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A Trip to Hell

Die Leiden des Seto Kaiba ∼ KaibaxWheeler ∼
von

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Tag 1: Psychoterror - in jeder Hinsicht

Titel: A Trip to Hell - Die Leiden des Seto Kaiba

Pairing: KaibaxWheeler

Serie: Yu-Gi-Oh!

Disclaimer: Yu-Gi-Oh gehört nicht mir, ich verdiene kein Geld hiermit, sondern sehe es viel mehr als netten Zeitvertreib.

Widmung: Ich widme diese Story meiner besten Freundin _aiko-chan_ und zudem allen lieben Lesern von 'A Dog's Life'
 


 

1. Tag: Psychoterror – in jeder Hinsicht
 

*~*
 

Ich stand auf dem Dach der Kaiba Corporation. Der Wind heulte um mich herum, ließ meine Haare vor und zurückwiegen. Der Himmel war blau, keine Wolke war zu sehen.

„Kaiba.“

Ich fuhr nicht einmal zusammen, schien es erwartet zu haben. Ich drehte mich nicht um, hoffte innerlich, dass er verschwand, sich vielleicht einfach in Luft auflöste, ohne eine Spur seiner Existenz zurückzulassen. Spurlos. Doch diese Hoffnung wurde zerstört, zusammen mit dem Glauben, eventuell doch noch aus diesem Albtraum zu erwachen. Eine Hand legte sich auf meine Schulter.

Langsam wandte ich den Kopf und drehte mich nach und nach um. Ich blickte in braune Augen, die mich belustigt anfunkelten, sah weiße Zähne, die mir durch ein breites Grinsen entgegenstrahlten.

„Kaiba.“

Wieder dieses Wort, dieser Name. Mein Name. Nur das, mehr nicht.

Ich öffnete den Mund, um ihn kalt anzufahren, doch ... mir fiel nichts ein. Keine Beleidigung, kein einziger bissiger Kommentar. Nichts. Mein Kopf schien wie leergefegt. Nicht einmal scharf zurechtweisen konnte ich ihn, dafür, dass er noch immer seine Hand auf meiner Schulter hatte und nun sogar, voller Dreistigkeit, seine andere Hand auf meine noch freie Schulter legte. Niemand hatte mich anzufassen, doch ihn schien dies nicht zu interessieren. Sein Grinsen gewann an Umfang und ich meinte, einen hämischen Ausdruck in seinen Augen erkennen zu können, bevor er mich unvermittelt von sich stieß. Meine Augen weiteten sich, ich starrte fassungslos auf sein Grinsen, während ich nach hinten taumelte, versuchte, mein Gleichgewicht zurückzuerlangen. Doch der Stoß war zu fest und bevor ich meine Fassung, geschweige denn meinen Halt zurückerlangen konnte, spürte ich, wie ich den Boden unter den Füßen verlor. Das Blut wich mir aus dem Gesicht, ich hörte es in meinen Ohren rauschen, während ich unaufhaltsam nach hinten fiel. Starrte auf sein fröhliches Gesicht, sah, wie er die Hand hob und mir hinterher winkte.

„Guten Flug, Kaiba.“

Dann drehte er sich um, wandte mir den Rücken zu. Sein blondes Haar wehte im Wind.
 

Wheeler, du elender –
 

*~*
 

Mit einem Schrei erwachte ich, setzte mich ruckartig auf. Mein Kopf kollidierte mit etwas Hartem, bunte Sterne leuchteten vor meinem inneren Auge auf und ich fiel zurück in mein Kissen, mir stöhnend die Stirn haltend.

Über mir rumpelte es, ich hörte einen erstickten Fluch, einen unterdrückten Aufschrei und etwas fiel mit einem Poltern und Krachen auf den Boden, rechts von mir. Ich hatte die Augen geschlossen, versuchte meine überforderten Nerven zu beruhigen, dennoch sandten sie Schmerzwellen in mein Gehirn, malträtierten meinen Kopf. Neben mir hörte ich ein schmerzerfülltes Keuchen und ich spürte schwach eine Bewegung. Blind tastete meine Hand nach dem Lichtschalter, fand ihn schließlich und legte ihn um.

Die Lampen flackerten und gingen letztendlich an, erhellten das Zimmer mit ihrem kalten Licht. Zögernd öffnete ich die Augen, schloss sie geblendet wieder und versuchte es anschließend erneut, jedoch weitaus vorsichtiger.

Langsam, mir weiterhin die Stirn haltend, drehte ich meinen Kopf nach rechts.

Neben dem Bett, auf dem Boden, lag ein Deckenberg, aus dem wirr ein Paar Arme, sowie zwei Beine und ein blonder Schopf hervorlugten, welcher fluchend versuchte, sich aufzurappeln.

Genervt verdrehte ich die Augen. „Wheeler“, knurrte ich – zumindest versuchte ich es, denn meiner Kehle entwich nur ein klägliches Krächzen. Erbärmlich. Doch zu meinem Glück schien er mich nicht gehört zu haben, war er doch viel zu sehr damit beschäftigt, sich aus dem Deckengewirr zu befreien.

Ich schloss meine Augen, versuchte mich der Situation und Lage bewusst zu werden. Traum. Ich hatte einen Traum über mich und ... Wheeler.

Normal? Mitnichten. Grotesk? Sicherlich. Paradox? Oh ja.

Ich ließ meinen Blick über das Holz, etwas mehr als einen Meter über mir, wandern. Ich lag in einem Hochbett, in der unteren Etage, in einem Raum, der gänzlich unter meiner Würde war.

Abwegig? Meiner Meinung nach schon.

Real? Den Schmerzen in meinem Kopf nach zu urteilen schon.

Schlimm? Ja!

Wie kam es zu alldem? Nun, das fragte ich mich momentan auch. Langsam sickerten die Fetzen der bis eben noch verwischten Erinnerung in mein Gehirn.

Klassenfahrt - Mokuba.

Horrorfahrt - Wheeler.

Schreckensunterkunft - Wheeler.

Zimmerverteilung - Wheeler.

Unzumutbare Unterkunft mit Hochbett und ... Wheeler.

„Verdammt noch mal, Kaiba!“, hörte ich mit einem Mal besagten Kerl fauchen und öffnete enerviert meine Augen. Wheeler saß reichlich verpeilt inmitten des Deckenberges und funkelte mich an, was angesichts seiner zerzausten Haare, seines verrutschten Schlafanzugoberteils und seinem noch recht verschlafenen Gesichtsausdruck nicht annähernd soviel Wirkung erzielte, wie erwünscht.

„Musst du so schreien und mir beinahe einen Herzinfarkt verpassen?!“, knurrte er und wirkte nun tatsächlich wie ein konfuser Hund, den man mitten in der Nacht vor die Tür gesetzt hatte. Ich starrte ihn wahrscheinlich einen Moment lang an, als wäre er ein Irrer, dann verhärtete sich mein Blick und die gewohnte Gelassenheit kehrte zu mir zurück.

Ich wusste wieder, wo ich war. Ich wusste wieder, warum ich hier war.

Und noch viel wichtiger: Ich wusste, warum Wheeler vor mir auf dem Boden saß und mich wie ein zerstreuter Straßenköter anstarrte. Genau diese drei Komponenten waren es, die mir meine Sicherheit zurückgaben, mich dazu veranlassten, ihm ein herablassendes Lächeln zuzuwerfen, ohne mich dabei aufzusetzen, lag ich doch noch immer mit dem Kopf auf meinem Kissen. Dadurch schien ich ihn sichtlich aus der Bahn zu werfen. Nun war er es, der mich ansah, als wäre etwas mit mir nicht in Ordnung. Tze, wenn bei einem von uns etwas nicht stimmte, dann doch wohl bei ihm.

„Wheeler, sei so frei und verschwinde aus meinem Blickfeld, ich könnte Albträume bekommen.“ Wenn ich diese nicht schon längst hatte. Immerhin hatte er mich vom Dach der Kaiba Corporation gestoßen. Alleine für diese Tatsache sollte ich ihm meine Anwälte vorbei schicken.

„Wer hat denn die ganze Herberge zusammen geschrieen?“

Oh, der Köter zeigte seine Zähne. Zeit, ihm einen Maulkorb anzulegen. „Wheeler, strapazier nicht meine Nerven, geh mir aus den Augen, lass dich bis morgen früh nicht mehr blicken – nein, noch besser – lass dich am besten in den nächsten sieben Tagen kein einziges Mal mehr blicken und, bei Gott, sei endlich still.“ Offensichtlich hatten meine Worte ihren Dienst erfüllt, denn er war tatsächlich still und starrte mich mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Entrüstung an. Mir sollte es Recht sein, solange er nur den Mund hielt. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen streckte ich meine Hand aus, löschte das Licht und drehte mich um, wandte ihm den Rücken zu. Sollte er sehen, wie er wieder zurück in sein Bett fand. Und wehe er würde es wagen, das Licht wieder anzuschalten.

„Untersteh dich, Wheeler“, knurrte ich, ohne hinzusehen, wusste ich doch genau, dass seine Hand bereits tastend die Wand neben sich, auf der Suche nach dem Lichtschalter entlangfuhr. Ich hörte ihn abfällig schnauben. „Du hast mir gar nichts zu sagen, Kaiba.“

Ich schloss die Augen. „Köter, ich habe aus gesagt.“

„Nenn mich noch einmal Köter, Kaiba, und ich schwöre dir –"

Was schwörst du mir, Wheeler? Bewirfst du mich mit deinen Socken, die hier im gesamten Zimmer verstreutliegen? Ich bin schockiert.“

„Halt doch die Klappe.“

„Fang doch zur Abwechslung selbst mal damit an“, entgegnete ich schlicht.

„Tze.“ Ich hörte, wie er sich aufrappelte, seine Bettdecke packte und auf sein Bett warf, nach den Sprossen der Leiter am Etagenbett griff und hinaufkletterte, leise vor sich hinfluchend. Na bitte, ging doch. Wenn er nur immer so gehorchen würde.

Das Hochbett knarrte, als er sich hinlegte, der Stoff der Decke raschelte und dann war es still. Allmählich entspannte ich mich. Endlich. Schon bald hörte ich sein regelmäßiges Atmen und war selbst viel zu erschöpft, um mich über sein leichtes Schnarchen zu beschweren. Eine Frage allerdings ließ mir keine Ruhe: Wie konnte es so weit kommen?
 

*~*
 

„Ich hab gehört, deine Stufe plant eine Stufenfahrt?“

Ich sah von meinen Unterlagen auf, erblickte Mokuba, der im Eingang meines Arbeitszimmers stand und mich interessiert musterte. Seine Worte erinnerten mich schmerzlich an die verdrängten Tatsachen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Verträge vor mir, während ich mit der rechten Hand am Laptop die Tageswerte der Kaiba Corporation überprüfte. „Schon möglich“, antwortete ich desinteressiert, widmete mich so gut es ging der Arbeit, versuchte nicht auf den Blick zu achten, den er mir zuwarf.

„Du fährst doch mit, oder?“

Den Bruchteil einer Sekunde verkrampfte ich mich, die Hand über der Tastatur verharrte geringfügig, bevor ich scheinbar ungerührt damit fortfuhr, die Schriften zu verfassen. Beinahe hastig überflogen meine Augen die Zeilen auf dem Blatt Papier vor mir, nur, um nicht auf den stechenden Blick achten zu müssen, mit dem ich bedacht wurde. Genau das hatte ich mir bereits den gesamten Nachmittag ausgemalt. Das Unvermeidbare.

„Seto?“

Dieser Tonfall. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, während ich mich krampfhaft auf die Worte vor mir zu konzentrieren versuchte. Jedes Mal, wenn er meinen Namen auf diese Weise aussprach, bedeutete dies, dass ich schon so gut wie geschlagen war. Ich, der große Seto Kaiba, geschlagen von meinen kleine Bruder.

„Seto.“

Ich gab den sinnlosen Versuch auf, die Zeilen zu lesen, schloss die Augen und massierte mir mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel, um die aufkommenden Kopfschmerzen zurückzudrängen. Vorerst. Denn sie würden mich heute Abend sicherlich heimsuchen. Wie jedes Mal.

„Was ist, Mokuba?“ Ich ließ die Hand sinken und öffnete die Augen, sah mich seinem strengen Blick direkt gegenüber, da er nun knapp vor meinem Schreibtisch stand.

„Du wolltest nicht mitfahren, stimmt’s?“ Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah mich durchdringend an. Ich hielt seinem Blick stand, hat er diesen doch von mir, und war nicht gewillt ihm nachzugeben.

„Ich werde nicht mitfahren“, erklärte ich sachlich und legte die Unterlagen geschäftsmäßig beiseite, bevor ich mich ihm wieder zuwandte. „Und das ist bereits beschlossene –“ Ich brach ab, als mir ein flehender Blick aus tiefblauen Augen entgegenschlug. Meine eigenen weiteten sich leicht und ich schluckte. Nein, darauf war ich noch nicht vorbereitet gewesen. Nicht so früh. Mokuba lernte eindeutig zu schell.

„Mokuba.“ Meine Stimme klang mahnend, dennoch hatte weder mein Tonfall, noch meine zum Nachdruck zusammengezogenen Augenbrauen Erfolg.

„Seto." Die Augen wurden ein Stück größer, das Glänzen in ihnen eine Spur heller und unbewusst wich mein Körper leicht zurück, bis die Lehne des Schreibtischstuhls ihn daran hinderte und ich somit nichts weiter tun konnte, als diesem Angriff entgegenzutreten. Ihm standzuhalten. „Mokuba, lass das, wir waren schon mehrfach an diesem Punkt. Nicht so“, warf ich mit scharf dazwischen, doch vergeblich. Sie war da. Die unvermeidbare Niederlage. Genau das hatte ich doch verhindern wollen. Den halben Nachmittag hatte ich mir Möglichkeiten zurechtgelegt, überhaupt nicht erst in diese Situation zu geraten, hatte sogar kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, eine Sonnenbrille zu tragen, um die Wirkung dieses Blickes zu dämpfen, doch nun war es zu spät.

„Warum fährst du denn nicht mit, Seto? Du könntest Urlaub gebrauchen.“

Urlaub? Eine Fahrt mit dieser Stufe war ebenso erholsam, wie ein Marathon über mehrere Tage hinweg, durch die höchstmöglichsten Hitzen einer Wüste. „Ich brauche keinen Urlaub, Mokuba“, versuchte ich ihm die Fakten darzulegen, ihn dazu zu bringen, von dieser aberwitzigen Idee loszulassen, meine Nerven nicht unnötig weiter zu strapazieren.

„Doch, den brauchst du!“, erwiderte er mit einer beinahe unheimlichen Bestimmtheit in der Stimme, die er einfach nur von mir haben konnte. Ich musste aufpassen, dass Mokuba mir nicht in Naher Zukunft überlegen war.

„Nein Mokuba, brauche ich nicht“, beharrte ich weiterhin auf meine eigene Sicht der Dinge, war in keinster Weise gewillt, meinem kleinen Bruder in dieser Hinsicht nachzugeben. Nicht hierbei. Angesichts der flehenden Kinderaugen, die mich bittend ansahen begann meine feste Entschlossenheit zu brechen, wurde durchzogen von Rissen. Nein, diese Methode hatte er sicherlich nicht von mir. Auf eine derart perfide Art und Weise würde ich niemals versuchen, meinen Willen durchzusetzen. Ich hatte weitaus effektivere Mittel und Wege. Nicht so, Mokuba.
 

Es hatte dennoch nichts genützt.
 

Etwa eine Woche später stand ich vor dem Schulgebäude, neben mir mein schwarzer Koffer mit dem silbernen KC - Logo in der Mitte, in meiner rechten Hand die Tasche mit meinem Laptop, den ich trotz Mokubas Proteste mitnehmen würde.

Es war einer der wenigen Tage im Schuljahr, an dem die Schuluniform keine Pflicht darstellte und ich hätte liebend gerne meinen weißen Mantel angezogen. Doch auch hier hatte mir Mokuba einen Strich durch die Rechnung gezogen. Sämtliche weißen Mäntel waren heute Morgen unauffindbar. Allerdings würde ich nicht Seto Kaiba heißen, wenn ich nicht auf eine derartige Situation vorbereitet gewesen wäre, wusste ich doch nur zu gut, wie sehr Mokuba diese Mäntel verabscheute und hatte darum vorsorglich bereits vor einigen Tagen einen von ihnen in meinem Koffer verstaut. Jedoch bedeutete dies, dass ich ihn erst an unserem Ausflugsziel würde tragen können, denn Mokuba würde sicherlich mit allen Mitteln versuchen, mich vorher daran zu hindern und sei es, dass er dafür sorgte, dass der Mantel durch unglückliche Umstände kurz vor meinem Aufbruch beschmutzt würde.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Langsam wurde es Zeit, dass der Rest der Stufe sich einfand, es war bereits fast acht. Hatte ich mich wohlmöglich im Datum geirrt? Nein, ich irrte nie, alleine eine leichte Verschätzung konnte in der harten Wirklichkeit fatale Folgen haben. Dennoch würde es mich ausnahmsweise in dieser Situation nicht stören, mich zum ersten Mal in meinem Leben verschätzen zu haben. Ich wandte meinen Kopf und blickte auf Mokuba hinab, der neben mir auf meinem Koffer saß und fröhlich vor sich hinsummte. Er müsste selbst längst in der Schule sein, doch ließ er es sich nicht nehmen, mich persönlich zu verabschieden. Waren dies doch seine Worte gewesen, gleichwohl ich sehr genau wusste, dass er einfach sichergehen wollte, dass ich auch wirklich mitfuhr. Er hatte wirklich keinen Funken Vertrauen in dieser Hinsicht.

Fünf Minuten verstrichen und noch immer war von meinen Mitschülern nichts zu sehen. Die anfängliche Hoffnung, die Abfahrt vielleicht doch verpasst zu haben, festigte sich. „Tja, Mokuba“, wandte ich mich an meinen kleinen Bruder, der zu mir aufsah, „sieht ganz so aus, als müsste ich doch nicht mitfahren.“

Er sah mich schmollend an, bevor er den Blick senkte. „Aber ich habe mich doch mit Yugi hier verabredet“, murmelte er geknickt und ich stutzte. Verabredet? Mit Muto? Sollte das heißen, die ganze Sache war bereits geplant? Mokuba schien mir wirklich immer ähnlicher zu werden. Wenn ich mir etwas als Ziel setzte plante ich auch jeden Schritt im Voraus. Allerdings kam ich auch immer ans Ziel. Bei

Mokuba schien dies nicht der Fall zu sein.

„Hallo Kaiba.“

Ich erstarrte unmerklich.

Oder vielleicht doch?

Langsam drehte ich mich um und musste den Blick ein ganzes Stück senken um zu Muto hinabzublicken, der nun direkt vor mir, beziehungsweise bis eben noch hinter mir stand.

Mokubas Kopf schnellte bei der Stimme des anderen nach oben und freudig sprang er auf. „Yugi! Und ich dachte schon, du kommst nicht.“

Der kleine Punk lächelte freundlich. „Natürlich komme ich, wir waren doch verabredet.“

Tze, wenn es nach mir ginge hätte er auch liebend gerne sonst wo bleiben können, bei seinem kleinen Kindergartenverein. A propos, wo waren die eigentlich? „Muto, wo hast du deine Anhängerschaft gelassen?“, fragte ich und klang dabei betont desinteressiert. Er hob den Blick und sah zu mir auf – bei dieser Gelegenheit fiel mir wiederholt auf, wie klein er doch war – und lächelte mich an. Bah, der sollte damit aufhören. Als wären wir in irgendeiner Hinsicht befreundet.

„Die sitzen alle schon im Bus.“

Meine Augenbraue schwang in die Höhe und mein Blick wanderte über den Platz vor dem Schultor.

„Bus? Welcher Bus?“, fragte ich forschend. Offensichtlich hatte ich doch eine Kleinigkeit nicht mitbekommen. Er schüttelte den Kopf. „Doch auch nicht hier, Kaiba. Der Bus steht auf der anderen Seite der Schule, auf dem Parkplatz.“

Meine Augenbraue begann bei diesen Worten leicht zu zucken. Parkplatz? Offenbar hatte ich doch mehr verpasst, als ich gedacht hatte. Was wahrscheinlich daran lag, dass ich in den letzten Tagen zu viele Termine in der Firma hatte, um in der Schule zu erscheinen. Ich hatte meine Meetings absichtlich genau in die Schulzeit verlegen lassen, um nicht an den Gesprächen zur Klassenfahrt teilhaben zu müssen.

Aber vielleicht hätte ich mich doch ein wenig mehr erkundigen sollen, bedeutete dies doch jetzt, dass offensichtlich alle schon da waren und ... auf mich warteten? Nein, ich konnte unmöglich der Letzte sein. Ein Seto Kaiba kam niemals als Letzter. Alleine schon, weil Wheeler diesen Platz in allen Kategorien einnahm.
 

„Also Mokuba, du weißt, was ich dir gesagt habe?“, fragte ich streng, während ich mit missbillig in die Höhe gezogener Augenbraue dabei zusah, wie der Busfahrer meinen Koffer zu den anderen zwänge.

Wenn dabei auch nur eine winzige Kleinigkeit des Koffers beschädigt werden sollte, konnte der Mann sich auf etwas gefasst machen.

„Ja, ich weiß schon, Seto, auch Roland ist bestens informiert und weiß, was er zu tun hat. Und ich werde jeden Tag brav in die Schule gehen und nein, es gibt kein Eis zum Frühstück, während du weg bist und ich werde auch nicht zu spät ins Bett gehen“, ratterte Mokuba die Liste an Verordnungen, die ich ihm bereits in den Tagen vor meiner Abreise mehrfach vor Augen gehalten habe hinunter. „Ich werde nicht zu viel Fernsehen, nicht zu lange am Computer sitzen und meine Hausaufgaben ordentlich machen und alles später Roland zeigen.“ Meine Augenbraue hob sich noch ein Stück an. Hatte Mokuba ernsthaft vor, all dies zu befolgen? Eigentlich hatte ich diese Liste nur aufgestellt, um ihn vielleicht doch umzustimmen und zur Vernunft zu bringen, um letztendlich vielleicht doch nicht mitfahren zu müssen.

Wunderbar, jetzt half das also auch nicht mehr. Gegen diesen Jungen war mittlerweile wirklich kein Kraut mehr gewachsen.

Mit einem Knallen schloss der Busfahrer die Klappe des Frachtraumes für die Koffer und gab mir somit das Zeichen, dass es wirklich Zeit wurde. „Also dann, bis in einer Woche, Mokuba“, meinte ich steif, wusste, dass ich dabei viel zu förmlich klang, und wollte mich schon umdrehen, doch da spürte ich bereits sein Gewicht an mir hängen. Einige Sekunden kämpfte ich um mein Gleichgewicht, fing mich jedoch rechtzeitig. „Mokuba“, entgegnete ich mahnend und versuchte ihn sanft aber bestimmt von mir zu schieben. Ein flüchtiger Blick über die Schulter verriet mir, dass meine Mitschüler mit ihren Gesichtern förmlich an den Scheiben des Busses klebten – insbesondere die Mädchen, aber auch die Jungen mit stetem Interesse – bevor ich mich wieder meinem kleinen Bruder zu wandte. Na wunderbar, also eine Abschiedsszene mit Schaulustigen. Blieb mir den nichts erspart? Was wurde denn dabei aus meinem Image?

„Mokuba“, wiederholte ich nun etwas eindringlicher und schaffte es schließlich auch, ihn von mir zu lösen. Mit großen, leicht glänzenden Augen sah er zu mir auf. „Pass auf dich auf, Seto.“

Was dachte er denn? Das ich zulassen würde, dass meine Firma kopflos dastand? Ich würde wiederkommen. Soviel war sicher. Allerdings beschlichen mich allmählich leichte Zweifel, ob es wirklich so gut war, ihn einfach alleine zu lassen. Er war immerhin erst elf. Nun gut, beinahe zwölf, aber trotzdem. Bei Gott, er hatte Roland und die Angestellten in der Villa. Er hatte alles, was er brauchte.

Ich warf einen erneuten Blick über die Schulter, registrierte, dass sich die anderen beinahe ihre Nasen an den Fenstern platt drückten um ja nichts zu verpassen, bevor ich mich wieder umdrehte und Mokuba in einer flüchtigen Bewegung über den Kopf strich. „Machs gut, kleiner Bruder. Es ist doch nur eine Woche. Außerdem wolltest du, dass ich mitfahre. Oder soll ich doch hier bleiben?“

Insgeheim hoffte ich wohl doch noch, dass er seine Meinung angesichts des drohenden Abschieds ändern würde, doch er schüttelte tapfer den Kopf. „Nein, ich bin doch schon groß und dir tut die Klassenfahrt sicher gut.“

Ich widerstand dem Drang, die Augen bei diesen Worten zu verdrehen. Gut tun? Dieser Trip? Gewiss nicht. Allerdings konnte ich ihn jetzt auch nicht derart enttäuschen, indem ich einfach nicht mitfuhr.

Angesichts der starrenden Schüler im Bus konnte ich jetzt erst recht keinen Rückzieher machen. Wie sah das denn aus? „Bis dann, Mokuba“, sage ich leise und drehte mich um.

„Viel Spaß, Seto“, rief er mir hinterher. Ich betrat den Bus und stieg die Treppen ins Innere hinauf.

Spaß? Oh ja, den würde ich haben. Jede. Menge. Spaß.

Die Türen des Busses schlossen sich hinter mir und ich hielt einen Moment inne. Was war los? Warteten sie gar nicht auf Wheeler?

Als ich meinen Blick über die Schüler, die bereits auf ihren Plätzen saßen und sich teilweiße schon häuslich eingerichtet zu haben schienen, streifen ließ, übermannte mich die grausame Erkenntnis.

Sie mussten nicht auf Wheeler warten. Der Köter war bereits da. Ich war derjenige, auf den sie noch gewartet hatten. Die Hand, die meine Tasche hielt, verkrampft sich kurz in dem schwarzen Stoff.

Seit wann kam Wheeler bitte pünktlich? Und warum ausgerechnet an dem Tag, an dem ich zu spät kam?

„Würdest du doch bitte setzen?“, fragte der Busfahrer mich auffordernd und mein Kopf ruckte in seine Richtung. Ich funkelte ihn kalt an, woraufhin er leicht zurückzuckte. Man hatte mich gefälligst mit dem nötigen Respekt zu behandeln. „Hängen Sie sehr an Ihrem Job?“, fragte ich ihn drohend und er nickte verschüchtert. „Dann wäre ich an Ihrer Stelle vorsichtig, wie Sie mit gewissen Personen reden.“ Erneut ein leichtes Nicken und ich wandte mich ab, würdigte ihn keines weiteren Blickes. Die anderen Schüler begannen aufgeregt zu tuscheln, die Mädchen kicherten leise. Der Griff um meine Tasche lockerte sich leicht, nur um sich wenige Augenblicke später zu verkrampfen. Mein Blick wanderte über die Sitzreihen, blieb an der einzig freien Stelle hängen. Meine Augenbraue begann erneut zu zucken, diesmal deutlich heftiger.

Das durfte doch einfach nicht wahr sein.

Die einzig freie Sitzreihe befand sich genau in der vorletzten Reihe, unmittelbar vor der Viererreihe, in der – wie konnte es auch anders sein – Muto und der Rest des Kindergartens sich eingenistet hatten.

Meine Finger krallten sich beinahe Halt suchend in meine Tasche, während ich den Mittelgang des Busses entlang schritt, den Blick stur auf den Platz gerichtet. Ohne Muto und Co. eines Blickes zu würdigen ließ ich meine Tasche auf den Platz zum Gang hin fallen und setzte mich selbst ans Fenster, starrte verkrampft nach draußen, sah Mokuba, der dem Bus, welcher sich nun langsam in Bewegung setzte, hinterher winkte, mich schließlich erblickte und noch heftiger mit den Armen ruderte. Beinahe musste ich schmunzeln, schaffte es jedoch, diese Gefühlsregung zu unterdrücken. Nicht hier.

Ich spürte, wie der Kindergartentrupp mich anstarrte. Ich nahm eine Bewegung direkt hinter war. „Was denn Kaiba, du fährst mit?“

Ich schloss einen Moment gequält die Augen. Nicht auch noch das. Wheeler saß genau hinter mir.

„Nein, Wheeler, ich fahre nicht mit, ich bin nur zufällig in diesem Bus“, antwortete ich zynisch, verschwendete keinen Blick damit, ihn anzusehen. „Wonach sieht es denn aus?“ Ich hörte ihn knurren und es erfüllte mich mit Genugtuung. „Was denn, ist der Hund jetzt etwa sauer?“, fragte ich, ohne die Augen zu öffnen und lehnte meinen Kopf zurück, genoss meine Überlegenheit.

„Halt doch die Klappe, Kaiba.“

„Nur wenn du mich dann endlich in Ruhe lässt, Köter“, entgegnete ich kühl.

„Reicher Pinkel.“

„Elende Töle.“

Oh ja, ich genoss meinen ‚Urlaub’ bereits jetzt.
 

Gelangweilt ließ ich meinen Blick über die Landschaft, die an dem Bus vorbeizog, streifen. Ein Haus, ein Baum, noch ein Baum und – oh – noch ein Haus ...

Nur mit Mühe konnte ich ein Gähnen zurückhalten. Wir waren bereits mehrere Stunden unterwegs und ich sehnte mich jetzt schon nach dem Ende der Reise.

Spätestens als Wheeler, Taylor und Devlin hinter mir begonnen hatten, die Autos, die uns entgegenkamen, zu zählen, hatten meine Nerven blank gelegen. Als Muto und Bakura, der in derselben Reihe wie ich, nur auf der anderen Seite des Ganges saß, anschließend nichts besseres zu tun hatten, als gemeinsam ein Reiselied anzustimmen und Gardner die beiden auch noch unterstützt hatte, war ich drauf und dran gewesen, den Bus einfach zu verlassen, wenn nötig durch das Fenster. Doch bis jetzt hatte ich mich effektiv zurückgehalten, würde dies meinem Image doch nicht wirklich zugute kommen.

„Vier“, erklang Taylors Stimme fünf Minuten später hinter mir, währen Muto und der Rest der ‚Jammergruppe’ wohl kein Lied mehr fanden, welches sie mit ihrem ‚Gesang’ noch nicht verunstaltet hatten und es schließlich, zur Freude meiner geschundenen Nerven, aufgaben.

Dann war es endlich still, abgesehen von dem Gemurmel der anderen Schüler, während ich bereits innerlich bebte, darauf gefasst, das nächste Auto an unserem Bus vorbeifahren zu sehen, nur um anschließend von Wheeler oder Devlin verkündet zu bekommen, dass es das fünfte war.

Dann kam es. Ein schwarzer Porsche, der mich schmerzlich daran erinnerte, dass ich in den nächsten sieben Tagen meinen eigenen roten, vierrädrigen Freund, nicht mehr sehen konnte und erst in einer Woche das Gaspedal wieder ordentlich würde hinunterdrücken konnte.

„Fü –“

„Wheeler, tu mir den Gefallen und halt deine Klappe. Du wirst auch in den nächsten zwanzig Minuten vielleicht ein Auto zu sehen bekommen, na und? Sei so nett und verschon mich damit!“, fauchte ich genervt nach hinten und er verstummte, überrascht, dass ich nach Stunden des beharrlichen Schweigens doch noch demonstriere, dass es mich gab.

„Wenn es dich stört Kaiba, dann hör doch einfach nicht hin“, entgegnete er gereizt.

„Das würde ich ja, aber dich kann man einfach nicht überhören“, knurrte ich missgelaunt.

„Oh“, hörte ich ihn belustig sagen, „das heißt dann wohl, dass du nur noch Ohren für mich hast?“

Bitte was? War der Köter nicht mehr ganz bei Verstand? Ich richtete mich auf, drehte mich um und sah ihn über die Lehne hinweg scharf an. „Wheeler“, begann ich und betonte dabei seinen Namen überdeutlich, während meine Stimme bedrohlich ruhig klang. „Ich rate dir, deine Wunschphantasien nicht Überhand gewinnen zu lassen, sonst könnte dies sehr schmerzhafte Folgen für dich haben.“

Die anderen des Kindergartenvereins starrten uns stumm an, folgten gebannt unserem Wortgefecht, das nun in die nächste Runde ging. Nicht einmal Muto griff ein. Wheeler verengte seine Augen. „Meine Wunschphantasien?“, wiederholte er verärgert und ballte seine Fäuste. „Ich hab doch keine Wunschphantasien von dir! Was bildest du dir ein?!“

Ich hob die Augenbraue, sah ihn spöttisch an und ein abfälliges Grinsen erschien auf meinem Gesicht. „Was denn? Ist der Köter sauer, weil ich ihn erwischt habe?“

„Das – du hast mich bei gar nichts erwischt!“, entgegnete er kochend und seine Fäuste zitterten unkontrolliert. „Du hast doch damit angefangen, du reicher Pinkel!“

Ich sah ihn mit einer Mischung aus Spott und Hohn an. „Oh, der Hund bellt, weil er sich in die Ecke gedrängt fühlt. Na, wie ist das, Wheeler?“

„Halt doch die Klappe!“, schnauzte er mich an und in diesem Moment verstummten sämtliche Gespräche im Bus. Sollte mich seine Lautstärke einschüchtern? So was aber auch.

Ich schüttelte den Kopf. „Wheeler, Wheeler, ich fürchte du begreifst die Grundregeln, ein Wortgefecht zu führen, noch immer nicht.“ Ich hob den Blick und funkelte ihn satirisch an. „Nicht die Lautstärke zählt, sondern die Wortwahl. Aber was rede ich eigentlich?“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Einem alten Hund kann man bekanntlich keine neuen Tricks beibringen.“ Ich legte einen gespielten Hauch von Bedauern in meine Stimme und sah zufrieden, wie Taylor ihn festhalten musste, damit er sich nicht auf mich stürzte. Da brauchte wohl jemand dringend eine Leine.

„Jetzt reicht es aber!“ Ich wandte meinen Kopf und erblickte unsere Klassenlehrerin, Aoyagi-sensei, die während unseres Streitgesprächs zu uns hinübergeeilt zu sein schien. Sie sah mich und Wheeler strafend an. „Nicht alleine, dass ihr zwei euch dauerhaft im Unterricht nicht beherrschen könnt, jetzt passiert es auch auf unserer Stufenfahrt. Könnt ihr euch nicht etwas zusammenreißen?“

„Wenn es nach mir ginge wäre ich erst gar nicht hier“, knurrte ich leise, lehnte mich in meinem Sitz zurück und schloss die Augen. „Ich könnte mir sinnvolleres vorstellen, als meine Zeit hier zu verschwenden.“

Die Frau ging nicht auf mich ein, sondern vor bereits fort: „Ich erwarte von euch beiden, dass ihr euch diese Wocher zurückhaltet und eure Aggressionen woanders auslebt.“

Ich öffnete ein Auge und sah sie nachdenklich an. Aggressionen? Ich? Wovon sprach sie? Wheeler war derjenige von uns beiden, der sein Temperament nicht im Zaum halten konnte. Ich dagegen war für meine extreme Selbstbeherrschung bekannt. Wie kam die Frau da bitte auf ‚Aggressionen’? Ich stöhnte innerlich.

Da, es fing bereits an. Der ‚Spaß’ hatte begonnen.
 

„Wie, es gibt nur Viererzimmer?“, wiederholte Devlin konfus. „Was soll das heißen?“

Ich zählte innerlich bis zehn. ‚Was hast du erwartet?’, fragte ich mich selbst. ‚Dass diese Idioten vielleicht auch einmal etwas ohne Erklärung verstehen würden? Wohl kaum.’

„Das soll heißen“, begann ich so entspannt es eben möglich war, angesichts der verständnislosen Blicke der Kindergartengruppe, „dass es nur Viererzimmer gibt, Devlin. Was gibt es daran nicht zu verstehen? Devlin, du hast ein Spiel erfunden, wie kannst du da etwas derart Triviales nicht begreifen?“

War ich in eine Horde aus lauterminderbemittelten Idioten geraten? Offenbar schon. Warum hatte ich auch die Rolle des Klassensprechers übernommen bei einer derart schwierigen Klasse? Ach, ich vergaß, das hatte ich ja unserer werten Lehrerin zu verdanken. Darum lag die Zimmerverteilung nun auch bei mir, da sich unsere Lehrer freundlicherweise zur Erholung zurückgezogen hatten. Großartig. Ich liebte den Urlaub jetzt schon über alle Maßen.

„Viererzimmer?“, echote Wheeler und sah sich um. Gardner hatte bereits eines der Mädchenzimmer mit ihren Freundinnen besetzt. Der Köter warf einen Blick auf ihre Gruppe. „Aber wir sind zu ...“, er zählte nach.

„Zu fünft, Wheeler“, kam ich ihm zuvor, war es leid, darauf zu warten, bis er mit Zählen fertig war. „Ihr seid zu fünft.“

„Ich kann selber zählen, Kaiba!“, fauchte er zurück.

„Da bin ich mir nicht so sicher“, erwiderte ich gelassen und wandte mich an Muto. „Es ist mir ehrlich gesagt vollkommen gleich, wer von euch sonst wohin aufs Zimmer geht, macht das unter euch aus.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und ließ die fünf etwas verlassen auf dem Gang stehen. Sollten die doch zusehen, was sie daraus machten.

Ich verließ die Herberge durch den Eingang. Die Sonne stand hoch am Himmel, war es doch später Mittag, wenn nicht eigentlich sogar schon früher Nachmittag und ich sah mich um. Die Herberge lag außerhalb der Stadt, doch man hatte von hier aus beste sicht auf Ôsaka. Wer hatte eigentlich die dumme Idee gehabt, ausgerechnet nach Ôsaka zu fahren? Die Stadt war nicht wirklich schlecht, aber wer kannte sie nicht? Ich war bereits des Öfteren hier gewesen, um Geschäfte zu erledigen oder auf Veranstaltungen, zu denen ich hatte erscheinen müssen und diese Stadt hatte mir nicht mehr wirklich viel zu bieten. Aber bitte, wem es gefiel. Wahrscheinlich hatten die inkompetenten Idioten aus meiner

Klasse auch einfach an eine Stadt mit Strand gewollt, um den Mädchen im Bikini hinterher zu gaffen.

Das wäre typisch.

Ich griff in die Tasche meiner schwarzen Hose und tastete nach meinem Handy, als mir auffiel, dass sich nichts in der Tasche befand. Ich stockte. Aber ich hatte doch –

Ich kramte hektischer in der Hosentasche, griff anschließend in die andere, doch vergeblich. Nichts.

Was zum -?! Mokuba! Er musste es mir abgenommen haben, als ich mit ihm in der Limousine auf dem Weg zur Schule gesessen hatte. Doch wie hatte ich das nicht bemerken können? Oder aber ich hatte es einfach verloren und wurde allmählich paranoid. Ich schüttelte den Kopf. Ein Seto Kaiba verlor niemals etwas. Doch auch die Möglichkeit mit Mokuba war mindestens genauso schlimm, wie die zweite Vermutung. Bestohlen von meinem eigenen Bruder.

Ich vergrub frustriert die Hände in meinen Hosentaschen, fühlte mich dadurch zu meinem Entsetzen an Wheeler erinnert, der auf die selbe Weise reagierte, wenn er mal wieder aus der Klasse geschmissen wurde, nahm sie rasch wieder aus den Taschen und marschierte zurück in die Herberge.

Konnte dieser ‚Urlaub’ noch schlimmer werden?

Ich packte meinen Koffer und meine Tasche mit dem Laptop, an dem ich den Rest der Fahrt über gesessen und gearbeitet hatte, die in der Eingangshalle der Herberge standen und zog das Objekt mit Rollen hinter mir her, direkt zu dem Doppelzimmer, welches ich bereits offenkundig für mich beansprucht hatte. Es lag am Ende des Ganges, was meine Laune um ein Minimum anhob, bedeutete dies doch, dass ich zumindest ansatzweise vom Lärm der anderen verschont bleiben würde. Sehr gut, so konnte ich wenigstens in Ruhe arbeiten. Ich stieß die Tür zu dem Doppelzimmer auf und hatte gerade einen Fuß hineingesetzt, als ich mitten in der Bewegung gefror.
 

Ich weiß bis heute nicht, was mich zu diesem Zeitpunkte mehr schockte.
 

Ob es die Tatsache war, dass in der hinteren Ecke des Zimmers neben dem Schrank und einem klapprigen Tisch mit Hocker nur ein schäbiges Hochbett stand oder ob es Wheeler war, der mitten im Raum stand, seinen offenen Koffer vor sich auf dem Boden, einige Socken um ihn herum verstreut, einen Berg Kleidung auf dem Arm und mich entgeistert ansah.

Die Tasche mit dem Laptop entglitt meinen Fingern, fiel mit einem Knallen auf den Boden und der Kleiderhaufen Wheelers rutschte ihm aus den Armen, seine Socken kullerten über den Holzboden.

Dies war kein Urlaub mehr. Spätestens jetzt war es ein Albtraum.
 

*~*~*~*
 

„Was zum -?!“ Zum wiederholten Mal kollidierte mein Kopf mit dem Holzbalken des Hochbettes und ich sank fluchend zurück in die Kissen, mir die doppelt malträtierte Stirn haltend. Ein Fluch erklang über mir und zum zweiten Mal in dieser Nacht fiel etwas krachend neben mir auf den Boden.

„Verdammt, Wheeler“, stöhnte ich genervt, tastete blind vor Schmerzen nach dem Lichtschalter und schaltete die Lampen an. Die Szenerie erinnerte stark an ein Déjà-vu, und in gewisser Hinsicht war sie es auch. Der Köter lag mit seiner Decke auf dem Boden, auf unmöglichste Art und Weise in ihr verheddert und versuchte sich aus ihr freizukämpfen. Dies gelang ihm auch, allerdings funkelte er mich nun ziemlich wütend an, spuckte das Knäuel Socken aus, welches er im Mund hatte und knurrte. „Kaiba, bei allen Duellmonstern, was ist los mit dir?! Geht’s noch?! Es ist mitten in der Nacht und du schreist zweimal hintereinander die halbe Herberge zusammen.“

Ich hob die Hand, die ich mir auf die Augen gelegt hatte, um die grellen Sterne, die vor meinem Geist auf und abtanzen nicht zu verstärken, und starrte ihn an. „Kannst du nicht einmal die Klappe halten, Köter?“, zischte ich, da mein Kopf mit einer erschreckenden Heftigkeit schmerzte, die mir beinahe vollends die Sicht nahm. Wie ich Hochbetten doch hasste.

„Bitte?!“, er starrte mich verständnislos an. „Wer von uns beiden ist den hier bitte laut, hä?“

„Du, wer sonst?“, antwortete ich und legte meine Hand wieder auf meine Augen, um sie vor dem Licht der Lampe zu schützen. Oh, das tat meinem Kopf gar nicht gut. Zu hell. Viel zu hell.

„Kaiba, du bist echt krank“, grollte er und ich höre, wie er sich aufrappelte und seine Decke wieder auf sein Bett schmiss, bevor er nach oben kletterte. „Schreist hier rum und beschwerst dich, dass ich zu laut bin. Dich soll man echt mal verstehen.“ Dann war es wieder still und ich konzentrierte mich darauf, regelmäßig ein und auszuatmen. Langsam verschwanden die weißen Sterne ich spürte nur das stetige Pochen meines geschundenen Kopfes.

„Kannst du vielleicht endlich mal das Licht ausmachen“, fauchte Wheeler von Oben und er hörte sich reichlich missgestimmt an. Gut, in gewisser Weise war es nachzuvollziehen, war er doch wegen mir zwei Mal aus der oberen Etage des Hochbettes gefallen und das hatte sicherlich nicht weniger geschmerzt als mein Kopf es jetzt tat. Doch wen kümmerte das? Er war ein dummer Straßenköter, der verkraftete das doch sicher mühelos. Doch was war mit mir? Ich war mir sicher, morgen nach dem Aufstehen eine schmückende Beule auf meiner Stirn erkennen zu können. Großartig.

„Kaiba. Das Licht“, knurrte er und ruckte zur Verdeutlichung seiner Worte leicht hin und her, wodurch das gesamte Hochbett gefährlich knarrte.

„Wheeler, spinnst du?!“, fuhr ich ihn an und augenblicklich verharrte er. „Willst du, dass dieses Wrack zusammenbricht?“

„Ist doch egal“, entgegnete er und ruckelte gleich noch ein bisschen weiter. „Falls es das tut, kracht es ja nur dir auf den Kopf.“

Ich würde ihn umbringen, soviel war sicher! Ich würde es langsam und qualvoll machen, das schwor ich mir. Dafür, dass er es wagte, mich in meinen Träumen vom Dach der Kaiba Corporation zu stoßen und dafür, dass er mich unter den Trümmern des Bettes begraben wollte. Mit der rechten Hand tastete ich nach dem Lichtschalter und löschte das Licht. Es wurde dunkel im Zimmer und er blieb still über mir liegen.

Ich würde ihn erledigen, ohne Zweifel. Ich drehte mich auf die Seite und schloss die Augen. Aber erst morgen früh.
 

~*~*~
 

Every roomate kept awake

By every silent scream we make

All the feelings that I get

But I still dont missed you yet

Only when I stop to think about it
 

~*~*~
 

(Three Days Grace - I hate everything about you)

Tag 2: Stadtbesuche - alles andere als harmlos

Tag 2: Stadtbesuche - alles andere als harmlos
 

Draußen schien die Sonne. Einige Vögel zwitscherten. Der Himmel war blau. Es war Samstag. Und Wheeler war so gut wie tot!

Mit vor Missbilligung verzogenem Mund betrachtete ich die, sich leicht bläulich verfärbende Stelle auf meiner Stirn im Spiegel das Waschraumes. Waschraum! Ich schnaubte. Was hatte ich erwartet? Das es in diesem Verschlag Badezimmer gab? Wohl kaum. Hätte ich das gewusst, hätte ich dafür gesorgt, dass die Kaiba Corporation die Schule in dieser Hinsicht finanziell unterstützt. Doch leider hatte ich in den Stunden, in denen es um die Zielortsbestimmung ging natürlich gefehlt. Typisch.

Ich warf einen letzten Blick auf mein Spiegelbild, welches mir mürrisch entgegenblickte, strich mir meinen Pony so, dass er direkt über die geschundene Stelle fiel, wobei ich in Kauf nehmen musste, dass er heute nicht so perfekt aussah, wie sonst auch immer, drehte mich um und verließ den Waschraum.

Es war Samstag, ich hatte Urlaub und wo befand ich mich? In einer schäbigen Herberge, am Rande von Ôsaka, mit der Dumpfbackenpatrouille schlechthin.
 

„Morgen Kaiba, du siehst aber reichlich mitgenommen aus“, schlug es mir prompt entgegen, als ich den Speisesaal betrat. Obwohl man dieses Zimmerchen schlecht ‚Saal’ nennen konnte.

Ich starrte Taylor durchdringend an und sandte ihm meinen gefährlichsten Blick, woraufhin er erblasste und rasch den Blick senkte. Schönen Dank auch Taylor, das hatte ich gebraucht. Ich ließ meinen Blick über das Buffet gleiten und verzog angesichts des spärlichen Angebotes den Mund. Na großartig. Ich griff nach einem Teller und nahm mir einige kümmerliche Krümel des Frühstücks. Er sah noch genauso leer aus, wie vorher. Ich füllte mir eine Tasse mit Kaffe, hoffte darauf, dass wenigstens dieser richtig zubereitet war und drehte mich, nach einem geeigneten Platz suchend. Muto und die anderen hatten einen Tisch für sich beansprucht und ich registrierte, dass ein Platz frei war. Wheeler hatte sich anscheinend noch nicht die Mühe gemacht, aufzustehen. Auch als ich das Zimmer verlassen hatte, welches ich zwangsläufig mit dem Köter teilen musste, hatte er auch noch mit einer unmöglichen Lautstärke geschnarcht. Ich hätte ihn mit meinem Kissen ersticken sollen ...

Ich steuerte zielsicher auf den einzigen noch freien Tisch zu und ließ mich daran nieder. Ich starrte auf mein Frühstück hinab. Etwas fehlte. Meine Morgenzeitung. Ich knurrte. Spätestens ab morgen würde ich dafür sorgen, dass ich meine Zeitung bekam, das schwor ich mir. Missgestimmt begann ich zu frühstücken.
 

„ESSEN!“ Alle Anwesenden, abgesehen von mir zuckten zusammen und ausnahmslos alle Köpfe ruckten in Richtung Tür, die zum Speisesaal führte. Dort stand ein keuchender, zerzauster Wheeler, der einen seltsamen Ausdruck in den Augen hatte und eine Hand in den Rahmen der Tür krallte. Gott, wie konnte ein einzelner Mensch nur derart versessen auf einen Lebensnotwenigen Vorgang sein? Ohne ihn weiter zu beachten, leerte ich meinen Teller, das Klirren, welches vom Buffet aus zu mir hinüber klang zeigte mir, dass Wheeler sich bereits bediente und somit jeder, der nun noch etwas würde essen wollen, seine Chance vertan hatte. Ich wischte mir mit der Serviette über den Mund, legte sie neben den Teller und nahem meinen letzten Schluck Kaffe. Anschließend stellte ich die Tasse auf den Tisch.

Stapfende Schritte verrieten, dass der Köter offenbar gewählt hatte und nun sein allmorgendliches Ritual beginnen würde. Voll beladen kam er an meinem Tisch vorbei und ich warf ihm einen abwertenden Blick zu. „Pass auf Köter, wenn du zu viel frisst, wirst du zu fett und kannst nicht mehr aufrecht stehen“, bemerkte ich kühl.

Er blieb direkt neben mir stehen und sah auf mich hinab. In seiner linken Hand balancierte er mehrere Teller und in der rechten hielt er sein Besteck. Er musterte mich eindringlich, dann grinste er und hob die Hand mit dem Besteck. „Aber, aber, Kaiba. Was ist denn das da auf deiner Stirn?“, er tippte mit seinem Zeigefinger gegen die bläulich verfärbte Beule und ich sog scharf die Luft ein. Muto und die anderen keuchten überrascht auf.

Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Was bildete sich dieser dilettantische Schwachkopf eigentlich ein?! Mit einer blitzschnellen Bewegung packte ich ihn am Handgelenk und sah mit Genugtuung, wie der Ausdruck in seinen Augen zum Überraschten wechselte. Ich erhob mich ruckartig, der Stuhl rutschte ein Stück zurück, blieb jedoch stehen, hielt sein Handgelenk weiterhin fest und starrte ihn durchdringend an. „Wage es noch einmal und es wird sicher sehr unangenehm für dich“, zischte ich, ließ ihn los und verließ mit schnellen und bestimmten Schritten den Speisesaal, die Blicke meiner Mitschüler im Nacken.
 

Meine Finger glitten über die Tastatur meines Laptops, meine Augen überflogen die geschriebenen Zeilen. Zufrieden lehnte ich mich auf dem Hocker zurück, las das Ergebnis meiner Arbeit noch einmal durch. Ja, genau das war es, was ich brauchte. Einen ruhigen Ort und meinen Laptop.

Die Tür des Zimmers ging quietschend auf und ich verdrehte die Augen, bevor ich den Computer herunterfuhr. „Was ist?“, fragte ich unfreundlich, ohne mich umzudrehen. Auch ohne hinzusehen wusste ich, dass Wheeler in der Tür des Zimmers stand und mich missmutig anstarrte.

„Unsere werte Frau Lehrerin lässt nach dir schicken. Wir wollen in die Stadt“, meinte er verdrießlich und ich musste schadenfroh grinsen, als mir auffiel, wie sehr ihm die Rolle als Bote zu missfallen schien.

„Aha“, antwortete ich gedehnt, klang betont uninteressiert. „Und das heißt?“

„Kannst du dir das nicht denken?“ Die Ungeduld war seiner Stimme deutlich zu entnehmen.

„Nein“, entgegnete ich unschuldig, drehte mich auf dem Hocker um und sah ihn provozierend an. „Was denn?“ Ich hob die Augenbraue.

„Verdammt, Kaiba, du sollst einfach mitkommen, kapiert?!“, fuhr er mich an und seine braunen Augen funkelten zornig. Meine Augenbraue schwang noch ein Stück weiter in die Höhe. „Na bitte, warum nicht gleich so, Wheeler?“

„Komm einfach mit, klar?“

„Na, na, nicht unfreundlich werden, Köter“, wies ich ihn tadeln zurecht, verstaute den Laptop in der für ihn vorgesehenen Tasche und erhob mich. Ich griff nach meinem weißen Mantel, den ich über den Stuhl geworfen hatte und zog ihn mir über. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie Wheeler mich beobachtete. Skepsis lag in seinem Blick. „Das ist nicht dein Ernst oder? Du willst nicht wirklich mit diesem Ding in die Stadt?“

Ich verschränkte die Arme und sah ihn spöttisch an. „Wheeler, in den vielen Jahren, die wir uns schon kennen, solltest du langsam begriffen haben, dass ich das, was ich tue, immer absolut ernst meine.“

Einige Sekunden sehen wir uns stumm an, dann zuckt er die Achseln, dreht sich um und verlässt den Raum. „Tu was du nicht lassen kannst.“ Ich folge ihm und schließe die Tür hinter mir.

„Immer, Wheeler.“
 

Die Sonne brannte vom Himmel und unsere Klasse hatte nichts Besseres zu tun, als in der Hitze vor sich hin zu brutzeln. Ich ließ meinen Blick über den lustlosen Haufen vor mir wandern und schnaubte verächtlich. Warum tat ich mir das ganze an? Wir waren nun schon seit zwei Stunden in der Stadt unterwegs, hatten uns in kleinere Gruppen aufgeteilt, um private Einkäufe und andere Dinge zu erledigen und nun waren alle am Treffpunkt eingetroffen. Nun würden wir die Sehenswürdigkeiten erkunden. Oh, wie ich mich freute.

„So, liebe Schüler, nun sammelt euch bitte etwas, es geht weiter“, ergriff unsere werte Klassenlehrerin das Wort, unterstützt von unserem allseits geliebten Sportlehrer, Kaidou-sensei. Murrend rappelten die Schüler sich auf, bis schließlich alle mehr oder weniger aufrecht standen und warteten, was als nächstes kam.

„Gut, und jetzt werden wir uns ein wenig von den Sehenswürdigkeiten ansehen“, verkündete Aoyagi-sensei und sah lächelnd in die Runde. „Was soviel bedeutet, wie, dass wir uns nun den Tsutenkaku-Turm, eines der Wahrzeichen von Ôsaka ansehen.“

Das Murren wurde lauter, schienen die anderen doch nicht im Geringsten Lust darauf zu haben einen, wie sie meinten, ‚dummen Turm anzugaffen’. Ich schüttelte abfällig den Kopf. Wenn es hart auf hart käme, würde ich behaupten, diesen Trupp einfach nicht zu kennen.
 

„Wow, seht mal Leute, wie tief es hier runtergeht.“ Wheelers Ausruf ließ mich geringschätzig den Mund verziehen. Der Junge hatte doch keine Ahnung. Was waren den bitte vierundachtzig Meter? Das Hauptgebäude der Kaiba Corporation erreichte mindestens an die zweihundert Meter. Wheeler war einfach viel zu leicht zu beeindrucken. Doch was erwartete man von einem Köter, der sicher nicht viel mehr von der Welt gesehen hatte, als den Vorgarten seiner zugigen Hundehütte? Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich erwartete wahrlich nicht wesentlich mehr von ihm.

„Ich kann von hier aus die Herberge sehen!“

„Sehr schön, Taylor“, lobte ich den Spitzkopf höhnisch, lehnte mich an die Balustrade hinter mir und sah ihn spöttisch an, „und jetzt erzähl und doch noch, dass wir uns hier in Ôsaka befinden, ich denke, das interessiert alle Anwesenden genauso, zumal dies ja eine erschreckende Neuigkeit ist.“

„Kaiba, musst du eigentlich zu allem deinen Senf zugeben?!“, mischte Wheeler sich nun ein, sah mich grimmig an, schien mir am liebsten an die Kehle zu springen. Mein Lächeln wechselte zum Herablassenden. Bevor du das wagst Wheeler, solltest du dir den daraus folgenden Konsequenzen bewusst werden. Ich hob die Augenbrauen und verschränkte die Arme. „Nun, Wheeler, ich gebe solange ‚meinen Senf dazu’, wie du es so konstruktiv ausdrückst, bis ihr endlich den Unterschien zwischen Dingen, die man laut aussprechen kann und Dingen, die kein geistig normaler Mensch hören will, begriffen habt.“ Ich konnte förmlich sehen, wie es hinter Wheelers Stirn zu arbeiten begann, als er versuchte, die Bedeutung meiner Worte zu verstehen und ich schnaubte. „Nur damit du es weißt

Wheeler, das war kein Kompliment, bevor du noch auf falsche Gedanken kommst.“

Er stutzte, sah mich einige Sekunden fassungslos an, bevor er knurrte. „Das weiß ich selber, du arroganter Geldsack! Tu nicht so, als seien alle dümmer, als du!“

„Joey, lass dich doch nicht immer provozieren“, wandte Muto rasche in und packte ihn am Saum seiner Jacke, bevor er auf mich zustürzen konnte. Der Köter drehte sich empört zu Muto um. „Lass mich los,

Yugi, der Kerl hat uns gerade beleidigt!“

„Ich bin sicher, er meint es nicht so, stimmt’s, Kaiba?“, der Kleine richtete sich nun an mich, ich stieß mich von der Balustrade ab und schritt an dem Trupp Versagern vorbei, ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen. „Was Wheeler angeht, ist es mein voller Ernst.“ Ich konnte hören, wie nun auch Taylor und Devlin eingreifen müssen, um Wheeler zurückzuhalten und es erfüllte mich mit Genugtuung.
 

Gelangweilt stützte ich mich von der Balustrade ab und starrte auf die Stadt hinab. Die Menschen, nur noch unklare Schemen, gingen ihre Wege, schienen genau zu wissen, wo sie hinwollte. Die Autos stauten sich auf den Straßen, dabei war heute noch nicht einmal ein Arbeitstag. Der Wind wehte hier oben besonders stark, riss an meinem weißen Mantel, ließ ihn flattern. Ich kümmerte mich nicht darum, was der Rest der Klasse machte, war es mir doch egal. Wenn es nach mir ginge, könnten sie sich von diesem Aussichtsturm schmeißen, solange sie mich dabei nicht störten. Eine besonders heftige Windbö erfasste den Turm, ließ meine braunen Strähnen in meine Sicht wehen.

Ich sah nach unten. Diese Situation kam mir bekannt vor.
 

Ich stand auf dem Dach der Kaiba Corporation. Der Wind heulte um mich herum, ließ meine Haare vor

und zurückwiegen. Der Himmel war blau, keine Wolke war zu sehen.
 

„Kaiba.“

Beinahe wäre ich in diesem Moment wirklich zusammengezuckt, schaffte es jedoch, dies zu verhindern, fühlte mich ertappt bei etwas, an das ich nicht hatte denken dürfen. Ich wandte den Kopf und erblickte neben mir Muto, der sich ebenfalls von der Balustrade abstützte und auf die Stadt hinab sah. Was war denn hier los? Muto ganz alleine, ohne störende Anhängerschaft? „Was willst du?“, fragte ich desinteressiert, ließ meinen Blick über die Wolkenkratzer vor uns wandern.

„Nichts, was soll ich schon wollen?“, entgegnete er unschuldig. Ich warf ihm einen gelangweilten Blick zu. „Komm schon Muto, warum kommst du wegen ‚Nichts’ zu mir?“

„Kannst du dir das denn nicht denken?“, stellte er die Gegenfrage und sah zu mir hinauf. Eine reichlich bizarre Situation, wenn man uns beide betrachtete. Ich stand hier mit meinem Rivalen in Duel Monsters an der Balustrade des Aussichtsturmes und wir sahen auf Ôsaka hinab. Absonderlich? Für meine Verhältnisse schon, standen wir doch nie einfach nur nebeneinander, ohne uns im nächsten Moment zu duellieren. Doch momentan verspürte ich auch nicht das geringste Bedürfnis, mein Deck zu zücken und ihn herauszufordern, zumal ich nicht einmal wusste, wo sich die nächste Duellarena befand. Meine Duel Disk hatte Mokuba vorsorglich vor der Klassenfahrt verschwinden lassen. Einzig mein Deck hatte ich noch retten können. Doch das brachte mir momentan nicht viel, ohne die Möglichkeit, es auch einsetzen zu können.

Womit wir wieder am Anfang wären. Muto und ich nebeneinander und still. Was stimmte an dieser Szenerie nicht? Richtig. Alles. Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.

„Muto, wenn du mir nichts zu sagen hast, dann tu mir den Gefallen und lass mich zufrieden.“

„Kaiba, entscheide dich doch einfach mal, was du willst.“ Mit diesen Worten drehte er dich um und ging, ließ mich einfach stehen. Einen Moment lang sah ich ihm beinahe fassungslos hinterher. Aus irgendeinem Grund beschlich mich der Verdacht, dass sich seine Worte nicht auf meine gleichgültigeArt, ihm gegenüber bezogen.

Doch auf was dann? Ich war es gewohnt, dass Muto in Rätseln sprach, bekam ich doch von ihm immer wieder Predigten über sein und mein Schicksal zu hören, aber das hier?

„Was ich will?“, wiederholte ich leise, hoffte vielleicht, durch das laute Aussprechen dieser Worte

‚Erleuchtung’ zu finden, doch vergebens. Was bildete Muto sich eigentlich ein? Nur weil er mich im Duel Monsters geschlagen hatte, nahm er sich die Frechheit, mir zu unterstellen, dass ich nicht wüsste, was ich will? Tze, ich besaß alles, was ich brauchte.
 

„Guten Flug, Kaiba.“
 

Einzig ein Grab für Wheeler fehlte mir noch. Doch das ließ sich beschaffen.
 

„Na, wie hat euch der Turm gefallen?“, fragte Aoyagi-sensei und blickte strahlend in die Runde wenig begeisterter Gesichter. Diese Frau war einfach zu jung und zu fröhlich für diesen Beruf. Sie hätte einen anderen Berufszweig wählen sollen. Ohnehin verstand ich nicht, wie man freiwillig Lehrer werden wollte. Den ganzen Tag mit nervigen, minderbemittelten Schülern verbringen wollte. Ich warf einen Blick auf die Uhr vor dem Platz, an dem der Turm in die Höhe ragte. Herrlich, erst zwei Uhr. Wie weit wollte dieser Tag sich eigentlich noch in die Länge ziehen?

„Und nun denke ich, habt ihr es verdient, dass wir ein Eis essen gehen.“

Meine Augenbraue schwang in die Höhe. Bitte? Die Frau redete mit uns, als seinen wir Grundschüler, dabei gingen wir in die Oberstufe. Ein Eis? Welcher Idiot würde sich über dieses Angebot freuen?

„Eis? Klasse!“

Nun gut, welcher Idiot außer Wheeler, natürlich?

„Eis? Ja, super!“

„Abkühlung!“

„Immer her damit.“

„Wo?“

Ich widerrufe. Alle aus dieser Kinderklasse.
 

So kam es, dass ich nun mitsamt meiner Klasse in einem kleinen Eiscafe saß, mich noch immer darüber wunderte, wie um alles in der Welt fünfundzwanzig Schüler in dieses Café passen können, ohne, dass es an Überfüllung zugrunde geht. Ich verfluchte innerlich unsere Lehrerin für diesen grandiosen Einfall, sich ausgerechnet das kleinste von allen Cafes auszusuchen, denn dieser Umstand führte dazu, dass ich mich zusammen mit Muto und seinen Jüngern an einen Tisch in der Ecke zwängen musste, da bereits alle anderen Plätze besetzt waren. Der Tag konnte nur noch besser werden.

„Yoku irasshaimashita. Was darf ich ihnen bringen.“

Eine Bedienung war an unseren Tisch getreten und lächelte freundlich. Ich bekam aus den Augenwinkeln mit, wie Taylor und Devlin bei ihrem Anblick Stielaugen bekamen und ihre Münder beinahe aufklappten, bevor sie jeweils einen heftigen Stoß in die Rippen seitens Gardner bekamen, die zwischen ihnen saß. „Reißt euch zusammen Jungs, dass ist ja

peinlich. Ich brauche dringend mehr Freundinnen.“

Ich warf einen Blick durch das Café und stellte fest, dass der Besitzer offenbar sein gesamtes Personal losgeschickt hatte, um unsere Klasse zu bedienen, hasteten doch mindestens sechs junge Bedienungen durch den kleinen Laden, verfolgt von den gierigen Blicken der Jungen.

Ich wandte den Blick ab. Ich kannte diese Klasse nicht. Ich war nur zufällig hier.

„Also“, begann Wheeler, der aufmerksam die Karte studierte, was mich die Augenbraue heben ließ. Der Köter konnte tatsächlich lesen? Aber wahrscheinlich nur im Bezug auf Essen, alles weitere bezweifelte ich stark. Da er allerdings nach dieser Aussage erst einmal schwieg, offenbar zu sehr in die Karte vertieft, veranlasste er Muto und die anderen dazu, selbst schon einmal zu bestellen. Ich wollte mir gerade einen Kaffee bestellen, da schien Wheeler offenbar aus den Tiefen seiner Versenkung zurückzukehren.

„Ich hätte gerne einen Erdbeerbecher, einen Bananenbecher, eine Fruchtüberraschung, einen Schokobecher“ - die Bedienung versuchte hastig mitzuschreiben.

Meine Augenbraue begann zu zucken. „Wheeler ...“

„Einen Vanille-Kirschbecher, einen Tropicbecher, ein Spaghettieis ...“

„Wheeler.“

„Einen Milchshake und –“

„Das reicht!“, fuhr ich ihm scharf dazwischen und er verstummte. Die Bedienung sah mich verschreckt an. Ich kochte innerlich, versuchte nach außen hin so gefasst wie möglich zu wirken. „Ich möchte einen Kaffee und dem da“, ich machte eine wegwerfende Geste in Richtung Wheeler, „bringen Sie einen Kinderbecher, ja?“

Das Mädchen nickte verschüchtert und eilte davon. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und schloss kurz die Augen. Alleine ein Besuch im Eiscafe mit diesem Haufen raubte einem die Nerven.

„Kaiba!“

Ich öffnete die Augen und sah den Köter geringschätzig an. „Was, Wheeler?“, fragte ich teilnahmslos.

Er war aufgestanden, stützte sich mit den Armen vom Tisch ab und funkelte mich voller Zorn an. „Was fällt dir ein, einfach über meine Bestellung zu entscheiden?!“

Ich lehnte mich lässig nach vorne und sah schräg zu ihm auf, legte den Kopf leicht schief. „Wheeler, das war schon keine Bestellung mehr, das war eine Massenlieferung“, berichtigte ich ihn sachlich.

„Und wenn schon?!“, fauchte er mich über den Tisch hinweg an und beugte sich noch ein Stück weiter vor, sodass unsere Gesichter keine zwanzig Zentimeter mehr trennten. „Das kann dir doch egal sein. Dir ist doch sonst auch alles egal!“

„Mir ist es solange egal, wie es nicht lästig ist“, stellte ich meinen Standpunkt klar und registrierte mit Zufriedenheit, wie sich seine Augen verengten und das Braun eine Spur dunkler wurde.

„Ach, und meine Bestellung ist dir also lästig?“, fragte er herausfordernd.

Ich erwiderte den Blick gelassen und nickte. „Ja, denn sie hätte die Ankunft meines Kaffees verzögert. Zudem hätte sie dieses Café in den Ruin getrieben.“

„Was kümmert dich das? Solange du deinen Kaffee bekommst ist das doch egal.“

„Wenn dieser Laden hier Konkurs anmeldet, wegen deiner nicht zu stoppenden Fresssucht, ist es nicht egal, weil ich dadurch erstens keinen Kaffe bekomme und zweitens mein Name beschmutzt wird, da du dich zu der Zeit in meiner Gesellschaft befandest.“

„Hä?“

„Versuch besser gar nicht erst, das zu verstehen, Wheeler.“

„Tu nicht so, als wäre ich dumm!“

„Ich brauche gar nicht erst so zu tun Wheeler. Das geht so viel einfacher.“

„Na warte, du –“

„Hier ist Ihre Bestellung.“

Die Bedienung war mit einem vollen Tablett zu uns gekommen und stellte Muto, Gardner, Taylor, Devlin und Bakura ihre bestellten Fruchtbecher auf ihren Platz, bevor sie eine Tasse vor mir abstellte und schließlich ein kleines Schälchen mit Eis vor Wheeler platzierte.

Sie verneigte sich eilends. „Lassen Sie es sich schmecken!“ Dann rauschte sie zum nächsten Tisch.

Alle Augenpaare an unserem Tisch waren auf Wheelers Eisbecher gerichtet und auch der Köter konnte seinen entgeisterten Blick nicht von der Bestellung nehmen. Ich grinste hämisch. „Tja, Wheeler, sieht ganz so aus, als hätte man hier deine Anlagen erkannt.“

„Halt die Klappe!“, schleuderte der Köter mir prompt entgegen und warf mit dem Schirmchen nach mir, welches knapp neben meinem Kopf vorbei flog und einen unserer Mitschüler am Hinterkopf erwischte, welcher sich verwundert umsah. „Das ist alles diene Schuld, Kaiba!“

Ich sah ihn mit deutlichem Spott an. „Meine Schuld? Was kann ich dafür, wenn sogar die Besitzer dieses Cafés meinen, dir einen Hundebecher geben zu müssen?“

Interessiert musterte Muto Wheelers Eisbecher und auch die anderen konnten ein leichtes Kichern nicht unterdrücken. „Was gibt es da zu lachen?!“, fuhr Wheeler sie an. „Das ist verdammt noch mal nicht zum Lachen! Und was ist das überhaupt?!“

„Erkennst du das denn nicht?“, gluckste Taylor amüsiert und grinste Devlin viel sagend an.

„Was soll ich bitte erkennen?!“

„Den Hund, Wheeler, den Hund“, gab ich hämisch zurück.

„Das ist Pluto“, erklärte Gardner lächelnd. „Den kennst du doch.“

„Pluto?“, wiederholte Wheeler verständnislos.

„Der Hund Pluto. Den gibt es immer bei den Kinderbechern“, meinte Muto belustigt.

Ich lehnte mich wieder zurück, sah ihn schadenfroh an. „Sieh an Wheeler, ist doch wie für dich geschaffen. Kinderbecher und Hundenapf in einem.“

Er starrte mich an und ich konnte beobachten, wie sein Gesicht einen immer dunkleren Rot-Ton annahm. Ob dies nun vor Scham oder vor Wut kam war nicht zu sagen, dennoch musste ich zugeben, dass es ihm gut stand. Ein roter Köter war doch mal etwas anderes.

Er ballte die Hände, mit denen er sich noch immer von dem Tisch abstützte, zu Fäusten und funkelte mich brennend vor Zorn an. „Na warte, Kaiba, was zuviel ist, ist zuviel!“ Er war kurz davor mich über den Tisch hinweg anzufallen. Doch da er zwischen Muto und Bakura stand, die rechts und links neben ihm saßen, hatte er keine Möglichkeit um den Tisch herum zu mir zu gelange, saß ich ihm doch direkt gegenüber auf einem der Stühle. Da auf dem Tisch die Eisbecher standen und die anderen, sprich Muto und Co., nicht davon ausgingen, dass Wheeler es wirklich darauf ankommen ließ, diese vom Tisch zu fegen, falls er mich doch auf diesem Weg würde anfallen wollen, widmeten sie sich getrost ihren

Einbechern. Doch sie hatten nicht mit Wheelers aufbrausendem Temperament gerechnet, das ihn offenbar jeglichen rationalen Denkens beraubt zu haben schien, denn dem Köter schien die Eisbecher egal zu sein, machte er doch Anstalten, tatsächlich über den Tisch hinweg zu mir zu gelangen, dabei wütende Flüche in meine Richtung sendend. Vor Schreck aufjapsend hielten sie ihre Becher fest, doch ich, der ich in der Tat überrumpelt von Wheelers Reaktion war, hatte keine Gelegenheit nach meiner, durch die Erschütterung gefährlich schwankenden Kaffeetasse zu greifen.

Wie in Zeitlupe sah ich, wie sich über den Rand des Tisches kippte und ihren Inhalt über mein Bein und meinen weißen Mantel verteilte. Brennende Hitze breitete sich dort aus, wo der Kaffee durch den Stoff meiner Kleidung drang

und ich biss mir fest auf die Unterlippe, um nicht vor Schmerz aufzukeuchen. Musste dieser Kaffee denn derart heiß sein? Klirrend fiel die Tasse auf den Boden und zerbrach.

Es war unangenehm still in dem Café, alle Anwesenden, sowohl meine Mitschüler, als auch die anderen Gäste hatten sich zu uns umgewandt, einige waren aufgestanden, um zu sehen, warum es so geklirrt hatte. Wheeler war mitten in der Bewegung eingefroren, einen Fuß auf der Bank, auf der er gesessen hatte, im Begriff, über den Tisch zu springen, Muto und der Rest hielten noch immer krampfhaft ihre Eisbecher umklammert, als fürchteten sie, auch diese könnten dem Schicksal meiner Tasse folgen und ich saß bebend auf meinem Stuhl.

Ein Tropfen brauner Flüssigkeit löste sich vom Rand des Tisches, wurde durch die Erdanziehungskraft nach unten gezogen und landete leise platschend in der Pfütze aus Kaffee, in der die Scherben der Tasse verstreut lagen.

Meine Augen waren starr auf meinen ruinierten Mantel gerichtet, ich versuchte krampfhaft das Brennen und Ziehen in meinem verbrühten Bein zu ignorieren, doch auch ein Seto Kaiba, wie ich es war, erreichte seine Grenzen. Mit einer plötzlichen Bewegung erhob ich mich, mein Bein zog und brannte bei dieser Bewegung noch heftiger, und ich sah Wheeler mit einem mörderischen Blick an.

Dann brach die Hölle aus.
 

Fluchend schleuderte ich den Mantel auf den Boden der Kabine. Großartig. Der einzige Mantel, den ich mithatte, gleich am ersten Tag ruiniert.

„Kaiba ...“

„Was?!“, fauchte ich durch die geschlossene Tür der Toilettenkabine. Meine Nerven lagen momentan mehr als blank und bei seiner Stimme wurde ich zu einer potentiellen Gefahr für Unschuldige, soviel war derzeit sicher.

Ich konnte hören, wie er vor der Kabine unruhig von einem Bein aufs andere Trat. Anscheinend saß ihm mein Ausbruch von eben noch tief in den Knochen. Recht so. Nachdem ich das gesamte Cafe darüber informiert hatte, was für ein infantiler, minderbemittelter, verdammter und geistesarmer Idiot er doch war, hatte Aoyagi-sensei ihn beauftragt, mich zur Toilette zu begleiten und das Problem zu beseitigen.

„Die Bedienung hat mir ein nasses Handtuch gegeben, damit du die Verbrennung kühlen kannst.“

Als Antwort kam von mir nur ein missgelauntes Knurren. Dann war es still. Ich stöhnte. „Wheeler, dann gib endlich her, ich stehe hier nicht zum Spaß.“

Hastig bückte er sich und reichte mir das Handtuch unter der Tür hindurch. Ich riss es ihm aus der Hand und setzte mich auf den Deckel der Toilette. Phantastisch. Ich saß hier auf der Toilette eines winzigen Cafés in Ôsaka, mit einem verbrühten Bein, einem dreckigen Mantel und Wheeler vor der Kabine, der unruhig vor ihr auf und ablief, und mit einem nassen Handtuch in der Hand.

Nachdem ich mein Bein teilweise aus der Hose befreit und die verbrannte rote Stelle mit einem genervten Blick gemustert hatte, presse ich das Stück Stoff darauf. Der Schmerz ließ nach, wechselte zum Erträglichen und ich schloss die Augen.

„Tut es sehr weh?“

Beinahe im selben Augenblick öffnete ich sie wieder und starrte geradezu ungläubig auf die geschlossene Tür der Kabine, welche uns voneinander trennte. Wie war das? Hatte ich mich verhört?

„Hast du was gesagt, Wheeler?“, fragte ich zu Sicherheit nach. Ich hörte, wie er stehen blieb und konnte unter der Tür hindurch sehen, dass er nun direkt vor der Kabine stand.

„Nein, ich – ach, vergiss es.“

„Liebend gern.“ Ich schloss wieder die Augen, konzentrierte mich auf den allmählich abflauenden Schmerz in meinem Bein. Nu zu gerne würde ich diesen Tag aus meinem Gedächtnis streichen.
 

„Und du bist sicher, dass das geht?“

„Ja doch, Wheeler.“

„Ganz sicher?“

„Hat man dich zu meinem Kindermädchen befördert oder was?“ Daraufhin schwieg er, vergrub die Hände in seinen Hosentaschen und knurrte etwas Unverständliches. Ich richtete meinen Blick auf den Weg vor uns. Den Mantel hatte ich so gut es ging zusammengefaltet und über meinen Arm gelegt und schleppte nun das beschmutzte Kleidungsstück mit Wheeler durch die Stadt, auf der Suche nach einer Reinigung. In einer Großstadt wie Ôsaka musste es doch einfach irgendwo eine Reinigung geben.

Nachdem ich mit Wheeler von der Toilette zurückgekehrt was, dabei ein leichtes Humpeln zu unterdrücken versucht hatte, hatte ich Aoyagi-sensei und Kaidou-sensei knapp erklärt, dass ich den dreckigen Mantel unverzüglich in die Reinigung würde bringen wollen. Da ich in meiner ‚derzeitigen Verfassung’, wie sie es so schön ausgedrückt hatten, aber unmöglich alleine würde gehen können, hatten sie kurzerhand Wheeler zu meiner ‚Bewachung’ mitgeschickt, da er schließlich schuld an der ganzen Misere war. Ha, Wheeler als mein Bewacher. Wenn hier jemand auf jemanden aufpassen musste, dann doch wohl ich auf ihn. Hätte ich nicht ein wachsames Auge, hätte er sich hier in der Stadt doch mindestens nach jeder zweiten Ecke verlaufen. Doch ich hatte mir die Straßennamen und Läden gut eingeprägt und würde mit Leichtigkeit den Weg wieder zurückfinden.

Ein Seto Kaiba verlief sich schließlich nie.
 

„Äh Kaiba, wo müssen wir jetzt lang?“

„Nerv mich nicht Wheeler, ich weiß schon wo wir lang müssen.“

Ein Seto Kaiba verlief sich nie.
 

„Kaiba, ich glaube an diesem Laden sind wir schon drei Mal vorbeigekommen...“

„Ôsaka ist eine große Stadt, natürlich gibt es da einige Läden mehrmals, Wheeler!“

Niemals.
 

„Kaiba, gibt es in so einer Stadt auch Menschen mehrmals? An diesem Straßenmaler sind wir nämlich schon einmal vorbeigekommen.“ Ich blieb stehen. Meine Schultern bebten und ich musste mich stark beherrschen, um ihn nicht zu erwürgen.

Ein Seto Kaiba verlief sich nie, nur in Ôsaka.
 

„Kennen Sie den Weg zur nächsten Reinigung?“, fragte ich eine ältere Dame und sie wich bei meinem schroffen Tonfall leicht vor mir zurück. Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ich tat es beinahe der Frau gleich, war kurz davor zusammenzuzucken.
 

Langsam wandte ich den Kopf und drehte mich nach und nach um. Ich blickte in braune Augen, die mich belustigt anfunkelten, sah weiße Zähne, die mir durch ein breites Grinsen entgegenstrahlten.
 

„Entschuldigen Sie bitte seine Unfreundlichkeit“, meinte Wheeler an die Dame gewandt und lächelte sie charmant an. „Er kann seine Launen einfach nicht beherrschen.“

Sie starrte ihn einige Sekunden perplex an, dann lächelte auch sie und nickte verstehend. „Ja, ja, so ist das heutzutage. Sie suchen die Reinigung?“

„Ja.“

„Nun, da muss ich sie enttäuschen. Die Reinigung wenige Straßen weiter hat vor einigen Tagen geschlossen. Wir haben hier in Ôsaka nur noch eine Reinigung und diese befindet sich am nördlichen Rand der Stadt.“

Innerlich stöhnte ich. Das bedeutete, am anderen Ende von Ôsaka. Na herrlich. Leb wohl Mantel, es war schön mit dir, doch ich konnte mir schlecht vorstellen, in den nächsten Tagen irgendwie dorthin zu gelangen. Bevor ich die Buslinien, die dafür erforderlich waren, fand, waren wir sicherlich schön längst wieder zuhause.

„Das ist schade. Trotzdem vielen Dank“, sagte Wheeler mit, meines Erachtens, Ekel erregender Freundlichkeit und winkte der Dame zum Abschied. Kaum war sie außer Sichtweise, wurde ich mir der Hand Wheelers bewusst, die tonnenschwer auf meiner Schulter zu liegen schien.

„Kaiba.“
 

Niemand hatte mich anzufassen, doch ihn schien dies nicht zu interessieren. Sein Grinsen gewann an Umfang und ich meinte, einen hämischen Ausdruck in seinen Augen erkennen zu können, bevor er mich unvermittelt von sich stieß.
 

Gab es ein Déjà-Vu mit einem Traum? Ich fühlte mich momentan schwer daran erinnert. Vor meinem inneren Auge sah ich mich vom Dach der Kaiba Corporation stürzen und hastig riss ich mich von Wheeler los. Verwirrt starrte Wheeler mich an, ließ seine Hand sinken. „Kaiba, alles okay?“

Ich verkniff mir den Kommentar, dass nichts okay war, da mein Bein verbrüht, mein Mantel ruiniert und meine Nerven am Ende waren und wandte ihm demonstrativ den Rücken zu. „Lass uns gehen, Wheeler.“

Im Grunde war es mir egal, ob er mir folgte oder nicht, ich wollte bloß seine Aufmerksamkeit von dem eben geschehenen lenken. Ich konnte förmlich spüren, wie er zögerte.

„Weißt du denn, wo wir lang müssen?“

Himmel, Wheeler, konntest du nicht einfach mal dir Klappe halten und meine strapazierten Nerven zur Ruhe kommen lassen? Was das denn zuviel verlangt? Offenbar schon.

„Sei zur Abwechslung einfach mal ruhig und komm.“
 

„Kaiba, wir laufen jetzt schon eine geschlagene Stunde durch diese Stadt und sind immer noch nicht an der Herberge.“ Meine Hände gruben sich krampfhaft in den weißen Mantel, während ich meine Schritte beschleunigte. Ich tat so, als hätte ich Wheeler nicht gehört, meine Augen überflogen die Straßenschilder, ich versuchte fieberhaft die richtige Reihenfolge der Namen wieder zu finden. „Gib doch einfach zu, dass du dich verlaufen hast.“

Ich blieb unvermittelt stehen und Wheeler wäre beinahe in mich hineingelaufen, doch mein wutentbrannter Blick ließ ihn zurückweichen. „Nur zu deiner Information, Wheeler: Ich. Verlaufe. Mich. Nie.“

Wann lernte dieser Narr endlich, im richtigen Moment seinen Mund zu halten? Mit Argwohn beobachtete, wie Wheeler die Arme hinter dem Kopf verschränkte und unschuldig in den Himmel sah. „Wenn das der Fall ist, warum laufen wir dann schon so lange hier rum?“

Zum Teufel mit seiner widerlichen Unschuldsmine. Zum Teufel mit diesem unbeteiligten Grinsen, dass mein sonst so kühles Blut zum Kochen brachte. Zum Teufel mit ihm! „Ich verlaufe –“

„Dich nie, ich weiß. Anscheinend trifft das aber auf Ôsaka nicht zu, was?“ Jetzt wusste es also auch Wheeler. Herrlich. Bals wusste es die ganze Welt. Seto Kaiba verlief sich nie, nur in Ôsaka.

Die Zeitungen würden sich vor Freude überschlagen, wenn ihnen diese Geschichte in die Hände fiel. Besäße ich nicht exzellente Anwälte, die den Klatsch und Tagesblättern deutlich zu verstehen gegeben hatten, dass es, sobald es zu derartigen Artikeln kommen sollte, Klagen und Bußgelder hageln würde, so würde ich spätestens jetzt beginnen, mich um mein Renommee zu sorgen. Da allerdings Wheeler gegenüber diese Tatsache ans Licht gekommen war, verspürte ich nun eine fürchterliche Übelkeit in mir aufsteigen. Als er mich dann ohne Vorwarnung direkt ansah, schien diese sich nur noch zu verstärken.

Stunden schienen wir uns bloß anzuschauen, Menschen liefen an uns vorbei, schenkten uns keine Beachtung. Dann wandte er sich Schulter zuckend ab. „Tja, da werden wir wohl einen Einheimischen fragen müssen. Wie wär’s mit dem Straßenmaler, da wir ja ohnehin gleich zum dritten Mal an ihm vorbeikommen?“ Und in diesem Moment konnte ich einfach nur seinen Rücken anstarren, während der Knoten, der sich in Meinem Magen gebildet hatte, sich nicht lösen wollte.
 

„Na bitte, diesen Akt hätten wir gemeistert.“ Grinsend marschierte Wheeler den Kiesweg zur Herberge hinauf, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und leise vor sich hinsummend. Mürrisch folgte ich ihm, verschwendete keinen Atem damit, ihm zu antworten. Schön, dank des Einheimischen hatten wir den Weg zur Herberge in weniger als einer halben Stunde gefunden, aber früher oder später hätte ich uns genauso gut hierher führen können.

„Ob die anderen sich wohl schon Sorgen gemacht haben?“, sinnierte Wheeler weiter vor sich hin, während er nachdenklich auf den Boden starrte. „Immerhin waren wir ziemlich lange weg...“

Ohne ein weiteres Wort schritt ich an ihm vorbei in die Herberge, machte mich, ihn keines Blickes würdigend, auf direktem Weg in mein Zimmer. Auch wenn ich es mir zwangsläufig mit ihm teilen musste - schien er doch ebenso wenig begeistert von dieser Tatsache, wie ich - sah ich nicht ein, dieses Zimmer auch als seins anzuerkennen. Es war und blieb meins.

Achtlos riss ich die Tür des Raumes auf und schlug sie ebenso gleichgültig hinter mir zu. Den weißen Mantel warf ich wutentbrannt in die nächst beste Ecke, bevor ich mich geschlagen auf mein Bett sinken ließ und den Kopf in den Händen vergrub.

Was geschah nur mit mir?

Dieser ‚Urlaub’, wie Mokuba ihn genannt hatte, entwickelte sich mehr und mehr zu einer Katastrophe, nicht zuletzt dank Wheeler. Unsinn, einzig und alleine wegen Wheeler. Was geschah als nächstes?

Würde ich wohlmöglich weich - noch schlimmer - vielleicht freundlich werden? Ein Schauer überrollte mich. Nein, alles, bloß das nicht. Ein freundlicher Seto Kaiba? Unmöglich. Nicht machbar. So würde ich keinen weiteren Tag mit meiner Firma überleben, wäre gefundenes Fressen für meine Feinde.

Nein, so weit würde ich es niemals kommen lassen, das schwor ich mir in jenem Moment. Mochte kommen, was wollte.
 

Nachdem ich mich die nächsten Stunden niemandem mehr zeigte und auch Wheeler nicht in das Zimmer zurückkehrte - was mich offen gestanden in gewisser Hinsicht erleichterte, war ich somit nicht genötigt, mit ihr zu reden -, verließ ich erst gegen sieben Uhr das Zimmer, um mich notgedrungen dem Abendessen anzuschließen. Nicht, dass ich großartig viel Lust darauf hatte, aber mein Magen rebellierte bereits seit längerem und somit musste ich mich zwangsläufig geschlagen geben.

Als ich durch die Tür des Speisesaals trat, war ich kurz versucht, direkt auf dem Absatz kehrtzumachen, da mir mit einem Blick klar wurde, dass der Speisesaal bereits voll war. Kein Tisch war mehr frei und auf der Suche nach einem leeren Platz musste ich zu meinem Missfallen feststellen, dass nur an Mutos Tisch noch ein Platz unbesetzt war. Und dieser war definitiv nicht für Wheeler reserviert, da dieser bereits mit an dem Tisch saß. Ich schloss einen Augenblick die Augen, wollte mich schon von diesem Haufen abwenden, als mich die Stimme meiner Lehrerin zurückhielt.

„Seto-kun, setz dich doch. Dort hinten ist noch ein Platz frei.“

Nun waren die Augen der meisten meiner Mitschüler erwartungsvoll auf mich gerichtet, worauf ich nur zu gerne verzichtet hätte, musste ich doch nun an dieser Mahlzeit teilnehmen, ob ich wollte oder nicht. Ich setzte mich in Bewegung, meinen Blick starr geradeaus gerichtet, versuchte meine Umgebung zu ignorieren und schritt direkt auf den freien Platz zu.

„Hab ich etwas im Gesicht, oder was ist?“, fragte ich missgestimmt an Muto und den Rest gewandt und ließ mich auf dem Platz nieder, warf allen einen desinteressierten Blick zu, woraufhin sie sich abwandten und in eine andere Richtung sahen. Als wäre mein Platznehmen der Startschuss für alle, begannen meine Mitschüler mit dem Abendessen.

Da wir heute Mittag nicht in der Herberge gewesen waren, gab es jetzt die warme Mahlzeit. Doch bestand diese nicht, wie ich erwartet oder auch gehofft hatte, aus typisch japanischen Gerichten, wie Reis oder ôsakaschen Spezialitäten. Skeptisch musterte ich den undefinierbaren Inhalt einer Schale unmittelbar vor meinem Teller. Konnte man dieses – was immer es war – essen?

„Lecker!“

Mein Blick wanderte an der Schale vorbei, zu Wheeler, der sich eifrig große Mengen diese Substanz einverleibte und mein Mund verzog sich leicht vor Abscheu. Dieses Verhalten war einfach nicht mehr menschlich.

„Wheeler, wärst du bitte so freundlich nicht ganz so zu schlingen. Es grenzt ja beinahe schon an Körperverletzung, dir dabei zuzusehen.“

Mitten im Kauen hielt er inne, löste den Blick von seinem Teller und sah mich verärgert an. Seine Hände, in denen er Messer und Gabel hielt, ließ er sinken. „Dann gug dosch weg, wennsch dir nisch pascht, Gaiba!“

Ich war mir sicher, dass mein Blick puren Ekel widerspiegelte. „Wärst du auch in der Lage, deinen Bissen runterzuschlucken, bevor du den Mund aufmachst?“

Er schluckte, sah mich mit einer Mischung aus Trotz und Ärger an, bevor er knurrte. „Kaiba, reiz mich nicht.“

Oh, war der Köter heute in Kämpferstimmung? Das klang doch schon mal interessant. Mal sehen, was sich noch aus diesem Gespräch holen ließ. „Was ist dann, Wheeler? Kaust du mir dann einen vor?“ Seine Hände verkrampften sich um sein Besteck und bei genauerem Hinsehen konnte ich erkennen, dass er leicht zitterte. Sehr schön, ich war also wiederholt im Vorteil.

„Wie geht’s deinem Bein Kaiba? Soll ich dir vielleicht Tee über das andere kippen, damit es passt?“

Autsch, dieser Punkt ging an ihn. Doch ein blinder Köter fand auch mal einen Knochen.

„Wie wäre es, wenn ich dir mit dem Brot deinen vorlauten Mund stopfen würde, Wheeler, da du ihn ja offensichtlich nie halten kannst?“

Ha, wieder ein Punkt für mich. Na, was war nun mit Wheeler?

„Ach ja? Dann verpasse ich dir noch eine Beule, damit die Teufelshörner auch passen!“

Na, na, war da heute jemand besonders redegewandt? Nahm Wheeler heimlich an einer Fortbildung in Sachen Wortgefechte teil? Nein, soviel wollten wir dem Köter gar nicht erst zumuten. Da blieb ich lieber rational. Nur nichts überschätzen.

„Man sollte einen Maulkorb für dich besorgen, Wheeler. Vielleicht bist du dann endlich für einen längeren Zeitraum still. Wie wäre es, Muto, warum übernimmst du das nicht?“, richtete ich mich an meinen Rivalen, der unruhig unserem Gespräch gefolgt war und mich nun vorwurfsvoll ansah.

„Kaiba.“

Herrgott, was hatten neuerdings alle mit meinem Namen? Konnte man einen Satz nicht auch anders formulieren, anstatt ihn mit nur einem Wort und dann auch noch mit meinem Namen zu füllen?!

„Kaiba!“

Nicht jetzt auch noch Wheeler.

„Wheeler.“

Was er konnte, das konnte ich auch.

Mit leichter Verwunderung registrierte ich, wie er nach dem Wasserglas griff, das vor ihm stand und mich heraufordernd anfunkelte. Die Erkenntnis traf mich ohne Vorwarnung. Meine Augen verengten sich.

„Wage es, Wheeler und du bist tot.“

Seine Augenbrauen hoben sich und er grinste mich triumphierend an, schwenkte das Glas hin und her. „Was denn Kaiba? Angst vor Wasser?“

„Joey, lass gut sein“, wandte Muto zaghaft ein, doch Wheeler ignorierte ihn.

Meine Auenbraunen zogen sich bedrohlich zusammen. „Nein, aber du solltest Angst vor den Konsequenzen haben. Sofern du überhaupt soweit denken kannst.“

„Na, da ist aber jemand sehr unvorsichtig“, meinte Wheeler und hob tadelnd den Zeigefinger. „Noch so ein Satz und du wirst feuchte Bekanntschaft machen, Kaiba.“

„Joey“, mischte sich nun auch Taylor ein, der mittlerweile auf unser Gespräch aufmerksam geworden war. „Sei vorsichtig. Tu nichts Unüberlegtes.“

„Ja Joey“, stimmte Muto eifrig nickend zu, „sonst kommst du wieder in Schwierigkeiten.“

„Ja Wheeler, hör auf deine kleinen Freunde“, meinte ich und warf ihm einen spöttischen Blick zu, „sonst könnte dir noch was passieren und das wollen wir doch nicht, oder?“

„Hör auf, dich über mich lustig zu machen!“, fauchte er und knallte das Glas auf den Tisch, wobei die Hälfte des Inhaltes überschwappte.

„Ich wusste doch, dass du nicht den Mumm dazu hast, Wheeler“, entgegnete ich herablassend. „Ein ängstlicher Hund bleibt nun einmal ein ängstlicher Hund.“

„Kaiba!!!“

Wieder dieses Wort. Hörte das denn nie auf?
 

Gelangweilt ließ ich meinen Blick durch den Raum streifen. Klein, heruntergekommen, spärlich eingerichtet, wie unser Zimmer. Notgedrungen richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf unsere Lehrerin. Diese saß auf einem Stuhl, meine Mitschüler auf dem Boden vor ihr und starrten sie gebannt an. Irritierenderweise erinnerte mich diese Szenerie an eine Kindergartengruppe, die gespannt einer Geschichte ihrer Erzieherin folgte. Doch bei genauerem Betrachten der Tatsachen wurde mir klar, dass diese Annahme gar nicht mal so abwegig war, war diese Klasse doch tatsächlich in gewisser Weise eine Horde idiotischer Einfallspinsel, die mehr an Kleinkinder, denn an Oberschüler erinnerten.

Genervt die Augen verdrehend wandte ich den Blick von diesem Bild ab, begann ich dadurch doch nur unnütze Gedankengänge und setzte mich ein wenig aufrechter in den Sessel. Zu meinem Glück saß ich recht abseits von der Gruppe, sodass ich nicht mit einbezogen wurde.

„Und morgen werden wir das Aquarium besuchen“, schloss Aoyagi-sensei ihren Vortrag, unterstützt durch das Nicken von Kaidou-sensei, welcher neben ihrem Stuhl stand. Begeistertes Gemurmel schwoll an, erstarb jedoch, als Kaidou-sensei die Hand hob (bei ihm fielen die anderen nur ungern schlecht auf.

Ich war glücklicherweise nicht von etwas Derartigem betroffen.) „Gibt es irgendwelche Einwende gegen diese Planung oder sind alle damit einverstanden?“

Ich widerstand dem Drang, erneut die Augen zu verdrehen, durfte ich mir diese Gestik doch nicht zur Angewohnheit machen, und legte geschlagen den Kopf in den Nacken. Sah dieser studierte Pädagoge nicht von selbst, dass keinerlei Widerspruch kam? Oder kam da etwa wieder die Rolle als Demokrat in ihm hoch?

„Was ist mit dir, Seto-kun?“

Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass Aoyagi-sensei nun mit mir sprach. Ich ließ meinen Kopf nach vorne fallen und blickte sie beinahe schon ungläubig an. Bitte?

Fragte die Frau gerade wirklich, was ich von der Idee hielt, ein primitives Planschbecken zu besichtigen?

Nicht ernsthaft. Offenbar schon, da mehr als drei Viertel aller Augenpaare auf mich gerichtet waren. Ich gab einen abfälligen Laut von mir, machte eine wegwerfende Geste mit der Hand und schloss die Augen.

„Bitte, tun Sie, was immer Sie für richtig halten. Ich bin sicher, meine Mitschüler werden begeistert sein.“ Offenbar entging ihr der herablassende Tonfall, mit dem ich besonders den letzten Satz bestückt hatte, doch einem entging er nicht. Um mich zu korrigieren: Sechs Personen entging er nicht.

„Kaiba.“

„Ich weiß, wie ich heiße, ja?“, fuhr ich Muto gereizt an und sah mit Genugtuung, wie er leicht zurückzuckte, als ihn mein ruppiger Tonfall traf. Oh ja, ich war gereizt, angespannt, enerviert. Und in erster Linie war ich es leid, dauernd meinen Namen ohne irgendeinen sinnvollen Hintergrund zu hören.
 

„Kaiba.“
 

Ohne auf die verwirrten, verdutzten und sprachlosen Gesichter meiner Mitschüler zu achten, erhob ich mich aus meinem Sessel und verließ wortlos den Gemeinschaftsraum. Bevor die Tür meines Zimmers krachend hinter mir ins verrostete Schloss fiel, ich mich schnaubend auf mein Bett fallen ließ und entkräftet die Augen schloss, einen kurzen Augenblick der Schwäche zuließ – nur dieses eine Mal - fragte ich mich, ob es normal war, den eigenen Namen derart zu verachten.
 

*~*~*
 

Something has been taken

From deep inside of me

A secret, I’ve kept locked away

No one can ever see

Wounds so deep, they never show

They never go away

Like moving pictures in my head

For years and years they've played
 

*~*~*
 

(Zum Lied: Linkin Park - Easier to run)

Tag 3: Unerkannt anerkannt

Keiner Rede, langer Sinn:
 

Tag 3: Unerkannt anerkannt
 


 

*~*~*~*
 

Braune Augen blitzten vergnügt auf. Ein Grinsen huschte über das, von der Sonne, beschienene Gesicht.

„Kaiba.“

Dieses Wort ging mir durch Mark und Bein, ließ meinen Körper erbeben. Wieso immer wieder dieses eine Wort?

Ich fiel nach hinten, realisierte es nicht, war zu beschäftigt mit der Frage um den Grund dieses Wortes. Erst als ich mir der Tatsache bewusst wurde, dass das Gesicht des anderen sich immer weiter von mir entfernte, die Gestalt immer kleiner zu werden schien, übermannte mich die Erkenntnis.

„Guten Flug, Kaiba!“

Meine Augen weiteten sich in ungläubigem Entsetzen.

Das durfte doch einfach nicht wahr sein!
 

*~*~*~*
 

Mit aufgerissenen Augen starrte ich das Holz über mit an, welches unnatürlich verschwommen aussah. Ich blinzelte mehrere Male, meine Sicht wurde klarer und ich schloss geschlagen die Augen. Nicht schon wieder.

Seit wann wiederholten sich meine Träume auf eine derart perfide Art und Weise? An Überarbeitung konnte es nicht liegen, da ich in den letzten Tagen kaum zum Arbeiten gekommen war, also was war es dann? Ein Schnarchen ließ mich aus meinen Gedanken schrecken und ich verdrehte die Augen.

Höchstwahrscheinlich lag es einfach nur an Wheelers bloßer Präsenz. Alleine diese reichte schon aus, um meine Nerven auf eine Reise in die Untiefen meiner Messskala wandern zu lassen.

Langsam richtete ich mich auf, war ehrlich gesagt froh, dass mein Kopf heute Morgen keine Bekanntschaft mit dem harten Holzbalken des Hochbettes gemacht hatte und erhob mich schließlich. Ich warf einen abfälligen Blick auf Wheeler, der tief und fest schlafend in der ersten Etage des Bettes lag, mit einer Hand die dünne Decke umklammerte, die beinahe aus dem Bett fiel und die andere ins Kissen krallte. Dieses Bild erinnerte mich an die Aufnahme eines Kleinkindes während seines Mittagsschlafs. Schnaubend wandte ich den Blick ab und öffnete die Tür des Holzgestells, das sich Kleiderschrank schimpfte und mir beinahe unter den Händen zusammenzubrechen drohte. Missmutig wollte ich schon gewohnheitsmäßig nach meiner schwarzen Hose greifen, doch mit Schrecken fiel mir ein, dass auch diese unter der Kaffee-Attacke Wheelers gelitten hatte. Mit einem unterdrückten Knurren wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass auch sie die einzige ihres Exemplars gewesen war, welches ich unbemerkt unter Mokubas strenger Aufsicht in den Koffer hatte bringen können. Wunderbar. Nun war also nicht nur ohne Mantel, sondern auch ohne schwarze Hose. Blieb mir also nur noch, Mokubas ‚Wunschkleidung’. Unwillig griff ich nach der dunkelsten Jeanshose, die der Schrank zu bieten hatte und meinem schwarzen Oberteil. Mit deutlich strapazierten Nerven schloss ich die Schranktür und begann mich umzuziehen. Wheeler schlief so tief, er war in dieser Hinsicht keine Gefahr für mich.

Dieser ‚Urlaub’ entwickelte sich von einem Albtraum zu einem Grauen. Nun war also die sonst so

einfach gestaltete Auswahl meiner Kleidung ein schwieriges Unterfangen. Wo sollte das bloß hinführen?

Beim überstreifen der Jeans blieb mein Blick an der roten Stelle auf meinem rechten Bein hängen und mein Mund verzog sich. Auch Wheelers Schuld. Seine. Meine Abneigung ihm gegenüber wuchs in diesem ‚Urlaub’ von Tag zu Tag stetig weiter an. Zu Recht.

Nachdem ich mich fertig gekleidet und mich noch einmal vergewissert hatte, dass auch alles richtig saß, griff ich nach der Türklinke, öffnete die Tür und warf noch einen letzten Blick auf den schnarchenden Wheeler, bevor ich sie schonungslos hinter mir zufallen ließ.

Ein dumpfer Knall und ein gedämpfter Fluch aus dem Inneren des Raumes ließ für einige Sekunden ein selbstgefälliges Grinsen auf meinem Gesicht erscheinen. Das war für den Kaffe auf meinem Bein, Wheeler.
 

Aufmerksam überflog ich die Zeilen der Morgenzeitung, die ich in Händen hielt und nahm abwesend einen Schluck Kaffe. Mich nicht an den verhohlenen Blicken meiner Mitschüler störend studierte ich die Börsenkurse und stellte zu meiner Zufriedenheit fest, dass die Aktien der Kaiba Corporation seit gestern noch um ein weiteres gestiegen waren. Das bedeutete wohl, dass alles gut lief. Andererseits hieß das auch, dass ich nicht aus diesem Grund frühzeitig diese Klassenfahrt abbrechen konnte. Also wurde ich einer potentiellen ‚Fluchtmöglichkeit’ beraubt.

Kaiba!

Meine Haltung versteifte sich unmerklich bei diesem Wort, allerdings nahm ich den Blick nicht von der Zeitung. Tatsächlich aber las ich auch nicht weiter, verharrte mein Blick starr auf der Aktienkurve der Kaiba Corporation, ohne die Werte jedoch richtig wahrzunehmen.

„Wheeler, geh beiseite, du stehst im Licht.“ Ich versuchte betont unbeteiligt zu klingen, ihn dazu zu bringen, mich in Ruhe zu lassen und leine zu ziehen, doch auch dieses Mal tat er mir den Gefallen nicht. Keine Überraschung.

„Was sollte das vorhin? Dank dir hab ich mir den Kopf an der Zimmerdecke gestoßen!“

„Da sieht man mal wieder, wie dumm du doch bist, Wheeler. Niemand außer dir hätte das Geschafft, wo die Decke des Zimmers doch wohl weit genug von deiner Position entfernt war“, gab ich kühl zurück.

„Dank deiner Türknallaktion hab ich jetzt eine Beule“, fauchte der Köter mich an.

„Schläge auf den Hinterkopf sollen das Denkvermögen erhöhen, Wheeler. Vielleicht tun Schläge vor die Stirn das auch. Und falls dies nicht der Fall sein sollte, kann auch nicht viel mehr verschwinden. Wo nichts ist, kann nichts verloren gehen.“ Ich hielt es auch jetzt nicht für nötig, ihn anzusehen, konzentrierte mich mittlerweile wieder auf die Zeilen vor mir, blätterte eine Seite weiter und vertiefte mich in die Artikel. Doch ich wurde aus meiner Tätigkeit gerissen, als Wheeler mir grob die Zeitung aus den Händen riss.

„Hör mal Kaiba, ich find’ das echt nicht witzig!“

Meine Augenbrauen zogen ist langsam zusammen und ich hob den Blick, starrte ihn finster von unten herauf an und zählte innerlich bis zehn. Was bildete Wheeler sich eigentlich ein?

„Wenn ich schon mit dir rede, sollst du mich wenigstens ernst nehmen und mich ansehen!“

Gut, er hatte erreicht, was er wollte. Ich sah ihn an. Aber alleine wie ich ihn ansah hätte ihn auf der Stelle tot umfallen lassen müssen. Doch zu meinem Bedauern tat er das nicht.

„Kaiba, ich verlange von dir, dass du in Zukunft etwas rücksichtsvoller wirst, aufhörst mich mit einem Hund oder sonst etwas zu vergleichen und mich oder meine Freunde zu beleidigen!“ Er funkelte mich entschlossen an und wieder hatten seine Augen diesen dunklen Braunton, den sie immer annahmen, wenn er sich mit mir stritt.

„Bist du fertig?“, fragte ich gelangweilt. „Kann ich meine Zeitung wiederhaben?“

„Hast du mir überhaupt zugehört?!“, fuhr er mich wütend an und beugte sich knurrend zu mir hinunter.

Mein Gesichtsausdruck blieb derselbe, konnte Wheeler mich mit diesem Gehabe doch nicht im Geringsten einschüchtern. „Ja Wheeler, das habe ich. Und jetzt verschwende nicht noch mehr von meiner Zeit.“

„Du bist ein derart von dir selbst eingenommener cholerischer Phlegmatiker, Kaiba!“, brauste er auf und ließ durch seine Worte sämtliche Gespräche im Speisesaal schlagartig verstummen.

Mit einer Mischung aus Unglaube und Fassungslosigkeit starrte ich ihn an. Was hatte Wheeler da gerade gesagt? Ein ‚cholerischer Phlegmatiker’? Ich?! Hatte Wheeler im Wörterbuch nachgeschlagen, dass er derartige Worte auf einmal kannte? Der Köter und Fremdwörter? Selbst mit einfachen Wörtern tat er sich schon schwer.

„Und was“, ich räusperte mich, startete einen erneuten Versuch, klang diesmal wesentlich gefasster, „was genau hat das deiner beschränkten Meinung nach nun für mich zu bedeuten, Wheeler?“

„Das bedeutet“, er holte tief Luft, „dass du dich immer so ‚kalt’ und ’beherrscht’ wie ein Phlegmatiker gibst, aber gleichzeitig unheimlich launisch und reizbar bist, wie ein Choleriker. Das bedeutet es für dich, Kaiba.“

Mein noch immer leicht ungläubiger Gesichtsausdruck, angesichts Wheelers Fachwissen, verschwand, machte meiner unterdrückten Wut platz, während meine Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten. Ich erhob mich ruckartig – erinnerte dabei mich unweigerlich an eine ähnliche Reaktion des gestrigen Tages – und starrte ihn in einer tödlichen Mischung aus Verachtung und Abscheu an.

„Wenn hier einer von uns cholerisch ist, Wheeler, dann bist ganz eindeutig du das“, zischte ich gefährlich. „Maße dir also nicht an, über mich urteilen zu können, verstanden?“

Nun war er es, der mich erstaunt ansah. Offenbar hatte er mit einer derart heftigen Reaktion nicht gerechnet. Gut so!

„Kaiba?“, fragte er vorsichtig, nachdem ich verstummt war und bebend auf das Holz des Tisches hinabstarrte. Zögerlich streckte er eine Hand aus und wollte sie auf meine Schulter legen, doch ich wich ihm aus.

Warum immer dieser verdammte Name?!
 

Guten Flug, Kaiba!
 

Immer aufs Neue. Ich wirbelte herum und verließ den Speisesaal mit langen schnellen Schritten. Wheeler, du elender –
 

oOo
 

Nachdenklich sah ich an die gegenüberliegende Wand des Zimmers. Hatte ich wirklich derart überreagieren müssen?
 

'Du bist ein derart von sich selbst eingenommener cholerischer Phlegmatiker, Kaiba!'
 

Nur weil Wheeler sinnloser weise mit Fachwörtern um sich schmiss, bedeutete dies doch nicht gleich, dass ich selbst auch gegen meine Norm verstoßen musste. Da sah man es wieder, dieser Köter war schlecht für mich und meine Verfassung. Pures Gift.

Nein, ein weiteres Mal würde mir ein derartiger Fehler nicht wieder unterlaufen. In einer Hinsicht hatte Wheeler Recht. Ich war definitiv beherrscht und kalt. Und daran würde sich auch nichts ändern.

Ich befand mich, Mokuba zufolge, derzeit im Urlaub und diesen würde ich mir nicht von anderen noch weiter ruinieren lassen, auch wenn ich momentan eigentlich nichts lieber machen würde, als in der Firma zu sitzen und zu arbeiten, anstatt mit einem Trupp Kleinkinder nachher zu einem Aquarium zu fahren.
 

oOo
 

Ich konnte den Seitenblick, den mir Wheeler zuwarf beinahe schon körperlich spüren. Ich verdrehte die Augen, was der Köter glücklicherweise nicht sehen konnte, war doch das verspiegelte Glas im Weg.

„Was Wheeler? Spuck es aus oder hör auf mich so anzustarren.“

Ich hörte, wie er knurrte, bevor er antwortete: „Nichts. Ich frag mich nur, warum du dieses Ding trägst.“ Er deutete auf mein Gesicht. Ich verzog leicht den Mund. „Man zeigt nicht einfach auf Leute, Wheeler, hat dir das niemand beigebracht?“

„Spiel jetzt nicht den Wohlerzogenen, Kaiba“, entgegnete Wheeler missgestimmt.

„Dann tu du mir den Gefallen und lass mich einfach in Frieden. Hast du nichts zu tun? Wo ist der Rest deiner Kindergartengruppe?“

„Yugi und die anderen sind in einem anderen Wagon.“

„Na wunderbar. Dann geh zu einem der anderen. Nerv die und nicht mich. Bin ich ein Fundbüro für verloren gegangene Köter oder was?“ Ich wandte demonstrativ den Blick ab und sah aus dem Fenster in den dunklen Tunnel, beobachtete wie die Lichter der Lampen daran vorbeizogen. Nach einigen Minuten warf ich einen Blick nach rechts und stellte zu meinem Missfallen fest, dass Wheeler sich nicht von der Stelle bewegt hatte. Er bemerkte meinen Blick uns sah mich an.

„Ist was?“

„Du bist ja immer noch da.“

„Und?“

„Verschwinde.“

„Das geht auch etwas freundlicher.“

„Wheeler.“

„Ja?“

„Mach, dass du wegkommst, sonst kannst du was erleben.“

„Aber, aber. Wer wird denn gleich?“

„Sag mal...“

„Ja?“

„Magst du Schmerzen?“

„Wieso?“

„Weil du gleich eine große Portion davon bekommen wirst.“

„Was denn, du drohst mir?“

„Ja.“

„Typisch.“

Ich warf einen genervten Blick auf die Anzeige über der Tür und unterdrückte ein frustriertes Aufstöhnen. Noch ganze drei Stationen.

„Also Kaiba, jetzt sag doch endlich mal: Warum trägst du denn eine –“

„Wheeler, sei still oder spiel toter Hund.“

„Bitte was?!“

„Du hast mich schon verstanden.“

„Kaiba, du verdammter –“

„Klappe, Köter.“

„Ich bin kein –“

„Dann hör endlich auf zu kläffen.“

„Ich kläffe –“

„Du kläffst.“

„Tu ich nicht!“

„Wheeler. Aus und platz.“

„Wie redest du mit mir, du eingebildeter –“

„So, wie man mit einem Hund zu reden hat.“

„Ich bin kein Hund.“

„Dann sei endlich still.“

„Hättest du wohl gerne.“

„Allerdings.“

„Vergiss es, reicher Pinkel!“

„Dann bleibst du weiterhin ein dummer Köter.“

„Nenn mich nicht Köter!“

„Solange du nicht deine Hundeschnauze hältst, werde ich dich weiter Köter nennen, Köter.“

„Argh, du elender ...“

„Na, gehen dir schon die Worte aus, Wheeler?“

„Nein, verdammt!“

„Und was gibt es da zu lachen?“, fuhr ich einige meiner Mitschüler an, die in der anderen Ecke des Wagons saßen und leise kicherten. Augenblicklich verstummten sie und schüttelten unschuldig, jedoch weiterhin grinsend, synchron die Köpfe. Schnaubend wandte ich mich ab. „Dilettanten, allesamt.“

„Ja, nur weil sie keine Firma haben, so wie du.“

„Oh, du bist immer noch da Wheeler? Ich hatte gehofft, du wärst mittlerweile gestorben.“

„Charmant wie eh und je.“

„Du kannst ja gehen, wenn es dich stört.“

„Warum sollte ich?“

„Hatte ich schon erwähnt, dass ich dich hasse?“
 

oOo
 

Mit wenig Begeisterung betrachtete ich den Event Square des Tempozan Harbor Village. Viele Menschen befanden sich hier, betrachteten die Sehenswürdigkeiten, die dieses Hafendorf in Ôsaka zu bieten hatte. Nur ein Stück weiter befand sich der Aji-Fluss, an dem dieses Dorf lag. Obwohl man es bei seiner Größe kaum mehr Dorf nennen konnte. Es hatte Aspekte eines Freizeitparks an sich, jedoch bei weitem nicht so beeindruckende wie der Kaiba Park bei uns.

Ich hörte ein leises unterdrücktes Lachen neben mir und schickte umgehend einen wütenden Blick in diese Richtung. „Was gibt es da zu lachen, Wheeler?“

Der Köter gluckste leise, ebenso Muto und der Rest der Gruppe, die viel sagend grinsten. Ich hob die Augenbraue.

„Weißt du Kaiba“, meinte Wheeler, der sich wieder einigermaßen im Griff zu haben schien und grinste breit, „es sieht nur ziemlich ungewohnt aus, wenn du als einziger aus der Klasse mit einer Sonnenbrille rum läufst. Das kennt man nicht von dir.“

Die Augenbraue schwang noch ein Stück weiter in die Höhe. „Ach ja? Na und?“

„Nichts“, mischte Muto sich lächelnd ein. „Nur, dass du heute wirklich mal wie einer aus der Klasse wirkst. Ein gewöhnlicher Schüler. Auch, weil du deinen weißen Mantel nicht trägst.“

„Vielleicht“, Wheeler lachte wieder leise, „war es ja gut, dass ich den Mantel –“ Er brach ab, als er sich des tödlichen Blicks von mir gewahr wurde. „Nein, es war sicher sehr schlecht“, schloss er schnell.

Genau, Wheeler. Es war sehr, sehr schlecht. Das sollte er sich besser merken.

Mit einem abfälligen Laut wandte ich ihnen den Rücken zu, schob mit einer flüchtigen Bewegung die Sonnenbrille nach oben und verschränkte die Arme.

„Was willst du denn jetzt eigentlich mit der Sonnenbrille, Kaiba?“

Wheeler. War ja klar. Dieser Hund konnte einfach nicht seine Klappe halten. Wahrscheinlich war es sogar schon eine Art Zwang, dass er immer wieder etwas sagen musste.

„Wheeler.“

„Du siehst aus, als wärst du Incognito hier.“

„Wheeler.“

„Willst du nicht erkannt werden? Angst vor irgendwelchen aufdringlichen Fans?“

Wenn er es schon wusste, warum fragte dieser inkompetente Idiot dann eigentlich noch nach? Es stimmte, ich verspürte nicht im Geringsten den Drang, als ‚Seto Kaiba’ erkannt zu werden. Alleine das nervige Gekicher der Mädchen aus meiner Klasse war schon kaum zu ertragen, da war der Gedanke an eine Horde durchgedrehter Groupies, die es leider tatsächlich gab (ich wurde bereits einige Male mit derartigen Gruppen konfrontiert), wenig verlockend. Geradezu beängstigend, wenn ich nicht Seto Kaiba wäre. Denn ein Seto Kaiba verspürte keine Angst.

„So, dann werden wir als erstes, ins Aquarium gehen“, beschloss Aoyagi-sensei und hatte augenblicklich die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse. „Und wenn wir danach noch genug Zeit haben, werden wir sicher noch eine der anderen Attraktionen besichtigen können.“

Na herrlich. Noch mehr Zeit, zusammen mit denen.
 

oOo
 

Als meine Mitschüler ihre Taschen in den angebotenen Schließfächern verstaut hatten, begann unser Rundgang. Nachdem abgestimmt wurde (ich hatte als Klassensprecher zu meinem Missgefallen leider den Leiter der Abstimmung mimen müssen – danach lagen meine Nerven beinahe wieder blank, Hauptgrund dafür war natürlich Wheeler, der nicht begreifen wollte, dass man sich nur ein Mal melden durfte), hatte die Mehrheit der Klasse entschieden, keine Führung durch das Aquarium zu wollen, sondern die Tiere frei betrachten zu können. Besser so, denn dadurch würden wir weniger Zeit für dieses Planschbecken verschwenden. Überhaupt verstand ich nicht, was die anderen so faszinierend an einem mit Wasser gefüllten Becken mit Fischen fanden. Was war daran derart mitreißend?

Diese Frage stellte ich mir auch, als ich vor einer Glasscheibe stand und dabei zusah, wie sich zwei Killerwale um einen Fisch stritten, der offenbar ihre Mahlzeit darstellen sollte. Makaber.

„Oh, wie süß“, kiekste Gardner, die wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht war und die Tiere mit einem himmelnden Blick betrachtete, wobei ich bereits fürchtete, dass sie im nächsten Moment beginnen würde, zu schmelzen. Mein Mund verzog sich leicht vor Missbilligung und ich brachte sofort

Abstand zwischen mich und ihr. Wer wusste schon, ob das nicht ansteckend war? Rasch entfernte ich mich von ihr und schritt zur nächsten Glasscheibe. Ein Blick auf das Schild neben der Scheibe verriet mir, dass sich hier die Seehunde befanden. Tatsächlich erkannte ich auch zwei von ihnen, die dicht hintereinander her schwammen und offenbar miteinander spielten.

„Die scheinen Spaß zu haben“, erklang eine nur allzu bekannte Stimme neben mir.

Ich wandte nicht einmal den Kopf, mein Blick ruhte auf den beiden vergnügt scheinenden Seehunden.

„Na Wheeler, besuchst du deine Verwandten im Wasser?“

„Sicher doch. Dann geh du doch bitte zu den Seedrachen, die warten schon auf dich, Kaiba.“

Beinahe musste ich aufgrund seiner Worte schmunzeln. Der Köter schien heute redegewandter, als sonst. „Wenn du mir sagt, wo ich die in diesem Aquarium finden kann, immer doch, Wheeler.“

„Hier rechts, am weißen Hai vorbei.“

„Herzlichen Dank.“

„Immer wieder gerne.“

Wir blieben sicherlich noch einige Minuten schweigend nebeneinander stehen und ich wunderte mich während dieser Zeit selber, warum mich seine derzeitige Anwesenheit nicht, wie sonst auch, nervte.

„Wenn ihr da so steht, ohne euch anzugiften, könnte man glatt meinen, ihr würdet euch verstehen.“

Falsch, Muto. Ganz falsch. Doch er hatte meinen Dank, dass er mich durch diese Worte wieder in die Realität zurückgerissen hatte. Ich warf ihm einen kalten Blick zu und wandte mich ab. „Sicher, Muto, und bevor das der Fall ist, wird Wheeler aufhören, dumm zu sein.“

„Hey!“, protestierte Wheeler sofort und ballte die Fäuste. „Was bildest du dir ein, Kaiba?!“

Ich ging nicht auf ihn ein, sondern ließ ihn, Muto und den Rest der Gruppe einfach stehen. Was hatte ich mir nur bei dieser Nachlässigkeit gedacht?
 

oOo
 

Ich hasste Sonntage.

Ich hasste Klassenfahrten.

Ich hasste diesen Urlaub.

Doch ganz besonders hasste ich Wheeler.
 

„Kannst du vielleicht mal aufhören, wie ein Idiot von einem Bein aufs andere zu hüpfen, Wheeler?“

„Aber ich muss aufs Klo!“

„Dann geh doch, Himmel noch mal.“

„Wo denn?“

„Was weiß ich? Such dir einen Baum oder ne Topfpflanze, Köter.“

„Wie oft muss ich es dir noch sagen, bevor du es verstehst, Kaiba? Ich bin kein Hund!“

„Stimmt, aber ein Köter.“

„Elender Besserwisser.“

„Wessen Schuld ist es, dass wir den Rest der Klasse aus den Augen verloren haben?“

„Deine, du hast mich provoziert.“

„Sicher, meine. Wheeler, dir ist nicht mehr zu helfen.“

„Das sagt der Richtige. Wer von uns läuft denn wegen einer übertriebenen Paranoia mit einer Sonnenbrille rum, aus ‚Angst’, vor irgendwelchen Groupies? Nebenbei bemerkt: Diese Brille bring überhaupt nichts, man erkennt dich trotzdem. Und zwar wegen deinen Haaren.“ Ich drehte mich langsam zu Wheeler um, und innerlich wünschte ich mir, dass er einfach nach hinten umfiel und reglos liegen blieb. Doch tat er mir diesen Gefallen nicht. Natürlich tat er es nicht. „Was willst du damit sagen?“

„Da fragst du noch?“ Er packte mich am Arm und zog mich hinter sich her. Ich versteifte mich augenblicklich. „Wheeler, was zum Henker –“

„Komm einfach mit.“

„Ich denk ja nicht dran.“ Doch ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen, da er meinen Arm schraubstockfest umschlossen hatte. Großartig. Von Wheeler an der kurzen Leine gehalten. War es sonst nicht eigentlich umgekehrt? Es hatte gefälligst andersherum zu gehören. „Wheeler, wohin zum Teufel, schleppst du mich?“

„Sei doch einfach mal still, Kaiba.“

Bitte? Erdreistete der Kerl sich gerade tatsächlich, mir den Mund zu verbieten? Dieser niedere, kleine –

Meine Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als ich mich mitsamt Wheeler, vor einer blauen Tür wieder fand. Eine kleine schwarze Figur mit breiten Schultern mitten auf der Tür verdeutlichte, dass es sich hierbei um die Männertoilette handelte. Ich hob die Augenbauen und sah ihn an. „Wie hast du mit deinem verpeilten Orientierungssinn hierhin gefunden, Wheeler?“

„Bin einfach den Schildern gefolgt.“

„Anscheinend ist der Köter doch in gewisser Wiese lernfähig“, sprach ich mehr zu mir selbst, denn zu ihm, doch wie immer ließ er es sich nicht nehmen, darauf zu reagieren.

„Ich bin kein Köter, Kaiba!“ Ohne mir eine Gelegenheit zu lassen, auf diese – nun doch recht einfallslosen – Worte zu antworten, stieß er bereits rücksichtslos die Tür auf und zerrte mich in den, ebenfalls blauen – gab es in diesem Planschbecken eigentlich irgendeine andere Farbe? – Raum.

„Wheeler, du außer Kontrolle geratener Hund, was soll das?!“ Ich riss mich von ihm los und strich mir angeekelt über den Arm, der seltsamerweise kribbelte. Unangenehm kribbelte! Wahrscheinlich hatte Wheeler mir bloß sämtliche Blutzufuhren abgeschnitten, jetzt wurde er also wieder durchblutet und kribbelte deshalb so unangenehm. Wieso sollte er auch anders kribbeln?

„Da, schau hin, Kaiba.“ Wheeler streckte den Arm aus und ich folgte kommentarlos diesem Wink. Ich konnte ihn und mich selbst in der Spiegelfront über den Waschbecken erkennen und war ehrlich gesagt nicht wirklich begeistert von der Tatsache, dass er noch immer recht dicht neben mir stand, was mir unsere Spiegelbilder noch einmal deutlich vor Augen hielten. Ich machte rasch einen Schritt zur Seite, wandte den Kopf und sah ihn gelangweilt an. „Was soll ich sehen, Wheeler?“

“Sieh dich mal an, Kaiba. Ist es schwer dich zu erkennen? Wohl kaum.“

Erneut fixierte ich mein Spiegelbild und musste zu meinem Widerwillen zugeben, dass Wheeler tatsächlich Recht hatte. Es war keine Kunst, zu erkennen, dass Seto Kaiba sich hinter den dunklen Gläsern der Sonnenbrille verbarg. Zumindest, wenn man mich bereits kannte (und ich bezweifelte, dass dies nicht der Fall war).

Die Strähnen meines braunen Haares waren unverkennbar. Und ausgerechnet Wheeler hatte mich darauf aufmerksam machen müssen? Wie weit sollte es noch kommen?

Ich löste den Blick von meinem, wenig begeistert wirkenden, Spiegelbild und sah nach links zu Wheeler.

Allerdings befand dort, wo der Köter bis eben noch gestanden hatte, niemand. Hatte Wheeler sich vielleicht endlich in Luft aufgelöst oder war im Erdboden verschwunden?

Das Rauschen einer der Toilettenspülungen ließ meine innerliche Euphorie jedoch schlagartig verebben. Wieso war es logisch, dass es so und nicht anders sein konnte?

„Da bin ich wieder.“

Weil es sich um Wheeler handelte. Eine Landplage, die anscheinend nichts auslöschen konnte – weder ein größenwahnsinniger Marik, noch ein verrückter Dartz.

„Wunderbar, Wheeler.“

Ja, wahrlich wunderbar. Konnten sich nicht wenigstens in dieser Richtung meine Wünsche erfüllen?

„Ein bisschen weniger Begeisterung, Kaiba, du platz ja gleich.“

Wenn er nicht aufpasste platzte ich gleich wirklich. Allerdings nicht im physischen Sinne.

Ich wandte mich ab und griff nach der Türklinke. „Halt die Klappe, Wheeler. Lass uns einfach die anderen suchen. Und falls dir das zuviel ist, gehe ich auch liebend gerne alleine.“

„Denkst du, du wirst mich so einfach los, reicher Pinkel?“

Um ehrlich zu sein, hatte ich es gehofft.
 

„Also, wenn ich an ihrer Stelle wäre, dann wäre ich...“

„Wheeler, versuch lieber gar nicht erst, hier den schlauen Psychologen zu mimen, der sich in alles und jeden hineinversetzen kann. Dabei kann ohnehin nichts Brauchbares herauskommen.“

„Und was genau soll das bitte heißen, Kaiba?“

„Dass du eine Niete bist.“

„Wie bitte?!“

„Du hast mich schon verstanden, Köter.“

„Ich hab dir schon mal gesagt, Kaiba, ich bin kein –“

„Irrelevant. Das ändert nichts an den Tatsachen.“

„Du bist ein derart, von dir eingenommener –“

„Wheeler, nicht nur, dass sich an deiner Artikulierung nicht das kleinste Bisschen ändert, du wiederholst dich auch ständig. Ich muss gestehen, dass ist beträchtlich ermüdend.“

„...“

„Oder um es in deiner niveaulosen Sprache zu vermitteln: Du nervst.“

„Was bildest du dir ein?!“

„Auch das hatten wir bereits, Wheeler. Geht es nicht etwas geistreicher?“

„Ich geb’ dir gleich geistreich!“

„Wenn der Köter es mit bellen nicht schafft, versucht er zu beißen.“ Ich beschleunigte meine Schritte und auch er passte sich automatisch meinem Tempo an, schien beinahe rennen zu müssen, um auf gleicher Höhe mit mir zu bleiben. Ungeachtet seiner nun folgenden Beleidigungen bog ich nach links in den nächsten Gang, den Schildern an den Wänden folgend, die mir den erlösenden Ausgang in dieser Richtung wiesen. Wheeler war viel zu sehr damit beschäftigt, passende Beleidigungen für mich zu suchen – nach „reicher Pinkel“ und „cholerischer Phlegmatiker“ schienen ihm, abgesehen von „arroganter Mistkerl“ und „eingebildeter Geldfuzzi“, allmählich die Ideen auszugehen – als dass er gemerkt hätte, wohin ich ihn indirekt lotste. Ich bezweifelte zudem auch, ob er überhaupt in der Lage gewesen wäre, die Schilder zu lesen, geschweige denn, sie zu verstehen.

„Hörst du mir überhaupt zu, Kaiba?“

„Nein.“ Ich hatte keine Lust, mir diese ermüdende Konversation noch länger anzutun. Das zehrte an den Nerven. Endlich konnte ich den Ausgang vor uns erkennen. Meine Stimmung hellte sich leicht auf – Wheeler bekam davon glücklicherweise nichts mit – und ich beschleunigte meine Schritte noch ein wenig. Ich wollte bloß raus aus diesem Aquarium. Weg von diesen grellen Farben und Wheelers störender Stimme.

„Jetzt warte doch mal. Nicht so schnell!“

Dachte Wheeler ernsthaft, dass ich dieser Aufforderung nachkommen würde? Dieser Köter sollte endlich lernen, dass man einem Seto Kaiba nichts befehlen konnte. Und er schon gar nicht. Ich passierte den

Durchgang mit dem blauen Schild auf dem in weißen Lettern ‚Bis bald’ stand, bei deren Anblick mich das beinahe schon abnorme Gefühl überkam, das Schild kurzerhand runter zu reißen. Allerdings konnte ich diesen Drang erfolgreich verdrängen und als ich schließlich vor dem Aquarium stand, mir die Sonne in das, teilweise von der Sonnenbrille verdeckte, Gesicht schien und die frische Brise durch meine Haare wehte, war dieses Verlangen gänzlich verschwunden. Erlösend.

„Kaiba, du elender Bastard! Was war das denn? Das grenzt ja beinahe schon an eine Flucht.“

Erlösend, zumindest bis zu dem Augenblick, in dem ich mir wieder schmerzhaft Wheelers Anwesenheit bewusst wurde und mich schlagartig ein erneutes Verlangen überkam – Wheeler im nahen Fluss zu ertränken. Doch war es sicherlich nicht wirklich gut, dass ich mich derart über diesen Köter aufregte. Er schaffte es ohnehin viel zu oft, meine Gelassenheit ins Wanken zu bringen. Kein sehr gutes Zeichen.

Daran würde ich in Zukunft arbeiten müssen. Mordgedanken an einem Köter waren zweifelsohne nicht gesund.

Um mich von diesen störenden und in gewisser Weise sogar leicht beunruhigenden Gedanken zu lösen, ließ ich meinen Blick über den Marktplatz des Ôsaka Habor Village gleiten. An einem Brunnen, inmitten des betriebsamen Geschehens auf dem belebten Platz, der mehr einer undefinierbaren Form, denn einem ‚Kunstwerk’ glich, stach mir ein spitzer Stachelkopf ins Auge. Eine derart groteske Frisur konnte nur eine Person haben.

Ich setzte mich in Bewegung, achtete nicht darauf, ob Wheeler mir folgte oder nicht – er konnte ruhig dort stehen beleiben, ich hielt ihn sicher nicht davon ab – und begann, mich über den vollen Platz zu arbeiten. ‚Kämpfen’ hätte es wohl eher getroffen, da ich mir den Weg durch brüskes Drängeln und grobes Schubsen schaffen musste. Der Brunnen rückte in meinem Blickfeld stetig näher und ein Blick über die Schulter verriet mir, dass Wheeler mir nicht folgte. Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ein Funken Zufriedenheit glomm in mir auf. Vielleicht hatte Wheeler ja mittlerweile inmitten dieser Menschenmassen das Zeitliche gesegnet und ließ mich von nun an ein ruhiges Leben führen. Mir war

alles Recht, solange ich nicht wieder von seiner bloßen Anwesenheit gequält wurde.

Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne, um ihn auf mein Ziel - den Brunnen, an dem sich ohne Zweifel der Rest der Klasse befand - zu richten, als ich heftig mit jemandem zusammenstieß.

Geistesgegenwärtig hob ich die Hand, als ich einige Schritte zurücktaumelte, um die Sonnenbrille daran zu hindern, unfreiwillige Bekanntschaft mit dem Boden zu machen.

„Aufpassen ist hier wohl auch ein Fremdwort, kann das sein?“, knurrte ich gereizt, ohne die Person vor mir auch nur eines Blickes zu würdigen und war bereits drauf und dran, einfach an ihr vorbei zu marschieren – nicht ohne die angemessene Portion leiser Flüche von mir zu geben - als sich eine große Hand schwer auf meine Schulter legte und mich herumriss. Zum erneuten Mal wäre mir die Sonnenbrille bei dieser ruckartigen Bewegung beinahe von der Nase gerutscht, wenn ich sie nicht daran gehindert hätte. Nun blickte ich direkt in das, durch die Sonnenbrille noch dunklere Gesicht, eines stämmigen Kerls, dessen Äußeres mich an die Leibwächter erinnerte, die ich hin und wieder für Mokubas Sicherheit beauftragte. Wobei ich auf den jetzigen Anblick, der mich schmerzhaft daran erinnerte, dass Mokuba nun wieder ganz alleine in der Villa saß und niemanden außer den Hausmädchen, dem schweigsamen Bodyguard oder Roland hatte, die sich auch nicht immer um ihn kümmern konnten, hätte verzichten können.

Die schmalen Augen meines Gegenübers funkelten bedrohlich. „Wer soll hier aufpassen, hä?“

Gott schien mich zu hassen, denn sonst hätte er dafür gesorgt, dass ich nicht mit dieser Situation konfrontiert würde. Doch ich würde nicht Seto Kaiba heißen, wenn ich mir diesen Tonfall ohne weiteres gefallen ließe. „Ich ganz sicher nicht. Ich sehe nur einen, auf den das zutrifft“, entgegnete ich schlagfertig. Niemand wagte es, derart respektlos mit mir zu reden, schon gar nicht in meinem Urlaub.

„Ach ja?“ Der bullige Kerl ließ bedrohlich seine Fingerknöchel knacken. Sollte mich dieses Gehabe einschüchtern? Mit einem Mal hielt er inne und starrte mich angestrengt an. „Sag mal, du kommst mir bekannt vor...“

Bei allen – nicht doch. Warum mussten die wenigen Gehirnzellen, die dieser Typ noch besaß, ausgerechnet jetzt anfangen, zu arbeiten?

„Ich hab dich doch schon mal irgendwo gesehen ...“

Ja, man sah mich für gewöhnlich alle paar Tage im Fernsehen. Doch das konnte ich diesem ... Affen doch schlecht entgegenschmettern. Zumal eine Gruppe Schulmädchen ganz in unserer Nähe bei seinen Worten mitten in ihrem Gespräch verstummt war und mich nun eingehend musterte. Verdammt, so weit durfte es nicht kommen. Jetzt fingen diese Gören auch noch an, aufgeregt miteinander zu tuscheln.Wheeler hatte – so ungern ich das zugab – wohlmöglich tatsächlich Recht gehabt. Meine Haare verrieten mich. Wieso musste mich ausgerechnet der Köter darauf aufmerksam machen?

Herrlich. Gleich war es mit den Überresten des ‚Urlaubs’ vorbei und ich musste vor einer Schar wild gewordener Schulmädchen fliehen. Wie ich diese Fahrt doch hasste. Wie ich alles heute hasste.

„Da bist du ja.“

Ein Arm wurde um meine Schulter gelegt und mir etwas auf den Kopf gesetzt. Der dunkle Schirm, der in mein Blickfeld reichte, verriet mir, dass es sich dabei um ein Cappy handelte.

„Ich hab dich schon überall gesucht. Die hab ich dir gekauft. Gefällt sie dir?“

Diese Stimme. Sie verfolgte mich am Tag, und wenn ich dann schließlich Ruhe vor ihr hatte, verfolgte sie mich in meinen Träumen. War seine Anwesenheit jetzt Strafe oder Segen? Wenn es nach mir ginge, die pure Strafe, doch in der jetzigen Situation war sie – und dieser Gedanke sollte nur ein einziges Mal gedacht werden – meine Rettung. Ich warf einen Blick nach links und erspähte das lockere Gesicht des Köters, der den bulligen Schläger freundlich anlächelte.

„Tut mir leid, falls er dir Probleme beschert hat, Alter. Er ist ein schwerer Fall, aber das ist okay. Nicht wahr?“ Er grinste mich an. Meine Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen. Schwerer Fall? Ich?!

„Ich hab ihn doch schon irgendwo ...“, murmelte der Schlägerkerl konfus und schien angestrengt zu überlegen. Ich erwartete bereits, dass sein Kopf jede Sekunde vor Anstrengung anfing zu rauschen oder – im schlimmsten Fall – vielleicht sogar zersprang. Das Cappy, das meine Haare nun so gut wie verdeckte, schien ihn gänzlich aus der Bahn geworfen zu haben. Auch die Schulmädchen waren eifrig am diskutieren und deuteten hin und wieder auf mich. Sie schienen ebenfalls durch mein Erscheinen mit dem Cappy aus dem Konzept geraten zu sein.

„Du musst dich irren. Er und ich sind zum ersten Mal hier in Ôsaka“, entgegnete Wheeler gut gelaunt.

Dann richtete er sich an mich. „Stimmts?“ Ich knurrte nur leise, wandte den Blick ab. Tonnenschwer schien Wheelers Arm auf meinen Schultern zu liegen. Wieder war er mir zu nahe.
 

Niemand hatte mich anzufassen, doch ihn schien dies nicht zu interessieren.
 

„Du siehst“, der Köter wandte sich wieder an den anderen, „du kannst ihm also unmöglich schon einmal begegnet sein.“

„Aber ich ...“, der Typ kratzte sich am Kopf, ernsthaft überlegend, schien nun nicht einmal mehr halb so bedrohlich, wie er eben beinahe auf mich gewirkt hatte, nachdem er mich angerempelt hatte.

„Schon gut“, winkte Wheeler ab, „vergiss es einfach. Wir zwei müssen jetzt jedenfalls gehen.“ Nicht grob, aber dennoch bestimmt lotste er mich, weiterhin den Arm um meine Schultern gelegt, nach rechts, an dem Kerl und den Schulmädchen vorbei.

Ich konnte mir einen zynischen Kommentar nicht verkneifen. „Pass das nächste Mal besser auf, wen du über den Haufen rennst.“ Eilig schob Wheeler mich weiter, als der Typ daraufhin zu zittern begann und bevor er seiner unterdrückten Wut Luft machen konnte, waren der Köter und ich bereits in der Masse der vorbeilaufenden Menschen verschwunden.

Kaum waren der Typ und die Gören außer Sichtweite riss ich mich von Wheeler los. Entrüstet sah ich ihn an.

„Was war das bitte für eine stupide Sache, Wheeler?!“, fuhr ich ihn an. Ihn schien mein Rage nicht im Geringsten zu beeindrucken. Auf eine perfide Art und Weise schienen wir – und ein Schauer überrollte mich, als ich mir dieser Tatsache bewusst wurde – die Rollen getauscht zu haben.

„Was hast du, Kaiba?“, fragte er unschuldig und verschränkte – in einer wahrhaftigen Kaibamanier, wie mir mit Schrecken auffiel – die Arme. „Diese ‚stupide Sache’, wie du sie nennst, hat dich eben vor einer Enttarnung bewahrt. Du bist mir was schuldig.“

Ich holte Luft, wollte ihm gerade eine passende Erwiderung entgegenschleudern, brach dann jedoch ab.

Leicht ungläubig starrte ich ihn an. Wheeler hatte Recht. Durch diese unwiderrufliche Tatsache zersprang beinahe mein gesamtes Weltbild. Der Köter hatte Recht.

Und noch viel schlimmer: Ich war ihm etwas schuldig. Ich hasste es, jemandem etwas schuldig zu sein. Das war beinahe so schlimm, wie eine Niederlage.

„Schön Wheeler, was willst du?“, knurrte ich ohne ihn anzusehen.

„Das wirst du noch früh genug erfahren, Kaiba.“

Großartig. Das hieß, dass er jederzeit mit einem Wunsch antanzen konnte. Ungeachtet meines Widerwillen packte er mich erneut am Arm und zog mich hinter sich her. Litt der Köter heute unter einem Zwang, mich immer wieder hinter sich her zu schleifen? „Wheeler, du inkompetenter Köter, lass mich los.“ War dieser Idiot taub? Wollte er mich nicht hören?

„Da, ich sehe unsere Klasse, Kaiba!“ Wunderbar Köter, so weit war ich auch gewesen, bevor mich der Kerl angerempelt hatte.

Trotzdem musste Wheeler mich nicht mitzerren. Laufen konnte ich sehr gut alleine. Dieser flohbesetzte Vierbeiner würde bei Gelegenheit für die Schmähungen von heute büßen. Oh ja, er würde leiden! Elendig.
 

Man zerrte einen Seto Kaiba nicht einfach hinter sich her.

Man berichtigte einen Seto Kaiba nicht, was sein Aussehen betraf.

Man spielte nicht den ‚Retter’ in einer – zugegeben – etwas heiklen Situation.

Man brachte einen Seto Kaiba nicht dazu, jemandem etwas schuldig zu sein!
 

Ich hätte Zeter und Mordio fluchen können, ihm jede mögliche Krankheit an den Hals wünschen können, stattdessen beließ ich es nur dabei, ihn mit meinem Blick tausend schmerzvolle Tode sterben zu lassen, in der Hoffnung, dass diese mentalen Morde auch Auswirkungen auf die Realität haben würden. Leider scheiterte dieser Plan in der Praxis, zerrte Wheeler mich doch immer noch hinter sich her, bis wir schließlich vor dem hässlichen Brunnen mit unserer Klasse standen.

Sofort eilte Aoyagi-sensei auf uns zu, die einen reichlich gehetzten Eindruck machte. „Da seid ihr ja. Wo bitte seid ihr gewesen?“, fragte sie und klang zunehmend aufgelöst. Verlegen grinsend fasste Wheeler sich an den Hinterkopf, wobei er mich endlich losließ. „Sorry. Wir hatten uns ... nun ja ... ein wenig verirrt.“

Ich sah ihn strafend an. „Du hast dich verirrt, Wheeler. Ich habe uns dort rausgeführt.“

Er wandte sich mir zu und funkelte mich provozierend an. „Und du warst es, der sich mit einem dreimal so schweren Schrank angelegt hat, wobei ich es war, der dich da rausgeboxt hat!“ Die erneute Konfrontation mit dieser Tatsache ließ mich meine Augen zu schmalen Schlitzen verengen, während ich innerlich bebte. „Das war eine einmalige Sache, Wheeler, ohne jegliche Bedeutung“, zischte ich leise.

„Joey!“ Ich war versucht, eine Sekunde genervt die Augen zu schließen, unterdrückte jedoch diesen Drang. Natürlich. Wo Wheeler auftauchte, musste Muto gleich nachkommen.

„Wo bist du gewesen, Alter?“

„Wir haben uns Sorgen gemacht!“

Wheeler richtete sich auf und drehte sich zu den anderen um. Eine Welle der Entrüstung war drauf und dran, mich zu überrollen, doch ich hielt sie auf, ließ nicht zu, dass sie mich mit sich riss. Ich warf ihnen noch einen kalten Blick zu, dann drehte ich mich beinahe ruckartig um, wandte ihnen den Rücken zu.

Ich hörte, wie Muto und die anderen weiterhin auf Wheeler einredeten. Dieser minderbemittelte Kerl wagte es doch tatsächlich, mich zu ignorieren.

„Warum bist du einfach im Aquarium verschwunden?“

„Wo habt ihr euch herumgetrieben?“

„He Kaiba, coole Mütze!“ Ich erstarrte und drehte langsam den Kopf, warf einen gefährlichen Blick über meine Schulter, der Taylor unglücklicherweise nicht das Grinsen aus dem Gesicht wischte. Er hatte mich daran erinnert, dass ich noch immer Wheelers Mitbringsel auf dem Kopf trug. Wie bei allen Duel Monsters hatte ich das vergessen können? Reflexartig hob ich die Hand und griff nach der Kopfbedeckung. Dieser Gegenstand lenkte meine derzeitige Wut auf sich und ich hatte große Lust, ihn entweder in der nächsten Mülltonne zu platzieren oder ihn im Brunnen zu ertränken. Als meine Hand sich an den Schirm des Cappys gelegt hatte und ich es mir gerade vom Kopf reißen wollte, legte sich eine weitere, fremde, Hand auf meine. Augenblicklich versteifte sich meine Haltung und meine Hand krallte sich in den Schirm. Meine Pupillen verengten sich.

„Wheeler“, knurrte ich. Noch war meine Stimme leise. Der Köter blickte mich mit einem ungewohnt festen Ausdruck direkt an, das Braun seiner Augen schien sich beinahe in meine Blauen zu bohren.

Leicht schüttelte er den Kopf. Meine Augen verengten sich weiter. „Wheeler, ich rate dir –“

„Lass es.“

Beinahe hätte ich mich verschluckt. Bitte was? „Was hast du gesagt?“

Erneut schüttelte er minimal den Kopf. „Lass die Mütze auf, Kaiba. Du hast doch selbst gesehen, was sonst passieren kann. Willst du das riskieren?“

Für die unaufgeklärten Teilhaber an diesem Gespräch – sprich, Muto und Co. plus einige weitere Mitschüler – mussten Wheelers Worte reichlich konfus, wenn nicht sogar sinnlos klingen. Doch für mich ergaben sie einen Sinn. Einen leider durchaus logischen Sinn.

Ein leises Grollen entwich meine Kehle, bevor ich meine freie Hand hob und mit ihr unwirsch Wheelers Hand beiseite schlug. Kalt funkelte ich ihn an, bevor ich widerwillig die Mütze auf meinem Kopf zurechtrückte und mich abwandte. Grauenvoll. Immer wieder aufs Neue.

Wheeler würde dafür tausend Tode sterben. Für alles.
 

*~*~*
 

There's something inside me that pulls beneath the surface

Consuming - confusing

This lack of self-control I fear is never ending

Controlling - I can't seem
 

*~*~*
 

(Linkin Park - Crawling)

Tag 3: Abgedreht im Riesenrad

Tag 3: Abgedreht im Riesenrad
 

Der Wind rauschte mir in den Ohren, eine kühle Brise, die mich einige Sekunden meine Probleme vergessen und mir einen Augenblick der Ruhe gönnen ließ.

„Mann, ist dieses Ding lahm.“

„Aber Joey, es ist doch eine Kopie von der Santa Maria, dem Schiff, mit dem Columbus segelte. Da kannst du nicht erwarten, dass es so schnell, wie ein Motorboot fährt.“

„Na und? Ist doch egal ob es das Boot vom Cumbus ist, die hätten da doch auch einen Motor einbauen können.“

„Columbus.“

„Was?“

„Columbus, Joey, nicht Cumbus.“

„Ist doch egal. Das Schiff ist trotzdem lahm.“

„Joey.“

„Ja, Téa?“

„Columbus hat Amerika entdeckt. Ich denke nicht, dass das ‚egal’ ist.“

„Téa hat Recht, es ist sehr wichtig. Das Thema hatten wir doch im letzten Jahr in Geschichte, Joey. Hast du das schon wieder vergessen?“

„Also ...“

Ich schloss die Augen, während ich mich ein Stück weiter an die Reling lehnte und schnaubte leise.

Muto und Gardner konnten genauso gut versuchen, Wheeler die Relativitätstheorie zu erklären, es käme auf das Selbe hinaus. Dieser Köter war und blieb nun einmal ein unbelehrbarer Idiot. Der Schrei einer Möwe ließ mich die Augen wieder öffnen und meinen Blick auf das Wasser des Flusses, der an dem Rumpf des Schiffes vorbei rauschte, richten.

Warum mussten wir diesen Trip machen? Eine Fahrt mit der Kopie der Santa Maria. Wie aufregend.

Ich dachte Aoyagi-sensei hätte Pädagogik studiert. Da müsste sie doch eigentlich merken, dass die Mehrheit der Klasse gelangweilt an Bord herum lungerte, in der stillen Hoffnung, dass diese Fahrt so schnell wie möglich vorbei sein würde. Ich lungerte zwar nicht herum, doch eigentlich teile ich ihre Ansicht. Es war ermüdend, hier zu stehen und dem Wasser beim Vorbeifließen zuzusehen.

„Trotzdem hätten sie es etwas interessanter machen können. Ein Motor wäre nicht schlecht oder vielleicht ein Seeungeheuer, das plötzlich aus dem Wasser kommt.“

„Joey, hier geht es doch nicht um Spannung, hier geht es um Geschichte.“

„Geschichte fand ich schon immer öde.“

En Blick aus den Augenwinkeln verriet mir, dass Wheeler sich schlaff auf die Rehling lehnte und gelangweilt nach unten sah. Seine Haare wehten bei dem Wind leicht vor und zurück, fielen ihm teilweise vor die Augen und die untergehende Sonne färbte das Blond –

Ich schüttelte den Kopf und richtete meinen Blick rasch auf die langsam näher rückende Anlegestelle.

Was bitte war das gerade gewesen? Ich litt sicher an Übermüdung, anders konnte ich mir diesen Ausrutscher nicht erklären. Seit wann achtete ich darauf, wie Wheeler aussah?

Beinahe verstohlen warf ich einen erneuten Blick zur Seite, musterte Wheeler, der einige Meter entfernt stand und sich mit Muto und dem Rest der Gruppe unterhielt.

Nein, an seinem Aussehen war überhaupt nichts außergewöhnlich. Seine Haare waren Strohblond – wobei er davon eine anschauliche Menge in seinem Kopf haben musste – und es hing ihm in Strähnen ins Gesicht. Nichts Besonderes. Tze, was sollte bitte an ihm auch besonders sein? An einem Köter.

Nichts.

„Was wir wohl als nächstes machen?“, überlegte Wheeler laut. Ich ließ meinen Blick auf dem Wasser ruhen. „Na ja, es kann ja nur spannender als das hier werden.“

„Aoyagi-sensei und Kaidou-sensei meinten etwas von wegen Riesenrad.“

Riesenrad? Ich richtete meinen Blick auf den runden Koloss, der vor uns im Habor Village in den Himmel ragte. Nicht auch noch das. Wenn das so weiterging würde dieser Tag niemals enden. Was waren wir denn? Kleine Vorschüler, die Ôsaka unbedingt mal aus hundert Meter Höhe sehen wollten? Außerdem hatten wir das doch auch schon gestern vom Turm aus machen können.

„Riesenrad? Cool!“

Wieso war es klar, dass Wheeler diesen Vorschlag als ‚cool’ bezeichnen würde?

Während die Santa Maria nun endlich an der Anlegestelle hielt und wir nun mit einigen Komplikationen das Schiff verließen – einige Schüler waren unauffindbar, bis sich herausstellte, dass sie nur auf der Toilette waren – verschwand die Sonne allmählich hinter dem Horizont und die Lichter im Habor Village gingen an, während Dunkelheit sich über es legte und das Dorf nun gänzlich erwachte.
 

„Das Riesenrad sieht viel cooler aus, wenn es so beleuchtet ist, wie jetzt!“, bemerkte Wheeler grinsend, während er den Kopf in den Nacken gelegt hatte und zu dem Rad hinaufsah.

„Wann fahren wir?“, fragte Muto an mich gewand.

Ich hatte die Arme verschränkt und sah geringschätzig auf ihn hinab. „Wenn wir die Tickets haben, Muto.“

Er seufzte. „Das war mir schon klar, Kaiba.“

„Warum fragst du dann?“, entgegnete ich kühl und hob die Augenbraue. Doch er ließ sich nicht provozieren, wie es bei Wheeler an seiner Stelle sicher der Fall gewesen wäre, sondern zuckte nur die Achseln. „Ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich da geritten hat, Kaiba“, antwortete er gelassen.

Meine Augenbraue hob sich noch ein kleines Stück weiter. Hatte Muto zu viel Zeit in der Sonne verbracht, oder warum benahm er sich so derart absonderlich? „Sag, Muto, ist das, was du hast, ansteckend?“, fragte ich argwöhnisch. Er sah zu mir auf und seine sonst so großen Augen wirkten mit einem Mal schmaler und ernster als gewöhnlich. Dasselbe Gesicht, das er mir immer bei unseren Duellen präsentierte.

„Warum fragst du, Kaiba?“ Auch seine Stimme klang mit einem Mal anders. Eine Spur tiefer und reifer. Was war nur plötzlich los?

„Yugi“, Gardner kam zu uns herüber, „kommst du endlich – oh, Pharao, du bist es.“ Pharao? Oh nein, ging das also wieder los. Ich konnte es allmählich nicht mehr hören. Ich wandte mich ab und entfernte mich raschen Schrittes von der potentiellen Gefahrenquelle. Wer wusste schon, ob dieses Verhalten mit der Zeit nicht abfärbte. Im Laufe der letzten Jahre, in denen ich bereits in einige kuriose Zwischenfälle verwickelt war – an denen der so genannte Pharao nicht unbeteiligt war – hatte sich in mir ein sechster Sinn manifestiert, der immer dann zu reagieren begann, wenn derartiger Ärger oder auch nur ansatzweise Probleme in Verzug waren. Und eine weitere störende Nebenhandlung, parallel zu der ohnehin schon Nerven strapazierenden Klassenfahrt war derzeit das Letzte, was ich nach Wheeler noch gebrauchen konnte.
 

„Hat jeder sein Ticket?“ Zustimmendes Gemurmel folgte auf die Worte der Frau. Wenig begeistert blickte ich auf den Fetzen Papier in meiner Hand hinab und mein Mund verzog sich vor Missbilligung, bevor mein Blick an dem Koloss vor mir hinaufwanderte und meine Lippen daraufhin nur noch einen schmalen Strich bildeten. Ich unterdrückte einen abfälligen Laut. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich das Rad drehte, würde ich frühestens in einer halben Stunde wieder sicheren Boden unter den Füßen haben.

Nicht, dass ich unter Höhenangst litt – so weit sollte es noch kommen! – aber eine Fahrt mit einem Drittel meiner minderbemittelten Klasse – die Gondeln des Riesenrads waren seine Größe entsprechend angepasst – auf engem Raum würde meine Nerven sicherlich an ihre Grenzen bringen – sie hatten sich von den Ereignissen dieses Tages offen gestanden noch nicht zur Gänze erholt.

„Gut, wenn ihr alle eure Tickets habt, dann geht und sucht euch eine Gondel.“

Wusste die Frau nicht, was sie mit ihren Worten auslöste? Wie schon oft an diesem Tag, fragte ich mich, warum sie den Berufszweig einer Beamtin gewählt und noch dazu die Stelle einer Lehrerin besetzt hatte.

Wie ein Rudel ausgehungerter Tiere setzte sich die Meute – in wissenden Kreisen auch durch den Begriff Klasse vertreten – in Bewegung und drängte sich an unschuldigen Besuchern und Passanten vorbei zum Eingang des Riesenrades. Beinahe wurde die Sicherheitsabsperrung überrannt – um es genauer zu definieren: beinahe wurde sie nieder gewalzt – und ein Sicherheitsmann musste rasch Abstand suchen.

Mit einer beinahe schon geübten Bewegung zog ich mir das Cappy tiefer ins Gesicht, bat stumm darum, dass mich niemand erkannte, würde es meinem Image doch sicher nicht zugute kommen, mit einer derartigen Horde gesichtet zu werden – meine PR-Abteilung würde darunter leiden – und mit wesentlich gemächlicheren Schritten näherte ich mich dem Riesenrad, darauf bedacht, so viel Abstand zwischen mir und den Nachzüglern meiner Klasse zu lassen, dass niemand auf den Gedanken kommen konnte, ich würde in irgendeiner Art zu ihnen gehören.

Gelangweilt beobachtete ich, wie meine Mitschüler sich um die Gondeln stritten, die Mädchen einen beinahe schon dramatischen Krieg untereinander begannen, während ich mich so weit wie möglich absonderte und mich an die Absperrung lehnte, darauf wartete, dass auch die Letzten in den Gondeln verschwanden, sodass ich die Nächste für mich haben würde.

„Yugi! He, Yugi. Tristan ... Téa?“

Meine Augenbraue zuckte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor ich resignierend die Augen schloss. Gab es dort oben einen Gott, so musste er mich heute abgrundtief hassen.

„Duke ... Bakura?“

„Ich fürchte, du kannst dir noch so lange die Stimmbänder wund bellen, Wheeler, sie können dich nicht hören.“

Der Köter wirbelte zu mir herum, in der Hand hielt er eine Tüte Popcorn, offenbar hatte er sie sich eben gekauft und hatte somit seine Freunde verpasst. Großartig, jetzt hatte ich also auch noch einen verloren gegangenen Streuner am Hals. Ich schwor mir, bei nächster Gelegenheit ein Kreuz zu kaufen und es symbolisch zu verbrennen.

„Wie, sie können mich nicht hören?“

Vielleicht würde ich auch die Steuer verweigern ...

„Wo sind sie denn?“

Oder ich würde Roland beauftragen, jemanden anzuheuern, der anonym einen Tempel in Brand steckte ...

„Hallo Kaiba, ich rede mit dir!“

Oder ich würde Wheeler vom Riesenrad stoßen. Das erwies sich als die sicherste und effektivste Lösung. Momentan.

„Ich bin nicht taub, Wheeler. Deine ach so tollen Freunde sind bereits im Riesenrad, da du deiner Sucht nach etwas Essbaren mal wieder nachgeben musstest.“

Er legte leicht den Kopf schief. „War das jetzt ein Vorwurf?“

Gott, was hatte ich verbrochen, dass ich mit so jemandem gestraft wurde? Was hatten meine geschundenen Nerven verbrochen? „Wheeler, tu mir einen Gefallen und lass mich in Ruhe.“ Mit diesen Worten stieß ich mich von der Absperrung ab und setzte mich in Bewegung, schritt unbeirrt auf die nächste Gondel zu, die bereits im Begriff war, für einige Sekunden zu halten.

Als ich die Stufen in die Gondel erreicht hatte, legte sich jedoch eine Hand auf meine Schulter und riss mich grob herum. Braune Augen funkelten mich angriffslustig an. „Kaiba, geht das auch etwas freundlicher?“ Ich brauchte einige Momente, um zu registrieren, was der Köter mir da genau gesagt hatte. Hatte ich richtig gehört? Forderte Wheeler, dass ich – ich! – freundlicher zu ihm – ihm! – war?! Was hatte man ihm in sein Essen getan? „Wheeler, hat man dir etwas in dein Popcorn geschüttet, oder warum sind deine Kommentare noch stupider als sonst?“

„Was soll das heißen?“

Hatte er selber nicht begriffen, was er eben von sich gegeben hatte? War sein Hundehirn tatsächlich zu klein, um das zu begreifen? Offenbar schon. Es wäre also komplette Zeitverschwendung, ihm das jetzt noch zu erklären. „Wheeler, lass mich los.“ Er wusste, dass er mich nicht berühren durfte und dennoch tat er es. Bei Gelegenheit würde ich ihn verklagen. Er hatte es tatsächlich gewagt, seine Hand erneut auf meine Schulter zu legen. Dieser elende Köter!

Ein Grinsen erschien auf seinen Zügen. „Was denn Kaiba, hast du etwa Angst vor mir?“

Ich und Angst? „Träum weiter, Wheeler.“ Ich warf einen raschen Blick über die Schulter und verzog abfällig die Lippen. „Da hast du es Wheeler, wegen dir habe ich meine Gondel verpasst. Inkompetenter Köter.“

„Ich bin kein –“ Sein Protest erstarb augenblicklich, als ich meine Hand fest um sein Handgelenk schloss und seine Hand von meiner Schulter zog. „Au, verdammt, geht das nicht etwas weniger schmerzhaft?!“

Mit leicht verzerrtem Gesichtsausdruck rieb er sich das Gelenk.

Ich sah ihn unberührt an. „Hättest du einfach auf mich gehört und mich nicht angefasst, wäre dir das erspart geblieben.“ Ich wandte ihm demonstrativ den Rücken zu, folgte mit meinen Augen der nächsten Gondel, die bereits auf uns zukam.

Mit einigen schnellen Schritten erklomm ich die wenigen Stufen und betrat die Gondel. Die Warnung des Sicherheitsmannes, der mir riet, so lange zu warten, bis sie ihren tiefsten Punkt erreicht hatte, ignorierte ich geflissentlich. Mit wenig Begeisterung musterte ich das Innere der Gondel. Sie war rund und eine einzelne lange Bank folgte ihrer Form, ging einmal in die Runde und man konnte von ihr aus durch die verglasten Wände auf Ôsaka hinabblicken.

Hinter mir erklang in anerkennender Pfiff. „Wow, gar nicht mal so übel.“

Für wenige Sekunden schloss ich die Augen und zählte innerlich bis zehn. Dies Methode wandte ich heute beunruhigend oft an, dennoch schien sie nicht den gewünschten Erfolg mit sich zu bringen.

„Wheeler, was willst du hier in meiner Gondel?“

„Deine Gondel? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du sie gekauft hast.“

Vielleicht hätte ich das wirklich tun sollen. Dann wäre mir wenigstens Wheelers störende Anwesenheit erspart geblieben. Ich beschloss, sofort nach Beendigung dieser Rundfahrt, den Besitzer dieses Rades aufzusuchen, es zu kaufen und ein durchgängiges Hundeverbot einzuführen. So konnte es einfach nicht weitergehen.

„Du störst, Wheeler. Verschwinde.“

„Zuvorkommend wie eh und je.“

Diese Konstellation hatten wir heute schon einmal, wenn ich mich recht erinnerte. Langsam drehte ich mich zu ihm um. Wenigstens war abgesehen von ihm niemand sonst in dieser Kabine. „Ich sagte, du sollst verschwinden.“

Er warf einen Blick auf den Ein- und Ausgang hinter ihm, der sich mit einem Zischen schloss, bevor er sich wieder mir zuwandte und grinsend mit dem Daumen über seine Schulter deutete. „Wie du siehst, ist das ab jetzt unmöglich. Ich fürchte, du wirst mich die nächste halbe Stunde nicht mehr los.“

Ich verschränkte die Arme und sah ihn ausdruckslos an. „Es sei denn, ich werfe dich kurzerhand aus dem Fenster.“

Gespielt überlegend kratzte er sich am Kopf. „Ja, das wäre eine Möglichkeit. Allerdings wäre ein Mord in deinem Fall sicher nicht besonders Image fördernd.“

Ein beinahe schon teuflisches Lächeln erschien auf meinen Zügen. „Glaub mir Wheeler, ich besitze Mittel und Wege um jegliche Spuren, die zu mir führen, verschwinden zu lassen.“ Doch leider hatten meine Worte nicht die gewünschte Wirkung, zeichnete sich auf seinem Gesicht weder Überraschung, noch das erhoffte Entsetzen ab.

„Ja, das glaube ich dir gerne“, erwiderte er ruhig und ließ sich auf die Polster der Bank neben sich fallen.

Abfällig schnaubend ließ ich mich auf dem Stück der Bank hinter mir nieder, wandte demonstrativ den Kopf und starrte durch das Glas in den dunklen Himmel.

Stille legte sich wie ein schweres Tuch zwischen uns und mich überkam nicht im Geringsten der Wunsch, etwas dagegen zu unternehmen. Seine alleinige Anwesenheit reichte bereits aus, um meine ohnehin schon wenig gute Laune vollends auszulöschen. Ein Blick auf die digitalen Ziffern über dem Ausgang ließ ihn mich rasch wieder abwenden und verbittert die Augen schließen. Noch achtundzwanzig Minuten.
 

Irgendjemand musste diese Uhr sabotiert haben. Sie und das gesamte Riesenrad. Eine einzelne Minute konnte doch unmöglich derart schleichend vergehen. Außerdem hatte sich das Rad doch, von außen betrachtet, viel schneller gedreht.

Als Wheeler dann auch noch begann, ein Lied vor sich hin zu summen, wurde meine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe gestellt. Ich war für meine herausragende Selbstkontrolle bekannt, dennoch erreichte an Tagen wie diesen sogar ich hin und wieder meine Grenzen – so ungern ich das auch zugab.

„Wheeler, sei so gut und halt deine Hundeschnauze!“ Meine Worte wurden von einer zusätzlichen Schärfe unterstützt, die eigentlich nicht vorgesehen war und die deutlich zeigte, wie nahe ich meiner Grenze bereits war. Verdammt.

Sein Kopf ruckte herum und er starrte mich trotzig an. „Ich denk ja nicht dran!“ Demonstrativ lehnte er seinen Kopf zurück, sah mich weiterhin herausfordernd an und summte noch eine Spur lauter. Die ersten Minuten erwiderte ich seinen Blick ungerührt, doch als er das Lied wechselte und mir nun in aller Unverschämtheit Last Christmas vorsummte, war der Punkt erreicht, an dem ich rot sah.

Ruckartig erhob ich mich, durchquerte die Kabine mit wenigen Schritten, bis ich vor ihm stand, packte ihn grob am Kragen und riss ihn in einer schnellen Bewegung hoch. „Ich warne dich, Wheeler. Treib es nicht zu weit“, knurrte ich leise und meine Stimme klang mehr als nur bedrohlich. Dennoch wich der

Trotz nicht aus seinem Blick und ein provozierendes Grinsen erschien auf seinen Lippen. „Das würde ich nie wagen, Kaiba-sama“, entgegnete er unschuldig und das Grinsen gewann an Umfang. Meine Hand verkrampfte sich in seinem Shirt. Was bildete dieser elende Köter sich eigentlich ein?

„Was denn Kaiba, hat es dir die Sprache verschlagen?“ Aufkeuchend wurde er zur Seite gezerrt und fest gegen die Tür der Kabine gepresst. Meine Augen waren zu Schlitzen verengt und ich starrte ihn durchdringend und voller Hass an. „Sei vorsichtig, Wheeler.“

„Was ist sonst?“, fragte er herausfordernd. „Rufst du einen deiner Handlanger? Könnte ein wenig schwer werden, immerhin befinden wir uns hier“, er warf einen flüchtigen Blick aus den Augenwinkeln durch eines der Fenster, „gut hundert Meter über dem Boden. Du bist also dieses Mal ganz auf dich alleine gestellt, Kaiba. Hast du jetzt Angst?“

„Darauf kannst du lange warten, Köter. Ich brauche keine Handlanger, wie du sie nennst. Ich könnte dich ohne weiteres selbst aus dieser Kabine stoßen.“

„Dann tu es doch.“

Beinahe wäre mir die Kontrolle entglitten. „Was?“

Seine Augen funkelten mich durchdringend an. „Dann tu es. Du schaffst es eh nicht, das weiß ich.“

Wie konnte er sich da so sicher sein? Was fiel ihm ein, so verdammt selbstsicher zu sein? „Woher willst du das wissen?“

„Du bist zu schwach, Kaiba.“

Meine Augen weiteten sich minimal, sonst war von mir keine Reaktion auf seine Worte wahrzunehmen.

Doch innerlich brachen derzeit sämtliche Barrieren. Schwach? Ich? Zu schwach? Für wenige Sekunden war ich abgelenkt, war auf das fixiert, was sich in meinem Inneren abspielte und somit registrierte ich zu spät, dass er eine Hand gehoben und um mein Handgelenk, geschlossen hatte. Bestimmt drückte er zu und mein Griff um sein Shirt lockerte sich gezwungenermaßen. Dies nutzte er aus, um mich herumzuwirbeln und unsere Positionen zu wechseln, sodass er es nun war, der mich an die Tür der Gondel drückte. Mein Blick verdüsterte sich angesichts dieser Erkenntnis.

Sein Gesicht näherte sich meinem, und der beinahe unbändige Wunsch, ihm das widerliche Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen, keimte in mir auf. Dieser Köter war wirklich nicht gesund für mich, wenn ich nun sogar das Verlangen nach Gewalt verspürte. Sobald ich dieses Rad hinter mir hätte, würde ich meine Anwälte informieren und für Wheeler würde seine letzte Stunde schlagen, soviel war sicher. Doch zunächst galt es, sich aus dieser äußerst unangenehmen Situation zu befreien, in der tatsächlich er die Oberhand hatte. Unfassbar.

Bei unserer Aktion war mir meine Sonnenbrille ein ziemliches Stück die Nase hinab gerutscht und verdeckte nun kaum mehr meine Augen.

„Ich sagte doch, du bist zu schwach, Kaiba“, raunte er mir zu und in seiner Stimme schwang ein, mir bis dahin unbekannter Ton mit. Was war in Wheeler gefahren, dass er sich auf einmal derart gegen seine Norm verhielt? Normalerweise war er es, der vor mir den Schwanz einkniff oder sich knurrend zurückzog. Aber jetzt? Irgendetwas lief hier eindeutig falsch.

„Ich bin nicht schwach, Köter“, gab ich leise zurück.

„Und wieso bist du dann in so einer – für dich sicher wenig günstigen – Lage?“

Konnte Wheeler endlich damit aufhören, Sätze von sich zu geben, die so gar nicht zu ihm passten?

„Schwach.“

Er sollte still sein. Ich war nie schwach. Ein Seto Kaiba zeigte niemals Schwäche. Schwäche bedeutete den sicheren Tod. „Ich sage es dir noch einmal, Wheeler: Ich bin nicht schwach. Und jetzt lass mich gefälligst los!“ Ich war es, der Forderungen stellte, und er war es, der sie gefälligst zu befolgen hatte. Ein Hund widersetzte sich nicht seinem Meister.

„Warum sollte ich?“

Mein Blick wanderte an ihm vorbei, aus dem Fenster rechts neben uns und eine meiner Augenbrauen schwang in die Höhe. „Weil deine kleinen Versagerfreunde sich ihre Nasen bereits an ihren Fenstern platt drücken und nicht den Eindruck erwecken, als ob sie genau wissen wollen, was wir beide hier bereden.“

„Was?“ Sein Blick folgte meinem und ich sah, wie seine Augen sich ungläubig weiteten. Wir hatten den höchsten Punkt des Rades erreicht und einige Gondeln weiter hing Muto mitsamt dem Rest der Gruppe an dem Fenster in unsere Richtung und folgten dem Schauspiel, das wir ihnen boten gebannt und mit sichtbarer Verblüffung. Allerdings löste Wheeler nicht, wie erwartet, den Griff um mein Handgelenk, sondern richtete seinen Blick wieder auf mich und funkelte mich mit seinen braunen Augen angriffslustig an. „Was sie wohl denken, was wir hier machen.“

Mein Magen zog sich bei seinen Worten unangenehm zusammen. „Ich lege keinen Wert darauf, es zu erfahren, Köter.“

Er sah mich lange und eindringlich an, dann löste sich sein Griff zu meiner Überraschung und er gab mich frei, blieb jedoch noch immer dicht vor mir stehen. Ich spürte die gewohnte Wut und Abneigung in mir aufwallen. Wie ich seine Nähe doch verabscheute. Wie ich ihn doch verabscheute.

Sein Blick schien sich beinahe in meinen zu brennen und es stellte sich mir unweigerlich die Frage, was er in diesem Moment denken musste. Ich hatte mich heute – nein, ich hatte mich bereits die letzten Tage gegen meine Prinzipien verhalten, war mit Situationen konfrontiert worden, denen ich vorher nicht einmal ansatzweise begegnet war, hatte dementsprechend reagiert und das musste selbst ihm aufgefallen sein. Ich ließ mich seit dem Beginn unserer Klassenfahrt einfach zu sehr gehen. Das musste ein Ende haben, andernfalls würden sich Situationen wie diese in Zukunft sicherlich öfter ergeben. Und das wäre unverzeihlich.

Ich war es, der jedem überlegen war, dem jeder unterlegen war. Dem sich jeder fügte. Jeder, abgesehen von Wheeler. Doch er war ein Ausnahmefall, ein Staubkorn in dem, ansonsten wunderbar funktionierenden Getriebe der Kontrolle. Er würde es nicht zum bersten bringen. Nicht er.
 

Wie lange wir uns einfach nur ansahen, ohne ein weiteres Wort zu sprechen, ohne uns in irgendeiner Art Beleidigungen oder Beschimpfungen an die Köpfe zu werfen, die ununterbrochenen Blicke seiner Freunde ignorierend, wusste ich nicht zu sagen. Im Nachhinein bereute ich meine deplatzierte Gelassenheit angesichts unserer Lage, doch in diesem Moment war ich zu abgelenkt. Meine Gedanken schienen sich zu überschlagen, ich erinnerte mich nicht, vorher schon einmal in solch einer inneren Verfassung gewesen zu sein und ich schwor mir, es in Zukunft nie wieder so weit kommen zu lassen.

Diese Klassenfahrt hatte meinen Mauern Risse beschert, meiner Selbstbeherrschung unabstreitbar Schaden zugefügt und ich würde sicherlich nicht zulassen, dass es noch schlimmer werden würde. Und schon gar nicht durch Wheeler.

Durch die Fenster drang das helle Licht der Beleuchtung, die an dem Riesenrad angebracht war, beschien unsere Gesichter, tauchte seine Augen in einen ungewohnten Glanz.

„Weißt du Kaiba, wenn man dich so ansieht, sehen deine Augen bei dem Licht nicht blau, sondern schwarz aus.“

Schwarz? Es dauerte einige Augenblick, ehe ich den Sinn seiner Worte begriff. Doch kaum, dass die Erkenntnis mich übermannt hatte, verschwand mit einem Mal der Widerstand in meinem Rücken. Wir hatten, ohne, dass ich es bemerkt hatte, eine Runde vollendet und die Tür der Kabine glitt zischend zur Seite, beraubte mich des Haltes und ich verlor das Gleichgewicht. Der Fall aus der Gondel war sicherlich nicht tief, dennoch würde die Höhe ausreichen, um meinem Körper einige sichere Schäden zukommen zu lassen.

Noch während ich fiel und Wheelers Gesicht sich beinahe in Zeitlupe von meinem entfernte, fühlte ich mich in meine Träume zurückversetzt, in denen er mich vom Dach der Kaiba Corporation stieß.

Und wieder war es seine Schuld, dass ich fiel.
 

Guten Flug, Kaiba! Ich meinte sogar, seine Stimme wieder hören zu können.
 

Das Cappy rutschte mir vom Kopf, fiel vor mir dem Boden entgegen, als mit einem Mal seine Hand hervorschnellte und blitzschnell nach meiner griff. Ein Ruck ging durch meinen Körper, als der Fall unvermittelt endete und er mich abrupt zu sich hoch zog. Die schwarze Kappe landete mit einem, für meine Ohren unnatürlich dumpfen Geräusch, auf dem Steinboden vor dem Riesenrad, während ich mich einem Paar ernst funkelnden, braunen Augen gegenübersah. „Du solltest etwas besser acht geben, Kaiba, sonst brichst du dir noch den Hals.“

Ein simpler Satz, eigentlich doch so trivial, dennoch schaffte er es, die ganze Irrationalität dieser Situation wiederzugeben und mich aus meiner paradoxen Erstarrung zu reißen, die mich unmittelbar nach seinem Eingriff befallen zu haben schien. Harsch riss ich mich von ihm los, machte ohne ein Wort des Dankes – immerhin war er es, der für meinen Fall verantwortlich gewesen war - kehrt und verließ die Gondel. In einer fließenden Bewegung beugte ich mich hinab, griff nach der Kappe und setzte sie mir wieder auf, nachdem ich sie beinahe überflüssigerweise von dem imaginären Staub befreit hatte. Wheeler keines weiteren Blickes mehr würdigend, ließ ich das Riesenrad und die Absperrung hinter mir, blendete die verblüfften und sprachlosen Gesichter meiner Mitschüler gekonnt aus und machte mich kommentarlos auf den ‚Heimweg’, zurück zur Herberge, nicht darauf achtend, ob mir jemand folgte oder nicht. Es würde ohnehin niemand wagen, mich aufzuhalten - weder einer der Schüler, noch meine Lehrer.

Hinter mir strahlte das Riesenrad in die dunkle Nacht.

In diesem Augenblick wusste mein Hass nicht, worauf er sich richten sollte. Auf das Objekt, dass mich beinahe meiner letzten rationalen Sinne beraubt hatte, oder auf Wheeler, dem diese Aufgabe ohnedies zuteil kam und der mich als einziger Mensch in meinem Leben dazu brachte, zu bereuen, keinen Waffenschein zu besitzen - wie gerne würde ich bei ihm doch Gebrauch dieses Privilegs machen, so sehr dies auch meinem Image schaden könnte.

Ich schob die Sonnebrille ein Stück nach oben, bevor ich sie fluchend herunter riss und achtlos neben mir auf den Boden warf, während ich meinen Weg unbeirrt fortsetzte, dabei den Tag verfluchend, an dem mir Joey Wheeler - Schrecken meiner traumvollen Nächte - zum ersten Mal begegnet war.
 

*~*~*
 

The deeper the blues

The more I see black

Sweeter the brew the feeling starts coming back

All the deepest blues are black
 

*~*~*
 

(Foo Fighters – The Deepest Blues Are Black)

Tag 4: Fege-Feuer

Tag 4: Fege-Feuer
 

Meine Augen überflogen aufmerksam die geschriebenen Zeilen und nur hin und wieder warf ich einen flüchtigen Blick in die obere Ecke, in der in digitalen Ziffern die Uhrzeit stand, nur um Augenblicke später wieder zurück zu meiner eigentlichen Arbeit zu kehren.
 

3.45 Uhr.
 

Ich hatte beschlossen, diese Nacht nicht zu schlafen, brachte dies doch viele Vorteile mit sich. Ich lief keine Gefahr, erneut von einem imaginären Wheeler heimgesucht zu werden und ich erledigte etwas Sinnvolles. Zumindest war es das in meinen Augen. Einen Nachteil hatte dieser Boykott allerdings. Einen kleinen, aber dennoch störenden Faktor.

Ein lautes Schnarchen ließ mich aufschrecken, nur um Bruchteile später verärgert die Augenbrauen zusammen zu ziehen.

Dadurch, dass ich mich des Schlafens verweigerte, war ich gezwungen, Wheelers Schlafgeräuschen zu lauschen, ob ich wollte oder nicht. Und, um ehrlich zu sein, stellten diese sich als äußerst nervenaufreibend und zudem einfach nur unglaublich heraus. Es war nicht zu fassen, wie ein einzelner Mensch im Schlaf derartiges von sich geben konnte.

Noch am ersten Abend unserer Klassenfahrt, nachdem ich widerwillig geduldet hatte, dass Wheeler voller Dreistigkeit einfach mein Zimmer mitbesetzt hatte, hatte ich noch gehofft, dass der vorlaute Köter wenigstens während er schlief seine Hundeschnauze hielt, doch ich wurde, kaum dass der Schlaf ihn empfangen hatte, eines Besseren belehrt.

Ich wusste nicht, wie viele Verträge und Briefe ich seit gestern Abend verfasst hatte, doch hatte ich sicherlich mein Arbeitspensum der nächsten Wochen erreicht. Doch es war mir egal. Ich versuchte meine störenden Gedanken, die mich seit dem letzten Abend zu übermannen drohten, zurückzudrängen und bis zu diesem Zeitpunkt war mir dies auch erfolgreich gelungen.
 

„Du bist zu schwach, Kaiba.“
 

Das leise Klackern der Tastatur verstummte.

Es war mir bis jetzt gelungen, doch anscheinend sollte es sich nun ändern. Lautlos seufzend speicherte ich die Datei, an der ich bis gerade noch gearbeitet hatte, bevor ich sie schloss. Anschließend presste ich die Augenlider aufeinender und massierte mir mit einer Hand die Schläfen.

Was erdreistete Wheeler sich, mir etwas Derartiges ins Gesicht zu sagen? Ich und schwach?! Ich war vieles, doch schwach, hatte man mich bis heute noch nie genannt. Abgesehen von meinem Stiefvater.

Doch in dessen Augen war ich niemals wirklich würdig gewesen.

Aber was fiel Wheeler ein, zu behaupten, ich sei schwach? Ein Seto Kaiba zeigte niemals Schwäche und ich hatte mich in meinem Leben oft genug an diese Regel gehalten. Wie also kam Wheeler darauf, meinen zu können, ich sei schwach?

Nun doch leise seufzend fasste ich mir an die Stirn.

Genau aus diesem Grund, hatte ich mich seit meiner Rückkehr in die Herberge mit Arbeit ertränkt. Um mich diesen Gedanken nicht stellen zu müssen. Offensichtlich hatte dieser Zeitpunkt jedoch früher oder später eintreffen müssen und nun war es soweit.

Meine Augen öffneten sich einen Spalt breit und mein Blick wanderte zur Seite, erfasste Wheeler – besser gesagt, den Teil von ihm, den ich von meiner derzeitigen Position aus erkennen konnte – und verdüsterte sich merklich. „Vielen Dank Wheeler.“ Ich verspürte den Drang, ihn einfach zu packen und ihm kurzerhand einen erneuten Flug aus dem Etagenbett zu verschaffen, doch verwarf ich diesen Gedanken rasch wieder. Ich hatte mir immerhin geschworen, diese Gewalt fördernden Gedanken zu verdrängen. Es war einfach nicht gut für mich und meine ohnehin schon geschwächte Verfassung.

Als mit einem Mal die Stimme des Köters erklang, war ich kurz davor, zusammen zu zucken, doch ich konnte mich zu meinem Glück noch rechtzeitig fangen.
 

„Nein, ich will noch ein Eis ...“
 

Hatte ich richtig gehört? Der Köter dachte sogar während er schlief nur ans Essen?

Ich dachte, seine ohnehin schon kranke Psyche wäre nicht mehr zu schlagen, doch er lieferte mir eindeutige Beweise gegen diese Theorie. Ein verfressener Köter, der mich schwach nannte und mir von Tag zu Tag dubioser wurde. Jemand sollte ein Buch über diesen verrückten Flohfänger schreiben, es würde ihm an Informationsmaterial und Kuriositäten sicher nicht mangeln.

Rasch schüttelte ich angesichts dieser ‚Idee’ den Kopf. Ich litt ohne Zweifel an einem sichern Fall der Übermüdung, anders waren derlei Gedankengänge nicht zu erklären.
 

„Hm ... und noch ein Stück Sahnetorte ...“
 

Ich schloss frustriert die Augen, fragte mich, warum ich mit jemandem wie Wheeler gestraft wurde und welche Art ihn umzubringen die wenigsten Indizien hinterließ.
 

„... und eine Extraportion Sahne ...“
 

Meine linke Augenbraue begann unkontrolliert zu zucken und meine freie Hand ballte sich zitternd zur Faust. Wenn der Köter nicht endlich die Klappe hielt, konnte ich für nichts mehr garantieren. Weder für meinen – für heute – kümmerlichen Rest Selbstbeherrschung, noch für seine Gesundheit – oder, um mich genauer zu definieren, für sein Leben.
 

„... und ein Steak.“
 

Dies war der Punkt, an dem mir vollends die Kontrolle entglitt.

Ich hatte einen schlechten Tag hinter mir, musste mir in einem Wasserbecken Fische ansehen, mich dank Wheeler verlaufen, mich von Wheeler ‚retten’ lassen, sein verdammte Kappe tragen, mit einem Holzboot über einen dreckigen Fluss fahren, mir das Genörgel meiner Mitschüler anhören, in einen Koloss, der sich Riesenrad schimpfte steigen – zusammen mit Wheeler - und mich von ihm in die Ecke drängen und als ‚schwach’ bezeichnen lassen.

Da mehr als die Hälfte dieser Komponenten mit Wheeler zu tun hatten und da eben jenes Zielobjekt meiner schlechten Laune und all meiner Verachtung zu allem Überfluss auch noch schnarchend und die unmöglichsten Nahrungskombinationen aufsagend nur wenige Meter von mir entfernt in der oberen Etage des Hochbettes lag, unterlag ich dem Versuch, meine aufkeimenden und schließlich auch heranwachsenden Mordgedanken in Schach zu halten.

Ich, Seto Kaiba, Leiter der wahrscheinlich einflussreichsten Firma der Welt, vergaß mich.
 

An das, was daraufhin passierte, erinnere ich mich bis heute nur schemenhaft.
 

oOo
 

In aller Seelenruhe nahm ich einen Schluck Kaffe, bevor ich die Tasse auf den Tisch stellte, meinen Blick dabei nicht von dem Artikel der Zeitung nehmend. Die wievielte Tasse es mittlerweile war wusste ich nicht, ich hatte nach der dritten aufgehört zu zählen. Gekonnt ignorierte ich die argwöhnischen und sogar teilweise scheuen Blicke, die mir seitens meiner Mitschüler zuteil wurde, die ebenfalls dem Frühstück beiwohnten. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, was wohlmöglich alles in ihren Köpfen vor sich gehen mochte, angesichts der lautstarken Ruhestörung der letzten Nacht. Es interessierte mich nicht, was sie sich mittlerweile alles ausgemalt hatten.

Eine erdrückende Stille hing seit dem Beginn des Frühstücks im Speisesaal, niemand wagte es, sie zu durchbrechen. Die allmorgendlichen Gespräche wurden verschoben und das Frühstück so unauffällig wie möglich zu sich genommen. Hin und wieder wurden vorsichtige Blick auf mich geworfen – ich spürte es, auch wenn ich mir nicht die Mühe machte, sie zu erwidern – und der andere Teil der allgemeinen Aufmerksamkeit lag auf dem blonden Köter, der das Frühstück mit, für seine Verhältnisse, unüblicher Zurückhaltung aß. Zudem erwies sich die schmuckvolle Beule, die seine Stirn zierte, als ein effektiver Blickfang.

Erneut griff ich nach der Tasse, nippte an der heißen koffeinhaltigen Flüssigkeit, dann stellte ich sie beiseite. Mit einem Rascheln, bei dem sämtliche Schüler um mich herum zusammenzuckten, blätterte ich um. Ein leises Aufatmen ging durch den Raum und brachte mich dazu, den Blick nun doch zu heben, und über den Rand meiner Zeitung zu sehen. Ich registrierte, wie einige bei meinem Blick den Atem anhielten, andere waren mitten in ihrer Bewegung – unter anderem wollten manche von ihnen wohl nach der Butter oder dem Käse greifen – erstarrt und starrte mich mit einem beinahe schon panischen Ausdruck an. Meine Augenbraue schwang in die Höhe, während ich die Szenerie, die sich mir bot, mit Skepsis betrachtete.

Als ich es schließlich leid wurde, wie eine billige Attraktion angestarrt zu werden, räusperte ich mich vernehmlich. Augenblicklich kehrte das Leben in die Erstarrten zurück und schnell waren sie mit sich oder etwas anderem beschäftigt, wichen meinem Blick aus und versuchten, mich so wenig wie möglich zu beachten.

Einen abfälligen Laut unterdrückend wandte ich mich der Zeitung zu und richtete meine Aufmerksamkeit auf den nächsten Artikel. Man konnte es wirklich übertreiben.
 

Mit wenig Begeisterung lehnte ich im Rahmen der Tür zum Gemeinschaftsraum. Aoyagi-sensei und Kaidou-sensei planten gerade den Verlauf unseres Tages und der Rest meiner Klassen folgte ihnen gebannt.

„Heute Vormittag gehen wir noch einmal in die Stadt, dort könnt ihr euch in Gruppen aufteilen, bestehend allerdings aus mindestens drei Personen, und euch etwas amüsieren oder einkaufen. Zum Mittagessen treffen wir uns wieder inder Herberge und heute Nachmittag werden wir, sofern das Wetter beständig bleibt, zum Strand gehen.“

Aufgeregtes Gemurmel breitete sich bei ihren Worten aus und einige Mädchen begannen zu kichern, während die Jungen sich hinter vorgehaltenen Händen zugrinsten, sicherlich voller Vorfreude auf die knappe Badebekleidung, die sie seitens der Mädchen zu sehen bekommen würden. Idioten, allesamt.

„Also, meine Lieben“, schloss Aoyagi-sensei lächelnd, „macht euch allmählich fertig, in einer halben Stunde gehen wir los. Bis dahin.“ Sie nickte und machte dadurch deutlich, dass die Ankündigung beendet war und die Schüler gehen durften. Ich hatte mich gerade umgewandt, als sie ihre Stimme erneut erhob. „Seto-kun, Joey-kun, bitte bleibt noch einen Moment.“

Ich verharrte in der Bewegung und drehte mich langsam um, während meine Mitschüler mit neugierigen Blicken an mir vorbeigingen und den Raum verließen, dabei eifrig miteinander tuschelten.

Widerwillig folgte ich dem Wink der Frau und trat näher, zusammen mit Wheeler, der Muto und den Rest mit einem schwachen Lächeln vorschickte.

Schließlich standen nur noch wir drei in dem Gemeinschaftsraum – Kaidou-seinsei hatte ihn ebenfalls bereits verlassen. Die Pädagogin blickte ernst von mir zu Wheeler, bevor sie seufzte und kurz die Augen schloss. „Manchmal frage ich mich, wohin das mit euch beiden führen soll.“

Ich betrachtete sie mit einem kritischen Blick. Was wollte sie damit sagen?

„Die Herbergsleitung hat sich bei mir wegen drastischer Ruhestörung beschwert und wir waren nicht die einzigen, die heute Nacht von euch geweckt wurden.“

„Aber Sensei“, warf der Köter protestierend dazwischen. „Das war nicht meine Schuld! Kaiba hat –“

„Du warst für alles verantwortlich, Wheeler“, schnitt ich ihm kalt das Wort ab.

Er wirbelte zu mir herum und funkelte mich wütend an. „Ich?! Das bildest du dir ein, du elender –“

„Genau das meine ich“, fuhr Aoyagi-sensei ruhig fort, ließ uns innehalten und sie ansehen. Sie sah uns ernst an. „Durch euer Verhalten beeinfluss ihr nicht nur euch, sondern auch euer Umfeld. Ihr stört andere, weil ihr nicht in der Lage seid, eure Differenzen zu klären.“

„Ich sehe keinen Grund darin, irgendetwas daran zu ändern“, entgegnete ich frostig und verschränkte provokant die Arme. Ihre Augen fixierten nun mich und nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Gerade du solltest anders darüber denken, Seto-kun, immerhin leitest du eine Firma.“

Ich spürte Entrüstung in mir aufwallen, da sie in einer Art mit mir sprach, in der Mütter mit kleinen Kindern redeten. Was dachte diese Frau sich eigentlich? Sie war die Einzige ihres Amtes, die es wagte, mich bei meinem Vornamen anzureden, und alleine diese Tatsache duldete ich nur widerwillig.

Eigentlich entsprach diese Anrede nicht im geringstem dem, was ich erwartete – man hatte mich gefälligst mit dem nötigen Respekt anzusprechen - doch sie ließ sich nicht davon abbringen, egal was ich auch tat.

Mit einem abfälligen Laut sah ich zur Seite, zog es vor, sie mit Ignoranz zu strafen - zeigte diese Taktik doch immer die gewünschten Erfolge.

„Seto-kun, Joey-kun, seht mich bitte an.“

Immer ... bloß jetzt nicht.

Widerwillig wandte ich den Kopf und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Wheeler auf die selbe Art und Weise reagiert zu haben schien, was mir einen kalten Schauer den Rücken hinab laufen ließ.

Wheeler und ich zeigten dieselben Reaktionsmuster? Erschreckend. Erschreckend wahr.

Aoyagi-sensei seufzte schwer. „Da ihr es anscheinend nicht verstehen wollt, sehe ich keine andere Möglichkeit, als euch heute Vormittag in der Herberge zu lassen, während der Rest der Schüler mit mir und Kaidou-san in die Stadt geht.“

„Aber Sensei“, protestierte Wheeler sofort, „Sie können mich doch nicht für etwas bestrafen, was überhaupt nicht meine Schuld ist!“

„Joey-kun“, entgegnete sie mahnend und er verstummte, senkte wie ein geprügelter Hund den Blick.

Ich zuckte die Achseln. „Es kümmert mich nicht, wenn ich nicht in die Stadt kann. Ich kann mir ohnehin bessere Wege vorstellen, meinen Vormittag zu verbringen.“

„Ihr beide bleibt nicht hier, um euch in der Herberge amüsieren zu können“, fuhr die Frau erklärend fort. „Ich habe bereits mit der Herbergsleitung gesprochen. Es gibt einige Aufgaben, die ihr beide hier erledigen könnt, um euch nützlich zu machen.“

„Wie bitte?!“, wiederholte ich ungläubig. „Das ist nicht Ihr Ernst!“

Sie erwiderte meinen Blick problemlos – ich sollte in Zukunft vielleicht an der durchdringenden Version meiner Ohne-mich-Variante arbeiten – und meinte schließlich ruhig: „Doch, Seto-kun, es ist mein voller Ernst. Ich habe bereits alles geregelt. Ihr könnt damit anfangen, die Flure zu fegen.“

Von Wheeler kam nur ein unartikulierbares Knurren.Fegen? Ich und fegen? In der Schule schaffte ich es immer, dem Fegedienst zu entkommen – dazu bedurfte es nur einiger gut platzierter Meetings – doch offenbar schien es mich nun einzuholen.

Wen genau musste ich bestechen, um freigesprochen zu werden? Das konnte so schwer doch nicht sein.
 

Nach etlichen Bestechungsversuchen, unzähligen Drohungen und aufgeriebenen Nerven fragte ich mich nun, ob die Inhaber dieser Herberge tatsächlich von einer gewissen Unbeirrbarkeit gesegnet, oder einfach nur mit Inkompetenz gestraft waren.

Angewidert starrte ich auf den Besen, der unschuldig vor mir an der Wand lehnte und versuchte ihn mit meinem Blick entweder zu Eis erstarren oder in Flammen aufgehen zu lassen, damit ich einen Grund hatte, das Fegen zu verweigern. Doch unglücklicherweise war Fortuna mir nicht hold, denn das derzeitige Zielobjekt meines Hasses lehnte weiterhin unversehrt an der ockerfarbenen Wand.

Es hieß, Ocker sollte beruhigend wirken. Nun, offen gestanden registrierte ich nicht die Spur von Beruhigung.

Langsam hob ich die Hand und griff nach dem hölzernen Besenstiel. Ich fragte mich, warum ich überhaupt den Namen dieses Objektes kannte, wurde ich doch seit jeher so selten damit konfrontiert, wie Wheeler mit guten Noten. Wenn ich genau zurückdachte, konnte ich mich nicht einmal daran erinnern, jemals vorher einen Besen in der Hand gehalten – geschweige denn ihn benutzt – zu haben.

Meine Mundwinkel verzogen sich leicht, als ich den Besen eingehend betrachtete. Ich wollte lieber nicht genauer darüber nachdenken, mit welchen Keimen und Erregern er schon in Berührung gekommen sein musste. Widerlich.

Mich überkam der Drang, ihn einfach loszulassen, doch mein Stolz ließ es nicht zu, Wheeler gegenüber eine derart offensichtliche Schwäche zuzulassen. Besonders im Hinblick auf den vorigen Abend.

Langsam nahm ich den hölzernen Gegenstand in beide Hände und warf einen kurzen Blick auf den Köter, der bereits den Flur fegte und mich dabei vollkommen ignorierte. Mir sollte es recht sein, solange er mich nicht mit irgendwelchen unsinnigen Dingen belästigte.

Widerwillig tat ich es ihm gleich und begann beinahe zaghaft, den Boden vor mir zu fegen. Vor und zurück, vor und zurück. Und davon sollte der Boden sauber werden? Die Geräte, die dafür bei der Kaiba Corporation verwendet wurden, waren in dieser Hinsicht wesentlich effektiver. Und eindeutig schneller.

Mein Blick war gelangweilt auf den unteren Teil des Besens gerichtet, während ich weiter fegte. Vor und zurück. Ich schwor mir, dass ich es in Zukunft nie wieder zulassen würde, etwas derart Lächerliches machen zu müssen.
 

„Kaiba, das ist doch jetzt nicht dein Ernst.“
 

Wheelers Stimme durchbrach die eiserne Stille zwischen uns. Ich hielt in der Bewegung inne und drehte mich langsam zu ihm um. Er stand einige Meter von mir entfernt, auf den Besenstiel gestützt und sah mich ungläubig an. Vor ihm auf dem Boden, erblickte ich einen kleinen Haufen Dreck.

Ich nahm den Besen in eine Hand und musterte ihn eindringlich. „Was ist nicht mein Ernst, Wheeler?“

Er deutete mit einem Kopfnicken in meine Richtung. „Na das. Du willst mir doch nicht ernsthaft weiß machen, dass du das fegen nennst.“

Wie bitte? Wusste der Köter überhaupt, welche unsinnigen Worte er da gerade von sich gab. Natürlich fegte ich, was dachte er den, was ich sonst tat?

Gespielt überlegend zog ich die Augenbrauen in die Höhe. „Ich weiß nicht Wheeler. Wie würdest du es bezeichnen? Kochen?“ Das sollte reichen, um ihm sein Maul vorerst zu stopfen. Des Sieges sicher wandte ich mich von ihm ab, um diese Arbeit so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, da fuhr er zu meiner Verwunderung jedoch fort:

„Nein, tue ich nicht. Aber dir sollte doch auffallen, dass du den Dreck so nicht auffegst, sondern nur noch mehr verteilst.“

Bitte was?! Für wenige Momente entglitten mir sämtliche Gesichtszüge und ich starrte entgeistert auf den Boden vor mir. Zu meinem Glück hatte ich Wheeler den Rücken gekehrt, folglich bekam er von diesem Ausrutscher nichts mit.

Meine Mine verdüsterte sich und ich starrte finster auf den staubigen Boden vor mir hinab. Warum musste ich von Wheeler darauf aufmerksam gemacht werden?

„Sag mir jetzt nicht, dass du nicht fegen kannst, Kaiba.“

Meine Hand umklammerte den Besenstiel so fest, dass meine Knöchel bereits weiß hervortraten.

„Ich glaub, ich muss dir mal zeigen, wie man richtig fegt.“

War es jetzt schon so weit gekommen, dass ich mich von Wheeler belehren lassen musste? Konnte es etwas Schlimmeres geben, als von ihm bei etwas Derartigem korrigiert zu werden?

Ich nahm eine Bewegung neben mir wahr und erkannte, dass er zu mir hinüber gekommen war. Mit einem breiten Grinsen, für das ich ihm am liebsten die Pest an den Hals gewünscht hätte, blicke er mich von der Seite an. „Dann wollen wir doch mal sehen, ob der Große Seto Kaiba talentiert genug ist, um die richtige Fegetechnik zu erlernen.“

Er sprach mit mir in einem Tonfall, mit dem Erwachsene für gewöhnlich mit Kindern redeten und Übelkeit stieg in mit hoch. Warum ausgerechnet Wheeler? Schon wieder hatte er eine Schwäche an mir ausmachen können. Blieb mir denn auf diesem Höllentrip nichts erspart?

„Kaiba, hörst du mir zu?“ Er beugte sich leicht vor und musterte mich mit fragendem Blick. Noch immer wollte dieses penetrante Grinsen nicht aus seinem Gesicht weichen.

Ich sandte ihm meinen bisweilen wirkungsvollsten Schweig-oder-stirb-Blick zu und er wich leicht zurück. „Na na, wer wird denn gleich?“ Todesmutig wie er offenbar war, lehnte er sich wenige Sekunden später wieder vor und grinste mich noch breiter als vorher an. „Da haben wir offenbar einen wunden Punkt getroffen, kann das sein?“

„Wheeler“, knurrte ich und blickte ihn hasserfüllt an. „Ich warne dich. Pass auf, was du sagst.“

„Also ist es wahr. Hätte ich ja nicht gedacht, dass du nicht fegen kannst. Obwohl“, er rieb sich nachdenklich das Kinn, stützte sich dabei noch immer von seinem Besen ab, „wenn ich es mir recht überlege, ist es doch keine große Überraschung. Ich hab dich noch nie beim Fegedienst in der Schule gesehen ...“

„Wheeler ...“

„Und ich nehme mal an, dass du die Kaiba Corporation sicher nicht fegst ...“

„Wheeler.“

„Wenn ich das den anderen erzähle ...“

Fest packte ich ihn an der Schulter und riss ihn grob zu mir herum. Augenblicklich verstummte er – hatte er eine derartige Reaktion offenbar nicht von mir erwartet. Bedrohlich starrte ich ihn an. „Ich warne dich Wheeler. Ein falsches Wort zu irgendwem und du wirst dir wünschen heute Morgen niemals aufgewacht zu sein!“ Meine Stimme war nicht mehr als ein gefährliches Zischen und ich sah, wie er schluckte.

Dann grinste er wieder, doch ich sah, dass es nur gezwungen war und er versuchte, seine Unsicherheit damit zu überdecken. Sehr gut. Der Köter hatte begriffen, wer von uns beiden hier die Oberhand hatte.

„Was denn Kaiba, du drohst mir?“

„Das hast du gut erkannt, Wheeler.“

Er stieß einen abfälligen Laut aus und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, bevor er sich wieder an mich wandte. „Hör mal, Alter, ich hab echt keinen Bock den ganzen Tag auf diesem Flur zu verbringen. Ich zeig dir jetzt, wie man das richtig macht, du beschwerst dich zur Abwechslung mal nicht, dass das ganze unter deiner Würde ist und wir bringen es schnell hinter uns, ja?“

Eine meiner Augenbrauen schwang in die Höhe, während ich ihn eingehend musterte. Hatte der Köter da gerade tatsächlich etwas ansatzweise Akzeptables gesagt? Doch gänzlich zufrieden war ich mit seinem Angebot noch nicht.

„Wie wäre es, wenn du die Arbeit hier verrichtest, wo du dich offenbar so gut in diesem Handwerk verstehst.“

Er sah mich wenig begeistert an. „Träum weiter, Alter.“

Sicher war es einen Versuch Wert gewesen. Wenn ich es wirklich gewollt hätte, hätte ich meinen Willen natürlich mühelos durchsetzen können, jedoch verspürte ich momentan nicht wirklich den Wunsch nach einer erneuten Diskussion mit Wheeler. Daher beließ ich es bei seinem Vorschlag und beobachtete skeptisch, wie er die Arbeit fortsetzte, übertrieben langsam fegte, um mir zu zeigen, wie es – ich zitiere – ‚am leichtesten geht’.

Tze, als ob das so schwierig war. Es war tatsächlich leichter als erwartet und im Nachhinein frage ich mich noch heute, wieso mein erster Versuch so kläglich gescheitert war.

Schweigend verrichteten wir unsere Arbeit, fegten die Flure und schafften es sogar während dieser Zeit, uns nicht lauthals zu streiten. Jedoch sehnte ich das Ende dieser Aktion herbei, wollte ich doch so wenig Zeit wie möglich mit Wheeler verbringen. Wer wusste schon, ob sein Verhalten auf Dauer nicht abfärben – obwohl, das richtige Wort war vielleicht eher ‚anstecken’ – konnte.

Als der Boden der Herbergsflure nach ganzen zwei Stunden schließlich nicht mehr von einer dicken Staub und Dreckschicht besudelt und die Besen von Wheeler zurück in die Besenkammer gebracht worden waren – ich hatte mich hartnäckig geweigert, mich diesem ‚Raum’ auch nur zu nähern, irgendwo hörte es schließlich auch auf! – verspürte ich tatsächlich Erleichterung in mir aufkeimen.

Ich schwor mir, dass ich nie wieder einen Besen auch nur ansehen würde und verschwand wortlos in unserem Zimmer. Ich kümmerte mich nicht darum, was Wheeler tat. Solange er niemandem von dieser Aktion erzählte, konnte er mir egal sein.
 

Die Zeit verging, während ich vor meinem Laptop saß und arbeitete. Längs waren meine Mitschüler zur Herberge zurückgekehrt – man hatte förmlich gespürt, wie die Herberge unter ihrem Ansturm gebebt hatte – und ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass sie sicherlich derzeit im Speisesaal saßen und Mittag aßen.

Ungewollt erschien das Bild eines Reiß verschlingenden Wheelers, der seinen Freunden dabei kauend berichtete, wie furchtbar die Strafarbeit mit mir doch gewesen war, vor meinem inneren Auge und ich schüttelte rasch den Kopf, um ihn von diesem überflüssigen Bild zu befreien. Was interessierte es mich, was Wheeler tat oder besser gesagt aß?

Missbilligend richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen kläglichen Rest Arbeit. Wenn ich in dieser Geschwindigkeit weiter machte, hatte ich bald nichts Nützliches mehr zu tun. Bedauerlicherweise gab es in dieser Herberge keinen Internetempfang, was bedeutete, dass ich keine Verbindung zur Kaiba Corporation hatte und somit nur die Arbeit verrichten konnte, die ich mir vorsorglich selbst mitgenommen hatte. Doch was sollte ich tun, sobald diese erledigt war?

Ich verdrängte diesen – offen gestanden – beunruhigenden Gedanken und widmete mich wieder den Verträgen vor mir. Noch war dieser Zustand glücklicherweise nicht eingetroffen.
 

Die Stimmen von Muto und dem Rest der Gruppe ließen mich einige Zeit später erneut innehalten. Gedämpft drangen ihre Worte durch die Holztür, hinderten mich daran, meine Aufmerksamkeit nun wieder vollends auf den Laptop zu richten. Gesprächsfetzen drangen durch das Holz der Tür.
 

„- muss das sein?“

„- haben es doch gesagt -“

„- will nicht -“

„- dich nicht so an ... beißt schon nicht -“

„- ja, aber -“

„- dein Zimmerpartner -“

„- immer ausgerechnet ich?“

„- gut, ich mach es ja -“
 

Ich registrierte mit Argwohn, wie die Klinke der Tür sich langsam nach unten bewegte und sie schließlich aufgedrückt wurde. Das erste was ich erblickte, waren einige schwarz-bunte Stacheln, die sich in den Raum schoben, dann folgte ein Kopf. Mutos Kopf, um genau zu sein.

„Kaiba?“

Ich unterdrückte ein abfälliges Schnauben und klappte kurzerhand den Laptop zu. „Was gibt es, Muto?“

Er drückte die Tür ein Stück weiter auf – gerade weit genug, damit ich einen Teil von Wheeler und Gardner hinter ihm ausmachen konnte - und machte einen zaghaften Schritt in den Raum. „Kaiba, wir wollen gleich zum Strand gehen.“

„Und?“, fragte ich kurz angebunden, gab ihm durch meine Tonlage deutlich zu verstehen, dass es mich wenig interessierte, was sie wann machten.

„Aoyagi-sensei möchte, dass du mitkommst.“

Ich hatte es befürchtet, doch offen gestanden hatte ich die ganze Zeit gehofft, diesem ‚Schicksal’ zu entkommen.

Ich warf Muto einen anfälligen Blick zu. „Richte ihr bitte aus, dass ich wichtigeres zu erledigen habe, als mich am Strand zu ‚vergnügen’.“

„Sie meint, dass das keine gute Ausrede wäre.“

Ich stutzte und drehte langsam den Kopf, fixierte Muto mit stechendem Blick. Woher konnte die Frau wissen, was ich Muto sagen würde?

„Weil es einfach voraussehbar war.“

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Hatte ich diese Frage laut gestellt oder fing Muto jetzt auch schon damit an?

„Aoyagi-sensei lässt dir daher ausrichten, dass du deine Arbeit auf später verschieben sollst und mitkommst. Außerdem ...“, er schien kurz mit sich selbst zu hadern, „hat Mokuba uns gebeten, darauf zu achten, dass du nicht wieder zu viel für die Firma arbeitest.“

Ich spürte Unglaube in mir aufsteigen, gepaart mit eine beachtlichen Menge Empörung. Was dachte Mokuba sich eigentlich? Nur weil er mich dazu gebracht hatte, diesem Höllentrip beizuwohnen, hieß dies noch lange nicht, dass er mir vorschreiben konnte, was ich zu tun und zu lassen hatte. Und auch noch Muto und Co. Auf mich anzusetzen!

Was war ich denn? Ein dummes Kind, das nicht wusste, was gut für es war? Ich war Seto Kaiba und alles andere als dumm!

Ich würde ihnen schon zeigen, dass ich das nicht einfach so mit mir machen ließ! Kurz schloss ich die Augen, dann wandte ich mich wieder an Muto. „Richte ihr aus, dass ich mitkomme.“

Ich weiß bis heute nicht, wer von diesen Worten mehr überrascht war – Muto oder ich.
 

oOo
 

Die Sonne brannte vom Himmel, Gardner zufolge mit runden 36,5 Grad und 75 Prozent Luftfeuchtigkeit um uns herum. Herrlich.

Und nun stand ich hier, meine Tasche geschultert – Mokuba musste dafür gesorgt haben, dass die Tasche mit den Badesachen ihren Weg in meinen Koffer gefunden hatte, anders konnte ich mir ihr überraschendes Auftauchen nicht erklären – und starrte mit finsterem Blick auf die Strandanlage vor mir.

Nach einer halbstündigen Fahrt mit dem Shinkansen, in einem Abteil voller Menschen, die offenbar nur den Strand als ihr Ziel kannten, gepaart mit den nervigen Gesprächen meiner Mitschüler, war meine Laune trotz der horrenden Temperaturen auf dem Gefrierpunkt.

Mir war – zugegeben – ziemlich warm, was sicherlich an dem schwarzen Rollkragenoberteil lag, das ich auch jetzt nicht ausgezogen hatte. Ich wollte unter keinen Umständen die Schmach zulassen, von meinen Mitschülern – und besonders vor Muto, war er doch mein langer Rivale – in ganz gewöhnlicher Kleidung zu erscheinen. Seto Kaiba gab sich nie gewöhnlich.
 

„Wow, seht euch nur die vielen hübschen Schnitten an!“
 

Was man von Wheeler nicht unbedingt behaupten konnte.
 

„Ja, diese vielen knappen Bikinis! Zum schmelzen!“
 

Ganz zu schweigen von Taylor ...
 

„Mal sehen, wie viele von denen ich heute aufreißen kann.“
 

Devlin nicht zu vergessen.
 

oOo
 

Mein Name war Seto Kaiba. Ich war Leiter einer Weltführenden Spielfirma und besaß mehr Geld, als die meisten meines Alters. Soviel dazu.

Warum also lag ich nun inmitten einer Masse schwitzender, sich präsentierender Leiber, an einem überfüllten Strand in der schlimmsten Nachmittagshitze, neben meinen Mitschülern und musste mir ihre Gespräche anhören, die nun bei weitem weniger Intelligenz vorwiesen, als die vielen Mülleimer auf der gesamten Strandanlage zusammen?

Die Antwort lag bei meinem kleinen Bruder. Nun gut, vielmehr war sie mein kleiner Bruder. Warum bei allen Duel Monstern musste er mir derart in den Rücken fallen?
 

Die Sonne brannte erbarmungslos vom Ôsaka Himmel und sorgte dafür, dass die Temperatur um mich herum sich von Minute zu Minute weiter erhöhte. Die Massen der Menschen wurden dadurch nur noch mehr dazu animiert, widerlichen Schweiß abzusondern und eine Luft raubende Dunstwolke bestehend aus ihren Ausdünstungen und den vielen verschiedenen Arten von Sonnencreme, die sie benutzten, hatte sich einem Tuch gleich über uns gelegt. Das Atmen fiel mir schwer, Schweißperlen standen mir auf der Stirn und ich versuchte angestrengt, meinen Blick in den blauen Himmel zu richten, nicht daran zu denken, welche Keime und Krankheitserreger momentan sicherlich um mich herumkreisten.

Versuchte, nicht daran zu denken, wie die Hitze sich in mir ausbreitete, wie mein schwarzes Oberteil die Strahlen der Sonne auf sich zog, die es unter dem Sonnenschirm, den ich mir durch unzählige Bestechungen und Drohungen letztendlich erkämpft hatte – und in keinem Fall zu teilen bereit war! – erhaschte.

Ich weigerte mich strikt, die Badesachen, die Mokuba mir mitgegeben hatte, auch nur anzusehen! So weit würde es noch kommen, dass ich mich in Badehose zeigte. Da behielt ich meine Hose und mein Oberteil lieber an, auch, wenn ich für diesen Boykott von einigen Seiten mit argwöhnischen Blicken bedacht wurde.
 

Mir war nicht warm.
 

Über unseren Köpfen schrieen die Möwen, im Sand führten sie erbitterte Kämpfe um die Nahrungsreste der Besucher aus, waren bereit, für ein Stück Eiswaffel Verletzungen in Kauf zu nehmen. Makaber.

Meine Abscheu wuchs von Sekunde zu Sekunde, doch ich versuchte, sie zu verdrängen.

Ich lag auf dem Rücken, starrte an dem Schirm über mir vorbei in den Himmel.

Um meine Identität – und meine Würde – zu wahren, hatte ich Wheelers Kappe wieder aufgesetzt und mir tief ins Gesicht gezogen, da ich keine andere Möglichkeit sah, mein Gesicht anders zu verdecken.

(Ich hatte es bis jetzt noch nicht geschafft, mir eine neue Sonnenbrille zuzulegen. Meine alte lag sicher noch vor dem verhassten Riesenrad auf dem Boden – wenn sie nicht schon längs beseitigt oder zertreten worden war.)

Es war ein kleiner Preis, wenn mich im Gegenzug niemand als Seto Kaiba erkannte. Was hätte es denn bitte für ein Bild abgegeben?

‚Seto Kaiba verbringt seinen freien Nachmittag am Strand’ – einfach lächerlich.

Ich schnaubte verächtlich.
 

Mir war nicht warm.
 

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie einige meiner Mitschüler – nun gut, eigentlich alle – hin und wieder den Weg zum Wasser suchten. Die Mädchen dabei mit leisem Getuschel, Gekicher und schüchternen Blicken zu den Jungen, diese wiederum mit offenen Mündern am gaffen. Fehlte nur noch, dass sie wie räudige Hunde zu hecheln begannen. Erbärmlich.

Ab und an – wenn die erdrückende Langeweile mich wieder in ihrer eisernen Umklammerung wusste – wanderte mein Blick zu diesen so genannten ‚Zielobjekten’ mit knapper Badebekleidung. Bei einem Anblick dieser Größenordnung konnte ich es nicht verhindern, dass meine Augenbrauen skeptisch ihren Weg in die Höhe suchten. Was fand man bitte daran derart – um meine Mitschüler zu zitieren – ‚scharf’? Alleine das Wort an sich ließ bereits darauf schließen, dass sein ‚Erfinder’ entweder eine Schwäche für Essen hatte – so, wie Wheeler – oder einfach nur den Unterschied zwischen geistigen und körperlichen ... nun ja ... Begierden nicht kannte.

Mich zumindest konnte dieser Anblick nicht fesseln. Eher im Gegenteil. Ich verspürte jedes Mal Abneigung und Unverständnis.

Folglich richtete meine Aufmerksamkeit sich schließlich wieder auf den Himmel über mir, während ich versuchte, die banalen und stumpfsinnigen Dialoge der Jungen um mich herum, zu ignorieren.
 

Mir war nicht warm.
 

Ich fragte mich ernsthaft, wie spät es mittlerweile war. Ich wusste nicht, wie lange ich nun schon im Halbschatten des Schirmes auf meinem Handtuch gelegen hatte. Neben mir im Sand stand der schwarze Rucksack, in dem ich neben der Badehose noch eine Flasche Sonnencreme – mit Lichtschutzfaktor fünfzig! Dachte Mokuba, ich würde mich wohlmöglich umgeben von unzähligen Spiegeln in die pralle Sonne setzen?! – und eine Taucherbrille gefunden hatte. Bei dem Gedanken an letzteres stellten sich bei mir noch immer sämtliche Nackenhaare auf.

Wiederholt erschien vor meinem geistigen Auge ein Bild meiner selbst, bis zu den Knien im Wasser, geschmückt mit einer Badehose und einer blauen Taucherbrille im Gesicht. Bestimmt schüttelte ich den Kopf, während ein kalter Schauer meinen Rücken hinab lief. Dies wäre wirklich die Krönung allen Übels.
 

„He Leute, was haltet ihr von einem Wettschwimmen?“
 

Wheelers Stimme aus Meeresrichtung lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich drehte den Kopf auf die andere Seite, die Arme noch immer hinter meinem Kopf verschränkt und suchte mit den Augen die Brandung ab.

Als ich den Köter erblickte, entglitten mir beinahe die Gesichtszüge. In einer ruckartigen Bewegung, die einige Leute in meiner Umgebung aus ihrem Dämmerzustand riss, setzte ich mich auf, starrte den Köter aus leicht geweiteten Augen ungläubig an.

Dort, kaum zwanzig Meter entfernt, stand er und gab mit seinem äußeren Erscheinen ein exaktes Ebenbild meines geistigen ‚Selbstportrait des Grauens’ wider. Bekleidet mit einer roten Badeshorts und einer blauen Taucherbrille im Gesicht winkte er seinen Freunden zu. Mir war, als würde ich einen Geist sehen. Kalter Schweiß rann mir von der Stirn und meine Hände zitterten unkontrolliert, sodass ich mich gezwungen sah, sie zu Fäusten zu ballen.
 

Das konnte unmöglich ein Zufall sein!
 

~*~*~
 

I cannot take this anymore

Sayin' everything I've said before

All these words they make no sense

I found bliss in ignorance

Less I hear the less you say

You'll find that out anyway
 

~*~*~
 

(One Step Closer by Linkin Park)

Tag 4: Livin' La Vida Loca

Tag 4: Livin’ La Vida Loca
 

„Wettschwimmen? Klar!“
 

Die Stimme Mutos riss mich aus meiner vorläufigen Erstarrung und ich fing mich wieder. Langsam ließ ich mich auf meinem Handtuch zurücksinken. Lautlos seufzend legte ich mir einen Arm über die Augen.

Töricht, anders konnte ich meine Reaktion nicht bezeichnen. Es war Zufall, nichts weiter. Bloßer Zufall.
 

Die Zeit kroch nur so dahin, doch der Strand um uns herum, leerte sich allmählich. Die Frühnachmittagsmasse wich dem erträglichen Nachmittagsgeschehen und ich hatte nicht mehr das störende Gefühl, von allen Seiten belagert zu werden. (Obwohl ich mich abseits von den anderen platziert hatte, war das Resultat dasselbe gewesen: Bedrängung.)

Die Sonne wanderte langsam gen Westen und wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, müsste es mindestens vier Uhr sein. Wie lange wollten wir denn noch unsere Zeit an diesem sinnlosen Ort verbringen?
 

Während Muto und der Rest seiner Gefolgsleute sich beim Wettschwimmen vergnügt hatten, war es zumindest angenehm ruhig um mich herum, doch kaum dass sie zurückkehrte, war es mit der Ruhe vorbei. Prompt begannen Taylor und Devlin die Badebekleidung der Mädchen unserer Klasse zu kommentieren, gaben ihnen sogar Noten und verglichen sie mit fremden Mädchen, die ebenfalls am Strand waren und an ihnen vorbeiliefen.

Nach einigen Minuten riss mir beinahe der Geduldsfaden und ich beschloss, mich wenigstens für einige Zeit, abzusondern und diesem Tiefpunkt an Intelligenz zu entrinnen. Mit einem Schnauben setzte ich mich auf, strafte die zwei mit einem Blick der gefährlichsten Sorte, bevor ich mich schließlich vollends erhob.

„IQ gleich null. Wie hoch war es noch gleich bei Affen?“, bemerkte ich wie nebenbei und legte so viel Gleichgültigkeit wie möglich in meine Stimme.

Unter meinen Schuhen knirschte der Sand, als ich bestimmten an ihnen vorbei schritt, dabei absichtlich so viel Sand wie möglich aufwirbelte. Als ich ihr ersticktes Husten und die Flüche hinter mir hörte, schlich sich ein selbstzufriedenes Grinsen auf meine Züge. Rache war eindeutig süß.
 

„Hey Leute“ – wieder war es Wheeler – „was haltet ihr von Beachvolleyball?“
 

Der Köter brauchte offenbar Aufmerksamkeit, zusammen mit Bewegung. Und einen Ball.
 

„Volleyball?“, rief Devlin in derselben Lautstärke zurück. „Klingt viel versprechend.“

Der Tonfall, der bei seinen Worten mitschwang, brachte mich dazu, kaum merklich den Kopf zu wenden und zurückzublicken. Es schwang mir einfach zu viel Vorfreude mit. Das Grinsen, welches er anschließend mit Taylor wechselte, ließ meine Augenbraue argwöhnisch in die Höhe schnellen. Was hatten die zwei jetzt schon wieder?

Ich verdrehte abfällig die Augen, während ich mich abwandte. Sicher freuten sie sich nur wieder darauf, den Mädchen hinterher starren zu können.

Meine Augen wanderten die Brandung der Wellen entlang, während ich den Strand ein Stück entlang schritt, mich dem Meer gerade so weit näherte, dass es meine Schuhe beinahe berührte. Meine Stiefel (es waren dieselben, die ich immer zusammen mit meinem Mantel zu tragen pflegte – nur, weil ich eine andere Hose trug, bedeutete dies nicht, dass ich die Stiefel nicht tragen würde. Außerdem machten die Turnschuhe, die Mokuba in meinen Koffer geschmuggelt hatte, einen nicht wirklich verlockenden Eindruck auf mich ...) hinterließen tiefe Abdrücke im feuchten Sand. Mein Blick wanderte weiter auf das Meer hinaus, über die Wellen hinweg, zum Horizont, während meine Gedanken ungewollt davon drifteten. Irgendwann entschloss ich, wieder umzudrehen, da die Sonne eine zunehmend ermattende Wirkung auf mich hatte und mir zudem unangenehm warm unter meiner Kleidung wurde.

Ich folgte meinen Fußspuren zurück, achtete jedoch nur nebenbei auf meinen Weg, da mein Blick wieder Richtung Meer gewandert war. So oft ich schon in Ôsaka gewesen war, ich hatte nie Zeit gehabt, es mir genau anzusehen. Ohnehin betrachtete ich das Meer nur selten. Dabei war es keineswegs unschön. Eher im Gegenteil. Es wirkte seltsam beruhigend.

Je näher ich meiner Klasse kam, desto lauter wurde es. Aus den Augenwinkeln sah ich einige meiner Mitschüler an dem Volleyballnetz, andere bauten doch tatsächlich Sandburgen (wie alt waren sie eigentlich? Unmöglich achtzehn!), doch ich kümmerte mich nicht darum. Unablässig ruhten meine Augen auf der ebenmäßigen Meeresoberfläche.

Nur nebenbei hörte ich die wirren Stimmen um mich herum.
 

„Spiel den Ball!“

„Mach ja.“

„Weiter!“

„He, nicht so weit!“

„Achtung, Ball!“
 

Etwas flog dicht an meinem Kopf vorbei und ich blieb augenblicklich stehen. Der weiße Volleyball landete wenige Meter von mir entfernt im flachen Wasser, wurde sofort von der Brandung erfasst und leicht vor und zurück geschoben.
 

„Tristan, musstest du so weit schlagen?“

„Sorry, war so nicht geplant.“

„Ich hol ihn.“
 

Devlins letzte Worte holten mich in die Realität zurück. Ich spürte, wie er sich mir näherte und wollte schon achtlos meinen Weg fortsetzten, da wurde ich heftig gegen die Schulter gestoßen.

Vollkommen überrumpelt, hatte ich doch nicht mit etwas derartigem gerechnet, stolperte ich einige Schritte zur Seite, wühlte dabei das Wasser auf und verlor mein Gleichgewicht. Mit geweiteten Augen fiel ich nach hinten.

Das nächste, was ich wahrnahm, war Nässe. Kalte Nässe. Eisige Nässe, die mir Blitze durch mein Nervensystem sandte. Wasser spritzte hoch, als ich vollends im kalten Nass landete.

Ich riss die Augen auf und starrte fassungslos zu Devlin hoch, der nach dem Ball griff, sich zu mir umdrehte und mich unschuldig angrinste. „Ups, sorry Kaiba. Hab dich nicht gesehen.“

Ich saß im knöcheltiefen Wasser, noch immer ohne meine gewohnte Fassung und glaubte ihm kein verdammtes Wort!

Die Nässe breitete sich unangenehm auf meiner Hose aus, drang bis auf meine Haut. Wasser suchte sich seinen Weg in meine Schuhe, durchweichte sie und die Ärmel meines Oberteils sogen sich mit der salzigen Flüssigkeit voll.

Einige Strähnen meins braunen Haares waren von dem aufspritzenden Wasser nass geworden und hingen mir ins Gesicht. Einzelne Tropfen perlten von ihnen ab, rannen mein Gesicht hinab, um anschließend von meinem Kinn ins Wasser zu tropfen.

Das Grinsen Devlins brannte sich in meine Wahrnehmung. Ups, hatte er gesagt. Ups.

Er hatte mich sehr wohl gesehen! Er musste mich gesehen haben! Dieser elende -!

Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und meine Brauen zogen sich unheilvoll zusammen. Brodelnde Wut begann in mir aufzusteigen. Was bildete dieses dilettantische Individuum sich eigentlich ein?! Ich war Seto Kaiba! Mich stieß man nicht einfach um, sagte anschließend grinsend ‚ups’ und dann war alles wieder gut! Dafür würde er büßen!

„Was denn Kaiba, soll ich dir aufhelfen?“ Er klemmte sich den Volleyball unter einen Arm und streckte mir weiterhin triumphierend grinsend eine Hand entgegen. „Bitte, nimm.“

Ich ballte die Fäuste. Den Teufel würde ich tun!

Ich registrierte, wie meine anderen Mitschüler allmählich auf uns aufmerksam wurden. Muto und der Rest, die Devlin beim Holen des Balles beobachtet hatten, kamen bereits auf uns zu. Auch auf Taylors Gesicht entdeckte ich ein genügsames Grinsen, während auf den Gesichtern der anderen der Unglaube stand, welcher – zu meinem Unglück – jedoch allmählich der Belustigung wich.

Ich wollte lieber nicht wissen, welches Bild der Lächerlichkeit ich derzeit bot.

Ruckartig erhob ich mich, beachtete die dargebotene Hand mit keinem Blick und wirbelte bei der schnellen Bewegung einiges an Wasser auf, in der stillen Hoffnung, Devlin damit wenigstens einen Teil heimzahlen zu können. Doch zu meinem Pech war er schneller – hatte vielleicht bereits mit einer solchen Reaktion gerechnet – und wich rechtzeitig einige Schritte zurück. Langsam ließ er die Hand sinken, bedachte mich mit einem spöttischen Blick – meinem spöttischen Blick. Den Blick, den ich immer benutzte, um diejenigen, die ich geschlagen hatte, zur Weißglut zur bringen – folglich hauptsächlich Wheeler.

„Aber, aber Kaiba, wer wird denn gleich?“

Ich warf einen missbilligenden Blick an mir hinab und registrierte mit Unmut, dass meine Hose beinahe komplett durchnässt war – einzig einige Stellen an den Knien waren unversehrt geblieben. Wenigstens war mein Oberteil nur an den Armen nass.

Devlin tauschte eine viel sagenden Blick mit Taylor, der nun direkt neben ihm stand und die Arme vor seiner Brust verschränkt hatte, dann wandte er sich wieder mir zu. Spätestens jetzt wuchs das Misstrauen in mir. Was genau ging hier vor sich?

Sie musterten mich von oben bis unten und ihr Grinsen gewann noch mehr an Umfang.

Unruhe ergriff von meinem Körper Besitz, gepaart mit einer unguten Vorahnung.

„Na so was, Kaiba“, bemerkte Taylor mit unheilvoller Stimme.

„Du bis ja gar nicht richtig nass geworden“, beendete Devlin den Satz, während er mich noch immer eingehend betrachtete. Dann ging auf einmal alles sehr schnell. Zu schnell für mich, als dass ich noch eine Möglichkeit gehabt hätte, zu reagieren.

Der Volleyball fiel auf den feuchten Sandboden – achtlos von Devlin fallen gelassen - sprang kurz in die Höhe, bevor er mit einem dumpfen Geräusch wieder landete und ein Stück weiterrollte.

Devlin und Taylor packten je einen meiner Arme und zerrten mich erbarmungslos weiter aufs Wasser hinaus.

„Dann wollen wir daran doch mal etwas ändern“, lachte Devlin beinahe schon gehässig.

Meine Augen weiteten sich erneut und entsetzt warf ich den Kopf von einer auf die andere Seite. Das ungute Gefühl wurde mehr als nur bestätigt.

Ich konnte erkennen, wie Muto, Wheeler und Bakura uns mit aufgerissenen Mündern hinterher sahen, einige andere Mitschüler nun auch näher kamen, doch augenblicklich lenkte sich meine Aufmerksamkeit zurück auf die beiden, die meine Arme schraubstockfest umklammerten. Mittlerweile hatten sie mich bereits ins Knietiefe Wasser gezogen.

Ich versuchte mich loszureißen, Stemmte meine Stiefel in den sandigen Meeresboden, zerrte und zog, doch nichts lockerte ihren Griff oder verlangsamte ihre Bewegungen.

„Lasst mich sofort los“, befahl ich harsch. „Habt ihr etwas an den Ohren? Ich sagte, ihr sollt mich loslassen! Ich warne euch“ – das Wasser reichte mir mittlerweile bis zu den Lenden – „das wird ein Nachspiel haben! Ich werde euch anzeigen – ach was – verklagen werde ich euch! Ihr werdet meine Anwälte kennen lernen, das schwöre ich!“

Doch selbst diese Drohungen brachten nichts. Unbeirrt zogen sie mich weiter. Immer wieder versuchte ich, ihren Griffen zu entkommen, doch erfolglos. Lediglich ein belustigtes Lachen war Antwort auf meine Worte und Handlung.

Das Wasser ging uns mittlerweile bis zum Bauch und ich spürte, wie meine Kleidung sich gierige mit der Flüssigkeit voll sog, während sie mich weiter hinter sich herzogen, beinahe schon schwammen.

Meine Stimme schwoll an, in einem letzten verzweifelten Versuch, ihrem geplanten Schicksal für mich zu entkommen: „Devlin, ich werde dafür sorgen, dass deine Spielindustrie Konkurs anmeldet und dir Taylor werde ich sämtliche Lebensgrundlagen nehmen, bis du –“

„Alles leere Drohungen, Kaiba“, grinste letzterer mich über die Schulter an und ließ meine Gesichtszüge nun vollends entgleisen.

„Genau. Wir wollen nur ein wenig Rache für eben, das ist alles“, fügte Devlin lachend hinzu. „Also lass es zur Abwechslung einfach mal zu.“

Mit diesen Worten ließen sie mich los, legten mir jeweils eine Hand auf die Schulter und drückten mich nach unten. Perplex ließ ich es geschehen, hatte keine Möglichkeit, mich dem zu entziehen und registrierte im nächsten Moment, wie die kalte Nässe mich nun zur Gänze einnahm, mich vollends umgab.

Mit aufgerissenen Augen starrte ich in die Schwärze des Ozeans vor mir.
 

‚Lass es zur Abwechslung einfach mal zu.’
 

Ich öffnete automatisch den Mund, wollte nach Luft schnappen, doch stattdessen spürte ich nur Wasser, das mir in der Kehle brannte, meine Lungen zu füllen schien. Die Hände lösten sich von meinen Schultern, doch ich blieb, wo ich war. Meine nasse Kleidung schien Unmengen zu wiegen und zog mich schließlich unaufhaltsam nach unten.

Waren wir nicht eben nur bis zur Brust im Wasser gewesen? Wo war mit einem Mal der Boden? Wo war der Grund? Ich sank weiter, während mein Bewusstsein an den Rand meiner Wahrnehmung driftete. Die Zeit schien sich erbarmungslos in die Länge zu ziehen, während meine Lungen nach Sauerstoff verlangten und vor meinen Augen helle Punkte tanzten.

Ich bekam nur am Rande mit, wie etwas nach meinen Armen griff und ich ruckartig nach oben gezogen wurde. Sonne schien mir ins Gesicht, doch sie erschien mir von Sekunde zu Sekunde dunkler und weiter entfernt. Schwarze Flecken suchte sich nun ihren Weg vor meine Sicht, breiteten sich aus, wie Tintenflecke auf einem weißen Stück Papier.
 

„Scheiße, Kaiba ...“
 

Ferne Stimmen drangen an meine Ohren, ich spürte, wie ich mitgezogen wurde, doch ich konnte nicht nachvollziehen, warum. Schwärze legte sich vor meine Augen und Taubheit ergriff von meinem Körper Besitz.

Dumpfe Stimmen, deren Sinn ich nicht verstand, rückten in meine Wahrnehmung, als mein Bewusstsein schließlich seinen Weg zurück an die Oberfläche fand. Meine Augenlider fühlten sich an, als wären sie aus Stein, als ließen sie sich nicht heben und jeder Teil meines Körpers schmerzte, bevor ich wieder das Bewusstsein verlor, jedoch noch einige Satzfetzen mitnahm.
 

„- machen wir denn jetzt -“

„- wenn er stirbt -“

„- verdammt, Kaiba kann doch nicht -“

„- du siehst doch, dass er -“

„- was tun -“
 

Schwärze. Müdigkeit. Schmerzen.
 

Irgendwo in weiter Ferne meinte ich, ein Lied spielen zu hören.
 

~*~*~
 

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Livin' La Vida Loca

She pushes and pulls you down

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~*~*~
 

„- Joey, tu was -“

„- glaubst du, soll ich denn tun -“

„- erste Hilfe Kurs gemacht ... jüngste Erfahrung ... vor kurzem -“

„- ja aber .... nicht so was ... ist doch was völlig anders -“

„- Kaiba ... kein Aufseher zu sehen ... stirbt -“

„- kann doch nicht ... ernsthaft -“

„- sonst stirbt er -“
 

Das nächste, was ich einigermaßen bewusst wahrnahm, waren Satzstücke, die mir in den Ohren nachklangen und die ich nicht begriff. Ich wollte atmen, doch ich konnte nicht. Etwas schien mich daran zu hindern. Ich versuchte verzweifelt Luft zu holen, doch ohne Erfolg. Schwarze Schlieren traten vor meine Augen und mein Bewusstsein driftete wieder davon.
 

Ich hatte die Augen halb geöffnet und mir war, als würde ich durch das falsche Ende eines Fernrohres sehen. Nur ein kleiner Fleck vor mir war hell, der Rest - der gesamte Rand - war in Schwärze gehüllt. Langsam entfernte sie sich, das Bild schien sich mir allmählich zu nähern.

Etwas streifte meine feuchte Wange. Helle Strähnen fielen in mein Gesicht, braungebrannte warme Haut schwebte dicht über mir und etwas Heißes auf meinen Lippen nahm den Rest meiner kümmerlichen Wahrnehmung vollends ein. Meine Augen öffneten sich ein Stück weiter, noch immer war ich nicht in der Lage zu atmen, doch angesichts dessen, was ich nun sah, wäre es mir sicherlich ohnedies unmöglich gewesen.

Sein Gesicht war unmittelbar über meinem, seine Augen geschlossen. Seine Lippen pressten sich auf meine, schien sie beinahe zu verbrennen.

Wieder hörte ich das Lied, wie von einem anderen Ort. Wahrscheinlich kam es von dem kleinen Kiosk, der sich ein Stück von hier entfernt befand ...
 

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Her lips are devil read

And her skin's the colour of mokka

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~*~*~
 

Ich spürte mein Bewusstsein von neuem schwinden, während der Druck in meiner Brust von Sekunde zu Sekunde zunahm. Ich wollte atmen, konnte nicht und verdrehte gequält die Augen. Die fremden Lippen teilten sich, pressten Luft in meinen Mund. Ich verstand, nicht, was dies sollte, mein Denken ging nur schleppend voran.

Die Hitze von meinen Lippen verschwand, das Brennen blieb jedoch, stattdessen wurde der Druck auf meiner Brust mit einem Mal stärker. Meine Augen schlossen sich, während der Druck regelmäßig zu und abnahm.

Unvermittelt spürte ich einen Schwall Wasser in meiner Kehle. Ich riss die Augen auf, drehte den Kopf zur Seite und spuckte die Flüssigkeit aus.

Es war, als wäre ich dadurch unvermittelt aus meinem Halbtrancezustand in die Realität geschleudert worden. Hustend und röchelnd lag ich auf dem Rücken, starrte unfokussiert in den blauen Himmel über mir, während mir die Sonne gleißend hell ins Gesicht schien und mich blendete. Weiße Flecken tanzten erneut vor meinen Augen auf und ab und die Umgebung begann, sich zu drehen. Übelkeit stieg in mir auf und ich versuchte, den Brechreiz niederzukämpfen. Jedes Körperteil fühlte sich bleischwer an und noch immer drangen die Geräusche dumpf zu mir vor.
 

„Da ... hat die Augen aufgemacht!“

„Er lebt!“

„Gott sei Dank!“

„- habt ihr aber noch mal Glück gehabt, Jungs.“
 

Erst jetzt vielen mir die schemenhaften Gestalten auf, die sich am Rand meins Blickfelds befanden, über mich gebeugt standen. Stöhnend wandte ich den Kopf und erblickte die verzerrte Gestalt Wheelers, der neben mir im Sand kniete.

Allmählich beschleunigte sich mein Denken und die Erinnerung kehrte zu mir zurück.

„Kaiba, geht es dir gut?“

Was für eine Frage? Was dachte der Köter denn, wie ich mich fühlte?

Ich öffnete den Mund und setzte zu einer Antwort an, doch stattdessen überkam mich nur ein heftiger Husten. Ich krümmte mich vor Schmerzen zusammen, während ich eine Hand auf meinen Mund presste.

Ein Arm schlag sich um meinen Rück und half mir, mich aufzusetzen. Noch immer wollte der Husten nicht nachlassen und ich spürte meine letzten Kräfte schwinden.

„Was ist los, was ist passiert?“ Aoyagi-sensei bahnte sich einen Weg durch die umstehenden Schüler, bis sie schließlich vor uns stand, zusammen mit Kaidou-sensei. „Mein Gott, Seto-kun, was ist passiert?!“

Ich war nicht in der Lage zu antworten, da der Husten noch immer nicht abgeflaut war. Ich presste die Augen zusammen und hoffte, dass es bald enden mochte.

„Es gab einen kleinen Unfall“, meinte Taylor vorsichtig.

„Kleiner Unfall?!“, echote ein Mädchen – ich glaubte, es als Gardner zu erkennen. „Kaiba wäre beinahe ertrunken!“

„Ertrunken?“, wiederholte Aoyagi-seinsei mit schwacher Stimme. „Bei allen ... Seto-kun, wie geht es dir?“

„Joey hat erste Hilfe geleistet“, wandte Muto ein.

„Ich - das ... sehr gut, Joey-kun“, sagte die Frau und schien reichlich aufgelöst. „Dass ... Seto-kun ...“ – noch immer hustete ich, wenn auch nicht mehr so stark, wie am Anfang – „du musst dich ausruhen. Ich glaube, es gibt hier eine Krankenstation. Joey, würdest du ihn ... ich meine, könntest du Seto-kun bitte ...“

Ich erwartete schon heftigen Protest und Widerworte seitens des Köters, doch zu meinem Erstaunen blieb beides aus. Stattdessen nickte er leicht und erhob sich. Ich spürte, wie sich ein Arm um meine Taille schlang und ich hochgezogen wurde. Ich wollte ihn zurechtweisen, ihm deutlich zu verstehen geben, dass ich gut alleine aufstehen konnte, da spürte ich, wie meine Beine einknickten, als sie den Boden berührten. Aufkeuchend sackte ich ein Stück nach unten, doch eine Hand schlang sich um meinen freien Arm und verhinderte einen Sturz. Ich blinzelte, wandte den Kopf und erblickte Devlin, der reumütig auf mich hinabgrinste.

Ich starrte ihn finster an, was jedoch angesichts meiner Schwäche und Müdigkeit größtenteils an Wirkung verlor. Ich war sogar zu Erschöpft, um gegen Wheelers Arm zu protestieren, der noch immer um meine Taille geschlungen war und mich stützte.

Sie schleiften mich beinahe hinter sich her, da ich nicht wirklich in der Lage war, zu laufen – so ungern ich dies auch zugab. Meine Beine wollten mir nicht gehorchen, genauso wie der Rest meines Körpers.

Ich ignorierte die Blicke meiner Mitschüler und schloss die Augen. Ich hatte keine Lust, mir jetzt über das paradoxe Bild, welches ich unzweifelhaft bot, Gedanken zu machen. Schwärze umgab mich und mein Bewusstsein glitt allmählich wieder davon ...
 

Ich spürte, wie man mich hinlegte und öffnete müde die Augen. Wir befanden uns in einem kleinen weißen Zimmer An den Wänden hingen einige wenige Bilder von Personen, die ich nicht kannte, die im Meer schwammen oder auf einem Boot waren. Ich zog verwundert die Augenbrauen zusammen. Wo waren wir hier? War dies die Krankenstation?

„Dann wollen wir doch mal sehen, was unserem Patienten fehlt.“

Die fremde Stimme ließ mich den Kopf drehen und ich erblickte einen Mann, sicherlich im mittleren Alter, der auf mich hinablächelte. Er richtete sich an Wheeler, der zusammen mit Devlin neben meiner Liege stand. „Ihr sagtet, er wäre beinahe ertrunken?“ - Nicken seitens der beiden - „Wo war bitte der zuständige Aufseher für diesen Abschnitt des Strandes?“

„Das wissen wir nicht“, gestand Wheeler und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

Ich schloss die Augen und begnügte mich damit, dem Gespräch stumm zu folgen.

„Was genau ist geschehen?“

„Na ja“, druckste Devlin herum und ich unterdrückte ein verächtliches Schnauben (es wäre in meiner Verfassung sicher nicht förderlich für den Husten). Natürlich – jetzt den Unschuldigen spielen! „Wir wollten ihm ... und dann ist er unter Wasser ... kam nicht mehr hoch, also haben wir ihn hochgezogen und an Land gebracht, aber er hat nicht mehr geatmet und ... Joey hier hat erste Hilfe geleistet, bis er wieder geatmet hat ...“

Einige Sekunden herrschte Stille, dann sprach der Mann und er klang resignierend. „Die Jugend von heute mit ihren Scherzen. Lasst mich raten, ihr wolltet ihm eins auswischen und das ganze ist ein wenige außer Kontrolle geraten?“

„Äh ... ja?“

Ein Seufzen. „Wann merkt ihr Jugendlichen, dass mit so etwas nicht zu spaßen ist? Wahrscheinlich erst, wenn etwas wirklich Schlimmes geschieht.“

Ich spürte etwas auf meiner Brust und öffnete die Augen. Der Mann hatte ein Stethoskop in den Ohren und überprüfte meine Atmung. Anschließend legte er es beiseite, griff nach einem Holzstiel und blickte mich lächelnd an. „Mach bitte den Mund auf.“ Ich wollte bereits einwenden, dass es mir gut ging und er mich keinesfalls untersuchen brauchte, als mich ein erneuter Hustenanfall überkam. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, während ich versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

„Ich sehe schon“, meinte der Mann nachdenklich. Er ging zu einem der Regale und griff nach einem Fläschchen mit Tabletten. Er nahm ein sauberes Glas von einer Anrichte und füllte es mit Wasser. Anschließend kehrte er zu meiner Liege zurück. „Bitte helft ihm, sich aufzusetzen.“

Erneut spürte ich einen Arm, der sich um meine Schultern legte und mich hochzog, bis ich aufrecht saß. Der Mann hielt mir eine Tablette und das Glas hin. „Bitte nimm das, es wird den Husten lindern.“

Ich hob die freie Hand und nahm die Tablette. Als mir der Husten eine Atempause gab, schluckte ich sie. Ich griff nach dem Wasserglas und führte es zitternd an meine Lippen, bevor ich einen kleinen Schluck nahm, um die Tablette runter zu spülen. Meine Kehle brannte wie Feuer und bei dem Gedanken an Wasser wurde mir übel.

„Du hast Glück gehabt“, sagte der Arzt und sah mich ernst an. „Wenn dein Freund hier nicht erste Hilfe geleistet hätte, wäre es wesentlich schlimmer gekommen. Du solltest dich heute schonen. Außerdem solltest du viel Tee trinken, das Meerwasser hat deinen Rachen stark gereizt.“

Ich nickte schwach, ließ die Belehrungen und Ratschläge, die ich für gewöhnlich nicht duldete, stumm über mich ergehen. „Und du solltest vor allem aus diesen nassen Sachen raus, sonst holst du dir womöglich noch eine Erkältung, wenn nicht sogar noch etwas Schlimmeres. Sollte dein Zustand sich in den nächsten Stunden verschlechtern, müsst ihr umgehend ein Krankenhaus aufsuchen.“

„Ich“, begann ich und meine Stimme war zu meinem Missfallen nur ein leises Krächzen. Ich räusperte mich, ignorierte das dabei entstehende Brennen in meinem Hals, und wagte einen erneuten Versuch. „Ich habe keine Sachen zum Wechseln.“ Noch immer war meine Stimme leise, doch klang sie nun etwas fester und mehr nach mir.

„Nicht? Nun, wie ist es mit euch?“, er richtete sich zu meinem Schrecken an Wheeler und Devlin. „Ihr habt doch sicher etwas für euren Freund?“

Schon wieder dieses Wort! Ich war nicht ihr Freund! Einer von diesen so genannten ‚Freunde’ hätten mich eben beinahe – mit Beihilfe eines anderen - ertränkt!

„Ich hätte eine Hose, die könnte ihm passen“, überlegte Devlin kleinlaut, „und wenn nicht, hätte Tristan sicher noch eine ...“

„Ich habe ein zweites T-Shirt dabei“, warf Wheeler ein und der Mann nickte zufrieden.

„Dann seid bitte so freundlich und bring sie hier hin. Es ist nicht gut, wenn euer Freund sich mit diesen nassen Sachen bewegt.“

Ich schloss geschlagen die Augen. Fortuna musste heute wahrlich etwas gegen mich haben. Ich war Seto Kaiba, Leiter der Kaiba Corporation und wäre heute beinahe von zwei meiner Mitschüler ertränkt worden.

Ich hörte, wie Schritte sich entfernten und die Tür zur Krankenstation zufiel, während ich mich an die Wand hinter mir lehnte.

Meine Lippen kribbelten unangenehm und ich riss die Augen auf. Bilder erschienen vor meinem inneren Auge. Bilder von Wheeler. Wheeler dicht über mir. Wheelers Haare in meinem Gesicht. Wheelers Lippen auf meinen!

‚Joey hat erste Hilfe geleistet.’

Das Gefühl von seinen Lippen, welche die meinen zu verbrennen schienen.

‚Joey hat erste Hilfe geleistet.’

Seine dunkle Haut an meiner.

‚Joey hat erste Hilfe geleistet.’

Luft, die sich in meine Lungen zu pressen suchte – ohne Erfolg.

‚Joey hat erste Hilfe geleistet.’

Sein Atem auf meinem Gesicht.

‚Joey hat erste Hilfe geleistet.’
 

Ich war ganz eindeutig traumatisiert. Ich würde sie von meinen Anwälten hören lassen – zweifellos!
 

oOo
 

Schnelle Lichter flogen vor meinen Augen vorbei. Ratternd wackelte unser Abteil hin und her. Ich legte den Kopf in den Nacken, atmete flach ein und aus.

„Kaiba, alles okay?“

Ich öffnete meine Augen einen Spalt und schickte Taylor einen gefährlichen Blick aus den Augenwinkeln. Wenigstens war ich mittlerweile wieder so weit im Besitz meiner geistigen Kräfte, dass der Blick seine Wirkung wiedererlang hatte und somit die gewünschte Wirkung erzielte. Taylor wich ein Stück zurück. „War ja nur ’ne Frage ...“

„Wie ‚okay’ sehe ich deiner beschränkten Meinung nach aus, Taylor?“, zischte ich leise. Meine Stimme war leider noch nicht vollständig zu mir zurückgekehrt, somit musste ich mich mit Flüstern, Krächzen oder - wie in diesem Fall - Zischen zufrieden geben.

Ich spürte seinen Blick an mir hinabwandern und musste nicht hinsehen, als sich ein Grinsen auf seinen Zügen ausbreitete. Sofort bereute ich meine Frage. „Ach, in meinen Augen siehst du eigentlich ganz schön okay aus, Kaiba.“

„Erspar mir das.“

„Er hat Recht, Kaiba“, wandte Devlin ein und ich konnte sein Grinsen beinahe schon hören. „Oberokay, würde ich sagen!“

Oberokay? Wo hatte er denn dieses Wort aufgeschnappt?

„Tut mir einen Gefallen und lasst mich in Ruhe.“

Welch eine Schmach. Es war mehr als nur erniedrigend, dass ich – ich! – mich ihnen so zeigen musste.

„Kopf hoch, Kaiba“, warf Wheeler nun ein und ich spürte, wie meine Augenbraue zu zucken begann. „Es wird dich sicher niemand erkennen. Und außerdem“, auch sein Grinsen gewann an Umfang, „sind nur wir es, die davon wissen. Wenn du dich anständig benimmst, werden wir niemandem etwas davon erzählen.“

Wollte mir der Köter da etwa drohen? Mir?

Alleine die Tatsache, dass diese Dumpfpackenpatrouille mich so sah, war schlimm genug – nicht auszumalen, was geschah, sollte mich jemand erkennen! Mein Ruf wäre dahin, mein Image ruiniert und mein Stolz ... nun gut, ich sprach lieber gar nicht erst von ihm. Er hatte in den letzten Tagen ohnehin genug gelitten.

Der Zug hielt und die Türen öffneten sich zischend.

„Das ist unsere Station“, bemerkte Muto lächelnd.

Ich wollte mich erheben, wurde jedoch sofort von Devlin und Taylor flankiert, die sich – wie bereits vor knapp einer Stunde – einen meiner Arme griffen und mich hochzogen. Ich starrte sie finster an. „Ich kann sehr gut alleine laufen“, knurrte ich leise.

„Ach ja? Willst du es uns noch einmal so wunderbar demonstrieren, wie eben noch am Strand? Du wärst beinahe im Mülleimer gelandet, Alter.“

Ich knirschte mit den Zähnen, während ich versuchte, meinen letzten Rest Würde so gut es ging aufrecht zu erhalten, indem ich nicht an diesen gescheiterten Gehversuch zurückdachte. Stattdessen ließ ich mich kommentarlos von den beiden aus dem Zug bugsieren, die Treppen der Station hoch und schließlich in die drückende Spätnachmittagshitze Ôsakas hinaus. Muto und Bakura gingen voraus, während Gardner und Wheeler dicht hinter uns blieben.
 

Aoyagi-sensei hatte darauf bestanden, dass ich umgehend zur Herberge zurückkehren sollte – in meiner Verfassung wäre es verantwortungslos, noch länger am Strand zu bleiben – und zu meiner Sicherheit hatte sich Muto und Co. gebeten, mich zu begleiten. Ich hätte bestens darauf verzichten können, doch aus irgendeinem Grund schien niemand davon überzeugt gewesen zu sein, dass ich es alleine zur Herberge schaffen könnte.

Von wegen! Ich war Seto Kaiba – ich hätte es mühelos geschafft! Ich wäre beinahe ertrunken, aber mir war in meinem Leben schon weitaus schlimmeres widerfahren! (Man erinnere sich an einen kranken Spielerfinder, der die Seele meines Bruders und von mir in Karten gesperrt hatte, ein Verrückter, der mein Turnier sabotiert hatte, ein rachsüchtiger Stiefbruder, der meinen Körper übernehmen wollte und ein Leviatan, der meine Seele aufgesaugt hatte. Alles dummer Aberglaube aber durchaus nicht ungefährlich.)

Doch kaum ertrank ich beinahe – Devlin und Taylor würden dafür noch büßen – standen die anderen auf einmal Kopf, als wäre die Welt am wanken. Natürlich wäre es ein nicht zu beschreibender Verlust, hätte ich bei diesem Unfall tatsächlich das Zeitliche gesegnet – ich wagte gar nicht, daran zu denken – und ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was in diesem Fall aus Mokuba geworden wäre. Doch momentan war ich einfach nur müde.

Das Atmen schmerzte und der Husten wollte einfach nicht nachlassen. Alle paar Minuten erlitt ich einen neuen Anfall. Die Tablette des Arztes hatte nicht das geringsten bewirkt.

Doch das schlimmste an der gesamten Situation – die Tatsache, die mich bereuen ließ, überhaupt erst einen einzigen Schritt auf diesen offensichtlich verfluchten Strand gesetzt zu haben, war mein derzeitiges Erscheinungsbild, welches mir noch einmal deutlich vor Augen geführt wurde, als wir an den Schaufenstern der Läden vorbeikamen.

Ich trug Wheelers Kappe nicht mehr, hatte ich sie doch bei dem Angriff der beiden Verrückten, wie ich sie mittlerweile genannt hatte, verloren – wer wusste schon, wo die Strömung die Kappe mittlerweile hingetragen hatte – doch dies war nicht einmal mehr vonnöten. Es bestand keine große Gefahr, dass mich jemand erkannte.

Ich trug Bakuras Sonnenbrille – ich hatte darauf bestanden, eine zu bekommen – Devlins zweites Paar Schuhe, Taylors Ersatzjeans – Devlin war tatsächlich ein ganzes Stück kleiner als ich - und - wofür ich bis jetzt noch sämtliche Götter verfluchte – Wheelers zweites T-Shirt. Noch immer drehte sich mir der Magen um, wenn ich an dieses ... Stück Hölle dachte, welches ich trug. Typisch Wheeler, war es natürlich kein gewöhnliches T-Shirt. Das rote Objekt – wobei mir diese Farbe nun überhaupt nicht stand - trug eine dicke schwarze Aufschrift, die nun in großen schwarzen Lettern von meiner Brust stach:
 

Ich bin der Traum deiner schlaflosen Nächte. Komm und hol mich.
 

Ich hatte mich geweigert, es anzuziehen, doch niemand war bereit, mir ein anderes T-Shirt zu geben und ich war bereits drauf und dran gewesen, mein eigenes nasses Oberteil wieder anzuziehen, da hatten Devlin und Taylor kurzen Prozess gemacht und es mir einfach übergezogen. Die zwei waren wirklich Todesmutig heute – vielleicht hatten sie auch schlicht und ergreifend einfach nur Todessehnsucht. Dem würde ich noch früh genug Abhilfe schaffen, soviel war sicher.

Ich spürte die Blicke der Passanten, an denen wir vorbei kamen, auf mir – war es doch sicher kein alltägliches Bild, wie ein Junge von zwei anderen durch die Straßen bugsiert wurde – und musste mich zusammenreißen, damit meine Wangen nicht vor Scham und Frustration brannten.

Das schlimmste an dieser Situation war jedoch ohne Zweifel, dass die Szenerie die wir boten auf den ersten Blick betrachtet – und wenn man die Aufschrift auf dem Oberteil gelesen hatte – so erschien, als würden Devlin und Taylor der schwarz geschriebenen Aufforderung nachkommen und mich wortwörtlich ‚holen’. Wie demütigend.

Warum musste so etwas ausgerechnet mir passieren?
 

Wenige Minuten Fußmarsch und etliche belustigte oder verständnislose Blicke unzähliger Passanten später, nachdem wir den Rand Ôsakas hinter uns gelassen hatten, erreichten wir die Herberge.

Ich wollte mich bloß nur noch hinlegen, mir die Decke über den Kopf ziehen und mich in meinem Kissen ersticken. Nach einem Tag wie diesem waren sämtliche Kraftreserven aufgebraucht und kaum, dass ich die Schwelle der Herberge überschritten hatte, nahm die bleierne Müdigkeit noch an Stärke zu.

Zu müde, um noch ernsthaft nach mir selbst zu klingen, bat ich Devlin und Taylor, mich zu meinem Zimmer zu bringen. Sie sagten nichts zu meiner ungewohnten Manier, verstanden, warum ich mich so gab und taten kommentarlos, wie ihnen geheißen.

Als ich schließlich auf meinem Bett saß, war es mir zum ersten Mal, seit ich hier war, egal, dass es sich dabei um ein dreckiges, altes Etagenbett handelte. Mein Hals brannte noch immer höllisch - ich schwor mir, in meinem ganzen Leben Salzwasser nicht einmal mehr anzusehen - und legte mich hin.

Ich ignorierte Muto und den Rest, die noch ein letztes Mal vorsorglich einen Blick in das Zimmer warfen und vergaß sogar, mich umzuziehen - geschweige denn, mich des lächerlichen Hemdes von Wheeler zu entledigen.

Ich schloss die Augen. Alles was ich wollte war Ruhe.

Und dieses Mal bekam ich sie.
 

oOo
 

Unbestimmte Zeit später wachte ich auf.

Mein Hals schmerzte nicht mehr ganz so stark, doch mein Körper fühlte sich unnatürlich schwer an. Hinter meinen Schläfen pochte es unangenehm, als ich mich aufsetzte.

Durch die Vorhänge des Zimmers drang gedämpft rötliches Licht.

Ich hatte Durst, doch bei dem Gedanken an Wasser wurde mir übel.

Langsam erhob ich mich und machte einige unsichere Schritte auf die Tür zu, nur um festzustellen, dass meine Beine wieder bereit waren, mich zu tragen.

Ich drückte die Klinke hinunter und trat auf den Flur hinaus. Er war menschenleer, doch ich kümmerte mich nicht um die Tatsache, ob ich jemandem begegnete. Ich wollte nur etwas zu trinken. Etwas, das möglichst nicht klar war und nach nichts – oder noch schlimmer: nach Salz – schmeckte.
 

„Kaiba?“
 

Zum ersten Mal seit langem zuckte ich wirklich zusammen und fuhr herum. Wheeler stand hinter mir und musterte mich verwirrt. „He Alter, was machst du hier um diese Uhrzeit?“ Er hatte den Kopf leicht schief gelegt und sah mich fragend an. „Solltest du nicht im Bett liegen?“

Ich wollte ihn schon anfahren, ihm klarmachen, dass es ihn nicht zu kümmern hatte, wann ich wo wie liegen sollte, doch er kam mir zuvor, indem er die Schultern zuckte und die Hände in den Hosentaschen vergrub. „Na ja, ich schätze mal, dass es mir ja egal sein kann.“

Allerdings konnte es das. Es hatte ihn nichts anzugehen.

Noch immer sah er mich an und nun erschien ein Grinsen auf seinem Gesicht. „Trotzdem würde es mich interessieren, was du hier machst, du Traum meiner schlaflosen Nächte.“

Ich erbleichte und blickte an mir hinab. Verdammt, ich hatte vergessen dieses ... Ding auszuziehen! Noch eine Erinnerung mehr, die ich aus meinem Gedächtnis streichen musste!

„Das Shirt steht dir, Kaiba“, bemerkte der Köter leise lachend.

„Veralbern kann ich mich selber, Wheeler“, knurrte ich leise und verengte die Augen.

Er hob abwehrend die Hände. „Nein, Alter, ich meines es ernst.“

„Solltest du auch nur in irgendeiner Weise an deinem Leben hängen Wheeler, würde ich spätestens jetzt still sein“, raunte ich ihm drohend zu.

„Ach was, du drohst mir schon wieder? Weißt du nicht mehr, was gestern passiert ist, nachdem du das gemacht hast, Kaiba?“

Natürlich wusste ich es noch. Wie sollte ich es auch vergessen?

„Und erinnerst du dich zufällig noch an unsere kleine Auseinandersetzung heute Nacht?“, stellte ich die Gegenfrage und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. An die Beule hatte er sicherlich noch recht frische Erinnerungen.

„Okay Kaiba, hast gewonnen“, räumte er schließlich achselzuckend ein.

Na bitte, wenigstens ein Erfolgserlebnis für heute zu vermerken. Ich hatte Wheeler geschlagen. Moment ... was war daran bitte besonders?
 

‚Joey hat erste Hilfe geleistet.’
 

Einem Echo gleich hörte ich mit einem Mal wieder Mutos Stimme von heute Nachmittag in meinen Ohren nachklingen. Sämtliches noch vorhandenes Blut wich mir aus dem Gesicht und ich starte Wheeler für einige Momente fassungslos an. Diesem blieb das nicht verborgen.

„Kaiba, alles in Ordnung? Du bist auf einmal so blass.“

„Alles bestens“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während ich versuchte, die Bilder jener ‚ersten Hilfe’ aus meinem Kopf zu verbannen.
 

‚Erste Hilfe. Er hat lediglich erste Hilfe geleistet! Mund zu Mundbeatmung, mehr war das nicht, das weißt du doch! Du wärst sonst vielleicht gestorben’, versuchte mich eine leise Stimme zu beruhigen.

‚Aber es war nicht die Beatmung, die mich zurückgeholt hat. Es war die Herzmassage’, wandte ein anderer Teil von mir bestimmt ein.

‚Na und? Die Mund zu Mundbeatmung diente ebenfalls nur dem Zweck dich zurückzuholen! Es ändert also nichts!’

‚Trotzdem ...’

‚Was kümmert es dich eigentlich? Es muss ihn ziemlich viel Überwindung gekostet haben, das bei dir zu tun! Ihr hasst euch, schon vergessen?’

‚Natürlich nicht! Wir hassen uns, ja.’

‚Gib es zu: Im Nachhinein findest du es widerlich.’

‚Ja, ich denke schon ...’

‚Du denkst?!’, höhnte die Stimme.

‚Nein, ich weiß es. Anders kann man dieses Gefühl nicht erklären. Es war widerlich!’

‚Da hast du es.’
 

„Kaiba? Hörst du mir zu?“

„Was?“ Ich schreckte auf und war augenblicklich wieder im Hier und Jetzt. Meine Gedanken mussten abgedriftet sein. Ich starrte Wheeler einige Momente an, dann fasste ich mich wieder.
 

‚Lass es zur Abwechslung einfach mal zu.’
 

Nein Devlin, ich ließ gar nichts zu. Ich hatte heute genug Unachtsamkeit und Schwäche gezeigt. Das sollte reichen.

Ohne ein weiteres Wort machte ich auf dem Absatz kehr, ließ Wheeler einfach stehen und schritt den Gang in die andere Richtung davon.

Die Tür des Zimmers fiel hinter mir ins Schloss. Vergessen war der Durst, der mich ursprünglich zum Aufstehen gezwungen hatte. Ich ließ mich auf das Bett fallen, welches gefährlich quietschte, doch ich ließ mich davon nicht stören. Ich schloss die Augen und presste mein Gesicht ins Kissen.
 

Wheeler, ich hasse dich! Ich habe dich immer gehasst, glaub nicht, dass es sich ändert, bloß, weil du mir das Leben gerettet hast! Wir sind Feinde, so wird es immer bleiben!
 

Ich atmete langsam ein und aus, dachte an nichts und wartete auf den Schlaf – auf die Ruhe. Doch sollte ich sie nicht in der Art und Weise bekommen, wie ich sie mir erhoff hatte, verfolgte mich doch noch lange das brennende Gefühl von Wheelers Lippen auf meinen.
 

~*~*~
 

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(Livin' La Vida Loca sung by Antonio Banderas & Eddie Murphy - Shrek Version ^ ^)

Tag 5: Wahrheit

Tag 5: Wahrheit
 

*~*
 

„Kaiba.“

Der Wind wehte mir ins Gesicht, ich wirbelte herum. Ein Paar Arme um meinen Rücken geschlungen. Ein fremder Körper dicht an meinen gepresst. Warmer Atem auf meinem Gesicht. Braune Augen unmittelbar vor meinen.

„Du bist schwach.“

Heiße Lippen auf meinen. Hände, die mich fort stießen. Bodenlose Tiefe. Endloser Fall. Schwärze. Nur ein Gedanke: Rache!
 

*~*
 

Schweiß gebadet erwachte ich. Mein Atem ging flach und schnell, mein Herz schlug heftig gegen meine Brust. Stechende Kopfschmerzen empfingen mich, zusammen mit einem unangenehm ziehenden Hals. Jeder tiefe Atemzug verursachte einen schmerzhaften Druck. Was war nur los?

Mein Blick richtete sich unfokussiert auf das dunkle Holz über mir, ich betrachtete die Maserung mit beinahe schon perfidem Interesse. Von draußen erklang Vogelgezwitscher, was bedeutete, dass es Tag sein musste. Zeit, aufzustehen.

Ich richtete mich auf und versuchte die Müdigkeit niederzukämpfen, die partout nicht von mir fallen wollte. Benommen schüttelte ich den Kopf. War dies wohlmöglich die Nachwirkung der Tablette, die der Arzt mir gegeben hatte? Oder lag es einfach nur an der gestrigen Überanstrengung meines Körpers? Tatsache war, dass ich mir weitere Schwäche nicht erlauben konnte. Nicht nach all dem, was auf dieser Klassenfahrt schon geschehen war.

Angewidert starrt ich an mir hinab, betrachtete das T-Shirt Wheelers, welches ich noch immer trug, voller Missbilligung, bevor ich es mir kurzerhand abstreifte und achtlos in die Ecke meines Bettes warf. Anschließend erhob ich mich und blickte mich im Zimmer um. Mein Blick fiel auf Wheelers Bett und mich überkam Starke Lust, ihm als Morgengruß ein Glas Wasser über den Kopf zu schütten, doch zu meiner Verwunderung war es leer.

Seltsam, warum schlief der Köter denn nicht? Das konnte doch nur bedeuten - ein ungutes Gefühl beschlich mich – dass es mittlerweile sogar für ihn schon zu spät war, um zu schlafen. Hatte ich etwa verschlafen?!

Eilig durchquerte ich den Raum, riss die Schranktür auf, griff nach dem nächst besten Oberteil, das ich fand und zog es mir über, bevor ich fahrig nach einer Jeanshose griff, mich der alten Taylors entledigte – ich hatte tatsächlich in voller Bekleidung geschlafen, unfassbar – und sie mir rasch überzog.

Meine Stiefel mussten im Vorraum der Herberge stehen – war es hier doch ebenfalls nach alter Tradition Pflicht, die Schuhe ausziehen – daher riss ich die Tür des Zimmers auf, knallte sie unsanft hinter mir zu und marschierte schnellen Schrittes über den Flur.

Auf meinem Weg zum Ausgang kam ich an dem Gemeinschaftsraum vorbei. Lautes Lachen, welches mir unangenehm bekannt vorkam, ließ mich innehalten und meinen Kopf drehen. Ich erblickte Muto und den Rest der Dumpfbackenpatrouille, die auf dem Boden des Raumes saßen und Karten spielten.
 

„Na los Duke, du bunkerst schon die ganze Zeit Herz Ass“, drängte Wheeler mit vorwurfsvoller Stimme, woraufhin Devlin ihn strafend ansah.

„Ich bunkere, wie es mir gefällt und hör auf, mir in die Karten zu sehen!“

„Tu ich doch gar nicht ... jetzt leg die Karte schon ab.“

„Ich sagte, du sollst dich aus meinen Kartenangelegenheiten halten und dich um deine Sachen kümmern. Nur zu deiner Information: Du bist am verlieren.“

„Und du blockiert das ganze Spiel!“

„Äh Leute“, wandte Taylor zaghaft ein. „Könntet ihr das auf später verschieben und einfach weiterspielen?“
 

Als hätte Muto meine Präsenz gespürt, hob er den Kopf, sah zur Tür und erkannte mich. „Oh, guten Morgen Kaiba.“

Jäh verstummten die anderen und blickten überrumpelt zur Tür, an der ich stand und das Szenario bis dahin skeptisch verfolgt hatte. Warum saßen Muto und die anderen hier? Und wo war der Rest der Klasse? Wie spät war es überhaupt?

„Du siehst gesünder aus als gestern“, gab Devlin mit einem schwachen Nicken zu verstehen.

Ich richtete meinen Blick auf ihn und starrte ihn durchdringend an. „Sei froh, Devlin. Ich schätze nicht, dass du ernsthaft wissen möchtest, was aus dir und Taylor geworden wäre, wäre dies nicht der Fall.“

Eigentlich war dies gelogen. Ich mochte gesünder aussehen, doch fühlte ich mich ganz und gar nicht danach. Tatsache war, dass mein Denken langsamer als sonst zu funktionieren schien und mein Kopf mit einer alarmierenden Stärke schmerzte.

„Äh ja“, Devlin lachte gezwungen, „das glaube ich auch ...“

Ich ignorierte ihn und wandte mich direkt an Muto. Er schien mir momentan der Vernünftigste von allen. „Wie spät ist es?“

„Halb eins.“

Ich versuchte, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Halb eins?! Ich konnte mich nicht daran erinnern, in meinem bisherigen Leben jemals so lange geschlafen zu haben. „Wo sind die anderen?“

„Die besichtigen einen Tempel in Ôsaka. Aoyagi-sensei hielt es nicht für klug, dich schon zu wecken und meinte, es wäre besser für dich, dich heute noch zu schonen. Und wir sind hier geblieben, damit wir ein Auge auf dich haben.“

Die Dumpfbackenpatrouille als meine Leibgarde? Ein paradoxes Bild - geradezu lächerlich.

„Ich brauche keine Kindermädchen“, gab ich ihm knapp zu verstehen und unweigerlich erschien vor meinem inneren Auge ein Bild von Muto und seiner Anhängerschaft in kurzen Kleidern, welche die Kindermädchen zu tragen pflegten, die ich für Mokuba eingestellt hatte. Mein Magen rebellierte angesichts dieser Zumutung und ich verzog leicht das Gesicht.

Taylor schien diese Mimik falsch interpretiert zu haben, meinte er doch mit einem beinahe – wie bemerkt nur beinahe ernsten Gesichtsausdruck: „Wir haben auch nicht vor, dich zu bemuttern, wie Téa es vielleicht getan hätte. Du siehst schon wieder richtig fit aus.“

Erst jetzt bemerkte ich, dass die Herrin der Dumpfbackenpatrouille fehlte und verspürte bereits im nächsten Moment einen kalten Schauer, der sich seinen Weg meinen Rücken hinab bahnte, bei der Vorstellung einer mütterlichen Gardner, die mich dazu bringen wollte, mich wieder ins Bett zu legen. Nein danke, auf diesen Service konnte ich liebend gerne verzichten, es wäre sicherlich nicht gesund – für Gardner, versteht sich.
 

„Duke, spiel das Herz Ass!“

„Vergiss es und hör endlich auf mir in die Karten zu starren, oder ich disqualifiziere dich!“

„Ha, als ob du das könntest! Bei dem Spiel kann man nicht disqualifiziert werden.“

„Nein, aber verlieren.“

„Was du gleich tun wirst, wenn du das Herz Ass nicht spielst!“

„Warum soll ich es spielen? Ich hebe es auf – nur für dich, Joey.“

„Steck es dir sonst wo hin!“

„Ach und ich dachte bis eben noch, ich sollte es spielen.“

„Das sollst du ja auch!“

„Du widersprichst dir, Joey.“

„Duke ...“
 

„Fertig.“
 

Die beiden wurden von Bakura aus ihrer äußerst geistreichen Konversation gerissen, welcher mit einem beinahe schon beängstigend unschuldigenden Lächeln seine Letzte karte auf den kleinen Stapel in ihrer Mitte gelegt hatte. Dieser Junge war so unauffällig, ich hatte ihn bis zu diesem Moment nicht einmal wahr genommen – und ich war ein äußerst aufmerksamer Mensch mit einem Auge für das Detail.

Wheeler und Devlin wirkten überrumpelt, Taylor und Muto grinsten nur dumm.
 

„H-he, Bakura, so geht das aber nicht!“

„Wieso nicht, das ist ganz legitim.“

„Ja aber, aber ... meine Taktik ...“
 

Was zu weit ging, ging zu weit.

„Wheeler, an deiner Stelle würde ich nicht einmal wagen, das Wort zu denken, geschweige denn in den Mund zu nehmen. Du verstehst eine Taktik doch nicht einmal, wenn sie sich dir persönlich vorstellen würde.“

Sein Kopf wirbelt herum und seine Augen fixieren mich mit dem gewohnten Funkeln, welches meinen Ergeiz jedes Mal, wenn ich es registriere, um ein mehrfaches anstachelt. „Wer hat dich denn nach einer Meinung gefragt?! Und außerdem, woher willst du wissen, dass ich nicht eine gute Taktik gehabt habe?“

Ich verschränkte die Arme, blickte anschätzend von oben auf ihn hinab, saß er doch noch immer im Schneidersitz auf dem Boden, seine Karten in der Hand. „Ganz einfach aus dem Grund, Wheeler, dass sie nicht funktioniert hat, was mich – offen gestanden – nicht im mindesten überrascht. Alleine die Tatsache, dass du zu solch niederen Mitteln wie Betrug greifen musst, um einen Einblick in das Geschehen um dich herum zu erlangen, ist mehr als nur arm. Des Weiteren hast du Bakura nicht mit in deine Taktik mit einbezogen – und das Nichtbeachten potentieller Risikofaktoren zeugt von deinem amateurhaften Versuch, eine halbwegs anständige Taktik zustanden zu bringen – und nicht einmal das ist dir gelungen. Erbärmlich.“

Fünf Augenpaare starrten mich in einer Mischung aus Verblüffen und Fassungslosigkeit an. Angesichts dieser mehrfach identischen Reaktion wanderte meine Augenbraue skeptisch in die Höhe. Hatte ich etwas im Gesicht oder warum glichen ihre Mimiken mehr einem Abklatsch aus einer billigen Fernsehserie?

„Was ist?“ Mein Tonfall war unbeteiligt – ich war es nicht, verstand ich doch nicht, was sie mit einem Mal hatten.

Muto erlangte als erster seine Stimme zurück. Er schüttelte den kopf und hätte ich es nicht besser gewusst – und das tat ich – ich hätte meinen können, er wirkte resignierend. „Kaiba, bei dir besteht alles nur aus Taktik und Strategie, kann das sein?“

Was wollte er damit sagen? War dies ein Vorwurf? Natürlich legte ich mir immer erst eine angebrachte – und funktionierende – Strategie zurecht, bevor ich etwas anging. Das war doch logisch. Das ganze Leben bestand aus einer Abfolge von Taktik und Strategie. Andernfalls könnt eich unmöglich eine Firma leiten.

„Natürlich Muto, oder glaubst du, ich würde so leichtsinnig wie ihr, mein Leben wie ein Glücksspiel führen?“

„Aber das macht das Leben doch gerade Lebenswert!“

Meine Kopfschmerzen nahmen zu, je länger dieses sinnlose und verschwendete Gespräch dauerte. „Mag sein, dass dies deine niveaulose Sicht der Dinge ist – ich jedoch halte nicht viel von Risiken und möglichen Fehltritten. Ein Fehltritt kann größere Konsequenzen haben, als ihr euch vorstellen könntet.“ Ich schüttelte den Kopf, fassungslos über meine Geduld mit diesen Idioten. „Warum erkläre ich es euch überhaupt? Es hat ohnehin keinen Sinn – primitive Kinder“ – ich legte extra viel Betonung in dieses Wort und sah Wheeler dabei unverwandt an – „wie ihr würden mir nicht einmal zehn Minuten lang problemlos folgen können.“

„Was soll das jetzt heißen, Kaiba? Schon vergessen, ich besitze einen Spielladen, ich weiß auch, wie es auf dem Markt aussieht.“

„Mag sein, Devlin, aber dein kleiner Laden ist auf dem Weltmarkt ungefähr so groß, wie der Laden von Mutos Großvater in Domino – nein, ich würde sogar meinen, noch um einiges kleiner.“

„Kaiba!“

Empörte Gesichter blickten mir entgegen. Nichts konnte mich weniger aus der Fassung bringen. „Dies sind Tatsachen. Akzeptiert es oder versucht weiterhin, euch etwas vorzumachen.“

Unerwartet sprang Wheeler auf und war mit wenigen Schritten bei mir, packte mich grob am Kragen meines Hemdes. „Woher nimmst du dir eigentlich das Recht, so verdammt herablassend mit uns zu reden? Schon vergessen – Yugi hat dich zwei Mal geschlagen, du bist also schlechter als er!“

Mit diesen Worten hatte Wheeler einen wunden Punkt getroffen. Einen mehr als nur wunden Punkt. Meine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, mein Mund verzog sich abfällig. „Mag sein, dass Muto mich geschlagen hat“, zischte ich leise und blickte ihn verächtlich an, „allerdings hatte er simples Glück, im richtigen Moment die richtigen Karten gezogen zu haben - mehr nicht!“

„Kaiba, du weißt genau, dass es mehr als bloßes Glück war.“

Mein Blick schoss zu Muto, welcher ruhig am Boden saß und ernst zu mir aufsah. Zu ernst. Wieder wirkte er reifer als sonst, wieder älter, wieder klang seine Stimme tiefer und wieder fragte ich mich, ob ich zu wenig Schlaf hatte, dass ich auf derartige Schlüsse kam. „Ach ja?! Das sehe ich anders. Aber rede dir ruhig eine Lüge ein, das hilft dir beim nächsten Mal auch nicht weiter. Und nun rate ich dir, deinen Schoßhund“ – mein Blick wanderte wieder zurück zu Wheeler – „zurückzupfeifen, sonst sehe ich mich gezwungen, den städtischen Hundefänger zu rufen.“

Wheelers Miene verdüsterte sich, während der Griff um meinen Kragen sich verstärkte, seine Knöchel weiß hervortraten. „Weißt du Kaiba, ich bereue es mittlerweile wirklich, dir gestern das Leben gerettet zu haben.“
 

‚Joey hat erste Hilfe geleistet.’
 

Für den Bruchteil einer Sekunde entglitt mir die Kontrolle, dann hatte ich mich auch schon wieder gefasst.
 

‚Joey hat erste Hilfe geleistet.’
 

So kurz war ich unaufmerksam gewesen, dass ich mir letztendlich sicher war, dass niemand der Anwesenden es bemerkt hatte. Ein hämischer Ausdruck erschien in meinen Augen. „Tja, Wheeler, du hättest die Chance nutzen sollen, als sie sich geboten hatte. Dein Pech.“

Innerlich aufgewühlt, könnte mein äußeres Erscheinungsbild nicht selbstsicherer wirken. Welche Zwiespalt. Perfide.

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, bei dem Gedanken daran, dass Wheeler dafür verantwortlich war, dass ich hier noch halbwegs lebendig vor ihnen stand und nicht leblos auf einer Trage oder sonst wo lag. Erneut überkam mich ein kalter Schauer, welchen ich jedoch erfolgreich zurückkämpfen konnte.

Ich blickte Wheeler kalt an, sah die unterdrückte Wut in seinem Blick, das altbekannte Funkeln und mit einem Mal realisierte ich zur Gänze, dass ich ohne ihn tatsächlich nicht mehr leben würde. Sämtliches Blut wich mir aus dem Gesicht, als würde mir erst jetzt tatsächlich bewusst, was er für mich getan hatte.
 

‚Joey hat erste Hilfe geleistet.’
 

Meine Augen weiteten sich und in einer Kurzchlussreaktion stieß ich ihn grob von mir. Mit ungläubigem Blick sah ich ihn an, konnte nicht glauben, dass er mich wahrhaftig gerettet hatte. Er, dem ich nie auch nur einen Funken Respekt entgegengebracht hatte, den ich seit jeher wie Dreck behandelt hatte.

Wie konnte ein einzelner Mensch nur so ... dumm sein und denjenigen retten, der ihn nicht einmal als ebenbürtig ansah und ihn nur erniedrigte?

Ich war mir immer bewusst, wie ich Wheeler behandelt hatte, hatte auch nie ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt oder etwas an meinem Verhalten ändern wollen – hielt ich es doch für richtig und keinesfalls für verwerflich. Er war nun einmal nur ein Köter, ich hingegen der Besitzer einer millionenschweren Firma – man sah an dieser Stelle immer wieder auf ein Neues die Welten, die uns voneinander trennten.

Trotzdem hatte er mir das Leben gerettet. Eine dumme Handlung von einem dummen Köter. Wenigstens bereute er es mittlerweile, was bedeutete, dass wir unseren natürlichen Punkt wieder erreicht und sich alles wieder normalisiert hatte. Oder etwa nicht?

Ich verschloss diese Frage in den Untiefen meines Kopfes und konzentrierte mich stattdessen wieder auf Wheeler, welcher einen Schritt zurück gemacht hatte und mich mit einer Mischung aus Wut, Abscheu und Reue ansah. Reue? Was hatte er denn mit einem Mal? Rasch verwarf ich mögliche Schlussfolgerungen. Ich musste mir den letzten Punkt meiner Aufzählung eingebildet haben – wahrscheinlich eine Nachwirkung meines gestrigen Unfalls.

Nebenbei hob ich eine Hand und richtete den – von Wheeler in Unordnung gebrachten – Kragen, ließ den Köter dabei keinen Augenblick aus den Augen. Sein Verhalten irritierte mich.

„Erwarte bloß keine überschwängliche Dankbarkeit von mit Wheeler“, meinte ich kalt und sah ihn ausdruckslos an. „Du magst mir einen hilfreichen Dienst erwiesen haben, aber das war es auch schon. Zudem waren deine Freunde keinesfalls unschuldig an meinem Zustand“ – mein Blick fixierte für wenige Augenblicke Devlin und Taylor – „somit sehe ich deine Handlung eher als Wiedergutmachung dafür an. Ich hoffe, du kannst meinen Worten folgen.“

Er knurrte. „Natürlich kann ich das, Kaiba. Ich bin ja nicht dumm.“

Ein spöttisches Lächeln erschien auf meinen Lippen. „Auf diese Behauptung wirst du von mir keine Antwort bekommen Wheeler. Ich wollte nur meinen Standpunkt klar machen.“

„Den hättest du dir sparen können.“

„Ich werde ihn auch nicht wiederholen.“

„Ein ehrliches ‚Danke’ hätte mir besser gefallen.“

„So tief bin ich noch nicht gesunken, Wheeler.“

„Tze, eingebildeter Fatzke.“
 

Mein Leben, so wie ich es kannte, hatte mich wieder.
 

oOo
 

Ich studierte aufmerksam den Artikel vor mir, bevor ich mit einem Rascheln die Zeitung umblätterte und ihn weiter las.

Zumindest meine morgendliche Zeitung hatte man mit zurückgelegt, wenigstens ein Funken Trost an einem Morgen wie diesen. Ich hatte mich in einen Sessel im Gemeinschaftsraum niedergelassen und nur am Rande nahm ich die Stimme von Muto und dem Rest wahr.
 

„Bakura hat schon wieder gewonnen.“

„So viel zu deiner ‚unschlagbar genialen Taktik’, Joey.“

„He, du hast sie mir zerstört, Tristan!“

„Hatte ich auch vorgehabt.“

„Mistkerl.“

„He Joey, es ist doch nur ein Spiel.“

„Nicht nur ein Spiel, Yugi, hier geht es um Ego!“

„Du meinst dein nichtvorhandenes Ego?“

„Grrr, Duke!“

„Ähm, Leute? Wie wäre es mit einem anderen Spiel?“

„Gute Idee, Bakura. Was haltet ihr davon?“

„Wie wäre es mit Flaschendrehen?“

„Flaschendrehen Tristan? Ohne heiße Bräute ist das doch langweilig.“

„Duke, überleg doch mal, wir haben eine Waschechte Männerrunde. Ohne die Weiber haben wir ganz neue Möglichkeiten und nicht irgendwelche Spaßbremsen. Nein Yugi, wenn wir schon Flaschendrehen spielen, dann richtig.“

„Also ich weiß nicht ...“

„Komm schon Yugi, gib dir einen Ruck. Du auch Bakura, das wird cool!“

„Wirklich Joey ... ich bin nicht sicher ...“

„Kommt schon.“

„Habt euch nicht so.“

„Na gut ....“

„Okay ...“

„Kaiba, was ist mit dir?“
 

Meine Augen verharrten mitten im Satz. Zunächst starrte ich das Wort Tariflohnerhöhung mit beinahe schon perfidem Interessen an, dann riss ich mich davon los und ließ die Zeitung langsam sinken, blickte Taylor über ihren Rand hinweg geringschätzig an. „Ich schätze mal, dass diese Aufforderung nur ein Scherz war, habe ich Recht?“

Taylor zögerte. „Äh, ich weiß nicht? War sie das?“

Meine Augenbraue wanderte ein Stück in die Höhe, während die Zeitung noch einige Zentimeter weite hinab sank. „Ja Taylor, sie war ein Scherz.“

„Okay, wenn du das sagst ...“

„Das tue ich.“

Ich schenkte ihnen keine weitere Beachtung, hob die Zeitung wieder auf Augenhöhe und vertiefte mich in den Artikel. Erst Wheelers Stimme unterbrach diesen Vorgang.

„Hast du etwa Schiss, Kaiba?“

Erneut verharrten meine Augen, diesmal bei dem Wort Kontrollverlust. Sollte dies vielleicht ein Zeichen für mich sein? Zu bezweifeln. Langsam ließ ich die Zeitung wieder sinken, blickte Wheeler mehr als nur missgestimmt an. „Wheeler, ich verspüre nicht die geringste Lust, bei einem eurer primitiven Spiele mitzumachen, zumal ich mir weitaus besseres vorstellen kann.“

„Dann bist du dir also zu fein dafür?“

„Wenn du es so niveaulos ausdrücken willst – ja.“

„Reicher Pinkel.“

„Dummer Hund.“

„Ich bin kein Hund.“

„Trotzdem dumm genug um bei einem Spiel mitzumachen, dessen Sinn sich mir gänzlich entzieht.“

„Es heißt Flaschendrehen.“

„Tatsächlich? Wenn dem so ist - los Wheeler, dreh dich.“

„Du verdammter – was bildest du dir ein?“

„Dass du dich tatsächlich drehst.“

„Das Spiel hat den Sinn Spaß zu machen, neureicher Geldsack!“

„Das ist der Grund, warum ich noch nie viel von Spielen gehalten habe.“

„Sag nicht, du hast noch nie in deinem Leben Spaß gehabt?!“

„Warum sollte ich? Es gibt weitaus wichtigere Dinge.“

„Ach ja, was denn?“

„Geld, Macht, Ruhm.“

„Was. Ein. Schrott.“

„Achte auf deine Wortwahl, Wheeler. Du hast keine Ahnung.“

„Aber genug Ahnung, um zu merken, dass nichts von dem was du gesagt hast, ein Leben lebenswert macht.“

„Ach ja, und warum lebe ich dann?“

„Das würde ich kein Leben nennen.“

„Aber ich atme.“

„Und das auch nur noch, weil ich es wollte.“

Zum ersten Mal in meinem Leben fehlten mir die Worte.

„Ich habe dir dein Leben gerettet – zumindest das, was du Leben nennst. Wegen mir atmest du noch, vergiss das nicht, Kaiba.“

Fassungslos war ich um Worte bemüht, doch mein Kopf schien wie leergefegt.
 

‚Und das auch nur, weil ich es wollte.’
 

Einem Echo gleich hallten diese Worte nach, schienen nicht verklingen zu wollen.
 

‚Und das auch nur, weil ich es wollte.’
 

Also hatte Wheeler tatsächlich gewollt, dass ich lebe? Er hat mich freiwillig gerettet? Das konnte nicht sein, ich musste mich verhört haben. Das konnte er einfach nicht ernst gemeint haben!

„Mach dich nicht lächerlich Wheeler. Hast du nicht eben noch gesagt, du bereust es?“ Meine Stimme klang glücklicherweise unbeteiligt, was man von meinem Geist nicht behaupten konnte. Ich wollte unbedingt eine Antwort auf diese Frage.

Er neigte leicht den Kopf, blonde Strähnen fielen ihm vor die Augen. „Ja, das habe ich. Und angesichts deines beschissenen Verhaltens ändere ich diese Meinung auch nicht, Geldsack.“

Ich verspürte ein gewisses Maß an Erleichterung. Das bedeutete, zwischen uns war alles wie immer. Meine Lippen prickelten verdächtig und für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich, Wheelers Lippen wieder auf meinen spüren zu können. Doch so schnell wie das Gefühl gekommen war verschwand es auch wieder, ließ nichts zurück, abgesehen von der Übelkeit, die sich in meinem Magen bildete.

„Dann ist gut.“

Scheinbar gelangweilt wandte ich mich wieder dem Artikel in der Zeitung zu und Momente bevor ich die Zeitung wieder auf Augenhöhe hob, registrierte ich Wheelers bestürzten Gesichtsausdruck. Ich stockte in der Bewegung und ließ die Zeitung kaum merklich wieder einige Zentimeter sinken, fixierte Wheeler über ihren Rand hinweg skeptisch.

„Wieso ziehst du jetzt ein Gesicht, als hätte ich dir soeben deinen Knochen gestohlen?“

Er überging meine Worte. Vielleicht hatte er sie auch schlichtweg nicht wahrgenommen – zumindest ließ sein noch immer entgeistert wirkender Gesichtsausdruck darauf schließen. „Sag jetzt nicht, dass dir das egal ist?!“

Ich spürte Kopfschmerzen, die sich stärker denn je ankündigten. Danke, Wheeler. „Was soll mir egal sein, Köter? Drück dich bitte etwas klarer aus, denn es fällt mir äußerst schwer, mich auf dein primitives Denkniveau hinab zu begeben.“

„Es ist dir egal, was ich gesagt habe? Dass ich es bereue? Du hast nicht einmal mit der Wimper gezuckt! Jeder normale Mensch hätte zumindest überrascht, wenn nicht sogar bestürzt ausgesehen!“

Meine Augenbraue schwang in die Höhe. Ich musste zugeben, dass Wheelers Worte nicht wirklich unlogisch klangen und es wunderte mich offen gestanden, dass der Köter zu derartigen Schlüssen kam. Von sich aus und ohne Hilfe. Was mich jedoch viel mehr störte, war die Tatsache, dass er prinzipiell gesehen Recht hatte. Denn seine Worte hatten mich irritiert, doch war ich geübt genug, es mir nicht anmerken zu lassen. Offenbar hatte er diese Möglichkeit außer Acht gelassen, was mir weitgehend mehr zusagte.

Darum betrachtete ich ihn lediglich mit einem abschätzigen Blick, blätterte nebenbei die Zeitung um. „Ja Wheeler, es ist mir egal. Tatsache ist nun einmal, dass du es dennoch getan hast und ich werde mich sicherlich nicht beschweren. Doch wenn du auf offene Bestürzung hoffst, muss ich dich enttäuschen. Zu derartigen Dingen tendiere ich nicht, was dir eigentlich bekannt sein dürfte.“

Ihn nicht weiter beachtend hob ich die Zeitung wieder auf Höhe meines Gesichts und vertiefte mich in die Aktienkurse. Ich überging Wheelers gemurmeltes „elender Snob“ beflissentlich und tat so, als würde ich sie ignorieren. Tatsächlich jedoch gelang mir dies nicht ganz, drangen ihre Dialoge in den nächsten Minuten doch klar und deutlich zu mir durch.
 

„Da ich das Spiel vorgeschlagen habe, darf ich auch zuerst drehen.“

„Wenn es sein muss. Fang an.“

„Super. Okay, derjenige, auf den die Flasche zeigt, muss ... wollen wir die erste Runde noch harmlos machen, damit Yugi und Bakura nicht ohnmächtig werden?“

„Was willst du damit –“

„Warum nicht, Tristan. Wir können uns hocharbeiten.“

„Duke, ich verstehe nicht –“

„Keine Sorgen, Yugi, in dieser Runde befinden sich nur Leute, denen du vertrauen kannst. Abgesehen von Kaiba vielleicht und der bekommt mit seiner Zeitung eh nichts mit.“
 

Ich sparte es mir, sie eines besseren zu belehren. Ich war offen gestanden froh, dass sie mich in Ruhe ließen.
 

„Dann fang an, Tristan.“

„Immer gerne.“

„...“

„Duke!“

„Warum ich?“

„Die Flasche hat entschieden, wie du unschwer erkennen kannst. Also, was wählst du? Wahrheit oder Wagnis?“

„Wahrheit.“

„Uh, du bist aber ziemlich sicher. Na dann, verlange ich von dir zu wissen, auf wen du im Moment scharf bist.“

„Tristan, kann man das nicht auch etwas anders formulieren?“

„Stell dich doch nicht so an Yugi, er weiß trotzdem, was ich meine. Also Duke? Wer ist deine Wunschbraut.“

„Serenity.“

„Was?“

Was?!

„Na warte!“

„Joey, Tristan, beruhigt euch. Joey, Duke musste ehrlich antworten und Tristan, du hast diese Frage gestellt!“

„Yugi, wie soll ich ruhig bleiben, wenn der Typ meine Schwester –“

„Er hat mich durch die Antwort provoziert!“

„Kommt wieder runter.“

„Tze.“

„Hmpf.“

„Okay, jetzt, wo das geklärt ist, bin ich dran.“

„Genau Duke, und lasst uns friedlich bleiben, ja? Bakura, du bist doch auf meiner Seite oder?“

„Sicher doch Yugi.“
 

Ich unterdrückte den Drang, abfällig zu schnauben. Ich kam mir ehrlich vor, wie in einer Kinderspielgruppe für fünfjährige. Wirklich schlimm. Dabei war ich froh, dass Mokuba aus dem Alter längst raus war. Herrlich und jetzt traf es mich hier erneut. Der Tag konnte nur noch besser werden.
 

„Joey!“
 

Oder auch nicht. Ich gab den Versuch auf, den Artikel vielleicht doch noch zu lesen, war meine Aufmerksamkeit derzeit auf ein Minimum ihrer eigentlichen Menge reduziert und hauptsächlich auf die primitiven Gespräche der Kindergartengruppe gerichtet. Es war zwecklos, davon loszukommen. Stattdessen ließ ich die Zeitung wiederholt ein Stück sinken und blickte über ihren Rand hinweg zu dem kleinen Kreis aus Personen, unweit von mir entfernt.

Momentan war Wheeler das Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit, zeigte der rote Deckel der leeren Colaflasche doch unmissverständlich auf ihn.

Auf Devlins Gesicht zeigte sich unverhohlene Freude. „Nein Joey, was freut es mich, dass die Wahl auf dich gefallen ist.“

Wheeler knurrte. „Spar dir das Geschwafel. Ich nehme Wagnis.“

Devlins Mundwinkel zuckten verräterisch. „Was denn Joey, hast du Angst, dass ich dich etwas Peinliches frage? Gibt es da etwa ein kleines schmutziges Geheimnis, das du und vorenthalten willst?“

„Ich ... äh ... nein.“

„Das klang aber nicht wirklich überzeugend.“ Devlin verschränkte die Arme und ich musste zugeben, dass seine Taktik nicht unbedingt dumm war. Allerdings waren so gut wie alle Taktiken, die gegen Wheeler angewandt wurden effektiv, mochten sie auch noch so primitiv sein. Insofern war es keine Meisterleistung, Wheeler zu überlisten. So auch jetzt.

„Verdammt Duke, es gibt kein schmutziges Geheimnis! Wenn du es unbedingt willst, dann nehme ich eben Wahrheit!“

Devlins Augen blitzten gefährlich und unvermittelt richteten sie sich auf mich. Ich erstarrte. Die Erkenntnis traf mich, doch jetzt war es zu spät. Dies war nicht nur eine Falle für Wheeler gewesen, sondern auch für mich! Alleine das Unheil verkündende Grinsen auf Devlins Gesicht machte dies mehr als deutlich.

„Dann verrate mir etwas, Joey.“ Dabei nahm er den Blick nicht von mir. Unfähig, meine Augen wieder auf die Zeitung zu richten, erwiderte ich ihn. Ich wusste nicht, was jetzt kam, doch meine Intuition hatte mich noch nie im Stich gelassen und sie sagte mir eindeutig, dass Devlin etwas äußerst Heimtückisches plante. Langsam lösten die stechenden grünen Augen sich von mir, richteten sich stattdessen auf Wheeler, der den Eindruck erweckte, als fühlte er sich reichlich unwohl in seiner Haut.

„Jetzt zieh’ es nicht unnötig in die Länge Duke, sondern frag mich endlich!“
 

„Hat es dir gefallen, bei Kaiba erste Hilfe zu leisten?“
 

Seine Worte lösten eine Kette von Reaktionen aus. Taylor, der soeben einen Schluck aus seinem Glas genommen hatte, spuckte diesen prustend wieder aus, Muto kippte voller Überraschung zur Seite und stieß gegen Bakura, welcher ebenso perplex wirkte. Wheeler schienen gänzlich die Worte ausgegangen zu sein und Devlin lächelte nur mit einer grauenvollen Mischung aus Selbstzufriedenheit und Unschuld in die Runde.

Meine Reaktion hingegen beschränkte sich lediglich auf das kurze Aussetzten meines Herzschlags. Kaum erwähnenswert, schlug es doch bereits eine Sekunde später wieder, jedoch in einer derartigen Geschwindigkeit, die mich befürchten ließ, dass das Blut in meinem Körper bereits ungesund schnell zirkulieren musste.

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Meine Hände verkrampften sich in die Zeitung und zerknitterten sie stellenweise, sodass die geschriebenen Zeilen verschwammen. Verständnislosigkeit und der Wunsch, Devlin für diese unverfrorene Frage sämtliche Assassinen auf den Hals zu hetzen gaben eine äußerst reizende Mischung ab.
 

„D-das kann nicht dein Ernst sein!“
 

Offenbar hatte Wheeler sich ebenso von seinem kurzzeitigen Schock erholt. Zumindest starrte er Devlin in einer Mischung aus Mordlust und Verständnislosigkeit an, während er den Arm hob und in einer unverfrorenen Geste auf mich deutete. Hatte ihm denn niemand beigebracht, dass man nicht so einfach ohne weiteres auf andere Leute zeigte? Oh, ich vergaß: Hunde besaßen ja keine Manieren. Ganz zu schweigen von Straßenkötern wie ihm.
 

„Was soll das denn bitte heißen, ‚ob es mir gefallen hat’?! Sah ich deiner Meinung nach so aus, als hätte es mir gefallen?!“
 

Eine Frage, auf die ich ihm offen gestanden keine Antwort geben konnte, waren an den Zwischenfall am Strand doch nur bruchstückhafte Erinnerungen vorhanden. Und Wheelers Gesichtsausdruck gehörte zweifelsfrei nicht dazu. Vielmehr ... ein anderer Teil von ihm. Seine Lippen.

Es war unglaublich, geradezu anmaßend, dass dieses Gefühl seiner Lippen auf meinen mich derartig vereinnahmte. Für gewöhnlich müsste ich bei dem alleinigen Gedanken daran, dass Wheelers Lippen meine berührt hatten, in einen Zustand der absoluten Übelkeit oder Apathie verfallen, doch letzteres war noch nicht ein getreten, wobei der erste von beiden Punkten bereits greifbar nahe war. Ich fühlte eine beklemmende Übelkeit in mir aufsteigen, je länger ich darüber nachdachte, doch das Prickeln meiner Lippen wollte nicht verschwinden.

Es war widerlich. Absonderlich. Abartig. Doch diese Erkenntnis ließ es nicht verschwinden.
 

„Ich weiß nicht Joey. Sag du es mir.“

„Duke, es hat mir nicht gefallen!“
 

Wheelers Worte waren keinesfalls wider Erwartung, sie schockten mich auch nicht. Vielmehr hätte es mich getroffen, hätte er anders geantwortet. Dennoch wollte die Übelkeit nicht schwinden, im Gegenteil, sie wurde noch um einiges stärker.
 

Blonde Strähnen in meinem Gesicht.

Dunkle Haut dicht über meiner.

Heiße Lippen auf meinen.
 

Ich hob die Hand und presste sie mir auf den Mund. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr, spielte verrückt, entzog sich meiner Kontrolle. Mein Herz schlug in unregelmäßiger Geschwindigkeit, hinter meiner Stirn pochte es schmerzhaft.

Warum geschah all dies?

War es wegen Wheeler?

Es war derart abstoßend. Mein Magen rebellierte.

Vielleicht war es heute ein Fehler gewesen, aufzustehen. Vielleicht hätte ich in dem alten, dreckigen Etagenbett der Herberge liegen bleiben sollen, Wheelers abscheuliches Hemd anbehalten und die Maserung des Holzes über mir mit geheucheltem Interessen anstarren sollen, bis dieser Tag vorüber und meine Kopfschmerzen verklungen waren. Vielleicht hätte ich diesen Gemeinschaftsraum niemals betreten, Muto und seiner Gruppe keine Beachtung schenken dürfen. Vielleicht ...
 

„Grins nicht so, Duke!“

„Ich grinse nicht.“

„Ach, und was sehe ich dann in deinem Gesicht?“

„Ich weiß nicht.“

„Tu nicht so unschuldig!“
 

Kurz verspannte ich mich, bevor ich meine Hand langsam sinken ließ und meinem Blick hob. Keiner der anwesenden hatte meine Reaktion wahrgenommen. Niemand schenkte mir Beachtung. Zum ersten Mal erleichterte es mich. Zu sehen, wie ich für wenige Momente unachtsam war, war das letzte, was jemand mitbekommen sollte.
 

„Ich bin dran!“

„Nur zu, Joey.“

„Na warte Duke! Wenn du drankommen solltest, dann zieh dich warm an.“

„Die Wahrscheinlichkeit, dass die Flasche auf mich deutet, liegt bei zwanzig Prozent – sie ist also recht niedrig.“

„Wie hast du –“

„Wahrscheinlichkeitsrechnung Joey. Letztes Schuljahr im Mathematikunterricht.“

„Ach was.“

„Gib doch zu, dass du es längst wieder vergessen hast.“

„Woher willst du das wissen?!“
 

Langsam richtete ich mich wieder auf. Mein Kopf schmerzte, jedoch war ich diesen Schmerz mittlerweile gewöhnt und ließ mich nicht mehr von ihm beeinflussen. Ich lockerte den Griff um die Zeitung, nur um anschließend festzustellen, dass sie durch meine unfreundliche Behandlung beinahe zur Gänze nutzlos geworden war.

Diese Tatsache nicht beachtend strich ich sie glatt und blätterte um. Als wäre nichts geschehen, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf einen Artikel über die zunehmende Umweltverschmutzung.
 

„Mir doch egal, ich drehe jetzt.“

„Zwanzig Prozent, vergiss das nicht, Joey.“

„Ach, lass mich doch in Ruhe ...“
 

Ohne etwas von dem Inhalt aufzunehmen, überflogen meine Augen die Zeilen des Artikels.
 

„Yugi!“

„Was?“

„Tu nicht so entgeistert, ja, du bist dran.“

„Oh nein ...“

„He, dir zuliebe mach ich deine erste Runde noch harmlos, ja? Also, was nimmst du?“

„Wahrheit?“

„Gute Wahl. Also Yugi, was dein geheimster Wunsch?“

„Joey!“

„Was denn?“

„Du meintest, du würdest es harmlos machen!“

„Reg dich doch nicht auf, Bakura, er hätte Yugi genauso gut fragen können, was sein schmutzigster Traum ist.“

„Duke, rede doch nicht so unanständig in Gegenwart von Bakura und Yugi, du verdirbst sie nur noch. Sieh’ sie dir an, sie sind schon ganz rot.“

„Du solltest dir dabei das Grinsen aus dem Gesicht wischen, Tristan. Sei froh, dass du nicht drangekommen bist, für dich hätte ich etwas viel besseres gehabt!“

„Ist das eine Drohung, Kumpel?“

„Worauf du doch verlassen kannst.“

„Also Yugi, raus mit der Sprache.“
 

Während Muto sich einen halbwegs anständigen Satz zurecht nuschelte, versuchte ich angestrengt, wegzuhören und mich dazu auf den Artikel zu konzentrieren. Es gelang mir auch und ich bekam tatsächlich nicht mit, was genau Mutos geheimster Wunsch war. Ich war dankbar dafür.
 

„Okay, jetzt wo wir das hätten. Yugi, du brauchst doch nicht mehr rot zu sein, bei uns ist dein Geheimnis in besten Händen.“

„Genau, und jetzt dreh die Flasche.“
 

Ich fragte mich ernsthaft, was diese Kinder an dem Spiel derart fesselnd fanden.

Meine Augen verweilten auf der letzten Zeile des Artikels.
 

Darum muss schnellst möglichst etwas unternommen werden. Die Kontrolle muss zurückerlangt, das Vorgehen geändert werden.
 

Dieser Satz gab das wieder, was ich mir seit Tagen vornahm. Mein Ziel: Kontrolle.
 

„Kaiba!“
 

Durch das unvermittelte Nennen meines Namens aufgeschreckt, fuhr ich in die Höhe. Wütend funkelte ich die Dumpfbackenpatrouille an, bedachte jeden von ihnen mit einem strafenden Blick. Bis meine Augen bei dem Urheber der plötzlichen Beachtung zur Ruhe kamen.

Die Flasche, die inmitten ihrer Runde lag, war zum Stillstand gekommen. Ihr roter Deckel zeigte auf mich. Meine Augenbraue schwang in die Höhe und ich entschied mich, Devlin zu meinem augenblicklichen Aufmerksamkeitszentrum zu machen.

„Was ist jetzt schon wieder?“ Ich wusste, welche Worte als nächstes kommen würden. Ich wusste, was sie von mir verlangen würden, genauso wie ich wusste, dass sie wussten, dass ich es wusste. Komplex, verwirrend, aber zutreffend. Und sie kannten die Antwort, genauso wie ich sie kannte.
 

„Du bist dran.“
 

Devlins Worte klangen seltsam paradox. Sie passten nicht. Alleine aus dem Grund, dass von Anfang an klar war, wie ich reagieren würde.
 

„Träum weiter.“ Ich beachtete ihn nicht weiter. Die Zeitung war bei weitem interessanter als alle anwesenden Personen in diesem Raum zusammen.
 

„Na Kaiba, zu feige, bei einem primitiven Kinderspiel mit zu machen?“
 

Ich stockte. Nein, sie war nicht interessanter. Wheeler war offen gestanden das Interessanteste in diesem Raum. Sein Verhalten, seine Worte, seine Reaktionen - sie waren so berechenbar und auch wieder nicht. Dennoch, diese Worte waren mehr als nur vorhersehbar. „Billige Provokation wird dir nichts nützen Wheeler.“ Ich sah ihn nicht einmal an, während ich dies sagte.

„Ach nein? Was ist los Kaiba? Angst, dass wir dich auf diesem Gebiet fertig machen können, weil du davon keine Ahnung hast?“

Es wurde allmählich Zeit, dass Wheeler sich eine andere Methode einfallen ließ, um mich zu reizen. Merkte er nicht, dass er mich mit seinen Worten mehr als nur langweilten?

„Hab ich es mir doch gedacht“, fuhr Wheeler dessen ungeachtet fort. Er schien es wirklich nicht zu merken, dieser Idiot.

Um ihm zu verdeutlichen, wie sinnlos seine Worte waren, blätterte ich demonstrativ eine Seite weiter, schenkte ihm dabei einen abfälligen Blick über den Rand der Zeitung hinweg, bevor meine Augen sich auf einen Artikel über Börsenmakler richtete.

„Hör auf, mich zu ignorieren!“

Ich ließ die Zeitung wenige Zentimeter sinken und musterte Wheeler spöttisch. „Was denn, fühlst du dich etwa vernachlässigt?“

Mit Genugtuung registrierte ich, wie er aufgrund meiner Worte empört nach Luft schnappte. „Das hab ich nie gesagt!“, protestierte er aufgebracht. Er war so leicht zu reizen.

„Was immer du sagst, Wheeler“, meinte ich desinteressiert und las den Artikel.

„Wahrheit oder Wagnis?“

Wieder war es Wheeler, der mich davon abhielt. Ich verengte die Augen.

„Welchen Teil von ‚träum weiter’ hast du nicht verstanden?“, fragte ich wenig angetan von seinen Worten, jedoch ohne meinen Blick von dem Zeitungsartikel zu nehmen. Ich sah es nicht ein, dass er mich dauerhaft unterbrach.

„Wahrheit oder Wagnis?“, beharrte er standfest, ohne sich von meinen Worten beirren zu lassen.

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. Langsam ließ ich die Zeitung ganz sinken. Ich sah ihn durchdringend an. „Weder noch.“

„Wahrheit oder Wagnis, Kaiba?“, wiederholt er und erwiderte meinen Blick provozierend. Der Köter legte es wirklich drauf an.

„Vergiss es.“ Ich legte übermäßig viel Betonung in jedes der beiden Wörter, damit auch er es endlich verstand.

„Kaiba. Wahrheit oder Wagnis?“

Meine Augen waren mittlerweile nur noch gefährliche Schlitze und ich rang um meine Selbstbeherrschung. Wheelers Worte schienen Zündstoff für meine Kopfschmerzen zu sein, jedenfalls verdeutlichte das Stechen hinter meinen Schläfen, dass sie keinesfalls gut taten. „Wheeler.“

„Entschiede dich Kaiba und ich lass dich in Ruhe.“

„Darauf kannst du lange warten.“

„Ich hab dir dein Leben gerettet.“

„Das Thema hatten wir bereits, Wheeler.“

„Du bist mir etwas schuldig, Kaiba.“

„Ich habe dich nie darum gebeten.“

„Trotzdem.“

„Köter.“

„Wahrheit oder Wagnis?“

„Bist du so schwer von Begriff oder tust du nur so?“

„Wenn du mich so fragst: Ich tue so, um dich in günstigen Momenten überraschen zu können.“

Diese Worte überraschten mich. Weil sie von Wheeler stammten. Ich sah ihn an, erwiderte nichts, sondern musterte ihn nur stumm. Was meinte er damit? Es war unmöglich, dass er seine Dummheit nur vortäuschte. Ich kannte ihn jetzt schon mehrere Jahre, und eine derartige Dummheit konnte unmöglich vorgetäuscht sein. Er versuchte mich zu verwirren, nichts weiter. Wheeler war nicht schlau.

„Tze“, gab ich abfällig zu bemerken und mein Blick wurde abweisender als vorher. So einfach ließ ich mich von Wheeler nicht aus der Bahn werfen. Und schon gar nicht ließ ich mich von ihm für dumm verkaufen.

Ich erhob mich. Ich sah es nicht ein, mich länger mit Wheeler und dem Rest von Mutos Anhängerschaft abzumühen. Das kostete nur unnötige Nerven, ganz zu schweigen von meinen zunehmenden Kopfschmerzen.

„Ich sehe es nicht ein, bei euren niveaulosen Albereien mitzumachen, Wheeler. Spar dir deine Bemühungen und setzte am besten weiterhin alles daran, auch denen kümmerlichen Restverstand durch derartige Zeitverschwendung aufzubrauchen.“

Ich schritt an ihm vorbei ohne ihn, geschweige denn einen der anderen, noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
 

„Du redest im Schlaf, Kaiba.“
 

Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Wieder war es Wheeler gewesen, der gesprochen hatte. Langsam wandte ich mich zu ihm um. Er saß noch immer auf dem Boden, ignorierte die überraschten Blicke seiner Freunde, blickte mich stattdessen geradezu triumphierend an. Seine Augen straften diese Mimik jedoch Lügen, stach mir doch aus ihnen unzweifelhafter Ernst entgegen.
 

„Hast du das etwa nicht gewusst?“
 

Nein. Das hatte ich definitiv nicht.
 

~*~*~
 

I don't know

What to think anymore

Maybe things will get better

Maybe things will look brighter

Maybe, Maybe, Maybe
 

~*~*~
 

(Sometimes by Linkin Park)

Tag 5: Wagnis

Tag 5: Wagnis
 

Du redest im Schlaf Kaiba. Hast du das etwa nicht gewusst?“
 

Nein. Das hatte ich definitiv nicht.
 

~*~*~
 

Es war eine Finte. Ich konnte nicht so nachlässig gewesen sein und im Schlaf gesprochen haben. Es war gegen meine Norm, im Schlaf zu reden. Wheeler tat es, aber ich war nicht Wheeler und ich redete nicht im Schlaf.

„Mach dich nicht lächerlich, Wheeler“, entgegnete ich kühl und verschränkte die Arme.

Er zog die Beine an und saß schließlich im Schneidersitz auf dem Boden, blickte mich weiterhin mit einer Mischung aus Triumph und Überlegenheit an, die mich hätte warnen müssen. Doch ich konnte nicht akzeptieren, dass Wheeler Recht hatte.

„Du willst es nicht glauben oder?“ Seine Worte klangen viel eher nach einer Feststellung, denn einer Frage. Er wippte mit dem Oberkörper kaum merklich vor und zurück, seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Warum achtete ich überhaupt auf seine Köperhaltung, geschweige denn seine Mimik? Seine Worte waren weitaus wichtiger. Sollten sie zutreffen - was jedoch unmöglich der Fall sein konnte.

„Warum sollte ich dir glauben, Wheeler?“, stellte ich die berechtigte Gegenfrage, den Blickkontakt mit ihm aufrecht haltend. Ich suchte in seinen Augen nach den Anzeichen einer Lüge, etwas, dass diese Farce aufdecken und meine Vermutung bestätigen würde. „Warum sollte ich diesem lächerlichen und auch noch so offensichtlichen Versuch, mich zu verwirren, Glauben schenken?“

Sekundenlang blickten wir uns stumm an, dann legte er den Kopf in den Nacken und grinste auf eine für ihn typische Art in Richtung Zimmerdecke. „Okay, hast mich erwischt. Der Punkt geht an dich.“ Als ich weiterhin schwieg richtete er seinen Blick wieder auf mich und fügte mit einem Schulterzucken hinzu: „Ich wollte nur sehen, wie du darauf reagierst, mehr nicht. Hab eigentlich mit einer Spur mehr Überraschung gerechnet.“

Die Stimmung im Raum entspannte sich. Ich konnte förmlich hören, wie Muto und die anderen synchron die angehaltene Luft ausatmeten. Im Gegensatz zu ihnen, verspürte ich nur Genugtuung darüber, dass ich von Anfang an Recht gehabt hatte. Wheeler war so leicht zu durchschauen.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb ich die Gedanken und schenkte Wheeler stattdessen ein herablassendes Lächeln. „Von jemandem wie dir kann man offenbar nicht mehr erwarten.“

Er gab sich verdächtig gelassen. „Wenn du das sagst. Sieh meine Worte als deinen Beitrag zum Spiel.“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung der Flasche, die zwischen ihm und den anderen lag. „Sagen wir einfach, deine Reaktion war ein Wagnis und du bist aus dem Schneider.“

„Ich war nie im Schneider“, korrigierte ich ihn knapp, wandte mich nun endgültig ab und verließ den Raum. Wheelers Worte hatten nichts bewerkt, abgesehen davon, dass die Kopfschmerzen um einige Stufen zugenommen hatten. Hinter meinen Schläfen pochte ein stetiger Schmerz und das Klicken des Schlosses, als ich die Tür zu Wheelers und meinem Zimmer wenige Minuten später hinter mir schloss, klang wie ein Hammerschlag in meinen Ohren nach, stachelte das Biest, welches in meinem Kopf wütete noch zusätzlich an.

Schwer ließ ich mich auf das Bett fallen und bettete meinen Kopf auf das Kissen. Ob die Kopfschmerzen eine Nachwirkung des Zwischenfalls von gestern waren, eine Nebenwirkung der Tablette oder ihren Ursprung wohlmöglich in einem Wetterumschwung fanden, von dem ich noch nichts wusste, weil ich noch kein einziges mal aus dem Fenster geblickt hatte, wusste ich nicht, doch ich war genauso wenig in der Lage, es herauszufinden.

Sobald ich auf dem Bett lag spürte ich, wie der Schlaf mich, schwer wie nie, übermannte. In meinen Träumen wurde ich verfolgt von schweren Lasten, bekam zeitweilig kaum Luft und sah mich konfrontiert mit Wheelers Worten.

Als ich die Augen wieder aufschlug wusste ich nicht, ob ich tatsächlich geschlafen hatte oder nur kurz eingenickt war. Ich richtete mich auf und wurde auf halbem Weg von meinen Kopfschmerzen zurück in eine liegende Position gezwungen.

Schwer atmend starrte ich an die gegenüberliegende Wand, konzentrierte mich auf meinen beschleunigten Herzschlag und versuchte, mich zu beruhigen. Was immer es war, das mir diese Schmerzen bereitete, es war hartnäckig und kaum noch zu ertragen. Ich brauchte eine Schmerztablette, sonst würde ich es nicht mehr lange aushalten.

Langsamer als beim ersten Mal richtete ich mich erneut auf, bis ich aufrecht saß und mich mit einem gefährlich schwankenden Raum konfrontiert sah. Gegen mein besseres Wissen stand ich auf und musste mich krampfhaft an der Leiter des Hochbettes festhalten, um nicht den Halt zu verlieren.

Ich wartete erneut, bis der Schwindel nachließ, dann setzte ich mich in Bewegung, die Tür als mein Ziel und nach einer erstaunlich langen Zeit, wie ich feststellte, erreichte ich sie schließlich und legte meine Hand um den Türgriff. Ich stockte, denn er fühlte sich ungewöhnlich kalt an. Oder war ich wohlmöglich wärmer als normal? Ich hob meine freie Hand und legte sie auf meine Stirn, konnte jedoch keine ungewöhnliche Hitze spüren.

Ich öffnete die Tür und stolperte auf den Flur. Im Nachhinein wusste ich nicht einmal mehr mit Sicherheit zu sagen, ob ich sie hinter mir geschlossen hatte.

Die ersten Schritte über den Flur verliefen wie geplant, ich fühlte mich lediglich in eine ähnliche Situation der letzten Nacht zurückversetzt, als ich auf der Suche nach Wasser über den Flur geirrt war. Nur war ich zu dem Zeitpunkt nicht annähernd so orientierungslos und mein Verstand war nicht vor Schmerzen benebelt gewesen. Genau deshalb setzte nach einigen Metern wahrscheinlich auch wieder der Schwindel ein. Halt suchend stützte ich mich mit einer Hand von der Wand ab, hielt die Augen sekundenlang geschlossen und versuchte, mich zu sammeln.

Offen gesagt wusste ich nicht wirklich, wonach ich suchte oder wohin ich wollte. Mein Ziel war eine oder gleich mehrere Schmerztabletten, doch wie ich in meinem Zustand daran gelangen wollte war mir unklar, genauso wenig war ich überhaupt in der Lage, mir darüber ernste Gedanken zu machen. Ich stieß mich von der Wand ab und setzte meinen Weg fort.

Je länger ich unterwegs war, desto mehr verlor ich die Orientierung. Ab einem bestimmten Punkt hatte ich mich restlos verirrt. Ich hielt inne und sah mich um, erkannte jedoch nichts an dem Flur wieder. Es wunderte mich, hatte die Herberge doch von außen keinen annähernd so großen Eindruck erweckt oder täuschte mich meine Wahrnehmung und ich war nur wenige Flure weit gekommen? Ich wusste es nicht zu sagen, genauso wenig wie ich sagen konnte, wie ich zurück in mein Zimmer kommen sollte.

Ich verlor mein Zeitgefühl, doch irgendwann nahm ich unvermittelt aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Ich wandte den Kopf und wünschte mir augenblicklich, ich hätte es nicht getan.

„Kaiba?“

Nannte man das Déjà-Vu? Dieses Gefühl, eine Situation schon einmal durchlebt zu haben? Das Gefühl, sich in einer erschreckend bekannten Konstellation wieder zu finden? Wenn ja, dann durchlebte ich in diesem Augenblick eines. Oder aber, ich halluzinierte, wobei ich letzteres für unwahrscheinlich und ersteres zu meinem Leidwesen für zutreffend empfand.

Joey Wheeler stand am anderen Ende des Flurs, hatte mich offenbar im Vorbeigehen bemerkt und machte nun Anstalten, auf mich zuzukommen. Ich hob die Hand und gebot ihm, stehen zu bleiben. „Kaiba, was tust du hier?“

„Bleib einfach da stehen.“ Es war erstaunlich, dass die Worte, die meinen Mund verließen, überzeugender klangen, als ich imstande gewesen war, sie zu formulieren. Tatsächlich fiel es mir zunehmend schwerer, zusammenhängend und vor allem logisch zu denken.

Verwirrung zeichnete sich auf Wheelers Gesicht ab. Ich konnte es selbst von hier aus erkennen. „Warum? Was ist los?“

„Nichts“, entgegnete ich abweisend, besann mich nach wenigen Sekunden jedoch eines Besseren und korrigierte mich. „Dass heißt, nicht vollkommen.“

Es war falsch und das war mir in dem Moment klar, als ich die Worte aussprach und doch waren sie notwendig. Die Kopfschmerzen zwangen mich regelrecht dazu, vor Wheeler wenigstens einen kleinen Teil Schwäche zuzulassen. Ich hatte die Wahl, zwischen zwei Übeln und dieser Weg war im Nachhinein weitaus weniger unangenehm für mich, als ein möglicher Zusammenbruch vor Wheeler.

„Was meinst du damit? Kaiba, was suchst du hier auf dem Flur? Du siehst übel aus.“ Wheeler hatte schon immer die Fähigkeit besessen, die Wahrheit unverblümt auszusprechen. Eine Eigenschaft, in der er wir und nicht unähnlich waren. Warum fiel mir diese Übereinstimmung ausgerechnet in einem Moment wie diesem auf?

„Ich brauche eine Schmerztablette.“

„Eine was?“

Tat er nur so oder war Wheeler wirklich so schwer von Begriff, wie er sich augenblicklich gab? Das Biest in meinem Kopf schien sich aufzubäumen und deutlich ungeduldiger fuhr ich Wheeler an: „Eine Schmerztablette! Jetzt!

Ich verlor normalerweise nie die Geduld, schon gar nicht in Anwesenheit von Wheeler, doch ich musste zugeben, in den letzten Tagen verliefen viele Verhaltensmuster gegen ihre Norm.

Wheeler war bei meinem Tonfall zusammengezuckt. „Schon gut, ich hab dich verstanden. Was ist denn los?“

Legte er es darauf an, dass ich komplett die Beherrschung verlor? „Ich habe Schmerzen, Wheeler. Schmerzen, verstehst du?!“

„Wo?“ Nun schien er alarmiert. „Ist es wegen der Sache gestern? Musst du ins Krankenhaus?“

Ich atmete mehrmals tief ein und aus versuchte ruhig zu bleiben und den Schmerz zu ertragen. „Wheeler, eine Schmerztablette. Besorg mir eine.“ Es war keine Bitte, es war ein Befehl. Ich bat um nichts.

„Solltest du nicht erst zurück ins Zimmer? Und wo soll ich eine Schmerztablette herbekommen?“

Ich ballte die Fäuste. „Das ist mir egal. Tu einfach, was ich dir sage!“ Der Schmerz hinter meiner Stirn wurde für wenige Sekunden unerträglich und ich fasste mir unterdrückt fluchend an den Kopf.

„Du solltest dich hinlegen.“

Wie war Wheeler so schnell so dicht neben mich getreten? Wie hatte er es geschafft, sich einen meiner Arme über die Schultern zu legen? Ich versuchte mich von ihm zu lösen. „Wheeler, ich kann immer noch selber laufen. Mir geht es gut, ich habe nur Kopfschmerzen.“

„Du solltest dich sehen, Kaiba“, entgegneter und setzte sich zusammen mit mir in Bewegung. „Du bist blass wie eine Wand – nicht dass das etwas Neues wäre – und kannst kaum gerade stehen.“

Ich schnaubte, noch immer darum bemüht, ihn von mir zu schieben. „Das ist deine Ansicht, jetzt erkläre ich dir meine: Es geht mir gut, es sind nur Kopfschmerzen.“

„Ist dir eigentlich klar, dass du dich wiederholst oder machst du das unbewusst?“

„Nur weil ich das Gefühl habe, mein Kopf würde entzwei gerissen, heißt es nicht, ich wäre nicht mehr in der Lage, rational zu denken. Ja, es ist mir bewusst, Wheeler.“ Der erste Teil der Aussage war eine Lüge, der zweite nicht. Doch das hatte Wheeler nicht zu interessieren.

Wir bogen um eine Ecke, ich vermochte noch immer nicht zu sagen, wo wir uns befanden. Widerwillig ließ ich mich von Wheeler führen. „Was hattest du auf dem Flur zu suchen?“, fragte ich schließlich, als mir die Stille zwischen uns zuviel wurden und die Kopfschmerzen einen erneuten Höhepunkt zu erreichen drohten.

„Yugi hat mich gebeten, nach dir zu sehen und du warst nicht im Zimmer. Also haben wir dich gesucht. Ich auf diesem Stockwerk, Yugi im ersten, Bakura im Keller und Tristan und Duke auf dem Gelände.“

„Auf dem Gelände? Was dachtet ihr, was ich tun würde?“ Es war eine rhetorische Frage, doch Wheeler antwortete ernst und ohne eine Miene zu verziehen. „Das ist es eben, Kaiba. Wir können dich nicht einschätzen.“

Trotz der Schmerzen schaffte es dieser Satz, mich zu irritieren.

Ich bemerkte erst, dass wir unser Zimmer erreicht hatten, als wir es schon betreten und Wheeler die Tür hinter uns geschlossen hatte. Endlich ließ er mich los und ich sank auf das Bett. Mühsam hob ich den Kopf und sah zu ihm hoch. „Die Schmerztablette, Wheeler.“

Er nickte und drehte sich um. Bevor er den Raum verließ hielt er ein letztes Mal inne. „Bleib ja hier, Kaiba, ich warne dich. Noch einmal sammele ich dich nicht auf.“ Dann war er weg und ich starrte auf die geschlossene Tür. Lange blieb ich regungslos sitzen, wunderte mich über Wheelers abnormes Verhalten, seine befremdliche, ja, konnte man es denn schon Fürsorge nennen? Warum konnte er sich nicht so wie immer verhalten? Dumm, primitiv und was am wichtigsten war, mir unterlegen. Stattdessen schien Wheeler im Verlauf dieser Klassenfahrt auf Hochtouren zu laufen.
 

‚Und du warst es, der sich mit einem dreimal so schweren Schrank angelegt hat, wobei ich es war, der dich da rausgeboxt hat!’
 

‚Du bist zu schwach, Kaiba.’
 

‚Ich glaub, ich muss dir mal zeigen, wie man richtig fegt.’
 

‚Ich habe dir dein Leben gerettet – zumindest das, was du Leben nennst. Wegen mir atmest du noch, vergiss das nicht, Kaiba.’
 

Ich ließ den Kopf sinken und vergrub ihn in meinen Händen. Es war eine Illusion, die mir zu dieser Handlung riet. Eine Illusion, den Schmerz auf diese Art zu mindern. Natürlich veränderte sich nichts, doch ich fühlte mich zu ausgelaugt, um mich weiter zu bewegen.

Das Geräusch der sich öffnenden Tür ließ mich aufschrecken. Wheeler betrat den Raum, eine Packung Tabletten in der einen, ein Glas Wasser in der anderen Hand. Mein Magen verkrampfte sich und mein Hals zog sich zusammen. „Nein“, protestierte ich, bevor er überhaupt in der Lage war, etwas zu sagen. Irritiert blieb er stehen. „Wie nein? Was soll das jetzt wieder heißen?“

Ich deutete auf das Glas in seinen Händen. „Ich trinke kein Wasser. Hol mir etwas anderes.“

Er stutzte, sein Blick wanderte zu dem Glas, dann wieder zu mir und er verzog entrüstet das Gesicht. „Jetzt mach aber mal halblang! Soll ich dir vielleicht auch noch das Bett neu beziehen und dir Frühstück machen, wo wir schon dabei sind? Kaiba, ich hab schon Téas Koffer für die Tabletten durchwühlen müssen, ich will nicht wissen, was ich mir später dafür anhören kann und bis ich überhaupt erst an ein Glas gekommen bin, musste ich mehrfach betteln, also stell dich jetzt nicht so an und trink dieses verdammte Wasser! Es ist doch nur ein Schluck und wenn es dir nicht passt, dann schluck die Tablette eben ohne!“

Endlich hatte ich Wheelers Toleranzgrenze erreicht, es wurde auch Zeit, dass er wieder einmal die Beherrschung verlor. Dieser Anblick war beruhigend vertraut. Und trotzdem wäre es mir lieber gewesen, er würde sich in einer anderen Situation wieder seiner Norm entsprechend verhalten und nicht dann, wenn die Schmerzen in meinem Kopf mich beinahe an den Rand meiner Selbstbeherrschung brachten.

„Ich werde dieses Wasser nicht trinken“, beharrte ich standfest, ignorierte die erneute Schmerzwelle, die meinen Kopf zu übermannen drohte.

„Dann bekommst du die Tablette eben nicht.“

„Das wagst du nicht.“

„Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?“

In einem sinnlosen Versuch streckte ich die Hand nach der Packung Tabletten aus, doch Wheeler war schneller und machte einen Schritt zurück. „Nicht so, Kaiba. Sag erst, dass du das Wasser trinken wirst.“

„Den Teufel werde ich tun. Hol mir etwas anderes, Wheeler, sofort.“

Ich konnte nicht so schnell reagieren, da hatte Wheeler mich rücklings auf das Bett gepresst. Nach Luft schnappend starrte ich zu ihm hoch. Er kniete neben mir auf dem Bett, die eine Hand mit dem Glas Wasser von sich gestreckt, darum bemüht, nichts zu verschütten, die andere Hand an meinem Kragen. „Kaiba, spiel keine Spielchen mit mir!“

Wieder hatte ich das bizarre Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben. Nur war dies an einem Strand gewesen. Ich war halb ohnmächtig gewesen, Wheelers Hand hatte nicht an meinem Kragen sondern auf meiner Brust gelegen und sein Gesicht ... seine Lippen ...

Ich biss mir auf die eigenen und blickte zu ihm auf. Er hatte sich vorgebeugt und musterte mich ernst. Ich hob die Hände und legte sie um den Arm, der mich auf das Bett presste, versuchte ihn von mir zu drücken, doch meinen Erwartungen entsprechend bewegte er sich nicht. „Wheeler, lass mich los.“

„Ich werde dir keinen Saft, keine Limonade und erst recht keinen Tee holen, damit das klar ist.“ Er beugte sich weiter vor und sein Gesicht schwebte dicht über meinem, als er weiter sprach. „Du wirst diese Tablette jetzt schlucken und das Wasser ohne zu murren trinken oder ich sorge eigenhändig dafür, dass du es trinkst und endlich Ruhe gibst.“

Ich erwiderte seinen Blick mühelos, doch je länger er mir so nahe war, desto unruhiger wurde ich. Zu meinem Schrecken meinte ich für einen Sekundenbruchteil, das Gefühl seiner Lippen auf meinen wieder spüren zu könne. Unbewusst drückte ich mich tiefer ins Kissen, versuchte mehr Abstand zwischen ihn und mich zu bringen. Ich wollte mich nicht daran erinnern müssen.

Der Griff um meinen Kragen lockerte sich etwas. „Sag mir, dass du die Tablette zusammen mit dem Wasser nimmst, und ich lasse dich los.“

Ich zögerte, bereit ihm erneut zu widersprechen und die Konsequenzen zu tragen, doch die Kopfschmerzen erreichten in dem Moment ungeahnte Höhen. Dadurch motiviert überwand ich mich zu einem kaum merklichen Nicken. Wheeler zögerte, dann bildete sich auf seinen Lippen ein erleichtertes Lächeln und er löste den Griff, der mich auf das Bett presste und zog seinen Arm zurück. Während ich mich aufrichtete, setzte er sich auf den Bettrand.

Dann hielt er mir die Packung Tabletten entgegen, welche ich wortlos annahm und eine Tablette aus der Halterung löste. Anschließend griff ich nach dem Glas, nahm das Schmerzmittel in den Mund und führte das Wasser an meine Lippen. Ich stockte, als ich das kühle Nass an meinen geschlossenen Lippen spürte, doch dann zwang ich mich, sie zu öffnen und überwand mich letztendlich zum Schlucken.

Mein Hals brannte unangenehm und ich musste ein Würgen niederkämpfen, doch dann war es vorbei. Ich saß noch immer halb aufrecht auf dem Bett, Wheeler neben mir. An der Situation hatte sich nichts geändert, abgesehen davon, dass ich eine Dosis Schmerzmittel mehr intus hatte, als Sekunden zuvor. Die Stille, die zwischen uns lag erschien mir mit einem Mal unangenehm und einengend. Wheeler handelte, als hätte er soeben denselben Gedanken gehabt und erhob sich rasch.

„Okay, ich lass dich dann am besten wieder allein. Du solltest schlafen.“

„Wie spät ist es?“, fragte ich mit Blick auf die geschlossenen Vorhänge, durch die gedämpftes Licht in den Raum fiel.

Er schien zu überlegen. „Als ich das letzte Mal auf die Uhr gesehen habe, war es halb drei und das war, bevor wir dich gesucht haben. „Da fällt mir ein“ – er fasste sich an die Stirn – „ich muss Yugi und den anderen noch sagen, dass ich dich gefunden habe. Wenn ich Pech habe, suchen sie dich immer noch. Verdammt, hoffentlich hat Bakura sich nicht im Keller verirrt ...“ Er schien mehr mit sich, denn mit mir zu reden, als er murmelnd das Zimmer verließ.

Dieses Mal schloss sich die Tür lautlos. Minutenlang starrte ich auf ihre Maserung, lange lag ich noch wach, während die Schmerzen allmählich nachließen, die Bestie mich aus ihren Klauen entließ. Endlich ließ ich mich zurücksinken, schloss die Augen und hieß den Schlaf aufrichtig willkommen. Dieses Mal waren meine Träume weit weniger bizarr als zuvor.
 

Zwischenzeitlich erwachte ich immer wieder. Ich wusste nicht, in welchen Abständen, doch sie konnten unmöglich regelmäßig sein. Einige Male war mir, als würde ich Wheeler am anderen Ende des Raumes sehen, dann wieder dicht neben mir und nach vielen Stunden Schlaf, erwachte ich schließlich, während draußen bereits die Dämmerung eingesetzt hatte.

Während ich prüfend an die gegenüberliegende Wand blickte, stellte ich fest, dass die Kopfschmerzen verschwunden waren, ebenso wie das Brennen meines Halses auf ein erträgliches Maß gesunken war. Ich setzte mich auf, strich mir durch die Haare und saß schließlich aufrecht im Bett, doch erwartete mich nicht, wie befürchtet, Schwindel und Unwohlsein, sondern nur ein stilles dunkles Zimmer, einzig erhellt von den wenigen Lichtstrahlen, die ihren Weg durch die zugezogenen Vorhänge fanden.

Auch als ich aufstand zeigten sich keine Spuren des Schwindels, tatsächlich stellte ich fest, dass ich mich abgesehen von den Halsschmerzen und einer anhaltenden, jedoch schwachen Müdigkeit regelrecht erträglich fühlte. Nachdem ich frische Kleidung angezogen hatte verließ ich den Raum und steuerte den nahe liegenden Waschraum an. Das Bild, welches mir der Spiegel bot war erschreckend, dennoch zu ertragen. Meine Haare, vom Schlaf neu gerichtet, benötigten wenige Handgriffe, dann lagen sie wieder angemessen. Der blauschimmernde Fleck auf meiner Stirn, welchen ich den Albträumen der ersten Nacht gleichsam wie der Konstruktion des Hochbetts zu verdanken hatte, wurde zu meiner Erleichterung von braunen Strähnen verdeckt.

Als ich den Waschraum verließ, war die Sonne bereits zur Gänze hinter dem Horizont verschwunden. Ich strebte auf den Gemeinschaftsraum zu, doch bevor ich ihn erreichte, wurde ich aufgehalten.

„Seto-kun.“

Von allen Teilnehmern dieser Klassenfahrt gab es nur eine Person, die mich bei meinem Vornahem rief. Ich blieb stehen und drehte mich um. Aoyagi-sensei kam auf mich zu, ein Lächeln auf den Lippen. „Seto-kun, da bist du ja. Es freut mich, dich zu sehen. Wie geht es dir?“

„Besser“, entgegnete ich knapp.

Sie nickte. „Falls du deine Mitschüler suchen solltest, momentan ist Essenszeit im Speisesaal. Du solltest dich ihnen vielleicht anschließen. Es täte dir sicherlich gut, etwas zu Essen.“

Obwohl ich im Verlauf des Tages nichts Nahrhaftes zu mir genommen hatte, konnte ich nicht behaupten hungrig zu sein. Das Gegenteil war viel eher der Fall. „Nein danke.“

„Nun gut, das bleibt natürlich dir überlassen. Es freut mich jedenfalls, dich gesund und munter zu sehen.“

Ich wies sie nicht darauf hin, dass ich alles andere, als gesund und munter war. Diese Frau lebte in einem alternativen Universum, anders ließen sich ihre Worte nicht erklären.

„Da fällt mir ein, ich weiß nicht, ob du es nicht schon erfahren hast. Heute findet die Nachtwanderung statt. Denkst du, du bist bereits so weit genesen, als dass du daran teilnehmen willst oder möchtest du lieber in der Herberge bleiben? In dem Fall müsste ich deinen Zimmerpartner bitten, ebenfalls hier zu bleiben, um ein Auge auf dich zu haben.“

Ihre alleinige Wortwahl brachte mich dazu, nur mit Mühe einen giftigen Blick zurückzuhalten. Sie klang geradezu so, als befürchtete sie, mir würde etwas zustoßen, sobald sie mich unbeaufsichtigt ließ. Ich konnte genauso gut alleine in der Herberge bleiben.

Ich hatte die Wahl zwischen einem Abend, eingepfercht zusammen mit Wheeler - korrigiere, eingepfercht mit einem schlecht gelaunten Wheeler, denn er würde zweifellos nicht freiwillig bleiben - und einer Nachtwanderung. Beides klang wenig verlockend, doch etwas in mir verbot mir, mich der Wanderung zu entziehen. Das Bild, welches ich auf sämtliche meiner Mitschüler machte war durch mein Fehlen heute bereits mehr als beschädigt, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Wheeler in einem Moment der Schwäche bereits viel zu viel von mir gesehen hatte. Ich konnte es mir nicht leisten, noch länger zu passen.

Ich schüttelte den Kopf, als Antwort auf Aoyagi-senseis Frage. „Nein, ich bleibe nicht hier.“

„Das bedeutet, du kommst mit? Eine frohe Nachricht. Wir besprechen alles weitere nach dem Abendessen im Gemeinschaftsraum. Du entschuldigst mich, Seto-kun.“ Sie nickte und ging weiter. Ich wandte mich um und ging in die entgegengesetzte Richtung.
 

Ich saß schon lange im Gemeinschaftsraum, als meine Mitschüler eintrafen und sich Plätze suchten. Neugierige Blicke streiften mich, doch ich ließ mir nichts anmerken und ignorierte sie, so wie ich es immer tat. Auch Muto und der Rest der Dumpfbackenpatrouille trafen schließlich ein und als alle anwesend war, begann Aoyagi-seinsei, unterstützt von Kaidoh-sensei, zu erklären:

„Wir werden direkt nach dieser Besprechung aufbrechen. Zu allererst werdet ihr euch zu Zweiergruppen zusammenfinden. Hierbei werdet ihr mit einem eurer Zimmerpartner ein Team bilden. Sollte es nur einen Zimmerpartner geben,“, sie richtete ihren Blick zunächst auf Wheeler, dann auf mich, „dann wird automatisch er euer Partner.“

Ich verzog missbilligend die Lippen. Hätte sie nicht von vorneherein sagen können, dass ich so oder so mit Wheeler gestraft war? Wohlmöglich hätte ich mich doch anders entschieden.

„Anschließend werdet ihr einen Bogen mit Fragen bekommen. Die Antworten werdet ihr an verschiedenen Orten auf dem Gelände finden. Ihr bekommt eine Taschenlampe, um euch zurecht zu finden, außerdem gibt es auf dem Herbergsgelände viele kleine Hinweisschilder, die euch zeigen, wo ihr euch befindet.“

Im weiteren Verlauf der Besprechungen ging sie auf Feinheiten ein, die normalerweise keiner Erläuterung bedurften, sie schien jedoch die Ansicht zu vertreten, dass es besser war sie lieber zu oft, als gar nicht zu erklären. Als sie schließlich endete, war eine Dreiviertelstunde vergangen, die Schüler waren gelangweilt und ich genervt.

Eine weitere Viertelstunde verging in dem Versuch, die Schüler dazu zu bewegen, sich mit ihrem Partner zusammenzufinden. Während Wheeler und ich schweigend nebeneinander standen, dabei den Eindruck vermittelten den jeweils anderen nicht kennen zu wollen, schienen einige meiner inkompetenten Mitschüler bei dem alleinigen Versuch einer Partnerfindung kläglich zu scheitern. Es war nicht zu fassen, wie schwer sich einige Menschen tun konnten. Ich hegte mittlerweile sogar die Befürchtung, dass selbst Wheeler sich an ihrer Stelle weitaus intelligenter verhalten hätte und wenn ich bereits zu derartigen Einsichten gelangte, dann war dies eine eindeutige Warnung.

Endlich waren alle Paare gebildet, Aoyagi-sensei versicherte sich ein letztes Mal, dass auch wirklich jeder von uns – einschließlich mir – anwesend war, dann durften wir gehen. Ich war geneigt, gleich wieder umzudrehen und in der Herberge „unterzutauchen“. Der Spaß konnte beginnen.
 

„Scheint dir ja wieder gut zu gehen.“

„...“

„Du siehst jedenfalls besser aus, als heute Nachmittag.“

„...“

„Du bist nicht mehr so blass.“

„...“

„Kaiba.“ Wheeler blieb stehen und blickte mich von der Seite verärgert an. „Tu doch wenigstens so, als würdest du zuhören. Nick’ von mir aus, aber sei verdammt noch mal nicht so verstockt!“

Ich tat es ihm gleich und blieb ebenfalls stehen. „Wheeler, was soll ich tun, um dir klar zu machen, dass ich keinen Wert auf Smalltalk lege? Ist es dir nicht Antwort genug, dass ich schweige?“ Ich hatte das Gefühl, er wusste selbst nicht, wie sehr sein Verhalten die Nerven anderer strapazieren konnte.

Er verschränkte die Arme. „Du scheinst ja völlig auf dem Damm zu sein, wenn du wieder so mit mir reden kannst.“

Ich blieb ihm eine Antwort schuldig, denn ich hatte mich bereits wieder abgewandt und ging weiter. Nach wenigen Schritten war Wheeler wieder mit mir auf gleicher Höhe. Ich konnte die finsteren Blicke spüren, mit denen er mich bedachte und nachdem Sekunden endlos zu verstreichen schienen, wurde ich ungeduldig. „Was steht auf diesem Zettel, Wheeler? Ich möchte diese unsinnige Geschichte so rasch wie möglich hinter mich bringen.“

„Glaub nicht, dass ich mich freue, mit dir gestraft zu sein.“ Seine Worte waren nicht mehr als ein beleidigtes Gemurmel, doch er faltete den Zettel auseinander und überflog ihn im Licht der Taschenlampe. „Das verstehe ich nicht.“

Nicht dass es viel war, das Wheeler verstand. „Was, Wheeler?“

„Hier steht: Bei Nacht schlafe ich, bei Tag wache ich und weiche dir nicht von der Seite. Folgt meiner Spur bis zum Ende, dann findet ihr die nächste Hürde. Was soll das heißen?“

Bei Tag wache ich und weiche dir nicht von der Seite – sollten dir diese Worte nicht alles Notwendige sagen?“

„Also bei mir klingelt da gar nichts.“

Ich seufzte. „Wheeler, der erste Teil des Textes bezieht sich auf den Schatten.“

„Jetzt wo du’s sagst ...“ Er fasste sich an den Hinterkopf.

Was hatte ich auch von ihm erwartet? Dass er zur Abwechslung mitdachte? Dass er die Hinweise erkannte? Wohl kaum.

„Aber was soll dann das ‚folgt meiner Spur’?“, fragte Wheeler und hielt die Taschenlampe näher an das Papier. „Es ist dunkel, und der Text sagt doch selbst ‚bei Nacht schlafe ich’. Das ergibt keinen Sinn.“

Tatsächlich erschienen die Zeilen auf den ersten Blick widersprüchlich, doch je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich, dass es nur einen möglichen Schluss gab. „Der Schatten ist nicht ausschließlich bei Tag zu sehen. Es reicht eine Lichtquelle. Gibt es auf diesem Gelände irgendwo eine Lichtquelle?“

Wheeler antwortete nicht.

„Was ist jetzt, Wheeler?“

„Was meinst du, warum man uns die Taschenlampen gegeben hat, Kaiba? Doch wohl darum, weil es auf dem Herbergsgelände keine Lampen gibt.“ Er klang spöttisch. War das nicht für gewöhnlich mein Tonfall?

„Gab es hier nicht einen Schrein?“, fragte ich und stellte zu meinem Missfallen fest, dass mein Tonfall eindeutig zu gereizt klang.

„Ja, ich glaub schon.“

„Und was gibt es in einem Schrein für gewöhnlich?“, versuchte ich ihn in meine Denkrichtung zu lenken.

„Äh ... Duftstäbchen?“

Warum hatte ich mir überhaupt die Mühe gemacht? „Nein Wheeler, in einem Schrein gibt es Kerzen. Kerzen, verstehst du? Lichtquellen.“

„Das klingt mir ein bisschen zu weit hergeholt, Kaiba.“

Wie schaffte er es nur immer wieder, in mir den Wunsch aufkommen zu lassen, ihm für seine Worte einen gezielten Schlag zu verpassen? Warum kamen bei Wheeler in mir Wünsche nach körperlicher Gewalt auf? „Hast du eine bessere Idee, Köter?“ Mir fiel auf, dass ich ihn beunruhigend lange nicht mehr so genannt hatte. Es wurde Zeit, die verlorenen Gelegenheiten nachzuholen.

„Nein.“

„Dann zweifle mich gefälligst erst dann an, wenn du einen brauchbaren Vorschlag hast“, entgegnete ich scharf. „Nicht, dass ich diesen Fall für möglich halte“, fügte ich kalt hinzu. „Bevor du einen brauchbaren Einfall hast, wird noch viel Zeit vergehen.“

Der Lichtkegel der Taschenlampe warf zitternd Licht auf den Boden vor uns. „Du denkst wohl, du kannst dir alles erlauben, was Kaiba?“

„Wenn du es so sehen willst.“

„Du bist und bleibst ein arroganter Mistkerl!“

„Was hast du erwartet?“

„Ach, halt die Klappe!“

Den Weg zum Schrein brachten wir beharrlich schweigend hinter uns. Als wir ihn schließlich erreichten, musste Wheeler mir zähneknirschend Recht geben, denn tatsächlich brannten die Kerzen im Schrein und zu unserer gemeinsamen Verwunderung führte eine Spur kleiner Laternen auf dem Kiesweg vom Schrein aus hinein in ein angrenzendes kleines Wäldchen. Als wir das Ende des Laternenpfads erreichten, fanden wir einen Stapel Zettel auf dem Boden. Wheeler griff nach dem obersten Zettel, vergewisserte sich im Licht der Taschenlampe, dass die anderen Zettel nur Kopien für die anderen Gruppen waren und hielt mir das Blatt Papier zusammen mit der Taschenlampe entgegen.

„Hier, wo du doch so großartig Bescheid zu wissen scheinst.“

Ich lächelte ihn im schwachen Schein des Lichts mitleidig an. „Nicht doch, Wheeler, du machst dich in der Aufgabe des Vorlesers ganz wunderbar. Scheinbar gibt es doch etwas, dass du kannst.“

Er knurrte und ich wich einem Hieb mit der Taschenlampe aus. „Kaiba!“

Es dauerte Minuten, bis Wheeler sich wieder beruhigt hatte und widerstrebend zu lesen begann, mir dabei über den Rand des Zettels finstere Blicke zuwerfend. „Wartet und lauscht dem Klang der Nacht. Hört ihr den Vogel, der diesen Ort bewacht? Zählt, wie oft er seinen Gesang wiederholt, dann multipliziert die Zahl mit zehn und macht dementsprechend viele Schritte nach Westen.“ Nachdem er geendet hatte, verstummte Wheeler. Er schien beschlossen zu haben, mich mit Nichtbeachtung zu strafen. Ich fühlte mich ernsthaft getroffen.

„Wir müssen also nur darauf warten, dass der Vogel zu singen beginnt“, bemerkte ich sachlich. Wir warteten und lauschten.

„Da ist kein Vogel“, platzte es schließlich aus Wheeler, dem sein Schweigen offenbar mit der Zeit selbst zuviel zu werden schien. „Ich höre keinen Gesang, ich höre noch nicht einmal ein Piepen!“

Ich verschränkte die Arme. „Wenn es jemals einen Gesang gegeben hätte, dann hast du das Tier spätestens jetzt mit deiner Stimme verschreckt, Wheeler.“

„Was soll das nun wieder heißen?“

„Das soll heißen, dass du momentan einen Lärm verursachst, der jeden vertreiben würde.“

„Weißt du, dass du mir tierisch auf die Nerven gehst, Kaiba?“

„Ist das so? Nun, in diesem Fall kann ich dich beruhigen: Es beruht auf Gegenseitigkeit.“

Auf dem Höhepunkt unserer Auseinandersetzung wurden wir unterbrochen von einem unvermittelt einsetzenden Vogelgesang. Wir erstarrten und blickten gleichzeitig nach oben, obwohl wir nichts sahen. In der Dunkelheit war nichts von einem Vogel zu sehen. Der Gesang wiederholte sich.

„Ist das ein Kuckuck?“, flüsterte Wheeler aus der Dunkelheit.

„In Ôsaka?“, entgegnete ich spöttisch und verbiss mir ein höhnisches Lachen. „Natürlich.“

„Sei doch Still, Großkotz! Hast du mitgezählt?“

Ich verharrte, wartete, ob der Vogel Anstalten machte, weiter zu singen, doch er schwieg beharrlich. „Drei Mal.“

„Das bedeutet, dreißig Schritte nach Westen.“ Glückwunsch, Wheeler beherrschte zumindest die Grundfähigkeiten der Mathematik. „Aber wo zum Teufel ist Westen?!“ Womit er bereits sein Limit erreicht hatte.

„Hinter dir Wheeler.“

„Woher weißt du das jetzt schon wieder?!“

„Weil ich im Gegensatz zu dir in der Lage bin, die Sterne am Himmel wahrzunehmen.“

Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zwischen den Kronen des Wäldchens in einen sternenklaren Himmel. „Oh.“

Somit hatten wir bereits die zweite Aufgabe gelöst. Nachdem Wheeler dreißig Schritte nach Westen getan hatte - begleitet von dem leiser werdenden Gesang des Vogels hinter uns - ich ihn mehrmals darauf hinweisen musste, nicht zu große Schritte zu machen und er jedes Mal giftig geantwortet hatte, waren wir am dritten Punkt angelangt und erhielten eine neue Aufgabe.

Folgt dem Kiesweg und haltet an den steinernen Tierfiguren. Welche ist die größte von ihnen und welches Tier soll sie darstellen? Habt ihr dies gelöst, sucht den Ort auf, an dem das Tier lebt. Soviel dazu, das verstehe sogar ich, Kaiba.“

„Das freut mich Wheeler.“

Aus den Augenwinkeln nahmen wir unvermittelt eine Bewegung wahr und wandten gleichzeitig die Köpfe. Stimmen näherten sich uns, ebenso wie der Lichtkegel einer weiteren Taschenlampe. Ich sah, wie ein Ruck durch Wheelers Körper ging. „He, vielleicht ist das Yugi oder Tristan. Ich frag mich, wie weit sie schon sind.“ Er machte Anstalten, sich auf die andere Gruppe zuzubewegen, doch ich hielt ihn am Arm zurück.

„Wheeler, ich will diese Schatzsuche so rasch wie möglich hinter mich bringen, also verschieb das Stelldichein mit deinen Freunden auf später.“

Er wollte protestieren, doch ihn zog ihn ohne Widerspruch zuzulassen hinter mir her. „Kaiba, was soll das? Lass mich los!“

Ich lockerte meinen Griff erst, als Büsche uns die Sicht auf die andere Gruppe versperrten und ich mir sicher war, einen verlässlichen Abstand zwischen uns gebracht zu haben. Wheeler knurrte wie ein wütender Hund und trottete neben mir her.

Schließlich fiel das Licht der Lampe auf eine etwa fußhohe Steinfigur am Rand des Kieswegs. Er leuchtete weiter und wir stellten fest, dass sie nicht die einzige war. Mehr als zehn dieser Figuren von unterschiedlicher Größe standen dort, jede mit einer anderen Form. Wheeler streckte den Arm aus. „Die da hinten, das ist die Größte.“

Seine Worte waren kaum mehr als ein Murmeln, offenbar nahm er mir die Reaktion von eben noch immer übel. Ich betrachtete die Figur näher. Es war nicht eindeutig zu sagen, was sie darstellen sollte. Bei allen Figuren war offensichtlich, dass sie Tieren nachempfunden waren, doch ihr Erschaffer schien wenig Wert auf Detailtreue gelegt zu haben.

Wheeler legte den Kopf schief. „Sieht aus wie ein Pinguin.“

Ich schnaubte. „Natürlich, Wheeler. Und wir werden in naher Umgebung sicherlich auch seinen Lebensraum finden. Sollen wir vielleicht den Zoo besuchen?“

„Sehr witzig, Kaiba. Wenn du schon so schlau bist, dann sag mir, was das für ein Tier sein soll.“

„Ein Fisch“, sprach ich die erste Assoziation aus, die mir bei dem Anblick der Figur in den Sinn kam. Wheelers Schweigen sah ich als stumme Zustimmung. „Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?“

„Ich fasse es nicht.“ Wheeler schien ernsthaft wütend. „Wieso musst du bei allem eigentlich immer recht haben? Ja verdammt, es gibt auf dem Gelände einen Teich und natürlich muss es wieder stimmen, was du gesagt hast. Das macht mich krank, weißt du das, Kaiba?! Krank!

Ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, dass Wheelers Worte - mochten sie auch noch so viel vulgäre Sprache enthalten - mir nicht irgendwie schmeichelten. Denn was er sagte, entsprach der Realität. Ich hatte recht. Immer.

„Hast du eine Ahnung, wie das ist? Wenn es jemanden gibt, der egal was er sagt, immer recht hat, aber noch dazu keinen Hehl daraus macht, dass es so ist?“ Wheeler sah mich direkt an und das Licht der Taschenlampe, welche er bei seinen Worten wild gestikulierend umherschwenkte, erhellte sein Gesicht nur spärlich. „Nein, natürlich weißt du nicht, wie sich das anfühlt. Aber ich bin sicher“, er machte einen Schritt auf mich zu und stand nun dicht vor mir, „dass du dich noch daran erinnert kannst, wie du dich heute Nachmittag gefühlt hast, als ich dich auf dem Flur aufgelesen habe.“

Ich erwiderte nichts, doch er schien nicht mit einer Antwort zu rechnen.

„Natürlich kannst du dich noch daran erinnern. Ich weiß, dass es dir nicht gefallen hat, dass ich dich regelrecht in unser Zimmer tragen musste. Du hasst es, wenn andere mit einem Mal stärker erscheinen, als du es bist. Nimm dieses Gefühl von heute Nachmittag, als du einsehen musstest, dass ich dir körperlich überlegen war und du weißt in etwa, wie ich mich fühle, wenn du wieder einmal so rechthaberisch bis.“

Es war in der Tat kein schönes Gefühl, aber Wheeler musste es mir nicht vor Augen halten. Mir war bewusst, dass er sich jedes Mal schlecht fühlte, aber es interessierte mich nicht, wie er sich fühlte, solange es mir gut ging.

„Dich interessiert es nicht, oder?“ Die Gedanken schien er mir ansehen zu können. „Es interessiert dich einen Dreck, wie es anderen geht, alles was dich interessiert, bist du. Weißt du, dass es diese Einstellung ist, die ich so an dir verabscheue? Diese Art, die alle anderen abwertet, während du über allem stehst.“

Erwartete Wheeler jetzt eine Antwort? Mir lag vieles auf der Zunge, doch ich ließ es, weil ich wusste, dass es in diesem Moment unklug wäre, sie auszusprechen. Es gab Augenblicke, in denen war Wheeler unberechenbar und dieser gehörte zweifelsfrei dazu. Er sprach nicht weiter, daraus schloss ich, dass er mir nichts mehr zu sagen hatte.

„Wo ist dieser Teich?“, fragte ich schließlich in die Stille der Nacht.

Wheeler deutete in die Dunkelheit hinter mich. „Irgendwo da hinten.“

Wieder schwiegen wir, während wir nebeneinander den Kiesweg entlang schritten und schließlich erreichten wir den Teich. Er war umgeben von Schilf und eine kleine Holzbrücke ohne Geländer führte über ihn. Wheeler ging voraus und auf der Brücke entdeckte er einen weiteren Stapel mit Kopien der nächsten Aufgabe. Den Zettel in der Hand drehte er sich zu mir um. „Ihr habt richtig gelegen, Glückwunsch! Nun eure nächste Aufgabe: Die Kois in diesem Teich haben alle dieselbe Farbe, nur einer sticht durch seine Einzigartigkeit hervor. Findet den Ort, an dem sie sich in der Realität darstellt. Noch schwieriger ging es echt nicht oder? Aoyagi-sensei in Ehren, aber ist das ihr Ernst?“

Ich ließ meinen Blick über die unbewegte, dunkle Oberfläche des Teichs wandern. „Wie wäre es, wenn du erst einmal nach dem Fisch suchst?“

„Warum soll ich den Fisch suchen? Tu du doch zur Abwechslung mal etwas, abgesehen davon, einfach da rum zu stehen.“ Er machte eine abwertende Handbewegung. Meine Ungeduld wuchs. „Aber nein, der Herr ist sich ja zu fein dafür. ‚Lassen wir Wheeler die Drecksarbeit machen, er ist dafür ja wie geschaffen’, das ist es doch, was du gerade denkst oder? Wenn du ernsthaft glaubst, ich würde dich damit durchkommen lassen, dann bis du schief gewickelt, Alter! Es ist mir scheiß egal, was du von mir denkst, aber hör verdammt noch mal auf -“

Mit wenigen Schritten war ich bei ihm. Ich packte ihn grob am Handgelenk und riss ihn zu mir herum. Nur wenige Zentimeter trennten unsere Gesichter. Die Taschenlampe entglitt seinen Fingern und fiel mit einem dumpfen Laut auf das Holz der Brücke, rollte die Schräge hinab und blieb im Übergang zwischen Brücke und Gras liegen. Der Lichtkegel beschien nun die Oberfläche des Teichs, mattes Licht erhellte uns, doch es erreichte kaum unsere Gesichter. Ich blickte Wheeler fest ins Gesicht. „Wenn es dir so egal ist, was ich von dir denke, warum wiederholst du es dann immer wieder? Wenn es dir egal ist, was ich von dir halte, warum hast du mir dann heute Nachmittag geholfen? Warum hast du mir gestern am Strand das Leben gerettet? Wenn dir meine Meinung egal ist, Wheeler, dann kannst du mir sicher dein Handlungsmotiv nennen.“

Er starrte mich an und zum ersten Mal war sein Schweigen ein Beweis absoluter Fassungslosigkeit. Er suchte nach Worten, schien jedoch keine zu finden und starrte mich einfach an.

Das Zirpen der Grillen um uns herum war mit einem Mal unnatürlich laut, ebenso wie das Plätschern der Fische im Wasser. Man konnte die Spannung die zwischen uns lag, die geladene Stimmung geradezu spüren. Wheeler und ich hatten uns oft verbal auseinandergesetzt, doch so nah waren wir uns dabei nie gekommen. Bilder liefen für Sekundenbruchteile vor meinem inneren Auge ab.
 

Wheeler über mir.

Wheelers Gesicht dich über meinem.

Wheelers Lippen.
 

Warum beschäftigten mich diese Bilder, warum konnte ich sie nicht einfach loslassen, wie lästige Erinnerungen, die sie doch waren und die es zu vergessen galt? Ich hatte nie ein Problem damit gehabt, Situationen, die Wheeler beinhalteten, auszublenden, warum also jetzt? Warum assoziierte ich die Mund zu Mund Beatmung mit einem Kuss, warum beschäftigte es mich derart, dass es ausgerechnet Wheeler gewesen war, der sie durchgeführt hatte?

„Kaiba, die Aufgabe.“

Zum ersten Mal war ich Wheeler dankbar dafür, dass er gesprochen hatte. Seine Worte waren wie eine kalte Ernüchterung. Ich wurde mir bewusst, wo wir uns befanden, ließ ihn los und machte einen Schritt zurück. Er wich meinem Blick nicht aus, er erwiderte ihn, auch wenn ich ihn in der Dunkelheit nicht deuten konnte.

„Ja, die Aufgabe“, wiederholte er mehr für sich selbst und fuhr sich mit einer Hand abwesend durch die Haare, machte dabei einen Schritt nach hinten. Mit einem überraschten Aufschrei, verlor er das Gleichgewicht, als sein Fuß ins Leere trat und ich nahm nur eine schnelle Bewegung wahr, gefolgt von einem Klatschen im Wasser.

Als ich die Augen, die ich zum Schutz vor den umherspritzenden Wassertropfen geschlossen hatte, wieder öffnete, bot sich mir der wohl skurrilste Anblick, der mir je im Bezug auf Wheeler begegnete. Er saß breitbeinig im kniehohen Wasser des Teichs, die Haare hingen ihm nass und wirr ins Gesicht und blickte in einer Mischung aus Schock und Verblüffen zu mir auf.

Im ersten Moment war ich selbst zu überrascht, um regieren zu können, doch dann entrang sich ein Laut meiner Kehle, erst leise, dann zunehmend lauter. Wheeler starrte mich fassungslos an, als ich vor ihm zu lachen begann. Seinen Anblick würde ich nie vergessen, er saß dort im Wasser wie der sprichwörtliche begossene Pudel. Normalerweise untersagte ich mir selbst gegenüber anderen Reaktionen wie die jetzige, doch angesichts Wheelers Anblick verlor ich für kurze Zeit die Kontrolle.

Ich bemerkte nicht, wie sich auf seinem Gesicht allmählich Verärgerung ausbreitete und als ich meine Unachtsamkeit realisierte, war es bereits zu spät. Wheelers Hand hatte sich fest um meinen Knöchel gelegt und mit einem Ruck zog er mich am Bein zu sich in den Teich.

In dem Moment, als ich mit dem kalten Teichwasser in Kontakt kam, spürte ich mich zu meinem Entsetzen in eine ähnliche Situation am Vortag zurückversetzt, doch bemerkte ich rasch die gravierenden Unterschiede. Das Wasser gestern war weitaus tiefer gewesen, noch dazu salzig und - wie mir nun mit einem Schlucken bewusst wurde – war Wheeler gestern im Wasser nicht über mir gewesen, so wie jetzt.

Er hatte mich zu sich ins Wasser gezogen und sich über mich gebeugt. Seine Hände lagen auf meinen Schultern und hielten mich unten, während ein Grinsen sich auf seinen Lippen abzeichnete. Die Taschenlampe beschien uns nun direkt und in dem Licht zeichneten sich die Wassertropfen auf Wheelers Gesicht deutlicher als unter normalen Umständen ab.

„Hast du mich gerade ausgelacht, Kaiba?“

Wheelers Tonfall war keinesfalls wütend. Ich bemerkte, wie er sich bei seinen Worten ein kleines Stück weiter vorbeugte, das Wasser des Teichs bei seiner Bewegung plätscherte. Nun erschien die Situation doch ähnlich der gestrigen. Ich war nass, Wheeler war über mir, nur dass ich im Gegensatz zu gestern bei Bewusstsein war. Ich löste mich von diesen verwirrenden Gedanken und versuchte, mich gegen Wheelers Griff aufzulehnen. Es war nicht gut, wenn ich wieder an gestern dachte. Der vergangene Tag gehörte zu denen, die ich aus meinem Gedächtnis streichen wollte.

„Wheeler, lass los, ich –“

Sein Atem streifte mein Gesicht und mein Widerstand verebbte. Ich wusste nicht wieso, mit einem Mal schien meine Kraft verschwunden zu sein. Wheeler legte den Kopf schief, das Grinsen blieb. „Weißt du, dass ich keine Antwort auf deine Fragen habe?“, meinte er und sah mich offen an. Wasser tropfte von den Spitzen seiner nassen Haarsträhnen. „Du hast wieder Recht gehabt. Wenn du mir so egal wärst, würde ich nicht all diese Dinge tun. Wenn du mir egal wärst, hätte ich dich eben nicht mit in diesen Teich gezogen.“

Ich konnte nichts weiter tun, als ihn stumm anzusehen. Seine Worte schienen mein eigenes Denken zunehmend zu verlangsamen, beinahe fühlte ich mich so benebelt wie heute Nachmittag. Doch zu dem Zeitpunkt hatte ich unter Schmerzen gelitten, hier und jetzt hingegen war nur ... Wheeler.

„Ich hasse deine Art Kaiba, ich hasse so vieles an dir.“ Ich hob die Hand und legte sie in Wheelers Nacken. Und in dem Moment, als ich ihn zu mir herunterziehen wollte, presste er seine Lippen fest auf meine.

Es war gewiss kein Kuss, wie man ihn in irgendwo präsentiert bekam. Auch die Atmosphäre war eine vollkommen andere. Wheeler und ich saßen in einem Teich außerhalb von Ôsaka, um uns herum schwammen die Fische und eine Taschenlampe beleuchtete uns. Es war zweifellos kein Aspekt, der auch nur annähern in einen Film gepasst hätte und dennoch ...

Jegliches Denken war vergessen, hier handelten die Reflexe und Instinkte. Instinkte, von deren Existenz ich bis zu jenem Moment nicht einmal gewusst hatte, und die mich nun dazu zwangen, Wheeler näher zu sein und die fordernden Bewegungen seiner Lippen zu erwidern. Instinkte, die mich daran hinderten, Abstand zwischen uns zu bringen und Wheeler mit einem gezielten Faustschlag für seine Unverschämtheit zu bestrafen.

Mein Körper, von dem Wasser in kürzester Zeit abgekühlt, erhitzte sich rasch wieder und auch mein Atem ging zunehmend schneller, während sich unsere Lippen nicht voneinander trennten. Ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, Wheeler wäre passiv, wenn es ums Küssen ging. Er wusste was er tat, genauso wie meine Instinkte wussten, was ich zu tun hatte. Wheelers Hände hatten längst meine Schultern verlassen und waren in meinen Nacken gewandert, vergruben sich in meinen nassen Haaren und pressten uns dadurch noch dichter zusammen.

Es war unglaublich und zu paradox um real sein zu können.

Wheeler und ich küssten uns. Wir saßen im Teich der Jugendherberge, eng umschlungen und küssten uns. Ich musste mich korrigieren: Diese Klassenfahrt barg weitaus mehr Tücken, als ich zu ihrer dunkelsten Stunde befürchtet hatte.
 

~*~*~
 

Wake up, Wake up, Wake up,

Yeah so tired of waiting, waiting for us to

Wake up, Wake up, Wake up,

Yeah so sick of waiting, for us to make a move
 

~*~*~
 

(Make a Move by Lostprophets)

Tag 6: Trugsch(l)uss

Tag 6: Trugsch(l)uss
 

*~*
 

Zum ersten Mal träumte ich etwas Anderes.

Wieder Wheeler, wieder ich, doch keine Kaiba Corporation. Kein Dach. Stattdessen Wasser. Nacht. Schwaches Licht, das uns beschien. Wir saßen, lagen beinahe, in dem knietiefen Nass und küssten uns. Dann löste Wheeler sich von mir und seine Lippen verzogen sich zu einem gehässigen Grinsen, bevor seine Hand nach vorne schnellte, sich um meinen Hals legte und mich unnachgiebig unter Wasser drückte. Ich schnappte nach Luft, erfolglos, und dann war sein Griff unvermittelt verschwunden und ich fiel.
 

„Guten Flug, Kaiba!“
 

*~*
 

Der erstickte Ausruf schien noch immer auf meinen Lippen zu liegen, hatte meine Kehle kaum verlassen, da fand ich mich aufrecht sitzend in den Laken meines Bettes wieder, stieß mit meinem Kopf gegen den zu niedrigen Balken des Etagenbettes und verlor für weitere Sekunden ob der plötzliche eintretenden Schwärze die Orientierung. Knurrend und üble Verwünschungen ausstoßend, welche ich lediglich in Anwesenheit von Mokuba nicht auszusprechen gewagt hätte, hielt ich mir die malträtierte Stirn, welche nicht einmal die Möglichkeit gehabt hatte, sich von den Blessuren der ersten Nacht zu erholen.

Mein Herz schlug hart gegen meine sich rasch hebende Brust und als meine Sicht sich klärte, der Schmerz dem Erträglichen wich und ich meine Orientierung soweit wieder gefunden hatte, um meinen derzeitigen Standort bestimmen zu können, begann das beklemmende Gefühl der aufwallenden Panik nachzulassen. Es wäre einer erfüllenden Ruhe gewichen, hätte eine Bewegung neben mir nicht meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.

Mein Blick folgte der Regung, meine Augen richteten sich auf ihren Urheber und die Zeit schien stillzustehen, als ich Joey Wheeler erblickte. Neben mir. In meinem Bett. Unter meiner Decke. Hier.

Augenblicklich übermannte mich die Erkenntnis. Der vermeintliche Traum war kein Traum, er war eine Abfolge dessen, was sich letzte Nacht zugetragen hatte, eine Konsequenz der Ereignisse, die mein Bewusstsein bis ins Tiefste erschüttert hatten.

Wheeler und ich. Ich und Wheeler. Küssend im Teich.

Ein Würgen niederkämpfend presste ich mir eine Hand auf den Mund und wich so weit an den Rand des Bettes, wie möglich war. Nackte Panik, die ich in meinem Leben einzig in dem Moment verspürt hatte, als es um Mokubas Leben gegangen war, erfüllte mich, beschleunigte meinen Atem, raubte mir die Luft, ließ meinen Magen rebellieren. Zu meinem Entsetzen hatte ich durch meine unbedachte Bewegung Wheeler aufgeweckt. Er rührte sich zunächst kaum merklich, dann öffnete er die Augen und erblickte beinahe im selben Moment mich. Es war paradox, dass ich geradezu mit ansehen konnte, wie sein kümmerlicher Verstand zu arbeiten begann, wie sehr ihm dieses Unterfangen unmittelbar nach dem Aufwachen Probleme bereitete (nicht, dass es das im wachen Zustand anders gewesen wäre) und schließlich eine Reaktion verlange, welche eintrat. Er öffnete den Mund und seinen halbgeöffneten Lippen entwich ein raues: „Kaiba?“

Das war zuviel für mich. Voller Entsetzen, durchlief meinen Körper ein unkontrolliertes Zittern, die Übelkeit erreichte ein unerträgliches Maß, bevor abrupt jegliche Anspannung von mir fiel. Panik wich Gelassenheit, Übelkeit der vertrauten Rationalität. Es war, als prallte alles von mir ab. Ich konnte es mir nicht erklären, wollte es mir im selben Moment auch nicht erklären, da es nur unnötige Fragen aufgeworfen hätte. Fragen, für die ich in diesem Moment keine Zeit hatte.

Ich ließ die Hand sinken und betrachtete Wheeler ausdruckslos. Eine innere Ruhe erfüllte mich, ich wusste, was ich zu tun hatte und es bestand kein Zweifel darin, wie ich es ausführen würde. „Steh auf“, befahl ich Wheeler. Er war noch immer nicht wach und brauchte dementsprechend, um meine Worte zu verarbeiten, bevor er reagieren konnte.

„Du – was?!“

„Steh auf“, wiederholte ich eine Spur nachdrücklicher und er rappelte sich auf. Wie er so vor mir saß, mit zerzausten Haaren, zerknittertem Hemd und Nichtverstehen in jedem seiner Gesichtszüge, bestärkte er die kalte Wut in meiner Brust wie Öl das Feuer. „Und jetzt verschwinde.“

„Kaiba, was redest –“

„Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?“, zischte ich und beugte mich unheilvoll vor. Reflexartig wich er zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Wand. „Du sollst verschwinden.“

„Aber –“

Wheeler.“

Es musste mein Tonfall gewesen sein oder etwas in meinem Blick, das ihn von dem Ernst der Situation überzeugte und dazu brachte, die Decke loszulassen und eilig das Bett zu verlassen. Er trug abgesehen von seinem Hemd nur eine Boxershorts (seine Hose musste er am vergangenen Abend abgelegt haben, da sie sich durch den Sturz in den Teich mit Wasser voll gesogen hatte) und im Gehen griff er nach einer trockenen Jeans auf dem Fußboden. Das Zuschlagen der Tür hallte unnatürlich in meine Ohren nach.

Es mochten Sekunden oder Minuten vergangen sein, bevor ich mich wieder rührte. Mein Blick richtete sich auf die Betthälfte, auf der Wheeler zuvor geschlafen hatte. Das Kissen hatte dort wo sein Kopf gelegen hatte eine Kuhle. Der Teil der Decke, die er umklammert hatte, was zerknittert. Ich registrierte, dass es bereits ein eigenes Wunder war, dass er bei der geringen breite des Bettes überhaupt Platz neben mir zum Schlafen gefunden hatte.

Knurren holte ich aus und schlug mit der geballten Faust auf das Kissen, bis die Kuhle nicht mehr zu erkennen war und somit jeglicher Beweis dafür, das Minuten zuvor Wheeler neben mir geschlafen hatte. Dass Wheelers Körper dicht bei meinem gelegen hatte. Dass Wheeler hier gewesen war.
 

Wie in einem Puzzle fügten sich die Erinnerungen an den vergangenen Abend zusammen, ordneten sich zu einem Bild an, welches ich vehement zu verdrängen versuchte und endeten zwangsläufig jedes Mal dort, wo es angefangen hatte: Bei dem Kuss.

Auf dem Rücken liegend und das Holz über mir abwesend betrachtend durchlebte ich die Stunden des Vorabends erneut, schickte meine Gedanken zurück an den Teich. Es war nicht bei dem einen Kuss geblieben, wie im Wahn hatten unsere Lippen sich wieder und wieder berührt. Nach Stunden, wie ich den Eindruck gehabt hatte, waren wir auf die Beine gekommen und hatten auf mir unbekannte Weise letztendlich den Weg in die Herberge zurück und in unser Zimmer gefunden, waren schließlich auf dem Bett gelandet. Es war erschreckend, wie irrational ich mich verhalten hatte, obwohl ich nicht einmal betrunken gewesen war, geschweige denn unter dem Einfluss irgendeiner anderen Droge gestanden hatte. Mein Handeln ließ sich nicht erklären, selbst jetzt wusste ich nicht zu sagen, welcher Teufel von mir Besitz ergriffen hatte, dass ich Wheeler freiwillig küsste und auch nur für einen Moment Gefallen daran fand.

Aufstöhnend presste ich mir die Handballen auf die Augen, versuchte den Druck, der sich zunehmend hinter meinen Schläfen aufbaute und erneute Kopfschmerzen ankündigte, zu verringern, scheiterte jedoch kläglich daran und verleitete die Migräne zu einem Ausbruch.

Was auch immer letzte Nacht geschehen war, was auch immer zwischen Wheeler und mir stattgefunden hatte, so beschloss ich, würde spätestens ab diesem Moment nicht mehr existent sein. Es war nie vorgefallen. Wheeler würde es rasch merken und akzeptieren müssen. Er hatte keine Wahl und sollte er sich weigern, würde ich ihn zu überzeuge wissen.
 

Es war nie vorgefallen ...
 

oOo
 

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ich mich langsam erhob, die Decke achtlos neben mir zu Boden fallen ließ und ans Fenster trat. Den Vorhang zum ersten Mal seit Tagen beiseite schiebend, sah ich mich zunächst durch grelle Sonnenstrahlen geblendet und Sekunden verstrichen, bis meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann erst realisierte ich den Ausblick, den dieses Fenster bot. Entweder war ich ein Opfer der schlechten Laune des Zufalls oder mein Verstand spielte mir einen geschmacklosen Scherz, doch von dem Fenster dieses Zimmers aus hatte man einen hervorragenden Blick auf den Teich in mehr als fünfzig Metern Entfernung. Das Herbergsgelände war tatsächlich vergleichsweise groß und selbst die blühenden Büsche und Sträucher vermochten den Blick auf die hölzerne Brücke, das Schilfgras und die Seerosen – den gesamten verfluchten Teich – nicht zu trüben. Ich sah ihn gestochen scharf und den Bruchteil eines Moments, als eine Wolke vor die Sonne zog und ein Schatten sich über die Wasseroberfläche schob, meinte ich die schemenhaften Umrisse zweier Personen im Teich zu erkennen.

Fluchend riss ich an dem Stoff, wollte ihn wieder vor das Fenster schieben, um nicht mehr nach draußen blicken zu müssen, doch die abgenutzten Halterungen des Vorhanges hielten meinem Griff nicht stand und brachen. Staub wirbelte auf, als der Vorhang flatternd auf mich hinab fiel und mich regelrecht unter sich vergrub. Hustend, keuchend und sämtliche Verkettungen von Umständen verfluchend befreite ich mich von dem dreckigen Stoff und warf ihn angewidert in die andere Ecke des Raumes.

Schwer atmend starrte ich den dunklen Haufen neben der Tür mit aller Frustration, die mich in diesem Moment durchströmte, an, lenkte meine ganze Wut von Wheeler auf den Vorhang und ballte zitternd die Fäuste. Beherrschung, rief ich mich zur Ordnung, ich musste mich beherrschen. Es war nicht angebracht, den Kopf zu verlieren. Ich musste Haltung bewahren. Nichts war geschehen, es war nie vorgefallen, also gab es keinen Grund, sich damit zu befassen. Was nie vorgefallen war, besaß keinen Wert um sich damit auseinander zu setzen.

Ein letztes Mal tief Luft holend warf ich jeden dieser verstörend verwirrenden Gedanken von mir und lenkte meine Aufmerksamkeit schließlich auf mein derzeitiges Äußeres. Die Hose war bis zu den Knien unangenehm feucht, mein Hemd hatte über die Nacht an Eleganz eingebüßt, war verknittert, die meisten Knöpfe hatten sich aus den Löchern gelöst und mit einem Zischen registrierte ich, dass der oberste Knopf gänzlich fehlte. Wheeler.

Ich zwang meinen Blick in eine andere Richtung, öffnete den Schrank und griff nach einer gewöhnlichen, dennoch teuren Markenjeans und, wie ich zu meinem Missfallen feststellte, meinem letzten unberührten, sauberen und noch dazu trockenen Oberteil. Alles, was mir sonst noch blieb war der weiße Anzug, welchen ich lediglich aus Gründen der – wie ich zugeben musste – eigenen Eitelkeit mitgenommen hatte. Ich warf mir die Kleidungsstücke über den Arm, und tastete nach einem Handtuch und den dazugehörigen Duschutensilien, bevor ich mich aufrichtete und den Raum in Richtung der Waschräume verließ.

Es war eine geradezu lachhafte Fügung der Ereignisse, dass ich während der gesamten letzten Tage kein einziges Mal die Gelegenheit hatte, eine angebrachte Dusche zu nehmen. Wann immer der Gedanke bei mir auf Zustimmung gestoßen wäre, hatten Mitglieder der Dumpfbackenpatrouille wie auf einen unausgesprochenen Befehl hin dafür gesorgt, dass sie nicht mehr nötig war. Entweder sie ertränkten mich regelrecht im Meer und nahmen mir dadurch die Lust, in nächster Zeit auch nur in Kontakt mit Wasser zu kommen oder sie zogen mich zu sich in den Teich und beschlossen, umgeben von Fischen –

Ich verzog den Mund und zwang mich, den Gedankengang nicht abzuschließen. Was nicht vorgefallen war, konnte auch die durch Devlin und Taylor hervorgerufene schwache Abneigung gegen zu viel Wasser an einer Stelle nicht bestärken.

Während der folgenden Minuten verschwammen jegliche störenden und belastenden Gedanken, während kaltes Wasser über mein Gesicht lief und jegliche Spuren der vergangenen Tage und Ereignisse nicht nur physisch sondern auch psychisch von mir wusch. Als ich das Wasser abstellte hatte ich das befreiende Gefühl, alle schlechten Erinnerungen zusammen mit dem Wasser weggespült zu haben. Ich hob die Hand und fuhr mir durch die Haare. In diesem Moment war ich der festen Überzeugung, endlich den schlimmsten Tiefpunkt hinter mir gehabt zu haben. Von nun an konnte es nur besser werden.
 

oOo
 

Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hatte mich im Bezug auf diese Stufenfahrt bereits mehrfach geirrt, so auch in meiner – wie ich feststellen musste – äußerst dummen und kindischen Annahme. Sie war so beschränkt, dass sie regelrecht von Wheeler hätte stammen können.

Es gab eine primitive Regel, die ich außer Acht gelassen hatte, als ich Wheeler heute Morgen aus dem Zimmer geschickt hatte: Fasst du den Köter an, bekommst du automatisch seine Flöhe. Die Flöhe erwiesen sich in diesem Fall natürlich als die Standartversion von Mutos Gefolgsleuten, bestehend aus Muto selbst, Gardner und Taylor, sowie der Erweiterung, Devlin und Bakura. Als weitaus hartnäckiger erwiesen sich jedoch drei von ihnen, namentlich Gardner, Taylor und Devlin. Sie waren ohnehin die Schutzbefohlenen des Köters, sobald er Probleme hatte und zögerten nicht, einer ausgebildeten Elite gleich, dem Problem entgegenzuwirken. Diesen Aspekt in mein Verhalten mit einberechnet, hätte ich am heutigen Morgen wahrscheinlich eine Sekunde mehr verstreichen lassen, bevor ich Wheeler des Zimmers verwiesen hätte, dennoch wäre mein endgültiger Beschluss derselbe gewesen. Nichtsdestotrotz war es überaus lästig.

Ich hob die Tasse Kaffee an die Lippen, mir der starren Blicke zu meiner Rechten mehr als bewusst. Ich hätte ihnen keine weitere Beachtung geschenkt, wäre meine Morgenzeitung an diesem Tag nicht zufälligerweise unauffindbar gewesen und hätte die Migräne meine Selbstbeherrschung nicht zusätzlich bis aufs Äußerste strapaziert. Dadurch auf zwei Arten beeinflusst rann mir meine Geduld wie Sand durch die Finger, bis der Moment erreicht war, in dem das letzte Sandkorn meinem Sichtfeld entschwand. Klirrend fand die Tasse ihren ursprünglichen Platz auf der Untertasse und mein Blick richtete sich stechend auf die Auslöser meines Affekts.

„Gibt es einen nennenswerten Grund für eure unnötig gebündelte Aufmerksamkeit?“

Tatsächlich erhielt ich nicht mehr als ein gedämpftes, knurriges Miauen als Antwort, wodurch sich in mir der Verdacht manifestierte, dass Mutos Anhängerschaft ausschließlich aus Tieren bestand. Ich hatte bis zu diesem Augenblick angenommen, der Köter sei ein Ausnahmefall, doch das Verhalten meiner Mitschüler bestätigte meine Vermutung. Ein Köter und streunende räudige Katzen.

„Bemüht euch nur nicht um eine angemessene Artikulierung.“

„Lass sie in Ruhe, Kaiba!“ In vollkommenem Einklang mit den Worten richtete sich ein weiteres Paar Augen auf mich und sicherte der bereits bestehenden Starr-Front Unterstützung. Ich schenkte Wheeler keine Beachtung und lenkte meine Aufmerksamkeit auf Muto, der sich meines Erachtens nach auffällig ruhig verhielt. „Hast du mir noch etwas zu sagen, bevor dein Gefolge sich dazu verpflichtet fühlt?“

Ich kannte Muto, ich hatte bereits überlegt, welches Ausmaß seine Ermahnung annehmen würde, hegte ebenso feste Vermutung, wie oft das Wort Schicksal fallen würde und wie lange es dauern würde, bis ich das Interesse an seinen Worten verlor – die Statistik schwankte zwischen fünf und sieben Sekunden – außerdem hatte ich lange darüber nachgedacht, wie er den Zwischenfall der vergangenen Nacht umschreiben würde.

Mir war klar gewesen, in dem Moment als Wheeler heute Morgen beim überstürzten Verlassen des Raums die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, dass er zu seinen Freunden flüchten und ihnen alles beichten würde. Es war lächerlich, anzunehmen, der Fehler der letzten Nacht würde totgeschwiegen, wie ich es anstrebte und noch immer zu tun bereit war, darum galt es, sich rasch damit abzufinden, dass ich mich in Kürze mit den Konsequenzen konfrontiert sehen müsste. Bis jetzt hatte ich ausreichend Zeit gehabt, um mir die möglichen Folgen meiner Unachtsamkeit bewusst zu machen und war – ganz gleich, wie verschieden die einzelnen Abläufe waren – letztendlich immer zu demselben Resultat gekommen: Der Ruin meiner Firma, sollten Muto und seine Gefolgschaft sich nicht im Mindesten als bestechlich erweisen.

Es war letztendlich eine sehr simple Abfolge von Ereignissen, unabhängig davon in welcher Reihenfolge sie stattfanden, doch sie enthielten dieselben Komponenten: Schädigung meines Images, Verlust der Autorität, sinkende Einnahmen meiner Firma, Wertverlust der Aktien, Bankrott. Hinzu kamen die unvermeidlichen Folgen, sollte ich meinen Einfluss und mein Ansehen verlieren - ich wäre nicht mehr in der Lage, Mokuba ein angemessener Vormund zu sein, geschweige denn meinen Status zu erhalten, von der Schädigung meines Stolzes und meiner Würde ganz zu schweigen.

Ich hatte diese Gefahren bereits genauestens bedacht und war bereit, ein sehenswertes Schweigegeld zu zahlen, jedoch nur im äußersten der Fälle und keinesfalls, bevor ich mir nicht zweifellos sicher war, dass Wheeler und seine penetranten Freunde eine tatsächliche Bedrohung darstellten. Ich würde niemals voreilig handeln und ich würde vor allen Dingen nicht ohne zu überlegen die Dumpfbackenpatrouille begünstigen, indem ich ihnen leichtes Geld darbot. Viele Menschen verloren im Angesicht hoher Zahlen jegliche Rationalität, geschweige denn ihre Zurechnungsfähigkeit und ich zählte jeden von ihnen zu diesem Typ Mensch – die einzige mögliche Ausnahme boten vielleicht Bakura, da ich ihn nicht einzuschätzen vermochte, und Devlin, welcher selbst genug Geld besaß und zweifelsfrei noch einen (zugegeben kümmerlichen) Rest seines Verstandes behalten hatte.

Ich löste mich von meinen Gedankengängen, welche ich bereits mehrfach durchlaufen hatte und konzentrierte mich stattdessen wieder auf Muto, dessen Predigt sich verzögerte. Er sah mich lediglich an, machte nicht einmal Anstalten, etwas zu sagen. Diese Tatsache beunruhigte mich mehr, als seine Worte es je hätten tun können. Muto schwieg nicht ohne Grund, er nutzte für gewöhnlich jede Möglichkeit, eine geschwollene Rede oder zumindest Anekdote über Voraussicht, Ethik oder Schicksal zum Besten zu geben, in gleichem Maße, in dem Gardner bei der Nennung eines Wortes, welches mit dem Buchstaben F begann, umgehend über Freundschaft zu philosophieren pflegte.

Es war kein Zufall, dass Muto schwieg, genauso wie es kein Zufall war, dass er mich aus schmalen Augen ernst musterte, bevor er den Blick abwandte und sein Frühstück fortsetzte. Er ignorierte mich. Er ignorierte mich! Diese Unverschämtheit brachte mich an den Rand meiner Beherrschung.

Ich hob eine Hand und machte eine abfällige Bewegung. „Wie ich sehe, hast du bereits eingesehen, dass es nichts bringt.“ Meine Mundwinkel zuckten kaum merklich. „Ganz im Gegensatz zur jämmerlichen Leibgarde des Köters.“ Ich warf Gardner, welche ohne Zweifel den Kopf jener Garde darstellte, einen verächtlichen Blick zu. „Müsst ihr eigentlich bei jedem kleinen Malheur für Wheeler in die Bresche springen? Ist der Möchtegern-Meisterduellant nicht in der Lage, ohne euch auszukommen?“

„Hast du dir eigentlich schon mal beim Reden zugehört, Kaiba?“, entgegnete Gardner und verschränkte die Arme.

Ich schenkte ihr ein herablassendes Lächeln. „Mehrfach – und ich bin jedes Mal aufs Neue von meiner unvergleichlichen Ausstrahlung und Unfehlbarkeit angetan.“

Devlin verzog das Gesicht. „Was für eine Arroganz. In diesem Raum ist kein Platz für dich und dein Ego.“

Ich fixierte ihn stechend. „Und es ist genauso wenig Platz für unangebrachte Kommentare wie diesen. Devlin, an deiner Stelle würde ich meinen Kontostand ein letztes Mal überprüfen, er könnte sich in den nächsten Minuten drastisch verringern.“ Mit Genugtuung registrierte ich die zunehmende Blässe in seinem Gesicht.

„Alles leere Drohungen, Kaiba.“

Wheeler hatte wieder gesprochen und richtete somit meine Aufmerksamkeit auf ihn. Er begegnete meinem Blick ohne die geringste Spur von Unsicherheit, keine Anzeichen deuteten darauf hin, dass er vor wenigen Stunden noch vom Schlaf gezeichnet halb aufrecht in meinem Bett gesessen hatte und –

„Sie sind nicht halb so leer, wie der Inhalt dieser nichtexistenten und dennoch bereits Minuten andauernden Konversation, Wheeler“, entgegnete ich und gebot den störenden Gedanken dadurch vorläufig Einhalt.

Abwinkend biss er in sein Brötchen und mein Blick verfinsterte sich angesichts dieser Dreistigkeit. Er kaute sekundenlang, schluckte dann und fuhr fort: „Wenn dieses Gespräch dich so nervt, Kaiba, dann beenden wir es eben hier und jetzt.“ Er aß weiter und ich wartete auf weitere Worte, doch Wheeler war offensichtlich der Annahme unterlegen, das Gespräch sei tatsächlich beendet und schenkte mir keine Beachtung mehr.

Sein Verhalten irritierte mich. Mehr als das, es störte mich. Warum gab er sich, als sei nichts geschehen? Ich hatte bei Wheeler – gerade bei ihm – mit vielen Reaktionen gerechnet, allen voran ein herausragender Wutausbruch, doch Gleichgültigkeit war etwas, das ich nicht in meine Berechnungen miteinbezogen hatte. Gleichgültigkeit passte nicht zu Wheeler, sie war ein Charakterzug von mir, aber an Wheeler hatte sie dieselbe Wirkung, als würde ich ohne Vorwarnung Taylors schlechten Kleidergeschmack aufgreifen, Mutos Worten Gehör schenken, Devlin ernst nehmen oder wohlmöglich mit Gardner über den tieferen Sinn der Freundschaft zu fachsimpeln. Es war falsch, so falsch, wie ... Wheeler.

Und in diesem Moment erkannte ich, dass ich nicht der einzige war, der sich verstellen konnte. Dass selbst Wheeler, dass selbst er bereit und dazu in der Lage war, zu heucheln. Denn ob Gleichgültigkeit, Freude oder fehlinterpretierte Überzeugung, sobald man spürte, dass man es nur tat, um sich vor der unschönen Realität zu flüchten – mochte man noch so rational sein – war es nicht mehr als Heuchelei. Es war das erste Mal, dass ich eine Gemeinsamkeit, eine Parallele, bei Wheeler und mir fand: Wir waren beide Heuchler. Jeder auf seine ganz eigene Art. Wie pathetisch - mir wurde schlecht.
 

oOo
 

Ich musste zugeben, es erleichterte mich, dass die Fahrt sich ihrem Ende neigte. Wenn ich bedachte, durch welche Erniedrigungen ich hatte gehen müssen, welche Schläge ich hatte einstecken und erdulden müssen und wozu dies alles mich letztendlich gebracht hatte, so war der absolute Tiefpunkt unlängst überschritten und die Kurve auf dem Graphen mit der Beschriftung Stufenfahrt machte einen nicht zu bestreitenden Bogen nach oben.

Je weiter der Morgen voranschritt, desto zuversichtlicher wurde ich, doch die Kurve sackte unvermittelt ab, als Aoyagi-sensei Wheeler und mich um 11 Uhr 47 und 23 Sekunden zu sich rufen ließ. Es war keine Überraschung, statistisch gesehen hatte die Wahrscheinlichkeit, dass es so kam, verhältnismäßig weit oben gelegen, dennoch störte es mich.

Der Aufenthaltsraum war verlassen, viele der Schüler waren auf ihre Zimmer zurückgekehrt, um den Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen oder streiften über das Herbergsgelände und rauchten – sich vor den wachsamen Augen der Aufsichtspersonen duckend. Doch sie hatten nichts zu befürchten, Aoyagi-sensei saß vor uns auf einem der Stühle, Wheeler und mich streng musternd. „Ich verlange eine Erklärung.“

Weiter hinten im Raum saß Kaidou-sensei in einem der Sessel, vertieft in Sportteil der Zeitung – war das meine Zeitung?! – und schenke uns keine Beachtung.

„Seto-kun, ich rede auch mit dir.“

Es kostete mich Überwindung, die Pädagogin direkt anzusehen, viel mehr beschäftigte mich die Frage, ob der Sport und Mathelehrer meiner Schule tatsächlich gemütlich in einem Ohrensessel saß und meine Morgenzeitung las.

„Nicht alleine“, ergriff Aoyagi-sensei das Wort und erhob sich, „dass ihr gestern während der Nachtwanderung spurlos verschwindet und nicht wie eure Mitschüler zum vereinbarten Zeitpunkt hier erscheint, um euren Aufgabenzettel abzugeben.“ Mittlerweile lief sie vor uns auf und ab. „Nein, als wäre das nicht genug, berichtet mir der Herbergsleiter heute Morgen vollkommen außer sich, dass eine dreckige Wasserspur durch die halbe Herberge führt und schließlich vor eurem Zimmer endet.“ Sie blieb stehen und betrachtete uns anklagend. „Was in drei Teufelsnahmen habt ihr letzte Nacht getan?“

Diese Frage stellte ich mir seit Stunden und war noch zu keiner befriedigenden Antwort gekommen, wie konnte diese Frau also annehmen, ich würde auch nur im Mindesten eine Erwiderung zustande bringen?

„Ich bin in den Teich gefallen.“

Nun, wo ich zögerte, schien Wheeler keine Hemmungen zu haben, die Wahrheit – in verkürzter und zweifellos zensierter Form - zum Besten zu bringen. Mir wurde ganz anders, als meine Gedanken reflexartig zu dem genannten Zeitpunkt in der vergangenen Nacht zurückkehrten.

„Ich wollte mir die Kois näher ansehen und bin ausgerutscht. Kaiba meinte, es wäre unklug mit nasser Kleidung weiter zu suchen, darum sind wir zurückgegangen.“ Er lächelte sie entschuldigend an. „Und das Treffen nach der Nachtwanderung haben wir komplett verpennt.“

Ich verspürte ein unangenehmes Kratzen in meinem Hals, als ich daran dachte, welche Aktivität und das Treffen hatte vergessen lassen. Ich schüttelte den Kopf und verzog die Lippen. Es wurde Zeit, sich von diesen störenden und zunehmend penetranten Gedanken zu lösen.

„Stimmst du Joey nicht zu, Seto-kun?“, fragte Aoyagi-sensei, die mein Kopfschütteln missinterpretierte.

„Doch, ich kann es nur noch nicht fassen, dass ich durch Wheelers Unfähigkeit ebenfalls ganz nass geworden bin“, log ich und erlag beinahe dem Drang, mir auf die Zunge zu beißen, als mir bewusst wurde, welche Worte ich von mir gegeben hatte. Ich spürte, dass Wheeler mich von der Seite anstarrte und mied es, ihn anzusehen. Es war sogar schon so weit gekommen, dass ich seinem Blick auswich. (Die Kurve des Graphen fiel soeben steil ab.)

„Ich verstehe.“ Aoyagi-senseis Gesichtszüge entspannten sich und sie ließ sich auf einen der Stühle sinken. „Offen gesagt, bin ich erleichtert, dass der Grund für euer Fehlen derart trivial ist. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, immerhin sind Kaido-san und ich die Aufsichtspersonen und darum für jeden der Schüler verantwortlich.“

Diese Frau war tatsächlich im falschen Jahrgang. Sie verwechselte uns mit Grundschülern.

„Trotzdem“, fuhr sie fort und richtete somit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich, „kann ich euer Verhalten nicht gutheißen. Offen gesagt war es für euer Alter verantwortungslos.“ Ich musste meine Meinung revidieren, wenn es um Fehler ging, wusste sie eindeutig, in welchem Jahrgang sie sich befand. „Ich habe bereits mit dem Herbergsleiter gesprochen. Ihr werdet den Flur wischen, damit wäre alles Weitere geklärt.“ Wenn sie es sagte. „Ihr könnt gehen. Die Putzutensilien findet ihr in dem Besenschrank auf eurem Flur.“

Und wieder eine Information mehr, die ich unter normalen Umständen nicht in Geringsten zu wissen gewollt hätte. Diese Frau hatte es drauf, das musste man ihr lassen.
 

Die Tür des Raumes schloss sich hinter uns. Ich verschwendete keinen Gedanken daran, auf Wheeler zu warten und ging. Sollte er den Boden wischen, ich würde mich niemals dazu herablassen, etwas derart Erniedrigendes zu tun. Ich hatte bereits jegliche Grenze überschritten, als ich gestern den Flur gefegt hatte, ich würde mir unter keinen Umständen die Krone aller Lächerlichkeiten aufsetzen wollen. Niemals.

„Kaiba.“ Wheeler griff nach meinem Arm und zog mich unsanft zurück. Ich stolperte, riss mich los und wirbelte zu ihm herum. „Bist du von allen guten Geistern verlassen, Wheeler?“, fuhr ich ihn an und spuckte seinen Namen aus, als wäre er etwas Schändliches. Zugegeben, der Konjunktiv erscheint weniger überzeugend, Wheeler war etwas Abscheuliches.

„Stell dich nicht so an“, erwiderte er gereizt und verschränkte die Arme. An ihm wirkte es mehr lächerlich, denn selbstbewusst. „Und hör auf, dieses Gesicht zu ziehen. Man könnte meinen, du hättest etwas verschluckt!“

Ich konnte es nicht fassen, Wheeler war absolut dreist! Dieser infantile, kleine –

„Erklär mir lieber, was in dich gefahren ist. Sag mal, hast du sie eigentlich noch alle?!“ Er ließ die Arme sinken – offenbar hatte er bemerkt, dass seine Pose nicht die geringste Wirkung auf mich hatte – und machte einen Schritt auf mich zu. „Dass du mich beleidigst kenne ich ja, aber dass du dich den ganzen Tag so verhältst, als hätte ich –“

Ich ließ ihm keine Chance, den Satz zu beenden, packte ihn fest am Kragen und zog ihn ruckartig nach vorne. „Noch ein Wort, und schwöre dir, Wheeler, du wirst dir wünschen, es nie ausgesprochen zu haben.“

Ein freundloses Lachen prallte von den Wänden des Flures ab. Mein Griff um Wheelers Hemd festigte sich merklich, meine Knöchel traten bereits weiß hervor. „Was soll ich aussprechen Kaiba? Was gibt es auszusprechen?“

Einen Moment lang war ich irritiert, doch ein Blick in sein Gesicht zeigte mir, dass er die Worte absolut ernst meinte. Mein Griff lockerte sich unvermittelt und ich stieß Wheeler von mir, als hätte ich mich an ihm verbrannt. „Zeitverschwendung“, murmelte ich abwesend und wandte mich ab. „Ich rate dir Wheeler, bleib mir fern.“ Ich sah ihn nicht an. „Es würde dir nur unnötig Probleme bereiten.“

„Deine Drohungen waren schon besser.“

Wieder fasste Wheeler mich an. Dieses Mal lag seine Hand schwer auf meiner Schulter. Den Bruchteil einer Sekunde lang hatte ich das befremdliche Gefühl, diese Situation schon einmal irgendwo anders erlebt zu haben, doch genauso schnell war diese Empfindung wieder verschwunden, als wäre es nie da gewesen. Wheelers Hand blieb.

„Schon vergessen Kaiba? Wir sollten einen Flur wischen.“

„Falsch, du solltest einen Flur wischen.“ Er sollte nicht davon sprechen. Dadurch weckte er nur zum wiederholten Mal an diesem Tag unliebsame Erinnerungen. Ohnehin war alles seine Schuld, also würde er den Flur wischen müssen. Alleine. Ohne mich.

„Das werden wir sehen“, sagte Wheeler und zog mich hinter sich her.
 

Ich hatte kaum Zeit zu reagieren, geschweige denn, mich von ihm zu lösen – so schien es mir – da hielt ich bereits ein undefinierbares Objekt in Händen, welches einem Besen glich, jedoch aussah, als hätte es Bakuras misshandelten Haarschopf am Stielende.

„Das ist ein Mob“, informierte Wheeler mich mit fachmännischer Miene und wich einem Moment später dem Mob aus, den ich ohne zu zögern nach ihm geworfen hatte. Er prallte gegen die Wand und rollte einige Meter über den Boden, bevor er reglos liegen blieb. „Nein“, korrigierte Wheeler und fuhr sich durch die zerzausten Haare, „dafür ist er definitiv nicht gedacht. Es ist erschrecken, in welchen Bereichen des Lebens du Wissenslücken vorzuweisen hast, Kaiba. Und ich dachte, du wärst allwissend.“

„Im Gegensatz zu dir, unterscheide ich wichtiges von unwichtigem Wissen, Wheeler“, bemerkte ich abfällig. „Und das Wissen um einen Mob und seine Verwendung mag bei dir der wichtigen Kategorie zugeordnet zu sein, ich jedoch mache mir nicht einmal die Mühe, mich darüber zu informieren, geschweige denn mir diese Informationen zu merken.“

„Puh, ein ganz schon verschachtelter Satz, für die einfache Aussage Ich hab keine Ahnung vom Putzen.“

„Wheeler ...“

„Welcher normale Mensch – welcher Mensch überhaupt – hat keinen blassen Schimmer, was ein Mob ist? Ich meine, du wüsstest nicht einmal, wie man fegt, wenn ich es dir nicht gezeigt hätte! Wie krank ist das denn?!“

„Du übertreibst wieder maßlos.“

„Sei still und nimm den Mob.“

Bevor ich protestieren konnte, hielt ich das Ungetüm wieder in Händen. Wheeler selbst besaß eine weiteren Mob, der mich beunruhigender weise entfernt an den Fanatiker Marik erinnerte. Rasch schüttelte ich den Kopf und vertrieb diesen störenden Gedanken. Wenigstens konnte ich mir jetzt ungefähr vorstellen, warum die Bezeichnung Mobbing eine derart schlechte Assoziation hervorrief. Halt, das war zu weit hergeholt, selbst für meine Verhältnisse.

„Also Kaiba, Putzlektion Nummer zwei: Wie man mit einem Mob umgeht. Siehst du diese Eimer hier? Ja, man nennt es Eimer.“

„Ich weiß, was ein –“

„Du tauchst den Mob in einen der Eimer, wartest einige Sekunden, dann holst du ihn wieder raus, wringst ihn aus und –“

Ich ließ den Mob augenblicklich fallen. Wheeler hielt irritiert inne. „Was ist denn jetzt los?“

Ich wischte mir angewidert die Hände an der Hose ab (jedoch nur, weil Wheeler nicht in meiner unmittelbaren Nähe stand, sonst hätte er dafür hinhalten müssen). „Willst du mir sagen, dass man den Boden wischt, anschließend den Dreck im Eimer ausspült, mit den Händen diese verschmutzte Flüssigkeit aus dem Mob wringt und ihn daraufhin mit vom Dreckwasser nassen Händen wieder anfasst?!“

„Du hast eine destruktive Art, das auszudrücken.“

„Nein, du hast eine euphemistische Art, das Putzen zu etwas annähernd Sauberem zu machen.“

„Kannst du mal aufhören, mit Fremdworten um dich zu schmeißen? Du kannst auch normal reden und jeder wird dich verstehen.“

„Ich kann nicht fassen, dass ich so weit gekommen bin, dieses ... Ding überhaupt anzufassen!“

„Nur weil du zu verwöhnt bist, und nicht weißt, was putzen für eine Bedeutung hat, musst du dich jetzt nicht anstellen, wie eine Prinzessin, elender Pinkel.“ Wheeler versenkte den Mob mit einem wütenden Ruck im Eimer. Anschließend zog er ihn zurück und knallte ihn mit einem nassen Platschen auf den Flurboden.

„Du hast vergessen, ihn auszuwringen“, bemerkte ich sachlich.

„Ach, jetzt fang du noch an, mich zu kritisieren!“, entgegnete Wheeler und schleuderte den Mob regelrecht in schwungvollen Bewegungen über den Boden, bevor er ihn wieder in den Eimer donnerte, und den Vorgang wiederholte. Ich beobachtete ihn stumm dabei, sah zu, wie die schmutzigen Fußabdrücke nach und nach vom Boden verschwanden.

„Willst du da den ganzen Tag stehen oder hilfst du mir gefälligst mal?!“, fuhr Wheeler mich ungehalten an.

Ich musterte ihn herablassend. „Wieso denn? Du machst das ganz wunderbar. Ich würde beinahe so weit gehen und behaupten, du hast Talent, Wheeler. Scheint, als gäbe es doch etwas, wozu du zu gebrauchen bist. Wenn du die Schule hinter dir hast, solltest du in Betracht ziehen –“

Ich wusste, dass Wheeler die Beherrschung verloren hatte, als der nasse Putzlappen mich frontal im Gesicht traf. Ich stolperte vor Überraschung einige Schritte nach hinten, riss mir den Lappen vom Gesicht und schnappte hustend nach Luft. „Was zum -?! Wheeler!“, grollte ich und meine Haltung versteifte sich.

Er schien nicht minder aufgebracht, hatte den Mob achtlos beiseite geworfen, dabei den Eimer umgeschmissen, dessen Inhalt sich nun langsam vor ihm verbreitete, seine Schuhe durchnässte. „Ich hab es satt!“, fluchte Wheeler und starrte mich wutentbrannt an. „Ich habe es so verdammt satt, Kaiba! Ich habe es verdammt noch mal versucht. Ich hab mich gleichgültig gegeben, hab dann versucht, so zu sein wie immer, ich war verflucht noch mal widerlich nett zu dir! Was willst du denn?!“ Er holte aus und trat nach dem Eimer, der gegen die Wand schlug und scheppernd von ihr abprallte. „Ich hab es so leid! Kannst du nicht zur Abwechslung wenigstens so tun, als ginge das alles dich etwas an?! Herrgott Kaiba, du kannst es nicht totschweigen! Wir sind hier nicht in irgendeinem Film, das hier ist das wahre Leben, da geht das alles nicht so einfach!“ Er bückte sich, griff nach einem weiteren, von Putzmittel und Wasser getränkte Lappen und warf ihn nach mir. Ich wich ihm aus und er traf mich am Arm. „Also hör auf, so abartig unbeteiligt zu sein!“ Ein weiterer Lappen traf mich an der Schulter, Wheeler schien absolut außer sich. „Steh da nicht so rum, du Mistkerl! Ich hab dein Gehabe so satt, als ob du der einzige wärst, der Fragen hat, der verwirrt ist oder was weiß ich?! Also hör gefälligst auf, dich –“

Er verstummte, als ihn derselbe Lappen, den er vor wenigen Sekunden geworfen hatte, an der Wange traf und mit einem nassen Klatschen in die Pfütze zu seinen Füßen fiel. Ich holte bereits zum nächsten Wurf aus. „Unbeteiligt?!“, echote ich und warf mit aller Kraft nach Wheeler. Er war nicht schnell genug, und der Lappen traf ihn an der Brust. „Du nennst mich unbeteiligt? Was sollte ich denn deiner Meinung nach sonst sein, Wheeler?! Nenne mir eine angebrachte Reaktion in anbetracht dessen“ – ich wich gerade noch rechtzeitig einem mit Wasser voll gesogenen Schwamm aus – „was passiert ist. Du hast doch nicht den blassesten Hauch einer Ahnung, was das für Konsequenzen haben kann. Und was ist falsch daran, etwas totzuschweigen, das niemals hätte passieren dürfen?!“

„Denkst du, ich bin glücklich?!“

„Woher soll ich das wissen? Und überhaupt, was kümmert es mich?! Ich bin es nicht!“

„Das ist ja nichts Neues! Offen gesagt, habe ich auch nie damit gerechnet! Du hast doch immer etwas zu beklagen! Ich hab die Nase voll von dir, Kaiba. Wenn es nach mir ginge, könntest du dich einfach in Luft auflösen, dann hätte ich ein Problem weniger!“

„Mir geht es genauso Wheeler. Wenn es dich nicht gäbe, wäre ich in den vergangenen Tagen überhaupt nicht erst von einer Misere in die nächste geraten!“ Ich redete mich in Rage, ich vergaß meine Selbstbeherrschung, hatte sie in dem Moment verloren, als der Lappen von Wheeler mich zum ersten Mal getroffen hatte und sprach nun aus, was mir durch den Kopf ging.

Meine letzten Worte hatten eine ungemeine Wirkung auf Wheeler, denn er packte den wie durch ein Wunder noch stehenden halbvollen Eimer neben sich und schleuderte seinen Inhalt in meine Richtung. Eine Woge kalten, schaumigen Wassers traf meinen Oberkörper, durchnässte meine Haare, meine Kleidung und lief an mir hinab. Es wirkte auf mich wie ein Schlag und holte mich augenblicklich in die Realität zurück.

Wheeler ließ den Eimer fallen und starrte mich unbewegt an. „Ohne mich, würdest du überhaupt nicht mehr leben“, sagte er und wirkte dabei seltsam steif auf mich. Er rührte sich nicht, starrte mich weiterhin unbewegt an und ich tat nichts weiter, als den Blick zu erwidern, mir langsam darüber bewusst werden, dass Wheeler mich mit dem Inhalt eines Putzeimers überschüttet hatte, dass ich komplett durchnässt war, dass einige Türen der angrenzenden Zimmer geöffnet waren und mindestens ein dutzend Augenpaare auf uns gerichtet waren.

Ich hob eine Hand und strich mir die nassen, tropfenden Haare aus dem Gesicht, bevor ich einen Schritt auf Wheeler zumachte, einen Moment vor ihm stehen blieb. „Wisch das auf“, sagte ich leise, dann ging ich an ihm vorbei. Kurz bevor ich in unserem Zimmer verschwand, traf mein Blick auf den Mutos, der an seinem Türahmen lehnte, dann fiel die Tür von Wheelers und meinem Zimmer unnatürlich laut hinter mir zu.

Auf dem Flur herrschte eine gespenstische Stille. Sekunden verstrichen, dann hörte ich, gedämpft durch das Holz, Devlin und Taylor auf Wheeler einreden. Sie bestürmten ihn mit Fragen doch er wich ihnen aus. Man hörte die metallenen Geräusche der Eimer, doch nahm ich sie kaum wahr.

Ich lehnte schwer atmend an der Tür, dann ließ ich mich langsam und mit einem besonders lang gezogenen Ausatmen an ihr hinabsinken. Wasser tropfte von den Spitzen meiner Haare, bildete kleine nasse Flecken auf dem billigen Boden, auf dem ich saß, meine Kleidung klebte mir am Körper.

Noch immer hörte ich Wheelers Worte, es war, als hätten sie sich in mein Gedächtnis gebrannt, Wort für Wort. Schmerzhaft. Real.

Ich hörte Wheeler lachen, draußen vor der Tür, hörte reges Gemurmel, unterbrochen von Mutos nervig freundlicher Stimme. Wheelers Lachen klang befremdlich. Es war, als hätten seine Worte mich von einer Illusion befreit. Eine Illusion, die ich lieber behalten hätte. Ich hatte bereits heute Morgen bemerkt, dass sein Verhalten gekünstelt war, doch dass es ihn derart mitnahm, dass es ihn dazu brachte, sich vor mir derart zu vergessen, hatte etwas in mir getroffen. Wheeler, dieser elende, unfähige Nichtsnutz von einem Idioten. Wenn er doch nur etwas mehr Selbstbeherrschung besessen hätte. Wenn ich mich bloß zusammengerissen hätte. Jetzt hatte ich es gesehen, erlebte es noch immer und war unfähig das zu vergessen, was Wheeler mir durch seine Reaktion, ohne es tatsächlich zu wollen, bewusst gemacht hatte.
 

Heuchler, wo man sah. Und ich war der Größte unter ihnen.
 

~*~*~
 

Save your sympathy

Who do you think you're fooling?

Everything is dead!

Now you welcome me,

To a town called hypocrisy!
 

~*~*~
 

(A Town Called Hypocrisy by Lostprophets)

Tag 6: Sch(m)erzhaft ernsthaft

Tag 6: Sch(m)erzhaft ernsthaft
 

Ich tat mich nie schwer mit Konflikten. Der Grund dafür war zweifellos, dass ich jemand war, der sie zwar nicht voller Enthusiasmus suchte (hieß ich doch nicht Wheeler), sie jedoch auch nicht umging oder gar vermied. Es lag in der Natur der Dinge, dass man nicht jedem Konflikt ausweichen konnte. Zugegebenermaßen war es auch keine Seltenheit, dass Konflikte in meiner unmittelbaren Umgebung entstanden, sei es als Resultat meiner alleinigen Anwesenheit oder meiner präzisen Wortwahl.

Ich war schonungslos, wenn es die Wahrheit war, wenn es um die Schwächen oder den Nachteil anderer ging, ich war rücksichtslos - viele nannten mich voller kindischer Naivität rückgradlos. Es waren Menschen, die mit der Wahrheit nicht klarkamen, die sie nicht wahrhaben wollten. Wheeler war einer dieser Menschen. Wheeler war der eine Mensch.

Wheeler war der einzige Störfaktor in meinem kategorisch geplanten Leben, den ich nicht umgehen, geschweige denn ausweichen konnte. Wheeler war schlimmer als jede Form von Klette, er war penetrant, aufdringlich und - was ihn auf besonders negative Art und Weise von anderen unterschied - er gab einen Dreck auf die Wahrheit. Man konnte ihm sämtliche Tatsachen argumentativ oder seinem Niveau angepasst verdeutlichen, sie konkretisieren, ihm demonstrieren oder schmerzhaft genau präzisieren, er ignorierte die Fakten. Er nahm sie nicht zur Kenntnis. Als besäße er als einziger die Berechtigung, meine Worte offen anzuzweifeln.

Wheeler nahm nie ein Blatt vor den Mund, nicht einmal das Wissen um die Dummheit und die daraus resultierenden Folgen seiner Worte gebot ihm Einhalt. Er hielt sich bei mir nicht zurück, er war nicht vorsichtig, wie alle anderen Menschen, ihn interessierte mein Status nicht. Das irritierte mich. Es irritierte mich die vergangenen Jahre, in denen ich gezwungen war, dieselbe Schule wie er zu besuchen. Es imponierte mir nicht, vielmehr war es störend. Wheeler war lästig, doch nichts hielt ihn davon ab, er selbst zu sein. Er hatte nichts Bewundernswertes an sich, viel eher zweifelte ich seine kümmerliche Intelligenz an, doch Wheeler ließ sich nicht erklären. Zwar war sein Handeln berechenbar, insbesondere wenn er wütend war.

Er war leicht zu reizen, schnell in seinem Stolz verletzt und darum manipulierbar, doch es störte ihn nicht. Er wusste es und machte einfach auf dieselbe eigensinnige und triviale Weise weiter - er gab nie auf, renitent wie er war. Und dennoch ... - gab es noch nicht einmal ein dennoch, um Wheeler zu beschreiben. Denn das war alles, was ihn ausmachte. In Wheelers kleiner, beschränkter Welt gab es nur seine Lösung, seine Ansicht, kein „aber“, „dessen ungeachtet“ oder „trotz allem“. Wheeler war „ich denke“, „so und nicht anders“ und „und wenn dir das nicht passt, Kaiba, dann kann ich dir auch nicht helfen!“.
 

Wheeler war so. Immer. Nein, vielmehr ... wenn es um mich ging.
 

Verdammt.
 

oOo
 

„Kaiba.“

Ich ignorierte die auf unangenehme Art vertraute Stimme und starrte schweigend auf die Nässe am Boden. Er würde früh genug erkennen müssen, dass ich jetzt nicht sprechen wollte. Was fiel ihm ein, mich überhaupt noch anzusprechen? Er sollte wissen, dass er der Letzte war, von dem ich in diesem Moment einen vermeintlichen Ratschlag gebrauchen konnte. Genauso gut hätte er versuchen können, mir nach der Niederlage bei meinem Battle City Turnier mit einem Lächeln auf den Lippen zu sagen die Welt geht weiter, also Kopf hoch - ist doch nur ein Spiel. Doch es war nicht bloß Spiel, genauso wenig, wie dies hier kein Spiel war.

„Ich bin alleine, Kaiba. Joey räumt die Putzsachen weg.“

Das alleinige Nennen von Wheelers Namen zog eine Woge von Wut und Frustration mit sich. Ein Zittern durchlief meinen Körper und ich strich mir grober als notwendig einige nasse Strähnen aus der Stirn. Was kümmerte es mich, dass Muto alleine war? Er könnte mit der gesamten Heerschar seines lächerlich fiktiven Pharaonenstabes vor der Tür stehen und es wäre mir egal.

Ich schwieg beharrlich für weitere sich in die Länge ziehende Minuten und erwartete voller Unruhe Wheelers Rückkehr, doch meine Befürchtungen bestätigten sich nicht, stattdessen entfernten sich unerwartet Mutos Schritte. Die Spannung wich spürbar aus meinem Körper, ich stieß einen langgezogenen Atem aus und schloss die Augen. Dies hier war der falsche Moment für unnötige Gedanken, für Gedanken über Wheeler oder alles, was ihn indirekt betraf, weil es mich betraf. Und es waren zu viele Gedanken, die diese Richtung einschlugen. Mehr als ich in diesem Moment verarbeiten durfte. Ich hätte es gekonnt - unter nüchterner Betrachtung, mit weitaus mehr Fassung, als ich in diesem Augenblick besaß und mit trockener Kleidung - doch nicht jetzt. Nicht hier.

„Du siehst mitgenommen aus, Kaiba.“

Nicht mit Muto vor dem offenen Fenster des Zimmers!

Bei dem ungedämpften Klang seiner Stimme schoss ich in die Höhe und starrte einige Sekunden entgeistert in Mutos ernste Züge. Dann kehrte die Fassung zu mir zurück und ich beruhigte mich. Es war bloß Muto. Muto, der mich auf diese penetrante, stechende Art musterte, während er sich mit den Ellbogen vom Fensterbrett abstützte. Muto, der in diesem Moment dieselbe irritierende Ausstrahlung hatte, wie bei einem Duell.

Ich fixierte ihn strafend, dafür, dass er es gewagt hat, mich zu erschrecken, in meine - seit den letzten sechs Tagen auf kärgliche neun Quadratmeter, abzüglich Wheeler, geschrumpfte - Privatsphäre einzudringen und dafür, dass er die Unverschämtheit besaß, seinen Hang für nervenaufreibende und psychotische, mit der nichtphilosophischen Ein- und Auswirkung des Schicksals einhergehende Neigung zu einem Gespräch ohne nachhaltigen Sinn, an mir auszuleben. Unglücklicherweise zeigte Muto nie eine sichtbare Reaktion auf meinen Blick, tatsächlich schien ihn in bemerkenswert vielen Momenten - bevorzugt zu Zeiten eines Duells - nichts zu beeindrucken, wohingegen Muto zu anderen Gelegenheiten den Eindruck eines besorgten Grundschülers erweckte. Jeder noch so inkompetente Arzt würde Schizophrenie diagnostizieren. Oder zumindest Stress. Doch wahrscheinlich würde selbst diese Diagnose Muto nicht beeindrucken.

Das Fensterbrett knarrte unheilvoll, als er sein Gewicht leicht verlagerte. Hörte er es denn nicht? Es riet ihm ganz eindeutig, kehrt zu machen und mich alleine zu lassen. Natürlich hörte er es nicht. Muto hörte sämtliche nichtvorhandene Stimmen, aber die Warnung eines Fensters nahm er nicht zur Kenntnis.

„Was willst du?“, fragte ich leise und verschränkte die Arme. Ich gab mich so würdevoll, wie möglich. So würdevoll, wie ich triefend nass, mit strähnigem feuchten Haar und hinterlassenen Wasserflecken, dort, wo ich kurz vorher noch gesessen hatte, eben sein konnte.

„Ihr habt ein Problem.“ Mutos Blick war schmal und prüfend, der Grund für diese übertriebene Ernsthaftigkeit war mir schleierhaft.. „Du hast ein Problem.“

Ihm sollte klar sein, dass er mir damit nichts Neues eröffnete. Ich kannte mein Problem, es besaß ein perfides Talent, sich mir mit beunruhigender Permanenz wieder ins Gedächtnis zu rufen. Mein Problem räumte soeben das Chaos auf, das unsere nicht unbedeutende Wasserschlacht zurückgelassen hatte.

„Du weißt, dass du ein Problem hast, Kaiba.“

„Muto, ich würde dir danken, wenn du es unterlassen würdest, den Raum unnötigerweise mit Dingen zu füllen, die offensichtlich sind. Spar dir deinen Atem.“

Er neigte den Kopf und seine Mundwinkel zuckten kurz. „Nicht einmal ein voller Eimer Wasser schafft es, deine Fassung ganz wegzuspülen.“ Ich gab einen abfälligen Laut von mir, doch er fuhr ungerührt fort: „Dir ist klar, dass Joey mir ... uns das meiste erzählt hat.“

Natürlich hatte ich es gewusst, auch wenn ein nicht unbedeutender Teil von mir tatsächlich die Hoffnung gehegt hatte, Wheeler besäße genug Minimalverstand, um es nicht zu tun. Es war nun offensichtlich, dass dieser Minimalverstand nie existiert hatte. Doch eine kleine Ungereimtheit ließen Mutos Worte offen.

„Das meiste?“, wiederholte ich.

„Er ist nicht ins Detail gegangen. Er war offenbar taktvoll genug, uns nicht mit unnötigen Kleinigkeiten zu behelligen.“

„Kleinigkeiten? An diesem Desaster ist nicht die geringste Kleinigkeit.“ Ich wünschte, es wäre so. Großartig, Wheeler hatte es seinen nervigen Freunden also tatsächlich erzählt, er hatte es ihnen gesagt, sie wussten, was zwischen uns vorgefallen war. Es war weitaus schlimmer, wenn nicht nur Wheeler es wusste. „Ich gehe davon aus, dass euch klar ist, wie ihr mit diesem Wissen umgehen sollt“, bemerkte ich, vielmehr einer Drohung, als einer Frage gleich. „Jedem von euch.“

Muto schmunzelte. „Natürlich Kaiba.“

Die nächsten Worte taten weh: „Ich verlasse mich darauf, Muto.“ Es gab nichts weniger verlässliches als das Wort eines anderen. Doch Muto war der einzige, beim dem zumindest eine fünfundachtzige Wahrscheinlichkeit bestand, dass er Stillschweigen behielt. Ich würde mir sein Versprechen so bald wie möglich durch einen Vertrag bestätigen und absichern lassen.

Ich musterte Muto eindringlich. „Wenn das geklärt ist, dann steht es dir frei, zu gehen.“ Er rührte sich nicht und ich wurde zunehmend ungeduldiger. „Muto.“ Ich machte eine auffordernde Kopfbewegung. „Du sollst gehen.“ Es war keine rücksichtsvolle Aufforderung, es war sogar mehr als ein Befehl. Ich gab ihm keine Optionen, nur die eine Möglichkeit und wenn er sie nicht wahrnahm, dann -

„Kaiba, entscheide dich, was du willst.“

Ich wollte, dass er ging, dass er verschwand, verstand er das denn nicht? Außerdem hatte er dieselben Worte bereits vor vier Tagen zu mir gesagt. Oben, auf dem Turm in Ôsaka. „Muto“, ich hob die Hand an meine Schläfe, hinter der sich erneut ein unangenehmer Druck aufzubauen drohte, „hier geht es nicht darum, dass ich mich entscheide, hier geht es darum, dass du begreifst, dass ich nicht mit dir reden will und brauche.“

„Dann weißt du, was du tun musst?“

Ich ließ die Hand ruckartig sinken. „Muto“, sagte ich schneident. „Tu nicht so, als wärst du Wheelers Amme oder mein Psychiater, du bist an diesem ...“, mir viel kein Wort für dieses einem Schmierentheater gleichenden Geschehen ein, „nur indirekt beteiligt, genau genommen noch nicht einmal das, also halte dich da raus. Wheeler weiß bereits, wo sein Platz ist, ich habe es ihm deutlich gemacht und ihm sollte klar sein -“

„Kaiba, ich bezweifle, dass ein nasser Lappen ein Äquivalent zu deutlich machen ist.“

„Würdest du mich wohl ausreden lassen?“ Meine Beherrschung schwand, je länger ich gezwungen war, diese Unterhaltung mit Muto fortzusetzen. „Ein Lappen ist vielleicht nicht unbedingt adäquat, aber wirkungsvoll.“ „Selbstverständlich.“ Er lächelte noch immer auf diese provozierende Art, die ich das letzte Mal bewusst wahrgenommen hatte, kurz bevor er mich im Halbfinale besiegt hatte. Ich war mit wenigen Schritten am Fenster. Ohne ein weiteres Wort schob ich es zu, er wich rechtzeitig einen Schritt zurück. Beinahe hätte ich diesen Umstand bedauert. Zu meinem Missfallen lächelte er noch immer, wirkte nun regelrecht belustigt und formte mit den Lippen voller Unverschämtheit das Wort Schicksal. Meine Hand verkrampfte sich um den Fenstergriff. Muto, dieser elende -!

Ich wandte mich ruckartig ab und kehrte ihm den Rücken. Das Fenster besaß keine Vorhänge mehr, ich hatte sie selbst vor Tagen in einem ähnlichen Moment der Unachtsamkeit herunter gerissen. Als ich einen flüchtigen, prüfenden Blick über die Schultern warf, stellte ich jedoch fest, dass Muto nicht mehr da war. Zurück blieben seine Worte - störend und überflüssig. Dieses Gespräch hatte genauso wenig Inhalt besessen, wie ich erwartet hatte. Es bestand kein nachhaltiger Sinn. Muto hatte meine Vermutungen nur bestätigt. Ich verzog missgestimmt den Mund, und begann, mich umzuziehen.
 

oOo
 

Zum ersten Mal auf dieser mehrtägigen Höllenfahrt war ich froh über einen Ausflug. Er bedeutete Ablenkung - oder zumindest konnte ich mir einreden, dass er ablenkende Aspekte mit sich bringen würde. Heute war der letzte Tag der Fahrt, morgen stand die Heimkehr an. Doch momentan waren meine Gedanken nicht bei diesem befreienden Lichtblick, vielmehr war ich damit beschäftigt, Wheeler zu ignorieren.

Unsere Eskapade im Flur blieb weitgehend unkommentiert, woran mein unmissverständlicher Blick und einige gezielt gewählten Worte nicht unbeteiligt waren. Selbst Aoyagi-sensei zog es vor, Wheeler und mich nicht darauf anzusprechen. Meine Haltung schien Antwort genug zu sein.

Stattdessen erklärte sie uns den Tagesablauf. Zunächst würden wir mit einem gemieteten Bus zum Ôsaka Schloss fahren und es besichtigen. Anschließend hätten wir freie Zeit, um uns das Gelände des Schlosses anzusehen. Es klang zumindest akzeptabel. Unter anderen Umständen hätte ich vermutlich auch gewisses Interesse gezeigt, doch meine Gedanken wurden von anderen Dingen beherrscht. Dinge, die ich mit Freuden aus meinem Kopf verbannt hätte, wenn es möglich gewesen wäre. Der Tag konnte zumindest nicht schlimmer werden, als er bereits war.
 

Ich hätte nicht derart optimistisch sein dürfen. Den Weg zum Bus überstand unsere Gruppe weitgehend unbeschadet - sah man von der Übermütigkeit einiger Schüler ab, die es mit ihren primitiven Kindereien provozierten und von Gardner mitsamt weiblicher Rückendeckung eine schlagfertige Erwiderung bekamen. Von dem Punkt an war unsere Gruppe lediglich halb so laut wie vorher - oh Wunder! - und angstvolles Schweigen dominierte einige zuvor nicht belanglose Lärmquellen. Hinzu kam, dass Wheeler sich außerordentlich still verhielt.

Der Bus überzeugte durch seine fehlende Präsenz.

Die darauf folgenden Minuten gingen in allgemeiner Unruhe unter, während Aoyagi-sensei darum bemüht war, der Busvermietung am Handy logisch darzulegen, dass ein nicht anwesender Bus keinesfalls eine Bezahlung bedeuten würde. Ihr Gesprächspartner schien anderer Auffassung zu sein, verlangte offenbar trotz allem nach der ursprünglichen Summe, denn der Bus sei, wie ich aus den Worten erschloss, die sie Kaidou-sensei aus den Mundwinkeln zukommen ließ, pünktlich losgefahren.

Es vergingen weitere fünfzehn Minuten, bis schließlich bekannt wurde, dass der Bus auf halber Strecke einer Reifenpanne erlegen war. Ein Ersatzbus stünde nicht zur Verfügung. Aoyagi-sensei verzweifelte. Beinahe hätte ich so etwas wie Mitleid mit ihr gehabt.

Das war es dann wohl gewesen. Soviel zu meiner willkommenen Ablenkung. Doch ich hatte die Pädagogin unterschätzt. Sie ließ sich nicht von einer derartigen Fügung des humorlosen Schicksals aus der Bahn werfen. Und sie hatte sich nicht umsonst eine teure Rechnung für ein zwanzigminütiges Gespräch mit dem Handy innerhalb Ôsakas aufgebürdet, um eine ebenso teuer Rechnung der Busvermietung zu annullieren.

„Wenn es einfach nicht geht, dann eben auf Umwegen“, eröffnete sie mit ernster Miene, als stünde sie kurz davor, ihre Schüler in die endgültige Schlacht zu schicken. Sie verwechselte da offenbar etwas. „Wir fahren mit der Bahn.“

Oder auch nicht.

Wir hatten die Bahn benutzt, um zum Aquarium zu kommen und zum Strand zu fahren, doch wir waren nicht zur Zeit der Rush Hour gefahren. Und selbst dann waren die Abteile voll gewesen. Doch jetzt, zu diesem Zeitpunkt, kehrten sämtliche Arbeitskräfte von ihrer Mittagspause zurück. Ich wusste es, weil in meiner Firma die gleichen Zeiten herrschten. Ob man Aoyagi-sensei darauf aufmerksam machen sollte? Ich zog es vor, meine Mühe nicht erst zu verschwenden. Nicht einmal wissenschaftlich prognostizierende Aussagen hätten sie von ihrer Entscheidung abgebracht.

Ich griff in meine Jackentasche und setzte mir die Sonnenbrille auf. Wenn wir nun doch unter eine derart große Menge Menschen gehen würden, sollte ich kein Risiko eingehen. Roland hatte nur mit Mühe die Information zurückhalten können, dass ich mit meiner Klasse eine Fahrt nach Ôsaka unternahm, die PR-Abteilung hatte offiziell bekannt gegeben, ich befände mich derzeit auf einer Tagung in London. Wenn nun aber Gerüchte über mich in Ôsaka aufkommen würden, käme das meinem Ruf nicht zugute.

Widerwillig setzte ich die Kappe ebenfalls auf, die in den vergangenen Tagen zunehmend meine Abneigung auf sich gelenkt hatte. Was tat man nicht alles, für die eigene Firma. Während wir die Herberge hinter uns ließen und die nächste Bahnstation anstrebte, war ich darum bemüht, den reflexartigen Drang, ein Taxi zu rufen, bloß um der wertlose Erfahrung einer überfüllten Bahn zur Nachmittagszeit entgehen zu können, nieder zu kämpfen. Im dichten Gedränge der ein und aussteigenden Menschen versuchten unsere Lehrkräfte die Pläne zu interpretieren und unsere Route zu finden. Hilfe erhofften sie sich dabei auch von Kaidou-senseis Stadtplan, der, nach seinem Aussehen zu urteilen, mindestens zwanzig Jahre alt sein musste.

„Hört genau zu“, schrie Aoyagi-sensei geradezu über den allgemeinen Lärm um uns herum - es war schon außergewöhnlich, dass eine derart große Schülerzahl sich um den Plan hatte scharren können - und formte dabei die Hände zu einem Trichter. Sie hätte sich bloß ein Megaphon mitnehmen brauchen. Ich erschauderte bei dem Gedanken. Nein, lieber doch nicht.

„Wir nehmen erst den Zug zu Tennoji Station -“

„Da geht es zum Rotlichtviertel“, rief Taylor dazwischen und stieß Devlin den Ellbogen in die Rippen. Ich wollte lieber nicht wissen, woher er diese Information hatte.

„Dann fahren wir weiter, bis zu Namba Station “, fuhr Aoyagi-sensei unberührt fort, strafte Devlin jedoch mit einem bösen Blick. „Dort steigen wir um und fahren zur Honmachi Station, wo wir erneut umsteigen werden und zwar in die Linie des Hoenzaka Interchanges. Dort steigen wir aus und werden den Rest des Weges zu Fuß gehen.“

Wenn auch nur einer von den Dilettanten sich den Weg tatsächlich gemerkt hatte, würde ich auf der Stelle vor Wheeler zu Kreuze kriechen. Lachhaft. Man konnte jetzt bereits Vermutungen darüber anstellen, wie viele Schüler es zum Hoenzaka Interchange schaffen würde, nachdem die Hälfte bereits beim ersten Umsteigen verloren gegangen war. Mein Mund verzog sich boshaft. Auf ins Gefecht.
 

oOo
 

Das Schicksal hasste mich. Es gab in dem überfüllten Abteil so wenig Platz, dass sich physikalisch gesehen lediglich drei Personen unter Aufbietung sämtlicher Dehnübungen noch hätten dazugesellen können. In unserer heutigen Zivilisation passen zehn Personen in diesen Freiraum. Oder - um es zu präzisieren - werden diese zehn Personen in den Freiraum gepasst. Denn von aktiver Handlung kann hierbei nicht die Rede sein. Alles geschieht passiv, wir einem zugefügt. Einer dieser, zu bemitleidenswerten Wesen gemachten, war ich. Das andere Etwas Wheeler. Er war nicht zu bemitleiden. Er war zu ignorieren. Zwecklos, wenn man auf einem für eine halbe Person gedachten Raum aneinander gepresst wurde. Äußerst zwecklos und unangenehm.

„Pass doch auf, Kaiba.“

„Nimm deinen Fuß von meinem.“

„Du stehst auf meinem Fuß.“

„Atme mir nicht den Sauerstoff weg, Wheeler.“

„Welchen Sauerstoff, bitte?!“

„Und nimm deine Nase aus meinem Gesicht.“

„Nimm deine Visage lieber von meiner Nase, Geldsack!“

Wheeler war nicht minder gereizt als ich. Wenigstens hatten wir so eine Option, um die übermäßigen Aggressionen abzubauen. Oder es zumindest zu versuchen.

„Komm mir nicht so nahe.“

„Denkst du mir gefällt es, Wheeler? Ich lege keinen Wert darauf, deine Flöhe -“ Der Rest des Satzes ging in einem erstickten Keuchen unter. Wheeler hatte mir seinen Ellbogen in den Magen gerammt.

„Oh, entschuldige, gehörte das zu dir? Ist etwas eng hier ...“

„Du ... elender ...“ Ich verschluckte mich an meinen eigenen Worten und wurde von heftigem Husten geschüttelt. Meine noch von dem Beinaheertrinken und dem daraus resultierenden Husten gereizte Kehle reagierte darauf mit einem schmerzhaften Ziehen. „Wenn ... dich -“ Wheeler trat mir fest auf den Fuß und ich wäre zurückgezuckt, wenn dafür der Platz vorhanden gewesen wäre.

„Ups.“

„Wheeler!“ Ich packte ihn am Kragen seines Shirts, als ein Ruck unvermittelt durch den Wagon ging und ich dem Köter rücklings in die Arme fiel. Eine Erfahrung, auf die ich gut und gerne hätte verzichten können. Wheelers Hände lagen auf meinen Hüften, unsere Nasenspitzen berührten sich beinahe. Erinnerungsstücke geisterten durch meinen Kopf, meine Augen weiteten sich, ich versuchte ihn von mir zu drücken, doch es gab keinen Platz dafür. „Verdammt, Wheeler.“

Schlecht, das alles entwickelte sich gegen mich. Ich hatte keine Kontrolle über die Situation - der Schalter für die Notbremse war außer Reichweite, ebenso die Türen. Ich konnte nirgendwo hin. Als hätte Wheeler meinen Gedanken gehört, kam er mir noch näher.

„Na, wie fühlt sich das an, wenn man nicht weglaufen kann?“ Es war falsch, dass er den Spott, den ich mir immer für ihn aufhob, nun gegen mich verwendete. Ich starrte ihn durchdringend an, als ob ich ihn alleine dadurch zum Rückzug bewegen könnte. Natürlich blieb Wheeler ungerührt. Sein Gesichtsausdruck war ruhig, selbstsicher, fordernd. Und dann wurde mir bewusst, dass Wheeler wollte, dass ich defensiv reagierte, dass ich vor ihm zurückzuweichen versuchte. Wheeler war auf Kontrolle aus. Kontrolle, die mir gehörte.

Kontrolle die ich in diesem Moment nicht besitzen konnte. Nicht mit Wheeler unmittelbar vor und an mir in einem beengten U-Bahnabteil, nicht mit seinen Händen derart weit unten, seinem Atem in meinem Gesicht. „Wheeler, ich warne dich.“ Nichts als leere Worte, das war mir bewusst, aber ihm musste es nicht bewusst sein.

Er kam mir noch näher. „Du hast mich heute Morgen aus dem Zimmer geschmissen.“

Oh nein. Wheeler wollte immer noch darüber reden. Jetzt. Hier. Aber ohne mich. Er starrte mich konzentriert an, sein Gesicht bei dieser für ihn so Charakter untypischen Regung beinahe schmerzhaft verzerrt. „Aus dem Bett, um genau zu sein.“

Bei allen - war dieser Möchtegern-Klarsteller wirklich so erpicht darauf, es in einer U-Bahn in Ôsaka auf einem Raum von einem fünftel Quadratmeter mit mir zu klären? Und hatte ich ihm nicht vor wenigen Stunden unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass es nichts zu klären gab?! Und besonders nicht in einer U-Bahn! „Reiß dich zusammen Wheeler und heul nicht rum. Vergiss es einfach.“

„Denk nicht, ich würde es dir jetzt noch so leicht machen“, zischte er und kam mir - so unmöglich es eigentlich auch war - noch näher. „Nicht nachdem du dich wie der letzte Arsch verhalten hast.“

Gerade weil ich mich so verhalten hatte, müsste er mehr Grund denn je dafür haben, nicht mit mir darüber sprechen zu wollen. Er sollte nicht mehr mit mir darüber sprechen wollen. Dieser dumme Köter verstand selbst die simpelsten Absichten hinter meinem Handeln nicht - ich konnte es für ihn noch so leicht machen.

„Du weißt, wir müssen darüber reden.“

„Wie oft soll ich es dir noch sagen: Es ist nichts passiert, worüber es sich zu reden lohnt. Vergiss es.“ Ich hätte ihm den Rücken gekehrt, wenn ich bloß genug Platz für diese Reaktion gehabt hätte, stattdessen musste ich mich damit begnügen, den Kopf geringfügig in eine andere Richtung zu drehen und Wheeler mit Nichtachtung zu strafen. Nicht annähernd so eindrucksvoll wie die geplante Reaktion gewesen wäre, aber besser als nichts.

„Wheeler, wirklich“, mein Blick richtete sich für einen Moment verächtlich auf ihn, bis ich ihn dessen nicht mehr für Wert erachtete und stattdessen den Finanzteil der Zeitung eines unbeteiligt wirkenden Geschäftsmannes neben uns fixierte. „Man könnte meinen, du würdest ernsthaft an mir hängen, so stark wie du darauf beharrst.“ Ich wollte ihn verletzen, ihn angreifen, ihn - wenn ich es schon nicht praktisch tun konnte - verbal aus dem Abteil schubsen. „Ich kann ja verstehen dass du dich geehrt fühlst, weil immerhin ich es war und es sicherlich für dich auch bei dieser einen Erfahrung bleiben wird, aber bitte - dräng sie mir nicht auf. Eigentlich erinnere ich mich bereits heute nicht mehr wirklich daran und spätestens Morgen habe ich es vergessen, denn es gibt bedeutenderes für mich - anders als bei dir.“

Ich spürte, wie Wheeler sich neben mir verspannte, spürte, wie meine Worte ihn trafen, doch es kümmerte mich nicht. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Er schwieg, betroffen und sicherlich durch die präzise gewählten Worte verletzt.

Die Aktien der Kaiba Corporation waren gestiegen. Ich spürte bloß nicht ganz dieselbe Befriedigung wie sonst.
 

Zu meiner maßlosen Enttäuschung ignorierte Wheeler mich von dem Zeitpunkt an nicht, obwohl er jedes Recht dazu gehabt hätte. Er hätte genau genommen die Pflicht dazu gehabt. Es war frustrierend, heute Vormittag hatte es mich gestört, dass Wheeler mich ignoriert hatte, jetzt wünschte ich es mir. Wurde ich etwa schon genauso sprunghaft in meinen Entscheidungen wie er? Natürlich, es war doch bloß eine Frage der Zeit, bis Wheelers Verhalten in dieser Woche über kurz oder lang auf mich abfärben würde, so eng wie wir aufeinander hockten.

... schlechte Wortwahl. Grauenvoll, um genau zu sein.

„Wir müssen die nächste raus“, bemerkte Wheeler und stieß mir versehentlich sein Knie gegen mein Schienenbein. Ich zuckte nicht einmal, die Genugtuung wollte ich ihm nicht gönnen. Erst recht nicht das letzte Wort.

„Korrigiere, Wheeler, wir hätten jetzt raus gemusst.“ Das Zischen hinter uns verdeutlichte, dass die Türen sich soeben wieder geschlossen hatten. Es war faszinierend, die Fassungslosigkeit sich auf seinem Gesicht ausbreiten zu sehen.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?!“

„Du hast nicht gefragt.“

Ich war nicht versessen darauf, mir Aoyagi-senseis Kulturprogramm zu gönnen, genau genommen war der letzte Funken Interesse verloschen, als der Bus nicht aufgetaucht war.

„Nicht gefragt?“ Wheeler wurde wütend. Na bitte, endlich ein Erfolg an diesem ach-so-tristen Tag. „Nicht gefragt?! Sag mal Kai-“

„Schrei den Namen noch lauter durch das Abteil“, fuhr ich ihm mit leiser Stimme dazwischen, „und wir werden bis heute Abend diesen Witz von einem Stehplatz nicht verlassen können. Nur dass dann noch weniger Rücksicht auf dich genommen wird als jetzt, was für mich - offen gesagt - von Sekunde zu Sekunde verlockender klingt.“

„Du hältst echt verdammt viel von dir, was?“, knirschte Wheeler mit zusammengebissenen Zähnen.

„Ich bin realistisch, das ist alles.“

„Größenwahnsinnig trifft es eher.“

„Trotzdem hätten wir die Bahn bei der letzten Station verlassen müssen.“

„Das hilft uns jetzt viel.“

„Warum so schlecht drauf, Wheeler? Freu dich doch, dass zur Abwechslung deine falsche Behauptung zutrifft. Jetzt müssen wir wirklich an der nächsten Station raus.“

„Echt, Kaiba ... du bist doch ... aber wirklich.“ Und damit brachte Wheeler es für heute tatsächlich auf den Punkt. Ausnahmsweise.
 

Aus der Bahn und in die richtige Richtung schafften wir es einzig durch mich. Ich hatte allerdings kurzzeitig mit dem Gedanken gespielt, Wheeler mit einer lachhaften Ausrede (die er, beschränkt wie er war, ernst genommen hätte) zur Übersichtskarte für die Bahnlinien zu schicken und dann einfach dort stehen zu lassen, nur um zu sehen, wie viele Wochen es brauchen würde, bis die Suchtrupps ihn auf Hokkaido auflesen würden. Jedoch hatte ich nicht genügend Restgeduld übrig, um Aoyagi-sensei zu erklären, wieso ich, der ich nie etwas verlor, Wheeler verlor.

Darum lotste ich uns zurück zur richtigen Station, sonnte mich in Wheelers Überraschung darüber, dass ich den Weg von der Hoenzaka Interchange zum nord-westlichen Abschnitt des Schlossparks, dem Ôsaka Business Park, ohne große Mühe fand (Ich verlief mich schließlich nie). Eine schlechte Idee, dieser Weg. Dass sie von mir kam, machte es nur umso erbärmlicher.

„Naa, Kaiba“, neckte Wheeler von links, „vermisst du es nicht? Schon sechs Tage so ganz ohne Gleichgesinnte?“ Sein Blick glitt verächtlich über die Anzug tragenden Angestellten, die an uns vorbeieilten, den Griff ihrer Aktenkoffer umklammernd, ein Handy mit der freien Hand ans Ohr gepresst. Sie nahmen keine Notiz von uns.

Ich wollte Wheeler mit einem scharfen Kommentar über den Mund fahren, doch eine viel zu vertraute Gelassenheit ergriff mich, als ich diese Beschäftigung und Eile beobachtete. Sechs Tage, Wheeler hatte tatsächlich Recht. In beiderlei Hinsicht, wie ich widerwillig feststellen musste.

Und Wheeler wusste sicher nicht einmal, wie man eine Krawatte band ...

„Kaiba, noch da?“ Seine Stimme drang dumpf zu mir vor, ich wollte ihn nicht beachten. Wheeler war eine störende, lästige Lärmquelle. „He, ich rede mit dir, du kannst nicht einfach -!“ Ich ignorierte ihn.

Erst das plötzliche Gekreische von Wheelers Jackentasche richtete meine Aufmerksamkeit schlagartig auf ihn. Ich verzog angewidert den Mund, als die barbarischen Laute anschwollen. Was. War. Das?

„Oh.“ Wheeler beließ es bei einem äußerst sparsamen Kommentar und fingerte sein Mobiltelefon aus der Tasche. Der Köter besaß tatsächlich nicht einmal in der Wahl seiner Klingeltöne Geschmack. Keine Überraschung, wenn man es genauer bedachte.

Der Lärm erstarb. „Ja?“

Ein neuer Lärm setzte ein. Selbst von meiner Position aus konnte ich Gardners augenblicklich einsetzenden Anschuldigungen und Beschimpfungen vom anderen Ende der Leitung hören. Wheeler kam nicht einmal dazu, nach Luft zu schnappen.

„T-Téa“, versuchte er einzuwenden, „ich da- ... nein, wir hab- ... ich wollte ni- ... Téa!“ Sie ließ sich nicht unterbrechen. Wheelers Hilflosigkeit erfüllte mich mit Schadenfreude. Er starrte mich finster an, während Gardner unbeirrt weiter zeterte, dann hellte sich Wheelers Gesichtsausdruck unvermittelt auf. „Warte, Téa, ich geb’ dir Kaiba.“

Ich konnte nicht schnell genug reagieren, da hatte ich Wheelers (billiges und mit überaus lächerlichen Duel Monsters Anhängern behängtes) Handy am Ohr. Reflexartig griff ich danach und bemerkte zu spät meinen Fehler.

„- soll das heißen, du gibst mir Kaiba? Joey? Verdammt Joey, was soll das? Kaiba, bist du das?“

„Gardner“, brachte ich mit aller Beherrschung, die ich allein nach ihren wenigen Worten noch besaß, heraus.

„Ach Kaiba, was bin ich froh, dich zu sprechen. Ich hoffe, Joey war keine zu große Belastung. Wir haben uns ja alle solche Sorgen gemacht, Aoyagi-sensei ist vollkommen außer sich, weil sechs Schüler weg waren und dann ausgerechnet auch noch du. War es Joeys Schuld? Kaiba, ich bitte dich, sei nicht zu hart zu ihm, du weißt, wie er ist, und was immer er gesagt hat, gerade sagt oder noch sagen wird, er meint es nicht so, okay? Wo seid ihr gerade? Wir stehen am Sakura Gate, wir können euch entgegen kommen, wenn ihr wollt. Oder wir schicken jemanden, der euch abholt und -“

Ohne ein weiteres Wort legte ich auf. Wheelers Blick war es sogar wert. „Äh ... hast du Téa gerade abgewürgt?“

„Sie hat es provoziert“, stellte ich klar, mein Blick glitt über das Mobiltelefon in meiner Hand. Die übergroßen Augen eines Kuribohs blickten mit geradezu beleidigend wehleidig entgegen und ich schnaubte. Ich war noch immer der Ansicht, Pegasus musste nicht ganz bei Sinnen gewesen sein, als er diese Staubkugel entworfen hatte.

„Ein Geschenk von Yugi“, bemerkte Wheeler peinlich berührt. Ich gab ihm das Telefon, nicht ohne spöttisch zu lächeln. „Natürlich, Wheeler.“ Die Anhänger klimperten leise, als Wheeler das Telefon an sich nahm. Wie ein Mädchen, dachte ich dabei.

„Und ... was hat sie gesagt?“ Er versuchte, sich unbeteiligt zu geben. Nicht einmal gut schauspielern konnte er.

„Viel“, bemerkte ich nüchtern, wandte mich um und ging weiter. Wheeler würde mir schon folgen, wenn er ankommen wollte.

„Wie ‚viel’?“, fragte er, darum bemüht, mit mir Schritt zu halten. „Das beantwortet meine Frage nicht!“

„Das hatte ich auch nicht vor.“ Sollte er versuchen, sich an mir die Zähne auszubeißen. Ich konnte ihn schon regelrecht wütend bellen hören.

„Versnobter Mistkerl.“

Ich konnte doch nicht widerstehen. „Sie hat sich vorsorglich für alles entschuldigt, was du bis jetzt gesagt hast.“ Ich warf ihm im Gehen einen hämischen Blick zu. „Sie gibt eine wunderbare Mutter für dich ab, Wheeler. Vorbildlich.“

„Téa ist nicht meine Mutter“, stellte Wheeler überflüssigerweise klar. „Und ich brauche niemanden, der für mich die Verantwortung übernimmt.“

„Bist du dir sicher?“

Unvermittelt änderte sich Wheelers Haltung. Selbstsicherheit kehrte in seinen Blick zurück. „Und was ist mit dir, Kaiba?“

Meine Miene gefror. Nein Wheeler, das würdest du nicht wagen!

„Wieso bist du so sicher, dass du niemanden brauchst, der für dich die Verantwortung übernimmt?“

„Weeler, ich bin -“

„Seto Kaiba, ich weiß“, unterbrach er mich. Mit wenigen Schritten überholte er mich und stellte sich mir in den Weg. Er wirkte so lächerlich mit seiner gewöhnlichen Kleidung, seinen unordentlichen Haaren, seinem ganzen Auftreten - um ihn herum prunkvoll und teuer das Businessviertel Ôsakas. Ich blieb trotzdem stehen.

„Du bist Seto Kaiba, du bist genau genommen mehr Kaiba als alles andere, Kaiba. Das ändert nichts daran, dass ich dich davor bewahrt habe, aufzufliegen, dass ich es war, der dein Leben gerettet hat. Wie viel Verantwortung davon hättest du in den jeweiligen Momenten übernehmen können, wenn ich nicht da gewesen wäre? Seien wir doch mal ehrlich, Kaiba, du hältst viel von dir, dein Ego ist an den meisten Tagen größer als das Riesenrad im Habour Village, aber wenn es darum geht Verantwortung zu übernehmen, dann bist du einmalig darin, dich zu drücken.“

Ich setzte bereits an, ihm zu widersprechen, doch er brachte mich mit einer resoluten Handbewegung zum Schweigen. Ich war für einen Moment so verblüfft über diese Dreistigkeit, dass ich Wheeler noch nicht einmal zurechtwies.

„Nein Kaiba, kein aber oder eine hochgestochene Kaiba-Version davon. Du drückst dich vor der Verantwortung, ich hab die Nase voll von deinem ewigen ‚Was man totschweigt, ist auch nie passiert’ und ‚Ach ich ziere mich ja so, darüber zu sprechen’-Getue. Du benimmst dich wie eine verdammte Prinzessin!“

Prinzessin.

Prinzessin, hatte er gesagt.

Prinzessin?!

Ich war in meinem Leben schon vieles genannt worden, aber als Wheeler mich an diesem Nachmittag, an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt Prinzessin nannte, geschah etwas mit mir. Ich erlangte keinen bahnbrechenden Geistesblitz, auch keine unverhoffte Einsicht - etwas schien zu reißen.

Ich griff nach dem Telefon, dass er noch immer in der Hand hielt, ließ es auf den Boden fallen und beinahe im selben Augenblick - ohne auch nur mit der Wimper zu zucken - meinen Fuß darauf niederfahren. Mit einem wehleidigen Knirschen hauchte es sein Leben aus, der kitschige Abklatsch von einem Kuriboh wurde unter seinen Überresten begraben.

Meine Lippen verzogen sich boshaft und ich verschränkte die Arme, den Fuß dabei noch einmal einige Zentimeter bewegend, die Geste mit dem leblosen Knirschen unter meiner Schuhsohle dramatisierend. Ich sah Wheeler an, registrierte den fassungslosen Ausdruck mit Genugtuung. Sollte er bloß noch einmal auf die Idee kommen, mich Prinzessin zu nennen. Beim nächsten Mal wäre es nicht sein Telefon, das meinem Fuß nachgeben würde. Ich würde ihm zeigen, wie viel Prinzessin ich war.

„Ich werde dich dafür so zum Weinen bringen, Wheeler.“ Ohne es eigentlich beabsichtig zu haben, sprach ich den letzten Gedanken laut aus. Wheeler verspannte sich, schien nun seinen Fehler zu begreifen. Er ballte die Fäuste, dann grinste er nicht minder unheilvoll als ich.

„Versuch es.“ Er deutete mit dem Daumen auf sich. „Ich warte.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Mit einem Schritt stand er unmittelbar vor mir, sah mich durchdringend an. „Versuch es, Kaiba“, sagte er leise und eindringlich. „Dir fehlt doch die Fähigkeit, im Nachhinein Verantwortung dafür zu übernehmen.“ Wheeler feixte, ich verengte die Augen.

„Leg es nicht drauf an, Wheeler.“

„Doch Kaiba, genau das tue ich. Trau dich!“ die letzten Worte waren geflüstert, doch ich hörte sie klarer als alles andere.

Und dann überraschte ich Wheeler, mich selbst und sämtliche Businessangestellte, die bis dahin ohne uns Aufmerksamkeit zu schenken, an uns vorbeigegangen waren. Im Schatten eines zwanzigstöckigen Bürogebäudes packte ich Wheeler am Kragen seiner verwaschenen Jeansjacke und zog ihn zu mir. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesich. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich meinen können, in Wheelers Blick ein Ich hab’s dir ja gesagt, Kaiba zu sehen. Und dann hielt ich inne.

„Glaubst du allen Ernstes, ich wäre so leicht zu manipulieren, Wheeler?“, fragte ich leise. Und mit dieser Verweigerung von Wheelers direkter Forderung, diesem Innehalten kurz bevor er bekam, was er offenbar wirklich gewollt hatte, schockierte ich ihn mehr, als mit der mutwilligen Zerstörung seines Handys. Es war für mich bei weitem der schönste Moment des ganzen Tages. Hätte ich allerdings gewusst, wie Wheeler sich noch dafür revangieren würde, hätte ich ihn vielleicht doch einfach geküsst.
 

~*~*~
 

Now, I don't know and its hard to explain,

but it seems like things are just kind of insane

because the world is crying but nobodys listening

so please leave a message on my cell phone
 

~*~*~
 

(Stuff Is Messed Up - The Offspring)

Tag 6: Stilbruch

Tag 6: Stilbruch
 

Es war einmal ein mit sich selbst äußerst zufriedener, junger CEO eines der erfolgreichsten Unternehmen der Welt. Sein derzeitiges Leben verlief in geregelten Bahnen, sein kleiner Bruder wuchs in hervorragenden Verhältnissen auf und entwickelte sich ausgezeichnet.

Es begab sich jedoch zu einer Zeit, da der erfolgreiche CEO in einer einzigen Woche, die er in einer fremden Stadt verbringen musste, auf eine harte Probe gestellt wurde. Er musste sich penetranten Nächstenliebenden stellen, die wieder und wieder um seine Freundschaft bettelten - allen voran einer, der dem jungen, erfolgreichen CEO schon lange ein Dorn im Auge war, da er ihn als einziger in dem Spiel geschlagen hatte, das der junge, erfolgreiche CEO gemeint hatte, als Bester zu beherrschen.

Das geordnete Leben des jungen, erfolgreichen CEOs wurde jedoch noch viel mehr von einem anderen Störenfried aus der Bahn geworfen. Dieser Störenfried trat in Form eines kläffenden, streunenden Köters auf, der es sich zum Ziel gemacht hatte, dem jungen, erfolgreichen CEO durch seine stetige Präsenz das Leben zu erschweren. Doch der junge, erfolgreiche CEO war schlau und gerissen und wusste mit dem kläffenden, streunenden Köter umzugehen.

Bis zu dem Tag, an dem der kläffende, streunende Köter und der junge, erfolgreiche CEO sich in einem nassen, kalten Teich voller Kois küssten.

Der junge, erfolgreiche CEO –

... runzelte die Stirn. Das war nicht mal mehr albern, das war aberwitzig. Wenn ich es richtig verkauft hätte, hätte er Wheelers und meine ... was-immer-es-war für gutes Geld als Kindermärchen verkaufen können. Sollte mich das beunruhigen?

„Wo lang, Kaiba?“ Der kläffende, streunende Köter sah mich nicht an, die letzten zehn Minuten hatte er mich mit Nichtachtung gestraft und ich fragte mich, warum Wheeler das nicht öfter tat.

Zu unserer Linken erfüllte von Kindern verursachter Lärm die Luft, denn einige Baseballfelder waren dort errichtet worden. Dann passierten wir das Aoya Tor und vor uns erhob sich etwa hundert Meter entfernt das Schloss von Ôsaka.

Gardner hatte am Telefon gesagt, sie würden am Sakura Tor auf uns warten, also würde ich definitiv nicht dorthin gehen. „Links, Wheeler“, bemerkte ich, ohne ihn anzusehen, obwohl wir eigentlich nach rechts mussten, doch ich wollte ihn loswerden. Zu meiner tatsächlichen Überraschung schlug Wheeler ohne zu zögern die andere Richtung ein. Ich hob die Augenbrauen, sagte jedoch nichts. Ich wollte Wheeler noch nicht einmal verstehen und er machte sich keine Mühe, mit irgendeinem Kommentar auf meinen Versuch, sich seiner zu entledigen, einzugehen. Als wir die Gokurakubashi Brücke überquerten, reichte es mir. Ich hatte es geduldet, dass Wheeler vor sich hinbrütete, wie eine äußerst beschäftigte Glucke, aber das ging wirklich zu weit.

„Hör auf zu schmollen, Köter“, fuhr ich ihn an.

Wheeler blieb stehen, drehte sich jedoch nicht zu mir um. „Entscheide dich mal, Kaiba.“

„Ich habe mich entschieden, Wheeler. Dein Verhalten ist die reinste Zumutung.“

„Frag mich mal, wie es mir mit dir geht“, murmelte er und ich wusste, dass es ihm egal war, ob ich es hörte oder nicht.

„Finde dich damit ab, Wheeler. Erstens bin ich nicht manipulierbar – es hat also keinen Sinn, es zu versuchen – und zweitens, wird das, was zwischen und vorgefallen ist, nie wieder passieren.“ Diese Worte schienen Wirkung auf ihn zu haben.
„Und genau da irrst du dich, Kaiba!“ Ich verschränkte die Arme und beschloss, ihm seine zehn Sekunden Sprechzeit zu gewähren. Jeder Hund brauchte irgendwann Auslauf und Wheeler hatte sich in den letzten zwanzig Minuten extrem zurückgehalten. „Du bist sehr wohl manipulierbar und wenn du denkst, dass es mit diesem Kommentar von dir ein für alle mal gegessen ist, ist dein ach-so-hoher IQ doch nicht so hoch, wie alle immer denken.“ Er grinste auf diese dumme Art und Weise, die er immer an den Tag legte, wenn er einem viel zu starken Gegner gegenüber stand und noch immer die vollkommen vergebliche Ansicht vertrat, diesen besiegen zu können. Wunschdenken nannte man es auch.

„Ach ja?“

Er deutete mit dem Daumen auf sich. „Kaiba, so wie ich hier vor dir stehe, schwöre ich dir, dass ich dich noch dazu kriegen werde, dir zu wünschen, mich eben geküsst zu haben.“ So direkt hatte keiner von uns es vorher ausgesprochen.

„In deinen Träumen, Wheeler.“ Wenn er diese Worte in der Realität aussprach, wollte ich mir nicht einmal ausmalen, was in seinen Träumen vor sich ging. ... zu spät. Danke, Wheeler.

„Ich bleibe dabei Kaiba.“ Er stemmte die Hände in die Hüfte. „Bis heute Abend –“

„Joey! Kaiba!“

Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Sie hatten uns gefunden! Wheeler sah einen Moment so aus, als hätte er den gleichen Gedanken gehabt, dann war der Ausdruck von – war es tatsächlich Enttäuschung?! – verschwunden und ich tat diese Wahrnehmung als Einbildung, bedingt von dem ungünstigen Stand der Sonne, ab. Das war eine der besten Entscheidungen, die ich an diesem Tag getroffen hatte.
 

„Und im Erdgeschoss sehen Sie zu Ihrer rechten das Theater des Schlosses, in dem Sie bis zu fünf Filme über Hideyoshi Toyotomi und das Osaka Schloss informieren.“ Die Museumsführerin lächelte unentwegt. „Zu Ihrer Linken haben Sie den Souvenirshop, in dem sie unter anderem Andenken wie Postkarten, Bücher über die Geschichte des Schlosses und kleine Miniaturausgaben des Schlosses erwerben können.“ Ihr Lächeln war tadellos, ihre Haltung ohne Makel. Ich überlegte, sie im Nachhinein für die Kaiba Corporation anzuwerben. Bei den Führungen durch das Hauptgebäude der Firma war Personal wie sie regelrecht Gold wert.

„Wenn Sie mir nun bitte folgen würden.“ Sie blieb vor dem Eingang des Kinos stehen und deutete neben sich. „Wenn Sie den Film angesehen haben, werden wir die Führung fortsetzen.“ Man nehme 39 Oberschüler und leite sie in einen Vorführraum, der zwar eine Kapazität von zwei Japanischen Schulklassen vorzuweisen hat, jedoch nicht freiwillig 39 Schüler gleichzeitig schluckte. Das Resultat spielte sich vor meinen Augen ab. Ich zog es vor, dankend auf das Gedränge zu verzichten und stattdessen zu warten. Erst als der Ansturm vorbei war wagte ich mich in das unbekannte Gebiet vor und entschied mich bei dem Chaos, welches sich vor mir ausbreitete, stehen zu bleiben.

„Entschuldigung, aber das Stehen ist während der Vorführung verboten.“ Ich strafte den Angestellten, der offenbar neben der Tür nur darauf gewartet hatte, etwas sagen zu dürfen, mit einem finsteren Blick. Ich setzte zu einem Kommentar an, bis mir bewusst wurde, dass ich ihn nicht wie gewohnt zurechtweisen konnte, da ich inkognito hier war. Missgestimmt folgte ich seinem Wink und setzte mich auf den äußersten Platz der letzten Reihe. Einige Reihen vor mir beschwerten sich Taylor und Wheeler lauthals über das Fehlen von Popcorn und wurden erst leise als Aoyagi-sensei sie mit scharfen Worten zurechtwies.

Dann begann die Vorführung und schlimmer hätte es nicht werden können. Das Programm an sich war nicht die falsche Wahl, doch offenbar schien unsere Pechsträhne sich fortzusetzen. Der Film lief keine fünf Minuten, da verstummte unvermittelt jeglicher Ton. Man teilte uns mit, dass die Lautsprecher einen Defekt hätten, den man auf die Schnelle nicht beheben konnte. Nun war eine japanische Klasse inklusive Lehrpersonal auf englische, chinesische und koreanische Untertitel angewiesen, die parallel zum Film liefen. Es war die Hölle.

Nachdem einer meiner Mitschüler zum vierten Mal die Frage stellte, was das englische Wort conquer bedeuten würde, nachdem Devlin und Taylor sich sieben Minuten über die koreanischen Zeichen lustig gemacht hatten, nachdem Gardner Wheeler wieder und wieder zu erklären versucht hatte, dass ni hao nicht ursprünglich von den Indianern kam und keineswegs verwendet wurde, um ihren Stammesbrüdern gutes Gelingen mit den Frauen zu wünschen (ganz ehrlich, wie kam man auf eine derart haarsträubende Theorie? Selbst für Wheelers Verhältnisse war das erschreckend), wurde es mir zuviel. Ich erhob mich von meinen Platz und verließ – ohne den Einwand des Mannes neben der Tür zu beachten – das Möchtegernkino mit dem Schmierentheater.

In der verbleibenden Zeit sah ich mir den Souvenirladen näher an, auf der Suche nach einem Mitbringsel für Mokuba. Nicht, dass ich ihm unbedingt etwas mitbringen musste, doch ich wusste, er würde sich darüber freuen. Es war manchmal beängstigend mit welchen Kleinigkeiten man Mokuba glücklich machen konnte. Andere Kinder seines Alters, die ähnlichen Status hatten, waren nicht einmal mit einem Pony oder einem eigenen Karussell zufrieden. Andererseits war ich froh darüber, dass Mokuba trotz unseres Wohlstandes nicht den Boden unter den Füßen verloren hatte. Wenn mich eines an ihm Stolz machte, dann das.

Ich betrachtete die Miniaturausgaben des Schlosses, doch sie waren viel zu kitschig, als dass sie Mokuba gefallen hätten. Schließlich fiel mein Blick auf ein Regal mit traditionell japanischen Drachenfiguren und ich brauchte nicht zu überlegen, um zu wissen, dass sie genau das richtige Mitbringsel für Mokuba waren. Mich vorher vergewissernd, dass die Kappe den Großteil meiner Haare verbarg, ging ich zur Kasse und bezahlte zwei Drachen. Die Kassiererin musterte mich interessiert, doch sie schien mich nicht zu erkennen – ich sah kein Anzeichen von dem leider viel zu vertrauten schmachtenden, bewundernden Gaffen, das meine Anwesenheit für Gewöhnlich bei Mädchen und Frauen hervorrief.

Ich griff nach der Tasche, als neben mir eine in gleichem Maße leider sehr vertraute Stimme erklang: „Ich nehme das hier und geben Sie mir doch bitte noch einen von diesen Schlüsselanhängern.“

Er ließ sich einfach nicht abwimmeln. Er war wie eine penetrante Krankheit, die sich nicht kurieren ließ. Ich wandte mich zum Gehen. „Kaiba.“ Warum ich innehielt und mich doch zu ihm umdrehte ist mir im Nachhinein zwar nicht mehr ganz so unverständlich, aber in dem Moment war es nichts mehr als ein Reflex, der mir gebot, Wheeler unter keinen Umständen den Rücken zu kehren.

„Was?“

„Hier.“

Ehe ich es hätte verhindern können, hatte er mir den Schlüsselanhänger in die Hand gedrückt, den er eben gekauft hatte. Ich betrachtete ihn abweisend, doch als mir die Bedeutung der Schriftzeichen bewusst wurde, wurde mir kalt vor Wut. „Das ist nicht dein Ernst?!“

Wheeler lächelte. Es war ein Lächeln voller Häme. „Wo denkst du hin?“

Er hatte mir einen Glücksbringer geschenkt, doch die Bedeutung des Glücksbringers war so unverschämt, dass es sogar die Dreistigkeit von Wheeler übertraf, mir in erster Linie überhaupt etwas zu schenken. Ein Glücksbringer für gutes Wetter?! Mir fehlten schlichtweg die Worte. Wheeler nutzte diesen Vorteil aus, indem er mir im Vorbeigehen auf die Schulter klopfte und sagte: „Ich hab dir doch gesagt, es wird dir noch leid tun.“

Ich schloss die Hand um den Glücksbringer. Wheeler wollte Krieg? Den konnte er haben.
 

„Wie Sie sehen können, befindet sich zu Ihrer Linken erneut eine Abbildung von Ôsakas Geschichte auf einen Blick.“

„Wie schon im ersten, zweiten und dritten Stock“, murmelte Wheeler Devlin zu. „Ich kann es nicht mehr hören ...“

„Stell deine Frage doch laut, Wheeler“, bemerkte ich in normaler Lautstärke, sodass die Museumsführerin verstummte und alle Blicke sich auf Wheeler und mich richteten. „Ich denke, die anderen sind sehr daran interessiert, was du gerne wissen möchtest. Vielleicht ist dir ja noch zu helfen.“ Allen außer Wheeler entging, dass der letzte Satz ein direkter Angriff war. Ich hatte ihm nun offen den Krieg erklärt.

„Fragen dürfen jederzeit gestellt werden“, erklärte die Frau und schaffte es derart gut, ihre Irritation mit einem Lächeln zu überspielen, dass ich mir vornahm, Roland nach der Führung von einem der öffentlichen Telefone anzurufen, um ihm den Auftrag zu geben, sie umgehend anzuwerben. „Was möchtest du wissen?“

„Also ... äh, das ...“ Wheeler starrte mich finster an. Ich lächelte überlegen. „... das ist nämlich so: Ich wollte wissen“ – und damit richtete er seine Aufmerksamkeit mit einer plötzlichen Selbstsicherheit auf die Museumsführerin – „ob es in diesem Schloss auch einen blutigen Kampf um eine gutaussehende Frau gegeben hat.“

Nicht einmal einen Moment lang verriet ihre Mimik, wie sehr sie diese Frage empörte. „Ich fürchte, da muss ich dich enttäuschen. In diesem historienreichen Schloss haben zwar sehr viele hoch angesehene Damen geweilt, doch einen Kampf um sie hat es nicht gegeben. Bedauere.“

„Aha.“ Wheeler warf mir einen triumphierenden Blick zu, als sollte es mir irgendwas sagen.

„Gibt es noch weitere Fragen? Dann setzten wir die Führung jetzt fort. Hier sehen Sie die Kriegsszenen des Schlosses in Miniaturansicht umgesetzt. Diese Ansicht bietet einen guten Überblick und hebt hervor, wie schwer das Schloss durch seine Konstruktion einzunehmen war.“

„Ich kenne da noch andere, die schwer von sich eingenommen sind“, murmelte Wheeler halblaut mit einem Blick auf mich. Devlin und Taylor lachten.

„Benehmt euch gefälligst!“, wies Aoyagi-sensei sie umgehend zurecht und lächelte die Museumsführerin entschuldigend an.

Die Führung wurde fortgesetzt, weitere Male wurden uns neue Aspekte von Ôsakas Geschichte auf einen Blick nahegelegt. Immer wieder versuchte Wheeler mich mit Kommentaren zu provozieren, bis Aoyagi-sensei ihm mit Strafarbeiten drohte, sollte er nicht endlich still sein. Wheelers störrisches Murren ließ mich zufrieden lächeln. Eigentor.

„Wir erreichen nun die letzte Ebene des Schlosses. Von hier aus haben Sie einen wunderbaren Panoramablick auf die Stadt, besonders aber auch auf das Schlossgelände und seine genaue Konstruktion. Lassen wir die Gebäude der Neuzeit außer Acht, so war das Schloss zu seiner Zeit das höchste Gebäude der Umgebung. Von hier aus hatte man ungetrübten Blick auf das umliegende Land und das unbemerkte Anrücken eines Feindes war somit unmöglich. Des Weiteren konnte jeder Bürger der Stadt das Schloss sehen, wodurch die Präsenz des Schoguns dauerhaft im Bewusstsein des Volkes verankert war.“

Längst hatte ich mich abgewandt und blickte in die Ferne. Die Bürogebäude ragten einige hundert Meter entfernt in die Höhe und riefen eine beinahe sehnsuchtsvolle Empfindung bei mir hervor. Ich sollte Roland wirklich anrufen, nicht nur, um die Museumsführerin anwerben zu lassen, sondern auch, um mich über die Firma zu erkundigen. Ich war immerhin ihr Leiter! Mokuba konnte nicht von mir erwarten, dass ich eine Woche lang meine Pflichten vernachlässigte.

„Heimweh, Kaiba?“ Devlin und Taylor standen neben mir und musterten mich feixend. „Keine Sorge, bald bist du wieder zuhause.“ Sie wurden mutiger. Wheelers Dreistigkeit schien auf sie abzufärben.

Ich verschränkte die Arme. „Heimweh?“, echote ich. „Nicht wirklich. Einige der Firmen“, ich nickte in die Richtung der Bürogebäude, „sind Partner der Kaiba Corporation. Ich bin hier ebenso daheim – wenn ihr es so ausdrücken wollte – wie im Hauptsitz meiner Firma. Davon kannst du nur träumen, Devlin. Und was dich angeht, Taylor.“ Meine Mundwinkel zuckten. „Ich schätze, ich könnte mir den Atem auch sparen, da es offensichtlich ist, dass deine Träume nicht einmal diese Richtung einschlagen können.“

„Pff.“

„Angeber.“

Zwei Idioten weniger, die mich belästigen würden. Da waren es nur noch drei. Gardner machte allerdings nicht einmal Anstalten, mich irgendwie anzusprechen – im Gegensatz zu denen, die es bereits probiert hatten, schien sie wenigstens vernünftig zu sein – Wheeler war beschäftigt, da ihm Aoyagi-sensei, unterstützt von Kaidou-sensei, einen Vortrag über das angemessene Verhalten von Schülern bei einer Führung durch ein historisches Gebäude hielt. Blieb nur noch Muto. Ich wünschte, es wäre jemand anderes.

„Fang gar nicht erst an“, sagte ich, bevor er überhaupt den Mund öffnen konnte. „Nein, ich brauche keine Ratschläge, nein – ich versichere dir, Muto, es hat absolut nichts mit dem vermeintlichen Schicksal zu tun und – Gott bewahre – ich will nichts von Wheeler.“

„Ich dachte, du wärst Atheist.“

Damit hatte ich nicht gerechnet. „Wie bitte?“

Muto sah mich nicht an, viel mehr schien ihn der einmalige Panoramablick zu faszinieren. „Du hast Gott erwähnt. Ich dachte, du glaubst nicht an Schicksal und Götter.“

„Fängst du jetzt etwa an, mich zu analysieren?“

„Glaub mir Kaiba, wenn ich das versuchen würde, bekäme ich Kopfschmerzen.“

„Ah.“ Seine Antwort war befriedigend. Wenigstens war er nicht wie Wheeler der Ansicht, ich sei leicht zu manipulieren oder voraussehbar. Muto sah es so, wie es war.

„Denk jetzt nichts Falsches, Kaiba.“ Nun sah er mich an und das Lächeln auf seinen Zügen war zu gelassen. „Ich meine damit, dass deine Handlungsweise manchmal so eindimensional ist, dass es mir Kopfschmerzen bereitet.“

„Dafür bin ich nicht wie du der Ansicht, das Gardner immer recht hat“, gab ich kalt zurück.

„Jetzt wirst du kindisch.“

Man hatte mich heute bereits Prinzessin, eindimensional und kindisch genannt. Das war meine persönliche Tiefstleistung. „Immerhin glaube ich nicht an das Schicksal.“ Wir bewegten du im Kreis – genauer: ich bewegte uns im Kreis. Das war peinlich. Ich war Seto Kaiba! Ich dominierte Dialoge, ich war nicht kindisch oder gar trotzig. Daran war ganz und gar Wheeler schuld! Wenn er nicht behauptet hätte, ich wäre manipulierbar ... - wenn er nicht wäre!

Muto lachte. „Du bist komisch, Kaiba.“

Danke, das hatte mir noch gefehlt. Jetzt konnte ich das Attribut komisch in meine Schandsammlung einfügen.

„Du bist so sehr auf das fixiert, was schlecht ist, dass du überhaupt nichts Gutes mehr wahrnimmst.“ Er strich sich durch die Haare. Wen interessierte es, wie das Schloss konstruiert war, wenn eine Frisur wie Mutos der Schwerkraft trotzte. „Das ist nicht schön mit anzusehen. Vor allem, wenn du Joey da mit reinziehst.“

„Ich habe ihn nicht darum gebeten.“

„Auf einmal weist du jegliche Verantwortung von dir. Das ist untypisch für dich, Kaiba. Das wirkt, als hättest du Angst.“

„Angst? Wovor denn? Vor Wheeler?“ Ich lachte freudlos. „Ich bitte dich, es gibt nichts, wovor ich Angst habe.“

„Du hast Angst um Mokuba. Du hast Angst, eines Tages wieder gegen mich zu verlieren. Und du hast Angst davor, dass Joey in deiner Gegenwart selbstsicherer wird. Drei Dinge, die dir mit Sicherheit Sorgen bereiten. Der ersten Tatsache bist du dir bewusst, aber du darfst sie dir nicht eingestehen, weil du Mokuba beschützen willst. Was die zweite Sache angeht – sagen wir es so: Du hast mich ein Jahr lang nicht mehr zum Duell herausgefordert, also planst du sicherlich wieder etwas. Aber du befürchtest, du könntest scheitern. Deine dritte Angst existiert erst seit gestern. Und sie beherrscht momentan dein Handeln.“ Er schwieg, dann seufzte er. „Als hätte ich es nicht geahnt. Jetzt habe ich Kopfschmerzen.“

„Dein Pech, Muto. Ich habe schon viele abwegige Theorien gehört, aber das übertrifft alles.“ Hatte er keine Hobbys? Ich senkte die Stimme: „Natürlich bin ich besorgt um Mokuba. Zweimal wurde er schon entführt, jeder an meiner Stelle wäre vorsichtig. Ich wäre fahrlässig, ihn nicht noch mehr beschützen zu wollen. Was deine zweite Theorie betrifft, kann ich nur sagen: Angst vor dir? Du magst mich geschlagen haben, aber ich habe keine Angst vor dir. Ich bin wütend, weil du mein Turnier durch deinen Sieg ruiniert hast, aber das bestärkt mich nur in dem Streben, dich eines Tages vor den Augen der ganzen Welt zu schlagen.“

Ich hatte nicht Angst, wieder zu verlieren. Ich hatte nach der Niederlage zwar vier Nächte lang nicht geschlafen, jedoch nur, weil ich mit den Vorbereitungen für die Umsetzung der Freizeitparks beschäftigt gewesen war. Ich hatte nur deshalb kaum etwas gegessen, weil ich zusätzliche die Aufräumarbeiten am Duell Tower arrangieren und nebenbei die Arbeit der vergangenen Wochen hatte nachholen musste, in denen das Battle City Turnier all meine Aufmerksamkeit beansprucht hatte. Mokuba hatte mich zum Essen und Schlafen zwingen müssen, weil ich lediglich die Zeit aus den Augen verloren hatte. Keinen Moment lang hatte ich Angst gehabt. Wovor auch? Davor, meinen Ruf und gleichzeitig die Kaiba Corporation an Wert verlieren zu sehen? Davor, versagt zu haben und es wieder zu tun – Mokuba dadurch kein angemessenes Vorbild zu sein? Nein. Keinen Moment hatte ich daran gedacht.

Ich schüttelte den Kopf. „Und was deine letzte Theorie betrifft: Ohne Worte, Muto.“ Angst vor Wheeler? Das war so ... daneben, dass mir nicht einmal eine passende Erwiderung darauf einfiel.
 

Das geordnete Leben des jungen, erfolgreichen CEOs wurde jedoch noch viel mehr von einem anderen Störenfried aus der Bahn geworfen.
 

Ein Märchen, nichts weiter. Von wegen Angst.

Ich wusste, was nun kommen würde: Muto würde mir vor Augen führen, dass ich es bloß leugnete und dass ich es dadurch nur verschlimmerte. Er würde mir raten, es mir einzugestehen, weil es mir dann ja viel besser gehen würde.

„Schade, Kaiba“, war alles, was er dazu sagte. Er zuckte die Achseln. „Das wird wehtun. Joey wird sich damit nämlich nicht zufrieden geben. Du solltest dich wappnen, denn er wird deine Argumentation einrennen. Du hast seinen Kämpfernatur herausgefordert.“

„Er soll es versuchen.“

„Er wird es nicht nur versuchen.“

„Dann wird er kläglich untergehen.“

„Wir werden sehen.“
 

„Guten Flug, Kaiba!“
 

Wenn ich tatsächlich fallen würde, würde ich Wheeler mit mir ziehen.
 

oOo
 

Die Erbauer des Schlosses hatten ganze Arbeit geleistet. Es wirkte trotz der modernen Gebäude, die es einkesselten, nicht eingeengt und drohte auch nicht inmitten der Stadt unter zu gehen. Es wirkte stolz und majestätisch, strahlte Erhabenheit aus. Diesen Charme hatten die Gebäude der vergangenen Jahrhunderte und ich strebte an, mit der Kaiba Corporation eine ähnliche Wirkung in der Neuzeit zu erzielen.

Ich betrachtete gedankenverloren eine Abbildung des Schlosses neben dem Münzapparat, während die Computerstimme am anderen Ende der Leitung meine Optionen nannte. „... mit der Personalabteilung der Kaiba Corporation verbunden zu werden, sagen Sie Ja.“

„Ja.“

„Sie werden verbunden.“

Er sollte die Musik der Warteschleife ändern lassen. Sie war grauenhaft.

„Kaiba Corporation Personalabteilung, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Seto Kaiba hier. Verbinden Sie mich mit Roland.“

„Entschuldigung? Sagten Sie Seto Kaiba?“

Ich tippte ungeduldig auf das Informationsschildchen für Notrufnummern. „Ja. Und nun verbinden Sie mich mit Roland.“

„Es tut mir leid, aber wir sind ein vielbeschäftigtes Unternehmen und halten nichts von Telefonstreichen.“

Ich verspannte mich. „Wie bitte?“ War das ihr ernst? „Ich bin Seto Kaiba und ich verlange, dass ich mit Roland verbunden werde.“ Ich diskutierte mit meiner Personalabteilung. Mit meiner Personalabteilung!

„Verzeihen Sie, aber Seto Kaiba ist zurzeit auf einer Tagung in London. Außerdem besitzt er Rolands Nummer und muss sich wohl kaum durch die Personalabteilung mit ihm verbinden lassen. Ich bitte Sie also, diesen Scherz zu lassen und uns nicht weiter zu belästigen.“

Mir riss der Geduldsfaden. Meine Worte waren weniger bedacht gewählt, meine Stimme gezeichnet von unterdrückter Wut. „Jetzt hören Sie mir mal zu: Da ich zurzeit bedauerlicherweise nicht im Besitz meines Mobiltelefons bin, verzeichne ich gleichsam den Verlust von Rolands Nummer, weswegen ich Sie bitte, mich mit ihm zu verbinden. Oder überfordere ich Sie damit?!“ Ich hätte mein Personal besser auswählen lassen sollen. Sobald ich wieder in der Firma war, würde ich die gesamte Personalabteilung einer persönlichen Inspektion unterziehen!

„Werden Sie nicht ausfallend!“

„Ich bin noch nicht ausfallend. Aber wenn Sie so weiter machen, werden Sie mich kennenlernen, denn meine Toleranzgrenze ist hiermit erreicht.“ Ich wurde mit jedem Wort lauter. Ich würde diese Frau feuern lassen.

„Was denken Sie, wer Sie sind?!“

„Seto Kaiba, verdammt noch mal!“ Meine Hand landete knallend auf dem Münztelefon, ließ es in seiner Halterung erzittern. „Ich bin Seto Kaiba und ich verlange, dass man mich verbindet!“

Ein Knacken, dann war die Verbindung unterbrochen. Man hatte mich abgewürgt! Nach dieser Fahrt würde ich die gesamte Personalabteilung feuern und mit zuvor dreimal überprüftem neuen Personal besetzen lassen!

Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich schnellte herum, den Hörer noch immer in der Hand und hätte ihn beinahe abgerissen. „Was?!“

„Das war taktisch unklug“, murmelte Wheeler und deutete hinter sich. Sämtliche Blicke waren auf ihn gerichtet. Nein, vielmehr auf mich.

„Was willst du?“, zischte ich, nicht in der Stimmung, mich jetzt wegen was-auch-immer von ihm belehren zu lassen. Bis sich meine Wut schlagartig verflüchtigte, da mein Verstand die viel zu unkontrollierten Emotionen unterdrückte und mein Fokus sich auf meine Situation richtete. Meine – sich in den letzten Momenten ins direkte Zentrum aller Anwesenden gerückte – Situation.

Einige Besucher begannen zu tuscheln. Irgendwo neben mir blitzte ein Fotoapparat.

Ich resignierte. „Verdammt.“

„Das kannst du laut sagen“, bemerkte Wheeler, handelte schneller als ich in der Lage war, packte mich am Arm und zerrte mich mit sich.
 

„Kaiba ...?

„... wirklich der Seto Kaiba ...?“

„... mal ein Foto, los!“

„... schon immer kennenlernen!“
 

„Scheiße, ich dachte, die bräuchten länger“, knurrte Wheeler, als er mich hinter sich herzog und ich – viel zu entsetzt von meiner eigenen Fahrlässigkeit – ihn einfach handeln ließ. „Duke, Tristan, gebt uns Rückendeckung!“

„Nur weil du es bist, Alter.“ Taylor gab Wheeler einen Schubs.

„Entschuldigen Sie, Sie können hier leider nicht durch.“ Devlin ließ seinen Charme spielen.

Wir verließen den Eingangsbereich und die frühe Abendsonne hieß uns willkommen. Wheeler zog mich mitten in die Schülergruppe vor dem Eingang, die auf die letzten Nachzügler – genau genommen: uns – gewartet hatte.

„Aoyagi-sensei, wir müssen hier schnell weg!“ Wheelers Worte zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns. „Kaiba, dieses Genie, hat sich selbst geoutet.“

„Ach herrje“, entwich es Aoyagi-sensei und Kaidou-sensei seufzte. „Wie unpassend.“

„Sei still, Wheeler“, fuhr ich den Köter an. „Es ist doch ohnehin –“ Ich unterbrach mich. Dieses Mal war es nicht seine Schuld. Ich war derjenige, der meinen Namen so fahrlässig in den Raum geworfen hatte.

„Sei selber still, Kaiba. Ryou, stell dich mal vor ihn. Nein, so.“ Er packte Bakura bei den Schultern und platzierte ihn so, dass er eine Lücke in der Schülermenge versperrte. „Yugi, sorg dafür, dass immer irgendwie wer vor ihm steht. So, Kaiba, Oberteil aus.“

„Was?“ Selbst mir fiel auf, dass diese Aussage vollkommen deplatziert war. Ich senkte die Stimme. „Wheeler, für deine Spielchen ist es jetzt die falsche Zeit.“

„Red keinen Stuss. Die haben dich fotografiert, in spätestens zehn Minuten sind Reporter hier. So ungern ich das sage, aber du bist Seto Kaiba, Himmel noch mal, du weißt doch selbst am besten, wie die Reporter sich um dich das Maul zerreißen. Die werden dich suchen, weil es die Story ist, also zieh jetzt dieses verdammte Oberteil aus oder ich mache es eigenhändig!“

„Darauf verzichte ich.“ Denjenigen, die es wagten, zu grinsen oder gar zu lachen, warf ich finstere Blicke zu. Dann zog ich widerwillig das Oberteil aus. Mädchen begannen zu kichern, einige Jungs pfiffen. „Uuh, Kai-“

„Schreit den Namen noch durch die Gegend und diese ganze Aktion ist für die Katz“, bemerkte Gardner trocken und verschränkte die Arme. „Hat jemand ein zweites Oberteil dabei?“

Ein kalter Schauer jagte über meinen Rücken, als ich mich an das letzte Ersatzshirt erinnerte. „Vergesst es!“ Noch einmal würde ich nicht zum Traum der schlaflosen Nächte von irgendwem werden.

„Ist jemand bereit, sein Shirt mit Kaiba zu tauschen?“

„Darf man das dann behalten?“, fragte eins der Mädchen.

Gardner verdrehte die Augen. „Mädchen fallen dabei raus. Es sei denn, Kaiba soll -“

„Bitte“, warf ich dazwischen. „Erspar mir die Vorstellung.“

„Guck nicht so gequält, Kaiba.“

„Ich hab einen Pullover dabei!“, kam eine Stimme aus der Schülermenge.

Gardner lächelte. „Na bitte, irgendwas musste sich doch finden.“

„Weißt du wie warm es ist, Gardner?“

„Entweder das oder Paparazzi.“ Wheeler hielt mir den Pullover entgegen. „Und wenn du noch länger oben ohne hier rum stehst, fällst du nur noch mehr auf. Also zieh ihn schon an.“

Ein Kommentar lag mir bereits auf der Zunge, doch vom Eingang des Schlosses drangen wirre Stimmen zu uns vor. Devlin und Taylor hatten die Leute nicht länger aufhalten können. Ich musste mir diese Niederlage eingestehen. „Nun gib schon her.“ Ich riss Wheeler das Oberteil aus der Hand und streifte es mir über. Der Pullover war viel zu warm und missgestimmt vergrub ich die Hände in den Taschen. Der Reisverschluss war geöffnet, reichte aber nicht bis nach unten sondern endete ein Stück oberhalb meiner Brust. Was sollte das? Wenn ein Reisverschluss da war, konnte man doch gleich eine Jacke daraus machen. Ich verstand es nicht.

„Du sinnierst doch jetzt nicht gerade über das Oberteil nach?“, Ich starrte wütend zur Seite, kam jedoch nicht dazu, Wheeler über den Mund zu fahren. „Sag cheese, Kaiba!“ Ein Blitz blendete mich. „Ein Bild für die Ewigkeit, sag ich dir. Damit noch Generationen nach uns etwas von deinem Blick haben.“

„Du weißt, dass ich dich dafür verklagen kann.“

„Als ob, Kaiba.“

„Klappe Köter.“

Wheeler streckte die Hand aus und Yugi gab ihm einen Schal, den er aus seiner Tasche gezogen hatte. Warum Muto bei den Temperaturen einen Schal dabei hatte, wollte ich mich lieber nicht fragen und ich würde den Schal ganz gestimmt nicht –

„Umbinden, Kaiba.“

Ich verschränkte die Arme. „Im Leben nicht, Kaiba.“
„Das oder wir rufen die Schaulustigen hierher und dann kannst du sehen, wo du bleibst.“ Wheeler meinte es ernst, dass erkannte ich sofort. Ich packte den Schal und band ihn mir um. Nun sah ich aus wie jemand todkrankes, der den Fehler gemacht hatte, bei viel zu hohen Temperaturen das Haus zu verlassen. Wie unauffällig.

„Eine dezente Tarnung“, bemerkte ich sarkastisch.

„Ein bisschen mehr Dankbarkeit bitte. Ich hab dir gerade den Arsch gerettet.“

„Worum ich dich nicht gebeten habe.“

„Genau genommen hab ich dich eben zum dritten Mal gerettet.“ Wheeler begann doch tatsächlich, seine Rettungsversuche an der Hand aufzuzählen. „Vor dem Aquarium, als du beinahe aufgeflogen wärst – diese Aktion ist dank dir jetzt übrigens umsonst gewesen – am Stand, als du fast ertrunken bist und eben. Ich hab einiges bei dir gut, Alter.“

Ich beugte mich vor. „Damit eins klar ist: Ich habe nie gewollt, dass du michi „rettest“, also hast du mir keinen Gefallen getan und ich bin dir nichts schuldig. Verstanden, Alter?“ Ich hob die Augenbrauen.

„Sicher, sicher.“ Er winkte ab. Dann griff er nach der Kappe, die bei dem Oberteiltausch auf den Boden gefallen war und setzte sie mir verkehrt herum auf. „Das rundet alles ab.“ Er grinste schadenfroh, griff in seine Jackentasche und hielt mir seine Sonnenbrille entgegen. „Wir wollen doch auf Nummer sicher gehen.“

Widerstrebend setzte ich sie auf. „Danke“, spie ich ihm entgegen.

„Kein Problem. Vergiss deine Souvenirs nicht.“

Oh, was täte ich nur ohne dich.“

Wheeler stutzte. „Ganz ehrlich? Das frage ich mich gerade.“

Wo waren die Paparazzi? Ich wollte mich ihnen freiwillig stellen.
 

„Seto Kaiba?“

„Er muss hier irgendwo sein!“

„... die Presse informiert!“

„... unbedingt ein Autogramm ...!“

„Nein, mir zuerst!“

„Nein mir!“

Kaiba!!“
 

Wohl besser nicht.

„Wir sollten gehen.“ Aoyagi-sensei musterte mich mitleidig. Das hatte ich noch gebraucht. „Es muss schwer sein, so bekannt zu sein.“ Ja, in Wahrheit hatte ich einen Minderwertigkeitskomplex, schluckte abends vor dem Schlafen Tabletten und weinte mich in den Schlaf, weil ich nicht damit zurechtkam, was die Klatschpresse über mein Sexleben schrieb. Danke auch.

„Wir haben eine Karaokebar in der Nähe gemietet.“

„Hoffentlich eine chinesische“, murmelte ich wenig begeistert. „Das würde den ganzen Tag abrunden.“

„Aber Kaiba-kun, sei doch nicht so schlecht gelaunt. Wenn wir erst dort sind und du einige Lieder mitgesungen hast, geht es dir bestimmt gleich viel besser.“

„Ich bin geneigt, jetzt schon zur Jugendherberge zurückzufahren.“

„Kommt gar nicht infrage!“ Sie schüttelte bestimmt den Kopf. „Das ist unser letzter Abend und den werden wir gemeinsam in der Karaokebar verbringen.“ Zum Glück war es unser letzter Abend. Einen weiteren Tag würde ich nicht überleben.

„Den Abend wird Kaiba sich schon schön trinken können“, sagte Wheeler lachend.

„Kein Alkohol auf dieser Fahrt, Joey-kun!“

„Wo ist denn da der Witz? Können Sie nicht ein Auge zudrücken?“

Ich musste mich korrigieren: Selbst einen weiteren Abend mit ihnen zu überleben würde schwer sein.
 

oOo
 

„Das ist es.“

„Sieht so aus.“

Das ist es?!“

„Ja doch.“

„Noch winziger und wir können gleich auf der Straße singen.“

„Es haben doch alle reingepasst, falls es dir nicht aufgefallen ist.“

„Ja, aber es sieht so eng und eng aus.“

„Bist du alleine darauf gekommen? Wheeler, du bist in Japan groß geworden, du warst auch sicher schon einmal in einer Großstadt, also solltest du die Größenverhältnisse kennen.“

„Wow, dreimal groß in nur einem Satz.“

„Wenn es dich so beeindruckt, Wheeler, dann noch ein anderer Trick: Ich hatte nicht vor, heute niveaulose Gespräche mit dir zu führen, irgendwie mit deiner störenden Gesellschaft gestraft zu sein, dein dummes Gesicht zu sehen und überhaupt doch nervigen Köter um mich zu haben. Hast du mitgezählt? Ich habe dich viermal in einem Satz beleidigt.“

Wheeler gab sich unbeeindruckt. „Und soll ich dir was zeigen?“ Er wirbelte zu mir herum. „Ich habe nicht damit gerechnet, ein Zimmer mit dir teilen zu müssen, ein Aquarium mit dir zu erforschen, ein Riesenrad mit dir zu erobern, ein Leben – zufällig deins – retten zu müssen, ein Fege- oder auch Wischduell mit dir zu führen und ein Bad mit dir im Teich zu nehmen. Siehe da: Sechsmal ein. Ich würde sagen, ich habe gewonnen.“

„Sei nicht albern.“ Ich ließ ihn stehen und betrat die Bar. Wheeler hatte Unrecht behalten, sie war von außen zwar schmächtig, doch sie erwies sich als geräumig. Eine große Bühne war das Zentrum der Bar, zahllose Sitzecken waren eingerichtet worden, Trennwände teilten den Raum, eine lange Theke zog sich an einer Seite entlang.

Der Raum war überfüllt mit Schülern. Die Betreiber der Karaokebar hatten sämtliches Personal versammelt, um eine derart große Zahl von Kunden auf einmal bedienen zu können.

Es war mir zu voll. Ich wollte gehen, aber ich konnte nicht. Also stellte ich mich an die Bar, bestellte ein Getränk und nahm mir vor, mich nicht hinzusetzen.

Zum Glück gab es erst etwas zu Essen und sie begannen nicht sofort zu singen. Das gab mir Zeit, mich mental darauf vorzubereiten und die vergangenen Stunden Revue passieren zu lassen.

Meine eigene Personalabteilung hatte mich abgewürgt. Man hatte mich nicht ernst genommen. Ich war so nachlässig gewesen, meine Identität preiszugeben. Ich seufzte und presste das kalte Glas gegen meine Schläfe.

„Ist das nicht Kaiba?“

„He Kaiba, du bist im Fernsehen!“

Ich öffnete die Augen und folgte den Blicken der anderen. In einem kleinen Fernseher über der Bar liefen Abendnachrichten. Ein Schnappschuss aus dem Schloss von Ôsaka hatte seinen Weg in die Sendung gefunden. Am unteren Bildschirmrand liefen die Worte: Seto Kaiba mit Verlobter in Ôsaka? Ich las die Zeilen erneut und meinen Lippen entwich ein gequälter Laut. Ich hatte gewusst, dass es schlimm werden würde, aber das?! Eine Großaufnahme des Bildes zeigte, dass eine Frau am Münzapparat neben mir als vermeintliche Verlobte zu identifizieren versucht wurde.
 

„Also wenn du mich fragst, hat sie Ähnlichkeiten mit der Tochter vom Großkonzernbesitzer aus Nagasaki.“

„Du hast recht. Wir bemühen uns um eine Stellungnahme aus Nagasaki, doch bisher gibt es keine. Jedoch hat die Kaiba Corporation selbst eine Pressekonferenz einberufen. Sie dementiert hierbei Seto Kaibas vermuteten Aufenthalt in Ôsaka.“ 
Ein Mitschnitt der Pressekonferenz wurde eingeblendet und meine Hand verkrampfte sich um das Glas. Das durfte doch nicht wahr sein!

„Seto Kaiba befindet sich zurzeit auf einer Tagung in London“, verkündete Roland, flankiert von Pressesprechern. „Er wird nicht vor Montag wieder in Japan sein.“

„Was sagen sie zu den Gerüchten um eine Verlobte?“

„Ist es die Tochter von Watanabe Kaname, dem CEO von DuelTech aus Nagasaki?“

„Wird es eine Hochzeit geben?“

„Dazu wollen wir uns derzeit nicht äußern.“
 

Ich widerstand dem Drang, meinen Kopf gegen den Bar-Tresen zu schlagen, bis die Kopfschmerzen aufhörten. Warum jetzt?! Und warum hatte Roland nicht klar verneint? Wenn ich etwas jetzt nicht gebrauchen konnte, dann einen Skandal um mein Liebesleben!

„Auf Kaiba!“, rief einer der Jungen hinter mir und als ich mich umdrehte, sah ich ihn das Glas heben. Andere taten es ihm gleich. „Und auf seine hübsche Verlobte!“

„Wenn ihr an eurem kümmerlichen Besitztümern hängt, rate ich euch, das Thema nicht weiter anzusprechen“, fuhr ich sie an und sie verstummten schlagartig, tranken kleinlaut ihre alkoholfreien Getränke. Jämmerlich.

Ich presste das kalte Glas nun mit Nachdruck gegen meine Nasenwurzel. Ein Königreich für ein Betäubungsmittel.

Die Zeit verstrich schleppend, doch als der Abend endgültig einbrach hatte ich einige Getränke bestellt, jedoch keins von ihnen getrunken. Stattdessen hatte ich sie so lange gegen meine Stirn gedrückt, bis sie warm geworden waren. Schließlich gab mir der Barkeeper einen Beutel mit Eiswürfeln. Ich hatte ihm vorsorglich etwas mehr Trinkgeld gegeben und ihm klar gemacht, dass er für sich behalten sollte, wen er mit mir vor sich hatte. Als dann die Karaokebar offiziell eröffnet wurde und das Singen – oder wie man es denn nun euphemistisch betiteln mochte - begann, fand der Eisbeutel ohne Mitleid seinen Weg auf den Tresen und ich verließ die Bar.

Als ich vor der Karaokebar in der erleuchteten Hintergasse stand und in den klaren dunkelroten Abendhimmel blickte, fragte ich mich, womit ich das alles verdient hatte.

„Perfektes Timing.“ Ich blickte zur Seite. Wheeler. Er lehnte an der Hauswand und grinste. Hatte er etwa gewartet?

„Es war nur eine Frage der Zeit, bis du rauskommen würdest. Ganz ehrlich, selbst ich bin nicht scharf darauf, Téa und Yugi im Duett singen zu hören.“

„Was willst du?“

„Wir bekriegen uns, weißt du’s noch?“

Ich verschränkte die Arme. „Wie sollte ich das vergessen?“

„Und ich hab dir gesagt, du würdest es noch bereuen.“

„Davon habe ich nichts bemerkt.“

„Warts’s ab, Kaiba. Hast du den Schlüsselanhänger noch?“

Ich stand kurz davor, mit den Zähnen zu knirschen. Tatsächlich hatte ich vergessen, dieses ... geschmacklose Objekt zu entfernen.

„Du kannst ihn wegschmeißen, aber du wirst dich immer daran erinnern. Phase eins ist damit abgeschlossen. Kommen wir zu Phase zwei.“ Er schob die Tür zur Karaoke Bar auf. Von drinnen schallte uns Taylors schiefe Stimme entgegen. Mir wurde ganz anders.
 

„And I will always love you

I will always love you

You my darling you!“
 

Wheeler präsentierte mir das Vircory Zeichen. „Er hat eine Wette verloren“, kommentierte er die gequälten Laute von drinnen. „Phase zwei: Hinhalten, abgeschlossen. Und weglaufen kannst du mir nicht, weil du jetzt niemals freiwillig in die Bar gehen würdest. Aber viel wichtiger: Du hast deinen Glücksbringer fürs gute Wetter erhalten. Eigentlich wollte ich dir einen fürs Liebesleben schenken, aber seien wir doch mal ganz ehrlich: Wenn ich mir die Abendnachrichten so anhöre, war das ja gar nicht mehr nötig, nicht wahr, Herr Verlobter.“ Meine Augenbraue zuckte. „Damit erreichen wir Phase drei: Den Gegner zermürben. Nicht, dass das heute besonders schwierig bei dir wäre. So nebenbei, wie geht es deiner Verlobten?“

„Verzieh dich, Wheeler.“

„Hättest du gerne.“

Ich war mit wenigen Schritten bei ihm und packte ihn am Kragen seiner billigen Jacke. „Wheeler, ich habe heute Stress genug gehabt, da brauche ich deinen Möchtegern-Psycho-Krieg nicht noch dazu. Sieh endlich ein, dass es mir nichts bedeutet – trauere dem ruhig hinterher, nur lass mich damit in Ruhe! Leb ruhig mit der Lüge, dass es beidseitig ist, aber behellige mich gefälligst nicht damit, verstanden?!“

Wheeler schien nach Worten zu suchen, sein Mund öffnete sich, schloss sich jedoch wieder und er starrte mich stumm an, fieberhaft nach einer Antwort suchend. Schließlich schlängelten sich seine Arme um meine und lösten den Griff um seinen Kragen. Er machte einen Schritt zurück und hob die Hand. „Kannst du einen Moment warten?“

Die Frage war es nicht einmal wert, dass man sie beantwortete. Ich blieb stehen, lauschte angewidert den Jammerklängen von drinnen. Und es nahm kein Ende. Wenn das so weiterging, würde ich ihnen freiwillig Geld zahlen, damit sie aufhörten.

„Téa und Yugi sind als nächste dran.“ Konnte er nicht verschwinden und verschwunden bleiben?!

„Wheeler, tu mir einen Gefallen: Geh zu deinen Freunden. Sing einfach mit oder jaule von mir aus, aber lass mich in Ruhe.“

„Du erlebst Phase vier: Penetranz.“

Ich lachte. „Na in der Disziplin bist du der ungeschlagene Meister. Sieh an Wheeler, noch etwas neben ‚Verlieren’, was du von Natur aus kannst.“

„Halt die Klappe, Kaiba! Das einzige, was du neben großkotzen kannst, ist dich von mir retten lassen!“

Damit hatte er einen empfindlichen Nerv getroffen. Ich fauchte ihn an: „Bilde dir bloß nicht zu viel darauf ein, Köter.“

„Als ob. Dir das Leben zu retten ist so leicht, dass man sich schnell daran gewöhnt. Nichts Besonderes also.“

„Es dürfte das Außergewöhnlichste in deinem kümmerlichen Leben sein“, knurrte ich und registrierte befriedigt, wie Wheeler wütend das Gesicht verzog.

„Reicher Pinkel.“

„Ist das alles, was dir darauf einfällt?“

„Deine Kommentare gehen mir nicht unter die Haut, Kaiba. Ich komme damit klar.“

Ich verengte die Augen. „Lüg mich nicht an, Wheeler.“

„Ich lüge nicht, Kaiba. Jede neue Aussage wird mit der Gesamtheit der vorhandenen, bereits miteinander in Einklang gebrachten Aussagen konfrontiert. Richtig heißt eine Aussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedern kann, wird als unrichtig abgelehnt. Statt meine neue Aussage einfach abzulehnen, kannst du auch einfach unser ganzes bisheriges Aussagensystem abändern, bis sie sich eingliedern lässt, Kaiba.“

In der darauf folgenden peinlichen Stille sah ich ihn einfach an. „Wheeler“, sagte ich schließlich und hob eine Hand an meine, bereits eine neue Migränewelle verkündende, Schläfe. „Sag mir nicht, dass du eben auf der Toilette mit Devlins Mobiltelefon die Kohärenztheorie gegoogelt hast.“

„Ich sag es dir nicht.“

Ich schloss die Augen. Wheeler tat körperlich weh.

„Außerdem war es nicht Dukes Handy. Ich hab Yugis benutzt.“ Trotz lag in seiner Stimme. „Ich hätte meins benutzt, aber eine empfindliche Prin –“, meine Augenbraue zuckte und er korrigierte sich rasch, „Mimose hat es ja zerlegt.“

„Der Kohärenztheorie“, ging ich nicht weiter auf seine Provokation ein, „fehlt jeglicher Realitätsbezug - in etwa wie dir, Wheeler. Außerdem setzt Kohärenz die Gesetze der Logik voraus, die Wahrheit ist jedoch bereits für die Logik grundlegend, wird also schon vorausgesetzt, wodurch ein Widerspruch entsteht.“ Ich machte eine kurze Pause. „Ich erwarte übrigens nicht, dass du auch nur einem meiner Worte folgen kannst, Wheeler.“

Er knurrte. „Proll.“

„Idiot.“

Ich kehrte ihm den Rücken. „Neue Phase, Wheeler. Merk es dir – oder noch viel besser: Schreib mit, denn ich würde nicht davon ausgehen, dass dein Verstand sich diese Phase merken kann, da er es in den letzten Jahren effektiv ignoriert hat. Phase fünf: Scheitern.“

Sein Gesicht hellte sich auf. „Genauso hatte ich es geplant!“

„Du wolltest scheitern? Wheeler du überrascht mich.“ Mein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Das kann ich nicht leiden.“

„Du missverstehst mich. Ein anderes Scheitern war gemeint.“

„Aha?“

„Dein Scheitern.“

„Welch Überraschung. Und das hast du ganz alleine geplant?“

„Jepp.“ Und damit begann er leise, aber deutlich hörbar die Musik von drinnen mitzusummen. Gemeinsam dazu wippte er im Takt hin und her. Als er dann anfing, mich auf seine typische Art triumphierend anzulächeln, gab ich auf. Meine Nerven lagen blank, ich hatte Kopfschmerzen, war enttarnt, inoffiziell verlobt und schritt den Weg des Scheiterns. Ausgerechnet Wheeler hatte ihn von vorne bis hinten geplant und mir prophezeit. Wenigstens konnte es nun endlich nicht mehr schlimmer werden.

Ich schloss die Augen. „Hör mir zu, denn ich werde das hier in meinem Leben nur einmal sagen und dass ich es überhaupt sage, verdankst du einer Verkettung von Umständen, die niemand, wirklich niemand, geplant haben kann –schon gar nicht du! - denn andernfalls“, ich sah ihn an und sprach leiser weiter, „erlaubt sich jemand einen äußerst geschmacklosen Scherz. Um zur Sache zu kommen, Wheeler“, ich holte Luft und wappnete mich, dass es schmerzen würde, doch dass es so viel Überwindung kostete, wie es das tatsächlich tat, machte es nahezu unerträglich, „du hast gewonnen.“ Und damit endete eine Ära.
 

Leider erlöste mich kein plötzlich niederfahrender Blitzschlag von dem Elend. Wäre auch zu schön geworden. Wo waren Schicksal und Hokuspokus, wenn man sie brauchte?


„Das wollte ich hören.“ Wheeler machte den für ihn wohl einmaligen Moment durch einen überflüssigen Kommentar kaputt. Mir sollte es recht sein.

„Ich hoffe, du hast es dir gemerkt. Du wirst es nie wieder hören.“ Ich würde es nie wieder denken, überhaupt würde ich die gesamte Woche aus meiner Erinnerung verbannen.

„Das brauche ich nicht.“ Er deutete auf sich. „Und jetzt löse deine Schuld ein.“

Ich seufzte. „Reicht es dir nicht, dass ich es gesagt habe?“

„Wo liegt denn da der Witz?“

„Nirgendwo, Wheeler!“ Verstand er es denn nicht? „Diese Sache ist witzlos - daran ist ganz und gar nichts auch nur im geringsten witzig.“

„Ich könnte über uns lachen“, sagte er grinsend. „Vor allem über dich, Kaiba. Du bist die letzten Tage zu komisch gewesen.“

„Deine Freunde hätten mich beinahe ertränkt. Entschuldige, dass ich das nicht mit Komik betrachtet habe, aber jetzt wo du es sagst: Ertrinken ist wahnsinnig komisch.“

„Bam! Hörst du das, Kaiba? Das ist das Geräusch deines Sarkasmus, der an mir abprallt!“ Ich starrte ihn an. Dann, ohne es eigentlich zu wollen, begann ich zu lachen. Worüber ich lachte, wusste ich selbst nicht, wo ich doch angesichts meiner derzeitigen Lage doch viel eher hätte schreien sollen. Stattdessen lachte ich, denn das alles war so lächerlich, dass es aberwitzig war.
 

Doch der junge, erfolgreiche CEO war schlau und gerissen und wusste mit dem kläffenden, streunenden Köter umzugehen.
 

Mit Wheeler war viel schwieriger umzugehen, als erwartet.
 

„Guten Flug, Kaiba!“
 

Ich hatte es wohl immer vermutet, aber nicht wahrhaben wollen. Mein Lachen verklang und mündete in eine Ansammlung von Flüchen und Verwünschungen. Ich blickte starr zur Seite. „Wenigstens kann mein Ruf nach der vermeintlichen Verlobten nicht weiter sinken.“

Wheeler bewegte sich ungeschickt. „Ist das alles? Dein Ruf? Das beschäftigt dich die ganze Zeit?! Ich plane hier hin und her, wie ich dich in die Ecke dränge und du denkst an deinen bescheuerten Ruf?!“

„Dieser bescheuerte Ruf, Wheeler“, grollte ich, „ist zufällig eine mächtige Waffe, die mich und Mokuba – vor allem Mokuba – beschützt.“

„Vor wem denn?! Kaiba, hast du doch überhaupt man angesehen? Ich kann nicht fassen, dass ich es dir vor Augen führen muss. Du bist die – was schon? – reichste oder zweitreichste Person Japans, vielleicht eine der fünfzig reichsten Personen der Welt! Mann, wer immer sich dir in den Weg stellt muss Angst haben, zertreten zu werden und da denkst du, alles, was euch beschützt wäre dein Ruf?!“

Wheeler hatte nie Angst gehabt, zertreten zu werden.

„Ich sage dir mal was: Niemand würde es wagen, dir Mokuba wegzunehmen – wenn es das ist, was du befürchtest. Hast du eine Ahnung, was für einen Skandal das gäbe? Besser kann der Junge es gar nicht haben, das wäre als würden sie ihn zwingen, schlechter zu leben als er es könnte – das macht niemand.“ Er schüttelte den Kopf. „Kaiba du bist doof. Du bist einfach nur dämlich. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich dich noch ernst nehmen kann, wenn das deine größte Angst ist.“

Damit weckte er einen bis dahin kurzzeitig inaktiven Teil von mir. „Nimm den Mund nicht zu voll, Köter, sonst verschluckst du dich. An so viele Worte auf einmal bist du nicht gewöhnt.“

„Ach so?“ Wir starrten uns an. Schließlich verließ ihn sein kümmerlicher Rest Geduld. „Wird’s denn?!“

Ich knurrte. „Hetz mich nicht, Wheeler.“

„Gestern sahst du nicht so aus, als hätte es dich viel Überwindung gekostet. Tatsächlich schienst du nicht abgeneigt.“

„Gestern war ...“

Er beugte sich vor. „Ja? Gestern war was?“

- anders

- nicht heute

- ein Fehler

- gestern und damit passé

Ich sagte: „Unerwartet.“

Damit hatte er nicht gerechnet, doch er hatte sich für seine Verhältnisse schnell wieder unter Kontrolle. „Oh. Dass ich das von dir zu hören bekomme. Aber es stimmt nicht. Ich sage dir, was es eigentlich war: Es war absehbar.“

„Nicht wirklich, Wheeler. Es war alles andere als zu erwarten. Oder hast du das etwa auch geplant?“ Wehe ihm, wenn er es jetzt bejahte!

Er schüttelte den Kopf. „Wo denkst du hin? Hätte man mir gestern Morgen gesagt, ich würde dich ...“ Er verzog das Gesicht. „Yuk!“

„Danke, Wheeler, so ging es mir den ganzen Tag.“

„Ich hab längt aufgehört, deine Lügen zu zählen Kaiba, aber um es mit einem deiner Phrasen zu beantworten: Wenn ich bei jeder Lüge von dir einen Yen bekommen hätte, wäre ich so reich wie du.“ Bei Wheeler klang dieser Satz platt. Er war nicht der Typ für gute Sprüche. „Du kannst es nicht mehr bestreiten, denn ich glaube es dir nicht und du glaubst es dir doch auch nicht mehr. Erinnere dich daran, wie du dich gestern gefühlt hast und dir wird klar, dass du es ganz und gar nicht yuk fandest. Gestern Morgen vielleicht aber gestern Abend ganz und gar nicht. Gestern morgen wollte ich dir ins Gesicht schlagen, aber gestern Abend“, er lächelte - tatsächlich mit einer Spur Verlegenheit, „wollte ich dich nur küssen.“

„Wir müssen nicht ins Detail gehen.“

„Da braucht man keine Details. Ich bin sicher, dir ging es genauso. Warum sonst hättest du mich geküsst? Wie ich sagte, es war wohl zu erwarten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis uns die Worte ausgehen und wir uns ... du weißt schon.“

„Aha.“ Seine Worte hatten lange aufgehört, Sinn zu ergeben. Ich ergab ja schon keinen Sinn mehr.

„Offenbar ziehen sich Gegensätze wohl doch an. Und dann aus“, fügte er leiser hinzu.

Das ging zu weit. Ich verkrampfte mich. „Wheeler, ich weigere mich, Sex mit dir zu haben.“

Er blinzelte irritiert. „Wer redet denn von Sex?“

„Dann sag mir endlich, worauf du hinaus willst!“ Geld, Sex, Macht – drehte sich nicht alles darum?
„Wenn ich das doch wüsste.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Mir war klar, dass es schwer wird, aber dass es so ein Kampf wird ... ich hab keinen Bock mehr, zu reden, Kaiba!“

„Dann halt den Mund.“

„Das hättest du gerne, aber wir müssen es ein für allemal klären.“

„Ich –“

„Ich weiß! Wenn es nach dir geht, dann gibt es nichts zu klären.“

Ich hob die Hand und brachte ihn zum schweigen. „Du willst reden, Wheeler? Gut, lass mich etwas klarstellen, das dir offenbar völlig entgangen ist: Es ist passiert, okay, aber das heißt nicht, dass es wieder passieren muss. Herrgott, du hast doch vor mir bestimmt schon andere geküsst! Wolltest du sie deswegen gleich heiraten?“

Er wurde blass. „Ich hab nie gesagt, dass ich dich heiraten –“

„Aber du führst dich so auf, als müsste ich eine Beziehung mit dir anfangen, weil wir uns geküsst haben. Und nun ein Punkt, der das ganze hier irrelevant werden lässt: Es war nur ein Kuss! Hinzu kommt: Wir kennen uns kaum.“

„Wir kennen uns seit mehr als drei Jahren.“ Er biss sich auf die Lippen, vergrub die Hände in den Jackentaschen, entschied sich um, verschränkte sie vor der Brust, ließ sie dann jedoch sinken. „Herrgott, Kaiba, wir haben diese drei Jahre dazu gebraucht, um überhaupt erst hierhin zu kommen!“

„Zwischen kennen und kennen besteht ein maßgeblicher Unterschied, Wheeler.“

„Du mich auch, Kaiba.“

„Eben nicht, Wheeler.“

„Muss man es so kompliziert machen? Können wir uns nicht einfach noch mal küssen und dann weitersehen?“

Ich hob die Augenbrauen. „Das ist dein Problem? Du willst es die ganze Zeit nur wiederholen? Willst du gleich Sex auf der Toilette der nächsten Bahnstation?“

Wurde er etwa rot? „Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur, vielleicht macht es das ganze leichter?“

Ich verdrehte die Augen. „Kein Wunder, dass du in Mathe keine Ahnung hast. Zwei schlechte Dinge addiert machen es nicht einfacher, sie Summieren nur die Problematik!“

„Nenn es nicht ‚Problem’, wenn es dir auch gefallen hat!“

„So herausragend war es nicht.“

„Nennst du mich etwa einen schlechten Küsser?“

„Besonders war es jedenfalls nicht.“

„Jetzt reicht’s!“ Und damit tackelte er mich. Das nächste, was ich spürte, waren Wheelers Lippen auf meinen, seine Zunge in meinem Mund und seinen Körper an meinem. Ich wusste nicht, wie mir geschah, doch es war als würde sich mein Denken schlagar-
 

oOo
 

„Ich fasse es nicht.“

„Ach Kaiba, jetzt übertreibst du.“

„Nein, Wheeler. Ich fasse es nicht.“ Es war wie nach einem Schlag auf den Kopf. Nur schlimmer.

„Das sagtest du.“ Wieder dieses selbstzufriedene Grinsen, das er sich offenbar auf sein Gesicht getackert hatte, sodass es die vergangenen Minuten ohne Unterlass an ihm haftete. „Ich glaube ja, dass es dich umgehauen hat – diese Reaktion erhalte ich nicht selten aber ...“

Ich hörte ihm nicht mehr zu. Stattdessen starrte ich entsetzt auf meine Hände, die sich vor wenigen Minuten in einem absolut gedankenlosen Moment mit meinen Armen um Wheeler geschlungen und an seiner Kleidung gezerrt hatten. Konzentrierte mich auf meine Lippen, die noch immer von dem Kuss und Wheelers Bissen brannten.

Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.

Wheeler und ich hatten uns wieder geküsst.

Ich hatte ihn nicht unmissverständlich zurückgewiesen.

Alle Gedanken waren eingefroren.

Ich hatte den Kuss erwidert.

Ich hatte den Kuss erwidert.

Ich hatte den Kuss erwidert.

Alles lief auf diese Reaktion hinaus. Darauf, dass es mir nicht so sehr missfallen hatte, wie es sollte. Dass ich Wheeler näher gezogen hatte und mich nicht von ihm gelöst hatte. Dass ich es wieder tun würde. Es war wie gestern, nur dass es heute war. Hier und jetzt. Und das war nicht das erschreckendste:

Wheeler hatte bei mir als erster Mensch bewirkt, dass sämtliche Einwände verstummt waren, dass ich einen regelrechten Blackout hatte und einfach nur reagieren konnte. Dass sich alles auf meine Wahrnehmung und nicht auf meine Rationalität reduzierte. Wheeler hatte mich vergessen lassen, Seto Kaiba zu sein. Er hatte geschafft, was niemandem vor ihm gelungen war. Damit erntete er beinahe meine Anerkennung. Beinahe.

„Wahrscheinlich wäre es zehnmal leichter, Mai rumzukriegen als jemanden wie dich, Kaiba“, bemerkte Wheeler spöttisch und gab mir einen Klaps auf die Schulter. „Gegen dich sind selbst Mädchen wie offene Bücher und glaub mir, ich hab Erfahrung.“

Dachte er wirklich, nur weil er mich geküsst hatte, erhielte er jetzt eine Sonderbehandlung und konnte sich mehr herausnehmen? Weit gefehlt, Köter.

„Wheeler, ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass du für andere einfach zu ordinär bist?“

„Warum bist du dann so besessen von mir?“

„Besessen?“, echote ich. „Verwechsele abgeneigt nicht mit besessen.“

„Kaiba.“ Etwas in seiner Stimme brachte mich dazu, ihn anzusehen. „Du kannst vieles behaupten, aber du warst nicht abgeneigt.“

Damit hatte er zu meinem Leidwesen Recht. Und Wheeler war nicht nur einmaliger, nein, er war sogar zweifacher Augenzeuge und Komplize. Tatsächlich brachten mich Ausreden nicht weiter. Ich war an einem Punkt ohne Wiederkehr geklangt. „Nur weil ich körperlich darauf reagiere, heißt es nicht, dass ich dich in irgendeinem Maß besser finde.“

„Glaubst du, ich?“

Es war gar nicht mal schlecht gewesen.

„So wie du mir folgst: Ja. Du kannst doch gar nicht mehr ohne mich.“

So schlecht war es nicht gewesen.

„Dafür ... kannst du auch nicht ohne mich!“

Oh nein. Es war nicht schlecht gewesen.

„Wie schlagfertig, Köter.“

Und es würde nicht schlechter werden.

„Halt die Klappe, reicher Pinkel.“

Leugnen war sinnlos, ich würde mich damit nur vor mir selbst lächerlich machen. Wheeler hatte Recht, ich reagierte offensichtlich auf ihn und so gerne ich es auch abstreiten wollte, so wäre ich doch nicht Seto Kaiba, wenn mir auch nur die geringste Kleinigkeit entgehen würde. So zum Beispiel die Art wie Wheeler mich nun anlächelte. Triumphierend. Siegessicher. Gönnerhaft.

Der Köter missverstand seinen Platz und es lag an mir, ihn in seiner Schranken zu weisen. „Dieses Mal bin ich an der Reihe, Wheeler“, sagte ich leise und griff nach seinem Kinn. Er versuchte, sich aus dem Griff zu lösen, doch ich hielt ihn unnachgiebig fest, lächelte sarkastisch. „Ein Streuner an der selbst ausgesuchten Leine. Wie unbestreitbar sinnbildlich.“

„Komm zur Sache, Kaiba.“ Zu meiner Zufriedenheit registrierte ich seine Ungeduld und spürte, wie ich mit diesem Zug wieder die Oberhand gewann. Nun war alles wieder in seiner Ordnung – das machte alles in gewissem Maß erträglicher.

„Immer mit der Ruhe, Wheeler.“ Ich stellte mit einem Blick aus den Augenwinkeln sicher, dass niemand in der Nähe und dass die Eingangstür zur Karaokebar geschlossen war, dann beugte ich mich vor und gab tatsächlich dem nach, was ein Teil von mir verlangte, auf den ich bis heute – genau genommen bis gestern Abend – nie gehört hatte.
 

Ich küsste Wheeler. Und vergaß, dass ich beim letzten Kuss aufge-
 

Oh.

Verdammt.
 

~*~*~
 

Wasting away, the world’s right in front of me

Funny, you should say that it’s all in my head

Wasting away, we’re hitting rock bottom

And going down in flames, well, it’s not that bad
 

~*~*~
 

(Let’s Hear it For Rock Bottom - The Offspring)
 


 

Und in der nächsten Folge von One Pie- ich meine natürlich A Trip to Hell:
 

„Wheeler, bist du von allen guten Geistern verlassen?!“

„Kaiba und ich haben was miteinander.“

„Was?“

Was?!
 

~*~
 

Ich verlor den Halt. Ich fiel. Und Wheeler war nicht da. Das war kein Traum. Das war real!
 

~*~
 

„Sehr geehrte Kunden, hier eine Durchsage. Der kleine Joey-kun möchte bitte zur Information kommen, sein großer Bruder wartet dort auf ihn. Ich wiederhole: Der Kleine Joey-kun wird dringend gebeten, zu seinem Bruder an die Information zu kommen. Vielen Dank.“

„Tristan“, knurrte Wheeler. „Den bringe ich noch um.“

Nie war ich Taylor dankbarer gewesen.
 

~*~
 

„Guten Flug, Kaiba!“

Tag 7: Loslassen

Vorwort(e): So, hier ist es Ich habe sämtliche Zeit mobilisiert, um dieses Kapitel als Dank an alle Leser und Kommentarschreiber bis Weihnachten fertig zu bekommen. Ich bedanke mich bei allen, es freut mich, dass diese Geschichte immer so gut bei euch angekommen ist, denn gerade sie liegt mir besonders am Herzen = )
 

Natürlich hört es mit A Trip to Hell nicht auf. Ich werde eine neue Geschichte starten und das erste Kapitel vor Silvester hochladen. Der Titel steht noch nicht fest, doch diese Geschichte wird etwas düsterer – aber bitte befürchtet jetzt keinen Charakter Death oder irgendeine Misshandlung der Hauptfiguren. Es geht vielmehr darum, was etwa zehn Jahre später – nachdem alles, was in der Serie passierte, vorbei ist – aus ihnen geworden ist. Mehr verrate ich an dieser Stelle noch nicht ^ ^

Wer gerne informiert werden möchte, wenn ich das erste Kapitel hochlade darf mir gerne Bescheid geben, dann melde ich mich, sobald es online ist. Ich danke jetzt schon! *wink*
 


 

Allen besten Dank an: Favole, Luftmolekuel, bebi, MaiRaike, Blanche7, BlackPanther1987, Aniko, Yamis-Lady, Haru_sama, Miss_Jam, Dragon1, blacki, Schokopudding, Lalue, ray-rei-chan, Venu
 


 

Tag 7: Loslassen
 


 

Es war eine Sache, mit Kopfschmerzen neben jemand anderem aufzuwachen und sich im ersten Moment nicht erinnern zu können, wie es dazu gekommen war. Es war eine völlig andere Sache, wenn die Kopfschmerzen in den letzten Tagen zu einem ständigen Begleiter geworden waren, wenn man sich einfach nicht an die Umstände, die zu dieser Konstellation geführt hatten, erinnern wollte und wenn die Person neben einem Wheeler war.

Und es war eine absolut unwiderruflich andere und – zugegeben – nicht zu rechtfertigende Sache, wenn man diese Person – Wheeler – am Abend zuvor geküsst hatte. Erneut. Freiwillig. Nachdem es den Abend davor genauso gewesen war und man sich eigentlich dagegen hätte wappnen müssen.

„Verfall nicht ins Grübeln, Kaiba. Du bekommst Falten auf der Stirn.“

Etwas Tröstendes hatte das ganze: Wheeler verlangte keine Romantik und äußerte im Gegenzug auch keine freundlichen Worte. Das machte alles etwas erträglicher.

Der Umstand, dass sein Körper sich unter der Decke gegen meinen presste und ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte, tat dagegen nicht viel zur Besserung des ganzen bei. Auch nicht sein Lächeln, das mit jeder verstreichenden Sekunde an Spott zu gewinnen schien.

Ich ließ mich zurücksinken und blickte an das Holz über mir. Wieder lagen wir in meinem Teil des Etagenbettes. Wieder nahm Wheeler viel zu viel Platz ein und brachte mich der Wand neben mir näher, als ich ihr je hatte sein wollen.

„Wheeler, du bist zu breit. Entweder du rollst dich am Fußende zusammen, wie ein braver Hund, oder du verlässt sofort das Bett. Ab besten gleich das Zimmer.“

Meine Worte bewirkten das genaue Gegenteil. Wheeler kam mir noch näher. „Ich will nicht behaupten, ich wäre jetzt gegen deine Worte immun, Kaiba, aber sie sind doch verglichen mit sonst weniger wirkungsvoll.“

Ich verdrehte die Augen. Jetzt musste ich mir also auch noch eine neue Methode einfallen lassen, Wheeler auf seinen Platz zu verweisen.

Ich drehte den Kopf und betrachtete ihn genervt. „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, mich daran zu erinnern, Wheeler. Heb dir das für später auf.“

„Wie viel später? Ich dachte du bist so ein Frühmorgenmensch.“

„Wie spät ist es?“

Er zuckte die Achseln. „Was weiß ich. Früh genug, aber wir müssen ja ohnehin bald los.“

Damit erinnerte er mich trotz meiner weniger angenehmen jetzigen Lage an etwas weitaus Schöneres. Heute war der letzte Tag. Heute würde ich diesen Abklatsch einer Herberge und diese Stadt, die ich im späteren Verlauf meines Lebens wahrscheinlich nur unter Gewaltandrohung betreten würde, hinter mir lassen.

„Sag mal, Kaiba-“

„Nicht jetzt, Wheeler“, unterbrach ich ihn schroff. „Zerstör jetzt nicht den einzigen positiven Gedankengang, zu dem ich seit mehreren Tagen in der Lage bin.“

„Drama-Queen“, murmelte er. „Als ob es so schlimm gewesen wäre.“

Ich fixierte ihn stechend. „Diese Aussage muss ich jetzt nicht wirklich kommentieren oder?“

„Bevor ich mir wieder einen langen Vortrag darüber anhören muss, wie inkompetent meine Freunde und ich sind: Nein.“

„Gut.“ Ich konzentrierte mich auf den Funken Helligkeit am Ende des langen, von dunklen Ereignissen gesäumten Tunnels.

„Aber wenn du ehrlich bist, hatte alles doch auch sein Gutes. Immerhin hast du die Phase des Leugnens hinter dir gelassen.“

„Nur um in eine Phase der Resignation und des Unglaubens überzutreten. Wenn ich ehrlich bin, Wheeler, so würde ich das nicht als gut bezeichnen. Vielmehr als beängstigend.“

„Fragst du vielleicht auch mal wie es mir geht?!“ Er wartete nicht auf meine Antwort, da er sie kannte und sich – starrsinnig wie er war – nicht darum kümmerte. „Immer geht es darum, wie es dir geht, was dir angetan wurde und wie unfair das Leben doch zu dir ist. Aber keinen einzigen Moment –“

„Wenn du jetzt einen Vortrag über mein Weltbild mit mir als Zentrum halten willst, nur um dann zu dem Schluss zu kommen, ich sei egoistisch - mit einer deutlichen Tendenz zum Narzissmus - dann schlage ich vor, den Atem zu sparen, und die wenigen Gehirnzellen, die an dieser Aufgabe der komplexen Satzbildung wohlmöglich durchzubrennen drohen, nicht in ihr ohnehin viel zu verfrühtes Ableben zu schicken. Denn diese ‚Diagnose’ ist für mich nichts Neues. Es wäre erschreckend, wenn es mir selbst noch nicht aufgefallen wäre, aber zu dieser Erkenntnis kommt dein Hundehirn ja nicht, Wheeler.

Du bist der Ansicht, du müsstest es mir erst zeigen, weil Leute wie ich ja nicht zu derartigen Selbsterkenntnissen in der Lage sind – das wäre ja vollkommen unlogisch, nicht wahr? Anstatt mal darüber nachzudenken, dass Menschen mit einem IQ wie meinem zwangsläufig erkennen müssen, wie sie sind und natürlich schlau genug sind, ihre Selbstverliebtheit zu erkennen.

Aber bitte, fahre ruhig fort. Sag mir, dass ich selbstfixiert bin, dass ich meine Worte für so wichtig erachte, dass ich selbst Spezialisten oftmals kein Gehör schenke. Ich warne dich aber vor: Solltest du in meinen Zügen keine Überraschung, kein Entsetzen oder Fassungslosigkeit erkennen, dann bedeutet das nur, dass deine Schlussfolgerung absolut zweitrangiger Qualität ist. Und sollte sich auf meinem Gesicht Irritation zeigen, dann nicht, weil ich mich darüber ärgere, dass du etwas erkannt hast, auf das ich alleine nie gekommen wäre, sondern weil ich es als absolut nervig naiv empfinde, dass du tatsächlich glaubst, mich besser zu kennen als ich mich.“

Wheeler stieß einen lang angehaltenen Atem aus. „Puh, das waren jetzt viele Worte auf einmal. Hast du das heimlich geübt oder wartest du schon seit Monaten darauf, mir diese Rede irgendwann mal um die Ohren hauen zu können?“ Er neigte den Kopf, dann hellten sich seine Züge auf und er berührte mit dem Zeigefinder einen Punkt auf meiner Stirn zwischen meinen Augenbrauen.

„Da ist die Irritation, die du angekündigt hast, nur glaube ich, dass sie jetzt eine andere Ursache hat, oder Kaiba?“ Ich starrte ihn nur an. „Okay, du hast mich erwischt. Ich hätte irgendwie nicht erwartet, dass du weißt, wie selbstfixiert du bist. Ich meine in allen Filmen ist es doch auch immer so. Psychopaten erkennen oft nicht, wie krank sie eigentlich sind, obwohl es ihnen klar sein sollte, weil es so offensichtlich ist.“

„Setzt du mich jetzt mit einem Psychopaten gleich?“

„Na ja, ganz so abgedreht wie Marik oder Dartz bist du nicht, aber hast du dich schon mal Lachen gehört? Ich meine damit dein Triumphlachen. Da läuft es einem schon kalt den Rücken runter.“

Unweigerlich musste ich schmunzeln. „Das werde ich mir merken.“

Wheeler grinste. „Ach so, das muntert dich auf? Heißt das, ich muss dir nur sagen, wie furchteinflößend du auf andere wirkst, wenn du dir deines Sieges gewiss bist, um dein Wohlwollen zu erhalten.“

„Das könnte eine Möglichkeit sein, Wheeler.“

„Tja, schade nur, dass mir dein Wohlwollen sonst wo vorbei geht, Kaiba.“

„Nichts anderes habe ich erwartet.“

Einer seiner Arme hatte einen Weg um meine Schulter gefunden und zog mich nun zu Wheeler. Unsere Gesichter trennten nur wenige Zentimeter. Zu meinem Bedauern jedoch bemerkte ich, dass diese Konstellation langsam an Unbehaglichkeit verlor und zunehmend vertrauter wurde.

„Können wir nicht die ganzen Machtkämpfe auf Dialogebene für einen Moment vergessen und uns einfach küssen?“

Und genau darin bestand das Problem, was mich am meisten beschäftigte. Ich wandte mich von ihm ab. „Wie kannst du das so einfach hinnehmen, Wheeler? Im Gegensatz zu mir scheint es dir keine Probleme bereitet zu haben, zu akzeptieren dass du dich zu deinem eigenen Geschlecht hingezogen fühlst und dann auch noch ausgerechnet zu mir.“

„Na ja, ich hätte jetzt nicht von mir aus gesagt, ich sei schwul“, gab er zu und schien zu überlegen. „Das würde ich allerdings immer noch nicht sagen. Ich habe Tristan, Duke oder Yugi nie auf den Hintern gestarrt, Téa und Mai dagegen schon.“ Danke, soviel wollte ich nie wissen. „Eigentlich habe ich auch dir nie auf den Hintern gestarrt – bevor du jetzt auf falsche Gedanken kommst, Kaiba.“ Das wäre tatsächlich mein nächster Gedankengang gewesen.

„Bis vor zwei Tagen hätte ich nie auf ... na ja diese Art von dir gedacht.“

„Welche Art?“

„Na ... diese. Du weißt schon.“

„Nein, Wheeler. Drücke dich in ganzen, nachvollziehbaren Sätzen aus.“

„Na die Weise, bei der man jemandem länger als nötig hinterher sieht, bei der man Gedanken bekommt, die weitaus ... intimer sind.“

„Intime Gedanken?“, echote ich und zog die Augenbrauen zusammen. „Das heißt, dir geht es doch noch um Sex.“

„Eben nicht, das ist ja das seltsame. Nicht nur, schätze ich mal. Und ich hoffe, du weißt, wie weiblich dein letzter Satz gerade klang, Kaiba“, fügte er glucksend hinzu. Ich verkrampfte mich und wenige Momente später fand Wheeler sich auf dem Rücken liegend unter mir wieder. Ich presste ihn auf die Matratze und starrte ihn finster an.

„Was uns zu einem weiteren Punkt in diesem ... Chaos bringt, Wheeler. So wie ich das verstehe, gibt es in homosexuellen ...“ Beziehungen, spukte mir im Hinterkopf herum, doch ich weigerte mich, das Wort auszusprechen. Es war ein Tabu-Wort, das ich gemeinsam mit Wheeler nicht einmal im selben Land haben wollte. „Es gibt jedenfalls einen Mann und eine Frau.“

Wheeler starrte aus großen, fragenden Augen zu mir hoch. Ratlose Hundeaugen. „Wo hast du das denn her?“, fragte er schließlich und in seiner Stimme lag eine derartige Fassungslosigkeit, dass ich einen Moment in meiner Gewissheit schwankte. Bis ich mich daran erinnerte, dass es Wheeler war, der unter mir lag.

„Allgemeinwissen“, gab ich darum zurück und hoffte, dass Wheeler nicht näher darauf einging, wie lächerlich diese Antwort war. Er tat mir diesen Gefallen.

„Einen Mann und eine Frau?!“, wiederholte er, als könnte er dieser Aussage nur mit Mühe als Aussage akzeptieren. „Kaiba, was genau verstehst du an homosexuell nicht? Es bedeutet nicht Mann und Frau, sondern nur eines von beiden. Doppelt.“

„Tatsächlich?“, wiederholte ich sarkastisch. „Wie konnte ich mich nur so irren, du hast ja recht.“ Meine Hände, die ihn an den Schultern nach unten drückten, verkrampften sich in seinem Shirt. „Hältst du mich für dumm, Wheeler?“

„Du redest von Mann und Frau in einer homosexuellen Beziehung, Kaiba.“ Da war das Wort, dessen Denken ich mir untersagt hatte und Wheeler hatte keine Hemmungen, es auszusprechen! „Entschuldige, dass mich diese Behauptung an deinem Verständnis zweifeln lässt.“

„Dann lass es mich erklären, Wheeler: Es heißt, dass bei Homosexuellen innerhalb einer“ – immer musste es an dem Wort scheitern! – „Konstellation einer der beiden den weiblichen und der andere den männlichen Part übernimmt.“

Wheeler sah mich an, als hätte ich ihm soeben verkündet, der Weihnachtsmann habe ein Verhältnis mit Buddah. Dann kratzte er sich am Hinterkopf und pfiff leise. „Wow, das ist ja mal eine Theorie. Wo liegt denn dann noch der Sinn darin, schwul zu sein?“

„Wie meinst du das?“

Er hob die Hand und hielt mir dem Zeigefinger einer Mahnung gleich vor mein Gesicht. „Gut Kaiba, lass es mich dir aus der Sicht es gewöhnlichen Oberschülers erklären, der kürzlich herausgefunden hat, dass es ihm gefällt, den Typen zu küssen, den er für das größte Arschloch dieser Nation gehalten hat.

Ich habe nicht viel Erfahrung mit Schwulsein, da ich es ja offenbar erst seit zwei Tagen bin. Vielleicht bin ich auch gar nicht schwul und stehe nur irgendwie auf dich, aber dir geht es ja genauso, deshalb kann ich es dir sagen. Wenn ich jetzt also überlege, wie es dazu gekommen ist, dass ich ausgerechnet dich und nicht Téa – oh Téa, bitte verzeih mir, dass ich als platonischer Freund diesen Gedanken auch nur zugelassen habe – küssen möchte - wenn ich also einfach mal davon ausgehe, ich wäre doch schwul und müsste bestimmen, wie es dazu gekommen ist, dann-“

„Komm zum Punkt, Wheeler.“

„Hey, ich habe dich vorhin auch nicht unterbrochen. Also der einzige, für mich logische Grund, schwul zu werden, wäre, weil ich genug habe von dem kitschigen Gefühls-Schrägstrich-Romantik-Teil, der mit einem Mädchen verbunden ist. Ich gebe zu, es gibt auch Mädchen, die das nicht verlangen – Mai zum Beispiel – aber irgendwie wird doch meistens erwartet, dass der Mann in der Beziehung etwas für die Frau tut.“

Ich hob die Augebrauen. „Mit anderen Worten läge für dich der Reiz im Schwulwerden darin, faul sein zu dürfen?“, fasste ich seine Worte nüchtern zusammen. Typisch Wheeler.

„Irgendwie ja. Aber auch, weil ich dich beleidigen kann und weiß, dass es dir nicht nahe geht. Weil ich weiß, dass du kontern kannst, wodurch unter genauer Betrachtung eine gewisse ... Spannung entsteht, die es bei Mädchen nicht gibt. Es ist dieser Nervenkitzel. Das würde es für mich reizvoll machen.“

„Deine Argumentation ist lückenhaft. Stell dir vor, du hast es mit einer Person wie Muto“ – großer Fehler, jetzt würde ich diese Vorstellung nie wieder loswerden – „zu tun. Ich bezweifle, dass er in der Lage wäre, zu kontern.“

Wheeler seufzte. „Gut, Herr Mir-kommt-es-aufs-Detail-an, dann fasse ich es so zusammen: Der einzige Grund für mich, schwul zu sein wärst –“ Er stockte und seine Augen weiteten sich. Sekunden verstrichen, in denen er nichts sagte, dann, ohne Vorwarnung, entwich ihm das Wort, das ihm und mir zu einer erschreckenden Erkenntnis verhalf: „Du.“
 

In diesem Moment bemerkten wir beide, dass wir tiefer in der Sache steckten, als jeder von uns befürchtet hatte.
 

oOo
 

Langsam ließ ich die Tasse mit Kaffe sinken und richtete meinen Blick auf Taylor. Er hatte mich die vergangenen zehn Minuten keinen Moment aus den Augen gelassen.

„Sag es oder unterlasse dieses aufdringliche Starren.“ Er öffnete den Mund. „Aber sei dir darüber im Klaren, dass jede Minute meiner Zeit einen umgerechneten Wert von fünfhunderttausend Yen hat.“ Wahrscheinlich wollte er den Mund schließen, doch bei meinen Worten schien ihn diese Fähigkeit verlassen zu haben.

Stattdessen sprang Gardner für ihn ein. „Was Tristan sagen wollte“, sie warf dem noch immer Unzurechnungsfähigen einen strafenden Blick zu, „war, dass wir von dir verlangen, Joey anstän-“

Das Klirren meiner Tasse ließ sie verstummen. Ich hatte sie härter als notwendig abgestellt. Wieder einmal. Sämtliche Augen richteten sich auf mich, doch nachdem klar wurde, dass ich eine Auseinandersetzung mit Gardner hatte, schwand die Aufmerksamkeit meiner Mitschüler. Das war längst nichts Neues mehr.

Nach einer durchgemachten Nacht in einer Karaokebar und einigen Flaschen Alkohol (Aoyagi-sensei und Kaidou-sensei hatten irgendwann beide Augen zugedrückt) war diese Konstellation der Beachtung nicht würdig. Die verkaterten Überbleibsel dieser Stufe, die nun an den Tischen des Frühstücksraumes saßen – wenn sie es denn überhaupt soweit gebracht hatten und das Frühstück nicht einfach ausfallen ließen – würden nicht einmal durch die Verwandlung von Wasser in Wein ansatzweise wacher werden.

„Wage es nicht, diesen Satz zu Ende zu bringen“, wies ich Gardner scharf zurecht. Überrascht schwieg sie und auch Taylor, der sich mittlerweile wieder gefasst hatte, brachte angesichts meiner Reaktion kein Wort heraus.

Wheeler, der mit ihnen am Tisch saß – ich hätte es auch keinesfalls geduldet, wenn er bloße Anstalten gemacht hätte, sich zu mir zu setzen – rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Ich richtete meinen Blick auf ihn.

„Du hast ihnen nicht gesagt, dass wir beide -“ Mein Ausdruck verfinsterte sich bei dem alleinigen Gedanken daran. Ich senkte die Stimme, auch wenn bei der derzeitigen Situation im Frühstücksraum – die eine Hälfte war übermüdet und verkatert, die andere Hälfte übermüdet und heiser – niemand diesem Gespräch Beachtung schenkte und somit keine Gefahr bestand, dass irgendwer meine Worte mitbekam. „Du bist nicht so übermütig gewesen, auch nur zu behaupten, wir –“

„Krieg dich wieder ein, Kaiba“, gab Wheeler nicht minder gereizt zurück. Seit dem Gespräch in unserem Zimmer, in dem wir gleichzeitige zu einer erschreckenden Erkenntnis gekommen waren, reagierten wir stärker aufeinander als ohnehin schon. „Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen.“

„Ach.“ Ich sah Muto an. „Ist das so?“

„Er hat Recht, Kaiba.“ Na so was, dieses Mal war es nicht Gardner, die Recht hatte?

Ich schob meinen Stuhl zurück und stand auf. Vor dem Tisch von Wheeler blieb ich stehen. „Wenn dem so ist, Muto, dann lass mich dir etwas sagen.“ Ich beugte mich zu ihm herunter. „Verwechsele das mit keiner Beziehung, unterliege nicht der trügerischen Annahme, ich würde dadurch auch nur in irgendeiner Weise mit euch sympathisieren und vor allen Dingen: Mischt euch nicht ein.“

Muto erwiderte meinen Blick unberührt, dann erschien ein ernster Glanz in seinen Augen. „Solange du dir deiner Lage bewusst bist, Kaiba.“ Ich hob die Augenbraunen. „Verwechsele das nicht mit einem Spiel.“

Meine Mundwinkel zuckten, während ich mich aufrichtete. „Muto, du solltest mich besser kennen. Ich spiele nicht.“

Niemand sagte etwas.

Da wurde mir mein Fehler bewusst.

Ich spiele nicht.

Damit hatte ich ihnen zu verstehen gegeben, dass es mir ernst war. Mit wachsendem Entsetzen suchte ich Wheelers Blick. Er wirkte nicht minder verstört als ich mich fühlte.

Im selben Moment wussten wir, was der andere dachte: Wir müssen reden.
 

„Was ist los mit dir?“, fuhr ich Wheeler an.

„Mit mir? Mit mir?!“ Wie es mich nervte, wenn Menschen sich unnötigerweise wiederholten, bloß um ihren angeblichen Unglauben zum Ausdruck zu bringen. Als ob es nicht auch anders ginge. „Was ist los mit dir?! Was redest du da? ‚Ich spiele nicht’ – was soll das denn heißen? Wie äußerst großzügig von dir Kaiba, das noch klar zu stellen, denn sonst wäre ich ja nicht mehr als dein kleines Spielzeug gewesen.“

„Das ist nicht das Thema“, zischte ich und sah mich vorsorglich nach anderen Anwesenden um, da Wheeler sich wieder einmal nicht unter Kontrolle hatte. Doch wir waren alleine auf dem Flur. „Es geht darum, dass deine lästigen Möchtegernfreunde sich in Dinge einmischen, die sie absolut nichts angehen!“

Wheeler schnaubte. „Das tun Freunde nun mal. Und hättest du dich auch nur einen Bruchteil deines ach-so-verplanten Lebens mit der entfernten Bedeutung von Freundschaft beschäftigt, dann würdest du dich jetzt nicht so darüber aufregen!“

„Jetzt fang nicht so an wie Muto, das ist das absolut Letzte, was –“

„Mach Yugi nicht schlecht, Kaiba, immerhin geht es ihm um uns beide!“

„Jetzt verteidigst du ihn also?“

„Das tut man unter Freunden.“ Er verschränkte die Arme.

Ich verengte die Augen. „Dann läuft es also immer wieder darauf hinaus, was Freunde tun, obwohl sie besser daran täten, es nicht zu tun?“ Ich ließ ihm keine Zeit, darauf zu reagieren. „Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist, dass deine Freunde sich einmischen. Und ja, es ist ohne Zweifel eine Einmischung, Wheeler.“

„Selbst wenn? Ignorier es doch einfach – so, wie du alles ignorieren kannst.“

„Oh, ich würde es ignorieren, wenn sie nicht lästigerweise annehmen würden, sie dürften Forderungen an mich stellen. Ich kann mich nicht erinnern, in eure Sekte eingeheiratet zu haben.“

„Jetzt spiel dich mal nicht so auf. Sekte? Ich bitte dich, geht’s noch? Nur weil du schlecht gelaunt bist, musst du das nicht an meinen Freunden auslassen!“

„Es an dir auszulassen reicht ja offenbar nicht. Außerdem soll ich dich ja anständig behandeln, da muss ich es doch an jemand anderem auslassen oder nicht?“

„Verdammt Kaiba, dann lass es doch an mir aus, das stört mich nicht!“

„Stimmt, denn du kannst ja kontern oder? Was ja wiederum der einzige Grund für dich ist –“

„Wehe, wenn du jetzt darauf rumreitest“, knurrte er.

Ich lächelte hämisch. „Ich habe noch gar nicht damit angefangen, Wheeler.“

Er ballte die Fäuste. „Bilde dir bloß nichts drauf ein, Mistkerl, denn es trifft auf dich genauso zu!“

„Ach tatsächlich? Woher willst du das wissen?“ Wheeler konnte es nicht wissen, denn im Gegensatz zu ihm hatte ich es nie ausgesprochen.

Sehr schön“, fuhr er mich an, „dann leugne es auch noch. Ich dachte wir wären uns einig gewesen, dass –“

„Einig?“, echote ich höhnisch. „Worüber denn? Wir sind uns über gar nichts einig, Wheeler, und genau das ist der Grund für all dies. Wir werden uns nie -“

„Jetzt reichts.“

Ich verstummte. Er hatte mich schon wieder unterbrochen!

„Du regst mich auf, Kaiba, kannst du nicht einmal unkompliziert sein? Musst du immer alles schwieriger machen, als es ohnehin schon ist? Sei doch froh, dass meine Freunde es wissen und dass sie kein Problem damit haben. Kein Problem mehr damit haben. Wenn ich bedenke, wie ich mit Tristan ... Ach, vergiss es! Weißt du, wie es sonst aussehen würde? Sonst müssten wir nämlich darüber diskutieren, ob es dir recht wäre, sie darüber in Kenntnis zu setzen und wir würden ewig darüber diskutieren, ohne zu einem Ergebnis zu kommen – so wie jetzt.“ Er hatte begonnen, aufgebracht vor mir auf und ab zu gehen und ausfallende Gesten zu machen. „Und letztendlich würde mir der Kragen platzen, ich würde dich an deinem Kragen packen“, unvermittelt griff er nach dem Kragen meines Hemdes, „und dich zu ihnen schleifen.“ Mit einem Ruck zog er mich zu sich.

Ich keuchte. „Wheeler, bist du von allen guten Geistern verlassen?!“

„Kaiba und ich haben was miteinander.“

„Was?“

Was?!“, gab er wütend zurück und musterte mich aufgebracht. „Genau das würde ich zu ihnen sagen, denn eine Beziehung kann man es ja wohl kaum nennen.“ Wieder dieses Wort. Dieses schreckliche, einengende Wort.

„Denkst du ich sehe nicht, wie du jedes Mal bei dem Wort blasser wirst, als du ohnehin schon bist? Und weißt du was? Es ist mir scheißegal. Ich mache das alles hier nicht, weil ich eine Beziehung will oder vorhabe, dich eines Tages in Las Vegas zu heiraten.“ Er verdrehte die Augen. „Ich mach das, weil sich das hier“, er drückte mir für einen Moment die Lippen auf den Mund und ich vergaß, was ich ihm an den Kopf hatte werfen wollen, „gut anfühlt und ich es wieder machen will.“

Er küsste mich erneut und auch wenn ich ihn eigentlich darauf aufmerksam machen wollte, dass wir auf dem Flur der Jugendherberge standen und das jeden Moment jemand um die Ecke kommen könnte ...

Er löste sich von mir. „Ich weiß, dass es kompliziert ist, weil du du bist und es nicht unbedingt als normal gilt, was wir tun, aber das ist mir genauso egal! Allerdings kann ich echt nicht gebrauchen, dass du es unnötig komplizierter machst, als es ist. Ich weiß, dass es mit uns beiden nie einfach sein wird, aber du musst mir nicht noch neben den Steinen, die du mir ohnehin gerne in den Weg legst, immer wieder ein Bein stellen, damit ich mir die Nase auf den Steinen blutig schlage.“ Er sah mich aus seinen nervigen Hundeaugen unpassend ernst an. „Das kann ich nicht gebrauchen, Kaiba.“

„Du fällst mir in den Rücken, Wheeler“, sagte ich leise und er horchte auf.

„Was?“

Ich verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich sagte, du fällst mir in den Rücken. Es ist eine ernste Situation und trotzdem greifst du zu so hinterhältigen Mitteln, wie“, ich deutete wahllos in seine Richtung, „dem da.“ Wie jämmerlich. Kaiba, du lässt nach.

Wheeler begann zu grinsen. „Ach, du meinst das.“ Und damit küsste er mich wieder.

Idiotischer –

„Joey, Kaiba!“

„Verdammt, ich bin blind!“

„Tristan, sei still!“

„Echt mal, müsst ihr das hier tun?!“

Ich unterdrückte ein frustriertes Aufstöhnen, da die Gefahr zu groß war, dass es misinterpretiert würde, während Wheelers Zunge irgendwo in meinem Hals steckte. Zum Teufel mit ihm und seinen Freunden.
 

oOo
 

Das Packen war ein reines Desaster. Mit Wheeler ein Zimmer zu teilen kam in etwa einem Orkan mit der Windstärke von über 200 Kilometer pro Stunde gleich. In unserem Zimmer meine Kleidungsstücke wieder zu finden erwies sich als unmögliches Unterfangen. Wie sich herausstellte, lag in meinem Schrank lediglich das noch immer feuchte Oberteil von dem Strandnachmittag, doch abgesehen davon hatte alles seinen vorgesehenen Platz verlassen.

Das war auf Wheeler zurück zu führen.

Wie er es jedoch geschafft hatte, meinen Koffer nicht irgendwo in die hinterste Ecke unter dem Hochbett, sondern unter einen Kleiderhaufen auf einen der Schränke zu bringen, war mir mehr als schleierhaft. Ich fragte ihn gar nicht erst danach.

Nachdem ich alle gefundenen Kleidungsstücke und Utensilien in dem Koffer verstaut hatte – in dem Wissen, dass die Hälfte meines Besitzes mit großer Sicherheit letztendlich in Wheelers Tasche gelandet war, so, wie er sie ohne nachzusehen einfach vollgestopft hatte – war noch immer nicht alles getan.

Immerhin hatte Wheeler in diesem Zimmer gewütet.

Erst jetzt fiel mir auf, wie viel Müll in dem Raum herumlag. Diverse leere Verpackungen von irgendwelchen Lebensmitteln, Plastikflaschen und dazwischen immer wieder Socken von Wheeler. Grauenhaft.

Ich setzte mich auf das Bett. „Deine Aufgabe, Wheeler“, sagte ich schlicht und verschränkte die Arme.

Er schnaubte. „Natürlich, schieb es ruhig auf mich ab.“

Ich griff nach einer der Verpackungen, die auf meinem Bett gelandet war und betrachtete sie abschätzig. „Du willst mir doch wohl nicht allen Ernstes unterstellen, ich würde Pringles essen? Was ist das? Der Packung nach könnte da auch ein Knochen dring gewesen sein.“

„Mach dich ruhig darüber lustig. Immerhin esse ich in meiner Freizeit keine Fischeier.“

Ich hob die Augenbrauen. „Ich nehme an, du meinst Kaviar und hast du etwa von mir gehört, ich würde es gerne essen?“

„Typen wie du essen doch dieses feine Zeug.“

Ich ließ die Verpackung achtlos zu Boden fallen und schlug die Beine übereinander. „Nur weil es als Delikatesse gilt, muss man es nicht essen.“

Wheeler stand direkt vor mir und blickte mit in die Hüften gestemmten Armen auf mich herab. „Das heißt, du bist nicht der Typ, der abends mit einem teuren Glas Rotwein auf seiner Terrasse sitzt, klischeehaft den Sonnenuntergang betrachtet und sich über seinen Reichtum freut?“

„Nein Wheeler, denn ich heiße nicht Pegasus. Ich bin der Typ, der spät nachts in der eigenen Firma sitzt, revolutionäre Software entwickelt, dabei Kaffee trinkt und sich über seinen Reichtum freut.“

Er strich sich überlegend über sein Kinn. „Da ist was Wahres dran.“

„Wenn wir das jetzt geklärt haben, kannst du deine Arbeit fortsetzen. Der Raum säubert sich nicht von selbst.“

„Tze, im Herumkommandieren warst du schon immer ganz groß, was?“

„Du hast ja keine Ahnung, Wheeler.“ Ich lächelte gefährlich.

„Oh bitte.“ Er verdrehte die Augen und wandte sich ab. Dann begann er, den Müll vom Boden zu sammeln. Ich registrierte nicht, dass ich Wheeler anstarrte, bis ich seinem amüsieren Blick begegnete. Erst da wurde mir bewusst, wohin ich gestarrt hatte.

„Erwischt, Kaiba“, spottete er und wackelte provokativ mit dem Hintern. „Auch du hast Anwandlungen.“

Ich schloss die Augen und presste mir eine Hand an die Schläfe, konzentrierte mich darauf, dass alles bald vorbei war.
 

Wie sehr sich einige Stunden in die Länge ziehen konnten.

Nachdem Wheeler das Zimmer halbwegs anständig aufgeräumt hatte und auf mein Geheiß hin den Hausmeister über den kaputten Vorhang in Kenntnis gesetzt hatte, versammelte sich unsere Gruppe im Gemeinschaftsraum.

Aoyagi-sensei, die in den vergangenen Tagen niemals die Nerven verloren hatte, Höhen und Tiefen dieser Höllenfahrt mitgemacht und gemeistert hatte, lächelte in die Runde. Ich respektierte sie von Mal zu Mal mehr.

„Ich hoffe, ihr habt den gestrigen Abend gut überstanden.“ Sie zwinkerte. „Ich möchte an dieser Stelle nur noch sagen, dass mir diese Fahrt mit euch sehr viel Spaß gemacht hat. Auch wenn es Situationen gab, die ... kompliziert waren und sicherlich nicht jeden erfreut haben“, dabei richtete sich ihr Blick mit Nachsicht auf mich, „so bin ich doch sicher, dass jeder von euch besondere Erinnerungen an diese Fahrt mitnehmen wird.“

Besondere Erinnerungen? Auf ihre eigene Art ganz bestimmt. Und nicht nur Erinnerungen.

„In einer halben Stunde fahren wir los, das heißt, Kaidou-sensei und ich werden gleich eure Zimmer ansehen, um sicher zu gehen, dass ihr sie in angemessenem Zustand zurücklasst. Also dann.“ Sie erhob sich und damit war die Besprechung beendet.

Als sie zehn Minuten später Wheelers und mein Zimmer inspizierte lächelte sie mich offen an. „Diese Tage mit Joey-kun waren doch nicht so schlimm, oder?“, fragte sie freundlich. Ihr eine ehrliche Antwort zu geben, wäre wohl nicht ganz fair gewesen, doch ganz lügen konnte ich auch nicht.

„Es war zu ertragen.“

Wheeler neben mir gab einen abfälligen Laut von sich. „Frag mich mal.“

„Sei still, Wheeler.“

„Wer hat denn angefangen?“

Wir starrten uns an, doch niemand von uns sagte noch etwas.

Erst als Aoyagi-sensei zu lachen begann, unterbrachen wir den Blickkontakt. Sie wirkte verzückt. „Es scheint ja schon viel besser zwischen euch zu laufen, das freut mich ungemein. Seto-kun, Joey-kun, ich glaube diese gemeinsamen Tage haben euch gut getan.“ Sie nickte Kaidou-sensei zu und sie verließen den Raum.

Mir war mit einem mal furchtbar schwindelig und hätte Wheeler nicht geistesgegenwärtig reagiert und mich gepackt, währe ich in mich zusammen gesackt. Das war nicht die Möglichkeit.

Gut getan.

Gut getan?!

Diese Tage hatten alles, bloß nicht gut getan.

„Kleiner Moment der Schwäche, Kaiba?“, bemerkte Wheeler belustigt.

„Halt den Mund, Wheeler. Und wage es nicht, jetzt los zu lassen“, fügte ich eine Spur schärfer hinzu, da ich meinem Kreislauf in diesem Moment noch nicht ganz vertraute. Mir war egal, dass Wheeler diesen Moment der Nachlässigkeit mitbekam, er hatte schon so viel mitbekommen, dass es auf diese Kleinigkeit jetzt gerade auch nicht mehr ankam.

„Aoyagi-sensei ist eine gerissene Frau“, bemerkte Wheeler schließlich. „Wer weiß, vielleicht ist sie sogar noch schlauer als du.“

Ich konnte ihm nicht einmal widersprechen.
 

Ich warf einen letzten Blick zurück auf die Jugendherberge. Die negativen Erinnerungen überwogen, tatsächlich konnte ich mich an keinen schönen Moment erinnern. Ich verdrängte plötzlichen Nachhall nasser Küsse spätabends. Mein Blick wanderte unweigerlich zu dem Teich mit der Brücke.

‚Ich glaube diese gemeinsamen Tage haben euch gut getan.’

Mit Aoyagi-senseis Worten im Ohr wandte ich mich ab und ließ den Ort zurück, der für mich in den letzten Tagen die Hölle auf Erden gewesen war.

Im Bus sicherte ich mir meinen Sitzplatz und zu meinem Bedauern saßen Muto und sein Anhang wieder hinter mir. Es gab Dinge, die änderten sich wohl nie.

Als der Motor des Busses anging und das Gefährt die Einfahrt zur Herberge hinab fuhr, war mir, als würde ein Gewicht von meiner Brust genommen werden. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, freier atmen zu können.

Ein Blick zu Wheeler zeigte mir, dass er mich mit einem schadenfrohen Lächeln beobachtete. Er hatte meine Erleichterung gespürt und machte sich darüber lustig. Dieses Mal war es mir egal.
 

oOo
 

Leider entkam ich Ôsaka nicht genauso schnell. Aoyagi-sensei ließ uns eine letzte Stunde Freigang in der Stadt, um Verpflegung für die Fahrt zu kaufen und die letzten Fotos machen zu können. Am liebsten wäre ich im Bus geblieben und hätte gearbeitet, doch wir wurden dazu genötigt, nach draußen zu gehen. Kein böses Starren half.

So musste ich mit Kappe und Sonnenbrille erneut durch Ôsaka, doch freundlicherweise hatte sich Wheeler dazu bereit erklärt, mich zu eskortieren. Ich war immer noch in Gefahr, erkannt zu werden, doch Aoyagi-sensei hatte sich durch diesen Umstand nicht dazu überreden lassen, mir die Erlaubnis zu geben, im Bus zu bleiben. Ich sollte mir doch ein Souvenir von der Stadt kaufen. Das einzige angebrachte Souvenir für jemanden wie mich wäre eine Wohnung an einem Ort, der mir gefiel oder ein Auto aus dem jeweiligen Land, doch in Japan reizten mich die Wagen nicht und ich würde den Teufel tun und eine Wohnung in Ôsaka kaufen!

Wheeler bereitete es offensichtliche Freude, mich mehr und mehr zu reizen. Als wir eine Shoppingmall betraten fühlte ich mich angesichts der vielen Menschen unwohl, doch in Begleitung mit Wheeler würde niemand mich erwarten. Seto Kaiba vermutete man momentan in Begleitung einer Frau.

Wheeler lud sich Unmengen von Süßkram auf die Arme, bei dessen Anblick mir schon der Magen wehtat. Wheelers Esskultur war eine Klasse für sich, die jeden mit einem letzten Rest Verstand – abgesehen von Wheeler selbst – alarmierte.

Bei den Zeitungen blieb ich stehen. Auf der Titelseite blickte ich in mein eigenes Gesicht. Zum Glück hatte ich von Wheeler eine neue Kappe verlangt und er hatte mir eine von seinen gegeben. So ungern ich auch etwas von Wheeler trug, aber die Kappe von dem Aquarium würde nie wieder in die Nähe meines Kopfes kommen. Außerdem kannte sie nun ganz Japan.

Ich griff nach der Zeitung und hielt sie Wheeler entgegen. Er trat einen Schritt zurück. „Glaub nicht, dass ich dir die bezahle.“

Ich machte einen Schritt auf ihn zu, baute mich bedrohlich vor ihm auf. „Es ist das mindeste, was du nach dem, was ich durch dich und deine Freunde in den letzten Tagen durchgemacht habe, für mich tun kannst, Wheeler.“

„No way. Ich bin so schon knapp bei Kasse.“

„Auf diese Zeitung kommt es dann ja nicht mehr an“, gab ich kalt zurück. So leicht ließ ich Wheeler nicht davonkommen

„Findest du das nicht ziemlich dreist?“

„Nein. Es ist angebracht.“

Er knurrte. „Arsch“, murmelte er und riss mir die Zeitung aus der Hand. Sieg für mich. Wheeler wusste, wann es aussichtslos war. „Dafür bist du mir was schuldig, Kaiba.“

„In deine Träumen, Wheeler.“

Nun machte er einen Schritt auf mich zu. „Oh, ich weiß da schon etwas.“ Er lächelte auf eine offensichtlich Art, sodass mir bewusst wurde, worauf er hinaus wollte.

Diese miese, kleine –

„Wheeler, denkt nicht einmal daran.“ Wir standen in einem verlassenen Gang des Geschäfts – um diese Uhrzeit war hier noch nicht so viel los, aber trotzdem gab es Wheeler nicht das Recht -! „Hast du keine Beherrschung, Köter?!“ Sicher gab es hier Kameras. Ich würde auf keinen Fall zulassen, dass Wheeler und ich gemeinsam auf einem Video -

„Sehr geehrte Kunden, hier eine Durchsage. Der kleine Joey-kun möchte bitte zur Information kommen, sein großer Bruder wartet dort auf ihn. Ich wiederhole: Der Kleine Joey-kun wird dringend gebeten, zu seinem Bruder an die Information zu kommen. Vielen Dank.“

„Tristan“, knurrte Wheeler. „Den bringe ich noch um.“

Nie war ich Taylor dankbarer gewesen.

Wheeler wirbelte zu mir herum und grinste wieder. „Der Gesichtsausdruck steht dir, Kaiba. Es macht so einen Spaß, dich zu verarschen – jetzt habe ich ja endlich ein Mittel dafür.“

Ich verspannte mich und starrte Wheeler finster an. „Dafür kaufst du mir noch einen Kaffee“, sagte ich leise und duldete keinen Widerspruch.

Wheeler tat zur Abwechslung, wie geheißen – etwas, dass er gerne öfter tun sollte – und ließ es sich nicht nehmen, Taylor an der Information mit einem Schwitzkasten für die Durchsage zu danken. Taylor rechtfertigte diese Handlung damit, dass Wheeler heute nur an mir kleben würde und mit einer abwinkenden Handbewegung gab ich ihm zu verstehen, dass er Wheeler gerne haben konnte. Als ob ich wert auf seine Anwesenheit legen würde.

Zu meiner Zufriedenheit war die Tür des Busses geöffnet als ich als einer der ersten zurückkehrte, darum konnte ich mich auf meinem Platz setzen und die Zeitung lesen.

Vielleicht hätte ich es nicht tun sollen.

Auf der ersten Seite des Gesellschaftsteils prangte der Schnappschuss von mir im Schloss von Ôsaka. Zum Glück hatte ich es nicht bis auf die Titelseite geschafft – politische Entscheidungen hatten in dieser Zeitung glücklicherweise noch Vorrang.

Mit zunehmend finsterer Miene las ich den zu dem Bild gehörenden Artikel, der mit Spekulationen und falschen Fakten um sich warf. Ich beschloss, den Redakteur, der für den Artikel zuständig war, sobald ich wieder zurück war, zu verklagen. Auch, wenn er nicht der einzige war, der Unwahrheiten verbreitete – mir graute es bereits vor den Klatschblättern, die noch Haarsträubender sein mussten – aber mit dieser Zeitung würde ich beginnen. Dann würde ich nach und nach jede weitere zur Rechenschaft ziehen.

Seufzend ließ ich die Zeitung sinken und lehnte mich auf meinem Platz zurück, schloss die Augen. Was redete ich mir ein? Eine Anklage würde nichts ändern. Im Gegenteil, denn sie würde alles verschlimmern. Die einzige Möglichkeit, die auf Skandale erpichte Bevölkerung dazu zu bringen von mir abzulassen, war sie zu langweilen. Sie musste der Geschichte überdrüssig werden und das funktionierte nur mit beharrendem Schweigen, standhafter Verleugnung und Geduld. Viel Geduld.

Die ich nach dieser Fahrt nicht besaß.

Wheeler hatte sich restlos aufgebraucht.

Aber ich musste geduldig sein. Heute Abend würde ich wieder aus der Fensterfront meines Büros blicken können, ohne mir jeden Moment Gedanken über eine viel zu stressige Fahrt machen zu müssen. Diese läge dann nämlich hinter mir. Ich schloss meine Augen und lehnte mich auf meinem Platz zurück. Nicht mehr lange.
 

oOo
 

Ich verlor den Halt. Ich fiel. Und Wheeler war nicht da. Das war kein Traum. Das war real!
 

oOo
 

Das durfte nicht wahr sein.

„Krass.“

„Hast du es gefilmt?“

Das konnte einfach nicht wahr sein!

„Klar hab ich es gefilmt. Sieh es dir an, es ist nur etwas wackelig, weil ich fast vom Sitz gefallen wäre.“

Was hatte ich verbrochen?

„Wow, auf Video sieht das ja noch krasser aus!“

Ich fuhr zu den Redenden herum. „Könntet ihr die Freundlichkeit besitzen und dieses Gespräch nicht unmittelbar neben mir führen?!“ Ich funkelte sie kalt an.

„K-klar doch!“

„Wir sind schon weg!“

Ich drehte mich wieder um und richtete meinen Blick auf das Elend vor mir. Wenn ich mich schlecht gefühlt hatte, als eine Meute Reporter mich verfolgt hatte, dann war dies kein Vergleich zu dem, was ich jetzt empfand.

Jemand trat neben mich. „Wage es jetzt nicht, auch nur irgendetwas zu sagen, Wheeler“, sagte ich und meine Stimme bebte unter der Flut an zurückgehaltenen Empfindungen. Ich wusste sie nicht einmal alle beim Namen zu nennen. „Deine Möchtegernversuche in Eloquenz sind das letzte, was ich jetzt hören will.“

„Geht es dir gut?“, fragte Wheeler schließlich. Ich musterte ihn aus den Augenwinkeln, doch er hatte den Blick geradeaus gerichtet. „Wieso fragst du?“ Das war untypisch für ihn und es machte die Frage verdächtig. Noch immer sah Wheeler mich nicht an.

„Ich habe gesehen, wie du dir bei der Bremsung den Kopf angeschlagen hast. Ich wollte nur sichergehen, dass dein Verstand davon nicht abbekommen hat, sonst hättest du wohlmöglich noch das Busunternehmen verklagt.“ Immer noch kein Blickkontakt. „Aber da du bereits so gekonnt wieder mit Fremdworten um dich werfen kannst, geht es dir offenbar gut.“

„Glaub mir, Wheeler, ich werde das Busunternehmen verklagen.“ Ich folgte seinen Blick. „Wenn sie Glück haben, wird es sie nicht ruinieren.“ Aber sie würden kein Glück haben. Ich hatte hervorragende Anwälte.

„Eine Reifenpanne ist kein Beweis für Fahrlässigkeit.“

Wheeler irritierte mich. Noch mehr als ohnehin schon. Ich wusste lediglich noch nicht zu benennen, was genau mich mehr irritierte als sonst.

„Falsch. Eine Reifenpanne wie diese belegt Fahrlässigkeit im höchsten Maße. Mit den richtigen Augenzeugen und einem gelungenen Schlussplädoyer kann es sogar als versuchter Mord zur Rechenschaft gezogen werden.“

Und da war die Geste, die alles Sinn ergeben ließ. Ein kurzes Aufflackern in Wheelers ungewohnt starrer Mimik. Seine Augen lagen für einen kurzen Moment auf mir, dann war sein Blick wieder starr geradeaus auf den in Schieflage geratenen Bus vor uns gerichtet. Mit einem befremdlichen Gefühl von plötzlicher Erkenntnis war da die simple Feststellung, zu der ich bis dahin nicht in der Lage gewesen war: Wheeler war besorgt. Um mich.

Ich starrte auf den Jungen vor mir, der in den letzten Tage Unverschämtheiten gewagt hatte, die ich in ähnlichem Ausmaß zuvor nie hatte ertragen müssen. Der mich in Situationen gebracht hatte, mit denen ich vorher noch nie konfrontiert worden war. Der mir Erinnerungen beschert hatte, die zu leugnen sie nie verblassen lassen würden. Es gar nicht konnten.

Und dieser Idiot, dieser penetrante nervige Köter, dieser infantile Abklatsch von einem Mann versuchte mir auf seine eigene Art zu zeigen – oder vielmehr nicht zu zeigen – dass er sich Sorgen machte. In diesem Moment war er mir beinahe sympathisch.

„Was glotzt du mich so an Kaiba?“

Beinahe.

„Das tue ich nicht. Ich habe kaum in deine Richtung geblickt, Wheeler.“ Ich drehte den Kopf, um mich nach unseren Mitschülern umzusehen, doch außer uns war niemand mehr da. Die Lehrkräfte waren gemeinsam mit dem Busfahrer auf der anderen Seite des Busses, um den Reifenschaden zu begutachten und einen Hilfsdienst zu beordern und die Schüler waren in der Raststätte verschwunden, um sich ein Mittagessen zu kaufen und ihren Angehörigen bescheid zu geben, dass sich ihre Ankunft verspäten würde.

Beim Drehen meines Kopfes schoss ein stechender Schmerz durch meinen Nacken und direkt in meine Schläfen. Ich zuckte, als eine Hand sich für einen Moment auf meinen Hinterkopf legte.

„Ist nur eine Beule“, diagnostizierte Wheeler fachmännisch. „Nichts Schlimmeres.“

Gegen meinen Willen hoben sich meine Mundwinkel. „Na wenn du das sagst.“

„Genau.“ Er zwinkerte mir tatsächlich zu. Verschwunden war die angespannte Starre. Sollte jemand zu verstehen versuchen, was in seinem Kopf vorging. Ich würde jedenfalls nicht den überflüssigen Versuch wagen, es zu tun. Ich konnte auch ohne Verständnis gut genug mit Wheeler umgehen. „Aber du solltest sie zur Sicherheit untersuchen lassen.“

„Und das weißt du, weil ...?“, harkte ich gelangweilt nach.

„Du schwankst.“ Wheelers Hand war an meinem Arm, bevor mein Verstand sich ohne Vorwarnung von der Vertikalen in die Horizontale begeben konnte.

„Wie –“, wollte ich fragen, verschluckte mich jedoch beinahe an meinen eigenen Worten.

„Du bist blass, Kaiba. So ein Kopfstoß kann einen schon etwas benebeln. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.“

„Hochinteressant“, murmelte ich, darauf konzentriert, zu verstehen, was auf einmal mit mir los war.

„Du hast doch alle Mittel der Welt, warum rufst du dir kein Taxi und fährst in ein Krankenhaus?“

„Wegen einer Beule?“, fragte ich uns sah Wheeler so spöttisch an, wie es in meiner Lage möglich war.

„Wegen einer Beule.“

„Nein danke.“

„Ach, dann kann es ja so schlimm nicht sein.“ Er ließ mich los.

Ich knurrte, packte ihn bei der Schulter, um nicht den Halt zu verlieren und hasste mich im gleichen Moment für diese Schwäche. Mein Blickfeld schwanke merklich. Es war das gleiche Gefühl, als würde man fallen. Es war schrecklich.

Wheeler schlang einen Arm um meine Hüfte und zog mich an sich. Ich wollte protestieren, doch er kam mir zuvor: „Ich will doch nicht, dass du fällst.“

Und diese Worte waren es, die mich den Kopf heben und Wheeler sprachlos ansehen ließen. Diese Worte – das genaue Gegenteil von denen, die ich in den vergangenen Nächten wieder und wieder in meinen Träumen gehört hatte – lösten etwas in mir aus, von dem ich bis zu diesem Moment nicht gewusst hatte, dass ich es besaß. Ich konnte es noch nicht einmal benennen. Jedenfalls überkam mich für einen kurzen Moment lang das starke, erschreckender Verlangen danach, Wheeler zu packen, gegen den Bus zu pressen und –

„Kaiba? Kaiba, werd mir jetzt nicht ohnmächtig. He, Kaiba!“

„Sei still Wheeler.“

„Ich dachte schon, du kippst mir jetzt ...“

Ich hörte ihm längst nicht mehr zu.
 

„Guten Flug Kaiba!“

„Ich will doch nicht, dass du fällst.“
 

Ich steckte tiefer drin als angenommen. Und nach sieben grauenvollen Tagen mit Wheeler konnte ich mich selbst nicht einmal mehr anständig genug belügen, um mir weis zu machen, dass es mich außergewöhnlich störte.
 

oOo
 

Wheeler hatte tatsächlich ein Taxi organisiert. Er hatte Aoyagi-sensei davon überzeugt, dass ich zur Untersuchung meines Kopfes in ein Krankenhaus sollte und sie hatte ihn darum gebeten, mich vorsorglich zu begleiten und sie über das Ergebnis der Untersuchung zu informieren.

Der Fahrer lud meinen Koffer und meinen Laptop in den Kofferraum und Aoyagi-sensei versicherte mir, wie sehr ihr alles leid täte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu.

Wheeler hatte sie angelogen. Längst hatte sich meine anfängliche Benommenheit gelegt. Ich schwankte auch nicht mehr, wenn ich mich schneller bewegte. Es ging mir gut, abgesehen von dem pochenden Schmerz in meinem Hinterkopf, doch es war keinesfalls Grund genug, ein Krankenhaus aufzusuchen.

„Stell nichts an“, wies Gardner Wheeler zurecht und Taylor klopfte dem Köter auf die Schulter.

„Wir wollen dich lebend wiedersehen“, fügte er nickend hinzu. Ich verzog den Mund. Was dachte die? Dass ich Wheeler bei lebendigem Leibe verspeisen würde?

„Keine Sorge, Leute, ich weiß mit Kaiba umzugehen.“ Wheeler zwinkerte ihnen zu. Dieser unverschämte –

„Seto-kun, du bist schon wieder so blass.“ Aoyagi-sensei hatte mir eine Hand auf den Rücken gelegt. „Setz dich lieber schon in das Taxi.“

Ohne ein weiteres Wort stieg ich ein und zog die Tür hinter mir zu. Ich konnte es kaum erwarten, loszufahren und all dies hinter mir zu lassen. Ungeduldig klopfte ich mit den Fingern auf die Armlehne an der Tür und nahm mir vor, Wheeler für jede zusätzliche Sekunde, die er weiter trödelte, büßen zu lassen.

Schließlich kam die Verabschiedung von seinen Freunden endlich zu einem Ende und mit einem selten dummen Grinsen auf den Lippen setzte er sich neben mich.

Ich sah ihn kalt an. „Es ist unmöglich, dümmer auszusehen als du es gerade tust.“

Das Lächeln verblasste. „Jetzt meckere noch herum, Kaiba. Mir hast du es zu verdanken, dass du so schnell zurück nach Hause kommst.“

„Und wer bezahlt die Fahrt?“

Wheeler erschränkte die Arme und lehnte sich zurück, während der Wagen anfuhr. „Du natürlich. Wer von uns beiden hat denn die Kohle?“

Die nächsten zehn Minuten verbrachten wir schweigend, bis der Taxifahrer etwas für die Verhältnisse eines japanischen Taxifahrers vollkommen untypisches tat: Er fluchte. In dem Moment wusste ich, dass wir ein Problem hatten.

„Was ist los?“

Er sah mich durch den Rückspiegel entschuldigend an. „Es tut mir sehr leid, Herr Kaiba“ – er wusste, wer ich war und bekam einen Sonderzuschlag dafür, dass er niemandem davon erzählen würde – „aber offensichtlich gab es einen weiteren Unfall. Wir müssen einen Umweg nehmen, aber dieser Umweg ist stark befahren und wenn ich den Mittagsverkehr mit einbeziehe –“

Mir war mittlerweile eiskalt. „Was wollen Sie mir damit jetzt sagen?!“, unterbrach ich den Mann schroff. „Drücken Sie sich deutlich aus.“

„Wir brauche mindestens drei Stunden länger – wenn wir Glück haben. Wenn Sie mich fragen, ist es einfacher, wenn Sie fliegen.“

Drei Stunden länger?! Das war viel zu lange. „Dann fahren Sie uns zum nächsten Flughafen.“

„Der nächste Flughafen ist in Ôsaka.“

Nein.

Ich musste aschfahl geworden sein, denn Wheeler hatte sich vorgebeugt. „Wage es nicht, dich jetzt zu übergeben, Kaiba“, murmelte er mir zu und ich funkelte ihn wütend an.

Er seufzte. „Dann fahren Sie uns zum Flughafen.“

Der Fahrer nickte und machte Anstalten, zu wenden. Als Wheeler sich sicher war, dass der Mann viel zu sehr auf die Straße konzentriert war, um auf uns zu achten, griff er nach meinem Arm und zog mich zurück. „Jetzt beruhige dich. Wir fahren zum Flughafen und fliegen nach Domino. Ehe du dich versiehst, bist du raus aus Ôsaka. Sag mir jetzt nicht, der große Kaiba hat Angst vor einer Stadt?“

„Natürlich nicht, Wheeler“, gab ich unbewegt zurück. „Mach dich nicht lächerlich.“

„Was macht dein Kopf, oh unerschütterlicher Kaiba?“

„Er schmerzt, Wheeler. Und du trägst nicht unbedingt zur Besserung der Schmerzen bei.“

„Hatte ich gesagt, dass ich das wollte?“

Die Fahrt verlief die nächste Stunde über ereignislos, dann passierten wir ein Schild, dass uns in Ôsaka willkommen hieß. Ôsaka hatte mich wieder. In gewissem Sinne würde es mich wohl nie wieder loslassen.

„Du bist für deine Verhältnisse ungewöhnlich anhänglich, Kaiba.“ Ich hatte meinen Griff um Wheelers Arm unbemerkt gefestigt. Ein gestresster Nerv begann auf meiner Stirn zu zucken, während ich keine Anstalten machte, mich von ihm zu lösen.

„Sei still Wheeler.“

Er schmunzelte. „Du mich auch, Kaiba.“

Offen gestanden war ich beinahe froh darüber, dass er – wie immer – nicht auf mich hörte. Und während das Taxi die Stadtgrenze von Ôsaka passierte, sich durch den immer dichter werdenden Mittagsverkehr drängelte und stetig auf den Flughafen zuhielt, war das beklemmende Gefühl, dass mich begleitete, seit ich zum ersten Mal vor einer Woche den Fuß in diese Stadt gesetzt hatte, nicht annähernd so unangenehm wie sieben Tage zuvor.

Unnachgiebigkeit und ein starkes Durchhaltevermögen kamen offenbar meinem Toleranzbereich zugute. Persistenz trug ebenfalls einen nicht geringen Teil dazu bei.

Die Persistenz saß neben mir.

„Was gibt’s da zu grinsen, Kaiba?“

Gegen meinen Willen hatte ich beinahe gelächelt. Eine Woche – und ich hatte alle sieben Tage dazu gebraucht, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. (Wie uncharakteristisch langsam.)

Ôsaka und Wheeler hatten viel gemeinsam.

Beide hatten mich terrorisiert, mich überwältigt und hielten mich nun umklammert. Und selbst wenn ich es noch so gewollt hätte – nach sieben langen, nervenaufreibenden und in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Tagen konnte ich gar nicht mehr loslassen. Weder das eine, noch den anderen.

Ich hab’s dir doch gesagt, Seto, konnte ich Mokuba bereits triumphierend sagen hören. Diese Klassenfahrt wird besonders. Ich hatte ihm widersprochen und wenn es nicht nach ihm gegangen wäre, säße ich jetzt nicht in diesem Taxi neben Wheeler. An Wheeler.

Mir graute jetzt schon vor dem Moment, in dem Mokuba davon erfuhr.

Quietschend hielt das Taxi vor dem östlichen Flughafeneingang. Ich zerrte Wheeler aus dem Wagen, nachdem ich gezahlt hatte. „Beeilung, Köter.“

Er knurrte und folgte mir widerstrebend. Ich drängelte mich durch die Menschen vor mir, störte mich nicht daran, wenn ich jemanden anrempelte. In einigen Fernsehern, die von der Decke hingen, liefen Nachrichten. Ich hörte Wheelers Stimme nur entfernt („Sieh mal, du bist schon wieder im Fernsehen!“ ) und beachtete die Blicke nicht, die sich bei seinen viel zu laut gesprochenen Worten auf mich richteten.

Ich kaufte zwei Flugtickets und wies Wheeler an, sein Gepäck gemeinsam mit meinem aufzugeben. Als wir sieben Minuten und mindestens einen in Eile zurückgelegte Kilometer später außer Atem das Terminal erreichten, konnten wir zusehen, wie das Flugzeug mit unserem Gepäck die Rollbahn verließ und in den Himmel stieg.

Etwas in meinem Gesicht musste bei Wheeler tatsächlich so etwas wie Mitleid ausgelöst haben, denn er legte eine Hand auf meine Schulter und sagte: „Morgen ist auch noch ein Tag.“
 

Ôsaka ließ mich nicht los. Es hielt mich umklammert.
 

oOo
 

Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht – und wahrscheinlich war das auch gut für meine Nerven - dass ich die folgende Nacht mit Wheeler in einem engen, billigen Hotelzimmer verbringen würde, da unser Budget eine Zugfahrt nach Domino nicht mehr zuließ, sondern lediglich den Preis einer drittklassigen Unterkunft. (Meine Brieftasche hatte aus irgendeinem Grund einen Weg in den in erster Klasse nach Domino geflogenen Koffer gefunden – ich wollte Wetten, dass es Wheelers Schuld war!)

Wheeler würde diese, durch das Hotelzimmer gegebene, Gelegenheit zu seinem Vorteil nutzen und im Nachhinein würde ich nicht einmal mehr zu sagen wissen, welche Farbe die Bettwäsche hatte, da mir weitaus anderes durch den Kopf gegangen war – wenn ich denn einige Momente lang in der Lage gewesen war, rational zu denken.
 

Zum jetzigen Zeitpunkt wusste ich auch nicht, dass ich bei meiner Ankunft in der Villa auf zehn besorgte Anrufe meiner Lehrerin würde reagieren müssen, die vergeblich auf eine Rückmeldung von Wheeler und mir gewartet hatte.
 

Ich wusste ebenso wenige, dass im Terminal des Ôsaka Flughafens ein Foto von Wheeler und mir geschossen worden war, welches die Spekulationen um mein Sexualleben in ungeahnte Höhen treiben und die Verkaufszahlen und Popularität meiner Produkte durch das exponentiell zugenommene Interesse überwältigend ansteigen lassen würde.
 

Noch viel weniger wusste ich, dass Wheeler mich von dem heutigen Tag an alljährlich mit einer Grußkarte aus Ôsaka beglücken würde um die Erinnerungen aufzufrischen und um einen Grund zu haben, auf ganz spezielle Art und Weise mit mir zu feiern.
 

oOo
 

Ich konnte nur von Glück sagen, dass Wheeler es in dem Moment, in dem das Flugzeug unserem Blick entschwand, genauso wenig wusste.

...

Trost lag oft in kleinen Dingen.
 

oOo
 

„Du wirst doch jetzt nicht heulen, Kaiba?“

„Ruhe, Wheeler.“

„Starr dem Flieger ruhig hinterher, aber er wird nicht umdrehen.“

„Man weiß nie. Ich bin Seto Kaiba.“

„Na wenn du ihm das laut genug hinterher rufst, überlegt er es sich bestimmt anders.“

„Verdammt Wheeler, ich bin Seto Kaiba.“

„Und ich bin Joey Wheeler, nett dich kennen zu lernen. Können wir jetzt was essen? Ich habe Hunger.“

„ ... Wenn es sein muss. Du bezahlst.“

„Geiziger reicher Pinkel!“
 

oOo
 

In sehr kleinen Dingen.
 

~*~*~
 

I don't wanna wait or leave it up to fate

'cause I just wanna watch you all night

Screaming

Kaiba, I hate ya!

Don't you wake me up, I don't want this dream to ...

Kaiba, I hate ya!

Don't you wake me up, I don't want this dream to ...
 

End
 

~*~*~
 

(Can't Stop, Gotta Date With Hate by Lostprophets + Selbst eingefügte Textzeile ^ ^)
 


 

Nachwort(e): Es ist immer wieder ein seltsames Gefühl, eine Geschichte zu beenden. Gerade bei dieser hier ist es gleichzeitig schön und traurig. Muss ich mir eben etwas anderes suchen *gg*

Wo wir gerade bei „alten Zeiten“ sind:

Zur Feier des fünfjährigen Jubiläums habe ich eine kleine Side Story bei A Dog’s Life hochgeladen und morgen werde ich noch einen Weihnachts-One Shot von Yu-Gi-Oh! online stellen (um welches Pairing es sich handelt, ist dabei nicht schwer ^ ^).
 

Danke fürs Lesen *verbeug*

Ihr habt eine kleine Autorin sehr glücklich gemacht!



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Von:  Schantra
2014-09-15T10:47:10+00:00 15.09.2014 12:47
Hi.
Ich hab mir deine FF auf den E-Reader gezogen und sie als Pausenfutter genutzt.
Teilweise fiel es mir sehr schwer sie beiseite zu legen :-)
Sie ließ sich recht gut lesen, bis auf einige flüchtige Tippfehler, die sich zum Ende hin häuften.
Nach einer Weile gingen mir Setos Gedanken auf den Keks, da sie sich wiederholten, aber ich fand es sehr spannend zu lesen, wie er nach und nach die Nerven verlor. Mein innerer Seto ist zwar nicht so "leicht" aus dem Konzept zu bringen, aber deiner tut mir wirklich Teilweise mehr als Leid.
Ich fand auch die anderen Charas gut getroffen und am meisten hab ich bereits am Anfang gelacht, als du Setos Hilflosigkeit seinem Bruder gegenüber beschrieben hast. Armer Seto9. Er hatte ziemlich zu leiden XD

Was mich bei deiner FF jedoch gestört hat, war dass du viel Wert auf die japanische Kultur legst (-sensei, -kun, Osaka, "Lasst es euch schmecken" usw.), du aber die amerikanischen Namen verwendest. Das ist natürlich meine sehr subjektive Weise und ich weiß das man "Wheeler" einfach viel schöner fluchen kann. Jedoch hätte Katsuya besser gepasst.

Eine große Frage, die ich dachte sie würde beantwortet werden, blieb jedoch offen: Warum hasst Kaiba es so mit dem Namen angesprochen zu werden?
Einfach nur die Art und Weise, geht es ihm nur auf den Sack oder Steckt mehr dahinter? Ich habe bei dir erwartet, dass da noch ein Knif hinter steckt. Schade, dass dem nicht so war.

Schön fand ich, dass du seine Perspektive durchgehalten hast. Das findet man selten. "Seto Kaiba verläuft sich nie." "Mir ist nicht warm." usw. waren sehr herrliche Gedanken, die mich zum lachen gebracht haben.
Auch das Ende fand ich sehr gut, obwohl ich nie erwartet hätte, dass Joey Talent zum Reden aufweist. Aber das passt. Sie streiten halt und es war sehr schön, wie Seto über sich selbst verzweifelt, dass Joey als einziger ihn komplett ausknocken kann.
Am Ende tat er mir erneut sehr Leid XDD Osaka ... Wenn ich da in einem Monat bin, werde ich bestimmt an diese FF denken.

Bei einigen Stellen hatte ich immer konkrete Bilder vor Augen, die ich als FA's kannte. Kann es sein, dass du dich an einigen orientiert oder inspiriert hast?

Vielen Dank für diesen Lesespaß.
LG
Schantra
Von:  lilac
2013-09-14T19:58:01+00:00 14.09.2013 21:58
Wie schade das letzte kapitel.
Ich wünschte mir man hätte noch etwas mehr von den beiden ...ich meine wie es mit ihnen weiter ging.
Alles etwas wage.
Aber trotzdem eine gelungene FF.
Von:  lilac
2013-09-13T20:23:31+00:00 13.09.2013 22:23
Och man seto hat joey aber echt eiskalt abservirt am morgen.
Naya ...aber passt zu ihm.
Von:  lilac
2013-09-11T22:56:51+00:00 12.09.2013 00:56
Uhhhh ... endlich .....
Von:  lilac
2013-09-11T22:02:34+00:00 12.09.2013 00:02
Oh ..nun wird es spannend zwischen den beiden.
Von:  lilac
2013-09-10T22:38:04+00:00 11.09.2013 00:38
Wenn seto die weiber schon kalt lassen, dann müsste ein joey oben ohne das gegenteil bewirken.
Höhö
Von:  lilac
2013-09-10T21:59:09+00:00 10.09.2013 23:59
Joey mal so ungewohnt ...stark.
Schönes Kapitel.
Von:  lilac
2013-09-10T21:25:40+00:00 10.09.2013 23:25
7ch liebe diese langen Dialoge der beiden.
Gelegentlivh hab ich svhon gezweifelt ob es shonensi ist, ...weil die ja so gar nicht miteinander konnten abet nun ...da kommt was.
Freu mich.
Von:  lilac
2013-09-09T22:39:07+00:00 10.09.2013 00:39
Klassenfahrt ...tolle idee.
Muboka ist wieder mal so süß voh dir beschrieben.
Und seto und joey springen sich an die gurgel ...die ff kann ja nur gut werden.
Von:  Lunata79
2012-11-27T17:37:43+00:00 27.11.2012 18:37
Diese FF ist wirklich witzig.
Vor allem wie Wheeler Kaiba dauernd auf die Palme bringt, der eigentlich ständig nur verdrängt. LOL
Schade nur, dass zum Schluss des letzten Kapitels nicht detailierter ins Szenario eingegangen wurde, was eher nur umschrieben wurde, von wegen, was die beiden nicht wissen, was kommen oder passieren wird.
Trotzdem wirklich gelungen.
Mach nur weiter so.

Lg
Lunata79


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