfst mir hier.“

Sasuke drehte mit Hilfe von Jin Gabriel zur Seite und sie untersuchten die Rückseite. Sie ließen ihn auf den Rücken zurück und Sasuke hob die Lider an. „Was... ist das?“, fragte er schockiert. Er sah Sakura an.

„Das ist normal.“

Sasuke hob die Brauen, zuckte dann mit den Schultern und ersparte sich die Pupillenkontrolle. Es war keine Pupille vorhanden.

„Wie kann er sehen?“

„Er hat im Moment eine andere Art der Sicht. Die Pupille ist so eng, dass sie nur ein winziger Punkt ist. Mit dem bloßen Auge nicht zu sehen.“

„Wie kann er physiologisch dazu in der Lage sein?“

„Er ist es.“ Sakura zuckte mit den Schultern.

Sasuke seufzte. „Wenn er wach ist muss ich ihn noch einmal untersuchen.“

„Kannst du, aber ich glaube nicht, dass er sich in dem Zustand in dem er sich momentan befindet und dieses Phänomen auftritt bereit für eine Untersuchung ist. Sasuke... er befindet sich im Augenblick in einem Ausnahmezustand. Nur dann tritt dieses Phänomen seiner speziellen Sicht auf. Sofern er das nicht unter Kontrolle bekommt heißt das.“

Sie sah seine Enttäuschung und musste schmunzeln.

Er nickte Jin zu und sie spritzten ihm ein Sedativum.

Gabriel entspannte sich nach einigen Minuten und Sakura betrachtete sich sein Gesicht. Sie konnte teilweise Sabin in ihm sehen. Der Ansatz der Nasenwurzel war gleich, die Augenbrauen sehr ähnlich, die Lippen hatten denselben frechen Schwung.

Sie löste sich vom Bett und verließ den Raum.
 

Draußen atmete sie tief durch. Ihn hier zu haben beförderte vieles zu Tage was verborgen bleiben sollte. Und vielleicht war es gut so, vielleicht war es der richtige Zeitpunkt. Sie bog um eine Ecke in Richtung der Küche als ihr Firan entgegenkam.

„Herrin, ihr habt mich nicht geweckt“, sagte er völlig außer Atem. Sein Haar war unordentlich und floss ihm in dunklen Wellen um die Schultern. Die faszinierenden Augen blickten sie wach und besorgt an.

„Firan“, sagte sie überrascht, da sie ihn tatsächlich für einen Moment vergessen hatte. Ihre Gesichtszüge glätteten sich und sie sah ihn sanft an.

„Ich muss mit dir sprechen.“

„Ja, Herrin. Ist etwas passiert? Alle sind wach.“

„Ja, das ist es. Es ist etwas passiert, Firan. Etwas Schlimmes. Lass uns zu Chiyo gehen.“

Er nickte und sah sie bange an.

„Etwas ist mit meinem Bruder. Es fühlt sich anders an. Leer.“

Sie blieb stehen und sah ihn aufmerksam an.

„Dein Bruder ist tot, Firan.“

Seine Augen wurden größer, sein Mund verzog sich, er atmete unkontrolliert und trat einen Schritt zurück bis er an einem Stützpfeiler lehnte.

„Ich... ich weiß“, sagte er unterdrückt. „Ich habe es gefühlt. Ich weiß... ich weiß... ich wusste es...“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich wusste...es...“, flüsterte er mit schwerer Stimme. Dann lehnte er seinen Kopf an dem Holz hinter sich an. „Ich wusste es“, flüsterte er und sah blind vor Tränen auf den Van, der im Hof stand.

Wie lange hatte er schon darauf gewartet, dass dies passieren würde? Jahre und jetzt war es eingetreten.
 

Sie waren sich nicht mehr begegnet.
 

Und würden es nie mehr.
 

Sakura betrachtete sich die schmale Gestalt, abgekehrt von allem. Warum hatte sie den Jungen damals nicht einfach mitgenommen? Warum war sie damals dieses hohe Risiko nicht eingegangen? Es gab einen Grund – einen rationalen. In Anbetracht der jetzigen Situation wirkte dieser Grund geradezu lächerlich auf sie.

Genau jetzt wollte sie diese Rechtfertigung nicht zulassen. Sie blinzelte ihre eigenen Tränen fort. Sie halfen niemandem. Auch Firan nicht.

„Darf ich ihn sehen?“

„Ja. Sollen wir noch warten bis Chiyo ihn hergerichtet hat?“

„Darf...darf ich dabei sein?“

„Lass uns gehen und Chiyo fragen.“

Sie gingen in einen Nebentrakt wo Chiyo und zwei Frauen die Toten versorgen wollten. Sakura bedeutete dem Jungen zu warten. Sie betrat den Raum zunächst alleine. Die beiden Männer lagen auf Unterlagen am Boden. Rechts und links neben ihnen waren diverse Schüsseln und Instrumente bereitgelegt. Sakura entdeckte die Zeichnung auf der Haut des Blonden. „Sie waren Partner“, sagte sie erstaunt.

„Ein Guard. Die Zeichnung ist frisch“, stimmte Chiyo zu.

Sie waren gerade dabei ihre Verletzungen zu flicken.

„Kann der Junge dabei sein, wenn ihr seinen Bruder versorgt?“

Chiyo nickte und bedeckte den Leichnam des Blonden mit einem Tuch.

Sakura ging zur Tür und holte Firan herein. Sie führte ihn an den Schultern - körperlichen Kontakt aufbauend - näher. Er brach halb in die Knie ein, als er neben seinem Bruder ankam und Sakura ließ ihn nach unten gleiten. Er nahm die Hand seines Bruders und bettete sie an seine Wange. Das Blut daran schien ihn nicht zu kümmern. Ein Handtuch lag über seinem Hals.

Firan weinte still und wiegte sich langsam vor und zurück. Er sagte nichts. Sakura blieb bei ihm und strich ihm langsam über den Rücken. Sie hoffte, dass Körperkontakt dem Empathen etwas Trost schenkte.
 

Sie blieben lange Zeit bis Sakura bemerkte, dass es Firan zu viel wurde. „Wir können später wieder zu ihm kommen. Lassen wir Chiyo ihre Arbeit machen, Firan.“

Er nickte und ließ sich aufhelfen. Sie führte ihn nach draußen und setzte sich mit ihm hin. Dann zog sie ihn an sich und sie betrachteten die Männer bei ihrer Arbeit.

Sie spürte ihrer eigenen Trauer nach, schirmte sie aber vor Firan teilweise ab. Nicht gänzlich damit er Trost in dem gemeinsamen Gefühlen fand. Irgendwann wurde er ruhiger.

Wie oft hatte sie das schon miterlebt? Aber selten war es ein derart grausames Schicksal wie heute gewesen.
 


 

o
 


 

Schuldig drehte sich zur Seite. Es war bequem und er spielte mit dem Gedanken auszuschlafen. Dann runzelte er die Stirn. Das war falsch. Er konnte nicht ausschlafen. Es gab viel zu erledigen. Wieso schlief er überhaupt?

Er öffnete die Augen, dann stützte er sich mit einer Hand auf seiner Unterlage ab und hob den schweren Kopf von seinem Kissen und sah sich um. Er trug noch seine Kleidung. Der Raum sah aus wie ein Krankenhauszimmer, die Rollos waren zur Hälfte herabgelassen worden und Ran lag in dem Bett nebenan. „Ran?“

Dieser reagierte nicht, doch die Parameter am Monitor an den er angeschlossen war zeigten keine Auffälligkeiten. Er schien zu schlafen.

Schuldig ließ sich vom Bett gleiten und ging zu Ran hinüber.

Ran trug ein Krankenhaushemd. Schuldig lupfte die Decke und besah sich die Wunde. Sie war genäht worden. Vermutlich schlief er die Narkose noch aus. Er beugte sich über Ran und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Ein Teil seiner Haare fehlte auf der linken Seite. Handbreit zog sich von der Schläfe in Richtung Hinterkopf ein weißes Pflaster.

„Ran.“ Schuldig umfasste Rans Gesicht zärtlich mit seinen Händen, beugte sich über ihn und legte seine Stirn an Rans.

„Bitte... bleib bei mir... bitte...“, flüsterte er und spürte wie diese Worte seine Beherrschung entwaffnen wollten. Er richtete sich abrupt auf und atmete tief durch, strich sich durch die Haare und band sich einen neuen Zopf.

Wie lange hatte er geschlafen? Er suchte in seiner Jacke nach seinem Mobiltelefon, fand es jedoch nicht. Sich wieder Ran zuwendend blickte er auf den Monitor und sah dort Uhrzeit und Datum in einer Ecke. Es war kurz nach zehn Uhr am Folgetag, demnach hatte er nur ein paar Stunden geschlafen.

Er deckte Ran sorgfältig zu und sah sich nach seinen Waffen um. Sie waren ihm abgenommen worden. Seine Jacke lag am Fußende, die Stiefel standen an der Seite des Bettes. Er ließ seine Jacke liegen, schlüpfte in seine Stiefel und machte sich auf den Weg zur Tür. Noch einmal tief einatmend wappnete er sich für diverse Gespräche die mit Sicherheit kommen würden. Er öffnete die Tür und fand sich mit zwei Männern konfrontiert. Offenbar waren sie nicht eingesperrt worden, aber unbewacht ebenfalls nicht.

„Guten Morgen“, eröffnete der Eine.

„Morgen“, murmelte Schuldig und kniff die Augen zusammen. Viel zu hell, resümierte sein Gehirn.

„Gibt’s hier einen Kaffee oder was Ähnliches? Kopfschmerztabletten?“

Einer der Männer war versucht zu grinsen, unterließ es aber als der andere ihn mit einem Blick maßregelte.

„Sorry, Jungs, ich war gestern etwas überspannt“, erklärte Schuldig etwaige ungehörige Maßnahmen seinerseits. An alles konnte er sich noch nicht wieder erinnern, aber das war momentan auch nicht so wichtig.

„Wir bringen Sie zum Boss.“

„Ja, tut das.“ Schuldig musste wohl erst zum Obermotz bevor es Kaffee gab.

Er begleitete die Männer, die eher wortkarg waren und enthielt sich sonstiger Kommentare. Eindeutig Kawamoris, wenn Schuldig die eine oder andere Tätowierung so betrachtete. Sie umrundeten das Haus und traten in ein anderes ein. Es regnete noch immer und von ihrem Van war nichts mehr zu sehen.

Sie kamen in einen Raum und die Männer ließen ihn vorangehen. Dort saß eine Frau mit langen roten Haaren. Er trat näher und sie erhob sich. Sie hatte etwas von Ran. Dieselbe Geschmeidigkeit und sie schien auf schicke Kleidung auch nicht wirklich wert zu legen.

Schuldig sah sich um. Die Männer hatten sich verzogen.

„Gabriel, es ist schön dich zu sehen. Mein Name ist Kawamori Sakura.“

Kein japanisches Begrüßungsritual? Und sie sprach deutsch, mit nur minimalem Akzent.

„Sie kennen mich.“

„Ich kenne deinen Namen, weil ich deinen Vater kannte.“

Schuldig runzelte die Stirn. „Meinen Vater...“ Schuldig wusste nicht sofort was er mit dieser Information anfangen sollte. Sie kannte seinen Vater. Er hatte Vieles erwartet, aber nicht DAS. Er hatte geglaubt dies würde die Eröffnung zu Vertragsverhandlungen oder Ähnlichem sein. Aber... das hier... es war persönlich.

Warum sollten sie hierher kommen?

„Ja. Sabin. Ich war sein Guardian damals.“

Sabin. So hieß sein Vater? Der Schemen aus seiner Kindheit hatte plötzlich einen Namen bekommen.
 

Sabin.
 

Wenn es stimmte.

„Das ist sicher lange her“, sagte er unbestimmt und blieb vorsichtig.

„Ja, das ist es.“

Sie musterten sich gegenseitig und Schuldig vermied es seine telepathischen Fühler nach ihr auszustrecken. Er konnte ihre Energie fast auf seiner Zunge schmecken so stark war sie. Er fühlte sich eingeengt und versuchte sich auf die Frau und nicht auf die PSI zu konzentrieren – was sie eindeutig war. Eve und Asugawa hatten Recht behalten.

„Es gibt Vieles was ich Sie fragen will und ich weiß nicht wo ich beginnen soll“, gab er zu.

„Bei der Frage die dir am Dringlichsten erscheint.“

„Was ist mit Ran?“

Sie nickte und lächelte wissend.

„Er musste operativ versorgt werden, da er trotz deiner Maßnahmen viel Blut verloren hat.“

„Schläft er weil er die Narkose ausschlafen muss, oder gibt es dafür eine andere Ursache?“

„Er hat nur eine oberflächliche Wunde von einer Klinge am Kopf. Sasuke hat ihn durch den Computertomographen in seiner Praxis in der Stadt geschoben. Sein Gehirn ist nicht beeinträchtigt.“

Schuldig nickte und drehte sich halb weg und fluchte in Gedanken. „Ich muss wieder zu ihm.“ Sie hatte seine Frage nicht ganz beantwortet, das war ihm wohl aufgefallen.

„Ich weiß, dass du das musst. Es steht dir jederzeit frei zu ihm zu gehen. Vermutlich wird er nicht plötzlich aufwachen, Gabriel.“

Er sah sie wieder an. „Woher wissen Sie das? Was sind sie?“

„Ein Runner.“

„Noch nie davon gehört.“

Sie lachte freudlos auf. „Das kann ich mir vorstellen.“

Sie kam zu ihm und blieb einen Schritt vor ihm stehen. Er musterte sie. Wie ähnlich sie Ran sah, ihre Augen jedoch hatten einen roten Einschlag, der das Violett zwar nicht überlagerte es aber bei genauerer Betrachtung dominierte.

Es war schön. Nicht so schön wie Rans...

„Sieh nicht zu tief hinein“, sagte sie leise und trat einen Schritt zurück.

Schuldig blinzelte und wandte sich kurz ab. Was war das gewesen?

„Was hältst du davon wenn du dir eine Dusche gönnst, etwas frühstückst und mir dann beim Tee Gesellschaft leistest. Wir hätten so die Gelegenheit über Vieles zu sprechen.“

„Ich...“, Schuldig schüttelte den Kopf. „Haben wir dafür die Zeit?“

„Ohne, dass du deine Fähigkeiten unter Kontrolle bekommst oder dass Ran aufwacht kannst du gar nichts tun. Tokyo ist aus unserer Sicht verloren. Und das betrifft noch ein halbes Dutzend anderer Städte. Ich habe keinen Kontakt mehr in den Süden.“ Nach einer Pause in der Schuldig hin und her gerissen zwischen dem Wunsch mehr über all dies zu erfahren und dem Wunsch zu Ran zu gehen fragte sie: „Hast du Asugawa getroffen? War er bei euch?“

„Ja, habe ich. Er lebt. Crawford hat ihn eingesperrt, vermutlich damit er nicht unter die Räder kommt oder sich irgendeinen Blödsinn einfallen lässt.“

Sakura grinste freudlos. „Ein wütender, rachsüchtiger Asugawa... damit haben wir immerhin ein Ass im Ärmel.“

„Er war geschwächt. Ich weiß nicht ob er etwas herausfindet, oder ob er sich einfach nur in den Tod stürzt. Jei und Kudou waren gute Männer. Sie sind gestorben. Was kann Asugawa unter diesen Umständen ausrichten?“

„Zweifel nicht an meinem Liebling. Er hat sein Leben ganz dem Hellseher verschrieben. Ich zweifelte lange an seiner Motivation. Ich denke wir sollten ihn nicht unterschätzen. Auch bin ich überzeugt davon, dass er nicht nur einfach „etwas herausfinden“ wird. Es wird Tote geben. Viele davon. Asugawa ist... im Grunde ein sehr...“, sie stockte kurz.

„... sagen wir... wenig kontrollierbarer Mann. Er sieht vielleicht ansprechend und handzahm aus, aber selbst ich konnte ihn von Zeit zu Zeit nicht einschätzen, obwohl ich ihn aufwachsen gesehen habe. Er hat sich oft gefügt, aber hin und wieder wusste ich nicht ob er mich nur in Sicherheit wiegen und mich dann töten wollte, oder ob er die Zweckmäßigkeit seiner Aufträge anerkannte. Und das selbst als Jugendlicher. Für ihn gibt es nur ein einziges Ziel in seinem Leben: den Hellseher. Er ist besessen von ihm. Und Asugawa hat viele Kontakte in der ganzen Welt geknüpft. Kontakte aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten mit sehr speziellen Fähigkeiten.“

„Er hat keinen wirklich gefährlichen Eindruck auf mich gemacht“, sagte Schuldig in Gedanken daran wie hilflos Asugawa auf ihn gewirkt hatte.

Sakura nickte nachdenklich. „Er ist ein Meister der Täuschung, des Hinterhalts und er ist skrupellos – wenn es um den Hellseher geht. Er hätte euch mit Leichtigkeit töten können – alle.“

„Uns?“ Schuldig lachte wenig überzeugt.

Sakura erwiderte es weniger amüsiert.

Schuldig sah das Messer nicht kommen. Noch während er lachte traf eine Klinge neben seinem Auge im Holz des Türstocks ein.

„Warum hast du es nicht kommen sehen?“

Schuldig sah von der Klinge zu Sakura.

„Weil ich ihnen vertraue, vermute ich mal. Aber gerade fällt mir ein... warum tue ich das eigentlich?“, fragte Schuldig langsam.

Sie nickte und lächelte sparsam.

„Ich bin offen zu dir. Das lässt dich glauben du kannst ebenso offen zu mir sein. Du öffnest deine Deckung. Und du bist es gewohnt der Überlegene zu sein. Unsere Fähigkeiten lassen uns glauben, dass wir unangreifbar sind. Das wird sich in Zukunft sicher ändern.“

„Möchten Sie mich dezent darauf hinweisen, dass ich nachlässig und arrogant bin?“

„Ja und Nein. Du kannst dich sicher fühlen...“, Sakura sah ihn an und musste aufgrund des fragenden Gesichtsausdrucks laut auflachen.

„Nicht sehr geschickt von mir?“

„Nicht wirklich“, sagte Schuldig skeptisch.

„Ran ist mein Enkel. Und du bist der Sohn von Sabin, einem Mann den ich einst sehr geliebt habe. Nichts würde mich dazu veranlassen einem von euch aus welchen Gründen auch immer etwas anzutun.“

Schuldig verzog den Mund, immer noch skeptisch.

„Asugawa weiß wie er sich nützlich, wie er sich unentbehrlich machen muss um näher zu kommen. Wenn es sein muss lebt er mit seinen Opfern monatelang zusammen. Er lebt seine Rolle in die er schlüpft. Erwartet ein Mann oder eine Frau von ihm, dass er schüchtern ist, dann ist er es, erwartet er oder sie etwas anderes dann ist er es, immer mit einer Prise Realismus und Abweichung. Ich denke nicht, dass er sich selbst noch kennt.“

„Ich habe ihn gelesen. Sein Verhalten hat seiner Intention entsprochen. Er war für uns nicht nützlich, im Gegenteil“, brummte Schuldig.

„Weil er die Rolle lebt in die er schlüpft. Wenn ihr Asugawa im Weg gestanden hättet, hätte ich nicht auf euch gewettet, glaube mir. Er ist trügerisch. Das Einzige das ihn davor bewahrt – und uns – zu einem wirklich gefährlichen Monster zu werden ist die Tatsache, dass er den Hellseher...“

„...verehrt?“, schlug Schuldig vor. Trotzdem... gut es mochte etwas dran sein, aber er vertraute sich selbst. Asugawa war vielleicht die Schlange, die Nagi in ihm sah, aber das tat Nagi aus eigenen Gründen heraus.

Asugawa hatte einen Heidenrespekt vor Ran und Jei gehabt. Niemand konnte Jei und ihn so sehr täuschen. Schuldig hatte ihn telepathisch filetiert um das herausfinden zu können. Aber das musste er Sakura nicht auf die Nase binden. Teils stimmte was sie sagte, teils jedoch nicht.
 

Sakura ging zu ihm und zog das Messer aus dem Holz. „Nein. Er liebt ihn. Mit jeder Faser seines Seins. Diese Liebe ist so allumfassend, dass sie...“

Sakura sah hinaus. „... erschreckend und für Außenstehende schwer begreifbar ist. Ich kenne dieses Gefühl und auch die Last die damit einhergeht. Man ist ständig dabei sich zu fragen ob es noch gesund ist wie man fühlt. Ich habe ihm beigebracht, dass eine ständige Reflexion wichtig ist.“

Schuldig seufzte. „Haben sie eine Bindung? Ich meine Brad und Asugawa. Ich habe ein Band gesehen.“

„Ja, ich denke das ist der Grund dafür. Er hat damit gelebt ihm stets fern zu sein. Dieser spezielle Umstand hat dazu geführt, dass er alles auf ihn ausgerichtet hat. Asugawa würde euch alle opfern wenn Crawford dadurch leben würde. Er würde in Kauf nehmen Lilli und Gabe zu verlieren, wenn dadurch Crawford leben würde.“

„Das ist extrem.“

„Dieses Band blieb für lange Zeit ohne Nahrung. Ich denke, dass es diese fieberhafte Dringlichkeit in ihm nicht gegeben hätte, diese Spielsucht, wenn er seinem Partner näher gewesen wäre.“

„Hatten Sie DAS beabsichtigt?“, fragte Schuldig mit Vorwurf in der Stimme.
 

Sakura verneinte. „Nicht so früh. Er muss sich damals als Kind gebunden haben. Dass der Hellseher – ebenso jung – diese Bindung einleitete ist mir bis heute ein Rätsel. Aber was wissen wir schon von einem Hellseher wie Bradley Crawford einer ist? Es gab keinen so starken wie ihn – nicht so weit ich weiß und ich bin weit gereist in meinem Leben und habe mich auf die Suche nach Hinweisen über seltene PSI Fähigkeiten gemacht. Es gibt einige Träumer, aber keine Seher. Und er ist ein Pathfinder. Aufgrund meiner Nachforschungen weiß ich, dass es sie in früheren Zeiten gegeben haben muss, aber... wie gesagt, das ist lange her.

Sie schwiegen eine Weile und Schuldig musste über Asugawas Verhalten nachdenken und wie dies mit all dem zusammen passen sollte was er bei ihm gelesen hatte.

„Diese frühe Bindung...“, begann Schuldig nachdenklich.

„Sie kann zerstörerisch sein. Der Charakter des Individuums ist noch nicht gefestigt, das Gehirn lernt noch. Asugawa hat die Bindung mit in sein gesamtes Sein verbaut. Er kann nicht anders und es ist ihm nicht möglich sich von Crawford fernzuhalten.“

„Das ist grausam.“

„Crawford hat ihn an sich gerissen, als Asugawa ihn töten wollte. Er hat ihn als Wesen an sich gebunden und gibt ihn seither nicht mehr frei.“

„Brad wusste davon nichts mehr“, erwiderte Schuldig.

„Dann hat es vielleicht etwas mit seinen Fähigkeiten zu tun. Würdest du sagen er ist berechnend?“, fragte sie.

„Brad?“ Schuldig sah sie an, als wären ihr gerade ein paar riesige Hörner gewachsen.

„ES IST BRAD!“, rief er aus. Hatte sie das wirklich gefragt?

„Ja, ist er“, fügte er dann seufzend hinzu. „Aber damals war er es nicht. Damals hatte er Hoffnung auf eine bessere Welt, er war eben noch nicht das Orakel von Schwarz. Er war einfach ein Junge.“ Das war ein magerer Versuch seinerseits um Brad nicht ganz so schlecht dastehen zu lassen.

„Das mag sein. Aber veränderst du die Zukunft, veränderst du die Vergangenheit. Oloff sagte dies immer wieder zu mir. Und ich habe es nie begriffen. Was tat oder tut das Orakel um es derart nötig zu haben einen Menschen so stark an sich binden zu wollen?“

„Vielleicht kommt es noch und Brad tut etwas um diese Veränderung in der Vergangenheit zu bewirken. Es muss etwas Schlimmes für ihn sein, dass er sich gezwungen sieht diese Maßnahme ergreifen zu müssen“, sagte Schuldig.

„Ja, es wird vermutlich ein elementarer Hilferuf sein. Dadurch findet eine Bindung in der Vergangenheit statt.“

„Das heißt es findet auf jeden Fall statt, als wäre es bereits geschehen. Brad würde sagen es IST bereits geschehen. Ein Fixpunkt. Unveränderlich. Das was kommen wird ist bereits gekommen. Die Zukunft ist in diesem Punkt festgeschrieben“, sagte Schuldig.

„Findet dieses ominöse Ereignis nicht statt, gäbe es keine Bindung zwischen den Beiden. Aber dann würde sich Vieles verändern. Sin hätten euch vielleicht früher angegriffen, sie hätten Ran getötet und so fort... Asugawas Einflussnahme wäre weitaus weniger heftig ausgefallen. Wer weiß schon was passiert wäre? Ohne die Bindung zu Crawford wäre Asugawa vielleicht niemals über die ersten Jahre hinaus gekommen. Sein starker Wille hat ihn zu dem werden lassen war er heute ist. Es wäre nicht gut wenn sich alles ändern würde“, sagte Sakura.

„Dann ist sie nicht festgeschrieben?“ Das hatte Brad ständig gesagt, aber er hatte auch gesagt, dass es Fixpunkte geben würde.

„Was meinte er dann mit diesen Fixpunkten?“, fügte Schuldig seinen Gedanken hinzu.

„Sie treffen immer ein. Die Umstände ändern sich lediglich. Ich weiß nicht viel darüber, nur dass was ich von Oloff gelernt habe. Und ich kann dir nicht einmal sagen ob Oloff sich da so sicher darin war.“

Schuldig zog ein missmutiges Gesicht.

Sakura sah ihn aufmerksam an. „Das stellt dich nicht zufrieden.“

„Nein, das tut es nicht. Es ist alles nur Spekulation.“

Sie nickte.

„Dennoch, ich kann mir vorstellen, dass Crawford bessere Umstände gewählt, oder kreiert hat.“

„Das geringere Übel gewählt?“, versuchte sich Schuldig alles ein klein bisschen zu erklären.

„Vielleicht.“

Sie spielte mit dem Messer in ihrer Hand und ließ es um die eigene Achse gleiten, während sie nach draußen sah.

„Ich habe ihn damals beobachtet, als ich beim Orden noch ein- und ausging. Idealistisch, beschützend, pragmatisch, gerechtigkeitsliebend. Hätte er zugelassen, dass die Welt vor die Hunde geht, oder hätte er Fixpunkte dahingehend beeinflusst ihr Auftreten ins Positive zu kehren?“

„Weiß ich nicht“, brummte Schuldig. „Einerseits hatte ich oft den Eindruck, dass ihm die Welt scheißegal war, dann wieder... war ich mir nicht so sicher. Er wollte sich nicht einmischen.“

„Und tat es dennoch.“

„Wir glaubten, dass es wegen uns war.“

„Nun, warum nicht mehrere Ziele vor Augen haben?“

Schuldig sah sie mit skeptischer Miene an.

„Du musst mir sagen ob er dazu fähig wäre.“

„Sicher wäre er das. Aber warum uns das nicht mitteilen? Wir vertrauten ihm.“

„Er wollte euch nicht mit hineinziehen“, versuchte sich Sakura an einer Erklärung.

„Das klingt als hätte er das alles geplant. Doch die Ereignisse kamen sehr schnell, er hat schon bessere Pläne gemacht“, sagte Schuldig.

„Tatsache ist – und da muss ich dir Recht geben – die Ereignisse kamen zu schnell. Obwohl ich gut informiert bin, hat auch mich die Zunahme der Geschwindigkeit überrascht.“

Schuldigs Gesicht war finster in den grauen Tag gerichtet. Keine guten Aussichten.

„Was hat Asugawa vor?“, fragte dann Sakura in nachdenklichem Tonfall.

„Er will Crawford finden. Rosenkreuz haben ihn. Er wird wohl ein paar Leute aufmischen.“

Sakura nickte. Die Tür ging auf und Schuldig lehnte sich zurück um zu sehen wer störte.

„Begleite sie, sie zeigen dir ein Zimmer in dem du dich frisch machen kannst, wir treffen uns danach wieder.“

Es waren die beiden Männer, die ihn vorhin schon begleitet hatten. Schuldig ging mit ihnen mit und sie wiesen ihm ein Zimmer zu in dem er sich ausruhen und duschen konnte. Er verspürte eher den Wunsch zu Ran zurückzukehren, aber er musste um ihrer beider Willen mehr von Sakura über ihre Lage erfahren.

Als er aus dem Badezimmer kam lag auf dem Bett Kleidung - eine Jeans und ein Shirt, samt Kapuzenpulli. Hervorragend. Und sie passten einigermaßen.

Die Männer warteten artig vor der Tür und begleiteten ihn zurück zu Sakura. Vor ihm stand ein westliches Frühstück mit Früchten, einem Müsli und süße Brötchen mit Marmelade. Eine Tasse Kaffee schenkte ihm Sakura gerade ein.

„Danke.“

Schuldig fühlte sich unwohl, weil Ran nicht bei ihm war. Es ging ihm schlecht und keiner konnte Schuldig sagen ob er überlebte. Dass sich sein Zustand nicht verschlechterte beruhigte ihn etwas, trotzdem hatte Schuldig das Gefühl als würde etwas in ihm wieder auseinanderfallen wollen.

„Er ist in guten Händen.“

Schuldig nickte und aß etwas. Als er fertig war wurde es abgeräumt und er nahm sich seine Tasse Kaffee heran. Er fühlte sich lethargisch und sehnte sich nach Ran.

Sakura schien dies auch zu bemerken und versuchte ihn offenbar abzulenken.

Sie wollte einiges wissen und er erzählte ihr knapp von Brads Entscheidung.

„Er hat sie alle weggeschickt um keinen in Gefahr zu bringen. Das hat er mir am Telefon erzählt. Er sah keinen anderen Weg mehr, die Ereignisse haben sich zu schnell entwickelt.“

Schuldig spürte wie er wütend wurde und wie diese Wut dann fast schon wieder erstarb. Er hatte keine Energie für Wut, denn was brachte sie ihm schon?

Brad hatte sicher alles bedacht, aber hatte nicht mit der Sturheit von Jei gerechnet. Und mit der Todessehnsucht von Kudou.

Darum hatte er Nagi nicht nach Hause geholt, obwohl er es zunächst vorgehabt hatte. Und Omi? Wo war Omi hin? Hatte er ihn mit Ken und Eve und der Kleinen mitgeschickt? Wie hatte Omi sich überreden lassen? Chemisch vermutlich.

Der Einzige der nicht freiwillig gegangen wäre, war Asugawa gewesen. Und den hatte er einfach weggesperrt. Aber warum, Brad? Sie hätten irgendwohin gehen können. Oder nicht? Wo war Eve? Er musste sie kontaktieren.

„Ist Ran auch ein Runner?“

„Ja, das ist er.“

„Und welche Fähigkeiten hat er? Ich habe nichts bemerkt.“

„Kannst du auch nicht. Er ist so etwas wie ein Fass ohne Boden.“

Schuldig runzelte die Stirn.

„Wie meinen Sie das?“

„Er kann seelische Energie, oder geistiges Gut in sich aufnehmen. Eine Art Träger für Seelen. Andere Seelen oder einfach nur viel Informationen. Je nachdem für was es gebraucht wird.“

Schuldig störte sich an diesem Satz, ließ es sich aber nicht anmerken. Je nachdem für was es oder er gebraucht wurde. Das gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht.

Er erinnerte sich an etwas... in dem Haus... in ihrem Ferienhaus, der Sex im Badehaus... er hatte sich in Ran fallen lassen... er war förmlich in ihn hineingeströmt.

War es das?

Er musste später darüber nachdenken.

„Dann war seine Schwester auch ein Runner?“, fragte er um seine Gedanken zu ordnen.

„Ja, das war sie.“

Schuldig stöhnte auf. „Deshalb!“, entfuhr es ihm. „Deshalb wollte die Trias hierher. Sie wollten sich in Aya transferieren.“

„Ich vermutete das. Sie war jedoch noch sehr jung und hätte nie alle fassen können. Ich bin mir nicht sicher ob es funktioniert hätte.“

Bei all den Informationen die sie hatte fiel ihm ein...

„Sie stecken hinter Kritiker?“

„Ja.“

„Und wie passt Chiyo in das alles?“

„Sie war mein Alias in der Familie.“ Sie verstummte und lange Minuten schien sie ihren Gedanken nachzuhängen.

„Ich habe das zuvor noch nie in diesem Maßstab durchgeführt, aber es war nötig in vielerlei Hinsicht.“ Sie nickte, wie um es sich selbst zu bestätigen.

„Irgendwann bemerkten die Menschen, dass ich nicht alterte. Ich suchte mir Jemanden der mir sehr ähnelte. Diese Frau nahm dann meinen Platz ein. Da mein geschätzter Ehemann oft lange Zeit im Ausland weilte und wir ohnehin nur geschäftlich verkehrten, war es nicht so schwierig wie es klingt.“

„Geschäftlich? Sie hatten Kinder.“

„Nun ja, zwei Mal miteinander zu schlafen ist nicht so schwierig.“

Schuldig hob eine Braue. Jeder Schuss ein Treffer? Er behielt seine Gedanken selbstverständlich für sich.

„Dann sind sie tatsächlich Rans Großmutter?“

„Ja, das bin ich.“

Schuldig musste lächeln. Er freute sich für Ran. „Das wird ihn freuen. Aber er ist auch sehr wütend.“

„Alles andere hätte mich gewundert“, gab sie zu.

„Ist es ein Zufall, dass Ran und ich aufeinandergetroffen sind?“

Sie sahen sich einige Augenblicke an. „Nein, das ist kein Zufall.“

„Aber... warum?“

„Runner und Reaper sind in der Regel füreinander gemacht. Sie passen sehr gut zueinander. Reaper brauchen Runner. Runner nicht unbedingt Reaper. Ein Reaper kann sich nur sehr schlecht mit etwas anderem verbinden...“

Schuldig hob die Hand und schüttelte den Kopf. „Stopp, was heißt Reaper? Sie sprechen ständig von Reaper. Sie gehen davon aus, dass ich ein sogenannter Reaper bin, aber ich bin Telepath, nichts weiter.“

„Gabriel. Du bist kein Telepath. Du bist auch kein Reaper. Ich sage es nur, weil der Reaper das Problem ist, nicht der Healer. Deine telepathischen Fähigkeiten sind Sekundäreigenschaften. Du solltest noch andere Sekundäreigenschaften besitzen, die dir helfen als Healer und als Reaper zu arbeiten. Empathische Fähigkeiten und vielleicht ein wenig Telekinese.“

Schuldig wischte sich über die Stirn und hob abwehrend beide Hände. „Mo-oment, mal.“ Schuldig schüttelte den Kopf.

„Definitiv keine telekinetischen Fähigkeiten.“

„Keine primären, das stimmt, aber sekundäre.“

„Ich verstehe nicht.“

„Ich muss dich erst noch untersuchen, aber du bist ein Soulwhisperer, kein Telepath. Es ist das genetische Erbe deines Vaters.“

Schuldig fühlte sich überfordert und stand auf. In seinem Kopf wirbelten so viele Fragen auf als hätte jemand einen Schwarm Krähen erschreckt. Und bei Gott, diese Krähen waren nicht so leicht zu erschrecken.

Er ging ein paar Schritte und sah hinaus in den Nieselregen. Angelehnt an die Wand und mit den Händen in seinem Hoody verborgen versuchte er alles zu ordnen.

„Mein Vater lebt also?“

Sakura seufzte. „Ja, das tut er. Ich habe erst gestern davon erfahren. Ich dachte er wäre... lange tot.“

„Warum...“, er verstummte.

„Warum du allein warst? Warum er dich nicht suchte?“, half ihm Sakura weiter als er verstummte.
 

Schuldig nickte. Er war hier überfordert. Er brauchte Ran. Trotzdem fühlte er sich nicht in wie sonst in so einer Situation dem völlig ausgeliefert. War es ihr Einfluss, der ihn trotzdem noch ruhig und sachlich sein ließ?
 

„Weil er es nicht konnte. Er ist eingesperrt, Gabriel. Er kann nicht raus.“

„Wo? Warum?“

„In Europa. Weil es zu gefährlich ist ihn herauszulassen.“

„Und was ist mit mir?“, fragte er mit Bitterkeit in der Stimme und sah sie an. „Warum bin ich dann nicht eingesperrt?“

„Weil die alte Trias dich unter Kontrolle glaubten und dann kam der Hellseher und hat dich ihnen weggenommen. Sie haben dir nichts beigebracht und dich im Glauben gelassen das du ein fehlerhafter Telepath bist.“

„Fehlerhaft... trifft es ganz gut. Das glaube ich selbst auch an manchen Tagen.“

„Ich kenne dich nicht, aber ich glaube nicht, dass du... fehlerhaft bist. Es ist der Reaper in dir der zu nahe an der Oberfläche liegt. Ich kann mir vorstellen, dass er deshalb so griffbereit für dich ist, weil er dir als Schutz dient oder diente. Eine wirkungsvolle Waffe.“

Schuldig wollte nicht darauf eingehen. Wie viel wusste sie von seiner Vergangenheit, wie viel hatte Asugawa ihr von seinen Beobachtungen übermittelt?

„Was ist dieser Reaper? Sie sprechen davon, als wäre es ein anderes Wesen.“

„Nein, es ist nur eine Fähigkeit.“

„Welche?“

„Seelenstrukturen aufzubrechen, Schilde zu zerreißen und Verbindungen im Allgemeinen, die dem Zusammenhalt dienen aufzulösen. Vermutlich hast du sie abgekapselt, weil du nicht wusstest was es ist. Du hast ihr viel Raum gegeben, dadurch erscheint sie dir wie etwas Lebendiges das gebändigt werden muss und verschlossen werden sollte. Aber sie gehört zu dir. Das bist du. Es ist ein Werkzeug.“

„Ich kann... dieses sogenannte Werkzeug oft nicht kontrollieren.“

„Weil du es nicht gelernt hast. Und weil du dich vielleicht etwas veränderst in den Augen eines Betrachters. Du wirkst bedrohlich auf andere Menschen.“

Schuldig nickte.

Er ging wieder zu Sakura und setzte sich. Sie schenkte ihm Tee ein und Schuldig nahm dankbar an.

„Als wir wieder zurück zum Haus gefahren und auf die Rosenkreuzer getroffen sind da war etwas anders, in meiner Wahrnehmung.“

„Was hatte sich geändert?“

„Ich hab sie gesehen. Wirklich gesehen.“ Er schüttelte den Kopf weil er es selbst nicht verstand.

„Ihre Seelen?“, fragte sie und Schuldig zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Ich wusste, dass es diese Rosenkreuzer sind, alles was sie waren habe ich gesehen. Alles was sie ausmachte konnte ich sehen. Ich hab sie zerrissen.“

„Was hast du gefühlt?“

„Als würde ich auseinanderfallen, die Teile zersplitterten“, er schwieg weil er nicht wusste wie er es erklären sollte.

„Nie zuvor war mir das so plastisch aufgefallen“, sagte er nach einer Weile.

„Das liegt daran, dass du viel Energie mobilisiert hast. Musstest du das in der Vergangenheit schon einmal?“

„Nein. Ich habe noch nicht gegen so viele PSI gekämpft. Nicht richtig jedenfalls. Es gab Situationen in der Vergangenheit... an die ich mich nicht erinnern kann. Es könnte möglich sein, dass ich damals Ähnliches gemacht habe. Ich weiß es nicht.“

Still saßen sie da und er ließ eine Musterung der Frau über sich ergehen.

„Das was ich weiß werde ich dir mitteilen. Hast du schon einmal einen Schild stabilisiert?“

„Ja bei Naoe.“

„Dann hast du den Healer bei seiner Schildmatrix eingesetzt. Du kannst den Healer ohne Probleme einsetzen?“

„Ja, es fiel mir immer leicht Nagis Schild zu stabilisieren. Aber ich konnte ihn nicht... auffüllen.“

„Die Schildmatrix ist unsere Seele und sie wird mit geistiger Energie aufgefüllt. Diese Schildmatrix kann nur von einem Whisperer manipuliert werden. Es gibt fähige PSI die eine Matrix auffüllen können, da sie mit Bindungsfähigkeiten arbeiten, aber sie können keine Matrize herstellen oder manipulieren. Sie können nur mit vorhandenem Material arbeiten. Mit der richtigen Anleitung wärst du in der Lage einen Schild wie den von Naoe aufzufüllen.“

„Mein Lehrer bei SZ war ein Bindungsspezialist, er hat versucht mich zu konvertieren.“

„Ja, du sprichst von De la Croix.“

Schuldig nickte.

„Ich habe gestern erfahren, dass er ein Judge geworden ist.“

„Was? Warum? Ich wusste von Brad dass er hinter uns her ist und dass er eine der drei neuen Spitzen der Trias geworden ist. Aber ein Judge? Dieses Relikt haben sie ausgegraben“, erwiderte er fassungslos. „Zur Zeit der Trias rangierten die Judges im Sagen und Märchenregal.“

„Die Judges unterstehen dem Rat direkt. Sie mischten sich nicht ein, weil der Rat es nicht wollte.“

„Der Rat?“

„Du weißt nichts vom Rat?“, fragte Sakura.

„Nein.“

„Wusste Crawford vom Rat?“

„Ich bin mir nicht mehr sicher was Brad wusste und was nicht, und was und wie viel er vor uns verborgen hat“, gab Schuldig frustriert zu.

„Was macht der Rat?“

„In der Regel nichts. Sie regulieren den Geldfluss. Die Orden wollen finanziell unterhalten werden und es macht keinen Sinn, Telepathen loszuschicken um krumme Geschäfte zu machen – nicht auf Dauer jedenfalls. Sie sitzen in Politik und Wirtschaft in den oberen Etagen und lenken die Geschicke der Menschen. Die Trias ist das Gesicht des Rates für die Mitglieder der Orden. Sie sind das Bindeglied zwischen den Menschen und den PSI. Verstößt man gegen ihre Gesetze treten zunächst Rosenkreuz in Aktion. Wünscht der Rat eine Überwachung dieser Umsetzung schicken sie die Judges. Vor allem dann, wenn es um heikle Angelegenheiten geht. Der Rat hat wohl bemerkt, dass Rosenkreuz in den letzten drei Jahren zu mächtig geworden ist und als Gegengewicht die Judges in ihrer Zahl gestärkt. Vor allem war dies wohl De la Croix zu verdanken.“

„Das wussten wir alles nicht“, Schuldig kam sich wie ein Kind vor, dem Vieles nicht erzählt worden war um es nicht zu beunruhigen. Er grübelte eine geraume Zeit lang über Brad und dessen Beweggründe nach.

Sie schwiegen unterdessen und Schuldig trank den Tee aus.
 

„Hatte Ran schon vorher Anzeichen für einen Fall aufgezeigt?“, fragte Sakura.

„Einen Fall?“, fragte Schuldig nicht verstehend was Sakura meinte.
 

Sakura runzelte die Stirn und sah in den Regen hinaus.

„Ja, der Fall. Runner können sich in ihr Bewusstsein fallen lassen, sie gleiten hinab in die Tiefen ihrer Erinnerungen, bis sie auf den Grund aufschlagen. Der Herzschlag verlangsamt sich, alle Funktionen ihres Körpers fahren herunter. Wenn dieser Zustand länger anhält sterben wir. Wir entgehen so in der Regel einer Gefangennahme. Keine Information die wir je transportierten oder in uns bewahrten geht so in feindliche Hände über.“

Schuldig schluckte. „Ja, Ran war in Trauer über den Verlust seiner Schwester. Auf dem Friedhof... er war nicht ansprechbar und ich kann seine Schilde nicht immer durchdringen. Wir haben geübt und manchmal gelingt es ihm sie für mich zu öffnen, aber nicht immer. Am Besten funktioniert es wenn er entspannt ist.“

Nein, er würde ihr nicht erzählen, dass es am Besten dann ging wenn Ran einen Orgasmus hatte. Das mussten Großmütter nicht wissen auch wenn sie noch so jung aussahen.

„Ich konnte sie an diesem Tag mit Mühe überwinden und habe ihn zurückgeholt, von wo auch immer“, schloss er sachlich.

„Normalerweise drängt es einen Runner immer zurückzukehren, wenn er nicht mehr in Gefahr ist, aber da Ran keine Ahnung hat was er ist und warum das geschieht, ist es für ihn einfach nur das Gefühl von Trauer, Angst, Verlust und Versagen, dass ihn fallen lässt, so vermute ich.“

„Sie glauben, dass er jetzt... auch gefallen ist?“

„Ja. Die Anzeichen sind da. Sein Energiekörper leert sich langsam.“

„Kann ich das aufhalten? Ihn zurückholen?“

„Ja du kannst es, selbst wenn er auf dem Grund ist – bildlich gesprochen. Eine Zusammenkunft von Nichtkonvertierten könnte es ebenso schaffen aber nur wenn er nicht ganz unten ist.“

„Sie hätten ihm helfen müssen“, sagte er verständnislos. „Warum haben Sie es nicht getan? Und Aya ebenso.“

„Die Umstände ließen es nicht zu.“

Schuldig schüttelte den Kopf, ließ es aber gut sein. Das musste sie mit Ran klären.

„Können wir gleich versuchen ihn zurückzuholen?“

„Lassen wir ihm noch Zeit sich körperlich ein wenig zu regenerieren. Heute Abend sollten wir den ersten Versuch starten. Ich werde dich führen.“

„Warum hat Rans Mutter ihn vor Ihnen abgeschottet? Das quält ihn.“

„Weil sie nicht wusste was er ist. Sie hat seine Augen gesehen und wusste, dass er nicht normal ist und ich war wohl etwas zu forsch in meinem Appell an sie ihn mir zur Ausbildung zu überlassen. Sie wusste nichts über PSI. Sie war meine einzige Tochter und er ist der einzige meiner Nachkommen mit diesen Fähigkeiten.“

„Und Masahiro? Er war auch ihr Sohn.“

„Besprechen wir das wenn Ran wieder genesen ist.“

Schuldig nickte. Er ließ es dabei bewenden, wenn sie nicht darüber sprechen wollte, sollte sie es mit Ran tun.

„Meine Fähigkeiten sind sehr subtil“, kam sie auf ihr ursprüngliches Thema zurück.

„Wie machen sie sich bemerkbar?“

„Meine Sekundärfähigkeiten sind sehr kompakte Schilde und eine Schildmatrix die sich sehr weit ausdehnen lässt.“

„Wie weit?“

„Hunderte von Kilometer. Hokkaido bekomme ich nicht mehr ganz hin.“

Schuldig riss die Augen auf.

„Ganz Japan steht unter dem Schutz dieser Matrix. Viele Runner wurden hier geboren. Ich suchte diese Kinder und sie sind alle hier. Sie verstärken den Schild.“

„Dann sind wir deshalb hier geblieben. Brad wollte hier nie weg. Er sagte, dass es hier am Sichersten wäre. Ich dachte immer weil wir uns zwischen den Menschen verbergen können.“

„Es würde mich nicht wundern wenn es so wäre.“

„Ich habe nichts davon bemerkt. Jei ebenso nicht.“

„Für einen Soulwhisperer ist das auch nicht schwer, du hast dich daran gewöhnt durch einen Nebel zu arbeiten, als wäre die Luft etwas schwerer und als könntest du nicht tief durchatmen. Berserk hat nie etwas erwähnt?“

„Er hat wenig von dem erzählt wie er arbeitet. Er war...“, fing Schuldig an und suchte nach Worten um ihr Jei zu erklären.

„Zerstört.“

Schuldig nickte. „Nagi hat sich um seine Bedürfnisse gekümmert.“

Sie schwiegen wieder.

„Warum haben sie Ran bei Kritiker untergebracht? Ich nehme an, dass das auch kein Zufall war.“

„Nein, das war es in der Tat nicht. Ich habe seinem Wunsch nach Rache entsprochen. Er war zunächst bei Crushers. Ich dachte ich hätte ihn verloren. Ein Runner der tötete. Es zerstört uns.

Manx beobachtete ihn seit meine Tochter und ihr Mann ermordet worden waren und Aya im Koma lag. Doch Ran schlug nicht den normalen Weg ein. Seine Trauer schlug in etwas anderes, Gefährliches um. Er brauchte Geld. Er hat viel dafür getan um an Geld zu kommen. Aber du weißt sicher, dass er nicht nur normale Jobs dafür angenommen hat.

Bis er soweit war Jemanden zu töten vergingen Monate und in dieser Zeit wurde er zu einem anderen Menschen.“

Schuldig wusste das alles nicht. Er hatte Ran nicht so tief gelesen, dass er davon gewusst hatte.

„Er hat sich verkauft?“

„Du hast das nicht bei ihm gelesen?“, fragte sie erstaunt und legte den Kopf fragend schief.

„Nein, anfangs war ich sehr neugierig aber andererseits hat es auch seinen Reiz nicht alles über ihn zu wissen.“

„Er hat diese Information tief in seinen Erinnerungen verborgen.“

„Ja, kann sein“, sagte Schuldig nachdenklich.

„Seine Mutter hat ihn gut trainiert. Da bin ich mir sicher. Aber es ist noch ein weiter weg vom Training bis dahin einen Menschen zu töten. Crushers waren keine schlechte Gruppierung, sie arbeiteten ähnlich wie Kritikergruppen nur nicht organisiert. Junge Männer und Frauen die sich der Gerechtigkeit verschrieben hatten und in der Zeit dazwischen Ablenkung suchten. Drogen, Exzesse mit Sex und anderen Dingen. Dazwischen geriet dieser naive junge Mann, der gerade seine Familie verloren hatte und Geld brauchte um seine Schwester am Leben zu erhalten.“

Schuldig nickte. „Wie kam er überhaupt zu Crushers? Und woher wissen sie das alles?“

„Laut einem meiner Beobachter hat er untertags auf dem Bau gearbeitet, stundenweise, abends dann ging er in einen Club in dem besondere Dienste angeboten wurden. Nur als Begleiter. Zu anfangs. Irgendetwas musste geschehen sein, denn er landete im Untergrund. Bei seinem Job auf dem Bau tauchte er nicht mehr auf und er verschwand vom Radar meines Beobachters. Später dann erschien er bei Crushers. Er war völlig verändert.“

Schuldig dachte an den naiven, jungen Mann, den er teilweise kennengelernt hatte, der sich in dieses Mädchen verliebt hatte, zumindest hatte es damals für Schuldig so ausgesehen, als er sie manipulierte damit sie die Waffe auf Ran richtete. Er seufzte.

„Ich würde Vieles dafür geben den naiven Ran kennen gelernt zu haben.“

„Jetzt. Damals als du ihn töten wolltest auch?“

Schuldig runzelte die Stirn und zog einen Flunsch. Er winkte ab. „Wir wollten Weiß nie wirklich töten. Sie nervten einfach nur. Brad hatte andere Pläne und Weiß waren ständig dabei sie zu torpedieren.“

„Was für Pläne?“

„Brad wollte die Trias stürzen. Irgendwann kehrte er das Ganze um und benutzte Weiß als Lockvogel, damit sie die Trias ausschalten konnten. Wir standen zu sehr unter ihrer Beobachtung. Bis kurz vor ihrem Ende glaubten sie noch wir würden sie retten.“

Er dachte wieder an Ran. Ein unternehmungslustiges Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Sakura lachte auf. „Das...“ Sie zeigte mit dem Finger auf das Grinsen. „...kenne ich nur zu gut, es bedeutete nie etwas Gutes.“

„Na, aber halt mal. Das war nur ein verrückter Gedanke...“, grinste er noch immer.

„Ja, von einem verrückten Gedanken bis zur Umsetzung war es bei deinem Vater nie weit.“

„Ich denke nur über Ran nach.“ Sein Grinsen verblasste und er wurde wieder ernst.

„Crushers war nicht gut für ihn. Ich weiß nicht wie er dorthin gekommen ist, zwischen Roppongi und seinem Auftreten bei dieser Gruppe verging einige Zeit. Was dazwischen war kann nur er dir erzählen. Er hat gesoffen, gefickt und getötet – das war bei Crushers. Aber wie kam er plötzlich dazu? Was dies mit einem PSI anrichtet brauche ich dir nicht zu erklären.“

„Nein, brauchen Sie nicht. Aber Kritiker und seine Aufträge dort waren sicher auch kein Gesundbrunnen für PSI.“

„Nein. Manx berichtete mir, allerdings nicht regelmäßig. Ich gab ihr dann die Anweisung ihn zu Kritiker zu holen um ihm wenigstens ein Ziel zu geben.“

„Takatori.“

„Ja. Takatori.“

Ihre Augen schmälerten sich. „Ich hätte ihn gern selbst erledigt. Nur war das nicht ganz so einfach. Ich war nicht da und außerdem... Ran musste es tun.“

„Er hat sich fast aufgerieben dabei.“

„Ja. Ich ahnte es. Doch es besserte sich als ihr von der Bildfläche verschwunden seid.“

„Nicht ganz.“

„Nein, er lebte nicht mehr. Nur wie bringt man einen Runner wieder ins Leben zurück?“

Sie lächelte in Erinnerung an ihre Schmiedekunst. Sie hatte tatsächlich ein Meisterstück erschaffen.

„Indem man ihn mit mir in einen Keller steckt und wartet was passiert?“, fragte Schuldig skeptisch.

„So ungefähr.“

Er sah sie ungläubig an. Sie lachte auf.

„Ganz so einfach war es nicht. Ich habe ausgefeilte Profile von euch beiden.“ Sie tippte sich an die Stirn.

„Du bist ein guter Mann, Gabriel. Ich wusste, dass du der stärkere Part von euch beiden bist und du hättest dich nicht abbringen lassen. Du hättest ihn immer retten wollen. Ich musste zuallererst dein Interesse an ihm wecken.“

Er sollte der stärkere Part sein? Ob die Frau sich da mal nicht täuschte.

„Kritiker jagten und verhörten ihn. Kam das von Ihnen?“

„Nein, von Manx.“

„Ich bin mir nicht sicher ob ich der Stärkere von uns beiden bin. Ohne ihn kann ich mir nicht vorstellen weiterzumachen. Der Anfang war verdammt schwer. Ich hätte ihn nicht nur einmal getötet. Der Reaper... ich war so konfus und manchmal wie ferngesteuert, aber ihn habe ich immer erkannt.“

„Weil er dich erdet. Er durchdringt diese Phase des Reapers.“

Schuldig nickte seufzend.

„Wir haben Zeit. Wie gesagt nach Tokyo könnt ihr erst mal nicht zurück, solange ihr geschwächt seid und beide nicht wisst wie ihr eure Fähigkeiten einsetzen könnt macht es keinen Sinn. Keiner von euch weiß wo sie den Hellseher hingebracht haben. Du hast ihn sicher gesucht?“

Schuldig nickte nachdenklich. „Ja, ich hatte ihn markiert, aber nichts.“

„Somi ist ein fähiger Telepath, ich bin mir sicher er hat deine Markierung gelöst.“

„Falls ich ihm begegne, kann ich ihm etwas entgegensetzen?“

„Aber sicher. Du musst dich aber auch verteidigen, das zu koordinieren braucht Geschick und Konzentration.“

„Jetzt kann ich es nicht?“

„Gegen hundert Telepathen?“

„Verstehe.“

„Gegen hundert Telepathen, vielleicht ein paar hundert Empathen und Telekineten und noch einige andere Fähigkeiten? Von den Judges will ich nicht einmal anfangen.“

Schuldig nickte. „Momentan haben wir keine Chance. Werden wir sie denn je haben?“

„Selbst ein guter Soulwhisperer wird Schwierigkeiten bekommen.“

„Das heißt Brad ist verloren? Sie drehen ihn um und dann haben wir Brad gegen uns?“

„Aktuell sieht es so aus. Aber warten wir ab. Nicht jeder findet gut, was Rosenkreuz da treiben und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Rat hinter dem steht was Somi vorhat. Vor allem frage ich mich, wer die Anschläge während des Sturms in der Stadt verübt hat.“

„Der Clan?“

„Nein. Bestimmt nicht. Sie kämpfen gegen die PSI. Es sei denn, sie haben den Clan bereits infiltriert.“

„Sie glauben Somi war es selbst?“

„Ja, das glaube ich. Chaos zu stiften ist die beste Möglichkeit um den Rat außen vor zu lassen. Es gibt momentan keine Satellitenverbindung nach Übersee.“

„Es sind bestimmt Tausende von Menschen dabei umgekommen“, sagte Schuldig.

„Dass ist Rosenkreuz egal. Der Reinigungstrupp ist so etwas wie die Keule der Orden. Nur die Judges können etwas tun. Sonst kann keiner sie zur Rechenschaft ziehen. Rosenkreuz ist zu einem wuchernden Geschwür geworden. Und wenn die Judges nichts tun...“

„Was ist mit ihnen?“

„Die Judges sind dem Orden zahlenmäßig unterlegen. Und sie sind Hofhunde an einer Kette – einer langen, aber an einer Kette. Sie sind vom Rat abgeschnitten, aber ich glaube nicht, dass sie sich davon befreien könnten um auf eigene Faust ihr Mandat umzusetzen. Ich weiß nicht wie es um De la Croix steht. Warum er bei den Judges ist kann ich dir nicht sagen.“

„Er ist gefährlich.“

„Das sind wir alle. Du auch.“

Schuldig zuckte mit den Schultern, was gab es darauf auch schon zu erwidern?

„Ich möchte zu Ran zurück.“

Sakura nickte. „Ich begleite dich.“
 

Sie gingen zu Ran und Sakura sprach mit einem Mann, während Schuldig ans Bett trat und Ran über die verschwitzte Stirn strich.

„Hey... komm zurück zu mir, Ran. Du wolltest doch wissen was vor sich geht, jetzt hast du die Chance darauf.“ Er versuchte Rans hohe Mauern zu überwinden scheiterte aber.

„Nicht so“, sagte Sakura und war neben ihn getreten. Sie hatte eine Hand auf seinen Arm gelegt und Schuldig zog sich zurück.

„Heute Abend.“

Schuldig strich Ran über die Haare. „Sie haben einen Teil abgeschnitten. Das freut dich sicher“, flüsterte er, als würde er diesen Umstand zum ersten Mal registrieren. „Sie wachsen wieder“, tröstete Sakura und Schuldig sah Ran bedrückt an. „Ja, sie wachsen wieder“, wiederholte er leise.
 

„Kann ich sie sehen? Kudou und Jei?“

„Ich bringe dich hin, wir wollten sie morgen bestatten.“

Sie verließen Ran und Schuldig folgte Sakura in einen anderen Bereich des Hauses.

„Ran muss sich vorher von Kudou verabschieden können.“

„Wenn wir erfolgreich sind...“

Er blieb stehen und sie wandte sich zu ihm um. „Wir werden es schaffen. Ich lasse nicht zu, dass er diese Chance nicht bekommt. Er muss dabei sein.“

Sakura sah ihn lange an und nickte dann.

Sie gingen durch die Korridore und hielten vor einem Raum an. Als sie eintraten ließ Sakura ihn voran gehen, hinter einem Paravent lagen die beiden und ein junger Mann saß neben Jei. Er hob seinen Kopf und Schuldig blieb stehen. Er starrte ihn an und machte einen Schritt zurück.

Er spürte es wieder, dieses unsägliche, wahnsinnige, wütende Hämmern in seinem Schädel.

Das war nicht wahr.

Das Hämmern ging weiter. Es tobte und riss in ihm. Die Teile begannen auseinander zu driften, sie gerieten erneut in Unordnung.

Sakura redete mit ihm, er konnte ihre Stimme hören aber sie klang weit weg und er verstand kaum die Worte. Er sah nur die goldenen Augen. Sie waren unversehrt. Und ein Gesicht ohne Narben.

Schuldig blinzelte, seine Augen brannten voller Feuer.
 

„Du bist sein Bruder.“
 

Der Junge nickte verschüchtert und sah so traurig aus. Schuldig hatte das Gefühl sein Herz würde ihm bersten. Was war nur alles geschehen? Warum hatten sie das alles nicht bemerkt? Warum hatte Brad nicht geholfen? Warum hatte Jei nichts gesagt? Schuldig ging weitere Schritte zurück, dann drehte er um und begann zu rennen, bis eine hohe Mauer seine Flucht ausbremste. Er sah an ihr nach oben in das Grau des Himmels und schrie diesem Grau seine Verzweiflung entgegen. Langsam glitt er an ihr hinunter und lehnte seine Stirn an die regennassen Steine an. Warum?

Er spürte wie etwas gegen ihn drückte und dieses Chaos in seinem Kopf sich klärte.
 

Vor kurzem hatte er noch den Verdacht gehabt... erst vor einem Tag?
 

Jei war so wie er war, weil er von seinem Zwilling getrennt worden war. Warum? Seit wann war sein Bruder hier? Erst kurz? Hatten sie ihn verpasst? So knapp? Gott...! Warum nur? Bitte... irgendjemand musste ihnen helfen. Alles zerbrach. Es war alles zu viel. Ran... bitte... hilf mir... hilf mir...
 

„Firan nicht!“, hörte er und schon überfluteten ihn Bilder, Gedanken und Gefühle eines anderen. Keuchend brach er nach vorne aus, doch die Verbindung hielt stand und er riss die tränenverschleierten Augen auf. Bilder... warum Bilder... so viele...
 

Straud... immer wieder Straud...
 

„Er hat dir alles genommen“, flüsterte er schockiert. Dann drehte er sich halb um und sah in das unversehrte Gesicht von Jei.

„Ja, mein Bruder hat mir jeden Hass, jeden Tropfen Scham genommen. Jeden Schmerz und jede Trauer.“

Schuldig zog aus einem Impuls den Jungen an sich und presste ihn fest an sich.
 

‚Es tut mir Leid.’
 

‚Mir auch. Mein Spiegel ist zerbrochen.’
 


 


 

o
 


 

Fortsetzung folgt...
 


 

Ich möchte mich bei allen Lesern bedanken, vor allem dafür, dass sie die Geschichte über diesen langen Zeitraum nicht aufgegeben haben.
 

^_^
 

Vielen Dank an Mona die mir mit ihrem Rat immer zur Seite steht.
 

Gadreel

Der Glasgarten Teil I

Der Glasgarten Teil 1
 


 


 

o
 


 

Nach der ersten unbeabsichtigt dramatischen Begegnung mit Firan hatten sie beide etwas Ruhe benötigt und Sakura achtete mit Sasuke, dem Arzt in diesem kleinen Zufluchtsort darauf, dass sie sich diese Ruhe auch nahmen. Die beiden waren geradezu versessen darauf.

Deshalb lagen Firan und Schuldig nun in einem Ruheraum, der in der Nähe von Rans Zimmer lag. Das beruhigte Schuldig mehr als wenn er jetzt geschlafen hätte. Weder Firan noch er war nach Schlafen zumute. Firan sah ihn unverwandt an und Schuldig blickte neugierig zurück. Er sah Jei so ähnlich.

„Geht es euch besser, Herr?“, fragte die schüchterne Stimme und Schuldig konnte es nicht lassen in ihr Jeis Stimme heraushören zu wollen.

„Etwas.“ Schuldig setzte sich langsam auf. „Ich brauche etwas zu trinken“, sagte er und gähnte. Er schwang die Beine vom Bett und sah auf als Firan behände aufstand und fast schon an der Tür war bevor Schuldig überhaupt die Lage überblicken konnte. Er wirkte als hätte er Angst.

„Warte mal“, hielt er ihn zurück und wollte aufstehen als Firan einen Schritt weiter zur Tür machte. Schuldig setzte sich zurück auf das Bett.

„Hast du Angst vor mir?“

Hastig schüttelte Firan den Kopf und Schuldig legte zweifelnd seinen schief.

„Ein wenig“, gab er zu.

„Warum?“

„Ihr seid sehr stark. Ihr...“, er suchte nach Worten. „...Ihr vibriert förmlich vor Energie.“

„Oh, tatsächlich?“ Yeah! Er vibrierte.

„Trotz der Abschirmung?“

Firan nickte.

„Und warum ist das schlimm für dich?“

Firan rang wieder mit Worten und Schuldig ließ ihn, wartete jedoch bis er eine Antwort bekam.

„Starke... PSI behandeln schwache wie mich nicht gut“, kam dann vorsichtig zur Antwort und Schuldigs Blick verfinsterte sich. Er konnte sich noch gut an die Zeit bei SZ erinnern, wobei er wohl einer der Starken gewesen war. Vermutlich waren ihm „schwächere“ PSI gar nicht aufgefallen.

„Tun sie das?“

Firan nickte. „Ich wollte Euch nicht beleidigen, Herr.“

„Das hast du nicht, Firan. Und ich bin kein Herr. Nenn mich...“, er runzelte die Stirn. Er empfand den Namen Schuldig plötzlich als seltsam unpassend. Zum ersten Mal wie er sich selbst eingestehen musste. „Nenn mich Gabriel, nicht Herr. Ich bin keine höhergestellte Persönlichkeit. Ich bin ein Freund deines Bruders gewesen. Wenn wir gewusst hätten, dass es dich gibt hätten wir etwas getan, um dich früher zu uns zu holen. Dann wären wir jetzt Freunde, Firan.“

„Ja, das wäre schön gewesen. Ich hatte und habe nicht viele Freunde.“

„Tja, einen hast du jetzt schon. Und der andere schläft noch. Macht schon Zwei!“ Schuldig grinste bis über beide Ohren.

„Seid Ihr nicht traurig, Gabriel?“

„Doch, Firan, aber jeder geht anders mit Trauer um. In diesem speziellen Fall hebe ich mir meine Trauer auf, bis ich sie in Rache umwandeln kann“, sagte er wie beiläufig. „Was für Fähigkeiten hast du?“

„Taktiler Empath der ersten Stufe.“

„Cool.“ Schuldig beäugte ihn neugierig und amüsierte sich über Firans Schüchternheit.

„Das ist nicht gerade cool“, hielt Firan dagegen.

„Doch... kannst du übertragen?“

„Nein.“

„Kommt vielleicht noch.“

„Ja, vielleicht.“

Das Gespräch erstarb langsam und Schuldig wollte Firan nicht länger mit einer Konversation quälen, also ließ er ihn den Raum verlassen. Was dieser nicht mehr ganz so hastig tat.
 

Er kam mit einem Tablett zurück auf dem zwei Tassen mit noch unbekanntem Inhalt vor sich hin dampften und steuerte die Sitzecke an den bodentiefen Fenstern an. „Der Tee wurde mir mit den besten Wünschen aus der Küche angeboten. Er soll uns kräftigen.“

Schuldig seufzte, setzte sich und ließ sich bedienen. Er nahm den Tee dankend entgegen und war froh um die Tatsache, dass Firan keine Lust zum Reden hatte.

Sie sahen sich gelegentlich an, aber keiner von ihnen hatte das Bedürfnis nach einem Gespräch, was sehr angenehm war. Überhaupt empfand Schuldig Firans Anwesenheit als... tröstlich. So saßen sie in stiller Eintracht zusammen und blickten in einen schön gestalteten Garten hinaus.
 

Später gegen Mittag holte Firan Schuldig bei Ran ab, um ihn zum Mittagessen zu geleiten. Sie nahmen das Essen mit einigen anderen Kawamoris ein. Als sie fertig waren ließ Sakura sie von einem der Männer zu sich bitten.

„Firan würdest du bitte Gabriel zeigen wo er und sein Partner die nächste Zeit wohnen können?“

„Sehr gern.“

Schuldig begleitete Firan in ein Nebengebäude, das über einen überdachten Steg entfernt vom Haupthaus lag.

„Eure Kleidung, eure Waffen und was ihr sonst noch benötigen könntet ist in den Zimmern verstaut. Wir dachten es würden vier Leute kommen.“

Er verstummte.

„Danke, Firan.“

Schuldig begleitete Firan zurück nachdem er das Haus besichtigt hatte. Vier Schlafzimmer, entsprechende Badezimmer dazu, eine große Küche und ein Gemeinschaftsraum bildeten das Gästehaus.

Nachdem er Schuldig ihr neues Domizil gezeigt hatte wollte Firan sich entfernen doch Schuldig nahm ihn mit zu Ran.

Während Firan Rans rechte Hand hielt versuchte Schuldig gelegentlich Rans hohe Mauer zu überwinden, war jedoch erfolglos damit.

Firan sagte, dass er keine Gefühle von Ran empfangen konnte, was nicht dazu beitrug um Schuldigs Laune zu heben, oder gar seine Hoffnung zu stärken.

Sakura sah mehrmals vorbei, doch Rans Zustand wurde immer schlechter und Schuldig konnte sehen wie sie mit sich rang, ob sie einen Versuch wagen sollte, um diesen Fall zu bremsen oder nicht.

Sasuke hielt sie schließlich davon ab. Er sagte es sei zu gefährlich und hoffte, dass Ran allein zurückfinden würde, was Sakura verneinte. Sie gingen nach draußen um weiter zu diskutieren. Trotzdem sie leise sprachen hörte Schuldig dabei heraus, dass es ohnehin ein Himmelfahrtskommando gewesen wäre, denn Sakuras Fähigkeiten boten nicht die optimalen Voraussetzungen dafür, um Ran aus diesem Zustand zurückzuholen. Schuldig war derjenige, der diese Fähigkeit hatte, aber er hatte keinen blassen Schimmer was er tun sollte. Das was er bisher getan hatte war sinnlos gewesen.

Er verfluchte SZ und seinen Mangel an Wissen über seine Fähigkeiten.
 

Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu und Schuldig saß immer noch unverrichteter Dinge an Rans Bett. Er wollte ihm helfen, aber wusste nicht wie. Diese Hilflosigkeit machte ihm zu schaffen und er vermutete, dass der Einfluss den Sakuras Schild übte seinen Zorn und seine Wut auf diese Unzulänglichkeit bremste. Sein müder und schmerzender Kopf ruhte auf Rans Oberarm, seine verquollenen Augen richteten sich auf ihre verschränkten Hände. Ran rührte sich nicht.

Keinen Millimeter hatte er sich bewegt, er lag da wie tot.

Sein Herzschlag hatte sich auf zwanzig Schläge pro Minute reduziert und seine Atemzüge auf fünf, was dazu geführt hatte, dass sie Gegenmaßnahmen einleiten mussten. Jetzt wurde Ran künstlich beatmet und bekam Medikamente um seinen Kreislauf zu stabilisieren. Er starb.

Seine Schläfen waren eingefallen und er sah verhärmt aus. Die einzigen Farbtupfer in diesem Bett waren seine Haare, die für Schuldigs Dafürhalten ihren Glanz allmählich verloren. Dieses tiefe dunkle Rot, das fast Schwarz wirkte schien zu verschwinden. Ran löste sich vor seinen Augen in Luft auf. Zumindest war das Schuldigs Empfinden.

Aufgrund des schlechten Zustandes hatte Sakura davon abgesehen mit Schuldig den Versuch zu wagen um ihn aus diesem Fall, wie sie es bezeichnete zurückzuholen. Er musste in einem stabilen Zustand sein, selbst wenn das bedeutete, dass er keine Lebenszeichen mehr zeigte. Sie hatten ein EEG angeschlossen das Rans Hirnströme aufzeichnete. Dort waren keine nennenswerten Ausschläge zu sehen. Sasuke sagte ihm, dass es aussah als wäre er Hirntot, aber dies nicht der Fall sei. Als Schuldig dass erfahren hatte war er zusammengebrochen. Ohne den Einfluss der Kawamori hätte er nicht gewusst was er angerichtet hätte. Er fühlte, dass er in dieser Situation an einem anderen Ort tatsächlich anders reagiert hätte, nicht so ruhig, nicht so... gedrosselt. Er wünschte sie hätten ihm auch das Gefühl der Verzweiflung genommen.

„Wach auf“, sagte er erneut und schloss die Augen. Er war müde aber er konnte nicht schlafen. Vielleicht sollte er daran denken ein paar von seinen Pillen einzunehmen, die Ran in ihrem Gepäck verstaut hatte. Aber was wenn er nicht da war wenn Ran... wenn er starb? Wenn er schlief während Ran sich davonstahl?

Er durfte nicht schlafen.

Der Einfluss des Schildes, gegen den er auf irgendeine Art ankämpfte laugte ihn aus. Die Kawamoris hielten ihn konstant aufrecht. Trotzdem, wollte er nicht gehen und irgendwo in einem Bett ohne Ran liegen.

„Wach auf... bitte wach auf...“, flüsterte er müde. Schuldig drehte den Kopf und Rans Ring der ihm wieder samt der Kette umgelegt worden war fiel ihm ins Auge. Sein Blick verlor sich darauf und er schlief völlig übermüdet ein.
 

Er wachte erst wieder auf als ihn jemand weckte. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen und er musste sich erst räuspern um dem Mann der ihn geweckt hatte zu begrüßen. Schuldig rappelte sich auf und wischte sich übers Gesicht um etwas wacher zu werden. Sein Blick ging zu Rans schlafender Gestalt und dann auf den Monitor.

„Es hat sich nichts verändert. Wir erwarten die nächste Reduzierung seiner Vitalparameter erst in ein paar Stunden.“

„Danke, Sasuke“, sagte Schuldig und erhob sich, er fühlte sich wie gerädert. Daran änderte sich auch nichts als er versuchte seine Muskeln zu lockern.

„Gehen Sie, wir kümmern uns um ihn.“

Schuldig wollte nicht gehen. Er gab Ran einen Kuss auf die Wange und strich ihm über die Haare. Sein Blick fiel auf das Pflaster, welches einen Teil seiner Kopfseite bedeckte. Seine Haare waren an dieser Stelle entfernt worden um die Schnittwunde zu nähen. „Ich bin gleich wieder bei dir, ich geh nur schnell etwas essen und...“

Schuldig verstummte. Ran in diesem Bett liegen zu sehen, ohne dass er aufwachte schmerzte ihn. „Bitte komm zurück, Ran.“ Seine Stimme brach und er wandte sich ab.

Er verließ fast schon fluchtartig den Raum und lehnte sich im Flur an die geschlossene Tür an. Wieder verlor er die Beherrschung und begann hemmungslos zu weinen. Er atmete tief ein und blickte an die Decke. „Bitte...“

Seine Gedanken rasten förmlich und ließen ihn nicht in Ruhe. Er konnte kaum klar denken und das trotz dieses Schildes. Diese heftigen Gefühlsdurchbrüche kamen in Schüben. Niemand sah ihn in diesem Zustand und Schuldig war froh darüber. Es dauerte bis er sich beruhigt hatte und erst dann machte er sich auf den Weg in das Gästehaus um sich zu duschen. Nach jedem dieser emotionalen Ausbrüche fühlte er sich wie erschlagen und leer. Er durfte ihn nicht verlieren. Was... wenn es geschah? Was wenn Ran ihn allein ließ? Was sollte er dann tun? Ohne Ran.
 

Auf halbem Weg begegnete er Firan.

„Guten Morgen.“ Er sah auf und atmete tief ein. Der Junge brauchte sein verheultes Gesicht nicht, er hatte an eigenen trüben Gedanken zu knabbern.

„Guten Morgen, Firan. Bist du schon lange auf?“

„Ja. Ich kann nicht schlafen“, sagte der Junge ausweichend, lächelte dabei aber etwas. Er traute sich sogar Schuldig ins Gesicht zu sehen. Was er dort sah schien ihm nicht zu gefallen.

„Geht mir genauso. Wo gibt’s denn hier etwas zu essen?“ Er hatte keinen Hunger aber er spürte wie er an Energie verlor. Der ständige Kampf gegen Sakuras Schild forderte seinen Tribut und wenn er Ran noch irgendwie helfen wollte musste er seinem Körper geben was er benötigte. Ihm war übel und er hatte bemerkt, dass er seine zitternden Hände vor anderen versteckte. Er war müde und unruhig zugleich.

„Das erste Frühstück ist schon vorbei, aber ich könnte Ihnen etwas kochen, wenn Sie möchten?“

Schuldig runzelte die Stirn.

„Wie wäre es wenn wir gemeinsam etwas kochen?“

Schuldig konnte sehen wie Firan dieses Angebot überraschte und er zunächst nicht wusste was er antworten sollte.

„Also bis gleich, ich muss nur schnell duschen.“ Schuldig sah zu, dass er verschwand bevor es sich Firan anders überlegen konnte. Er wollte nicht allein sein und Firan stellte für Schuldig ein Bindeglied zu Ran über Jei her. Firan gehörte zur Familie auch wenn sie sich jetzt erst begegnet waren. Schuldig musste auf ihn achten, das hätte Jei gewollt, solange bis er stabiler war, solange bis er stark genug war um sich gegen andere – Stärkere zu behaupten.

Was konnte er sonst noch für Jei tun?
 

Mit diesen Gedanken ging Schuldig in das Gästehaus und hinauf in den ersten Stock um sich zu duschen.

Jede Bewegung kam ihm vor als würde er durch zähen Nebel tappen. Er versuchte Ran nicht in Gedanken anzuschreien warum er ihn hier im Stich ließ und warum er sich verpisst hatte. Er wollte nicht wütend auf Ran sein.

Er zog sich aus und stellte sich unter den warmen Wasserstrahl. Seine Gedanken kreisten wieder um Ran und das was wäre wenn. Was wäre wenn er nicht mehr aufwachte? Was wäre wenn er starb?

Schuldig konnte ihn doch nicht in der Dunkelheit zurücklassen. Er war allein mit sich selbst an einem Ort der ihm Trost versprach, aber das war ein falsches Versprechen. Hatte er sich von ihm zurückgezogen? Vor dem was er war? Vor dem wie er sich aufgeführt hatte? War das seine einzige Fluchtmöglichkeit gewesen?
 

Jemand berührte ihn am Arm und er schreckte zurück. Er sah auf und erkannte Firan der mit einem Handtuch vor ihm stand. Firan stellte die Dusche ab und Schuldig orientierte sich. Er saß auf dem Boden der Dusche und er... heulte. Schon wieder.
 

Firan reichte ihm wortlos das Handtuch und ging wieder. Schuldig saß noch geraume Zeit dort um sich zu sammeln und erhob sich dann frierend. Er schlüpfte in eine schwarze Cargohose, schnürte seine Stiefel rasch und zog einen warmen Pullover über. Kleidungsstücke die ihm von den Kawamoris überlassen worden waren und aussahen als wären sie eher für die Arbeit in den „Schatten“ geeignet, denn modischer Firlefanz. Schade eigentlich.

Erst als er sich angezogen hatte und ein warmer Pullover ihn umhüllte begann er sich etwas besser zu fühlen. Schlafmangel war kein günstiger Zustand für ihn – und alle anderen. Er spürte wie er ständig Energie verbrauchte um gegen etwas anzukämpfen.
 

Er ging hinunter in die Küche wo Firan bereits etwas Essbares auf dem Herd stehen hatte. Es roch nach Kräutern und angebratenem Gemüse. Schuldig setzte sich und stützte seinen Kopf in zitternde Hände. Er hätte schon wieder heulen können. Wie lange konnte er diese Drosselung, diese Beschneidung seiner Fähigkeiten aushalten? In manchen Momenten hatte er das Gefühl zu ersticken. War er wütend auf Ran, weil er ihm das aufbürdete indem er nicht aufwachte? Nein, er war nicht wütend auf Ran. Er wollte ihn zurück und er wollte, dass es ihm gut ging.
 

In seinem Blickfeld tauchte eine Tasse Kaffee auf und Schuldig sah auf.

„Danke.“

Firan setzte sich mit an den Tisch.

Sie sprachen kaum etwas miteinander, aber Firan suchte hin und wieder Körperkontakt in kleinen Gesten und Schuldig konnte dies zulassen.

Er erinnerte sich daran, dass Empathen Körperkontakt brauchten. Jei... hatte so gut wie keinen Körperkontakt gehabt. Und Ran? Was für ein Leben hatte er bisher geführt? Was für ein Leben hatten sie alle gehabt? PSI durften nicht töten, es raubte ihnen einen Teil ihrer Seele der rein bleiben musste damit sie nicht verrückt wurden. Hatte das nicht damals De la Croix gesagt? So viele Gedanken irrten in seinem Kopf umher, Wortfetzen an... die er sich erinnerte, die ihm sagten wie falsch sie gelebt hatten, wie einsam und verlassen sie waren.

Schuldigs desolates Nervenkostüm drohte erneut zu reißen, in einer abrupten Geste schüttelte er Firans Hand ab und stand hastig auf um Abstand zu gewinnen. Der Stuhl kippte um und schreckte Schuldig in seinen beunruhigenden Gedanken auf. Trotzdem... er konnte jetzt keine Nähe ertragen. Firan sagte etwas.

Vermutlich eine Entschuldigung, Schuldig hörte sie kaum.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon gut. Es ist nicht deine Schuld.“
 

Obwohl seine Gedanken konfus wurden ging er zu Ran zurück, er hörte die Worte des Arztes kaum und nickte als er sich setzte.

Schuldigs Blick verlor sich wieder auf Rans Ring, der auf seiner Brust lag. Er hatte seine Hände auf Rans Arm und er hielt sich an ihm fest. Erneut versuchte er zu Ran durchzudringen, aber diese Mauer war ohne eine Möglichkeit an der er angreifen konnte. Sie war höher und undurchdringlicher denn je. Er schlug auf sie ein was sie nur härter an dieser Stelle werden ließ. ‚Du willst mich nicht bei dir haben?’

Er wusste nicht wie lange er dort gesessen hatte aber irgendwann kam Sakura wieder herein. Dass sie gegangen war hatte er nicht bemerkt.

„Ich schaffe es nicht“, sagte er, den Kopf auf Rans Arm abgelegt und in dessen Kleidung nuschelnd. „Ich komme nicht rein.“

„Er ist nicht konvertiert worden. Sein Lebenswandel hat ihn zu einem Bollwerk gegen Angriffe gemacht. Es wird nicht so einfach sein, Gabriel. Du brauchst Ruhe und einen klaren Kopf, einen frischen Geist. Sasuke kann den Zustand, in dem er sich gerade befindet, noch etwas länger aufrecht erhalten also bleibt uns noch ein bisschen Zeit.“

Er grollte und fuhr dann auf. „Sie haben ihn doch erst zu diesem Bollwerk gemacht!“ Er schlug mental um sich, wurde aber wie ein Kind sofort gemaßregelt in dem sein Angriff augenblicklich abgeschmettert wurde. Er taumelte und ging in die Knie. Wütend sah er zu ihr auf.

„Der Versuch sich mit mir zum jetzigen Zeitpunkt zu messen ist keine kluge Idee um Ran zurückzuholen“, sagte sie ruhig und Schuldig konnte sehen wie das rot ihrer Augen plötzlich dominierte.

„Ich habe keine klugen Ideen mehr“, sagte er zynisch.

Sie ging um das Bett herum und legte ihre Hand auf Rans Stirn, sofort kam Schuldig auf die Beine und sah misstrauisch zu was sie tat.

„Sein Energiekörper ist weit gelehrt, er ist fast unten angekommen.“

Sie hob Rans Lider an und Schuldig erschrak, Rans Augen waren...“

„Sie sind schwarz“, keuchte er.

„Nein, nur sehr dunkel. Sieh her“, sagte sie und nahm von der Ablage an der Seite eine kleine Lampe, die Sasuke für seine Kontrollen benutzte. Schuldig beugte sich über Ran und durch das Licht konnte er sehen wie sich vielschichtiges Violett zeigte. Seine Pupillen waren winzig, fast nicht zu sehen. Sie schloss Rans Augen wieder und Schuldig setzte sich wieder.

„Was soll ich tun?“

„Dich ausruhen.“

„Ich kann nicht!“, schrie er sie an.

Sie schwiegen.

„Er wird nicht sterben“, sagte Schuldig trotzig und sah Ran wütend an.

Dann musste er plötzlich lachen. Er wusste nicht woher dieses Lachen kam und warum es plötzlich da war. Tränen reizten erneut seine Augen.

„Schnee... er stirbt am Liebsten im Schnee. Es schneit nicht, Ran“, sagte er und sein Tonfall änderte sich minimal als würde er sich freuen. Sakura sah ihn bedauernd an. „Du kannst nicht sterben... ich erlaube es nicht.“ Das Lachen war verschwunden und zurück war nur noch Bitterkeit und Wut.

Sakura hörte ihm bei diesen Worten noch eine Weile zu bevor sie den Raum verließ. „Es schneit nicht...“, flüsterte Schuldig und berührte mit zitternder Hand Rans Stirn.
 

Sakura fühlte sich hilflos. Ein Gefühl welches sie lange nicht mehr in dieser Intensität verspürt hatte.

Sie konnte Ran in ihr Netz einbinden, aber ohne seine Mithilfe war das nicht möglich. Ihn einfach zu übernehmen würde einer Konvertierung gleichkommen und ihn für immer hineinbinden und das unfreiwillig. Sie würde es als letzte Möglichkeit tun aber noch hatten sie Zeit.

Gabriel jedoch... er bemerkte jetzt schon die Auswirkungen seines fehlenden Partners. Ihre Verbindung war intensiv und ebenso intensiv würde die Trennung sein und damit der geistige Schaden. Niemand konnte ihn davor bewahren.

Sie hielt inne in ihren Gedanken. Jemand konnte es, er war jedoch unerreichbar für sie alle...

Falls du irgendwie... auch nur den Hauch einer Chance siehst ihm zu helfen, dann hilf ihm. Ich flehe dich an. Bitte, hilf ihm. Hilf beiden. Wenn du noch einen Funken Energie hast... wenn du noch... wenn ich dir nicht zu viel geschadet habe, dann flehe ich dich an, hilf ihnen. Bitte.

Sie hielt inne und sah in den Himmel hinauf. Hatte sie Angst? Wen bat sie um Hilfe? War das die Hoffnung, die sie vor Jahren fahren hatte lassen? War es Verzweiflung, die sie nicht mehr spüren konnte weil sie jenseits von allen Gefühlen lebte? Weil sie zu viel verloren hatte? Weil sie zu viel zerstört hatte?

Durfte sie um Hilfe bitten, wo sie doch jedes Recht auf eine solche Bitte verwirkt hatte?
 

Es war spät in der Nacht als sich Schuldig in eine Decke wickelte die auf dem Nebenbett lag. Das Zimmer wurde nur von den kleinen Lämpchen und Monitoren erhellt. Weiter hinten im Raum brannte eine kleine Lampe und spendete etwas warmes Licht in den für Schuldig so düster wirkenden Raum. Sasuke kam herein und Schuldig erhob sich. Während er sich um Ran kümmerte würde er ein bisschen frische Luft schnappen gehen. Kopfschmerzen plagten ihn seit zwei Stunden und er schob sie seinem Schlafmangel und dem ständigen Kampf gegen den Schild zu.

Frische Luft würde ihm den Kopf etwas frei machen, wenigstens konnte er sich das einreden. Er war zu müde um sich einen Plan auszudenken. Sakura konnte nicht helfen, so viel war ihm schon klar geworden. Sie hätte es aufhalten können wenn Ran nicht verletzt gewesen wäre, aber nicht in diesem Zustand.
 

Er ging nach draußen und atmete tief ein. Es war kalt geworden. Die Decke enger um sich ziehend ging er die Stufen hinunter.
 

Nach ein paar Schritten über den Kiesweg bemerkte er, dass sie ihn beobachteten. Er hatte es satt.

„Lasst mich in Ruhe!“, schrie er entnervt zu niemand Bestimmten und trottete über den Kies weiter bis er die Häuser hinter sich gelassen hatte und in einem Gebiet mit Bäumen angekommen war. Er ging weiter, denn er brauchte Abstand, obwohl er diesem verdammten Schild nicht entkommen konnte, der ihn blockierte.
 

Er wusste nicht wie lange er gebraucht hatte doch dann kam er an einer hohen Mauer an, er sah an ihr hoch und setzte sich dann. Mit einem Gefühl der Trauer, lehnte er den Kopf an das Mauerwerk und sah hinauf in den dunklen Himmel. Er war wolkenbehangen. Er machte die Augen für einen Moment zu, als er sie wieder öffnete spürte er seinen Körper kaum mehr. Er blinzelte. Auf der Decke, die seine Knie bedeckte lagen Schneekristalle. Es schneite.

Schuldig fing leise an zu lachen und spürte wie ein tiefes Schluchzen seine Kehle emporstieg.

Er zwinkerte Schneeflocken von seinen Wimpern als plötzlich Stiefel in seinem Sichtfeld auftauchten. „Geht weg, ich bleibe hier“, sagte er trotzig und kauerte sich enger zusammen.

„Du bist wirklich ein jämmerlicher Haufen, Arschloch“, hörte er und sah auf.

Die Silhouette kannte er, die Glut des Glimmstängels, die hin und wieder aufleuchtete passte perfekt hinein. Er kannte diese nervig gelassene Stimme.

„Du bist tot, geh weg“, sagte Schuldig nach einem Moment in dem er sprachlos war.

„Sicher nicht.“

„Doch“, hielt Schuldig dagegen und lachte aus Verzweiflung auf. „Verschwinde, ich habe jetzt keine Lust auf Gespräche mit Pseudogeistern, die nur in meinem Gehirn auftauchen.“

„Du bist fertig“, resümierte die Imagination von Kudou.

„Ja. Willst du mich therapieren?“

„Ich bin tot, schon vergessen? Wie soll ich das jetzt schaffen wenn ich es nicht im Leben hinbekommen habe?“

„Punkt für dich“, gab Schuldig zu und bettete seine Wange wieder auf seine Knie.

Kudou sagte nichts mehr und Schuldig war froh drum.

„Es schneit, Kudou“, sagte Schuldig dann nach einer Weile leise.

„Ja, im Norden fängt das Zeug früher an zu rieseln.“

„Woher weißt du dass du im Norden bist? Du bist gestorben bevor wir hier angekommen sind“, brummte Schuldig wenig interessiert an diesem Gespräch.

Er hörte ein Lachen. Es war so typisch für Kudou und Schuldig schmunzelte traurig.

„Du warst auch schon mal heller im Kopf“, meinte Kudou oberschlau.

Nervig wie immer.

„Er stirbt wenn es schneit, Kudou. Du weißt warum“, sagte Schuldig und seufzte.

Kudou blieb stumm. Und Schuldig sah nach einer Weile auf. Kudou hatte sich in die Hocke begeben und betrachtete sich ihn genau. Ein Lächeln tauchte auf seinem Gesicht auf. Es sah anders aus, untypisch. Schuldig runzelte die Stirn und schürzte die Lippen. „Was gibt’s da zu glotzen, Schnüffler?“

„Ich bin in deinem Kopf ich darf alles machen.“

„Pass auf, ich knipps dich gleich aus.“

„Warum?“

„Eben, weil du in meinem Kopf bist.“

„Ja, ich bin in deinem Kopf.“

Schuldig kniff die Augen zusammen. „Zum ersten Mal“, warf Kudou hinterher.

Und Schuldig seufzte. „Und wie lange soll das so weitergehen?“

„Bis du hier aufstehst und deinen Hintern, den Ran so schätzt, in Bewegung setzt.“

„Solange willst du mich noch nerven?“

„Ja und länger.“

„Wie lange?“

„So lange es dauert.“

„So lange wie was dauert?“

„Bis du stark genug bist um mich loszuwerden.“

„Das hört sich wie eine Drohung an.“

„Wenn du es so auffassen möchtest, gerne.“

Schuldig schwieg eine Weile, konzentrierte sich und fand aber keine Anomalie in sich selbst was diese Halluzination bewirkt haben könnte. Sie verschwand auch nicht. Gut es war klar: Er war verrückt. Nichts Neues. Oder doch: Er war ein Level in seiner Verrücktheit aufgestiegen. Yeah.

Ächzend erhob er sich und taumelte. Er ging wieder zurück zu den Wohnhäusern, wenn auch schleppend.

Neben sich hörte er Schritte und er blieb stehen. Wieso hörte er Schritte? Er sah Kudou an als sie wieder Kies unter ihren Füßen hatten. Lampen erhellten ihre Gesichter. Selbst Kudous Haar war mit einzelnen Schneeflocken bedeckt.

„Siehst jedenfalls sehr lebendig aus, das muss man dir lassen“, murmelte Schuldig nachdenklich. Er wurde immer besser mit seinen Illusionen, nur hatte dies bei ihm noch nie so gut funktioniert. Er roch beinahe Kudous Zigarettenrauch und sein After Shave. Schuldig verzog das Gesicht.

„Dankeschön“, flötete Kudou allen Ernstes und schnippte seine zweite Zigarette in den Kies.

„Nur deine Klamotten sind etwas altbacken.“

Kudou sah an sich herunter. Er trug seine Kleidung die er im Kampf bei Weiß getragen hatte.

Dann zuckte er mit den Schultern. „Das ist alt?“

Schuldig runzelte wieder die Stirn. „Was ist los mit dir? Du hast hier die komplette Auswahl“, schüttelte Schuldig den Kopf und zeigte auf seinen Schläfe.

„Mir gefällts“, gab Kudou zurück und Schuldig stöhnte, begann aber weiter zu laufen.

„Hör auf mit mir zu quatschen, du bist tot, verzieh dich“, murmelte Schuldig.

„Hast du... gesoffen?“, hakte Kudou nach.

„Ich? Nein. Du warst derjenige der gerne mal was getrunken hat, erinnere dich, Schlaumeier.“

Schuldig peilte das Gästehaus an und hörte wie Kudou ihm folgte.

„Wie konnte ich mir nur selbst eine derartig nervige Illusion anhängen?“, brummte Schuldig. Vermutlich ging ihm Kudous Tod näher als er gedacht hatte. Er schloss die Tür und sah durch das Fenster selbiger nach draußen. Nichts mehr zu sehen. Er drehte sich um und Kudou besah sich die Küche.

„Wo sind wir eigentlich?“, fragte Kudou.

„Du bist in meinem Kopf also schau selber nach“, sagte Schuldig und ging hinauf um ins Badezimmer zu gehen. Ihm war eiskalt.

Schuldig zog sich aus ohne auf seine Halluzination zu achten und warf die Kleidungsstücke achtlos auf den Boden. Er knipste nur das Licht am Bett an und ging dann nackt ins Badezimmer.

Dort schaltete er das Licht und die Dusche an. Er stöhnte auf als das warme Wasser über ihn lief. Kudou lehnte im Türrahmen und sah ihm zu.

Seine Augen sahen komisch aus. Anders. Milchiger.

„Deine Augen hab ich nicht gut hinbekommen“, murmelte Schuldig nachdenklich.

Kudou schloss die Augen und sie wurden grüner. Schuldig nickte anerkennend. Joah schon besser, resümierte er und legte seinen Kopf wieder unter das Wasser. Er würde hier bleiben und allen das Wasser wegnehmen, als Rache weil sie ihn blockierten.

Irgendwann war es ihm dann zu viel und er stellte das Wasser ab, trat aus der Dusche und schlüpfte ausnahmsweise in eine Hose und einen Pulli mit Kapuze. Er setzte sich ans Bettende zog sich die Kapuze über den Kopf und drapierte die Decke um sich herum. Er hätte jetzt gerne seine Cordhose und sein Mickey Mouse Shirt hier. Seufzend ging sein Blick nach draußen. Eine Weile saß er so da, bis die Tränen wieder kamen, schließlich ebbten sie ab und er schniefte unterdrückt.

Irgendwann musste er eingeschlafen sein, denn als er aufwachte war es hell.

Er war durch, alles tat ihm weh und er fühlte sich wie durch die Mangel gedreht.

Im Bett liegend lauschte er auf die Geräusche draußen, bis es unten an der Haustür klopfte.

Er stellte sich tot. Eine Maßnahme die wenig von Erfolg gekrönt schien, da er kurz darauf Firans Signatur erkannte wie sie sich durchs Haus bewegte und dann die Treppe zu ihm nach oben nahm. Er hörte ein zaghaftes Klopfen.

Schuldig verzog das Gesicht. Er konnte nicht gemein sein. Nicht zu Firan. Mist.

„Ja“, sagte Schuldig gedehnt.

„Darf ich hereinkommen, Gabriel?“

„Ja“, erwiderte Schuldig wenig begeistert.

Firan öffnete vorsichtig die Tür und lugte herein. „Guten Morgen“, sagte er freundlich.

„Guten Morgen, Firan“, grüßte Schuldig nachsichtig.

„Oh, wer ist das denn?“

Schuldig stöhnte und sah zum Fenster hinüber. Kudou saß auf dem breiten Fensterbrett.

„Geht dich nichts an, halt den Rand, Blondie“, hielt Schuldig dagegen.

„Äh, Gabriel... geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Firan vorsichtig.

„Doch“, Schuldig winkte ab und kletterte aus dem Bett.

„Ich habe Halluzinationen, keine Ahnung warum.“

„Ja, danach hast du nicht gefragt“, murmelte Kudou und Schuldig drehte sich zum Fenster um.

„Ja, warum eigentlich?“

„Ich bin hier um dir zu helfen.“

„Tatsache.“ Schuldig war wenig überzeugt.

„Ja, Tatsache.“

„Und bei was genau?“

„Ran stirbt. Du willst ihn zurückholen und ich weiß wie.“

Schuldig sah ihn an, als würde Kudou nicht mehr alle Tassen im Schrank haben und schüttelte den Kopf. „Ach lass den quatschen, Firan, gehen wir nach unten.“

„Soll... soll ich Sensei Sakura Bescheid geben...?“, fragte Firan unsicher.

„Nein. Ist schon gut. Vermutlich drehe ich jetzt durch, weil Ran...“, er verstummte und sah dann zurück ins Schlafzimmer wo Kudou noch immer am Fenster saß.

Und jetzt winkte.

Schuldig stöhnte und ging nach unten.

Er war hier gefangen. In diesem Schild. Und konnte nicht so ausflippen wie er gerne würde weil Ran starb. Vor seinen Augen und er konnte nichts tun weil der feine Herr keinen Bock hatte zurückzukommen.

Firan packte einen Korb aus. „Ich habe Miso mitgebracht und eingelegtes Gemüse und...

Schuldig hörte nur mit halbem Ohr zu, weil er Kudou beobachtete der nun um Firan herumging und sich an den Tisch setzte. Das Leder des Mantels knirschte.

„Du siehst ihn nicht?“, fragte Schuldig. Sicher war sicher.

„Nein, wie sieht er aus?“

„Wie Kudou.“

Firan hielt für einen Moment inne, kramte dann immer noch mehr Zeug aus dem Korb. „Ist... ist mein Bruder auch da?“

Schuldig setzte an etwas zu sagen, klappte aber zunächst den Mund zu, bevor er entschied, dass dies eine heikle Frage war.

„Nein, Firan. Ich denke, dass ich mir Kudou nur einbilde, er ist eine Imagination. Nur ich sehe ihn deshalb. Er nervt ein bisschen. So wie früher, keine Angst.“

„Kein Geist?“

Schuldig sah ihn skeptisch an. „Nein, kein Geist.“ Er würde ihm jetzt keinen Vortrag über Geister halten. „Ich bin überfordert mit der Situation, deshalb habe ich mir wohl einen... Gehilfen erschaffen.“

„Wie ein Kind, das einen Freund erschafft, der nicht da ist?“

Schuldig zog ein Gesicht über diesen Vergleich und setzte sich. „Tja, sieht so aus. Ich frage mich ernsthaft warum ich mir gerade den da ausgesucht habe.“

Kudou grinste nur schäbig.

„Wen hätten Sie denn sonst ausgewählt?“, fragte Firan.

Firan holte ein paar Schüsseln und Besteck hervor und verteilte es für sie beide.

„Gute Frage.“

Schuldig brütete über dieser Frage.

Wen hätte er gewählt? Kudou hatte Ran am Nächsten gestanden. Deshalb war die Wahl seines Gehirns auf ihn gefallen. Seit wann hatte er dieses Notfallprogramm überhaupt?
 

Sie aßen still und Schuldig blickte hin und wieder zu Kudou hinüber der sie in aller Seelenruhe beobachtete. Firan bemerkte dies, sagte jedoch nichts.

‚Demnach kann ich dich auch in Gedanken ansprechen.’

‚Sicher.’

‚Gut, dann wird das weniger unheimlich für Firan.’

‚Er ist Empath.’

‚Ein taktiler wie du sicher weist. Er bekommt nichts mit.’

‚Er ist ein guter Beobachter, meinst du nicht?’

Schuldig blickte zu Firan der still seine Miso aß und in sich gekehrt schien. Schuldig verzog den Mund bedauernd. Wenn Ran... zurück war dann mussten sie sich um ihn kümmern. Jei hätte das sicher gewollt.

‚Er trauert.’

‚Trauerst du auch? Um Jei und um mich?’

‚Um Jei vielleicht. Bei dir bin ich mir nicht sicher.’

Schuldig sah von Firan zu Kudou. ‚Wir wussten, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, dass es einen oder alle von uns erwischen würde, aber wenn man so oft der Klinge des Sensenmannes entkommt glaubt man wohl unbesiegbar zu sein.’

‚Nein, das denke ich nicht. Es ist immer ein Schock wenn es dann soweit ist. Nichts kann einen darauf vorbereiten. Vermisst du mich nicht wenigstens ein bisschen?’ Wieder dieses dreckige Lächeln.

Schuldig seufzte und Firan blickte auf.

‚Vielleicht ein bisschen. Aber bilde dir darauf ja nichts ein, Schnüffler.’

Schuldig schob seine Miso von sich und schwieg.

‚Wer passt denn jetzt auf ihn auf, wenn du nicht mehr da bist?’

‚Du?’

‚Ja, Holzkopf das ist klar, aber er braucht noch jemanden... jemand anderen.’

‚Er braucht nur dich. Stiehl dich nicht aus der Verantwortung.’

Eine Weile sagte er nichts mehr und Firan sah auf als er sich Gemüse und Fisch mit Reis holte.

„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Gabriel...“, fing Firan schüchtern an.

Schuldig sah von Kudou zu ihm hinüber. „...aber was?“, fragte Schuldig leise. Er war nicht verärgert. Ein Blick in dieses sanfte Gesicht und sein Ärger verpuffte ins Nirvana. Wie konnte jemand... wie konnte Somi... ?

Er schob den Gedanken weit weg, als Firan zu sprechen begann.

„Sensei Sakura hat mir aufgetragen, dass ich Sie zum Essen animieren soll... Sie sagte, dass es viel Kraft erfordert Ran zu helfen.“

„Schön“, brummte Schuldig. „Ich will nicht essen nur weil sie es sagt.“

„Du bist in manchen Augenblicken noch sehr kindlich...“, sagte Kudou und Erstaunen lag in seiner Stimme.

‚Ach, Leck mich’,

‚Du leugnest es nicht und mit diesen Worten bestätigst du meine Annahme nur.’

Schuldig zog sich seine Miso wieder heran und aß sie im Eiltempo weiter.

„Ich will nicht dass noch jemand stirbt“, sagte Firan. „Er war ein Freund meines Bruders, nicht?“

Kudou grinste nur blöd und Schuldig sah sich bereits lügen...

„Ja, mehr oder weniger. Jei war ihm unheimlich.“ Er wollte Firan nicht anlügen. Schuldig sah zu Kudou hinüber der sein Grinsen etwas runtergeschraubt hatte und ihn mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht ansah.

„Was weißt du von uns, Firan?“

„Nur, dass was ich gehört habe. Schwarz und Weiß – eine Gruppe von Kritikeragenten kämpften gegeneinander. Ran gehörte zu Kritiker und mein Bruder zu Schwarz. Es ist verständlich, dass sie sich nicht so gut verstanden haben. Aber ihr seid zurückgefahren um ihnen zu helfen. Und Mr. Kudou war bei meinem Bruder. Das heißt doch, dass sie zusammengearbeitet haben. Chiyo hat gesagt sie waren Partner... wegen der Tätowierung.“

„Hmm, stimmt. Wir sind in den letzten Monaten zusammengewachsen. Nach einigen Missverständnissen und sehr viel Misstrauen.“

„Aber warum? Warum sind Sie zusammengewachsen? Wollten Sie sich gemeinsam gegen Rosenkreuz stellen?“

Schuldig holte sich ebenfalls Gemüse in seine Schale und sah kurz zu Firan hinüber, den diese Unterhaltung mehr Leben einzuhauchen schien als alles was er bisher von ihm gesehen hatte.

„Nein, damals wussten wir nichts über Rosenkreuz, darüber haben wir uns keine großen Gedanken gemacht. Bei genauerer Betrachtung wissen wir rein gar nichts über die größeren Zusammenhänge oder uns selbst. Interessiert es dich?“

Firan nickte. „Sehr ja“, sagte er und seine Augen begannen förmlich zu leuchten. Ein Lächeln zirkelte um seine Mundwinkel und Schuldig fragte sich wann dieses Gesicht das letzte Mal richtig gestrahlt hatte.

Firan würde ihm wohl kein Märchen ala Ran der kleine genmanipulierte Kater abkaufen. Da fiel ihm ein wie es wohl Takaba ging? Hoffentlich war er nicht in dem Gebäude gewesen. Es war nicht Asamis Wohnsitz gewesen, dennoch. Der kleine Fotograf trieb sich stets dort herum wo er nichts zu suchen hatte.

„Ich erzähle dir einen Teil der Geschichte, okay? Und vielleicht tut es mir auch gut.“

Firan nickte und aß langsam weiter.

„Also...Ran und ich waren... ich Glaube das Wort Feinde beschreibt es ganz gut.“

„Dann hat es mit Ihnen beiden angefangen?“

„Ja. Ich fürchte das hat es.“ Sakuras Offenbarung dabei die Finger im Spiel gehabt zu haben behielt er besser für sich. Er wusste ohnehin nicht wie er das Ran beibringen sollte, falls dieser jemals wieder erwachen sollte.

„Und wie sind Sie als Feinde jetzt zu einem... Liebespaar geworden?“ Firan war weit weniger schüchtern als Schuldig angenommen hatte.

„Ich war in einer Klink weil es mir zum damaligen Zeitpunkt nicht sehr gut ging.“

„Sie waren krank? Wir werden nicht so leicht krank.“

„Ich hatte einen Auftrag von Brad in den Sand gesetzt weil ich keinen großen Bock darauf hatte und zur Strafe hatte mich Brad in eine Klapse eingewiesen, damit ich etwas ruhiger werde.“

„Warum hat er das getan?“, fragte Firan entsetzt und ließ seine Stäbchen langsam sinken.

Schuldig winkte ab. „Um mich zu ärgern. Sie haben mich mit Zeug vollgepumpt und ich hab mich mit den Leuten etwas amüsiert.“

Er sah zu Firan und von dort zu Kudou dessen Miene ebenfalls Besorgnis wiederspiegelte.

„Jetzt seht mich nicht so besorgt an.“ Firan folgte Schuldigs Blick und sah in die Richtung in der Kudou saß.

„Eines Abends wurde ich von Weiß gekidnappt und an einen anderen Ort gebracht. Ran war mein Aufpasser und er war nicht froh darüber, dass er mich nicht umbringen durfte.“

Schuldig zuckte mit den Schultern. „Ihr hättet ihn sehen sollen... diese wütenden Augen waren nur auf mich gerichtet, so voller Zorn und Hass.“ Schuldig seufzte verträumt an die Erinnerung. Firan runzelte die Stirn. Vermutlich weil seine Stimme eine schwärmerische Färbung angenommen hatte.

„Es ist schwierig zu verstehen. Ich war schon immer von ihm fasziniert und dann war ich ihm plötzlich näher gekommen als je zuvor. Nun war er zum ersten Mal am längeren Hebel. Ich spielte etwas mit ihm bis mir klar wurde dass ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht hatte warum das alles passierte. Die Befürchtung in einem Versuchslabor von Kritiker zu landen machte mir Angst. Was dazu führte, dass ich Brad einen Hilferuf schickte. Naja sie kamen und holten mich raus. Brad wollte Ran erledigen, denn er sagte mir damals, dass Ran Ärger machen würde. Aber ich hatte noch ein Hühnchen mit Ran zu rupfen und deshalb wollte ich ihn mitnehmen.“

„Als Geisel?“

„Nein. Ja. Keine Ahnung. Ich wollte ihn nicht gehen lassen. Und ich wollte, dass er kein Gefangener mehr von Kritiker ist.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Kritiker bezahlten ihn mit Geld, welches er für die Behandlung seiner, im Koma liegenden Schwester, benötigte. Er konnte nicht aufhören für sie zu arbeiten.“

„Er war in einer Zwangslage.“

„Ja. Und er sah für mich so aus als würde er dabei draufgehen. Wenn ich zurückblicke war ich gerade dabei mich heftig in ihn zu verlieben. Aber damals wusste ich das nicht.“

„Und was dann?“

„Ich nahm ihn mit zu mir und naja... ein paar Tage später ließ ich ihn laufen. Es war schlimmer als ich dachte. Ran wankte am Rande purer Verzweiflung. Kein Ausweg war ihm geblieben, jeder Schritt den er machte trieb ihn weiter auf einen tiefen Abgrund zu. Ich wollte ihn nicht gehen lassen musste es aber damit es nicht schlimmer wurde. Ich wollte nicht schuld daran sein. Tatsächlich fühlte ich mich damals für ihn verantwortlich. Frag mich nicht warum.“

Schuldig erhob sich und holte zwei Gläser um ihnen Wasser einzuschenken.

„Hat er Ihre Gefühle erwidert?“

„Nein, bei Gott. Du musst dir vorstellen ich war so etwas wie Rans Vize-Erzfeind. Angeführt wurde die kleine interne Liste von Ran durch Takatori einem Mann dem ein Konsortium gehörte und der politisch sehr aktiv war. Er hatte Jahre zuvor Rans Eltern getötet und seine Schwester schwer verletzt. Aus diesem Grund wurde Ran zu dieser Tötungsmaschine und arbeitete fortan als Agent für Kritiker. Schwarz arbeiteten damals für Takatori.“ Eine sexy Tötungsmaschine...

„Dann haben Sie immer gegeneinander gekämpft?“

„Richtig.“

„Und als er bei Ihnen war? War es anders?“

„Nein. Es passierte viel und ich denke Ran hat mich von einer anderen Seite kennengelernt, weil er es musste. Er musste zulassen mich als Mensch zu sehen und nicht nur als irren Psychopathen.“

Schuldig setzte sich wieder.

„Ich ließ ihn laufen und wir begegneten uns tatsächlich wieder im Kampf. Ran war mehr denn je darauf aus mich zu töten. Er rieb sich dabei förmlich auf.“

„Weil er sich in Sie verliebt hatte?“

Schuldig sah ihn an. „Nein, ich glaube nicht. Ran hatte meine menschliche Seite entdeckt und es fiel ihm plötzlich einfach schwer, aber er zog die Nummer durch und ich wurde verletzt und musste ins Krankenhaus.“

„Oh Nein.“ Firan sah ihn betroffen an.

Schuldig nickte. „Ja. Und während Ran auf diesem Einsatz war starb zeitgleich seine Schwester. Das Krankenhaus konnte ihn nicht erreichen und er erfuhr es etwas später.“

„Er war frei“, sagte Firan leise.

Schuldig wurde aufmerksam. „Ja aber zieh bitte keine Parallelen zu dir und Jei. Dein Bruder hat es aus Liebe zu dir getan und nichts hätte ihn davon abhalten können.“

„Ran hat es auch aus Liebe getan.“

„Ja, aber seine Schwester war hirntot. Er hatte es nicht akzeptieren können und wollte sie am Leben erhalten. Bis zu diesem Zeitpunkt hat es funktioniert.“

Schuldig runzelte die Stirn.

Wenn sie ein Runner gewesen war... und es der gleiche Zustand in dem sich Ran jetzt befand...

...darüber musste er später nachdenken und Sakura befragen. Wenn er Ran zurückholen könnte und dieser jemals auf den Gedanken kommen würde, dass Schuldig es bei seiner Schwester ebenfalls schaffen hätte können – er würde ihm die Schuld geben. Schuldig hätte sie retten können. Und nur dieses Vielleicht würde Ran schon gegen ihn aufbringen.

‚Dann ist eure Liebe nichts wert’, meldete sich Kudou mal wieder zu Wort. Schuldig sah ihn lange an und nickte dann.

‚Mag sein. Aber ich verstehe ihn. Ich will ihn nicht verzweifelt sehen. Ich liebe ihn, egal was er davon hält.’

Kudou schüttelte den Kopf. ‚So funktioniert es nicht.’

„Was passierte dann?“, lenkte Firan ihn von Kudous unqualifizierter Meinung ab.

„Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde ging ich nach Hause. Es schneite wie verrückt.“ Schuldig verstummte, er hatte einen Kloß im Hals.

„Vor meinem Wohnblock standen ein paar Bänke und als ich näher kam saß dort halb eingeschneit jemand. Es war Ran. Er war zurückgekommen damit ich ihn tötete. Er hatte niemanden mehr außer mir.“

„Das ist so traurig.“ Firans Gesicht drückte die Trauer aus die er selbst über diese Tatsache immer noch in sich trug.

„Ich nahm ihn mit und natürlich kümmerte ich mich um ihn und versuchte es beim zweiten Mal besser zu machen. Es ging ihm sehr schlecht. Und naja es dauerte noch etwas bis wir uns weiter annäherten. Ran blieb bei mir und der Rest von Schwarz musste sich damit arrangieren. Und auch die Jungs von Weiß mussten damit Leben, dass Ran bei den Feinden einzog. Kritiker suchten ihn und dann später bekamen wir Besuch von Sin, einer Gruppe Killer, die der Clan versammelt hatte, aber das erzähle ich dir ein anderes Mal, ja?“

Firan nickte. „Wie lange sind Sie mit Ran zusammen?

„Genau kann ich dir das nicht sagen. Aber das Ganze ging Anfang Dezember los.“

Schuldig wusste keine richtige Antwort. Seit wann war er mit Ran zusammen?

Ab wann war man überhaupt ‚zusammen’? Ab dem ersten Fick? Oder erst wenn man zum ersten Mal sein Herz ausschüttete? Oder das erste Mal vor seinem Partner heulte? Oder wenn er einzog? Wenn man ihm einen Ring schenkte? Wenn er einen Teddy wieder zusammenflickte? Wenn er in dem eigenen Bett schlief? Wenn man ihn fütterte? Wenn man ihn badete? Ab wann? Wenn man seine Wunden verarztete?

Vielleicht war es der Zeitpunkt an dem man sich so verzweifelt liebte, dass man sich gegenseitig das Herz herausreißen könnte.

Und jetzt riss Ran schon wieder ein Stückchen seines Herzens heraus. Seinen Verstand hatte er schon in die Luft geblasen.

„Dann ist es bald ein Jahr.“

Schuldig nickte. Das beste Jahr seines Lebens.

Er sah Firan an.

„Du wirst doch nichts Dummes machen, Firan?“

Firan sah schnell auf. „Was... meinen Sie?“

„Du weißt was ich meine. Durch deine Berührung hat es eine Rückkopplung gegeben. Ich kenne deine Gedanken bis zu diesem Zeitpunkt. Zumindest die, die einen selbstzerstörerischen Charakter besitzen.“

Firan legte die Stäbchen endgültig ab, lehnte sich zurück und seine Hände in den Schoß. Er sah auf sein Essen.

„Sobald ich darüber nachdenke was Somi getan hat, mir angetan hat, und mir ansehe wie mein Bruder aussieht, wie ich hätte aussehen sollen... ich fühlte es nicht und doch liegt dieser Schmutz auf mir.“

„Nur wenn du es zulässt.“

„Und die vielen Anderen?“ Firan sah ihn an und in diesem Blick konnte Schuldig einen altbekannten Blick sehen. Er sah in ihm Jei - zum Teil.

„Wir werden Somi dafür zahlen lassen. Auf die eine oder andere Art. Nur... ich habe erlebt wie stark seine Lakaien sind und ich sage dir eines Firan – das wird nicht einfach. Du hast es selbst gesagt, starke PSI unterdrücken die schwachen.“

Firans Blick änderte sich und wurde ängstlicher, so als hätte er sich daran erinnert, dass er eigentlich so nicht mit ihm reden durfte.

„Firan, hör auf mich so anzusehen. Ich bin dein Freund, schon vergessen?“

„Nein“, sagte er leise. „Ich habe es nicht vergessen.“ Er nickte und sah ihn offen an. „Es ist schön Freunde zu haben. Ich bin es nicht gewohnt. Im Orden war es wichtiger Niemandem sein Vertrauen zu schenken, und wenn... dann nur um eine temporäre Allianz für ein Problem zu bilden. Wenn überall Spione lauern verbirgt man am Besten das was man denkt oder fühlt. Ohne die Hilfe meines Bruders hätte ich nicht lange überlebt. Telepathen und Empathen kreisen um einen wie Raubtiere.“

„Mach nur nichts Dummes. Ich sage dir jetzt nicht, dass Jei das nicht gewollt hätte.“

„Ich weiß, ich bin es ihm schuldig.“

Schuldig legte seinerseits die Stäbchen zur Seite. „Schuld. Ein nerviges Wort. Du bist ihm nichts schuldig. Diese vermeintliche Schuld wird dich auffressen und dich genau dorthin führen wo Jei dich nicht mehr sehen wollte.“ Schuldig schüttelte den Kopf und lachte mit Bitterkeit in der Stimme. Er sah Firan eindringlich an. „Nein... du schuldest ihm nichts. Rein gar nichts. Aber du könntest seine Bemühungen um dich ehren, indem du auf dich achtest.“

Firan Augen füllten sich mit Tränen und er nickte auf sein Essen starrend. Seine Schultern waren zusammengesunken.

„Ich weiß nicht wie“, kam nach einer Weile mit tränenerstickter Stimme.

„Wie du auf dich achten sollst?“

Firan nickte und schniefte etwas.

„Es ist so leer“, sagte er leise. „Ich wünschte, ich wünschte ich wäre noch dort und... und... mein Bruder würde dann noch leben.“

„Die Zeit zurückdrehen?“

Firan antwortete darauf nicht.

„Nein, Firan. Wir dürfen nicht zurückgehen. Dort ist es einsam.“

„Ich war nicht einsam. Jetzt bin ich es.“

Schuldig sagte dazu nichts. Firan war Empath, egal wie schwach er sein mochte. Gerade Empathen brauchten körperliche Nähe wie die Luft zum Atmen – wie jeder PSI. Firan dies mit Gewalt und Missbrauch zu ersetzen war pure Folter. Gerade weil er sich nicht wehren konnte. Das Gesicht von Kitamura kreiselte in seine Gedanken und es hatte Ran benötigt...

Ran hatte ihm diese Erinnerung zurückgegeben...

Schuldig runzelte die Stirn. Ran hatte ihm die Erinnerung zurückgegeben. Konnten Runner dies? Hatte Ran unbewusst etwas getan? Oder war es Zufall gewesen?

Er erhob sich und ging neben Firan in die Hocke um seine Hände in die Seinen zu nehmen. Sanft umschloss er die Hände des Empathen und sah ihn an.

„Was übertrage ich?“

Firan lächelte ihn voller Güte und aber auch Trauer an. „Trauer und Einsamkeit. Furcht und Wut. Verwirrung...“ Schuldig nickte und erwiderte Firans Lächeln. „Und noch so einiges anderes, ich weiß. Ich muss über etwas nachdenken was mir gerade eingefallen ist.

Du warst früher einsam, jetzt fühlt es sich an als wärst du verlassen von allen. Aber Firan ich bin da. Und Ran ebenso... wenn der Herr seinen Arsch von dort wieder hierher bewegen würde wo er sich gerade aufhält. Wir können dir dieses Band, das du mit deinen Bruder geteilt hast nicht wieder herstellen. Es ist verloren und das für immer. Und es schmerzt. Und dieser Schmerz wird nicht so leicht weggehen.“

Firan nickte nur und brach vollends in Tränen aus. Er weinte so verzweifelt und Schuldig hatte selbst Tränen in den Augen. Jei hatte nie so geweint. Niemals.

Das war Firan. Und er klammerte sich an Schuldig fest. Schuldig zog an den Händen und Firan ließ sich ziehen. „Komm zu mir“, sagte Schuldig sanft und holte Firan zu sich auf den Boden und zog ihn auf seine Oberschenkel. Firan schmiegte sich ganz dicht an ihn und zitterte. Schuldig streichelte ihm über den dunklen Haarschopf. Kudou hatte sich verzogen, wahrscheinlich war es dem Schnüffler zu emotional geworden. Oder er konnte nicht mitansehen wie er Ran betrog, während dieser mit seinem Leben rang.

‚Nein, so ist es nicht. Manchmal bin ich erstaunt wie kindlich du bist und dann wieder sehr weise. Obwohl du keine Ahnung über das hast was du kannst und was du bist wendest du es instinktiv an. Ich gebe dir den Raum dafür’, merkte Kudou an ohne sichtbar für ihn zu werden.

‚Sicher bin ich weise!’, behauptete Schuldig ironisch.

Schuldig streichelte Firan beruhigend über den Rücken. Als sie aufstanden streifte Schuldigs Blick die Uhr. Sie waren doch vierzig Minuten gesessen aber es hatte sich gelohnt. Firan wirkte etwas offener. Druckabbau war immer gut. Nur... wenn es tatsächlich ein Band gewesen war das Jei und Firan verbunden hatte und welches nun verschwunden war, was würde dann aus Firan werden?
 

Zusammen sorgten sie für Ordnung. „Ich gehe wieder zu Ran.“ Firan faltete ein Geschirrtuch. „Ja, wollen Sie versuchen ihn zurückzuholen? Sensei Sakura hat gesagt was mit ihm ist.“

„Ja, aber ich weiß nicht ob ich es hinkriege. Und ich denke wir sind über die förmliche Anrede bereits hinaus, meinst du nicht, Firan?“ Schuldig lächelte und Firan nickte.

Schuldig verließ das Gästehaus und trottete über den überdachten Übergang in das Haupthaus und stellte fest, dass es aufgehört hatte zu schneien und die Flocken kaum mehr zu sehen waren. Der Boden war wohl noch zu warm dafür.

Im Krankenzimmer angekommen begrüßte er Sasuke und Sakura die bei Ran saßen.

Sakura strich ihm über die Stirn und die Haare und hatte die Augen geschlossen. Sie öffnete sie als sie Schuldig bemerkte.

„Er ist unten angekommen“, sagte sie und Schuldig erfasste so etwas wie Panik, zeigte sie jedoch nicht.

„Kann ich mit ihm allein sein?“

Sie erhoben sich beide.

„Sein Zustand ist im Augenblick mit unseren Maßnahmen stabil.“

Schuldig nickte. Sasuke und Sakura verließen den Raum. Als beide draußen waren rutschte er Ran etwas zur Seite, klappte die seitliche Bettbegrenzung auf dieser Seite hoch, zog seine Stiefel aus und legte sich neben Ran. Er bettete ihn an sich und schob seinen Arm unter Rans Nacken um seinen Kopf näher bei sich zu haben. Dann lehnte er seine Stirn an Rans Schläfe.

„Willst du es noch einmal versuchen?“, hörte er Kudou wieder und sah diesen am Fenster lehnen, als er an Rans Haar vorbei linste.

„Ja, ich weiß nur nicht wie. Aber ich muss etwas tun.“

„Ich weiß wie es geht, wenn du mich lässt helfe ich dir“, offerierte Kudou und Schuldig seufzte in Rans Haar hinein. Wie sehr er seinen Geruch doch liebte und diese blitzenden Augen vermisste, die ihn so herrlich böse anfunkeln konnten. Die ihn in seine Schranken weißen wollten und das auch konnten.

„Mein Hirn bietet mir an über mich hinaus zu wachsen?“

„Was kann es sonst für dich tun?“

„Laber nicht. Lass es uns tun.“

„Das klingt schmutzig.“

„Mit dir nicht mehr, Schnüffler.“

Kudou seufzte.

Schuldig schloss die Augen, schmiegte sich dicht an Ran und ließ sich bis vor diese verdammt hohen Mauern gleiten. Neben ihm erschien Kudou plötzlich.

„Wie soll das funktionieren? Mit Gewalt? Ich werde ihm nicht wehtun.“

„Wenn du ihm nicht weh tust stirbt er.“

Das war ein gutes Argument.

„Visualisiere dich, kannst du das?“

Er hatte das bei De la Croix gelernt, aber das war lange her.

„Wie in einem Traumgebilde?“

„Ja.“

Schuldig erschuf ein Abbild von sich in Rans Gedankenwelt, neben ihm tauchte Kudou auf. Er trug komplett weiße Kleidung, die eher wie Krankenhauskleidung aussah. Ein Oberteil und eine Hose, das wars.

„Keine Op-Schuhe?“

„Nein, obwohl es eine schwierige Operation wird, da muss ich dir zu diesem Vergleich zustimmen.“

Schuldig fand es seltsam, warum sollte sein Gehirn Yohji solche Klamotten anziehen? Wegen der Assoziation mit einer Operation? Er spielte wirklich verrückt.

„Was bin ich dann, dein Assistent?“

„Nein“, Kudou sah ihn an und seine Augen waren wieder in diesem falschen Grün.

„... du bist das Instrument.“

Schuldig verstand es nicht, aber er sah wieder zur Mauer zurück.

„Ich visualisiere für dich die Umgebung.“

„Aha.“

Die hohe Barriere wurde für Schuldig sichtbar.

„Und jetzt visualisiere die Struktur dieser... Grenze.“

„Oh Wow. So habe ich diese Mauer noch nie gesehen.“ Hexagonale Platten erschienen vor seinen Augen. „Wie Waben.“

„Ja, so ähnlich. Ein Zweidimensionales Abbild. Aber es sind Ebenen. Jede Ebene ist großflächiger. Unter dieser Ebene die wir momentan sehen ist eine andere hexagonale und so weiter. Machen wir weiter.“

Kudou sah zu ihm hinüber und Schuldig nickte.

„Gut. Jetzt berühre sie.“

„Das habe ich schon hundert Mal, ich komm nicht durch.“

„Tu mir den Gefallen.“

Schuldig berührte mit der Handfläche die Struktur die wie Glas aussah. Sie gab nach. Er zog sofort die Hand weg.

„Was zum...“

„Das kommt von der Visualisierung. Es ist nicht nur wie in einem Traum. Zu visualisieren bedeutet in... deinem Fall, dass du der vorherrschenden Energiestruktur Form und Substanz gibst. Damit kannst du ihre Eigenschaften besser erkennen.“

Schuldig berührte wieder das Glas und drückte erneut dagegen.

„Nimm deine zweite Hand hinzu und zieh es auseinander.“

„Nein, es wird zerstört.“

„Das wird es nicht. Dort wo eine Fläche die andere berührt. Es kann von dir nicht zerstört werden. Sieh genau hin.“

Schuldig ging näher und betrachtete sich das Material. Feine Strukturen hielten die einzelnen Flächen zusammen.

„Visualisiere die Verbindung der Flächen.“

„Zoomen?“

Irritiert sah Kudou ihn an. „Von mir aus. Zoome nur die Verbindung heran.“

Das Gebilde wurde größer und er sah wie die hexagonalen Flächen verbunden waren. Wie Spinnweben gingen sie waagrecht von einer Fläche zur nächsten und wieder zurück. Ein elastischer Kitt der golden schimmerte.

Schuldig berührte die filigranen Fäden und eine Entladung erstreckte sich über angrenzende Felder, der Lichterreigen erlosch aber sofort wieder. „Was ist das? Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

„Du hast es nicht visualisiert. Und du wusstest nicht wonach zu suchen sollst.“

„Und wie hilft uns das jetzt?“

„Es ist eure Verbindung. Er hat damit seine Abwehr verstärkt.“

„Oh, dann ist es ja ganz einfach.“

Schuldig berührte wieder die Fäden und glitt einfach durch sie hindurch. Ein goldener Schimmer legte sich um sie bis er nach und nach erlosch.

„Wieso erkenne ich sie nicht?“

„Ohne die Visualisierung erkennst du die Strukturen nicht und siehst nur das Bollwerk. Wenn es dir undurchdringlich erscheint ist es das auch.“

„Warst du hier schon einmal?“, fragte Kudou.

„Ja und Nein.“ Sie ließen sich treiben.

„Das ist nicht anders als sonst. Wo soll ich Ran suchen? Seine Erinnerungen treiben an uns vorbei. Ich finde keinen Weg.“

„Visualisiere und nun nimm eine auditive Wahrnehmungskomponente hinzu.“

Schuldig schloss die Augen und konzentrierte sich. Plötzlich hörte er eine Stimme und er riss die Augen auf, als das Flüstern abnahm und sie sich von ihm wegbewegte. Er sah sich um. Nichts zu sehen. Dann rauschten weitere Stimmfetzen an ihm vorbei. Ein dunkles Lachen das förmlich an ihm vorbeifegte. Und überall dem lag ein Hintergrundrauschen, welches er kaum erfassen konnte. Sphärisch und als hörte er gleichzeitig mehrere Echos. Er hatte noch nie wirklich etwas „gehört“ wenn er in die Gedanken der Menschen eingedrungen war. Es war eine ehrfurchtgebietende Welt, die er hier betreten hatte.

„Das sind nur Echos seiner Erinnerungen.“

„Kopien? Ich habe mich all die Jahre mit blöden Kopien zufriedengegeben?“

„Ja, die Originale sind sehr wertvoll, werden sie beschädigt sind sie fort - für immer. Menschen können nur an die Echos herankommen wenn sie sich erinnern. Eine organische Zerstörung würde auch die Originale beschädigen.“

„Und jetzt?“

„Wir müssen weiter.“

Sie schwebten auf einen matten Schimmer in der Dunkelheit zu. Kudou und er selbst erzeugten ein fahles goldenes Licht.

„Visualisiere.“

Schuldig konzentrierte sich darauf ihre Umgebung sichtbar zu machen. Unter seinen Füßen tauchten schemenhafte kreisförmige helle Flecken auf die von weiter in der Tiefe durch die Oberfläche näher zu kommen schienen. Der Kreis wurde größer und Schuldig fragte sich was das wohl sein mochte.

„Pass auf, verdammt“, rief Kudou und Schuldig sah auf. Vor Kudou ragte plötzlich ein riesiger Stab heraus oder ein Dorn oder was auch immer. Er schoss durch die Oberfläche in dieses grenzenlos scheinende dunkle Dach hinauf. Schuldig sah unter sich und sprang zur Seite als das Gebilde näher kam und schlussendlich mit einem ohrenbetäubenden Krachen durch die sich spiegelnde Oberfläche hinauf schoss. Es rieb sich förmlich am Rand, splitterte und barst.

„Was ist das?“

„Nach was sieht es für dich aus?“, fragte Kudou.

„Weiß ich nicht. Metall? Es hört sich an, als würde es brechen, bersten.“

„Ja, es kreischt wenn es durchbricht. Kannst du das aushalten?“

Schuldig nickte. Um ihn herum schossen diese Gebilde durch die Oberfläche, sie hatten vom Umfang her ungefähr seine Maße, ihre Länge jedoch war kaum zu bestimmen.

Sie sahen zu dass sie weiter kamen. Hin und wieder musste Schuldig seine Visualisierung erneuen, aber es blieb bei den Metalldornen die aus dem Boden schossen.

„Wohin gehen wir?“

„Wohin du willst.“

„Ich will dorthin wo Ran ist.“

„Gut, dann gehen wir wohl dort hin.“

„Bist du dir sicher?“

„Nicht ich muss sicher sein, sondern du.“

„Großartig.“

Schuldig wusste nicht wohin. „Ran! Verdammt, wo bist du?“

Sie gingen weiter, ohne dass Schuldig eine Antwort erhielt und achteten darauf, nicht von den Metalldornen erwischt zu werden.

„Was passiert wenn wir von denen getroffen werden?“

„Du bist draußen und darfst von vorne anfangen.“

„Das sind Abwehrmaßnahmen?“

„So ist es. Allerdings noch vergleichsweise harmlose, sie sind nicht zielgerichtet würde ich sagen“, sagte Kudou mit einem hämischen Lächeln und dem Blick auf eine der Dornen gerichtet.

„Das heißt, es wird schlimmer?“

„Selbstverständlich. Du bist in den Erinnerungen eines Runners. Das ist als hättest du eine ganz andere Welt betreten. Eine sehr gefährliche Welt und wenn der Herr dieser Welt nicht zufrieden mit dir ist wird es selbst für dich gefährlich. War er je böse mit dir?“, fragte Kudou allen Ernstes und Schuldig sah mit gewittrigen Gedanken auf. Kudou präsentierte ihm ein hinterhältiges Lächeln und amüsiert blitzende jadefarbene Augen.

„Du findest das wohl alles sehr komisch, Schnüffler. Und deine Augen sind falsch. Bist du daher auch falsch?“, schoss er mürrisch ab ging jedoch weiter.

„Nicht komisch. Unterhaltsam.“

Schuldig sprang zur Seite als ein Dorn durch die Oberfläche brach und mit kreischendem Getöse sich am Rand rieb und nach oben schoss. „Das war knapp.“

Dann hörte er etwas und er wandte den Kopf in diese Richtung. Jemand sang. Eine Frauenstimme. Er ging schnell darauf zu.

„Nicht so schnell.“

Die Stimme wurde etwas deutlicher, war aber immer noch nicht sehr gut zu hören.

Und plötzlich schoss von unten ein weiterer Dorn nach oben und Schuldig konnte nicht mehr ausweichen. Das Metall pulverisierte ihn, oder nicht?

Er konnte immer noch wahrnehmen. Dennoch zerfiel alles in kleine Teile. Dann setzte sich alles wieder zusammen und er sah sich um. Alles war ohne Tiefe ohne Raum. „Visualisiere“, hörte er leise Kudous Stimme.

Schuldig konzentrierte sich und aus dem Nichts tauchten Gebilde auf. Es waren weiße Kreuze, die inmitten von ... was standen... Blut? Wild verteilt und mannshoch angeordnet. Schuldig sah auf seine nackten Füße, als ihn etwas kitzelte. Es war warm. Und es war Blut. Er bückte sich und berührte die Flüssigkeit mit seinen Fingern. Er prüfte die Konsistenz zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Das war Blut. Er hob die Finger an die Nase. Und es roch auch so. Es quoll aus dem Boden hervor. Jetzt erst wurde ihm bewusst dass es förmlich danach stank.

„Blende es aus“, riet ihm Kudou.

Schuldig hielt den Unterarm vor die Nase.

„Hör auf dich wie draußen zu benehmen. Nur deshalb hat es einen intensiven Geruch erhalten. Stell es ab und messe dem weniger Bedeutung zu.“

Schuldig sah sich um und er musste schlucken da ihm übel wurde. Wie konnte er dem weniger Bedeutung zu messen?

Er ging also los durch all das Blut und er sah gelegentlich auf seine Füße, die davon benetzt waren, ebenso die weiße Hose die sich bereits bis zu den Knien vollgesogen hatte, so als wolle das Blut an ihm hochkriechen. Keine schöne Aussicht.
 

Der Weg den sie sich durch die Kreuze suchten war willkürlich. Schuldig hoffte wieder den Gesang zu hören. Doch vorerst war nichts zu hören.

Und dann sah er eine Gestalt inmitten eines größeren Areals ohne Kreuze, in einiger Entfernung ein wahrer Berg an weißen Kreuzen. Auf diesem Berg lagen Körperteile oder Ähnliches.

Wenn er ihn hätte bemessen würde hätte Schuldig gesagt, er war aus der Distanz mindestens zwanzig Meter hoch.

Schuldig konzentrierte sich wieder auf die Gestalt die im Begriff war darauf zuzugehen doch Etwas schien sie daran zu hindern. Metallisch schimmernde Fäden sirrten im Wind und wurden nur durch Spiegelung sichtbar. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen und umschlangen ihn, sie hielten ihn davon ab näher zu gelangen. Er wehrte sich vehement dagegen, er riss und zerrte an dieser Fesselung konnte aber nichts dagegen ausrichten.

Das war Ran, mit kurzen Haaren, wie er ihm damals bei Weiß begegnet war.

„Ran!“

Der Glasgarten Teil II

Der Glasgarten Teil II
 


 


 

Schuldig ging zügig auf Ran zu. „Nein!“, rief ihn Kudou zurück doch Schuldig hatte nur Augen für diese gequälte Erscheinung. „Verdammt komm zurück“, rief ihn erneut Kudou.

Da wurde Ran auf ihn aufmerksam und drehte sich zu ihm um soweit es die Fäden zuließen. Schuldig stoppte augenblicklich als er Rans Gesicht sah. Es war völlig verzerrt zu einer tierisch verzweifelten Fratze verzogen. Sein Mund wirkte etwas zu groß, die Augen voller Hass auf ihn gerichtet. Er schrie ihn plötzlich an und wehrte sich noch heftiger gegen die Fesseln die ihn hielten. Er riss stärker als zuvor an ihnen und sie begannen sein weißes Hemd aufzureißen. Blut quoll daraus hervor. Schuldig schüttelte den Kopf. Ran so zu sehen schmerzte ihn.

Kudou trat neben ihn.

„Wir können froh sein, dass er gefesselt ist.“

„Was?“, keuchte Schuldig und starrte fast blind auf dieses entsetzliche Bild.

„Ich will ihn befreien.“

„Nein. Er wird in Schach gehalten. Das ist gut so.“

„Was, warum?“

„Erkennst du nicht wo wir sind?“

„Ähm in seinen Erinnerungen?“

„Ja, aber darin in seiner Gefühlswelt.“

Schuldig wischte sich die Tränen von den Wangen. Er holte tief Luft.

„Was passiert wenn ich ihn berühre?“

„Er verschwindet für immer.“

„Ich kann dieses Gefühl auslöschen... für immer?“

„Denk nicht einmal daran. Das ist ein Teil seiner Persönlichkeit. Erinnere dich daran wie ihr euch begegnet seid. War es nicht genau dieser Teil von ihm der dir begegnet ist?“

Schuldig verzog das Gesicht zu einer unglücklichen Maske.

Tatsächlich waren es dieses Gefühle, die Ran für ihn interessant gemacht hatten: Schuld und Scham. Hilflosigkeit, Rache und Wut. Und diese gequälte, gefesselte Seele...

Er konnte sie ihm nicht nehmen, weil Ran damit leben musste. Er würde ihm einen Teil seines Weges herausschneiden.

„Was jetzt?“

„Wir müssen den Auslöser finden.“

„Was ist das?“

„Eine Art Verbindung zum nächsten Bereich.“

„Er wird von Fäden gehalten die an den Kreuzen fixiert sind.“

„An ihnen müssen wir vorbei. Dort hin.“

Kudou zeigte auf den Berg aus Kreuzen.

Es hielten ein paar Meter Abstand zu dem verzweifelten und wütenden Abbild von Ran. Schuldig schlängelte sich unter oder über den Fäden vorbei und hatte es fast geschafft als ein leises Ping ihn innehalten ließ. Einer der Fäden war gerissen als er ihn mit dem Knie berührt hatte. Das hatte aber keine große Auswirkung, Ran riss nur mehr heftiger an den verbliebenen Fäden was ihm aber keine Freiheit schenkte.

„Was passiert wenn er auf mich losgeht?“

„Er wird dich berühren. Das wirft uns hinaus. Wenn du ihn dagegen berührst um dich zu verteidigen vernichtest du ihn.“

„Warum?“

„Weil der Teil in dir der Strukturen auflöst momentan aktiv ist, sonst könnten wir hier nicht eindringen.“

„Du meinst der... Reaper?“

„Ja.“

Sie waren durch die Fäden gelangt und sahen den Berg hinauf.

„Kann ich nicht den Healer aktivieren? Das andere Ding?“

„Das würde uns zum jetzigen Zeitpunkt gefährden.“

„Warum?“

„Weil wir sonst nicht weiterkommen. Hier ist alles in einem gesunden Zustand. Um den Healer einzusetzen müsstest du zuvor etwas zerstören. Siehst du etwas dass du zerstören willst?“

„Ehrlich gesagt alles.“

Kudou seufzte und kletterte voran.

„Was ist mit meinen Füßen?“

„Sie berühren nicht wirklich den Grund. Dieser Eindruck entsteht weil du den Boden visualisiert hast. Du hast dir selbst einen Raum erschaffen um dich orientieren zu können.“

Schuldig hatte einen Fuß auf einen Querbalken eines Kreuzes gesetzt als dieses Gebilde ins Wanken geriet und zwischen den Weißen Kreuzen und den Körperteilen die er langsam zu erkennen glaubte Blut hervorquoll. Er hörte den Gesang wieder und blickte sich um. Kudou kam zurück zu ihm und sah auf etwas hinter ihm. Schuldig drehte sich um und direkt hinter ihm tauchte aus der Blutmasse eine Gestalt auf. Etwa im Jugendalter, aber eindeutig Ran. Allerdings komplett aus Blut. Die Masse hielt die Form auf ihm und lief auch nicht nach unten.

„Du darfst hier nicht sein.“

Schuldig nickte.

„Was willst du hier?“ Die Stimme war arglos und neugierig.

„Ich will Ran zurückholen.“

„Bin ich verloren gegangen?“

„Ja.“

„Dann finde mich.“

„Das will ich.“

„Warum?“

„Weil ich ihn liebe.“

„Liebe? Das kenne ich.“

Das Blutding, das wie Ran aussah lachte und verschwand wieder nach unten mit einem Platschen. Es spritzte nach oben und saute ihn ein.

Schuldig wandte sich zu Kudou um. „Das war...“ Etwas zog an seinem Knöchel und riss ihn plötzlich in die Tiefe. Er streckte seine Hand nach Kudou aus, konnte sie aber nicht mehr fassen bevor es finster um ihn herum wurde. Der Gesang erklang erneut bevor das Lachen leiser wurde und mit dem Gesang verhallte.

Wo zum Teufel war er?

„Kudou?“

Es kam keine Antwort.

Dann musste er sich an seine Anweisungen halten. Er musste visualisieren.

Alles wurde plötzlich sehr hell in schimmernde Pastelltöne getaucht. Wow. Er hasste Pastelltöne. Es gab kein oben und kein unten.
 

Er schwebte eine geraume Zeit vor sich hin, doch irgendwie passierte rein gar nichts. Als er die Augen schloss erschrak er und riss sie prompt wieder auf. Shit er durfte hier nicht einpennen.

Als er aufschrak stellte er fest, dass er Boden unter sich hatte und über sich einen blauen Himmel. Er setzte sich auf und sah sich um. Er war an einem Strand. Der pudrige Sand schob sich zwischen seine Zehen und das Meer rauschte und war endlos am Horizont zu sehen. Hinter ihm waren Palmen. Das Blut in seiner Kleidung war verschwunden.

Er hörte ein Glöckchen und wandte sich dem zu und nahm seine Suche auf. Irgendwo würde ihn dieses Glöckchen hinführen. Er sah etwas Glitzerndes ins Unterholz verschwinden. War das eine Katze gewesen?! Banshee?

Er schien auf dem richtigen Weg zu sein.

„Warte“, hörte er und drehte sich wieder um. Kudou stand hinter ihm, in kurzen Hosen, Strandlatschen und einem Shirt auf dem ein Smiley ihm die Zunge herausstreckte.

„Hast dir Zeit gelassen.“

„Zeit existiert hier nicht.“

„Ja, klar du weißt schon was ich meine.“

„Hmm“, brummte Kudou.

Das Glöckchen ertönte wieder und Schuldig nahm seinen Weg in diese Richtung wieder auf. Unterwegs fand er etwas auf dem Boden und sah es sich genauer an, er widerstand der Versuchung die weiße Feder aufzunehmen.

Sie kamen an einem Wasserfall vorbei. Sie fanden erneut Federn. Teilweise waren sie so lang wie sein Arm.

„Ist das der Grund?“

„Warum glaubst du er ist es?“

„Keine Ahnung... weil es hier sehr idyllisch ist. Fluffipuffi – Idyllisch. Wenn jetzt noch rosa Häschen herumspringen und sprechende Teddybären würde es mich nicht wundern.“

„Ich bin mir nicht sicher was das ist, aber der Grund nicht“, sagte Kudou nachdenklich.

Sie kamen auf einen Weg und gingen ihn entlang. Aus der Ferne konnten sie im Dickicht der Palmen und anderen Gewächse eine Lichtung erkennen. Schuldig blieb stehen als sie näher kamen. „Das sieht komisch aus.“

„Lass uns näher gehen.“

Schuldig zog ein düsteres Gesicht. Irgendetwas sagte ihm, dass ihm das hier nicht gefallen würde.

Sie konnten durch das Dickicht Metall erkennen. Als sie hindurchtraten und auf die Lichtung traten standen sie vor einem großen quadratischen Käfig.

„Ich weiß was das ist“, sagte Kudou gut gelaunt als hätte er den Hauptpreis in einem Ausschreiben gewonnen.

„Ah ja? Erzähl“, sagte Schuldig langsam und skeptisch. Er war sich nicht sicher ob das gut war was sie im Käfig fanden.

„Sein geheimer Ort. Seine Schatzinsel.“

Kudou sah nach oben und Schuldig ging etwas näher. Im Käfig lag ein Mann mit orangefarbenen langen Haaren und weißen Flügeln, wirklich großen Flügeln. Er lag auf dem Bauch und schlief, die Flügel lagen angeschmiegt auf dem Boden und zitterten leicht bei jedem Atemzug.

„Das bist du, sieh nur“, sagte Kudou erfreut über den friedlich schlafenden Kerl der Schuldigs Kopie war. Um seine Gelenke lagen Metallfesseln die über dünne Ketten zu den Metallgittern führten. Eine gläserne... was... Katze fauchte ihn von außerhalb des Käfigs an, doch der schlafende Mann reagierte nicht darauf.

„Was soll das?“, fragte Schuldig gedehnt.

„Du bist sein größter Schatz.“

„Das habe ich verstanden, Klugscheißer. Aber das hier sieht etwas martialisch aus.“

„Er hat Angst dich zu verlieren, also hat er dich für sich gesichert.“

„Können wir ihn aufwecken.“

„Das wäre keine gute Idee. Wir müssen ohnehin hier weg.“

„Warum?“

„Weil wir hier nicht zu lange verweilen dürfen. Ran könnte denken, dass sein größter Schatz in Gefahr ist und Gegenmaßnahmen einleiten. Lass uns von hier verschwinden.“

Schuldig folgte Kudou und sie gingen zurück zum Wasserfall. „Ich weiß nicht, ob ich geschmeichelt sein soll, dass ich sein größter Schatz bin, oder mir um ihn oder um mich Sorgen machen soll.“

Kudou ging voran und sie kamen wieder zu dem Wasserfall.

„Gefällt es dir nicht, dass er dich so sieht?“

Schuldig schmälerte seinen Blick und verzog den Mund mürrisch. „Ich weiß dass er Verlustängste hat...“

„Gab es keine Situationen in denen er sich kontrollierend verhalten hat?“

„Sicher gab es die. Das war manchmal auch nötig.“

„Warum sorgst du dich dann?“

„EIN ENGEL? Im Ernst? Weiße Flügel? Wirklich?“

Kudou sah ihn erstaunt an und lachte dann schallend. Das war irgendwie untypisch für ihn.

„Das ist entwürdigend!“, fauchte Schuldig diesen lachenden Lackaffen an.

„Findest du?“

„Ja, verdammt finde ich. Hätten es nicht wenigstens schwarze Flügel sein können? Das wäre ja noch irgendwie gegangen, aber weiße?“

„Es sah sehr unschuldig aus.“

Schuldig schnaubte. „Ja“, sagte er gedehnt. „Un-Schuldig trifft es genau.“

Kudou ging in das Wasser hinein und näherte sich dem Wasserfall während Schuldig weiter am Ufer stand und vor sich hin grübelte.

Aus der Ferne war plötzlich ein Geräusch zu hören als würden filigrane Ketten gegen Metall schlagen. Schuldig drehte sich um.

„Komm mit, wir sollten jetzt wirklich abhauen.“

„Mich würde interessieren wie dieser Engel so ist“, flüsterte Schuldig und er richtete seinen Blick in die Richtung aus der sie gekommen waren. Er versicherte sich, dass Kudou nicht sah wie er sich dorthin aufmachte und verschwand wieder im Dickicht. Die Lichtung kam wieder in Sicht und er lugte durch das Blätterwerk.

Im Käfig hatte sich etwas getan. Schuldig wurde von dem Wesen welches sich dort eingefunden wie magisch angezogen. Es schien aus geschliffenem Glas zu bestehen, so filigran und zerbrechlich wirkend, dass sich Schuldig nicht vorstellen konnte wie es sich bewegen konnte. Es war durchscheinend und doch nicht. Das war Ran. Es stand dort und sah auf das Federvieh, dass wie Schuldig aussah hinunter. Ein Flügel hob sich und Ran ging in die Hocke um sich dann unter den Flügel zu legen und sich an diesen Schuldig zu schmiegen. Sein Doppelgänger im Käfig hielt die Augen immer noch geschlossen und von Ran war nur mehr der Kopf zu sehen. Schuldig wollte näher treten und machte einen Schritt aus dem Dickicht heraus. Der Flügel hob sich ruckartig und plötzlich sah er sich konfrontiert mit einem kristallinen Ran der ihn direkt ansah und soweit Schuldig das erkennen konnte war er nicht begeistert. Seine Augen waren schwarz und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er kannte diesen Gesichtsausdruck: Ran war sauer. Das konnte er selbst auf die paar Meter Entfernung erkennen. Der Käfig zitterte.

Schuldig spürte, dass er nicht hier sein sollte. Er nahm die Beine in die Hand und rannte zurück. Kudou stand noch immer im Wasser als Schuldig hinein rannte.

„Wir müssen weg.“

„Das sage ich die ganze Zeit.“

„Schneller meine ich.“

„Was hast du getan?“

„Nichts. Aber ich habe ETWAS gestört und...“

Kudou sah in die Richtung der Lichtung und drehte sich rasch zum Wasserfall um.

„Verstehe. Los komm...“

„Müssen wir hinter den Wasserfall?“, fragte Schuldig. Das hatte tatsächlich etwas von einer Schatzinsel...

„Nein, lass dich nach unten ziehen.“

Schuldig tauchte und ließ sich vom herabstürzenden Wasser nach unten drängen. Es prasselte so heftig auf ihn ein, dass er glaubte ertrinken zu müssen.

‚Lass los, du klammerst dich an diesem Bereich fest.’

‚Tu ich nicht!’

‚Du tust es. Lass los.’

‚Wie?’

‚Ertrinke.’

Schuldig öffnete den Mund und ließ das Wasser ein. Er hatte nicht das Gefühl zu sterben und ihm war klar, dass dies nicht möglich war, also ließ er es zu. Trotz aller Rationalität blieb das Gefühl der Angst. Dunkelheit schwappte über ihm zusammen und das Gefühl des Wassers verschwand. Er trieb in Dunkelheit dahin.

‚Kudou?’

‚Ja. Ich bin hier.’

‚Ich kann nichts sehen.’

‚Visualisiere. Wir sind in einem neuen Bereich.’

Schuldig konzentrierte sich und um sie herum wurde es heller. Glänzende Strukturen bildeten sich und schimmerten matt. Sie wurden durch flirrende silberne Plättchen in der Umgebung erhellt. Woher kamen diese Plättchen? Sie befanden sich überall in der Atmosphäre... nun in der visualisierten Atmosphäre. Sie flitterten herum wie zerschnittenes Lametta und sie kamen von oben.

‚Wir sind da... glaube ich’, vernahm er von Kudou.

‚Das ist der Grund?’

‚Ich denke’, sagte Kudou. Auf Schuldig wirkte diese Aussage nicht ganz sicher.

Um sie herum bildete sich eine Landschaft aus... Glas.’

‚Glas?’

‚Nein ich glaube auch Kristall. Spröde’, kommentierte Kudou fasziniert. „Sieh dir diese hohen wild durcheinanderwachsenden Kristallstreben an.“

Schuldigs Blick richtete sich nach oben. Über der ganzen Landschaft waren monströse Streben, die in der Dunkelheit verschwanden als würden sie die Welt um sie herum abstützen. Sie verliefen quer und ohne Ordnung in alle Richtungen. Aus dem Nichts kommend und dorthin verschwindend.

Kudou sah sich um. ‚Wir sind selbst auf einer dieser Streben.’

Schuldig erkannte auf den Kristallstreben unterschiedliche Strukturen. Sie waren winzig auf die Entfernung.

‚Wir sind auf dem Grund’, sagte Kudou.

Schuldig sah ihn an. ‚Ist es bei jedem Menschen so?’

‚Nein. Nicht so vielschichtig, plastisch und massenhaft voll von Informationen.’

‚Nur bei Runnern?’

‚Ja.’

‚Immer aus Kristall oder Glas?’

‚Nein. Jeder Runner hat individuelle Eigenschaften die ihn geprägt haben.’ Für einen Moment huschte der Ausdruck von Trauer über Kudous Gesicht. Schuldig konnte sich das nicht erklären. Wohl sein eigener Ausdruck über die Situation die sich in Kudous Gesicht widerspiegelte.

‚Wir müssen ihn suchen’, sagte Kudou dann.

‚Ran?’

‚Ja, sein Bewusstsein.’

‚Wie kann sein Bewusstsein...’ Schuldig sah sich um.

‚Vergiss es.’

‚Nicht direkt sein Bewusstsein, es ist nur ein Teil des Ganzen. Du Visualisierst alles, auch Prozesse, Gefühle und Gedanken. Sein Bewusstsein ist der Schlüssel für das alles. Ohne dieses Kernstück, diesen Motor, diesen Antrieb...’

‚Komm zum Punkt’, forderte Schuldig genervt.

‚Es ist das was gemeinhin als Seele bezeichnet wird.’

‚Wir suchen also Rans Seele.’

‚So ist es.’

‚Dann war das was ich vorhin im Käfig gesehen habe Rans Seele?’

‚Was hast du gesehen?’

‚Ran in Kristallform oder ähnlichem.’

‚Vermutlich ist es das.’

‚Vermutlich? Ein wenig vage, findest du nicht?’

Kudou antwortete nicht, sondern drehte sich zu ihm um und sah ihn ernst an.

‚Du musst mir jetzt gut zuhören bevor wir unsere Suche beginnen.’

Schuldig nickte artig.

‚Du fasst hier nichts an. Rein gar nichts. Jedes Blatt, jede Pflanze, jeder Strauch sind eine Fülle an Informationen, die von der Wurzel bis zur Blattspitze Verbindungen besitzen. Alles was du berührst...’

‚Ja, alles was ich berühre verschwindet auf Nimmerwiedersehen’, lamentierte Schuldig.

‚Ich wollte nur sichergehen, dass du es auch verstanden hast.’

‚Ich bin nicht dumm.’

‚Das habe ich auch nicht gedacht.’

Sie gingen los, wobei gehen nicht der richtige Begriff dafür war. Sie bewegten sich vorwärts aber sahen zu, dass sie dieses kristalline Glas nicht berührten. Blumen und Pflanzen wuchsen überall. Riesige Bäume und seltsame Blüten wechselten sich mit bekannten Gewächsen ab. Wenn sie Bereiche nicht passieren konnten, weil die Pflanzen zu dicht wuchsen gingen sie außen herum oder schwebten darüber hinweg. Manchmal war ein sanftes Klingen zu hören als würde Glas auf Glas treffen obwohl kein Wind zu spüren war. Sanfte Töne begleiteten ihren Weg.

‚Ich verstehe nicht warum ich nicht hier bin.’

‚Ein Abbild von dir?’

Kudou lachte leise.

‚Bist du sicher, dass du nicht dumm bist?’

‚Du wohl nicht mehr so ganz.’

‚Hast du die Schatzinsel vergessen?’

‚Ja, aber ich war nicht aus Kristall?’

‚Natürlich nicht. Kristall ist spröde, Kristallglas schön aber je nachdem auch sehr zerbrechlich.’

‚Ja und? Seine Erinnerungen sind schließlich alle hier. Warum bin ich nicht hier?’

Kudou entfernte sich etwas von ihm und Schuldig folgte ihm frustriert.

‚Erklär es mir’, forderte Schuldig.

‚Ich wünschte...’

‚Du bist doch so etwas wie meine Erinnerungen um mir zu helfen Rans... vor mir aus ... Seele wieder in Schuss zu bringen, also...’

Kudou lachte wieder, aber es hörte sich für Schuldig eher traurig an.

‚Sicher bin ich das. Ich weiß Vieles von dem... was dir De la Croix beigebracht hat und was du offensichtlich vergessen hast.’

‚Das ist nichts Neues, ich vergesse wichtige Dinge.’

Kudou drehte sich so rasch um, Erschrecken im Gesicht deutlich zu sehen dass Schuldig stoppte.

‚Du vergisst?’

‚Ja. Ich habe Ran schon einmal vergessen. Ganz am Anfang.’

Wusste sein Gehirn das nicht mehr? Diese Gespräche mit sich selbst verwirrten ihn. Eine Unterhaltung mit sich selbst über das Vergessen. Irgendwie mehr als nur ein bisschen seltsam.

‚Seit wann vergisst du?’

‚Weiß ich nicht mehr so genau. Ich habe Kitamura vergessen. Ran hat das wieder hervorgebracht.’

‚Ja, der Einfluss des Runners in ihm.’

‚Wie hat er das gemacht?’

‚Nicht absichtlich denke ich. War es ein emotionaler Moment?’

Schuldig sah ihn sparsam an. ‚Könnte man so sagen.’

‚Dann hatte er sicher keine Kontrolle über sich und hat sich geöffnet...’

‚Hätte ich das nicht merken müssen?’

‚Niemals. Du bemerkst nicht wenn ein Runner Einfluss ausübt. Das ist ja das ... Schwierige daran.’

‚Ah ja.’

Sie setzten ihre Suche fort aber von Ran war keine Spur zu sehen. Irgendwann ließen sie sich auf eine andere Ebene der Streben gleiten und setzten ihren Weg fort.

‚Runner... warum dieser Name...?’, murmelte Schuldig vor sich hin.

‚Eigentlich sind es Hüter von Erinnerungen. Bewahrer von Träumen und Gefühlen, von Informationen. Oder auch Träger. Runner ist ein... Name um die wahre Professionalität zu bewahren, aber ich denke es ist in der heutigen Zeit überholt Hüter so zu nennen. Sie hatten... viele Namen in der Vergangenheit und viele verkannten ihr... Wesen.’

Schuldig brütete darüber vor sich hin und besah sich derweil die Umgebung. Das hörte sich etwas zu kryptisch und unspezifisch an. Er beäugte hin und wieder Kudou und ihm kam diese Halluzination immer suspekter vor. Er machte den Anschein auf Schuldig als würde er nur die Hälfte erzählen. Warum würde seine eigene Halluzination ihm nur die Hälfte erzählen?

Alles war bewachsen und wucherte über und um sie herum. Manche der Kristallformen schimmerten in verschiedenen Farben. Und dann sah es wieder so aus als hätten sie an Farbe verloren. Es sah hübsch aus, brachte sie aber Ran nicht näher.

Sie kamen auf eine Anhöhe und dort auf einer Wiese zwischen Blumen lag etwas. Schuldig glitt darauf zu. „Das ist Kudou.“

„Ja, er ist es.“ Er schien zu schlafen.

„Das ist ein besonderer Ort. Sieh nur die Gestaltung ist etwas anders.

Sie gingen weiter und fanden noch andere Personen, die Ran wichtig zu sein schienen. Seine Eltern und seine Schwester, Ken und Omi. Dann noch drei weitere Personen die Schuldig nicht bekannt waren. Manx ebenso.

„Ich bin hier nicht zu finden“, ärgerte sich Schuldig. „Warum bin ich dort drüben auf der blöden Schatzinsel in einem Käfig und an Ketten mit blöden weißen Flügeln und hier auf dem Grund...“

„Erkennst du es nicht? Ihr habt eine Verbindung.“

„Ja, ein Band. Aber ich sehe hier kein Band. Wo ist es? Hat er es gelöst? Früher konnte ich diesem Band folgen, ich habe es gesehen, es schimmerte hell.“

„Natürlich kannst du es nicht sehen.“

„Weil ich Angst um ihn habe? Kann ich mich nicht genug konzentrieren, oder darf er nicht auf dem Grund sein? Ist er zu weit entfernt von mir?“

Schuldig bekam wieder Panik und Kudou wandte sich ihm zu.

„Beruhige dich. Sieh mich an.“

Schuldig hob den Kopf.

„Wir können das Band nicht sehen weil wir im Band sind.“

Schuldig bekam große Augen und schüttelte den Kopf. „Wir sind in dem Band?“

Kudou nickte.

„Aber dann ist der Weg klar, warum suchen wir denn ständig nach Wegen?“

„Es geht nicht um den Weg an sich. Es geht um die Reihenfolge. Um eine Abkürzung. Ansonsten würden wir noch sehr lange herumirren. Es gibt unzählige Flächen, unzählige Felder, nebeneinander und übereinander. Dafür haben wir keine Zeit.“

Schuldig wollte etwas sagen, doch er klappte den Mund zu als Kudou die Hand hob.

„Du bist auf der Schatzinsel, weil das der Anker ist den du gesetzt hast. Er muss diesen Anker schützen. Vielleicht war es einmal ein Traum den du für ihn geschaffen hast und diese Erinnerung hat er für sich als geheimen Ort deklariert. Hätte er dich entdeckt hätte er dich rausgeworfen oder pulverisiert oder beides.“

„Das ist der Anker?“

„Ja. Das ist der Anker.“

„Und Banshee?“

„Hast du sie gesehen?“

„Sie war aus Glas, wie dieser Ran.“

„Hast du das Glöckchen an ihr gesehen?“

„Nein. Ich denke nicht.“

„Dann kann das Glöckchen auch Ran gehört haben.“

„Ran mit einem Glöckchen?“ Auf Schuldigs Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

„Hat es etwas zu bedeuten, dass du jetzt so dreckig grinst?“, fragte Kudou und legte den Kopf schief ebenfalls ein ähnliches Grinsen auf dem Gesicht.

„Ein Versehen“, sagte Schuldig und lächelte spöttisch.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Schuldig dann und sah sich um. Es gab kein Ende, nur einen weiten Raum mit diesen kleinen gläsernen Gärten auf schwebenden Kristallstreben die wie überdimensionierte Stahlträger aussahen.

„Wir folgen dem Glöckchen.“

„Ich hör nichts.“

„Konzentriere dich auf den Klang, den du gehört hast.“

„Mach ich, passiert nichts.“

„Noch nicht. Lass uns weiter gehen.“

Die Versuchung für Schuldig etwas anzufassen war immens hoch und nur Kudous mahnende Blicke hielten ihn ein paar Mal davon ab einige Pflanzen oder Blüten anzutatschen.

„Ich verstehe es nicht. Wie kann Ran dort sein und gleichzeitig hier? Wir suchen ihn doch. Wenn er auf die Schatzinsel kann warum will er nicht zurück?“

„Das war nur die Kopie eines Vorgangs. Etwas das er nicht bewusst steuert.“

„Er hat mich ziemlich böse angesehen“, brummte Schuldig.

„Du wirst in allen Bereichen Kopien finden. Und sie werden unterschiedlich reagieren.“

„Verstehe. Ich verzichte auf eine erneute Begegnung mit dem Blut-Ran.“ Der Glöckchen-Ran war dagegen nett anzuschauen – inklusive des bösen Blicks.

„Es ist nur eine Version deiner Visualisierung, die sich aus unterschiedlichen Gefühlen, Erinnerungen und Erlebnissen zusammensetzt.“

„Zu wissen wie es in ihm aussieht... das... ist...“, Schuldig brach ab. Er wusste nicht wie er es sagen sollte.

„Nach und nach wird die Visualisierung der Prozesse ihren Schrecken für dich verlieren. Denk daran, es sind deine Erfahrungen, Erinnerungen, Erlebnisse und Gefühle die diese Ergebnisse erzeugen. Für jemand anderen würde es sich vielleicht anders darstellen, je nachdem welche Vergangenheit ihn prägte.“

„Ran kann dies nicht sehen? Kann er selbst an diese Informationen gelangen? Hier absichtlich her gelangen und wieder zurück?“

„Wenn er geübt ist kann er auf den Grund und wieder zurück. Ob er es genau wie du sieht hängt von der Stärke des Bands ab.

Es ist manchmal schrecklich anzuschauen, aber du bist in der Lage es zu begreifen, mit dieser Fähigkeit wurdest du geboren.“

Schuldig lachte freudlos auf.

„Ich bin mir nicht sicher warum ich geboren wurde.“

Er schwieg für einige Augenblicke. „Und bis Ran kam dachte ich, es wäre besser gewesen nie geboren worden zu sein.“

„Ich verstehe warum du so denkst.“

Sie sagten eine Weile nichts mehr bis er tatsächlich ein sanftes Klingen hörte.

„Ich habs... ich hab das Glöckchen!“

„Dann folge ihm.“

Schuldig ließ sich in die Richtung des Klangs treiben und konzentrierte sich nur noch darauf. Eine Weile ging alles gut bis dann plötzlich die Umgebung etwas an Kontur verlor.

„Was ist jetzt los?“

Schuldig wurde unsicher und hielt an. Kudou kam neben ihn.

„Wir sollten eine Pause einlegen.“

„Jetzt?“

„Nein, zunächst nehmen wir Kontakt auf. Du solltest ihn auf eine höhere Ebene lenken. Danach brauchst du eine Unterbrechung.“

„Warum?“

„Weil du müde wirst. Du verlierst den Fokus - langsam aber stetig.“

„Sieht fast so aus. Aber wir sind so nah dran.“

„Keine Panik.“

„Ich bin nicht panisch.“

„Doch, das bist du. Halte noch ein bisschen durch.“

Das war ganz und gar nicht Kudous Art ihn zu motivieren. Der hätte bestimmt etwas Gemeines gesagt... etwas wie: Reiß dich zusammen, Arschloch.

Schuldig hielt inne und konzentrierte sich zu visualisieren, da die Ränder dieser seltsamen Kristallwelt zu flackern begannen. Nach und nach stabilisierte sie sich wieder.

„Gut, alles wieder im Griff“, behauptete Schuldig und sah zweifelnd zu Kudou hinüber der ihn forschend anblickte.

„Nicht mehr lange“, resümierte Kudou. „Lass ihn uns finden. Sonst müssen wir den Weg noch einmal gehen.“

Schuldig folgte dem Klang des Glöckchens.

„Hätte ich nichts dagegen.“ Sie kamen an Bäumen und Sträuchern vorbei und Schuldig juckte es in den Fingern sie zu berühren.

„Warum?“

„Weil...“

Kudou war neben ihm und Schuldig warf ihm einen unsicheren Blick zu.

„Weil... was?“

Schuldig antwortete nicht gleich.

„Du unterhältst dich mit dir selbst, also warum die Scheu?“

„Keine Ahnung“, brummte Schuldig.

„Erzähl“, forderte Kudou ihn auf.

„Soll ich es dir sagen?“, offerierte Kudou dann.

„Warum nicht?“

„Du magst es dich in diesem Käfig zu sehen mit diesen Flügeln... mit den weißen Flügeln.“

„Quark.“

Kudou lachte nur leise. Sein Gehirn lachte ihn aus. Das war übel. Das war wirklich übel.

„Und was bedeutet das jetzt?“, fragte Schuldig in einem Ton der Kudou klar machen sollte, wie wenig ihn das jetzt interessierte.

„Du magst es wie er dich sieht. Wie er dich ansieht und wie er dich für sich haben will.“

„Ich mag es dass er mich in einem Käfig sieht?“

Kudou lachte wieder.

„Nein, es ist eher so, dass du es magst in einem Käfig für ihn zu sein.“

„Wir müssen da rüber“, deutete Schuldig an und änderte die Richtung.

„Aha. Das bedeutet, dass ich mich gerne für ihn einschränke?“

„Ja, so in der Art.“

Schuldig dachte eine geraume Zeit darüber nach, kam aber nicht zu einem guten Schluss.

„Machen das Runner so? Fesseln sie uns Soulwhisperer?“

Kudou blieb stehen und Schuldig bemerkte dies erst nach einiger Zeit. Er sah ihn aufmerksam an.

„Fühlst du dich manipuliert?“

Schuldig kehrte zurück.

„Ich weiß nicht. Schließlich hat die alte Kawamori mir eröffnet, dass sie uns manipulierte in dem sie uns in diesen Keller gesperrt hat. Das war wohl kaum ein natürliches Zusammentreffen.“

„Ihr seid vorher auch schon aufeinander getroffen, richtig?“

„Ja, stimmt. Aber Ran hasste mich damals.“

„Und in diesem Keller war es anders?“

Schuldig fühlte sich müde und ausgelaugt und dieses Thema war schwierig. Er hatte Angst davor.

„Nein, in diesem verdammten Keller war es nicht anders. Rans Gefühle für mich entwickelten sich sehr langsam. Und meine auch.“

„Warum glaubst du dann, dass es eine Manipulation war?“

„Ich glaube nicht daran, ich weiß was ich fühle. Aber...“

„Ah, jetzt verstehe ich. Du hast Angst davor, dass er es glauben wird.“

Schuldig sagte nichts sondern sah Kudou nur an, er fühlte die Angst in sich. Die Welt um ihn herum begann wieder zu flackern.

„Weiter“, sagte Kudou und Schuldig beeilte sich dem Glöckchen zu folgen.

Nach einer Weile ließen sie sich auf eine andere dieser Stahlstreben treiben und der Klang wurde lauter. „Da vorne...“ Schuldig legte an Tempo zu.

„Halt... langsam, verschreck ihn nicht“, hielt ihn Kudou zurück.

Sie kamen näher an einen Ort der wieder besonders schien. Die Blumen wurden größer und ihre Blüten ebenso.

„Da liegt er.“ Schuldig wies nach vorne in Richtung eines großen Baumes, eine Zeder, wie es sie in großer Zahl hier gab, nur diese schien anders zu sein. Ihre Blätter sonderten silbrigen Staub ab der diese seltsame Welt zu erhellen schien. Von dieser Zeder kamen die flirrenden Plättchen, die es hier überall gab. Rans kristalline Silhouette war am Stamm des Baums zu erkennen. Er lag dort entspannt und schien zu schlafen.

„Sehr gut, wir haben ihn. Jetzt müssen wir noch etwas besprechen.“

Schuldig stoppte einige Meter vor Ran und wartete bis Kudou neben ihm war.

„Visualisiere etwas das euch beide verbindet.“

Schuldig fiel sofort der Ring ein den sie beide trugen. Auf seiner Hand materialisierte sich Rans Ring. Kudou begutachtete den Gegenstand. „Nein, etwas anderes. Etwas, das mit sehr vielen Emotionen einhergeht.“

„Aber das tut es doch.“ Schuldig sah missmutig auf den Ring. Was gab es denn noch was all das widerspiegelte was er für Ran und dieser für ihn empfand?

„Es muss etwas sein...“, Kudou wandte sich ihm zu und sah ihn forschend an.

„...etwas mit dem er sich lange beschäftigte, etwas das eure Anfangszeit widerspiegelt. Der Ring zeigt eine Etappe eures Weges, ein Ankommen wenn du so willst. Es muss etwas sein, das wichtig für ihn auf dem Weg dorthin war.“

Auf Schuldigs Hand erschien Rans Katana.

Kudou sah ihn zweifelnd an. „Wirklich? Definitiv Nein.“

Rans Ohrstecker erschien auf Schuldigs Hand und wurde sogleich von Kudou wieder begutachtet. „Nein, es verbindet ihn mit seiner Schwester. Hörst du mir nicht zu?“

„Doch“, beeilte sich Schuldig zu versichern. Er fühlte sich ratlos und sah sich nach einem Anhaltspunkt um. Als würde er ihn hier finden!

Müde wischte er sich übers Gesicht.

„Es gibt so etwas nicht“, sagte Schuldig mutlos.

„Schließ die Augen und lass los. Du bist sehr müde und erschöpft. Daher willst du es erzwingen.“

„Sicher will ich das!“ Schuldig erhob sich wieder und sah zu Ran hin. Dann schloss er die Augen und versuchte an gar nichts zu denken. Was natürlich nicht funktionierte. Er dachte nur daran Ran wieder zurück zu holen.

„Wie lange willst du dort noch rumstehen wir sollten uns beeilen.“

„Was?“ Schuldig öffnete die Augen und sah Kudou der sich von ihm in Richtung Ran bewegt hatte.

„Du hast es, komm endlich“, drängte Kudou.

Schuldig sah auf seine Hand und musste grinsen. „Ich bin wirklich bescheuert.“

„Du bist nicht bescheuert, du bist müde.“

Schuldig sah auf. Das war Kudou-untypisch. Dieser hätte mit Sicherheit die eine oder andere Floskel zur Zustimmung gefunden. Nur vielleicht war es eher so, dass er sich Hilfe und Beistand anders vorstellte als Kudou tatsächlich gewesen war. Netter und hilfreicher.

Schuldig näherte sich Kudou, den Bären fest in der Hand. Der Bär, wie hatte er den vergessen können? Ran hatte ihn geflickt nachdem Schuldig ihm ein Messer durch den flauschigen Körper gerammt hatte. Und er hatte Ran Trost gespendet als seine Schwester gestorben war. Der Bär verband viele Stränge ihrer Freundschaft mit Brad. Der hatte ihn von Ran eine Zeit lang bekommen als sie annehmen mussten, dass Schuldig in China umgekommen war. Das Viech war permanent involviert wenn es um Emotionen ging.

„Und was jetzt?“ Sie standen vor Ran, dessen kristalline Haare rötlich schimmerten in jeder einzelnen Kristallfacette.

„Halt ihm den Bären hin, aber lass ihn nicht los wenn er danach greift. Du darfst niemals loslassen sonst fangen wir von vorne an.“

Schuldig kniete sich hin und betrachtete sich die schlafende Schönheit. Sie glich zwar dem Ran auf der Schatzinsel aber war nicht identisch. Die Details waren hier viel filigraner. Gläserne Wimpern lagen auf den Wangen. Jede Nuance bestand aus übernatürlich anzusehendem Kristall. Nur etwas war merkwürdig. Einige Stellen schienen zu fehlen. Sie waren schwarz.“ Handbreite Stellen die schwarz wirkten.

„Warum sind diese Stellen schwarz?“ Sie waren an der Flanke zu sehen, am Hals, an der Schläfe, am rechten Handgelenk und am Oberschenkel.

„Sie sind nicht schwarz, sie fehlen einfach. Er hat an Substanz verloren.“

„Warum?“, fragte Schuldig entsetzt und schüttelte den Kopf. „Ist das normal?“

„PSI sollten nicht töten. Es zerstört sie. Das ist das Zentrum seiner Energie als PSI. Siehst du die geschliffenen Ränder, sie schimmern golden.“

Schuldig traute sich näher heran und beäugte die Ränder die tatsächlich einen goldenen Schimmer aufwiesen.

„Was ist das?“

„Das ist euer Band. Es verhindert, dass sich diese Schäden ausbreiten, es stabilisiert ihn. Er ist ein Runner. Das heißt, dass er wesentlich robuster dem Verfall gegenüber ist. Dennoch kann er sich komplett verlieren. Es gibt Runner die nur noch durch ein Band an Form gewinnen können. Ihre Umrisse werden durch das Band geformt.“

„Sind sie dann zerstört?“ Schuldig hatte Entsetzen erfasst.

„Nein. Sie verändern sich.“

„Wie?“

„Das ist ein schwieriges Thema und ich habe nicht genügend Informationen sodass ich es dir verständlich erklären könnte.“

Schuldig betrachtete sich diese Flecken, die in unterschiedlichen Formen auftraten. „Keines gleicht dem anderen“, sagte Schuldig.

„Ja, es sieht aus als hätte jemand Ran aus einem Kristall herausgeschliffen. Es gibt keine Rundungen, nur scharfe Kanten. Dabei sind die Kanten so filigran dass man sie kaum erkennt, wenn man nicht genau hinsieht. Die Schäden sind polygonal. Sehr faszinierend wie du seine Seele visualisierst, du hast Talent.“

„Ich bin eben ein Naturtalent“, sagte Schuldig wenig überzeugt davon.

„Du hast keine Vergleiche. Hier gibt es ein oben und ein unten. Es gibt einen logischen Aufbau der Umgebung. Das ist nicht immer so.“

Schuldig sinnierte noch über die Tatsache nach wie er dies je geschafft hatte, als sich plötzlich die Lider hoben und ihn violette Augen ansahen.

„Wow. Wunderschön“, wisperte Schuldig.

Das war seine PSI Quelle, das wusste er ohne dass Kudou es ihm sagen musste. Augen voller Energie. Und dabei so kontrolliert, dass er ohne Probleme in sie hinein sehen konnte ohne davon geblendet zu werden. Geschliffen wie tausend Diamanten und so tief und endlos dass Schuldig seine Gefühle über diesen Anblick nicht erfassen konnte.

„Sieh nicht zu lange hinein“, riet ihm Kudou leise.

„Warum?“, flüsterte Schuldig.

„Weil es gefährlich ist.“

„Das ist keine Begründung.“

„Das ist der Mittelpunkt allen Seins für ihn. Er ist anziehend und bindet dich für immer an diesen Ort. Er liebt dich. Denk an die Schatzinsel. Das Bestreben dieses Kerns ist die Bindung. Hör auf ihn anzusehen!“, kam dann energisch und Schuldig senkte den Blick rasch. Er fühlte wie es ihn ärgerte den Blick abgewendet zu haben. Kein gutes Zeichen.

Finger griffen sofort nach dem Bären und befühlten seine Beschaffenheit.

„Jetzt machen wir uns auf den Weg zurück“, sagte Kudou leise.

„Was, wenn er loslässt?“

„Das wird er nicht. Denk daran er will sich binden.“

Ein Lächeln erschien auf Rans Gesicht und Schuldig hob die Hand um es zu berühren.

„Nein. Nicht anfassen. Bist du verrückt?“ Kudou tauchte neben ihnen auf und Schuldig zog sofort die Hand zurück. „Dich kann man keine paar Sekunden aus den Augen lassen“, seufzte Kudou.

„Steh langsam auf und dann schnell zurück.“

„Zurück wohin?“, fragte Schuldig.

„An einen Ort an dem er sich wohlfühlt. Erschaffe einen Ort den er kennt, der ihm vertraut ist und an dem schöne Dinge geschehen sind.“

„Gut“, sagte Schuldig und sah zu Ran, der von dem Bären hingerissen war.

„Visualisiere diesen Traum.“

Plötzlich hörte er wie etwas zerbrach und Schuldig schreckte auf. „Nicht loslassen, verdammt“, rief ihm Kudou erneut zu und Schuldig kam sich langsam wie ein naives Kind vor das gescholten wurde.

„Das ist normal. Sieh hin und vergiss den Traum nicht.“

Die Welt um sie herum zerbrach und dann waren da nur noch sie drei und der Bär da. Um sie herum gab es nur noch leeren Raum.

Es war tatsächlich wie in einem Traum, Rans Umrisse bekamen zwar Struktur aber er schimmerte silbern in dieser nebligen Welt. Er hatte seine kristalline Form verloren. Schuldig spürte noch den Bären zwischen seinen Fingern, was ihn beruhigte.

Schuldig formte den Traum und der Klang von Bäumen, die im Wind rauschten war für sie zu hören bevor es um sie herum heller wurde und die Sonne plötzlich am Himmel erschien, gefolgt von hohen Bäumen, einem Haus und einem Vorplatz zu dem Treppen führten.

Ran bekam weiter Form und schließlich stand er so da wie Schuldig ihn kannte. Mit Verbänden an Flanke und Kopf.

„Sehr detailliert“, sagte Kudou und hob eine Augenbraue. Schuldig zuckte mit den Schultern.

„Lass nicht los und lass uns hinauf zum Haus gehen.“

Ran ließ sich von dem Bären ziehen und sie erklommen die Stufen hinauf um zu Rans Haus zu kommen, welches er von Schuldig geschenkt bekommen hatte.

Sie betraten es und es war wohlig warm drinnen. Um die Feuerstelle lagen Kissen und Decken und es roch nach Kräutern.

„Und jetzt leg ihn dort hin und lass ihn schlafen.“

„Warum?“ Schuldig lotste Ran zu einem Kissenberge und ließ ihn sich hinlegen.

„Damit er im Traum erwacht und du dich in der Zwischenzeit erholen kannst. Du willst doch nicht, dass er im Dunkeln erwacht und sich verlassen fühlt?“

„Nein.“

„Sehr schön, also gib ihm jetzt den Bären und leg ihn schlafen.“

Schuldig löste die Verbindung und ließ Ran in einen sanften Schlaf übertreten.

„Gut, und jetzt nichts wie raus hier, du bist überfällig.“

Mit einem letzten Blick auf Ran ließ sich Schuldig zurücktreiben, passierte die Grenze und öffnete schließlich die Augen. Er hatte das Gefühl keine Luft zu bekommen, ein trockener Husten quälte ihn und irgendwie hörte er Stimmen die ihm etwas sagten, sehr enervierend sagten. Es dauerte etwas und dann konnte er sie besser verstehen, er sollte ruhig liegen bleiben. Das konnte er.

Seine verschwommene Sicht wurde nicht besser aber er erkannte Sakuras Stimme.

„Bleib ruhig, Gabriel. Hast du Durst?“

Schuldig krächzte etwas, dass ein Ja sein sollte und ihm wurde ein Glas in die Hand gedrückt. Er trank es aus und legte sich wieder zurück. Sie nahmen ihre Hände von ihm und traten etwas zurück um ihm Raum zu geben.

„Was ist passiert? Was ist mit Ran?“

„Er schläft. Du hast es geschafft, aber es hat lange gedauert. Du musst dich etwas ausruhen.“

Er nickte und rieb sich die brennenden Augen. Er fühlte sich wie ausgetrocknet.

„Ich muss ins Bad“, sagte er und wischte sich über die Augen. „Ich seh kaum etwas. Mir ist kalt.“ Selbst in seinen Ohren hörte sich das quengelnd an.

„Das ist die Überbelastung. Sasuke hilft dir und ich sehe nach Ran.“

„Wo ist er?“, nuschelte er und blinzelte. Warum zum Teufel konnte er nur verschwommen sehen?

„Er schläft neben dir.“ Schuldig griff nach Rans Hand und fand sie nach einigem Suchen auf seinem Bauch. Er fühlte sich wärmer an als zuvor. Das beruhigte ihn.

Schuldig ließ sich von Sasuke aufhelfen. Dieser verfrachtete ihn ins Badezimmer.
 

Sakura strich ihrem Enkel über die Stirn. Seine Atmung war ruhig und gleichmäßig.

Auch seine Herzfrequenz hatte sich auf ein normales Niveau eingependelt. Alle Werte schienen wieder normal. Sie atmete tief durch und fühlte der Erleichterung nach, die sie plötzlich empfand.

Sie hörte Stimmen auf dem Flur und deckte Ran zu als dieser sich auf die Seite drehte. Die Tür öffnete sich und sie sah auf. Firan stand im Türrahmen.

„Firan, könntest du Gabriel ins Gästehaus begleiten? Er braucht etwas Unterstützung und lass ihn nicht aus den Augen. Wir bringen meinen Enkel später zu ihm hinüber.“

„Sehr gern, Sensei.“

Firan kam zum Bett und nahm Gabriels Stiefel mit sich hinaus. Sakura setzte sich zu Ran.
 

Schuldig ließ sich augenblicklich ins Bett fallen als er es mit Hilfe von Firan erreichte. Er bemerkte wie Firan ihm die nur lose geschnürten Stiefel abstreifte und zog danach die Beine an. Er fror immer noch. Wer hatte ihm die verdammten Teile angezogen und wann? Hatte er das ausgeblendet? Und wie war er ins Gästehaus gekommen?

„Firan“, hielt er den Jüngeren auf als dieser sich entfernen wollte.

„Kannst... kannst du mir etwas zu... zu Trinken bringen?“

„Gleich, Gabriel. Ich komme sofort zurück.“

„Danke“, nuschelte Schuldig ins Kissen und schloss für einen Moment die Augen.

Er wurde wieder wach als ihn jemand an der Schulter berührte und wandte sich auf den Rücken zurück. Sasuke und Sano legten Ran gerade neben ihn aufs Bett ab. Sein Kopf wirkte noch sehr schlapp wie er dort so hing bevor er aufs Kissen traf... Schuldig schossen die Tränen in die Augen. Ran so wehrlos zu sehen machte ihn fertig. Er drehte sich vollständig zu Ran um und zog ihn an sich.

Er musste aufgewühlt ausgesehen haben, denn Sasuke eilte ums Bett herum und nahm ihm beim Arm. „Alles gut, er schläft nur tief. Er muss die narkotischen Medikamente ausschlafen, das ist alles.“

Schuldig nickte. „Trinken Sie etwas, Gabriel.“

Sasuke hielt ihm ein Glas Wasser hin und Schuldig trank es ruhiger als er es wollte. Seine Lippen brannten und seine Augen juckten.

„Schlafen Sie. Sie sind immer noch viel zu erschöpft.“

Schuldig sah den Beiden zu wie sie den Raum verließen. Es war dunkel draußen. Noch immer?

„Sasuke!“

Der Arzt wandte sich in der Tür um, selbige schon bereit zu schließen.

„Ja?“

„Wie lange hat es gedauert?“

„27 Stunden.“

„Oh.“ Schuldig legte sich zurück.

„Ja. Eine lange Zeit und es hat Sie viel gekostet.“

„Was meinen Sie?“

„Als sie aufwachten sahen sie mehr tot als lebendig aus. Wir haben sie kurzzeitig an eine Überwachungseinheit angeschlossen. Sie sehen nicht gut aus. Ruhen Sie sich aus und sehen sie davon ab telepathischen Kontakt herzustellen. Sie müssen zu Kräften kommen. Er wird von allein aufwachen.“

Er schloss die Tür und Schuldig sah auf Ran in seinem Arm hinunter. Er hatte ihn wieder, jetzt musste er nur noch aufwachen. Schuldig löste sich noch einmal von Ran da seine Blase drückte.

Er verschwand kurz ins Bad und blieb am Spiegel hängen. Er sah furchtbar aus. Sein Gesicht wirkte kalkweiß, tiefe dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet und irgendwie wirkte alles eingefallen. Sein Haar hatte an Glanz verloren, ebenso seine Augen. Er wandte sich ab und verließ nachdem er sich erleichtert und sich das Gesicht gewaschen hatte das Badezimmer.

In der Ecke saß Kudou.

„Du hast es geschafft.“

„Ja... nicht ohne deine Hilfe.“

„Kann sein. Aber schlussendlich warst es du selbst.“

Schuldig ging ums Bett herum und legte sich wieder zu Ran. Er zog ihn an sich und drückte sein Gesicht auf den dunkelroten Haarschopf. Er hatte ihn wieder.

„Wir haben lange gebraucht und ich seh Scheiße aus.“

„Nein. Wir waren schnell und das ist normal. Es wird wieder besser werden. Sehr schnell sogar. Du hast in kurzer Zeit sehr viel Energie mobilisiert. Irgendwo muss sie hergenommen werden wenn Engpässe entstehen.“

„Engpässe?“

„Ein Ausgleich, wenn das Zentrum deiner Energie Schwankungen unterliegt. Emotionale Schwankungen als Beispiel.“

„Dann muss mein Körper herhalten?“

„So könnte man es auch sagen.“

Kudou stand auf und setzte sich zu Rans Füßen.

„Das ist der Vorteil der Trias.“

„Was hat die Trias damit zu tun?“

„Sie gleicht Schwankungen aus. Das Gleichgewicht sollte gewahrt bleiben. Schlussendlich kostet es Energie. Egal woher sie kommt und wer den Preis zahlt.“

„Du redest jetzt nicht von der Trias... von SZ?“

„Nein. Sicher nicht. Aber darauf begründet sich dieser Name und auch die Organisation.“

„Verstehe. Kann ich dich noch etwas fragen?“

„Natürlich.“

„Woran war zu erkennen, dass sich Rans Energiekörper geleert hatte? Sakura erwähnte das...“

Kudou schien darüber nachdenken zu müssen.

Er antwortete erst als Schuldig schon dachte keine Antwort mehr zu bekommen.

„Wir haben es nicht visualisiert, aber du hast es daran erkennen können, dass der Raum den wir durchschritten haben im Verfall war. Alles wirkte dunkel um uns herum, es hatte keine Substanz mehr, keine Tiefe. Es gab viel Dunkelheit und viel zu viel von dieser Leere. Im Gegenzug zu den anderen ‚Welten’ schien es als wäre alles in eine Art Schlaf gefallen, sehr statisch und...“

„... leer und einsam.“

Kudou nickte.

„In diesem Glasgarten gab es teilweise Farben.“

„Sie waren blass und schimmerten lediglich. Bis auf diese kristallinen Gebilde war es dunkel um uns herum. Der Baum... diese Zeder sonderte diesen flirrenden Staub ab. Ich vermute, dass es ein Zeichen für die beginnende Auflösung des Zentrums war.“

„Nur Rans Augen hatten diese Tiefe und Farbintensität.“

Kudou nickte.

„Kann ich dorthin zurück wenn Ran wach ist und es ihm gut geht?“

„Das ist noch einmal eine ganz andere Reise. Aber möglich wäre es.“

„Diesen Garten würde ich mir gerne noch einmal ansehen.“

„Nur wenn Ran ein paar Warnschilder aufstellt.“

„Bitte nichts berühren?“

Kudou lächelte. „Ja, das wäre sicher nicht unklug.“

Schuldig schmunzelte und sagte eine Weile nichts mehr. Er war zufrieden mit Ran in seinen Armen, der ruhig atmete und einfach nur schlief.
 

„Wer bist du?“, fragte er dann.
 

Kudou sah von seinen Händen auf in deren Anblick er die letzten Augenblicke versunken gewesen war.

„Wer glaubst du wer ich bin?“

Schuldig sah nur mit einem Auge an Ran vorbei zu Kudou. Er hasste es abgrundtief wenn Jemand auf eine Frage mit einer Gegenfrage antwortete.

„Keine Ahnung.“

„Und wie willst du jetzt mit mir verfahren?“

„Verfahren?“ Schuldig seufzte und atmete tief Rans Duft ein. Sie hatten Ran ein Shirt übergezogen und eine leichte Hose. Viel zu wenig für diese Temperaturen. Schuldig zog die Decke über seinen Rücken bis hinauf zum Kopf und hüllte ihn damit ein.

„Solange du mir hilfst sehe ich keine Veranlassung mit dir ... zu verfahren.“

Kudou schwieg.

„Ich werde dir helfen. Wenn du mich brauchst bin ich da.“

„Hast du sonst nichts zu tun?“

Kudou lächelte ein trauriges Lächeln. „Nein, Tatsache ist, dass ich das nicht habe.“

Sie schwiegen ein Weilchen und Schuldig spürte bereits wie er einzuschlafen begann.

„Wer bist du?“

„Niemand.“

„Und warum hilfst du mir dann?“

„Wer weiß, vielleicht habe ich böse Absichten?“

„Das hätte ich mitbekommen, meinst du nicht?“

„Du hast nicht mitbekommen wie ich dich geführt und geleitet habe, ganz davon abgesehen, dass ich mühelos deine Schranken durchschritten habe.“

„Punkt für dich.“

Sie schwiegen für einige Zeit und der Unbekannte Kudou schien zufrieden damit zu sein.
 

„Bist du deshalb nicht wütend?“, fragte er dann nach einer Weile.

„Hättest du es anders gemacht als mich in Gestalt einer Halluzination zu begegnen sicher. Ich denke ich war zu sehr mit Ran beschäftigt.“

„Das warst du sicher.“

„Du hast gesagt du bleibst so lange bis ich stark genug bin dich rauszuwerfen.“

„Ja, das ist richtig.“

„Dann bist du jetzt stärker als ich, nehme ich an.“

„Das bin ich.“ Kudou erhob sich. „Ich fürchte, das werde ich auf gewisse Weise immer sein. Und in anderer Hinsicht bin ich dir unterlegen, wenn du es von dieser Warte aus betrachten willst.“

„Von welcher Warte?“

„Von der Warte des Kräftemessens.“

„Kein Bedarf. Das ist mir zu anstrengend. Ich steh nicht auf Schwanzvergleich.“

„Auf was?“

„Du weißt schon... wer den Größeren hat.“

„Wer tut das?“ Kudou zeigte echtes Entsetzen auf seinen Gesichtszügen, was Schuldig irgendwie zum Kichern brachte. Er war eindeutig zu müde.

„Das ist im übertragenen Sinn gemeint.“

„Ach...? Ja, jetzt erschließt sich mir der Sinn.“

„Kannst du dich nicht in einer anderen Form zeigen?“

„Als Nebel oder was meinst du?“

„Nein“, sagte Schuldig. „Wie du wirklich aussiehst ohne dich Kudou zu bedienen. Die Nummer ist ja jetzt durch.“

„Ja, die Katze ist aus dem Sack.“

„Du wolltest es nicht wirklich verbergen.“

„Lügen liegt mir nicht.“

„Mir schon.“

„Ich ahnte das.“

„Und ... kannst du es?“

„Ja. Ich denke schon. Aber es wäre zum jetzigen Zeitpunkt nicht von Vorteil.“

„Warum?“

„Das kann ich nicht sagen. Es könnte Jemanden auf deine Spur bringen der dir nichts Gutes will.“

„Davon gibt’s nen Haufen.“

„Ja, das mag sein. Aber es ist kompliziert. Und zum jetzigen Zeitpunkt würde es dich vielleicht verwirren. Und das möchte ich nicht. Du musst die Wahrheit selbst sehen oder erfahren. Wobei du das ja schon hast, auf gewisse Weise.“

„Sich Kudous Abbild zu bedienen ist irgendwie seltsam. Wäre es dann nicht sinnvoll wenn wir offen sprechen könnten? “

„Glaube mir das würde ich sehr gern. Die Frage ist ob du mir zuhören würdest.“

„Das tue ich doch jetzt bereits.“

„Das wird sich ändern.“

Kudou verschwand und Schuldig deckte sich selbst zu.
 

Wer auch immer das war, er würde wieder auftauchen. Dessen war sich Schuldig sicher.
 


 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Mein Dank gilt Mona fürs Beta. ^_
 

Gadreel

a new life, a new day

a new life - a new day
 


 


 

Ran schlief und träumte von einem herrlichen Tag in ihrem Ferienhaus. Es war warm und behaglich. Zwar wusste er nicht warum er den kleinen Teddy mit sich herumtrug, aber es war alles wunderbar entspannt hier. Bis ihn etwas irritierte und er plötzlich in ein verdutztes Gesicht sah. Schuldig.

Der ihn entrüstet ansah und dessen Ausruf alles andere als begeistert schien.

„Schu...“, sagte er mit heiserer Stimme.

„Hast du mich gerade angerotzt?“, kam auch gleich die Schelte.

Ran sah ihn fragend an. „Ne...in?“ Seine Stimme hörte sich selbst in seinen Ohren fremd an. Sie klang rau und schwach.

Schuldig stöhnte und ließ sein Gesicht ins Kissen fallen, wo er es theatralisch hin und her rieb. „Doch, du hast mich angeniest“, verkündete Schuldig dramatisch.

Ran lächelte aufgrund dieser Szene. Sie war ihm so vertraut. Seine Lippen fühlten sich rissig und trocken an.

Noch bevor er etwas sagen konnte war Schuldig über ihm und wirbelte Ran auf den Rücken. Er hockte über ihm und sah ihm forschend ins Gesicht.

„Habe ich dir schon gesagt, dass es wie chu klingt wenn du eigentlich Schu sagen willst?“ Schuldig lächelte verliebt und Ran schüttelte einmal den Kopf.

„Das heißt, dass du eigentlich einen Kuss willst wenn du meinen Namen abkürzt?“

Ran war sich nicht sicher, ob er jetzt bestätigen oder verneinen sollte. Das ganze Gespräch schien ihm seltsam und er war sich nicht sicher, ob er immer noch schlief und träumte.

Er zögerte, nickte dann aber. Ein Kuss von Schuldig war immer gut. Und etwas in ihm sagte Ran, dass er so einen Kuss dringend brauchte.

„Was ist... mit dir...?“, fragte Ran mit kratziger Stimme und hob eine Hand um sie über Schuldigs Gesicht zu streichen. Er sah so ausgezehrt aus. Krank.

„Mit mir?“

Schuldig lachte und dann verzog sich sein Gesicht als würde er weinen wollen, Tränen bildeten sich in seinen Augen und tropften nach einem Blinzeln auf Rans Wangen. „Schu.“ Ran wusste nicht was los war, aber es machte ihm Angst.

„Sag... etwas.“

Schuldig legte sich seitlich und schmiegte sich an Ran. „Ich weiß nicht wo ich anfangen soll“, hörte Ran die tränenschwere Stimme. Er wandte den Kopf und bettete seine Lippen an Schuldigs Stirn. Etwas drückte an seiner Seite und er wollte danach greifen, tastete jedoch nur Stoff.

„Kannst du dich an etwas erinnern?“, fragte Schuldig und Ran konnte die Stimme nur mit Mühe verstehen, da Schuldig in seinen Oberarm sprach.

„Ich weiß nicht...“, sagte Ran unbestimmt und sein Blick ging an die Decke. Sie war verschwommen und selbst ein Blinzeln konnte diesen Umstand nicht beheben. Der hohe Ton, der zudem gerade in seinem Innenohr erklang war unangenehm. „Wir gingen zum Anwesen und dann tauchten diese Typen in den Uniformen auf. Wir haben gekämpft.“ Was kam danach? Der Ton nahm an Intensität zu.

Ein Bild blitzte in seinem Gedächtnis auf. Yohji. Tot. Er blinzelte.

Noch immer starrte er an die Decke. „Ist... ist...“, Rans Augen wurden größer und die Decke verschwamm.

„Ist... er im Krankenh...“, fragte er und seine Stimme brach.

„Nein. Ist er nicht.“ Schuldigs Arm der über Rans Bauch lag zog sich fester um ihn.

Die Umarmung sagte es Ran. Der Tonfall sagte es ihm. Er klang seltsam in seinen Ohren. Endgültig. Unwiderruflich. Ohne Ausweg und Rückkehr. Ohne Hoffnung.

Yohji war tot.

Er weinte still, blinzelte die Tränen fort bis neue kamen. Der Ton hielt sich hartnäckig und etwas schnürte ihm die Luft ab. Sein Brustkorb hob sich schneller, doch er bekam immer weniger Luft.

Das tat er bis sein Kopf schwer wurde und es schmerzte. Ein dumpfes Pochen, das von seinen Schläfen ausging. Schuldig war still bei ihm geblieben und irgendwann legte Ran seine Wange an den Haarschopf und schloss die Augen. Er konnte nicht mehr denken so müde war er.

Das nächste Mal als er aufwachte war es hell draußen. Über den roten Haarschopf, der an ihn gedrückt lag, sah er wie es draußen regnete.

Der Ton war verschwunden, alles war ruhig und alles war seltsam gedämpft. Es war wie in einem Traum. Neblig, nicht zu fassen, nicht genau umrissen und nicht mehr greifbar. Ohne Substanz.

Nicht ganz... Etwas hatte Substanz.

„Schu...“, flüsterte Ran und drückte Schuldig fest an sich. Das Gesicht des Telepathen lag an seinem Hals und sein Atem ging ruhig.

„Keine Sorge, er ist nur erschöpft.“

Ran wandte sein Gesicht vom Fenster weg der Stimme zu und er sah daraufhin lange in dieses Gesicht.

„Kawamori“, sagte Ran mit rauer Stimme. „Sakura.“

Er sah sie weiter unverwandt an und ließ Schuldig dabei nicht los.

„Ja, die bin ich. Woraus schließt du das?“

Ran räusperte sich und fasste Schuldigs Rücken etwas fester.

„Ein Bild... von Ihnen“, Ran räusperte sich, aber seine Stimme wurde nicht lauter. „...aus den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.“

Sie lächelte schmal.

„Wo hast du denn das Ding gefunden?“

„CIA. Eve Crawford“, antwortete Ran einsilbig, seine Lage grob einschätzend. Er war sich nicht sicher was er von der Frau halten sollte, die ihm so ähnlich sah.

„Ah, die kleine Crawford. Ein nettes Mädchen, blitzgescheit und anständig.“

„Wo ist Chiyo?“

„Chiyo?“

Sie seufzte.

„Ich denke nicht, dass du Chiyo sprechen möchtest.“

„Warum nicht?“

Sie sah ihn lange an.

„Ruht euch beide aus. Wir sprechen später miteinander.“

Sie stand abrupt auf und verließ den Raum. Ran war erleichtert. Ihr stechender forschender Blick war ihm momentan zu viel. Er fühlte sich wie durch den Fleischwolf gedreht. Sanft strich er durch Schuldigs Haare und spürte der weichen Textur nach. Es fühlte sich so vertraut an, so warm und weich. Er hatte sich so einsam gefühlt und dann war da plötzlich etwas gewesen, das er mit Wärme und Nähe, aber auch mit Trauer und Schmerz verbunden hatte. Er sah auf das friedlich schlafende Gesicht, das auf seiner Brust lag und strich Schuldig sanft über die Wange. Er hatte ihn von dort zurückgeholt. Das wusste er.

Ran hatte Angst die Augen zu schließen und so hielt er sich an Schuldigs Gestalt fest bis dieser sich zur Seite rollte und sich dann wieder seitlich an ihn schmiegte. Schuldig rieb seine Nase an Rans Oberarm und seufzte genüsslich.
 

Dann öffnete sich die Tür und jemand kam herein. Ran wandte den Kopf und sah schwarzes Haar, welches zu einem seitlichen Zopf gebunden war und dem Mann auf die Brust fiel. Er brachte ein Tablett herein und bewegte sich fast lautlos. Er trug einen Yukatta in Blautönen, darunter waren dunkle Hosen zu erkennen. Rans Augen wurden größer als er glaubte noch immer zu schlafen. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Träumte er tatsächlich noch? Das würde die Frau von eben erklären.
 

Der Mann kam näher und Ran erkannte dass er jünger als er selbst war. Er blieb vor ihm stehen und Ran sah zu wie die zartgliedrigen Finger sich um das Tablett verkrampften.

„Ich... meine Herrin sagte, dass ihr vielleicht etwas zu Trinken wünscht. Tut ihr das?“, fragte er leise und Ran nickte automatisch.

Er starrte den jungen Mann an. Dieser ging um das Bett herum und auf seine rechte Seite, dort stellte er das Tablett auf dem Nachttisch ab. Rans Hand stillte die emsigen Hände und versuchte die Aufmerksamkeit des Mannes zu erreichen. Körperkontakt war sonst nicht seine Art, aber er brauchte Antworten und sowohl Sakura als auch dieser Mann warfen Fragen auf. Der Dunkelhaarige hielt plötzlich inne begegnete aber nicht seinem Blick, als würde er ihn vermeiden wollen.

„Wie heißt du?“

„Firan, Herr.“

„Sieh mich bitte an, Firan.“

Ran ließ ihn nicht los und Firan gab sich einen Ruck. Er sah ihn an und Ran ließ sich wieder zurücksinken in sein Kissen.

„Wie kann das sein?“, flüsterte Ran.

„Ich... er... ist... - war mein Bruder“, stotterte Firan.

„Das wusste ich nicht.“ Ran erkannte seine eigene Stimme in dem Entsetzen nicht, das ihn gerade zu befallen drohte. Was ging hier vor? Was war passiert?

Firan nickte. „Gabriel auch nicht. Meine Herrin sagte, dass es nur wenige wussten und dass dieser Umstand politischen Zwecken diente. Ich war für die Trias ein Druckmittel um meinen Bruder Dinge tun zu lassen, die ihn veränderten.“

Er nickte und schwieg dann, als wolle er sich selbst sagen, dass diese Zusammenfassung gut gelungen war.

„Wollt Ihr etwas zu trinken? Tee vielleicht?“

Ran bejahte und nahm seine Hand zurück. Tausend Fragen spukten ihm im Kopf herum, aber das verweinte Gesicht verbat sie ihm.

Er nahm den Tee entgegen und konnte sich an dem Gesicht nicht sattsehen. Schön, fiel ihm dazu ein und er blinzelte. Sehr ähnlich und doch so ungleich. Schönheit war nichts was ihn als erstes als Merkmal bei einem Mann auffiel. Hier jedoch war der Fall anders. Sofern man die andere Seite der Medaille kannte – gekannt hatte.

„Ihr seid Zwillinge.“

Firan nickte.

„Mein Spiegelbild ist... ist so... zerbrochen“, er wurde immer leiser und seine Stimme erstarb schließlich. Das letzte Wort war kaum zu hören, aber Ran verstand die Silben.

„Er... er sieht so aus wie ich hätte aussehen müssen.“ Er schüttelte den Kopf und konnte nicht weitersprechen. Ran ließ ihm Zeit sich zu fangen.

Er brauchte selbst Zeit.

Ran spürte schon wieder eine Welle der Trauer und sein Hals wurde eng.

„Seit wann bist du hier?“

„Seit vielleicht etwas mehr als ein Tag. Ich... ich...“, er sah zu Ran. „Ich habe ihn knapp verpasst... es war so knapp... so wenige Stunden.“

Ran schloss die Augen und versuchte sich dieses Grauen auszumalen und versagte.

Er sah in diese goldenen, vor Trauer schwimmenden Augen und wusste, dass er nicht einmal im Ansatz dieses Grauen erfassen konnte.

Sie schwiegen während Ran versuchte sich selbst zu beruhigen und an dem Tee nippte.

„Wo warst du? Seit wann wart ihr getrennt und warum?“

„Beim Orden. Wir wurden dort getrennt, es hieß es wäre besser für uns beide. Wenn ich täte was sie von mir wollten, dann würde er frei kommen. Aber er kam nie frei und ich wurde weggebracht. Er brauchte mich, Herr Fujimiya. Ich war sein Spiegel, er konnte ohne mich seine Gefühle nicht wahrnehmen. Ohne mich war er verloren in den Gefühlen der anderen. Ich trennte ihn davon ab. Aber niemand glaubte mir. Keiner hörte mir zu.“

Ran hatte Recht behalten, das Grauen wurde schlimmer. Er hatte keine Kraft wütend zu sein, aber er wusste, dass er wütend werden würde. Bald. Sehr wütend.
 

„Ich bin mir sicher, dass sie wussten was sie taten aber ihn für ihre Zwecke benötigten, Firan.“

Firan sah ihn bekümmert an.

„Und dann warst du bei SZ?“

Firan nickte. „So ungefähr. Ich war meinem Herrn dort unterstellt.“

„Und was hast du dort gemacht?“

Firan wandte den Blick ab und alles in seiner Haltung sagte Ran, dass die Antwort ihm nicht gefallen würde. „Ich diente ihm in allen Belangen.“

„Ah ja, auch den sexuellen?“, fragte Ran geradeheraus und seine Stimme hatte einen tröstenden Unterton angenommen, damit Firan seine Abscheu vor diesem Herrn nicht heraushören konnte.

Firan nickte und Ran sah zu wie er immer kleiner werden wollte.

„Ich... ich... weiß nun, dass mein Bruder mir die emotionale Last dieses Dienstes genommen hat“, beschwichtigte Firan eilig und sah zu Ran. Er nickte bestätigend.

„Ich... ich... habe teilweise gar nichts gefühlt. Jedes negative Gefühl wurde mir genommen, ich weiß, dass es wohl schlimm war, aber ich fühlte es nicht. Ich war nicht wütend. Meine Herrin erklärte mir, dass diese Taten wohl Schaden in mir hätten anrichten können, aber sie taten es nicht.“

Firan sprach noch weiter und das grauenhafte Bild wurde zu etwas Schlimmerem. Ran hörte sich alles an und dieser Thomas Straud alias Somi wurde zu seiner neuen Nemesis.

„... hinterließ er keine Narben. Nie“, schloss Firan und stricht sich gedankenverloren über das Gesicht.

„Heute habe ich meinen Bruder gesehen. Er trägt die Narben an den Stellen, an denen mein Herr mich gern bestrafte. Ich weiß nicht wie das gegangen ist... eine Übertragung... dazu wären wir nicht fähig gewesen“, rätselte Firan.

Ran sah ihn mit abgeklärtem ruhigem Blick an und sagte nichts.

Jei hatte sich die Narben dort selbst beigebracht, an den Stellen an denen sein Bruder gequält worden war und das über Jahre hinweg. Damit er verschont, rein bleiben sollte. Ran konnte nur vermuten, aber Jeis Geheimnis war aufgedeckt worden und Ran hätte ihm von Herzen gewünscht, dass er hier bei ihnen wäre. Aber hätte Jei seinem Bruder so unter die Augen treten wollen? Oder hätte er sich lieber weiter verborgen? Jei hatte seinen Bruder hier in Morioka sicher gespürt. Er wollte nicht hierher kommen. Firan war frei... Jeis Arbeit getan.

Redete sich Ran das ein oder war es tatsächlich so gewesen, sie würden es wohl nicht mehr erfahren.

Jei... sie hatten alles falsch interpretiert, alles war so falsch gewesen. Jei hatte sein eigenes Ding gemacht, weder Brad, Nagi noch Schuldig hatten ihm in die Karten schauen können. Sie hatten alle versagt. Selbst der große Hellseher.

Dabei... vielleicht hätten sie ihm helfen können, Firan helfen können. Vielleicht hatte er nicht gewusst wo sein Bruder war, vielleicht konnte er ihn nur fühlen. Und dann war das einzige was er für ihn tun konnte ihn so zu beschützen... seine Seele zu beschützen. Und mit dieser Last hatte er begonnen sich selbst zu bestrafen, sich zu verstümmeln...

Ran hätte am Liebsten laut geschrien. Er würde Straud töten, langsam... damit er auch viel davon hatte. Aber vor ihm standen bestimmt noch eine Reihe anderer Menschen die ihr Anrecht an einem Teil der Rache hatten.

Und Brad war diesem Menschen in die Hände gefallen? Vielleicht sogar freiwillig? Warum?
 

Firan erzählte auf sein Nachfragen wie er hierher gekommen war. Ran hörte ihm zu, denn es lenkte ihn ein bisschen von seiner Trauer über Yohji ab. Er hatte seinen besten Freund verloren. Sich dies bewusst zu machen und Firan zu sehen und seine Geschichte zu hören.

Es vereinte sie beide ein bisschen und vor allem... hatten Yohji und er eine lange Freundschaft besessen, sie hatten sich gekannt, sich geliebt und miteinander gelacht und gelitten. Sie hatten einander im Arm gehalten. Wenn er Firan so ansah dann zerriss es ihm das Herz.

Yohji und er hatten gewusst, dass es eines Tages einen von ihnen erwischen würde, auf die eine oder andere Weise. Wer es sein würde, das hatte von ihnen zuvor niemand sagen können. Jetzt war Yohji bei Asuka. Endlich.

Rans Augen füllten sich mit Tränen. Er schloss sie und seine Hände fanden Schuldigs Nacken. Als er sie wieder öffnete war Firan gegangen. Sicher zu seinem Bruder. Seinem toten Bruder, den er seit der Kindheit nicht mehr gesehen hatte, der seine Schmerzen, seine Ängste, die Erniedrigung, die Scham und all die anderen Gefühle in sich aufgenommen hatte um ihn zu schützen. Firan war nun alleine, mehr denn je. Und er konnte sich nicht einmal bedanken. Nichts war ihm geblieben. Von welchen Erinnerungen konnte er zehren? Keiner konnte sie ihm schenken.

Ran weinte lautlos, um Firans und seinen eigenen Verlust. Firan zu sehen und von ihm zu hören, dass Jei tot war ließ keinen Raum mehr für Spekulationen darüber ob alles nur ein Irrtum war. Yohji und Jei waren tot.
 


 


 

o
 


 


 

Irgendwann wurde Schuldig wacher und gähnte herzhaft. Das klang so vertraut und herrlich faul, dass Ran sogar schmunzeln musste. Auf Schuldigs Bequemlichkeit konnte man sich verlassen auch wenn die Situation noch so bescheiden war. Schuldig wurde wacher und rappelte sich auf, er kletterte über Ran, stützte sich mit Knien und Händen neben Ran auf und sah auf ihn runter. „Na, Schlafmütze, wach?“, fragte er und Ran nickte folgsam.

Er fühlte sich immer noch etwas daneben.

Sie sahen sich an und wussten, dass Ran nicht einfach nur geschlafen hatte. Aber wollten sie es auch ansprechen?

„Dank dir bin ich jetzt wach.“

„Das ist schon mal passiert, Ran. Damals als wir auf dem Friedhof waren, doch jetzt war es schlimmer.“

Ran nickte. „Ich... ich wollte einfach weg und alles vergessen.“

„Auch mich.“

Rans Augen füllten sich mit Tränen. „Ich weiß nicht“, sagte er unbeholfen.

„Es tut mir Leid.“

Schuldig senkte den Kopf und küsste ihn tröstend auf die zitternden Lippen.

„Ganz ruhig. Is nicht schlimm, Ran“, sagte Schuldig beruhigend.

„Ich weiß, dass du mich nicht vergessen wolltest, du wusstest schließlich, dass ich kommen und dich holen würde“, sagte Schuldig zuversichtlich eine hübsche Ausrede für sie beide kreierend. Ran nickte dankbar mit Tränen in den Augen.

„Ja, ich wusste, dass du kommen würdest. Wo sind wir hier? Die Frau vorhin war Sakura Kawamori.“

„Ich habe uns nach Morioka gefahren.“

„Was ist... wo ist... ist... sind sie tot?“ Er musste einfach noch einmal fragen.

„Ja, Ran. Yohji und Jei sind tot.“

Ran nickte. Er fühlte sich wie betäubt, kraftlos. Er hörte es und hatte es auch gesehen, Yohji berührt, seinen Puls gesucht, aber er war so kalt gewesen. Dennoch war es so unwirklich.

„Und Nagi?“

Schuldig kletterte über Ran und setzte sich neben ihn. „Ich weiß es nicht. Ich bin vorbeigefahren. Die Klinik liegt in Trümmern. Was rede ich, das ganze Hochhaus ist zusammengefallen. Zwei Blocks weiter liegen immer noch Trümmer. Keine Signatur mehr von ihm oder vom Doc.

„Das heißt nicht, dass er tot ist.“

„Nein, das heißt es nicht, aber ich vermute, dass sie über die Klinik an uns rangekommen sind. Entweder über den Doc oder Nagi.“

„Egal wie... es ist schlimm. Wenn sie die beiden haben...“, fing Ran an verstummte aber.

„... sind wir die einzigen die noch frei und am Leben sind. Ich hoffe oder denke, dass Brad Omi mit Ken, Eve und Lilli weggeschickt hat.“

„Asugawa?“

„Keine Ahnung. Brad hat ihn eingesperrt...“

Er erzählte Ran kurz von dem speziellen Raum und dass Finn in Tokyo geblieben war. Ran hatte in seinem Zustand nicht mehr viel von Asugawas Anwesenheit mitbekommen.

„Das war alles Absicht von ihm“, schloss Ran.

„Brad?“, hakte Schuldig nach. „Ich fürchte. Jei und Kudou waren die Einzigen, die er nicht ganz unter Kontrolle bekommen hat. Wir beide waren zu weit weg und vermutlich zu sehr darauf aus Antworten von hier zu bekommen.“

„Glaubst du das werden wir?“

„Ja, ich habe bereits einiges erfahren.“

Ran versuchte sich aufzusetzen.

„Sie sieht mir ähnlich, die Haarfarbe...“

„Es ist deine Großmutter. Sakura Kawamori ist deine Großmutter.“

„Dann ist sie so alt?“

„Ja. Sie muss... keine Ahnung wie alt. Mindestens um die Hundert, wenn nicht mehr sein.“

„Dann hatten wir mit der Vermutung Recht, dass sie eine PSI ist? Sie war auf dem Bild mit Oloff.“

„Ja ist sie.“

„Was ist sie?“

„Ein Runner.“

„Was machen die?“

„Erinnerungen hüten oder so... genau weiß ich es nicht, ist mir auch neu.“

„Erinnerungen...“, sagte Ran leise. Und ihm kam kein guter Gedanke. Was wenn er auch einer war? Er runzelte die Stirn weil er nicht alles was passiert war auf dieses Blatt Papier bekam das er sich vorstellen wollte.

Umständlich begann er sich aufzusetzen. „Ist das passiert weil ich auch einer bin? Ein Runner?“

Schuldig sah zu Ran auf. „Ja, das ist eine Fluchtreaktion bei... euch.“

Ran sah zu ihm hinunter. Er rutschte an den Rand des Bettes und zog seine Beine über die Kante. Schwindel erfasste ihn aber er wurde nach einigen Minuten besser. Schuldig beobachtete ihn mit Argusaugen, griff aber nicht ein.
 

Ran schwieg eine geraume Weile bis er sich wieder hinlegte. Er war völlig erschöpft und auf seiner Stirn waren vereinzelt Schweißperlen hervorgetreten. Schuldig wischte sie ab und beugte sich über Ran um ihn zart zu küssen. „Das wird wieder besser.“

Ran sah ihn nur an.

„Wieso hast du es nicht erkannt? Dass ich einer von euch bin? Wieso hat es niemand erkannt?“ Rans Augen sahen ihn aufgebracht an aber er war noch nicht wütend, das erkannte Schuldig. Er war dazu noch zu fertig.

„Extrem gute Schilde.“

Ran lachte auf. Aber es war kein freudiges Lachen.

„Das kann nicht wahr sein!“, rief Ran aus und schüttelte den Kopf.

„Ich wusste nicht einmal dass es solche PSI wie ihr es seid - und im Übrigen die Kawamoris die hier leben auch - gibt.“ Schuldig legte sich auf den Rücken. Sie lagen nebeneinander und sahen beide an die Decke.

„Ich fühle mich verarscht“, bemerkte Ran dann.

„Ja ich mich auch.“

Sie schwiegen eine Weile weil Schuldig nicht wusste wie er Ran alles leichter machen konnte und Ran schwieg weil er die Puzzleteile versuchte zusammenzusetzen.

„Und Chiyo?“, fragte Ran.

„Nur eine Stellvertreterin, die Sakuras Platz eingenommen hat, als sie zu alt wurde und ihr jugendliches Aussehen nicht mehr verbergen konnte.“

„Wahnsinn.“

„Kann man so sagen. Willst du noch mehr hören?“, fragte Schuldig und sah kurz zu Ran hinüber.

Dieser nickte und Schuldig erzählte ihm von der Fahrt, von Asugawa und ihrer Ankunft hier. Und von seiner ersten Begegnung mit Firan.

„Ich habe ihn gelesen, als ich erkannte wer er war. Ich bin völlig ausgeflippt.“

„Du hast alles gelesen?“, fragte Ran vorsichtig.

„Ja. Vieles davon. Es war nicht weit verborgen und ich war zu... irre um es nicht zu tun.“

„Er war vorhin hier als du geschlafen hast.“

Schuldig nickte. „Hat er dir erzählt...“, fing Schuldig an. „Ja“, sagte Ran und hob die Hand. „Ich kann kaum darüber sprechen. Er hat ihn knapp verpasst. Es ist grausam.“
 

Schuldig erzählte Ran von dem Gespräch im Garten mit Omi und Jei.“

„Das war echt sehr seltsam. Dieser Satz, dass er Omi einen Bruder schuldete. Und er ihm einen schenken konnte.“

„Vielleicht war das der Moment wo er bemerkte, dass Firan nicht mehr im Einflussbereich von diesem Straud war.“

„Kann sein“, flüsterte Schuldig. „Ich mache mir Vorwürfe. Ich weiß aber nicht was wir hätten tun können.“

„Nichts.“

Sie schwiegen wieder.
 

„Es drängt mich nichts dazu die Situation zu ändern“, sagte Ran plötzlich in die einvernehmliche Stille hinein in dem sie dem Regen zuhörten wie er auf das Dach prasselte und an ihm in Strömen hinunterlief. Er fühlte sich an ihren Aufenthalt in den Bergen erinnert.

„Was meinst du?“, fragte Schuldig mit träger Stimme. Ran hatte eine Strähne seiner Haare erwischt und zwirbelte sie zwischen seinen Fingern.

„Müssten wir nicht Pläne schmieden? Herausfinden was vor sich geht? Nach Antworten suchen, sie einfordern, aktiv werden? Irgendjemanden töten?“

Schuldig rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.

„Sollten wir wohl. Vor allem Letzteres“, erwiderte er nachdenklich.

Wieder schwiegen sie.

„Andererseits bekommen wir hier Antworten. Sakura meinte, dass ich noch nicht bereit für eine Konfrontation mit Rosenkreuz wäre“, fügte er dann nach ein paar Minuten an.

„Erinnerst du dich wie wir über deine Eltern gesprochen haben? Dass du nicht weißt wer dein Vater war?“, fiel Ran ein.

„Hmm, ja. Er lebt und ist eingesperrt weil es sonst zu gefährlich wäre“, antwortete Schuldig.

„Für ihn oder für alle anderen?“

„Gute Frage“, räumte Schuldig ein. Er wusste es nicht und er hatte Angst vor der Antwort.

Schweigen.

„Wie er wohl so ist?“, sinnierte Schuldig und seufzte melancholisch.

„Hört sich jedenfalls nicht sehr freundlich an. Dasselbe dachte ich von Chiyo. Oder meiner Großmutter im Allgemeinen.“

„Ich fand sie ganz umgänglich“, bemerkte Schuldig vorsichtig.

Ran brummte etwas Unverständliches und Schuldig drehte den Kopf zur Seite und sah nach oben zu Ran, der sich aufgesetzt hatte und nun am Kopfende saß. „Nicht?“, hakte er nach.

„Doch. Ich bin wohl noch zu überfordert mit der Tatsache, dass sie jung aussieht und meine Großmutter ist.“

„Finde ich auch nicht gerade alltäglich, obwohl es für mich wohl so sein sollte. Langsam aber sicher komme ich mir wie ein Kind vor dem man einiges vorenthalten hat.“

„Bist du ja auch!“, behauptete Ran trocken.

Schuldig schnaubte. „Du auch.“

„Sicher nicht.“

„Doch, bist du!“

Das Spielchen ging noch eine Weile so weiter und erschuf die Illusion von Unbeschwertheit.

„Du hast Recht, ich bin es“, sagte Ran dann als sie müde waren und Schuldig sich an Ran gekuschelt hatte. Dieser hatte seine Wange an Schuldigs Haarschopf gelegt.

„Ach, Ran...“, murmelte Schuldig im Halbschlaf. „Du machst den ganzen Spaß mit dieser blöden Wahrheit kaputt. Damit ist uns nicht geholfen.“

Ran schnaubte.

„Sie haben uns alle beschissen...“, sagte Schuldig und gähnte. „Wir gewöhnen uns besser an diesen Gedanken.“
 

Irgendwann mussten sie beide eingeschlafen sein, denn Schuldig wachte nachts einmal kurz auf um zu überprüfen wie es Ran ging, doch dieser schlief tatsächlich. Beruhigt schlief auch Schuldig wieder ein und hielt sogar bis zur Dämmerung durch.

Er gähnte und fuhr sich über das Gesicht. Frühnebel versperrte die Sicht auf andere Gebäude. Er versicherte sich dass Ran noch schlief, doch dieser hatte sich seine Hand geschnappt und wurde unruhig.

Schuldig beugte sich zu der zarten Ohrmuschel, berührte sie mit seinen Lippen.

„Ich seh mal was ich zu Essen finde. Schlaf noch ne Runde. Nachher gehen wir zu Yohji, ja?“

Ran war wohl beruhigt, nickte brummend und entspannte sich wieder. Schuldig seufzte und erhob sich.

Er ging ins Badezimmer um sich frisch zu machen und schlüpfte in andere Klamotten. Er sah immer noch furchtbar aus.

Dann stromerte er ins Haupthaus hinüber und beobachtete wie das Haus erwachte. Firan kam gerade aus einem der Waschräume und sah zu ihm auf. Er lächelte schüchtern, auch wenn Schuldig erkannte, dass es erzwungen war. Dennoch war es ehrlich. Die goldenen Augen leuchteten ihm warm entgegen.

„Willst du zu Sakura-sama, Gabriel?“

Schuldig zuckte mit den Schultern. „Klar, warum nicht?“

„Ich bringe dann das Frühstück.“ Firan ließ ihn allein und Schuldig machte sich zu Sakuras Räumen auf. Er musste sich wohl daran gewöhnen mit seinem vormals geheimen Geburtsnamen angesprochen zu werden. Wenn er sich vorstellte wie geheimnisvoll er herumgetan hatte als Ran seinen Namen wissen wollte und kaum war er hier posaunte und benutzte Sakura ihn als wäre es nichts.

Schuldig verzog frustriert das Gesicht. Dumm gelaufen. Und Firan konnte er nicht sagen, dass er Schuldig hieß. Er empfand es als unpassend. Und für ihn war es seltsam Gabriel genannt zu werden. Wenigstens sprach ihn Sakura auf Englisch aus und nicht Deutsch, das hätte ihn zu sehr an seine verkorkste Kindheit erinnert. So war es doch noch etwas fremd und sollte so bleiben.

Er tastete sich mental vor bevor er sie erreicht und prallte gegen eine fette Mauer.

Als er vor der Tür war hörte er ihre Stimme.

„Komm herein.“

Er trat ein und wünschte einen guten Morgen. Wenigstens ging es hier nicht so steif zu.

Sie bat ihn Platz zu nehmen.

„Ein Frühaufsteher?“ Sie nippte an ihrem Tee. Er sah sie misstrauisch an.

„Eher nicht.“

„Besondere Umstände?“

„Ja“, bestätigte er, wollte aber nicht unhöflich sein und schob noch einen Satz hinterher. Obwohl er sich für Smaltalk nicht wirklich fit fühlte.

„Sie sind schon länger auf?“

„Ich habe einige Leute losgeschickt um Informationen zu sammeln. Der Netzknotenpunkt in der Klinik liegt brach.“

Schuldig nickte. „Ich könnte mich umhören.“

„Nein, ich möchte, dass du dich in nächster Zeit nur auf dich oder auf Ran konzentrierst. Deine Energie muss hierbleiben. Ist das in Ordnung für dich?“

Er nickte.

„Ich denke Ran wird das verstehen wenn wir es ihm erklären.“

„Ha! Sie meinen ich bin der Ungeduldige von uns beiden?“ Schuldig lachte laut auf und sah sie ungläubig an, was sie mit einem schmalen Lächeln quittierte.

„Tja, er kommt wohl eher nach mir.“

„Wenn Sie das sagen...“, gab er sich vorsichtig.

Sie schenkte ihm Tee ein und er nahm die Tasse an.

„Momentan ist er noch dabei alles zu verdauen, er ist etwas lethargisch und muss sich erst von Kudou verabschieden. Dann wird er übellaunig und mürrisch werden“, prophezeite Schuldig und Sakura sah ihn wenig begeistert an.

„Is Ihr Enkel!“, schob Schuldig die Verantwortung an die Frau rüber.

„Es ist dein Partner, Kleiner“, sie grinste ihn unverschämt an, den Ball wieder in sein Feld spielend und Schuldig gab seufzend auf.
 

Sie tranken eine Weile schweigend und sahen zu wie sich der Nebel verzog. Irgendwann brachte Firan das Frühstück. Sakura fragte ihn ob er bei Ihnen bleiben wollte, aber er verneinte.

Schuldig sah ihm nach als er alles gebracht hatte und sich von ihnen verabschiedete.

„Ich reiße Somi sein Herz raus“, sagte Schuldig ruhig als er Firan dabei beobachtete wie er die Tür schloss.

„Falls Ran mir nicht zuvor kommt, heißt das...“, resümierte er leise vor sich hin.

„Das ist kein Wettkampf.“

„Abwarten.“

Sie aßen eine Weile still bis Sakura ihn aus seiner Lethargie riss.

„Möchtest du nichts über deinen Vater wissen, über deine Mutter?“

Er legte seine Stäbchen zu Seite. „Ich bin mir nicht sicher“, gestand er.

„Warten wir bis Ran soweit ist.“

Schuldig nickte.

„Heute Abend wollen wir sie bestatten. Eine Zeremonie der Kawamoris. Kudou Yohji erhält die Ehrenbestattung eines Guards. Er trägt die erste Zeichnung eines Guards.“

Schuldig nickte. Was sollte er auch sagen? Für Ran war es sicher gut wenn sie Kudou eine Ehrenbestattung spendierten. Der Playboy war ihm ans Herz gewachsen und er fühlte in sich ein komisches Gefühl. Kudou würde keinen blöden Spruch mehr reißen. Das würde ihm fehlen.

Und der Typ der sich als Kudous Illusion ausgegeben hatte... selbst er hatte die blöden Sprüche nur am Anfang aufrecht erhalten. Später war klar gewesen, dass es nicht seine eigene Syntax war derer er sich bedient hatte.

Sein quasi Schwager war tot. Rans Rückhalt wenn Schuldig aus welchen Gründen nicht da war oder nicht konnte oder verrückt spielte. An wen sollte sich Ran dann wenden?

Schuldig presste die Lippen aufeinander. Omi war nicht mehr da, Ken ebenso wenig. Manx verschwunden. Ran war allein mit einem verrückten Telep... Soulwhisperer. Was auch immer das genau war.

Ran brauchte doch jemanden außer ihm. Jemand normales.

Aber Ran war nicht normal. Trotzdem. Er brauchte einen Freund. Aber wen?

„Deine Gedanken sind deutlich auf deinem Gesicht abzulesen. Das ist interessant.“

Schuldig schnaubte.

„Ja? Was denke ich denn so?“

„Du bist dir nicht sicher ob du Ran alleine reichen wirst.“

Schuldig atmete tief ein und langsam aus. „Kann sein, weiß nicht“, sagte er ausweichend.

„Du kannst seinen besten Freund nicht einfach ersetzen.“

„Ich weiß. Aber ich bin verrückt. Ran braucht Normalität.“

„Was Ran braucht weiß er selbst am Besten. Was würde er dir auf deine Gedanken hin antworten?“

„Mir in den Arsch treten.“

Sie lachte auf. „Mit Sicherheit.“

„Dein Vater hatte einst auch einen Runner unterschätzt. Eigentlich hat er zwei Runner unterschätzt. Dumme Idee.“

Schuldig sah die Frau an. „Wenn Sie das sagen. War meine Mutter auch ein PSI?“

„Nein.“ Zumindest war das die einhellige Meinung.

Sie beobachtete ihn und Schuldig sah zu ihr auf.

„Sie lebt.“

Er schüttelte den Kopf. „Gut, bis hierher konnte ich Ihnen glauben, aber DAS...“

„Glaub es oder nicht. Aber es ist so.“

„Wie? Sie war tot. Ich kann mich noch erinnern.“

„Das stimmt. Sie war tot. Aber dein Vater holte sie zurück.“

Schuldig schüttelte den Kopf.

„Wir warten bis Ran wieder oben auf ist?“, fragte sie ruhig.

„Besser ist das“, sagte er und er fühlte sich ziemlich durcheinander.

„Brad hatte Recht. Wir waren nichts anderes als Sklaven.“

„Ihr wurdet klein gehalten damit ihr nicht rebelliert.“

Schuldig schwieg.

„Ist es von Vorteil...“, er verstummte.

Sie wartete bis er weitersprach.

„Sie waren bei Oloff. Eve hat viel darüber recherchiert und laut ihren Recherchen propagierte Oloff, dass PSI sich am Besten an normale Menschen banden, weil sonst nichts Gutes dabei herauskommen würde.“

Sie nickte. „Das glaubte ich auch eine Zeit lang. Und sicher ist da was dran. Aber es zu pauschalisieren ist sicher auch nicht von Vorteil. Das gilt vielleicht für höherstufige PSI wenn sie sich fortpflanzen möchten.“ Sie seufzte.

„Ich weiß es nicht, Gabriel. Einst dachte ich wie Strigo. Dann als ich bei SZ war empfand ich ihre Ansichten als gar nicht so falsch. PSI sollten trainiert werden, ihr Potential erfasst werden damit sie wussten wer und was sie waren.“ Schuldig wollte etwas sagen, sie hob lässig die Hand von ihrem Knie und er schwieg.

„SZ veränderte sich. Als sie sich von Strigo abspalteten dachten sie nicht wie heute. Sie hatten hehre Ziele, ihre Motivation entsprang aus einem guten Gedanken, Strigo war ihnen zu fanatisch, sie wollten etwas freier damit umgehen. Irgendwann veränderte sich alles. Ich glaube auch heute noch, dass es grundsätzlich falsch ist Kinder ihren Eltern wegzunehmen, auch wenn diese nicht verstehen, was diese Kinder sind. Dennoch habe ich die Antwort darauf nicht gefunden wie wir eine Erziehung durch Menschen mit einem PSI Kind gewährleisten können, ohne dass es zu dramatischen Entwicklungen kommt. SZ begannen Kinder zu entführen, während Strigo nur die aufnahm, die ihren Weg zu ihm fanden oder die, die allein ihrem Schicksal überlassen wurden. Die Frage ist, ob es da nicht schon zu spät ist. Wenn diese Kinderseele schon viel schaden erlitten hat. Ist es da nicht besser sie zu entführen und ihnen Leid zu ersparen?“

Schuldig erinnerte sich an die leeren, dunklen Flecken auf Rans Seele.

„Sie sagen SZ hatte Recht?“

„In Teilen definitiv. Später jedoch wurden ihre Methoden radikaler. Um das alles zu verbessern müsste man die PSI in die Öffentlichkeit treten lassen. Das würde alles erst einmal verschlimmern, über Jahrzehnte hinweg, bevor es vielleicht zu einem normalen Zusammenleben kommen könnte. Es würden über hundert Jahre vergehen, wenn nicht mehr. PSI müssten streng kontrolliert werden. Gesetze würden überarbeitet werden, neue gemacht werden. Und was würde das bringen? Ist das die Freiheit die wir uns wünschen? Oder sollten wir dorthin gelangen und selbst lernen uns zu kontrollieren? Zu lernen anderes Leben zu schützen und es als wertvoll zu erachten wäre der beste Ansatz.“

„Stimmt wäre es“, pflichtete Schuldig bei.

„Nun, das ist der Leitsatz der Trias.“

„Ist er?“, fragte Schuldig erstaunt.

„War er... einmal. Es funktionierte gut... bis vor ein paar Jahren alles aus dem Ruder lief. Der Rat hatte das alles gut im Griff. Jetzt jedoch gerät alles außer Kontrolle.“

„Der Rat, hmm?“, sinnierte Schuldig.

„Ja, sie müssten sich mehr einbringen. Sie sind zu langsam, zu behäbig. Deshalb wollen sie eine Trias-Spitze die mächtig genug ist, um alle PSI zu führen. Die schneller als sie agiert, mit mehr Machtbefugnissen, die versteht um was es geht und die nicht aus persönlichen Gründen nach Macht strebt. Wie es jetzt der Fall ist.“

„Einen Hellseher.“

„Ja, beispielsweise einen Hellseher. Dem alle PSI bedingungslos folgen, dem sie vertrauen und dem sie glauben können. Die Zukunft. Und dem es nicht um Macht geht.“

„Und die anderen beiden Spitzen? Oder soll einer allein diese Gallionsfigur darstellen?“

„Dieses Mal glaube ich nicht, dass sie eine Gallionsfigur wollen. Sonst würden sie nicht einen Attentäter, einen rebellischen Hellseher dazu erwählen. Sie wollen eine echte Führung.“

„Er ist aber leicht zu manipulieren. Er hat Schilde, ja, aber einem Telepathen wie Sie ihn vorhin beschrieben haben, dem nicht einmal ich momentan etwas entgegensetzen kann... wer sollte ihn schützen?“

„Die beiden anderen Spitzen. Die Judges. Eine persönliche Garde. Das er Schutz braucht ist unbestritten. Nicht umsonst hatten sich die Spitzen der Trias euch als Garde erwählt.“

„Und wer sollte diese beiden anderen Spitzen sein?“, fragte Schuldig.

„Was zeichnet einen PSI aus?“

„Seine Seele.“

„Und die Kraft diese seelische Energie in eine körperliche Gestaltung umzusetzen. Körper, Geist und Seele müssen Energieschwankungen ausgleichen können, wenn sie im Ungleichgewicht sind.“

Schuldig hatte das von dem Typen gehört der Kudous Abbild gewählt hat um ihm bei Ran zu helfen.

„Warum nicht mein Vater, wenn er schließlich lebt? Oder ist er zu gefährlich?“, fragte er vorsichtig nach.

„Ich bin mir nicht sicher. Ich erzähle es dir wenn Ran hier ist. Ich möchte diese Geschichte nicht noch einmal erzählen.“

Sie sah ihn ruhig an und doch hatte Schuldig den Eindruck sie bat ihn um Nachsicht wegen dieser Verzögerung.

„Nach der Bestattung?“, fragte er.

Sie nickte. „Ein guter Zeitpunkt. Der Sake wird helfen.“

„Ich möchte den Job definitiv nicht. Soviel kann ich schon einmal sagen. Warum nicht Sie? Sie könnten Brad perfekt schützen. Mit diesem Schild.“

Sie lachte.

„Nein. Meine Zeit ist vorbei.“ Schuldig sah sie lange an und hatte das Gefühl, dass sie sich selbst da nicht so sicher schien und es sich eher einreden wollte. Aber er ließ zu, dass sie das Thema wechselte.

„Streng genommen werden die Mitglieder der Trias gewählt.“

„Sehr demokratisch.“

„Ja, aber es bilden sich auch unterschiedliche Fraktionen. Was ich mitbekommen habe würde sich niemand gegen einen Hellseher stellen. Verstehst du?“

„Er ist über jeden Zweifel erhaben.“

Sie nickte. „Sie würden ihm ALLE folgen. Ausnahmslos. Das Problem ist, dass zum jetzigen Zeitpunkt niemand so wirklich daran glaubt, dass Crawford ein Pathfinder ist. Sie glauben an ein gewisses Potential in diese Richtung aber die Mehrheit vermutet eher einen niederstufigen Träumer oder Ähnliches.“

„Und wenn Somi jetzt unlautere Absichten verfolgt und ihn nicht zum Rat bringt...“

„Ich zweifle daran, dass er dies tut.“

„Dann hat er jetzt Brad. Und keiner kann ihn aufhalten wenn er ihn manipuliert.“

„Ich wüsste nicht wer das sein sollte.“

„Ich kenne da einen angepissten Kawamori.“

Sie lächelte. „Eine Chance.“

„Er hat sie ihm selbst gegeben.“

„Er hat sehr viel Vertrauen in Kaitos Fähigkeiten.“

Schuldig zuckte mit den Schultern. „Er war verletzt und machte nicht den Eindruck, dass er uns oder irgendjemanden gefährlich werden könnte. Aber jetzt hat er das Serum wieder.“

„Wieder? Er hatte es nicht die ganze Zeit über?“

„Nein, Brad hat es ihm eine Zeitlang verwehrt um ihn in seine Berechnungen miteinbeziehen zu können.“

Sakura runzelte die Stirn. „Dann ist vielleicht noch nicht alles verloren und der Hellseher hat einen Plan.“

„Bin mir nicht sicher.“

„Vielleicht hat er die Verluste versucht gering zu halten und seine Gefangennahme gehört mit zum Plan.“

„Brad wollte sich nie gefangen nehmen lassen. Er sagte stets bevor das passiert stirbt er lieber.“

„Ist er Lebensmüde? Das kommt bei Hellsichtigen sehr oft vor.“

„Das ist immer noch im Bereich des Möglichen.“

„Dann ist alles verloren.“

Sie schwiegen, bis Firan hereinkam und alles abräumte. Schuldig half Firan mit dem Geschirr und folgte ihm in die Küche. Er bat um ein Frühstück für Ran und bekam ein vorbereitetes Tablett in die Hand gedrückt. Suppe und Reis für den Kranken. Und Tee.

Gut, dass er nicht krank war, ihm wäre das viel zu spartanisch. Und wer sollte die Suppe in Ran hineinbefördern? Er... oder...

Schuldigs Blick glitt wie von Zauberhand zu Firan hinüber der arglos in der Küche mithalf. Ein breites Lächeln leuchtete auf Schuldigs Gesicht auf. Sein Ass im Ärmel!

„Firan möchtet du mir mit Ran helfen?“ Schuldig legte sein harmlosestes Lächeln auf und Firan nickte. Wenn es darum ging Ran Suppe einzuflößen war ihm jedes Mittel recht.

Sie gingen hinüber ins Nebengebäude und Schuldig freute sich über seine Verstärkung, der Ran nichts Gemeines entgegensetzen konnte.

Ein kranker Ran war sein persönliches Armageddon und Firan, dieser aparte, höfliche dunkle Engel würde Ran sich benehmen lassen, so hoffte Schuldig. Ein Spitzenplan!

Brad war schließlich nicht hier und wenn er ehrlich war... Firan war besser als Brad. Sanfter, hübscher, liebevoller... zahmer... und führbarer. Seine neue Geheimwaffe...

Sie betraten das Haus und gingen hinauf ins Schlafzimmer. Sasuke war da und hatte wie es schien den Verband an der Flanke erneuert. Er löste gerade den Verband an der Kopfseite und sprühte etwas auf die Naht. Ran hatte den Kopf zur Seite in Richtung Fenster gedreht und seine Mimik war für Schuldig unleserlich.

„Es sieht gut aus. Wir nehmen ein Sprühpflaster. Ihre Wundheilung ist sehr gut.“

Ran sagte nichts dazu.

„Wie fühlen Sie sich?“

„Gut. Ich kann aufstehen.“

„Frühestens heute Nachmittag. Sie sollten damit beginnen erst im Haus einige Schritte zu machen.“

Rans Kopf ruckte herum und er wollte protestieren, das konnte Schuldig erkennen, Sasuke wohl auch.

„Heute Abend zur Bestattung ihres Freundes. Nicht früher. Sie wären uns fast gestorben. Ihr Gehirn hat keinerlei Aktivität mehr angezeigt. Schonen Sie sich.“

Sasuke packte alles zusammen und verabschiedete sich mit einem Nicken.

Schuldig begleitete ihn nach unten und öffnete ihm die Tür.

„Ein schwieriger Patient“, sagte er.

Schuldig verzog das Gesicht leidend. „Wem sagen Sie das?!“

Sasuke lächelte wissend. „Sie haben klug vorausgedacht indem sie Firan mitgenommen haben.“

Schuldig grinste. „Woher wussten Sie das?“

„Ich habe Erfahrung mit seiner Großmutter.“

„Aha und wer holt dort die Kohlen aus dem Feuer?“

„Sano.“

Sasuke ging und Schuldig ging wieder hinauf. Firan drapierte bereits das Essen auf dem Tablett so, dass Ran es gut erreichen konnte. Er saß aufrecht im Bett und beäugte mürrisch Firans Handgriffe. Für einen Außenstehenden sah es aus wie jeder Japaner der keinerlei Miene verzog. Für Schuldig jedoch sprachen minimale Details eine sehr deutliche Sprache. Rans Haltung war steif und die Augen nur eine Nuance enger als sonst. Dadurch wurde der Eindruck erweckt, dass sie dunkler waren. Der unstrittig rebellische Zug um die Lippen sprach Bände.

„Ich habe keinen...“, fing Ran an und Schuldigs Augen wurden größer. Er schüttelte über Firans gebeugten Rücken tadelnd den Kopf.

„Firan hat sich solche Mühe gegeben“, flötete Schuldig um Salz in die Wunde zu streuen.

Ran funkelte ihn böse an, weil er wohl Schuldigs Absicht genau erkannt hatte aber als Firan aufsah korrigierte Ran seinen Gesichtsausdruck und nickte ergeben. Er sah seine Niederlage ein. Schuldig würde sich diesen denkwürdigen Tag rot im Kalender anstreichen müssen – damit er es Ran unter die Nase reiben konnte. Gott, warum hatte er Firan erst jetzt zu ihm geschickt?! Er hätte sich sehr viel Ärger ersparen können. Schuldig seufzte ungehört.

„Danke“, sagte Ran leise und Firans Gesicht zierte ein Lächeln. Schuldig grinste freudig. Er wusste nicht ob er sich freute weil Ran langsam zu essen begann – wenn auch widerwillig – oder weil er Ran überlistet hatte. Vermutlich eher letzteres.

Firan ließ sich von Schuldig nicht helfen als Ran nichts mehr essen wollte und das Geschirr zusammenräumte. Er verließ das Zimmer um das Geschirr in das Haupthaus zu bringen.

„Er ist nicht hier um mich zu bedienen“, meckerte Ran und seufzte dann. Naja, ohne ein bisschen Gemecker ging es wohl nicht, aber Schuldigs Auftrag hatte er erfüllt! Firan war ab jetzt als Pfleger engagiert!

„Sicher nicht. Aber er möchte eine Aufgabe. Willst du sie ihm verwehren?“

„Nein. Ich mag es nicht. Das ist alles.“

Schuldig setzte sich zu Ran und betrachtete sich seinen Miesepeter genauer. Das Haar hatte wieder seinen alten Glanz zurück. Ran war ein PSI. Wie er. Das war... seltsam neu und unerwartet obwohl er vor ein paar Tagen noch einen Verdacht gehabt hatte. Dennoch war es unerwartet. Und er wusste wie es in ihm aussah, wie seine Seele beschaffen war. Wunderschön, voller Energie, zerbrechlich, spröde mit dunklen leeren Flecken. Die von ihrem Band im Zaum gehalten wurden.

„Was ist?“, fragte Ran misstrauisch und sein Blick schmälerte sich etwas.

Schuldig legte ein unternehmungslustiges Lächeln auf um seinen kurzen liebestollen internen Emotionsanfall zu kaschieren.

„Nichts. Ich finde deinen neuen Look sehr ansprechend.“

Ran hob eine Braue. Er kaufte es ihm nicht ab.

„Wenn es dir so gut gefällt... der Arzt sagte, dass es besser für die Wundheilung wäre, wenn alle Haare ab kämen.“ Oder Ran witterte seine Chance.

Schuldig fing an zu lachen. „Vergiss es. Das ist wirklich mies, Ran.“

„Weniger mies als Firan mitzubringen, damit ich diese verdammte schlecht schmeckende Suppe essen muss?“, grimmte Ran.

„Du hättest sie ablehnen können“, behauptete Schuldig scheinheilig und klimperte mit seinen Wimpern. Ran holte aus, war aber zu langsam und Schuldig wich lachend zurück.

„Das hätte ich nicht und das wusstest du genau.“ Ran wollte nach ihm greifen, beugte sich vornüber, stöhnte dann und ächzte geplagt auf.

„Ran sei vorsichtig... das war eine tiefe...“

Schuldig half ihm sich aufzusetzen und hatte die Rechnung nicht mitgeschrieben, denn Ran stürzte sich auf ihn, legte eine Hand um seinen Hals und die andere krallte sich in seinen Schritt.

„Das ist nicht fair“, jammerte Schuldig.

„Warum nicht?“, fragte Ran und Schuldig schürzte die Lippen zu einem Schmollmund. „Schön vorsichtig sein mit den Dingen die du da in deinen Fingerchen hältst.“

„Oh... bin ich, keine Sorge.“

Warum hörte sich das in Schuldigs Ohren nur falsch an? Ran drückte Schuldigs Kopf zur Seite und Schuldig spürte warme Lippen auf seiner Halsseite. Sein Puls beschleunigte sich. Er ließ zu, dass Ran sich einen Weg bis zu seinem Mundwinkel küsste bevor er seine Lippen zu einem Kuss einfing. Der wild und unbeherrscht wurde, und das in sehr schneller Zeit. Was dazu führte, dass bei Schuldig sämtliche Alarmglocken angingen. Das war Rans Schema um mit Stress klar zu kommen.

Okay.

Schuldig packte Rans Hals, hob ihn fast vom Bett und schubste ihn gegen die gepolsterte Rückwand des Bett. Er setzte nach und hielt ihn fest. Ran atmete schwer.

„Nicht jetzt, Ran. Nicht heute“, sagte Schuldig wütender als er sein sollte.

„Warum nicht jetzt?“

„Weil Kudou und Jei gestorben sind und du um Kudou trauerst. Und weil du gestern noch gestorben wärst, du warst Hirntot, oder es sah zumindest danach aus. Und dir geht’s noch beschissen.“

„Nein tut es nicht. Und ich bin nicht gestorben. Und...“ Ran verstummte. Warum verstand Schuldig es nicht? „Und... warum willst du mich nicht!?“

Tränen bildeten sich in Rans Augen, sein Gesicht drückte jedoch Zorn aus. Schuldig packte Rans Knöchel und zog ihn vom Bettende herunter zu sich. Er hielt ihn unter sich fest und sah ihm in die Augen.

„Hör auf mit dem Scheiß. Ich pack das jetzt nicht, Ran. Auch ich habe jemanden verloren. Und dich beinahe auch.“ Schuldig kletterte von Ran herunter und ging zur Tür. „Du warst beinah tot, verdammt!“, schrie Schuldig dann und drehte sich halb um. „Und das nur weil du dich verpisst hast und mich hier mit all diesen Kawamoris zurückgelassen hast.“

„Ich konnte ja wohl kaum was dafür!“, hielt Ran dagegen.

„Du konntest nichts dafür?“ Schuldig versuchte seine Gefühle im Zaum zu halten und ihm war bewusst, dass er froh war, dass er diesen kleinen Stinkstiefel wieder bei sich hatte. „Das ist mir bewusst. Du hattest Angst vor mir und du warst sauer auf mich weil ich es nicht geschafft habe Kudou zu retten. Sie zu retten. Das weiß ich! Aber du hättest dich nicht verziehen dürfen. Ich hätte dich ohne Hilfe niemals zurückbekommen. Verstehst du das?“ Schuldig sah in Rans verblüfftes Gesicht und schüttelte einmal den Kopf bevor er den Raum verließ. Ran verstand es nicht. Wie sollte er auch?

Schuldig brauchte frische Luft und verließ das Gästehaus. Was nicht die beste Maßnahme war aber er wusste nicht wie er mit Ran umgehen sollte und Brad war nicht hier. Sie mussten allein damit klar kommen... irgendwie.
 

Ran setzte sich zurück. „Ich hatte keine Angst vor dir“, sagte er leise. Und... machte er Schuldig Vorwürfe... wenn auch nur insgeheim?

Nein, das tat er nicht. Wenn er jemandem einen Vorwurf machte dann sich selbst. Warum war Schuldig so ausgerastet?

Er starrte die Decke an die ihm leider keine Antwort gab. Seine Finger tasteten über das Pflaster an seiner Seite. Alles trocken, alles im grünen Bereich. Es schmerzte und ein unangenehmer Druck war da aber auszuhalten.

Eine Weile lag er still da und starrte vor sich hin. Yohji war weg.

Diesen Gedanken bewusst zu denken ließ ihn aufschluchzen und sein Gesicht ins Kissen drücken. Er ebbte nach einiger Zeit wieder ab und Ran kam zur Ruhe. Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihm aus und er begrüßte es. Dann kamen wieder unerwünschte Gedanken, die sein eigenes Versagen betrafen, die seine Unfähigkeit betrafen. Schlussendlich kehrten seine Gedanken zu Schuldig und zudem was er gesagt hatte zurück. Er hätte ihn ohne Hilfe nicht zurückbekommen? Hatte seine Großmutter ihm geholfen? Wäre er ohne ihre Hilfe gestorben? Er hätte Schuldig allein gelassen.

Über diesen furchtbaren Gedanken schlief Ran ein.
 

Irgendetwas oder jemand weckte ihn und er schreckte aus dem Schlaf hoch.

„Ich bins nur“, hörte er Schuldig und Ran drehte sich um.

„Wie spät ist es?“

„Um zwei Uhr rum.“

Schuldig verhielt sich abweisend, das spürte Ran. Er seufzte, wollte etwas zur Entschuldigung sagen, wusste nicht wie er beginnen sollte und als er es wenigstens versuchen wollte hörte er wie die Tür zum Badezimmer geschlossen wurde. Er vergrub sein Gesicht im Kissen und zog sich die Decke weiter über den Kopf. Was sollte er tun?

Wieder flossen diese Tränen, die er so hasste und die er nicht stoppen konnte. Wo war seine Stärke geblieben? Warum konnte er diesen Schmerz nicht zurückhalten? Warum ihn nicht mehr einschließen, damit ihn niemand sehen konnte? Er musste nachdenken, aber wo sollte er anfangen?

An dem Punkt wie er sein Leben lang belogen wurde, oder dabei, dass etwas über sie alle hereingebrochen war und Brad es gewusst hatte? Oder, bei Jei und seinem Bruder? Oder, bei ihm selbst?

Er selbst sollte ein PSI sein? Wie sollte das funktionieren? Lange Zeit hatte er eben jene PSI gehasst, die seinen Weg der Rache gekreuzt hatten.

Und Schuldig war wütend auf ihn. Wie sollte er das alles hinbiegen? Alle waren weg.
 

Er hörte wie sich die Tür öffnete. Dann spürte er wie Schuldig sich ihm näherte und erkannte einen Schatten durch die Decke. Sie wurde langsam heruntergezogen bis seine Augen frei lagen.

Sie sahen sich einige Augenblicke an und Schuldig hatte seine Arme auf das Bett gelegt und sah von seiner Position zu ihm hinunter. Es war ein liebevoller Blick. Ran konnte ihn nicht lange aushalten und zog sich in sein Versteck zurück.

„Ich weiß nicht wie ich das alles hinbiegen soll“, sagte er dann gedämpft durch die Decke.

„Warum du?“

„Wer sonst?“, brummte Ran und Schuldigs Lächeln wurde breiter.

„Es gibt keinen Anführer von Weiß mehr. Kein Abyssinian mehr. Es gibt jetzt Ran Kawamori. Ich glaube es wäre gut damit anzufangen.“

Ran lugte wieder durch den schmalen Spalt den Schuldig geöffnet hatte. „Immer noch Fujimiya“, stellte Ran nüchtern fest.

„In gewisser Weise, das ist richtig.“

„Und der Rest?“

„Der Rest kommt nach und nach. Wie du vorhin gesagt hast; du hast überhaupt kein Bestreben in Aktionismus zu verfallen. Es wird Zeit dich selbst kennen zu lernen. Wir können zwar kämpfen, aber warum wir das tun sollten oder worum es geht – keine Ahnung.“

„Das war früher auch nicht wichtig.“

„Ja, weil früher bedeutete Befehle auszuführen. Willst du Befehle von jemandem bekommen der dich nach Belieben auf einem Schachbrett hin und herschiebt wie in der Vergangenheit?“

„Nein. Und der Schachbrettvergleich fördert unschöne Erinnerungen zu Tage.“

„Brad hatte seinen Spaß.“

Ran hatte nur ein Schnauben dafür übrig.

Schuldig drehte sich herum und setzte sich auf den Boden. Er sah zum Fenster hinaus und betrachtete sich die Wolken die tief und grau über dem Gebiet hingen.

Nach einiger Zeit spürte er einen kitzelnden Zug auf seiner Kopfhaut. Ran hatte sich eine Haarsträhne gegriffen und zwirbelte die Strähnen zwischen seinen Fingern.

„Ich hatte keine Angst vor dir.“

„Warum hast du dich dann verkrümelt?“

„Ich weiß nicht. Es war alles zu viel. Aber ich habe es nicht bewusst gemacht. Ich habe aufgegeben. Yohji dort so zu sehen und ich wusste nicht was ich tun sollte, was ich fühlen sollte. Ich starrte nur und wusste dass es schlimm war, aber ich fühlte nichts. Dann schrie ich um etwas zu zeigen, um mir selbst zu zeigen dass es schlimm ist, dass ich jetzt fühlen musste. Aber nichts war da. Rein gar nichts. Mein bester Freund stirbt und ich konnte nichts fühlen. Und dann hast du ständig gesagt ich solle aufhören und...“

„Ich war dir keine Hilfe“, sagte Schuldig und Bitterkeit lag in seiner Stimme.

„Das war meine Schuld. Ich wollte, dass du so bist. Wir... wir brauchten dich in diesem Zustand und hinterher war ich wütend darüber.“

Sie sagten lange Zeit nichts mehr und Ran zwirbelte Schuldigs Haare weiter.

„Ich weiß nicht wie ichs zusammen kriegen soll“, gestand Schuldig dann.

„Hmm?“

„Den Teil der normal ist und den Teil der irre ist.“

Ran schwieg.

„Sakura meinte, dass es nur eine Fähigkeit sei und ich ihr in der Vergangenheit sehr viel Raum gegeben habe und ich sie deshalb als eigenständige Persönlichkeit wahrnehme und ... vielleicht auch auslebe.“

„Kitamura?“

„Ja. Kann sein. Vorher war sie nicht da. Vielleicht habe ich sie damals zum ersten Mal benutzt und sie als Helfer eingesetzt und sie damals... kultiviert.“

Ran seufzte und sie schwiegen wieder ein Weilchen bis ihm etwas einfiel.

„Hat... sie auch etwas über meine Fähigkeiten gesagt? Ich meine... nur nicht mehr aufzuwachen ist ja nicht wirklich eine Fähigkeit die nützlich ist.“

„Du kannst einen auf toter Mann machen. Das ist definitiv nützlich, wenn du mich fragst.“

Ran rollte mit den Augen. „Ja, wenn ich es steuern kann, du Held. Und wenn sie mich unterdessen nicht umbringen.“

„Auch wieder wahr.“

„Sie hat nichts darüber gesagt?“

„Nicht wirklich. Außer dass du viel Energie speichern kannst. Das können Informationen sein, aber auch Energie als solche. Und deine Schilde sind hervorragend. Das ist wohl bei allen Runnern so. Ach ja... sie sagte noch, dass Aya auch ein Runner war und die alten Herrschaften der Trias wohl deshalb hierher gekommen sind.“

Ran setzte sich vorsichtig auf und hinter Schuldig. „Ah ja?“

„Hmm“, bestätigte Schuldig.

Ran kämmte mit seinen Fingern Schuldigs Haare nach hinten und teilte sie sorgfältig ab. „Um was genau zu tun?“

„Sakura meinte die Vermutung liegt nahe, dass sie ihre Energie oder vielmehr ihre Seelen in Aya transferieren wollten. Aber sie geht davon aus, dass Aya noch viel zu jung war und es nicht geschafft hätte.“

„Hat sie nichts Genaueres darüber gesagt?“

„Nein. Sie wollte ohnehin auch mit dir darüber sprechen. Übrigens hat sie über die Hauptinsel einen Schild errichtet.“

„Wozu?“

„Hab ich nicht gefragt. Mir war das irgendwann zu viel und ich wollte zu dir. Ich vermute, dass kein Runner entdeckt wird. Vermutlich muss trotzdem die Information über Aya zur Trias durchgesickert sein. Wie auch immer sie deine Schwester gefunden haben am Schild lag es wohl nicht.“

Ran flocht ihm Zöpfe, wie er feststellte und Schuldig brütete derweil vor sich hin.

„Sie hat noch einiges andere erzählt. Über Asugawa und Brad, über meinen Vater... und all das kryptisches Zeug über PSI, das ich nicht ganz verstehe. Ich habe festgestellt, dass ich nichts gelernt habe und so gut wie nichts weiß.“

„Aber war das nicht üblich bei SZ Unterricht über eure Fähigkeiten zu erhalten?“

„Ja. Aber mir scheint, dass vieles ausgelassen wurde um mich nicht zu gut werden zu lassen und um steuerbar zu bleiben. Ich bin kein Telepath, Ran.“

Ran stillte sein Tun. „Was?“

Schuldig lachte freudlos auf. „Hat sie tatsächlich behauptet.“

„Was meinte sie damit?“

„Dass ich ein Soulwhisperer bin, aber kein Telepath.“

„Ist das eine... Artverwandtschaft?“

Das brachte Schuldig zum Lachen und Ran ahndete es auch sofort mit einem Zwicken in eines seiner Ohren. „Autsch“, meckerte Schuldig leidend und rieb sich das Ohr.

„Nein. Was ganz anderes. Sie meinte, dass ich kurz gehalten worden bin, weil mein Vater...“

Schuldig erzählte Ran was er von Sakura erfahren hatte.

„... deine Mutter lebt also?“

„Angeblich. Ich glaube das erst wenn ich sie sehe.“

Schuldig schwieg und Ran stutzte. „Ist das keine gute Nachricht für dich?“

„Ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll, dass meine Eltern noch leben.“

„Ja“, sagte Ran und stillte seine Hände für einen Moment bevor er seine Arbeit wieder aufnahm. „Ich weiß auch nicht was ich damit anfangen soll... meine Großmutter vor mir zu haben.“

Sie schwiegen wieder ein Weilchen.

„Was kann ein Soulwhisperer?“, fragte Ran dann.

„Sie hat irgendetwas über Manipulation der Energiekörper gefaselt. Und über Seelen und was weiß ich... keine Ahnung“, endete Schuldig frustriert.

„Das was ich mit Nagis Schild manchmal mache wenn es flackert. Es stabilisieren. Und als ich dich zurückholte habe ich was ganz Verrücktes gemacht. Ich wusste nicht das ich das kann und ich brauchte Hilfe.“

„Von wem? Von ihr?“

„Sie konnte es nicht. Du warst zu schwer verletzt und zu weit unten. Sie hat es als Fall bezeichnet. Dein Energiekörper leert sich sehr schnell und der... Kern... zieht sich zurück an einen Ort an dem ihn niemand mehr erreichen kann oder so ähnlich.“

„Und von dort hast du mich zurückgeholt?“

„Ja. Und eines kann ich dir sagen, dort ist es verdammt cool.“

„Wie sieht es dort aus?“

„Du hältst es nicht für möglich, aber dort gibt es nur Blumen und Pflanzen... ein riesiges koneko...“

„Du verarscht mich“, behauptete Ran und schnickte an das andere Ohr.

„Stimmt gar nicht. Wirklich. Ehrenwort.“

Jetzt lachte Ran dunkel auf. „Ich lasse deinen blöden Bonsai vertrocknen und du willst mir weismachen, dass meine Seele ein...“

„... ein Garten ist. Jawohl“, sagte Schuldig feierlich.

„...ein beschissener Garten ist“, schloss Ran zynisch.

Schuldig wirbelte herum und sah Ran ernst an.

„Es ist ein Garten. Und es hat sich nur für mich so dargestellt. Für jemand anderen sieht es vielleicht anders aus. Ich meine du hast nicht wirklich einen Garten in deinem Kopf... glaub ich.“

Rans Augen wurden größer. „Du meinst das ernst.“

Schuldig nickte.

„Gut. Dann erzähl mal. Ich kaufs dir dann vielleicht ab. Aber denk dir was Interessantes aus, damit es wenigstens eine gute Geschichte abgibt“, sagte Ran und Schuldig sank etwas in sich zusammen. Er drehte sich wieder zurück und Ran nahm seine Arbeit wieder auf. Schuldig begann mit seiner Erzählung und Ran hielt sofort inne.

„Yohji?“

„Ja. Jetzt wart doch mal ab... meine Güte du bist so ungeduldig.“

Ran schnaubte wieder und schnickte wieder an Schuldigs Ohr. „Stimmt nicht, mein zweiter Name ist Geduld.“

„Hör schon auf damit, die sind schon ganz heiß...“, meckerte Schuldig. Am Arsch... Ran und geduldig. Dass er nicht lachte. Vielleicht in der Öffentlichkeit als der düstere, ruhige Rächer... Pfft... der im Dunkeln geduldig auf sein Opfer lauerte... Eher wie eine überspannte Bogensehne, die riss wenn sie zu lange auf Spannung gehalten wurde.

„Das kommt vom Lügen!“, behauptete Ran ruhig.

„Jetzt halt die Klappe und hör mir zu, ansonsten erzähl ich nichts mehr“, drohte Schuldig. Und Ran hielt sich daran...

....meistens...
 


 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Gadreel ^_^

no doubt

No doubt
 


 


 

Es roch nach frischem Regen und Schuldig hob seine Nase in den Wind. Er und Ran standen auf einer kleinen Anhöhe und sie betrachteten mit düsteren Mienen und gemischten Gefühlen die Vorbereitungen für das Bestattungsritual von Yohji und Jei. Ran hatte darum gebeten einen Spaziergang machen zu dürfen und Schuldig überwachte diesen Vorgang. Wirklich darum gebeten hatte er nicht, er war einfach nach draußen gegangen...

„Gehen wir zurück“, sagte Schuldig nach einer Weile.

„Ich will noch nicht.“

„Schon klar, aber du zitterst und du hast viel Blut verloren. Du musst dich ausruhen oder willst du heute Abend nicht dabei sein und lieber halb bewusstlos im Bett liegen?“

Ran sah finster zu ihm hinüber und Schuldig zuckte darüber lediglich nonchalant mit den Schultern. „Deine Wahl. Ich will dich nicht drängen, ich warte einfach bis dein Körper dir mitteilt, dass dein übliches stures Verhalten momentan unangebracht ist“, sagte er freundlich lächelnd.
 

Schuldig ließ Ran zwar die Wahl aber tatsächlich war es keine wirkliche Option vor allen Kawamoris umzufallen. Diese Blöße würde er sich nicht geben. Vor Schuldig ja, vor anderen nein.

„Gut“, lenkte Ran bissig ein. Schuldig hatte ja Recht aber es war immer noch schwierig das zugeben zu müssen.

„Ich ruhe mich eine Stunde aus und dann kommen wir wieder.“

„Sie schichten das Holz auf.“

„Ich möchte dabei sein“, beharrte Ran düster.

„Lass uns reingehen. Firan hat etwas zu Essen gebracht.“

Ran richtete seinen Blick auf das Gästehaus wo gerade die Tür zufiel.

„Suppe...“, brummte Ran. Schuldig half ihm unauffällig die Stufen hinunter und sie gingen langsam die paar Meter zum Gästehaus zurück. Im Haus wartete Firan auf sie und packte den Korb aus den er mit all den Dingen gefüllt hatte die Ran jetzt essen sollte. Ihm graute es.

Wie er so dastand und auf den Korb blickte fing plötzlich der Raum an zu schwanken, ihm wurde schlecht und dann kippte alles zur Seite. Oh zum Teufel...
 

Schuldig griff nach Ran und ließ ihn vorsichtig nach unten gleiten bevor er ihn rasch auf die Arme nahm und ihn in den hinteren Teil brachte um ihn auf das Sofa abzulegen. Er war blass und ein dünner Schweißfilm hatte sich auf seine Haut gelegt. Schuldig bettete seine Beine etwas erhöht.

„Ich hole Sasuke“, beeilte sich Firan und rannte zur Tür.

„Warte, Firan.“

Firan hielt inne. „Nicht? Aber...“ Firan kam wieder ein paar Schritte zurück. Er wirkte ängstlich und besorgt.

„Er wollte unbedingt zusehen und hat sich übernommen, nichts Neues und sicher geht es ihm gleich wieder besser“, sagte Schuldig.

Firan nickte, schien aber nicht ganz überzeugt. Schuldig öffnete Rans Jacke und schob seinen Pullover samt Unterhemd nach oben. Der Verband war verschwitzt aber die Naht sah in Ordnung aus.

„Kannst du mir neues Verbandszeug von oben bringen?“

„Ja, natürlich!“ Firan eilte die Stufen hinauf ins obere Stockwerk.

Währenddessen konzentrierte sich Schuldig und drang in Rans Gedankenwelt ein. Er war wieder vor dieser hohen Mauer angekommen und befolgte die Instruktionen die er von seinem mysteriösen Helfer bekommen hatte. Er ließ sich in Rans Gedanken treiben. ‚Ran?’

Rans Präsenz schien in weiter Ferne zu sein, sein Bewusstsein war in tieferen Schichten vorhanden und er konnte ihn spüren.

Schuldig fühlte die Erleichterung in sich wachsen und um dieses Gefühl nicht auf Ran zu übertragen verließ er Rans Gedankenwelt schnell wieder. Der schnelle Austritt ließ ihn keuchen und ein heftiger Schmerz explodierte hinter seinen Schläfen.
 

Als Firan mit einer Schüssel Wasser, Handtüchern, Waschlappen und Verbandszeug wieder kam, versuchte sich Ran aufzusetzen und Schuldig lag auf dem Boden. Er bewegte sich nicht.

„Gabriel!“ Firan stellte alles auf dem Tisch vor dem Sofa ab und kniete sich neben Gabriel. Er rüttelte ihn sanft und sah dann besorgt zu Ran, dessen Augen sich weiteten. „Was...?“

Firan stand auf und rannte aus dem Haus. Er lief schnell den Verbindungsgang entlang und ins Haupthaus zum Doktor. Er riss die Tür zum Büro auf und unterbrach ein Gespräch welches der Arzt mit seiner Herrin zu führen schien.

„Verzeihung... “, bat er aufgeregt.

„Was ist passiert, Firan?“, fragte Sakura und erhob sich.

„Er liegt einfach da und wacht nicht auf... und Ran geht es schlecht... ich bin nur kurz Handtücher holen gegangen. Ich war nicht lange weg...“

„Für uns hin.“ Sasuke nickte Sakura zu und sie folgte Firan, während der Doktor in das angrenzende Zimmer ging.

Firan rannte zurück und Sakura eilte etwas langsamer nach. Sie kontrollierte die Schilde der beiden und erkannte, dass sie intakt waren. Also keine allzu große Katastrophe...
 

Ran hatte sich unterdessen von der Couch gequält und saß neben Schuldig. Er fühlte seinen Puls. Dann blickte er auf als er Geräusche an der Tür hörte und Firan hindurchkrachte gefolgt von Sakura... seiner Großmutter.

Firan blieb im Hintergrund und sah zu wie Sakura ihre Hand an Gabriels Hinterkopf legte. Sie schloss die Augen.

„Er ist...“, sie öffnete die Augen wieder und sah Ran an.

„... schwach.“

„Schwach?“, krächzte Ran. Er fühlte sich miserabel und wenn irgendjemand das Wort schwach als Beschreibung für einen Zustand indem sich Schuldig befand verwendete dann... wurde ihm erneut übel.

„Warum ist er... schwach?“

„Hat er telepathischen Kontakt zu dir aufgenommen oder zu jemand anderen?“, fragte sie.

Ran sah sie ratlos an. „Ja... vorhin. Mir wurde schwindlig. Ich denke ich habe mich übernommen. Und ... ich bin umgekippt... denke ich. Er sah zu Firan und dieser nickte.

Dann habe ich gespürt wie Schuldig mich gedanklich kontaktierte. Er war besorgt und dann war er plötzlich weg.“

Sakura seufzte. „Dieser Idiot“, schimpfte sie nachsichtig. Ran runzelte finster die Stirn und sah auf Schuldig hinab. „Was hat er angestellt?“

Sakura lachte herzlich auf und Ran sah von Schuldigs Gesicht in ihres. Auch Firan schien der Heiterkeitsausbruch misstrauisch zu machen.

„Nichts. Er war besorgt um dich, so vermute ich und hat wohl gedacht er vergewissert sich, dass du nicht schon wieder fällst. Er hatte Angst und dieses Gefühl hat ihn dazu getrieben deinen Schild zu überwinden und nachzusehen, ob es dir gut geht. Was dazu führte, dass er sich verausgabt hat und dann ist er mit Sicherheit zu schnell zurückgekehrt und hatte einen Blackout. Dabei ist er auf den Boden geknallt. Und hat jetzt eine hübsche Beule und Kopfschmerzen wenn er aufwacht. Geschieht ihm Recht“, setzte sie ihrer Bestandsaufnahme ein Ende.

Ran hob an Einspruch einzulegen, nur weil jemand Schuldig verunglimpfte. Dieses Recht hatte er allein und sonst niemand.

Bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte hob Sakura ihre Hand.

„Er hat sich übernommen, da gibt es keine Rechtfertigung. Er hat sich gedacht – wenn er es einmal schafft bewusst deine Schranken zu überwinden geht das jederzeit wieder. Nur... er ist nach deiner Rettung viel zu schwach. Er hat kaum Energie um seinen eigenen Schild zu füllen und wäre Angriffen hilflos ausgeliefert. Er ist ein Idiot. Basta.“

Sie erhob sich und dann traf Sasuke ein. Sakura winkte ab und der Arzt entspannte sich etwas. Zusammen hoben sie Schuldig auf das Sofa. Ran wurde auf einen Sessel in der Nähe quartiert. Er sah sich nach Firan um.

Dieser begann damit Wasser für Tee aufzusetzen und Ran beobachtete diesen Aktionismus mit Sorge. Firans Hände zitterten. Sie hatten dem Jungen Angst gemacht.

„Aber da ist er nicht der Einzige“, hob dann Sakura an und Ran sah mit neutraler Miene zu ihr hinüber. Wenn sie jetzt ihn damit meinte... dann...

„Du bist nicht gemeint, Ran...“

Er erlaubte keinem Muskel in seinem Gesicht eine Regung.

„Sein Vater. Er hat dir sicher etwas darüber erzählt?“

Ran nickte einmal.

Sie sah zu Schuldig hinüber und beide sahen zu wie Sasuke ihn untersuchte.

„Sabin machte in der Vergangenheit viel unnützes Zeug und einen ganze Wagenladung an Unsinn - wenn man ihn nicht daran hinderte und er war findig dabei.“

„Er war besorgt“, verteidigte Ran Schuldig.

Sie lachte freudlos auf. „Tja, das war Sabin auch stets.“

Sie lümmelte sich in den Sessel, die Beine breit, die Arme hinter die Lehnen gepackt. Wie alt war sie? Zwölf? Das brachte Ran aus dem eisigen Konzept und er runzelte die Stirn. Das passte nicht in sein Bild von einer erhabenen Großmutter, Anführerin der Kawamoris einem altehrwürdigen Clan, die Kritiker ins Leben gerufen hatte – wie Schuldig erzählt hatte – und die seine Schwester und ihn im Stich gelassen hatte. Die von seiner Mutter einen abgetrennten Kopf in den Garten gestellt bekommen hatte.

Sie schwiegen eine Weile.

„Er ist kein Idiot“, stellte Ran noch einmal klar.

Sie sah ihn lange an. „Natürlich ist er das. Das sind alle Soulwhisperer. Diese Eigenschaft gehört sozusagen zur Standardausführung“, sagte sie ironisch und seufzte.

Ran korrigierte seine Sitzposition und ließ sich von Firan einen Tee reichen. Er trank automatisch und war tatsächlich überrascht, dass der Tee nicht ganz so schlecht schmeckte wie erwartet.

„Wie ist das gemeint?“ Ran konnte in ihren Worten nichts Witziges heraushören.

„Ihre Grundveranlagung ist, dass sie viel zu freundlich und vertrauensselig sind, um überhaupt überleben zu können. Sie können in der Regel keiner Fliege was zu Leide tun.“

Ran hob eine Augenbraue und sah zu Schuldig hinüber.

„In der Regel“, echote Ran. Das hörte sich an als wären ihr noch mehr Soulwhisperer begegnet...

„Tja. Bei ihm ist da wohl was schief gelaufen“, stimmte Sakura nachdenklich zu.

„Er ist gut wie er ist“, hielt Ran dagegen.

Sie nahm von Firan eine Tasse Tee entgegen und bedeutete diesem sich zu setzen.

Firan schien unsicher zu sein.

„Firan du darfst das hören, es gibt keine Geheimnisse in diesem Haus, wenn wir dich aufgenommen haben.“

Firan zögerte zunächst, setzte sich schließlich und nahm seine Tasse zu sich. Sakura sah zu Schuldig hinüber und dann zurück zu Ran. „Er ist gut wie er ist, und auch wieder nicht. Noch nicht.“

„Und sein Vater?“

„Da gibt es einen entscheidenden Unterschied. Sabin hat nie gelernt mit negativen Gefühlen umzugehen. Wenn sie ihn überraschen dann kann er sich nicht kontrollieren. Er kann damit nichts anfangen. Sie überrollen ihn.“

„Und was tut er dann?“

„Er wird zornig und denkt nicht mehr klar.“

„Und wenn er zornig wird...“

„...dann ist niemand vor ihm sicher.“

„Ist er deshalb eingesperrt?“

„Nein und Ja. Es ist kompliziert.“

„Ist es das nicht immer? Kompliziert?“

Sie schwieg und erhob sich dann.

„Wir verschieben die Bestattung auf morgen.“

„Warum? Wegen mir?“, fragte er mit Bitterkeit in der Stimme.

„Ja, in der Tat. Wegen dir. Es ist wichtig, dass du dabei bist.“

„Ich bin auch heute Abend dabei.“

„Ja. Vielleicht zehn Minuten. Du brauchst noch Zeit.“

„Ich bin bereit.“

„Mit Sicherheit“, sagte sie ernst und ging zur Tür. Ran sah ihr nicht nach.

„Aber du musst noch viel lernen. Und deinen Körper zu vernachlässigen, ihn geradezu zu unterjochen um deinen Willen durchzusetzen bringt dich nicht ans Ziel.“

„Und was bringt mich ans Ziel?“

„Zu gehorchen.“

„Etwa... meiner Großmutter?“

Sie stoppte an der Tür und stöhnte ungehalten auf. „Oh... noch ein Idiot.“

Ran biss die Zähne zusammen um nichts Wütendes zu sagen.

Dann war sie plötzlich hinter ihm und er musste zugeben: er hatte sie nicht kommen gehört.

„Ran. Du musst dir selbst gehorchen. Hör auf deinen Körper. Du leidest an chronischem Energiemangel. Ein Ungleichgewicht ist fatal.“

„Für mich?“

„Ja im Prinzip für alle Menschen, aber insbesondere für uns.“

„Für so etwas wie mich?“

„Für alle PSI. Und ja für uns insbesondere.“

„Was ist an uns anders?“

„Darüber reden wir wenn du genesen bist. Nach der Bestattung?“

Ran nickte. Was sollte er sonst tun? Sie würde ihm ohnehin nichts verraten wenn sie nicht bereit dazu war.

Er hörte wie die Tür ins Schloss fiel und ärgerte sich über seine relativ höfliche Konversation die er gerade mit der Frau geführt hatte, die ihn sein Leben lang ignoriert hatte. Die alle... im Stich gelassen hatte. Wie sollte er sich ihr gegenüber verhalten?

Er wusste es nicht. Sollte er verärgert sein? Das war er. Sollte er sie anschreien? Das konnte er nicht. Einerseits wollte er es, andererseits war sie die Einzige, die ihm viele Fragen beantworten konnte und sie stellte eine Verbindung zu seiner Familie dar.

Ran spürte wie ein Rinnsal Schweiß auf seiner Haut am Bauch entlanglief. Ein unangenehmes Gefühl. Seine Kleidung fühlte sich feucht an.

Er sah zu Schuldig hinüber und wollte sich erheben.

„Ich sehe nach ihm“, hielt ihn Firan mit besorgter Stimme ab, erhob sich rasch, stellte seine Tasse ab und war bei Schuldig. Ran hatte Firan über seine Grübelei fast vergessen. Er sah zu wie Firan es Schuldig bequemer machte und legte seinen Kopf in den Nacken um seine Augen kurz ruhen zu lassen. Ran hasste es Schuldig in diesem wehrlosen Zustand zu sehen.

„Es geht ihm gut“, hörte er Firan.

„Ja“, sagte Ran, ließ seine Augen aber geschlossen. Er schlief zwar nicht ein aber er ruhte sich aus und hörte zu wie Firan ging und dann etwas später wieder ins Haus kam.
 

Er musste eingeschlafen sein, denn er wurde von einem Geräusch geweckt. Sein Nacken schmerzte als er ihn aus der unbequemen Haltung löste und sich umsehen wollte. Vorsichtig massierte er sich die schmerzende Stelle und wandte dann den Kopf etwas schmerzfreier. Bis auf ein warmes Licht in der angrenzenden Küche war es dunkel. Die Couch war leer.

Er blinzelte und versuchte sofort aufzustehen. Ein dumpfer Schmerz in seiner Seite ließ ihn aufstöhnen, dennoch stand er auf. Er konnte sich kaum gerade aufrichten. Behutsam drehte er sich um und atmete bewusst ruhig ein und aus. Schuldig kam gerade die Treppe herunter und erst als Ran Erleichterung erfasste wurde ihm klar wie angespannt er aufgrund der Tatsache gewesen war, dass Schuldig nicht da war.

„Wo ist Firan?“, fragte er um seine Gefühle zu kaschieren.

Ran hielt sich an der Rücklehne des Sofas aufrecht, ihm war zwar nicht schwindlig aber er fühlte sich beschissen. Schuldig sah dagegen etwas besser aus. Überhaupt sah Schuldig robuster aus als noch zuvor. Er kam zu ihm und bot sich als Stütze an was Ran nur widerwillig annehmen konnte. Vermutlich kam jetzt auch noch eine Zurechtweisung über seinen Zustand. Schuldig zog ihn an sich und Ran spürte wie er sich selbst dabei entspannte und er sich etwas besser aufrichten konnte.

„Was hältst du davon wenn Firan hier einzieht?“

Ran legte seinen Kopf auf Schuldigs Schulter ab. Das war gut. Und Schuldig schimpfte nicht mit ihm, das war sogar noch besser.

„Warum nicht? Hat er nicht ein Zimmer? Möchte er das überhaupt?“

„Ich dachte wir könnten ihn besser kennenlernen und er uns. Er spricht gerade mit Sakura darüber.“

„Bleiben wir denn solange um von ‚einziehen’ zu sprechen?“, nuschelte Ran mit halb geschlossenen Augen in Schuldigs Schulter hinein.

„Wäre es nicht sinnvoll hier zu bleiben? Wir können im Moment nicht zurück und wir haben keinen Plan was vor sich geht oder...“

„... was mit uns los ist“, beendete Ran den Satz. Er hörte wie Schuldig seufzte, danach spürte er einen sanften Druck auf seinen Haaren. Schuldig küsste ihn. Eine sanfte Geste, die Ran melancholisch werden ließ. „Ich bin schwach und weinerlich und...“, fing er an sich in Selbstmitleid zu suhlen.

„Oh ja, das bist du...“, bestätigte Schuldig was Ran knurren ließ. Er hob augenblicklich seinen Kopf und sah Schuldig tadelnd an. „Schau mich nicht so an! Du bist schwach... und ich gedenke diese Schwäche aufs Schamloseste auszunutzen um meinem Ruf als Bösewicht gerecht zu werden!“, verkündete Schuldig mit einem dreisten Lächeln auf den Lippen.

„Ruf als Bösewicht?“

Schuldig nickte gewichtig.

„Den hast du verloren. Wer soll dir das noch abkaufen?“

„Daran bist nur du schuld!“ Schuldig zog ein schmollendes Gesicht.

„Sicher“, sagte Ran gelangweilt und hob eine Augenbraue.

„Du...“, fing Schuldig an Ran schlimme Dinge anzudrohen als die Tür aufging und er sich samt Ran umdrehte, was diesen dazu brachte sich an ihm festzuklammern. Er war definitiv nicht fit. Seine Beine kamen kaum mit.

„Firan!“, begrüßte Schuldig ihn.

„Geht es euch gut?“ Firan trug den Korb den er dabei hatte zum Tisch und stellte ihn ab.

Ran löste sich von Schuldig und ging verhältnismäßig aufrecht zum Tisch um sich zu setzen. Fehlte noch, dass Firan ihn für schwach hielt. Dass Schuldig ihm den Stuhl herausgezogen und ihn unter seinen Hintern geschoben hatte ignorierte er gekonnt.

„Hat Sakura zugestimmt?“, fragte Schuldig und stellte Ran ein Glas mit Wasser hin.

Ran stürzte es hinunter und stellte es ab. Er hatte nicht bemerkt wie durstig er war. Bis er von Firan zurück zum Glas sah war es wieder voll. Er war wirklich noch neben der Spur. Hatte er es überhaupt ausgetrunken? Er sah fragend zu Schuldig.

„Ja, das hat sie. Sie sagte, dass es eine gute Idee wäre.“

Firan sah aber nicht danach aus als würde er dem zustimmen wollen oder können.

„Du findest das nicht?“, fragte Schuldig wie nebenbei und half Firan die Lebensmittel auszupacken. Irgendetwas stimmte nicht. Firan behielt etwas für sich und Schuldig ahnte was dies war. Nur war es nicht an ihm etwas zu sagen.

„Doch...“, beeilte sich Firan.

„Aber?“, hakte Ran nach.

„Ich... will nicht stören.“

„Du störst nicht“, sagte Ran. „Ich finde es eine gute Idee und du gehörst eher zu uns als zu... denen“, sagte Ran und hob die Hand um zu verdeutlichen, dass er alle Kawamoris hier vor Ort damit meinte.

„Aber ihr kennt mich doch gar nicht. Ich könnte ein Spion sein. Wieso habt ihr dieses Vertrauen in mich?“

Ran sah Schuldig fragend an, dieser lachte jedoch lediglich und irritierte Firan damit umso mehr.

„Ich habe deine Gedanken gelesen und fand nichts was darauf schließen ließ.“

„Ja... aber... wenn es etwas ist das nicht offensichtlich ist? Wenn Somi etwas mit mir gemacht hat... oder Beltrami und ich nicht weiß was es ist und... sie hier herkommen und euch finden?“

„Glaubst du nicht, dass Sakura oder ich es entdeckt hätten?“

Firan sah sie beide an und nickte dann. Er sah nach kurzem Überlegen überzeugter aus.

„Woran hast du gerade gedacht?“, fragte Ran.

„An sie. An Mia. Sie hätte dieses Etwas entdeckt. Sie ist sehr stark.“

„Und sie ist wer genau?“

„Eine Judge. Sie hat mich befreit und hierher bringen lassen. Sie hätte bestimmt etwas entdeckt, wenn es so gewesen wäre.“

„Eine Judge?“, fragte Ran.

„Spezialagenten wenn du so willst, die für den Rat die Abläufe überwachen, damit alles sauber abläuft. Querschläger werden eliminiert. Dafür brauchen sie keine Extraerlaubnis. Sie bekommen einen Auftrag – ein Mandat – und haben einen großen Handlungsspielraum“, erklärte Schuldig.

„Woher weißt du das?“, fragte Ran.

„Sakura.“

„Warum hat diese Mia dich befreit?“, fragte Ran und Schuldig räusperte sich verhalten. Ran sah zu ihm und Schuldig hob fragend eine Augenbraue. Ran zuckte unauffällig mit den Schultern. Es war kein richtiges Verhör, aber nahe dran.

„Ich weiß es nicht. Das ist das was mir Sorgen bereitet.“

„Wenn sie dich markiert hat kann es sein dass diese Mia jetzt weiß wo du dich aufhältst und bei wem“, gab Schuldig zu bedenken.

„Aber... Judge Mia würde mir kein Leid zufügen.“

„Das vielleicht nicht, aber sie hat einen Auftrag und sie ist mit Sicherheit nicht allein gekommen“, sagte Schuldig.

„Nein. Der Großteil der Judges ist hier.“

„Wie viele sind das?“, fragte Ran.

„Alexandre de la Croix, sein persönlicher Agent Mistral, Bolder, Kimera, Viper, Whisper, Jasper, Grid“, zählte Firan auf. „... und noch zwei andere die ich nicht kenne. Ihre persönliche Entourage nicht mitgezählt. Vielleicht sind noch andere mitgekommen, aber das weiß ich nicht.“

„Sie haben eine... Entourage?“, fragte Schuldig und wollte seine Missbilligung kaum verbergen.

„Ja. Ihr Trakt ist so gebaut, dass sie autark agieren können. Sie beziehen ihre Nahrungsmittel autark, ebenso haben sie einen eigenen Eingang und Fuhrpark.“

„Damit sie nicht Gefahr laufen... was... vergiftet zu werden?“, fragte Ran mit Erstaunen in der Stimme.

„Sie sind angreifbar in vielen Punkten, das sollte ausgeschlossen sein. Judge De la Croix sorgt für alles damit sie sich nicht mit alltäglichen Dingen herumplagen müssen.“

„Judge De la Croix“, sagte Schuldig mit düsterer Stimme und Ran sah zu ihm auf.

„Und diese Judges könnten auf dem Weg hierher sein?“, fragte Ran.

„Nur falls diese Mia ihn markiert hat“, meinte Schuldig nachdenklich.

„Das hat sie“, erkannte Firan und blickte sie beide erschrocken an. „Ich...ich habe ihr... ein Fehlverhalten gemeldet und sie sagte sie markiert mich als Ermahnung und...“ Er schien völlig aufgelöst zu sein.

„Ganz ruhig“, sagte Schuldig und ging zu ihm hinüber. „Hast du Sakura davon erzählt?“

„Ja... ich glaube...?“, sagte Firan und sah verwundert von Ran zu Schuldig.

„Und was hat sie gesagt?“, fragte Ran.

„Sie sagte... dass es keine Rolle spiele.“ Firan hob die Schultern ratlos und ließ sie ebenso ratlos wieder sinken.

„Wegen des Schildes?“, fragte Schuldig in Richtung Ran.

„Was fragst du mich?“

„So muss es sein“, pflichtete Firan bei und schien in Gedanken zu sein.

Ran hob nur zweifelnd eine Braue in Richtung Schuldig, dieser neigte minimal den Kopf. Ein Zeichen, dass auch er diese Begründung anzweifelte, aber sie ohnehin im Augenblick nichts unternehmen konnten. Ohne andere Gründe. Firan im Auge zu behalten war jedoch eine gute Maßnahme.

Und das ganz ohne Telepathie. Ran lächelte, verbarg es aber rasch indem er zu dem Glas Wasser griff und einen Schluck trank.
 

Wenig später kochten Schuldig und Firan ihnen etwas zu Abend und Ran war froh, dass er etwas anderes als Suppe essen durfte. Und er freute sich auf eine Dusche. Und ein Bett. Ein Bett mit Schuldig darin. Nackt am Besten. Er hatte das Bedürfnis nach Nähe, aber zuvor...

„Firan... begleitest du mich nach dem Essen zu Yohji und Jei?“

„Heute noch?“ Firan wandte sich zu ihm um.

„Ja. Ich möchte heute noch zu Yohji.“

„Ich begleite dich.“ Firan nickte. Schuldig schwieg dazu. Weder Firan noch Schuldig ließen eine Bemerkung über seine Wunden fallen – oder die Tatsache, dass er kaum aufrecht stehen konnte.
 

Nach dem Essen begleitete Firan Ran hinüber ins Haupthaus und von dort gingen sie in ein Nebengebäude. Räucherstäbchen waren angezündet worden und Yohji und Jeis tote Körper lagen in ihre weißen Kokons gewickelt da. Die Gesichter lagen frei und waren nur von einem Tuch bedeckt. Ran wollte noch einmal in das Gesicht seines Freundes sehen. Noch ein einziges Mal. Er legte das Gesicht frei und setzte sich auf die Fersen zurück.

Sie sahen definitiv nicht mehr gut aus. Sie waren schon länger tot, das war deutlich zu sehen und es... war tatsächlich Yohji. Es gab keinen Zweifel mehr.

Ran blieb eine Zeit lang dort.
 

Sie gingen wieder als Ran fühlte wie er müde wurde. Es hatte keinen Sinn mehr. Yohji war gegangen.
 

Schuldig war nicht mitgekommen, was Ran verwundert hatte. Hatte er ihn überhaupt gefragt ob ihn der... der Tod der... beiden belastete? Ob er trauerte, wenigstens um Jei?

Ran bekam Gewissensbisse und als sie im Gästehaus angekommen waren saß Schuldig nicht am Tisch. War er oben?

„Gute Nacht, Ran“, sagte Firan. „Bis morgen.“

Ran quälte sich die Stufen hoch, löschte unterwegs noch die Lichter und betrat ihr Zimmer. Schuldig lag zwar im Bett schlief aber noch nicht und er hatte das Nachtlicht angelassen. Ran ging die paar Schritte zum Bett, bevor er sich mühsam hinsetzte. Sein Bauch fühlte sich wie ein einziges hartes Brett an. Er hörte wie es hinter ihm raschelte, dann verließ Schuldig ohne ein Wort das Zimmer und Ran sah ihm mit ungutem Gefühl nach. Warum ging er jetzt? War er wütend?

Hatte er etwas falsch gemacht? Hätte er ihn fragen sollen ob er mit wollte? Hätte er anstatt Firan Schuldig fragen sollen...

Dann kam Schuldig zurück und Ran sah ihn fragend an. Er reichte ihm ein Glas Wasser und zwei Tabletten. „Nimm die hier.“

„Nein, es geht...“

„Die sind winzig, Ran. Du nimmst die Dinger oder ich verhau dir den Hintern. Mir egal wie das aussieht. Böser Mann verhaut verletzten Mann den Arsch.“

Ran zog ein grimmiges Gesicht und starrte die Tabletten an.

„Möchtest du wirklich, dass ich nachhelfe?“, fragte Schuldig und lächelte aufmerksam.

Rans Augenbrauen wanderten nach unten. Seine Mundwinkel ebenso.

Er griff sich die zwei Tabletten und schluckte sie mit Wasser hinunter. Danach legte er sich aufs Bett und blieb in der gekrümmten Seitenlage liegen. Er schloss die Augen und lauschte auf Schuldigs Tun. Dieser legte sich auf die andere Seite des Bettes. „Wie spät ist es?“, fragte Ran.

„Kurz nach neun.“

„Ich... wolltest du mit?“

„Nein. Ich war schon bei ihnen.“

Sie schwiegen und irgendwann bemerkte Ran, dass er sich bequemer hinlegen und besser atmen konnte. „Ich muss duschen“, sagte er und rappelte sich wieder auf. Er sah auf seine Stiefel hinunter und fragte sich wie er nach unten kommen sollte, um sie auszuziehen. Der Gedanke zu duschen schien plötzlich nicht mehr so verlockend.

Er hielt sich die Seite und schnürte mit einer Hand den Stiefel auf bis Schuldig ihm zu Hilfe kam. Dann sah er ihn an und in diesem Blick erkannte Ran so viel von dem was unausgesprochen über diesem Abend lag. Dass sie froh waren, überlebt zu haben und dass sie zusammen in relativer Sicherheit waren. Schuldig kam näher und berührte seine Lippen. Ran hatte nicht bemerkt, wie kühl seine eigenen waren als die warmen von Schuldig Kontakt aufnahmen. Er schloss die Augen und ließ sich umarmen. Die Tränen ignorierte er. Schuldig durfte sie sehen.
 

„Wir haben keine Badewanne hier...“, sagte Schuldig und löste sich von ihm.

„Badeverbot vom Arzt verordnet“, erwiderte Ran an Schuldigs Wange geschmiegt.

„Duschen geht aber.“ Schuldig lehnte ihn etwas nach hinten um ihn ansehen zu können.

„Da ist eine Folie über dem Verband. Sasuke hat daran gedacht“, sagte Schuldig.

Ran nickte und half Schuldig dabei sich auszuziehen. Schlussendlich saß er nackt auf dem Bett und sah zu wie Schuldig sich seiner eigenen Kleidung entledigte.
 

Unter dem warmen Wasser lehnte sich Ran an Schuldig an und für einen Moment entspannte er sich völlig.

„Hast du schon Nachrichten gesehen?“, fragte Ran leise.

„Nein. Ich hab’s bisher vermieden. Es gibt viele Tote, Ran. Sehr viele.“

„Hast du das über das Radio?“

„Nein, von einigen Leuten hier aufgeschnappt. Die Bergungsarbeiten sind schwierig.“

Ran nickte. Dann schwiegen sie und ließen sich von warmem Wasser berieseln.

Schuldigs Hände fuhren über seinen Körper und seiften ihn ein. Genießend rieb Ran seine Nase an Schuldigs Schulter. Sein Gehirn war wie leer gefegt, kein einziger Gedanke wollte sich festsetzen und er war froh darum.

Lange blieben sie nicht dort. Wenig später lagen sie im Bett. Nackt wie es sich Ran gewünscht hatte und hielten sich im Arm. Schuldigs Hand streichelte über seinen unteren Rücken und manchmal auch über seinen Hintern. Rans Haare hatten sie nicht gewaschen, dazu hatte er sich nicht fit genug gefühlt. Sie würden dieses Problem morgen angehen. Trotz dem ihm Schuldig versichert hatte, dass seine Haare nach der Operation vom Blut befreit worden war, rieselten immer noch trockene dunkelrote Flocken aus ihnen heraus. Auf dem Kissen fand er trockenen dunkelroten Staub. „Schneid sie ab. Bitte“, flüsterte er an Schuldigs Haut. Dieser war vermutlich schon eingeschlafen wie sein ruhiger Atem bewies. Ran schlief geborgen in Schuldigs Umarmung ein.
 

Und wachte am nächsten Tag allein im Bett auf. Er hörte Geräusche von unten und legte sich auf den Rücken. Seine Hand ging automatisch an seine Seite. Der Verband schien trocken und in Ordnung zu sein. Vielleicht wurde er das ziepende Ding bald los?
 

Heute war es soweit. Yohjis Bestattung. Ran rief sich Yohjis Gesicht in Erinnerung und tat sich schwer damit dieses mit dem, im Nebengebäude in Einklang zu bringen. Das war nicht mehr Yohji. Es war nur eine verfallende Hülle.

Yohji war zu Asuka gegangen.

Noch während er versuchte Gefühle für diese Gedanken zu entwickeln – denn sie wollten nicht so einfach kommen - hörte er Schritte auf den Stufen. Wieso konnte er jetzt nicht weinen? Das hatte er doch die ganze Zeit getan? Warum jetzt nicht mehr?

Er wandte den Kopf zur Tür als diese sich lautlos aufschob. Schuldig stand im Türrahmen und sah ihn aufmerksam an. „Na, Langschläfer?“

„Wie spät ist es?“

„Elf Uhr durch.“

Ran kniff die Augen zusammen. „Seit wann bist du wach?“

Schuldig kam zu ihm und setzte sich auf die Kante des Bettes. „Seit zwei Stunden.“

„Warum hast du mich nicht geweckt?“

„Weil ich wollte, dass du dich ausruhst. Du willst doch sicher bei der Zeremonie fit sein?“

Ran nickte.

„Da Sakura die Bestattung auf heute verschoben hat bereiten sie das Holz für Yohji erst heute vor. Sollen wir uns das ansehen?“

Ran setzte sich mit einer Hand an der Flanke auf. Es ging schon besser.

Während Ran Schuldig dabei zusah wie er ihm etwas zum Anziehen aus dem Schrank holte versuchte er sein Durstgefühl in den Griff zu bekommen. Er hatte viel zu lange geschlafen. Und auch wenn die Schmerzen etwas besser schienen fühlte er sich wie gerädert. Besser als gestern war es dennoch.

„Schaffst du es allein?“

Ran nickte. „Ja.“

Schuldig verließ das Schlafzimmer und ging die Stufen wieder hinunter. Ran war gerade dabei aufzustehen um sich die Hose hochzuziehen als er zurückkam. Ein Glas Wasser und ... vermutlich irgendwelche Schmerzmittel in der anderen Hand haltend. Während Ran sich um ein langärmliges Shirt kümmerte und sich einen Pullover überziehen musste – laut seinem Krankenpfleger - kümmerte sich dieser um Socken und Stiefel. Danach starrte Ran in Verweigerungshaltung mit entsprechendem Gesichtsausdruck auf die Tabletten.

„Komm schon.“

Ran presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Nein.“

Ran sah hoch zu Schuldig. Nur um zu sehen wie auf dessen Gesicht ein Lächeln irrlichterte, das definitiv zu freundlich war.

„Gut. Dann wird Firan sicher sehr besorgt um dich sein und dich den ganzen Tag mitleidig ansehen. Wenn ich ihm dann erzähle, dass du die Tabletten nicht nehmen wolltest, weil du Schmerzen brauchst um dich besser zu fühlen wird er sicher große Augen bekommen.“

„Gib her“, knirschte Ran und steckte sich die zwei kleinen weißen Dinger in den Mund. Er griff unwirsch nach dem Wasser und stürzte alles hinunter. „Du bist so ein Arsch“, sagte er dann und hätte das leere Glas am Liebsten gegen die Wand geworfen. Er sah es an und überlegte noch als Schuldig es ihm wegnahm.

„Vergiss es, Blumenkind.“

Er stellte das Glas außerhalb seiner Reichweite hin und Ran beäugte es, während Schuldig ins Bad verschwand. Das Glas war die Mühe nicht wert sich jetzt dorthin zu quälen, außerdem war dieser impulsive Moment ohnehin vorbei.

Nach ein paar Minuten tauchte Schuldig wieder auf und Ran erhob sich um wieder ins Bad zu gehen. Seine Haare über dem Waschbecken zu waschen war heute eine Tortur, aber duschen wollte er nicht. Als sie damit durch waren und das Föhnen hinter sich gebracht hatten war Ran froh die Pillen genommen zu haben. Still saß er auf dem Bett und wartete erneut auf Schuldig.

Dieser kam mit einer Bürste aus dem Badezimmer zurück.

„Ich kann das selbst“, fühlte sich Ran dazu genötigt dies kund zu tun. Irgendwie hatte er jetzt schlechte Laune und wusste nicht genau warum.

„Sicher kannst du das. Willst du mir den ganzen Spaß nehmen?“

Schuldigs Stimme klang entrüstet und Ran fühlte sich plötzlich schlecht, weil er genau wusste, dass Schuldigs Antwort nur dazu diente ihm ein Lächeln zu entlocken und er selbst dies um jeden Preis verhindern wollte. Er wollte nicht Lächeln.

Schuldig kümmerte sich um seine Haare und flocht sie nicht, wie von Ran erwartet. Stattdessen hörte er das Geräusch einer Schere wie sie durch seine Haare schnitt. Was?

„Keine Sorge, nur ein Stück unten, die sind viel zu lang mittlerweile.“

„Wie weit?“, fragte Ran hoffnungsvoll nach. Von wegen mittlerweile... noch vor ein paar Monaten musste er aufpassen, dass er sich nicht darauf setzte.

Schuldig deutete den letzten Rippenbogen an und Rans Augen wurden größer. Das war definitiv ein Fortschritt. Hatte Schuldig ihn doch gehört gestern Abend?

Es dauerte eine halbe Stunde bis Schuldig endlich fertig war und Ran vermied es in der Zwischenzeit zu nörgeln.

„Lass sie offen“, sagte Schuldig und Ran nickte. Er stand auf und ging ins Badezimmer um sich das Ganze im Spiegel anzusehen.

„Warum hast du sie abgeschnitten? Das waren gute zwanzig Zentimeter.“

Schuldig kam zu ihm und verstaute die Utensilien. Er sah auf. Hatte er gezögert?

„Überlegst du dir eine gute Antwort?“, fragte Ran ihn durch den Spiegel und Schuldig legte die Bürste ab, bevor er hinter ihn trat und sie sich im Spiegel ansahen.

„Sasuke meinte es wäre sinnvoll etwas Gewicht von der Kopfhaut zu nehmen. Es würde dir Schmerzen ersparen. Und ich dachte es würde dich aufmuntern.“

Ran wollte etwas sagen aber schloss den Mund wieder. Es hätte ihn bestimmt noch mehr aufgemuntert wenn sie komplett abgeschnitten worden wären. Aber hätte es das wirklich? Er wäre zufrieden gewesen. Das war richtig.

Firan kam ihnen entgegen als sie das Gästehaus verließen. Er hatte wieder einen Korb dabei.

„Es wundert mich, dass du nicht über seine Kochkünste gestern Abend geschimpft hast.“

„Er kocht gut“, erwiderte Ran beiläufig und seine Augen hatten den aufgeschichteten Holzaltar oder was das sein sollte erfasst. Sie gingen näher und nickten den Leuten zu die ihn aufschichteten. Der andere daneben war bereits gestern fertiggestellt worden. Die beiden Altäre waren mit einem großen Pavillon vor Regen geschützt worden. Obwohl sie heute Glück hatten mit dem Wetter. Es war kühl aber trocken.

Sie schwiegen lange Zeit und beobachteten lediglich die Vorbereitungen.
 

„Warum tust du das alles?“, fragte Ran dann und gab mit dieser Frage einem inneren Impuls nach. Er wusste nicht warum er das fragte aber es schien ihm in ihrer jetzigen Situation wichtig. Warum tat Schuldig so viel für ihn?

„Was meinst du?“ Ran sah zu Schuldig, der hielt den Blick unverwandt auf die Arbeiten gerichtet. Ran folgte diesem Blick. Sano half bei den Vorbereitungen.

Seit wann war er wieder hier? Er hatte von Schuldig erfahren, dass der Mann Sakuras rechte Hand war und spezielle Aufträge für sie erledigte.

„Von Anfang an... hast du mir geholfen. Immer wieder. Und du kannst es nicht lassen. Warum?“

Schuldig sagte erst nichts. Dann... „Ich liebe dich. Gibt’s da noch mehr zu sagen? Ich finde das fast alles schön zusammen. Und ich habe wirklich lange gebraucht um diese Worte auszusprechen“, sagte Schuldig und der Ernst in seiner Stimme ließ Ran aufhorchen. Er hätte jetzt eher eine ironische Antwort erwartet.

„Zweifelst du daran?“, fragte Schuldig dann und Ran hörte etwas aus dieser vertrauten Stimme heraus das ihn alarmierte.

„Nein.“

„Aber?“

Hielt Schuldig den Atem an? Was war mit ihm? Brachte ihn diese Frage so vollständig aus der Fassung?

„Ist es dieser Pakt den wir damals geschlossen haben?“, fragte Ran dann und fürchtete bereits die Antwort.

Schuldig drehte sich zu ihm um und fasste Ran an den Schultern um ihn zu sich zu drehen. Ran ließ sich drehen und sah ihn an.

„Dieser bescheuerte Pakt mit deinen Haaren?“

Ran nickte. „Ich weiß nicht...“, sagte er dann und er hörte seine eigene Hilflosigkeit zwischen den Worten heraus. Er spürte einen Kloß im Hals.

„Nein, Ran. Das ist völliger Blödsinn.“

„Kannst du dich noch an den Wortlaut erinnern?“

„Nein. Nicht wirklich. Außer ich suche danach. Brauchst du den genauen Wortlaut?“, fragte Schuldig unsicher.

„Nein...verdammt... ich...“, Ran wandte sich ab und ging ein paar Schritte auf dem Kies in Richtung Wald.

„Ich erinnere mich daran. Er geht mir nicht aus dem Kopf“, rief er nach hinten.

„Gut. Und was ist damit?“, erwiderte Schuldig in gleicher Lautstärke.

„Du würdest dich in Ketten begeben und dort bleiben wenn ich meine Haare nicht anrühre. So war es doch, oder?“ Er blieb stehen und drehte sich zu Schuldig um.

Dieser hob die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit. Ran konnte sehen, dass Schuldig nicht wusste was in ihm vor sich ging.

„Sag mir was du meinst“, äußerte Schuldig seine Verwirrung.

„Was wenn es daran liegt, dass du dich so... verhältst wie du dich verhältst, weil ich meine Haare nicht schneide? Was....wenn...“

Schuldig starrte ihn ungläubig an. „Meinst du das ernst?“

Ran wusste nicht was er sagen sollte. Er drehte sich um und ging energischen Schrittes in Richtung Bäume. Es zog gewaltig in seiner Flanke und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. „Vergiss es.“

Schuldig folgte ihm, hielt ihn aber weder auf, noch sagte er etwas. Was allein schon untypisch war. Ran wartete lediglich darauf, dass der Schlagabtausch begann.

Doch er kam nicht. Was jedoch kam war, dass er selbst langsamer wurde und irgendwann anhalten musste. Er stützte sich mit einer Hand an einen Baum ab und lehnte sich dann mit dem Rücken an diesen an. Schuldig stand vor ihm und sah ihn fast ängstlich an. Unsicherheit flackerte in den blaugrünen Augen.

„Dann habe ich Recht?“, fragte Ran und er spürte wie Tränen in seine Augen schossen über etwas das er nicht wirklich erfassen konnte. Er wusste nicht warum er jetzt diese Gefühle hatte und um was es eigentlich ging. Stellte er ihrer beider Gefühle in Frage? Warum tat er das jetzt?

„Nein. Hast du nicht. Und dieser Pakt war nur ein Spiel von mir. Das weißt du. Das hat nichts mit dir zu tun, oder meinen Spleen für lange Haare. Dass du dich daran gehalten hast war nur ein Spiel zwischen uns.“

Schuldig bückte sich und zog seitlich aus seinem Stiefel ein Messer hervor. Er kam auf Ran zu und hielt ihm das Messer hin. „Schneid sie ab.“

Ran sah auf das Messer und er schloss die Augen. In diesem Moment liefen ihm Tränen über die Wangen. „Nein. Nein... ich kann nicht.... Niemals... ich...“ Er schüttelte den Kopf.

„Was... wenn ich irgendwelche Fähigkeiten habe die genau das bewirken? Die genau das bewirken, dass du bei mir bleibst und dass du mich liebst... dass du so bist wie du bist... du warst früher anders. Was wenn ich das gemacht habe? Was...“

Schuldig ließ das Messer fallen, streckte seine Hand aus und zog Ran langsam an sich. „Du bist ja völlig von der Rolle, Ran. Das ist nicht passiert. Okay? Das ist nicht passiert. Ja du hast das bewirkt, aber auf andere Art als du meinst. Wir sollten mit Sakura reden und zwar gleich. Okay?“

Ran sagte nichts, er starrte an Schuldigs Arm vorbei das Messer auf dem Boden an.

„Warum willst du eigentlich diese bescheuerten Haare...“

Schuldig seufzte und minutenlang sagte er nichts.
 

„Sie machen dich sanfter. Dein Blick ist hart und manchmal so scharfkantig, dass er wohl Glas schneiden könnte wenn es ginge. Sie locken etwas in dir hervor das dich sanfter wirken lässt. So wie du im Inneren bist, Ran. Dein Äußeres hat sich dem was du getan hast angepasst. Du bist härter geworden. Nur dein Inneres nicht. Es kämpft verzweifelt darum intakt zu bleiben und das hat es geschafft. Aber ich liebe diese Mischung an dir und ich will nicht ohne sie sein. Deine Haare nicht abzuschneiden ärgert dich und das macht mir Spaß. Ich mag es wenn du grummelig bist, das weißt du. Oder?“

Ran nickte.

„Und du hast Spaß daran jede Gelegenheit zu ergreifen um grummelig zu sein. Oder?“

Wieder nickte Ran.

„Es ist nur ein Spiel zwischen uns. Nicht mehr.“

„Wenn das alles nicht passiert wäre dann... dann würden alle noch leben und... nichts von dem wäre...“

„Ran... warte mal... gibst du uns oder dir die Schuld daran, dass Kudou und Jei tot sind?“

„Ich...“, fing Ran an und verstummte dann. Was sollte er sagen? Ja, er gab sich die Schuld.

„Deiner Rechnung nach hast du mich in eine Beziehung gebunden und seither tue ich alles was du von mir willst, inklusive dich zu lieben, weil dich sonst niemand liebt und weil du dir jemand ausgesucht hast der ohnehin weit entfernt von diesem Ideal ist. Und dann hat das Böse begonnen und jetzt sind alle tot. Und du bist schuld.“

Ran stutzte und musste dann fast lachen. „Das klingt bescheuert.“

„Das hast du gesagt.“

Schuldig hob seinen Kopf etwas an sodass Ran ihn ansehen musste. „Also erst einmal habe ich diesen Pakt vorgeschlagen. Zweitens tue ich nicht alles was du willst. Und Drittens haben wir einen langen und beschwerlichen Weg hinter uns gebracht bis es soweit war zu sagen, dass wir einander vertrauen und uns lieben.“

Ran sah in diese grünen Augen und nickte vorsichtig.

„Lass uns zurück zu Firan gehen, er wartet sicher schon.“

Sie gingen gemächlich zurück und Ran beruhigte sich langsam aber er fühlte sich immer noch unsicher und vor allem... schwach. In jeglicher Hinsicht. Wo war seine Stärke hin? Hatte sie je existiert? War er nur in diesem Zeitraum bei Kritiker stark gewesen? Hatten ihn dieser Hass auf Takatori und Schwarz stark gemacht? Und dann... als Aya gestorben war... war seine Stärke plötzlich verschwunden gewesen. Als hätte es sie nie gegeben. Schuldig hatte ihm diese Stärke genommen.

Auf halber Strecke blieb er stehen und sah Schuldig an.
 

Wer war er jetzt?
 

Schuldig musste ihm wohl die erneuten Zweifel angesehen haben denn er schwieg.

„Ich habe ihn nicht retten können“, sagte Ran dann und Schuldig nahm seine Hand und zog ihn vorwärts. „Er wollte nicht gerettet werden. Keiner von beiden wollte das. Sie hatten die Möglichkeit und die Wahl zu uns zu kommen und haben sich anders entschieden. Jei hatte die Gefahr spätestens ein paar Häuser vorher erkannt und sie sind trotzdem weitergegangen.“

Ran sagte nichts mehr und ließ sich ins Haus ziehen. Dort wurde er genötigt etwas zu essen.

Schuldig verließ das Haus und Firan blieb bei ihm. Er sah ihn besorgt an, was Schuldig voraus gesehen hatte.

Kurz darauf kam er wieder und sie gingen zusammen mit Firan ins Haupthaus hinüber. Ran war in Gedanken vertieft und hörte kaum zu über was sie sprachen.

Dämonen der Vergangenheit

Dämonen der Vergangenheit
 


 

Sie kamen in einen Raum der deutlich von dem abwich was das übrige Haus zu bieten hatte. Eine riesige Fensterfront die den Blick in den gleichen Garten bot, den sie auch schon aus dem Krankenzimmer kannten.

Eine große Couchlandschaft, ein beeindruckend riesiger Flachbildschirm und eine ausladende Tafel zogen ihre Blicke auf sich. Die moderne Inneneinrichtung konnte sich sehen lassen und war genau nach Schuldigs Geschmack. Den zentralen Punkt bildete ein Feuer, um das die Sitzgelegenheiten arrangiert waren.

An der Fensterfront stand Sakura in ein gänzlich anderes Outfit gekleidet, als dass was sie bisher von ihr gewohnt waren. Sie drehte sich um und Schuldig erkannte, dass der Anzug den sie trug inklusive der Krawatte vollkommen in schwarz gehalten war. Sano saß auf einer der Couchen und trug den gleichen Aufzug.

Waren sie noch im selben Haus und in der gleichen Zeit? Der Raum war riesig und die moderne Gestaltung einmalig auf diesem Gelände. Selbst die Lampen waren sorgfältig ausgesucht, das Licht präzise eingesetzt. Der Boden bestand aus schwarzen Natursteinfliesen. Ein Ausblick in die nächste Ausgabe von ‚Schöner Wohnen’.
 

Ran war irritiert, Firan ebenso. Schuldig hob beide Augenbrauen vor Erstaunen, über das moderne Ambiente.

„Setzt euch bitte, denn es gibt einiges zu besprechen. Gabriel sagte mir, dass du viele Fragen hast und die Zweifel überhand nehmen“, wandte sie sich an Ran.

Ran wusste nicht was er antworten sollte.

„Sano und ich sind Runner. Wie viele die hier leben.“

Schuldig steuerte sie zu dem Feuer und sie setzten sich Sano gegenüber hin. Firan nahm neben Sano Platz.

„Ran, du musst noch viel über unsere Welt lernen, ich dachte ich hätte noch Zeit um dir die Möglichkeit zu geben dich an uns... an mich zu gewöhnen. Du... hättest noch Zeit bis nach der Bestattung aber im Prinzip ist es einerlei wann wir beginnen.“

„Mit was beginnen?“, fragte Ran. Seine Stimme klang rau und deshalb tiefer als sonst. Schuldig seufzte ungehört und lächelte vor sich hin, einfach weil er diese Stimme so sehr liebte.

„Mit dem Unterricht. Du solltest wissen woher du kommst, wer du bist und dann kannst du entscheiden wohin dein Weg dich führt.“

Schuldigs Lächeln blätterte ab.

Obwohl das Thema ernst war konnte sich Schuldig eine Bemerkung nicht verkneifen, wurde aber von Sakura ausgebremst.

„Keine Angst, Gabriel. Du bekommst auch Unterricht. Zumindest in den Grundlagen. Und in Geschichte. Den speziellen Teil der deine Fähigkeiten betrifft kann ich nicht übernehmen.“

Schuldigs Laune sank. „Schule?“

Sano lächelte und Schuldig schickte ihm einen bösen Blick, der nur eins zur Folge hatte: Sanos Lächeln wurde breiter.

„Sano du wirst mir dabei helfen“, kündigte Sakura an und Sanos Grinsen erstarb augenblicklich.

„Uhm... ja?“, bestätigte er fragend.

Was eine umgekehrte Wirkung auf Schuldigs Lächeln hatte, das sofort wieder aufblendete. Er würde Sano für dieses Grinsen das Leben zur Hölle machen als quirliger Schüler...

„Sano wird euch in der praktischen Anwendung und in der körperlichen Ertüchtigung unterrichten.“

Sanos Grinsen blendete wieder auf und Schuldigs... erlosch.

Shit. Der Typ war nicht ohne im Kampf das konnte man sehen. Er war etwas größer als Ran also seine Größe und brachte sicher mehr Gewicht als Ran auf die Waage – was keine Kunst war. Und er war ein Runner was auch immer das war.

„Firan du wirst uns bei dem Unterricht unterstützen.“

„Ich?“, fragte Firan und sah nach hinten zum Fenster wo Sakura stand.

„Ja. Du hattest sicher Unterricht im Orden.“

„Das hatte ich, aber...“

„Ich bin mir sicher du machst es gut.“

Firan nickte. „Ich werde es versuchen.“

Wenig später kam Momo rein und brachte ihnen Getränke. Tee und Wasser. Sie stellte zusätzlich ein Glas vor Ran ab und füllte es mit Wasser. Alle anderen bekamen ebenfalls Tee.

„Beginnen wir mit Geschichte.“

Momo verließ sie wieder.

„Ran, kannst du mir bitte sagen, wenn es dir zu viel wird? Und möchtest du das überhaupt?“

Schuldig sah wie Ran von ihr zu Sano blickte und dann nickte. „Warum die Anzüge?“, fragte er.

„Weil es unsere Arbeitskleidung war – früher. Es hilft uns diese Zeit besser zu erfassen und nimmt mir meine jetzige Last etwas ab. Früher war es leichter in manchen Belangen. Außerdem ist es für uns die rituelle Kleidung bei Bestattungen.“

Ran nickte. Und Schuldig vermutete – aufgrund des weniger ehrerbietigen Umgangs den Sano jetzt pflegte, dass die Anzüge eine Begegnung auf Augenhöhe ermöglichten.
 

„Ich wurde 1879 in Morioka geboren. Meine Eltern waren finanziell gut gestellt und lebten ein ruhiges und friedliches Leben. Für mich sah es zumindest so aus. Sie legten sich mit keinem an und hatten auch keinen Ärger. Ihnen gehörten einige Ländereien und sie standen der Regierung nahe. Wie nahe erfuhr ich erst später.

Mein Leben verlief ereignislos bis zu einem Tag im Sommer als ich von einem Fest nach Hause kam. Ich hatte mich geärgert, weil mir ein Junge übel mitgespielt hatte. Auf dem Heimweg begann dieser besagte Junge erneut mich zu verspotten und ich wurde wütend. Dann schrie er mich an und beleidigte mich. Er rief Dämonenkind und ich rannte weinend nach Hause. Ich war damals zwölf Jahre alt.“

„Dann sind Sie jetzt... 155 Jahre alt?“, fragte Schuldig – nur um sicher zu gehen.

„Ja, das bin ich. Und bevor wir dieses Thema der Zellerneuerung vertiefen möchte ich euch klar machen, dass ihr Kinder seid. In unserer Welt seid ihr noch Kinder und ihr dürft euch die Zeit zum Lernen nehmen.“

„Ich kenne keine älteren PSI“, warf Schuldig ein.

„Das ist kein Wunder. In den letzten Jahrzehnten ist unsere Welt rauer geworden und wir sterben üblicherweise eines unnatürlichen Todes. Meist gewaltsam ausgelöst. Frieden gibt es selten, und wenn, dann nur für kurze Zeit.“

„Wie alt waren die Spitzen der Trias?“, fragte Ran, sein Entsetzen über das Wort Dämon mit dieser Frage verbergend. Jei... Jei hatte gesagt... damals... dass... dass er Dämonenaugen hätte.

Jei... wie viel hatte er über all das gewusst? Über die Runner? Hatte er überhaupt etwas gewusst? War es nur einfach eine Bemerkung gewesen?

Aber hatte Jei je einfach nur so etwas gesagt... ohne tieferen Sinn?

Wie stark waren seine Fähigkeiten tatsächlich gewesen?

Ran saß dort auf seinem Platz und versuchte seine aufkommende Angst im Zaum zu halten. Ebenso die Wut, über all die Lügen und Geheimnisse, die ihn über alles im Zwielicht gelassen hatten.

„Etwas jünger, etwas älter, aber nicht um viel, vielleicht zwei drei Jahre. Ausschlaggebend für ihre rasche äußere Alterung war etwas anderes.“

Ran nahm sich sein Wasser und trank davon, während Schuldig tiefer in die Couch rutschte und sich Popcorn wünschte. Wenn er ganz lieb darum bat, vielleicht bekam er dann welches? Und vielleicht wenn er Firan darum bat...

Er blickte kurz zu Ran hinüber, der das Glas so fest umschloss, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Hatte er Schmerzen?

Schuldig sah hoch und betrachtete sich Rans Haltung und Profil. Ran war... sauer. Und zwar nicht unerheblich. Er versuchte sich zusammenzureißen und sich nichts anmerken zu lassen. Was an dieser Erzählung machte Ran so wütend? Im Speziellen? Schuldig rekapitulierte das zuletzt gesagte, während Sakura weiter erzählte.

Oh. Das! Dämon? Schuldig blickte wieder zu Sakura, dann zu Ran. Er schmunzelte. Er mochte Dämonen. Sehr sogar. Schicksalshafte Geister.

Aber das würde Ran wohl kaum aufmuntern. Schuldig konzentrierte sich wieder auf die Geschichte und nahm sich vor seinem hauseigenen Dämon die Leviten über Aberglaube und Mystizismus zu halten.
 

„... kam ich also nach Hause. Verärgert, den Tränen erneut nahe und lief in die Küche, wo unsere Haushälterin gerade das Mittagessen zubereitete. Sie sah mich an und sagte ich solle mich setzen. Dann verließ sie die Küche und kam mit meiner Mutter zurück. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt auf einer Reise und wurde erst eine Woche später von uns zurückerwartet.“

Schuldig konzentrierte sich wieder auf die Geschichtsstunde und trauerte insgeheim seinem Popcorn nach. Geschichte war noch nie sein Lieblingsfach gewesen.

„Meine Mutter wollte wissen was geschehen ist und ich erklärte es ihr. Sie nahm mich mit und wir gingen ins Schlafzimmer hinauf. Sie stellte mich vor einen Spiegel und ich sah meine roten Augen. Ich war entsetzt und weinte.

Dann erklärte sie mir warum dies so war. Ich erfuhr, dass ich spezielle Fähigkeiten hatte und dass alle die hier lebten wie ich waren und wir dies geheim halten mussten.

Als ich älter war wünschte mein Vater, dass ich eine Ausbildung begann und ich entschied mich für das schmieden. Nach und nach wurde mir bewusst, dass unsere Familie nichts weiter war als ein kleiner Zusammenschluss von gedungenen Auftragsmördern, die im Auftrag der Regierung handelten. Wir waren gut aufgestellt, sehr gut vernetzt und wir hüteten viele Geheimnisse vieler Menschen mit sehr viel Macht. Dadurch waren wir unantastbar geworden.

Jahre später entschied ich mich dazu meiner Familie den Rücken zu kehren, jedoch nicht im Zwist. Ich beschloss die Welt kennen zu lernen. Meine Eltern ließen mich ziehen, denn sie wussten, dass die Zeit gekommen war um, meine eigenen Erfahrungen zu machen.“

Sakura trank einen Schluck Tee hielt aber ihren Blick nach draußen gerichtet.

„Ich reiste viel herum und lernte die unterschiedlichsten Menschen kennen. Auch, dass es andere wie mich gab, nur dass sie andere Fähigkeiten hatten. Schließlich begegnete ich einem Mann, der sich Strigo nannte und wir freundeten uns an. Er erkannte die PSI in mir, wusste aber nicht was ich war. Da ich und meine Familie keine große Ahnung von Wissenschaft und Forschung hatten und ich mich selbst immer noch für einen Dämon hielt belächelte ich seine Geschichten eher, als dass ich sie für mich akzeptieren konnte. Er lud mich ein ihn zu begleiten und ich folgte ihm nach Europa. Dort unterhielt er ein Heim für ganz spezielle Kinder. Noch waren es wenige und er gab ihnen lediglich ein Zuhause, damit sie einen geschützten Ort hatten an dem sie leben konnten.

In den nächsten Jahren erkannte ich, dass ich nicht alleine war und dass ich ganz bestimmt kein Dämon war. Strigo fand noch andere die seine Ansichten teilten: Malezza, Miller, Tonya, Sheela Ram und Vienno.“

Ran kannte diese Geschichte von Eve aber es hatte einen anderen Beigeschmack wenn es jemand erzählte der dabei gewesen war. Es gab Abweichungen.

„Nach und nach wurden wir zu Lehrern und fragten uns wie wir diesen Kindern eine Zukunft bieten konnten. Wie konnten sie mit ihren Fähigkeiten arbeiten und dabei nicht auffallen? Wie konnten sie glücklich mit sich und der Welt werden? Das ist immer noch die zentrale Frage.

Ganz davon abgesehen, dass wir in Geldnöten steckten und uns darüber klar werden mussten wie wir das alles ohne die staatlichen Zuschüsse finanzieren sollten. Aufgrund mehrerer Wirtschaftskrisen brachen uns Geldquellen weg und aus privaten Mitteln konnten wir diese Löcher nicht ausreichend stopfen. Zudem drohte ein zweiter Weltkrieg und wir beschlossen in die Staaten zu gehen.“

Schuldig fragte sich wie es wohl damals gewesen sein musste.

„Woher kamen die Kinder?“, fragte Firan.

„Waisenkinder oder Kinder die ausgesetzt wurden, oder die ihren Weg zu uns von allein fanden. Wir reisten um die Welt und suchten diese Kinder. Allerdings zwangen wir niemanden mit uns zu kommen und sie konnten jederzeit zurückkehren wenn sie wollten. Es war eine gute Zeit.“

„Wie lange ging das?“

„Ein paar Jahrzehnte ging das gut, bis etwas geschah. Strigo heiratete eine Telepathin, namens Margerite und bekam 1937 ein Kind.“

„Oh man... das Kind der Zerstörung... ich kanns mir schon denken“, brummte Schuldig düster. „Es hätte ja so schön sein können und dann... wurde ein Kind geboren...“, sagte Schuldig mit zynischem Unterton. „Das ist in Filmen immer der Anfang vom Ende.“

Schuldig konnte sehen wie Ran seinen Kopf in seine Richtung drehte und ihn für seine unqualifizierte Meldung böse ansah. Schuldig erwiderte den Blick entschuldigend und zuckte mit den Schultern. Er konnte nichts dafür – solche Assoziationen drängten sich ihm einfach auf.

Sakura lachte leise. „Vielleicht. Doch dieses Mal... war es nicht wie in den Filmen - das Kind konnte nichts für die Engstirnigkeit eines Mannes. Und es war ein gutes, sanftmütiges Kind, das für alle Wesen um sich herum Liebe empfand und von allen ebenso geliebt wurde.“

Schuldig sah sie misstrauisch an. „Ja... und dann... ? Das hört sich zu gut an.“

„Es war in der Tat zu gut. Es war ein Junge und ihm wurde der Name Sabin gegeben. Er war arglos und sanft und man konnte ihm nicht lange böse sein. Wenn er etwas ausheckte dann nur Dinge die lustig waren und keinem schadeten.“ Sie verstummte und sagte lange nichts mehr. Dann...

„Strigo hatte eines versäumt.“

„Was? Was hat er versäumt?“, fragte Ran, als Sakura wieder nicht weiter sprach.

„Ihm zu zeigen was Schmerz ist, ihm zu zeigen was falsch ist und ihn zu lehren, dass nicht alle Menschen um ihn herum gute Menschen waren und sie Dinge aus Angst taten, nicht weil sie böse waren sondern, weil sie Angst hatten. Er hat versäumt ihm das Leben zu zeigen, weil er kein Interesse daran hatte ihn zu erziehen, sondern nur Interesse an dem was er war.“

„Und was war er?“

„Strigo hat es als Scanner bezeichnet, aber das trifft es nicht und er hat nie herausgefunden was Sabin wirklich tat und konnte. Aber er musste eine Ahnung davon besessen haben und verhielt sich oft abweisend Sabin gegenüber. Was Margerite depressiv machte. Sie starb als Sabin vier Jahre alt war. Unter welchen Umständen wussten wir nicht aber Strigo gab dem Kind die Schuld dafür und ignorierte Sabin fortan. Ich hatte den Eindruck er hatte Angst vor ihm. Er propagierte daraufhin, dass Verbindungen zwischen PSI keine guten Folgen mit sich brachten und verbat sie.“

Schuldig konnte ein Stück weit verstehen wie sich dieses Kind gefühlt haben mochte.

„Wir schickten die jungen Erwachsenen nach und nach aus, um sie in sozialen Einrichtungen helfen zu lassen. Was dazu führte, dass wir aus aller Welt Anfragen bekamen und so das Projekt langsam aber stetig finanzieren konnten. Zwar versuchten wir uns aus weltpolitischen Dingen herauszuhalten wurden jedoch dennoch oft damit konfrontiert. In dieser Zeit und lange Jahre danach liefen die Kinder immer häufiger Gefahr von anderen PSI angegriffen zu werden.

Diese waren oft stärker oder auch etwas gerissener, als unsere Kinder. Wir beschlossen sie auf ihren Aufträgen zu beschützen. Ich reiste zurück nach Morioka und bat meine Eltern um ihre Mithilfe. Über die Jahre hinweg wussten sie was ich tat und betrachteten es als sinnvoll. Sie sandten mir Frauen und Männer mit zurück die uns dabei helfen sollten die Kinder zu schützen. Es waren Runner.

Sheela war zwar kein Runner, sie schickte jedoch ihre eigenen Leute und begann mit der Suche nach Runnern. Sie schienen am Besten dafür geeignet um gegen andere PSI zu kämpfen.

Martín aus Deutschland und der Tonya-Clan aus Südamerika verfuhren ebenso.

Wir begannen sie auszubilden und nannten sie Guards und Guardians, je nach ihrem Aufgabenspektrum und dem PSI den sie beschützen sollten. Strigo wusste davon nichts. Da wir ahnten, dass er es als unnötige Maßnahme einstufen würde, hielten wir es geheim und operierten im Verborgenen. Er hatte seine Meinung dazu in vielen Gesprächen deutlich geäußert.

„Ich dachte, dass ihr diese Schutzmaßnahmen erst ergriffen habt, als eure Kinder von SZ, also von Miller, Malezza und Vienna entführt werden sollten“, hakte Ran nach.

„Nein. Angriffe fanden bereits vorher statt. Und SZ war lange Jahre eher ein Verbündeter, denn ein Feind von Strigos Institut. Später jedoch änderte sich dies.“

„Was ist mit Strigo passiert?“, fragte Schuldig.

„Er starb.“

„Im Kreis seiner Lieben wie in Eves Unterlagen beschrieben?“, fragte Ran.

„In der Tat, so war es gewesen. Wobei ich wenig Liebe für diesen sturen alten Mann übrig hatte, nachdem er sein eigenes Kind derart im Stich gelassen hatte.“

„Stimmt es, dass die Schule zerstört und die Kinder getötet wurden?“, fragte Schuldig, da er andere Informationen hatte.

„Ja, es fand ein Angriff statt und es starben Menschen. Diejenigen, die auf ihren Einsätzen waren blieben verschont. Einige überlebten, dennoch waren es an diesem Tag über 69 Menschen die ihr Leben verloren.

„Wer hat sie angegriffen?“

„Das war fünf Jahre nach Strigos Tod 1987 und es war SZ. Sie wollten die Schule übernehmen und die Leitung der Schule weigerten sich. Es kam wohl zum Kampf.“

„Sie waren nicht dort?“, fragte Schuldig.

„Nein.“ Sakura schwieg einen Moment.

„Ich hatte keinen Kontakt mehr zur Schule.“

„Warum?“, fragte Ran.

„Weil ich mich um andere Dinge kümmern musste.“

Alle schwiegen und dachten über das bisher Erzählte nach. Das meiste stimmte mit dem überein was sie bisher über diese Vergangenheit gewusst hatten. Bis auf...

„Und was war mit Sabin? Wo war er?“, fragte Schuldig.

„Sabin“, sagte Sakura und sie lächelte. Dieses Lächeln wirkte traurig auf Schuldig. „Er hatte in Strigos Institut viele und keine Freunde. Er war wie ein Licht in der Finsternis. Kontakt zu ihm zu haben war erfüllend und ließ einem das Herz aufgehen. Aber er hatte keine engen Freunde, schien sich daran jedoch nicht zu stören. Bis...“

„... irgendwie macht mir dieses bis... immer etwas Angst“, unterbrach Schuldig und rutschte wieder mehr in das Sofa hinein. Wo war das Popcorn wenn es spannend wurde? Und wo das Kissen, an dem er sich festhalten und wo die Decke, unter der er sich verkriechen konnte?

Ran warf ihm einen bösen Blick zu und Schuldig zuckte erneut verteidigend mit den Schultern.

„Im Institut bekamen wir hin und wieder Zuwachs und ein Jahr zuvor waren es ein paar Kinder und ein paar Jugendliche gewesen die zu uns kamen. Unter anderem ein junger Mann mit Namen Aidan Mc Kinley. Das war... ich glaube 1951. Er war schüchtern und verschlossen – wie alle die zu uns kamen und erst einige Zeit später erkannten, dass sie nicht allein waren. Einige wurden aufmüpfig aber schlussendlich ehrfürchtig was ihr Ich anbelangte.

Aidan war nicht wirklich einzustufen und Strigo tat sich schwer damit. Am ehesten war Aidan mit mir zu vergleichen. Strigo benannte uns als Schildwahrer. Er hatte damals noch keine Begriffe dafür. Die zunehmend dilettantische Herangehensweise an die Studien führte zu einer Diskussion innerhalb seines Lehrerstabes. Malezza, Miller und Vienno kritisierten zunehmend seine Methoden und sagten, dass es den Kindern nicht viel bringen würde, wenn sie ihre Fähigkeiten nicht exakt erforschen könnten. Sie verließen uns und wollten ihre eigene Schule gründen.“

„Wussten sie von den Runnern oder den Beschützern?“, fragte Ran.

„Nicht, dass ich wüsste, aber es könnte sein, dass sie es dennoch erfahren haben. Tonya, Martìn, Sheela und ich kamen schnell überein es geheim zu halten, weil wir nicht sicher waren, ob es funktionierte.“

„Eve erzählte, dass ihren Recherchen nach, der Bruch erst kam, als Strigo bereits verstorben war“, meinte Ran.

„Nein. Es gab zuvor bereits Unmut über seine Methoden und die Drei verließen uns als Strigo noch lebte. Sie gingen nicht im Zwist.“

Ran nickte.

„Zurück zu Sabin. Ein paar Jahre vergingen und alles schien gut zu verlaufen. Sabin wurde älter und im Alter von siebzehn Jahren bemerkte ich, dass er sich charakterlich kaum verändert hatte. Er war immer noch der Sonnenschein den ich kannte. Was war er nur? Ich liebte ihn wie einen jüngeren Bruder und verstand die Abneigung nicht die Strigo ihm entgegenbrachte. Sabin schien das wenig zu kümmern.

Aidan dagegen hatte zunehmend Probleme mit seinen Mitschülern. Sie hänselten ihn und erfanden immer neue Späße um ihn zu ärgern.

„Was war mit ihm?“, fragte Schuldig.

„Er war etwas Besonderes. Und das auf zwei Arten. Zum einen besaß er weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale, ein Umstand den Viele nicht verstanden. Er wollte als Junge bezeichnet werden und war aber so hübsch wie ein Mädchen. Zum anderen war er wie ich ein Runner. Ich war ein Lehrer und musste keine Fähigkeiten vorweisen, er als Schüler bei seinen Mitschülern schon. Sie verstanden zwar, dass seine Fähigkeit darin bestand, sehr gute Schilde zu besitzen... jedoch zeigten sich manchmal auch Telepathie, Empathie oder auch Telekinese. Das war merkwürdig und ließ ihn im Abseits stehen.“

„Warum war dann klar, dass er ein Runner war?“, fragte Ran.

„Wegen der herausragenden Schilde. Kein anderer PSI besitzt diese Art von Schildmatrix.“

Sie machte eine Pause als von Momo ein paar Snacks hereingebracht wurden und wartete bis sie wieder verschwunden war. Schuldig bediente sich schnell, bevor die Geschichte noch hässlicher wurde. Leider war kein Popcorn dabei, aber in der Not...

„Aidan hatte es nicht leicht und Sabin bekam dies immer mehr mit.“

„Haben sie sich angefreundet?“

„Nein. Sabin beobachtete ihn auf seine Weise und Aidan war beschäftigt damit sich zurückzuziehen. Er war einsam. Ich kann mich noch gut an diese Winternacht im Jahr 1954 erinnern. Ich erwachte, denn etwas griff meine Schilde an. Wie eine Druckwelle, die mit zunehmendem Abstand zum Auslöser immer schwächer wurde. Meine Räume lagen relativ nahe an den Wirtschaftsgebäuden und ich schreckte auf. Als ich nach draußen – auf den Ursprung zulief - sah ich wie das Tor zur Scheune offenstand und als ich eintrat stand Sabin mit hassverzerrtem Gesicht über einem Dutzend toter Jugendlicher. Aidan lag in der Mitte, blutend und nicht ansprechbar. Seine Augen wirkten leer. Jetzt war etwas passiert, dass Sabin nie hatte erfassen können, nie begreifen konnte und das ihn so schwer getroffen hatte, das ihn bis tief in sein Inneres verletzt hatte.“

„Was genau war passiert?“, fragte Firan.

„Sie hatten Aidan aus seinem Schlafzimmer gezogen und ihn übel zugerichtet. Sabin war durch etwas aufgewacht und ist dem nachgegangen. Als er Aidan dort liegen gesehen hat...“

„...brannten ihm die Sicherungen durch“, schloss Schuldig.

„Warum haben die Kinder oder Jugendlichen sich so verhalten?“, fragte Ran und Sakura wandte sich ihnen wieder zu. In der Zwischenzeit wurde es langsam dunkler draußen.

Schuldig musste an Jei denken – an den von ihm ausgelösten Berserkerzustand.

„Aidan hatte die spezielle Gabe Fähigkeiten anderer zu übernehmen. Sie Jemandem wegzunehmen. Seine Primärfähigkeit. Er hat es nicht verstanden und instinktiv gehandelt. Ein Umstand der zuvor schon in verschiedenen Situationen zum Tragen gekommen war. Wir, die Lehrer und Ausbilder haben davon jedoch nie etwas mitbekommen. Diejenigen Jugendlichen, die es betroffen hatte vermuteten wohl, dass Aidan absichtlich gehandelt hatte und über die lange Zeit hinweg hatte sich Wut und Hass aufgestaut. Dieser entlud sich schließlich in der besagten Nacht.“

„Strigo hat meiner Ansicht nach auf ganzer Linie versagt“, sagte Schuldig.

„Dem kann ich nur zustimmen“, pflichtete Sakura bei.

„Dann hat er in dieser Nacht was? Den Reaper aktiviert?“, fragte Schuldig.

„Ja, zum ersten Mal.“

„Strigo hat ihn daraufhin aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Sabin verließ uns.“

„Wohin ist er gegangen?“, fragte Firan und schien über diese Geschichte bedrückt zu sein. Schuldig konnte es an seiner Stimme hören. Er machte sich Sorgen um Sabin.

„Das wussten wir nicht. Bevor ich mit ihm sprechen konnte war er verschwunden.“

Eine Weile schwieg sie und Schuldig sah zu Sano der ebenso nachdenklich vor sich hinbrütete und dabei ins Feuer blickte.

„Aidan brauchte lange um sich von seinen Verletzungen zu erholen. Er äußerte immer wieder, dass er mit dem Gedanken spielte wegzugehen. Strigo wollte ihn davon überzeugen zu bleiben, doch er hatte keinen Erfolg. Ein halbes Jahr nachdem Sabin weggegangen war machte sich auch Aidan auf uns zu verlassen. Ich ging mit ihm. Er hatte beschlossen Sabin zu suchen. Wir brauchten drei Jahre bis wir ihn gefunden hatten.“

„Wo war er?“

Sakura kam zu ihnen und setzte sich zwischen Firan und Sano. „Er sprach nicht darüber, aber er sah heruntergekommen aus und lebte auf der Straße.“

„Wie habt ihr ihn gefunden?“, fragte Ran.

„Nach anfänglichen Schwierigkeiten uns über die geeignete Methode zur Suche zu einigen fanden wir ihn über unsere Fähigkeiten. Ich weitete meinen Schild zum ersten Mal auf einen großen Bereich aus und suchte darin nach einer Anomalie. Anhand der Informationen die wir zusammentrugen vermuteten wir, dass Sabins Signatur sofort auffallen müsste. So grasten wir Länder und Städte ab bis wir ihn schließlich in Berlin fanden. Wir lebten einige Jahre zusammen und verdingten uns zwischendurch als Kuriere und als Spione. Wir arbeiteten für viele Länder und häuften eine Menge Geld an. Bis SZ an uns herantraten. Miller lud uns ein dem Orden beizutreten. Wir waren dem zu diesem Zeitpunkt nicht abgeneigt und schlossen uns ihnen an. Es war ein gutes Leben. Wir konnten unsere Fähigkeiten erforschen und fühlten uns angekommen.“

„Ihre Familie hielt den Kontakt zu Strigo aufrecht, nachdem sie gegangen waren?“, fragte Schuldig.

„Ja. Ich hielt weiterhin Kontakt zu meiner Familie und Strigo.“

„Streng genommen waren sie also bei SZ?“

„Ja. Das war 1979. Drei Jahre später starb Strigo und weitere fünf Jahre später 1987 fanden wir heraus, dass der Orden Neuankömmlinge „anwarb“ indem er sie entführte und ihnen keine Wahl mehr ließ. Sie rekrutierten sie gegen ihren Willen. Es war nur vereinzelt passiert aber es entsetzte Sabin und er wollte gehen. Was plötzlich nicht mehr möglich schien. Miller und Malezza wollten ihn dort behalten. Vienna hielt sich raus. Es war das gleiche Jahr als SZ Strigos Akademie ZSS in den Staaten angriff.“

„Sie wollten ihn... behalten?“, sagte Schuldig.

„Ja. Sie sagten uns, dass wir gehen könnten aber er bleiben müsse, er sei zu gefährlich für die Öffentlichkeit, um ihn draußen herum laufen zu lassen. Sie sperrten ihn ein. Es war eine gefährliche Situation“, sagte sie und zum ersten Mal sah sie zu Sano hinüber. „Wir erfuhren erst später, dass es die Akademie nicht mehr gab.“

„Wieso ließen sie euch gehen? Ihr hattet schließlich mächtige Fähigkeiten.“

„Nun, das lag daran, dass Malezza und Miller mich als gleichwertig ansahen und dass sie ohnehin nicht an meinen Schilden vorbeikamen. Aidan und ich hatten zum damaligen Zeitpunkt nicht die Fähigkeit unsere Schilde bewusst zu senken. Malezza und Miller sahen in uns keine Gefahr für die Menschen, für die Öffentlichkeit wenn ihr so wollt. Und sie wussten immer noch nicht wo sie uns einstufen sollten. Sie hatten kein großes Interesse an uns.“

„Was passierte dann?“, fragte Ran.

„Wir gingen.“

„Ihr habt ihn dort zurückgelassen?“, fragte Schuldig irritiert.

„Ja, weil wir wussten, wenn wir dem nicht zustimmen würden und uns nicht einsichtig zeigten, dann würden wir keinen Kontakt mehr zu ihm bekommen. Also gingen wir wie Freunde, die die gute Absicht verstanden und wollten wieder zurückkehren.“

„Ihr habt ihn dort allein gelassen?“, hakte Schuldig noch einmal nach.

„Ja. Das haben wir. Er war wütend und fühlte sich von uns im Stich gelassen.“

„Wie lange war er dort?“, fragte Ran.

„Zwei Jahre, in denen wir ihn häufig besuchten und einen Weg ausarbeiteten, um ihn zu befreien. Zeitweise hatten wir den Eindruck, dass er nicht wegwollte, dann wieder war er sehr wütend auf uns. In der Zwischenzeit arbeiteten wir für SZ als Dienstleister, damit wir stets einen Zugang zu Sabin hatten. SZ hatte in dieser Zeit die Akademie angegriffen. Wir äußerten keinen Unmut darüber um unseren Zugang zu Sabin nicht zu gefährden.“

Schuldig blickte zu Sano, dessen Blick in die Vergangenheit gerichtet schien. Kannten sich die beiden bereits aus dieser Zeit?

„Dummerweise war Sabin nicht untätig gewesen – er zettelte einen Aufstand an und brach schließlich unter Zuhilfenahme einiger hochrangiger PSI aus. Thomas Straud hatte ihm damals dabei geholfen.“

Schuldig sah zu Ran hinüber.

„Dieser Straud und mein Vater waren also Best Buddies?“, fragte Schuldig und Entsetzen hatte seine Stimme ergriffen.

„Das weiß ich nicht“, sagte Sakura.

„Wir wurden beauftragt mit ein paar anderen Sabin zu suchen und ihn zurückzubringen.“

„Was passierte mit den Unterstützern dieses Aufstandes?“, fragte Ran.

„Sie wurden diszipliniert und einige von ihnen ihres Postens enthoben. Soweit mir bekannt war wurde Straud degradiert und nach Südamerika versetzt. Dort hatte er jahrelang die Führung des Standortes in Südamerika inne.

„Und Nagi geriet dort in seinen Einflussbereich“, sagte Schuldig mit düsterer Miene.

„Das weißt du besser als ich, Gabriel“, pflichtete Sakura bei. „Sicher ist, dass er sich nach diesem Vorfall verändert hatte. Ich kannte ihn als pflichtbewussten und gerechtigkeitsliebenden Mann. Er war damals bereits ehrgeizig, jedoch ging er immer den richtigen Weg und übervorteilte niemanden.“ Sie verstummte und atmete tief durch.

„Ich habe Straud als aufstrebenden jungen Mann kennengelernt, nicht als das Scheusal, als dass er jetzt von sich reden macht“, sagte sie dann.

„Ja, aufstrebend ist er sicher...“, brummte Schuldig.

„Fandet ihr ihn bald?“, fragte Ran.

„Sabin?“, fragte Sakura und nickte dann langsam.

„Ja, das taten wir. Wir tricksten unsere Begleiter aus und fanden ihn alleine. Er hatte sich verändert. Etwas Düsteres lauerte unter der Oberfläche, dennoch war der alte Sabin noch da. Wir verschwanden zusammen vom Radar der Trias und tauchten unter. Finanziell waren wir durch meine Familie abgesichert und wir hatten Methoden um uns vor der Trias zu verstecken. Nach und nach erkannten wir, dass Sabin noch der war den wir liebten, aber etwas quälte ihn, etwas trieb ihn um. Selbst Aim – so nannte sich Aidan in der Zwischenzeit bekam keinen Kontakt zu ihm in diese Richtung. Er war jedoch der Einzige den Sabin an sich heran ließ. Aim konnte alles von ihm verlangen, alles von ihm fordern.“

Sakura lachte leise. „Aim konnte ihn auch maßregeln, ohne dass Sabin dem widersprach. Das war bei mir anders. Wir lieferten uns lautstarke Meinungsverschiedenheiten und im Kampf waren wir uns ebenbürtig. Bei Aim verlor Sabin stets.“

„Sie hatten eine Beziehung?“, fragte Ran.

„Ich denke schon, aber es war nicht offensichtlich. Sie waren nach außen hin gute Freunde und beteuerten dies auch, jedoch war ich immer der Meinung, dass sie tiefer verbunden waren als sie es zugeben wollten. Schlussendlich kann ich es nicht sagen.“

„Das ist traurig“, sagte Firan leise.

Sakura sah ihn nachdenklich an.

„Nun, während der Zeit in der wir zu dritt umherzogen und nie lange an einem Ort blieben erforschten wir unsere Fähigkeiten weiter und trugen erneut die Informationen zusammen, die die Forschungen bei SZ über Sabin ergeben hatten und kamen darauf, dass er weit mehr als ein Telepath war. Wir erfanden den Namen Soulwhisperer.
 

Doch Sabin zog sich vor uns zurück, bis zu dem Punkt an dem er uns mitteilte, dass er uns verlassen würde. 16 Jahre waren wir eine kleine Familie und plötzlich sollte sich alles ändern. Ich kann immer noch Aims Gesichtsausdruck vor mir sehen. Ich dachte er würde zerbrechen. Zum ersten Mal sah ich Gefühle auf seinem Gesicht die Sabin betrafen. Er hielt ihn nicht auf. 2005 verließ Sabin uns.

Wir konnten jedoch seinen Weg verfolgen, denn Aim und Sabin waren längst auf einer Ebene verbunden, die ich nie erreichen würde. Er wusste stets wie es ihm ging und später erfuhren wir, dass Sabin das gewollt hatte. Er hatte sich nie von Aim oder mir abgewandt.
 

Ein Jahr später sahen wir nach ihm. Er war mit einer Frau zusammen. Ihr Name war Katharina Villard und sie war schwanger von Sabin. Er blieb bei ihr, bis das Kind ein Jahr alt war, dann verließ er sie. Er kam zu uns zurück, sprach aber kaum über seine Motive. Weder warum er gegangen war noch warum er die Frau und das Kind zurückgelassen hatte. Aim war verschlossen mir gegenüber, verhielt sich Sabin gegenüber jedoch wie früher.

Kurz darauf – es mochten ein paar Wochen gewesen sein – tauchte plötzlich SZ erneut auf und es kam nach anfänglichen Gesprächen – die nicht sehr positiv verlaufen waren – zu einem Kampf. SZ griffen uns an und forderten, dass Sabin zurück zu ihnen kommen sollte. Er wollte nicht und ich vermutete damals, dass es einen bestimmten Grund dafür geben musste, er wollte es nicht sagen und die Abgesandten von SZ umschifften dieses Thema. Plötzlich war er zu wichtig, als dass er sich nicht im Orden einbrachte. Seine Verantwortung der Welt und der PSI gegenüber zu groß. Dann als er nicht wollte, kehrten sie zu ihrem vorherigen Vorwand zurück und erklärten erneut wie gefährlich er war.

Das brachte das Fass zum überlaufen. Sabin tötete die Abgesandten und wir versuchten das Chaos irgendwie einzudämmen. Was nicht wirklich gelang. Wir waren plötzlich auf der Flucht und wurden gejagt. Mehrere Scharmützel später in denen viele starben kontaktierte mich ein Ratsmitglied und hielt mich inständig dazu an umzudenken. In der Zwischenzeit hatte sich Sabin in eine Art Blutrausch gesteigert. Er ließ sich nur mehr durch Aims Einwirken beruhigen. Er kam nicht mehr zur Ruhe und eines Tages griff er Aim an weil er glaubte dieser würde ihn alleine lassen.

Was für ein Irrglaube! Aim hätte sich für ihn oder von ihm töten lassen. Sabin war fanatisch und hatte sich im Hass gegen den Orden verloren. Wir konnten ihm nicht mehr helfen. Aim fiel es schwer dies einzusehen – schwerer als mir. Er war selbst für uns gefährlich geworden und wir wussten nicht woran es lag, was dies ausgelöst hatte, oder ob es natürlich für seine Profession war und er einfach instabil wurde, wie Strigo es prophezeit hatte. Strigo selbst hatte mir in einem früheren Gespräch gesagt, dass er seinen Sohn für einen Fehler gehalten hatte.“
 

Schuldig wurde zunehmend wütend über das was er hier hörte.
 

„Ich traf mich mit dem Rat – ohne Sabins Wissen – und wir besprachen das weitere Vorgehen. Ich informierte Aim und wir hintergingen Sabin, tricksten ihn aus und betäubten ihn – er war so ahnungslos und trotz seiner immensen Wut vertraute er uns immer noch.“ Sie schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Tee.

„Wir brachten ihn zurück zu SZ. Sie schafften es ihn ein, zwei Jahre unter Kontrolle halten. Er hatte die Bindung zu Aim nicht gelöst, sie aber auch nicht mehr genährt. Sie drohte zu verblassen und Aim litt Qualen in dieser Zeit. Ich kümmerte mich um Aim, aber es war schwierig. Dann hörten wir von SZ er wäre wieder ausgebrochen und verschwunden. Wir schlossen uns einer erneuten Suche nicht mehr an. Zwei Jahre später wurde er wieder aufgegriffen zusammen mit einer Frau. Über sie waren sie an ihn herangekommen und mit ihr als Geisel hatten sie ihn eingefangen. Das Kind fehlte.

Der Rat bat uns erneut um Hilfe. Aim stimmte zu und wir bauten ein Gefängnis für ihn. Wir wussten uns nicht anders zu helfen als dass wir dies taten. So konnte er nicht frei herumlaufen. Er war geschwächt und seine Ausstrahlung düster und feindselig. Wir befürchteten einen erneuten Amoklauf. Später erfuhren wir warum das Ganze so gekommen war.

Seither ist er in diesem Gefängnis. Zwischendurch begehrte er immer wieder auf, doch es dämmte sich wieder ein. SZ griffen dich auf und jede Gegenwehr erlosch zu diesem Zeitpunkt in ihm. Er rebellierte nicht mehr und hielt sich zurück. Ich kehrte dem Orden komplett den Rücken zu und glaubte, dass Sabin in der Zwischenzeit gestorben war.

Aim wollte in seiner Nähe bleiben.

Der Reaper in Sabin hätte es nicht geduldet eingesperrt zu sein, er wäre die Wände hochgegangen und hätte sich dabei aufgerieben. Erst vor wenigen Tagen erfuhr ich, dass er lebt und ich erfuhr, dass deine Mutter Kontakt zu ihm hat. Den einzigen den er zulässt in seinem Gefängnis.

Er hätte bestimmt leicht ausbrechen können, auf die eine oder andere Weise, doch seit sie dich hatten erlosch in ihm jeder Wille. Er tat gar nichts mehr. Er hat seinen Lebenswillen verloren. Vor ein paar Tagen erfuhr ich, dass SZ ihn nicht töteten weil er nicht mehr gefährlich war und ich frage mich warum. Noch habe ich keine Bestätigung aber ich vermute, dass Aim den Reaper in sich aufgenommen hat. Aim trägt seither diese Fähigkeit in sich und sie zerstört ihn mit Sicherheit langsam.“
 

„Dann wird sie mich auch zerstören?“, fragte Schuldig.

„Nein. Irgendetwas muss Sabin damals zutiefst verstört haben, sonst wäre das nicht passiert. Niemals. Etwas hat ihn grundlegend verändert. Ich weiß nicht was. Ohne Aim, mich und den Schlüssel kann man das Gefängnis nicht öffnen.“

„Wo ist dieser Aim jetzt?“

„Hier. Er ist ein Judge geworden. Ich weiß nicht warum er bei SZ geblieben ist – ich vermute es war die Nähe zu Sabin, die ihn dazu verleitet hat. Er konnte ihn nicht aufgeben, deshalb hat er vermutlich den Reaper genommen um ihn vor SZ die Gefährlichkeit zu nehmen. Der Schild gestattet nur deiner Mutter zu ihm zu gehen. Ich kann nur vermuten, dass Aim akzeptiert hat, dass Sabin deine Mutter wählte und nicht ihn.

SZ ließen ihn in Ruhe, schafften dich aber möglichst weit weg und quälten ihn damit, dass Kitamura dir zusetzte. Das kann ich mir gut vorstellen – ihre Art der Rache an deinem Vater. Durch das Gefängnis jedoch kamen sie nicht an ihn und seine Fähigkeiten heran aber sie hatten auch Angst vor ihm und dem was er trotzdem tun könnte. Er hasste sie mit allem was er war. Er hätte sie damals alle vernichtet. Schon allein dafür was sie dir angetan hatten. Ich kann noch nicht einmal sagen ob sie es deinem Vater gesagt haben. Aber ich weiß, dass du ihr Druckmittel warst um ihn ruhig zu halten. Vermutlich bis sie einen Weg gefunden hatten ihn für ihre Zwecke einzuspannen. Sie waren alt, ihre Zeit abgelaufen, ihre Energie über die Jahre aufgebraucht. Sie mussten sich etwas einfallen lassen um die Konvertierung zu stabilisieren und um deinem Vater etwas entgegen zu setzen. Denn genau wussten sie es nicht ob er noch immer so gefährlich war wie noch vor ein paar Jahren. Er wirkte nicht mehr so. Kein Wunder wenn Aim den Reaper trug.“

„Kann man diese Fähigkeit wieder rückübertragen?“, fragte Ran und seine Stimme klang müde.

Sakura nickte. „Ja, aber Aim wird zerstört sein. Verliert er diese Fähigkeit wird viel von ihm selbst verloren gehen. Ich wüsste nicht, wie man das reparieren könnte.“

„Mein Vater? Könnte er das nicht tun?“

„Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht wie er sich entwickelt hat. Was er denkt und was er fühlt. Ich frage mich immer noch wie er zulassen konnte, dass Aim ihm diese Fähigkeit nimmt. Er hat ihm einen Teil seiner Persönlichkeit genommen und sie seiner eigenen hinzugefügt. Es wird ihn zerstören.“

„Kann das jeder Runner?“

„Nein, Aim ist der einzige den ich bisher getroffen habe, der es konnte. Es ist auch nicht von Vorteil sich dabei selbst zu zerstören. Ich vermute mittlerweile eine Art Selbstgeiselung von Aim weil er Sabin hintergangen hat und daran beteiligt war ihn einzusperren. Aim bestraft sich selbst.“

„Eine furchtbare Geschichte“, sagte Ran und Schuldig wusste nicht was er denken oder sagen sollte. Er fühlte sich wie betäubt. Und er hatte keine Lust mehr auf Popcorn. Er wollte eigentlich nur hier raus.

Er wurde unruhig und setzte sich auf. Sein Blick ging ins Feuer.

Stille hatte sich um ihn herum ausgebreitet und ihm fiel erst auf, dass er geistig abwesend war als der Name Aim erneut fiel.

„...Aim war niemand der jemals jemanden Schaden zufügen wollte. Er ist... oder war es sehr friedliebend. Dein Vater hingegen sehr gerechtigkeitsliebend. Ungerechtigkeit ertrug er schlecht und er konnte sie auch nicht wirklich aushalten oder akzeptieren. Dinge geschehen zu lassen weil die Welt so war, diese Sichtweise war für ihn nie eine Option gewesen. Er wollte die Welt stets zum Guten verändern. Und dann geschah etwas und er konnte damit nicht umgehen. Das Gefühl der Hilflosigkeit ist schwierig für jemandem mit so viel Macht.“

„Meine Mutter ist bei ihm?“, fragte Schuldig die dringlichste Frage für ihn verbalisierend.

„Ich denke. Sie wollte erst vor ein paar Tagen einen Kontakt herstellen um mich um Hilfe zu bitten.“

„Bei was?“, fragte Schuldig härter im Tonfall als er vorgehabt hatte.

„Um deinen Vater zu befreien.“

Er schnaubte, stand auf und verließ den Raum. Das reichte ihm. Er brauchte frische Luft. Dringend.

Er fühlte sich betroffen. Von dieser Geschichte um Menschen, die er für nicht mehr existent gehalten hatte und die sich um ihn augenscheinlich nicht geschert hatten. Und jetzt kam heraus, dass sie viel aufgegeben hatten um ihn zu schützen und dass sie noch lebten. Er hatte plötzlich die Möglichkeit sie kennen zu lernen.
 

Er stürzte fast hinaus und begann immer schneller zu werden. Er rannte über den Kies, zwischen den Bäumen hindurch bis er nicht mehr wusste wo er war. Sein Atem kam ihm stoßweise über die Lippen und er keuchte, stützte sich schlussendlich mit den Händen auf den Knien ab und schüttelte den Kopf. Ein heiserer Schrei entlud sich aus ihm und ließ ihn schließlich kraftlos mit seinen Knien auf den harten Boden brechen.
 


 

o
 


 

Ran war von Schuldigs überraschtem Aufbruch aus seinen Gedanken gerissen worden und sah ihm nun besorgt nach. Er erhob sich mühsam und wurde schließlich von Sakura gebremst, die plötzlich neben ihm aufgetaucht war. Er spürte ihre Hand auf seiner Schulter. Ran sah der Tür zu wie sie zufiel und er hatte das Gefühl Schuldig flüchtete vor ihm.

„Er braucht etwas Zeit.“

„Zeit wofür?“, fragte Ran vorwurfsvoll und wischte ihre Hand von seiner Schulter um Schuldig zu folgen.

„Er hat Angst dich zu verlieren.“

„Das ist Unsinn“, sagte Ran und tastete sich das Sofa entlang bis er es zwischen sich und Sakura gebracht hatte. War es wirklich Unsinn? Nur kurz zuvor hatte er selbst Zweifel an ihrer beider Gefühle gehegt und jetzt?

„Er hat gerade gehört was mit seinem Vater ist und selbst ähnliche Veränderungen gespürt.“

„Er kann damit umgehen“, sagte Ran mit mühsam unterdrückter Wut. Schuldig war stärker als sein Vater. Er würde es schaffen.

„Du auch?“, fragte Sakura.

„Ich?“, fauchte Ran und wandte sich ihr zu. Er sah von Firan, der in der Zwischenzeit weinte, zu Sano, der besorgt auf ihn blickte zu Sakura die ihn bar jeder Miene ansah. „Ich habe verhindert, dass er sich selbst einsperrt. Weil es falsch ist. Immer gewesen ist. Ihr hättet das nicht tun dürfen“, sagte er als wisse er etwas, dass die anderen nicht wussten. Was dieser Aim und Sakura nicht gewusst hatten. Dabei... hatte er keine Ahnung. Von gar nichts.

Er wusste nur, dass Schuldig... er würde es nicht ertragen eingesperrt zu sein. Er würde es nicht ertragen Schuldig eingesperrt zu sehen und zu wissen, dass es das Beste für alle war. Niemals. Er hätte es nicht gekonnt... wie Aim oder Sakura. Und das schürte die Wut in ihm. Er hätte Schuldig nicht... niemals...
 

Seine Gedanken glitten zurück in die Wohnung, die Schuldig bewohnt hatte als er ihn kennengelernt hatte. An diesen unsäglichen Raum der Stille, an die verschließbaren Fenster, an die Schublade voll mit Pillen. All das brauchte Schuldig nicht mehr. Wegen ihm? Warum?

„Er hat sich selbst eingesperrt?“, hörte er Sakura fragen.

Ran schüttelte den Kopf. Er wollte nicht darüber sprechen. Nicht mit ihnen. Das ging niemanden etwas an. Nur Schuldig und ihn.

Ran wurde sauer und verließ ebenso den Raum. Er hangelte sich die Wände entlang und setzte einen Schritt vor den anderen. Wo war Schuldig hingerannt? So aufgewühlt wie er war...
 


 

o
 


 

Sakura blickte ihrem Enkel mit einem berechnenden Lächeln nach. Firan wischte sich die Tränen ab und atmete tief durch. Er beobachtete wie Sano neben sie trat.

„Und?“

„Läuft“, sagte Sakura und Firan wunderte sich über die veränderte Stimmung. Sakura schien zuvor noch sehr einfühlsam und betroffen auf ihren Enkel eingewirkt zu haben. Jetzt jedoch schien sie zufrieden zu sein mit ... sich selbst.

„Er ist schlauer als ich dachte“, sagte Sano und nahm sich ein paar Reiscracker um sie in seinen Mund rieseln zu lassen.

„Vorsicht, du sprichst von meinem Enkel“, sagte sie scherzhaft tadelnd und stürzte den Tee hinunter, den sie sich eingeschenkt hatte.

„Ich meine ja nur... er hat erkannt wie der Hase läuft.“

„Nun, ja... er macht es instinktiv. Ein hervorragender Guardian. Ich bin stolz auf ihn“, pflichtete Sakura bei und Firan fragte sich ob die beiden noch wussten, dass er anwesend war und Ohren hatte die gut funktionierten. Er räusperte sich und beide hielten in ihrem Tun inne. Der Eine stoppte mit zurückgelegtem Kopf die Aufnahme der Reiscracker, die andere hielt mitten in der Bewegung inne sich einen zweiten Tee einzuverleiben.

Sakura hob die Brauen, offenbar hatten sie ihn vergessen.

„Ah, Firan. Möchtest du mal nach den Beiden sehen?“

Firan nickte eilig und trat geschwind aber nicht zu auffällig den Rückzug an.

„Sieh zu, Firan, dass die beiden bis 19.00 Uhr fertig machen, ja?“

Er nickte und verließ den Raum. Draußen atmete er auf und schüttelte grübelnd den Kopf. Sehr seltsam. Die beiden hatten sich benommen wie Kinder die etwas ausheckten oder ... ausgeheckt hatten und unter einer Decke steckten.

Das war alles so traurig und machte ihm zu schaffen. Gabriel hatte sich selbst eingesperrt? Und Ran hatte ihn davon abgehalten?

Sie hatten viel hinter sich. Ihre Bindung war sicher sehr stark.
 


 

o
 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank!
 

Gadreel

R.I.P.

R.I.P
 


 


 


 

Ran zweifelte diese Bindung im Augenblick stark an während er sich verbissen über den Kies schleppte die Baumreihe stets vor Augen. Er wurde langsamer bis er schließlich stehen blieb. Die bleierne Müdigkeit kam zurück und er hob seine linke Hand, nur um festzustellen, dass sie zitterte. Schuldig zu folgen würde er nicht schaffen. Er ballte die Hand zur Faust und sah sich um. Unweit der Altäre befanden sich zwei Bänke auf der Rückseite des Haupthauses. Er beschloss sich dort zu setzen und zu warten.

„Wenn ich dich erwische, Schuldig“, drohte er mit den Kiefern mahlend. Er wusste nicht wie weit und wohin Schuldig gelaufen war. Nichts desto Trotz wollte er etwas tun und war zumindest bis zu den aufgestapelten Holzscheiten gelaufen um sich dort hinzusetzen und diese anzustarren.

Ihm kam der Gedanke, dass es dennoch seltsam war, dass er ahnte wohin Schuldig gelaufen war. Zielstrebig hatte er seine Schritte zu den Bäumen gelenkt. Hatte diese Ahnung etwas mit ihrer Verbindung zu tun?
 

Nach einer Weile bemerkte er die Anwesenheit von jemand anderen und sah sich um. Firan stand ein paar Schritte weit entfernt und hatte ein besorgtes Auge auf ihn.

„Sollen wir reingehen?“, fragte er schließlich und Firan nickte. Ran atmete noch einmal die kühle Abendluft ein und erhob sich dann, eine Hand an seine Seite gepresst. Ihm war kalt und das lag vermutlich auch an der Tatsache, dass ein Drittel seines Kopfes ohne schützende Haare war. Der Wind war eisig geworden.

Während Ran Firan zum Gästehaus folgte musste er daran denken, dass sie sich einer Art Jahrestag näherten. Bald war es ein Jahr her seit Schuldig in positivem Sinne in sein Leben getreten war. Nie zuvor hatte er so viele unterschiedliche Gefühle in so kurzer Zeit durchlebt.

Das kalte Wetter lockte Erinnerungen hervor.

Für einen Moment tauchte das Bild einer Mütze vor seinen Augen auf und er dachte mit einem traurigen Lächeln an diesen Augenblick zurück. Obwohl er eingebettet war in eine Zeit voller Angst, Verzweiflung und widersprüchlicher Gefühle. Er erinnerte sich an die Gasse, an seine Befürchtungen, an die nackte Angst, die er vor Schuldig verspürt hatte. Fast konnte er in den aufblendenden Erinnerungen fühlen wie Schuldig ihm die Mütze aufgesetzt und sanft in den Nacken gezogen hatte. Damals schon war er behutsam mit ihm umgegangen. Er sah den Ernst der in den grünen Augen vorherrschte, das traurige Lächeln, die feste Absicht Ran in Ruhe zu lassen noch vor sich. Zwar hatte er bei Kritiker, nachdem er aus seiner Familie gerissen wurde so etwas wie Zusammenhalt erfahren aber dennoch war es Schuldig gewesen der ihm neue Gefühle geschenkt hatte. Ran musste an Jei denken, der Gefühle gemalt hatte.
 

Sie gingen die drei Stufen zum Gästehaus hinauf. Firan hielt ihm wortlos die Tür auf.
 

Yohji war wie immer für ihn dagewesen. Und... jetzt... er selbst war nicht für ihn da gewesen... Was sagte das über Ran aus? Er konnte sie nicht beschützen. Niemanden. Weder seine Eltern, noch seine Schwester und auch nicht seinen besten Freund.

Ran keuchte und holte tief Luft. Nicht. Er wollte jetzt keine Tränen vergießen.

Er sah Yohji in seiner Erinnerung an der Wand sitzen, die Augen nur halb geschlossen, den blinden Blick, das Blut in seinem Mund. Er konnte das Blut riechen...
 

Nein. Weg damit. Diese Bilder mussten verschwinden!
 

Ran ließ sich im Gästehaus mit bedacht auf der Couch nieder und legte den Kopf auf die Rückenlehne ab während er hörte wie Firan ging und wiederkam. Kurz darauf hantierte dieser in der Küche, stellte Ran ein Getränk hin und ließ ihn in Ruhe.

Ran war dankbar dafür. Er machte sich Sorgen um Schuldig. Wo war dieser hingerannt?

„Weißt du ob er oben ist?“, fragte Ran Firan und sah zu ihm hinüber.

„Nein, dort habe ich schon nachgesehen.“

Ran seufzte lautlos und starte wieder an die Decke. Seine neue Lieblingsbeschäftigung, wie es schien. „Wenn er nicht bald kommt... werde ich sauer“, beschloss er in fester Absicht Wut gegenüber Schuldigs Verhalten zu entwickeln.

„Spätestens zur Bestattung wird er da sein. Er wird... dich... nicht alleine lassen“, sagte Firan, wohl den Versuch unternehmend ihn Milde zu stimmen.

Ran sah wieder zu ihm hinüber.

„Ich bin mir sehr sicher, dass er dich nicht hängen lassen wird, Firan. Er wird uns beide in dieser Situation nicht alleine lassen. Dazu ist er nicht egoistisch genug.“

„Dabei hat man ganz anderes von Schwarz gehört“, sagte Firan nachdenklich und hielt im Schneiden inne.

„Ja“, sagte Ran und fühlte der Melancholie nach, die ihn gerade heimsuchte. Er war froh, dass die Zeit in der er Schuldig nicht wirklich gekannt hatte vorbei war.

„Ich habe gar kein Bild von Yohji“, sagte Ran dann nach einer Weile in der er vor sich hingebrütet hatte. „Kein Einziges.“
 

Schuldig kam nicht und sie aßen zusammen in einvernehmlicher Stille. Gegen Abend zog sich Ran um und Firan erklärte ihm, dass Arbeitskleidung bei der Bestattung gewünscht war. Rans Kleidung war sauber geflickt und gereinigt worden. Firan schlüpfte in eine ungewöhnliche Kombination aus Leder und Stoff.

Er sagte es wäre Kleidung der Judges.

Ran sah ihn an als er fertig war und schob seine Klinge wieder in die Scheide zurück. Er nickte Firan zu.

„Es steht dir, Firan“, sagte er. „Sie verändert deine Ausstrahlung.“

„Es ist nur Kleidung, die ich von den Judges bekommen habe. Sie hatten nichts anderes um mich einzukleiden bevor ich... bevor ich weggebracht wurde.“

„Nein. Das ist es nicht. Es ist nicht nur Kleidung. Und ich bin mir sicher, dass es einen Grund gab warum du sie bekommen hast. Jemand wollte dich damit schützen. Sie dient dem Schutz.“

Firan sah ihn aufmerksam an. „Ja, das tat sie. Es war Mia... ähm... ich denke, dass es Aim war, der mich schützen wollte“, sagte er zögernd. Dann nickte er. „Ja. Es war ganz sicher Aim.“

Ran nahm seine Klinge auf und zusammen machten sie sich zum Haupthaus auf.
 

Währenddessen hatte sich Schuldig auf den Rückweg begeben, wesentlich langsamer mit unterschiedlichen Gefühlen im Bauch.

Als er in Richtung Gästehaus ging um sich Ran zu stellen wartete Sano vor dem Haus auf ihn. Schuldig blieb stehen als er ein paar Meter an Sano herangekommen war und sie sahen sich an. Unausgesprochene Worte zirkelten zwischen ihnen hin und her. Sano hatte diese Zeit an Sakuras Seite verbracht. Schuldig war sich in diesem Punkt sehr sicher, auch wenn es keinen wirklichen Anhalt dafür gab. Irgendwann würde er den Mann dazu befragen.
 

„Komm mit, Sakura hat etwas für dich“, sagte Sano dann und drehte sich um. Schuldig schloss zu ihm auf. Sano schien davon auszugehen, dass er ihm folgen würde. Was Schuldig mit einem Blick voller schlechtem Gewissen in Richtung Gästehaus auch tat. Besser das Unvermeidliche noch etwas aufschieben...

Sie gingen zu Sakuras Räumen. Schuldig nieste einmal und rieb sich die Arme.

„Wenn du krank wirst gibt’s Ärger“, prophezeite Sano und sah ihn mitleidig an.

„Schon deine Erfahrungen gemacht?“, mutmaßte Schuldig und erwiderte den Blick.

„Du hast keine Ahnung“, brummte Sano.

„Doch... doch, ich glaube die habe ich“, entgegnete Schuldig in leidgeprüftem Tonfall.

Nach einer Weile waren sie bei Sakuras Räumen angekommen. „Warum bist du abgehauen?“, fragte Sano und sie blieben einige Meter vor der Tür stehen und starrten sie an.

„Da gibt es einige Gründe“, wiegelte Schuldig unwirsch ab.

„Verstehe“, sagte Sano und machte eine Kopfbewegung Richtung Tür.

Schuldig zuckte mit den Schultern und trat alleine ein.
 

Sakura stand in ihrem Anzug und mit einer Klinge in der Hand, die in ihrer Scheide ruhte, vor einer Kommode. Sie hatte die Beine leicht ausgestellt und sah auf eine Schachtel hinunter als würde daraus gleich Jemand oder Etwas kommen der oder das besser ohne seinen Kopf dran war.

„Was ist da drin? Ein Kopf?“, fragte Schuldig, da ihn die Stille nervte. Überhaupt ging ihm die Stille in seinen Gedanken auf die Nerven. Sollte er nicht froh sein diese Auszeit bekommen zu haben? Das stete Hintergrundrauschen war leiser geworden, nicht ganz verschwunden aber sehr leise. Es war nicht mehr wie atmen, die Gedanken anderer zu lesen, momentan müsste er aktiv werden müssen. Es sollte für ihn Erholung sein, dennoch war es seltsam. Ein bisschen erinnerte es ihn an die zwei Wochen nach seinem kleinen Treffen mit Fei Long.

„Du siehst zu viele Filme“, sagte Sakura langsam mit einer Prise Humor zwischen den Worten.

„Da bin ich mir nicht so sicher...“, erwiderte Schuldig zweifelnd. Er hatte in der letzten Zeit überhaupt keine Filme gesehen! Und keine Spiele gespielt! Was er wirklich sehr bedauerte.

„Komm näher“, sagte sie und Schuldig hob eine Augenbraue.

„Brauchen sie das Schwert unbedingt um mir... etwas zu zeigen?“, fragte er betont freundlich.

„Nein. Es ruht schon sehr lange und ich gedenke es auch nicht so bald zu wecken.“

Schuldig wiegte den Kopf hin und her. „Gut. Das klingt vernünftig.“

Er ging näher und blieb neben ihr stehen.

„In dieser Kiste bewahre ich die Kleidung deines Vaters auf, er trug sie damals während unserer Aufträge. Momos Mutter hat sie für dich abgeändert, anhand der Kleidung die du bei deiner Ankunft hier getragen hast.“ Sie sah immer noch auf die Schachtel und bewegte sich nicht.

„Und ich soll sie heute tragen?“

„Wann und ob du sie trägst möchte ich dir überlassen“, sagte sie.

„Bei all dem was du gehört hast und noch hören wirst will ich, dass du weißt, dass ich deinen Vater liebte wie einen Bruder. Wir wussten nicht wie wir ihm helfen konnten und ich werde mir nie verzeihen, dass wir es nicht geschafft haben. Ich habe ihn im Stich gelassen. Ihn und Aim.“

„Das ist ihr...“, wollte Schuldig dazu ansetzen, ihr mitzuteilen, dass er diesen Umstand als ihr Problem ansah. Doch ihr Kopf ruckte zu ihm herum und tat das in einer wirklich schnellen Art. Die von der unnatürlichen Sorte.

Sie sah ihn an. „Das ist es. Und damit lebe ich.“ Sie sah wieder auf die Schachtel.

„Nimm sie. Bitte.“ Sie drehte sich abrupt um und verließ den Raum. Er sah ihr nach und empfand diese Frau plötzlich als bedrohlich wie sie sich durch den Raum bewegte. Unaufgeregt, Gelassen und sich ihrer im Raum jederzeit bewusst.

Ganz normal war die nicht, beschloss Schuldig für sich. Dann runzelte er die Stirn. Also anormaler als in ihren Kreisen üblich, korrigierte er seine Annahme.

Leise fiel die Tür ins Schloss und Schuldig war alleine. Mit sich und der Schachtel.

Er stellte sich davor und starrte sie an, unbewusst die Haltung von Sakura imitierend.

Die Schachtel war vielleicht einen Meter lang, die Hälfte breit und etwa dreißig Zentimeter hoch. Die Farbe Anthrazit war in Wellenform eingearbeitet worden. Dazwischen war ein Muster in grünen Farbtönen hindurchgewebt. Die Tür ging erneut auf, doch sein Blick blieb auf der Schachtel hängen. Die Kleidung seines Vaters von dem er angenommen hatte, dass er nicht mehr existierte. Von dem er angenommen hatte, dass er sich einen Dreck um ihn geschert hatte. Und der aufgrund seiner anormen, speziellen Fähigkeiten ein Gefangener war. Weil er zu gefährlich war. Der gefangen geblieben war, weil SZ ihn mit Schuldig erpresst hatten.

Diese ganze Welt war verkorkst. Ihre Welt war verkorkst.

Sie entführten Kinder.

Er hatte aus dieser Welt zu entkommen versucht und Kitamura dafür in Kauf genommen. Schon allein das sagte alles über ihre Gesellschaft aus. Brad hatte sich dafür gerächt. Asugawa hatte sich dafür gerächt. Sie hatten sich an seiner Stelle dafür gerächt, weil er es nicht geschafft hatte. Weil er damals zu schwach gewesen war. Damals war dieses Etwas erwacht – dieser Reaper. Diese Fähigkeit, der er so viel Raum gegeben hatte, dass sie ihn anders werden ließ. Bedrohlicher. Tödlicher.

War sein Vater so gewesen und alle anderen hatten es nur nicht verstanden? Was war an ihm anders?

Jei war tot. Mit neunzehn Jahren war er gestorben. Sie hatten ihn aus seiner Zwangsjacke und aus einem Verschlag geholt damit er Arschlöchern half die Welt ein Stückchen furchtbarer zu gestalten. Sie hatten nicht einmal sein wirkliches Alter gewusst. Ein halbes Kind. Wie Nagi. Wie er es anstellen würde wusste er noch nicht, aber er würde alle dafür büßen lassen...
 


 

o
 


 

Ran war mit Firan auf den Vorplatz gegangen wo sich viele Menschen eingefunden hatten. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Es mussten so um die Hundert Männer und Frauen sein als Sakura zu ihnen kam und leise etwas zu einem Mann im mittleren Alter sagte. Tatsächlich gab es also auch Menschen hier die älter aussahen? Waren hier nicht alle PSI?

Nein. Seine Mutter war auch keine gewesen. Das hatte Schuldig von Sakura erfahren. Diese Fähigkeit hatte eine Generation übersprungen. Also gab es hier auch ältere Menschen. Seine Mutter... seine Familie... sie hätten hier leben können?

Warum war das nicht geschehen?
 

Firan stand dicht bei ihm und Ran hätte ihn am Liebsten mit Worten getröstet brachte aber kein einziges davon heraus.

Er selbst hatte seine Eltern verloren, er hatte Aya verloren und jetzt seinen besten Freund. Was war ihm geblieben...? Was war mit ihm los? Warum starben alle die er liebte? Was war ihm geblieben?

„...Gabriel sehen?“

Er sah auf und Sakura blickte ihn an. Hatte sie mit ihm gesprochen?

„Kannst du bitte nach Gabriel sehen?“

„Was hat er angestellt?“, fragte Ran automatisch.

„Nichts. Noch nicht. Sieh dich um“, sagte sie und Ran sah sich auf dem Platz um.

Viele Menschen hatten ihren Blick auf das Haupthaus gerichtet.

„Ich denke im Augenblick ist er sehr aufgewühlt. Vielleicht kannst du ihn beruhigen. Es stört die Konzentration wenn er ... sagen wir... wild um sich schlägt.“

„Wo ist er?“

„In meinen Räumen.“

Ran nickte und eilte über den Platz und den überdachten Weg entlang um zu Schuldig zu kommen. Er wollte eigentlich wütend auf ihn sein, aber Sorge verdrängte diese Wut. Ran platzte schließlich in den Raum und sah Schuldig vor einer Kiste stehen. Er nahm kaum war, dass Ran nicht gerade leise hereingekommen war. Schuldigs Gesicht war finster auf die Kiste gerichtet.
 

„Was ist das?“, hörte Schuldig und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus bevor es erlosch. Oh, wie er dieses tiefe ruhige Timbre liebte. Schuldig sah neben sich. Ran stand dort, gerade rechtzeitig bevor Schuldig wieder einen Heulkrampf bekommen würde.

„Ziehst du mir eine über, weil ich abgehauen bin?“, fragte er in Anbetracht des verschlossenen Gesichtsausdrucks und der Klinge die Ran in der Hand hielt.

„Später“, kam knapp die Antwort und Schuldig verzog in Gedenken an dieses ‚Später’ das Gesicht.

„Spitzenaussicht“, brummte er und sah wieder auf die Schachtel.

„Die Kleidung meines Vaters, die er während seiner Aufträge getragen hatte“, antwortete Schuldig verspätet auf Rans Frage.

„Willst du sie nicht öffnen?“

Schuldig amtete tief durch und zog die Augenbrauen nach unten. Sollte er?

„Pandoras Kiste?“

„Ist längst geöffnet. Wie schlimm kann es werden?“

„Ist das dein Ernst?“, hakte Schuldig nach und sah wieder zu Ran.

„Du solltest gut gekleidet sein, wenn ich dich ‚später’ auseinandernehme“, sagte Ran und Schuldig bekam kurzfristig große Augen. Shit, Ran war im Auftragsmodus. Vermutlich ließ sich das Kommende nur so bewältigen. Trotzdem... der Modus hat sich stets als nachteilig für Schuldig erwiesen.

Sein Griff ging an die Kiste und er öffnete sie. Zunächst kam schwarzes Seidenpapier zum Vorschein. Dann eine Mischung aus Stoff und Leder. Oberteil. Weste. Jacke. Stiefelhose. Stiefel. Die würden ihm nicht passen. Er nahm die Jacke heraus.

„Verdammt wie groß war der Kerl?“, fragte Schuldig.

„Ist... der Kerl. Und es ist dein Vater. Er lebt“, sagte Ran ruhig.

Schuldig nickte. Er schwieg lange. Seine Hände hielten die Jacke. „Ich will nicht, dass er eingesperrt ist“, sagte er dann in die Stille hinein und spürte wie feucht seine Augen schon wieder wurden.

„Schon seltsam... ich wollte mich auch immer einsperren...“, flüsterte er.

„Ich weiß.“

„Du hast da nicht mitgemacht. Du hast mich davon abgehalten. Wie konntest du nur annehmen, dass ich tue was du willst, weil du mich... verhext hast? Ohne dich wäre ich verloren gewesen“, sagte er kaum mehr hörbar.

Plötzlich wurde er herumgezogen und starrte in wässrige violette... wütende Augen.

„Wir haben einen Job zu erledigen. Zieh das an. Wir sehen uns draußen.“ Ran ließ ihn nach einem langen Blick los und ging davon. Schuldig sah ihm nach und blickte dann wieder auf die Jacke, auf seiner Unterlippe herumkauend.

Was sollte er tun...?
 


 

o
 


 

Die folgende Zeremonie erlebte Ran wie in Trance. Vielleicht lag es an den Schmerzmitteln, vielleicht an der Atmosphäre, oder an den vielen Menschen, die sich wie stumme Zeugen versammelt hatten. Es waren so viele...

Er war einer der Träger die Yohji herausbrachten. Schuldig war einer der Träger ebenso wie Firan die Jei herausbrachten. Sie betraten mit ihrer Last den Platz und Ran spürte die dumpfen Trommeln bis ins Mark. Eine Frau sang melodisch mit klarer Stimme die immer gleichen Worte.
 

Schreite voran.
 

Träume.
 

Bewahrer. Hüter. Retter.
 

Immer und immerfort.
 

Schenke Frieden.
 

Ruhe in Frieden.
 

Dann fielen andere in diesen Gesang mit ein, bis sie sich zu einem Chor zusammenfanden. Während sie die Toten auf den Hölzern absetzten sang ein einzelner Mann.

Ran, Schuldig, Firan und die anderen Träger traten zurück in den Kreis der anderen.

Ran hatte die Zunahme der Menge an Menschen auf dem Gelände bemerkt als er zu Schuldig gegangen war. Sie hatten alle diese Art von Arbeitskleidung an, waren bewaffnet und hatten sich ungeordnet im Kreis um die Feuerstätte versammelt. Das Gelände war voll von ihnen, auch am nahen Hügel standen sie. Stumme Figuren die wie mahnende Schatten vor dem Feuerschein wirkten.

Firan und Ran wurde eine brennende Fackel in die Hand gedrückt und sie gingen nach vorne um die Altäre zu entzünden. Das Feuer griff sofort auf die Zweige über und Firan trat mit Ran zurück.

Ran mied den Blick zu Firan, da er diese Situation selbst kaum ertragen konnte. Er befürchtete, sich nicht mehr zusammenreißen zu können wenn er Firan anblickte. Im Moment fühlte er nichts. Und so sollte es bleiben.

Das Feuer brandete wütend auf und tauchte die in Stoffbahnen gehüllten Toten in feuriges Licht. Firan hatte ihn informiert, dass das Feuer sehr heiß sein musste damit – im Gegensatz zur üblichen Zeremonie - keine Überreste übrigblieben. Nichts sollte von ihnen an die Nachwelt weitergegeben werden. Es würde nur Asche übrigbleiben.

Die Hitze schlug ihm entgegen und Rans Blick verlor sich in dem Anblick des Feuers.

Sie verbrennen.

Für einen kurzen Augenblick bekam er Panik. Yohji verbrannte.

Dann riss er die Augen auf und atmete tief durch. Es war gut so. Beruhige dich. Es war gut so. Diese nicht mehr benötigte Hülle verbrannte. Yohji würde nicht wiederkommen. Nichts würde übrigbleiben. Rein gar nichts.
 

Lange standen sie so da und hörten die Trommeln und den Gesang, der sich abwechselte. Der Gesang beruhigte sein Herz. Die Stimmen und die Worte wirkten tröstlich. Die vielen Anderen um ihn herum ebenso.
 

Die ernsten Mienen starrten ins Feuer. Wie sollte er sie bezeichnen? Als Krieger? In seinem bisherigen Schattenleben war er davon ausgegangen einer unter wenigen zu sein.
 

Sakura sah in ihrem Anzug mit Krawatte und dem Schwert in der Scheide ungewöhnlich aus. Sie hatte das Kinn leicht geneigt und ihr Blick war weder nachdenklich noch von Trauer durchsetzt. Er war hart und unnachgiebig. Er schien etwas in diesem Feuer zu sehen. Etwas, das sich ihre Wut zugezogen hatte.
 


 

o
 


 

Schuldig hatte die Kleidung seines Vaters übergestreift und hatte sich leicht hinter Ran und Firan gestellt um sicher zu gehen, dass keiner von Beiden umkippte. Nicht, dass er ihnen keine Selbstdisziplin zusprach, nur hatten beide im Augenblick nicht die besten körperlichen Voraussetzungen stundenlang in der Kälte herumzustehen.

Eine Bewegung im Augenwinkel irritierte ihn und er sah flüchtig zur Seite.

Kudou stand dort und machte ein unglückliches Gesicht. Schuldig blinzelte.

‚Bist du es?’, fragte er probehalber in Gedanken. Nicht, dass es doch noch Geister gab...

‚Wer sonst? Kudou?’

Schuldig seufzte und er wandte seinen Blick wieder nach vorne.

‚Keine Ahnung, hätte ja sein können’ gab er mutlos zu.

‚Ich hab diesen Arsch gemocht. Und Jei... er war erst neunzehn gewesen. Verdammte, Scheiß Neunzehn!’

‚Beruhige dich.’

‚Ich bin ruhig’, schickte Schuldig zurück und ließ die Mundwinkel hängen.

‚Bist du nicht. Und das ist verständlich. Nur, bist du derart aufgewühlt, dass sie alle Hände voll zu tun haben um dich im Zaum zu halten. Bemerkst du das nicht?’

‚Nein’, gab Schuldig zu. ‚Gerade nicht.’

Kudou blieb dort, sagte aber nichts mehr und Schuldig ignorierte den Typen. Er beschloss, dass er ein Spion war und mit Spionen wollte er nicht reden. Nicht jetzt. Es war seltsam Kudou beim Verbrennen zusehen zu müssen während ein anderer sich seiner Gestalt bediente.

‚Kannst du mir einen Gefallen tun?’

‚Hmm... was soll ich für dich tun?’, fragte Kudou träge als schien er in Gedanken zu sein. Was angesichts der Umstände merkwürdig auf Schuldig wirkte.

‚Kannst du eine andere Gestalt auswählen? Das ist mir echt zu schräg im Moment.’

‚Verstehe.’

‚Was verstehst du?’, fragte Schuldig ohne Vorwurf in den Worten.

‚Dass du ihn beerdigen möchtest. Es ist unpassend in dieser Gestalt zu erscheinen.’

Schuldig fügte keine Bemerkung an, denn was blieb dazu noch groß zu sagen?

Er hatte seinen geistigen Begleiter fast schon vergessen wie er so dem Gesang lauschte, der ihn beruhigte je länger er zuhörte. Als die Trommeln aufhörten erinnerte er sich an den falschen Kudou und sah zur Seite.

Dort stand nun ein Mann der die gleiche Größe wie Kudou hatte. Die gleiche Frisur wie dieser nur mit weißen Haaren. Das Profil jedoch gänzlich anders. Kein Japaner, definitiv nicht. Er trug weiße Kleidung aus Leder, schwarze Stiefel, einen weißen Mantel mit schwarzen Nähten und hohem Kragen über den die Haare fielen. Seine Augen waren jadegrün.

‚Wo hast du den ausgekramt?’

‚Zusammengebastelt. Irgendein Typ aus einem Katalog.’

‚Die Augen?’

‚Krieg ich nicht hin. Sind meine.’

‚Immerhin.’

‚Viel hab ich nicht verändert’, behauptete der Kerl. Wenn es überhaupt ein Kerl war. ‚Haarfarbe, Gesicht und Kleidung.’

‚Es erfüllt seinen Zweck’, pflichtete Schuldig bei und blickte wieder ins Feuer.

‚Und wie heißt du nun?’

Eine Zeitlang kam nichts, dann... ‚Cloud.’

‚Wie bitte?’

‚Nenn mich Cloud.’

‚Wie die Wolke? Auf keinen Fall... das ist bescheuert.’

‚Fällt dir etwas Besseres ein?’

‚Keine Ahnung, alles ist besser als DAS!’

‚Na, dann lass mal hören!’

‚Wie wäre es mit Spion?’

‚Klingt nicht besonders freundlich.’

‚Und wie wäre es mit Vater?’, fragte Schuldig und versteinerte über seinen plötzlichen Einfall. Was wenn er zustimmte? Was dann? Was sollte er dann tun?

Kurz überkam ihn Panik... bis die Erwiderung kam.

‚Ich bin dein Vater, Gabriel.’

Schuldig runzelte die Stirn.

‚Oh...Bitte!’ Er verzog missgelaunt das Gesicht. Das war definitiv eine Kopie aus Star Wars. Definitiv. Sogar die getragene Wortwahl passte.

‚Arsch.’

‚Ich bemühe mich’, kam etwas geknickt zurück und Schuldig seufzte wieder.

‚Also gut, dann Skywalker. Du heißt ab sofort Skywalker.’

‚Dem stimme ich nicht zu. Absolut nicht’, kam es entschieden und ein bisschen verschnupft zurück.

‚Is mir gleich. Du hast es im Prinzip herausgefordert mit deiner... Verarsche.’

‚Aber... Darth Vader? Wie wäre es mit Vader?’

‚Neeein. Es bleibt bei Skywalker.’

Dann kam nichts mehr. Schmollte der Typ? Wie alt war er zum Teufel? Fünf?

Schuldig sah zur Seite. Skywalker hatte sich verzogen.

Nachdem dies geklärt war richtete sich Schuldigs Konzentration wieder auf Ran und Firan.

‚Hey...’, nahm er Kontakt zu Firan auf und tastete sich vorsichtig in dessen Gedankenwelt vor. Bei Ran kam er ja nicht rein. Zumindest nicht ohne ... wie hieß es... viel Energie zu mobilisieren, die er laut Sakura und Sasuke nicht im Übermaß zur Verfügung hatte.

‚Gabriel?’

‚Ja.’

‚Geht es dir nicht gut?’, fragte Firan sogleich und wandte sich halb zu ihm um.

‚Alles gut bei mir und bei dir?’ Firan sah wieder nach vorne.

‚Es geht so schnell... ging so schnell. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mitkomme und alles nur ein Traum ist. Was wenn es ein Traum ist und ich noch in der Kapsel stecke und ich träume während ich...“

‚Halt mal, Kleiner. Du träumst nicht. Das ist real... nun so real wie es eben ist. Kein Traum.’

‚Ich weiß nicht...’

‚Für mich ist das auch alles zu viel. Und für Ran sicher auch. Wir brauchen alle Zeit um wieder klar denken zu können.’

‚Ja. Er kommt nicht zurück. Egal was ich denke, sage oder tue.’

Schuldig zog sich aus Firans Gedanken zurück. Sie waren wohl lange dort gestanden um dem Feuer zuzusehen. Langsam verzogen sich alle ins Haupthaus um Speisen und Getränke zu sich zunehmen.

Firan, Ran und Schuldig blieben zurück.

Ran hatte sich nicht bewegt seit er mit der Fackel Kudous Altar angezündet hatte. Er hatte weder etwas gesagt, als sich die anderen nach drinnen verzogen hatten noch hatte er augenscheinlich einen einzigen Muskel bewegt.
 

Firan wollte oder konnte sich nicht lösen. Schuldig ging zu ihm hinüber. „Möchtest du hinein gehen um dich aufzuwärmen?“

„Gehst du mit?“, fragte Firan mit dünner Stimme und sah mit ängstlichem Blick zu ihm auf. Ein Kind. Ein einsames Kind, das verloren gegangen war.

„Ja. Sicher. Wir gehen alle“, sagte Schuldig und sah auf das versteinerte Profil von Ran. Dieser schüttelte einmal den Kopf ohne sie anzusehen.
 

Schuldig brachte Firan nach drinnen und setzte ihn an einen Tisch mit Momo, ihrer Mutter und einem Mann der etwas älter war und sich mit Namen Ishigo vorstellte. Die Menschen hatten sich im Haus verteilt und Schuldig verabschiedete sich nach ein paar Minuten als er befand, dass Firan in ein Gespräch eingebunden war. Nachdem Momo ihm zugenickt hatte war er beruhigter und ließ Firan am Tisch zurück.
 

Firan und er waren wohl die Einzigen hier, die keine Waffen am Körper trugen. Selbst Momos Eltern waren bewaffnet. Innerlich darüber die Schulter zuckend suchte er den Raum nach Sano ab, fand ihn, Sakura aber nicht. Er schnappte sich aus der Küche warmen Sake und verschwand damit wieder nach draußen. Ran war nicht zu sehen. Er sah kurz zu den Flammen hin, die noch loderten und ging dann in Richtung Gästehaus. Zwei Männer hielten an den brennenden Altären Wache. Sakura stand bei ihnen.
 

Schuldig betrat das Gästehaus, das im Dunkeln lag. Er ließ die Tür lautlos ins Schloss gleiten und ging ein paar Schritte in den Essbereich hinein um den Sake auf dem Tisch abzustellen. Wo war Ran?

Schuldig zog sich die Schuhe aus und ging nach oben. „Ran?“

Als er in ihrem Zimmer ankam und die Tür langsam mit dem Fuß aufschob stand Ran mitten im Raum. Er konnte die dunkle Silhouette nur durch den spärlichen Lichteinfall der durch die Fenster drang ausmachen.

„Zieh dich aus“, durchdrang die dunkle Stimme die Stille.

Schuldig wiegte den Kopf hin und her und beschloss... ja... was beschloss er...denn...?

Tick...Tack...Tick...Tack....

„Nein.“

„Nein?“

Es gab viele Gründe für Schuldig diesen Befehl zu verweigern, nur allein deshalb um Ran herauszufordern. Es mochte an den offenen Haaren liegen die den halben Rücken bedeckten, vielleicht auch dass sie auf nackte Haut trafen. Das raue dunkle Timbre, das allein schon wie ein Aphrodisiakum auf Schuldig wirkte. Oder vielleicht lag es auch an dem Schwert, welches zwar in seiner Scheide ruhte, dennoch in Rans Hand lag und nach Herausforderung geradezu schrie. So viele Gründe um Ran zu provozieren. Ob es der richtige Zeitpunkt war konnte Schuldig nicht genau sagen, ob es das richtige war definitiv.

Schuldig wollte näher treten, doch Ran wandte sich um trat ihm kalkuliert vor die Brust und beförderte ihn damit gezielt gegen die Wand. Ran setzte nach noch bevor Schuldig registriert hatte, dass es eher ein Schubs, denn ein Tritt gewesen war und schob mit der Scheide sein Kinn nach oben, während er an seiner Kehle leckte. Bedächtig und aufreizend langsam wie eine Katze die sich putzte.

Okay... das war neu, verdammt schnell und hatte auf jeden Fall etwas... Erotisches.

Schuldig würde Ran jetzt nicht erklären, dass es vielleicht noch zu früh für derlei rabiate Aktivitäten war. Er wusste genau, dass Ran in diesem Zustand an die Grenze der Belastbarkeit gehen würde, nur damit er diesen inneren Stress loswerden konnte.

Schuldig hob seine Hände und berührte Rans Kopf um ihn leicht in den Nacken zu neigen. Er lächelte. Und es war kein nettes Lächeln, das er auflegte. Ran hatte die eindeutige Absicht ihn zu manipulieren, um das zu bekommen was er wollte. Doch da er zuvor abgelehnt hatte und Gewalt keine Lösung schien um Schuldig ins Bett zu bekommen verlegte sich Ran nun auf Verführung.

Dabei hatte Ran keine Ahnung wie sehr er ihn schon die ganze Zeit wollte. Nur...

Schuldigs Blick ging durch das Fenster welches ihnen gegenüberlag. Die Kawamoris dämpften seine Emotionen und dabei... den damit verbundenen ‚Rest’. Wie konnte er Ran das begreiflich machen ohne ihn dabei vor den Kopf zu stoßen?

Und wie lange konnten sie hier bleiben, ohne dass es schlimmer wurde? Schlimmer für Ran, der verzweifelt versuchte seine Gefühle zu kompensieren, und das mit Sex. Sie mussten weg hier. Aber war das klug?

Er zog Ran an sich und küsste ihn besitzergreifend, fordernd, ließ keine Erwiderung zu bis er dieses satte zufriedene Stöhnen hörte, das er so gut kannte und das ihm sagte, dass er auf dem richtigen Weg war. Ran hatte sich gegen ihn sinken lassen – eindeutiger konnte es nicht sein. Die nackte Haut fühlte sich kühl unter seinen Händen an.

Schuldig wollte ihm versichern, dass er ihm helfen würde, dass er ihm die Gedanken nehmen würde, die ihn quälten – mit welcher Methode auch immer.

Aufreizend langsam strich er über Rans Hals hinunter, die kühle Haut streichelnd bis er die empfindliche Haut zwischen seinen Beinen berührte. Ran schauderte. Er war zu lange in der Kälte gestanden und war ausgekühlt. Perfekter Nährboden für warme Zauberhände, über die Schuldig natürlich verfügte.

Dann packte er Ran und dirigierte ihn nach hinten. Ein dunkles Stöhnen presste sich in Erwartung auf das Kommende zwischen seinen Lippen hervor als er rücklings aufs Bett fiel. Schuldig kam über ihn, winkelte Rans rechtes Bein an und schob es sich über seinen Oberschenkel während er sich auf Ran niederließ. Er strich über Rans Arme und führte sie über dessen Kopf um sie dort festzuhalten. Nur langsam begann er sich auf Ran zu bewegen. Die Nähte seiner Hose kratzten sicher unangenehm auf Rans empfindlichem Glied. Trotzdem bog er sich ihm entgegen und Schuldig fing die halb geöffneten Lippen erneut zu einem langsamen, tiefen Kuss ein. Derweil wanderte sein Blick erneut nach draußen. Er spürte die Energie, die ihn blockierte und sie ärgerte ihn zunehmend. Sie machte ihn wütend.

Er versuchte sich probehalber dagegen zu wehren. Bisher hatte er kein Problem damit gehabt, aber ihn daran zu hindern, Ran das zu geben was er dringend brauchte brachte das Fass zum überlaufen. Es dauerte nicht lange und Ran kam mit einem erstickten Aufschrei. Feucht und ermattet lag er unter Schuldig.

Ran hatte die Augen geschlossen und Schuldig koste mit seinen Lippen über die geschlossenen Lider. Er streichelte ihn sanft und tröstend. „Ich bin bei dir“, sagte Schuldig versichernd. Ran sagte nichts.

Schuldig ging ins Bad, holte einen Waschlappen und ein Handtuch, säuberte Ran, der es nicht sehr schätzte, wenn sein Erguss an seiner Haut antrocknete. Er reinigte seine Kleidung, bevor er Ran zudeckte, der sich sofort einrollte. Schuldig blieb bei ihm bis er eingeschlafen war.

Danach ging er nach unten, trank etwas Sake und setzte sich auf die Couch im Erdgeschoss. Wenig später kam Sakura herein.

„Was ist los?“, fragte die dunkle Silhouette im Türrahmen.

„Was meinen Sie?“, schickte Schuldig leise zurück und nahm erneut einen Schluck von dem Sake.

Sie kam ein paar Schritte näher blieb dann aber stehen. „Dein kleiner Angriff gerade eben.“

„War das so?“, fragte Schuldig nicht wirklich daran interessiert das jetzt zu besprechen, obwohl...

„Ja. Du bist gegen unsere Schilde geprallt... als... wolltest du aus einem Käfig ausbrechen.“ Sie verstummte.

„Noch einmal: Was ist los?“

„Wir müssen hier raus“, sagte Schuldig. Das Wort Käfig erinnerte ihn an Schuldigs angekettetes Engel-Pendant, in Rans kleinem geistigen Versteck.

„Ich muss hier raus.“

Sie sagte erst nichts. Dann: „Ist die Beeinflussung zu stark für dich?“

„Könnte man so sagen“, sagte Schuldig unbestimmt.

„Ruht euch aus. Ich lasse mir etwas einfallen.“

Schuldig nickte und sie ging.
 

Die nächsten Tage passierte rein gar nichts. Schuldig beobachtete mit Argusaugen Rans Zustand. Der sich wie von ihm befürchtet verschlechterte.

Trainingseinheiten brach er voller Zorn ab, bis er an keinen mehr teilnahm. Sakura und Sano waren als Zuschauer oft anwesend, sagten jedoch nichts gegen die unbeherrschten Ausfälle, die untypisch für Ran in der Öffentlichkeit waren. Als Schuldig mit ihm trainieren wollte, verfehlte Ran nur knapp seinen Hals und er entging knapp einer ernsten Verletzung. Danach... kam Ran aus ihrem Schlafzimmer nur dann heraus, wenn Firan ihn zum Essen rief. Dem Jungen konnte er nichts abschlagen. Wenn Schuldig ihn herunterbat kamen eindeutige sexuelle Annäherungen, denen er mehr oder weniger erfolgreich ausweichen konnte. Manchmal ging er darauf ein, aber Ran fühlte sich zurückgesetzt und am zweiten Tag nach der Bestattung stellten sich auch diese Kontaktaufnahmen gänzlich ein. Ran wurde biestig. Und zwar so richtig. Jede Begegnung endete im Streit, sodass schlussendlich nur noch Firan eine Kommunikation mit ihm zuwege brachte. Ran schien innerlich zerrissen zu sein und er konnte sich nicht so zurückziehen wie er es gerne getan hätte. Er fühlte sich eingeengt und beobachtet. Genau wusste Schuldig es nicht, er konnte es nur vermuten.
 

„... wie soll ich mich denn verhalten?“, brummte Ran drei Tage nachdem sie an dem Verbrennungsritual teilgenommen hatten. Schuldig konnte bereits den Zorn in den Worten heraushören.

„Sag mir einfach wie ich dir helfen kann, verdammt“, fuhr Schuldig am Rande der Geduld auf.

Sie waren im Schlafzimmer. Ran nackt unter der Decke und hinaus starrend. Es war bereits Abend und erneut regnete es.

„Nichts von dem ist wahr. Nichts von meinem Leben ist real gewesen. Alles bestand aus Lügen“, sagte Ran und sein Tonfall war bitter und seine Stimme brüchig.

„Selbst die Spielzeuge aus Holz, die angeblich mein Großvater für uns geschnitzt hatte...“, sagte Ran sich zunehmend in Wut redend. Er setzte sich auf und starrte Schuldig an. „Ich glaube nicht eine Sekunde daran, dass dieser Großvater je etwas geschnitzt hat. Dass dieser Mann, der willenlose Männer befehligt, die uns töten wollten je etwas in diese Richtung getan hat! Ich habe keine richtige Erinnerung an ihn, aber eines weiß ich: Der Mann, der mir als Großvater verkauft worden ist war es mit Sicherheit nicht!“

„Wohl nicht, Ran.“ Ran ging wohl jedes Detail seines Lebens durch, dass nun nicht mehr zu passen schien.

„Ich will dir helfen, Ran. Sag mir nur wie ich...“, fing Schuldig an Ran beruhigen zu wollen, wurde aber von ihm unterbrochen.

„Das was ich von dir will, kannst du mir offensichtlich nicht geben“, erwiderte Ran voller Enttäuschung.

„Ran...“, seufzte Schuldig.

„Ist es so schlimm für dich, dass ich Sex will wenn ich mich ablenken möchte? Ist das so abartig?“, fragte Ran nach einer Weile in der zwischen ihnen Stille geherrscht hatte.

„Scheiße! Nein, verdammt! Das ist es nicht“, platzte Schuldig unbeherrscht heraus.

Er verließ frustriert das Zimmer und ging nach draußen, um tief Luft zu holen. In einiger Entfernung, am Haupthaus sah er Sano der wohl gerade unterwegs zu einem der Nebengebäude war.

Sano bemerkte ihn und wartete bis Schuldig zu ihm aufschloss. „Habt ihr schon Kontakt in die Staaten?“, fragte Schuldig.

„Wir wollen es gerade erneut versuchen, kommst du mit?“

Schuldig schloss sich ihm an. Im Nebengebäude betraten sie eine Art Kommandozentrale und die Drei die dort arbeiteten sahen auf. Irgendwie ertappt hatte Schuldig den Eindruck. Er grüßte und ihm wurde eine Sitzgelegenheit offeriert, die er dankend ablehnte. Stattdessen lehnte er sich, an einen unbenutzten Tisch an und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Sakura hat uns angewiesen den Sentinel von D.C. zu kontaktieren. Das wollte sie bisher vermeiden, aber es bleibt uns langsam nicht mehr viel übrig“, sagte Yùna und lehnte sich zurück um auf eine Verbindung zu warten.

„Wir haben vor ein paar Stunden eine Anfrage nach Washington geschickt.“
 

Nach ein paar Minuten öffnete sich die Tür und Sakura trat herein. „Habt ihr etwas?“, fragte sie. Schuldig hatte den Eindruck, dass sie wie Ran die letzten Tage schlechte Laune hatte. Zwei von diesem Kaliber waren eine wirkliche Herausforderung, dachte Schuldig verdrossen und seufzte ungehört.

„Die Verbindung steht“, bestätigte Sora.

Auf dem Bildschirm erschien ein Mann, der in den Vierzigern schien. Aber Schuldig machte sich keine Illusionen mehr das Alter eines... Menschen anhand seines Äußeren beurteilen zu können.

Irgendetwas in dem Gesicht des Mannes kam ihm bekannt vor.

„Sakura Kawamori, das ist eine Überraschung muss ich zugeben. Wie geht es dir, Sakura?“

Schuldig hielt sich außerhalb der Kamera auf und sah zu Sakura hinüber, die doch tatsächlich nach Tagen ein anständiges Lächeln zustande brachte. Wenn auch ein wehmütiges. Sie wechselte in einwandfreies, akzentfreies amerikanisches Englisch.

„Es könnte besser gehen, Ethan. Ich mache mir Sorgen.“

„Wann hast du das je nicht getan?“, fragte der mit Ethan benannte Mann und schmunzelte. Er wirkte sympathisch auf Schuldig.

„Es gab Zeiten in denen sie weniger waren.“

„Um was geht es?“, fragte er und jetzt war die Aufwärmphase in diesem Gespräch wohl vorbei.

„Um Eve und um Bradley.“

Der Mann ließ sich nichts anmerken. „Wirklich? Du kontaktierst mich auf einem Notfallcode, um über Eve zu sprechen?“

Schuldig blinzelte. DAS war Brads Vater? Er erwähnte Brad nicht.

„Ja, das tue ich. Hat Eve Kontakt aufgenommen?“

„Nein, weshalb sollte sie das tun?“

„Ethan, lassen wir die Spielchen. Du kannst nicht so abgeschottet sein, dass du nicht mitbekommen hast was hier los ist. Eve wurde von Bradley in die Staaten zurückgeschickt um sie vor Angriffen der Rosenkreuzer zu schützen. Wir bekommen keinen Kontakt mehr zu ihnen. Das Flugzeug ist gelandet, doch der Flughafen gesperrt wegen eines... Terrorangriffs. Wo ist Eve?“

„Der Flughafen ist tatsächlich gesperrt. Und es war ein Terrorangriff. Allerdings... geht der Terror vom Orden aus. Einer unserer Agenten hat Tristian dort erkannt, bevor er sich zurückgezogen hat. Was genau dort geschehen ist kann ich dir nicht sagen. Fest steht, dass Eve in Sicherheit ist. Es gab viele Todesopfer. Tristian und ihr Gefolge haben einen Privatjet gestohlen und sind mit unbekanntem Ziel abgeflogen.“

„Was ist mit den Leuten die bei Eve waren?“, fragte Sakura.

„Sie konnten sich verbergen und sind in einem sicheren Haus untergebracht.“

„Wir müssen Eve sprechen“, sagte Schuldig leise, eher zu sich selbst, als für Ethan Crawford gedacht. Dennoch wurde er offenbar gehört. Sakura sah ihn an und neigte den Kopf.

Schuldig verzog das Gesicht und trat in den Bereich der Kamera.

„Mr. Crawford, wir müssen Eve sprechen. Sie sollte einiges von dem erfahren, was seit ihrem Abflug in Tokyo passiert ist.“

Ethan Crawford sah ihn lange an und Schuldig wusste nicht ob das Bild eingefroren oder er in eine Schockstarre verfallen war.

„Ich wusste ja, dass du deine Intrigenspielchen gut beherrschst, Sakura, aber wie gut ist mir jetzt erst klar geworden. Was zum Teufel sucht ein Mitglied von Schwarz bei dir?“

Schuldig verbiss sich ein amüsiertes Grinsen über diese kleine Einlage von Brads... Vater. Brad hat so gut wie nie über seine Familie gesprochen und wenn, dann nur in negativem Kontext. Seine Schwester bei der Agency, die ihn verfolgt und seinen Vater hatte er bisher so gut wie nie erwähnt.

„... zu erklären bedarf ein wenig mehr Zeit, Ethan. Zeit die wir jetzt nicht haben“, half Sakura aus um Schuldig wohl daran zu hindern etwas ‚ungebührliches’ zu sagen.

„Warum? Erklär mir das. Erklär mir warum Hazel Worthington, der Sentinel von London mich um Hilfe bittet, warum einer ihrer Schützlinge plötzlich an diesem Flughafen auftaucht und von Rosenkreuzern zusammen mit Jules Rey dem Sentinel von Vegas gefangen genommen wurde. Und das sind nur wenige Punkte, die ich mit dir gerne erörtern würde.“

„Hazel? Sie ist der neue Sentinel von London?“, fragte Sakura erstaunt.

„Ja und das schon seit ein paar Jahren. Sie macht einen guten Job, dennoch kann sie sich nicht mehr lange halten. Sie werden seit Jahren angegriffen.“

„Es ist ein weltweites Problem, Ethan.“

„Ein Problem das von Schwarz eingeleitet wurde. Ohne den Fall der Trias hätten wir dieses Problem jetzt nicht.“

„Kritiker war beteiligt, Ethan. Es war nicht ihr Verdienst allein.“

Er machte nicht den Eindruck als würde ihn das begeistern.

„Und es war unvermeidlich. Sie konnten die Konvertierung nicht mehr halten.“

„Konvertierung“, sagte Ethan Crawford abfällig. „Warum nennst du es nicht beim richtigen Namen. Und was schert es mich wenn dieses Feld leergefegt wird von denen die es für sich annektierten?“

„Was es mich schert? Nichts desto trotz sind es Menschen...“, fing Sakura an und Schuldig konnte die Wut aus ihren Worten hören.

„Menschen? Das sind keine Menschen mehr.“

„Sehe ich das richtige, dass du dafür bist, dass diese PSI aus dem Meer gelöscht werden? Was ohnehin schon unmöglich ist.“

„Sie können nicht gelöscht werden, Sakura, ihr Tod setzt die Energie frei, die sie jahrelang von anderen abgezogen haben. Das Meer hat nur eine bestimmte Menge an Energie. Diese Umverteilung muss aufhören.“

„Das sind veraltete Ansichten, Ethan. Kein Wunder, dass sich dein Sohn von dir abgewendet hat, du bist immer noch der gleiche, sture... Mann, den ich einst kennengelernt habe.“

Schuldigs Ohren waren mehr als gespitzt und das Gespräch gefiel ihm zunehmend besser. Streng genommen war es der Beginn eines handfesten Streits.

„Ich habe keinen Sohn mehr“, sagte Ethan Crawford mit unaufgeregter Stimme.

„Oh, den hast du, Ethan. Und er ist in Somis Gewalt. Er hat sich für sein gesamtes Team, für seine Schwester und für einen Teil meiner Familie geopfert, damit sie entkommen konnten. Dein Problem ist, dass du ihn nicht kennst und du solltest dir darüber Gedanken machen ob du noch jemals Gelegenheit bekommen wirst um ihn je wieder zu sehen und dies nachzuholen. Ich erwarte von dir, dass du einen Kontakt zu Eve herstellst. Wir kontaktieren dich wieder.“

Sora kappte die Verbindung und alle im Raum atmeten etwas durch.

„Sie haben ihn verärgert“, fühlte sich Schuldig dazu verpflichtet die Stimmung noch etwas aufzumischen.

„Oh, das habe ich hoffentlich.“

„Und was jetzt?“, fragte Schuldig.

„Wir warten. Ich will wissen wie es Gabe und Lilli geht.“ Sie verließ den Raum und Sano und Schuldig blieben zurück.

Schuldig hatte langsam das Gefühl, dass Unterricht gar nicht so schlecht war, in Anbetracht der Gespräche die hier in Zukunft vielleicht auf ihn zukommen würden. Das Meer der... was? Von welchem Feld sprachen sie? Dem PSI-Feld?

Wo war Nagi wenn man ihn brauchte?

Schuldig dachte an ihren Jüngsten mit Sorge und sofort tauchte das Bild von Jei vor seinem inneren Auge auf. Jei... war so alt wie Nagi gewesen.
 

Schuldig verließ das Nebengebäude in Gedanken vertieft. Er versuchte das was er einst von De la Croix gelernt hatte hervorzukramen, während er ins Gästehaus zurückkehrte. Er ging hinauf in ihr Schlafzimmer und fand Ran im Bett vor.

Er schlief augenscheinlich, aber sehr unruhig. Schuldig setzte sich auf die Bettkante und legte eine Hand auf Rans Brust. Ran öffnete die Augen einen Spalt breit.

„Schu...“, sagte er kaum zu verstehen.

„Schlaf noch ein bisschen.“

„Ich kann nicht“, sagte Ran und drehte sich zur Seite. Er war nackt unter der Decke und sein Rücken lag frei. Schuldig deckte ihn zu und platzierte einen Kuss auf dem rechten Schulterblatt, bevor er das Schlafzimmer wieder verließ.

Ran brauchte einen Freund und er war gewillt ihn zu suchen.

Zunächst jedoch suchte er Sano. Dieser war noch immer in der kleinen Zentrale und telefonierte mit jemandem. Schuldig wartete bis er aufgelegt hatte.

„Ich muss etwas mit dir besprechen“, kündigte er an und Sano begleitete ihn nach draußen. Sie gingen ein paar Schritte auf dem überdachten Weg in Richtung Haupthaus bis Schuldig stehen blieb.

„Ich muss nach Tokyo.“

„Das ist keine kluge Idee“, meinte Sano umsichtig.

„Das ist mir klar“, pflichtete Schuldig im gleichen Tonfall bei.

„Warum?“

„Ich brauche ein paar Sachen, für Ran.“

„Gehen wir zu Sakura, sie sollte deinen Wunsch hören.“ Sano ging in Richtung Haupthaus weiter.

„Ich gehe auch ohne ihr Einverständnis“, sagte Schuldig ernst.

„Das ist uns allen klar, Gabriel.“

Schuldig seufzte und folgte schlussendlich Sano in Sakuras Empfangsräume. Sie war nicht dort. Sano legte den Kopf schief, dann drehte er sich um und sah Schuldig an. Er bedeute Schuldig ihm zu folgen und sie gingen in die Trainingsräume im hinteren Teil des Gebäudes.

Dort war Sakura und trainierte.

„Is sie sauer?“, fragte Schuldig als sie stehenblieben und zusahen wie sie einen um den anderen ihrer Trainingspartner besiegte.

„Ja, ein wenig.“
 

Sie sahen eine Weile zu bis die Übungsrunde beendet war und sich alle verabschiedeten. Sakura kam die Stufen zu ihnen herunter.

„Gabriel?“

„Ich möchte nach Tokyo. Ich muss.“

Sakura sah zu Sano hinüber, der bewegte nur minimal den Kopf.

„Gut, wir gehen mit.“

„Ich dachte Sie wollten sich nicht mehr einmischen, ihre Zeit wäre vorbei und so“, meinte Schuldig ironisch.

„Ich habe nicht erwartet, dass Jules zum Sentinel ernannt worden ist und auch nicht, dass die Dinge in London so schlecht laufen.“

„Wer ist Jules Rey?“, fragte Schuldig.

„Es gab keinen offiziellen Sentinel in Vegas.“

„Es gibt also Vorkommnisse, die Ihnen entgangen sind?“

„Natürlich“, sagte sie und Schuldig hatte den Eindruck sie hielt ihn gerade für dumm.

„Was willst du in Tokyo tun?“, fragte Sakura. „Naoe suchen?“

„Nein. Dafür bräuchte ich mehr Zeit. Ich will nur ein paar Sachen für Ran zusammensuchen und sie ihm bringen. Damit es ihm besser geht.“

Sakura sah von Schuldig zu Sano und legte dann den Kopf schief. „Du weißt schon, in welcher Lage wir uns befinden?“, fragte sie vorsichtig nach.

„Natürlich“, sagte Schuldig im gleichen Tonfall, den sie zuvor benutzte.

„Rans Zustand wird sich nicht einfach so verbessern. Er wird schlechter. Ich habe das ein paar Mal miterlebt. Es ist besser wenn ich ein paar Dinge besorgen könnte.“

„Du willst nicht sagen, was?“, hakte Sano nach.

„Nein.“

„Schön“, lenkte Sakura ein.

„Wir treffen uns in einer Stunde hier, ich organisiere den fahrbaren Untersatz.“

Sie trennten sich und Schuldig suchte Firan.

Er brauchte seinen Helfer in der Not.
 

Er fand ihn im traditionellem Badehaus zusammen mit... Momo?

Schuldig wechselte das Schuhwerk und passierte diverse Türen bis er hinter die Glaswand trat und die beiden in dem großen Becken zwischen den dampfenden Schwaden ausmachte. Sie erhoben sich beide von ihren Plätzen erstaunt über sein Erscheinen. Schuldig machte große Augen und wurde kurz von seinen Plänen abgebracht als er Momo sah. „Ähm... ich dachte du bist ein Mädchen?“, fragte Schuldig indiskret. Aber Diskretion war keines seiner Steckenpferde.

„Nicht direkt“, sagte Momo schüchtern.

„Ist etwas passiert?“, fragte Firan.

„Nein“, erwiderte Schuldig und bedeutete beiden sich wieder zu setzen.

„Ich fahre mit Sakura und Sano nach Tokyo zurück, könntet ihr solange auf Ran achten?“

„Auf Ran?“, fragte Firan und sein Gesicht drückte Hilflosigkeit aus. „Wie?“

Firan hatte das Problem offenbar erkannt. Wenn Ran sich in den Kopf setzen würde ihm zu folgen, wer sollte ihn davon abhalten? Firan sicher nicht.

„Sag ihm einfach, dass ich mit den Beiden unterwegs zu den Bäumen bin und dass ich heute im Laufe des Tages wieder zurück bin.“

„Das wird ihn nicht abhalten, dir folgen zu wollen“, sagte Firan.

„Keine Angst, er wird nicht folgen, er scheut es zu Yohji und Jeis Ruhestätten zu gehen. Es ist noch zu früh. Die Ruhestätte wird heute erst eingerichtet und es ist eine Stunde weit weg. Wir fahren in einer Stunde los und wenn wir uns beeilen sind wir ohnehin spätestens morgen Mittag wieder zurück. Ran schläft momentan sehr lange, das dürfte uns genügend Zeit geben.“

„Ich will ihn nicht anlügen.“

„Vermutlich brauchst du das auch nicht. Er hat gestern kaum nach mir gefragt. Es geht ihm nicht gut, Firan. Ich denke er wird morgen ohnehin nicht aus dem Zimmer rauskommen.“

„Gut.“

„Momo, wenn du Zeit hast, kannst du Firan dabei unterstützen?“

„Sicher, aber in Mädchenklamotten!“, sagte Momo frech.

Schuldig lachte. „Von mir aus. Und warum tust du das? Persönliche Gründe?“

„Ich bin in der Ausbildung.“

„Zu was? Zum Attentäter?“

Momo lächelte nur freundlich und blinzelte aufreizend mit den Wimpern. Schuldig seufzte und verabschiedete sich. Asugawa 2.0 also.

Schuldig blieb kurz stehen und sah zurück. „Hast du deinen Schützling schon gefunden?“

„Nein, noch nicht. Meine Ausbildung ist noch nicht abgeschlossen. Es fehlen noch wichtige Bereiche.“

Schuldig ging endgültig und hörte noch wie Firan neugierige Fragen über dieses Thema stellte.

Er ging wieder hoch ins Schlafzimmer und kramte leise seine Sachen zusammen. Damit er Ran nicht störte oder ihn gar auf komische Gedanken brachte beschloss er sich im Erdgeschoss umzuziehen.
 

Als er nach draußen kam und in Richtung Tor ging, in dessen Nähe der Fuhrpark war, warteten Sakura und Sano in Motorradkluft vor ihren Motorrädern auf ihn. „Nimm du den SUV, wir folgen dir“, sagte Sano und sie öffneten das Tor.

Dann ging es los in Richtung Tokyo.

Schuldig warf noch einen Blick zurück in Richtung Gästehaus. Es lag im Dunkeln.
 

Er stieg in den Wagen und fuhr los.
 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank!
 

Gadreel ^_^

Armer, kleiner Yuki

Armer, kleiner Yuki
 


 


 

o
 


 

Tokyo
 

Die nächsten Tage nach Nagis Gefangennahme war er unfähig sich alleine vom Bett zu erheben. Er befand sich in einem Raum mit Tageslichtsimulation. Zu Anfang war dieser Raum sehr karg. Nach und nach jedoch sammelten sich Gegenstände darin die ihm einen gemütlichen Charakter verliehen. Wer diese Gegenstände hier platziert hatte wusste er nicht. Er hörte lediglich geflüsterte Worte, manchmal drang ein geflüstertes Streitgespräch über die Notwendigkeit diese Dinge hier zu platzieren an seine Ohren, doch er war zu müde um seine Augen zu öffnen. An einem Tag war es ein Strauß aus Blumen, der auf dem kleinen Tisch stand, dann eine bunte Tagesdecke die über ihn gebreitet worden war. Selbst ein bequem aussehender Sessel hatte den Hocker ersetzt der neben dem Tisch stand. Das Angenehmste jedoch war die Musik die von Zeit zu Zeit zu hören war. Sie brachte ihn zum weinen, obwohl er es nicht wollte. Doch jedes Mal wenn die Tränen aus ihm herausströmten fühlte er sich noch müder und erschöpfter als zuvor.

Zeit hatte keine Bedeutung mehr. In manchen Momenten wenn er seine Augen einen Spalt weit öffnete und durch den Schleier seiner Wimpern Bilder erkannte tröstete ihn das und er konnte wieder weiter schlafen. Manchmal sah er Wüstenbilder, dann wieder Laubwälder und Berglandschaften.

Diese tröstlichen Momente scheinbarer Ruhe und Zufriedenheit vergingen und Gedanken über Schuld und Verlust lösten sie ab. Sobald er länger wach war drängte sich ihm seine Schuld auf und ließ ihn nicht mehr los, so vermied er längere Wachphasen und gab dem Gefühl der Müdigkeit bereitwillig nach. Doch in seinen Träumen holten ihn diese Gefühle wieder ein in Form von wirren Bildern und Szenen. Sie vermischten sich mit klaren Erinnerungen und düsteren Aussichten was seine Zukunft betraf. Es gab Momente in denen er nicht mehr wusste ob er seine gegenwärtige Realität noch wahrnehmen konnte, oder ob das was er gerade erlebte nur ein Brei aus alldem war was er bisher erlebt hatte.

Jeden Tag kam ein anderer Judge der ihm bei seinen täglichen Verrichtungen half. Nur halbherzig ließ er sie an sich heran. Immer wenn sie ihn aus seiner Traumwelt rissen wehrte er sich – jedoch vergeblich. Er konnte nicht einmal alleine auf die Toilette gehen. Zu viel war gebrochen, zu viel musste heilen und er hatte kaum Kraft den Arm selbst zu heben. Jeden zweiten Tag kam dieser Alexandré zu ihm. Nagi verstand, dass er ihn heilte und dass es seine Fähigkeiten waren die dies bei ihm bewirkten.

War das der gleiche De la Croix den Schuldig beschrieben hatte? Dieser schlangengleiche, betörende Teufel, der Schuldig zur dunklen Seite verführt hatte? Er konnte nichts davon in diesem Mann finden. Er wirkte eher in sich gekehrt und wortkarg. Und ein bisschen unzufrieden.

Irgendwann konnte Nagi nicht mehr schlafen, irgendwann konnte er nicht mehr liegen und das war der Zeitpunkt in dem er nicht mehr zum Aufstehen gezwungen werden musste.

Nagi hatte von den Judges Kleidung bekommen: ein weißes langärmliges Oberteil mit hohem enganliegenden Kragen - um seinen Hals weiter warm zu halten, wie Mia ihm gesagt hatte und eine weiche fließende Hose, in derselben Farbe. Warum diese Farbe, hatte er Mia gefragt, da er nur sie in seine Gedanken lassen wollte. Die anderen Judges wagten sich aufgrund eines Schildes das Mia über ihn hielt nicht vor.

‚Weil Whisper es für angemessen hält.’

‚Wer ist Whisper?’

‚Eine Judge. Sie kümmert sich um unsere Kleidung. Sie kann gut mit Nadeln umgehen.’

Nagi lag auf der Seite und sein müder Kopf ruhte auf seinem Arm. Er hob seine Lider und sah zu Mia auf.

‚Sie näht damit nicht nur, denke ich.’

‚Am Liebsten näht sie, aber die Nadeln können auch für andere Dinge benutzt werden.’

‚Nadeln. Effektiv und effizient. Aber warum musste es diese Farbe sein?’ Das Gewebe war fast durchsichtig, aus dünner Wolle aber es fühlte sich sehr angenehm auf seiner Haut an und wärmte ihn.

‚Um deine Unschuld und deine Verletzlichkeit hervorzuheben.’

Nagi sah sie irritiert an.

‚Haben Sie ihr etwas erzählt?’

‚Nein. Sie sorgt sich um dich.’

‚Sie sorgt sich um einen Gefangenen?’

‚Ja. Das tut sie. Du musst dich später meiner Gerichtsbarkeit beugen und ich werde über dich richten. Solange du nicht vollständig genesen bist wäre das Urteil moralisch nicht vertretbar.’

‚Ich soll gesund werden damit ihr mich töten könnt?’

Nagi lächelte zynisch.

‚Weshalb töten?’

‚Nun, deshalb ist Rosenkreuz doch hier, um Schwarz zu töten.’

‚Nein. Das ist nicht der eigentliche Auftrag. Und wir sind nicht Rosenkreuz. Wir sind das goldene Kreuz, wir unterstehen dem Rat direkt. Unser Auftrag lautet Rosenkreuz bei der Jagd nach Schwarz zu überwachen und Zuwiderhandlungen unserer Gesetze zu ahnden oder ihnen vorzubeugen. Der Rat möchte Schwarz lebend.’

Die Türverriegelung klickte und die Hydraulik öffnete die Tür. De la Croix erschien im Türrahmen. Mia erhob sich und verließ seine Gefängniszelle - wenn auch luxuriös eingerichtet war es nichts anderes. Er brauchte im Moment auch nichts anderes als diesen Mann der dort im Türrahmen stand denn er nahm ihm die Schmerzen indem er ihn Stück für Stück wieder zusammensetzte.

Und dass obwohl er es unter eigenen Schmerzen tat. Nagi hatte bemerkt, dass es nicht einfach für den Mann war ihn zu heilen. Warum machte er es dann?

Er hatte heute ein Shirt übergestreift und wirkte müde und ausgelaugt, die Uniform trug er nicht mehr. Seine Beine steckten in schwarzen Lederhosen und seine Füße waren nackt. Er wischte sich über das Gesicht und Nagi erkannte, dass er mit seinen Gedanken woanders war.

Ihm selbst ging es heute nicht ganz so schlecht, vielleicht konnten sie eine Pause einlegen?

Der Mann wirkte einschüchternd auf ihn, an manchen Tagen durchbohrten die zweifarbigen Iriden einen Teil in ihm der noch sehr fragil war.

Nagi konnte sich gut vorstellen, dass Schuldig und er nicht nur Schüler und Lehrer gewesen waren, sondern zumindest eine sexuelle Beziehung gehabt hatten.

Schuldig hatte diesen schillernden, eindrucksvollen Mann sicher sehr anziehend gefunden.
 

Der Mann betrachtete ihn lange und je länger er dort an der Tür stand und Nagi anblickte desto unbehaglicher fühlte sich Nagi, vor allem in Anbetracht der Gedanken die er gerade gedacht hatte. Nagi lag auf der Seite, einen Arm unter seinen Kopf angewinkelt, der andere lag vor seine Brust gebettet. Er begegnete dem Blick arglos, dennoch fühlte er sich durchleuchtet.

Mit einem tiefen Atemzug setzte sich der Mann in Bewegung und kam zu ihm. Nagi fühlte sich noch nicht bereit dazu eine Abwehrhaltung einzunehmen. Es schien als wäre er immer noch zu betäubt um irgendetwas zu fühlen. Er lag Stunden einfach nur so da und ließ sich treiben. Keine Lösungsstrategien, keine Gefühlsanalysen, kein Wille zur Veränderung seiner Situation, kein Aufbegehren über die Umstände, kein gar nichts. Warum war das so?

Hässliche Gedanken zogen an ihm vorbei, sie sollten ihn stören aber sie brachten nur erneut eine Art Lähmung hervor, die ihn fest im Griff hielt.

Es war als wäre er in Watte gepackt worden. Hatte Mia mit ihm etwas gemacht? Oder dieser Mann hier?

Der Mann zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm ans Bett. Ein angenehmer Geruch drang in Nagis Nase. Nach Früchten, nach Kräutern, nach Leder und etwas Herbem, welches er nicht einordnen konnte. Er mochte den Geruch. Vermutlich verband er den Geruch mit dem Gefühl von Hilfe, von Schutz und von Unversehrtheit.

„Dein Name ist Yuki, wie dein Vater mir berichtete.“ Zum ersten Mal sprach er über ein anderes Thema als seine Gesundheit. War das ein Verhör?

Nagi nickte. Yuki war in Ordnung, damit konnte er leben. Er stellte fest, dass sein Gehör noch nicht richtig funktionierte.

„Deinem Vater, deinem Bruder und deinem Cousin geht es gut. Sie werden gut behandelt.“

Nagi nickte. Er wollte weder über... über seinen Verrat sprechen, noch über Brad, Schuldig, Jei oder Omi. Wo waren sie alle? Er schluckte angestrengt um die aufkommenden Gefühle im Keim zu ersticken.

Er hatte sie verraten und er wollte dass alles aufhörte, dass diese Gefühle aufhörten ihn zu manipulieren und zu quälen. Er wollte nicht mehr da sein. Er würde... er wäre am Liebsten nur Yuki.

Nie mehr Telekinese. Nie mehr ein Monster. Er schloss die Augen, die Scham in ihm über sein Vergehen brannte so furchtbar grell und heiß in ihm. Er wollte niemandem dabei in die Augen sehen müssen. Fühlte sich so Verzweiflung an?

Schattenhaft nur erinnerte er sich an ähnliche Gefühle, an eine Scham die ihn biss und quälte. Er hatte gedacht diese Zeit überdauert zu haben, sie überlebt zu haben. Aber sie hatte ihn eingeholt und gnadenlos zertrümmert. Er hatte sie gesehen, diese eisblauen Augen. Sie hatten ihn erneut zermalmt.

„Leg dich bitte auf den Rücken. Ich möchte dich untersuchen um die Fortschritte zu begutachten.“

Nagi öffnete die Augen und sah in das ruhige Gesicht welches ihn musterte.

Er stützte sich mit dem Unterarm etwas auf und brach sogleich damit ein. Ein dumpfer Schmerz zog hinauf in seinen Oberarm und seine Finger. Er keuchte. Das war der Arm, den der Mann gestern erst gerichtet hatte. Panisch sah er auf die schmerzende Stelle.

Eine große Hand trat in sein Sichtfeld und legte sich beschützend darauf. „Alles in Ordnung, es schmerzt nur bei Belastung. Ich helfe dir.“

Der Mann drehte Nagi auf den Rücken, ordnete behutsam die Gliedmaßen neben seinen Körper. Das war merkwürdig. Wann hatte er je zugelassen, dass ihm jemand so nahe gekommen war um ihn ungehindert und ohne Kontrolle darüber anzufassen? Jetzt war es egal, denn er hatte nicht die Macht sich zu wehren.

Er war machtlos, der Kontrolle beraubt. Plötzlich frei davon.

Ein seltsames Gefühl. Es ängstigte ihn auf merkwürdige Art und Weise. Während Nagi diesem Gefühl nachging und versuchte es für sich zu ergründen begann der Mann von Nagis Stirn ausgehend über seinen Körper zu streichen. Es lag nichts Unangenehmes oder Ungebührliches in dieser Berührung. An Nagis Ohr verweilte er einen Moment. „Das Trommelfell ist noch nicht in Ordnung.“

Dann strich er weiter über seinen Hals bis zu seiner Kehle. „Die Strukturen heilen gut, du solltest die nächsten zwei Wochen trotzdem noch nicht sprechen.“

Nagi erwiderte den forschenden Blick mit einem folgsamen Nicken.

„Wie sieht es mit der Mechanik aus? Bereitet dir der Schluckvorgang Mühe?“

Nagi schüttelte den Kopf.

„Hast du Hunger?“

Nagi zögerte, wich dem Blick für einen Wimpernschlag aus. Dann schüttelte er den Kopf. Wenn er nichts aß würde er dann sterben? Wäre das der Ausweg?

„Ich möchte dennoch dass du isst. Du weißt sicher selbst, dass du zu wenig Gewicht für deine Größe hast.“

Nagi nickte.

„Das ist kein neues Problem?“

Nagi schüttelte den Kopf.

„Das könnte die Heilung hinauszögern. Dein Körper verbraucht bei diesem Prozess viel Energie. Ich beschleunige nur einige der ohnehin laufenden Prozesse in deinem Körper. Verstehst du was ich meine? Es ist nicht so, dass ich etwas Neues erschaffe, dein Körper heilt sich selbst mit meiner Hilfe. Deshalb brauchst du viel Energie damit ich damit arbeiten kann. Du musst Nahrung zu dir nehmen sonst sind deine Energiespeicher leer und der Heilungsprozess stagniert.“

Nagi nickte.

Die Hand fuhr über seinen Brustkorb, unterhalb der letzten Rippen auf der linken Seite verhielt er. „Die Rippen sind nur angebrochen, das heilt ohne eine Manipulation meinerseits, die Milz darunter hatte einen Riss, das muss ich weiter beobachten, aber die Heilungsrate liegt in einem guten Bereich. Besser als erwartet.“ Er runzelte die Stirn als würde ihn das irritieren, sagte aber nichts dazu. Nagi kam der Gedanke, dass es ihn vielleicht als PSI entlarven würde wenn seine schnelleren Selbstheilungskräfte auffallen würden. De la Croix sagte aber nichts diesbezüglich und Nagi versuchte sich nichts anmerken zu lassen.

De la Croixs Hand strich weiter bis sie in seinem Schritt angekommen war. Dort verharrte sie. Nagi wusste, dass es ihm sehr peinlich hätte sein müssen aber er fühlte rein gar nichts. Es war ein bisschen so wie damals als Thomas Straud mit ihm Dinge angestellt hatte die ihn verängstigt hatten. Er fühlte sich von sich selbst losgelöst, entfernt. Jemand hatte ihn aus sich selbst entfernt.

„Er hat dir einige Male mit dem Stiefel zugesetzt. Hast du hier Schmerzen?“

Nagi nickte minimal.

„Ich beschleunige die Resorption, es kann etwas warm werden. Scham ist nicht nötig.“

Nagi schloss die Augen und spürte nach einigen Minuten die wohlige Wärme, die jedoch nicht in Erregung umschlug. Die Befürchtung, dass etwas in diese Richtung eintreten könnte nahm er aus einer gewissen inneren Distanz heraus wahr. Nagi schlief darüber ein. Als er aufwachte war er wieder alleine. Erst übermorgen würde der Mann wiederkommen.

Es war ein merkwürdiges Gefühl wenn er daran dachte, dass er diesen Moment herbeisehnte. Er fühlte sich sicher und beschützt wenn der Mann in seine Nähe kam. Auch und vor allem weil er sich danach sehnte beschützt zu werden. Diese Erkenntnis trieb ihn die Tränen in die Augen. Wo war Brad? Wieso hatte er Nagi im Stich gelassen? Warum musste das alles so sein?

Er lag da und starrte vor sich hin, gedankenlos bis die Tür erneut aufging und ihm sein Essen von dem großen Mann gebracht wurde, der sich als Bolder vorgestellt hatte. Er war stets mürrisch und trug einen verkniffenen Gesichtsausdruck zur Schau. Trotzdem half er Nagi in seinen Handlungen umsichtig. Seine riesigen Hände berührten ihn sanft und respektvoll. Ein merkwürdiger Kontrast.
 

So vergingen die Tage, nur dadurch erkenntlich, dass die Simulation an der Wand wechselte.
 


 

o
 


 

Schuldig war unterdessen mit Sakura und Sano am Haus angekommen. Die Fenster waren gerichtet worden. Sylvia und ihr Team hatten ganze Arbeit geleistet. Es roch nach frischer Farbe und neuen Materialien. Einige der Vorhänge, die Eve gekauft hatte waren gegen ähnliche ausgetauscht worden.

Es sah aus als wäre nie etwas geschehen.

Sakura und Sano sahen sich im Haus um während Schuldig ins Poolhaus trat. Die Stelle an der Kudou gelehnt hatte lag nun unschuldig da und nichts ließ mehr darauf schließen, dass hier gekämpft worden war, oder, dass Jei und der Blonde hier tot gelegen hatten. Das Wasser im Pool war getauscht worden.

Er öffnete die Tür in die kühle Nachtluft hinaus und sah sich um. Rein gar nichts mehr erinnerte an den Kampf. Drei Tage reichten offenbar aus um Spuren dieser Art aus der Welt zu löschen.

Schuldig nahm sich einen Moment und versuchte festzustellen was er fühlte. Doch da war sehr wenig über das er Trauer empfand. Er hoffte, dass dies der Einfluss der beiden Kawamoris war.

Er ging wieder nach drinnen. Auf dem Tisch in der Küche fand er einen Umschlag. Der Stempel von Sylvias ‚Firma’ prangte darauf. Er öffnete ihn und entnahm den Brief.

‚Wir haben uns um ihre Katze gekümmert.’

Er sah sich um. Banshees Fressnapf war halb leer gefressen, das Futter sah frisch aus. Sylvias Männer vermutlich.

Schuldig begann das Haus abzusuchen und fand sie tatsächlich in ihrem Bett. Banshee hatte sich der Länge nach ausgestreckt und lag faul auf Rans Kissen.

„Das war einfach“, sagte Schuldig und stieß einen erleichterten Seufzer aus.

„Banshee“, lockte er und ging zu ihr, sie hob ihren Kopf und kam auf alle Viere um sich ausgiebig zu strecken, dann fasste sie ihn genau in ihre hübschen Augen. „Ja, ich weiß, ich bin nicht Ran...“, meinte Schuldig beschwichtigend. Bei den Diskrepanzen die sie beide, in der Vergangenheit gehabt hatten kam sie dennoch sofort zu ihm. Sie sprang vom Bett und schlich ihm um die Beine. „Ah ja? Und du willst was genau?“, fragte er lächelnd. Keine Ahnung warum aber es war sehr tröstlich sie an sich zu spüren. Er nahm sie hoch und schmuste etwas mit ihr bis Sakura im Türrahmen erschien.

„Eine halbwüchsige Katze?“, fragte sie und die Verwunderung war deutlich zu hören.

„Ja. Rans beste Freundin. Darf ich vorstellen: Banshee.“

„Wer hat ihr diesen Namen gegeben?“

„Weiß ich nicht, aber er passt geradezu erschreckend perfekt“, sagte Schuldig und ging an Sakura vorbei um nach unten zu gelangen.

„Und es ist sicher Zufall, dass sie rot ist und grüne Augen hat“, sagte Sakura ironisch. „Purer Zufall“, behauptete Schuldig und lächelte unschuldig.

Er packte Banshee in ihre Transportbox und übergab sie Sano, der sie in den Wagen brachte.

Dann ging er hinunter in den Keller und öffnete die verborgene Wand um in den Raum dahinter zu gelangen. Er sah sich um und fand Ran und seine Tasche mit Kleidung und anderen Dingen, die sie vielleicht oder auch mit Sicherheit brauchen würden. Dann suchte er nach dem verflixten Bären und fand ihn bei Brads Sachen, die er hier hinunter gepackt hatte. Er nahm ihn an sich und stopfte ihn in die Tasche mit den Dingen die er mitnehmen wollte. Die hintere Ladefläche des SUVs war gut gefüllt als sie fertig waren und sie sich auf den Rückweg machten. Sakura und Sano waren tatsächlich nur als Begleitschutz mitgefahren, insgeheim hatte er gedacht, dass Sakura noch andere Dinge zu erledigen hatte, aber dem war nicht so.

Es wurde bereits hell als sie durch die Stadt fuhren. Die Schäden waren bei Licht betrachtet grauenvoll. Wer hatte ihre Stadt derart angegriffen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Clan dahintersteckte.

Die Sonne drang kaum durch die schmutzig wirkenden Wolkenbänke, sie wirkte krank und blass. Sakura und Sano fuhren vor ihm und er sah zu dem Ort an dem Asamis Hochhaus einst gestanden hatte.

Schuldig blickte auf sein Smartphone in der Halterung. „Anruf Akihito.“

Das Freizeichen war lange zu hören. Schuldig kniff die Augen zusammen, denn es kotzte ihn gelinde gesagt an, dass er seine Fähigkeiten in der Nähe der beiden Kawamoris nicht einsetzen konnte. Unklug wäre es allemal.

Dann nahm endlich jemand ab.

„Ja?“

Das war nicht Akihito.

„Woher haben Sie diese Nummer?“, fragte der Mann mit unterkühlter Stimme am Ende der Leitung und Schuldig runzelte die Stirn. War das Asami? Den Mann konnte so schnell wohl nichts umbringen.

„Wo ist Akihito?“, fragte Schuldig langsam. Ihm graute es vor der Antwort.

„Wer will das wissen?“

Schuldig verzog den Mund genervt.

„Schuldig.“

Keine Antwort.

Er wusste ja, dass die Ankündigung so großen Unheils stets Sprachlosigkeit hervorrufen konnte...

„Nun reden Sie schon, Asami. War er im Gebäude?“, fragte Schuldig weit ernster als er vorgehabt hatte, aber er sorgte sich um den Kleinen.

„Sind Sie und Ihresgleichen dafür verantwortlich?“, wollte Asami wissen und die Kälte in seiner Stimme erinnerte Schuldig an Brad. Er schmunzelte über den Gedanken wie ähnlich sich die beiden waren.

„Wir nicht. Meinesgleichen schon.“

„Was wollen Sie damit sagen...“, fing Asami an, doch Schuldig unterbrach ihn unwirsch.

„Was ist mit Akihito?“

Erst sagte Asami nichts, dann schien er es sich anders zu überlegen.

„Er ist verletzt, zudem hat ihn ein gemeinsamer „Freund“ entführt. Sie haben nicht zufällig etwas damit zu tun? Wenn ja...“

„Wow, mal langsam. Er wurde schon wieder entführt? Stellt sich bei Ihnen da nicht eine gewisse Routine ein?“, fragte Schuldig entgegen seiner Worte eher wütend denn amüsiert.

„Nein... aber das sollte es wohl“, stimmte Asami zu und Schuldig hörte ein Seufzen. Huch eine total menschliche Lautäußerung. Unbewusst vermutlich.

„Also wer von unseren „gemeinsamen Freunden“ hat so großes Interesse an einem verletzten ... neugieren Fotografen, der Ihnen gehört?“

„Die Spinne hat ihn“, sagte Asami und Schuldig fuhr an den Rand der Straße und stieg in die Eisen. „Wer hat ihn? Die Spinne?“

War das nicht Asugawas Alias? Einer von seinen Vielen.

„Ich habe nachgeforscht. Es war aller Wahrscheinlichkeit derselbe Mann der Akihito und Sie in meinem Namen aus Fei Longs Griff befreite.“

„Ja...“, fing Schuldig nachdenklich an. „...ich weiß.“

„Sie klingen nicht überzeugt.“

Schuldig sah wie Sakura und Sano sein Zurückbleiben bemerkten und umdrehten.

„Ich frage mich gerade warum diese Spinne... gerade ihr Netz auf diese Art webt.“

Welches verrückte, planlose Ding drehte Asugawa schon wieder?

„Ich nehme nicht an, dass es eine Lösegeldforderung oder irgendeine andere Forderung gegeben hat?“

„Sie nehmen richtig an. Lediglich ein Zettel mit einer Botschaft und einem dahingekritzelten Konterfei einer lachenden Spinne. Ich habe mich darüber informiert. Die „Spinne“ treibt ihr Unwesen überall. Was will sie ausgerechnet von Akihito oder mir?“

„Keine Ahnung. Sie arbeitet im Auftrag nehme ich an.“ Eine Ahnung hatte er wirklich nicht, aber das Ziel der Spinne kannte er: Crawford. Und so harmlos er Asugawa eingeschätzt hatte so falsch lag er vielleicht. Sakura sah in ihm etwas anderes als Schuldig oder Brad. Was hatte er vor?

„Was stand in der Botschaft?“

„Ich leihe mir Akihito aus, Sie bekommen ihn wieder wenn ich habe was ich will. Einen schönen Tag.“

„Das klingt nicht sonderlich aufschlussreich für mich.“

„Für mich ebenfalls nicht.“

„Wie hat er es geschafft an ihren Männern vorbeizukommen? Oder haben Sie entgegen meiner Annahme Akihitos Überwachung minimiert?“

„Wir wissen es noch nicht. Die Überwachungskameras haben nichts aufgezeichnet, aber ich fürchte Akihito hat sich entgegen meiner... Empfehlung aus der sicheren Umgebung entfernt um seiner Profession nachzugehen. Er äußerte reges Interesse an den Vorfällen und seinen Missfallen über die verhängte Ausgangssperre. Ich vermute er hat sich davongeschlichen und die Spinne nutzte diesen Umstand für ihre Pläne.“

„Hmm... oder die Spinne lockte ihn mit Informationen von Ihnen weg.“

„Auch eine Möglichkeit. Wir haben momentan noch andere Probleme um die wir uns kümmern müssen.“

„Die da wären?“

„Einige unserer Männer wurden von Mitgliedern der Sakurakawas nach dem Chaos welches sich an die Explosionen anschloss angegriffen.“

„Sie nutzen die Situation aus.“

„Wer hat mich angegriffen? War es der Clan?“, kam Asami zum Thema zurück. Schuldig beobachtete wie Sakura von ihrem Motorrad stieg und zu ihm kam.

„Meinesgleichen, wie Sie bereits sagten. Sie waren nicht das primäre Ziel“, meinte Schuldig mit abwesender Stimme.

Warum tat Asugawa das?

„Wer dann?“

„Wir. Schwarz.“

„Wo ist Ihr Boss?“

„Entführt.“

„Von wem?“

„Meinesgleichen, Asami.“

„Eine Jagd?“

„Ein Krieg.“

„In meiner Stadt?“

Schuldig rollte mit den Augen.

„Sicher. Es ist auch meine Stadt.“

Schuldig öffnete die Tür und stieg aus.

„Es ist ein Orden, Asami. Sie nennen sich Rosenkreuz und sie haben den Clan vor langer Zeit infiltriert. Erinnern Sie sich an unser erstes Treffen, wir warnten Sie genau davor. Nur wussten wir damals noch nicht wer uns im Visier hat.“

„Warum gerieten Sie in dieses Visier?“

„Angeblich geht es dem Clan darum Japan vor Invasoren zu schützen“, sagte Schuldig.

„Fanatiker sind eine gute Ausgangsposition. Um jedoch was zu tun?“

„Uns zu jagen?“

„Und deshalb sprengen sie Gebäude in die Luft und töten eine Vielzahl von Menschen?“

„Das wissen wir noch nicht. Ich persönlich vermute ein Ablenkungsmanöver oder die Vernichtung von Kritikeragenten.“

„Kritiker. Das Thema hatten wir bereits. Ich kann nicht sagen, dass ich es bedauerlich finde.“

„Ich verstehe Ihre Beweggründe, allerdings muss ich sagen, dass wir Kritiker brauchen. Falls noch welche von ihnen übrig sind, was ich bezweifle.“

„Sie verbünden sich mit Kritiker?“

Schuldig schwieg.

„In gewisser Weise taten Sie das bereits vor ein paar Monaten“, bemerkte Asami.

Schuldig lachte. „Sie meinen Abyssinian?“

„Ja.“

„Keiner möchte, dass Telepathen, Telekineten und andere Menschen mit ähnlicher Begabung durch die Straßen ziehen und Chaos verbreiten.“

„Das heißt sie könnten jeden der Clans infiltriert haben?“

„Ja. Auch ihren, Ryuichi.“

„Was kann sie aufhalten? Wie soll ich das feststellen?“

„Momentan kann sie keiner aufhalten. Ich selbst bin von der Bildfläche verschwunden, es sind zu viele. Feststellen können Sie es nicht, derjenige, der übernommen wurde kann sich gegen die geistige Übernahme nicht wehren. Verhalten Sie sich normal und versuchen Sie dem ganzen irgendwie aus dem Weg zu gehen um die Verluste gering zu halten.“

„Dieser Orden will nur Schwarz?“, fragte Asami.

„So sieht es aus.“

Asami lächelte, Schuldig konnte es hören. Er verzog den Mund bedauernd.

„Ich erinnere mich an unser letztes Treffen. Sagen sie nicht, falls Schwarz nicht mehr existiere, würde diesen „Feinden“ nichts mehr im Weg stehen weder eine Regierung noch eine Organisation.

Und jetzt? Was macht Sie so begehrenswert, Mr. Schuldig?“

Schuldig lächelte geschmeichelt und wollte seine Vorzüge gegenüber Asami anpreisen als dieser ihn unterbrach.

„Für den Orden, Mr. Schuldig“, brachte Asami Schuldig wieder auf Kurs.

„Ein Hellseher im Team ist immer ein Gewinn. Crawford hatte nicht vor diese Macht an eine Organisation allein abzugeben. Deshalb war es für alle Beteiligten in der Vergangenheit besser uns in Ruhe zu lassen.“

„Als wir uns vor einigen Monaten trafen hatte diese kleine Jagd auf sie begonnen, sie endete mit der Zerstörung und dem Tod vieler Menschen.“

„Ich fürchte, dass dies noch nicht das Ende ist...“, sagte Schuldig nachdenklich.
 


 

Anderenorts...
 

Die Lagerhalle war perfekt für sein Anliegen und es lief alles wie am Schnürchen. Zum ersten Mal seit Langem wie er zugeben musste. In ein paar Stunden würde der erste Höhepunkt seines Plans starten und er war wirklich guter Dinge... wenn nicht...

Ja, wenn nicht dieses ewige Gejammer im Hintergrund wäre.

Er stellte das Glas Wasser ab, das er dem Ärgernis gerade bringen wollte und sah auf. Er fasste den jungen Mann ins Auge der sich zu besagtem Ärgernis entwickelt hatte. Er musste ihn noch vorbereiten und das würde ein hartes Stück Arbeit werden.

Das Gejammer verstummte augenblicklich und seine kleine Beute stillte die unnützen Versuche sich zu befreien.

„Wer sind Sie?“

Schon wieder diese Leier?

„Niemand den du dir lange merken musst“, sagte er mit Ungeduld in der Stimme.

Der Junge ließ die Mundwinkel hängen.

„Sie können ja doch sprechen“, sagte er eine Spur zu giftig.

„Diesen kleinen Erfolg kannst du deinem endlosen Geplapper zuschreiben.“

„Was wollen Sie von mir?“

„Ich brauche nur deinen Körper und deinen Willen.“

Unsicherheit flackerte in den Augen die schon für sein Alter bei weitem zu viel gesehen hatten.

„Wofür?“

Finn ging näher und stützte seine behandschuhten Hände auf die Lehne des Sessels ab an den der Junge gefesselt war. Er wich unnützerweise etwas vor ihm zurück.

„Oh... nun keine Angst nichts was du nicht tun kannst. Du bist es schließlich gewohnt deine Beine breit zu machen, deinen Arsch hinzuhalten und um einen guten Fick zu betteln. Ich erwarte also nichts Unmögliches von dir.“

„Und dafür brauchen Sie mich?“, haspelte der Junge.

Finn lachte und richtete sich wieder auf. Er musste zugeben, dass der Kleine sich schnell gefangen hatte. „Sicher. Du bist begehrt. Es ist gefährlich sich mit Asami Ryuichi einzulassen, er hat Feinde und Neider.“

„Wer hat sie angeheuert?“

Finn lächelte ungesehen von dem Jungen denn sein Gesicht steckte noch unter einer Kapuze, das Licht in der Lagerhalle war zu spärlich und seine Kriegsbemalung offenbarte nur wenig von ihm.

„Der Hellseher.“

Der Junge verstummte und runzelte die Stirn. „Sie sind der Kerl der angeblich von Asami beauftragt Schuldig und mich aus China befreit hat.“

„Sehr aufmerksam, junger Mann“, lobte Finn. „Sie haben Schuldig als ihr Schoßhündchen bezeichnet.“

„Nun... das war vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Ein ganz kleines Bisschen“, sagte Finn lächelnd.

„Was ist mit Schuldig? Der „Hellseher“ war dabei als sie zusammen mit... Abyssinian Asami besuchten. Oder ist das nur ein bescheuerter Alias für irgendeinen durchgeknallten Typen für den sie arbeiten? Eine weitere verrückte Gruppe in dieser verrückten Stadt.“

Finn seufzte. Langsam verstand Finn warum Asami den Jungen bei sich behielt. Er war hübsch, ja, aber er hatte auch einen scharfen Verstand.

„Kein Alias. Und ich habe keine Ahnung wo sich Schuldig aufhält.“

„Und was ist mit... mit dem... Katze... also mit dem Mann mit den langen roten Haaren, mit Abyssinian?“

„Leider kann ich darüber auch keine Auskunft geben“, heuchelte er Bedauern.

„Und was will der „Hellseher“ von mir? Was soll ich tun?“

„Das sagte ich bereits.“ Finn zog sein Messer und löste die Schlaufen die seine gebundenen Hände am Stuhl festhielten.

„Los, auf mit dir, wir müssen dich hübsch machen.“

Er zog den Jungen vom Stuhl und brachte ihn hinüber zu einer Kommode auf der Kleidung lag.

Er löste die Fesseln und zeigte mit dem Messer auf die Kommode. „Zieh das an. Er steht drauf.“

„Wer?“

„Wirst du noch früh genug erfahren.“

Wiederwillig begab sich Akihito in Richtung Tisch. „Soll das ein Witz sein? Das zieh ich nicht an!“

„Möchtest du, dass ich dir behilflich bin?“, fragte Finn freundlich und zog einen seiner Kurzdolche hervor. Akihitos Blick fiel darauf, ja wurde regelrecht davon gebannt.

„Mach schon.“

Akihito begann sich auszuziehen. „Die Frau die mir die Bilder gegeben hat und die Informationen hatte... arbeitet die mit Ihnen zusammen?“

„Sicher tut sie das“, gab Asugawa bereitwillig Auskunft. „Und der alte Mann?“

„Welcher alte Mann?“ Finn sah gespielt überrascht auf.

„Vergessen Sie`s“, erwiderte Akihito hitzig.

„Glaubst du denn der Hellseher hat nicht sein eigenes Netzwerk oder seine Leute und arbeitet allein?“

„Ich weiß nicht... seine Freunde... sie... Schuldig würde seinen Boss nicht im Stich lassen.“

„Und das weißt du... woher? Weil du Schuldig so gut kennst?“

Finn lächelte spöttisch.

„Oh... hoffst du er rettet dich? Oder dein geliebter Asami würde das tun?“

Akihito schwieg, er erkannte wohl eine rein rhetorische Frage wenn sie ihm über den Weg lief.

„Keiner wird komm...“

Etwas summte in seiner Tasche und Finn zog sein Telefon aus der Tasche. Akihito unterbrach das Auskleiden und sah ihn vom Boden her aus lauernd an während Asugawa das Gespräch annahm. „Mach keine idiotischen Sachen, Kleiner. Ich brauch dich zwar lebend aber verletzt reicht vollkommen aus.“

Akihito zog ein missmutiges Gesicht.

„Ja?“

„Wo bist du?“, fragte Schuldig und Finn musste schmunzeln. In den letzten Tagen hatte er einen Teil der Truppe tatsächlich vermisst. Sie verbanden ihn mit Brad.

„In der Stadt.“

„Ja, das war irgendwie klar“, sagte Schuldig und Finn hörte ein ungehaltenes Schnauben.

„Um was genau zu tun? Hast du eine Spur?“

„Dies und das... und ja ich habe eine Spur.“

„Du machst mich wahnsinnig, Asugawa!“, brüllte Schuldig unbeherrscht ins Telefon. „Warum?“, fragte Finn wesentlich gelassener und spürte bereits als er das Wort formuliert hatte, dass dies auch so ein Wort war um Schuldig weiter in den Wahnsinn zu treiben.

„Hat dieses „dies und das“ zufällig damit zu tun, dass du Akihito entführt hast? Und wenn Ja zu welchem verdammten Zweck?!“

Finn wedelte mit dem Dolch um Akihito weiter dazu zu animieren sich fertig umzuziehen.

„Das hat es tatsächlich und ich kann das jetzt nicht mit dir erörtern ich bin nämlich beschäftigt.“

„Mit was, verdammt?“

„Ich habe einen Plan!“, sagte Finn in feierlichem Tonfall.

„Du hast was?“, schrie Schuldig ihn missgelaunt an und Finn hielt übertrieben empfindlich das Telefon von seinem Ohr.

„Hör auf mich anzuschreien. Ich habe einen Plan!“, wiederholte er.

„Jeder hat einen Plan bis er auf die Fresse bekommt! Beinhaltet dein Plan etwaige Kollateralschäden?“

Finn stutzte. „Zitierst du gerade Mike Tyson?“

„Sicher. Und bei dir trifft dieses Zitat Haargenau zu. Deine Pläne...“

„Ah...“, unterbrach Finn als hätte er sich gerade daran erinnert den Herd angelassen zu haben. „...entschuldige mich bitte, sobald ich mehr weiß, bist du der Erste der es erfährt. Bye Bye.“

„As....“

Finn legte auf.

„Wer war das?“, fragte der neugierige Fotograf und Finn legte den Kopf schief. „Wirke ich auf dich, als wäre ich irgendwie umgänglich oder geduldig oder gar versucht Mitgefühl für deine Situation zu entwickeln?“, fragte er in einem ernsten Tonfall.

„Irgendwie... nein.“

„Nun, dann verstehen wir uns. Beeil dich.“

Als Akihito umgezogen war, was eine gefühlte Ewigkeit gedauert hatte, fesselte Finn ihn wieder an seinen Stuhl.

„Warte hier“, sagte er und ging dann. Akihito hörte wie er die Stufen in ein anderes Stockwerk ging. Er vermutete nach unten.

„Sehr witzig“, brummte Akihito und versuchte eine Schwachstelle in seiner Fesselung zu finden. Was ihm nicht gelang.

Er hörte drei Stimmen, die sich unterhielten. Eine Frau und zwei Männer. Dann kam jemand die Treppe wieder hinauf, während die anderen sich weiter unterhielten.

Der Typ war irre, das konnte er sagen. Schon allein aufgrund seiner abnormalen Bewegungen. Er trug ein Kostüm aus schwarzen und weißen Flicken. Glöckchen klingelten als er sich zu ihm hinbewegte und Akihito zurück wich... eine Harlekinmaske... eine venezianische Harlekinmaske kam ganz nah an sein Gesicht heran und die Augen waren in der Schwärze die ihn anblickte kaum zu erkennen. Es gab keine weiße Bindehaut, nur Schwärze? Waren das Kontaktlinsen? Oder ... war er wie Abyssinian? Etwas, das nicht der Norm entsprach?

Die Spitzen der schwarz-weißen Maske waren mit kleinen Glöckchen verziert. Die Maske des Harlekins lächelte ihn freundlich an. Er richtete sich wieder auf und verschränkte die Arme vor der Brust, nur um ihn scheinbar nachdenklich zu betrachten. Von unten hörte er einen ungeduldigen Ruf. „Nun mach schon, es geht los!“

Der Harlekin breitete die Arme aus und hielt die Handflächen nach oben, bedauernd schüttelte er den Kopf. Selbst pantomimisch war klar, dass er es wohl bedauerte. Ganz konnte ihm Akihito dieses gespielte Bedauern nicht abnehmen.

Der Harlekin löste die Fesseln, verbeugte sich und wies in Richtung Treppe. Verunsichert sah er zu ihm hin, doch lediglich schwarze Orben blickten ihn aus der lächelnden Maske an. Die Glöckchen blieben stumm.

Erst als sich Akihito in Bewegung setzte folgte ihm das zarte Klingeln. Er ging nach unten. Ein Van stand mit geöffneten Türen in der Halle und wartete offenbar darauf, dass er einstieg. Er sah sich um... vielleicht konnte er...

Dann packte ihn eine Hand im Nacken und er stillte den Versuch zu fliehen und bestieg den Van. Seine Hände wurden an eine Leiste aus Metall gefesselt. „Wo fahren wir hin?“

Der Harlekin antwortete nicht und verschloss die Tür mit einem endgültig klingenden Geräusch. Verdammt, was zum Teufel hatten diese Irren mit ihm vor?

Von seiner Tapferkeit war nicht mehr viel übrig nach dem Blick in diese bodenlosen schwarzen Tiefen. Er hatte Angst.
 


 

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Heute würde er sein Gefühl der Sicherheit verlieren, das wusste Nagi ganz genau. Angst, die gänzlich irrational daherkam hatte sich seiner bemächtigt. Lange hatte er sie nicht mehr gefühlt. Vielleicht als sie gedacht hatten, dass Schuldig in China getötet worden war.

Er konnte wieder laufen. Welches Datum sie hatten wusste er nicht, er wusste oft nicht einmal in welchen Zeiträumen er agierte. Manchmal dauerte es eine Ewigkeit bis er in der Dusche ankam und ob es abends oder morgens war interessierte ihn nicht sonderlich. Die Tageslichtsimulation war das Einzige das ihm einen gewissen Rhythmus anzeigte.

Dann wurde veranlasst, dass er in die anderen Zellen wechselte. Zu seiner „Familie“, wie es hieß. Er folgte dem riesigen Mann, den sie Bolder nannten durch den Komplex, über Fahrstühle in einen anderen. Hier war es düster und weit weniger komfortabel. Er nahm es hin wie er alles hinnahm ohne darüber nachzudenken. Es war als wäre sein Gehirn lahmgelegt worden. Er dachte zwar über einige Dinge nach aber sie beschäftigten ihn nicht wirklich. Sie glitten an ihm vorüber ohne dass er Gefühle dazu hatte oder sie ihn kümmerten. Wer war er jetzt?

War er noch Nagi Naoe? Oder etwas anderes. Etwas das keinen Namen mehr hatte.
 

Bolder führte ihn an drei Plexiglaszellen vorbei, die mit bläulichem Licht nur marginal ihre Insassen preisgaben. An der Vierten hielt er an und öffnete die Tür. In die Zellen war Bewegung gekommen, die Männer waren an die Scheiben getreten und verfolgten sein Ankommen. Nagi betrat die Zelle und zog sich an die hinterste Ecke zurück. Er setzte sich langsam hin, zog seine Beine an den Körper und legte die Stirn darauf. Seine Rippen schmerzten in dieser Haltung.

Er hörte Stimmen die aufgebracht schienen, die ruhigere stammte von Bolder.

„Es ist eine Anweisung von Alexandre de la Croix.“

„Er ist ein halbes Kind.“

„Er ist fast genesen.“

Nagi hörte nicht mehr zu, er kuschelte sich in seine Kleidung, die ihm tröstlich erschien, sie lag wunderbar weich auf seiner Haut an. Als Bolder gegangen war versuchten die Männer Nagi zum Sprechen zu bringen aber er wandte ihnen nur seinen gekrümmten Rücken zu und verbarg sein Gesicht. Er durfte nicht sprechen und wollte es auch nicht. Er wollte nie wieder sprechen. Seine Gedanken hatten Brad verraten, hatten seine Familie verraten. Er fühlte Tränen in sich, aber sie kamen nicht heraus.

Die Zeit verging und wurde nur abgewechselt von den Augenblicken in denen sie etwas zu Essen bekamen, regelmäßig wurde er herausgeführt und durfte auf die Toilette gehen.
 


 

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Alexandré ging gemessenen Schrittes durch den Komplex der Universität. Der Bericht an den Rat hatte ihm zugesetzt. Die Mitglieder waren nicht gerade begeistert von der Tatsache, dass Prodigy tot war. Einige brachten gar ihr Entsetzen über diesen Umstand zum Ausdruck. Alex fühlte mit ihnen. Laut dem Bericht von Straud konnten sie des Hellsehers ebenfalls nicht habhaft werden, er starb angeblich im Kugelhagel als er sich der Festnahme widersetzte. Alex hatte das nicht geglaubt. Sie waren zu dem Haus gefahren in dem sich Crawford aufgehalten hatte. Das Haus war verwüstet, Blut klebte an vielen Wänden, keine Leichen waren zu sehen, aber es war allen klar, dass hier Menschen gestorben waren. Mia sagte, dass sie Restspuren der verbliebenen Schwarzmitglieder erkennen konnte. Aber wo Schuldig und Berserk waren konnten sie nicht eruieren. Und vor allem wo Crawfords Leiche war erschloss sich ihnen nicht.

Die Regierung hatte den Notstand ausgerufen. Über der Stadt war der Ausnahmezustand verhängt worden und das Militär war überall in der Stadt anzutreffen. Einige Gebäude brannten immer noch und die Lösch- und Bergungsarbeiten waren in vollem Gange. Für Viele kam jede Hilfe zu spät.

Alex hatte den Verdacht, dass Straud sie in die Luft gesprengt hatte. Das Gebäude in dem die Kawamoris ihre kleine Untergrundklinik betrieben hatten war in sich zusammengefallen. Die Zahl der Toten stieg weiter und es waren schon über fünfzehntausend alleine in den ersten Tagen zu vermelden gewesen. Jemand hatte mehrere Gebäude in der ganzen Stadt mit Sprengstoff verdrahtet und sie in dieser schweren Unwetternacht hochgehen lassen. Aus anderen Städten war Ähnliches zu vermelden. Die Flüge waren komplett gestrichen und die Insel war von der Außenwelt abgeschnitten worden. Das ganze Land watete knöcheltief in Blut. Andere Länder hatten ihre Hilfen angeboten.

Zwei Flughäfen waren komplett in die Luft geflogen unter anderem Narita. Sie saßen hier fest, zumindest wenn sie nicht ein Flugzeug kapern wollten. Was nicht schwer war. De la Croix wusste, dass es hässlich werden würde, aber das war pures Chaos. Eine derart logistische und akribische Mission wäre vor Sicherheitspersonal niemals verborgen geblieben, es sei denn sie waren durch PSI manipuliert worden. Ein Hochhaus so präzise zu sprengen... wie konnte das passieren ohne dass es jemand bemerkte? Eine Vielzahl von Sprengsätzen hätten genau platziert werden müssen. Nach Alex Meinung mussten PSI dahinterstecken.

Als er Straud darauf angesprochen hatte wurde dieser wütend und behauptete, dass er diese Anschuldigungen nicht auf sich sitzen lassen würde und ob Alex ihm Verrat vorwerfen würde. Alex musste vor den Ratsmitgliedern zurückrudern, da er keinerlei Beweise für seinen Verdacht vorbringen konnte. Sie wiesen ihn an sich mit seinen Anschuldigungen zurückzuhalten und sich zu mäßigen. Die Nachricht, dass sowohl der Hellseher als auch der Telekinet bei ihrem Zugriff – den Somi verantworten musste – getötet worden waren ließ einige Mitglieder offen an der Mission zweifeln, was sehr unüblich war im Beisein von Straud und ihm. Schuldig und Berserk sollten noch in Gewahrsam genommen werden, Priorität hatte jedoch Schuldig. Wie immer war Straud wie aus dem Ei gepellt vor den Rat getreten. Makellos sein Auftreten, eloquent seine kleine Ansprache, die er an den Rat gerichtet hatte. Straud räumte tatsächlich Fehler ein und der Rat hatte ihn daraufhin abgezogen. Er solle sich zurückhalten und den Judges alles weitere überlassen. Dem stimmte Straud zu, was Alex verwunderte. Seit wann gab dieser Mann so einfach auf?

Alex zweifelte die Tatsache an, dass Bradley Crawford tot war und Straud seine Finger bei seinem Verschwinden nicht im Spiel hatte.
 

Während er die Besprechung mit den Ratsmitgliedern Revue passieren ließ und das Tor in ihren Trakt passierte wurde er von Stream gerufen.

‚Alex’

‚Ja.’

‚Die KI meldet zunehmenden Aufruhr in den unteren Zellen.’

‚Inwiefern?’

‚Der Arzt und seine Männer scheinen auf etwas aufmerksam machen zu wollen.’

‚Darum kann ich mich nicht kümmern. Schick Somis Männer dorthin.’

‚Ich verstehe.’

Alex wurde wütend. Was verstand Stream? Dass es ihn einen Dreck scherte was mit diesen Männern war? Er musste sich um andere Dinge kümmern.

Wütend ging er in ihren Aufenthaltsraum und ließ sich auf einen Sessel fallen. Er brütete vor sich hin. Sein anfänglicher Enthusiasmus hatte sich mit Prodigys Tod in Luft aufgelöst. Damit war er wieder bei Null angekommen. Was machte es jetzt noch für einen Sinn sich weiter um diesen Ratsauftrag zu kümmern?

Jetzt war noch der Hellseher verschwunden – unabhängig davon ob tot oder lebendig. Vom Punkt abgesehen, dass sich diese Mission zu einem Desaster auftürmte, dass sehr viele Menschen sterben mussten und sie immer noch keinen Überblick über die Situation und die verschiedenen Fraktionen hatten besorgte ihn mehr die Tatsache, dass Straud viel zu Handzahm gewesen war als es darum ging ihn abzuziehen. Was sollte er sich da noch groß Sorgen um irgendwelche Gefangenen machen?

Es kümmerte ihn nicht was mit diesen Männern passierte. Sie hätten sie ohnehin nicht mit hierher nehmen müssen. Sie ihrem Schicksal zu überlassen wäre durchaus effektiver gewesen.

„Ist es auch moralisch vertretbar einen Jungen in die Hände Strauds fallen zu lassen?“

Mia trat zu ihm.

„Ich bin nicht für ihn verantwortlich. Sie haben Straud abgezogen. Sobald die Flughäfen wieder in Betrieb sind zieht er ab. Wir haben das Problem mit Schuldig und Berserk übertragen bekommen. Und es ist dem Rat einerlei warum hier plötzlich Gebäude in die Luft gesprengt werden. Es interessiert sie nicht warum und es ist – ich zitiere: „nicht von Belang“ dass Menschen sterben mussten.“ Unmut regte sich in ihm. Er atmete tief ein und hob den Blick in Mias schwarze Augen. Sie war wütend.

„Ich verstehe deine innere Kapitulation, Alex. Ich verstehe deine Hoffnungslosigkeit, die du sicher fühlst. Aber es geht jetzt um Wichtigeres als dich. Es geht auch um Wichtigeres als deine Abneigung gegen Menschen ohne Fähigkeiten. Dieses Land ist der Schauplatz für einen Krieg geworden. Tausende Menschen sind tot. Viele liegen vielleicht noch unter Trümmern, andere wiederum sind ohne Strom. Weitere werden sterben, viele sind noch nicht gefunden worden. Sie sind zwischen die Fronten geraten und es werden noch viele ihr Leben lassen müssen um unseren Zwecken dienlich zu sein. Und wir sind schuld daran.“

„Ich weiß“, sagte er und atmete tief ein und aus. „Wir können momentan nichts tun. Kimera und Viper sind unterwegs und versuchen herauszufinden wie das passieren konnte, aber mein Befehl vom Rat lautet mich nicht darum zu kümmern“, sagte er müde. Dennoch hatte Mia Recht. Er hatte sich die letzten Tage zu sehr im Selbstmitleid gewälzt und war allen aus dem Weg gegangen so gut er konnte. Selbstverständlich hatte er sich um notwendige Entscheidungen gekümmert und sich um das weitere Vorgehen bemüht, doch er hatte es nicht mit der sonstigen Energie getan wie sonst. Vieles war ihm egal gewesen. Und er wusste warum.

„Es war von vornherein nicht klar gewesen, dass er mir helfen könnte oder wollte“, gab er zu.

„Hör auf nur an dich selbst zu denken“, sagte sie knurrend.

„Was schlägst du vor?“, fragte er.

Sie tarnten ihr noch intaktes System damit, dass sie es drosselten, sodass es von außen aussah als wären sie ebenfalls von den Ereignissen betroffen worden. Die Akademie war geschlossen, nur der hintere Teil wurde mit Energie versorgt. Die Zahl von Somis Männern hatte sich auf wundersame Weise dezimiert, mit der Information, dass sie auf der Suche nach Schuldig waren. Es waren vielleicht noch fünfzig Mann hier. Straud hatte Alex mitgeteilt, dass er seine Männer zurück in die Außenstelle nach Osaka abkommandieren würde. Der Abzug sollte schnell von Statten gehen. Warum verließ er so edelmütig seine neue glanzvolle Wirkungsstätte? Was hatte dieser Intrigant vor?

„Kümmere dich um das was du tun kannst...“, erwiderte Mia.
 


 

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Nagi wurde erneut aus der Zelle geholt, der Mann führte ihn jedoch nicht ins Badezimmer sondern aus dem Zellentrakt hinaus. Sie gingen durch einen Komplex an Menschen vorbei, denen Nagi keine Beachtung schenkte. Und dann wieder hinunter. Roher Fels lag unter seinen Händen als er die Wand an seiner Seite berührte um Halt zu finden, unter seinen Füßen war naturbelassener Stein. Die Gänge wurden schmaler. Vor einem Raum blieb der Mann stehen, er öffnete die Tür, dann wurde Nagi angewiesen hineinzugehen.

Es war dunkel, seine Augen gewöhnten sich nur langsam daran bis er erkannte, dass weit entfernt ein schwaches Licht zumindest Schatten hervorlockte.

„Wir beide wissen wer du, Nein was du bist. Die Frage ist warum du keine Energie mehr hast, mein kleiner Streuner.“

Die Stimme kannte er. Er begann zu zittern und wusste nicht warum. Würde er diesem Mann nie entkommen können? Und plötzlich wurden seine Augen nass.

Die Stimme kam näher und die Schatten spielten mit den Umrissen eines groß gewachsenen Mannes.

„De la Croix hat gute Arbeit geleistet und ich bin gespannt wie lange du deine Schreie vermeiden kannst...“

Nagi brach auf die Knie. Als die Hand in seine Haare griff und seinen Kopf in den Nacken zerrte starrte er in ein paar eisblaue Augen.
 


 

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Stream fühlte sich immer noch etwas daneben als er sich langsamer als sonst aus dem System ausgeklinkt hatte. Nach ein paar Minuten straffte er seine Gestalt und rutschte aus dem Sitz. Etwas schwindlig war ihm trotzdem. Er war erst wenige Augenblicke im System gewesen und hatte sich geistig noch nicht völlig diesem ergeben sodass er schneller als sonst in die Realität zurückfand.

Er rappelte sich auf, die kleinen Glöckchen in seinen Haaren klimperten aufgebracht.

Dann machte er sich auf um den Komplex zu verlassen. Er nahm seinen Patch mit und klinkte ihn ein, sodass er trotz Abwesenheit immer noch mit Miriam verbunden war.

Dass er drahtlos mit ihr verbunden war verschob etwas seine Wahrnehmung. Stream ging gemächlichen Schrittes in die unteren Bereiche. Überall gab es eine spärliche Beleuchtung, nur im Boden schimmerten Dioden und beleuchteten seinen Weg. Vor den Zellen erwartete ihn keine Wache. Er berührte das Pult und befand sich im System. Als wandelnder Generalschlüssel war es ihm ein Leichtes überall hineinzugelangen.

Er betrat die Zellen und die Männer die zuvor nutzlos auf das Plexiglas eingeschlagen hatten wandten sich ihm zu. Er trat in den Gang und blieb vor den drei Zellen stehen.

„Mein Name ist Stream. Sie scheinen aufgebracht zu sein. Was ist der Grund dafür?“, sagte er mit träger Stimme. Er wusste, dass es sich wohl merkwürdig anhören würde. Als würde er noch träumen und doch zu jemandem sprechen der wach war.

Sie schwiegen ihn an.

„Er ist einer von ihnen“, flüsterte der mittlere Mann. Stream legte den Kopf schief.

„Meine Herren, meine Zeit ist begrenzt. Es hat mich einige Mühe gekostet mich hier hinunter zu bewegen. Sie...“, er deutete auf die Kameras. „...zeigten offenkundige Besorgnis über irgendetwas.“

Sie schwiegen wieder.

„Zu welcher Fraktion gehörst du?“, fragte der Jüngste im Bund.

„Fraktion?“ Stream legte die Stirn in kleine Falten.

„Rosenkreuz?“, half der Älteste nach.

„Nein. Ich gehöre zum goldenen Kreuz. Meine Loyalität gilt Alexandre De la Croix und dem Rat.“

„Wird das hier aufgezeichnet?“, fragte der große Hüne.

„Ja, in der Regel schon. Es hilft mir alles im Auge zu behalten.“

Sie schwiegen wieder und versuchten wohl ihre Situation einzuschätzen.

„Ich bin in der Lage mich in Systeme einzuklinken, ich steuere und überwache die gesamte Anlage.“

„Warum bist du dann hier herunter gekommen?“

„Ihr saht aus als hättet ihr ein Problem. Nicht?“, fragte er irritiert.

Sie schwiegen wieder.

Einer Eingebung nach ließ Stream die Kameras auf eine Dauerschleife fahren, erhöhte die Lichtstufe ohne die Menschen aus seinem Blick zu lassen. Seine Augen waren wohl etwas heller geworden wie er an ihren misstrauischen Blicken erkennen konnte.

„Die Kameras sind aus.“

„Der Junge, der mit uns hier war ist verschwunden. Schon seit mehreren Stunden. Niemand hat ihn zurückgebracht, von wo auch immer. Wir wollten wissen was ihr mit ihm gemacht habt. Er ist noch ein halbes Kind und auf Schutz angewiesen. Ich dachte ihr wolltet ihn vor diesen Männern schützen!“

Vorwurf, Anklage und Besorgnis lagen in der Stimme des älteren Mannes.

Stream ging zur hinteren Zelle und berührte mit einer Hand das elektronische Schloss.

„Ein unautorisierter Zugriff“, er legte den Kopf schief. „Einer von Somis Männern, ohne Zugangsberechtigung.“ Dann erkannte er. „Mit Somis Zugangsberechtigung.“

Er ging wieder zurück und klinkte sich auf dem Weg zu den Männern in die Kameras und deren Speicher ein. „Eine Täuschung“, sagte er und die Männer verfolgten still seine Selbstgespräche. „Sie haben eine Schleife in mein System eingebracht.“ Irritiert sah er auf die Kamera. Somi konnte seine Maßnahmen aushebeln.

In Windeseile verfolgte er wohin der junge Mann gebracht worden war.

„Er geht, die Tür geht auf...“

Stream kehrte zur Zelle des Jungen zurück und kontaktierte erneut Alex.
 

Dieser war immer noch damit beschäftigt sich vor Mia zu rechtfertigen was ihm nicht wirklich gelingen wollte.

‚Alex’

‚Stream?’

‚Mich beunruhigt etwas. Ich... ich weiß du wünscht keine Störung, dennoch...’

War er schon so schlecht gelaunt, dass selbst Stream Angst davor hatte mit ihm zu sprechen? Er sah Mia seufzend an, diese hob nur fragend eine Braue.

‚Sag schon.’

‚Ich bin unten in den Zellen...’

‚Du bist wo?’ Alex kam auf die Beine und Mia schloss sich ihm lautlos an.

Als er unten ankam sah er den Blonden im Gang stehen und auf ihn warten. Er beachtete die Männer nicht.

‚Die Männer sind in Sorge um den Jungen.’

‚Welchen Jungen?’, fragte Alex im ersten Moment nicht wissend um wen es ging.

Er war zu sehr mit sich selbst und seinem Verlust beschäftigt gewesen, dass er den Jungen völlig vergessen hatte.

Er wandte sich an die Männer. Die erzählten ihm von ihren Beobachtungen.

Alex wurde es eiskalt, vor allem weil keine Befragung ohne die Judges stattfinden sollte. Firan kam ihm wieder in die Gedanken. Über Firans Bild schoben sich blaugraue matte Augen, die ihn lediglich ansahen ohne aufzubegehren, die willenlos schienen.

„Kannst du ihn finden?“, wandte er sich an Mia.

„Ja.“ Sie ging in seine Zelle, dort in eine Ecke, dann schloss sie für einen Moment die Augen und öffnete sie wieder. „Ich habe ihn. Zumindest eine Spur von ihm.“

Die Männer blieben zurück und Alex und Stream folgten Mia hinaus. Bevor Stream den Raum verließ versetzte er die Kameras in ihren Normalbetrieb und dimmte das Licht wieder etwas.

Sie folgten Mia zu einer Sicherheitstür die jedoch offen stand, Blut war an dem Türgriff zu erkennen.

Sie sahen sich um. „Dort drüben!“, wies Mia.

In einiger Entfernung waren blutige Schritte zu sehen, dann eine verschmierte Spur an der Wand die in den Versorgungstrakt führte.
 


 


 


 


 


 

Fortsetzung folgt...
 

Vielen Dank!
 


 

Gadreel

Der Sextherapeut

Der Sextherapeut
 


 


 

Tokyo
 

Schlussendlich standen sie vor einer Feuerschutztür aus Stahl. Stream öffnete sie ihnen und Mia war die Erste, die den Raum betrat. Noch im Eingang blieb sie abrupt stehen und versicherte, dass außer dem Jungen niemand vor Ort war.

„Stream... zurück“, wies Mia ihn an und Alex sah sie fragend an. Stream nahm nur Weisung von ihm an. Er sagte nichts zu ihrem Verhalten, Mia würde ihre Gründe haben. Der Geruch der ihnen entgegenschlug war das Ergebnis von Gewalt. Es roch nach Blut und nach Schweiß. Mia wich zurück. Stream sah sie ängstlich an.

„Alex. Ich bringe ihn... nach oben. Es ist besser... ich... diesen Raum nicht und Stream... ebenso nicht.“ Sie schien Schwierigkeiten zu haben sich zu artikulieren.

Ihre Augen hatten sich verdunkelt als sie kehrt machte, an ihm vorbeiging und Stream mit sich zog.

Alex ging einige Schritte hinein, tastete mittels seiner Fähigkeiten nach einem Organismus. Sehr schwach war jemand vor ihm, am Boden.

Alex ging im Dunkeln in die Hocke fand kalte Haut unter seinen Händen und berührte ein Gesicht. Schneller Atem, flach und leise streifte seine Haut. Der Herzschlag so schnell, der Blutdruck viel zu niedrig. Arme und Beine gefesselt. Ungewöhnlich schnell zog er seine Hand wieder zurück. Irritiert über diese spontane Reaktion berührte er erneut den unterkühlten Körper.

Wie hieß er noch gleich? Was hatte Straud gesagt? Yuki... ein Verwandter der Kawamoris.

‚Yuki?’ Alex drang sanft in die Gedankenwelt ein. Sofort spürte er Abwehr, die so fulminant war und der von Mia ähnelte, dass er sich kleiner machte, bescheidener wirken wollte. Mia schien ihn zu schützen. In Anbetracht der jetzigen Lage wohl keine verkehrte Maßnahme, jedoch hatte ihr Schild ihn nicht gegen DAS hier geschützt.

‚Lass mich mit dir sprechen. Ich bin nicht neugierig. Ich möchte nur kommunizieren. Wenn du an deine Schläfe tippst, können wir miteinander sprechen. Ich werde nicht ohne Erlaubnis in deine Gedanken dringen. Das hier ist nur eine Kommunikationsebene, nur bewusste Gedanken weilen hier. Du musst dich anstrengen um sie zu formulieren, eine Ebene darunter weilen erst die, die einen plötzlich in den Sinn kommen. Dorthin werde ich nicht gelangen. Ist das in Ordnung?’

Es kam keine Antwort, aber die Schilde schienen etwas durchlässiger zu werden, er konnte sich wieder ausdehnen.

‚Wer hat dir das angetan?’

‚Eisblaue Augen...’

Straud, geisterte ein möglicher Verursacher in Alex Gedanken. Was wollte Straud von dem Jungen? Er hatte ihn Alex in der Klinik vor die Füße geworfen. Warum holte er ihn sich zurück und quälte ihn?

‚Ich entferne dir die Fesseln.’

Yuki ließ es ohne Widerstand geschehen.

Anstatt sich zu erheben blieb der Junge einfach liegen. ‚Möchtest du nicht aufstehen? Oder kannst du es nicht?’

‚Ich möchte nichts mehr.’

Alex richtete den Oberkörper auf, Yukis Kopf prallte gegen seine Brust. Vorsichtig strich er dem Jungen über den Kopf, und untersuchte ihn auf Kopfverletzungen während Leben in den Jungen kam und dieser mit den Händen etwas auf dem Boden suchte.

‚Halt bitte still’

‚Nein, ich muss...’ Yuki wurde unruhiger und hektischer. Das Blut an seinen Händen sammelte den Staub auf dem Boden auf und vermischte sich zu einer dunklen Spur.

‚Was suchst du?’ Das Licht welches vom Flur her in den Raum schien reichte aus um Yuki zu sehen aber nicht um weiter hinten noch etwas erkennen zu können.

‚Meine Kleidung.’

‚Wir werden dir etwas Neues zum Anziehen suchen. Whisper näht dir sicher neue Kleidung’, versuchte er Yuki zu beruhigen, hatte aber keinen Erfolg damit.

‚Nein.’

Alex wollte ihn näher ziehen. Sofort sträubten sich die dünnen Arme gegen ihn und er presste die Handflächen gegen Alex, als würde er ihn wegschieben wollen. Staub und Blut hinterließen Abdrücke auf seinem weißen Shirt. Alex wusste nicht wie er das finden sollte.

Der Junge war komplett durch den Wind. Was auch nicht verwunderlich war, doch Alex wusste nicht genau wie er damit umgehen sollte.

‚Ich werde dir nichts tun, Yuki.’

Der Junge gab auf und seine Arme brachen ein Stück ein, was Alex ermöglichte ihn näher zu ziehen.

Er hielt einen Moment inne. Nein, er wusste wie er mit ihm umgehen musste, nur wollte er es nicht. Er wollte sich nicht mit diesem Jungen beschäftigten, der der Geliebte von Naoe gewesen war – seiner einzigen Hoffnung, seiner toten Hoffnung. Alex schloss die Augen. Gab er dem Jungen die Schuld dafür? Dass er lebte aber seine Hoffnung gestorben war? Mia hatte Recht.

Er schob diese Gedanken beiseite. Sie waren in dieses Land gekommen und hatten Chaos gestiftet und jetzt ließ er diesen Jungen im Stich weil er sich zu sehr um sich selbst grämte? Weil er Menschen ohne Fähigkeiten für nicht würdig hielt überhaupt die gleiche Luft wie er atmen zu dürfen? Wie weit war es mit ihm gekommen? Hatte er sich nicht immer für ethische Prinzipien innerhalb ihres Ordens eingesetzt? Hatte nicht der Rat deshalb seinem Ansinnen letztendlich zugestimmt?

Während seine Gedanken sich verselbstständigen wollten suchte Yuki immer noch nach Etwas das er nicht finden konnte.

Alex wies Stream per Telepathie an, das Flurlicht noch höher zu fahren um mehr Licht in den Raum zu bekommen. In einer Ecke sah er ein Bündel Kleidung liegen. Er vergewisserte sich, dass Yuki alleine sitzen konnte, erhob sich und holte die Kleidung. Sie war unbrauchbar weil sie blutig und in Fetzen gerissen war. Er gab sie dem Jungen, der sie sofort an sich zog und in seinen Armen hielt.

‚Stream?’

‚Ja. Geht es ihm gut?’

‚Du machst dir Sorgen.’

‚Ja.’

‚Es geht ihm nicht gut. Er hat Schmerzen und ein paar Platzwunden. Bitte Bolder darum uns entgegen zu kommen.’

‚Ja. Kommt er hierher zurück?’

Alex dachte nach. Und sah dann den herabhängenden Schopf an. Der Junge saß vor ihm auf dem Boden und presste sich den Stoff an den Körper als wäre es alles was er noch hatte. ‚Ja, ich denke, das wäre das Beste.’

‚Gut. Ich sage Bolder Bescheid.’

‚Yuki wir gehen.’

‚Wohin? Wohin soll ich denn jetzt?’ Yuki schüttelte langsam den Kopf. Es war als wäre er nicht mehr in der Lage zu wissen wohin er sollte oder konnte.

‚Das werden wir sehen. Wir kümmern uns um dich, solange bis wir wissen was wir mit dir und deiner Familie tun. Ich denke es wäre sinnvoller euch gehen zu lassen, aber das können wir noch nicht. Dein Vater, dein Bruder und dein Cousin sind Kawamoris. Erst wenn wir wissen was sie wissen, können wir darüber entscheiden. Ihnen wird vorläufig nichts geschehen. Und dir wird nichts mehr passieren, Yuki.’

‚Versprichst du es?’

‚Das kann ich nicht. Aber ich werde auf dich achten. Wir alle werden das. Das was hier passiert ist wird sich nicht noch einmal wiederholen.’ Vor allem war es unter seiner Aufsicht geschehen. Er hatte nicht bemerkt wie sich die Dinge hier entwickelten. Tatsächlich war es seine Schuld gewesen.

‚Er wird mich wieder holen.’

‚Nein. Das wird er nicht, Yuki.’

‚Und wenn er dich tötet? Wenn er alle tötet und mich dann holen kommt?’

‚Wir werden auf uns achtgeben.’

‚Wirst du mir wehtun?’

‚Nein, Yuki, das werde ich nicht. Nicht absichtlich.’

‚Sagst du mir was ich tun muss?’

‚Nein. Du wirst selbst darauf kommen. Yuki, das war alles sehr schlimm für dich gewesen. Erhol dich und wenn alles vorbei ist wirst du selbst wissen was zu tun ist. Ich kann es dir nicht sagen, denn ich bin selbst damit beschäftigt herauszufinden was ich tun muss.’

Yuki sah irritiert zu ihm auf, die graublauen Augen bekamen wieder etwas mehr Tiefe und er blinzelte Tränen aus seinen Augen.

‚Du willst mich nicht?’

Alex sah ihn stirnrunzelnd an. Hatte er gerade etwas verpasst?

‚Ich bin wertlos.’ Der Junge sah ihn fast schon entsetzt an und ließ dann niedergeschlagen den Kopf hängen. Er starrte mit diesem entsetzten Gesichtsausdruck seine blutigen Hände an.

Alex knöpfte seinen Mantel auf, zog ihn aus und kam auf den Jungen zu. Er legte ihm den schweren Mantel um, knöpfte ihn über den vor der Brust liegenden Armen zu.

‚Yuki. Das hat er zu dir gesagt? Wiederholst du seine Worte?’

Yuki sagte nichts mehr. Alex versuchte ihn zum Aufstehen zu bringen, aber er brachte seine Beine nicht unter sich. Er nahm ihn kurzerhand auf die Arme, damit sie hier raus kamen. Dann ging er den Tunnel entlang und sah nach unten. Yuki sah ihn aufmerksam an.

‚Möchtest du etwas fragen? Du siehst danach aus.’

‚Habe ich seine Worte wiederholt?’

‚Waren das seine Worte?’

Yuki sah ihn weiter unverwandt an, blieb aber in Gedanken still. Alex hielt es für besser nicht weiter nachzufragen. Auf ihrem Weg trafen sie auf Bolder, der ihnen entgegenkam.

„War das Straud?“, fragte Bolder mit erheblich schlechter Laune.

„Unschwer zu sagen. Die Kameras geben keinen Hinweis darauf. Mia kann es herausfinden, aber dazu muss sie weiter in den Jungen dringen, was zum jetzigen Zeitpunkt keine gute Idee ist.“

Bolder knurrte etwas Unverständliches. Aber es klang nicht freundlich.

Alex brachte Yuki wieder in das Zimmer, in dem er zuvor gelegen hatte. Er ließ ihn im Mantel auf dem Bett aufkommen und achtete darauf ihm nicht noch zusätzlich Schmerzen dabei zu bereiten. Das weiche Fell im Inneren schien dem Jungen zu gefallen. Er kuschelte sich noch weiter hinein. Der Fellbesetzte Kragen verbarg schließlich die Hälfte des Gesichts und nur ein Auge behielt ihn wachsam im Blick.

„Möchtest du den Mantel behalten?“

Eine schmale Hand stahl sich in dem warmen Kokon nach oben und tippte an Yukis Stirn.

‚Ja?’

‚Brauchst du den Mantel nicht mehr?’

‚Ich denke du brauchst ihn im Augenblick mehr als ich.’ Alex musste darüber schmunzeln. Yuki verhielt sich wie ein... ein misshandeltes Kind. Oder wie ein Judge. Wie Stream, oder wie Whisper. Damit kannte er sich aus.

‚Lässt du mich dich untersuchen?’

Yuki schüttelte den Kopf, das Auge furchtsam auf ihn gerichtet.

‚Yuki, hat er dich vergewaltigt?’

‚Er hat mir wehgetan. Mit Strom. Und er ist in meine Gedanken eingedrungen, aber er ist nicht weit gekommen.’

‚Erlaubst du mir, dass ich dich untersuche? Ich bin vorsichtig wie zuvor. Du weißt wie es geht.’

Der Junge nickte. Alex setzte sich ans Bett, knöpfte den Mantel auf und begann damit ihn zu untersuchen. ‚Dreh dich bitte um.’

Yuki wandte sich langsam um, seine Hände ließen den Stoff seiner Kleidung los und klammerten sich in das weiche Innenfell des Mantels. Der Rücken sah verheerend aus.

‚Kannst du so liegen bleiben?’

‚Ja, es ist weich’

‚Gut.’

Er begann damit die tiefsten Verletzungen zu behandeln, musste aber bald abbrechen.

‚Yuki, bleib liegen. Ich muss mich ausruhen.’

‚Gehst du weg?’

‚Ja.’

Yuki schwieg wieder.

‚Du bist hier sicher.’ Während Alex sprach schloss er die Knöpfe des Mantels, selbst die Schließen aus Metall und hüllte den Jungen wieder in seinen Kokon ein.
 


 


 

o
 


 

Morioka
 

Schuldig, Sakura und Sano waren unterdessen wieder in Morioka angekommen. Sie parkten den Van und luden die Taschen im grauen Nieselregen aus.

„Stellt sie einfach ab, ich bringe später alles nach oben“, sagte Schuldig und sah zu einem Fenster des Gästehauses hinauf, hinter dem sie ihr Schlafzimmer hatten.

Sano lud die Taschen am überdachten Eingang ab und grüßte Firan der gerade die Tür öffnete um Schuldig hineinzulassen.

„Ist alles nach Plan verlaufen?“, fragte Schuldig.

Firan nickte.

„Wie du gesagt hast: Er hat nicht gefragt“, sagte er bedauernd.

Schuldig legte Firan eine Hand auf die Schulter. „Schon gut, das ist in Ordnung, er meint es nicht so.“

Firan nickte. „Wurdet ihr aufgehalten?“

Schuldig stellte eine der Taschen ab und holte dann Banshee vom Eingang ab. Er nahm sie aus ihrer Box und Firans Gesicht erhellte sich augenblicklich.

„Nein, wir haben unterwegs nur länger gebraucht um die Absperrungen zu umfahren.“

„Ist es schlimm?“

„Sehr schlimm.“

„Eine Schande, dass wir mit unseren Fähigkeiten nicht helfen“, sagte Firan.

Schuldig wandte sich zur Treppe um. „Ja, momentan ist es zu gefährlich. Hinzu kommt, dass wir wohl nicht lange unentdeckt bleiben würden.“

„Also sind unsere Kräfte unnütz“, sagte Firan mit Bitterkeit in der Stimme.

„Im Moment ja.“

Schuldig hörte wie Firan etwas sagen wollte doch es nicht aussprach.

Sie betraten das Schlafzimmer. Die Rollläden waren heruntergelassen obwohl es mittags war und es roch stickig.

„Machst du die Tür zu?“, richtete Schuldig an Firan und dieser schloss sie leise, bevor Schuldig Banshee auf das Bett herunterließ. Sie wetzte sofort zu Rans Gesicht. Schuldig fuhr die Rollläden nach oben und öffnete die Fenster um frische Luft hereinzulassen. Ran Gesicht verschwand unter der Decke, inklusive irgendwelcher protestierender Worte, die keiner verstand.

Aber da hatte Ran die Rechnung ohne Banshee gemacht denn diese hatte einen neuen Angriffspunkt gefunden, nämlich am ende des Bettes. Sie kroch dort unter die Decke und löste einen wahren Schock bei Ran aus. Dieser schleuderte die Decke davon und setzte sich erschrocken auf. Mit einem wirklich sehr seltenen Gesichtsausdruck starrte er auf Banshee, die seinem Blick gelassen begegnete. Sie kletterte auf seine Oberschenkel und streckte sich. „Banshee“, keuchte Ran und fasste sie vorsichtig mit den Händen. „Banshee!“

Ran schossen die Tränen in die Augen und Schuldig lächelte zufrieden. Er bemerkte nicht einmal wie Firan und Schuldig das Zimmer wieder verließen.
 

Unten angekommen seufzte Schuldig geplagt auf. Ran würde schon wieder werden, er brauchte nur Zeit um alles zu verdauen. Er nahm einige der Taschen und brachte sie nach oben vor das Schlafzimmer, betrat es jedoch nicht.

Zuletzt hatte er noch das in Papier eingeschlagene Bild, welches er Firan geben wollte. Es war eines der Kleineren die Jei gemacht hatte und zeigte dem geneigten Betrachter einen... Wust aus hellen Farben - mehr aber auch nicht. Brad musste es aus Jeis Zimmer nach unten in den Keller gebracht haben.

Schuldig klopfte an Firans Zimmertür und betrat es dann. Firan kam aus dem Badezimmer heraus und sah auf das in Papier geschlagene Mitbringsel.

„Für dich. Es hing in Jeis Zimmer. Brad hat es gesichert bevor das alles losging und ich dachte du solltest es haben. Aber frag mich nicht was es darstellt.“

Firan nahm es entgegen und starrte das verpackte Bild an. „Ich geh rüber zu Ran wenn du uns brauchst klopf einfach an, ich lasse die Tür zu damit Banshee nicht abhaut, solange sie sich nicht eingewöhnt hat.“

Firan sah auf und nickte stumm.

Schuldig ging zum anderen Ende des Stockwerks und betrat mit den Taschen ihr Zimmer. Ran sah sofort auf, Banshee in seinen Armen kraulend. Die rothaarige Hexe lag komplett verdreht auf ihrem Rücken da, hatte alle Viere von sich gestreckt und hatte genießend die Augen geschlossen, während sie schnurrte was das Zeug hielt.

„Du warst in Tokyo? Allein?“, fragte Ran vorsichtig. Das schlechte Gewissen war deutlich herauszuhören.

„Nein, nicht allein, Ran. Das wäre selbst für mich dämlich gewesen.“ Schuldig verschwieg wohlweißlich, dass er auch allein gefahren wäre wenn sich Sano und Sakura nicht angeboten hätten.

„Sano und Sakura haben mich begleitet um mich abzuschirmen.“

Schuldig ging ins Badezimmer um sich Hände und Gesicht zu waschen. Als er das Schlafzimmer wieder betrat saß Ran immer noch dort, die Haare vor seinem Gesicht hängend. Seine Schultern zuckten nur minimal.

„Ich weiß nicht was mit mir ist. Ich habe nicht einmal an dich gedacht und du warst gar nicht da“, sagte er leise. Schuldig holte langsam und tief Luft. Er sah auf Ran hinab. Ran sah verloren aus. Verloren und Zerbrochen.

Und plötzlich musste Schuldig an die dunklen Flecken auf Rans Seele denken. Würden sie sich jetzt gerade in diesem Augenblick vergrößern?

„Wir finden einen Weg, Ran.“

Ran nickte nur ohne aufzusehen.
 


 

o
 


 

Tokyo
 

Alex ging in seine eigenen Räumlichkeiten und legte sich ein paar Stunden hin um zu schlafen. Es gab für ihn nicht viel zu tun. Sie hatten keinen Kontakt zum Rat und Mobilfunk sowie die Satellitenverbindung waren ausgefallen.

Nachdem Vorfall mit Yuki war Somi verschwunden und mit ihm weitere seiner Männer. 23 hatten sie in Fesseln vorgefunden, teilweise verletzt, zwei seiner eigenen Männer tot. Er hatte sie gefoltert um ihre Loyalität zu erzwingen. Die Überlebenden waren schwer gezeichnet, sie erzählten Alex, dass ihre Kommunikationsanlage von Somis Männern sabotiert worden war. Stream konnte das bestätigen.

Die verbleibenden 21 Männer wurden zunächst in Gewahrsam genommen um sie einem Verhör zu unterziehen – sofern sie aufgrund ihrer Verletzungen dazu in der Lage waren. Mia kümmerte sich darum, ihm selbst blieb deshalb nicht viel zu tun. Stream suchte nach digitalen Spuren von Somi während die anderen sich anderweitig um seinen Aufenthaltsort bemühten.

Das Einzige was er selbst tun konnte war sich um Yuki zu kümmern. Wenigstens eine Aufgabe, die sie ihm aus Sicherheitsgründen gestatteten.

Er nahm zusätzlich Schmerzmittel ein bevor er etwas aß und dann zurück zu Yuki ging. Die Tür stand offen und er hörte eine geflüsterte Diskussion die Jasper und Whisper führten.

„Das solltest du nicht tun.“

„Aber er ist so süß“, widersprach Whisper mit mehr Enthusiasmus als er bisher von ihr je gehört oder erlebt hatte.

„Er ist kein Haustier. Und keine... Puppe.“

„Findest du?“

„Das ist keine Sache die ich finden kann. Das ist ein Fakt.“ Jasper stöhnte.

„Er ist so hübsch, so zart und schützenswert.“

„Lass uns gehen. Was hältst du davon, wenn du ihm etwas zum Anziehen nähst?“

Das schien zu funktionieren. Sie kamen zur Tür und sahen beide auf als sie Alex vorfanden. „Wir wollten nur...“, begann Jasper sich zu rechtfertigen. Alex winkte ab.

Whisper lächelte sanft. Sie lächelte nicht oft oder schien sich für etwas zu interessieren was im Hier und Jetzt stattfand. Es sei denn sie führte einen Befehl aus.

„Ich nähe ihm neue Kleider!“, sagte sie begeistert. Dieser Wechsel in ihrem Gesicht war erstaunlich und fast schon erschreckend. Sie zeigte eine Mimik, ihre Augen waren lebhaft und ihre Lippen hatten etwas mehr Farbe. Alex sah den beiden nach.

Dann ging er hinein und schloss die Tür.

Yuki schlief. Alex setzte sich auf die Bettkante und strich ihm sanft über die noch immer in das Fell gegrabene linke Hand um sich anzukündigen. Der Junge zuckte erschrocken zusammen und kämpfte darum sich umzudrehen.

„Ruhig, Yuki. Ich bin es, ganz ruhig. Der Mantel, erinnerst du dich?“ Yukis Atem ging heftig und er beruhigte sich allmählich, nickte irgendwann und ließ sich wieder fallen. Alex öffnete den Mantel wieder und führte seine Arbeit fort. Diese gestaltete sich zäh, er musste oft innehalten um sich zu erholen. Abschließend war er am Gesäß angekommen dabei ließ er seine Hand ruhig auf der malträtierten Haut ruhen. Er war zufrieden mit seinem Werk - es würden keine Narben zurückbleiben. Seine Hand ruhte noch immer auf der Haut und er versuchte herauszufinden ob der Junge vergewaltigt worden war, aber es war keine Dehnung zu finden, also ließ er schlussendlich von ihm ab. Erschöpft ließ er sich auf dem Boden sinken und schloss für einen Moment die Augen, den Nacken gebeugt und den Kopf auf das Bett abgelegt. Sein Kopf dröhnte, selbst das gedimmte Licht schien seinen Augen zu hell...

Er musste eingeschlafen sein, denn als er die Augen öffnete wusste er im ersten Moment nicht was er am Boden in diesem Raum zu suchen hatte. Verspannt im Nacken richtete er sich auf und sah zur Seite. Yukis Kopf lag nahe an der Kante, sein Blick schien in die Ferne zu gehen.

„Möchtest du zu deiner Familie?“

Yuki sah auf und schüttelte den Kopf.

„Bist du nicht traurig, dass du nicht bei ihnen bist?“

Wieder ein Kopfschütteln.

„Aber du siehst traurig aus.“ Der Junge machte es ihm leicht mit ihm zu kommunizieren, was ihn selbst wunderte. Er mochte es nicht besonders mit anderen zu sprechen, mit Menschen die keine Fähigkeiten hatten erst recht nicht.

Yuki nickte.

„Wegen Naoe?“

Yuki sah ihn lange an, dann nickte er wieder.

Alex wandte sich wieder nach vorne und betrachtete einen Sonnenuntergang auf dem Bildschirm. „Ich auch. Ich hätte ihn gerne kennengelernt, denn ich hatte die Hoffnung er... hätte mir helfen können.“

Yuki zog leicht an einer Haarsträhne und Alex sah ihn an. Der Junge tippte sich an die Stirn.

‚Bei was?’

Alex zuckte mit den Schultern.

‚Bei einem Problem, dass ich mit meinen Fähigkeiten habe. Er war ein starker Telekinet. Ich denke nicht, dass dir entgangen ist, dass er nicht ganz normal sein kann.’

‚Nein, ich weiß von diesen Dingen.’

‚Wie war er?’

Alex sah wieder zu den Bildern.

Erst kam keine Antwort, dann etwas zögerliche Worte.

‚Er... war... überheblich, arrogant, besserwisserisch, gefühllos.’

Alex sah ihn skeptisch an.

‚Ich dachte er war dein Freund? Hattet ihr keine sexuelle Beziehung, oder eine freundschaftliche zumindest?’

Yuki lächelte leicht. Irgendetwas schien ihn zu amüsieren. ‚Doch.’

‚Dann sind das keine Komplimente.’

‚Er war auch... einsam, etwas weltfremd und er mochte Schokolade, vor allem Kuchen.’

Alex musste grinsen. Bei der Menge an Energie, die der Junge umverteilte kein Wunder. Dann verblasste sein Grinsen und er musste daran denken, dass er ihn um zwei Tage verpasst hatte.

‚Zwei verdammte Tage, nur zwei.’

‚Du hättest ihn nicht retten können.’

‚Vielleicht schon.’

‚Wie?’

‚Mit einer Verbindung. Ich hätte ihn vielleicht stabilisieren können, dazu hätte ich ihn untersuchen müssen. Das Problem finden müssen. So konnte ich nicht einmal das tun.’

‚Der Hellseher sagte, dass niemand ihm hätte helfen können.’

‚Ja, es ist so eingetroffen, weil ich nicht da war.’

‚Was ist das für eine Verbindung?’, fragte Yuki nach einer Weile in der Alex vor sich hingebrütet hatte.

‚Wir PSI haben...’, er schwieg drehte sich zu Yuki um der ihn aufmerksam ansah, denn bisher war er nicht so aufmerksam erschienen, meist abwesend, jetzt jedoch, wirkte er interessierter.

‚Es ist kompliziert. Nur so viel: Wir können eine Verbindung eingehen, zu einem anderen PSI oder einem anderen Menschen. Unsere Seelen sind im Einklang; was auch immer das bedeuten mag. Ich habe es selbst noch nicht erlebt. Da ich eine besondere Fähigkeit habe wäre eine Verbindung mit mir...’ Er verstummt wieder. Warum sollte er diese Dinge vor dem Jungen geheim halten? Steckte er nicht schon viel zu tief in dieser Geschichte? Naoe war tot, Mia hatte es bestätigt.

Der Hellseher entweder tot oder in Strauds Händen. Eine letzte Unsicherheit blieb jedoch. Eine letzte Chance um herauszufinden ob es noch eine Möglichkeit für ihn gab um dem Unvermeidlichen zu entkommen.

Yuki zog sanft an einer Haarsträhne und Alex sah wieder zu ihm, schmunzelte über die herrische Ungeduld die der Junge plötzlich an den Tag legte.

‚Eine Verbindung mit einem starken PSI würde für mich ein Nachteil sein. Meine Fähigkeiten sind nicht stark in dem Sinne, dass ich große Massen bewegen kann, oder einschneidende Dinge bewegen kann. Sie sind subtiler.’

‚Du kannst Menschen heilen, bedeutet das nichts?’

‚Nein, das stimmt schon, nur habe ich telepathische, empathische und telekinetische Fähigkeiten, die erst im Zusammenwirken ein Ergebnis bringen. Ich kann als Telekinet nicht einmal lange einen Menschen levitieren lassen. Nur unter großer Anstrengung schaffe ich es einen Tisch hochzuheben. Eine Verbindung zu einem starken PSI könnte mich vernichten.’

‚Warum?’

‚Weil es das perfekte Gegenstück nicht gibt, Yuki. Naoe hätte mir... sagen wir zumindest wohlwollend gegenüberstehen müssen. Moralisch, ethisch hätte er niemals auf den Gedanken kommen dürfen meine Fähigkeiten zu missbrauchen. Eine Verbindung hat immer Auswirkungen auf beide Seiten. Es ist leicht jemanden zu unterdrücken wenn man nicht bemerkt, dass der andere weit weniger stark ist.’

‚Ist es die Telekinese?’

‚Nein, es ist egal, da ich alle drei Disziplinen zwar beherrsche, aber in keiner wirklich herausragend bin, bin ich anfällig für alle drei Arten. Die Energie die bei der Telekinese mobilisiert würde, wäre für mich wie eine Art untrennbare Verbindung, eine Kette, die ich nie mehr ablegen könnte. Ein Sog dem ich nicht mehr entkommen könnte.’

‚Ich verstehe es nicht, warum?’

‚Weil sie meine überlagern würde. Ich bin schwach, Yuki. Ein starker Telepath würde mich mit einem Augenzwinkern vernichten können, wenn er es wollte. Ich würde in dieser Beziehung immer schwach bleiben.’

‚Du bist nicht schwach. Sag das nicht. Niemals würde ich das so sehen.’

‚Naoe vielleicht. Er ist... war so stark, dass ich vermutlich auf die Knie gegangen wäre wenn ich ihm gegenüber eine Bindung angestrebt hätte.’

‚Wie meinst du das?’

‚Ich kann die Energie eines PSI in meiner Seele wahrnehmen. Ich kann leicht eine Bindung herstellen, weil sie für mich klar zu sehen ist.’

‚Das ist nicht bei jedem PSI so?’

‚Nein’, Alex musste lächeln. ‚Im Normalfall dauert so etwas einige Zeit und geht von alleine. Menschen oder PSI verlieben sich, Probleme und Krisen schweißen sie enger aneinander, eine Verbindung entsteht bei PSI deren Kompatibilität sehr hoch ist. Viele Komponenten müssen wie ein Schlüssel in ein Schloss passen.’

‚Bedürfnisse und Befriedigung’, schloss Yuki und Alex sah ihn an.

‚Ja.’

‚Es gibt PSI die noch elementarer in die Seele eines PSI eingreifen können. Schon lange bin ich keinem mehr begegnet. Meine Spezialität ist eher körperlich und geistig veranlagt.’

‚Warum wolltest du dich dann unbedingt mit Naoe verbinden? Oder ihm helfen?’

‚Es wäre eine gegenseitige Hilfe gewesen. Ich... wurde in meinen Fähigkeiten beschränkt durch eine Fessel, die ich alleine nicht entfernen kann. Unsere Herren haben sie mir angelegt und keiner ist so mächtig um sie lösen zu können. Naoe wäre dazu vielleicht im Stande gewesen.’

‚Im Gegenzug hättest du ihm geholfen. Aber er hätte sich an dich binden müssen.’

‚So in etwa.’

‚Wäre das für ihn ein gutes Geschäft gewesen?’

‚Ja, wenn er vernünftig mit mir umgegangen wäre schon. Vermutlich keine Bindung aus Liebe, eher aus Zweckmäßigkeit.’

‚Wäre das denn gut gewesen?’

‚Er hätte keine Einschränkung gespürt, dazu war er viel zu stark – wenn man den Gerüchten glauben schenken mag.’

‚Und du?’

Alex seufzte und schwieg ein Weilchen.

‚Ich hätte Vieles dafür getan um wieder frei zu sein, auch der Sklave eines Jungen zu sein. Ich hätte ihm nicht viel entgegensetzen können. Über die Verbindung kann er mich zu allem zwingen.’

‚Aber dass ist nur bei dir so? Oder geschieht das bei allen Ungleichgewichtigen PSI Paaren?’

‚Nur bei mir, ich bringe mich zu sehr in die Verbindung ein. Ich bin eine Verbindung wenn du so willst. Es ist als wäre ich ein Universalschlüssel. Ich löse mich in die Verbindung auf, wenn ich sie eingehe. Ich arbeite auch mit Verbindungen, aktuell nicht mehr aber frühe habe ich das getan.’

‚Du hast mir die Frage nicht beantwortet.’

‚Welche Frage?’

‚Was wäre aus dir geworden?’

Alex wurde unwohl, darüber hatte er sich schon so oft den Kopf zerbrochen, dass er darüber mit...

Mit einem Menschen und schon gleich diesem hier nicht sprechen wollte. Er spürte Wut in sich und wollte sich der Situation entziehen. Widerwille regte sich in ihm und er entzog Yuki seine Haare als er aufstand.

Der Junge musste gespürt haben, dass er nicht mehr sprechen wollte. Er setzte sich auf und der Mantel der ihm hoffnungslos zu groß war rutschte von ihm bis zu seinen Hüften hinab. Alex sah ihn an und Yuki tippte sich mit den Fingern an die Stirn. Er formte mit seinen Lippen das Wort Bitte. Die Augen groß und fragend.

Alex gab nach.

„Naoe war in einer Beziehung zu dir. Das zu gefährden wäre nicht in meinem Sinn gestanden. Ich hätte räumlich bei ihm bleiben müssen. Ich hätte meine Ämter niedergelegt, was ohnehin kein Verlust wäre, denn ich habe diese Ämter nur erzwungen um nach ihm suchen zu können. Ich wäre einfach ein Arzt gewesen, der in seiner Nähe bleiben muss, ohne die Aussicht darauf je eine andere Bindung eingehen zu können. Er jedoch hätte andere Bindungen eingehen können, denn er hätte die Bindung zu mir lösen können, dazu wäre er in der Lage gewesen. Vermutlich hätte er es nicht einmal gespürt. Um deiner nächsten Frage entgegen zu wirken. Ohne die gleiche Stärkung meiner Seele wäre meine verkümmert, geistig und seelisch. Eine Lösung dieser Bindung wäre für mich als würde man mir ein Stück meiner Seele herausreißen. Ich wäre nicht mehr vollständig.’

‚Grausam.’

‚Große Verantwortung, die ich einem Jungen auferlegt hätte. Und ein großes Wagnis für mich, mit vielleicht... nicht gutem Ausgang. Aber ich habe es satt. Bildlich gesprochen bin ich an eine Wand aus spitzen Dornen gekettet und reiße mich jedes Mal blutig sobald ich mich bewege. Jedes Mal wenn ich meine Fähigkeiten als Gesamtes einsetze habe ich Schmerzen. Ich ertrage es nicht mehr.’

‚Und das haben die alten Herren eures Ordens getan?’

Deutete er dieses Glitzern in den graublauen Augen als dass was es war? Genugtuung? Rache? Wut? Alex konnte es nicht ergründen, der Ausdruck war schnell vergangen.

‚Nein, nicht wirklich. Unter diesen Herren habe ich böse Dinge getan, die ich nicht hätte tun dürfen, aber ich war damals zu jung gewesen um es zu erkennen. Meine Strafe wurde mir von den neuen Herren auferlegt.’

‚Oh.’

‚Yuki ich bin kein guter... Mensch. Denk daran wenn du glaubst dich an mich halten zu müssen. Du bist nur auf Zeit hier, ich habe dir geholfen, was nicht bedeutet, dass du mir dankbar sein musst. Du schuldest mir nichts. Ich habe es getan weil ich es konnte und weil Mia mich darum gebeten hat. Wenn du gehst kümmert es mich nicht. Verstehst du das?’ Er sah den Jungen freundlich an.

Dieser nickte.

‚Schone deine Stimmbänder weiter, sie heilen gut. Es wird nichts zurückbleiben von dieser Verletzung.’

Wieder ein Nicken.

„Und Yuki, du bist sehr verletzt worden. Dein Freund ist gestorben, du wurdest gefangen genommen, gefoltert, misshandelt und deiner Familie entrissen. Prüfe gut wem du dein Vertrauen schenkst. Du schuldest hier niemandem etwas und du musst auch nichts tun was du nicht willst. Mia hat alle deine Familienmitglieder bereits durchleuchtet und dich auch, das heißt ihr habt weiter nichts zu befürchten.’
 

Yuki nickte.
 


 


 

o
 


 

Morioka
 

Es war Abend und Schuldig saß auf der Couch, vor sich hinstarrend und nicht wissend was er tun sollte. Sie hatten keinen Kontakt zu Eve aufnehmen können. Vermutlich weigerte sich Mr. Crawford dies in die Wege zu leiten oder sie waren weit weniger sicher als er gesagt hatte. So oder so waren ihnen die Hände gebunden. Er konnte nichts tun. Nicht hier.

Es gab nichts Neues aus Tokyo und er war zur Untätigkeit gezwungen. Die Gäste, die zur Bestattung gekommen waren hatten sich verzogen und es herrschte wieder der normale Betrieb. Als wären sie nie hier gewesen.

Schuldig war wütend auf die Situation. Er verfluchte Straud und er verfluchte Brad. Er verfluchte Jei und Yohji und die Tatsache, dass sie sich umbringen hatten lassen. Überhaupt verfluchte er alle. Außer Ran, denn dieser war von seinem Ärger ausgeschlossen.

Schuldig wandte den Kopf als ihn ein Geräusch an der Tür sagte, dass jemand kam. Firan konnte es nicht sein, er schlief... glaubte Schuldig und eigentlich war es ihm auch egal.

Sakura stand im Türrahmen.

„Ist Ihnen etwas eingefallen?“

„Warum willst du hier weg?“

Schuldig schüttelte fassungslos den Kopf. Er hatte genug.

Frustriert stand er auf und ging zur Anrichte in der angrenzenden Küchenzeile um sich etwas Wasser einzuschenken.

„Ich ertrage diese Blockierung nicht auf Dauer. Ich fühle nichts mehr. Beantwortet das Ihre Frage ausreichend?“, sagte er ruhig und sah sie an.

Sie legte den Kopf schief.

„Es ist zu viel“, fügte Schuldig an. Er würde ihr bestimmt nicht erzählen, dass Ran etwas von ihm brauchte, dass er ihm hier unmöglich geben konnte.

„Nein. Ich verstehe deshalb das tatsächliche Problem. Und es ist ein wirklich guter Grund um von hier wegzugehen.“ Sie lehnte sich an die Wand an und verschränkte die Arme.

„Gefühle sind der Schlüssel zu unserer Existenz. Offenbar...“, sie verstummte und sah ihn forschend an. Schuldig kam sich vor wie ein Insekt in einem Glasbehälter.

„Weshalb...“

Schuldig stellte das Glas ein wenig zu laut ab. „Gott... könnten Sie bitte Ihre Sätze zu Ende sprechen? Das ist wirklich... wirklich seltsam.“

Sie hob die Augenbrauen und schien überrascht. „Nun, wir haben... Aim und ich haben Sabin nie auf diese Art blockiert. Sodass ich jetzt erst begreife wie elementar du an Emotionen gebunden bist...“

„Ich bin nicht mein Vater. Und Ran ist derjenige der momentan Probleme mit dem Thema hat. Große Probleme. Und ich will ihm dabei helfen, was momentan nicht möglich ist.“

„Ist es immer so?“

Schuldig ließ sich erneut ein Glas Wasser ein – nur damit er etwas zu tun hatte während sie beide dieses wirklich seltsame Gespräch führten.

„Was meinen Sie?“

„Löst er eine emotionale Disbalance mit Intimität?“

Schuldig wollte gerade aus dem Glas Wasser trinken und setzte es wieder ab. Ahnte sie um was es tatsächlich ging?

„Ja, ich glaube das ist seine Lösungsstrategie wenn ihm alles zu viel wird“, sagte er nicht gerade freundlich, vielleicht etwas zynisch.

„Das ist eine Möglichkeit“, sagte sie nachdenklich. „Aber nicht die Lösung.“

Das war ihm auch bewusst.

Sie schwieg ein Weilchen.

„Es gibt eine... Art Zufluchtsstätte, die wir bisher nicht benutzt haben. Sano und ich“, fügte sie hinzu, als würde dies eine Rolle spielen wer diese Zuflucht bisher nicht benutzt hatte. Schuldig war es egal. „Sie ist weiter oben in Aomori. Ich habe sie die letzten zwei Tage von Momo und ihrer Mutter vorbereiten lassen. Dort ist der Einfluss sehr schwach, aber immer noch stark genug dich zu verbergen wenn du keine Energiespitze provozierst.“

„Was heißt Energiespitze?“

„Dem Reaper zu viel Raum einzuräumen, zum Beispiel. Oder Kontakt nach Tokyo suchen. Das wäre zu nahe an Straud.“

„Das krieg ich hin.“ Er hatte momentan tatsächlich zu viele andere Baustellen.

„Wo liegt es genau?“, fragte Schuldig.

„Ihr müsst die...“, fing Sakura mit ihrer Wegbeschreibung an.
 

Eine Etage höher sahen sich zwei Männer an und fragten sich die unterschiedlichsten Dinge ohne sie auszusprechen.

Firan war aus dem Zimmer getreten als er Stimmen gehört hatte und vermutlich war es Ran ebenso ergangen. Dieser war nackt und hatte sich lediglich die dünne Zudecke umgeschlungen. Seine Haare waren offen und der verletzte Blick der Firan traf als dieser ihn lauschend antraf ließ Firan den Rückzug antreten. Doch Ran hob die Hand und bedeutete ihm näher zu kommen.

Ran setzte sich auf den obersten Treppenabsatz und Firan blieb stehen. Er hörte wie Sakura und Gabriel sich über Ran unterhielten. Gabriels Stimme klang müde und abgekämpft.

Firan blickte im Halbdunkel zu Ran hinunter. Sein Kopf lehnte an der Wand, die linke Hand hatte er zur Faust geballt.

Rans Rückenpartie bis hinunter zu seinem Gesäß lag frei und Firan fühlte so etwas wie Begehren in sich, was ihn schockierte. Er trat einen Schritt zurück und lehnte sich an die Wand an, konnte seinen Blick auf den Mann jedoch auch nicht lösen.

Es war lange her... dass er diese Art Gefühl verspürt hatte und wenn dann nur kurz bevor sein Bruder es ihm genommen hatte. Er hatte wohl befürchtet, dass Somi diesen Umstand für sich nutzen würde sobald er erkannte was Firan wirklich war. Somi hatte es nie herausgefunden, doch Firan hatte stets Zweifel daran gehabt. Warum hatte er sich ausgerechnet Firan ausgesucht um seine Begierden auszuleben? Das musste doch einen Grund gehabt haben. Nur weil er der Bruder eines der stärksten Empathen war? Als Druckmittel? Oder hatte er doch irgendwie erfahren welche Fähigkeiten Firan besaß? Vom Sentinel? Hatte er ihn solange gefoltert bis er gesprochen hatte? Ihn verraten hatte?

Und jetzt?

Er war in seinem Gefängnis aus Sex, Gewalt und Begierde gut zurechtgekommen, nur gegen Ende war es unschön geworden und es hatte ihm Angst gemacht. Zum ersten Mal hatte er Angst verspürt.

Nein, nicht zum ersten Mal aber seit langer Zeit wieder. Sein sicherer Kokon aus Lügen und einer verdrehten Wahrnehmung war aufgebrochen und das madenzerfressene Innere hatte sich entleert. Was würden sie von ihm denken wenn sie es erfuhren? Sie hatten ihn völlig ohne Zweifel aufgenommen und in ihre Mitte gelassen. Sie vertrauten ihm.

Ran war in der Zwischenzeit aufgestanden und stand nun vor ihm. Sein Blick hatte eine Schärfe angenommen, die Firan keuchen ließ. Das war nicht mehr der trauernde in sich gekehrte Ran, das war Abyssinian. Und dieser Killer hatte gerade so etwas wie eine Witterung aufgenommen.

Ran zeigte auf Firans Zimmer. Firan beeilte sich diesem unausgesprochenen Befehl nachzukommen, Ran folgte ihm. Die Tür fiel leise ins Schloss aber Firan traute sich nicht sich zu Ran umzudrehen.

„Willst du, dass Schuldig dich fragt?“, hörte er Ran mit einer geradezu freundlichen Stimme. Sie trug etwas Falsches, Lauerndes in sich und Firan biss sich auf die Unterlippe.

„Nein. Er müsste es längst wissen, er hat mich gelesen, hat er gesagt“, sagte Firan unbestimmt.

„Ich denke nicht.“ Die Stimme hörte sich näher an, Ran war direkt hinter ihm.

„Doch er hat mich gelesen“, beharrte Firan und drehte sich abrupt um. Ran war so groß wie er selbst und er konnte in die violetten Augen blicken, die ihn in ihrem unheimlichen Fokus hatten.

„Oh, das hat er mich Sicherheit, aber hat er auch Verbindungen gezogen? Eine Erkenntnis aus den Daten gewonnen?“ Ran kam näher und Firan wich zurück bis er die Wand im Rücken spürte. Ran legte seine Hände neben seine Schultern.

„Ich dachte ich würde dir einen Vertrauensbonus geben weil du Jeis Bruder bist und ich ihm unrecht getan hatte. Zumindest in einigen Teilen unserer Begegnungen. Ich dachte ich würde dir diesen Vertrauensvorschuss geben weil du viel mitgemacht hast und es verdienen würdest. Aber etwas sagt mir, dass du nichts weiter bist als eine Schlange die sich in unsere Mitte begeben hat um uns dann zu verraten. Ist es nicht so?“
 

Firan sah ihn erschrocken an. Nein!

„Nein, niemals. Ich würde euch nicht verraten. Wie kommst du darauf?“

„Ich erkenne Schuld wenn sie mir begegnet. Und du hast definitiv einen schuldigen Eindruck gemacht. Du kannst es mir jetzt sagen oder Schuldig später. Es ist deine Entscheidung.“

„Es ist nicht wie du denkst.“

Ran war ihm viel zu nahe und trotz des Leintuchs um seine Mitte immer noch viel zu nackt und viel zu attraktiv. Firan schluckte.

„Und was sollte ich anstatt dessen denken?“

„Ich kann nicht...ich...“, stotterte Firan. Schlimm genug dass er seine Sprache nicht mehr fand, sein Gesicht fühlte sich zudem heiß an.

Ran löste sich von seiner Stütze und trat einen Schritt zurück. Er sah zufrieden aus. Das Gefühl hatte Firan nicht. Er war sehr unzufrieden, denn er hatte sich verraten.

Vielleicht konnte er lügen? Etwas erfinden...

„Was ist es was du vor uns verbirgst?“

Firan hatte gedacht, dass Ran zu lethargisch war um zu seinem alten Selbst zurückzufinden, dass ihn nichts mehr interessierte. Da hatte er wohl falsch gelegen. Hatte die Katze ihn kuriert? Oder hatte er allen nur etwas vorgemacht?

Denn der Mann der vor ihm stand strahlte alles aus, nur keine Schwäche. Obwohl er ein taktiler Empath war spürte er die virile Kraft bis zu sich und das ohne Berührung.

Schwäche konnte er nur in sich selbst spüren und sie trieb ihn die Tränen in die Augen. Er würde alles verlieren und wo sollte er dann hin? Er hatte gedacht sie wären seine Freunde. Endlich Freunde, die ihn beschützten und für die er sorgen konnte, für die er da sein konnte.

„Du schindest Zeit“, sagte Ran ruhig.

Ihm fiel nichts ein, rein gar nichts was er ihm hätte auftischen können.

„Ich...“, Firan verstummte.

„Rede endlich oder ich lasse dich von Schuldig auseinandernehmen und es ist mir scheißegal ob er gegen sämtliche Kawamoris hier antreten muss oder glaubst du Sakura möchte einen Spion in ihrer Mitte haben? Wahrscheinlich wäre es humaner wenn Schuldig die Informationen aus deinen Gedanken pflückt als wenn ich zu Sakura hinuntergehe und sie dich ihren Leuten zur Befragung überantwortet.“

Ran legte die Hand an die Türklinke. „Nun gut, ich hätte zwar nicht gedacht, dass du sie enttäuschen wolltest, aber mir soll es recht sein.“

Er öffnete die Tür und Firan hechtete vor um ihn davon abzuhalten. „Nein, Bitte.“

Ran packte ihn an der Kehle und schloss die Tür wieder. So schnell er ihn gepackt hatte so unwirklich ruhig schloss er die Tür.

Firans Hände ruckten hoch zu Rans Handgelenken. Ran schubste Firan auf seinen Platz an der Wand zurück und nahm seine Hände von ihm. Und das war gut so, denn die Gefühle die Firan von ihm übermittelt bekam ließen ihn mehr Entsetzen spüren als es diese Situation je getan hätte. Es war nicht nur Trauer, es war Mordlust und Verzweiflung und einen Hunger... viel mehr eine Gier nach Etwas das für Firan nicht zu fassen war. Das Gefühl des Hungerns kannte er jedoch.

Firan löste sich von der Wand in seinem Rücken und ging ein paar Schritte von Ran in Richtung offenen Raum.

„Ich bin nicht sehr geduldig“, räumte Ran ein.

„Ich habe euch nicht alles über meine Fähigkeiten erzählt. Darum geht es. Es hat nichts mit euch direkt zu tun. Ich würde euch nie verraten. Ich bin froh hier zu sein und ich dachte wir könnten Freunde werden oder etwas dass sich wie Freundschaft anfühlt.“

Er hörte wie Ran Luft holte. „Bist du wie Jei?“

Firan sah auf. „Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Schlimmer.“

„Was heißt das?“, fragte Ran misstrauisch und mit Härte in der Stimme.

„Mein Bruder konnte andere beeinflussen und sie manipulieren. Vielleicht war es dazu bestimmt mich zu beschützen, wie es bei PSI Zwillingen oft veranlagt ist. Ich kann das nicht. Zumindest nicht einfach so.“

„Du brauchst Kontakt?“

Firan nickte. „Ja, aber einen bestimmten Kontakt. Ähm... sexuellen Kontakt.“

„Was?“, fragte Ran ungläubig.

„Sexuelle Energie ist für mich etwas Besonderes, sie verleiht mir Kraft und Energie.“

„Du wirst stärker?“

„Ja... denke ich, es ist aber keine direkte körperliche Stärke. Ein normaler Mensch muss schlafen um sich zu regenerieren. Ich brauche nicht zwingend Schlaf, ich regeneriere Zellen und Prozesse auf diese Weise.“

„Wusste dein Bruder das?“

Firan schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht.“

„Hast du deshalb Somi heil überstanden?“

„Ja. Allerdings hat mein Bruder auch dafür gesorgt, dass ich diese Energie kaum nutzen konnte. Er hat mir jedoch auch die negativen Gefühle genommen, wofür ich ihm dankbar bin.“

„Wann hast du dich das letzte Mal regeneriert?“, fragte Ran und die Kälte war aus seiner Stimme gewichen.

„Das letzte Mal versuchte ich es vor Monaten bei Somi als er mich zu sich holte. Aber es funktionierte nicht, es war nichts da was ich für mich nutzen konnte. Es war nur Gier und Machthunger. Tatsächlich ist das letzte Mal sehr lange her. Schlaf hilft mir dabei diese Art von Energie nicht zu benötigen aber es ist nicht dasselbe.“

„War es jemals anders mit Somi?“

„Ja, bevor das alles losging und wir hierhergekommen waren. Er hatte mich im Fokus und seine Spiele nutzten auf diese Weise auch meiner Regeneration die ich dringend brauchte nach diesen Stunden. Bloße Gewalt und Unterdrückung helfen nicht, sie schaden mir wie jedem anderen auch.“

„Wie hast du rausgefunden, dass du diese Art Fähigkeit hast?“

„Sakura selbst meinte, dass sie noch nicht wüsste was meine Sekundärfähigkeiten sind und ich habe sie belogen, denn ich wusste es sehr genau. Ich bin ein taktiler Empath und meine Sekundärfähigkeiten beziehen sich auf ...“

Er seufzte niedergeschlagen.

„Somi... ich habe es mit ihm herausgefunden. Ich war zu jung um andere Erfahrungen machen zu können. Aber es ist eine Fähigkeit die keinerlei Nutzen bringt – für andere.“

„Schadest du jemandem damit?“

„Nein. Ich glaube nicht, aber ich habe keine anderen Erfahrungen als mit einem sehr starken PSI.“

„Nimmst du Jemandem dabei etwas weg?“

„Wie ein Vampir?“, fragte Firan ernst und sah zu Ran auf, der an der Tür lehnte und sehr interessiert schien.

„Nein, ich... wie soll ich das erklären? Ich nehme die Gefühle wahr und diese Wahrnehmung triggert etwas in mir selbst. Es potenziert sich. Bisher konnte ich das noch nicht ausgiebig erforschen, mir fehlte ein Trainingspartner.“ Unsicher sah er wieder zu Ran auf.

„Das ist dein Geheimnis?“, fragte Ran ernst.

Firan nickte und spürte erneut wie sich Hitze in ihm ausbreitete.

„Und vorhin... da... dieser Ausdruck von Schuld auf deinem Gesicht... warum?“

„Ich...“ Firan zögerte.

„Firan, sind wir nicht über diesen Punkt hinweg?“, fragte Ran milde.

Firan sah von seinen Händen auf. „Ich glaube nicht.“

Ran seufzte. „Du hast mich attraktiv gefunden? Halb nackt? Und hast dir vorgestellt mich zu berühren?“, sagte Ran gelassen.

„Unter anderem“, gab Firan zu und starrte Ran an.

„Und dann hast du dich schuldig gefühlt, weshalb?“ Auf Rans Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das etwas Schmutziges an sich hatte.

„Wegen... wegen Schuldig“, sagte Firan unsicher. Angesichts dieser vertrackten Situation entging ihm der Wortwitz gänzlich. Vor allem wohl weil er sich nicht gleich die Übersetzung von Gabriels Alias in Erinnerung rief.

Rans Gesicht erhellte sich und er lachte leise. „Du hast dich wegen Schuldig schuldig gefühlt? Wenn ich ihm das erzähle lacht er sich halb tot.“

„Nein! Das ist nicht komisch. Das ist nicht gut!“ Firan schüttelte den Kopf. Warum war der Mann nur so gelassen? Erkannte er nicht wie furchtbar die Situation war?

„Warum nicht? Die Katze ist aus dem Sack, glaubst du ich würde ihm das verheimlichen? Das ist für ihn wie ein Sechser im Lotto“, sagte Ran und schüttelte lachend den Kopf.

„Hör auf zu lachen! Das ist nicht komisch.“ Firan fühlte wie beschämend die Situation war.

„Und ob es das ist. Seit Langem habe ich das Gefühl das Ewas tatsächlich lustig ist, auch wenn es auf deine Kosten geht. Ich glaubte du hintergehst uns und die Kawamoris und dann offenbarst du mir die Wahrheit. Und sie ist weit weniger gefährlich als ich dachte. Bei genauerer Betrachtung ist sie sehr positiv, wenn es stimmt was du darüber erzählt hast.“

„Es stimmt. Aber ich habe noch nicht genau herausgefunden was ich damit tun kann.“

„Frag Schuldig, er hat bestimmt sofort eine Handvoll von Ideen. Glaub mir.“

„Ich kann mir nicht vorstellen wie das irgendjemandem helfen sollte“, sagte Firan niedergeschlagen.

„Und was jetzt? Sagst du es ihm?“

„Nein“, sagte Ran. „Das wirst du tun. Und ich werde dabei sein, das will ich mir nicht entgehen lassen.“

„Das ist so peinlich“, ergab sich Firan ins Unvermeidliche.

„Geh runter und sag ihm, dass du mitfahren möchtest.“

„Warum?“, fragte Firan irritiert.

„Weil du mitfahren wirst.“

Das hörte sich in Firans Ohren sehr endgültig an.

„Aber was... was soll ich... ich meine...“, stotterte er und er spürte wie er Angst bekam.

„Bekommst du kalte Füße?“

„Ja, ja die bekomme ich.“

„Wir passen auf dich auf. Und jetzt runter mit dir.“

Ran öffnete zuvorkommend die Tür für ihn und Firan schlich an ihm vorbei. Er übersah das Lächeln von Ran als dieser ihm folgte.

„Und bemüh dich ihn davon zu überzeugen, er wird sich anfänglich ein bisschen zieren.“

„Kannst du es ihm nicht einfach sagen?“

„Nein. Das wirst du tun. Denn dein Blick vorhin hat mir alles erzählt über deine... Wünsche.“

Firan schwieg.
 


 

Sakura war gegangen und Schuldig grübelte darüber nach wie er vorgehen sollte als Firan im Wohnraum auftauchte.

„Ich dachte du schläfst?“

„Ich habe Stimmen gehört... und... ich wollte fragen ob ich mitfahren kann.“

Schuldig hörte Unsicherheit aus der Stimme heraus.

Dann trat Ran neben Firan und schlich sich in Schuldigs bevorzugtem Schlafoutfit vorbei um sich ein Glas Wasser einzuschenken.

Schuldig besah sich Rans Profil als dieser ihm einen warnenden Blick zuwarf. Schuldig sah ihn fragend an. Wie sollte er das nun deuten?

„Ich habe alles gehört“, funkte Firan zwischen ihre lautlose Kommunikation.

„Das war nicht für deine Ohren bestimmt, Firan“, sagte Schuldig nachsichtig.

„Es tut mir leid. Ich...“ Firan verstummte.

Schuldig schwieg einen Augenblick und beobachtete wie sich Ran einen Stuhl heranzog und darauf Platz nahm. Er überschlug die Beine und naja bis auf die interessante Mitte konnte Schuldig im Halbdunkel alles sehen.

„Warum willst du mit?“, fragte Schuldig dann, den Blick immer noch auf die langen Beine gerichtet.

Schuldig konnte in der Stille hören wie Firan schluckte und sah auf.

„Weil ich... vielleicht ähnlich wie Ran fühle... und... ich...“

Schuldig fragte sich ob Firan tatsächlich wusste wie Ran sich fühlte oder nur ahnte wie es in ihm aussah. In den letzten Tagen hatten die beiden mehr Kontakt gehabt als Schuldig zu Ran.

„Firan wir werden dort Sex haben und der wird nicht von der sanften Sorte sein.“

„Es gibt nichts was ich nicht schon getan habe“, erwiderte Firan fast schon verärgert. Schuldig seufzte.

„Darum geht es nicht.“

„Um was dann?“

„Du bist Jeis Bruder.“

„Liegt es daran, dass ich wie er aussehe?“

Ran wollte etwas sagen, doch Schuldig hob die Hand um ihm zu signalisieren, dass er das übernehmen wollte.

„Nein. Daran liegt es nicht. Und du siehst nicht wie er aus, seine Narben haben sein Aussehen verändert. Du kennst uns nicht und... wir wollen sicher keine Erinnerungen in dir wecken, die dich in dieser Situation noch mehr traumatisieren.“

„Gerade weil ich euch nicht kenne“, fuhr Firan auf. Seine Stimme zitterte und Schuldig hörte etwas anderes heraus: Verzweiflung.

„Gerade weil ich keine Gefühle zu diesen Erinnerungen habe. Sie verblassen bereits und sie belasten mich nicht – weil mein Gehirn keine assoziativen Verbindungen herstellen kann. Nichts ist daran gekoppelt. Jei... wie ihr ihn nennt wusste das. Wenn er mir die Gefühle nimmt, nimmt er mir auf lange Sicht die Erinnerung.“

„Es wird ihn auf lange Sicht nicht belasten. Zumindest was die psychologische Seite angeht“, sagte Ran.

„Darum geht es nicht“, sagte Schuldig noch nicht ganz überzeugt von diesen Argumenten. Und woher wollte Ran das wissen?

„Um was dann?“, rief Firan aus.

Schuldig wollte gerade ansetzen etwas zu sagen.

„Nimm ihn mit“, sagte Ran.

„Bist du sicher?“

Ran nickte. „Hast du etwas dagegen?“

Schuldig versuchte herauszufinden was Ran bezweckte, kam aber zu keinem vernünftigen Ergebnis. Außer dass Ran momentan egoistisch dachte und verzweifelt war - selbst wenn er hier ruhig und gelassen saß. Ran war in diesem Zustand gefährlicher und berechnender als sonst. „Nein, ich habe nichts dagegen ihn zu ficken, oder zuzusehen wie er dich fickt“, sagte Schuldig langsam und beobachtete wie Ran lächelte. Dieses Lächeln hatte er lange nicht mehr gesehen. Es war schmutzig und verrucht – bestenfalls. Wollte er den Jungen dazu benutzen sich auszutoben? Darüber mussten sie trotzdem sprechen, denn er hatte nicht vor Firan für Etwas zu benutzen. Ran würde es sich nicht verzeihen wenn er aus seiner egoistischen Phase erwachte.

„Willst du ihn benutzen oder warum ist dir Privatsphäre plötzlich nicht mehr so wichtig?“, fragte er und lächelte weil Firan sich gerade weit weg zu wünschen schien, so schüchtern wie er vor ihnen stand.

„Firan?“, sprach Ran den Jungen an und dieser sah auf.

„Erklär ihm warum du mitwillst, obwohl du weißt, was aller Wahrscheinlichkeit nach dort passieren wird.“

„Ich will sehen was ich fühlen würde wenn... wenn es dazu kommt“, stotterte er.

„Zu was kommt?“, hakte Ran unerbittlich aber in sanftem Tonfall nach.

„Zum Sex“, sagte Firan tapfer und presste die Lippen zusammen.

Firan stand dort mitten im Raum - augenscheinlich ruhig und gelassen. Doch als Schuldig sich von der Anrichte abstieß und auf ihn zuging zuckte er zusammen.

„Sag mir warum?“ Schuldig näherte sich immer noch Firan. Dieser sah auf, während Schuldig seine Hand hob und sanft mit den Fingerspitzen den dunklen Haaransatz entlang strich. Firans Atmung beschleunigte sich.

„Du bist nicht erregt, Gabriel“, stellte Firan erstaunt fest obwohl Schuldig wirkte als würde er eine bestimmte Absicht verfolgen.

„Beantworte meine Frage“, forderte Schuldig.

„Du wirkst aber, als würde ich dich erregen. Warum?“

„Sie blockieren diesen Teil“, erwiderte Schuldig.

„Sie blockieren diesen Teil?“, fragte nun Ran.

Schuldig seufzte. „Ja. Das ist der Grund warum ich dir nicht geben kann was du brauchst, Ran.“

Ran stöhnte.

„Ich höre, Firan“, sagte Schuldig zu Firan gewandt.

Firan nickte. „Ich will wissen ob diese Art... von Sex erregend für mich ist oder nicht.“

„Welcher Art?“

Firan bis sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. „Willst oder kannst du es nicht aussprechen?“

„Meinst du BDSM?“

„Was?“ Er sah auf und sah ihn mit großen Augen an. „Was ist das?“

Schuldig lachte auf und schüttelte den Kopf.

„Ich erkläre es dir wenn wir alles vorbereiten, dann kannst du immer noch entscheiden!“

„Ich habe mich bereits entschieden“, sagte Firan und sah Schuldig an.

„Ach ja“, Schuldig sah Firan fest in die Augen.

„Noch etwas...“

Firan nickte und sah ihn aufmerksam an.

„Kannst du damit umgehen, dass es lediglich Sex ist?“

Firan nickte erneut. „Ja. Dadurch, dass ich euch noch nicht gut kenne seid ihr die besten Partner dafür.“

Schuldig nickte erstaunt über die derartig nüchterne Betrachtungsweise.

„Das heißt nicht, dass wir für dich in diesem Moment nichts empfinden, Firan.“

„Ich möchte im Augenblick keinen Partner, denn ich muss mich erst selbst finden... und das nicht nur in diesem Bereich.“

„Verstehe. Lass dir Zeit dabei und mach erst deine Erfahrungen.“

„Deshalb möchte ich mit.“

„Du möchtest Erfahrungen sammeln?“

Firan nickte, etwas selbstsicherer.

„Du bist erst vor wenigen Tagen Strauds Tyrannei entkommen.“

„Ich weiß. Aber ich bin rastlos und fühle mich nutzlos.“ Dann senkte er den Kopf.

Er verstummte und Schuldig hob fragend die Augenbrauen.

„Was ist?“

„Firan“, warnte Ran und Schuldig sah zu diesem hin.

„Sag bloß, du weißt mehr als ich!“, rief Schuldig erstaunt aus und sah zu wie Ran zufrieden lächelte.

„Ich... ich durfte mich nicht... selbst befriedigen.“

Er kaute erneut auf seiner Unterlippe herum.

Schuldig ersparte sich einen Kommentar. Er würde Somi die Eier abreißen.

„Und jetzt?“

„Jetzt... jetzt... will ich es die ganze Zeit tun.“

Firan drehte sich um und schüttelte den Kopf.

Schuldig runzelte die Stirn. Ach...?

„Dass hat er dir erzählt?“, wandte sich Schuldig an Ran.

„Nein, das nicht“, sagte Ran nachdenklich.

„Du vermisst den Sex?“, fragte Ran Firan.

„Mein Körper tut das... denke ich.“

Wow... okay, dachte Schuldig so bei sich.

„Kannst du mit körperlicher Nähe umgehen?“, fragte er dann.

Firan nickte. „Ich bin mir nicht sicher wenn... wenn ich nackt bin und mehr Oberfläche zur Verfügung steht...“ Ein hörbares Schlucken schloss sich an.

„Gut, das werden wir wohl herausfinden müssen.“

Firan wirkte aufgeregt und wollte ihm etwas sagen, aber wusste wohl nicht wie er es sagen sollte.

„Sags einfach, Firan“, sagte Schuldig sanft. „Jetzt ist die Gelegenheit dafür.“

„Somi... mein früherer Herr... er...“ Firan schluckte. Schuldig wartete geduldig.

„... er... er sagte, dass ich der perfekte Sklave wäre.“

„Das hat er auch nicht erzählt“, meinte Ran in Richtung Schuldig.

Dieser Satz löste einiges in Schuldig und wohl auch in Ran aus, denn dieser erhob sich von seinem Stuhl, vor allem aber die strikte Weigerung den jungen Mann hier mitzunehmen.

Schuldig runzelte die Stirn als er sah wie rot Firan im Gesicht wurde. Was...?

„Er sagte das um dich zu demütigen“, sagte Ran und kam näher.

Firan schüttelte vehement den Kopf und sah zu Ran hin. „Nein. Es stimmt.“

„Das ist Unsinn. Arschlöcher wie Somi...“, begann Schuldig Firan begreiflich zu machen was für ein Ungeheuer dieser Straud war als Firan ihn unterbrach.

„Nein, hör mir bitte zu, Gabriel. Das habe ich Sakura nicht erzählt, weil ich mich dafür... schäme. Ran hat es herausgefunden.“

„Wie... herausgefunden? Auf welche Art?“ Schuldig sah zu Ran hin. Dieser zuckte nur mit den Schultern.

„Nicht so wie du glaubst“, sagte Ran gelassen.

„Gut, ich höre zu“, sagte Schuldig.

„Ich... ich... kann meinen Schild durch... also durch sexuelle Energie stärken.“

Firan sah ihn mit großen Augen an und wartete wohl auf seine Reaktion. Er starrte ihn regelrecht aufmüpfig an. Schuldig lehnte sich seitlich an die Wand.

„Das ist interessant“, sagte Schuldig langsam.

„Ist es das?“ Firan schien das nicht zu empfinden. Er knetete seine Hände. Und Schuldig betrachtete sich den jungen Mann vor sich mit großem Interesse. Ein Incubus? Er hatte hier also die mythologische Vorlage vor sich stehen. Das war der Hammer!

Er wusste gar nicht, dass das möglich war. Hatte Jei deshalb diesen Hass auf Gott und die Kirche im Allgemeinen?

„Kannst du die Gefühle verstärken?“

Firan schüttelte aufgeregt den Kopf und seine Wangen wurden einen Tick dunkler.

„Nein. Ich stehle auch niemandem etwas. Ich teile die Gefühle.“

„Sehr interessant. Das werden wir testen. Wir haben das perfekte Versuchskaninchen hier.“ Er wedelte mit seiner Hand in Richtung Ran.

„Viel Energie und ich werde das ganze überwachen um mir das genauer anzusehen.“

Firan schluckte wieder und nickte etwas weniger enthusiastisch.

„Verschweigst du mir noch etwas?“

„Nein!“

„Hast du Angst? Du kannst es dir noch einmal überlegen.“

„Nein, ich bleibe dabei, aber... ich weiß nicht was ich machen soll, ich wurde immer angewiesen... also...“
 

Schuldig berührte Firans Wange und dieser sah auf. Er lächelte plötzlich, vermutlich weil Schuldig Zuversicht fühlte.

„Keinen Stress. Der da drüben...“ Er zeigte mit dem Finger in Richtung Ran.

„... macht zwar einen auf finster und momentan ist er das auch, aber Ran weiß was er tut.“

Firan nickte.

„Hast du Angst vor ihm?“ Schuldig lächelte breit.

„Ich kann euch hören, ich stehe nämlich direkt neben euch“, sagte Ran und Schuldig lächelte ein unschuldiges Lächeln in Richtung Ran. „Tu einfach so als wärst du nicht hier.“

„Also Firan? Wenn das was werden soll will ich darauf eine Antwort.“

„Soll ich gehen?“, fragte Ran.

„Hast du Angst zu hören wie er dich sieht?“, schickte Schuldig zurück.

„Ja.“

Schuldig sah zu Ran hinüber. „DU willst dass er mitkommt.“

Ran sah zu Firan hinüber. „Hast du Angst vor mir?“

„Ein bisschen, denn... du spricht wenig und ich habe Geschichten gehört. Vom Anführer von Weiß... von Abyssinian.“

„Finstere Geschichten?“, fragte Schuldig neugierig.

„Ja.“

„Was hat man über Abyssinian erzählt?“, fragte Ran irritiert.

Schuldig lächelte interessiert.

„Wenn die Aufträge erteilt sind, dann gibt es kein Zögern mehr, kein Verhandeln mehr mit ihm. Er tötet das Ziel, auch wenn es unschuldig ist, oder wenn es um Gnade bettelt. Und... er ist gnadenlos. Sein Hass gegen uns kennt keine Grenzen und er ist blutrünstig. Irgendjemand hat einmal erzählt, dass er eine Narbe hätte und diese ihn entstellen würde.“

Schuldig sah zu Ran der ein fragendes Gesicht zog.

„Dann kenne ich noch die Geschichte, dass er mit einem Tentakelmonster gekämpft und schlimme Verletzungen davongetragen hat. Aber das habe ich nie geglaubt“, winkte Firan ab und Schuldig bekam große Augen. Nun gut... er behielt lieber für sich, dass dies wahrscheinlich das Einzige war, welches der Wahrheit entsprach.

Schuldigs Gesicht sprach Bände als er grinsend zu Ran hinüberblickte. „Halt die Fresse“, erwiderte Ran unfreundlich. „Sonst...“, fing Ran an sich eine fiese Strafe auszudenken.

Schuldig hob einlenkend die Hände. „Schon gut, schon gut, seit wann bist du so ausfallend?“, versuchte er sich an einem schockierten Gesichtsausdruck. Er misslang so finster wie Ran ihn anblickte. Wusste er eigentlich wie sexy er damit gerade aussah?

„Weiter Firan, beachte ihn gar nicht“, sagte Schuldig fürsorglich.

„Er führt sein Schwert schnell und mit Anmut. Das habe ich von einigen Agenten, drüben im Mutterhaus gehört.“

Schuldig grinste mittlerweile wieder. „Aha. Eines kann ich dir sagen... Anmut hin oder her. Er sieht mit dem Messerchen beeindruckend aus... nichtsdestotrotz bringt er damit einfach nur Leute um. Und das ja... eher effizient. Ran legt keinen Wert auf Anmut, glaub mir. Wenn er sich durch mehrere Leute schnetzeln muss, dann kommt es eher darauf an Energie einzusparen als eine Show daraus zu machen. Meistens macht er sie kampfunfähig, er tötet sie nicht immer. Das kommt auf die Umstände an, Firan. Wenn er schnell weg muss oder wenn das Ziel etwas anderes ist. Wie gesagt, Ran ist effizient. Und er mag es nicht Zeit zu verschwenden. Was er überhaupt nicht abkann ist... wen Leute noch vorher ewig rumlabern und erklären warum sie was gemacht haben. Es interessiert ihn nicht besonders warum sie Arschlöcher sind. Deshalb... habe ich ihn damals immer schön auf die Palme damit gebracht.“ Schuldig lachte leise.

„Gut, das stimmt immerhin“, brummte Ran und setzte sich wieder.

Firan nickte interessiert. „Dann stimmt nur dieser Teil von dem was ich gehört habe?“

„Wie so oft bei Gerüchten stimmt ein kleiner Teil im richtigen Licht betrachtet. Den Rest kannst du vergessen.“ Die Tentakelsache... Masafumi ließ Grüßen... zum Beispiel.

„Und was stimmt?“

„Das musst du selbst herausfinden.“ Ob Ran ihm wohl bei Gelegenheit von den Nesseln erzählen würde? Schuldig grinste. Wohl nicht.

Firan sah zu Ran hinüber.

„Ich kümmere mich um alles Nötige“, sagte Schuldig drehte sich um und öffnete die Tür.

„Scheiße... was bin ich... ein Sextherapeut?“, murmelte er ironisch im Hinausgehen.

„Im Moment sicher nicht!“, brüllte Ran ihm nach.

Schuldig lächelte. Er hätte Ran früher erzählen müssen warum zwischen ihnen momentan nichts laufen konnte. Denn jetzt schien Ran etwas entspannter zu sein. Schuldig machte sich auf um Sano zu suchen.
 

Firan sah Schuldig nach und stand unsicher im Wohnraum herum. Vielleicht sollte er nach oben gehen, aber um was zu tun? Schlafen? Packen? Wann ging es los? Er war aufgeregt.

„Du hast tatsächlich Angst vor mir?“, hörte er dann und drehte sich zu Ran um.

Was sollte er sagen?

„Ich bin aufgeregt in deiner Nähe.“

„Aber du hast dich um mich gekümmert.“

„Ich... war stets in der Nähe von gefährlichen Menschen.“

„Fühlst du dich von ihnen angezogen?“

„Kann sein“, sagte Firan unsicher.

„Was sagt das über mich?“

„Erst einmal gar nichts“, erwiderte Ran.

Er erhob sich. „Los... ziehen wir uns an und packen ein paar Sachen zusammen.“

Firan nickte und verzog sich nach oben, Ran war dicht hinter ihm... sehr dicht...
 


 


 

Fortsetzung folgt...
 

Danke!
 

Gadreel

Erlösung

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Guilty Torn

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Wild Cat

Wild Cat
 


 

Langley
 

„Commander Spears.“

Ben Spears nickte dem Agenten zu der ihm die Tür öffnete und offenbar sicherstellen sollte, dass er keinen Unsinn veranstaltete. Der Agent blieb jedoch vor der Tür und so betrat Spears alleine die Räumlichkeiten von Thomas Steiner dem Leiter der Sondereinheit in Langley.

„Spears“, wurde er von Steiner begrüßt. „Schön sie zu sehen, es ist lange her.“ Steiner erhob sich und kam um den Schreibtisch herum auf ihn zu.

„Nicht lange genug, fürchte ich“, brummte Spears. Er blieb im Raum stehen und besah sich seinen früheren Boss, Thomas Steiner, während eines kurzen Händedrucks. Die Falten auf seiner Stirn hatten sich tiefer gegraben seit ihrer letzten Begegnung vor vier Jahren. Er müsste jetzt Mitte Fünfzig sein, schätzte Ben.

„Was kann ich für sie tun, Spears?“, fragte Steiner.

„Sie vermissen eine Agentin?“ Ben kam gleich zur Sache, er hatte wenig Zeit.

„Woher haben sie die Information?“, fragte Steiner, wesentlich ruhiger als er offenbar war, denn seine Augen verengten sich minimal. Er lehnte sich an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme abwartend.

„Wir vermissen zwei unserer Agenten.“

Steiner nickte. „Verstehe.“

Sie schwiegen sich an und Spears erlaubte Steiner eine Entscheidung zu treffen. Dieser ließ sich Zeit, Zeit die Ben nicht hatte. Steiner bot ihm einen Sitzplatz an.

„Was ist passiert, Thomas? Was zur Hölle ist in Japan los?“, fragte er schließlich in gelassenem Tonfall, während er sich setzte.
 


 


 

Steiner schien immer noch abzuwägen was oder wie viel davon er ihm erzählen konnte oder wollte – und kam zu einer Entscheidung.

„Wir haben vor ein paar Monaten einen kleinen Zusammenstoß mit einem Ordensmitglied. Er war in sehr schlechtem Zustand, als wir dazu gerufen wurden.“

„Was soviel bedeutet wie…?“

„Er war halbtot.“

„Verstehe.“ Die Gelegenheit ein Ordensmitglied lebend zu befragen war ein seltener Umstand.

„Er war kaum in der Verfassung mit uns zu reden und das was er von sich gab war nicht sehr aufschlussreich. Eins jedoch war klar, irgendetwas ging im Orden vor sich mit dem zumindest ein kleiner Teil nicht konform ging.“

„Was hat er gesagt?“

„Das meiste davon war religiöses, fanatisches Geschwätz, er brabbelte etwas von der roten Flamme die über uns alle kommen würde, einem Umbruch der Zeiten, der Erweckung und Ähnlichem. Wir haben kaum verstanden was er da von sich gegeben hat. Die Retardierung war sehr weit fortgeschritten, seine Handlungen unkontrolliert, deshalb konnte unsere Einheit ihn relativ schnell ausschalten.“

„Welche Profession?“, fragte Ben neugierig geworden.

„Ein Telekinet.“

„Bevor er starb sagte er, dass bereits Alles seinen Anfang genommen hätte und das vor langer Zeit.“

„Der Anfang von was?“

Thomas Steiner gab seine Förmlichkeit auf und seufzte. „Ich weiß es nicht. Keiner weiß es.“

„Sagen sie mir nicht es geht um interne Machtstreitigkeiten“, sagte Spears mit Unverständnis in der Stimme.

„Unsere Informanten sagen, dass es das sein würde. Tristian wurde in Vegas gesehen wie sie ihre eigenen Leute bekämpfte. De la Croix und Straud sind in Tokyo um eine neue Fakultät zu eröffnen.“

„Ein neuer Stützpunkt der Trias in Tokyo? Wozu?“ Seit wann war Straud in Tokyo? Waren ihre Informationen nicht mehr zuverlässig? Dem sollte er nachgehen.

„Keine Ahnung, wir kommen nicht näher heran, es ist zu gefährlich.“

„Wo ist ihre Agentin, Steiner?“

„Ihr Status ist unbekannt. Das Flugzeug kam an und kurz darauf gab es eine Terrorwarnung, an eben diesem Flughafen. Er wurde gesperrt. Dann brach die Hölle los und keiner der Überlebenden konnte uns sagen was genau vorgefallen war, weil sie nichts gesehen haben. Die örtlichen Behörden gehen von einem Gas aus, dass eine Art retrograde Amnesie ausgelöst hat, was totaler Blödsinn ist. Wir vermuten, dass sie mindestens vier bis fünf Telepathen vor Ort hatten, um eine derart umfangreiche Vertuschung zu veranstalten. Fakt ist, dass meine Agentin spurlos verschwunden ist. Senator Crawford sitzt mir im Nacken deswegen.“

„Senator Crawford?“

„Ja“, seufzte Steiner. „Seine Tochter.“

„Sie haben Crawford nach Tokyo geschickt?“, fragte Spears einigermaßen verblüfft über diesen Umstand.

„Es war gefährlich, aber keiner konnte voraussehen wie sich die Dinge so radikal verändern konnten. Sie hatte eine heiße Spur. Ich war nicht gänzlich überzeugt von diesem Einsatz muss ich zugeben, aber es war besser als alles was wir davor hatten.“

„Was ist mit ihrem Bruder?“

„Sein Status ist uns unbekannt“, sagte Steiner.

„Gab es Überlebende am Flughafen?“

„Ja, sie wurden auf die Krankenhäuser verteilt. Sie suchen nach ihren Agenten?“

Ben nickte.

„Ich kann Ihnen darüber keine Daten liefern, sie wissen besser als ich, dass es unmöglich ist herauszufinden, ob sie zu Ihnen gehören. Sie müssten sich alle registrierten Passagiere des Fluges ansehen, falls sie einen von ihnen kennen.“

„Es ist ein Ansatz.“

„Ja. Der Einzige bisher.“

„Gehen sie zu Randy, er kann ihnen helfen.“

Spears nickte und verließ das Büro in Richtung Randy Wolzac, einem IT Experten.
 

Zwei Stockwerke über Steiners Büro tüftelte Wolzac an etwas herum das wie eine Datenwiederherstellungssoftware aussah. Spears konnte sich jedoch auch irren.

„Randy“, begrüßte Spears einen alten Kollegen.

„Na, sieh mal einer an, Ben!“ Wolzac grinste freudig. „Was kann ich für dich tun?“

„Ich brauche die Passagierdaten.“

„Wer nicht?“, seufzte Wolzac frustriert.

„Die Daten wurden gelöscht, wir können bisher nicht sagen wer an Bord war.“

„Dann haben wir nichts?“, fragte Spears und spürte die gleiche Frustration.

„Etwas haben wir. Einen verzerrten Mittschnitt eines Notrufs.“

„Da sind sicher viele Notrufe eingegangen.“

„Dieser Notruf ging an uns.“

„War es Crawford?“

„Nein. Es ist kaum etwas zu verstehen. Eine Art Code.“

„Spiel es ab.“

Wolzac gab ihm einen Kopfhörer.

„Ich lass es zunächst im Original durchlaufen, danach hörst du es ohne Rauschen und mit herausgefilterter Stimme.“

Zunächst war viel Rauschen zu hören, dann eine Stimme. Jung, männlich, angeschlagen. Es war nicht viel zu hören, abgehakte unterbrochene Worte und viel Hintergrundrauschen.

Wolzac gab ihm ein Zeichen, dann hörte er nur die Stimme.

„... keine ... physis... Ent...chung... leitet... die... richt... er... ker... ford... 90...4..9..2...a. Wild...Card...Gibson.“

„Das ist alles.“

Spears nickte. „Das ist tatsächlich nicht viel.“

„Irgendeine Idee?“

Spears schüttelte den Kopf. „Nein. Das sagt mir nichts.“

„Das Problem sind die Ziffern. Sie sind unvollständig. Könnte eine Kennung sein.“

„Crawfords?“, fragte Spears.

„Nein. Habt ihr so etwas?“

Spears verneinte. „Nicht dieser Art.“

„Sorry, Ben. Mehr hab ich nicht.“

„Der Flughafen ist mittlerweile unter Kontrolle?“

„Sie sichten bereits die Schäden. Die Leute sind rausgebracht worden und wer immer das war, er ist lange weg. Aber eines ist sicher: Es waren PSI.“

Spears nickte und verabschiedete sich.
 

Er verließ den Stützpunkt und fuhr mit seinem Wagen eine Weile herum bis er an einem Aussichtspunkt anhielt und ausstieg. Weit genug von den Gebäuden entfernt schaltete er die Kommunikation mit seinem Team wieder ein und stellte eine Verbindung her.

„Ich schick dir Koordinatenfragmente. Finde heraus wo das ist.“

„In unserem Frame?“

„Ja.“

„Geht klar.“

„Ich hab’s angepingt. Das… entspricht einer Kennung die wir nicht… einsetzen.“

„Noch aktiv?“

„Ja.“

„Wo?“

„In D.C.“

„Ruf das Team zusammen.“

„Unseres? Delta wäre gerade frei.“

„Nein, die anderen Teams sind dabei sich zurückzuziehen, wir gehen das alleine an. Ich will euch einsatzbereit, in zwei Stunden bin ich zurück.“

„Verstanden.“

Spears trennte die Verbindung. Einer der beiden Kritikeragenten lebte und hatte einen implantierten Sender aktiviert. Mit viel Glück fanden sie ihn noch lebend. Und hoffentlich war es keine Falle. Erst Tristian in Las Vegas und dann einen Angriff an einem Flughafen... So öffentlich hatte die Trias in der Vergangenheit nie agiert. Was ging im Orden vor sich?
 

Während er fuhr fragte er sich gerade wieso zum Teufel einer ihrer Agenten einen alten Sender implantiert hatte? Das waren veraltete Methoden. Keiner der Agenten die er kannte trug einen dieser Sender, sie bargen ein erhebliches Sicherheitsrisiko. Er musste ihn schon sehr lange besitzen. War es Bombay oder Siberian? Er kannte weder den einen noch den anderen Agenten. Mit Abyssinian und Balinese hatte er bereits zu tun gehabt, aber die anderen beiden waren ihm noch nicht untergekommen. Wild Card bedeutete, dass er auf sich allein gestellt war... Gibson, dass er einen Sender trug. Hatte es etwas mit dem Auftrag zu tun den Manx angesprochen hatte?
 

Zwei Stunden später, kurz vor Mitternacht kam er an ihrem Hauptquartier an, einem alten Herrenhaus, mitten im Nirgendwo samt einem ellenlangen Anfahrtsweg. Es schneite und hatte um die Null Grad. Kein gutes Wetter um vielleicht verletzt auf sich gestellt zu sein, mit einer Horde PSI am Arsch.

Hawk kam ihm entgegen, als er das Gebäude betrat. Sie gab ihm einen kurzen Statusbericht. „Wir haben die Gegend lokalisiert.“

„Gut.“

Er kam in die Zentrale und begann sich umzuziehen, während die anderen langsam eintrudelten. Sie bewaffneten sich. „Rechnet mit einem PSI Angriff. Ich habe nicht den leisesten Schimmer was uns erwartet. Der Auftrag lautet: Finden und sichern.“

„Eine Rettungsmission?“, fragte Buzz.

„Ja.“

„Falcon, du führst uns.“

Falcon winkte nur gelassen und drehte sich zu seinen Rechnern um, während sie das Gebäude verließen und in ihren Einsatzwagen stiegen. Hawk saß am Steuer und ließ den Wagen an, sie fuhr in halsbrecherischer Geschwindigkeit die lange Einfahrt hinunter.

„Falls wir lebend ankommen“, murmelte Con verdrießlich.

„Verdammt, Hawk“, brüllte Ben nach vorne.

„Schon gut, entspannt euch“, erwiderte Hawk einen Tick zu gut gelaunt.
 

Sie fuhren durch die Nacht und es dauerte etwas mehr als drei Stunden bis sie in der Nähe des Signals waren. Sie stiegen aus und sahen sich um. Es war keine gute Gegend, so viel konnte Ben sagen.

„Keine gute Nacht für eines der Kätzchen, vor allem wenn es verletzt ist“, brummte Con und sah in den Nachthimmel auf. Große Flocken trudelten gemächlich auf sie nieder. Ihre Spuren würden im Schnee gut zu verfolgen sein. Das war schade.

„Leute ihr seid in einem Gebiet, das ein gewisser Brown als sein betrachtet. Glückspiel, Prostitution, Menschenhandel, Drogen, Korruption, alles was das Herz begehrt“, meldete sich Falcon.

„Keine Waffen?“, fragte Con beinahe schon enttäuscht.

„Nee, nicht im großen Stil“, erwiderte Falcon.

„Und bevor ihr fragt: Ja, der Typ ist kein kleiner Fisch und Ja er hat überall seine Finger drin.“

„Nie von dem Typen gehört“, meinte Hawk.

„Ist nicht unser Problem“, sagte Con.

„Noch nicht“, erwiderte Falcon. „Seid vorsichtig. Die Polizei hat die Gegend mehr oder weniger aufgegeben.“

„Ein lokaler Boss?“, fragte Eagle. Der seine Hände in allen Geschäften hatte? Nun, das war nicht ihr Kerngebiet, ihr Spezialgebiet waren PSI.

„So sieht’s aus.“

„Lotse uns“, wies Eagle leise an und sie verfolgten das Signal bis zu einem heruntergekommenen Haus in dem niemand zu sein schien. Sie betraten es und Hawk blieb in der Nähe des Eingangs um die Straße im Auge zu behalten. Es stank nach Urin und Fäkalien im Hausflur. „Hier soll sich die Katze aufhalten?“, fragte Con.

„Der Sender ist in eurer Nähe“, sagte Falcon. „Ob die Katze auch da ist... stellt sich noch raus.“

Lautlos wies Eagle Buzz und Hawk an sich im oberen Stockwerk des Hauses umzusehen, während Eagle und Con sich das Erdgeschoss vornahmen. Nachdem sie nichts gefunden hatten ging Hawk wieder auf ihren Posten an der Tür und Buzz sicherte, die nun offene Tür die hinunter in den Keller führte. Eagle und Con gingen hinunter.

Der offene Raum war bis an die Decke mit wertlosem Gerümpel vollgestopft, es roch modrig. Auf den ersten Blick fanden sie nichts.

„Hier ist niemand, Falcon“, sagte Eagle und er konnte eine große Portion Frustration nicht aus seiner Stimme tilgen.

„Der Sender muss da sein“, sagte Falcon über die Com-Einheit.

„Wärmescan an“, wies Eagle an und tippte an seine Brille um von Nachtsicht auf Wärmescan umzuschalten.
 

Dort in der Ecke lag eine Person. „Sicher die Tür.“ Er schaltete die Brille wieder auf Nachtsicht um und ging auf die Person zu. Er räumte eine Holzpalette und Plastikfolien die darüber hingen zur Seite, griff in einen Haufen alter Kleider bis er Kontakt mit Haut spürte. Er schaltete die Nachtsicht aus. Ein blasses japanisches Gesicht kam zum Vorschein die Augen waren halb geschlossen. Er tastete nach dem Puls, der war zwar vorhanden, aber viel zu schnell.

„Ich hab ihn. Er lebt. Gerade noch so. Der Agent trug keine Kleidung für den Winter, er hatte jedoch eine Lederhose und eine Lederjacke an, was ihn vielleicht ein bisschen vor der Kälte geschützt hatte. Sein Gesicht und seine Haare waren schmutzig und in ihnen klebte getrocknetes Blut.

„Raus hier, Kätzchen“, murmelte er.

„Ich brauch die Wärmedecke, Con.“

„Ihr bekommt Gesellschaft“, meldete sich Falcon.

Con kam zu Ben und gab ihm ein Päckchen mit einer Isolierfolie in mattem Schwarz mit silbernem Schimmer. Er aktivierte die Folie in dem er auf einen perforierten Silberstreifen drückte und spürte wie die Folie warm wurde. Er legt sie auf dem Boden aus, hob den Agenten hoch und legte ihn darauf ab.

„Wir dürfen ihn nicht zu schnell aufwärmen“, gab Con zu bedenken. Eagle nickte.

„Hawk, was siehst du?“, fragte er, während sie ihn in die Folie einwickelten. Eagle hob ihn hoch und sie gingen die Stufen nach oben.

„Gangmitglieder patrouillieren. Verhaltet euch ruhig.“

Con war auf der Treppe stehen geblieben und Eagle zog seinen Fuß von der ersten Stufe zurück. Er ging in die Hocke und legte seine leichte Fracht auf seinen Oberschenkeln ab. Er besah sich das schlafend wirkende junge Gesicht. Warum trägst du einen Sender? Wie lange schon?

Dieser Sender stammte aus einer düsteren Ära der Kritikergeschichte. Einer Zeit in, der Agenten damit erpresst worden waren, bei Kritiker zu arbeiten. Sie waren Eigentum von Kritiker, Eigentum ihres Operators, der sie jederzeit ausschalten konnte. Methoden, derer sich ihr Boss Chiyo in den Staaten nicht bediente. Warum war es in Japan anders?

Mit dem Preisgeben der Senderfrequenz hatte sich dieser Agent in seine Hände begeben.

„Sie ziehen weiter. Wartet noch“, sagte Hawk.

Zehn Minuten später waren sie auf der Straße. Während die anderen die Umgebung sicherten ging Eagle zielstrebig zum Wagen. Sie erreichten das Gefährt unbehelligt und stiegen ein. Eagle legte den Agenten auf eine der ausklappbaren Bänke und sicherte ihn mit Gurten.

„Falcon, wir brauchen eine sichere Route.“

„Kommt“, bestätigte Falcon und sie fuhren los.

„Verständige Stephen.“

„Schon geschehen.“

Tatsächlich hatten sie zwei heikle Momente, in denen sie weiteren Patrouillen begegneten. Sie vermieden es entdeckt zu werden und waren schließlich auf sicherem Gebiet.
 

Der Arzt Stephen Kramer kam ihnen bereits entgegen, noch bevor Hawk ihren Wagen am Haus anhielt.

„Bringt ihn in den Behandlungsraum, Jungs“, sagte der Mann Mitte Fünfzig in rauem Ton. Eagle löste die Gurte und hob den Agenten hoch. Er wog fast nichts.

„Das ist ja noch ein halbes Kind!“, hörte er Kramer mit Erstaunen in der Stimme.

„Er ist ein Agent, Kramer.“

„Ein sehr junger... Agent, Ben.“

Ben antwortete nicht, was sollte er auch sagen, Kramer hatte Recht.

„Er kann noch nicht lange dabei sein“, hörte er diesen weitersprechen, während sie hineingingen.

Eagle sah auf seine Fracht hinunter. Er war sich nicht sicher, ob sich Kramer da nicht irrte. „Er gehört zu Weiß, Kramer.“

„Zu Weiß?“, Kramer verstummte.

Ben ging im Erdgeschoss in ihre gut ausgestattete Behelfsklinik und legte den Agenten auf ein Therapiebett ab. Kramer begann sofort damit die Folie zu entfernen.

Ben drehte sich um und wollte den Raum verlassen, als er zurückgepfiffen wurde.

„Was glaubst du tust du da?“, fragte Kramer ihn und Ben drehte sich fragend um.

„Zieh deine Jacke aus und hilf mir gefälligst.“

Ben runzelte die Stirn und fügte sich in sein Schicksal.

„Hände waschen, desinfizieren und Handschuhe anziehen. Das machst du nicht zum ersten Mal...“, murrte Kramer und Ben verzog den Mund vor Missfallen.

Zusammen schälten sie den Agenten aus der Folie und aus seiner Jacke. Er trug lediglich ein Shirt unter dem Leder. Kramer begann ihn zu untersuchen, als etwas Leben in den Jungen kam. Er versuchte sich zusammenzurollen und verzog das Gesicht vor Schmerz, seine Atmung beschleunigte sich.

„Ganz ruhig“, murmelte Kramer und wartete bis sich der Agent wieder entspannte.

„Ich mach ein paar Aufnahmen, vermutlich die Rippen. Zur Sicherheit ein Komplettscan. Warte draußen.“

Ben nickte und verschwand nach draußen. Er war froh darüber, dass Chiyo ihnen finanziell die Möglichkeiten gab sich mit medizinischen Diagnosegeräten auszustatten, so verfügten sie über einen Computertomographen, ein Röntgengerät, Ultraschallgeräte und ein kleines Labor. Sie hatten gelegentlich andere Agenten, die sie medizinisch versorgten, sodass alle von ihnen in den letzten Jahren Grundkenntnisse über die Notfallversorgung von Verletzten erlernt hatten.

Nach ein paar Minuten durfte... oder musste er wieder ins Zimmer.

„Ein Milzriss, ein kleiner Saum um die Milz, ein paar Rippenbrüche, Prellungen und Unterkühlung. Hinzu kommt eine leichte Blutung im Gehirn. Im Allgemeinen ist er in einem erbärmlichen Zustand, im Augenblick aber stabil. Er muss sich sehr verausgabt haben.“

„Eine Gehirnblutung?“

„Du kannst es auch Gehirnerschütterung nennen. Er braucht Ruhe.“

„Ich dachte, es wäre ein schlechtes Zeichen, wenn… ich meine…, wenn man bewusstlos wird, mit einer Hirnblutung?“, fragte Ben mit düsterem Gesichtsausdruck.

„Ja, das ist es. Nur, die Blutung ist nicht so ausgeprägt, dass ich davon ausgehe, dass sie der Grund dafür ist. Es kann auch Erschöpfung und der Blutverlust sein. Oder alles zusammen. Wenn er PSI Kontakt hatte kann es noch eine Reihe anderer Gründe geben, wie du weißt. Warten wir erst einmal ab.“

Ben nickte. „Wann kann ich ihn befragen?“

Ben drehte sich zu ihm um. „Sobald er wach ist.“

„Und wann wird das sein?“

„Woher soll ich das wissen?“, fragte ihn der Arzt mit völligem Unverständnis.

„Schon gut.“

Ben verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sich den jüngeren Mann mit nachdenklichem Gesichtsausdruck.

„Du meinst wirklich er gehört zu Weiß?“

Ben nickte abermals.

„Ich wusste nicht, dass sie so jung... waren... ich meine sind“, sagte Kramer.

„Wo haben sie den Sender implantiert?“, fragte Ben.

„Diese alten Dinger?“

Ben nickte.

„Lass mich nachsehen.“

Er setzte sich an den Rechner und klickte sich durch die Bilder. „Hier, hab ichs“, sagte er nach ein paar Minuten und stand auf, ging zu einem der Regale und griff sich eines der Lesegeräte von dort. „Das sollte gehen“, sagte er und kam wieder zur Liege. „Dreh ihn zur Seite.“

Ben folgte den Anweisungen, während Kramer den Kopf des Mannes nach vorne neigte und dessen Haare aus dem Nacken strich.

„Soll ich ihn auslesen?“

„Kannst du das?“

„Ich kann es versuchen, bei diesen alten Versionen kann es schwierig sein.“

Kramer sendete ein Signal an den Chip. „Er ist zumindest noch intakt.“

„01. 2019. Den Rest kann ich nicht lesen, Ben.“

„Das kann nicht sein“, sagte Ben und er ließ sich das Gerät geben.

„Was meinst du?“

„Mit den Zahlen kann etwas nicht stimmen.“

„Wieso, was bedeuten sie?“

„Die erste Ziffer gibt Aufschluss über die Anzahl der gechipten Senderempfänger. Die Zweite die Jahreszahl.“

„Aber... das...“, fing Kramer an und verstummte dann.

„Wenn, das hier stimmt bedeutet es, dass dies hier der erste Kritikeragent ist, den es damals gegeben hat. “

„Das kann unmöglich sein. Wie alt war er damals? Vier oder fünf? Und wer sollte so etwas getan haben?“

„Frag mich nicht“, sagte Ben fassungslos. Er selbst war 28 und vor vier Jahren zu Kritiker gekommen. Alt genug um diese Entscheidung zu treffen.

„Ich bring das Ding zu Falcon.“

Kramer nickte und Ben verließ mit einem grimmigen Blick den Raum. Er ging hinunter in den ausgebauten Keller zu Falcon.

„Kannst du das entschlüsseln?“

„Lass mal sehen...“ Falcon nahm ihm den Scanner aus der Hand und schloss ihn an einen Rechner an.

„Eine alte Verschlüsselung. Wird seit Jahren nicht mehr benutzt.“

„Von uns?“

„Ja.“

„Dauert nur ein paar Minuten.“

„Ich hol mir einen Kaffee“, sagte Ben und ging hinauf ins Erdgeschoss.

Er ging den Flur entlang und kam in die Küche, dort waren bereits die anderen und machten sich etwas zu Essen. Es war in der Zwischenzeit sieben Uhr durch.

„Was ist mit dem Kleinen?“, fragte Con.

„Stabil, aber noch nicht wach.“

„Das ist doch Grund etwas optimistisch zu sein, meinst du nicht?“, sagte Buzz.

Ben nickte lediglich.

Er nahm sich eine Tasse Kaffee und setzte sich auf einen Hocker, bis Falcon ihn rief.

Alle sahen ihn fragend an. „Erzähl ich auch später, wir sind uns nicht ganz sicher wer der Agent ist und ob er wirklich zu Kritiker gehört.“ Ben erhob sich, nahm seine Tasse mit und ging wieder hinunter zu Falcon. Dieser sah nicht gerade begeistert aus.

„Und?“

„Hier“, Falcon zeigte auf einen der Monitore.

„Takatori Inc. War der Hersteller des Chips. Aktueller Eigentümer des Agenten: Comm. Eagle“, las Ben vor.

„Was?“ Falcon lachte auf, verstummte aber als er Eagles Gesicht sah.

„Jemand hat erst kürzlich darauf zugegriffen“, sagte er dann etwas ernster.

„Wer zum Teufel?“

„Keine Ahnung, aber die Daten wurden erst kürzlich geändert.“

„Kannst du die ursprünglichen Daten wiederherstellen?“

„Nicht, wenn sie überschrieben wurden.“

„Versuch es.“

„Klar.“

Ben ging wieder zurück zu den anderen.

„Wenn ihr fertig seid seht zu, dass ihr herausfindet ob es allen Teams gut geht und sie sich ohne Probleme zurückziehen konnten.“ Er lehnte sich an die Anrichte und trank seinen Kaffee aus.

„Was ist mit der Überwachung von Straud?“, fragte Hawk.

„Die lassen wir unverändert laufen“, sagte er und stellte seine Tasse in die Spüle. „Straud wurde in Tokyo gesehen.“

„Wie bitte?“

„Yeah, irgendetwas ist da faul. Ich will, dass die Sichtung bestätigt wird.“

„Willst du nichts essen?“ Hawk schien sich ungewöhnlich viel Sorgen um sein Wohlergehen zu machen. Ben winkte ab. „Nein, später“, murmelte er und ging wieder zum Doc. Der hatte den Agenten ausgezogen um ihn eingehender zu untersuchen. Seine Kleidung hing über einem Stuhl in der Nähe. Die Wärmedecke war bis zu seinem Hals hochgezogen und der Überwachungsmonitor zeigte passable Werte an.

„Ist er aufgewacht?“

„In den letzten dreißig Minuten die du weg warst nicht.“

„Können wir den Chip rausholen?“

„Das würde ich nicht ohne sein Wissen tun.“

„Hmm... er hat schließlich darüber Bescheid gewusst und ihn für seine Rettung nutzen können“, gab Ben zu. Aber es war ihm trotzdem zuwider.

„Hat Falcon ihn auslesen können?“

„Ja, aber die ursprünglichen Daten waren nicht zu lesen, sie wurden überschrieben.“

„Neue?“

„Ja. Takatori Inc. war der Hersteller.“

„Takatori... also. Die haben damals gemeinsame Sache mit SZ gemacht“, sagte Kramer und Ben sah auf.

Er runzelte die Stirn.

„Schneid das Ding raus, ich will es aktiv nicht in diesem Haus haben“, sagte er mit Kälte in der Stimme.

„Du glaubst doch nicht, dass er für die Trias arbeitet.“

„Keine Ahnung was ich glauben soll, Kramer. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie uns ein Kuckucksei ins Nest legen würden.“

„Ein Doppelagent?“

„Wir wissen nicht ob er Fähigkeiten hat, vielleicht sind unsere Agenten tot und ein Telepath hat sie vorher gelesen.“

„Eine Falle?“

Ben setzte sich mit Falcon in Verbindung.

„Falcon versetz alle in Alarmbereitschaft. Seht euch um und sichert das Gelände. Schick ein Team raus.“

„Verstanden.“

Ben machte ein Foto von dem Agenten und ging wieder nach unten zu Falcon, der mit dem Zweiten hier stationierten Team kommunizierte.

„Stell mir eine Verbindung zu Manx her.“

Falcon nickte und wartete.
 

Nach einer halben Stunde des Wartens sah er nach seinen Leuten, die draußen das Gelände sicherten. Hier lebten zehn Agenten und ein Arzt. Zwei Teams unter einem Dach, erstaunlicherweise lief es größtenteils ohne Probleme und das schon seit ein paar Jahren. Entgegen der üblichen traditionellen Vorgehensweise von Teams die aus vier Mitgliedern bestanden hatten sie hier fünf Agenten pro Einsatzteam. Chiyo hatte es ihnen zugestanden, da sie ein größeres Gebiet abzudecken hatten. Finanziert wurden sie weiterhin aus Japan.

Er brauchte frische Luft und ging die verschiedenen Positionen ab, ein netter Spaziergang durch den hohen Schnee eignete sich hervorragend, um den Kopf frei zu bekommen. „Ben?“

„Ja“, meldete er sich bei Falcon.

„Wir haben ein Problem.“

Das hörte er ganz und gar nicht gern.

„Was ist los?“

Er war gerade zwischen Baer und Tigers Position und stand Wadenhoch im Schnee am Waldrand.

„Das Kätzchen ist los.“

„Drück dich klar aus, Falcon.“

„Die Katze ist weg. Kramer ging ins Behandlungszimmer und es war leer.“

Ben fluchte und gab es den anderen durch.

Tiger meldete sich als Erster. „Sollen wir ihn erledigen?“

Ben überlegte. „Erst wenn ich von Manx höre. Wir brauchen ihn lebend. Bleibt auf euren Positionen.“

„Verstanden.“

Ben kehrte zum Haus zurück, Hawk kam ihm bereits entgegen. „Wir haben hinter dem Haus eine Spur gefunden.“

„Ich folge ihr, bleibt im Haus.“

Kramer trat durch die Tür zu ihnen. „Ich glaube kaum, dass er weit kommt bei diesem Wetter. Der Schneefall wird vorerst nicht aufhören und seine Verletzungen werden ihn nicht weit bringen. Es sieht mir nicht danach aus als hätte er das geplant, eher als wäre er in Panik geflohen.“

„Fehlt etwas?“

„Nein, die Waffen sind vollzählig. Er hat lediglich eine der Felljacken, Mütze und Handschuhe mitgehen lassen“, sagte Hawk.

„Vom Gelände kommt er ohnehin nicht runter.“

„Mag sein, aber es sind mehrere Hektar in denen er sich verstecken kann.“

Ben ging durch das Haus und öffnete die Tür im Wirtschaftstrakt. Er sah die Spur die sich nach Osten bewegte.

„Sichert das Haus, ich möchte nicht, dass wir uns in die Irre leiten lassen. Ich folge ihm.“

„Er hat höchstens zwanzig Minuten Vorsprung auf unbekanntem Gelände“, gab Kramer zu Bedenken.

„Falcon, hast du schon Kontakt zu Manx?“

„Nein.“

„Gut, wenn du ihn hergestellt hast, schick ihr das Bild unserer Katze und frag sie ob es unser Agent ist. Ich muss wissen ob ich ihn neutralisieren muss oder nicht.“

„Mach ich.“

Ben machte sich auf den Weg, die Spur war nur zu deutlich und führte durch ein kleines Wäldchen am östlichen Hang. Der Agent war schneller unterwegs als Ben angenommen hatte.

„Ich habe Sichtkontakt, Ben“, meldete sich Baer.

„Wo?“

„Die Hütte am See. Er betritt sie gerade.“

Ben brauchte noch ein paar Minuten dorthin. Leider gab es in der Hütte auch einige Waffen, die sie für den Notfall in Koffern verstaut hatten. Und sie stand auf freiem Gelände, daher würde er eine feine Zielscheibe mitten am Tag, im Schnee abgeben. Er würde das Risiko wohl eingehen müssen.

Wenig später trat er aus dem Wald heraus und sah die Hütte im Schneefeld liegen.

Es war wirklich egal von welcher Seite er sich der Hütte näherte, sie hatte in alle Richtungen Fenster. Er stapfte gemessenen Schrittes voran und blieb in Rufweite zur Hütte stehen, nichts rührte sich. Nicht das kleinste Geräusch war zu hören.

„Gib auf und komm raus. Du bist auf unserem Gebiet.“

„Auf wessen Gebiet?“, kam die leise Frage. Er hörte einen schwachen Akzent heraus.

„Das klären wir, wenn du bereit bist aufzugeben.“

„Ich habe genug Waffen hier um ein wenig durchzuhalten. Auf wessen Gebiet?“

„Einer verdeckt, operierenden Organisation der Vereinigten Staaten von Amerika.“

Ein leises Lachen war zu hören.

„Es sieht nicht danach aus“, kam aalglatt zurück.

„Wie heißt du?“

„Geht Sie nichts an.“

„Das tut es.“

„Hier kommt keiner rein.“

Ben überlegte gerade was er mit dem Agenten hier machen sollte als sich Falcon meldete.

„Ich habe Manx.“

„Leite sie mir rüber.“

„Manx? Hast du das Bild?“

„Ja. Das ist Bombay. Wo ist Siberian?“

„Status unklar.“

„Und Bombay?“

„Verletzt, Geflohen, steckt in einer Hütte fest und will nicht rauskommen. Habe ich erwähnt, dass er ein feines Waffenarsenal um sich herum zur Verfügung hat?“

„Nein. Zerr ihn da raus, wir müssen mit ihm reden, ich brauche Informationen.“

„An welche Maßnahmen hast du dabei gedacht?“

„Setz ihn außer Gefecht, das wird nicht so schwer sein, denke ich.“

Wow. Manx musste wirklich verzweifelt sein um zu solchen Maßnahmen zu greifen, oder es war ihr tatsächlich egal was mit dem Agenten geschah.

„Du kannst dich wie immer auf mich verlassen“, sagte er wenig motiviert und beendete die Verbindung.

„Bombay, du bist auf sicherem Gebiet. Ich bin der Operator der Ostküstenregion: Eagle.“

Er hörte wie ein MG gesichert wurde und zögerliche Schritte auf ihn zukamen, bis ein herzförmiges Gesicht um den Türstock lugte. „Eagle?“

Ben hatte zuvor kein tieferes Blau als dieses, welches ihn verunsichert anblickte gesehen. Er nickte.

Der Agent lehnte sich an den Türstock an und ließ die Waffe sinken. „Ich dachte... SZ hätte mich gefunden.“

„Nein. Wir haben deinen Sender geortet.“

Bombay sah auf.

„Dann ist meine Nachricht angekommen?“

„Wen sollte sie erreichen?“

„Eve meinte es wäre sinnvoll Kontakt zu ihrem Boss Steiner aufzunehmen. Er würde die Nachricht entschlüsseln und sie an euch weiterleiten.“

„Wo sind die anderen die mit dir unterwegs waren?“

„Sie verstecken sich“, sagte er und Ben erkannte, dass er außer Atem war, oder Probleme mit der Atmung hatte. „Ich bin los um… Hilfe zu holen, aber das war schwieriger als gedacht.“

„Warum seid ihr nicht gleich ins Hauptquartier?“

„Wir wurden verfolgt und schließlich gejagt.“ Bombay rutschte am Türstock hinunter und schüttelte einmal den Kopf. Entweder hatte er Schmerzen oder ihm war schwindlig, jedenfalls hatte er hier draußen nichts zu suchen, sondern gehörte in ein Bett.

„Von wem?“, fragte Ben und ging näher.

„PSI, keine starken, aber nervig allemal und eindeutig in der Überzahl“, sagte Bombay und rappelte sich mühsam wieder auf.

„Dann hätte Eve ihre Leute verständigen können. Steiner hat bisher nichts von ihr gehört.“

„Wir sind uns nicht sicher ob die Agency unterwandert ist, deshalb versuchten wir uns an Kritikeragenten zu wenden. Wir können keinem mehr trauen.“

„Sind sie noch am selben Ort, oder habt ihr den Standort bereits gewechselt?“

„Nein. Wir können ihn nicht wechseln.“

„Ist jemand verletzt?“

„Nein, das ist es nicht. Wir haben Kinder dabei, Zwei Kinder.“

Ben staunte nicht schlecht. „Scheiße, das macht es schwierig.“ Der Agent nickte und ging wieder in die Hütte. Ben folgte ihm und sah zu wie er die Waffe in die Polsterung des Koffers zurücklegte. Er schloss den Koffer wieder und sah Ben an.

„Was jetzt?“

„Du solltest raus aus der Kälte und dich hinlegen. Hast du Schmerzen?“

Der junge Mann sah ihn mit einem Blick an, der von Hoffnungslosigkeit und eisiger Kälte sprach.

„Ich habe das Gefühl jeden Moment umzufallen.“

„Du machst nicht einen, auf harten Kerl?“

Der Agent ging an ihm vorbei. „Was sollte das bringen?“

Er ging ein paar Schritte durch den Schnee, während Ben die Hütte schloss und sich ihm dann Richtung Wald anschloss. Ben konnte deutlich erkennen wie erschöpft der Agent war.

„Falcon, schick Hawk und Con mit Schneemobilen zu unserem Standort.“

„Verstanden.“

Ben ging neben dem japanischen Kritikeragenten her bis dieser schwer atmend stehenblieb, seine Beine nachgaben und er auf die Knie sank.

Ben sah auf die Umgebung. Es würde noch etwas dauern bis die Schneemobile hier waren, aber nicht lange.

„Dein Chip wurde manipuliert. Hast du eine Ahnung wer das war?“

Der Blonde sah auf. Ein wenig zu schnell, denn sein Blick verlor für einen Moment den Fokus und er fasste sich an den Kopf. „Ich…“, er brach ab und setzte dann nach einem tiefen Atemzug wieder an. „Mir war bewusst, dass er gelesen werden würde, sobald sie mich hatten. Ich dachte allerdings, dass die Agency mich finden würde.“

„Und sie hätten somit erkannt wer du bist?“

„Steiner weiß wer ich bin, er hätte die richtigen Schlüsse gezogen und er kennt dich.“

Das war wohl nicht ganz so gelaufen wie sich der Blonde das vorgestellt hatte.

„Wir dachten du könntest von SZ sein.“

Ben atmete tief durch und sah in den grauen Himmel.

„Ich? Weshalb?“, fragte Bombay.

„Takatori? Der Chip an sich... das war irgendwie suspekt.“

Der Blonde sah von ihm weg in die Ferne.

„Nur wenige wissen bestimmte Dinge. Steiner ist einer davon.“

„Weshalb hast du diesen Chip?“

„Lange Geschichte.“

„Sie ist hässlich nehme ich an?“

Der Blonde sah ihn wieder an. „Könnte man sagen.“

Ben nickte und sah zu wie der Jüngere das Gesicht verzog und keuchte. Er biss sich auf die Lippen und stützte sich mit einer Hand an der Seite ab. In der Ferne waren bereits die Schneemobile zu hören.

„Sie sind gleich da.“

Der Blonde nickte.

„Wo hast du dich so verletzt? Was war am Flughafen los?“

Bombay schüttelte einmal den Kopf, sein Gesicht drückte nicht nur große Sorge aus, sondern auch Angst. Eine Gefühlsregung die man hin und wieder auf Gesichtern von Kritikeragenten sehen konnte, wenn sie mit starken PSI zu tun hatten. Wenn sie Zeuge von etwas Schrecklichem und Unfassbarem geworden waren, doch der Weiß-Agent war sicher erfahren auf diesem Gebiet.

Ben dachte zunächst Bombay würde nicht mehr antworten.

„Ich weiß nicht genau was passiert ist, doch plötzlich brach so etwas wie ein Kampf unter PSI aus. Wir kamen an und zunächst war alles wie üblich, wir checkten aus, die Papiere der Kinder wurden überprüft... und plötzlich brach die Hölle los. Ken und dieses Mädchen... sie war der Auslöser…“, sagte er, verstummte aber dann.

Ben beschloss dieses Gespräch auf später zu verschieben, er verstand nämlich nur die Hälfte von dem was Bombay sagte.

„Kannst du aufstehen?“

Der Agent versuchte es, scheiterte jedoch schon im Ansatz.

„Kramer wird dir den Hals umdrehen“, sagte Ben und sah mitleidig auf den Jüngeren hinunter. „Wer ist Kramer?“

„Unser Arzt.“

Der Agent zog ein ängstliches Gesicht. „Oh.“

„Warum wurde dir der Chip nicht entfernt?“

„Ich hielt ihn für nützlich“, erwiderte der Blonde und grinste schwach. Ben hob ob dieser Erwiderung die Brauen.

„Ich würde...“

Ben wurde unterbrochen als Hawk und Con ankamen. Er hob den Agenten kurzerhand hoch und setzte ihn hinter Con. „Festhalten.“

„Darf ich vorstellen“, sagte er, während er hinter Hawk aufstieg. „Agent Bombay aus unserer Zweigstelle Tokyo. Das sind Hawk und Condor.“

„Hi, Leute“, sagte Bombay und winkte kraftlos, während sein Kopf an Cons Rücken fiel.

„Hi, Agent Bombay“, sagte Hawk und lächelte sanft. Ben neigte den Kopf und staunte. Seit wann lächelte Hawk fremde Agenten an? Seit wann lächelte Hawk überhaupt einmal? Ein Grinsen bekam man allemal von der Agentin, ein aufrichtiges und aufmunterndes Lächeln eher weniger.
 

Sie fuhren in Richtung Haus und wurden von Kramer und Baer empfangen. „Buzz hat mich abgelöst“, sagte Baer und beäugte mit stoischem Blick ihren Neuzugang.

Kramer zeterte vor sich hin und Ben konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass es nach dem nervigen Stapfen durch den Schnee ihm eine Genugtuung war zu sehen wie eingeschüchtert der Agent momentan wirkte. Ben half ihm vom Schneemobil und sie brachten ihn nach drinnen. Kramer scheuchte sie beide wieder ins Behandlungszimmer. Artig setzte sich Bombay auf die Liege und ließ sich dabei helfen ihn aus beiden Jacken zu schälen. Kramer untersuchte ihn erneut.

„Junger Mann, du hast einen Milzriss, deine Aktion hätte dich dein Leben kosten können. Von deiner Hirnblutung möchte ich gar nicht erst anfangen.“

Bombay sagte nichts, sondern nickte nur. Sehr weise musste Ben zugeben.

„Ben, besorg frische Kleidung. Er wird die nächsten Tage hier bei mir bleiben, bis ich sichergehen kann, dass wir keine Operation brauchen.“

Der Blonde sah auf und es schien als sähe er die Sache anders, doch Kramer maß ihn mit strengem Blick.

„Was willst du tun?“

Der Blonde sah zu Ben. „Meine Freunde?“

„Um die kümmern wir uns, du kannst ihnen nicht helfen, wenn du stirbst.“

„Ich muss Kontakt zu Manx aufnehmen.“

„Weißt du was bei euch los war?“

„Wir haben es in den Nachrichten am Flughafen gesehen und gehen davon aus, dass es mit uns zu tun hatte.“

„Davon gehen wir auch aus.“

„Wir bringen deine Leute in Sicherheit und verhalten uns ruhig.“

Bombay nickte.

„Ich... ich muss wissen ob es meinem Team gut geht.“

Ben seufzte und Bombay sah ihn mit diesen blauen Augen an die deutlich zeigten wie sehr er die Antwort fürchtete.

„Balinese hat es... nicht überlebt. Abyssinian ist schwer verletzt aber wohl auf dem Weg der Besserung.“

Der Agent senkte den Blick und nickte. „Yohji“, sagte er leise.

„Es tut mir leid“, sagte Ben nüchtern und Kramer warf ihm einen vernichtenden Blick zu, was er mit einem ungelenken Schulterzucken quittierte. Was sollte er tun? Den richtigen Zeitpunkt abwarten? Den gab es für so eine Nachricht nicht und es brachte nur unnötige Komplikationen mit, derlei länger für sich zu behalten.

„Was ist mit... mit Schwarz? Weiß Manx... etwas von ihnen?“

„Schwarz?“, fragte Ben erstaunt.

„Ich brauche eine Verbindung zu Manx“, sagte Bombay dann erneut.

„Hatten wir gerade, vielleicht kann Falcon sie noch einmal herstellen.“

„Falcon, kannst du Manx...“

„Bevor du fragst, Nein. Sie haben die Verbindung abgebrochen. Sie meldet sich in zwei Tagen um 0900 unserer Zeit.“

„Okay.“

Er teilte es dem Agenten mit.

„Ich muss an einen Rechner, ich muss es selbst versuchen.“

Der Blonde machte Anstalten um von der Liege zu gleiten.

„Keine gute Idee, meinst du nicht?“, sagte er, bevor Kramer einen Anfall bekommen konnte.

„Ruh dich aus...“

„Ich muss wissen was passiert ist!“ fuhr ihn der Blonde an und warf ihm einen mörderischen Blick zu.

„Klar, wollen wir alle.“ Ben nickte verstehend, aber er erkannte auch den unbezähmbaren Willen der durch das verwässerte Blau schlug.

„Du“, er deutete auf ihn. „...unterstehst jetzt mir, und ich sage dir, dass du deinen Hintern auf dieser Liege lässt bis Kramer dir die Erlaubnis erteilt, dass du ihn heben kannst. Hast du das verstanden?“

„Nein, habe ich nicht!“, kam es trotzig zurück.

„Ich muss wissen wie es den anderen geht. Warum ist Yohji tot?! Was ist passiert? Ken wollte mir nichts sagen oder konnte es nicht. Warum zum Teufel hat Crawford uns weggeschickt?“

„Crawford? Eve Crawford?“

„Nein, ihr Bruder! Verdammt!“

„Oracle?“

Anscheinend war er zu dumm um zu verstehen was der Blonde sagen wollte dem ungehaltenen Seufzen zu entnehmen, das ihm entgegenschallte.

„Ja.“

„Was hat Schwarz damit zu tun?“

„Wir haben zusammengearbeitet“, sagte der Agent und schüttelte den Kopf. „Was ist nur passiert?“, fragte er.

„Schwarz lebt also.“

Bombay nickte. „Im Augenblick...“ Er sah zu Ben auf.

„...kann ich das nicht sagen.“
 


 


 

Europa
 

Peter Stiller fuhr die lange Tunnelröhre entlang um zum Kern der Anlage zu gelangen. Ein spiralförmig in die Tiefe führender Tunnel der schließlich nach über einer Stunde Fahrt endete. Er stieg an der Sackgasse aus und wandte sich zu seiner Rechten wo ein zwei Manns hohes Tor mit hydraulischer Schließung eine Kennung von ihm erforderte. Peter ging über die Stufen hinauf und betrachtete sich das massive Tor. Warnschilder mahnten ihn hier vor einer möglichen Verstrahlung. Er seufzte und ging zur rechten Seite, öffnete ein Tableau und steckte eine Karte in die dafür vorgesehene Aussparung. Der Bildschirm sprang an und er musste nur einen einfachen Code eintippen. Ziemlich simpel für heutige Sicherheitsstandards. Es war geradezu lächerlich einfach. Damals vielleicht noch nicht.

Die Hydraulik setzte sich in Gang und das Tor öffnete sich langsam. Er ging hindurch sobald dies möglich war und nach und nach sprangen Lichter über ihm an, hinter ihm verloschen sie nach einiger Zeit wieder.

Der Gang mündete nach einem Kilometer in einem quadratischen Raum voller Säulen, die die hohe Decke abstützten. Er war oft hier gewesen, nie jedoch weiter als bis zur äußersten Säule gelangt. Die Säulen ragten zwanzig Meter bis zur Decke hinauf und es waren 56 an der Zahl, immer im Abstand von zehn Metern. In der Mitte der Säulen schimmerte dunkel ein See vor ihm, gefüllt mit giftigem Quecksilber.

Wie sie herausgefunden hatten stand der gesamte Bereich in dem das Quecksilber schwamm unter Strom. Energie aus den Wänden des Loches strömte um die Kammer herum in der der Körper ihres Gefangenen aufbewahrt wurde. Diese Energie schützte sie alle angeblich vor den Auswirkungen einer uralten Wut, die Sabin gegen die Welt hegte.

Und nicht nur das, sie störten seine PSI Fähigkeiten durch den Linearbeschleuniger der weiter oberhalb seines Aufenthaltes permanent mit Materie und Antimaterie beschossen wurde.

Der Mechanismus dafür wie dieses Gefängnis zu öffnen war blieb ihnen verborgen. Selbst in den seltenen Momenten in denen der Linearbeschleuniger zur Wartung abgeschaltet wurde erkannten sie keine Veränderung, dennoch glaubten sie daran, dass es eine Verbindung gab.

Sie hatten Vieles versucht und waren gescheitert. Viele der Maßnahmen brachten sie nicht einmal in die Nähe des Säulengangs.

Heute jedoch hatte Peter zum ersten Mal Kontakt zu Sabin erhalten, vielmehr hatte Sabin Kontakt zu ihm aufgenommen, was ihn sehr erschreckt hatte. Das hätte nicht passieren dürfen. Es war noch nie passiert.

Peter sah sich um, schwaches Licht war rund um die Säulen an den Wänden der natürlichen Höhle angebracht worden, ebenso wie Kameras. Peter atmete ein, atmete aus und setzte dann einen Fuß vor den anderen, er kam an der ersten Säule an und hob die Hand. Zwischen zwei Säulen schimmerte sacht eine Energiewand, sie ließ ihn jedoch passieren. Das war noch nie zuvor eingetreten. Dann konnte Sabin dies bewirken? Wer sonst hätte ihm jetzt die Erlaubnis erteilen können?

Er kam sich wie eine Ameise vor in diesem riesigen Grab. Die Säulen endeten und einige Meter vor dem tückischen Loch blieb er stehen und konzentrierte sich.

‚Sabin’

Peter schloss die Augen. Mit einem Ruck spürte er wie er fiel und er öffnete die Augen wieder. Sabin saß auf einem Stuhl und trank Tee. Sie befanden sich in einem hellen, aber angenehm beleuchteten Raum. Es gab nichts anderes in diesem Raum außer einem Tisch, einem Teegedeck und zwei Stühle.

„Peter, schön dich zu sehen, alter Freund. Wie geht es dir?“

„Das sollte ich dich fragen“, sagte Peter und er lächelte.

„Ich war erstaunt, dass du mich kontaktiert hast.“

„Du meinst, dass ich es... konnte“, sagte Sabin milde.

„Ich... ja.“

Peter wusste nicht was er darüber denken sollte, was sollte er jetzt wo er Kontakt hatte fragen? Was sollte er sagen? Und wusste Sabin es nicht längst?

„Es... es tut mir leid.“

Sabin hatte lässig die langen Beine überschlagen und trug immer noch die Laborkleidung... die sie ihm damals angezogen hatten. Sicher war dies eine Mahnung an das was sie ihm angetan hatten.

„Ihr habt mir meine Wut genommen, Peter.“

„Spielt das eine Rolle?“, fragte Peter und spürte Trauer in sich selbst.

„Ja das tut es“, sagte Sabin und lächelte.

Er lud ihn ein sich zu setzen. Peter sah zu dem Stuhl und dann wieder zu Sabin.

„Ist das nötig?“

Sabin lachte und Peter versuchte das Gefühl der Schuld abzuschütteln, das ihn gerade befiel. „Nein, sicher nicht. Aber es tut gut.“

„So zu tun... als ob es real wäre?“

„Ja“, sagte Sabin mit einem wehmütigen Seufzen. „Mach mir bitte die Freude.“

Peter ging zu dem Stuhl und setzte sich. Sabin sah immer noch so aus wie damals als sie ihn hier eingesperrt hatten. Immer noch einen freundlichen Ausdruck auf dem Gesicht, der warme Blick, aus den an Jade erinnernden Iriden.

„Was treibt der Rat?“

„Er sorgt sich.“

„Nun, das ist seine ursprüngliche Aufgabe, nicht wahr?“

„Ja... richtig.“ Peter lächelte gezwungenermaßen.

„Fabienne... sie sagte du möchtest hier raus... um deinen Sohn zu sehen.“

„Soweit ich mich erinnere sucht ihr einen Weg um es zu öffnen.“

„Ja, aber es ist uns bisher nicht gelungen“, sagte Peter bedauernd und er hatte das Gefühl er müsste sich erklären... für... alles was geschehen war.

„Ein Schmied hat es gebaut“, versuchte er sich daran. „Es gibt eine Art Mechanismus...“ Peter verstummte. Sicher wusste Sabin dies alles bereits schon.

Sabin sah ihn aufmerksam an.

„Warum bist du hier? Nicht wegen meines Kerkers, Peter.“

Peter sah von dem Teegedeck auf.

„Doch, genau deshalb bin ich hier, Sabin. Sag mir... ist es sinnvoll diesen Kerker zu öffnen?“ Er sah ihn eindringlich an. „Ich muss es von dir selbst hören, sag es mir bitte.“

Die Perle an Sabins Hals schimmerte verlockend und Peter konnte sich von dem pendelnden Anblick kaum loseisen und den Blick in die jadegrünen Augen suchen.

„Fragst du mich gerade, ob ich immer noch so gefährlich bin wie früher, alter Freund?“

Peter spürte plötzlich die alte Angst in sich emporkriechen, er schaffte es nicht Sabin in die Augen zu blicken. Und er wagte es nicht sich zu bewegen.

„Ich muss es wissen“, sagte er leise und wagte es den Blick zu heben. Hinter diesen Augen lebte etwas das gleichermaßen schön und schrecklich war. Nur... das Schreckliche war... vollkommen verschwunden. Er keuchte. Wie konnte das passieren?

„Du traust ihr nicht“, stellte Sabin fest.

Peter sah ihn an.

„Weißt du das nicht längst?“, erwiderte er dann.

Sabin neigte leicht den Kopf, die Perle schmiegte sich an seine Haut.

„Ich würde dir raten...“, sagte er und zeitgleich spürte Peter wie Etwas auf ihn zu kam. Er wich zurück. Sabin schien plötzlich zu nah zu sein, diese Augen brannten sich förmlich in ihn hinein.

„...um deiner eigenen Seele Willen..., mein Freund. Lass die Tür...“ Peter schrie plötzlich auf, weil diese Angst die ihn befallen hatte zu groß geworden war. „...zu!“
 

Mit dem nächsten Atemzug öffnete er die Augen und starrte auf das silberne Loch. Sein Brustkorb schmerzte und er fasste sich an die Stelle hinter der sein Herz wie wild pumpte.

„Wir dürfen es nicht öffnen“, sagte er zu sich selbst. „Niemals.“

„Oh Sabin... was ist nur aus dir geworden? Was haben wir getan?“, sagte er und jede Hoffnung war aus ihm entschwunden. Fabienne durfte das Gefängnis nicht öffnen. Der Hellseher war ihre beste Option auf die Führung, Sabin war es nicht mehr.

Er trat den Rückzug an, bis er zu den Säulen gekommen war. Er blieb stehen. Aber... er... lebte, nicht nur sein Körper... er war immer noch der Alte. Was hielt ihn immer noch am Leben? Das fragten sie sich alle. Die Filteranlage lief immer noch, die Nährflüssigkeit, die Stabilisatoren... alles wurde instandgehalten. Akribisch genau darauf geachtet, dass der Körper erhalten blieb, dass seine... Seele in diesem Körper blieb und nur dort.

Sie konnten ihn nicht töten, weil er zu mächtig war. Immerhin war er somit noch an seinen Körper gebunden. Sie konnten ihn nicht am Leben teilhaben lassen, weil er zu gefährlich war. Dieses Zwielicht in dem er existierte war für Peter unvorstellbar.

Endlich hatte er Kontakt herstellen können, er musste dem Rat Bericht erstatten.

Er durchquerte die Säulen und ihm war es plötzlich als würde er ein Geräusch hören. Alarmiert blieb er stehen und sah sich um.

Das Quecksilber blieb ruhig, ein dunkler, trügerischer See. Hier war niemand und doch...

Ein heftiger Schmerz durchschnitt seine Brust, er griff danach und sah nach unten, seine Hand war blutig. Er spürte wie seine Beine nachgaben, wie er nach Luft rang als Flüssigkeit in seiner Kehle nach oben stieg. Er hustete und Schmerz ergoss sich in seinem Kopf als dieser auf den Boden aufkam. Wie aus weiter Ferne hörte er Schritte auf ihn zukommen, verschwommen sah er Stiefel in sein Blickfeld treten, dann eine Stimme und ein zweites Paar Stiefel. Er hörte wie Stimmen ihn ins Dunkel begleiteten...

„Führt Phase Sechs und Sieben durch.“

„Etwas früher als gedacht.“

„Es ist Zeit.“

„Hat Tristian den Reaper?“

„Ja.“

„Was ist mit dem Healer?“

„Ich brauche nur den Reaper. Er ist gebunden, an einen Destroyer. Nimm den Destroyer mit, dann vereinfacht sich die Handhabe.“

„Gut.“

„Wann trifft sich der Rat?“

„In sechs Stunden.“

„Werden alle anwesend sein?“

„Bis auf den guten Peter hier. Aber... keine Sorge Peter, die anderen werden dir bald folgen...“

Die Stimmen entfernten sich, oder... war er... es, der sich... entfernte...
 


 


 


 

Fortsetzung folgt…!
 

Vielen Dank!
 

Gadreel

Phase 6

Phase 6
 


 


 

Morioka
 

Sakura stand an ihrem Lieblingsplatz auf der großen Terrasse, deren Aussicht in die Bergwelt des Nordens gerichtet war. Damals als sie diesen Ort - so wie er heute existierte - gegründet hatte war es ihr wichtig gewesen die Wohnhäuser möglichst an den Berg zu schmiegen.

Ihre Familie lebte schon seit Generationen in Morioka. Dieses Anwesen lag etwas außerhalb der Stadt. Als sie fortgegangen war hatte es das Haupthaus und vier Nebengebäude gegeben, heute waren es über dreißig Wohngebäude.

Die Laub- und Nadelbäume die hier mit größter Sorgfalt gepflanzt worden waren ergänzten die sehr alten größeren Gewächse, die selbst ihrem Urgroßvater schon Schatten gespendet hatten. Jede Generation hatte ihren Teil dazu beigetragen diesen Ort zu bewahren. Sie konnte sich noch genau an den Moment erinnern als sie nach langer Abwesenheit zurückgekehrt war. Es war Anfang Winter im Jahr 1964 gewesen. Nachdem sie knapp dem Tod entkommen war hatte sie hier für ein paar Monate Frieden gefunden. 22 Jahre später war hier die Idee zu Kritiker entstanden und der damit einhergehende Plan wie sie an die finanziellen Mittel dafür gelangen könnte.

Was wäre da besser geeignet gewesen als eine lukrative Hochzeit mit einem einflussreichen Mann?

Sano ihr ständiger Begleiter im Schatten hatte anfangs nur leise Kritik an ihrer Entscheidung geäußert aber sie konnte ihm damals deutlich ansehen was er davon gehalten hatte. Die Idee von Kritiker fand er zwar gut, doch einen der Clanbosse von Tokyo zu ehelichen um näher am Kern des Problems ihrer Heimat zu sein gefährlich.

Sakura musste an die Zeit damals zurückdenken als Sano beinahe einen Streit vom Zaun gebrochen hätte. Es blieb beim Beinahe-Streit. Er zog sich soweit in die Schatten zurück, dass sie ihn oft nicht zu sehen bekommen hatte. Wenn sie ihn brauchte war er da, aber sonst… machte er sich rar. Seine Art sie für ihre Entscheidung zu bestrafen und sie ließ ihn.

Sie versprach Yoshio Männer und Frauen der Kawamoris, er brachte die finanziellen Mittel für ihre Unternehmungen in die Zweckehe mit ein.

Chiyo und sie teilten sich dieses Arrangement und Yoshio bemerkte nicht wann die eine oder die andere Frau anwesend war. Er hatte kein wirkliches Interesse an ihr als Frau, ihn interessierte nur der Familienname, ihre Kontakte in politische Kreise und ihre gut ausgebildeten Attentäter. Sie war nur zwei Jahre im Clan anwesend bevor Chiyo sie vollständig ablöste und ihre Rolle als Ehefrau übernahm. Dabei war sie weniger eine Ehefrau, sondern mehr eine Ausbilderin, die Kawamoris darin unterrichtete wie sie PSI erkannten, sich schützten und sie töteten. Yoshio fand sehr großen Gefallen an dieser Idee und baute sie aus, sodass auch in den Vereinigten Staaten Jagd auf PSI der Trias stattfanden. Während er genug Geld über seine Geschäfte mit Waffen, Prostitution und Drogen mobilisierte, um sie in sein neues Hobby – der PSI Jagd – zu investieren, kümmerte sich Sakura damals darum möglichst viele Nichtkonvertierte vor den PSI der Trias zu retten.

Mit diesem Arrangement konnte sie beide Seiten abdecken – die Jagd nach PSI der Trias und den Schutz von Denjenigen die von ihnen verfolgt wurden.

Es gab also zwei Sektionen von Kawamoris. Die einen, die dem Clan überantwortet wurden und unter Chiyo dienten, die anderen die weiterhin in Morioka blieben und für den Schutz von Nichtkonvertierten in ihrer Funktion als Guards und Guardians ausgebildet wurden.

Yoshio kaufte sie in seinen Augen den Familien ab, nur strich Sakura das Geld für sie ein. Manx war eines dieser Kinder gewesen. Sie wurde von Chiyo in Morioka ausgebildet, dabei war Manx bald so gut, dass Chiyo sie Sakura eher für ihre Idee von Kritiker vorschlug, denn als Guard für einen Nichtkonvertierten. Manx war kein Runner, sie hatte keine leibliche Familie mehr und einen wirklichen starken Drang das Richtige zu tun, nachdem ihre Eltern bei einem Raubüberfall getötet worden waren. Die besten Voraussetzungen um sie für den Clan, als Guard oder für Kritiker auszubilden.
 

Mayumi kam 1989 auf die Welt. Sakura hatte weder die Zeit sich um ihre Tochter zu kümmern, um den Mann der ihr Vater war oder um sich selbst und ihre Wünsche. Masahiro war nicht ihr leiblicher Sohn gewesen, ein Kind das Yoshio mit einer seiner Geliebten gezeugt hatte. Da er damit endlich einen männlichen Nachkommen hatte erkannte er ihn als Nachfolger an. Seine Mutter lebte zwar mit im Haushalt hatte aber seither nicht viele Ansprüche zu äußern. Sie verließ bald nach seiner Geburt das Anwesen und überließ ihr Kind Yoshios Erziehung – und dieser überantwortete Masahiro einem stetig wechselnden Reigen aus Kindermädchen. Sakura hatte herausgefunden, dass sie bald darauf gestorben war, damals war ihr sofort klar gewesen, dass Yoshio die Frau töten hatte lassen. Mit ihr starb zeitgleich die Hebamme, die den Jungen zur Welt gebracht hatte. Keiner wusste, dass nicht Chiyo Sakurakawa die Mutter war. Nun, Chiyo, Sakura und Yoshio wussten es, damit war der Kreis der Wissenden aber überschaubar klein.

Dass Masahiro eine Frau ehelichte war ihnen durchaus bekannt gewesen – zumal Chiyo bei der Hochzeit anwesend gewesen war, doch wer diese Frau war hatten sie erst sehr viel später bei ihren Nachforschungen herausgefunden. Wie Yoshio und seine Handlanger, an ihr vorbei die Ehe mit Eva Villard arrangiert hatten war nur ihrem fehlenden Interesse geschuldet gewesen. Wie der Kontakt zustande gekommen war hatten sie später nicht in Erfahrung bringen können.

Chiyo war mit dem Aufbau von Kritiker beschäftigt gewesen und hatte noch die Hoffnung, dass der Clan darauf abzielte SZ aus ihrem Land zu jagen.

Sie selbst war in Europa gewesen und die Nachricht, dass Eva Villard schwanger war hatte sie nicht wirklich interessiert und das lag nur daran, dass sie nicht wusste wer sie war. Erst, als Chiyo ihr vor zwei Jahren berichtete, dass die Zwillinge deutliche PSI Fähigkeiten aufzeigten waren bei ihr alle Alarmglocken angegangen – aber es war zu spät gewesen, Chiyo bekam kaum Zugang zu ihnen, da hatte es sich bewährt, dass Kaito Sin infiltriert hatte. Yoshio setzte mehr Vertrauen in ihn als in seinen eigenen Sohn.

Einst hatte Yoshio der Gedanke gefallen, SZ aus seinem Land zu jagen, nur irgendwann war er falsch abgebogen, oder hatte SZ zu diesem Zeitpunkt den Clan schon infiltriert und ihn manipuliert?

Chiyo hielt sich teilweise in den Vereinigten Staaten auf um Kritiker dort voranzubringen. Kaito war in Japan größtenteils auf sich allein gestellt und er löste seine Probleme wie sie gesehen hatten auf seine eigene spezielle Weise.
 

Sie hatten den kleinen Gabriel nicht ausreichend untersuchen können um herauszufinden woher die PSI Gene in diesem Ausmaß kamen. Das lag vor allem daran, dass Gabriel voller Angst gewesen war.

Wer waren Eva und Katharina Villards Eltern gewesen? Katharina und sie hatten damals keine sichtbaren Fähigkeiten besäßen, oder hatte sie es einfach nicht erkannt? Sakura seufzte. Sie wusste es nicht, aber sie hatten momentan auch keine Möglichkeit nachzuforschen.
 

Sakuras Hände strichen über das Holz der Balustrade, die erst letztes Jahr erneuert worden war. Sano hatte zusammen mit Ishigo daran gearbeitet. Sie atmete die frische Morgenluft ein und versuchte die unwillkommenen Erinnerungen zurückzudrängen, was ihr nicht gelingen wollte. Vielleicht trug sie zu viel mit sich herum, dabei wäre es so leicht für sie Ereignisse komplett zu vergessen. Aber was würde das bringen? Wie konnte sie das Gesicht ihrer Tochter vergessen?

Mayumi und Aya starben und sie war nicht hier gewesen um sie zu schützen. Hätte sie damals das Angebot des Rates angenommen um ein dauerhaftes Mitglied zu werden dann… dann wäre die Trias vielleicht nie so weit gekommen. Aber wären dann auch all die Nichtkonvertierten gerettet worden, die sie durch Kritiker in Sicherheit bringen konnten? Wohl kaum, denn dann hätte es Kritiker nicht gegeben.

Woher hatten sie gewusst, was Aya war? Waren sie damals über Sano an die Liste gekommen? Sie hatte diese Möglichkeit vor Jahren ausgeschlossen, also woher hatten sie es erfahren? Bisher hatten sie das nicht in Erfahrung bringen können.
 

Sich von ihrer Familie fernzuhalten hatte nicht den gewünschten Effekt gehabt sie zu schützen. Mayumi wollte dieses Leben hinter sich lassen und in die Normalität fliehen. Die meiste Zeit war Sakura nicht in Japan gewesen, sondern in Europa und den Vereinigten Staaten. Zu dramatisch waren die Ereignisse um Sabin und SZ gewesen. Chiyo hatte die Aufgaben hier in Japan und das doppelte Spiel als Ehefrau und Kritikerboss übernommen.

In dem Jahr als Ran geboren wurde trafen Aim und sie eine der schwersten Entscheidungen ihres Lebens.

Erst 2015 kehrte sie nach Morioka zurück und blieb um Chiyo einen Teil der Arbeit hinter der größer werdenden Organisation abzunehmen. Zwei Jahre später hatte sie Sano das Angebot gemacht dauerhaft in Morioka zu bleiben. Während der Zeit in der Persha ihnen die Türen in Regierungskreise geöffnet hatte und ein Teil darüber finanziert werden konnte hatte sie tatsächlich kurz daran geglaubt Kritiker als Teil der Exekutive etablieren zu können. Doch Persha war persönlich zu sehr in seinen Kampf gegen Takatori verstrickt gewesen um noch das große Ganze zu sehen. Nie hätte sie gedacht, dass Weiß soweit zur Trias vordringen konnten um sie zu töten. Und niemand hatte nur den Hauch einer Ahnung besessen, dass Schwarz dies geplant hatte. Der Hellseher hatte alle getäuscht. Nur hatte er damals schon abschätzen können welche Konsequenzen sich daraus ergeben würden? Sie selbst hatte Rans Hartnäckigkeit unterschätzt und wohl auch seinen Hass, im Gegenteil zu Schwarz – diese hatten fest damit gerechnet.

Ran war 2015 fünf Jahre alt, Aya erst zwei gewesen. Sie hatte sie nur aus der Ferne gesehen oder auf Überwachungsfotos. Mayumi kannte in späteren Jahren lediglich Chiyo als ihre Mutter, was schwierig genug war. Mayumi hatte keine PSI Fähigkeiten, ihre Kinder jedoch schon was Sakura jedoch zum damaligen Zeitpunkt nicht gewusst hatte. Einen Runner in so jungen Jahren zu erkennen war schier unmöglich.

Hatte Mayumi etwas gesehen oder gehört, dass ihr Angst gemacht hatte, etwas dass sie nicht verstanden hatte? Hatte sie etwas über PSI erfahren?

Mayumi wollte von ihrer verbrecherischen Familie weg, sie hasste ihren Vater, ihren Bruder und den Clan. Ihrer Mutter hielt sie Schwäche und Unterwürfigkeit dem Clan und ihrem Mann gegenüber vor. Gefühlskälte reihte sich in die wenig schmeichelhaften Vorwürfe ein. Es hatte Chiyo ziemlich mitgenommen, das zu hören, doch sie beide hatten gewusst, dass ihre Pläne Opfer fordern würden.

Dass sie selbst so schnell nach der Hochzeit schwanger werden würde hätte sie nicht gedacht und dabei hatte sie mit dem Thema bereits abgeschlossen. Ein Kind war keiner ihrer Wünsche in ihrem Leben gewesen. Sie konnte keine Mutter sein. Sie konnte keine Gefährtin sein, schon gar keine Ehefrau. Sie war Vieles, aber all das nicht. Gefühlskälte war nur einer von vielen Vorwürfen mit dem Mayumi Recht gehabt hatte, auch wenn sie Chiyo damit meinte.

Mayumi ging.

Niemals wollte sie, dass ihre eigenen Kinder im Clan aufwuchsen, sie sagte sich los, nichtsahnend was sich hinter all dem tatsächlich verborgen hatte. Aber Mayumi war stark und wild entschlossen gewesen.

Chiyo hatte sie ohne Yoshios Wissen das Kämpfen gelehrt, schlussendlich hatte es ihr nichts genützt. Wie sollte es auch in dieser heimtückischen Welt in die sie schutzlos geboren wurde? Von ihrer gefühlskalten und manipulativen Mutter im Stich gelassen. Mayumi und ihr Mann Shin starben 2027.

Chiyo und Sakura hatten sich für ihren Tod gerächt, ihr Werkzeug war Ran gewesen, der von seiner Mutter im Schwertkampf ausgebildet worden war.
 

Sakura spürte wie sich ihre Brust verengte und sie atmete einmal tief ein und aus um den Druck loszuwerden. Doch er wich nicht, im Gegenteil er nahm zu. Sie ging einen Schritt auf die Umrandung zu und griff mit beiden Händen danach um sich festzuhalten. Keuchend blickte sie auf die Spitzen der Bäume hinab. Es roch nach Herbst. Schnee war dieses Jahr früh gefallen, doch wohl eher eine Auswirkung des Sturms gewesen. Die Blätter… sie verfärbten sich.

Sie musste sich auf den Geruch und die Farben konzentrieren…
 

„…ra“, hörte sie wie aus weiter Ferne. Noch ein Verbrechen in der langen Liste ihrer Verfehlungen das auf ihr Konto ging. Sie spürte Sano hinter sich und wollte sich umwenden doch es gelang ihr nicht, sie war wie erstarrt. Die vergangenen Taten zogen an ihr mit aller Macht, sie hatte ihnen zu viel Raum gegeben und nun hatten sie sie in ihrem Sog.

War es ihr nicht gelungen die Erinnerungen von den dazugehörigen Gefühlen zu separieren, warum kamen sie jetzt so plötzlich wieder?

War es der Gedanke an Sabin? War es die Nähe zu Ran?

Sakura spürte wie ihre Knie nachgaben und sie zu Boden sank, die Hände über sich umklammerten immer noch die Balustrade aus Holz.

Etwas zog an ihr so heftig, dass sie keuchte um sich dem Sog zu wiedersetzen. Sie durfte nicht fallen. Seit wann war diese Gefahr für sie wieder so groß geworden?

War es ihr fortgeschrittenes Alter?

Jemand zog ihre Hände von der Kälte weg und hüllte sie in menschliche Wärme. Sano war da. Er war da. Sie würde nicht fallen.

„Atme ruhiger“, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Kraft mehr“, erwiderte sie mit Erstaunen in ihrer Stimme. „Etwas entzieht sie mir.“ Sie öffnete die Augen und sah in seine.

„Das bist du selbst.“

War sie das?

„Ich habe euch alle verloren.“

Er erwiderte nichts, sondern zog sie in eine feste Umarmung. Sie roch das Leder seiner Kleidung, war er für einen Auftrag unterwegs? Hatte sie ihn wieder auf eine Reise geschickt damit er nicht in ihrer Nähe war? Damit sie keine Sehnsucht bekam?

„Wie kann eine Mutter ihr Kind gehen lassen?“, fragte sie mit erstaunter Stimme zusammenhanglos.

Sie drückte sich vorsichtig von ihm weg um ihm in die Augen sehen zu können. „Wie kann ein Vater dies zulassen?“, fragte er leise.

Sie starrte ihn an, reglos. Er wusste es? Hatte er es die ganze Zeit gewusst?

Aus dem Augenwinkel erkannte sie eine Bewegung. „Sakura. Peter Stiller versucht Kontakt aufzunehmen“, hörte sie Chiyo, die auf die Terrasse getreten war. Sakura nickte ihr zu.

Dann blickte sie wieder zu Sano, der bereits aufstand und sie mit sich nach oben zog, da sie sich immer noch auf seine Arme stützte.

„Ich komme gleich“, sagte sie und Chiyo verließ sie wieder.

Sakura wusste nicht was sie zu Sano sagen sollte. „Ich…“

„Später“, unterbrach Sano sie und ließ sie los. Für einen Moment glaubte sie, dass er gehen würde um sie allein zu lassen, doch er wartete nur, dass sie vorging, um ihr zu folgen.

Sie wusste nicht ob sie die Kraft hatte um jetzt mit Peter zu sprechen, aber es war auch ungewöhnlich, so schnell von ihm erneut kontaktiert zu werden. Ging es um Katharinas Wunsch? Wollte der Rat sie sprechen?
 

Sie eilte in den Kommunikationsraum und ließ sich verbinden. Entweder beantwortete er ihre offizielle Anfrage an den Rat oder es ging wieder um Villards Bitte bezüglich Sabin. Sie hoffte es war Ersteres.

Sano, der ihr gefolgt war schloss hinter ihr die Tür, blieb aber außerhalb des Kameraradius stehen.

Sakura nickte Yùna zu und auf dem Bildschirm erschien nicht Peter, sondern eine Frau. Eine Frau die in die Vergangenheit gehörte und nur dort hin. Dabei hatte sie vor ein paar Minuten erst an sie gedacht.
 

„Fabienne, wie ich erfahren habe?“, fragte sie auf Deutsch, sie ließ sich ihre Irritation nicht anmerken.

„Sakura. Es ist schön dich zu sehen. Du... scheinst dich… kaum verändert zu haben“, sagte Katharina Villard freundlich. Ihre rostrote Lockenpracht wallte um sie herum. Keine Spur von Neid oder anderen Gefühlen die Sakura in der Vergangenheit entgegengebracht worden waren.

Sakura verlor sich für einen Moment in dem lebendigen feurigen Schein, bevor ihr Blick sich wieder fokussierte und sie in wache, aufmerksame blaue Augen sah. Sakura konnte nicht viel von Katharinas Umgebung erkennen, sie sah nur kahle Wände. Rückschlüsse auf den Ort an dem sie sich befand konnte sie nicht ziehen. Katharina trug eine hochgeschlossene dunkle Bluse oder etwas in der Art, keinen Schmuck.

„Es ist lange her“, erwiderte Sakura.

„Wie geht es dir?“ Sakura ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, doch Katharina Villard sah um keinen Tag älter aus als zu dem Zeitpunkt da sie ihr das letzte Mal begegnet war. Was hatte Sabin mit ihr angestellt? Sie war kein PSI Talent... gewesen. Oder doch? Ein unentdeckter Runner? Oder etwas anderes? Das war... beunruhigend. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und etwas in ihr begann zu kribbeln.

„Ich gebe zu, es könnte besser gehen, denn ich mache mir um Sabin Sorgen.“

Sakura nickte um Verständnis zu bekunden.

„Ich hatte einen Anruf von Peter erwartet, Fabienne“, sagte sie.

Katharinas Gesichtsausdruck verriet Besorgnis über diesen Umstand. „Ja, diesen Plan hatten wir, allerdings ist er heute nicht zu einem Treffen erschienen. Wir wollten das weitere Vorgehen bereden, er kam jedoch nicht und ich kann ihn auch nicht erreichen.“

„Das ist bedauerlich“, gab sich Sakura höflich, auch wenn ihr gerade nach etwas anderem zumute war.

„Ist etwas vorgefallen?“, wagte sie einen Vorstoß.

„Nicht, dass ich wüsste. Es ist schwierig für mich an Informationen zu kommen, ich gelte hier immer noch als ein Außenseiter, nur geduldet durch meinen Kontakt zu Sabin.“

„Gibt es in der Anlage Mitglieder von Orden die der Trias direkt unterstehen?“ Katharina schüttelte den Kopf. „Nein, es sind nur Beauftragte des Rates hier, die sich um die Anlage kümmern.“

„Welcher Orden?“, fragte Sakura sofort. Sie befürchtete, dass es Auserwählte aus anderen Orden sein könnten vermeintlich linientreue Mitglieder. Die westliche Allianz käme dafür in Frage, sofern sie nicht Somi die alleinige Treue geschworen hatten.

„Das goldene Kreuz.“

Das beruhigte Sakura in gewisser Weise. Der Orden des goldenen Kreuzes unterstand direkt dem Rat und fungierte als Aufsichtsorgan. Ihm unterstanden die Judges.

„Ist die Anlage nach wie vor gut gesichert?“

„Ja, das ist sie. Ich... brauche dennoch ein wenig… Hilfe.“

„Peter erzählte mir davon.“

„Seit Jahren gibt es im Rat Fürsprecher und Skeptiker was das Öffnen des Gefängnisses anbelangt, sie streiten um eine Mehrheit. Peter wollte sich dafür einsetzen, dass andere Möglichkeiten der Öffnung in Erwägung gezogen werden. Somi als Stellvertreter für Sabin einzusetzen war meine Idee gewesen um Sabin milde zu stimmen.“

Katharina hatte offenbar großen Einfluss als Sprecherin von Sabin.

„Somi hat Kontakt zu Sabin?“

„In der Vergangenheit hatte er das, in den letzten Jahren lässt Sabin nur noch mich mit ihm sprechen, er verweigert die Kontaktaufnahme zu anderen.“

„Wie kann ich helfen?“, fragte Sakura.

„Ich bitte um ein Treffen, Sakura.“

„In der augenblicklichen Lage wird das nur schwer umzusetzen sein.“

Katharina Gesichtszüge drückten Bedauern aus. Es sah aufrichtig aus.

„Ja, das ist richtig, die Nachrichten sind voll von den Anschlägen in Japan und den USA. Ich würde mich dennoch freuen, wenn wir einen Weg finden würden.“

„Sobald sich die Lage beruhigt, Fabienne, bin ich offen für ein Treffen.“

„Ich verstehe. Vielen Dank, Sakura.“
 

Sie verabschiedeten sich und Sakura starrte den Bildschirm an. Stille herrschte um sie herum.

Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen um sie nach ihrer Herkunft zu fragen, aber alle Gedanken daran waren wie weggeblasen gewesen als sie Katharinas Gesicht gesehen hatte.

Sie spürte Sanos Blick auf ihr. Etwas war faul, sie konnte nur nicht sagen was genau. „Sora, lege bitte ein Bild von ihr auf den Bildschirm.“

Auf dem großen Bildschirm, erschien Katharinas Gesicht und Sakura trat einen Schritt näher. Konnte sie ihr trauen? Warum hatte sie ihr Aussehen mit keinem Wort erwähnt? Sie waren keine Freunde in der Vergangenheit gewesen aber auch keine direkten Feinde. Dennoch schrie alles in ihr, dass dieser überraschende Anruf eine Warnung war. Sie wandte sich zu Sano um, in seinem ruhigen Blick standen Fragen, die sie nicht beantworten konnte.

Der Augenblick ging vorüber und sie verließen den Raum. In Gedanken versunken ging sie die Stufen hinunter. Im überdachten Teil des Weges zum Haupthaus blieb sie stehen.

„Vergrößere den Radius der Überwachung“, sagte sie Sano ihn hinter sich wissend.

„Weil...?“, fing Sano an und sie drehte sich zu ihm um. Er schien unsicher... das kam selten vor. Oder war es ihre eigene Unsicherheit die sie in ihm gespiegelt sah?

„Welche Teams haben wir in Europa?“, fragte sie dann, ohne ihm die Antwort zu geben die er brauchte.

Sano sah in den Garten hinaus, feiner Nieselregen fiel auf die Blätter der niederen Sträucher.

„Höllenfeuer, Fantastica, Nightmare, Krypton Brand und Bone Crusher.“

Sie nickte.

„Gut.“

„An was denkst du?“

„An etwas, dass Ethan gesagt hatte. Dass Hazel und auch Jules ihre Plätze als Sentinel eingenommen haben.“

„Willst du dich mit ihnen treffen?“

„Noch ist es zu früh, aber wir sollten zumindest die Option im Auge behalten. Wenn wir uns abstimmen, sollten wir in der Lage sein Kommendes besser einschätzen zu können.“

Sano berührte sie am Arm, eine seltene und in der Öffentlichkeit früher nie gezeigte Geste. Sie kam in der letzten Zeit häufiger vor. Spürte er etwas in ihr was sie übersah? Konnten sie sich wieder annähern und dort weitermachen wo sie einst begonnen hatten? Bevor all das geschehen war.

Sie blickt zu ihm auf.

„Das heißt du ziehst in Erwägung aktiv zu werden? Mit allen Konsequenzen die das mit sich bringen würde?“, fragte er sie und sie wusste nicht worauf seine Frage abzielte. Er gab ihr keinen Hinweis welche Antwort die klügste wäre, welche Antwort er brauchte.

„Tu ich das?“

„Ja. Das tust du. Du bist so aktiv wie seit Jahren nicht mehr.“

Sie hob den Arm und umfasste nun ihrerseits seinen Unterarm.

„Ich habe gedacht, dass es sinnlos geworden sei offen gegen die Trias anzukämpfen, dass es besser wäre sich zu verbergen. Aber das Verhalten von Straud scheint auf das Gegenteil abzuzielen. Wann war es vorgekommen, dass sie so brachial in das Leben von Menschen ohne Fähigkeiten eingegriffen haben? Nicht direkt, immer über Intrigen und politische Winkelzüge. Irgendetwas braut sich am Himmel zusammen und ich fürchte, dass wir am Anfang stehen. Ich will wissen wo die Ratsmitglieder sind. Wir brauchen Kontakt. Wenn wir wissen, ob die Struktur des Rates noch intakt ist dann können wir weitere Schritte planen.“

„Die Sentinels?“

Sie nickte. „Es gibt viele, von denen ich seit Jahrzehnten nichts mehr gehört habe. Einige pflegen noch sehr alte Bräuche und Traditionen. Vielleicht haben wir hier ein Problem, weil das Netz nicht mehr hält. Vielleicht sucht die Trias verzweifelt eine Lösung.“

„Und greift daher zu diesen Mitteln? Wie soll das helfen?“, fragte Sano und an seinem Tonfall erkannte sie bereits, dass er daran nicht recht glauben wollte.

„Ich weiß es nicht.“ Sie stöhnte frustriert auf und ließ den Arm sinken. Sano nahm seine Hand zurück und sie bedauerte diesen Umstand sofort.

„Soweit uns bekannt ist haben sie nie Unbeteiligte in ihre Konflikte mithineingezogen. Nicht in diesem Ausmaß. Es ging immer nur darum das Netz zu stabilisieren und daher neue PSI hineinzubinden.“

„Dann hat sich etwas verändert“, stimmte Sano zu.

Sie nickte.

„Sie waren vor drei Jahren auch schon in dieser verzweifelten Lage, damals fing es an. Der Sturz der Trias hat dieses Machtvakuum hinterlassen.“

„Ich glaube nicht daran, dass es nur um Machtkämpfe geht“, sagte Sano nachdenklich.

„Das halte ich auch für unwahrscheinlich“, stimmte Sakura zu.

„Ich brauche Chiyo.“

„Noch etwas?“, fragte er ruhig. Sie sah zu ihm auf und atmete innerlich tief durch.

„Hast du etwas von Ran gehört?“

„Gabriel hat vorhin angerufen. Ran erholt sich gut.“

Sie spürte wie dieser Satz ein Gefühl der Erleichterung in ihr weckte. Das war eine gute Nachricht. „Lassen wir die drei solange wie sie möchten dort. Je länger desto besser. Ich weiß nicht, ob es vernünftig wäre Gabriel das Bild seiner Mutter zu zeigen.“

„Du weißt wie schnell sich Dinge ändern können. Ist es nicht sein Recht die Informationen zu erhalten die ihn betreffen?“

„Ja.“ Sakura wandte ihren Blick ins Grüne und seufzte leise.

„Wie muss er sich wohl fühlen? Sie hat nicht einmal nachgefragt ob ich weiß wo er ist“, sagte sie.

„Dafür kann es verschiedene Gründe geben“, sagte Sano vorsichtig.

„Ja, ein Grund könnte sein, dass sie weiß wo er ist.“

„Das ist nicht der Einzige“, bemerkte Sano.

„Nein, aber der gefährlichste“, erwiderte sie und ihre Stimme nahm einen eisigen Tonfall an.

„Komm mit Chiyo in meine Räume“, sagte sie ohne ihn anzusehen.

Er machte sich auf den Weg und sie ging zunächst in die Küche um Tee zu bestellen, inklusive Sake.

Sie ging in ihre Räumlichkeiten, öffnete erneut die beiden Türen und blickte auf die bunte Landschaft, aus sich langsam verfärbenden Bäumen.

Nach einer Weile in der sie so dastand und die kühle Luft genoss hörte sie wie

Chiyo sich näherte und neben ihr stehenblieb. Sie folgte ihrem Blick, der in Richtung Aomori ging.

„Wer ist der Operator der Teams in Europa?“

„Richard Krypton.“

Sakura verzog das Gesicht als hätte sie in etwas Saures gebissen, Chiyo musste schmunzeln.

„Stimmt... Richard. Als könnte ich ihn… vergessen.“

„Soll ich Kontakt aufnehmen? Er agiert weitgehend selbstständig, das war der... Deal“, sagte Chiyo.

„Erinnere mich nicht daran.“ Sie rang scheinbar mit sich ob sie persönlich mit Richard Krypton sprechen wollte. Chiyo schüttelte innerlich den Kopf. Immer noch so stur wie früher.

„Ich brauche ein Team, dass sich dem Aufenthaltsort von Sabin nähert.“

„Ich werde mich mit Mihirogi in Verbindung setzen, ich denke, dass sein eigenes Team Krypton Brand am besten dafür geeignet wäre“, sagte Chiyo.

„Richard weiß weder etwas von Sabin noch vom Netz“, sagte Sakura.

Chiyo sah sie lediglich auf diese so typische ruhige Weise an, mit diesem mütterlichen Lächeln, das ihr so viel bedeutete. „Soll ich ihn unterrichten?“, fragte sie dann.

„Wenn du so fragst fühle ich mich verpflichtet das selbst zu tun“, meinte Sakura und seufzte. „Aber… noch nicht. Wir warten noch ein bisschen damit. Kontaktiere Mihigori und bitte sie die Trias im Auge zu behalten. Es geht mir nur darum, dass ich sicher weiß, ob wirklich das goldene Kreuz die Anlage überwacht.“

„Was ist mit Priest?“, fragte Chiyo.

„Wenn der junge De la Croix hier ist, dann ist Priest nicht weit. Aber ohne Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Wenn Priest Kontakt wünscht, wird er ihn zu uns aufnehmen, auf die eine oder andere Art. Er ist schwer einzuschätzen, das wäre keine verlässliche Quelle.“

„Dann wird es schwierig herauszufinden sein. Uniformen werden außerhalb des Gefängnisses sicher nicht getragen und im Bereich der Forschungsanlagen besteht der Hauptteil der Menschen aus Zivilisten, die nichts über den zweiten Teil der Anlage wissen.“

„Der Rat wird dafür Sorge getragen haben, dass es nicht entdeckt wird. Richard wird sich wohl etwas einfallen lassen müssen“, meinte Sakura lapidar.

Sie sah wieder zu Chiyo, ob diese damit einverstanden war.

„Infiltration können wir als Option in Erwägung ziehen“, sagte diese.

Sakura kaute auf ihrer Unterlippe herum, eine dumme Angewohnheit, die sie vor Jahrzehnten geglaubt hatte abgelegt zu haben.

„Du meinst, wenn ich Richard gleich reinen Wein einschenke, strengt er sich mehr an?“

Chiyo neigte zustimmend den Kopf. „Ihr kennt ihn besser als ich.“

Sakura machte ein abfälliges Geräusch.

„Ja, das ist es eben, bei der Nachverfolgung des Serums hat er ganze Arbeit geleistet, das muss ich ihm lassen.“

„Er ist nicht so schlecht wie Ihr annehmt.“

Sakura zog ein skeptisches Gesicht. „Nein, das ist er nicht, er ist nur überheblich.

Mein Rückzug aus dem aktiven Geschäft erweist sich als schlechter Schachzug“, murmelte sie.

„Ihr habt Kritiker in Europa, Japan, Südamerika, den Vereinigten Staaten und Russland ins Leben gerufen.“

Sakura seufzte. „Russland zählt nicht, ist noch im Aufbau“, sagte sie verdrossen.

„Warum zweifelt Ihr an Euch?“, fragte Chiyo dann in die entstandene Stille hinein.

„Weil…“, Sakura verstummte.

„Ich habe viele Fehler gemacht. Ran ist hier. Er ist hier. Und ich habe Angst zu…“, fing sie an wusste jedoch nicht ob sie das sagen sollte.

„… zu versagen?“, beendete Chiyo den Satz verblüfft. Sie kam näher und berührte Sakura an der Schulter.

„Wie oft haben wir gezweifelt in den letzten… was… 49 Jahren? Ihr konntet nicht überall gleichzeitig sein, auch wenn Ihr euch das gewünscht habt.“

Sakura sah sie an und sie spürte wie Tränen ihre Augen brennen ließen.

„Ich habe Mayumi gar nicht gekannt.“ Ihre Stimme brach. Sie schluckte den Kloß im Hals nach unten und holte tief Luft.

„Ich habe meine eigene Tochter nicht gekannt.“

Chiyo nahm sie in den Arm und Sakura legte ihren Kopf auf die Schulter der kleineren Frau. „Ihr werdet ihren Sohn, euren Enkel kennen“, versicherte ihr Chiyo.

„Und Sano? Kannst du mir zu Sano auch etwas Tröstendes sagen?“, bat sie mit leiser Stimme.

Chiyo lachte leise. „Er liebt Euch. Reicht das nicht?“

„Nein, das schmerzt umso mehr“, behauptete sie trotzig.

„Oh, dann ist es diese Art von Schmerz? Wie lange wollt Ihr euch dieser Qual noch hingeben bevor Ihr versteht was Ihr beide braucht?“

Sakura wischte sich die Tränen weg. Dann atmete sie tief durch, straffte sich und sah Chiyo wieder in ihre warmen Augen. Es war nicht das erste Gespräch dieser Art in jüngster Vergangenheit.

„Du meinst bevor alles vor die Hunde geht, sollte ich ihn… aufklären…“

Chiyo lachte leise.

„Ich denke Ihr wolltet etwas anderes sagen, aber ja, es wird Zeit. Er wird solange warten bis es Euch und ihn nicht mehr gibt. Meint Ihr er hätte nicht daran gedacht, dass Mayumi sein Kind war?“

„Er hat vorhin etwas… ich bin mir nicht sicher, ob er...“ Sie verstummte.
 

Ein paar Minuten vergingen und sie hingen ihren Gedanken nach.

„Woran denkt Ihr?“, fragte Chiyo dann.
 

Diese Frau. Diese verdammte Frau. Erneut stellte sie sich zwischen ihre Pläne. Sie war keinen Tag älter geworden. Was hatte Sabin mit ihr gemacht... oder zu was hatte er sie gemacht?

Und wenn Katharina im Recht war? Wenn es Zeit wurde das Gefängnis zu öffnen? Niemand wusste wie sich Sabin verändert hatte oder ob er sich verändert hatte. Sie wussten gar nichts, nur dass er zu... stark war, viel zu stark war und zu unbeherrscht, zu naiv, zu... liebenswert. Was wenn sie Katharina unrecht tat und etwas vermutete was gar nicht existierte?

Kein Wort von ihrem Sohn, keine Silbe über Gabriel.
 

„Ich weiß, ich habe mich vom Rat entfernt, die Ratsmitglieder haben dies respektiert. Peter hat das respektiert.“ Sakura entfernte sich ein paar Schritte und legte ihre Hände wieder auf die Balustrade.

„Sano hat mich unterrichtet. Glaubt ihr, Peter hätte Katharina die Möglichkeit für die Kontaktaufnahme eingerichtet?“

„Ich bin mir nicht sicher und ich weiß nicht, ob das ein guter Umstand ist.“

„Wie kommt Ihr darauf?“

„Ich gehe davon aus, dass Peter tot ist.“

„Die Annahme beruht auf welcher Grundlage?“

„Katharina hat sich über diese Nummer gemeldet und um ein Treffen gebeten. Im Prinzip hat sie nichts Neues gesagt, sie hat lediglich die Bitte, die Peter geäußert hat wiederholt, als würde sie nur Hallo sagen wollen. Und, diese Frau ist um keinen Tag älter, als vor ungefähr 25 Jahren. Das war zwei Jahre nachdem Sabin sie und das Kind verlassen hat.“

„Gabriel“, warf Chiyo ein. Sakura nickte in Gedanken versunken.

„Ja...Gabriel.“

„Peter hätte ihr diese Nummer nicht verraten“, sagte Sakura.

„Nein, er wollte als Mittelsmann fungieren. Hat Peter ihr Äußeres erwähnt?“, fragte Chiyo.

„Nein, das hat er nicht“, sagte Sakura nachdenklich.

„Aber was will sie?“

„Peter sagte, dass sie Sabin befreien will.“

„Warum?“

„Er will seinen Sohn sehen.“

„Sagt sie.“

„Ja, das sagt sie“, wiederholte Sakura.

„Ihr glaubt ihr nicht.“

„Ich weiß nicht was ich glauben soll“, musste Sakura zugeben.

„Wir brauchen Aim und den Schlüssel dafür... ohne jede einzelne Komponente können wir den Mechanismus nicht aktivieren.“

„Das heißt der Reaper muss in der Nähe sein?“

„Ja, um die erste Instanz der Öffnung einzuleiten ist der Reaper von Nöten.“

Sakura drehte sich plötzlich zu Chiyo um. „Sie wollten nicht den Hellseher, sie brauchen Gabriel.“

„Sie denken, dass sie Gabriel brauchen, weil sie wissen, dass er diese Fähigkeit besitzt“, stimmte Chiyo zu.

„Das mag ja sein, aber sie verstehen offensichtlich nicht wie dieser Mechanismus funktioniert. Aim trägt die fehlende Komponente, Gabriel wird nichts tun können. Und er ist nicht ausgebildet, viel zu schwach“, sagte Sakura.

Chiyo nickte. „Gabriel ist ein Kind, der Reaper in ihm aber stark ausgeprägt.“

„Die Vergangenheit hat ihn genährt. Ich bin mir sicher, dass der Reaper in ihm stärker als der seines Vaters ist.“

Sakura konnte aus dem Augenwinkel sehen wie Chiyo ihr das Gesicht zuwandte.

„Die alte Trias ist dafür verantwortlich. Ihr meint, dass die Trias die Absicht verfolgte um sich einen gefügigen Reaper zu ziehen? Einen der gegen seinen Vater antreten konnte?“

„Es sieht für mich danach aus.“ Sakura zuckte leicht mich den Schultern.

„Im Grunde genommen weiß ich es nicht. Vielleicht stand hinter den grausamen Methoden der alten Trias lediglich eine Art Bestrafung, oder doch der perfide Plan Gabriels zerstörerischer Seite mehr Nahrung zu geben.“

„Der Hellseher hat dem eine Ende bereitet.“

Sakura lachte freudlos auf. „Und uns soweit manipuliert, dass Weiß für ihn die ganze Arbeit machte.“

„Nun, es führte zum Erfolg.“

„In gewisser Weise.“ Sie ging zu dem Paneel auf der rechten Seite und schloss die großen Panoramafenster. Sakura ging hinüber zu Tisch und Sitzkissen. Sie setzte sich auf ein bequemes Sitzkissen und schenkte Chiyo und sich Tee ein.

„Wenn ihr Ziel Gabriel war und noch immer ist dann…“, fing Chiyo besorgt an.

„Ohne ein Druckmittel würde Gabriel weder Rat noch Trias helfen. Er hat nicht die gleiche Bindung zu seinen Eltern wie ein Kind das behütet und geliebt aufgewachsen ist. Ich weiß nicht was sie ihm aktuell bedeuten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich sofort auf eine derart weitreichende Maßnahme einlassen würde. Vor allem nicht, wenn wir nicht abschätzen können was dann passiert. Trotzdem kann es dazu kommen. Wenn er sich weigern würde…“

Sakura sah sie lange an. „Ran.“

Chiyo neigte den Kopf leicht zur Antwort.

„Oder… seine von den Toten auferstandene Mutter bittet ihn um Hilfe“, schloss Sakura.

„Ich kann ihn in diesem Punkt nicht einschätzen, aber er scheint mir nicht leichtgläubig zu sein“, sagte Chiyo.

„Das nicht, aber er sehnt sich nach der Wärme einer Familie. Das könnte durchaus problematisch werden“, gab Sakura zu Bedenken.

„Der Hellseher stand ihnen in diesem Punkt im Weg, er musste lediglich beiseite geräumt werden“, sagte Chiyo.

Sakura nickte. „Sie haben ihn sicher nicht getötet, dazu ist er zu wertvoll“, sagte sie nachdenklich.

„Aber es waren die Männer der Trias, Somis Männer die, Schwarz angegriffen haben. Im Auftrag des Rates? Oder handelt Somi auf eigene Faust wie wir vermuten?“, gab Chiyo zu Bedenken.

„Die Judges waren es nicht gewesen, ein Kampf gegen sie hätte Schuldig nicht alleine bestreiten können. Es waren Somis Anhänger gewesen.“

Sie schwiegen eine Weile und tranken ihren Tee während beide ihren Gedanken nachhingen.

„Warum sucht Katharina ausgerechnet jetzt Kontakt?“, fragte Sakura dann.

„Lässt Euch ein Gefühl oder eine Erinnerung aus der Vergangenheit keine Ruhe in diesem Punkt?“, fragte Chiyo bedächtig.

Sakura überlegte einen Moment und sah dann ihre treue Beraterin an.

„Ja...“, sagte sie bedauernd. „Das kann sein, ich mochte sie nicht, sie hat uns Sabin entrissen. Deshalb... sollte ich vorsichtig sein mit dem was ich über sie denke. Und vielleicht interpretiere ich zu viel in dieses Gesuch nach Kontakt hinein. Was macht es schon, wenn sie eine PSI ist?“

Chiyo sah auf und ihre Blicke begegneten sich. Sakura nickte.

„Viel“, antwortete Chiyo.

Sakura schnaubte. „Sie hatte definitiv keine Fähigkeiten besessen. Wir hatten damals alles mögliche veranstaltet um herauszufinden wer sie ist, aber alles war normal und wir kümmerten uns eher um Sabin und seine Gemütsverfassung.“

„Es waren schwierige Zeiten“, gab Chiyo zu bedenken.

Sakura nickte. „Irgendwie sind es immer schwierige Zeiten.“

Chiyo schenkte ihnen Sake ein.

„Wir brauchen Beweise, das sind alles nur Spekulationen. Wir haben keine verlässlichen Informationen über die Dynamik der einzelnen Parteien. Da ist der Rat, die Trias, Somi inklusive des Clans, die Judges und … Katharina Villard.“

„Und warum haben sie Aim nicht eingesetzt? Er wäre sehr nahe gewesen“, sagte Chiyo.

„Nicht einmal ich habe geahnt, dass Aim den Reaper trägt. Da sie nicht wussten was Aim für Fähigkeiten hatte sind sie wohl nie auf den Gedanken gekommen, dass Aim Sabin den Reaper wegnehmen konnte. Sie halten Aim wohl für einen außer Kontrolle geratenen PSI, wenn es denn stimmt. Firans Angaben waren sehr genau. Ich muss Aim sehen... ihm begegnen... ich...“, sie wandte sich wieder der Landschaft zu. „Ich würde ihn sehr gerne wiedersehen wollen.

Der Schlüssel jedoch ist außer Reichweite, ohne diesen ist alles andere sinnlos“, sagte Sakura.

„Damals... als Ihr das Gefängnis entworfen habt... die Wissenschaftler, wo sind sie. heute?“, fragte Chiyo nachdenklich.

„Ich kenne ihre Namen, aber wo sie sich nach so langer Zeit aufhalten weiß ich nicht.“

„CERN läuft seit Jahrzehnten weiter.“

„Ja, das Projekt läuft weiter und hat sich seit den 60er Jahren erfolgreich entwickelt. Ohne, dass sie wissen was ihr Teilchenbeschleuniger im Zaum hält. Vermutlich halten einige Telepathen ihre Hand über diesem Geheimnis.“

„Dort arbeiten sehr viele Menschen.“

„Wir hatten Angst, dass er seinem Gefängnis eines Tages entkommen könnte, deshalb fesselten wir ihn an seinen Körper und der Rat hält ihn augenscheinlich immer noch am Leben.“

„Ihr habt ihn dort versteckt wo es am Sichersten für ihn war.“

„Ja, für ihn und für alle anderen. Das war damals die Befürchtung der Trias. Die nackte Angst ging um, hinzukam, dass das Netz sich immer mehr destabilisierte. Die Trias musste handeln, er war nicht mehr das Problem Nummer Eins.“

Sakura nahm einen Schluck Sake.

„Was tun wir jetzt?“, fragte Chiyo.

Sano kam herein und sie unterrichteten ihn über ihre Vermutungen und weiteren Pläne.

„Chiyo hat einen Punkt angesprochen der mich auf eine Idee bringt. Ich gebe dir eine Liste mit Namen, schicke Aufklärer hin um den Status der Leute auf der Liste zu erfahren.“

Sano erhob sich sofort.

„Nein, trinken wir zunächst zusammen Sake, ich muss nachdenken und mich... an die Namen erinnern.“
 


 


 


 

Tokyo
 

Nagi wälzte sich unruhig in seinem Kokon aus Fell hin und her, das Gesicht verborgen vor der Außenwelt bis er es leid war und die Augen öffnete. Er hörte gedämpfte Stimmen und streckte seinen Kopf aus dem Mantel heraus in ihre Richtung. Die Tür seines Raums war zum ersten Mal offengelassen worden. Das waren bestimmt gute zwanzig Zentimeter Freiheit. Die er ohnehin nicht wollte.

Er hörte Bolder, Mia und zwei Stimmen die er noch nicht auseinanderhalten konnte und dann war da noch De la Croix unverwechselbare warme Stimme, die zwar gelassen klang, doch ein mürrischer Unterton war für Nagi deutlich herauszuhören. Über was sie genau redeten konnte Nagi nicht hören. Er rutschte etwas höher und setzte sich auf. Sein weicher Kokon rutschte herunter und er sah sich um. Vielleicht sollte er duschen und mit Sicherheit konnte er es heute auch vollständig alleine.

Mühsam arbeitete er sich aus dem Mantel heraus und setzte die bloßen Füße auf den gefliesten Steinboden. Seine Oberschenkel zitterten vor Protest als er sich erhob. Die kurze Hose, die ihm Whisper in einer Vielzahl von Farben geschneidert hatte gehörte zur Abteilung Unterwäsche. Sie passte natürlich perfekt. Passende Unterhemden gab es in der entsprechenden Farbe selbstverständlich auch. Alles was er sein Eigen nennen durfte lag fein säuberlich in einem Schrank, den Bolder gestern erst hier hereingeschleppt hatte. Woher sie ihn hatten wusste Nagi nicht, aber er sah verdächtig nach einem Aktenschrank aus.

Heute trug er ein Ensemble in blaugrau.

Nagi ging vorsichtig in Richtung Badezimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Das Licht war automatisch angesprungen und er drehte sich zur rechten Seite hin um sich die Hände zu waschen. Den Blick in den Spiegel vermied er tunlichst, stattdessen genoss er es wie das warme Wasser über seine Hände strömte. Wie lange er so dastand und nur das Wasser betrachtete wusste er nicht, aber es musste eine geraume Zeit vergangen sein, denn als plötzlich die Tür geöffnet wurde erschrak er sich. Er zuckte zurück und wich an die Wand aus. Vorsichtig lugte er um die Ecke und erkannte nur Alexandré De la Croix der in der Tür stand und hereinkam. Er ging zum Waschbecken und drehte das Wasser zu. Nagi hielt die nassen Hände vor sich und sah ihn abwartend an.

„Ich dachte du wärst vielleicht kollabiert“, erklärte der Mann sein Hereinkommen.

Nagi schüttelte den Kopf rührte sich jedoch auch nicht von seinem Platz.

„Schwindlig ist dir nicht, oder?“

Wieder schüttelte Nagi den Kopf. Er fühlte sich befangen in der Nähe des großgewachsenen Mannes. Obwohl Brad und auch Schuldig sicher furchteinflößender sein konnten fühlte sich Nagi in der Nähe des Mannes komisch. Sein Bauch flatterte und das Gefühl als schnüre es ihm den Brustkorb ab machte es nicht besser. Sicher wäre es besser etwas zu essen.

Nagi tippte sich in die Schläfe und ließ die linke Hand sinken. Dann sah er mutig – wie er fand – auf und traf auf die zwei unterschiedlichen Iriden die ihn wie stets ruhig musterten.

Er spürte wie sanft der Mann sich in seine Gedanken vortastete, das war sehr angenehm, nicht so wie bei Schuldig oder Mia. Nagi entspannte sich dabei und ließ die Schultern sinken. Dabei bemerkte er erst wie angespannt er gewesen sein musste.

‚Vielleicht sollte ich etwas essen? Ich fühle mich seltsam. ’

‚Übelkeit? Hast du Fieber? ’

De la Croix kam näher und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Nagi lehnte sich leicht in die Berührung.

‚Nein, du hast kein Fieber. ’

‚Schade. ’

Nagis Augen wurden größer. Er starrte den Mann an und festigte seine Schilde. Was nicht dazu führte, dass dieser körperlich beeinträchtigt schien. Schuldig hatte stets Kopfschmerzen davongetragen, wenn er ihn hinausgeworfen hatte, was in der Regel nie mit Absicht gewesen war. Alexandré zog sich lediglich zurück.

‚Hast du Angst, dass wir dich wieder zu den anderen bringen, wenn du genesen bist? ’

Automatisch nickte Nagi. Nein, das war nicht das was er gedacht hatte. Aber es war eine perfekte Begründung für seine dummen Gedanken.

„Darüber musst du dir keine Gedanken machen, Yuki. Ich werde auf dich achten, hier wird dir nichts mehr geschehen.“

Nagi nickte wieder. Er fühlte sich plötzlich befangen in der Nähe von Alexandré, warum ahnte er nur und wollte sich nicht näher beschäftigten. Alles fühlte sich fremd an, er selbst fühlte sich fremd an. Aber… er war jetzt jemand anderes und er musste sich nicht richtig oder so verhalten wie es andere von ihm erwarteten. Sie wussten nicht wie er wirklich war, er konnte Fehler machen, oder?

Hatte er nicht schon früher Rollen gespielt bei ihren Aufträgen? Wie lange hielt der Umstand an, dass er keine Fähigkeiten vorweisen konnte? War es für immer? Oder nur für bestimmte Zeit? Und wenn er so schwach war würde er bald sterben? Schuldig war nicht da um seinen Schild zu stabilisieren.

„Yuki?“ Nagi sah erschrocken auf, da er sich alleine wähnte.

„Bolder bringt dir etwas zu essen, kommst du hier alleine zurecht?“

Nagi nickte und nahm das Handtuch, dass Alexandré ihm reichte entgegen, seine Hände waren noch nass. Er machte jedoch keine Anstalten sich zu duschen. Erst als Alexandré mit einem nachdenklichen Blick das Badezimmer verließ löste sich Nagi von der Wand und sah zu, dass er aus seinen Kleidern kam, was schwieriger als gedacht erschien. Wenn er im Bett lag war alles gut und er fühlte sich gewappnet für neue Herausforderungen, sobald er aufstand sah die Sache ganz anders aus. Seine Bewegungen waren so ungelenk und alles dauerte lange.

Er duschte nur kurz, führte seine zitternde Hand über den Sensor damit das Wasser ausging und trocknete sich dann ab. Mit nur einem Handtuch um die Hüften ging er nach draußen und suchte sich im Schrank neue Kleidung. Heute entschied er sich für eine Jeans in Kombination mit einem weißen langärmligen Shirt. Nagi besah sich die ordentlich gefalteten Socken. Sie waren zweifarbig, aber sehr fein gestrickt, fast maschinell. Nagi nahm ein Paar in die Hand und konnte sehen, dass sie definitiv nicht maschinell hergestellt worden waren. Sie waren wohl auch von Whisper gefertigt worden. Er entschied sich für ein oranges Paar, welches fast dieselbe Farbe wie Schuldigs… Haare hatte.

Nagi seufzte und setzte sich aufs Bett um die Socken anzuziehen, nur um sich dann wieder hinzulegen. Er kuschelte sich in das Fell des Mantels und blickte an die Decke.

Er musste daran denken was Alexandré darüber erzählt hatte, dass er sich mit ihm – also mit Nagi verbinden wollte. Ob Brad das erlaubt hätte? Wohl kaum. Alexandré hatte keinen guten Ruf bei Brad und Schuldig. Was wohl damals vorgefallen war? Er hatte selbst gesagt, dass er viel falsch gemacht hatte, weil er zu jung gewesen war um vielleicht die Hintergründe zu verstehen. Er selbst konnte auch nicht behaupten ein Ausbund an Moral zu sein.
 

Könnte er ihm tatsächlich helfen? Würde das seine Schuld etwas mildern? Yuki hatte aber keine Schuld, Yuki war unverschuldet in diesen Schlamassel hineingeraten, er war das Liebchen von Naoe gewesen.
 

Wie er wohl ist, dieser Yuki?
 


 

o
 


 

Tokyo
 

Sie waren wieder lange mit dem Van unterwegs gewesen. Eine Nacht war sogar vergangen und der nächsten Tage hatte keine Verbesserungen für Akihito mitgebracht. Mehrmals wurde er aus dem Van gezerrt, seine Augen verbunden, dann wieder hinein, dazwischen endloses Warten an irgendwelchen heruntergekommenen Orten. Er hatte sein Zeitgefühl verloren und wusste nicht wie viele Tage vergangen waren.

Noch immer war er gefesselt, noch immer steckte er in diesen seltsamen Klamotten. Er sah aus wie ein düsterer Stricher. Seine Haare waren in der Zwischenzeit zurechtgemacht worden, ebenso sein Gesicht und sogar seine Nägel. Der verrückte Harlekin war nicht von seiner Seite gewichen.

Wieder wurde es Tag. Und seit es Tag geworden war steuerte wieder dieser andere Typ den Wagen. In bestimmten Zeitabständen stiegen sie aus und er wurde in das eine oder andere Gebäude verfrachtet. Der Typ gab ihm etwas zu Trinken und zu Essen, er durfte die Toilette benutzen. Es war ihm nicht ganz geheuer, unabhängig davon, dass diese ganze Sache schlimm für ihn war. Wo brachte er ihn hin? Und was hatte er mit ihm vor?

Irgendwann kamen sie irgendwo an und es wurde langsam wieder Abend. Und wie nicht anders zu erwarten tauchte der Harlekin wieder auf.

Er hörte draußen Musik und Gelächter.

„Sie werden dafür bezahlen“, sagte er als der Harlekin sich an seiner Fessel zu schaffen machte, sie jedoch nur von der Leiste löste, seine Hände waren immer noch gefesselt. Panik überfiel Akihito und er begann sich erneut zu wehren. Der Harlekin schnalzte nur mit der Zunge und verspasste ihm eine Ohrfeige, die seinen Kopf zur Seite schleuderte.

„Benimm dich mein Zuckerschnütchen, lächle“, sagte er und Akihito wurde es eiskalt. Tränen hatten sich in seine Augen geschlichen und er starrte in die dunklen Höhlen der Maske, dort wo Augen sein sollten, menschliche Augen, aber alles was er vorfand war gefühllose Dunkelheit und sein ängstliches Spiegelbild.

Er zog ihn aus dem Van und Akihito erkannte ein großes Anwesen. Waren sie auf einer ... Halloweenparty? Verkleidete Menschen gingen an ihnen vorbei, während sie weiter auf das Grundstück liefen. Er erkannte Wachposten an einigen Stellen, die sie beäugten und etwas in ihre Funkgeräte weitergaben. Dann gingen sie in Richtung Seiteneingang und passierten ein schmiedeeisernes Tor. Der Harlekin schloss es wieder und sie kamen an eine Tür. Er öffnete sie und sie gingen einen Flur entlang. Vor der Tür mit zwei Wachen blieben sie stehen. Der rechte Mann klopfte an die Tür. Gedämpft hörten sie ein Ja und er öffnete ihnen die Tür.

Sie kamen in einen Raum mit einem Mann der hinter einem Schreibtisch saß. Er trug ein Kostüm aus der Renaissance und wollte wohl einen Adligen darstellen. Der Harlekin zog ihm mit einem Fußtritt die Beine unter seinem Körper weg und Akihito fiel. Er konnte sich gerade noch mit seinen Händen abfangen um nicht auf seinem Gesicht zu landen.

„Du hast Wort gehalten“, sagte der Mann. Er erkannte die Stimme, die Statur und jetzt auch das Gesicht hinter der Schminke. Das war Sowa. Der Menschenhändler. Sein Herzschlag beschleunigte sich rapide.

Er richtete sich auf die Knie auf und sah zu wie der Harlekin sich formvollendet verbeugte. Erst aus seiner jetzigen Position heraus fielen ihm die beiden Dolche in dem Leder der Stiefel auf, die der Harlekin trug. Sowa erhob sich hinter seinem Schreibtisch und der Harlekin reagierte blitzschnell. Er sprang agil nach hinten. Die Glöckchen klimperten aufgeregt und er schüttelte langsam den Kopf. Dann streckte er die Hand mit der Handfläche nach oben aus.

„Du willst die Gegenleistung. So schnell schon?“

Der Harlekin nickte übertrieben und breitete die Arme aus wie, um zu zeigen, dass er selbst nichts für diesen Umstand könne. Er wiegte bedächtig den Kopf hin und her während Sowa telefonierte und dann einen Umschlag aus einer Schublade zog.

„Das sollte genügen. Es ist alles in die Wege geleitet.“

Er legte den Umschlag ans Ende des Schreibtisches und zog sich dann zurück. Der Harlekin beäugte den Umschlag aus der Ferne und sah dann zu Sowa auf.

„Die Spinne wies mich an, dass du einen gewissen Radius brauchst um dich wohlzufühlen.“

Der Harlekin wiegte den Kopf hin und her und nickte beipflichtend. Akihito konnte Sowa ansehen, dass ihm der Typ nicht ganz geheuer war. Ihm auch nicht.

„Arbeiten dieser Art liegen dir? Es gibt Zuhauf Aufträge die ich dir verschaffen könnte.“

Der Harlekin neigte abwägend den Kopf zur Seite und legte einen Zeigefinger an sein Kinn als müsse er darüber nachdenken, er blickte zu Akihito und dieser starrte in schwarze Höhlen in denen sich irgendwo zwei Pupillen im Gegenlicht spiegelten.

Er blickte wieder zu Sowa und schüttelte deutlich den Kopf.

Der Harlekin tänzelte zum Schreibtisch, öffnete mit grazilen übertriebenen Bewegungen den Umschlag und lugte ebenso übertrieben hinein. Dann verschloss er alles wieder und steckte es sich unter sein Oberteil. Er zupfte seine Kleidung sorgfältig zurecht und verneigte sich dann sehr tief vor Sowa. Danach kam er zu Akihito und tätschelte ihm den Kopf. Nur um dann durch die Tür zu verschwinden und Akihito mit einem sehr gefährlichen und herzlosen Menschen allein zu lassen.

Die Tür öffnete sich erneut und Sowa würdigte ihn keines Blickes mehr als ihn einer der Männer wegbrachte. Sie steckten ihn in einen Käfig ähnlich dem den er bei Fei Long beheimatet hatte. Er war immer noch gefesselt. Was sollte das alles?

Sowa schien kein Interesse an ihm zu besitzen. Er hatte ihn kaum angesehen.

Die Nacht über saß er in dem Käfig und keiner kam und sah nach ihm. Gegen Morgen jedoch brachte ihm jemand etwas zu Essen und ließ ihn raus. Er durfte ins Badezimmer gehen, ihm wurde eine halbe Stunde gegeben um sich frisch zu machen, dann steckten sie ihn wieder in den Käfig.

Später kam Sowa herein und befragte ihn ob er jemanden bei seiner Entführung erkannt hatte. Wahrheitsgetreu berichtete er was er wusste. Das stellte den Mann zufrieden. Warum auch immer. Akihito sah zu dem kleinen Fenster weit oben und versuchte herauszufinden was hier los war. Wollte Sowa ein Lösegeld von Asami? Würde er zahlen?

Er brachte dem Mann wirklich nur Ärger ein.

Es wurde wieder Abend und Akihito legte sich auf das Bett und schlief ein.
 


 


 

Fortsetzung folgt…
 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Gadreel

Verlassen

Tokyo
 


 

Ein Geräusch weckte Akihito. Er riss die Augen auf und sah nach oben. Es war dunkel und draußen hörte er Schreie. Nicht nur…

Waren das… Schüsse?

Asami?

War er gekommen um ihn zu holen? Akihito setzte sich auf. In einer Ecke hatte der Wachmann eine Glühbirne angelassen. Akihito sah sich um und fand plötzlich eine Pistole am Eingang des Käfigs. Draußen war es ruhig geworden. Sehr ruhig.

Die Tür des Käfigs stand einen Spalt breit offen. Er nahm die Waffe an sich, überprüfte das Magazin und öffnete die Tür. Die Tür des Lagerraums war ebenfalls offen. Draußen lag ein Mann, seine Kehle war durchtrennt und ein Schnitt klaffte, aus dem blutige Bläschen herausquollen. Übelkeit kroch in ihm hoch als er den Geruch von Blut nur zu deutlich wahrnahm. Es war nicht das erste Mal, dass er damit konfrontiert wurde, was es nicht weniger schwer machte.

Er ging weiter den Flur entlang bis er eine Treppe nach oben fand. Es war immer noch sehr still und es blieb nicht bei einer Leiche. Bisher hatte er neun tote Männer gezählt. Sie waren noch warm wie er feststellen musste als er einen der Toten am Hals berührte.

Dann hörte er eine Stimme, sie klang sehr ruhig und zurückhaltend, geradezu höflich. Er ging darauf zu und blieb dann stehen. Die Stimme die ihr antwortete war Sowa und er klang wütend und weinerlich zugleich. Er drohte mit allerlei Dingen.

Akihito ging bis vor das Zimmer und lehnte sich an die Wand um einen Blick auf die Beiden zu erhaschen, er sah jedoch nur ... das Profil des Mannes der Schuldig und ihn aus China befreit hatte. Dieser saß mit überschlagenen Beinen auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes. Ihm gegenüber hinter seinem wuchtigen Schreibtisch saß Sowa, ohne Make-up und Kostümierung. Er hing schwer in seinem Sessel und riss gerade an seiner Krawatte herum um sie zu lösen.

„... habe ich meinen Teil nicht eingehalten?“, schrie Sowa aufgebracht. Er atmete heftig und hustete unterdrückt. Er schien Schmerzen zu haben und sein Gesicht war stark gerötet.

„Dafür danke ich Ihnen, Mr. Sowa. Wirklich…“, setzte der Mann mit ernstem und aufrichtigem Tonfall an.

„Was soll das dann?“, unterbrach ihn Sowa.

„Ah, Sie meinen, dass ich Ihren gesamten Hofstaat dem Untergang weihte? Inklusiver Ihrer eigenen kleinen unnützen eher schädlichen Existenz?“

Sowa ging nicht darauf ein. „Was wollen Sie?“, fragte er stattdessen mit Entsetzen in der Stimme.

„Ich habe Sie darum gebeten Ihre Geschäfte mit dem Clan einzustellen.“

„Das ist nicht so einfach“, setzte Sowa an.

„Ich finde, dass es sehr einfach ist.“

„Du verdammter kleiner Scheißer“, schrie Sowa und hustete darauf qualvoll. Es hörte sich an als würde er etwas ausspucken.

Eine Weile hörte Akihito nur das Husten und dann einen langen pfeifenden Atemzug.

„Wissen Sie Sowa… ich sollte mich von Ihnen fernhalten, so wurde es mir aufgetragen. Aber jetzt haben sich die Dinge geändert. Ich kann tun und lassen was ich will. Das ist großartig kann ich Ihnen sagen“, sagte der Mann freundlich.

Wieder hörte Akihito nur leises Husten und mühsame Atemzüge.

„Wo ist Sola?“, fragte der Mann dann.

Sowa lachte krächzend. „Geht dich… einen Scheiß an.“

„Sie haben Recht, er steht nicht ganz oben auf meiner Prioritätenliste, aber sagen wir im oberen Drittel.“

„Was… was… haben Sie… davon? Sie sind…nur… nur… ein Auftragskiller.“

„Bin ich das?“ Akihito hörte nur Ruhe aus der kultiviert klingenden Stimme heraus.

Für Akihito stellte diese Gelassenheit einen makabren Kontrast zu Sowas panischen Versuchen Luft zu bekommen dar. Wie konnte man so ruhig sein und gelassen zusehen, wenn derjenige der einem Gegenüber saß erstickte? Selbst wenn man diesen Zustand selbst verursacht hatte – was zweifellos so geschehen war. Selbst dann war es doch sicher unangenehm und löste in normalen Menschen das Gefühl aus etwas tun zu müssen um diesen Zustand zu beheben. Die Laute die Sowa von sich gab hörten sich für Akihito entsetzlich an.

„Sie sind… die Spinne. Sie… erledigen alles… alles… für Leute… wie mich“, blaffte Sowa. Für Akihito hörte es sich kraftlos an.

„Sie haben nicht Unrecht, allerdings bin ich nur für einen Herrn tätig. Ich webe mein Netz nur für ihn.“ Akihito hörte wie die Stimme näherkam. „Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch einiges zu tun.“

„Sie lassen mich… laufen?“

Der Mann erhob sich und kam in Richtung Tür. Akihito trat den Rückwärtsgang an und sah sich nach einer Versteckmöglichkeit um.

„Nicht wirklich“, sagte der Mann in endgültigem Tonfall und betrat den Flur.

Akihito kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und der Schweiß brach ihm aus.

Der Mann stoppte vor der Nische in der Akihito sich versteckt hatte.

„Draußen wartet ein Wagen auf dich, beeil dich bevor er ohne dich fährt.“

Akihito sagte nichts und hörte die röchelnden Atemzüge des Mannes der sich Sowa nannte und nun offenbar im Sterben lag.

„Komm schon raus“, sagte der Mann mit freundlicher Stimme, was Akihito nur noch ängstlicher werden ließ.

Eine Hand tauchte in sein Versteckt hinter dem Vorhang und griff nach seinem Arm. Vorsichtig zog der Mann ihn hervor. Akihito klammerte sich an seine Waffe, die ihm gerade mit behandschuhten Händen aus seinen eigenen genommen wurde. Der Mann steckte sie sich unter die Jacke in einen Holster. Akihito starrte ihn an.

„Ich würde sagen wir gehen jetzt, was meinst du?“

Akihito nickte mechanisch.

„Hier entlang.“

Am Ausgang angekommen zeigte der Mann im Anzug auf das Grundstück.

„Einmal hier drüber und dann die Straße entlang bis du das Gebäude umrundet hast, dort wartet der Wagen. Hier trennen sich unsere Wege.“

„Sie sind die Spinne?“, fragte Akihito.

Der Mann antwortete nicht. „Du hast etwas gut bei mir, Akihito. Und Verzeih uns bitte, dass wir dich dafür benutzt haben. Es tut mir leid, wenn du Angst verspürt hast.“

„Nein, tut es Ihnen nicht“, sagte Akihito.

„Nun, es ist eine Floskel, die Mitgefühl bekunden soll, nicht?“

„Überflüssig im Moment wie ich finde.“

„Vielleicht ist das hier etwas nützlicher.“ Der Mann zog eine Karte hervor und reichte sie Akihito.

„Was ist das?“

„Falls du jemals Hilfe in Anspruch nehmen musst dann ruf an. Allerdings werde ich in nächster Zeit nicht im Land sein…“

Akihito starrte die Karte an, dann nahm er sie zögerlich entgegen.

Der Mann wandte sich in die andere Richtung.

„Halt warten Sie!“, gab Akihito einem Impuls nach.

Der Mann hielt an, drehte sich aber nicht um.

„Kennen Sie Schuldig? Geht es ihm gut? Was ist mit den anderen? Sind sie in Gefahr?“

„Dieselbe Frage hast du einem meiner Mitarbeiter gestellt.“

„Ja, dem nervösen, düsteren Kapuzentypen mit dem Messer.“

Der Mann drehte sich halb zu ihm um. „Es geht ihm gut, er war besorgt um dich.“

„Warum kontaktiert er mich nicht?“

„Das hat er vielleicht“, sagte der Mann freundlich.

Akihito zögerte noch immer zu gehen.

„Waren Sie das allein?“

„Du meinst die getöteten Männer?“

Akihito nickte.

„Ich bin sehr wütend, Akihito. Das passiert, wenn man mich wütend macht. Verstehst du das?“, fragte der Mann als würde er mit einem labilen Kind sprechen.

„Sicher tu ich das.“ Ja, er verstand, dass der Typ gefährlich und verrückt war.

„Ich wünsche dir Viel Glück und halte dich aus gefährlichen Dingen heraus.“

„Das hatte ich vor, bis Sie kamen!“, brummte Akihito.

„Das ist nicht so ganz richtig“, rief der Mann zurück, während er sich von ihm entfernte. „Sonst hätte ich dich nicht so einfach entführen können!“

Akihito schnaubte und machte sich auf den Weg. Wie hieß es so schön: Leichen pflasterten seinen Weg... bis er an dem Wagen ankam. Er riss die Tür auf und der nervöse Kapuzentyp wartete am Steuer auf ihn und grinste ihn an.

„Nun steig schon ein“, drängte er und Akihito ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen.

Er schnallte sich an und der Typ bretterte los sobald sein Gurt klickte.

Wo zum Teufel waren sie hier? Er sah Ortsschilder von Tokyo.

„Ihr habt mich einfach nur in der Gegend herumgefahren?“, fragte er entrüstet.

„Klar.“

„Aber warum?“

„Falls Sowa dich befragt. Aber hat ja wie vom Boss geplant wie am Schnürchen funktioniert. Alles palletti.“

„Nichts ist palletti“, brummte Akihito.

„Ich war also nie in Gefahr?“

Der Typ sah ihn lange an. „Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen?“

„Nein“, sagte Akihito. „Und sehen Sie auf die Straße.“

„Sicher warst du in Gefahr. Bist du blöd?“

„Nein“, keifte Akihito zurück.

Sie sprachen nichts mehr, bis der Wagen in der Nähe von Asamis Anwesen hielt.

Akihito schnallte sich ab.

„Ich verstehe es immer noch nicht. Wozu wollte Sowa mich haben?“

„Hat der Boss dir nichts gesagt?“

Akihito schüttelte den Kopf.

„Als Druckmittel gegen deinen Freund. Asami will die Familien im Kampf gegen den Clan einen, seit dieser ihm mehrmals dazwischenfunkte.“

„Es geht also nur ums Geschäft?“, fragte Akihito bitter.

„Nicht nur. Die Familie bedroht die Stadt, du hast gesehen was passierte als der Clan zu weit gegangen ist. Asamis Gebäude war nicht zufällig ausgewählt worden.“

„Aber so öffentlich... das würden die Sakurakawas nicht tun.“

„Sie hatten Hilfe und diese Hilfe war sehr mächtig und jetzt… verzieh dich.“

Akihito stieg aus dem Wagen und sah zu wie dieser verschwand. In der Zwischenzeit wurde es hell. Er ging die Straße entlang und stand vor dem abweisenden Tor. Er klingelte und die Sprechanlage ging an. Ein unwirsches Ja wurde hineingebellt.

„Akihito...“, fing er an, doch das Tor ging sofort auf und er schlüpfte hindurch. Sie hatten ihn sicherlich durch die Kameras gesehen.

Er fröstelte. Einer von Asamis Männern kam ihm entgegen.

„Wo warst du? Der Boss macht sich Sorgen. Wir dachten du seist entführt worden.“

„Bin ich auch. Ist er da?“

„Ja, er telefoniert wieder seine Kontakte ab um dich zu finden.“

Akihito entledigte sich seines Schuhwerks und tapste barfuß durch die Korridore bis er ins Arbeitszimmer kam. Leise schob er die Tür auf.

„Wer war an der Tür, Sosuke?“

Akihito schlich sich an Ryuichi an und umarmte ihn von hinten. Er trug nur einen Bademantel. Dieser drehte sich noch bevor er ihn gänzlich umarmen konnte um und stellte sein Glas ab.

„Was...?“

„Sie haben mich gehen lassen“, sagte Akihito und legte sein Kinn an die Brust des Größeren.

„Warum?“

„Keine Ahnung, aber sie haben mich für Etwas gebraucht und dass war wohl erledigt.“

„Wer war es?“

„Eine Gruppe von Leuten, die für den Hellseher arbeiten. Der Boss der schrägen Truppe nennt sich die Spinne. Hast du von dem Typen schon mal gehört?“

„Ja, er hinterließ mir eine Karte mit der Bemerkung darauf, dass er dich nur ausleihen würde.“

Sie schwiegen eine Weile und Akihito genoss die Wärme die Ryuichi verströmte.

„Wie siehst du überhaupt aus?“

„Findest du das sonst nicht sexy?“

„Sonst vielleicht aber nicht jetzt.“

„Wir waren auf einem Kostümfest. Ach ja... Sowa ist - glaube ich - tot.“

„Sowa?“

„Ich erzähl dir alles, ich brauch nur etwas Schlaf.“

„Willst du vorher etwas essen?“

Akihito nickte.

„Geh schon vor, ich komme gleich“, sagte Ryuichi.

Akihito wandte sich um.

„Akihito?“

„Hmm?“

„Hat dich irgendjemand verletzt?“

Er zuckte mit den Schultern. „So ein blöder Harlekin hat mir eine Ohrfeige verpasst.“

„Ein Harlekin?“

Akihito zuckte mit den Schultern, er war einfach zu müde um hier alles zu erörtern.

Als er das Arbeitszimmer verließ und in Richtung Küche trottete, hörte er noch wie Ryuichi Jemanden anrief um eine Besprechung zu organisieren.

Was war nur los in dieser Stadt?
 


 

o
 


 

Stunden später stand Finn Asugawa an einer Menschenschlange an um auf einen Frachter zu gelangen wo er die nächsten Wochen in der Bordküche arbeiten würde. Als er einen Fuß auf das Schiff setzte wurde er gefilzt und sein Seesack durchsucht.

„Du bist der Neue?“

Er nickte wortkarg.

„Der Boss hat dich angekündigt.“

Finn reichte eine digitale Kennung an den Mann weiter, die in Form eines Chips in einer Karte enthalten war. Er hatte sie von Sowa bekommen.

Der Mann führte sie über das Pad in seiner Hand und nickte.

„Wir haben eine heikle Fracht, wir können keinen Ärger gebrauchen.“

Finn nickte wieder. „Ich will keinen Ärger“, sagte er mit leiser Stimme und einem Akzent der eher in Osaka gesprochen wurde.

„Der Boss meinte du hättest für Sola gearbeitet? Wie lange?“

„Vier Monate.“

„Warum hast du aufgehört?“

„Bin mit der letzten Lieferung hier eingetroffen, Sowa meinte hier kann ich mehr verdienen.“

Der Mann nickte.

„Du wirst in der Bordküche helfen und… was so anfällt erledigen.“

Finn nickte.

„Hey Dan, nimm den hier mit nach unten, zeig ihm seinen Arbeitsplatz“, sagte der Mann. Finn schloss sich besagtem Dan an.

„Wie heißt du?“, fragte Dan.

„Ishiro Kaito“, stellte sich Finn vor und Dan nickte.

„Nenn mich Dan. Das reicht.“

Dan zeigte ihm alles. Finn ließ sich einweisen und begann seine Arbeit. Nachdem seine Schicht vorüber war schwang er sich in seine Koje und ruhte sich aus. In der Nacht hörte er wie sie ablegten. Gerade noch so geschafft. Beruhigt erlaubte er es sich zu schlafen. Es hatte sich gelohnt, er war Brad endlich nach über einer Woche nähergekommen. Jetzt brauchte er einen Plan um ihn von diesem Schiff zu bekommen.

Aber dafür hatte er ein paar Wochen Zeit...
 


 


 

Aomori
 

Schuldig hatte für sie eingedeckt und es roch verlockend nach Omelett, Kaffee, Tee und lauter gesunden Dingen. Mehr oder weniger.

Doch von Ran keine Spur. Sie hatten den gestrigen Tag ohne weiteren Eklat, ohne Sex oder sonstige aufregende Dinge verbracht. Ran war gestern gedanklich abgelenkt gewesen, die Blicke die Schuldig hin und wieder von ihm aufgefangen hatte zeugten von sexueller Spannung zwischen ihnen, doch es kam zu keiner… Entladung jedweder Art.

Er hatte sich von ihnen zurückgezogen, schien aber damit zufrieden zu sein, dass sich Schuldig mit Firan beschäftigte. Während sie beide sich den ganzen Tag mit Retro-Videospielen die Zeit vertrieben hatten genoss Ran entweder die Aussicht, kümmerte sich um ihr leibliches Wohl oder saß an verschiedenen Plätzen die er sich ausgesucht hatte und starrte vor sich hin. Vielleicht hing er in Erinnerung an Kudou in seinen Tagträumen fest.

Er schien nach außen hin ruhig und zufrieden zu wirken, allerdings glaubte Schuldig keine Sekunde daran, dass es sich so verhalten sollte.
 

Firan und Schuldig hatten bemerkt, dass Sano hier seine Lieblingsgegenstände sammelte. Spielekonsolen, Filme, Musik, Bücher, technisches Gerät, alles was ihn zu interessieren schien lagerte hier in Einbauschränken oder dafür gestaltete Nischen. Persönliche Gegenstände sahen sie jedoch nicht. Es gab Hygieneartikel und Gegenstände wie Batterien und Kerzen, aber alles noch unberührt und verpackt. Schuldig seufzte in Gedanken daran, dass er auch gerne so einen Ort hätte an dem er all seinen Kram aufbewahren konnte. Momentan lebten sie aus ihren Taschen und Schuldig hatte nicht das Gefühl, dass sich das sobald ändern würde.
 

Schuldig blickte wiederholt zur Halbetage hinauf, doch von dort rührte sich selbst um kurz nach zehn am Vormittag immer noch nichts.

„Ein Langschläfer?“, sagte Firan zu Schuldig gewandt, der seine wiederholten Blicke bemerkt zu haben schien. „Eher nicht“, erwiderte Schuldig misstrauisch. Firan drehte sich alarmiert zu ihm um.

„Er braucht sicher den Schlaf, er ist noch verletzt.“

„Hmm“, brummte Schuldig nicht ganz überzeugt von dieser Theorie. Die körperlich Wunden heilten gut. Ran war widerstandsfähig, dennoch war es hier nicht das physische Trauma das ein Problem darstellte.

„Das ist nicht gut“, sagte er dann.

„Nicht?“, Firan sah erneut von seinem Tun auf und hielt inne.

„Nein. Es ist eher ein schlechtes Zeichen. Ran ist ein Frühaufsteher, ich bin der Langschläfer.“

Ran neigte zu provozierendem Verhalten in dieser Phase. Hoffentlich bot Firan einen guten Puffer zwischen ihnen falls Ran völlig die Kontrolle verlor, was Schuldig nicht hoffte. Er war heute deutlich gefestigter als damals. Glaubte Schuldig zumindest. Wenn er an die fragile Gestalt dachte die Schuldig als Rans Pendant in dessen Seelengrund gesehen hatte war er nicht gänzlich von seiner eigenen Theorie überzeugt, breiteten sich diese schwarzen Flecken jetzt gerade weiter aus? Und er sah dabei untätig zu?

„Fang schon an, Firan, ich seh nach ihm.“ Schuldig nahm die Treppe nach oben und fand Ran immer noch in der gleichen Haltung wie zuvor, als er aufgestanden war. Er setzte sich zu ihm und strich ihm die Haare zurück. „Ich dachte schon du wärst wieder eingeschlafen“, sagte er und lächelte ein wirklich bezauberndes Lächeln, wie er selbst fand.

Ran brummte ihn nur mürrisch an, riskierte aber einen Blick und hob das Gesicht. „Warum grinst du so? Was hast du vor?“

Schuldig war schockiert.

„Ich? Das war ein Lächeln aus dem Repertoire ‚aufmunternde Lächeln’. Hast du das nicht erkannt?“

„Bist du dir sicher?“, hakte Ran nach, seine Stimme vom Schlaf noch rau. Schuldig liebte diese Kratzbürstigkeit von Ran.

„Ja?“

Ran gab ein nach großer Skepsis klingendes Schnalzen von sich und schwang die Beine plötzlich voller Elan vom Bett. Schuldig sah ihm misstrauisch nach.

„Du... verarschst mich doch!“, brüllte er ihm nach.

Ran war bereits im Bad verschwunden, machte sich jedoch die Mühe seinen Kopf noch einmal um den Türstock zu schieben. „Nein, ganz bestimmt nicht. Dein Lächeln war definitiv nicht aufmunternd, eher bösartig, mein Lieber.“

Schuldig erhob sich, noch bevor er an der Glastür war wurde sie ihm rüde vor der Nase geschlossen... mit einem leisen Klickgeräusch.

Schuldig blieb mit verschränkten Armen vor der Tür stehen und wartete darauf, dass Ran wieder herauskam.
 

Es dauerte seine Zeit bis Ran mit allem fertig war, aber ... er war schließlich geduldig. Währenddessen überzog Schuldig die Bettwäsche neu, sammelte ihre Kleidung ein und brachte alles nach unten in den Raum der wohl für die Waschmaschine und den Trockner vorgesehen war. Nachdem er die Waschmaschine gestartet hatte begab er sich wieder nach oben. Firan beobachtete sein Treiben mit einer gewissen Neugier während er mit dem Frühstück begonnen hatte. Schuldig zuckte nur mit den Schultern als Antwort auf Firans unausgesprochene Frage. Und Tatsache, als Ran die Tür öffnete konnte Schuldig einen kleinen Schreckmoment in seinem Gesicht erkennen. Hatte sein Ran etwas ausgefressen oder hatte er einfach nur nicht erwartet, dass Schuldig vor der Tür lauerte? Ran hatte sich in eine Jeans und ein langärmliges grünes Shirt geworfen. Seine Haare lagen offen über seinen Schultern, nicht mehr ganz so lang, aber sehr verführerisch für Schuldig, vor allem, wenn er die abrasierte Stelle betrachtete.

„Das heilt schon“, beruhigte Ran und tätschelte ihm die Flanke als er sich an ihm vorbeischob. Warum wirkte Ran geradezu... aufgekratzt? Für Ran’sche Verhältnisse...

Schuldig lugte ins Badezimmer hinein, aber da drinnen schien alles normal zu sein, schön ordentlich wie es sich für Ran gehörte. Sehr merkwürdig.

Schließlich folgte er Ran hinunter und setzte sich zu den beiden.

„Was machen wir später?“, fragte Firan wohl um ein Gespräch zu beginnen.

„Ficken“, sagte Schuldig beiläufig und hangelte nach dem Tee um sich eine Tasse einzugießen.

„Hast du etwas Besseres vor?“, fragte er ehrlich daran interessiert in Richtung Firan. Er konnte aus dem Augenwinkel erkennen wie Ran Firan beobachtete.

„Ähm... also... ich denke... nicht“, kam dann etwas verunsichert und Firans Gesicht glühte vor Schamesröte. Diese Reaktion war herrlich, sie konnte wie auf Knopfdruck ausgelöst werden.

„Schön, wir auch nicht...“, sagte Schuldig mit einem harmlosen Lächeln.

„Unabhängig davon müssten wir die nächsten Tage unsere Lebensmittelvorräte aufstocken – sofern wir noch hierbleiben“, bemerkte Ran.

„Hmm“, stimmte Schuldig zu. „Was haltet ihr davon, wenn wir alle etwas nach draußen gehen und uns die Beine vertreten?“

Ran sah auf. „Ich gehe alleine einkaufen, das ist weniger auffällig, als wenn ihr beiden mitkommt.“

Schuldig konnte dem kaum widersprechen, nur Ran alleine losziehen zu lassen gefiel ihm nicht besonders. „Ich will nicht, dass du alleine gehst. Nimm Firan mit, du bist noch nicht fit genug.“

Schuldig konnte sehen wie es in Ran arbeitete, aber schließlich nickte er.

„Gut, dann gehen wir zu Zweit.“

Schuldig ließ sich von Firan die klein geschnittenen Früchte reichen als ein Anruf ihre traute Runde störte.

Er fischte das Smartphone, das auf dem Tisch lag heran und stellte auf Lautsprecher. „Japp, du bist auf Lautsprecher“, sagte Schuldig.

„Wir haben Kontakt zu Bombay“, fing Sano sofort ohne Begrüßungsfloskel an sie auf den neuesten Stand zu bringen.

„Wie geht’s ihm?“, fragte Ran. „Was ist passiert?“

„Wissen wir nicht genau. Direkten Kontakt haben wir erst morgen, er ist verletzt, aber stabil. Wir haben ein Team in Washington darauf angesetzt, sie haben ihn gefunden, von den anderen die bei ihm waren fehlt bisher jede Spur. Genaueres werden wir erst morgen in Erfahrung bringen können. Wir übermittelten auch die Informationen die wir von Ethan Crawford erhalten haben. Er muss seine eigenen Leute geschickt haben um seine Tochter abzuholen.“

„Über wen läuft der Kontakt?“, fragte Schuldig.

„Manx.“

Ran lehnte sich zurück, die Erleichterung zumindest Omi in Sicherheit zu wissen war ihm deutlich anzusehen.

„Wo ist Manx jetzt?“

„Sie ziehen sich noch immer zurück und Koordinieren weiterhin den Rückzug anderer Kritikergruppen.“

„Der Rückzug ist noch nicht abgeschlossen?“, fragte Ran.

„Scheint nicht so zu sein. Sie suchen noch einige Gruppierungen und wollen sichergehen, ob sie tot sind oder vielleicht nur keinen Kontakt aufnehmen können.“

„Gibt’s sonst etwas Neues?“

„Nicht wirklich.“

„Wir bräuchten ein paar Lebensmittel“, merkte Schuldig an. Er hatte momentan nicht vor zurück nach Morioka zu gehen, zu stark empfand er die Beeinflussung der Runner vor Ort.

„Habt ihr schon alles aufgegessen?“, fragte Sano und Schuldig konnte deutlich einen amüsierten Unterton heraushören.

„Das war Ran, der isst für Drei!“, behauptete Schuldig anklagend.

Noch bevor er den entsetzten Blick von Ran genießen konnte, preschte Sano schon dazwischen.

„Das sollte er auch!“ Sano lachte leise.

„Bleibt vorerst drinnen.“

„Warum? Gibt es dafür einen Grund?“, fragte Ran alarmiert. Er sah Schuldig an.

„Nicht wirklich, aber Sakura versucht alte Kontakte zu aktivieren, das macht sie immer etwas nervös. Sie will euch in Sicherheit wissen. Wir schicken euch morgen jemanden vorbei, er wird sich bei euch melden.“

„Geht klar.“

Schuldig beendete die Verbindung und lächelte freundlich zu Ran hinüber. Dieser erwiderte das Lächeln in der gleichen Intensität, was zur Folge hatte, dass Schuldigs Lächeln erlosch. Verdammt.

„Ähm… is mir so rausgerutscht“, sagte er entschuldigend.

„Klar, ist es das“, sagte Ran und stocherte plötzlich in seinem Frühstück herum.

„Jetzt komm schon“, brummte Schuldig und fühlte sich dämlich.

„Ich weiß nicht was du meinst“, sagte Ran ungnädig und sah ihn mit diesem ganz speziellen Blick an, der Schuldig unmissverständlich mitteilte, dass er das büßen würde.

Das Thema Essen war ein wunder Punkt zwischen ihnen und Ran gerade jetzt damit aufzuziehen war wirklich sehr dumm von ihm gewesen.

Schuldig verging, der Appetit und er starrte die Birnen und Äpfel in seiner Schale geknickt an. Er hörte kaum zu über was Firan und Ran sich unterhielten.

Wie konnte er so dämlich sein? Gerade jetzt wo Ran wirklich gut aß und seine Portionen definitiv größer waren als früher. Und Ran musste essen, er brauchte die Kalorien, wenn er vielleicht seine PSI Fähigkeiten fördern wollte. Und er musste wieder zu Kräften kommen, was wenn er wieder in alte Muster zurückfiel? Im Moment war er emotional sehr angreifbar und leicht zu verschrecken. Schuldig konnte sich noch gut daran erinnern wie schwierig es war Ran Essen einzuflößen und wie schrecklich es sich für Schuldig angefühlt hatte. Fakt war, dass Schuldig kein guter Krankenpfleger war, definitiv nicht und wenn es jemals wieder dazu kommen sollte, dass er Ran zum Essen überreden musste… Gott bewahre.

„Schuldig.“

Und dieses Mal war Brad nicht da. Diesen Gedanken hatte er schon einmal gehabt. Brad war nicht da um ihm den Arsch zu retten, wenn es um Ran ging. Er musste es selber hinkriegen und nicht versauen wie eben gerade. Und dann auch noch vor Sano und Firan dieses Thema anzusprechen war unverzeihlich.

Irgendetwas zog an seinem Kopf und er sah rasch zur Seite. Ran stand vor ihm und Schuldig blickte zu ihm auf.

„Was ist los?“, fragte Ran und sah ihn unergründlich an. War er sauer, oder besorgt? Schuldig war plötzlich sehr unsicher.

Er biss sich auf die Innenseite der Unterlippe und fühlte sich zurückversetzt in der Zeit.

„Es tut mir leid“, sagte Schuldig. Er wandte sich Ran zu und sah ihn unsicher an.

Er blickte sich nach Firan um der nicht mehr am Tisch zu sitzen schien. „Wo ist der Kleine?“ Alles war abgeräumt, nur Schuldigs Schälchen mit den Früchten stand noch dort wo er es hingestellt hatte.

„Kümmert sich um das Geschirr“, sagte Ran und dirigierte Schuldigs Gesicht wieder zu sich. Er linste an Ran vorbei in die ein paar Meter entfernte Küchenzeile.

„Hey… Schu…“

Schuldigs Blick flackerte als er in Rans Gesicht blickte. „Hmm?“

„Es ist okay“, versicherte Ran ihm.

„Wirklich?“, hakte Schuldig leise nach.

Ran lächelte. „Ja. Das ist es. Du wirst es zwar büßen aber es ist okay“, sagte Ran und Schuldig erwiderte das Lächeln schief.

„Du wirst jetzt nicht aufhören, deine neuen Essgewohnheiten wieder zu ändern, weil ich dumm war?“

„Nein.“ Gut, das war eine klare Aussage. Ran kam näher und berührte ihn an seiner Wange. Schuldig sah wieder auf, er hatte gar nicht bemerkt, dass er seinen Kopf wieder hängen ließ.

„Das hat sich in dir eingebrannt“, sagte Ran und zog seinen Kopf an seinen Bauch. Schuldig nickte und schloss die Augen. Er wusste auch nicht warum er jetzt in dieser seltsamen Stimmung war. Rans Hand strich sanft in seine Haare hinein und hielt ihn fest an sich gedrückt.

Das tat gut. Schuldig seufzte leise. Rans Stärke hatte ihm gefehlt, war sie wieder da?

Er hatte Brad verloren, seine Zukunft, er hatte Nagi verloren sein Schutz und Jei die kryptische Weisheit, die ihn manches Mal den Spiegel vorgehalten hatte. Sie waren alle weg. Ran war da und Schuldig musste für ihn stark sein, das konnte er. Aber er machte so viel falsch dabei. Er hatte keinen Richtungsweiser für Ran. Und er hatte immer noch Angst nur einen Schritt in die falsche Richtung zu tun um Ran zu zerstören oder ihn für immer von sich weg zu treiben. Die Möglichkeit bestand immer.

„Hör auf damit“, sagte Ran.

„Ich hab nicht laut gedacht“, brummte Schuldig in Rans Shirt.

„Das musst du auch nicht“, sagte Ran und küsste ihn auf seinen Haarschopf.

Eine Zeit lang war es still zwischen ihnen und nur die Musik aus dem Radio und Firans Gewerkel in der Küche erfüllen den Raum.
 

Ran verstand zum Teil ihre Stimmungsschwankungen, es machte ihre Lage jedoch nicht gerade berechenbarer. Er mochte es, wenn Schuldig ihn ärgerte, denn es rechtfertige harte Sanktionen ihm gegenüber, was wiederum Ran Spaß machte. Allerdings schienen sie sich momentan in einem Minenfeld aufzuhalten, jeder Schritt in eine Richtung konnte zu einer kleinen Katastrophe führen. Sie brauchten beide Stabilität, das Problem war, dass sie ihre Stärke aus dem jeweils anderen zogen.

„Ich verkrafte einen Scherz auf meine Kosten, Schu. Der Gegenwind hat dich umgehauen, hmm?“, sagte Ran nach einer Weile.

Schuldig nickte. „Du hast in deinem Essen herumgestochert.“

Ran lachte leise. „Ein kleiner Dämpfer für den Großmäuligen.“

Schuldig nickte stumm.

„Sollen wir uns ein bisschen hinlegen?“, schlug Ran vor. Schuldig löste sich von ihm und sie gingen zusammen nach oben, legten sich aufs Bett und schmiegten sich aneinander.

Ran suchte Schuldigs Lippen und zupfte sanft mit seinen eigenen daran.

Schuldig öffnete sich für ihn und sie verschmolzen zu einem sanften Kuss der weniger leidenschaftlich denn zärtlich war.

Wie lange sie dort lagen wusste Ran nicht, das Lauschen auf Schuldigs Atemzüge hatte ihn eingelullt.

„Sie sind alle tot“, hörte er dann leise.

Er wusste was es zu sagen galt, was nach diesem Satz angemessen war um Trost zu spenden. Aber fühlte er sich bereit dazu?

„Nicht alle.“

„Vielleicht doch.“

„Schu… wir finden sie wieder.“ Glaubte er selbst an seine Worte?

Er war sich nicht sicher.

„Wir sitzen hier in diesem Versteck und diese Arschlöcher machen was sie wollen“, brummte Schuldig verdrossen.

„Die Kawamoris kümmern sich darum, dass wir nicht gänzlich abgehängt werden.“

Schuldig seufzte. „Ich komme mir… hilflos vor. Dieses Gefühl ist Scheiße“, sagte er. „Und jetzt dürfen wir auch nicht raus. Ich will raus, aber auch nicht. Sakura sagt, dass ich nicht stark genug bin, dann wiederum, dass ich unberechenbar bin und sie drosseln mich, schränken mich ein, das fühlt sich an als wäre ich eingesperrt.“

Ran hob seinen Kopf aus Schuldigs Halsbeuge und strich ihm einige fedrige Strähnen aus der Stirn. Seine Mine drückte Trotz aus, der sonst so unternehmungslustige Ausdruck in den grünen Augen war einem unsicheren gewichen. Ran mochte es nicht, wenn Schuldig unsicher wurde, bis zu seiner dunklen Seite war es dann nicht mehr weit.

„Ja, das ist nicht gut“, sagte Ran. Schuldig kam ihm wie ein Kind vor. Die Schnute die er zog machte das Bild perfekt. Es erinnerte ihn an Sakuras Worte, an die Tatsache, dass sie ihn dafür ausgewählt hatte um Schuldig zu beschützen, um einen Soulwhisperer zu schützen. Ein Wesen, das in seinem Ursprung sanft, naiv, unschuldig war und in bestimmten Situationen kam diese Wesensart bei Schuldig nur zu deutlich ans Tageslicht. Sie hatten viele dieser Momente zusammen durchlebt, nur damals hatte Ran weniger darüber gewusst. Er liebte diesen Wesenszug von Schuldig was nicht hieß, dass er die anderen weniger sanften Eigenschaften nicht ebenso zu schätzen wusste – auch wenn sie aufreibend und bisweilen bedrohlich waren.

„Warum? Was heckt deine Großmutter aus?“

„Keine Ahnung ich bin kein Experte auf diesem Gebiet“, sagte er dann in ironischem Tonfall.

„Schade eigentlich“, erwiderte Schuldig und seufzte wieder.

„Halte dich zurück“, sagte Ran dann als sein Gehirn ihm signalisierte, dass Schuldig in dieser ganz speziellen Stimmung meist keine sinnvollen Ideen in die Tat umsetzte.

„Ich weiß“, nuschelte Schuldig und schmiegte sein Gesicht an Rans Oberarm.

„Du würdest mich vielleicht gefährden, wenn du anfängst nachzuforschen“, sagte Ran in weisem Tonfall. Er kannte schließlich Schuldigs Schwachpunkt – und das war mittlerweile Ran selbst. Dass dies ein Problem war wussten sie beide ohne es zu thematisieren.

Schuldig sah mit einem Auge zu ihm auf und Ran spürte an seinem Arm wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. Offenbar hatte Schuldig seine Taktik durchschaut.

„Du bist so ein Arsch“, kam dann und Ran hob die Augenbrauen in gespieltem Tadel.

„Ich? Und warum so plötzlich?“

„Weißt du ganz genau.“ Schuldig schloss seine Augen und kuschelte sich wieder an.

„Tja, ich weiß nur eines…“, Ran strich Schuldig eine Haarsträhne von seinem Ohr, beugte sich darüber, platzierte einen sanften Kuss. „…ich bin dein Arsch mein Lieber und du wirst ihn leider nicht los.“

Das brachte Schuldig nun endgültig aus seiner trüben Stimmung heraus und er musste Lachen, es fing leise an und weitete sich soweit aus, dass das ganze Bett zu wackeln anfing, was Ran ebenfalls zum Lachen brachte.

„Ich werd… meinen Arsch nicht los?“, kicherte Schuldig und rollte sich auf den Rücken zurück um mit Tränen in den Augen zu Ran aufzublicken.

„Wirklich?“

Ran ließ sich auch auf den Rücken fallen und spürte dem Lächeln auf seinem Gesicht nach. „Idiot.“
 

Er musste eingeschlafen sein, denn als er die Augen aufmachte fühlte er sich wie erschlagen. Müde blinzelte er und setzte sich dann auf. Es war viel zu hell, er wollte seine rechte Hand heben und seine Augen vor dieser Helligkeit schützen doch es ging nicht. Was hatte Schuldig jetzt schon wieder mit ihm vor?

Die Linke war kein Problem. Er sah hinunter und erkannte, dass sein rechter Arm in einer Armschale lag, und noch mit Verschlüssen an ihr festgemacht war. Noch bevor er darüber nachdenken konnte was hier vor sich ging griff seine linke Hand nach den Verschlüssen und entfernte sie mühelos, als würde er die Verschlusstechnik kennen. Er sah sich um und langsam gewöhnten sich seine Augen auch an das helle Licht, dass jetzt nicht mehr ganz so grell erschien.

Ran kam mit den Bewegungen nicht mit und als er an einem Innenfenster des Raumes vorbeiging, welches die Sicht wohl vom Flur aus in den Raum freigab erkannte er, dass sein Spiegelbild nicht sein eigenes war. Er hatte andere Haare und… das war nicht er selbst, oder?

Er ging die Flure entlang und Personen passierten seinen Weg, aber er hatte nur wenig Aufmerksamkeit für sie übrig. Dann fiel sein Blick durch eines der Fenster in einen Raum und Ran sah, dass er auf einer Art Brücke stand die hoch oben durch eine Halle führte. In dieser Halle erkannte er unter sich Laborstraßen und viele Geräte die ihm sagten, dass dies hier eine Forschungseinrichtung war, aber an was geforscht wurde, erschloss sich ihm durch seine Beobachtung nicht. Aber er war wütend darüber, er konnte die Wut in sich fühlen, was verwirrend war.

Seine Hand legte sich an die Scheibe und er blickte auf eine bestimmte Stelle, aber Ran sagte sie nichts. Menschen arbeiteten dort unten und gingen ihren Aufgaben nach.

„Was machst du denn hier?“

Jemand sprach ihn an und er sah zur Seite. Ein Mann mit dunklen langen Haaren kam auf ihn zu, er sah besorgt aus. Er war Ran unbekannt.

„Ich… wollte in mein Zimmer“, hörte er sich selbst sagen.

Der Dunkelhaarige presste die Lippen zusammen und kam dann auf ihn zu, er zog ihn von der Scheibe weg. „Das ist in der anderen Richtung. Komm, ich bring dich hin. Hast du schon etwas gegessen?“

„Ich weiß nicht“, sagte er selbst. Und es klang sehr unsicher.

Er wurde von der Scheibe weggeführt und er selbst sah sich noch nach ihr um.

„Lass gut sein, wir können nichts dagegen tun.“

Er blieb stehen und er sah zu seinem Begleiter, der ungefähr seine Größe hatte. Etwas kleiner vielleicht.

„Das ist nicht richtig.“

Er spürte einen Zug an seinem Arm und er ließ sich mitziehen.

„Nein, das ist es nicht.“

Er sagte nichts, sondern folgte dem Mann, der ihn am Arm hielt und neben ihm ging, als würde er jeden Moment weglaufen wollen. Ihn schien es nicht zu stören, dass der Mann ihn mitzog. Sie gingen durch verschiedene Gebäude und er hatte das Gefühl keine Orientierung mehr zu haben.

Dann öffnete der Dunkelhaarige eine Tür hinter der ein großzügig geschnittener Raum lag, er schloss die Tür und führte ihn zu einem Bett, das hinter dem auslandenden Sofa in einem mit Vorhängen abgeteilten Bereich lag.

„Leg dich hin, ich hole dir etwas zu essen.“

Er setzte sich aufs Bett. „Ich will nicht alleine sein“, sagte er und der Mann, der bereits auf dem Weg zur Tür war, drehte sich rasch um. „Ich komme gleich wieder, du bist nicht lange allein.“ Die Stimme klang für Ran etwas entnervt, zugleich aber auch besorgt.

Er selbst legte sich hin und behielt die Tür im Auge. Lange geschah nichts und er spürte eine Angst in sich, die er nicht erklären konnte. Nichts tat sich und er setzte sich wieder auf um aufzustehen und zur Tür zu gehen. Da ging sie auf und der Dunkelhaarige kam wieder herein. Er hatte ein Tablett, auf dem mehrere Dinge lagen mitgebracht.

Er stellte das Tablett auf dem Tisch der bei der Couch stand ab.

„Ich sagte doch, dass du dich hinlegen sollst“, wurde er gerügt und Ran fühlte sich emotional nicht mehr gut. Er hatte das Gefühl weinen zu müssen.

„Bist du böse auf mich?“

Das Tablett machte ein etwas zu lautes Geräusch als es auf dem Tisch aufkam.

„Nein, das bin ich nicht“, bekam er die Antwort die durch ihren Tonfall klar machte, dass es eine Lüge war.

Er ging zur Couch und setzte sich hin. „Aber du bist böse mit mir.“

Der Mann kam zu ihm und setzte sich neben ihn, er wandte sich ihm zu.

„Habe ich dir nicht gesagt, dass es nicht gut ist, wenn du dorthin gehst? Sie mögen es nicht, wenn du dort herumschnüffelst. Das ist gefährlich, weil es ihnen Angst macht. Du weißt zu was ängstliche Menschen fähig sind. Die Gefahr ist real.“

„Für wen?“, fragte er und Ran fühlte Trotz in sich.

„Also bist du böse auf mich, weil ich dorthin gegangen bin“, behauptete er und Ran fühlte immer noch, dass er kurz davor war zu weinen. Er fühlte sich so allein und verlassen, dass es fast körperlich schmerzte.

„Nein, ich habe mir Sorgen gemacht als ich dich abholen wollte und du nicht mehr im Labor warst.“

Der Mann lächelte ein bisschen aber es sah immer noch zu sorgenvoll aus.

„Ich bin nur sehr angespannt und…“, er seufzte. „ich bin dann nicht sehr freundlich zu dir, ich weiß. Ich habe einfach Angst das etwas passiert, wenn ich dich alleine lasse.“

„Mit den anderen? Ich tue ihnen nicht weh.“

Der Mann zog das Tablett heran und reichte ihm einen Teller, auf dem Früchte, in kleine Stücke geschnitten lagen. „Ich will nichts essen“, sagte er betrübt.

„Ich weiß, dass du danach immer keinen Hunger hast“, sagte der Mann nachsichtig. „Du musst etwas zu dir nehmen und dann leg dich hin und schlaf.“

Ran sah zu dem Essen auf dem Tablett, das wohl mitunter Gemüse mit Reis darstellen sollte. Der Geruch des Essens bereitete ihm Übelkeit. Er wollte nichts essen, aber er musste. Er war gefangen hier und konnte nicht das tun was er wollte, er war allein. Alle sagten was er tun sollte und was er tun durfte und nichts anderes. Sie alle bestimmten wann er atmen durfte, wann sein Blut fließen durfte und wann sein Herz schlagen durfte.

„Warum bin ich so?“

„Sie haben wieder am Healer rumgespielt, deshalb.“

Er nickte und stopfte sich ein Stück Banane in den Mund, es schmeckte salzig. Der Brechreiz war immens, er musste mehrmals schlucken um ihn zu bekämpfen. Er kaute und schluckte die salzige Frucht schnell hinunter. „Es schmeckt salzig.“

Der Mann nahm ihm den Teller weg und stellte ihn auf den Tisch.

Er nahm seine Hand und zog ihn zum Bett. „Das kommt wieder in Ordnung, leg dich hin“, wies ihn der Mann schroff an. Ran spürte wie das Engegefühl in seiner Brust zunahm und er die Hand nach dem Mann ausstreckte. „Bitte… bitte… ich weiß nicht…“, er konnte sich nicht mehr zusammenreißen und die ersten Schluchzer bahnten sich aus ihm heraus.

„… was ich tun soll. Bleib bei mir.“

Er sah zu ihm auf und wollte sich wieder aufsetzen, seine Hände zitterten unkontrolliert als sie versuchten die Tränen aufzuhalten. Der Mann starrte ihn an und sein Gesicht drückte Wut aus. Er griff nach seiner Hand.

„Ich gehe nicht weg. Ich bin nur hier um für dich da zu sein. Aber das geht so nicht weiter, es zerstört dich. Du bist nicht du selbst.“

„Du bist hier genauso gefangen wie ich“, sagte Ran und schüttelte den Kopf.

„Nicht so wie du, aber ähnlich.“

„Was meinst du?“

„Ich bin dein Gefangener.“

Ran sah ihn an und er schloss die Augen über den Schmerz den er nach diesem Satz fühlte. Er war so brachial, dass er das Gefühl hatte, dass es besser wäre, wenn er starb. Für alle.

Der Mann half ihm sich hinzulegen und legte sich dann zu ihm, er umarmte ihn und Ran fühlte sich trotz ihres Gesprächs sofort besser. Trotz dem Gefühl der Besserung spürte er dem immanenten Gefühl einer Einsamkeit nach die ihn körperlich und seelisch aufzufressen drohte. Sie nahm ihm die Luft zum Atmen…

Er brauchte Luft. Etwas in ihm drohte ihn zu ersticken, etwas drückte auf seine Lungen, sein Herz, seinen Brustkorb, verengte seine Kehle, verschloss ihm den Mund. Er musste seine Lippen öffnen, er musste das was dahinter war herauslassen und dass was dort draußen war hineinlassen.

Ran öffnete die Augen und holte hektisch Luft, er riss sich die Decke vom Körper, kroch vom Bett und stolperte die Stufen hinunter bis er endlich auf der Terrasse stand um tief Luft zu holen. Seine Knie brachen auf die Steinterrasse und er stützte sich mit den Händen ab, versuchte genug Luft in sich zu saugen. Noch immer spürte er diesen Druck in sich, diesen Schmerz. Er zog sich das Hemd über den Kopf und warf es zur Seite. Er schrie laut auf und ließ sich dann an der Felswand nieder um den Kopf zwischen die Hände zu nehmen und tief ein und auszuatmen. Irgendjemand zog an ihm und er riss die Augen auf und sah hoch.

„Ran…was… ist passiert?“

Das… das war Schuldig. Ran atmete immer noch heftig, die Tränen liefen immer noch und er versuchte sie wegzuwischen um durch den verwässerten Schleier zu erkennen wo er war. Hier herrschte kein Licht, hier war es dunkel. Dann fasste ihn jemand anderer von links an und er sah zu ihm hin, dann wieder zu Schuldig der ihn in seine Arme zog.

Was ihn nur noch hektischer zum Weinen brachte.

„Er… fühlt sich verlassen und allein“, sagte Firan.

Schuldig strich über seinen Kopf.

„Du bist nicht allein, ich bin da und Firan auch. Es ist alles gut. Ein Albtraum, Ran?“

Ran schüttelte den Kopf, nickte dann aber.

Er klammerte sich an Schuldig fest und sagte immer die gleichen Worte, dass Schuldig da sei und nicht wegginge. Dass er nicht allein war und…
 


 


 

Fortsetzung folgt…
 

Vielen Dank fürs Lesen!
 

Gadreel ^_^

Hunger

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]



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Kommentare zu dieser Fanfic (155)
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Von:  LintuAki
2022-09-15T14:47:18+00:00 15.09.2022 16:47
ähm... ähm... wait... WHAT???

OK, Gadreel, du hast es geschafft, ganz offiziell!
Mein Hirn ist tatsächlich für einen Moment ausgestiegen.
Finn ist Sophie?? o.O

Die letzten zwei, drei Kapitel waren schon 'anstrengend', so im Hinblick auf die Fülle an Informationen, die man von Seiten Schwarz/Weiß, aber auch von Seiten Finn zu lesen bekommen hat. Ich hab bei einigen Passagen echt mehrfach lesen müssen, um das Konstrukt zu verstehen, dass sich hier aufbaut - was IHR aufgebaut habt!
So ganz langsam dröselt sich auf, was ihr/du euch ausgedacht habt und - es ist einfach Wahnsinn, ich kann's nur nochmal betonen, wie begeistert ich bin. 🥰

Als Finn das erste Mal tatsächlich als Finn in Erscheinung trat, war schon (fast) klar, dass er zur Gegenseite gehört, genauso wurde aber auch klar, dass er mindestens ein doppeltes (wenn nicht um einiges mehrschichtigeres) Spielchen treibt.
Und aus irgendeinem Grund mochte ich ihn von Anfang an.

Aber Sophie?
Wär ich im Leben nicht drauf gekommen… das hast du wunderbar eingefädelt!
Es erklärt, warum Sophie damals schon fast fluchtartig die Szene verlassen hat, als es mit Brad dann doch 'ernster' wurde. Nach dem Warum hatte ich mich durchaus gefragt und eigentlich irgendeine Art Trauma vermutet (ist ja nicht so, als gäbs hier nicht schon genug Drama 😉)
Das war auch ein Grund, warum ich damals gehofft hab, Sophie möge nochmal auftauchen - irgendwann...

Und die Dame in der Lagerhalle war gar nicht Sophie, wie ich zum Zeitpunkt meines letzten Kommis noch gedacht hab.
Da es aber schon eine Weile her ist, weiß ich gar nicht mehr, an was ich diese Überzeugung festgemacht hab.
Und war natuerlich einerseits sehr enttäuscht, dass "Sophie" die Lagerhalle nicht überlebt hat.
Andererseits sehr irritiert, als dann später rauskam, besagte tote Dame sei Schuldigs Tante.
Und jetzt... ist natürlich einiges klarer :D

Finn und Brad - eine wunderbare Begegnung und herzlich komisch geschrieben. Lilly ist ein Herzblatt 😄
Erstaunlich, dass sie und Gabe Zwillinge sind, wo die beiden doch vom Charakter nicht unterschiedlicher sein könnten. Zumindest erweckt es aktuell den Anschein.

Ich freue mich schon drauf, wenn ich beginne, dieses Kunstwerk noch einmal von vorn zu lesen. Und das werde ich, ganz sicher! Und noch oft.

Herzlichste Grüße
Lintu
Von:  LintuAki
2021-10-24T22:03:47+00:00 25.10.2021 00:03
Hallo Gadreel,

erstmal: Glückwunsch zum 15-jährigen :D

Ich war wirklich jahrelang nicht auf Mexx, es hat sich damals irgendwann verlaufen...

Aber als ich vor einiger Zeit wieder hier her gefunden hab, war ich ... nunja, positiv überrascht und hocherfreut, dass ausgerechnet diese Story immernoch lebt!

Ich hab sie damals schon geliebt, auch wenn ich eher zu den stillen Mitlesern zähle und deshalb selten schreibe. (ich hab sogar einen alten Kommentar von mir gefunden :D)
So viele andere Storys wurden über die Jahre nie beendet oder sind offiziell abgebrochen, einige wenige wurden beendet, das ist wunderbar. Und deine wächst und gedeiht immernoch. DANKE dafür!


Und ja, ich habe von vorn angefangen^^
Es ist ein wenig seltsam, festzustellen, dass mir an vielen Stellen die gleichen Gedanken kommen wie damals. Das ist eine seltsame Art von Erinnerungen... aber eine sehr schöne.

Ich weiß noch, dass ich mir sehr gewünscht habe, Sophie Fuchoin möge irgendwann später nochmal auftauchen. Auf irgendeine Art fand ich sie sehr sympathisch und faszinierend (womöglich, weil Schuldig sie nicht lesen konnte und ihr Abgang bei Brad hat mir auch einige Fragezeichen hinterlassen...).
Und ich glaube, jetzt wo ich doch sehr viel weiter in der Story bin, dass dem tatsächlich so ist :D
Ich bin im 90er Bereich der Kapitel, die Gruppe um die "7 Todsünden" (so nenn ich sie mal) taucht auf - und auf einmal steht da wieder der Name Sophie. Und es passt so wunderbar, dass scheinbar keiner dieser Gruppe von Schwarz wahrgenommen werden kann.
Das ist so seltsam gerade... Dieser kleine Wunsch, eine Geschichte betreffend die ich seit Jahren jetzt doch wieder lesen kann und weiter lese, könnte in Erfüllung gehen.
Man freut sich an den kleinen Dingen des Lebens ;-) Ich bin echt happy^^

Da du ja nun schon seit langer Zeit alleine schreibst, kann ich mir vorstellen, dass das nicht mehr so "einfach" ist wie am Anfang - aber bitte: lass dich auf keinen Fall unterkriegen!
Es wäre so unglaublich schade, wenn dieses großartige Werk irgendwann im Sande verlaufen würde. Und ja, das sage ich auch mit einer gewissen Portion an Egoismus ;-)
Aber ernsthaft: ich finde es überhaupt nicht tragisch, dass es inzwischen "nur" noch wenige Kapitel pro Jahr sind - umso mehr freu ich mich drauf! Lass dir die Zeit zum Schreiben, die du benötigst.


Eine Frage habe ich noch: Im Vorwort zu Kapitel 1 habt ihr damals ein Bild erwähnt mit dem Titel "chapscaptive", das euch zu dieser Geschichte inspiriert hat. Weißt du, ob es das Bild noch irgendwo zu sehen gibt?
Die Webseite scheint nicht mehr die gleiche zu sein bzw das Bild ist dort nicht mehr zu finden.
Und über die übliche Bildersuche findet man unter diesem Titel eher ... weird stuff o.O

Ganz liebe Grüße, bleib gesund und halte durch!
Lintu
Von:  MarrowMoon
2021-06-24T07:03:00+00:00 24.06.2021 09:03
Puh, ich lese deine Fanfiktion alle paar Jahre immer wieder Mal und mag sie wirklich sehr gerne. Die Charaktere haben viel Zeit gehabt mir ans Herz zu wachsen. Daher bin ich nicht sicher, ob ich das hinnehmen kann wenn jei und youji wirklich tot bleiben. Es macht mich traurig und frustriert das ihre lange Reise in einer Sackgasse enden soll, obwohl so vieles noch ungeklärt ist. Ich hoffe sehr, dass es noch Rettung gibt. Ein paar Kapitel habe ich ja noch vor mir. Falls nicht, ist es vll das letzte Mal das ich die ff lese. Du schreibst so realistisch, dass es sich anfühlt als hätte man einen Freund verloren.
Dennoch vielen Dank das du die Geschichte nie abgebrochen hast.
Von:  Silverdarshan
2020-12-19T16:19:10+00:00 19.12.2020 17:19
An dieser Stelle muss ich mal ein paar Worte loswerden:
Ich kenne diese Geschichte seit ihrer Erstveröffentlichung vor so vielen Jahren und bin immernoch ein Fan von ihr.
Ich weiß, wie viel Arbeit, Liebe und Herzblut in einer Story steckt, die so viele Jahre am Leben erhalten wird. Ich selbst habe eine eigene Geschichte hier am laufen, die mich seit 2007 begleitet und an der ich nach wie vor leidenschaftlich schreiben kann.
Ich habe mich drei Jahre von Animexx ferngehalten und dennoch ist diese Geschichte mit die Erste gewesen, dir mir direkt wieder in den Sinn kam, als ich vor kurzem wieder aktiv wurde.
Ich werde sie von Grund auf noch einmal lesen und freue mich auf die vielen neuen Kapitel, die seitdem dazugekommen sind.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich mit Ran unfassbar mitgelitten habe. Ich habe immernoch die Bilder von Schuldigs Flucht im Kopf, bei der er angekettet im Bad fast verhungert ist. Absolute Gänsehautmomente, die mich all die Jahre über immer wieder an eure Geschichte haben denken lassen.
Ich hoffe ihr schreibt noch immer, dieses Meisterwerk von eurer leidenschaftlichen, jahrelangen Zusammenarbeit verdient ein epochales Ende! ;)
Nun denn, ich werde mich die Tage ans Lesen machen und danke euch dafür, dass ihr diese Story noch immer mit uns teilt!
Die Feedbackfreudigkeit auf dieser Platform ist derart drastisch zurückgegangen, dass ich schon befürchtet habe, viele meiner Lieblingsgeschichten nicht mehr vorfinden zu können. Umso erleichterter war ich, als ich eure hier noch finden konnte.
Treibt ihr euch auch auf anderen Seiten herum? ff.de oder Ao3?
Falls ja, gebt mir doch bitte Bescheid, darüber würde ich mich sehr freuen, damit ich euch und euren Ergüssen auch weiterhin folgen kann :D

Liebe Grüße und bleibt gesund!
Silverdarshan
Antwort von:  Gadreel_Coco
16.02.2021 21:21
Hi,

schön von dir zu lesen!
Es ist schon sehr seltsam, dass diese Geschichte derart lange "läuft", wenn ich hier von "laufen" sprechen darf. Denn leider bin ich beruflich seit 2018 sehr eingebunden und dann kam auch noch letztes Jahr diese Katastrophe auf uns zu und seither leidet meine Kreativität sehr stark. Ich hatte letztes Jahr einfach keinen Kopf um irgendetwas anderes außer der Arbeit in meinem Leben wahrzunehmen.

Ich schreibe seit langem alleine an der Geschichte, da ich sie nicht aufgeben wollte und mich die Figuren immer noch mit Begeisterung erfüllen wenn ich sie schreibe. Sie haben immer noch sehr viel Potential. ^_^

Momentan scheint sich die Situation bei uns zu stabilisieren und ich muss weniger Überstunden machen, ich hoffe daher so schnell wie möglich die verlorene Zeit in der Geschichte wieder aufzuholen.
Du glaubst gar nicht wie sehr mich dein Feedback freut! Ich verstehe natürlich wenn die Leute weniger Feedback geben, da die Geschichte zum Einen schon sehr lange läuft und zum Anderen die letzten Monate gar nichts Neues mehr gepostet wurde.

Ich danke dir für deine lieben Worte und hoffe wieder etwas von dir zu lesen! ^___^

LG Gadreel
Von:  radikaldornroeschen
2018-07-30T09:59:14+00:00 30.07.2018 11:59
Ich vergehe von Begeisterung <3 <3 <3 Der letzte Abschnitt ist der Beste!!! owowowowow, ich LIEBE es!!!
Von:  radikaldornroeschen
2018-07-27T11:58:32+00:00 27.07.2018 13:58
Die beiden wirken so toll zusammen *__*
Ich bin begeistert!
Von:  radikaldornroeschen
2018-07-27T09:42:42+00:00 27.07.2018 11:42
Nagi wird mir immer sympathischer *seufz*
Von:  radikaldornroeschen
2018-07-27T06:04:05+00:00 27.07.2018 08:04
Boah, also ständig Sex haben und sich dann beschweren, dass es auch andere Sachen im Leben gibt... genau in diesem Moment geht mir der Trieb der beiden tierisch auf die Nerven!
Die ganzen heißen Szenen zu lesen war ja soweit ganz schön, aber irgendwann ist auch mal wieder gut.
Und dass die sich dann noch darüber aufregen... man man man...
Von:  radikaldornroeschen
2018-07-25T09:17:27+00:00 25.07.2018 11:17
Ooooh, sehr coole Entwicklung!
Endlich stellt mal jemand "realistisch" dar, dass so eine Fähigkeit auch kräftezehrend ist.
Und dieses "Leuchten", was einen Schutzwall bedeutet... super Idee! Und die Umsetzung sowieso ^^
Antwort von:  Gadreel_Coco
25.07.2018 18:57
Danke!
Es sollte ein langsamer Einstieg in diese Welt darstellen in der diese Figuren mit ihren Fähigkeiten wie selbstverständlich umgehen. Dafür mussten wir sehr nahe an die Charaktere herangehen und einen etwas langsameren Fortschritt der Geschichte in Kauf nehmen.

Viel Vergnügen beim Weiterlesen!

LG Gadreel
Von:  radikaldornroeschen
2018-07-18T10:01:56+00:00 18.07.2018 12:01
Crawford als guter Junge? Doch wie passt das zu Schuldigs offensichtlichem Martyrium?
Es bleibt spannend...


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